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Die heutige Frage nach dem Sein

Wir verdanken sicherlich Heidegger, die Philosophie wieder


. an die Frage nach dem Sein gebunden zu haben. Wir ver-
‘ danken ihm auch, die Epoche ’des Vergessens dieser Frage
- genannt zu haben, eines Vergessens, dessen seit Platon be-
7 gonnen habende Geschichte die Geschichte der Philoso-
© phie selbst isz.
:: Aber welcher ist letztendlich für Heidegger der unterschei-
- dende Charakterzug der Metaphysik? Der.Metaphysik, in-
: . Sofern sie als Geschichte des Seins in seinem Rückzug auf-
. gefaßt wird? Wir wissen, daß der platonische Gestus die
.. al6theia unter das Joch der idea stellt: der Einsatz” der Idee
:: als einzigartige Gegenwart des Denkbaren etabliert das Sei-
: ende in seiner Vorherrschaft über die ursprüngliche oder
& einweihende Bewegung des Aufblühens des Seins. Das
:“ Nicht-Verschleiertsein, das Aufhören der Verdunkelung
werden so der Fixierung an ein Sein zugeteilt; aber das
ER Wichtigste ist sicherlich, daß diese Fixierung das Sein des
.. 'Seienden der Kraft einer Rechnung, einer Für-eins-Zählung
*=ausliefert. Dadurch ist das, „was ist“, auch das, wodurch es
.. eines ist. Die Norm des Denkbaren ist die Vereinheitlichung
N ..des einzigartigen Seienden unter der Potenz des Einen, und
-sesist diese Norm, diese normative Potenz des Einen, das
. =. das Zu-sich-Kommen oder das In-sich-Einkehren des Seins
als physis durchstreicht. Das Thema der Quiddität als Be-
: stimmung durch die Einheit seines quid des Seins als Seien-
“den ist das, was den Eintritt des Seins in die normative,
a recht eigentlich metaphysische Potenz besiegelt. Dies be-
. stimmt das Sein zur Vorherrschaft des Seienden.
; 4 ‚Heidegger faßt so diese Bewegung in den Bemerkungen, die
2 den Titel „Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik“

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haben, zusammen, diese Bemerkungen wurden am Ende
des Bands II des Nietzsche aufgenommen: -.

„Der Vorrang des Was-seins erbringt den Vorrang des Seienden


selbst je in dem, was es ist. Der Vorrang des Seienden legt das Sein
als das koinön aus dem hen fest. Der auszeichnende Charakter der
Metaphysik ist entschieden. Das Eine als die einigende Einheit
wird maßgebend für-die nachkommende Bestimmung des Seins.“

Weil also das Eine normativ über das Sein entscheidet, ist
das Sein auf das Gemeinsame reduziert, auf das leere Allge-
meine, und muß es das metaphysische Vorherrschen des
Seienden ertragen.
Man kann also folgendermaßen die Metstshgeik definieren:
Durchsuchung des Seins durch das Eine. Ihre geeignetste
synthetische Maxime ist jene von Leibniz, der die Rezipro-
zität zwischen Sein und Einem als Norm etabliert: „Was
nicht ein Sein ist, ist kein Sein,“
Der Ausgangspunkt meines spekulativen Anliegens könnte
also folgendermaßen formuliert werden: kann man das
Eine aus dem Sein herauslösen, die metaphysische Durch-
suchung des Seins durch das Eine zerbrechen, ohne sich
dennoch in die heideggersche Schicksalhaftigkeit zu bege-
ben, ohne den Gedanken dem unbegründeten Versprechen
einer Heilsrückkehr anzuvertrauen? Denn bei Heidegger
selbst ist der metaphysische Gedanke als Geschichte des
Seins mit einer Verkündung solidarisch, deren letzter Aus-
druck trotz allem darin besteht, daß „allein ein Gott uns ret-
tenkann“.
Kann man das Denken retten — oder hat sich gar das Den-
ken in Wirklichkeit seit je gerettet, ich will sagen, vor der
normativen Potenz des Einen gerettet -, ohne daß man des-
wegen auf die Prophezeiung der Rückkehr der Götter
zurückgreifen müßte? |
In der Einführung zur Metaphysik erklärt Heidegger, daß
„auf der Erde ein Verdunkeln der Welt vorkommt“. Und er

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stellt eine Liste der wesentlichen Ereignisse dieses Verdü- '
sterns auf: „die Flucht der Götter, die Zerstörung der Erde,
die Vermassung des Menschen, der Vorrang des Miittel-
mäßigen.“* All diese Themen hängen mit der Bestimmung
der Metaphysik als erbitterter normativer Potenz des Einen
zusammen. =
‚Aber wenn das Denken als Philosophie seit je in einer ur-
sprünglichen Spaltung seiner Anordnung zugleich die nor-
mative Potenz des Einen und das Ausholen gegen diese Po-
tenz, das Subtrahieren von dieser Potenz organisiert hat,
dann muß man sagen: zur gleichen Zeit, wie seit je eine Ver-
dunkelung der Welt vorkommt, kommt ihre Erhellung vor,
Derart daß die Flucht der Götter auch der wohltuende Ab-
schied ist, der ihnen von den Menschen gegeben worden
_ ist; derart daß die Zerstörung der Erde auch ihre Herrich-
tung als. für das aktive Denken gültige Schicklichkeit ist;
derart daß die Hordenbildung auch der egalitäre Einbruch
der Massen auf die Bühne der Geschichte ist; und derart
daß das Vorhertschen des Mittelmäßigen auch der Glanz
und die Dichte dessen ist, was Mallarme& die Bingpschränkte
. Handlung nannte,
Mein Problem ist also folgendes: wie kann das Denken in
. sich selbst auf seine immerwährende Anstrengung, das Sein
: dem Zugriff des Einen zu entreißen, hinweisen? Wie kann
“ man sich zu eigen machen, daß es zweifelsohne Par-
“ menides gegeben hat, aber auch Demokrit, bei dem sich
a ‘durch Zerstreuung und Rückgriff aufs Leere die Entfernung
' ‚des Einen vollzieht? Wie kann man gegen die heideggersche
‚Schicksalhaftigkeit das ins Spiel bringen, was ganz eviden-
; "terweise sich davon ausnimmt, wie die herrliche Gestalt des
. "Lükrez, bei dem die Kraft des Gedichtes, weit entfernt da-
von, den Rückgriff aufs Offene in der Trauer zu bewahren,
3a eher bestrebt ist, das Denken jedem Rückgriff auf die Götter
- zu. entziehen und es in der Festigkeit des Vielfachen zu eta-
blieren? Lukrez, der den Gedanken direkt diesem Abzug

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vom Einen gegenüberstellt, vom Einen, das die unzusam-
menhängende Unendlichkeit ist, diejenige, die nichts ver-
eint:

Derart ist also das Wesen des Ortes, des gigantischen Raumes:
Wenn die Blitze für immer, von der Zeit mitgerissen,
hineinschlüpften,
Würden sie nie die beschränkte Entfernung sehen, '
Das ganze riesige Reservoir der Dinge ist offen
In alle Richtungen.’

Eine zeitgenössische Treue dem gegenüber, was sich nie


dem historialen Zwang der Onto-Theologie, der durchsu-
chenden Kraft des Einen gebeugt hat, zu erfinden, das war
und ist meine Absicht.
Die Ausgangsentscheidung besteht also darin, einzulösen,
daß das, was vom Sein denkbar ist, sich in der Form des ra-
dikalen Vielfachen erhält, des Vielfachen, das nicht unter
der Potenz des Einen steht. Dessen, was ich in L’Etre et
l’Evenement [Das Sein und das Ereignis] das Vielfache ohne
Eines genannt habe.
Um aber dieses Prinzip einzuhalten, muß man Erforder-
nisse einer großen Komplexität erfüllen.
> Zuallererst kann die reine Vielheit oder die Vielheit, die
die unbegrenzte Kraft des Seins als Subtraktion von der Po-
tenz des Einen entfaltet, nicht durch sich selbst bestehen.
In der Tat müssen wir — wie Lukrez - annehmen, daß die
Vielfach-Entfaltung nicht unter dem Zwang der Immanenz
einer Begrenzung steht. Denn es ist nur zu evident, daß ein
solcher Zwang die Potenz des Einen als Grund des Vielfa-
chen selbst bewahrheitet.
Man muß also behaupten, daß die Vielheit als Darlegung
des Seins für das Denkbare nicht in der Figur einer konsi-
stenten Abgrenzung besteht. Oder auch: Ontologie, wenn es
sie gibt, muß die Theorie der inkonsistenten Vielheiten als
solcher sein. Dies will auch sagen: was in der Ontologie ge-

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- dacht wird, ist das Vielfache, insofern es kein anderes Prädi-
"kat als seine Vielheit hat. Keinen anderen Begriff als sich
' selbst, und ohne etwas, das seine Konsistenz garantierte,
„> Noch radikaler: eine Wissenschaft vom Sein als wirklich
. subtraktives Sein muß aus ihrem Inneren heraus die Ohn-
‘macht des Einen bewahrheiten. Das Ohne-Eins des Vielfa-
. chen kann sich nicht mit einer einfachen äußerlichen Wi-
'. derlegung begnügen. In der inkonsistenten Komposition
. des Vielfachen selbst zeigt sich die Abtrennung vom Einen.
. Dieser Punkt ist von Platon, im Parmenides, mit seiner dar-
-unterliegenden Schwierigkeit begriffen worden, als er die
Konsequenzen der Hypothese „das Eine ist nicht“ unter-
: ‚sucht. Diese Fiypothese ist hinsichtlich der Heideggerschen
: Bestimmung des Unterscheidungsmerkmals der Metaphy-
..sik besonders interessant. Nun, was sagt Platon? Zunächst,
"daß, wenn das Eine nicht ist, daraus folgt, daß die imma-
:nente Andersheit des Vielfachen zur Differenzierung des
Selbst vom Selbst wird, ohne daß es einen Fixpunkt gäbe.
Das ist die erstaunliche Formel: ta dlla hetera estin, die man
12:80 übersetzen könnte: die anderen sind Andere, mit einem
2 ‚kleinen „a“ beim ersten „ anderen“ und einem Großbuch-
-staben, den ich wie'nach Lacan‘scher Manier ansehen
würde, beim zweiten „Anderen“: daraus, daß das Eine nicht
"ist, folgt, daß das andere der Andere als absolut reine Viel-
: :.heit, als vollständige Zerstreuung des Selbst ist, Dies ist das
i "Motiv der inkonsistenten Vielheit.
:: Danach wird Platon zeigen, daß diese Inkonsistenz das Eine
; bise auf die Wurzel aller angenommenen Potenz auflöst, und
& wäre es auch die Potenz seines Rückzugs oder seiner Inexi-
"stenz: jede offene Darstellung des Einen löst es sofort in
“ eine unendliche Vielheit auf. Ich zitiere:

