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Ζ. Slaw.

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Ph. M a l i n g o u d i s

Zur friihslawischen Sozialgeschichtc im Spiegel der Toponymie

Nur sehr wenigen wird bekannt sein, daß die Universitätsstadt und Handelsmetropole
Leipzig einige Namensvettern in Griechenland hat: Leipzig und die etymologisch ver-
wandten Ortsnamen (ON) Leipa, Leipe, Leipen, Leipnitz, die bekanntlich aus der
slawischen Bezeichnung für .Linde' stammen, sind auch in der Toponymie Griechen-
lands reichlich vertreten. Weitere Entsprechungen in der Toponymie der DDR und
Griechenlands lassen sich sehr leicht nachweisen: So besitzen Dresden und Görlitz mit
ήρέζνα und Άγορελίτσα, um nur zwei Beispiele zu nennen, ihre genauen Pendants
in der Toponymie des griechischen Raumes.
Dieses Phänomen ist nicht zufällig, sondern beruht — wie allgemein bekannt — auf den
historischen Schicksalen der beiden Landschaften: Es markiert die zwei Antipoden der
slawischen Expansion, die bereits im 6 . - 7 . J h . auch ihren südlichsten Punkt, den
Peloponnes, erreicht hat. Die slawischen ON, die in der Toponymie der beiden Länder
gut erhalten sind, stellen historische Zeugen dar und können dem heutigen Betrachter
zwar nur spärliche, aber nichtsdestoweniger objektive Erkenntnisse sowohl über die
innere Geschichte der mittelalterlichen slawischen Stämme als auch über deren Zu-
sammenleben mit den germanischen bzw. griechischen Sprachträgern vermitteln. In
diesem Beitrag möchte ich auf einige historische Aspekte der slawischen Toponymie
Griechenlands aufmerksam machen und den Wert der Onomastik für die Geschichts-
forschung aufzeigen.
Die Slawen treten zum ersten Male im Gesichtskreis der mittelalterlichen griechischen
Welt im dritten Jahrzehnt des 6. J h . auf. Ein halbes Jahrhundert später ist ihre Besied-
lung auf dem Peloponnes durch eine mittelgriechische Chronik, deren Aussagewert
allerdings von einigen Forschern bezweifelt wird, bezeugt. Für die beiden nachfolgenden
Jahrhunderte, das 7. und 8., besitzen wir zwar spärliche, aber dennoch sichere Nach-
richten, daß slawische Stämme feste Ansiedlungen im Hinterland von Thessaloniki,
in Epirus, Mittelgriechenland und Thessalien sowie auf dem Peloponnes gegründet
haben.
Die Neuankömmlinge sind jedoch nicht auf ein menschenleeres Land gestoßen, sondern
haben ihre Siedlungen neben denen der eingesessenen, griechischsprachigen Bevölkerung
angelegt. Diese für die mittelalterliche Siedlungsgeschichte Griechenlands wichtige Er-
kenntnis kann uns heute allein die Ortsnamenforschung vermitteln: Bei der Unter-
suchung des Flurnamenmaterials einer Großregion, ζ. B. des Peloponnes, lassen sich die
ehemaligen Siedlungsgebiete der Slawen auf Grund der Häufung slawischer Flur-
namen in bestimmten Gebieten ziemlich genau feststellen.
Eine weitere, für die Demographie der griechischen Provinzen des byzantinischen
Reiches wichtige historische Erkenntnis kann die Erforschung der slawischen Flur-
namen Griechenlands vermitteln: Vergleicht· man das Flurnamenmaterial der ehe-
maligen slawischen Siedlungsgebiete miteinander, kann man erkennen, daß in manchen
Regionen die erhaltenen ON sehr alte Züge aufweisen, in anderen dagegen kommen
vornehmlich jüngere ON vor. So gibt es ehemalige slawische Sprachinseln auf dem
Peloponnes, deren Flurnamen einen älteren Lautstand bewahrt haben, wie ζ. B. Formen
ohne Liquidametathese (die bekanntlich nach der Mitte des 9. J h . im Slawischen erfolg-
te), Bewahrung der slawischen reduzierten Vokale und der Nasalvokale (die noch heute
