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Die Yacht des Verrats

erzählt von Ben Nevis

Kosmos
Umschlagillustration von Andreas Ruch, Düsseldorf
Umschlaggestaltung von der Peter Schmidt Group, Hamburg,
auf der Grundlage der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941–24. Dezember 2009)

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© 2022, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG,


Pfizerstraße 5–7, 70184 Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

ISBN 978-3-440-50509-0
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Überraschung!
»Kein Laut, Bob!«
Bob Andrews fuhr herum und erschrak. Das war … Justus! Wieso war
der plötzlich hier draußen? Gerade eben hatten sie beide doch noch
zusammen mit Peter die Zentrale aufgeräumt. Ihr Detektivbüro in dem alten
Campingwagen, der sich unter allerhand Schrott und Gerümpel des
Gebrauchtwarenhandels von Justus’ Onkel versteckte, hatte es nötig gehabt.
Regelkonforme Aussonderung von Schriftgut hatte Justus das genannt,
sich aber eigentlich nur ein Sandwich nach dem anderen reingeschoben.
Während Peter und Bob gearbeitet hatten.
Vor einer Minute war Bob kurz durch den Geheimgang in die
Freiluftwerkstatt gekrochen. Er wollte nach einem Schraubenzieher sehen,
da sich ein Regal gelöst hatte. Und er war sich sicher, dass keiner seiner
Detektivkollegen ihm gefolgt war.
Justus zog ihn nun sanft in eine dunklere Ecke. Perplex öffnete Bob den
Mund, doch kein Ton kam heraus. Der dritte Detektiv konnte nicht anders,
als seinen Freund anzustarren wie einen Außerirdischen, der sich
ausgerechnet auf Onkel Titus’ Schrottplatz verirrt hatte. Langsam fielen
Bob weitere Ungereimtheiten auf. Wie hatte sich der Erste Detektiv bloß so
schnell umziehen können? Statt ausgebeulter Jeans trug er plötzlich eine gut
sitzende Designerhose und darüber hing lässig ein edles schwarzes Hemd
mit einem fein gearbeiteten silbernen Muster um den Kragen herum. Besaß
Justus überhaupt solche Klamotten?
Und die Frisur! Täuschte sich Bob oder waren die Haare kürzer?
Natürlich waren sie es! Und – sehr untypisch für Justus – ganz modisch
geschnitten.
Bobs Blick sprang vom Gesicht weiter nach unten, über den edlen
Lederrucksack, den sein Gegenüber locker um die Schulter gehängt hatte,
bis hin zu den teuren Sportschuhen.
Der seltsame Justus legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Psst.«
Bob schüttelte sich. Hatte er Fieber? Träumte er? Das konnte doch alles
nicht wahr sein!
»Es soll keiner wissen, dass ich hier bin«, setzte sein Gegenüber leise
hinzu und lächelte.
Dieser merkwürdige Akzent, mit dem er sprach.
Da begriff Bob. »Ian.«
Der andere Junge nickte langsam.
»Ian Carew«, sagte Bob. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Du bist
es! Justus’ Doppelgänger. Meine Güte, das nenne ich eine Überraschung.«
Der dritte Detektiv konnte es kaum fassen. Dieser Junge sah Justus so zum
Verwechseln ähnlich, dass man wirklich sehr genau hinschauen musste, um
die Unterschiede zu erkennen.
»Leise!« Der Junge trat einen Schritt auf Bob zu. »Ich bin zurück«, sagte
er, »tut mir leid für den Schreck. Aber ich fürchte, ich brauche eure Hilfe.
Ist Justus da?«
Natürlich Justus. Immer wieder Justus. Justus Jonas, der die drei ???
anführte und zusammen mit Peter Shaw und Bob Andrews von Erfolg zu
Erfolg führte. Aber eben zusammen mit Peter und mit ihm. Als ob sie nicht
auch helfen könnten. Andererseits war Ians Fixierung auf Justus
verständlich, wenn sie schon wie Zwillinge aussahen. Und es war auch ein
gefährlicher Fall gewesen, damals, der Ian und Justus fortan auf immer
verband.
Ein Lächeln erschien auf Bobs Gesicht. »Natürlich helfen wir dir. Egal,
um was es geht.« Er mochte Ian, der der Sohn des Premierministers des
afrikanischen Staats Nanda war und offenbar ein Händchen dafür hatte, in
Schwierigkeiten zu geraten. Äußerlich hatte er sich nur wenig verändert.
Der etwas erwachsenere Zug um den Mund fiel Bob auf und natürlich die
schicken Klamotten. »Am besten gehen wir rein zu Peter und Justus. Sie
sind in der Zentrale. Die kennst du ja sicher noch vom letzten Mal. Es hat
sich nichts verändert. Dort kannst du uns alles in Ruhe erzählen.«
Ian nickte und sah sich um. »Aber bitte den Weg durch den Geheimgang.
Nach draußen auf den Hof möchte ich nicht. Ich werde verfolgt.«
Bob nickte und öffnete das Eisengitter an der Werkbank, das als Tor zu
Tunnel II fungierte, durch den er auch eben hergekommen war. Er grinste.
»Deine feine Hose wird allerdings ein paar Flecken abbekommen.«
»Du glaubst nicht, wie egal mir das gerade ist«, murmelte Ian dankbar,
bückte sich und kroch in den Tunnel hinein.

»Wo bleibt Bob denn?« Peter drehte den Kopf und warf einen verzweifelten
Blick auf die Bodenklappe, durch die sein Freund doch jeden Moment
auftauchen musste. Sein Arm tat langsam weh. Lange konnte er das
Regalbrett nicht mehr halten, zumal das Gewicht der Bücher schwer auf
seiner Schulter lastete.
Justus verdrückte sein letztes Sandwich. Er klatschte in die Hände und
Brotkrumen rieselten zu Boden. »Soll ich dich mal ablösen?«, fragte er
scheinheilig.
»Toll, dass du auf so eine abgefahrene Idee kommst, wie mir zu helfen.«
Lächelnd gesellte sich Justus zu Peter und hob die Hand, um das Brett
abzustützen. »Erst stärken, dann werken.«
In dem Augenblick öffnete sich hinter ihrem Rücken die Bodenklappe.
»Wird auch Zeit, Bob!«, stöhnte Peter, ohne hinzuschauen.
»Hallo, ihr zwei«, sagte Ian und kroch aus dem Loch.
Justus’ und Peters Köpfe flogen gleichzeitig herum. Hinter ihnen krachte
das Brett herunter und eine Flut von Büchern ergoss sich über den Boden.
»Ian!«, rief Justus überrascht aus.
Sein Doppelgänger lächelte verlegen, legte den Rucksack ab und half
Bob, in die Zentrale zu klettern. »Es tut mir leid, dass ich euch auf diese
Weise überrumpeln muss«, sagte er, »meinen Besuch hatte ich mir
eigentlich anders vorgestellt.«
»Ian wird verfolgt«, erklärte Bob und rieb sich die Hände an der Jeans
ab.
»Von wem?«, fragte Justus.
»Ich weiß nicht, von wem«, sagte Ian. »Heute Morgen wurde in mein
Hotelzimmer eingebrochen, dann bin ich …«
»Hast du die Polizei verständigt?«, unterbrach Justus.
»Nein. Ich weiß nicht, ob das so viel …«
»Warum bist du überhaupt hier in Amerika?«, schoss Peter dazwischen.
»Ich komme im Auftrag meines Landes und ich soll …«
»Du arbeitest für den Staat Nanda?«, fragte Bob erstaunt. »Du bist doch
gerade mal so alt wie wir und …«
»Ja. Aushilfsweise. Aber lasst mich doch einfach mal zu Wort kommen.«
Justus nickte einsichtig. »Du hast recht. Setzen wir uns und du erzählst
alles von Anfang an.«
Tokoloshe
Sie ließen die Bücher, wo sie waren, und hockten sich auf die ausrangierten
Sessel und Stühle, die die drei ??? im Laufe der Zeit in die Zentrale bugsiert
hatten.
Alle, bis auf Bob. Der stellte sich an das Periskop – eine selbst gebaute
Beobachtungsanlage, durch die man wie in einem U-Boot die nähere
Umgebung überblicken konnte – und drehte es in Richtung Straße. »Weißt
du wirklich gar nicht, von wem du verfolgt wirst?«, fragte er.
»Ich glaube, es ist eine Frau«, antwortete Ian. »Eine Frau mit einem
kleinen weißen Honda.«
»Hm. Ich sehe vor dem Tor nur andere Automarken und -farben.« Bob
wendete das Periskop in Richtung Schrottplatz. Er entdeckte Justus’ Tante
Mathilda, die sich offenbar mit jemandem unterhielt. Dummerweise war
diese Person durch eine Wellblechwand verdeckt. Aber vielleicht hatte er
sich auch getäuscht. In dem Moment wandte sich Tante Mathilda ab und
schritt gemächlich auf das Wohnhaus zu, wobei sie es sich nicht nehmen
ließ, in aller Ruhe hier und da ein Ausstellungsstück zurechtzurücken, wie
es so ihre Art war. Das sah auf jeden Fall nicht nach etwas
Ungewöhnlichem aus. Bob gesellte sich zu den anderen.
»Fangen wir doch weiter vorne an«, sagte Justus. »Ist dein Vater immer
noch Premierminister in Nanda?«
»Nein, er hat das Amt wie versprochen an eine schwarze
Regierungschefin abgegeben und das Außenministerium übernommen«,
sagte Ian. »Eigentlich hätte er deshalb nun nach Los Angeles reisen sollen.
Doch letzte Woche wurde er bei einem Hubschrauberunfall verletzt.«
»Was war das für ein Unfall?«, wollte Justus wissen.
»Ein Problem beim Start. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert.«
»Und da hat er dich gebeten, die Reise zu unternehmen?«, fragte Peter
etwas ungläubig. »Nicht einen seiner Mitarbeiter?«
»Es ist ein Routinebesuch bei unserer Auslandsvertretung. Nichts
Besonderes. Zu diesem Anlass soll eine Rede gehalten, ein Foto übergeben
und ein Orden verliehen werden. Als Geschenk habe ich noch einen kleinen
weißen Elefanten aus Marmor dabei. Das Treffen würde auch jeder von
euch hinbekommen, genauso wie ich.« Ian machte eine Pause und Justus
spürte, dass das noch nicht alles war. Geduldig wartete er ab.
»Aber ich muss euch noch etwas sagen«, fügte Ian dann tatsächlich
hinzu. »Im Krankenhaus konnte mein Vater ein heimlich geführtes
Gespräch belauschen.«
Die drei ??? blickten den Jungen gespannt an.
»Es ging um diese Reise«, fuhr Ian fort. »Zwei Personen, die mein Vater
an den Stimmen nicht erkennen konnte, kamen in sein Zimmer. Wegen des
Unfalls hatte mein Vater die Augen verbunden und er konnte sich auch
nicht gut bewegen. Deshalb dachten die beiden vermutlich, er sei noch von
der Operation betäubt. Sie traten kurz auf den Flur hinaus, um sich zu
unterhalten, doch die Tür schloss wohl nicht richtig. So konnte mein Vater
das meiste verstehen. Es ging darum, dass hier in L.A. heimlich der Stern
überbracht werden soll. Also so, dass mein Vater es nicht bemerkt.«
»Der Stern?«, fragte Bob dazwischen. »Was kann damit gemeint sein?«
Ian zuckte die Schultern. »Mein Vater hat nur eine Vermutung. Es könnte
sich auf die Fotografie beziehen, die er übergeben sollte. Es ist ein
offizielles Bild, das in unserer Vertretung aufgehängt werden wird. Mein
Vater ist darauf abgebildet. Er sitzt an einem Schreibtisch, auf dem eine
Elfenbeinstatue steht. Eine Frau mit einem Stern auf der Stirn.«
»Hat diese Figur eine besondere Bedeutung?«, fragte Justus.
»Es ist Kunsthandwerk aus Nanda«, antwortete Ian. »Mein Vater setzt
sich sehr für die traditionellen Kulturen unserer Heimat ein, für die
indigenen Völker und ihre Lebensräume. Deshalb hat er symbolisch diese
Figur auf seinem Schreibtisch stehen. Sie hat starke Aussagekraft, ist aber
ansonsten nicht ausgesprochen wertvoll. Außerdem steht die Figur nach wie
vor an ihrem Ort. Ich habe sie noch unmittelbar vor meiner Abreise mit
eigenen Augen gesehen. Und wenn sie jemand danach ins Gepäck
geschmuggelt hätte, wäre es mir bestimmt aufgefallen. Ganz so klein ist sie
ja nicht.«
»Also geht es um das Foto«, schloss Justus. »Zumindest müssen wir es in
Betracht ziehen. Weißt du den genauen Wortlaut des Gesprächs?«
Ian nickte. »Mehr oder weniger. Einer der Besucher fragte wohl, ob die
heimliche Übergabe des Sterns nun gefährdet sei, da die Reise auszufallen
drohe. Und ob man nicht vorschlagen solle, dass er oder der andere
Anwesende stattdessen nach Los Angeles fliegt.«
»Und dein Vater kannte die Stimmen nicht?«
»Sie haben geflüstert. Da kann man Stimmen nur schwer zuordnen. Er
tippt auf zwei Männer. Jedenfalls lehnte die zweite Person den Vorschlag ab
mit dem Hinweis, dass der Verdacht sofort auf sie fallen würde, falls die
Sache auffliegt. Und dann sei Tokoloshe als Ganzes gefährdet.«
»Tokoloshe?«, fragte Bob nach.
»Ja«, antwortete Ian, »das Wort hat mein Vater ziemlich deutlich gehört.«
»Und was bedeutet es?«, fragte Peter.
Ian lächelte. »Justus?«
Doch der Erste Detektiv runzelte nur die Stirn. »Ich kann ja nicht alles
wissen«, grummelte er.
»Schon gut. In unserer Mythologie bezeichnet Tokoloshe einen kleinen
bösen Geist, der den Menschen Schlechtes will. Nur ein Schamane kann ihn
vertreiben.«
»Hier geht es um böse Geister?«, fragte Peter unbehaglich.
»Ich denke nicht«, erwiderte Ian. »In Nanda gibt es auch einen
Geheimbund, der sich Tokoloshe nennt. Sein Ziel ist ein Umsturz im Land.
Den Leuten gefällt es nicht, wie der Staat sich entwickelt hat.«
»Das klingt nicht gut für deinen Vater«, stimmte Justus zu. »Er war ja
maßgeblich an den Veränderungen beteiligt. Und die Regierung hat keine
Ahnung, wer sich dahinter verbirgt?«
Ian schüttelte den Kopf. »Wir vermuten aber, dass Menschen aus dem
Umfeld meines Vaters darin verwickelt sind, genauso wie eine Person aus
unserer diplomatischen Vertretung in Los Angeles. Wir wissen nur nicht,
wer. Wir können niemandem trauen. Deshalb hatte mein Vater dann die
Idee, mich fahren zu lassen. Ich soll aber keinem von der Sache erzählen
und nur aufpassen, ob mir etwas auffällt …«
Justus stieß scharf die Luft aus und blickte triumphierend zu Peter und
Bob. »Das klingt nach einem neuen Fall! Und das Foto mit der Frauenfigur
und dem Stern hast du in deinem Rucksack?«
Ian schüttelte den Kopf. »Das ist es ja gerade. Es wurde mir heute
Morgen im Hotel gestohlen!«
Ein seltsamer Einbruch
Spät am Abend zuvor, so berichtete Ian den drei ???, war er in Los Angeles
gelandet. Ein Fahrer aus der Vertretung hatte ihn in ein Hotel in der Nähe
des Flughafens gebracht. Der Einbruch war dann heute Morgen geschehen,
während sich Ian im Pool aufgehalten hatte. »Als ich vom Schwimmen
zurückkam, war alles durchwühlt. Ich war furchtbar erschrocken und habe
sofort nach den Wertsachen geschaut. Doch seltsamerweise war mein
Geldbeutel noch da, auch meine teure Uhr, es fehlte nichts – bis auf die
Fotografie!«
»Hattest du alle deine Sachen im Zimmer liegen?«, fragte Justus nach.
»Nein, nicht alles. Meinen Rucksack hatte ich mit in den Spa-Bereich
genommen. Da waren noch ein paar Dinge drin, unter anderem mein Handy
und der kleine weiße Elefant.«
»Das Türschloss?«, fragte Justus.
»Unversehrt.«
»Und warum hast du die Polizei nicht informiert?«
Ian zog die Augenbraue hoch. »Ich glaube, die kann mir dabei nicht
helfen. Wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl gibt und
dem, was mein Vater gehört hat, dann lasse ich die amerikanische Polizei
lieber außen vor. Sie wird nur die Pferde scheu machen und ich werde keine
Chance mehr haben, die Wahrheit herauszufinden.«
Nachdenklich zupfte Justus an seiner Unterlippe. »Dass es einen
Zusammenhang zwischen dem belauschten Gespräch und dem Diebstahl
gibt, liegt wohl auf der Hand.«
»Also bist du zu uns gekommen«, sagte Peter.
»Ja. Ihr seid Detektive und ihr habt damals einen ziemlich gefährlichen
Fall gelöst! Ich wollte euch sowieso überraschen, aber erst nach dem
offiziellen Termin heute Abend. Es ist eine Einladung auf eine Yacht. Ich
darf danach noch ein paar Tage hierbleiben, die Schule besuchen, auf der
ich länger war, und auch ein paar Freunde. Aber nach dem Diebstahl habe
ich mir ein Taxi genommen und mich gleich herfahren lassen.«
Peter und Bob warfen sich einen Blick zu. Von einem Hotel am
Flughafen nach Rocky Beach – das war eine lange Taxifahrt. So etwas
konnten sie sich nicht leisten.
Ian bemerkte die Blicke und interpretierte sie richtig. »Es war ein
Notfall! Normalerweise lasse ich den Sohn des Außenministers nicht so
heraushängen. Das könnt ihr mir glauben.«
»Und dabei hast du bemerkt, dass du verfolgt wurdest?«, fragte Justus
nach.
»Ja. Von einem weißen Honda. Die Sonnenblende war heruntergeklappt.
Ich glaube, es war eine Frau.«
»Dann wird die Verfolgerin vermutlich noch draußen sein und auf dich
warten«, murmelte Justus und überlegte. Er sah Ian an. Lange und ruhig.
»Nein«, sagte Peter plötzlich. »Du gehst da nicht raus, Just! Ihr wurdet
schon einmal verwechselt.«
»Kannst du Gedanken lesen?«, fragte der Erste Detektiv. »Das ist doch
perfekt! Wir stellen der Person eine Falle. Ohne zu riskieren, dass sie Ian in
die Finger bekommt. Statt seiner werde ich sichtbar werden.«
»Und was hast du vor?«, fragte Ian.
»Du bleibst hier«, entschied Justus. »Hier bist du in Sicherheit. Du
kennst dich nicht gut aus in Rocky Beach. Und ich kann zur Not immer
noch beweisen, dass ich nicht Ian Carew bin. Außerdem werde ich Peter
und Bob als Aufpasser haben.«
»Wir sind deine … Aufpasser?«, fragte Bob.
»Ja. Ihr passt auf mich auf. Damit mir nichts passiert.«
»Justus! Das ist viel zu gefährlich.«
»Los, Ian, tauschen wir die Kleidung.«
Unentschlossen sah Ian Carew von einem zum anderen. »Aber ich könnte
doch auch den Köder spielen«, sagte er mutig. »Solange ihr auf mich
aufpasst.«
»Erst, wenn wir mehr über die Hintergründe herausbekommen haben.
Jemand hat dir zwar das Bild gestohlen, aber du musst noch etwas anderes
an dir tragen oder etwas wissen, was diesen Jemand interessiert und was er
bisher noch nicht bekommen hat. Das müssen wir schützen.«
Nicht ganz überzeugt begann Ian, sich seiner Klamotten zu entledigen.
Justus tat es ihm gleich. Dann zogen sie jeweils die Sachen des anderen an.
»Unglaublich«, sagte Peter, »plötzlich wirkst du wie Ian.«
»Kleider machen eben Leute«, verkündete Justus die alte Wahrheit.
»Frisuren aber auch«, sagte Bob. »Deine Haare sind zu lang.« Er holte
eine Baseballkappe vom Kleiderständer, zog sie Justus auf und fummelte
notdürftig die Haarsträhnen drunter. »So. Die Kappe kannst du ja hier auf
dem Wertstoffhof gefunden und eingekauft haben.«
»Mit dem Aufdruck Welcome to California?« Ian bedachte es mit einem
Lächeln. »Schuhe auch?«, fragte er.
Justus nickte. »Klar! Was hast du in dem Rucksack?«
»Das Manuskript für meine Rede, den Orden und den Elefanten,
außerdem Handy, Geld, Reisedokumente. Und meine Sonnenbrille.«
»Schütte alles in die Schreibtischschublade«, befahl Justus. »Die Brille
kannst du mir geben. Bestimmt ein Designerteil.«
Als Ian seine Sachen deponiert hatte, schnappte sich Justus wahllos drei
Taschenbücher, die noch vom Regalabsturz auf dem Boden lagen, und
steckte sie zusammen mit einer leeren Limodose in den Rucksack. »Und
nun passt bitte auf, Folgendes ist mein Plan!«

Einige Augenblicke später stiegen Peter und Bob aus dem Kalten Tor
hinaus auf den Schrottplatz. Dieser Geheimgang bestand aus einem alten
Kühlschrank, der statt einer Rückwand einen kleinen Wellblechtunnel mit
Zugang zur Zentrale besaß und durch den man wie von Zauberhand
plötzlich auf dem Schrottplatz erscheinen konnte.
»Die Luft ist rein«, sagte Bob, der nicht nur nach fremden Personen,
sondern auch nach Tante Mathilda Ausschau gehalten hatte, denn sie und
ihre unvermittelten Arbeitsaufträge konnten die drei ??? jetzt wirklich nicht
gebrauchen. Schnell winkte er Justus heraus.
Etwas umständlicher als üblich kletterte der Erste Detektiv ans
Tageslicht, so ganz wohl zu fühlen schien er sich noch nicht in seinen neuen
Klamotten.
Außer ihnen war der Hof menschenleer.
»Also wie besprochen«, sagte Justus und streckte sich. »Du nimmst das
Fahrrad, Peter, und Bob, du dein Auto. Ich warte, bis ihr startklar seid.«
Bobs gelber VW Käfer parkte außerhalb des Grundstücks und der dritte
Detektiv wollte sich eben auf den Weg machen, als plötzlich Tante Mathilda
um die Ecke schoss.
»Da seid ihr ja! Ich habe euch schon gesucht.«
Reaktionsschnell hatte sich Justus abgewendet und fuhr mit dem Finger
prüfend über die Kanten das Kühlschranks, als wollte er ihn kaufen. In den
Klamotten wollte er nicht erkannt werden. Seine Tante würde dann
komplizierte Fragen stellen, aus denen er sich nur schwer würde
herauswinden können.
»Der ist unverkäuflich«, rief Tante Mathilda ihm zu. »Und wer sind Sie
überhaupt? Es wäre höflich, wenn Sie mir nicht den Rücken zuwenden
würden.«
»Äh, das ist ein Freund«, sagte Bob, »und wir müssen gleich los!« Das
war ein zum Scheitern verurteilter Versuch. Der dritte Detektiv wusste es
schon, während er noch sprach.
»Umdrehen, junger Mann«, befahl Mrs Jonas.
Also gut. Justus tat ihr den Gefallen. »Einen wunderschönen guten
Morgen, Tante Mathilda!«
»Justus!«
Pause.
»Wie siehst du denn aus?«
Pause.
»Wo hast du all die teuren Sachen her?«
»Gefalle ich dir nicht?« Justus hob arrogant den Kopf, zog affektiert die
Luft durch die Nase und drückte mit dem Zeigefinger die Brille ein paar
Millimeter hoch. Dann senkte er den Kopf und schien wieder der alte.
Tante Mathildas Gesichtszüge wurden weicher. »Doch schon, eigentlich
sogar sehr gut, ich bin wirklich überrascht zu sehen, wie gut du aussehen
kannst. Nicht, dass du sonst …«
»Es ist nur eine Wette«, zerstörte Justus alle aufkeimenden Hoffnungen
seiner Tante auf einen aufpolierten Ziehsohn, mit dem man in der
Nachbarschaft angeben konnte. »Es geht darum, ob man mich auch in
schicken Kleidern erkennt.«
»Und habe ich die Wette gewonnen?« Tante Mathilda legte den Kopf
schief. »Was bekomme ich? Einmal Aufräumen gratis vielleicht?«
»Äh, Mrs Jonas, war da nicht vorhin Kundschaft auf dem Hof?«,
versuchte Bob vom Thema abzulenken.
»Kundschaft? Meinst du diese seltsame Frau? Ach … um die geht es?«
Tante Mathilda verzog das Gesicht. »Hätte ich mir ja denken können, dass
wieder so abstruse Dinge dahinterstecken. Eine sehr merkwürdige Dame.«
»Kannst du sie näher beschreiben, Tante Mathilda?«
»Oh ja! Sie hatte ein altertümlich wirkendes kurzärmeliges weißes
Hochzeitskleid an, mit vielen aufgesetzten Stoffelementen. So eins hatten
wir hier noch nie, Justus! Und um den Kopf herum trug sie ein gewickeltes
Tuch, ähnlich wie ein kleiner Turban. Auch in Weiß. Und die langen Ketten
aus bunten Röhrchen haben mich an Schmuck aus Afrika erinnert. Ihr Blick
war furchterregend. Der hat mich fast durchbohrt.«
»Jung?«
»Nein, schon etwas älter. Sie wollte wissen, ob ich hier einen Teenager
gesehen hätte, mit schwarzem Hemd. Ich habe ihr gesagt, dass mir niemand
aufgefallen sei. Sie hat mich noch ein paar Sekunden lang angestarrt, dann
ist sie zum Glück wieder gegangen.« Mathilda Jonas stockte und ihr Blick
blieb an Justus’ dunklem Hemd kleben. »Aber du hast ja jetzt ein schwarzes
…«
»Danke, Tante«, sagte Justus schnell, »wir müssen los.«
»Aber legt euch nicht mit dieser Frau an. Versprochen?«
»Du weißt doch, wie vorsichtig wir immer sind.«
»Eben!« Tante Mathilda holte tief Luft, drehte sich um und lief, ohne sich
noch einmal umzuwenden, zum Haus.
Die Rechnung geht nicht auf
Noch in der Zentrale hatte Justus die Bestandteile der Geheimfunkanlage
verteilt: kleine Minikopfhörer, an die jeweils ein Sende- und Empfangsgerät
angeschlossen war, das aussah wie ein winziges Smartphone. So konnten
sie die ganze Zeit über in Verbindung bleiben.
Auf diese Weise ausgestattet verließ als Erster Bob das Gelände und
steuerte auf seinen VW zu, der einige Meter vom Tor entfernt geparkt war.
Peter schwang sich schon auf sein Fahrrad, das neben dem Einfahrtstor des
Wertstoffhandels abgestellt war, fuhr aber noch nicht los.
Denn nun trat Justus auf die Sunrise Road und sah sich vorsichtig um.
Weit entfernt, noch hinter Bobs VW, parkte ein weißer Honda, das Heck
ihm zugewandt. Justus hatte das vermutet. Die Verfolgerin hatte Ian in das
Gebrauchtwarencenter verschwinden sehen, war noch neugierig am
Einfahrtstor vorbeigefahren und hatte dann einige Meter weiter eingeparkt.
Kein Wunder, dass Bob das Auto durch das Periskop nicht entdeckt hatte,
denn der Parkplatz lag im toten Winkel. Justus tat so, als habe er den Wagen
nicht bemerkt, und lief langsam die Straße entlang, auf den weißen Honda
zu.
»Hört ihr mich, Peter und Bob?«
»Alles klar«, meldete sich Bob. »Auf Position.«
»Peter?«
»Ich bin am Tor und kann jeden Moment losfahren.«
Justus ging weiter, passierte Bobs VW. Der dritte Detektiv hatte die
Motorhaube hochgeklappt und tat so, als würde er dort einen Fehler
beheben.
»Sieht sehr authentisch aus«, lobte Justus im Vorbeigehen.
»Wenn du damit glaubwürdig meinst, bin ich bei dir«, gab Bob zurück,
ohne vom Motor aufzublicken. »Da war nämlich wirklich ein Marder drin.
Hoffe, der hat nichts kaputt gebissen. Ich lasse gleich mal den Motor an.«
Noch vier weitere Autos, dann war Justus beim Honda.
Sein Plan war, die Frau darin zu überraschen. Gleichzeitig sollten Bob
und Peter ihm zu Hilfe kommen. Dann würden sie die Frau in die Zange
nehmen und sie über ihre Absichten ausquetschen.
Noch zwei Autos.
Doch warum war von der Frau nichts zu sehen? Beobachtete sie nicht
durch die Heckscheibe den Eingang des Wertstoffhofs? Justus ließ den
Blick schweifen. Schräg gegenüber durchwühlte ein Stadtstreicher, den er
hier schon öfter gesehen hatte, eine Mülltonne. Ein Stück weiter hielt ein
Auto an und Kinder sprangen heraus. Nichts Auffälliges.
Nun war Justus direkt neben dem Honda. Er war menschenleer.
»Ausgeflogen«, rief Justus ins Mikrofon. »Sie ist nicht da.« Er merkte sich
das Kennzeichen des Wagens und lief unauffällig weiter. »Seht ihr sie
irgendwo?«
»Nein«, sagten Peter und Bob gleichzeitig.
Das gefiel Justus nicht. Wo war sie nur? Er wechselte den Rucksack auf
die andere Schulterseite, überquerte eine Straße und lief immer weiter aus
Rocky Beach hinaus. »Peter«, gab Justus durch, »kannst du mit dem
Fahrrad die Straße hoch- und runterfahren? Vielleicht entdeckst du sie.«
»Kein Problem.«
»Bei dir immer noch nichts, Bob?«
»Nein«, vermeldete Bob. »Außerdem springt tatsächlich mein Käfer
nicht an. Und ich kann dich nicht mehr sehen, Just. Du bist zu weit weg.
Willst du nicht besser umdrehen?«
»Ich bin abgebogen«, sagte Justus. »Ich drehe einen Halbkreis und
komme von hinten zurück.«
Bob war nicht begeistert. »Hoffentlich passiert dir nichts.«
»Peter ist ja auch noch da. Zweiter, am besten, du fährst … Verdammt!«
»Was ist, Just?«
»Da ist sie!«
Bob, der gerade auf dem Fahrersitz saß und den Anlasser betätigte, hörte
durch den Ohrhörer quietschende Reifen und ein scharfes Bremsen.
Außerdem Justus’ hechelnden Atem. Kein Zweifel: Er rannte.
»Sie … verfolgt mich. Ich glaube … wir waren … am falschen Honda!«
Dann brach der Ton ab. Wahrscheinlich hatte sich das Kabel aus dem
Sender gelöst. Hoffentlich …
Bob wollte aussteigen, doch gerade noch rechtzeitig zog er die Fahrertür
wieder zu. Mit Höchsttempo kam Peter die Straße entlanggeschossen und
wäre fast mit dem Fahrrad gegen die Tür geprallt. Als Peter vorbei war,
sprang Bob sofort aus dem Wagen und spurtete los.

