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Krankheitstypische Gegen�bertragungsreaktionen
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Störungen zur Unterstützung und Förderung der Integration in die Arbeits- und Sozialwelt Interpersonal Integrative Model Project for
Refugees (IIMPFR): An Intercultural Short-Term Psychotherapy Program for Refugees with Mental Disorders for the Treatment of Mental
Disorders and the Support of the Integration into the Social and Working Environment View project
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Krankheitstypische
Gegenübertragungs-
reaktionen
der sich bereits in den ersten Wochen ei- wie dem selbstverletzenden Verhalten und peuten auf Distanz zu halten und ihn zu
ner Behandlung herausbildet und im Fort- der posttraumatischen Belastungsstö- kontrollieren, können sich beim Thera-
gang der Therapie noch an Deutlichkeit rung, vorstellen. Die Beschreibung von peuten Gefühle der Verärgerung oder
gewinnt.Im psychoanalytischen Verständ- klinisch relevantem typischem Erleben auch der Hilflosigkeit bemerkbar machen.
nis werden die unbewussten Anteile der kann natürlich nicht die Analyse der indi-
Gegenübertragung betont.Demgegenüber viduellen komplexen Zusammenhänge Depression
geht die interpersonelle Theorie davon von Therapie,Setting,Patient und Thera-
aus, dass generalisierbare Muster von peut ersetzen. Depressive Patienten erzeugen im thera-
emotionalem Einfluss und interpersonel- peutischen Gegenüber oftmals Impulse
len Reaktionen,die in vergleichbarer Wei- Gegenübertragungsreaktionen zu helfen, zu versorgen oder zu beschüt-
se von Therapeuten wie auch von den be- bei neurotischen Störungen zen,besonders,wenn es sich um Patienten
deutenden Bezugspersonen eines Patien- handelt,die in gesunden Zeiten meist zu-
ten erlebt werden, als „objektive“ Gegen- Angststörungen verlässig und hilfsbereit, leistungswillig
übertragung (Kiesler 2001) beschrieben und sozial engagiert erscheinen.Der The-
werden können. Dieses Konzept konnte Angst ist ein verbreitetes Symptom bei rapeut fühlt sich zu hohem Engagement
allerdings in einer Studie aus jüngster Zeit unterschiedlichen psychischen Störun- und großer Aktivität veranlasst.Wenn es
(Hafkenscheid 2003) nur eine partielle Be- gen.Wo „Angst“ als Symptom im Vorder- sich um eine neurotisch-konflikthaft be-
stätigung erfahren. Insgesamt erscheint grund steht,hat diese ihre psychologische dingte Depressivität handelt,werden – we-
die empirische Forschung zu Gegenüber- Signalfunktion verloren. Dies ist meist gen der Einwirkung unbewusster Strafim-
tragungsphänomenen weiterhin noch als dann der Fall,wenn die Angstsymptoma- pulse – solche Bemühungen in der Regel
lückenhaft. Dies hängt nicht so sehr mit tik vor dem Hintergrund gestörter Ich- wenig bewirken. In diesen Fällen können
der prinzipiellen Unzugänglichkeit des funktionen oder ausgeprägt pathologi- im Therapeuten Schuldgefühle und In-
Forschungsgegenstandes oder mit dem scher Objektbeziehung zu Stande kommt. suffizienzgefühle entstehen,mit Übernah-
Fehlen adäquater Methodik zusammen, Im Patienten entsteht dann mit seinen hil- me der Selbstvorwürfe des Patienten.Die
sondern möglicherweise eher damit,dass fesuchenden,anklammernden Anteilen – selbstquälerische Seite des depressiven
Psychotherapeuten sich hier, wie auch in sehr ausgeprägt bei der Angstneurose,wie Patienten, seine Selbstentwertung und
anderen Bereichen,nicht gerne selbst zum sie z. B. Herzangstneurotiker entwickeln -verachtung sowie masochistisch anmu-
Gegenstand der forschenden Beobach- (König 1993), – der Wunsch, den Thera- tende Tendenz zur Selbstbestrafung und
tung machen. Im Folgenden wird ein peuten in der Funktion eines mächtigen -beschädigung stellen zum einen große
Überblick über einige ausgewählte,in der und idealisierten Objekts fest zu halten. Anforderungen an die Tragfähigkeit des
Praxis häufige Krankheitsbilder mit ih- Gleichzeitig besteht jedoch beim Patien- Therapeuten (Rudolf 2000, S. 180), zum
ren in der Literatur immer wieder be- ten die starke misstrauische Befürchtung, anderen ist es vielfach auch nötig, dem
schriebenen Gegenübertragungen gege- der Therapeut werde diesem Ideal nicht hierin verborgenen aggressiven Anteil
ben. Hiermit soll dem Therapeuten eine entsprechen. In der Gegenübertragung durch konsequente demonstrierende und
diagnostische Hilfe für die tägliche Arbeit können diese Einstellung und die Angst- klärende Interventionen zu begegnen.
