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Die Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann
Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
DIE ERSTE WELLE: DIE RESTAURATION rektoriums die Greuze überschritten, um die sischen Generais Balthasar von Sd1auenburg, die mittelbar der Bruderzwist des Stecklikriegs, gleich-
ALS REAKTION AUF DIE REVOLUTION Schweizer «Patrioten», die im Waadtland die Re- melH als vierhundertTote forderre.s sam Hohepunkt und Endstadium einer ausser-
volution entfachen wollten, militarisch zu unter- 1799 wurde die Schwciz durcb die Oklmpa- ordentlich konfliktreichen Konstellation, deren
Eine Gesellschaft im Griff der Gewalt stützen. Die franzosischen Truppen verfolgten tiOll in den Zweiten Koalltionsluieg hineingezo- Gründe im Folgenden erortert und deren Auswir-
In der Nacht vom 27. auf den 28. August 1802, wc- eine gut eingespielte Taktik, die unter dem Vor- gen, den Russland, Osterreich tmd Grossbritan- kungen anschliessend betrachtet werden sallen.
niger als einen Mo nat nach dem Abzug der franzo- wand, die nach Frciheit dürstende Bevollœrung nien in All ianz gegen Frankreidl führten. Dieser
sischen Besatzungstruppen, griffen Manner aus zu unterstützen, auf die Kontrolle der grenz- Konflikt erfasste zunachst Graubünden und ver- Die Hoffnungen von 1798 ...
Unterwalden ein Soldatenkorps der helvetischen nahen Gebiete Frankreichs abzielte - und dazu wandelte daraufhin den ostlichen Landesteil in den Welches auch immer die Urheber oder die Ziele
Regierung an. Dieses Gefecht war der Auftakt zum 'zahlte die Eidgenossenschaft. Zwar wurde die Jahren 1799 und 1800 wahrend mcluererM:onare in ail dieser Gewaltakte waren und in welcher Inten-
Stecklikrieg/ einem bewaffneten Konflikt zwi- Eidgenossenschaft, im Unterschied zu anderen ein euro pa isches Schlachtfeld.4 Aufgrund einer am sitat sie letztlich ausfielen, ihre Ursachen waren
schen Bürgern, in dem die Foderalisten ais Anhan- europaischen Regionen, nicht annektiert, sondern 19 . August 1798 unterzeichneten Offensiv- und De- im Kern immer dieselben. Die Aufstande wur-
ger der alten Ordnung und die gemassigten Unita- nur besetzt. Dennoch kam es beim Vormarsch der fensivallianz, die dem Direktorium in Paris schwei- den hervorgerufen durch Veranderungen, die das
rier, die eigentlich die Macht innehatten, einander Truppen der Grande Nation zu mehreren bluti- zerische Truppen zusicherte, stiessen die mit hel- schweizerische System umgestaltet hatten oder
wahrend mehrerer Wochen bekimpften. Die Fo- gen Gefechten. vetischen Kontingenten verstarkten franzosischen im Begriff waren, es umzugestalten. Einige die-
deralisten beherrschten zu diesem Zeitpunkt die Einige dieser Gefechte waren klassische Mili- Armeen mit russischen und osterreichischen Trup- ser Reformen waren schon lange ins Auge gefasst
Zentralschweiz und den Osten des Landes, wah- taroperationen, beispielsweise die Einnahme Berns pen zusammen, die ebenfalls zahlreiche Schweizer worden, namentlich unter dem Einfluss reform-
rend die Unitarier ihr Rückzugsgebiet im Westen der Hauptstadt des wichtigsten Schweizer Kan~ in ihren Reihen zahlten. aufklarerischer Diskussionen im deutschsprachi-
hatten. Mitte September beschossen Unitarier die tons, die mit drei blutigen und sinnlosen Schlach- Doch es war vor allem die Zivilbevolkerung, die gen Raum (siche Kapitel von André Holenstein,
aufstandische Stadt Zürich, wurden aber rasch zu- ten in Neuenegg, Fraubrunnen und im Grauholz, in dieser Situation unter den Verwüstungen und S. 339f.). Doch ihre Konkretisierung- sowohl in
rückgeworfen und am 3. Oktober an der freibur- geschlagen am s. Marz- einen Tag nach der Kapi- Entbehrungen zu leiden batte. Aus diesem Grund Worten wie in Taten - war direkt mit den Inter-
gisch-waadtlandischen Grenze in einer Schlacht tulation der stadtischen Behorden -, verbunden wurde das Land, obwohl es zwischen 18oo und 1802 ventionen Frankreichs verbunden.
geschlagen, die von den Angreifern ebenso wie von war. Bei anderen handelte es sich eher um Nieder- auch einige Monate des Friedens gab, immer wieder In den meisten der dem Direktorium unter-
englischen Kommentatoren als Sieg der Gegenre- schlagungen bewaffneter Rebellionen, etwa der ge- von sozialen Unruhen und politischen Aufstanden stellten Lander bedeutete der militarische Ein-
volution dargestellt wurde. waltsamen Widerstandsaktionen, die die Soldaten erschüttert. So kam es in diesen rund drei}ahren in marsch den Sturz der bestehenden Regierung und
Dem Stecklikrieg - seine Bezeichnung rührt des Direktoriums bei ihrer Ankunft in Gebieten kurzen Abstanden zu vier Staatsstreichen: Der ers te forderte den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Die
von der teilweise dürftigen Bewaffnung der Auf- mit «direkter» Demokratie jeweils auslosten. Das stürzte im Januar 18oo die Anhanger cines Unita- Schweiz stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme
standischen her - waren mehrere ungewohnt ge- gewalttatigste Ereignis dieser Art war die Schlacht rismus nach franzosischem Vorbild und brach te die dar: Ein kleiner Kreis der intellektuellen Elite be-
waltvolle Jahre vorausgegangen. Am 28. Januar vom 9· September 1798 zwischen Milizen und Bür- gemassigten, ebenfalls von Paris unterstützten Re- gann, die politischen, wirtschaftlichen und sozia-
1798 hatten die Soldaten des franzosischen tOi- gern von Nidwalden und den Soldaten des franzo- publikaner an die Macht. Diese wiederum muss- len Strukturen der Alten Eidgenossenschaft umzu-
ten im August einer offenjakobinischen Regierung gestalten. Das Grundmuster dieses Umbaus wurde
Platz machen, die ihrerseits im Oktober 1801 von durch die Verfassung vorgegeben, die der Basler
den Foderalisten gestürzt wurde, an deren Stelle Patrizier Peter Ochs (1752-1821) un ter dem Einfluss
im Apri11802 dann die Patrioten traten. und der Kontrolle Frankreichs schon Ende des
Diese politischen Umschwünge konnten die Jahres 1797 verfasst hatte. 6 Dieser am 12. Apri11798
Aufstande nicht verhindern, mit denen die ein- ratifizierte Text sah die Zentralisierung des Lan-
fachen Bürger ab 1798 gegen ihre jeweilige offi- des vor. Die über J ahrhunderte gewachsene territo-
zielle Regierung rebellierten. Aufschlussreich ist riale Struktur der Orte wurde aufgelost, und die
der Verlauf dieser Ereignisse: Wahrend die Wirren neu geschaffenen und sogar mit neuen Namen ver-
anfànglich vor allem von den Anhangern des tAn- sehenen Kantone bildeten nur noch Verwaltungs-
cien Régime und den Landsgemeindekantonen einheiten. Diese waren einer nationalen Exekutive
(t Landsgemeinde) ausgingen, waren sie spater zu- unterstellt, der ein aus zwei Kammern bestehendes
nehmend für jene Bevolkerungsteile charakteris- und vom Volk gewahltes Parlament zur Sei te stand.
tisch, die zuerst von den revolutionaren Ideen ein- Das Volk selbst wurde zum Souveran erklart und
genommen waren, dann aber durch die Art ihrer erhielt ein beschranktes, aber reales Stimmrecht.
Umsetzung bitter enttauscht wurden. Die Revolte lm Rahmen der indirekten Demokratie, zu der
der Bourla-Papay, der unzufriedenen Waadtlander die Schweiz damit geworden war, dekretierte die
Bauern, die im Frühling 1802 die herrschaftlichen Verfassung die Rechtsgleichheit der (mannlichen)
Johann Baptist Seele,
Kampf der Russen und Archive zu verbrennen suchten, kann hier als Bei- Bürger und anerkannte ausdrücklich die verschie-
Franzosen auf der Teufels- spiel angeführt werden.s denen Sprachen und Konfessionen.
brücke am St.-Gotthard-
Pass imJahre 1799, Ôl auf lm Sommer 1802 glich die Schweiz einem Pul- Alle helvetischen Bürger- mit Ausnahme der
Leinwand, 1Soz (Staatsgalerie verfass, dem nur noch ein Funke zur Explosion Juden- erhielten die Niederlassungsfreiheit. Diese
Stuttgart, Inv.-Nr. L 16), ©Photo
Staatsgalerie Stuttgart.- Bereits fehlte. Wurde diese Situation von Napoleon ver- Massnahme sollte nicht nur alte Zwange aufbre-
für die Zeitgenossen stellte kannt oder hat er sie herbeigewünscht? Jedenfalls chen, sondern auch dazu beitragen, die Wirtschaft
der Zusammenprall der Mach-
te in der sagenumwobenen zog er nach der Befreiung der Waadt und der An- zu modernisieren. Dasselbe Ziel wurde mit der Auf-
Schiillenenschlucht ein reiz- nahme einer neuen helvetischen Verfassung seine hebung der Zunftpflicht verfolgt. Darüber hinaus
volles Bildmoti v dar.
Truppen zurück. Und auf diesen Abzug folgte un- sah Artikel13 des Grundgesetzes die Abschaffung
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Die Geschichte der Schweiz Irène Herrmann
Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
HAUT- solches Programm der BevOlkerung betrachtliclle Ende- kaum dass sich mit dem Wegfall der auslan-
Adam Topffer (1766-1847),
<<La Machine a percevoir
/ l
,jr. . r..l
RH 1 N l'lm pot>> (Die Steuer-
Opfer abverlangt. Unter den Bedingungen der Ok- dischen Unterstützung für die Zentralregierung erhebu ngsmasch ine),
kupation, der Anwesenheit fremder Kriegsmachte die Gelegenheit dazu bot- in einen Bürgerluieg in: Daniel Baud-Bovy,
,!t•'"'•••~ \ Les caricatures d'Adam
und der politischen Instabilitat stellte sich dieses a us. In dies er Hinsicht ist der AuslOser des bewaff- Toepffer ct la Restauration
ehrgeizige Projekt als nicht realisierbar heraus. neten Konftikts doppelt bedeutsam: Der Steckli- Genevoise, Genève 1917,
Tafel XV.- Die Projekte
Damit wird verstandlich, warum ein Gross teil krieg begann weniger als zwei Monate nach der der napoleonischcn Periode
der in dieser Periode ausgearbeiteten Plane aufge- umstrittenen Verabschiedung einer Verfassung, stellten sich als finanzielles
Desaster heraus; es muss·
geben werden musste. In dieser Situation bemüh- der wegen ihrer Annahme in einer Volksabstim- ten nene Steuern erhoben
ten sich die helvetischen Behorden, ein Chaos zu mung Novitatscharakter zukam, und nach dem werden. Die Genfer fühl·
ten sich von der Steuerlast
verhindern, wie es oft aus unvollendeten Refor- darauffolgenden Abzug der in der Schweiz statio- erdrückt. Die Legende über
men resultiert. Manche Reformen wurden ganzlich nierten franzosischen Besatzungstruppen. der «Bürgerpresse» lauret:
«Petit appareil servant à
zurüclcgenommen. Dieses Los war namentlich der Aus ali diesen Gründen brachte die Gewalt diminuer ou augmenter la
Pressefreiheit beschieden, die im November 1798, in den Jahren der Helvetischen Republik ein fata- générosité des citoyens»
(Kleiner Apparat zurVerrin-
nur wenige Monate nach iluer Einführung, wie- les Amalgam hervor, das aus starkem Reformwil- gerung oder Vergriisserung
der aufgehoben wurde. Das gleiche Schicksal traf len einerseits und der Angst vor einer Invasion von der Freigebigkeit der Bürger).
die Abschaffung der Feudallasten: Aus Geldman-
gel entschied die Regierung am 15. September 18oo,
die entsprechenden Abgaben wieder einzuführen
dies sogar rückwirkend für die bei den vergangenen
Jah re- und zusatzlich zu den neu erhobenen Steu-
ern! Damit vergrosserten die Behürden schlagartig
das Heer der Unzufriedenen: Zu den Gegnern der
SA L P 1 N. J C H E Zehntabschaffung kamenjetzt noch alljene hinzu,
die sich über die Wiedereinführung argerten.
R PU 1LIK Dieses Beispiel zeigt die Widersprüchlichkeit
der ab dem Frühling des Jahres 1798 eingeführten
Helvetische Republik
Reformen, von denen die meisten nur mit Unter-
......... Departementsgrenzen N stützung von aussen und mithilfe betrachtlicher
~
~ Landesgrenzen ......... heutige Landesgrenze
Geldmittel in zufriedenstellender Weise umsetz-
--',. Kantonsgrenzen
• Kantonshauptorte bar waren. Ais die fremde Hilfe zu prasent wurde
'-----'2::.::.5km
Die Zahl der wiihrend der Helvetischen Republik neu geschaffenen Kantone schwankte zwischen 10 und 22. Die Bezeichnungen der stadtischen Kantone wandelten und die eingeleiteten Massnahmen die Staatsfi-
SIC.h mcht, aber 1hre Grenzen wurden neu gezogen. D1e Landkantone iinderten darüber hinaus auch ihre Na men. Erst 1802 kehrte man mehr oder weniger zu den nanzen schwer zu belasten begannen, erwies sich
fruheren Grenzen und Bezeichnungen zurück, wobei der Aargau, der Thurgau, St. Galien. Graubünden, das Tessin und die Waadt ais neue Kantone fortbestanden.
Que/le. HLS, Bd. 6, S. 260, «Helvettsche Republik», © 2013 Historisches Lexikon der Schweiz, Bern, und Koh/i Kartografie, Kiesen. das Projekt der gesellschaftlichen Erneuerung ais
Îlnmer weniger durchführbar. Vor diesem Hinter-
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Zwischen Ang st und Hoffnung . Eine Nation entsteht (1798-1848)
Die Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann
verischcn Truppen in den napoleonischen Kd egen chem Ausmass anzuhaufen, wie es in der klein-
Habitants de l'Helvétie! [... ] Vous vous êtes disputés trois ans sans gen über den kü uftigen Weg der Eidgenossenschatt
ulieb ]loch. Ge.radezu legendar wurdc elie Opferbe- raumigen Eidgenossenschaft mit ihrem ruhigen
(( VOlis entendre: si l'on VOliS abandon11e plus longtemps à vous-mêmes, encgegen. Die Au fmeri<Samkei t, die er d iesen Be-
Wirtschaftsleben kaum vorstellbar gewesen ware.
vous vous tuerez trois ans sans vous entendre davantage. Votre histoire richten schenkre erldart sich aus seiner Absichc reitsdlaft clieserTruppen in der Schlachr an der Be-
lm Herbst 1813 schlug für die Schweiz mit
prouve d'ailleurs que vos guerres intestines n'ont jamais pu se terminer que jede andere fremde Macht daran zu hindern, di~ resi na. Andere Scbwcizer verptlichteten s.ich in den
Annee.n der verbünderen Monarchen, so dass sich Napoleons Niederlage bei Leipzig die Stunde der
par l'intervention efficace de la France. Il est vrai que j'avais pris le parti de helvetischen Wirren zum eigenen Vorteil auszu-
am 19. Juli 1808 in der Sdtlacht von Bailén in Spa- Befreiung. Dies führte zu einer Situation, die frap-
ne me mêler en rien de vos affaires. [...]Mais je ne puis ni ne dois rester nützen. Seine Absicht war es, sich die Unterstüt-
nien eidgenossische Soldner beider Lager gegen- pierende Analogien zu früheren Szenarien erken-
insensible aux malheurs auxquels vous êtes en proie; je reviens sur ma zung des kleinen Nachbarlandes für die in abseh-
nen lasst. In dem sich selbst überlassenen Land bra-
résolution: je serai le médiateur de vos différends.[ ... ] Il n'est aucun homme barer Zeit ausbrechenden Kriege zu sichem. überstanden.
