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Schriften zur rechtswissenschaftlichen Didaktik 12

Jörn Griebel (Hrsg.)

Vom juristischen Lernen

Nomos
https://doi.org/10.5771/9783845294384
Generiert durch Bibliothekssystem Universität Hamburg, am 01.07.2021, 12:48:28.
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Schriften zur rechtswissenschaftlichen Didaktik
herausgegeben von
Dr. Denis Basak, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Reinhard Bork, Universität Hamburg
Prof. Dr. Barbara Dauner-Lieb, Universität zu Köln
Prof. Dr. Martina Deckert, Universität Kassel
Prof. Dr. Jörn Griebel, Universität zu Köln
Dr. Albrecht Hatzius, Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg
Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
PD Dr. Konrad Lachmayer, Universität Wien
Prof. Dr. Holm Putzke, Universität Passau
Prof. Dr. Anne Röthel, Bucerius Law School Hamburg
Prof. Dr. Rolf Sethe, LL.M., Universität Zürich
Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute, Universität Hamburg
Band 12

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Jörn Griebel (Hrsg.)

Vom juristischen Lernen

Nomos

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8487-5264-5 (Print)
ISBN 978-3-8452-9438-4 (ePDF)

1. Auflage 2018
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort

Die Themenfelder »Juristisches Lernen« und »Rechtsdidaktik« sind keine


scharf voneinander zu trennenden Bereiche, vielmehr überschneiden sie
sich erheblich. So überrascht es auch nicht, dass im Rahmen der am 9./10.
September 2016 und am 28./29. April 2017 auf Schloss Gracht bei Köln
durchgeführten Tagungen zum Juristischen Lernen, auf denen dieser Ta-
gungsband basiert, die kaum klar kartographierten Grenzen zwischen den
genannten Bereichen stetig überschritten wurden. Der besondere Fokus auf
den juristischen Lernprozess, wie er sich im Rahmen eines nicht besonders
angeleiteten Selbststudiums individuell vollzieht, hat gleichwohl nochmals
eine neue Perspektive auf die Gesamtthematik der Verbesserung juristi-
scher Ausbildungsprozesse geworfen und zahlreiche neue Erkenntnisse ge-
bracht.
Die beiden Tagungen wurden in enger Kooperation zwischen dem Kom-
petenzzentrum für juristisches Lernen und Lehren der Universität zu Köln
(KJLL) und Vertretern des Fachbereichs Recht der Fakultät III der Univer-
sität Siegen organisiert. Barbara Dauner-Lieb und Ann-Marie Kaulbach
vom KJLL sei an dieser Stelle für die ausgezeichnete Zusammenarbeit be-
sonders gedankt. Gefördert wurden beide Tagungen durch die Heinz
Nixdorf Stiftung und die Hanns Martin Schleyer-Stiftung im Rahmen der
Universitas-Initiative »Interdisziplinäre Dozentenkolloquien Wissenschaft
und Praxis«, wofür ebenfalls ein sehr herzlicher Dank – besonders gerichtet
an die Geschäftsführerin der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Frau Barbara
Frenz – gebührt. Letztgenannte Stiftung hatte bereits vor Jahren eine Ta-
gung ermöglicht, aus der der in dieser Reihe erschienene Tagungsband
»Von der juristischen Lehre« hervorgegangen ist, und so hat sie sich hier
abermals sehr um die Weiterentwicklung des Themenbereichs Lehren und
Lernen in der Rechtswissenschaft verdient gemacht.
Den Referentinnen und Referenten beider Tagungen sei ebenso gedankt,
wie den mit diesen nahezu deckungsgleichen Autorinnen und Autoren die-
ses Bandes und allen bemerkenswert kreativen Diskutanten beider Tagun-
gen. Die Reihenfolge der Beiträge in diesem Band folgt im Wesentlichen
der Reihenfolge der auf den Tagungen gehaltenen Vorträge. Neben den Bei-
trägen umfasst der Band Berichte von beiden Tagungen, zu denen neben
dem Kollegen Martin Zwickel auch die Tagungsreferenten mittels Kom-
mentaren beigetragen haben. Darin werden insbesondere auch die leben-

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Vorwort

digen Diskussionen aller Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer abgebil-


det.
Ebenfalls gedankt sei den Mitherausgebern dieser Schriftenreihe für die
freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe. Meinem Mitarbeiter, Herrn
Stefan Schelhaas, gilt es für seine ausgezeichnete und akribische Durchsicht
der Beiträge zu danken. Und letztlich sei Herrn Peter Schmidt vom Nomos-
Verlag sehr herzlich für die gute Kooperation und ausgezeichnete Betreu-
ung des Projekts gedankt.

Siegen, September 2018

Jörn Griebel

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Inhalt

Anregungen für ein effektives Selbststudium anhand von Fällen


sowie für die richtige Lektüre und die Gestaltung von Lehrbüchern
Tomas Kuhn 9

Einige Gedanken zur Neuaustarierung des Verhältnisses


von Präsenzveranstaltungen und Selbststudium
Mahdad Mir Djawadi 37

Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens


Ann-Marie Kaulbach/Pauline Riecke 61

Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern


Barbara Lange 75

Motivation im Jurastudium
Frank Bleckmann 97

Rechtsvergleichung und juristisches Lernen


Martin Zwickel 135

Grundlagen des juristischen Lernens


Jörn Griebel 159

Tagungsforum
Martin Zwickel/Jörn Griebel 181

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Anregungen für ein effektives Selbststudium anhand
von Fällen sowie für die richtige Lektüre und die
Gestaltung von Lehrbüchern
Tomas Kuhn*

Teil I: Effektives Selbststudium anhand von Fällen

A. Fälle als zentraler Baustein des Selbststudiums

Thema des ersten Teils dieses Beitrags ist das Selbststudium anhand von
Fällen. Hintergrund für die Wahl dieses Themas ist meine Überzeugung,
dass die Beschäftigung mit Fällen gerade auch im Selbststudium besonders
wichtig und zugleich ein Baustein für die in der Überschrift angesprochene
Effektivität des Selbststudiums ist. Dies hat mehrere Gründe:

(1) Im Staatsexamen sind ebenfalls, zumindest weit überwiegend, Fälle zu


lösen. So können etwa in Bayern grundlagenbezogene Zusatzfragen,
die also nicht auf die Lösung eines Falles abzielen, höchstens 25% einer
Prüfungsaufgabe ausmachen. Zudem muss die Zusatzfrage einen Bezug
zu dem gestellten Fall haben.1 In der Examenspraxis kamen solche Zu-
satzfragen bislang, wenn überhaupt, nur in einer der jeweils sechs Klau-
suren vor, und es überwiegen deutlich diejenigen Examenstermine, in
denen keine Zusatzfrage gestellt wird.
(2) Beim Lösen von Fällen ist die Gefahr viel geringer, dass die Konzent-
ration darunter leidet, dass die Gedanken abschweifen.
(3) Das Lösen von Fällen macht mehr Freude als das bloße Nachvollziehen
fremder, wenn auch idealerweise kluger Gedanken, wie man sie in
Lehrbüchern findet (die natürlich trotzdem gelesen werden sollten).
____________________
* Prof. Dr. jur., Inhaber der Lehrprofessur für Zivilrecht, Institut für Rechtsdidaktik,
Universität Passau.
1 S. im Einzelnen den Beschluss des Prüfungsausschusses für die Erste Juristische
Staatsprüfung zur Bedeutung von Grundlagenelementen in der Ersten Juristischen
Staatsprüfung vom 31. August 2009, abrufbar unter https://www.justiz.bay-
ern.de/landesjustizpruefungsamt/erste-juristische-staatspruefung/ (letzter Abruf
am 1.9.2018).

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Tomas Kuhn

(4) Das Lösen von Fällen zeigt einem, …


(a) …ob man den Stoff wirklich verstanden hat (Bsp.: Welches von
mehreren rechtlichen Instituten ist im konkreten Fall einschlägig,
ist eine Abgrenzung überhaupt nötig, und wenn ja, wie hat sie ge-
nau zu erfolgen?),
(b) …ob man abstrakt erlernte Phänomene in konkreten Sachverhalts-
situationen erkennt,
(c) …ob man in der Lage ist, rechtsfolgenorientiert, strukturiert, strin-
gent, widerspruchsfrei und lückenlos zu denken und zu schreiben.

B. Konkretes Vorgehen

I. Auswahl der Fälle

1. Mischung aus kurzen und langen Fällen

Eine Mischung aus kurzen und langen Fällen ist besonders in der Phase der
Vorbereitung auf die Staatsprüfung zu empfehlen, in der fünfstündige Klau-
suren zu bearbeiten sind. Auch schon in der Studieneingangsphase kann und
sollte man aber auch anhand von kürzeren Fällen üben. Gedacht ist dabei
etwa an die Reihe »Prüfe Dein Wissen« (Verlag C.H. Beck), die für alle
drei Pflichtfächer erschienen ist und sich für alle Phasen des Studiums eig-
net.
Lange Übungsfälle haben v.a. folgende Vorteile:

(1) Sie simulieren die eigentliche Prüfung besser.


(2) Sie sind durch umfangreichere Sachverhalte anspruchsvoller.
(3) Sie sind durch komplexere Lösungen anspruchsvoller.

Für kürzere Übungsfälle spricht demgegenüber:

(1) Die Einzelphänomene sind als solche leichter erkennbar, da sie nicht in
eine komplexe Lösung eingebaut sind.
(2) Kleinere Arbeitseinheiten kosten weniger Überwindung.
(3) Das Zeitmanagement ist einfacher. Ggf. bleibt ja nur noch wenig Zeit
bis zu einer geplanten Unterbrechung oder dem geplanten Ende der
Lernzeit.

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

2. Nicht zu genau wissen, wovon der Fall handelt

Es sollte vorher nicht zu detailliert bekannt sein, worin die Probleme des
Falles liegen. So empfiehlt sich etwa für die Fälle der Reihe »Prüfe Dein
Wissen«, die Überschriften der einzelnen Fälle abzudecken. Beispielsweise
wird es meist genügen, zu wissen, dass sich ein Fall mit der Hypothek be-
schäftigt.
Etwaige Angaben zum Schwierigkeitsgrad des Falles oder zu einer etwa-
igen Notenverteilung helfen dagegen dabei, das eigene Leistungsvermögen
besser einzuschätzen.

3. Auch unbekannter Stoff?

Oftmals wird der Fall auch Stoff enthalten, mit dem man sich zuvor nicht
beschäftigt hat. Dies ist aber, sofern es sich in Grenzen hält, kein Nachteil.
Im Examen wird man voraussichtlich ebenfalls vor Problemen stehen, die
man zumindest in der betreffenden Konstellation vorher noch nicht behan-
delt hat. Es schadet also nichts, den Umgang mit solchen Situationen zu
üben. In der Regel sollte man auch in einem solchen Fall zumindest eine
Vorstellung davon haben, wo sich die Vorschriften zur Lösung des unbe-
kannten Problems befinden, und sobald man sie gefunden hat, müsste man
sie zumindest dem Wortlaut nach auch anwenden können. Auch zu der
Frage, an welcher Stelle sie in der Lösung anzusprechen sind, müsste man
zumindest eine Idee haben, wenn man genau auf die Fallfrage blickt, sich
um eine geordnete Gedankenführung bei deren Beantwortung bemüht und
sich für die Struktur der gefundenen Vorschrift interessiert (Orientierung an
ihrer Rechtsfolge, was den Aufbau angeht;2 dagegen Blick auf den Sach-
verhalt, was ihre Voraussetzungsseite und somit die Subsumtion betrifft).

II. Gliedern der Lösung

1. Auch Ausformulieren?

Die Lösung auszuformulieren ist zwar auch im Selbststudium grundsätzlich


eine gute Übung: Man bekommt ein Gefühl für die Zeiteinteilung sowie für
____________________
2 S. dazu noch unten IV.2.e.ff.

11
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die richtigen Formulierungen. Allerdings ist der Wert des Ausformulierens


erheblich eingeschränkt, wenn man – wie in der Regel – keine Gelegenheit
zu einer Korrektur bekommt. Umso wichtiger ist beim Lösen von Fällen im
Selbststudium das Erstellen einer Gliederung. Diese Aufgabe sollte mit gro-
ßer Sorgfalt unternommen werden. Das bedeutet: Alle geprüften Punkte
sollten erkennbar sein, ebenso in Stichpunkten die zu diskutierenden Prob-
leme samt Argumenten für ihre Lösung. Alle angewendeten Vorschriften
sollten bei der Gliederung aufgeschlagen und mit all ihren Absätzen und
Sätzen gelesen werden, ebenso die Überschriften benachbarter Vorschrif-
ten, die ebenfalls einschlägig sein könnten. Damit ist auch klar: Eine spätere
Ausrede, man hätte etwaige Lücken vermutlich noch bei der Ausformulie-
rung entdeckt, scheidet aus. Nicht weniger sorgfältig sollte man im Übrigen
vorgehen, wenn man im Anschluss die Lösung tatsächlich ausformuliert.
Ein Grund mehr, diese Präzision in jedem Fall anzustreben!

2. Nicht entmutigen lassen!

Typischerweise gelingt eine Gliederung vor allem zu Beginn des Studiums


nur bruchstückhaft. Ähnliches gilt für den Beginn der Examensvorberei-
tung, in der das Niveau auf einen Schlag erheblich ansteigt. Beides sollte
einen keinesfalls entmutigen, zumal auch nahezu alle erfolgreichen Absol-
venten berichten, dass sie mit derartigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat-
ten. Insofern ist also Milde sich selbst gegenüber dringend angeraten. An-
dererseits sollte aber auch wirklich alles versucht werden, um mit der Glie-
derung dem richtigen Lösungsweg möglichst nahe zu kommen. Soweit
schon beim Erstellen der Gliederung verbleibende Lücken und Unstimmig-
keiten erkannt werden, sollte dies zu besonderer Neugier führen, wie an
diesen Stellen die Musterlösung aussehen mag.

III. Durchsicht der Musterlösung

Im Anschluss wird die Musterlösung gelesen. Dies sollte durchaus mit kri-
tischem Blick geschehen. Die Qualitätskriterien, an denen die eigene Lö-
sung gemessen wird,3 gelten auch hier.

____________________
3 Dazu unten IV.2.

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

IV. Vergleich der eigenen Lösungsskizze mit der Musterlösung

1. Allgemeines

Nach der Lektüre der Musterlösung wird diese mit der eigenen Lösungs-
skizze verglichen. Dabei steht die Analyse der Abweichungen im Vorder-
grund.
Fehler und ihre Vermeidbarkeit sollte man dabei unbedingt »sportlich«
sehen, also als Reiz und Herausforderung, zumal es bei den vermeidbaren
Fehlern nicht um Wissensdefizite geht. Die Vermeidbarkeit zeigt ja gerade:
Es geht auch besser!
Dabei sollte man sich fragen:4 Was habe ich anders gemacht? War das
falsch oder zumindest weniger gut? Warum? Falls ein Fehler vorliegt: Wie
hätte ich ihn vermeiden können?
Die eigene Lösungsskizze sollte anhand der Originallösung (soweit diese
überzeugend erscheint) mit anderer Farbe korrigiert und ergänzt werden.
Die Anmerkungen können dabei durchaus auch Antworten auf die soeben
formulierten Fragen enthalten.

2. Fehleranalyse im Besonderen5

a) Bilden von Kategorien

Die Fehler in Kategorien einzuteilen erscheint empfehlenswert. Es hilft


nämlich, den Blick für sie über die konkrete Klausur hinaus zu schärfen.
Dabei kann man auch umgekehrt Qualitätsanforderungen als Kategorien
formulieren und diesbezüglich jeweils die Defizite notieren. Im Rahmen
des Angebots »Individuelle Klausuranalyse für Examenskandidaten« an der
Universität Passau6 wurden entsprechende Tabellen entwickelt, anhand

____________________
4 Näher dazu unten 2.
5 S. dazu auch Zwickel/Schmid/Lohse, Kompetenztraining Jura – Leitfaden für eine
juristische Kompetenz- und Fehlerlehre, Berlin/Boston 2014; Kuhn, Konsequen-
zen aus Fehlern in Klausurbearbeitungen für die juristische Lehre, in: Grie-
bel/Gröblinghoff (Hrsg.), Von der juristischen Lehre, Baden-Baden 2012, S. 105
(105 ff.).
6 http://www.ird.uni-passau.de/weitere-angebote/einzelcoaching/ (letzter Abruf am
1.9.2018).

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derer die eingereichten Klausuren analysiert werden. So sieht die Tabelle


im Zivilrecht aus:

Für die Bewertung relevante Aspekte Seite der Anmerkun-


Klausur gen

Rechtsfolgenorientierte Prüfung
Nur an der betreffenden Stelle relevante
Rechtsfolgen
Sonstige Aufbaufragen

Prüfen aller Voraussetzungen einer


Vorschrift
Prüfen der Voraussetzungen (Subsu-
mieren) eng am Gesetz
Für Erkenntnisse aus dem Gesetz dieses
zitieren
Genaues Zitieren des Gesetzes
Genaue Schlussfolgerung aus der zitier-
ten Vorschrift

Relevante Vorschriften finden

Problembewusstsein (Erkennen von


Problemen)

Behauptungen begründen
Überzeugungskraft der Argumente
Begründungstiefe
Vorhandensein von Gegenargumenten

Korrespondierende Ober- und Schluss-


sätze
Lückenlose Gedankenführung

Verständnis im Übrigen
Genauigkeit im Übrigen

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

Sachverhaltserfassung

Wissen
Sonstiges

b) Zu der Kategorie »Wissen« im Besonderen

Besonders aufschlussreich ist aus den Passauer Erfahrungen der individu-


ellen Klausuranalyse im Zivilrecht der Befund, dass regelmäßig nur sehr
wenige Einträge in der Kategorie »Wissen« erfolgen. Dieses Bild deckt sich
mit den Berichten der Prüfer aus der Ersten Juristischen Staatsprüfung.
Letztlich ist es aber nicht erstaunlich, da gerade im Zivilrecht nur sehr we-
nig auswendig gelernt werden muss. Der weitaus größte Teil des Prüfungs-
stoffes besteht darin, die entscheidenden Normen zu finden, sich bei der
Subsumtion die richtigen Fragen zu stellen und hierzu begründete Antwor-
ten zu finden. Daher verbleiben für die Kategorie »Wissen« im Zivilrecht
nur vereinzelte Aspekte wie etwa die Voraussetzungen des Vertrags mit
Schutzwirkung für Dritte oder der Drittschadensliquidation oder der Begriff
des Verrichtungsgehilfen i.S.d. § 831 Abs. 1 S. 1 BGB (zum Erfüllungsge-
hilfen genügt dagegen die Formulierung des § 278 S. 1 BGB).

c) Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den Kategorien

Mitunter fällt die Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie schwer. An der


Schnittstelle zwischen »Wissen« und »Prüfen aller Voraussetzungen einer
Vorschrift« dürfte etwa das Problem liegen, dass die »Gemeinschaftlich-
keit« bei der Errichtung eines gemeinschaftlichen Testaments als eigenstän-
dige Voraussetzung zu prüfen ist.
Problematische Punkte zu erkennen und dazu Argumente zu finden sollte
dagegen m.E. nicht als Wissensproblem behandelt werden. Zwar könnte
man auch sagen, eine Streitfrage und/oder die zu ihrer Beantwortung in
Rechtsprechung und Literatur vorgebrachten Argumente seien nicht »be-
kannt«, es handele sich also um ein Wissensproblem. Treffender – gerade
auch im Hinblick auf die Ziele des Selbststudiums sowie des Jurastudiums
überhaupt – erscheint demgegenüber die Sichtweise, hier sei das Bewusst-
sein für bestimmte, letztlich erkennbare (!) Probleme nicht hinreichend vor-
handen und/oder die Fähigkeit, zur Behandlung des Problems taugliche

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Vorschläge zu machen, insbesondere Argumente für denkbare Positionen


zu finden.
Was die Kategorie »Prüfung aller Voraussetzungen einer Vorschrift« be-
trifft, so wird es hier Fälle geben, die man auch unter »Verständnis im Üb-
rigen« einsortieren könnte, so etwa, wenn im Zivilrecht…

 …bei der Prüfung des § 280 Abs. 1 BGB als alleinige Anspruchsgrund-
lage (also nicht i.V.m. Abs. 2 oder Abs. 3) nicht geprüft wird, dass der
ersatzfähige Schaden weder von § 280 Abs. 2 BGB noch von § 280
Abs. 3 BGB erfasst sein darf, also kein Schaden wegen Nichtleistung
sein darf, oder
 …bei § 179 Abs. 1 BGB die aus § 179 Abs. 2 BGB zu entnehmende
Voraussetzung übersehen wird, dass der Vertreter keine Kenntnis von
seiner fehlenden Vertretungsmacht haben darf, oder
 …bei § 994 Abs. 1 BGB die aus § 994 Abs. 2 BGB folgende Voraus-
setzung übersehen wird, dass der nichtberechtigte Besitzer im Moment
der Verwendungsvornahme unverklagt und redlich gemessen am Maß-
stab des § 990 Abs. 1 S. 1 und S. 2 BGB gewesen sein muss.

d) Mögliche Konkretisierung der Kategorien

Die in der obigen Tabelle erwähnten Kategorien lassen sich auch noch kon-
kreter fassen bzw. weiter differenzieren. Je abstrakter die Kategorie formu-
liert ist, desto mehr Aussagekraft kann sie über die konkrete Klausur hinaus
haben. Sicher ist dies jedoch nicht: Es könnte nämlich auch sein, dass der
Fehler gerade nur unter den besonderen Umständen der betreffenden Klau-
sur (oder zumindest unter einigen dieser Umstände) unterlaufen ist. Man
sieht hier: Die Entscheidung darüber, wie konkret oder abstrakt der Fehler
formuliert werden sollte, hängt eng mit der (unter e) behandelten) Frage
zusammen, worin die Fehlerursachen liegen könnten.
Konkretisieren lässt sich z.B. die Kategorie »Relevante Vorschriften fin-
den«: Handelt es sich bei der Norm, die nicht gefunden wurde, um eine mir
bislang unbekannte Norm oder kannte ich die Vorschrift »eigentlich«?
Bei der Kategorie »Problembewusstsein (Erkennen von Problemen)«
könnte man im Zivilrecht etwa wie folgt konkreter werden:

 Es wurde eine Vorschrift geprüft, die hier nicht anwendbar war (insbe-
sondere, weil sie – zumindest nach h.M. – gesperrt war, so etwa §§ 823
ff. BGB durch § 993 Abs. 1 a.E. BGB, § 951 Abs. 1 BGB durch §§ 994

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ff. BGB oder § 119 Abs. 2 BGB oder die c.i.c. durch §§ 434 ff. BGB,
§§ 536 ff. BGB und §§ 633 ff. BGB).
 Es wurde übersehen, dass bei der Prüfung einer konkreten Vorschrift
nach dem vorliegenden Sachverhalt mehrere Rechtsfragen zusammen-
treffen. Beispiele für das Strafrecht: Besonderheiten beim Versuch ei-
nes erfolgsqualifizierten Delikts oder eines Delikts im Falle eines Re-
gelbeispiels oder beim Rücktritt im Falle mehrerer Beteiligter.
 Es wurde eine nach der Aufgabenstellung erforderliche Abgrenzung zu
einem anderen Rechtsinstitut/einer anderen Vorschrift übersehen. Bei-
spiel: Geprüft wurde nur eine auflösende Bedingung (§ 158 Abs. 2
BGB), nach ihrer Verneinung aber nicht zusätzlich die Zweckverfeh-
lungskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB) und der Wegfall der
Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).
 Eine Sachverhaltsangabe wurde bei der Prüfung nicht hinreichend be-
rücksichtigt.7 So wird z.B. typischerweise die Minderjährigkeit eines
Beteiligten an mehreren Stellen in der Lösung einer zivilrechtlichen
Klausur relevant (etwa §§ 106 ff. BGB, § 682 BGB, § 828 BGB [auch
analog bei Schadensersatzansprüchen außerhalb der §§ 823 ff. BGB];
Minderjähriger als tauglicher Leistender/Anweisender im Sinne des
Bereicherungsrechts?; § 819 BGB: auf Kenntnis des Minderjährigen
selbst oder seines gesetzlichen Vertreters abzustellen?).
 Neben im Sachverhalt erwähnten rechtlichen Argumenten zu bestimm-
ten Problemen wurden keine weiteren Argumente gesucht. Beispiel:
Hinweis im Sachverhalt auf den Erbschein als mögliche Grundlage für
das Freiwerden von der Verbindlichkeit trotz Leistung an den Nichtbe-
rechtigten, also mittelbar Hinweis auf § 2367 Alt. 1 BGB; daneben oder
stattdessen aber Einschlägigkeit von §§ 2019 Abs. 2, 407 Abs. 1 Alt. 1
BGB und von § 851 BGB, aus denen sich jeweils die gleiche Rechts-
folge ergibt.
 Auch die Kategorie »Verständnis im Übrigen« wird sich in vielerlei
Hinsicht konkretisieren lassen. Mögliche Beispiele:

o Es wird von falschen rechtlichen Annahmen ausgegangen (etwa


von der Annahme, ein von der tatsächlichen Erbfolge abweichender
Erbschein führe zur Änderung der Erbfolge).

____________________
7 Mit der Kategorie »Sachverhaltserfassung« ist in der obigen Tabelle dagegen eher
gemeint, dass eine Information aus dem Sachverhalt überhaupt nicht wahrgenom-
men oder missverstanden wurde.

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Tomas Kuhn

o Bei § 280 Abs. 1 BGB wird als Schuldverhältnis ein Abtretungs-


vertrag geprüft statt der zugrundeliegende Forderungskauf.
o Über §§ 1138 Fall 1, 892 BGB wird der gutgläubige Erwerb einer
forderungsentkleideten Hypothek (zu Recht) bejaht, im Anschluss
dann aber auf die fehlende Forderung eine Einrede gegen die Hy-
pothek gestützt.

e) Fehlerursachen und Strategien zu ihrer Vermeidung

aa) Allgemeines

Oft reicht es aus, den Fehler zu benennen, um sowohl zu wissen, wie er


zustande kam, als auch, wie man ihn künftig vermeiden kann. Mitunter ist
aber nur klar, wie er zustande kam, nicht ganz so klar dagegen, wie er künf-
tig vermieden werden kann. Und schließlich kann es auch sein, dass schon
zweifelhaft ist, wie der Fehler überhaupt zustande kam. Allein darüber
nachzudenken, mit welchem dieser Fälle man es bei einem bestimmten Feh-
ler zu tun hat, dürfte schon erheblich dabei helfen, ihn künftig zu vermeiden.
Wie bereits die Fehlerbeschreibung selbst kann man auch die Gründe für
den Fehler sowie die Strategien zu seiner Vermeidung abstrakter oder kon-
kreter formulieren. Zu den Vor- und Nachteilen einer höheren Abstraktion
bzw. einer höheren Konkretisierung s. oben d).
Im Folgenden sollen einige Beispiele für die Suche nach Fehlerursachen
und nach Strategien für deren Vermeidung gegeben werden. Diese beiden
Schritte gehen z.T., wie erwähnt, ineinander über.

bb) Zu der Kategorie »Relevante Vorschriften finden«

Wie hätte ich in der Klausur die Norm finden können, die ich nicht entdeckt
habe?
Unterfall 1: Ich habe in dieser Klausur eine Norm nicht gefunden, die ich
bislang auch nicht kannte.
Wie hätte ich die Norm finden können?

 Z.B.: Vorschriften zu Hypothek, Grundschuld oder Dienstbarkeiten


auch im Allgemeinen Grundstücksrecht suchen.
 Z.B.: Vorschriften, die mehrere Regelungsbereiche betreffen, nicht nur
in einem der Regelungsbereiche suchen:

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o § 445 BGB: betrifft sowohl §§ 433 ff. BGB als auch §§ 1228 ff.,
1233 ff. BGB
o § 216 Abs. 1, Abs. 2 BGB: betrifft sowohl die Verjährung als auch
die dort genannten Sicherungsrechte (sinnvollerweise im Verjäh-
rungsrecht geregelt, da mehrere Sicherungsrechte betreffend).

Unterfall 2: Ich habe in dieser Klausur eine Norm nicht gefunden, die ich
eigentlich kenne. Denkbare Gründe dafür:

(1) Ich habe die Norm bislang nur mit anderen Sachverhalten in Verbin-
dung gebracht.
Beispiel: § 816 Abs. 1 S. 1 BGB wurde zu folgendem Sachverhalt
nicht gefunden:
E bestellt der B eine Hypothek; alle Voraussetzungen liegen vor, nur
die Auszahlung des Darlehens unterbleibt (  Eigentümergrundschuld
für E, §§ 1163 Abs. 1 S. 1, 1177 Abs. 1 S. 1 BGB).
B überträgt die vermeintliche Hypothek entgeltlich an den gutgläu-
bigen D, der gemäß §§ 873 Abs. 1 Fall 3, 1153 Abs. 1, 1154, 1138 Fall
1, 892 BGB eine forderungsentkleidete Hypothek erwirbt.
 Dem E steht gegen B ein Anspruch (u.a.) aus § 816 Abs. 1 S. 1
BGB zu.
§ 816 Abs. 1 S. 1 BGB habe ich hier vermutlich deswegen übersehen,
weil es sich um eine andere Verfügung als eine Übereignung handelt.
Letztere kommt in Klausuren als Verfügung i.S.d. § 816 Abs. 1 S. 1
BGB viel häufiger vor.
(2) Ich habe eine andere Vorschrift angewendet und bejaht und (ggf. unbe-
wusst) fälschlich keinen Raum mehr für die Anwendung der weiteren
Vorschrift gesehen.
Z.B. § 285 Abs. 1 BGB neben § 816 Abs. 1 S. 1 BGB und/oder neben
§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 S. 1 BGB.
(3) Ich habe zu wenig von den (für die Fallfrage relevanten) Rechtsfolgen
her gedacht.
Beispiel: Ich habe das Problem der Vormerkung nicht im Rahmen von
§ 275 Abs. 1 BGB geprüft.
Ich habe wohl zu wenig von der hier relevanten Rechtsfolge der Vor-
merkung her gedacht, die in der relativen Unwirksamkeit der Verfü-
gung gegenüber dem Vormerkungsberechtigten besteht (§ 883 Abs. 2
S. 1 BGB; zur Relativität s. § 888 Abs. 1 BGB: »gegenüber demjeni-
gen«).

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Tomas Kuhn

Oder: Ich habe zwar bei der Vormerkung von den Rechtsfolgen her
gedacht und habe auch die hier relevante Rechtsfolge »Unwirksamkeit
der Verfügung gegenüber dem Vormerkungsberechtigten« gefunden.
Aber ich bin nicht auf die Idee gekommen, das Problem beim Anspruch
auf Übereignung aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB unter § 275 Abs. 1 BGB
zu diskutieren. Ich habe mir nämlich nicht klar genug gemacht, dass die
Rechtsfolge des § 883 Abs. 2 S. 1 BGB »relative Unwirksamkeit der
Verfügung gegenüber dem Vormerkungsberechtigten« für die hier re-
levante Prüfung des Anspruchs aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB bedeutet:
Die Übereignung ist nicht unmöglich.
Oder: Ich habe schon die Einwendung des § 275 Abs. 1 BGB gegen
den durch die Vormerkung gesicherten Anspruch nicht geprüft, weil die
Vormerkung den Vormerkungsberechtigten doch gerade schützt (eben
sichert). Dazu ist Folgendes zu sagen: Es ist zwar richtig, dass die Vor-
merkung (§ 883 Abs. 2 S. 1 BGB) gerade zur Verneinung von § 275
Abs. 1 BGB führt. Das Problem muss aber trotzdem bei einem mögli-
chen Gegenrecht gegen den Anspruch aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB un-
tergebracht werden, weil nach diesem Anspruch gefragt war.
(4) Wie kann ich verhindern, speziell die Ansprüche aus § 687 Abs. 2 S. 1
BGB (i.V.m. § 678 BGB und i.V.m. §§ 681 S. 2, 667 Alt. 2 BGB) zu
übersehen?
An § 687 Abs. 2 S. 1 BGB muss ich denken...

 bei wissentlich rechtswidrigem Handeln,


 neben §§ 989 f., 823 ff. BGB,
 wenn auch § 826 BGB in Frage kommt,
 im Falle einer (bewusst) unberechtigten Verfügung: neben § 816
Abs. 1 S. 1 BGB (ggf. dort kommentieren),
 im Falle des (bewusst) unberechtigten Einziehens einer Forderung:
neben § 816 Abs. 2 BGB (ggf. dort kommentieren).

Unterfall 3: Ich habe statt der eigentlich einschlägigen Vorschrift zu Un-


recht eine andere angewendet.

 Z.B. §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 S. 1 BGB angewendet statt § 311a


Abs. 2 BGB.
Mögliche Gründe:
Aus dem Wortlaut des § 283 BGB geht nicht hervor, dass die Vor-
schrift bei anfänglicher Unmöglichkeit vertraglicher Ansprüche nicht
anwendbar ist.

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

Oder: Ich habe mir gar nicht bewusst gemacht, dass es in diesem
Sachverhalt um anfängliche Unmöglichkeit eines vertraglichen An-
spruchs geht (zu der mir § 311a Abs. 2 BGB »an sich« durchaus einge-
fallen wäre). Hierzu muss ich mir für künftige Fälle klarmachen: Bei
nicht behebbaren Sachmängeln z.B. wird es sehr oft um anfängliche
Unmöglichkeit gehen, weil der Sachmangel ja gemäß § 434 BGB zu-
mindest bereits bei Gefahrübergang vorgelegen haben muss – und da-
mit oft auch schon bei Vertragsschluss vorlag.
 Z.B. § 326 Abs. 5 BGB, der einen Rücktritt voraussetzt, angewendet
statt § 326 Abs. 4 BGB, der zu einem Rückgewähranspruch ohne Rück-
tritt führt.
Der Fehler wurde vermutlich deswegen gemacht, weil sich die Fälle
des § 326 Abs. 4 BGB auch unter den Wortlaut des § 326 Abs. 5 BGB
subsumieren lassen.
Mögliche Strategien zur Vermeidung des Fehlers:

o § 326 Abs. 4 BGB neben § 326 Abs. 5 BGB kommentieren.


o Wie immer den ganzen Paragrafen lesen, bevor man einen seiner
Absätze anwendet; vergleicht man die Formulierung des § 326
Abs. 4 BGB mit derjenigen von Abs. 5, dann wird deutlich, dass es
nur im Falle des Abs. 5 eines Rückstritts bedarf, nicht dagegen im
Falle des Abs. 4.
o Auch die Rechtsfolge des § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB deutet schon
darauf hin, dass es des Rücktritts nach § 326 Abs. 5 BGB im An-
wendungsbereich des § 326 Abs. 4 BGB nicht bedarf.

 Z.B. Vorschriften aus dem Wohnraummietrecht angewendet, obwohl


ein anderer Gegenstand vermietet wurde (und die §§ 549-577a BGB
insoweit nicht über § 578 BGB für anwendbar erklärt wurden):
Etwa: § 568 BGB – Schriftform der Kündigung; oder: Kündigungs-
frist nach § 573c BGB statt § 580a BGB; oder: Fälligkeit nach § 556b
Abs. 1 BGB statt nach § 579 Abs. 1 BGB.
Mögliche Strategie zur Vermeidung des Fehlers:
Ich muss mir klarmachen, dass es im Mietrecht einen »Allgemeinen
Teil« (§§ 535-548 BGB) und zwei »Besondere Teile« (§§ 549-577a
BGB; §§ 578-580a BGB) gibt. Diese Regelungstechnik kommt im
BGB öfter vor, ist also nicht nur auf den Gesamtaufbau des BGB be-
schränkt (Verhältnis von Buch 1 zu den übrigen vier Büchern). S. etwa
auch das allgemeine Schuldrecht, das allgemeine Grundstücksrecht und
das allgemeine Eherecht.
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Tomas Kuhn

cc) Zu der Kategorie »Problembewusstsein (Erkennen von Problemen)«

Allgemein: Welche Frage hätte ich mir stellen müssen, um das Problem zu
sehen? Warum habe ich mir diese Frage nicht gestellt? Hätte mein Vorwis-
sen/mein Vorverständnis eigentlich ausgereicht, um auf diese Frage zu
kommen? In der Tabelle oben unter a) steckt die (zugegebenermaßen etwas
überspitzte8) These, dass letztere Frage (in der Regel) zu bejahen ist. Denn
andernfalls wäre ein Eintrag in der Kategorie »Problembewusstsein« (in der
Regel) zugleich (oder auch stattdessen) ein Eintrag in der Kategorie »Wis-
sen«.

Beispiele aus dem Strafrecht:

(1) Ich habe ein Delikt übersehen.


Mögliche Strategien zur Vermeidung des Fehlers:

 Bei der Suche nach Delikten von den nach dem Sachverhalt be-
troffenen Rechtsgütern ausgehen.
 Analysieren, welche Delikte gemeinsam mit dem übersehenen ein-
schlägig waren: War das möglicherweise typisch?
 Welche Delikte übersehe ich besonders häufig und warum vermut-
lich? So wird etwa § 316a StGB (räuberischer Angriff auf Kraft-
fahrer) besonders häufig übersehen. Eine mögliche Erklärung
könnte darin liegen, dass entweder nach Vermögensdelikten oder
nach Straßenverkehrsdelikten gesucht wird, nicht aber nach einem
Delikt, das beide dieser Lebensbereiche zugleich betrifft.

(2) Ich habe mich einfach für eine Beteiligungsform entschieden, statt eine
Abgrenzung zwischen verschiedenen in Betracht kommenden Beteili-
gungsformen vorzunehmen.
Mögliche Strategie zur Vermeidung des Fehlers: Sich klarmachen,
dass bestimmte Beteiligungsformen eine Nähe zueinander aufweisen,
so speziell die Paare Mitttäterschaft – Beihilfe und Anstiftung – mittel-
bare Täterschaft.
(3) Ich habe ein Fahrlässigkeitsdelikt nicht geprüft, den Versuch eines De-
likts nicht geprüft, den Rücktritt vom Versuch nicht geprüft.
Mögliche Strategien zur Vermeidung des Fehlers:
____________________
8 S. dazu bereits oben b).

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

 stur bei Verneinung eines Delikts wegen fehlenden Vorsatzes nach


Fahrlässigkeitsdelikt Ausschau halten.
 stur bei Verneinung der Vollendung Versuch, beim Versuch Rück-
tritt prüfen (v.a. weil es auch einen Rücktritt durch Nichtstun gibt,
s. § 24 Abs. 1 Alt. 1 StGB: »wer freiwillig die weitere Ausführung
der Tat aufgibt«9).

(4) Ich habe übersehen, bei der Prüfung des Versuchs die Besonderheit zu
berücksichtigen, dass es sich um ein erfolgsqualifiziertes Delikt han-
delt.
Mögliche Strategie zur Vermeidung des Fehlers: Sich bei der Prü-
fung jedes Delikts die Frage stellen, welche dogmatischen Besonder-
heiten das jeweilige Delikt aufweist (weiteres Beispiel: eigenhändiges
Delikt) und inwieweit diese Besonderheiten die Prüfung beeinflussen.
(5) Ich habe Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe übersehen.
Mögliche Strategien zur Vermeidung des Fehlers:

 Den in der Klausur zunächst unreflektiert niedergeschriebenen Satz


»Die Tat geschah auch rechtswidrig und schuldhaft« nochmals hin-
terfragen: Stimmt das wirklich? (Diese Kontrollfrage dürfte ganz
allgemein, auch fächerübergreifend, hilfreich sein…).
 Generell bei jedem Delikt fragen: Gibt es bei der Prüfung noch mit
dem Strafrecht AT zusammenhängende Probleme?

Beispiele aus dem Öffentlichen Recht:

(1) Ich habe bei der Prüfung der Klagebefugnis eines nichtgrundrechtsfä-
higen Klägers (etwa: einer Gebietskörperschaft wie einer Gemeinde)
die Adressatentheorie angewandt, obwohl diese aus Art. 2 Abs. 1 GG
hergeleitet wird.
(2) Ich habe bei einer polizeirechtlichen Klausur zu wenig den verfas-
sungsrechtlichen Hintergrund des Art. 8 GG beachtet.
Mögliche Strategie zur Vermeidung dieser Fehler: Im Verwaltungs-
recht (hier: Besonderer Teil) stets verfassungsrechtliche Bezüge im
Auge behalten (neben Grundrechten etwa auch Prinzipien wie

____________________
9 Ähnliche Gefahr bei § 254 Abs. 2 S. 1 BGB, wo es um Mitverschulden durch
Unterlassen geht.

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Tomas Kuhn

Rechtsstaatlichkeit und deren Ausprägungen wie Vertrauensschutz)


und damit, wenn passend, auch argumentieren.

dd) Zu den Kategorien »Behauptungen begründen« und »Vorhandensein


von Gegenargumenten«

Wie hätte ich ein (weiteres/Gegen-)Argument in meiner zivilrechtlichen


Klausur für denkbare Positionen zu einem Problem finden können?

 Z.B. indem ich mir die Frage stelle, welche der Positionen besser mit
dem Wortlaut der einschlägigen Vorschrift vereinbar ist.
 Z.B. indem ich die systematische Stellung der Vorschrift analysiere.
 Z.B. indem ich mir klarmache, dass je nach gewählter Auslegung einer
Vorschrift der eine oder die andere Beteiligte profitiert, und mir daher
im Anschluss für jeden Beteiligten die Frage stelle, was jeweils für und
gegen seine/ihre Schutzwürdigkeit spricht.
 Speziell zu Gegenargumenten: indem ich alle Argumente, die mir ein-
fallen, auf mögliche Schwächen hin prüfe.

ee) Zu der Kategorie »Verständnis im Übrigen«10

(1) Wie hätte ich die falsche These, dass ein Erbschein selbstständig die
Rechtslage regle und konstitutiv die Erbenstellung feststelle, vermeiden
können?
Wenn die These richtig wäre, dann müsste sich diese Wirkung des
Erbscheins aus dem Gesetz ergeben! Aus dem Gesetz folgt aber gerade
das Gegenteil: §§ 2353 ff. BGB, v.a. §§ 2361 f., 2365-2367 BGB zei-
gen, dass ein Erbschein falsch (»unrichtig«) sein kann.
(2) Wie kann ich § 892 BGB und § 2366 BGB voneinander abgrenzen?
Muss ich das überhaupt?
Hier hilft – wie so oft – rechtsfolgenorientiertes Denken:11 Welches
Problem löst die jeweilige Vorschrift? (Und natürlich dazu im Ver-
gleich: welches Problem stellt sich nach dem Sachverhalt?) Das
____________________
10 S. zu den hier genannten Beispielen auch schon Kuhn, Analyse von Korrekturein-
drücken aus den zivilrechtlichen Klausuren eines Probeexamens, JURA 2015,
1353 (1353 ff.).
11 S. dazu auch noch im Anschluss ff).

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

Problem, dass eine Person nicht Erbe ist, ohne bereits zu Unrecht im
Grundbuch als neuer Eigentümer des Nachlassgrundstücks zu stehen?
Oder das Problem, dass sie nicht Erbe ist, aber bereits zu Unrecht im
Grundbuch steht? Oder das Problem, dass der Erblasser nicht Eigentü-
mer war, obwohl er im Grundbuch stand? Habe ich es sowohl mit dem
Problem beim Erblasser zu tun als auch mit einem der Probleme beim
Erben, dann könnte sowohl § 892 BGB eingreifen (Erblasser stand zu
Unrecht im Grundbuch) als auch § 2366 BGB (Scheinerbe steht noch
nicht im Grundbuch, sondern ist nur im Erbschein als Erbe bezeichnet)
oder nur § 892 BGB (Scheinerbe steht bereits zu Unrecht als neuer Ei-
gentümer im Grundbuch) für den Erben.

ff) Zu den Kategorien »Rechtsfolgenorientierte Prüfung«, »Nur an der


betreffenden Stelle relevante Rechtsfolgen« und »Sonstige
Aufbaufragen«

(1) Warum ist mein Aufbau nicht überzeugend, derjenige der Lösung da-
gegen schon?
Z.B.: Ich habe ein Problem nicht dort angesprochen, wo es relevant
wurde.
Mögliche Gründe:
Mir war vorher gar nicht klar, dass man ein Problem erst dann an-
sprechen soll, wenn es relevant ist.
Oder: Ich wusste zwar, dass man Probleme nur ansprechen soll,
wenn sie relevant werden. Aber mir war nicht klar, dass »relevant« be-
deutet: für die Lösung, also die Beantwortung der Fallfrage relevant,
und zwar genau an dieser Stelle (d.h. v.a.: unter dieser Überschrift).
(2) Konkreter: Ich wusste nicht, wo ich in dieser Klausur, in der nur nach
Ansprüchen der C gefragt war, den Pflichtteilsanspruch der A gegen C
prüfen sollte. Richtig war, ihn im Rahmen von § 273 Abs. 1 BGB beim
Anspruch der C gegen A anzusprechen.
Vermutliche Ursache für diese Unsicherheit:
Mir war nicht genügend bewusst, dass Ansprüche in einer Klausur
auch im Rahmen von Einreden angesprochen werden können.
Oder: Mir war schon nicht hinreichend bewusst, dass es überhaupt
auf Gegenansprüche gestützte Einreden (und im Falle gleichartiger An-
sprüche sogar die Einwendung des § 389 BGB) gibt, so neben § 273
Abs. 1 und Abs. 2 BGB ja etwa auch § 320 BGB und § 1000 S. 1 BGB.

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V. Umgang mit Fragen, die bei der selbstständigen Falllösung verbleiben

Die selbstständige Beschäftigung mit Fällen wird es mit sich bringen, dass
Fragen offen bleiben. So mag in der Musterlösung ein Argument unver-
ständlich geblieben sein, der Aufbau nicht nachvollziehbar erscheinen oder
Unsicherheit bestehen, ob der eigene abweichende Aufbau falsch ist. Es
könnte ein Anspruch nicht geprüft worden sein, den man selbst angespro-
chen hat, eine Sachverhaltsangabe nicht behandelt worden sein oder anders
interpretiert worden sein, als man das selbst getan hat. Wie soll man mit
solchen Fragen umgehen? Empfehlenswert erscheint, sie festzuhalten, auch
wenn man sie nicht beantworten kann und auch nicht weiß, wo man diese
Antwort finden könnte. Bereits die präzise Formulierung der Frage und die
Suche nach einer Antwort dürfte nämlich lehrreich sein. Außerdem ist man
für die Frage stärker sensibilisiert, wenn man sie formuliert hat. In vielen
Fällen wird sich die Beantwortung der Frage aus der weiteren Beschäfti-
gung mit dem Stoff von selbst ergeben. Ein guter Adressat für solche Fragen
ist ferner die Lerngruppe. Und schließlich könnte eine Antwort auch von
einem Dozenten zu bekommen sein.

VI. Zusammenfassung

Dem Lösen von Fällen sollte im Selbststudium viel Raum gegeben werden.
Anzustreben ist eine detaillierte Lösungsskizze, die es erlaubt, in einen ge-
nauen Vergleich mit der Musterlösung einzusteigen. Abweichungen sollten
kenntlich gemacht werden. Die unterlaufenen Fehler sollten kategorisiert
und auf Verallgemeinerbarkeit über die konkrete Klausur hinaus geprüft
werden. Gründe für die Fehler sollten ebenso gesucht werden wie Strate-
gien, um sie künftig zu vermeiden. Verbliebene Fragen sollten notiert und
ggf. in einer Lerngruppe behandelt werden; auch Dozenten werden hier im
Rahmen ihrer Kapazitäten meist gern weiterhelfen.

Teil II: »Richtige« Lektüre von Lehrbüchern und Fragen ihrer Gestaltung

A. Anregungen zur richtigen Lektüre von Lehrbüchern

Mehrere Lehrbücher ausprobieren: Welcher Stil spricht mich an? Nach ei-
niger Zeit noch einmal probieren! Man kommt nämlich erst mit der Zeit
»auf den Geschmack« – vor allem was die umfangreicheren Werke angeht.

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

Denn sie enthalten oft die Erklärungen, die man in knapperen Darstellungen
vermisst – ein Vermissen, das typischerweise mit zunehmender Studien-
dauer zunimmt.
Es geht weniger darum, möglichst viele Seiten an einem Tag zu schaffen,
als vielmehr darum, den Text durchzuarbeiten, also das Gelesene wirklich
aufzunehmen und darüber nachzudenken: Habe ich verstanden, was dort
geschrieben steht? Und, genauso wichtig: Überzeugt es mich? Wenn ja, wa-
rum? Wenn nein, warum nicht?12
Genau diese Fähigkeiten sind es, die für gute Noten entscheidend sind.
Denn mit ihrer Hilfe lassen sich Probleme erkennen und Argumente finden.
Nur auf diese Weise macht Jura Spaß, und das Auswendiglernen von Streit-
ständen (das schon angesichts der Vielzahl der Streitfragen kaum weiter-
führt) lässt sich vermeiden.
Alle Vorschriften aufschlagen, die im Lehrbuch erwähnt werden, ggf.
auch die im Lehrbuch nicht behandelten Absätze!
Fragen, die bei der Lektüre von Lehrbüchern verbleiben, aufschreiben!
Das lohnt sich auch dann, wenn die Antwort letztlich offenbleibt.13
Jura ist zwar schwierig. Doch gilt hier im Besonderen: Übung (nicht da-
gegen: Auswendiglernen!) macht den Meister! Das Gefühl der Überforde-
rung, des Nichtbeherrschens des Stoffes ist »normal« – auch noch kurz vor
dem Examen –, und gerade auch bei Kandidatinnen und Kandidaten, die
dann richtig gut abschneiden.

B. Gedanken zur Gestaltung von Lehrbüchern

I. Lehrbücher sollten…

(1) …eine Anleitung zum richtigen Umgang mit dem Buch enthalten,
(2) …verständlich geschrieben sein,
(3) …Strukturen und System vermitteln und verdeutlichen,
(4) …ein ansprechendes Layout haben.

____________________
12 Dieser und die folgenden beiden Punkte wurden angeregt durch das Eingangska-
pitel »Über den Umgang mit diesem Buch« in dem Lehrbuch Faust, BGB Allge-
meiner Teil, 6. Aufl., Baden-Baden 2018.
13 S. dazu auch oben Teil I, V.

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Im Hinblick auf die Punkte (3) und (4) sind in der Regel auch Dia-
gramme sinnvoll. Um die Arbeit mit dem Gesetz zu fördern, sollte m.E.
aber verdeutlicht werden, inwieweit sich die in dem Diagramm enthal-
tenen Informationen dem Gesetz selbst entnehmen lassen und inwie-
weit nicht.14 In letzterem Falle ist eine Begründung erforderlich, die
zumindest der begleitende Text enthalten sollte.
(5) …typische Charakteristika des betreffenden Rechtsgebiets vor die
Klammer gezogen beschreiben, die dann im Laufe des Lehrbuches im-
mer wieder aufgegriffen werden können. Dadurch wird auch der in
letzter Zeit verstärkt angemahnte Grundlagenbezug des Studiums ge-
stärkt.
Im Vertragsrecht könnte etwa die Frage vorgezogen werden, welche
konfligierenden Interessen betroffen sind und welche Wertungen und
Prinzipien die Lösung der Konflikte bestimmen (ggf. auch unter Er-
wähnung der historischen Wurzeln »Interessenjurisprudenz« und
»Wertungsjurisprudenz«). Zu denken wäre etwa im Vertragsrecht an
Privatautonomie vs. Verkehrsschutz. So lassen sich die §§ 119 ff. BGB
praktisch durchgängig als Regelung dieses Konflikts begreifen: Wegen
welchen Willensmangels (§§ 119, 123 BGB) bzw. Übermittlungsprob-
lems (§ 120 BGB) darf unter welchen zusätzlichen Voraussetzungen
wie lange (§§ 121, 124 BGB) zu welchem Preis (§ 122 BGB nur als
Einschränkung der §§ 118-120 BGB, nicht des § 123 BGB) zu Lasten
des auf die Gültigkeit der Erklärung vertrauenden Erklärungsgegners
angefochten werden? Ein weiteres Beispiel wäre der Konflikt zwi-
schen paternalistischen Ausprägungen des Verbraucherschutzrechts
(insbesondere: halbzwingendes Recht zu Gunsten des Verbrauchers
wie etwa die Anordnung der weitgehenden Unwirksamkeit des Ge-
währleistungsausschlusses des Unternehmer-Verkäufers in § 476
BGB, das zu erhöhten Preisen für alle Verbraucher führt) und der Pri-
vatautonomie des Verbrauchers. Mit der Einführung von Informations-
pflichten will das Verbraucherschutzrecht dagegen die Privatautono-
mie stärken (was im Falle einer angeordneten Informationsflut aller-
dings evtl. gar nicht gelingt).
Auch das Bewusstsein für die Schwierigkeiten bei der Ermittlung
des Inhalts von Prinzipien kann ein Lehrbuch auf diese Weise schärfen.

____________________
14 S. zu diesem Aspekt auch Griebel, Überlegungen zum gesetzeszentrierten Lehren
und Lernen, in: Griebel/Gröblinghoff (Hrsg.), Von der juristischen Lehre, S. 127
(127 ff.).

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So ist etwa nicht ohne Weiteres klar, ob man die Privatautonomie des
Bewucherten eher durch eine weite oder eher durch eine enge Ausle-
gung des § 138 Abs. 2 BGB fördert. Und verbraucherschützende Wi-
derrufsrechte kann man, wenn von ihnen als Reuerecht Gebrauch ge-
macht wird (der Widerruf im konkreten Fall also beispielsweise gerade
nicht als Reaktion auf eine Überrumpelung erscheint oder die online
gekaufte Ware genau der Vorstellung des Verbrauchers entsprach),
schwerlich als Instrumente zur Förderung der Privatautonomie be-
zeichnen.
(6) …keinen Zweifel lassen, wo in ihrer Darstellung die Wiedergabe des
Gesetzestextes endet und wo die Interpretation beginnt.15
Dadurch wird der Anteil des (möglicherweise) zu lernenden Stoffes
erheblich eingeschränkt. Dies dürfte auch der Qualität der von den Le-
sern verfassten klausurmäßigen Bearbeitungen zugutekommen. Denn
sie werden in ihren Ausführungen dann hoffentlich ebenfalls deutlich
machen, inwieweit sich ihre Erkenntnisse ohne Weiteres aus dem Ge-
setz ergeben und inwieweit dies nicht der Fall ist, so dass Begründun-
gen erforderlich werden.
Als eigenen Beitrag muss der Leser hier selbstverständlich das Mit-
lesen der behandelten Vorschriften beisteuern, ebenso das Interesse für
ihren systematischen Standort im Gesetz.
Negativbeispiele zu dem oben bei Fn. 15 erwähnten Gestaltungs-
wunsch, entnommen aus aktuell erhältlichen Lehrbüchern (alle betref-
fend das BGB):16
»Letzter Prüfungspunkt bei § 929 S. 1 BGB ist die Berechtigung des Veräu-
ßerers zur Eigentumsübertragung. Der Veräußerer muss verfügungsbefugt
sein. Grundsätzlich berechtigt ist der Eigentümer selbst (bzw. sein Stellvertre-
ter für ihn).«
Diese Darstellung nimmt nicht beim Gesetzeswortlaut (»Eigentümer«)
ihren Ausgangspunkt, sondern lässt das Eigentum nur als Beispiel für
einen (im Gesetz so nicht bezeichneten) Punkt »Verfügungsbefugnis«
erscheinen. Eine Erklärung hierfür wird nicht gegeben. Auch wird
nicht erläutert, worin die Ausnahmen liegen, deren Existenz nur
____________________
15 S. zu diesem Aspekt nochmals Griebel (Fn. 14), S. 127 ff.
16 Gegenüber der im Folgenden geäußerten Kritik wird man z.T. auf den begrenzten
Platz eines (ggf. Kurz-)Lehrbuchs verweisen. Allerdings wäre dann aus meiner
Sicht zu überlegen, ob nicht besser weniger Einzelaspekte angesprochen werden
sollten, bei denen dann im Gegenzug stärker auf die Argumentation geachtet wer-
den könnte.

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behauptet wird (»Grundsätzlich«). Es wird nicht einmal deutlich, ob


die Ausnahmen darin bestehen, dass ausnahmsweise der Eigentümer
nicht verfügungsbefugt ist oder umgekehrt ausnahmsweise auch je-
mand anderes verfügungsbefugt ist oder in beidem (was richtig wäre,
s. etwa § 185 Abs. 1 BGB auf der einen Seite, § 161 Abs. 1 und 2 BGB,
Insolvenzverwaltung, Nachlassverwaltung und Testamentsvollstre-
ckung auf der anderen Seite).
Zu § 1138 Fall 1 BGB:
»Das führt jedoch nur zum Erwerb der Hypothek, nicht zum Erwerb der For-
derung. Erworben wird somit eine »forderungsentkleidete« Hypothek
(MüKo/Eickmann, § 1138 Rn. 16).«
Hier wird nicht der Versuch unternommen, dem Leser zu zeigen, dass
und wie sich die behauptete Rechtsfolge aus dem Wortlaut der Vor-
schrift ergibt, nämlich aus dem Passus »für die Hypothek«. Vielmehr
wird eine Fundstelle aus der Literatur als Beleg eingefügt. Dies ver-
stärkt den falschen Eindruck, das Ergebnis lasse sich nicht schon dem
Wortlaut entnehmen. Es kommt noch hinzu, dass man als Leser, gerade
weil das Ergebnis nicht dem Wortlaut entnommen, sondern durch eine
Kommentarstelle belegt wird, erwarten würde, dass eine Begründung
geliefert wird. Da diese fehlt, bekommt der Leser zusätzlich den fal-
schen Eindruck, er müsse dieses Ergebnis auswendig lernen. Schreibt
der Leser in einer Klausur nach dieser Lektüre ohne Bezugnahme auf
den Wortlaut der Vorschrift, § 1138 Fall 1 BGB ermögliche den Er-
werb einer forderungsentkleideten Hypothek, dann muss er mit einer
Korrekturbemerkung wie »Begründung fehlt« oder »Herleitung aus
dem Wortlaut fehlt« rechnen.
»Zunächst ist zu prüfen, ob überhaupt einer der Fälle der §§ 946 ff. BGB vor-
liegt und beim Anspruchsteller zu einem Rechtsverlust geführt hat. Ein Aus-
gleich nach § 951 Abs. 1 S. 1 BGB ist nur dann notwendig und gerechtfer-
tigt17, wenn das Eigentum oder sonstige dingliche Rechte ersatzlos verloren
gehen. Tritt dagegen anstelle des Eigentums ein Miteigentumsanteil (§§ 947
Abs. 1, 948 BGB) [...], so ist bereits ein Ersatz für das ursprüngliche Recht
gegeben und ein Anspruch aus § 951 Abs. 1 S. 1 BGB kommt nicht in Be-
tracht.«
Der Hinweis darauf, dass der Ausgleich nach § 951 Abs. 1 S. 1 BGB
nur unter bestimmten Voraussetzungen »notwendig und gerechtfer-
tigt« ist, ist – zumindest für studentische Leser, die an eine genaue
____________________
17 Hervorhebungen nur hier.

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

Gesetzeslektüre herangeführt werden sollen – nicht ideal, um etwas


auszudrücken, was sich bereits aus dem Gesetzestext ergibt. Die glei-
che Formulierung könnte etwa auch zur Beschreibung einer teleologi-
schen Reduktion eingesetzt werden. Ähnlich unklar ist, warum genau
der Anspruch »nicht in Betracht« kommt: Ergibt sich dies bereits aus
dem Wortlaut oder nicht?
Zum Begriff des Abhandenkommens (§ 935 Abs. 1 S. 1 BGB):
»Maßgebend ist allein der Wille des unmittelbaren Besitzers.«
Auch hier wird wieder versäumt, den Befund aus dem Gesetz her-
zuleiten. Dies zu tun hätte hier zudem den Vorteil mit sich gebracht,
den Lesern § 935 Abs. 1 S. 2 BGB näher zu bringen. Aus dieser Be-
stimmung lässt sich nämlich rückschließen, dass es beim Abhanden-
kommen allein auf den unmittelbaren Besitzer ankommt. § 935 Abs. 1
S. 2 BGB lautet:
»Das Gleiche18 gilt, falls der Eigentümer nur mittelbarer Besitzer war, wenn die
Sache dem Besitzer abhandengekommen war.«
Liest ein Korrektor in einer Klausur eine Definition für das Abhanden-
kommen, ohne dass für ihre Herleitung auf § 935 Abs. 1 S. 2 BGB
verwiesen wird, so muss er das m.E. kritisieren. Denn hier wird etwas
ohne Begründung behauptet, und die Begründung war sogar im Gesetz
zu finden.
(7) …(auch sonst) begründungsorientiert geschrieben sein.
Nicht ausreichend erscheinen mir insoweit z.B. die folgenden For-
mulierungen, die ich ebenfalls in aktuellen Lehrbüchern gefunden
habe:

 Bei der Hypothek:


»Der Verfügende muss grundsätzlich Forderungsinhaber und Hypothekar
sein. Fehlt es hieran, kann gutgläubiger Erwerb in Betracht kommen (s.
Rn [...]).«
Für den ersten Satz müsste auf § 1153 Abs. 1 BGB verwiesen wer-
den, dem diese beiden Voraussetzungen entnommen werden kön-
nen. Das würde ich auch in einer Klausur erwarten.
 Zum Verweis des § 951 Abs. 1 S. 1 BGB auf das Bereicherungs-
recht:

____________________
18 Das bedeutet: Die Rechtsfolge des § 935 Abs. 1 S. 1 BGB, also der Ausschluss
des gutgläubigen Erwerbs.

