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Herausgegeben von
Beate Kellner und Claudia Stockinger
Elisabeth Kampmann
Akademie Verlag
Siegen, Univ., Phil. Fak., Diss., 2010.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
Gefördert durch die VolkswagenStiftung.
www.akademie-verlag.de
Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das
gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Fotos: Johann Wolfgang Goethe an
Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786
Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH
ISBN 978-3-05-005191-8
Inhalt
1 Einleitung ....................................................................................................... 3
1.1 Forschungsstand und Forschungsinteresse........................................................ 4
1.2 Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung............................... 10
1.2.1 Problematisierung der kanonwissenschaftlichen Begrifflichkeit .......... 11
1.2.2 Kulturtheorien in der Kanonforschung: Kanon und Gedächtnis........... 20
1.3 Beschreibungsmöglichkeiten für Kanonisierung nach 1960............................. 27
1.3.1 Theorien der Aufmerksamkeit .............................................................. 28
1.3.2 Publizität, Etabliertheit, Kanonizität ..................................................... 31
1.4 Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags ....................... 35
1.4.1 Systemtheorie........................................................................................ 35
1.4.2 Problematisierung der Beschreibung von Praxis .................................. 40
1.4.3 Bourdieus Theorie des literarischen Feldes .......................................... 43
1.5 Die Rolle der Popularisierung für die Kanonisierung....................................... 49
1.6 Verwendete Quellen und Materialien ............................................................... 59
1.6.1 Produkte des dtv.................................................................................... 60
1.6.2 Veröffentlichtes Material des dtv.......................................................... 62
1.6.3 Interviews und unveröffentlichte Verlagsunterlagen ............................ 67
1.6.4 Korrespondenzen und weiteres Material
aus dem Nachlass Heinz Friedrichs ...................................................... 72
Farbblock ........................................................................................................i–viii
1
Eine allgemein anerkannte Definition von „Sachbuch“ gibt es nicht, hierunter wird nach Erwin
Barth ein Werk verstanden, „das, sachkundig geschrieben, einen oder mehrere Wissensbereiche
einem breiten Leserkreis erschließt.“ In den letzten Jahren hat sich jedoch eine weiter gefasste De-
finition etabliert, die unter Sachbuch alle nicht fiktionalen Texte fasst, also auch Lehrbücher und
Fachliteratur. (Vgl. Ziermann, Klaus: Der deutsche Buch- und Taschenbuchmarkt 1945–1995.
Berlin 2000, S. 87–89.) In letzterem Sinn verwende ich die Bezeichnungen in dieser Arbeit.
1 Einleitung
„Erfunden haben wir das Taschenbuch nicht – aber wir haben etwas daraus gemacht!“2
– So wirbt der Deutsche Taschenbuch Verlag 1981 anlässlich seines zwanzigjährigen
erfolgreichen Bestehens. Der Deutsche Taschenbuch Verlag, kurz dtv, ist seit seiner
Gründung im Jahr 1960 einer der größten deutschen Taschenbuchverlage. Bis zum Juli
2009 wurden im dtv über 41.000 Titel verlegt bei einer Gesamtauflage aller bei dtv
verlegten Titel von 425 Millionen. Damit hat der Verlag in hohem Maße zur Verbrei-
tung literarischer Bücher und Sachbücher im deutschsprachigen Bereich in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen.
Der dtv positioniert sich im bestehenden Taschenbuchmarkt der Bundesrepublik von
Beginn an als Taschenbuchverlag für „anspruchsvolle Leser“,3 mit „Taschenbuch-
Editionen, die Maßstäbe setzen“.4 So wird im dtv das Konzept Taschenbuch dezidiert
mit programmatischen Ansprüchen verbunden. Diese Ansprüche beziehen sich zunächst
auf die Auswahl der verlegten Literatur, bestimmen aber auch, welche Texte in der
Backlist des Verlags lieferbar gehalten werden und mit welchen Distributions- und
Vermittlungsstrategien ein Titel an den Leser gebracht werden soll.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Auswahl- und Vermittlungsprozessen im
dtv vor dem Hintergrund der Annahme, dass diese zur Popularisierung, Etablierung und
Kanonisierung literarischer Werke und Autoren beitragen können. Das Forschungsinter-
esse liegt damit an der Schnittstelle zwischen buchwissenschaftlich orientierten Arbei-
ten, die verlagsgeschichtliche Prozesse und Entwicklungen auf dem Buchmarkt in den
Blick nehmen und den Gegenständen literatursoziologischer Kanonforschung. Somit
soll die Untersuchung sensibel sein für die Eigentümlichkeit der Geschichte des dtv und
zugleich verallgemeinerbare Ergebnisse herausarbeiten, die eine Lücke im Bereich der
verlagsbezogenen Literaturbetriebsforschung zu schließen helfen. Gerade im Hinblick
auf die Modernisierungsprozesse im literarischen Feld seit 1960 erlangt die Programm-
politik des dtv einen paradigmatischen Status: An ihr lassen sich, so die Grundannahme
der vorliegenden Arbeit, Interdependenzen im literarischen Feld herausarbeiten, wie sie
sich unter den gesellschaftlichen, medialen und marktdynamischen Bedingungen der
2
dtv-Werbeplakat [1981]. In: Fünfundzwanzig. Eine dtv-Dokumentation. München 1986. S. 75.
3
dtv-Werbeplakat [1963]. In: Fünfundzwanzig. Eine dtv-Dokumentation. München 1986, S. 71.
4
dtv-Werbeplakat [1983]. In: Fünfundzwanzig. Eine dtv-Dokumentation. München 1986, S. 76.
4 Einleitung
5
Hingegen gibt es eine unveröffentlichte Magisterarbeit, die über das Deutsche Literaturarchiv
Marbach einzusehen ist: Itschert, Michael: Der Deutsche Taschenbuch Verlag 1960–1966 [unver-
öffentl. Magisterarbeit der Universität Mainz, DLA Marbach], o. O. 1996; Außerdem hat der dtv
selbst im Privatdruck vier Dokumentationen herausgebracht, die teilweise exklusives Material ent-
halten, vor allem Aufsätze und Festreden. Es sind dies: Zehn Jahre dtv. Vier Reden. München
1971; 20 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1981; Fünfundzwanzig. Eine dtv-Doku-
mentation. München 1986; 30 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag 1961–1991. Daten – Bilder –
Bücher. München 1991.
6
Siehe hierzu etwa Breuer, Ulrich: [Rezension zu Koller, Ulrike: Wilhelm Raabes Verlegerbezie-
hungen, Göttingen 1994], in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
21 (1996), H. 1, S. 246–253.
7
Vgl. hier die Verlagsgeschichten zu S. Fischer und Carl Hanser. Mendelsohn, Peter de: S. Fischer
und sein Verlag. Frankfurt a. M. 1970; Wittmann, Reinhard: Der Carl Hanser Verlag 1928–2003.
Eine Verlagsgeschichte. München 2005.
Forschungsstand und Forschungsinteresse 5
Die Beschränkung der Historiographie auf die kulturorganisationelle Sichtweise mag zu einem
guten Teil durch die schmale kaufmännische Quellenbasis bedingt sein, mit der die Verlagsge-
schichtsschreibung in der Regel zu kämpfen hat. […] Die Bücher sind in Bibliotheken überlie-
fert, und die Briefwechsel lassen sich in vielen Fällen mit den Gegenüberlieferungen in den
Nachlässen der Schriftsteller rekonstruieren und komplettieren. Die kaufmännischen Unterla-
gen finden sich jedoch meist ausschließlich in den Archiven der Verlage.8
Die ökonomische Dimension wurde folglich selten einbezogen, teils aus Scheu vor
disziplinärer Kompetenzüberschreitung, teils aufgrund der mangelhaften Quellenlage
und nicht zuletzt wegen der Sonderstellung, die die ‚Ware Buch‘ bis heute einnimmt.9
Gemein ist den Verlagsgeschichten jüngeren Datums, dass sie eine ökonomische Di-
mension verlegerischen Handelns zumindest reflektieren. Dabei werden Marketing und
Vertriebsaspekte vor allem von den anwendungsorientierten Buchwissenschaften in
verlagszentrierte Studien einbezogen.10
Für die vorliegende Untersuchung nutzbar machen lassen sich vor allem ältere Stu-
dien zu den Aspekten der Buchwerbung und verlegerischen Paratexte. Ich verwende
den Begriff Paratext sensu Genette, d. h. für „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum
Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“11
In seiner Analyse der Sprache und Funktion von Klappentexten misst Gollhardt 1966
der paratextuellen Rahmung eines Textes eine zentrale Rolle im Verkaufsgeschehen zu.
Darüber hinaus sei der Klappentext „auch ein wichtiger Faktor bei der Bildung von
Meinungen über literarische Werke, auf deren Wirkungsgeschichte er somit Einfluß
18
Triebel, Florian: Theoretische Überlegungen zur Verlagsgeschichte, S. 3 f. In: IASL-Online – Fo-
rum Geschichtsschreibung des Buchhandels. URL: < http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/
Triebel_Theorie.pdf > (15. 10. 2007). Ähnlich dargelegt in: Triebel, Florian: Der Eugen Diede-
richs Verlag 1930–1949. Ein Unternehmen zwischen Kultur und Kalkül. München 2004 (= Schrif-
tenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 13), S. 23–28.
19
Auch wenn diese Sonderstellung unter den käuflichen Gütern in den letzten Jahrzehnten zuse-
hends abgebaut wurde, wird sie noch immer manifest in der reduzierten Mehrwertsteuer und der
Preisbindung für Verlagserzeugnisse, die durch kulturpolitische Entscheidungen als eine von we-
nigen Preisbindungen fortbesteht. Im Gesetzestext heißt es im § 1 zum „Zweck des Gesetzes“:
„Das Gesetz dient dem Schutz des Kulturgutes Buch. Die Festsetzung verbindlicher Preise beim
Verkauf an Letztabnehmer sichert den Erhalt eines breiten Buchangebots. Das Gesetz gewährleis-
tet zugleich, dass dieses Angebot für eine breite Öffentlichkeit zugänglich ist, indem es die Exis-
tenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen fördert.“ (Buchpreisbindungsgesetz [BuchPrG]; Fas-
sung vom 14. 07. 2006.) S. dazu auch Wallenfels, Dieter; Russ, Christian: Preisbindungsgesetz.
Die Preisbindung des Buchhandels. 5. Aufl. München 2006.
10
Durch die betriebswirtschaftliche Dimension laufen manche dieser Arbeiten jedoch Gefahr, in
Form von Optimierungsvorschlägen einen wissenschaftlich beobachtenden Standpunkt zu verlas-
sen und der Arbeit an manchen Stellen den Charakter eines unternehmensberaterischen Jahresbe-
richts zu verleihen. Vgl. etwa: Luft, Sabine: „Visitenkarten eines Verlags“ – Aufbau, Funktion
und Entwicklung der Verlagsvorschau seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit einer Studie zu
den Vorschauen des C.H. Beck-Verlags. Erlangen 2004 (= Studien der Erlanger Buchwissenschaft
IX), bes. S. 87–90.
11
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1992, S. 10.
6 Einleitung
Gollhardt stellt die These auf, dass mittels der zeitgenössischen ‚Hochfrequenzwörter‘
„subtil, verdichten und das Essentielle […] ohne großen sprachlichen Aufwand (den der
enge Raum auf den Klappen verbietet) und ohne die Gefahr, daß der unkritische Leser
es sofort durchschaute, jedes Werk mit einem Schein von dichterischer Qualität oder
Gedankentiefe umgeben“ lässt.15 Neben diesen Modewörtern sind es zudem „[a]ntithe-
tische Fügungen“, die im Paratext genutzt werden, „um einerseits die große Spannweite
der gestalterischen Fähigkeiten des Autors und andererseits die Zerrissenheit und den
Spannungsreichtum der geschilderten Welt zu verdeutlichen.“16
Zum Paratext gehört auch die Werbung, die für ein Buch gemacht wird. Der Wer-
bung für deutsche Gegenwartsliteratur widmet sich Florian Tielebier-Langenscheidt
1983 in seiner Dissertation.17 Auch er betont die Relevanz der verlegerischen Verkaufs-
anstrengungen für die Rezeptionsgeschichte eines literarischen Werks: „Selbst Ge-
schmacksgeschichte und Kanonbildung sind folglich beeinflußt von Art und Umfang
der Werbung für Literatur.“18 Die Arbeit beinhaltet präzise Analysen. Sie bietet jedoch
für mein Untersuchungsvorhaben nur wenig Anschlusspunkte, da sie rezeptionstheore-
12
Gollhardt, Heinz: Studien zum Klappentext. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (1966)
Nr. 78, S. 2101–2212, hier: S. 2115.
13
Ebd., S. 2125.
14
Ebd., S. 2130.
15
Ebd., S. 2130; S. 2129.
16
Ebd., S. 2130, S. 2133.
17
Tielebier-Langenscheidt, Florian: Werbung für deutsche Gegenwartsliteratur. Ein Beitrag zur
Theorie und Praxis der Literaturvermittlung. Frankfurt a. M. 1983.
18
Ebd., S. 7 f.
Forschungsstand und Forschungsinteresse 7
19
Stellvertretend zu nennen wären hier folgende Studien zu Reclam und Manesse: Max, Frank R.:
Reclams „Gelbe Reihe“ und der literarische Kanon. In: Kutzmutz, Olaf (Hrsg.): Warum wir lesen,
was wir lesen. Beiträge zum literarischen Kanon. Wolfenbüttel 2002 (= Wolfenbüttler Akademie-
Texte 9), S. 6–14; Lausinger, Horst: Gibt es eine Bibliothek der Weltliteratur? Vom Sinn und Nut-
zen verlegerischer Kanonisierung. In: Kutzmutz, Olaf (Hrsg.): Warum wir lesen, was wir lesen.
Beiträge zum literarischen Kanon. Wolfenbüttel 2002, S. 15–21.
20
Hagestedt, Lutz: Steppenwolf sucht Diotima. Zum Berichtsband des 19. DFG-Symposions „Ka-
non – Macht – Kultur“ (14. 08. 2001). [Kurzrezension zu Heydebrand, Renate von: KANON MACHT
KULTUR.] In: IASL-Online. URL: < http://iasl.uni-muenchen.de/ > (12. 03. 2009).
21
Günter, Manuela: Diskussionsbericht. Historische Konstellationen der Kanonbildung. In: Heyde-
brand, Renate von (Hrsg.): KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale Aspekte
ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 443–456, hier: S. 455.
8 Einleitung
22
Titzmann, Michael: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Syste-
matik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tü-
bingen 1991, S. 395–438, hier: S. 406 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33).
23
Für meine Fragestellung ist die Regulation des Diskurses, die in vielen Verwendungsweisen des
Diskursbegriffs bei Foucault eine zentrale Rolle spielt, weniger wichtig. Dort jedoch, wo ich die
diskursiven Resonanzbedingungen des Taschenbuchs rekonstruiere (Kapitel 2), untersuche ich den
Diskurs als „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören.“ (Fou-
cault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973, S. 156.) Vgl. auch die Differenzie-
rung unterschiedlicher Diskursbegriffe in den Literaturwissenschaften bei Winko, Simone: Dis-
kursanalyse, Diskursgeschichte. In: Arnold, Heinz L.; Detering, Heinrich (Hrsg.): Grundzüge der
Literaturwissenschaft. 6. Aufl. München: 2003, S. 463–478, bes. S. 464–470.
24
Gaiser, Gottlieb: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Zu einer Pragmatik der Litera-
tur. Basel 1993, hier: S. 104–111.
25
Hier zit. n. Mendelsohn, Peter de: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt a. M. 1970, S. 47.
26
Behm und seine Ko-Autoren unterscheiden drei Typen von Verlagen: Die Special-Interest-Ver-
lage, die Zielgruppenverlage und die Publikums- oder General-Interest-Verlage. Dabei betonen
sie, dass die meisten Publikumsverlage mit „Ausnahme weniger großer Verlage, die diesen Markt
in der vollen Sortimentsbreite bedienen“ sich „auf bestimmte, zu definierende Gruppen des allge-
meinen Publikums“ spezialisieren. (Behm, Holger; Hardt, Gabriele; Schulz, Hermann u. a.: Bü-
chermacher der Zukunft – Marketing und Management im Verlag. 2., grundlegend überarb. Aufl.
Darmstadt 1999, hier: S. 24 f.)
Forschungsstand und Forschungsinteresse 9
Verlag bilanziert Triebel den „doppelten Charakter von Verlagen“ am Beispiel Eugen
Diederichs.27 Das Resümee seiner ausgewogenen Studie schreibt trotz der versöhnli-
chen Verknüpfung von „Kultur und Kalkül“, die Triebels Dissertation schon im Unterti-
tel trägt, die semantische Unvereinbarkeit einer ökonomischen und einer kulturellen
Sphäre fort. Diese Gegenüberstellung mag in Detailstudien analytischen Erkenntniswert
haben, besitzt aber meines Erachtens wenig Aussagekraft für die Beschreibung von
Verlagshandlungen auf einer allgemeineren Ebene. Die von Verlegern und Buchmarkt-
beobachtern oft beschworene Kluft zwischen „Geist und Kasse“28 (Heinz Friedrich),
„Geist und Kommerz“29 (Herbert Grundmann), „Verantwortung“ und „Kalkulation“30
(Heinz Siebel-Mogk), oder wie auch immer die Kontrastierungen sprachlich pointiert
werden, lässt sich vielmehr als konsensuelles handlungsleitendes Credo der ‚Kulturver-
leger‘ bis heute bezeichnen. Der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit erfordert es,
das Verhältnis von ökonomischer Handlungslogik und Kulturpflege im Verlag, das
bislang vor allem als antiproportional postuliert wurde, an konkreten Beispielen neu zu
bestimmen.
Ein avanciertes Modell für die Verortung der verlegerischen Praxis zwischen Litera- Schon interessant,
tur und Wirtschaft stellt Georg Jägers Vorschlag einer, an soziologischen Kategorien allerdings kann
auch einfach
von Parsons und Luhmann geschulten, „Grundlegung einer Theorie des Buchverlags“ vorausgesetzt
werden, dass
vor. Jäger zufolge ist das „Verlagswesen als Interpenetrationszone von Kultur und Wirt- Verlage immer
schaft [zu] konzipieren“.31 Auch wenn für mein Untersuchungsinteresse eine system- ökonomisch
handeln, oder?
theoretisch angelegte Methodik nicht erkenntnisleitend sein wird, möchte ich Jäger
hinsichtlich einer gegenseitigen Durchdringung von ökonomischen und autonomieäs-
thetischen Codes in der Verlagssprache folgen. Gerade die Bearbeitung meiner Frage-
27
Triebel fasst seine Untersuchungsergebnisse zusammen: „Das Kulturunternehmen Eugen Diede-
richs Verlag agierte zwischen 1930 und 1949 auf der Grundlage betriebswirtschaftlichen Kalküls
und fungierte von diesem Fundament aus, angeregt und beschränkt durch Einflüsse aus der Um-
welt, als Impulsgeber für Kultur und Gesellschaft seiner Zeit.“ (Triebel, Florian: Der Eugen Die-
derichs Verlag 1930–1949. Ein Unternehmen zwischen Kultur und Kalkül. München 2004 (=
Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 13), S. 23–28.)
28
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31.
29
Grundmann, Herbert: Grußwort des Börsenvereins zur Feier des zehnjährigen Bestehens des
Deutschen Taschenbuchverlages [1971]. In: Ders. (Hrsg.): Buchhandel zwischen Geist und Kom-
merz. Grundsätzliches aus drei Jahrzehnten. Bonn 1984, S. 373–377.
30
Siebel-Mogk, Heinz: Geschmacksbildung durch Taschenbücher. In: Verlags-Praxis, 5 (1954),
S. 141 f., hier: S. 142.
31
Jäger, Georg: Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung einer Theorie des Buchverlags.
In: Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Empirische Literatur- und Medienforschung. Beobachtet aus An-
laß des 10jährigen Bestehens des LUMIS-Instituts 1994. Siegen 1995 (LUMIS-Schriften Sonder-
reihe VII), S. 24–40, hier: S. 27.
10 Einleitung
32
Die Forschungsliteratur zu diesem Thema ist vielfältig. Einen Überblick über die Debatten in den
USA bieten: Blöhler, Michael: „Cross the Border – Close the Gap!“ – Die Dekanonisierung der
Elitekultur in der Postmoderne und die Rekanonisierung des Amerika-Mythos. Zur Kanondiskus-
sion in den USA. In: Heydebrand, Renate von (Hrsg.): KANON MACHT KULTUR. Theoretische, his-
torische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 483–503;
Grimm, Erk: Bloom’s Battles. In: Arnold, Heinz L.; Korte, Hermann (Hrsg.): Literarische Kanon-
bildung. München 2002, S. 39–54.
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 11
geäußert wurde, hat dem Status des offiziellen, ‚bürgerlichen‘ Kanons folgenreich Ab-
bruch getan. Nun stellen Umwertungsprozesse und Kanonrevisionen kein Novum dar,
das einen literarischen Kanon destabilisiert. Im Gegenteil: Sie ermöglichen erst eine
prozessuale Anpassung des Textkorpus an die zeitgenössischen Lektürepräferenzen und
wirken sich damit letztlich stabilisierend für das Phänomen Kanon, wenn auch nicht für
eine konkrete Ausprägung, aus. Dennoch erweisen sich die Kanondebatten der 1960er
Jahre als Zeichen einer Zäsur, seit der die gesamtgesellschaftliche oder hegemoniale
Repräsentativität eines Kanons bislang verunmöglicht erscheint. Dadurch, dass die Vor-
aussetzungen der Kanonbildung diskutiert und kritisiert werden, wird der Glaube an
eine universalistische Ausrichtung der kanonischen Textauswahl gestört. Zweifel und
Deemphatisierung betreffen sowohl das Korpus literarischer Texte selbst als auch die
Wertungskriterien, mit denen ihr kanonischer Status legitimiert wurde. Der Kanon er-
scheint in der Debatte als der Kanon der ‚dead white European males‘, der es nicht
vermag, Bevölkerungsgruppen anderen Geschlechts, anderer Ethnie, anderer Rasse oder
Klasse zu repräsentieren. Der Kanon wurde also als gesellschaftspolitisches Faktum
wahrgenommen, nicht als ein innerliterarischer, quasi-natürlicher Evolutionsprozess, in
dem sich auf Dauer die Qualität durchsetzt.
Neben den Auswirkungen auf die Behauptung und Diskussion von Kanones hatte
diese Wendung Konsequenzen für die literaturwissenschaftliche Forschung. Die philo-
logischen Disziplinen kamen in den Zwang, die Konstitution und Begrenzung ihres
Gegenstandsbereichs zu reflektieren und waren angehalten, die Kriterien ihrer Auswahl
zu legitimieren.
Eine längerfristige Konsequenz aus dieser Neubewertung des Kanonbegriffs ist die
Entstehung der Kanonforschung als Metareflexion der Kanondebatten und Kanonisie-
rungsprozesse. Sie versteht Kanonisierung nicht als eine zwingende Konsequenz aus
einer wie auch immer gearteten ‚innerliterarischen Qualität‘ literarischer Werke, son-
dern beschreibt im Sinne der Beobachtung zweiter Ordnung die außerliterarischen Be-
dingungen, unter denen sich Kanonisierungshandlungen vollziehen.33 Dabei lässt sich
der Kanon nicht an einer exemplarischen Listung von Lektüreverpflichtungen ‚ablesen‘.
Er versteht sich vielmehr als Produkt unzähliger Teilhandlungen und wird als randun-
scharfes, dynamisches Phänomen von mehreren Individuen und Institutionen beständig
revidiert und rekonstituiert. Auf dieser allgemeinen, makrosoziologischen Beschrei-
Teil der Def. Kanon
33
Die Kanonforschung umgreift Einzelstudien zu den Selbstkanonisierungsbestrebungen von Auto-
ren ebenso wie umfassende Aufarbeitungen der Gestalt und Reichweite so genannter Kanonisie-
rungsmedien. Zur Dokumentation der Vielfalt an Ansätzen sei nochmals hingewiesen auf: Hey-
debrand, Renate von (Hrsg.): KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale
Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998.
12 Einleitung
bungsebene beziehe ich mich hier auf eine von Simone Winko in die Kanonforschung
eingebrachte Metaphorik der invisible hand im Sinne Adam Smiths.34 Winko entwickelt
Definition von
Winko kann/muss den Erklärungstyp invisible hand weiter, indem sie zwar keine explizite Intentionalität
ich noch referieren der Handelnden annimmt, geteilte Wertmuster jedoch als richtungsgebend ansieht und
zur Beschreibung von Phänomenen hinzuzieht. Für eine Untersuchungsebene, die statt
Kritik an Winko der makrosoziologischen Struktur die Kanonisierungspraxis und damit Akteure beob-
achten und beschreiben möchte, eignet sich dieses Erklärungsmodell jedoch nicht. Hier
erscheint mir ein Vergleich, den der Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Ludwik
Fleck zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tat-
sache anbringt, geeigneter.35 Seine Konzeption eines Denkkollektivs, das dadurch, dass
es einen gemeinsamen Denkstil teilt, überindividuell und doch nicht divergent handelt,
hat meines Erachtens für die Beschreibung von Kanonisierungspraxis den Vorteil, dass
es einen Wertekonsens, der in vielen maßgebenden Kanonisierungsinstitutionen um
1900 bestand, besser abzubilden vermag als die – bei Smith eher monadisch anmuten-
den – Teilhandlungssubjekte der invisible-hand-Metaphorik.36 Fleck fasst seine Beob-
achtungen in das Bild eines Fußballspiels:
Man erlaube einen etwas trivialen Vergleich: Das Individuum ist dem einzelnen Fußballspieler
vergleichbar, das Denkkollektiv der auf Zusammenarbeit gedrillten Fußballmannschaft, das
Erkennen dem Spielverlaufe. Vermag und darf man diesen Verlauf nur vom Standpunkte ein-
zelner Fußstöße aus untersuchen? Man verlöre allen Sinn des Spieles!37
Für den Spielverlauf entscheidend ist beim Fußballspiel schließlich auch, um in Flecks
Bild zu bleiben, das Wetter, die Stimmung und der Teamzusammenhalt, das Publikum
und die gegnerische Mannschaft. Übertragen auf die Kanonisierung von Texten und
34
„Mir scheint es sinnvoll, einen Kanon als Phänomen der invisible hand zu modellieren: Niemand
hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ‚intentional‘ an
ihm mitgewirkt. Invisible hand-Erklärungen werden für soziale und kulturelle Phänomene heran-
gezogen, denen sich kein einzelner Verursacher zuschreiben lässt, die vielmehr in einem Prozess
entstanden sind, an dem zahlreiche Menschen mitgewirkt haben, ohne dies als Handlungsziel vor
Augen gehabt zu haben.“ (Winko, Simone: Literatur-Kanon als invisible-hand-Phänomen. In: Ar-
nold, Heinz L.; Korte, Hermann (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 9–24,
hier: S. 11.) Winko nennt als Vorzüge dieses Beschreibungsmodus die Verbindung finaler und
kausaler Erklärungstypen der Kanonbildung, außerdem den prozessualen Charakter des Modells
und schließlich dessen Integrationsvermögen bisheriger Studien der Kanonforschung (S. 11 f.).
35
Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die
Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Mit einer Einleitung hg. v. Lothar Schäfer und
Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980.
36
Bei Smith wird die überindividuelle Intentionslosigkeit explizit formuliert, wenn er schreibt, jeder
einzelne werde „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen
er in keiner Weise beabsichtigt habe.“ (Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. [Nachdruck
der 5. Aufl., London 1776]. München 1974, S. 371.)