Diese militarischen Engagements belaste- chen einmal mehr schwelende innere Spannungen
sensé qui ne voie que la médiation dont je me charge est pour l'Helvétie un Diese europaische Perspektive wird in den Be-
ten die Bevolkerung schwer. Da sich die Schweiz auf, die es moglich machten, dass fremde Mach te
friedungsbemühungen der sogenannten Media-
bienfait de cette Providence qui, au milieu de tant de bouleversements et de in der franzosischen Einflusssphare befand, war über sein Schicksal entscheiden konnten.
tionsakte sichtbar, jener von Bonaparte garantier-
chocs, a toujours veillé à l'existence et à l'indépendance de votre nation.»* sie ab 1806 zudem von den mit der Kontinental-
ten Verfassung, die fo rtan die innere Organisation
Napoleon Bonaparte am 30. Septernber 1802, zit. in: Carl Hilty, Les Constitutions fédérales
spcrre einhergehenden wirtschaftlichen Schwie- Die Schweiz im postnapoleonischen Europa
de la Suisse, Neuchâtel1891, S. 358-360. der Schweiz regeln soUte. Ihr Text ist darauf ange-
------------------------- rig1<eiten betroffe n. Allerdjngs batte das Land Kaum war Napoleon gezwungen, die Umklamme-
lege, mit der revolutionaren Periode abzuschlies-
dank seiner anerkannten - wenngleich nur teil- rung der Eidgenossenschaft zu lockern, meldeten
aussen respektive vor Chaos im Inneren anderer- sen, die gemassigte Rückkehr zu den früheren
weise respektierten- Neutralitat weniger zu lei- die bernischen Eliten ihren Anspruch auf den Aar-
seits bestand.11 Diese konflikttrachtige Ambivalenz Regierungsstrukturen jedoch mit der Schaffung
den als andere Gebiete in Europa. Den Mutigen gau und das Waadtland wieder an. Damit schür-
wirkte sich auf samtliche Lësungen aus, die zur Be- einer neuen Institution und einer neuen Funk-
eriiffneten sich indes phantastische Karrieremiig- ten sie die Restaurationsgelüste der alten Kantone,
waltigung der Krise und des Stecklikriegs von 1802 tian zu konsolidieren: der eines t Landammanns
lichlœiten. Das ist besonders in den von Frank- wahrend sie bei den neugeschaffenen Kantonen
ins Auge gefasst wurden, und pragte auch die nach- der Schweiz. Dieser soli te im Wesentlichen als Ver-
reich annektierten Gebieten erlœnnbar, beispiels- für erhebliche interne Spannungen sorgten, die
folgenden Generationen massgeblich. Sie schuf das bindungsglied zwischen dem künftigen Kaiser und
weise im Falle Genfs. Nachdem die Calvinstadt im sogar in bürgerkriegsahnliche Zustande umzu-
politische und emotionale Spannungsfeld, in dem den Regierungen der Kantone dienen. 12
Jahr 1798 Hauptstadt des Département Léman ge- schlagen drohten. Die tiefen Zerwürfnisse der Eid-
sich die Entwicklung des Landes und der gesell- Auf diesem Weg konnte Napoleon den führen-
worden war, boten sich den jungen Leuten uner- genossen beunruhigten auch bsterreich, das sich
schaftlichen Akteure vollzog. Wahrend der gesam- den Mitgliedern der alten Oberschicht, welche die
wartete Bildungs- und Berufsperspektiven. Der gemeinsam mit den übrigen Siegermachten um
ten ersten Jahrhunderthalfte standen dem in den Geschicke des Landes nun wieder in Handen hiel-
spatere General Guillaume-Henri Dufour (1787- die Wiederherstellung des Friedens in Euro pa be-
Projekten der Helvetischen Republik kurz aufblit- ten, Anordnungen und Mahnungen zukommen
1875) etwa erhielt seine Ingenieursausbildung mühte, wobei man grossen Wert auf den Fortbe-
zenden Optimismus und der Hoffnung auf die Ge- lassen. Bis zu ihrer Abschaffung im Jahre 1813 si-
und seine militarische Schulung innerhalb des stand der territorialen und staatlichen Grenzen
staltung eines besseren Lebens Angst, Misstrauen chertejene neue Institution die Ruhe im Land. Die
franzosischen Systems; er erwarb damit einen legte. 14 Um ihr Vorhaben abzusichern, beschlos-
und ein Gefühl der Erniedrigung gegenüber. acht Manner, die nacheinander die Funktion des
Teil der Kenntnisse, die er spater an die eidgenos- sen die Alliierten, Frankreich mit einem Gürtel
Landammanns ausübten, drohten bereits bei den
sischen Offiziere weitergab. 13 Andere wiederum von Pufferstaaten zu umgeben. Dieser Plan konnte
DIE RESTAURATION geringsten Anzeichen von Chaos oder von Rache-
nutzten die Gelegenheit, ein Vermogen von sol- aber nur funktionieren, wenn die Schweiz genü-
lM EUROPAISCHEN KONTEXT pEinen gegenüber den Anhangern des frühe-
ren Regimes mit einer militarischen Intervention
Die Schweiz in der napoleonischen Ordnung Frankreichs. Die Besetzung des Tessins und die
In ihrer Ohnmacht angesichts des die Eidgenossen- Umwandlung der unabhangigen Republik Wallis
schaft entzweienden Bürgerkrieges baten die hel- ins franzosische Département Simplon imJahr 1810
vetischen Behorden Napoleon Bonaparte im Sep- liessen eine solche Drohung durchaus glaubhaft er-
tember 1802 um Intervention. Napoleon konnte scheinen, obwohl jene territorialen Anpassungen
in dieser Lage die Art seines Eingreifens nach Be- mit den Gegebenheiten der aktuellen Machtver-
lieben wahlen. Rasch setzte er die aufstandischen haltnisse in Europa zusammenhingen und nichts
Foderalisten schachmatt und bot seine «média- mit dem Verhalten der Schweizer zu tun hatten.
tion» an. Das ersparte ihm den kostspieligen Ein- Über die Schlüsselposition des Landammanns
satz von Streitkraften zur Aufrechterhaltung der konnte Napoleon zudem Soldaten anwerben, die
<<Vorstellung der Herren
helvetischen Ordnung und beliess ihm sowohl die sein Kaiserreich in immer grosserer Zahl benotigte. mit den Scheren>>, Holz-
politische Kontrolle als auch die militarischen Vor- Durch die Militarkapitulation vom 27. September schnittillustration aus
einem zeitgentissischen
teile, die Frankreich bereits jetzt aus dieser Abhan- 1803 waren die Kantone verpflichtet, Frankreich Kalender, 1815 (Schweizerische
gigkeit zog. 16 ooo Mann zu stellen. Diese Zahl übertraf bei wei- Nationalbibliothek).- Europa,
versinnbildlicht in der mi tt-
AmEnde des Jahres 18o2lud Napoleon rund rem den Bestand der eigenen Armee und entsprach leren Gestalt, steht irn Span-
sechzig Schweizer Abgeordnete, mehrheitlich Uni- nahezu 1 Prozent der gesamten Schweizer Bevolke- nungsfeld zwischen der
<<gottgewollten Ordnung>>,
carier, nach Paris ein und nahm ihre Berichte mit rung. Zwar wurde sie nachtraglich auf 12 ooo redu- einern Putto, der die Insig-
den darin enthaltenen divergierenden Vorstellun- ziert, doch das militarische Engagement der hel- nien kirchlicher und weltli-
cher Fürsten verstreut, der
realen Macht von Politikern,
' <<Bewohner Helvetims! 1·:·1Ihr habtdrei]ahre lang miteinander gestrittm, ohne eine Verstiindigrmgzu erreichen. Wmnihrnoch liingerEuch die mit ihren Scheren Terri-
selbstuberlassen blerbt, wtrd es dret wettere]ahre Totschlaggeben - und ebensowenig Verstiindigung. Im Übrigen zeigt Eure Geschichte, dass torien zuschneiden, und dern
Eure mneren Krtege stets nur durch dre tatkriijtige Intervention Frankreichs ein Endejanden. Es ist zwar richtig, dass ich beschlossen hatte, das Ganze kritisch beaugen-
mt ch tn kemer Wezse zn Eure Angelegetzheiten einzumischen. [...}Aber weder kann aoch darj ich unberiihrt bleiben von dem Unglück, das Euch den Kalendermann, der
heunsucht: Daher komme teh aujmemen Entschluss zuriick: Ich werde derVermittlerin Euren Streitigkeiten sein. (...]]eder vemünftfgc ais Identifikationsfigur des
Mensch wtrd eznsehen, das.s dte Vermtttlung, dre teh aujmich nehme,fiir Helvetien ein Segen ist, ein Winkjener Vorsehung, die durch so viele Betrachters fungiert.
Umwalzungen und Erschutterungen hmdurch un mer über dem Fortbestand und der unabhiingigkeit Eurer Nationgewacht hat.»
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sondere auch seine Innenpolitik. schen System zurück, das vor der Revolutionszeit Sterbefiil/e
geherrscht hatte.
Von 1803 an besass die Schweiz drei verschie-
DIE RESTAURATION lM INNEREN dene politische Herrschaftsformen zur gleichen
40 ••••••'*''" ''iouoooo••ol••••••••••;,.,,,,,.,,,,:,,~,,.,,,,l•••• .. oooo,•oooooo••ouo••""'''''"''''"''.:.'''' ' ' ' ' " ' ' " ' ' ' ''''"'''''''''."'''''"u• • • O •• 80 000
Politische Neuordnung Zeit. Die neuen Stande neigten zum System der .................................: •• •
::~tË;;~2:5;E:~~~~!:~iËË~?ÉËS~~~;:~~:~E:l~:!~~;f.:.:?::;~
•
Allianzen einzugehen oder sich mit auslandischen
Geschichte des Landes. Nach fünf besonders trau-
Machten zu verbünden. Der Bundesvertrag schuf
matisierenden }ahren waren die alten Führungs- klassan nlcht ohne Elnfluss auf die Vltalltilt unserer Bev erung ge .
auch die nutzlos gewordene Funktion des Land-
schichten ab 1803 bestrebt, das Regierungssystem,
ammanns ab. Die Zahl der Vorortskantone (tVor- Bern, Jg. VI und VIl für 1871 und 1872, S. 232 f.] . hi ue Euro éen; Hansjorg Siegenthaler, Halner Ritzmonn-8/Jckenstarfer (Hg.),
das sie unter dem revolutionaren Druck hatten auf- Quel/en (Doten): Bundesomr fO~ Sra_rlsr/k 1 Observa~~;~g~:;;:~hurien- und ~terberaten var 1861 beruhen ouf Sch/itzungen),
ort), in denen die Tagsatzung turnusgemass tagte, Histortsche Stotfst/k der Schwe1z, lOr/ch 1996, S. 18 ,,
geben müssen, zu restaurieren. Dieser politische © 2013 Schwabe AG, Ver/ag, Base/, und Marc SJegenthafer, Bem.
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okonomische Macht der als Unternehmer tatigen Das Bewussrsein, in ihren jeweiligen Kanron
Bürger wuchs, verlangten diese auch, ihrem Wahl- emer vor allem über die Schweizer Soldner, die vom
· Mm' d er11e1t
· anzugehoren, brach te sie dazten
euen franzosischen «Bürgerkonig>> Louis Phi-
stand und ihren Kompetenzen entsprechend an sich über alle politischen Differenzen und dt' n
der politischen Gestaltung beteiligt zu sein und sprachlichen und rel igiosen Umerscl1ieèiehinwe e lippe verabschiedet worden waren. Die }LùJtevo-
'
reagierten enttauscht und verargert, wenn sich Jution lieferte einen zusatzlich.en Beweis flir die
zusamrnenzuschliessen. 45 Durd1 Presseorgan! verandcrbarlœi t einer vermeintlich fest ve.ranlœr-
diesbezüglich nichts veranderte. Die Regierun- wie die 1828 gegründete «AppenzeUer Ze itun~>
rcn Ordnung und für die wicbtige Rolle, die de.rn
gen gerieten besonders dann in arge Bedrangnis, oder Vereine wie die 1819 eursrandene Studentcn-
volk bei eine.r solchen Umwalzung zukommen
wenn sich solcher Unmut mit der Unzufrieden- verbindung Zojingia, 46 aus der 1832 ein radikaler
hei t weniger privilegierter Bevolkerungsgruppen Flügel, die Helvetia, hervorging, entwickelte und J<Onnte. Auf inrernatioualerEbene führte sie aus-
verband. scrdem vor Augen, dass nicbtjederRegimewech-
verbreitete sich liberales Gedankengut. Die auf sel zwangslaufig mit e.iJ1er Invasion fremder Ar-
Die Petitionen und Gesuche, die im Hin- diesem Wege propagierten Ideen waren nicht ein-
meen sanktio.niert werden mt1ssre. En tgegen den
blick auf die Ausarbeitung neuer Kantonsverfas- heitlich und variierten oft von Kan ton zu Kan ton.