Direkt vor einem verlassenen Grundstück schnitt der weiße Honda Justus
den Weg ab. Sofort änderte der Erste Detektiv die Richtung und rannte auf
das Gelände. Einige Meter entfernt stand ein verfallenes Haus, das Justus
seit Langem kannte und in dem er sich perfekt verstecken konnte.
Der Wagen setzte zurück und fuhr ihm ein Stück weit nach, bis er auf der
Wiese zum Stehen kam. Die Tür ging auf. Eine Frau in einem weißen Kleid
sprang heraus. »So warte doch, Ian, ich tue dir nichts!«
Justus hatte die halb vermoderte Tür erreicht, aber nun zögerte er. Zur
Not würde er es mit der Frau aufnehmen können. Peter und Bob waren
gleich da. Er drehte sich um.
»Ian. Gut, dass ich dich endlich erwische.« Langsam schritt sie näher.
Die Frau war älter, als Justus nach Tante Mathildas Beschreibung gedacht
hatte. Vielleicht um die sechzig. Doch sie wirkte ausgesprochen sportlich.
Schlank, beweglich. Wohl leicht zu unterschätzen. Aus ihrem faltigen
Gesicht taxierten Justus zwei wachsame Augen. Die Frau hatte einen
messerscharfen Blick.
Doch den besaß Justus auch. »Wer sind Sie?«
»Man nennt mich Mambo Mawu.« Sie sprach ein paar Worte in einer
afrikanischen Sprache und nickte dem Ersten Detektiv auffordernd zu.
Nun galt es, schlagfertig zu sein. »Sprechen Sie Englisch mit mir«, sagte
Justus und bemühte sich, den Dialekt von Ian zu treffen, »das ist schließlich
ebenso unsere Landessprache. Sind Sie es gewesen, die heute Morgen in
mein Hotelzimmer eingebrochen ist?«
»Warum Englisch?«, fragte sie skeptisch, während sie weiter näher kam,
und fügte in einem säuselnden Ton hinzu: »Es gibt viele böse Menschen,
nicht wahr? Ich muss mich wappnen.«
»Wogegen?«
Sie antwortete etwas in der fremden Sprache und fixierte den Ersten
Detektiv prüfend.
Justus wich ihrem Blick aus. Auf der Straße sauste ein Fahrrad vorbei.
Peter. Mist. Er hatte die Einfahrt übersehen.
»Gibst du sie mir nun?«
Justus schluckte. Was meinte diese Frau? Hatte sie ihm das eben in der
afrikanischen Sprache gesagt?
»Warum?«, fragt er vorsichtig und nahm seinen Rucksack ab. Die Sache
gefiel ihm immer weniger.
Da tauchte Peter wieder auf. Offenbar hatte er Justus und die Frau doch
bemerkt. Nun schob er sein Fahrrad, von dem die Kette abgesprungen war,
und blieb in der Toreinfahrt stehen. Das mit der Kette war garantiert ein
Trick. Erleichtert atmete Justus aus.
Die Frau wandte sich um. Peter bückte sich gerade und hob vorsichtig
seine Fahrradkette an. Er sah auf. »Hallo? Haben Sie vielleicht ein Tuch?
Können Sie mir helfen?«
Der Zweite Detektiv machte seine Sache gut, stellte Justus fest und sagte:
»Nein, tut mir leid. Ich mache mich sonst nur schmutzig.« Es war
beruhigend, Peter in der Nähe zu haben, doch der Erste Detektiv wollte mit
der Frau im Gespräch bleiben. Offenbar glaubte sie wirklich, er sei Ian.
Aber die Frau schien etwas zu wittern. »Wo kommst du so plötzlich
her?«, rief sie Peter zu. »Gehört ihr zusammen?«
Der Zweite Detektiv richtete sich auf und verzog das Gesicht. »Ich und
der arrogante Typ da? Bestimmt nicht!« Mit diesen Worten wandte er sich
wieder seinem Kettenproblem zu.
Das war sehr überzeugend gewesen. Peter wuchs schauspielerisch über
sich hinaus. Jetzt hob er mit einer geradezu wütenden Bewegung sein
Fahrrad hoch und knallte es verkehrt herum auf den Sattel. »Dann mache
ich das eben alleine …«
Der Blick der Frau wanderte zwischen Peter und Justus hin und her und
blieb schließlich am Ersten Detektiv haften. Sie schien zu akzeptieren, dass
Peters Auftreten ein Zufall war. Doch die Kraft in ihren Augen war einem
heftigen Flackern gewichen. »Ich traue dir absolut nicht über den Weg,
Sohn von Sir Roger«, rief die Frau und sprang unvermittelt auf Justus zu.
»Du hast eine ganz falsche Aura.« In der Hand hielt sie plötzlich eine große
Schere, die sie vorher irgendwo im Kleid versteckt haben musste. »Als ob
du von jemand anderem besessen wärst!«
»Bitte, was soll das …?« Justus presste sich seinen Rucksack an den
Bauch und wich zurück. Eigentlich konnte er es mit der Frau aufnehmen.
Aber sie hatte diese Schere in der Hand. »Wollen Sie vielleicht das da?«
Mit einer überraschenden Bewegung warf der Erste Detektiv ihr den
Rucksack vor die Füße. Sollte sie sich doch bücken und in ihm
herumwühlen. Das würde wertvolle Zeit bringen.
Doch die Frau schien den Köder gar nicht wahrzunehmen. Schritt für
Schritt kam sie auf den Ersten Detektiv zu. Justus wich weiter zurück und
stolperte über ein Loch im Rasen.
Die Frau hatte ihn fast erreicht.
»Halt!«, rief Peter, der aus dem Augenwinkel alles beobachtet hatte.
Mit einem dumpfen Laut fiel Justus auf den Rücken. Fast im selben
Augenblick war Mambo Mawu über ihm, die Schere in der Hand.
Verzweifelt versuchte Justus den Arm der Frau zu packen, um die Attacke
irgendwie aufzuhalten, doch mit einer geschickten Seitwärtsbewegung
befreite sie sich.
»Nun komm schon, vergifteter Vogel«, rief Mambo Mawu und krallte
ihre freie Hand fest um Justus’ Hals, »jetzt aber her damit!«
Voodoo-Frau
Justus würgte und die Frau ließ von ihm ab. Aber nur kurz. Unvermittelt
riss sie ihm die Kappe vom Kopf und griff in seine Haare. Der Erste
Detektiv lag so starr da, als wäre er eingefroren. Erneut zielte die Frau mit
der Schere nach ihm. Die zwei Spitzen glitten knapp an seinem Gesicht
vorbei und – schnipp – schnitt die Frau ihm ein Haarbüschel ab.
Im selben Moment war Peter bei ihr und zog sie von Justus weg. »Sie
bringen meinen Freund um!«, brüllte er.
Sie rollte zur Seite und kam sofort wieder auf die Beine. Behände griff
sie nach der Schere, die bei der Aktion ins Gras gefallen war, und richtete
sie auf Peter. »Also doch! Komm bloß nicht näher.«
Peter kniete sich zu Justus und sah zu, wie die Frau zu ihrem Auto
hastete, einstieg und den Wagen startete. Mit einem kräftigen Ruck setzte
sie zurück und erwischte Peters Fahrrad, das scheppernd umfiel. Fast im
gleichen Moment quietschten schon wieder die Bremsen des Autos. Und
zwar wegen Bob, der aus vollem Lauf gegen den aus der Einfahrt
kommenden Honda prallte. Mühsam rappelte der dritte Detektiv sich
wieder hoch, während die Frau weiter rückwärts fuhr, das Lenkrad
einschlug und auf und davon preschte.
»Das hatte ich mir etwas anders vorgestellt«, sagte Justus und stand auf.
»Bob, bist du okay?«
»Ja. Und selber?«
»Etwas viel Natur an den Klamotten.« Justus klopfte sich das Gras ab.
»Aber ansonsten geht es mir ausgezeichnet. Bis auf dass mir eine
Haarsträhne fehlt …«
»Ich kann dich beruhigen, Erster, es fällt kaum auf«, sagte Peter. »Aber
was fängt die Frau bloß mit deinen Haaren an?«
»Mit Ians Haaren«, sagte Justus. »Denkt sie zumindest.«
Als die drei ??? einige Minuten später den Hof des Schrottplatzes betraten,
war Mathilda Jonas gerade damit beschäftigt, einer Kundin ein 117-teiliges
Speiseservice aufzuschwatzen. Sie warf den drei ??? einen erleichterten
Blick zu. So schnell hatte sie wohl nicht mit deren Rückkehr gerechnet.
Justus grinste zurück und kurz darauf erwischten die drei Freunde einen
geeigneten Moment, um über das Kalte Tor zurück in die Zentrale zu
gelangen.
Ihre Hoffnung, dass Ian noch wohlbehalten dort war, wurde nicht
enttäuscht. Er saß am Schreibtisch und kritzelte leere Blätter voll.
Nun zog er seine Ohrstöpsel heraus und wandte sich neugierig um.
»Und?«
»Semi-erfolgreich«, fasste Justus die Aktion zusammen. »Kennst du eine
gewisse Mambo Mawu?«
Ian schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«
»Eine Weiße, in einem weißen Kleid mit einem weißen Turban. Und
afrikanisch anmutenden bunten Halsketten.« Der Erste Detektiv trat zu Ian
und warf einen Blick auf die Papiere, die dieser bemalt hatte. »Wow«, sagte
er. Es waren skizzenhafte Zeichnungen. Eine davon war etwas weiter
ausgearbeitet. Sie zeigte ein Tier mit zwei menschlichen Köpfen, die beide
wie Justus aussahen. Oder wie Ian. Oder wie Justus und Ian.
»Du bist ja richtig gut«, sagte der Erste Detektiv. »Bin ich das links oder
der rechts?«
»Je nach Betrachter. Eine Anleitung bekommst du von mir nicht.« Ian
lächelte. »Weißt du, am liebsten würde ich Maler werden. Doch leider hat
man für mich eine andere Laufbahn vorgesehen.«
»Politiker«, vermutete Justus.
Ian nickte. »Ich schenke es dir, wenn es fertig ist. Ich nenne es Die zwei
Gesichter.«
»Danke«, sagte Justus, nahm das Bild in die Hand und kam sogar ein
wenig ins Stottern. »Das freut … mich mehr als …«
»… als Justus es dir gegenüber ausdrücken kann«, ergänzte Bob
grinsend. »Ich kenne ihn. Er ist, wie Tante Mathilda sagen würde, sehr
gerührt.«
»Bob, bitte«, warf Justus halb im Ernst hin, »halt einfach mal die
Klappe!« Und an Ian gewandt fügte er hinzu: »Danke. Ich werde es mir
einrahmen und in mein Zimmer hängen.«
Nun erzählten sie Ian ausführlich, was passiert war.
»Ich dachte schon, die Frau wollte mich umbringen«, schloss Justus.
»Aber sie hatte nur meine Haare im Sinn.«
»Voodoo«, sagte Ian.
Justus schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Aber natürlich! Mambo
Mawu ist eine Voodoo-Zauberin! Peter und Bob, ihr erinnert euch: Wir
hatten mal einen Voodoo-Fall. Ich glaube, du, Bob, hast es damals
recherchiert: Übersetzt bedeutet das Wort ›Voodoo‹ Gottheit oder Geist.
Man kennt dazu viele Horrorgeschichten mit Ritualmorden, Blutopfern und
Schlangenbeschwörungen.«
»Genau«, erinnerte sich Bob. »Mit der Sklaverei kam der Kult aus Afrika
über Haiti zu uns.« Er dachte an das, was Justus eben erlebt hatte. »Wenn
diese Mambo Mawu eine Haarsträhne von dir stehlen wollte, Ian, dann
sicher deshalb, weil sie sie für einen der gefährlichen Voodoo-Zauber
braucht. Es gibt doch diese Puppen, in die man Nadeln sticht,
stellvertretend für jemanden, dem man wehtun will. Oder den man … töten
möchte!« Er sah den Ersten Detektiv an. »Doch statt Ians Haaren hat die
Frau in Weiß Justus’ Haare erwischt. Folglich wird er das Opfer!«
»Moment, Moment«, ging Peter dazwischen, »wenn sie Ian
beziehungsweise Justus hätte umbringen wollen, hätte sie es doch vor Ort
mit der Schere versuchen können.«
»Das wäre zu offensichtlich gewesen«, sagte Bob. »Voodoo geschieht
eher verdeckt, langsam, Schritt für Schritt. Keine Spur wird jemals zu ihr
führen.«
Ian hatte die ganze Zeit über kopfschüttelnd zugehört. »Voodoo hat sich
auch in Afrika weiterentwickelt«, mischte er sich jetzt ein. »Es stimmt
schon, dass er diese grausame Seite hat. Man ist umgeben von Bösem, das
abgewehrt werden muss. Aber eigentlich ist Voodoo erst mal nichts anderes
als eine Mischung aus verschiedenen Religionen. Sogar christliche Züge
finden sich darin. Und es ist sehr viel mehr als diese Vorstellung von der
Nadel und der Puppe. Vielleicht möchte die Frau auch Gutes tun und
heilen.«
»Heilen? Dein Wort in des Voodoo-Gottes Ohr«, sagte Bob. »Könnte es
nicht auch etwas mit diesem seltsamen Geist zu tun haben … Tokoloshe …
der den Menschen Böses will?«
Nun meldete sich Justus wieder zu Wort. »Ich nehme ebenfalls nicht an,
dass sie Ian verwünschen will«, sagte er. »Zunächst hat sie nicht
unfreundlich auf mich gewirkt. Obwohl die Stimmung dann plötzlich
gekippt ist.«
»Du bist schließlich ja auch nicht der gewesen, den sie gesucht hat.
Vielleicht hat sie das gespürt.« Ian schien von allen noch am entspanntesten
mit der Situation umzugehen. »Hat die Frau zugegeben, dass sie das Foto
gestohlen hat?«, wollte er dann wissen.
»So weit kam ich in unserem Gespräch nicht«, sagte Justus. »Aber
apropos Foto. Würdest du mir das gestohlene Bild bitte noch einmal
genauer beschreiben?«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Ian. Er trat an den Schreibtisch und
zog die Schublade auf, in die er den Inhalt seines Rucksacks geschüttet
hatte. Zuoberst lag sein Handy. Er nahm es heraus und entsperrte es.
»Hier«, sagte er nicht ohne Stolz, »ich habe es zu Beginn meiner Reise
abfotografiert.«
»Ian«, sagte Justus erfreut, »das ist wirklich eine großartige Idee von dir
gewesen!« Sie schauten sich das Bild an. Wie von Ian beschrieben war
darauf sein Vater zu sehen, ein älterer Herr mit weißem Haaransatz. Er saß
hinter einem sauber aufgeräumten Schreibtisch, neben sich die Figur, und
schaute den Betrachter durch seine braunrandige Brille weltmännisch, aber
auch ein wenig verschmitzt an. »Und diese Fotografie sollte heute Abend
auf dem Treffen übergeben werden?«
Ian nickte.
»Wir bauen es nach«, rief Justus aus. »Bob, in unserem Fotolabor steht
ein Drucker, mit dem wir das Motiv ausdrucken können. Und einen ähnlich
aussehenden Rahmen finden wir bestimmt in der Bildersammlung auf dem
Schrottplatz.«
»Aber warum das alles?«, fragte Ian.
»Du hast uns erzählt, dass du und dein Vater auch einen Verräter unter
den Mitarbeitern hier in Kalifornien vermutet. Es wird dieser Person einen
sehr überraschten Gesichtsausdruck verleihen, wenn heute Abend das Bild
überreicht wird. Wo die Person es doch möglicherweise gestohlen hat,
damit gerade das nicht passiert.«
»Ich überlege, ob der Dieb und der Verräter überhaupt ein und dieselbe
Person sind«, teilte Bob seine Gedanken. »Wenn zum Beispiel die Voodoo-
Frau das Bild gestohlen hat? Die ist doch heute Abend wohl nicht
eingeladen.«
»Vielleicht enthielt das Bild eine andere Art von Geheimnis«, sagte Peter.
»Nämlich eins, das nicht mit abgebildet ist. Etwa eine eingelegte Botschaft
zwischen Fotografie und Rückwand. Oder etwas, das im Rahmen versteckt
war.«
»Was die erste Überraschung nicht verhindert«, sagte Justus, immer noch
stolz auf seine Idee. »Einen Versuch ist es allemal wert. Ich werde mir die
Gesichter der Anwesenden sehr genau ansehen.«
»Du?«, fragte Ian.
»Dazu kommen wir später«, erklärte Justus jedoch nur. Er wirkte
plötzlich voller Tatendrang, als hätte das Foto ihm eine Energiespritze
verpasst. »Bob und Ian, kümmert ihr euch um den Ausdruck. Peter sucht
nach einem geeigneten Rahmen. Und ich werde mir sicherheitshalber gleich
die anderen Gegenstände ansehen, die heute Abend eine Rolle spielen
werden: den weißen Elefanten, den Orden und das Redemanuskript …«
Ein gefährlicher Plan
Während Peter auf den Hof verschwand und Bob und Ian am Drucker
herumhantierten, widmete sich Justus den übrigen Gegenständen aus Ians
Rucksack. Irgendetwas ging hier vor, so viel ergab sich aus dem, was Ians
Vater mitgehört hatte. Ein Stern sollte übergeben werden. Alles deutete auf
die gestohlene Fotografie hin. Doch Justus war klar: Es wäre eine grobe
Nachlässigkeit, sich nicht auch die anderen Dinge anzuschauen, die Ian aus
Afrika mitgebracht hatte.
Zunächst war der Elefant an der Reihe. Er war aus schwerem, weißem
Stein gearbeitet, fein ausgeführt, keine billige Touristenware. Als Augen
waren glitzernde Steine eingesetzt. Justus hielt sie zunächst für Diamanten,
doch ein kurzer Kratztest auf Glas machte schnell klar, dass es einfacheres
Material war. Dann folgte der Orden. Das münzartige Abzeichen steckte im
Schlitz eines samtenen Kissens und war durch eine Plexiglasschatulle
geschützt, die wiederum in einer grüngoldenen Klappschachtel verpackt
war, die das Wappen von Nanda zierte. Der Orden selbst glänzte silbern.
Justus entnahm ihn vorsichtig und entdeckte eine Punze, also einen
Miniaturstempel, mit der Zahl 90, die aussagte, dass die Medaille nur
versilbert war. Der Geldwert war also auch nicht besonders hoch.
Eingearbeitet in die eine Seite war ein Löwenkopf, umrandet von
sonnenartigen Strahlen. Die andere Seite der Medaille zeigte ebenfalls das
Wappen des Landes sowie den Spruch: Für besondere Leistungen – Der
Staat Nanda.
»Wir sind so weit!« In der Tür zum Fotolabor stand Bob und wedelte
stolz mit der ausgedruckten Fotografie. »Ian meint, dass die Größe ungefähr
hinkommt. Jetzt müssen wir nur hoffen, das einer der Rahmen passt.«
»Am besten, ihr geht zu Peter und helft ihm bei der Suche«, sagte Justus,
»ich schaue mir noch schnell das Manuskript zu deiner Rede an, Ian.« Er
steckte Orden und Schatulle zurück in die Schachtel und nahm sich das auf
beiden Seiten bedruckte Papier vor. Der Text las sich wie eine typische
Begrüßungsrede. Offenbar hatte Ians Vater sie verfasst oder einer seiner
Redenschreiber. Justus konnte sich gut vorstellen, dass sich Ian in der
Rednerrolle nicht wohlfühlte.
Ich freue mich ganz besonders, heute hier auf diesem Schiff zu sein und
… blablabla, so ging es ein paar Sätze fort. Die Auslandsvertretung wurde
gelobpreist, dann Nanda, Amerika und Kalifornien. In den üblichen
nichtssagenden Worten. Anschließend wurden die Anwesenden einzeln
vorgestellt. Hier schaute Justus genauer hin.
Und ich begrüße besonders Thabani Mathoho, seit Kurzem Chef der
diplomatischen Vertretung unseres wunderschönen Landes hier in Los
Angeles. Seit Sie die Vertretung leiten, Thabani, hat sich Kalifornien zu
einem wichtigen Handelspartner für Nanda entwickelt (kurze Pause
machen) und das ist vor allem Ihr Verdienst. Nanda ist Ihnen zu großem
Dank verpflichtet! (Pause) Sie haben das großartige Team
zusammengestellt, darunter die wunderbare Cumba Balewa, unsere
Expertin für wirtschaftliche Beziehungen.
Das Wort wunderbare war durchgestrichen worden, offensichtlich von
Ian, dem es wohl peinlich war, als Teenager so zu reden. Dafür hatte er an
den Rand des Papiers Brillenschlange geschrieben.
Liebe Cumba, mit großem Charme und viel Geschick haben Sie schon so
vieles erreicht! (Pause) Natürlich auch mit der Unterstützung von Clayton
Badu, der für die Pressearbeit verantwortlich ist. Was für Cumba gilt, gilt
auch für Sie: Charme und Geschick. Seit Sie hier sind, lieber Clayton, hat
Nanda ein noch viel positiveres Bild in den kalifornischen Medien
bekommen als früher.
Justus hielt inne. Ja, letztens war in der Los Angeles Post ein Artikel über
Nanda erschienen, der das Land als sonniges und abenteuerreiches
Urlaubsland gepriesen hatte. Für diesen Beitrag hatte dann wohl dieser
Clayton Badu gesorgt. Auch er blieb nicht ohne einen Kommentar in der
Randspalte: goldener Haifischzahn.
Und ein ganz herzlicher Dank gilt natürlich Ihnen, lieber Larry Mars:
Danke, dass wir heute Abend auf Ihrem Schiff zu Gast sein dürfen! Ich
weiß, Sie wollten die diplomatische Vertretung schon lange einmal
einladen. Vielen Dank, dass Sie nun meinen Besuch zum Anlass genommen
haben. Ihre Yacht ist ein wirklich passender Ort, haben Sie mit ihr doch
auch schon die Häfen unseres wunderbaren Landes Nanda besucht. Ja,
lieber Larry, mit Ihnen fällt Glanz auf unser Zusammentreffen, denn wie wir
alle hier wissen, gibt es kaum einen Hollywoodstar, der nicht Schmuck aus
Ihrem Hause trägt. Ein wahrhaft exklusiver Juwelier. Doch daneben sind
Sie auch ein wahrer Förderer Nandas und unterstützen unsere vielfältigen
Projekte immer wieder mit hohen Spenden! Danke, Larry, danke! (Pause,
notfalls alle zum Beifallklatschen auffordern) Nun darf ich zur Verleihung
des Ordens übergehen.
Auch das hatte Ian durchgestrichen und darüber geschrieben: Nun möchte
ich einen Orden verleihen. Der Orden sollte an den Chef der Vertretung
gehen, Thabani Mathoho. Stellvertretend natürlich für sein ganzes Team.
Dazu sollte er das Foto von Sir Roger Carew ausgehändigt bekommen, das
in den Büroräumen aufgehängt werden sollte. Und als besonderen Dank
von der Nanda Animal Foundation würde als Letztes Cumba Balewa, die
Brillenschlange (wie Ian notiert hatte), den weißen Elefanten erhalten, weil
sie viele großzügige Spenden für die Organisation gesammelt hatte.
Zufrieden blickte Justus auf. Gerade rechtzeitig zum Eintreffen von Peter,
Bob und Ian hatte er seine Untersuchungen abgeschlossen. Die drei waren
auf dem Schrottplatz fündig geworden und hatten dabei ein gutes Auge
bewiesen: Justus verglich die Fotografie, die Ian erstellt hatte, mit dem
neuen eingerahmten Bild. Natürlich sah man Unterschiede, wenn man ein
wenig genauer hinsah, doch fürs Erste sollte die Dublette wirklich ihren
Zweck erfüllen.
Zufrieden legte Justus das Bild zur Seite. »Ian, ich habe mich ein wenig
mit deiner Abendeinladung beschäftigt. Kannst du mir noch mehr über die
beteiligten Personen sagen? Ihr scheint eure Auslandsvertretung nach
unserer Geschichte damals vollkommen neu besetzt zu haben.«
»Das haben wir«, sagte Ian, »alle Beteiligten sind versetzt worden oder
ausgeschieden, und von den neuen Personen weiß niemand etwas über dich,
meinen Doppelgänger. Nicht zuletzt auch aus Sicherheitsgründen dir
gegenüber.«
Justus nickte wohlwollend.
»Die drei Mitarbeiter unserer Vertretung kenne ich nicht besonders gut«,
fuhr Ian fort. »Bis auf Cumba, die Amerikanerin ist und deren Mutter aus
Nanda kommt, stammen sie aus meinem Heimatland. Ich habe ihnen einmal
in Nanda die Hand geschüttelt, und das ist einige Monate her. Ansonsten
gab es nur ein paar Informationsgespräche übers Internet.«
»Cumba«, nahm Justus den Faden auf, »die Frau für wirtschaftliche
Beziehungen, Cumba Balewa. Sie scheint ja eine aufsehenerregende Brille
zu tragen.«
Ian wurde rot. »Meine handschriftlichen Bemerkungen in der Rede sind
dir natürlich nicht entgangen.«
»Natürlich nicht«, grinste Justus. »Und der Verantwortliche für die Presse
hat einen goldenen Haifischzahn?«
»Na ja. Ich nenne ihn so. Sein linker Eckzahn besteht aus Gold. Und da
Clayton ständig grinst, brauchst du schon fast eine Sonnenbrille, wenn du
ihm gegenübersitzt.«
Justus nickte und fuhr fort: »Nur zum Chef der Vertretung, Thabani
Mathoho, hast du nichts geschrieben.«
»An dem fiel mir nichts auf. Ein geheimnisvoller Typ. Sehr ruhig, sehr
entspannt. Ich glaube, er ist stolz darauf, den Posten bekommen zu haben.«
»Und wer von ihnen ist der Verräter, deinem Gefühl nach?«
»Keine Ahnung, Justus, wirklich. Dazu kenne ich sie alle drei zu wenig.«
»Und dann wäre da noch dieser Gastgeber mit seinem Luxusboot, Larry
Mars.«
»Den habe ich noch nie gesehen. Ich weiß nur, dass er Kontakt zu vielen
Leuten in Nanda hat, zu Unternehmern und Politikern. Und dass er eine
teure Yacht besitzt. Auf die er Thabani, Cumba und Clayton schon lange
mal zum Essen einladen wollte. Mein Besuch schien eine passende
Gelegenheit dazu.«
»Wo liegt das Boot?« Justus faltete das Papier mit der Rede wieder
zusammen.
»Im Hafen von Los Angeles, Marina del Rey«, sagte Ian. »Es heißt
übrigens Moviestar.«
»Moviestar …«, murmelte Justus und setzte sich an den Computer. »Da
haben wir sie. Eine 45-Meter-Yacht. Nicht schlecht. Die fällt auch in
Marina del Rey auf. Hätte Lust, sie mir genauer anzuschauen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Ian vorsichtig. »Vorhin hast du auch schon
so etwas in diese Richtung erwähnt … Können wir übrigens mal wieder die
Klamotten tauschen?«
Justus sah Ian an und legte den Kopf schief. »An sich spräche nicht viel
dagegen, nur dass es in gewisser Weise die Mühe nicht lohnt.« Er schwieg.
Ian runzelte die Stirn.
Bob und Peter, die Justus’ geheimnisvolle Anspielungen schon lange
gewohnt waren, wandten sich bewusst desinteressiert dem Kühlschrank zu
und schnappten sich jeder eine Flasche Wasser. Justus würde schon noch
mit der Sprache herausrücken, auch ohne sich dreimal bitten zu lassen.
»Was zu trinken?«, fragte Bob Ian und Justus.
Beide nickten. Bob warf jedem von ihnen eine Flasche zu.
»Wie war das nun mit den Klamotten?«, bohrte Ian nach.
Peter prostete Bob zu und sagte: »Was hast du heute Abend eigentlich
vor, Bob? Lust auf Kino?«
»Hast du Kelly-frei?«, fragte Bob zurück. In letzter Zeit hatte Peter sich
wieder öfter mit seiner Freundin getroffen. Oder Halbfreundin. Oder guten
Bekannten. Wer wusste das schon so genau.
»Sie hat ein Cheerleader-Treffen.«
Bob nickte verständnisvoll. »Dann können wir beide uns einen Film
anschauen. Ich denke mal, Justus hat anderes vor.«
»Ja, das habe ich, ihr Schauspieler«, fuhr Justus ungehalten dazwischen.
Er spürte genau, dass ihn seine Freunde nur aufziehen wollten. »Und ihr
übrigens auch.«
»Was denn?«, gab Peter zurück. »Sag bloß, du hast einen Plan?«
»Das hab ich. Und zwar einen ganz hervorragenden«, erklärte Justus.
»Statt Ian werde nämlich ich auf das abendliche Treffen gehen.«
»Ich glaube, der Voodoo-Zauber mit der Haarsträhne wirkt bereits«,
murmelte Peter und setzte hinzu: »Ist das nicht ein wenig gewagt?«
Ian schloss sich an. »Das geht nicht, Justus. Ich möchte dich nicht in
Gefahr bringen.«
»Diese Dinge entscheidet Justus meistens selbst«, sagte Bob. »Und es
gibt weltweit keine Person, die ihn von etwas abbringen kann, das er sich in
den Kopf gesetzt hat. Die einzige Chance, die du noch hast, Ian, ist über die
näheren Bedingungen seiner Aktivitäten zu verhandeln.«
»Okay, dann erzähl mal, wie du dir das genau vorstellst, Justus«, sagte
Ian. »Ich kann mir zwar denken, dass sie dich für mich halten werden …«
»Zumal sie dich noch nie länger gesehen haben, wie du eben selbst
berichtet hast«, unterbrach Justus.
»Aber es gibt so viel, was du nicht weißt über unser Land.«
»Du kannst mich mit Informationen vollstopfen«, sagte Justus. »Ich habe
ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
»Das hat er«, pflichtete Bob Justus bei.
»Außerdem bist du ein Ersatz für deinen Vater, Ian, bist jung und kannst
noch nicht alles wissen. Dahinter werde ich mich verstecken können.«
»Du sprichst unsere zweite Landessprache nicht. Ich vermute zwar, dass
der Abend komplett auf Englisch stattfinden wird, zumal Larry Mars der
Gastgeber ist und Cumba lieber Englisch spricht, aber was passiert, wenn
dir jemand einen afrikanischen Satz zuwirft? Denke an die Voodoo-Frau.«
Justus verzog den Mund. »Ein Risiko, zugegeben. Aber ich verfüge über
herausragende Schlagfertigkeit und gute schauspielerische Fähigkeiten.«
»Das tut Justus«, sagte Peter und trank einen Schluck.
»Bei allem Respekt, aber es ist meine Einladung und mein Besuch und
mein Auftrag und nicht deiner«, entgegnete Ian, »ich wollte euch lediglich
um Hilfe bitten.«
»Die du heute Abend auch bekommst«, entgegnete Justus, »schließlich
hast du vom letzten Mal noch etwas gut bei mir.«
»Du meinst unser letztes Treffen, also den damaligen Fall?« Ian
schüttelte energisch den Kopf. »Das war doch wohl eher umgekehrt: Du
hast etwas gut bei mir!«
»Umso besser. Dann kannst du mir meinen Wunsch ja kaum
abschlagen«, triumphierte der Erste Detektiv.
Das war typisch Justus. Er drehte alles so, wie es ihm passte. Und was er
am meisten wollte, war, einen Fall zu lösen.
Das hatte selbst Ian begriffen. Der Junge machte eine unwirsche
Handbewegung. »Okay, Justus. Aber unter einer Bedingung! Wie wäre es,
wenn wir beide auftreten?«
Peter stellte die Wasserflasche ab. »Beide? Wie soll das denn gehen? Auf
einem Schiff gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, sich zu verstecken.«
»Nun«, überlegte Ian, »wir könnten uns … an Land austauschen. Das
Schiff soll während der Veranstaltung nicht ablegen. Es bleibt in der Marina
und wir feiern und essen. Ab und zu kommt Justus oder komme ich an Land
und der jeweils andere geht zurück. Wir müssen uns nur einen Grund
ausdenken. Dann kann jeder auf seine Art recherchieren.«
»Aber wie soll so ein Doppelspiel funktionieren?«, fragte Bob. »Ihr
müsst bis ins Detail identisch aussehen.«
»Also scheiden sowohl deine als auch meine Klamotten aus«, sagte Ian.
»Wir müssen uns einfach neue kaufen. Und zwar gleich ein doppeltes Set.
Dazu zwei Armbanduhren, zwei gleiche Paar Schuhe, Socken … selbst die
Handys müssen exakt dasselbe Modell sein.« Ian bemerkte Justus’ Blick.
»Keine Sorge. Ich kann das alles bezahlen.«
»Der doppelte Ian«, sagte Bob.
»Und die Haare?«, fragte Peter.
Ian grinste. »Justus muss sich meinen Schnitt verpassen lassen. Es geht
nur so. Denn seine Haare sind länger.«
»Bisher hatte mir die Idee eigentlich ganz gut gefallen«, murmelte Justus.
Bob prophezeite: »Für einen akkuraten Kurzhaarschnitt wirst du ein
weiteres Sonderlob von Tante Mathilda bekommen.«
»Und außerdem fehlt dir sowieso schon ein Büschel«, erinnerte sich
Peter.
»Eine Haarsträhne«, korrigierte Justus. Er sah Ian an. »Also gut. Ich bin
dabei.«
In dem Moment klingelte Ians Handy.
Der Luxus der drei ???
Die Jungen sahen auf Ians Telefon: ein Anruf aus der Landesvertretung. Es
konnte belanglos sein oder aber mit dem Fall zu tun haben.
»Kannst du auf Mithören schalten?«, fragte Justus.
Ian nickte und nahm das Gespräch an. »Ah! Clayton!«
Clayton Badu. Der Pressechef. Er ließ ein paar Sätze in seiner
Muttersprache los.
Ian antwortete in derselben Sprache, fiel dann aber ins Englische. »Nein,
Sie brauchen mich nicht im Hotel abzuholen. Ich finde den Weg durchaus
alleine und bin davor noch etwas in der Gegend unterwegs.«
»Wo genau?«, wollte Clayton wissen und setzte schnell hinzu: »Ich
könnte Ihnen ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen.«
»Ich komme schon alleine zurecht«, antwortete Ian ruhig. »Übrigens«, er
zwinkerte Justus zu, »ich muss Ihnen mitteilen, dass ich heute Abend nur
Englisch sprechen möchte.«
»Kein Problem, aber aus welchem Grund?«
»Zum einen gebietet es der Anstand hinsichtlich unseres Gastgebers«,
sagte Ian.
Sein Tonfall war plötzlich neutral, sachlich, fast staatsmännisch und hatte
jegliche jugendliche Färbung verloren. Justus studierte Ian genau. So würde
er später auch sprechen müssen.
»Und zum anderen«, fuhr Ian fort, »nun … ich überlege gerade, wie ich
es Ihnen gegenüber am besten ausdrücken soll. Halten Sie mich bitte nicht
für abergläubisch, Clayton.«
»Wie könnte ich, Ian.«
»Aber auch Sie wissen ja sicherlich unsere lokalen Religionen zu
schätzen.«
»Selbstverständlich tue ich das.«
»Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet, Clayton. Mir wurde von
einem Priester befohlen, heute Abend kein Wort in unserer Sprache zu
sprechen, da sonst ein böser Fluch auf meinem Besuch liegen würde. Und
ich gedenke, die Warnung ernst zu nehmen.«
Clayton brauchte einen Moment, bis er reagieren konnte. »Ich verstehe«,
sagte er in einem Tonfall, der verriet, dass diese Mitteilung ihn überraschte.
»Hat sich der Priester genauer geäußert, was er mit dem bösen Fluch
meint?«
»Seien Sie nicht so neugierig, Clayton«, sagte Ian ein wenig von oben
herab und ließ den Pressechef damit im Ungewissen. Sie wechselten noch
ein paar Sätze, dann beendete Ian das Gespräch.
»Das mit dem Fluch war ein genialer Einfall von dir«, lobte Justus. »Das
hast du dir eben einfach ausgedacht?«
»Klar. Damit du heute Abend sprachlich nicht so in Schwierigkeiten
gerätst.« Ian grinste und war offenbar ziemlich stolz auf seine Idee.
»Außerdem hast du damit bei Clayton geschickt für Irritation gesorgt«,
sagte Justus. »Nun wird er sich fragen, ob das schlechte Omen für das
Treffen ein Zufall war oder ob es da jemanden gibt, der etwas ahnt. Falls er
die undichte Stelle sein sollte. Für wie vertrauenswürdig hältst du
Clayton?«
»Ich habe mir natürlich sämtliche Informationen über die Teilnehmer
angeschaut«, sagte Ian. »Clayton hat vorher für die UNO gearbeitet.
Thabani hatte schon verschiedene Positionen innerhalb unserer Regierung
inne. Und Cumba ist die Tochter eines erfolgreichen Sportlers und hat an
der Ostküste Wirtschaft studiert.«
Bob nickte. Nach wie vor sah er Ian mit einer Mischung aus
Verwunderung und Bewunderung an. »Mich hat eben sehr beeindruckt, wie
du plötzlich mitten im Telefonat den Tonfall geändert hast«, bemerkte er.
»Auf einmal klangst du, wie wenn ein … Chef zu seinen Angestellten
spricht.«
»Aber ja. Ich bin heute Abend der Chef«, sagte Ian. »Ich komme in
Vertretung des Außenministers. Und wenn ich tausendmal jünger bin als die
anderen: Ich werde meine Rolle schon richtig spielen.« Er setzte hinzu:
»Auch, wenn es mir ehrlich gesagt überhaupt keinen Spaß macht. Kriegst
du das ebenfalls hin, Justus?«
»Chef spielen ist für Justus das geringste Problem«, erklärte Bob.
»Und sich gewählt auszudrücken schon mal gar keins«, ergänzte Peter.
Justus lächelte. »Ich sehe, ihr wisst meine Stärken zu schätzen.« Dann
wandte er sich an Ian. »Du sagtest eben, dass dir der Auftritt heute Abend
nicht gerade Spaß macht?«
»Ich tue es meinem Vater zuliebe«, sagte Ian. »Er wünscht sich natürlich,
dass ich in die Politik gehe. Seine Augen leuchten, wenn er davon spricht,
und er ist ganz begeistert, dass ich ihn vertrete. Aber ich habe ehrlich gesagt
gar keine Lust dazu. Ich möchte Maler werden.«
»Das hast du erwähnt«, erinnerte sich Peter.
»Und heute Abend … Reden halten ist nicht mein Ding. Ich bin ziemlich
nervös. Aber auch ein guter Schauspieler. Niemand wird etwas merken.«
»Ich kann dir den Job mit der Rede abnehmen und die Preise verleihen«,
sagte Justus.
»Aber du wolltest dich doch nur ein wenig umsehen?«
Peter lachte. »Reden halten macht Justus unheimlich gerne«, bemerkte er.
»Er wird den Leuten schon klarmachen, wo es langgeht.«
»Ich weiß nicht. Eigentlich ist das meine Aufgabe.«
»Vertraue mir«, sagte Justus. »Und höre nicht auf Peter. Ich verspreche
dir: Die werden begeistert sein von mir. Also von dir. Ich bin ebenfalls ein
guter Rollenspieler und kann ausgesprochen überzeugend wirken.«
 Ian sah auf die Uhr. »Wie auch immer. Wir müssen langsam los, die
Klamotten kaufen. Kennt ihr ein gutes Geschäft?«
»Das Kaufhaus«, sagte Bob.
»Die Strandboutique«, schlug Peter vor.
Ian schüttelte den Kopf. »Kaufhaus, Strandboutique … Nein, das muss
schon etwas Besseres sein. Und zum Friseur müssen wir auch noch.« Er
schnappte sich sein Handy und begann im Internet zu suchen. Die drei
Detektive sahen ihm interessiert zu. »Tut mir leid, Jungs«, erklärte Ian nach
einigen Momenten, »aber Rocky Beach könnt ihr vergessen. Wir müssen
nach Los Angeles. Hier, Ful’Beauty. Da können wir hin.«
Die drei ??? hatten von dem Laden noch nie etwas gehört. »Was kostet da
zum Beispiel ein Hemd?«, fragte Bob.
»Zweihundert Dollar aufwärts. Macht euch keine Sorgen, ich zahle das.
Und ein angesagter Friseur ist auch gleich in der Nähe.«
»Wie du meinst«, sagte Justus wenig begeistert. Kleidung einzukaufen
war in etwa das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Anders als
beispielsweise Peter und in gewisser Weise auch Bob konnte er keinen Sinn
darin erkennen, besonders gut auszusehen. Aber ihm war klar: Wenn sie am
Abend gemeinsam ermitteln wollten, dann musste er da jetzt durch.