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in den im Griechischen erhaltenen Formen der ON deutlich zu erkennen sind), usw. Diese
Regionen heben sich deutlich von jenen ab, in denen man vornehmlich Flurnamen fändet,
die einen jüngeren Laubstand in ihrer im Griechischen überlieferten Form aufweisen.
Daraus kann man folgern, daß in jenen Gegenden, in denen jüngere Namen fehlen,
mit einem früheren Verlust der sprachlichen Identität der slawischen Namengeber ge-
rechnet werden muß. In den Gegenden dagegen, in denen vornehmlich jüngere Flur-
namen anzutreffen sind, wurde wahrscheinlich nach der Herausbildung der Liquida-
metathese und dem Verlust der reduzierten Vokale sowie der Nasalvokale weiterhin das
Slawische gesprochen. Auf diese Weise kann man gebietsweise den Ablaufeines h La tori-
schen Prozesses — der allmählichen Hellenisierung der Slawen Griechenlands — ver-
folgen, eines Prozesses, der am Ausgang des Mittelalters (ca. Ende des 15. Jh.) v o r sich
ging. Nach dem heutigen Stand der Erforschung der slawischen Orts- und Flurnamen
Griechenlands ist anzunehmen, daß dieser Prozeß vom Süden her (vom Pelopoaines)
eingesetzt hat. J e weiter man nach Norden geht, desto jüngere ON findet m a n , eine
Tatsache, die uns zu dem Schluß berechtigt, daß ζ. B. die Slawen Böotiens in Mittel-
griechenland später hellenisiert wurden als die Slawen des Peloponnes.
Auf Grund der soeben erwähnten Tatsache, d. h. der chronologisch vom Süden nach
Norden verlaufenden Hellenisierung der Slawen Griechenlands, die man allein mit ono-
mastischen Mitteln feststellen kann, möchte ich eine Annahme formulieren, die vorläufig
als Arbeitshypothese gelten muß : Aus dem Flurnamenmaterial, das aus dem Peloponnes,
Weetgriechenland und Epirus gesammelt und ausgewertet wurde, habe ich festgestellt,
daß die ON, die aus Personennamen (PN) gebildet wurden, immer spärlicher werden,
je weiter man nach Norden kommt. In der Tat fällt dieser Unterschied bei einem Ver-
gleich des Flurnamenmaterials von zwei entgegengesetzten Gebieten Griechenlands
sofort auf: Im Süden des Peloponnes, an den westlichen Abhängen des Taygetos-Ge-
birges, in einem Gebiet, das nachweislich vor der Mitte des 9. J h . vom slawischen
Stamm der Melingoi besiedelt worden ist und dessen Flurnamenmaterial vom Verfasser
publiziert wurde 1 , sind viele Flurnamen anzutreffen, die von alten zweigliedrigen slawi-
schen P N wie Nemir, Ljubovid, Ljutomir, Tolimer, Vitomir usw. abgeleitet worden sind.
Im Gebiet von Ioannina, in Epirus, dagegen, dessen Flurnamenmaterial Verfasser auch
gesammelt hat, kommen fast keine derartigen Bildungen aus P N vor. Dieses Phänomen
läßt sich m. E. auf Grund der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse im byzan-
tinischen Reich erklären: Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Bildung von ON
zumeist ein Ausdruck des Eigentums des Produzenten am Produktionsmittel (Boden)
ist (Beispiel: Tolimerova niva = ,der Acker, der Tolimer gehört'), dann kann m a n an-
nehmen, daß das slawische Flurnamenmaterial aus Epirus, das aus einer späteren Periode
des Mittelalters im Griechischen überliefert ist, auch eine Phase der gesellschaftlichen
Entwicklung im byzantinischen Reich reflektiert, in der sich die Eigentumsverhältnisse
der slawischen Kleinbauern im Hinblick auf ihre Scholle verändert hatten. Spiegelt
dieses to ponymische Phänomen also den fortschreitenden Prozeß der „Feudalisierung"
in Byzanz wider, einen Prozeß, der nicht dem westeuropäischen Lehnswesen gleichzu-
setzen ist, oder geht es eher um ein sukzessives Verschwinden des Standes der freien

