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In dem Abschnitt aus dem Bericht geht es um die so genannte Delegitimierung des
Staates: „Diese Form der Delegitimierung“, so der Verfassungsschutz, „erfolgt meist nicht
durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine
ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten
Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer
Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt
erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.“
Abgesehen davon, dass die ständige Agitation gegen Staatsvertreter einmal das
Anliegen eines breiten Bündnisses von linken Parteien, Organisationen, Künstlern und
sonstigen Aufrufunterzeichnern von Albers bis Zwerenz war, solange die Repräsentanten
noch Strauß und Kohl hießen – mit einer solchen Agitation oder
Unzufriedenheitsäußerung müssen die meisten Regierungen seit Ende des Absolutismus
auskommen. Bis vor kurzem galt auch der Grundsatz, dass das Amt dem Amtsträger
Würde verleiht, nicht umgekehrt. Gibt jemand Anlass zu Kritik, auch wenn sie
fundamental, ätzend und ungerecht ausfällt, dann erschüttert das demnach noch lange
nicht die Institutionen. Selbst dann nicht, wenn sich ein Politiker öffentlich als würdeloser
Hanswurst und Abgreifer aufführt wie der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann,
leidet noch nicht dauerhaft das Amt.
Die Person, die ihm nachfolgt, kann sich möglicherweise wieder so betragen, dass sich
die Frankfurter nicht schämen müssen. Kurzum, Repräsentanten und Repräsentantinnen
des Staates in den Grenzen der Gesetze mit Ablehnung, Hohn, Spott und Verachtung zu
begegnen und geradezu zu überkübeln ist das gute Recht jedes Bürgers, zumindest in
der Demokratie als solcher, um einmal die Verfassungsschutzformulierung zu verwenden.
In früheren Zeiten benutzten die Unzufriedenen mitunter noch Verachtungsverstärker wie
faule Eier und matschige Tomaten. Die Repräsentanten allerlei Geschlechter sollten froh
darüber sein, dass viel Unmut heute in digitale Kanäle fließt, statt ausgerechnet diesen
Umstand zu beklagen.
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Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Es gibt kein Grundrecht eines Politikers auf Achtung. Legitimieren muss sich jeder
Mandatsträger im Amt von Tag zu Tag. Fällt die Zustimmung des Publikums nicht so aus,
wie er sich das wünscht, liegt das nicht immer, aber ziemlich oft an seiner Amtsführung.
Jedenfalls existierten diese Grundsätze einmal, und das sogar in Monarchien. Falls sich
der Verfassungsschutzpräsident noch nicht zu sehr erschüttert und beeinträchtigt fühlt,
kann er gern nachlesen, mit wieviel Hohn und Spott Kaiser Wilhelm II. überzogen wurde,
durch ständige Agitation insbesondere der Socialdemokratie, in Witzen, Karikaturen,
unschmeichelhaften Berichten vom Hof und in einer verächtlichmachenden und
gleichzeitig damals außerordentlich populären Streitschrift, übrigens, ohne dass Höflinge
– also die Zivilgesellschaft von damals – einen Boykott gegen den Autor organisiert
hätten. Auch der Geheimdienst entdeckte darin keine Erschütterung des Staates. Bis
gerade eben gehörte also das Risiko des Ingrundundbodenkritisiertwerdens zum Politiker
– wie der Buhruf zum Künstlerleben.
In einem anderen deutschen Staat vor gut drei Jahrzehnten hielten das die
Repräsentanten genau umgekehrt, und damit ähnlich wie Verfassungsschutzpräsident
Thomas Haldenwang heute. Damals betrachteten Amtsträger ganz selbstverständlich
jede Kritik an sich als Erschütterung des Systems insgesamt, das sie unentwegt und
noch nicht einmal zu Unrecht in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sahen. Auch
damals gehörte Anetta Kahane übrigens zu den Abwehrkräften, allerdings ohne Stiftung
im Rücken, weshalb sie ihre Berichte noch selbst schreiben musste.
Das führt uns zur Sprache des Verfassungsschutzberichtes. Dort kommt nämlich ein
Begriff vor, den ältere Ostdeutsche nicht erst im Verfassungsschutzbericht von 2021
nachlesen müssen, nämlich Verächtlichmachung.
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In Paragraph 220 des DDR-Strafgesetzbuchs hieß es: „§ 220 Staatsverleumdung. (1)
Wer in der Öffentlichkeit
1. die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen
oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen;
2. einen
Bürger wegen seiner staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit, wegen seiner
Zugehörigkeit zu einem staatlichen oder gesellschaftlichen Organ oder einer
gesellschaftlichen Organisation
verächtlich macht oder verleumdet, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe,
Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“
In seiner verschärften Fassung vom 28. Juni 1979 kamen noch Schriften, Gegenstände
und Symbole dazu, mit denen jemand die öffentliche Ordnung hätte stören können. Unter
Strafe standen auch „Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder
revanchistischen Charakters“, wobei die Begriffe sehr, sehr weit nach Gutdünken der
Repräsentanten ausgelegt wurden:
„(1) Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe,
Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder
Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind,
die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische
Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich
zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht.
