Übersichten
Med Klin Intensivmed Notfmed M. Strauss1,2 · R. Leischik2 · U. Jehn3 · J.-S. Padberg1 · R. Pistulli1 · P. Kümpers3 ·
https://doi.org/10.1007/s00063-020-00728-6 H. Reinecke1
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Klinik für Kardiologie I: Koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz und Angiologie, Universitätsklinikum
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Münster, Münster, Deutschland
Springer Nature 2020 2
Klinik für Kardiologie, Lehrbereich Prävention und Gesundheitsförderung, Fakultät für Gesundheit,
Universität Witten/Herdecke, Hagen, Deutschland
3
Medizinische Klinik D, Allgemeine Innere Medizin und Notaufnahme sowie Nieren- und
Hochdruckkrankheiten und Rheumatologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
Ja
talität binnen 5 Jahre nach dem Notfal- Therapie 4 der individuellen Erfahrung des
lereignis [16]. Behandlers mit den verfügbaren
Die Therapie eines hypertensiven Not- Wirkstoffen.
Diagnostik falls ist indiziert, um blutdruckassozi-
ierte Endorgangschäden zu vermeiden Untersuchungen, die in der Vergan-
Der Blutdruck sollte unter Ruhebedin- bzw. zu verringern. In der US-amerikani- genheit medikamentöse Therapieregime
gungen an beiden Armen mit einer ge- schen STAT-Registerstudie lag bei 59 % miteinander verglichen haben, sind we-
eigneten Technik und validierten Gerä- der Betroffenen eine begleitende End- nig vorhanden und nicht hinreichend
ten gemessen werden [22, 37]. Bei diffe- organschädigung vor [13]. Typische Or- evident [1, 27]. Eine Metaanalyse von
renten Blutdruckwerten wird der höhere gansysteme, die von einer blutdruckasso- Perez et al. untermauert die fehlende
der erhobenen Werte als Referenzwert ziierten Endorganschädigung betroffen Evidenz bei der medikamentösen Not-
herangezogen. Heutzutage erfolgt in den sind, sind: Gehirn, Augen, Herz, Gefäß- fallbehandlung der arteriellen Hyper-
meistenFällen, sowohl präklinischals kli- system und die Niere. Dabei sollte der tonie, betont aber zugleich, dass dieser
nisch, eine oszillometrische Blutdruck- Therapiebeginn so zeitnah wie möglich Umstand kein Grund sei, eine medika-
messung. Aber auch eine auskultatori- erfolgen. mentöse Behandlung zu unterlassen und
sche Blutdruckmessung wird noch prak- in der Folge Endorganschäden in Kauf zu
tiziertund istgeeignet. BeiVorliegenoder Auswahl der Therapiestrategie nehmen [27]. Allerdings steht bisher ein
Verdacht auf eine Endorganschädigung Nachweis des Nutzens der notfallmäßi-
sollte, sofern verfügbar, eine invasive, ar- Die Entscheidung über den Zeitpunkt, gen medikamentösen Blutdrucksenkung
terielle Blutdruckmessung in Erwägung die Art und Weise sowie die Auswahl im Hinblick auf die Reduktion von Mor-
gezogen werden. In mehreren Studien der medikamentösen Therapiestrategie talität und Morbidität von hypertensiven
konnte gezeigt werden, dass eine oszil- ist dabei im Wesentlichen von folgenden Notfallpatienten noch aus [26].