Da Bobs Auto nicht ansprang und Peter seinen MG zu Hause geparkt hatte,
schlug Justus vor, Morton anzurufen, den Fahrer eines Rolls-Royce. Das
hätte außerdem den Vorteil, dass sie mit diesem Wagen stilsicher vor das
exklusive Geschäft vorfahren würden. Formvollendeter konnte man sich
nicht durch Los Angeles kutschieren lassen. Und Justus reizte es auch ein
wenig, Ians teuren Designerklamotten eine kleine Überraschung
entgegenzusetzen.
So staunte Ian dann auch nicht schlecht, als dreißig Minuten später die
glänzend schwarze und goldbeschlagene Limousine auf den Hof des
Schrottplatzes rollte. Der Kies knirschte leise unter ihren Reifen.
»Unser Chauffeur ist da«, sagte Justus lapidar an Ian gewandt. Sie waren
durch das Kalte Tor nach draußen gestiegen und hatten dort auf Morton
gewartet.
»Wie bitte? Ihr habt einen Chauffeur?«
»Wir haben dir doch damals davon erzählt«, sagte Bob.
»Ich wusste nicht, dass es sich um solch einen Wagen handelt. Das ist ja
wohl noch nobler als Taxifahren!«
»Auch wir genießen in ausgesuchten Momenten unseren Luxus«,
erläuterte Justus.
»Aber wie könnt ihr euch …«
Bob beschloss, Ian aufzuklären. »Justus hat mal in einem
Preisausschreiben Freifahrten mit diesem fantastischen Oldtimer gewonnen,
und später hat ein dankbarer Klient von uns dafür gesorgt, dass uns der
Wagen jederzeit bei Bedarf zur Verfügung steht.«
»Zum Glück ist der Rolls-Royce heute frei«, ergänzte Justus.
Morton, ein großer, schlanker Mann in Chauffeurlivree, stieg aus und
begrüßte alle mit einem freundlichen Lächeln. »Es war auch langsam
wieder an der Zeit, dass wir uns sehen«, bemerkte er. Sein Blick wechselte
kurz zwischen Justus und Ian hin und her. Dann schien er sich an die
Geschichte mit dem Doppelgänger zu erinnern. »Beschäftigt die Herren ein
wichtiger Fall?«
»Vorerst nur eine einfache Einkaufstour«, sagte Justus. »Aber falls Sie
heute Abend ebenfalls Zeit hätten, Morton?«
»Heute Abend?« Ein Strahlen fuhr über Ians Gesicht. »Das ist eine
großartige Idee, Justus! Passender kann ein Minister gar nicht bei einer
Hafenparty vorfahren!«
»Ich stehe selbstverständlich zu Ihrer Verfügung, die Herren«, sagte
Morton lächelnd. »Wenn Sie wünschen, auch heute Abend.«
»Na, dann nichts wie rein in die gute Stube«, sagte Peter und schlüpfte in
den Wagen.
Shopping-King
Wenige Augenblicke später hatten auch Justus, Bob und Ian in der
geräumigen Limousine Platz genommen.
Justus nannte das Fahrtziel. »Los Angeles. Ful’Beauty. Das Geschäft ist
in der …«
»Die Adresse ist mir bekannt«, sagte Morton und startete das Auto.
»Mitunter fahre ich Kundschaft dorthin. Schauspieler, Banker, Manager …
Ich hätte nicht vermutet, dass auch die drei ??? nun dort ihre Einkäufe
tätigen.«
»Es wird vermutlich eine Ausnahme bleiben«, erwiderte Justus. »Morton,
ich nehme an, Sie erinnern sich an die Verfolgungsjagd, als ich vor einiger
Zeit entführt worden bin. Sie haben Ian damals nicht zu Gesicht bekommen,
aber wir haben Ihnen von ihm erzählt.«
»Diesen Bezug habe ich mir bereits erlaubt herzustellen«, sagte Morton,
der damit unter Beweis stellte, dass sich nicht nur Justus alltagsfern
ausdrücken konnte.
Gemächlich rollte die Limousine die Straße entlang. Immer wieder
blickten sich Menschen nach dem Fahrzeug um und warfen bewundernde
Blicke darauf. Doch wer die Insassen des Wagens waren, konnten sie nicht
erkennen, denn dessen Scheiben waren abgedunkelt.
»Morton, bitte achten Sie darauf, ob wir verfolgt werden«, sagte Justus.
»Speziell von einem weißen Honda.« Ihm war aufgefallen, dass der
Chauffeur gerade einen längeren Blick in den Rückspiegel geworfen hatte.
»So ist es in der Tat«, antwortete Morton. »Ich wollte die Herrschaften
soeben darauf hinweisen.«
Die Jungen wandten sich um und starrten durch das Rückfenster.
Tatsächlich, zwei Autos hinter ihnen. Gerade setzte der Honda zum
Überholen an und folgte ihnen jetzt direkt nach, allerdings mit größerem
Abstand. Justus konnte die Frau am Steuer schemenhaft erkennen. Doch sie
saß nicht alleine im Auto. »Kannst du sehen, wer der Beifahrer ist?«, fragte
er Ian.
Der schüttelte den Kopf. »Die sind zu weit weg.«
»Bitte fahren Sie bei einer passenden Gelegenheit rechts ran«, bat Justus
den Chauffeur.
Morton nickte und kurz darauf erreichten sie eine Bushaltestelle.
Unvermittelt zog der Chauffeur den Wagen von der Straße und stoppte ihn
auf ziemlich abrupte Weise. Die Fahrerin des Hondas konnte nicht mehr
anders, als sie seitlich zu passieren. Als die Autos auf gleicher Höhe waren,
wandte der Mann auf dem Beifahrersitz sein Gesicht ab.
»Mist!«, sagte Ian enttäuscht. »Aber genau das sollte ich wohl nicht: ihn
erkennen.«
Peter verzog das Gesicht. »Tokoloshe …«, sagte er düster.
Hinter ihnen rauschte ein Bus heran und hupte. Morton fuhr an und
lenkte zurück auf die Straße. »Jedenfalls werden wir die beiden gleich los
sein«, sagte er. Er vollzog einen eleganten U-Turn und bog gleich darauf in
eine unscheinbare Seitengasse. Nun holperte der Wagen über
aufgebrochenen Asphalt. »Entschuldigt bitte die Unannehmlichkeiten«,
meldete sich Morton zu Wort, »aber gleich werden wir wieder einen
Highway erreichen. Diese Abkürzung kennt fast niemand.«
»Haben Sie den ganzen Stadtplan im Kopf?«, fragte Ian beeindruckt.
»Selbstverständlich. Ein Navigationssystem benötige ich nicht.
Zumindest nicht in Los Angeles.« Morton lenkte den schweren Wagen um
ein paar heftige Schlaglöcher herum, bis sie sich über eine Zubringerstraße
wieder auf den Highway einfädelten. Vom weißen Honda fehlte inzwischen
jede Spur.
»Dann können wir jetzt vielleicht über heute Abend reden«, sagte Ian.
»Mr Morton, Sie hätten also Zeit für uns?«
»Wenn Justus es so wünscht«, antwortete Morton.
»Die Zusammenkunft beginnt gegen 19 Uhr auf einer Yacht in Marina
del Rey«, erklärte Ian. »Sie brauchen nichts weiter zu tun, als uns
hinzufahren und dann mit dem Wagen in der Nähe des Schiffes zu warten.
Ich werde auf die Party gehen, mich aber ab und zu mit Justus abwechseln
und mich dann bei Ihnen wieder im Wagen auf den nächsten Einsatz
vorbereiten.«
»Das ist alles?«
»Ja, das ist alles.«
»Das sollte machbar sein«, sagte Morton.
»Eins noch«, ergänzte Justus. »Wir werden uns mit Mikrofonen
verkabeln, sodass wir im Auto mitbekommen, was die Person auf dem
Schiff erlebt. Der Auswechselspieler ist somit immer situativ
synchronisiert.«
»Mir scheint, dieser Wagen wird eine Art mobile Kommandozentrale der
drei ???«, sagte Morton. »Aber ich denke, das ist vertretbar.«
»Sehr gut«, sagte Ian. »Ich danke Ihnen. Ich kümmere mich noch darum,
dass Sie in der Nähe des Schiffes parken dürfen. Das wird man mir kaum
abschlagen können.«
»Und die Herren Bob Andrews und Peter Shaw?«
»Na, die sind auch dabei«, sagte Ian.
»Nicht ganz«, warf Justus ein. »Möglicherweise ergibt sich für Peter
noch eine Spezialaufgabe.«
»Wie bitte?«, rief Peter. »Ich will aber auch zum Hafen!«
»Das besprechen wir später«, sagte Justus, »wir sind gleich am Ziel.«
Das waren sie natürlich noch nicht, aber wenn Justus nicht mit der
Sprache herausrücken wollte, war da wenig zu machen. Peter verschob
seinen Protest auf unbestimmte Zeit und wandte sich der nächstliegenden
Frage zu. »Darf ich wenigstens mit einkaufen gehen?«
»Das Shopping-Event ist ein guter Test für heute Abend«, antwortete
Justus, der der Einkaufstour inzwischen doch etwas Gutes abgewinnen
konnte. »Mein Plan ist wie folgt: Ian wird in den Laden gehen und sich die
passende Kleidung aussuchen. Ich gebe zu, dass ich in modetechnischen
Aspekten wenig versiert bin. Dann kommt Ian zurück in den Wagen und
statt seiner gehe ich in die Boutique und probiere die Auswahl noch einmal
an. Wir werden sehen, ob dem Verkaufspersonal etwas auffällt.«
»Ah, ja«, sagte Peter, »verstehe.«
Ian setzte hinzu: »Das können wir gerne so machen, Justus, aber als
Letzter musst du dann die Rechnung übernehmen.«
»Oh«, sagte der Erste Detektiv nur.
Ian lachte. »Keine Sorge, ich erledige das natürlich. Ich hebe unterwegs
noch Bargeld ab, mit dem du dann bezahlen kannst.«
Bob und Peter zwinkerten sich zu und warfen dann einen Blick durch die
Fenster. Schon vor einer Weile hatten sie Los Angeles erreicht und längst
die grauen Randgebiete hinter sich gelassen. Inzwischen glitten sie den
Rodeo Drive entlang, die Luxus-Einkaufsmeile der Stadt. Morton hielt den
Wagen bei einem Geldautomaten an, und nachdem Ian wieder eingestiegen
war, lenkte er ihn kurz darauf in eine Seitenstraße. Nach ein paar Metern
näherten sie sich einem etwas nach hinten versetzten Haus. In dessen mit
Säulen verzierte Fassade waren hohe Fenster eingelassen, die zwischen
erlesenen Dekorationsstücken hindurch auch einen ersten Blick in das
spärlich besuchte Innere des Ladens zuließen. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Morton parkte den Rolls-Royce auf einem der in goldener Farbe
abgegrenzten Kundenparkplätze.
»Da drüben ist auch der Friseur«, sagte Ian und wies mit dem Finger
zwei Häuser weiter. »Damit fangen wir an. Wir brauchen eine exakt gleiche
Frisur. Sonst klappt dein Test nicht, Justus.«
»Hier lassen sich normalerweise die Hollywoodstars die Haare
schneiden«, meldete sich Morton zu Wort. »Ausgefallenere Friseure werdet
ihr kaum finden.«
»Fein. Wir werden ihnen erzählen, dass wir für eine Doppelrolle in einem
Theaterstück exakt gleich aussehen müssen«, verkündete Ian seinen Plan.
»Was hältst du davon, Justus? Macht eine neue Frisur auch einen neuen
Menschen?«
»Wohl kaum. Genauso wenig wie neue Kleider.« Leicht missmutig stieg
Justus aus. Was blieb ihm anderes übrig.
Peter und Bob nutzten die Zeit, um Morton etwas über die Hintergründe
des Falls aufzuklären.
Als sie die wesentlichsten Dinge berichtet hatten, drehte sich Morton
lächelnd zu ihnen um. »Es ist mir eine Ehre, bei der Aufklärung dieser
seltsamen Geschichte mitwirken zu dürfen! Ah, da kommen die beiden
zurück. Aber wer ist nun wer?«
Tatsächlich hatten Justus und Ian soeben den Friseursalon verlassen.
Peter und Bob rieben sich die Augen: Es war wirklich verblüffend. Beide
hatten exakt den gleichen modernen Kurzhaarschnitt verpasst bekommen.
Eigentlich konnte man die Jungen nur an den Klamotten unterscheiden. Die
zwei blickten sich kurz an und fuhren sich wie abgesprochen mit einer
arroganten Bewegung durch die frisch frisierten Haare. Peter und Bob
prusteten los.
Nun öffneten Ian und Justus die hinteren Türen, jeder auf einer Seite, und
streckten den Kopf herein. »Na? Wer ist wer?«
Bob sah hin. »Du bist Justus«, sagte er. Dann: »Nein. Du!«
Der Erste Detektiv nickte. »Korrekt. Woran hast du mich erkannt? Wir
haben nämlich die Kleidung getauscht!«
»Na, das bekomme ich gerade noch hin«, sagte Bob. »Nach all den
Jahren, die ich dich kenne …«
»Und nun folgt Teil zwei«, erklärte Ian. »Die Abendgarderobe.« Mit
einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen machte er sich auf den Weg.
Justus erzählte derweil, wie es ihnen beim Friseur ergangen war. »Die
waren begeistert«, schloss er seinen ausführlichen Bericht, »so einen
Auftrag hatten sie noch nie! Sogar der Chef ist gekommen und hat immer
wieder alles abgeglichen.« Er warf einen Blick aus dem Fenster. »Da
kommt Ian zurück.«
»Jetzt bist du dran, Justus«, sagte Ian, als er sich in den Wagen gesetzt
hatte. »Ich habe dem Verkäufer gesagt, dass ich gerne alles doppelt kaufen
würde. Falls mal ein Fleck draufkommt. Die sind hier skurrile Menschen
gewohnt. Und dass ich jetzt mein Handy aus dem Auto hole, um ein paar
Bilder der möglichen Garderobe zu posten und mir Rat von meinen Fans zu
holen. Ich bin wirklich gespannt, ob du bei ihm als Ian durchgehst.«
Sie tauschten die Kleidung. »Ach ja«, sagte Ian, »es ist die zweite
Umkleidekabine von links. Entscheide dich bitte für die hellere Jeans. Auch
wenn sie sauteuer ist. Und bei dem Hemd wähle bitte das weiße. Das steht
uns besser.«
»Du traust mir wohl gar nichts zu«, sagte Justus.
»Nicht in solchen Fragestellungen.«
Justus verkniff sich eine weitere Antwort und machte sich mit dem
Handy in der Hand auf den Weg.
Der Verkäufer erwartete ihn bereits und sah ihn einen Moment lang
irritiert an. Justus schluckte.
»Sie fahren einen wirklich sehr schönen und seltenen Wagen«, sagte der
Verkäufer dann. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
»Äh, ja, natürlich.« Justus lächelte. »Genauer gesagt: Nicht ich fahre,
sondern mein Chauffeur.«
»Selbstverständlich. Möchten Sie also alles noch einmal anprobieren?«
»Ich glaube, ich habe mich inzwischen entschieden.« Justus nickte und
schritt würdevoll in die Kabine. Die helle Jeans und das weiße Hemd mit
dem dezent eingearbeiteten Muster.
Er trat wieder heraus vor den Spiegel.
»Alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte der Verkäufer. Plötzlich schien
ihm etwas aufzufallen. Er trat näher. »Oh, darf ich?«
»Aber ja doch. Stimmt etwas nicht?«, fragte Justus.
»Nun«, sagte der Verkäufer und zupfte an Justus’ Hosenbund. »Das kann
doch nicht sein … Habe ich vorher … Sie scheinen auf Ihrem Gang nach
draußen … nun … etwas zugenommen zu haben?«
Justus’ Gesichtszüge verspannten sich leicht. »Sie müssen sich getäuscht
haben«, sagte er. »Wirklich! Es war nur … eine Handvoll Gummibärchen.«
»Selbstverständlich«, lenkte der Verkäufer ein. »Eine Handvoll
Gummibärchen. Verzeihen Sie bitte.«
Mission Peter
Nachdem Justus die Rechnung beglichen und die schicke Tüte mit der
zweiten Ausstattung und Ians alten Klamotten zum Auto zurückgetragen
hatte, war die Einkaufstour leider nicht beendet. Ian wollte noch ein Paar
lässige Schnürschuhe, ein exklusives Parfüm und zwei angemessene
Armbanduhren erwerben. Sein »Darfst du alles behalten, Justus« war dem
Ersten Detektiv nur ein schwacher Trost für die gefühlt endlose Zeit, bis
sich Ian endlich mit einem zufriedenen Lächeln zu den drei ??? in den
Rolls-Royce gesellte. »Jetzt sind wir für heute Abend perfekt ausgestattet.«
Es ging zurück zum Schrottplatz. Verfolgt wurde die Limousine nicht
mehr, offenbar hatten sie die Frau im weißen Honda endgültig abgehängt.
Als Morton den Wagen auf den Hof des Wertstoffhandels lenkte, war
Mathilda Jonas gerade dabei, ein Kaffeeservice dekorativ in ein Regal zu
drapieren.
»Meine Tante hat mir jetzt gerade noch gefehlt«, seufzte Justus, »ich
habe wirklich keine Lust, ihr die ganze Geschichte zu erklären.«
»Geht ruhig schon vor«, sagte Ian, »ich warte, bis deine Tante wieder im
Haus ist. So viel Zeit haben wir doch noch, Mr Morton?«
»Ich habe heute nichts anderes mehr vor.«
Peter und Bob stiegen aus und Justus folgte ihnen. Geschickt hielt er sich
im Hintergrund und hoffte inständig, dass ihn seine Tante nicht zu sich rief.
Immer noch trug er die Abendgarderobe, und vor allem: dieser akkurate
Haarschnitt!
»Justus!«
Schon war es passiert.
»Könntest du mir bitte …« Tante Mathilda stockte mitten im Satz, der
leise verendete. »… bei der Kiste … helfen …?«
»Bob, kannst du das vielleicht erledigen«, sagte Justus und versuchte,
sich eilig an seiner Tante vorbeizudrücken.
»Justus!«
»Ja?«
»Wie siehst du denn aus? Warst du beim Friseur? Ich bin ehrlich gesagt
… begeistert! Erst die Kleidung heute Morgen, nun das … du wirst mir
langsam unheimlich.«
»Ich erlebe gerade eine dramatische Persönlichkeitsveränderung«, sagte
Justus. »Gefalle ich dir nicht?«
»Oh, doch! Aber … Persönlichkeitsver…?«
»Keine Sorge, Tante Mathilda. Ich beliebte zu scherzen. Dein Justus ist
immer noch der alte. Dieses hier … ist nur eine Art Verkleidung.«
»Verkleidung?« Tante Mathilda hob schnuppernd die Nase in die Luft.
»Und du duftest so gut … Ihr steckt doch nicht etwa wieder in einem eurer
gefährlichen Fälle?«
»Ich bin heute Abend bei einer Auslandsvertretung eingeladen«, sagte
Justus ausweichend. »Da muss man sich schick machen. Und geruchsmäßig
fein daherkommen. Das ist alles.«
Mathilda Jonas warf einen Blick auf den Rolls-Royce.
»Morton fährt uns«, sagte Bob. »Es ist eine Frage des Stils. Peter und ich
sind mit von der Partie.«
»Morton, Peter, Bob und du … Na gut, dann wünsche ich euch einen
schönen Abend«, sagte Tante Mathilda einigermaßen beruhigt. Auch ein
wenig stolz, dass Justus zu offenbar so wichtigen Treffen eingeladen wurde.
Natürlich lagen ihr dazu unzählige Fragen auf der Zunge. Doch
nachzubohren traute sie sich nicht. Sie wusste, wie unwirsch ihr Neffe
darauf reagieren konnte.
Und Justus wusste, dass sie das wusste. »Ich verschwinde dann mal in
die Zentrale«, sagte er schnell. »Kommt, Jungs.«
Mathilda Jonas wandte sich wieder ihrem Geschirr zu. Räumte
kopfschüttelnd dieses und jenes mal hierhin und dann wieder dorthin. Trat
zurück, besah sich ihr Werk und ordnete alles noch einmal neu.
Im Auto wurde Ian unruhig. Schließlich riss ihm der Geduldsfaden. Als
sich Mathilda Jonas bückte, um eine große Schüssel anzuheben, schlüpfte
er aus dem Wagen und ließ die Tür geräuschlos ins Schloss fallen. Mit so
viel Abstand zu Mrs Jonas wie möglich lief er auf das Kalte Tor zu.
»Justus?«
»Äh, ja?«
»Warst du gerade nicht noch woanders?«
»Wie das denn?«, gab Ian kurz zurück.
»Und hattest du nicht etwas anderes an?«
»Hmm.« Ian ging schnell weiter.
Seufzend schob Mathilda Jonas die Schüssel auf das Regal. »Immer
dasselbe«, murmelte sie. »Überall und nirgends, der Junge, und ständig für
eine Überraschung gut.«

