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„Leseverstehen – ein Stiefkind der (Fremdsprachen-) didaktik? Zum


Leseverstehen im DaF-Anfängerunterricht für Kinder und Jugendliche in
Polen”

Chapter · January 2009

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1 author:

Luiza Ciepielewska - Kaczmarek


Adam Mickiewicz University
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INHALT

Zum Lesen sind Texte nötig! Zur Einleitung 7


Marina Foschi Albert / Marianne Hepp (Pisa)

Plädoyer für mehr Schriftlichkeit im Fremdsprachunterrricht 13


Horst Sitta (Zürich)

Textlinguistik als Seminareinheit in der Auslandsgermanistik 35


Waldemar Czachur / Kinga Zielińska (Warszawa)

Leseverstehen – ein Stiefkind der (Fremdsprachen-)Didaktik? Zum 49


Leseverstehen im DaF-Anfängerunterricht für Kinder und
Jugendliche in Polen
Luiza Ciepielewska (Poznań)

Leseverstehensstrategien bei der Analyse kausaler Strukturen 61


im theoretischen Kurs Lingua Tedesca 1
Sabrina Ballestracci (Pisa)

Die semiotische Analyse der Werbetexte als didaktische Strategie 83


zur Förderung des Leseverstehens
Gabriela Gorąca (Poznań)

Bildlesen – wie es in den ersten Textproduktionen italophoner 95


Lerner realisiert wird
Marc Träbert (Pisa)

Kognition und Emotion bei rezeptionsspezifischen Lernprozessen 117


Sabine Hoffmann (Palermo)
Die Suche nach auffälligen Wörtern bei der Rezeption von 131
touristischen Textsorten im DaF-Unterricht
Carolina Flinz (Pisa)

Leseverstehen als Ausgangspunkt für die Schulung anderer 143


Kompetenzen im Wirtschaftsdeutschunterricht für polnische
Studierende
Monika Kowalonek (Poznań)

Der rezeptionsgrammatische Ansatz am Beispiel der 151


Nominalphrase. Vorschlag einer didaktischen Progression bei
der Wahl wirtschaftsbezogener Textsorten für italienische DaF-
Lernende
Daniela Sorrentino (Pisa)
ZUM LESEN SIND TEXTE NÖTIG! ZUR EINLEITUNG

Marina Foschi Albert / Marianne Hepp (Pisa)

Der vorliegende Band dokumentiert das am 13. Mai 2009 an der


Universität Pisa abgehaltene Nachwuchskolloquium Lesen und Leseverstehen
in der DaF-Didaktik, an dem PromovendInnen und junge Doktorinnen für
DaF bzw. Deutsche Sprachwissenschaft aus italienischen und polnischen
Universitäten im Rahmen eines – mit diesem Treffen begonnenen –
Austauschprogramms zwischen der Università di Pisa und der Adam
Mickiewicz-Universität Poznań teilgenommen haben. Er enthält die
überarbeiteten Fassungen der Vorträge, die dem Kolloquiumsthema
gewidmet waren, an erster Stelle den einleitenden Gastvortrag von Horst
Sitta, sowie weitere Aufsätze, die sich aus der Diskussion ergeben haben.
Die im Kolloquiumstitel enthaltene, definitorisch durchaus praktikable
Differenzierung zwischen Lesen und Leseverstehen wurde im Verlauf des
Kolloquiums – jenseits von rein operativen Zwecken – zugunsten anderer
Schwerpunktsetzungen eher marginal behandelt und aus diesem Grund im
Titel der Druckfassung nicht mehr wörtlich vorgebracht.
Der Terminus Leseverstehen hat sich in der Fremdsprachendidaktik
eingebürgert, ohne das vorwiegend gemeinsprachliche Wort Lesen
vollständig zu ersetzen. Obwohl eine semantische Unterscheidung möglich
ist, werden beide Worte, sogar in kontextähnlichen Situationen, in denen es
beispielsweise darum geht, den Europäischen Referenzrahmen des
Europarats zu beschreiben, im Großen und Ganzen als Synonyme
verwendet1. Eigentlich sollte das Fachwort Leseverstehen die Fertigkeit
benennen, die sich im Rahmen des Prozesses des Erwerbs einer
Fremdsprache progressiv entfaltet. Als Pendant zu Hörverstehen wird im
kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht Leseverstehen als
«rezeptive» Fertigkeit betrachtet, was auf die Tatsache verweist, Lesen sei
eine «rezeptive», keineswegs eine «passive» Handlung2, wie sie auch nicht
als untergeordnete Fertigkeit gegenüber anderen Komponenten des
fremdsprachlichen Könnens angesehen werden soll, wovon etwa beim

1
Vgl. die Tabellen der «Kann-Deskriptoren» in http://www.goethe.de/Z/50/
commeuro/ 4040202.htm#a (= Leseverstehen) bzw. www.goethe.de/z/50/ commeuro
/d.htm (= Lesen).
2
Vgl. Madeline Lutjeharms. Leseverstehen. In: Helbig, Gerhard / Götze, Lutz / Henrici,
Gert / Krumm, Hans-Jürgen (Hgg.). Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales
Handbuch. Berlin / New York, de Gruyter: 901-908 (hier: S. 901).
Marina Foschi Albert / Marianne Hepp

früheren Trend zu audiolingualen Methoden im Fremdsprachunterricht


stillschweigend ausgegangen wurde. Lesen als «praktizierte Rezeption»
(Sitta in diesem Band) untersteht, im Sinne der Rezeptionsforschung,
hermeneutischen Bedingungen. Lesen impliziert einen Prozess der
Sinnentnahme, der weitaus komplexer ist als die Wahrnehmung der
Buchstabenfolge, wie schon die Leseforschung des ausgehenden 19.
Jahrhunderts feststellen konnte3.
Die in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge beschäftigen sich
– dem ursprünglichen Tagungsprogramm entsprechend – mit Lesen aus
fremdsprachdidaktischer Perspektive, indem verschiedene Vorschläge für
die Auswahl von Lesetexten, die die Leselust der Lernenden erhöhen, und
für den Ansatz bestimmter Lesestrategien zur Förderung der
Lesekompetenz formuliert werden. Auffällig an der Gesamtheit der
Aufsätze ist die starke Verbindung von didaktischer Theorie und Praxis,
wobei letztere oft die erstere nicht nur inspiriert, sondern eine konkrete
Basis für die empirische Forschung darstellt. Über die Vielfalt der
Ansichten hinaus drehen sich die einzelnen Argumentationen
schwerpunktmäßig um drei konzeptuelle Achsen, die im Folgenden als
«Axiome» dargelegt werden sollen:
1) Die Lesekompetenz ist weder nebensächlich gegenüber anderen
Teilkompetenzen noch kann sie bei den Lernenden als einzelne, außerhalb
der gesamten Textkompetenz stehende Fertigkeit gefördert werden. Die
Auffassung des Lesens als Mittel zum Fremdspracherwerb schlechthin
scheinen alle hier versammelten Autoren zu vertreten. Nach Lutjeharms ist
Lesen «einerseits ein Mittel zum Erwerb von Sprachkenntnissen,
andererseits ist Spracherwerb die wichtigste Vorbedingung zum Lesen der
Fremdsprache»4. Ein entsprechender Hinweis darauf ist im einleitenden
Beitrag von Horst Sitta enthalten, bei dem es um das wechselseitige
Verhältnis von Lesen und Schreiben innerhalb des aus didaktischer
Perspektive als Hyperonym betrachteten Begriffs der «Schriftlichkeit» geht.
Dementsprechend werden Lesen und Schreiben als für die Fremdsprach-
didaktik komplementäre Größen angesehen: Lesen als «praktizierte
Rezeption» wird zum Vorbild / Modell für die Textproduktion der Lerner5.

3
Erdmann, Benno / Dodge, Raymond. Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf
experimenteller Grundlage. Halle an der Saale, Niemeyer, 1898.
4
Vgl. Lutjeharms, zit. S. 906.
5
Dass Rezeption und Verstehen die zwei Seiten der Kommunikations-Medaille
darstellen, hat die bahnbrechende Studie von Hans Jürgen Heringer, Lesen lehren lernen.
Eine rezeptive Grammatik des Deutschen (Tübingen, Niemeyer 1989) gezeigt, auf die sich
viele der hier enthaltenen didaktischen Vorschläge direkt beziehen – oder auch
indirekt, d.h. durch Verweis auf das von Heringer inspirierte Lehrwerk für italophone

4
EINLEITUNG

2) Die moderne Lese-DaF-Didaktik kann aus methodologischen


Gründen die Auseinandersetzung mit der textlinguistischen Forschung
nicht umgehen. Die unvermeidliche Konnexion von Texten und DaF-
Unterricht ist einer vertieften Reflexion würdig, da der DaF-Unterricht
durchweg auf dem Umgang mit Texten basiert. Der Nutzen einer
gemeinsamen Reflexion von Textlinguisten und Didaktikern sowie die
bisher noch unvollständige Verknüpfung ihrer Forschungsergebnisse wird
von vielen Seiten hervorgehoben6. Dass diese Konnexion von großem
Belang für den DaF-Bereich vor allem im Ausland ist, haben die
Herausgeberinnen dieses Bands zusammen mit der deutschen Kollegin Eva
Neuland und weiteren Kolleginnen und Kollegen der «Inlandsgermanistik»
bereits anlässlich einer im Jahr 2004 abgehaltenen Tagung feststellen
können.7 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die polnischen Kollegen
Czachur / Zielińska, deren Bestandsauf-nahme im vorliegenden Band als
Plädoyer für ein Mehr an didaktisierter Textlinguistik in der
Auslandsgermanistik gelesen werden kann.
Damit wird der entsprechende Blickwinkel interkulturell ausgeweitet.
Am wichtigsten scheint bei diesem erweiterten Panorama die Tatsache zu
sein, dass die Textlinguistik sowohl in der Inlands- als auch in der
Auslandsgermanistik (am Beispiel Italien und Polen) spätestens seit der
sogenannten pragmatischen Wende zunehmenden Einfluss auf die DaF-
Didaktik ausgeübt hat. Dass die Assimilierung der textlinguistischen
Prinzipien und Beschreibungsmittel in die didaktische Praxis deshalb
vollständig realisiert worden sei, muss trotzdem weiterhin bestritten
werden. Einerseits scheinen sich durch die deutschsprachige DaF-Didaktik
viele textlinguistische Termini und Begriffe eingebürgert zu haben, wie
beispielsweise die Hinweise zur «effektiven» Benutzung des Gemeinsamen
Europäischen Referenzrahmens aufzuzeigen vermögen:

DaF-Lerner Lettura e comprensione del testo in lingua tedesca von Hardarik Blühdorn und
Marina Foschi Albert (Pisa, Plus 2006).
6 S. u.a. die Aufsätze von Eva-Maria Willkop (2003), Anwendungsorientierte Textlinguistik.

Am Beispiel von Textsorten, Isotopien, Tempora und Referenzformen (in: «German as a foreign
language (GFL)» 3: 84-110. http://www.gfl-journal.de/3-2003/willkop.html), und
Paul R. Portmann-Tselikas (2000), Der Einfluss der Textlinguistik auf die
Fremdsprachendidaktik (in: Brinker, Klaus / Antos, Gerd / Heinemann, Wolfgang /
Sager, Sven F. Text- und Gesprächslinguistik, 1. Halbband. Berlin / New York, de
Gruyter: 830-842).
7 S. die Dokumentation in den Tagungsakten: Foschi Albert, Marina / Hepp,

Marianne / Neuland, Eva (2006). Texte in Sprachforschung und Sprachunterricht. Pisaner


Fachtagung 2004 zu neuen Wegen der italienisch-deutschen Kooperation. München, Iudicium.

5
Marina Foschi Albert / Marianne Hepp

Wie in Kapitel 2 dargelegt, wird der Begriff ‘Text zur Bezeichnung aller
sprachlichen Produkte benutzt, die Sprachverwendende / Lernende
empfangen, produzieren oder austauschen – sei es eine gesprochene
Äußerung oder etwas Geschriebenes. Es kann demnach keine Kommuni-
kation durch Sprache ohne einen Text geben; alle sprachlichen Aktivitäten
und Prozesse werden mit Blick auf die Beziehung der Sprachverwendenden /
Lernenden und ihrer Kommunikationspartner zum Text analysiert und
klassifiziert; dabei ist es ganz gleich, ob diese Beziehung als ein Produkt bzw.
als ein Gegenstand gesehen wird oder als ein Ziel bzw. als ein gerade
entstehendes Produkt. [...] Texte haben im sozialen Leben viele verschiedene
Funktionen und unterscheiden sich dementsprechend in Form und Inhalt.
Verschiedene Medien werden zu verschiedenen Zwecken verwendet.
Unterschiede in Medium, Zweck und Funktion führen zu entsprechenden
Unterschieden nicht nur im Kontext von Mitteilungen, sondern auch in deren
Organisation und Präsentation. Deshalb können Texte in verschiedene
Textsorten eingeteilt werden, die zu verschiedenen Genres gehören [...].
http://www.goethe.de/Z/50/commeuro/hinweis.htm

Diese Begriffseinbürgerung ist zugleich Zeichen dafür, dass die Arbeit


mit Texten seit den achtziger Jahren für den Fremdsprachenunterricht eine
Art Selbstverständlichkeit geworden ist, wobei allerdings Texte – wie
Portmann-Tselikas hervorhebt8 – noch heute vorwiegend als reine
Lernmedien angesehen werden. Die Verbindung von textlinguistischer
Forschung und DaF-Didaktik scheint also – andererseits – gerade in dieser
Hinsicht immer noch in den Kinderschuhen zu stecken. Eine vertiefte
diesbezügliche Reflektion sollte zu einer entwickelten Textdidaktik führen,
die – wie Portmann-Tselikas erneut hervorhebt9 – über die schlichte
Textarbeit hinaus Texte als richtige Lerngegenstände zum Zweck der
Erweiterung der Textkompetenz der Lernenden betrachtet.
Die hier präsentierten Beiträge heben explizit oder implizit das
Bedürfnis nach einer vertieften Auseinandersetzung von Seiten der DaF-
Didaktik mit den Texttheorien und -definitionen hervor. Unter den
Forschungszielen und -desiderata, die beispielsweise Willkop und
Portmann-Tzelikas (in den oben zitierten Aufsätzen) nennen, werden dabei
vor allem folgende Punkte berücksichtigt: a) Definition der Textkompetenz
als Verständnis davon, wie ein Text (verschiedene Ebenen der
Textkohärenz und Intertextualitätsprinzip) aufgebaut ist; b) Textauswahl
für den Fremdsprachenunterricht; c) Ansatz einer zielgerichteten
Textperspektive (Textgrammatik, Textsemantik, Textsortenlinguistik) in

8
Portmann-Tselikas (2000), zit. S. 830.
9
Portmann-Tselikas (2000), zit. S. 831.

6
EINLEITUNG

den didaktischen Grammatiken und Lehrwerken, zum Erwerb einer guten


Textkompetenz.
Zu a) Dem Bedürfnis einer erweiterten Text-Vorstellung kommen die
Beiträge entgegen, die im Rahmen der Fremdsprachenförderung Text als
Bild (Träbert) bzw. als Hypertext (Gorąca) auffassen, was gleichzeitig den
Bezug auf die Pionierarbeiten der Intertextualitätsforschung herstellt.
Zu a-b) Ein weiterhin zentraler Punkt der Diskussion scheint die
Definition von «authentischen Texten» zu sein, die bei der Auswahl
bestimmter Textsorten für besondere didaktische Zwecke präzisiert werden
soll. Der Bezug von Lehrwerk-Autoren auf «authentische Texte» scheint
nämlich mehr einem Gemeinplatz als der reflektierten Auswahl von Texten
zu entsprechen, die der Lesemotivation der Lernenden entgegenkäme
(Ciepielewska).
Zu b) Eine durchdachte Textauswahl – wie sie vorgeschlagen wird
(Sorrentino) – sollte mit Rücksicht auf empirische Ergebnisse von Text-
sortenanalysen festgestellt werden.
Zu c) Wie Text-Kohärenz, basierend auf Lexik (Flinz) bzw.
grammatischen Texteigenschaften (Ballestracci), als Lehr- und Lerngegen-
stand mit dem Ziel des Leseverstehens erfolgreich eintreten kann, ist ein
weiteres Thema des vorliegenden Bandes, wobei allgemein aufgezeigt wird,
inwieweit Leseverstehen Textverstehen ist – sowohl im Sinne einer
paradigmatischen Textkompetenz (Kowalonek) wie auch als Lernfortschritt
aus kognitiver Sicht (Hoffmann).
3) Textkompetenz bedeutet auch: Das Kulturspezifische im Text zu
erkennen. Obwohl unser Band keineswegs den Anspruch erhebt, den
ganzen Themenbereich der Text- und Lese-Didaktik neu zu ordnen,
glauben wir dennoch fest daran, dass unser Treffen und die hier
präsentierte Dokumentation Impulse vermitteln kann, die vital für die
Forschung sind: Die Leseproblematik im Kontext der allgemeinen
Textproblematik spielt dabei eine nur paradigmatische Rolle. Der
interkulturelle Gedanken- und Erfahrungsaustausch von Exponenten der
Auslandsgermanistik aus verschiedenen Ländern ist gewinnbringend, und
dies aus verschiedenen Gründen:

– Thematisch, weil Germanisten in Italien und Polen, spätestens seit


Bologna, unter vergleichbaren (europäischen) Umständen im DaF-
Bereich tätig sind und ähnliche Frage- und Aufgabestellungen zu
bewältigen haben. So wichtig der Erfahrungsaustausch mit den
Kollegen aus den deutschsprachigen Ländern ist, so sehr sollte aus
besagten Gründen auch der Ideenwechsel mit Kollegen einer weiteren
Auslandsgermanistik gefördert werden;

7
Marina Foschi Albert / Marianne Hepp

– Sprachpolitisch, weil es nicht selbstverständlich ist, dass Italiener


Forschungsergebnisse von polnischen Fachkollegen rezipieren, vor
allem, wenn sie auf Polnisch erscheinen – und umgekehrt. Wenn
Deutsch als lingua franca benutzt wird, kann dies als ein gutes Zeichen
dafür gelten, dass Mehrsprachigkeit Sinn hat.
– Wissenschaftlich, weil eine interkulturelle Auseinandersetzung über
Inhalte, Ziele und Zwecke einer international vertretenen
akademischen Disziplin aus mehreren nationalspezifischen Sichtweisen
eine sichere Bereicherung bedeutet. Wir hoffen, in diesem Sinne ein
konkretes Dokument interkultureller Kooperation präsentiert zu
haben, das einen Grundstein für eine künftige Fortsetzung der Debatte
zwischen der italienischen und der polnischen Germanistik bilden
kann.

Anlass zur Zusammenarbeit gaben die Kontakte zwischen uns und den
Kollegen der Adam Mickiewicz-Universität Poznań zur Planung einer
Arbeitssektion am XII. Internationalen Germanistenkongress Vielheit und
Einheit der Germanistik weltweit, der 2010 in Warschau stattfinden wird. Dank
sei an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Waldemar Pfeiffer und Frau Prof. Dr.
Barbara Skowronek ausgesprochen, die das Mai-Treffen junger Wissen-
schaftlerinnen aus Pisa und Posen ermöglicht haben, sowie Herrn Prof. Dr.
Horst Sitta, Universität Zürich, der seine langjährige Erfahrung als
Wissenschaftler und Lehrer in mehrsprachigen Ländern zugunsten junger
Kolleginnen und Kollegen erneut zur Verfügung gestellt hat. Dank gilt
auch der Leiterin des Pisaner Promovendenprogramms, Frau Prof. Dr.
Giovanna Marotta, für finanzielle Unterstützung, Frau Angela Suraci für
Hilfe bei der Gestaltung des Manuskripts und Herrn Prof. Dr. Enrico De
Angelis für Aufnahme der Kolloquiumsakten in seine Reihe «Jacques e i
suoi quaderni».

8
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT IM
FREMDSPRACHUNTERRICHT∗

Horst Sitta (Zürich)

Wer zu einen Eröffnungsvortrag eingeladen ist, genießt gegenüber den


nachfolgenden Referenten das Vorrecht, seinen Beitrag systematisch
gewissermaßen vor, ja über den eigentlichen Kolloquiumsbeiträgen
platzieren zu dürfen, und das heißt: Übergreifendes angehen, Grund-
sätzlicheres ansprechen zu dürfen; von diesem Vorrecht will ich im
Folgenden Gebrauch machen. Ich will – eben: sehr grundsätzlich –
plädieren für mehr Schriftlichkeit im Fremdsprachunterricht, antizyklisch
also, dabei womöglich nicht dogmatisch.
Ich werde in fünf Schritten vorgehen, die die folgenden Teilthemen –
hier thesenartig vorgestellt – abarbeiten:

1. Entwicklung in der Wissenschaft scheint sich in aller Regel als


Ablösung einer Einseitigkeit durch eine andere zu vollziehen. In der
Sprachdidaktik lässt sich das am Paradigma learning by doing vs. learning
by reflection / reflecting zeigen.
2. Um in der Sprachdidaktik ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen
den Polen der Einseitigkeit zu erreichen, muss die Forderung im
Moment heißen: Wir müssen dringend die Perspektive «Nachdenken
über Verständigung / Reflexion über Kommunikation und Sprache»
gegenüber der Perspektive «Verständigung / Kommunikation» stärken,


Der nachfolgende Beitrag hatte im Rahmen des Kolloquiums, das dieser Band
dokumentiert, die Aufgabe, das umfassende Thema (Schriftlichkeit, vor allem
Lesen) anzuschlagen. Es ging darum, die Würde der Schriftlichkeit heraus-
zustellen, ihre Notwendigkeit im Spracherwerbsprozess zu betonen und auf
Versäumnisse und Chancen in diesem Kontext hinzuweisen; nicht ging es darum,
Einzelthemen im Bereich Lesen und Leseverstehen in der DaF-Didaktik, dem Thema
also des Kolloquiums, zu behandeln. Dabei greift er ungeniert zurück auf
Zurückliegendes (eigenes und fremdes), das vielleicht nicht mehr originell, aber
darum nicht notwendig überholt ist. – Die hier abgedruckte Fassung ist
gegenüber der vorgetragenen geringfügig erweitert, ansonsten unverändert. Vor
allem ist der lockere Vortragston, wie er den Umgang in einer vertrauten Gruppe
bestimmt, beibehalten.
Horst Sitta

und wir müssen dem Bereich Schriftlichkeit (das heißt: Lesen und
Schreiben) einen höheren Stellenwert in der Lehre einräumen.
3. Sprachen werden gesprochen und geschrieben, sie bleiben dabei sie
selbst – Deutsch bleibt Deutsch, Italienisch bleibt Italienisch, ob es
gesprochen oder geschrieben wird. Aber die beiden Sprachformen
unterscheiden sich.
4. Wer einen höheren Rang für die Schriftlichkeit im Sprachunterricht
postuliert, muss sich der Frage stellen, was an Schriftlichkeit im
Unterricht Berücksichtigung erfahren soll. Hier sind sehr differenzierte
Antworten zu finden.
5. Lesen und Schreiben sollten unter dem Oberbegriff Schriftlichkeit
zusammengesehen werden. Das heißt auch: Praktizierte Rezeption
kann ihren Vorbildcharakter (und wenn nicht das: mindestens ihren
Modellcharakter) für Produktion entfalten.

1. ENTWICKLUNG IN DER WISSENSCHAFT SCHEINT SICH IN ALLER REGEL


ALS ABLÖSUNG EINER EINSEITIGKEIT DURCH EINE ANDERE ZU VOLLZIEHEN.
IN DER SPRACHDIDAKTIK LÄSST SICH DAS AM PARADIGMA LEARNING BY DOING
VS. LEARNING BY REFLECTION / REFLECTING ZEIGEN

Es gilt unter Pädagogen und Didaktikern als Gemeinplatz, dass das


meiste auf dieser Welt, so auch Sprache, auf zwei Wegen erworben wird,
auf dem Weg des Handelns (also: learning by doing) und auf dem Weg des
Nachdenkens über Handeln (also: learning by reflection / reflecting). Fokussiert
auf Sprache heißt das: Sprache wird erworben durch sprachliches Handeln
und durch Nachdenken über sprachliches Handeln. Das gilt vor allem für
den Erwerb der Muttersprache, wird aber entschieden postuliert auch für
den Erwerb einer Fremdsprache; bezogen auf letztere wird es mehr betont
beim ungesteuerten Fremdspracherwerb, spielt eine große Rolle aber auch
beim gesteuerten.
Das Resultat eines Spracherwerbsprozesses, Sprachfähigkeit also,
möchte ich – wohl mit Ihnen allen – sehr weit fassen. Ich verstehe darunter
– sagen wir – eine Fähigkeit, die sich erstreckt auf Schriftlichkeit und
Mündlichkeit, auf Verbales und Nonverbales, produktiv und rezeptiv. Und
sie umfasst sehr Unterschiedliches: z. B. bezogen auf Schreiben: Fähigkeit
zur Herstellung von Textkohärenz, Beherrschung von Textgestaltung,
Adressatenbezug, Argumentation, Stil, Satzbau, Orthographie, Inter-
punktion; bezogen auf Lesen: Überblick, Genauigkeit, kompetente
Verarbeitung; bezogen auf Sprechen und Verstehen: Präzision, Flüssigkeit,
Wortschatz, Aussprache, Empathiefähigkeit.

10
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

Das ist nicht wenig.


Vor diesem Hintergrund könnte (müsste meiner Auffassung nach) eine
Didaktik des (gesteuerten) Sprachunterrichts zwei Perspektiven berück-
sichtigen:
Perspektive 1: Verständigung / Kommunikation. – Das muss ich hier
wohl nicht näher erläutern.
Perspektive 2: Nachdenken über Verständigung / Reflexion über
Kommunikation und Sprache. Dazu dann doch eine kurze Erläuterung:
Nachdenken über Verständigung / Reflexion über Kommunikation
und Sprache (in einem ausdrücklich sehr weiten Sinn verstanden) kann
unter verschiedenen Gesichtspunkten betrieben werden, mindestens
nämlich (und zwar im Sinne eines Einschlussverhältnisses) als

1. Nachdenken über Verständigung insgesamt; dazu gehören Dinge wie


Einstellung der Kommunikationspartner zueinander, soziale
Positionen, psychische Empfindlichkeiten und deren Ausdruck, bevor
überhaupt Sprache ins Spiel kommt: Nähe / Distanz, Mimik, Gestik,
Berühren – alles nicht zuletzt auch unterschiedliche «Kultureme», wie
man wohl heute sagt.
2. Nachdenken über sprachliche Verständigung bzw. über Sprache (hier
geht es um sprachliche Anteile an der menschlichen Verständigung);
dazu gehören Phänomene wie der richtige Einsatz von Anredeformen
(du/Sie), Gesprächsregeln (z.B. Übernahme der Sprecherrolle, sprach-
liche Regeln für die Eröffnung von Telefongesprächen) sowie Sprach-
kritisches in einem weiten Sinn.
3. Nachdenken über grammatische Gesichtspunkte an den sprachlichen
Anteilen der menschlichen Verständigung. Grammatische Gesichts-
punkte sind z.B. solche der Syntax, der Morphologie und der
Semantik.1

Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich Bekanntes aufgeführt


habe. Was ich eigentlich sagen will, ist:

1. Wir wissen nicht, welchen Einfluss auf den Spracherwerb welche


Perspektive genau hat – ignoramus, ignorabimus: Es gibt keine

1
Ich greife mit diesen Gedanken auf weit zurückliegende Grundsatzdebatten
zurück. Was meinen eigenen Anteil an diesen Debatten angeht, verweise ich z.B.
auf Wolfgang Boettcher / Horst Sitta: Der andere Grammatikunterricht. München,
Wien, Baltimore (Urban und Schwarzenberg) 21981.

11
Horst Sitta

wissenschaftliche Untersuchung dazu, es kann auch keine geben, wir


haben auf diesem Feld nicht viel mehr als plausible Vermutungen.
2. Die Didaktiken des Sprachunterrichts, die ich kenne, sind weit davon
entfernt, Sprachunterricht in der geforderten Vielfalt zu vertreten.
Zwischen learning by doing und learning by reflection / reflecting sind sie – wie
ich die Dinge sehe – nicht in der Lage, zu einem vermittelnden learning
by reflected doing zu finden. Das sage ich übrigens ausdrücklich (damit Sie
mich hier ja nicht missverstehen) nur über die didaktische Theorie;
selbstverständlich trifft ein solcher Vorwurf nicht gleichermaßen den
tatsächlichen Sprachunterricht in der Praxis, der sich u.a. natürlich aus
der Theorie, aber dazuhin auch aus dem gesunden Menschenverstand
speist.
3. Dahinter scheint eine Gesetzmäßigkeit zu stehen: Entwicklungen in
der Didaktik unseres Faches (wahrscheinlich auch in der Didaktik
anderer Fächer, womöglich darüber hinaus im Leben überhaupt)
scheinen sich gesetzmäßig in Pendelbewegungen zu vollziehen, einem
Pendelausschlag in die eine Richtung folgt einer in die andere.
Unterschiedliche Konzepte unterscheiden sich danach voneinander
hinsichtlich der Bedeutung, die sie je einzelnen Faktoren beimessen,
d. h. sie sind in unterschiedlicher Weise einseitig (aber einseitig sind sie
alle). Dabei entstehen «Moden» als Reaktionen auf die
Vernachlässigung wichtiger Gesichtspunkte in jeweils vorhergehenden
«herrschenden Lehren». Und das, wo wir doch schon von Aristoteles
hätten lernen können, dass Tugend ihren Sitz in der Mitte zwischen
zwei Lastern hat (z.B. Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit).

2. UM IN DER SPRACHDIDAKTIK EIN AUSGEGLICHENERES VERHÄLTNIS


ZWISCHEN DEN POLEN DER EINSEITIGKEIT ZU ERREICHEN, MUSS DIE
FORDERUNG IM MOMENT HEIßEN: WIR MÜSSEN DRINGEND DIE PERSPEKTIVE
NACHDENKEN ÜBER VERSTÄNDIGUNG / REFLEXION ÜBER KOMMUNIKATION
UND SPRACHE GEGENÜBER DER PERSPEKTIVE VERSTÄNDIGUNG /
KOMMUNIKATION STÄRKEN, UND WIR MÜSSEN DEM BEREICH
SCHRIFTLICHKEIT (DAS HEIßT LESEN UND SCHREIBEN) EINEN HÖHEREN
STELLENWERT IN DER LEHRE EINRÄUMEN.

Vor dem unter (1) skizzierten Hintergrund kann man beispielsweise –


bezogen auf die Didaktik unseres Faches und historisch natürlich sehr
vergröbernd – sagen: Die Einseitigkeit der Grammatik-Übersetzungs-
methode hat mit innerer Gesetzmäßigkeit zu einem Pendelausschlag führen
müssen: das extreme Gegenstück ist die kommunikative Methode.

12
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

Sie können sich – und mich – fragen: Was hat das mit unserem Thema
zu tun? Folgendes: Ich möchte nicht übertreiben, aber mir scheint doch
evident: Jede Methode hat ihren Preis. Sie fokussiert ihre Ziele
notwendigerweise sektoriell, das heißt auch: Sie nimmt bestimmte Sektoren
nicht oder mit geringerer Aufmerksamkeit ins Visier. In unserem Fall ist
der Preis die Missachtung der Kategorie Reflexion und die
Zurückdrängung des Teilgebiets Schriftlichkeit (das ist Lesen und
Schreiben).
Der Grammatik-Übersetzungsmethode war die Schriftlichkeit affin.
Ich bin in meinen Fremdsprachkenntnissen ein Produkt dieser Methode:
Ich habe die Matur in Russisch gemacht, kann noch heute relativ
problemlos Tolstoj auf Russisch lesen, hätte aber große Mühe, mir im
Restaurant des Hauptbahnhofs in Moskau ein Bier zu bestellen. In der Tat
beurteilt man unsere Leistungen, das Ergebnis des Unterrichts, den wir
erfahren haben, noch heute exakt auf diesem Feld. Man sagt: «Früher
konnte man mit dem, was man im Fremdsprachunterricht erworben hat,
nicht einmal ein Bier bestellen». Etwas allgemeiner, und ich sage es über
mich selbst: Wir konnten in den Fremdsprachen, die wir gelernt haben,
nicht gut hörend verstehen und nicht gut sprechen. Aber wir konnten ganz
gut lesen und nicht schlecht schreiben. Wir haben auch so manche schöne
Passage aus der Literatur auswendig gelernt, nicht freiwillig damals, nicht
gern, aber: Wir können sie heute noch und leben in so mancher, wie wir in
den Texten unserer muttersprachlichen Literatur leben.
Entsprechend affin ist die kommunikative Methode der Mündlichkeit.
Sie – meiner Einschätzung / meinen Vorurteilen nach die Kolleginnen aus
dem Westen mehr als die aus dem Osten – sind Produkte dieser Methode.
Dabei gilt: Sie, die Sie hier vor mir sitzen, haben im Deutschen als
Fremdsprache eine hohe Kompetenz erreicht. Sie wissen aber auch, dass –
mindestens bei böswilligen Zeitgenossen – das Urteil, das ich zuvor zitiert
habe, heute maliziös so lautet: «Früher konnte man mit dem, was man im
Fremdsprachunterricht erworben hat, nicht einmal ein Bier bestellen, heute
kann man nur noch das».
Auch hier: Vermeiden wir billige Polemik und Aussagen auf der Ebene
von Trivialdidaktik und Altherrensprachkritik. Was ich eigentlich sagen
will, ist: Ausgehend von dem Gedanken, dass in unserem Bereich immer
auch das Gegenteil richtig ist und dass wir (mindestens auch!) das vertreten
müssen, was im Moment nicht herrschende Mode ist, meine ich:

1. Wir müssen dringend die Perspektive Nachdenken über Verständigung


/ Reflexion über Kommunikation und Sprache stärken.

13
Horst Sitta

2. Wir müssen dem Bereich Schriftlichkeit (das heißt: Lesen und


Schreiben) einen höheren Stellenwert im Unterricht einräumen.

3. SPRACHEN WERDEN GESPROCHEN UND GESCHRIEBEN, SIE BLEIBEN


DABEI SIE SELBST – DEUTSCH BLEIBT DEUTSCH, ITALIENISCH BLEIBT
ITALIENISCH, OB ES GESPROCHEN ODER GESCHRIEBEN WIRD. ABER DIE
BEIDEN SPRACHFORMEN UNTERSCHEIDEN SICH

Warum eigentlich der Richtungswechsel? Was ist Besonderes an der


Schriftlichkeit? Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas länger verweilen.
Sprachen werden gesprochen und geschrieben, sie bleiben dabei sie
selbst – Deutsch bleibt Deutsch, Italienisch bleibt Italienisch, ob es
gesprochen oder geschrieben wird. Aber die beiden Sprachformen
unterscheiden sich, zumindest unter drei Gesichtspunkten: Es gibt:
Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache in
Gebrauch und Struktur (3.1.), es gibt sie im Planungsprozess zwischen
Sprechen und Schreiben (3.2), und sie spielen eine Rolle in der Bewertung,
die Sprechen und Schreiben bei den Sprachteilhabern erfahren (3.3).