an die Hand gegeben werden. Natürlich symptomatik zu Impulsen führen,den Pa- Mitunter können auch die übergroße Be-
kann das bei den einzelnen Krankheits- tienten schonen oder schützen zu wollen; ziehungssensibilität und Sanftheit von De-
bildern vorgestellte Gegenübertragungs- typischerweise wird dies aber im Verlauf pressiven heftige Gegenübertragungsre-
erleben nur als Leitidee gelten, die ver- von Aggressionen abgelöst, wenn der Pa- aktionen auslösen. Der Therapeut kann
sucht das für die jeweiligen Störungen tient zu hohe Ansprüche an den Thera- den Impuls haben, den Patienten fester
Prototypische (Rosch 1978) zu erfassen, peuten als umfassend verfügbares Objekt anzufassen,„abzuhärten“,konfrontations-
das aber immer nur in jeweils konkreten stellt.Manche Angstpatienten neigen auch freudiger zu machen. Da diese Impulse
Formen existiert, die sich mehr oder we- dazu, ihre Angst nicht mit Vermeidungs- natürlich nicht agiert werden,kann es im
niger vom Prototypischen unterscheiden. verhalten zu beantworten, sondern mit Therapeuten dann zu Schuldgefühlen we-
Die von uns vorgenommene Auswahl er- manchmal unüberlegt und impulsiv er- gen seiner „ungebührlichen“ Aktivitäts-
hebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, scheinender,forcierter Aktivität zu über- und Aggressivitätsmotivation kommen
sondern bedingt sich aus den folgenden tönen. Eine Form solcher Aktivität kann (Ahrens 1997, S. 278). Besonders heftig
Umständen:Vorgestellt werden die unse- beispielsweise ein kontraphobischer Rede- kann die Gegenübertragung bei präsui-
res persönlichen Wissens und unserer per- schwall sein. Hier kann es der Therapeut zidalen oder suizidalen Patienten sein.
sönlichen Recherche nach am häufigsten zunächst durchaus als angenehm empfin- Hier kann sich der Therapeut in seinen
beschriebenen Krankheitsbilder, einge- den,zuzuhören.In dem Maße,in dem ihm eigenen Ängsten und Selbstwertproble-
grenzt nach Kriterien klinischer Relevanz. jedoch deutlich wird, dass die forcierte men bis hin zur Manifestation eigener To-
Zudem haben wir uns um Aktualität be- Aktivität des Patienten diesem dazu dient, desgedanken herausgefordert fühlen.Ta-
müht,indem wir Gegenübertragungsreak- ein Sich-Einlassen auf die Therapie, das bachnick (1961) spricht hier von einer Ge-
tionen von sich gegenwärtig in der Dis- Bearbeiten von wichtigen Themen zu ver- genübertragungskrise: Der Therapeut
kussion befindlichen Krankheitsbildern, hindern, dass es darum geht, den Thera- kann aus eigenen,zunächst unbewussten
muss, kann sich Fortschritt einstellen. In nösen Angeboten des Patienten verfüh- kennzeichnet.Ihr emotionales Leben tritt
der Gegenübertragung können sich dann ren ließ und dann von diesem zurückge- daher oft in Form körperlicher Befind-
heftige aggressive und sadistische Gefüh- wiesen oder allein gelassen wird. Es soll- lichkeiten und ihrer Störungen zu Tage;
le oder Impulse einstellen (Lang 1998). te hier deutlich gemacht werden, dass, diese körperlichen Symptome werden von
Dies kann zu einem Macht-Ohnmacht- wenn von „Verführung“ gesprochen wird, den Patienten typischerweise auch in den
Spiel führen,z.B.wenn ein Therapeut auf- es nicht um eine Verführung geht,die bei- Behandlungsmittelpunkt gestellt.Der kör-
grund einer unzureichend verstandenen spielsweise zu körperlichen Zärtlichkei- perliche Ausdruck von ursprünglich Emo-
und aggressiven Gegenübertragung dem ten führt. Sich in dieser Weise verführen tionalem kann unterschiedlich erfolgen,je
Patienten unnötig barsch,streng oder ver- zu lassen, wäre zweifelsohne eine Über- nach Strukturniveau der Störung.Psycho-