»Deine Tante hat mich mit dir verwechselt«, jubilierte Ian, als er in der
Zentrale eintraf, »wenn auch nur aus einiger Entfernung.« Er warf einen
Blick auf die drei ??? und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Justus hat Peter gerade eröffnet, dass für ihn ein spezieller Einsatzplan
gilt«, erklärte Bob die Situation.
»Ich will aber bei euch sein!«, sagte Peter.
Doch Justus hatte eine klare Meinung. »Wenn wir etwas über die
Tokoloshe-Verbindungsperson in der diplomatischen Vertretung
herausfinden wollen, dann ist die Chance heute Abend einfach ideal, Peter.
Alle Leute sind auf dem Boot. Das Büro ist menschenleer.«
»Und da soll ich einfach einbrechen?« Peter war entrüstet. »Das ist kein
Gartenschuppen vom Grundstück eines Nachbarn, die Anlage dürfte
gesichert sein wie Fort Knox! Ich denke nicht, dass ich mit meinen
bescheidenen Mitteln …«
Ian hatte begriffen. Die Idee von Justus war schlau. Vielleicht fand sich
in der Vertretung Material zu Tokoloshe, irgendein Hinweis auf den
Verräter. »Stell dir unsere Räumlichkeiten nicht zu üppig vor, Peter«, sagte
er. »Wir sind ein kleines und armes Land. Unser Staat ist international
immer noch nicht überall anerkannt. Die Vertretung besteht aus einfachen
Büroräumen in einem einfachen Bürohaus.«
»Ohne Kameras? Gesichert mit einem billigen Vorhängeschloss,
vielleicht aus dem Baumarkt?«
Ian schmunzelte. »Eine Kamera im Hausflur gibt es schon. Und die Tür
ist auch vernünftig gesichert. Das weiß ich von den Einzugsplänen. Aber
einen Versuch ist es allemal wert. Außerdem kann man über das Dach
einsteigen. Da wurde eine Fluchtluke eingebaut.«
»Und wenn mich die Polizei erwischt?«
»Dann …« Ian dachte nach. »Dann sagst du, dass du in meinem Auftrag
gehandelt hast.«
»Alles klar«, sagte Justus, bevor Peter überhaupt darauf reagieren konnte.
»Danke für deine Bereitschaft, Peter.«
Damit war es beschlossen.
Ian informierte Peter noch über alles, was er von den Büroräumen
wusste. Zusätzlich zu den drei bekannten Personen arbeitete dort ein
Sekretär, Paul Jacobs, aber immer nur bis vier Uhr nachmittags.
»Trotzdem: Vielleicht wäre es besser, wenn Bob mit mir kommt«, sagte
Peter.
Justus schüttelte den Kopf. »Die Situation am Schiff ist
unübersichtlicher. Außerdem befindet sich dort der Täter.«
»Ich bin doch auch noch da und kann helfen«, erklärte Ian.
Justus holte Luft, verkniff sich aber einen Kommentar. Wenn es drauf
ankam, brauchte er einfach einen seiner Freunde. »Das Büro ist verlassen,
Peter«, sagte er schließlich. »Ruf uns an, wenn etwas dazwischenkommt.«
»Das kann Peter aber nur, wenn sie den Störsender nicht eingeschaltet
haben«, wandte Ian ein.
Justus merkte auf. »Sie benutzen einen Störsender, um Handyempfang zu
unterbinden?«, fragte er.
»Zumindest haben sie mal einen beantragt«, sagte Ian.
»Ist das legal?«
»Keine Ahnung, Bob«, sagte Ian, »darum habe ich mich nicht
gekümmert. Aber immerhin ist es eine Landesvertretung, die einen
gewissen Schutz braucht. Unsere Regierung hat viele Feinde. Manche,
denen die politischen Veränderungen nicht schnell genug gehen, andere, die
alles beim Alten belassen möchten. Und die, die mehr Einfluss auf unser
Land haben wollen. Denn wir haben Bodenschätze.«
Justus nickte. »So spannend wie die Geschichte und Situation von Nanda
auch ist, wir werden die Vertiefung dieses Themas auf später verschieben
müssen. Denn nun geht es an die Planung des Abends.«

Sie erreichten die Gegend, in der das Büro der Landesvertretung lag,
schneller als gedacht, da wenig Verkehr herrschte. Es war ein einfaches
Mischgebiet aus meist drei- bis vierstöckigen Wohn- und Bürohäusern,
vorwiegend im spanischen Stil. Kein heruntergekommenes Viertel, aber
auch kein Schmuckstück von Los Angeles. Hierhin also hatte Nanda seine
Vertretung verlegt.
In der Nähe der Adresse hielt Morton den Wagen am Straßenrand an.
Peter stieg aus. Mehrere Passanten drehten sich nach ihm um – neugierig,
wer wohl in so einem luxuriösen Fahrzeug durch die Gegend chauffiert
wurde – und wandten sich enttäuscht nach wenigen Sekunden wieder ab.
Kein Promi, den man aus Internet, Fernsehen oder Kino kannte.
Peter sah dem Rolls-Royce hinterher und ging dann langsam auf das
Gebäude zu. Seitlich der Haustür machten sich kniend zwei Personen zu
schaffen. Sie sahen aus wie Bauarbeiter. Da die Dämmerung eingesetzt
hatte, war die Szene mit einer mobilen Lampe beleuchtet, die ihr klägliches
Licht auf die Mauer warf. Als Peter herankam, sah er, dass die beiden den
Eingang mit Schmuckelementen verfliesten. Um diese Uhrzeit?
Aber vielleicht war es eine gute Chance, in das Gebäude zu gelangen.
Tatsächlich: Sie hielten die Tür mithilfe eines Holzklotzes einen Spalt
offen. Peter sah zwei Möglichkeiten. Schnell hineinschlüpfen und
Rückfragen riskieren oder so tun, als ob er sich als Bewohner hier für alles
interessierte, und dann mit einer entsprechenden Selbstverständlichkeit ins
Haus marschieren.
Er entschied sich für Variante eins. Möglichst keine Zeugen, die ihn
später beschreiben konnten.
»Hi, warte mal«, hört er da hinter sich eine Stimme.
Peter drehte sich um und setzte ein Lächeln auf. »Hi.«
Der Schmalere der beiden war aufgestanden.
Peter ging in die Offensive. »So spät noch fleißig?«
»Sorry. Ich verstehe nicht alles. Mexiko. Ja, wir arbeiten viel.«
»Ah.« Also umschalten auf Variante zwei. Peter trat näher und inspizierte
die Kacheln. »Saubere Arbeit! Sieht sehr gut aus.« Das tat es wirklich.
Ein Lächeln lief über das Gesicht des Mannes. »Danke. Wo du da bist,
wir brauchen noch Fuge. Material. Fugematerial. Kannst du Bescheid
sagen? Ist bald alle. Wir haben es eben schon Frau gesagt, aber die nicht
geantwortet.«
»Oh«, sagte Peter. »Ja, ich sage Bescheid. Heute erreiche ich niemanden
mehr. Morgen. Ja, gleich morgen früh! Ich muss noch kurz rein, ich habe
etwas vergessen.«
»Ok. Danke. Fuge muss auf Liste. Achtung, nicht stolpern«, sagte der
Mann und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Peter entspannte sich und trat in den Hausflur. Das war ganz gut
gelaufen. Es gab einen Aufzug, doch er wählte die Treppe. Da konnte er
besser reagieren, falls er auf jemanden traf. Von Ian wusste er, dass er ins
oberste Stockwerk musste. Als Erstes wollte er den offiziellen Eingang der
Vertretung ausprobieren. Die Dachluke blieb immer noch als zweite Wahl.
Peter, sportlich wie immer, war kaum außer Atem, als er den richtigen
Flur erreicht hatte. Doch irgendetwas war ihm Stufe für Stufe im Kopf
herumgegeistert. Etwas Störendes. Aber er kam nicht drauf, was es war. Es
hatte mit den Bauarbeitern zu tun. Er unterbrach seine Gedanken, als er die
Kameras entdeckte. Die eine seitlich der Tür, oben an der Wand. Gut, dass
er nicht den Aufzug genommen hatte. Denn die Kamera war auf die
Aufzugtür und den Büroeingang ausgerichtet. Noch bewegte sich Peter im
toten Winkel. Vorsichtig drückte er sich an der Wand entlang, bis er unter
der Kamera zum Stehen kam. Mit der rechten Hand fischte er die schwarze
Klebefolie aus der Tasche und drückte sie gegen das Objektiv. Nun das
andere Überwachungsgerät, das direkt über dem Türrahmen montiert war.
Ihm erging es genauso wie dem ersten.
Dann machte sich Peter an der Tür zu schaffen. Sie schien mit mehreren
Schlössern gesichert. Viel Hoffnung auf Erfolg hatte Peter nicht. Das war
wirklich etwas für Profis. Doch als er seinen Dietrich im Hauptschloss
bewegte, sprang die Tür überraschend auf. Die Diplomatencrew hatte sie
offenbar nur ins Schloss fallen lassen.
»Die Nachlässigkeit der Menschen ist mein größter Freund«, murmelte
Peter und trat vorsichtig ins Innere der Räume.
Moviestar
»Peter wird einen ruhigen Abend verbringen«, prophezeite Ian, nachdem
Justus Morton ein Zeichen zur Weiterfahrt gegeben hatte. »Im ganzen Haus
ist nichts mehr los.«
»Du kennst Peter nicht«, sagte Bob und lachte. »Er besitzt irgendein
bestimmtes Gen, das ihn regelmäßig in schwierige Situationen bringt.«
»Um nicht zu sagen: in dramatische«, ergänzte Justus. »Doch heute
Abend habe ich ein gutes Gefühl. Zumindest, was Peter betrifft. Wir
allerdings …«, er sah Ian an, »wir haben eine durchaus anspruchsvolle
Aufgabe vor uns.« Justus wühlte in seinem Rucksack herum und zog
schließlich zwei kleine elektronische Teile hervor. »Ein Mikro mit
Minisender«, sagte er nicht ohne Stolz. »Gut getarnt in einem Halskettchen
mit Anhänger. Hier ist der dazugehörige Miniempfänger. Den bringen wir
an, wenn wir bei Morton im Auto sitzen. So bekommen wir live die
Gespräche auf dem Schiff mit und können nahtlos an sie anschließen, wenn
wir die Orte tauschen.«
»Bei Morton und Bob im Auto«, ergänzte der dritte Detektiv. »Was habe
ich eigentlich zu tun?«
»Du hältst den Kontakt zu Peter, beobachtest die Szene und holst Hilfe,
falls nötig. Du bist sozusagen unser Bob-Sicherheitsnetz.«
»Und wenn es Bob zu langweilig ist«, schaltete sich Morton ein, »dann
erzählt er mir von euren neusten Fällen. Deren gibt es bestimmt genug.«
»Oh ja«, rief Ian. »Es ist wirklich toll, mit euch zusammen unterwegs zu
sein! Ein wenig wie Urlaub. Abenteuerurlaub. In Nanda kennt mich fast
jeder, der Sohn des Ministers, wisst ihr, ich muss mich immer benehmen,
alle sind nett zu mir und bei jedem Menschen frage ich mich, ober er
meinetwegen mit mir zusammen sein will oder weil ich der Sohn meines
Vaters bin. Ihr seid richtige Freunde, ihr wisst, dass ihr euch aufeinander
verlassen könnt.«
»Tja, und ich hätte manchmal gerne deinen Luxus«, entgegnete Bob.
»Und deine Kreditkarte.« Er lachte.
Ian lachte auch. »Einen Rolls-Royce habt ihr ja immerhin.«
Inzwischen hatten sie die Hafengegend erreicht. Die ersten
Beleuchtungen der Häuser und Boote waren bereits angegangen, alles
würde sich bald zu einem riesigen Lichtermeer ausweiten. Unzählige Boote
schaukelten an den Stegen. In der Ferne schoss die Lichtinstallation eines
Partyschiffes ihre bunten Farben in den dämmrigen Himmel. Wie ein
Feuerwerk spiegelten sich die Strahlen flirrend und zuckend auf der
Wasseroberfläche.
Mit Ians Einladung passierten sie den Einlass für einen abgelegenen
Bereich der Anlage und Morton steuerte auf den Pier zu, an dem ein paar
große Yachten lagen. Auch hier im Hafen kannte er sich aus, als wäre es
sein Wohnzimmer.
Auf Ians Geheiß ließ der Chauffeur den Rolls-Royce ein paar Meter vor
der Moviestar ausrollen, bis er nahe am Wasser zum Stehen kam.
Es war wirklich ein Prachtschiff. Mit dem Heck zum Pier liegend
erstreckte sich die Yacht gut vierzig Meter hinaus in den Hafen. Die Decks
waren in angenehmes gelbliches Licht getaucht und Unterwasserstrahler
verwandelten den Meeresbereich unter dem Eingangssteg in ein blaugrünes
Farbspiel.
Die zwei kräftigen Männer – in saloppe weiße Jacketts gezwängt –, die
den Schiffssteg bewachten und sich unterhalten hatten, merkten auf. Sie
gingen in Position. Kein Zweifel, sie würden jeden ungebetenen Gast
notfalls in Sekundenschnelle im Hafenbecken versenken.
»Ich übernehme die erste Phase«, sagte Ian. »Wenn die Begrüßung vorbei
ist, bist du dran, Justus. Ich bin sehr gespannt, wer von uns beiden
herausbekommt, wer der Verräter ist.«
»Ich tippe auf Justus«, sagte Bob und grinste.
»Hauptsache, ich übernehme die Phase, in der es das Abendessen gibt«,
sagte dieser. »Da freue ich mich schon sehr drauf.«
»Äh«, murmelte Ian. »Bin es nicht vielmehr ich, der noch etwas zulegen
müsste?«
»Vielleicht gönne ich dir die Nachspeise.« Mit einem Blick auf die
beiden Kraftprotze am Eingang fügte Justus hinzu: »Die Jungs werden
schon unruhig.« Vorsichtig stöpselte er seinen Minilautsprecher ins rechte
Ohr. »Viel Glück, Ian. Und pass auf, dass dir dein Hemd nicht hochrutscht.«
Ian brauchte einen Moment, bis er verstand. »Du meinst, wegen der
Narbe? An der man uns beide unterscheiden kann? Ich gehe nicht davon
aus, dass das jemand auf dem Schiff überhaupt weiß.« Er schnappte sich
lächelnd seinen Designerrucksack mit der vorbereiteten Rede, dem
nachgefertigten Bild und den weiteren Utensilien und setzte dann sein
Pokerface auf. »Darf ich dann bitten, Morton?«
»Das volle Programm?«, fragte der Chauffeur.
»Das volle Programm«, sagte Ian.
»Sehr wohl.« Morton stieg aus und öffnete Ian galant die Tür. »Bitte
schön, mein Herr.«
»Sehr zu Dank verpflichtet.«
Ian schritt auf das Schiff zu und warf einen Blick durch die Fenster. Im
Inneren standen mit Gläsern in der Hand Cumba, Clayton und Mathoho und
waren mit einer Person mit blonden mittellangen Haaren, die Larry Mars
sein musste, in ein Gespräch vertieft. Außerdem waren noch zwei
Bedienstete in einer matrosenartigen Uniform vor Ort.
»Ian Carew?«, fragte einer der Männer am Steg.
»Der bin ich«, antwortete Ian.
Das reichte schon. Die Männer fuhren ihre Muskeln ein und machten den
Weg frei. »Willkommen.«
»Danke.« Ian betrat den Steg. Gemessen, wie es sich für die Vertretung
eines Ministers gehörte, schritt er auf das Schiff.
An Bord
Der blonde Mann kam mit zwei Gläsern in den Händen freudestrahlend die
Stufen vom Oberdeck herunter. Er steuerte direkt auf Ian zu. »Willkommen
auf meiner Moviestar!«, dröhnte er in einer Stimmlage, dass Justus versucht
war, den Ton seines Empfangsgerätes leiser zu drehen.
»Ein wunderschönes Schiff, Larry«, antwortete Ian, »es ist mir wirklich
eine große Freude, hier zu sein.«
Larry Mars führte seinen Gast hinein. Im Rolls-Royce spitzte Justus die
Ohren und hörte kurz darauf, wie Thabani Mathoho, der Chef der
Vertretung, sein Team vorstellte. Ian begrüßte jeden bewusst mit Namen:
Clayton Badu, den Presseleiter, und Cumba Balewa, die Frau für
wirtschaftliche Beziehungen, die für den Abend ein besonders
extravagantes Brillenmodell gewählt hatte. Ian lobte es ausdrücklich.
Plötzlich sagte Clayton etwas in der afrikanischen Sprache.
»Aber Sie wissen doch«, reagierte Ian, »heute bitte nur Englisch«, und
fügte einen Satz in der fremden Sprache hinzu.
»Ja. Natürlich. Entschuldigung, wie konnte ich es vergessen.«
»Wie ich sehe, haben Sie sich hier in Los Angeles sehr gut selbst
organisiert«, mischte sich Cumba ein.
»Sie meinen den Wagen, mit dem ich gekommen bin?«, antwortete Ian.
»Nun, ich habe noch meine Beziehungen.«
»Die Eltern alter Mitschüler?«, bohrte sie nach.
»Gute Freunde«, sagte Ian unverbindlich.
»Darf ich Ihnen das Gepäck abnehmen, Ian?«, fragte Clayton.
»Da sind persönliche Dinge drin«, antwortete Ian, »den Rucksack habe
ich lieber bei mir.«
»Was soll’s«, donnerte Larry Mars dazwischen, »ich zeig euch allen jetzt
mal mein Schiff! Hoppla, Ian, jetzt habe ich doch tatsächlich etwas von
meinem Champagner verschüttet. Das tut mir leid, bin wohl ein freigiebiger
Typ, hahaha.«
»Keine Ursache«, sagte Ian, »mein Hemd ist unempfindlich.«
Die Gruppe machte sich auf den Weg durch das Schiff. Ian versuchte,
Justus so gut wie möglich ›mitzunehmen‹, indem er immer wieder
bestimmte Sätze wiederholte und sie mit zusätzlichen Informationen
ausschmückte. »Ah, ganz wundervoll gedeckt der Tisch hier auf dem
Achterdeck … Und hier gleich dahinter ist die Küche … Oh, guten Tag! Sie
machen das alles hier ganz alleine, Mrs …«
»Bian Bonetta. Ja, ich bin die Köchin.« Die Frau war, wie Ian später in
das Mikrofon flüsterte, eine rundliche, warmherzig wirkende Frau, die mit
einem spanischen Akzent sprach. »Ich koche nichts, was mir nicht auch
schmeckt. Es wird Ihnen ganz bestimmt –«
»Gut«, schnitt Larry ihr das Wort ab. »Bitte hier entlang, meine lieben
Gäste.«
Ganz vorne auf dem Hauptdeck lagen die privaten Gemächer von Larry
Mars und der Besitzer ließ sie auch hier einen kurzen Blick in die große,
protzig ausgestattete Kabine werfen, über deren Kingsize-Bett ein kleiner
diamantengespickter Himmel glitzerte. Ob die echt waren? Ian traute sich
nicht zu fragen, flüsterte Justus in einem geeigneten Moment dazu aber
seine Gedanken ins Mikro.
 Dann ging es hinunter ins Unterdeck, wo die Mehrzahl der Kabinen lag.
Zwölf Dauergäste konnte das Schiff aufnehmen, wie Larry nicht ohne Stolz
erklärte, aber natürlich ein Vielfaches davon an Tagesgästen. Dazu kamen
die ständige Schiffscrew und das Personal, auf größeren Fahrten durchaus
mal zehn weitere Personen.

Justus hatte die Details zum Schiff natürlich schon längst recherchiert.
»Mich würde vor allem interessieren, was Clayton vorhin auf Afrikanisch
gesagt hat«, murmelte er Bob zu.
Als hätte er Justus gehört, flüsterte Ian ein wenig später ins Mikro:
»Clayton hat mich in meiner Heimatsprache angesprochen. Ich habe ihm
klargemacht, dass ich es ernst meine mit den hundert Prozent Englisch. Du
wirst deine Ruhe haben, Justus.«

Schließlich kam die Gruppe wieder in den Salon. »Setzen wir uns«, schlug
Larry vor, »bevor es zum Essen geht.«
»Dann ziehe ich mich kurz zurück«, sagte Ian. »Ich möchte noch mit
meinem Vater telefonieren. Wie Sie wissen, geht es ihm nicht besonders
gut.«
»Ian, Sie können das von einer der leeren Kabinen aus tun«, sagte Larry.
»Verbindung gibt es auf meinem Schiff überall.«
»Ich gehe lieber in meinen Wagen«, antwortete Ian. »Aber ich danke für
das freundliche Angebot.« Er grüßte in die verblüffte Runde, schritt
gelassen zum Heck des Schiffes und sah noch, wie Clayton und Cumba
irritiert die Köpfe zusammensteckten. Über den Steg kam er an Land und
steuerte auf den Rolls-Royce zu.