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Tomas Kuhn

»Es handelt sich um eine Rechtsgrundverweisung (s. BGHZ 55, 176).«


Hier fehlt eine Erklärung dafür, was für eine Rechtsgrund- und ge-
gen eine Rechtsfolgenverweisung spricht. Geht es nur darum, dass
es überflüssig wäre, auf Voraussetzungen zu verweisen, die ohne-
hin zu bejahen wären, oder geht es um den Schutz einer oder meh-
rerer Voraussetzungen (und wenn ja, welcher)? Ggf. sollte (etwa
auch »vor die Klammer gezogen«19), auch erläutert werden, was
eine Rechtsgrund- und eine Rechtsfolgenverweisung ist (und – am
besten ebenfalls »vor die Klammer gezogen« – nach welchen Kri-
terien man allgemein die Entscheidung trifft, ob das eine oder das
andere vorliegt; idealerweise sollte dann auch noch darauf hinge-
wiesen werden, dass es auch gemischte Rechtsgrund-/Rechtsfol-
genverweisungen gibt20).
 Zum neutralen Geschäft des beschränkt geschäftsfähigen Minder-
jährigen:
»Aus dem gleichen Grund kann ein Minderjähriger nach h.M. als Nicht-
berechtigter einem gutgläubigen Dritten wirksam Eigentum verschaffen.
[...] Hieran wird festgehalten, obgleich der Minderjährige zum Bereiche-
rungsausgleich verpflichtet sein kann und ggf. wegen Unterschlagung haf-
tet.«
Warum an der Einschätzung, es liege ein von § 107 BGB (über den
Wortlaut hinaus) erfasstes neutrales Geschäft vor, trotz des er-
wähnten Einwands festgehalten wird, erfährt der Leser nicht (mit
»Aus dem gleichen Grund« wurde nur auf die angebliche Neutra-
lität des Geschäfts verwiesen, an der die erwähnten Nachteile ge-
rade zweifeln lassen).
 »Der Verlust einer Forderung durch Erfüllung ist ein rechtlicher
Nachteil.« (Fn.: »vgl. Köhler, Prüfe Dein Wissen…«).«
Statt in der Sache die vom Leser erwartete Begründung dafür zu
geben, warum der Verlust der Forderung nach § 362 BGB trotz des
Empfangs der Leistung einen rechtlichen Nachteil i.S.d. § 107
BGB darstellt, wird auf eine Fallsammlung (!) verwiesen, die nur
die allerwenigsten Leser zur Hand haben werden.

____________________
19 Dazu bereits oben (5).
20 Beispiel: § 994 Abs. 2 BGB: Keine Verweisung auf die Voraussetzung »Fremd-
geschäftsführungswille«, weil § 994 Abs. 2 BGB sonst keinen Anwendungsbe-
reich für Eigenbesitzer hätte. Im Übrigen aber Rechtsgrundverweisung auf die
§§ 677 ff. BGB.

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(8) …im Lehrbuch eingeführte Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander


sowie v.a. im Verhältnis zu vom Gesetz verwendeten Begriffen erklä-
ren: Handelt es sich insbesondere um Synonyme (z.B. Durchsetzbar-
keit und Einredefreiheit; Rechtsbindungswille und Erklärungsbewusst-
sein) oder um Ober- oder Unterbegriffe?
Wird z.B. der Geschäftswille als Bestandteil einer Willenserklärung
erwähnt, so sollte, um Missverständnissen vorzubeugen, darauf hinge-
wiesen werden, dass eine Willenserklärung auch ohne Geschäftswillen
vorliegt und auch nicht nichtig ist, wie §§ 119 ff. BGB zeigen. Man
kann sogar überlegen, ob es überhaupt sinnvoll ist, den (allerorts zu
findenden) Begriff des Geschäftswillens einzuführen, oder ob er nur
unnötigen Ballast darstellt.
Wird etwa der Begriff »Akzessorietät« verwendet, um die Hypothek
zu charakterisieren, so sollte sehr deutlich gemacht werden, dass sich
diese Eigenschaft aus mehreren Vorschriften ableiten lässt und es in
der Klausur insoweit allein darauf ankommt, die jeweils einschlägige
Akzessorietätsvorschrift zu finden. Zu beobachten ist demgegenüber
in Klausuren häufig, dass mit der Akzessorietät der Hypothek argu-
mentiert wird,21 aber die entscheidende Vorschrift dazu nicht gefun-
den, wohl oft auch gar nicht gesucht wurde, obwohl klar sein sollte,
dass es sich dann um eine begründungsbedürftige Behauptung handelt.
(9) …Problembewusstsein und Argumentationsvermögen auch auf einer
abstrakteren Ebene schulen.
Z.B. bei Gründen für die Sperrwirkung, die bei §§ 434 ff./536
ff./633 ff. BGB gegenüber § 119 Abs. 2 BGB – abstrakter formuliert –
die gleichen sind wie z.B. bei §§ 989 ff. BGB gegenüber §§ 823 ff.
BGB, § 993 Abs. 1 a.E. BGB.22
Auch hier wäre zu überlegen, das Allgemeine, hier also die typi-
schen Gründe für eine Sperrwirkung, vor die Klammer zu ziehen.23

____________________
21 Häufig auch noch mit einer angeblichen »strengen« Akzessorietät der Hypothek –
zu Unrecht, wie die in § 1185 Abs. 2 BGB aufgeführten Ausnahmen von der Ak-
zessorietät der Hypothek zeigen, die nur bei der Sicherungshypothek (§§ 1184 f.
BGB) nicht anwendbar sind. Nur letztere Hypothek ist also streng akzessorisch.
22 S. dazu näher Kuhn, Argumente zur Sperrwirkung von Ansprüchen als Beitrag zur
Reduzierung des zivilrechtlichen Lernstoffs, JURA 2013, 975 (975 ff.).
23 Dazu bereits oben (5) und (7).

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Tomas Kuhn

(10) …nötige Erklärungen enthalten (z.B. § 185 Abs. 2 S. 1 Fall 3 BGB


nicht nur als Beispiel für das Wirksamwerden der Verfügung eines
Nichtberechtigten erwähnen, sondern diese beim ersten Lesen schwer
zu verstehende Vorschrift auch erklären).
(11) …m.E. auch kurze Fälle einstreuen; dabei denkbar: Lösungsskizzen
ausformuliert (ggf. im Gutachtenstil) oder stichpunktartig;24 denkbar
auch: kurze Sachverhalte zu Beginn des Kapitels; Lösungen aufgeteilt
in den Text.25
(12) …Prinzipien der Fallbearbeitung vor die Klammer ziehen,26 auf die bei
der Lösung eingestreuter Fälle Bezug genommen werden kann (etwa:
Rechtsfolgenorientierung des Aufbaus; damit zusammenhängend: nur
Erörterung von für die Fallfrage an der betreffenden Stelle Relevan-
tem).
(13) …Anwendungsbeispiele (nicht nur in Form von Fällen) bringen, etwa
auch sehr unterschiedliche für ein und dasselbe Rechtsproblem, um zu
verdeutlichen, wie viele verschiedene Lebenssachverhalte davon er-
fasst sein können.
(14) …alle relevanten Abgrenzungsfragen behandeln (bezogen auf Sach-
probleme, rechtliche Institute, Begriffe).
Beispiele (Strafrecht): Die Abgrenzung von Mittäterschaft und Bei-
hilfe, von mittelbarer Täterschaft und Anfechtung, von Raub und räu-
berischer Erpressung, von Dreiecksbetrug und Diebstahl in mittelbarer
Täterschaft
Beispiele (Zivilrecht): Die Abgrenzung des Vertrags mit Schutzwir-
kung für Dritte von der Sachwalterhaftung nach § 311 Abs. 3 BGB
einerseits und von der Drittschadensliquidation andererseits; von
§§ 158 Abs. 2, 313, 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB untereinander.
(15) …(soweit es der Platz zulässt und jedenfalls bei [Lehr]-Büchern, die
als Repetitorium auf das Examen vorbereiten) sonstige Querverbin-
dungen erwähnen.
Etwa im Kaufrecht das Zusammentreffen des Annahmeverzugs
bzgl. der Ansprüche aus § 433 Abs. 1 S. 1 BGB mit der Leistungsstö-
rung »Nichtleistung« bzgl. der Ansprüche aus § 433 Abs. 2 BGB
(Kaufpreiszahlung und Abnahme) – s. dazu § 304 BGB, §§ 280 Abs.

____________________
24 Beispiel für Letzteres: Riehm, Examinatorium BGB Allgemeiner Teil, München
2015.
25 So etwa Brox/Walker, BGB Allgemeiner Teil, 41. Auflage, München 2015.
26 Dazu bereits oben (5), (7) und (9).

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Anregungen für ein effektives Selbststudium

1, Abs. 2, 286 BGB einerseits und § 373 Abs. 3 HGB, §§ 280 Abs. 1,
Abs. 3, 281 BGB andererseits).
Ein positives Beispiel hierzu habe ich etwa in einem Lehrbuch zum
Sachenrecht am Ende des Kapitels zum gutgläubigen Erwerb gefun-
den. Dort findet sich ein Abschnitt »schuldrechtlicher Ausgleich«.
Ohne den Blick auf diesen Ausgleich wäre eine Bewertung der Vor-
schriften zum gutgläubigen Erwerb, ja deren Verständnis, gar nicht
möglich. Obwohl es sich um Vorschriften aus dem Schuldrecht han-
delt, ist es also sehr zu begrüßen, dass dieser Aspekt in dem betreffen-
den Sachenrechtslehrbuch mitbehandelt wird. Dabei werden die fol-
genden Ansprüche erwähnt: § 816 Abs. 1 S. 1 und S. 2 BGB; § 687
Abs. 2 S. 1 BGB; § 823 Abs. 1 BGB – Letzterer allerdings nur bzgl.
des Erwerbers, so dass §§ 989, 990 Abs. 1, Abs. 2 BGB (bzw. bei be-
rechtigtem Besitz § 823 Abs. 1 BGB) als Ansprüche gegen den Veräu-
ßerer fehlten; zudem kommen bei Vorhandensein eines Schuldverhält-
nisses mit dem Veräußerer § 285 Abs. 1 BGB und ggf. § 311a Abs. 2
BGB oder §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 S. 1 BGB in Betracht.27
(16) ….Erfahrungen aus Unterricht und Prüfung berücksichtigen.
Dabei evtl. auch auf häufige Fehler in Klausuren (mit mgl. Erklä-
rungen) eingehen.28
(17) …am Ende eines Kapitels Wiederholungsfragen enthalten.
Antworten müssen m.E. nicht gegeben werden. Ein Hinweis auf die
Randnummer, mit deren Hilfe die Antwort erarbeitet werden kann,
dürfte genügen.
Die Wiederholungsfragen sollten verständnisorientiert, nicht lern-
orientiert gestaltet sein, also etwa speziell nach Argumenten und Ge-
genargumenten fragen oder etwa nach der Richtigkeit aufgestellter
Thesen. Auch multiple-choice-Fragen können dabei ein geeignetes In-
strument sein.
(18) …die Anwaltsperspektive (v.a. in beratender/gestalterischer Hinsicht)
miteinbeziehen: Welche Handlungsmöglichkeiten stehen für den Man-
danten in der betreffenden Situation mit welchen Vor- und Nachteilen
zur Verfügung?

____________________
27 S. auch oben Teil I, B.IV.2.e.bb., wo das Übersehen dieser Ansprüche in Fallbe-
arbeitungen behandelt wird.
28 S. dazu oben Teil I, B.IV.2.

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Tomas Kuhn

(19) …Einsatz und Gestaltung von Fußnoten (bei Kurzlehrbüchern) be-


grenzen: Nur29

 bei umstrittenen Fragen.


 bei schwer aufzuspürenden Quellen.

Der richtige Aufbau eines Lehrbuchs hängt maßgeblich von der Struktur des
Rechtsgebiets ab, den es behandelt.

II. Lehrbücher sollten dagegen nicht:30

(1) …schwierige Behauptungen aufstellen und einen damit allein lassen.


Negativbeispiele aus aktuellen Lehrbüchern:
»Problematisch ist die Fehleridentität bei sittenwidrigen Rechtsgeschäften.«
»Machen mehrere oder alle Miteigentümer den Anspruch geltend, so bilden
sie keine notwendige Streitgenossenschaft nach § 62 ZPO (BGH JZ 1985,
633)« (bezogen auf den Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB; zuvor wurde
§ 1011 BGB erwähnt).
(2) ...Fußnoten bringen für Erkenntnisse, die sich schon aus dem Gesetz
ergeben.31
(3) ...Selbstverständliches betonen – und gerade dadurch ggf. sogar verwir-
ren.
Beispiel zu § 929 S. 1 BGB:
»Der Widerruf der Einigung ist erst wirksam, wenn er dem anderen Teil er-
kennbar ist (BGH NJW 1978, 696).«

____________________
29 Dieser Vorschlag ist orientiert an dem Eingangskapitel Ȇber den Umgang mit
diesem Buch« in dem Lehrbuch Faust (Fn. 12).
30 S. auch die Negativbeispiele oben unter I.
31 S. dazu schon oben (6) unter I.

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Einige Gedanken zur Neuaustarierung des
Verhältnisses von Präsenzveranstaltungen und
Selbststudium
Mahdad Mir Djawadi*

A. Problemaufriss

Die juristische Ausbildung an den Universitäten hat in den letzten Jahren


wesentliche Verbesserungen erfahren. Besonders hervorzuheben ist in die-
sem Kontext etwa die Einführung hochwertiger Uni-Repetitorien an zahl-
reichen Hochschulen. Dass trotz dieser erfreulichen Entwicklungen weiter-
hin ein nicht unerhebliches Verbesserungspotential in der juristischen Lehre
besteht, zeigt eine in diesem Jahr vom Deutschen Zentrum für Hochschul-
und Wissenschaftsforschung (DZHW) herausgegebene Expertise1, die vom
Nordrhein-Westfälischen Justizministerium in Auftrag gegeben worden
war.
Im Zentrum des Forschungsauftrags stand dabei die Frage, wie es von
der einstigen sogenannten »Juristen-Schwämme« zum Nachwuchsmangel
kommen konnte. So ist etwa seit dem Jahr 2000 die Zahl der Referendarein-
stellungen bundesweit um ca. 40 % zurückgegangen.2 Auch die Zahl der
Studienabbrecher ist weiterhin signifikant.
Auf der anderen Seite besteht gegenwärtig sowohl in der Wirtschaft als
auch in Verwaltung und Judikatur ein hoher Bedarf an gut ausgebildeten
____________________
* Rechtsanwalt bei Lenz & Johlen Rechtsanwälte Partnerschaft mbB in Köln, Lehr-
beauftragter für juristische Lerntechniken und effektives Zeitmanagement an der
Universität zu Köln, Maitre en droit (Nancy II/Frankreich), Ausbildung bei der
Gesellschaft für Gehirntraining e.V. zum Trainer für Mentales Aktivierungstrai-
ning (MAT).
1 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider, Die Ursachen des Studienabbruchs in den
Studiengängen des Staatsexamens Jura, DZHW-Projektbericht, September 2017,
abrufbar unter: https://www.justiz.nrw/JM/schwerpunkte/juristenausbildung/gut-
achten_studienabbruch_jura/DZHW-Gutachten-Ursachen-Studienabbruch-Staats
examen-Jura.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018).
2 S. Grönewald, Beck-Aktuell Newsletter vom 1.2.2018, becklink 2008968.

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Mahdad Mir Djawadi

Juristinnen und Juristen. Dies ist u.a. daran ersichtlich, dass die Einstiegs-
gehälter in den Wirtschaftskanzleien in den letzten Jahren nochmals dras-
tisch erhöht worden sind und mittlerweile in der Spitze bei ca. 150.000 Euro
liegen. Darüber hinaus sind einige Großkanzleien aufgrund dessen dazu
übergegangen, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein alternatives Ar-
beitszeitmodell in Gestalt einer festen 40 Stunden Woche mit immer noch
attraktiver Bezahlung zu offerieren.
Neben der Problematik des Nachwuchsmangels ist zu konstatieren, dass
sich die Ergebnisse in der staatlichen Pflichtfachprüfung weiterhin auf
durchwachsenem Niveau bewegen. So erreicht die Mehrheit der Kandida-
ten in diesem Bereich weiterhin lediglich ein »ausreichend« oder fällt durch
die Prüfung durch.3 Ferner muss es bedenklich stimmen, dass immer noch
die Mehrzahl der Studierenden zur Examensvorbereitung den Weg zum
kommerziellen Repetitor sucht. Dies deutet darauf hin, dass sich die Stu-
dierenden – ob zu Unrecht oder nicht – durch die universitären Veranstal-
tungen allein nicht ausreichend für das Staatsexamen vorbereitet fühlen.
Im Kontext mit den soeben skizzierten Herausforderungen stellt sich die
Frage, ob sich die Ergebnisse im Staatsexamen auf breiter Ebene durch Mo-
difikationen am bisherigen universitären Ausbildungssystem verbessern
lassen. Ein möglicher Ansatz, der in der wissenschaftlichen Diskussion eher
eine untergeordnete Rolle gespielt hat, ist die Betrachtung – und ggfs. die
Neuaustarierung – des Verhältnisses von universitären Präsenzveranstal-
tungen und der den Studierenden zur Verfügung stehenden Zeit fürs Selbst-
studium. Die nachfolgende Abhandlung möchte die Gründe dafür darlegen,
warum es sich lohnt, über diesen Aspekt weiter nachzudenken.

B. Die maßgeblichen psychologischen und neurowissenschaftlichen


Erkenntnisse zum erfolgreichen Lernen

Bei der Suche nach den Gründen, warum gerade die Ergebnisse in den ju-
ristischen Staatsexamina nicht gänzlich zufriedenstellen können, darf nicht
vergessen werden, dass das Studium der Rechtswissenschaften durchaus

____________________
3 S. exemplarisch etwa für den Bezirk des OLG Köln die Statistiken unter
http://www.olg-koeln.nrw.de/aufgaben/justizpruefungsamt/005_statistiken/index
.php (letzter Abruf am 1.9.2018).

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Neuaustarierung des Verhältnisses von Präsenzveranstaltungen und Selbststudium

eine intellektuelle Herausforderung darstellt.4 Prägnant hat es in jüngerer


Zeit Lammers auf den Punkt gebracht, in dem er über das juristische Stu-
dium geschrieben hat:
»Das rechtswissenschaftliche Studium lebt – wie alle anderen wissenschaftlichen
Studien auch – von der Vermittlung und der Anwendung der Grundlagen und der
Methode. Um diese Grundlagen und die juristische Arbeitsweise verstehen und er-
lernen zu können, benötigt ein Jurist Zeit, Konzentration und Disziplin. Viele Prin-
zipien und Zusammenhänge erschließen sich ihm erst nach einer längeren Beschäf-
tigung oder niemals. Aber selbst dann, wenn ein Problem verstanden worden ist,
darf ein Jurist nicht aufhören, sich damit auseinanderzusetzen – wenigstens solange
er sich noch in einer Prüfungssituation befindet. Er muss vielmehr daran arbeiten,
das Problem und seine Lösung im Gedächtnis zu behalten, es in anderen Zusam-
menhängen wiedererkennen oder ausschließen zu können, die Prinzipien hinter dem
Problem in ein mentales Gerüst einzufügen und dort sicher zu verorten – Ein Gerüst,
auf dem er letztlich seine gesamte Kariere aufbauen wird. Das macht das Jurastu-
dium zu einer intellektuellen Herausforderung.«5
Je größer jedoch die intellektuelle Herausforderung ist – das zeigen die em-
pirischen Ergebnisse –, desto maßgeblicher werden die individuellen biolo-
gischen Voraussetzungen des Einzelnen, was Denkleistung, Motivation,
Disziplin und Beharrlichkeit angeht.6 Hierbei handelt es sich um Faktoren,
die jedenfalls auf breiter Ebene von einer Universität nicht oder bestenfalls
in geringem Maße beeinflusst werden können. Im Zusammenspiel der ein-
zelnen Wirkfaktoren erfolgreichen Lernens hingegen hat sich der bewusste
und zielgerichtete Einsatz von Lernstrategien als eine Stellschraube erwie-
sen, welche zu nachhaltigem Lernerfolg zu führen vermag (II.).

I. Lernen nach den klassischen Lerntheorien der Lernpsychologie

Die Frage, wie sich der Begriff des Lernens wissenschaftlich definieren
lässt und wie der Lernprozess vonstattengeht, hat sich in der Lernpsycholo-
gie über die Jahrhunderte und Jahrzehnte gewandelt.

____________________
4 Lammers, Lernen im Jurastudium und in der Examensvorbereitung, JuS 2015, 289
(289 ff.); Vgl. auch den Projektbericht von Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider
(Fn. 1).
5 Lammers (Fn. 4), S. 289.
6 Vgl. dazu Hasselhorn/Gold, Pädagogische Psychologie, 4. Aufl., Stuttgart 2017,
S. 101; vgl. auch Klauer, Transfer des Lernens, Stuttgart 2011, S. 187 ff.

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Mahdad Mir Djawadi

1. Der Behaviorismus

Von den drei klassischen Lerntheorien ist der Behaviorismus die älteste.
Seine Anfänge reichen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Die zutreffende
Grundannahme des Behaviorismus ist, dass Lernern letztlich nichts anderes
ist als Verhaltensänderung.7
Der Behaviorismus versteht das Lernen im Kern als einfaches Reiz-Re-
aktionsschema.8 So herrscht die Auffassung, dass das Verhalten der lernen-
den Person durch Manipulation von äußeren Anreizen, Belohnung und Be-
strafung allmählich in die gewünschte Richtung bewegt wird.9 Ausgangs-
punkt ist dabei die Überlegung, dass sich Menschen am ehesten in einer
bestimmten Art und Weise verhalten, wenn sie die Konsequenzen ihres
Handelns als befriedigend oder lustvoll empfinden. Es kommt infolge die-
ses Verhaltens dann letztlich zu einer Stärkung oder Abschwächung von
Assoziationen infolge von Handlungskonsequenzen.10 Der Behaviorismus
blendet insoweit die inneren Prozesse beim Lernen völlig aus und kon-
zentriert sich lediglich auf das nach Außen sichtbare Verhalten. Dieses völ-
lige Ausblenden der beim Lernenden im Inneren ablaufenden Prozesse
führte zu massiver Kritik am Behaviorismus.11 Als Konsequenz kam es in
den 1950er Jahren zu der sogenannten kognitiven Wende in der Lernpsy-
chologie und der Entstehung des Kognitivismus.12

____________________
7 Steindorf, Grundbegriffe des Lehrens und Lernens, 5. Aufl., Bad Heilbrunn 2000,
S. 50; Schröder, Lernen – Lehren – Unterricht: Lernpsychologische und didakti-
sche Grundlagen, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 14.
8 Flad/Klein, Lernen 2.0: Wie Social Software das Lernen und Wissensmanagement
in Gesellschaft und Organisationen verändert, München 2008, S. 21; vgl. auch
Schröder (Fn. 7), S. 35.
9 Vgl. dazu Klauer (Fn. 6), S. 42 ff.; Winkel/Petermann/Petermann, Lernpsycholo-
gie, Paderborn 2006, S. 105 ff.
10 Vgl. Klauer (Fn. 6), S. 38; Winkel/Petermann/Petermann (Fn. 9), S. 106.
11 Vgl. dazu Mulder, Das adaptive Gehirn: Über Bewegung, Bewusstsein und Ver-
halten, Stuttgart 2006, S. 135.
12 Vgl. dazu Götz/Frenzel/Pekrun, Psychologische Bildungsforschung, in: Tip-
pelt/Schmidt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 4. Aufl., Wiesbaden 2018, S.
73 (82); Winkel/Petermann/Petermann (Fn. 9), S. 21 f.; Staatsinstitut für Schul-
qualität und Bildungsforschung München ISB, Theorien des Lernens, München
2007, abrufbar unter https://www.isb.bayern.de/download/1542/flyer-lerntheorie-
druckfassung.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), S. 5.

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2. Der Kognitivismus

In scharfer Abgrenzung zum Behaviorismus stellte der Kognitivismus die


beim Lernenden stattfindenden internen Vorgänge in den Vordergrund. Er
betrachtet das Lernen als einen (erfolgreichen) Prozess der Informationsbe-
arbeitung.13 Bei diesem Prozess reagiert der Lernende aktiv und selbststän-
dig auf bestimmte Sinnesreize und verarbeitet diese innerhalb des durch den
Kognitivismus entwickelten Strukturmodells der Informationsverarbeitung,
nach dem sinnlich wahrgenommene Informationen im sogenannten Ar-
beitsspeicher verarbeitet werden.14 Dies geschieht unter Abruf vorhandenen
Vorwissens aus dem Langzeitgedächtnis.15 Die Ergebnisse des Informati-
onsverarbeitungsprozesses im Arbeitsspeicher werden ihrerseits dann – so-
weit sie eine gewisse Relevanzschwelle erreichen oder aber nur häufig ge-
nug wiederholt werden – zum Teil langzeitig gespeichertes Wissen. Mag
der Kognitivismus auch den im Gehirn ablaufenden Informationsverarbei-
tungsprozess treffend abgebildet haben, so wurde auch an ihm mit der Zeit
zu Recht Kritik laut. Der Hauptvorwurf richtete sich dahin, dass der Lern-
prozess allzu mechanisch dargestellt wurde und die individuellen Beson-
derheiten beim Lernen außer Acht gelassen wurden.16 Denn nicht jeder lernt
jeden Sachverhalt gleich gut. Als Konsequenz davon kam es zur Entwick-
lung der Lerntheorie des Konstruktivismus.

3. Der Konstruktivismus

Der Konstruktivismus betrachtet den Lernenden als aktive Person, die aus
eigenem Antrieb aufgenommene Informationen vor dem Hintergrund des
eigenen Vorwissens interpretiert und daraus eigene Schlüsse für die Form
und die Ausgestaltung der Wirklichkeit zieht.17 Die vermeintlich objektive
____________________
13 S. dazu Mienert/Pitcher, Pädagogische Psychologie, Wiesbaden 2011, S. 43 f.;
Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München ISB (Fn. 12), S.
5.
14 Anschaulich zu diesem Modell Butz/Krüger, Mensch-Maschine-Interaktion, 2.
Aufl., Berlin 2017, S. 11 f.
15 Anschaulich zu diesem Modell Butz/Krüger (Fn. 14), S. 11 f.
16 Sindler, Etablierung einer neuen Lernkultur, Münster 2004, S. 22.
17 Vgl. dazu Mienert/Pitcher (Fn. 13), S. 47; Hoidn, Lernkompetenzen an Hochschu-
len fördern, Wiesbaden 2010, S. 103 f.

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Wirklichkeit stellt sich hiernach lediglich als das Ergebnis einer von der
eigenen (subjektiven) Wissenswelt erschaffenen Konstruktion dar.18 In sei-
ner radikalen Ausformung geht der Konstruktivismus davon aus, dass Ler-
nen – genauer: das Ergebnis eines Lernprozesses – von Außen her nicht
erzeugt werden kann.19 Es sei lediglich möglich, den Anstoß zum Lernen
zu bieten. Ob dieser Anstoß jedoch zu den erwarteten Folgen führt oder
wirkungslos bleibt, hat der Anstoßende nach dem Modell des Konstrukti-
vismus nicht in der Hand.

4. Relevanz der verschiedenen Lerntheorien

In einer Gesamtschau der bestehenden drei klassischen Lerntheorien lässt


sich sagen, dass keine von ihnen den komplexen Prozess des Lernens voll-
ständig abzudecken und zu erklären vermag. Allerdings kann jede Theorie
für sich in Anspruch nehmen, jedenfalls einen gewichtigen Teil des Lern-
prozesses gut erklären zu können.20 So lässt sich etwa über den Behavioris-
mus der Auf- und Ausbau des Langzeitgedächtnisses plausibel nachvollzie-
hen. Hierbei handelt es sich – wie die Neurophysiologie mittlerweile nach-
weisen konnte – um nichts anderes als das Hervorrufen plastischer Verän-
derungen des neuronalen Netzwerkes, die dadurch verursacht werden, dass
die synaptischen Verbindungen aktivitätsbedingt eine Modifikation erfah-
ren.21 Dieser empirisch gut dokumentierte Prozess lässt sich als neurobio-
logische Grundlage des Behaviorismus heranziehen. Die überkommene Re-
gel, wonach die Wiederholung die Mutter jeden Lernens ist, stellt sich je-
denfalls im Grundsatz als vollkommen zutreffende Feststellung dar.22
Auf der anderen Seite lässt sich die Kernidee des Konstruktivismus, wo-
nach Lernen vor allem die Interpretation aufgenommener Informationen
____________________
18 Vgl. dazu Lülfs, Nachhaltigkeit und organisationales Lernen, Wiesbaden 2013, S.
121 f. u. Fn. 558.
19 Vgl. dazu Mietzel, Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, 9. Aufl.,
Göttingen 2017, S. 33 f.
20 Vgl. auch Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Fn. 12), S. 11.
21 Vgl. neben vielen anderen Gasser, Neuropsychologische Grundlagen des Lehrens
und Lernens, Bern 2008, S. 27; Sejnowski, The year of the dendrite, Science 1997,
178 (178 f.).
22 Spitzer, Kritik der Disziplin aus (neuro-)biologischer Sicht, in: Brumlik (Hrsg.),
Vom Missbrauch der Disziplin, Weinheim u. Basel 2007, S. 169 (178).

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vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und eigenen Vorwissens ist, neu-
robiologisch gut nachvollziehen. Mittlerweile ist empirisch nachgewiesen,
dass die Prozesse der Bedeutungs- und Wissenskonstruktion weitgehend
unbewusst ablaufen und maßgeblich durch ein bestimmtes Areal im Gehirn,
dem sogenannten limbischen System, gesteuert werden.23

5. Das limbische System und die Subjektivität des Lernens

Allgemein lässt sich sagen, dass das limbische System die Ebenen des Ge-
hirns beinhaltet, die für die bewussten Emotionen und Motive, die bewuss-
ten kognitiven Leistungen, die Fehlerkontrolle, die Risikoeinschätzung so-
wie die Handlungs- und Impulskontrolle zuständig sind.24 Es organisiert
nicht nur das deklarative, d.h. das bewusstseinsfähige Gedächtnis, welches
festlegt, welche Informationen in welchen Netzwerken der Großhirnrinde
und in welchem Kontext abgespeichert werden,25 es stellt darüber hinaus
das allgemeine Bewertungssystem des Gehirns dar.26 Jegliche Erlebnisse,
jegliche Reizaufnahme – und hier besteht der Bezug zu den Annahmen des
Konstruktivismus – werden danach bewertet, ob sie gut/vorteilhaft/lustvoll
waren und entsprechend wiederholt werden sollten oder als schlecht/nach-
teilig/schmerzhaft zu bewerten und entsprechend zu vermeiden sind.27 Es
wird also nicht nur die – objektive – Information an sich abgespeichert, son-
dern auch und vor allem der – subjektive – emotionale Kontext, in dem sie
aufgenommen worden ist bzw. in dem sie ihre Relevanz gewann. Auch
diese (Annex-)Information wird im Gehirn in einem Areal abgespeichert,
welches überwiegend unbewusst arbeitet. Jede neue zu verarbeitende Infor-
mation, jeder neue Reiz wird im limbischen System eingehend daraufhin
überprüft, ob sie bestehenden Erfahrungen ähnelt, und wenn ja, welche

____________________
23 Vgl. dazu Roth, Möglichkeiten und Grenzen von Wissensvermittlung und Wis-
senserwerb, in: Caspary (Hrsg.), Lernen und Gehirn, 7. Aufl., Freiburg 2011, S.
59 (65).
24 Vgl. dazu Roth (Fn. 23), S. 58 ff.
25 Vgl. dazu Roth (Fn. 23), S. 58 f.
26 Ansorg, ABC der Neurobiologie, Norderstedt 2018, S. 178.
27 Vgl. dazu Siebert, Lernen und Bildung Erwachsener, 3. Aufl., Bielefeld 2017, S.
66; Hirschenhauser, Neurophysiologie der Emotionen im pädagogischen Kontext,
in: Huber/Krause (Hrsg), Bildung und Emotion, Wiesbaden 2017, S. 195 (206).

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Emotionen mit diesen Erfahrungen verbunden waren.28 Das Ergebnis dieses


– unbewusst ablaufenden – Bewertungsprozesses entscheidet dann maß-
geblich darüber, mit welcher Aufmerksamkeit, welcher Konzentration und
welcher Motivation die Verarbeitung der entsprechenden Reize weiterver-
folgt wird.29 Dieser Prozess verdeutlicht, welch entscheidende Bedeutung
das limbische System beim Lernerfolg spielt. Empirisch nachgewiesen ist
etwa, dass die Fertigkeit, bestimmte Inhalte abspeichern und reproduzieren
zu können, in hohem Maße von dem persönlichen Interesse an den jeweili-
gen Inhalten abhängt. Allgemein lässt sich insoweit sagen, dass das, was
einen brennend interessiert, nahezu im Flug erlernt wird, während das, was
einen nicht zu fesseln vermag, (höchst) schwierig zu erlernen ist.30
Als zutreffend hat sich des Weiteren die grundlegende Annahme des
Konstruktivismus erwiesen, dass Lernen ein aktiver Prozess der Bedeu-
tungserzeugung ist, der im höchsten Maße individuell abläuft. Exempla-
risch seien hier die Unterschiede genannt, die individuell beim Memorieren
von Daten geschichtsträchtiger Ereignisse bestehen. Während dem einen
dieses Memorieren leicht fällt, bedarf es beim anderen höchster Anstren-
gungen, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen. Ebenso variieren die Lern-
stile: Der eine vermag allein durch das bloße Zuhören etwas zu erlernen,
der andere muss hierfür die Inhalte selbst für sich zusammenfassen und
mehrfach wiederholen. Das liegt daran, dass die Lernfähigkeit und das Ge-
dächtnis hochgradig modular (d.h. in viele Schubladen gegliedert) organi-
siert sind und dass die Leistungsfähigkeit dieser Module individuell stark
variiert.31

6. Quintessenz

Stellt sich demnach das Lernen in der Hauptsache als – neurowissenschaft-


lich nachweisbarer – höchst subjektiver, zumeist unbewusst ablaufender
Prozess der aktiven Wissenskonstruktion dar, folgt daraus, dass es die eine
optimale Lernumgebung aufgrund der Verschiedenheit jedes Individuums
nicht geben kann. Vielmehr müsste im Idealfall für jedes Individuum nach
____________________
28 Vgl. dazu Siebert (Fn. 27), S. 66; Hirschenhauser (Fn. 27), S. 206.
29 Vgl. dazu Roth (Fn. 23), S. 65.
30 So explizit Roth (Fn. 23), S. 65.
31 Roth (Fn. 23), S. 62; vgl. dazu auch Frick-Salzmann, Gedächtnis: Erinnern und
Vergessen: Ein Blick ins Gehirn für Bildungs-, Gesundheits- und Sozialexperten,
Wiesbaden 2017, S. 3 f.

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den eigenen Vorlieben und Erfahrungen, aber auch nach den – nicht beein-
flussbaren – biologischen Faktoren wie der Lernfähigkeit und der Informa-
tionsverarbeitungskapazität jeweils eine eigene Lernumgebung geschaffen
werden. Ein solches Vorgehen ist aber bestenfalls – wenn überhaupt – in
einem kleinsten Kreis denkbar, an Massenuniversitäten oder allgemein an
Lehreinrichtungen mit einer hohen Zahl an Lernenden jedoch schlichtweg
unmöglich. Es kann daher vielmehr nur darum gehen, eine Lernumgebung
zu schaffen, die möglichst viele verschiedene Reize und Impulse setzt, da-
mit sich auch möglichst viele der Lernenden individuell angesprochen füh-
len. Inwieweit eine solche ansprechende Lernumgebung errichtet werden
kann, ist dabei nicht nur maßgeblich abhängig von überzeugenden, durch-
dachten didaktischen Konzepten, sondern auch von der vorgelagerten
Frage, welche sachlichen, personellen und vor allem finanziellen Mitteln
zur Verfügung stehen. Je größer dabei die Zahl der Lernenden ist, desto
größer ist im Zweifel der Bedarf an den entsprechenden Lehrmitteln.
Mit Blick auf das hier besonders interessierende Verhältnis von univer-
sitären Präsenzzeiten und der Zeit für das Selbststudium lässt sich bereits
an dieser Stelle festhalten, dass aus der Individualität und Subjektivität des
Lernens per se die Notwendigkeit ausreichender Zeit für die Selbstbeschäf-
tigung mit den Lerninhalten folgt, damit die individuelle Konstruktion einer
– juristischen – Wissenswelt stattfinden kann.

II. Die Schwierigkeiten der systematischen Produktion von


Transferleistungen

1. Die fehlende Beeinflussbarkeit der meisten Faktoren für das Erbringen


von Transferleistungen, bezogen auf die breite Masse der Studierenden

Die zuletzt getroffene Feststellung gilt umso mehr mit Blick auf das erfolg-
reiche Absolvieren des juristischen Studiums. Es ist bereits an früherer
Stelle ausgeführt worden, dass das juristische Studium eine intellektuelle
Herausforderung darstellt, u.a. deshalb, weil es für ansprechende Examens-
ergebnisse maßgeblich darauf ankommt, abstraktes Wissen dergestalt zu
durchdringen, das es zielführend zur Lösung eines konkreten Problems – in

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Form eines juristischen Sachverhalts – eingesetzt werden kann.32 Die


Schwierigkeit, derartige Transferleistungen systematisch erbringen zu kön-
nen, steigt, wie bereits ausgeführt, proportional mit der Schwierigkeit der
Materie an sich.33 Je höher der Schwierigkeitsgrad der zu erlernenden Lern-
inhalte ist, desto größeres Gewicht kommt dem Faktor der individuellen in-
tellektuellen Leistungsfähigkeit zu, der immer weniger durch andere Fak-
toren wie Motivation oder Fleiß ausgeglichen werden kann. Weil das juris-
tische Studium aufgrund der geforderten Leistungen eine intellektuelle Her-
ausforderung darstellt, kann das Gros der Studierenden – wie auch die Exa-
mensergebnisse in der staatlichen Pflichtfachprüfung nahelegen – seine
Examensergebnisse nur unter möglichst optimaler Ausschöpfung der vor-
handenen Kapazitäten erreichen. Die Stellschrauben, die dem Einzelnen,
aber auch der Lehrinstitution dabei zur Verfügung stehen, sind dabei gerin-
ger als es auf den ersten Blick zu erscheinen vermag.
Dies lässt sich exemplarisch an dem Modell der Voraussetzungen indi-
viduellen Lernerfolgs von Hasselhorn/Gold verdeutlichen.34 Die Autoren
haben dabei unter Auswertung der bisherigen Forschung fünf zusammen-
wirkende Faktoren für das erfolgreiche Lernen herausgearbeitet. Hierzu ge-
hören zunächst die selektive Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis,
Motivation und Selbstkonzept, Volition und lernbegleitende Emotionen,
Vorwissen und Strategien sowie metakognitive Regulationen.35 Nach dem
bisher Gesagten sind die ersten drei genannten Faktoren von außen, wenn
überhaupt, nur sehr schwer – nämlich allenfalls durch individuelle Betreu-
ung – systematisch beeinflussbar.
Die Größe des Arbeitsgedächtnisses als der zuerst genannte Faktor be-
stimmt maßgeblich die sog. fluide Intelligenz, d.h. die Fähigkeit zum logi-
schen Denken und zur Lösung von Problemen.36 Sie ist nach gegenwärti-

____________________
32 Lammers (Fn. 4), S. 289.
33 Vgl. dazu Hasselhorn/Gold (Fn. 6), S. 101.
34 Hasselhorn/Gold (Fn. 6), S. 66 f.
35 Hasselhorn/Gold (Fn. 6), S. 66 f.
36 Vgl. dazu Mietzel, Entwicklung im Erwachsenenalter, Göttingen 2012, S. 223;
Shipstead/Harrison/Engle, Working Memory Capacity and fluid Intelligence:
Maintenance and Disengagement, Perspectives on Psychological Science 2016,
771 (771 ff.).

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gem Stand der Wissenschaft als Kernintelligenz nicht steigerbar, sondern


zum großen Teil genetisch vorgegeben.37
Auch die Faktoren der Motivation und der Volition sind von außen –
solange es sich nicht um eine individuelle Betreuung handelt – ebenfalls
nicht ohne Weiteres dauerhaft positiv beeinflussbar. Denn auch sie sind in
nicht unbedeutendem Maße biologisch vorbestimmt oder durch frühkindli-
che Erfahrungen geprägt.38 Welche Themen das Individuum in den Bann
ziehen und dauerhaft motivieren, variiert von Fall zu Fall und auch in der
Stärke in erheblichem Maße und lässt sich verlässlich nicht prognostizieren
oder beeinflussen.39
Der Faktor des Vorwissens seinerseits ist Ergebnis des bisherigen Lern-
verhaltens und Lernerfolgs des betroffenen Individuums.40 Auch dieser
Faktor ist von Seite der lehrenden Institution schwer beeinflussbar und va-
riiert in der Regel ebenfalls in beträchtlichem Maße.

2. Der Einsatz von Lernstrategien als beeinflussbarer Faktor erfolgreichen


Lernens

Damit bleibt als einziger Faktor, der jedenfalls im Grundsatz auch von
Lehrinstitutionen mit einer hohen Anzahl an Studierenden zur Verbesse-
rung des Lernerfolgs genutzt werden kann, die Vermittlung geeigneter kog-
nitiver sowie unterstützender Lernstrategien.

a) Kognitive Strategien

Kognitive Strategien umfassen dabei alle diejenigen Prozesse, deren Zweck


es ist, zu einer verbesserten Aufnahmeverarbeitung und Speicherung von
Informationen zu führen, wobei alle diese Strategien darüber hinaus darauf

____________________
37 Vgl. dazu statt vieler Toga/Thompson, Genetics of Brain Structure and Intelli-
gence, Annual Review of Neuroscience 2005, 1 (13 ff.), sowie umfassend das
Werk von Stern/Neubauer, Intelligenz – Große Unterschiede und ihre Folgen,
München 2013.
38 Vgl. dazu Roth (Fn. 23), S. 65.
39 Vgl. dazu Roth (Fn. 23), S. 65.
40 Vgl. dazu Hasselhorn/Gold (Fn. 6), S. 80 f.

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abzielen, zu einem tiefergehenden Verständnis der jeweiligen Materie zu


führen.41
Diese kognitiven Strategien werden allgemein in sog. elaborative und re-
duktive Lernstrategien unterteilt. Bei elaborativen Lernstrategien besteht
das Ziel darin, das Gelernte in einen größeren, bereits durch das Vorwissen
geprägten Kontext einzuordnen und so zu einer besseren Vernetzung von
neuer und alter Information und damit auch zu einer besseren Verständnis-
und Behaltensleistung zu kommen.42 Bei reduktiven Lernstrategien geht es
im Gegensatz dazu darum, die aufgenommenen Informationen auf den we-
sentlichen Kern zu reduzieren, um auf diese Weise zu einem besseren Ver-
ständnis und zu einer besseren Memorierung zu gelangen.43
Häufig weisen Lernstrategien beide Elemente (elaborative und reduk-
tive) auf, was sich besonders deutlich an sog. Mindmaps – Gedankenkarten
– ersehen lässt. Sie sind elaborativ, weil das Wissen in einen größeren Kon-
text eingeordnet wird bzw. werden kann. Gleichzeitig sind sie auch reduk-
tiv, weil die Informationen zumeist auf Schlüsselbegriffe reduziert werden.

b) Stützstrategien

Die Stützstrategien ihrerseits lassen sich unterteilen in sog. metakognitive,


motivationale und ressourcenorientierte Strategien.44 Bei metakognitiven
Strategien wird der eigene Lernprozess beobachtet und beständig hinter-
____________________
41 Diese Einteilung ist nicht zwingend. Friedrich/Mandl, Lernstrategien: Zur Struk-
turierung des Forschungsfeldes, in: Mandl/Friedrich (Hrsg.), Handbuch Lernstra-
tegien, Göttingen 2006, S. 1, (2 ff.), unterteilt bspw. kognitive Lernstrategien in
Elaborations-, Organisations-, Selbstkontroll- und Selbstregulations- sowie Wis-
sensnutzungsstrategien.
42 Vgl. hierzu Friedrich/Mandl (Fn. 41), S. 2.
43 Statt von reduktiven Lernstrategien wird häufig auch von Organisationsstrategien
gesprochen, vgl. dazu Friedrich/Mandl (Fn. 41), S. 4; Großschedl, Einfluss aus-
gewählter instruktionaler Maßnahmen auf Struktur und Niveau zellbiologischen
Wissens, Berlin 2010, S. 32.
44 Auch diese Unterteilung ist allerdings nicht zwingend. Bisweilen wird auch nur
zwischen kognitiven und metakognitiven Strategien unterschieden, wobei letztere
auch ressourcenorientierte Lernstrategien umfassen; vgl. dazu Gläser-Zikuda,
Training selbstregulierten Lernens auf der Basis des Portfolio-Ansatzes, in: Land-
mann/Schmitz (Hrsg.), Selbstregulation erfolgreich fördern, Stuttgart 2007, S. 111
(114).

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fragt, etwa mit solchen Fragen wie »Was habe ich jetzt konkret verstan-
den?« oder »Wo habe ich noch Verständnislücken?«. Ressourcenorientierte
Lernstrategien ihrerseits zielen darauf ab, die eigenen geistigen und zeitli-
chen Ressourcen optimal zu nutzen, aber auch die eigene Anstrengung und
Aufmerksamkeit zu steuern.45 Zu den ressourcenorientieren Lernstrategien
zählt aber auch die Gestaltung von Lernumgebung und Arbeitsplatz, die
Frage nach Ausbildung und Nutzung geeigneter Informationsquellen sowie
das Lernen mit Mitschülern.

c) Wirksamkeit eines Strategienmixes zur nachhaltigen Steigerung des


Lernerfolgs

Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Mix aus kognitiven


und unterstützenden Lernstrategien die höchste – und auch beachtlichste –
Effektstärke aufweist.46 Hingegen ist die Effektivität bei der Nutzung ein-
zelner Lernstrategien (etwa ausschließlich kognitiver oder metakognitiver
Lernstrategien) deutlich geringer.47
Lässt sich durch den Einsatz eines adäquaten Strategienmixes demnach
ein beträchtlicher Lernerfolg – auch mit Blick auf die Erbringung von
Transferleistungen – erzielen, so eröffnet diese Form jedenfalls abstrakt be-
trachtet eine bedeutende Möglichkeit, auch an Massenuniversitäten den
Lernerfolg auf breiter Ebene deutlich zu verbessern. Dies gilt jedoch allen-
falls dem Grundsatz nach. Diese notwendige Einschränkung erfolgt vor
dem Hintergrund, dass jeder Studierende aufgrund der Subjektivität der
____________________
45 Vgl. dazu Kiper/Mischke, Selbstreguliertes Lernen, Kooperation, soziale Kompe-
tenz, Stuttgart 2008, S. 33 ff.
46 S. vor allem Nückles/Hübner/Renkl, Enhancing self-regulated learning by writing
learning protocols, Learning and Instruction 2009, 259 (259 ff.); vgl. hierzu auch
Killus, Selbstgesteuertes Lernen in Lern-, Interessen- und Erfahrungsangeboten an
Schulen mit Ganztagangebot, Potsdam 2006, abrufbar unter http://www.ganztag-
blk.de/cms/upload/pdf/brandenburg/Killus_Selbstgesteuertes_Lernen.pdf (letzter
Abruf am 1.9.2018), S. 2. Aus neurobiologischer Sicht lässt sich dieser Umstand
wie im Grundsatz bei allen konstruktivistischen Lernmodellen damit erklären,
dass es durch die verstärkte Einbeziehung des Lernenden, seiner Persönlichkeit
und seiner Eigenarten zu einer besonderen Tiefe bei der Verarbeitung des Wissens
kommt.
47 Vgl. dazu vor allem die Ergebnisse der Untersuchung von Nückles/Hübner/Renkl
(Fn. 46), S. 268 ff.; hierzu instruktiv auch Klauer (Fn. 6), S. 154 ff.

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Wissenskonstruktion bereits seit früher Kindheit eine individuelle Form des


Lernens ausgebildet hat, die zu einem wesentlichen Teil der eigenen Per-
sönlichkeit geworden ist. Es ist zwar möglich, ein bestimmtes, verbesse-
rungswürdiges Lernverhalten – wie im Übrigen jedes menschliche Verhal-
ten – in positivem Sinne zu ändern. Dies ist jedoch umso schwieriger, je
weiter die neu zu erlernenden Lernstrategien vom bisherigen Lernhabitus
abweichen. Deshalb ist auch nicht verwunderlich, dass bei der erstmaligen
Anwendung von Lernstrategien häufig schlechtere Lernergebnisse erzielt
werden. Grund hierfür ist, dass ein nicht unbedeutender Teil der für das
Lernen notwendigen Energie für die Überwindung des Widerstandes gegen
das Erlernen einer neuen Lernstrategie aufgewendet werden muss.48 Neben
einem nicht unbedeutenden Maß an Eigenmotivation des Lernenden, sich
neue Strategien aneignen zu wollen, bedarf es darüber hinaus ausreichender
Zeit und einer die individuellen Anstrengungen fördernde Lernumgebung –
Stichwort: Feedback – , um mit den neuen Strategien »warm« zu werden.49

d) Exkurs: Der Einsatz elektronischer Hilfsmittel zur Steigerung der


Effizienz von Lernstrategien

Nicht nur, weil das Thema Digitalisierung gegenwärtig in der Allgemein-


heit eine breite Diskussion erfährt, soll an dieser Stelle exkursartig in weni-
gen Worten auf den Einsatz elektronischer Hilfsmittel bei der Umsetzung
von Lernstrategien eingegangen werden. Vielmehr weist der Einsatz sol-
cher Hilfsmittel gerade bei der Umsetzung der soeben beschriebenen kog-
nitiven Lernstrategien ein nicht unbedeutendes Potential zur Verbesserung
des Lernerfolgs auf.
Vor einer weiteren Konkretisierung dieses Potentials sei allerdings vo-
rausgeschickt, dass es in Anbetracht der bisher dargelegten lernpsychologi-
schen und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse wenig überzeugend wäre,
den Einsatz elektronischer Hilfsmittel als für jeden Studierenden gleicher-
maßen geeignet zur Steigerung des individuellen Lernerfolgs anzusehen.
Insoweit kann die Nutzung elektronischer Hilfsmittel beim Lernen, wie
auch jede andere Lernstrategie, nicht anders als ein Werkzeugkasten ver-

____________________
48 Vgl. dazu Hennen/Grünwald/Revermann/Sauter, Einsichten und Eingriffe in das
Gehirn, Berlin 2008, S. 91; vgl. dazu auch Klauer (Fn. 6), S. 194 ff.
49 Vgl. dazu Klauer (Fn. 6), S. 194 ff.

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standen werden, aus dem sich der Einzelne je nach eigenen Lernvorlieben
bedienen kann oder auch nicht.
Allgemein lassen sich die Vorteile des Einsatzes von elektronischen
Hilfsmitteln mit einer größeren Übersichtlichkeit und Nachhaltigkeit der
festgehaltenen Informationen beschreiben. Damit ist etwa gemeint, dass
elektronisch festgehaltene Informationen dauerhaft gespeichert und leicht
überarbeitet werden können. Gerade Letzteres ist bei handschriftlichen
Ausführungen regelmäßig nicht der Fall.
Als Beispiel für einen erfolgversprechenden Einsatz elektronischer Hilfs-
mittel beim juristischen Lernen seien die – vielfach auch kostenlos – erhält-
lichen Karteikartenprogramme genannt. Ein wesentlicher Vorteil guter
elektronischer Karteikartensoftware besteht darin, dass das Programm au-
tomatisch auf Grundlage der aktuellen lernpsychologischen und neurowis-
senschaftlichen Erkenntnisse die Wiederholungszeiten für jede Karte derart
regelt, dass ein rascher Transfer des auf den Karteikarten festgehaltenen
Wissens in das Langzeitgedächtnis möglich ist. Darüber hinaus ermögli-
chen viele Anbieter – auch hier z.T. kostenlos50 –, die Karteikarten online
in einer sog. Cloud zu speichern und in synchronisierter Form mit verschie-
denen elektronischen Geräten – etwa einem Smartphone oder einem Tablet-
PC – an jedem x-beliebigen Ort nutzen zu können. Es ist daher für den in-
teressierten Studierenden nicht notwendig, seine Karteikarten für ein effek-
tives Karteikartentraining immer mit sich führen zu müssen.
Neben Karteikartenprogrammen gibt es eine Vielfalt an weiterer – gän-
giger – Software, mit denen vor allem kognitive Lernstrategien umgesetzt
werden können. Als besonders interessant für das juristische Lernen er-
scheinen z.B. Programme, welche die Visualisierung und damit Offenle-
gung struktureller Zusammenhänge der jeweiligen juristischen Materie er-
möglichen. Hierzu zählen u.a. Mindmap-Programme wie die kostenlose
Software X- oder FreeMind, aber auch gängige Produkte wie Microsoft
PowerPoint oder Microsoft Word. Mit letzterem Programm lassen sich
leicht Tabellen erstellen, mit denen verschiedene juristische Begriffe einan-
der vergleichend gegenübergestellt werden können. Aber auch für private
Lern-AGs gibt es Anwendungsfelder. So können Probleme beim Auffinden
eines geeigneten AG-Raumes dadurch gelöst werden, dass Videoübertra-
gungsprogramme wie bspw. Skype oder IMO genutzt werden. Auf diese

____________________
50 Etwa das Karteikartenprogramm ANKI, abrufbar unter https://apps.ankiweb.net
(letzter Abruf am 1.9.2018).

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Weise lässt sich das nicht selten gegen Lern-AGs vorgebrachte Argument
des hohen organisatorischen Aufwands jedenfalls z.T. entkräften.
Zu den Faktoren, die letztlich den Grad der Unterstützungswirkung elekt-
ronischer Hilfsmittel beim juristischen Lernen beeinflussen, zählen u.a.:

 Die Fertigkeit des Maschinenschreibens.


 Die Bedienungsfreundlichkeit der verwendeten Software.
 Das Wissen um den angemessenen Einsatz der einzelnen Lerntech-
niken.
 Ausreichende Selbstlernzeit.

Gerade der letzte Punkt ist entscheidend dafür, dass der Einsatz elektroni-
scher Hilfsmittel jedenfalls potentiell für einen Großteil der Studierenden
eine nachhaltige Steigerung des individuellen Lernerfolgs zu bewirken ver-
mag. Denn gerade zu Beginn ist das Erlernen des Umgangs mit elektroni-
schen Hilfsmitteln sehr zeitaufwendig. Damit also diese Hilfsmittel nach-
haltig genutzt werden, ist es Grundvoraussetzung, dass den Studierenden
innerhalb des Studiums ausreichend Zeit zum Erlernen des Umgangs mit
diesen Hilfsmitteln verbleibt. Dies führt zu der übergeordneten und – für
eine nachhaltige Veränderung des Studienerfolgs maßgeblichen – Frage des
angemessenen Verhältnisses zwischen der Präsenzzeit der Studierenden in
juristischen Lernveranstaltungen einerseits und der Zeit fürs Selbststudium
andererseits.

C. Abgleich der gewonnenen lernpsychologischen Erkenntnisse mit der


Lernwirklichkeit an staatlichen Universitäten

Diese Frage ist im Endeffekt – vor dem Hintergrund der belastbaren wis-
senschaftlichen Erkenntnisse über die maßgeblichen Faktoren erfolgreichen
Lernens und ihre Beeinflussbarkeit – nichts anderes als die Konkretisierung
der insoweit allgemeineren Frage, inwieweit sich die gegenwärtige Form
der Stoffvermittlung bzw. der Studiengestaltung aus lerntechnischer Sicht
mit den angesprochenen Erkenntnissen über erfolgreiches Lernen kohärent
zeigt. Lediglich wenn eine Kohärenz größeren Ausmaßes besteht, kann re-
alistischerweise von einer Möglichkeit der Verbesserung der Examenser-
gebnisse auf breiter Basis ausgegangen werden. Bezüglich der Existenz ei-
ner solchen Kohärenz ist nun eine gewisse Skepsis angezeigt, weil das wei-
terhin vorherrschende Lehrformat zur Wissensvermittlung und zur Ausbil-
dung juristischer Fertigkeiten die Vorlesung im klassischen Sinne ist. Dabei

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beruht diese Skepsis zum einen auf der zeitlich ungünstigen Gewichtung
von Vorlesung und Selbststudium (hierzu sogleich (I.) sowie der im Durch-
schnitt geringe Ertrag der Vorlesung bei der Wissensvermittlung zum an-
deren (II.).

I. Ungünstige zeitliche Gewichtung von Vorlesung und Selbststudium

Die klassische universitäre Vorlesung ist keine Lernveranstaltung im enge-


ren Sinne, sondern eine Stoffpräsentationsveranstaltung.51 Es wird dabei in
der Regel ein auf hohem Abstraktionsniveau konzipierter, aktueller Über-
blick über die wesentlichen Inhalte der jeweiligen Vorlesungsmaterie dar-
geboten. Dem Zuhörer soll damit eine Art Leitfaden, eine erste Idee über
die jeweiligen Vorlesungsinhalte an die Hand gegeben werden. Ein tieferes
Verständnis ausschließlich durch den Besuch von Vorlesungen ist hingegen
i.d.R. nicht zu erreichen, weil nur die wenigsten Studierenden nach erstma-
liger Berührung mit neuen, komplexen Wissensinhalten in der Lage sind,
diese unmittelbar und eigenständig zur Lösung unbekannter Probleme ein-
zusetzen.52 Zur Ausformung dieser Fertigkeit bedarf es – wie sich im bis-
herigen Verlauf der Untersuchung gezeigt hat – (auch) eines intensiven
Selbststudiums in Form einer systematischen Auf- und Nachbereitung des
in der Vorlesung präsentierten Wissens sowie dessen praktischer Anwen-
dung, z.B. beim Lösen von Fällen.53
Es ist zumindest fraglich, ob dem Selbststudium an den meisten univer-
sitären Einrichtungen der Stellenwert eingeräumt wird, der ihm für erfolg-
reiches Lernen zukommt. Hiergegen spricht die hohe Zahl an Semesterwo-
chenstunden (SWS), die die meisten Ausbildungspläne für den Besuch von
Vorlesungen und die diese ergänzenden Arbeitsgemeinschaften vorsehen.
Zusammen mit den gewöhnlichen außeruniversitären Aktivitäten der Stu-
dierenden – wie z.B. Hobbys und Nebenjobs – bleibt regelmäßig kaum
Raum für eine vertiefte Selbstbeschäftigung mit den Lehrinhalten. Als
Folge davon findet das Selbststudium häufig nur unplanmäßig und unkoor-
____________________
51 Braun/Metzger/Ritter/Vasko/Voss, Das ICM an der Hochschule Karlsruhe – ein
nicht quantisierter Flip, in: Handke/Sperl (Hrsg.), Das Inverted Classroom Model,
München 2012, S. 117 (120); vgl. auch Giessen, Virtuelle Lehr- und Lernräume
in der juristischen Ausbildung, in: Wagner/Kindt (Hrsg.), Virtueller Campus,
Münster 2001, S. 75 (76).
52 Vgl. dazu Haft, Juristische Lernschule, München 2010, S. 96.
53 Vgl. dazu Haft (Fn. 52), S. 96.

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diniert statt. Dies ist insoweit besonders misslich, als – wie gesehen – für
das Erzielen ansprechender Ergebnisse im Examen in der Regel die opti-
male Ausnutzung der vorhandenen geistigen Fähigkeiten notwendig ist.

II. Der im Durchschnitt geringe Ertrag der Vorlesung bei der


Wissensvermittlung

Neben die ungünstige Gewichtung von Präsenz- und Selbststudienzeiten


tritt als weitere nachteilige Eigenschaft der Vorlesung der regelmäßig ge-
ringe Effizienzgrad der über sie erfolgenden Wissensvermittlung. Nach em-
pirischen Untersuchungen können von den in einer 90-minütigen Vorlesung
behandelten Lehrinhalten am folgenden Tag im Durchschnitt regelmäßig
nur zwischen 20% und 30% reproduziert werden.54 Ursächlich hierfür ist
vor allem die im Grundsatz passive Rolle, die der Zuhörer einer Vorlesung
regelmäßig einnimmt. Dieser kann Art und Tempo der Lernstoffvermittlung
nicht autonom steuern, sondern ist diesbezüglich vom Dozenten und dessen
didaktischen Fähigkeiten abhängig. Erschwerend kommt der hohe und das
Verständnis oftmals erschwerende Abstraktionsgrad juristischer Lehrin-
halte hinzu. Das gesprochene Wort ist darüber hinaus flüchtig. Damit geht
eine nicht unerhebliche Gefahr einher, der Vorlesung bei Verständnis-
schwierigkeiten ab einem gewissen Punkt nicht oder nicht mehr vollständig
folgen zu können. Vor allem bleibt für die Konstruktion eigener Wissens-
inhalte durch das unmittelbare Erleben und Anwenden der aufgenommenen
Informationen in der Regel kein oder kaum Raum. Vor dem Hintergrund,
dass es mittlerweile zu jedem Rechtsgebiet zahlreiche, didaktisch hervorra-
gend konzipierte Lehrbücher und Skripte gibt, stellt sich die Frage, ob es
jedenfalls der bloßen Wissensvermittlung in der Vorlesung in ihrer klassi-
schen Form – zumindest in dem heute an vielen Universitäten noch anzu-
treffenden Umfang – noch bedarf.55

____________________
54 Diese Ergebnisse lassen sich relativ leicht nachprüfen, indem man die Studieren-
den dazu auffordert, im Brainstormingmodus die Inhalte niederzuschreiben, die
ihnen aus der Vorlesung vom Vortag noch gegenwärtig sind.
55 Besonders scharf zeigt sich in dieser Hinsicht die Kritik von Dyrchs, demzufolge
»die tradierte Vorlesung eine riesige Verschwendung ökonomischer und personel-
ler Ressourcen« darstelle »und 98% aller Jurastudierenden in die Tempel der teu-
ren privaten Rechtsschulen« treibe, s. dazu Dyrchs, Didaktikkunde für Juristen, 2.
Aufl., Bielefeld 2016, S. 198.