nachlässigend begegnet. schreitung berufsethischer Grenzen, die somatisch Kranke stellen eine Form der
zu Recht strafbewehrt ist. Die „Verfüh- Objektbeziehung her,die vom Therapeu-
Hysterie rung“, die hier angesprochen ist, besteht ten einen spezifischen Umgang mit sei-
demgegenüber vor allem darin, dass sich ner Gegenübertragung erfordert: Oft ver-
Hysterische Symptombildung wird in der ein Therapeut zu Beziehungsphantasien langen Patienten vom Therapeuten eine
Literatur oft als vielgestaltig, bunt und verführen lässt, die von Gedanken über uneingeschränkte Aufmerksamkeit, ihre
schillernd beschrieben; der kognitive Stil lustvolle Gemeinsamkeit bestimmt sind. Symptomatik betreffend.Tatsächlich steht
von hysterischen Patienten wird als „im- Im Falle der hysterischen Persönlichkeiten die Störung der Beziehung zwischen Be-
pressionistisch“ (Shapiro 1991) und ori- würde ein solches Sich-Verführen-Lassen handler und Patient oft geradezu im Mit-
entiert am unmittelbar Beeindruckenden übersehen, dass das Anliegen des Patien- telpunkt; in der Regel entzündet sie sich an
beschrieben. In der älteren psychiatri- ten ja nicht ein Erwachsen-Sexuelles ist, der früher oder später auftretenden Dis-
schen Literatur wurden hysterische Pati- sondern dass es vielmehr um die Siche- krepanz in den jeweiligen Ursachenüber-
enten oft auch als „unnatürlich“ oder „un- rung einer Halt gebenden, quasi „elterli- zeugungen: Der Behandler, initial oft ein
echt“ beschrieben (Rümke 1935).Diese Art chen“ Beziehung geht. Grund für diese somatisch tätiger Arzt,vermutet nach feh-
der Präsentation dient aus einer psycho- Enttäuschung kann auch das vorangegan- lendem Nachweis organischer Erklärun-
dynamischen Sicht dazu,sich des Gegen- gene Sich-Einlassen auf die Idealisierung gen psychogene Ursachen, der Patient
übers in der Beziehung zu versichern, in- sein und das anschließende Gefühl „da- nimmt weiter organische Ursachen an,
dem man ihm zu gefallen sucht. Sofern rauf hineingefallen sein“ (Küchenhoff weil nur diese für ihn eine Legitimierung
dieses unbewusste Anliegen nicht wahrge- 2000,S.245).Hysterische Störungen sind seiner Beschwerden bedeuten. Wenn der
nommen wird, können diese Patienten immer auch durch eine Veränderung des Behandler, um dem sich in der Gegen-
aufgrund der vom Therapeuten so erleb- „Selbst-Systems“ gekennzeichnet (Ment- übertragung einstellenden Gefühl der Ver-
ten Vagheit,„Unreife“ und Ungenauigkeit zos 1991), und die Reflektion der hysteri- geblichkeit und dem daraus folgenden Är-
oder der „konfus inszenierten“ Sympto- schen Verführungsbereitschaft hilft, die ger zu entgehen, immer wieder erneut
matik leicht Unmut, also Verärgerung, enormen Ich-Ideal-Probleme hysterischer eine beschwerdegesteuerte organische Di-
wachrufen (vgl.Carp 1971).In spezifische- Patienten zu erkennen. Durch deren Nei- agnostik durchführt,so trägt dies wesent-
rer Weise ist dieses Erleben von Haas gung, es dem Therapeuten „recht ma- lich zur Chronifizierung dieser Patienten
(1988) als „hysteriformes Gegenübertra- chen“, ihm gefallen zu wollen, kann die bei (Henningsen et al. 2002). Die häufi-
gungsgefälle“ beschrieben worden, das Therapie lange Zeit laufen,ohne dass sich gen Arztwechsel („doctor-shopping“) die-
sich zwischen den Polen der verwirren- tatsächlich etwas ändert. Durch die hohe ser Patienten sind in der Regel Folge ei-
den Faszination einerseits und der gereiz- Abwehr- und Verdrängungsneigung ist nes unzureichenden Umgangs mit den
ten Enttäuschung andererseits aufspan- der Therapeut gefordert,sehr taktvoll mit Gegenübertragungsgefühlen des Behand-
ne.Ähnliche Affekte entstehen auch durch seinen Kommentaren umzugehen, um lers (Smith 1995). Wenn es zu einem the-