Justus rutschte unruhig auf der Sitzbank hin und her. Er konnte es kaum
erwarten, endlich auf das Schiff gehen zu dürfen.
Morton stieg aus, nickte den zwei Wachtposten am Schiff zu und ließ Ian
in das Auto steigen.
»Na endlich«, sagte der Erste Detektiv. »Ich dachte schon, du hast mich
vergessen. Irgendein erster Hinweis?«
Ian schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Die zwei Jungen wechselten ihre Ausrüstung und Ian zwinkerte Justus
zu. »Bin gespannt, ob du etwas herausfindest, großer Detektiv. Aber
versprich mir, nach dem Essen bin ich wieder dran. Die Rede ist mein
Part!«
»Wenn es sich so ergibt«, wich Justus einer klaren Antwort aus. Sie
tauschten die Plätze und Morton stieg wieder aus, um die Türen zu öffnen.
Justus machte sich bereit. Er war ein guter Schauspieler, das wusste er,
und er konnte Menschen täuschen. Dennoch war dies eine anspruchsvolle
Aufgabe. Er war nervös, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte.
Nun kam es drauf an.
Gefangen!
Peter nahm sein Handy heraus und schaltete die Taschenlampe an. Er war in
einen kleinen Empfangsraum geraten. Das etwa vier mal vier Meter große
Zimmer war fensterlos und lag bis auf das Handylicht vollkommen im
Dunklen. Gegenüber der Tür stand ein Schreibtisch, dahinter saß im
täglichen Normalbetrieb Paul Jacobs und wartete auf Besuch. So wies es
zumindest ein kleines Namensschild aus, das auf dem Tisch stand. Hinter
dem Tisch hing großformatig die Flagge von Nanda an der Wand. Linker
und rechter Hand standen je drei Stühle, die wohl zum Warten gedacht
waren, bis man zu irgendwem hineingerufen wurde. Und zwar durch eine
der drei Türen, die von dem Raum abgingen. Peter studierte die Schilder,
die jeweils auf Sichthöhe angebracht waren.
Cumba Balewa – Wirtschaftliche Beziehungen
Clayton Badu – Öffentlichkeitsarbeit
Thabani Mathoho
Eleganterweise stand beim Chef keine nähere Bezeichnung.
Einer von diesen vieren war also ein Verräter. Mindestens. Mitglied im
Geheimbund Tokoloshe.
Plötzlich war es Peter, als sei kurz ein Lichtschein durch die Türritze zu
Clayton Badus Büro gedrungen. Doch nun war wieder alles dunkel.
Paul Jacobs, schoss es dem Zweiten Detektiv durch den Kopf. Den
Sekretär hatte überhaupt keiner auf dem Plan. Ian hatte erzählt, dass er
immer nur bis vier arbeitete. War er heute ausnahmsweise dennoch hier?
Das würde vielleicht auch die nicht verschlossene Eingangstür erklären …
Peter verharrte einen Moment und lauschte. Vielleicht hatte er sich auch
getäuscht. Oder eine Werbebeleuchtung, ein Autoscheinwerfer war durch
das Fenster des Nebenraums gefallen und hatte den Lichteffekt erzeugt. Es
war auch alles ganz still. Nur der Straßenlärm klang gedämpft in das
Empfangszimmer hinein.
Peter nahm seinen Mut zusammen. Clayton Badu. Dann fange ich am
besten gleich mit dir an, dachte er. Vielleicht war es ja der Pressetyp
gewesen, der zusammen mit der Voodoo- Frau ihren Rolls-Royce verfolgt
hatte.
Die Tür war nicht zugeschlossen und der Schlüssel steckte. Peter trat
vorsichtig in das kleine Büro, das tatsächlich ein Außenfenster hatte, durch
das ab und zu Lichtreflexe fielen. Draußen fuhr hörbar ein Auto vorbei.
Inzwischen ging die Dämmerung zwar langsam in die Nacht über, aber
trotzdem reichte das Licht, um den großen Schreibtisch in der Mitte des
Raums erkennen zu können. Peter leuchtete hin. Ein Stuhl davor, einer
dahinter, rechts ein Sideboard mit einem zugezogenen Rollo,
wahrscheinlich ein Aktenregal. Auch hier eine große Flagge Nandas an der
Wand.
Die Nerven des Zweiten Detektivs entspannten sich etwas. Dafür
überkam ihn wieder das Gefühl, dass er etwas Wichtiges übersah. Es hatte
mit den Bauarbeitern zu tun. Aber die beiden hatten doch recht
vertrauenswürdig gewirkt. Peter ging auf den Schreibtisch zu.
Die Frau!
Ja. Die Bauarbeiter hatten eine Frau erwähnt! Die kurz vor ihm in das
Gebäude gegangen sei. Und den beiden mit ihren Klagen über das fehlende
Fugenmaterial nicht hatte zuhören wollen.
Gut, beruhigte sich Peter, es gab andere Büros im Haus. Einen
Steuerberater und eine Immobilienfirma. Es musste nicht heißen, dass er
und die Frau das gleiche Ziel gehabt hatten.
Trotzdem ergab es wohl Sinn, alle Räume zuerst mal nach ihr
abzusuchen, wenn er keine unangenehme Überraschung erleben wollte.
Peter wandte sich also wieder ab von dem Schreibtisch, den er eigentlich
hatte untersuchen wollen. Vorsichtig trat er an das Sideboard, hinter dem
sich gut jemand verstecken konnte, und leuchtete dahinter. Doch da stand
nur ein Papierkorb. Sicherheitshalber schaute er dann unter den
Schreibtisch, auch wenn er ihn eigentlich gut im Blick gehabt hatte. Nichts.
Der bodentiefe Vorhang neben dem Fenster! Er bewegte sich leicht …
Peter hielt die Luft an, verdeckte das Licht des Smartphones, indem er es
dicht an die Hose hielt, und trat auf Zehenspitzen an den Vorhang heran.
Unvermittelt riss er ihn mit einem kräftigen Ruck zur Seite, während seine
andere Hand mit dem Handylicht auf Augenhöhe schnellte.
Nur eine weiße Wand. Das Fenster stand einen kleinen Spalt offen.
Zugwind.
»Glück gehabt«, murmelte Peter sich selber zu. »Wahrscheinlich meine
Nerven. Viel Aufregung um nichts. Peter, du siehst Gespenster, würde
Justus jetzt sagen. Alles ist völlig okay.«
Der Zweite Detektiv schwankte kurz, ob er sich noch die anderen
Zimmer vornehmen sollte oder sich gleich mutig um den Schreibtisch
kümmern konnte. »Am besten keine Zeit verlieren«, murmelte er. Er bückte
sich, um die Schubladen zu inspizieren. Doch augenblicklich fuhr er wieder
hoch.
Ein Geräusch im Empfangsraum. Zwei Schritte. Dann das wohlbekannte
Klacken, wenn ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wird und der
Riegel einrastet.
Kein Zweifel: Das war die Tür zu Clayton Badus Büro.
Der Zweite Detektiv war gefangen.
Peter brauchte einen Moment, bis er wieder Kontrolle über sich bekam.
Zu sehr ärgerte ihn sein Anfängerfehler, dass er den Schlüssel nicht
abgezogen hatte. Also hatte er doch richtig vermutet. Da war noch jemand
anderes in den Räumen. Entweder der Sekretär, von dem Ian gesprochen
hatte. Oder die Frau, die vor ihm an den Bauarbeitern vorbeigegangen war.
Ja. Die Frau.
Die Voodoo-Frau?
Während Peter darüber nachdachte, was das bedeuten würde, hörte er
rhythmische Schritte im Zimmer nebenan. Ein Gesang hob an, in einer
afrikanischen Sprache, eine Frauenstimme. Der Rhythmus wirkte monoton,
die Wörter wiederholten sich. Peter lief es kalt den Rücken hinunter. War er
nun das Ziel eines Zaubers?
Verzweifelt griff er nach seinem Handy und schaltete es mit zittriger
Hand ein. Natürlich. Keine Telefonfunktion. Die hatten den Störsender auf
aktiv geschaltet. Peter rannte zum Fenster und schob es nach oben. Keine
Chance, hier zu entkommen. Viel zu hoch. Weder eine Feuerleiter noch ein
Sims, auf dem man sich entlanghangeln konnte. Die Stimme der Frau
wurde lauter, die Schritte intensiver. Nun rief sie ein Wort.
Tokoloshe.
Nein, er hatte sich nicht verhört. Sie wiederholte es.
Tokoloshe.
Ian-Wechsel-Dich
Mit den gleichen Worten wie Ian zuvor dankte Justus Morton für das
elegante Öffnen der Autotür und schritt gemessen auf das Schiff zu. Die
Wachleute nahmen kaum Notiz von ihm und gaben sofort den Weg frei. Mit
jedem Meter auf dem Steg wurde Justus’ Schritt selbstbewusster.
Cumba kam ihm entgegen. Ihre Brille war wirklich ein Hingucker. Dicke,
papageienfarbige Ränder, die aber im Kontrast zu dem leuchtenden Bunt
sehr kantig geschnitten waren. Mit ihrer etwas streng wirkenden hellen
Bluse und dem leichten Halstuch mit Ethnomuster sah Cumba geradezu
perfekt aus. »So schnell zurück?«, fragte sie und sah Justus etwas
verwundert an.
Justus fiel in Ians Tonlage. »Ich habe meinen Vater leider nicht erreicht«,
sagte er und mit einem Mal fiel ihm siedend heiß ein, wo der Fehler an ihrer
Telefon-Ausrede war: die Zeitverschiebung. Blitzschnell rechnete er nach.
»Ich habe vergessen, dass bei uns in Nanda gerade Nacht ist«, fügte er
schnell hinzu. »Ich werde es später noch einmal probieren. Vielleicht so
gegen … zehn Uhr. Man wird früh geweckt im Krankenhaus.«
Cumba lächelte. »Tun Sie das, Ian. Ich hoffe, ihm geht es gut.« Sie
schien die kleine Unsicherheit in Justus’ Stimme nicht bemerkt zu haben.
»Das Essen beginnt. Wir haben Sie am Kopfende platziert. Larry und ich
sitzen direkt bei Ihnen, dann folgen Thabani und Clayton. Ich hoffe, das ist
Ihnen recht?«
»Natürlich«, sagte Justus und nickte ihr freundlich zu. »Danke, Cumba.
Ah, da sind ja die anderen.«
Larry löste sich aus einem Gespräch mit Thabani und kam auf Justus zu.
Er trug einen teuren Cowboyhut, ein buntes Hawaiihemd und weiße Jeans.
Auch er schien nichts vom Tausch der Jungen zu merken. »Wie geht es
Ihrem Vater, Ian?«
»Ich habe ihn leider nicht erreicht«, wiederholte Justus.
»Kein Wunder, um diese Uhrzeit.« Clayton, der dazugetreten war,
musterte Justus misstrauisch.
Doch der lächelte nur. »Ich darf ihn wirklich jederzeit anrufen«, sagte er,
»aber Sie haben recht: Ein wenig sollte ich dabei schon auf die
Zeitverschiebung achten.«
»Na, hoffen wir, dass er bald wieder auf dem Damm ist, der alte
Knabe!«, brüllte Larry. »Setzen wir uns!«.
Justus fügte sich dem gerne. Er hatte Hunger. Im Auto packte Bob wohl
gerade die Sandwiches aus, die sie Tante Mathilda noch abgeschwatzt
hatten. Eigentlich keine schlechte Alternative. Doch auch diese Bian
Bonetta – Justus hatte sich den Namen der Köchin gemerkt – war bestimmt
eine Meisterin ihres Fachs.
Larry führte seine Gäste über das offene Achterdeck hinein in den
Gesellschaftsraum, an dessen Ende hinter ein paar gemütlichen Clubsesseln
mit Bar und großzügigem Fernsehbereich ein wohlgedeckter Tisch einlud.
Der Erste Detektiv hatte nicht zu viel erwartet. Das, was die beiden aus
Larrys Schiffscrew auftragen würden, klang wirklich vielversprechend. Die
Menüfolge, die für jeden der Gäste auf einer kleinen Tischkarte notiert war,
nahm Justus mit Genugtuung zur Kenntnis. Damit auch Bob und Ian das
Wasser im Munde zusammenlief, murmelte er die Gänge während des
Lesens in das Mikrofon: »Scharfsinnliche mexikanische Starters. Tortilla-
Suppe à la Bonetta mit Gemüseeinlage. Die Verzauberung aus dem Meer:
Seefischfilets Pacifico, gefolgt von Bians feuriger Steakpfanne mit Mais.
Und schließlich als großes Finale: Soufflé saisonal mit exotisch gespickter
Eiscreme!«

»Ich verzichte auf eine ganze Menge«, sagte Ian, dem bei Justus’ Worten
das Wasser im Mund zusammenlief.
Bob hatte mittlerweile die Sandwiches von Justus’ Tante in der Hand. Sie
dufteten hervorragend. »Du wirst es nicht glauben, aber die sind mir
manchmal lieber als jedes oberfeine Essen«, sagte er und streckte Ian ein
mit Käse und Schinken belegtes Toastbrot entgegen.
Ian griff dankbar zu. »Wenn Mrs Jonas mit der gleichen Energie Essen
zubereitet, mit der sie euch auf dem Schrottplatz herumkommandiert, kann
es nur köstlich sein … Irgendeine Nachricht von Peter?«
Bob schüttelte den Kopf.
»Dann scheint ja alles in Ordnung zu sein.«
»Ich hoffe es«, sagte Bob. »Anrufen möchte ich ihn nicht – wer weiß, in
was für eine Lage ich ihn damit bringe.«
Ian grinste und biss noch einmal kräftig in das Sandwich. Dann drehte er
die Tonübertragung aus dem Schiff lauter.

»Wein, mein Freund?«, fragte Larry Mars.


»Kein Alkohol«, sagte Justus. »Ein gutes Wasser wäre mir recht.«
Larry schnippte mit den Fingern und die zwei Bediensteten setzten sich
in Bewegung.
Kurz darauf kamen die Vorspeisen. Justus langte kräftig zu. In
regelmäßigen Abständen warf er einen Blick auf den Rucksack, der auf
dem leeren Stuhl am anderen Ende des Tisches auf seinen Einsatz wartete:
Rede, Elefant, Orden und Bild. Thabani, ganz lässig in Schwarz, mit Hemd
und Hose aus seidenartigem Material mit dezentem Muster, saß dem
Rucksack am nächsten, doch der schien ihn nicht weiter zu beschäftigen.
Schwieriger als gedacht gestaltete sich jedoch das Tischgespräch. Justus’
Plan war eigentlich gewesen, durch möglichst viele Fragen die Themen auf
die Anwesenden zu lenken. Zum einen, um Hinweise zu erhalten, wer
vielleicht zu den Verrätern gehörte, aber auch, damit nicht auffiel, dass er
selbst zu vielen Dingen keine Auskunft geben konnte. Zum Glück hatte Ian
den Neuigkeiten-Smalltalk bereits erledigt und über politische Details
brauchte er auch nicht Bescheid zu wissen. Schließlich war er nur eine
familiäre Vertretung. Zudem hatte Ian Justus gut auf die Gespräche
vorbereitet. Doch vor allem Larry Mars forderte den Ersten Detektiv immer
wieder mit Fragen zum Land Nanda heraus. Nun bedauerte es Justus, dass
die Funkverbindung zu Ian nur in eine Richtung funktionierte und dieser
ihm die notwendigen Fakten nicht schnell ins Ohr flüstern konnte.
»Am liebsten schwimme ich bei Wellengang«, prahlte Larry gerade, und
kleine mit Spucke verklebte Essensreste flogen durch die Luft.
»Kilometerweit. Immerhin war ich mal Freiwasserathlet! Welcher Strand
von Nanda ist denn Ihre Nummer eins, Ian?«
Justus wischte das Etwas, was seinen Tellerrand getroffen hatte, mit der
Serviette weg. Die Namen der Strände von Nanda hatte er kaum parat. »Das
ist nicht immer eine Frage der Größe«, begann er vorsichtig.
»Ganz recht«, rief Larry. »Blue Beach, die kleine Bucht, genau mein
Geschmack. Die kann ich perfekt zehnmal durchqueren.«
»Hatte dort in den schlimmen Jahren Ihr Vater nicht sein
Widerstandslager?«, fragte Clayton. Sollte das ein Test sein? Das Gesicht
des Pressesprechers verriet nichts.
Der Erste Detektiv kam ins Schwitzen. Doch noch hatte er den Eindruck,
dass sein doppeltes Spiel funktionierte. »Lassen wir die bewegte
Vergangenheit ruhen«, wich er aus und ging in die Offensive. »Erzählen Sie
mir lieber etwas über die Dinge, bei denen Sie zusammenarbeiten. Sie,
Larry, und meine drei Landsleute.«
»Oh, es wird geschäftlich«, rief der Yachtbesitzer mit gespielter
Überraschung, doch er schien sich über den Themenwechsel zu freuen.
Justus zog den Teller ein Stück weit aus dem Flugkorridor. »Es muss
doch einen Grund geben, warum Sie uns alle auf dieses Schiff eingeladen
haben.«
Auch Cumba, die Larry gegenübersaß, rückte angesichts Larrys feuchter
Aussprache ihre Speise ein wenig zur Seite. »Natürlich hat es den«, sagte
sie und blickte Justus durch ihre Papageienbrille an. »Larry Mars ist ein
großer Freund unseres Landes und vor allem investiert er sehr viel. Da war
es uns eine Freude, euch miteinander bekannt zu machen.«
Clayton ergänzte augenzwinkernd: »Und wer weiß, ob Sie nicht auch mal
in der Politik landen, Ian.«
»Kommt ganz darauf an, wie viel Spaß ich heute Abend haben werde«,
sagte Justus, ohne die Miene zu verziehen.
Die anderen starrten ihn irritiert an.
»Hahaha«, rief Justus plötzlich. »Hahaha!«
Wohl oder übel stimmten die anderen in das Lachen über die nur mäßig
ironische Bemerkung ein.
»Hahaha!«, brüllte Larry los und klopfte sich sogar auf die Schenkel.
»Bei Ihrem Humor, mein Junge, sehe ich da keine Probleme.«
Justus grinste in sich hinein. Nun hatte er die Situation wieder im Griff.
Er fühlte sich stark. »Also?«, fragte er. »Wie steht es mit Ihren
Geschäften?«
»Larry investiert in Bodenschätze«, sagte Cumba.
»Cumba, Cumba«, rief Larry, »was reden Sie da herum? Diamanten sind
es, die ich fördere, ja, Diamanten!«
»Alles unter Beachtung sämtlicher Regeln und Gesetze«, sagte Clayton
und sein Eckzahn blitzte. »Aber das wissen Sie ja, Ian. Ihr Vater hat diese
Gesetze großenteils mitgestaltet.«
Diamanten. Davon hatte Ian erzählt. »Mir sind die glitzernden Steine
über dem Bett in Ihrer Kabine aufgefallen, Larry«, sagte er, »sind das echte
Diamanten?«
»Natürlich«, rief Larry, »bei mir ist alles echt.«
Justus überlegte, ob das auch für Larrys sehr straffe Gesichtszüge galt,
die deutlich nach einer kosmetischen Behandlung aussahen, als er eine
Bewegung bemerkte. Bian Bonetta, die Köchin, hatte um die Ecke gelugt.
Larry hatte sie ebenfalls gesehen. »Kommen Sie schon, Bian, holen Sie
sich Ihren Applaus ab, es schmeckt wunderbar!«
Nun trat die Köchin ganz vor. »Wirklich?« Die kleine Frau strahlte über
das runde Gesicht.
»Vom Feinsten«, bestätigte Thabani. »Lassen Sie sich das vom Leiter der
Vertretung gesagt sein.« Es war das Erste, was er seit geraumer Zeit zum
Gespräch beitrug.
Die Köchin deutete eine Verbeugung an, lächelte und zog sich mit den
Worten »Das freut mich« in die Küche zurück.
Alle blickten ihr nach.
Wie lange hatte sie da schon gestanden und zugehört?, fragte sich Justus.
Und hatte sie nicht beim Verbeugen ihren Blick einen Moment zu lang auf
seinem Rucksack ruhen lassen? »Als Schmuckhändler arbeiten Sie
ebenfalls, Larry«, schloss er an sein voriges Thema an, damit keine
peinliche Gesprächspause entstehen konnte.
Larry nahm den Köder dankbar auf. »Sie sind ja gut informiert, Ian!
Juwelier für ganz besondere Dinge. Ich beliefere die Stars von Hollywood,
die oberen Zehntausend von Los Angeles. Ich kann euch vielleicht
Geschichten erzählen … Also ein berühmter Musiker, ich darf den Namen
natürlich nicht nennen, aber jeder von euch kennt ihn, wirklich jeder … also
der hat sich für ein Schweinegeld zwei Diamanten in die Ohren einsetzen
lassen. Und wisst ihr, was passiert ist? Er musste den Personenschutz
verdoppeln, weil seine Versicherung gesagt hat, nun sei er ein potenzielles
Mordopfer!« Larry lachte polternd los. »Ein potenzielles Mordopfer, weil
sie ihm vielleicht die Diamanten rausholen wollen – der lebende Tresor!«
Alle schüttelten mit gespielter Entrüstung den Kopf.
»Ich werde bestimmt nicht auf solch eine Idee kommen«, sagte Justus
und wollte hinzufügen, dass ihm dazu auch das notwendige Kleingeld
fehlte, aber das hätte Ian bestimmt nicht gesagt. Außerdem hatte er noch
eine andere Frage im Kopf, mit der er dem Thema der gestohlenen
Fotografie näher kommen wollte. Also fuhr er fort: »Larry, handeln Sie
vielleicht auch mit Elfenbein?«
Es war ein Schuss ins Blaue. Entsprechend überrascht sah Larry Mars ihn
an. »Elfenbein? Aber nein.«
»Das ist doch verboten«, ergänzte Cumba. »Larry hält sich an Recht und
Gesetz.«
»Ich werde natürlich immer wieder gefragt«, sagte Larry und lächelte
schief. »Man glaubt gar nicht, was sich Hollywoodsternchen so alles
wünschen. Aber Elfenbein? Nein. Es ist schon schwer genug, sich an die
immer strengeren Bergbaugesetze zu halten.«
»Sie meinen den Schutz von Natur und indigenen Einwohnern?«, fragte
Justus. Darüber hatte er sich informiert.
»Selbstverständlich. Müssen diese ganzen Vorschriften wirklich alle
sein?« Er lachte künstlich. »Nur ein Scherz. Jedenfalls kann ich mich nicht
auch noch mit dem komplizierten Tierschutz auseinandersetzen.«
Die Kellner brachten neuen Wein für Larry und die Angestellten der
Vertretung. Hinter ihnen wackelte auch die rundliche Köchin heran, in der
Hand die Wasserflasche zum Nachschenken für Justus. Dieser wollte gerade
dankend abwinken, da kam Bian Bonetta ins Stolpern.
»Hoppla«, rief Larry.
Wasser ergoss sich über Justus’ Rucksack.
»Oh, wie peinlich!«, rief die Köchin. »Entschuldigen Sie, ich bin so ein
Trottel!« Sie schnappte sich das Gepäckstück. »Ich trockne es sofort wieder
ab, tut mir leid. Aber bleiben Sie doch sitzen!«
Justus war so heftig aufgesprungen, dass sein Hemd hochrutschte.
»Lassen Sie bitte meinen Rucksack stehen!«
Larry legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich muss mich für die Köchin
entschuldigen. Ich habe die Cateringfirma erst vor ein paar Tagen engagiert,
da meine Lieblingsküche ausgebucht war. So bleiben Sie doch, Ian! Sie soll
sich drum kümmern.«
Justus sah, wie die Köchin mit dem Rucksack in Richtung Kombüse
verschwand. Die Aktion war wohl kaum ein Zufall gewesen. Er musste ihr
folgen, doch der Griff, mit dem Larry ihn zurückhielt, war fest.
Schatten in der Tiefe
Tokoloshe, Tokoloshe … Dieser Gesang zerrte an Peters Nerven. Es musste
die Voodoo-Frau sein, die dort im Empfangsraum ihren Zaubertanz
aufführte. Der Zweite Detektiv versuchte, seine Sinne zusammenzuhalten
und nicht panisch zu werden. Ihm war klar, dass der Gesang auf ihn, Peter,
abzielte. Die Frau hatte ihn also bemerkt und nun griff sie ihn mit ihrer
Magie an. Und damit war sie bei Peter leider an der richtigen Adresse. Er
wusste, dass er empfänglich für alles Übersinnliche war. Und das Wissen
darum machte seine Gefühlslage kaum besser. Justus, der ihm ständig
predigte, dass Magie nicht existierte, war nicht anwesend. Und Peter hätte
ihm auch nicht geglaubt. Hier ging es nicht um einfache Gespenster, die es
vielleicht wirklich nicht gab. Das, was die Frau da aufführte, war eine
jahrhundertelang erprobte Tradition.
Peter sprang zum Fenster und schob es hoch. Die Straße weit unten war
menschenleer. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Doch, dahinten! Zwei junge
Männer.
»Hey! Hallo!«, brüllte Peter.
Der eine blieb stehen und sah sich um.
Peter winkte. »Hallo! Ich bin hier eingeschlossen! Ich werde bedroht!
Von einem Voodoo-Zauber. Hilfe!«
Der Mann hob zum Gruß die Hand. »Voodoo? Rauch nicht so viel«, rief
er, lachte und die beiden gingen einfach weiter.
Verzweifelt blickte Peter ihnen nach. Er war sich sicher, dass ihre
ablehnende Reaktion bereits eine Wirkung des Zaubers der Frau war. Er
wandte sich vom Fenster ab. War denn hier nichts, durch das man fliehen
konnte?
Dachluke, schoss es Peter durch den Kopf, es musste eine Dachluke
geben. Ian hatte sie erwähnt. Tatsächlich: In die Decke war eine Klappe
eingelassen, man sah ihre feinen Umrisse. Die Luke befand sich hier in
diesem Raum, direkt über dem Schreibtisch. Das war doch wenigstens
Glück im Unglück!
Peter kletterte auf die Tischplatte und streckte sich. Es reichte, um die
Klappe mit den Händen anzustoßen. Beim dritten Mal klappte sie
schwungvoll um und ließ eine dunkle Öffnung zurück. Breit genug, dass
sich Peter hindurchziehen konnte.
Wenn er denn irgendwie oben an den Rand kam. Justus wäre an diesem
Problem todsicher gescheitert. Doch Peter war sportlich. Sogar auf einen
Stuhl verzichtete er, sprang nach oben, bekam mit den Händen die Kanten
zu fassen und zog sich hoch. Der Platz reichte, dass er sein Bein zu Hilfe
nehmen konnte, um sich durch die Öffnung zu schieben. Das war nicht
schlecht, lobte sich Peter selbst, schade, dass das seine beiden Freunde nicht
gesehen hatten.
Doch wo war er hingelangt?
Es roch muffig. Zum Glück hatte Peters Handy in der Hosentasche die
Aktion heil überstanden. Er zog es hervor und schaltete die Taschenlampe
ein. Er war in eine niedrige Dachkammer gestiegen. Sie musste in etwa die
Grundfläche der Büroräume abdecken. Nur noch gedämpft drangen die
Rhythmen des Zaubertanzes hierher. Peter war froh darum. Vielleicht hatte
die Magie so weniger Wirkung auf ihn.
Der Zweite Detektiv leuchtete Meter für Meter das Dach über sich ab.
Tatsächlich, da war die Luke nach draußen, von der Ian gesprochen hatte!
Er sprang zu ihr und rüttelte an der Verriegelung. Doch sie ließ sich nicht
bewegen.
Der Gesang unten erstarb.
In der Luke gab es ein eingebautes Schloss. Peter zog sein Dietrichset
hervor und brauchte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, dass er damit
nicht weiterkam. Sein Werkzeug passte irgendwie nicht. Das war kein
normales Schloss. Von unten drangen nun seltsame Geräusche zu ihm
herauf, ein Knacken, dann war plötzlich Ruhe, wieder ein Knacken. Als ob
etwas aufgebrochen würde. Peter wandte sich von dem Schloss ab und
konzentrierte seine Suche auf irgendeine Vorrichtung, die ihm weiterhelfen
konnte. Einen Hebel zum Beispiel, der einen Mechanismus betätigte, mit
dem man das blöde Ding endlich aufbekam. Aber da war einfach nichts.
Vermutlich ließ sich der Fluchtweg nur von den Büroräumen aus entriegeln.
Unten war es inzwischen ruhig.
Doch in Claytons Büro wollte Peter nicht zurück. Vielleicht gab es hier
oben noch etwas, das ihn auf eine andere Idee bringen würde. Er schwenkte
sein Handy rundum. Der Raum war fast leer. Ein paar elektronische Geräte
waren an einen Dachträger geschraubt. Waren das die Störsender? Um sie
zu erkunden wäre jetzt Justus der Richtige gewesen.
Da fiel ihm etwas anderes auf. In den Boden waren zwei weitere
rechteckige Platten eingelassen. Sie mussten in etwa über den beiden
anderen Büros liegen. Also hatten alle Büros diesen Ausgang, diese Luke?
Als eine Art Fluchtweg?
Leise schlich Peter auf die nächstliegende Luke zu. Auf ihre Oberseite
war ein Griff geschraubt. Von unten drangen gedämpft Geräusche zu ihm.
Peter konnte sie nicht zuordnen. Ein Schleifen, dann ein Klacken. Jedenfalls
war da jemand mit etwas zugange. Peter zog mit aller Vorsicht. Fast lautlos
glitt die Luke auf.
Unten war es stockfinster und zunächst konnte Peter nichts erkennen. Er
lauschte. Von diesem hypnotischen Gesang war nichts mehr zu hören. Dafür
nahm Peter direkt unter sich eine Bewegung wahr. Es war zu dunkel, um
Genaueres zu erkennen. Er hörte ein Rascheln. Jetzt flammte das Licht einer
Taschenlampe auf. Peter wich ein Stück zurück und hielt den Atem an.
Doch noch leuchtete die Person nicht zu ihm nach oben herauf. Sie schien
sich vielmehr für den Schreibtisch zu interessieren, der genau unter der
Luke stand. Beziehungsweise für das, was darauf lag.
Es war ein Ordner, der hastig durchgeblättert wurde. Wer die Person war,
konnte Peter nicht erkennen, da der Strahl der Lampe auf die Papiere zielte.
Nur dieser dunkle Schatten zeichnete sich ab. Ein schnelles Atmen war zu
hören. Jetzt nahm die unbekannte Person Papiere aus dem Ordner und
stopfte sie rasch in etwas hinein, vermutlich eine Tasche.
War es die Frau in Weiß? Sie musste es sein, da war auch dieses Wehen
des Kleides, wenn sie sich bewegte. Der Ordner war nun fast leer. Peter
beschlich ein Verdacht. Hier sicherte jemand Beweismaterial. Unterlagen,
nach denen er suchte. Der Zweite Detektiv überlegte blitzschnell. Wenn er
nicht bald etwas unternahm, wäre die Person weg. Und er, Peter, zwar in
Sicherheit, doch das Material, hinter dem er her war, wäre auf immer
verschwunden. Sollte er sich durch die Luke auf die Person stürzen? Und
den Kampf aufnehmen? Noch war er unentdeckt. Die Überraschung läge
auf seiner Seite.
Ja.
Peter atmete tief ein und setzte sich in Position.
Das hätte er lieber unterlassen sollen. Mit dem Fuß stieß er dabei gegen
den Verschluss der Luke. Es klackte deutlich vernehmbar. Die Person unter
ihm verharrte. Richtete im nächsten Augenblick den Leuchtstrahl nach
oben. Der Lichtkegel erfasste Peters Gesicht. Es war so schnell gegangen,
dass er nicht mehr in die Dachkammer zurückweichen konnte. Unten ein
leiser Aufschrei. Nun irrte das Licht im Raum umher, dazu hastige
Bewegungen. Die letzten Papiere wurden zusammengerafft.
Peter schob die Beine durch die Öffnung. Drei, zwei, eins, null. Er ließ
sich fallen. Krachend schlugen seine Füße auf der Schreibtischplatte auf.
Sie zerbarst. Holzstücke flogen durch den Raum, Peter konnte das
Gleichgewicht nicht halten und stürzte seitlich auf den Boden, spürte einen
Stich im Unterarm. Ein Geräusch kam von der Tür, dann schlug sie laut zu.
Das Drehen des Schlüssels im Schloss. Das Zufallen der Tür zum
Treppenhaus.
Die andere Person war geflohen.
Peter war allein.
Der Zweite Detektiv tastete nach seinem Handy, das bei seinem Sprung
aus der Tasche gefallen war. Er fand es neben dem leeren Aktenordner, der
ebenfalls auf den Boden gerutscht war. Das Display tat keinen Dienst mehr.
Es hatte den Aufprall nicht überstanden. Also die Minitaschenlampe, die in
Peters Hosentasche steckte. Als Erstes hielt er sie auf seinen Arm. Er
blutete, es war ein Kratzer von dem Sturz, aber nicht schlimm. Peter saugte
an der Wunde und leuchtete gleichzeitig mit der Lampe schnell das Zimmer
ab.
Ein Büro wie das nebenan. Nandas Fahne an der Wand. Auch das war zu
erwarten gewesen. Der Schreibtisch war durch Peters Aufprall regelrecht
zerlegt worden. Die Schubladen waren aufgesprungen. Papiere und
Schnellhefter lagen verstreut auf dem Boden, zum Teil aufgeschlagen.
Dazwischen ein Namensschild, das auf dem Schreibtisch gestanden haben
musste. Thabani Mathoho, Leiter der Vertretung Nanda.
Aha.
Es war das Büro des Chefs.
Peter griff sich den Ordner, um den sich alles gedreht hatte. Die
Metallklammern der Hebelmechanik waren aufgeklappt. Der Inhalt war
herausgerissen worden. Die andere Person hatte ganze Arbeit geleistet.
Doch da fiel Peter eine schwarze Folie auf, die in die hintere Innenseite des
Ordners eingepasst war. Eine Ecke der Folie stand ganz leicht ab. Peter zog
an ihr. Ein handschriftlich beschriebenes Blatt wurde sichtbar. Peter nahm
es aus dem Geheimversteck, leuchtete es an und las.
Die Köchin
»In dem Rucksack sind alle meine Unterlagen drin!« Justus riss sich von
Larrys Griff los und lief der Köchin hinterher, die sich in die Kombüse
verzogen hatte. Cumba, Clayton und Thabani blickten Justus irritiert nach,
folgten ihm aber nicht. Die Küche lag in einem schmalen Schlauch
zwischen Treppenhaus und Larrys Kabinen. Wuchtig stieß Justus die
Klapptür auf.
Bian Bonetta zuckte zusammen, als sei sie bei etwas Verbotenem
erwischt worden. Misstrauisch starrte sie Justus an. Plötzlich wirkte sie gar
nicht mehr wie die gemütliche, bemutternde Köchin. Der Rucksack lag
geöffnet auf einem Tisch. In der einen Hand hielt sie die gerahmte
Fotografie, in der anderen ein Tuch, mit dem sie offenbar auf der
Glasscheibe herumgerieben hatte. Vielleicht war das Tuch aber einfach
auch nur Tarnung.
Von wegen ungeschickte Köchin! »Geben Sie den Rucksack her!«, befahl
Justus scharf. Sie hatte ihn ausgetrickst, und so etwas verzieh ein Justus
Jonas nicht.
Anstatt zu tun, was Justus verlangt hatte, schaute die Köchin ihm prüfend
in die Augen. Der Erste Detektiv starrte zurück, ohne den Blick
abzuwenden. Es war im wahrsten Sinne ein Duell auf Augenhöhe.
Doch dann lächelte die Köchin. Wie von Zauberhand gelenkt wurden ihre
Gesichtszüge weich und sie sagte: »Natürlich, natürlich, Sir.« Sie steckte
den Bilderrahmen zurück, warf einen letzten schnellen Blick ins Innere des
Gepäckstücks, reichte den Rucksack zurück und sagte: »Es tut mir so leid.
Entschuldigen Sie bitte, Sir … Verzeihung.«
»Kein Problem.« Justus nahm das Gepäckstück ausdruckslos entgegen.
Vor dieser Frau musste man sich in Acht nehmen. Sie beherrschte wie er die
Kunst des Schauspielens. Das Problem war allerdings, dass nicht nur er das
ahnte, sondern vermutlich umgekehrt auch sie.
Bei seiner Suche nach dem Verräter hatte sich Justus bisher vollkommen
auf die Angestellten der Vertretung konzentriert. Musste er nun den Kreis
der Verdächtigen erweitern?
Mit Pokermiene betrat er den Gesellschaftsraum. Die anderen
unterbrachen ihre Unterhaltung und sahen interessiert zu, wie Justus seinen
Rucksack gelassen wieder auf dem Stuhl platzierte.
»Noch alles drin?«, fragte Larry und feixte.
»Wenn Sie vom verschütteten Wasser sprechen, dann kann ich das leider
nicht bestätigen«, konterte Justus schlagfertig. »Sie sagten, die
Cateringfirma ist neu bei Ihnen?«
»Ja, ich habe sie erst vor Kurzem empfohlen bekommen«, sagte Larry,
»bitte zweifeln Sie nicht meine Kompetenz in Personalfragen an.«
»Das würde ich nie tun«, sagte Justus. »Zumal die hervorragende
Qualität des Abendessens eine kleine Unachtsamkeit mehr als ausgleicht.«
»Das will ich meinen«, dröhnte Larry. »Wollen wir nicht vor dem Dessert
den offiziellen Teil des Abends hinter uns bringen? Und uns dann lieber
noch ein paar schönen Themen des Lebens widmen? Ich kann euch tolle
Geschichten erzählen …«
»Sie meinen, erst die Arbeit, dann das Vergnügen?«, fragte Justus und
lachte. Das war nicht sonderlich originell, aber da er der Sohn des Ministers
war, mussten alle mitlachen.
»Ja, genau«, brüllte Larry. »Auf die Zeremonie folgt die Spaßmarie.«
Wieder quälten sich alle zum Lachen.