54
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Neuaustarierung des Verhältnisses von Präsenzveranstaltungen und Selbststudium

D. Skizzierung eines alternativen Vorlesungsmodells mit dem Ziel


gesteigerter Transfereffekte

Da jedoch Vorlesungen – auch aufgrund begrenzter personeller, sachlicher


und finanzieller Ressourcen – auf absehbare Zeit weiterhin das Regelformat
der universitären Lehre konstituieren werden, erscheinen aus rein prakti-
scher Sicht ausschließlich Reflexionen über mögliche Änderungen inner-
halb des bestehenden Systems sinnvoll, mit denen den Studierenden erstens
ein möglichst breiter Raum für die selbstständige Er- und Verarbeitung der
Lerninhalte gelassen wird und zweitens sinnvolle Lernstrategien vermittelt
werden. Jegliche Änderung muss sich dabei an dem übergeordneten Ziel
der juristischen Ausbildung – nämlich der Fertigkeit, prinzipiell jedes juris-
tische Problem durch strukturiertes Vorgehen vertretbar lösen zu können –
orientieren.
Hierzu ist ein solides Grundwissen zwar unerlässlich, jedoch nur eine
notwendige und keine hinreichende Bedingung für den Fertigkeitserwerb.
Angesichts der substanziellen Zweifel an der Effizienz der Wissensvermitt-
lung in der Vorlesung könnte ein Ansatz zur Verbesserung des Lernerfolgs
darin liegen, den Studierenden, bei deutlicher Reduktion der Vorlesungs-
stunden, die Erarbeitung des Grundwissens weitgehend selbst zu überlassen
und sich in der Vorlesung auf die Vermittlung der Fertigkeiten zur syste-
matisch und methodisch korrekten Anwendung zu konzentrieren und zwar
anhand exemplarisch ausgesuchter, didaktisch besonders geeigneter Fälle
und unter gleichzeitiger Vorführung geeigneter Lern- und Falllösungsstra-
tegien. Hierfür spricht, dass nach gesicherten lernpsychologischen Erkennt-
nissen die größten Schwierigkeiten nicht beim ersten Kontakt mit den Lern-
inhalten auftreten, sondern bei ihrer praktischen Anwendung.
Mit einer weitestgehenden Auslagerung des Erwerbs des Basiswissens in
den Selbstverantwortungsbereich der Studierenden entstünde mehr Raum
in der Vorlesung für das Einüben und das Vertiefen des Wissens, das In-
gangsetzen aktiver Problemlösungsprozesse sowie vor allem für einen ech-
ten Austausch mit dem Dozenten. Dessen Funktion würde sich in einem
solchen umgekehrten Lernprozess – was die Wissensvermittlung betrifft –
darauf konzentrieren, den Studierenden regelmäßig unter Angabe beson-
ders geeigneter Lernbuchliteratur konkrete Lernziele vorzugeben. Die ent-
sprechenden Lerninhalte würden in der kommenden Vorlesungsstunde als
bekannt vorausgesetzt und bei der Lösung ausgewählter Fälle vertieft. Ein
solches System hätte mehrere Vorteile. Der Dozent muss in der Vorlesung
nicht mehr die Rolle des »Alleinunterhalters« einnehmen, die Studierenden

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ihrerseits sind mehr denn je dazu aufgefordert, sich aktiv am Geschehen zu


beteiligen, um damit auch ihrer Selbstverantwortung im Studium bewusst
und gerecht zu werden, die Grundlage jedes Studienerfolgs ist. Gleichzeitig
können sie prinzipiell selbst steuern, auf welche Weise (konkret: mit wel-
chem Lernmaterial) und mit welchem Zeitaufwand sie die vorgegebenen
Lernziele erreichen (wollen). Dem Dozenten bliebe in der Vorlesung mehr
Zeit für die Illustration geeigneter Strategien zur erfolgreichen praktischen
Anwendung des Wissens.
Die Studierenden würden auf diese Weise größeres Anschauungsmate-
rial erhalten, das sie dann im Selbststudium als Ausgangspunkt zur weiteren
Konsolidierung der eigenen juristischen Fähigkeiten heranziehen könnten.
Das soeben skizzierte System ließe sich durch die Bereitstellung von geeig-
netem Lernmaterial, beispielsweise eines Skripts, noch weiter verfeinern.
Dies hätte vor allem den Vorteil, dass der Dozent auf diese Weise eine sinn-
volle Begrenzung der Lerninhalte vornehmen kann. Erfahrungsgemäß se-
hen viele Studierenden ihre Hauptaufgabe fälschlicherweise in der Aneig-
nung von möglichst viel Detailwissen in möglichst kurzer Zeit. Mit einem
die Lerninhalte von vornherein auf das erforderliche Grundwissen begren-
zenden Skript kann der Dozent den Fokus viel leichter auf das primäre und
entscheidende Ziel – nämlich das Verständnis der Materie – richten.
Gleichzeitig bestünde in zeitlicher Sicht größerer Raum dafür, in hierfür
speziell konzipierten Veranstaltungen verschiedene sinnvolle kognitive,
aber vor allem auch unterstützende Lernstrategien vorzustellen und gemein-
sam einzuüben.

E. E-Learning-Systeme als Hilfsmittel zur Verwirklichung des


modifizierten Vorlesungsformats – das Modell des Inverted Classroom
(IC)

Bei der Verwirklichung des soeben skizzierten, modifizierten Vorlesungs-


formats verspricht der Einsatz von E-Learning-Systemen erhebliche Er-
leichterungen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das
Modell des sog. inverted- oder flipped classroom56 (umgekehrter Klassen-
____________________
56 Instruktiv hierzu Schäfer, Das Inverted Classroom Model, in: Handke/Sperl
(Hrsg.), Das Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten deutschen ICM-
Konferenz, München 2012, S. 3 (3 ff.).

56
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raum), einem Unterfall des blended learning.57 Blended learning bezeichnet


ein integriertes Lernkonzept, mit dem die heute verfügbaren Möglichkeiten
der Vernetzung über Internet oder Intranet in Verbindung mit »klassischen«
Lernmethoden und -medien zu einem sinnvollen Lernarrangement zusam-
mengeführt werden sollen. Ziel ist es, durch die geeignete Kombination ver-
schiedener Medien und Methoden, deren Vorteile zu verstärken und ihre
Nachteile zu minimieren.58 Beim inverted classroom stellt der Dozent den
Studierenden das notwendige Grundwissen in Form von Onlinematerial zur
Verfügung, das sich diese selbstständig zur nächsten Vorlesungsstunde zu
erarbeiten haben.59 Dort wird das Wissen dann anhand geeigneter Fälle und
Aufgaben eingeübt und vertieft.
Es gibt mehrere Gründe, die für einen verstärkten Einsatz eines solchen
E-Learning-Systems zur Verbesserung des Studienerfolgs insgesamt spre-
chen. Zunächst verfügen die Studierenden per se über individuell höchst
unterschiedliche Lernstile. Darüber hinaus differieren der Kenntnisstand
der Studienanfänger und die daraus resultierenden Unterschiede in der
Lerngeschwindigkeit bisweilen erheblich. Das blended learning bietet eine
verheißungsvolle Möglichkeit zur Lösung dieser Probleme, weil sich
grundsätzlich jeder Lerntyp mit E-Learning-Systemen ansprechen lässt: der
visuelle Lerntyp beispielsweise durch die Verwendung vieler Grafiken und
Schaubilder, der auditive Lerntyp durch als Vorlesungsersatz aufgezeich-
nete Videos oder Audiodateien, der haptische Lerntyp durch das Eintippen
von Lösungen.
Ein weiterer großer Vorteil des E-Learning ist die Möglichkeit zur fle-
xiblen zeitlichen und räumlichen Gestaltung des Lernens. Der Studierende
muss zur Aufnahme und Verarbeitung von Wissen nicht mehr zu einer be-
stimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein, sondern kann beides gemäß
dem eigenen Tagesrhythmus selbstständig und selbstverantwortlich festle-
gen. Die einzige Grenze besteht darin, dass er zu einem bestimmten Zeit-
punkt die jeweils vorgegebenen Module durchgearbeitet haben muss. Da-
neben können mit E-Learning-Systemen verschiedene Hilfsmittel erfolgrei-
chen Lernens in eine einzige Plattform integriert werden. So kann ein Kar-
teikartenmodul beim effektiven Transfer des notwendigen Grundwissens –
Definitionen, Prüfungsschemata etc. – vom Kurzzeit- in das Langzeitge-
____________________
57 Vgl. Peter, Erfolgsfaktoren und -hemmnisse beim Tele-Tutoring, München 2007,
S. 5; Reinmann-Rothmeier, Didaktische Innovation durch Blended Learning, Bern
u.a. 2003, S. 28.
58 Vgl. Peter (Fn. 57), S. 5; Reinmann-Rothmeier (Fn. 57), S. 28.
59 Schäfer (Fn. 56), S. 3.

57
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dächtnis helfen. Zur Konsolidierung und ersten praktischen Anwendung des


Wissens bieten sich Fall- bzw. Frage-Antwort-Module an. Es kann ein ei-
genes Modul für die Illustration verschiedener Lerntechniken eingerichtet
werden, ebenso ein Modul für ein automatisiertes Feedback über den eige-
nen Lernfortschritt oder kostenlose virtuelle AG-Räume für Privat-AGs.
Der wichtigste Vorteil jedoch ist, dass die Einführung eines E-Learning-
Systems nicht zwingend eine Abschaffung oder wesentliche Änderung der
Vorlesung im klassischen Sinne erfordert, sondern auch als alternatives
Format möglich ist. Es würde so verstanden lediglich die Auswahlmöglich-
keiten der Studierendenschaft erweitern, ohne sie von vornherein auf ein
bestimmtes System festzulegen, was gerade mit Blick auf die unterschied-
lichen Lernstile die Attraktivität der Universitäten, die ein solches Format
anbieten, erheblich steigern würde.

F. Fazit

Das Studium der Rechtswissenschaften stellt intellektuell hohe Anforde-


rungen. Wissenschaftliche Erkenntnisse der Lernpsychologie und der Neu-
rowissenschaften zeigen, dass bei steigendem Schwierigkeitsgrad der Lern-
inhalte den von außen nicht oder kaum beeinflussbaren Faktoren, wie bspw.
die allgemeine Denkfähigkeit, eine hervorgehobene Rolle für den Studien-
erfolg zukommt, die etwa mit Fleiß allein nur noch in bedingtem Maße aus-
geglichen werden können.60 Kompensieren lässt sich dieser Umstand je-
doch in nicht unerheblicher Weise durch den Einsatz geeigneter Lernstrate-
gien. Für deren Aneignung bedarf es jedoch ausreichender zeitlicher Frei-
räume wie auch regelmäßigen Feedbacks. Der Einsatz elektronischer Hilfs-
mittel verspricht hier – eine entsprechend sinnvolle Anleitung vorausgesetzt
– weitere positive Effekte. Eines Fokusses auf ausreichender Zeit zum
Selbststudium bedarf es zudem auch deswegen, weil Lernen vor allem die
Konstruktion einer eigenen Wissenswelt auf Grundlage eigener Erlebnisse
und Emotionen ist. Für dieses Erleben, den aktiven Umgang mit Informati-
onen und deren Interpretation ist ausreichender zeitlicher Freiraum vonnö-
ten, der auch die vertiefte individuelle Beschäftigung mit den Lerninhalten
erlaubt. Skepsis ist angebracht, ob die gegenwärtige Fixierung auf die klas-
sische Vorlesung als das prinzipielle Lehrformat vor dem Hintergrund der
bestehenden lernpsychologischen und neurowissenschaftlichen Erkennt-
____________________
60 Vgl. dazu Hasselhorn/Gold (Fn. 6), S. 101.

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Neuaustarierung des Verhältnisses von Präsenzveranstaltungen und Selbststudium

nisse für das Gros der Studierenden geeignet ist, um sie für die Hauptanfor-
derung im Staatsexamen – dem Nachweis der Fähigkeit, systematisch
Transferleistungen zu erbringen – zu wappnen. Dies liegt u.a. daran, dass
der Effizienzgrad der Wissensvermittlung bei dem Besuch einer klassischen
Vorlesung eher gering ist. Es bestehen jedoch Anzeichen dafür, dass dieser
Effizienzgrad allein dadurch gesteigert werden könnte, wenn der reine Wis-
senserwerb durch geeignete Lernmaterialien jedenfalls hinsichtlich des
Grundwissens dem Einzelnen überlassen bliebe und in den Vorlesungen der
Fokus verstärkt unter Einsatz geeigneter Lernstrategien auf den Erwerb ju-
ristischer Fertigkeiten gerichtet werden würde. Der Einsatz von E-Learn-
ing-Instrumenten könnte ein hilfreiches und wirksames Mittel sein, um ein
solches Inverted-Classroom-Modell auf praktikable Art und Weise umzu-
setzen und im besten Fall die im Examen erzielten Ergebnisse auf breiter
Basis zu verbessern.

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Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens*
Ann-Marie Kaulbach**/Pauline Riecke***

A. Einleitung

Leitidee der konstruktivistischen Lerntheorie ist, dass Lernen nicht funkti-


oniert wie ein »Kopiergerät«1. Wissen werde nicht von Lehrenden auf Ler-
nende übertragen, sondern müsse durch die Lernenden immer wieder neu
konstruiert werden.2 In dieser Sichtweise ist Lernen ein individueller Pro-
zess, der unter anderem vom jeweils vorhandenen Vorwissen abhängt.3 Der
Lernende müsse aktiv werden und auch das eigene Lernverhalten überwa-
chen.4
Im konstruktivistischen Bild hat Lehre weniger die Funktion, Wissen an
die Lernenden zu vermitteln. Vielmehr wird die Aufgabe der Lehrenden
darin gesehen, die Lernenden bei der Konstruktion neuen Wissens zu unter-
____________________
* Vortrag anlässlich der Tagung »Juristisches Lernen« auf Schloss Gracht am
29.4.2017. Die Autorinnen danken Jens Prömse für wertvolle Anregungen.
** Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums für juristisches Lernen und Lehren der
Universität zu Köln und Habilitandin bei Prof. Dr. Dr. h. c. Barbara Dauner-Lieb.
*** Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum für juristisches Lernen
und Lehren der Universität zu Köln.
1 Dauner-Lieb, »Gute juristische Lehre« – ist das überhaupt ein Thema?, ZDRW
2014, 1 (5); vgl. Mietzel, Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, 9.
Aufl., Göttingen u.a. 2017, S. 32.
2 Etwa Biggs/Tang, Teaching for Quality Learning at University, 4. Aufl., New
York 2011, S. 22, 97; vgl. Mayer/Pintrich/Wittrock, The Cognitive Process Di-
mension, in: Anderson/Krathwohl (Hrsg.), A Taxonomy for Learning, Teaching,
and Assessing, A Revision of Bloom’s Taxonomy of Educational Objectives, New
York u.a. 2001, S. 63 (65); Hasselhorn/Gold, Pädagogische Psychologie, Erfol-
greiches Lernen und Lehren, 4. Aufl., Stuttgart 2017, S. 63 f.; Macke/Hanke/Vieh-
mann, Hochschuldidaktik, Lehren – vortragen – prüfen – beraten, 2. Aufl., Wein-
heim und Basel 2012, S. 33; Mietzel (Fn. 1), S. 32.
3 Biggs/Tang (Fn. 2), S. 22; Hasselhorn/Gold (Fn. 2), S. 64; Mietzel (Fn. 1), S. 271.
4 Vgl. Hasselhorn/Gold (Fn. 2), S. 63 f.; Scheuermann, Schreibdenken, Schreiben
als Denk- und Lenkwerkzeug nutzen und vermitteln, 3. Aufl., Opladen u. Toronto
2016, S. 13 f.

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stützen.5 Dazu gehört neben der Stoffauswahl6 auch die Unterbreitung ge-
eigneter Lerntechniken wie des reflexiven Schreibens.
Der folgende Beitrag setzt die Idee einer Reflexiven Praxis in Bezug zur
konstruktivistischen Lerntheorie und beschreibt reflexives Schreiben als
Methode des juristischen Lernens. Dabei werden verschiedene Techniken
reflexiven Schreibens präsentiert: Schreiben zur Selbstreflexion, reflexive
Vorlesungsmitschrift, Zusammenfassung, Inneres Team und das Logbuch.

B. Idee einer Reflexiven Praxis

In der Literatur gibt es verschiedene Umschreibungen reflexiver Praxis. Re-


flexive Praxis umfasse die Analyse des eigenen Verhaltens aus der Vogel-
perspektive.7 Die eigenen Handlungen, Gedanken und Gefühle, soziale Prä-
gungen und Rahmenbedingungen der Gesellschaft würden bewusst und
zielgerichtet hinterfragt.8 Das Ziel sei nicht unbedingt eine Veränderung.9
Ziel der reflexiven Praxis sei vielmehr ein schärferes Bewusstsein für die
hinterfragten Umstände, Handlungen oder Gefühle.10
Diese Idee lässt sich in Bezug zur konstruktivistischen Lerntheorie set-
zen.11 Die Wissenskonstruktion erfordere Aktivität der Lernenden. Diese
müssten neue Informationen zu vorhandenen Erfahrungen in Bezug set-
zen.12 Umgekehrt betrachtet müssten Lernende ihre persönlichen Erfahrun-
gen im Lichte neuer Informationen reflektieren. Darüber hinaus müssten sie
ihr Lernverhalten beobachten und steuern.13

____________________
5 Biggs/Tang (Fn. 2), S. 22; Vgl. Scheuermann (Fn. 4), S. 13.
6 Vgl. hierzu eingehend Kaulbach, Expertendilemma Vollständigkeit, ZDRW 2018,
i.E.
7 Scaife, Supervising the Reflective Practitioner, An Essential Guide to Theory and
Practice, London u. New York 2010, S. 3.
8 Vgl. Scaife (Fn. 7), S. 4 ff.; Bolton, Reflective Practice, Writing and Professional
Development, 4. Aufl., Los Angeles u.a. 2014, S. 8.
9 Scaife (Fn. 7), S. 2.
10 Scaife (Fn. 7), S. 3.
11 So auch Scaife (Fn. 7), S. 14.
12 Biggs/Tang (Fn. 2), S. 22 f.; Hasselhorn/Gold (Fn. 2), S. 63; Macke/Hanke/Vieh-
mann (Fn. 2), S. 29; Mayer/Pintrich/Wittrock, The Knowledge Dimension, in: An-
derson/Krathwohl (Hrsg.), A Taxonomy for Learning, Teaching, and Assessing,
A Revision of Bloom’s Taxonomy of Educational Objectives, New York u.a.
2001, S. 38 (38).
13 Hasselhorn/Gold (Fn. 2), S. 63 f.; vgl. Mayer/Pintrich/Wittrock (Fn. 12), S. 59 f.

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Das übergeordnete Ziel einer reflexiven Praxis der Rechtsanwendung ist


das Verständnis und die Verbesserung der eigenen juristischen Tätigkeit.
Der Weg zu dieser Erkenntnis führt über die vertiefte Auseinandersetzung
des Lernenden mit sich selbst und mit der juristischen Tätigkeit. Die Ver-
besserung in den Klausuren ist nur ein Zwischenziel auf dem Weg zur Ver-
besserung der eigenen juristischen Tätigkeit. Infolgedessen ist die kritische
Reflexion in jeder Studienphase sinnvoll. Der Schwerpunkt der Reflexion
kann sich allerdings je nach Studienphase unterscheiden. In der Studienein-
gangsphase stehen Leitfragen im Vordergrund wie:

 Warum studiere ich Jura?


 Was macht die praktische Tätigkeit eines Juristen aus?
 Wie kann ich langfristig sinnvoll lernen?

Diese Fragen können etwa in der Examensphase in den Hintergrund treten.


Dann gewinnen Fragen wie die folgenden an Bedeutung:

 Welche Anforderungen stellt das Staatsexamen an mich?


 Wie kann man die Falllösung vor der Formulierung durchdenken?
 Was ist gute Rechtsanwendung?

Gegenstand der Reflexion kann auch die eigene Lehrtätigkeit sein. Eine
Lehrperson kann ihr Lehrverhalten und die Resultate hinterfragen und ana-
lysieren. Die regelmäßige Reflexion der Lehrtätigkeit kann dazu beitragen,
diese stetig zu verbessern.14 Biggs/Tang, die den Begriff »Constructive A-
lignment« geprägt haben, bezeichnen dies als reflexives Lehren.15 Im Fol-
genden soll jedoch näher untersucht werden, inwiefern die Reflexive Praxis
den Lernprozess der Studierenden unterstützen könnte.

C. Schreiben als Methode der Reflexion

Ein Medium der Reflexion kann das Schreiben sein.16 Schreiben ermögli-
che eine Externalisierung von Gedanken und Gefühlen und damit eine ef-
fektive Selbstreflexion.17 Fragen wie die oben genannten, etwa »Warum
____________________
14 Biggs/Tang (Fn. 2), S. 45 f.; in diese Richtung auch Mietzel (Fn. 1), S. 78.
15 Biggs/Tang (Fn. 2), S. 45 f.
16 Prömse, Für sich selbst schreiben, unveröffentlichtes Manuskript, S. 4.
17 Vgl. Scheuermann (Fn. 4), S. 26.

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studiere ich Jura?«, können zum Gegenstand einer reflexiven Schreibübung


gemacht werden. Zunächst sollen einige allgemeine Handlungsempfehlun-
gen für reflexives Schreiben gegeben werden, bevor näher auf die konkreten
Anwendungsmöglichkeiten eingegangen wird.

I. Allgemeine Handlungsempfehlungen für reflexives Schreiben

Reflexives Schreiben richte sich nicht an einen Adressaten, sondern an den


Schreibenden selbst. Im Vordergrund stehe der Prozess des Schreibens,
nicht der Text als Produkt.18 Deshalb komme es nicht auf korrekte Recht-
schreibung oder Grammatik oder auch inhaltliche Kohärenz an.19 Der Text
werde nicht bewertet. Durch den Prozess des Schreibens solle vielmehr das
Unterbewusste bewusst gemacht, externalisiert und strukturiert werden.20
Dies umfasse die eigenen Gedanken, Fragen und Gefühle.21 Insofern könnte
das reflexive Schreiben auch eine Methode zum professionellen Umgang
mit Gefühlen sein.22 Emotionen haben einen großen Einfluss auf diverse
kognitive Prozesse rund um das Lernen.23 Wenn durch das reflexive Schrei-
ben den Emotionen zugrunde liegende Teile des Lernprozesses greifbarer
werden, so gibt dies auch die Möglichkeit, regulierend in diesen einzugrei-
fen.

____________________
18 Bolton (Fn. 8), S. 115; Prömse (Fn. 16), S. 1; Scheuermann (Fn. 4), S. 14; Elbow,
Writing with Power, Techniques for Mastering the Writing Process, 2. Aufl., New
York 1998, S. 13; Elbow bezeichnet dies als »Freewriting«.
19 Elbow (Fn. 18), S. 15; Prömse (Fn. 16), S. 1 f.
20 Bolton (Fn. 8), S. 115 f.; Prömse (Fn. 16), S. 1; Scheuermann (Fn. 4), S. 12 u. 19.
21 Scheuermann (Fn. 4), S. 16.
22 Vgl. hierzu Elbow (Fn. 18), S. 15.
23 Hascher/Edlinger, Von der Stimmungs- zur Unterrichtsforschung: Überlegungen
zur Wirkung von Emotionen auf schulisches Lernen und Leisten, Unterrichtswis-
senschaft 2008, abrufbar unter https://www.researchgate.net/profile/Tina_Ha-
scher/publication/280305565_Von_der_Stimmungs-_zur_Unterrichtsforschung_
Uberlegungen_zur_Wirkung_von_Emotionen_auf_schulisches_Lernen_und_Lei
sten/links/55b0cde508ae32092e072f85/Von-der-Stimmungs-zur-Unt errichtsfor-
schung-Ueberlegungen-zur-Wirkung-von-Emotionen-auf-schulisches-Lernen-un
d-Leisten.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), 55 (59 f.).

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Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens

Reflexives Schreiben soll durch eine zeitliche Begrenzung unterstützt


werden.24 Dies senke die Hemmschwelle, mit dem Schreiben zu beginnen
und fördere Fokussierung auf die Frage, die reflektiert werden soll.25
Es wird empfohlen, möglichst per Hand zu schreiben, wenn das Schrei-
ben der Selbstreflexion dienen soll.26 Dies ermögliche eine leichtere Kom-
bination von Text und Bild beim Schreiben.27 Darüber hinaus erfordere das
Schreiben von Hand andere, vielseitigere Bewegungen als das Schreiben
mit einer Tastatur.28 Zudem seien handschriftliche Mitschriften auf dem
Laptop angefertigten überlegen. Es wird vermutet, dass handschriftlich eine
höhere Verarbeitungstiefe erreicht wird, da Studierende die Informationen
vor dem Mitschreiben vorfiltern und eigenständig zusammenfassen.29
Handschrift transportiert mehr als die reine Textinformation, sie ist viel-
mehr graphische Spur. An ihr kann man oftmals etwa Hektik, Unsicherheit
oder auch Sicherheit während des Schreibprozesses ablesen, Informationen,
die beim reflexiven Schreiben von Bedeutung sind. Auch unterbrechen
mögliche voreingestellte Rechtschreib- und Grammatikprüfungen den
Schreibfluss unnötig.
Als Nachteil des Schreibens von Hand wird allerdings die relative Lang-
samkeit benannt.30 Schnelles Schreiben wird empfohlen, um die Spontane-
ität zu fördern und eine Selbstzensur zu verhindern.31 Da reflexives Schrei-
ben nicht für einen Leser geschieht, braucht der Text zwar keine Qualitäts-
kriterien zu erfüllen. Dies scheint Schreibende jedoch nicht daran zu hin-
dern, ihren eigenen Text sofort innerlich einer Qualitätsprüfung zu unter-
ziehen.32

____________________
24 Bolton (Fn. 8), S. 136; Prömse (Fn. 16), S. 2; Scheuermann (Fn. 4), S. 20 f.
25 Scheuermann (Fn. 4), S. 20 f.
26 Scheuermann (Fn. 4), S. 21 u. 67.
27 Scheuermann (Fn. 4), S. 67.
28 Scheuermann (Fn. 4), S. 67.
29 Mueller/Oppenheimer, The Pen is Mightier Than the Keyboard, Advantages of
Longhand Over Laptop Note Taking, Psychological Science 2014, 1159 (1166).
30 Scheuermann (Fn. 4), S. 20.
31 Bolton (Fn. 8), S. 133; Prömse (Fn. 16), S. 2; Scheuermann (Fn. 4), S. 12 u. 20;
vgl. Elbow (Fn. 18), S. 14 ff.
32 Vgl. Scheuermann (Fn. 4), S. 12; Elbow (Fn. 18), S. 15, spricht in diesem Zusam-
menhang von einem »Übersetzungsprozess«.

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Ann-Marie Kaulbach/Pauline Riecke

Es empfiehlt sich beim Schreiben, einen ausreichenden Rand auf der lin-
ken Seite zu belassen.33 Dies ermöglicht eine spätere Redaktion des Textes.
Da Lernen ein Prozess ist, verändert sich die eigene Beziehung zum Ge-
lernten stetig. Es kann hilfreich sein, einen Text, etwa eine Vorlesungsmit-
schrift, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu lesen. Hierbei angefertigte
Notizen und Kommentare am linken Rand können bei der Reflexion unter-
stützend sein.34 Dabei können weitere, neue Gedanken entstehen, und das
Geschriebene wird mit neuen Erfahrungen und Erkenntnissen verknüpft.

II. Anwendungsmöglichkeiten

Inwiefern kann reflexives Schreiben einen Beitrag zu selbstgesteuertem


Lernen leisten?35 Reflexives Schreiben kann für verschiedene Zwecke ein-
gesetzt werden, etwa zur reinen Selbstreflexion, aber auch als Vorlesungs-
mitschrift oder Zusammenfassung. Das reflexive Schreiben lässt sich auch
mit didaktischen Methoden wie dem »inneren Team« verknüpfen.

a) Wie bereits oben gesagt kann Schreiben als Medium der Reflexion ein-
gesetzt werden. Ziel ist dabei, die eigenen, unbewussten Gedanken und Ge-
fühle zu externalisieren und zu strukturieren. Im Kontext des juristischen
Lernens kann sich die Reflexion auf das Studium in seiner Gesamtheit, auf
die juristische Tätigkeit oder auf bestimmte Fragen des Stoffs oder des Ler-
nens beziehen. Man kann sich dazu an einer Leitfrage wie den oben genann-
ten orientieren.36 Auch Fragen wie »Warum erreiche ich trotz Lernens nicht
die gewünschte Punktzahl in Klausuren?« oder »Warum fällt mir Kommu-
nalrecht so schwer?« können sich als Anknüpfungspunkt einer Reflexion
eignen. Da reflexive Praxis individuell ist, erscheinen die Möglichkeiten
unbegrenzt.
Reflexives Schreiben kann auch zu Beginn eines Lernprozesses einge-
setzt werden, um ein juristisches Thema zu erschließen. Die Leitfrage

____________________
33 So Prömse (Fn. 16), S. 5; vgl. ferner Bolton (Fn. 8), S. 162.
34 Bolton (Fn. 8), S. 162; Prömse (Fn. 16), S. 5.
35 Vgl. Scheuermann (Fn. 4), S. 28
36 Prömse (Fn. 16), S. 2.

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Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens

könnte dann sein: »Was interessiert mich am Thema X?«37 Eine solche Re-
flexion könne dazu beitragen, implizites Wissen zu aktivieren38 und die ei-
gene Motivation zu steigern.39 Dies sind auf Basis der konstruktivistischen
Lerntheorie entscheidende Voraussetzungen für den weiteren Lernprozess.

b) Reflexives Schreiben lässt sich ferner für vorlesungsbegleitendes Schrei-


ben nutzbar machen. Die Mitschrift fixiert dann nicht das Gehörte, sondern
die eigenen Gedanken, Fragen und Gefühle zum Gehörten.40 Dadurch wird
die gedankliche Interaktion mit dem Vortrag externalisiert und sichtbar ge-
macht. Es entsteht eine individuelle Struktur des Stoffs, und der Lernende
bildet eine Beziehung zum Lernobjekt.41 Träges Vorwissen wird aktiviert.
Geht man mit der konstruktivistischen Lerntheorie davon aus, dass Ler-
nen ein individueller Konstruktionsprozess ist, hängt der Lernerfolg auch
vom jeweiligen Vorwissen ab.42 Das persönliche Vorwissen, die eigenen
Erfahrungen bilden die Grundlage und die Anknüpfungspunkte für die Kon-
struktion neuen Wissens.43 Deshalb wird häufig empfohlen, Vorwissen für
weitere Lernprozesse zu aktivieren.44

c) Eine weitere Einsatzmöglichkeit für die Methode des reflexiven Schrei-


bens ist die Zusammenfassung.45 Gegenstand einer Zusammenfassung kann
sowohl eine Vorlesung als auch ein Lehrbuchkapitel oder eine Kombination
aus Quellen sein. Wenige Tage nach der Erarbeitung eines Themas erstellt
der Lernende ohne Hilfsmittel eine schriftliche Zusammenfassung aus dem
Gedächtnis. Inhalt der Zusammenfassung sollte wiederum nicht nur der ge-
lernte Stoff, sondern auch die Interaktion des Lernenden mit dem Stoff
sein.46 Als Leitfragen eignen sich Sätze wie:

____________________
37 Scheuermann (Fn. 4), S. 104; vgl. hierzu in anderem Zusammenhang eingehend
Elbow (Fn. 18), S. 78 f.
38 Scheuermann (Fn. 4), S. 14.
39 Scheuermann (Fn. 4), S. 104.
40 Prömse (Fn. 16), S. 3; ferner Elbow (Fn. 18), S. 95, für die Zusammenfassung.
41 Vgl. allgemeiner Scheuermann (Fn. 4), S. 13 f.
42 Biggs/Tang (Fn. 2), S. 22; Hasselhorn/Gold (Fn. 2), S. 63 f.; Mietzel (Fn. 1), S.
271 u. 318 f.
43 Näher Mietzel (Fn. 1), S. 318 f.; vgl. auch Macke/Hanke/Viehmann (Fn. 2), S. 29.
44 Mietzel (Fn. 1), S. 318; vgl. Hasselhorn/Gold (Fn. 2), S. 55 f. m.w.N.
45 Dazu Elbow (Fn. 18), S. 95; ihm folgend Prömse (Fn. 16), S. 3.
46 Elbow (Fn. 18), S. 95; ihm folgend Prömse (Fn. 16), S. 3 f.

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 Was habe ich mir gemerkt?


 Was habe ich nicht verstanden?
 Was war interessant/langweilig?
 Was hat mir gefallen/mich geärgert?47

Durch eine solche Zusammenfassung wird die Beziehung zwischen Lernen-


dem und Lernstoff entwickelt.48 Ein anschließender Vergleich der Zusam-
menfassung mit der ursprünglichen Quelle, etwa dem Lehrbuch, verdeut-
licht Lernerfolge und weiteren Lernbedarf.49

d) Ferner lässt sich das reflexive Schreiben mit der Methode des »inneren
Teams« kombinieren.50 Das Modell des »inneren Teams« geht auf Schulz
von Thun zurück.51 Damit werden verschiedene Persönlichkeitsanteile be-
schrieben. So gebe es Anteile der Persönlichkeit, die besonders kritisch auf
die eigenen Leistungen sähen. Ein bekanntes Bild ist der »innere Schwei-
nehund«, also ein Persönlichkeitsanteil, der danach strebt, unangenehme o-
der anstrengende Aufgaben zu vermeiden.
Reflexives Schreiben soll es ermöglichen, diese verschiedenen Persön-
lichkeitsanteile sichtbar zu machen und zueinander in Beziehung zu setzen.
Als Schreibübung hierzu wird empfohlen, ein schriftliches Gespräch zwi-
schen den verschiedenen Anteilen zu verfassen.52 Ein solches »inneres Ge-
spräch« könne zu einem Ausgleich der verschiedenen »Teammitglieder«
führen. Diese Technik erscheint als besondere Ausprägung einer reflexiven
Praxis, bei der es generell darum geht, die eigenen Handlungen und Gefühle
aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen.

III. Insbesondere: Das Logbuch als Reflexionsmedium im Praktikum

Umfangreichere Erfahrung besteht bereits mit der Methode des Logbuchs.


Das Logbuch kann für verschiedene Lernszenarien gewählt werden. Es
empfiehlt sich aber, zu Beginn einzelne Lernintervalle zu betrachten, etwa

____________________
47 Vgl. Prömse (Fn. 16), S. 4.
48 Vgl. allgemeiner Scheuermann (Fn. 4), S. 13 f.
49 Prömse (Fn. 16), S. 4.
50 Scheuermann (Fn. 4), S. 26 f. u. 113.
51 Vgl. das Werk von Schulz von Thun, Miteinander Reden, Band 3, Das »Innere
Team« und situationsgerechte Kommunikation, 26. Aufl., Reinbek 2013.
52 Scheuermann (Fn. 4), S. 113 f.

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Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens

den Lernprozess vor einer bestimmten Klausur oder die Lernerfahrung wäh-
rend eines der Pflichtpraktika. Dies ermöglicht den Studierenden im Klei-
nen Erfahrungen mit der Methode zu sammeln, die gerade bei längeren
Lernprozessen durchaus ein großes Durchhaltevermögen und Kontinuität
im für das primäre Lernziel (etwa Staatsexamen) vermeintlich sekundären
Prozess des Logbuchschreibens fordert. Das Logbuch kann den einzelnen
Lernsituationen entsprechend angepasst werden, sodass für die spezifische
Lernsituation passende Reflexionsansätze gegeben sind. So könnte etwa bei
einem Gerichtspraktikum die Beobachtung des Richterverhaltens im Vor-
dergrund stehen, wohingegen beim Lernen im Hinblick auf eine bestimmte
Klausur die Beobachtung des eigenen Lernverhaltens und des Wissenser-
werbs im Fokus stehen könnten.
Das Schreiben eines Logbuchs ist seit Juli 2016 Bestandteil des struktu-
rierten Praktikumsprogramms beim LG Köln. Das Programm, welches das
LG Köln in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum für juristisches
Lernen und Lehren entwickelt hat, zielt auf die bessere Verknüpfung der
praktischen Studienzeit mit der universitären Ausbildung ab. Im Rahmen
des Programms nehmen die Studierenden an thematischen Blockveranstal-
tungen teil, üblicherweise einen Tag in der Woche. Die übrige Zeit sind sie
einem Ausbilder zugeordnet. In einer der Blockveranstaltungen erhalten die
Studierenden eine Einführung in das Schreiben eines reflexiven Prakti-
kumsberichts in Form eines Logbuchs. Typische Herausforderungen bei der
didaktischen Ausgestaltung praktischer Studienzeiten sind die Aktivierung
der Studierenden und die Verknüpfung der Praxiserfahrung mit den Vorle-
sungsinhalten der universitären Ausbildung.53 Durch die Methode des Log-
buchs werden die Studierenden ermutigt, täglich ihre Erfahrungen im Prak-
tikum zu reflektieren. Die Studierenden sollen sich aktiv mit den Inhalten
der Praxisphase auseinandersetzen und diese mit dem bereits erworbenen
Vorwissen verknüpfen.

____________________
53 Schubarth/Speck/Ulbricht, Qualitätsstandards für Praktika, Bestandsaufnahme
und Empfehlungen, HRK nexus Fachgutachten, Potsdam u. Oldenburg 2016, ab-
rufbar unter https://www.hrk-nexus.de/fileadmin/redaktion/hrk-nexus/07-Down-
loads/07-01-Tagungen/07-01-50-Praktika_im_Studium/Praktika_Fachgutach-
ten.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), S. 8.

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Titel/Name des Ort, Titel/Über- Ort,


Tages Da- schrift/Kontext Da-
tum tum
Ge- Gesehen Gemacht/Getan
macht/Ge-
tan

Gehört Gelesen/Ge- Gefühlt


sehen

Dazu Dazu
gelernt gelernt

Fragen/Aufgaben an Fragen/Aufgaben an
mich selbst mich selbst

Abgebildet sind exemplarische Musterbögen für ein Logbuch.54 Links ist


ein Gestaltungsvorschlag für ein Praktikum, rechts einer für eine Klausur-
vorbereitung. Im Logbuch entspricht in der hier vorgestellten Methode eine
Seite einem Praktikums- bzw. Lerntag.
Der Bogen für das Praktikumslogbuch hat neben dem linken Rand, der
einer späteren Kommentierung dient, fünf Felder, die von den Studierenden
stichpunktartig ausgefüllt werden sollen. Im Vordergrund stehen hier di-
rekte Beobachtungen der Studierenden; so wird in den ersten drei Feldern
nach »Gemacht/Getan«, »Gesehen« und »Gehört« gefragt. Erst im Feld

____________________
54 Vgl. hierzu und zur Methode Barry, Syllabus: Notes from an Accidental Profes-
sor, Montreal 2014, S. 62 ff.; eingehend zum Konzept eines »dialektischen« Log-
buchs Berthoff, Dialectical Notebooks and the Audit of Meaning, in: Fulwiler
(Hrsg.), The Journal Book, Portsmouth 1987, S. 11 (12); ferner (knapper) Elbow
(Fn. 18), S. 96.

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Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens

darunter wird der Studierende dann dazu angehalten, sich Gedanken über
das in diesem Intervall Dazugelernte zu machen und in einem letzten Schritt
mögliche sich daraus ergebende Fragen festzuhalten. Zudem sollte der Stu-
dierende jeden Bogen mit Datum und möglicherweise einem Titel (etwa
Verhandlungstag) versehen, um eine zeitliche und inhaltliche Einordnung
zu erleichtern.
Auch der Musterbogen für ein Logbuch während der Vorbereitung auf
eine Klausur hat einen linken Rand zur späteren Kommentierung und ist im
Übrigen in fünf Felder aufgeteilt. Auch hier werden die Studierenden zu-
nächst dazu angehalten, sich mit ihrem Handeln auseinanderzusetzen, ihre
Tätigkeit festzuhalten. In diesem Bogen wird, angepasst an die übliche Al-
leinlernsituation mit schriftlichen Lernmitteln, nach »Gemacht/Getan« und
»Gelesen/Gesehen« gefragt. Sodann wird der Studierende aufgefordert,
sich mit seiner Einstellung zum Lernprozess (»Gefühlt«) auseinanderzuset-
zen. Sodann hat er wiederum die Möglichkeit, Dazugelerntes festzuhalten
und Fragen/Arbeitsaufträge an sich selbst zu formulieren.
Im Rahmen des strukturierten Praktikumsprogramms bringt eine Lehr-
person der Universität zu Köln den Studierenden zunächst die o.g. Grunds-
ätze reflexiven Schreibens nahe. Es wird empfohlen, das Logbuch zu einem
festen Zeitpunkt, etwa zu Beginn jedes Praktikumstags für den vorangegan-
genen zu schreiben. So ist sichergestellt, dass die Lernintervalle, die Ein-
gang in das Logbuch finden, in etwa gleichlang sind. Der Morgen jeweils
nach dem Praktikumstag bietet sich an, da durch die zeitliche Zäsur nur we-
sentlich eingestufte Eindrücke noch abrufbar sind bzw. sich diese verfestigt
haben. Die Schreibzeit wird auf zehn bis fünfzehn Minuten begrenzt. Dies
soll einerseits die erforderliche Motivation aufrechterhalten, andererseits
verhindern, dass die Schreibenden abschweifen.55
Die Logbucheinträge sollen möglichst durgehend geschrieben werden.
Das Geschriebene sollte nicht schon während des Schreibprozesses erneut
gelesen werden.56 Auch ist es wichtig die Studierenden zu ermutigen, so
weit als möglich ohne inneren Zensor zu schreiben.57 Im Rahmen der Re-
flexion ist jede Beobachtung des Lernprozesses gleichwertig. Ferner sind
die Erinnerungen durch das Schreiben am Folgetag bereits vorgefiltert.

____________________
55 S. oben S. 67.
56 Bolton (Fn. 8), S. 137.
57 S. oben S. 67.

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Nach etwa einer Woche sollten die Studierenden das bisher geschriebene
durchgehen und für mögliche Anmerkungen, Ergänzungen oder weiterge-
hende Fragen nun den linken Rand nutzen. So könnten hier beispielsweise
etwaige nun erkennbare Zusammenhänge vermerkt werden oder auch wie-
derkehrende Beobachtungen auffallen, denen die Studierenden in den fol-
genden Praktikumstagen näher auf den Grund gehen wollen.58 Studierende
könnten etwa bestimmte wiederkehrende Formulierungen des Praktikums-
gebers auffallen, deren Sinn und Zweck sich ihnen nicht sofort erschließt.
Ebenso könnte einem Studierenden bei einem Strafverteidiger eine gerin-
gere praktische Relevanz im Studium gelernter Streitstände auffallen, was
sodann eine Diskussion ermöglichen kann. Studierende können durch die
Arbeit mit dem Logbuch einen ersten Überblick über ihren Lernprozess und
mögliche Störfaktoren, Wissenslücken oder auch sie positiv beeinflussende
Faktoren erlangen. Nach den ersten Durchsichten können nun auch gegebe-
nenfalls kleine Änderungen an den Fragestellungen des Musterbogens vor-
genommen werden, er gewissermaßen auf die Lernsituation des Studieren-
den feinjustiert werden.
Am Ende des Praktikums oder nach Beendigung der Lernphase bietet es
sich an, das Logbuch noch einmal zur Hand zu nehmen, um den Lernpro-
zess als Ganzes überblicken und beurteilen zu können. Den Studierenden
wird durch ihre Kommentierung am linken Rand und eventuell mittlerweile
erfolgte externe Lernstandsrückmeldungen möglich, ihren Lernprozess zu
reflektieren. Sie sind dadurch in der Lage, Lernhindernisse besser zu erken-
nen und diese im weiteren Lernprozess zu meiden, aber auch individuell
lernförderliche Faktoren zu identifizieren. Beide können hier sowohl auf
der strukturellen Ebene, etwa Tageszeit oder Lernumgebung, identifiziert
werden, sie könnten aber auch die gewählten Lernmethoden oder Lernmit-
tel betreffen. Auch können sie möglicherweise den unter den Einzellernpro-
zessen für Semesterabschlussklausuren oder Praktika liegenden Gesamt-
prozess besser greifen, hinterfragen und für sich anpassen.
Schließlich soll die Reflexion des Lernprozesses im Praktikum auch An-
knüpfungspunkte für das weitere Universitätsstudium bieten. So könnte ein
Student oder eine Studentin nach einem Praktikum bei Gericht mit einem
anderen Erwartungshorizont eine Vorlesung zum Prozessrecht besuchen.
Fragen, die im Praktikum entwickelt wurden, können Motivation für das

____________________
58 Vgl. hierzu Bolton (Fn. 8), S. 162 m.w.N.; Prömse (Fn. 16), S. 5; näher zur Idee
eines »dialektischen Notizbuchs« Berthoff (Fn. 54), S. 12.

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Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens

weitere Studium, vielleicht auch für die Wahl eines Schwerpunktbereichs


sein.

D. Fazit

Aus konstruktivistischer Sicht ist Lernen ein Prozess, der eine aktive Aus-
einandersetzung des Lernenden mit dem Stoff und dem eigenen Vorwissen
erfordert. Reflexive Praxis umfasst die zielgerichtete Beobachtung der ei-
genen Handlungen und Gefühle. Eine solche Reflexion kann auch auf das
Lernen gerichtet werden. Reflexives Schreiben eignet sich hierzu als Me-
thode. Verschiedene konkrete Schreibübungen und -praktiken lassen sich
gezielt zur Reflexion von Stoff oder Lernverhalten einsetzen. Das vorge-
stellte Logbuch kann somit ein geeignetes Reflexionsmedium sein. Refle-
xives Schreiben eröffnet damit Möglichkeiten für aktives und nachhaltiges
Lernen.

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern
Barbara Lange*

A. Einleitung

»Machen Sie mit Kommilitonen eine private Arbeitsgruppe auf, in der Sie
Wissen wiederholen und Fälle lösen!«1 »Finden Sie Freunde und gründen
eine solche.«2 Arbeitsgruppen sollen allgemein zu einer positiven Einstel-
lung zum Lernen beitragen, das kritische Denken verbessern, die Ausdauer
beim Lernen im Vergleich zum Einzellerner erhöhen und zu einer Prob-
lemlösung auf höherer Stufe führen können.3 Auch die Selbststeuerung und
die Teamfähigkeit sollen gefördert werden.4 Im Jurastudium werden die
Vorteile darin gesehen, dass die Mitglieder ihre juristische mündliche Ar-
gumentationsfähigkeit trainieren, unterschiedliche Auslegungen diskutie-
ren, ihr juristisches Wissen strukturieren und eine bessere Problemlösekom-
petenz erlangen können. Jurastudierenden wird daher von allen Seiten emp-
fohlen, privat organisierte Arbeits- oder Lerngruppen zu bilden: »Nahezu
spielerisch dienen private Arbeitsgemeinschaften der Wissenskontrolle und
Wissensumsetzung am konkreten Fall.«5 Funktionieren privat organisierte

____________________
* Rechtsanwältin, Lehrbeauftragte, Prüferin für das LJPA Bayern in der Ersten und
Zweiten Juristischen Staatsprüfung.
1 Interview Prof. Dr. Hardtung, Universität Rostock, http://www.juraexa-
men.com/forum/viewtopic.php?t=2858. Der letzte Abruf aller in diesem Beitrag
genannten Internetquellen erfolgte am 1.9.2018.
2 So Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 7. Aufl.,
München 2014, Rn. 35; ähnlich Krause, Arbeitsrecht, 3. Aufl., Baden-Baden
2015, S. 25 (Vorwort); Faust, BGB Allgemeiner Teil, 6. Aufl., Baden-Baden
2018, S. 19.
3 Seel/Hanke, Erziehungswissenschaft, Lehrbuch für Bachelor-, Master- und Lehr-
amtsstudierende, Berlin und Heidelberg 2015, S. 642, zu kooperativen Lernfor-
men.
4 Schubiger, Lehren und Lernen, Bern 2013, S. 119.
5 Möllers (Fn. 2), Rn. 65. Stellvertretend für viele ähnliche Empfehlungen Mann,
Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Aufl., München 2015, Rn. 12:

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Barbara Lange

Arbeitsgruppen im Jurastudium tatsächlich einfach so »spielerisch« oder


sollen Studierende gezielt zum effektiven Lernen in selbst organisierten
Gruppen angeleitet werden? Wenn ja, wie weit soll diese Unterstützung ge-
hen?
Der Beitrag möchte zeigen, dass Lernen in einer privat organisierten Ar-
beitsgruppe ein komplexer Vorgang ist, den nur wenige Studierende von
Anfang an erfolgreich allein bewältigen können. Denn die Mitglieder einer
privat organisierten Arbeitsgruppe müssen die neun W-Fragen der Rechts-
didaktik (deren Beantwortung schon Lehrende herausfordert) »Wer soll
wozu, von wem, was, wann, mit wem, wie, womit und wo lernen?« eigen-
ständig und übereinstimmend beantworten.6 Eine bloße Aufforderung zur
Gründung von Arbeitsgruppen ist daher für die meisten Studierenden nicht
ausreichend. Da sich unterstützende Maßnahmen häufig auf die Organisa-
tion beschränken, wird hier dafür plädiert, auch die Reflexion über das ef-
fektive Arbeiten in Arbeitsgruppen zum Thema der Lehre zu machen.
Der Beitrag grenzt zunächst privat organisierte Arbeitsgruppen von an-
deren kooperativen Organisationsformen ab und geht auf mögliche Effekte
der Organisationsform ein (Teil B). Teil C benennt zentrale Erfolgsbedin-
gungen für privat organisierte Arbeitsgruppen. Teil D stellt mögliche Un-
terstützungsangebote seitens der Lehre dar und bewertet diese. Dabei zeigt
sich, dass der Fokus bereits vorhandener Unterstützungsangebote auf der
organisatorischen Unterstützung liegt. Wesentlich wichtiger als von der Fa-
kultät zur Verfügung gestellte Gruppenräume sind jedoch Veranstaltungs-
angebote, die Studierenden die mit Gruppenlernprozessen verbundenen
Herausforderungen und Aufgabenstellungen deutlich machen und zur Re-
flexion anregen. Teil E fasst die Ergebnisse zusammen und regt an, die bis-
herigen Konzepte zu überdenken und zu ergänzen.

____________________
»Nachdrücklich ist weiterhin auf den besonderen Nutzen privater Arbeitsgemein-
schaften hinzuweisen.«
6 Kostorz, Grundfragen der Rechtsdidaktik, Münster 2016, passim.

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

B. Die privat organisierte Arbeitsgruppe als Organisationsform


kooperativen Lernens

I. Abgrenzung und Differenzierung

Die hier in den Blick genommene privat organisierte Arbeitsgruppe als ein
Sozialgebilde von mindestens zwei Personen ist dadurch gekennzeichnet,
dass sie sich freiwillig ohne institutionelle Veranlassung bildet sowie die
Inhalte und Arbeitsform autonom bestimmt. Mehrere Jurastudierende be-
schließen also, bestimmte Lern- und Arbeitsprozesse künftig gemeinsam zu
gestalten.7 Es geht somit weder um Kleingruppenarbeit als alternative Un-
terrichtsform während einer Lehrveranstaltung8 noch um Kleingruppen, die
von Lehrenden anlässlich einer Lehrveranstaltung veranlasst werden, um
gemeinsam – außerhalb der Präsenzphase einer Veranstaltung – eine be-
stimmte, von Lehrenden vorgegebene Aufgabenstellung zu bearbeiten.
Häufig wird alternativ auch von privaten Arbeitsgemeinschaften gespro-
chen. Da der Begriff Arbeitsgemeinschaft jedoch auch für Lehrveranstal-
tungen (als vorlesungsbegleitende Übung) im Studium oder im Referenda-
riat verwendet wird, ist die Bezeichnung Arbeitsgruppe vorzuziehen. Pri-
vate Arbeitsgruppen werden manchmal auch Selbstlerngruppen9 oder infor-
melle studentische Lerngruppen10 genannt.
____________________
7 Bergmans, Lern- und Arbeitstechniken für das Jurastudium, Stuttgart 2013, S. 97,
verwendet die Bezeichnung »formalisierte Arbeitsgemeinschaften, in denen tat-
sächlich studiert werden soll.« Mayer/Oesterwinter, Die BGB-Klausur – eine
Schreibwerkstatt, Baden-Baden 2017, Rn. 760, verwenden den Begriff »abge-
schlossene« Gruppe.
8 Zu Partner- und Kleingruppenarbeit als Lehrmethode in der juristischen Lehre z.B.
Dyrchs, Didaktikkunde für Juristen, Bielefeld 2013, S. 102 ff.; Eickelberg, Didak-
tik für Juristen, München 2017, S. 92 f.; Kostorz (Fn. 6), S. 50 ff.; Zimmer-
mann/Aksoy, Kompetenztrainer Rechtsdidaktik, Baden-Baden 2018 (i.E.). Initi-
ierte Kleingruppen in der Fallarbeits-Arbeitsgemeinschaft beschreibt Winter,
Strukturierte Einführung problembasierten Lernens in die juristische Pflichtfach-
lehre am Beispiel der Arbeitsgemeinschaften, in: Brockmann/Dietrich/Pilniok
(Hrsg.), Methoden des Lernens in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2012, S.
137 (155). Fachbezogen zum kooperativen Lernen im Staatsorgansationsrecht s.
Frenzel, Variationen für das Staatsorganisationsrecht in der Lehre, in: Krüper/Pil-
niok (Hrsg.), Staatsorganisationsrecht lehren, Baden-Baden 2016, S. 39 (58).
9 Haft, Juristische Lernschule, Anleitung zum strukturierten Jurastudium, München
2010, S. 327.
10 Gerhard/Heidkamp/Spinner/Sommer/Sprick/Simonsmeier/Schneider, Vorlesung,
in: Schneider/Mustafic (Hrsg.), Gute Hochschullehre: Eine evidenzbasierte Orien-
tierungshilfe, Berlin 2015, S. 13 (18).

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Privat organisierte Arbeitsgruppen können nach mehreren Kriterien un-


terschieden werden, die zu einer Vielzahl von Arbeitsgruppen-Typen oder
Arbeitsgruppen-Modellen führen. Unterschieden werden kann danach, wel-
che Teilschritte der Lerntätigkeit in der Arbeitsgruppe vorgenommen wer-
den, welcher Anlass zur Gründung führt, welche Ziele konkret verfolgt wer-
den, welche Dauer der gemeinsamen Arbeit angestrebt wird, in welchen
Phasen des Studiums die Zusammenarbeit erfolgt, welche Methoden in der
Gruppe angewendet werden. Diese Kriterien stehen nicht nebeneinander,
sondern beeinflussen sich gegenseitig. Arbeitsgruppen im Grund- und
Hauptstudium nehmen in der Regel einen geringen zeitlichen Anteil des
Selbststudiums in Anspruch, während Arbeitsgruppen zur Examensvorbe-
reitung sehr zeitintensiv gestaltet werden können. Im Hinblick auf die ge-
plante Dauer des Bestehens der Gruppe gibt es Zweck-Arbeitsgruppen, die
mit der Erfüllung des Zwecks beendet sind, zum Beispiel Gruppen zur Vor-
bereitung auf bestimmte Klausuren oder zur Begleitung des Anfertigens ei-
ner Haus- oder Seminararbeit, zur Begleitung einer bestimmten Vorlesung,
zur Ersetzung einer bestimmten Vorlesung oder zur Behebung von Schwie-
rigkeiten in einem bestimmten Fach. Zum anderen gibt es dauerhaft ange-
legte Arbeitsgruppen, welche studienbegleitend Lernprozesse gestalten. Je
nach bevorzugter Tätigkeit in der Arbeitsgruppe gibt es den eher Stoff er-
lernenden oder wiederholenden Typus oder den anwendenden Typus. Ins-
besondere für den erlernden Typus wird auch der Begriff der Lerngruppe
verwendet. Der Begriff »Lerngruppe« wird von Studierenden allerdings
missverstanden, wenn damit die Vorstellung verbunden wird, dass in der
Lerngruppe der Ersterwerb von Wissen stattfinden könne. Basierend auf
diesem Missverständnis halten Studierende Lerngruppen nicht für effektiv
mit der Begründung, dass »man alleine besser lernen könne.« Hier wird
übersehen, dass Lernen im Sinne einer Wissenskonstruktion immer indivi-
duell erfolgt, nach lerntheoretischen Erkenntnissen durch die Konstruktion
mentaler Modelle (konstruktivistischer Lernbegriff).11 Diese individuelle
Bedeutungskonstruktion kann nur stattfinden, wenn Vorwissen vorhanden
ist.12 Es geht also bei einer privaten Arbeitsgruppe niemals darum, das indi-
____________________
11 Ausführlich hierzu Hanke, Realizing model-based instruction, The model of
model-based instruction, in: Ifenthaler/Pirnay-Dummer/Spector (Hrsg.), Under-
standing models for learning and instruction, New York 2008, S. 175 (175 ff.).
12 Roth, Möglichkeiten und Grenzen von Wissensvermittlung und Wissenserwerb,
in: Caspary (Hrsg.), Lernen und Gehirn, 7. Aufl., Freiburg 2010, S. 54 (57 f.).

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viduelle Lernen zu ersetzen, sondern um eine Ergänzung und Unterstützung


des Lernens.13 Eine privat organisierte Arbeitsgruppe kann erst auf der Ba-
sis eines Vorverständnisses gemeinsam Informationen verarbeiten, Wissen
vertiefen, über bereits gelerntes Wissen diskutieren und es anwenden. Eine
privat organisierte Arbeitsgruppe hat somit grundsätzlich andere Zwecke
als den Ersterwerb von Wissen. Schon deswegen sollte man den Begriff
Lerngruppe vermeiden und von Arbeitsgruppe sprechen. Lehrende müssen
bei Aussagen zu Arbeitsgruppen auf die unterschiedlichen Arten von Ar-
beitsgruppen achten und dabei jeweils den konkreten Arbeitsgruppen-Typ
deutlich machen. Sonst kann es passieren, dass Studierende zu Studienbe-
ginn irritiert sind, wenn sie hören, dass man sich dreimal in der Woche tref-
fen soll, wenn nicht dazu gesagt wird, dass dieser Rat Arbeitsgruppen zur
Examensvorbereitung als Alternative zum privaten Repetitorium betrifft.

II. Effekte kooperativen Lernens

Lernen in privaten Arbeitsgruppen ist selbstgesteuertes kooperatives Ler-


nen und damit ein Teilbereich des kooperativen oder kollaborativen Ler-
nens.14 Der Begriff kooperatives Lernen wird weder im deutschen noch im
anglo-amerikanischen Raum einheitlich verwendet, so dass bei Aussagen
zum kooperativen Lernen immer der konkrete Zusammenhang zu beachten
ist.15 Kooperatives Lernen ist nicht gleich Gruppenarbeit, sondern die Grup-
penarbeit als alternative Unterrichtsform ist die bekannteste Organisations-
form des kooperativen Lernens. Als weitere komplexe Methoden des ko-
operativen Lernens gelten Rollenspiele, Kleinprojekte in Gruppen, Brain-

____________________
13 So auch deutlich Roth, Bildung braucht Persönlichkeit, Wie Lernen gelingt, Stutt-
gart 2011, S. 299, zu Kleingruppenunterricht: »Der eigentliche Wissensfortschritt
ist hingegen gering zu veranschlagen.« Der wahre Wert liege in der hohen ge-
dächtnisstützenden Wirkung des praktischen Tuns.
14 Kooperativ und kollaborativ werden häufig synonym verwendet. Soweit unter-
schieden wird, wird unter kollaborativ das gemeinsame Erarbeiten (Fokus auf
Lernprozess) und unter kooperativ das gemeinsame Erreichen eines Lernergebnis-
ses, das auch auf der Erledigung unterschiedlicher Teilaufgaben beruhen kann,
verstanden. Die private Arbeitsgruppe im Jurastudium ist danach eher zum kolla-
borativen Lernen zu zählen.
15 S. weiterführend Lipowski, Unterricht, in: Wild/Möller (Hrsg.), Pädagogische Psy-
chologie, 2. Aufl., Berlin 2015, S. 69 (89).

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storming in Gruppen und Freiarbeit.16 Dabei kann die private Arbeitsgruppe


im Jurastudium am ehesten mit der Projektarbeit, definiert als das selbst-
ständige Bearbeiten einer komplexen Aufgabe oder eines Problems, vergli-
chen werden. Je nach Ausgestaltung der Arbeitsgruppe kann es sich dabei
um Peer-Learning oder Peer-Tutoring als Lern- und Beratungssituation
handeln, d.h. es gibt kein Autoritätsverhältnis, sondern eine symmetrische
Machtbeziehung zwischen den Mitgliedern der Arbeitsgruppe.17
Ob und unter welchen Voraussetzungen Arbeitsgruppen gute Lernergeb-
nisse erzielen, ist Gegenstand zahlreicher Studien und Meta-Analysen.18
Dabei bezieht sich ein großer Teil der Forschung auf Gruppenarbeit als al-
ternative Unterrichtsform19 und nicht explizit auf private Arbeitsgruppen.
Übereinstimmend wurde eine höhere Effektivität kooperativen Lernens im
Unterricht gegenüber Lehre ohne Kleingruppenarbeit in Bezug auf kogni-
tive fachlich-inhaltliche Lernleistungen und in Bezug auf die Selbstein-
schätzung der Lernenden festgestellt.20 Widersprechende Sichtweisen in
Gruppen können Wissensstrukturen umstrukturieren und zu einer Argu-
____________________
16 Auführlich Seel/Hanke (Fn. 3), S. 640.
17 Zum Konzept des Peer tutoring, das aus der Schreibzentrenpraxis entstammt und
auf Kenneth Bruffee zurückgeht, s. Lammers, Sprechen über Texte, Berlin 2017,
S. 82 ff.
18 Seel/Hanke (Fn. 3), S. 642, weisen darauf hin, dass sich die Forschungslage un-
einheitlich darstellt.
19 Auf die umfangreiche erziehungswissenschaftliche Literatur zu Gruppenarbeit
und Lerngruppenforschung kann hier nicht eingegangen werden; siehe grundle-
gend Meyer, Gruppenunterricht, Grundlegung und Beispiel, 9. Aufl., Baltmanns-
weiler, 1996; s.a. Hattie, Lernen sichtbar machen, Baltmannsweiler 2015, S. 250
ff. m.w.N., sowie die Studien von Johnson/Johnson/Holobec, Kooperatives Ler-
nen – Kooperative Schule, Mülheim an der Ruhr 2005, S. 85 ff.
20 Hilger/Lübbert/Pretzen/Reinartz/Theißen/Schneider, Seminar, in: Schnei-
der/Mustafic (Hrsg.), Gute Hochschullehre: Eine evidenzbasierte Orientierungs-
hilfe, Berlin 2015, S. 39 (41), unter Verweis auf Slavin, When does cooperative
learning increase student achievement?, Psychological Bulletin 1983, 429 (429
ff.); Kyndt/Raes/Lismont/Timmers/Cascallar/Dochy, A meta-analysis of the
effects of face-to-face cooperative learning, Do recent studies falsify or verify ear-
lier findings?, Educational Research Review 2013, Vol. 10, 133 (133 ff.); Huber,
Kooperatives Lernen: Theoretische und praktische Herausforderung für die päda-
gogische Psychologie, Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische
Psychologie 1987, 340 (354 ff.). Auch die auf universitäre Lehre bezogene Meta-
Studie von Schneider/Preckel, Variables associated with achievement in higher
education, A systematic review of meta-analyses, Psychological Bulletin 2017,
565 (565 ff.), bestätigt Vorteile von Kleingruppenarbeit im Unterricht.