(3) Ebenso wird bestraft; wer in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen,
rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut, oder Symbole
dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt.
(4) Wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik die Tat nach Absatz 1 oder 3
im Ausland begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf
Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft.“
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Ein DDR-Funktionär hätte damals einem Westjournalisten gesagt, jeder könnte in der
DDR seine Meinung frei heraussagen, er müsse eben nur mit den Folgen
zurechtkommen.
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Das Bundesamt für Verfassungsschutz verwendet in seinem Bericht eben nicht nur den
DDR-Strafrechtsbegriff der Verächtlichmachung, sondern auch den Geist, der darin
steckt: Der Bürger schuldet dem Mandatsträger Achtung, nicht umgekehrt. Er darf ihn
nicht verächtlich machen, auch wenn er sich noch so verachtenswert verhält, und jede
abfällige Bemerkung über einen Funktionär trifft immer das System als Ganzes. Die
herrschende Kaste witterte in der DDR auch deshalb an allen Ecken Delegitimierung, weil
sie wusste, dass es mit ihrer Legitimation ziemlich schlecht stand.
Er soll also erstens nicht verachten. Zweitens – und der Punkt zählt fast noch mehr – liegt
es an ihm, wenn das Vertrauen in die staatlichen Institutionen schwindet, und nicht etwa
an denjenigen, die diese Institutionen leiten.
Unwürdige Politiker gab es schon immer, genauso wie liederliche Pfaffen und
geistesschwache Könige. Aber, um erst einmal den Punkt der Verächtlichkeit
abzuarbeiten, in keiner anderen Epoche gaben sich derart viele Repräsentanten wirklich
jede erdenkliche Mühe, auch noch die letzten Reste von Amtswürde abzustreifen oder
gar nicht erst anzunehmen. Die sozialen Medien wirken dabei als extremer Verstärker,
mit ihrer Hilfe können sich öffentliche Figuren heute so schnell selbst verächtlich machen
wie in keiner Generation vorher. Frankfurts Oberbürgermeister Feldmann, der selbst nach
einer Korruptionsanklage im Amt bleibt und sich darin so kasperhaft aufführt, dass selbst
seine Partei ihn mittlerweile am liebsten per Falltür verschwinden lassen möchte, ist eine
vergleichsweise kleine Funzel in der Klasse der Würdelosen.
Warum sollte jemand eine Abgeordnete wie Emilia Fester nicht verachten, die in ihrer
ersten Rede vor dem Bundestag gleich zwei Lügen unterbrachte und es außerdem als
ihre Aufgabe sieht, in und vor dem Parlament Tänze aufzuführen, das Ergebnis ins Netz
zu stellen, wobei sie auf nichtgefällige Kommentare lauert, die es ihr wiederum erlauben,
sich als Opfer mit 10012,89 Euro monatlicher Entschädigung darzustellen?
Bei Claudia Roth genügen eigentlich schon ihr halbnackter und nicht nur von sich selbst
berauschter Auftritt vor der Kamera von 2008 („die Türkei ist meine Freundin“) und ihr
Mitwackeln in einem „Deutschland du mieses Stück Scheiße“-Aufmarsch, um sie zu
verachten. Da helfen auch alle Bundestagsvizepräsidentinnen- und
Staatsministerinnentitel nichts. Wie man in der Türkei jedenfalls so ähnlich sagt: „Geht
eine Öchsin in den Palast, wird nicht die Öchsin zur Königin, sondern der Palast zum
Stall“. Jeder kann Claudia Roth natürlich ästimieren und es im Übrigen auch in Ordnung
finden, dass diese ausgepichte Menschenwürdedröhnerin und
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Gefühlsbewirtschafterin sich an der antisemitischen Propaganda bei der Documenta
in Kassel offenbar nicht stört. Aber keine, wirklich keine Macht der Welt kann einen
Bürger dazu zwingen, diese Politikerin zu achten.
Und wenn die Welt voller Kahanes und Haldenwangs wäre. Warum sollte jemand einen
Bundesgesundheitsminister achten, über dessen Lügen und Verdrehungen niemand
mehr den Überblick hat? Und warum eine Bundestagspräsidentin, die es kürzlich
angemessen fand, ein TikTok-Video zu senden, in dem sie mit quäkiger Stimme ein
Kinderlied singt?