37
Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die
Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. [1935] Mit einer Einleitung hg. v. Lothar Schäfer und
Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1980, S. 62.
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 13
Autoren kann mit Flecks Bildlichkeit noch besser nachvollzogen werden, dass die Ka-
nonisierungshandlungen zwar nicht alle teleologisch oder erfolgreich verlaufen müssen.
Sie basieren jedoch auf Ziel- bzw. Wertvorstellungen, die mit ihrer Hilfe gesetzt, gesi-
chert und gerechtfertigt werden sollen. Teildef Kanon
38
So spielen in vielen Studien die Gedächtniskonzepte von Aleida Assman eine Rolle für die
Beschreibung von Kanonisierung. Siehe hierzu exemplarisch: Grabes, Herbert; Sichert, Margit:
Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität. In: Erll, Astrid; Nünning, Ansgar (Hrsg.): Ge-
dächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspek-
tiven. Berlin 2005, S. 297–314; Korte, Hermann: Aus dem Kanon, aus dem Sinn? Dekanonisie-
rung – Beobachtungen zur kulturellen Praxis kollektiven Vergessens. Am Beispiel prominenter
‚vergessener‘ Dichter. In: Der Deutschunterricht 57 (2005), H. 6, S. 6–21; Hessmann, Daniela:
Kanonbildung, Türhüter und Diskursmächte im literarischen Leben Österreichs am Beispiel der
Rezeption von Exilliteratur seit 1945. Wien 2005.
39
Korte, Hermann: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichworten. In: Arnold,
Heinz L.; Korte, Hermann (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 25–38, hier:
S. 28.
14 Einleitung
Neben dem problematischen Begriff des Kanons, sind auch die Begriffe der Kanon-
bildung, Kanonisierung und Kanonpraxis im Folgenden zu explizieren und auseinan-
derzuhalten. „Im Unterschied zum Begriff des literarischen Kanons als Textkorpus oder
als Diskurssystem“, so Ilonka Zimmer,
16 Einleitung
bezeichnet ‚Kanonbildung‘ den Prozess, in dessen Verlauf sich die Zusammenstellung von
Begriffsunterschiedung nunmehr als kanonisch geltenden Texten vollzieht […]. Der Begriff der Kanonbildung ist so-
Kanonbildung
vs
mit bezogen auf die Gesamtheit des Konglomerats verschiedener Texte unterschiedlicher Au-
Kanonisierung toren, die den literarischen Kanon ausmachen, nicht jedoch auf einzelne Texte oder Autoren.45
Prozesse, die zur Kanonisierung führen, werden innerhalb der Kanonforschung als Ka-
nonisierungspraxis bezeichnet. Korte erläutert:
Da vielfach selektierte Werke im Mittelpunkt stehen, umfasst die Kanonisierungspraxis so-
wohl deren symbolische Repräsentation als auch die (philologische, kulturwissenschaftliche)
Arbeit am Kanon selbst. Der Begriff der Kanonisierungspraxis schließt alle Formen und Stile
des literarischen Selektionsprozesses ein.49
45
Zimmer, Ilonka: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und
20. Jahrhundert. Frankfurt am Main [u. a.] 2009 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung 9),
S. 35 f.
46
Vgl. hierzu: Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kate-
gorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962]. Frankfurt a. M. 1990; Plumpe, Gerhard: Epochen mo-
derner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995.
47
Schmidt, Siegfried J.; Vorderer, Peter: Kanonisierung in Mediengesellschaften. In: Poltermann,
Andreas (Hrsg.): Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Berlin 1995, S. 144–159,
hier: S. 145. Treffender wäre es, hier nicht von Vollendung, sondern einem paradigmatischen Sta-
tus zu sprechen, da nicht zwangsläufig weniger akzeptierte Versuche einer ästhetischen Problem-
lösung vorangegangen sein müssen – auch Neuerschließung eines thematischen oder stilistischen
‚Territoriums‘ wird durchaus prämiert.
48
Zimmer, Ilonka: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und
20. Jahrhundert. Frankfurt am Main [u. a.] 2009 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung 9),
S. 36.
49
Korte, Hermann: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichworten. In: Arnold,
Heinz L.; Korte, Hermann (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 25–38, hier:
S. 32.
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 17
An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass der in dieser Arbeit zum Tragen kommende
Begriff der Kanonisierungspraxis nicht nur Prozesse der Selektion umgreift. Er bezieht
sich folglich nicht nur auf den materialen Kanon, sondern auch auf das Handlungswis-
sen, das mit dem materialen Kanon verbunden ist. Ich verwende im Folgenden dafür
den Begriff des „operationalen Kanons“, den Stuck als Alternative zum bislang domi-
nanten Begriff des Deutungskanons in die Diskussion einführt:
Gegenüber dem Begriff Deutungskanon hat die hier vorgeschlagene Bezeichnung den Vorteil,
dass damit nicht nur der Aspekt der ‚Deutung‘ als ein Teil des literaturbezogenen Handlungs-
wissens erfasst werden kann, sondern dass den anderen Tätigkeiten eines Literaturwissen-
schaftlers wie beispielsweise dem Klassifizieren von Texten und dass auch den ‚epistemologi-
schen Profilen‘ einer Epoche Rechnung getragen werden kann.50
50
Stuck, Elisabeth: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersu-
chungen zum akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004, S. 28.
51
Siehe zu dieser Unterscheidung: Ebd., S. 41.
52
Von letzterem spricht Hartmut Eggert. Er definiert den Gesellschaftskanon gegenüber den anderen
Kategorien Schulkanon und akademischer Lehrkanon wie folgt: „Hiermit soll die allgemeine lite-
rarische Kultur einer Gesellschaft erfaßt werden, unabhängig von den Vermittlungsaufgaben, die
Ausbildungssituationen zu leisten haben. Das mag die Vorstellung der ‚unumstrittenen Meister-
werke‘ oder ein ‚Museum der Poesie‘ ebenso umfassen wie verlegerische Kanonisierungspraxis
(Klassiker-Ausgaben; Die ‚100 wichtigsten Bücher‘, Bibliothek der Weltliteratur etc.).“ (Eggert,
Hartmut: Kanon oder Leselisten? Zum aktuellen Stand der Diskussion in der deutschen Germanis-
tik. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch (1998), S. 159–171, hier: S. 161.)
53
Hier bei: Schmidt, Siegfried J.; Vorderer, Peter: Kanonisierung in Mediengesellschaften. In: Pol-
termann, Andreas (Hrsg.): Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Berlin 1995,
S. 144–159.
18 Einleitung
gruppenspezifische Kanones, die sich z. B. auch auf bestimmte literarische Genres be-
schränken können.
Doch nicht nur hinsichtlich unterschiedlicher, parallel oder zeitlich versetzt existie-
render Kanones müssen Differenzierungen angebracht werden, sondern auch hinsicht-
lich des Kanonisierungsgrades eines Textes, Autors usw. innerhalb eines Bezugssys-
tems ‚Kanon‘. In der Kanonforschung hat man sich angesichts dieser Anforderungen
damit geholfen, die Begrifflichkeit zu verfeinern und zwischen einem „Kernkanon“ und
Randkanon
einem „Randkanon“ zu unterscheiden.54 Zu letzterem zählen Werke, deren Kanonstatus
weniger gesichert ist, deren Unkenntnis weniger stark sanktioniert ist als im Falle der
Kernkanonautoren. Hinzu kommt der als „akuter Kanon“ bezeichnete Bereich von
akuter Kanon Werken, die in bestimmten Wirkungshorizonten zur verpflichtenden Lektüre avancie-
ren. Die augenscheinlichsten Beispiele für dieses Phänomen finden sich in politischen
Umbruchsituationen.55 Um den Beziehungen zwischen dem Kanon als einer Sammlung
legitimer Texte und den als illegitim empfundenen Texten etwa der Trivialliteratur zu
Gegenkanon
Negativkanon kennzeichnen, wurden die Begriffe des „Gegenkanons“ und des „Negativkanons“ eta-
bliert. Zählen die Titel eines Negativkanons zur tabuisierten und missbilligten Literatur,
so haben die des Gegenkanons die Möglichkeit, bei einem Elitenwechsel oder Bewer-
tungswandel zum legitimen Kanon aufzusteigen. Das galt z. B. für die zunächst als
„antiklassisch“ bewerteten Werke der Romantik. Diese Ausdifferenzierung der Begriff-
lichkeit hat den Vorteil, dass bestimmte Phänomene, die bislang nicht in den Gegen-
standsbereich der Kanonforschung fielen, von ihr in ihrer Beziehung zum Kanon be-
schrieben und terminologisch gefasst werden können. Trotz dieses Zugewinns kommt
die Kanonforschung an eine Grenze ihrer Beschreibungskompetenz: Geht man bei den
historischen Studien zur Kanonformierung oder Kanonrevision in einem bürgerlich
geprägten Untersuchungszeitraum von der Verbindung zwischen dem Leitmedium
Buch, den bürgerlichen Bildungsinstitutionen und dem Kanon aus, so muss man diese
Trias für die Beschreibung jüngerer Phänomene überdenken. Zwar haben Autorenran-
kings und Best-of-Listen Hochkonjunktur und zudem eine starke formale Ähnlichkeit
mit Kanones in Listenform. Das Feld der Begleitumstände, in dem sie entstanden sind
und verbreitet werden, hat sich jedoch radikal gewandelt. Der bürgerliche Kanon, von
dem in der Regel die Rede ist, wenn man in der Alltagskommunikation von dem Kanon
spricht, ist eng an das Bildungswesen gebunden und entfaltet durch diesen Konnex
seine Wirkmacht, „synchron zur Erfolgsgeschichte der Literatur als sinn- und traditi-
54
Diese und weitere Begriffe sind nachzulesen bei: Korte, Hermann: K wie Kanon und Kultur.
Kleines Kanonglossar in 25 Stichworten. In: Arnold, Heinz L.; Korte, Hermann (Hrsg.): Literari-
sche Kanonbildung. München 2002. S. 25–38.
55
Siehe hierzu etwa die Dokumentation der Kanondebatte nach der Wende bei: Anz, Thomas: Es
geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München 1991. Als all-
gemeine Betrachtung zum historischen Kontext der Kanonisierung siehe: Honold, Alexander: Die
Zeit als kanonbildender Faktor. Generation und Geltung. In: Heydebrand, Renate von (Hrsg.):
KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbil-
dung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 560–580.
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 19
56
Korte, Hermann: Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl. In: Bogdal, Klaus-
Michael; Korte, Hermann: Grundzüge der Literaturdidaktik. 3. Aufl. München 2002, S. 61–77,
hier: S. 66.
57
Vgl. zur Geschichte der bildungsbürgerlichen Semantik von Bildung und Kultur und ihrem Bedeu-
tungsverlust in den 1960er Jahren: Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines
deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1996.
58
Dieses Auseinanderdriften von institutionellen Kanones und gesellschaftlichen Kanones zeigt sich
beispielsweise in einem Versuch des österreichischen Fernsehens aus dem Jahr 2001. In der Sen-
dung „treffpunkt kultur“ wurde das Publikum zum Thema „50 Klassiker fürs Leben“ befragt, wo-
bei ihm von einer Jury eine Auswahlliste zur Abänderung oder Ergänzung zur Verfügung gestellt
wurde. Elisabeth Stuck kommentiert die Ergebnisse wie folgt: „Eine auffällige Verschiebung er-
gab sich bei berühmten Klassikern: Goethes ‚Wilhelm Meister‘ wurde durch die Publikumsbefra-
20 Einleitung
stellt die bereits thematisierte Infragestellung der Universalität eines bürgerlichen Ka-
nons dar.
Die bildungsbürgerliche Kultur hat sich als eine „repräsentative Kultur“ verstanden.
Friedrich H. Tenbruck weist dieses Repräsentativitätsstreben als historisch einmaliges
Merkmal bürgerlicher Kultur aus:
Anders als die Kultur aller frühen Stände tritt die bürgerliche nicht als soziales Sonderrecht
auf, das seinen Platz zwischen den übrigen Ständen einklagt, sondern als überlegener An-
spruch einer für alle Stände verbindlich überlegenen und richtigen Kultur und insofern als Ein-
ladung für alle.59
Die mit diesem Anspruch der Bürger auf Repräsentativität einhergehende Verbindlich-
keit von Lektürekenntnissen hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts fundamental geän-
dert. Die Verbindlichkeit des Kanonwissens kann sich auf den professionellen oder
milieuspezifischen Bereich beschränken, seitdem die bürgerliche Kultur nicht mehr die
institutionellen wie privaten Bildungsansprüche als Repräsentativkultur zugleich prägt.
Für den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit bestehen der Reiz und das
Problem, dass sich hier in den von mir beobachteten Bereichen des Buchmarkts gerade
der Ablösungsprozess einer bildungsbürgerlich geprägten Hegemonialkultur zur plura-
listischen Kultur vollzieht.60 Aufgrund dessen möchte ich nach einem Überblick über
kulturwissenschaftliche Ansätze in der Kanonforschung im Abschnitt 1.3 auf die Be-
schreibungsmöglichkeiten eingehen, die für Kanonisierungsprozesse in dieser Um-
bruchsituation bis heute bestehen.
Wichtige Anregungen und begriffliche Anleihen erhielt die Kanonforschung von den
Kulturtheorien Aleida Assmanns, die das Gedächtnis ins Zentrum ihres Interesses stel-
gung von Rang 14 auf Rang 96 zurückversetzt. Unter den vom Publikum hinzugefügten Titeln fi-
gurierten auffällig viele Titel aus dem 20. Jahrhundert, die im deutschsprachigen Raum als Schul-
klassiker im Fremdsprachunterricht beliebt sind (z. B. Saint-Exupéry: ‚Der kleine Prinz‘ und Ca-
mus: ‚Der Fremde‘). Für das Publikum spielt auch der aktuelle Kulturbetrieb eine Rolle: Tolkiens
‚Herr der Ringe‘, dessen Verfilmung in jener Zeit breit rezipiert wurde, figurierte nicht auf der
Jury-Liste, sondern gelangte via Publikumsbefragung auf Rang 32.“ (Stuck, Elisabeth: Kanon und
Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen zum akademischen
Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004, hier: S. 25, Anm. 44.)
59
Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne.
Opladen 1989, S. 261.
60
Der Bedeutungsverlust des Bildungsbürgertums hat sich in anderen gesellschaftlichen Teilberei-
chen schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzogen. Von diesem Ablösungsprozess zeugt
die Technik- und Kapitalismuskritik, die eine Neuorganisation der Arbeitswelt und der Wissens-
felder reflektieren. Vgl. dazu: Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines
deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1996, bes. S. 239–288.
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 21
len. „Kultur“ so Assmann, „egal ob hoch oder niedrig, elitär oder populär, organisiert
sich als Verweissystem und Gedächtnisphänomen.“61
Dabei unterscheidet Assmann mit Rückgriff auf die Konzeption von Maurice Halb-
wachs drei Gedächtnistypen: Das soziale, das kollektive und das kulturelle Gedächtnis.
Der wichtigste Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis besteht darin, dass
die Erinnerungen im sozialen Gedächtnis kurzfristig sind und sich nach einer gewissen Zeit
wieder auflösen. Im Gegensatz zum sozialen Gedächtnis, das notwendig ephemer ist, ist das
kollektive Gedächtnis stabil und darauf angelegt, längere Zeiträume zu überdauern. Dieser Un-
terschied zwischen einem befristeten und einem entfristeten Gedächtnis hängt mit den Ge-
dächtnismedien zusammen. Das wichtigste Medium des sozialen Gedächtnisses ist das Ge-
spräch. Mit dem Tode der lebendigen Träger löst sich ein soziale [sic] Gedächtnis immer
wieder auf.62
Das kollektive Gedächtnis nach Halbwachs ist, wie Peter Novick expliziert, vereinfacht.
Es „sieht die Ereignisse aus einer einzigen, interessierten Perspektive; duldet keine
Mehrdeutigkeit; reduziert die Ereignisse auf mythische Archetypen.“63 Das kulturelle
Gedächtnis ist institutionell verankert über Bibliotheken, Museen und Archive und da-
mit langlebig.64
Besonders wichtig ist es für Assmann, auf die identifikatorische und emotional sti-
mulierende Funktion der Gedächtnisinhalte hinzuweisen. Erst durch den emotionalen
Gehalt vermag man es, Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken und die Erinnerungen
daran zu stabilisieren. Dies wiederum bekräftigt die Identität einer Gruppe, ob auf fami-
liärer oder nationaler Ebene.65 „Emotionale Ladung, prägnante Gestaltung und instituti-
onelle Festigung sind somit die unterschiedlichen Stufen, auf denen das soziale, kollek-
tive und kulturelle Gedächtnis aufruht.“66
Im Assmann’schen Modell ist der Kanon als System unterschiedlicher Teilkanones
angelegt. Hessmann beschreibt es wie folgt:
61
Assmann, Aleida: Das kulturelle Gedächtnis an der Milleniumsschwelle. In: Sorg, Reto; Mettauer,
Adrian; Proß, Wolfgang (Hrsg.): Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartslitera-
tur und Literaturwissenschaft. München 2003, S. 59–70, hier: S. 70.
62
Assmann, Aleida: Soziales und kollektives Gedächtnis. Vortrag in der Bundeszentrale für poli-
tische Bildung. (März 2006), S. 2. In: bpb [Bundeszentrale für politische Bildung]. URL:
< http://www.bpb.de/files/0FW1JZ.pdf > (07. 08. 2008).
63
Novick, Peter: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Stuttgart u. a. 2001,
S. 14.
64
Vgl. Assmann, Aleida: Soziales und kollektives Gedächtnis. Vortrag in der Bundeszentrale für
politische Bildung. (März 2006), S. 3. In: bpb [Bundeszentrale für politische Bildung]. URL:
< http://www.bpb.de/files/0FW1JZ.pdf > (07. 08. 2008).
65
Vgl. Ebd.
66
Ebd.
22 Einleitung
Die Topografie des nach Assmann strukturierten Kanons gleicht einem System nicht gleich-
wertiger Partialkanones. Die miteinander verknüpften Bestandteile des Netzwerks erfüllen un-
terschiedliche Aufgaben, betonen und erfüllen die Bedürfnisse ihrer Textgruppen.67
Auch wenn das Modell Assmanns für Kanones allgemeine Gültigkeit beansprucht,
scheinen die Kategorien doch an der bürgerlichen Kultur eines Nationalstaats geformt
zu sein. In ihm ist eine transnationale Verknüpfung der Gedächtnisinhalte nicht ausrei-
chend bedacht. Zudem ist die Emphase der Identitätsstiftungsfunktion eines Kanons
nicht in Einklang zu bringen mit dem operationalen Kanon des späten 20. Jahrhunderts,
wie er beispielsweise als ernüchterter Literaturdiskurs vielfach im Deutschunterricht zu
beobachten ist.69
Wo Assmanns Modell für die bürgerliche Kultur um 1900 durchaus präzise Be-
schreibungskategorien liefert, melden sich also an anderen Stellen Bedenken an, die
sich wie folgt erklären lassen. Die kulturanthropologisch argumentierenden Studien, auf
die in der Kanonforschung vor allem Bezug genommen wird, verstehen den literari-
schen Kanon als Erbe des religiösen Kanons heiliger Schriften und betonen von daher
auch die Identitätsstiftung und Handlungsorientierung, die von kanonischen Texten
ausgeht. Sie fragen damit nach den Funktionen, die ein säkularisierter literarischer Ka-
67
Hessmann, Daniela: Kanonbildung, Türhüter und Diskursmächte im literarischen Leben Öster-
reichs am Beispiel der Rezeption von Exilliteratur seit 1945. Wien 2005, S. 48 f.
68
Assmann, Aleida: Das kulturelle Gedächtnis an der Milleniumsschwelle. In: Sorg, Reto; Mettauer,
Adrian; Proß, Wolfgang (Hrsg.): Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartslitera-
tur und Literaturwissenschaft. München 2003, S. 59–70, hier: S. 70.
69
Vgl. zur emphatischen Konzeption der Gedächtnisinhalte etwa folgende Stelle: „Entsprechendes
gilt für das kulturelle Gedächtnis: es besteht aus kodifizierten und gespeicherten Zeichen, die wir
zusammen mit dem allgemeinen und spezialisierten Wissen durch die Bildungsinstitutionen auf-
nehmen. Vom allgemeinen oder spezialisierten Wissen unterscheiden sich die Inhalte des kulturel-
len Gedächtnisses jedoch dadurch, daß wir sie uns aneignen, nicht um sie zu ‚beherrschen‘ oder
für bestimmte Ziele einsetzen, sondern um uns mit ihnen auseinander zu setzen und sie zu einem
Element unserer Identität zu machen.“ (Assmann, Aleida: Soziales und kollektives Gedächtnis.
Vortrag in der Bundeszentrale für politische Bildung. (März 2006), S. 3. In: bpb [Bundeszentrale
für politische Bildung]. URL: < http://www.bpb.de/files/0FW1JZ.pdf > (07. 08. 2008).)
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 23
non erfüllt. Winko entwickelt mit Hinweis auf Renate von Heydebrand70 folgende The-
sen:
Fragt man, warum überhaupt das Bedürfnis besteht, aus der Menge von Texten einige heraus-
zustellen, die als besonders ‚wertvoll‘ gelten, so kommt man zu mindestens drei wichtigen
Funktionen, die Kanones erfüllen. Erstens tragen sie zur Selbstdarstellung und Identitätsstif-
tung einer Gruppe oder Gesellschaft bei: Die Mitglieder der Gruppe sehen in ihnen Normen
und Werte repräsentiert, die die Gruppe konstituieren. Zweitens haben Kanones Legitimations-
funktion; sie dienen der Rechtfertigung und Abgrenzung der Gruppe gegen andere. Und drit-
tens liefern Kanones Handlungsorientierung. Kanonisiert werden Texte, die prägnante Formen
von Wissen, ästhetische Normen, Moralvorstellungen und Verhaltensregeln kodieren, nach
denen sich Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft richten können.71
Diese Funktionsbestimmungen sind hier universell konzipiert für Kanones jeglicher Art,
auch wenn sich deren Bedeutung und Funktion, ebenso wie die literarischer Texte über-
haupt von der Entstehung eines nationalen Literaturkanons bis heute geändert hat. Zu-
nehmend wichtiger erscheint mir die Funktion des Kanons zu sein, die man mit der
Schaffung von Anschlusskommunikation beschreiben könnte.72 Sie ist in den obigen
Nennungen nicht einzeln aufgeführt, spielt aber sowohl in die Bereiche Identitätsstif-
tung als auch Sinnstiftung und Handlungsorientierung hinein: Gemeinsame Lesebiogra-
fien schaffen einen Zusammenhalt in einer Gruppe und können zugleich Distinktions-
gewinne bedeuten.
Sieht man, wie in Assmanns Modell durchscheint, die literarische Kanonbildung als
Fortführung religiöser Kanonisierungspraxis unter anderem Vorzeichen, leuchtet ein,
dass vor allem Machtfragen und damit auch die Zensur hier eine große Rolle spielen.
Rainer Grübel fasst den Bestandteil der nichtkanonischen Literatur gänzlich als zensier-
te Literatur zusammen: „Jeder Kanon schneidet die Menge der Werke in kanonische
und nichtkanonische. Ein Teil der nichtkanonischen Literatur wird mit Hilfe der Zensur
zum Negativkanon verbotener Texte umgeprägt.“73 Auch Alois Hahn betont die Zensur
als stetige Begleiterin der Kanonisierung. Obgleich er Kanonbildungsprozessen
Selbstreferentialität zuspricht und damit die Kanonizität eines Textes innerästhetisch
verstehen will, geht er auf die „machtgestützte Kanondurchsetzung“ ein:
Daß die Sicherung von Kanonreinheit auf Zensur nicht verzichten kann, wird häufig deshalb
nicht bemerkt, weil der kanonische Geschmack habitualisiert ist und als Natur empfunden
70
Heydebrand, Renate von: Probleme des „Kanons“ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In:
Janota, Johannes (Hrsg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augs-
burger Germanistentags 1991. Bd 4. Tübingen 1993, S. 3–22.
71
Winko, Simone: Literarische Wertung und Kanonbildung. In: Arnold, Heinz L.; Detering, Hein-
rich (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 2003, S. 585–600, hier: S. 596 f.
72
Diesen Gedanken hält u. a. auch Jörg Schönert fest. Schönert, Jörg: Einführung [3. Tag]. In: Hey-
debrand, Renate von (Hrsg.): KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale As-
pekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 315–321.
73
Grübel, Rainer: Wert, Kanon und Zensur. In: Arnold, Heinz L.; Detering, Heinrich (Hrsg.):
Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 601–622, hier: S. 619.
24 Einleitung
wird. Fast immer jedenfalls kann man das Vorliegen eines Kanons an der Existenz von Zensur
feststellen.74
Die hier thesenartig festgehaltenen Beobachtungen sind auch für meine Untersuchung
erkenntnisleitend. Zu ergänzen wäre zur zweiten These Assmanns, dass nicht nur neue
Medien die literarische Landschaft verändern, sondern auch das sich wandelnde Ver-
lagswesen und damit das Medium Buch selbst. Es repräsentiert nicht mehr symbolisch
74
Hahn, Alois: Aufmerksamkeit. In: Assmann, Aleida; Assmann, Jan (Hrsg.): Aufmerksamkeiten.
München 2001. (= Archäologie der literarischen Kommunikation VII), S. 25–56, hier: S. 39.
75
Sie mag dort gelten, wo die Produktion von Schriften derart kostspielig oder aufwändig ist, dass
sich nur diejenige Gruppe daran beteiligen kann, die zugleich auch die Kanonisierungsprozesse
steuert, etwa in vorindustriellen Gesellschaften.
76
Assmann, Aleida: Das kulturelle Gedächtnis an der Milleniumsschwelle. In: Sorg, Reto; Mettauer,
Adrian; Proß, Wolfgang (Hrsg.): Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartslitera-
tur und Literaturwissenschaft. München 2003, S. 59–70, hier: S. 69.