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mentation auf höherem Niveau führen.21 Studien zeigen weiter die Verbes-
serung kritischen Denkens und die Verbesserung des intellektuellen Ni-
veaus von Fragen, was im Hinblick auf juristische Inhalte besonders wert-
voll erscheint.22 Eine umfangreiche Meta-Analyse zeigte eine verbesserte
Ausdauer bei kooperativem Lernen im Vergleich zum Einzellernen.23 Bei
Arbeitsgruppen außerhalb des Unterrichts, die sich privat zur Nachberei-
tung von Vorlesungen gebildet hatten, wurden ebenfalls positive Auswir-
kungen auf den Lernerfolg festgestellt.24 Neben kognitiven Effekten auf das
Problemlösen wurden auch Effekte auf sozial-emotionale Variablen festge-
stellt.25 Privat organisierte Arbeitsgruppen sind – der Natur der Sache nach
– kaum Gegenstand von Studien. Es besteht jedoch Einigkeit, dass die ge-
nannten positiven Effekte im Grunde auch auf private Arbeitsgruppen über-
tragbar sind, wenn bestimmte Erfolgsbedingungen beachtet werden.

C. Erfolgsbedingungen für effektives juristisches Lernen in


Arbeitsgruppen

Arbeitsgruppen als soziale Gebilde funktionieren nicht von selbst, sondern


die Zusammenarbeit muss bewusst gestaltet werden. Lernen in Gruppen er-
folgt auf dem Umweg über vielfältige Aktivitäten und kann zu vielfältigen

____________________
21 Hilger/Lübbert/Pretzen/Reinartz/Theißen/Schneider (Fn. 20), S. 42.
22 Seel/Hanke (Fn. 3), S. 642, mit Verweis auf Studien von Marbach-Ad/Sokolove,
Can undergraduate biology students learn to ask higher level questions?, Journal
of Research in Science Teaching 2000, 854 (854 ff.), u. McCreary/Golde/Koeske,
Peer instruction in the general chemistry laboratory, Assessment of student learn-
ing, Journal of Chemical Education 2006, 804 (804 ff.). Ob sich die Ergebnisse
dieser Studien aus den Naturwissenschaften tatsächlich im Bereich der Rechtswis-
senschaft bestätigen, wäre zu untersuchen.
23 Johnson/Johnson/Stanne, Cooperative Learning Methods, A Meta-Analysis,
abrufbar unter https://www.researchgate.net/profile/David_Johnson50/publica-
tion/220040324_Cooperative_learning_methods_A_meta-analy-
sis/links/00b4952b39d258145c000000/Cooperative-learning-methods-A-meta-
analysis.pdf; Springer/Stanne/Donovan, Effects of small-group learning on under-
graduates in science, mathematics, engineering and technology: A meta-analysis,
Review of Educational Research 1999, 21 (21 ff.).
24 O´donnell/Danserau, Learning from lectures, Effects of cooperative review, Jour-
nal of Experimental Education 2010, 116 (116 ff.).
25 Seel/Hanke (Fn. 3), S. 642 m.w.N.

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Lernergebnissen führen. Gruppenarbeit ist also nicht per se zwingend ef-


fektiv und nicht alle Arbeiten werden von Gruppen besser erledigt.26 Zudem
ist das Bild der zum Kaffeekränzchen mutierten Arbeitsgruppe allgegen-
wärtig.27 Erfolgreiches Lernen in privaten Arbeitsgruppen findet dann statt,
wenn kognitive und metakognitive Lernaktivitäten ausgelöst werden, durch
den gegenseitigen Austausch ein neues Verständnis gewonnen und mög-
licherweise eine Problemlösung erreicht wird.28 Konkrete Erfolgsbedingun-
gen für ein gelingendes Lernen in Arbeitsgruppen sind, dass die Mitglieder
einer Arbeitsgruppe das Lernen an sich verstehen und über gewisse Lern-
kompetenzen verfügen (I.), das juristische Lernen sowie dessen Ziele und
Anforderungen verstehen (II.), das Lernen in Gruppen verstehen und über
Kompetenzen zum Lernen in Gruppen (III.) sowie über wichtige Schlüssel-
kompetenzen wie die Fähigkeit zur Planung und Organisation sowie Sozi-
alkompetenz (IV.) verfügen.

I. Lernen verstehen

Lernen ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, zielorientierter, sozia-


ler, situativer Prozess, der zu kompetentem Handeln führen soll.29 Ohne
Kenntnisse über das Lernen an sich, also darüber, welche Bedingungen er-
füllt sein müssen, damit gut gelernt werden kann, besteht die Gefahr, dass
die gemeinsame Arbeit in einer Arbeitsgruppe nicht zu einem langfristigen
Erkenntnisgewinn der Mitglieder führt und dann als frustrierend empfunden
wird. Die evidenzbasierten Grundlagen erfolgreichen Lernens sind jedoch
nicht allen Studierenden in der Weise bewusst, dass sie diese im täglichen
Lernalltag berücksichtigen. Vielmehr erleben Studierende schon die eigene
Regulation des Lernprozesses als Herausforderung.30 Evidenzbasierte
Grundlagen erfolgreichen Lernens sind unter anderem Aufmerksamkeit,
Motivation, Verknüpfbarkeit mit Vorwissen und Strukturierung des Stof-
fes, regelmäßige Wiederholungen, die Wahrnehmung mit mehreren Sinnen,

____________________
26 Renkl, Wissenserwerb, in Wild/Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie, 2.
Aufl., Berlin 2015, S. 3 (23).
27 Auch in der Ausbildungsliteratur, so z.B. Mann (Fn. 5), Rn. 12.
28 Weiterführend Huber, Lernen in Gruppen/Kooperatives Lernen, in: Mandl/Fried-
rich (Hrsg.), Handbuch Lernstrategien, Göttingen 2006, S. 261 (261 ff.).
29 Schubiger (Fn. 4), S. 13 f.
30 So zutreffend Gerholz, Förderung von Lernkompetenz über Texte – illustriert am
Beispiel der Learning News, ZDRW 2015, 215 (215 ff.).

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

die Unterstützung durch visuelle Wahrnehmung und regelmäßige Pausen.


Studierenden ist natürlich grundsätzlich bekannt, dass Aufmerksamkeit o-
der Konzentration beim Lernen wichtig und dass Wiederholungen sinnvoll
sind. Vielen Studierenden ist jedoch nicht bewusst, welche erhebliche ne-
gative Auswirkungen mangelnde Aufmerksamkeit, das Fehlen von regel-
mäßigen Wiederholungen und von sinnvollen Pausen auf die eigenen Lern-
ergebnisse haben. Ohne die bewusste Integration der Grundlagen effektiven
Lernens in den Lernalltag werden sie auch in der privaten Arbeitsgruppe
nicht für wichtig empfunden. Eine Arbeitsgruppe mutiert automatisch zum
Kaffeekränzchen, wenn Ablenkung möglich ist oder längere Zeit ohne
Pause durchgearbeitet wurde. Ein »schlechter« Lerner wird durch die
Gruppe nicht automatisch zu einem »guten« Lerner.31

II. Juristisches Lernen verstehen

Neben den evidenzbasierten Grundlagen des Lernens müssen Studierende


die fachspezifischen Anforderungen erkennen und berücksichtigen.32 Juris-
tisches Lernen bedeutet – anders als viele Studierende zu Beginn des Stu-
diums glauben – nicht auswendig lernen, sondern vor allem Jura verste-
hen.33 Die fachspezifischen Besonderheiten des Lernens sind in der rechts-
didaktischen Literatur vielfach beschrieben worden.34 Je früher Studierende
intensiv in die juristische Methodik eingeführt werden, desto schneller kön-
nen sie auf der Basis der Methodenlehre und dem sicheren Umgang mit
____________________
31 Die Fähigkeit zur gelingenden Einzelarbeit in individueller Verantwortlichkeit ist
die Voraussetzung für die gut funktionierende Partnerarbeit, so Kremers, Wie lern-
wirksam ist das Kooperative Lernen? Lernen in kooperativen Strukturen auf dem
Prüfstand der Hattie-Studie, in: Terhart (Hrsg.), Die Hattie-Studie in der Diskus-
sion, Probleme sichtbar machen, 2. Aufl., Seelze 2014, S. 78 (80).
32 Einführend Gröpl, Staatsrecht I, mit Einführung in das juristische Lernen, 7. Aufl.,
München 2015, Rn. 1 ff.; Lammers, Lernen im Jurastudium und in der Examens-
vorbereitung, JuS 2015, 289 (289 ff.); Nonnaß, Juristische Lerntechniken, Pots-
dam 2016.
33 Brockmann/Krüper, Juristen lernen nur noch das Beispiel auswendig, abrufbar un-
ter http://www.zeit.de/studium/2015-08/juristenausbildung-jurastudium-lern-
ziele-professoren-studierende.
34 S. einführend und stellvertretend die Beiträge in Bleckmann (Hrsg.), Selbstlern-
kompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, sowie in Brockmann/Pilniok
(Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2014.

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Rechtsprinzipien verstehen, was Jura lernen und verstehen eigentlich be-


deutet.35 Der Erfolg privater Arbeitsgruppen im Jurastudium hängt daher
auch davon ab, inwieweit den Mitgliedern die besonderen Anforderungen
des juristischen Lernens bewusst sind. So muss der juristische Stoff mehr-
fach und unter verschiedenen Blickwinkeln elaboriert werden, um ein ge-
wisses Tiefenverständnis erreichen, Analogien bilden, Schlüsse ziehen und
Querverbindungen herstellen zu können.36 Juristisches Denken erfordert
auch das Trainieren der Sprachkompetenz im Sinne einer juristischen Be-
gründungskompetenz.37 Genau diese Besonderheiten des juristischen Ler-
nens können in einer privaten Arbeitsgruppe im gemeinsamen Gespräch be-
sonders gut geübt werden.

III. Lernen in Gruppen verstehen

Die privat organisierte Arbeitsgruppe ist die komplexeste Form kooperati-


ven Lernens.38 Mitglieder von privaten Arbeitsgruppen benötigen Kennt-
nisse über die Grundbedingungen erfolgreichen Lernens in Gruppen, damit
die gemeinsam verbrachte Zeit als nützlich empfunden wird. Die Gruppen-
mitglieder müssen die Erfolgsparameter kennen und beachten. Hierzu ge-
hören vor allem die Klarheit über übereinstimmende Gruppenziele und in-
dividuelle Verantwortlichkeiten.39 Somit sind der genaue Arbeitsauftrag
und das damit verbundene Ziel der Schlüssel zur erfolgreichen Gruppenar-
beit.40 Das bedeutet, die Mitglieder müssen das »Wozu wird gelernt« über-
einstimmend beantwortet haben und sich auf konkrete Aufgabenstellungen
(»Was wird gelernt?«) geeinigt haben. Greift man auf die Meta-Analysen
zur Kleingruppenarbeit im Unterricht zurück, kommen folgende Faktoren
____________________
35 Zu entsprechenden Propädeutika siehe Steffahn/Wessel, Einführungskurs in die
Rechtswissenschaft, Propädeutikum an der Bucerius Law School Hamburg und
»Krickenbecker Modell«, ZDRW 2015, 57 (57 ff.).
36 S. z.B. Möllers, Juristische Methodenlehre, München 2017, S. 356 ff., zur Arbeit
mit Rechtsprinzipien in der Fallbearbeitung.
37 S. hierzu das Werk von Lagodny, Juristisches Begründen, Argumentations- und
Prüfungstraining für ein zentrales Studienziel, Baden-Baden 2013.
38 Seel/Hanke (Fn. 3), S. 641, für die dort als Freiarbeit bezeichnete Tätigkeit von
Lernenden.
39 Hilger/Lübbert/Pretzen/Reinartz/Theißen/Schneider (Fn. 20), S. 42 m.w.N.
40 Schubiger (Fn. 4), S. 121.

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hinzu: Die sinnvolle Gruppenzusammensetzung (»Wer lernt mit wem?«),


die Qualität der Interaktion und Kommunikation, die sorgfältige Planung
der Arbeitsaufgaben und Lerntätigkeiten (»Was ist wie zu lernen?«), die
Auswahl der Materialien (»Womit ist zu lernen?«) sowie das Beobachten,
Beraten und Bewerten des Arbeitsprozesses.41 Das Beobachten, Beraten
und Bewerten des Arbeitsprozesses durch die Mitglieder der Arbeitsgruppe
selbst, nicht durch Lehrende, unterscheidet die private Arbeitsgruppe von
der Gruppenarbeit als alternative Unterrichtsform. Die genannten Er-
folgsparameter sind in der Regel Studierenden nicht ausreichend präsent.
Eine gelingende private Arbeitsgruppe erfordert daher eine erhebliche An-
strengung, damit die genannten positiven Wirkungen erreicht werden. Ne-
ben den Inhalten erleben die Mitglieder einer Gruppe durch die gemeinsame
Arbeit Selbstorganisations- und Strukturierungsprozesse, eine Tendenz zur
Konvergenz und Konformität sowie eine bestimmte Art und Weise der Ko-
operation und Kommunikation.42 Diese Prozesse bergen auch typische Ge-
fahren der Gruppenarbeit, so dass Mitglieder von Arbeitsgruppen die (me-
takognitive) Fähigkeit besitzen müssen, sich und ihre Gruppenmitglieder
zur Verbesserung der Prozesse laufend zu beobachten, und gegebenenfalls
Maßnahmen des Riskmanagements ergreifen können.

IV. Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenzen als Voraussetzung und


Ziel

Über die fachlich-inhaltlichen Ergebnisse hinaus stellt Gruppenarbeit im-


mer das gemeinsame Erfahren spezifischer Gruppenprozesse dar und be-
rührt somit den Bereich der Schlüsselkompetenzen. So ist Ziel des koope-
rativen Lernens als Unterrichtsform immer auch ein Zuwachs von Selbst-,
Methoden- und Sozialkompetenz.43 Gruppenarbeit kann dazu führen, dass
man besser weiß, wie man Probleme lösen kann oder wie man etwas plant.
Selbstorganisation und Strukturierungsprozesse führen zu einer Kompe-
tenzverbesserung der Mitglieder. Die Gruppenarbeit ist umso erfolgreicher,
je mehr Kompetenz im Bereich der Kooperation und der Kommunikation
____________________
41 Lipowski (Fn. 15), S. 90.
42 Metz-Göckel, Gruppenarbeit und ihre Gefahren, Journal Hochschuldidaktik 2013,
11 (11 ff.).
43 Seel/Hanke (Fn. 3), S. 640.

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von Anfang an vorhanden ist. Somit sind Schlüsselkompetenzen Voraus-


setzung und Ziel zugleich.44 Metakognitive und reflexive Fähigkeiten füh-
ren dazu, dass Studierende darüber nachdenken, welche Arbeitsschritte für
ein positives Lernergebnis nötig sind. Der Erfolg privater Arbeitsgruppen
hängt in hohem Maße von den Kompetenzen der Mitglieder ab.

D. Unterstützende Maßnahmen von Lehrenden und Institutionen

Die erfolgreiche Durchführung einer privaten Arbeitsgruppe ist nach erzie-


hungswissenschaftlicher und lernpsychologischer Beurteilung ein hoch-
komplexes Unterfangen. Aus rechtsdidaktischer Sicht ist daher zu fragen,
ob und in welcher Form Fördermaßnahmen oder Unterstützungsangebote
für private Arbeitsgruppen etabliert werden sollten. Unterstützende Maß-
nahmen seitens der Lehre können sich auf organisatorische Aspekte (I.), auf
die inhaltliche Tätigkeit privater Arbeitsgruppen (II.) und auf die Initiierung
von Reflexion der Studierenden über Lernen in Gruppen (III.) beziehen. Zu
diesen Punkten diskutierten die Teilnehmer der 2. Tagung zum Juristischen
Lernen am 29.4.2017 in wechselnden Kleingruppen. Die Ergebnisse sind in
die nachfolgenden Ausführungen eingeflossen.

I. Organisatorische Unterstützung durch die Lehre

Die organisatorische Unterstützung bezieht sich auf den Teilaspekt, »Wo


und mit wem?« gelernt werden soll. Die verlässliche Bereitstellung von
Lernräumen für Arbeitsgruppen erleichtert die Gründung von Arbeitsgrup-
pen erheblich.45 Eine bauliche Anbindung der Gruppenräume an die Bibli-
othek ermöglicht den direkten Zugang zu Lernmaterial.46 Ob sogar ein
Handapparat an Studien- und Kommentarliteratur (für bestimmte Rechtsge-
____________________
44 Lipowski (Fn. 15), S. 89.
45 Gerhard/Heidkamp/Spinner/Sommer/Sprick/Simonsmeier/Schneider (Fn. 10),
S. 18: »Hochschulen sollen Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, in denen
Kleingruppen von Studierenden außerhalb von Lehrveranstaltungen ohne Ablen-
kung von außen miteinander arbeiten und sprechen können.«
46 Lernräume für Gruppen können auf den Webseiten der Universitäten auch unter
den Stichworten Workbays für Gruppen, Coworking Space, Lernzentren gefunden
werden.

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

biete) für Arbeitsgruppen, der sich entweder bereits in den Räumen befindet
oder jeweils kurzfristig ausgeliehen werden kann, angesichts der Möglich-
keiten des Online-Zugriffs zur Verfügung gestellt werden sollte, kann si-
cher unterschiedlich beurteilt werden. Als Lernraum geeignet sind kleinere,
moderne Räume mit einer gewissen Ausstattung wie z.B. Whiteboard, Flip-
chart, Smartboard oder Pinnwand.47 Eine wesentliche Erleichterung der
Planung wird durch die Möglichkeit einer verlässlichen Raumreservierung
durch die Arbeitsgruppen geboten.48
Zum Aspekt »Wer mit wem?« wurde das Angebot virtueller Plattformen
zur Suche von geeigneten Lernpartnern diskutiert. Solche Angebote sind
vereinzelt vorhanden, entweder zentral und fachübergreifend wie in Biele-
feld49 oder fakultätsbezogen wie z.B. das Forum Privat-AG Gründung an
der Juristischen Fakultät Münster.50 Die Universität Freiburg betreibt eine
ständige Lerngruppenbörse sowie eine besondere Lerngruppenbörse im
Rahmen des jährlichen Ex-o-Rep-Workshops.51 An der Universität zu Köln
(Recht Aktiv) können Studierende onlinebasiert über ILIAS Arbeitsgrup-
penmitglieder finden, indem sie an einer nach lernpsychologischen Aspek-
ten konzipierten Umfrage teilnehmen, so dass andere registrierte Studie-
rende Kommilitonen kontaktieren können, die ähnliche oder dieselben Vor-
stellungen von ihrer Arbeitsgemeinschaft haben.52 Eine Initiative von ge-
genwärtigen und ehemaligen Jurastudierenden der Freien Universität und
der Humboldt Universität Berlin hat universitätsübergreifend das Projekt
JUREXIT (Juristisches Examen im Team Berlin-Brandenburg) initiiert,
ebenfalls mit einer digitalen Lerngruppenbörse.53

____________________
47 Dazu Frank/Fröhlich/Striewisch, Es ist wie im Wohnzimmer, aber trotzdem Uni,
Lernräume für eine Kultur der Kommunikation und Kooperation gestalten, in: Eg-
ger/Karber/Wustmann (Hrsg.), Forschungsgeleitete Lehre in einem Massenstu-
dium, Bedingungen und Möglichkeiten in den Erziehungs- und Bildungswissen-
schaften, Wiesbaden 2014, S. 127 (127 ff.).
48 Eine Online-Raumreservierung ist z.B. an der Juristischen Fakultät Tübingen un-
ter https://www.jura.uni-tuebingen.de/studium/besserlernen möglich.
49 Die MitLernZentrale der Universität Bielefeld (Projekt: Richtig einsteigen),
http://uni-bielefeld.de/zll/abteilungen/peerlearning/studierende/lernpartnerbo-
erse.html.
50 Unter www.unirep-online.de.
51 S. https://portal.uni-freiburg.de/jura/ex_o_rep/lerngruppen.
52 http://www.rechtaktiv.jura.uni-koeln.de/14670.html.
53 Zu finden unter https://jurexit.de/digitale-lerngruppenboerse/.

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Zu organisatorischen Aspekten privater Arbeitsgruppen (Wer, wo, wann,


wie oft) sind ausführliche Darstellungen in der Ausbildungsliteratur vor-
handen, so dass Hinweise auf diese ausreichen würden.54 So stellt die Uni-
versität zu Köln für die Detailplanung von Arbeitsgemeinschaften und für
das persönlichere Kennenlernen einen anonymen Frageblock und einfüh-
rende Literaturhinweise zur konkreten Gestaltung der Arbeitsgruppe Ver-
fügung.
Studienanfängern fehlt häufig der Mut zur Gründung einer Arbeits-
gruppe. 55 Nach den Ergebnissen des Studierendensurvey beklagen Jurastu-
dierende fehlende Möglichkeiten zur Zusammenarbeit oder Diskussion und
empfinden sehr häufig Konkurrenz oder große Anonymität.56 Auf der an-
deren Seite bewerten Studierende ihre Sozialkompetenz jedoch mit gut und
halten sich für kooperationsbereit. Wenn man bedenkt, dass die intrinsische
Motivation Studierender von Selbstbestimmung, persönlicher Bedeutsam-
keit, Kompetenzerleben und sozialer Einbindung abhängt,57 kann der insti-
tutionelle Anstoß privater Arbeitsgruppen einen erheblichen Motivations-

____________________
54 Zur Einführung für Studierende knappe Ausführungen bei Bergmans (Fn. 7), S. 96
ff.; Lange, Mit der privaten Arbeitsgemeinschaft zum Erfolg, Der Wirtschaftsfüh-
rer 2.2012, 2 (2 ff.). Zur Arbeitsgruppe zur Vorbereitung auf eine Klausur Ma-
yer/Oesterwinter (Fn. 7), Rn. 758 ff. Ausführliche Anleitungen zu Arbeitsgruppen
im Jurastudium ter Haar/Lutz/Wiedenfels, Prädikatsexamen, Der selbständige
Weg zum erfolgreichen Examen, 4. Aufl., Baden-Baden 2016, S. 53 ff.; Lange,
Jurastudium erfolgreich, 8. Aufl., München 2015, S. 307 ff.; Deppner/Feihle/Leh-
nert/Röhner/Wappler, Examen ohne Repetitor, 4. Aufl., Baden-Baden 2017, S. 27
ff. u. 47 ff. Einzelbeiträge befassen sich vor allem mit der Arbeitsgruppe zur Exa-
mensvorbereitung wie Klose/Küster/Radde, Mit der Arbeitsgruppe zum Prädikat,
ZJS 2016, 270 (270 ff.). Mehrere Lehrvideos der FU Berlin sowie Trainingsauf-
gaben zum Lernen in Arbeitsgruppen unter http://www.fu-berlin.de/sites/studien-
beratung/e-learning/lernmodule/studienverlauf/index.html (Lernen in Arbeits-
gruppen, Gruppen richtig organisieren, Online Zusammenarbeit für Gruppen,
Kommunikationsregeln für die Gruppenarbeit).
55 Zutreffend bemerkt auch Mann (Fn. 5), Rn. 12, dass viele Studierende den Nutzen
privater Arbeitsgruppen erst in der Examensvorbereitungsphase erkennen.
56 S. Multrus/Majer/Bargel/Schmidt, Studiensituation und studentische Orientierun-
gen. 13. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen, Langfassung,
Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn 2017, abrufbar unter
https://www.bmbf.de/pub/Studierendensurvey_Ausgabe_13_Hauptbericht.pdf.,
S. 44 u 46. Die diesbezüglichen Ergebnisse sind seit Jahren unverändert.
57 Bleckmann, Grundlagen und Themen einer kritischen Rechtsdidaktik, Kritische
Justiz 2016, 305 (315) m.w.N.

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

schub bewirken und die Einstellung zum Studium insgesamt verändern.58


Eine gewisse organisatorische Unterstützung seitens der Lehre führt zur
Wertschätzung von privaten Arbeitsgruppen als Lern- und Arbeitsform und
zur Integration in den Studienalltag. Dies kann soweit gehen, dass im »Stun-
denplan« nicht nur Freiräume für das Selbststudium entstehen, sondern die
Freiräume mit Selbststudium/private Arbeitsgruppen bezeichnet werden.
Zumindest im »Stundenplan« der Examensvorbereitungsphase sollten auch
private Arbeitsgruppen als Alternative zum Selbststudium genannt werden.

II. Inhaltliche Unterstützung durch die Lehre

Hierbei geht es um den Aspekt »Was soll womit in der Arbeitsgruppe ge-
lernt werden«. Zunächst ist hilfreich, dass Studierende erkennen, dass es
ganz unterschiedliche Arbeitsgruppen-Typen gibt, und Studierende sich die
Notwendigkeit der konkreten Zielsetzung für die eigene private Arbeits-
gruppe bewusst machen. Ob exemplarisch Lernpläne mit konkreten Lerni-
nhalten zur Verfügung gestellt werden sollen, kann kontrovers diskutiert
werden. Ein gewichtiges Gegenargument ist, dass es zum Sinn und Zweck
einer privat organisierten Arbeitsgruppe gehört, sich selbst zu organisieren
und die entsprechenden Arbeitspläne selbst zu erstellen. Lernergebnisse

____________________
58 Bleckmann (Fn. 57), S. 315. Verpflichtende private Arbeitsgruppen zum Aus-
gleich für mögliche Unsicherheiten seitens Studierender aus bildungsfernen
Schichten schlagen vor Feltes/Ruch, Bildungsreserven nutzen, Plädoyer für die
aktive Förderung von Studierenden aus hochschulfernen Milieus am Beispiel der
Juristenausbildung, in: Hilgendorf/Rengier (Hrsg.), FS Heinz, Baden-Baden 2012,
S. 909 (919); auch Zumbach/Astleitner, Effektives Lehren an der Hochschule,
Stuttgart 2016, S. 74, weisen unter Berufung auf entsprechende Studien darauf
hin, dass Studierende, die in erster Generation an einer Hochschule sind, von einer
Kultur der Zusammenarbeit und Vernetztheit besonders profitieren; Rzadkowski,
Recht wissenschaftlich, Baden-Baden 2018, S. 350 f., schildert im empirischen
Teil die Bedeutung der Lerngruppe für eine mit B10 bezeichnete Studierende: »Sie
entschließt sich, »mitzuziehen« und macht während des gemeinsamen Lernens die
Erfahrung, dass ihr das interaktive Lernen besonders liegt. Die Veränderung be-
steht also darin, dass die Distanz zum Studium sich in ein zunehmendes Engage-
ment wandelt. Dabei spielt die Lerngruppe als Erfahrungsraum eine besondere
Rolle – sie fordert B10 durch den sozialen Druck, den sie wahrnimmt, heraus,
gleichzeitig findet sie im gemeinsamen Lernen einen Rahmen, der ihr »extrem
viel« hilft.«

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erhöhen sich schon dadurch, dass die zu besprechenden Fälle selbst heraus-
gesucht werden. Dazu kommt, dass sowohl genaue Anleitungen zur Erstel-
lung von Lernplänen59 als auch zahlreiche Muster-Lernpläne in der Litera-
tur60 und im Internet61 vorhanden sind. Diese Pläne können als Orientie-
rungshilfe dienen und müssen dann auf die individuellen Bedürfnisse zuge-
schnitten werden. Es ist daher nicht erforderlich, inhaltliche Lernpläne zur
Verfügung zu stellen, sondern es reicht aus, wenn seitens der Lehre auf sol-
che schon vorhandene Beispiele, Muster und Vorlagen hingewiesen wird.
Eine inhaltliche Unterstützung könnte auch das Angebot von geeigneten
und lehrreichen Fällen (Fallpools) darstellen, wobei dies von schlichten
Fundstellenhinweisen bis zur Verfügungstellung von Musterlösungen ge-
hen kann. Soweit hier seitens der Lehre ein Angebot für private Arbeits-
gruppen erwogen wird, würde es jedoch ausreichen, Hinweise und Links
auf aufbereitete Entscheidungsrezensionen der Ausbildungszeitschriften,
auf das JuS-Tutorium und die in der JuS erschienenen Übungsklausuren zu
geben62 sowie gegebenenfalls eine Liste mit geeigneten Fallösungsbüchern
für Anfänger, Fortgeschrittene und Examenskandidaten einzustellen.63 Es
erscheint daher nicht nötig, dass jede Fakultät besondere Fallpools für pri-
vate Arbeitsgruppe vorhält.

____________________
59 Eine Anleitung für Arbeitsgruppen zur Examensvorbereitung in 10 Schritten bietet
die Universität Freiburg unter https://portal.uni-freiburg.de/jura/ex_o_rep/down-
load/praesentation-ex-o-rep-workshop. Siehe auch das System Juralernplan unter
www.juralernplan.de.
60 Deppner/Feihle/Lehnert/Röhner/Wappler (Fn. 54), S. 195 ff. (6 Lernpläne); ter
Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 54), S. 175 ff. (Muster-AG-Plan für das Erste Staats-
examen).
61 So die fünf Beispiel-Lernpläne unter https://portal.uni-freiburg.de/jura/ex_o_rep/l
erngruppen, der Vorschlag einer Planung zur Vorbereitung auf das Erste Juristi-
sche Staatsexamen in Hamburg unter https://www.jura.uni-hamburg.de/me-
dia/studium/hex/lernplan-exorep.pdf; Musterlernpläne zur Vorbereitung an der
HU Berlin unter https://jurexit.de/vorbereitung-des-reps/lernplaene/; der Vor-
schlag eines Lernplans für eine private Arbeitsgruppe zur Vorbereitung auf das
bayerische Examen unter http://www.michaelforster.net/ag_plan.html.
62 Z.B. auf das Material von www.unirep-online.de der Universität Münster.
63 Lange, Jurastudium erfolgreich (Fn. 54), enthält eine Auflistung von Fallsamm-
lungen nach Rechtsgebieten und Studienphasen getrennt auf S. 296 ff. sowie eine
Literaturliste zur Methode der Fallbearbeitung in den einzelnen Rechtsgebieten
auf S. 304 ff.; besonders geeignet auch das Werk von Preis/Prütting/Sachs/Wei-
gend, Die Examensklausur, 6. Aufl., München 2017.

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

Für die Lerntätigkeiten in der privaten Arbeitsgruppe sind vielmehr an-


dere Formen der Unterstützung denkbar, so z.B. Anregungen zum Üben der
Argumentation, indem geeignete Auszüge aus Rechtsprechung oder Litera-
tur eingestellt werden oder auf diese hingewiesen wird. Lehrende können
besondere Übungsaufgaben für Teams anbieten64 oder Anregungen für die
Nacharbeit und Hausaufgaben in Teams geben.65
Eine interessante Möglichkeit der inhaltlichen Unterstützung ist auch die
Kennzeichnung von für Arbeitsgruppen besonders geeignete Übungsaufga-
ben in Lehrbüchern.66
Es sind über die organisatorischen Informationsplattformen hinaus auch
fakultätseigene Diskussionsplattformen denkbar, die auch den einfachen
Dokumentenaustausch ermöglichen und für Arbeitsgruppen nutzbare Tools
bereitstellen.

III. Die Reflexion über das Lernen, das Juristische Lernen und über das
Juristische Lernen in Gruppen fördern

In Bezug auf private Arbeitsgruppen gilt es, »Fehlentwicklungen frühzeitig


zu vermeiden«, so der Rat in einem juristischen Lehrbuch.67 Es fehlen je-
doch Impulse, Studierende zur Reflexion über das Lernen, das Juristische
Lernen und das Lernen in der Gruppe anzuregen, denn der Erfolg einer Ar-
beitsgruppe hängt wesentlich von der Fähigkeit ab, über die Gruppenarbeit
reflektieren zu können und daran zu arbeiten, wie Fehlentwicklungen been-
det oder Verbesserungen erreicht werden können.68 Studierende müssen
____________________
64 Lehrende können dabei auf ausführliche Literatur zur sinnvollen Gestaltung einer
privaten Arbeitsgemeinschaft hinweisen, s. dazu Fn. 54.
65 Hierbei geht es nicht nur um inhaltliche Impulse, sondern um Anregungen zu einer
Kompetenzförderung, s. dazu die Werke von Zwickel/Lohse/Schmid, Kompetenz-
training Jura, Leitfaden für eine juristische Kompetenz- und Fehlerlehre, Ber-
lin/Boston 2014, u. Hildebrand, Juristischer Gutachtenstil, Tübingen 2014.
66 So bei Zwickel/Lohse/Schmid (Fn. 65), S. 182.
67 Mann (Fn. 5), Rn. 12.
68 Zur Bedeutung reflexiver Prozesse nach Lernhandlungen und zu entsprechenden
Trainingsprogrammen s. Landmann/Schmitz, Selbstregulation erfolgreich fördern,
Praxisnahe Trainingsprogramme für effektives Lernen, 1. Aufl., Stuttgart 2007;
Roth/Bellhäuser/Schmitz, Selbstreguliertes Lernen im Jurastudium – eine Schlüs-
selkompetenz, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium,
Stuttgart 2015, S. 100 (100 ff.).

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Barbara Lange

darüber nachdenken, welche Tätigkeiten hilfreich sind und wie der Arbeits-
prozess gestaltet und modifiziert werden muss.69 Erforderlich ist eine stän-
dige Reflexion über das »Wie wird wozu in unserer Arbeitsgruppe ge-
lernt?«. Eigenständige Veranstaltungen mit dem Fokus auf den Themen
Lernen, Juristisches Lernen, Lernen in Gruppen oder der Einbezug dieser
Themen in die Fachveranstaltung gibt es nur an manchen Fakultäten. Eher
ist das Thema Lernen Gegenstand kurzer Ratschläge zum richtigen Studie-
ren im Rahmen der Vorlesung oder der Anfängerarbeitsgemeinschaften.70
Solche – aus Sicht der Studierenden in plötzlichem Wechsel zur Inhaltsver-
mittlung stehenden – der Auflockerung dienende väterliche oder mütterli-
che Ratschläge haben jedoch den Nachteil, dass sie wenig verinnerlicht
werden, weil die Studierenden in diesem Moment entweder Rat gar nicht
erwarten oder nicht zu brauchen meinen. Daneben erfolgen Ratschläge zum
Lernen häufig geballt in verblockten Orientierungsphasen, die sich hierfür
ebenfalls nur bedingt eignen.71 Einen deutlich höheren Wirkungsgrad haben
Veranstaltungen, die Studierenden die Erfolgsfaktoren für effektives Grup-
penlernen praxisnah vermitteln und auch selbst erfahren lassen. Allerdings
werden diese Effekte vor allem dann erzielt, wenn solche Veranstaltungen
von Juralehrenden geleitet und mit konkreten fachlichen Inhalten verbun-
den werden.72 Erst die Kenntnis und das Verstehen der Erfolgsfaktoren von
____________________
69 Lipowsky (Fn. 15), S. 89.
70 Seiwerth, Aktivierung und lernförderliche Lehre in der Falllösungs-Arbeitsge-
meinschaft, ZDRW 2017, 196 (204), erzählt zu Beginn jeder Stunde »kurz etwas
allgemein über effizientes Studieren, […] über den Zweck von häuslicher Arbeit,
über verschiedene Lernstrategien […], über die Möglichkeit, statt Papier-Kartei-
karten digitale Karten (z.B. bei www.repetico.de) zu erstellen, die sich auf jedem
Endgerät wiederholen lassen, über geeignete Lehrbücher, den Sinn und Unsinn
inhaltlich vorgefertigter Karteikarten, eine geeignete Ausbildungszeitschrift oder
die Arbeit am Sachverhalt mit Skizzen und Zeitstrahlen.« Auf diese Weise werden
in seinem Unterricht sicher mehr Anregungen gegeben als üblich, allerdings be-
dürfen diese »Erzählungen« dann der Umsetzung und Reflexion durch die Studie-
renden.
71 Hierzu Lange, Stärkung der Studierkompetenz in der Studieneingangsphase –
Werkstattbericht über das Kompetenztraining für Studierende und den Fachdidak-
tik-Workshop Gut lehren und lernen für AG-Leiter, in: Brockmann/Pilniok
(Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2014,
S. 376 (381).
72 Zu entsprechenden Veranstaltungen s. ausführlich die Beiträge in Bleckmann (Fn.
34); s.a. Jäger/Speierer, Individuelle Förderung in Regensburg durch REGINA –
Zielgerichtetes und selbstorganisiertes Lernen in der Studieneingangsphase durch

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

Gruppenarbeit und das Erfahren von Gruppenarbeit konkret mit juristischen


Inhalten ermöglicht Reflexion der Studierenden.73 Additive Angebote wer-
den jedoch nur von Studierenden wahrgenommen, die einen Bedarf für sich
erkennen. Durch die Integration von Kleingruppenarbeit in die Lehrveran-
staltung, durch das gemeinsame Erstellen von Falllösungen für die Veran-
staltung, begleitet durch Zusatzinformationen zur Gestaltung von Gruppen-
lernprozessen an sich, verbunden mit Reflexionsmöglichkeiten, könnte die
Grundlage für erfolgreiche Arbeitsgruppen schon im Grundstudium ohne
additive Angebote gelegt werden.74 Im Rahmen der Kleingruppenarbeit in
der Anfänger-Arbeitsgemeinschaft könnten auch Reflexionsfragen, grup-
penspezifische Arbeits- und Kommunikationstechniken und Techniken ei-
ner Fehlerkultur besprochen werden. Eine bewährte Methode ist es, Studie-
rende mehrmals in Kleingruppen juristische Inhalte bearbeiten zu lassen,
damit die Kleingruppenarbeit erlebt wird. Daran anknüpfend kann die pri-
vate Arbeitsgruppe selbst zum Thema von Kleingruppenarbeit werden unter
der Fragestellung: Wie können private Arbeitsgruppen, insbesondere zum
Falltraining, erfolgreich durchgeführt werden? Zur Beantwortung können
die Studierenden in Kleingruppen jeweils eines der folgenden fünf Themen
bearbeiten: Vorteile von privaten Arbeitsgemeinschaften, Vorüberlegungen
und Vereinbarungen bei der Gründung – Der »AG-Vertrag« als vorbeugen-
des Riskmanagement, der AG-Plan und die Vorbereitung von Einzelsitzun-
gen, die sinnvolle Gestaltung einer Einzelsitzung, Risikomanagement oder
»Was tun, wenn es schief geht?« Im Anschluss werden die in der Klein-
gruppe erzielten Ergebnisse präsentiert und diskutiert. Eine solche zusätz-

____________________
»Wahrnehmen-Austauschen-Üben«, in: Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studienein-
gangsphase in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2014, S. 408 (408 ff.), u.
Lohse/Zwickel, Juristisches Kompetenztraining in der Studieneingangsphase – ein
Werkstattbericht, in: Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der
Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2014, S. 431 (431 ff.); Lange (Fn. 71), S. 394
ff., stellt ein halbtägiges Modul »Erfolgreiche private Arbeitsgemeinschaften« im
Rahmen eines mehrtägigen Kompetenztrainings vor.
73 Solche Blockveranstaltungen müssen nach Frenzel, Medienkritik zu Bleckmann
(Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, ZDRW 2017, 57
(59), aber freiwillig bleiben, da die spätere Tätigkeit eine metakognitive Haltung
und reflexive Fähigkeiten voraussetze und Studierende nicht zum Jagen getragen
werden sollten.
74 Dies setzt allerdings die Bereitschaft und Lehrkompetenz der Lehrenden zur In-
tegration von gelingender Kleingruppenarbeit als Unterrichtsform voraus.

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Barbara Lange

liche Lehreinheit erfordert ca. 90 Minuten.75 Die Gestaltung einer solchen


Einheit setzt voraus, dass Lehrende ein entsprechendes Bewusstsein entwi-
ckeln und ihrerseits entsprechende Fortbildung und Unterstützung erfah-
ren.76 Darüber hinaus ist auch eine individuelle Begleitung oder ein
Coaching von privaten Arbeitsgruppen durch Juralehrende denkbar. Dies
könnte an die Fachstudienberatung der Fakultäten angegliedert werden und
eine dort eventuell vorhandene Lernberatung ergänzen.77 Hier müsste ge-
testet werden, ob diesbezüglich Akzeptanzprobleme auftreten. Soweit An-
gebote in studentische Hände (und/oder Fachschaft) gelegt werden sollen,
sind diese Multiplikatoren mit Train-the-trainer-Workshops ausreichend zu
schulen und zu begleiten, damit sich die vermittelten Inhalte nicht auf die
eigene Erfahrung der studentischen Tutoren beschränken und das Angebot
von gewisser Dauer ist. Nicht alle erfolgreichen Studierende sind zugleich
erfolgreiche Begleiter von Gruppenlernprozessen. Soweit Veranstaltungen
in dieser Richtung fehlen, kann es ein erster Schritt sein, »Lerngruppenan-
leitungen«78 online zu stellen. Doch auch hier würde sich eher der Hinweis
auf ausführliche Literatur zur Gestaltung von Arbeitsgemeinschaften im Ju-
rastudium anbieten, als rezeptartig oder checklistenartig Tipps zu verbrei-
____________________
75 Ausführlich Lange (Fn. 71), S. 394 ff.
76 Vorbildhaft bietet das Zentrum für Lehren und Lernen (ZLL) der Universität
Bielefeld Lehrenden zum Peer Learning in Lehrveranstaltungen Unterstützung an:
»Sie fragen sich, wie Sie die Potenziale des gemeinsamen Lernens von Studieren-
den vielfältig in Ihrer Lehre nutzen können? Wir unterstützen Sie gerne dabei! Sie
möchten Ihre Studierenden im Rahmen der Veranstaltung selbst oder im virtuellen
Lernraum zum Lernen von- und miteinander anregen? Wir teilen gerne mit Ihnen
unser didaktisches und methodisches Wissen, das wir im Rahmen unserer eigenen
Veranstaltungen und im Austausch mit anderen Lehrenden gewonnen haben.
Auch bei Bedingungen wie einer großen Teilnehmerzahl ist ein produktiver Aus-
tausch von Studierenden möglich, damit diese noch mehr aus Ihrer Veranstaltung
für sich mitnehmen.«, s. http://uni-bielefeld.de/zll/abteilungen/peerlearning/leh-
rende/pl_in_lehrveranstaltungen.html.
77 Strasser-Gackenheimer, Selbstlernkompetenzen fördern in der Lernberatung – ein
Impuls aus der Beratungspraxis eines »Massenstudiengangs«, in: Bleckmann
(Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 221 (221 ff.).
Die Universität Potsdam organisiert lernmethodische Schulungen zur Organisa-
tion von Lerngruppen, dazu Schladebach/Grauert, Die Erstsemester-Begrüßungs-
woche als rechtsdidaktischer Resonanzraum, ZDRW 2017, 273 (278).
78 S. z.B. den Lerngruppenleitfaden der Juristischen Fakultät Tübingen unter
https://www.jura.uni-tuebingen.de/studium/besserlernen/lerngruppen/lerngruppe
nleitfaden.

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Juristisches Lernen in privaten Arbeitsgruppen fördern

ten, die ohne das erforderliche Verständnis nicht umgesetzt werden kön-
nen.79 Zur Rückkoppelung ist die Etablierung von Feedback-Systemen hilf-
reich, um die Erfahrungen der Studierenden auszuwerten.

E. Ergebnisse

Gruppenlernprozesse sind komplexer als Selbstlernprozesse. Erfolgreiche


private Arbeitsgruppen erfordern ein gewisses Know-How. Die bloße An-
regung von Lehrenden, man möge doch Arbeitsgruppen bilden, da das ef-
fektiv sei,80 erweckt den Trugschluss, dies sei einfach und führe zwingend
zum Erfolg. Studierende sollten wissen, dass es unterschiedliche Modelle
von privaten Arbeitsgruppen im Jurastudium gibt. Bei Aussagen über pri-
vate Arbeitsgruppe ist vorab klarzustellen, über welchen Arbeitsgruppen-
Typ gesprochen wird. Der Erfolg einer privaten Arbeitsgruppe hängt vom
Zusammenwirken sich wechselseitig beeinflussender Faktoren ab. Je mehr
Kenntnisse und Kompetenzen die Mitglieder einer privaten Arbeitsgruppe
in Bezug auf diese Faktoren haben, desto erfolgreicher ist die Gruppe. Maß-
nahmen zur Förderung können von Informationsplattformen über Diskussi-
onsplattformen zum Angebot konkreter Trainingsveranstaltungen reichen.
Soweit von Lehrenden und Institutionen bisher Unterstützung für private
Arbeitsgruppen angeboten wird, bezieht sich diese vor allem auf organisa-
torische Maßnahmen. Lehrende und Fakultäten können jedoch die Selbst-
und Gruppenlernkompetenz der Studierenden bewusst fördern und ihnen
die Zusammenhänge bewusst machen. Kompetenztrainings, welche die Be-
dingungen für erfolgreiche Arbeitsgruppen mit juristischen Inhalten erfahr-
bar machen, nehmen vielen Studierenden die Scheu vor der Gründung einer
Arbeitsgruppe. Rechtsdidaktisch besteht Bedarf für empirische Untersu-
chungen über die Effektivität solcher Maßnahmen und den konkreten Ein-
fluss auf Lernergebnisse.
Die Fähigkeit, in Teams zu arbeiten, ist in einer immer komplexeren (ver-
netzten) Welt unabdingbar – die bewusste Förderung dieser Fähigkeit ist
Ausdruck professioneller Lehre an einer Fakultät und schadet dem wissen-
schaftlichen Anspruch an ein Universitätsstudium nicht. Studierende wer-
den nicht zum Jagen getragen, wenn man denjenigen Studierenden, denen

____________________
79 Literaturnachweise s. Fn. 54.
80 So Faust (Fn. 2), S. 19: »Eine private Lerngruppe von drei bis vier Leuten ist eine
der effektivsten Arten zu lernen, die es gibt.«

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Barbara Lange

der Mut fehlt, den Einstieg in private Arbeitsgruppen erleichtert. Die Inten-
sität der konkreten Förderung und Unterstützung ist im Dialog mit allen
Beteiligten eines Fachbereichs zu diskutieren und transparent zu machen

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Motivation im Jurastudium
Die demotivierende Wirkung von Studienbedingungen und Fachkultur und
was wir tun können, um die Identifikation mit dem Fach zu erhöhen

Frank Bleckmann*

A. Einführung

Das Verhalten der Menschen lässt sich aus einer konstruktivistischen Per-
spektive als ein Prozess der Abarbeitung intern erzeugter Handlungsanlässe
beschreiben. Dieser Prozess vollzieht sich entsprechend selbstgebildeter
Strukturen in Auseinandersetzung mit den Irritationen der natürlichen und
sozialen Umwelt. Die Steuerung dieses Prozesses lässt sich – so Kahneman
– analytisch differenzieren in ein schnelles, emotionales und weitgehend
unbewusstes, und ein langsames, bewusstes und sich gedanklich vollzie-
hendes Regulationssystem.1 Diese Differenzierung ist lediglich analytisch,
weil außer in Grenzbereichen ein einheitlicher Prozess mit einer unter-
schiedlich starken Inanspruchnahme beider Regulationssysteme abläuft.2
Lernen ist dann die Veränderung dieser Regulationssysteme. Das kann so-
wohl die Weltkonstruktion und -wahrnehmung (Handlungsanlass?) wie
auch die Verhaltenspragmatik (Wie abarbeiten?) betreffen.
Die Konsequenz eines konstruktivischen Verständnisses des Lernprozes-
ses als Selbstsubstitution psychischer Strukturen führt zum einen zu einer
____________________
* Dr. jur., M.Phil. (Cantab); Richter am Landgericht Freiburg i. Br. und Leiter einer
Referendar-AG im Zivilrecht; 2010–2014 Abordnung als Dozent an den Fachbe-
reich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz; 2013 Zertifikat für Hoch-
schuldidaktik; 2012 Fellow für Innovationen in der Hochschullehre.
1 S. Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 24. Aufl., München 2012,
S. 32 ff.
2 Der Hirnforscher Roth sieht noch eine dritte Instanz am Werk, nämlich das Vor-
bewusste, das als Aufmerksamkeitsfilter des Bewusstseins wirke, potentielle Be-
wusstseinsinhalte mitführe und frühere Entscheidungen und Erfahrungen bereit-
halte, so dass auch ein intuitives Entscheiden möglich werde, s. Roth, Persönlich-
keit, Entscheidung und Verhalten, Warum es so schwierig ist, sich und andere zu
ändern, Stuttgart 2007, S. 195 ff. Allerdings unterscheidet er beim Lernen dann
insoweit nur zwischen kognitiv-intellektuellem Lernen und emotionalem Lernen,
s. Roth (Fn. 2), S. 222 ff.

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Frank Bleckmann

Entzauberung der Lehre, die feststellen muss, wie tief die Schlucht zwi-
schen intendierten Lernzielen und realen Lerneffekten ist (Stichwort: Lehr-
/Lern-Kurzschluss). Eine echte Lernbegleitung funktioniert nur mit der Be-
reitschaft, den Studierenden offen zu begegnen, ihren Fragen zu folgen und
ständig ehrliche und konstruktive Rückmeldungen zu geben.
Ein konstruktivistisches Verständnis führt zum anderen zu einem neuen
Interesse an den Bedingungen der Möglichkeit erfolreichen Lernens jen-
seits einer bloßen Darstellung der Sache, das sich am Lernprozess der Stu-
dierenden orientiert (Stichwort: Lernerzentrierung, Unterstützung selbstre-
gulierten Lernens).
Die Erkenntnisse der Kognitionspsychologie und Verhaltensökonomie
über die Rolle unterschiedlicher Regulationssysteme für das menschliche
Verhalten machen deutlich, dass es neben der Sache selbst und ihrer An-
wendung zur Problemlösung, dem Gegenstand kognitiv-intellektuellen Ler-
nens, auch um eine Adressierung und Reflexion der emotionalen Anteile im
Lernprozess gehen muss.3 Sonst bleibt das Wissen blass und die Praxis un-
verstanden. Das hat bereits vor 200 Jahren Pestalozzi (1746 – 1827) unüber-
troffen auf den Punkt gebracht mit seiner Forderung nach einer ganzheitli-
chen Bildung »mit Kopf, Herz und Hand.«
Wie die Lernziele auf der Sachebene grundsätzlich auf eine Integration
von Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen/Haltungen4 abzielen sollten, so
sind auf der Reflexionsebene neben metakognitiven Strategien auch das
emotionale Erleben und die Möglichkeiten emotionaler Regulation zu the-
matisieren. Kulow hat dazu vor etwa 15 Jahren ein Büchlein für Studierende
verfasst: »Jura … mit Gefühl«.5 Heute wird das Thema in Veranstaltungen

____________________
3 S. z.B. für die Medizin Shapiro, The feeling physician: educating the emotions in
medical training, EJPCH 2013, 310 (310 ff.), oder für die Geowissenschaften van
der Hoeven Kraft/Srogi/Husman/Semken/Fuhrman, Engaging Students to Learn
Through the Affective Domain: A new Framework for Teaching in the Geosci-
ences, Journal of Geoscience Education 2011, 71 (71 ff.).
4 Für Lernziele in der Medizin s. z.B. International Training And Education Center
for Health, Writing Good Learning Objectives, 2010, abrufbar unter https://care-
acttarget.org/sites/default/files/file-upload/resources/TIG%204%20Learning%20
Objectives%202010.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), insb. S. 5: »The affective
domain is important to address when training health care providers, as the provid-
ers’ values, emotions, attitudes, and beliefs can have a great impact on the type of
care provided.«
5 Kulow, Jura … mit Gefühl! Motiviert und ohne Stress lernen, Stuttgart 2004.

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Motivation im Jurastudium

zu einer reflexiven Praxis für (angehende) Juristen aufgegriffen6 oder all-


gemein in Kursen zur Lernkompetenz.7 Aber das sind – zumal im juristi-
schen Studium – echte Exoten. In der deutschsprachigen rechtsdidaktischen
Literatur spielt die gesamte emotionale Seite des Lernprozesses bisher
kaum eine Rolle.8
Ich möchte mich im Folgenden nur auf einen – wenn auch für den Lern-
prozess zentral wichtigen – Aspekt der »Herzensbildung« beschränken: Die
Lernmotivation. Dieser Bereich wird in der juristischen Lehre traditionell
in zwei Kontexten thematisiert: Zum einen, wenn Lehrende die Ursachen
schlechter Studienleistungen oder des Studienabbruchs an die Studierenden
attribuieren, um sich von jeder eigenen Verantwortung zu exkulpieren
(»Denen mangelt es einfach an der notwendigen Motivation, die haben Jura
ja nur als Verlegenheitsstudium begonnen«),9 zum anderen als Argument
für juristische Lehrinnovationen.10 Außerhalb der juristischen Lehre – vor
allem durch die Politik – wird die Motivation der Jurastudierenden im Mo-
ment im Rahmen einer Diskussion um den besonders späten Studienab-
bruch und die stark gesunkene Quote der Absolventen, die nach der ersten
juristischen Prüfung ins Referendariat wechseln, thematisiert.11 Die dazu

____________________
6 Kompetenzzentrum für juristisches Lernen und Lehren, Reflexive Praxis, 2017,
abrufbar unter http://www.kjll.jura.uni-koeln.de/10756.html (letzter Abruf am
1.9.2018).
7 Siehe z.B. Schubert-Henning, Toolbox – Lernkompetenz für erfolgreiches Studie-
ren, Bielefeld 2007.
8 Ausnahmen insoweit Eickelberg, Didaktik für Juristen, Wissensvermittlung, Prä-
sentationtechnik, Rhetorik, München 2017, S. 31 ff., und Frenzel, Variationen für
das Staatsorganisationsrecht in der Lehre, in: Krüper/Pilniok (Hrsg.), Staatsorga-
nisationsrecht lehren, Baden-Baden 2016, S. 39 (40 ff.), die dem Thema Motiva-
tion immerhin knapp drei Seiten widmen.
9 In diesem Sinne z.B. Foerste, Eingangs- und Zwischenprüfungen, Forschung &
Lehre 2015, 298 (298 ff.).
10 Für die motivationale Wirkung eines Planspiels s. z.B. Reiß, Projekt »Planspiel
Strafprozessrecht – von der Tat zum Urteil«, ZDRW 2014, 150 (157 f.); für legal
clinics s. Paal, Legal Clinics als Element der universitären Juristenausbildung,
AnwBl 2017, 956 (957); für forschendes Lernen z.B. Frey, Forschendes Lernen
im Bereich der rechtlichen Fragen der Erneuerbaren Energien – ein Werkstattbe-
richt am Beispiel der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl, ZDRW 2014,
251 (259).
11 Ministerium der Justiz NRW, Ursachen des Studienabbruchs im Studiengang
»Jura/Staatsexamen«, 2018, abrufbar unter https://www.justiz.nrw.de/JM/schwer

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Frank Bleckmann

zuletzt erschienene Studie zeigt, dass den Faktoren der Studienfachwahl


(Studienmotivation, Wunschfach) nur eine geringe Erklärungskraft für den
Studienabbruch zukommt: Abbrecher und Absolventen haben vor dem Stu-
dium ein vergleichbares Motivationsprofil.12
Der zentrale theoretische Zugriff auf das Thema Motivation soll hier über
die von Ryan und Deci ausgearbeitete Selbstbestimmungstheorie der Moti-
vation erfolgen. Im Folgenden werde ich die so gewonnen Erkenntnisse mit
den empirischen Daten zu Studienbedingungen und zur Fachkultur im Ju-
rastudium vergleichen. Schließlich möchte ich noch auf die Bedeutung ei-
ner ethischen Reflexion des Faches für die Studienmotivation (Erhöhung
der subjektiven Bedeutsamkeit) eingehen.

B. Motivation und Lernprozess

Motivation regt zu einer Handlung an (Duden), sie führt zur Handlungsbe-


reitschaft, sie bezeichnet das Streben nach Zielen (Wikipedia), ist Hand-
lungsantrieb und bewegt die Dinge (von lat. movere/motus = bewegen, Be-
wegung). Dieser Antrieb kann pathologisch bis zur Depression gemindert
oder bis zur Manie gesteigert sein.
»Motivation ist ein psychischer Prozess, der die Initiierung, Steuerung, Aufrechter-
haltung und Evaluation zielgerichteten Handelns leistet.«13
Sie ist also über den gesamten Handlungsverlauf von Bedeutung.
Motive sind die Beweggründe für eine Handlung, sie sind der Treibstoff
für Aktivitäten, die nicht selbstverständlich, automatisiert ablaufen, sondern
zu deren Durchführung ein Widerstand zu überwinden ist.14 Und einen Wi-
derstand überwinden heißt: Es geht um eine Handlung, die nicht bereits per
se positive Gefühle auslöst. Automatisierte Abläufe und (»liebe«) Gewohn-
heiten bedürfen keines weiteren Antriebes. Das Zähneputzen erfordert

____________________
punkte/juristenausbildung/gutachten_studienabbruch_jura/index.php (letzter Ab-
ruf am 1.9.2018).
12 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider, Die Ursachen des Studienabbruchs in den
Studiengängen des Staatsexamens Jura, Eine Analyse auf Basis einer Befragung
der Exmatrikulierten vom Sommersemester 2014, DZHW-Projektbericht, Hanno-
ver 2017, abrufbar unter http://www.dzhw.eu/pdf/21/dzhw-gutachten-ursachen-
studienabbruch-staatsexamen-jura.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), S. 45.
13 Dresel/Lämmle, Motivation, in: Götz (Hrsg.), Emotion, Motivation und selbstre-
guliertes Lernen, 2. Aufl., Stuttgart 2017, S. 80 (81).
14 S. Roth (Fn. 2), S. 243.

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Motivation im Jurastudium

selten Entscheidungsaufwand oder die Mobilisierung einer Handlungsmo-


tivation. Aus der Perspektive der Verhaltensregulation gibt es also zwei An-
sätze, um das Verhalten zu steuern: Die Kosten des angestrebten Verhaltens
zu verändern, indem man es habitualisiert oder problematisiert, oder die
Stärke der Handlungsmotivation zu verändern. Den ersten Bereich, für den
insbesondere Modelle des Verstärkungslernens (Konditionierung) relevant
sind, werde ich hier nicht weiter verfolgen, sondern mich allein auf den Be-
reich der Handlungsmotivation beschränken.
In einem einfachen Modell kann Motivation in eine wertbezogene und
eine erwartungsbezogene Komponente unterteilt werden: Eine
(Lern-)Handlung wird dann durchgeführt, wenn für den Handelnden die
Zielerreichung wichtig ist (Wünschbarkeit – Wertkomponente) und der er-
wartete Aufwand und die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung dazu in
einem angemessenen Verhältnis stehen (Realisierbarkeit – Erwartungskom-
ponente). Daran schließen sich dann ggf. Planung, Ausführung und Bewer-
tung der Handlung an.15

I. Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation

Deci und Ryan gehen in ihrer Selbstbestimmungstheorie der Motivation nun


davon aus, dass es nicht nur um die Frage geht, ob jemand zu einer Hand-
lung motiviert ist oder nicht, sondern auch darum, wie. Einen maßgeblichen
Unterschied sehen sie in der Wahrnehmung der Selbstbestimmung bzw. des
Ausmaßes der Fremdkontrolle der Handlung. Man müsse deshalb zwischen
intrinsischer und extrinsischer Motivation unterscheiden.16
Warum ist diese Unterscheidung wichtig?
»Mit qualitativ hochwertigen Lernergebnissen ist v.a. dann zu rechnen, wenn die
Motivation durch selbstbestimmte Formen der Handlungsmotivation bestimmt
wird.«17
Dieses Ergebnis der Forschung von Deci und Ryan ist in der Folge immer
wieder bestätigt worden: Eine intrinsische Motivation erhöht die Wahr-
scheinlichkeit für ein besonders nachhaltiges, auf ein Verstehen der Sache
____________________
15 S. Dresel/Lämmle (Fn. 13), S. 85.
16 Deci/Ryan, Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für
die Pädagogik, Zeitschrift für Pädagogik 1993, 223 (224 f.).
17 Deci/Ryan (Fn. 16), S. 234.

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zielendes Tiefenlernen (deep learning) im Gegensatz zu einem Oberflä-


chenlernen (surface learning), das im Wesentlichen auf einen Prüfungser-
folg abzielt und darin besteht, durch Wiederholung reproduzierbares De-
tailwissen zu erzeugen. Tiefenlernen ist mit intrinsischer Motivation und
dem Ziel, zu lernen, positiv korreliert, Oberflächenlernen mit extrinsischer
Motivation und dem Ziel, gute Prüfungsleistungen zu erbringen.18
Dabei muss freilich unterschieden werden zwischen der Lernstrategie
und dem Lernziel.19 Ziel der Lehre muss nicht sein, dass von den Studie-
renden alles bis in die Grundlagen verstanden wird – das wird es oft auch
von den Lehrenden nicht. Insbesondere, wenn es um das Operieren mit Re-
geln geht, um Anwendungsfertigkeiten, kann in weitem Umfang auf die
Grundlagen verzichtet werden. Das ist in der Schulmathematik weitgehend
der Fall, die mathematische Beweisführung ist eine seltene Ausnahme.
Gleiches gilt für die Anwendungswissenschaften, allen voran Jura und Me-
dizin. Es ist für einen Studierenden unmöglich, alle geforderten Rechtsbe-
reiche bis in die Grundlagen zu durchdringen. Aber auch im Bereich der
Anwendungsfertigkeiten ist das Lernziel durchgängig eine verständige An-
wendung der Methoden und Regeln. Man muss die binomischen Formeln
nicht beweisen können, aber man sollte den Sinn dieser Rechenoperation
und ihren Anwendungsbereich kennen – und nicht nur das Einsetzen von
Zahlen in Standardaufgaben beherrschen. Tiefenlernstrategien auf Anwen-
dungsfertigkeiten anzuwenden, kennzeichnet die in Prüfungen besonders
erfolgreichen strategischen Tiefenlerner.20 Freilich haben auch diese er-
folgreichen Studierenden häufig die zugrundeliegenden Konzepte und

____________________
18 Lai/Chan/Wong, A study of intrinsic motivation, achievement goals and study
strategies of Hong Kong Chinese secondary students, Australian Association for
Research in Education, AARE Conference Paper, Adelaide 2006, abrufbar unter
https://www.aare.edu.au/publications-database.php/5124/a-study-of-intrinsic-mo
tivation-achievement-goals-and-study-strategies-of-hong-kong-chinese-secondar
(letzter Abruf am 1.9.2018).
19 Das übersieht m.E. Ulrich, Gute Lehre in der Hochschule: Praxistipps zur Planung
und Gestaltung von Lehrveranstaltungen, Heidelberg 2016, S. 21, der in vielen
Fällen ein Oberflächenlernen für sinnvoll hält, weil er davon auszugehen scheint,
dass Anwendungswissen oberflächlich, also mnemotechnisch, zu erreichen sei.
20 Broemel/Stadler, Lernstrategien im Jurastudium, JURA 2014, 1209 (1214 ff.).