lometrische und auskultatorische Blut- Faktoren abhängig (. Tab. 2):
druckmessung den „wahren“ Blutdruck 4 der klinischen Präsentation; Therapiegrundsätze
im Vergleich zur invasiven, arteriellen 4 der erwarteten und/oder eingetrete-
Blutdruckmessung unterschätzt [12, 17, nen Organschädigung; Für die Behandlungsstrategie eines hy-
29]. Eine weitergehende organbezogene 4 der zugrunde liegenden Pathophysio- pertensiven Notfalls sollten bestimmte
Diagnostik ist in . Tab. 1 aufgezeigt. Auf logie; Therapiegrundsätze berücksichtigt wer-
eine tiefergehende Erläuterung wird auf- 4 der Medikamentenverfügbarkeit und den. Vorrangiges Ziel ist immer, die End-
grund der Komplexität der Diagnostik in Therapiekosten; organschädigung zu minimieren. Jeder
diesem Artikel nicht näher eingegangen. Patient mit einem hypertensiven Not-
fall sollte einer Notaufnahme in einem
Krankenhaus zugeführt werden [30]. Ei- Med Klin Intensivmed Notfmed https://doi.org/10.1007/s00063-020-00728-6
ne initiale Blutdrucksenkung sollte präfe- © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
renziell entsprechend der klinischen Prä-
sentation mit einer intravenösen antihy- M. Strauss · R. Leischik · U. Jehn · J.-S. Padberg · R. Pistulli · P. Kümpers · H. Reinecke
pertensiven Medikation erfolgen. Hier- Der hypertensive Notfall. Empfehlungen zum initialen
zu eingesetzte typische Substanzklassen medikamentösen Therapiemanagement
sind α-Antagonisten, β1-selektive β-Blo-
cker, Nitrate, Kalziumantagonisten und Zusammenfassung
Diuretika. . Tab. 3 gibt einen Überblick Der hypertensive Notfall ist gekennzeichnet Kalziumantagonisten. Bis auf wenige Ausnah-
durch eine akute – zumeist lebensbedrohliche men ist bei extrazerebralen Ursachen eine
über in der klinischen Routine verwen-
– Blutdruckentgleisung mit der Gefahr einer bedachte, rasche Senkung des Blutdrucks von
dete Substanzen. akuten Endorganschädigung. Er stellt eine nicht mehr als 20–25 % des Ausgangswerts
Die „Aggressivität“, mit der bei der Akutmanifestation der arteriellen Hypertonie zielführend. Anschließend sollte innerhalb der
blutdrucksenkenden Therapie vorgegan- dar, die sich durch eine breite Symptomvielfalt nächsten 2–6 h ein Zielwert eines systolischen
gen wird, sollte in erster Linie von der Kli- äußern kann. Entstehungsgrundlage ist in Blutdrucks von 160/100 mm Hg angestrebt
den meisten Fällen eine chronische Hoch- werden. Eine zu rasche Blutdrucksenkung
nik der Endorganschädigung abhängig
druckkrankheit infolge von unzureichender kann durch eine veränderte Autoregulation
gemacht werden. Leitlinien empfehlen Compliance oder einer unzureichenden zu einer Minderdurchblutung insbesondere
bei einer ursächlichen Aortendissektion, medikamentösen Therapie. Zudem kann des Gehirns führen. Ausnahmen von dieser
Eklampsie, intrazerebralen Blutungssi- er Ausdruck einer Erstmanifestation einer Regelung bilden die akute Aortendissektion
tuation oder einem Phäochromozytom arteriellen Hypertonie sein. Dies bedarf einer und das kardiale Lungenödem – in diesen
zeitnahen antihypertensiven, medikamentö- Fällen sollte eine zeitnahe Blutdrucknor-
mit Blutdruckkrise eine raschere und
sen Therapie, die primär auf einer Intensiv- malisierung erzielt werden. An die initiale
stärkere Blutdrucksenkung als beispiels- oder Überwachungsstation stattfinden Akuttherapie sollte sich eine weitergehende
weise bei einer ischämisch bedingten sollte. Die Auswahl des medikamentösen Ursachenabklärung und eine sich daran
zerebralen Minderperfusion oder einem Therapieregimes sollte sich dabei an der orientierende Langzeittherapieeinstellung
posterioren reversiblen Enzephalopa- zugrunde liegenden Endorganschädigung anschließen.