Theorieangebot und Theorienutzung der Kanonforschung 25
die bürgerlichen Leitwerte der Aufklärung und autonomen Bildung, sondern wird durch
die Pluralisierung des Buchmarkts und die Diversifizierung seiner Angebotsstruktur als
ein Medium wahrgenommen, in dem tatsächlich alle schriftlich oder bildlich kommuni-
zierbaren Inhalte präsentiert werden können. Gerade auf dem Taschenbuchmarkt wurde
der Ablösungsprozess des Buchs von der bürgerlichen Leitkultur früh beobachtet und
diskutiert.77
Zur dritten These wiederum ist anzumerken, dass sich die Gedächtniskultur nicht un-
gebrochen auf zeitgenössische Teilkulturen übertragen lässt. Zwar bilden viele Teilkul-
turen tatsächlich Kanones aus. Meines Erachtens können jedoch soziales Gedächtnis
und kulturelles Gedächtnis in dieser Hinsicht nicht oder nur modifiziert als Begriff-
lichkeiten verwendet werden. Im Falle des sozialen Gedächtnisses ist die Schwierigkeit
der konzeptionellen Tragweite darin zu sehen, dass die Dauer des sozialen Gedächtnis-
ses in der Spätmoderne nicht mehr an individuelle Lebensspannen zu koppeln ist, wie
Hartmut Rosa in seiner Studie Beschleunigung eindrücklich zeigen kann.78 Die Akzele-
rationsrate der spätmodernen Gesellschaften ist derart hoch, dass innerhalb der indivi-
duellen Lebensspanne unterschiedliche Lebensentwürfe integriert werden müssen. Rosa
argumentiert mit dem von Hermann Lübbe eingeführten Begriff der „Gegenwarts-
schrumpfung“:
Mit Lübbe lässt sich Gegenwart definieren als ein Zeitraum der Dauer bzw. Stabilität, für wel-
chen – in den Begriffen Reinhart Kosellecks – Erfahrungsraum und Erwartungshorizont un-
verändert und damit deckungsgleich sind. Nur innerhalb solcher stabiler Zeiträume lassen sich
aus gemachten Erfahrungen Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft ziehen, und nur für sie
haben Erfahrungen und Lernprozesse eine handlungsorientierende Kraft, weil ein bestimmtes
Maß an Erwartungssicherheit besteht. […] Beschleunigung des sozialen Wandels lässt sich
damit definieren als die Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrun-
gen und Erwartungen und als die Verkürzung der für die jeweiligen Funktions-, Wert- und
Handlungssphären als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume.79
Damit wäre das Konzept eines sozialen Gedächtnisses, das laut Assman zwar ephemer
ist, aber dennoch die individuelle Lebensspanne zu füllen scheint, einzuschränken:80
Soziales Gedächtnis als ephemerer Speicher existiert auch in der beschleunigten Mo-
77
Vgl. hierzu den paradigmatischen Text von Enzensberger, auf den ich in Kapitel 2 dieser Arbeit
näher eingehen werde. Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. In: Ders.: Einzelheiten I.
Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166.
78
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt
a. M. 2005.
79
Rosa, Hartmut: Modernisierung als soziale Beschleunigung. In: Bonacker, Thorsten; Reckwitz,
Andreas (Hrsg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt
a. M., New York 2007, S. 140–172, hier: S. 146.
80
Zu Fragen der Gültigkeitsdauer kanonischer Bestände, s. auch: Honold, Alexander: Die Zeit als
kanonbildender Faktor. Generation und Geltung. In: Heydebrand, Renate von (Hrsg.): KANON
MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stutt-
gart, Weimar 1998, S. 560–580.
26 Einleitung
derne, dauert aber nicht mehr die Lebensspanne des Menschen, sondern ist auf Lebens-
abschnitte mit wechselnden sozialen Konstellationen hin entworfen. Die Konsequenz,
die Rosas Ausführungen nahe legen, ist die Minderung eines handlungsorientierenden
Potenzials der Gedächtnisinhalte in einer radikal dynamisierten Gesellschaft. Auch hier
spielen Wandlungsprozesse auf dem Buchmarkt eine entscheidende Rolle: Es ist anzu-
nehmen, dass die intergenerationelle Kommunikation über Literatur und damit auch
eine generationenübergreifende Identifikation durch gleiche Lektüre eine geringere
Rolle spielt, seitdem es zielgruppengerecht ausgewiesene Literatur für Kinder, Jugend-
liche, Singles, Ehefrauen, Rentner usw. gibt.81 Das soziale Gedächtnis spielt für den
literarischen Kanon ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine geringere Rolle als
in Assmanns Gedächtniskonzeption angelegt, weil die kommunikativen Anschlussmög-
lichkeiten aufgrund der Beschleunigung des sozialen Wandels und des individuellen
Lebenstempos okkasionell gestaltet sind und nicht in gleichbleibendem Maß durch
Familie oder andere konstante Kommunikationspartner stabilisiert werden.
Auch Assmanns Kategorie des kulturellen Gedächtnisses gilt es vor dem Hintergrund
der Umwandlungsprozesse im 20. und 21. Jahrhundert zu prüfen. Die Speicherfunktion
dieses Gedächtnisses, das auf den Institutionen wie Bibliotheken, Museen und Archiven
aufbaut, ist auch gegenwärtig erhalten, jedoch genügt die Verwaltung von Wissen nicht
aus, die Gedächtnisinhalte als diskursive Elemente lebendig zu halten. Eine Diskrepanz
zwischen den ‚klassischen‘ Institutionen und Medien, an die Assmann das kulturelle
Gedächtnis anbindet, und der aktiven Nutzung des Speichermediums Internet zeigt sich
im Vergleich von Bibliotheken, Museen und Archiven mit dem Internet: Erstere sind
geografisch fixiert und oft aus traditionellen und pragmatischen Gründen im Bestand
auf den eigenen Kulturraum zugeschnitten. Dies gilt in besonderem Maße für den Be-
reich der Literatur, wo die Sprachräume die Sammlungsschwerpunkte bestimmen. Als
Institutionen handeln Bibliothek, Museum und Archiv zweckgerichtet und selektieren a
priori die Elemente, die sie aufnehmen könnten.
Das Internet hingegen zeichnet sich durch faktische oder zumindest mögliche Inter-
nationalität aus und übernimmt als Speicherort keine Gatekeeper-Funktion. Dies bedeu-
tet selbstverständlich nicht, dass nicht einzelne Seiten für sich streng selektieren oder
nicht staatliche Zensur die Möglichkeiten des Internets überlagert.
Die Prinzipien der Internationalität und des Pluralismus finden sich nicht nur im In-
ternet, sondern auch auf dem deutschen Buchmarkt seit einigen Jahrzehnten. Sie haben
den literarischen Kanon und den Umgang mit ihm, also sowohl den materialen als auch
den operationalen Kanon, fundamental geändert.
Da mein Untersuchungszeitraum die Diskussion dieser Entwicklungsprozesse erfor-
dert, möchte ich im kommenden Abschnitt auf kulturtheoretische Annahmen eingehen,
die sich näher mit diesen Wandlungsprozessen auseinander setzen und Vorschläge für
eine theoretische und methodische Annäherung machen.
81
Dies gälte es zu prüfen.
Beschreibungsmöglichkeiten für Kanonisierung nach 1960 27
Im Sinne Andersons sind die nachträglichen Filter hier vor allem als Empfehlungen zu
verstehen. Wo Anderson das Prinzip der nachträglichen Filter für Phänomene der many-
to-many-Kommunikation im Zeitalter des Web 2.0 reserviert, möchte ich auch dort von
nachträglichen Filtern sprechen, wo durch professionelle Kritik Aufmerksamkeitssteue-
rung stattfindet. Damit ist die nachträgliche Filterung nicht auf das Internetzeitalter
beschränkt, sondern als ein Phänomen zu betrachten, das sich mit der Entstehung einer
literarischen Öffentlichkeit im späten 18. Jahrhundert entwickelt. Nichtsdestoweniger
kann man gegenwärtig von einem rasanten Bedeutungsanstieg der Empfehlungen, oder,
wie Anderson, vom „Zeitalter der Empfehlungen“83 sprechen, da die materielle Verfüg-
82
Anderson, Chris: The Long Tail. Der lange Schwanz. Nischenprodukte statt Massenmarkt. Das
Geschäft der Zukunft. München 2007, S. 61.
83
Anderson bezieht sich auf ein Gespräch mit den Trendforschern bei der Beraterfirma Frog Design:
„Wir lassen das Informationszeitalter hinter uns und erreichen das Zeitalter der Empfehlungen.
Kapitel behandelt eigentlich nur den Begriff des nachträglichen Filters
28 Einleitung
barkeit in ihrer Bedeutung verliert: Die Bedeutung nachträglicher Filter nimmt in dem
Maße zu, wie die Beschränkungen für Information und materielle Produktion abneh-
men.84 Evident wird diese Entwicklung bei einem Blick auf die stetig steigenden Novi-
tätenzahlen im Buchhandel bei gleichzeitig sinkenden Auflagenzahlen. Nicht mehr die
hohe Rentabilitätsschwelle, staatliche Zensur oder ein dominanter Literaturdiskurs
bestimmen, ob ein Buch beim Leser ankommt. Der nachträgliche Filter, der die Selekti-
on nun steuert, ist die Aufmerksamkeit, die durch Werbung, Rezensionen oder die per-
sönliche Empfehlung auf einen Titel gelenkt wird.
In einem ersten Schritt prüfe ich im Folgenden verschiedene Ansätze einer Theorie
der Aufmerksamkeit auf ihre Tauglichkeit für mein Untersuchungsvorhaben. In einem
weiteren Schritt werde ich eine Verfeinerung des begrifflichen Instrumentariums vor-
nehmen, die es mir erlaubt, unterschiedliche Phänomene der Kanonbildung nach 1960
zu benennen und voneinander zu unterscheiden.
Die Einbeziehung der Aufmerksamkeit als Faktor der Kanonisierung trägt auch den
Umständen einer geänderten Mediennutzung Rechnung, wie bereits der Titel eines Auf-
satzes von Assmann aus dem Jahr 2003 ankündigt: Druckerpresse und Internet. Auf
dem Weg von einer Gedächtniskultur zu einer Kultur der Aufmerksamkeit: Oberfläche,
Geschwindigkeit und Supermarkt. Assmann besetzt in ihrem Artikel die publizistischen
Paradigmata „Druckerpresse“ und „Internet“ mit den beiden Selektionsmitteln „Ge-
dächtnis“ und „Aufmerksamkeit“: „Gedächtnis und Aufmerksamkeit stehen für die
unterschiedlichen Strategien mit denen man im typographischen und elektronischen
Zeitalter auf die explosionsartige Vermehrung von Wissen und Information reagiert“.85
Sie beruft sich dabei auf einen Essay des Wiener Architekturprofessors Georg Franck.
Franck macht in der Ökonomie der Aufmerksamkeit als Leitwährung der Informations-
Heute ist die Informationsbeschaffung lächerlich einfach; man stolpert praktisch auf der Straße
über Informationen. Es geht nicht mehr länger darum, Informationen zu sammeln – stattdessen
müssen jetzt kluge Entscheidungen auf Grundlage dieser Informationen getroffen werden … Em-
pfehlungen fungieren als Abkürzungen im Informationsdschungel, ähnlich wie ein Weinhändler
die Verkostung mit seiner Empfehlung unbekannter französischer Weine zu Pasta abkürzt.“ (Ebd.,
S. 127.)
84
Wo in einem Nullsummenspiel unterschiedliche Erzeugnisse um Existenz konkurrieren, weil nur
eine bestimmte Anzahl hergestellt oder vertrieben werden kann, greift die apriorische Selektion.
Wo jedoch Stellfläche oder Produktionsprozesse keine Beschränkung darstellen, können Erzeug-
nisse unterschiedlicher Qualität und Ausprägung nebeneinander existieren. „Beim Long Tail gibt
es keine vertriebsbedingten Vorabfilter und was sonst noch damit verbunden ist (Redakteure, Ton-
ingenieure, Talentscouts und die Leiter für den Bereich Einkauf bei Wal-Mart).“ (Ebd., S. 138.)
85
Assmann, Aleida: Druckerpresse und Internet. Auf dem Weg von einer Gedächtniskultur zu einer
Kultur der Aufmerksamkeit: Oberfläche, Geschwindigkeit und Supermarkt. In: Frankfurter Rund-
schau (18. 01. 2003).
Beschreibungsmöglichkeiten für Kanonisierung nach 1960 29
gesellschaft nicht das Geld, sondern die Aufmerksamkeit aus.86 In einer weiterentwi-
ckelten Version seiner Thesen im Band Mentaler Kapitalismus heißt es dazu:
Die Einkommen, die durch die Informationsproduktion geschöpft werden, bestehen nur zum
Teil aus Geld. Ein anderer Teil – und zwar derjenige, der in der Informations- oder Wissens-
gesellschaft neue Bedeutung erlangt – wird direkt in Beachtung realisiert.87
Die Bedeutung von Aufmerksamkeit als symbolische Währung ist bereits vor dem In-
ternetzeitalter von Pierre Bourdieu im Begriff des „symbolischen Kapitals“ angelegt
worden. Dabei legt Bourdieu im Sinne seiner Sozialtheorie das Hauptaugenmerk auf die
qualitative Differenzierung von symbolischem Kapital. Je nach sozialem Teilbereich,
den „Feldern“ in Bourdieus Theoriesprache, gehen unterschiedliche Faktoren in das
Konzept des symbolischen Kapitals ein. Das symbolische Kapital kann auch mit „Re-
nommee“ umschrieben werden.88
Franck, der sich erst gegen die Begrifflichkeiten Bourdieus abzugrenzen versucht,
kommt in Mentaler Kapitalismus, seinem zweiten Essay zur Aufmerksamkeit, wieder
auf sie zurück und verwendet den Begriff des „symbolischen Kapitals“ aus der Feldthe-
orie Bourdieus. Anders als Bourdieu jedoch differenziert Franck für die Bedeutung des
symbolischen Kapitals in seiner Aufmerksamkeitstheorie nicht nach gesellschaftlichen
Teilbereichen. Ihn interessiert die Akkumulation von Aufmerksamkeit zunächst rein
quantitativ.
In der Nachfolge Francks sind in den letzten Jahren zahlreiche Veröffentlichungen
zum Themenfeld Aufmerksamkeit erschienen: Aufmerksamkeit ist zum Modebegriff
avanciert.89 Dabei wird leider selten auf Studien zurückgegriffen, die Phänomene der
Aufmerksamkeit untersuchen, ohne sich explizit der Begrifflichkeit der Aufmerksam-
keit zu bedienen – dieses Manko entsteht vermutlich auch daraus, dass Francks Essay
eine Währung der Aufmerksamkeit als Novum präsentiert.
An dieser Stelle sei auf eine instruktive Studie hingewiesen, die Stephen Hilgartner
und Charles L. Bosk 1988 unter dem Titel The Rise and Fall of Social Problems veröf-
fentlichten. Hier stellen sie ein auf empirischer Basis entwickeltes Modell zur Beschrei-
bung von Aufmerksamkeitskarrieren sozialer Probleme vor. Es könnte insofern anre-
gend für die Kanonforschung sein, als hier Aufmerksamkeitsbündelungen nicht durch
Wertungshandlungen in einem gesellschaftlichen Subfeld zustande gebracht werden,
sondern in den „Public Arenas“ aufgrund mannigfaltiger Einflussfaktoren entstehen:
86
Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München 1998.
87
Franck, Georg: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005,
S. 17 f.
88
Auf Bourdieus Theorieentwurf wird unter Punkt 1.4.3 näher eingegangen werden.
89
Exemplarisch möchte ich nennen: Ressource Aufmerksamkeit. [Schwerpunktthema] In: Kunstfo-
rum International 148 (1999/2000), S. 51–181; Assmann, Aleida; Assmann, Jan (Hrsg.): Aufmerk-
samkeiten. München 2001. (= Archäologie der literarischen Kommunikation VII); Hickethier,
Knut; Bleicher, Joan K. (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. Münster, Hamburg,
London 2002.
30 Einleitung
In its most schematic form, our model has six main elements:
1. a dynamic process of competition among the members of a very large ‘population’ of so-
cial problem claims;
2. the institutional arenas that serve as ‘environments’ where social problems compete for at-
tention and grow;
3. the ‘carrying capacities’ of these arenas, which limit the number of problems that can gain
widespread attention at one time;
4. the ‘principles of selection’, or institutional, political, and cultural factors that influence
the probability of survival of competing problem formulations;
5. patterns of interaction among the different arenas, such as feedback and synergy, through
which activities in each arena spread throughout the others; and
6. the networks of operatives who promote and attempt to control particular problems and
whose channels of communication crisscross the different arenas.90
Es ist für mein Vorhaben nicht vonnöten, den Diskussionsstand der kulturwissenschaft-
lichen Aufmerksamkeitsforschung umfassend nachzuvollziehen, da sich die Kontrover-
sen oftmals auf Ebenen abspielen, die für den hiesigen Untersuchungsgegenstand nicht
relevant sind (etwa die Frage nach der psychologischen Definition von Aufmerksam-
keit). Studien zur Aufmerksamkeit interessieren für die vorliegende Arbeit dort, wo sie
mit Fragen der Beachtung, also einer überindividuellen Transferleistung, die qualitativ
bestimmt werden kann, verknüpft sind, besonders aber dort, wo der Aufmerksamkeits-
diskurs mit Fragen der Kanonforschung vernetzt wird. In diesem Zusammenhang ist vor
allem ein Aufsatz von Alois Hahn zu nennen.91
Hahn revidiert die Entstehung des modernen Kunstsystems unter der Perspektive der
Aufmerksamkeitsforschung. Auch er kommt, ohne es zu benennen, auf die wachsende
Bedeutung nachträglicher Filter der Empfehlung zu sprechen:
Die entscheidende Phase für die Mode und den Wechsel der Stile, für die permanente Hektik
der Veränderung der Ausdrucksmittel und Techniken bringt jedoch erst die Moderne, in der
einerseits Kunst für die Massen produziert wird, andererseits jedoch Experten der Kunstbeur-
teilung, Kritiker von Beruf, sei es in Galerien und Museen, an den Theatern oder in der Presse,
oder auch in den Universitäten als Relais zwischen Künstlern und Publikum stehen. Es sind im
wesentlichen ihr Kunstempfinden und die daraus entspringende professionelle Aufmerksam-
keit, die entscheidend werden für die Orientierung größerer Publika.92
Dadurch, dass Aufmerksamkeit nicht beliebig erregt und gestreut wird, sondern akku-
muliert werden kann, kommt es zu stabilen Knotenpunkten der Beachtung. „Die Auf-
merksamkeit wird nämlich nicht nur direkt durch Aufregendes entzündet. Vielmehr gilt
gerade für öffentliche Kontexte, daß unsere Aufmerksamkeit durch die Aufmerksamkeit
anderer, auf die wir bereits aufmerksam sind, ausgelöst wird.“93 Diese Beobachtung
90
Hilgartner, Stephen; Bosk, Charles L.: The Rise and Fall of Social Problems: A Public Arena
Model. In: American Journal of Sociology 94 (1988), Nr. 1, S. 53–78, hier: S. 56.
91
Hahn, Alois: Aufmerksamkeit. In: Assmann, Aleida; Assmann, Jan (Hrsg.): Aufmerksamkeiten.
München 2001. (= Archäologie der literarischen Kommunikation VII), S. 25–56.
92
Ebd., S. 43.
93
Ebd., S. 56.
Beschreibungsmöglichkeiten für Kanonisierung nach 1960 31
überträgt Hahn auf die Kanonizität von Texten: „Kanonische Texte wären in diesem
Sinne Ankerpunkte, auf die man sich immer wieder beziehen muß. Man kann also die
Langlebigkeit bestimmter Kanonisierungen verstehen, ohne die Auffassung von deren
Vorzüglichkeit teilen zu müssen.“94 Der Kanonstatus eines Textes lässt sich also danach
bemessen, wie oft und in welchem Kontext auf ihn Bezug genommen wird. Explizite
Wertungsfragen spielen in dieser Hinsicht insofern keine Rolle, als das, was als Be-
zugspunkt gilt, nicht ständig neu verhandelt werden muss. Vielmehr erzeugt allein die
Tatsache, dass diesem Titel Bedeutung beigemessen wird, erneute Aufmerksamkeit.
94
Ebd., S. 39.
32 Einleitung
Mit Publizität möchte ich die starke Resonanz bezeichnen, die ein Text oder dessen
Autor im unmittelbaren Umfeld der Publikation hervorruft. Multiplikatoren mit einer
großen Reichweite, wie Rezensenten, die die Texte in auflagen- oder quotenstarken
Medien besprechen, stellen in meinem Untersuchungsfeld den wichtigsten Faktor dafür
dar, dass ein Titel in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Aber auch die Etikettie-
rung als Bestseller, Skandalroman und entsprechende Werbemaßnahmen seitens des
Verlags können Publizität hervorrufen und verstärken. Lässt sich die mediale Aufmerk-
samkeit, die einem Text oder Autor widerfährt, nicht aus dem unmittelbaren Kontext
hinaus transferieren, so kann die anfängliche Publizität nicht zur Etabliertheit oder Ka-
nonizität des Textes führen.
Die diskursive oder (multi-)mediale Präsenz eines literarischen Textes, beispielswei-
se in Form von Textausgaben, Intertextualität oder intermedialen Bezügen und Anspie-
lungen halte ich dann für Anzeichen einer Etabliertheit des Textes, wenn sie auch über
den zeitlichen Rahmen der unmittelbaren Reaktion (Rezensionen bei Neuerscheinun-
gen, gleichzeitige Vermarktung von Hörbüchern, Filmen, Sonderausgaben) hinaus an-
hält. Etabliert kann ein Text für eine Gruppe oder Subkultur sein, ohne außerhalb dieses
Kreises bekannt zu sein, im Falle von so genannten ‚Kultbüchern‘. Die Etabliertheit
eines Textes dokumentiert sich etwa im langfristigen Absatz der Textausgaben oder
einer Verwendung des Werkes als Maßstab und Abgrenzungsfolie für die Bewertung
und Charakterisierung von Neuerscheinungen in Rezensionen. Dabei kann auch dann
die Rede von der Etablierung eines Textes sein, wenn der Text nicht dem Geschmack
der Adressaten entspricht und dennoch als kennenswert eingestuft wird.
Der Unterschied, den ich zwischen der Kanonizität und der Etabliertheit eines Textes
mache, ist der, dass ich die Kanonizität in einem allgemein-öffentlichen Rahmen oder
institutionellen Rahmen mit hoher Reichweite ansiedle. Dabei verstehe ich Öffentlich-
keit mit Habermas als kommunikatives Netzwerk und symbolischen Ort der, idealiter,
durch voraussetzungslose Teilnahme gekennzeichnet ist und der über die kommunikati-
ve Reichweite von Subkulturen hinaus geht.95 Kanonizität ist wie Etabliertheit an Dauer
gebunden und wird, wie Publizität, durch eine hohe Reichweite erreicht. Die Auswahl
und Vermittlungspraxis literarischer Werke orientiert sich im Fall der Kanonizität nicht
offen an persönlichen Präferenzen, sondern an dem Paradigma der Verbindlichkeit ka-
95
„Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten
und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse
so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinun-
gen verdichten.“ (Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des
Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992, S. 436.) Zum Problem der
Teilhabe an Öffentlichkeit vgl. auch: Hahn, Alois: Aufmerksamkeit. In: Assmann, Aleida; Ass-
mann, Jan (Hrsg.): Aufmerksamkeiten. München 2001. (= Archäologie der literarischen Kommu-
nikation VII), S. 25–56, hier: S. 54. Vgl. zur Begriffsgeschichte auch Strum, Arthur: Öffentlich-
keit / Publikum. In: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4: Medien – Populär.
Stuttgart, Weimar 2002, S. 583–637.
Beschreibungsmöglichkeiten für Kanonisierung nach 1960 33
schen Geschmack nicht abzubilden vermag. Kann man für den Buchmarkt vor den
1960er Jahren noch annehmen, dass vor allen Dingen die Reichweite der Registrati-
onsmedien entscheidend ist, so spielt mit zunehmender Pluralisierung und Parzellierung
der Geschmäcker und Ansichten in unterschiedlichen Milieus die Frage nach der jeweils
von den Nutzern zugesprochenen Vertrauenswürdigkeit der Registrationsmedien eine
große Rolle.
Den unterschiedlichen Status der Publizität, Etabliertheit und Kanonizität sind ver-
schiedene Registrationsmedien zugeordnet. Von der Publizität eines Titels oder Autors
künden etwa Bestsellerlisten und Rezensionen, Artikel und Interviews. Die Etabliertheit
wird beispielsweise durch Anspielung und Zitat, aber auch durch Erinnerungs- und
Jubiläumsartikel in der Presse sowie durch die Aufnahme in Nachschlagewerke mit
beschränkter Lemmazahl oder speziellem Zuschnitt markiert. Besonders Medien mit
Special-Interest-Ausrichtung, von Fachzeitschriften bis zum Internet, registrieren die
etablierten Texte und Autoren ihrer Interessensgebiete. Auf Verlagsseite sind die
Backlists Orte für etablierte Texte. Kanonisierung zeichnet sich wiederum ab in Form
einer längerfristigen Platzierung in Nachschlagewerken mit stark begrenzter Lemma-
zahl, die repräsentativ sind und eine hohe Reichweite haben. Zudem zeichnet sie sich ab
in Lektürelisten und Curricula mit großer Reichweite, sowie in öffentlichen Gedenkver-
anstaltungen größeren Ausmaßes (Schillerfeiern, Goethe-Jahr) und schließlich der dau-
erhaften Kopplung an Schlagwörter wie Weltliteratur, Klassiker oder Kanon selbst.
An dieser Stelle sei betont, dass die hier vorgenommene Klassifizierung Modellcha-
rakter besitzt und für die Fragestellung dieser Arbeit entwickelt wurde. Es geht nicht
darum, dieses Modell auf die tatsächlichen Zusammenhänge im literarischen Feld in
jedem Detail anwenden zu können, sondern darum, über ein begriffliches Instrumenta-
rium zu verfügen, das einfacher und treffender als die bisherigen Begriffsbestimmungen
gerade die Verlagshandlungen, ihre Voraussetzungen und Konsequenzen in Bezug auf
die Auswahl und Positionierung von Literatur zu beschreiben in der Lage ist. Eine wei-
tere Einschränkung muss gemacht werden: Die Prozesse der Etablierung und Kanoni-
sierung von Literatur werden in dieser Arbeit nur anhand der deutschsprachigen Litera-
tur in der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Die oben vorgestellte Begrifflichkeit
ist nicht unverändert auf den internationalen Literaturmarkt und die Kanonisierung
internationaler Literatur zu übertragen. Allein schon deshalb, weil fremdsprachige Lite-
ratur weder in deutschen Übersetzungen noch außerhalb der gängigen Fremdsprachen
Englisch, Spanisch und Französisch Eingang in den schulischen Lektürekanon finden
kann, liegen hier andere Bedingungen der Etablierung vor. Zudem stellt die Überset-
zung und Bekanntmachung eines Textes aus einer Fremdsprache bereits eine Transfer-
leistung dar, die nach meinen Rubrizierungen eine Etabliertheit des Textes anzeigen
kann – zugleich handelt es sich jedoch bei einer deutschen Erstauflage um die Einfüh-
rung eines Textes auf dem deutschen Markt.