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theoretischen Hintergründe nicht verstanden, auch wenn sie in einer Vorle-


sung gelehrt wurden.21
Sich damit zufrieden zu geben und gänzlich ohne Grundlagen und ohne
den Anspruch auf ein Verstehen der Sache anzutreten, dürfte der Universität
– auch in den Anwendungswissenschaften – allerdings kaum gerecht wer-
den:
»In einem akademischen Studium wird man ohne Verlust einer jeglichen Selbst-
achtung schlechterdings nicht darauf verzichten, zu verstehen, worum es im Kern
der Sache geht. Jedenfalls müssen wir gerade mit Bezug auf die Institution, die
forscht und lehrt, das Verstehen als ihr allgemeines Telos unterstellen. Wo kämen
wir hin, wenn wir darauf verzichteten, die Sache analytisch zu durchringen, die zu
einer Berufswissenschaft geworden ist? Das Aufgeben des Verstehens machte aus
den Rechtwissenschaften eine Rechtskunde, für die man nicht einmal einen Ba-
chelor benötigen würde, sondern die Einweisung gewandter Typen, die aktenmäßig
bestimmte Klassen von Situationen nach Verfahren bearbeiten, ähnlich den Steuer-
beratern. Vormachen, Nachmachen, Einüben, darin bestünde die Didaktik.«22
Wie werden intrinsische und extrinisische Motivation definiert und wel-
che Zwischenstufen lassen sich unterscheiden?
»Bei der intrinsischen Motivation […] liegt der Wert innerhalb der Handlung selbst.
Es handelt sich dabei um eine selbstbestimmte Form der Motivation, bei der Perso-
nen Handlungen autonom und unabhängig von Verstärkung und Sanktionierung
von außen durchführen.«23
Die Handlung folgt dabei einem Eigeninteresse und ist Ausdruck der Per-
sönlichkeit. Im Gegensatz dazu wird bei einer extrinsisch motivierten
Handlung der »locus of causality« extern attribuiert. Hier wird die Hand-
lung auf äußere Anreize zurückgeführt, sie ist instrumentell auf ein außer-
halb der Handlung liegendes Ziel gerichtet und erfolgt regelmäßig nicht
spontan. Extrinsische und intrinsische Motivation schließen sich jedoch
nicht aus. Es existieren vielmehr Mischformen. So ist es denkbar, dass die
Erstellung einer Bachelor-Arbeit durchaus dem eigenen Interesse und dem
Selbstbild als angehender Wissenschaftler entspricht, die damit zusammen-
hängende erhebliche Arbeit aber erst unter dem Druck der Prüfungssitua-
tion und der Abgabefrist eine hinreichende Priorität gewinnt, um sich ge-

____________________
21 Halloun/Hestenes, The initial knowledge state of college physics students, Amer-
ican Journal of Physics 1985, 1043 (1043 ff.).
22 Gruschka, Was bedeutet es, das Verstehen zu lehren?, in: Bleckmann (Hrsg.),
Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Bedeutung – Praxis – Perspektiven, Stutt-
gart 2015, S. 65 (68).
23 Dresel/Lämmle (Fn. 13), S. 89.

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genüber anderen Handlungsanforderungen und Ablenkungen des Alltags


durchzusetzen. Der extrinsische Handlungsanreiz bringt lediglich die not-
wendige »Aktivierungsenergie« mit. Und auch wenn die Arbeit ohne diesen
Anreiz nicht spontan erstellt worden wäre, wird der locus of causality in
dieser Situation doch beim Handelnden verortet. Zentraler Bedeutung
dürfte hier also das Erleben als selbstbestimmte Tätigkeit haben.
Dresel/Lämmle haben die von Deci und Ryan dargestellten Konstellationen
übersichtlich zusammengefasst:24

Veränderungen der Motivationslage sowohl in Richtung einer eher extrin-


sischen wie zu einer eher intrinsischen Motivation sind möglich. Für die
Gestaltung des Lehr-/Lernprozesses bedeutsam ist vor allem die Frage, wie
eine bestehende intrinsische Motivation oder die Veränderung hin zu einer
stärker intrinsischen Motivation unterstützen werden kann. Wann »verbin-
den« sich Studierende mit einer Sache, wann machen sie etwas zu ihrer Sa-
che? Deci und Ryan gehen davon aus, dass eine extrinsische Motivation
durch einen Prozess der Internalisierung und – weitergehend – Integration
in eine intrinsische Motivation übergehen kann.

____________________
24 Dresel/Lämmle (Fn. 13), S. 90.

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Motivation im Jurastudium

»Voraussetzungen dafür sind Angebote und Anforderungen in einem akzeptierten


sozialen Milieu, das die entsprechenden Verhaltenstendenzen verstärkt.«25
Sie identifizieren drei Grundbedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit sich
eine intrinsische Motivation entwickeln kann und ein Handlungsziel selb-
ständig verfolgt wird:26

 Autonomie beschreibt das Erleben, frei und selbstbestimmt (statt


fremdbestimmt und außengesteuert) zu handeln. Tut der Handelnde
das, kann er sich mit seiner Handlung identifizieren, weil er ihr Ur-
heber ist. Zentral dabei ist die Übereinstimmung des Handelns mit
eigenen Werten und Zielen. Dem steht nicht entgegen, dass die
Handlung auf Anweisung in hierarchischen Strukturen oder unter
dem Druck der Situation vollzogen wird, soweit der Handelnde sie
als sinnhaft erfährt, sie als eigene will und sich nicht dazu gezwun-
gen fühlt.
 Kompetenzerleben betrifft das Bedürfnis, die eigene Umwelt effek-
tiv beeinflussen zu können und dadurch eigene Ziele zu erreichen.
Für das eigene Kompetenzerleben sind Wirksamkeitserfahrungen –
und darauf aufbauend – Selbstwirksamkeitserwartungen wichtig.
Diese entstehen insbesondere dann, wenn Aufgaben eines Anfor-
derungsniveaus bewältigt werden, die als Herausforderung und
nicht als Über- oder Unterforderung wahrgenommen werden. Da-
bei geht es um den Wunsch, Aufgaben erfolgreich zu bewältigen,
Schwierigkeiten zu überwinden und Expertise in einem Feld zu ent-
wickeln.
 Soziale Eingebundenheit betrifft vor allem das Bedürfnis nach so-
zialer Integration, nach Gruppenzugehörigkeit, sozialer Anerken-
nung und Zusammenhalt. Darüberhinaus sind die Entwicklung von
engen Beziehungen und persönlicher Zuwendung von wesentlicher
Bedeutung. Ein Gefühl der Sicherheit und Unterstützung ist – bei
Kindern wie bei Erwachsenen – eine wesentliche Basis, um sich ins
Unbekannte zu wagen und sich Gefahren zu stellen.

____________________
25 Deci/Ryan (Fn. 16), S. 227.
26 Deci/Ryan (Fn. 16), S. 229; Ryan/Deci, Self-determination theory and the facilita-
tion of intrinsic motivation, social development, and well-being, American Psy-
chologist 2000, 68 (70 f.).

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Mit der Selbstbestimmungstheorie der Motivation liegt eine – inzwischen


durch eine unübersehbare Zahl an Studien empirisch gut gestützte27 – Rah-
mentheorie der Motivation vor. Aktuell haben Deci und Ryan in diesem
Theorierahmen sechs Einzeltheorien spezifiziert, die bestimmte Fragestel-
lungen weiter vertiefen.28 Das geht indes über das hinaus, was an dieser
Stelle an theoretischer Auflösung benötigt wird. Im Folgenden sollen die
Konsequenzen aus den drei von Deci und Ryan genannten Bedürfnissen für
die Gestaltung der Lehr-/Lernsituation gezogen werden. Dabei liegt der Fo-
kus auf den Lernenden.29

II. Konsequenzen für die Lehre

Aus der Theorie und den ihr zugrundeliegenden empirischen Befunden er-
geben sich einige Hinweise für die Gestaltung von Lehr-/Lernsituationen.
Global geht es dabei um die Verbesserung des Autonomie- und Kompe-
tenzerlebens sowie des Gefühls der sozialen Eingebundenheit. Daraus las-
sen sich folgende Empfehlungen ableiten:30

____________________
27 Eine Liste der Publikationen findet sich unter Ryan/Deci/Robertson Hoefen, sdt –
Self-Determination Theory, 2018, abrufbar unter http://selfdeterminationthe-
ory.org/publications (letzter Abruf am 1.9.2018); Krapp, Psychologische Bedürf-
nisse und Interesse, Theoretische Überlegungen und praktische Schlussfolgerun-
gen, in: Vollmeyer/Brunstein (Hrsg.), Motivationspsychologie und ihre Anwen-
dung, Stuttgart 2005, S. 23 (23 ff.).
28 Ryan/Deci, Self-determination theory, Basic psychological needs in motivation,
development, and wellness, New York 2017, S. 123 ff.
29 Die Betrachtung der Motivation der Lehrenden und ihre Bedeutung für das Lernen
wäre ein weiteres – wichtiges – Thema; s. z.B. Roth/Assor/Kanat-May-
mon/Kaplan, Autonomous motivation for teaching: How self-determined teaching
may lead to self-determined learning, Journal of Educational Psychology 2007,
761 (761 ff.).
30 S. Schiefele/Streblow, Motivation aktivieren, in: Mandl/Friedrich (Hrsg.), Hand-
buch Lernstrategien, Göttingen 2006, S. 232 (238 ff.); Dresel/Lämmle (Fn. 13), S.
128 ff.; Ferris/Huxley-Binns, Putting Theory into Practice: Designing a curricu-
lum according to self-determination theory, The International Journal of Pedagogy
and Curriculum 2013, 1 (1 ff.); Ferris, Uses of values in legal education,
Cambridge 2015, S. 117 ff.

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Motivation im Jurastudium

Autonomie:31

 Herstellung subjektiver Bedeutsamkeit.32


 Mitbestimmung bei Lernzielen, -gegenständen und –aktivitäten.
 Lernaktivitäten mit Handlungsspielräumen (Projektarbeit, koopera-
tives Lernen).
 Gemeinsame Entwicklung von Maßstäben.
 Möglichkeiten der Selbstbewertung.

Die subjektive Bedeutsamkeit lässt sich insbesondere erhöhen durch:

 Betonung der Bedeutsamkeit des Lerngegenstands (insb. für über-


geordnete Ziele).
 Begründung der Lernaktivitäten.
 Artikulierung des eigenen Interesses des Lehrenden am Lerngegen-
stand.
 Herstellung von praktischen Anwendungsmöglichkeiten und All-
tagsbezügen.
 Verbindung des Lernstoffs mit den Interessen der Lerner.
 Erhöhung des emotionalen Gehalts des Lernstoffs (persönliche Be-
troffenheit, biographische Bezüge, moralische Bedeutung).
 Induzieren kognitiver Konflikte (Widersprüche zum bisherigen
Wissen).

Kompetenzerleben:

 Klare, strukturierte, anschauliche und verständnisorientierte In-


struktion.33
 SMARTe (Specific, Measurable, Accepted, Reasonable, Time
Bound) Aufgaben.
 Häufiges (insb. positives) Feedback.
 Fehlerfreundliche Atmosphäre und Nutzung von Fehlern als
Lernchance.
____________________
31 Kusurkar/Croiset/Cate, Twelve tips to stimulate intrinsic motivation in students
through autonomy-supportive classroom teaching derived from self-determination
theory, Medical Teacher 2011, 978 (978 ff.)
32 Schwartz/Hess/Sparrow, What the best law teachers do, Cambridge 2013, S. 194
ff.
33 Schwartz/Hess/Sparrow (Fn. 32), S. 178 ff.

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 Unterstützung bei Schwierigkeiten und genaue Analyse eines etwa-


igen Scheiterns.
 Anpassung des Schwierigkeitsgrades an den individuellen Kennt-
nisstand.
 Lernaktivitäten, bei der vielfältige Kompetenzen eingebracht wer-
den können.

Soziale Eingebundenheit

 Wahrnehmung und Ansprache des Einzelnen.


 Gegenseitiger Respekt und Sorge umeinander (caring).34
 Kommunikationsmöglichkeiten in der Gruppe.
 Einsatz von Gruppenarbeitsmethoden.
 Möglichkeiten schaffen, anderen seine Kompetenzen zu zeigen.
 Partnerschaftliches Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernen-
den: »Treating students like colleagues«.35

Inwieweit finden sich diese Struktureigenschaften motivierender Lehre im


Jurastudium wieder?

C. Motivationale Rahmenbedingungen im gegenwärtigen Jurastudium

Betrachtet man die Ergebnisse der Selbstbestimmungstheorie der Motiva-


tion und die Ableitungen, die sich daraus für einen motivationsfördernden
Unterricht machen lassen, erscheint das Jurastudium als direkte Antithese.
Alle Indikatoren aus Studierendensurveys, Absolventenbefragungen und
Untersuchungen zu Studienabbrechern belegen, dass das rechtswissen-
schaftliche Studium – auch im Vergleich zu den anderen universitären Fä-
chern – eine ausgesprochen motivationsfeindliche Struktur und Fachkultur
hat. Im aktuellen 13. Studierendensurvey vom Dezember 2017 belegen in
einer Rangreihe zur Studienqualität die Rechtswissenschaften den letzten

____________________
34 Schwartz/Hess/Sparrow (Fn. 32), S. 187.
35 Schwartz/Hess/Sparrow (Fn. 32), S. 105.

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Motivation im Jurastudium

Platz (52 %).36 Im 12. Studierendensurvey führen die Rechtswissenschaften


unter den sieben universitären Fächergruppen bei den erfahrenen Schwie-
rigkeiten im Studium in acht von zwölf Kategorien, bei den starken Belas-
tungen im Studium in fünf von zwölf Kategorien.37
Die Befunde im Einzelnen:

I. Autonomie

Jurastudierende sind besonders stark extrinsisch motiviert. So legen 79 %


der Jurastudierenden vor allem Wert auf ein gutes Examen. Damit liegen
sie mit 15 Prozentpunkten Abstand vor den nächstplazierten Kulturwissen-
schaften. Bei den Medizinern ist ein gutes Examen nur für 46 % der Studie-
renden wichtig.38 Dieser Befund spiegelt natürlich auch die unterschiedli-
che Struktur des Arbeitsmarktes der Fächergruppen wider, insbesondere bei
den Medizinern. Der große Abstand zu den anderen Fächern, insbesondere
auch zu den mit einem ähnlich wettbewerbsorientierten Arbeitsmarkt kon-
frontierten Wirtschaftswissenschaftlern, ist aber bemerkenswert.
Im Vergleich von Studienabbrechern und Absolventen im Jurastudium
zeigt sich, dass die Angaben zu einer intrinsischen Motivation praktisch
gleich verteilt sind, Abbrecher aber eine höhere extrinsische (mit Blick auf
– vermutete – Berufs- und Karrieremöglichkeiten) und eine höhere soziale
Studienmotivation (mit dem Wunsch nach einer kommunikativen und hel-
fenden Tätigkeit) nennen.39 Auffällig dabei ist, dass auch Absolventen zu
60 % extrinsische Motive für die Studienwahl angeben, während der uni-
versitäre Durchschnitt nur bei 33 % liegt.
»Demnach zeichnet sich das Jurastudium in der universitären Gesamtperspektive
durch einen hohen Anteil an Studierenden aus, für die berufliche Erfolgskriterien
____________________
36 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt, Studiensituation und studentische Orientierun-
gen, 13. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen, Berlin, 2017,
abrufbar unter https://www.bmbf.de/pub/Studierendensurvey_Ausgabe_13_Haup
tbericht.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), S. 61.
37 Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt, Studiensituation und studentische Orientierun-
gen. 12. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen, Berlin, 2014,
abrufbar unter https://www.bmbf.de/pub/Studierendensurvey_Ausgabe_12_Lang
fassung.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), S. 180, 184.
38 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 19.
39 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 54 f.

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von großer Bedeutung sind, während die fachbezogenen Inhalte als Tätigkeitsmo-
tive eine geringere Rolle spielen.«40
Auch die eigene Identifizierung mit dem Fach ist gering ausgeprägt. Wäh-
rend immerhin 29 % der Abbrecher erneut Jura studieren würden, wenn sie
noch einmal vor der Studienfachwahl stünden, sind nur 49 % der Absolven-
ten davon überzeugt, das richtige Fach studiert zu haben – 31 % würden auf
keinen Fall noch einmal Jura studieren.41
»In den Rechtswissenschaften und Medizin beschreiben 90 % bzw. 88 %
der Studierenden ihr Fach durch hohe Leistungsnormen.«42 Das muss nicht
per se schlecht sein. Allerdings zeigt sich eine einseitig leistungsbezogene
Arbeitskultur »unter allen Fachgruppen ebenfalls am deutlichsten in den
Rechtswissenschaften.«43 Das sind schlechte Voraussetzungen für kreative
Freiräume, die eigenverantwortlich genutzt werden können. Dazu kommt:
»Auf den Erwerb eines umfangreichen Faktenwissens legen die Rechtswissenschaf-
ten und Medizin aus Sicht ihrer Studierenden einen zu großen Wert: 72 % (Rechts-
wissenschaften) und 75 % (Medizin) der Studierenden dieser Fächer fühlen sich
damit überfordert. Ähnlich bewerten sie die Arbeitsintensität: Hier halten 76 % der
Studierenden der Rechtswissenschaften und 68 % in der Medizin die Ansprüche aus
ihrer Sicht für überzogen. […] In den Natur- und Ingenieurwissenschaften halten
61 % bzw. 57 % die geforderte Arbeitsintensität für überzogen […].«44
Im 12. Studierendensurvey wurde die Stoffmenge von 53 % der Jurastudie-
renden – auch das der Spitzenwert aller Fächergruppen – als starke Belas-
tung empfunden.45
»[…] [D]as Bemühen, die eigene Orientierung in der Vielfalt der Fachinhalte zu
finden, führt bei einem vergleichsweise großen Teil der Studierenden (31 %) in den
Rechtswissenschaften zu Belastungen.«46

____________________
40 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 42.
41 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 54 f.
42 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 26.
43 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 27.
44 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 29.
45 Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt (Fn. 37), S. 187.
46 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 56.

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II. Kompetenz

Nur 27 % der Jurastudierenden geben an, den Lernstoff gut oder sehr gut
organisieren zu können. Damit schreiben sie sich die geringste Organisati-
onskompetenz aller befragten Fächer zu. Spitzenreiter sind hier die Medizi-
ner mit 40 %, dann kommen die Sozialwissenschaftler mit 36 %.47
Größere Schwierigkeiten machen der Umgang mit den Leistungsanfor-
derungen (76 %), die Prüfungsvorbereitung (69 %) und die Erstellung
schriftlicher Arbeiten (48 %).48
»In den Rechtswissenschaften verursachen leistungsbezogene Aspekte am häufigs-
ten Belastungen: Durch die Leistungsanforderungen fühlen sich 78 % der Studie-
renden stark belastet, durch die Prüfungsvorbereitungen 73 %.«49
In allen genannten Bereichen nehmen die Jurastudierenden die Spitzenstel-
lung aller Fächergruppen ein.
Zur geringen Frequenz eines lernorientierten Feedbacks (nicht einer blo-
ßen Leistungsüberprüfung), zur Fehlerkultur und zur geringen Wahrschein-
lichkeit positiver Rückmeldungen bedarf es kaum empirischer Belege. Dass
immer noch Klausuren geschrieben, benotet und zurückgegeben werden,
ohne sie ausführlich zu besprechen, in der Korrektur eine Fehlerdiagnose
durchzuführen und Lernempfehlung zu geben, ist didaktisch unverständ-
lich. Dass Korrektoren nur selten ausführlich geschult sind und im Rahmen
von Mehrfachkorrekturen ihre Standards angleichen bzw. durch Stichpro-
ben ernsthaft kontrolliert werden, ist unprofessionell. Dass fehlerhafte Bei-
träge in Veranstaltungen einfach ignoriert werden und durch den Aufruf des
nächsten Studierenden mit der richtigen Antwort für ein Gespräch verloren-
gehen, statt sie als wertvollen Beitrag und Ausgangspunkt für Nachfragen
aufzuklären, vergibt die zentralen Vorteile von Präsenzveranstaltungen.
Und dass man das Staatsexamen in seiner derzeitigen Ausgestaltung durch-

____________________
47 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 20.
48 Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt (Fn. 37), S. 180.
49 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 56. Diese Werte lagen im 12. Studie-
rendensurvey noch bei 48 und 51 % (Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt (Fn. 37), S.
187). Da sich der Unterschied in den Werten in ähnlicher Größenordnung durch
alle Fächer zieht, ist davon auszugehen, dass die Form der Erhebung oder Zusam-
menfassung der Ergebnisse sich verändert hat. In beiden Erhebungen handelt es
sich bei den Werten der Rechtswissenschaften aber jeweils um die Spitzenwerte
der Fächergruppen.

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aus für verfassungswidrig halten kann, hat Schwab nachvollziehbar darge-


legt.50

III. Soziale Eingebundenheit

Schon im 12. Studierendensurvey waren die Rechtswissenschaften bei den


Schwierigkeiten im Studium bei den sozialen Items unter allen Fachgrup-
pen auf Platz 1. Das betraf die Kategorien »Kontakte finden«, »Umgang mit
Lehrenden« und »Konkurrenz«. Besonders auffällig war bereits hier der
Wert für die Schwierigkeiten durch Konkurrenz, der mit 40 % doppelt so
hoch lag wie in allen anderen Fächern.51 Dieser Wert hat sich im 13. Stu-
dierendensurvey, also drei Jahre später, weiter erhöht auf nunmehr 57 %.
Der Wert liegt inzwischen fast dreimal höher als in den Wirtschaftswissen-
schaften und der Medizin, die Fächer mit den nächsthöheren Werten, und
sechsmal höher als in den Naturwissenschaften.52
Auch die Beziehung zu den Lehrenden wird in den Rechtswissenschaften
mit weitem Abstand am schlechtesten beurteilt. Gute Beziehungen zu Leh-
renden geben hier nur 14 % der Studierenden an, die Wirtschaftswissen-
schaften liegen mit dem zweitschlechtesten Wert bei 21 %, die Mediziner
bei 24 %; am bestplazierten sind die Kulturwissenschaften mit 44 %.53 Den
Umgang mit den Lehrenden haben bereits im 12. Studierendensurvey 27 %
der Befragten als Schwierigkeit im Studium angegeben, auch das war der
Spitzenwert (nächstplaziert waren die Wirtschaftswissenschaften mit 22
%).54 Jurastudierende nehmen im Vergleich mit allen anderen Fächern –
zusammen mit den Medizinern – am wenigsten Kontakt zu den Lehrenden
auf.55 Das wird auch durch die Absolventenbefragung des International
Centre for Higher Education Research (INCHER, Kassel) bestätigt: Die
fachliche Beratung/Betreuung durch die Lehrenden im Fach Rechts-

____________________
50 Schwab, Juristische Staatsprüfungen und das Grundgesetz, Stoffüberfülle, Block-
versagen, Exotenklausuren, strenge Noten, Originalabdruck einer Klageschrift,
Hamburg 2005.
51 Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt (Fn. 37), S. 180.
52 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 44 f.
53 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 44 f.
54 Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt (Fn. 37), S. 180.
55 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 50.

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Motivation im Jurastudium

wissenschaft wird von den Absolventenjahrgängen 2007 – 2011 mit 47 %


als schlecht, mit 33 % als teils/teils und nur mit 20 % als gut eingeschätzt,
bei der individuellen Beratung sind die Zahlen noch einmal deutlich
schlechter.56 Ähnlich die Befunde der Studienabbrecherstudie:
»In den Staatsexamens-Studiengängen Jura fühlen sich Studienabbrecher in ver-
gleichbarer Weise wie Abbrecher anderer universitärer Fachkulturen relativ selten
gut betreut. Allerdings zeigt sich im Jurastudium, dass sich im Unterschied zu an-
deren Disziplinen auch die Absolventen nicht besser betreut fühlen.«57
Die weiteren Befunde zum Verhältnis von Studierenden und Lehrenden aus
der Studie zum Studienabbruch – nur sehr selten Gespräche außerhalb der
Lehrveranstaltungen, kein Besuch der Sprechstunde, überwiegend keine
Motivation durch Lehrende, praktisch keine direkten Besprechungen von
Hausarbeiten und Klausuren – erscheinen dem fachkulturell sozialisierten
Juristen als Normalität. Umso spannender der Blick von außen:
»Die Befunde erwecken den Eindruck, dass zwischen Lehrenden und Studierenden
in Jura eine große Distanz besteht. […] Eine solch eingeschränkte Kommunikation
kann nicht nur und auch nicht in erster Linie das Ergebnis mangelnder Eigenaktivi-
tät der Studierenden sein – und zwar schon allein deshalb, weil erfolgreiche wie
nichterfolgreiche Studierende gleichermaßen davon betroffen sind. Es kann sich nur
um fachkulturelle Tradierungen handeln, die letztlich von den Lehrenden als ent-
scheidende Akteure der Fachkultur vorgegeben werden.«58
Der 13. Studierendensurvey resümmiert:
»Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das soziale Klima in den Rechtswissen-
schaften geprägt ist von Konkurrenzdenken und angespannten Beziehungen gegen-
über den Lehrenden.«59
Die erlebte Anonymität im Studium ist hoch. Von allen Fächern nehmen die
Jurastudierenden am stärksten eine Überfüllung des Studiengangs wahr (29
%).60 Dazu kommt:
____________________
56 Schomburg, Das Jura Studium im kritischen Rückblick der Absolventinnen und
Absolventen, Präsentation im Rahmen der Tagung »Juristenausbildung heute: Im-
pulse für Studium und Lehre« des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft
und der Hochschulrektorenkonferen, Projekt nexus, 13.-14.11.2012, abrufbar un-
ter http://www.hrk-nexus.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/Schomburg_J
ura-Studium-Absolventenbefragungen.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018), Folie 12.
57 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 46 f.
58 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 51 f.
59 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 44.
60 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 45.

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»In den Rechtswissenschaften geben 39 % der Studierenden an, nicht genügend


Ansprechpersonen an der Hochschule zu finden. Dass Noten und Leistungen allge-
mein dort eine besondere Bedeutung haben, zeigt der hohe Wert bei der Entperso-
nalisierung: Auf ihre Leistung fühlen sich 63 % reduziert. Auch Gefühle von Isola-
tion sind in den Rechtswissenschaften am weitesten verbreitet. Gut die Hälfte (52
%) der Studierenden ist der Auffassung, ihre Abwesenheit von der Hochschule
würde niemandem auffallen.«61
Dieser Befund wird auch von der Studie zum Studienabbruch gestützt. Ju-
rastudierende haben durchschnittlich weniger Kontakte zu Kommilitonen
als im universitären Durchschnitt. 30 % der Absolventen haben das Gefühl,
auf sich allein gestellt zu sein. An der Universität insgesamt haben dieses
Gefühl durchschnittlich nur 19 % der Absolventen.62 Das schlägt sich auch
in den Lernformen nieder: Unter allen Fächern empfanden Jurastudierende
am häufigsten die Beteiligung an Diskussionen als eine größere Schwierig-
keit des Studiums.63 Die aktive Teilnahme an Lehrveranstaltungen wird nur
von 26 % der Absolventen der Rechtswissenschaft berichtet, während die-
ser Wert im universitären Durchschnitt bei 43 % liegt. Dafür bereiten Jura-
studierende die Veranstaltungen allerdings deutlich häufiger individuell
nach als im Durchschnitt aller Fächer.64 Jurastudierende sind lerntechnisch
eher »Einzelkämpfer«.
Diese Kultur spiegelt sich auch in der Wahrnehmung von Beratungsan-
geboten wider. Selbst Abbrecher, die sich im Vorfeld des Studienabbruchs
regelmäßig in unterschiedlichen Problemkonstellationen befinden, holen
sich nur zurückhaltend bei Beratungsstellen Hilfe. Dabei wird am häufigs-
ten die studentische Studienberatung in Anspruch genommen (41 %), nur
13 % nutzen die Fachstudienberatung durch Lehrende.65
»Die Distanz der Studierenden zu den Lehrenden ist auch bei ausgeprägten Prob-
lemsituationen gegeben. […] Dies weist zum einen auf die für Studierende im Ju-
rastudium offensichtlich bestehenden hohen (mentalen) Zugangshürden zur Bera-
tung, aber zum anderen auch auf deren geringe Selbstkompetenz hin.«66

____________________
61 Multrus/Majer/Bargel/Schmidt (Fn. 36), S. 46.
62 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 57.
63 Ramm/Multrus/Bargel/Schmidt (Fn. 37), S. 180
64 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 55.
65 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 61.
66 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 63; das ist freilich nicht auf
Deutschland beschränkt, sondern gilt auch für die USA, s. Organ/Jaffe/Bender,
Helping Law Students Get the Help They Need: An Analysis of Data Regarding

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Motivation im Jurastudium

IV. Konsequenzen?

Man sieht einmal mehr: Die Lage ist düster – und das schon seit langem.
Dabei darf man nicht den Fehler machen, das alles als ein Problem der Stu-
dienbedingungen in einem Massenstudienfach oder allein als didaktisches
Problem zu sehen. Fachkultur und Studienbedingungen sind eng miteinan-
der verflochten. Die Studienbedingungen sind das notwendige Setting für
die Sozialisation in die besondere juristische Fachkultur.67 Und diese Fach-
kultur ist eng verbunden mit der gesellschaftlichen Bedeutung und Stellung
der Juristen. Es ist in keiner Weise überraschend, dass das neue Gutachten
zum Studienabbruch im Staatsexamensstudiengang Jura von der Politik in
Auftrag gegeben wurde. Die juristischen Fakultäten haben keinerlei Inte-
resse an Selbsterkenntnis oder Selbstkritik. Sie werden sich, wie bisher
auch, darin gefallen, als Bad Guy an den Universitäten dem Zeitgeist die
Stirn zu bieten, der in Zeiten wirtschaftlicher Expansion, Pensionswelle und
sinkenden Absolventenzahlen zunehmend mehr an Lehre und erfolgreicher
Humankapitalbildung interessiert zu sein scheint.
Wenn die Politik etwas ändern will, dann hat sie durch das Gutachten
einige Anregungen bekommen. Über einzelne Vorschläge kann man durch-
aus kontrovers diskutieren, der Kern der Analyse aber deckt sich weitge-
hend mit den Erkenntnissen, die sich auch aus der Selbstbestimmungstheo-
rie der Motivation ableiten lassen. Das Gutachten nennt zwei zentrale
Punkte:
1. »Leistungsaspekte sind für die Staatsexamens-Studiengänge Jura wesentliche In-
dikatoren für das Bestehen von Abbruchrisiken. […] Am Leistungsstand lassen sich
damit nicht nur Abbruchrisiken abschätzen, sondern auch der Bedarf an besserer
Studienvorbereitung bzw. an Präventions- und Interventionsmaßnahmen im Stu-
dium ableiten.«68 Daraus folgt ohne weiteres, »dass eine angemessene Prävention
des Studienabbruchs auf bessere Anforderungsbewältigung ausgerichtet sein
muss.«69

____________________
Law Students’ Reluctance to Seek Help and Policy Recommendations for a Vari-
ety of Stakeholders, The Bar Examiner 2015, 9 (9 ff.).
67 S. Böning, Jura studieren, Eine explorative Untersuchung im Anschluss an Pierre
Bourdieu, Weinheim 2017, S. 250, und Walter, Propädeutikum zur Juristensozia-
lisation, myops 2017, Heft 29, 44 (44 ff.).
68 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 87.
69 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 53.

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2. »Ein weiterer zentraler Indikator für Abbruchrisiken in den Staatsexamens-Stu-


diengängen Jura ist mangelnde Fachidentifikation. Auch dieser Aspekt bezieht sich
sowohl auf Studienbewerber als auch auf Studierende in allen Studienphasen. Ohne
die notwendige Fachverbundenheit fällt die Wahrscheinlichkeit des erfolgreichen
Studienabschlusses geringer aus als bei starker Identifikation mit juristischen Inhal-
ten und Tätigkeiten. […] Neben Leistungsverbesserungen stellt die Stärkung der
Studienmotivation den zweiten zentralen Aspekt einer wirksamen Abbruchpräven-
tion dar.«70
Während sich der erste Punkt problemlos dem Bedürfnis nach Kompetenz-
erleben zuordnen lässt, verweist der zweite Punkt auf der einen Seite auf
Autonomie, nämlich subjektive Bedeutsamkeit und Identifikation, auf der
anderen Seite auf soziale Eingebundenheit. Es geht darum, die Juristen als
soziale Gruppe mit einem Fachethos und als Berufsträger mit einem Be-
rufsethos attraktiv zu machen.
»Bei vielen Studienabbrechern schwindet im Verlauf des Jurastudiums die Identi-
fikation mit dem Fach und dem Berufsfeld. Sie haben dadurch nicht die entspre-
chende Studienmotivation, um die Anforderungen zu bewältigen. Allerdings zeigt
es sich, dass auch die Fachidentifikation bei einer beträchtlichen Zahl von Absol-
venten vergleichsweise gering ist. Das Studium und Lehre haben sie nicht zu einer
festen Verbundenheit mit einer juristischen Tätigkeit geführt. Zum einen zeigt sich
hier die schon bei der Studienwahl nicht selten fehlende intrinsische Motivation,
zum anderen aber ist dies auch ein Resultat eingeschränkter Kontakte zwischen
Lehrenden und Studierenden. Den Lehrenden ist es anheimgestellt, Identifikations-
angebote zu vermitteln, indem sie ihre eigene Verbundenheit mit juristischen Tä-
tigkeiten den Studierenden nachvollziehbar in der Lehre wie vor allem in direkten
Gesprächen darstellen.«71
Im Folgenden soll es darum gehen, warum Identifikationsangebote in der
Lehre so wichtig sind und wie sie aussehen könnten.

D. Ein Beispiel: Die Erhöhung subjektiver Bedeutsamkeit durch


Sinngebung

Die Stärkung der Autonomie des Lerners durch Sinnangebote, die der Sache
und seinem Lernen persönliche Bedeutung geben und ihm so ermöglichen,
sich mit der Sache und seiner Tätigkeit zu identifizieren, erhöht nicht nur

____________________
70 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 87 f.
71 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 85 f.

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Motivation im Jurastudium

die Motivation, sondern auch die psychische Stabilität. Die Selbstbestim-


mungstheorie der Motivation sieht sich deshalb auch als Theorie emotiona-
ler Gesundheit.72 Neben dem Thema einer motivationalen Unterstützung
des Lernprozesses ist in den letzten zehn Jahren insbesondere aufgrund von
Befunden zur psychischen Situation von Jurastudierenden in den USA und
in Australien auch der Gesundheitsaspekt prominent geworden.73 Sie erga-
ben einen auffällig hohen Anteil von Studierenden, der an Depressionen
oder Angststörungen litt bzw. einen über den Altersdurchschnitt deutlich
hinausgehenden hohen Substanzmissbrauch zeigte. Auch wenn sich die
Zahlen nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen lassen, dürfte die
Grundaussage übereinstimmen, weil in allen Ländern die zugrundeliegen-
den Schwierigkeiten und Belastungen im Jurastudium sehr ähnlich sind.
Während die Theorie von Ryan und Deci unter kontinuierlicher Einbe-
ziehung einer Vielzahl von Erkenntnissen aus der empirischen Motivations-
forschung und angrenzenden Feldern zu einer umfassenden Rahmentheorie
entwickelt wurde, existiert eine parallele Theorieentwicklung, die ihren
Ausgangspunkt häufig beim Salutogenese-Ansatz (Enstehungsbedingun-
gen von Gesundheit) nimmt und in den letzten Jahren unter dem Begriff
Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit gegen belastende Lebensum-
stände und Krisen) Karriere gemacht hat und von der Glücksforschung, der
Pädagogik, den Gesundheitswissenschaften und der Arbeitspsychologie
aufgegriffen wude.74 Hier werden ähnliche Themen, teilweise unter Beru-
____________________
72 So bereits der Titel des Aufsatzes Ryan/Deci (Fn. 27), S. 68 ff.
73 S. Organ/Jaffe/Bender, Suffering in Silence: The Survey of Law Student Well-
Being and the Reluctance of Law Students to Seek Help for Substance Use and
Mental Health Concerns, Journal of Legal Education 2016, 116 (116 ff.);
Duffy/Field/Shirley, Engaging Law Students to Promote Psychological Health, Al-
ternative Law Journal 2011, 250 (250 ff.); Ferris/Huxley-Binns, What Students
Care About und Why We Should Care, in: Maughan/Maharg (Hrsg.), Affect and
legal education, New York 2011, S. 195 (200 ff.); Sheldon/Krieger, Understanding
the negative effects of legal education on law students: a longitudinal test of self-
determination theory, Personality & social psychology bulletin 2007, 883 (883 ff.).
74 Der kritische Gehalt des Resilienzkonzeptes wird in sein Gegenteil verkehrt, wenn
unter dem Begriff am Ende wieder nur die üblichen Selbstmanagement-Ratgeber
segeln, mit denen man seines Glückes eigener Schmied werden soll, indem man
sich für den Wettbewerb optimiert, s. z.B. Theurer, Resilienz in rechtsberatenden
Berufen: Strategien zur Erhöhung der eigenen Selbstwirksamkeit, Wiesbaden
2017; zur Kritik s. Bröckling, Gute Hirten führen sanft, Über Menschenregie-
rungskünste, Berlin 2017, S. 113 ff.

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fung auf die gleichen theoretischen Ansätze und Forschungsergebnisse, ver-


handelt und entsprechend vergleichbare Handlungsvorschläge formuliert.
Beide theoretischen Ansätze stimmen in der hohen Bedeutung von Sinnge-
bung und Autonomie überein. Nähme man das entsprechende Bedürfnis der
Studierenden ernst, müsste man sie fragen, was ihnen wichtig ist, aus wel-
chen Gründen und mit welchem Ziel gerade Jura studiert wird und was ih-
rem Lernen Bedeutung gibt. Stattdessen zerstört das Jurastudium tendenzi-
ell das, was eine Bindung zum Fach herstellen könnte: Es grenzt sich deut-
lich von moralischen Normen ab und entwertet einen Bezug darauf als un-
professionell, es wehrt emotionale Reaktionen auf die Studieninhalte ab, es
dethematisiert die zur Identifikation wichtige juristische Forschung und
Praxis gleichermaßen75 und betont stattdessen inhaltsleere prüfungsbezo-
gene Leistungshierarchien und Konkurrenz. Darauf deuten jedenfalls die
von den Studierenden genannten Schwierigkeiten und Belastungen des Stu-
diums und eine Vielzahl individueller Berichte hin.
Aber wie könnte eine Moralisierung und ethische Reflexion da helfen?

I. Ethik, Emotionen und Motivation

Die Ethik ist die Reflexionstheorie der Moral. Die Moral stellt diejenigen
Kriterien bereit, die im sozialen Verkehr über Achtung und Nichtachtung
von Handlungen und im Ergebnis auch Personen entscheiden.76 Achtung,
Respekt und soziale Anerkennung sind ein menschliches Grundbedürfnis.
Missachtung – oder, noch stärker, Verachtung – durch andere ist eine sozi-
ale Sanktion und führt im Extremfall zum Beziehungsabbruch und Aus-
schluss aus der entsprechenden Bezugsgruppe. Moral ist freilich ein schar-
fes Schwert. Wird sie thematisiert, geht es um viel. Und wer dieses Schwert
führt, steht leicht in Gefahr, sich selbst damit zu verletzen. Luhmann kommt
deshalb in seiner berühmten Hegel-Preis-Rede zu dem Schluss: »Ange-
sichts dieser Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der
Ethik, vor Moral zu warnen.«77 Aber: Ohne Moral geht es auch nicht.
____________________
75 Bleckmann/Raupach, Same Same But Different – Praxisbezüge in der Ausbildung
von JuristInnen und MedizinerInnen, in: Pilniok/Brockmann (Hrsg.), Die juristi-
sche Profession und das Jurastudium, Baden-Baden 2017, S. 107 ( 137 ff.).
76 Luhmann, Soziologie der Moral, in: Horster (Hrsg.), Die Moral der Gesellschaft,
Berlin 2008, S. 56 (104 ff.)
77 Luhmann, Paradigm lost, Über die ethische Reflexion der Moral, in: Horster
(Hrsg.), Die Moral der Gesellschaft, Berlin 2008, S. 253 (266).

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Motivation im Jurastudium

Während der akademischen Ethik der Ruch der Rationalität und emotio-
naler Distanz anhaftet, steht die Moral voll im Leben. Bewerten wir uns
selbst, geht es um Scham, Schuld und Reue auf der einen, Stolz auf der
anderen Seite. Bewerten wir andere, fühlen wir Ärger, Empörung, Verach-
tung oder Schadenfreude auf der einen, Bewunderung, Respekt oder Mitleid
auf der anderen Seite. Was auch immer wir fühlen: Das, worum es geht, ist
uns nicht mehr egal. »Fühlen heißt Involviertsein.«78 Und damit wird es für
die Didaktik spannend.79
Aber: Ist es legitim, einen Lehr-/Lerngegenstand zu moralisieren? Stu-
dierende gezielt zu emotionalisieren? Voraussetzung für eine verantwor-
tungsvolle moralische Ansprache ist, dass die maßgeblichen Wertungen of-
fen gelegt und kritisierbar gemacht werden. Dazu gehört auch ein Perspek-
tivenwechsel zwischen den beteiligten Handlungsträgern. Unter diesen Be-
dingungen ist auch eine moralische Skandalisierung zulässig, denn wie
schon Thomas von Aquin – Papst Gregor I. zitierend – feststellte: »Mit grö-
ßerer Wucht stellt sich die Vernunft dem Bösen entgegen, wenn Zorn ihr
dienstbar zur Hand geht.«80 Mit anderen Worten: Es darf nicht beim Zorn
bleiben. Aber er darf der Ausgangspunkt und die Triebfeder sein für die
Mühen der Vernunft. Diese kritische Reflexion muss man freilich auch von
den Studierenden einfordern. Hier geht es dann zentral z.B. um die Tren-
nung von Recht und Moral.81
Dazu kommt: Es ist nicht zuletzt für die Beziehung zu den Lernenden
wichtig, sich als Person erkennbar zu machen, die eigene Wertgrundlage als
Berufsträger mit professionellem Anspruch sichtbar werden zu lassen. Es
ist eine Frage der Professionalität als Dozierender, ob man sich diesen Fra-
gen stellt und seine moralischen Urteile anderen gegenüber glaubhaft ver-
treten kann.
Moral und die damit zusammenhängenden Emotionen werden hier zu-
nächst nur didaktisch genutzt, um den emotionalen Gehalt des Lerngegen-
standes zu erhöhen, die Studierenden als moralische Akteure anzusprechen
____________________
78 Heller, Theorie der Gefühle, Hamburg 1981, S. 19.
79 S. Abenoza/Arjona, Emotions and the frontiers of legal education, The Law Tea-
cher 2017, 453 (453 ff.).
80 Thomas von Aquin, STh II-II, q. 158, a. 1.
81 Im Rahmen professionsethischer Vorgaben s. dazu Schneider, Richterliche Ethik
im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung,
Berlin 2017, S. 62 ff. u. 320 ff.; zu den Auswirkungen auf rechtliche Argumenta-
tionen s. Fleischer, Ehrbarer Kaufmann – Grundsätze der Geschäftsmoral – Re-
putationsmanagement: Zur »Moralisierung« des Vorstandsrechts und ihren Gren-
zen, DB 2017, 2015 (2015 ff.).

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und die Bedeutsamkeit der Sache selbst wie der damit zusammenhängenden
professionellen Entscheidungen vor Augen zu führen. Diese Punkte berüh-
ren sowohl den Bereich der Autonomie des Lerners, insbesondere die per-
sönliche Wertschätzung und Wichtigkeit von Handlungen und Handlungs-
zielen, als auch – bei ethischen Fragen offensichtlich – der sozialen Einbin-
dung und der Anerkennung innerhalb der Bezugsgruppe. Ziel ist es, die Stu-
dierenden zu befähigen, ihr Wissen und Können mit den eigenen morali-
schen Prinzipien in Einklang bringen.
Wie moralisiert man einen Lehr-/Lerngegenstand? Es lassen sich zum
einen Verbindungen zu einer allgemeinen Moral herstellen: Die allermeis-
ten Menschen wollen – von ihren Mitmenschen im Großen und Ganzen an-
erkannt – in einer gerechten Welt leben. Führt man Ungerechtigkeiten vor
Augen oder moralisch zweifelhaftes Verhalten, lässt sich damit in der Regel
bereits arbeiten.82
Fragt man nach den spezifischen Gruppennormen der späteren Berufs-
träger eines Studienfaches, führt das zu den Regeln, die Professionalität
verbürgen. Als Professionalität werden üblicherweise die von Angehörigen
eines Berufsstandes erwartete Fachkompetenz und die Beachtung von spe-
zifischen Verhaltensnormen bezeichnet. Diese Verhaltensnormen manifes-
tieren sich in einer impliziten oder schriftlich niedergelegten Berufsethik.83
Eine alte Tradition der Berufsehre besteht im Handwerk. Eine starke ethi-
sche Tradition besteht bei den Medizinern, die mit dem hipokratischen Eid
eine besondere Form gefunden hat. Im Studium gehören Veranstaltungen
zur medizinischen Ethik zum Pflichtprogramm. In anderen Fächern werden
eigenständige Wahlveranstaltungen z.B. zur Wirtschaftsethik und – noch
selten – zur Technikethik angeboten, fachübergreifend auch zur Wissen-
schaftsethik. Teilweise werden die entsprechenden Fragestellungen von den
Berufsordnungen der freien Berufe abgedeckt, so bei den Ärzten, Rechts-
anwälten, Wirtschaftsprüfern, Psychotherapeuten usw. Teilweise haben Be-
rufsverbände Ethikrichtlinien verabschiedet (z.B. die »Ethischen Grunds-
ätze des Ingenieurberufes« d. VDI). In der Ausbildung thematisiert werden
sie (noch) selten. Im Übrigen bemüht man sich inzwischen weithin um die
Definition eines Begriffs der Professionalität, insbesondere bei den helfen-
den Berufen in der Pflege, sozialen Arbeit und bei Lehrern. Daraus ergeben
sich fachspezifische Anknüpfungspunkte, die zumeist die besonderen Pro-

____________________
82 Als didaktisches Modell dazu siehe die Konstanzer Methode der Dilemma-Dis-
kussion (KMDD): Lind, Moral ist lehrbar, 3. Aufl., Berlin 2015.
83 So zuletzt zur richterlichen Ethik Schneider (Fn. 81).

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blemkonstellationen des Berufes abbilden. Das betrifft zum einen die Be-
ziehung zwischen Klient und Berufsträger, die Zusammenarbeit der Berufs-
träger untereinander und die gesellschaftliche Rolle der Profession, mitun-
ter auch die Gefährdungslagen innerhalb der Organisationen, in denen sie
arbeiten. Es lassen sich die Normen unterscheiden, die ein kompetentes und
fachlich richtiges Handeln lege artis definieren und diejenigen, die das Ver-
halten im Übrigen dirigieren.
Ich möchte entsprechend zwei Wege zur Moralisierung des Lehr-/Lern-
gegenstandes vorschlagen: Die Thematisierung der Gerechtigkeitsfrage in
Veranstaltungen und die Nutzung von Biographien für die Moralisierung
und anschließende ethischer Reflexion. Aber bevor ich das tue, möchte ich
noch einen anderen Gedanken vorwegschicken:

II. Gefühle als das Andere Judiz

Das Judiz ist eine praktische Fähigkeit. Es wird üblicherweise als durch die
juristische Ausbildung anhand einer Vielzahl von Wertungen und Wer-
tungszusammenhängen geschulte intuitive Einschätzung von Fällen durch
das Vorbewusste verstanden. Man spürt, was im Ergebnis herauskommen
müsste. Bei einem guten Judiz hält die intuitive Antwort der juristischen
Rekonstruktion und Prüfung des Falles nach praktischen Maßstäben – also
im Sinne der h.M., zuvörderst der Rechtsprechung – stand. Ein gutes Judiz
gilt als persönliche Qualität eines Juristen und führt üblicherweise zu pro-
fessioneller Anerkennung.
Alternativ könnte man das unverbildete Judiz freilich auch als emotio-
nale, vorrechtliche Kontrollinstanz konzeptualisieren, als Störgröße, die ei-
ner allzu angepassten Regelbildung und Fallentscheidung entgegenwirken
kann. Das würde voraussetzen, dass man seine emotionale Reaktion auf ei-
nen Fall zunächst wahrnimmt und auch für wichtig – und richtig – hält.
Dieses alternative, individuelle, emotionale Judiz kann Sprungbrett sein
und vor allem die Kraft geben, gerade gegen eine h.M. zu argumentieren,
was in der Regel einen hohen Aufwand bedeutet und häufig hohe Frustrati-
onstoleranz voraussetzt. Im täglichen Geschäft eines Rechtsanwenders (An-
walt oder Richter) ist regelmäßig zu entscheiden, wieviel Zeit für den je-
weiligen Fall aufgewendet werden soll. Diese Entscheidung folgt üblicher-
weise der individuellen Motivationslage des Professionellen. Man könnte
das – parallel zu den formalen bzw. faktischen Annahmeverfahren der
Rechtsmittelgerichte – als ein persönliches Annahmeverfahren bezeichnen.

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Ist der Fall hinreichend attraktiv, um eine aufwendige Literaturrecherche,


Sachverhaltsermittlung, Verfahrensführung und Antrags- oder Entschei-
dungsbegründung zu rechtfertigen? Die Motivation dazu folgt – insbeson-
dere bei einer richtlichen Tätigkeit – in der Regel aus einer emotionalen
Beteiligung, einem Interesse am Fall. Findet der Fall kein größeres Inte-
resse, wird er im Rahmen der materiellrechtlichen und prozessualen Mög-
lichkeiten »schlank« erledigt. Das ist, wie auch eine weitgehende Anpas-
sung, für Juristen und für das System insgesamt funktional. Zu viele enga-
gierte und kreative Anwälte und Richter sind für die Justiz in ihrer derzei-
tigen Verfasstheit schwer zu verkraften.84 Aber das ist eine andere Diskus-
sion.
Ein Interesse am Fall setzt voraus, dass man überhaupt an etwas Interesse
hat, die Person etwas emotional berührt und sie sich berühren lässt. Sich
empören, zornig werden zu können, mit Leidenschaft bei der Sache zu sein,
ist eine positive Eigenschaft. Eine emotionale Beteiligung muss dann
selbstredend professionell kanalisiert werden. Emotionen sind keine
Rechtsquelle. Aber ohne emotionale Beteiligung fehlt all das, was Juristen
zu mehr macht, als bloße Rechtstechniker zu sein.
Dass ein Jurist emotionslos seine Aufgabe erfüllt, wird die große Aus-
nahme sein, auch wenn das ein gängiges gesellschaftliches Bild ist und ein
Selbstbild mancher Kollegen. In der Regel finden die eigenen Emotionen
den Weg in die juristische Tätigkeit, ob reflektiert oder nicht. Welche Emo-
tionen das aber sind – ein Gerechtigkeitsgefühl oder Anpassung und Ver-
meideverhalten – und ob sie als bedeutsam thematisiert werden können und
ob damit offen umgegangen werden kann, entscheidet sich an der Ausbil-
dungs- und Berufssozialisation. Diese emotionalen und motivationalen Ein-
flüsse zu kennen, positiv zu nutzen und kritisch zu reflektieren, ist eine zent-
rale Anforderung an die Professionalität eines jeden Juristen. Für Richter
ergibt sich ein entsprechender Imperativ schon allein aus der Gesetzesbin-
dung.
Bahnbrechend in dieser Hinsicht sind die Angebote des Kompetenzzent-
rums für juristisches Lernen und Lehren an der Universität zu Köln, das
Veranstaltungen zu reflexiven Praktiken anbietet, die auch auf diese Fragen

____________________
84 Zum Verhältnis von Varietät und Redundanz im Rechtssystem s. Luhmann, Das
Recht der Gesellschaft, Berlin 1993, S. 19, 290 u. 358.

122
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Motivation im Jurastudium

abzielen.85 Reflexivität ist aber auch ein zentraler Ansatzpunkt für berufs-
ethische Kompetenzen, von denen später noch die Rede sein wird.86

III. Gerechtigkeit als Thema

Moralisieren heißt, Gerechtigkeitsfragen zu stellen. Das geht auf unter-


schiedlichen Ebenen:

Auswahl der Rechtsfälle:


Es gibt eine Vielzahl von Fällen, die geeignet sind, ungerechte
Machtverhältnisse offen zu legen (z.B. im Antidiskriminierungs-
recht oder bei den Schutzrechten für Mieter, Arbeitnehmer, Min-
derjährige) oder die moralische Dilemmata enthalten. Es geht da-
rum, die beteiligten Interessen zu klären und die Gewinner und Ver-
lierer gesetzlicher Wertungen zu benennen.87 Solche Fälle müssen
selbstredend aktiv gesucht und bewertet werden, lassen sich aber in
allen Rechtsbereichen finden.
Sie können aber auch bewusst konstruiert und dann gerade ent-
lang kollidierender Rechtsprinzipien und den dahinter stehenden
schwierigen Wertungsfragen entwickelt werden. Entspechende
Sachverhalte lassen sich freilich selten in Drei-Zeilen-Fällen dar-
stellen. Es gibt aber keine didaktische Notwendigkeit für eine Stra-
tegie der Aufteilung der Lerninhalte auf einzelne Lernaufgaben, die
von einfacheren zu komplexeren Fragestellungen strukturiert sind
____________________
85 Kompetenzzentrum für juristisches Lernen und Lehren (Fn. 6); S.a. Kaul-
bach/Riecke, Reflexives Schreiben als Methode juristischen Lernens, in diesem
Band, S. 63 (63 ff.).
86 Crowley-Cyr, Towards ethical literacy by enhancing reflexivity in law students,
in: Robertson/Corbin/Tranter/Bartlett (Hrsg.), The ethics project in legal educa-
tion, New York 2011, S. 142 (142 ff.); zu berufsethischen Dilemmata siehe insbe-
sondere Ludewig/Dematteis, Moraldilemmata als Herausforderung für das Rechts-
system: Wertekonflikte von Rechtsakteuren, AJP 2011, 1037 (1037 ff.), und die
Beiträge in Ehrenzeller/Ludewig-Kedmi (Hrsg.), Moraldilemmata von Richtern
und Rechtsanwälten, Berufsschwierigkeiten und Bewältigungsstrategien, St.
Gallen 2006.
87 S. Haller, Reading reported cases through a legal ethics lens, in: Robert-
son/Corbin/Tranter/Bartlett (Hrsg.), The ethics project in legal education, New
York 2011, S. 191 ff.

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(wie z.B. im Programm des zielerreichenden Lernens nach Bloom,


das in den 1960er und 1970er Jahren ausgearbeitet wurde88) – und
dann entsprechende kleine Fälle provozieren. Genauso gut kann
statt einem streng sequenziellen Ansatz zum Aufbau von Komple-
xität auch ein holistischer Ansatz verfolgt und mit großen, lebens-
nahen und komplexen Fällen gearbeitet werden. Dann werden mit
den Studierenden die Strategien besprochen, mit denen diese Kom-
plexität reduziert werden kann.89 Hier geht es vor allem um eine
handlungsorientierte Einführung in das fachspezifische methodi-
sche Vorgehen, es geht also neben der Darstellung der Inhalte zent-
ral um den Problemlösungsprozess. Zur Abrundung der Inhalte
kann mit Fallvariationen gearbeitet werden.
Ein solcher holistischer Ansatz ist tendenziell deutlich praxisnä-
her als die Sequenzen kleiner Fälle. Dann bietet es sich an, auch die
für die Praxis zentral wichigen Fragen der Sachverhaltsermittlung
und Beweiswürdigung miteinzubeziehen. Die überwiegende Zahl
der Fälle im Alltag der Zivil- und Strafgerichte entscheidet sich an
tatsächlichen Fragen. Diese – auch theoretisch gehaltvollen – Fra-
gen in der universitären Fallarbeit gänzlich auszuklammern, führt
zu bloßen realitätsblinden Subsumtionsübungen.
Schließlich bietet die Rechtsvergleichung interessante Verfrem-
dungseffekte, die die Relativität der Wertentscheidungen der eige-
nen Rechtsordnung – im materiellen wie im Verfahrensrecht –
deutlich macht. Ein Beispiel im Bereich Produkt-/Produzentenhaf-
tung wäre der Umgang mit den Klagen von Zigarettenrauchern ge-
gen Tabakkonzerne in den 2000er Jahren. Während die Urteile in
Deutschland mit jeder Zeile das Bestreben der Gerichte dokumen-
tieren, eine Beweisaufnahme zu vermeiden,90 wurden entspre-
chende Klagen in Schottland nach ausführlicher Beweisaufnahme

____________________
88 Mietzel, Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, 9. Aufl., Göttingen
2017, S. 26 ff.
89 Klingovsky/Kossack, Selbstsorgendes Lernen gestalten, Bern 2007.
90 LG Arnsberg 14. 11. 2003, 2 O 294/02, NJW 2004, 232, und OLG Hamm
4.6.2005, 3 U 16/2004, NJW 2005, 295; dazu zu Recht kritisch Adams/Merten,
Zur Haftung des Zigarettenherstellers, EWiR 2004, 935 (935 ff.).

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Motivation im Jurastudium

abgewiesen,91 in den USA waren sie teilweise – nach mehrfachem


Durchlauf durch den Instanzenzug – erfolgreich,92 ebenso in Ita-
lien.93 Beim vertraglichen Schadensersatz könnte man an die be-
wusst programmierte suchterzeugende Wirkung von Online-Spie-
len denken.94
 Die Perspektiven der juristischen Grundlagenfächer und die
Rechtswirklichkeit mit ihrem kritischen Potenzial lassen sich auch
in Fachveranstaltungen integrieren. Baier, ein Ingenieur aus Berlin,
hat eine großartige Idee gehabt, wie er soziale und ökologische Fra-
gen in die Fachveranstaltungen des Grundstudiums Maschinenbau
integrieren kann: Er hat im Rahmen eines – bereits seit vielen Se-
mestern durchgeführten – Seminars »Blue Engineering« Studie-
rende Orientierungswissen erarbeiten und in kleine, 5 – 10minütige
Lehrbausteine umsetzen lassen. Diese Lehrbausteine, in der Regel
mit aktivierenden Methoden, können dann zu Beginn, in der Mitte
oder am Ende einer Fachveranstaltung vom jeweiligen Dozenten
eingesetzt werden.95
Übertragen auf das Projekt ethischer Reflexion im Jurastudium96
ginge es hier zentral um Querschnittsfragen über alle Rechtsgebiete
____________________
91 Outer House, Court of Session 31.5.2005, McTear v Imperial Tobacco Ltd, [2005]
CSOH 69.
92 S. z.B. den Fall US Supreme Court 20.2.2007, Philip Morris USA v Williams, 549
U.S. 346 (2007).
93 Hooper, Family's victory against BAT could open legal floodgates, The Guardian,
11.3.2005, abrufbar unter https://www.theguardian.com/world/2005/mar/11/
smoking.johnhooper (letzter Abruf am 1.9.2018).
94 Rührmair, Forscher kritisieren Computerspiel-Industrie, Stern, 4.11.2009, abruf-
bar unter https://www.stern.de/digital/games/videospiel-sucht-forscher-kritis-
ieren-computerspiel-industrie-3449520.html (letzter Abruf am 1.9.2018).
95 Baier, Fellowship für Innovationen in der Hochschullehre für das IKMM, 2016,
abrufbar unter http://www.vm.tu-berlin.de/menue/fakultaet_v/newsticker/ar-
chiv/aeltere_news/2016_meldungen/fellowship_fuer_innovationen_in_der_hoch
schullehre_fuer_das_ikmm (letzter Abruf am 1.9.2018); zum Projektantrag s.
Baier, StuGeLe – Studierende gestalten Lehre, Studentisch gestaltete Mini-Bau-
steine zur Vermittlung sozial-ökologischen Orientierungswissens und Gestal-
tungskompetenz in Grundlagenvorlesungen am Beispiel von »Konstruktion 1«,
TU Berlin, Fakultät V (Verkehrs- und Maschinensysteme), 2015, abrufbar unter
https://www.stifterverband.org/file/1629/download?token=R1ye5Oaj (letzter Ab-
ruf am 1.9.2018).
96 Ferris (Fn. 30), S. 145 ff.