.Bestrebungcn des Zaren gelang es England, das
sungen zusammengetragen wurden, geben die Verbindend war die Forderung nach einer Erwei-
Eingreifen der Gross mach te in Frankreich zu ver-
Stimmungslage in der Bevolkerung anschaulich terung der Grundrechte, auch wenn die prakti-
hindern. Der franzosische Konig Louis Philippe
wieder. Alles in allem sind es desillusionierte Be- sche Ausübung dieser Rechte durch diverse Vor-
schlass sich der britischen Sicht der Dinge rasch
rich te über die Gegenwart, durchzogen von Ver- kehrungen wieder eingeschrankt werden soUte.
an und veranderte damit das Allianzgefüge in Eu-
gangenheitssehnsucht und Zukunftsangst. Trotz Wesentlich für die Herausbildung des Liberalis-
ropa merklich. lm Schutze dieser Konstellation
der Vielfalt der Eingaben lassen sich drei domi- mus schweizerischer Pragung war das mehrstu-
führten die Schweizer Kantone ihre Regeneration
nierende Themen unterscheiden: Wie die Unter- fige Verwaltungssystem, das gelegentlich auch
durch- doch soUte sich dies er Schutz bald ais fra-
nehmer forderten auch einige dies er Gesuchsteller den liberalen Theoretikern und Vordenkern er- Johann Baptist Kirner,
gil und wenig dauerhaft erweisen. 47 ben, wo er die Bewegung]unges Europa gründete, ei-
eine bessere Vertretung der Landschaft, das heisst laubte, ein offentliches Amt auszuüben und sich Ein Schweizer Gardist
mehr Mitspracherechte bei Entscheidungen, die auf diesem Weg mit den Tücken der Machtaus-
Die Geschebnisse in Frankreich regten auf nen Geheimbund mit mehreren nationalen Sektio- erzahlt in sein er Heimat
dem ganzen Kontinent zur Nachahmung an. Mit nen, von dem man glaubte, dass er den Kontinent seine Erlebnisse wahrend
schliesslich in erster Linie sie betrafen. Die Ein- übung vertraut zu machen- zumindest auf kom- der Pariser Julirevolution
Ausnahme des Aufstands in Belgien müssen diese 'revolutionieren und auf republikanische Grundla- von 1830, Ôl auf Leinwand,
gaben verraten zudem die Verbitterung der Bau- munaler Ebene. Der schweizerische Liberalismus
umwalzungsversuche aber als gescheitert betrach- gen stellen wolle. 1836 wurde Mazzini ausgewiesen, 1831 (Staatliche Kumthalle
ern angesichts der hohen Preise für die Ablosung unterschied sich fortan von anderen europaischen Karlsruhe). - Schweizer Sold-
tet werden. Die Unruhen führten im Gegenteil bei dies, nachdem die meisten Kantone - nicht ohne ner verteidigten 1830 das
der Feudallasten oder der extremen Langsamkeit Varianten durch seinen im Allgemeinen pragma-
den umstrittenen Machthabern zu Verhartungs- Protest- einem tKonkordat zugestimmt hatten, Bourbonen-Konigtum erfolg-
des Reformprozesses. Und sie drücken eine grosse tischeren Ansatz. los gegen die aufsüindischen
tendenzen, die sich rasch auch auf die Schweiz aus- das die Ausweisung von Fremden vorsah, deren re- Bürger von Paris, die für mehr
Beunruhigung über die Verbreitung der neuen
wirkten. Ende des ]ah res 1830 war die internatio- volutionare Umtriebe die internationalen Bezie- Freiheit kampften. Es ware
Maschinen aus, die den Reichtum der Unterneh- Europaische Hintergründe interessant zu hëren, was sie
nale Situation so angespannt, dass die Tagsatzung hungen der Schweiz gefâhrden konnten. 49 Diese zu Hause einer gebannt
mer begründeten, zugleich aber das Gespenst der und Verwicklungen lauschenden Zuhtirerschaft
eine Mobilisierung der Truppen beschloss, um die Haltung war Ausdruck einer - manchmal wider-
Arbeitslosigkeit, der Armut und des Elends um- Neben dem liberalen Gedankengut aus Frankreich berichteten. Schilderungen
gehen li essen. 44 Grenzen zu schützen. strebenden - Politik der Willfâhrigkeit, zugleich von Schweizer Stildnern in
und England beeinflusste auch die Haltung der Im Bereich des Asylwesens kam es schliesslich aber auch Anzeichen eines in der Luft liegenden franztisischen Diensten, wel-
Die von den kantonalen Behorden der Medi- Grossmachte gegenüber der Eidgenossenschaft die che die Unruh en zu Beginn
emeut zu verstarktem Druck von aussen. Die ge- grosseren Umschwungs. der 183oer Jahre miterlebt
ation und dann der Restauration angeordnete Ab- Anfânge der schweizerischen Regeneration. Tar- hatten, ermutigten jedenfalls
scheiterten Revolutionen führtenzahlreiche Flücht- Nach dem Attentat Giuseppe Fieschis auf
schliessung der politischen Institutionen forderte sachlich fâllt das Anschwellen der Proteststromun- zu den Revolutionen, die in
linge in die regenerierten Kantone, die nicht un- Louis Philippe vom 28. Juli 1835 und der darauf der Eidgenossenschaft
Missmut und Frustration. Ab dem Ende der 182oer gen zeitlich mit einer gewissen Lockerung der inter-
glücklich darüber waren, jene verbannten Gesin- folgenden Conseil-Affareso begann Frankreich sch\iessl ich allenthalben
Jahre ideologisierte und organisierte sich das La- nationalen Kontrolle über die Schweiz zusammen. ausbrachen.
Versammlung vor einer nungsgenossen aufnehmen zu konnen, und die der Schweiz unmissverstandlich zu drohen. Aber
Sennhütte in Ayent im
ger der Unzufriedenen in zunehmendem Masse. Nach dem Tod Alexanders I. von Russland und
vor den revolutionaren Aktivitaten, die diese Exi- die Stimmung hatte sich in der Zwischenzeit ge-
Wallis, in: Die Schweiz, der Ablosung der reaktionarsten auslandischen
historisch, naturhistorisch lanten von der Schweiz aus weiterhin gegen ihre andert, so dass die Drohungen das Gegenteil
und malerisch dargestellt, Gesandten wie des osterreichischen Botschafters monarchischen Regierungen betrieben, oft die Au- der erhofften Wirkung erzielten. Aufgeschreckt
Neuchâtel1836 (UB Base/, Franz Alban von Schraut, des franzosischen Mar-
Sign. Fa lk 72). -Der Verfasser gen verschlossen. Diese Situation verargerte vor durch die Intrigen, die Charles Louis Napoléon
trifft auf einer Wanderung quis Clément-Edouard de Moustier oder des Bayern allem 6sterreich, das die eidgenossischen Behor- Bonaparte vom Thurgau aus schmiedete, um auf
jene seltsame Versammlung
von Mannern <<mit Iangen,
Johann Franz Anton von Olry war ab Mitre der den mit diplomatischen Noten geradezu über- den Thron seines Onkels zu gelangen, forderten
schwarzenHaaren und trot- 182oer Jahre der ultrakonservative Druck der euro- schwemmte. Von da an schwankte die Tagsatzung die franzosischen Behorden die Ausweisung des
zigen Mienen» an; «ein
einziger von ihnen sass und
paischen Grossmachte weniger stark spürbar. Aus zwischen Lavieren und Sichfügen. Wenn eine Ange- Prinzen - gegen den Willen des Kantons, dessen
schien der Prasiden t zu sein; diesem Grund war es derTagsatzung 1829 moglich, legenheit und ihre Protagonisten zu bedeutend wa- Bürgerrecht dieser bekommen batte. Ende des
er führte das Wort und zeich- das Presse- und Fremdenkonklusum aufzuheben,
nete auf ein Stück Papier[ ... ] ren, als dass man sie in den verschlungenen Wegen Sommers 1838 hob Frankreich eine Armee von
eine Art von Hieroglyphen>>. oh ne dass jemand in Euro pa ihr deswegen Vorhal- der Verwaltung batte versickern lassen konnen, zo- 25 ooo Mann aus und verlegte sie an die Gren2e
Worüber hier so ernsthaft tungen gemacht batte.
debattiert wird, bleibt de rn gen es die Magistraten vor, sich zu beugen oder gar zur Schweiz. Diese Einschüchterungsversuche
Wanderer verborgen, doch Mit dem Nachlassen der Bedrohung von aus- den Forderungen der Grossmachte zuvorzukom- empfanden die Schweizer Politiker als Demüti-
eine in der Nahe weidende sen nahm automatisch die Erhitzung der Gemü-
grosse Kuhherde lasst ihn men. So entschuldigten sie sich 1834 bei Sardinien gung, und sie beschlossen, sich den Zumutungen
begreifen, dass «alle diese ter im Inneren zu. Doch für den entscheidenden dafür, dass Giuseppe Mazzini48 in seinem Schwei- aus Paris energisch zu widersetzen, ungeachtet
Mann er irgend ein Eigen-
thumsrecht an diese [sic]
Schritt von der Reform zur Revolution bedurfte zer Exil ungehindert polnische, deutsche und itali- der damit verbundenen Invasionsgefahr. Gross-
Herde hatten, und si ch hier es emeut eines Beispiels aus dem Ausland- in enische Emigranten zu einer Revolte hatte aufwie- britanniens Bemühungen um Entspannung der
versammelten, um den
Gewinn z u rh eilen».
diesem FaU war es die }ulirevolution. Die Nach- geln konnen. Eine gescheiterte Expedition zwang Lage und dieAbreise von Charles Louis Napoléon
richt vom Umsturz in Paris verbreitete sich rasch, Mazzini schliesslich dazu, in der Schweiz zu blei- Bonaparte nach England am 15. Oktober 1838 setz-
388
389
Oie Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
ten der Episode schliesslich ein Ende. Dieser di- DIE REGENERATION IN DEN en versprach. Iudem die Umwa1zungen di- sonliche Freiheit, Niederlassungs-, Gewerbe-,
plomatische Zwischenfall spiegelt exemplarisch KANTONEN I<ODlll1 • Petitions- und Pressefreiheit sowie die Eigen-
li vcrfassungsanderwlgen führten letsteten
die vern Bewusstsein der internationalen Schwa- ~« 1 ~ . . tumsgarantie. Vordergründig gewann also die Be-
. dem Gewi:i.h r fii.r ihre eigene Dauerhafngkett.
che der Schweiz und von ihrem Streben nach na- Die politische Regeneration 51e zu . . . . vëlkerung zahlreiche Rechte, die ih r bei der Ver-
tionaler Behauptung gepragte Atmosphare je- Die Haufung der liberalen Staarsstreiche zu B . 110 die neuen Grundgeserze emte, bet aller Un- waltung des Gemeinwesens mehr Gewicht geben
pe chiedlichl<eit das Bemüben umdieBewahrung
nes langen Jahrzehnts. Auch mach t die Affare die d et. 1830er J.ah re l1mg . l1t nur m it dem uegllln
. ntc cers f . li . l d
.. . 11 lllttt der liberalen Vorherrscha t un po :•sc 1cn un so- sollten. Bei genauerem Hinsehen stellt manjedoch
scheinbar paradoxen Bemühungen um Liberali- wa cl1sender Bevolkemngsgrnppcn und der v . . ol<onontischen Lebender regenenertenl<aorone. fest, dass diese Errungenschaften vor allem ihren
sierung einerseits und Nationalisierung anderer- übergehend gesllllkenen Wachsamkeit der Gr ° 1 ~
seits verstandlich, die sich im Wesentlichen vor- machte zusammen. Die damais vorherrsche ssd 0 z tO ..
oie gleichen Uberlegtmgen, d 'te m
. F· ran 1ue1c
. h jeweiligen unmittelbaren Forderern zugutekamen
.. n e bei der Einfülu·ung des 1'Zensus~ahlrechts 11ach und dem gemeinen Volle nur in sehr beschranktem
erst innerhalb der kantonalen Grenzen auswirken po1msc 11eArmosphare ist auch auf die Anziehun • dem staatsstreich vom <<18 Brumrure >massgebend Masse zu mehr Einfiuss verhalfen. Die führenden
sollten, wo sich, geschützt vor den interventio- kraft der Libcralen Ideologie zurückzuführen :. gewescn waren,s• veranlassten 1m1~ die Eliten d~r Personlichkeiten der Regeneration waren namlich
nistischen Absichten der Grossmachte, ein neues SI"clJ a1s 1"dea1cr Weg zur Lësung der winschaftspo-
' te regeneriertcn Kantone, jenes staathche ?rgaL1 m!t der Überzeugung, dass sie am besten in der Lage
Zusammengehorigkeitsgefühl herauszubilden litiscllen Probleme der I<antone an bot, als Weg, der den meisren Befugnissen auszustatten, 111 dem ste seien, für das Wahl des Vallees zu sorgen. Vor al-
begann. zudem oh ne die Exzesse der Revolutionszeit auszn- se1bst am besren vertreten sein würden. Dies führte
unweigerlicl1 zur Beschneidtmg der Reelue und (Fortsetzung von Seite 390)
Vergleichende und chronologische Tabelle der Errungenschaften Kompetenzen des Kleinen Rats. Sicherlich spielte Johr Erworbenes Recht Kan ton
in den verschiedenen regenerierten Verfassungen
dabei auch das Bedürfnis nach Rache an jenem 1832 Abschaffung der erbl. Rechte von Handel und Gewerbe BL
Johr Erworbenes Recht Kan ton ehemals machtigen Organ eine Rolle. Allerdings Recht auf Schadenersatz und Rehabilitierung BL
1830 Abschaffung der erbl. Rechte von Handel und Gewerbe Tl musste die Zahl der Exekutivmitglieder aus prak- Verfassungsinitiativrecht BL
Petitionsrecht Tl tischen Gründen beschrankt bleiben. Schon allein Wahl der Parlamentarier in direkter Volkswahl BL
Eigentumsgarantie Tl deswegen entsprach der Kleine Rat den Ambitio- Eigentumsgarantie BL
Niederlassungsfreiheit auf dem ganzen Kantonsgebiet Tl nen der zahlreichen Unternehmer, freiberufiich Parlamentarische lmmunitat BL
Pressefreiheit Tl Tatigen und reich gewordenen Vertreter des ter- Entschadigung für die gewahlten Volksvertreter BL
Rechtsgleichheit, Handels- und Gewerbefreiheit Tl Œiren Sektors nicht mehr, die sich deutlich bessere Verbot der Errichtung von Allodien BL
Wahl eines Verfassungsrats AG, BE, FR, LU, SH, VD chancen auf angemessene Reprasentation im Gros- Verbot der lebenslanglichen Dienstverpflichtung BL
Obligatorisches Verfassungsreferendum Tl sen Rat ausrechnen konnten. Verbot der Todesfallabgabe BL
Volkssouveranitat Es ist daher nicht verwunderlich, dass die ent- Vereinsfre iheit BL, ZH
Tl
1831 Abschaffung der Folter BE, FR, ZH scheidenden Kompetenzen der Legislative zuge- Niederlassungsfreiheit für Bürger anderer Kantone BL
Abschaffung der erbl. Rechte von Handel und Gewerbe SG, SO, TG sprochen wurden. Auch hier gab es erhebliche Un- Niederlassungsfreiheit auf dem ganzen Kantonsgebiet BS
Keine Vorrechte für Handel und Gewerbe FR, LU, VD terschiede zwischen den Kantonen, aber in allen Meinungsausserungsfreiheit BL
Recht auf konfessionell gemischte Ehen SG revidierten Verfassungen wurde das Parlament Glaubens- und Gewissensfreiheit BL
Verfassungsinitiativrecht zum wichtigsten Rad im Getriebe des Staates: Es Pressefreiheit BS
AG, LU, SH, TG
Beschrankte Handels- und Gewerbefreiheit war das Parlament, das die Gesetze vorschlug und Freiheit, ohne staatliche Erlaubnis zu unterrichten BL
AG, BE, SH , ZH
Petitionsrecht ratifizierte. Das Parlament bestimmte die Politik Rechtsgle ichheit, Handels- und Gewerbefreiheit BS
AG,BS, BE,FR, LU,SG,SH,SO,TG , VD, ZH
Vetorecht SG des Kantons, entschied über Budgetfragen und Obligatorisches Verfassungsreferendum BS
Wahl der Parlamentarier in direkter Volkswahl SG, TG , VD beschloss die Instruktionen für die Tagsatzungs- Volkssouveranitat BL, ZH
Wahl durch gemischtes Verfahren AG, SH, SO, ZH gesandten. In allen grossen Kammern war nun die 1833 Petitionsrecht sz
Wahl durch Wahlmanner BE, FR, LU Landschaft besser vertreten als in der Vergangen- Vetorecht BL
Eigentumsgarantie AG,BE, FR,LU,SG,SH,SO,TG,VD,ZH heit. Zudem wurden die Vertreter vom Volk ge- Eigentumsgarantie sz
Parlamentarische lmmunitat VD wahlt, bei dem nunmehr - wie immer wieder be- Niederlassungsfreiheit auf dem ganzen Kantonsgebiet sz
Entschadigung für die gewahlten Volksvertreter FR,TG,VD tant wurde- die Souveranitat lag. Pressefreiheit sz
Verbot der Errichtung von Allodien ( 1' A!lod) SG In Hinblick auf die Stimmberechtigung Rechtsgleichheit, Handels- und Gewerbefreiheit sz
Niederlassungsfreiheit für Bürger anderer Kantone BE, TG herrschten allerdings grosse Ungleichheiten. Die Obligatorisches Verfassungsreferendum sz
Niederlassungsfreiheit auf dem ganzen Kantonsgebiet AG , BE, FR, LU,SG,SH,SO,TG,VD, ZH Diskriminierung betraf zum einen Frauen gene- Volkssouveranitat sz
Meinungsausserungsfreiheit AG, LU, TG rell,SZ zum anderen aber auch Manner, etwa jene, 1836 Recht auf konfessionell gemischte Ehen GL
Glaubens- und Gewissensfreiheit die wegen Unmündigkeit, Unselbstandigkeit oder Petitions recht GL
AG, BE, TG, ZH
Pressefreiheit Nichtzugehorigkeit zum Kan ton vom Wahlprozess Eigentumsgarantie GL
AG,BE,FR,LU,SG,SH,SO,TG,VD,ZH
Freiheit, ohne staatliche Erlaubnis zu unterrichten ZH ausgeschlossen waren. In den meisten Kantonen Niederlassungsfreiheit auf dem ganzen Kantonsgebiet GL
Rechtsgleichheit, Handels- und Gewerbefreiheit konnten die Kantonsbürger ihre Vertreter selbst Glaubens- und Gewissensfreiheit GL
AG,BE,FR,LU,SG,SH,TG,VD,ZH
Wahl aines Verfassungsrats und ohne Diskriminierung aufgrund des Vermo- Pressefreiheit GL
BL
Unschuldsvermutung in Gerichtsprozessen BE gens wahlen, in den konservativsten Kantonen wie Rechtsgleichheit, Handels- und Gewerbefreiheit GL
Obligatorisches Verfassungsreferendum Bern herrschte jedoch ein indirektes, das heisst Obligatorisches Verfassungsreferendum GL
AG,BE,LU,SG,SH,SO,TG,VD, ZH
Volkssouveranitat über die Bestimmung von Wahlmannern ausgeüb- Volkssouveranitat GL
AG,BE,FR,LU, SG,SH,SO, TG,VD
ab 1831 Abschaffung der Feudallasten tes, Zensuswahlrecht. 1838 Verfassungsinitiativrecht SG
überall
Die regenerierten Verfassungen führten eine
(Fortsetzung auf Seita 391) Quelle: Irène Herrmann .