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 35
1.4.1 Systemtheorie
Aus dem gleichen Vorbehalt, den ich gegenüber dem invisible-hand-Modell habe,
möchte ich auch keine systemtheoretische Modellierung der Kanonisierungsfunktionen
des dtv vornehmen, die auf Luhmanns makrosoziologisch orientierter Theorie fußt:
Mangels Akteursebene können wichtige Parameter der Selektion von Titeln für das
Verlagsprogramm nicht untersucht werden, wenn man Kanonbildung als abstrakten
evolutionären Prozess begreift. In Bezug auf Luhmanns Theorie der funktional ausdiffe-
renzierten Gesellschaft formuliert Uwe Schimank diesen Einwand wie folgt:
Gesellschaftliche Differenzierung läßt sich weder auf Effizienz-/Effektivitätsgewinne – so die
traditionelle Antwort der Theorie funktionaler Differenzierung – noch auf Evolution – so die
moderne Antwort – zurückführen; gesellschaftliche Differenzierung ist vielmehr nur als Er-
gebnis von Interessen- und Einflußkonstellationen gesellschaftlicher Akteure im Rahmen funk-
tionaler Erfordernisse gesellschaftlicher Reproduktion angemessen rekonstruierbar.96
96
Schimank, Uwe: Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher
Differenzierung – Ein Diskussionsvorschlag. In: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), Nr. 6,
S. 421–434, hier: S. 422.
36 Einleitung
Er erläutert:
Das Werk (W) eines Autors (A) kann in die Literatur eingehen, wenn es den Distributions-
apparat (D) zu passieren vermag, d. h. wenn ein Lektor, Verleger, Produzent, Redakteur usw.
sich seiner annimmt und es über ein Distributionsmedium (Fernsehen, Buchhandel, Radio
usw.) vor die Öffentlichkeit (S [öffentliche Kritik; EK] und P [Publikum; EK]) bringt.97
Der durch diese Darstellung nahe gelegte ‚Mechanismus‘ literarischen Erfolgs ist stark
vereinfacht und kann heutige Resonanzbedingungen nicht abbilden. S. J. Schmidt wie-
derum unterscheidet vier Handlungsrollen im Literatursystem: Produzenten, Vermittler,
Rezipienten, Verarbeiter.98 Angesichts der Kanonfrage erläutert er zusammen mit Peter
Vorderer die Funktionen, die der Kanon für die unterschiedlichen Handlungsebenen im
Literatursystem inne hat. Den Literatur-Produzenten dient dieser als Bezugsgröße, um
eigene Problemlösungen zu kontrastieren.99
Für Literatur-Vermittler dienen Kanones zur Beobachtung und Regulierung des Marktes in
vielfältigen Hinsichten. Die Rekrutierung von Autoren und Manuskripten, die Bestimmung
von Auflagenhöhe und Ausstattung, Preis und PR stehen in Relation zum jeweils aktuellen öf-
fentlichen Kanonwert eines Autors bzw. Werkes. […]
Literatur-Rezipienten liefert der Kanon eine Auswahl aus dem immer unüberschaubarer wer-
denden Angebot an literarischen Texten. Kanones informieren darüber, was soziale und histo-
rische Selektionsprozesse überlebt hat und wie es bewertet wird. Kanonwissen als Teil kollek-
tiven kulturellen Wissens eröffnet Distinktionschancen über den Aufbau von symbolischem
Kapital. Dabei kann auch hier sowohl die Teilhabe an Kanonisiertem als auch die – entspre-
chend mitgeteilte – Verweigerung an solcher Teilhabe Distinktionswerte schaffen, die Identi-
tätsaufbau erleichtern.
Für Literatur-Verarbeiter wie Kritiker oder Literaturwissenschaftler dienen Kanones als Set
von Erwartungserwartungen, auf die man sich in der literarischen Kommunikation als kollek-
97
Kreuzer, Helmut: Zum Literaturbegriff der sechziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. In:
Rüdiger, Horst (Hrsg.): Literatur und Dichtung. Versuch einer Begriffsbestimmung. Stuttgart u. a.
1973, S. 144–159, hier: S. 145.
98
Siehe zu den Handlungsrollen etwa Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsys-
tems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989, hier: S. 280–380.
99
Aufgrund dieser verknappten Darstellung sei darauf hingewiesen, dass Schmidt für die Funktion
von Kanones für Autorinnen und Autoren durchaus unterscheidet zwischen einer Phase normati-
ver Literaturbegriffe, in denen die Orientierungsfunktion auf Imitation abstellt und der Phase funk-
tional ausdifferenzierter Gesellschaften, in denen ein Innovationsprinzip herrscht. (Schmidt, Sieg-
fried J.; Vorderer, Peter: Kanonisierung in Mediengesellschaften. In: Poltermann, Andreas (Hrsg.):
Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Berlin 1995, S. 144–159, hier: S. 152 f.)
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 37
tives Wissen beziehen kann. Vor dieser Folie wird Neues beobachtbar und argumentierbar.
Erwartetes Kanonwissen reduziert Komplexität im Sinne von Argumentations- und Legitima-
tionsaufwand. Kanones verpflichten scheinbar zu immer neuen Interpretationen, in denen die
eigenen Konzepte von ‚Kultur‘, ‚Gesellschaft‘ und ‚Literatur‘ entfaltet und bestätigt werden
(können) Eigene Kanonisierungsbemühungen verheißen darüber hinaus Selbstpromotion. Und
auch ein geglückter weil folgenreicher Versuch der Umhierarchisierung eines Autors oder ei-
ner Autorin verheißt dem Literatur-Verarbeiter eigene Profilierung: Man entgeht dem Verges-
sen, indem man Autorinnen und Autoren dem Vergessen entreißt.100
Der Schematismus dieser Zuweisung von Handlungsrollen ist zu Recht bemängelt wor-
den, da sich z. B. die Handlungen des Verlags nicht in Selektion und Distribution
(Kreuzer) erschöpfen und auch mit dem allgemeinen Begriff der Vermittlung, dem sie
bei Schmidt zugeordnet sind, nur unzureichend beschrieben sind.101
Anhand der oben zitierten Passage zu den Funktionen des Kanons wird ersichtlich,
dass der Kanon für den Verlag neben der Marktbeobachtung und -regulierung ebenso
die übrigen Funktionen erfüllt: Kanongegenstände dienen Verlagen als Bezugsgrößen,
von denen sie ihre Titel in Klappentexten etwa abgrenzen. Kanonrekurse verschaffen
Distinktionsgewinne und damit symbolisches Kapital. Außerdem dienen kanonische
Bezüge den Verlagen, wie auch den Kritikern und Literaturwissenschaftlern, als erwart-
barer Kenntnisstand ihrer Adressaten, auf den sie sich in der Kommunikation beziehen
können.
Eine weitere systemtheoretisch grundierte Auseinandersetzung mit dem Kanon findet
in Georg Stanitzeks Aufsatz „0/1“, „einmal/zweimal“ statt. Dadurch, dass er den „Ka-
non in der Kommunikation“ untersucht, kann Stanitzek hier Kanonisierungsprozesse
formal als Operationen beschreiben. Ausgangspunkt ist für ihn das folgende Edikt Jean
Pauls: „Wenn ein Buch nicht werth ist 2 mal gelesen zu werden, so ists auch nicht werth
1 mal gelesen zu werden.“102 Stanitzek untersucht die Codes, die zu Konstitutionszeiten
des genuin literarischen Kanons einen Text als kanonisch markieren. Es ist dies, als
Erbschaft der religiösen Lektürepraxis, die Wiederholungslektüre von Texten.103 Das
100
Schmidt, Siegfried J.; Vorderer, Peter: Kanonisierung in Mediengesellschaften. In: Poltermann,
Andreas (Hrsg.): Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Berlin 1995, S. 144–159,
hier: S. 152 f.
101
Für die Instanz der Literaturkritik weist Bernhard Jendricke darauf hin, dass verschiedene Hand-
lungsrollen von dieser übernommen werden, so dass bei einer Fokussierung auf eine einzelne Ka-
nonisierungsinstanz die Aufsplittung der Handlungsrollen, zumindest in orthodoxer Variante, un-
zulässig erscheint. Jendricke, Bernhard: Sozialgeschichte der Literatur. Neuere Konzepte der
Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Zur Standortbestimmung des Untersuchungsmodells der
Münchener Forschergruppe. In: Heydebrand, Renate von (Hrsg.): Zur theoretischen Grundlegung
einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988, S. 27–
84.
102
Zit. n: Stanitzek, Georg: „0 / 1“, „einmal / zweimal“ – der Kanon in der Kommunikation. In: Dotz-
ler, Bernhard J. (Hrsg.): Technopathologien. München 1992, S. 111–134, hier: S. 122.
103
Das mehrfache Lesen stellt sich als evolutionärer Prozess der Informationsverarbeitung dar, dem
unterschiedliche Lektüremodi zugrunde liegen: „Die kursorische Lektion organisiert die entschei-
38 Einleitung
Rezensionswesen dient dabei der Orientierung und macht es erst möglich, durch Dele-
gierung der Lektüre an den Rezensenten, gar nicht zu lesen, was, dem Rezensenten
zufolge, nicht wert ist ein Mal gelesen zu werden. Auf dem Literaturmarkt wird zu-
nächst nicht die Wiederholungslektüre gefördert, vielmehr sind Verleger zeitgenössi-
scher Literatur darauf bedacht, neue Werke abzusetzen. Erst die Vergesslichkeit des
Literaturmarktes alimentiert die Autoren. Stanitzek zitiert den ironischen Kommentar
Ludwig Tiecks zu diesem Zwang zu Vergessen: „Kurz, das liebe Publikum würde
wahrhaftig, wenn es Gedächtnis hätte, am Ende darauf verfallen, die guten Bücher lie-
ber mehrmals zu lesen, als die schlechten Wiederholungen schlechter Bücher.“104 Vor
diesem Hintergrund definiert Stanitzek den Kanon wie folgt:
Der Kanon ist das Gedächtnis der Literatur. Es hat seinen ‚Ort‘ im Topos der wiederholten
Lektüre, der in der Kommunikation realisiert wird als Applikation des Arguments, ein Text sei
einmal (das heißt soviel wie keinmal) oder zweimal zu lesen. Der nicht an der Kanonkommu-
nikation beteiligte ‚Einmal-Leser‘ wiederholt (sich), ohne daß die Wiederholung einem Ge-
dächtnis dienstbar gemacht würde; er liest immer wieder neue Texte und Autoren, ohne daß
diese wirklich Neues böten. Der Wirklichkeit des Neuen versichert sich demgegenüber das
Publikum, das an der literarischen Charakteristik teilhat, indem es selegiert: Ins Töpfchen der
wiederholten, ins Kröpfchen der einmaligen Lektüre.105
Zusammen mit den Texten werden auch die Selektionskriterien selektiert, so dass kano-
nische Texte paradigmatischen Status erlangen: „Nirgendswo anders erweist sich der
kanonische Status eines Textes prägnanter als in den Charakteristiken, die sich seiner
erinnern, wenn es Texte zu charakterisieren gilt.“106 Die Selektionsoperationen der Ka-
nonizität vollziehen sich temporär, wohingegen, so Stanitzek, Klassizität den Versuch
darstellt, „den Kanon gewissermaßen wieder aus der Zeit herauszunehmen, ihn irrever-
sibel zu halten.“107
Die Unterscheidung von Kanon und Klassik ist an dieser Stelle interessant, weil sie
die definitorischen Schwierigkeiten zwischen dem postulierten Kanon und aktiven Ka-
nones zu überwinden scheint.108 Andererseits widerspricht sie der konventionalisierten
Verwendungsweise von Kanon, die diesen gerade mit dem Klassik-Begriff koppelt und
denden lohnenden Hinsichten auf einen Text […]; die statarische widmet sich den von der kursori-
schen Lektion als besonders relevant erkannten Passagen, sie legt sich aufs Einzelne, um so die
aus der ersten Lektion herrührende These zu kontrollieren und zu präzisieren und insbesondere die
dem Text eigentümlichen sprachlichen Verfahren zu würdigen.“ (Ebd., S. 122 f.)
104
Zit. n. ebd., S. 125.
105
Ebd., S. 126.
106
Ebd., S. 127.
107
Ebd., S. 130.
108
Herrmann, Leonhard: Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissen-
schaft. In: Ehrlich, Lothar; Schildt, Judith; Specht, Benjamin (Hrsg.): Die Bildung des Kanons.
Textuelle Faktoren – kulturelle Funktionen – ethische Praxis. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 21–
41.
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 39
führt damit auf der Theorieebene eine neue Begriffsnutzung ein. Stanitzek erläutert die
Umwertung von Kanon zu Klassik wie folgt:
Doch wie ist dann die Mutation des Kanons zur Klassik möglich? Offenbar nur, indem ‚etwas
anderes‘ anschließt. Der Kanon wird zum einen in Interaktion zurückgenommen: Er dient zum
Anlaß einer bildungsbürgerlichen Fest- und Feierkultur, welche die Ostentation von morali-
scher und politischer Gesinnung, von Bildung und Geschmack erlaubt. Und er wird zum ande-
ren, vielleicht wichtiger noch, in die Schule reintroduziert: Und das ermöglicht es, die oben
beschriebene Technik wiederholter Lektüre zur Reproduktion quasi-identischer Resultate ein-
zusetzen.109
Stanitzeks Modell ist somit für die Entstehungszeit des literarischen Kanons tragfähig
und fruchtbar. Die Aufforderung zur Mehrfachlektüre stellt sich jedoch nicht als wand-
lungsimmune Codierung für Kanonkommunikation dar.110
Ebenfalls systemtheoretisch argumentiert ein Modell Leonhard Herrmanns. Kanon
wird hier als autopoietisches System verstanden, womit sich einerseits der Gedanke
Stanitzeks wiederfindet, dass mit den Texten die Selektionskriterien selektiert wer-
den.111 Andererseits denkt Herrmann im Gegensatz zu Stanitzek die Akteursebene nicht
mit. Hier kanonisieren sich die Texte selbst:
Die interne Anschlußfähigkeit an die bereits kanonisierten Texte entscheidet über Inklusion
oder Exklusion. […] Das Kriterium der Anschlußfähigkeit bedeutet die Berücksichtigung von
internen Kanonstrukturen für den Prozeß der Kanonisierung, ohne diese Eigenschaften explizit
als Kriterien im Sinne eines Deutungskanons definieren zu müssen. Bezogen auf das Klassik-
Problem heißt das: Im Zuge der Ausdifferenzierung eines autopoietischen Systems ‚Klassik‘
im Laufe des 19. Jahrhunderts bestimmen zunehmend die Texte selbst die Zusammensetzung
des Kanons112
109
Stanitzek, Georg: „0 / 1“, „einmal / zweimal“ – der Kanon in der Kommunikation. In: Dotzler,
Bernhard J. (Hrsg.): Technopathologien. München 1992, S. 111–134, hier: S. 131.
110
Gerade die Aufwertung des Ephemeren im 20. Jahrhundert, vor allem durch die wirkungsmächtige
Position Theodor W. Adornos, steht der Konstruktion von Kanon als Gedächtnis und der Forde-
rung nach Wiederholungslektüre entgegen. So heißt es in der Ästhetischen Theorie: „Sobald die
Kunstwerke die Hoffnung ihrer Dauer fetischisieren, leiden sie schon an ihrer Krankheit zum To-
de: die Schicht des Unveräußerlichen, die sie überzieht, ist zugleich die, welche sie erstickt. Man-
che Kunstwerke höchster Art möchten sich gleichsam an die Zeit verlieren, um nicht ihre Beute zu
werden […].“ (Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1973, S. 50.) Nichtsdes-
toweniger bleibt die Forderung nach Wiederholungslektüre weiterhin Bestandteil von Kanonrheto-
rik.
111
Vgl. zu diesem Gedanken auch die Ausführungen von Alois Hahn zum stabilisierenden Effekt von
Selbstreferenzialität auf Kanones. Hahn, Alois: Aufmerksamkeit. In: Assmann, Aleida; Assmann,
Jan (Hrsg.): Aufmerksamkeiten. München 2001. (= Archäologie der literarischen Kommunikation
VII), S. 25–56, hier: S. 39.
112
Herrmann, Leonhard: Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissen-
schaft. In: Ehrlich, Lothar; Schildt, Judith; Specht, Benjamin (Hrsg.): Die Bildung des Kanons.
Textuelle Faktoren – kulturelle Funktionen – ethische Praxis. Köln, Weimar, Wien 2007 S. 21–41,
hier: S. 38.
40 Einleitung
Die Konstruktion des Kanons als autopoietisches System ist einerseits schlüssig, sofern
sie die evolutionäre Dynamik von Kanones erklären kann. Ein solches Modell der Ka-
nonbildung ohne Akteursebene zu konstruieren, ist jedoch aus den folgenden Gründen
problematisch: Geht man davon aus, dass es den Kanon nicht gibt, sondern verschiede-
ne Kanones, muss ein Erklärungsmodell entweder so vage gehalten sein, dass es unter-
schiedliche Kanones zu beschreiben vermag oder aber im Vorfeld für näher bestimmte
Kanones reserviert werden.
Ein Kanonmodell, das Kanones idealtypisch beschreiben soll, suggeriert den akteurs-
unabhängigen Vollzug von Kanonbildung (vgl. Herrmann). Dies ist als Erklärungsmo-
dell mit einer empirischen Beschreibungsebene, die Diskurse über Handlungen rekon-
struiert, nicht zu vereinen. Ein Modell, das Kanon als autopoietisches System
beschreibt, kann historische Brüche und Einflussfaktoren nicht unterscheiden und in
ihren jeweiligen Auswirkungen auf den Kanon erklären. So sind die dezidierten Kanon-
umbauten nach 1933 und 1945 etwa nicht aus diesem Modell zu erklären. Unterschiede
zwischen verschiedenen Kanoninstanzen untereinander und zur Öffentlichkeit können
auf dieser Beschreibungsebene nicht hinreichend abgebildet werden: Was unterscheidet
die Schule vom Verlag hinsichtlich der Kanonbildungsfunktion?
‚Zoomt‘ man an einzelne Kanonisierungsinstanzen wie Schule oder Verlag heran,
benötigt man ein Theorieset, das die Handlungen der Akteure als solche einbeziehen
kann. Für meine Fragestellung bietet sich folglich nur eine theoretische Rahmensetzung
an, die eine Akteursebene beschreibbar macht. Im Folgenden möchte ich verschiedene
Modellmöglichkeiten diskutieren.
113
Einen Überblick hierzu bietet Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einfüh-
rung. 2., grundlegend überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden 2006.
114
Callon, Michel; Latour, Bruno: Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makro-
struktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen. In: Belliger, Andréa; Krieger,
David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld
2006, S. 75–101. Eine Einführung gibt außerdem Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine
neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt 2007.
115
So soll die Subjekt-Objekt-Unterscheidung aufzuheben sein, die meist an eine menschliche Sub-
jektwelt und eine gegenständliche Objektwelt gekoppelt ist. Vgl. die daran bereits ansetzende Kri-
tik Heideggers und seine Konstruktion eines Verweisungszusammenhangs, bes. in den §§ 10–27
von Sein und Zeit. Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. 18. Aufl. Tübingen 2001, S. 45–130.
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 41
Da für meine Untersuchung nicht nur die Handlungen einzelner Akteure relevant
sind, sondern auch die Beschreibung der Handlungen des ‚Akteurs dtv‘, möchte ich
besonders auf die Beschreibungsmodi kollektiver Akteure eingehen. „A collectivity“, so
definiert Parsons, „is a special type of social system which is characterized by the ca-
pacity for action in concert.“116
Um den „mangelnde[n] Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftli-
cher Differenzierungen“ in die Diskussion einzubringen, unterscheidet Schimank in
seinem bereits erwähnten Aufsatz zwischen handlungsprägenden und handlungsfähigen
Sozialsystemen.
Alle Sozialsysteme sind in der beschriebenen Weise handlungsprägend – manche Sozialsyste-
me sind jedoch darüber hinaus auch noch handlungsfähig. Intuitiv leuchtet diese Unterschei-
dung leicht ein. Niemand – außer ein gedankenlos formulierender Systemtheoretiker – würde
davon sprechen, daß z. B. das Wirtschaftssystem ‚handelt‘. Das Wirtschaftssystem als gesell-
schaftliches Teilsystem legt vielmehr, wie man sagen würde, dem in ihm stattfindenden Han-
deln Beschränkungen auf. Anders hingegen bei einem Unternehmen oder einer Fußballmann-
schaft: Diese Sozialsysteme – formale Organisation in einem, Gruppe im anderen Falle –
können nicht nur Handeln konditionieren, sondern auch als Systeme selbst im landläufigen
Sinne des Wortes ‚handeln‘ – z. B. eine Strategie verfolgen. Diese handlungsfähigen Sozial-
systeme können nicht nur das Handeln von Akteuren regulieren, sondern selbst als Akteure
auftreten – was nichts anderes heißt, als daß ihnen Handeln zugerechnet werden kann.117
116
Parsons, Talcott; Smelser, Neil J.: Economy and Society. A study in the Integration of Economic
and Social Theory [1956]. London 1972, S. 15.
117
Schimank, Uwe: Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher
Differenzierung – Ein Diskussionsvorschlag. In: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), Nr. 6,
S. 421–434, hier: S. 427.
118
Ebd., S. 430.
119
Ebd., S. 430.
42 Einleitung
Abb. 3: Schema nach Schimank (Quelle: Schimank, Uwe: Der mangelnde Akteurbezug systemtheore-
tischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung – Ein Diskussionsvorschlag. In: Zeitschrift für
Soziologie 14 (1985), Nr. 6, S. 421–434, hier: S. 432.)
Näher führt er aus: „Die Interessenlage eines Akteurs muß zunächst einmal seinen ex-
plizit formulierten Handlungszielen entnommen werden.“120 Zum Einflusspotenzial
expliziert Schimank:
Das Einflußpotential eines handlungsfähigen Sozialsystems kann als dessen Fähigkeit, seinen
Interessen Geltung zu verschaffen, verstanden werden. Dieser Einfluß kann dabei zum einen
auf der substitutiven oder komplementären Nutzung zweier Arten von Sanktionen beruhen: der
Gewährung positiver Sanktionen und/oder der Androhung negativer Sanktionen – wobei letz-
teres die Androhung der Nichtgewährung erwarteter positiver Sanktionen mit einschließt.121
Als Beispiele für Sanktionsmöglichkeiten führt Schimank an, dass ein Akteur einem
anderen Akteur „Anerkennung zollen oder ihn moralisch verurteilen“ kann.
Diese Konstruktion kollektiver Akteure ist insofern für meine Arbeit ein wichtiges
Fundament, als ein Verlag einerseits als handlungsfähiges Sozialsystem innerhalb des
Sozialsystems Literatur betrachtet werden kann, andererseits aber auch einzelne Akteu-
re fokussiert werden können, die in diesem „Konzert“ (Parsons) kollektiven Handelns
besonders hervortreten. Gerade für die Anfangsjahre des dtv spiegeln sowohl eine Ebe-
ne, die den Verlag als Akteur ansieht als auch eine Ebene, die einzelne Akteure in ihrem
Handeln beobachtet, die zeitgenössische Selbst- und Fremdwahrnehmung des Verlags
wider.
120
Ebd., S. 430.
121
Ebd., S. 431.
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 43
Aus Schimanks Darstellung ist allerdings nicht ersichtlich, wie sich handlungsfähige
Sozialsysteme auf handlungsprägende beziehen, d. h., wie die Handlungsprägung sich
vollzieht. Er spricht davon, dass sich Handeln gemäß einem Zweck-Mittel-Schema
vollzieht, kann dieses Schema aber allgemein nicht näher beschreiben als durch das
Abwägen von Interessenskonstellationen (Zwecke) und Einflusskonstellationen (Mit-
tel). Dies setzt eine gute Kenntnis der eigenen Handlungsspielräume und eine klare
Abgrenzungsmöglichkeit des handlungsprägenden Sozialsystems voraus. Unter welches
handlungsprägende Sozialsystem aber sind Verlage zu subsumieren? Und wie kommt
es, dass verschiedene Verlage innerhalb desselben Sozialsystems derartig unterschied-
lich agieren wie z. B. die Verlage Droemer Knaur und dtv? Beide waren in den 1960er
Jahren erfolgreiche Publikumsverlage, allerdings mit völlig unterschiedlichen Interes-
sens- und Einflusskonstellationen. Wo Droemer erfolgreich hohe Lizenzinvestitionen
tätigte und seine Position ökonomisch absicherte, positionierte sich der dtv auf dem
Sektor der Kulturverlage und machte seinen Einfluss durch Netzwerke und die Missbil-
ligung andersartiger Verlagsstrategien geltend. Die Handlungsweisen der beiden Verla-
ge stellen also verschiedene Möglichkeiten dar, innerhalb eines handlungsprägenden
Sozialsystems zu handeln. Damit weisen sie auch auf die Abhängigkeit von handlungs-
fähigen Sozialsystemen und Akteuren hin, die sich innerhalb eines Bereichs von Hand-
lungsmöglichkeiten durch dezidierte Abgrenzung voneinander unterschiedlich positio-
nieren.
Eine Theorie, die die Relationalität von Akteuren ins Zentrum stellt und zudem die
Handlungsprägung innerhalb einen Bereichs begrifflich präzisiert als ‚Wahrnehmungs-,
Denk- und Handlungsschemata‘, liegt in der Feldtheorie Bourdieus vor. Auch sie liefert
wichtige Bausteine zum Theorierahmen der vorliegenden Arbeit.
Der in der Metaphorik des Feldes gebündelte theoretische Ansatz und die Begrifflich-
keit des französischen Soziologen Pierre Bourdieu sollen auf einer mittleren Analyse-
ebene die „Antinomie zwischen einer subjektzentrierten und einer systemdeterministi-
schen Sichtweise“, so Joseph Jurt, überwinden.122 Bourdieu erläutert:
Denn meine Behauptung ist, daß es zum Verständnis der Kulturproduktion (Literatur, Wissen-
schaft usw.) nicht ausreicht, sich auf den Textinhalt dieser Produktion zu beziehen, daß es aber
ebensowenig genügt, den gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, also eine unmittelbare
Verbindung von Text und Kontext herzustellen. Ich nenne das einen ‚Kurzschluß‘ […] Ich be-
haupte dagegen, daß sich zwischen diesen sehr weit entfernten Polen, die man etwas voreilig
durch einen unmittelbaren Stromfluß verbunden sieht, ein vermittelndes Universum, ein
Transformator befindet, den ich literarisches, juristisches oder wissenschaftliches Feld nenne,
ein Universum, das all jene Akteure und Institutionen umfaßt, die Kunst, Literatur oder Wis-
122
Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darm-
stadt 1995, S. IX.
44 Einleitung
senschaft erzeugen und verbreiten. Dieses Universum ist eine soziale Welt wie andere auch,
gehorcht aber mehr oder weniger spezifischen sozialen Gesetzen.123
Damit setzt auch Bourdieus Theorie bei dem Manko einer Einbindung der Akteursebe-
ne in makrosoziologische Theorien an. Für meinen Untersuchungsgegenstand heißt das:
Eine quellenimmanente Auseinandersetzung mit Texten der Verlagsakteure ist nach
Bourdieu ebenso reduktionistisch wie eine nur auf den gesamtgesellschaftlichen Kon-
text hinlenkende. „Hätte ich meine Arbeit in zwei Worten zu charakterisieren“, so
Bourdieu über seine Theoriebildung,
das heißt, wie es heute oft geschieht, sie zu etikettieren, würde ich von strukturalistischem
Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen, dabei das Wort
Strukturalismus allerdings in einer ganz anderen Bedeutung fassen als in der Tradition von
Saussure oder Lévi-Strauss. Mit dem Wort ‚Strukturalismus‘ oder ‚strukturalistisch‘ will ich
sagen, daß es in der sozialen Welt selbst – und nicht bloß in den symbolischen Systemen,
Sprache, Mythos usw. – objektive Strukturen gibt, die vom Bewußtsein und Willen der Han-
delnden unabhängig und in der Lage sind, deren Praktiken und Vorstellungen zu leiten und zu
begrenzen. Mit dem Wort ‚Konstruktivismus‘ ist gemeint, dass es eine soziale Genese gibt ei-
nerseits der Wahrnehmungs- Denk- und Handlungsschemata, die für das konstruktiv sind, was
ich Habitus nenne, andererseits der sozialen Strukturen, die herkömmlicher Weise so genann-
ten sozialen Klassen.124
Bourdieu geht davon aus, dass der soziale Raum durch relativ eigengesetzlich funktio-
nierende Felder organisiert ist. Im Begriff des Feldes führt Bourdieu eine Ebene ein, die
zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und den Akteuren liegt. Ein Feld, etwa das
literarische Feld, verfügt über eine spezifische Brechungsstärke gegenüber seiner Um-
welt, so dass sich etwa politische Zwänge nicht unmittelbar, sondern gebrochen auswir-
ken. Innerhalb der jeweiligen Felder kommt es zwischen den verschiedenen Akteuren
zu Kämpfen um das „Kapital“, das den Erfolg eines Feldspielers in einem bestimmten
Feld zugleich generiert und bezeugt. Kapital meint bei Bourdieu nicht allein ökonomi-
sches, sondern auch kulturelles und soziales Kapital. Eine vierte Kapitalsorte, das sym-
bolische Kapital versteht Bourdieu als „wahrgenommene und als legitim anerkannte
Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee usw. be-
zeichnet).“125 Als weitere Kapitalsorte wirkt sich das spezifische, d. h. nur in einem
bestimmten Feld als ‚Währung‘ akzeptierte Kapital aus, das nicht in andere Felder über-
führt werden kann.126 Im Sinne dieser Differenzierung verschiedener Kapitalien äußert
sich Bourdieu auch zu Fragen des literarischen Kanons. Er stellt den Kanon den Best-
sellern diametral entgegen. Wo im Handel mit Bestsellern deren Verkaufserfolg, also
123
Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissen-
schaftlichen Feldes. Konstanz 1998, S. 17 f.