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hinweg, insbesondere in den Bereichen Gender, Rassismus, Armut


und Exklusion, Antidiskriminierung, Ökologie, Menschenrechte.
Das betrifft zum einen eine Sensibilisierung für den normativen Ge-
halt dieser Themen, das betrifft zum anderen zentral auch Ergeb-
nisse empirischer Forschungen über Bedingungen und Auswirkun-
gen entsprechend problematischer sozialer Verhältnisse. Für das
gesamte Strafrecht und Strafprozessrecht lassen sich entsprechende
kriminologische Befunde einflechten (Prävalenz und soziale Ver-
teilung der Delikte nach Opfer- und Täterbefragungen, Prävalenz
nach amtlicher Statistik, Bedeutung der Staatsanwaltschaft im Se-
lektionsprozess, Art und Umfang der Verfahrenserledigung nach
Verfahrensgegenstand – z.B. allgemeine Strafsachen vs. Wirt-
schaftsstrafsachen, Sanktionswirklichkeit), im Verbraucherschutz-
recht z.B. die Erkenntnisse der Behavioral Economics97 auf der ei-
nen und der Marketingstrategien und der besonderen Probleme der
Rechtsdurchsetzung (bewusste Inkaufnahme von Gerichtsverfah-
ren durch Unternehmen wegen geringer Klagequote – geringe
Streitwerte, VW-Abgasskandal) auf der anderen Seite.
Die Kernfrage lautet: Was ist das soziale Orientierungs- und
Kontextwissen, das eine professionelle und verantwortungsvolle
Berufsausübung (auch als Wissenschaftler!) erfordert?
 Schließlich: Die eigene Stellungnahme ist wichtig. Solche »Be-
kenntnisse« haben für die Studierenden eine hohe Bedeutung, ins-
besondere, wenn Wertbezüge biographisch hinterlegt sind. Die
Glaubwürdigkeit des Dozenten hat einen zumindest moderaten Ein-
fluss auf den Lernerfolg der Studierenden98 – nach der durchaus
nicht unumstrittenen Evaluation von Hattie zu Lerneinflüssen ist
dieser Effekt sogar deutlich stärker, auch stärker als die Motivation
der Studierenden.99 Zur Glaubwürdigkeit gehört neben der Sach-
und Unterrichtskompetenz und einer Leidenschaft für die Sache
und den Beruf vor allem eine vertrauensvolle Beziehung zu den

____________________
97 Reisch/Oehler, Behavioral Economics: Eine neue Grundlage für die Verbraucher-
politik?, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2009, 30 (30 ff.).
98 Finn/Schrodt/Witt/Elledge/Jernberg/Larson, A Meta-Analytical Review of
Teacher Credibility and its Associations with Teacher Behaviors and Student Out-
comes, Communication Education 2009, 516 (516 ff.).
99 Hattie, Hattie Ranking: 252 Influences And Effect Sizes Related To Student
Achievement, 2018, abrufbar unter https://visible-learning.org/hattie-ranking-in-
fluences-effect-sizes-learning-achievement/ (letzter Abruf am 1.9.2018).

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Motivation im Jurastudium

Studierenden. Zentral wichtig dabei ist, sich für die Studierenden


zu interessieren und ihnen zu zeigen, dass sie und ihr Lernerfolg
dem Dozenten wichtig sind. Umgekehrt interessieren sich die Stu-
dierenden aber auch für den Dozenten und seine Überzeugungen.
Als Person, nicht nur als Rolle wahrgenommen zu werden, erhöht
dabei seine Glaubwürdigkeit.

IV. Arbeit mit Biographien: Wissenschafts- und Berufsethik

Eine ethische Reflexion der eigenen Wissenschafts- und Berufspraxis ist –


wie oben bereits angesprochen – in einigen Fächern bereits üblich, in ande-
ren noch die Ausnahme. Im Medizinstudium sind Veranstaltungen zur me-
dizinischen Ethik seit dem Wintersemester 2003/2004 Teil des Pflichtcur-
riculums. Während die Medizinethik seit dem Eid des Hippokrates eine
mehr als zweitausendjährige Tradition hat, ist das für eine Juristenethik
nicht überliefert. Auf der anderen Seite existieren seit jeher Vorstellungen
davon, wie Juristen ihren Beruf professionell und verantwortungsvoll aus-
üben sollten. Richter schlichten oder entscheiden Konflikte, müssen unab-
hängig und unparteilich sein und dürfen nur den geltenden Regeln folgen,
Anwälte vertreten die Interessen ihrer Mandanten und bewahren Still-
schweigen. Ausgangspunkt der Berufsethik ist daher das sie tragende Ethos,
das als »Mission-Statement« des Berufs die Grundwerte und Leistungen der
Berufsträger definiert, die von der Gesellschaft berechtigterweise erwartet
werden. Die Sinnstiftung erfolgt also über die Bestimmung einer gesell-
schaftlichen Funktion, die von den Berufsträgern eigenverantwortlich
wahrgenommen wird. Deshalb sind Praxisbezüge in der Ausbildung so
wertvoll: Damit wird nicht nur das Ziel der Ausbildung, sondern auch der
Wert der späteren Tätigkeit deutlich. Das gilt nicht nur für die juristischen
Berufsträger im Praxisfeld, sondern auch in der Wissenschaft.
Nun wäre eine weitere Veranstaltung unter dem Titel »Wissenschafts-
und Professionsethik« – insbesondere, wenn sie als theoretische Einführung
oder als Subsumtionsübung durchgeführt würde – wenig hilfreich. Anders
wäre es dann, wenn dadurch konkrete Praxiserfahrungen reflektiert werden

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könnten, z.B. im Bereich einer law clinic oder im Praktikum.100 Als eine
alternative Unterrichtsgestaltung – und das soll hier vorgeschlagen werden
– lassen sich Biographien verwenden.101 Anders als z.B. Fälle standeswid-
rigen Verhaltens von Rechtsanwälten, Gehörsverstöße durch die Gerichte
oder Fehlurteile aufgrund eines unprofessionellen Verhaltens der beteilig-
ten Berufsgruppen,102 machen Biographien deutlich stärkere Identifikati-
onsangebote.103 Dabei können Biographien im Unterricht mit ganz unter-
schiedlicher Zielsetzung eingesetzt werden.104 Hier geht es vor allem um
den (professionsethischen) Gehalt biographischer Episoden oder der ge-
samten Berufspraxis. Es sollten aber nicht nur die exzeptionellen Berufs-
und Lebenswege, die professionellen Sondersituationen im Vordergrund
stehen, sondern auch die Normallagen beruflicher Praxis thematisiert wer-
den. Nicht jeder kann sich mit Anita Augspurg, Elisabeth Seibert, Robert
H. Jackson, Gustav Radbruch oder Fritz Bauer identifizieren, nicht jeder
____________________
100 Chavkin, Experience is the only teacher: bringing practice to the teaching of eth-
ics, in: Robertson/Corbin/Tranter/Bartlett (Hrsg.), The ethics project in legal edu-
cation, New York 2011, S. 52 (52 ff.), u. Nicolson, Learning in justice: ethical
education in an extra-curricular law clinic, in: Robertson/Corbin/Tranter/Bartlett
(Hrsg.), The ethics project in legal education, New York 2011, S. 171 (171 ff.).
101 S. z.B. die Werke von Stolleis (Hrsg.), Juristen, München 2001; Röwekamp, Juris-
tinnen, Lexikon zu Leben und Werk, Baden-Baden 2005; Grundmann/Riesen-hu-
ber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten
ihrer Schüler, Band 1, Berlin 2007; Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutsch-
sprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Band
2, Berlin 2010; Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, Band 1, Baden-Baden
1988; Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare JuristInnen, Band 2, Baden-Baden 2016.
102 Neben den Fällen, die mit den Namen Harry Wörz, Gustl Mollath oder Rudolf
Rupp verbunden sind, den zweifelhaften Entscheidungen in den Fällen Hoeneß
oder Ecclestone, sind ein besonders krasses Beispiel, das regelmäßig erhebliche
Betroffenheit auslöst, die Wormser Prozesse um Kindesmissbrauch und ihr Vor-
läufer in den USA, das McMartin-Verfahren, 1995 verfilmt unter dem Titel »Unter
Anklage« (orig. Indictment: The McMartin Trial).
103 Sharp, »Represent a murderer … I'd never do that!« How students use stories to
link ethical development and identity construction, in: Robert-
son/Corbin/Tranter/Bartlett (Hrsg.), The ethics project in legal education, New
York 2011, S. 33 (33 ff.).
104 Z.B. zur Erhöhung der Lernpersistenz der Studierenden durch die Kenntnis der
biographischen Schwierigkeiten auch berühmter Naturwissenschaftler beim Ler-
nen und bei der Arbeit s. Ahn/Luna-Lucero/Lamnina/Nightingale/Novak/Lin-Sieg-
ler, Motivating Students' STEM Learning Using Biographical Information, Inter-
national Journal of Designs for Learning 2016, 71 (71 ff.).

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die Aktualität der Wege von Karl Larenz105 oder Otto Palandt106 erkennen.
Auch ganz normale Juristen in unterschiedlichen Berufsfeldern sollten eine
Rolle spielen. Kurz: Es geht um Helden, Schurken und ganz normale Leute.
Bei der Beschäftigung mit Biographien sollten die Studierenden die fol-
gende Leitfrage beantworten:

 Was nehmen Sie für sich positiv oder negativ aus dieser Biographie
mit? Was ist vorbildlich, was abschreckend? Warum?
 Was ergibt sich daraus für ihr späteres Verhalten im Beruf?
 Wovon hängt es ab, ob sich so verhalten werden?
 Können Sie heute dafür schon etwas tun?
 Was könnte der Grund dafür sein, wenn Sie sich nicht so verhalten?

Es gilt also, zum einen das jeweilige Berufsethos zu rekonstruieren, dann


daraus aktuelle Handlungsanweisungen zu entwickeln und schließlich die
Gefährdungen wahrzunehmen. Das lässt sich auch soziologisch reformulie-
ren: Es geht um Rollendefinitionen, um die Aneignung einer Rolle und um
Rollenkonflikte durch abweichende Verhaltensnormen, die sich in Inter-

____________________
105 Siehe insb. die Kontroverse zwischen Bernd Rüthers und Claus-Wilhelm Canaris
über die zutreffende Bewertung der Darstellung des wissenschaftlichen Lebens-
werkes von Karl Larenz: Canaris, Karl Larenz (1903–1993), in: Grundmann/Rie-
senhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Be-
richten ihrer Schüler, Band 2, Berlin 2010, S. 263 (263 ff.); Rüthers, Personenbil-
der und Geschichtsbilder – Wege zur Umdeutung der Geschichte?, JZ 2011, 593
(593 ff.); Canaris, »Falsches Geschichtsbild von der Rechtsperversion im Natio-
nalsozialismus« durch ein Porträt von Karl Larenz? Wider einen Versuch »unbe-
grenzter Auslegung« eines wissenschaftlichen Textes, JZ 2011, 879 (879 ff.);
Rüthers, Die Risiken selektiven Erinnerns – Antwort an C.-W. Canaris, JZ 2011,
1149 (1149 ff.), und dazu der Beitrag von Jakobs, Sehr geehrter Herr Canaris,
myops 2012, Heft 14, 6 (6 ff.).
106 Siehe dazu die Initiative »Palandt umbenennen«, abrufbar unter palandtumbenen-
nen.de (letzter Abruf 1.9.2018), und die Reaktion durch den C.H. Beck-Verlag, s.
Legal Tribune Online, Palandt bleibt Palandt, C.H. Beck-Verlag wird BGB-Kom-
mentar nicht umbenennen, 15.11.2017, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/n
achrichten/n/palandt-bleibt-palandt-hinweis-vita-im-werk/ (letzter Abruf am
1.9.2018).

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aktionen entwickeln,107 in Organisationen gebildet werden108 oder gesell-


schaftlich109 bestehen.
Biographien sind historische Erscheinungen und in eine historische Situ-
ation eingebettet. Das ist das große Thema von Rüthers.110 Ausgehend von
der Aufarbeitung der Geschichte des Bundesministeriums der Justiz und der
personellen und ideologischen Kontinuitäten zur NS-Zeit hat sich in den
letzten Jahren erneut eine Diskussion über die Verantwortung der Juristen
entwickelt.111 Dabei wurde die Frage thematisiert, welche Lehren für die
Juristenausbildung aus dem Befund gezogen werden könnten, dass hier
hochqualifizierte Juristen an der Pervertierung einer Rechtsordnung und
seiner verbrecherischen Anwendung mitgewirkt haben – und dann als Hüter
und Gestalter einer einer neuen, demokratischen und rechtstaatlichen Ord-
nung eingesetzt wurden, die sie ohne biographischen Bruch und durchaus
mit ideologischen Altlasten auch umgesetzt haben. Wie sich aus einer his-
torischen Reflexion hier aktuelle Ansätze für eine kritische Berufspraxis
gewinnen lassen, hat jüngst Foljanty dargelegt.112 Aus der Thematisierung
des NS-Unrechts auch im Kerncurriculum zieht der Wirtschaftsrechtler Po-
dszun, Düsseldorf, drei Konsequenzen für seine Lehre:
»Die politischen Wertungen hinter den scheinbar so abstrakten, ja beinahe unschul-
digen Normen werde ich stärker in den Fokus rücken. Das schließt gesellschaftliche
Hintergründe, ökonomische Bezüge und praktische Auswirkungen ein.
Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Demokratie gehören in jede Vorlesung,
nicht nur ins Staatsrecht. Sie prägen jedes Rechtsgebiet und müssen daher beispiels-
weise auch im Sachenrecht, im Handelsrecht oder im Baurecht unterrichtet werden.
Besucher meiner Veranstaltungen werden künftig mindestens ein Urteil lesen, mit
dem sich die Gefahren aseptischer Rechtsfindung diskutieren lassen. Wer sich im
____________________
107 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssys-
teme, Berlin 1999, S. 52 ff. u. 93 ff.
108 Kühl, Ganz normale Organisationen, Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014,
S. 83 ff.
109 Rüthers, Geschönte Geschichten – geschonte Biographien, Sozialisationskohorten
in Wendeliteraturen, Tübingen 2001.
110 Einschlägig hier Rüthers (Fn. 109).
111 Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg, Das Bundesministerium der Justiz
und die NS-Zeit, Berlin 2016, abrufbar unter https://www.bmjv.de/Shared-
Docs/Publikationen/DE/Akte_Rosenburg.pdf?__blob=publicationFile&v=18
(letzter Abruf am 1.9.2018).
112 Foljanty, Historische Reflexion als Ausgangspunkt für die heutige Berufspraxis,
AnwBl 2017, 1158 (1158 ff.).

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Reichsgerichtsrat selbst erkennt, versteht vielleicht, worum es in diesem Studium


eigentlich geht: Recht und Unrecht.«113
In einer Arbeitsgruppe, die sich im BMJV mit diesem Thema beschäftigt
hat, wurden vom Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften
und von der Neuen Richtervereinigung zwei Bereiche identifiziert, die für
eine juristische Ausbildung relevant sein könnten: Zum einen die Fähigkeit,
»Nein« sagen zu können, Überzeugungen auch gegen Widerstände zu äu-
ßern und durchzuhalten (Konfliktfähigkeit, bezogen auf Organisationen
z.B. Whistleblowing) und zum anderen die Vermittlung eines kritisch-re-
flektierten Berufsethos und einer juristischen Ethik. Um diese Themen zu-
mindest im Studium aufgreifen zu können,114 auch wenn möglicherweise
die Mehrzahl der Dozenten hier keinen Handlungsbedarf sieht, sollte dafür
ein Raum geschaffen werden. Deshalb haben die beiden Verbände die Ver-
ankerung eines Leistungsnachweises in diesem Bereich im Deutschen Rich-
tergesetz angeregt.115 Die Landesjustizprüfungsämter sehen insoweit kei-
nen Handlungsbedarf. Im Koalitionsvertrag vom 12.3.2018 zwischen
CDU/CSU und SPD wurde nun vereinbart:
»Wir wollen das historische Bewusstsein für das nationalsozialistische Unrecht
schärfen, um aus den dunklen Kapiteln unserer Vergangenheit lernen zu können.
Wir sind uns einig, dass die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen
Justizunrecht auch Teil der Juristenausbildung ist.«116
Das läuft aller Voraussicht nach auf eine Änderung von § 5a DRiG hinaus,
dessen Abs. 2 S. 3 durch die »Einbeziehung des deutschen Justizunrechts
des 20. Jahrhunderts« ergänzt werden könnte und Abs. 3 S. 1 durch die

____________________
113 Podszun, Wertfreies Subsumieren in der Examensmühle, Legal Tribune Online
vom 26.5.2018, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/studium-referendariat/s/n
s-unrecht-ausbildung-jura-studium-politik-verstaendnis-rechtsstaat/ (letzter Abruf
am 1.9.2018).
114 Anbieten würde sich eine Behandlung auch – mit je anderem Schwerpunkt – im
Referendariat, beim Berufseinstieg und im Bereich der Fortbildung.
115 Steinke, Die Justiz ist nie unpolitisch, Süddeutsche Zeitung, 18.9.2017, abrufbar
unter http://www.sueddeutsche.de/bildung/rechtswissenschaften-die-justiz-ist-
nie-unpolitisch-1.3667719 (letzter Abruf am 1.9.2018).
116 CDU/CSU/SPD, Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für
Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land Koalitionsvertrag zwi-
schen CDU/CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, abrufbar unter
https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?fil
e=1 (letzter Abruf am 1.9.2018), S. 123.

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Berücksichtigung »der ethischen Grundlagen des Rechts für die berufliche


Praxis.« Auch wenn das zuletzt genannte Thema über § 5d Abs. 1 S. 1 DRiG
prüfungsrelevant wird, ist nicht anzunehmen, dass diese Inhalte jemals im
Staatsexamen auftauchen werden. Denn es wird so lediglich zu einem mög-
lichen Prüfungsgegenstand, eines eigenen Leistungsnachweises (wie bei
den Fremdsprachenkenntnissen) bedarf es aber nicht. Es handelt sich um
eine symbolische Änderung, aber immerhin. Gut dazu passt Snyders aktu-
elle Handreichung gegen die Tyrannei. In seinen zwanzig Lehren, die er aus
den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zieht, heißt es in Regel 5: »Remem-
ber professional ethics.«117
Die Umsetzung einer Biographiearbeit – will man nicht einzelne Veran-
staltungen dafür vorsehen, was sich gerade im Zusammenhang mit Grup-
penarbeit und -diskussionen anbietet – kann zum einen im Rahmen von stu-
dentisch erstellten und vom Dozenten genutzten Kurzinterventionen erfol-
gen (s.o.), zum anderen als Kurzvorträge der Studierenden (5 min. + 5 min.
Diskussion) am Anfang einer jeden Stunde.118

E. Zusammenfassung

Die emotionale Seite des Lernens wird regelmäßig als wichtig erkannt und
benannt, wird aber selten operationalisiert und ist kaum didaktisch hand-
lungsleitend. Im Bereich der Motivation gibt die Selbstbestimmungstheorie
der Motivation von Ryan und Deci vergleichsweise konkrete Hinweise,
welche Rahmenbedingungen eingehalten werden müssen, um gut zu lehren.
So lassen sich die drei Grundbedürfnisse – Autonomie, Kompetenzerleben
und soziale Eingebundenheit – fast als Checkliste heranziehen, um die ei-
gene Unterrichtsplanung zu überprüfen. Überprüft man den gesamten Stu-
diengang und berücksichtigt die Fachkultur, werden die desaströsen Rah-
menbedingungen deutlich. Vor allem:
»Im Jurastudium hat sich bislang keine Tradition eines lebendigen Diskurses zwi-
schen Lehrenden und Studierenden weder in noch neben den Lehrveranstaltungen
____________________
117 Snyder, On tyranny, Twenty lessons from the twentieth century, New York 2017,
S. 38 ff.
118 S. Bleckmann, Wissenschaftlichkeit in der Studieneingangsphase, in: Kra-
mer/Kuhn/Putzke (Hrsg.), Schwerpunkte im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 77
(102 f. u. 110 f.).

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Motivation im Jurastudium

entwickelt. Damit kann sich das vielfältige und nicht zu ersetzende Potenzial sol-
cher Gespräche nicht entfalten. Die direkte Kommunikation schafft Verbindlich-
keit, verstärkt die Studienmotivation und verhilft durch das unmittelbare Erleben
der Lehrende als Akteure der juristischen Fachkultur zum Aufbau eines eigenen
Fachhabitus.«119
Daran fehlt es am dringlichsten. Es ist schwer nachvollziehbar und wohl
nur sozialisationstheoretisch zu erklären, warum für so viele Kollegen an
der Universität der Kontakt mit den Studierenden eine so geringe Priorität
hat.
Zur Erhöhung der persönlichen Bedeutsamkeit des Faches und der Iden-
tifikation damit – einem wesentlichen Problem, das von der Abbrecher-Stu-
die herausgearbeitet wurde – habe ich drei Alternativen vorgeschlagen:
Eine Einübung reflexiver Praktiken, eine Thematisierung der Gerechtigkeit
und das Arbeiten mit Biographien. Idealiter lassen sich die Ansätze ver-
schränken und verstärken sich dann gegenseitig. Sie lassen sich als Kurzin-
tervention gestalten oder als ganze (Grundlagen-/Schlüsselqualifikations-)
Veranstaltung konzipieren. Dieses Feld weiterhin unbeachtet und unbear-
beitet zu lassen, können wir uns nicht leisten, wenn uns die Studierenden
am Herzen liegen. Und wenn sie uns am Herzen liegen, dann lässt sich das
an einer entsprechenden Lehre aufweisen und muss für die Studierenden
auch erfahrbar sein. Bisher ist es das augenscheinlich nicht. Das muss an
die Grundfesten des Lehrethos eines jeden Hochschullehrers gehen. Aber
gibt es das überhaupt? Kombiniert man bei Google die Begriffe »Berufs-
ethik« und »Richter« oder »Anwalt«, findet man ohne weiteres die entspre-
chenden Diskussionen und Grundlagenpapiere. Kombiniert man »Berufs-
ethik« und »Hochschullehrer«, findet sich – nichts. Das bringt es auf den
Punkt.

____________________
119 Heublein/Hutzsch/Kracke/Schneider (Fn. 12), S. 85.

133
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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen
Zu Parallelen zwischen Rechtsvergleichung und juristischer
Methodenkompetenz (Fallbearbeitung und wissenschaftliches Arbeiten)

Martin Zwickel*

Der praktisch tätige Jurist muss heute, nicht zuletzt wegen der Internationa-
lisierung und der Europäisierung des Rechts, mehr und mehr rechtsverglei-
chend arbeiten. In auffälligem Kontrast dazu steht die noch immer margi-
nale Bedeutung der Rechtsvergleichung im juristischen Studium.1 Beklagt
wird, die deutsche Juristenausbildung sei provinziell.2 Sie orientiere sich
allein am nationalen deutschen Recht. Zudem verhindere das deutsche
Staatsexamenssystem jegliche Anerkennung von im rechtsvergleichenden
Bereich erbrachten Studienleistungen. Ein Baustein einer derart internatio-
nalisierten Juristenausbildung könnte ein verstärkter Einsatz der Rechtsver-
gleichung in der Juristenausbildung sein. Dies ist aber nur dann sinnvoll,
wenn es gelingt, juristisches Lernen und rechtsvergleichendes Arbeiten zu
verbinden. Nur dadurch wird es möglich sein, der Rechtsvergleichung den

____________________
* Dr.Martin Zwickel, Maître en droit ist Akademischer Oberrat an der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er leitet dort die Serviceeinheit
»Lehre und Studienberatung«.
1 Für das deutsche Recht Bartsch, Rechtsvergleichung als Ergänzungsstudium, JZ
1966, 560 (560 f.); für das französische Recht Fauvarque-Cosson, L´enseigne-
ment du droit comparé, R.I.D.C. 2-2002, 293 (293 ff.); anders ist das in Europa
z.B. in Italien (Fusaro, L´Italie, in: Mekki (Hrsg.), Réformer l´enseignement du
droit en France à la lumière des systèmes étrangères, Paris 2017, S. 123 (123 f.),
und Luxemburg (Ancel, L´enseignement du droit au Luxembourg, in: Mekki
(Hrsg.), Réformer l´enseignement du droit en France à la lumière des systèmes
étrangères, Paris 2017, S. 144 (150)).
2 So unlängst Lorenz, Reform des Jurastudiums – Zurück in die Provinz, Legal Tri-
bune Online vom 3.1.2017, abrufbar unter https://www.lto.de/persis-
tent/a_id/21647/ (letzter Abruf am 1.9.2018); schon früher Kötz, Alte und neue
Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, 257 (257 ff.).

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Martin Zwickel

Status als nicht oder kaum examensrelevantes Orchideenfach3 im juristi-


schen Curriculum zu nehmen. Ziel des Beitrags ist es, derartige Schnittstel-
len zu benennen und Vorschläge für die praktische Nutzung rechtsverglei-
chender Elemente in der juristischen Lehre zu unterbreiten.
Hierfür sollen zunächst die anerkannten Mehrwerte einer rechtsverglei-
chend ausgerichteten Juristenausbildung für den Lernenden in Erinnerung
gerufen werden, Begrifflichkeiten geklärt werden und Probleme benannt
werden (A.). Anschließend soll, getrennt für die Examensanforderungen der
Falllösungstechnik und der Beherrschung des wissenschaftlichen Hand-
werkszeugs, nach den Mehrwerten gesucht werden, die die Rechtsverglei-
chung in diesen für das deutsche juristische Lernen zentralen Bereichen der
juristischen Methodenkompetenz generieren kann (B. und C.).
Diese Bausteine ermöglichen es schließlich, Ideen für den Einsatz rechts-
vergleichender Elemente in der juristischen Lehre zusammenzutragen (D.).

A. Einführung: Grundfragen zu Schnittmengen zwischen juristischem


Lernen und Rechtsvergleichung

Seit Jahrzehnten wird in Deutschland eine stärker internationalisierte Juris-


tenausbildung gefordert.4 In jüngerer Zeit nehmen diese Diskussionen wie-
der Fahrt auf. So hat der Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme zu den
Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland5 2012 eine verstärkte
Berücksichtigung rechtsvergleichender Bezüge im juristischen Studium an-
gemahnt. Der Wissenschaftsrat führt aus:
»Die Vermittlung von Methoden und Wissen, mit denen sich Studierende auf juris-
tische Denk- und Theorietraditionen anderer Länder einstellen und sich auf eine
fortschreitend europäisierte Rechtspraxis vorbereiten können, lehrt reflexive Dis-
tanz zur eigenen Rechtsordnung und stärkt das wissenschaftliche Verhältnis zum
Rechtsstoff. Der Wissenschaftsrat ist deshalb der Meinung, dass im rechtswissen-
schaftlichen Studium rechtsvergleichende Perspektiven stärker verankert werden
sollten. Die Anwendung, Auslegung und Gestaltung des Rechts wird eine intensive
____________________
3 Bartsch (Fn. 1), S. 560: »Die Vorlesungsverzeichnisse der juristischen Fakultäten
enthalten zwar eine »Einführung in die Rechtsvergleichung«, aber der Student be-
gnügt sich im Allgemeinen damit, diese Vorlesung zu belegen, ohne ihr großes
Interesse entgegenzubringen.«
4 Stürner, Zwölf Thesen zur Internationalisierung der Juristenausbildung, in: FS
Müller-Graff, Baden-Baden 2015, S. 1476 (1476 ff.).
5 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland – Situa-
tion, Analysen, Empfehlungen, Hamburg 2012, S. 61 ff.

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

Auseinandersetzung mit den Regelungskonzepten anderer Rechtsordnungen und


unterschiedlichen Professions- wie Fachkulturen erfordern. Eine Möglichkeit, Jura-
Studierende mit Rechtsordnungen und rechtswissenschaftlichen Traditionen ande-
rer Länder vertraut zu machen, besteht darin, ausländische Gäste verstärkt in die
Lehre einzubinden. Ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen
Blockseminare anbieten können und für Vorlesungen gewonnen werden. Veranstal-
tungen zum Europa- und Völkerrecht sollten verstärkt fremdsprachlich angeboten
werden.«
Auch im Ausland wird, im Rahmen aktueller Überlegungen zu Reformen
des juristischen Studiums, jüngst eine größere Bedeutung der Rechtsver-
gleichung eingefordert.6 Auch fachdidaktische Tagungen nehmen sich der
Frage nach dem Zusammenhang von Rechtsdidaktik und Rechtsverglei-
chung an.7 Derartige Forderungen wecken beim kritischen Beobachter drei
Grundfragen:

 Welche Mehrwerte sind mit einer internationalisierten Juristenaus-


bildung verbunden (I.)?
 Was ist mit Rechtsvergleichung und juristischem Lernen gemeint
(II.)?
 Lassen sich (ausländische) Rechtsvergleichung und (inländisches)
juristisches Lernen überhaupt verbinden (III.)?

I. Anerkannte Mehrwerte einer rechtsvergleichenden Juristenausbildung

Hinter der o.g. Argumentation des Wissenschaftsrats und Projekten zur


Nutzung der Rechtsvergleichung für die Rechtsdidaktik stecken längst an-
erkannte Mehrwerte8 einer Internationalisierung der Juristenausbildung.
Folgende Argumente werden genannt:
____________________
6 So etwa im Rahmen der Diskussionen um die französische Juristenausbildung
Mekki, Rapport général, in: Mekki (Hrsg.), Réformer l´enseignement du droit en
France à la lumière des systèmes étrangères, Paris 2017, S. 37 (37 f.)
7 Jahrestagung 2018 des Hamburger Zentrums für rechtswissenschaftliche Fachdi-
daktik, s. hierzu Zwickel, Rechtsdidaktik und Rechtsvergleichung, ZDRW 2017,
299 (299 ff.).
8 S. dazu nur die ausführlichen Darstellungen von Kischel, Rechtsvergleichung,
München 2015, S. 54 ff.; Augenhofer, Rechtsvergleichung, in: Krüper (Hrsg.),
Grundlagen des Rechts, 3. Aufl., Baden-Baden 2017, S. 197 (206); Rösler, Rechts-
vergleichung als Erkenntnisinstrument in Wissenschaft, Praxis und Ausbildung,

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Martin Zwickel

Arbeitet man rechtsvergleichend, d.h. gewinnt man Einblicke in andere


Rechtsordnungen, führt das zu einer juristischen Horizonterweiterung.9
Als Mehrwert der Rechtsvergleichung wird zudem gesehen, dass Rechts-
vergleicher nicht so stark im nationalen Recht verhaftet sind und daher mit
scheinbar zentralen Grundsätzen des deutschen Rechts flexibler umgehen
können.10 Als Beispiel sei nur das deutsche Trennungs- und Abstraktions-
prinzip genannt, das anderen Rechtsordnungen gänzlich unbekannt ist.11
Als weiterer Vorteil gilt, dass die Scheu vor dem Umgang mit unbekann-
ten Regelungskomplexen verloren geht, denn der Rechtsvergleicher arbeitet
zwangsläufig immer mit unbekannten Regelungskomplexen. In diesem Zu-
sammenhang ist die Rede vom »Rechtsvergleichungsschock«, der mit der
Erfahrung der Fremdheit einhergehe.12
Die heutige Berufspraxis bringt mehr und mehr rechtsvergleichende Ar-
beit mit sich.13 Das gilt nicht nur in Bezug auf das nationale Recht, sondern
insbesondere in Disziplinen wie dem Europarecht und dem Völkerrecht.
Auf diese Praxis bereitet die Rechtsvergleichung vor.
Diese Mehrwerte rechtsvergleichenden Arbeitens werden die häufig exa-
mensorientierten Studierenden aber in der Regel noch nicht überzeugen. Sie
werden sich, auch wenn das Recht mehr ist als das Mittel zur Lösung von
Fällen,14 nämlich zwangsläufig die Frage nach Vorteilen für das juristische
Lernen stellen. Das juristische Lernen wiederum ist zu großen Teilen durch
das deutsche Staatsexamenssystem und das Universitätsprüfungssystem ge-

____________________
JuS 1999, 1084 (1084 ff.), und Rösler, Rechtsvergleichung als Erkenntnisinstru-
ment in Wissenschaft, Praxis und Ausbildung, JuS 1999, 1186 (1186 ff.).
9 Grossfeld, Rechtsvergleichung, Wiesbaden 2001, S. 66: »Das Wichtigste an der
Rechtsvergleichung ist die Wirkung auf den Rechtsvergleicher selbst. Sie verän-
dert ihn, ob er will oder nicht.«
10 In diesem Sinne auch Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsver-
gleichung, 4. Aufl., München 2010, § 13, Rn. 7; Augenhofer (Fn. 8), S. 206; Jun-
ker, Rechtsvergleichung als Grundlagenfach, JZ 1994, 921 (924): »[…] kann die
Rechtsvergleichung Übersteigerungen und Überspitzungen aufdecken.«
11 S. dazu nur das Werk von Stadler, Gestaltungsfreiheit und Verkehrsschutz durch
Abstraktion: eine rechtsvergleichende Studie zur abstrakten und kausalen Gestal-
tung rechtsgeschäftlicher Zuwendungen anhand des deutschen, schweizerischen,
österreichischen, französischen und US-amerikanischen Rechts, Tübingen 1996.
12 Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und in-
tersubjektive Kompetenz, ZaöRV 2004, 735 (739).
13 Fauvarque-Cosson, The Rise of Comparative Law: a Challenge for Legal Educa-
tion in Europe, Leuven 2007, S. 3; Kötz, Comparative Law in Germany today,
R.I.D.C. 1999, 753 (767); Baer (Fn. 12), S. 757.
14 Grossfeld, Rechtsmethoden und Rechtsvergleichung, RabelsZ 1991, 4 (15).

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

steuert. Es gilt daher, nach weiteren Mehrwerten rechtsvergleichenden Ar-


beitens zu suchen, die zugleich auch das juristische Lernen befördern.

II. Ausgangspunkt der Überlegungen: Gegenstände und Inhalte der


Rechtsvergleichung und des juristischen Lernens

Der Wissenschaftsrat macht zwar eine ganze Reihe konkreter Vorschläge,


mit denen er die rechtsvergleichenden Bezüge im Jurastudium stärken will.
Gleichwohl wird in der Stellungnahme des Wissenschaftsrats nicht präzi-
siert, was es denn eigentlich heißt, Rechtsvergleichung zu betreiben. Es
muss also in einem ersten Schritt verdeutlicht werden, worin denn über-
haupt die rechtsvergleichenden Bezüge im Jurastudium bestehen könnten.
Auch der Begriff des juristischen Lernens muss, für die weiteren Betrach-
tungen, näher bestimmt werden.

1. Rechtsvergleichung

In Bezug auf die Rechtsvergleichung ist zunächst zu klären, was es über-


haupt bedeutet, rechtsvergleichend zu arbeiten. Anschließend ist dann näher
auf die im Rahmen der Rechtsvergleichung zu verwendende Methode ein-
zugehen.

a) Rechtsvergleichung im eigentlichen Sinn

Der Wissenschaftsrat spricht nur von rechtsvergleichenden Bezügen. Defi-


niert wird dieser Begriff allerdings nicht. Hierzu muss man wissen, dass
sowohl Begriff als auch Gegenstand und Methode der Rechtsvergleichung
noch immer umstritten sind. Auf dem für die Rechtsvergleichung zentralen
Kongress des Jahres 1900 in Paris hat einer der Väter der Rechtsverglei-
chung (Edouard Lambert) auf den Unterschied zwischen Gesetzesverglei-
chung und Rechtsvergleichung hingewiesen.15 Während es bei der Geset-
zesvergleichung nur um die Vergleichung möglichst ähnlicher Gesetzes-

____________________
15 Lambert, Congrès de Paris, LGDJ, 1905, vol. 1, 60.

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Martin Zwickel

werke gehen soll, umfasst die Rechtsvergleichung juristische Phänomene


oder so genannte Funktionen. Weiterhin ist von der Rechtsvergleichung
auch die so genannte Auslandsrechtskunde,16 d.h. die Kenntnis von Details
ausländischer Rechtsordnungen, zu unterscheiden. Bei dieser Auslands-
rechtskunde erfolgt noch kein Vergleich. Führt man sich die Ausführungen
des Wissenschaftsrats zu Gemüte, so klingen diese, wenn von der Lehre
durch ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und fremd-
sprachigen Veranstaltungen die Rede ist, eher nach Auslandsrechtskunde.
Es ist zwar immer gut, Kenntnisse ausländischer Rechtsordnungen zu ha-
ben. Die oben genannten Mehrwerte rechtsvergleichenden Arbeitens bzw.
einer internationalisierten Juristenausbildung lassen sich aber nur im Rah-
men des Einbaus »echten rechtsvergleichenden Arbeitens« in das juristi-
sche Lernen erreichen. Es müssten damit andere als die vom Wissenschafts-
rat vorgeschlagenen Maßnahmen zum Zuge kommen.

b) Rechtsvergleichende Methode

Ein derart »echtes rechtsvergleichendes Arbeiten« kann dabei v.a. über die
Verwendung rechtsvergleichender Methoden erfolgen. Die rechtsverglei-
chende Methode schlechthin gibt es bis heute nicht.17 Als Ausgangspunkt
rechtsvergleichenden Arbeitens hat sich in Deutschland aber mittlerweile
das auf Rabel18 zurückgehende Prinzip der Funktionalität herausgebildet.19
Auch wenn die funktionale Rechtsvergleichung immer wieder kritisiert
wird,20 soll sie hier als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen dienen,
denn in der Praxis der Rechtsvergleichung hat sich bislang keine andere
Methode behaupten können.
____________________
16 Kritisch zum Begriff Kischel (Fn. 8), S. 5.
17 Junker (Fn. 10), S. 922; Blanc-Jouvan, Réflexions sur l'enseignement du droit
comparé, R.I.D.C. 1988, 751 (754).
18 S. nur Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, Rheinische
Zeitschrift für Zivil- und Prozessrecht 1924, 279 (279 f.).
19 Kötz (Fn. 13), S. 755.
20 Tschentscher, Dialektische Rechtsvergleichung – Zur Methode der Komparistik
im öffentlichen Recht, JZ 2007, 807 (807 ff.), mit der Forderung nach dialektischer
Rechtsvergleichung weitgehend ohne neutrale Länderberichte. Eine Zusammen-
fassung der Kritik findet sich bei Piek, Die Kritik an der funktionalen Rechtsver-
gleichung, ZEuP 2013, 60 (60 ff.).

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

Nach dem Funktionalitätsprinzip wird zunächst danach gefragt, welche


Funktion einer Rechtsnorm bzw. Rechtsregel zukommt. Zu vergleichen
sind nämlich nicht Gegenstände mit identischer Benennung, sondern iden-
tische Probleme.21 Die Vergleichung erfolgt also unter abstrakten System-
begriffen, die nicht einer der zu vergleichenden Rechtsordnung eigen sind.22
Die Vergleichsgegenstände mit einer ähnlichen Funktion werden dann in
einem weiteren Schritt einander gegenübergestellt.

2. Juristisches Lernen

Wurde vorstehend grob umrissen, worin die Besonderheiten rechtsverglei-


chenden Arbeitens bestehen, so ist nun die Frage nach der Definition des
Begriffs »juristisches Lernen« in den Blick zu nehmen. Der deutschen
Rechtsdogmatik und ihr folgend auch der deutschen Rechtsdidaktik geht es
um die systematisch fundierte Lehre vom geltenden deutschen Recht. Der
Umgang mit der deutschen Rechtsdogmatik ist auch das, was den Studie-
renden in den Prüfungen abverlangt wird. Beim juristischen Lernen geht es
also zunächst um den Erwerb von Rechtskenntnissen in den von den Aus-
bildungs- und Prüfungsordnungen benannten Rechtsfächern. Nach § 5a II 3
DRiG sind Pflichtfächer
»die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen
Rechts und des Verfahrensrechts einschließlich der europarechtlichen Bezüge, der
rechtswissenschaftlichen Methoden und der philosophischen, geschichtlichen und
gesellschaftlichen Grundlagen.«
Neben diesen Rechtskenntnissen, die hier nicht im Mittelpunkt stehen sol-
len, spielen aber für erfolgreiches juristisches Lernen die juristischen Me-
thodenkompetenzen23 eine bedeutende Rolle. Angesprochen sind damit v.a.
zwei Bereiche:

____________________
21 Michaelis, The Functional Method of Comparative Law, in: Reimann/Zimmer-
mann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2008, S. 339
(368).
22 Sog. tertium comparationis; s. hierzu Sacco/Rossi, Einführung in die Rechtsver-
gleichung, 3. Aufl., Baden-Baden 2017, S. 60 f.; Zweigert/Kötz, Einführung in die
Rechtsvergleichung, 3. Aufl., Tübingen 1996, S. 44.
23 Zu den einzelnen Kompetenzen s. Zwickel/Lohse/Schmid, Kompetenztraining
Jura, Berlin/Boston 2014, S. 3 ff.

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 Schon aufgrund des aktuellen Staatsexamenssystems ist das Erler-


nen der Technik der Fallbearbeitung eine zentrale Herausforderung
des juristischen Lernens.24 Auch für die Rechtsdidaktik besteht in
diesem Bereich noch Nachholbedarf im Hinblick auf empirische
Erkenntnisse und Erklärung dieser Arbeitsschritte.25
 Zentral ist für das juristische Lernen auch der Erwerb von Arbeits-
fähigkeiten im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens. Im juris-
tischen Studium erstellen die Studierenden, spätestens seit den letz-
ten größeren Juristenausbildungsreformen, umfangreichere wissen-
schaftliche Hausarbeiten.26

Wenn nachfolgend Schnittmengen zwischen juristischem Lernen und


Rechtsvergleichung thematisiert werden sollen, so ist vorab die Frage zu
beantworten, ob diese große Bedeutung der Arbeitsmethodik für das juris-
tische Lernen und rechtsvergleichendes Arbeiten überhaupt vereinbar sind,
und wenn ja, auf welchem Wege.

3. Vereinbarkeitsprobleme zwischen (deutschem) juristischem Lernen


und Rechtsvergleichung und deren Lösung

Im deutschen juristischen Curriculum wird rechtsvergleichend nahezu aus-


schließlich im Bereich der Vermittlung von Zusatzwissen gearbeitet. Bei
rechtsvergleichenden Veranstaltungen handelt es sich zumeist um Veran-
staltungen mit Vorlesungscharakter, die zusätzliche Kenntnisse der Rechts-
vergleichung oder ausländischer Rechtsordnungen vermitteln sollen.27 Mit

____________________
24 Lange, Jurastudium erfolgreich, 8. Aufl., München 2015, S. 247: »[…] muss die
Methode der Fallbearbeitung als eigener Studienschwerpunkt in das Studium ein-
geplant werden.«
25 Zu dieser Herausforderung an die rechtswissenschaftliche Fachdidaktik s. Pilniok,
Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik als Reflexion der Rechtswissenschaft, in:
Griebel/Gröblinghoff (Hrsg.), Von der juristischen Lehre, Baden-Baden 2012, S.
17 (27 f.)
26 Schimmel/Basak/Reiß, Juristische Themenarbeiten, 3. Aufl., Heidelberg 2017, S.
1.
27 Zu diesen Zusatzveranstaltungen s. Neumayer, Rechtsvergleichung als Unter-
richtsfach an deutschen Universitäten, in: FS Zweigert, Tübingen 1981, S. 501
(509); Fauvarque-Cosson (Fn. 1), S. 305 f.

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

den derzeitigen rechtsvergleichenden Veranstaltungen wird also scheinbar


ein »anderes juristisches Lernen« als das angesprochen, das für die Exa-
mensanforderungen typisch ist, denn es ist losgelöst von der dominierenden
Fallbearbeitungsmethode. In wissenschaftlichen Arbeiten im juristischen
Studium werden zwar häufig rechtsvergleichende Themen vergeben.28
Rechtsvergleichende Methoden haben die Studierenden dann aber ohne
ausreichende Einführung anzuwenden.
Damit zeigen sich zwei große Vereinbarkeitsprobleme zwischen (deut-
schem) juristischem Lernen und Rechtsvergleichung:

 Die Rechtsvergleichung beschäftigt sich bei oberflächlicher Be-


trachtung mit ausländischem Recht. Für das juristische Lernen steht
das deutsche Recht aber ganz im Vordergrund.
 Die rechtsvergleichende Methode steht scheinbar unabhängig ne-
ben der Methode der Falllösungstechnik und der wissenschaftli-
chen Arbeitsmethode.

Einen Schlüssel für die Auflösung dieses (vermeintlichen) Spannungsver-


hältnisses bietet ein näherer Blick auf methodische Parallelen zwischen
Rechtsvergleichung und Falllösungstechnik sowie Technik des wissen-
schaftlichen Arbeitens. Die Beschäftigung mit fremdem, ausländischem
Recht kann dann in Kauf genommen werden, wenn Studierende schon al-
lein aufgrund der Methodik der Rechtsvergleichung von rechtsvergleichen-
dem Arbeiten im Studium profitieren. Daher sollen nachfolgend rechtsver-
gleichende Methodik und die Methodik studentischen juristischen Arbei-
tens auf Parallelen untersucht werden.

B. Rechtsvergleichung und Erlernen der juristischen Fallbearbeitung

Im deutschen Jurastudium müssen Studierende ganz überwiegend Fälle lö-


sen. In den an deutschen juristischen Fakultäten üblichen Veranstaltungen
zur Einführung in die Rechtsvergleichung hingegen wird vielfach anhand
abstrakter, rechtsvergleichender Oberbegriffe und weniger anhand von Fäl-
len gearbeitet. Schließen sich die beiden Arbeitsmethoden damit zwangs-
läufig aus?

____________________
28 Schimmel/Basak/Reiß (Fn. 26), S. 196.

143
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Wagt man das Experiment, den praktischen Ablauf einer Fallbearbeitung


und die Beantwortung einer rechtsvergleichen Fragestellung gegenüberzu-
stellen, stößt man auf erstaunliche Parallelen.

Schritt 1: Funktionale Betrachtungsweise

Nehmen wir an, dass im Wege der Rechtsvergleichung folgende Aufgaben-


stellung zu beantworten ist:
»Die Minderung im deutschen und französischen Vertragsrecht.«
Den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen soll für den Bereich der
Fallbearbeitung der folgende einfache Beispielsfall bilden:
»A hat B einen mangelhaften PKW verkauft. Kann B den Kaufpreis re-
duzieren?«
Im Wege der funktionalen Rechtsvergleichung wird der Rechtsverglei-
cher zunächst nach der gesellschaftlichen Funktion der Minderung in den
beiden Rechten suchen. Ähnliches gilt auch für den Fallbearbeiter. Bei der
Auswahl der Rechtsgrundlage orientieren wir uns an der Funktion der
Rechtsgrundlage. Zu einer bestimmten Fragestellung passt eine darauf zu-
geschnittene Rechtsgrundlage (Anspruchsgrundlage, Straftatbestand, Wirk-
norm, Hilfsnorm).29 Im Rahmen der vorliegenden Fallfragestellung suchen
wir nach einer Anspruchsgrundlage mit der erwünschten Rechtsfolge
»Preisreduzierung«. Die Auswahl der Anspruchsgrundlage erfolgt also
funktional.
Erfolgt nun im Rahmen einer rechtsvergleichend ausgerichteten Juristen-
ausbildung eine Schulung des funktionalen Blickes auf das Recht, so schult
dies zugleich die Fähigkeit, hinter Rechtsinstituten stehende Funktionen zu
erkennen.

Schritt 2: Abstraktion

Den nächsten Bearbeitungsschritt bildet ein Abstraktionsvorgang. Der


Rechtsvergleicher würde nun zunächst versuchen, einen abstrakten Oberbe-
____________________
29 Zur Einteilung der Rechtsnormen s. Muthorst, Grundlagen der Rechtswissen-
schaft, München 2011, S. 69 ff.; zu den hier verwendeten Begrifflichkeiten s. Zwi-
ckel/Lohse/Schmid (Fn. 23), S. 84 ff.

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

griff zu finden, der Minderung und den französischen Begriff für ein funk-
tional identisches Rechtsinstitut mit umfasst.30 Derartiges könnte beispiels-
weise der Begriff »Reduzierung des Preises bei Mängeln der Kaufsache«
leisten. Während im Rahmen der Rechtsvergleichung vielfach eine Auswei-
tung des im nationalen Recht geläufigen Begriffes erfolgen muss, um auch
ausländische Rechtsinstitute abdecken zu können, kommt es im Rahmen
der Fallbearbeitung eher zu einer abstrahierenden Einengung eines Begrif-
fes auf die normative Formulierung des Gesetzes.31 Bei der Bearbeitung des
vorliegenden Falles müsste der Bearbeiter den lebensnahen Begriff der
Preisreduzierung in den juristischen Begriff der Minderung übersetzen.
Die durch die funktionale Rechtsvergleichung erzwungene Bildung abs-
trakter Oberbegriffe (tertium comparationis), die verhindern soll, dass der
Vergleich durch die Brille des Rechts des Heimatlandes erfolgt,32 schult den
Fallbearbeiter also für die zwingend zu leistende Übersetzung von Sachver-
haltsbegriffen in juristische termini technici.

Schritt 3: (Mikro-)Vergleich

Im nächsten Schritt folgt nun der eigentliche Vergleich. Erst jetzt könnte
der Rechtsvergleicher die Regelungsgegenstände miteinander vergleichen.
In unserer Beispielsaufgabe würde nun der Wortlaut des § 441 BGB dem
des Art. 1223 Code civil gegenübergestellt werden. Zum genauen Vorgehen
i.R.d. Vergleichs bleibt die funktionale Methode aber relativ dünn. Eine
konkrete Handlungsanweisung erfolgt nicht.33 Anders ist dies in anderen
Disziplinen, wo eine dezidierte Vergleichslehre, die Komparatistik (engl.

____________________
30 Zur Arbeit mit diesen Oberbegriffen s. Zweigert/Kötz (Fn. 22), S. 44; Sacco/Rossi
(Fn. 22), S. 60 f.
31 Sehr deutlich wird dieser Vorgang bei Schwacke, Juristische Methodik mit Tech-
nik der Fallbearbeitung, 5. Aufl., Stuttgart 2011, S. 66 f.: »Der Rechtsanwendende
steht also vor der sprachlichen Aufgabe, das Norm- und Sachverhaltsaussagen
gleichsam inhaltlich die Farbe des jeweils anderen Bezugsobjekts annehmen.«
32 Zweigert/Kötz (Fn. 22), S. 44.
33 Kischel (Fn. 8), S. 97; Fauvarque-Cosson (Fn. 13), S. 7, spricht sich für die Fest-
legung von Grundprinzipien der Rechtsvergleichung als Mittelweg zwischen tie-
fem Eintauchen in den rechtsphilosophischen Methodendiskurs und unreflektier-
ter, praktischer Rechtsvergleichung aus.

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comparatism), entwickelt wurde.34 Im rechtsvergleichenden Schrifttum


wird darauf hingewiesen, dass die vergleichende Methode keine Besonder-
heit der Rechtsvergleichung ist. Der Vergleich gehöre »zum täglichen Brot
des Juristen«.35 Dieser vergleiche »Normen miteinander, Sachverhalte mit-
einander und Normen mit Sachverhalten.«36
Dies alles gilt v.a. auch für die juristische Fallbearbeitung. Wir verglei-
chen, grob gesprochen, den Sachverhalt mit der gefundenen Rechtsgrund-
lage und prüfen, ob der Sachverhalt alle in der Anspruchsgrundlage genann-
ten Tatbestandsmerkmale hergibt. Eine solche Arbeit nach der sog. Gleich-
setzungstheorie findet sich v.a. in den Ausführungen von Engisch, der die
Subsumtion als einen Vergleich zwischen vom Gesetz gemeinten Fällen
und dem konkreten Entscheidungsfall ansieht.37 Noch klarer wird die Pa-
rallele zwischen Rechtsvergleichung und praktischer Fallbearbeitung dann,
wenn (wie stets im anglo-amerikanischen Recht)38 nach früheren Gerichts-
entscheidungen mit vergleichbarem Sachverhalt gesucht wird.39
Wie auch in der Rechtsvergleichung findet auch im Rahmen der Fallbe-
arbeitung eine Einbeziehung des Kontexts statt. Die mit der Rechtsgrund-
lage gemeinten Fälle müssen zunächst konkretisiert werden, um sie mit ei-
nem ebenso konkreten tatsächlichen Sachverhalt vergleichen zu können.40
In der rechtsvergleichenden Arbeit ist es ebenfalls nicht ausreichend, nur
Begrifflichkeiten gegenüberzustellen. Vielmehr sind die einzelnen mittels
funktionaler Betrachtung gefundenen Lösungen zu untersuchen.41
Auch die vergleichende Tätigkeit findet sich also in der juristischen Fall-
lösungsmethodik wieder.

____________________
34 Fauvarque-Cosson (Fn. 13), S. 6, spricht davon, die Bedeutung des Vergleichs
werde im rechtlichen Bereich unterschätzt.
35 Junker (Fn. 10), S. 922.
36 Junker (Fn. 10), S. 922.
37 So z.B. Engisch, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart u.a. 1977, S. 56:
Subsumtion als Einordnung eines Sachverhalts in die Klasse der durch den Rechts-
begriff bezeichneten Fälle.
38 Rösler (Fn. 8), JuS 1999, 1084 (1086).
39 Auf die Parallele zwischen Fallrechtsvergleichung i.S.v. Engisch und dem angel-
sächsischen Fallrechtsdenken wird zu Recht von Maschke (Maschke, Gerechtig-
keit durch Methode, Heidelberg 1993, S. 202) hingewiesen.
40 Maschke (Fn. 39), S. 203: »Konkretes wird mit Konkretem verglichen.«
41 Kischel (Fn. 8), S. 94.

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

Schritt 4: Ggf. Auslegung

Genauso wie für den Rechtsvergleicher können sich, bei oder vor der
Durchführung dieses Vergleichs, Auslegungsfragen stellen. Die Auslegung
hilft sowohl für die Fallbearbeitung als auch für die Rechtsvergleichung da-
bei, das zutreffende Vergleichsmaterial aufzufinden. So kann sich in unse-
rem einfachen Beispielsfall i.R.d. Fallbearbeitung etwa die Frage nach der
Bedeutung des Begriffs »Erklärung der Minderung« stellen. Auch in der
rechtsvergleichenden Arbeit ist die Bedeutungsklärung von Begriffen Vo-
raussetzung der Vergleichbarkeit.
Im Rahmen des Auslegungsvorganges im nationalen Recht können schließ-
lich, ungeachtet der Streitfrage nach der Zulässigkeit rechtsvergleichender
Auslegung deutschen Rechts,42 rechtsvergleichende Erkenntnisse zumin-
dest als Argumentationshilfen eine Rolle spielen.43

____________________
42 Grundlegend hierzu Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretations-
methode, RabelsZ 1949/50, 5 (5 ff.); Häberle, Grundrechtsgeltung und Grund-
rechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913 (916 ff.), qualifiziert die
Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode, sieht diese im Verfassungs-
recht aber nicht als zulässig an, wenn die Einebnung kultureller Identität des ein-
zelnen Verfassungsstaates droht.
43 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl., München 2006, S. 58 u. 86 f.

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Diese kurze und sicher holzschnittartige Betrachtung erlaubt uns zwei Fest-
stellungen:

 Der Rechtsvergleich ist der juristischen Falllösungstechnik nicht


fremd. Funktional rechtsvergleichendes Arbeiten und Technik der
Falllösung weisen in allen Schritten Parallelen auf.
 Die Methode der funktionalen Rechtsvergleichung lässt sich damit
hervorragend als Element der allgemeinen Juristenausbildung und
des juristischen Lernens verwenden. Dies gilt nicht nur, wenn, wie
Rheinstein meint, Rechtsnormen und Rechtsinstitute interessenju-
ristisch, d.h. unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Funk-
tion, dargestellt werden.44 Vielmehr schult rechtsvergleichendes
Arbeiten stets auch wichtige Fähigkeiten für die juristische Fallbe-
arbeitung.

C. Rechtsvergleichung und Erlernen des wissenschaftlichen Arbeitens

Auch dem wissenschaftlichen Arbeiten ist eine rechtsvergleichende Juris-


tenausbildung dienlich.
Anders als für das juristische Fallgutachten, das in erster Linie normge-
leitet aufgebaut ist, kommt der Gliederung bei juristischen Themenarbeiten
immense Bedeutung zu.45 Gerade Studierenden der Anfangssemester berei-
tet die freie Gliederung einer juristischen Themenarbeit oft Schwierigkei-
ten. Die Fähigkeit zur Bildung abstrakter rechtsvergleichender Oberbe-
griffe46 ist für die Erstellung der Gliederung juristischer Themenarbeiten
von immenser Bedeutung. Wer in der Lage ist, mehrere juristische Prob-
leme unter einen einzigen passenden Oberbegriff zu fassen, wird in einer
solchen Gliederung problemlos umstrukturieren können.
____________________
44 Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl., München 1987, S.
190.
45 Zur Bedeutung der Gliederung wissenschaftlicher juristischer Arbeiten s. nur
Schimmel/Basak/Reiß (Fn. 26), S. 60 ff.
46 Zur Arbeit mit diesen Oberbegriffen s. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechts-
vergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Band I: Grundlagen, Tübingen
1984, S. 49: »Das System muss so locker sein, dass es heterogene, aber der Funk-
tion nach vergleichbare Institute unter weiten Oberbegriffen zusammenfassen
kann.«

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

Das wissenschaftliche Verständnis des Rechts wird nicht zuletzt dadurch


gefördert, dass die in der Rechtsvergleichung bereits erfahrenen Studieren-
den vielfach einen anderen Ansatz wählen. Sie fragen häufiger als andere
Studierende nach der Funktion des jeweiligen Rechtsinstituts.
In der rechtsvergleichenden Literatur wird zudem auf die allgemeine Be-
deutung der Komparatistik hingewiesen.47 In wissenschaftlichen juristi-
schen Arbeiten (auch in solchen ohne Auslandsbezug) wird es vielfach da-
rum gehen, Regelungskomplexe miteinander zu vergleichen. Rechtsver-
gleichende Argumente sind stets geeignet, eigene Argumentationen zu un-
terstreichen.48
Auch für den Bereich des wissenschaftlichen juristischen Arbeitens bie-
ten Einblicke in das rechtsvergleichende Arbeiten Mehrwerte für das juris-
tische Lernen. Rösler49 ist somit vollständig dahingehend zuzustimmen,
dass es sich beim Vergleich um ein »äußerst didaktisches Mittel« handelt.

D. Ideen für den praktischen Einsatz rechtsvergleichender Elemente in


der Lehre und im juristischen Curriculum

Um ebendiesen »didaktischen Einsatz der Rechtsvergleichung« soll es im


Nachfolgenden gehen. Bevor geklärt werden kann, wo genau im juristi-
schen Curriculum rechtsvergleichende Bezüge verankert werden können
(II.), müssen die bisherigen Ausführungen in konkrete Ideen für den prak-
tischen, didaktischen Einsatz rechtsvergleichender Ausbildungselemente
übersetzt werden (I.).

I. Einsatzmöglichkeiten rechtsvergleichender Elemente in


Lehrveranstaltungen

Mit relativ geringem Aufwand lassen sich einzelne vergleichende Kompo-


nenten in die herkömmliche juristische Lehre einbauen, ohne dass dazu eine
vollständige Umgestaltung des juristischen Curriculums erforderlich wäre.

____________________
47 Fauvarque-Cosson (Fn. 13), S. 6.
48 In diesem Sinne auch Sacco/Rossi (Fn. 22), S. 19.
49 Rösler (Fn. 8), JuS 1999, 1186 (1191).

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1. Vorbemerkungen

Denkbar ist dies aber nur dann, wenn echte Rechtsvergleichung stattfindet.
Nur wenn auch wirklich ein Vergleichsvorgang durch die Studierenden er-
folgt, können die oben erwähnten Vorteile im Hinblick auf Falllösungstech-
nik und wissenschaftliches juristisches Arbeiten eintreten. Die vom Wis-
senschaftsrat geforderte Einbeziehung ausländischer Dozentinnen und Do-
zenten (Auslandsrechtskunde) ist nicht zielführend. Dies gilt auch für ab
und an bereits jetzt in den Vorlesungen zu findende theoretische Ausfüh-
rungen zur Rechtsordnung eines bestimmten Landes ohne Durchführung
eines wirklichen Rechtsvergleichs. Vielmehr muss gerade die Verknüpfung
von juristischer Arbeitsmethodik und rechtsvergleichendem Arbeiten statt-
finden.
Derart betriebene Rechtsvergleichung beruht aber auch auf solider nati-
onaler Rechtsdogmatik. Daher ist m.E. darauf zu achten, dass gerade in der
Anfangsphase des juristischen Studiums rechtsvergleichendes Arbeiten
nicht überbewertet wird. Der rechtsvergleichende Anteil sollte stets nur ein
Zusatzanteil sein. Nur dann kann die Rechtsvergleichung nämlich dabei
helfen, das Wesentliche an der eigenen, nationalen Rechtsdogmatik und Ar-
beitsmethodik zu erkennen und führt nicht zu Überforderungssituationen.

2. Didaktische Szenarien für den Einsatz rechtsvergleichender Elemente


in der Juristenausbildung

Unproblematisch kann rechtsvergleichendes Arbeiten in den deutschen fall-


bezogenen Rechtsunterricht eingestreut werden. Das gilt insbesondere in
den folgenden Szenarien:

 Bei der Suche nach einer Rechtsgrundlage kann die Frage so aus-
geweitet werden, dass (freilich mit Hilfestellung) nicht nur deut-
sche, sondern auch ausländische Rechtsgrundlagen über ihre Funk-
tion aufzufinden sind.
 Im Rahmen der Zurückführung von im Sachverhalt verwendeten
Begriffen auf Rechtsbegriffe kann die in die umgekehrte Richtung
erfolgende Bildung abstrakter rechtsvergleichender Oberbegriffe
thematisiert und geübt werden.
 Beim eigentlichen Vergleichsvorgang schließlich bietet sich ein
Vergleich des Sachverhalts nicht nur mit einer deutschen Rechts-
grundlage, sondern auch mit einer ausländischen Rechtsgrundlage

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

an. Auf diese Weise kann die herkömmliche Fallbearbeitung mit


dem Erwerb rechtsvergleichender Fähigkeiten und Kenntnisse ver-
knüpft werden.
 Im Rahmen der Auslegung von Gesetzesbegriffen kann dies auch
an einer geeigneten ausländischen Rechtsgrundlage geübt werden.

Auf diese Weise kann rechtsvergleichendes Arbeiten auf sanfte Weise in


die Juristenausbildung Einzug halten, ohne dass allzu viel wertvolle Lehr-
veranstaltungszeit geopfert werden müsste. Mittels E-Learning realisierte
Selbstlernarrangements50 bieten die zusätzliche Chance, das Einüben der
Fallbearbeitungstechnik durch rechtsvergleichende E-Learning-Angebote
zu bereichern. So wäre es etwa denkbar, die Einübung der Fallbearbeitung
in der Präsenzzeit der Veranstaltung zu erledigen und vertiefende, rechts-
vergleichende Einblicke dem Selbststudium auf einer E-Learning-Plattform
zu überlassen.
Im Bereich der wissenschaftlichen juristischen Arbeitstechnik bietet sich
ein Einsatz der rechtsvergleichenden Methodik vor allem bei der Erstellung
von Gliederungen an. So wird in einem rechtsvergleichenden, deutsch-fran-
zösischen Proseminar des Verfassers regelmäßig das Umstellen einer nach
dem deutschen Gliederungssystem konzipierten Gliederung auf das strenge
französische Gliederungsmodell,51 das zwingend nur zwei Hauptteile mit
jeweils zwei Untergliederungspunkten enthalten darf, geübt. Dabei zeigt
sich oft, dass dieses Vorhaben für Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die
bereits mit rechtsvergleichenden Oberbegriffen gearbeitet haben, relativ un-
problematisch ist.
Diese wenigen praxisorientierten Ideen erheben freilich keinen Anspruch
auf Vollständigkeit und bedürfen auch der Weiterentwicklung/Bewährung
im Alltag der Juristenausbildung.