betrachtliche Anzahl von Grundrechten ein: per-
390 391
Die Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann
Aufbau des Zürcher Schulwesens nach 1834 schon im 18. Jahrhundert ausgearbeitete Idee der
. d lC1· Pt'a!!l111g
tfS 'a . 'war der Glaube an die VenuiJ1ft
Alter
mit aem Postulat der Wissensvermehrung ver- Schaffung einer neuen, starker auf technische und
18 eng.. Jft In der Helvensd1en
· Repu b1'IJ'1< 1Jatte ste.
·h praktische Kenntnisse ausgerichteten Spezialbil-
17 )liJippAlberrScapfer nae1I<ra ·en emu lt tese n
J<nuJ • 1 " ft b "1 d' dung um, was eine Differenzierung der Bildungs-
P ·rgedanl<Cil in einem neuen offentlichen Sdml- wege ermoglichte. Ziel war es, einen Teil der her-
· ben a1te net··ur cl1-
tet rem zu veranl<ern. Gew ·tss b Ile anwachsenden Staatsbürger darauf vorzubereiten,
15 sys . d .1
mgen bestehen: Wi.lrden Btld.ung un Et'Zie mtlg den wirtschaftlichen Fortschritt ihres jeweiligen
14
~es voJI<es nicht wieder zu politiscl~~n Forde_run- Kantons weiterzuführen, ohne dass diese dazu
13 oen sozialen Unruhen und Chaos fuhren? Dteser die üblichen humanistischen Bildungsgange zu
12. Ëin~and hatte Gewicb.t aber er trathinteranderen. durchlaufen hatten. Doch auch die ldassischen Bil-
11 ûberlegu ngen zurüd<. dungswege blieben selbstverstandlich bestehen, ja
In der Theorie stützten sich die Regenera- in Zürich und Bern kam es 1833/34 sogar zur Grün-
tion und. der flir sie cbarakreristische Liberalis- dung von Universitaten, die den Willen zur Eta-
8
mus im Wesenrlicheo auf den Rarionalismus. Es blierung einer neuen Ordnung symbolisierten.
erschien wichrig, auch das Vol1< mir den grund le- Innerhalb von weniger als zehn Jahren wur-
5 genden Gedanken dieser Philosophie vertraut z_u den die meisten Kantone, die die Reform ihrer
1 Staatlicher
Unterricht
1 Kirchlicher
Unterricht
Erwerbs-
leben
*Ais Singschüler gelten in den Quellen im Allgemeinen
mad1en- was nur geliogen konnre wenn man die
traditionelle Macht der Kirche auf dem Gebiet des
Verfassung in die Rand genommen hatten, nach
Iiberalen Grundsatzen regiert. Dass sich die we-
die über 14-Jahrigen, welche nur noch die kirchlichen
Sing- und Unterweisungsschulen besuchen . Unterrichtswesens einschrankte. Hinzu kamen sentlichen Veranderungen auf der Ebene der ein-
D.ie Schule der llberalen Âra beanspruchte den Vorrang gegenOber dem kirchllchen Umerrlcht und teltete eln System mit zwei praktische Gründ.e: Die Industrialisierung zelnen Kantone vollzogen, hat mit der für die Re-
d1rterenz1erten A~sblldungsgiingen ein. Das Belspiel des Schulsystems lm Kanton ZOrlch veranschaullcht dan Wlllen , den Einfluss und die Fortschritte in der Landwirtschaft verlang- staurationszeit charakteristischen Überbetonung
der K1rche 1m Erllehungswesen lUrOckzubinden, wle auch die Tatsache, dass sie dennoch sehr pràsent blleb.
Gue/le: Bruno. Frlrzsche /Max Lemmenme/er, Die revo/uclonéire Umgostalrung von Wlrrschoft, Gesel/schafr und Staat 1780- 1870 ten neuartige Kenntnisse, wenigstens bei jenen, des Foderalismus zu tun, die ihrerseits eine Folge
ln: Nlklaus Flue/er/ Morlann9 F/Oeler (Hg.), Gesch/chte des Kantons ZOrlch, Bd. 3, Zürich 1994, s. 20-157, hier s. 135 (geanderr/ die schlüsselpositionen auf diesen Gebieten beset- der negativen Erinnerungen an den Zentralismus
@ 2013 Schwobe AG. Ver/ag, Base/, und More Slllgenthaler. Be rn. '
zen sollten. Ausserdem erforderte die Ausübung der Helvetischen Republik war. Dieses Phanomen
Gründung der spater zahlreichen berufs- oder her- des allgemeinen Wahlrechts - ungeachtet seiner erklart zum Teil das Scheitern der ersten behutsa-
ten, aber nie wirklich umgesetzten Vorschriften nach wie vor bestehenden Beschrankungen- nicht men Versuche, die Regeneration auf die Ebene des
kunftsspezifischen Kassen. Auch die Arbeitgeber
wieder auf. Wie jenes Vorhaben aus der Restaura- nur die Schreib- und Lesefàhigkeit, sondern auch Bundes zu übertragen. In gewisser Weise konnte Kirche und Schulhaus
sahen einen Vorteil in dieser Art der Vorsorge; nicht Reigoldswil (BL), Aquarell
tion verraten auch diese neuen Bestimmungen staatslmndliche Grundlagen. man sogar sagen, dass die Konzentration auf die von Matthias Bachofen,
wenige zogen die entsprechenden Betrage umge-
starke Befürchtungen in Bezug auf die moralische Es erstaunt daher nicht, dass alle regenerierten Kantone das Ergebnis der Bemühungen war, die um 18oo (Archiiologie und
hend von den Lohnen ihrer Arbei ter ab. 68 Museum Bnselland, Kunstsamm·
Gefàhrdung der Jugend. Zudem widerspiegeln sie Kantone die Primarschule für obligatorisch erklar- Regeneration national durchzusetzen. lungell, I1zv.·Nr.1995), ©Photo
Schliesslich griff auch der Staat in den Kampf
eine Ethik, welche die Harte der Lebensbedingun- ten. Abgesehen von dieser grundsatzlichen Über- Museum.BL, Liestal.- Das
gegen die Armut ein. Die Gemeinden übernahmen 19. Jahrhundert ist die grosse
gen von mehr ais 30 Prozent der Bevolkerung nicht einstimmung tielen die gesetzlichen Regelungen Zeit des Schulhausbaus;
ihre traditionelle fürsorgerische Aufgabe allerdings hinterfragte. DIE REGENERATION UND DIE NATION
die Behiirden verwendeten
oft cher ratios oder nur widerwillig. Einige grün- im Einzelnen jedoch sehr unterschiedlich aus. Die besondere Sorgfalt auf diesen
Die gesetzliche Regelung der Beschaftigung Dauer der Schulzeit variierte zwischen sechs und Helvetisierung in pral{tischen Gebaudetypus. Schulen
deten Armenfonds, die nach dem Prinzip der obli-
von Minderjahrigen schuf freie Zeit für Schule und zehn Jahren, der Unterricht wurde nicht überall Angelegenheiten wurden oft, wie hier in Rei-
gatorischen Spende funktionierten. 6 9 Aber da die goldswil im Kan ton Basei-
Lehre. Die heranwachsenden Bürger sollten in den sraatlich kontrolliert, und die Ausbildung der Pri- Die führenden Kopfe der Regeneration hatten Landschaft, ne ben der Kirche
Erhohung der Hilfeleistungen die Bettelei zu for-
entsprechenden Institutionen die Moglichkeit er- marlehrer war in quantitativer wie qualitativer schon früh signalisiert, dass sie beabsichtigten, situiert oder selbst mit
dern schien, zogen es einige Gemeinden vor, sich einem Glockenturm und
halten, sich auf ihre künftigen Pftichten vorzube- Hinsicht oft ungenügend. Auch die Resultate nah- ihre Botschaft im Rahmen einer N ationalisierungs- einer Turmuhr versehen.
ihrer Fürsorgeempfànger zu entledigen, indem sie
reiten- wobei natürlich Iangst nicht alle von den men sich eher bescheiden aus; in den überfüllten,
sie zu tHeimatlosen machten (siche Kapitel von
veranderten Strukturen des Bildungssystem profi- manchmal in baufàllige Raumlichkeiten einge-
Regina Wecker, S. 456f., und Graphik im Kapitel tieren konnten/ 1
von André Holenstein, S. 326)- dieser offizielle Sta- pferchten Klassen erwarben die Schüler im Allge-
tus hatte den Entzugjeglichen Rechts auf offentli- meinen nur Basiskenntnisse. Noch düsterer war der
Die geistig-moralische Regeneration Befund auf dem Land, wo saisonal bedingte bauer-
che Unterstützung zur Folge7°- oder indem sie die
Zwar war das zürcherische Gesetz zur Regelung der liche Arbeiten regelmassig die Schulbanke leerten,
Emigration der Armen forderten.
Kinderarbeit das erste seiner Art und soUte auch sowie bei den Madchen, deren schulische Bildung
Einige Kantone nahmen sich des Problems
lange das einzige bleiben, doch die dahinterste- nur von untergeordneter Bedeutung erschien/ 2
selbst an und gaben Umfragen in Auftrag, um die
hende Haltung entsprach durchaus dem Zeitgeist. Auch in den auf Kinderarbeit angewiesenen BevOl-
Bedürfnisse zu ermitteln, die sich in Zusammen-
Die meisten der vom Wirtschaftsaufschwung oder kerungsschichten wurde das ganze padagogische
hang mit der sozialen Frage ergeben hatten, oder
von der politischen Liberalisierung erfassten Kan- Projekt als unliebsamer Zwang empfunden.
sie Iiessen Studien durchführen, die ais Grundlage
toue bemühten sich nun gezielt, die jüngeren Ge- Darüber hinaus bestand ein starkes Interesse,
für die Ausarbeitung entsprechender Gesetze die-
nerationen für eine Gesellschaft heranzubilden, wie den Begabtesten und Privilegiertesten eine Gele-
nen sollten. Der Kanton Zürich erliess 1837 ein Ge-
man sie sich selbst herbei wünschte. Das Th erna der genheit zum Besuch weiterführender Schulen zu
setz zur Kinderarbeit, um die Folgen abzufedern,
Volksbildung war indes nicht neu. Spatestens seit bieten. Die meisten der regenerierten Kantone er-
die durch die Aufhebung des Zunftwesens mit sei-
dem 1758 publizierten Werk De l'Esprit von Claude moglichten daher den Jugendlichen, ihre Studien
nem Ausbildungssystem entstanden waren, und
Adrien Helvétius, einem einftussreichen franzosi- noch einige Jahre über die obligatorische Schul-
griff die zu diesem Zweck bereits 1815 formulier-
schen Philosophen materialistischer und atheis- zeit hinaus fortzusetzen. Zudem setzten sie die
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397
Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
wiederbolte Forderung nad1 der Sdtaffung eines Doch die Badener Artikel enthielten auch Wie-
schweizerischen Erzbisrums wied er auf.7 8 deraufnalunen von Elememe.n unseligen Ange-
lm }anuar 1834 versammelten sich Vertreter dcn kens. So sahen sie ccwa die Wiedercinfüh rung Hochzeitszug in
Maisprach (BL) imJahr
der Kantone Bern, Luzern, Solothurn, Basel-Land- des Treueelds der l'riester auf die Verfassw1g var 1823, Aquarell von M. Oser
schaft, St. Gall en, Aargau und Thurgau in Baden obschon dieser bereits den Behorden der Helve- (Archüologie und Museum Basel-
land, I<unstsammlungen, Inv.-
und unterzeichneten vierzehn Artikel zur «Natio- tischen Revolution viele Probleme bereitet batte. Nr. 459), ©Photo Museum.BL,
nalisierung der Religion». Vorgesehen war die ka- Tatsachlich atmet der Text den Geist der Helveti- Liestal.- Die Darstellung
eines Hochzeitszuges in der
tholische wie d ie reformierte Geistlich keit den po- schen Republik. Dieser Beigeschmack, zusammen Baselbieter Gemeinde Mai-
li dschen Behorden zu u orerstellen, und zwar durch mit dem Schock, den allein schon die Vielzahl der sprach imJahr 1823 bietet.
einen interessanten Embltck
ein Paket von Massnahmen, von denen ei nige in Bestimmungen hervorrief, sowie den Gewissens- in den wandel der Kleidung.
einzelnen Kantonen schou in Kraft waren. In Lu- konflikte.n, dle manche Artil<el verursadlten, trug Die Manner im Festzug tragen
beinah ausnahmslos lange
zern oder in Bern pral<tizierre man zum Beispiel entscheidend zum Scheitern des Reformversuchs Hosen und Zylinder. Beide
clas sogenannte.Piacet das heisst die Verp.flid1tung, bei. Nur die Initianten beschlossen, die verschiede- Kleidungsstücke waren
ursprünglich revolutionare
die kirdùichen Erlasse dem Staat zur Zustimmung nen Punk te umzusetzen. SolOs te sich die Idee eines Symbole, geschaffen ais
zu unterbreiten. In Solothurn, Luzern und im schweizerischen Erzbistums in Luft auf. Gegenstück zum aristokra-
tischen Dreispitz und den
Thurgau wirkte die Regieru ng bei der Ernennung Die Versuche, politisch, wirtschaftlich und Kniehosen. Hier scheinen sie
der Priester mit, und im grossten Teil des Kantons kirchlich zu einer nationalôl Einheit zu gelangen, jedoch bereits zur Sonntags-
Jdeidung zu gehoren.''