124
Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und symbolische Macht. In: Ders.: Die verborgenen Mechanis-
men der Macht. Hamburg 1992, S. 135–154, hier: S. 135.
125
Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt
a. M. 1985, S. 11.
126
Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 108.
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 45
ihr Streben nach ökonomischem Kapital, in den Vordergrund gerückt wird, ist diese
Strategien bei Autoren und Verlegern, die den langfristigen, bildungsinstitutionellen
Erfolg, die Kanonisierung, anstreben, verpönt. Das spezifische Kapital des literarischen
Feldes wäre demnach gerade die Abweisung des ökonomischen Erfolgs und die Aner-
kennung, die Autoren durch Kollegen und die Literaturkritik gezollt wird. Bestseller
wiederum sind in diesem Schema am heteronomen Pol des literarischen Feldes zu fin-
den, was suggeriert, dass ihr Erfolg außerliterarischen Regeln folgt.
Damit ist der Gegensatz zwischen den Bestsellern ohne Dauer und den Klassikern, Bestsellern
in Langzeitperspektive, die ihre Kanonisierung, also ihren erweiterten und dauerhaften Markt,
dem Bildungssystem zu verdanken. Den Köpfen in Gestalt eines fundamentalen Trennungs-
prinzips eingeprägt, begründet er zwei entgegengesetzte Vorstellungen von der Tätigkeit des
Schriftstellers und selbst des Verlegers, nämlich als bloßer Geschäftsmann und kühner Entde-
cker: Erfolgreich kann dieser nur sein, wenn er voll und ganz die spezifischen Gesetze und
Einsätze der ‚reinen‘ Produktion anerkennt. Am heteronomsten Pol des Feldes, das heißt für
die am Verkauf orientierten Verleger und Autoren sowie für deren Publikum, ist der Erfolg als
solcher eine Gütegarantie. […] Am entgegengesetzten Pol hat unmittelbarer Erfolg etwas Su-
spektes an sich.127
Der Fokus auf die Kampfbereitschaft der in einem Feld agierenden Spieler lässt nicht
die stabilisierenden Faktoren im Feld außer Acht: „Alle, die sich in einem Feld betäti-
gen, haben bestimmte Grundinteressen gemeinsam, nämlich alles, was die Existenz des
Feldes selbst betrifft.“128 Diese, auch impliziten, Glaubenssätze der Feldakteure be-
zeichnet Bourdieu als „illusio“: „Illusio bezeichnet die Tatsache, daß man vom Spiel
erfaßt, vom Spiel gefangen ist, daß man glaubt, daß das Spiel den Einsatz wert ist oder,
um es einfach zu sagen, daß sich das Spielen lohnt.“129 Auch wenn ein Akteur die kon-
krete Ausgestaltung des Feldes revolutionieren möchte, bleibt er dem Glauben an die
Sinnhaftigkeit der Grundprinzipien des Feldes verhaftet.130
Die Akteure sind den strukturellen Begrenzungen des Feldes unterworfen. Eine wei-
tere Begrenzung ihres Handlungsspielraums macht der Habitus-Begriff offensichtlich:
Jeder Akteur bewegt sich im Rahmen eines habituellen Dispositionssystems, das gesell-
schaftlich determiniert ist.131 Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata
bilden die Basis für den sozialen Sinn (le sens pratique).
127
Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt
a. M. 1999, S. 237 f.
128
Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 109.
129
Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M. 1998, S. 140 f.
130
Siehe dazu: „Als ‚illusio‘ bezeichnet Bourdieu die Tatsache, dass Akteure vom Spiel in einem
Feld erfasst, von ihm so gefangen genommen werden – und damit das Feld und seine Einsätze
z. B. auch dann anerkennen, wenn ihre Aktivitäten auf dessen (revolutionäre) Umgestaltung abzie-
len […].“ (Dölling, Irene: Habitus. In: Haug, Wolfgang F. (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörter-
buch des Marxismus. Bd. 5: Gegenöffentlichkeit bis Hegemonialapparat. Hamburg 2001, S. 1106–
1114, hier: S. 1108.)
131
Determiniert ist mithin nicht eine einzelne Handlung des Akteurs, sondern sein Handlungsrahmen.
46 Einleitung
Der Habitus als ein System von – implizit oder explizit durch Lernen erworbenen – Dispositi-
onen, funktionierend als ein System von Generierungsschemata, generiert Strategien, die den
objektiven Interessen ihrer Urheber entsprechen können, ohne ausdrücklich auf diesen Zweck
ausgerichtet zu sein.132
Bourdieu betont, dass der Verwendung des Begriffs der Strategie nicht die Annahme
einer direkten oder berechnenden Verfolgung eines konkret zu benennenden Zieles
zugrunde liegt, sondern „ein unbewußtes Verhältnis zwischen einem Habitus und einem
Feld.“133 Diese Explizierung gilt es im Blick zu halten, wenn im Folgenden davon ge-
sprochen wird, dass Akteure im Verlag bestimmte Strategien verfolgen.
Reiner Keller verortet den Habitus-Begriff in der soziologischen Tradition folgen-
dermaßen:
Innerhalb des durkheimianisch-marxistischen Rahmens dient das Konzept des Habitus einer-
seits zur Konkretisierung der sozialen Positionierungen und Erfahrungslagen der Individuen,
auf deren Bedeutung für die individuelle Wissensaneignung bereits Mannheim hingewiesen
hatte. Daraus ergibt sich andererseits auch die von Bourdieu vorgeschlagene Lösung des We-
berschen Sinnproblems: Die im individuellen, aber zugleich sozial typischen Habitus vollzo-
gene Inkorporierung der gesellschaftlichen Klassifikation und Klassifikationsverhältnisse bil-
det die Grundlage der Übereinstimmung handlungspraktischer Sinnzuweisungen zwischen
sozialen Akteuren und damit auch der Stabilität und Reproduktionsfähigkeit der symbolischen
Ordnung der Gesellschaft.134
Einem Akteur muss es gelingen „seinen Unterschied als soziale Unterscheidung aner-
kennen zu lassen“.137 Dabei sind bereits arrivierte Spieler darauf bedacht, sich durch
Monopolisierung symbolischen Kapitals von strukturell jungen Akteuren abzusetzen.
Neuankömmlinge im Feld wiederum tendieren dazu, die Deutungshoheit der Etablierten
in Frage zu stellen, indem sie sich mittels innovativer Strategien im Feld positionieren.
Der „Platzierungssinn“138 lässt die Feldspieler nach Distinktionsgewinnen streben und
132
Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 113.
133
Ebd.
134
Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms.
Wiesbaden 2005, S. 47.
135
Siehe für das literarische Feld etwa Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur
des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999, S. 379f.
136
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt
a. M. 1987, S. 279.
137
Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Bielefeld
2003, S. 90.
138
Vgl. Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissen-
schaftlichen Feldes. Konstanz 1998, S. 24 f.
Beschreibungsebenen der Kanonisierungspraxis eines Verlags 47
zwingt sie, die jeweilige Strategie zu modifizieren, wenn sie Distinktionsverluste ver-
zeichnen.
An dieser Stelle sei betont, dass die mechanistischen Assoziationen, die diese knappe
Skizze evozieren mag, nicht durch die Umsetzung in der vorliegenden Arbeit bestätigt
werden sollen.
Bourdieus Theorie hat da ihren Wert, wo sie das begrifflich-methodische Hand-
werkszeug zur Verfügung stellt, um Beobachtungen der Verlagsaktivitäten im Rahmen
des näheren strukturellen (also literaturbezogenen) und kulturgeschichtlichen Umfelds
zu beschreiben. Damit stellt sie eine Verständnisgrundlage meiner Argumentation hin-
sichtlich der aufgearbeiteten Quellen und untersuchten Verlagshandlungen dar. Darüber
hinaus macht sie Begrifflichkeiten verfügbar, die zur adäquaten Beschreibung des Ge-
genstands unverzichtbar geworden sind. Es geht jedoch nicht darum, Bourdieus Metho-
dik als Sichtfeldeinschränkung misszuverstehen und zur ausschließlichen Folie für die
Quelleninterpretation zu erklären. So soll Bourdieus Terminologie, die sich in seinen
eigenen Studien zum literarischen Feld nicht vorrangig auf Verlagshandlungen bezieht,
durch entsprechende Weiterentwicklungen in der Begrifflichkeit ergänzt werden. Sie
soll vor allem aber auch nur dort Verwendung finden, wo sich die Beobachtungen nicht
adäquater beschreiben lassen.
Einen zentralen Gewinn aus der Arbeit mit Bourdieus Analyseinstrumentarium stel-
len die unterschiedlichen Kapitalsorten dar. Gerade in der Engführung von ‚ökonomi-
schen‘ und ‚kulturellen‘ Handlungsmotiven im Streben nach „symbolischem Kapital“
kann die Geltung der bereits erwähnten, inszenatorisch verbreiterten, Kluft zwischen
„Geist und Kasse“139 in einer geeigneten Begrifflichkeit überprüft werden.
Jedoch bleiben in Bourdieus Theorie einige Probleme ungelöst. So scheint die Defi-
nition von Feldern, obgleich Bourdieu hier keine orthodoxen Grenzziehungen vorge-
nommen hat, in seinen eigenen Studien stark an traditionellen Rubrizierungen orientiert,
die für gegenwärtige Situationsbeschreibungen nur bedingt taugen. Im literarischen Feld
etwa werden vor allen Dingen diejenigen Akteure betrachtet, die, ihrer Profession hal-
ber, als Autoren, Verleger oder Kritiker, darin tätig sind. So wird es gegen das künstle-
rische Feld abgegrenzt, obgleich hier von Seiten der Rezipienten weniger starke Ab-
grenzungen praktiziert werden: Der Unterschied zwischen einem avantgardistischen
Künstler und einem avantgardistischen Schriftsteller scheint hinsichtlich der Produkti-
ons- und Rezeptionsweisen wie auch hinsichtlich ihres Habitus’ geringer, als der zwi-
schen letzterem und einem Autor von ‚Heftchenliteratur‘, obgleich beide an unter-
schiedlichen Polen im literarischen Feld angesiedelt sind. Auch spielt die tatsächliche
Haupterwerbstätigkeit auf dem literarischen Gebiet besonders für Autoren eine geringe
139
In diesem Wortlaut bei Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)
Story. Mit einem Blick auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang
(Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis
1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis
27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31.
48 Einleitung
Rolle, wie die Untersuchungen von Bernard Lahire zeigen, so dass dieser bevorzugt,
vom „jeu littéraire“, vom literarischen Spiel, statt vom literarischen Feld, zu spre-
chen.140
Eine nahezu ‚klassische‘ Kritik bezieht sich zudem auf die Verallgemeinerbarkeit der
Theorie Bourdieus und artikuliert sich als Zweifel an der Übertragbarkeit seiner Be-
schreibungskategorien und Annahmen auf andere als die beschriebenen Konstellatio-
nen. Das Modell Bourdieus ist entwickelt worden vor dem Hintergrund der französi-
schen Gesellschaft der 1970er Jahre, die sich noch durch eine vergleichsweise
konservative und undurchlässige Schichtung auszeichnet und zugleich den ästhetischen
Geschmack zum Ausweis einer sozialen Position macht. Damit ist es nur bedingt auf
die deutschen und besonders die zeitgenössischen Verhältnisse applizierbar. Gerade der
Blick auf aktuelle Prozesse zeigt, dass sich die literarischen Geschmäcker nicht mehr
klassenspezifisch unterscheiden lassen: ‚Genreliteratur‘ mag zwar unter professionellen
Lesern weiterhin geringer geschätzt werden als die so genannte ‚Höhenkammliteratur‘.
Es geht aber nicht mit sozialer Missbilligung einher, wenn der Physikprofessor seine
Vorliebe für Fantasyromane eingesteht oder das Buchgeschenk für die befreundete Ärz-
tin mithilfe von Bestsellerlisten ausgewählt wird.
Ein weiterer Kritikpunkt an Bourdieu ist der, dass er letztlich auf Theorieebene die
hierarchische Ordnung, die beschrieben wird, reproduziert. Dies verdeutlicht z. B. die
Rede vom „autonomen“ und vom „heteronomen“ Pol der Produktion.141 Nachteilig ist,
dass Bourdieus Theorie zwar Wandlungsprozesse in bestimmten Feldern durch die
Durchsetzung strukturell neuer Akteure beschreiben kann, sozialen Wandel aber letzt-
lich nicht erklären kann, da das Modell auf der Annahme von klassenspezifischen Habi-
tus basiert, die den sozialen Aufstieg erschweren.
Bourdieus Modellierung kann demnach für meinen Beobachtungszeitraum nur teil-
weise der theoretische Hintergrund für die Untersuchung der Kanonisierungsfunktion
des dtv sein, stellt aber für die ersten Jahrzehnte eine wichtige Hilfe dar, um die Posi-
tionierung des dtv in der bestehenden Verlagslandschaft zu beschreiben und zu inter-
pretieren.
140
Lahire, Bernard: La condition littéraire. La double vie des écrivains. Paris 2006.
141
Bourdieu unterscheidet für das literarische Feld den autonomen und den heteronomen Pol wie
folgt: „Je größer die Autonomie und je günstiger das symbolische Kräfteverhältnis den von der
Nachfrage unabhängigsten Produzenten ist, desto deutlicher der Schnitt zwischen den beiden Po-
len des Feldes, nämlich dem Subfeld der eingeschränkten Produktion, deren Produzenten nur an-
dere Produzenten, und damit ihre unmittelbaren Konkurrenten, beliefern, und dem Subfeld der
Massenproduktion, das sich symbolisch ausgeschlossen und diskreditiert findet.“ (Bourdieu,
Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999,
S. 344.)
Die Rolle der Popularisierung für die Kanonisierung 49
142
Vgl. Hierzu die folgenden Publikationen: Shinn, Terry; Whitley, Richard (Hrsg.): Expository
science. Forms and Functions of Popularisation. Dordrecht, Boston, Lancaster 1985; Brand,
Christine: Lexical processes in scientific discourse popularisation. A corpus-linguistic study of the
SARS coverage. Frankfurt a. M. u. a. 2008.
143
Blaseio, Gereon; Pompe, Hedwig; Ruchatz, Jens: Vorbemerkung der Herausgeber. In: Dies.
(Hrsg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 9.
144
Kenkel, Karen J.; Berman, Russell A.; Strum, Arthur: Öffentlichkeit/Publikum. In: Barck, Karl-
heinz (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart 2002, S. 583–637,
hier: S. 584.
50 Einleitung
145
Vgl. zur Problematik der Kategorie der Öffentlichkeit und ihrer alltagssprachlichen Identifikatio-
nen mit „Publika, Gesellschaft oder gar Welt“: Westerbarkey, Joachim: Öffentlichkeit als Funk-
tion und Vorstellung. Versuch, eine Alltagskategorie kommunikationstheoretisch zu rehabilitieren.
In: Wunden, Wolfgang (Hrsg.): Öffentlichkeit und Kommunikationskultur. Münster 2005, S. 53–
64, bes.: S. 60.
146
Schön, Erich: Publikum und Roman im 18. Jahrhundert. In: Jäger, Hans-Wolf (Hrsg.): „Öffent-
lichkeit“ im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 295–326.
147
Ebd., S. 302.
148
Haupt befindet: „So vertrat man zum Beispiel schon im 18. Jahrhundert die – im Zeitalter der
Multimedialität wieder aktuelle – These, daß die Popularisierung eines Stoffes mit dessen meta-
Die Rolle der Popularisierung für die Kanonisierung 51
Sein an der Kritischen Theorie geschulter Begriff räsonierender Öffentlichkeit ist nor-
mativ aufgeladen und wird, wie das folgende Zitat verdeutlicht, an die Schriftkultur
rückgebunden. Als ablehnenswertes Gegenbild zum kritisch debattierenden Bürger
entwirft er die rein rezeptive Konsumption von Kultur.
Der Kulturkonsum ist freilich von literarischer Vermittlung in hohem Maße entlastet; nicht-
verbale Mitteilungen oder solche, die, wenn nicht überhaupt in Bild und Ton übersetzt, durch
optische und akustische Stützen erleichtert sind, verdrängen in mehr oder minder großem
Maße die klassischen Formen der literarischen Produktion.151
Die Mitglieder der Gesellschaft drohen also, nach dem „Zerfall der literarischen Öffent-
lichkeit“,152 zu passiven Konsumenten zu degenerieren, statt, wie in Habermas’ Gegen-
phorisch stilisierter ,Versinnlichung‘ einhergehe und durch einen Medienwechsel zum Bild, dank
einer dadurch garantierten Emotionalisierung, zusätzlich erhöht werden könne.” (Haupt, Sabine:
Populäre Exklusivität – exklusive Popularität. In: Arburg, Hans-Georg von; Gamper, Michael;
Müller, Dominik (Hrsg.): Popularität. Zum Problem von Esoterik und Exoterik in Literatur und
Philosophie. Ulrich Stadler zum 60. Geburtstag. Würzburg 1999, S. 165–202, hier: S. 165.)
149
Ebd., S. 195.
150
Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der
bürgerlichen Gesellschaft [1962]. Frankfurt a. M. 1990, S. 116 f. Vorher definiert Habermas: „Der
Prozeß, in dem die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit vom Publikum der räsonierenden
Privatleute angeeignet und als eine Sphäre der Kritik an der öffentlichen Gewalt etabliert wird,
vollzieht sich als Umfunktionierung der schon mit Einrichtungen des Publikums und Plattformen
der Diskussion ausgestatteten literarischen Öffentlichkeit. Durch diese vermittelt, geht der Erfah-
rungszusammenhang der publikumsbezogenen Privatheit auch in die politische Öffentlichkeit
ein.“ (S. 116)
151
Ebd., S. 266.
152
Ebd., S. 249.
52 Einleitung
153
Ebd., S. 249.
154
Ebd., S. 255 f.
155
Ebd., S. 256 f.
156
Negt, Oskar; Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von
bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1972, S. 385.
Die Rolle der Popularisierung für die Kanonisierung 53
lichkeiten“ seit den 1960er Jahren Bedeutung gewonnen hatten. Arthur Strum befindet
daher über den Entwurf von Negt und Kluge:
Dieses Modell hat den Verdienst, die politische Signifikanz von Tätigkeiten wie Kindererzie-
hung, die Gründung von Frauenhäusern, die Friedens- und Ökologiebewegung beschreiben zu
können, die sowohl linken als auch bürgerlichen Traditionen als ‚privat‘ und daher unpolitisch
galten.157
Die Ausblendung der nicht-diskursiven Elemente bzw. des Bilddiskurses betrifft also
nicht nur den Großteil der Theoriebildung, sie kennzeichnet auch viele Einzelstudien, so
dass offenbar die paratextuellen Faktoren literarischer Popularisierung bislang von der
Forschung nicht ausreichend beachtet wurden. Hier rückt vor allem auch die Populari-
sierung als Prozess zu wenig in den Blick. Viele Studien beschränken sich darauf, den
Begriff des Populären näher zu fassen und die Demarkationslinien zwischen high und
low zu diskutieren. Dies geschieht etwa in einem Sammelband zur englischsprachigen
Literatur nach 1945, The Popular & The Canonical, den David Johnson im Jahr 2005
herausgab.158 Johnson beruft sich auf Raymond Williams, der wie folgt definiert:
Popular was originally a legal and political term […] but there was also the sense (cf. com-
mon) of ‘low’ or ‘base’. The transition to the dominant modern meaning of ‘widely favoured’
or ‘well-liked’ is interesting in that it contains a strong element of setting out to gain favour
[…].159
Genauer noch kommt Hermann Herlinghaus in den Ästhetischen Grundbegriffen auf die
semantischen Verschiebungen des Begriffsfeldes populär/volkstümlich zu sprechen.
Von den hier zunächst bestimmenden Diskursstrategien, Nostalgie und Idealisierung,
grenzt er ein zunehmend heterogenes semantisches Feld seit der Romantik ab und re-
konstruiert den Bruch mit der begriffsgeschichtlichen Tradition im 20. Jahrhundert:
Im 20. Jh. wird die Semantik populär/volkstümlich intensiv mit Attributen der industriellen
Kultur, der Massengesellschaft und ihrer Verwertungsrhythmen aufgeladen. Dies impliziert
Umwertungen, die mit einer Schwerpunktverlagerung von romantischen Begriffsinhalten zu
prononciert gegenwartsbezogenen Bestimmungen verbunden sind. Probleme einer ‚anderen‘
Kultur und Kunst im sozialen, politischen und massenmedialen Lebensbezug treten an die
Stelle nostalgischer ästhetischer Semantik.160
Bislang befasst sich meines Wissens ein einziger Sammelband mit dem Desiderat, nicht
nur das Populäre, sondern auch Prozesse der Popularisierung für die Literatur zu disku-
157
Kenkel, Karen J.; Berman, Russell A.; Strum, Arthur: Öffentlichkeit/Publikum. In: Barck, Karl-
heinz (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart 2002, S. 583–637,
hier: S. 634.
158
Johnson, David (Hrsg.): The popular & the canonical. Debating Twentieth-Century Literature
1940–2000. Milton Keynes 2005.
159
Williams, Raymond: Popular. In: Ders.: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. London
1976, S. 198 f.
160
Herlinghaus, Hermann: populär/volkstümlich/Popularkultur. In: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Ästheti-
sche Grundbegriffe. Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart 2002, S. 832–884, hier: S. 833.
54 Einleitung
tieren. Die Festschrift der Herausgeber von Arburg, Gamper und Müller bietet unter
dem Titel Popularität. Zum Problem von Esoterik und Exoterik in Literatur und Philo-
sophie instruktive Einzelstudien, wobei vorrangig das Verhältnis einzelner Autoren des
18. und 19. Jahrhunderts zu Popularität und Popularisierung untersucht wird.161 Damit
sind die Befunde nur bedingt erkenntnisleitend, um das Bezugsgeflecht zwischen Popu-
larisierung und Kanonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bestimmen.
Das liegt zunächst daran, dass der von mir eingesetzte Kanonbegriff in den Dimensi-
onen der Reichweite und der Dauer binnendifferenziert ist in Publizität, Etabliertheit
und Kanonizität. Damit geht einher, dass nicht die Archivierung von Literatur zum
wichtigsten Indikator für ihre Kanonisierung herangezogen wird, sondern als Kriterium
für Kanonisierung der hergestellte diskursive und materiale Verweisungszusammen-
hang zu kanonischen Texten gilt, der über Dauer und Reichweite stabilisiert oder ver-
breitet wird.
Popularisierung ist in diesem Horizont, so meine These, nicht lediglich als ein Abbau
ökonomischer und psychologischer Schwellen zu deuten, wie Habermas herausstellt.162
Auch muss die folgende Behauptung Bourdieus in ihrem Anspruch auf Allgemeingül-
tigkeit revidiert werden:
Das soziale Altern des Kunstwerks, der unmerkliche Übergang zum Deklassierten oder Klas-
sischen, ist somit Ergebnis eines Zusammentreffens einer internen Entwicklung, die mit den
die Produktion verschiedenartiger Werke entfachenden Kämpfen innerhalb des Feldes verbun-
den ist, und einer externen, mit der sozialen Veränderung des Publikums einhergehenden Ent-
wicklung, die den Verlust der Seltenheit sanktioniert und verschärft, indem sie ihn jedermann
vor Augen führt.163
161
Arburg, Hans-Georg von; Gamper, Michael; Müller, Dominik (Hrsg.): Popularität. Zum Problem
von Esoterik und Exoterik in Literatur und Philosophie. Ulrich Stadler zum 60. Geburtstag. Würz-
burg 1999.
162
Vgl. die obigen Ausführungen und Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersu-
chungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962]. Frankfurt a. M. 1990, S. 255 f.
163
Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt
a. M. 1999, S. 403f.
164
Korte charakterisiert den nationalliterarischen Kanon in Deutschland wie folgt: „Der nationale
Kanon bot den sozialen Gruppen, die in der Gesellschaft und Kultur dominierten, ein kollektives
Identifikationsangebot, das die bedeutendsten Werke der deutschen Literatur als verbindlichen,
das eigene Selbstbewusstsein stärkenden Wert präsentierte, auf diese Weise dem nationalen
Selbstverständnis einen symbolischen Ausdruck gab und Möglichkeiten zur sozialen wie kulturel-
Die Rolle der Popularisierung für die Kanonisierung 55
allem die nachträgliche Popularisierung von Klassikern, etwa über die Ausgaben von
Reclams Universal-Bibliothek erwirkt. In diese Reihen mit niederschwelliger Preispoli-
tik wurden zwar auch zeitgenössische populäre Texte aufgenommen, jedoch bedurfte
dieses Vorgehen eines legitimatorischen Kommentars. So blieb der Hiatus zwischen
populärer Literatur und Höhenkammliteratur bestehen und die Reclamausgaben der
Unterhaltungslektüre waren von Beginn an nicht auf eine Einspeisung in den Kanondis-
kurs angelegt.165
Das bildungsbürgerliche Popularitätsverständnis findet seinen paradigmatischen
Ausdruck in Schillers berühmter Kritik der Gedichte G. A. Bürgers. Einer der Ansatz-
punkte für Schillers Kritik ist der aus seiner Sicht missverstandene Selbstanspruch Bür-
gers, ein „Volkssänger“ zu sein. Das Problem einer solchen Dichtungskonzeption be-
steht für Schiller in der Heteronomie der zeitgenössischen Gesellschaft:
Ein Volksdichter in jenem Sinn, wie es Homer seinem Weltalter oder die Troubadours dem ih-
rigen waren, dürfte in unsern Tagen vergeblich gesucht werden. Unsere Welt ist die homeri-
sche nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft in Empfinden und Meinen ungefähr dieselbe
Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in denselben Gefühlen
begegnen konnten.166
In Konsequenz dieses Befunds weist Schiller zwei Wege aus, die der popularisierungs-
willige Dichter gehen könnte.