> ‚Demjenigen, der mit Nähe und Schärfe nachdenkt, erscheint jedes
. „Eins als Vielheit ohne Grenzen, da das Eine, da es nicht ist, ihr
“fehlt,

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Das kann nur folgendes heißen: wenn das Eine dem meta-
physischen Zugriff entzogen ist, kann sich dann das Vielfa-
che dem Denkbaren als aus [mehreren] Eins zusammenge-
setztes Vielfaches darstellen? Man muß die These aufstel-
len, daß das Vielfache je nur aus Vielfachen zusammenge-
setzt ist. Jedes Vielfache ist ein Vielfaches von Vielfachen.
Insofern als ein Vielfaches (ein Seiendes) kein Vielfaches
von Vielfachen ist, muß man den Entzug jedoch bis zum
Ende aufrecht erhalten. Man wird nicht zugeben, daß ein
solches Vielfaches das Eine ist oder gar aus [mehreren] Eins
zusammengesetzt ist. Es wird vielmehr unausweichlich ein
Vielfaches von Nichts sein.
‚Das Entziehen ist auch dieses: bevor man eingesteht, daß
beim Mangel an Vielfachem es Eins gibt, muß man behaup-
ten, daß es beim Mangel an Vielfachem nichts gibt. Hier fin- -
den wir natürlich Lukrez wieder. In der Tat schließt Lukrez
aus, daß man zwischen den vielfachen Kompositionen von
Atomen und dem Nichts dem Einen irgendein drittes Prin-
zip zuweisen könnte:

Außer der Leere und den Körpern verbleibt


im Bereich der Dinge keine andere Natur,
die je von unseren Sinnen erfaßt würde Oder die ein Geist
durch Überlegungen entdecken könnte.‘

Das ist übrigens das, was seine Kritik an den Kosmologien


mit einem einzigen Prinzip, wie derjenigen des herakliti-
schen Feuers, bestimmt. Lukrez sieht genau, daß das von
der Furcht vor den Göttern Sich-Entziehen erfordert, daß es
diesseits des Vielfachen nichts gibt; und jenseits des Vielfa-
chen gibt es auch nur das Vielfache.
> Eine dritte Konsequenz des subtrahierenden Engage-
mients ist es letztlich, auszuschließen, daß es vom Vielfa-
chen eine Definition geben kann, In diesem Punkt hilft uns
die heideggersche Disziplin: die recht eigentlich sokratische

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Art der Abtrennung der Idee ist das Erfassen einer Defini-
tion. Der Weg der Definition stellt sich dem dichterischen
Imperativ gerade darin gegenüber, daß sie in der Sprache
selbst die normative Potenz des Einen etabliert: das Eine
wird in seinem Sein.insofern gedacht werden, als es durch
das dialektische Mittel der Definition abgetrennt oder iso-
liert worden ist. Die Definition ist der sprachliche BISdyE
des Einrichtens der Vorherrschaft des Seienden.
Wenn man behauptet, zur Darstellung des Vielfachen des
Seins über den Umweg einer Definition zu gelangen oder
über den dialektischen Weg der sukzessiven Abgrenzungen,
hält man sich in der Tat ursprünglich in der metaphysi-
schen Potenz des Einen auf.
Das Denken des Vielfachen ohne das Eine oder des inkondl-
stenten Vielfachen kann nicht die Route der Definition ein-
schlagen. |
Die Ontologie hat das schwere Schicksal, die Denkbarkeit
des reinen Vielfachen darstellen zu müssen, ohne je die Be-
dingungen nennen zu können, zu welchen ein Vielfaches
sich als solches erkennen läßt. Es ist nicht einmal möglich, :
diese negative Pflicht ausführlich zu erklären. Man kann
- beispielsweise nicht sagen: das Denken ist ganz dem Vielfa-
chen ergeben und nichts anderem als der dem Vielfachen
intrinsischen Vielheit. Denn dieses Denken wäre schon Teil
- dessen, was Heidegger den Prozeß der Begrenzung des
.. Seins durch den Rückgriff auf eine abgrenzende Norm
-. nennt. Und das Eine käme wieder zurück.
2 Es ist also weder möglich, das Vielfache zu definieren, noch
“ist es möglich, diese Abwesenheit einer Definition zu erläu-
tern. In Wahrheit muß das Denken des reinen Vielfachen
..derart sein, daß der Name „Vielfältigkeit“ nirgendwo er-
u,

* wähnt wird, weder um gemäß dem Einen das zu nennen,


"was es bezeichnet, noch um immer noch gemäß dem Einen
das zu nennen, was es nicht bezeichnen kann,

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Aber was ist ein Denken, das nie definiert, was es denkt?
Das nie, was es denkt, darstellt? Ein Denken, das verbietet,
auf welchen Namen auch immer dieses Denkbaren in der
Schrift, die es mit dem Denkbaren verkettet, zurückzugrei-
fen? Es ist natürlich ein axiomatisches Denken. Ein axioma-
tisches Denken erfaßt die Disposition der nicht definierten
Termini. Es trifft nie auf eine Definition dieser Termini,
noch auf eine praktizierbare Erläuterung dessen, was nicht
diese Termini sind. Die fundamentalen Aussagen eines sol-
chen Denkens stellen das Denkbare dar, ohne es zu thema-
tisieren. Ohne Zweifel ist der primitive Terminus oder sind
die primitiven Termini „eingeschrieben“. Aber sie sind „ein-
geschrieben“ nicht im Sinne einer Benennung, deren Refe-
rent man darstellen müßte, sondern im Sinne einer Serie
von Dispositionen, wo der Terminus nur im geregelten Spiel
seiner gründenden Verbindungen besteht.
Die eigentlichste Forderung einer subtraktiven Ontologie
besteht darin, daß ihre ausdrückliche Darstellung die Form
‘ist, nicht der dialektischen Definition, sondern des Axioms,
das ohne zu nennen Vorschriften macht.
Von dieser Forderung aus muß man die berühmte Passage
der Politeia (Der Staat) neu interpretieren, in der Platon die
Dialektik der Mathematik gegenüberstellt.
Lesen wir die Zusammenfassung, die Glaukon, einer der
Gesprächspartner von Sokrates, über die Theorie des Mei-
sters in diesem Zusammenhang macht:

Das Theoretisieren über das Sein und über das Intelligible, so wie
es bei der Wissenschaft (epistöme) des Dialektisierens ausgetragen
wird, ist klarer als dasjenige, das über das, was man die Wissen-
schaften nennt (techne), ausgetragen wird. Gewiß, diejenigen, die
diesen Wissenschaften gemäß, die als Prinzip Hypothesen haben,
theoretisieren, sind gezwungen, diskursiv vorzugehen und nicht
empirisch, Aber da ihr Intuitionieren weiterhin von den Hypothe-
sen abhängt und sich kein Zugang zum Prinzip eröffnet, scheinen
sie dir kein Verständnis von dem zu haben, was sie theoretisieren,

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das jedoch, im Lichte des Prinzips, von der Verständlichkeit des
Seienden abhängt. Es scheint mir, daß du diskursiv (diänoia) das
Vorgehen der Geometer und der ihnen ähnlich Vorgehenden
nennst, aber insofern nicht Intellektion nennst, als diese Diskursi-
vität sich zwischen (metaxy) die Meinung (döxa) und den Verstand
(nous) einstellt.’

Es ist vollkommen klar, daß die Mathematik für Platon ge-


nau den Fehler hat, axiomatisch zu sein. Warum? Weil das
Axiom außerhalb des Denkbaren bleibt. Die Geometer sind
gezwungen, diskursiv vorzugehen, eben weil sie sich nicht
auf die normative Potenz des Einen, das den Namen Prinzip
hat, einlassen. Und dieser Zwang bezeugt, daß sie außer-
halb der mit Prinzipien beladenen Norm des Denkbaren
sind. Das Axiom ist —- noch immer für Platon — mit einer
dunklen Gewalt beladen, die daher rührt, daß es sich nicht
die dialektische und definitorische Norm des Einen aneig-
net, Im Axiom und in der Mathematik gibt es gewiß Den-
ken, aber noch nicht die Freiheit des Denkens, die sich nach
dem Paradigma, der Norm und dem Einen richtet.
Meine Schlußfolgerung ist in diesem Punkt natürlich der
von Platon entgegengesetzt. Es macht geradezu den Wert
des Axioms — der axiomatischen Disposition — aus, daß das
Axiom der normativen Macht des Einen entzogen ist. Und
ich sehe nicht, wie Platon, im Zwang, den es mit sich führt,
das Kennzeichen eines Unzureichens der einenden und be-
gründenden Lichtung. Ich sehe darin die Notwendigkeit der
Geste selbst des Subtrahierens, d.h. die Bewegung, durch
die das Denken sich — nämlich auf Kosten des Ungeklärten
oder der Ohnmacht der Benennungen - all dem enizieht,
was sie noch mit dem Gemeinsamen oder der Allgemein-
‚heit, mit der sich seine eigene Versuchung zur Metaphysik
abstützt, verbände. Und in diesem Abschied lese ich die
Freiheit des Denkens hinsichtlich dessen, was sein schick-
salhafter Zwang, den man wohl die Neigung zur Metaphysik
nennen kann, ist.