die unbewusste Technik des Patienten, nicht eine bestehende Abwehr weiter zu rapeutischen Prozess kommt,stellen sich
also die Abwehr, mit der Verschiebung stärken. Berichtet wird auch Verwirrung in der Gegenübertragung oftmals Leere
vom Wesentlichen abzulenken.Diese Ver- und Vernebelung der Wahrnehmung des und Langeweile ein, die auch im Festhal-
schiebung führt dazu,dass mentale Inhal- Therapeuten durch die Neigung zur Emo- ten der Patienten an scheinbarer Konflikt-
te eine unangemessene, zu geringe oder tionalität und Dramatisierung hysteri- losigkeit ihrer Person und ihres Lebens
übersteigerte Bedeutung erhalten; dies scher Patienten. begründet sein mögen; dahinter verber-
kann im Gegenüber Gefühle der Verwir- gen sich Harmoniewünsche und Verleug-
rung, der Ungeduld oder eben auch der Gegenübertragungsreaktionen nung eines möglichen Traumas. Genau-
Verärgerung wachrufen.Nicht selten ent- bei psychosomatischen Störungen so kann aber auch ein im Therapeuten
stehen Verärgerung oder Enttäuschung in entstehender Ärger oder eine Abwehr von
der Gegenübertragung, wenn sich der Somatoforme Störungen Gefühlen, wie Ohnmacht und Hilflosig-
Therapeut in eine unbewusste Inszenie- keit, aber auch von Phantasien der All-
rung einer ödipalen Beziehungsdynamik Patienten mit somatoformen Störungen macht und der magischen Heilungskraft,
involvieren ließ.Dies impliziert,dass sich sind häufig durch eine geringe Fähigkeit zu Gegenübertragungskomplikationen
ein Therapeut, zunächst von den libidi- zur emotionalen Selbstwahrnehmung ge- führen (Haustein 2000).Intensive Gegen-
Wenn sich nach solch einer Vorgeschich- und seine synthetischen Fähigkeiten ver- Gegenübertragungsgefühle und Protest-
te schließlich der Verdacht einer Artefakt- liert (Sachsse 1994,S.53).Ursächlich dafür impulse wecken oder auch Empfindun-
krankheit stellt und erhärtet,so kann eine dürften am ehesten eine Dominanz pro- gen von Langeweile bis hin zur Schläfrig-
aggressive Verurteilung die Folge sein oder jektiv-identifiaktorischer und interaktio- keit, die ihm die Wahrnehmung eigenen
eine prompte Entlassung eines Patienten neller Abwehrvorgänge sein. Das Bezie- Ärgers ersparen.In Reaktion auf eine idea-
aus der Behandlung als eine Form des hungsmuster der dissoziativen Störung lisierende Übertragung kann der Thera-
„Ungeschehenmachens“. Eine besondere ähnelt dem der artifiziellen Störung. In peut das Bedürfnis verspüren, den Pati-
Aufmerksamkeit in der Behandlung von der Gegenübertragung dominiert das Ge- enten vorzeitig und uneinfühlsam darauf
Patienten mit artifiziellen Störungen ver- fühl des Getäuschtwerdens und der Hilf- aufmerksam zu machen, dass er nicht so
dient der Umstand,dass sich manche die- losigkeit; dies kann dann mit einer schnel- grandios ist, wie er vom Patienten gese-
ser Patienten in bestimmten, besonders len Beendigung der Beziehung einherge- hen wird. Ebenso kann er aber auch ver-
krisenhaft zugespitzten Zuständen dem hen. Ähnlichkeiten bestehen zu den Ge- führt werden, eine Idealisierung zu lange
Tod eher verbunden fühlen als dem Le- genübertragungsreaktionen bei trauma- bestehen zu lassen,so dass eine struktur-
ben, d. h. die Vorstellung möglicherweise tisierten Patienten. bildende umwandelnde Verinnerlichung
nicht mehr zu sein,wird als tröstend oder nicht erfolgen kann.Aus unbemerkt und
erlösend empfunden. Dies erfordert eine Gegenübertragungsreaktionen unreflektiert gebliebenem Ärger und
besondere Aufmerksamkeit, sowohl die bei Persönlichkeitsstörungen Kränkungsgefühlen des Therapeuten ent-
in der Gegenübertragung auftretenden stehen nicht selten untergründige, d. h.