Ein Volksdichter für unsre Zeiten hätte also bloß zwischen dem Allerleichtesten und dem Al-
lerschwersten die Wahl: entweder sich ausschließend der Fassungskraft des großen Hauses zu
bequemen und auf den Beifall der gebildeten Klasse Verzicht zu tun – oder den ungeheuren
Abstand, der zwischen beiden sich befindet, durch die Größe seiner Kunst aufzuheben und
beide Zwecke vereinigt zu verfolgen.167
Letzteres traut Schiller dem dichterischen Talent Bürgers nicht zu und urteilt vernich-
tend: „Hr. B. vermischt sich nicht selten mit dem Volk, zu dem er sich nur herablassen
len Distinktion eröffnete. Der nationale Literaturkanon hatte, dem ‚deutschen Deutungsmuster‘
von ‚Bildung und Kultur‘ verpflichtet und bis 1871 ohne nationalstaatliche Grundlage, im Ver-
ständnis seiner enthusiastischen Verteidiger keine geringere Aufgabe als die innere Nationenbil-
dung zu vollziehen: als Projekt einer allgemeinen nationalen Bildung. Das ‚Deutsche Deutungs-
muster‘ erhielt damit einen genuin nationalen Prägewert, von dem aus sich in den folgenden
Jahrzehnten die Bedeutung der deutschen Literatur an den höheren Schulen ständig erhöhte, beein-
flusst freilich von den politischen und kulturellen Metamorphosen des nach 1871 zur Ideologie de-
formierten Begriffs der Nation.“ (Korte, Hermann; Jakob, Hans-Joachim; Zimmer, Ilonka: Die
Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deut-
schen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005, S. 34.)
165
Vgl. dazu Punkt 5.2.2.
166
Schiller, Friedrich: Über Bürgers Gedichte [1791]. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Hg. v.
Julius Petersen. Bd. 22: Vermischte Schriften. Hg. v. Herbert Meyer. 2. Aufl. Weimar 1958,
S. 245–264, hier: S. 247.
167
Ebd., S. 248.
56 Einleitung
sollte, und anstatt es scherzend zu sich hinauszuziehen, gefällt es ihm oft, sich ihm
gleichzumachen.“168
Popularität und Kanonizität waren im 19. Jahrhundert folglich zwar eng miteinander
verknüpft, worauf vom Album- oder Stammbuchspruch bis zur Schillerfeier Elemente
der bürgerlichen Lebenswelt hinweisen. Die Kanonizität oder Klassizität eines Autors
ging jedoch seiner Popularisierung voraus, so dass die Deutungshegemonie des Bil-
dungsbürgertums und seiner Repräsentativkultur unhinterfragt blieb.169 Wiederum
konnte die Popularität eines nicht-kanonischen Autors dazu führen, dass er als minder-
wertiger Autor stigmatisiert wurde und aus Sicht der Kanonforschung als negativkano-
nischer Autor beschreibbar ist. Die Abenteuergeschichten Karl Mays waren zwar in
hohem Maße populär und können heutzutage durchaus als kanonisiert gelten, wurden
im zeitgenössischen und zeitnahen Rezeptionskontext jedoch nicht auf eine Stufe mit
den ‚hochliterarischen‘ Kanontexten gestellt.
An solchen Stellen werden die Wendepunkte deutlich, die für das Verhältnis von Po-
pularität und Kanonizität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen. Hier
stellten die Taschenbuchausgaben nicht allein die Möglichkeit dar, den bereits kanoni-
schen Status von Texten und Autoren anzuzeigen. Sie konnten auch Autoren, die in
bestimmten Lesermilieus etabliert waren, aber noch nicht eine breitenwirksame Rezep-
tion erfahren hatten, einem größeren Publikum bekannt machen, so dass sie schließlich,
als Privat-, Schul-, oder Seminarlektüre, Kanonstatus erlangten. Ein typisches Beispiel
für diese Form der Popularisierung stellen die Ausgaben der Sonderreihe im dtv vor.
Die hier zunächst lancierten Texte der internationalen Moderne waren zwar bei Autoren
und Kritikerkreisen, unter Umständen auch bei den Literaturwissenschaftlern, bekannt
und wertgeschätzt. Sie erreichten aber erst mit der Sonderreihe bei einer Auflage von
mindestens 20.000 Exemplaren ein größeres Publikum. Auch anhand der Klassikeraus-
gaben wird deutlich, welche Relevanz die Popularisierungsfähigkeit eines Textes oder
Autors für die Verlage hatte. So wurden in den 1950er und 1960er Jahren bei Hanser
die Klassikerausgaben im Hardcover zu einem Geschäft, das sich nur rentierte, wenn
eine Aufnahme ins Popularisierungsmedium Taschenbuch möglich war. Es war daher
wichtig für den Hanser Verlag, seine Ausgaben so zu gestalten, dass sie, wie die Aus-
gabe der Werke Droste-Hülshoffs, sich für mehrere Jahrzehnte in verschiedenen Aus-
168
Ebd., S. 250.
169
Vgl. hierzu neben Tenbruck (Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Gesell-
schaft. Der Fall der Moderne. Opladen 1989, hier: S. 261.) auch die Ausführungen von Georg
Bollenbeck, der die Tragweite des Deutungsmusters Bildung und Kultur beschreibt: „‚Bildung‘
und ‚Kultur‘ lassen sich weder auf ihre Institutionalisierung noch auf ihre Trägerschicht reduzie-
ren. Sie gewinnen im Verbund mit Festtagsbegriffen wie ‚Menschheit‘, ‚Humanismus‘ oder ‚Na-
tion‘ einen anziehenden Glanz über das Bildungsbürgertum hinaus, indem sie den Anspruch auf
gesellschaftliche Allgemeingültigkeit erheben.“ (Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz
und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1996, S. 199.)
Die Rolle der Popularisierung für die Kanonisierung 57
gaben auf dem Markt behaupten konnten.170 Hier wird die Macht des Prinzips ‚Massen-
tauglichkeit‘ offensichtlich, das nun, über den Umweg der Lizenzpolitik, auch auf die
Hardcoververlage Druck ausübt. Es zeigt den Bedeutungszuwachs der Popularisierung
im Kanonisierungsprozess an.
Dadurch, dass für Schullektüren und die meisten Seminarlektüren nur Taschenbücher
und keine Hardcover gefragt sind, indiziert für die 1950er und 1960er Jahre erst eine
langfristig lieferbare Taschenbuchausgabe den lektürekanonischen Status eines Textes.
Daneben ist eine Taschenbuchausgabe immer auch Zeichen für die Publizität eines
Textes oder Autors gewesen, dessen Bekanntheitsgrad also nicht längerfristig erhalten
bleiben muss.
Anders als im Zeitalter einer repräsentativen bildungsbürgerlichen Kultur musste sich
der kulturelle Konsens nach dem Zweiten Weltkrieg über tatsächlich breitenwirksame
Lektüre- oder zumindest Kaufhandlungen stets neu bestätigen. In den 1950er und
1960er Jahren kommt es dabei zu einer Sondersituation, in der das Taschenbuch eine
tragende Rolle spielt: Einerseits bestand ein derartig großer Nachholbedarf an Lektüre
und eine noch vergleichbar geringe Konkurrenz zwischen den verschiedenen Taschen-
buchreihen, dass es möglich war, nahezu jeder Taschenbuchneuerscheinung in den Rei-
hen der großen, literarisch ambitionierten Publikumsverlage die Aufmerksamkeit des
Buchhandels und der interessierten Leser zu verschaffen. Andererseits war nach dem
Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates eine weltanschauliche Verunsiche-
rung entstanden: Die rassistischen und nationalistischen Bewertungsmaßstäbe der nati-
onalsozialistischen Kulturpolitik waren diskreditiert, ohne dass alternative konsensuelle
Deutungsmuster bereitstanden. In dieser Schwellensituation vermochte das Taschen-
buch einen wichtigen Beitrag zum Literaturbegriff der jungen Bundesrepublik zu leis-
ten. Reihen wie rororo oder die Fischer Bibliothek nahmen zwar auch ‚unpolitische‘
deutschsprachige Unterhaltungsliteratur der 1930er Jahre ins Programm, brachten aber
auch viele fremdsprachige Titel in Übersetzung, die der jüngeren Generation bislang
schwer zugänglich gewesen waren. Darüber hinaus fanden sich etliche Autoren wieder,
die während des Nationalsozialismus verschmäht oder gar verboten waren, wie Kurt
Tucholsky, Heinrich Mann und Bertolt Brecht (rororo) oder Thomas Mann, Stefan
Zweig und Carl Zuckmayer (Fischer Bibliothek). Diese können für die frühen 1950er
Jahre noch nicht als kanonisch oder rekanonisiert gelten, auch wenn ihre Namen den
älteren Lesern noch bekannt waren. Hier sorgte die Popularisierung mittels Taschen-
buch dafür, dass die Autoren erneut im Gespräch standen oder verstärkte zumindest ein
wiederaufkeimendes Interesse in einem vergrößerten Leserkreis.
170
Wittmann erläutert in seiner Verlagsgeschichte zu den Klassiker-Ausgaben im Hanser Verlag:
„Die stetige Professionalisierung der Hanser-Klassikerausgaben erlaubte eine Mehrfachverwer-
tung der editorischen Leistung über die Jahrzehnte hin, was es zuweilen ermöglichte, die hohen
Vorausinvestitionen mittel- und langfristig auszugleichen.“ (Wittmann, Reinhard: Der Carl Han-
ser Verlag 1928–2003. Eine Verlagsgeschichte. München 2005, S. 70.)
58 Einleitung
171
Im Fall von Siegfried Lenz’ Feuerschiff liegt der Preis der dtv-Ausgabe „Buch zum Film“ mit
5,90 € statt 9,90 € deutlich niedriger als die Parallelausgabe im allgemeinen Programm.
172
Lenz, Siegfried: Das Feuerschiff. Erzählung. München 2008; Thomas Manns Buddenbrooks. Ein
Film von Heinrich Breloer. Frankfurt a. M. 2008.
Verwendete Quellen und Materialien 59
kennzeichnet von Panofskys Klassifizierung ab, so dass ich diese parallel zu Stöckls
Klassifizierung kurz vorstellen möchte. Panofsky unterscheidet in der Einleitung zu den
Studien zur Ikonologie der Renaissance eine „vorikonographische“ Ebene von der „iko-
nographischen“ und schließlich hiervon die „ikonologische“ Ebene.175 Die erste Ebene,
die Stöckl beschreibt, ist die denotative. Sie orientiert sich an Panofskys voriko-
nographischer Ebene und ist auf die Benennung und Beschreibung der visuellen Daten
beschränkt. Idealtypischer Weise sollte man zur Beschreibung eines Bildes auf dieser
ersten Stufe das kulturelle Wissen außen vor lassen, z. B. wird eine Frau mit blauem
Mantel und Kind auf dieser Ebene noch nicht als Maria mit Jesuskind identifiziert. Die-
se Verknüpfung mit Kontextwissen erfolgt auf der zweiten Ebene, der konnotativen
(Stöckl) bzw. ikonographischen (Panofsky). Die dritte Ebene wiederum, bei Stöckl
Assoziation genannt, bezieht sich nicht mehr auf die konventionelle Bildsprache einer
ganzen Kultur oder Subkultur, sondern ist subjektiv. Stöckl erklärt:
Hierunter versteht man assoziative Bedeutungen, die ein Betrachter in der aktuellen Rezeption
individuell konstruiert und die sich der Konvention und Normierung widersetzen. Es sind so-
mit versteckte Bedeutungen, die vom Bildproduzenten mitunter gar nicht intendiert und reflek-
tiert worden sind.176
Damit weicht Stöckl jedoch von Panofskys Modellbildung ab. Panofsky nennt die dritte
Ebene ikonologische Ebene und versteht darunter nicht etwa beliebige und subjektive
Assoziationen, sondern eine interpretative Leistung, die dem Bildpotenzial gerecht
wird, das den konventionalisierten ikonographischen Informationsgehalt übersteigt. Sie
wird zwar durch individuelle Auseinandersetzung mit dem Bild gewonnen, sollte je-
doch intersubjektiv nachprüfbar sein. Panofsky nennt diese dritte Ebene auch „Eigentli-
che Bedeutung oder Gehalt.“
Er wird erfaßt, indem man jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstel-
lungen einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Über-
zeugung enthüllen, unbewußt modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem
einzigen Werk.177
Die Interpretation erfordert demnach sowohl profundes Kontextwissen als auch eine
Einfühlungskraft des Interpreten, die Panofsky mit „persönliche Psychologie und ‚Welt-
anschauung‘“ umschreibt.178
Insofern stellt Stöckls Alternative der „Assoziation“ einerseits eine begriffliche
Deemphatisierung der Interpretationsleistung von Panofskys „synthetische[r] Intui-
tion“179 hin zur subjektiven Assoziation dar. Andererseits suggeriert seine Erklärung
175
Panofsky, Erwin: Studien zur Ikonologie der Renaissance. 2. Aufl. Köln 1997, hier: S. 30–54.
176
Stöckl, Hartmut: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache
und Bild im massenmedialen Text. Konzepte – Theorien – Analysemethoden. Berlin, New York
2004, S. 14.
177
Panofsky, Erwin: Studien zur Ikonologie der Renaissance. 2. Aufl. Köln 1997, hier: S. 33.
178
Ebd., S. 41.
179
Ebd.
62 Einleitung
Zu dieser Gruppe zählen alle Unterlagen, die der Verlag als Werbung oder öffentlich-
keitswirksame Dokumentation seiner Tätigkeit nach außen gegeben hat.181 Eine große
Untergruppe stellt hier das Werbematerial und PR-Material dar, das ich mit der freund-
lichen Genehmigung des Verlags im Verlagsarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek
München und im Verlag selbst einsehen konnte.182
180
Vgl die übersichtlich dargestellten Systematisierungen im Forschungsbericht bei Rentel, Nadine:
Bild und Sprache in der Werbung. Die formale und inhaltliche Konnexion von verbalem und visu-
ellem Teiltext in der französischen Anzeigenwerbung der Gegenwart. Frankfurt a. M. u. a. 2005,
S. 20–64.
181
Bezogen auf die literarischen Texte lässt sich in Genettes Sinn von Epitexten sprechen. Zur Unter-
scheidung von peritextuellen und epitextuellen Paratexten vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das
Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 22–40; S. 328–384.
182
Für die Unterscheidung von Werbematerial und Material der Öffentlichkeitsarbeit oder Public
Relations beziehe ich mich auf das Lehrbuch von Nieschlag u. a.: „Während man bei der Werbung
und der Verkaufsförderung eine unmittelbare Beeinflussung der Absatzchancen anstrebt, zielt die
Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) vornehmlich auf die Schaffung einer für das Unternehmen
wohlwollenden Atmosphäre ab. Deren Zielgruppe sind somit nicht nur die unmittelbaren Markt-
Verwendete Quellen und Materialien 63
partner, sondern die Gesamtheit jener Personen, die einen Einfluß auf den Unternehmenserfolg zu
entfalten vermögen. Diese werden insbesondere über das Unternehmen als Ganzes sowie dessen
wirtschaftliche und gesellschaftliche Aktivitäten in Kenntnis gesetzt. [Hervorhebungen getilgt;
EK]“ (Nieschlag, Robert; Dichtl, Erwin; Hörschgen, Hans (Hrsg.): Marketing. 19., überarb. und
erg. Aufl. Berlin 2002, S. 994.)
183
Vgl. hierzu die Interpretation einer Studie des Magazins Buchmarkt in Kooperation mit dem
Marktforschungsinstitut Innofact, die Luft in ihre Studie der Verlagsvorschauen einbezogen hat:
Luft, Sabine: „Visitenkarten eines Verlags“ – Aufbau, Funktion und Entwicklung der Verlagsvor-
schau seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit einer Studie zu den Vorschauen des C.H. Beck-
Verlags. Erlangen 2004 (= Studien der Erlanger Buchwissenschaft IX), S. 24–27.
64 Einleitung
im Titelangebot geworden, andererseits sind sie nun auf starkem, gestrichenen bis glän-
zenden Papier in Vierfarbdruck hergestellt. Der Umschlag ist aus besonders starkem
Papier und wird in den Bereichen Unterhaltung und Jugendbuch oft mit Glanzdruck
oder Prägedrucken dekoriert. Jeder Titel ist mit einer Abbildung des Umschlags und des
Strichcodes aufgenommen worden. Manchen Titeln, die als Presse- oder Werbeschwer-
punkte ausgewählt wurden, wird besonders viel Raum gegeben, z. B. eine Doppelseite,
in Ausnahmefällen mehr. Neben den Pressestimmen, die abgedruckt werden, finden
sich oftmals auch Hinweise auf die Werbeaktivitäten des Verlags, damit Buchhändler
das Risiko einer Bestellung des Titels eher einzugehen wagen. So ist oft der Ort der
Veröffentlichung von Werbeanzeigen genannt (etwa: ‚Wir werben in der Brigitte und
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘) und bestellbare Gimmicks oder ‚Ver-
kaufshilfen‘ für den Point of Sale, die Buchhandlung, werden vorgestellt.
Die Vertretervorschauen stellen ebenfalls die neuen Titel vor, wenden sich aber nicht
an die Buchhändler, sondern an die Verlagsvertreter, die wiederum gezielt Titel für die
von ihnen besuchten Buchhandlungen auswählen können. In den halbjährlichen Vertre-
terkonferenzen erhalten sie zusätzliche Informationen zum neuen Programm und kön-
nen ihrerseits Erfahrungswerte mitteilen, die z. B. die Reaktionen der Buchhändler auf
neue Reihen oder Umschlaggestaltungen betreffen. Im Gegensatz zu den Buchhändler-
vorschauen sind die Vertretervorschauen weniger repräsentativ gestaltet. Statt der wer-
benden Elemente enthalten sie ‚Verkaufsargumente‘, die der Verlag den Vertretern an
die Hand gibt, um die Buchhändler zum Einkauf eines Titels zu bewegen.
Thematische Faltblätter und Jubiläumsmappen, etwa zum Geburtstags- oder Todes-
tag eines Autors, richten sich sowohl an Buchhändler als auch an die Endkunden, für
die sie in den Buchhandlungen und bei thematisch verwandten Veranstaltungen ausge-
legt werden können. Sie sind in Umfang und Gestaltung an das jeweils präsentierte
Thema oder einen Autor angepasst. Der werbende Charakter tritt hier hinter den infor-
mierenden Charakter zurück, so dass die Mappen eher der imagefördernden Öffentlich-
keitsarbeit als der absatzfördernden Werbung zuzurechnen sind.
In die Kategorie der Öffentlichkeitsarbeit gehören auch die Jubiläumsdokumentatio-
nen, die der dtv anlässlich des 10., 20., 25. und 30. Jubiläums des Verlags herausgege-
ben hat und eine Festschrift zur Verabschiedung von Verlagsleiter Friedrich im Jahr
1990.184 Sie sind teilweise als Privatdrucke gekennzeichnet und wurden an ausgewählte
Adressaten verschickt. Sie konnten darüber hinaus über die Presseabteilung des dtv
geordert werden, so dass einige Exemplare in Bibliotheken archiviert sind. Zum zehn-
jährigen Jubiläum erschienen vier Festreden in einer Broschüre, die anlässlich der Jubi-
184
Zehn Jahre dtv. Vier Reden. München 1971; 20 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag 1961–1981.
München 1981; Fünfundzwanzig. Eine dtv-Dokumentation. München 1986; 30 Jahre Deutscher
Taschenbuch Verlag 1961–1991. Daten – Bilder – Bücher. München 1991; Göbel, Wolfram
(Hrsg.): „Dein Brief kam wie gerufen.“ Heinz Friedrich als Verleger. Im Auftrag der Gesellschaf-
ter und der Mitarbeiter des Deutschen Taschenbuch Verlags. [Privatdruck]. München 1990. Eine
Veröffentlichung zum 50. Jubiläum ist in Planung.
Verwendete Quellen und Materialien 65
185
Homepage Wolf Wondratschek. URL: < http://www.wolf-wondratschek.de > (12. 07. 2009).
186
Diese und andere Merkmale stellt Tim O’Reilly in einem Aufsatz heraus, der den Begriff Web 2.0
populär machte. O’Reilly, Tim: What is Web 2.0? Design Patterns and Business Modells for the
Next Generation of Software (30. 09. 2005). URL: < http://www.oreilly.de/artikel/web20.html >
Verwendete Quellen und Materialien 67
Die Internetpräsenz des dtv wird in dieser Arbeit nur in Bezug auf einzelne Werbeak-
tionen eine Rolle spielen, wenn es um die Frage nach dem symbolischen Marketing
geht, ist ansonsten aber von sekundärer Bedeutung für die Kanonisierungsfrage, da die
medienspezifischen Eigenschaften des Internets in den zu untersuchenden Aspekten
nicht zum Tragen kommen.
(29. 09. 2008). Eine deutsche Übersetzung findet sich unter URL < http://www.distinguish.de/
?page_id=36 > (29. 09. 2008).
187
Scheuch, Erwin K.: Das Interview in der Sozialforschung. In: König, René (Hrsg.): Handbuch der
empirischen Sozialforschung. Bd. 2: Grundlegende Methoden und Techniken der empirischen So-
zialforschung. Erster Teil. 3. Aufl. Stuttgart 1973, S. 66–190, hier: S. 70 f.
68 Einleitung
Sie kommen der Definition von Experteninterviews am nächsten, wobei diese innerhalb
der Sozialforschung uneinheitlich bestimmt werden.188
Jochen Gläser und Grit Laudel grenzen das Experteninterview dezidiert nicht über
den „besonderen sozialen Status der Interviewpartner“ oder eine bestimmte Methode ab,
sondern über seine Bestimmung für sozialwissenschaftliche Fragestellungen: „Ent-
scheidend sind vielmehr das Ziel der Untersuchung, der daraus abgeleitete Zweck des
Interviews und die sich daraus ergebende Rolle des Interviewpartners.“189 In diesem
Sinne wären die vorliegenden Interviews keine Experteninterviews, sondern vielmehr
Befragungen von Experten als zusätzliche Informationsquellen. Doch auch diese Di-
mension wird in den Sozialwissenschaften unter dem Stichwort Experteninterview ver-
handelt. Gabriele Köhler sieht gerade in der Rolle des Befragten das entscheidende
188
Die von mir geführten Interviews sind insofern Experteninterviews, als sie mit professionellen
Verlagsvertretern geführt wurden. Innerhalb der soziologischen Methodenreflexion wird das Ex-
perteninterview der qualitativen Sozialforschung zugerechnet. Der Expertenstatus ist dabei unter-
schiedlich definiert. Michaela Pfadenhauer diskutiert zunächst die Unterscheidung von Experten-
typen nach Berger und Luckmann, die neben dem „Gebildeten“ und dem „Intellektuellen“ den
„Professionellen“ benennen und schließt: „Das Bild, das in der einschlägigen Literatur vom Exper-
ten gezeichnet wird, entspricht weitgehend der Figur des Professionellen, der seine Kompetenzen
über die Erfüllung formaler Ausbildungsanforderungen erlangt und seinen Expertenstatus mittels
berufsständisch erteilter Zertifikate auch formal nachweisen kann […].“ (Pfadenhauer, Michaela:
Auf gleicher Augenhöhe reden. In: Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hrsg.):
Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden 2005, S. 113–130, hier:
S. 122.) Diese Definition verbindet Pfadenhauer mit der ethnografischen Tradition und hat vor al-
lem die Professionssoziologie und die Befragung prototypischer Professionsgruppen, wie Medizi-
ner, vor Augen. Für die zeitgenössische Gesellschaft allerdings hat die formale Berufsbildung vie-
lerorts, etwa in der IT-Branche, einen geringen Aussagewert dafür, dass jemand als Experte
gesehen werden kann. So gilt für Pfadenhauer derjenige als Experte, der „glaubhaft machen kann,
über ‚relativ‘ exklusive Wissensbestände zu verfügen und für sozial relevante Problemlösungen
verantwortlich zu sein, auf die sich Nicht-Experten im Hinblick auf bestimmte, lebenspraktisch re-
levante Fragen angewiesen sehen.“ (Ebd. S. 124) Auch der Bestimmungsversuch von Michael
Meuser und Ulrike Nagel zielt auf eine erweiterte Verwendung des Begriffs ab. Sie sprechen dann
von einem Experteninterview, wenn der Partner „in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für
den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung oder […] über einen
privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse ver-
fügt.“ (Meuser, Michael; Nagel, Ulrike: ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht.
In: Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie,
Methode, Anwendung. Wiesbaden 2005, S. 71–93, hier: S. 73.) Mit dieser Definition können also
auch diejenigen als Experten befragt werden, die nicht in stark an formale Bildung gebundenen
Berufen oder auch in nicht professionellen Lebenskontexten über exklusives Wissen und Verant-
wortung verfügen. (Vgl. zur Problematik des Expertenbegriffs auch: Bogner, Alexander; Menz,
Wolfgang: Das theoriegenerierende Experteninterview. In: Bogner, Alexander; Littig, Beate;
Menz, Wolfgang (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden
2005, S. 33–70, hier: S. 39–43.)
189
Gläser, Jochen; Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente
rekonstruierender Untersuchungen. Wiesbaden 2004, S. 10 f.
Verwendete Quellen und Materialien 69
190
Köhler, Gabriele: Methodik und Problematik einer mehrstufigen Expertenbefragung. In: Hoff-
meyer-Zlontnik, Jürgen H. P. (Hrsg.): Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen
Daten. Wiesbaden 1992, S. 318–332, hier: S. 328.
191
Die erste Frage, an der sich auch die weiteren Entscheidungen zur Durchführung und Auswertung
des Interviews ausrichten, ist die nach der Stellung der Informationen aus den Experteninterviews
innerhalb der eigenen Fragestellung. Meuser und Nagel befinden: „In einem ersten systematisie-
renden Zugriff unterscheiden wir zwischen einer zentralen und einer Randstellung von ExpertIn-
neninterviews im Forschungsdesign. Mit einer Randstellung haben wir es dort zu tun, wo Ex-
pertInneninterviews z. B. explorativ-felderschließend eingesetzt werden, wo sie zusätzliche
Informationen wie Hintergrundwissen und Augenzeugenberichte liefern und zur Illustrierung und
Kommentierung der Aussagen der Forscherin zum Untersuchungsgegenstand dienen.“ (Meuser,
Michael; Nagel, Ulrike: ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. In: Bogner,
Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode,
Anwendung. Wiesbaden 2005, S. 71–93, hier: S. 75.) Dieser Fall einer randständigen Bedeutung
des Experteninterviews ist für die Soziologie von schwachem Interesse und wird in der Forschung
selten reflektiert. Alexander Bogner jedoch unterscheidet drei Typen von Experteninterviews und
widmet dem explorativen Experteninterview folgende Überlegungen: „Explorative Experteninter-
views sollten möglichst offen geführt werden, doch empfiehlt es sich schon aus Gründen demon-
strativer Kompetenz, zumindest zentrale Dimensionen des Gesprächsablaufs vorab in einem Leit-
faden zu strukturieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das explorative Experteninterview
vom narrativen oder episodischen Interview, was freilich nicht bedeutet, dass spontanen Exkursen
oder unerwarteten Themenwechseln des Experten Einhalt geboten werden sollte. Der inhaltliche
Schwerpunkt des explorativen Interviews liegt im Bereich der thematischen Sondierung. Auf Ver-
gleichbarkeit, Vollständigkeit und Standardisierbarkeit der Daten wird dabei nicht abgestellt. Dies
unterscheidet das explorative Interview ganz wesentlich von den beiden anderen Formen. [Ge-
meint sind: das systematisierende Experteninterview und das theoriegenerierende Experteninter-
view; EK]“ (Bogner, Alexander; Menz, Wolfgang: Das theoriegenerierende Experteninterview. In:
Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Me-
thode, Anwendung. Wiesbaden 2005, S. 33–70, hier: S. 37.)
70 Einleitung
Der Leitfaden orientierte sich an den von Christel Hopf formulierten Kriterien für ein
gutes Expertengespräch:
1. Reichweite: Problemstellung und Themenstellung dürfen nicht zu eng gefaßt sein. Der Be-
fragte muß eine größtmögliche Chance haben, zu den angegebenen Themenbereichen
Aussagen zu machen.