Genfhatte der zivile Ehevertrag Vorrang gegenüber zeitigten nur bescheidene Resultate, was sowohl
dem k irchliche.n Segen.79 dem zogerlichen Verhalten als auch dem missiona-
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Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (H9B-1B48)
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Die Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann
<< Elnwürdige~rüder undgeliebte ~dhne, was sicl1 im ]anuar vergan- zu starken. 100 In Freiburg wachten sie ebenfaUs plus signalés, et de prétendus amis des Lumières, des Landes im Hintergrund des Handelns. Diese
ge17el1]alnes m derStadt Baden un Kan ton Amgau in frevelhafter über die Religion und das Unterrichtswesen, be- à ceux qtü oppriment le peuple par l'ignorance! Angst hatte ihre Wurzeln in den Erfahrungen der
Weise zugetragen hat, e1jüllt auch euch mit bitterster Trauer und bereitet hielten aber die liberalen Wirtschaftsgesetze bei,Joj Tant ces fougueux apôtres d'un faux libéralisme Helvetischen Republik. Für die linke Sei te rührte
euchjetzt nochAngst und Sarge.[...] Bines geht aus den Akten der genann- Doch die katholischen Konservativen erprobten sont éloignés d'aimer la liberté pour elle-même!»104 die Gefahr zu Beginn der 184oer Jahre von den
ten Versammlung ganz klar hervor,[... ] aus den wortlich wiedergegebenen auch neue Wege. So hatte Schwyz schon1836 damit (<<d iese paar Verrückten die sicb selber Radilcale Schwierigkeiten her, die Institutionen des Landes
Reden und den dort abgefassten Artikeln. Wenn Wir diese !esen, sind Wir begonnen, regenerationsfeindlich gesinnte Eliten ncnnen und sich nich t sc ham en den bckann tesren im Sinne der Nationalisierung rasch zu verbessern,
entsetzt, denn sie enthalten Prinzipien, die Neuerungen in die Katholische auszubilden, und 1841 wurde der Schweizerische Stu- Aristokraten die Hand zum Bund zu reichen - an- und von der moglichen Ausnützung der sich dar-
Kirche einführen wilrden, die im Gegensatz zu deren Lehre und Disziplin dentenverein gegründet, der diese Eliten in einer na- gcblic11e F reu nde der AufkJarung, die si ch mit je- aus ergebenden Situation durch das Ausland. Für
stehen und die die Seelen verderben. Dies kann in keiner Weise geduldet tionalen Organisation vereinen sollte. 102 nen verbünden, die das Voll< uurerdrücken indem die rechte Sei te war die Gefahr das Resultat eines
werden. Er, der alles in hdchster Weisheit geschaffen und umsichtig Von dieser Rückzugsbewegung wurden auch sie es in Unwissenheit halten! Wie weit sind doch moralischen Niedergangs, der Zerstürung der gatt-
geordnet lwt, will, dass in Seiner Kirche Ordnung hemche, dass also die wei te Kreise der Reformierten erfasst- eine ihrer diese feurigen Apostel eines falschen Liberalismus lichen Ordnung und des Umstands, dass die Leh-
einen Ihr vorstehen und in Ihr herrschen, die anderen aber Ihr untertan Stimmen sol! te Jeremias Gotthelf (1797-1854) wer- davon entfernt, die Freiheit um ihrer selbst willen ren der Vergangenheit vergessen worden seien. 106
und gelwrsam seien.» * den. Die protestantische Reaktion war heteroge- zu lieben!»). Die Befürchtungen waren durchaus begrün-
Auszug aus der Enzykli ka <<Commissum divinitus» Papst Gregors XVI. an den schweizerischen ner, verrat aber eine ebenso tiefe Verunsicherung. Trotz solcher Kritik fuhren die Radikalen fort, det. Die Umsetzung der liberalen Prinzipien war
Klerus (1835), in: L'Invariable: nouveau m émorial catholique, Bd. 7, Fribourg 1835, s. 33-34.
Das ist zumindest die Schlussfolgerung, die sich die Volksrechte auszuweiten, sie taten dies mm- nicht ohne Beschneidung der kantonalen Souve-
aus dem Züriputsch- auch bekannt ais «Straussen- um 1840 - jedoch mit mehr Bedacht. Zwar waren ranitat und nicht ohne Umgestaltung der internen
den Klerus, und die aus ihr sprechende Besorgnis handel» - ziehen lasst: Nachdem die Universitats- sie immer noch bereit, das Volk als Druckmittel ein- Machtstrukturen moglich. Andererseits genossen
ging auch auf die Glaubigen über. In den gemischt- berufung von David Friedrich Strauss (1808-1874), zusetzen, sie glaubten aber nicht mehr blindlings die Gegner der Regeneration die Sympathie der
konfessionellen Kantonen Bern und Aargau zeigte des Autors der unter Theologen sehr umstrittenen an dessen vermeintliche und scheinbar naturgege- meisten Grossmachte, so Osterreichs und Preus-
sich die katholische Bevi:ilkerung gegenüber der SchriftDas Leben]esu, kritisch bearbeitet, das Fass zum bene Fortschrittlichkeit, sondern machten es sich sens, die gerne zugunsten der Vertreter des Sta-
Anwendung der Badener Artikel sogar so wider- Überlaufen gebracht hatte, stürzte am 6. Septem- zur Aufgabe, die Bevolkerung im Sinne der AuflŒi- tus quo interveniert hatten. Die Gefahren waren
spenstig, dass sich die kantonalen Behorden veran- ber 1839 die Zürcher BevOlkerung die BehOrden, die rung im Gebrauch der Vernunft auszubilden, um fundamental, denn sie bedrohten die Zukunfts-
lasst sahen, ihre Religionspolitik mitWaffengewalt seit Beginn der Regeneration die Regierung gebil- auf diese Weise die egalitare Gesellschaft zu schaf- plane der meisten führenden Kopfe der Schweiz.
durchzusetzen.
det hatten, und wahl te an ihrer Stelle Vertreter der fen, die sie ersehnten. Diese Entwicklung liess die Mit anderen Worten, die unterschiedlichen Lo-
Die heftigen Reaktionen des Volkes müssen konservativen Richtung. Allerdings erlebten nicht Kluft zwischen den Zielen der Radikalen und den- sungsansatze zur Bekampfung der um sich grei-
mit dem Zeitpunkt ihres Auftretens in Zusam- alle reformierten Kantone eine solche Phase der Re- jenigen der Konservativen immer unüberbrückba- fenden Angst var dem Niedergang führten zu Be-
menhang gebracht werden: Sie ereigneten sich in aktion, wie die Niederschlagung eines konservati- rer erscheinen- trotz gewisser Ahnlichkeiten hin- ginn der 184oer Jahre zur Herausbildung zweier
einem Moment, in dem sich wei te Teile der Bevol- ven Aufruhrs in denjurassischen Gebieten des Kan- sichtlich der von beiden Stromungen favorisierten antagonistischer Lager, von denen das eine auf die
kerung vom wirtschaftlichen und politischen Sys- tons Bern im Frühling des gleichen Jah res zeigt. 103 politischen Mittel. 105 Nation, das andere auf die Tradition setzte. Diese
tem der Regeneration im Stich gelassen fühlten. Paradoxerweise war Strauss' Ernennung Teil Eigenartigerweise stand auf beiden Seiten grundlegende Differenz bezüglich des angepeil-
Die Veranderungen des Alltags, der durch diese einer Politik, die immer radikaler die Verbesserung die alte Angst var dem Niedergang und Zerfall ten Gesellschaftsprojekts bestatigte noch einmal
verursachte Unmut und die Verschlechterung der des offentlichen Unterrichts anstrebte. Der Wunsch
Lebensbedingungen Ende der 183oer Jahre verlei- nach rationalerem Wissen stellte eine Antwort der
teten viele Menschen zur Rückbesinnung auf tra- Fortschrittsglaubigen auf die von ebendiesem Fort-
ditionelle Werte und zur Suche nach Antworten schritt hervorgebrachten sozialen Ungleichheiten
im von der Kirche vorgegebenen Rahmen. Die Tat- dar. Dies offenbart die Ahnlichkeit der Sorgen, die
sache, dass die Rolle ebendieser Kirche durch die den Differenzen zugrunde !agen: Aufbeiden Seiten
neue Ordnung bedroht wurde, deren Unzulang- widerspiegelt sich hier der Wille, die vom regene-
lichkeiten man gerade zu entfiiehen suchte, stellte rierten System ans Licht gebrachten oder von die-
einen zusatzlichen Grund dar, in ihrem Schoss sem geschaffenen Mange! zu korrigieren. Auch die
Schutz zu suchen.
für diese Probleme gefundenen Losungen weisen
Die katholische Kirche bot altbewahrte Lüsun- Flucht der Putschisten
gewisse Ahnlichkeiten auf. über die Zürcher
gen für gesellschaftspolitische Probleme an, stan- Zunachst sympathisierten sowohl Konservative Münsterbrücke, lavierte
den doch die Krankenpfiege, das Armenwesen und Zeichnung, 1839 (ZB Züt•ich,
als auch Radikale mit der Einführung beziehungs- GraphischeSammltmg).- In
die Schule in der katholischen Schweiz noch weit- weise der Beibehaltung von Elementen, die der Zürich wird aufstandisches
gehend unter ihrer Kontrolle. In Luzern bemüh- Landvolkam 6. Septernber
«reinen» Demokratie entstammten. Diese Über- 1839 von Regierungstruppen
ten sich die Reaktionare, die unter dem Drud{ des einstimmung beunruhigte wiederum die Libera- über die Münsterbrücke
Vallees emeut an die Macht gekommen waren, den zurückgetrieben. Der <<Züri-
leu, die la ut protestierten gegen «quelques énergu- putsch» ist dennoch ein
Gemeinden wieder mehr Autonomie zu geben und mènes, soidisant radicaux, [qui] n'ont pas eu honte politischer Erfolg: Die liberal-
den Einfiuss der Kirche auf das Erziehungswesen radikale Regierung dankt ab,
de donner la main d'association aux aristocrates, les N eu wahl en führen zu einer
konservativen Mehrheit im
'<<Intelligitisjam Venerabiles Fratres, Dilecti Filii, de iis Nos loqui, quœ mense]anuario elapsi anni in urbe Bada PagiArgoviensis nefarie Gross en Rat. Die Berufung
gesta, vel pot tus perpetrate su nt; quœque Vos tpsos acerbissimo conjecerunt mœro re, anxiosque ad huc et so/icitos habent. [...]At rem certam ni- des rad ikalen Theologen
mts explo ra tamque No.bts feceru nt ipsa memorati conventus acta[...], tum sermones [...], tum demum confectos ibidem articulas integre exhi- David Friedrich Strauss an
bent. Perhorrmmus VelO stve sermones szve arttculos hosce /egentes, et ejusmodi in iis contineriprincipia, easque inde in catholicam Ecclesiam die Universitat Zürich wird
tnduanovttates mtellextmus, quae utpote il li us d~ctrinœac disciplinœ repugnantes, aperteque ad perniciem animawm pertinentes,Jerri rückgangig gemacht, der
radikale Direktor des Leh rer-
nu llo modo possu~t. Profecto qut omm a saptenttsstmefectt, ac providentissima ordinatione disposuit, is voluit ut multo magis in Ecclesia sua serninars, Thomas Scherr,
vzgetet ordo, et a/11 qwdem prœessent, atque imperarent, a/ii subessent et parerent.»
entlassen.
Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
Die Geschichte der Schweiz -Iréne Herrmann
<<Wie eine wohlorganisirte
zeidlen von Gewaltbereitschaft lassen sich bereits Freischaar ausziehen that»,
den zwischen den politischen Lagern verlaufen- auch die Verbreitung der für sie bestimmten Bot- >' .1~ IÙ\ t 1 1 1 ~1
1
aq uarellierte Bleistiftzeich-
den Graben: Die protestantischen und die indu- schaft zu verbessern. Unter diesem Gesichtspunkt in den Provokationen crl<ennen, mit det1en si ch die .t.\'\ • • uo•~i\\t••
nung von Johannes Ruff,
Kantone Aargau und Luzern ab Januar 1841 gegen- 1845 (ZB Ziirich, Graphische
strialisierten Kantone waren im Allgemeinen eher wurden nun Vereine und Feste von einem starker Sammlung).- Die Karikatur
geneigt, ihr Glück in einer nationalen Zukunft zu ais bisher auf die Nation ausgerichteten Diskurs seitig überboten. 108 zeigt den Schriftsteller
Der Aargau, der sich gerade eine Verfassung Gottfried Keller {1819- 1890)
suchen, wahrend sich die katholischen und land- erfasst. Die radikale Rhetorik setzte dabei auf die ais Tambour der Ziircher
lichen Kantone zumeist starker auf die Tradition Geschichte ais Argumentationshilfe, indem sie die gegebcn hatte, die rur die katholisd1c Minderheit Freisclùrler. Oben links ist
wenige• voneilhaft war als das bisherigeGrundge- zu !esen: «ich will euch exer-
stützen wollten. Es gab jedoch zahlreiche Aus- Forderung nach auf dem Naturrecht basierenden ziercn ihr j Heiligen sager-
nahmen: Basel-Stadt, das Tessin und Solothurn Neuerungen als ein Pochen auf uralte Rechte dar- setz, versuchte, den ungelegenen Manifestationen ment. / reclm schwenkt euch 1
tendierten beispielsweise zu Positionen, die im stellte, die widerrechtlich usurpiert worden sei en. religiêiser Unzufriedenheit durch die Schliessung arrrsch.>>
Gegensatz zu dem standen, was ihre Konfession Dieses Verfahren war nicht neu. In den 184oer der Klêister den Boden zu entziehen. Dieser nicht
batte vermuten lassen. Noch deutlicher kommt die Jahren bot die politische Deutung und Instrumen- zuletzt dank des Einsatzes des radikalen katholi-
Komplexitat der politischen Konstellation darin talisierung der Vergangenheit jedoch mehrere, schen Abgeordneten Augustin Keller (1805-1883)
zum Ausdruck, dass die erbittertsten Feinde der eng mit der damaligen Situation verbundene Vor- zustandegekommene Beschluss, der dem Kanton
Konservativen die katholischen Radikalen waren. teile. Zum einen konnte auf diese Weise der revo- nebenbei eine hübsche Summe Geld einbrachte,
Iutionare Ursprung der Forderungen verschleiert stand im Widerspruch zum Bundesvertrag von
DieGewalt werden. Zum anderen ermêiglichte die Instrumen- 1815. Dennoch loste er nur eine gemassigte Rüge
Ungeachtet dieser Verwicklungen blieben die bei- talisierung der Geschichte, das natürliche Stre- der Tagsatzung aus, die lediglich die Wiedereri:iff-
den Lager ldar voneinander unterscheidbar. In der ben nach Freiheit als charakteristischen Zug der nung der Frauenklêister verlangte. Vor diesem
ersten Halfte der 184oer Jahre wurde der Graben Schweiz darzustellen. 107 Und schliesslich machte Hintergrund wahlte Luzern 1841 eine konservative
zwischen ihnen sogar noch tiefer, und ihr Handeln sie den Konservativen eine machtige Waffe strei- Regierung, die weniger ais drei Jahre spater, im
radikalisierte sich. tig, die damit ihre Weltanschauung nicht mehr oktober 1844, die Jesuiten einlud, den Unterricht
Die konservativen Umschwünge, die diesen unangefochten auf die Vergangenheit stützen an den hêiheren Schulen des Kantons zu überneh-
men. Der Orden war bekannt als «Katalysator» im Schaffung einer katholischen Schutzvereinigung,
Zeitabschnitt charakterisieren, starkten die Ent- konnten. bestehend aus Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern,
schlossenheit der radikalen Führer. Zwischen 1844 Der Kampf um Symbole war umso wichtiger, Volk vorhandener Angste. Nach seiner Aufhebung
Zug, Freiburg und dem Wallis, die baid un ter dem
und 1847 gaben sich die Kantone Zürich (1844/45), ais das gegnerische Lager seine Haltung ebenfalls imJahr 1773 war er 1814 im Wallis wieder zugelas-
sen worden, 1818 in Freiburg und 1836 in Schwyz. Nam en Sonderbund bekannt wurde.