Abwehrmechanismen wie auch die Über- Persönlichkeitsstörungen gehören mit ca. vom Therapeuten offen geäußerte, aber
Ich-Analyse betreffend. Retterphantasi- 9% in der Erwachsenenbevölkerung (Sa- unbemerkt bleibende, schädliche Inter-
en, Opferungsbereitschaft und Erhaben- muels et al. 2002) zu den häufigsten psy- aktionsschleifen, die gerade bei narziss-
heitsgefühle gegenüber anderen (Kolle- chischen Störungen. Zu dieser Störungs- tisch gestörten Persönlichkeiten mit dem
gen, Mitmenschen) können sich einstel- gruppe zählen sehr unterschiedliche kli- hohen Risiko eines vorzeitigen Therapie-
len, aber auch übersteigerte Geduld als nische Bilder (s. dazu Tress et al. 2002), abbruchs verbunden sind (Junkert-Tress
Abwehr der tatsächlich entstehenden Ge- denen auch vielfältige Gegenübertra- et al. 2000).
fühle von Aggression und Hoffnungslo- gungsreaktionen entsprechen. Wir be- Wichtig im Umgang mit narzisstischen
sigkeit.Werden die todesorientierten Ten- schränken uns in der vorliegenden Arbeit Persönlichkeitsstörungen sind eine em-
denzen des Patienten jedoch nicht geleug- daher auf eine Auswahl von Persönlich- pathische,verstehende,aber auch respekt-
net, so kann es dem Therapeuten gelin- keitsstörungen, die uns klinisch bedeut- volle Grundhaltung und die Bereitschaft,
gen, Normalität, Realität und Struktur in sam erscheint. die häufig wütende oder auch hilflose Ge-
das therapeutische Geschehen einzubrin- genübertragung zu kontrollieren,d.h.,sie
gen,die auch bezüglich seiner eigenen Po- Narzisstische Persönlichkeitsstörungen auf ihren Stellenwert im therapeutischen
sition stabilisierend wirken können (Wil- Prozess zu untersuchen.Oftmals ist es da-
lenberg 1994).Vorsätzliche Selbstbeschä- Störungen des Narzissmus sind bei un- bei für den Therapeuten hilfreich,sich zu
digungen finden sich oft im Kontext de- terschiedlichen psychogenen Störungen vergegenwärtigen,dass die manchmal un-
pressiver Störungen oder schwerer Per- von Bedeutung. Bei der definitorisch eng erträgliche Grandiosität und Entwer-
sönlichkeitsstörungen. Das Gegenüber- umrissenen narzisstischen Persönlich- tungsneigung der Patienten für diese not-
tragungserleben ist somit v.a. von den zu keitsstörung steht auf Seiten des Patienten wendig ist,um sich vor quälenden Gefüh-
Grunde liegenden Störungen bestimmt. das Bemühen im Vordergrund,eine eige- len der Aussichtslosigkeit und der Scham-
Zu besonderen Gegenübertragungs- ne Selbstidealisierung bei gleichzeitiger angst zu bewahren.
