Fantastik
Viktorianische Ära
Worum es geht
Ein Märchen mit Tiefgang
Lewis Carrolls Erzählung Alice im Wunderland kann als Gegenentwurf zur viktorianischen
Gesellschaft mit ihren rigiden Konventionen gelesen werden. Das Buch leuchtet eine Welt aus, in
der ein Kind sich allein seinen Weg durch das Leben bahnen muss, weit weg von allen
erzieherischen Normen. Mithilfe der wundersamen Erlebnisse der kleinen Alice widerlegt Lewis
Carroll die Vorstellung seiner Zeit, die Welt der Erwachsenen mit ihren (z. T. fragwürdigen)
moralischen Prinzipien sei das Modell, dem auch die Welt der Kinder angepasst werden müsste.
Alices Traumwelt ist weder ideal, noch ist sie frei von Gefahren. Doch die junge Heldin meistert
alle Herausforderungen aufgrund ihrer Unvoreingenommenheit und ihres eigenen, zwar kindlichen,
aber unverstellten Urteilsvermögens. Carroll „rehabilitiert“ so das Kind als vollwertiges Mitglied
der Gesellschaft und als eigenständiges Individuum. Das Mädchen enthüllt in seiner direkten,
unbekümmerten Art schonungslos die Egoismen, Lebensängste und Gewalttätigkeiten erwachsener
Menschen. Carrolls Gesellschaftskritik versteckt sich in der überbordenden Fantastik und
Absurdität des Geschehens, die ihresgleichen sucht und Alice im Wunderland auch heute noch eine
breite Leserschaft in allen Kulturkreisen sichert.
Take-aways
Alice im Wunderland aus dem Jahr 1865 gilt als erfolgreichstes britisches Kinderbuch – immer
noch vor Harry Potter.
Carroll verband die literarische Tradition des Märchens mit der Absurdität der Nonsens-Literatur,
die Mitte des 19. Jahrhunderts in England salonfähig wurde.
Die kleine Alice folgt im Traum einem weißen Kaninchen in dessen Bau und gerät in ein
unterirdisches Wunderland.
Merkwürdige Wesen und Fabeltiere – der verrückte Hutmacher, die grinsende Katze, die hässliche
Herzogin, die Suppenschildkröte, sprechende Spielkarten samt ihrer Königin und viele andere –
leben in dieser Traumwelt nach ihrer eigenen Unsinnslogik.
Die Bewohner des Wunderlands lassen keine Gelegenheit aus, Alice zu kritisieren, und benehmen
sich ihr gegenüber ziemlich feindselig.
Bei einem Krocketspiel zwischen der Herzogin und der Spielkartenkönigin dienen lebende
Flamingos als Schläger und zusammengerollte Igel als Bälle.
Die autoritäre Königin will alle, die ihr widersprechen, enthaupten lassen.
Die zauberhafte Welt bewegt sich für Alice bisweilen am Rand eines Albtraums.
Dem um Ausgleich bemühten Mädchen gelingt es oft, seine Konflikte mit den Wesen der
Wunderwelt resolut und intelligent zu regeln.
Als am Ende eine Gerichtsverhandlung zur Farce zu geraten droht, tritt Alice mutig für den
angeklagten Herzbuben ein und rettet ihm das Leben.
Die französischen Surrealisten sahen in Carrolls Schreibweise die Artikulation eines von
Konventionen befreiten Unterbewusstseins.
Die Disney-Verfilmung aus dem Jahr 1951 überbetont die idyllischen und niedlichen Aspekte der
Geschichte und bestimmt bis heute das weichgezeichnete Bild vom Wunderland in den Köpfen der
Menschen.
Zusammenfassung
Alice folgt dem weißen Kaninchen
An einem schönen Sommertag sitzt die kleine Alice mit ihrer Schwester am Bachufer unter einem
Baum und langweilt sich. Da läuft plötzlich ein weißes Kaninchen mit roten Augen vorüber.
Aufgeregt zieht das kleine Tier eine Uhr aus der Westentasche und murmelt vor sich hin, dass es
nun wohl zu spät komme. Neugierig springt Alice auf, denn sie hat noch nie ein Kaninchen
gesehen, das eine Weste trägt und noch dazu eine Uhr besitzt. Alice läuft hinter dem Tier her, bis es
in einem Erdloch verschwindet. Neugierig zwängt sich auch das Mädchen in den Bau hinein und
fällt durch einen langen Schacht. Alice hat das Gefühl, dass der Sturz eine kleine Ewigkeit dauert,
und sie glaubt, dass sie wohl auf der anderen Seite der Erde ankommen wird, wo die Menschen
ihrer Meinung nach mit den Köpfen nach unten laufen. Schließlich landet Alice in einem langen
Flur, an dessen Wänden sich viele kleine Türen befinden. Auf einem Glastisch entdeckt sie einen
goldenen Schlüssel. Der öffnet eine der Türen: Sie führt in einen Tunnel, an dessen Ende Alice
einen zauberhaften Garten erblickt. Es zeigt sich jedoch, dass Alice zu groß ist, um den Garten
durch die Tür betreten zu können.