Waadt (1845), Bern (1845), Genf (1846) und St. Galien verscharfte - besonders auffâllig in Luzern. Tat- Erst im Juni 1846 erfuhren die anderen Kan-
(1847) Regierungen mit radikaien Zieisetzungen, sachlich schlass die 1841 eingesetzte regenerations- Aber seine Rückberufung nach Luzern, einem der
tone von diesem Separatbündnis, das natürlich
mal infolge von Wahlen, mal von Volksaufstanden. feindliche Regierung auch stramm Konservative regelmassigen Tagsatzungsorte, wurde von vielen
sogleich zu einem erbittert diskutierten Thema
Diese zukunftsweisenden Erfolge der Radikalen mit ein, beispieisweise den kompromissiosen Kon- als unertragliche Provokation empfunden.
wurde. Doch erst nach den Regimewechseln in
gingen auf eine grundiegende Erkenntnis zurück: stantin Siegwart-Müller (1801-1869) oder den ultra- lm Dezember 1844 kamen rund hundert em-
porte Manner aus den Kantonen Aargau, Solo- Genf und in St. Gall en ergab sich in der Tagsatzung
Die Unzufriedenheit der Bevêilkerung musste in be- montanenJosefLeu (18oo-1845). Fortan bekam der eine klare, das heisst mehrere katholische Kantone
stimmte Bahnen gelenkt werden, um die erhofften Graben, der die Schweiz spaltete, eine neue Dimen- thurn, Basel-Landschaft und dem Luzerner Dm-
land spontan überein, die Regierung Luzerns zu einschliessende Mehrheit, die am zo. Juli 1847 die
Wirkungen zu erzieien. Daraus ergab sich die Not- sion; die bisher im Wesentlichen defensive Haltung Aufiêisung des Sonderbunds anordnen konnte. Die
wendigkei t, sowohl die Organisation der Massen ais beider Seiten ging in eine aggressive über. Erste stürzen. Trotz des Wohlwollens mehrerer nam-
<<Aargau und die Kliisten>, hafter liberaler und radikaler Politilœr scheiterte Betroffenen hatten allerdings nicht die Absicht,
Karikatur a us dem Satire- dem Befehl Folge zu leisten. Trotz gegenteiliger Be-
magazin <<Guck]{asten» dieser ais ers ter Freischarenzug (tFreischaren) be-
vom zs. Marz 1841 (Schweize- kannt gewordene Angriff. Die darauffolgende Re- teuerungen trachteten beide Parteien danach, die
rische Natia~wlbibliothek). - Die institutionelle Blockade, das «Patt»,110 mitWaffen-
zwei seit Beginn des Jahres pression war hart und lêiste Ende 1845 eine zweite
1841 bestehenden politisch- Operation aus, an der sich 3500 Freiwillige betei- gewalt zu beenden. Bei den einen hing diese Ent-
ideologischen Lager stehen
ligten, angeführt von dem radikalen Hauptmann schlossenheit wesentlich mit der damaligen Situa-
einander im Kampf gegen-
über. Links der zukünftige Ulrich Ochsenbein. tog Auch sie endete mit einer tion des Landes zusammen, bei den anderen batte
Sonderbund, gekleidet in ein
Niederlage der Angreifer. Diese gewaltsamen Er- sie eher mit den Zukunftsaussichten zu tun. In den
Monchsgewand und muer-
stützt von Bauern und Geistli- eignisse veranderten die Lage in zweierlei Hin- Augen der Konservativen schien nur ein militari-
chen. Er sitzt auf einem an das scher Sieg die Respektierung der kantonalen Sou-
Urner Wappen erinnernden sicht: Zum einen forderten sie mehr als hundert
Sri er und auf dem Sattel der Tote, die als Op fer eines regelrechten Bürgerkriegs veranitat in der bestehenden Form zu garantie-
Legitimitat, die der Bundes-
geiten kêinnen. zum anderen verstarkten sie die ren, für ihre Gegner schien nur Waffengewalt die
vertrag verleiht; auf seinem
Rücken tragt er die Weisung Konfessionalisierung der politischen Gegensatze. Mêiglichkeit zu bieten, die Uhmung des Systems
des Nuntius: <<Bethen und
Dabei wurden zunehmend Protestantismus und zu überwinden, die alle Bestrebungen zur Bildung
Fasten». Rechts der moderne
Volkstribun Augustin Keller, Fortschritt auf der einen und (Ultra-)Katholizis- einer Nation blockierte. 111
ein gegen den Eintluss des
Vatikans engagierter liberal er mus und Konservativismus auf der anderen Sei te
Katholik, in traditioneller miteinander assoziiert. Diese Gieichsetzung ver- Der Krieg112
Rüstung mit der polarisieren-
starkte sich in den folgenden Monaten, nachdem Die beidseitige Bereitschaft zu einem Kraftemes-
den Parole: <<Kliister oder
sen erklart nicht nur den Ausbruch des Krieges,
Aargau>>. Die beiden duellie- der Luzerner Regierungsrat Josef Leu von einem-
ren sich vor den entsetzten
obzwar katholischen - enttauschten Radikalen, der sofort begann, kaum dass sich die Mehrheit der
Augen des Niklaus von Flüe,
Kantone für die Aufiêisung des Sonderbunds aus-
der eine mit einem Kruzifix, Jakob Müller, ermordet worden war. Die Luzerner
der andere mit einer Lanze gesprochen hatte, sondern auch die Art und Weise,
bewaffnet. Regierung reagierte am 11. Dezember 1845 mit der
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Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
Die Geschichte der Schweiz -Irène Herrmann
Bundesvertragsrevision einer Losung zuführen gen aussen neutralcn Bundesstaat für die I<anto (siehe .Beirrag voll Christian Pfister, S. 34).U-' Die in
wollte. Jetzt beabsichtigten die Sieger, ganz dem .1 . . 1b .
111c 1t tmmer rarsam war, SIC 1 eiKonfl.ikten inun-
ne diesetn Rahmen vollzogene Ausklammerung der
Zeitgeist entsprechend, ihre Sicht der Dinge in ei- ncrn in die Neutralitat zu flüchten und abseits z Bisenbahn harre zur Folge dass di.c ersren Bahn-
ner Verfassung zu verankern und auf diese Weise stehen. Die Sonderbundskantone bingegen wu ~~ 1 stredœtt spa ter von priva ter Ha nd erbaut wurd.en.
mit der gewünschten Legitimit:oü auszustatten.11 8 den in den kleiuen I<reis der das Fundament der vor allem aber sagt dieser Punkt etwas a us über die
DieserWunsch war nicht neu. Schon am 16. Au- künftigen Verfassung legen soli te, aufgenornmcn. l<anconalen Rivalitaten innerhalb des Gremiums
gust 1847 batte man eine Kommission aus Vertre- Allerdings handelte es sich dabei entweder um und die Bemühuug, allzu beftigen Streit zu ver-
tern der sonderbundsfeindlichen Kantone ernannt, Mitglieder von Regierungen, die unter Gewaltan- meiden.
die die Grundlagen für eine neue Verfassung erar- drohung gewahlt worden waren, oder um Ver- zweitens: Grundsatzlich lasst sich sagen, dass
beiten soUte. Die zunehmenden Spannungen und treter der radikalen Elite dieser Kantone, die den die Verfassung die Krënung des Erfolgs der Libera-
der anschliessende Kriegsausbruch hatten den Be- Krieg ausgenutzt oder sogar vorangetrieben hat- len und des Liberalismus darstellt. Der Text verrat
ginn dieses Unterfangens jedoch blockiert. Nach ten, um selbst an die Macht zu gelangen' 20 - auch diese soziale Herlmnft zum Beis piel im Artikel über
dem Ende des Konflikts konnte es auf verbreiter- wenn sie diese dann, wie etwa in Freiburg, noch die Abschaffung der Binnenzolle, welche die Wett-
ter Basis angepackt werden. Am 17. Februar 1848 viel autoritarer als ihre konservativen Vorganger bewerbsfahigkeit der schweizerischen Unterneh-
beschlossen die Sieger, die Bundesrevisionskom- ausübten. Aber es war besser, bei der Errichtung men behinderten. Mit diesem Artikel beendete die
mission einem erweiterten Personenkreis zu off- der neuen Ordnung auf die Mitwirkung aller _ Verfassung endgültig die zu Beginn der 184oer}ahre
nen. Das Gremium zahlte fortan 23 Mitglieder und oder fast aller - Kantone der Eidgenossenschaft wiederaufgenommene Debatte, in der die Verfech- Karilcatur auf die Rivalitat
tone blieben damit die massgeblichen Einheiten um den Bundessitz zwi-
umfasste nicht nur Manner aus dem siegreichen verweisen zu kënnen und so zumindest einem Teil ter einer Liberalisierung von Handel und Industrie
des politischen Lebens in der Eidgenossenschaft. schen Bern, Zürich und
Lager, sondern auch aus dem unterlegenen. Die des Widerstands, den die Verfassung unweigerlich stets auf die beharrliche Ablehnung der Anhanger Luzern, um 1848 (Sclrweizeri-
122 Die Verfassung sah natürlich keine Volkswahl des sclte Natiollalùibliothek). - Die
Einzigen, die von dem Unternehmen ausgeschlos- auslOsen würde, den Wind aus den Segeln zu neh- des Status quo gestossen waren. Indes war diese
Regelung, ungeachtet der wirtschaftlichen Vorteile, Bundesrats vor. Andererseits legte die Bundesre- November 1848 veranschau-
Wahl der Bundesstadt Ende
sen wurden, waren Neuenburg und Appenzell In- men. Ausserdem waren die gemassigten Liberal en
visionskommission jedoch fest, dass ein Kanton licht die komplexen Pro-
nerrhoden, die den Fehler begangen hatten, keine nicht unglücklich darüber, die radikale Ausrich- die sie zu versprechen schien, vor allem ein Aus-
~icht mehr als einen Bundesrat stellen dürfe. Die- bierne, mit denen man es bei
Soldaten für die Bekampfung des Sonderbunds zu tung des Gremiums auf diese Weise etwas ausglei- druck einer bereits in Gang gekommenen Entwick- der Ausarbei rung der neuen
ser Entscheid rundete jenes Element ab, das oft als Verfassung zu run hatte. Aus
stellen- es zeigte sich, dass es im entstehenden, ge- chen zu konnen. lung. lm September 1847 waren rund zehn Kantone
die klügste institutionelle Einrichtung der Bundes- Angst, die Erfahrungen mit
Die so zusammengestellte Kommission gerade im Begriff, sich per Konkordat über die Zoll- dem Rossi-Plan zu wieder-
lgnaz Paul Vital Troxler (1780-1866) oder: scheint ihre Entscheidungen, wenn auch nicht ein- frage zu einigen. Die Verfassung verstarkte diese verfassung bezeichnet wird: das Zweikammersys- holen, entschied man sich,
tem. Anfanglich scheint dies er Vorschlag allerdings d iese Frage nicht im neuen
Von oben oder von unten? vernehmlich, so doch relativ rasch getroffen zu ha- Bestrebungen lediglich und gab ihnen eine allge- Grundgesetz zu regeln. Man
eher eine KompromisslOsung gewesen zu sein. Die sprach sich gegen das unpralc-
Der im luzernischen Beromünster geborene Arzt und Philosoph lgnaz ben. Um Pressionen von aussen zu vermeiden, ar- meine, also gesamtschweizerische Gültigkeit.' 23
Das oberste Ziel der neuen Verfassung war al- Umsetzung eines modifizierten amerikanischen seinen wechselnden Ver-
tische System des Vororts mit
Paul Vital Troxler war einer der Vordenker und Wegbereiter des schwei- beitete sie unter Ausschluss der bffentlichkeit, Modells war zwar schon rund fünfzehn Jahre zu- sammlungsorten aus, privile-
zerischen Radikalismus. Sein Den ken war gepragt durch die Erfahrung was es der Geschichtsforschung erschwert, ihre lerdings - in Anbetracht der politischen Situation
vor von radikalen Denkern angeregt worden, so von gierte aber dennoch die I<an-
der helvetischen Revolution und ihres Scheiterns. Mehrmals in seinem interne Dynamik zu durchschauen. Man weiss je- und im Einklang mit liberalen Überzeugungen- 124 didatur der ehemaligen
Leben war Troxler gezwungen zu ftiehen: zweimal vor der Luzerner doch, dass die Debatten, die oft stürmisch verlie- die Umgestaltung der Institutionen. So legte die Ignaz Paul Vital Troxler oder James Fazy (1794- Tagsatzungssitze. Luzern
1878).125 Der Zürcher Jonas Furrer (18os-1861) nahm schied ras ch wegen mangeln-
Obrigkeit in den Kanton Aargau, und 1832 aus Basel, wo er kurze Zeit fen, die wohlbekannten Gegensatze der Vorkriegs- Verfassung vor allem die Vormachtstellung des Par- der politischer Kompatibilitat
die Idee in der Kommission wieder auf, um eine Ent- aus, Zürich erlittdas gleiche
sogar Rektor der Universitat gewesen war, die separatistischen Land- zeit zwischen leidenschaftlichen Verteidigern der laments gegenüber der Exekutive fest und über-
scheidung herbeizuführen zwischen den Voten aus Schicksal aufgrund seines
schi:iftler jedoch zu offen unterstützt hatte. Das Ausmass seiner Ak- kantonalen Souverani tat einerseits und Anhangern trug die wichtigsten, in den regenerierten Kan- dem Ftideralismus nicht
den bevOlkerungsreichsten Kantonen, die Auban- dienlichen übergewichts.
tivitat war gewaltig: Allein im Jahre 1831 schrieb Troxler, oft unter eines deutlich starker zentralisierten Staates ande- touen bereits garantierten Grundrechte auf die
nationale Ebene. Wichtige Anliegen der Radikalen ger einer parlamentarischen Vertretung nach demo- den Vorteil hatte, naher bei
Blieb noch Bern, das zudem
Pseudonym, 296 Zeitungsartikel, in denen er sich unter anderem für rerseits noch einmal aufbrechen liessen. An der Ver- graphischer Grosse waren, und jenen a us der histo-
wurden ebenfalls verankert: die Revidierbarkeit den Westschweizeri<antonen
die Schaffung eines Bundesstaates einsetzte. 119 Aufgrund seines Ka- fassung, die aus diesen Diskussionen hervorging, rischen Wiege der Eidgenossenschaft, die für eine zu liegen.
tholizismus und Radikalismus war es nur konsequent, dass er im fallen drei wesentliche Züge auf, die im Folgenden der Verfassung per Volksreferendum und die For-
strikt kantonale Vertretung pladierten. Die vorge-
Straussenhandel (siehe S. .-:108) wie auch im Zuge anderer konserva- genauer betrachtet werden sollen. Dabei erscheint derung der allgemeinen Wohlfahrt. Zwar enthielt
schlagene LOsung überzeugte nicht sogleich: Sie sei
tiver Reaktionen mit philosophischen Argumenten für die lnteressen bemerkenswert, dass eine ganze Reihe von Bestim- die Verfassung darüber hinaus Bestimmungen wie
in keiner lokalen Tradition verwurzelt, sie werde
des Volkes und gegen die liberalen Regierun- mungen die Handschrift der Sieger tragt, zugleich das Verbot der Todesstrafe für politische Delikte
gen Stellung bezog. Er erkannte in diesen aber auch Ausdruck deren ideologischer Divergen- oder die der Schaffung einer eidgenossischen Uni- den Ablauf der Geschafte verlangsamen und sei zu
teuer. Schliesslich wurde sie von der Tagsatzung
Volksbewegungen Zeichen einer neuen Zeit zen ist. Darüber hinaus atmet das Dokument zwei- versitat, doch blieb sie in ihren Forderungen nach
dennoch angenommen. Allerdings sah diese darin
und nicht eine Bedrohung liberaler Errungen- felsohne den Geist sein er Epoche. fortschrittlichen Reformen insgesamt moderat.
nur einen vorlaufigen Beschluss, der helfen soUte,
schaften. Vor allem aber wehrte er sich gegen Erstens: Ein aufschlussreiches Beispiel für die- Drittens: Der Einftuss der Besiegten faUt viel-
eine Blockade aufzubrechen, deren Andauern mit
eine Reform von oben, wie sie 18.-:17/.-:18 von sen allgemeinen Geist findet sich in Artikel 21, der leicht nicht unmittelbar auf, denn er verstecl<t sich
einem hohen politischen Risiko verbunden gewe-
einer Tagsatzungskommission dann auch tat- dem Bund das Recht zuspricht, «irn Interesse der in den Punkten, über die sich die Verfassung aus-
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sachlich durchgeführt wurde, und forderte Eidgenossenschaft» Offentliche Werke zu finanzie- schwieg und die sie damit ausdrücklich den Kanto- sen ware.'