3.1 Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache (in Gebrauch


und Struktur)

Die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache


hängen zusammen (3.1.1) mit den unterschiedlichen Gebrauchsbedingungen,
unter denen sie stehen: Unterschiedliche Gebrauchsbedingungen führen zu
unterschiedlichen «Sprachen» (3.1.2)2.

3.1.1 Zum Stichwort Unterschiedliche Gebrauchsbedingungen

Wieder erinnere ich an Bekanntes. Wenn wir miteinander reden,


geschieht das in einer Situation, die tendenziell für alle beteiligten Partner
die gleiche ist. Anders gesagt: Das Miteinanderreden lebt aus der
Gemeinsamkeit einer Situation. Vieles, was für die Verständigung der
Partner wichtig ist, muss unter diesen Umständen nicht ausdrücklich
sprachlich formuliert werden; es umgibt sie ja einfach. Für vieles reicht eine
bloße Andeutung aus. Unvollständige Sätze, allgemein verweisende
Ausdrücke wie hier, da oder das Ding dort sind beim Reden ohne Weiteres

2
Vgl. zum Folgenden detaillierter etwa die Bemerkungen in Peter Gallmann /
Roman Looser / Horst Sitta: Schülerduden Grammatik, Mannheim, Leipzig, Wien,
Zürich 52006 passim.

14
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

möglich. Beim Schreiben an oder für jemanden besteht demgegenüber


keine gemeinsame Situation. Man muss entweder – soweit das eben
möglich ist – von der Situation absehen oder sie schriftlich schaffen.
Schriftlich – das heißt fast immer auch: sprachlich. Verallgemeinert
bedeutet das: Unter den Bedingungen der Schriftlichkeit braucht es immer
mehr sprachlichen Aufwand als unter den Bedingungen der Mündlichkeit.
Im Gespräch kann sich der angesprochene Partner sofort und
unmittelbar auf das beziehen, was gesagt worden ist. So kann er zum
Beispiel nachfragen, wenn ihm etwas unklar geblieben ist. Er kann einen
Einwand machen, wo er abweichender Meinung ist, usw. Der Sprechende
wiederum ist sich dieses Umstandes bewusst. Unter diesen Bedingungen
darf er reden, ohne jeweils höchste Präzision anzustreben: Der Partner
kann sich ja einschalten, wo er das für nötig hält. Genau das aber entfällt
beim Schreiben: Es besteht nicht die Möglichkeit der unmittelbaren
Rückmeldung des Partners. Vom Schreibenden ist unter diesen Umständen
ein höheres Maß an Einfühlung verlangt. Er muss die Möglichkeiten des
Missverstehens seines Partners in Rechnung stellen und schon vorab so
formulieren, dass die Verständigung möglichst weitgehend gesichert ist.
Anders ausgedrückt – und das ist mir wichtig: Das Gesamtpotenzial einer
Sprache entfaltet sich voll erst in der Schriftlichkeit.
Im mündlichen Verkehr leisten nichtsprachliche Mittel einen wichtigen
Beitrag zur Verständigung. Beim Schreiben entfallen sie weitgehend:
Analog bleiben hier nur die Informationen, die sich aus der Darstellung,
dem Schriftbild und der Anordnung auf dem Blatt ergeben. Was dadurch
verloren zu gehen droht, muss wiederum ausdrücklich schriftlich entfaltet
werden, und das bedeutet meistens: sprachlich. Ausschließlich mit
sprachlichen Mitteln aber das auszudrücken, was man mit
nichtsprachlichen in der Mündlichkeit so differenziert sagen kann, ist
schwer und verlangt Aufwand und Können. Oft gelingt es überdies nicht
vollkommen. Für viele Menschen ist denn auch Schreiben etwas
Mühsames.
Zusammenfassend lässt sich – fokussiert auf die Schriftlichkeit – sagen:

– Schriftlichkeit / geschriebene Sprache verlangt in aller Regel differen-


zierten Gebrauch der Möglichkeiten, die Grammatik und Wortschatz
einer Sprache bieten. Es gelten hier nicht die gleichen Freiheiten wie in
der Mündlichkeit.
– In der Regel gilt in Schriftlichkeit / geschriebener Sprache die strenge
Forderung nach genauem sprachlichem Ausdruck.
– Im Ganzen dürfen weniger Voraussetzungen gemacht werden, es muss
mehr ausformuliert werden als in der Mündlichkeit.

15
Horst Sitta

3.1.2 Zum Stichwort Unterschiedliche Sprachen

Unterschiedliche «Sprachen» – nur ein paar – Ihnen ganz gewiss nicht


unbekannte – Beispiele:
– In geschriebener Sprache darf größere Abwechslung im Ausdruck
erwartet werden. Wörter werden seltener wiederholt.
– Gesprächspartikeln (wie zum Beispiel gell, hm, oder), also Wörter, die der
mündlichen Rede eine besondere, lebendige Prägung geben, oder
Empfindungswörter wie au, ach, hallo werden vermieden. Das Gleiche
gilt für mündlich verkürzte sprachliche Formen, wie zum Beispiel rauf
statt herauf, mal statt einmal.
– Sätze und Folgen von Sätzen sind in geschriebener Sprache überlegter
durchkonstruiert. Sie sind dann oft auch über- bzw. untergeordnet,
nicht einfach nebengeordnet: Im Zusammenhang damit werden die
Sätze in geschriebenen Texten oft auch länger und komplexer.
– Sie sind grammatisch korrekt und vollständig. Es fehlen also
Satzbrüche (Anakoluthe), und unvollständige Sätze (Ellipsen) sind
seltener.
– In geschriebener Sprache ist die Wortfolge durch strengere Beachtung
grammatischer Regeln geprägt. Seltener kommen daher zum Beispiel
Nachträge und Ausklammerung vor.
– Die einzelnen Glieder des Satzes sind in geschriebener Sprache oft
umfangreicher als in gesprochener Sprache.
– Erheblich größer ist in geschriebener Sprache die Vielfalt und
Unterschiedlichkeit der Satzanfänge. Die Möglichkeit dafür bietet die
im Deutschen relativ freie Wortstellung: Wir können (anders als zum
Beispiel im Italienischen oder Englischen) ganz unterschiedliche
Wortgruppen an den Satzanfang stellen. Von dieser Möglichkeit macht
geplante (und das heißt vorrangig: geschriebene) Sprache Gebrauch.
– Texte sind in geschriebener Sprache straffer, logischer und
übersichtlicher aufgebaut. Die einzelnen Textelemente sind
aufeinander bezogen, und dieser Bezug wird nach Möglichkeit
ausdrücklich signalisiert. Auf der Ebene des Textes heißt das zum
Beispiel Vor- und Rückwärtsverweisung, auf der Ebene des Satzes
etwa Verknüpfung von Aussagen.

16
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

3.2 Unterschiede im Planungsprozess zwischen Sprechen und Schreiben

Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehen unter unterschiedlichen


Planungsbedingungen: Gesprochene Sprache entsteht in einer extrem
knappen Planungszeit, Sprechen vollzieht sich unmittelbarer, spontaner als
Schreiben: Im Moment seiner Hervorbringung wird Gesprochenes zum
Kommunikat. Ich habe es schon gesagt: Was mit dieser kurzen
Planungszeit an Einschränkung verbunden ist – z.B. die Beschränkung der
Möglichkeit einer differenzierten grammatischen Strukturierung
gesprochener Sprache – wird in der aktuellen Kommunikation ausgeglichen
durch die Wirkung para- und extralinguistischer Faktoren, zumal durch die
– gemeinsame – Teilhabe an der Situation. Damit wird – und hier liegt ein
Paradoxon – die Planung zugleich einfacher und komplizierter: Das
Planungsfeld für die sprachliche Planung schränkt sich ein, weil ja
Situatives nicht verbalisiert werden muss: andererseits weitet es sich aus auf
den gesamten Interaktionszusammenhang. In vielen Fällen läuft zudem die
Planung des mündlichen Sprechens unbewusst ab, was das Sprechen in der
Einschätzung der Sprachgebrauch einfacher und weniger angstbesetzt
macht: Darauf ist mit Sicherheit ein guter Teil der positiven Besetzung der
gesprochenen Sprache zurückzuführen.
Schreiben ist demgegenüber ein weit komplexerer Prozess der
‘Konkretisierung’, in dem – zunächst eher vage – Inhaltskomplexe und
Zielvorstellungen textuell verplant und sprachlich ausformuliert werden, bis
– meistens über Probieren und Revidieren, was in der Mündlichkeit per
definitionem nicht möglich ist, writing ist rewriting, speaking nicht – ein Text
als «fertig» angesehen wird.3
In diesem Prozess lassen sich – natürlich nur idealtypisch – «Elemente»
unterscheiden, die auch als «Phasen» erscheinen können, nämlich:
– Am Anfang stehen erste Gedanken, Ziele, Wünsche, Vorstellungen; sie
bilden den Anlass für das Schreiben.
– Der allgemeine Impetus, der auf das Schreiben gerichtet ist, wird
konkretisiert in einem Plan. Wichtig ist, dass in diesem Plan die Arbeit
des Formulierens noch nicht oder erst ganz ansatzweise geleistet ist. Es
existieren hier nur Ideen über den Text (Vorstellungen über Inhalte,
deren Abfolge, intendierte Wirkungen, Textsortenregelungen usw.),
noch nicht aber der Text selbst.

3
Vgl. dazu und zum Folgenden: Peter Sieber / Horst Sitta: Mundart und
Standardsprache als Problem der Schule. Aarau / Frankfurt am Main / Salzburg 1986
(Sauerländer, Reihe Sprachlandschaft, Band 3), passim, vor allem Kap. 5.

17
Horst Sitta

– Der Plan wird realisiert im Text. Die Realisierung erfolgt Satz für Satz,
Abschnitt für Abschnitt. Das Schreiben ist nicht einfach ein
Ausformulieren von inhaltlichen und stilistischen Vorstellungen,
sondern ein echtes Umsetzen. Im Schreiben wird erst eine kohärente,
textuelle, stilistische, informatorische Ebene aufgebaut.
– Der Text wird überarbeitet, an den Zielen bzw. Intentionen gemessen
und eventuell korrigiert. Dieser Schritt braucht (wie der zweite) nicht
als gesonderte Handlung sichtbar zu werden: Überarbeitet wird ja
immer schon während des eigentlichen Schreibens, im Ausprobieren
verschiedener Möglichkeiten, z.T. sichtbar an Streichungen,
Korrekturen, Ergänzungen usw.
– Der Text wird als ‘fertig’ verabschiedet.

Die in unserem Zusammenhang wichtigen Unterschiede zwischen


Schriftlichkeit und Mündlichkeit liegen in den Punkten (2) bis (4) bzw.
zwischen ihnen. Es geht um Folgendes:

– Vor allem in der Schriftlichkeit existiert – unabhängig vom Text – die


Realität eines Plans4. Der Unterschied von Plan und Text ist ein
qualitativer, nicht ein quantitativer: Der Text ist ein sprachlich
ausformuliertes Gebilde, Träger einer kommunikativen Funktion,
Äußerung eines Schreibers, dazu bestimmt, ganz gezielt ausgewählte
Informationen auf bestimmte Weise in bestimmter Absicht zu
vermitteln. Der Plan dagegen ist das gedankliche Komplement zum
Text; ihm fehlen diese Funktionen noch.
– Der Aufbau des Textes vollzieht sich als reflektiert getroffene Wahl
aus den zur Verfügung stehenden Darstellungsmitteln. Dabei
beeinflusst nicht nur der Plan, sondern auch jeder der gedanklich
vorweg genommenen und bereits fertig gestellten Textteile die Wahl.
Erst die sprachliche Realisierung beweist die Tauglichkeit des Plans;
unter Umständen wird er noch während des Schreibens abgeändert.
«Rechtskraft» erhält er erst, wenn das Schreiben abgeschlossen ist.
– Von nicht geringem Einfluss dürfte im Prozess des Schreibens auch
das sein, was wir seit Wygotski als «innere Sprache» bezeichnen (und

4
Dass es auch so etwas wie schriftlichkeitsorientierte mündliche Formen gibt, zeigen
die Bereiche des (mündlichen) Erzählens und Argumentierens. Hier muss für den
Sprecher auch ein Plan vorhanden sein, an dem sich die Entwicklung der
Erzählung, der Argumentation orientieren kann. Entsprechend kann die Schulung
solcher Formen des Mündlichen einen wichtigen Beitrag leisten zur Ausbildung
von Fähigkeiten für die Schriftlichkeit.

18
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

was wir – in Abwandlung eines berühmten Titels bei Heinrich von


Kleist – auch als Grundlage für die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Schreiben begreifen können): Die «innere Sprache»
kann Einfluss ausüben, weil es beim Schreiben – und nur hier –
spezifische Verzögerungsphänomene zwischen der Planung und der
Konkretisierung eines Textes gibt.
– Zu den Unterschieden in der Planung kommt ein Letztes – ich deute
hier nur an: Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener
Sprache lassen sich nicht nur dann beobachten, wenn ein Einzelner
schreibt oder spricht. Sie sind auch phylogenetisch relevant, denn sie
bestimmen die Möglichkeiten der Weltaneignung mit: Erwerb und
Anwendung der Schriftsprache fördern Klassifikationsleistungen, die
formale Strukturen auf Kosten von sinnlicher Erfahrung bevorzugen.
Das führt generell zu einer Dekontextualisierung von Wissen.5 Einer
unserer sehr frühen Schreibtheoretiker, M. Giesecke (a.a.O. S. 284f),
kommt deshalb zu folgender generellen Einschätzung der Schriftlich-
keit:

Die Schriftsprache (ist) ein kompliziertes und für die Lösung zahlreicher
kognitiver Probleme kaum entbehrliches Werkzeugsystem, welches in der
menschlichen Evolution erst relativ spät entwickelt worden ist […]. Die
inneren Repräsentationen, die aus der Aneignung des sprachlichen
Werkzeugsystems erwachsen, dürften für den Grad der symbolisch-
bewusstseinsmäßigen Kompetenz von grundlegender Bedeutung sein: Dies
um so mehr, als die bei seiner Aneignung und dem Gebrauch ausgebildeten
Fähigkeiten offensichtlich in hohem Maße unspezifisch und damit auf ganz
andere Problembereiche übertragbar sind.

Ich verkenne übrigens nicht, dass das, was ich hier herausgestellt habe,
primär für den Mutterspracherwerb gilt – aber eben nicht nur. Noch
einmal erinnere ich hier an etwas, was ich in meiner Arbeit in Pisa schon
öfter herangezogen habe, die Unterscheidung von BICS und CALP bei J.
Cummins. Ausführlich vorgetragen findet sich eine Auseinandersetzung
mit seinen Überlegungen in dem oben angeführten Buch von Peter Sieber
/ Horst Sitta: Mundart und Standardsprache als Problem der Schule, 4. (z.T. auch

5
M. Giesecke Schriftsprache als Entwicklungsfaktor in Sprach- und Begriffsgeschichte. In: R.
Koselleck (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979. S. 262 –
302) weist darauf hin, dass die volkssprachliche Fachprosa bis ins 16. Jahrhundert
vor allem als Gedächtnisstütze diente: Man musste, was man las, bereits erfahren
haben, um es zu verstehen. Erst durch die Bücher diente das Geschriebene zum
Aufbau von neuem Wissen, das man sich lesend aneignen konnte.

19
Horst Sitta

5.) Kapitel passim. Ich erlaube mir im Folgenden, die in unserem


Zusammenhang zentrale Passage aus dem Buch (S. 111 f.) wörtlich zu
zitieren:

Sprachfähigkeit bedeutet mehr und auch anderes als Verfügungsfähigkeit


über eine Grammatik und ein Lexikon. Neben anderem […] ist uns hier eine
Unterscheidung wichtig, die wir von der – größeren oder geringeren –
Situationsbindung des Sprechens herleiten können: Sprachliches Handeln
kann situationsgebunden oder situationsungebunden ablaufen. Damit sind
unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliche Strategien vorausgesetzt:
Stark situationsgebundenes sprachliches Handeln bedient sich in hohem
Maße impliziter Bedeutungen. Es hat seinen Ort in Situationen, in denen
Bedeutungen (Voraussetzungen, Normen, Wertorientierungen) von den an
der Kommunikation Beteiligten weitgehend geteilt und als Präsuppositionen
vorausgesetzt werden können. Das gilt z.B. prinzipiell in der Familie, in der
peer group oder am Arbeitsplatz – überall dort, wo das sprachliche Handeln
stark auf einen bekannten Empfänger ausgerichtet ist und dessen Reaktionen
in die sprachliche Planung mit einbeziehen kann.
Situationsungebundenes sprachliches Handeln erfordert demgegenüber einen
hohen Grad an verbaler Explizierung von Bedeutungen. Es ist dort notwendig,
wo die oben genannten Voraussetzungen nicht gelten, also z.B. in heterogenen
Groß- und Kleingruppen; insbesondere herrscht Situationsungebundenheit in
der schriftlichen Kommunikation, wo alles, was in mündlicher Kommunikation
Kontext sein kann, allererst sprachlich konstituiert werden muss […].
Die unterschiedlichen Fähigkeiten, die Voraussetzung für die
Bewältigung der verschiedenen Anforderungen sind, hat J. Cummins in den
abkürzenden Kunstwörtern BICS und CALP zu fassen versucht6. BICS sind
die Basic Interpersonal Communicative Skills, also kommunikative Strategien, zu
denen ‘accent, oral fluency, sociolinguistic competence’ gehören; sie sind
sprachspezifisch und müssen in einer Zweitsprache in ihren speziellen
Registern neu erlernt werden. Davon unterscheidbar ist jene Sprachfähigkeit,
die J. Cummins als CALP bezeichnet: Cognitive / Academic Language
Proficiency; er definiert sie als «those aspects of language proficency which are
closely related to the development of literacy skills in L1 and L2» (Cummins
S. 177). Die kognitiven Strategien (CALP), die vor allem für die schriftliche
Sprachproduktion von Bedeutung sind, sind weniger abhängig von einer
Sprache (Erst- oder Zweitsprache) oder einer Sprachform (Standard oder
Dialekt) als vielmehr von der Möglichkeit, überhaupt in einer Sprache diese
Strategien zu entwickeln. Einmal ausgebildet, lassen sie sich leicht von einer
Sprache auf andere Sprachen oder Sprachformen übertragen […]. Der
sprachenunabhängige Charakter von CALP zeigt sich auch darin, dass ältere

6
J. Cummins: The cross-lingual dimensions of language proficiency: Implications for bilingual
education and the optimal age issue. In: TESOL Quarterly 14/2 (1980), S. 175 – 187.

20
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

Lerner CALP in L2 schneller erwerben als jüngere. Ihr L1-CALP ist weiter
entwickelt und lässt sich auf L2 übertragen.

3.3 Unterschiede in der Bewertung, die Sprechen und Schreiben bei den Sprachteil-
habern erfahren

Die Bewertung der beiden Sprachformen in der breiten Öffentlichkeit


ist auf der Ebene Nähe / Distanz, Sympathie / Antipathie markant
unterschiedlich. In ihrem Urteil hängen der gesprochenen Sprache / der
Mündlichkeit Attribute an wie vertraut und persönlich, frei und locker,
sympathisch, einfach oder ausdrucksstark. Demgegenüber wirkt geschriebene
Sprache / Schriftlichkeit auf viele vielfach als unpersönlich und unvertraut, als
steif und gehoben, als emotionsarm und kompliziert. Nehmen wir noch eine
weitere Dimension hinzu: Dialekt / Standard. Wer von Ihnen Erfahrungen
mit Dialektgebieten hat, wird mir bestätigen: Dem Dialekt eignen die
gleichen Merkmale, wie sie der Mündlichkeit zugeschrieben werden, der
Standardsprache diejenigen, die sich mit Schriftlichkeit verbinden.
Hängt das vielleicht damit zusammen, dass die erste Sprache, die wir
erfahren, unsere Muttersprache, gesprochen und regional geprägt
daherkommt, die geschriebene Sprache demgegenüber immer eine
fremdere Sprache bleibt? Und hängt es – die Frage muss erlaubt sein –
vielleicht auch damit zusammen, dass wir miteinander sprechen und
aufeinander hören aus unserer Natur als Menschen heraus, wir sprechen
und verstehen einander, seit es uns gibt (sagen wir: seit Hunderttausenden
von Jahren); Schreiben aber hat nichts mit Natur zu tun, sondern mit
Kultur, und in der Geschichte der Menschheit ist es sehr spät aufgetreten,
wohl zuerst in unserem Kulturkreis, vor wenigen tausend Jahren, manche
Regionen der Erde haben überhaupt nicht zu Schriftlichkeit gefunden, und
auch in unserem Kulturkreis war Schreiben und Lesen bis vor gut 200
Jahren einer kleinen Minderheit von – eben – «Schriftgelehrten»
vorbehalten.

3.4 Ein Resümee zu (3)

Warum das alles? Ich habe Sie einen Umweg geführt, habe eine
Schleife gemacht und biege wieder auf meinen geraden Weg ein. Was ich
eigentlich sagen will, ist (zwei Punkte sind mir wichtig):

– Ich habe in Oppositionen gedacht: Natur gegen Kultur, Kommunika-


tion gegen Reflexion, Mündlichkeit gegen Schriftlichkeit, Nähe gegen
Distanz, BICS gegen CALP. Bei diesem Denken wollte ich nicht

21
Horst Sitta

werten, wollte vor allem nicht das eine gegenüber dem anderen
abwerten. Wohl aber wollte ich darauf hinweisen, dass jede einseitige
Betonung eines solchen Oppositionspunktes ihre natürliche
Beschränkung hat und immer wieder überdacht werden muss.
– Vor diesem Hintergrund plädiere ich seit Langem für eine Aufwertung
von (in der Sprache unserer Oppositionspaare) Reflexion,
Schriftlichkeit, Distanzsprache. Sie sind auch wichtig, und das scheint
mir zu wenig gesehen zu werden. Schön, dass Sie hier zu einem
Kolloquium zum Thema Lesen zusammengekommen sind. So bitte ich
Sie (als diejenigen, die nicht nur schon jetzt große Verantwortung
innerhalb des Faches, z.B. in der Lehre, tragen, sondern in deren
Händen auch die Entwicklung des Faches liegt oder liegen wird – Sie
sind die Hochschullehrer von morgen –), in diese Richtung zu wirken.

4. WER EINEN HÖHEREN RANG FÜR DIE SCHRIFTLICHKEIT IM


SPRACHUNTERRICHT POSTULIERT, MUSS SICH DER FRAGE STELLEN, WAS AN
SCHRIFTLICHKEIT IM UNTERRICHT BERÜCKSICHTIGUNG ERFAHREN SOLL. HIER
SIND SEHR DIFFERENZIERTE ANTWORTEN ZU FINDEN

Ich setzte mich ein für mehr Schriftlichkeit im Unterricht, im


Muttersprachunterricht ebenso wie im Fremdsprachunterricht. Bezogen
auf Ihre Thematik heißt das konkreter: Ich setzt mich ein für einen
höheren Stellenwert des Lesens im Unterricht des Deutschen als
Fremdsprache. Da muss man sich natürlich irgendwann auch der Frage
stellen, was gelesen und darüber hinaus: was gelernt werden soll7.
Eine Antwort auf diese Frage ist dort leicht, wo Schüler für einen
bestimmten Zweck Deutsch lernen. Das war – für mich – der Fall in den
Licei des Tessin, also in einem italophonen Kanton der Schweiz / zu einer
Zeit, zu der es noch keine italienischsprachige Universität in der Schweiz
gab, der Jurastudent also beispielsweise nach Zürich zum Studieren kam
(weil er schließlich Schweizer Recht studieren wollte), der Philosophie-
student hingegen nach Milano oder Bolgona gehen konnte (hier konnte er
sein Fach in seiner Muttersprache studieren). Als Lernziel formulierte der
Lehrplan zu jener Zeit neben der Weckung einer allgemeinen intellektuellen
Neugier für deutsche Kultur, vor allem Literatur und Sprache, die
«Fähigkeit, erfolgreich und ohne besondere Schwierigkeiten ein Studium an

7
NB: Das abstrakte Postulat «mehr Schriftlichkeit» bedeutet natürlich auf
unterschiedlichen Stufen des Spracherwerbs unterschiedliches Konkretes; auf
diese Problematik gehe ich hier nicht ein.

22
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

einer deutschsprachigen Universität zu absolvieren». Das beinhaltete –


natürlich neben Fähigkeiten im Bereich der Mündlichkeit, Hörverstehen
also – beispielsweise die Fähigkeit, wissenschaftliche Literatur im gewählten
Fachgebiet zu lesen und – in den Grenzen, in denen das
Gymnasialabsolventen heute können –, einen wissenschaftlichen Text zu
verfassen (Proseminararbeit, Seminararbeit, schriftliche Vorlage für ein
Referat). Ich habe über viele Jahre hinweg als commissario dell’insegnamento
tedesco im Tessin am Erreichen dieses Ziels mitgewirkt, und wir haben recht
passable Ergebnisse erzielt.
Schwieriger ist eine Antwort dort, wo unser Lernerpublikum diffuser
zusammengesetzt ist – das ist Ihre Situation. Hier gilt zunächst einmal
grundsätzlich, dass es notwendig ist, unterschiedliche Studiengänge
anzubieten. Wer z.B. später Lehrer werden will, also über die Sprache und
die Kultur eines Landes nicht nur verfügen können, sondern sie auch
repräsentieren und lehren können soll, braucht ein anderes Studium als der,
der in einem beliebigen Dienstleistungsprozess Deutschkenntnisse
beweisen muss.
Ich erhebe nicht den Anspruch, diese Frage hier zu beantworten. Aber
ich will einen Anfang machen. Dreierlei:
1. Als einen sehr banalen (aber eben auch basalen) Punkt würde ich
gern festhalten: Das Übersetzen muss wieder eine größere Rolle spielen.
Lassen Sie mich zur Erläuterung dieser Forderung ein Exempel aus einem
Unterricht präsentieren, der mir aus biographischen Gründen sehr nahe ist:
dem Lateinunterricht. Ich habe dieses Exempel vor Jahren in ganz anderem
Zusammenhang genutzt und übernehme hier einfach8: An der
Eingangspforte einer nahen Rehabilitationsklinik stehen die zwei Worte:
Salus Intrantibus. Was bedeuten sie? Wie würden sie auf Deutsch lauten?
Wer diese Worte verstehen und dann womöglich in einem adäquaten
Deutsch wiedergeben will, muss (a) lexikalisches und (b) grammatisches
Wissen einsetzen. Hilfreich für ihn ist (c) die Kenntnis des pragmatischen
Kontextes und die Möglichkeit, diese zur Geltung zu bringen.
(a) Zu salus findet er im Ausführlichen Handwörterbuch von Georges als
deutsche Äquivalente (ich habe die zahlreichen Belegstellen gestrichen):

salus, utis, f. […] die Unverletztheit, der unverletzte Zustand.


I) im allg.:
a) die Gesundheit, das Wohlbefinden

8
Vgl. dazu Horst Sitta: Fachtexte im Deutschunterricht? Wozu? Welche? in: Martin Fix
/ Roland Jost (Hrsg.): Sachtexte im Deutschunterricht. Hohengehren (Schneider) 2005,
S. 150 – 159.

23
Horst Sitta

b) das Heil, Wohl, die Wohlfahrt, das Glück, die Erhaltung des Daseins
(sowohl des einzelnen als des ganzen Staates)
- als Liebkosungswort: mein Heil
- personif., Salus als Göttin des Heils und der Wohlfahrt übh.
c) das Leben, wenn es in Gefahr ist od. in Gefahr kommen soll
d) die Rettung vom Tode, von der Gefahr, vom Untergange usw.; das
Rettungsmittel
e) die Sicherheit vor Gefahr u. Untergang
II) insbes.
a) das (mündl. od. schriftl.) jmdm. gewünschte Wohlsein, der Gruß
b) die begrüßende Anrede in der Vorrede, die Widmung.

Wer übersetzen will, hat keine Chance, wenn er mit der Erwartung ins
Wörterbuch schaut, er könne dort die Lösung für sein lexikalisches
Problem finden – ein einziger Blick auf die oben zusammengestellten
Äquivalente zeigt ihm, dass er die nicht bekommt. Sein erster Schritt ist
vielmehr notwendig ein kreativer: Er muss eine Hypothese entwickeln von
der wahrscheinlichen Bedeutung des fraglichen Wortes; diese Hypothese
kann er dann mit Hilfe des Wörterbuchs überprüfen. Dazu sind
Wörterbücher da! (Den sinnvollen Umgang mit Lexika zu beherrschen
kann man als wichtigen «Kollateralnutzen» einer Aufwertung der
Übersetzung einschätzen). Im konkreten Fall hilft ihm der Ort, an dem er
den Text findet: Die Eingangspforte weist auf Grußcharakter des Wortes hin
(also IIa), dass es die Eingangspforte zu einer Klinik ist, legt eine Suche im
Bereich Ia nahe. Kommunikativ sinnvoll wären beide Möglichkeiten.
Vielleicht findet sich ja ein deutsches Äquivalent, das beide abdeckt? Oder
vielleicht kann man im Deutschen anstelle des einen Wortes zwei setzen?
Und wenn ich von «Suche» gesprochen habe, dann meine ich unter
anderem, dass man von einem Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert nicht
ungestraft Äquivalente tale quale übernehmen kann, sonst kommen
Formulierungen heraus, über die schon vor fünfzig Jahren Bruno Snell
(1955, S. 4) «schnödelte»: «Wenn euch, o Jünglinge, die Greise sich nähern,
erhebt euch von den Sitzen». Man muss auch an dieser Stelle wieder kreativ
sein, muss Lexeme wählen, die unserer Zeit gemäß sind und unseren
Normen. Und das ist ein hartes Stück sprachlicher Arbeit, die
gewissermaßen für den Moment durch eine gelungene Übersetzung
belohnt wird, aber darüber hinaus für immer Kräfte im Kopf entwickelt
und trainiert, die wichtig sind.
(b) Ein Gleiches gilt für Intrantibus. Nehmen wir an, die lexikalischen
Probleme im Zusammenhang mit diesem Wort seien gelöst; dann bleiben
die grammatischen. Es handelt sich im Lateinischen um den Dativ Plural
des Partizips Präsens Aktiv von intrare, wörtlich also etwa: den Eintretenden.

24
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

Heil und Gesundheit den Eintretenden – ist das die optimale Möglichkeit, oder
wäre besser: denen, die eintreten / hereinkommen / hineingehen (also aus
unterschiedlicher Perspektive gesehen) / …; oder sollte man sagen: euch, die
ihr eintretet – etwas archaisch und der deutschen Syntax nicht eben leicht
abzuringen, aber doch mit dem Charme der Assonanz an das Dantesche
Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate – worauf die Begrüßungsformel an der
Heilanstalt ja geradezu kontradiktorisch Bezug nehmen könnte.
(c) Schließlich zum Pragmatischen: Dem gleichen Salus Intrantibus
begegnete ich jüngst an der Eingangspforte der Kirche zur Kreuz-
Erhöhung im böhmischen Svitavy (Zwittau). Dem gleichen? Eben nicht.
Die Bedeutungskomponente Gesundheit muss hier ausgeschlossen werden,
zu verstehen ist hingegen Heil im religiösen Sinne. Aber wie drückt man
das in unserer gottlos gewordenen Zeit in unserer Sprache aus? Ich breche
die Übung ab. Worauf es mir ankommt – an einem sehr banalen Beispiel:
Die Weise, wie der Lateinunterricht übersetzend mit einer Botschaft und
deren sprachlicher Gestaltung umgeht, mobilisiert im Lernenden (kann
mindestens mobilisieren) Kräfte, die bei jeder sprachlichen Arbeit dringend
benötigt werden.
2. Allgemeine und wenig bestrittene Auffassung ist wohl (wenn auch
eher nichtssagend):

– Unser Absolvent muss – natürlich – über solide Grammatikkenntnisse


verfügen.
– Er muss über einen differenzierten Wortschatz verfügen, deutlich
mehr also beherrschen als einen Grundwortschatz, und zwar über den
Bereich Alltagssprache hinaus auch das, was man heute oft
«Bildungssprache» nennt, sowie diverse Fachsprachen.
– Er muss Textsortenwissen haben, bezüglich der eigenen Sprache
ebenso wie bezüglich der fremden, also vergleichendes Wissen. Ich
gestehe, dass ich immer wieder auf naive Weise amüsiert bin, wenn ich
das curriculum vitae eines US-Amerikaners lese, der es für mitteilenswert
hält, dass er sich regelmäßig an Marathonläufen seiner Region beteiligt
und dabei schon achtbare Erfolge erzielt hat – ich nehme an, dass er
sich auf die gleiche Weise amüsiert, wenn er mein (an dieser Stelle eher
karg mit Angaben geizendes) curriculum vitae liest.

Die Liste ist natürlich fortzusetzen.

3. Wenn mir eine freundliche Fee auf diesem Gebiet drei speziellere
Wünsche (und nur drei) freistellen würde, würde ich in folgende
Richtungen gern noch ein wenig weitergehen.

25
Horst Sitta

Erster Wunsch: Ich hatte vorhin gesagt, unser Absolvent müsse –


natürlich – über solide Grammatikkenntnisse verfügen. Einen Schritt
weiter würde ich postulieren: Die Grammatik gilt uns als die ars recte dicendi
et scribendi, sie stellt gewissermaßen das Inventar zur Verfügung, aus dem
ein Schreibender auswählt, um das zu formulieren, was er mitteilen will; es
schiene mir für den Leseunterricht wichtig, diese ars in Richtung einer ars
bene dicendi et scribendi zu erweitern, im Sinne einer (in ihrer Qualität noch
näher zu bestimmenden) Stilistik also, doch jedenfalls so, dass dem
Lernenden differente sprachliche Mittel von äquivalentem kategorialen
Wert zur Verfügung gestellt werden, womöglich so, dass die differente
Wirkung für ihn am Modell erkennbar (Rezeption) und nach und nach im
eigenen Schreiben einsetzbar (Produktion) wird. An einem Beispiel9 – in
den folgenden Sätzen geht es um den Ausdruck von Kausalität:

Das Flugzeug stürzte ab, weil das Triebwerk ausfiel.


Das Triebwerk fiel aus, weswegen das Flugzeug abstürzte.
Das Triebwerk fiel aus, deswegen stürzte das Flugzeug ab.
Das Flugzeug stürzte ab, denn das Triebwerk fiel aus.
Das Flugzeug stürzte ab, das Triebwerk fiel aus.
Wegen Ausfall des Triebwerks stürzte das Flugzeug ab.