Wir können sagen, daß die Ontologie, welche der axiomati-
schen Disposition geweiht ist, oder das Denken des unzu-
sammenhängenden reinen Vielfachen sich keinerlei Prin-
zips versichern kann. Und daß - umgekehrt - alles Aufstei-
gen zum Prinzip das ist, wodurch das Vielfache aufhört,
gemäß der alleinigen Immanenz seiner Vielheit dargestellt
zu werden.
Wir besitzen also fünf Bedingungen für jede Ontologie des
Vielfachen, insofern es der Macht des Einen abtrünnig wird;
oder für jede Ontologie, die dem treu ist, was seit je in der
Philosophie ihre eigene Tendenz zur Metaphysik bekämpft
hat.
1. Ontologie ist das Denken der unzusammenhängenden
Vielfältigkeit, das heißt derjenigen, die - ohne immanente
Vereinigung — auf das alleinige Prädikat seiner Vielfältigkeit
reduziert ist.
2. Das Vielfache ist insofern radikal Ohne-Eins, als es selbst
nur aus Vielfachen zusammengesetzt ist. Was es gibt oder
die Darstellung im Denkbaren dessen, was es nur in der
Forderung nach dem „es gibt“ gibt, sind Vielfache von Viel-
fachen.
3, Insofern, als keinerlei immanente Begrenzung vom Einen.
her die Vielfältigkeit als solche bestimmt, gibt es kein ur-
sprüngliches Prinzip der Endlichkeit. Das Vielfache kann
also als Un-endliches gedacht werden. Oder gar: die Un-
endlichkeit ist ein anderer Name für die Vielfältigkeit als
solche. Und da auch kein Prinzip das Unendliche mit dem
Einen verbindet, muß man die These aufstellen, daß es eine
Unendlichkeit von Unendlichen, eine unendliche Zerstreu- _
ung der unendlichen Vielfältigkeiten gibt.
4. Insofern, als ein Vielfaches als Nicht-Vielfaches von Viel-
fachen denkbar ist, wird man nicht der These zustimmen,
daß man hier das Eine wieder einführen muß. Man wird sa-
gen, daß es Vielfaches von nichts ist. Und das Nichts wird

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nicht — ebensowenig wie die Vielfachen - mit einem Prinzip
der Konsistenz ausgestattet werden.
5, Die tatsächliche ontologische Darstellung ist notwendig
axiomatisch.

Durch die Neubegründung der Mathematik durch Cantor


aufgeklärt, können wir an diesem Punkt sagen: die Ontolo-
gie ist nichts anderes als die Mathematik selbst. Und dies ist
sie seit ihrem griechischen Ursprung, selbst wenn die Ma-
_ thematik bei diesem Ursprung und danach in ihrem eige-
nen Inneren gegen die Versuchung zur Metaphysik
" gekämpft hat und daher nur unter Schwierigkeiten, auf Ko-
. sten von anstrengenden und mühsamen Neugründungen,
. dazu gekommen ist, sich des freien Spiels ihrer eigenen Be-
; dingungen zu versichern.
: Man kann sagen, daß wir mit Cantor von der eingeschränk-
. ten Ontologie, die noch das Vielfache mit dem metaphysi-
„. schen Thema der Darstellung der Gegenstände, Zahlen und
Figuren verbindet, zur allgemeinen Ontologie übergehen,
. die der Mathematik als Sockel und Bestimmung die freie
.. denkende Wahrnehmung der Vielfältigkeit als solcher vor-
. schreibt. Diese hört für.immer damit auf, das Denkbare in
. die eingeschränkte Dimension des Gegenstands hineinzu-
H zwängen.
:: Wir wollen zeigen, wie die Mathematik in der Zeit nach
Cantor gewissermaßen mit ihren Bedingungen gleich wird,
1. Die Menge im Cantorschen Sinn hat keine andere Essenz,
als eine Vielfältigkeit zu sein; sie ist ohne äußere Begren-
zung, da nichts ihre Wahrnehmung hinsichtlich einer ande-
“ren Sache begrenzt; sie ist ohne innere Begrenzung, da das,
"wovon sie die vielfache Ansammlung ist, indifferent ist.
iz In der von Zermelo und Fraenkel festgehaltenen Ausar-
r beitung gibt es keinen anderen primitiven, nicht definier-
Ä ten Begriff oder für die Variablen möglichen Wert als die
ERBEN. Daher ist jedes Element einer Menge selbst eine

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Menge. Dies begründet die Idee, daß jedes Vielfache Vielfa-
ches von Vielfachen ohne Referenz auf.irgendwelche Ein-
heiten ist.
3. Cantor anerkennt völlig nicht nur die Existenz von un-
endlichen Mengen, sondern die Existenz einer Unendlich-
keit von solchen Mengen. Diese Unendlichkeit ist selbst
völlig offen, was durch das Moment des Unmöglichen, also
des Reellen, das sie unzusammenhängend macht, besiegelt
ist: nämlich daß keine Menge aller Mengen existieren kann.
Dies ist in der Tat die Erfüllung des A-Kosmismus bei Lu-
krez.
"4, Es gibt nämlich eine Menge von nichts oder eine Menge,
die kein weiteres Vielfaches als Element hat. Das ist die
leere Menge, das nur ein reines Merkmal ist, aus dem, wie
man zeigt, alle Vielfachen von Vielfachen gewebt werden.
So wird die Äquivalenz zwischen Sein und Buchstaben er-
reicht, sowie man sich der normätiven Macht des Einen
entzieht. Denken wir - auch hier - an die kräftige Vorweg-
nahme bei Luktez, im 1. Gesang, Vers 910 folgende:
Eine kleine Umstellung reicht den Atomen aus,
Um feurige Körper (igneus) oder Holz (ligneus) zu schaffen.
Es verhält sich wie mit den Wörtern,
Wenn wir etwas die Buchstaben verschieben;
Unterscheiden wir deutlich holzig und feurig.”

In dieser Instanz des Buchstabens - um einen Ausdruck von


Lacan wiederaufzunehmen -; einer hier im Zeichen. der
Leere gekennzeichneten Instanz, entfaltet sich das Denken
ohne Eins oder ohne Metaphysik über das, was sich mathe-
matisch als uralte Figur des Seins darstellen läßt.
5. Die Mengentheorie ist, hinsichtlich des Kerns ihrer Vor-
stellung, nichts anderes als das Ganze der Axiome der Theo-
rie. Das Wort „Menge“ kommt nicht in ihnen vor, noch we-
niger die Definition eines solchen Wortes, Daher stellt sich
heraus, daß das Wesen des Denkens des reinen Vielfachen

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keinerlei dialektischen Prinzips bedarf und daß die Freiheit
des Denkens, die sich ans Sein anpaßt, in dieser Sache in
der axiomatischen Entscheidung liegt und nicht in.der In-
tuition einer Norm.
Und da in.der Folgezeit festgestellt worden ist, daß die Can-
torsche Darstellung weniger eine besondere Theorie als der
Ort selbst des mathematisch Denkbaren, das berühmte
„Paradies“, von dem Hilbert gesprochen hat, ist, erlaubt uns
ein allgemeiner Rückgriff, folgendes zu sagen: seit seinem
griechischen Ursprung beharrt das Sein darauf, sich in die
Dispositionen der reinen Mathematik einzuschreiben, Also
entzieht sich auch seit dem Ursprung der Philosophie das
Denken der normativen Macht des Einen. Die verblüffende
Parenthese der Mathematik innerhalb der Philosophie -
von Platon bis zu Husserl und Wittgenstein - muß als eine .
einzigartige Bedingung entziffert werden: nämlich dieje-
nige, die die Philosophie der Prüfung eines anderen Weges
als desjenigen der Unterwerfung des Seins durch die Macht
des Einen ausliefert. Philosophie ist also - seit je — unter ih-
. rer mathematischen Bedingung der Austragungsort eines
uneinheitlichen oder gespaltenen Versuchs. Es stimmt, daß
. „sie die Kategorie der Wahrheit der einenden und metaphy-
..sischen Macht des Einen ausliefert. Es stimmt aber auch,
. daß sie auch ihrerseits diese Macht dem subtrahierenden
e "Abtrünnigwerden der Mathematik ausliefert.
Jede einzigar-
«tige Philosophie ist also weniger die Erfüllung des metaphy-
-:,sischen Schicksals als ein Versuch, sich ihm unter mathe-
- matischer Bedingung zu entziehen. Die philosophische Ka-
i ‚tegorie der Wahrheit entsteht zugleich aus einer ererbten
: Normativität des platonischen Gestus und aus dem Begrei-
: fen der mathematischen Bedingung, die diese Norm aus-
' einandernimmt. Das gilt übrigens für Platon selbst: die fort-
% schreitende Pluralisierung oder der gemischte Charakter
der höchsten Ideen im Sophistes oder im Philebos sowie die
Hinführung zur Unmöglichkeit des Themas des Einen im