1
vgl. Ph. M a l i n g o u d i s , Studien zu den slavischen Ortsnamen Griechenlands. I. Slavische Flur-
namen aus der messenischen Mani ( = Akad. der Wies, und der Lit./Abhandlungen der Geistes-
und Sozial wies. Klasse, Jg. 1981, Nr. 3), Wiesbaden 1981.
PH. MALIKGOUDIS, Frühslawische Sozialgeschichte im Spiegel der Toponymie 875

Kleinbauern in Byzanz? Die weitere Forschung wird die Stichhaltigkeit dieser Arbeits-
hv|)othese überprüfen.
Das Gebiet jedoch, zu dessen Erforschung die Onomastik den Hauptbeitrag leisten
kann, ist die innere Geschichte, die Sozial- und Wirtschaftegeschichte der slawischen
Stämme, die seit dem 6 . - 7 . Jh. im griechischen Raum feste Ansiedlungen gegründet
haben, Ansiedlungen, die heute nur anhand der slawischen Flurnamen nachzuweisen
sind. Die schriftlich überlieferten Quellen, die über die Slawen Griechenlands berichten,
können uns in dieser Hinsicht kaum helfen, da ihre Angaben sehr karg und bisweilen
irreführend sind. Der Klassizismus der byzantinischen Chronisten, die stereotype
Barbarentopik der hagiographischen Quellen und das allgemeine Desinteresse der Lite-
raten aus der Hauptstadt an den Verhältnissen der byzantinischen Provinz können kein
objektives Bild von der inneren Struktur der slawischen Gesellschaft liefern. Dem
heutigen Betrachter bietet sich somit ein entstelltes Bild über die mittelalterlichen sla-
wischen Stämme des griechischen Raumes, ein Bild, das bisweilen auch in den neuesten
byzantinistischen Untersuchungen wiederzufinden ist. Ich möchte hier — da ich das
Thema in einer Monographie in extenso behandeln werde — nur einen Aspekt aus der
inneren Geschichte jener Slawen aufgreifen, um den Wert der Onomastik für die Sozial-
geschichte besser demonstrieren zu können. Verfügte man heute nur über die Angaben
der byzantinischen Quellen, dann könnte man glauben, daß die Slawen, die im 6 . - 7 . Jh.
nach Griechenland eingewandert sind und in bestimmten Gebieten bis zum 15. Jh.
ihre sprachliche Identität bewahrt haben, Nomaden waren, die den Ackerbau und die
ganze damit verbundene Technologie (Handwerk) nicht kannten und deshalb keine
festen Niederlassungen gründeten. Wie jedoch die Appellativa zeigen, die in der slawi-
schen Toponymie Griechenlands erhalten geblieben sind, waren jene Slawen sehr wohl
mit der Rodungstechnik, dem Ackerbau, der Bienenzucht, der Kleinviehwirtschaft
und mit verschiedenen Handwerkszweigen (Holz- und Metallverarbeitung, Herstellung
von Stoffen, Hausbau) vertraut; denn sie brachten ihre eigenen Bezeichnungen und
Termini mit, Termini, die die einheimische griechische Bevölkerung z. T. übernommen
hat.
Im zweiten Teil meines Beitrages möchte ich kurz vier O N behandeln, die einige Aspekte
der inneren Geschichte der slawischen Einwanderer im mittelalterlichen griechischen
Raum widerspiegeln :
IJoXoßitaa, Dorf in Lakonien, südlich von Sparta. Zunächst ist festzuhalten, daß
dieser ON nicht vereinzelt auftritt, sondern auf einem Terrain des südwestlichen Lako-
nien, dessen Flurnamenmaterial deutliche Spuren einer slawischen Besiedlung aufweist.
Wenngleich keine Schwierigkeiten bestehen, den O N phonetisch und morphologisch aus
dem Slawischen herzuleiten (slaw. polb,Hälfte'), bliebe die semantische Seite im dunkeln
ohne die Berücksichtigung einiger Besonderheiten der landwirtschaftlichen Produktion
in Byzanz: Der byzantinische Bauer, der nicht in der Lage war, seinen ganzen Boden
selbst zu bearbeiten, trat einen Teil an einen anderen Bauern ab. Dieser verpflichtete
sich dann vertraglich, die Hälfte der Ernte an den Verpächter abzuliefern. Auf diese
Art von Landvergabe, die in der byzantinischen Gesetzgebung als .Halbpacht' (ημισεία)
bezeichnet wird2, ist auch die Entstehung unseres ON zurückzuführen. Die slawische

2 vgl. H. Köpstein, in: Byzanz im 7. Jahrhundert. Untersuchungen zur Herausbildung des