Hinsichtlich ihres kategorialen Werts (Kausalität) sind diese Sätze


(nicht gleichbedeutend, aber) äquivalent; different sind sie hingegen
hinsichtlich ihrer sprachlichen Form. Und ganz gewiss stilistisch
unterschiedlich sind sie in ihrer Wirkung, auch sinnvollerweise an
unterschiedlichen Stellen einsetzbar. Was zu demonstrieren ist. Es muss
wohl nicht ausdrücklich ausgeführt werden, dass ich für solche Arbeit an
eigene Phasen der Sprachreflexion im Unterricht denke. Und ich beobachte
mit Vergnügen, wie Ihre Pisaner Lehrerin Marina Foschi an solchen Fragen
arbeitet.
Zweiter Wunsch: Er muss – um einmal ein für viele Textsorten
zentrales Bündel von Tugenden anzusprechen – über Argumentations-
fähigkeit verfügen. Das ist eine übereinzelsprachliche Qualifikation, sie
sollte in der Muttersprache erworben werden, muss aber auch in der
Fremdsprache genutzt und ausgebaut werden. Er braucht sie, wenn wir uns
hier einmal auf das Lesen konzentrieren, mindestens rezeptiv (das heißt
also, er muss schwerwiegende Argumentationsfehler erkennen können).

9
Vgl. dazu ausführlicher und grundsätzlicher: Wolfgang Boettcher / Horst Sitta:
Deutsche Grammatik III, Frankfurt am Main 1972 (Athenäum), und neuerlich:
Wolfgang Boettcher: Grammatik verstehen. Tübingen (Max Niemeyer Verlag) 2009,
Bd. III (= Niemeyer Studienbuch).

26
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

Mir ist aber die Lektüre einschlägiger Texte auch wichtig als Arsenal für das
Schreiben (argumentativer Texte).
Dritter Wunsch: Ich setze mich auch ein für die Lektüre poetischer
Texte. Das impliziert: Unser Absolvent braucht die Fähigkeit, poetische
Sprache zu erkennen, vielleicht besser allgemeiner formuliert: die Fähigkeit,
Metaphern zu lesen. Das braucht er übrigens schon in der Alltagssprache:
Eine Äußerung wie das Kind mit dem Bade ausschütten ist eine Redewendung,
nicht eine wörtlich zu nehmende Anleitung zur Behandlung von
Säuglingen. Das ist nicht so einfach und braucht neben reicher Lektüre
(warum nicht in zweisprachigen Ausgaben?) auch reflexive Phasen. Die
Texte müssen sicher vorwiegend aus unserer Zeit sein – Dürrenmatt,
Frisch von mir aus; auch Brecht kann man noch zu unserer Zeit rechnen.
Es sollten aber auch ältere Texte sein, von Goethe natürlich, von
Hölderlin, warum nicht von Ringelnatz. Zum Beispiel:

Der du meine Wege mit mir gehst,


Jede Laune meiner Wimper spürst,
Meine Schlechtigkeiten duldest und verstehst –
Weißt du wohl, wie heiß du oft mich rührst?

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern.


Meine Liebe wird mich überdauern

Und in fremden Kleidern dir begegnen


Und dich segnen.

Lebe, lache gut!


Mache deine Sache gut!

Oder wenn Sie es sozialkritischer haben wollen (von Liselotte Rauner):

Mein Arbeitsplatz
ist nicht mein Arbeitsplatz
denn mein
ist ein besitzanzeigendes Fürwort.

Oder didaktischer (von Detlev Meyer, Subjekt oder Objekt):

Generäle lieben
kleine Jungen
und Schokolade

27
Horst Sitta

Man soll vorsichtig


sein mit solchen
Behauptungen aber
ich betone

Kleine Jungen
lieben Generäle
und Schokolade.

Das ist doch einfach schön, und noch dazu leicht zu verstehen. Ich
weiß natürlich, was sich dagegen sagen lässt. Aber es kann ja – wie gesagt –
ein Lesen mit Übersetzung sein – geführt durch einen Lehrer, der diese
Texte liebt – das ist allerdings eine condicio sine qua non. Und er muss nicht
übertreiben: Es genügt ja, in jeder Lektion ein solches Gedicht an die Wand
zu projizieren und eine Stunde hängen zu lassen. Ich breche ab.

5. LESEN UND SCHREIBEN SOLLTEN UNTER DEM OBERBEGRIFF


SCHRIFTLICHKEIT ZUSAMMENGESEHEN WERDEN. DAS HEIßT AUCH:
PRAKTIZIERTE REZEPTION KANN IHREN VORBILDCHARAKTER (UND WENN
NICHT DAS: MINDESTENS IHREN MODELLCHARAKTER) FÜR PRODUKTION
ENTFALTEN

Ich gestehe: Eigentlich ist mir, dem Linguisten, das Schreiben viel
näher als das Lesen, über das ich hier vorwiegend gesprochen habe. Daher
zum Schreiben wenigstens eine kurze Bemerkung, zu rechtfertigen
vielleicht dadurch, dass – jedenfalls für mich – Lesen und Schreiben sich
zueinander so verhalten wie addieren und subtrahieren, multiplizieren und
dividieren, ausatmen und einatmen, Systole und Diastole.
Mit dem Schreiben ist es ja bekanntlich nicht gut bestellt: Die
Schreibfähigkeit unserer jungen Leute sowohl im Gymnasium als auch an
der Universität lässt nach allgemeiner Auffassung zu wünschen übrig. Das
gilt vor allem in textueller Hinsicht (weniger in syntaktischer, lexikalischer
oder morphologischer), und es gilt für das Schreiben in der Muttersprache
wie in der Fremdsprache. Die kritischen Urteile betreffen in erster Linie
das argumentative Schreiben, d.h. die Fähigkeit, einen zusammen-
hängenden Text zu verfassen, in dem argumentiert (nicht erzählt oder
beschrieben) wird, und hier zum Ersten die allgemeine Denkfähigkeit,
besser: die Beherrschung allgemeiner Denkgesetze, zum Zweiten die
Strukturierung (vor allem längerer) Texte und zum Dritten die
Formulierungskraft. Die Urteile nehmen an Schärfe zu, je länger und
komplexer die Texte werden, um die es geht. Für mich liegt es – jenseits

28
PLÄDOYER FÜR MEHR SCHRIFTLICHKEIT

solcher konversenorientierter Auffassungen wie oben formuliert – einfach


nahe, an gute Lektüre zu denken, um Modelle für gutes Schreiben zu
haben. Ich weiß, das ist ein anderes Thema. Aber sagen möchte ich doch:
Wenn Sie etwas für das Lesen tun, tun Sie auch etwas für das Schreiben.

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

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29
TEXTLINGUISTIK ALS SEMINAREINHEIT IN DER
AUSLANDSGERMANISTIK∗

Waldemar Czachur / Kinga Zielińska (Warszawa)

1. VORBEMERKUNGEN

Dass Texte sowohl interessante Gegenstände der theoretischen wie


auch praxisorientierten Forschung als auch Mittel der Sprachvermittlung
darstellen, haben spätestens die Beiträge des Konferenzbandes Texte in
Sprachforschung und Sprachunterricht bewiesen. Denn Texte – wie Neuland zu
Recht betont –

bilden einerseits eine große gemeinsame Schnittmenge für Forschungs-


interessen in Sprachwissenschaft, Übersetzungswissenschaft, DaF sowie in
der Sprachlehre und im Sprachunterricht; anderseits bilden Texte aber auch
eine Anschlussstelle zur Literaturwissenschaft, Literaturübersetzung und zum
Literaturunterricht1.

In Texten kreuzen sich die Interessen unterschiedlicher Disziplinen,


also unterschiedlicher theoretischer, methodologischer und interpretativer
Perspektiven. Die Textlinguistik ist somit ein Begegnungsfeld für
Linguisten und Literaturwissenschaftler und Didaktiker. Sie hat damit eine
Integrationsfunktion für die Philologie2.
Vor diesem Hintergrund fragt der Beitrag danach, was eigentlich
Textlinguistik im nicht-muttersprachlichen Germanistikstudium leisten soll,
also nicht welche Forschungsziele sie als eine Forschungsdisziplin
verfolgen sollte, sondern welche Aufgabe sie als eine Seminareinheit zu
erfüllen hat, besonders vor dem Hintergrund der Universitätsreformen in
Polen. Darüber hinaus sollen am Beispiel von einigen Einführungen in die
Textlinguistik ihre Anwendbarkeit für die Auslandsgermanistik geprüft und
ihre Defizite deutlich gemacht werden.


Für die kritischen Anregungen zum Text bedanken wir uns bei Prof. Dr. Margot
Heinemann.
1 Neuland (2006, S. 20).
2 Bartmiński (1998, 2004, 2006).
Waldemar Czachur / Kinga Zielińska

2. ZIELE DER AUSLANDSGERMANISTIK – AUS LINGUISTISCHER SICHT

Bevor wir jedoch auf die Aufgaben des Moduls «Textlinguistik»


eingehen, sollen einige Bemerkungen zur Spezifik der nichtmutter-
sprachlichen Germanistik im Ausland3 vorangestellt werden. Zu den
vordringlichen Aufgaben der Auslandgermanistik gehört der Erwerb der
Deutschlandkompetenz. Dazu gehört der Erwerb der deutschen Sprache,
des Wissens über die Literatur, Kultur und Geschichte deutschsprachiger
Länder. Die Auslandsgermanistik hat das Ziel, die Studierenden für die
Zielländer (Deutschland, Österreich, die Schweiz) zu sensibilisieren, so ist
sie nach Wawrzyniak «als Ausbildungsstätte für Deutschlehrer (seltener für
Dolmetscher/Übersetzer) und Forschungsstätte […] für deutsche Sprache
und Literatur aus der Sicht der rezipierten Länder und Kulturen»4 zu
verstehen. Das Ziel des Fremdsprachenlernens ist also «die fremdsprachige
Kompetenz und Kommunikation» und «der Weg zu diesen Zielen führt
jedoch über die fremdsprachigen Texte und das fremdsprachige System»5.
Wawrzyniak betont ferner, das Ziel seien nicht nur Übungsstrukturen,

sondern vor allem situationsgebundene und gegenstandsbezogene Texte


unterschiedlicher Länge produzieren und verstehen zu können. Wenn die
Sprachkompetenz allgemein textbezogen und bedingt ist, dann muss auch der
Aufbau einer fremdsprachigen Kompetenz die adäquate Textsorten-
bezogenheit aufweisen6.

Auch eine «arbeitsmarktorientierte Germanistik» soll darauf gerichtet sein,


u.a. textsortenspezifische Sprachkenntnisse, kommunikative Fähigkeiten
und Kenntnisse anderer Kulturen zu vermitteln.7
Wenn das Ziel der Auslandsgermanistik der Erwerb der deutschen
Sprache ist und der Erwerb einer Fremdsprache über Texte erfolgt, so ist
die Frage zu stellen, welche Ziele eine Seminareinheit zur Textlinguistik in
germanistischen Studiengängen verfolgen sollte, also eine Disziplin, die sich
explizit mit Texten beschäftigt.
Bevor jedoch diese Frage beantwortet wird, soll zunächst der Blick auf
die Richtlinien des Ministeriums für Forschung und Hochschulwesen der
Republik Polen bezüglich der Anforderungen an das philologische Studium

3 Zu der Diskussion um den Status der Auslandsgermanistik: Heinemann (1998),


Foschi (2005), Helbig (2005), Götze (2005), Sitta (2004), Grucza (2007).
4 Wawrzyniak (1994, S. 127).
5 Wawrzyniak (1975, S. 55).
6 Wawrzyniak (1975, S. 55).
7 Vgl. Jäntti (2007, S. 116).

32
TEXTLINGUISTIK ALS SEMINAREINHEIT

geworfen werden. Das philologische Studium (die erste und zweite Stufe)
besteht jeweils aus den grundlegenden Inhalten (primär Fremdsprachen-
erwerb) und fachspezifischen Inhalten, darunter sprachwissenschaftlichen,
literaturwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und glottodidaktischen
Elementen. Da uns die linguistische Komponente interessiert, soll hier auf
die Inhalte und die zu erwartenden Ergebnisse (Fertigkeiten und
Kompetenzen) eingegangen werden. Die Studierenden sollen folgende
Inhalte vermittelt bekommen: die Ebenen der Sprachanalyse, die
allgemeinen linguistischen Strömungen, den Einfluss von gesellschaftlichen
Faktoren auf die Sprachveränderung, die theoretischen Ansätze der
kontrastiven Analyse und ihre Anwendung. Erwartet wird nach dem
Abschluss der ersten universitären Stufe, dass die Studierenden u.a. die
Termini und Methoden für die Analyse von Texten und Diskursen
anwenden sowie die Strukturen der Textbildung beschreiben können. In
der zweiten Stufe sollen u.a. folgende Inhalte vermittelt werden:
Angewandte Linguistik (Psycho- und Soziolinguistik), Fremdsprachen-
erwerb, interkulturelle Kommunikation. Erwartet wird, dass die
Absolventen fähig sind, eine geeignete Analysemethode für die Erfassung
und Beschreibung von sprachlichen Phänomenen zu wählen und
anzuwenden, Texte zu übersetzen sowie die Mechanismen der
interkulturellen Kommunikation zu verstehen.
Geht man davon aus, dass die «Kommunikation durch Texte erfolgt»8
und dass der Text einen Zugang zur sprachlichen und kulturellen
Wirklichkeit eröffnet, so kann hier mit dem Blick auf die Richtlinien
festgehalten werden, dass den textlinguistischen Seminaren in der
philologischen Ausbildung in der Auslandsgermanistik eine äußerst
wichtige Aufgabe zukommt. Oder anders formuliert: Nur wenn man in das
philologische, also auslandsgermanistische Curriculum textlinguistische
Seminare einbindet, können die gesetzten Ziele erreicht werden.

3. ZU DEN AUFGABEN DER TEXTLINGUISTISCHEN SEMINARE

Trotz zahlreicher Einführungen in die Textlinguistik, die es im


deutsprachigen Raum seit einigen Jahren gibt, erfährt man wenig darüber,
welche Ziele sich die Textlinguistik als universitäre Seminareinheit aus
didaktischer Perspektive setzt. Brinker schreibt «Das vorliegende Buch will
in Grundbegriff und Methoden der linguistischen Textanalyse einführen»9,

8 Wawrzyniak (1980, S. 7).


9 Brinker (2001, S. 8).

33
Waldemar Czachur / Kinga Zielińska

Heinemann / Heinemann stellen fest: «Die vorliegende Darstellung


versteht sich als Kollegbuch und ist insbesondere für die Zwecke des
Hochschulunterrichts konzipiert worden […] vielmehr soll versucht
werden, einen Überblick über grundlegende Tendenzen der neueren
textlinguistischen Forschung und der Forschung angrenzender
Wissenschaftsdisziplinen zu vermitteln»10, Adamzik schreibt: «es geht
jedoch darum, den Blick für die Vielfalt, Komplexität und Variabilität der
sog. Gebrauchstexte zu schärfen, […] einen Einblick in die
Forschungsdiskussion zu gewinnen. […] Ich hoffe, die Studierenden so
auch motivieren zu können, nicht zuletzt ihre eigene Textproduktion aus
linguistischer Sicht zu betrachten»11. Gansel / Jürgens konzentrieren sich
darauf, «Studierenden ein Arbeitsbuch in die Hand zu geben, das sie mit
verschiedenen Textsortenbeschreibungsmodellen vertraut macht und in die
Lage versetzt, diese an unterschiedlichen analogen und digitalen Textsorten
anzuwenden»12.
Daraus wird ersichtlich, dass diese «Einführungen» zwar als Lehrwerke,
als Kollegbücher, als Arbeitsbücher definiert werden, jedoch die
Zielsetzung des Faches eigentlich aus den Augen verloren geht. Eine
Ausnahme bildet das Lehr- und Arbeitsbuch Textlinguistik und Stilistik für
Einsteiger, verfasst von Ulla Fix, Hannelore Poethe, Gabriele Yos im Jahre
2003. Aus den Vorbemerkungen ergibt sich, dass das Ziel des Faches
«Einführung in die Textlinguistik» vor allem der Erwerb des «theoretischen
Grundwissens» sowie der «praktischen Analysefähigkeiten» ist.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist hier die Frage zu stellen,
ob das Seminarmodul zur Textlinguistik in der Auslandsgermanistik neben
solchen Aufgaben wie oben erwähnt, also den Erwerb von theoretischem
Grundwissen und praktische Analysefähigkeiten, auch den Erwerb von
Textkompetenz im Sinne von Wawrzyniak (1975, 1978, 1988) verfolgen
sollte.
Basierend auf eigenen didaktischen Erfahrungswerten vertreten wir
den Standpunkt, dass das Modul Textlinguistik in der Auslandsgermanistik
nur dann deren integrative Funktion, d.h. einen Zugang zur Sprache,
Kultur, Literatur und Geschichte eines Landes erfüllen kann, wenn es die
folgenden drei Komponenten umfasst: Theoriebezogenheit, Analyse-
bezogenheit, Textkompetenzbezogenheit.
Dazu wollen wir einige Thesen aufstellen, warum die Textlinguistik in
auslandsgermanistischen Curricula drei Aufgaben zu erfüllen hat: Die

10 Heinemann/Heinemann (2002, S. XIII).


11 Adamzik (2004, S. 7).
12 Gansel/Jürgens (2007, S. 9).

34
TEXTLINGUISTIK ALS SEMINAREINHEIT

Vermittlung von theoretischem Grundwissen, die Vermittlung von


Analysemethoden und die Förderung von Textkompetenz.

3.1 Theoriebezogenheit

Die Vermittlung vom Grundwissen über textlinguistische Theorien


gehört zu den primären Aufgaben der textlinguistischen Ausbildung. Die
Textlinguistik als eine sprachwissenschaftliche Disziplin hat in ihrer
Entwicklung eigene theoretische Ansätze entwickelt, die wiederum Einfuß
auf ihre einzelnen Forschungsrichtungen im Umfeld etwa der
Textproduktion, Textreproduktion, Verständlichkeits- und Stilfragen usw.
hatten. Die Vermittlung von theoretischen Ansätzen und von
Grundbegriffen ist die primäre Aufgabe des Faches. Denn der Studierende
soll sein Wissen um theoretische textlinguistische Überlegungen erweitern
und dabei auch die Entwicklungsstadien von einigen theoretischen wie
methodischen Fragestellungen nachvollziehen können. Kurz und bündig:
der Studierende muss wissen, welche Probleme ein konkreter theoretischer
Ansatz lösen sollte und wie dieser Ansatz zu einem bestimmten Zeitpunkt
konzipiert wurde. Dabei geht es sowohl um das mentale Konstrukt und die
jeweilige theoretische Grundlage als auch um die Analyseinstrumente, die
aus diesen theoretischen Grundlagen abgeleitet werden. Dabei spielen zwei
Faktoren eine wichtige Rolle. Zum einen geht es darum, konkrete
theoretische (jedoch didaktisch aufgearbeitete) Ansätze zu vermitteln
(wissenschaftsorientierte Komponente) und zum anderen um die
Vermittlung von Wissen über die Geschichte der Disziplin
(wissenschaftsgeschichtliche Komponente). Dies soll an konkreten
Beispielen wie z.B. der Frage der Textsortenbeschreibung verdeutlicht
werden. So sollen zunächst die grammatischen Beschreibungsmodelle mit
ihren Instrumenten wie (direkte und indirekte Wiederaufnahmen, usw.),
dann die semantischen Ansätze zur Beschreibung von Textsorten
(thematische Progression, Thema-Rhema usw.), die kommunikativ-
pragmatischen Ansätze (die handlungstheoretischen Grundlagen, die Rolle
der Handelnden, des Kontextes, der kommunikativen Intention usw.)
sowie die Mehrebenen-Modelle (im Sinne der Interdisziplinarität, postmo-
dernes Verständnis von Wissenschaft, methodologische und methodische
Offenheit und Unschärfe usw.) behandelt werden.
Dabei wird den Studierenden deutlich, dass die Wissenschaft zum
einen keine konstante und starre Größe darstellt, sondern im akademischen
Diskurs ausgehandelt wird und die Aufgabe der Wissenschaft es ist, die
Fragen der aktuellen sprachlichen Wirklichkeit aufzugreifen, d.h. Fragen zu
formulieren, Untersuchungsobjekte zu definieren, Theorien zu entwickeln

35
Waldemar Czachur / Kinga Zielińska

und diese an ihren einschlägigen Untersuchungsgegenständen anzuwenden.


Immer mit dem Ziel, die Sprache und ihren Gebrauch zu erforschen.
Von großer Bedeutung ist hier die Entwicklung der Fähigkeit, die
textlinguistischen Fragestellungen und die zu einem bestimmten Zeitpunkt
gängigen theoretischen Ansätze in konkreten linguistischen Forschungs-
perspektiven (Strukturalismus, Pragmatik, Kommunikativismus,
Kognitivismus, Konstruktivismus usw.) situieren zu können. Dabei soll das
Augenmerk darauf gelenkt werden, dass die Studierenden nachvollziehen,
warum z.B. das Phänomen der Wiederaufnahmen für grammatische bzw.
semantische Konzepte grundlegend und die Textfunktion für die
pragmalinguistischen Ansätze von Bedeutung ist und dass diese Ansätze
ein Ergebnis einer Entwicklung darstellen. Wichtig ist hierbei die
Entwicklung des Bewusstseins für das Wesen der Texte und für die
theoretische Perspektivierung auf den Text.
Konkret lässt sich das am Beispiel der Text- und Textsorten-
definitionen zeigen. So sehen die Strukturalisten einen Text als ein Zeichen
in einem Zeichensystem, die Pragmatiker betrachten ihn als Handlungs-
mittel, mit dem bestimmte (gesellschaftliche) Aufgaben zu erfüllen sind, die
Kognitivisten wiederum definieren den Text als Kategorie, die unsere Welt-
kategorisierung und somit unsere sozialen und kulturellen Erfahrungen
widerspiegelt. Die Konstruktivisten fassen den Text als Elemente, die die
soziale Wirklichkeit und das gesellschaftliche Wissen erzeugen und instru-
mentalisieren usw.

3.2 Analysebezogenheit

Neben der Vermittlung von theoretischem Grundwissen gehört zu den


Seminaren zur Textlinguistik auch die Vermittlung von Analyse-
instrumenten, die den Studierenden helfen sollen, einen Ausschnitt
textueller Wirklichkeit zu analysieren. Dabei geht es darum, aus der
Perspektive eines theoretischen Ansatzes wie z.B. Thema-Rhema,
thematische Progression, Textfunktionen, Textsortenklassifikation die
Analysemethoden nachzuvollziehen und anwenden zu können. Die
Studierenden entwickeln dabei praktische Analysefähigkeiten anhand
konkreter Beispiele. Dass die Vermittlung von Analysemethoden und ihre
Anwendung der Förderung von Analysefähigkeit bei den Studierenden
dient, muss hier nicht erörtert werden. Dieser Aspekt spielt hier eine
besondere Rolle, besonders wenn man sich die ministeriellen Kriterien des
philologischen Studiums vergegenwärtigt, nach denen die Absolventen
befähigt werden sollten, eine geeignete Analysemethode für die Erfassung

36
TEXTLINGUISTIK ALS SEMINAREINHEIT

und Beschreibung von sprachlichen Phänomenen wählen und anwenden


zu können.
Konkret scheinen uns vor allem solche Arbeitsmethoden von großer
Bedeutung wie z.B. grammatisch-semantische Kohäsionsmittel, Thema-
Rhema-Gliederung im Text, Isotopieketten, narrative, deskriptive,
explikative und argumentative Vertextungsmuster, Stilfiguren, Beschrei-
bungen von Textsorten usw.
Wichtig ist dabei, dass die Studierenden den Zusammenhang zwischen
den Analyseinstrumenten und ihnen zugrunde liegenden theoretischen
Annahmen nachvollziehen können und dass sie imstande sind, die
Anwendbarkeit dieser Analysemethoden an ausgewählten Beispielen
kritisch zu prüfen.

3.3 Textkompetenzbezogenheit

Unter der textkompetenzbezogenen Komponente des textlingui-


stischen Seminars verstehen wir diese Seminarphase, die den praktischen
Übungen gewidmet ist, also ähnlich wie im Bereich der Sprachpraxis. Das
Ziel dieser Komponente ist jedoch, das Praktische (Texte produzieren und
rezipieren (lernen)) und das Metakommunikative, das Metareflektive (aus
der Perspektive eines theoretischen oder methodo-logischen Ansatzes über
einen konkreten Text zu reflektieren) durch konkrete, sich aus den vorher
vermittelten Ansätzen abgeleitete Übung zu aktivieren. Dass dies einen
didaktisch komplizierten, aber den wichtigsten Vorgang darstellt, muss hier
nicht vertieft werden. Nun drängt sich die Frage auf, welche Aspekte der
textlinguistischen Forschung den didaktischen Spielraum anbieten, so dass
ein schlüssiges Seminarkonzept ermöglicht wird.
Und auch hier muss man zunächst an die oben gestellten Ziele der
Auslandsgermanistik im Allgemeinen und der textlinguistischen Seminare
im Besonderen zurückdenken. Textkompetenz ist die Fähigkeit,
situationsadäquate und kulturell angemessene Texte zu (re)produzieren und
zu rezipieren. Man kann aber keine Texte produzieren, die man vorher
nicht kennen gelernt hat oder im Falle der Fremdsprache, die man aus der
Muttersprache auf die Fremdsprache projizieren kann13. Texte verstehen
bedeutet, sie einer Textsorte zuordnen zu können. Textverstehen ist also
ein aktiver Prozess, in dem das Musterhafte, das Stereotype identifiziert
und gespeichert wird. Zu Recht weist Heinemann darauf hin, dass das

13
Dass dieser Prozess die Gefahr der Interferenz mit sich bringt, wird hier nicht
weiter diskutiert (Wawrzyniak 1975, 1978, 2003), Bilut-Homplewicz (2004),
Heinemann (2009).

37
Waldemar Czachur / Kinga Zielińska

originäre Anliegen des Fremdsprachenunterrichts sowohl das rezeptive


Erfassen als auch die produktive Anwendung von Mustern sein sollte14.
Dabei soll jedoch betont werden, dass es im Fremdsprachenunterricht zu
einer Situation kommen kann, in der die Studierenden einen
fremdsprachigen Text lesen und verstehen lernen, indem sie das
eigenkulturelle Textmusterwissen mit einer neuen sprachlichen und
kulturellen Situation konfrontieren. Dieser Moment hat einen wichtigen
Lerneffekt, denn dabei wird das früher vermittelte Theoretische und
Methodologische aktiviert (angenommen, dass die Aufgabe so gestellt
wird), was wiederum erlaubt, dem (neuen) Text notwendige Distanz zu
verleihen und ihn metareflektiv analysieren zu können. Dies ist deswegen
möglich, weil die Studierenden zum einen ihre eigene Verstehensstrategie
und ihr Wissen, auch fremdkulturelles, einsetzen und zum anderen an den
Text «technisch» herantreten, indem sie versuchen, das Musterhafte oder
das Fremde, also das aus der Eigenperspektive Andere zu identifizieren.
Somit ist die Arbeit mit fremden Texten ein interkulturelles Abenteuer.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Förderung der
Textkompetenz durch Vermittlung des Wissens um Intertextualität und
Interkulturalität von großer Bedeutung ist15. Die Studierenden sollen auf
diese Art und Weise die kulturspezifischen Denkmuster und Textschemata
erlernen. Versucht man diese Bemerkungen didaktisch zu konkretisieren,
dann handelt es sich vor allem um das Schreiben von Texten im Sinne von
sprachlicher Realisierung von konkreten Textsorten im Vergleich mit den
Mustern. Wichtig ist, dass die Studierenden mit unterschiedlichen Texten
arbeiten und ihren Erscheinungs- und Verwendungskontext kennen lernen:
Texte in der Werbung, Hypertexte, Texte aus dem politischen Bereich,
literarische Texte, religiöse Texte usw.
Vergleichen spielt hier auch eine besondere Rolle, denn bei den
textlinguistischen Seminaren sind die Ansätze der kontrastiven Linguistik
von großer Bedeutung16. Gemeint ist hier nicht nur die Anwendung für die
Übersetzungswissenschaft oder Glottodidaktik, sondern auch für den
notwendigen Erwerb der interkulturellen Kompetenz.

14 Heinemann (2007, S. 210). Mehr zu den Textmustern bei Heinemann /


Heinemann (2002).
15 Siehe auch Heinemann (2007).
16
Mehr dazu Fix (1991).

38
TEXTLINGUISTIK ALS SEMINAREINHEIT

4. HERAUSFORDERUNGEN UND PERSPEKTIVEN

Versucht man die formulierten Forderungen an die textlinguistischen


Seminare umzusetzen und didaktisch in Form eines Arbeitsbuches
festzuhalten, so scheinen uns folgende Vorschläge von besonderer
Relevanz:

1) die Entwicklung der Disziplin: Indem die wissenschaftsgeschichtlichen


Elemente in das Curriculum eingebaut werden, soll es vor allem den
Forderungen nach der Vermittlung von linguistischen Strömungen,
nach unterschiedlichen linguistischen Ansätzen gerecht werden. Die
Studierenden lernen dabei, was Forschungsperspektive, Analyse-
perspektive und Paradigmenwechsel in einer (Sprach)wissenschaft
bedeuten und wie sich diese Phänomene auf die Formulierung von
Fragestellungen, von Thesen und Methodenentwicklung auswirken.
Dabei spielt auch die Progressivität der Entwicklung vom wissen-
schaftlichen Denken eine besondere Rolle. Wie auch oben erwähnt, ist
die Entwicklung der Text- und Textsortendefinition in unter-
schiedlichen Etappen von großer Bedeutung, denn dabei erscheinen
auch die aus diesen unterschiedlichen Ansätzen abgeleiteten Analyse-
instrumente als plausibel.
2) Textsorten und Textmuster: von großem Interesse ist hier die
Erfassung von Textsorten und Textmustern, die eine Orientierung für
die (auch fremdsprachliche) Kommunikation, also für die Produktion
und Rezeption von Texten vorgeben. Auch das Verhältnis zwischen
Textsorte und Textmuster scheint aus didaktischer Perspektive
nutzbare Lösungen zu liefern. Während Textmuster das Ideale, das für
eine bestimmte Kultur Typische beinhalten, kann die Textsorte
atypische Merkmale aufweisen und eher als eine klassifikatorische
Einheit aufgefasst werden17. Das Prinzip des Klassifizierens ist im
Fremdsprachenunterricht auch von großer Relevanz, denn es
erleichtert das Lernen und Textverstehen. Wichtig ist hier die
Annahme, dass Textsorten und Textmuster kulturspezifische
Phänomene darstellen18. Somit eröffnen die Textsorten einen Zugang
zur Kultur einer Sprachgemeinschaft, denn sie organisieren das
Alltagswissen der Individuen und bilden einen festen Bestandteil des
Kommunikations- und Handlungswissens. Die Aufgabe des text-
linguistischen Seminars ist es, das Kulturspezifische aufzuzeigen. Dies

17 Wie Heinemann/Heinemann (2002).


18 Dazu mehr bei Fix (2007).

39
Waldemar Czachur / Kinga Zielińska

erfolgt auf zwei Ebenen; zum einen durch die unbewusste


Konfrontation mit dem eigenkulturellen Textsorten- und Textmuster-
wissen der Studierenden und zum anderen durch explizite Thema-
tisierung dieser kulturspezifischen Differenzen, etwa im Sinne einer
kultur-kontrastiven oder kognitiv-interkulturellen Linguistik19. Wichtig
ist, dass dabei das Musterhafte identifiziert, benannt, verglichen und
klassifiziert wird. Konkret handelt es sich um solche didaktischen
Einheiten, die unterschiedliche Textsorten mit unterschiedlichen
Analysemethoden beschreiben, ähnlich wie bei Fix/Poethe/Yos (2003).
3) Kontrastive Ansätze: Durch die textlinguistischen Seminare soll auch
interkulturelles Lernen gefördert werden. Es handelt sich darum, durch
das Auffinden und Verstehen von Mustern, die anders sein können,
d.h. anders strukturiert, anders sprachlich realisiert, mit anderer
Funktion versehen usw. für das (sprachliche, textuelle usw.) Andere zu
sensibilisieren. Der Vergleich als ein wissenschaftliches Analyseprinzip
spielt hier eine besondere Rolle, denn dabei sind solche theoretischen
Grundvoraussetzungen wie tertium comparationis, Repräsentativität und
Validität des Korpus, Umgang mit den Analyseergebnissen usw.
grundlegend. Die kontrastiven Ansätze der 60er, 70er und 80er Jahre
haben bezüglich des Fremdsprachenunterrichts versagt, nun eröffnet
die Textlinguistik erneut die Debatte um den Sinn der textlinguistischen
kontrastiv orientierten Ansätze, die einen glottodidaktischen Mehrwert
haben können.

Wie aus diesen Überlegungen deutlich werden sollte, bietet die


Textlinguistik als ein Seminarmodul in der Auslandsgermanistik ein großes
und immer noch ungenutztes Potenzial, da – wie eingangs auch betont –
der Text selbst als Untersuchungs- und Kompetenzobjekt eine integrative
Funktion für die Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und Sprach-
wissenschaft aufweist. Nach Antos ist eindeutig festzustellen, dass die
Textlinguistik

eine durchaus erfolgreiche Disziplin [ist]. Sie hat sich seit ihren Ursprüngen
Ende der 60er Jahre zumindest in Europa unangefochten etabliert – offenbar
so gut, dass allein im deutschsprachigen Raum in den letzten fünf Jahren eine
Vielzahl von Einführungen in dieses Fach erschienen sind20.

19
Dazu mehr bei Lewandowska (2008).
20 Antos (2007, S. 8).

40
TEXTLINGUISTIK ALS SEMINAREINHEIT

Nun sind die meisten im deutschsprachigen Raum zugänglichen


Einführungen zwar ein geeignetes Mittel der Theorie- und
Methodenvermittlung, jedoch nicht auf den Erwerb der Textkompetenz
bei den nicht-muttersprachlichen Studierenden ausgerichtet. Dies ist als ein
Defizit zu bezeichnen und zugleich für die Auslandsgermanistik eine
Herausforderung, ein Konzept eines solchen Arbeitsbuches in einem
internationalen Team auszuarbeiten, das für die jeweilige Auslands-
germanistik im Blickwinkel der eigenen wissenschaftlichen und
bildungspolitischen Tradition umgesetzt und anhand geeigneter Beispiele
ausgefeilt und somit auch unter dem bedeutenden Aspekt der
Kontrastivität realisiert werden könnte.

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42
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Scherner, Maximilian / Ziegler, Arne (Hg.) (2007). Angewandte
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Sitta, Horst (2004): Inlandsgermanistik – Auslandsgermanistik. Was für einen
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Vater, Heinz (1992). Einführung in die Textlinguistik. Struktur, Thema und
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Wawrzyniak, Zdzisław (1975). Konfrontative Textlinguistik und
Fremdsprachenunterricht. In: Szulc, Aleksander (Hg.). Sprachwissenschaft und
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Textkompetenz in der Fremdsprache. In: «Deutsch als Fremdsprache» 5, S. 284-
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Wawrzyniak, Zdzisław (1980). Einführung in die Textwissenschaft. Probleme
der Textbildung im Deutschen. Warszawa.
Wawrzyniak, Zdzisław (2003). Zum Begriff der Textpraxis. In:
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Frankfurt am Main u. a., S. 15-24.