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Parmenides zeigen, daß die Wahl zwischen Definition und
Axiom, zwischen Prinzip und Entscheidung, zwischen Ver-
einheitlichung und Zerstreuung unentschieden und beweg-
lich bleibt.
Allgemeiner gesagt, welches sind die Aufgaben der Philoso-
phie, wenn die Ontologie oder das Sagbare des Seins als
Seins das gleiche Feld wie die Mathematik abdeckt?
Die erste Aufgabe ist sicherlich, sich — entgegen ihrem eige-
nen latenten Wunsch - vor der Mathematik zu erniedrigen,
indem sie in ihr das aktuelle Denken des reinen Seins, des
Seins als Seins anerkennt.
Ich sage „entgegen ihrem latenten Wunsch“, denn die Phi-
losophie hat in ihrem realen Werden, wobei sie in diesem
Punkt der sophistischen Aufforderung nachgegeben hat,
nur zu sehr die Tendenz gehabt, vorzugeben, daß die Ma-
thematik, deren Prüfung sicherlich für ihre eigene Existenz
notwendig war, keinen Zugang zur Rechtsstellung des ech-
ten Denkens hat. Die Philosophie ist zum Teil für die Reduk-
tion der Mathematik auf den einfachen Rang eines Kalküls
oder einer Technik verantwortlich, für dieses verheerende
Bild, auf das die Mathematik von der landläufigen Meinung
aristokratischer Komplizenschaft der Mathematiker einge-
schränkt wird, die sich gern damit zufrieden geben, daß das
Volk in jedem Fall nichts von ihrer Wissenschaft versteht. _
Es ist Aufgabe der Philosophie, die These aufzustellen, daß
die Mathematik ein Denken ist, wie die Philosophie es oft
versucht hat, während sie zugleich diesen Versuch ver-
nichtete.
2

Mathematik ist ein Denken

; Diese Aussage hat keinerlei Evidenz. Sie ist mehrmals


i zunächst von Platon, der ihr gegenüber alle Arten von Ein-
> schränkungen macht, bejaht und mehrmals insbesondere
von Wittgenstein verneint worden. Sie entzieht sich zweifel-
; los jeden Beweises. Vielleicht ist sie der Punkt, an dem die
. Mathematisierung selbst unmöglich wird, der Punkt des
Realen der Mathematik also. Aber das Reale äußert sich
’: mehr, als daß es erkannt wird.
" Die Dunkelheit der Äußerung kommt daher, daß sich eine
intentionelle ‚Auffassung des Denkens aufzudrängen
scheint: jedes Denken ist, in dieser Konzeption, ein Denken
von einem Objekt, das seine Essenz und seinen Stil be-
stimmt. Man setzt also die These, daß die Mathematik ein
Denken in genau dem Maße ist, wie mathematische Ob-
jekte existieren, und die philosophische Untersuchung be-
zieht sich auf die Natur und den Ursprung der Objekte. Es
istnun klar, daß eine solche Voraussetzung problematisch
ist: in welchem Sinn können die mathematischen Idealitä-
ten zu existierenden Idealitäten erklärt werden? Und zu exi-
stierenden Idealitäten in der gattungshaften Form des Ob-
jekts? Diese Schwierigkeit wird im ganzen Buch M der Me-
- taphysikvon Aristoteles anläßlich dessen, was er die mathe-
matikd, die mathematischen Dinge oder angenommenen
Korrelate der mathematischen Wissenschaft nennt, unter-
sucht. Aristoteles‘ Lösung ist meiner Meinung nach inso-
fern endgültig, als man die Frage der Mathematik als Den-
ken auf Seiten des Objekts oder der Objektivität angeht.
Diese Lösung schreibt sich innerhalb von zwei Grenzen ein.
1. Einerseits ist es ausgeschlossen, den mathematischen
Objekten Sein oder Existenz in dem Sinn zuzuerkennen, in

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dem dieses Sein’getrennt wäre und einen präexistierenden
und autonomen Bereich der objektiven Gabe abgeben
würde. Die hier kritisierte These wird Platon zugeschrieben;
in der Tat verstehen die wirklichen Nachkommen von Ari-
stoteles, das heißt die modernen angelsächsischen Empiri-
sten, unter „Platonismus“ die Annahme einer getrennten
und übersinnlichen Existenz der mathematischen Idealitä-
ten, und sie machen gegenüber dieser Annahme geltend,
daß die mathematischen Objekte konstruiertsind. Aristote-
les wird dann sagen: diemathematikd sind keinesfalls ge-
trennte Wesenheiten. Wenn dies der Fall wäre, müßte es da-
von eine ursprüngliche intelligible Intuition geben, die
durch nichts bezeugt wird. Sie können also nicht dazu die-
nen, die Mathematik als einzigartiges Denken zu identifi-
zieren. Wir wollen sagen, daß keine ontologische Trennung -
für Aristoteles die epistemologische Trennung garantieren
kann; insbesondere, da es sich um den Abstand zwischen
der Physik, die sich auf das Sinnliche bezieht, und der Ma-
thematik handelt, da: „Esist augenscheinlich unmöglich,
daß die mathematischen Dinge eine von den sinnlichen
Wesenheiten getrennte Existenz haben.“ (M, 2, 10.)
2. Symmetrisch dazu ist es genau so unmöglich, daß die
mathematischen Objekte dem Sinnlichen immanent sind.
Diese Frage wird von Aristoteles im Buch B behandelt. Das
Hauptargument besteht darin, daß die Immanenz von un-
teilbaren Idealitäten in sinnlichen Körpern die Unteilbar-
keit dieser Körper nach sich zöge; oder daß die Immanenz
von unbeweglichen Idealitäten die Unbeweglichkeit der
sinnlichen Körper nach sich zöge. Dies widerspricht der Er-
fahrung. Die unbestreitbare Grundlage dieser These ist, daß
jederlei Art von immanenter Mathematik entweder das ma-
thematische Objekt mit sinnlichen Prädikaten, die ihm au-
genscheinlich fremd sind, wie die Zeitlichkeit oder die Ver-
derblichkeit, verseucht oder die sinnlichen Körper mit in-
telligiblen Prädikaten, die ihnen genauso fremd sind, wie

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mit der Ewigkeit oder der begriffliche Transparenz, ver-
seucht,
Hinsichtlich des Erfahrungsfeldes ist das mathematische
Objekt also weder getrennt noch untrennbar. Es ist weder
transzendent noch immanent. Die Wahrheit ist, daß es kein
Sein im eigentlichen Sinne hat. Oder noch genauer: das ma-
thematische Objekt existiert nirgendwo in actu. Wie Aristo-
teles sagt: entweder existieren die mathematikä absolut
nicht, oder sie existieren jedenfalls nicht auf eine absolute
Weise. Lassen Sie uns sagen, daß die mathematische Objek-
tivität ein Pseudo-Sein ist, das zwischen dem getrennten
reinen Akt, dessen höchster Name Gott ist, und den sinnli-
chen Substanzen oder wirklich existierenden Dingen aufge-
hängt ist. Die Mathematik ist weder physisch noch meta-
physisch: |
Aber was ist sie dann? Sie ist in Wirklichkeit eine fiktive Akti-
. vierung dort, wo die aktuelle Existenz fehlt. Die mathemati-
. sche Objektivität existiert der Möglichkeit nach im Sinnli-
- chen und bleibt dort in der definitiven Latenz ihres Aktes.
: So ist es wahr, daß ein Mensch der Möglichkeit nach das
:. arithmetische Eine besitzt oder daß ein Körper der.Mög-
5 lichkeit nach die oder jene reine Form besitzt. Nicht, daß
= das arithmetische Eine oder die geometrische Kugel für sich
existierten oder daß sie als solche in einem Menschen oder
auf einem Planeten existierten. Sondern, daß das Denken
. das Eine oder die Kugel im Ausgang von der Erfahrung eines
„Organismus oder eines Objekts aktivieren kann. Was soll
„aktivieren“ heißen? Das will genau besagen: als Existieren-
“des in actu das behandeln, was nur der Möglichkeit nach
. »existiert. Als Sein ein Pseudo-Sein behandeln. Als Getrenn-
“tes das behandeln, was es nicht ist. Das ist genau die Defini-
„tion Aristoteles‘; der Arithmetiker und der Geometer errei-
‘chen, sagt er, ausgezeichnete Ergebnisse, „indem als ge-
“trennt gesetzt wird, was nicht getrennt ist.“

39
Diese Fiktion zeitigt übrigens die Folge, daß die Norm der
Mathematik nicht das Wahre sein kann, denn das Wahre
kann nicht durch eine Fiktion gewonnen werden. Die Norm
der Mathematik ist das Schöne, Denn was der Mathemati-
ker fiktiv trennt, sind zunächst Ordnungsbeziehungen,
Symmetrien, transparente begriffliche Einfachheiten, Nun,
bemerkt Aristoteles, „die höchsten Formen des Schönen
sind die Ordnung, die Symmetrie, das Bestimmte.“ Daraus
ergibt sich, daß „das Schöne der Hauptgegenstand der ma-
thematischen Demonstrationen ist.“
Man kann also die definitive Schlußfolgerung Aristoteles‘
modernisieren. Dazu ist es ausreichend, sich zu fragen: was
hat Macht (puissance), das „potentielle Sein“ (l’„&tre en
puissance“) zu aktivieren, oder was hat Macht (pouvoir),
das Ungetrennte zu trennen? Für uns Modernen ist es au-
genscheinlich, daß es die Sprache ist. Wie. Mallarme in
einem berühmten Zitat bemerkt, wenn ich „eine Blume“
sage, trenne ich sie von jedem Strauß. Wenn ich „es sei eine
Kugel“ sage, trenne ich sie von jedem sphärischen Gegen-
stand. In diesem Punkt sind das mathematische Problem
(mathöme) und das Gedicht (po&me) ununterscheidbar.
Man kann also die Doktrin zusammenfassen: |
1. Die Mathematik ist das Quasi-Denken eines Pseudo-
Seins. Ä
2. Dieses Pseudo-Sein verteilt sich in Quasi-Objekte (zum
Beispiel die Zahlen und Figuren, aber ebensowohl die alge-
braischen, topologischen Strukturen usw.).
3, Diese Quasi-Objekte sind mit keinerlei Art von aktueller
Existenz versehen, da sie weder im Verhältnis zum Sinnli-
chen transzendent noch dem Sinnlichen immanent sind.
4. Sie sind in der Tat sprachliche Schöpfungen, die fiktiv aus
latenten, entweder nicht aktivierbaren oder nicht trennba-
ren Schichten der wirklichen Gegenstände herausgezogen
werden.
5. Die Norm, die die trennende Fiktion beherrscht, ist die