Warum soll jemand der grünen Fraktionschefin im bayerischen Landtag mehr als höfliche
Verachtung entgegenbringen, die Bürger über Verzicht belehrt, selbst zum Eisessen nach
Kalifornien düst und unmittelbar nach einem islamistischen Anschlag in Frankreich
hampelnd, zwinkernd, dauerbelustigt und augenscheinlich nicht nüchtern ihr
Maßnahmenpaket bewirbt, in dem so „tolle Sachen“ (Schulze) wie Prävention
drinstehen?
Welchen Grund hätte jemand, einer Luisa Neubauer – auch sie ist ja eine
Repräsentantin, und wie – Achtung entgegenzubringen, die als höhere Hamburger
Tochter nicht so wohlgeborenen Mitbürgern empfiehlt, die Erwerbsarbeit am besten
bleiben zu lassen, falls sie nicht ihre moralischen Ansprüche erfüllt?
„Würde“, um einmal Karl Kraus zu zitieren, der heute ein Sonderfall für den
Verfassungsschutz wäre, „ist die konditionale Form von dem, was einer ist.“
Niemand kann behaupten, dass diese Regeln besonders schwer einzuhalten wären. In
aller Kürze: Benehmen Sie sich. Dann klappt es wahrscheinlich auch mit der Achtung.
Wenn es dem Verfassungsschutz tatsächlich um die Bekämpfung von
Verächtlichmachung ginge, dann müssten die Mitarbeiter des Amtes zuallererst die oben
genannten Repräsentanten (und noch eine ganze Reihe mehr) ins Gebet nehmen, um
ihnen die ebenfalls oben aufgeführten Regeln nahezubringen. Bei der Polizei heißt so
etwas „normverdeutlichendes Gespräch“ beziehungsweise Gefährderansprache.
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Und nun zu dem Vertrauen in das System, den Staat und seine Institutionen. Das,
geehrte und manchmal nicht geehrte Repräsentanten, liegt in Ihren Händen. Und zwar
ausschließlich. Gewiss, es sind die Bürger, die das Vertrauen entgegenbringen sollen.
Aber es verhält sich damit wie mit der Liebe: Niemand kann Vertrauen erzwingen,
sondern nur dafür werben. Das dauert; you can’t hurry trust, no you just have to wait,
während die Vertrauensabwrackung ziemlich schnell geht. Auch hier genügt es, einige
Punkte herauszugreifen.
Wenn Politiker Sparer von der neuen Währung mit dem Versprechen überzeugen, kein
Euroland müsste für die Schulden eines anderen haften, um dann das genaue Gegenteil
zu praktizieren, wenn sie behaupten, eine Inflation käme nie, und wenn, dann würde sie
auch schnell wieder verschwinden, und dann zusehen, wie sie auf eine Rekordhöhe
steigt, wenn sie erzählen, der Umbau des Energiesystems werde nur eine Kugel Eis
kosten, wenn sie seit mittlerweile Jahrzehnten vor jeder Wahl eine durchgreifende
Steuerreform zur Entlastung versprechen, und dann jedesmal finden, jetzt wäre aber
nicht der richtige Zeitpunkt, wenn sie wider besseres Wissen die Einwanderung
hunderttausender Fachkräfte und neues Wirtschaftswunder versprechen, wenn sie vor
der Wahl entrüstet beteuern, es sei keine Impfpflicht geplant, niemals, und dann genau
diese Impfpflicht mit fadenscheinigsten Argumenten durch den Bundestag zu tricksen
versuchen – dann leidet tatsächlich nicht nur das Vertrauen in einzelne Politiker, sondern
in ganze Institutionen.
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Welchen Grund hätten die Berliner, den Amtsträgern noch ein Fitzelchen Vertrauen
entgegenzubringen? Weg ist weg. Andere und Bessere können nur neu beginnen, um
wieder etwas Vertrauenskapital zusammenzukratzen.
Es gibt tatsächlich eine Erschütterung der Institutionen und eine Delegitimierung des
Staates. Soweit liegt der Verfassungsschutz schon richtig. Die Delegitimierer sitzen
allerdings in den Ämtern. Und alles, was ihnen offenbar dazu einfällt, ist ein Ruf nach
mehr Zusammenhalt, neuerdings verbunden mit der Idee, Bürger sollten diesem Staat
mehr dienen (vorgetragen von der gleichen Innenministerin nebenbei, die Bürgern bei
“Hass und Hetze“ mit der Polizei droht und ihnen den Heimatbegriff umdeuten will).