»Das macht Justus richtig gut«, musste Ian zugeben. Zusammen mit Bob
hatte er in der mobilen Zentrale im Rolls-Royce während des Zuhörens
sämtlichen Proviant Tante Mathildas verputzt. Der ebenfalls hungrig
gewordene Morton hatte sie dabei tatkräftig unterstützt. Ian sah auf die Uhr.
»Aber nun sollten Justus und ich wieder tauschen. Wir haben abgemacht,
dass ich den offiziellen Teil des Abends abschließen werde: Rede halten,
Foto übergeben, Auszeichnungen aussprechen.«
»Das Leben lässt sich nicht immer planen«, sagte Bob.
»Wie meinst du das?«
Bob ließ die Frage lieber im Raum stehen. »Hören wir am besten weiter
zu.«
Nachdem auf dem Schiff die Getränke nachgeschenkt worden waren,
vernahmen sie, wie sich Justus räusperte und ein Stuhl verrutscht wurde.
Offenbar hatte er sich erhoben.
»Gut«, sagte der Erste Detektiv mit fester Stimme, »Larry, Thabani,
Cumba und Clayton! Bringen wir den offiziellen Teil hinter uns. Ich halte
eine Rede.«
Ian fielen vor Überraschung fast die Minikopfhörer aus den Ohren. »Aber
ich bin doch jetzt dran!«, rief er. »Justus hält sich nicht an die
Abmachung!«
»Er wird schon seine Gründe haben«, sagte Bob nur, während Morton
vor sich hin murmelte: »Darauf hätte ich wetten können.«
Im Folgenden waren Ian, Bob und auch Morton so konzentriert auf das,
was sie zu hören bekamen, dass keiner von ihnen bemerkte, wie sich
jemand im Schatten der Kaimauer katzenartig ihrem Auto näherte.

Justus war in seinem Element. Er hatte den Rucksack offen vor sich auf den
Tisch gestellt, als sei er der Weihnachtsmann, der an die ihn mit
erwartungsvollen Gesichtern anblickenden Kinder Geschenke verteilte.
Es waren auch tatsächlich alle Augen auf ihn gerichtet.
Der Erste Detektiv holte tief Luft. Ians Manuskript brauchte er nicht. Er
konnte den Text längst auswendig. So sicher, dass er nach Lust und Laune
die Dichte an schmeichelnden Worten glatt verdoppelte.
»Ich freue mich ganz außerordentlich, heute hier auf diesem
wunderbaren Schiff bei solch liebenswerten Menschen zu Gast sein zu
dürfen«, begann Justus seine Rede. Dann pries er ausgiebig Nanda,
Kalifornien und Amerika, fand unzählige verbindende Elemente zwischen
den Ländern und sprach schließlich direkt die Mitglieder der Vertretung an.
Den »so souveränen« Chef, Thabani Mathoho, der huldvoll zu Justus’
Worten lächelte, dann die »fabelhafte« Expertin für wirtschaftliche
Beziehungen, Cumba Balewa, die nun ihre Brille abnahm und Justus mit
einer Mischung aus Skepsis und Neugier ansah. Schließlich Clayton Badu,
der für die »so wunderbare« Pressearbeit verantwortlich war. Der PR-Mann
lächelte beflissen, als Justus seinen Namen gleich mehrfach erwähnte, und
sein Haifischzahn glänzte wie nie zuvor.
Justus hielt kurz inne. »Und mein abschließender Dank gilt natürlich
Ihnen, lieber Larry Mars: Danke vielmals, dass wir heute Abend auf Ihrer
traumhaften Yacht zu Gast sein dürfen! Ein wirklich ganz besonderer Ort,
haben Sie doch mit ihr die Häfen und Buchten unseres faszinierenden
Landes Nanda besucht, wie Sie eben am Tisch schon berichtet haben. Mit
Ihnen, Larry, fällt Glanz auf unser Zusammentreffen, denn wir alle hier
wissen: Es gibt kaum einen Hollywoodstar, der nicht auch Schmuck aus
Ihrem Hause trägt. Doch daneben sind Sie auch noch ein wahrer Förderer
Nandas und unterstützen unsere vielfältigen Projekte immer wieder mit
hohen Spenden!« Justus holte tief Luft und sah auffordernd in die Runde.
»Danke, Larry, danke!«
Cumba, Thabani und Clayton brachen in ein begeistertes Klatschen aus.
Auch Justus bewegte salbungsvoll die Hände gegeneinander.
Nun kam es drauf an. Der Orden, das Foto, dann der kleine Elefant. Der
Erste Detektiv musste jetzt scharf aufpassen. Irgendeine Regung, ein Satz,
ein Blick, wenn er plötzlich das Foto aus der Tasche ziehen würde, könnte
den Verräter oder die Verräterin preisgeben. Und wer weiß, vielleicht hatte
Justus Glück und würde eine noch deutlichere Reaktion bekommen: einen
Ausruf, einen überraschten Schrei. Dann hätte er Klarheit. Danach müsste
er ihn oder sie nur noch überführen.
Justus traute sich zu, kleinste Regungen aus den Mienen der Anwesenden
abzulesen. Mikroexpressionen, so nannte man das. So gewissenhaft Ian
auch war, dies war einfach Sache von Justus Jonas. Er war ein exzellenter
Beobachter und Menschenkenner. Davon war er überzeugt, er hatte es auch
schon unzählige Male bewiesen. Deswegen, nur deswegen hatte er den
erneuten Austausch mit Ian noch nicht eingeleitet.
Der Erste Detektiv sah die Gegenstände in seinem Rucksack liegen.
»Nun darf ich zu den bevorstehenden Ehrungen übergehen«, sagte er ruhig.
»Ich bitte um ein wenig feierliche Stimmung.« Er grinste, beobachtete aber
ganz genau jeden der Anwesenden.
Alle grinsten ebenfalls.
»Es ist mir eine Ehre, den großen Verdienstorden des Landes Nanda dem
Chef unserer Landesvertretung in Kalifornien zu verleihen, Thabani
Mathoho, stellvertretend für sein ganzes Team.«
Thabani erhob sich ruhig und gemessen.
Justus nahm die Verpackung, hob die Schatulle heraus, öffnete sie und
entnahm ihr den Orden.
Alle bis auf Thabani, der mit angespannter, aber freudiger Miene
erwartete, was nun auf ihn zukam, klatschten. Cumba nahm Justus
Schatulle und Verpackung ab, sodass der Erste Detektiv die Hände frei
hatte, um Thabani den Orden um den Hals zu hängen. Als er direkt vor dem
Chef der Vertretung stand, bemerkte er die Köchin, die vom Gang aus alles
genau beobachtete. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, vollbrachte Justus
sein Werk. »Der große Verdienstorden«, wiederholte er. »Ich gratuliere im
Namen des Landes Nanda.«
Thabani dankte kurz, lächelte und setzte sich wieder. Täuschte sich
Justus oder zitterte der Mann vor Aufregung?
Nun das Foto. »Dann habe ich noch ein Geschenk zu übergeben, von
dem ich erst annahm, ich hätte es verloren, aber glücklicherweise … ist es
… wieder … aufgetaucht!« Ohne die Anwesenden aus den Augen zu
lassen, griff Justus in seinen Rucksack. War da nicht ein Zucken im Gesicht
von Cumba Balewa? Auch Clayton richtete sich auf, während Thabani so
tat, als sei er noch mit seinem Orden beschäftigt.
Justus hatte sich mehr erhofft.
Und er musste sich eingestehen: Es war nicht so einfach, drei Personen
gleichzeitig zu beobachten. Eigentlich ja sogar fünf, wenn man Larry und
die neugierige Köchin mitzählte.
Nun zog er das Foto von Sir Roger ganz hervor und hielt es für alle
sichtbar vor seine Brust.
»Da ist er ja, der alte Knabe«, brüllte Larry. »Wenn er schon selbst nicht
kommen kann, so doch wenigstens als Bild.«
Warum musste Larry ausgerechnet jetzt wieder dazwischenpoltern?
»Wir hängen es in der Vertretung auf«, sagte Cumba.
War ihre Stimme nicht ein wenig tonlos? Justus konnte sich auch
täuschen. »Genau dafür war es gedacht«, sagte er.
Nun wollte Clayton das Bild haben und Cumba reichte es ihm weiter. Der
Pressemann drehte es in den Händen, vielleicht einen Moment zu lang, und
legte es dann fast achtlos zur Seite.
Und zwar so, dass auch Thabani einen Blick auf die Fotografie werfen
konnte. »Eine schöne Figur, die da auf dem Schreibtisch Ihres Vaters steht«,
bemerkte er. »Eine Frau mit Stern. Bestimmt alte afrikanische Kunst.
Bezeichnend, dass Sir Roger sie auf seinem Schreibtisch platziert hat. Als
ein Zeichen, dass die ursprünglichen Traditionen nicht untergehen sollen.«
Das konnte nun alles und nichts heißen. Enttäuscht atmete Justus aus, gab
ein »Natürlich« in die Runde und warf ein Auge auf die Köchin, die nach
wie vor die Szene beobachtete.
Larry hatte seinen Blick bemerkt und rief der Frau zu: »Ihr könntet
wirklich mal nachschenken, statt hier herumzugaffen! Aber etwas
vorsichtiger als das letzte Mal, bitte!«
Bian Bonetta nickte ergeben und machte sich auf den Weg in die Küche.
Äußerst langsam, wie Justus fand.
Er wartete einen Moment, bis sie aus dem Blickfeld war, dann packte er
den kleinen weißen Elefanten aus. »Als besonderen Dank von der Nanda
Animal Foundation übergebe ich den weißen Elefanten an Cumba Balewa,
weil sie viele großzügige Spenden für die Tierschutz-Organisation
gesammelt hat.«
Cumba stand auf und nahm den Elefanten lächelnd entgegen. »Aber das
ist doch wirklich nicht nötig!«
»Doch«, behauptete Justus.
»Fertig?«, fragte Larry.
Justus nickte. Er war ernüchtert. Kein eindeutiger Hinweis. Nur
Beobachtungen, in die er hineininterpretieren musste. Letztlich hatte er
nach wie vor keine Ahnung, wer der Verräter war. Es fühlte sich an wie eine
Niederlage. Hätte er doch lieber Ian das Feld überlassen sollen? »Ja,
Larry«, sagte Justus und gab sich Mühe, dabei einigermaßen munter zu
klingen. »Das war der offizielle Teil.«
»Na, dann habe ich noch eine Überraschung für euch«, verkündete der
Schiffsbesitzer und setzte mit einem seltsamen Unterton in der Stimme
hinzu: »Besonders für Sie, Ian.« Er schnippte in Richtung seiner beiden
Mannschaftsmitglieder und rief: »Leinen los! Wir legen ab!«
Leinen los!
»Die Yacht soll ablegen!« Entsetzt sah Bob Ian an. »Auf Dauer kann das
Schauspiel von Justus doch nicht gut gehen! Irgendwann wird er sich
verraten. Und dann kann er nicht mehr fliehen. Könnt ihr noch schnell
tauschen?«
Doch Ian kam nicht zu einer Antwort.
Im selben Augenblick öffnete jemand fast lautlos die linke Hintertür des
Wagens. Bob und Ian schraken zusammen.
Eine dunkle Gestalt beugte sich über den dritten Detektiv.
»Peter!«
»Leise, Bob! Sonst merken die zwei Gorillas bei der Yacht da vorne noch
was.«
»Wo kommst du denn so plötzlich her?«
»Na, woher schon, aus den Büros der Vertretung. Hallo, Ian, hallo,
Morton!«
Die beiden grüßten leicht verdattert zurück.
»Warum hast du dich denn die ganze Zeit über nicht gemeldet?«, fragte
Bob.
»Weil es diesen Störsender gab und dann ist mir dummerweise mein
Handy …«
»Ach was«, sagte Bob, »erzähl es uns später. Wir haben ein Problem.
Justus ist auf dem Schiff und dieser Larry will ablegen. Das war so nicht
geplant. Justus wird Probleme bekommen.«
»Warum?«
»Möglicherweise hat Larry Mars Verdacht geschöpft«, sagte Ian. »Er
sprach von einer ›Überraschung‹, allerdings mit einem seltsamen Unterton
in der Stimme, einer Überraschung besonders für Justus. Also für Ian, also
…«
»Verstanden«, sagte Peter. »Und was sollen wir tun?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bob.
»Wir entern das Schiff und helfen ihm«, sagte Ian. »Es wird noch einen
Moment dauern, bis sie losfahren.«
»Vorbei an den Gorillas?«, fragte Peter.
»Wir nehmen den Weg über die Yacht daneben«, schlug Ian vor, »die, die
backbord der Moviestar liegt. Also links von ihr. Dort brennt schon die
ganze Zeit kein Licht, sie muss verlassen sein. Wir springen dann ein Stück
vor dem Bug von einer Yacht zur anderen. Die Boote liegen gerade mal gut
einen Meter auseinander. Wenn wir Glück haben, kriegt der Kapitän der
Moviestar nichts mit, zumal er auf der anderen Seite der Yacht sitzen und
das Schiff steuern wird.«
Bob nickte begeistert. »Das könnte hinhauen. Und Morton lenkt solange
die Gorillas ab.«
»Ich?«, meldete sich Morton zu Wort. »Und wie stellen sich die Herren
diesen Teil ihres Plans vor?«
»Fangen Sie einfach … eine kleine Prügelei an«, schlug Ian vor.
Morton hüstelte. »Eine Prügelei …? Ich weiß doch gar nicht, wie das
geht!«
Auch Bob winkte ab. »Morton, wie wäre es mit einem Gespräch,
vielleicht …«
»Ich habe eine Idee«, unterbrach Morton. »Ich frage die beiden Herren,
wo man solch patente Schutzgorillas, wie sie sie darstellen, wohl buchen
kann und was man dafür so verlangt. Ich komme für meine Herrschaften
immer wieder in die Verlegenheit, eine solche Anfrage kurzfristig
beantworten zu müssen. Dann ergibt ein Wort das andere und ich werde die
Herren schon bei Laune halten. Zur Not kenne ich die Nummer der
Polizei.«
»Sehr gut, Morton«, sagte Bob erleichtert. »Wir steigen dann aus und
laufen im Schatten der Mauer nach vorne. Wenn wir auf das andere Schiff
springen, werden sie uns für die Besitzer des Nachbarbootes halten.«
»Wenn die beiden Herren das überhaupt mitbekommen«, sagte Morton.
Er schien sehr von seinen Fähigkeiten überzeugt.
Ian war das recht. »Wir sollten uns beeilen«, sagte er. »Die Crew kommt
schon an Deck, um die Taue loszumachen.«
»Na, dann wünsche ich gutes Gelingen«, sagte Morton und verließ den
Wagen.
Die Gelegenheit war gerade günstig, weil eins der Crewmitglieder die
Aufpasser an Land informierte und diese kurzzeitig in Richtung des
Schiffes blickten. So konnten Peter, Bob und Ian unbemerkt aus dem
Wagen schlüpfen. Vorsichtshalber ließen sie die Autotür nicht ins Schloss
fallen, auch wenn das bei dem exzellent gearbeiteten Rolls-Royce nur ein
leises Klackgeräusch hervorgerufen hätte.
Nun mischte sich Morton in das Gespräch mit den Sicherheitsleuten ein
und die drei Jungen konnten so tun, als seien sie Gäste von einem anderen
Boot, die sich in der Nacht ein wenig die Füße vertraten. In der Ferne
parkte ein dunkler, unbeleuchteter Lieferwagen am Pier, der ihnen vorher
noch gar nicht aufgefallen war. Doch sie hatten keine Zeit, sich darüber
Gedanken zu machen, denn schon waren sie bei der Nachbaryacht. Der
Motor der Moviestar wummerte los. Nun wurde es Zeit.
Mit einem Blick sah Bob, dass das Schiff Gemini hieß. Zwillinge – wie
passend, dachte der dritte Detektiv. Die Crew der Moviestar hatte
inzwischen die vorderen Leinen gelöst und war auf dem Weg nach Achtern.
Einer der Sicherheitsleute sprang auf die Yacht, der andere machte sich an
Land an den Tauen zu schaffen und drehte ihnen den Rücken zu.
Morton war schon fast wieder an seinem Auto.
»Jetzt!«, sagte Peter und lief behände über den Steg auf die Gemini, auf
der nach wie vor kein Geräusch zu hören war.
Ian folgte, dann Bob.
Backbord, auf der von der Moviestar abgewandten Seite, hasteten sie
nach vorne. Die Gemini war kürzer als Larrys Schiff und sie hofften, dass
sie weit genug nach vorne kamen, um nicht entdeckt zu werden.
Peter umrundete das Deck als Erster und warf einen Blick nach nebenan.
Der Spalt zwischen den Schiffen vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde.
Da blieb keine Zeit, um zu überlegen. Der Zweite Detektiv nahm einen
kurzen Anlauf und sprang.
Unter ihm das dunkel schäumende Wasser. Dann die sichere Landung auf
der Moviestar. Peter hoffte, dass die Motorengeräusche das Aufsetzen
akustisch überlagerten. Und dass der Kapitän tatsächlich nichts
mitbekommen hatte.
Da kam schon Ian angerauscht, Peter konnte gerade noch zur Seite treten.
Nun war auch Justus’ Doppelgänger auf der Moviestar. Doch wo blieb
Bob?
Wasser schäumte auf und ein Ruck ging durch das Schiff. Die Leinen
waren gelöst und die Moviestar nahm Fahrt auf.
Entsetzt sah Peter, wie Bob auf dem Vorderdeck der Gemini in ein
Handgemenge mit einer schwarz gekleideten Person verwickelt war. Doch
nun war es zu spät, um zurück auf das andere Schiff zu gelangen und ihm
zu helfen. Der Abstand war zu groß. Bob wehrte sich, aber letztlich drückte
ihn der Angreifer zu Boden. Das war das Letzte, was Peter sah, bevor die
Yacht eine Kurve fuhr und ihm somit die weitere Sicht versperrte.