2. Spezifität: Die im Gespräch aufgeworfenen Themen und Fragen sollten in der Form be-
handelt werden, daß die individuellen Bedeutungszusammenhänge erkennbar werden.
3. Tiefe: Es soll möglich sein, daß der Befragte durch aktive, kognitive und wertbezogene
Äußerungen seine Bedeutungszusammenhänge ausbreiten kann.
4. Personaler Kontext: Der persönliche und soziale Kontext, in dem die Aussagen ihre Gül-
tigkeit haben, muß in ausreichendem Umfang erfaßt werden.196
Interviews genügen als alleinige Quellen nicht den Ansprüchen der Reliabilität: Ihr
Faktizitätsstatus ist aufgrund der subjektiven und narrativ-strukturierten Aussagen im
Interview mittels anderer Datenarten zu überprüfen.
Als Ergänzung zu den Quellen des Verlagsarchivs, die Aussagen über die Chronolo-
gie und das Profil des Verlagsprogramms sowie dessen Zustandekommen ermöglichen,
habe ich den Verlagsalltag über mehrere Monate hinweg beobachten können. Auch
wenn hier keine sozialwissenschaftliche Fragestellung zugrunde lag, konnte ich durch
diese Praxiserfahrung die Vorzüge einer, unorthodox verstandenen, ‚teilnehmenden
Beobachtung‘ nutzen.197 Hierzu zählen nach Helmut Giegler und Bernd Kötter:
1. Vermeidung von Diskrepanzen zwischen realem Verhalten und der verbalen Auskunft
über dieses Verhalten;
2. Verzerrungen durch unterschiedliche verbale Fähigkeiten der Befragten werden vermieden;
die vom Befragten angebotenen Reihenfolge der Einzelaspekte nicht ein, sie ermöglicht vielmehr
ein behutsames Sich-Einfühlen in die Lebenswelt der Befragten und trägt zu einem offenen Kom-
munikationsklima und dem Abbau der Anfangs-Spannung bei den Befragten und beim Interviewer
bei.“ (Bock, Marlene: Das halbstrukturierte-leitfragenorientierte Tiefeninterview. Theorie und
Praxis der Methode am Beispiel von Paarinterviews. Wiesbaden 1992, S. 90–109, hier: S. 95.)
196
Hopf, Christel: Die Pseudo-Exploration – Überlegungen zur Technik qualitativer Interviews in der
Sozialforschung. In: Zeitschrift für Soziologie (1978), Nr. 7, S. 97–115.
197
Die teilnehmende Beobachtung definiert Jürgen Friedrichs wie folgt: „Die teilnehmende Beobach-
tung ist die geplante Wahrnehmung des Verhaltens von Personen in ihrer natürlichen Umgebung
durch einen Beobachter, der an den Interaktionen teilnimmt und von den anderen Personen als Teil
des Handlungsfeldes angesehen wird.“ (Friedrichs, Jürgen: Methoden empirischer Sozialfor-
schung. 10. Aufl. Opladen 1982, S. 288.) Dass ich als Praktikantin im Klassiklektorat die alltägli-
chen Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen im dtv miterlebt hatte, kam auch der inhaltlichen
Vorbereitung der Interviews zugute. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle die zahlrei-
chen Gespräche, die ich auch über den Praktikumszeitraum hinaus mit Maria Schedl-Jokl führen
konnte. Schedl-Jokl ist seit 1980 im Verlag und leitet das Klassik-Lektorat. Sie hat meinen Auf-
enthalt im dtv betreut und mich in meinen Recherchen unterstützt. Über das Praktikum und diese
persönlichen Gespräche hinaus hatte ich im dtv die Möglichkeit, an Sitzungen teilzunehmen und
so einen Einblick in die Entscheidungsstrukturen des Verlags zu bekommen.
72 Einleitung
3. Es werden habitualisierte Verhaltensweisen erfaßbar, die den Beteiligten selbst nicht be-
wußt sind;
4. Verlaufsprozesse von sozialem Geschehen können ökonomisch analysiert werden; […].198
Eine weitere Gruppe der verfügbaren Quellen stellen die Materialien aus dem Nachlass
des ehemaligen Verlegers des dtv, Heinz Friedrich, dar. Da Friedrich im Jahr 2004 ver-
storben ist, konnte ich keine Interviews mit ihm führen und konnte für die Rekonstruk-
tion seiner verlegerischen Praxis ausschließlich auf schriftliches Material zurückgreifen.
Dazu gehören, neben zahlreichen veröffentlichten Interviews und Publikationen, die
Korrespondenzen, Besprechungsnotizen und Gutachten, die seine Verlagsarbeit betref-
fen und sich in seinem Nachlass befinden. Dieser Nachlass ist bislang nicht systemati-
siert und katalogisiert worden. Einige Dokumente sind anlässlich der 2005 in der Baye-
rischen Staatsbibliothek gezeigten Ausstellung Ein Leben im Gegenglück des Geistes.
Heinz Friedrich (1922–2004). Verleger, Autor, Akademiepräsident im gleichnamigen
Ausstellungskatalog abgedruckt worden.199 Diese Dokumente sind jedoch im Hinblick
auf ihre Anschaulichkeit und Aussagekraft für die Person Heinz Friedrich ausgewählt
worden und spiegeln nur partiell seine Verlagstätigkeit wider. Da sich der Korrespon-
denzbestand noch in der Systematik befindet, die Friedrich selbst für sie ersonnen hat,
198
Giegler, Helmut; Kötter, Bernd: Zur drei-modalen Analyse von Daten der teilnehmenden Beob-
achtung. In: Hoffmeyer-Zlontnik, Jürgen H. P. (Hrsg.): Analyse verbaler Daten. Über den Um-
gang mit qualitativen Daten. Wiesbaden 1992, S. 294–317, hier: S. 295.
199
Moisy, Sigrid von; Nodia, Nino; Ikas, Wolfgang-Valentin (Hrsg.): Ein Leben im Gegenglück des
Geistes. Heinz Friedrich (1922–2004) Verleger, Autor, Akademiepräsident. Eine Ausstellung der
Bayerischen Staatsbibliothek. München 2005.
Verwendete Quellen und Materialien 73
sind die Briefe grob nach der von ihm bestimmten Wichtigkeit der Korrespondenzpart-
ner als öffentliche Personen und dann chronologisch sortiert worden. So finden sich
immer wieder private Korrespondenzen neben geschäftlichen. Die von mir genutzten
Quellen sind oft Durchschläge abgesandter maschinenschriftlicher Briefe mit dtv-
Briefkopf von Friedrich an die Korrespondenzpartner bzw. Briefe und Karten der Kor-
respondenzpartner an Friedrich, hier auch manches handschriftlich. Gutachten, Sit-
zungsprotokolle und Aktenvermerke finden sich selten in Friedrichs Nachlass, da, wie
Maria Friedrich mir in einem Gespräch mitteilte, in der Anfangszeit des dtv vieles tele-
fonisch oder persönlich verhandelt wurde.
Die in der Bayerischen Staatsbibliothek in München dokumentierten Briefe sind Ge-
schäftskorrespondenzen, die Friedrich im Sekretariat diktiert hat. Privatbriefe finden sich
nicht in diesem Archiv, da diese vermutlich handschriftlich verfasst und ohne Durch-
schlag an die Empfänger versandt worden sind. Jedoch zeichnet sich auch die von Fried-
rich geführte Geschäftskorrespondenz dadurch aus, dass unternehmerische Belange mit
privaten vermischt vorliegen: Charakteristischerweise gehen in der Verlagskorrespon-
denz Verhandlungen über Titel und gesellschaftspolitische Äußerungen bis zu Berichten
zum Wohlergehen der Familie ineinander über, sofern Friedrich mit den Korrespondenz-
partnern persönlich bekannt war. Dies ist bei den meisten Briefschreibern der Fall, da
vermutlich allgemeine Anfragen an den Verlag nicht von Friedrich persönlich beantwor-
tet worden und demnach auch nicht in dessen Nachlass archiviert worden sind.
Einige Dokumente konnte ich zudem im Nachlass Bieneks, des ersten Literatur-
Lektors des dtv, einsehen. Der Nachlass befindet sich in der Gottfried Wilhelm Leibniz
Bibliothek in Hannover. Ausgewählte Gegenstücke zu Friedrichs Briefdurchschlägen
befinden sich außerdem im Deutschen Literatur Archiv in Marbach, wo sie in den Be-
ständen der dort gesammelten Korrespondenzpartner beigeordnet sind.
Ich habe mich bemüht, den jeweiligen Kontext eines Briefwechsels zu rekonstruie-
ren, konnte aber in einzelnen Fällen nur wenig Zusatzinformationen gewinnen. Die
zitierten Briefstellen dienen in der vorliegenden Arbeit nicht der chronologischen Do-
kumentation der Verlagsgeschichte, sondern sind in die nach den Untersuchungsaspek-
ten gegliederten Argumentationen eingebunden.
2 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Dieses Kapitel soll eine erste Orientierung zum Buchtyp Taschenbuch geben, um vor
dem Hintergrund der medialen Möglichkeiten des Taschenbuchs sowie der diskursiven
Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland die Verlagsaktivitäten des dtv
zu beschreiben.
Es ist für diese Arbeit nicht von Interesse, sich an definitorischen Streitigkeiten zu
beteiligen, noch geht es darum, die Geschichte des Taschenbuchs ab ovo nachzuvoll-
ziehen. Für umfangreichere Darstellungen sei auf die Untersuchung von Claudia Leon-
hardt200, die Überblicksdarstellung von Klaus Ziermann201 sowie die instruktiven
Beiträge zweier Ausstellungskataloge zur Geschichte des modernen Taschenbuchs ver-
wiesen.202
Um das Taschenbuch als Popularisierungsmedium verstehen zu können, ist es zu-
nächst vonnöten, den Begriff des Taschenbuchs in seiner Problematik zu skizzieren. In
einem nächsten Schritt gilt es, den Erwartungshorizont und das Bewertungsspektrum zu
erfassen, innerhalb derer sich das Taschenbuch in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts bewegt. Dabei indizieren mehrere Diskursfelder einen mentalitätsge-
schichtlichen Wandel, der auf die gesellschaftsstrukturellen und medialen Entwicklun-
gen der Nachkriegsjahrzehnte reagiert und schließlich zur Durchsetzung des zunächst
misstrauisch beäugten Medientyps Taschenbuch führt. Ich habe die für die Taschen-
buchfrage relevanten Mentaleme in den Abschnitten 2.2 und 2.3 geclustert, so dass sie
200
Leonhardt, Claudia: Das Taschenbuch – seine Stellung und sein Einfluß im deutschen Buchmarkt.
In: Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels. Redaktionelle Beilage zum Bör-
senblatt für den Deutschen Buchhandel (12. 10. 1984), Nr. 82, S. 1947–2048, hier: S. 1954 f.
201
Ziermann, Klaus: Der deutsche Buch- und Taschenbuchmarkt 1945–1995. Berlin 2000.
202
Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deut-
schen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom
19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbi-
bliothek. 3); Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer
Massenpresse. Taschenbücher in Deutschland 1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift.
5). Zur Entwicklung des Taschenbuchs im 19. Jahrhundert s. Fallbacher, Karl-Heinz: Taschenbü-
cher im 19. Jahrhundert. Begleitband der Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum Marbach zwi-
schen November 1992 und Februar 1993. Marbach 1992.
Das Taschenbuch nach 1950 75
sich semantisch gebündelt lesen lassen. Im Anschluss daran soll eine Charakterisierung
des Taschenbuchs als Popularisierungsmedium folgen.
203
Taylor, Kim: Der moderne Taschenbuchumschlag. In: Graphis (1959), Nr. 83, S. 238–243, hier:
S. 241.
204
Pressler, Karl H.: Tauchnitz und Albatross. Zur Geschichte des Taschenbuchs. In: Aus dem Anti-
quariat. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 01. 1985), Nr. 8, S. 1–10. S. zu den
Tauchnitz Editionen auch Todd, William B.; Bowden, Ann: Tauchnitz international editions in
English 1841–1955. A bibliographical history. London 2003.
205
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Aus-
stellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 25.
206
Rasch, Wolfgang: Billig oder preiswert – die Gestalt der Taschenbücher. In: Die vollkommene
Lesemaschine. Von deutscher Buchgestaltung im 20. Jahrhundert. Hg. v. der Deutschen Biblio-
thek Leipzig, Frankfurt a. M. und Berlin und der Stiftung Buchkunst. Frankfurt a. M. 1997, S. 188–
230, hier: S. 190.
76 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Fünf Jahre später, 1964, klingt die von der UNESCO zur internationalen Standardi-
sierung empfohlene Definition des Buches ungleich nüchterner. Ihr zufolge ist das
Buch „eine nicht regelmäßig erscheinende, gedruckte Veröffentlichung von mindesten
49 Seiten, die Titelseiten nicht eingerechnet“.208
Vor dem Hintergrund dieser semantischen Umbruchsituation versteht sich eine Defi-
nition des Taschenbuchs, die Hans Ferdinand Schulz in seiner um Sachlichkeit bemüh-
ten Darstellung Das Schicksal der Bücher 1960 formuliert:
Wir verstehen heute unter Taschenbuch ein unter Ausnutzung aller Rationalisierungsmöglich-
keiten in großer Auflage hergestelltes billiges Buch, das im Rahmen einer Buchreihe zusam-
men mit zahlreichen anderen Bänden in einheitlicher Ausstattung herauskommt und dessen
Absatz durch den Markencharakter der Buchreihe besonders gefördert wird.209
Wie anderorts, wird auch hier bei Schulz das Taschenbuch als Beispiel einer zuneh-
menden Rationalisierung („unter Ausnutzung aller Rationalisierungsmöglichkeiten“),
Entindividualisierung („im Rahmen einer Buchreihe zusammen mit zahlreichen anderen
Bänden in einheitlicher Ausstattung“) und Vermassung („großer Auflage hergestelltes
billiges Buch“) aufgefasst, wobei in seinem Sprachduktus der kulturkritische Unterton
kaum mehr zu vernehmen ist. Maßstab bleibt jedoch das Hardcover, das in Abgrenzung
zum Taschenbuch zum sorgsam edierten und wertvoll ausgestatteten lebenslangen Be-
gleiter des geistig regen und sensiblen Individuums stilisiert wird. Auf diese und ver-
wandte Topoi, die zur Charakterisierung der Taschenbücher genutzt werden, wird in
den Abschnitten 2.2 und 2.3 einzugehen sein.
Als Vertreter einer pragmatischen Definition des Taschenbuchs sei Wolfgang Trüb-
ger genannt, der im Börsenblatt verlautbart: „Unter Taschenbüchern werden alle im
207
Zit. n. Estermann, Monika: Die Situation des Buchhandels. In: Estermann, Monika; Lersch, Edgar
(Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk 1968 und die Folgen. Wiesbaden 2003. S. 46–64, hier:
S. 51 f.
208
Escarpit, Robert: Die Revolution des Buches. Gütersloh 1967 (= Schriften zur Buchmarktfor-
schung. 10), S. 46.
209
Schulz, Hans F.: Das Schicksal der Bücher und der Buchhandel. System einer Vertriebskunde des
Buches. 2., stark erw. und völlig umgearb. Aufl. Berlin 1960, S. 137.
Das Taschenbuch nach 1950 77
210
Trübger, Wolfgang: Wie rentabel ist das Taschenbuchgeschäft? In: Börsenblatt für den Deutschen
Buchhandel (21. 09. 1971), Nr. 75, S. 2263–2268, hier: S. 2263.
211
„Ich glaube daher, daß die Definition ‚Gebrauchsbuch‘ für das Taschenbuch des heutigen Stils am
ehesten zutrifft […].“ (Friedrich, Heinz: Taschenbuchperspektiven. [Interview mit Heinz Fried-
rich] In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (21. 09. 1971), Nr. 75, S. 2256–2262, hier:
S. 2260.)
212
Ich beziehe mich in der Auflistung dieser Kriterien u. a. auf Gollhardt, Heinz: Taschenbücher. In:
Arnold, Heinz L. (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. Stuttgart, München, Hannover 1971,
S. 117–134, hier: S. 120 f.; Leonhardt, Claudia: Das Taschenbuch – seine Stellung und sein
Einfluß im deutschen Buchmarkt. In: Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhan-
dels. Redaktionelle Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (12. 10. 1984), Nr. 82,
S. 1947–2048, hier: S. 1956 f.
213
Vgl. Escarpit, Robert: Die Revolution des Buches. Gütersloh 1967 (= Schriften zur Buchmarktfor-
schung. 10), S. 117 f.
78 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
gaben und vieles mehr, was vorerst nur dem Bereich des Hardcovers zugerechnet wur-
de. Die Preisgestaltung richtet sich nicht mehr streng nach Kategorien, die am Umfang
bemessen werden. Zudem führen die Konkurrenz der Taschenbuchreihen untereinander
und die Angebotssättigung auf dem Taschenbuchmarkt zu einer Auflagensenkung und
somit preislichen Annäherung an das Hardcover. Die Beobachtung, dass durch das Rei-
henkonzept der Einzeltitel hinter einer uniformen Gestaltung verschwindet, konnte bald
kaum mehr gemacht werden: Da für das Gros der Leser Autor und Titel die entschei-
dende Rolle bei der Buchwahl spielen, stellen in den 1970er Jahren die meisten Buch-
handlungen die Systematik ihres Sortiments den Gewohnheiten des Käufers entspre-
chend um. Statt die Titel den Reihen der Verlage beizustellen, ordnen sie sie nach
Themensparten und den Namen der Autoren. Auslagentische ermöglichen die Frontal-
präsentation, so dass die Aufmerksamkeit des Buchhandlungskunden direkt auf die
Umschlaggestaltung gelenkt wird. Dies hat wiederum zur Folge, dass sich die Verlage
ihrerseits gezwungen sehen, Einzeltitel herauszustellen und gezielt zu bewerben.214
Auch in dieser Hinsicht hat sich das Taschenbuch folglich in den Buchmarkt einglie-
dern können.
Der Medientyp Taschenbuch, so viel ist an dieser Stelle festzuhalten, hat sich seit
1950 so sehr gewandelt, dass er weder durch seinen flexiblen Einband noch durch ande-
re konstante Merkmale hinreichend zu bestimmen ist.
Die definitorischen Schwierigkeiten resultieren jedoch nicht nur aus dem Entwick-
lungsprozess des Mediums Taschenbuch. Vielmehr ist die historiografische Uneinigkeit
auch der Tatsache geschuldet, dass eine Genealogie des Taschenbuchs bei den meisten
Publizisten intentional überformt ist: Der Stammbaum variiert, je nachdem, ob das Ta-
schenbuch von den Autoren als Aufklärungsvehikel, Massenmedium, Bildungsdepot
oder Verkaufsschlager aufgefasst wird.
Somit wird die Reihe der Taschenbuch-Vorläufer unterschiedlich weit zurückverfolgt
und verschieden gewichtet. Konsens besteht jedoch darüber, dass für Deutschland das
Jahr 1950 wenn nicht der Beginn, dann doch die wichtigste Markierung der modernen
Taschenbuchproduktion war: Als Weiterentwicklung der nach dem zweiten Weltkrieg
im Zeitungsformat gedruckten Rowohlts Rotations Romane wurden am 17. Juni 1950
die ersten vier Titel der rororo-Taschenbücher lanciert. Vorbild waren die Produktions-
techniken und Vertriebskonzepte der amerikanischen pocketbooks, die Heinrich Maria
Ledig-Rowohlt von einem USA-Aufenthalt 1949 importierte.215 Wolfgang Rasch ruft
214
Göbel konstatiert: „Das Reihenprinzip gilt nicht mehr absolut. Immer mehr Taschenbuchverlage
fangen an, Einzeltitel herauszustellen in Form von ‚Büchern des Monats‘ oder von ‚Lesetips‘.“
(Göbel, Wolfram: Die Zukunft des Taschenbuchs. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.):
„Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Be-
gleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995.
Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 114–127, hier: S. 118.)
215
S. hierzu etwa Terrahe, Sybille: Taschenbücher bei Rowohlt: nicht nur „Verbrauchsbücher“. In:
Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deut-
schen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom
Das Taschenbuch nach 1950 79
den Stellenwert dieser ersten modernen Taschenbücher auf dem deutschen Buchmarkt
in Erinnerung:
Die Rowohlt Taschenbücher erlangten schlagartig einen solchen Ruhm, daß der Name rororo
zum Synonym für ‚Taschenbuch‘ schlechthin wurde. ‚Ich möchte das Buch nicht gebunden,
sondern als rororo‘, sagten die Kunden in den Buchhandlungen, auch wenn der gewünschte
Titel in einer ganz anderen Reihe erschienen war.216
Von der gefühlten Durchschlagkraft der ‚Innovation Taschenbuch‘ zeugen die in den
1960er Jahren immer wieder herbeizitierten Sentenzen der „Revolution im Buchhandel“
(Wolfgang Kayser) oder der „Revolution des Buches“ (Robert Escarpit).217
Die von Rowohlt selbst angegebene Rentabilitätsgrenze seiner Taschenbuchkalkula-
tionen lag zu Beginn der 1950er Jahre bei einer Auflage von 50.000 Exemplaren. Diese
hohe Angabe gründet zunächst in der materiellen wie kulturellen Bedürftigkeit der
Nachkriegszeit. Bücher waren Mangelware und konnten, selbst wenn sie verfügbar
waren, nur von wenigen gekauft werden. Rowohlt machte mit seinem Programm die
Literatur nicht nur verfügbar, sondern befriedigte auch das Nachholbedürfnis nach in-
ternationaler Literatur in der jungen Bundesrepublik. Diese Marktlücke auf dem deut-
schen Buchmarkt sicherte ihm hohe Auflagen, selbst als die Gründungswelle weiterer
Taschenbuchverlage, die seine Idee in den frühen Fünfzigern nach sich zog, durch die
Etablierung konkurrierender Taschenbuchreihen seine Monopolstellung im Taschen-
buchsektor beendete.218 Diese konkurrierenden Verlage brachten ihre Platzierungsbe-
mühungen in zielgruppengesteuerter Covergestaltung und distinktionsstrategischen
Programmprofilierungen zum Ausdruck. Um sich innerhalb der bestehenden Angebots-
landschaft zu positionieren, wählte etwa der Fischer Verlag 1952 als Motto seiner Ta-
19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbib-
liothek. 3), S. 55–63.
216
Rasch, Wolfgang: Billig oder preiswert – die Gestalt der Taschenbücher. In: Die vollkommene
Lesemaschine. Von deutscher Buchgestaltung im 20. Jahrhundert. Hg. v. der Deutschen Biblio-
thek Leipzig, Frankfurt a. M. und Berlin und der Stiftung Buchkunst. Frankfurt a. M. 1997, S. 188–
230, hier: S. 203.
217
Unter Berufung auf: Kayser, Wolfgang: Das literarische Leben der Gegenwart. In: Ders. (Hrsg.):
Deutsche Literatur in unserer Zeit. 2., durchs. Aufl. Göttingen 1959, S. 5–31, hier: S. 16 bzw. Es-
carpit, Robert: Die Revolution des Buches. Gütersloh 1967 (= Schriften zur Buchmarktforschung.
10).
218
Vgl. hierzu: Bonenberger, Hansheinrich: Die Entwicklung der Taschenbuchproduktion in der
Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 1957. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel
68 (1960), S. 1389–1398; Koch, Karen: Die Entwicklung des deutschen Taschenbuchmarktes von
1945 bis heute. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die
Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbi-
bliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der
Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 79–93.
80 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
schenbuchreihe: „Das gute Buch für jedermann“219 und wurde 1961 hinsichtlich des
proklamierten Qualitätsbewusstseins vom dtv übertrumpft: Dieser bewirbt „das Ta-
schenbuch für Anspruchsvolle“ und leitet im Zusammenspiel mit anderen Verlagen
einen Imagewechsel des Taschenbuchs ein, der für die Popularisierung und Kanonisie-
rung durch Taschenbücher neue Maßstäbe setzt.
Mit dem Heranwachsen einer taschenbuchsozialisierten Lesergeneration, vor allem
aber im Zuge der Bildungsexpansion, wurde das Taschenbuch schließlich ein alltäglich
zu Unterhaltungs-, Bildungs- und Informationszwecken genutztes Medium.
219
Zit. n. Estermann, Monika: Tendenzen der Literaturdistribution in der BRD durch Bücher und
Zeitschriften. In: Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk
1950–1960. Wiesbaden 1999, S. 33–57, hier: S. 56.
220
Escarpit, Robert: Die Revolution des Buches. Gütersloh 1967 (= Schriften zur Buchmarktfor-
schung. 10), S. 12.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 81
221
Das Besitzbuch erfüllt laut Escarpit drei Funktionen, „[…] die mit der eigentlichen Bestimmung
des Buches nichts zu tun haben“: „Es kann eine Kostbarkeit sein, ein Dekorationsstück oder ein
Statussymbol, Zeichen der Zugehörigkeit zu einer gewissen sozialen Schicht.“ (Ebd., S. 29)
222
Ebd., S. 27.
223
„Tatsächlich wurden Bücher, die innerhalb einer sozialen Gruppe entstanden waren, die ihren Weg
gemacht und die Zustimmung ihres Publikums gefunden hatten, plötzlich dank großer Auflagen-
zahlen vor ein neues und unvoreingenommenes Publikum gebracht. Bis dahin war die passiv auf-
genommene Literatur Trivialliteratur gewesen, Produkt der zweiten Kategorie, Ware, bestimmt
zum Verbrauch durch eine anonyme Massenleserschaft. Doch plötzlich kam eine Literatur, deren
Qualität in einer bestimmten sozialen Gruppe anerkannt war, in anderen sozialen Gruppen in Um-
lauf, die an ihrer Hervorbringung nicht beteiligt waren und die auch nicht die Möglichkeit haben,
ihrer Meinung über diese Literatur Ausdruck zu geben. Man verkauft Steinbeck im Drugstore und
Camus in Warenhäusern. Doch weder der Kunde im Drugstore noch der im Warenhaus haben die
Möglichkeit, an jener Wechselbeziehung teilzunehmen, die erneut einen Steinbeck oder einen
Camus entstehen zu lassen vermag. Im Hinblick auf die Zukunft der literarischen Kultur ist dies
zweifellos das beklemmendste und schwierigste Problem, das die moderne Revolution des Buches
uns stellt.“ (Ebd., S. 42 f.)
224
„Nichts, was zwischen dem Buch und dem Leben steht, sollte unbeachtet bleiben, doch sollte man
auch nichts sich dazwischendrängen lassen, vor allem keine Mythen. Wir leben in einer Zeit, in
der die großen Aufgaben gemeinschaftlich und mit Hilfe von Maschinen gelöst werden. Man lässt
dies gern für jene Künste gelten, die mit der Massenzivilisation entstanden sind, also für Funk,
Fernsehen und Film, ganz zu schweigen vom Theater, das schon seit je eine Kunst war, die auf di-
rektem Kontakt mit den Massen basierte, welche stets Zugang zum Schauspiel hatten. Doch jetzt
muß Gleiches für das Buch gelten.“ (Ebd., S. 143)
82 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
2.2.1 Amerikanisierung
Wie bereits erwähnt, stehen dem am Anfang des Kapitels zitierten „Märchen der mo-
dernen Taschenbuchserien“ andere Gründungsmythen zur Seite. Interessanterweise
finden sich unabhängig voneinander Anekdoten mit ein und demselben Motiv: dem
buchzerreißenden Amerikaner. In den beiden hier vorgestellten Varianten wird ein Eu-
ropäer Zeuge, wie ein Amerikaner aus pragmatischen Gründen ein Buch zerreißt.