schwierigkeiten können vorsätzliche Entwertung des Gegenübers aufrechtzu-
Selbstbeschädigungen vor allem dann erhalten. Diese Selbstidealisierung steht Borderlinepersönlichkeitsstörungen
führen, wenn sie mehr oder weniger un- dabei in engem Zusammenhang mit Be-
bewusst dazu dienen,ein Gegenüber inter- fürchtungen, in beschämender Weise Für die Behandlung von Borderlinepati-
aktionell zu drangsalieren,zu quälen oder könnte das eigene Ungenügen offenbar enten ist charakteristisch, dass in der Re-
zu bestrafen. Hier kann schnell im The- werden.Häufig kommt es im Kontakt mit gel massive, wechselnde Gegenübertra-
rapeuten die Bereitschaft entstehen, sich diesen Patienten zu heftigen Gegenüber- gungsgefühle auftreten,die oft nur schwer
eines solchen Patienten zu entledigen oder tragungsreaktionen.Kohut (1979) folgend auszuhalten sind.Sie schwanken von Ver-
ihm mit übergroßer Härte zu begegnen. lassen sich zwei Typen charakteristischer wirrung (Giovacchini 1988) oder Bewun-
Gelegentlich wird bei Patienten mit selbst- Übertragung unterscheiden: die Spiegel- derung und Leergefühlen bis hin zu
verletzendem Verhalten und ausgepräg- übertragung und die idealisierende Über- Schläfrigkeit oder Hass (Gabbard 1991)
ter Ich-Schwäche beschrieben,dass sie im tragung. Die Spiegelübertragung ist da- und dem Bedürfnis, den Patienten loszu-
Therapeuten ebenfalls die Entwicklung durch gekennzeichnet, dass der Patient werden (Senf u. Broda 1996, S. 301). Mcln-
einer „Ich-Schwäche“ induzieren, der den Therapeuten nicht als eigene Person tyre und Schwartz (1998) fanden bei The-
dann seinen Affekten und Impulsen so gelten lässt. Dies kann im Therapeuten rapeuten von Borderlinepatienten Gegen-
wenig gewachsen ist wie die Patienten, aus Kränkung resultierende aggressive übertragungstendenzen, die dadurch ge-
maß an Zuwendung zukommen,das meist nicht zu diskutierenden Schwierigkeiten, wie Wilson und Lindy (1994) sind die häu-
dann in der Enttäuschung des Therapeu- traumatische Ereignisse zuverlässig zu er- figsten Gegenübertragungsreaktionen von
ten endet,die hoch gesteckten Ziele nicht innern (Schwarz et al. 1993; Southwick et Psychotherapeuten,die mit traumatisier-
erreicht zu haben. al. 1997; Harvey u. Bryant 2000) als kaum ten Patienten arbeiten, die Überreaktion
Nicht selten ist auch zu beobachten, lösbare Aufgabe erscheinen. Nicht selten oder die Vermeidung.Daraus ergeben sich
dass sich Therapeuten durch eine zu wird in der traumatherapeutischen Lite- für Fischer und Riedesser (1998) folgende
strenge Über-Ich-Haltung vor Entwertung ratur die Auffassung vertreten, eine neu- Muster:
durch den Patienten schützen. Dies kann trale Haltung des Therapeuten könne re-
dazu führen, dass Patienten entwertend traumatisierend wirken. Dies erschwert 1. Ärger, Furcht oder Vermeidung
behandelt werden,dass ihnen in einer mo- es dem Psychotherapeuten,der sich diese durch Fehlsteuerung der Empathie,
ralisierenden Haltung die „Schuld“ für Maxime zu eigen macht,allerdings erheb- 2. Rückzug aus der Empathie mit Intel-
ihre Erkrankung zugeschrieben wird und lich, die mit traumaassoziierten Störun- lektualisierung,
sie in unangemessener Weise strenger als gen häufig verbundenen Schuld- und 3. Empathieverdrängung mit Rückzug
andere Patienten behandelt werden (Bi- Schamkonflikte oder auch die mit ihnen und Distanzierung oder
litza 1996). verbundenen triebhaften Konflikte in den 4. Grenzvermischung mit Überengage-
Blick zu nehmen und kann dann dazu bei- ment und gegenseitiger Abhängig-
Gegenübertragung tragen, dass auf Seiten des Therapeuten keit zwischen Patienten und Thera-
bei traumatisierten Patienten durch Identifikation mit den unbewusst peuten.