40
transparente Schönheit der einfachen Beziehungen, die sie
konstruiert,
6. Die Mathematik ist also letztendlich eine strenge Ästhe-
tik. Sie sagt uns nichts über das wirkliche Sein (l’ötre-reel),
sondern sie fingiert, von sich selbst ausgehend, eine intelli-
gible Konsistenz, deren Regel ausdrücklich genannt wird.
Und schließlich;
7. Als Denken aufgefaßt, ist die Mathematik kein Denken
ihres Denkens. Denn in ihrer Fiktion zu Hause, kann sie nur
daran glauben. Dies ist ein Punkt, auf dem Lacan zu Recht
insistierte: der Mathematiker ist zunächst derjenige, der
„eisern“ an die Mathematik glaubt. Die spontane Philoso-
phie des Mathematikers ist der Platonismus, weil sein Akt
darin besteht, das Ungetrennte zu trennen, und er daher
aus dieser fiktiven Aktivierung das ideelle Schauspiel seines
_ Ergebnisses herausholt. Alles verhält sich in ihm, als exi-
stierten die mathematischen Objekte in actu. Noch tiefer:
das mathematische Denken ist, wie jede Fiktion, ein Akt, Sie
kann nur dies sein, weil es nichts zu schauen gibt. Wie Ari-
stoteles sich in einer sehr gedrängten Formel ausdrückt, ist
-im Fall der Mathematik he nöesis energeia, der Intellekt
Akt. In der Mathematik wendet sich der Akt, der den Objek-
ten fehlt, zurück zum Subjekt. |
Da der Mathematiker im Akt der fiktiven Aktivierung, wie es
sein eigenes Denken ist, gefangen ist, mißversteht er deren
Struktur. Das ist auch der Grund dafür, daß die ästhetische
Dimension sich hinter einem kognitiven Anspruch verbirgt.
Das Schöne ist die wirkliche Ursache für die mathematische
Aktivität, aber diese Ursache ist im mathematischen Dis-
. kurs eine abwesende Ursache. Sie ist nur durch ihre Wir-
Er kungen auffindbar: „Nicht, weil die mathematischen Wis-
“. senschaften nicht das Schöne nennen, handeln sie nicht
‘. von ihm, denn sie zeigen die Wirkungen und die Beziehun-
i gen.“ Es steht dem Philosophen zu, die wirkliche Ursache
für den mathematischen Akt zu benennen und also den
Al
mathematischen Gedanken seiner wahrhaften Bestim-
mung nach zu denken. s
Diese Auffassung ist meiner Meinung nach heute noch vor-
herrschend, wie aus vier größeren Symptomen hervorgeht:
a) Die Kritik an dem, was unter dem Namen „Platonismus“
angenommen wird, ist fast einstimmig in allen zeitgenössi-
schen Auffassungen der Mathematik. Gleicherweise findet
man darin die Gründe, warum die Mathematiker spontane
oder „naive“ Platoniker sind.
b) Der konstruierte und sprachliche Charakter der mathe-
matischen Entitäten oder Strukturen wird fast allgemein
angenommen,
c) Selbst wenn man sich nicht immer auf die.Ästhetik als
solche beruft, so sind ihr doch viele geläufige Themen ho-
mogen. So das Fernhalten der Wahrheitskategorie; die Ten-
denz zum Relativismus (danach gäbe es mehrere unter-
schiedliche Mathematiken, und letztendlich ist es eine Ge-
schmacksfrage); und schließlich die logische Annäherung
an die mathematischen Architekturen, die letztere als große
Formen behandelt, deren Konstruktionsprotokoll entschei-
dend wäre und deren Referent oder eigentliches Sein, das
heißt die gedankliche Bestimmung dessen, was gedacht ist,
nicht zuweisbar ist. Dies ist ganz der Orientierung Aristote-
les‘ konform, der ausdrücklich der Mathematik eine förmli-
che Überhöhe zuspricht, was er eine logische Vorgängigkeit
nennt, aber dies, um der Mathematik besser die substanti-
elle oder ontologische Vorgängigkeit abzusprechen. Denn
er sagt: „Die substantielle Vorgängigkeit ist das Los der We-
senheiten, die als getrennte sich durch die Fähigkeit zur ge-
trennten Existenz durchsetzen.“ Die rein fiktive Abtrennung
des mathematischen Objekts ist also, hinsichtlich der onto-
logischen ‚Würde, niedriger als die reelle Trennung der
Dinge. A contrario ist die logische Transparenz der Mathe-
matik ästhetisch höher als die getrennte Substantialität der
Dinge. Dies wird heute vollständig in der kanonischen Un-

42
terscheidung, die selbst innersprachlich ist, zwischen for-
malen Wissenschaften und empirischen Wissenschaften re-
produziert.
d) Die heutige, unbestreitbare Oberherrschaft der konstruk-
tivistischen, ja intuitionistischen Vision über die formalisti-
sche und vereinheitlichte Vision der Grundlage ebenso wie
über die Evidenz der klassischen Logik. Das große, von
Bourbaki errichtete Gebäude stand in einer globalen Ästhe-
tik, die man baumartig nennen könnte, Auf einem festen
Stamm der Logik und einer homogenen Mengentheorie
‘ wuchsen die symmetrischen Zweige der Algebra und der
Topologie, die sich in der Höhe wieder kreuzten bis hin zu
den feinsten „konkreten“ Strukturen, die eine verzweigte
Disposition des Blattwerks bildeten, Heute geht man eher
. von schon komplexen Konkretionen aus, und es handelt
sich darum, sie je nach ihrer Einzigartigkeit zu falten oder
:, zu entfalten, das Prinzip ihrer Dekonstruktion-Rekonstruk-
; tion zu finden, ohne sich um einen Gesamtplan oder eine
; durch Entscheidung getroffene Grundlage zu kümmern.
.. Die Axiomatik wird zugunsten einer beweglichen Wahrneh-
= mung der Komplexitäten und der überraschenden Korrela-
tionen vernachlässigt. Deleuze‘ Wurzelstock (rhizome) hat
‘= die Oberhand über Descartes‘ Baum. Das Heterogene
"macht nachdenklicher als das Homogene. Eine intuitioni-
“ stische oder modale Logik ist dieser beschreibenden Orien-
‚“tierung angemessener als die das Dritte ausschließende
»Starre der klassischen Logik. '
Die Frage ist also: sind wir, was dieMathematik als Denken
= "betrifft, auf eine sprachliche Yerion des Aristotelismus an-
"gewiesen?
"Das ist nicht meine Überzeugung. Der ausdrückliche Befehl
“der zeitgenössischen Mathematik scheint mir eher darin zu
bestehen, den Platonismus wieder aufzugreifen und
„zunächst seine wahre Triebfeder, die völlig durch die Exe-
‚gese Aristoteles‘ verdunkelt wurde, begreiflich zu machen.

43
Jedoch werde ich nicht im gegenwärtigen Zeitpunkt direkt
den Weg einschlagen, den man die platonische Berichti-
gung nennen könnte. Da es sich letztendlich darum handelt
- indem man die These aufstellt, daß Mathematik ein Den-
ken ist-, zum Denken dieses Denkens zu gelangen, ist es
angebracht, auf die Momente hinzuweisen, wo die Mathe-
matik berufen scheint, sich selbst zu denken, das heißt, zu
denken, was sie ist. Diese Momente erhalten, wie bekannt, .
den konventionellen Namen der „Krisen“, sogar der
„Grundlagenkrisen“.
So den Namen der Krise der Irrationalen in der sogenann-
ten pythagoräischen Mathematik oder der Krise, die mit
den „Paradoxen“ der Mengentheorie am Ende des letzten
Jahrhunderts verbunden ist, dann der Krise, die mit den
verschiedenen Theoremen einer Grenze der in den dreißi-
ger Jahren entdeckten Formalismen verbunden ist. Es gab
auch eine Krise wegen der anarchischen Behandlung des
unendlichen Kleinen zu Anfang des 18. Jahrhunderts und
eine weitere anläßlich der Geometrie, die sich mit der Ent-
deckung der Unentscheidbarkeit des euklidischen Postulats
über die Parallelen auftat.
Man hat die Frage diskutiert, ob diese Krisen innerhalb der
Mathematik stattfanden oder ob sie nicht eher rein philo-
sophisch waren, indem sie in die Diskussion unter Mathe-
matikern Denkmöglichkeiten einführten, die an die Exi-
stenz dessen geknüpft waren, was Louis Althusser die
„spontane Philosophie der Wissenschaftler“ nannte. Al-
thusser vertrat die These, daß es in den Wissenschaften
überhaupt keine Art Krise gebe. Es gebe in ihnen sicherlich
Diskontinuitäten, unvermittelte qualitative Umbildungen.
Diese Augenblicke gehörten zum Fortschritt und zur
Schöpfung und seien keinesfalls Ausdruck einer Ausweglo-
sigkeit oder Krise. Aber anläßlich dieser Brüche brächen un-
ausweichlich und selbst in den betroffenen wissenschatftli-
chen Milieus philosophische Richtungskämpfe aus, bei de-
44
nen es in Wirklichkeit darum gehe, die Art neu zu arrangie-
ren, derer sich die philosophischen Strömungen für ihre ei-
genen Zwecke bedienen, welche in letzter Instanz politisch
sind,
Wir werden von folgender Feststellung ausgehen: es gibt
einzigartige Augenblicke, in denen die Mathematik hin-
sichtlich ihrer eigenen Ziele gezwungen zu sein scheint, ihr
Denken (pens&e) zu denken. Worin besteht diese Opera-
tion? Alles entscheidet sich durch ein paar Aussagen, über
die das mathematische Denken strauchelt, als wären sie auf
seinem eigenen Feld die Signatur des Unmöglichen.
Diese Aussagen sind klar von dreierlei Art:
> Entweder handelt es sich um einen formellen Wider-
spruch, der sich deduktiv aus einem Ensemble von Voraus-
setzungen ableitet, deren Evidenz und Kohäsion jedoch un-
zweifelhaft zu sein schien. Dies ist das Straucheln über das
Paradox. So verhält es sich bei der formalen Klassentheorie
in Freges Stil, welche über das Russellsche Paradox strau-
chelt. Die hier zum Unmöglichen gezwungene Evidenz ist
diejenige, die irgendeiner Eigenschaft die Gesamtheit der
Termen, die diese Eigenschaft besitzen, zuweist. Nichts ist
klarer als diese Doktrin der begrifflichen Ausdehnung; und
dennoch tritt - wie eine wirkliche Probe - der Fall auf, der
diese Evidenz mit einer intrinsischen Inkonsistenz versieht.
> Der zweite Fall ist derjenige, in dem die gültige Theorie
sich in einem Punkt diagonal durchschnitten sieht von
einer Ausnahme oder einem Übermaß, das zwingend dafür
ist, daß diese Theorie, die man für absolut allgemein hielt,
nur für regional gültig gehalten wird, ja sogar für ganz be-
sonders und eingeschränkt. So verhält es sich mit dem Be-
- weis, daß die Diagonale eines Quadrats mit seiner Seite in-
kommensurabel ist, wenn man unter dem Maß eine ratio-
nale Zahl versteht. Die Evidenz der Zuweisung zu jedem er-
faßbaren Verhältnis eines Paars von ganzen Zahlen war für
die Pythagoräer die Gewährleistung der Gegenseitigkeit des