Feudalismus, Bln. 1978, S. 48 f.
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Lehnübersetzung des griechischen Terminus bezeugt demzufolge, daO die Neuankömm-


linge sich den Rechtsgepflogenheiten der griechischen Bevölkerung angepaßt haben.
Σεμπροβίτσα, Flurname der Gemeinde Βυτίνα (Arkadien) auf dem Zentralpeloponnes.
Die Suffixe -ov-ica lassen keinen Zweifel daran, daO es sich um eine slawische Biildung
handelt. Das Grundwort ist slaw. βφη, ein Terminus, den die Slawen den anideren
Völkern des Balkans (Griechen, Albanern, Rumänen) vermittelt haben und dessen
Grundbedeutung etwa .Bauer, der den halben Ertrag, die halbe Abgabe liefert bzw.
empfängt ; Halbzinsmann ; Halbbauer' ist 3 . In dieser Bedeutung lebt das slawische Lehn-
wort in vielen neugriechischen Dialekten weiter. Wir haben also hier eine dem vorigen
ON semantisch äquivalente Bildung vor uns, die in diesem Falle auf den ererbten, slawi-
schen Wortschatz zurückzuführen ist: sçbrovica = ,das Land des Halbbauern'. Ferner
ist dieser Flurname als Geschichtsquelle wichtig, denn er bezeugt, daß die Slawen, die
diese Gegend Arkadiens besiedelt haben, ihr Land nach eigenen Rechtsnormen nutz-
ten.
Μιτάτοβα, eingemeindeter Ortsteil des Dorfes Hagia Eirene, heute ein Vorort von
Sparta, urkundlich belegt seit 1314/1315. Die sehr frühe Anwesenheit von Slawen in
der Umgebung von Sparta wird durch Quellen, aber auch durch slawische Funde ((Mas-
kenfibel „antischen" Typs 4 ) bezeugt. Unser ON stellt eine ad hoc-Bildung d a r : Er
wurde mittels des slaw. Suffixes -ovo aus dem byzantinischen steuertechnischem Ter-
minus μητάτον gebildet. Das μητάτον, das in Byzanz zu jener Reihe von unentgelt-
lichen Leistungen gehörte, die die Untertanen dem Staate erbringen mußten, bezeichnete
die Verpflichtung der Provinzbewohner, einem in ihrer Gegend weilenden Reichs-
beamten ein Quartier bzw. ein für diesen Zweck geeignetes Gebäude anzubieten. Die
Tatsache, daß hier eine slawische Bildung vorliegt, bezeugt, daß jene Slawen der Sub-
urbien von Sparta in das byzantinische Abgabensystem integriert wurden.
Τεργοβίτσα, Flurname der Gemeinde Ζάβιτσα (Akarnanien) in Westgriecheniland.
Das Flurnamenmaterial dieser Gegend weist deutliche Spuren einer slawischen Besied-
lung auf: Es lassen sich primäre slawische Flurnamen nachweisen, suffixale Bildungen
wie *korytbno, *stenovbCb, *grazdenica usw. Aus diesem Grunde bestehen keine Bedenken,
auch diesen Flurnamen als slawisch anzusehen: Ttrgovica, zu t*>rgi> = ,Markt'. Wichtig
ist dieser Flurname — ein Unikum unter dem bisher bekannten slawischen Ortsnamen-
material Griechenlands —, weil er auf diesem ehemaligen slawischen Siedlungsgebiet
eine Einrichtung nachweist, die nicht zur Landwirtschaft zu rechnen ist. Sein Vor-
handensein bestätigt zudem indirekte Angaben aus schriftlichen Quellen, daß nämlich
die slawischen Stämme in Griechenland sowohl Fernhandel mit größeren Städten des
Reiches trieben als auch Binnenmärkte für den Tausch der eigenen Produkte besaßen.

8
vgl. N. J o k l in: CôopHHK β lecT Ha JI. MmieTHH, CocfiHH 1933, S. 131; M. V a s m e r , Russisches
etymologisches Wörterbuch, Bd. III, Heidelberg 1958, S. 62, lehnt Jokls Etymologie ab.
4
vgl. J. W e r n e r , Slawische Bügelfibeln des 7. Jahrhunderts, in: Reinecke-Festschrift, Mainz
1950, S. 151.

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