43
LESEVERSTEHEN – EIN STIEFKIND DER (FREMDSPRACHEN-)
DIDAKTIK? ZUM LESEVERSTEHEN IM DAF-ANFÄNGER-
UNTERRICHT FÜR KINDER UND JUGENDLICHE IN POLEN

Luiza Ciepielewska (Poznań)

1. ZUM STAND DER FREMDSPRACHENPOLITIK IN POLEN

Seit der Wende um 1989 wurden in Polen mehrere Schulreformen


durchgeführt, darunter eine des polnischen Schulwesens, die am 1.
September 2002 in Kraft trat. In Folge der Veränderung der Schuldauer der
jeweiligen Schultypen1 sowie der Einführung des Gymnasiums, entstanden
neue Zielgruppen, deren Alter, Interessen und Bedürfnisse nun in Betracht
gezogen werden mussten. Dabei ging es bald darum, nicht nur neue
Lehrpläne, sondern auch neue Lehrwerke zu verfassen. Da sich aber die
Veränderungen und der Schulsystemwandel schneller vollzogen, als die
Planung und Realisierung neue Curricula und Lehrbücher, kam es in den
neunziger Jahren zu einer Situation, in der die meisten Lehrwerke für
Deutsch als Fremdsprache importiert werden mussten, mit der besonderen
Problematik, dass diese teilweise bis heute «einen geringen Zusammenhang
mit den bislang in Polen geltenden Lehrplänen aufweisen»2. Auch
gegenwärtig werden weiterhin die meisten Lehrwerke importiert, viele von
ihnen bekommen aber eine polnische Version, was oft in der Praxis so viel
wie die Übersetzung der Aufgabenstellung im Lehrwerk bedeutet. Zur Zeit
sind von dem polnischen Bildungsministerium für alle Bildungsetappen 23
Lehrwerke zugelassen. Ab dem Schuljahr 2009/2010 wird zudem
schrittweise die neueste Bildungsreform eingeführt, deren vollständige
Einführung erst im Jahr 2017 abgeschlossen sein wird. Infolge der Reform
wird die erste Fremdsprache schon in der Grundschule als Pflichtfach
eingeführt, die zweite Fremdsprache dagegen ab dem Gymnasium
unterrichtet, wobei eine der im Gymnasium gelernten Fremdsprachen
obligatorisch Englisch sein muss. Im Lyzeum müssen die Schüler

1 Die Grundschule wurde von 8 Jahren auf 6 Schuljahre gekürzt, es wurde ein

dreijähriges Gymnasium (Mittelschule) eingeführt, nach dem die Schüler ein


vierjähriges Technikum, dreijähriges Lyzeum oder eine Berufsfachschule wählen
können.
2 Iluk, Jan (1998). Entwicklung der Sprachfertigkeiten aus der Sicht der neuesten

Fremdsprachencurricula. Katowice, S. 8.
Luiza Ciepielewska

mindestens zwei Fremdsprachen lernen, sie können auch eine dritte


Fremdsprache beginnen.
Das Fördern der Lesekompetenz wurde auch als Postulat in die
neueste Programmgrundlage vom 23. Dezember 2008 in Polen
eingeschrieben. Für den Fremdsprachenunterricht gilt jedoch als oberstes
Lernziel die Erlangung der kommunikativen Kompetenz, was leider schon
von vornherein das Nichtlesen rechtfertigt.

2. LESEVERSTEHEN IM DAF-ANFÄNGERUNTERRICHT

Das Lesen als Tätigkeit schwindet; immer weniger Kleinkindern


werden Gutenachtgeschichten vorgelesen, immer weniger Jugendliche
greifen nach einem Roman, wenn sie zur gleichen Zeit im Fernsehen oder
im Internet tausende von Filmen zur Verfügung haben, die sie sich ansehen
können. Immer weniger Bücher werden verkauft, immer weniger
zeitraubende Lektüren werden gelesen, da fast jede verfilmt wurde und
jederzeit innerhalb nur weniger Stunden angesehen werden kann. Somit
schwindet auch die Fähigkeit des Leseverstehens. Bereits im
Kindergartenalter können sich Kinder am PC bedienen, ohne lesen und
schreiben zu können. Die (Neuen) Medien bestimmen die Welt unserer
Kinder und man kann Müller nur zustimmen, wenn sie sagt, die Lehrkräfte
müssten damit auch arbeiten, lehren, lernen, bilden und erziehen3. Es darf
aber nicht versäumt werden, Lesen und Leseverstehen von Anfang und
während der gesamten schulischen Laufbahn zu fördern, um
Analphabetismus vorzubeugen, der auch in den europäischen Ländern laut
Human Development Report noch durch rund 1 Million Menschen
vertreten ist4.

2.1 Vorbereitung auf das Lesen – Berücksichtigung der Lesebiografie

Alle Lernenden kommen in den Unterricht mit bestimmten


Vorerfahrungen und Einstellungen bezüglich des Lesens, was ihren
weiteren Lernweg beeinflusst. Um die Lernenden auf das Lesen längerer
Texte vorzubereiten, ist es wichtig, ihnen die Bedeutung von
Hintergrundwissen und dessen Aktivierung bewusst zu machen. C.R. Kost
macht darauf aufmerksam, dass jeder Leser über eine andere Art von

3
Müller, Stephanie (2007). Chancen und Potenziale der Neuen Medien. Mit Medien unsere
Kinder fordern und fördern. In: «Frühes Deutsch» 12, S. 9.
4 Vgl.www.statista.com.

46
LESEVERSTEHEN - EIN STIEFKIND

Hintergrundwissen verfügt, sog. «Schemata, die auf persönlichen


Erfahrungen, Ausbildung, Alter und anderen Faktoren basieren. Dieses
Hintergrundwissen beeinflusst die Art und Weise, wie ein Text und sogar
einzelne Wörter gelesen und verstanden werden.»5. Auch Huneke und
Steinig sprechen von Verstehensprozessen, bei denen die Lernenden eine
Verknüpfung der neu erfahrenen Informationen mit ihren bereits
vorhandenen Wissensbeständen herstellen müssen6. Unter dem Begriff des
Leseverstehens ist ein ganzer Prozess zu verstehen: «Wir nehmen
Buchstabenzeichen wahr, ordnen ihnen einen Lautwert zu und
rekonstruieren daraus Wörter und ihre grammatische Einbettung in den
Satz und in den Text. Reichen Wortschatz- und Grammatikkenntnisse aus,
so kann dem Text ein Sinn zugeordnet werden: Man versteht. Lesen
erscheint als ein Vorgang des Dekodierens, der gelingt, wenn man den
(fremdsprachigen) Code sicher beherrscht.»7 Die Autoren betonen aber
zugleich, ein ziemlich weit gehendes Verständnis sei selbst dann möglich,
wenn diese Voraussetzung nur ansatzweise gegeben ist8. Dies soll an einem
Ausschnitt aus der ersten Lektion im Lehrwerk Regenwurm für
Grundschulkinder veranschaulicht werden (s. nächste Seite).
Unter Lesevorgang ist also viel mehr als nur das Dekodieren von
sprachlichen Zeichen zu verstehen. Huneke und Steinig sprechen von
einem begleitenden Prozess im Gedächtnis, in dem «bereits gespeicherte
Wissensbestände ‘angezapft‘ und genutzt werden»9. Die Autoren sprechen
in diesem Zusammenhang von Wissensbeständen ganz unterschiedlicher
Art:

– Man kann allgemeines und kontextbezogenes Wissen aktivieren.


– Bestimmte thematische Vorgaben und Textsorten strukturieren das
Verständnis vor. Sie lassen die Nennung mancher Informationen
erwarten, andere schließen sie aus.

5 Kost, Claudia R. (2008). Kontextualisiertes Lesen im Anfängerunterricht DaF: Das


Beispiel eines multi-medialen Ansatzes. Abrufbar unter: www.forumdeutsch.ca.
6 Vgl. Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als Fremdsprache.

Eine Einführung. Berlin, S. 109.


7 Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als Fremdsprache. Eine

Einführung. Berlin, S. 111.


8 Vgl. Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als Fremdsprache.

Eine Einführung. Berlin, S. 111.


9 Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als Fremdsprache. Eine

Einführung. Berlin, S. 114.

47
Luiza Ciepielewska

Quelle: Regenwurm 1A, S. 21

– Internationale Wörter: Eine nicht geringe Zahl von Wörtern und


Wortbausteinen ist in vielen Sprachen wieder erkennbar oder als
Fremd- bzw. Lehnwort in eine andere Sprache gewandert.
– Häufige Buchstabenkombinationen oder Wörter müssen nicht jedes
Mal ganz neu erlesen werden, sie stehen schnell als Baustein zur
Verfügung.
– Dazu tritt bei zunehmender Beherrschung der Zielsprache weiteres
sprachbezogenes Wissen, das die Tätigkeit des Dekodierens entlastet.10

Auch Scherfer11 spricht von Wissensbeständen, auf die alle


Zweitsprachenlerner beim Spracherwerb grundsätzlich automatisch
zurückgreifen. Nach ihm kommen folgende Wissenstypen (a-c) dafür in
Frage:
a) nicht-sprachliches Wissen/Weltwissen. Damit sind Erfahrungen
gemeint, die die Lerner mit ihrer natürlichen und sozialen Umwelt
gemacht haben, die sie kognitiv verarbeitet haben, und zwar in Form
von einfachen oder komplexeren Konzepten;

10 Vgl. Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als Fremdsprache.


Eine Einführung. Berlin, S. 114.
11 Vgl. Scherfer, Peter (1990). Vom Nutzen des Vorwissens im Vokabelunterricht. In:

«Der fremdsprachliche Unterricht» 104, S. 30.

48
LESEVERSTEHEN - EIN STIEFKIND

b) allgemein-(universal-)sprachliches Wissen. Dieser Wissenstyp steht mit


jenen allgemeinen Eigenschaften (bzw. Tendenzen) in einem
Zusammenhang, die alle natürlichen Sprachen miteinander teilen
(Universalien) wie z.B. die Tatsache, dass allgemeine Äußerungen sich
in Wörter zerlegen lassen, so etwa in Silben oder in Phoneme. Phoneme
kann man in Konsonanten und Vokale einteilen;
c) spezielles Wissen über die Erstsprache. Hierzu gehören: Das
phonologische Wissen, das orthographische Wissen, das syntaktisch-
kategoriale Wissen, das Argumentstrukturwissen, das morphologisch-
strukturelle Wissen, das semantische Wissen.12

Wie man sieht, ist das Lesen in der Fremdsprache mit vielen Faktoren
verbunden. Daher sind für die Lernenden «wirksame Hilfen zur
Aktualisierung und Strukturierung ihres Vorwissens und eine gute
Einbettung von Lesetexten in Situationen und Kontexte besonders
wichtig»13. Dazu bedarf es vor allem aber geeigneter Texte.

2.2 Das ewige Dilemma – die Textauswahl

Die Auswahl der Texte richtet sich nach dem Leser. Ein bestimmter
Themenkatalog wird den Kleinkindern, ein anderer den Jugendlichen und
wiederum ein anderer den Erwachsenen vorgeschlagen. Die
Differenzierung sollte noch weiter gehen (u.a. Geschlecht, Interessen,
Erfahrungen), was aber oftmals aus praktischen Gründen im Unterricht
unmöglich wird. Wenigstens aber als häusliche Lektüre (im Rahmen der
Hausaufgabe, sei es ein Mal oder auch öfter im Schulhalbjahr) sollte es den
Lernenden überlassen werden, die Wahl des Lesetextes selbst zu
bestimmen. Das kurstragende Element in jedem Schulunterricht ist jedoch
das Lehrwerk. Den Lernenden sowie selbst den Lehrern wird hier
hinsichtlich der Textauswahl wenig Freiraum überlassen. Butzkamm
bemängelte schon 2004 die Lehrwerke hinsichtlich der dort enthaltenen
Lesetexte, indem er Folgendes sagte: «Statt guter Texte liefern manche
Lehrwerke einen bunten Materialschwindel, der mehr vorstellen will, als er
ist. Anscheinend wird in die Verpackung mehr investiert als in die Texte,

12 Mehr dazu bei: Scherfer, Peter (1990). Vom Nutzen des Vorwissens im
Vokabelunterricht. In: «Der fremdsprachliche Unterricht» 104, S. 30-34.
13
Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als Fremdsprache. Eine
Einführung. Berlin, S. 115.

49
Luiza Ciepielewska

die doch das Kernstück des Unterrichts sein müssten»14. Auch heute, wenn
man fünf Jahre später nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Lehrwerke zur
Hand nimmt, stechen sie vor allem durch ihr neu bearbeitetes Layout
hervor. Die Texte bleiben aber auf der Strecke. Es scheint, als ob die
Lehrwerkautoren bei der Textauswahl nur darum bemüht wären, dem vom
Bildungsministerium bestimmten Themenkatalog gerecht zu werden. Es
braucht auch keinen zu wundern, wenn solche nichts sagenden Texte, für
die Anfängerstufe meist präpariert, bei Lernenden auf Desinteresse stoßen:

Quelle: Delfin, S. 19

Obwohl Kast schon vor 15 Jahren darauf aufmerksam machte, hat sich
wenig getan: Auch beim Einsatz der literarischen Texte in den Lehrwerken
werden sie heute noch zu Wortschatz- und Grammatikübungen, zur
Behandlung landeskundlicher Themen oder, wie unten das Beispiel zeigt,
zum Üben der Sprechmelodie ausgeschlachtet15. Das einzige, wozu in
diesem Fall der Text von Bertolt Brecht anleitet, steht in der
Übungsanweisung darunter «Erzählen Sie den Text nach, oder lernen Sie
ihn auswendig.»16

14 Butzkamm, Wolfgang (2004). Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine neue
Methodik für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel, S. 352.
15 Vgl. Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache

Deutsch» 11, S. 4f.


16 Vorderwülbecke, Anne (1997). Stufen International 3. Stuttgart, S. 16.

50
LESEVERSTEHEN - EIN STIEFKIND

Quelle: Stufen international 3, S.16

Es reicht nicht, wenn ein (literarischer) Text im Unterricht eingesetzt wird.


Es kann kein beliebiger Text sein. Um die Lernenden zufrieden zu stellen,
sollten nach Kast folgende leserbezogene Aspekte ihre Berücksichtigung
finden:

− Sprachlich und inhaltlich entspricht der Text dem Niveau der


Lernenden.
− Der Text regt zum Nachdenken und zum Reden über das dargestellte
Thema an.
− Der Text ermöglicht kreative Bearbeitungsmöglichkeiten und subjektive
Deutungen (ohne Dominanz des Lehrers).
− Das Thema bietet ausreichend Identifikations- und Projektansätze, lässt
aber auch kritische Distanz zu.
− Der Text wird von den Jugendlichen als spannend, attraktiv,
unterhaltsam, kurz: als lesenswert erfahren.
− Der Text ist nicht pädagogisierend-belehrend, es gibt keinen
moralisierend erhobenen Zeigefinger. Der Text eignet sich auch zur
individuellen Lektüre, was vor allem beim Einsatz von Jugendbüchern
sinnvoll ist. Das Thema ist aktuell und hat einen Bezug zur Lebenswelt
der Jugendlichen.
− Der Text ist geeignet, auf die Haltungen (Attitüden) der Jugendlichen
einzuwirken, indem vertraute Muster in Frage gestellt, Vertrautes
problematisiert wird. 17

17Vgl. Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache


Deutsch» 11, S. 11.

51
Luiza Ciepielewska

An dieser Stelle plädiere ich dafür, mehr authentische, besonders auch


literarische Texte in den Fremdsprachenunterricht einzubinden und im
Gegenzug dazu den Lehrwerkeinsatz zu reduzieren. Literarische Texte
können äußerst erfolgreich eingesetzt werden, wenn man sie gut didaktisch
vorbereitet.

2.3 Sich an einen Text heranwagen

Durch gezielte Übungen kann schon im Anfängerunterricht zum Lesen


ermutigt werden. Zu den Texten im Lehrwerk Regenwurm 1A wurden ganz
einfache Fragen aufgelistet dank denen den jungen Lernenden die
Verstehenshilfen bewusst werden:

Quelle: Regenwurm 1A, S.21

Die Lernenden sollen überlegen, was ihnen beim Verständnis geholfen


hat: Bilder, Ziffern, Wörter in der Muttersprache, Wörter in anderen
Sprachen oder noch etwas anderes. Wichtig dabei ist besonders für ältere
Leser, die dazu neigen, Wort für Wort zu übersetzen, zu beachten, dass
nicht jedes Wort verstanden werden muss. Im Laufe der Zeit mit dem
immer umfangreicheren Wortschatz kann auf (sprachlich) schwierigere
Texte zurückgegriffen werden. Als Vorentlastung eignen sich advance
organizer. Dank der expliziten Arbeit an wichtigen Textinhalten, sei es durch
Raster, Tabellen oder Zuordnungsaufgaben, wird die Verbindung der
neuen Informationen mit den schon vorhandenen erleichtert. Der Text
und die subjektive Interpretation bieten sich dann hervorragend als
Sprechanlass, und zwar nicht zu «pragmatisch-funktionalen Zwecken [...],
sondern um etwas Eigenes auszudrücken und um etwas darüber zu
erfahren, was andere denken und empfinden»18. Dies ist als Konsequenz
des rezeptionsdidaktischen Ansatzes möglich geworden, der neben dem

18Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache Deutsch»


11, S. 8.

52
LESEVERSTEHEN - EIN STIEFKIND

Verfasser den Leser als Mitautoren des Textes sieht. Demnach gibt es keine
nur eine richtige Interpretation eines Textes. Es gibt so viele
Interpretationen wie viele Leser es gibt. «Jeder Leser deutet die Offenheit
des literarischen Textes im Rückgriff auf eigene lebensweltliche
Erfahrungen und eigenes lebensweltliches Handeln».19 Kast stellt insgesamt
28 Vorschläge für den kreativen handlungsorientierten Umgang mit Texten
zusammen, von Transformation, über das Schreiben eines Dialogs /
Tagebuchs über das Versetzen des Textes in eine andere Textsorte, die
Niederschrift einer Rezension bis zur Vorbereitung eines Interviews mit
einer der Figuren und dem Sich-Hineinversetzen in dieselbe, usw.20. Der
Ablauf eines solchen Unterrichts hängt in großem Maße von der
Kreativität der Lernenden ab und ermöglicht die von Kast postulierten
«kulturspezifischen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Lernenden»21
zu berücksichtigen. Auch bei Stellung der Fragen soll das bekannte
Schema: Lehrer fragt – Lernende antworten – Lehrer korrigiert durchbrochen
werden. Den Lernenden soll die Möglichkeit eingeräumt werden, sich mit
anderen Lernenden gegenseitig Fragen zu stellen. Butzkamm macht darauf
aufmerksam, dass wenn der Lehrer nicht nur persönliche Fragen stellt,
sondern auch persönliche Antworten formuliert und eigene Erlebnisse
preisgibt, ihm die Schüler folgen werden22.

Lehrer müssen erst einmal lernen, ein wohldurchdachtes Fragenetz über einen
Text zu werfen. Die Schüler erfahren dabei, wie man einen Text systematisch
erarbeitet und für sich fruchtbar macht. Keineswegs jedoch darf man sie daran
gewöhnen, stets die Fragen des Lehrers abzuwarten und ihm die Initiative zu
überlassen».23

3. Abschließende Bemerkungen

Obwohl die Fremdsprachendidaktiker die Wichtigkeit der Schulung


aller Fertigkeiten gleichermaßen betonen, wird das Lesen besonders

19 Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache Deutsch»


11, S. 8.
20 Vgl. Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache

Deutsch» 11, S. 10.


21 Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache Deutsch»

11, S. 6.
22 Vgl. Butzkamm, Wolfgang (2004). Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine neue

Methodik für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel, S. 357.


23 Butzkamm, Wolfgang (2004). Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine neue

Methodik für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel, S. 357.

53
Luiza Ciepielewska

längerer Texte im (Fremdsprachen)Unterricht vernachlässigt. Nach Kost


herrscht bei vielen Lehrkräften und Lehrbuchautoren die Meinung vor,
Sprachlerner besäßen nicht die nötigen Sprachkenntnisse, um einen
längeren Text zu lesen und zu verstehen. «Auch liegt der Fokus des
Sprachunterrichts oft primär auf der Ausbildung der mündlichen
Sprechfertigkeit»24, der meiner Meinung nach während des ganzen
Fremdsprachenkurses anhält und leider oftmals auf «das (sprachliche)
Überleben, ein Sich-Retten-Können, ganz pragmatisch also: Wie frage ich
nach dem Weg»25 reduziert wird. Auf das Lesen längerer Texte wird auch
oft mit dem Argument verzichtet, es nehme zu viel Unterrichtszeit in
Anspruch. Dabei kann gut didaktisch vorbereitetes Leseverstehen binnen
kurzer Zeit im Unterricht erfolgreich geschult und im Rahmen der
Hausaufgaben ergänzend und erweiternd fortgesetzt werden.
Lesen und Leseverstehen bedürfen also eines durchdachten und vor
allem systematischen Einsatzes im Unterricht. Nur durch konsequentes
Animieren zur Lektüre bekommen die Lernenden die Möglichkeit, neue
Welten zu entdecken, Horizonte zu erweitern und die (Lese-)Erfahrungen
mit Mitlernenden auszutauschen. Vielleicht erzielen wir damit auch, dass
das Lesen dann genauso außerhalb des schulischen Unterrichts zur
Gewohnheit wird. An dieser Stelle gilt noch folgendes zu betonen: Auch
auf der fortgeschrittenen Stufe darf nicht vergessen werden, die Texte
sollen nicht (ausschließlich) der Analyse als solcher dienen, sondern sind
zum Genießen da. Denn wie es Butzkamm nach Enzensberger erfasst:

Die Fertigkeit, die es erlaubt, aus einem Gedicht eine Keule zu machen,
nennt man Interpretation [...]. Überhaupt, diese klugen Kritiken! Da fragt
man sich denn, warum der Dichter nicht gleich Kritik geschrieben hat, statt
den Umweg über das Kunstwerk zu nehmen26.

Literarische Texte bieten einerseits die Möglichkeit, die jeweils


spezifische Ausprägung der Begriffe im Kontext kennen zu lernen,
andererseits stellen sie eine gelungene Abwechslung im Unterricht dar und
beugen der Langeweile vor. Literatur und das Lesen sollen Spaß machen,
zum Nachdenken und Überlegen anregen, und die zweifelsohne schwierige
Aufgabe der Lehrer ist es, die Liebe zur Literatur zu wecken.

24 Kost, Claudia R. (2008). Kontextualisiertes Lesen im Anfängerunterricht DaF: Das

Beispiel eines multi-medialen Ansatzes. abrufbar unter: www.forumdeutsch.ca.


25 Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache Deutsch»

11, S. 4.
26 Butzkamm, Wolfgang (2004). Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine neue

Methodik für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel, S. 349.

54
LESEVERSTEHEN - EIN STIEFKIND

Ich plädiere dafür, die Lesekompetenz stärker zu berücksichtigen, was


sogar schon am Anfang, bei jungen Lernenden angestrebt und geübt
werden kann, wenn folgende Schritte realisiert werden:

1. richtige Vorbereitung auf das Lesen von bestimmten Textsorten;


2. treffende Auswahl von Texten;
3. überlegte Verfahrensweise beim gesteuerten Lesen.

Wenn also nicht die Lehrwerkautoren, dann sollten spätestens die


Lehrkräfte verstärkt Lesen fordern und fördern.

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

Butzkamm, Wolfgang (2004). Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine
neue Methodik für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel.
Huneke, Hans-Werner / Steinig, Wolfgang (2005). Deutsch als
Fremdsprache. Eine Einführung. Berlin.
Iluk, Jan (1998). Entwicklung der Sprachfertigkeiten aus der Sicht der neuesten
Fremdsprachencurricula. Katowice.
Kast, Bernd (1994). Literatur im Anfängerunterricht. In: «Fremdsprache
Deutsch» 11, S. 4-13.
Kost, Claudia R. (2008). Kontextualisiertes Lesen im Anfängerunterricht DaF:
Das Beispiel eines multimedialen Ansatzes. Abrufbar unter:
www.forumdeutsch.ca.
Müller, Stephanie (2007). Chancen und Potenziale der Neuen Medien. Mit
Medien unsere Kinder fordern und fördern. In: «Frühes Deutsch» 12, S. 9-12.
Scherfer, Peter (1990). Vom Nutzen des Vorwissens im Vokabelunterricht.
In: «Der fremdsprachliche Unterricht» 104, S. 30-34.

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Ismaning.
Krulak-Kempisty, Elżbieta / Reitzig, Lidia / Endt, Ernst (2005).
Regenwurm 1A. Warszawa.
Vorderwülbecke, Anne (1997). Stufen International 3. Stuttgart.

55
LESEVERSTEHENSSTRATEGIEN BEI DER ANALYSE KAUSALER
STRUKTUREN IM THEORETISCHEN KURS LINGUA TEDESCA 1

Sabrina Ballestracci (Pisa)

Ist die Grammatik vielleicht «nichts als das


tote Gebäude» (Herder) zum ausdrück-
lichen Zwecke, Schüler zu quälen? Oder
sollte man sich lieber an die Warnung von
Luther und Goethe halten, die Grammatik
räche sich gar grausam an ihren
Verächtern?1

0. VORWORT

In den letzten Jahrzehnten haben zahlreiche Untersuchungen zum


DaZ- bzw. DaF-Erwerb durch Lerner mit unterschiedlicher Muttersprache
festgestellt, dass der gesteuerte L2-Erwerb ähnliche Merkmale und
Variablen (u.a. sprachliche Vorkenntnisse, allgemeines Vorwissen,
kognitive Entwicklung, Alter, Motivation) wie der natürliche L2-Erwerb
aufweist, dass diese aber in den beiden Erwerbstypen mit unterschiedlicher
Intensität vorkommen2. Allerwichtigster Unterschied zwischen DaZ- und
DaF-Erwerb ist die Tatsache, dass der Spracherwerbsprozess im ersten Fall
unter natürlichen Bedingungen durch den direkten Kontakt mit der
Zielsprache erfolgt, während die Auseinandersetzung mit alltäglichen
Kommunikationssituationen im zweiten Fall fast ausschließlich durch die

1 Rall, Marlene (2001). Grammatikvermittlung. In: Helbig, Gerhard / Götze, Lutz /


Henrici, Gert / Krumm, Hans-Jürgen (Hg.). Deutsch als Fremdsprache. Ein
internationales Handbuch. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Berlin
/ New York, 2 Bd., Bd. II/2, S. 880-886, hier S. 880.
2
Siehe dazu Clahsen, Harald / Meisel, Jürgen / Pienemann, Manfred (1983).
Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen; Crespi
Günther, Marina (1998). Frasi complesse in tedesco L2. Percorsi di apprendimento della
sintassi della subordinazione. Milano; Diehl, Erika / Christen, Helen / Leuenberger,
Sandra / Pelvat, Isabelle / Studer, Thérèse (2000). Grammatikunterricht: Alles für der
Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen; Terrasi-Haufe,
Elisabetta (2004). Der Schulerwerb von Deutsch als Fremdsprache. Eine empirische
Untersuchung am Beispiel der italienischsprachigen Schweiz. Tübingen; Ballestracci,
Sabrina (2008). Überindividuelle Merkmale des Grammatikerwerbs im Unterricht des Deutschen
als Fremdsprache durch italophone Studierende. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In:
DaF 3, S. 160-169.
Sabrina Ballestracci

Simulation im Unterrichtsraum verwirklicht wird. Ein solcher Unterschied


liegt der innerhalb der DaF-Didaktik immer mehr vertretenen
Stellungnahme zugrunde, der zufolge Wissen über die Sprache – genauer:
die bewusste Kenntnis der Zielgrammatik – im DaF-Erwerb bei
erwachsenen Lernern eine wesentliche Rolle spielt, da sie jene
Sprachbewusstheit stimuliert, auf die sich der Spracherwerbsprozess unter
gesteuerten Bedingungen zum größten Teil stützt3. Viele DaF-Didaktiker
sind aufgrund der Forschungsergebnisse auch weiterhin darin einig, dass
die Vermittlung der grammatischen L2-Regeln im Unterricht ständig in
Korrelation mit der Entwicklung kommunikativer Kompetenz gebracht
werden soll4.
Von diesen Erkenntnissen ausgehend, diskutiert die DaF-Didaktik in
den jeweiligen Ländern darüber, wie die Forschungsergebnisse in die
didaktische Praxis umgesetzt werden können und welche Lehrstrategien
anzuwenden sind, damit der Lerner die Kenntnis der grammatischen
Zielregeln für den Erwerb der vier sprachlichen Fertigkeiten (Sprechen,
Schreiben, Hören und Lesen) am besten ausnutzen kann5.
Hier taucht noch eine umstrittene Frage auf, bei deren Beantwortung
sich viele und verschiedene theoretische Ansätze unterscheiden lassen6. Die
Diskussion spielt sich dabei grundsätzlich auf zwei Reflexionsebenen ab: a)
auf der Ebene der theoretischen Reflexion über didaktische Methoden und
b) auf jener der Reflexion über das anzuwendende Grammatikmodell.

(a) Auf der Ebene der theoretischen Reflexion über didaktische Methoden
wird diskutiert, wie die Grammatik im Unterricht angewandt werden

3
Vgl. dazu Bausch, Karl-Richard (Hg.) (1979). Beiträge zur didaktischen Grammatik.
Probleme, Konzepte, Beispiele. Königstein; Boettcher, Wolfgang / Sitta, Horst (1978).
Der andere Grammatikunterricht. München/Wien/Baltimore; Eichler, Wolfgang /
Nold, Günter (2007). Sprachbewusstheit. In: Beck, Bärbel / Klieme, Eckhard (Hg.).
Sprachliche Kompetenzen – Konzepte und Messung. Weinheim, S. 63-82.
4
Vgl. dazu Bausch, Karl-Richard (1993). Neuere Tendenzen und Erkenntnisse für das
Fach ‹Deutsch als Fremdsprache›. In: Rubrecht, Rubi / Ryan, Edda (Hg.). Prisma
Special Edition. A Collection of Papers Presented at Workshops held at KONTAKT ‘91,
Regina, S. 5-33; Götze, Lutz (1999). Eine funktionale Grammatik für Deutsch als
Fremdsprache. In: Skibitzki, Bernd / Wotjak, Barbara (Hg.). Linguistik und Deutsch als
Fremdsprache. Festschrift für Gerhard Helbig zum 70. Geburtstag. Tübingen, S. 81-94;
Helbig, Gerhard (1999). Was ist und was soll eine Lern(er)-Grammatik?. In: DaF 2, S.
103-112; Helbig, Gerhard (2003). Kognitive Linguistik – Bemerkungen zu Anliegen und
Ansätzen, zu Auswirkungen und Problemen (II). In: DaF 1, S. 24-31.
5 Vgl. Rall, Marlene (2001). Grammatikvermittlung. Zit., S. 886.
6 Vgl. ibidem.

58
LESEVERSTEHEN

soll, d.h. welche Bedeutung der Beschreibung der Zielgrammatik im


Sprachunterricht zuzuschreiben ist: Soll die Grammatikvermittlung –
wie bei der sogenannten Grammatik-Übersetzungs-Methode, die sich
auf Präsentation der Regel, Anwendung in Beispielen und Verwendung
der Muttersprache als Metasprache stützt – durch Deklinations- bzw.
Konjugationstabellen und durch morphologische und syntaktische
Regeln erfolgen? Oder soll sie eher, wie bei den kommunikations-
orientierten Ansätzen im Sprachunterricht, nicht thematisiert werden,
sondern nur durch Rezeption und Produktion authentischer Texte
indirekt vermittelt werden? Immer mehr Zustimmung gewinnt dabei
die These, dass es Aufgabe des DaF-Unterrichts ist, den Lernern eine
Konzeption von Sprache zu vermitteln, bei der sich grammatische und
kommunikative Dimension wechselseitig beeinflussen und determinie-
ren. Deswegen basiert der DaF-Unterricht heute in vielen Ländern auf
didaktischen Methoden kognitiver und konstruktivistischer Herkunft,
wobei die Grammatikvermittlung als Mittel zur Entwicklung rezeptiver
sowie produktiver Sprachfertigkeiten verstanden wird.
(b) Auf der Ebene der Reflexion über die anzunehmende und
anzuwendende Grammatiktheorie wird hingegen die Frage diskutiert,
welches grammatische Modell im DaF-Unterricht angewandt werden
soll, um den Spracherwerbsprozess am besten zu steuern. Auch in
dieser Hinsicht lassen sich verschiedene theoretische Tendenzen
unterscheiden, u.a. die Modelle der traditionellen Grammatik, der
Satzgrammatik und der Textgrammatik. In heutiger Zeit ist es
schwierig, sich einen DaF-Unterricht zu denken, der nur die
Grammatik des Wortes oder des Satzes zum Gegenstand hat. Überall
tendiert man dazu, Grammatikmodelle zu übernehmen, die nicht nur
die formale Beschreibung, sondern auch die kommunikative
Dimension der Zielsprache berücksichtigen: Immer öfter eingesetzt
werden eklektische Grammatikmodelle7, bei denen theoretische
Begriffe aus verschiedenen Grammatiktheorien und sprach- sowie
geisteswissenschaftlichen Bereichen miteinander in Zusammenhang

7 Den Begriff «eklektische didaktische Grammatiken» findet man seit langem in


der Literatur. (Siehe dazu Bausch, Karl-Richard (Hg.) (1979). Die Erstellung von
didaktischen Grammatiken als Exempel für das Verhältnis von Angewandter Linguistik,
Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung. In: Bausch, Karl-Richard. Beiträge zur
didaktischen Grammatik. Zit.). In den neueren didaktischen Ansätzen werden nicht
nur Begriffe aus verschiedenen Grammatikmodellen, sondern auch aus anderen
sprachwissenschaftlichen bzw. mit der Grammatikforschung verwandten
Disziplinen miteinander kombiniert; siehe Rall, Marlene (2001). Grammatik-
vermittlung. Zit.).

59
Sabrina Ballestracci

gebracht werden. Häufig ist z.B. die Kombination von Begriffen und
Methoden aus der Dependenz-Verb-Grammatik mit jenen aus der
Textgrammatik, der Pragmatik und dem Kulturvergleich8.

Von diesen Reflexionen geht auch der vorliegende Beitrag aus: Anhand
eines empirischen Versuchs, der an der Pisaner Fakultät Lingue e Letterature
Straniere mit italophonen Studierenden des zweiten Semesters im
Grundstudium (Sommersemester 2009) durchgeführt wurde, wird
dargelegt, wie das Lernen der grammatischen Regeln zur Entwicklung von
Verstehensstrategien beim Lesen authentischer Texte in deutscher Sprache
beiträgt. Die Darstellung gliedert sich in drei Kapitel: Kap. 1. beschreibt die
Gestaltung des DaF-Unterrichts an unserer Fakultät und den Einsatz von
Grammatikvermittlung und Lesen in der didaktischen Praxis mit
besonderem Bezug auf den untersuchten grammatischen Bereich; im Kap.
2. werden das Verfahren und die Ergebnisse des Versuchs illustriert, der
bei den Pisaner DaF-Universitätsstudierenden durchgeführt wurde; Kap. 3.
beschäftigt sich mit der Beschreibung der didaktischen Implikationen, die
sich aus den gewonnenen Versuchsergebnissen ableiten lassen.