thiesyndrom (PRES; [6, 10]). Generell orientieren. In der Regel sollten schnell
wirksame, gut steuerbare und intravenös Schlüsselwörter
gilt (mit einigen Ausnahmen, z. B. Aor- zu verabreichenden Substanzen bevorzugt Blutdruckentgleisung · Hypertension · Hy-
tendissektion), dass der Blutdruck in- werden. Die am häufigsten eingesetzten pertensive Krise · Hypertensive Entgleisung ·
nerhalb der ersten Stunde nicht mehr Substanzen (Substanzgruppen) sind Urapidil, Medikamentöse Therapie
als 20–25 % vom Ausgangswert gesenkt Nitroglyzerin, β-Blocker und kurzwirksame
werden sollte. Anschließend sollte in-
nerhalb der nächsten 2–6 h ein Zielwert
von 160/100 bis 110 mm Hg angestrebt The hypertensive emergency situation. Recommendations for
werden [35, 36]. Die blutdrucksenkende initial drug therapy management
Therapie sollte mit Bedacht erfolgen, da Abstract
durch eine zu starke Blutdrucksenkung The hypertensive emergency situation is a few exceptions, a deliberate, rapid reduction
(charakterisiert durch einen systolischen characterized by an acute—mostly life- in blood pressure of no more than 20–25% of
Blutdruck kleiner als 120–100 mm Hg) threatening—blood pressure derailment with the initial value is sufficient for extracerebral
der Patient einer unnötigen Gefahr the risk of acute end organ damage. It is an causes. A subsequent systolic blood pressure
acute manifestation of arterial hypertension, target of 160/100 mm Hg should be aimed
ausgesetzt ist und vermeidbare Kom-
which manifests in a variety of symptoms. The for within the next 2–6 h. An overly rapid
plikationen hervorgerufen werden kön- etiology is in most cases long-term (chronic) drop in blood pressure can lead to reduced
nen. Nachweislich ist eine zu starke hypertension as a result of low compliance blood flow to the central nervous system
Blutdrucksenkung mit einem erhöhten or inadequate antihypertensive therapy. due to changes in autoregulation. Exceptions
Mortalitätsrisiko verbunden [20, 24]. It can also occur as a first manifestation to this rule are acute aortic dissection and
of arterial hypertension. It requires timely flash pulmonary edema—in these cases,
Eine zu exzessive Blutdrucksenkung
antihypertensive drug therapy, which should prompt blood pressure normalization should
tritt in bis zu 10 % der Fälle auf [13, be initiated in an intensive or intermediate be achieved. The initial acute therapy should
34]. Beim Eintreten einer exzessiven care unit. The choice of antihypertensive be followed by a more detailed investigation
Blutdrucksenkung sollte zunächst die therapy regimen should be based on the of the cause and a long-term therapy setting
intravenöse antihypertensive Therapie underlying end organ damage. Fast-acting, based on this.
easily controllable and intravenously admin-
gestoppt werden. Bei weiterhin bestehen-
istered substances should be preferred. The Keywords
dem zu niedrigem Blutdruck ist unter most commonly used substances (groups) Blood pressure derailment · Hypertension ·
Umständen eine zeitweise Therapie mit are urapidil, nitroglycerin, beta blockers and Hypertensive crisis · Hypertensive urgency ·
Vasopressoren und/oder die Gabe von short-acting calcium channel blockers. With Drug treatment
Vollelektrolytlösungen notwendig [25].
Tab. 1 Darstellung möglicher Organschädigungen und Erläuterungen spezifischer Diagnostik. (Adaptiert nach [37])
Schädigung Erkrankungen Spezifische Diagnostik
(Organsystem)
Herz Akutes Koronarsyndrom 12-Kanal-EKG; Troponin; (CK-MB); Echokardiographie
Akute dekompensierte Herzinsuffizienz mit Lungen- 12-Kanal-EKG; Echokardiographie; Lungensonographie (B-Linien);
ödem Thorax-Röntgen; NT-proBNP; (ggf. Troponin)
Niere Akute Nierenschädigung Serumkreatinin; Elektrolyte; Säure-Basen-Haushalt; Albumin-Kreati-
nin-Quotient im Urin; Urinstatus/-sediment; Nierensonographie