II. Einbau rechtsvergleichender Komponenten in das juristische


Curriculum

Deutlich darüber hinaus gehen Erwägungen zum gezielten Einbau rechts-


vergleichender Komponenten in das juristische Curriculum. Will man eine
____________________
50 S. hierzu Reimer/Zwickel, E-Learning und Selbstlernkompetenzen im Jurastudium
– Medienpädagogische und juristische Perspektiven, in: Bleckmann (Hrsg.),
Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 115 (115 ff.).
51 Grua/Cayrol, Méthode des études de droit, Paris 2011, S. 70 f.

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stärkere curriculare Verankerung der Rechtsvergleichung erreichen, so


hängt deren Intensität von einigen Vorfragen bzw. Rahmenbedingungen ab
(1.). Andernfalls kommt nur eine lose Einbindung in das bereits existente
Curriculum in Betracht, wie sie bereits heute schon erfolgen kann (2.).

1. Zu klärende Vorfragen

Derzeit ist der Rahmen für eine verstärkte Einbindung rechtsvergleichender


Themen in die klassische Juristenausbildung relativ eng gesteckt. Die fol-
genden Fragen betreffen eine etwaige Erweiterung dieses Rahmens. Sie ha-
ben damit unmittelbaren Einfluss auf die Größe des gedachten Projekts
»Curriculare Verankerung der Rechtsvergleichung«.

a) Sonderveranstaltung oder Integration

Aktuell findet die Einbeziehung rechtsvergleichender Studieninhalte an


deutschen juristischen Fakultäten nahezu ausschließlich in Sonderveran-
staltungen zur Einführung in die Rechtsvergleichung statt. Soll eine aus-
drückliche Verankerung der Rechtsvergleichung im juristischen Curricu-
lum erfolgen, so ließe sich diese auf zwei Arten erreichen. In Betracht
kommt eine Beibehaltung des aktuellen Modells der Sonderveranstaltun-
gen. Denkbar ist, darüberhinausgehend, aber auch eine integrative Berück-
sichtigung der Rechtsvergleichung durch Einbeziehung rechtsvergleichen-
der Inhalte in die Lehrveranstaltungen bzw. rechtsvergleichende Konzep-
tion derselben. Schon seit langer Zeit wird unter Rechtsvergleichern dar-
über gestritten, ob denn Sonderveranstaltungen zur Einführung in die
Rechtsvergleichung integrativen Lehrveranstaltungen vorzuziehen sind.52
Die Idee umfassend rechtsvergleichend konzipierter Lehrveranstaltungen
im deutschen juristischen Curriculum erscheint zunächst sehr verlockend.
Es besteht aber die Gefahr, dass eine wirkliche Integration der Rechtsver-
gleichung nicht gelingt. Sorgt nicht jeder einzelne Dozent für ausreichende
____________________
52 Für integrative Veranstaltungen Kötz, Euorpäische Juristenausbildung, ZEuP
1993, 268 (272); Flessner, Deutsche Juristenausbildung, JZ 1996, 689 (689 ff.);
für die Rechtsvergleichung als Grundlagenfach Junker (Fn. 10), S. 921; für Son-
derveranstaltungen Fauvarque-Cosson (Fn. 1), S. 305 f.

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

rechtsvergleichende Inhalte, so scheitert das Integrationsmodell zwangsläu-


fig. Hinzu kommt, dass beim integrativen Modell offenbleibt, an welcher
Stelle eine grundlegende Einführung in Geschichte und Methodik der
Rechtsvergleichung erfolgen soll. Viel spricht daher dafür, eine Kombina-
tion von Integration rechtsvergleichender Inhalte und Sonderveranstaltun-
gen zu versuchen.53

b) Erforderliche Sprachkenntnisse

Ohne Sprachkenntnisse lässt sich solide Rechtsvergleichung nicht durch-


führen.54 Es ist daher darauf zu achten, dass an geeigneten Stellen eine Ver-
netzung der obligatorischen fachspezifischen Fremdsprachenausbildung
i.S.d. § 5a II 1 DRiG mit Veranstaltungen zu Rechtsvergleichung und Aus-
landsrechtskunde erfolgt.

c) Anerkennung von Studienleistungen

Als äußerst problematisch erweist sich immer wieder die Anerkennung von
im Ausland bzw. auf rechtsvergleichender Basis erbrachten Studienleistun-
gen. Soll eine wirkliche Verankerung der Rechtsvergleichung im juristi-
schen Curriculum erfolgen, so müssten die juristischen Fakultäten größere
Anstrengungen als bisher unternehmen, um eine Einbeziehung im Ausland
oder in rechtsvergleichenden Veranstaltungen erbrachter Studienleistungen
in das juristische Curriculum zu ermöglichen. Denkbar wäre eine solche
Öffnung insbesondere im Bereich der Grundlagenfächer55 und der juristi-
schen Schwerpunktbereiche.

____________________
53 Für eine solche Kombination Neumayer (Fn. 27), S. 509.
54 Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels (Fn. 10), § 13, Rn. 21.
55 Schon in den siebziger Jahren wurde in Großbritannien mit Erfolg ein Modell er-
probt, nach dem das Grundlagenfach römisches Recht durch eine Einführung in
das französische oder das deutsche Recht ersetzt wurde, s. Cohn, Rechtsverglei-
chung im englischen Rechtsunterricht, JZ 1971, 726 (726 ff.).

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d) Reduktion des Pflichtfachstoffes

Zudem stellt sich, bevor über eine curriculare Verankerung der Rechtsver-
gleichung nachgedacht werden kann, die Frage, ob das juristische Curricu-
lum überhaupt Raum für rechtsvergleichende Inhalte belässt oder ob zwin-
gend eine Reduktion des Pflichtfachstoffes erforderlich ist. Hierzu gehen
die Meinungen auseinander: Teils wird angenommen, eine Umgestaltung
des Curriculums biete die Chance zu einer Entrümpelung des Rechtsstudi-
ums.56 Entgegengehalten wird, es sei wohl das »Zurechtstutzen der natio-
nalen Rechtswissenschaft zu einer Art Bonsai-Jurisprudenz« beabsichtigt.57
So pauschal lässt sich die Frage nach einer zwingenden Reduktion des
Pflichtfachstoffes aber m.E. nicht beantworten, hängt sie doch maßgeblich
von entsprechenden Vorlieben ab. Wichtiger als die wohl endlose Diskus-
sion um den juristischen Pflichtfachstoff ist aus meiner Sicht die Suche nach
dem Pflichtfachstoff, der sich ohnehin bereits für die rechtsvergleichende
Vermittlung besonders eignet. Anzusetzen wäre für diese Suche wohl im
Europarecht, im Völkerrecht und im internationalen Privatrecht.58 In diesen
Fächern könnte zunächst versucht werden, langsam rechtsvergleichende In-
halte einfließen zu lassen. Zudem könnte die Rechtsvergleichung in Grund-
lagenfächer Einzug halten. Erst in einem zweiten Schritt wäre dann zu klä-
ren, ob der Pflichtfachstoff in all seinen Verästelungen im derzeitigen Um-
fang beibehalten werden muss.
Gedacht werden sollte aber auch an eine intraförderale Rechtsverglei-
chung. Möglich ist dies z.B. im öffentlichen Recht, wo oftmals, auch in der
juristischen Ausbildung, Landes- und Bundesrecht nebeneinander zur An-
wendung zu bringen ist.
Die oben angesprochenen Punkte zeigen deutlich, dass derzeit zwei
Wege einer verstärkten Integration rechtsvergleichender Inhalte in die Ju-
ristenausbildung gangbar sind:

 Der erste Weg besteht aus einer tiefgreifenden Um- und Neukon-
zeption der Juristenausbildung.
____________________
56 Befürwortend Kötz (Fn. 13), S. 768, u. Kötz (Fn. 2), S. 257, der eine umfassende
Reform der deutschen Juristenausbildung einfordert.
57 Martinek, Buchbesprechung von Schlechtriem, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Tü-
bingen 1992, JZ 1993, 196 (196).
58 Zur Berücksichtung derartiger vertikaler Bezüge der Rechtsvergleichung s. Rei-
mann, Beyond National Systems: A Comparative Law for the International Age,
Tul. L. Rev. 2001, 1103 (1104); Fauvarque-Cosson (Fn. 1), S. 304.

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

 Der zweite Weg integriert rechtsvergleichende Studieninhalte auf


sanfte Weise in die bestehenden Curricula.

2. Diskussionsgrundlage für den Einbau rechtsvergleichender


Komponenten in bestehende Curricula

Der zweite Weg soll hier, in Form einer Diskussionsgrundlage, beschritten


werden. Die Überlegungen bilden dabei kein bereits feststehendes Konzept
für die Einbindung rechtsvergleichenden Arbeitens in das juristische Stu-
dium. Grundlage ist die Idee, dass rechtsvergleichende Elemente auch ohne
bahnbrechende Umgestaltungen des Curriculums Platz greifen können. Ein
solches stärker rechtsvergleichend ausgerichtetes Curriculum könnte aus
folgenden Elementen bestehen:

 Bereits in einem der Anfangssemester findet eine Einführungssen-


sibilisierung für die Rechtsvergleichung statt. Hierbei handelt es
sich um eine Veranstaltung, die den bereits existenten Sonderver-
anstaltungen zur Einführung in die Rechtsvergleichung ähnelt. Eine
Einführung in die wesentlichen Rechtskreise, wie sie im Rahmen
derartiger Veranstaltungen gängig ist, würde den Studienanfänger
aber überfordern. Vielmehr sollte in dieser frühen Studienphase
eine Einführung in das rechtsvergleichende Denken und ein Über-
blick über rechtsvergleichende Arbeitsmethoden angeboten wer-
den. Gedacht werden kann dabei insbesondere auch an das Angebot
eines Grundlagenfachs Rechtsvergleichung.59
 In den Veranstaltungen der Anfangssemester im Zivilrecht, im Öf-
fentlichen Recht und im Strafrecht werden rechtsvergleichende
Hinweise im Rahmen von Fallbearbeitungen nach dem o.g. Schema
eingebaut.
 Die an den juristischen Fakultäten bereits eingerichtete Fachsprach-
ausbildung wird zu Veranstaltungen der Auslandsrechtskunde aus-
gebaut. Zugleich mit der Vermittlung von Sprachkenntnissen er-
werben die Studierenden Kenntnisse zu bestimmten Rechtsordnun-
gen, die dann in den weiteren rechtsvergleichenden Veranstaltun-
gen verwertet werden können.

____________________
59 Junker (Fn. 10), S. 921 ff.

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 In Veranstaltungen zur wissenschaftlichen Arbeitstechnik wird


exemplarisch die Arbeit mit rechtsvergleichenden Oberbegriffen
erprobt. Die Arbeit kann dabei so erfolgen, dass verschiedene
Rechtsinstitute, auch des deutschen Rechts, unter einen einheitli-
chen Oberbegriff zu packen sind. So können Gliederungen entwe-
der erweitert oder verengt werden.
 Auf all diese Kenntnisse setzt dann ein entsprechend zugeschnitte-
nes Auslandspraktikum bzw. Auslandsstudium60 auf.
 Den Abschluss einer rechtsvergleichenden Ausbildung bilden pra-
xisorientierte rechtsvergleichende Forschungsveranstaltungen. Als
Mittel der praktischen Rechtsvergleichung rückt nämlich die aktive
Teilnahme von Studierenden und Doktoranden an Forschungsvor-
haben und Konferenzen in den Blickpunkt.61 Kadner-Graziano
weist zu Recht darauf hin, dass Rechtsvergleichung zu großen Tei-
len in der Praxis erfolgt.62 Rechtsvergleichung kann daher weitest-
gehend nur mittels learning by doing erlernt werden. Das juristische
Curriculum bietet aber relativ wenig zeitliche Spielräume für die
praktische Arbeit an größeren rechtsvergleichenden Fällen. Auch
dürften nicht in allen Fällen genügend geeignete Dozentinnen und
Dozenten, die Einblicke sowohl in ausländische als auch inländi-
sche Rechtsordnungen gewonnen haben, zur Verfügung stehen.63
Es bietet sich daher an, diese praktischen Teile der Rechtsverglei-
chung in Sonderveranstaltungen auszulagern.64 Diese Veranstal-
tungen decken zugleich das forschende Lernen und die praktische
rechtsvergleichende Arbeit ab. Als Beispiel für solche Veranstal-
tungen können die vom Verfasser bereits mehrfach durchgeführten
deutsch-französischen Forschungsateliers dienen,65 in denen die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst Einblicke in eine
____________________
60 Zum Nutzen eines Auslandsstudiums für rechtsvergleichende Tätigkeit Rheinstein
(Fn. 44), S. 193.
61 So auch Fauvarque-Cosson (Fn. 1), S. 298; Blanc-Jouvan (Fn. 17), S. 760.
62 Kadner-Graziano, Rechtsvergleichung lehren und lernen – Ein Vorschlag aus
Genf, ZEuP 2014, 204 (216).
63 Blanc-Jouvan (Fn. 17), S. 759.
64 Ebenfalls kritisch zur rein integrativen Vermittlung rechtsvergleichender Studien-
inhalte Fauvarque-Cosson (Fn. 1), S. 306.
65 Zu Berichten über einzelne dieser Veranstaltungen s. http://go.fau.de/7fx.nd (letz-
ter Abruf am 1.9.2018) u. http://blogs.fau.de/rewi/2015/04/13/forschungsatelier-
die-prozessuale-modernisierung-der-justiz-in-deutschland-und-frankreich-16-bis
-18-maerz-2015/ (letzter Abruf am 1.9.2018).

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Rechtsvergleichung und juristisches Lernen

rechtsvergleichende Fragestellung erhalten, ehe sie dann, in aus


Dozenten, Doktoranden und Studierenden bestehenden Kleingrup-
pen, selbst den Vergleich zu einer bestimmten Fragestellung vor-
nehmen. Die Vergleichsergebnisse der Arbeitsgruppen werden an-
schließend im Plenum diskutiert.

E. Fazit

Es zeigt sich, dass funktionale Rechtsvergleichungsarbeit die Metho-


denkompetenz in den Bereichen der juristischen Falllösung und des wissen-
schaftlichen juristischen Arbeitens schulen kann.66 Als gut machbar und ge-
winnbringend erweist sich auch der Einbau rechtsvergleichender Elemente
in herkömmliche Lehrveranstaltungen und in das bereits vorhandene juris-
tische Curriculum. Tiefgreifende Änderungen der Juristenausbildung sind,
um Mehrwerte der Rechtsvergleichung zu realisieren, nicht zwingend ge-
boten.
Der Descartes zugeschriebene Satz »Dans tout raisonnement nous ne
reconnaissons précisément la vérité que par comparaison«67 – Bei allem
Nachdenken finden wir die Wahrheit nur mittels eines Vergleichs genau
heraus – erweist sich einmal mehr als zutreffend. Rechtsvergleichendes Ar-
beiten ist auch für das juristische Lernen ein klarer Gewinn!

____________________
66 In diesem Sinne auch Rheinstein (Fn. 44), S. 189: »Aus den Rahmenbedingungen
des heutigen Rechtsstudiums ergibt sich somit, dass gegenwärtig nur die funktio-
nelle Rechtsvergleichung als Element der allgemeinen Juristenausbildung in Be-
tracht kommt.«
67 Descartes, Règles utiles et claires pour la direction de l'esprit en la recherche de la
vérité: avec des notes math. de Pierre Costabel, La Haye 1977, S. 61.

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Grundlagen des juristischen Lernens
Jörn Griebel*

A. Einleitung

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag, der anlässlich der ersten
der beiden Tagungen zum juristischen Lernen im Herbst 2016 gehalten
wurde. Darin ging es primär um die Frage, inwieweit es wissenschaftlich
belegte Kernthesen dazu gibt, wie Lernen im Jurastudium gelingt. Weiter
sollte eine Diskussion dazu angestoßen werden, welche Veranstaltungsfor-
men zur Vermittlung entsprechender Inhalte am sinnvollsten sind.
Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete dabei das in allen Phasen
des Jurastudiums relevante Szenario des Selbstlernens:1 Eine Studentin/ein
Student sucht sich ohne Anleitung durch Dozenten anhand selbst ausge-
wählter Quellen ein bestimmtes Fach zu erarbeiten. Wie sollte sie/er hier
vorgehen, um in diesem Prozess Kenntnisse und Fähigkeiten nachhaltig zu
erwerben?2 Die Betonung liegt dabei auf dem Begriff der Nachhaltigkeit,
da die Anforderungen der Ersten Juristischen Prüfung ebenso wie die einer
späteren juristischen Berufstätigkeit es verlangen, Wissen möglichst dauer-
haft zu erwerben und Fähigkeiten nachhaltig zu beherrschen. Dabei handelt
____________________
* Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht und Internationales Wirtschafts-
recht an der Universität Siegen.
1 Zum Begriff der Selbstlernkompetenz auch Lange, Ein Plädoyer für Blockveran-
staltungen zur Förderung von Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, in: Bleck-
mann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 147 (148
f.); Reimer/Zwickel, E-Learning und Selbstlernkompetenzen im Jurastudium –
Medienpädagogische und juristische Perspektiven, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbst-
lernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 115 (118); Kulow schlägt als
alternative Bezeichnung zur Selbstlernkompetenz den der Neugier vor, Rechtsdi-
daktik, Neurobiologie und »Selbstlernkompetenzen« – einige kurze Thesen, in:
Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 85
(96).
2 Hierzu auch Roth/Bellhäuser/Schmitz, Selbstreguliertes Lernen im Jurastudium –
eine Schlüsselkompetenz, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Ju-
rastudium, Stuttgart 2015, S. 100 (100 ff.).

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Jörn Griebel

es sich um eine besondere Herausforderung, die einführend noch eingehen-


der adressiert werden soll (hierzu unter B.).
Die Frage nach den konsentierten Kernthesen eines gelingenden Lernens
(hierzu unter C.) ist in verschiedener Hinsicht eine große Herausforderung.
Auch wenn es bereits eine ganze Reihe gelungener Anleitungen und Ratge-
ber im Bereich des juristischen Lernens gibt,3 so stellt sich doch die Frage,
inwieweit bereits von einer auf das juristische Studium bezogenen Lernthe-
orie gesprochen werden kann.4 Insbesondere scheint es hier an spezifischen
Studien zu fehlen. So finden sich kaum kritische Auseinandersetzungen mit
den vielfältigen Thesen, die zum juristischen Lernen vertreten werden. Hier
wird beispielsweise vertreten, dass weder der regelmäßig beschworenen
Lerntypenlehre5 noch dem Konzept der Mnemotechnik6 im Hinblick auf
gelingende Lernprozesse im Jurastudium tatsächlich Bedeutung zukommt.
Beide Aspekte scheinen entweder irreführend oder nicht wirklich sinnvoll
einsetzbar und werden daher in der Folge auch nicht weiter angesprochen.
Inwieweit diese Ansicht allerdings zutrifft, scheint vorläufig noch eine
Glaubensfrage zu sein.
Weiter sind Lernprozesse generell komplex, und diese Komplexität po-
tenziert sich mit der Vielfältigkeit und den sehr unterschiedlichen Vorer-
fahrungen der Lernenden. Fast scheint es, dass sich zu jeder Lernthese als
Beleg auch eine entsprechende Anekdote finden lässt. Und viele erfolgrei-
che Absolventen erheben ihren jeweiligen Ansatz zu einer von allen nach-

____________________
3 S. beispielhaft Lange, Jurastudium erfolgreich, 8. Aufl., München 2015; Haft, Ein-
führung in das Juristische Lernen – Unternehmen Jurastudium, 7. Aufl., Bielefeld
2015; Haft/Kulow, Lernen mit dem Kopf – Trainieren mit dem Computer, Stutt-
gart u.a. 2007; Bergmans, Lern- und Arbeitstechniken für das Jurastudium, Stutt-
gart u.a. 2013; ter Haar/Lutz/Wiedenfels, Prädikatsexamen, 4. Aufl., Baden-Baden
2016.
4 Ein bedeutsamer Schritt kann in dem von Bleckmann herausgegebenen Tagungs-
band zu »Selbstlernkompetenzen im Jurastudium«, Stuttgart 2015, gesehen wer-
den.
5 S. zur Lerntypenlehre etwa ter Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 4), S. 31 ff., u. Berg-
mans (Fn. 3), S. 65; insoweit scheint die Neurobiologie bislang keine Belege zu
erbringen, dass sich Menschen nach ihren Wahrnehmungskanälen sortieren las-
sen.
6 Hierzu auch Bergmans (Fn. 3), S. 66 ff.; hier scheint es, als sei derjenige, der Jura
mittels entsprechender Techniken zu lernen versucht, ebenso verloren wie jemand,
der Entsprechendes im Hinblick auf eine Sprache versucht.

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zuahmenden Methode.7 Die Zahl solcher oftmals im Internet verbreiteten


Anekdoten und Lerntipps scheint uferlos.8 Da diese aber nicht selten in die
Irre führen, ist es umso wichtiger, die Diskussion um die zentralen wissen-
schaftlich belegten Parameter eines gelingenden juristischen Lernens kont-
rovers zu führen. Hierzu soll entsprechend ein Beitrag geleistet werden,
auch wenn man einräumen muss, dass dies im Rahmen des vorliegenden
Textes nur begrenzt geleistet werden kann.
Die Folgefrage nach den besten Wegen der Vermittlung von Selbstlern-
kompetenz (hierzu unter D.) ist gleichermaßen schwierig. Wer bereits im
Wesentlichen auf dem richtigen Weg ist, bedarf vielleicht nur eines kurzen
Impulses, der die gewählte Lernkonzeption bestätigt und im Übrigen viel-
leicht nur zu leichten Anpassungen inspiriert. Wer die Dinge bislang grund-
legend falsch angegangen ist, mag dies in kurzen Workshops zum juristi-
schen Lernen erkennen, erhält hier jedoch keine Gelegenheit, neue Metho-
den begleitet einzuüben und so die Grundlage für eine nachhaltige Verhal-
tensänderung zu legen. So wird sich hier zeigen, dass auch diese Frage nicht
pauschal, sondern in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedarfen zu beant-
worten sein wird.

B. Die Herausforderungen des Jurastudiums

Das Jurastudium wird oft der Gruppe der anspruchsvollsten Studiengänge


zugerechnet.9 Sehr gerne werden hierzu auch Vergleiche mit der Mathema-
tik bemüht. Auch auf die Gefahr hin, zur Entmystifizierung des Jurastudi-
ums beizutragen, muss doch festgestellt werden, dass solche Vergleiche
übertrieben erscheinen. Es gibt in der Rechtswissenschaft keine Rechtsregel

____________________
7 Dieser Eindruck entsteht etwa bei der Lektüre von Niederle, 500 Spezial-Tipps für
Juristen, 14. Aufl., Altenberge 2018.
8 S. beispielhaft hierfür ein von der Legal Tribune Online herausgegebenes und von
Scheu verfasstes Online-Angebot mit dem Titel »Hätt’ mir das einer am Anfang
gesagt... – 100 Tipps für Jurastudierende«, abrufbar unter https://www.lto.de/
jura/e-book-100-tipps-fuer-euer-jura-studium/ (letzter Abruf am 1.9.2018); ange-
merkt sei dabei, dass besagter Text viele Aussagen enthält, denen man durchaus
zustimmen kann. Entsprechende Texte enthalten teilweise aber auch Aussagen,
die problematisch sind; ähnliche Vorbehalte müssen auch für Ratbebervideos zum
Jurastudium, die auf YouTube etc. abrufbar sind, gelten.
9 S. etwa Kotulla/Rolfsen, Studienerfolg ist planbar, Iurratio 2012, 158; s.a. Andreas
Voßkuhle in einem Interview mit Der Tip, Nr. 430, 22. Juli 2010, abrufbar unter
http://pdf.tipbt.de/430.pdf (letzter Abruf am 1.9.2018).

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oder Theorie, keinen Meinungsstreit und insg. keine Problematik, die von
durchschnittlich begabten Studierenden – Interesse und Willen vorausge-
setzt – nicht verstanden werden kann. Recht wird von Menschen geschaffen
und ist damit von diesen im Grundsatz auch verstehbar. Von der Mathema-
tik unterscheidet es sich im Übrigen grundlegend, als 1+1 in der Juristerei
»bei vertretbarer Argumentation« auch 3 ergeben kann.
Gleichwohl kann das Jurastudium nicht als leicht betrachtet werden. Es
ist anspruchsvoll, weil die einzelnen zu erlernenden Rechtsgebiete komplex
sind und sich deren Denklogiken dem Lerner erst ganz allmählich erschlie-
ßen. Diese Schwierigkeit ist auch unmittelbar damit verbunden, dass die
Prüfungsordnungen einen solch umfangreichen Katalog von Themen als
Prüfungsfelder ausweisen, dass man berechtigterweise von einer »Stoff-
fülle« sprechen kann.
Jura ist weiter anspruchsvoll, weil man juristisches Wissen nicht einfach
pauken bzw. auswendig lernen kann. Das Verstehen der Inhalte steht klar
im Vordergrund, und da es viel zu verstehen gibt, muss auch Ausdauer,
Disziplin und Fleiß vorhanden sein. Das Verstehen braucht seine Zeit, und
die muss sich jeder Studierende auch nehmen.
Hinzu kommt, dass es gilt, die vorhandenen Kenntnisse an einem Fall zu
beweisen, so dass auch noch die Fähigkeit zur Entwicklung einer vertretba-
ren Lösung bei (unbekannten) Fallproblemen hinzukommt. Neben das ju-
ristische Wissen tritt damit auch das juristische Können.
Und letztlich gilt es das in unterschiedlichem Maße gebotene Struktur-
und Detailwissen sowie die geforderten Fähigkeiten wie eingangs beschrie-
ben »nachhaltig« zu erwerben, da man sich in der höchst anspruchsvollen
Ersten Juristischen Prüfung beweisen muss.
Die Aufgabe, diese Herausforderungen zu bewältigen, fällt im Wesentli-
chen den Studierenden zu. Soweit man Absolventen fragt, wie viel des vor-
handenen Examenswissens sie glauben, sich selbst erarbeitet zu haben und
wie viel von Dozenten in Veranstaltungen erworben zu haben, dann sind
die Aussagen doch recht eindeutig: Sofern man nicht sogar für sich in An-
spruch nimmt, kompletter Autodidakt gewesen zu sein, so wird doch jeden-
falls der eigene Anteil am Prozess des Wissenserwerbs (im Selbst- oder
Gruppenstudium) als äußerst hoch eingeschätzt.10

____________________
10 S. etwa Scheu (Fn. 8), Tipp 13: »Jura ist nun mal ein Selbststudium«.

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Studierende der Rechtswissenschaften verbringen spätestens in der


Phase der Examensvorbereitung mit nichts mehr Zeit als mit dem Lernen.11
Auch wenn es – wie einleitend angesprochen – sowohl im Schrifttum als
teilweise auch in Form besonderer universitärer Veranstaltungen Angebote
gibt, wie juristisches Lernen von Anfang an effektiv gestaltet werden kann,
so erreichen diese doch nur einen begrenzten Teil der Studierenden.
All dies verdeutlicht, dass eine Stärkung der Studierenden im Hinblick
auf ihre Selbstlernkompetenz womöglich bedeutsamer und effektiver ist,
als die vollständige didaktische Erneuerung der juristischen Lehre.12 Es gilt,
die Studierenden auf die Herausforderung vorzubereiten und ihnen die
Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie ihr eigenes Talent erfolg-
reich nutzen können. Der vorliegende Beitrag sucht hierzu Anstöße zu ge-
ben und Bewusstsein dafür zu wecken, dass Lernen im juristischen Studium
alles andere als eine Sekundärtugend ist. Lernhaltung und -methode ent-
scheiden zentral über den Lernerfolg, vielleicht mindestens so sehr, wie In-
telligenz, Disziplin und Wille, die alle ebenfalls gefordert sind.

C. Kernthesen zum juristischen Lernen

Wie einleitend angesprochen, soll es in diesem Beitrag insbesondere um


Aspekte des juristischen Lernens gehen, die für das Gelingen von Lernpro-
zessen besonders zentral sind. Dabei sollen die Themen »Emotionale Hal-
tung« (I.), »Wissen kommt zu Wissen« (II.), »Reflexions- bzw. Verarbei-
tungstiefe« (III.), das »Wiederholen« (IV.), die »Bedeutung von Schlaf und
Ruhephasen« (V.) und das »Einüben des juristischen Handwerks« (VI.) an-
gesprochen werden.

I. Motivation und emotionale Haltung

Inwieweit ist es möglich, Wissen zu erwerben, für das man sich nicht inte-
ressiert? Bei vielen Studierenden werden wesentliche Teile der Schulzeit
von der Erfahrung geprägt worden sein, dass dies durchaus geht, und viel-
____________________
11 Dies gilt natürlich nur, wenn man vom Schlafen absieht, welches im Sinne der
Konsolidierungsprozesse hoffentlich auch in ausreichender Weise geschieht, s.
hierzu unten C.V.
12 Dabei sei angemerkt, dass der Verfasser die Freiheit zur selbstgewählten und au-
thentischen Unterrichtsmethode sehr schätzt und auch anderen belassen möchte.

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leicht sogar mit Erfolg. In der Tat ist es möglich, auch mit Gleichgültigkeit
überschaubare Inhalte mit Fleiß und dem Einsatz von Wiederholungen zu
lernen und jedenfalls kurzfristig zu speichern. Viele werden sogar die Er-
fahrung gemacht haben, dass selbst unter großem Stress oder gar mit Angst
auch noch gelernt werden kann, und ggfs. wurde dies sogar als besonders
effektiv wahrgenommen. Im Hinblick auf solche Lernerfahrungen muss
man sich jedoch die Frage stellen, wie viel auf diesem Wege gelerntes Wis-
sen auch heute noch tatsächlich vorhanden ist und ob diese Überzeugung
die Grundlage für ein nachhaltiges Lernen voraussetzendes Jurastudium
sein kann.
Die Neurobiologie13 hat zu dieser Frage in den letzten 15 bis 20 Jahren
Erkenntnisse zutage gefördert, die den angesprochenen Lernerfahrungen di-
ametral widersprechen. Hüther bringt diese Erkenntnisse mit den folgenden
Worten auf den Punkt: »Wir lernen nur das, was für uns wichtig ist.«14 Das
hingegen, was dem Lerner nicht wichtig ist, muss sich dieser mühevoll er-
arbeiten, und wenn er dieses Wissen nicht regelmäßig wiederholt, verflüch-
tigt es sich sogleich.15 Betrachtet man von Neurobiologen verfasste Texte
zum Lernen, so spielt darin die Motivation und emotionale Haltung des
Lerners gegenüber dem Lernstoff eine entsprechend zentrale Rolle.16 Im

____________________
13 Mit der Möglichkeit bildgebender Verfahren, die es erlauben, dem menschlichen
Gehirn bei Wahrnehmungsprozessen zuzusehen, hat sich die Gehirnforschung zu
Recht als Leitwissenschaft aller sich mit Bildungsprozessen befassenden Wissen-
schaften entwickelt. Zu den verschiedenen Methoden des funktionellen Neuroima-
ging siehe Spitzer, Lernen, Berlin 2007, S. 37 ff.; angemerkt sei dabei allerdings,
dass es nicht um eine unreflektierte Übernahme aller neurobiologischen Kennt-
nisse gehen kann. So sieht etwa Kulow (Fn. 1), S. 87 ff., die Rolle der Neurobio-
logie als Leitwissenschaft kritisch und lehnt diese ab.
14 Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten, Frankfurt am Main 2012, S. 92.
15 Siehe dazu auch Roth, Möglichkeiten und Grenzen von Wissensvermittlung und
Wissenserwerb – Erklärungsansätze aus Lernpsychologie und Hirnforschung, in:
Caspary (Hrsg.), Lernen und Gehirn, 7. Aufl., Freiburg 2011, S. 54 (65).
16 Auch wenn die Themen Emotion und Motivation noch getrennt werden könnten,
sollen sie hier gemeinsam behandelt werden, s. hierzu etwa in populärwissen-
schaftlichen Veröffentlichungen Spitzer (Fn. 13), S. 157 ff. u. 175 ff.; Korte, Wie
Kinder heute lernen, 2. Aufl., München 2011; Hüther, Wie lernen Kinder? Vo-
raussetzungen für gelingende Bildungsprozesse aus neurobiologischer Sicht, in:
Caspary (Hrsg.), Lernen und Gehirn, 7. Aufl., Freiburg 2011, S. 70 (70 ff.); s. zum
Thema Motivation generell auch Haft/Kulow (Fn. 3), S. 18 ff.

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Kern sind es zwei physiologische Erkenntnisse, die hierfür die Grundlage


bilden.
Zum einen gelangt aufgenommenes Wissen im Gehirn zunächst in den
Hippokampus, der die Aufgabe eines Zwischenspeichers übernimmt und
später Informationen an das Großhirn weitergibt, wo diese langfristig abge-
legt werden.17 Der Hippokampus ist eng mit emotionalen Zentren des Ge-
hirns vernetzt, was wiederum dazu führt, dass die Weitergabe von Informa-
tionen an das Großhirn vorrangig davon abhängt, welche emotionale Be-
deutsamkeit Erfahrungen und Lerninhalte aufweisen.18 So können Studie-
rende, die mit echtem Interesse und Wissenshunger lernen, sicher sein, dass
bei ihnen viel mehr Lerninhalte langfristig gespeichert werden, als dies an-
dernfalls der Fall wäre.
Zum anderen verfügt das Gehirn über ein sogenanntes Lern- bzw. Beloh-
nungszentrum, dass bei positiven Lernerfahrungen neuroplastische Boten-
stoffe (Dopamin) ausschüttet, die zusätzlich dafür sorgen, dass die in dem
Zustand gelernten Inhalte besonders stark im Gehirn verankert (konsoli-
diert) werden.19 Damit geht auch die Ausschüttung endogener Opioide ein-
her, was wiederum bedingt, dass Lernen auch als ein beglückender, Freude
bereitender Zustand empfunden wird.20
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse kann die eigene Haltung zum
zu lernenden Stoff nicht irrelevant sein, vielmehr ist sie von zentraler Be-
deutung. Wer mit dem Ziel studiert, die Logik eines Fachbereichs oder –
noch besser – des deutschen Rechts in seiner Gesamtheit verstehen zu wol-
len, wird sich für jedes Mosaiksteinchen auf dem Wege dorthin interessie-
ren und die gewonnen Erkenntnisse in sich aufsaugen. Wer mit Freude und
Begeisterung studiert, wird Lernen vor dem Hintergrund der neurobiologi-
schen Effekte als positive Erfahrung und Freude und gerade nicht – wie weit
verbreitet – als Qual begreifen. Und womöglich wird er oder sie dabei oft
einen Zustand erleben, der in der Wissenschaft als »Flow« bezeichnet wird

____________________
17 Anschaulich Spitzer, Medizin für die Schule – Plädoyer für eine evidenzbasierte
Pädagogik, in: Caspary (Hrsg.), Lernen und Gehirn, 7. Aufl., Freiburg 2011, S. 28.
18 Spitzer (Fn. 13), S. 165 f.
19 Hüther (Fn. 16), S. 75 f.; Spitzer (Fn. 13), S. 175 ff.
20 Spitzer (Fn. 13), S. 176 ff.; Korte (Fn. 16), S. 40 f.

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und der für das Lernen optimal zu sein scheint.21 Er stellt sich dann ein,
wenn die gewählte Herausforderung im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit
des Einzelnen steht, und erlaubt es, überkonzentriert bei der Sache zu blei-
ben und in diesem Prozess auch nachhaltig zu lernen.
Wer die beschriebene Primärmotivation, d.h. das unmittelbare Interesse
für den Lernstoff, nicht aufweist, zumindest aber insoweit Sekundärmoti-
vation besitzt, als ein bestimmtes Berufsziel oder ähnliches verfolgt wird,
verfügt über die Grundlage, das entscheidende Interesse am Recht im Laufe
des Studiums zu entwickeln.22 Ganz schwer haben es hingegen die Studie-
renden, die keine dieser Formen intrinsischer Motivation aufweisen, son-
dern etwa von ihrer Familie ins Studium geschickt wurden oder mangels
anderweitiger Interessen Jura aus Not studieren. Sie sind entsprechend nicht
oder allenfalls extrinsisch motiviert, was einer inneren Gleichgültigkeit ge-
genüber dem Stoff gleichkommt, und so werden es diese Studierenden sehr
schwer haben. Gleiches gilt für die nicht wenigen Studierenden, die auf-
grund vieler im Studium erfahrener Rückschläge irgendwann den Traum,
als Jurist arbeiten zu wollen, aufgeben und nur noch den Abschluss anstre-
ben. Auch hier fehlt die positive Emotion in einem Maße, dass man Zweifel
anmelden darf, dass die große Herausforderung der Ersten Juristischen Prü-
fung erfolgreich bewältigt werden kann.
Neben solche Defizite in der inneren Haltung treten zudem weit verbrei-
tete Ansichten, die ebenfalls im diametralen Gegensatz zum Gebot des
nachhaltigen Lernens stehen. Die Maxime, Prüfungen mit möglichst wenig
Aufwand gerade so zu bestehen, ist hier ebenso zu nennen wie die Ansicht,
im Grundstudium gelte es lediglich, die Klausuren irgendwie zu erschlagen,
da das eigentlich Wichtige ja doch nur das Examen und die hierfür relevante
Vorbereitungszeit beim kommerziellen Repetitor sei. Beides wird einen da-
von abhalten, bereits die ersten Semester zu einem grundständigen Studium
zu nutzen. In der Examensvorbereitung kommt dann das »auf Lücke

____________________
21 Geht zurück auf Csíkszentmihályi, Flow – Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart
1992, anschaulich beschrieben bei Burow, Positive Pädagogik, Weinheim 2011,
S. 63 f.; s. zudem Korte (Fn. 16), S. 41 ff.
22 Hier sei angemerkt, dass es nur selten so sein wird, dass ein Studierender von An-
fang an ein auf den Stoff fokussiertes Interesse aufweist, da die wenigsten auf-
grund von Vorwissen (Rechtskunde in Schule oder Ausbildung) bereits ein Bild
von den Inhalten des Jurastudiums und damit eine Vorstellung davon haben, was
sie erwartet; hierzu auch Haft/Kulow (Fn. 3), S. 18.

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lernen« hinzu, welches Haft sehr zu Recht als »Hasardieren« bezeichnet.23


Jeder Examenskandidat wird natürlich Lücken aufweisen. Wer die Lücke
jedoch zur Handlungsmaxime erklärt, wird am Ende größere Wissenslü-
cken aufweisen als viele Kommilitonen.
Besondere Erkenntnisse hat die Neurobiologie auch zum Lernen unter
Angst, als einem besonderen problematischen, die Gleichgültigkeit noch
übertreffenden emotionalen Negativzustand, gewonnen. Wer mit Angst
lernt, verbindet das gelernte Wissen mit diesem emotionalen Zustand.24
Wer sodann dieses Wissen in einer Prüfung anwendet, ruft zugleich das Ge-
fühl der Angst ab. In einem solchen Zustand kann man durchaus auch leis-
tungsfähig sein und Wissen abrufen. Die Fähigkeit zu kreativen Lösungen
oder zur Anwendung von Wissen auf neue Sachverhalte ist in diesem Ge-
mütszustand jedoch blockiert.25 Prüfungskandidaten berichten mitunter da-
von, sie hätten nicht klar denken können, und Einzelne hatten gar das Pech,
in diesem Zustand einen kompletten Blackout zu erleiden. Diese evoluti-
onsbiologisch zu erklärenden Effekte26 müssen unbedingt vermieden wer-
den. Angst ist ein schlechter Begleiter beim Lernen, ein Umstand, der auch
Dozenten und Repetitoren, die für Studierende aufrichtig das Beste wollen,
in ihren Veranstaltungen dringend bewusst sein sollte.
Wie aber entkommt man der Angst? Insoweit sei eingeräumt, dass hier
kaum der Platz ist, um diese Frage für eine heterogene Gruppe von Adres-
saten pauschal zu beantworten. Angemerkt sei allerdings, dass Angst zum
einen oft erst durch das Umfeld und die eigene Erwartungshaltung generiert
wird, und das Umfeld bzw. die eigene Haltung kann man verändern! Jeder
entscheidet selbst, ob man von der sich ausbreitenden Examenspanik erfasst
wird. Zum anderen ist Angst eine Frage der eigenen Bewertung einer anste-
henden Prüfungsherausforderung. Auch für diese ist jeder selbst verant-
wortlich.
Zudem kann man sehr wohl infrage stellen, ob der zusätzlich Stress ver-
ursachende Freischuss zwingend für jeden Absolventen sinnvoll ist. Zu
Recht wird darauf hingewiesen, dass die Dauer der Studienzeit – übrigens
auch in der Wahrnehmung vieler Arbeitgeber – im Vergleich zu den Fähig-
keiten des Einzelnen deutlich zweitrangig ist.27
____________________
23 Haft, Juristische Lernschule – Anleitung zum strukturierten Jurastudium, Mün-
chen 2010, S. 6.
24 Dazu insgesamt Spitzer (Fn. 13), S. 161; s.a. Spitzer (Fn. 17), S. 29.
25 Spitzer (Fn. 17), S. 29.
26 Anschaulich bei Haft/Kulow (Fn. 3), S. 33 f.
27 Kotulla/Rolfsen (Fn. 9), S. 159.

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Es dürfte deutlich geworden sein, dass es sich bei dem hier behandelten
Thema nicht um eine zu praktizierende Lernmethode handelt. Vielmehr
geht es um Haltungen, die gleichsam wie eine Rahmenbedingung des Ler-
nens dieses begünstigen oder behindern kann. Und damit ist die Thematik
auch im Hinblick auf ihre Vermittlung problematisch, zeigt sie doch bei-
spielsweise den angesprochenen Studierenden, die infolge der Frustrationen
des Studiums erklären, niemals mehr juristisch arbeiten zu wollen und nur
noch irgendwie ihren Abschluss machen zu wollen, auf welch schwierigem
Weg sie sich mangels echten Interesses an dem Stoff befinden. Nun ist aber
die Haltung nicht nur das Problem eines jeden Einzelnen, sondern vielmehr
auch die Aufgabe der jeweiligen Bildungseinrichtung, in der Begeisterung
und Interesse für die Materien von Vorbildern vorgelebt werden sollten, um
so auf die noch nicht interessierten Studierenden überzuspringen. Versagt
die Bildungseinrichtung in dieser Hinsicht, dann ist es in der Tat die allei-
nige Aufgabe eines jeden Studierenden, das Feuer für die Juristerei zu schü-
ren.28

II. Wissen kommt zu Wissen

Nachdem deutlich geworden ist, dass positive Emotion den Lernprozess er-
heblich begünstigt, soll auf ein weiteres Prinzip eingegangen werden, dass
gelingende Lernprozess erheblich beeinflusst: Das Prinzip, wonach Wissen
zu Wissen kommt. Es ist eine alte Weisheit, dass man sich neues Wissen
am besten merken kann, wenn man Vorwissen besitzt, an das das neue Wis-
sen andocken kann. Dies bestätigt auch die Lernforschung.29 Daraus folgt
zum einen, dass man sich gerade im Hinblick auf die effektive Gestaltung
der Examensvorbereitung bereits im Grundstudium darum bemühen sollte,
ein konsolidiertes Struktur- und Detailwissen verbunden mit der Beherr-
schung des juristischen Handwerks aufzubauen. Zum anderen gilt es, sich
zu überlegen, in welcher Weise man an ein zu erlernendes Rechtsgebiet
herangeht. Dabei ist es sinnvoll, zunächst allgemeine Informationen zu
sammeln und so Strukturverständnis aufzubauen. Ein erster Überblick, der
Umfang und Grenzen des Gebiets, die Interessen, welche die Regeln zu ver-
mitteln suchen, die Rechtsquellen und die Bedeutung des Methodenrechts
in diesem Bereich etc. zu verstehen sucht, wird eine solide Basis dafür bil-
____________________
28 Haft/Kulow (Fn. 3), S. 17.
29 Spitzer (Fn. 13), S. 283; Spitzer (Fn. 17), S. 31.

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den, die immer detaillierter werdenden Informationen auch tatsächlich ver-


orten und behalten zu können. Wo kein Vorwissen vorhanden ist, ist diese
Aufgabe zentral, da anders keine Grundlage gelegt wird, dass Wissen zu
Wissen kommen kann. Einzelwissen, das keine Andockmöglichkeit im Ge-
hirn findet, wird verloren gehen. Auch dies gilt es immer zu beachten.
Mit diesem Prinzip ist zugleich eine sehr erfreuliche Botschaft verbun-
den, die man auch in Veranstaltungen zum Lernen entsprechend betonen
sollte: Je mehr man weiß, desto leichter wird das Lernen von neuem Stoff.
So überrascht es auch nicht, dass Examenskandidaten mitunter berichten,
dass sie das Lernen mit zunehmender Lerndauer immer einfacher fanden,
und dass dies nicht selten auch mit einem größeren Interesse an dem Stoff
und einer größeren Begeisterung für diesen korrespondierte.

III. Reflexions- bzw. Verarbeitungstiefe

Nachdem es bislang mehr um das Lernen begünstigende Haltungen und


neurobiologische (Rahmen-)Prinzipien ging, sollen nun die Methoden des
Lernens in den Blick genommen werden. Hier stellt sich die Frage, ob es
die eine Methode gibt, die den juristischen Lernerfolg sichert? In der wis-
senschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Lernen tauchen immer wieder
Ansichten auf, die eben dies suggerieren. So wird mitunter die Kopplung
verschiedener Lernkanäle des Hörens, Sehens/Lesens bzw. Handelns als ein
Erfolgsgarant beschrieben.30 Es entsteht der Eindruck, der Mensch sei wie
eine Maschine, bei der man nur in einer bestimmten Reihung das richtige
Programm über die richtigen Kanäle laufen lassen müsse, um zum Erfolg
zu gelangen.
Auch hier ist es wiederum die Neurobiologie, die neue Sichtweisen ins
Spiel bringt und andere Akzente setzt. Worauf es neben der positiven Emo-
tion bzw. Motivation insb. ankommt, sind nicht die Kanäle, über die man
Wissen aufnimmt, sondern vielmehr die Verarbeitungstiefe bzw. Reflexi-
onstiefe, mit der man den zu lernenden Stoff behandelt.31 Spitzer beschreibt
____________________
30 So etwa ter Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 3), S. 32 ff.
31 Im rechtsdidaktischen Schrifttum findet sich mitunter auch der Begriff des Tiefen-
lernens, s. etwa bei Broemel, Erste Juristische Prüfung: Stolperstein oder Kataly-
sator für den Lernprozess?, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Ju-
rastudium, Stuttgart 2015, S. 169 (185).

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dies wie folgt: »Je intensiver wir uns mit Inhalten beschäftigen, desto eher
hinterlassen sie Spuren im Gedächtnis.«32 Was damit gemeint ist, soll, in-
spiriert durch einen Vortrag von Spitzer, anhand eines kurzen Experiments,
welches im Rahmen der TIMSS-Studie, einem Vorläufer der PISA-Studie,
durchgeführt wurde, erläutert werden:
Zwei Schülergruppen erhielten zunächst Frontalunterricht zur Bruch-
rechnung. Danach wurde die erste Gruppe mit Übungsblättern zur Bruch-
rechnung versorgt, die aktiv durchgearbeitet werden mussten. Die zweite
Gruppe wurde hingegen in zwei Untergruppen geteilt. Diese bekamen die
Aufgabe, sich für die jeweils andere Untergruppe Aufgaben zur Bruchrech-
nung auszudenken und selbst die von der jeweils anderen Gruppe ausge-
dachten Aufgaben zu lösen. Das Ergebnis war noch viel brisanter, als man
erwartet hatte. Man ging davon aus, dass die zweite Gruppe in einer später
durchgeführten Prüfung zur Bruchrechnung aufgrund der gewählten Vor-
gehensweise im Durchschnitt besser abschneiden würde als die erste
Gruppe. Dass jedoch der schlechteste Schüler der zweiten Gruppe immer
noch besser sein würde als der beste Schüler der ersten Gruppe, hatte man
nicht erwartet.
Das Ergebnis gibt einem nicht nur im Hinblick auf die Art und Weise,
wie hierzulande an Schulen und Hochschulen zumeist gelehrt wird, zu den-
ken. Es belegt auch, dass es auch bei konkurrierenden Formen des aktiven
Lernens (zu denen auch die Bearbeitung von Übungsblättern zählt) unter-
schiedliche Grade an Verarbeitungstiefe erreicht werden. Je intensiver die
Herausforderung und Auseinandersetzung mit dem Stoff, desto höher der
Grad des gewonnenen Verständnisses. So gibt es keine bestimmte Methode
des optimalen Lernens, es kommt letztlich darauf an, eine möglichst inten-
sive Auseinandersetzung mit dem zu lernenden Stoff und damit eine hohe
Reflexionstiefe zu erreichen. Solange dies der Fall ist, ist die eingesetzte
Lernmethode gleichgültig. Reflexionstiefe ist damit der gemeinsame Nen-
ner, anhand dessen die Effektivität der gewählten Lernmethoden zu messen
ist.
In anderen Worten geht es darum, über den zu lernenden Stoff nachzu-
denken, was einem bei Jura als einem Verständnisfach sehr entgegen
kommt. Soweit man Vorlesungen besucht, legt man die Grundlage für Re-
flexionstiefe, indem man im besten Fall die Vorlesung vorbereitet, jeden-
____________________
32 Spitzer (Fn. 13), S. 6.

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falls aber aufmerksam zuhört und die Inhalte zeitnah nach der Vorlesung
mit Kommilitonen durchspricht, Fragen klärt oder für Rückfragen beim Do-
zenten festhält.33 Wer in der Erwartung einer späteren Diskussion der Vor-
lesungsinhalte eine Vorlesung besucht, ist automatisch deutlich aufmerksa-
mer.
Ein solches Vorgehen ist allerdings nur die Basis für eine Steigerung der
Verarbeitungstiefe mittels des weitergehenden Studiums von Gesetzestex-
ten und Lehrbüchern bzw. Kommentaren. Wenn man Sekundärliteratur,
speziell Lehrbücher, liest und ggf. auch markiert, dann ist die dabei erzielte
Verarbeitungstiefe zumeist sehr begrenzt.34 Diese steigert man erheblich,
wenn man die relevante Information in ein eigenes Verständnissystem, etwa
in Gestalt eines langsam wachsenden Karteikarten-Systems, überträgt.35
Die Erarbeitung eines solchen eigenen Systems oder auch Skripts, in dem
man sich durch den Aufbau, die Gestaltung, den Grad der festgehaltenen
Details etc. Rechenschaft darüber legt, ob man die Inhalte verstanden hat,
steigert die Verarbeitungstiefe erheblich und trägt damit auch zum Erwerb
konsolidierten Wissens bei. Dabei sollte man speziell als Studierender im
Grundstudium immer darauf achten, die Aussagen in eigenen Worten zu
formulieren, da man nur so erkennt, ob man einen Aspekt wirklich verstan-
den hat.
Ein anderer Weg, der eine hohe Verarbeitungstiefe gewährleistet, besteht
in der Ausarbeitung von Mindmaps, die die diversen Ober- und Unterstruk-
turen eines Rechtsgebiets abbilden und auch Details (Problemkonstellatio-
nen/Problemdiskussion) festhalten können. Hier hat Haft bereits sehr früh
und ohne die heutigen neurobiologischen Erkenntnisse zum Lernen weg-
weisende Hilfestellungen gegeben.36 Das Erstellen und Kreieren solcher
Übersichten verlangt ebenfalls, dass ihr Schöpfer die Aussagen der Lehrbü-
cher zu den Strukturen eines Bereichs oder einer Fragestellung herausfiltern
und sinnvoll zueinander in Beziehung setzen kann.

____________________
33 Hierzu eingehender und anschaulich Bergmans (Fn. 3), S. 98.
34 Als Beleg hierfür kann auch eine Studie angeführt werden, nach der die klassi-
schen Lerntechniken der Studierenden, wie etwa das Lesen und Markieren eines
Textes, nur geringe Lerneffekte zeitigen, s. Dunlosky/Rawson/Marsh/Nathan/Wil-
lingham, Improving Students‘ Learning With Effective Learning Techniques: Pro-
mising Directions From Cognitive and Educational Psychology, Psychological
Science in the Public Interest 2013, 4 (4 ff.).
35 S. hierzu insb. Lange (Fn. 3), S. 223 ff.
36 Haft (Fn. 3), S. 194 ff.

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Wie sich speziell auch im obigen Beispiel der TIMSS-Studie gezeigt hat,
gibt es Grade von Verarbeitungstiefe, die andere weit übertreffen. Indem
sich die Schüler der zweiten Gruppe in die Rolle des Lehrers versetzten und
Aufgaben konstruieren mussten, haben sie mit die höchste Stufe erreicht,
namentlich das Lernen durch Lehren, wenngleich auch nur mittelbar in Ge-
stalt von Prüfungsaufgaben. Ebenso wie für das Lehren muss man beim
Konstruieren von Aufgaben die Materie sehr gut verstanden haben, sonst
gelingt es nicht. Es zeigt, dass das gemeinsame Auseinandersetzen mit ei-
nem Problem bzw. dessen Diskussion und Erforschung einen so hohen Grad
an Verarbeitungstiefe gewährleistet, dass ein nachhaltiges Lernen dieser In-
halte sehr wahrscheinlich wird. Daher ist auch zu regelmäßig und effektiv
abgehaltenen Lerngemeinschaften zu raten, bei denen jeder Teilnehmer die
Erläuterung einer bestimmten Thematik übernimmt oder den anderen hilft,
einen unbekannten, vom Moderator bereits vorab anhand einer (hoffentlich
guten) Lösungsskizze durchgearbeiteten Fall zu lösen.37 Und ganz nebenbei
geben sich die Gruppenmitglieder gegenseitig eine psychologisch wichtige
Rückenstärkung, die hilft, auch die schwierigen Phasen eines Studiums ge-
meinsam durchzustehen.38 Leider ist das Jurastudium so gestaltet, dass man
im Wesentlichen Einzelkämpfer ausbildet. Davon zeugt die immer noch
völlig unzureichende Berücksichtigung von Gruppenprojekten, wie etwa
Moot Courts, oder die Zurückdrängung von Hausarbeiten (aus Angst vor
Täuschungen), die hinsichtlich der Kommunikationsfähigkeit und auch
Teamfähigkeit unheimlich positive Effekte zeitigen und eine Aufwertung
erfahren sollten.
All die aufgeführten Beispiele einzusetzender Lernmethoden zeigen,
dass man alleine oder in Gruppen unterschiedliche Methoden nutzen kann,
um Reflexionstiefe zu erreichen und damit effektives Lernen zu gewähr-
leisten. Der Maßstab für Effektivität ist dabei aber immer das über das
Nachdenken erreichte Verständnis der zu lernenden Inhalte. Eine hohe Re-
flexionstiefe erreicht man allerdings nur mit aufwendigen Methoden. Deren
Einsatz erscheint jedoch alternativlos, wenn man konsolidiertes Wissen und
Können anstrebt.
____________________
37 Im Hinblick auf die Gestaltung solcher Arbeitsgemeinschaften sehr empfehlens-
wert ist Lange (Fn. 3), S. 307 ff.; zu den positiven Effekten solcher Lerngruppen
zudem Kotulla/Rolfsen (Fn. 9), S. 160.
38 Dazu auch Kotulla/Rolfsen (Fn. 9), S. 160; dabei sei angemerkt, dass sich in sol-
chen Gruppen die berufsrelevanten »Schlüsselqualifikationen« viel stärker entwi-
ckeln, als dies in speziellen Schlüsselqualifikations-Veranstaltungen der Fall
wäre.

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IV. Wiederholen

Wie bereits im Kontext der Bedeutung der Emotion angedeutet, ist das Wie-
derholen oft das Kreuz derjenigen, die ohne Interesse und Leidenschaft ler-
nen. Aber auch für die, die es da leichter haben, hilft wiederholen, damit
sich das Wissen fest im Gehirn konsolidiert. Wiederholen macht insoweit
den Unterschied zwischen dem Zustand, in dem man etwas zwar schon ein-
mal gehört hat, aber dies auf eine Frage hin nicht abrufen kann, und dem
Zustand, in dem dies infolge konsolidierten Wissens gelingt.
Die Bedeutung der Wiederholung wird regelmäßig sehr zurecht betont.39
Wie angedeutet muss diese aber in Abhängigkeit vom Grad der Emotion für
die Thematik und der eingesetzten Verarbeitungstiefe betrachtet werden. Je
höher das Interesse am Stoff war, und je mehr Reflexionstiefe sich hinter
einer erarbeiteten Karteikarte versteckt, desto geringer ist der Bedarf an
Wiederholung. Ein Workshopteilnehmer berichtete einmal überzeugend,
dass er eine von ihm gestaltete Karteikarte gar nicht mehr anschauen müsse,
weil er deren Inhalt auch ohne Wiederholung beherrsche. Je nach innerer
Haltung und betriebenem Aufwand bei der Erstellung der Karteikarte ist
dies gut erklärbar. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zahl der Wieder-
holungsdurchläufe nicht abstrakt definierbar. Sie hängt vielmehr von den
individuellen Bedürfnissen des Einzelnen ab. Und es kommt auf die Fähig-
keit des Lerners an, ein Gefühl dafür zu gewinnen, wie viele Wiederho-
lungsdurchgänge es braucht, bis eine Frage sitzt. Bei einem schematischen
Vorgehen mit definierter Zahl an Wiederholungsdurchgängen in länger
werdenden Abständen macht man sich ggfs. mehr Mühe als erforderlich.
In diesem Kontext zeigt sich auch, dass eine über die Gestaltung von
Karteikarten oder einem Skript erlangte Reflexionstiefe zugleich der Wie-
derholung dient. Auch wenn die abermalige Lektüre eines Textes sicherlich
zusätzliche Erkenntnisgewinne bringen würde, so ist doch oft nicht die Zeit
hierfür vorhanden. Mit Karteikarten etc. lässt sich zeitsparender und effizi-
enter lernen.

____________________
39 Haft/Kulow (Fn. 3), S. 26; ter Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 3), S. 151 ff.; Lange (Fn.
3), S. 238; Bergmans (Fn. 3), S. 70 f.

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V. Bedeutung von Schlaf und Ruhephasen

Betrachtet man die bisherigen Thesen, so wird deutlich, dass es nicht nur
über die Haltungen und konkreten Methoden nachzudenken gilt, auch das
weitere Umfeld des Lernens, der ruhige Lernort, die sinnvollen Lernzeiten
oder die Ernährung sind wichtige Themen. Besonders bedeutsam erscheint
daneben auch das Thema »Schlaf und Ruhephasen«, da es hier wiederum
jüngere Erkenntnisse aus der Neurobiologie hervorzuheben gilt.40
Lernen ist ein aktiver, bewusster Prozess. Im Schlaf kann nichts Neues
gelernt werden.41 Und doch ist der (ausreichende) Schlaf für Lernprozesse
ebenso zentral wie alle zuvor angesprochenen Aspekte. Das während des
Tages gelernte Wissen wird im Schlaf im Langzeitspeicher des Gehirns
konsolidiert.42 Betrachtet man mittels bildgebender Verfahren die Hirntä-
tigkeit eines Schlafenden, so sieht man, dass der Hippokampus die gelern-
ten Informationen an den Kortex zur nachhaltigen Konsolidierung weiter-
gibt.43 Dies kommt auch in dem Bild zum Ausdruck, dass der Hippokampus
im Schlaf als der Lehrer des Kortex fungiere.44 Der Schlaf hat damit eine
besonders wichtige Funktion für das Lernen. So wird deutlich, dass ein Ler-
ner nie am Schlaf sparen sollte:
»Wer sich den Schlaf raubt, um zu lernen, der stört den im Kopf eingebauten Lehr-
meister bei der Arbeit, d.h. beim nächtlichen Repetieren dessen, was tagsüber ge-
lernt wurde.«45
Dies wirft ein neues Bild auf all die Kommilitonen, die sich damit brüsten,
nur wenige Stunden zu schlafen, um hinreichend fleißig sein zu können,
falscher kann man es nicht machen. Vielmehr gilt es sehr darauf zu achten,
dass der nächtliche Schlaf ungestört und in ausreichendem Maße ermöglicht
wird. Entsprechendes gilt tagsüber für Pausen und Ruhephasen, die je nach
individuellem Bedarf ebenfalls unterschiedlich lang sein müssen. Hier gibt
es keine Patentrezepte, jeder Einzelne muss sich selbst dahingehend erfor-
schen, wie das Zusammenspiel von effektivem Lernen und Ruhezeiten zu
gestalten ist. Und wahrscheinlich gibt es bei effektiven Lernprozessen auch
____________________
40 Dazu insb. Spitzer (Fn. 13), S. 121 ff.
41 Spitzer (Fn. 13), S. 1 f.; Korte (Fn. 16), S. 73.
42 S. etwa Rinck, Lernen, Stuttgart 2016, S. 107 f.
43 Spitzer (Fn. 13), S. 123 ff.
44 Spitzer (Fn. 13), S. 125.
45 Spitzer (Fn. 13), S. 132.

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Grundlagen des juristischen Lernens

den Moment, in dem nichts Neues mehr aufgenommen werden kann und
jeder zusätzliche Eifer nicht nur verschwendet wäre, sondern auch das Ler-
nen des behandelten Stoffes stört. Teilweise wird dieser Punkt bei sechs
Stunden intensiven Lernens ohne Pause als erreicht angesehen.46 Bei aller
Vorsicht mit festen Vorgaben scheint dies ein sinnvoller Richtwert zu sein,
der sicherlich aber mehr für die Phase der Examensvorbereitung gilt.