45
Seins und der Zahl. Siewird demonstrativ durch ein geome-
trisches Verhältnis ruiniert, das über jedes Paar von geraden
Zahlen, die man diesem Verhältnis als Maß zuschreiben
wollte, hinausschreitet. Man muß also das Denken neu
überdenken, in dem sich die wesentliche Zahlhaftigkeit
(nume6ricite) des Seins entfaltete, und also das mathemati-
sche Denken als solches neu überdenken.
> Der dritte Fall ist schließlich einer, in dem eine unbe-
achtete Aussage als Bedingung für Ergebnisse, die für sicher
gehalten werden, isoliert wird, während, für sich genom-
men, diese Aussage hinsichtlich der Normen, die anläßlich
der Konstruktionen des mathematischen Denkens geteilt
werden, unerträglich zu sein scheint. So beim Auswahl-
axiom. Die großen französischen Analytiker des ausgehen-
den letzten Jahrhunderts gebrauchten es implizit in ihren
eigenen Demonstrationen; aber seine formale eindeutige
Formulierung schien ihnen absolut über das hinauszuge-
hen, was sie hinsichtlich der Handhabung des Unendlichen
annahmen; und vor allem sahen sie darin eine illegitime
Übertretung der konstruktiven Schau, die sie sich von den
Operationen des mathematischen Denkens machten. Das
Auswahlaxiom läuft in der Tat darauf hinaus, eine absolut
indeterminierte unendliche Menge anzunehmen, deren
Existenz behauptet wird, wohingegen sie sprachlich nicht
definierbar und im Verfahren nicht konstruierbar ist.
Man kann also behaupten, daß das mathematische Denken
unter dem Zwang eines wirklichen Prellblocks oder des not-
wendigen Auftauchens einer Unmöglichkeit in seinem Feld
zu sich selbst zurückkehrt. Dieser Prellbock (butee) gehört
zum Bereich des Paradoxes, das die Inkonsistenz hervor-
ruft; zum Bereich der Diagonale, die ein Übermaß hervor-
ruft; oder zum Bereich eines kontrollierenden Abhakens
einer latenten Aussage, die das Unbestimmte und Nicht-
konstruierbare hervorruft.

46
Worin besteht also die Natur dieser Wendung zu sich selbst
der Mathematik unter dem ausdrücklichen Befehl seines
inneren Prellblocks?
Was an die Oberfläche steigt, betrifft das, was - im Bereich
- des mathematischen Denkens — in die Zuständigkeit des
Aktes oder der Entscheidung fällt; und in derselben Bewe-
gung muß man, weil man sich, wenn ich so sagen darf, am
Fuß des Aktes befindet, Position hinsichtlich der Norm der
Entscheidung, die von dem Akt getroffen wird, beziehen,
Nun, in allen Fällen handelt es sich bei dieser Verpflichtung
zu entscheiden ums Sein oder um den Modus, in dem die
Mathematik auf eigene Rechnung Parmenides‘ Aussage
trägt: „Dasselbe ist zugleich Denken und Sein.“
Nehmen wir unsere Beispiele wieder auf, Für die Griechen
ist, unter dem ausdrücklichen Befehl des reellen Inkom-
mensurablen, das Denken zur Entscheidung einer anderen
Verknüpfung des Seins mit der.Zahl, des Geometrischen mit
dem Arithmetischen gezwungen - Entscheidung, deren Ei-
genname Budoxos ist, Angesichts des Russellschen Parado-
xes muß man sich zu einer Einschränkung der Macht der
Sprache über die Determination des reinen Vielfachen ent-
scheiden - Entscheidung, deren Eigenname Zermelo ist.
Und hinsichtlich des Auswahlaxioms bezieht es das Denken
auf eine abrupte Entscheidung über das unbestimmte aktu-
elle Unendliche — Entscheidung, die übrigens dauerhaft die
. Mathematiker spaltet.
Auf alle Fälle handelt es sich darum, zu entscheiden, in wel-
' chem Sinn und nach welchen Grenzen, die derimmanen-
ten Disposition entsprechen, das mathematische Denken
mit dem Sein, das die Grundlage dafür ist, koextensiv ist.
. Wir werden also sagen, daß die Mathematik in dem Augen-
- blick, wo sie über das Paradox und die Inkonsistenz, die
“ Diagonale und das Übermaß oder auch über eine unbe-
: stimmte Bedingung stolpert, darüber das denkt, was in
: Ihrem Denken zur Ordnung einer ontologischen Entschei-

47
dung gehört. Es handelt sich recht eigentlich um einen Akt,
der dauerhaft das Reale des Seins verpflichtet, wobei die
Mathematik es auf sich nimmt, seine Konnexionen und
Konfigurationen herzustellen. Aber wenn so die Mathema-
tik ihrer Entscheidungshaftigkeit gegenübergestellt wird,
kann sie nur der Frage nach ihrer Norm ausgeliefert sein
und insbesondere: nach der Norm dessen, was das Denken
imstande ist, als Seinsbehauptung zu stützen. Muß man
Zahlen zum Existieren bringen, deren Prinzip nicht mehr
die Komposition von Einheiten ist? Muß man annehmen,
‘ daß nicht abzählbare, aktuelle unendliche Mengen existie-
ren? Unter welchen Bedingungen kann man garantieren,
daß ein wohlgeformter Begriff eine identifizierbare Ausdeh-
nung zuläßt? Wie verknüpfen sich die Behauptung der Exi-
stenz und das Konstruktionsprotokoll? Kann man.anneh-
men, daß eine intelligible Konfiguration existiert, von der es
unmöglich ist, einen einzigen Fall nachzuweisen? Diese
Fragen werden nach einer immanenten Norm entschieden,
die nicht das Denken ausmacht, es aber orientiert.
Wir werden Orientierung im Denken das nennen, was in
diesem Denken die Existenzbehauptungen regelt. Das also,
was formell das Schreiben eines Existenzquantors an die
Spitze einer Formel erlaubt, die die Eigenschaften festlegt,
die man für eine Seinsregion annimmt. Oder das, was onto-
logisch das Universum der reinen Präsentation des Denk-
baren festlegt.
Eine Orientierung im Denken erstreckt sich nicht nur auf
die grundlegenden Behauptüngen oder auf die Axiome,
sondern auch auf die beweisenden Protokolle, sowie ihr
thematischer Einsatz (enjeu) existentiell ist. Wird man zum
Beispiel annehmen, daß Existenz nur von demjenigen be-
hauptet werden kann, das, wenn man die Hypothese seiner
Nichtexistenz annimmt, zu einer logischen Sackgasse führt?
Dies ist die Triebfeder der Beweisführung durch das Ab-
surde. Sie anzuerkennen oder nicht, hängt exemplarisch