1. LESEN UND GRAMMATIKVERMITTLUNG IM DAF-UNTERRICHT AN


DER PISANER FAKULTÄT LINGUE E LETTERATURE STRANIERE

Die Kurse von Lingua Tedesca an der Pisaner Fakultät Lingue e Letterature
Straniere bestehen aus zwei Typen von Lehrveranstaltungen: aus den
Sprachkursen, d.h. den Lektoratskursen, bei denen Grammatik, Phonetik,
Lese- und Hörverstehen sowie «Freies Schreiben» geübt werden, und aus
einem sprachwissenschaftlichen Kurs, der der Vermittlung von theore-
tischen Kenntnissen über die Struktur und die Verwendung der deutschen
Sprache gewidmet ist.
In beiden Lehrveranstaltungstypen spielt das Lesen eine wichtige Rolle,
wobei dieses nicht als eine isolierte rezeptive Sprachkompetenz, d.h. als
«die Fähigkeit des Dekodierens gedruckter fremdsprachlicher Texte»9,
interpretiert wird, sondern als Wahrnehmungs- und Kognitionsprozess, bei
dem auch andere sprachliche und kognitive Kompetenzen bzw.

8Vgl. ibidem.
9 Neuner, Gerd (1980). Lesen und Leseverstehen im kommunikativen Fremdsprachen-
unterricht. In: von Faber, Helm / Eichheim, Hubert / Maley, Alan (Hg).
Leseverstehen im Fremdsprachenunterricht. Protokoll eines Werkstattgesprächs des Goethe-
Instituts Paris und des British Council Paris. München, S. 98-111, hier S. 100.

60
LESEVERSTEHEN

Fähigkeiten zusammenspielen: die Kenntnis der Lexik bei der Wort-


erkennung und dem lexikalischen Zugriff im mentalen Lexikon; die
Kenntnis der syntaktischen und morphosyntaktischen Regeln, die bei der
Verarbeitung anhand von Lesestrategien mitwirkt; die kognitive Fähigkeit,
neue sprachliche und begriffliche Angaben im Gedächtnis zu speichern,
welche bei der Internalisierung und Automatisierung zuerst von chunks und
dann von semantisch-pragmatischen Einheiten eine Rolle spielt.
Obwohl den beiden Kursen eine gemeinsame didaktische Konzeption
zugrunde liegt, wird das Lesen in der Unterrichtspraxis jeweils anders
angewandt: In den Kursen, in denen Lesen neben Sprechen, Schreiben und
Hören als eine der vier Fertigkeiten verstanden wird, die im Fremd-
sprachenunterricht dem Gemeinsamen Referenzrahmen nach entwickelt
werden müssen – d.h.: In den Sprachkursen des Lektorats – werden Texte
gelesen, um die Aussprache und Prosodie zu üben, um die graphema-
tischen Regeln des Deutschen zu lernen, um den Gebrauch morpholo-
gischer und syntaktischer Normen zu trainieren, um das eigentliche
Leseverstehen zu verbessern sowie um die mündliche und schriftliche
Sprachproduktion zu stimulieren.
Im theoretischen sprachwissenschaftlichen Kurs, dessen Ziel es ist, die
Lerner zu befähigen, sich beim Lesen eines deutschsprachigen Textes eine
Orientierung zu verschaffen, hat Lesen hingegen die besondere Bedeutung
von Leseverstehen authentischer Texte, wobei mit dem Ausdruck
«authentische Texte» «ursprünglich nicht für den Fremdsprachunterricht
konzipierte[r] Texte»10 gemeint sind. Als Mittel zum Textverstehen stellt
hier das Lesen einen Prozess dar, in dem es um «die Beschäftigung mit den
durch Texte vermittelten Inhalten»11 geht, «ein komplexer neuro-
psychologischer Vorgang, bei dem optisch-perzeptive und artikulatorische
Teilaspekte mit der Wahrnehmung lexikalischer Bedeutungen und dem
Erkennen syntaktischer Strukturen mehr oder weniger simultan verlaufen
bzw. sich gegenseitig beeinflussen»12. Bei der Entwicklung von Text- und
Informationsverarbeitungsstrategien wendet der Leser sprachliche und
kognitive Fähigkeiten bzw. Kompetenzen sowie sein Weltwissen selektiv
an, und zwar mit dem Ziel, den Text zu verstehen, d.h. die im Text implizit

10 Lutjeharms, Madeline (2001). Leseverstehen. In: Helbig, Gerhard / Götze, Lutz /


Henrici, Gert / Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.). Deutsch als Fremdsprache, zit. S. 901-
908, hier S. 901.
11 Neuner, Gert (1980). Lesen und Leseverstehen im kommunikativen Fremdsprachen-

unterricht, zit. S. 100.


12 Bußmann, Hadumod (Hg.) (20023). Lexikon der deutschen Sprachwissenschaft.

Stuttgart, S. 399.

61
Sabrina Ballestracci

bzw. explizit ausgedrückten Gründe, Ursachen, Voraussetzungen,


Bedingungen, Ziele, Absichten und Konsequenzen zu erkennen, um
Inhalte zusammenzufassen und einzuordnen, wobei das Neue durch die
Aktivierung von Schemata oder Rahmen auf bereits Vorhandenes bezogen
wird13.
Bei einem solchen didaktischen Ansatz erweist sich die Kenntnis der
grammatischen Strukturen und Regeln der Zielsprache als ein hilfreiches
Mittel zur Erreichung der gewünschten Ziele. Im Mittelpunkt der
didaktischen Reflexion steht aber die Frage, wie die Grammatikvermittlung
erfolgen soll. Schwerpunkt dabei ist die Annahme, dass die Sprache immer
eine kommunikative Dimension hat, die sich in Texten konkretisiert.
Deswegen werden die Studierenden, unter denen jährlich ca. 70% Null-
Anfänger sind, von Anfang an in der didaktischen Praxis mit authentischen
Texten konfrontiert. Das Lesen wird hier zum Mittel des Erwerbs der
Sprachbewusstheit und zur Vermittlung der sprachlichen – sowohl
grammatischen als auch pragmatischen – Besonderheiten der Zielsprache
bzw. -kultur14. Anders als beim grammatik- und übersetzungsorientierten
Ansatz, bei dem das Lesen als Lesefertigkeit bzw. Sinnenentnahme keine
Rolle spielt, steht hier die Lesekompetenz – ähnlich wie bei den
kommunikativen, kognitiven und konstruktivistischen Ansätzen – im
Vordergrund.
Bei der Vermittlung der grammatischen Strukturen des Deutschen
werden diese ständig in Zusammenhang mit ihrer semantischen und
pragmatischen Bedeutung gebracht: Hier geht man «von der Vorstellung
aus, dass Texte aus Sätzen, Sätze aus Wortgruppen und Wortgruppen aus
Wörtern zusammengesetzt sind. Auf jeder dieser Ebenen werden
Informationseinheiten gebildet, die sich stufenweise zur Textbedeutung
zusammenfügen»15. Die Textanalyse berücksichtigt sowohl pragmatische

13
Vgl. Lewandowski, Theodor (Hg.) (19946). Linguistisches Wörterbuch. Heidelberg /
Wiesbaden. S. 656.
14 «La lettura rappresenta un processo di ipotesi che poggiano su basi grammaticali

e non grammaticali. Per capire un testo non è sufficiente conoscere le regole


grammaticali della lingua. Lingua e grammatica non identificano la stessa realtà. La
lingua viva, di per sé realtà astratta, si attualizza nel fenomeno testo: la lingua ‹è›
testo. La grammatica, in quanto descrizione di usi linguistici, non è ‹la› lingua. Con
‹lettura› si intende qui la lettura e comprensione (das Leseverstehen) del testo scritto
in lingua viva e del suo messaggio comunicativo›». (Blühdorn, Hardarik / Foschi
Albert, Marina (2006). Lettura e comprensione del testo in lingua tedesca. Strategie
inferenziali e grammaticali. Tecniche euristiche. Materiale illustrativo. Pisa, S. 5-6).
15 Blühdorn, Hardarik / Foschi Albert, Marina (in Vorbereitung). Techniken des

Leseverstehens für Deutsch als Fremdsprache. O. S. Der zitierte Satz bezieht sich

62
LESEVERSTEHEN

Kategorien, die bei der Beschreibung der Makrostruktur hervorgehoben


werden, als auch linguistische Kategorien, die dann bei der Analyse der
Lexik und der grammatischen Strukturen unter die Lupe genommen
werden.
Die Grammatikvermittlung verfolgt eine bestimmte Lehrprogression,
die sich auf die bei italophonen Lernern festgestellten Forschungs-
ergebnisse zum DaF-Erwerb stützt und im ersten Jahr folgendermaßen
gegliedert ist:

1) Verbalklammern und Satzgerüst


2) Satzfelder
3) Verbvalenz
4) Satzglieder
5) Nominalklammern, Adjunktklammern, Präpositionalphrasen,
Pronomen
6) Räumliche Kohärenz
7) Zeitliche Kohärenz
8) Kausale Kohärenz.

Das grammatische Modell, das dieser Lehrprogression zugrunde liegt,


ist ein eklektisches: In den ersten didaktischen Einheiten werden die
Grundstrukturen des deutschen Satzes behandelt (Verbalklammer,
Satzgerüst und Aufteilung des Satzes in Satzfelder), sodass die Lerner mit
Mitteln ausgerüstet werden, die ihnen bei der Erkennung syntaktischer und
semantischer Texteinheiten helfen. Die Beschreibung erfolgt dabei
grundsätzlich nach dem Modell der Textgrammatik der deutschen Sprache von
Harald Weinrich16. In den nachfolgenden didaktischen Einheiten wird der
Satzbau gewissermaßen «aus der Nähe» beschrieben: Dem Modell der
Valenztheorie nach geht man hier von der Annahme aus, dass das
konjugierte Verb eine zentrale Funktion im Satzbau hat. An diesem Punkt

insbesondere auf die Vermittlung der Regeln der deutschen Wortbildung.


Dieselbe theoretische Auffassung liegt der didaktischen Grammatik zugrunde, die
für und bei den Pisaner Studierenden des ersten akademischen Jahres konzipiert
ist bzw. verwendet wird: «Un testo scritto in una lingua straniera può apparire
inquietante. […] davanti agli occhi appare una specie di ‹muro› minaccioso. La
‹scalata del muro› – fuor di metafora: la lettura e comprensione del testo tedesco –
risulta assai meno ardua di quanto appaia se si è provvisti dei mezzi adeguati per
affrontarla». (Blühdorn, Hardarik / Foschi Albert, Marina (2006). Lettura e
comprensione del testo in lingua tedesca. Zit., S. 5).
16 Siehe Weinrich, Harald (1993). Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim /

Leipzig / Wien / Zürich.

63
Sabrina Ballestracci

erfolgt die Einführung des Begriffs der Verbvalenz, verstanden als die
«Fähigkeit [des Verbs], syntaktische Leerstellen zu eröffnen, die durch
bestimmte Satzgliedkategorien gefüllt werden müssen, wenn das Verb als
Prädikat im Satz dient».17 Auf das Modell der Valenzgrammatik stützt sich
die nachfolgende Beschreibung der Funktion der Satzglieder. Bei der
formalen Unterscheidung zwischen Satzglied, Attribut und Wortgruppe
greift man hingegen auf Begriffe der Textgrammatik von Weinrich zurück:
Eine gewisse Aufmerksamkeit wird dabei jenen Strukturen gewidmet, die
als Satzglieder oder Attribut vorkommen können, d.h. Nominalklammern,
Adjunktklammern, Präpositionalphrasen und Pronomina. In den letzten
Unterrichtssitzungen werden hingegen die Sprachmittel der deutschen
Sprache vermittelt, die zum Ausdruck der räumlichen, zeitlichen und
kausalen Kohärenz dienen. Dabei werden Begriffe der traditionellen
Grammatik (Präposition, Adverb, Konjunktion), der Textgrammatik
(Verbalklammer, Nominalklammer), sowie neuerer Ansätze wie zum
Beispiel der Duden-Grammatik sowie der IDS-Grammatikbeschreibungen
(Zeit-, Raum- und Kausalangaben) mit einbezogen.

2. METHODE UND ERGEBNISSE DES VERSUCHS

Von den im Kap. 1 illustrierten Voraussetzungen ausgehend, habe ich


mich im Rahmen des theoretischen Kurses von Lingua Tedesca I
entschlossen, einen Versuch durchzuführen, der zeigen soll, wie die
Studierenden die grammatischen Strukturen des Deutschen bearbeiten, und
ob bzw. wie die Bearbeitung der Zielstrukturen zur Entwicklung von
Rezeptions- und Bearbeitungsstrategien beim Leseverstehen von
authentischen deutschen Texten beiträgt.
Was die Auswahl des zu untersuchenden Bereichs angeht, muss
präzisiert werden: Der Zusammenhang zwischen Grammatik und
Weltwissen prägt alle Phasen der beschriebenen Lehrprogression und lässt
sich in allen Phasen, insbesondere bei der Auseinandersetzung mit
authentischen Texten beobachten. Dabei setzen die Lerner sowohl
grammatische Erwerbsstrategien ein (chunck-learning in den ersten
Erwerbsphasen, Verwechslungen in den nachfolgenden Phasen,
Interferenz aus der Muttersprache im ganzen Erwerbsprozess) als auch
allgemein kognitive Strategien, die sie aus ihrem Weltwissen ableiten. Beide
Typen von Erwerbsstrategien tragen zur Entwicklung von Lesestrategien
bei, die eine wesentliche Rolle beim Textverstehen spielen. Ein

17 Duden-Grammatik (20057). Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich, S. 396.

64
LESEVERSTEHEN

grammatischer Bereich, bei dem sich das Auftreten solcher Strategien mit
einer gewissen Evidenz untersuchen lässt, ist jener der kausalen Kohärenz.
Die Studierenden haben zum Zeitpunkt der Untersuchung das Ende des
ersten Studienjahres erreicht, d.h. im Unterricht sind ihnen bereits die
wichtigsten Grundstrukturen des Deutschen vermittelt worden, so dass sie
mehr oder weniger imstande sein sollten, diese Strukturen in Originaltexten
zu erkennen.
Der Bereich der kausalen Kohärenz stellt auch deswegen ein
interessantes Untersuchungsfeld dar, weil deren Bearbeitung nicht nur die
grammatischen Kenntnisse, sondern auch das Weltwissen aktiviert: Durch
kausale Verhältnisse werden nicht nur grammatische Relationen, sondern
auch Ereignisse der Wirklichkeit in einen logischen Zusammenhang
gestellt. Hier ist das Verhältnis zwischen grammatischer Kompetenz und
Weltwissen ein sehr enges und subtiles: Einerseits ermöglichen die
erlernten Strukturen den Studierenden, sich beim Textverstehen eine
Orientierung zu verschaffen; andererseits benützen die Lerner ihr
Weltwissen, um die Bedeutung von Strukturen, die sie noch nicht kennen
oder nicht erkennen können zu inferieren.
Beim Versuch wurden die Rezeption und die Produktion der kausalen
Verknüpfungsmittel durch Studierende des zweiten Semesters innerhalb
eines achtstündigen Moduls zur kausalen Kohärenz untersucht. Dabei
werden nicht nur – traditionell ausgedrückt – kausale Verhältnisse im
engeren Sinne, sondern auch finale und konditionale Zusammenhänge als
kausal interpretiert18.
Das Experiment besteht aus drei Phasen:

1) Erster Ad-hoc-Test (Kap. 1.1.)


2) Beschreibung der grammatischen Strukturen des Deutschen, die
zum Ausdruck der kausalen Kohärenz dienen, und Analyse von
Beispieltexten (Kap. 1.2.)
3) zweiter Ad-hoc-Test (Kap. 1.3.).

2.1. Erster Ad-hoc-Test

In den ersten zwei Unterrichtsstunden wurden die Studierenden einem


ersten Ad-hoc-Test unterzogen. 18 Probanden nahmen am Test teil. Der
Test enthält folgende Aufgaben:

18 Siehe dazu Kap. 2.2.

65
Sabrina Ballestracci

a. Übersetzung von Sätzen mit kausalen Verknüpfungsmitteln aus


dem Italienischen ins Deutsche
b. Übersetzung von Sätzen mit kausalen Verknüpfungsmitteln aus
dem Deutschen ins Italienische
c. Kurzes Freies Schreiben (narrativ)
d. Kurzes Freies Schreiben (dialogisch)
e. Textanalyse: Analyse einzelner kausaler Satzglieder
f. Theoretische Frage zur Kausalität.

Mit diesem ersten Test wurde darauf abgezielt, die Grundkenntnisse


der Lerner im Bezug auf den Bereich der kausalen Kohärenz festzustellen.
Die Arbeiten der Probanden wurden mit einer statistischen Methode
analysiert. Bei den Produktionsaufgaben (Übersetzung und Freies
Schreiben) wurden das Auftreten und die Normkonformität der verwen-
deten kausalen Strukturen untersucht; mit der Analyse der Aufgabe e sollte
hingegen festgestellt werden, wie viele Studierende imstande waren, die
kausalen Strukturen in einem authentischen Text zu erkennen. Die Analyse
der Aufgabe f ermöglichte schließlich, zu verifizieren, ob die Studierenden
dazu fähig waren, eine Definition von Kausalität zu liefern.
Aus der quantitativen bzw. qualitativen Analyse der erhobenen Daten
ergibt sich, dass den Studierenden die Rezeption und Produktion kausaler
Strukturen am Anfang des didaktischen Moduls besondere Schwierigkeiten
bereitet: Fast allen Studierenden ist nur eine begrenzte Menge
grammatischer Strukturen bekannt. In vielen Fällen (17) sind die
Probanden nicht imstande, eine Übersetzung der italienischen Struktur ins
Deutsche zu erstellen. Dabei lässt sich außerdem beobachten, dass die
bekannten und verwendeten kausalen Verknüpfungsmittel vor allem zum
Bereich der Kausalität im engeren Sinne gehören: Verwendet werden vor
allem die subordinierenden Konjunktionen weil / da (33), die Präposition
wegen (15), die kausalen Adverbien deswegen / deshalb / also / so (9) und die
koordinierende Konjunktion denn (6). Häufig ist auch das Auftreten der
finalen Konjunktion um…zu (14), während konditionale Verhältnisse vor
allem durch wenn (18) ausgedrückt werden.
Wie Graphik 1 veranschaulicht, werden einige Strukturen nur in
Einzelfällen – und dabei fast immer – normwidrig verwendet.

66
LESEVERSTEHEN

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Graphik 1. Anzahl und Typologie der verwendeten Strukturen bei der Übersetzung
italienischer Sätze ins Deutsche

Als Beispiel dafür gilt der Fall des Wortes damit, das zweimal auftritt,
nicht aber als finale Konjunktion sondern als kausales Adverb bei der
Übersetzung der italienischen Präpositionalphrase per questo motivo (aus
diesem Grund) benützt wird. Bsp.:

Piove forte. PER QUESTO MOTIVO Luca è rimasto a casa tutto il giorno.
Es stark regnet. DAMIT Luca den ganzen Tag zu Hause geblieben ist. (St.
10)
Es regnet stark. DAMIT ist Luca zu hause geblieben. (St. 17)

Bei der Übersetzung finaler Konjunktionen aus dem Italienischen ins


Deutsche bevorzugen hingegen fast alle Probanden die Infinitivsätze
einleitende Konjunktion um…zu:

Elisa studia molto PER prendere un bel voto al prossimo esame.


Elisa studiert viel, UM eine gute Note an der nächsten Übung ZU bekommen
(St. 1)

Nicht kausale Sprachmittel werden bei der Übersetzung von finalen


Strukturen eingesetzt, um kausale Verhältnisse auszudrücken: Die
Konjunktion ob wird von den Lernern statt der Konjunktion wenn
verwendet, um Konditionalität auszudrücken:

67
Sabrina Ballestracci

SE non piove vado a fare una passeggiata.


Ich gehe spazieren, OB es nicht regnet. (St. 9)

Dabei lässt sich das Auftreten einer Interferenz aus der Muttersprache
erkennen, da das Italienische eine einzige Struktur (se) hat, wo das Deutsche
wenn für Konditionalsätze und ob für indirekte Fragen besitzt.
Bei der Übersetzung deutscher Sätze ins Italienische (Graphik 2) lässt
sich weiter feststellen, dass die Lerner auch Schwierigkeiten bei der
Verwendung italienischer kausaler Strukturen haben. Dabei hat es den
Anschein, dass sie über ein beschränktes sprachliches Instrumentarium
kausaler Sprachmittel verfügen. Einige Strukturen werden mit relativ großer
Häufigkeit benützt, wie beispielsweise die kausalen Präpositionalphrasen per
questo / per questo motivo / per questa ragione (18), die kausale Präposition per
(17) und die konditionalen Adverbien allora / così (16). Unter den
Konjunktionen sind das finale affinché (9) und die kausalen Bindewörter
poiché / dato che (9) die am häufigsten vorkommenden Ausdrucksmittel.
In einigen normwidrigen Fällen lässt sich vermuten, dass das Problem
eher bei der Interpretation der deutschen Struktur als bei der Übersetzung
durch das richtige italienische Wort liegt, wodurch es auch erklärbar
scheint, dass in 17 Fällen keine Übersetzung erstellt wurde. Zu den nicht
übersetzten Strukturen gehören die finalen Konjunktionen damit (4) und
um…zu (2), die kausale Konjunktion denn (3), das kausale Adverb deswegen
(3), das finale Adverb dazu (3) und das konditionale Adverb dann (2).
Interessante Strategien lassen sich bei den Übersetzungen der finalen
Konjunktion damit und des finalen Adverbs dazu beobachten, wobei
italienische Strukturen, die zur Kausalität im weiteren Sinne gehören,
verwendet werden, um finale Verhältnisse auszudrücken:

Ich möchte viel Geld verdienen. DAZU muss ich sehr viel arbeiten.
Vorrei guadagnare molti soldi. PER QUESTO MOTIVO dovrei lavorare molto
di più. (St. 10)

Wir lernen Deutsch, DAMIT wir eine Arbeitsstelle im Tourismus finden.


Noi impariamo tedesco COSÌ possiamo trovare un lavoro nel settore turistico.
(St. 19)

68
LESEVERSTEHEN

Graphik 2. Aufgabe b. Anzahl und Typologie der verwendeten Strukturen bei der
Übersetzung deutscher Sätze ins Italienische

Aus der Analyse der produktiven Aufgaben ergeben sich andere


interessante Beobachtungen: Dabei scheint es, dass die Lerner vermeiden,
kausale Verhältnisse explizit auszudrücken; bevorzugt ist die Verwendung
von impliziten kausalen Verhältnissen, wie beispielsweise der folgende
Ausschnitt aus einem dialogischen «Freien Schreiben»-Text belegt:

A: Ich habe keine Lust am Party gehen!


B: Warum?
A: Es tut mir leid. Ich muss für die Prüfung studieren. (St. 1)

Die Bevorzugung impliziter Verknüpfungsmittel kann nicht eindeutig


erklärt werden. Es kann sein, dass die Verwendung von kausalen
Strukturen den Studierenden beim «Freien Schreiben» größere
Schwierigkeiten bereitet als beim Übersetzen. Tatsache ist aber auch, dass
kausale Verhältnisse in authentischen Texten oft implizit ausgedrückt
werden und dass es sich dabei um eine häufig zu beobachtende Tendenz in
der Alltagssprache handelt19. Aufgrund dieser Beobachtungen kann also die

19 Vgl. Blühdorn, Hardarik (2006). Kausale Satzverknüpfungen im Deutschen. In:


«Pandaemonium Germanicum. Revista de Estudos Germanísticos» 10, S. 253-282,
hier S. 257-258. Die Annahme einer weiten Auffassung von Kausalität macht es
möglich, die für alle drei Bereiche der Kausalität i.e.S., Finalität und

69
Sabrina Ballestracci

Implizierung von kausalen Verhältnissen als ein ganz natürlicher Gebrauch


der kausalen Kohäsion / Kohärenz angesehen werden.
Eine sichere Interpretation ermöglichen hingegen die Daten aus der
Analyse der Aufgaben e und f, welche bestätigen, dass die Lerner noch
nicht imstande sind, in authentischen Texten auftretende kausale
Verhältnisse zu erkennen und den Begriff der Kausalität zu definieren:
Vielen von ihnen ist nicht einmal klar, welche Strukturen das Italienische
besitzt, um Kausalität auszudrücken. Die Frage «Wie wird die Kausalität im
Italienischen ausgedrückt?» beantworten viele Studierende mit «durch
Konjunktionen» und nennen neben den Konjunktionen perché und poiché
auch Präpositionen wie per und Präpositionalphrasen wie a causa di und per
questo motivo. Diese Beobachtung bestätigt, dass das Erkennen der
Wortarten noch Schwierigkeiten bereitet, was oft auch die Rezeption und
die Produktion von grammatischen Strukturen beeinflusst.

2.2. Die Vermittlung der deutschen kausalen Strukturen

In den nachfolgenden vier Unterrichtssitzungen werden die


grammatischen Strukturen des Deutschen, die zum Ausdruck der kausalen
Kohärenz dienen, beschrieben und durch die Analyse von Beispieltexten
geübt.
Die Beschreibung der grammatischen Strukturen der kausalen
Kohärenz im Unterricht stützt sich auf folgende theoretischen Punkte:

a. Kausale Kohärenz wird als Verknüpfung von Gründen, Ursachen mit


Auswirkungen, aber auch von Handlungen mit Absichten und Zielen
sowie von Bedingungen mit ihren Folgen verstanden. Wie schon
erwähnt, werden hier nicht nur – traditionell ausgedrückt – kausale
Verhältnisse im engeren Sinne, sondern auch finale und konditionale
Zusammenhänge als kausal betrachtet. In der traditionellen Literatur
gehören kausale, konditionale und finale Verhältnisse nicht zusammen:
Sie gelten als voneinander getrennte grammatische Bereiche. In der
vorliegenden Untersuchung wird die Auffassung der moderneren IDS-
Forschungsstudien geteilt, nach der die drei Verknüpfungs-
möglichkeiten als kausal gelten, wobei vorausgesetzt wird, dass es sich
bei finalen und konditionalen Verhältnissen um Relationen zwischen

Konditionalität geltenden Tendenzen in den Blick zu nehmen. Dieses Verfahren


erweist sich vor allem in den ersten Erwerbsphasen als ein sehr hilfreiches Mittel,
da es sich mit den von den Lernern angewandten Lernstrategien deckt, denn die
Lerner befinden sich dabei auf der Suche nach Generalisierungen und Normen.

70
LESEVERSTEHEN

zwei Ereignissen oder Zuständen handelt. Ein Ereignis (bzw. Zustand)


stellt hier eine Ursache (bzw. eine Konsequenz dar)20. Bsp.:

VERHÄLTNIS EREIGNIS/ZUSTAND 1 EREIGNIS/ZUSTAND 2


Kausal Wir bleiben zu Hause (Folge), weil es regnet. (Grund)
Final Ich gehe früh zu Bett damit ich morgen ausgeschlafen bin.
(Handlung), (Zweck)
Konditional Wenn es regnet, (Bedingung) dann bleibe ich zu Hause. (Konsequenz)
Tab. 1. Analyse von kausale i.e.S., konditionale und finale Verhältnisse enthaltenden
Sätzen

b. Bei der formalen Beschreibung der Strukturen im Unterricht wird


betont, dass kausale Verhältnisse sowohl implizit als auch explizit
ausgedrückt werden. Implizit angegebene Verhältnisse erfordern eine
subjektive Sensibilität des Lesers, da sie nur von ihm erschlossen und
interpretiert werden können. Ihre Erkennung stimuliert die Anwen-
dung von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und Kompetenzen.
c. Erklärt wird außerdem, dass sowohl im Deutschen als auch im
Italienischen zur expliziten Kennzeichnung der Kausalität ähnliche
grammatische Kategorien dienen: Konjunktionen (dt. weil, it. perché),
Präpositionen (dt. aus, it. per), Substantive (dt. Grund und Ursache, it.
causa und motivo), Verben (dt. begründen und verursachen, it. causare und
motivare) sowie Adjektive (dt. begründet und verursacht, it. causato und
motivato) (vgl. Breindl / Stede; Blühdorn 2006)21.
d. Die Beschreibung konzentriert sich dann auf bestimmte Strukturen,
welche durch die folgende Tabelle veranschaulicht werden. Horizontal
sind die Strukturen nach Wortklassen bzw. syntaktischen Merkmalen in
vier Klassen unterteilt (Präpositionen, Adverbien, koordinierende und
subordinierende Konjunktionen); Vertikal nach Kausalitätstyp, d.h.:
Kausalität i.e.S., Finalität und Konditionalität.

20Ibidem.
21 Dabei werden auch kontrastive Beobachtungen zum Deutschen und
Italienischen angestellt; die Beschreibung der Ähnlichkeiten und Unterschiede
geht hier aber nicht in die Tiefe der syntaktischen Strukturen, deren Darstellung
Gegenstand des zweiten akademischen Jahres ist, sondern betrifft vor allem den
Vergleich von Ausdruckskategorien bzw. -modalitäten.

71
Sabrina Ballestracci

Kausalität Finalität Konditionalität


Präpositionen aus, wegen, durch zu
Adverbien daher, deshalb, deswegen, dazu dann, so (als Korrelate)
so, somit, also, folglich
Koordinierende denn
Konjunktionen
Subordinierende da, weil damit + Finitum wenn, falls
Konjunktionen um…zu + Infinitiv
Tabelle 1. Klassifikation der im Unterricht vermittelten kausalen Strukturen

Während und nach der Vermittlung der grammatischen Inhalte werden


die Lerner mit authentischen Texten konfrontiert22, bei denen sie durch
Fragen und bei mündlichen Übungen dazu aufgefordert werden, die im
Text vorkommenden kausalen Strukturen zu erkennen und das kausale
Verhältnis zu beschreiben, das zwischen den im Text auftretenden
Ereignissen hergestellt wird.
Bei den mündlichen Übungen lässt sich beobachten, dass die Mehrzahl
der Studierenden dazu tendiert, die erlernten Strukturen im Text zu suchen,
ohne auf ihre Bedeutung im Kontext zu achten. Dieses Phänomen kommt
vor allem bei den polyfunktionalen Strukturen vor. Als Beispiel dafür gilt
der Fall der Konjunktion wenn, die sowohl konditionale als auch temporale
Sätze einleiten kann. Die beiden Funktionen werden von den Studierenden
oft verwechselt.
Während der Bearbeitung der kausalen Strukturen treten auch
Generalisierungsphänomene auf: Die Studierenden interpretieren auch
solche Strukturen als kausal, die nicht kausal sind (z.B. die Konjunktion ob,
die mit wenn verwechselt wird). Eine weitere Schwierigkeit liegt beim
Erkennen des Bezugsereignisses, wenn das kausale Verhältnis durch
Adverbien ausgedrückt wird, z.B. haben viele Lerner Schwierigkeiten beim
Adverb deshalb das Ereignis zu erkennen, auf das sich das Adverb bezieht.
Aufgrund dieser Beobachtungen und der Ergebnisse des ersten Tests
werden den Studierenden weitere theoretische Hinweise und Textbeispiele
geliefert: Dabei wird versucht, die Probanden für das Verhältnis zwischen
syntaktischen und semantischen Strukturen zu sensibilisieren: Die
Bedeutung der im Text auftretenden kausalen Strukturen wird in einen
Zusammenhang mit den im Text beschriebenen Ereignisse gebracht.

22 Dabei handelt es sich um ein kleines Korpus von Texten, das für die
Studierenden am Anfang des akademischen Jahres zur Verfügung gestellt wird.
Das Korpus enthält jedes Jahr ungefähr 20 Texte verschiedener Textsorten, u.a.
Werbetexte, Zeitungsartikel, Gedichte, Erzählungen, Märchen, Gebrauchs-
anweisungen.

72
LESEVERSTEHEN

2.3. Der zweite Ad-hoc-Test

In den letzten zwei Unterrichtsstunden werden die Studierenden einem


zweiten Test unterzogen, der die gleichen Aufgaben wie der erste Test
enthält. Anders aber als im ersten Test sollen die Probanden (23
Teilnehmer) diesmal nur einen (narrativen) Text – des Typs: «Freies
Schreiben» – verfassen. Außerdem sollen sie die in einem authentischen
Text auftretenden kausalen Strukturen unterstreichen sowie die durch
solche Strukturen ausgedrückten kausalen Verhältnisse (Grund/Folge;
Ereignis/Ziel und Bedingung/Konsequenz) explizieren. Bei der Analyse
der Arbeiten wurde dieselbe Methode wie im ersten Test angewandt.
Die Ergebnisse aus der empirischen Analyse zeigen, dass sich die
Rezeption und Produktion kausaler Strukturen nach der Grammatik-
vermittlung im Allgemeinen verbessert: Sowohl im Deutschen als auch im
Italienischen verwenden die Probanden eine höhere Anzahl und eine
vielfältigere Typologie von kausalen Verknüpfungsmitteln. In den meisten
Fällen werden die Strukturen auch normkonform (d.h. im richtigen
Kontext) benützt.
Wie beide Graphiken (3-4) veranschaulichen, ist jetzt die Anzahl der
nicht ins Deutsche übersetzten Strukturen (8) niedriger als im ersten Test.
Zu beobachten ist aber, dass den Lernern die Übersetzung einiger
deutscher Strukturen ins Italienische noch Schwierigkeiten bereitet: In 17
Fällen wird keine Übersetzung gemacht, wobei Probleme bei der finalen
Konjunktion damit im Satz Damit alles klappt, müssen wir sehr präzis sein und
bei der kausalen Präposition aus im Satz Helga tut das aus Furcht auftreten.
Dabei lässt sich auch beobachten, wie das Verstehen der im Satz
ausgedrückten Ereignisse bei der Übersetzung der kausalen Struktur zu
Hilfe kommen kann. Die Autokorrekturen der von den Studierenden
übersetzten Sätze weisen darauf hin, dass sie die kausale Zielstruktur
kennen, den ganzen Satz aber nicht übersetzen können, weil ihnen einige
im Satz enthaltene Wörter unbekannt sind:

Damit alles klappt, müssen wir sehr präzis sein.


Affinché tutto ###, dobbiamo essere molto ###. (St. 6).