VI. Einüben des juristischen Handwerks

Die hier präsentierte Liste der zentralen Parameter des juristischen Lernens
ist bereit jetzt unvollständig, besonders würde dies aber gelten, wenn man
nicht zumindest kurz auf die Notwendigkeit des Lernens abstrakter Inhalte
im Lichte der Fallklausur als der vorrangigen Prüfungsform hinwiese. Der
Beitrag von Kuhn in diesem Band widmet sich u.a. dieser Thematik in be-
sonderer Weise.47 Strukturwissen und auch Detailkenntnisse werden in der
Ersten Juristischen Prüfung insbesondere in Gestalt von Fällen abgefragt,
anhand derer es das juristische Handwerk zu beweisen gilt. Es nützt also
nichts, wenn man zwar in der Lage wäre, die Probleme eines Rechtsbereichs
in Aufsatzform darzulegen, dieses Wissen aber nicht in Gestalt einer Fall-
lösung auf einen konkreten Sachverhalt anwenden könnte.48 Die Verpa-
ckung des Wissens in einer Falllösung ist damit ebenfalls zentraler Lernge-
genstand, wobei hier die Komponente des Einübens in den Vordergrund
tritt.49 Dies verlangt, dass man sich einerseits sehr bewusst die Hinweise
zum Aufbau und den gebräuchlichen Formulierungen etc. vermerkt, um
diese dann zusammenhängend zu studieren und ein Bild von den Regeln
der »Verpackung« zu erhalten und diese effektiv üben zu können. Zum an-
deren muss neben den Anspruch, die Inhalte »verstehen« zu wollen, immer
auch die Frage treten, in welchen Konstellationen die jeweilige Problematik
in einer Klausur auftauchen könnte und wie diese sodann in eine gutachter-
liche Lösung zu integrieren wäre.

____________________
46 Haft/Kulow (Fn. 3), S. 15 f.
47 S. Kuhn, Anregungen für ein effektives Selbststudium anhand von Fällen sowie
für die richtige Lektüre und die Gestaltung von Lehrbüchern, in diesem Band, S.
9 (9 ff.).
48 Hierzu auch Haft/Kulow (Fn. 3), S. 12 f.
49 Hierzu mit zahlreichen weiterführenden Hinweisen auch Zwickel/Lohse/Schmid,
Kompetenztraining Jura, Berlin 2014.

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Wie man die praktische Übung am besten gestaltet, ist Gegenstand inten-
siver Debatten unter Dozenten. Teilweise wird angeraten, eine Vielzahl
früherer Examensklausuren in universitären oder kommerziellen Klau-
surenkursen zu schreiben. Es ist sicherlich wichtig und richtig, sich mit den
Anforderungen, die in Examensklausuren gestellt werden, auseinanderzu-
setzen. Hier lassen sich wichtige Erfahrungen hinsichtlich Zeitmanage-
ment, dem Umgang mit unbekannten Sachverhalten, stilistischer Ansätze
etc. gewinnen. Gleichzeitig sollte man aber nicht annehmen, dass man ge-
rade über eine Vielzahl geschriebener Klausurenkursklausuren die gebote-
nen breiten Strukturkenntnisse erwerben könnte. Haft beschreibt einen sol-
chen Ansatz als »eine besonders aufwendige und zeitraubende Art des Ge-
henlernens durch permanentes Stolpern.«50 Und so gilt es, sich Übungs-
möglichkeiten zu suchen, die für das jeweilige Themengebiet angemessen
sind und in zeitlicher Hinsicht nicht ausufern.

D. Wege der Vermittlung juristischen Lernens

Die vorliegend vertretenen Kernthesen wurden – erweitert um im Rahmen


dieses Betrags nicht eingehender angesprochene Inhalte – bislang in Halb-
und Ganztages-Workshops sowohl für Kleingruppen als auch größere
Gruppen von Studierenden vorgestellt. Andere Vermittlungsformen, von
denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung teilweise aus lang-
jähriger Erfahrung berichten konnten, bilden im Semester wöchentlich ab-
gehaltene Arbeitsgemeinschaften oder mehrtätige Blockveranstaltungen, in
denen mitunter ein erweitertes Spektrum von study skills in den Blick ge-
nommen wird.51 Im Kern wird man sagen können, dass jegliche Veranstal-
tung, die Studierende dazu anregt, das eigene Lernverhalten zu reflektieren,
sinnvoll erscheint. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Veranstaltung auch
gerade zum kritischen Nachdenken über die jeweils vertretenen Thesen ein-
laden und nicht nur die eine Methode propagieren sollte. Je mehr Möglich-
____________________
50 Haft (Fn. 23), S. 6.
51 S. hierzu beispielhaft die von Djawadi über viele Semester hinweg an der Univer-
sität zu Köln angebotenen Arbeitsgemeinschaften oder die von Lange an verschie-
denen Universitäten angebotenen mehrtätigen Workshops, deren Inhalte auch vor-
gestellt werden in Lange (Fn. 3); s. zudem Lange (Fn. 1), S. 147 ff., insb. 154 ff.
u. 160 ff.

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Grundlagen des juristischen Lernens

keiten zur selbstständigen Erarbeitung von Konzepten bereits in der Veran-


staltung gegeben werden und je intensiver auch die Angebote zu einem in-
dividuellen Einüben sind, desto größer erscheint der mögliche Lernerfolg
solcher Veranstaltungen.
Zu überlegen wäre auch, neben Angeboten, die sich an eine breitere
Gruppe richten, ergänzende individuelle Beratungsangebote zu eröffnen,
um den ggfs. gebotenen individuellen Beratungsbedürfnissen Einzelner ge-
recht zu werden.52 Dies sollte aber von der vorausgehenden Teilnahme an
Veranstaltungen zum juristischen Lernen abhängig gemacht werden. Auch
mag die Frage der Gestaltung der Angebote von der Zielgruppe abhängen,
die bei Studienanfängern53 eine andere ist als bei Examenskandidaten54.
Hier gilt im Grundsatz, dass die Studierenden so früh wie möglich Anlei-
tung erfahren sollten, damit sich falsche Lerngewohnheiten erst gar nicht
ausprägen.55
Von universitärer Seite wäre es zudem dienlich, wenn entsprechende
Veranstaltungen in das Curriculum aufgenommen würden, und damit do-
kumentiert würde, dass man sie als wichtigen Bestandteil der Ausbildung
begreift und hierfür auch Zeit reserviert.56
Damit kann insgesamt festgehalten werden, dass sich der nachhaltige
Nutzen einer Veranstaltung daran festmacht, wie interaktiv, wie individua-
lisiert und wie übungsorientiert sie gestaltet wird. Dass davon losgelöst im
wissenschaftlichen Diskurs weiter um die Inhalte solcher Veranstaltungen
gerungen werden muss, sollte einleitend bereits deutlich geworden sein.57

____________________
52 Zu entsprechenden Überlegungen etwa auch Strasser-Gackenheimer, Selbstlern-
kompetenz fördern in der Lernberatung – ein Impuls aus der Beratungspraxis eines
»Massenstudiengangs«, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jura-
studium, Stuttgart 2015, S. 221 (221 ff.).
53 Für Kurse im Grundstudium allerdings nicht vor dem Ende des ersten Semesters
spricht sich Lange (Fn. 1), S. 165, aus.
54 Zu Kursangeboten für Examenskandidaten s. Broemel (Fn. 31), S. 188 ff.
55 S. insb. Lange (Fn. 2), S. 166, die zurecht darauf hinweist, dass solche Veranstal-
tungen erst dann wirklich sinnvoll sind, wenn die Studierenden für zumindest ei-
nige Wochen studiert haben, was auch die Integration solcher Veranstaltungen in
die Erstsemesterbegrüßung in Frage stellt.
56 Lange (Fn. 1), S. 164 f.
57 Zu einer sehr durchdachten und erprobten Konzeption auch Lange (Fn. 1), S. 154
ff. u. 160 ff.

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E. Fazit

Der vorliegende Beitrag hat versucht, aufzuzeigen, welche zentrale Bedeu-


tung die Stärkung der Selbstlernkompetenz im Jurastudium haben kann. Die
primäre Zielsetzung bestand darin, in der Fülle von Handlungsanweisungen
zu einem gelingenden Lernen diejenigen zu identifizieren, die im Zentrum
zu stehen scheinen.
Es sind dies insb. die Erzielung von Reflexions- bzw. Verarbeitungstiefe,
welche in einer Wechselbeziehung zum Wiederholen steht. Die Effektivität
dieser Methoden ist aber wiederum abhängig von der emotionalen Haltung
und Motivation zum Lernen des gebotenen Stoffes.
Die neurobiologischen Erkenntnisse zur Bedeutung der Emotion beim
Lernen sind so bemerkenswert, dass es sich gebietet, diese mit in das Zent-
rum der Diskussion zu stellen. Letztlich lernen wir nur das leicht und insb.
auch nachhaltig, was uns wirklich interessiert, besser noch begeistert. Alles
andere muss man sich mühsam und quälend aneignen – wie so vieles, was
man zu Schulzeiten gezwungenermaßen lernen musste –, und wenn man es
nicht regelmäßig aufwendig wiederholt, bleibt es nicht im Kopf. Wer es
also nicht schafft, während des Studiums ein aufrichtiges Interesse für mög-
lichst die gesamte Materie des Rechts zu entwickeln, wird es schwer haben
und nur ausnahmsweise erfolgreich sein.
Neues Wissen kann sich am besten dann konsolidieren, wenn es an vor-
handenem Wissen anknüpfen kann: »Wissen kommt zu Wissen«. Dies ist
auch ein wesentlicher Grund dafür, mit dem nachhaltigen Lernen nicht erst
in der Examensvorbereitung zu beginnen. So ist es wichtig, einen Blick für
die allgemeinen Strukturen, die zuerst gelernt werden sollten, zu entwi-
ckeln, damit Detailkenntnisse sodann an dieses Wissen andocken können.
Das Prinzip dient dem Lerner, da dieser den Lernprozess mit zunehmender
Dauer als immer einfacher empfinden wird.
Die Reflexions- bzw. Verarbeitungstiefe ist in methodischer Hinsicht ein
wesentlicher Aspekt. Ein erster Schritt hierzu ist ein aktiver Umgang mit
Vorlesungen, der sich speziell in der zeitnahen Diskussion oder Nacharbeit
von deren Inhalten zeigt. Das bloße Lesen und Markieren von Texten hat
kaum nachhaltige Effekte. Erst wenn man anfängt, über die Materie intensiv
nachzudenken und die Strukturen, Regeln und Streitigkeiten zu verstehen
sucht, beginnt ein Erkenntnisprozess, an dessen Ende ein Rechtsverständnis
und gesichertes Wissen steht. Methodisch erreicht man dies, wenn man die
wesentlichen Informationen in einem eigenen Erkenntnissystem, etwa ei-
nem Karteikarten-System festhält, Mindmaps oder ähnliches entwickelt

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oder mit Studienkollegen über die Fragen diskutiert. All dies ist aufwendig
und doch ohne Alternative, wenn man ein guter Jurist mit möglichst guten
Examina werden möchte.
Wiederholung ist das Kreuz derer, die nicht bereits mit Begeisterung ler-
nen. Gleichzeitig werden aber auch die interessierten Studierenden nicht
immer alles gleich behalten, speziell nicht die vielen Details. Und so gilt es,
sich zu überlegen, wie und in welchen Abständen man am besten wiederholt
und wie viele Durchgänge es jeweils braucht, um konsolidiertes Wissen zu
erwerben. Karteikarten bilden dabei eine ausgezeichnete Basis für effekti-
ves Wiederholen.
Und letztlich sind Ruhephasen, insb. der nächtliche Schlaf, für das Ler-
nen von besonderer Bedeutung, da gerade in Tiefschlafphasen Informatio-
nen aus dem Hippokampus in den Langzeitspeicher des Großhirns weiter-
geleitet werden. Vor diesem Hintergrund muss man sich tatsächlich fragen,
wie viel es bringt, wenn sich Einzelne damit rühmen, 10 Stunden und mehr
am Tag zu lernen. Wer sich keine Zeit zur Erholung nimmt, lernt vorder-
gründig viel, nachhaltig aber wenig.
Die eigentliche Kunst des Lernens besteht wohl auch darin, zu erkennen,
wann und wie das eigene Gehirn optimal aufnahmefähig ist und wann eine
Sache nachhaltig gelernt wurde, so dass sie nicht weiter wiederholt werden
muss. So verstanden ist Lernen auch ein Prozess, der nicht von Anfang an
optimal funktionieren kann und der erst über viele positive Lernerfahrungen
zu einem effektiven eigenen Lernstil reift.58
So hat sich insgesamt gezeigt, dass unser Gehirn grundlegend anders
funktioniert als der Speicher eines Computers.59 Wissen konsolidiert sich
im Langzeitspeicher des Gehirns in Abhängigkeit von Interesse und Begeis-
terung für die Materie, dem Grad des Nachdenkens über die Lerninhalte,
dem Vorhandensein und dem Umfang von Vorwissen und dem Wiederho-
len gelernter Inhalte. Man muss eben gerade kein Gedächtniskünstler sein,
um Jura erfolgreich abzuschließen.
Die Gesamtschau all dieser Aussagen deutet an, dass man Lernen nicht
einfach lehren kann. Man kann nur dazu ermutigen und Anregungen geben,
sich mit der Thematik des Lernens zu befassen und eine positive Haltung
zu der großen Herausforderung des Jurastudiums und der Ersten Juristi-
schen Prüfung einzunehmen. Aber bereits ein solches Engagement kann für

____________________
58 In diesem Sinne auch Haft (Fn. 24), S. 9.
59 So auch Haft/Kulow (Fn. 4), S. 9.

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den einzelnen Studierenden den Unterschied zwischen einem erfolgreichen


und einem erfolglosen Studium ausmachen.
Weiter sollte deutlich geworden sein, dass der Weg zu einem gelingen-
den Lernen aufgrund der aufgezeigten Wechselwirkungen zwischen den
zentralen Aspekten bei jedem Einzelnen sehr unterschiedlich verlaufen
kann. Es ist ein Prozess, der seinerseits gelernt werden muss und an dessen
Beginn die Bereitschaft steht, sich hierauf einzulassen, sich selbst in der
Gestaltung der Lernprozesse zu beobachten und Ableitungen dazu zu tref-
fen, welche Wege für einen selbst die besten sind. Lernen und auch das
Erarbeiten einer individuell passenden Lernmethode sind damit ein von je-
dem Einzelnen zu leistender Prozess, der aber sowohl fachkundig angesto-
ßen als auch begleitet werden kann.
Die Studien stehen noch aus, in denen man beweisen könnte, dass eine
nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Gruppe von Studierenden durch eine
intensive Anleitung hinsichtlich des juristischen Lernens im Vergleich zu
Studierenden einer Vergleichsgruppe ohne Anleitung deutlich größere Stu-
dienerfolge aufweisen würde. Es ist jedoch zu vermuten, dass diejenigen
Studierenden, die sich ausgiebig mit dem Lernen befassen und ihre eigene
Methode reflektieren, es deutlich leichter haben, weil ihr Fleiß nicht so ver-
pufft, wie bei anderen Studierenden. So verfolgte der Beitrag jenseits des
fachlichen Diskurses auch das Anliegen, bei studentischen Lesern Bewusst-
sein für die Bedeutung von Lernhaltungen und -methoden zu vermitteln.

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Tagungsforum
Tagung »Juristisches Lernen«*

9. und 10. September 2016, Schloss Gracht und 28. und 29. April 2017,
Schloss Gracht

Martin Zwickel**/Jörn Griebel***

A. Tagung am 9. und 10. September 2016

»Ius est ars boni et aequi – Das Recht ist die Kunst der guten Ordnung und
der Billigkeit« lautet die klassische Definition des Rechts von Celsus in den
Digesten.1 Zur Präzisierung des Erlernens dieser »juristischen Kunst« traf
zunächst am 9. und 10. September 2016, auf Einladung von Prof. Dr. Bar-
bara Dauner-Lieb und Prof. Dr. Jörn Griebel, im schönen Ambiente von
Schloss Gracht, ein kleiner Kreis von 13 fachdidaktisch Interessierten zu-
sammen. Ein Dank für die Ermöglichung dieses Austausches gilt den Or-
ganisatoren sowie der Heinz Nixdorf Stiftung und der Hanns Martin
Schleyer-Stiftung für die großzügige Unterstützung, welche im Rahmen der
Universitas-Initiative »Interdisziplinäre Dozentenkolloquien Wissenschaft
und Praxis« erfolgte.
Gleich zu Beginn der Tagung wurden die Teilnehmerinnen und Teilneh-
mer gebeten, die für sie wichtigsten Komponenten des juristischen Lernens
zu benennen. Dabei zeigten sich drei Blöcke, die sich letztlich allesamt drei
zentralen Determinanten des juristischen Lernens zuordnen lassen: Juristi-
sches Lernen besteht demnach aus einer möglichst optimalen Kombination
____________________
* Martin Zwickel hat den Berichtsteil zur 1. Tagung verfasst, während Jörn Griebel
für den Bericht zur 2. Tagung verantwortlich ist.
** Dr. Martin Zwickel, Maître en droit ist Akademischer Oberrat an der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er leitet dort die Serviceeinheit
»Lehre und Studienberatung«.
*** Jörn Griebel ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Internationales
Wirtschaftsrecht an der Universität Siegen.
1 D. 1,1,1 pr.

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von Tiefenlernen (Verstehen), strategischem Lernen (Klausur- und Falllö-


sungstraining) und »Lust-Lernen« (Emotion).2 Ziel der Tagung war es, sich
auf die Suche nach einer optimalen Kombination dieser Elemente zu ma-
chen. So sollte in einem ersten Schritt das Tagungsthema »Jura lernen« zu-
nächst definiert werden (Themenschwerpunkte des juristischen Lernens). In
einem zweiten Schritt sollte das Thema über die Behandlung einiger Ein-
zelkomponenten des juristischen Lernens weiter durchdrungen werden (De-
tailfragen des juristischen Lernens), ehe in einer abschließenden Diskussion
zu geeigneten Formaten der Vermittlung juristischer Lernkompetenzen
Stellung bezogen werden sollte.
Im Rahmen des ersten Themenblocks stellte Veranstalter Griebel die auf
seinem Kurs zum juristischen Lernen basierenden grundlegenden Überle-
gungen und zentralen Kursinhalte von Veranstaltungen zum juristischen
Lernen vor. In seinem Impuls ging Griebel dabei von einem Studierenden
in einer Selbstlernsituation aus. Aus seiner Sicht stellen sich in dieser Lage
mehrere zentrale Fragen für den juristischen Wissenserwerb: Die Frage
nach der Motivation, nach den Grundlagen des Lernens (z.B. System und
Sprache des Wissenserwerbs), nach der Herstellung von Reflexionstiefe,
nach der Bedeutung des Wiederholens und nach dem Lernumfeld. Demge-
genüber seien Lerntypenlehre und Mnemotechniken keine bedeutenden As-
pekte des juristischen Lernens. Während die beiden letztgenannten Aspekte
– auch aus Sicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer – aus den weiteren
Betrachtungen ausgenommen werden sollten, zeigte die Diskussion klar
auf, dass neben den genannten Themen auf der Ebene des Wissenserwerbs,
v.a. auch der Anwendungsebene (v.a. der juristischen Falllösungstechnik
samt der dazugehörigen Fehleranalyse), bedeutender Raum im Rahmen des
juristischen Lernens zukommen muss. Durch diese begriffliche Einhegung
gelang es in der Diskussion, bereits zu einem frühen Zeitpunkt mehrere
Themen des juristischen Lernens herauszufiltern, in denen in besonderem
Maße Handlungsbedarf besteht: Die Förderung der strategisch-intrinsi-
schen Motivation für erfolgreiches Lernen, die Berücksichtigung der Meta-
sphäre des juristischen Lernens, d.h. die Rolle der Dozentinnen und Dozen-
ten als »Lernautoritäten«, sowie der Aufbau juristischer Lernunterstützung
auf neurobiologischen Erkenntnissen. Die strategisch-intrinsische Motiva-

____________________
2 Nach Stadler/Broemel, Lerntechniken und Lernstrategien im Jurastudium, in:
Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, Ba-
den-Baden 2014, S. 37 (63 ff.), die das »Streben nach dem strategischen Tiefen-
lerner« als Ziel benennen.

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tion kann, nach Auffassung der Diskutanten v.a. durch Einbindung der Stu-
dierenden in Gruppen, durch Feedbacksysteme und die Erlangung von
Selbstbestimmtheit im Lernprozess erhöht werden. Im Bereich der Rolle
der Dozentinnen und Dozenten wurden Schwerpunkte einer Unterstützung
des juristischen Lernens in einer klareren Trennung zwischen Wissenser-
werb und Wissensanwendung durch die Lehrenden und in einem Verdeut-
lichen der Niveaustufen der Rechtsanwendung gesehen. So könnte in Fall-
lösungen und Fallbesprechungen verstärkt klargestellt werden, an welcher
Stelle Wissenselemente einfließen und wie dieses juristische Wissen erwor-
ben werden kann. Nicht abschließend diskutiert werden konnte die Bedeu-
tung der Veranschaulichung der unterschiedlichen Rechtsanwendungssphä-
ren (Gerichte, Wissenschaft, juristische Prüfungen) für das juristische Ler-
nen. So wurde in den Diskussionen angesprochen, die Entscheidung von
rechtlichen Konfliktsituationen erfolge bei Gericht anders als in der Wis-
senschaft und in juristischen Prüfungen.3 Unklar blieb dabei aber v.a. das
Ausmaß der Unterschiede, beziehen Gerichte doch wissenschaftliche Er-
kenntnisse maßgeblich in ihre Entscheidungsfindung ein und enthalten ju-
ristische Prüfungen doch in erheblichem Umfang wissenschaftliche Ele-
mente in Form von Streitständen.
Diese drei zentralen Betätigungsfelder der Unterstützung des juristischen
Lernens (Förderung der strategisch-intrinsischen Motivation für erfolgrei-
ches Lernen, Berücksichtigung der Metasphäre des juristischen Lernens, d.
h. die Rolle der Dozentinnen und Dozenten als »Lernautoritäten«, Aufbau
juristischer Lernunterstützung auf neurobiologischen Erkenntnissen) soll-
ten sodann im zweiten Block der Tagung vertieft werden. Die Impulsvor-
träge und die Diskussionen betrafen nunmehr Detailfragen des juristischen
Lernens, d.h. die diversen Facetten des juristischen Lernens. Nachdem be-
reits im Eingangsteil vielfach die Bedeutung der praktischen Falllösung für
das juristische Lernen unterstrichen worden war, baute Prof. Dr. Tomas
Kuhn diese Lerntechnik – jeweils aus Sicht der Studierenden und der Do-
zenten – in Form von Tipps zur Falllösung (Rolle des Studierenden) und
von Strategien zur Fehlervermeidung (Rolle des Korrektors) sowie Hinwei-
sen zur Optimierung der Nutzung von Lehrbüchern bzw. der Lehrbuchge-
staltung aus. Seine Ausführungen zu »Strategien zur Fehlervermeidung« –
mit zahlreichen, die Hintergründe konkreter Klausurfehler aufzeigenden
Beispielen – machten die Bedeutung der Analyse von Klausurfehlern für
____________________
3 S. hierzu bereits Bleckmann, Einführung, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkom-
petenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 7 (9 ff.).

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das juristische Lernen eindrucksvoll deutlich. In der anschließenden Dis-


kussion blieb aber die Frage weitestgehend offen, wie Studierende ge-
machte Fehler im Selbststudium überhaupt erkennen bzw. auswerten sollen,
wenn für sie auch bei der Bearbeitung der Klausur fehlerträchtige Stellen
überhaupt nicht ersichtlich waren. Zu Recht wurde in den Diskussionen die
in diesem Zusammenhang nicht zu bestreitende Rolle des Gruppenlernens
betont. Auch die über den Vergleich der eigenen Lösung mit besonders gu-
ten Lösungen bzw. den davon abzugrenzenden »Musterlösungen« hinaus-
gehende Systematisierung und Kategorisierung der im juristischen Bereich
denkbaren Fehler wäre sicherlich ein interessantes Feld für die weitere Prä-
zisierung der Thematik »juristisches Lernen«.4 Für den Bereich der Lehr-
bücher wurde – mit Blick auf angelsächsische juristische Lehrbücher und
Schulbücher – einvernehmlich festgestellt, dass die eingehende Befassung
mit einer juristischen Mediendidaktik dringend erforderlich wäre.
Dr. Arnd Kulow legte seinem Impulsvortrag »Jura mit Gefühl und Ver-
stand« die Luhmannsche Systemtheorie als Rahmentheorie zugrunde, der
sich die Aufteilung in ein Bio-, Psycho- und Soziosystem des juristischen
Lernens entnehmen lasse. Seine Ausführungen zum Biosystem, d.h. zur
Neurobiologie der Neugier, schlossen mit einer Bestimmung des optimalen
Rahmens des juristischen Lernens, der grundsätzlich aus »Suchen flankiert
von Belohnung« bestehen sollte. Das Bewusstseinssystem schwankt zwi-
schen hypnotischen und analytischen Zuständen, wobei sich das Rechtsden-
ken eher im mittleren Bereich zwischen diesen beiden Extremen abspiele.
Für das juristische Lernen bedeutet dies nunmehr, dass bei der Thematisie-
rung des juristischen Lernens nicht alleine auf die Logik abgestellt werden
könne, sondern stets die Trennung zwischen Entscheidungsteil und Struk-
turteil im Auge zu behalten sei. Hinsichtlich des Kommunikationssystems
des juristischen Lernens stellte Kulow eine fehlende Evidenzbasierung der
juristischen Didaktik fest und regte an, sich – auch für die juristische Lern-
beratung – am Modell des »Motivational Interviewing« mit seiner Abwä-
gung zwischen Kosten/Nutzen der Beibehaltung des status quo und Kos-
ten/Nutzen von Veränderungen zu orientieren.
Im dritten Block zu konkreten Veranstaltungsformaten folgte ein Impuls
von Mahdad Mir Djawadi zu elektronischen Hilfsmitteln des juristischen

____________________
4 A.A. wohl Kuhn, Konsequenzen aus Fehlern in Klausurbearbeitungen für die ju-
ristische Lehre, in: Griebel/Gröblinghoff (Hrsg.), Von der juristischen Lehre, Ba-
den-Baden 2012, S. 105 (106), der davon ausgeht, Fehlerkategorien sollten nicht
vorgegeben werden.

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Lernens. Nach seinen Aussagen kommt es für das juristische E-Learning


v.a. auf die Bewältigung der aktuell bestehenden Diskrepanz zwischen Ma-
schinenschreiben (E-Learning) und Handschreiben (juristische Klausuren),
einfach zu bedienende Programme, Wissen um den angemessenen Einsatz
dieser elektronischen Lerntechniken und ausreichende Selbstlernzeit für die
Nutzung elektronischer Hilfsmittel an. Die Thematik des juristischen E-
Learnings wurde von den Diskutanten überwiegend eher kritisch beurteilt.
So machten juristische E-Learning-Angebote vieles zu klar, und das soziale
System des E-Learnings sei anders als in herkömmlichen Lernformaten.
Dies mag für die Umsetzung herkömmlicher juristischer Lehre in elektro-
nische Lehre gelten. Insbesondere die darüberhinausgehenden Chancen des
E-Learnings für das juristische Selbstlernen5 sind aber noch weitgehend un-
genutzt6 und sollten dringend weiterdiskutiert werden. Erfahrungen aus
ganz konkreten Veranstaltungsformaten zum juristischen Lernen (Klau-
surenklinik und juristische Lernberatung) stellte Dr. Volker Steffahn vor.
Anhand dieser beiden Beispiele arbeitete er heraus, dass Veranstaltungen
zum juristischen Lernen die oben angesprochenen Komponenten des Tie-
fenlernens, des strategischen Lernens und des »Lust-Lernens« gleicherma-
ßen fördern sollten. Hinsichtlich des Tiefenlernens hätten sich Ansätze, die
das Verstehen fördern, als äußerst effektiv erwiesen. Besonders wichtig sei
zudem, dass zum strategischen Lernen auch die Information über verfüg-
bare Ressourcen (Sachverhalt, Allgemeinwissen, Gesetzestext, Methodik)
gehöre. Ziel der Förderung des strategischen Lernens müsse das Erreichen
einer Navigationskunst zwischen diesen einzelnen Ressourcen sein. Hin-
sichtlich des Lust-Lernens zeigt sich, nach Auffassung von Steffahn, klar,
dass die These der fehlenden verfügbaren Zeit von Studierenden nicht halt-
bar ist. Vielmehr könne gerade das »Lust-Lernen« die Studierenden dazu
anhalten, sich längere Zeit und intensiver mit den juristischen Studieninhal-
ten auseinander zu setzen. Diese Sonderveranstaltungen (Klausurenklinik
und juristische Lernberatung) nahm die Gruppe sodann zum Anlass,

____________________
5 Z.B. im Hinblick auf ein studienintegriertes Selbststudium (s. dazu allgemein
Schulmeister, Auf der Suche nach Determinanten des Studienerfolgs, in: Brock-
mann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, Baden-
Baden 2014, S. 72 (202)).
6 So bereits Reimer/Zwickel, E-Learning und Selbstlernkompetenzen im Jurastu-
dium, in: Bleckmann (Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart
2015, S. 115 (128).

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intensive Überlegungen zu den geeigneten Veranstaltungsformaten des ju-


ristischen Lernens anzustellen. Einigkeit bestand letztlich darin, dass – we-
gen beschränkter Kapazitäten – nicht breitflächig mit den eigentlich opti-
malen Individualveranstaltungen gearbeitet werden kann. Denkbar sind
folglich sowohl Blockkurse7 und durchlaufende Kurse als auch Einzelbera-
tungen.8 In der Diskussion ließ sich die Vorteilhaftigkeit bestimmter For-
mate nicht erhärten. Deutlich wurde aber, dass der Ausweitung der Grup-
pengröße bei Veranstaltungen zum juristischen Lernen Grenzen gesetzt
sind, da juristisches Verständnis nach Auffassung der Arbeitsgruppe immer
die Fähigkeit zur Rechtsanwendung voraussetzt.
Trotz der schier unfassbaren Menge an Einzelkomponenten juristischer
Lernkompetenz ist das Experiment, »Jura lernen« als Gesamtpaket an ei-
nem Wochenende zu diskutieren, als gelungen zu bezeichnen. In äußerst
fruchtbaren Diskussionen und angenehmer Atmosphäre ist es geglückt, den
Begriff des juristischen Lernens zu konturieren und zentrale Punkte für den
Handlungsbedarf abzustecken. Die Arbeitsgruppe konnte sich im Rahmen
einer weiteren Tagung (s. B.) stärker den konkreten Umsetzungsfragen ei-
ner Förderung juristischen Lernens zuwenden. So steht denn auch schon
eine Fortsetzung des informellen Austauschs zu diversen weiteren Diskus-
sionsschwerpunkten auf der Agenda.
Klar war schon jetzt: Sieht man das juristische Lernen gemäß dem ein-
gangs erwähnten Celsus-Zitat als juristische »Kunst« an, so wird – ganz mit
dem BVerfG9 gesprochen – immer ein gewisses Interpretationsbedürfnis
verbleiben. Ziel kann es daher immer nur sein, den kleinsten gemeinsamen
Nenner des juristischen Lernens zu finden.

B. Tagung am 28. und 29. April 2017

Die Folgetagung fand sodann am 28. und 29. April 2017 abermals auf
Schloss Gracht statt. Auch sie wurde erst durch die großzügige finanzielle
Unterstützung der Heinz Nixdorf Stiftung und der Hanns Martin Schleyer-
____________________
7 Für ein entsprechendes Plädoyer s. Lange, Ein Plädoyer für Blockveranstaltungen
zur Förderung von Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, in: Bleckmann
(Hrsg.), Selbstlernkompetenzen im Jurastudium, Stuttgart 2015, S. 147 (147 ff.).
8 Zu Überlegungen zu Formaten der Vermittlung juristischer Problemlösungsfähig-
keit s. Steffahn, Methodik und Didaktik der juristischen Problemlösung, Erlangen
2014, S. 266 ff.
9 BVerfG 17.7.1984, 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213 (227).

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Stiftung ermöglicht, welche die Tagung wie zuvor im Rahmen der Univer-
sitas-Initiative »Interdisziplinäre Dozentenkolloquien Wissenschaft und
Praxis« förderten.
Die ersten zwei Beiträge unterfielen dem Themenblock »Selbststudium«.
Den Auftakt hierzu machte Mahdad Mir Djawadi mit einem Beitrag zum
»Verhältnis von Vorlesung und Selbststudium«. In seinem Vortrag ging es
dem Referenten um das den juristischen Curricula zugrundeliegende zeitli-
che Verhältnis von Präsenzveranstaltungen (insbesondere Vorlesungen,
d.h. hier verstanden als eine Veranstaltung, in der auf abstraktem Niveau
Wissen dargelegt wird) zu den Selbstlernzeiten. Im Zentrum stand dabei die
Frage, ob sich bessere Examensnoten über effektiver genutzte Selbstlern-
zeiten bei gleichzeitig reduzierten Vorlesungszeiten realisieren ließen.
Der Beitrag wurde mit der provokanten Feststellung eingeleitet, dass die
Examensergebnisse seit Jahren auf niedrigem Niveau stagnierten. Dies sei
insbesondere daran abzulesen, dass nach wie vor mehr als die Hälfte der
Examenskandidatinnen und -kandidaten in den Staatsprüfungen mit ausrei-
chend oder schlechter abschnitten. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn
man bedenkt, dass sich bei der Gesamtschau aller universitären Studien-
gänge in Deutschland über die letzten Jahrzehnte Notenverbesserungen um
eine volle Notenstufe nachweisen lassen.
Vor diesem Hintergrund wurde zunächst die Bedeutung des Selbststudi-
ums aus einer Betrachtung insbesondere der konstruktivistischen Lerntheo-
rie abgeleitet. Danach kann ein Lernerfolg nicht durch einen Lehrer erreicht
werden, dieser hängt vielmehr vom einzelnen Lerner ab, von dessen Vor-
wissen, der Lernbereitschaft etc. Lernen ist danach ein zutiefst subjektiver,
vom jeweiligen Individuum abhängiger Prozess. Diese Annahme wurde
durch Verweis auf gegenwärtige Erkenntnisse der Neurowissenschaften,
insbesondere der wichtigen Rolle des limbischen Systems beim Lernen,
weiter untermauert. Anschließend ging Djawadi auf das INVO-Modell
(Modell der individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens) der
Lernpsychologen Hasselhorn und Gold ein. Unter Bezugnahme auf dieses
Modell wurde verdeutlicht, dass die Einwirkungsmöglichkeiten zur Verbes-
serung der individuellen Lernleistung sehr viel überschaubarer sind, als ge-
meinhin angenommen. Als einen wichtigen und positiv beeinflussbaren Er-
folgsfaktor wurde der planmäßige Einsatz von Lernstrategien herausgear-
beitet.
Der Selbstlernprozess habe dabei im Hinblick auf den Einsatz von Lern-
strategien sowohl eine kognitive wie auch eine metakognitive Seite. Plan-
mäßiges Vorgehen und Durchhaltevermögen spielten ebenso eine Rolle wie

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die Bereitschaft, den Lernprozess anhand von Prüfungsmöglichkeiten zu


überwachen. Eine besondere Bedeutung komme dabei auch Planungshilfen
zu. Das Problem bei dem Einüben neuer Lernstrategien liege in diesem
Kontext darin, dass es diese selbst auszuprobieren und einzuüben gelte.
Dies nehme Zeit in Anspruch, die Lernende oft nicht einsetzen wollten. So
überrasche es auch nicht, dass neue Lernstrategien – beispielhaft sei hier
Mindmapping genannt – den Lernprozess zunächst verlangsamten und da-
mit inneren Widerstand beim Lerner auslösten.
Sodann widmete sich Djawadi der Frage nach der grundsätzlichen Ef-
fektivität von Vorlesungen. Inhaltlich bezog er sich dabei explizit und aus-
schließlich auf jene Formen von Präsenzveranstaltungen, in denen Dozie-
rende primär auf hohem abstraktem Niveau einen (Wissens-)Überblick über
die wesentlichen Inhalte eines Rechtsgebiets gäben. Aus lernpsychologi-
scher und neurowissenschaftlicher Sicht problematisch sei an dieser Art von
Veranstaltungen, dass die Studierenden jedenfalls grundsätzlich in eine
mehr passive Rolle gedrängt würden, die Vorlesung zudem kaum eigenes
Erleben der Themeninhalte erlaube, diese gerade auch bei heterogenen
Gruppen an Effektivität für den Einzelnen verlöre und zumeist unter un-
günstigen äußeren Rahmenbedingungen durchgeführt würde. Insbesondere
aber auch die Zahl der angebotenen Veranstaltungen sei problematisch. Je
nach Curriculum würden zwischen 20 bis 30 SWS an Vorlesungen angebo-
ten, wobei Arbeitsgemeinschaften oft nicht eingerechnet seien. Soweit Stu-
dierende sich parallel zum Studium mit Nebenjobs finanzierten, werde die
Selbstlernzeit als die eigentlich bedeutsame Lernzeit auf ein Minimum re-
duziert.
So muss es nach Djawadi ein Anliegen rechtswissenschaftlicher Fakul-
täten sein, das Verhältnis von Vorlesungen und Arbeitsgemeinschaften zu
den Selbstlernzeiten zu verändern. Es gelte den individuellen Lernprozess
zu fördern. Auch müsse mehr Raum für den Erwerb von Kompetenzen ne-
ben der konkreten Stoffbeherrschung gewährt werden. Dies alles werde
letztlich nicht möglich sein, soweit man sich nicht auch zu einer Reduzie-
rung der Vorlesungsangebote bzw. des Umfangs der Vorlesungsstunden
und deren Inhalts entschließe. Es sei beispielsweise zu überlegen, ob und
ggf. wie das präsentierte Wissen noch weiter auf grundlegende Prinzipien
beschränkt werden könne, sodass mehr Zeit für das Einüben der Inhalte u.a.
anhand didaktisch ausgewählter Fälle bleibe. Insgesamt, so die These, seien
bessere Examensergebnisse ohne eine adäquatere Gestaltung des Zusam-
menspiels von Lehre und Selbstlernen auf breiter Ebene nicht zu erreichen.

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In der Diskussion wurde zunächst die These aufgestellt, jede Vorlesung


sei im Grundsatz mit einem identischen Zeitaufwand vor- und nachzuberei-
ten. Danach würde sich bereits rechnerisch ergeben, dass klassische Vorle-
sungen höchstens im Umfang von 12 bis 14 Semesterwochenstunden zu
planen seien. Weiter wurde angestoßen, andere Lehr-/Lernformate anzubie-
ten, die es erlaubten, auch die gebotenen Lehrdeputate zu erfüllen, etwa in
Gestalt von Selbstlernkursen.
Kritisch hinterfragt wurde allerdings auch der zugrunde gelegte Begriff
von Vorlesung. So sei es vielleicht nicht angemessen, die inzwischen zahl-
reicher werdenden Angebote an didaktisch gelungenen und Lernerfolge zei-
tigenden »Vorlesungen« unberücksichtigt zu lassen und mit Frontalunter-
richt gleichzusetzen. Insoweit wies Djawadi nochmals darauf hin, dass er
von der Wichtigkeit von Präsenzveranstaltungen für den Lernerfolg über-
zeugt sei und sich seine Kritik inhaltlich ausschließlich gegen solche »Vor-
lesungen« richte, die sich weitgehend in bloßen Stoffrepräsentationsveran-
staltungen erschöpften.
Auch wurde angeregt, die Vorlesung auch in ihrer Rolle als Vorgaben-
geber für das Selbststudium zu sehen und einzukalkulieren, dass die Teil-
nahme an diesen mehr Lernerfolg sichere als ein womöglich kaum oder nur
sporadisch erfolgendes Selbststudium. Weiter war es dem Referenten und
den Teilnehmern wichtig, dass es darum gehen müsse, Vorlesungen und
Selbststudium nicht als Kontrahenten zu sehen, sondern gemeinsam mit den
Arbeitsgemeinschaften als Zahnräder in einem Prozess, der vom Wissens-
erwerb zur Falllösungskompetenz führe. Am Ende bestand ein Konsens,
dass selbst in optimal aufeinander abgestimmten Angebotssystemen Zeit
für das Selbststudium vorhanden sein müsse und dass diese Zeiten berück-
sichtigt werden müssten. Zudem sei im Sinne der Steigerung der Effektivi-
tät der Selbstlernzeiten ein Anleiten zum juristischen Lernen sinnvoll.
Den zweiten Beitrag zum Themenblock »Selbststudium« erbrachten so-
dann Ann-Marie Kaulbach und Pauline Riecke mit einem Impuls zum
Thema »Reflexive Praxis zum juristischen Lernen«. Diese ist auch Gegen-
stand einer juristischen Dissertation von Herrn Jens Prömse, wissenschaft-
licher Mitarbeiter am Kompetenzzentrum für juristisches Lernen und Leh-
ren der Universität zu Köln. Bei der reflexiven Praxis handele es sich um
eine Methode, die Studierenden zum eingehenden Nachdenken über das ei-
gene Denken und Handeln anrege. Sie bilde damit eine mögliche Kompo-
nente einer individuellen Lernstrategie. Im Zentrum stehe dabei die Idee des
reflexiven Schreibens etwa mittels eines Lerntagebuchs. Das reflexive
Schreiben solle helfen, den eigenen Lernprozess für sich selbst besser zu

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durchdenken, Schwierigkeiten zu identifizieren und Lösungen für diese


selbstständig zu suchen. Indem diese Form des Schreibens gerade auch die
innere Gefühlswelt des einzelnen Schreibers anspreche (und typischerweise
gerade nicht an Dritte gerichtet sei), werde auch die eigene Beziehung zu
dem Lernobjekt offener thematisiert und damit deutlicher. Die daraus abzu-
leitenden Erkenntnisse könnten sodann genutzt werden, um den fortgesetz-
ten Lernprozess zu verbessern. Dies gelte auch insbesondere dann, wenn
man wie bei einem Tagebuch später zu früher Geschriebenem zurückkehre
und dieses nochmals mit zeitlichem Abstand bewerte.
Weiter stellten die Referentinnen vor, wie genau ein einzelnes Blatt eines
solchen Tagebuches aussehen könnte. Zu vermerken sei darauf, was man
zu einem bestimmten Zeitpunkt (Datum) zu einem bestimmten Thema ge-
macht oder getan habe, weiter, was man gelesen oder gesehen habe, zudem,
was man dabei jeweils gefühlt und letztlich, was man dazugelernt habe. Auf
dem Blatt sei zudem Raum für eine später erneut erfolgende Kommentie-
rung des erlebten Prozesses zu lassen.
Auf diese Weise könnten Studierende im Eigenprozess herausfiltern, was
ihr Lernen behindert habe und hierauf reagieren. So würde das reflexive
Schreiben zu einer Verbesserung des Lernprozesses beitragen.
In der Diskussion stieß die vorgestellte Methode auf weitgehende Zu-
stimmung. Insbesondere wurde es auch als Möglichkeit gesehen, spezifi-
sche Gerechtigkeitsgehalte von Regeln etc. zu thematisieren. Auch helfe die
Methode, eigene Haltungen und Standpunkte zu juristischen Themen auf-
zubauen. Zudem wurde betont, dass es gut sei, Methoden einzusetzen, die
auch die selten gestellte Frage nach den Befindlichkeiten der Studierenden
adressierten.
Diskutiert wurden insbesondere auch die Möglichkeiten, die Methode
einzusetzen, etwa in Form spezifischer Veranstaltungsangebote oder auch
als Begleitmethode bei Arbeitsgemeinschaften. Auch wurde der Einsatz re-
flexiver Elemente im Kontext von Klausuranalysen angedacht. Grenzen der
Methode wurden allenfalls insoweit gesehen, als es den Lehrenden, die sich
ihrer bedienten, klar sein müsse, welche dadurch ausgelösten Rückmeldun-
gen und -fragen der Studierenden von ihnen beantwortet werden könnten
und wann ggfs. die Unterstützung Dritter (insb. bei psychischen Problemen)
gefordert sei.
Der zweite Tag begann sodann mit zwei Beiträgen zum Themenblock
»Kleingruppenstudium«. Den Auftakt machte Barbara Lange mit einem
Beitrag zum Thema »Gruppen und Lernen«, wobei im Mittelpunkt die pri-
vat organisierte Arbeitsgemeinschaft in Abgrenzung zum Kleingruppenun-

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terricht als alternativer Unterrichtsform stand. Es ging zentral um die Frage,


wie Studierende gezielt darin unterstützt werden können, die vorhandene
Zeit im Selbststudium auch für ein effektives Lernen in einer Kleingruppe
zu nutzen. Insoweit zeige die langjährige Erfahrung bei der Anleitung von
Studierenden, dass nur eine geringe Zahl von Studierenden bereits sehr gut
entwickelte Fähigkeiten zur Organisation von Gruppenlernprozessen auf-
weise. Unterstützende Maßnahmen zum Lernen in der Gruppe zielten viel-
mehr auf die deutlich größere Zahl an Studierenden ab, denen eine Steue-
rung entsprechender Prozesse schwerfalle. Meist verträten diese Studieren-
den die Ansicht, Gruppenarbeit sei ineffektiv und man könne besser alleine
lernen, da es sich nach häufiger Vorstellung von Studierenden beim Grup-
penlernen um Treffen zum parallelen Ersterwerb von Wissen handele. Ein-
leitend wurde beschrieben, dass bei Aussagen über die hier angesprochenen
Prozesse des Gruppenlernens, die gerade nicht institutionell durch die Uni-
versität organisiert seien, immer differenziert werden müsse, welcher Teil-
schritt der Lerntätigkeit in der Gruppe vorgenommen werde, welche Ziele
verfolgt würden, welche Dauer angestrebt sei und welche Methoden in der
Gruppe angewendet würden. Lernen in einer privaten Arbeitsgemeinschaft
unterfalle dem kooperativen bzw. kollaborativen Lernen. Während es zu
kooperativen Lernen als alternative Unterrichtsform zahlreiche empirische
Untersuchungen gebe, liege es in der Natur der Sache, dass zu privaten Ar-
beitsgemeinschaften nur wenig Empirie vorliege. Soweit untersucht, seien
die positiven Effekte solchen Lernens vielfältig. Zunächst würden die Ein-
stellung zum Lernen und die Ausdauer verbessert, weiter das kritische Den-
ken gefördert, ebenso wie die Fähigkeit, Probleme auf höherem Niveau zu
lösen.
Grundlegende Bedingungen für den Erfolg von Gruppenlernprozessen
seien Grundwissen generell zum Lernen und speziell zum Lernen in Grup-
pen, begleitet von der generellen Fähigkeit zur Planung und Organisation
samt sinnvollem Zeitmanagement. Bereits dies verdeutliche den hohen An-
spruch an einen gelingenden Gruppenlernprozess. Hinzukommen müssten
sodann aber auch eine klare Zielbestimmung, sinnvolle Entscheidungen
hinsichtlich der Gruppenzusammensetzung und der Kommunikationsfor-
men, eine sorgfältige Planung konkreter Lernaufgaben oder Tätigkeiten und
– maßgeblich – die Fähigkeit, sich und andere im Sinne einer Verbesserung
der Prozesse zu beobachten. Entsprechend müsse geklärt sein, wer mit
wem, wann und wo, wozu und womit, wie und was lernen möchte. Damit
wurde verdeutlicht, dass ein Hinweis von Seiten der Lehrenden, man möge
doch auch zum Kleingruppenstudium übergehen, allein nicht hilfreich sei,

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sondern dass erfolgreiches Gruppenlernen unterstützender Maßnahmen be-


dürfe.
Vor diesem Hintergrund wurde sodann die Frage aufgeworfen, wie eine
institutionelle Unterstützung aussehen könne, um die hier ins Auge gefass-
ten Gruppenlernprozesse zu initiieren. Dieser Frage gingen die Teilnehmer
sodann im Rahmen von wechselnden Kleingruppen in einem Austausch zu
den Themen »Organisatorische Unterstützung«, Inhaltliche Unterstützung«
und »Initiierung der Reflexion über das Lernen in der Gruppe« nach. In der
Folge sollen nur die zentralsten Überlegungen wiedergegeben werden, die
dabei diskutiert wurden. Hinsichtlich der »organisatorischen Unterstüt-
zung« wurde darüber nachgedacht, zunächst Lernräume zu schaffen, ideal-
erweise angebunden an die Bibliotheken, und ggfs. auch virtuelle Plattfor-
men zur Suche von Lernpartnern. Auch solle die Organisation in studenti-
sche Händen gelegt werden, was wiederum eine Schulung der Moderatoren
solcher Prozesse beinhalte.
Hinsichtlich einer etwaigen »inhaltlichen Unterstützung« wurde insbe-
sondere über die Bereitstellung eines Fallpools bzw. eines Beispiellehrplans
nachgedacht. Beides wurde kontrovers diskutiert, da ein Gruppenstudium
natürlich besonders effektiv sei, wenn sich die Studierenden die Themen
selbst aussuchten. So stieß insbesondere der Gedanke eines Lernplans auf
Widerstand, auch wenn ein solcher natürlich für manche Gruppen auch eine
Orientierungshilfe bedeuten könne.
Die »Initiierung der Reflexion über das Lernen in der Gruppe« könnte
nach Ansicht der Diskussionsteilnehmer von Seiten der Universität in ver-
schiedener Weise gefördert werden, etwa in Gestalt von Lerntechnikveran-
staltungen, die den Studierenden die Parameter für effektives Gruppenler-
nen praxisnah vermitteln würden. Auch ein individuelles Coaching von
Lerngruppen könnte angeboten werden. Weiter könnten Fall-Arbeitsge-
meinschaften als Aufhänger für ein daran anknüpfendes Gruppenlernen ge-
nutzt werden. Dabei wurde wiederum erwogen, entsprechende Angebote
auf Grundlage von Schulungen in studentische Hände zu legen. Angesichts
der Erkenntnis, dass Gruppenlernprozesse komplexer als Selbstlernpro-
zesse seien, herrschte Übereinstimmung darin, dass diesem dritten Aspekt
mehr Bedeutung eingeräumt werden müsse. Bisherige Ansätze beschränk-
ten sich weitgehend auf organisatorische und inhaltliche Unterstützung.
Der zweite Beitrag zum Themenblock »Kleingruppenstudium« von Lars
Gußen befasste sich dann unter dem Titel »Tutorien und Arbeitsgemein-
schaften« mit dem institutionalisierten (Klein-)Gruppenstudium in Gestalt
universitär organisierter Arbeitsgemeinschaften. Dem Beitrag lag die

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Grundthese zugrunde, dass das Potential solcher juristischen Tutorien er-


heblich sei, jedoch oftmals ungenutzt bleibe. Dies wurde mit den Fragen
verbunden, wie eine (Re-)Aktivierung dieses ungenutzten Potentials mög-
lich gemacht werden könne und ob sich zur Verbesserung konkrete Hand-
lungsempfehlungen herausarbeiten ließen.
Hierzu wurden fünf Kernfragen identifiziert, anhand derer sich die The-
matik sinnvoll diskutieren lasse. Zunächst stelle sich die Frage nach den
Stärken der Veranstaltungsform Arbeitsgemeinschaft bzw. Tutorium. So-
dann sei zu ergründen, welche Probleme oder Problemfelder bestünden,
eine effektivere Nutzung von Arbeitsgemeinschaften zu erreichen. Weiter
gelte es, die bekannten oder erkennbaren Ursachen hierfür genauer zu iden-
tifizieren. Auf der Grundlage dieser Analyse wurde sodann gefragt, wie vor
diesem Hintergrund didaktisch fundierte Lösungsansätze aussehen könnten
und letztlich, welche konkreten Handlungsempfehlungen für Akteure und
Institutionen sich daraus ableiten ließen. In die Diskussion dieser Fragen
wurden die Teilnehmer sodann einbezogen, mit der Folge, dass sich schnell
eine intensive Diskussion ergab, in deren zeitlichen Rahmen die Fülle der
sich stellenden Einzelfragen jedoch nur in Ansätzen adressiert werden
konnten.
Im Grundsatz wurde zur ersten Frage festgestellt, dass Arbeitsgemein-
schaften in vielerlei Hinsicht nützliche Veranstaltungen seien, deren Format
eine ganze Reihe spezifischer Stärken aufwiesen. So erlaubten die Klein-
gruppen eine aktive Teilnahme der Studierenden, die im Rahmen von Vor-
lesungen oft undenkbar sei. Auch die Möglichkeiten zum Einüben von Ar-
beitstechniken, zur generellen Wiederholung und Vertiefung sowie zu einer
Begegnung von AG-Leitenden und Teilnehmenden auf Augenhöhe wurden
als Vorzüge erachtet.
In der Diskussion wurden schnell verschiedene Probleme samt zugrun-
deliegender Ursachen identifiziert. So seien entsprechende Veranstaltungen
abhängig von den Leitenden qualitativ sehr unterschiedlich. Dies könne
teilweise auch auf generell ungünstige Einstellungen gegenüber der Lehre
zurückgeführt werden. Hierfür könne die Pflicht zum Ableisten von Ar-
beitsgemeinschaften ebenso eine Ursache sein, wie die generelle Haltung
an einem Lehrstuhl, den Mitarbeitenden nicht hinreichend Zeit für die Vor-
bereitung und Betreuung von Arbeitsgemeinschaften zu gewähren. Ein wei-
teres problematisches Feld liege in der Verzahnung von Vorlesung und der
diese begleitenden AG. Die Lernziele, Erwartungshaltungen, das eigene
Rollenverständnis und auch die Weisungskompetenzen seien oft komplett
ungeklärt. Abstimmungen beider Veranstaltungstypen gebe es nicht zwin-

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gend, oft zeigten sich hier auch Widerstände sowohl bei den AG-Leitenden
wie auch den Lehrstühlen, für die diese tätig würden. Weiter erfolge zu sel-
ten eine didaktische Ausbildung der Leitenden von Arbeitsgemeinschaften.
Eine Teillösung dieser Probleme könne etwa über eine fakultätsinterne
Gesamtkonzeption erreicht werden, die die Ziele ebenso klärt, wie die je-
weiligen Rollen, Inhalte der Arbeitsgemeinschaften und die jeweiligen Ver-
antwortlichkeiten. Eine solche Konzeption könnte auch die systematische
didaktische Fortbildung von AG-Leitenden miteinschließen.
Zum Abschluss des Beitrags wurde vereinbart, die Sammlung und Ana-
lyse von Problemen und Lösungen im Nachgang der Tagung fortzuschrei-
ben und zu vervollständigen.
Den letzten Themenblock zu »Lernen und Emotion« gestaltete Frank
Bleckmann mit einem Beitrag zum Thema »Motivation im Jurastudium«.
Dabei ging es zentral um die motivationalen Wirkungen von Studienbedin-
gungen und Fachkultur. Einleitend wurden zunächst der Begriff der Moti-
vation und ihre Rolle im Lernprozess, insbesondere für den Einsatz von
Lernstrategien, die ein Tiefenlernen unterstützen, erläutert. Im Anschluss
an die inzwischen empirisch gut belegte Selbstbestimmungstheorie der Mo-
tivation von Ryan/Deci10 wurden die unterschiedlichen Regulationsformen
intrinsischer und extrinsischer Motivation erläutert. Aus dieser Theorie er-
geben sich für eine eher selbstbestimmte Form der Motivation, die als be-
sonders lernförderlich identifiziert wurde, folgende Faktoren: »Autono-
mie«, »Kompetenzerleben« sowie »soziale Einbindung und Anerkennung«.
Daraus zog Bleckmann folgende Schlüsse für eine motivierende Studienor-
ganisation:
Das Studium solle im Sinne eines Autonomieempfindens zunächst so or-
ganisiert sein, dass es jedem einzelnen der Studierenden erlaube, der behan-
delten Materie persönliche Bedeutsamkeit beizumessen, z.B. durch die Her-
stellung von Anwendungsmöglichkeiten und Alltagsbezügen, die Erhöhung
des emotionalen Gehaltes und eine Begründung für die anstehende Lernak-
tivität. Der Lernprozess solle Handlungsspielräume für eigenes Entscheiden
und Möglichkeiten zur Selbststeuerung gewähren. Weiter wäre eine Mitbe-
stimmung bei Lernzielen, -gegenständen und -aktivitäten förderlich, ebenso
wie die gemeinsame Entwicklung von Maßstäben für den Lernerfolg. Da-
mit werde die Möglichkeit von Selbstbewertungen geschaffen, die Voraus-
setzung für die autonome Gestaltung des Lernprozesses sei. Im Hinblick
____________________
10 Ryan/Deci, Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für
die Pädagogik, ZfPäd 1993, 223 (223 ff.).

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auf die Studienwirklichkeit seien insoweit erhebliche Diskrepanzen festzu-


stellen. So begrenze insbesondere der Stoffkanon, abgeschwächt im
Schwerpunktbereich, die Wahlmöglichkeiten und damit das Autonomie-
empfinden der Studierenden ganz erheblich.
Weiter wurde ein günstiges Kompetenzerleben im Rahmen der Studien-
organisation skizziert. Ein solches schließe im Idealfall häufiges positives
Feedback mit ein, ebenso wie klare, strukturierte und verständnisorientierte
Instruktionen. Weiter sei es insoweit geboten, den Schwierigkeitsgrad an
den individuellen Kenntnisstand anzupassen, Studierenden besondere Un-
terstützung bei Schwierigkeiten zu gewähren und Veranstaltungen anzubie-
ten, bei denen vielfältige Kompetenzen eingebracht und entwickelt werden
könnten. Der diesbezügliche Befund im Hinblick auf die Studienorganisa-
tion im Jurastudium fiel dann ebenfalls negativ aus. Die geforderten Kom-
ponenten zur Ermöglichung eines Kompetenzerlebens würden – wohl auch
infolge der oft großen Gruppen von Studierenden – faktisch kaum angebo-
ten.
Und letztlich wäre es im Hinblick auf die Aspekte der sozialen Einbin-
dung und Anerkennung ideal, wenn über Gruppenarbeitsmethoden oder an-
derweitig ein soziales Miteinander und Kommunikationsmöglichkeiten er-
öffnet würden. Zudem müsste es Möglichkeiten geben, eigene Kompeten-
zen zu zeigen. Und letztlich sei auch ein partnerschaftliches Verhältnis von
Lehrkraft und Lerner, ein »treating students like colleagues«, bedeutsam.
Auch hier weiche die Studienrealität erheblich vom aufgezeigten Ideal ab.
Vielmehr seien Anonymität und Konkurrenzkampf die von den Studieren-
den wahrgenommene Wirklichkeit der »sozialen« Komponente der rechts-
wissenschaftlichen Studienorganisation. Dies wurde weiter über diverse
Befunde aus Studierendensurveys belegt.
Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene Fragen aufgeworfen. Ei-
nen Schwerpunkt legte Bleckmann dabei auf die Frage, inwieweit das Jura-
studium aufgrund seiner Studienorganisation einen Einfluss auch auf das
psychische Wohlbefinden nehme. Dies wurde unter Verweis auf die angel-
sächsische Forschungslage als These formuliert. Als Risikofaktoren insbe-
sondere für das Autonomieerleben der Studierenden wurde angeführt, das
Jurastudium entwerte Gefühle, entmoralisiere das Studienfach als Werte-
wissenschaft und schaffe Leistungsdruck, Konkurrenzdruck und Anonymi-
tät. Weitere Folgen der aktuellen Studienorganisation seien u.a. ein daraus
folgendes vermindertes Autonomieerleben, der Zwang zu einem erhebli-
chen Einsatz trotz fehlender persönlicher Sinnhaftigkeit und ein Ersetzen
persönlicher Ziele durch Noten. Speziell Letzteres bedeute, dass sich eine

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vorhandene intrinsische Motivation im Studienverlauf in Richtung einer


extrinsischen Motivation ändere, was einem Wechsel vom Tiefenlernen
zum Oberflächenlernen Vorschub leiste.
Lösungsansätze für die beschriebenen Problembereiche wurden darin ge-
sehen, die Autonomie in der Weise zu stärken, dass Sinngebung und Werte
erfahrbar gemacht und gewürdigt würden. Auch eine Schwerpunktbildung
bereits vor dem Schwerpunktstudium sei unterstützungswürdig. Das Kom-
petenzerleben könnte zudem durch eine Feedbackkultur, z.B. über Wochen-
aufgaben, unterstützt werden. Die soziale Einbindung der Studierenden
ließe sich über eine Kommunikationskultur auf Augenhöhe zwischen Do-
zierenden und Studierenden sowie institutionalisierte Kooperationen unter
den Studierenden (peer teaching und peer marking) fördern.
In der Diskussion wurde zunächst die Frage der Wertevermittlung in den
Vordergrund gestellt. Ethik könne hier durch die Vermittlung von Grund-
lagenfächern gestärkt werden. Daneben sei es aber auch wichtig, den Stu-
dierenden Werteorientierung unmittelbar vorzuleben. Letzteres führte so-
dann zu der Frage, inwieweit die Lehrenden hinreichend selbstkritisch mit
sich selbst und der eigenen Berufsgruppe umgehen. Themen wie Plagiate
in den eigenen Reihen sollten eingehender auch gegenüber Studierenden
adressiert und aufgearbeitet werden.
Weiter wurde die Frage aufgeworfen, ob die Lehre insgesamt zu techno-
kratisch sei, die Themen zu wenig emotionale Anknüpfungspunkte aufwie-
sen und nicht hinreichend mit Wert- und Gerechtigkeitsbezügen vermittelt
würden. Eine stärkere Einbeziehung gesellschaftlicher Hintergründe sei
hier sinnvoll. Gleiches gelte für den Bereich der Emotion, der etwa auch
über den Austausch zu fach- und berufsbezogenen Verhaltensstandards und
deren Hintergründe gestärkt werden könnte.
Die negativen Auswirkungen der aktuellen Studienorganisation auf die
Psyche der Studierenden wurde – in Übertragung der angelsächsischen For-
schungsbefunde und angesichts eigener Erfahrungen als Studierender und
Dozent – für wahrscheinlich gehalten. Einen wesentlichen Faktor könne
hier die fehlende Kontrolle über den eigenen Lernerfolg bilden. Selbst bei
größter Anstrengung sei ein Scheitern nicht ausgeschlossen und die Konse-
quenzen des Scheiterns nach vielen Jahren des Studiums zudem für die Stu-
dierenden ganz erheblich.
Ein letzter Aspekt der Diskussion bezog sich dann noch auf die Frage,
inwieweit im Studium nicht auch systematisch zum Zweifeln und kritischen
Denken angeregt werden sollte. Darin könnte ein eigenständiges Lernziel
gesehen werden.

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