Die Gefahr des Scheiterns drohte von zwei
vergeblich eine Reform von unten durch einen ren, womit Bauvorhaben zum Schutz der Bevol- nen überliess. Tatsache ist, dass sie auf diese Weise
Ignaz Paul Vital Troxler
vom Volk gewahlten Verfassungsrat. Mehr Er- kerung vor Naturgefahren gemeint waren. Diese der kantonalen Souveranitat eine entscheidende Seiten, von innen und von aussen, und sie erklart
um 1830, nach einer Litho- das hohe Tempo der Kommission, die ihre Arbeit
graphie von Bernhard folg hatte er mit seinem Vorschlag, nach dem Bestimmung veranlœrte ein wichtiges soziales An- Bedeutung einraumte. Besonders deutlich kommt
Egli, in: Martin Hiirlimann schon am 8. April abschliessen konnte. Die in die-
Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika liegen der Fortschrittlichen, zugleich widerspiegelt dies im sozialen und lmlturellen Bereich zum Aus-
(Hg.), Grosse Schweizer. sem zusammenhang feststellbare Fügsamkeit der
Hundertzehn Bildnisse zur das Zweikammersystem - eine nationale sie eine «prometheische» Beziehung zur Umwelt, druck. Das Schulwesen, die Ausbildung der Lehrer,
eidgenossischen Geschichte unterlegenen Sonderbundskantone war lœin Aus-
Volksvertretung ne ben einer kantonalen Stan- die als wilde und feindliche Umgebung durch den die Polizei sowie die Fürsorge wurden weiterhin-
und l(ttltur, Zürich 1938, druck ihrer plOtzlichen Bekehrung zu den Prinzi-
5.496. devertretung - zu etablieren. zivilisierten Menschen gebandigt werden soUte und werden bis heu te- kan tonal geregelt. Die Kan-
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Zwischen Angst und Hoffnung . Eine Nation entsteht (1798-1848)
Die Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann
Messieurs, Daignez agréer les f élicitatians et les vœux de deux seligkeiten. Dieser Vorfall erlaubte es den Siegern freulicben Auswirlmngen det· Bevormundung die brach te, dass es von Vorteil sei, sich miteinander zu
(( hommes qui, les premiers, on t combattu dans lew·pays l'ennemi que des Sonderbundskrieges, ein ironisch gefarbtes y:ormulierung des Anspruchs auf Anerkennung vertragen, auch wenn man sich noch nicht wirklich
vous venez de chasser du vôtre[... ] Vous avez consolé la France- Pères, Dankesschreiben zu verfassen, in dem sich un ter ais Nation an, zum anderen spornre die forrschrci- verstand.
tende Abschwachung der Ein flussnahme diesozia- Dieser Gedanke vermochte die zur letzten Tag-
ancêtres et maîtres de la liberté républicaine, du Gouvernement de l'aven il~ anderem folgende Aussage findet: «Les peuples
Ien Akteure dazu an, das Konglomerat von Kan- satzung zusammengekommenen Delegierten der
continuez d'en donner au monde la véritable tradition. Tandis que la des 22 cantons, malgré leurs diversités d'origines
wnen de facto und de iure in ein einheitlicheres Kantone offenbar zu überzeugen, denn nur dieAb-
Calabre, la Pologne, toute la terre fum e du sang de nos martyrs, des mar- de mœurs, d' instituti.oos locales et de religion'
ordnung aus Schwyz lehnte die neue Verfassung ab.
tyrs de la Liberté, -là où elle règne et triomphe point de sang, point de forment une seule et même nation, la natio~ sraarsgebilde umzuformen.
suisse»128 («Die Volkerschaften der 22 Kantone, un- Dass dieses Ziel skh nicht konfliktfrei verwirk- Bis zu einem gewissen Grad kam es auch in der Be-
violence, la paix dans la force- que tous voyent [sic], reconnaissent, à ce
geachtet ihrer untersch iedlichen Herkunft, Sitten, lichen liess, hing mit den unterschiedlichen Erin- vollœrung, die zur Abstimmung aufgerufen war,
spectacle, où est la cause de Dieu![... ] L'unité nationale, que vous cherchez nerungen an die einzige einheitsstaatliche Peri- zu einem Einvernehmen. In Obwalden und Ap-
Institutionen und Konfession, bilden zusammen
et voulez, serait compromise, autant que l'humanité, par toute violence eine Nation, die schweizerische Nation»). ode zusammen, welche die Schweiz gekannt batte: penzell Innerrhoden lag der Anteil der Ja-Stim-
partielle. Constituez, hommes de la Suisse, votre unitépar la clémence!»* Am 18. Januar 1848 jedoch drohten die auto- die Helvetik. Die Divergenzen im kollektiven Ge- men allerdings unter 10 Prozent. Dieses schwache
Brief der fra nzosischen Republikaner Edgar Quinet {J803-1875) und Jules Michelet(1798-1 874)
ritaren Monarchien abermals, im Falle einer Ver- dachtnis führten zu einer bemerkenswerten politi- Abstimmungsergebnis lasst sich als Kompensation
vom 12. Dezember 1847 an die Mitglieder der eidge noss ischen Tagsatzung Archives d'Etat de
Genève, Genf, RC Ann AF 1847 II, 254. ' fassungsrevision militarisch zu intervenieren. Vor schen Kreativitat. Tatsachlich sind die erweiterten für die erlittenen Demütigungen und als deutli-
diesem Hintergrund bedeutete der Ausbruch der volksrechte in der Verfassung von 1848 nicht allein che Zurückweisung der vorgeschlagenen Lebens-
pien der Sieger, sondern ihrer Demütigung. Mit Februarrevolution in Paris am 22. Februar, nur Ausdruck liberaler Prinzipien. In diesen Rechten formen interpretieren; nichts deutet darauf hin,
anderen Worten, sie konnte jederzeit in eine un- fünf Tage nach der ersten Sitzung der Bundesrevi- haben sich auch demokratische Prinzipien nieder- dass es sich dabei um die Ablehnung der Idee einer
versohnlichere und weniger leicht zu kontrollie- sionskommission, eine Atempause in einer heiklen geschlagen, die mit z.wei ganz unterscbiedlid1en schweizerischen Nation als solcher handelte. Die
rende Haltung umschlagen. Es war daher geraten, Lage und zugleich einen Ans po rn, die Vollendung Argumenten begründet wurden. Nach klassischer Resultate der anderen neutralen oder unterlege-
die politische Lahmung der Verlierer so schnell wie des grossen Projekts zu beschleunigen. Gewiss Auffassung stellen sie die konsequente Weiterfüh- nen Kantone waren deutlich positiver. Sie reichten
moglich zu nutzen, um eine neue Ordnung zu er- konnte niemand voraussehen, dass sich die Ereig- rung und Erweiterung des Prinzips der Volkssou- von einer Zustimmung von 14 Prozent in Uri bis zu
richten. Ein emeutes Aufflammen der Feindselig- nisse in Frankreich rasch zu einem allgemeinen veranitat dar, der rechtlichen Basis jedes Reprasen- 95 Prozent in Neuenburg. Indes müssen Freiburg
keiten, welches das oberste Ziel der Sieger zunichte Flachenbrand auf dem Kontinent entwickeln wür- tativsystems. Eigenwilliger ist ihre Konzeption als und Graubünden hier ausgenommen werden, da
gemacht batte, wollte man umjeden Preis verhin- den. Sicher ist hingegen, dass die Garantiemachte historisches Erbe und ihre Legitimation durch die dort jeweils nur der Grosse Rat den Verfassungs-
dern. Dieses Ziel, das auch die taktischen Rückzie- des Bundesvertrags von 1815 wegen der revolutio- Tradition. Erst in diesem Sinne überzeugten sie text ratifizierte, ebenso Luzern, wo nach verbrei-
her rechtfertigte, bestand in der Bildung der Nation naren Umtriebe so sehr mit eigenen Problemen be- auch die Konservativen. So trafen sich die beiden teter Gewohnheit die Stimmenthaltungen zu den
oder, um die Rhetorik der Zeit aufzugreifen, in der schaftigt waren, dass sich für die Sieger des Sonder- gegensatzlichen Auffassungen auf dem Gebiet des Ja-Stimmen gezahlt wurden.
Wahlrechts, und man naherte sich einander auch in Dank des entscheidenden Einft.usses der stad-
Wiedererrichtungjenes alten Bunds der Schweizer, bundskrieges ein Zeitfenster offnete, das sie nutzen
dessen Seele die Fortschrittlichen wiedererweckt gesellschaftspolitischen Fragen an. Dennoch fand tischen Wahlerschaft nahmen nahezu 6o Prozent
mussten: Es galt, das neue Regime auf eine verfas-
jedes ideologische Lager wieder andere Antworten, der Stimmenden die neue Verfassung an. In die-
zu haben glaubten und dessen «Einheit, Kraft und sungsmassige Grundlage zu stellen, um das Risiko
als es um die praktische U msetzung ging. sem Resultat spiegelt sich die grundsatzliche Zu-
Ehre» mit der neuen Verfassung gefestigt werden einer Einmischung von aussen zu eliminieren. Und
sollten. 127 Tatsachlich hatten die wahrend des Sonder- stimmung der Bevolkerung zu einer spezifischen
in der Tat, die neue Verfassung der Schweiz war aus-
bundskrieges scharf hervorgetretenen Gegensatze Form des Zusammenlebens als Nation, zugleich
J ene Aufgabe erschien umso dringlicher, als es gearbeitet, genehmigt und erprobt, lange bevor in
den Anschein hatte, dass die Besiegten auf Unter- Euro pa wieder Ruhe einkehrte. das gemeinsame Interesse jenseits der Kluft zwi- aber auch die relativ bescheidene Überlegenheit
stützung von aussen zahlen konnten. Schon wah- schen links und recl1ts einerseits und katholisch der zustimmenden Mehrheit. In einigen Fallen
rend des Bürgerkriegs hatten die Bundestrup- Eine Nation entsteht und reformiert andererseits vielfach überdeckt. batte die Zurückhaltung allerdings eher materi-
pen die mit so vielen unheilvollen Erinnerungen Auch wenn dieses Ergebnis der zügigen Arbeit der Die theoretischen Berührungspunkte- jenseits der elle als ideologische Gründe, wie etwa die Ableh-
verbundene und den nationalen Ambitionen ab- Kommissionsmitglieder zu verdanken ist, so lasst es ideologischen Differenzen - fanden sich zwar erst nung der Tessiner zeigt, die weniger gegen den
tragliche Intervention fremder Machte nur ver- sich doch in eine umfassendere, die gesamte Perio- auf einer relativ hohen Abstraktionsebene: zum ei- Geist des Textes als vielmehr gegen gewisse Zoll-
hindern konnen, indem sie oh ne Zeitverzug han- de lœnnzeichnende Dynamik einordnen. Die erste nen in einem geschichtsphilosophischen Konzept bestimmungen opponierten. Bezeichnenderweise
delten. Die militarische Auseinandersetzung war Halfte des 19. Jahrhunderts war gepragt von einer der Eidgenossenschaft, die über die J ahrhunderte haben gerade jene Bevolkerungssegmente, wel-
bereits nach weniger als drei Wochen beendet. In sich allmahlich abschwachenden Einflussnahme zur Na ti on zusammenwachsen soUte, zum anderen che die Verfassung und das ihr inharente Gesell-
der Zwischenzeit batte England in Sorge um das der auslandischen Machte auf die Eidgenossen- in einem modern en prozeduralistischen Staatsver- schaftsprojekt guthiessen, spater durch sozialen
europaische Gleichgewicht alles Erdenkliche ge- schaft: Am Anfang stand eine militarische Beset- standnis, das den notwendigen Raum für die Inte- Aufstieg von ihrer Entscheidung profitiert und da-
tan, die Behandlung der Angelegenheit un ter den zung, diese ging über in eine Schutzherrschaft, gration der divergierenden Vorstellungen bot. We- mit dem neuen Staat ein Fundament gegeben, wie
Grossmachten zu verschleppen. Aus diesen Grün- ausgeübt erst durch einen, dann durch mehrere sentlich bei diesem Findungsprozess war jedoch die es die Auseinandersetzungen und Befürchtungen
den stellten Frankreich, England, Preussen, Russ- Staaten, und mündete in einem gewissen Kontroll- Angst vor Niedergang und Chaos - eine allgegen- im Vorfeld seiner Gründung sicherlich nicht hat-
land und 6sterreich ihr (in drohendem Ton gehal- vakuum. Diese Entwicklung starkte das schweize- wartige Angst, welche schliesslich die, wenn auch ten erwarten lassen.