Einige Momente zuvor hatte Justus blitzschnell überlegt. Was sollte er tun?
Mit Ian tauschen? War dazu noch die Zeit?
Offenbar waren auch die übrigen Gäste von der plötzlichen Wendung der
Dinge überrascht. Doch sie konnten der Idee von Larry schnell etwas Gutes
abgewinnen.
»Eine Fahrt durch die Nacht ist natürlich eine besondere Überraschung«,
sagte Cumba und prostete Larry zu, der den Crewmitgliedern nachblickte.
»Und wer steuert das Schiff?«
»Natürlich ich persönlich«, sagte Larry. »Zumindest, bis wir aus dem
Hafen sind. Dann übernimmt ein Crewmitglied. Auf keinen Fall möchte ich
Ihre Gesellschaft missen.«
Justus hingegen fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Was hatte es
mit Larrys unerwartetem Manöver auf sich? Und warum sollte das in erster
Linie für Ian eine Überraschung sein? Davon, dass Larrys Hinweis als eine
freundliche Geste für den Ehrengast aus Nanda zu verstehen sein sollte,
ging Justus nicht aus. Eher fasste er es als eine Misstrauensbekundung ihm
gegenüber auf. Dennoch beschloss er, nicht einfach schnell an Land zu
springen. Das würde wie eine Flucht aussehen, auf jeden Fall auffällig und
unglaubwürdig erscheinen. Außerdem war eine Flucht eigentlich nicht seine
Art.
Und so blieb Justus erst einmal äußerlich ruhig bei Cumba, Clayton und
Thabani sitzen. »Ich wollte gerne noch mit meinem Vater telefonieren«,
sagte er, um Zeit zu schinden.
»Telefonieren? Das können Sie ja auch vom Schiff aus machen«, rief
Larry ihm entgegen, »Kabinen habe ich genug, in denen Sie sich ungestört
mit Ihrem Vater unterhalten können, wie ich bereits sagte. Aber nun
genießen Sie erst einmal die Ausfahrt aus dem Hafen.« Mit diesen Worten
verabschiedete sich Larry ans Steuerrad.
Nach wie vor unschlüssig rutschte Justus auf seinem Stuhl hin und her.
Clayton sah ihn an. »Was haben Sie plötzlich, Ian? Das ist doch nur eine
kleine nette Ausfahrt.«
»Ja«, sagte Justus. »Eine gute Idee.« Er hatte einen endgültigen
Entschluss gefasst. Er würde hierbleiben und sein Ziel weiterverfolgen. Es
würde ihn schon niemand unterwegs vom Schiff stoßen.
Da ließ Larry auch schon die Motoren an.
Cumba und Justus traten auf die linke Seite des Schiffes, um der Abfahrt
zuzusehen, während Thabani Clayton auf die andere Seite zog, offenbar
auch, weil sie etwas zu bereden hatten. Plötzlich zückte Thabani sein
Handy, er erhielt einen Anruf. Der Chef der Vertretung sonderte sich ein
paar Meter von Clayton ab und unterhielt sich leise. Auch Cumba hatte das
Telefonat bemerkt. Bereits nach wenigen Sekunden beendete Thabani das
Gespräch und ging zurück zu Clayton. Die beiden steckten die Köpfe
zusammen und redeten. Den Blick auf die inzwischen bunt erleuchtete
Hafenszenerie genossen sie jedenfalls nicht.
Justus aber nutzte die Chance, um nach draußen zu spähen. Vielleicht
war Bob irgendwo zu entdecken, sie hatten im Auto ja auch mitbekommen,
was vor sich ging.
Gerade legte das Schiff ab und nahm Fahrt auf. Sie glitten an der
Nachbaryacht vorbei, der Gemini, wie sich Justus bereits bei ihrer Ankunft
am Hafen gemerkt hatte.
Als deren Vorderdeck an ihnen vorüberzog, stockte Justus der Atem. Dort
kämpften im Dunkeln zwei Personen miteinander. Nur kurz leuchtete das
Licht der vorbeifahrenden Moviestar die Szene aus. Der eine war ein
durchtrainiert wirkender Mann in schwarzer Kleidung, den der Erste
Detektiv nicht näher erkennen konnte. Der andere – Justus zog es das Herz
zusammen – war Bob!
Irgendetwas lief gerade furchtbar schief.
Larrys Verdacht
»Setzen wir uns wieder?«, fragte Cumba. Sie hatte die Szene auf der
Gemini nicht mitbekommen, da sie Thabani und Clayton im Blick behalten
hatte. Erst jetzt schaute sie aus dem Fenster. Doch nun war die Gemini
schon nicht mehr zu sehen und sie fuhren den langen Kanal Richtung
Ozean entlang, vorbei an unzähligen Segelschiffen, deren Masten sich wie
Stacheln gegen die Lichter des Hafens abhoben. Sie nahmen Kurs auf die
Leuchtfeuer der Ausfahrt und zogen kurz darauf an ihnen vorbei. Das Schiff
drehte leicht, um nicht auf den breiten Wellenbrecher aufzulaufen, der die
gesamte Marina vor Stürmen schützte, und steuerte dann auf das dunkle
offene Meer hinaus. An den Bewegungen des Schiffkörpers spürte Justus,
wie der Seegang stärker wurde.
Mit einem Drink bewaffnet begaben sich Thabani und Clayton bereits
wieder an den Tisch. Auffordernd sahen sie herüber.
»Ja. Setzen wir uns«, sagte Justus. Doch innerlich musste er sich erst
einmal sammeln. Hoffentlich war Bob nicht auf sich allein gestellt,
hoffentlich kamen ihm Ian und Morton zu Hilfe. Aber warum hatte sich der
dritte Detektiv überhaupt auf dem anderen Schiff aufgehalten? Natürlich
um ihm zu helfen, schoss es Justus durch den Kopf. In ihrer mobilen
Einsatzzentrale musste ihnen die Brenzligkeit der Situation ja auch klar
geworden sein.
»Warum so schweigsam?«, holte Thabani den Ersten Detektiv aus seinen
Gedanken.
»So eine Ausfahrt ist etwas ganz Besonderes«, fiel Justus als Antwort
ein. »Ich habe nicht damit gerechnet.«
»Larry ist immer für eine Überraschung gut«, sagte Cumba. »Und warum
nicht? Es liegt doch sehr nahe, ein Boot auch zu benutzen.«
»Theoretisch könnte ich seekrank werden«, sagte Justus. In der Tat rollte
die Yacht spürbar über die Wellen. »Larry hat sich nicht mal danach
erkundigt.«
»Seekrankheit bei einem, der so gerne auf der Yacht des Onkels
mitfährt?«, fragte Clayton und zog die Augenbraue hoch.
Justus atmete tief ein. Er musste aufpassen, sonst machte er zu viele
Fehler. Woran lag das? Weil ihn Bob so beschäftigte? »Das weiß ja nicht
jeder«, sagte er unbestimmt und sah sich um. Eins der Crewmitglieder hatte
sich wieder eingefunden. Der Mann hielt sich im Hintergrund,
wahrscheinlich um wieder seine Rolle als Kellner zu übernehmen. Von dem
anderen war nichts zu sehen. Dafür war einer der Aufpasser vom Kai an
Bord gekommen. Er lungerte auf dem hinteren Deck herum und schaute
zurück in Richtung Marina del Rey, wo sein schon lange nicht mehr
sichtbarer Kollege vermutlich weiter den Pier bewachte.
Cumba holte ihren weißen Elefanten aus der Handtasche und drehte ihn
in den Händen. »Wirklich süß.«
»Wo ist eigentlich das Foto von … meinem Vater?«, fiel es Justus
plötzlich auf. Eben hatte es noch auf dem Tisch gelegen.
Cumba zuckte mit den Schultern und Clayton sagte: »Keine Ahnung.«
Justus sah Thabani an.
»Ich habe es schon mal eingesteckt«, sagte der Leiter der Vertretung.
Thabani hatte es also. Wollte er auf einen günstigen Moment warten, um
das Bild auseinanderzunehmen? Auf der Suche nach etwas, das nicht mehr
da war?
Andererseits: Wenn er die originale Fotografie am Morgen bereits
gestohlen hatte, warum sollte er das tun?
»Wir hängen es in unserem Empfangszimmer auf«, sagte Thabani, der
Justus’ skeptischen Gesichtsausdruck wohl missdeutete. Immer noch
baumelte dem Chef der Vertretung der Orden vor der Brust. Er schien
wirklich stolz darauf zu sein.
Justus ließ den Blick umherwandern. Er musste sich dringend besser
konzentrieren. Wieder den Faden finden. Larry steuerte die Moviestar in die
Nacht hinaus. Eigentlich war das eine gute Gelegenheit, um etwas Abstand
zu gewinnen. Wieder auf klare Gedanken zu kommen. Vielleicht konnte er
auch ein wenig auf der Yacht herumstöbern und – natürlich! – per Telefon
Kontakt zu Ian und Bob aufnehmen. Sofern das noch möglich war, nach
dem, was er eben auf dem Nachbarschiff beobachtet hatte. »Ich versuche
noch einmal, meinen Vater zu erreichen«, sagte der Erste Detektiv in die
Runde.
»Ist es nicht etwas früh?«, fragte Clayton. »Denken Sie an die
Zeitverschiebung?«
»Wie gesagt, ich darf ihn immer stören«, antwortete Justus knapp und
stand auf.
»Schön, wenn man ein so gutes Verhältnis zu seinem Vater hat«, sagte
Thabani.
Der Erste Detektiv nickte. Der Satz traf ihn wie ein Schlag. Es war eine
sehr spezielle Rolle, die er hier vortäuschte. Seinen Vater anrufen. Wie
gerne hätte Justus selber das tun wollen. Wie oft schon hatte er daran
gedacht. Doch das ging nicht. Vor vielen Jahren waren seine Eltern bei
einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem wohnte er bei seiner
Tante und seinem Onkel in Rocky Beach. Doch so wunderbar dieses Leben
auch war, er dachte oft an seinen Vater und seine Mutter. Es gelang ihm
regelmäßig, das Gefühl des Verlustes und auch die Neugier, den Wunsch
nach Nähe zu verdrängen oder wenigstens nicht zu stark werden zu lassen.
Warum zum Teufel musste ihn ausgerechnet in diesem Augenblick diese
Sehnsucht so unvermittelt von der Seite her erwischen? Mit schwankenden
Schritten verließ Justus den Speiseraum, und das lag nicht nur am Seegang.
Als er außer Hörweite der Gruppe war, flüsterte Justus ins Mikrofon:
»Bob, Ian, Morton! Hört ihr mich? Bob war eben auf dem Nachbarschiff,
der Gemini, und wurde …« Justus musste den Satz unterbrechen, denn auf
dem Weg zu den Kabinen traf er schon wieder auf die Köchin. Abwartend
stand sie im Zugang zur Kombüse, die Neugier nur notdürftig mit einem
Putzlappen getarnt. Täuschte er sich oder wirkte die Frau ebenfalls
überrascht von der plötzlichen Ausfahrt?
Da klingelte ihr Handy.
»Gehen Sie ruhig dran«, sagte der Erste Detektiv und blieb einfach
stehen.
Die Frau sah ihn an, ein wenig nervös. Ihre innere Stärke war wie
weggeblasen. »Nicht so wichtig«, sagte sie.
»Ich vermute, unsere kleine Seefahrt bereitet Ihnen Probleme?«, fragte
Justus scheinheilig.
»Ich bin nur die Köchin«, sagte die Frau, »und ich wollte heute Abend
gerne pünktlich Schluss machen. Nun muss ich meine Verabredung wohl
absagen.«
»Ich verstehe«, sagte Justus und schlenderte den Gang weiter. Ein paar
Meter vor Larrys Kabine blieb er stehen und drehte sich demonstrativ nach
ihr um. Die Köchin sah ihm hinterher. Augenblicklich wich sie zurück.
Als sie ganz aus dem Blickfeld verschwunden war, legte Justus seine
Hand an die Kabinentür, die nach Ians Beschreibung in Larrys luxuriöses
Gemach führen musste. Dort wartete zweierlei: Ruhe, um mit Bob zu
telefonieren, und die Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen.
»Ian!«
Justus fuhr herum.
Larry stand am Ende des Gangs. »Haben Sie sich verlaufen?«, brüllte er
und lachte. »Mein Schiff ist zwar groß, aber doch kein Labyrinth.«
»Ich wollte mit meinem Vater telefonieren.«
»Ach, das hat noch Zeit! Das können Sie später von den unteren Kabinen
aus erledigen. Setzen Sie sich jetzt zu uns, Ian!«
Es hatte wie ein Befehl geklungen. Der Ton Justus gegenüber hatte sich
deutlich verändert. Da sprach nicht mehr jemand zu dem Sohn eines
Ministers, sondern eher zu einem ungebetenen Gast. Larry baute sich vor
Justus auf und der Erste Detektiv wich unwillkürlich zurück. Die Chance
auf das Herumstöbern in Larrys Kabine war sowieso erst einmal dahin.
»Okay«, sagte er, »es ist auch noch etwas früh.«
Larry grinste und schloss die Tür zu seiner Kabine ab. Dann schob er
Justus zurück in den Gesellschaftsraum.
»Da bin ich wieder«, verkündete er, »und ich habe Ian gleich
mitgebracht. Ken hat das Steuer übernommen, eines meiner beiden
Crewmitglieder. Leider sind sie heute nur zu zweit, normalerweise habe ich
mindestens vier. Aber wer konnte schon mit einer spontanen Ausfahrt
rechnen? Hahaha! Jedenfalls könnt ihr Ken, was die Seefahrt betrifft,
mindestens so vertrauen wie mir. Jetzt werden wir zusammen ein wenig
Spaß haben. Kennt ihr schon die Geschichte vom Mann, der über Bord
gefallen ist? Er ist nie wieder aufgefunden worden.« Er sah provozierend in
die Runde. Alle warteten, ob die Geschichte noch weiterging. Larry fügte
hinzu: »Aber es hat auch nie jemand nach ihm gesucht. Denn er ist unter
falschem Namen gereist.«
Clayton, Cumba und Thabani sahen sich irritiert an, offenbar wussten sie
nicht recht, warum Larry das gerade erzählte.
Nur Justus ahnte es.
Larry setzte sich. Mit einem Blick auf den Ersten Detektiv wechselte er
plötzlich das Thema. »Ich bin froh, Ian, dass der Champagnerfleck so
schnell getrocknet ist auf Ihrem Hemd.«
Der Champagner. Natürlich. Justus wurde siedend heiß. Über das
Mikrofon hatte er mitbekommen, dass Larry Ian ein paar Tropfen des teuren
Getränks übergegossen hatte. Sie hatten das nicht weiter beachtet, weder
Ian noch er. Doch sie hätten das Hemd tauschen müssen. Ein Fehler, der
Justus nicht unterlaufen wäre, wenn er sich nicht so sehr auf die Gespräche
und die Vorbereitung seiner Rolle konzentriert hätte.
Larry ahnte also etwas von ihrem doppelten Spiel, das wurde dem Ersten
Detektiv nun vollends klar. Der Geschäftsmann hatte das Schiff aus dem
Hafen gefahren, damit es von nun an keine Möglichkeit des Tausches
zwischen Ian und Justus mehr gab. Und er – Justus – ihm – Larry – ganz
ausgeliefert war. Justus ging Larrys Anspielung nicht aus dem Sinn. Diese
Geschichte vom »Mann über Bord«. Das war nichts anderes als eine
versteckte Drohung gewesen.
Justus unter Druck
Larry war Justus und Ian möglicherweise auf der Spur, aber was war mit
den anderen? Deren kurze Irritation hatte sich schon wieder verflüchtigt.
Thabani starrte mit dem Glas in der Hand schweigsam durch das Fenster
auf das dunkle Meer, aber er war ohnehin ein ziemlich ruhiger Typ. Was
blieb Justus anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen?
»Bei einer passenden Gelegenheit«, sagte der Erste Detektiv im
aufgesetzten Plauderton, »verrate ich Ihnen mal, Larry, aus was für einem
wunderbaren fleckabweisenden Spezialstoff mein Hemd gefertigt ist.« Er
zwang sich ein Augenzwinkern ab und rückte näher an den Tisch.
Aber ob das reichte, um Larrys Verdacht zu zerstreuen? Justus machte
sich wenig Hoffnungen.
Larry überging Justus’ Antwort und schnipste mit den Fingern in
Richtung des Kellners. »Nachspeise!«
Das Crewmitglied setzte sich in Bewegung.
Wenige Momente später hatten alle das Sorbet auf dem Tisch. Eigentlich
ein kulinarisches Lieblingsereignis für Justus, das er in seiner Situation
allerdings nur wenig genießen konnte.
Zumal Larry mit seinen Sticheleien weitermachte. »Ich würde gerne mal
ein paar Fakten über Nanda von Ihnen abfragen«, sagte er auf einmal ruhig
und kalt.
»Larry, das ist der Sohn von Sir Roger Carew«, erinnerte ihn Cumba, der
Larrys veränderter Ton offenbar auch aufgefallen war. Mit dem geht man so
nicht um, stand unausgesprochen im Raum.
Larry zog die Augenbraue hoch. »Ah, ja.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Das Schiff stampfte heftig durch die
Wellen. Justus warf einen Blick aus dem Fenster und sah in der Ferne die
Lichter der Insel Catalina Island auf und ab wippen.
Das konnte ja heiter werden.
»Also gut. Wir machen ein Quiz«, sagte Larry in die Stille hinein. »Ich
stelle die Fragen, ihr antwortet. Wer am meisten weiß, gewinnt. Wir
beginnen in der Hauptstadt von Nanda: Welcher Platz liegt am Ende der
Kingston Street?«
Justus konnte sich viel merken, aber ganze Stadtpläne hatte er nicht im
Kopf.
»Nanda Circle«, sagte der Pressechef mehr gelangweilt als verwundert.
»Das Restaurant am Fischhafen? Der Name bitte.«
»Mikitas Bar«, antwortete Cumba, »aber …?«
»Wenn man vom Hafen aus in die Stadt geht«, ging Larry dazwischen,
»liegt die Concert Hall links oder rechts? Ian?«
»Genau gerade aus«, sagte Cumba, »aber was soll das?«.
»Ian antwortet nicht«, sagte Larry, »dabei sollte er das doch alles
wissen.«
»Ich habe keine Lust auf ein Quiz«, behauptete Justus.
»Passen Sie auf, etwas Leichtes: Welches ist die größte Schule der
Hauptstadt? Das dürfte doch nun wirklich kein Problem für Sie sein.«
Ian hatte ein paar Schulen erwähnt. Justus hatte sich alle gemerkt. Aber
welche die größte war? Auf einer hatte Ian sich sehr wohl gefühlt, es war
ein Internat gewesen. »Für mich ist die größte Schule die Sea Bay
Highschool«, sagte Justus. »Denn das waren meine besten Jahre.« Er
grinste in die Runde. »Und, falls das auch eine Frage werden sollte: Auf
dem Mount Nanana liegt ein Observatorium.« Das hatte Justus aus anderen
Zusammenhängen im Kopf. »Zufrieden?«
»Na also«, sagte Thabani. »Und nun hören wir vielleicht auf damit?«
Täuschte er sich, überlegte Justus, oder hatte ihn Clayton plötzlich
seltsam angeschaut?
»Das heißt noch nichts«, sagte Larry. »Das Observatorium ist
weltbekannt. Das kann auch einer wissen, der einfach nur an Sternen
interessiert ist.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«, fragte Clayton. »Etwa, dass Ian
nicht Ian ist?«
Cumba schüttelte den Kopf. »Hört auf«, sagte sie, »hört sofort damit
auf.«
»Es ist doch eine Leichtigkeit, sich eine Schule zu merken, wenn man
sich mit Ians Lebenslauf beschäftigt«, bohrte der Yachtbesitzer weiter.
Cumba nahm ihre Brille ab und blickte Larry scharf an. »Das führt hier
zu nichts Gutem«, sagte sie.
In dem Moment summte Justus’ Handy. Eine Textnachricht. Er blickte
auf das Display: von Ian.
Von Ian?
Obwohl Justus das Telefon unterhalb der Tischkante hielt, spürte er, wie
es Larry gelang, einen Blick darauf zu erhaschen. Zum Glück hatte Justus
das Telefon vorbereitet. Als Absender zeigte das Display nicht Ian an,
sondern einen unverfänglichen Namen: Susan.
»Eine Freundin«, sagte Justus und sah auf. Die Nachricht hatte aus einem
einzigen Wort bestanden: Sternenhimmel. Das konnte nur eins bedeuten.
»Alles okay mit ihr?«, fragte Cumba.
Justus nickte und fügte für den Fall, dass Larry die Nachricht mitgelesen
hatte, hinzu: »Sie übernachtet auf einer Ranch unter freiem Himmel. Die
Sterne sind wunderschön!«
Cumba schien froh darüber zu sein, ein neues Thema gefunden zu haben,
denn sie fing an zu erzählen, wie herrlich es war, in Nanda die Natur
genießen zu können.
Doch Clayton schien inzwischen ein Licht aufgegangen zu sein. Er
unterbrach sie und sagte: »Ich möchte auf Ihre Andeutungen
zurückkommen, Larry.« Er wandte sich kurz an Justus. »Sie verzeihen, Ian,
dass ich nachfrage, aber es ist im Interesse aller. Können Sie sich bitte
erklären, Larry?«
»Gerne.« Larry machte eine Kunstpause. »Ich glaube, dass wir im
Augenblick nicht den echten Sohn von Sir Roger Carew in unserer Mitte
haben!«
Der Satz schlug ein wie eine Bombe.
Als Erster fasste sich Justus. Nun galt es, die Rolle konsequent
weiterzuspielen. »Das wird Konsequenzen haben, Mr Larry Mars!«, sagte
er. »Ernsthafte Konsequenzen.«
»Bitte, Ian«, sagte Cumba beschwichtigend, »Larry muss da irgendetwas
…«
»Wie kommen Sie darauf, Larry?«, fragte Clayton.
»Erst nur eine Ahnung«, sagte der Schiffsbesitzer. »Dazu die Sache mit
dem Champagnerfleck.«
»Was basteln Sie sich denn da zusammen?«, warf Justus ein.
Larry fuhr unbeeindruckt fort: »Dieser Junge kennt sich nicht gut in
Nanda aus. Er verbirgt es geschickt, aber so leicht lässt sich ein Larry Mars
nicht täuschen. Und warum wohl möchte er heute Abend auf die
afrikanische Sprache verzichten? Nur aus Gastfreundschaft? Glauben Sie
das wirklich? Und schließlich … die Narbe.«
»Welche Narbe?«, fragte Thabani.
»Vor einigen Jahren wurde Ian Carew am Blinddarm operiert. Vorhin ist
dem Jungen hier das Hemd hochgerutscht. Da war keine Narbe. Nichts. Ich
habe mich inzwischen telefonisch bei meiner Informantin erkundigt. Ich
hätte die Narbe sehen müssen. Eine helle, halbmondförmige Narbe!«
»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen«, sagte Thabani. »Wer ist
denn diese Informantin?«
»Eine Frau, die mit einer früheren Mitarbeiterin der Landesvertretung
hier befreundet ist, die wiederum … nun, wie soll ich sagen … vor einer
Weile außer Dienst gestellt wurde. Sie erwähnte etwas von der Existenz
eines Jungen, der Ian zum Verwechseln ähnlich sieht.«
»Wenn das stimmt …«, begann Clayton.
»Zeigen Sie uns die Narbe«, forderte Larry.
Justus holte Luft. »Ich muss doch wirklich sehr bitten! Was soll dieses
Schmierentheater! Glauben Sie wirklich, dass ich mich so weit
herunterbegebe, mich hier aufgrund Ihrer haltlosen Anschuldigungen zu
entkleiden?« Er setzte einen empörten Blick auf. »Ihre guten Verbindungen
zu Nanda können Sie vergessen, Mr Mars! Und Ihre Abbaugenehmigungen
auch! Ich werde meinen Vater sofort über diese ungeheuerlichen
Anschuldigungen informieren!«
»Ian«, sagte Cumba und legte eine Hand auf Justus’ Arm, »Ian, bitte …«
»Ich muss erst mal frische Luft schnappen auf diesen Schreck. Ich hoffe,
das verwehren Sie mir nicht, Larry. Sonst betrachte ich das als
Freiheitsberaubung.«
Es waren schwere Geschütze, die Justus auffuhr. Doch für einen
Augenblick verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Er stand auf. »Ich gehe einen
Moment nach draußen. Allein«, fügte er hinzu, als er bemerkte, dass Cumba
sich erheben wollte.
»Tun Sie das, wer immer Sie sind«, antwortete Larry und ergänzte, an die
anderen gewandt: »Er wird schon nicht von Bord springen. Es wäre sein
sicherer Tod.«
Ein Bluff in letzter Sekunde
Justus stand auf und schritt bewusst langsam an Sesseln und Bar vorbei in
Richtung hinteres Deck. Er bemerkte, wie Larry dem Aufpasser, der sich
am Ende des Raums positioniert hatte, zunickte. Justus lief an ihm vorbei
und öffnete die Tür. Ein Schwall frischer, salzdurchsetzter Seeluft empfing
ihn und Justus atmete tief ein. Er trat hinaus und lehnte sich an die Reling.
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass der Gorillatyp ihn beobachtete.
Irgendwie musste er ihn loswerden. Justus tat ein paar Schritte zur Seite auf
einen Rettungsring zu, der an der Reling befestigt war, und sah einen
Moment lang auf die Heckwellen, die sich mit den Wellen aus dem Pazifik
kreuzten. Tiefschwarzes Wasser, auf dem die von den kräftigen Schrauben
aufgewirbelte Gischt weiß aufleuchtete, um sich dann irgendwann mit der
Dunkelheit zu vermischen und sich schließlich ganz zu verlieren.
Drinnen saßen die anderen und diskutierten heftig. Es war nicht schwer
zu erraten, über was. Aber das konnte Justus nun nicht ändern. Larry schien
Dreck am Stecken zu haben, das spürte er. Doch wer war der Verräter, die
Verräterin in der Vertretung? Wer arbeitete mit wem zusammen?
Der Gorillatyp starrte ihn an, kam aber nicht näher. Direkt unterhalb von
Justus lag das breite Badedeck, von dem aus man zum Schwimmen ins
Wasser springen konnte, wenn das Schiff sonnenbeschienen in einer Bucht
lag.
Der Erste Detektiv entsicherte den Rettungsring unauffällig. Dann
überwand er mit einem für ihn erstaunlich gewandten Schwung die Reling
und landete seitlich auf dem Badedeck. Das Schiff schlingerte im Seegang
und Justus hatte Mühe, die Balance zu wahren. Doch für einen Moment war
er dem Blick seines Aufpassers entkommen. Entschlossen warf er den Ring
ins Meer, mitten hinein in das wilde, von den starken Schrauben
hervorgerufene Gebrodel.
Der Rettungsring tanzte auf der aufgeschäumten See davon und wurde
rasch kleiner, da die Moviestar gut in Fahrt war.
Inzwischen klebte der Gorilla vermutlich an der Reling, doch Justus hatte
sich bereits in deren Schatten verborgen. Er hörte den Aufpasser brüllen.
»Mann über Bord! Mann über Bord!«
Der Bluff hatte funktioniert! Nun hieß es, keine Zeit zu verlieren. Justus
kletterte zurück auf das Deck und lugte durch ein Fenster. Der Gorillatyp
war nach drinnen gerannt. Alle waren aufgesprungen und redeten hektisch
durcheinander. Justus duckte sich und huschte nach vorne zum Bug. Er warf
einen Blick auf die Ebene über ihm, dort lenkte dieser Ken das Schiff. Noch
hatte er nichts von allem mitbekommen.
Doch da stürzte schon Larry heraus und rief: »Maschinen stopp! Mann
über Bord!«
Justus duckte sich wieder und krabbelte weiter, nicht einfach bei dem
Wellengang. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und ab und zu erwischten
ihn Tropfen von Gischt. Er erreichte die Schiffstür, die in das Treppenhaus
führte.
Larry war oben. Die anderen standen am Heck. Also konnte er es wagen.
Vorsichtig öffnete Justus die Tür und trat ins Innere der Yacht. Bian
Bonetta, die Köchin, war auch nicht zu sehen. Vermutlich war sie ebenfalls
nach Achtern geeilt.
Die Motoren des Schiffs fuhren herunter und liefen dann wieder los,
rückwärts, um die Yacht aufzustoppen. Justus tastete sich im Dunkeln
voran, bis er die Klinke der Kabinentür zu Larrys Schlafgemach in der
Hand hatte. Sternenhimmel. So lautete Ians Nachricht. Sie konnte nur eine
Anspielung auf den Diamantenhimmel über Larrys Doppelbett sein. Doch
vorhin hatte Larry die Tür abgeschlossen. Nun … ließ sie sich öffnen! Also
… musste Peter auch vor Ort sein. Peter, der Schlösserknacker.
Justus’ Herz jubilierte.
»Ian«, brüllte Larry durch das Treppenhaus. »Sind Sie noch an Bord?
Ian!« Offenbar kam Larry gerade wieder zurück.
Justus schlüpfte ins Innere. Dunkelheit empfing ihn. Kein glitzernder
Diamantenhimmel. Mit der Hand suchte Justus einen Lichtschalter.
Plötzlich schlug hinter ihm die Tür zu. Gleichzeitig stürzte sich jemand
von der Seite auf den Ersten Detektiv. Ein Arm drückte sich von vorne
gegen Justus’ Hals, sodass ihm fast die Luft wegblieb. Trotzdem gelang es
ihm, sich mit einem scharfen Ellenbogenstoß etwas Freiraum zu
verschaffen.
Eine Handytaschenlampe flammte auf und blendete ihn. Im ersten
Moment konnte Justus nicht erkennen, wer sein Gegenüber war.
»Es ist Justus!«
Das war Peters Stimme. Peter war tatsächlich hier. Hier in Larrys
Kabine!
»Justus!«
Das war Ian, der Justus umklammert hielt.
Nun leuchtete der Diamantenhimmel auf und tauchte alles in sein
sternklares Licht.
»Wir dachten, du seist Larry«, waren Ians erste Worte, als er Justus sah.
»Wir haben ihn brüllen gehört.«
Draußen ertönte wieder Larrys Stimme, die nach Ian rief.
Leise schloss Peter von innen die Tür zu. »Thabani ist unser Kandidat«,
platzte es sofort aus ihm heraus.
»Thabani?«
»Ich habe ein Dokument gefunden«, sagte Peter und zog einen
zusammengefalteten Zettel hervor.
»Erkläre mir das später. Zuerst müssen wir Ian rausschicken. Es ist
gerade verdammt knapp geworden mit meiner Tarnung.«
»Das haben wir mitbekommen«, sagte Ian und hob etwas vom Boden
auf, das Justus eben im Kampf aus der Tasche gefallen war. Eine
Visitenkarte der drei ???. Ian blickte Justus fragend an, und als der nickte,
steckte Ian die Karte ein. »Aber alles konnten wir nicht mithören«, sagte er.
»Denn zwischenzeitlich haben wir über das Nachbarschiff die Moviestar
geentert, nachdem wir mitbekommen hatten, dass sie ablegen soll.«
»Wisst ihr was von Bob?« Justus entfernte das Mikrofon und zog das
Hemd aus. »Er war doch auch auf der Gemini. Ich habe einen Kampf
gesehen.«
»Wir wissen genauso wenig wie du. Wir waren schon an Bord der
Moviestar, als wir sahen, dass er überfallen wurde. Er geht nicht ans
Telefon, auch Morton nicht, wir haben nichts von den beiden gehört.«
Larry war nun ganz nahe der Kabinentür. »Sind Sie da drin, Ian, oder wer
immer Sie sind?«
»Kannst du die Tür mit deinem Dietrich noch ein paar Momente
blockieren, Peter?«, flüsterte Justus und wandte sich an Ian. »Wir müssen
das Hemd wechseln. Nicht dass du plötzlich wieder diesen
Champagnerfleck hast. Und zeig denen deine Narbe. Das wird ein Schlag
für Larry sein.«
Ian zog das Hemd an und befestigte das Mikro. »Wir haben den
Empfänger dabei. Du und Peter könnt weiter mithören.«
Justus nickte. »Als Erstes werde ich Inspektor Cotta verständigen. Wegen
Bob.« Der Polizist aus Rocky Beach war ein Vertrauter der drei ???. Trotz
manchmal grundlegend unterschiedlicher Auffassungen, was die
Detektivarbeit der drei Jungen anging, stand er letztlich immer zu ihnen.
»Cotta ist schon auf dem Weg«, sagte Peter und fummelte in dem
Türschloss herum. »Was denkst du denn von mir, ich habe ihn längst
angerufen.«
Justus sah seinen Freund dankbar an.
Auf der anderen Seite der Kabinentür wurde Larry langsam ungeduldig.
Trotz Schlüssel bekam er sie nicht auf, weil Peter geschickt zu Werke ging.
Larry fluchte. Doch lange würde das nicht mehr gut gehen.
Justus blickte sich um. »Hier gibt es kaum Verstecke. Peter, nimm du das
Bad und ich klemme mich in einen der Einbauschränke. Larry wird nur Ian
hier vermuten und sich hoffentlich nicht weiter in der Kabine umsehen.«
Peter nickte und wartete, bis sich Justus versteckt hatte. Einen winzigen
Spalt ließ der Erste Detektiv die Schranktür offen. So konnte er ein wenig
nach draußen spähen.
Peter verdrückte sich ins Bad.
Ian stellte sich in Position.
Wieder drehte Larry den Schlüssel und nun klappte es.
Reaktionsschnell riss Ian selber die Tür auf. »Endlich«, rief er und trat
nach draußen, »Sie sollten wirklich mal die Schlösser auswechseln lassen,
Larry!«
Der doppelte Ian
»Sie sind gar nicht über Bord gegangen«, rief Larry wütend. »Das war ja
ein ganz feiner Trick mit diesem Rettungsring! Aber als der Wachmann
berichtet hat, dass er nicht eindeutig eine Person im Wasser gesehen hat,
standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass Sie nicht ersoffen sind.
Sondern sich noch an Bord befinden!« Er griff Ian am Arm, doch der riss
sich los.
»Lassen Sie mich, Larry! Ich habe nicht getrickst. Ich war sauer, dass Sie
mich so schlecht behandelt haben, und habe vor Wut das Ding ins Meer
geschmissen! Und dann habe ich hier mit meinem Vater telefoniert.«
»Was Sie nicht sagen. In meiner Kabine haben Sie herumgestöbert!« Er
warf einen Blick ins Innere, doch alles sah sehr ordentlich aus. »Wie sind
Sie da überhaupt hineingekommen?«
»Durch die Tür«, gab Ian bekannt. »Kann ich doch nichts dafür, wenn Sie
nicht richtig abschließen.« Unverzüglich machte er sich auf den Weg in den
Speiseraum.
Larry knallte die Tür zu und folgte ihm. »Haben Sie nicht gerade noch
behauptet, die Schlösser seien kaputt?«
»Sind sie auch. Seit ich sie von drinnen mit der Büroklammer
zugefummelt habe. Ich brauchte dringend mal einen Moment ohne Sie!«
Larry schnaubte.
Bei den anderen angelangt, marschierte Ian schnurstracks an den Tisch.
»Ja, da schauen Sie, nicht wahr? Tut mir leid wegen der kleinen Aufregung
eben«, sagte er. »Ich war etwas außer mir und musste mich abreagieren. Es
ist nur der Rettungsring im Meer gelandet.«
»Was für ein Glück«, sagte Cumba.
»Ja, was für ein Glück«, bestätigte Clayton. »Wir haben uns ziemlich
erschreckt, als ›Mann über Bord‹ gerufen wurde.«
»Glauben Sie immer noch, dass ich nicht ich bin?«, fragte Ian. »Kein
Fleck auf dem Hemd und solche Geschichten? Nun, Champagnerflecken
verblassen schnell. Und wie war das mit der Narbe am Bauch, Larry?« Ian
machte eine provozierende Pause. »Dann werde ich Ihnen mal den Gefallen
tun. Ganz langsam werde ich mein Hemd anheben, und was sehen Sie? Sie
sehen … eine, meine originale, echte Blinddarmnarbe!«
»Das gibt es doch nicht!«, brüllte Larry Mars.
»Da haben Sie wohl einen ziemlichen Knick in der Optik, Larry«, näselte
Ian. »Und nun werden Sie die Konsequenzen spüren. Für Ihre
Unternehmungen in Nanda wird es vermutlich von nun an deutlich
schwieriger werden.«
Cumba stieß einen Satz in der afrikanischen Sprache aus.
»Das werden wir noch sehen«, sagte Larry, doch er klang matter.
»Persönliche Rache ist das eine, Geschäfte sind das andere.«
»Auch Geschäfte brauchen Vertrauen«, konterte Ian.