73
Sabrina Ballestracci

Graphik 3. Aufgabe a. Anzahl und Typologie der verwendeten Strukturen bei der
Übersetzung italienischer Sätze ins Deutsche

Graphik 4. Aufgabe b. Anzahl und Typologie der verwendeten Strukturen bei der
Übersetzung deutscher Sätze ins Italienische

Bei der Auseinandersetzung mit dem Text zeigt sich hingegen ein
positives Phänomen. Die Möglichkeit, sich auf einen Kontext zu beziehen,

74
LESEVERSTEHEN

erweist sich für die Lerner als ein hilfreiches Mittel zur korrekten
Interpretation des ausgedrückten kausalen Verhältnisses: Bei der
Textanalyse und beim «Freien Schreiben» werden die bei der Übersetzung
normwidrig verwendeten Strukturen als normkonform erkannt bzw.
benutzt. Im rezeptiven Teil sollen die Studierenden nicht nur die kausalen
Strukturen, die im Text vorkommen, unterstreichen, sondern auch die
kausalen Verhältnisse beschreiben, die durch diese Strukturen zwischen
den im Text auftretenden Ereignissen geschaffen wurden. Dabei bereitet
ihnen das Erkennen kausaler Strukturen diesmal keine allzu großen
Schwierigkeiten mehr: Fast alle Studierenden sind jetzt imstande, kausale
Strukturen zu erkennen, die sie im vorhergehenden Test nicht als solche
identifizieren konnten, z.B.: die Bestimmung des Bezugsereignisses bei
Adverbien wie daher, deswegen. Beim «Freien Schreibens» werden mehr als
doppelt so viele Strukturen (47) verwendet wie im produktiven Teil des
ersten Tests (23).
Große Schwierigkeiten haben hingegen noch einige Probanden: Das
Auftreten von Generalisierungsphänomenen bestätigt hier, dass die
ermittelten Strukturen noch nicht ganz verinnerlicht sind. Andere
Schwierigkeiten kommen außerdem bei der Übersetzung besonderer
kausaler Strukturen vor (z.B. ital. gerundio).
Aus der Analyse der Antworten auf die theoretische Frage zum Begriff
«Kausalität» ergibt sich, dass fast alle Studierenden zu diesem Zeitpunkt
imstande sind, eine klare Definition von Kausalität zu liefern.

3. REFLEXION ÜBER DIDAKTISCHE IMPLIKATIONEN

Die aus der durchgeführten Analyse gewonnenen Ergebnisse lassen


sich folgendermaßen zusammenfassen:

− Obwohl sich nicht alle Studierenden am Ende des didaktischen Moduls


auf dem gleichen Kompetenz-Niveau befinden, findet im Allgemeinen
eine Entwicklung der Teilkompetenzen statt. Bei jenen Studierenden,
die schon im ersten Test über eine angemessene rezeptive Kompetenz
verfügten, zeigt sich jetzt auch eine adäquate Verwendung bei der
Produktion von kausalen Strukturen. Die Probanden hingegen, bei
denen im ersten Test eine geringe Kompetenz sowohl bei der
Produktion als auch bei der Produktion festgestellt wurde, zeigen im
zweiten Test Fortschritte bei der Rezeption, während sie noch
Probleme bei der Produktion haben.

75
Sabrina Ballestracci

− Durch das Aufzeigen von Zusammenhängen formaler und funktionaler


Dimensionen der Sprache eignet sich die angewandte Methode dazu,
die gröbsten Lernschwierigkeiten der DaF-Lerner zu umgehen, da
grammatische Kompetenz und Leseverstehen miteinander zu
korrelieren scheinen. Die Kompetenz des Lesens entwickelt sich
allmählich und parallel zum Erwerb sprachtheoretischer Kenntnisse:
Sowohl die sprachwissenschaftliche Beschreibung der grammatischen
Strukturen als auch die Anwendung der Theorie bei der Textanalyse
erweisen sich als hilfreiche Mittel, um die Ziele der universitären DaF-
Didaktik zu erreichen. Die grammatischen Regeln helfen beim
Leseverstehen, während das Lesen ermöglicht, sowohl die erlernten
Regeln als auch neue Regeln wahrzunehmen.
− Der Versuch bestätigt auch, dass Sprachfähigkeiten mit dem
Weltwissen sehr eng verbunden sind. Die auftretenden Schwierigkeiten
sind oft eher das Ergebnis eines kognitiven als eines sprachlichen
Mangels. Am Anfang des Versuchs waren viele Probanden nicht
imstande, eine Definition von Kausalität zu liefern, und sie waren nicht
in der Lage, die kausalen Strukturen des Italienischen zu nennen. Die
Sensibilisierung für die Bedeutung von Begriffen wie kausal, Kausalität,
Grund, Folge, Ziel usw. haben das Wahrnehmungspotenzial aller
Studierenden verstärkt. Dabei stimme ich mit der These überein, die
besagt, dass die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten der Lerner
Aufgabe des schulischen und nicht des universitären Unterrichts sein
sollte23. Dasselbe gilt auch für die Schwierigkeiten, die die Lerner bei
der Unterscheidung von Wortarten und ihrer Funktion haben: Die
Studierenden sollten schon in der Schule gelernt haben, was Kausalität
heißt und wie sie im Italienischen ausgedrückt werden kann.
− Die empirische Analyse hat aber auch bestätigt, dass die Bearbeitung
der kausalen Strukturen in der beschriebenen Phase noch nicht
abgeschlossen ist: Es bestehen noch Probleme bei der Analyse gewisser
Strukturen, wie beispielsweise, wenn das Deutsche zwei
unterschiedliche Strukturen hat, um zwei unterschiedliche Bedeutungen
auszudrücken (wenn vs. ob), während es im Italienischen nur ein Wort
für beide Bedeutungen gibt (se). In diesen Fällen werden
Generalisierungsstrategien angewandt. Dieses Ergebnis bekräftigt die
Forderung nach einer Ergänzung der hier angewandten Methode durch
eine kontrastive Beschreibung Deutsch-Italienisch.

23Siehe dazu Sitta, Horst (2000). «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…». In:
Foschi Albert, Marina / Hepp, Marianne (Hg.). Germanistische Linguistik und
Spracherwerb an den italienischen Universitäten. Pisa, S. 107-124.

76
LESEVERSTEHEN

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78
DIE SEMIOTISCHE ANALYSE DER WERBETEXTE ALS
DIDAKTISCHE STRATEGIE ZUR FÖRDERUNG DES
LESEVERSTEHENS

Gabriela Gorąca (Poznań)

Werbetexte als authentische kulturgeprägte Texte können im


fremdsprachigen Projektunterricht erfolgreich eingesetzt werden.
Werbetexte nehmen nämlich unterschiedliche Formen an und sind sowohl
in der Presse, in Fernsehen und Rundfunk (sog. Indoor-Werbung), als auch
auf der Straße, an Haltestellen und in Transportmitteln (sog. Outdoor- bzw.
Außenwerbung) vorhanden. Dementsprechend werden die Lernenden mit
Werbetexten im fremdsprachigen Zielland verschiedenartig konfrontiert.
Reklamen sind nämlich nicht nur reich an interessanten sprachlichen
Phänomenen, sondern auch an Bildern und Musik (welche die
kommunikative Wirkung der Werbemitteilung verstärken) sowie an
kulturbedingten nonverbalen und paraverbalen Elementen. In diesem
Zusammenhang wird in dem vorliegenden Beitrag versucht, eine
Vorgehensweise zu präsentieren, in der gezeigt wird, wie Werbetexte in
ihrer strukturellen Vielfältigkeit intersemiotisch «gelesen» und analysiert
werden können. Der Schwerpunkt wird dabei auf die Entwicklung der
Lesekompetenz im DaF-Projektunterricht bei polnischen Studierenden der
Angewandten Linguistik gelegt.
Die hierbei präsentierten Überlegungen beziehen sich auf einen
einsemestrigen Projektunterricht mit dem Titel «Praktisches
Kommunizieren – Werbetexte», der an der Adam Mickiewicz Universität
(Poznań, Polen) im Rahmen des Wahlpflichtfaches angeboten wurde. Am
Projekt nahmen 20 sprachlich fortgeschrittene Studierende aller
Studienjahre teil (Niveaus B1-C1). Sie arbeiteten während des Projektes
meist in Kleingruppen.
Das Ziel des Projektes war es, den Studierenden zu zeigen, wie sie
Zeichen aller Art (die einen Werbetext bzw. einen anderen medialen Text
konstituieren) lesen und somit verstehen und dieses Wissen in der
Gestaltung von Werbetexten anwenden können. Die Studierenden der
Angewandten Linguistik sind in der Werbebranche gefragt, daher wird die
Meinung vertreten, dass sie darauf vorbereitet werden sollten.
Im vorliegenden Beitrag wird einer der Vorteile der Projektarbeit mit
Werbetexten dargelegt; und zwar die Entfaltung der Lesekompetenz der
Studierenden, die heutzutage breiter als bisher aufzufassen ist: «Die
Gabriela Goraça

Lesekompetenz war früher eingebettet in die Struktur des Bildungswesens,


heute in die ganze Medienwelt mit ihren vielfältigen Anforderungen»1.

1. WERBETEXTE – AUTHENTISCHE TEXTE – GEBRAUCHSTEXTE

In der Klassifikation von authentischen Texten werden Reklamen den


nicht-fiktionalen Texten untergeordnet und zwar den allgemeinen
Gebrauchstexten, die auch Alltagstexte genannt werden2. Die Authentizität
ist ein Vorteil der Werbetexte, der sie zum wertvollen Lernmaterial macht.
Die Arbeit mit authentischen Texten ist nämlich eine Art Annäherung des
Lernenden an die Wirklichkeit eines fremden Landes: «Authentische Texte,
die in idealer Weise Sprach- und Kulturunterricht verbinden, spielen seit
langem eine enorme Rolle in der fremdsprachlichen Unterrichtspraxis»3.
Im Hinblick auf die Art der Realisierung der authentischen Texte kann
einleitend auf folgende Typologie verwiesen werden:

Abbildung 1: Authentische Texte4

Dem Schaubild ist zu entnehmen, dass Werbetexte unterschiedliche


Formen annehmen können:

− Pressewerbung, Flugblätter, Broschüren, Prospekte, Billboards, Blow-


ups, Citylights, SMS-Werbung, Werbung auf Transportmitteln
(schriftliche Texte bzw. visuell-schriftliche Texte);
− Rundfunkwerbung, interaktive Werbung per Telefon (Hörtexte);

1
Eggert (2007:67).
2
Vgl. hierzu Adamczak-Krysztofowicz (2003: 96).
3
Adamczak-Krysztofowicz (2003: 81).
4
Adamczak-Krysztofowicz (2003: 96).

80
SEMIOTISCHE ANALYSE

− Fernsehwerbung, Internetwerbung (visueller Text und Hörtext).

Dementsprechend werden Werbetexte sowohl durch auditive als auch


durch visuelle Kanäle vermittelt und dadurch im Projektunterricht
abwechslungsreich bearbeitet. Darüber hinaus lassen sich Reklametexte
durch ihre Vielgestaltigkeit in die Schulung der Sprech- und
Schreibfertigkeiten sowie des Lese- und Hörverstehens integrieren.
Semiotisches Potenzial von Werbung, das in der Vernetzung des
Geschriebenen bzw. Gesagten mit Musik, Bild und Geräuschen
verschiedener Art, Körper- sowie Parasprache seinen Ausdruck findet,
sollte ganzheitlich, d.h. unter Berücksichtigung aller genannten Elemente
im fremdsprachigen Projektunterricht, betrachtet werden. Was wäre
nämlich Werbung ohne ihre Multimodalität?
Ausgehend davon, dass im Laufe der Projektarbeit Werbetexte
gestaltet werden sollten und der Produktion möglichst rezeptive Schulung
voranzugehen hat, ist die semiotische Analyse der Werbetexte
empfehlenswert.

2. ENTFALTUNG DER LESEKOMPETENZ DER STUDIERENDEN IM


PROJEKT-UNTERRICHT MIT WERBETEXTEN

Semiotische Analyse kann die Entwicklung des Leseverstehens


wesentlich fördern. Dies ist besonders relevant bei der Projektarbeit mit
Werbetexten. Wie kann die Lesekompetenz der Studierenden im
Projektunterricht entwickelt werden?
Werden mediale Texte im DaF-Projektunterricht thematisiert, sollte die
traditionelle Vorgehensweise bei der Entwicklung der Lesekompetenz
modifiziert werden. Mediale Texte nehmen unterschiedliche Formen an
und sind in ihrer strukturellen Vielgestaltigkeit sinnvollerweise ganzheitlich
zu bearbeitetwn. Darüber hinaus sind Werbetexte meist sehr kurz, weshalb
sich die meisten Lesestrategien oder -techniken schwer einsetzen lassen.
Es ist jedoch empfehlenswert, die dreiphasige Bearbeitung der
Reklamen (wie es in der Arbeit mit anderen Textsorten praktiziert wird) zu
beachten:

1. die Übungen vor dem Lesen;


2. die Übungen während des Lesens (d.h. die semiotische Analyse);

81
Gabriela Goraça

3. die Übungen nach dem Lesen5.

In der ersten Phase werden die Vorkenntnisse der Studenten aktiviert.


Ein Vorschlag wäre, Assoziogramme zum in der Reklame (die der Lehrer
ausgewählt hat) berührten Thema zu bilden. Auf diese Art und Weise wird
nicht nur das Vorwissen, sondern auch der Wortschatz, der in dem
Werbetext vorkommt, aktiviert. Eine andere Möglichkeit wäre, den
Studierenden ähnliche Werbetexte in polnischer Sprache anzubieten.
Interessant ist auch die Technik «Hypothesen bilden». Aufgrund des Bildes
aus einer Reklame versuchen die Studierenden zu erkennen, was für ein
Produkt im Werbetext angepriesen wird.
Was die Übungen während des Lesens betrifft, scheint an dieser Stelle
die semiotische Analyse der Werbetexte angemessen zu sein. Bevor jedoch
auf das Lesen aller im Werbetext auftretenden Zeichen näher eingegangen
wird, müssen noch kurz die Übungen nach dem Lesen charakterisiert
werden. Hierbei können folgende Techniken erfolgreich eingesetzt werden:

− Skimming6 (d.h. den Hauptgedanken des Werbetextes in einem Satz


formulieren);
− Markierung des informativen und emotionalen Inhaltes;
− Umformulierung des Werbetextes (einer Reklame für deutsche
Rezipienten in eine für die polnische Zielgruppe);
− Umformulierung des Werbeinhaltes in Bezug auf ein anderes, neues
Produkt;
− Hinweisen auf die Struktur und auf den Aufbau des Textes usw.

Die Übungen vor und nach dem Lesen, die für die Projektarbeit mit
Werbetexten vorgeschlagen worden sind, ähneln den Übungen, die im
traditionellen DaF-Unterricht in Polen angewandt werden.

2.1 Semiotische Analyse

Da der semiotischen Analyse außer der Sprache alle


bedeutungstragenden, Kommunikation verstärkenden semiotischen Mittel
unterzogen werden, muss man zuerst erklären, was unter einem Zeichen
aufzufassen ist: «Da fallen dann alle Sprachen drunter, ebenso wie

5
Komorowska (1999: 161).
6
Vgl. hierzu Komorowska (1999: 189).

82
SEMIOTISCHE ANALYSE

künstlerische Werke, und viele andere von Menschen geschaffene Dinge,


die bewusst oder auch unbewusst Bedeutungen aufnehmen»7.
In der semiotischen Analyse von Werbetexten erscheinen jedoch
folgende Zeichen als besonders relevant: Sprachliche Mittel, Parasprache,
Körpersprache, Bilder sowie musikalische Elemente8. Alle genannten Mittel
konstituieren den Gesamtsinn der Werbebotschaft und bestimmen die
Komponenten der Werbe- und somit Marketingkommunikation:

The semiological approach […] suggests that the meaning of an ad does not
float on the surface just waiting to be internalized by the viewer, but is built
up out of the ways that different signs are organized and related to each
other, both within the ad and through external references to wider belief
systems. More specifically, for advertising to create meaning, the reader or the
viewer has to do some ‘work’. Because the meaning is not lying there on the
page, one has to make an effort to grasp it9.

Das Gesagte erhellt, dass die Werbung durch den Einsatz von
unterschiedlichen Zeichen, die miteinander verbunden und einander
angepasst sind, auf das Unterbewusstsein des potenziellen Kunden wirkt.
Der Mensch behält das Produkt nämlich besser im Kopf, wenn er es z.B.
mit bestimmter Musik und entsprechenden Bildern assoziieren kann. Die
Kombination von sprachlichen und außersprachlichen Zeichen macht
Werbung zur spezifischen und zugleich effektiven Art der
Kommunikation.
Die semiotische Analyse von Werbetexten sollte demnach sowohl die
Beschreibung der Zeichen als auch ihre Wirkung umfassen. Daher muss die
Auswertung von Reklametexten bezüglich aller Zeichensysteme auf zwei
Ebenen erfolgen; und zwar auf einer denotativen wie auf einer
konnotativen Dimension.

7
Bernsau (2009: 2).
8 Es wurden auch musikalische Elemente in die semiotische Analyse einbezogen,
da mediale Texte ebenfalls in Betracht gezogen werden. Werbetexte liest man
beispielsweise auch im Fernsehen und diesen Prozess begleitet sehr oft Musik.
Neben den musikalischen Mitteln werden in der Analyse aus demselben Grunde
prosodische sowie körpersprachliche Elemente berücksichtigt.
9 Leiss et al. (1990: 201-202).

83
Gabriela Goraça

Abbildung 2: Denotative und konnotative Ebenen in Anlehnung an Chandler (1994)

In der denotativen Dimension werden die Fragen nach der Form und
dem Aufbau des Zeichens gestellt. Auf der konnotativen Ebene werden
dagegen Assoziationen, versteckte Mitteilungen, der eigentliche Sinn der
Werbebotschaft ausgewertet10.
Bevor man jedoch einzelne Zeichen analysiert, sind noch die
Werbeziele, Werbesender und Werbeempfänger zu nennen. Diese
Informationen determinieren nämlich die Art und Weise, wie die Werbung
konstruiert und mit welchen Mitteln sie ausgedrückt wird.
Werbeziele sollten in engem Zusammenhang mit der Werbungsart
genannt werden. Zu den Hauptarten der Werbung, welche die Ziel-
bestimmung bedingen, gehören: kommerzielle Werbung (mit dem
wesentlichsten Ziel zu verkaufen), politische Werbung (mit dem Ziel, z.B.
zur Wahl einer Partei zu überzeugen) sowie soziale Werbung (mit dem Ziel,
soziales Verhalten oder gesellschaftliche Einstellungen zu ändern). Danach
werden die Werbesender beschrieben. Hierzu sollten sowohl Primärsender
als auch Sekundärsender in Betracht gezogen werden. Unter Primärsender
werden das werbende Unternehmen und die Werbeagentur verstanden,
unter Sekundärsender alle in der Werbung auftretenden Schauspieler.
Schließlich ist noch auf die Zielgruppe der Werbung hinzuweisen, wobei
die Eigenschaften der Empfänger (wie Geschlecht, Alter, Hobby, Gesund-
heitszustand, Beruf, Ausbildung, usw.) ausführlich dargelegt werden
sollten11.

2.1.1 Aufbau und Bedeutung des gesamten Werbetextes

Werbetexte bestehen, wenn man sie unter denotativem Gesichtspunkt


analysiert, aus folgenden Komponenten: Überschrift, Logo, Slogan, Haupt-
text, Bilder, Musik – sie werden im Folgenden analysiert.

10 Vgl. Chandler (1994).


11 Vgl. hierzu Janich (2001: 34 f.).

84
SEMIOTISCHE ANALYSE

Wenn man jedoch die kommunikativen Ziele des Werbetextes


berücksichtigt, muss man einzelne Elemente unter dem konnotativen
Aspekt auswerten, indem folgende Fragen gestellt werden:

− Warum ist der Haupttext der Werbung lang/kurz?


− Warum wird das Logo wiederholt?
− Warum gibt es mehr/weniger Text als andere Elemente, wie Bild und
Musik?
− Welche Funktion erfüllt in dieser Werbung die Überschrift? (usw.).

Es ist somit empfehlenswert, bei der semiotischen Analyse, die mit den
Schülern bzw. Studenten durchgeführt wird, zuerst von den allgemeinen
Informationen auszugehen, die sich auf den Aufbau des Textes beziehen
und dann erst zu Einzelheiten zu kommen (d.h. vor allem zur Frage,
welche Bedeutung die Struktur des Textes hat).

2.1.2 Sprache, Parasprache und Körpersprache in Werbung

Das Wort in der Reklame ist mächtig. Daher ist oder sollte die Sprache
in Werbung variabel und interesseerweckend sein. Zwar wird manchmal
von der Werbesprache gesprochen, doch sollte sie nicht als eine
Fachsprache, sondern eher als eine eigenständige Varietät oder eine
Sondersprache aufgefasst werden12.
In der semiotischen Analyse sind auf der denotativen Ebene folgende
Fragen zu stellen:

− Welche Funktionswörter (Artikel, Konjunktionen, Präpositionen) oder


Inhaltswörter enthält die Reklame (Adjektive, Nomen, Verben)?
− Welche Sprachstile wurden angewandt (Alltagssprache, Jugendsprache,
Jargon)?
− Welche «Mnemotechniken» wurden gebraucht (z.B. Reim, Rhythmik,
Alliteration, Wiederholung, Phraseologismen, Zitate usw.)? 13
− Wie sind die Sätze aufgebaut – sind sie kurz oder lang, liegen einfache
Sätze oder Satzgefüge vor? (usw.).

12
Vgl. hierzu Stöckl (2007: 238).
13
vgl. hierzu Schatte (2009: 6).

85
Gabriela Goraça

Zunächst ist es somit relevant, den Aufbau und die Struktur des Textes
zu analysieren und dann erst zur Rhetorik und zu der Bedeutung der
angewandten Strukturen und demnach auch zu Funktionen der Sprache zu
kommen. Hierzu sollten folgende rhetorische Mittel der Werbetexte
(beispielsweise in Bezug auf ihre Funktionen) charakterisiert werden:14

− Behauptungen («Natürlich ist Bahnfahren ein Eingriff in die Natur.


Genau genommen: Täglich Millionen Autofahrten weniger» in der
Werbung der DB15);
− Imperativformen («Entdecken Sie einmaligen Fahrspaß mit
umfangreicher Ausstattung» in der Peugeot-Werbung16);
− Einführungsfragen («Warum sollte man sich nur mit dem Zweitbesten
zufriedengeben?» in der Vaio-Werbung17);
− Metaphern («Heaven can wait. Belt up»18, in der sozialen Werbung);
− Wortspiele («Nordseeinseln – jetzt viel Meer für wenig Geld» in der
Werbung der DB Bahn19);
− Anspielungen («Wissen, wo’s herkommt» in der McDonald-
Werbung20);
− Produktpersonifizierung (Märchenpoetik) («Lassen Sie Ihr Geld für
sich arbeiten» oder «Zuerst testen wir, wie fit Ihr Geld schon ist» in der
Werbung21).

Diese sprachlichen Mittel, die als Beispiele angeführt worden sind,


erfüllen verschiedene Funktionen, da

die Sprache für verschiedene Zwecke gebraucht werden kann z.B. um


Gefühle und Emotionen auszudrücken (expressive Funktion), um einen Rat
zu geben oder etwas zu empfehlen oder von etwas zu überzeugen (direktive
und vokative Funktion), um zu informieren, beschreiben, berichten
(informative Funktion), den Kontakt herzustellen (phatische Funktion) oder

14
Vgl. Stöger (2004: 27).
15 «Der Spiegel» Nr. 33/11.08.08, S. 34-35.
16 «Der Spiegel» Nr. 33/11.08.08, S. 13.
17 «Mobil. Das Magazin der Deutschen Bahn» Nr.09/2008, S. 97.
18 http://www.youtube.com/watch?v=p9hFbO2NoY8&NR=1 (26.04.2009).
19 «Mobil. Das Magazin der Deutschen Bahn» Nr. 09/2008, S. 97.
20 SP Nr. 33/11.08.08, S. 1 f.
21 SP Nr. 33/11.08.08, S. 159.

86
SEMIOTISCHE ANALYSE

eine bestimmte Bedeutung in einem Kode wiederzugeben, die auf andere Art
und Weise nicht wiedergegeben werden kann (poetische Funktion)22.

Darüber hinaus sollten auf der konnotativen Ebene die Assoziationen


besprochen werden, die durch Sprache in Bezug auf das angepriesene
Produkt hervorgerufen werden. Zu den meist konnotationsgeladenen
sprachlichen Mitteln gehören: Wortspiele, Xenismen, Neologismen, Fach-
ausdrücke, Onomatopoetika, Trendbegriffe, Anglizismen usw.23
Was die semiotische Analyse der paraverbalen Elemente sowie der
Körpersprache anbetrifft, kann die Vorgehensweise analog zu der bisher
beschriebenen sein. Bevor man auf die Konnotationen verweist, werden
zuerst im Falle z.B. der Auswertung der paraverbalen Elemente wie u.a.
Stimmlage, Lautstärke, Sprechtempo, Sprachmelodie sowie Sprechpausen24
besprochen und in Bezug auf die Zielgruppe, Werbeziele sowie die
Assoziationen, die sie hervorrufen, analysiert. Bei der Untersuchung des
non-verbalen Aspektes sollte man ebenfalls zuerst auf die angewandte
Gestik, Mimik sowie auf Distanz zwischen den Sprechern verweisen und
dann erst diese kontextabhängig interpretieren. Wesentlich ist, auch den
kulturellen Aspekt in Betracht zu ziehen, denn «Gestische und mimische
Kommunikation werden weitgehend für natürlich und universell gehalten.
Sie sind es aber nicht»25.

2.1.3 Bild und Musik in der Werbung

Um zu erfahren, welche Bedeutung Bilder in der Werbung tragen,


muss in erster Linie die Art des Bildes genannt werden, d.h. ob es eine
Photographie, eine Zeichnung oder ein Gemälde ist. Des Weiteren sollten
Personen, Objekte, Landschaften in Bezug auf ihr Aussehen und ihre
Situierung beschrieben werden. Wesentlich ist in dieser Phase, sich nicht
auf die Interpretation zu konzentrieren, sonst könnten die für das gesamte
Verstehen der Werbebotschaft relevanten Elemente übersehen werden.
Daher ist es empfehlenswert, auf der denotativen Ebene folgende Fragen
zu beantworten:

− Ist es eine Photographie, eine Zeichnung oder ein Gemälde?

22
Vgl. hierzu Crystal (1997: 8 übersetzt von mir.).
23
Vgl. hierzu Fritz (1994:176 ff.).
24 Vgl. hierzu Kita (1999: 142).
25 Heringer (2004: 86).

87
Gabriela Goraça

− Was stellt das Bild dar – Personen, Gegenstände, Landschaften,


Situationen, Vorgänge?
− Was ist im Vordergrund, im Zentrum sowie im Hintergrund zu sehen?
− Welche Details sind wesentlich oder fallen besonders auf?
− Welche Farben herrschen vor, welche Formen?

Da Bilder in der Regel viele Informationen enthalten und ein breites


Spektrum der Interpretation besitzen, erfolgt ihre Analyse am besten
zusammen mit der Textanalyse. Bevor sie jedoch im Zusammenhang mit
dem sie begleitenden Text untersucht werden, sollten auf der konnotativen
Ebene folgende Fragen gestellt werden:

− Was ist das Thema des Bildes?


− Welche Wirkung hat das Bild auf Sie?
− Welche Stimmung drückt es aus?

Schließlich sollten die Lernenden auf die Text-Bild-Bezüge hinweisen,


d.h. auf welche Art und Weise Bilder die kommunikative Wirkung des
Textes verstärken.
Was die Musik in der Werbung anbetrifft, ist die Vorgehensweise bei
der Analyse ähnlich wie bei der Bildanalyse. Zunächst werden solche
Elemente wie Melodie (bekannt oder neu), Lautstärke, Genre (Pop, Rock
usw.), Tempo (rasant, langsam) sowie Instrumentierung (das letztgenannte
Element sollte nur dann analysiert werden, wenn der Lehrende genau weiß,
welche Instrumente hörbar sind) untersucht. Daraufhin werden die
Stimmung und kommunikative Wirkung des Musikstückes, also Text-
Musik-Bezüge charakterisiert.
Die dritte Ebene der Analyse, die bisher noch nicht erwähnt worden,
jedoch im Fremdsprachenunterricht bzw. Projektunterricht von
maßgebender Bedeutung ist, bezieht sich auf den Mythos. Welche
Funktion Mythen erfüllen, ist von Chandler folgendermaßen erklärt
worden:

Their function is to naturalize the cultural – in other words, to make


dominant cultural and historical values, attitudes and beliefs seem entirely
‘natural’, ‘normal’, self-evident, timeless, obvious ‘common-sense’ – and thus
objective and ‘true’ reflections of ‘the way things are26.

26 Chandler (1994).

88
SEMIOTISCHE ANALYSE

Auf der mythischen Ebene werden alle kulturgeprägten Elemente, die


einen Werbetext konstituieren, analysiert. Die Berücksichtigung der
kulturellen Unterschiede ist für das gesamte Verstehen des Sinnes
entscheidend.

3. ZUSAMMENFASSUNG

Die Fähigkeit, multimodale Texte ganzheitlich zu analysieren, ist in der


heutigen mediatisierten Welt nicht zu unterschätzen. Der rasche Fortschritt
im medialen Bereich ändert auch die Marketingkommunikation. Um aktiv
an dieser Kommunikationsform teilzuhaben, muss das Bewusstsein der
Lernenden darüber, wie die multimodalen Texte aufgebaut und verstanden
werden sollten, erweitert werden. Die Aufgabe des Lehrenden ist nämlich,
die Studierenden der Neophilologien unter anderem (neben der
Koordinierung beim Fremdsprachenlernen) auf die sich verändernden
Bedingungen des Arbeitsmarktes vorzubereiten27. Da die Absolventen der
Linguistik bzw. der Germanistik (und auch anderer Philologien) in der
Werbebranche gefragt sind, sollten die Studierenden genannter
Fachrichtungen auch im Rahmen von DaF-Projekten mit der Arbeit des
Textverfassers (sog. copywriter) vertraut gemacht werden. Dies kann durch
die Analyse von Werbetexten erfolgen, die im Rahmen der Entwicklung
der Lesekompetenz realisiert werden, die zugleich als Vorbereitung auf die
selbständige Werbetextgestaltung gelten können. Die Projektarbeit, die zum
Ziel hat, Werbetexte zu analysieren und produzieren, ist für Studenten sehr
vorteilhaft, nicht nur wegen der Erweiterung ihrer Lesekompetenz,
sondern auch ihres kulturellen Bewusstseins (da die Werbetexte stark
kulturgeprägt sind), daher sollte sie künftig auch in der polnischen DaF-
Praxis höher eingeschätzt werden.
Zudem wird dafür plädiert, dass die Studenten in Polen neben den
Berufen des Lehrers und Übersetzers bzw. Dolmetschers auch zu anderen
linguistischen Berufen (wie z.B. zum copywriter) durch den projekt-
orientierten Fremdsprachenunterricht, in dem die Gestaltung der Werbe-
texte auf der Schulung des Leseverstehens aufbaut, ausgebildet werden.

27
Vgl. hierzu Pfeiffer (2001: 122).

89
Gabriela Goraça

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

Adamczak-Krysztofowicz, Sylwia (2003). Texte als Grundlage der


Kommunikation zwischen Kulturen. Eine Studie zur Kultur- und Landeskunde-
vermittlung im DaF-Studium in Polen. Hamburg.
Bernsau, Klaus (2009). Was ist eigentlich Semiotik?. In: www.kommunikation-kmb.de.
Chandler, Daniel (1994). Semiotics for Beginner. In: www.aber.ac.uk.
Crystal, David (19972). The Cambridge Encyclopedia of Languag.
Cambridge / New York.
Eggert, Hartmut (2006). Alte und neue Lesekompetenzen im elektronischen
Zeitalter. In: Texte. Gegenstände germanistischer Forschung und Lehre. Warszawa, S.
61-82.
Fritz, Thomas (1994). Die Botschaft der Markenartikel. Vertextungsstrategien
in der Werbung. Tübingen.
Heringer, Hans-Jürgen (2004). Interkulturelle Kommunikation. Tübingen /
Basel.
Janich, Nina (2001). Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 2. Auflage. Tübingen.
Kita, Małgorzata (1999). Językoznawstwo wobec synergizmu różnych ‘kodów’
rozmowy. In: «Bulletin de la Société Polonaise de Linguistique» LV, S. 141-
150.
Komorowska, Hanna (1999). Metodyka nauczania języków obcych.
Warszawa.
Leiss, William/ Kline, Stephen/ Jhally, Sut (19902). Social Communication
in Advertising: Persons, Products and Images of Well-Being. London.
Mobil. Das Magazin der Deutschen Bahn, Nr. 09/2008.
Pfeiffer, Waldemar (2001). Nauka języków obcych: Od praktyki do praktyki.
Poznań.
Schatte, Czesława (2008). Teksty reklamowe w nauczaniu języka obcego na
poziomie zaawansowanym. In: «Przegląd Glottodydaktyczny» 24, S. 87-95.
Stöckl, Hartmut (20072). Werbekommunikation – Linguistische Analyse und
Textoptimierung. In: Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch. Tübingen / Basel, S.
229-253.
Stöger, Tanja (2004). Die Heilige Schrift in der Werbung. Religiöse Elemente
in der Werbesprache. In: NET.WORX. Die online-Schriftenreihe des Projektes
Sprache@web 38, www.mediensprache.net/networx.

