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Die Polarisierung zwischen Formenspiel und Ausdruckskunst lässt sich wohl auf
den ewigen Konflikt zwischen Tradition und Progressivismus zurückführen. Im
Wandel der Zeit gibt es eine Gruppe Menschen, auch in diesem Fall mit
gewisser Wahrscheinlichkeit die alte Generation, welche konservativ an alten
Mustern, Werten und Traditionen festhält und eine andere, oft die jüngere
Generation, welche erforscht und Grenzen überschreitet.
In der musikalischen Auffassung des Formenspiels lassen sich Nachklänge der
Musikpraktik aus der Epoche der Klassik erkennen. Musik ist kein Gegenstand
äußerer Einflüsse, sondern in sich selbst vollendet. Die einzelnen Noten und
Elemente stehen nicht in Beziehung zu außer-musikalischen, etwa natürlichen
oder poetischen, Inhalten, sondern lediglich zu anderen Elementen derselben
Musik. Es resultiert eine Art der Komposition, welche strikten Formen folgt
(Sonatenhauptsatzform, viersätzige Sinfonieform, klassische A-B-A-Form). Sie
soll ohne Betrachtung außer-musikalischer Inhalte in sich nachvollziehbar sein,
sodass die Musik quasi stets strengen Mustern und dazu einer gewissen
Homogenität bzw. streng eingegrenzten Variation unterliegt (klassischer
Kontrapunkt, Fuge, strenge Imitation). Beim Zusammenspiel der musikalischen
Elemente innerhalb dieses Rahmens entsteht ein Werk, welches alleinstehend,
als rein musikalisches Werk, wirkt. Man könnte sagen, dass Hanslick und
andere Anhänger der Formenspiel-Auffassung die Musik als selbstständige
Kunst, abgegrenzt von anderen menschlichen Eindrücken sehen.
Dem gegenüber steht die Auffassung der Ausdruckskunst. Hausegger als einer
ihrer Vertreter meint, dass musikalische Werke durch einen menschlichen Geist
geschaffen würden und somit zwingend Eindrücke oder Einflüsse dieses Geistes
wiedergeben würden. Und so solle es auch auf Zuhörer wirken, sie entnehmen
der Musik jene Eindrücke und Einflüsse. „Das Wesen der Musik ist Ausdruck“,
behauptet er. Diese Auffassung spiegelt sich während des epochalen
Übergangs von Klassik zu Romantik immer mehr in der Musik wieder. Während
des 19. Jahrhunderts erlangte zum Beispiel die Programmmusik an Popularität,
welche spezifisch darauf abzielt, außer-musikalische Inhalte in Musik
wiederzugeben und zu übermitteln. Die sinfonische Dichtung versucht ganze
Werke der Poesie auf die Musik zu übertragen. Im Anschluss auf diese
Polarisierung im 19. Jahrhundert wird diese Auffassung in Form des
Impressionismus bzw. Expressionismus bestätigt und auf die Spitze getrieben.
Zusammenfassend sorgten während des 19. Jahrhunderts also die drastischen
Unterschiede zwischen den musikalischen Auffassungen zu der anhaltenden
Polarisierung. Kontraste wie strenge Imitation und freiheitliche Komposition,
Gottesehrfurcht und später fortschreitende Säkularität oder auch die
verschiedenen Zwecke von klassischer Hofmusik und unterhaltender
Programmmusik waren einfach nicht miteinander zu versöhnen.