Außerdem fällt ihnen ein, immer neue Millionen an die staatlich alimentierte
Stichwortgeber zu schleusen, die berühmte Zivilgesellschaft. Und als neueste Idee die
Indienstnahme des Verfassungsschutzes, der das alte
Deliktfeld Verächtlichmachung wiederbelebt. Das alles läuft zu einem Projekt zusammen:
Delegitimierung des Bürgers. Die Umrisse eines Funktionärsstaates treten immer
deutlicher hervor, in dem Amtsinhaber, flankiert von Medien am Missionsriemen, NGOs
und neuerdings auch Geheimdienstlern den Bürgern mitteilen, wie weit ihre Kritik zu
gehen hat.
9/11
Auf der Internetkonferenz Republica in Berlin sprach Bundeskanzler Olaf Scholz vor ein
paar Tagen über öffentliche Meinungsäußerung. Dabei eröffnete er eine bemerkenswerte
Kategorie, nämlich die Meinungsäußerung im Graubereich unterhalb der
Strafbarkeitsschwelle. Natürlich unterscheidet sich die Bundesrepublik dieser Tage immer
noch trotz aller spukhafter Fernwirkung (Einstein) von der DDR. Die Zitate und
Dokumente weiter oben machen das hoffentlich deutlich. Aber die Richtung, in die große
Teile der politisch-medialen Klasse die Gesellschaft treiben möchten, lässt sich kaum
mehr ignorieren, es sei denn, jemand gibt sich viel Mühe: In dem transformierten Land
sollen die Bürger den Amtsträgern verantwortlich sein. Die Amtsträger ihrerseits
überlegen sehr genau, wem sie da unten überhaupt noch Vertrauen schenken. Näheres
regeln Zivilgesellschaft und Verfassungsschutz.
Neben der oben angeregten kleinen Vergleichsstudie zum Kaiserreich sollten sich
Haldenwang und zumindest die Bundesinnenministerin noch eine andere und historisch
viel naheliegendere Lektüre vornehmen, nämlich den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 28. November 2011 (1 BvR 917/09) zur
Meinungsfreiheit. Das Gericht stellt darin fest, dass Meinungen generell durch Artikel 5
des Grundgesetzes geschützt sind, „ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als
wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational
sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden.
Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert
werden. Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der
Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf
die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt.“
Die Grenzen von Artikel 5 – dem Garant der Meinungsfreiheit – zogen die Richter
ausdrücklich deshalb so weit, weil er ihrer Ansicht nach besonders die „Machtkritik“
schützt.
Aus dem Beschluss von damals spricht die Klugheit, dass gerade derjenige am ehesten
Zustimmung findet, der sie weder erzwingt noch mit moralisierenden Vorhaltungen
abfordert. Es sind nicht nur Feinheiten, die zwischen dem Beschluss von 2011 und dem
Verfassungsschutzbericht von 2022 liegen. Beide Texte stehen jeweils für völlig
unterschiedliche Auffassungen von Gesellschaft. Obwohl sie beide aus der späten
Bundesrepublik stammen und nur elf Jahre auseinanderliegen, führt keine Brücke mehr
von hier nach dort.
In einem Interview mit der Plattform „Gesichter der Demokratie“ skizzierte die oben schon
einmal erwähnte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, immerhin nach dem Grundgesetz
die zweithöchste Repräsentantin des Staates, wie sie Demokratie versteht, die Leute wie
sie auch gern als „unsere Demokratie“ bezeichnet:
„Unsere Demokratie überträgt den Bürgerinnen und Bürgern aber auch Verantwortung für
ihr Gemeinwesen und ermöglicht ihnen Teilhabe und Mitsprache.“
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Das drückt so ziemlich das Gegenteil des Grundgesetzes und überhaupt des
Bürgergedankens aus, zum anderen aber den Kern der wohlwollenden
Funktionärsherrschaft: Der Bürger besitzt nicht mehr Grundrechte, also Abwehrrechte
gegen den Staat, und beleiht nicht mehr Mandatsträger auf Zeit mit etwas Macht.
Sondern andere übertragen ihm ein bisschen Teilhabe und Mitsprache. Allerdings nur,
wenn der Bürger bestenfalls konstruktive Kritik übt, mitmacht, „Institutionen des Staates
und ihren Entscheidungen“ (Verfassungsschutzbericht) praktisch einen Blankoscheck
ausstellt und überhaupt darauf vertraut, dass Amtsinhaber schon das Richtige tun. So
lautet mehr oder weniger auch schon der Kernsatz des Bundesverfassungsgerichtsurteils
zu den staatlichen Corona-Maßnahmen: Der Staat wird es schon wissen.
An den Bürger des neuen Typs ergeht die Aufforderung, den staatlichen und politischen
Betrieb gefälligst nicht zu stören. Beziehungsweise zu beeinträchtigen.
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