48
von der Orientierung im Denken ab, letztere ist klassisch,
wenn man sie anerkennt, und intuitionistisch, wenn man
sie nicht anerkennt. Die Entscheidung bezieht sich dann
auf das, was das Denken in sich selbst als Zugang zu dem
bestimmt, dessen Existenz sie behauptet. Die Hinleitung
(acheminement) zur Existenz orientiert den diskursiven
Verlauf (cheminement).
Es ist meiner Meinung nach falsch, zu sagen, daß zwei ver-
schiedene Orientierungen zwei verschiedene Mathemati-
ken, d.h. zweierlei verschiedenes Denken, vorschreiben. In-
nerhalb eines einzigen Denkens konftontieren sich die Ori-
entierungen. Kein klassischer Mathematiker hat je den ein-
sehbaren mathematischen Charakter der intuitionistischen
Mathematik bezweifelt. In jedem Fallhandelt es sich um die
grundsätzliche Identität des Denkens und des Seins. Aber
die Existenz, die sowohl das ist, was das Denken erklärt, als
auch das, wessen Konsistenz durch das Sein garantiert wird,
wird nach zwei verschiedenen Orientierungen aufgefaßt.
Existenz kann das genannt werden, wovon Entscheidung
und Treffen, Akt und Entdeckung ununterscheidbar sind,
Die Orientierungen im Denken haben auf einzigartige Art
die Bedingungen dieser Ununterscheidbarkeit im Visier.
Man wird also sagen, daß es Augenblicke gibt, in denen die
Mathematik, wenn sie über eine Aussage stolpert, die in
einer Frage die Ankunft des Unmöglichen bezeugt, zu den
sie orientierenden Entscheidungen zurückkehrt. Sie erfaßt
dann ihr eigenes Denken nicht mehr gemäß ihrer demon-
strativen Einheit, sondern gemäß der Verschiedenheit, die
den Denkorientierungen immanent ist. Die Mathematik
. denkt ihre Einheit als innerlich der Vielfältigkeit der Denk-
. orientierungen ausgesetzte Einheit, Eine „Krise“ der Mathe-
: matik ist ein Augenblick, wo sie sich bemüht, ihr Denken als
" immanente Vielfältigkeit ihrer eigenen Einheitzu denken.
. In diesem Punkt, glaube ich, und allein in diesem Punkt”
. fungiert die Mathematik, d.h. die Ontologie, als Bedingung
49
der Philosophie. Sagen wir folgendes: die Mathematik be-
zieht sich aufihr eigenes Denken gemäß ihrer Orientierung.
Es ist Aufgabe der Philosophie, diesen Gestus durch eine
allgemeine Theorie der Denkorientierungen weiter auszu-
bilden. Daß alles Denken seine Einheit nur als ein Ausge-
setztsein an die Vielfältigkeit dessen, was es orientiert, den-
ken kann, eben davon kann die Mathematik keine Rechen-
schaft ablegen, aber dies legt sie auch exemplarisch dar. Der
vollständige Bezug des mathematischen Denkens zu sei-
nem eigenen Denken setzt voraus, daß die Philosophie un-
ter der Bedingung der Mathematik die folgende Frage be-
handelt: was ist eine Orientierung im Denken? Und noch
mehr: was macht es notwendig, daß die Identität des Seins
und des Denkens sich gemäß einer immanenten Vielfältig-
keit von Orientierungen vollzieht? Warum muß immer dar-
über entschieden werden, was existiert? Denn der Haupt-
punkt ist, daß die Existenz keineswegs die erste Gegeben-
heit ist. Die Existenz ist eben insofern das Sein selbst, als
das Denken es entscheidet. Und diese Entscheidung orien-
tiert wesentlich das Denken, M
Man müßte also über eine Theorie der Denkorientierungen
als wirkliches Territorium dessen, was das Denken der Ma-
thematik als Denken aktivieren kann, verfügen. Ich habe für
mich selbst einen Überschlag über dieses Problem in L‘Etre
et l’evenement (Das Sein und das Ereignis) vorgeschlagen,
und ich kann hier nicht auf seine technische Substruktur
noch einmal eingehen. Man findet dort drei größere Orien-
tierungen, die simultan in den Krisenaugenblicken der Ma-
thematik und in den begrifflichen Umbildungen der Philo-
sophie identifizierbar sind. Diese Orientierungen sind die
konstruktivistische Orientierung, die transzendente Orien-
tierung und die generische Orientierung.
Die erste normiert die Existenz durch explizite Konstruktio-
nen und ordnetletztendlich das Existenzurteil unter endli-
che und kontrollierbare sprachliche Protokolle. Wir wollen
50
sagen, daß jede Existenz sich durch einen Algorithmus ver-
treten läßt, der es ermöglicht, wirklich einen Fall, um den es
sich handelt, zu erreichen,
Die zweite, die transzendente Orientierung normiert die
Existenz durch die Annahme dessen, was man eine
Überexistenz nennen könnte oder einen hierarchischen
Verknüpfungspunkt, der diesseits von sich selbst das Uni-
versum all dessen, was existiert, anordnet. Wir wollen sa-
gen, daß diesmal jede Existenz sich in eine Totalität ein-
schreibt, die ihr einen Platz zuweist,
Die dritte macht die Setzung, daß die Existenz ohne Norm
ist, sondern die diskursive Konsistenz, Sie privilegiert die
unbestimmten Zonen, die Vielheiten, die jeder prädikativen
Sammlung entzogen sind, die Überschußpunkte und die
subtrabierenden Gaben. Wir wollen sagen, daß jede Exi-
stenz in einer Iırfahrt erfaßt wird, die sich wie eine Diago-
nale zu den Montagen, von denen: angenommen wird, daß
sie sie überraschen, verhält..
Es ist ganz klar, daß diese drei Orientierungen— massnko:-
risch genommen- politisch sind, Setzen, daß die Existenz
sich gemäß einem konstruktiven Algorithmus zeigen soll
oder daß sie in einem Ganzen im Voraus in eine gewisse
Ordnung gebracht worden ist oder daß sie eine diagonale
Einzigartigkeit ist, dies orientiert das Denken gemäß einer
. Annahme, die jeweils besonders ist, über das, was ist, wobei
„was ist“ im Ausgang von der Existenzentscheidung ge-
- dacht wird. Entweder ist das, was ist, das, wovon etwas der
: Fall ist; oder das, was ist, ist ein Platz in einem Ganzen
: (Tout, mit großem T); oder das, was ist, ist das, was sich.
- dem entzieht, was ist. Man könnte sagen: eine Politik der
„empirischen Besonderheiten, eine Politik dertranszenden-
“ten Totalität, eine Politik der subtrahierten Einzigartigkei-
“ten, Wir wollen sagen, um es kurz zu machen: die parla-
“mentarischen Demokratien, Stalin und das, was sich heute
versuchsweise ankündigt, nämlich eine generische Politik,
51
eine Politik der Existenz als Entzug vom Staat oder davon,
was nur existiert, weilesnicht berechenbarist. .
Es ist herrlich, daß diese drei Orientierungen mathematisch
lesbar sind, wenn man sich nur an die Mengenlehre hält.
. Gödels Lehre von den konstruierbaren Mengen gibt der er-
sten Orientierung eine solide Grundlage; die Theorie der
großen Kardinalen, der zweiten; die Theorie der generi-
schen Mengen, der dritten.
Aber viele weitere, neuere Beispiele würden uns zeigen, wie
jedes mathematische Fortschreiten damit endet, in der
kontingenten Einzigartigkeit seiner Bewegung die drei Ori-
entierungen voızustellen. Jede reelle Bewegung wird sofort
zur Darstellung der drei Orientierungen an dem Punkt des
Seins, das hier das Denken aufruft. Jede wirkliche Bewe-
gung konfrontiert die förmliche Triplizität der Existenzent-
scheidungen.
Dieser Punkt sollte im Gedächtnis bleiben, da er von großer
Hilfe in allen konkreten Situationen ist: kein ernsthafter
Streit zwischen Denkdispositiven stellt Interpretationen
über eine von allen anerkannte Existenz gegeneinander.
Das Umgekehrte ist wahr: über die Existenz selbst wird
keine Einigung erzielt, denn hier ist es, daß die Entschei-
dung gefällt worden war. Alles Denken ist polemisch. Aber
es handelt sich keineswegs um einen Interpretationskon-
flikt. Es handelt sich um einen Konflikt der Existenzurteile.
Daher läßt kein wahrer Konflikt im Denken eine Lösung zu;
der Konsensus ist der Feind des Denkens, denn er gibt vor,
daß wir die Existenz teilen. Aber die Existenz ist eben — im
Innersten des Denkens — das Unteilbare.
Die Mathematik hat diese Tugend, keine Interpretation an-
zubieten. Das Wirkliche zeigt sich hier nicht gemäß der
Oberflächenverschiedenheit (relief) der nicht zusammen-
passenden Interpretationen. Es erweist sich als des Sinns
entkleidet. Daher kommt es, daß, wenn die Mathematik
sich zu ihrem eigenen Denken kehrt, sie nackt die Existenz-

52
konflikte darstellt, und sie veranlaßt uns, zu denken, daß je-
des Erfassen des Seins hinsichtlich der Existenz eine Ent-
scheidung voraussetzt, die ohne Garantie und ohne Willkür
entschieden das Denken orientiert.
Lautr&amonts Lob der „strengen Mathematik“ trifft das
Ziel. Was es an Strenge gibt, ist nicht so sehr der Formalis-
mus oder die Beweiskette als das Zurschaustellen einer
nackten Maxime, die man so ausdrücken könnte: dann,
wenn du entscheidest, was existiert, knüpfst du dein Den-
ken ans Sein. Aber du stehst dann, wobei es dir unbewußt
ist, unter dem Imperativ einer Orientierung,
3
Das Ereignis als Trans-Sein

Wenn man akzeptiert, daß die Mathematik das Denken des


Seins als Seins ist, das zu seinem eigenen Denken kommt,
wenn Existenzentscheidungen, die eine Orientierung vor-
schreibt, im Spiel sind, welches ist dann das eigene Feld der
Philosophie?
Gewiß, wir haben gesehen, daß ihr zukommt, die ontologi-
sche Berufung der Mathematik zu identifizieren. Abgese- -
hen von den seltenen Augenblicken einer „Krise“, denkt
Mathematik das Sein, aber sie wird nicht von dem Denken,
das sie ist, gedacht. Wir wollen sogar sagen, daß die Mathe-
matik, um in der Geschichte sich als Denken des Seins ent-
falten zu können und weil es dabei ein schwieriges Entwin-
den von der metaphysischen Macht des Einen gab, sich
ganz anders denn als Ontologie identifizieren mußte. Es
kommt also der Philosophie zu, die Gleichung „Mathematik
= Ontologie“ auszusprechen und zu legitimieren; indem'sie
dies macht, befreit sich die Philosophie selbst von ihrer
- Bürde, die anscheinend die schwerste ist: sie spricht aus,
daß es ihr nicht zukommt, das Sein als Sein zu denken, In
der Tat skandiert diese Bewegung, durch die die Philoso-
phie, indem sie ihre Bedingungen identifiziert, sich von
dem reinigt, was ihr nicht zukommt, die gesamte Ge-
schichte der Philosophie. Sie hat sich von der Physik, von
der Kosmologie, von der Politik und von vielen anderen
Dingen befreit oder entlastet. Es ist wichtig, daß sie sich von
der Ontologie stricto sensu befreit. Aber diese Aufgabe ist
komplex, denn sie impliziert einen überlegten und nicht
epistemologischen Durchgang durch die Mathematik. Zum
Beispiel habe ich in Etre et l’&venement simultan:
; > die ontologische Effizienz der Axiome der Mengentheorie
& untersucht anhand der aufeinanderfolgenden Kategorien