Große Gefäße Aortenaneurysma, -dissektion, -ruptur Echokardiographie, Abdomensonographie; CT-Angiographie von
Thorax und/oder Bauchraum
Augen Retinaeinblutung, Retinaexsudation, Papillenödem Fundoskopie
Gehirn Zerebrale Ischämie, intrazerebrale Blutung, Posteriores CT und/oder MRT des Gehirns
reversibles Enzephalopathiesyndrom (PRES)
Schwangerschaft Prä-/Eklampsie, HELLP-Syndrom Albumin-Kreatinin-Quotient im Urin; Leberenzyme (γ-GT, GPT, GOT),
Thrombozyten; sFLT (PIGF-Ratio); CTG; Sonographie des Fetus
Tab. 2 Behandlungsstrategien hypertensiver Notfallsituationen. (Empfehlungen adaptiert nach [3, 25, 37])
Akuter Zielorgan- Zeitraum und Zielwert der akuten Therapie der Wahl (Alternative)
schaden Blutdrucksenkung
Maligne Hypertonie MAP-Senkung um 20–25 % des Aus- Urapidil i.v.,
mit oder ohne akute gangswerts innerhalb der ersten Alternativ: (Labetalol,) Nicardipin und Nitroprussid
Niereninsuffizienz Stunde
Zielwert: 160/100 mm Hg
Zeitraum: 2–6 h
Hypertensive Enzepha- Zeitige MAP-Senkung um 20–25 % Urapidil i.v., alternativ: (Labetalol,) Nicardipin und Nitroprussid
lopathie des Ausgangswerts
Zeitraum: ≤1 h
Akutes Koronarereignis Sofortige Senkung des RRsyst. auf Nitroglyzerin s. l. oder i.v., Urapidil i.v., Metoprolol,
<140 mm Hg und RRdia. >60 mm Hg Alternativ: Esmolol, (Labetalol)
halten
Zeitraum: ≤1 h
Akutes kardiales Lun- Sofortige Senkung des RRsyst. auf Nitroglyzerin (i.v. oder s. l.) oder Nitroprussid i.v. (in Kombination mit Schleifendi-
genödem <140 mm Hg uretika)
Zeitraum: ≤1 h Alternativ: Urapidil i.v. (mit Schleifendiuretikum)
Schwerste Fälle mit inadäquater Diurese: Ultrafiltration erwägen
Akute Aortendissektion Sofortige Senkung des RRsyst. auf Kombinierte Gabe von β-Blocker und Vasodilatator bevorzugen (Ausnahme: ein
<120 mm Hg und Herzfrequenz auf bradykarder Herzrhythmus besteht bereits)
<60/min Esmolol i.v. und Nitroprussid i.v. oder Nitroglyzerin i.v. oder Nicardipin
Zeitraum: ≤20 min Alternative: Bei β-Blocker Metoprolol i.v. (oder Labetalol)
Eklampsie und schwere Sofortige Senkung des RRsyst. Nicardipin oder Nifedipin oder Urapidil i.v. und Magnesiumsulfat (in schweren
Präeklampsie/HELLP <160 mm Hg und des RRdia. Fällen)
<105 mm Hg Alternativ: medikamentös (Labetalol), Geburtseinleitung erwägen
Zeitraum: ≤1 h Bei begleitendem Lungenödem: Nitroglyzerin i.v.
Urapidil i.v. empfiehlt sich in den meisten Fällen als Mittel der ersten Wahl (insb. bei nur bedingter Verfügbarkeit anderer Wirkstoffe); die sublinguale
Applikation unretardierter Kalziumkanalblocker wird nicht empfohlen (schlechte Steuerbarkeit, rasche und unkontrollierbare RR-Abfälle, (massive) Sympa-
thikusaktivierung)
HELLP HELLP-Syndrom (Hämolyse, erhöhte Leberenzymwerte, niedrige Thrombozytenzahl), MAP mittlerer arterieller Druck, RRsyst. systolischer Blutdruck,
RRdia. diastolischer Blutdruck
Beginn der oralen antihypertensi- den sollte, um Ressourcen zu schonen. 6 und 12 h nach Beginn der intravenösen
ven Medikation Ebenso lässt sich hierdurch das Risiko Therapie ist laut Expertenkonsens indi-
einer „Rebound-Hypertension“ senken, ziert. Die Art und die Auswahl der me-
Parallel zur intravenösen antihypertensi- die ebenso wie eine zu aggressive Blut- dikamentösen antihypertensiven Dauer-
ven Therapie empfiehlt es sich, mit einer drucksenkung mit einer erhöhten Mor- therapie sollten sich an den gültigen Leit-
oralen antihypertensiven Dauertherapie talität assoziiert ist [20]. linien orientieren [37]. Die Normalisie-
zu starten, da die Dauer der intravenösen Eine klare Empfehlung zum Startzeit- rung des Blutdrucks sollte innerhalb ei-
Therapiezufuhr und intensiven Überwa- punkt der oralen antihypertensiven The- nes Zeitfensters von 48 bis zu 72 h ange-
chung so kurz wie nötig gehalten wer- rapie existiert nicht. Ein Beginn zwischen strebt werden.