bleibenden Anteilen des Patienten Gefüh-
In den letzten Jahren haben psychische le von Schuld entstehen,die beispielswei- Diskussion
Traumata als pathogene Faktoren bei un- se in Erscheinung treten als
terschiedlichen Störungen und Erkran- In unserer Arbeit haben wir für einige kli-
kungen vermehrte Aufmerksamkeit ge- ▂ sekundäre Überlebensschuld, nisch relevante Störungsbereiche typische
funden. Dabei werden mit dem Begriff ▂ „Zuschauerschuld“ (Danieli 1988), Gegenübertragungen beschrieben. Die
„Trauma“ z. T. psychische Extrembelas- ein Trauma nicht verhindert zu ha- Beschreibungen stützen sich vor allem auf
tungen bezeichnet, wie sie in der Folge ben, oder klinische Literatur und nur z.T.auf empi-
krimineller Angriffe, wie einer Vergewal- ▂ Schuldgefühl, wenn therapeutische rische Studien. Dies liegt daran, dass die
tigung, oder als Auswirkung von Unfäl- Prozess beim Patienten nicht so empirische Erforschung von Gegenüber-
len oder Naturkatastrophen entstehen, rasch voran schreitet, wie der Thera- tragungserleben weit gehend noch in ih-
z.T.werden jedoch auch chronisch belas- peut es wünscht. ren Anfängen steht.Damit ist verbunden,
tende oder schädliche Umweltbedingun- dass die empirischen Befunde weitestge-
gen als „traumatisch“ gekennzeichnet.Als Die Konfrontation mit der Realität des hend noch der Replikation und der Über-
Trauma werden zum einen bestimmte Traumas kann beim Therapeuten Ab- prüfung bedürfen. Es liegen zwar inzwi-
psychische Erlebensweisen bezeichnet scheu, Entsetzen, Hilflosigkeit und Angst schen viel versprechende methodische
(„traumatische Angst“),zum anderen aber auslösen. Der Therapeut kann sich über- Forschungsansätze vor; es bedarf aber aus
auch bestimmte, objektive Gegebenhei- wältigt fühlen; hierdurch können Gefüh- unserer Sicht noch einer größeren Bereit-
ten („Kriegstrauma“). In einer erhebli- le von Ohnmacht, Hilflosigkeit und In- schaft von Psychotherapeuten sich in
chen Ausweitung des Traumabegriffes ge- kompetenz (Peichl 2000), aber auch Är- selbstverständlicher Weise zum For-
genüber früheren Fassungen bezieht das ger auf Täter, Opfer und die Gesellschaft schungsgegenstand zu nehmen.Insbeson-
DSM-IV auch Umstände ein,in denen je- insgesamt (Fischer u.Riedesser 1998) ent- dere wäre die Erforschung der affektiven
mand mit bedrohlichen Ereignissen, die stehen.In einem Versuch,als unerträglich Dimensionen des Gegenübertragungser-
eine andere Person betrafen, in Berüh- empfundene Affekte zu vermeiden, kann lebens und der Dimension des Bindungs-
rung kommt, ohne selbst, beispielsweise es zu einer „Einfühlungsverweigerung“ verhaltens von Patienten und Therapeut
als Opfer oder Zeuge, in diese Ereignisse kommen, im Verlauf der Therapie zur in Relation zur Gegenübertragung per-
einbezogen zu sein. Die damit verbunde- Identifikation mit dem Opfer bzw. dem spektivisch aussichtsreich. Fraglos kann
ne konzeptuelle und klinische Unschärfe Aggressor wie auch zu Omnipotenzge- es einer solchen Übersicht nicht gelingen,
ist zu Recht kritisiert worden (vgl.McNal- fühlen, dass jedes Trauma zu bewältigen die Vielschichtigkeit abzubilden,die durch
ly 2003),und diese Unschärfe trägt – auch sei (Rudolf 2000, S. 273 f.). Wenn eigene, individuumspezifische Besonderheiten,
wegen der Ideologisierung der Trauma- nicht hinreichend bewältigte traumati- durch eine je eigene Biographie,evtl.auch
diskussion (vgl. Kernberg 2000) – zu ty- sche Erfahrungen reaktiviert werden, durch die vorhandene Komorbidität be-
pischen Gegenübertragungsschwierigkei- kann dies dazu führen, dass therapeuti- stimmt wird.Wir können in dieser Über-
ten bei. So sehen sich Therapeuten ange- sche Grenzen verloren gehen,möglicher- sicht auch nicht dem Umstand Rechnung
sichts vermuteter psychophysischer Ex- weise, da in projektiver Weise dann am tragen, dass jedwede Gegenübertragung
trembelastung oftmals vor der Schwierig- Patienten ein Wiedergutmachungsversuch nicht nur eine individuelle intrapsychi-
keit,Realität und Phantasie klar zu unter- unternommen wird,der eigentlich der ei- sche, sondern auch eine interpersonelle
scheiden. Dies muss angesichts der hier genen Person gilt.Nach Wilson (1989) so- Kompromissbildung darstellt (Brenner
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