90
BILDLESEN – WIE ES IN DEN ERSTEN TEXTPRODUKTIONEN
ITALOPHONER LERNER REALISIERT WIRD

Marc Träbert (Pisa)

1. EINLEITUNG

Ein wesentliches Problem beim Lernen einer Fremdsprache besteht


darin, gelernte Ausdrücke in einem Text adäquat zu verwenden. Dies stellt
sich beim Produzieren von Texten als Einbettungsproblem (Klein 1992, Kap.
7) oder Transferproblem (Butzkamm 1989, S. 155 f.) und beim Verstehen von
Texten als Analyseproblem (Klein 1992, Kap. 6) dar. Produzieren und
Verstehen bzw. Schreiben und Lesen können dabei als zwei Formen einer
Kompetenz gesehen werden, nämlich der Textkompetenz.1 Zum Aufbau
der beiden Formen von Textkompetenz im DaF-Unterricht hilft
formalgrammatisches Wissen im engeren Sinne, z.B. die Verwendung einer
lokalen Präposition im Deutschen mit einem bestimmten Kasus, nur
begrenzt weiter. Denn die Aufgabe, mit der es der Lerner eigentlich zu tun
hat, ist nicht: Wann und wie verwendet man z.B. den Akkusativ oder Dativ
korrekt? sondern: Wie drückt man einen Sachverhalt in der Fremdsprache
Deutsch adäquat aus? Spezifische Ausdrücke aus kausalen, lokalen,
konzessiven oder temporalen Ausdrucksbereichen werden im DaF-
Unterricht i.d.R. im Zusammenhang mit ihren formalgrammatischen
Eigenschaften thematisiert, z.B. hinsichtlich der Kasusrektion bei lokalen
bzw. räumlichen Ausdrücken. Der positive Beitrag, den die Textlinguistik
hier leisten kann (vgl. z.B. Blühdorn 2006, Brinker 2006), begründet sich
letztlich darin, dass das linguistische Ziel der Textbeschreibung und das
didaktische Ziel der Vermittlung von Textkompetenz in der Form des
Textverstehens und -produzierens im gemeinsamen Betrachtungs-
gegenstand Text zusammenfallen.
Mein Untersuchungsinteresse betrifft die Frage, inwiefern das
Eingebundensein räumlicher Ausdrücke in einen Text für ihre Vermittlung
und zum Aufbau von Textkompetenz im DaF-Unterricht didaktisch
fruchtbar gemacht werden kann. Um hier ein didaktisches textbezogenes
Handeln konkretisieren zu können, bedarf es der Untersuchung, wie Lerner
tatsächlich räumliche Ausdrücke in Texten verwenden. Im folgenden

1 Vgl. hierzu den Beitrag von Horst Sitta in diesem Band.


Marc Träbert

Beitrag möchte ich einige Ergebnisse meiner diesbezüglichen Unter-


suchung vorstellen. Die zu erhebenden Daten werden aus Bild-
beschreibungen gewonnenen. Die so produzierten Lernertexte werden als
ganzheitlicher Ausdruck eines ganzheitlichen Bildinhaltes, also als Vertext-
lichung eines Bildes aufgefasst. Der Textinhalt ist demnach im Bild nur in
anderer Form enthalten, nämlich in nicht-linearisierter. An der Schnittstelle
zwischen Lese- und Schreibkompetenz können Bildinhalte so in Bezug auf
Textinhalte gelesen werden. Das Bildlesen kann damit zu einem wertvollen
didaktischen Instrument der Vermittlung von Textkompetenz in Bezug auf
die Verwendung räumlicher Ausdrücke werden.
Ziel dieser explorativ angelegten Untersuchung ist es, die Verwendung
von räumlichen Ausdrücken in den produzierten Texten in Form von
sukzessiv durchlaufenen Könnensstufen zu beschreiben. Anhand dieser
Könnensstufen lassen sich Lernziele zunächst in Bezug auf das Verfassen
von Bildbeschreibungen für den DaF-Unterricht formulieren, die aber oft
direkt auf das Schreiben von Texten im Allgemeinen und m.E. auf das
Leseverstehen übertragen werden können. Hierbei muss allerdings das
Lernerwissen vom Lehrerwissen unterschieden werden.
In den folgenden Absätzen werde ich zunächst auf allgemeine
textbezogene Aspekte (2.) und auf die Möglichkeiten der Abbildung von
Raum in Sprache (3.) eingehen. Dabei werden schon erste Aspekte und
Analysekriterien vorgestellt. Absatz (4) fasst die theoretischen Hauptpunkte
mit Blick auf ihre Anwendung in der Korpusuntersuchung zusammen.
Nach einer Präsentation des Korpus (5) komme ich in (6) auf erste
Ergebnisse und auf ihre didaktischen Implikationen (6.1-6.3) zu sprechen,
die dann in (7) zusammengefasst werden.

2. ZU TEXT

Texte sind aus psychologischer und (kognitiv) linguistischer Sicht nicht


Träger von Bedeutungen, sondern vielmehr Auslöser von Verstehens-
prozessen auf Seiten des Lesers (vgl. Schnotz 2006, S. 237). Dabei muss der
Emittent eines Textes beim Schreiben das gemeinsame und nicht
gemeinsame Wissen des Lesers antizipieren. Bei der Produktion von
Texten kommen verschiedene Prozessphasen zum Tragen, die sich in
Planungs-, Formulierungs-, und Überarbeitungsmodulen darstellen lassen
(vgl. Rickheit et al. 2002, Kap. 6), wobei auf der Ebene des Satzes zunächst
die mentale (vorsprachliche) Proposition entsteht, die dann mit Prädikat
und Argumenten bestimmt wird. Erst danach wird die so strukturierte
Proposition mit der Äußerungsintention, mit dem Thema des Textes und

92
BILDLESEN

mit dem Kontext in Zusammenhang gebracht, werden lexikalische Einträge


zugewiesen und die Proposition in eine syntaktische Struktur eingepasst
(vgl. Rickheit/Strohner 1993, S. 65 f). Die einzelnen Phasen unterliegen
einer ständigen Überprüfung und Restrukturierung. Ähnliches scheint auch
für das Lernen einer Fremdsprache zu gelten (vgl. Börner/Vogel 1992;
1996).
Schreiben wird oft als Aktivität nur für fortgeschrittene Lerner
verstanden, dabei sind schon die ersten Textproduktionen kohärente Texte
(z.B. die Korpora von Diehl et al. 2000; von Ballestracci 2006; auch Holzer
1993, S. 146-149). Für das Schreiben im Anfängerunterricht wird das
sogenannte kreative Schreiben als der erste Zugang zu eigenen Texten
gesehen (vgl. Bohn 2001, S. 924), bei dem der Lerner vor allem die textuelle
Dimension erfahren und daran Lexik aufbauen soll. Da Lerner dazu
tendieren, Wort für Wort zu übersetzen (vgl. z.B. Nied Curcio 2005, S. 207)
sollen sie durch Schreiben erfahren, wie in der Fremdsprache ein
kohärenter Text verfasst wird.
Kohärenz ist innerhalb der Textlinguistik der kleinste gemeinsame
Nenner der verschiedenen Textbegriffe. Brinker (1997, S. 17) definiert Text
als

eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und
die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert.2

Die zu untersuchenden Lernertexte werden in Bezug auf Kohärenz


analysiert. Dabei geht es einerseits darum, zu erfassen, ob und wie Themen
etabliert werden und andererseits wie diese Themen miteinander
verbunden werden. Es steht also der inhaltliche Zusammenhang zwischen
einzelnen Sätzen oder genauer Propositionen zur Debatte.
Die Mittel zur Herstellung von Kohärenz im Allgemeinen zeigen sich
darin, wie ein eingeführter Referent wieder aufgenommen wird. Hier kann
man in explizite und implizite Wiederaufnahme unterscheiden. Explizite
Mittel sind koreferent, d.h. der wiederaufnehmende Ausdruck und der
Ausdruck zur Referenzeinführung verweisen auf dasselbe außersprachliche
Objekt. Es kommen mehrere Formen in Frage, z.B. eine Wiederholung,
eine Substitution durch ein Pronomen, eine Umbenennung durch ein
anderes Wort oder eine Wortgruppe (Brinker 1997, S. 27 f). In den zu
untersuchenden Lernertexten ist die Substitution durch ein Pronomen eine
häufige Wiederaufnahmetechnik.

2 Für weitere Textbegriffe s. auch Adamzik (2004).

93
Marc Träbert

Bei der impliziten Wiederaufnahme referieren die verwendeten


Ausdrücke nicht auf dasselbe außersprachliche Objekt, sondern auf
verschiedene Objekte, die aber in bestimmten Beziehungen zueinander
stehen, z.B. eine Teil-von- oder Enthaltenseinrelation, eine kausale
Relation, eine Spezifizierung u.a. (ebd., S. 35,42). Ein Problem mit den zu
untersuchenden Texten besteht darin, die sprachliche Markierung dieser
impliziten Wiederaufnahme zu erkennen und sie vor allem nicht
«hineinzuinterpretieren».
Die schwächste Form von impliziter Kohärenz in den Lernertexten ist
die Setzung eines Referenten in die unmittelbare Nähe eines anderen. Im
Folgenden wird dies textliche Nähe genannt. Sie liegt dann vor, wenn
Referenten im Text auch als Objekte im zu beschreibenden Bild räumlich
nah sind. Sie wird in Kombination mit einer anderen expliziten Technik
wichtig, nämlich dann, wenn ein Referent quantitativ referentiell
wiederaufgenommen wird, z.B. Es gibt drei Personen. Ein Vater geht mit seiner
Frau und seinem Kind spazieren. Es ist klar, dass sich Vater, Frau und Kind auf
jene außersprachliche Entität bezieht, auf die mit drei Personen referiert
wurde. Die Kohärenz wäre aber gestört, wenn zwischendurch ein anderer
Referent eingeführt würde. Die textliche Nähe erscheint hier also als eine
einzelne wie auch kombinierte Technik.3
Für die hier vorgestellte Untersuchung ist ebenso die Einführung von
Referenz wesentlich. Trotzdem die Lerner aus ihrer Muttersprache Wissen
über die referentielle Funktion des definiten und indefiniten Artikels
mitbringen, wenden sie diese referentielle Funktion in ihren Texten nicht
immer an. Es deutet sich an, dass ein Referent bevorzugt nicht durch die
Referenzfunktion des indefiniten Artikels neu eingeführt wird, sondern mit
der Verbform es gibt, welche ich, Carroll (2000) folgend, funktionell als
existentional EXIST bezeichnen möchte.4 Die präferierte Form der
Einführung von Referenz ist in den Lernertexten also EXIST R, wobei R
für Referent steht.
Eine allgemeine Darstellung der Referenzanalyse von Texten bietet
Brinker (1997, S. 38 ff.). Daran angelehnt wird im Rahmen der Lerner-
textanalyse die referentielle Wiederaufnahme von R durch das Symbol W
3 Das Kriterium textliche Nähe soll zum einen den Bemühungen der Lerner um
erste kohärente Formulierungen gerecht werden und zum anderen bestimmte
Formen von nicht-kohärenten Texten unterscheiden helfen. Z.B. formulierte ein
Proband 4 von 5 Sätzen als Nebensatzkonstruktionen. Offenbar verlangte dies so
viel Aufmerksamkeit, dass bei der Textplanung die kohärente Beschreibung des
Raumes in den Hintergrund geriet.
4 EXIST kann man sich als einen referentiellen Bedeutungsanteil vorstellen, der in

Verben normalerweise implizit ist, aber in der Form es gibt expliziert wird.

94
BILDLESEN

gekennzeichnet. Die einzelnen Rs und Ws in einem Text werden


durchnummeriert. Die formale Darstellung des obigen Ausdrucks Es gibt
drei Personen. Ein Vater geht mit seiner Frau und seinem Kind spazieren wäre
demnach:

EXIST R1 W1 → R25

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Textproduktionsprozess


von ständigem Überprüfen und Restrukturieren gekennzeichnet ist, wobei
Fremdsprachenlerner vor allem wegen der nicht (voll) ausgebildeten
Automatisierungsprozesse in Wort-für-Wort-Übersetzungen eher nach
lexikalischen Mitteln suchen, als Sinn zu fokussieren. In den Lernertexten
wurde textliche Nähe als das schwächste kohärente Mittel und Substitution
und Wiederholung als ein häufiges Wiederaufgreifen von Referenz erkannt.
Die Lerner führen einen Referenten bevorzugt mit EXIST ein.

3. ZU RAUM

Eine wahrgenommene räumliche Relation kann nicht direkt in Sprache


übersetzt werden. Das liegt zum einen an der Linearität sprachlicher
Äußerungen im Allgemeinen, zum anderen daran, dass bei der
Versprachlichung von Raum die verwendeten Ausdrücke nicht auf den
Raum an sich – also die leeren Ausschnitte zwischen den Objekten –
sondern auf die Objekte im Raum referieren. Die räumlichen Ausdrücke
(Verben, Adverbien, Präpositionen, Nomen, Adjektive) leisten dabei einen
jeweiligen semantischen Beitrag zur Gesamtrepräsentation (vgl. Vater 1996,
S. 64 ff.; Herweg 1989, S. 99, 125).
Aus der Perspektive eines semantischen Ansatzes wie ihn z.B. Herweg
(1989), Klein (1991), Becker (1994, 1997) u.a. verfolgen, liegt die Leistung
der lokal verwendeten Präpositionen dann darin, dass sie den Eigenort
eines zu lokalisierenden Objektes (Thema) in einen bestimmten Teilraum
desjenigen Objektes überführen, welches als Referenzobjekt zur
Lokalisierung dient (Relatum). Beispielsweise wird bei das Glas auf dem Tisch
der Eigenort des Glases (Thema) in den auf-Teilraum des Tisches
(Relatum) überführt. Diese Überführung kann aber nur dann stattfinden,
wenn auf Grund unseres Wissens bzw. unserer Konventionen über Tische
und Gläser für das Relatum ein solcher Teilraum zugelassen oder zumindest
wahrscheinlich ist.

5 R2 fasst hier alle weiteren Referenten (Frau, Kind) als eine Entität zusammen.

95
Marc Träbert

Dieses Wissen kann an den Objekten selbst festgemacht werden,


indem man hier von einer kanonischen Position ausgeht (vgl. Vater 1996,
S. 60). Es kann sich aber auch in der Verbbedeutung ausdrücken, z.B. fahren
versus stehen oder in bestimmten pragmatischen Verwendungen
uminterpretiert werden, z.B. hinter der Tapete versus unter der Tapete (vgl.
hierzu Klein 1991). Es sei darauf verwiesen, dass dieses Wissen auch
kulturell unterschiedlich sein kann, was dann eine andere Perspektive und
eine andere Wahl räumlicher Ausdrücke mit sich bringt (vgl. Becker 1994,
S. 45-52).
Wenn nun der Eigenort des Glases in unserem Beispiel im auf-
Teilraum des Tisches verortet werden kann, ist für die Ortsüberführung
nur die Zweidimensionalität der Tischoberfläche und das Kriterium
Kontakt maßgeblich (vgl. Frawley 1992, S. 250 ff.), seine Dreidimensiona-
lität und die Ausdehnung der Eigenorte beider Objekte werden dabei
ausgeblendet.
Dies verweist auf eine bestimmte Raumwahrnehmung, die auch als
Anschauungsraum bezeichnet wird, wonach der Raum als grundsätzlich leer
wahrgenommen wird und die darin befindlichen Objekte als materiell
gefüllt oder ungefüllt in ihrer dimensionalen Beschaffenheit erst durch die
Auswertung von Informationen über Oberflächenstruktur, Kanten und
Ecken mental konstruiert werden (vgl. Miller/Johnson-Laird 1976; Frawley
1992, S. 252 ff.; Becker 1994, S. 5 ff.; Lang 1990; Klein 1991, S. 93, 94). Bei
der Abbildung von Raum in Sprache spielen danach für die eingenommene
Perspektive und die Wahl der räumlichen Ausdrücke Faktoren wie die
Erfahrung der Gravitation (aufrechter Gang), die Asymmetrie unseres
Körpers, die Gefülltheit von Objekten, ihre Sichtbarkeit oder Verdecktheit,
ihre Größe, Funktion, Bewegung und Salienz eine maßgebliche Rolle.
(ebd.).
Die Mittel der verschiedenen Sprachen ermöglichen nun in
unterschiedlicher Weise einen direkten und damit schnellen Zugriff auf
Objekte und ihre räumlichen Relationen zueinander. Es werden hier im
Allgemeinen drei Möglichkeiten der Versprachlichung von Raum unter-
schieden:6

1) Projektive Lokalisierung. Sie entspricht der Projektion eines


dreiachsigen Orientierungsrahmens auf ein Objekt (z.B. über dem Wald,
unter dem Tisch).
2) Topologische Lokalisierung, die unabhängig von der Betrachter-
position erfolgt (z.B. in dem Haus, am Tisch).

6 Vgl. Frawley (1992, S. 250 ff.); Vater (1996).

96
BILDLESEN

3) Deiktische Lokalisierung, d.h. das Verweisen auf Orte in Sprecher-


nähe oder -ferne (z.B. hier ist es kalt, dort scheint die Sonne).

Unterschiede können darin bestehen, dass z.B. im Deutschen für die


Zuweisung eines auf-Raumes das Konzept der Begrenzung (boundedness; vgl.
Becker 1997) wesentlich ist, wohingegen im Italienischen möglicherweise
Begrenzung in Konflikt bzw. Alternative zur vertikalen oberen Halbachse
steht. Jedenfalls wäre das eine Erklärung für l'albergo su/sopra la collina, was
aus italienischer Perspektive zu Schwierigkeiten in Bezug auf die Verwen-
dung von auf versus über im Deutschen führt.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Realisierung von Raum in
Sprache der sogenannte Anschauungsraum zu Grunde liegt, auf den die
verschiedenen Sprachen mit gleichen Mitteln zugreifen können, allerdings
aus z.T. anderer Perspektive. Für die Wahl räumlicher Ausdrücke sind
bestimmte semantische Teilbereiche mal mehr, mal weniger relevant.
Grundsätzlich gilt, dass erst durch die Auswertung aller im Kontext
vorhandenen Informationen Raum in Sprache abgebildet werden kann,
wobei ein Teil dieser Informationen nicht versprachlicht ist.

4. SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE UNTERSUCHUNG

Um die beiden Bereiche Raum und Text in Hinsicht auf die


Korpusuntersuchung zu operationalisieren, werden sie – Blühdorn/Foschi
Albert (2006, S. 82) folgend – im Begriff der lokalen Kohärenz in Zusammen-
hang gebracht. Danach erscheint die sprachliche Realisierung von Raum als
ein Netz von Referenten. Um die Verwendung räumlicher Ausdrücke in
den Lernertexten zu erfassen, müssen deren räumliche Relation zueinander
explizit ausgedrückt werden, z.B.

ein Mann im Haus


ein Weg, wo ein Auto parkt
hier sind Bäume
auf der rechten Seite sieht man
im Vordergrund gibt es.

Mit Ausdrücken wie im Vordergrund und auf der rechten Seite werden
Objekte bildbezogen lokalisiert, während die anderen Ausdrücke sich allein
auf abgebildete Objekte beziehen. Objektbezogene und bildbezogene
Lokalisierungen wechseln also den Referenzrahmen.

97
Marc Träbert

Für räumliche Ausdrücke gilt: im Rahmen der Untersuchung soll ein


Ausdruck räumlich sein, wenn er dazu geeignet ist, das Sein im Raum
auszudrücken, indem durch ihn zwei Entitäten in eine räumliche Beziehung
gesetzt werden. Entitäten können Objekte sein, aber auch der Sprecher
selbst. Dies sind Ausdrücke wie in, auf, in der Nähe, oben, links, hier, zurück,
unterer, vordere, im Hintergrund u.a.
Dimensionale Ausdrücke7 (z.B. lang, groß, Kugel, Fläche) und räumliche
Verben (stehen, sitzen, fahren etc.) sind damit zunächst keine räumlichen
Ausdrücke, wenngleich sie Objekteigenschaften ausdrücken bzw. Arten des
Seins im Raum unterscheiden. Mit dem Mittel der textlichen Nähe können
sie aber durchaus zu einem (schwachen) räumlich implizit-kohärenten
Ausdruck führen, z.B.

Es gibt eine Wiese. Eine Familie geht spazieren.8

Davon grenzen sich allerdings nicht-räumlich kohärente Ausdrücke ab,


wie z.B. Es gibt ein Haus. Das Haus hat drei Fenster. Wenngleich sich hier
durchaus eine relativ konkrete räumliche Vorstellung einstellt, wird (im
Sinne der obigen Definition) kein Raum ausgedrückt. In Abgrenzung zu
räumlicher Kohärenz möchte ich dies thematische Kohärenz nennen.
Da Kohärenz den Zusammenhalt von mindestens zwei Sätzen betrifft,
möchte ich alle unverbundenen, damit nicht-kohärenten Ausdrücke
Angaben nennen, wobei hier lokale von nicht-lokalen Angaben unterschieden
werden müssen. So liegt z.B. in der Satzfolge:

(1) Es gibt ein Haus. (2) Drei Personen machen ein Picknick unter den Bäumen

keine Kohärenz vor: (1) ist eine nicht-lokale, (2) hingegen eine lokale
Angabe.
Das Korpus befindet sich noch im Aufbau. Insofern besteht die
eigentliche Arbeit darin, diese Analysekriterien im Hinblick auf zu
formulierende Könnensstufen zusammenzufügen. Die im Folgenden
präsentierten Ergebnisse zeugen von dieser Arbeit.

7Vgl. Vater (1996, S. 79 ff.); Lang (1990).


8Hieran wird deutlich, dass für textliche Nähe zwei Bedingungen erfüllt sein
müssen: a) Nähe der Propositionen und b) die Wahl eines geeigneten lokalen
Ausdrucks, hier spazieren gehen. Nicht kohärent wäre z.B. die Satzfolge: Es gibt eine
Wiese. Es gibt eine Familie.

98
BILDLESEN

5. DAS KORPUS UND DIE PROBANDEN

Das Korpus besteht aus bisher drei von sechs Bildbeschreibungen,


welche eine Gruppe von 25 italophonen DaF-Lernern des Studienganges
Tourismuswissenschaften (Laurea Triennale) der Universität Pisa (Campus
Lucca) in regelmäßigen Abständen innerhalb eines Jahres produziert. Vier
von den sechs Bildern sollen als Stimulus für eine vollständige
Bildbeschreibung dienen. Diese Texte werden auf Kohärenz hin analysiert
und dienen zur Erfassung aller räumlichen Ausdrücke. Zwei von den sechs
Bildern sind Serien von einfachen Einzelbildern, deren Kurzbeschrei-
bungen (je ein Satz) zur Erfassung des Inventars der lokalen Präpositionen
dient. Um möglichst nur die räumlichen Ausdrücke zu fokussieren, wurden
vor dem Beginn des Schreibens alle Nomen angegeben.
Die Gruppe setzt sich zum einen aus Lernern zusammen, die zu
Beginn des DaF-Kurses keine Deutschkenntnisse hatten (Gruppe 1) und
zum anderen aus solchen mit Vorkenntnissen (Gruppe 2). Die Texte der
Fortgeschrittenen werden als eine erreichbare Könnensstufe für die
Nullanfänger verstanden und bieten insofern Raum, das Können
hinsichtlich der Verwendung räumlicher Ausdrücke in einem Text als eine
Entwicklung zu diskutieren. Die Datenerhebung setzte nach ca. 30
absolvierten Unterrichtsstunden ein.

6. ERGEBNISSE – WELCHE RÄUMLICHEN AUSDRÜCKE WERDEN VERWENDET?

Im Folgenden wird nur die erste Bildbeschreibung betrachtet (25


Texte). Überblickshalber präsentiere ich einige quantitative Daten. In
beiden Gruppen wurden insgesamt 30 verschiedene räumliche Ausdrücke
verwendet. Das sind neun verschiedene räumliche Verben, 17
präpositionale Ausdrücke und Proformen (hierunter fallen auch adverbial
gebrauchte Präpositionen, komplexe Wendungen, wie auf der rechten Seite,
und wo als Relativpronomen) und vier verschiedene dimensionale
Adjektive. Letztere fallen mit insgesamt 11 Verwendungen (Mehrfach-
zählung) kaum ins Gewicht. Präpositionen und Proformen wurden
insgesmt 113x (35 in Gruppe 1 und 78 in Gruppe 2) verwendetet. Die Abb.
1 und 2 zeigen die Verteilung auf die beiden Gruppen.

99
Marc Träbert

Abb. 1 Präpositionen und Proformen – Gruppe 1

Abb. 2 Präpositionen und Proformen – Gruppe 2

Abgesehen von dem erwartbar größeren Wortschatz von Gruppe 2


fällt auf, dass in, unter und in der Nähe in beiden Gruppen am häufigsten
benutzt wurden. Interessant dabei ist, dass in zum größten Teil mit dem
Objekt Wiese in Verbindung gebracht wurde (z.B. in die Wiese, statisch) und
insgesamt nur dreimal (in Gruppe 2), um eine abgebildete Person im Haus
zu lokalisieren. Warum wurde eine – gemessen z.B. an auch geschriebenen
Relativsatzkonstruktionen – relativ einfache lokale Angabe wie Es gibt eine
Person im Haus oder Eine Person geht ins Haus nicht geschrieben? (Auf dem
Bild waren u.a. diese beiden Kontexte zu sehen). Darauf komme ich im
nächsten Kapitel zurück.
Insgesamt wurden 20 verschiedene Verben (V) 167x verwendet
(Mehrfachzählung). Spitzenreiter ist hier es gibt mit ca. 50% Verwendungs-
anteil. Von den 20 Verben, die entweder in einem lokalen oder einem
nicht-lokalen Kontext verwendet wurden, sind 12 aus semantischer
Perspektive als räumliche Verben einzustufen, wobei drei davon (es gibt, sich
befinden, sein) die Art der räumlichen Beziehungen nicht spezifizieren. Wie
Abb. 3 zeigt, kommen die Verben insgesamt 206x vor. In 101 Fällen ist mit
Verben ein weiterer räumlicher Ausdruck verbunden, und zwar eine

100
BILDLESEN

Präposition bzw. eine Proform. Insbesondere benutzt Gruppe 1 73x 11


verschiedene Verben; Gruppe 2 133x 19 verschiedene Verben. Abb. 3 zeigt
die Verteilung der Verben (eingeteilt in vier Kategorien: räumliche Verben
im Allgemeinen; es gibt; sein; sich befinden im Besonderen) hinsichtlich ihrer
lokalen (+lok) und nicht-lokalen (-lok) Verwendung.

Abb. 3 Verwendung von Verben

Hinsichtlich der Verben fällt zunächst der häufige Gebrauch von es gibt
auf, z.B. Es gibt eine house. Bei Gruppe 1 schließt sich an es gibt in über 60%
der Fälle auch kein räumlicher Ausdruck an. Bei der Fortgeschrittenen--
gruppe ist das Verhältnis umgekehrt. Knapp 65% der Verwendungen von
es gibt stehen in Zusammenhang mit räumlichen Ausdrücken (z.B. in der
Parkplatz gibt es ein Auto).
Eine Erklärung dafür kann in dem noch wenig entwickelten Lexikon
der Anfänger liegen. Eine andere Erklärung kann mit der Valenz der
benutzten Verben zusammenhängen. Auf die Verben fliegen, fahren, sitzen
mit insgesamt 14 Verwendungen folgen bis auf zwei Fälle räumliche
Ausdrücke. Auch das Verb sein als Alternative zu es gibt wird in beiden
Gruppen zu jeweils 70% räumlich verwendet. Allerdings wurden Sätze wie:

Ein Baum ist


Es ist ein Baum

nicht geschrieben. Es stuft wahrscheinlich keiner der Probanden eine


solche Verwendung von sein als grammatisch korrekt ein. Das offenbar
intuitive Verstehen der Valenz von räumlichen Verben stellt somit ein
Mittel für ein noch zu bestimmendes Lernziel dar, das auf Lehrerseite
bewusst eingesetzt werden kann.
Mit der Verwendung von es gibt bzw. seiner nicht-Verwendung
verbindet sich aber noch ein weiteres Problem, das im weiteren Verlauf der
Untersuchung im Auge behalten werden muss und das mit der
referentiellen Funktion des definiten und indefiniten Artikels zusammen-

101
Marc Träbert

hängt. Anscheinend ist den Lernern klar, dass EXIST eine referentielle
Einführung darstellt. In 45 von 97 Fällen wurde es gibt mit indefiniten
Artikel (im Singular) «normkonformerweise» zur Einführung eines
Referenten verwendet.9 Dagegen kam es gibt nur fünfmal mit definiten
Artikel als Einführung eines Referenten vor (Gruppe 1: 3x; Gruppe 2: 2x).
In keinem Fall wurde der erste Referent am Textbeginn «fälschlicherweise»
mit einem definiten Artikel eingeführt. Der erste Satz lautete also niemals
wie Es gibt das Haus. Zudem wurde in keinem Fall der indefinite Artikel für
einen referentiell wiederaufgenommenen Referenten benutzt. Es wurde
also niemals formuliert

Es gibt ein Haus. In der Nähe von einem Haus ist ein Auto.

Hingegen wurde mit allen Verben außer es gibt rigoros der definite
Artikel verwendet, und das hauptsächlich in lokalen Ausdrücken. Es wurde
also zur Einführung von Auto formuliert:

Es gibt ein Haus. In der Nähe von dem Haus ist das Auto.

Eine Erklärung dafür müsste sicherlich von zwei Seiten ansetzen: zum
einen von der Muttersprache Italienisch her und zum anderen bezüglich
des Performanzaspektes bei der Textproduktion. Hier kann es sein, dass
andere, eher wortgenerierende Entscheidungen beim Überprüfen und
Redigieren der mentalen und materiellen Textrepräsentation getroffen
werden mussten, z.B. bei der Formulierung einer lokalen Angabe, und die
Funktionalität des Artikels dabei sozusagen unter den Tisch fiel. Auf eine
weitere mögliche Ursache macht Studer (2001) aufmerksam. Der
bestimmte Artikel könnte von den Lernern «gewissermaßen als ein
Prototyp des Artikels» (S. 371) aufgefasst werden, wodurch sich indirekt auch
wieder die Wort-für-Wort-Übersetzung der Lerner bestätigen würde und im
übrigen auch eine nicht-textbezogene didaktische Praxis. Vor dem
Hintergrund der oben erwähnten Valenz als didaktisches Mittel folgt daraus,
dass ein übungsbezogenes didaktisches Verwendungsverbot von es gibt die
Lerner zwar zur Formulierung von lokalen Angaben «zwingt» und damit die
Wahrscheinlichkeit von lokaler und thematischer Kohärenz erhöht, aber
dabei der Text hinsichtlich der Artikelfunktion Gefahr läuft inkohärent zu
werden. Bei dem Lernziel der Vermittlung von räumlichen Verben und
Präpositionen ist also Valenz ein Mittel und die referentielle Artikelfunktion
ein zu beachtender Aspekt, der ein weiteres Lernziel sein kann. Ein solches

9 In Aufzählungen wurde jeweils nur der erste Referent gezählt.

102
BILDLESEN

«es-gibt-Verwendungsverbot» könnte sich z.B. auf diejenigen Referenten


beziehen, deren Sein im Raum mit räumlichen Verben erfasst werden kann,
z.B. fahren, stehen, sitzen. Und damit komme ich auf die auszudrückenden
räumlichen Kontexte als einem weiteren wichtigen Punkt zu sprechen.

6.1. Räumliche Kontexte

Das beschriebene Bild (s. nächste Seite; Abb. 5) wurde von den
Probanden durch die Referenz auf folgende räumliche Kontexte versucht
in Sprache zu fassen. Die Zahlen in Abb. 4 zeigen, wie oft ein Kontext mit
einem räumlichen Ausdruck sprachlich realisiert wurde. So wurde z.B. in
der Gruppe 1 der Kontext f) Weg nur einmal räumlich kohärent (s.
Definition, Kap. 4) formuliert.

a) Personen auf der Wiese 8 9


b) Grillgruppe 3 13
c) alle Personen 3 1
d) 2 Personen am Haus 0 11
e) Blumen und Bäume 3 7
f) Weg 1 5
g) Auto 6 8
h) Vögel und Himmel 5 11
i) Haus 3
k) Wiese 3
Gruppe 1 29 Gruppe 2 71
Abb. 4 Räumlich realisierte Kontexte des Bildes

i) Haus und k) Wiese wurden meist als erste Referenten eingeführt, so dass
insbesondere das Haus in der Folge als Relatum und nicht mehr als
(lokales) Thema diente.
In Gruppe 1 bestand die Tendenz, die Kontexte mit in oder in der Nähe
zu beschreiben. Dies betrifft hauptsächlich die Kontexte a) Personen auf
der Wiese, h) Vögel und Himmel (je mit in) und g) Auto (mit in der Nähe).
Das führte zu Ausdrücken wie Eine Familie spazire gheen in dem Wiese
(gemeint wird: Eine Familie geht auf der Wiese spazieren!). In beiden Gruppen
fehlt die Präposition auf , bzw. ist der Umgang mit ihr sehr unsicher.

103
Marc Träbert

Abb. 5 Das zu beschreibende Bild

Augenfällig ist der Unterschied zwischen den beiden Gruppen bei


Kontext d). Eine der beiden Personen befindet sich im Haus und sieht aus
dem Fenster; Person 2 ist im Begriff, ins Haus zu gehen. Zur räumlichen
Situation auf dem Bild gehört noch, dass das Auto (Kontext f) direkt vor
dem Haus steht, so dass es auch möglich ist zu sagen, Person 2 geht vom Auto
ins/zum Haus. Genau dies wurde nur einmal probiert. Alle anderen
Lokalisierungen von Person 2 in den Lernertexten sind durchweg statisch,
obwohl die Bewegung offensichtlich ist. Ich schlage hierfür drei
Erklärungen vor (I.-III.):

I. die Studierenden verfügen über eine begrenzte Anzahl an lokalen


Ausdrucksmitteln (am häufigsten sind in und in der Nähe). Es fehlen z.B.
Ausdrücke für vor- und an-Kontexte;
II. im Spezifischen verfügen sie nicht über die syntaktische Struktur vieler
deutscher Verben, die dynamische in-Kontexte (gehen in, hineingehen,
betreten) und zu/nach-Kontexte (hingehen, zu jmd. gehen) ausdrücken. Dies
bestätigt sich in der Einzelbildbeschreibung, wo solch ein in-Kontext
abgefragt und von keinem Probanden gelöst wurde. Die Lerner suchten
offenbar nach der Übersetzung des italienischen Verbs entrare.
Eigenartigerweise waren Lerner aus beiden Gruppen in der zweiten
Bildbeschreibung, die zeitlich einige Wochen vor der Einzelbild-
beschreibung lag, imstande den entrare-Kontext auszudrücken. Es fällt

104
BILDLESEN

auf, dass dynamische Kontexte v.a. von Gruppe 2 vermieden werden


bzw. durch statische Lokalisierungen umschrieben werden. Das betrifft
hier v.a. Kontext d) und a), wo eine Familie über eine Wiese spazieren
geht. Überraschenderweise war genau dieser Kontext a) aber der
Gruppe 1 ausdrückbar, wenn auch mit einer inadäquaten Präposition,
nämlich in die Wiese;
III. die Studierenden haben offenbar Probleme bei dem Ausdruck
(zumindest in der L2) von lokalen Konzepten, die aus bestimmten
Kontexten identifiziert werden können. Kontext d) 2 Personen am Haus
kann wie schon angesprochen auf mehrere Arten realisiert werden.
Das, was unmittelbar auf dem Bild zu sehen ist, nämlich P1 sieht aus dem
Fenster und P2 geht ins Haus, war offenbar sprachlich nicht realisierbar.
Die anderen Arten sind sozusagen logische Voraussetzungen. Dass es
nur der Fortgeschrittenengruppe möglich war, hier Alternativ-
formulierungen zu finden, liegt wohl daran, dass jene Lerner dieser
Suche mehr Zeit widmen konnten. Die einfachen Ausdrucks-
möglichkeiten waren unter den anderen wohl auch die am
schlechtesten identifizierbaren, d.h. weniger schnell erkennbaren.
Identifizierbarkeit lässt sich am Beispiel des Kontextes f) Weg näher
erklären. Während die Normalposition und Funktion eines Autos mit
z.B. fahren und sitzen in sprachlich und konzeptionell schnell abrufbar
sind, verhält es sich mit dem Weg etwas anders. Ein Weg ist eher durch
seinen Start- und Zielpunkt gegeben (vgl. Klein 1991). Er kann
geographisch liegen, aber er hat z.B. keine intrinsische Vorder- oder
Rückseite, was ihn als Relatum schwierig macht. Seine Lage, mehr seine
Form, scheint eher von anderen Entitäten in seiner Umgebung
abhängig zu sein, wie mit entlang des Flusses (vgl. ebd.). Da nun auf dem
Bild der Start- und Zielpunkt des Weges und seine Lage in Bezug auf
das Haus durch eine Verzweigung nur schwer ausdrückbar war, blieb
nur noch seine Funktion. Allerdings befand sich kein Objekt auf dem
Weg, sondern nur ein geparktes Auto am Weg. Identifizieren betrifft
das Finden eines Ausdrucks vor dem Hintergrund von kulturell
geprägten Konzepten. Bei Kontext f) Weg finden sich im Korpus auf
Grund seiner schwierigen Identifizierbarkeit auch die syntaktisch
komplexesten Formulierungen mit wo als Relativpronomen oder mit
können als ein modal formulierter Zusammenhang zwischen den beiden
Referenten Weg und Auto. Beispiele:

Es gibt auch einen Weg, wo ein Auto fahren kann


Es gibt auch viele Blumen und ein Weg, der nach Haus bringt.