Trockenübung an Land
Alice gelingt es, sich einen der Handschuhe des Kaninchens überzustreifen. Sie ist also
offensichtlich wieder kleiner geworden. Schnell will sie die Gunst des Augenblicks nutzen und auf
den Eingang des Gartens zulaufen – aber sie befindet sich ja inmitten des Sees ihrer eigenen
Tränen! Sie beginnt zu schwimmen. Als sie sich umschaut, merkt sie, dass viele Tiere ins Wasser
gefallen sind und hinter ihr herschwimmen. Als Alice und die Tiere an Land zurückgeklettert sind,
kommt die Frage auf, wie die Tiere wieder trocken werden können. Eine Maus glaubt eine Lösung
zu haben: Nur eine von ihr erzählte Geschichte könne alle Tiere trocknen, behauptet sie. Aber ihre
Geschichte erweist sich als zu kompliziert. Die Tiere langweilen sich, und bald ist ihnen auch kalt.
Da schlägt die Dronte, ein Riesenvogel, einen sonderbaren Wettlauf vor: Alle laufen, wohin sie
wollen. Nachdem alle in verschiedene Richtungen gelaufen und tatsächlich trocken geworden sind,
stellt sich die Frage, wer denn den Wettlauf eigentlich gewonnen hat. Man kommt zum Schluss,
dass alle gewonnen haben. Jeder soll einen Preis bekommen, und Alice wird von den Tieren
aufgefordert, die Preise zu übergeben. Zum Glück findet sie in einer ihrer Taschen alte Bonbons,
und sie hat auch tatsächlich so viele davon, dass jedes Tier einen Preis bekommt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Alice im Wunderland ist ein munter drauflosfabuliertes Buch, das die Abenteuer der kleinen Alice
in zwölf Kapiteln aneinanderreiht. Jedes Kapitel wird mit einer Zeichnung des berühmten
Illustrators und Karikaturisten John Tenniel eingeleitet. Der Erzählfluss wird immer wieder durch
Nonsens-Gedichte und -Lieder unterbrochen, von denen eins auch ideogrammatisch dargestellt
wird: Der Text der von der Maus erzählten „weitschweifigen“ Geschichte zieht sich tatsächlich wie
ein Mausschweif in wellenförmigen Bewegungen über die Buchseite.
Interpretationsansätze
Lewis Carroll versteckt Gesellschaftskritik im Märchen: Die skurrilen Gestalten des Wunderlands
reflektieren mit ihrer übertriebenen Prinzipientreue und ihren von jeglichem Selbstzweifel befreiten
Gesten und Worten typische Verhaltensmuster der Erwachsenenwelt.
Alice im Wunderland kann als eine Parabel auf den Erziehungsnotstand im 19. Jahrhundert gelesen
werden, der im Wesentlichen auf einer weit verbreiteten Autoritätsgläubigkeit begründet war.
Alices Schulbildung hilft ihr zwar, viele Überzeugungen der skurrilen Wunderlandbewohner als
falsch zu entlarven. Doch eigentlich ist es weniger das in der Schule Gelernte als vielmehr die
Unvoreingenommenheit der kindlichen Heldin, ihre Bereitschaft, sich vorurteilsfrei auf Neues
einzulassen, die sie mit heiler Haut ihre Abenteuer bestehen lässt.
Die seitens der Wunderlandbewohner immer wieder geäußerte Frage nach Alices Identität, deren
Beantwortung Alice solche Schwierigkeiten bereitet, ist sehr bedeutsam. Sie belegt, dass Herkunft
und Ansehen eines Menschen oft als wichtiger gelten als Charakter und Kompetenz.
Die Erzählung ist immer wieder psychoanalytisch gedeutet worden – nicht zuletzt auch vor dem
Hintergrund der offenbaren Vorliebe des Autors Lewis Carroll für junge Mädchen.
Historischer Hintergrund
Die rigiden Wertmaßstäbe der Viktorianischen Zeit
Lewis Carrolls Alice im Wunderland erschien 1865 mitten in der knapp 70-jährigen Regierungszeit
(1837–1901) der sittenstrengen und religiösen Königin Victoria. In scharfem Kontrast zu den
offiziell verkündeten moralischen und religiösen Standards stand jedoch die Lebenswirklichkeit:
Viele Kinder des Industrieproletariats mussten z. B. schon als Zehnjährige in den Fabriken und
Bergwerken arbeiten. Von Charles Dickens, dem berühmten Zeitgenossen Lewis Carrolls, stammt
der Satz, den Engländern lägen ihre Pferde mehr am Herzen als ihre Kinder. Das englische
Bürgertum erzog seinen Nachwuchs mit harter Hand. So wurde im 19. Jahrhundert die Prügelstrafe
in der Schule mehrfach verschärft. Nicht selten verstießen Familien ihre Kinder, wenn deren
Werdegang nicht ihren Erwartungen entsprach, und schickten sie in die britischen Kolonien. Die
Sozialpädagogik des Philosophen Jeremy Bentham drückte der Zeit ihren Stempel auf. Benthams
utilitaristische, d. h. am Nutzen orientierte Erziehungsprinzipien fanden sowohl in den Familien wie
auch in den Schulen großen Anklang. Das Kind wurde als kleiner Erwachsener betrachtet. Da blieb
kein Platz mehr für die Förderung von Fantasie, Kreativität oder Spieltrieb. Im Viktorianischen
Zeitalter vollzog sich in den Augen von Lewis Carroll keine moralische Verbesserung der
englischen Gesellschaft, im Gegenteil: Carroll fürchtete, dass die Erziehung den Kindern eher
schadete als nutzte.