In Larrys Kabine hatten Peter und Justus alles mit angehört. Während
Clayton und Cumba im Speiseraum versuchten, das Gespräch zwischen Ian
und Larry wieder in sicheres Fahrwasser zu lenken, wollte Justus wissen,
was Peter erlebt hatte.
Der berichtete in groben Zügen von den Ereignissen in der
diplomatischen Vertretung. Dann überreichte er Justus das Dokument, das
er gefunden hatte.
»Gratulation, Zweiter! Eine handschriftliche Aufstellung über
Lieferungen von ›Sternen‹ und entsprechende Überweisungen, die Larry an
eine Adresse in Nanda getätigt hat. Über der Aufstellung steht: ›für T‹. T
wie Tokoloshe! Offenbar ist das heute nicht die erste getarnte Übergabe. Da
hat sich jemand notiert, ob auch alle Lieferungen bezahlt worden sind, und
er hat die Liste geschickt versteckt. Also unterstützt Larry finanziell den
Geheimbund, der gegen Ians Vater arbeitet und ihn am liebsten loswerden
möchte.«
»Doch warum tut er das?«, fragte Peter.
»Das kann ich mir denken«, sagte Justus. »Ians Vater legt sehr viel Wert
auf die Rechte der indigenen Stämme in Nanda und auch auf den Schutz der
afrikanischen Natur. Larry baut Diamanten ab. Wasser wird verseucht, die
Umwelt geschädigt und die Einwohner selbst haben wenig davon. Da ist
ihm Ians Vater genauso im Weg wie den Tokoloshe-Leuten. Im Grunde hat
er das mir gegenüber vorhin sogar auch angedeutet.«
»Und mit wem er dabei zusammenarbeitet, das habe ich
herausgefunden«, erklärte Peter stolz. »Das Papier stammt aus einem
Ordner aus Thabanis Schreibtisch. Der Fisch stinkt also vom Kopf her: Der
Chef der Vertretung ist der Verräter!«
»Sehr gute Arbeit, Peter«, lobte Justus noch einmal. »Das Einzige, was
uns nun noch fehlt, ist ein Hinweis darauf, um was es sich bei dem Stern
handelt, den Ians Vater überbringen sollte. Unbemerkt von allen und nur
dem Absender und dem Empfänger bekannt.«
»Du spielst auf das an, was Ians Vater belauscht hat?«, fragte Peter. »Wer
von den Leuten hier hat denn unser nachgemachtes Bild von Ians Vater an
sich genommen?«
»Thabani. Doch wenn der Chef der diplomatischen Vertretung das Foto
vorher gestohlen hat oder auch hat stehlen lassen, warum sollte er sich nun
diese Fälschung einstecken?«
»Vielleicht geht der Einbruch in Ians Hotelzimmer gar nicht auf Thabanis
Konto«, überlegte Peter.
»Ja. Die Dame in Weiß. Aber welche Rolle spielt sie dann, wenn sie nicht
für den Verräter arbeitet? Und dann wäre da noch Bian Bonetta …«
»Ich dachte, sie ist nur die Köchin.«
»Eine verdammt neugierige Köchin, Peter. Aber das werden wir nun alles
herausbekommen.«
»Und wie?«
»Zunächst indem wir diese Gemächer hier noch gründlich überprüfen.
Und wenn wir wieder im Hafen sind, marschieren wir raus und sorgen
damit für eine große Überraschung.«
Peter war einverstanden. Zu zweit suchten sie die Kabine ab. Hinter dem
Gemälde eines Diamanten, in dem sich ein Frauengesicht spiegelte, fand
Peter einen in die Wand versenkten Tresor. Ein kleiner weißer Fussel
klemmte in dem Schlitz der Tür. Der Safe war von guter Bauart und würde
einfachen Öffnungsversuchen mit Leichtigkeit standhalten.
»Schade, dass es nicht so ein Hotelzimmersafe ist«, murmelte Peter und
drehte einfühlsam an den Zahlenrädern herum, »die bereiten mir null
Probleme.«
»Nicht nur dir, leider auch jedem Hoteldieb.« Justus warf einen Blick auf
den Tresor und beschäftigte sich dann weiter mit dem Schlafgemach. Doch
er entdeckte nichts Auffälliges mehr. Also nahm er sich Bad und Toilette
vor. In einem Abfallkorb lag eine zerknüllte Schachtel in den Farben Grün
und Gold. Es war die Verpackung, in der der Orden gesteckt hatte, den
Justus Thabani verliehen hatte. Der Erste Detektiv nahm sie heraus.
Stirnrunzelnd sah er sich die Pappe an, strich sie glatt, pustete sie an, sodass
ein paar Watteflocken herausflogen, und untersuchte dann den Rest des
Abfalls. Eine leere Zahnpastatube, eine Rasierklingenschachtel und noch
mehr zerrupfte Watte.
»Sollen wir es noch mal bei Bob probieren?«, fragte Peter, der vom
Tresor abgelassen hatte.
Justus nickte. Er nahm das Telefon in die Hand und tippte auf den
Kontakt. Eigentlich bestand wenig Hoffnung, dass der dritte Detektiv nun
plötzlich abhob. Doch zum Erstaunen von Justus und Peter nahm ihr Freund
den Anruf an.
»Ja, bitte?«
»Bob! Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören. Geht es dir gut? Was ist
passiert?«
»Klar geht es mir gut«, antwortete Bob, doch etwas Automatenhaftes in
seiner Stimme ließ Justus aufhorchen. »Ich habe es leider nicht mehr aufs
Schiff geschafft, der Sprung war zu weit.«
Das entsprach nicht ganz den Tatsachen, wie Justus wusste. Konnte Bob
überhaupt frei reden? Der Erste Detektiv überlegte blitzschnell. »Ist der
Fahrer des Rolls-Royce eigentlich noch da?«, fragte er. »Wir haben ihn ja
nur für den Abend bezahlt. Je länger er nutzlos herumsteht, umso teurer
wird es.«
Natürlich kostete Mortons Einsatz keinen Cent, und er war auch nicht nur
der Fahrer, das wusste Bob genauso wie Justus.
»Der Mann hat gesagt, das Finanzielle regeln wir morgen«, ging Bob auf
Justus’ Finte ein. Dieser schluckte. Damit hatte er den Beweis, dass Bob
nicht alleine war und jemand mithörte. »Kommt bitte möglichst schnell heil
zurück, dann wird sich alles klären«, ergänzte der dritte Detektiv.
»Das tun wir.« Justus unterbrach das Gespräch und wandte sich an Peter.
»Bob lebt und er scheint bei guter Gesundheit. Aber er wird überwacht und
kann nicht frei sprechen. Seinen letzten Satz deute ich so, dass wir
allmählich mal nach ihm schauen sollten.«
»Vielleicht gelingt es Ian, Larry zur Rückfahrt zu bewegen, jetzt, wo er
offensichtlich doch der richtige Ian ist. Wir bleiben hier versteckt. Wenn wir
zurück in Marina del Rey sind und Inspektor Cotta zu uns stößt, dann
werden wir ihn auf die Spur von Thabani und Larry setzen und Bob
befreien.«
Justus nickte. Sie lauschten auf die Stimmen, die durch das
Empfangsgerät drangen. Sie waren plötzlich lauter geworden. Es klang
nach einem Streit. Doch es war keiner.
»Die haben Ians Sendegerät entdeckt!«, rief Peter entsetzt.
»Planänderung. Wir müssen Ian zu Hilfe kommen, sofort!«
Eilig verließen die beiden das Schlafgemach. Sie passierten das
Treppenhaus und stürmten Sekunden später in den Speiseraum.
Der Effekt hätte nicht durchschlagender sein können. Alle – Thabani,
Clayton, Cumba, Larry und auch Ian – starrten Peter und Justus an, als
wären soeben zwei Geister erschienen.
Auch Bian Bonetta, die Köchin, die mit einer Tortenschachtel bewaffnet
etwas abseits stand, konnte offenkundig kaum glauben, was sie sah.
»Es gibt also doch zwei Ians«, fand Larry als Erster wieder Worte, »habe
ich es euch nicht gesagt?« Über den Auftritt schien er sogar den Minisender
zu vergessen, den er Ian offenbar gerade eben aus der Hosentasche gezogen
hatte.
»Ich … ich … «, stotterte Cumba.
»Aber wie das?«, fragte Thabani.
»Jetzt reicht es!« Plötzlich hatte Bian Bonetta eine Pistole in der Hand.
Nun wirkte sie auch für die anderen Gäste nicht mehr wie eine nette und ein
wenig ungeschickte Köchin, sondern dominant, klar und zielbewusst.
Abwechselnd zielte sie mal auf den einen, mal auf den anderen der
Anwesenden. »Niemand bewegt sich! Ganz ruhig bleiben, Leute, ganz
ruhig! Und nun macht ihr genau das, was ich euch sage!«
Enttarnt!
Bian Bonetta hatte mit einer solchen Schärfe gesprochen, dass sich keiner
zu regen wagte.
Auch nicht Justus, der die Pistole, welche die vermeintliche Köchin in
der Tortenverpackung versteckt hatte, genau im Blick hatte. Er kannte das
Modell. Ohnehin hatte er einen Verdacht. »Sie sind von der Polizei, oder?«
Sie sah ihn an. »Du sagst es. Ich bin Kommissarin Martha Martinez.
Sonderfahndung Verdeckte Ermittlung. Und mit wem habe ich das
Vergnügen?«
»Justus Jonas von den drei ???«, sagte Justus und trat einen Schritt vor.
»Wir sind Detektive.«
Ian trat auch ein Schritt vor. »Ich bin Justus Jonas«, sagte er mit Schalk
in den Augen. »Darf ich Ihnen als Zeichen des Beweises unsere
Visitenkarte überreichen?« Noch bevor der Erste Detektiv reagieren konnte,
hatte Ian die Karte, die er vorhin eingesteckt hatte, gezückt und hielt sie
stolz der Polizistin entgegen.
Kommissarin Martinez trat herbei und nahm ihm das Papierstück ab.
»Wie nun?«, fragte sie und blickte zwischen Justus und Ian hin und her.
Justus musste innerlich grinsen. Er gönnte Ian den Spaß. Schließlich war
er selbst lange genug als Ian unterwegs gewesen und hatte es genossen, mal
in eine andere Rolle schlüpfen zu dürfen. Wenigstens für ein paar Sekunden
sollte auch Ian mal dran sein. »Wir sind in gewisser Weise beide beide«,
sagte Justus gelassen. »Und wir nehmen an, dass Sie einem
Diamantschmuggelring auf der Spur sind. Peter Shaw sowie Bob Andrews
ermitteln ebenfalls in dem Fall.«
Für einen kurzen Moment wirkte Martha Martinez ehrlich überrascht.
»Also stimmt das, was dieser Bob meinen Kollegen an Land erzählt hat«,
sagte sie.
Peter und Justus sahen sich erleichtert an. »Bob ist in den Händen der
Polizei?«, fragte der Zweite Detektiv.
»Ja, mein Team hat vom Nachbarschiff aus alles überwacht und wir
hielten ihn für einen Mittäter.«
»Sie verstehen offenbar nicht viel von dem, was hier vor sich geht«,
stellte Justus sachlich fest.
»Noch nicht«, sagte die falsche Köchin. »Mr Mars, beordern Sie das
Schiff zurück in den Hafen. Aber Sie verlassen dazu nicht den Raum. Ihre
Stimme dürfte kraftvoll genug sein.«
Larry ging zum Treppenhaus, brüllte den Befehl nach oben und trat
zurück zu den anderen.
Die Polizistin wandte sich an Ian. »Und nun, werte Detektive, erzählt
bitte, was ihr herausgefunden habt. Wenn ihr wirklich Detektive seid.«
»Das ist dann doch dein Part«, sagte Ian zu Justus. »Du bist der echte
Detektiv. Ich wollte nur einmal kurz auch in den Schuhen eines anderen
stehen.«
»Das verstehe ich«, sagte der Erste Detektiv. »Kommissarin Martinez,
was die Route des Diamantenschmuggels betrifft, so nehme ich an, dass Sie
Hinweise haben, dass der Weg über das diplomatische Personal führt. Das
ist besonders geschickt, denn dieser Personenkreis wird bei der Einreise in
die USA kaum kontrolliert. Offenbar passiert das auch nicht das erste Mal.«
Die Polizistin nickte.
»Sie hielten diese Veranstaltung für den Ort der Übergabe und Ian für den
Überbringer der Ware. Deswegen kamen Sie als Köchin auf das Schiff und
interessierten sich sehr für den Inhalt des Rucksacks. Doch wie würde die
Übergabe vor sich gehen, wer würde das Schmuggelgut entgegennehmen?
Das wollten Sie hier herausfinden.«
»Wir wissen, wer der Verräter ist«, fiel Peter Justus ins Wort.
Ein Raunen ging durch den Raum.
»Und was mit dem Schmuggel finanziert wird«, setzte Justus hinzu. »Ich
sage nur: Geheimbund Tokoloshe!«
Wieder ein Raunen. Justus sah in die Gesichter. Thabani, Clayton,
Cumba, Larry. Alle sahen überrascht drein. »Tokoloshe ist eine
Geheimorganisation, deren Ziel es unter anderem ist, Ians Vater zu
entmachten, weil sie seine politische Arbeit ablehnen. Außerdem ist Sir
Roger den Leuten im Weg, die die Natur von Nanda ausbeuten, um sich an
Diamanten und anderen Bodenschätzen zu bereichern.«
»So ein Blödsinn«, brüllte Larry los und wandte sich an die Polizistin.
»Tokoloshe, was soll der Quatsch? Sie glauben so eine Jungenfantasie doch
wohl nicht?«
»Für mich klingt alles sehr nachvollziehbar«, sagte Kommissarin
Martinez. »Mr Mars, Sie kaufen den Verschwörern also geschmuggelte
Diamanten ab und finanzieren damit deren Verrat. Was schließlich auch
wieder Ihnen und Ihren Geschäften in Nanda entgegenkommt, die sie
ungestörter verrichten können.«
Larry warf der Frau einen wütenden Blick zu. »Ich könnte euch alle ins
Meer kippen«, murmelte er, »die ganze Brut!«
Der Erste Detektiv lächelte. Das hatte Larry nun nicht mehr in der Hand.
Außerdem hatte die Yacht den Kurs geändert. Justus hatte es an den
Bewegungen des Schiffes gespürt. Die Lichter der Küste kamen wieder
näher.
»Und, Peter Shaw? Wer ist nun der Verräter?«, wollte die Polizistin
wissen. »Wer hintergeht sein Land?«
Peter holte Luft, aber Justus war schneller. »Organisiert hat alles eine
Person im Team der diplomatischen Vertretung. Und diese Person ist …«
»Thabani Mathoho«, sagte Peter, »der Chef von allem.«
»Das ist eine Lüge!« Thabani war einen Schritt nach vorne getreten.
Seine Augen blitzten. »Was erzählt dieser Junge da? Nicht ich verrate mein
Land, es ist Cumba! Cumba Balewa!«
»Ach ja?« Nun war es an Cumba, aus der Haut zu fahren. »Ich? Das ist ja
das Allerneuste. Und warum nicht Clayton? Oder doch du? Ich kann nur
eins sagen: Ich bin es jedenfalls nicht!«
»Ich möchte …«, begann Justus.
»Natürlich bist du die Verräterin, Cumba«, rief Clayton dazwischen.
»Thabani hat es mir selbst erzählt. Es wurden Unterlagen in deinem
Schreibtisch gefunden.«
»Nein. Die Papiere waren eindeutig in Mr Mathohos Schreibtisch«, sagte
Peter ruhig.
»Ich bitte alle …«, versuchte Justus dazwischenzugehen.
»Lügner! Der Junge lügt!«, rief Thabani.
Peters Gesicht lief rot an. »Ich lüge nicht! Ich habe es mit eigenen Augen
gesehen. Es war Ihr Schreibtisch, Mr Mathoho!«, rief er. »Der in Ihrem
Büro!«
Thabani Mathoho trat auf Peter zu. Alle Ruhe war wie weggeblasen.
Seine Lippen bewegten sich, ohne dass ein Ton aus dem Mund kam. Er
ballte die Faust.
Bisher hatte die Polizistin den Dingen ihren Lauf gelassen. Zu interessant
war das, was sie da zu hören bekam. Doch nun schien die Situation zu
eskalieren und sie musste eingreifen. »Bleiben Sie sofort stehen!«, rief sie
scharf.
Thabani verharrte. »Tut mir leid«, murmelte er.
»Darf ich vielleicht …«, begann Justus.
»Nein! Keiner sagt mehr etwas. Gleich sind wir im Hafen. Dann klären
wir alles.« Die Miene der Kommissarin verriet, dass sie keine Widerrede
duldete.
Es dauerte noch mehrere Minuten, bis das Schiff am selben Platz
festmachte, von dem es abgelegt hatte.
Vier Polizisten kamen an Bord, die auf ein Nicken der Kommissarin hin
Larry Mars festnahmen. Hinter ihnen … betrat Bob das Schiff! Sein Blick
wechselte kurz von Ian zu Justus und zurück, dann gesellte er sich zum
Ersten Detektiv und murmelte: »Zum Glück seid ihr wieder da!«
Und zu aller Überraschung folgte eine weitere Person. Es war die Frau in
Weiß. Sie sah sich neugierig um.
»Und wer sind Sie, wenn ich mich danach erkundigen darf?«, fragte
Kommissarin Martinez.
»Ich bin eine Voodoo-Heilerin. Mein Name ist Susan Tree Miller. Aber
nennen Sie mich lieber Mambo Mawu.«
»Wenn Sie sich so wohler fühlen«, sagte die Polizistin.
Mambo Mawus Blick wechselte zwischen Ian und Justus hin und her.
»Nun wird mir einiges klar«, sagte sie.
Der Erste Detektiv sah die Frau stirnrunzelnd an, kam aber wieder auf
sein Vorhaben zurück. »Darf ich nun die weiteren Zusammenhänge des
Schmuggels klären?«
»Gleich«, sagte Kommissarin Martinez und deutete auf Thabani. »Ihn
bitte auch verhaften.« Die Polizisten setzten sich in Bewegung.
»Einen Moment noch«, bat Justus laut.
Die Beamten warfen der Polizistin einen fragenden Blick zu. »Okay,
wartet«, befahl sie kurz.
»Thabani Mathoho ist unschuldig«, sagte Justus. »Es tut mir leid, Peter:
Der Chef der Vertretung ist nicht der heimliche Empfänger der Ware.« Der
Erste Detektiv nahm die Verpackung, die er in Larrys Badezimmer
gefunden hatte, aus seiner Hosentasche. »Ich bin sicher, dass der Diamant
hier drin transportiert worden ist. Es ist die Verpackung des Ordens, den Mr
Mathoho erhalten hat. In die Schachtel ist eine kleine Vertiefung
eingearbeitet, in der der Diamant gesteckt haben muss. Schön mit Watte
gepolstert. Dies ist mir zunächst nicht aufgefallen, dazu hätte man die
Verpackung auch zerstören müssen. Erst vermutete ich, dass sich alles um
ein gestohlenes Foto dreht. Und den darauf abgebildeten Stern. Aber das
war ein Irrtum. Es war der Orden, um den es die ganze Zeit ging, genauer
gesagt der in der Schachtel des Ordens versteckte Diamant. Dieses war der
›Stern‹, über den am Krankenbett von Ians Vater gesprochen wurde.« Justus
machte eine Kunstpause, bevor er zu seinem Finale kam: »Ich habe den
Orden vorhin an Mr Mathoho verliehen, das stimmt. Aber die Verpackung
hat nicht er bekommen. Die hat mir Mrs Cumba Balewa abgenommen,
scheinbar aus Freundlichkeit. Aber in Wirklichkeit, um die Schachtel Larry
Mars zu übergeben, der daraufhin in seinem Zimmer den Diamanten
ausgepackt und mutmaßlich in seinen Tresor eingeschlossen hat. Niemand
hätte etwas von der Übergabe gemerkt. Es war brillant. Cumba Balewa: Sie
sind die Verräterin!«
Alle starrten Cumba an, die durch ihre monströse Brille verzweifelt Larry
anblickte, als könne nur er ihr noch helfen.
Doch dessen Gesicht wirkte aschfahl.
»Und was ist mit den Unterlagen in Mr Mathohos Schreibtisch?«, fragte
Peter. Er ahnte, dass es eine andere Erklärung für seinen Fund geben
musste.
Zunächst meldete sich aber Ian zu Wort, der sich an die Voodoo-Heilerin
wandte. »Mambo Mawu, wenn ich ein wenig auf den Spuren von Justus
Jonas wandeln und eins und eins zusammenzählen darf …«
Die Frau sah ihn an. »Das darfst du, denn du bist der echte Ian Carew.
Ich spüre es.«
»Warum haben Sie mir das Bild gestohlen?«
»Um deinen Vater mit einem Zauber zu beschützen. Gefährliche
Menschen arbeiten gegen ihn, der Unfall hat ihn zusätzlich geschwächt …«
»Und warum haben Sie mich nicht direkt nach dem Foto gefragt?«,
überlegte Ian. »Wenn wir auf derselben Seite stehen?«
»Dessen war ich mir zunächst nicht sicher«, antwortete Mawu.
»Schließlich bist du erst in letzter Sekunde eingesprungen. Und später
schien die Begegnung mit dir in Rocky Beach meine Zweifel an dir zu
bestätigen. Ich wusste ja nichts von deinem Doppelgänger. Und darüber
hinaus: Wie hättest du denn reagiert, wenn dich eine wildfremde Frau
angesprochen hätte, ob du ihr für einen seltsamen Zauber etwas
Persönliches von deinem Vater ausleihen könntest?«
Ian runzelte die Stirn. »Und meine Zimmertür haben Sie von Zauberhand
geöffnet?«
Mabu lächelte. »Da käme selbst meine Spiritualität an ihre Grenzen.
Nein, ich habe mir kurz deine Zimmerkarte aus deinem Rucksack
ausgeliehen, als du schwimmen warst. Ganz still und leise. Ich fand dann
nur das Foto, hatte auf mehr gehofft. So kam ich auf die Idee, dir als Sir
Rogers Sohn eine Haarsträhne abzuschneiden.«
»Doch die Aktion ging schief«, nahm Ian den Faden auf. »Denn Sie
standen nicht mir, sondern Justus gegenüber, der unsere Sprache nicht
verstand, und sie ahnten, dass da etwas nicht stimmte.«
Die Heilerin nickte. »Das war nicht schwer herauszuspüren. Nun
vermutete ich, dass du eine doppelte Seele hast, und das verstärkte nur noch
meine Sorge, dass du auf die Seite des Verrats gewechselt haben könntest.«
»Ich kenne und vertraue Mambo Mawu schon lange«, übernahm Thabani
Mathoho das Wort. »Ich hatte sie zwar schon eine Weile nicht mehr
gesehen, aber dann rief sie mich an und wir trafen uns in ihrem Auto. Aus
Nanda hatte ich gerade einen Hinweis auf Tokoloshe bekommen. Wir
verfolgten Sie, Ian, verloren Sie aber aus den Augen. Daraufhin bat ich
Mawu, am Abend in den Büros nach Beweismaterial zu suchen.«
Die Voodoo-Heilerin nickte ihm zu. »Dort tauchte dann plötzlich dieser
Junge auf«, sie wies auf Peter, »und ich habe versucht, ihn mit einem
Zauber gegen Tokoloshe außer Gefecht zu setzen.«
»Doch der hat nicht gewirkt«, sagte Peter stolz.
»Wahrscheinlich, weil du gar nicht zu Tokoloshe gehörst«, sagte Bob
grinsend.
»Jedenfalls fanden Sie Beweise in der Vertretung«, fuhr Ian fort. »Doch
an dem Ort spürten Sie …«
Die Heilerin wusste offenbar schon, was er sagen wollte, und unterbrach
ihn lächelnd. »Du ahnst das Richtige, Sir Rogers Sohn. Die Unterlagen fand
ich bei Cumba. Und ja: Der Ort hatte eine sehr negative Ausstrahlung. Ich
wechselte also mit dem Ordner in Thabanis Büro. Wo Peter mich ziemlich
überraschte.«
»Was für eine Geschichte«, sagte Kommissarin Martinez, die sich alles
mit großem Interesse angehört hatte. »Schön wären noch Beweise.«
»Kein Problem.« Peter zog das Dokument hervor, das er gefunden hatte,
faltete es auseinander und reichte es der Polizistin. »Dies zum Beispiel.
Überprüfen Sie alles. Das ist mein Beitrag zur Sache!«
»Den zweiten Beweis finden Sie sicherlich in Larrys Tresor«, ergänzte
Justus. »Der in dessen Tür eingeklemmte Wattefetzen ist eine sehr
verräterische Spur.«
»Na, dann mal los«, forderte die Polizistin Larry auf.
Zusammen gingen sie in das Schlafgemach.
»Aufmachen«, befahl Martinez.
Larry regte sich nicht.
»Los! Sonst brechen wir das Ding auf«, sagte die Polizistin. »Dann ist
ein ziemliches Loch in Ihrem schönen Schiff.«
Mit verdrießlichem Gesicht trat Larry an den Safe und gab eine
Kombination ein. Die Tür schwang auf. Kommissarin Martinez zog ihre
Handschuhe an und griff ins Dunkle. Sie ertastete etwas und nahm es
heraus.
»Wow«, entfuhr es Peter.
»Ein blauer Diamant«, kommentierte Ian staunend. »Der ist besonders
wertvoll.«
»Und wunderschön!«, rief die Polizistin aus. »Nett, so was mal in der
Hand zu haben.« Sie hielt das Schmuckstück gegen den glitzernden
Himmel des Schlafgemachs und ließ es wie einen Stern funkeln. »Womit
der Fall eindeutig gelöst wäre«, sagte sie, »klar wie ein Diamant!«
Da betrat ein Mann den Raum. »Ich bin Inspektor Cotta«, rief er in die
Runde, »komme ich zu spät?« Er stutzte. »Oh nein! Zweimal Justus? Wie
halten Sie das nur aus, Kollegin?«
»Ein gutes Essen entlohnt für so manches«, sagte die Polizistin, steckte
den Diamanten in einen kleinen Plastikbeutel und lächelte. »Kochen ist
wirklich meine Leidenschaft. Darf ich Sie die Tage vielleicht einladen,
wenn wir die Formalitäten erledigt haben?«
»Aber gerne!« Cotta sah in die Runde. »Appetit habe ich immer. Darf ich
die drei … nein, heute eher vier hungrigen Detektive mitbringen?«
Die Polizistin nickte. »Das haben die Jungen sich wirklich verdient.«
»Ich auch?«, rutschte es Bob heraus.
Kommissarin Martinez war gleich klar, was er meinte.
»Selbstverständlich. Ihr seid ein Team, wenn ich eure Karte richtig gelesen
habe. Da hat mal der eine mehr und der andere weniger zu tun. Das gleicht
sich alles aus. Lass dir mein Menü einfach ganz besonders gut schmecken!«
Bob strahlte. Dann hatte er eine Idee und wandte sich an Ian. »Wolltest
du nicht einmal richtig erleben, wie es sich anfühlt, jemand anderes zu sein?
Morgen steht bei Justus eine Sportprüfung auf dem Stundenplan …«
Justus wollte sofort protestieren, Ian hatte eben seinen Spaß gehabt, und
das sollte doch wohl reichen.
Aber Ian schnitt ihm das Wort ab. »Ich bin dabei«, sagte er. »Und eine
gute Note in Sport hast du doch bestimmt auch dringend nötig, Justus.«
Diesem Argument konnte der Erste Detektiv etwas abgewinnen. Er
lächelte und nickte.

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