105
Marc Träbert

Identifizierbarkeit kann ein Mittel des Lernziels der Vermittlung von


räumlichen Ausdrücken sein, indem z.B. anhand von Bildern einzelne z.B.
räumliche Aspekte entdeckt werden können und auf graduelle
Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Identifikation aufmerksam gemacht
werden kann. Dabei kann klargestellt werden, dass Ausdrucks-
schwierigkeiten weniger mit den sprachlichen Kenntnissen der Lerner als
mehr mit kulturellen Konzepten zu tun haben. Prinzipiell gilt natürlich,
dass in jeder natürlichen Sprache alles ausdrückbar ist, aber es gilt auch,
dass nicht für jede Entität ein einfacher Ausdruck zur Verfügung steht. Es
geht um das Finden von Formulierungen oder eben um Identifizierung.
Das Ansprechen dieses Punktes kann die Lerner in dieser Hinsicht
sozusagen auf Augenhöhe mit den Muttersprachlern bringen.

6.2. Adverbialer Gebrauch von Präpositionen

Bisher wurden Schwierigkeiten in der Lexik und in raumbedingten


Ausdrucksmöglichkeiten gesehen. Beim Blick auf die syntaktischen
Konstruktionen in den Lernertexten ergibt sich eine Möglichkeit der
Vermittlung von räumlichen Ausdrücken über den adverbialen Gebrauch
von Präpositionen.
In beiden Gruppen wurden gelegentlich (ca. sechsmal – einige
Verwendungen sind nicht eindeutig zu interpretieren) Präpositionen lokal
kohärent gebraucht, indem der wiederaufgenommene Referent nicht
explizit realisiert wurde, z.B.

In diese bild sieht man eine Hause mit drei Fensten, und in der rehan es gibt eine
Auto.10

Indem der wiederaufgenommene Referent W implizit bleibt, muss klar


sein, worauf sich der räumliche Ausdruck bezieht. Es ist daher sicherlich
kein Zufall, dass alle diese adverbialen Verwendungen nur in leicht identi-
fizierbaren Kontexten vorkommen, wie oben im Kontext g) Auto oder im
Kontext b) Grillgruppe, die leicht identifizierbar unter Bäumen grillt, z.B.

Es gibt drei und zwei Bäume und under es gibt drei Personen.

Die im Deutschen grammatikalisierte Verwendung von Pronominal-


adverbien (z.B. davor, daneben, darunter) bietet sich hier als Mittel für das
Lernziel der Verwendung von räumlichen Ausdrücken an. Da diese

10 Mit in der rehan ist hier in der Nähe gemeint.

106
BILDLESEN

Lernergruppe offenbar die referentielle Funktion, die mit dem adverbialen


Gebrauch einhergeht, intuitiv anwenden kann, indem sie von sich aus
Strukturen des Typs EXIST R1 W1 → R2 formuliert, sind bei der
Vermittlung von deutschen Pronominaladverbien auch keine großen
Verständnisprobleme zu erwarten. Die Methode der Vermittlung wäre
damit nicht, einen inhaltlichen, sondern syntaktischen Sprech- oder
Schreibanlass zu geben.

6.3. Themenetablierung und Themenverbindung

Mit den Pronominaladverbien verbindet sich auch das Lernziel, das


Vorfeld referentiell zu besetzen. Dies ist insofern ein wichtiger Punkt, als
die meisten Texte der Gruppe 1, also der Anfänger, durch eine SVO-
Struktur gekennzeichnet sind. Dazu folgendes Beispiel (die einzelnen Sätze
sind durchnummeriert):

(1) Es gibt Haus mit 4 Fenste und der Weg. (2) Ein Auto neben das Haus.
(3) Es gibt 3 Bäume. (4) Die Wiese ist viele Blume.
(5) Es gibt Leute unter die Bäume. (6) Es gibt 2 familie. (7) Ein Kind mit seine
Mutter und sein Father spazieren gehen.
(8) Es gibt die Vögel i himmel. (P06)11

Bringt man in Satz (2) und Satz (5) die jeweiligen Referenz
wiederaufnehmenden Elemente ins Vorfeld, werden die referentiellen
Strukturen dieses Textes sehr viel klarer, also: Es gibt Haus mit 4 Fenste und
der Weg. Neben dem Haus ein Auto. Es gibt drei Bäume. [...] Unter die Bäume es gibt
Leute. Abgesehen von fehlenden Elementen, zeigt sich, dass das Festhalten
an der SVO-Struktur, Kohärenz beeinträchtigt. Es lässt sich aber in der
Gruppe 1 bei drei von 10 Texten beobachten, dass lokale Angaben ins
Vorfeld gebracht werden. Allerdings hier durchweg nicht referentiell
wiederaufnehmend. In der Gruppe 2 werden in 10 von 15 Texten lokale
Angaben ins Vorfeld gebracht, hier immer in wiederaufnehmender
Funktion. Ich werte dies als Entwicklungstendenz, die sich positiv mit der
Vermittlung von Pronominaladverbien beeinflussen lässt.
Im folgenden Beispiel ist es nicht nur die SVO-Struktur, die Kohärenz
beeinträchtigt, sondern ein Zusammennehmen von Referenten anhand
eines übergeordneten Aspektes.

11 Die verwendeten P-Siglen garantieren die Privacy der Studierenden.

107
Marc Träbert

(1) Es gibt eine Hause. (2) Die Hause hat vier Fenste. (3) Est gibt ein Auto.
(4) Es gibt drei Bäume. (5) Es gibt acht personen. (6) Die personen sind über die
Wiese. (7) Der Weg fließt bis Nach die Hause. (8) Die Blume ist in die Wiese. (9)
Es gibt ein Barbecue. (10) Der Himmel ist weiß.
(11) Es gibt vier Männer, und vier Fräu. (12) Der Bild ist schwarz und weiß.
(13) Die Vogel sind in der Himmel.
(14) Das Auto ist in der Nähe von die Hause. (15) Drei personen sind in der
Nähe von die Baume. (16) Drei personen sind in der Nähe von zwei Baume und
ein Barbecue. (P11)

So sind in (5) die acht Personen über das gesamte Bild verteilt. Das
Kriterium, nach dem hier thematische Kohärenz, aber eben nicht lokale
Kohärenz, entsteht, lässt sich mit Quantität umschreiben. In (11) werden
diese Personen weiter spezifiziert nach dem Kriterium Geschlecht. Auch hier
ist es so, dass die Frauen und Männer in jeweils gemischten Gruppen über
das Bild verteilt sind. In diesem Fall wurde nicht einmal versucht, über
textliche Nähe Kohärenz herzustellen. Offenbar ist dieser Lerner sehr auf
die Objekte im Bild fixiert, und möchte sie möglichst vollständig erwähnen
und verorten, was sich in seinen weiteren Bildbeschreibungen als Prinzip
der Textstrukturierung fortsetzt.
Während im P06-Text räumliche Situationen zu einem Thema etabliert
werden, indem Objekte, die auf dem Bild eine Situation bilden, sprachlich
räumlich-kohärent realisiert werden, ist der P11-Text gänzlich nicht-
situativ, weil hier nicht nach räumlichen Kriterien gruppiert wird. Ein
weiterer weitgehend nicht-situativer Text entstand durch das Fokussieren
auf Formulierungen von Relativsatzstrukturen. Das Textbildungsprinzip
war hier also weder objekt-, noch bildorientiert, sondern syntaxbezogen.
Diese Texte sind eher Ausnahmen. Die Regel sind situativ entwickelte
Themen. In Gruppe 1 sind fünf von 10 Texten zumindest durch textliche
Nähe situativ angelegt. In Gruppe 2 sind acht von 15 Texte im obigen
Sinne situativ.
Bei drei Texten in der Gruppe 2 wird noch ein anderes Prinzip
deutlich. Indem durch quantitative Gruppierung möglichst viele Referenten
erwähnt werden, die dann mit einander in räumliche Relation gebracht
werden, entsteht der Eindruck, als wolle sich der Schreiber zunächst einen
Überblick verschaffen, um dann eher situativ die Referenten miteinander
zu verbinden. Oft entstehen hier sprachliche Schwierigkeiten, die
eingeführten Referenten wiederaufzunehmen, was bei drei Texten zu
Interpretationsproblemen führt. Diesen Typ kann man analytisch-
synthetisch nennen.

108
BILDLESEN

Ein Thema wird in seiner Etablierung auch bestätigt, indem es mit


anderen Themen verbunden wird. Dies gilt bei den Texten dieser
Lernergruppe umso mehr für situative bzw. situativ angelegte Texte.
Die schwächste Form der Themenverbindung ist wie auch bei der
Themenetablierung die textliche Nähe. Zwei weitere Formen kann man
bildbezogen und objektbezogen nennen. Indem mit lokalen Ausdrücken wie
rechts, auf der linken Seite, im Vordergrund Objekte in Bezug auf das Bild als
Referenzrahmen lokalisiert werden, bietet sich die Möglichkeit, zuvor
etablierte Themen miteinander zu verbinden. Dies geschieht in nur drei
von 15 Texten aus der Gruppe 2.
Es lassen sich auch Themen miteinander verbinden, indem ein Objekt
als Relatum für ein Objekt genutzt wird, das geeignet ist, um eine weitere
räumliche Situation als Thema zu etablieren. Dies kommt allerdings nur in
einem Text in der Gruppe 2 vor.

7. ZUSAMMENFASSUNG

In den bisher untersuchten Texten stellte sich die Präposition in als der
Favorit heraus. Allerdings fällt es den Lernern offenbar schwer, auch mit in
dynamische Relationen auszudrücken. Das liegt oft an einem geeigneten
Verb, aber auch an dynamische Kontexte ausdrückende Präpositionen. Vor
allem wurden bei schwer zu identifizierenden Objekten einerseits
Ausdrucksschwierigkeiten oder gar -blockaden beobachtet (Gruppe 1),
andererseits aber auch recht kreative und syntaktisch komplexe
Formulierungen (Gruppe 2). Identifizierung wurde als ein Mittel des Lernziels
der Vermittlung von räumlichen Ausdrücken vorgeschlagen. Weitere
Vorschläge waren Pronominaladverbien und die Nutzung von Verbvalenz
unter Berücksichtigung der referentiellen Funktion des Artikels. Zur
Etablierung und auch Verbindung von Themen wurde die textliche Nähe als
schwächstes Mittel erkannt, welches möglicherweise Kennzeichen einer
ersten Könnensstufe ist. In beiden Gruppen ist die SVO-Struktur am
häufigsten. Im Unterschied zur Gruppe 1 können in Gruppe 2 aber viele
Lerner diese Struktur zu Gunsten von lokal-kohärenter Formulierungen
aufbrechen. Ein weiteres Mittel zur Herstellung von Kohärenz ist mit
Gruppierungen anhand z.B. quantitativer Aspekte gegeben. Im
Allgemeinen wurden durch die Trennung von lokaler und thematischer
Kohärenz situative, nicht situative und analytisch-synthetische Text-
bildungsmuster unterschieden. Bildbezogenheit und Objektbezogenheit
scheinen in den Lernertexten die einzigen Möglichkeiten zu sein, mit
räumlichen Ausdrücken Themen explizit miteinander zu verbinden. Diese

109
Marc Träbert

Mittel der Themenverbindung deuten möglicherweise auf eine höhere


Könnensstufe hinsichtlich der Verwendung räumlicher Ausdrücke in einem
Text.
Die hier gemachten Beobachtungen beziehen sich auf ein Korpus, das
sich im Entstehen befindet. Viele Themen wurden nur angedeutet und
müssen im weiteren Verlauf der Untersuchung noch vertieft werden. Das
intuitive Erkennen der Valenz von räumlichen Verben seitens der Lerner
und die verwendeten textuellen Mittel verweisen eher auf Sprach-
kompetenzen in der Muttersprache Italienisch als auf Kompetenzen in der
Fremdsprache Deutsch, aber eben hierin liegt ein großes Potential. Mit
einer textlinguistisch orientierten Didaktik bestehen gute Chance, diese
Potential zum Ausbau der Textkompetenz zu aktualisieren und zu
aktivieren.

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112
KOGNITION UND EMOTION BEI
REZEPTIONSSPEZIFISCHEN LERNPROZESSEN

Sabine Hoffmann (Palermo)

Noch bis vor wenigen Jahren Stiefkind wissenschaftlicher Ausein-


andersetzungen, lässt sich in der aktualempirischen Forschung in
sämtlichen Disziplinen ein zunehmendes Interesse an emotionalen und
affektiven Faktoren beobachten, und damit einhergehend an deren Einfluss
auf kognitive Prozesse. In dem vorliegenden Beitrag soll an einem
wesentlichen Teilbereich des fremdsprachlichen Lernens an Universitäten,
nämlich dem Lesen, diese Beziehung näher beleuchtet werden, dabei wird
auf empirische Daten zurückgegriffen, die im Rahmen einer
Longitudinalstudie von Lernprozessen italienischer Deutschlernender in
Projektarbeit erhoben wurden (Hoffmann 2008).
Nach einem Überblick über den Forschungsstand (1.) werden hier
einige theoretische Kernfragen in den Mittelpunkt gestellt: (2.) die
Differenzierung zwischen impliziten und expliziten Lernvorgängen; (3.) die
Unterscheidung zwischen Vokabelverstehen und Vokabellernen; (4) die
Rolle der Fokussierung bei der Speicherung neuer Worte. Exemplifiziert
werden die theoretischen Ausführungen anhand von Interviewdaten, die
sowohl Aufschluss über die unterschiedlichen Bewusstseinsebenen geben
als auch die emotionale Komponente bei rezeptionsspezifischen Lern-
prozessen aufzeigen.

1. NEUROWISSENSCHAFTEN UND TEXTREZEPTIONSFORSCHUNG

Im Zuge einer in der 1990er Jahren einsetzenden kritischen


Auseinandersetzung mit dem kognitiven Lernparadigma gewinnt in der
pädagogischen Psychologie der wechselseitige Einfluss von Motivation,
Affekten, Emotionen, Einstellungen und kognitiven Faktoren als
Forschungsgegenstand an Bedeutung (Daniels et al. 2008, Hidi et al. 2004,
Volet 1997), sodass man heute von einer «emotionalen Wende» (Arnold
2002: 14, Schwarz-Friesel 2007: 1) spricht und auch in der
Sprachwissenschaft ein Kognitionskonzept einfordert, «das offen ist für
emotionale Einflussgrößen» (Schwarz-Friesel 2007: 10). Während für die
Fremdsprachenforschung 1997 Geisler und Hermann-Brennecke noch
festgestellt hatten, dass sich Kognitionen im Gegensatz zu Gefühlen und
Sabine Hoffmann

Empfindungen eines weitaus «regeren wissenschaftlichen Zuspruchs»


erfreuten (1997: 81, siehe auch Hermann-Brennecke 1998) und es zwischen
beiden «keine Berührungspunkte zu geben» (Geisler / Hermann-Brennecke
1997: 83) scheint, hat mittlerweile auch in dieser Wissenschaftsdisziplin ein
genereller Paradigmawechsel stattgefunden. Dazu haben wesentlich die
florierenden Neurowissenschaften und die Entwicklung neuer Methoden
zur Erforschung von Gehirn und Nervensystem beigetragen, dank deren
Erkenntnisse nun eindeutig nachzuweisen ist (bahnbrechend dazu die
Untersuchungen von Damasio), dass Emotionen und Affekte auch bei der
Lösung abstrakter mathematischer Aufgaben beteiligt sind und dass ohne
die emotionale Speicherung im limbischen System kein Bewusstsein
möglich ist (Lenk 2004: 335); wobei die Emotionen im Sinne von
Wertstrukturen sogar geistigen und motorischen Aktivitäten zeitlich
vorgelagert sind (Arnold 2002: 41)1. Das Bewusstsein geht also der
Handlungsbereitschaft nicht voraus, sondern ist eher – wie Lenk es nennt –
ein «Nachklapp-Effekt» (Lenk 2004: 246). Es ist nicht die Ursache, sondern
im Grunde ein Begleitphänomen, das aber durchaus noch
handlungsvariierend sein mag, so kann das willentliche Bewusstsein im
Sinne einer interaktionalen Wechselwirkung die Gesamtverhältnisse
beeinflussen.
Demzufolge sieht man in der Fremdsprachenforschung heute das
Bewusstsein als ein dynamisches System, in dem kognitive Kenntnis-
strukturen und Gefühlswelt nicht zu trennen sind (s. z.B. Arnold 2002,
Nardi 2006) und zu dessen Erforschung im Bereich des Fremdsprachen-
erwerbs höchst komplexe, aber vor allem interdisziplinär angelegte
Forschungsanlagen nötig sind, die dem Umstand Rechnung tragen, dass
sich Emotionen im nonverbalen Ausdruck, in körperlichen Zuständen und
in verbalen Repräsentationsformen (Schwarz-Friesel 2007: 57) äußern.
Der bereits im Konstruktivismus vertretene Gedanke der Auto-
referenzialität unseres Gehirns findet in den neurowissenschaftlichen
Erkenntnissen seine Bestätigung. Mentales Handeln, auch wenn auf
Anreize, Signale oder Anregungen anderer angewiesen, ist grundsätzlich
eine Privatsache: «Was wahrgenommen wird, ist durch das bestimmt, was im

1 So zeigte sich bei Untersuchungen des amerikanischen Neuropsychologen


Libert, dass die erste bewusste Intention erst 1/3-1/2 Sekunde nach dem
Auftreten des Bereitschaftspotenzials vorkam, und diese bewusste Intention ein
Bruchteil vor der messbaren motorischen Bewegungsaktivierung (nach Lenk 2004:
244 ff.).

114
KOGNITION UND EMOTION

Gehirn bereits repräsentiert ist» (Lenk 2004: 22). Das heißt, die
Wahrnehmung, Speicherung und Verarbeitung geschieht auf der Grundlage
bereits vorhandener Schemata.
Von dem konstruktiven Charakter mentaler Repräsentation wird auch
in der aktuellen Textrezeptionsforschung ausgegangen (vgl. Mazza 2001,
Schramm 2001); und betrifft insbesondere die Einflussnahme von
Emotionen:

Das Rezipieren von Texten ist entsprechend kein neutraler Verarbeitungs-


vorgang, kein bloßer Informationsverarbeitungsprozess im Sinne eines
sequenziellen Kodierungsprozesses, sondern involviert je nach Textthema
und Textgestaltung mehr oder weniger stark emotional gesteuerte Prozesse.
Bereits vor dem Textrezeptionsprozess liegen emotionale Einstellungen beim
Leser vor und diese werden zusätzlich von dem jeweiligen Text aktiviert,
verstärkt oder verändert (Schwarz-Friesel 2007: 128/129).

Unter Rückgriff auf gelegte Spuren, Einträge, stabilisiertes Vorwissen


wird verstanden und behalten und gegebenenfalls wieder abgerufen. Wie
stark hierbei zusätzlich die Kenntnisse anderer Fremdsprachen und
metakognitives Sprachregelwissen eingesetzt werden, hat jüngst eine
Einzelfallstudie gezeigt (Zech 2009). Leider sind derartige Untersuchungen
zu Lernprozessen beim fremdsprachlichen Lesen immer noch zu dünn
gesät, als dass man hier von einer empirisch untermauerten Theoriebildung
sprechen könnte. Auch die höchst interessanten Beobachtungen, dass
Emotionen scheinbar stärker auf die lexikalischen und phonologischen als
auf die syntaktisch-grammatischen Enkodierungsprozesse wirken, warten
auf entsprechende Belege (Schwarz-Friesel 2007: 127 f.).

2. IMPLIZITES UND EXPLIZITES LERNEN

Über die Zunahme biologisch-funktionaler Erklärungsmodelle


avanciert das implizite Lernen zu «eine(r) besondere(n) Herausforderung» für
die gegenwärtige Lernpsychologie (Perrig 1996: 204, Übersicht zum
Forschungsstand in der Fremdsprachenforschung in Doughty / Long
2003) und zu deren häufigstem Forschungsgegenstand. Unter implizites
Lernen fallen einmal unbewusste Vorgänge, aber auch vorbewusste und
unterschwellige (sublimale) Perzeptionen in den sensorischen Arealen,
bevor sie bzw. einige davon in die assoziativen Felder kommen (Roth 2003:
237 f.), d.h., ihr Weiterkommen wird bei ihrer Wahrnehmung gebahnt und
damit entschieden, was bewusst wahrzunehmen ist. Hierbei haben ähnliche

115
Sabine Hoffmann

Eingabemuster eine größere Wahrscheinlichkeit der Weiterleitung, da über


eine stärkere Aktivierung die neuronale Feuerungsrate steigt. Je häufiger
neuronale Bahnen durchwandert werden, umso leistungsfähiger und
stabiler verhalten sie sich, was zu einer Konsolidierung dieser Neuronen-
assemblies führt (Lenk 2004: 69, Pospeschill 2004: 179). Für das einfache
oder auch unimodale Mustererkennen ist die Wiederholung ein wichtiger
Faktor zur Festigung und somit zur Reaktivierung – «der große Meister des
Lernens» (Lenk 2004: 73). Der Aufbau impliziten, sprich automatisierten,
Regelwissens in der Fremdsprache ist dagegen sehr langwierig und
erfordert ausdauernde Übungsphasen (Zimmer 1997: 17).
Für die langsameren und energieaufwändigeren Prozesse expliziten
Lernens ist weniger mechanisches Üben erforderlich. Diese werden nicht
eingespielt und sind darüber, dass sie sich sprachlich mitteilen lassen,
leichter veränderbar. Multimodale Zellen liefern eine serielle oder
sequenzielle Informationsverarbeitung, die in den assoziativen Cortex in
enger Zusammenarbeit mit dem Hippocampus, der Zentralstelle für
Gedächtnisleistung, abläuft (Roth 2003: 238). So geartete Lernprozesse
sind bewusst und intentional (Zimmer 1997: 14).
Festzuhalten ist, dass implizite und explizite Vorgänge unterschiedliche
Leistungen erbringen und nach neuesten Befunden andere Lernkreise
durchlaufen, um im Gehirn in verschiedenen Arealen gespeichert zu
werden. Diese Erkenntnisse kommen bei der wichtigen Differenzierung
zwischen dem Prozess der Bedeutungserschließung und des Lernens bzw.
Behaltens der Wortbedeutung zum Tragen, auf den u.a. Rieder verweist
(Rieder 2002: 7).

3. VOKABELVERSTEHEN VS. VOKABELLERNEN

Betrachten wir nun aus dieser Perspektive das Lesen, gehört zu der
ersten Ebene das Mitlernen bzw. Mitlesen von Wörtern, das mit der
visuellen Wahrnehmung der Wortform, des Wortkörpers beginnt. Hier ist
auch das Wiedererkennen im Sinne von Mustererkennen möglich, ohne
dass zunächst explizit Bedeutungskategorien aufgebaut werden.
Anschließend helfen intralinguale, interlinguale und extralinguale Hinweise
und – wie oben schon erwähnt – Vorwissen, den Sinn auf der Textebene
zu erschließen. Allerdings kommt es dabei nicht, wie Rieder mehrfach
betont, zum Erwerb im Sinne von einer Speicherung im Langzeit-
gedächtnis. Die Wörter werden nur in dem Maße perzipiert, wie es für die

116
KOGNITION UND EMOTION

Texterschließung notwendig ist (Rieder 2002: 22). Sie verlassen damit den
vorbewussten Zustand, indem sich eine primäre Bedeutungsstruktur
aufbaut. Aber nur eine Verarbeitung der Wortbedeutung in höheren
Schichten der assoziativen Areale garantiert einen vielseitigen Zugriff auf
das gespeicherte Wissen und macht es wieder bewusst abrufbar (Lenk
2004: 294f., Rieder 2002: 40), denn die weitergehende Verflechtung durch
wesentliche Merkmale im Gehirn löst die Bedeutung von ihrem
kontextuellen Erklärungsrahmen:

Da der Fokus des Lesers primär auf der Textbedeutungsebene liegt, bewegt
sich der Erschließungsprozess auf der Ebene des mentalen Modells der
Textbedeutung und nicht auf der Denotationsebene. Um überhaupt
lexikalisches Bedeutungswissen aufzubauen, ist demnach ein zusätzlicher,
aktiver Schritt des Lerners von der Textbedeutungsebene zur
Wortbedeutungsebene notwendig (Rieder 2002: 38, Hervorhebung im
Original).

Elisabetta Mazza differenziert bei diesem Lernprozess drei Stufen: Die


niedrige der visuellen Worterkennung, eine mittlere auf der lexikalisch-
syntaktischen Ebene und die semantische Informationsaufnahme, die eine
vielschichtige Verknüpfung des Materials und damit seine Verfügbarkeit in
seiner metakognitiven Breite impliziert (Mazza 2001: 102).
Dass diese Lernschritte nicht von allen Lernenden gleichermaßen
begangen werden und dass bei ihrer Ausführung merklich Emotionen
beteiligt sind, möchte ich an den folgenden Auszügen aus Interviewdaten
von italienischen Studierenden aufzeigen, die im Hochschuljahr 2006/2007
erhoben wurden2.

Fallbeispiele

Valerios Zugang zum Deutschen ist stark durch die Emigrations-


geschichte seiner Familie, d.h. durch den ungesteuerten Spracherwerb im
Inland, geprägt. Schon seit Studienbeginn zeigen sich bei ihm
Schwierigkeiten damit, wie an der Universität Deutsch gelehrt wird,
besonders Übersetzungen bereiten ihm Probleme, weil er nicht immer den
sprachlichen Ansprüchen im Italienischen gerecht wird, was wohl darauf
zurückzuführen ist, dass Italienisch für ihn eigentlich nicht die wirkliche
Muttersprache ist und er nach eigenen Angaben aus seinem Dialekt
übersetzt. Bei ihm ist die Gewohnheit, Lernprozesse zu reflektieren, kaum

2 Sämtliche Angaben stammen aus Hoffmann 2008.

117
Sabine Hoffmann

vorhanden. Das verdeutlichen auch die langen Pausen und Schwierigkeiten


in den Redebeiträgen, in denen er die eigenen Lernfortschritte festmachen
soll.

01 H was hat dir das proJEKT in bezug auf das DEUTSCHlernen gebracht, also
auch im vergleich zum wintersemester? bist du deinem ziel, VIEL und gut
deutsch zu sprechen näher gekommen? gibt es einen teil in der arbeit, der
dir in bezug auf dein lernziel, auf DIESES lernziel, besonders nützlich (.)
erscheint?
02 V certamente, perché magari uno leggendo più volte diverse diversi
argomenti:, cercando su internet impari soprattutto la comprensione dei
testi, e: anche a parlare diciamo magari:, a leggere dei testi con una migliore
pronunzia.
03 H quindi mm il discorso che, e di di leggere i testi e poi anche, quanto ho
capito, gli esercizi di:, quelli abbiamo fatto alla fine di lettura e: ti hanno
aiutato a avvicinarti a questo obiettivo di parlare meglio
04 V sì.
05 H o questi sono i due momenti che secondo te sono più utili´
06 V sì.
07 H ok, ähm, hast du lernfortschritte bemerkt? und ähm WIE hast du die
gemerkt? come hai notato che hai fatto progressi?
08 V (--) me l’ha fatto notare: e federica quando leggevo, che all’inizio: e poi
09 H quindi grazie a un commento di federica?
10 V sì, sì, sì.
11 H e altri momenti in cui hai notato:
12 V (--) no perché magari quando ho incominciato a cercare su internet o a
leggere il mio testo capivo di più di quello che: avrei capito all’inizio.
13 H cioè l’avevi: dici e: conoscevi più parole´
14 V conoscevo più parole´
aus 2. Fok. Interview Valerio

Neben der verbesserten Aussprache bemerkt er auch Lernfortschritte


beim Textverständnis, was er vor allem auf das häufige Lesen zu einem
bestimmten Thema zurückführt. Die wiederholte Konfrontation, also das
Einschleifen von Mustern bzw. Mustererkennung, begründet für den
Studenten den Mehrerwerb an Vokabeln.
Der Student Geraldo erkennt für sich das völlige Eintauchen in die
andere Sprach- bzw. Kulturwelt als ideale Methode, aber betont auch die
Wichtigkeit des Wiederholens beim Lernen. Deutlich wird zusätzlich die
Verknüpfung der neuen Wörter ins eigene mentale Lexikon:

118
KOGNITION UND EMOTION

03 H e e c’è un momento in cui c’è una, un esercizio o qualche cosa che tu hai
notato che era particolarmente utile per questo?
04 G sì, il fatto di dovere, per esempio, preparare la e: appunto la la mia
relazione e quindi, il diciamo, il dover e: diciamo appunto cercare le le
nuove parole perché diciamo era un un argomento fino ad ora mai
trattato in tedesco em e quindi diciamo ho conosciuto nuove parole e poi
rileggendole e: comunque, lavorando sempre sulle stesse parole alla fine
diciamo questo questo questa parte di vocabolario e: diciamo l’ho fatta
mia.
aus 2. Fok. Interview Geraldo

Durch die Gruppe hat der Student konkrete Hinweise für den eigenen
Lernprozess erhalten und diese für sich verwertet:

09 H ((…))
[quindi ti hanno corretto e ti è sembrato utile questo discorso]
10 G [sì, sì, sì] perché non non mi accorgevo io di appunto di fare questi errori,
invece così sono diciamo cosciente em e poi anche perché diciamo non ho
lavorato soltanto sul sul sulla mia relazione, ma anche su quella di altre
persone e quindi
11 H sei stato il tecnico di tutti diciamo. ((ride))
12 G e quindi, diciamo ho potuto anche vedere un po’ anche come come
scrivono gli altri, confrontare anche come scrivo io e quindi poi vedere
anche corrette tutte le relazioni, vedere anche gli errori e:, magari ho visto
e: cioè, un errore che io non non facevo, però diciamo non avevo fatto,
non ci avevo mai pensato, magari ho visto:, l’ho visto: fatto in un’altra
relazione e l’ho visto corretto e ho pensato e: diciamo che: che potevo farlo
anche io perché non: ecco
13 H quindi vedendo gli errori degli altri o le cose degli altri tu ti sei autocorretto´
sì.
14 G
aus 2. Fok. Interview Geraldo

Bei Geraldo löst das Vergleichen einen weiterreichenden meta-


kognitiven Prozess aus, der eindeutig über das Mustererkennen oder
kognitive Vorgänge erster Ordnung hinaus geht. Durch häufiges Lesen
prägen sich ihm zwar auch die Wörter ein, aber über die anschließende
Auseinandersetzung mit den Texten der anderen Projektteilnehmenden
setzt ein Fokussierungsprozess ein, der von der Wahrnehmung einer
Kenntnislücke, einer Differenz, seinen Ausgang nimmt (Rieder 2002: 70).3

3Kognitive Sprachlerntheorien unterschiedlichster Prägung gehen davon aus, dass


der Lerner einen Unterschied zwischen den eigenen Denkmustern und Sprach-
kenntnissen und neu zu erwerbendem Wissen festzustellen hat und dass am

119
Sabine Hoffmann

Die Studentin Cristina, die in ihren Aussagen Lernen allgemein mit


dem Begriff Leidenschaft belegt und speziell den Fremdsprachenerwerb als
«la passione insomma più grande» (Leitfadeninterview Cristina / 20)
bezeichnet, erlebt das persönliche Mitwirken und -gestalten des eigenen
Lernens als dessen Optimierung und setzt es bewusst strategisch ein:

10 C [quella parola] sì, cioè se se io prendo il dizionario e lo vado a cercare ho


meno probabilità di ricordarmelo il termine, invece se io mi sforzo di
capirlo dal contesto è una cosa attiva, cioè è una cosa che faccio io e quindi
giustamente ho cioè ho più probabilità che quel termine mi resta a lungo.
aus 2. Fok. Interview Cristina

Neben dem Aktiv-Werden bei der kontextuellen Herleitung von


Wortbedeutungen benennt die Studentin das Einbeziehen der
Fremdsprache in das eigene Leben in einem ständigen Sprachenvergleich
konkret als eine ihrer Strategien auf der metakognitiven Ebene (1. Fok.
Interview Cristina/35–42). Lernen ist generell positiv besetzt und regt die
Studentin im Unterricht, aber auch davon unabhängig, dazu an, für sich
effiziente Strategien auszuprobieren.
Die direkte emotionale Beteiligung am Lernprozess wird noch
deutlicher bei der Studentin Francesca, die sich selbst als eine unsichere
und von Emotionen abhängige Person (vor allem von negativen
Emotionen, wie Ängsten) definiert. Auch sie bestätigt die Wiederholung als
lernförderlich, koppelt aber darüber hinaus Lernprozesse an Bewusst-
machungsvorgänge. Die Erfahrung, sich als erfolgreich Handelnde zu
erleben, bewirkt einen Motivationsschub sowohl auf der Lernebene als
auch in Bezug auf die Kontrolle ihrer Ängste. Darauf, dass das Wort, das
sie als gelernt erinnert, nämlich Unsicherheit, ihr wohl auch gefühlsmäßig recht
nahe steht, soll an dieser Stelle nachdrücklich hingewiesen werden.

15 H okay. hast du LERNfortschritte ge bemerkt? WIE hast du die bemerkt und


WANN vielleicht? du schreibst, du hast neue begriffe, wörter gelernt, eine
bessere AUSsprache, vor publikum weniger angst beim sprechen. gab’s da
momENTe, wo du konkret, wo du konkret, da erinner ich mich DA war
son moment (.) wo das besser funktioniert hat.
16 Fr no, magari quando tornavo a casa facevo il diario, riflettevo sulla giornata o

effizientesten über die Wahrnehmung dieser Differenz bzw. Kenntnislücke gelernt


wird (vgl. Gass 2003, bei Korrekturhandlungen s. Lochtman 2002: 58)

120
KOGNITION UND EMOTION

sul, ho notato, ho notato che: nelle prove di lettura, anche dopo, cioè avevo
quell’interesse a leggere e a: migliorarmi e proprio anche le prove di lettura
sono state fondamentali per me perché ho capito che leggendo più volte
una cosa, un un testo si impara sia a pronunciarle e si si ricordano poi le
parole, anche oggi durante la lezione mi è venuta una parola che ho usato
nel testo che ho scritto e che è unsicherheit quindi cioè molti nuovi concetti
sono: entrati nella mia testa e e poi anche la presentazione, non ho avuto
così tanta ansia, devo dire la verità, anche: anche se c’erano due insegnanti
comunque non è stato così trAgico poi.
anche la riflessione, tu dici, sul diario ha è un aiuto per
17 H [per pensare anche]
[p