Entstehung
Lewis Carroll erzählte die Wunderland-Geschichte der zehnjährigen Alice Liddell, der Tochter
seines Vorgesetzten am College, während einer sommerlichen Bootsfahrt im Jahr 1862. Wenige
Tage später entschloss er sich, die Geschichte aufzuschreiben und sie Alice zu schenken. So
entstand zwar eine erste Fassung, die jedoch nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Erst drei
Jahre später kam es zur Publikation, nachdem einige Bekannte den Autor dazu überreden konnten.
Die übrige viktorianische Kinderliteratur erschien oft betulich, tendierte zum Kitsch und wirkte
durch die vielen lehrreichen Sinnsprüche sehr didaktisch. In Alice im Wunderland machte Carroll
diese didaktische Tendenz lächerlich, indem er Situationen erfand, für die es in der realen Welt
keine Entsprechung gibt. Carroll positionierte den Text somit in der Bewegung der Nonsens-
Literatur. Zur ihr gehören Texte, die ihre komische Wirkung nicht so sehr aus Witz, Humor und
Ironie, sondern aus reiner Absurdität, oft auch aus sprachlichen Klangeffekten ziehen. Als
historisches Vorbild für die Nonsens-Literatur galt die Sprache der Narrenfiguren aus Shakespeares
Dramen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erschien der Nonsens als selbstständige literarische Form.
Begründet wurde diese u. a. durch den Dichter Edward Lear, von dem auch viele Limericks
(scherzhafte, fünfzeilige Gedichte) bekannt sind.
Wirkungsgeschichte
Alice im Wunderland war ein unglaublicher Erfolg beschieden. Man schätzt, dass bis 1870, also
allein in den ersten fünf Jahren nach Erscheinen, weltweit bereits 15 000 Bücher verkauft wurden.
Ein einzigartiger Erfolg in der europäischen Literatur, der nicht zuletzt auch die damalige kulturelle
Dominanz des britischen Empire verdeutlicht. Kurz nach Erscheinen der Originalausgabe lagen
bereits Übersetzungen in fast allen europäischen Sprachen vor. Unter dem Einfluss der
zeitgenössischen Illustrationen des englischen Malers John Tenniel wurden jahrzehntelang vor
allem die idyllischen Facetten der Geschichte hervorgehoben. Im 20. Jahrhundert begannen dann
ihre monströsen und absurden Seiten zunehmend die – meist psychoanalytischen – Interpreten zu
beschäftigen. Die Surrealisten waren von Alice fasziniert, weil sie in Carrolls Schreibweise ein sich
frei artikulierendes Unterbewusstsein zu erkennen glaubten. Auch James Joyce bezog sich in
Finnegans Wake auf Lewis Carroll. Als in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Einnahme
leichter Drogen salonfähig wurde, verwiesen die Befürworter der Liberalisierung des
Drogenkonsums auf Alice im Wunderland: Alices Abenteuer wurden als halluzinierte Drogenvision
interpretiert. Immerhin knabbere das Mädchen ja ständig an einem mysteriösen Pilz, war eines der
häufigsten Argumente.
1871 veröffentlichte Carroll eine Fortsetzung der Geschichte, die bereits ein Jahr später als Hinter
dem Spiegel auf Deutsch vorlag. Das erzählerische Prinzip bleibt dasselbe. Allerdings ist die
Wunderwelt nun noch rätselhafter als in Alice im Wunderland. Viele sehen in der Fortsetzung ein
Buch, das sich vor allem an Erwachsene wendet. 1886 räumte Carroll seinem Schriftstellerkollegen
Savile Clarke das Recht ein, eine Bühnenfassung der Geschichte von Alice im Wunderland
anzufertigen, die bis heute in rund 20 Sprachen übersetzt wurde und immer noch auf den
Weihnachtsspielplänen vieler Theater zu finden ist. Die Zeichentrickverfilmung durch die Disney-
Studios aus dem Jahr 1951 versuchte an den großen Erfolg von Disneys Schneewittchen
unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs anzuknüpfen und zeigte eine im Buch nur selten
vorhandene, gleichsam märchenhafte Harmonie zwischen Alice und den Figuren des Wunderlands.
Nichtsdestoweniger gehört diese Verfilmung zu den zehn erfolgreichsten Disney-Adaptionen des
20. Jahrhunderts. Alice im Wunderland zählt bis heute zu den in der angelsächsischen Öffentlichkeit
meistzitierten literarischen Texten. Selbst noch in dem Science-Fiction-Film Matrix (1999) findet
sich eine Anspielung auf das weiße Kaninchen aus Alice.