55
der Differenz, der Leere, des Überschusses, des Unendli-
chen, des Wesens (nature), der Ents cheidung, der Wahrheit
und des Subjekts;
> gezeigt, wie und warum das ontologische Denken sich
vollzieht, ohne sich identifizieren zu müssen;
> und auch, in der nicht vereinheitlichten Schaü, die ich
bezüglich des Schicksals der Philosophie vorschlage, die
philosophischen Zusammenhänge unter den axiomati-
schen Interpretationen untersucht: den Parmenides von
Platon über das Eine und die Differenz, Aristoteles über das
Leere, Spinoza über den Überschuß, Hegel über das Unend-
liche, Pascal über die Entscheidung, Rousseau über das Sein
der Wahrheiten usw.
Diese Arbeit ist meines Erachtens bei weitem noch nicht
abgeschlossen, Wie es vor allem seit den dreißiger Jahren
die Arbeiten von Albert Lautman gezeigt haben, kann und
soll jedes signifikative und erneuernde Fragment der wirkli-
chen Mathematik, insofern es belebende Bedingung ist,
ihre ontologische Identifikation hervorrufen. Ich habe dies
für meinen Teil erst neulich hinsichtlich des Statuts des
Zahlenbegriffs in der erneuerten Fassung, die Conway da-
von gegeben hat, und - wir werden darauf zurückkommen —
hinsichtlich der Theorie der Kategorien und der topoi un-
ternommen.
Andererseits stellt sich die weite Frage nach dem, was sich
der ontologischen Bestimmung entzieht. Die Frage nach
dem, was nicht das Sein als Sein ist. Denn das Gesetz der
Subtraktion ist unerbittlich: wenn die wirkliche Ontologie
sich als Mathematik organisiert, indem sie der Norm des
Einen aus dem Wege geht, ist es auch nötig, wenn man
nicht diese Norm global wieder einrichten will, daß es einen
Punkt gibt, an dem dieses ontologische, also mathemati-
sche Feld detotalisiert wird oder es in einer Sackgasse aus-
läuft. Diesen Punkt habe ich das Ereignis (&venement) ge-
nannt. Man kann also ebensogut sagen, daß die Philoso-

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..phie, außer daß sie eine unaufhörlich neu wiederaufzuneh-
„.mende Identifizierung der wirklichen Ontologie ist, auch
und zweifellos vor allem eine allgemeine Theorie des Ereig-
..nisses ist. Das heißt eine Theorie darüber, was sich der on-
.tologischen Subtraktion entzieht. Oder eine Theorie des
: Unmöglichen, das der Mathematik eignet.
. Man wird auch sagen, daß, insofern die Mathematik in Ge-
danken sich des Seins als solchen versichert, die Theorie
des Ereignisses die Bestimmung eines Trans-Seins anvisiert.
Aber in diesem Punkt gibt es ein einzigartiges Problem, das,
glaube ich, zum Beispiel die Abgrenzung zwischen Deleuze
und mir ausmacht. |
Die Frage istin der Tat folgende: angenommen, daß ä Er-
eignis das ist, was einem die Sicherheit gibt, daß nicht alles
mathematisierbar bist, muß man dann daraus schließen
oder nicht schließen, daß das Vielfache intrinsisch hetero-
gen ist? Denn denken, daß das Ereignis der Punkt des
Bruchs hinsichtlich des Seins — oder was ich die Struktur
des Trans-Seins nenne — ist, entbindet nicht, das Sein des
Rreignisses selbst zu denken. Das Sein des Trans-Seins. Er-
fordert dieses Sein des Ereignisses eine Theorie des Vielfa-
chen, die zu derjenigen, die das Sein als Sein begründet, he-
terogen ist? Dies ist meiner Meinung nach die Position von
Deleuze. Um die Falte des Ereignisses (pli &venementiel) zu
denken, braucht man eine ursprünglich ambivalente Theo-
: rie der Vielfältigkeiten, eine von Bergson ererbte Theorie.
. Die extensiven und numerischen Vielfältigkeiten müssen
- von den intensiven oder qualitativen Vielfältigkeiten unter-
- schieden werden. Ein Ereignis ist immer der Abstand zweier
heterogener Vielfältigkeiten. Was vorkommt, macht, wenn
; man so sagen kann, ‚eine Falte zwischen dem extensiven
: Ausbreiten und dem intensiven Kontinuierlichen.
: Ich meinesteils halte dagegen die Position aufrecht, daß die
: Vielfältigkeit axiomatisch homogen ist. Es ist also nötig, daß
= ich das Sein des Ereignisses begründe sowohl als Bruch des
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Gesetzes der ausgebreiteten Vielfältigkeiten als auch als mit
diesem Gesetz homogen. Dies vollzieht sich durch ein Aus-
bleiben des Axioms: ein Ereignis ist nicht anderes als eine
Menge oder ein Vielfaches, aber sein Auftreten, seine Sup-
plementierung entziehen dem Vielfachen eines der Axiome,
namentlich das Fundierungsaxiom.
Was wörtlich genommen bedeutet, daß ein Ereignis eigent-
lich ein in-fundiertes Vielfaches (multiple in-fond6) ist, Es
ist dieses Ausbleiben der Grundlage, der aus ihm eine reine,
zufällige Ergänzung zur Vielfach-Situation, für die es ein Er-
eignis ist, macht.
Wenn die Sachen so sind, dann ist die allgemeine Frage, die
zwischen Deleuze und mir über das Statut des Ereignisses
angesichts der Ontologie des Vielfachen und darüber, wie
die Potenz des Einen nicht wieder am Punkt, wo das Gesetz
des Vielfachen versagt, eingeführt wird, meiner Meinung
nach die Hauptfrage der ganzen zeitgenössischen Philoso-
phie. Sie ist übrigens bei Heidegger im Übergehen vom Sein
zum. Ereignis [beide kursiv gesetzten Wörter auf deutsch im
Original] vorgebildet; oder, um ein entgegengesetztes Regi-
ster zu wählen, ist sie auch bei Lacan ganz als Eklipse der
Wahrheit zwischen einem vorausgesetzten Wissen und
einem übertragbaren Wissen, zwischen der Interpretation
und dem mathematischen Punkt in das Denken des analy-
tischen Aktes investiert. Aber dies ist auch ein entscheiden-
des Problem für Nietzsche: wenn es sich darum handelt, die
Geschichte der Welt entzwei zu brechen, welches ist dann
im absolut Behaupteten des Lebens das denkbare Prinzip
einer solchen Entzweiung. Und es ist ebenso das zentrale
Problem für Wittgenstein: wie öffnet uns der Akt einen
schweigenden Zugang zum „mystischen Element“, das
heißt zur Ethik und zur Ästhetik, wenn der Sinn immer in
einer Proposition gefangen ist?
Auf alle Fälle ist die latente Matrix des Problems die fol-
gende: wenn man unter „Philosophie“ zugleich die Recht-

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. sprechung des Einen und die konditionierte Subtraktion
: von dieser Rechtsprechung verstehen muß, wie kann dann
die Philosophie erfassen, was vorkommt? Was im Denken
vorkommt? Sie, die Philosophie, wird immer geteilt sein
zwischen dem Wiedererkennen des Ereignisses als über-
zähliges Kommen des Einen und dem Denken seines Seins
als einfache Ausdehnung des Vielfachen. Ist die Wahrheit
das, was zum Sein kommt, oder das, was das Sein entfaltet
(deplie)? Wir haben das Problem ererbt. Die ganze Frage
besteht darin, so weit wie möglich und unter den innovativ-
sten Bedingungen des Denkens festzuhalten, daß die Wahr-
heit selbst nur eine Vielfältigkeit ist. Im doppelten Sinn ih-
. res Kommens (eine Wahrheit läßt ein typisches Vielfaches,
. eine generische Singularität aufkommen) und ihres Seins
(es gibt nicht die Wahrheit, es gibt nur zerstreute und nicht
‘, totalisierbare Wahrheiten).
" Dies erfordert einen ersten radikalen Gestus, worin sich die
> moderne Philosophie wiedererkennt: die Prüfung der
"Wahrheiten der einfachen Forım des Urteils entziehen. Dies
= will je heißen: eine Ontologie der Vielfältigkeiten be-
„schließen. Infolgedessen Lukrez treu bleiben, sich sagen,
daß jeder Augenblick derjenige ist, wo
=. Von allen Seiten sich ein unendlicher Raum’öffnet,
= Wenn die Atome in unzähliger Zahl und ohne Grenzen.
Inalle Richtungen und in einer ewigen Bewegung°
herumschwitten.

Aber war Deleuze nicht auch, trotz seiner stoischen Inkur-


':sionen, ein Getreuer des Lukrez? Ich würde gern auf das
- zurückkommen, was ihn das Wort „Leben“ als Hauptname
.:des Seins auswählen ließ, jedenfalls im Gegensatz zur ma-
ı ‚bematischen Ontologie.

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