tenes) Vermi ttl ungsange bot erst am 30. Novem ber rische Nationalgefühl in doppelter Hinsicht. Zum noch fragile, Übereinstimmung darüber hervor-
1847 zu, also einen Tag nach dem Ende der Fei nd- einen regten die materiell und moralisch uner-
• «Hochgeachtete Herren! Gestattet zwei Mdnnern, die in ilmm Land als Ers te den Fei nd bekiimpft ha ben, den Ihr soeben vertrieben habt,
Euch d~e besten Gliick~ und Segenswiinsche darzubringen. [...] Ihr habt Frankreich Trost zugesprochen - Ihr Va ter, Vorfahren und Meister der
republtkantschen Frethett, der Staatsform der Zukunft,fahrtfort, deren wahre Tradition der Welt zu schen/œn. Wahrend Kalabrien, Polen,ja
dte ganze Erde vom Blut unserer Miirtyrer dampft, der Miirtyrer fllr die Freiheit - ist da, wo Freiheit herrscht und triumphiert, nicht Blut noch
Gewalt, sondem Frteden m Kraft und Stiirke, auf dass alle sehen und erkennen, wo Gottes Wer/( vollbracht wird! [... ]Die nationale Einheit,
dte Ihr sucht und wiinscht, wiiregefiihrdet, die Menschlichkeit befteckt durchjede einseitige Gewalt. Errichtet daher Ihr Miinner der Schweiz
Eure Einheit mit M ilde und Grossmutl» ' '
.1117
Die Geschi c hte der Schweiz - Irène Herrmann
Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation ents teht (1798 - 1848)
Gründe des Missbehagens analysiert, welches mit den Bemü- um den Preis der Aufgabe ihrer Souveranitat ais eigenstandige
[Jungen um Verein heirJidmng einherging. ' 34 Darüber bina us Republiken, selbst un ter Liberalen nicht unumstritten war. Und
enrstanden zahlreiche Studien zu den Anfàngen der Nationsbil- ferner hat sich das Bild der Landsgemeinde, einer Institution, die
du ng, die sich an neuen methodologischenund historisd1en Er- zuvor oft als eigentliche Statte des Machtmissbrauchs dargestellt
Iœnntnissen orientierten. Durch diese Arbeiten konnten Fort- worden ist, zum Positiven gewendet.'37
schritte in drei zusammenhangenden Bereichen erzielt werden: Der Wunsch, sich von den früher in der Geschichtswissen-
Es kam zu einer Vertiefung der neuen Forschungsansatze, gan- schaft etablierten Sichtweisen zu lüsen, seien es klassisch-tradi-
gige Interpretationcn wurdcn in Fragc gesrellt, und es eroffneren tionalistische oder solche aus den 196oer Jahren, hat seinerseits
sicb neuc Arbeitsfelder. Die Untersuchungen bestarig ren zum zur Entdeckung neuer Themenfelder geführt. Auf theoretischer
ZUM STAND DER FORSCHUNG einen die grosse Bedeutung der Vereinsarbeit und des Schul- Ebene versuchen etwa Autoren wie Andreas Ernst in überzeu-
systems sowie diejenige von kollektiven Bildern und Vorstellun- gender Weise, soziologische und politologische Modelle auf die
Das Kapite] von Georges Andrey in der Geschichte der Schweiz und der schiedenen Formen des nation building. Die Auswirkungen dies es gen. Angeregt von Gruners grundlegenden Werken wurden nun Schweizer Geschichte anzuwenden. Eher von empirischen Fra-
Schweizer, das sich mit dem hier vorgestellten Zeitraum befasst, neuen Forschungsinteresses auf die Schweiz liessen nicht lange zum anderen die soziologischen Aspekte des Kampfes herausge- gestellungen geleitet, befassen sich zudem immer mehr For-
bietet eine ausgezeichnete Synthese der historischen Kenntnisse auf sich warren: In Fortsetzung der Pionierarbeiten von Daniel arbeitet, den die Freisinnigen für die Modernisierung ihres Kan- scherinnen und Forscher mit der Lebensweise von benachteilig-
und Problemstellungen, wie sie zu Beginn der 198oer Jahre vor- Frei oder Ulrich lm Hof131 wiesen Historiker wie Hans Ulrich} ost tons und ihres Landes führten. ten Gruppen wie den Frauen, den Heimatlosen oder denJuden.
herrschten. And reys besondere Aufmerksamkeit galt den bis zu oder Albert Tanner auf die entscheidende Bedeutung des zu Be- Diese Wiederentdeckung des Politischen hat unweigerlich Eine wachsende Zahl von Forschenden erkundet die Lebenswelt
diesem Zeitpunkt in der Geschichte der Schweiz vernachlassig- ginn des 19. Jahrhunderts florierenden Fest- und Vereinslebens zur - manchmal polemischen- Neuinterpretation von Proble- der Verlierer des Sonderbundskrieges. Damit werden nicht nur
ten soziookonomischen Faktoren. Seine Darstellung drückt zu- für die politische Zukunft der Eidgenossenschaft und die Ent- men geführt, die bis anhin strikt okonomisch erklart worden wa- neue Perspektiven eroffnet, sondern es wird auch eine Darstel-
dem gewisse Vorbehalte gegenüber den rein ereignisgeschicht- stehung einer nationalen Identitat hin.'32 Die zuletzt genann- ren, oder, haufiger noch, zur erneuten Beschaftigung mit Fragen, lung ermoglicht, welche jene Epoche unausweichlich auf eine
lichen Aspekten des von ibm behandelten Zeitabschnitts aus, ten Publikationen erschienen mn das Jahr 1990, im Vorfeld eines die gerade wegen dieser Tendenz zu okonomischen Sichtweisen Entscheidung zusteuern sieht, oh ne sie jedoch quasi schicksals-
wenngleich ein besonderes Interesse an politischen Phanome- JubiHiums, in dessen Mittelpunkt nun tatsachlich die Schweiz seitJahrzehnten nicht mehr im Mittelpunkt des Forschungsin- haft in den Erfolg der Radikalen und Reformierten von 1848
nen ebenfalls nicht zu verkennen ist. 129 stand. Die Siebenhundertjahrfeier der Eidgenossenschaft regte teresses gestanden hatten. Beachtliche Anstrengungen wurden münden zu lassen.
And reys Text gab die Richtungen vor, welche die Forschung die Fachleute dazu an, jene Epoche, die traditionell als Grün- etwa unternommen, um einen genaueren Einblick in die Regu- Die Erforschung der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts
in den folgenden Jahren einschlagen soli te. Ein Teil der Unter- dungszeit des Landes gilt, neu zu betrachten. Die von den Me- lierungs- und Klassifizierungssysteme im Handelsverkehr zu er- wird durch Jubilaen, vor allem aber auch durch aktuelle Ereig-
suchungen befasste sich weiterhin mit der Wirtschafts- und So- diavisten angeregte Überprüfung hatte indes auch bedeutende halten, was namentlich ein besseres Erfassen der Zollorganisa- nisse standig vorangetrieben. Gerade die heutigen gesellschaft-
zialgeschichte. Die Arbeiten von Erich Gruner behandelten die Konsequenzen für die mit dem 19. Jahrhundert befasste Ge- tion erlaubte. Wesentlich starker umstritten ist der Ansarz, die lichen Herausforderungen legen einerseits nahe, die typischen
Arbeiterfrage in nahezu erschopfender Weise,'3° doch liessen schichtsschreibung. Denn in der Tat kristallisierte sich damais lange Zeit ebenso rein okonomisch interpretierten Gründe und Themen der Wirtschaftsgeschichte emeut aufzugreifen und da-
sie auch Raum für die Vertiefung oder gar Entdeckung weiterer, eine deutlich auf den Aspekt der Nationsbildung ausgerichtete Ziele der Verfassung von1848 aus nationaler oder klassenkimp- mit an die Fragestellungen anzuknüpfen, die seinerzeit der Ge-
mehr oder weniger mit ihr verbundener Bereiche. Besondere Fas- Sichtjener «Gründungszeit» des Mittelalters heraus. Die Arbei- ferischer Sicht neu zu beurteilen. 13s schichte der Schweiz und der Schweizer zugrunde lagen. Andererseits
zination übte etwa die Demographie aus, nicht zuletzt aufgrund ten des Mediavisten Guy P. Marchal- zum Teil Weiterführungen Die Neubewertung und damit die Kontroversen betref- fordert die Aktualitat die Geschichtsschreibung auch dazu auf,
des wachsenden Interesses an familiaren Netzwerken (siehe Bei- seiner früheren Studien- fanden ein ausserordentliches Echo. 133 fen vor allem eine protestantische, freisinnige und «nationa- an die Tradition der grossen Schweizer Geschichten anzuknüp-
trag von Elisabeth Joris, S. zso), insbesondere im Zusammen- Zwar lag sein Fokus weder auf der Restauration noch auf der Re- lisierende» Lesart der Vergangenheit. Dies zeigt sich etwa im fen, denn epochenübergreifende Darstellungen bieten einen
hang mit Migration. Mit der Demographie vermochte sich auch generation, doch konnte er anhand der Geschichte des Mittelal- Zuge von Debatten wie jener über die Zahl der Todesopfer des Schlüssel zu einem neuen und tieferen Verstandnis der Vergan-
die Klimageschichte ais Forschungsfeld zu etablieren. Dieser An- ters aufzeigen, wie sich der Gebrauch der Geschichte zu politi- Sonderbundskrieges; 136 Debatten, die zunachst unbedeutend genheit. Gerade in Hinblick auf die Schwei zer Geschichte der ers-
satz bereicherte wiederum die Studien zur Landwirtschaft, die in schen Zwecken entwickelte und welch entscheidende Rolle diese erscheinen, tatsachlich aber die Grundvoraussetzungen der ten Halfte des 19. Jahrhunderts, in der verschiedene langfristige
der Schweiz oft mit der Untersuchung der Heimarbeit und der Instrumentalisierung 1848 bei der Transformation des Konglo- schweizerischen Geschichtsschreibung in Frage stellen. Neue Entwicklungsstrange in der Schaffung des Nationalstaats
beginnenden Industrialisierung einhergehen (siehe Beitrag von merats von Kantonen in einen eigentlichen Nationalstaat spielte. Forschungsergebnisse zur Verkehrsgeschichte haben die Zasur kulminieren, konnen solche «grossen Erzahlungen» zu einem
Jon Mathieu, S. 184). Die Überschneidungen und Interdependen- Dieses Thema bildete auch die Grundlage vieler Publika- relativiert, die gewohnlich zwischen Restauration und Regene- besseren und vor allem spezifisch historischen Verstandnis bei-
zen der Forschungsfelder weisen auch darauf hin, warum sol che tionen, die aus Anlass eines dritten Jubilaums im Jahre 1998er- ration gesehen wurde. Zudem hat sich gezeigt, dass die «Natio- tragen.138
Studien haufig in Kantonsgeschichten enthalten sind: Die Kan- schienen. Die Zweihundertjahrfeier der Helvetischen Republik nalisierung» der Kantone, das heisst deren Zusammenschluss
toue bilden einen in sich homogenen und somit besser fassba- sowie die Hundertfünfzigjahrfeier des Bundesstaates wurden
ren Rahmen ais die Eidgenossenschaft ais Ganzes. So erstaunt bereits im Vorfeld von geschichtswissenschaftlichen Studien be-
es nicht, dass sich die Textgattung der Kantonsgeschichten seit gleitet, welche die Wahrnehmung der ersten Halfte des 19. Jahr- ANMERKUNGEN
Mitre der 198oer Jahre in starkem Aufschwung befindet. Ihr hunderts massgeblich veranderten. Zahlreiche Autorinnen und 1-Zu r Si mplonstrasse s - Chris tian Simon (Hg.), xelles/Berlin/ Zürich 2003. Würgler, Aush andel n statt Pro- d' Affry, 1743- 1810: premier
Erfolg ist aber auch Ausdruck und Resultat einer Rücldœhr der Autoren vertieften in ihren Arbeiten frühere Forschungsansatze. siche Arthur Fibi cher, Walliser Bd. 1: Widerstand und Pro tes te 7- AdolfRohr, Philipp Albert zessieren. Zur Ko nftiktlmlrur Jandanunan de la Suisse: la
Geschichte, Bd. 3.1, Sitten 1993, zur Zeit der Hel vetik 1Rés is- Stapfer: Minis ter der Helveti- der al ren Eidgenossenschaft im Confédérati on suisse à l'heure
politischen Geschichte. Das Verstandnis der Revolutionsperiode, deren (Neu-)Erkun- s. 89- 96. tance et contestation à l'époque schen Republik und Gesandter Vergleich mir Frankreich und napoléonienne, Genève/Givi-
Diese bereits bei Audrey erkennbare Tendenz zur politi- dung bereits rund ein Dutzend Jahre vor dem Jubilaum einge- 2- Jürg Stüssi-Lauterburg, de l'Helvétie, Base! 1998; der Sch weiz in Pari s 1798-1803, de m Deutschen Reich (1S00- siez 2003; Irène Herrmann,
Fiideralismus und Freiheit. Der j acques Besson, L' insu rrec tion Baden zoos. 18oo), S. zs-38, und Thomas Un intermédiaire en deçà du
schen Geschichte soli te sich in den neunziger Jahren anlasslich setzt harre, konnte dadurch wesentlich verbessert werden. Nach Aufstand von 18oz: ein in der des Bourla-Papey (ou brûleurs 8-Arr. 14 derVerf. vom s.Juli Maissen, Dispuratio de Hel· Médiateur: le Landammann, in:
der Feier mehrerer Jahrestage akzentuieren. Das erste dieser Ju- einem Jahrzehnt engagierter Neuinterpretation und Rehabili- Schweiz geschriebenes Kapi tel de papiers) dans le Canton du 18oo, in: Alfred KO! z, Neuere vetHs, an natu ra consentlant. Société vaudoise d'histoire et
Weltgeschichte, Brugg 1994. Léman du 15 septembre 18oo à Schwei zerische Verfassungsge- Frühneuzeirliche Annaherun- d'archéolog ie (Hg.), Vaud sous
bilaen war kein schweizerisches, sondern ein europaisches,j a so- tation, getragen von der Bewunderung für die Modernitat der 3- H istorischer Verein Nid- fi n septemb re 18oz et l'abolition schich te. Ih reGrundlinien vo m gen an d ie Sch weizer Konsens- l'Acte de Médiation. 1803- 1813.
gar ein weltweites: die Zweihunderrj ahrfeier der Franzosischen damais in Angriff genommenen Reformen und ihre Promoto- waldcn (Hg.), Nid walden 1798. des droits féo daux dans le can- Ende der Alten Eidgenossen- berei tschaft, S. 39- 56. La naissance d'un canton confé-
Gesch ichte und Überlieferung, ton de Vaud (loi du 31 mai 1804), schaft bis 1848, Bern 1992, S. 138. 1 1 - Irène Herrmann 1Cori nne déré, zooz, S. ng- 123.
Revolution. Dieses Ereignis regte die Produktivitat der Histori- ren, schien es schliesslich jedoch ruhiger zu werden rund um je- Stans 1998, S.118f. Le Mont-sur-Lausanne 1997· 9 - Anne-Marie Dubler, Walke r (Hg.), La mémoire de 13 - Roger Durand (Hg.), Guil-
ker merklich an und lenkte beispielweise den Blick auf soziale nes Themenfeld. Als greifbares Zeichen der Entwicklung hin zu 4 - Jürg Stüssi-Lauterbu rg/ 6 - Alfred Dufour et al. (Hg.), Handwerk, Gewerbe und Zunft 1798 en Suisse romande: repré- laume-Henri Dufour dans son
Hans Luginbühl/ Richard Mun- Bonaparte, la Suisse et l'Europe. in Stad t und Landschaft Luzern, sentations collectives d'une temps (1787-1875), Genève 1991;
Praktiken, derenAnfange auf das}ahr 1789 zurückgehen: Nach- einer weniger emotionalen Debatte kann der 1998 erschienene day 1Uel i Stump, Wel tgeschi ch- Actes du Colloque européen Luzern/St uttgart 1982, S. 169f. période révol utionnaire, Lau- Jean-Louis Rieu, Mémoires de
einander tratennun Feste, Vereine und Lieder ins historiogra- kleine Samme! band Widerstand und Proteste zur Zeü der Helvetik an- te im Hochgebirge. Enrschei- d' histoire constitutionnelle 10-Vgl. Traverse,Jg. 8, Nr. 3, sanne zoo!. j ean-Louis Rieu, ancien premier
dung an der Gri msel, 14. August pour le bicentenaire de l'Acte de 2001: Die Schweiz - Land des 12- Georges Andrey 1Alai n- syndic de Genève, Genève/Base!
phische Blickfeld und motivierten zur Untersuchung der ver- geführt werden, der auf eine ausgesprochen sachliche Weise die médiation (1803-2003), Bru- Konsenses?, darin insb. Andreas Jacques Czouz-Tornare, Lo ui s 1870.
1799, Baden 1999.
Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798-1848)
Die Geschichte der Schweiz - Irène Herrmann
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