In der von Guillemette de Sairigné kolportierten Version fungiert die zerstörerische
Aktion als Initialzündung der Taschenbuchproduktion in Frankreich:
Henri Filipacci m’a toujours dit, raconte sa secrétaire Jacqueline de Casamajor, qu’il avait eu
l’idée du ‘Livre de Poche’ en voyant un G.I. demander un livre dans une librairie française, et
le déchirer en deux pour le glisser dans les poches de son blouson.225
Michael Naumann, damals Verlagsleiter bei Rowohlt, legt in seiner Version von 1986
augenzwinkernd den Schwerpunkt auf den Gegensatz von amerikanischer Pragmatik
und der alteuropäischen Achtung vor dem Kulturerzeugnis:
Das Taschenbuch wog so schwer wie ein halber Ziegelstein in der Hand des amerikanischen
Autors Stuart Miller – er las Pasternaks ‚Dr. Schiwago‘. Als ihn seine Frau, eine Belgierin im
mitteleuropäischen Respekt vorm Heiligtum ‚Buch‘ fragte, was so begeisternd an dem Werk
sei, da brach er das Werk auseinander wie einen Laib frischen Brots und reichte ihr den schon
gelesenen Teil. Mrs. Miller verschlug es ob solcher amerikanischer Ungezogenheit die Spra-
che und auch die Leselust.226
Das moderne Taschenbuch ist, selbst wenn man die Vorstufen auf dem europäischen
Kontinent außer Acht lässt, europäischer Provenienz. Dennoch wird es rückwirkend
amerikanisiert. Als typisch amerikanisch wird es empfunden wegen seiner massenhaf-
ten Vertreibung, der innovativen Vertriebsstellen,227 der scheinbar schwachen, jeden-
falls nicht augenscheinlich kulturpaternalistischen Selektionsvorgänge und der unka-
225
Sairigné, Guillemette de: L’aventure du « Livre de Poche ». L’enfant de Gutenberg et du XXe
siècle. Paris 1983, S. 20.
226
Naumann, Michael: Literatur ohne Schnörkel. Hinter der Titel-Überflutung lauern die Risiken. In:
Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1986), Nr. 34, S. 1243.
227
Das Taschenbuch wird in den USA häufig nicht über den Buchladen abgesetzt, sondern auch in
Tankstellen und Supermärkten verkauft. Kenneth C. Davis betont die Relevanz dieser Vertriebs-
weise für die USA, wo die Buchläden nur in dichtbesiedelten Gegenden, vornehmlich Großstädten
zu finden sind und die hohe Auflagenhöhe für die USA nur erreicht werden konnte über die durch
innovative Distributionswege erhöhte Verfügbarkeit von Taschenbüchern. Vgl.: Davis, Kenneth
C.: Two-bit Culture. The paperbacking of America. Boston 1984, Preface. In Deutschland und
Frankreich beispielsweise konnten sich diese Vertriebsstellen jedoch nicht gegenüber dem Sorti-
mentsbuchhandel durchsetzen. Für Deutschland vgl: Mohn, Reinhard: Der Weg des Taschenbuchs
zum Käufer. Amerikanische Methoden für Deutschland? In: Bertelsmann-Briefe (1964), Nr. 28,
S. 1 f.; für Frankreich gibt Yvonne Johannot 1978 an, dass nur ca. 6 % der Taschenbücher nicht
über den herkömmlichen Buchhandel abgesetzt werden. (Johannot, Yvonne: Quand le livre de-
vient poche. Une sémiologie du livre au format de poche. Grenoble 1978, S. 109–112.)
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 83
schierten Reklame. Kurz: Als amerikanisch wird all das empfunden, was das Buch sei-
ner Sonderrolle unter den käuflichen Gütern beraubt.
Als typisch amerikanisch gelten allerdings nicht nur die äußerlichen und strukturellen
Merkmale des Taschenbuchs, seine Herstellung und Distribution, sondern auch die
inhaltliche Programmgestaltung der Taschenbuchverlage.
In diesem Zusammenhang mag es eine Rolle spielen, dass in der jungen Bundesrepu-
blik mit der Pauschalverdammung des Mediums Taschenbuch Überfremdungsängsten
Luft gemacht wird, die unter anderem von dem hohen Anteil übersetzter Literatur in
Taschenbuchform zehren.228
Der Autor Frank Thiess etwa kann sich Norman Mailers Bucherfolg Die Nackten und
die Toten nur aus dem enormen Werbeaufwand erklären. In der nachfolgend zitierten
Passage tritt zudem seine generelle Aversion gegen Übersetzungen amerikanischer
Literatur auf dem deutschen Buchmarkt zu Tage:
Ebenso ist Norman Mailers Roman Die Nackten und die Toten in den Schaufenstern zu Tür-
men aufgeschichtet worden, weil sein Verleger es hervorragend verstanden hatte, die Neugier
des Lesers in eine Richtung zu peitschen, wo er etwas Ungehörtes erwarten mußte. Für das Ar-
rangement dieses Erfolges wurde das hitzige Interesse des Deutschen an amerikanischer Lite-
ratur mit allen Techniken der Marktwerbung in den Dienst der Sache gestellt. (Das Wort
Sache steht hier am richtigen Platz.)229
Als ablehnenswertes Zerrbild kultureller Öffnung des deutschen Buchmarkts gilt nach
dem Zweiten Weltkrieg der (internationale) Bestseller. Obwohl etwa schon Philip van
Doren Stern 1942 das „Zeitalter des Bestsellers“ ausruft230 wird der Bestseller um 1960
als bedrohliches Novum wahrgenommen. Wider die Bestsellerseuche betitelt Schulz
1960 einen Aufsatz und macht die laut Werner Faulstich zeittypische Behauptung, „daß
im Jahre 1950 ein Bestseller im amerikanischen Sinne bei uns überhaupt nicht existier-
te“. Folgerichtig fragt er seine Leser: „Warum sollen wir uns nun den Blick vernebeln
lassen durch ein Bestsellerideal, das sich in Deutschland nur in Ausnahmefällen ver-
wirklichen läßt, weil es unserem Wesen nicht entspricht?“231
228
Hannes Schwenger notiert für die junge Bundesrepublik: „War damals nur jedes zwanzigste Buch
eine Übersetzung gewesen, so war es am Ende unseres Berichtszeitraums jedes achte; drei Viertel
davon aus den Sprachen der früheren westlichen Besatzungsmächte, vor allem (1967 mit
30 Prozent) aus dem Amerikanischen. Eine Tatsache, die auch im Blick auf den Horizont der lite-
rarischen Öffentlichkeit notiert zu werden verdient.“ (Schwenger, Hannes: Buchmarkt und literari-
sche Öffentlichkeit. In: Fischer, Ludwig (Hrsg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis
1967. München, Wien 1986 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom
16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 10), S. 99–124, hier: S. 106.)
229
Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und Wandel. (= Akademie der Wissenschaften und der
Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur 1959. 5), S. 13.
230
Zit. n. Faulstich, Werner: Bestseller – ein chronologischer Abriß bisheriger Erklärungsversuche.
In: Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels 27 (1973), S. 1509–1523, hier:
S. 1514.
231
Zit. n. ebd., S. 1517.
84 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Als der Spiegel 1978 die Veröffentlichung einer Bestsellerliste für das Taschenbuch
ankündigt, reagieren die Taschenbuchverlage Fischer, dtv, Diogenes, Droemersche
Verlagsanstalt, Heyne, Rowohlt, Suhrkamp und Ullstein mit einer gemeinsamen Presse-
erklärung, deren Wortlaut im Börsenblatt wiedergegeben ist. Hierin wird eine Taschen-
buchbestsellerliste mit dem Argument abgewiesen, sie widerspräche „dem Sinn dessen,
was der Taschenbuchverlag kulturpolitisch darstellt. […] Das, was Thomas Mann ein-
mal ‚die Demokratisierung der Literatur‘ genannt hat, wird im Sinne der Amerikanisie-
rung des deutschen Taschenbuchmarktes total nivelliert. […]“233
Und auch Friedrich bedient sich 1981 eines amerikanischen Settings, um die Ver-
rohungstendenzen eines profitorientierten Taschenbuchmarktes zu illustrieren:
Euphorisch wurde vor fünf Jahren die Taschenbuch-Zukunft beschworen. Ein regelrechtes Ta-
schenbuch-Goldfieber grassierte: let’s go west. Die Jagd nach den vermeintlich besseren
claims begann in der Hoffnung auf das große Geschäft. Weder Mühe noch Kosten wurden ge-
scheut, um der unerschlossenen Goldadern habhaft zu werden und sie auszubeuten. Die Sitten
verrohten, wie bei Goldgräbern üblich, und der Sinn für Realitäten verkümmerte – wie eben-
falls bei Goldgräbern üblich …234
232
Schulz, Hans F.: Das Schicksal der Bücher und der Buchhandel. System einer Vertriebskunde des
Buches. 2., stark erw. und völlig umgearb. Aufl. Berlin 1960, S. 154.
233
Verleger contra Bestsellerliste. [Gemeinsame Presseerklärung der Taschenbuchverlage Fischer,
Dtv, Diogenes, Droemersche Verlagsanstalt, Heyne, Rowohlt, Suhrkamp, Ullstein] In: Börsenblatt
für den Deutschen Buchhandel, 49 (20. 06. 1978), S. 1259.
234
Friedrich, Heinz: Es ist mal wieder soweit. Anmerkungen zur ‚Taschenbuchkrise‘. In: Börsenblatt
für den Deutschen Buchhandel, 37 (29. 04. 1981), [Sondernummer zum Taschenbuch] S. 1114–
1117, hier: S. 1114.
235
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 29 f.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 85
rung von Literatur zunächst als Amerikanisierung darstellte,236 was einerseits in der
Präponderanz von Übersetzungen aus dem Amerikanischen gegenüber anderen Über-
setzungen begründet sein könnte, andererseits aber auch auf die lange Tradition des
deutschen Schlagworts ‚Amerikanisierung‘ zurück zu führen ist, das seit der Zwischen-
kriegszeit dazu führte, unliebsame Modernisierungsphänomene tendenziell auf das ame-
rikanische Konto zu verbuchen.237
Ist im Zusammenhang mit dem Taschenbuch also von Amerikanisierung die Rede,
dann geht es zunächst um eine vehemente Ablehnung des Mediums im Namen der eu-
ropäischen oder deutschen Buchkultur. Mit der allmählichen Etablierung des Taschen-
buchs auf dem deutschen Buchmarkt und der allgemeinen Akzeptanz des Mediums
wird die Amerikanisierung als Gegenentwurf zum deutschen Konzept der „Rückbesin-
nung auf die verlegerische Verantwortung“ ausgestaltet.238 Letztere zeigt sich dann eben
auch im Taschenbuchbereich, wo, so aus einer Selbstdarstellung des Taschenbuchmark-
tes, die „Seriosität der großen, ‚klassischen‘ Taschenbuchverlage […] eine nahtlose,
weitgehende Integration des Taschenbuchs in die ‚Buchkultur‘ (Dr. Muth) bewirkt“
hat.239
Die Amerikanisierung wird oftmals gleichgesetzt mit einer Entscheidung gegen Kul-
tur und für Kommerz. Diese Dichotomie wird in den 1960er Jahren im Zuge der zu-
nehmenden Akzeptanz des Taschenbuchs nicht versöhnt. Vielmehr wird sie distink-
236
Faulstich, Werner; Strobel, Ricarda (Hrsg.): Bestseller als Marktphänomen. Ein quantitativer
Befund zur internationalen Literatur 1970 in allen Medien. Wiesbaden 1986, S. 24 f.
237
Unter Amerikanismus werden dabei laut Bollenbeck subsumiert: „neuartige ökonomisch-
technische Zustände, antitraditionalistische Mentalitäten und eine erfolgreiche Unterhaltungsin-
dustrie, die sich rigoros marktorientiert nach dem Publikumsgeschmack richtet.“ (S. 254) Diese
beziehen „sich nicht alleine auf die kulturelle Moderne, sondern auf die Moderne schlechthin“.
(S. 253) „Wenn vom Amerikanismus die Rede ist, dann steht das Schlagwort, typologisch verein-
facht, für drei heterogene Entwürfe von unterschiedlicher Dauer. Der erste verblasst nach der
Weltwirtschaftskrise und er gewinnt nach 1945 wieder an Glanz. Er setzt auf die Chancen einer
demokratisierten Massenkultur. Der zweite verweist auf das, was der amerikanische Historiker
Jeffrey Herff treffend als ‚reactionary modernism‘ bezeichnet, auf jene Verbindung von vormo-
dernen Traditionen mit moderner Ökonomie, Technologie und Unterhaltungsindustrie, die sich mit
dem NS-Regime ausformt und die nach der Niederlage im Zeichen der ‚Westbindung‘ mit ihm
verschwindet. Der dritte Entwurf ist zähen kulturkritischen Klagen verpflichtet, die allmählich in
den siebziger Jahren verhallen.“ (S. 258) Zur Karriere des Begriffs Amerikanisierung vgl: Bollen-
beck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne
1880–1945. Frankfurt a. M. 1999, bes. S. 252–262.
238
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 30.
239
o. V.: Keine Weinhandlung führt alle Weine. Anmerkungen zur Buchmarkt-Umfrage über das
Taschenbuch. In: Buchmarkt (1974), Nr. 2, S. 40–71, hier: S. 40.
86 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
240
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 30.
241
„[…]‚Drohen bei uns bald amerikanische Zustände? Müssen wir alle, Verleger wie Buchhändler,
Buchhändler wie Leser nicht daran interessiert sein, daß wir hier keine amerikanischen Verhältnis-
se bekommen, wo ein Titel vier Monate als Hardcover läuft, um dann drei Monate als Taschen-
buch zu laufen, bis er endgültig verschwindet?!‘ Nur ein Rufer in der Wüste?“ (Urban, Klaus: Vor
der Trendwende? In: Buchmarkt (1993), Nr. 8, S. 70–73, hier: S. 70.)
242
Stecher, Reinhold: Das Taschenbuchzeitalter ist eingeläutet. Statement eines Taschenbuchverle-
gers. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981), Nr. 37 [Sondernummer zum
Taschenbuch] S. 1117 f., hier: S. 1117.
243
Ebd., S. 1118.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 87
Erst nachdem das Massenmedium Taschenbuch sich vom Odem des Amerikanismus
befreit hatte und sein Höhenkammpotenzial unter Beweis gestellt hatte,244 konnte es um
1960 die Eingangsschwelle der deutschen ‚Buchkultur‘ passieren. Der Kampf gegen die
Amerikanisierung im Namen der europäischen oder deutschen Kultur wurde nun ins
Innere des Taschenbuchmarkts verlegt.
244
Als Marksteine werden in den untersuchten Quellen immer wieder Fischers Exempla Classica und
Rowohlts Deutsche Enzyklopädie genannt.
245
Schwenger, Hannes: Buchmarkt und literarische Öffentlichkeit. In: Fischer, Ludwig (Hrsg.):
Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. München, Wien 1986 (= Hansers Sozialge-
schichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 10), S. 99–124, hier:
S. 124.
246
„Tatsächlich zeichnet sich das Taschenbuch vor allen anderen Buchformen dadurch aus, daß es
durch die Möglichkeit leichteren und schnelleren Reagierens auf die Regungen des literarischen
und wissenschaftlichen Lebens eine wirkliche Wechselbeziehung zwischen Autor und Leser zu-
stande bringt.“ (Altenhein, Hans: Veränderungen des Taschenbuch-Verlages. In: Fischer Alma-
nach 80 (1966), S. 202–208, hier: S. 205.)
247
Vgl. Johannot, Yvonne: Quand le livre devient poche. Une sémiologie du livre au format de
poche. Grenoble 1978, S. 14.
88 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
rung im Gespräch mit dem Buchhändler gehemmt gegenüberstanden, verlangte die Auffas-
sung vom Buch als Ware und Konsumgut den Schritt heraus aus dem Elfenbeinturm.248
In Thiess’ Abhandlung über den Bucherfolg von 1959 gesellt sich zu der Skepsis gegen
die zum Kauf anregende Gestaltung der Taschenbücher sehr deutlich bildungsbürgerli-
che Gralshütermentalität. Thiess unterscheidet zwei Arten von Erfolg: den „natürlichen
Erfolg“, der von einer literarisch interessierten und gebildeten Schicht getragen wird
und den „synthetischen Erfolg“, der sich erst im 20. Jahrhundert ausbilden konnte und
sich dadurch ausweist, dass er den Bucherfolg analog zu jedem anderen Marktprodukt
über Werbestrategien erzeugt.
248
Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Massen-
presse. Taschenbücher in Deutschland 1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift. 5), S. 9 f.
249
Johannot, Yvonne: Quand le livre devient poche. Une sémiologie du livre au format de poche.
Grenoble 1978, S. 108 f.
250
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 137.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 89
Der natürliche Bucherfolg steht auf dem wachsenden Anteil, den eine literarisch interessierte
Leserschicht an einem Werk nimmt; der Einzelne gibt es an den Einzelnen weiter, und der
Buchhändler, welcher es ebenfalls gelesen hat, folgt mit seinem Angebot der Nachfrage. Der
synthetische Bucherfolg wird nach Analogie einer neuen Zigarettenmarke oder einer alle Fal-
ten beseitigenden Gesichtscreme reklameartig inszeniert.251
Wie andere Einzelhandelsläden werden also auch die Buchläden nach dem Zweiten
Weltkrieg auf Selbstbedienung umgestellt. Damit gleichen sie aus Sicht der angestamm-
ten Buchhandelsklientel „literarische[n] Supermarkets“252 – der Warencharakter der
Bücher tritt nun deutlicher hervor.253 Der Wegfall der Beratungs- und Orientierungs-
funktion des Buchhändlers führt dazu, dass die Buchumschläge selbst diese Funktionen
übernehmen, wobei das vormalige Selektionskriterium der persönlichen Auswahl des
Buchhändlers nun kaum mehr eine Rolle spielt. Die Kaufanreize gehen verstärkt von
der grafischen und verbalen paratextuellen Gestaltung des Buches aus, und die hat na-
türlich immer zum Ziel, gerade dieses Buch zu verkaufen. Der Kunde, heißt es bei Jo-
hannot in Anbetracht dieser zweifelhaften Emanzipation des Lesers, „heureux qu’on lui
dise qu’il est adulte et compétent, on va le tenter par une jolie image – comme un en-
fant.“254 Das Taschenbuch wird, mit Enzensberger gesprochen, „zum Plakat seiner
selbst“.255
Der Leser wird angesichts dieses ambivalenten Autonomiezuwachses gerne zum Op-
fer der Unübersichtlichkeit stilisiert. In diesem Sinne deutet Thiess den „Aufstieg der
Buchgemeinschaften“. Diese Erscheinung
läßt sich mit der Ratlosigkeit des Bücherfreunds angesichts der unüberschaubaren Menge von
Titeln und der Anpreisung von Werken erklären, die der Käufer kopfschüttelnd wieder fortleg-
te, aber sie ist auch ein Beweis dafür, daß der Leser sich im Bücherlabyrinth des freien
Markts nicht mehr zurechtfand.256
Auch bei Enzensberger tritt der Taschenbuchkäufer als Opfer in Erscheinung, der ohne
den beratenden Beistand der Kulturvermittler verloren vor den Taschenbuchauslagen
steht. Die „uniform[e]“ Buntheit der Umschläge lässt ihn nicht erkennen, was ‚Weltlite-
ratur‘ und was ‚schnöde Unterhaltung‘ ist. „Ezra Pound oder Daphne du Maurier, die
Bibel oder das Einmaleins für junge Mütter: fast sieht eines wie’s andere aus. Auch in
251
Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und Wandel. (= Akademie der Wissenschaften und der
Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur 1959. 5), S. 10 f.
252
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 135.
253
Einen erneuten Diskussionspunkt stellte die Einführung des Strichcodes auf dem Buchumschlag
dar.
254
Johannot, Yvonne: Quand le livre devient poche. Une sémiologie du livre au format de poche.
Grenoble 1978, S. 108.
255
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 138.
256
Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und Wandel. (= Akademie der Wissenschaften und der
Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur 1959. 5), S. 15.
90 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
dieser Sekunde des Zögerns bleibt der Passant sich selbst und seiner Ratlosigkeit über-
lassen.“257
Dass diese Einschätzung der indifferenten Covergestaltung für die amerikanischen
und frühen deutschen Taschenbücher durchaus nachvollziehbar ist, belegt die Gegen-
überstellung der Gestaltung zweier amerikanischer Ausgaben von Emile Zolas Roman
Nana aus den 1940er Jahren und zweier Titel der 1950er Jahre, die dem Bereich der
erotischen Spannungslektüre zuzuordnen sind. Sowohl die ‚Weltliteratur‘ als auch die
‚Unterhaltungslektüre‘ wird nach dem Motto sex sells beworben, verspricht doch der
Umschlag von Zolas Nana, bekräftigt durch die Abbildung einer ebenso reizvollen wie
licht bekleideten Blonden, die „complete unexpurgated translation“ dieses Klassikers
des französischen Naturalisten (Abb. 4).
Abb. 4: Umschläge amerikanischer Taschenbuchausgaben von Zola: Nana und Pulp-Titel, 1940er
Jahre (Zola, Emile: Nana [1879 / 80]. New York 1941; Zola, Emile: Nana [1879 / 80], New York 1947.
Quelle: Bonn, Thomas L.: Under Cover. An Illustrated History of American Mass Market Paperbacks.
Harmondsworth, Middlesex 1982, S. 64; Peters, Bill: Blondes die young. New York 1953; Seager,
Allan: Cage of Lust. New York 1952. Quelle: Bonn, Thomas L.: Under Cover. An Illustrated History
of American Mass Market Paperbacks. Harmondsworth, Middlesex 1982, [Abbildungsteil nach S. 80].
Farbige Darstellung s. Farbblock.)
257
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 136.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 91
gerieten so zwangsläufig in den Bereich, wo man ihnen – schon durch das Vermittelte ihrer
Darbietungsweise – nicht mehr mit jenem durch das Theater, das Opernhaus, den Konzertsaal
oder die Kirche gebotenen Respekt gegenübertrat, sondern wo diese Werke auf dem Bild-
schirm aufflimmerten oder aus dem Radio ertönten, also ihre Aura verloren und den Charakter
des Freihausgelieferten und damit Billigen annahmen.258
Selbst prinzipielle Befürworter des Taschenbuchs, wie Hans Rudolf Boßhard, fühlen
sich „von einer Flut von Taschenbüchern überschwemmt.“262
Hartnäckig hält sich die Rede vom Chaos und Überschuss im Taschenbuchbereich.
1986 bedient sich Naumann dieser Bilder um Risiken der „Titel-Überflutung“ aufzu-
weisen:
Sinnlose Titelüberflutung der Sortimenter, hilflos arrangierte Taschenbuch-Lawinen im Regal
hinterm Schaufenster – hier drohen die eigentlichen Risiken.
Die Verlage, die ihre Bücher nach sorgfältigen Kriterien in besondere Reihen gliedern, fühlen
sich schlecht bedient, wenn sie die Früchte ihrer Anstrengungen in einem kunterbunten Reigen
mit dem üblichen Allotria der Konkurrenz vermischt beim Sortiment wiedersehen.263
258
Hermand, Jost: Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965–85. München 1988, S. 175 f.
259
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 11.
260
Vgl zur Flutmetaphorik im ‚Kampf gegen Schmutz und Schund‘ Bollenbecks Untersuchung zu
den 1920er Jahren. Im Liberalismus war die Flutmetaphorik durchaus noch positiv konnotiert:
„Mit der Freigabe der Klassiker im Jahre 1867 beginne nun, so Rudolf Gottschall, eine neue Ära
ihrer ‚Volksthümlichkeit und ein breiterer Strom von Bildungselementen als früher fluthet in die
Massen‘. Die Popularisierung des künstlerischen ‚Nationaleigenthums‘ wird noch als Bestätigung
der eigenen Definitionsmacht und kulturellen Kompetenz begrüßt, die von den niederen Künsten
noch keineswegs bedroht scheint. […] Angesichts der Massenkünste verändert sich, metaphorisch
gesprochen, die Strömung.“ (Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kon-
troversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt a. M. 1999, S. 162.)
261
Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und Wandel. (= Akademie der Wissenschaften und der
Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur 1959. 5), S. 22.
262
Boßhard, Hans R.: Über die Gestaltung des Taschenbuches. In: Polygraph-Jahrbuch (1966),
S. 61–80, hier: S. 64.
92 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Die Befürchtung, dass im Taschenbuch das Niveauvolle in der ‚Masse‘ des Niveaulosen
untergeht, lässt die Forderungen nach stärkerer Selektion laut werden. „[…] Es ist
selbstverständlich, daß es besser ist, wenn jemand Kafka oder Julien Green oder Thorn-
ton Wilder liest als Rudolph Herzog oder Hans Grimm oder Hanns Martin Elster“, lässt
der Autor Max Picard in der FAZ 1960 verlauten. „Das Gefährliche ist aber, daß einer
Kafka plus Green plus Wilder plus fünfhundert andere Romane plus Sedlmair [sic] plus
Schelsky plus Heisenberg plus Picard und noch vieles plus dazu liest …“ Seine Schelte
der wahllosen Vielleserei mündet in einer Degenerationsgeschichte, an dessen Ende der
Leser als mundtoter Konsument steht:
Damals (bei den Reclam-Ausgaben) wurde noch gewählt, und es wurde gewählt, um eine
Antwort auf das Gewählte zu geben […]. Heute aber wird bei den Taschenbüchern nicht mehr
gewählt […] und der Leser denkt gar nicht daran, Antwort zu geben oder geben zu müssen auf
das Gelesene, er kommt vor lauter plus und plus und plus gar nicht mehr dazu, Antwort zu ge-
ben, ja es ist so: er liest sich weg von einem zum anderen, damit er keine Antwort zu geben
braucht.264
263
Naumann, Michael: Literatur ohne Schnörkel. Hinter der Titel-Überflutung lauern die Risiken. In:
Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1986), Nr. 34, S. 1243.
264
Max Picard in der FAZ vom 29. Juni und 22. Juli 1960, zit. n. Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch
ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 6.
265
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 24.
266
Ebd., S. 22.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 93
die ganz explizit einen Kanon der Weltliteratur repräsentieren sollten. Oftmals konno-
tieren bereits die Reihenbezeichnungen das Kanonisierungsvorhaben.267 Ihrer Form
nach vermitteln die abgeschlossenen, einheitlich gestalteten Reihen den Eindruck von
Gültigkeit und Orientierung durch Beschränkung auf ‚das Wesentliche‘. Auch können
sie bedenkenlos als Ganzes empfohlen werden, denn sie sind garantiert ‚schundfrei‘.
Als Lesestoff für den jungen Menschen aber ist das Taschenbuch geradezu unentbehrlich ge-
worden, und hierin liegt wohl auch seine wichtigste und erfreulichste Bedeutung. Der Erwerb
einer Reihe von Taschenbüchern aus den verschiedensten Gebieten bildet den Grundstock für
die eigene Bibliothek, wozu die Sammlung ‚Exempla Classica‘ des Fischer-Verlages sich be-
sonders eignet.268
Die Ängste der Kulturvermittelnden können folglich durch den immer stärker ausdiffe-
renzierten Taschenbuchmarkt entkräftet werden. Enzensberger notiert: „offenbar ist
hier, in der langen Geschichte des wohlfeilen Buches, ein Punkt erreicht, wo die Quanti-
tät in Qualität umschlägt“.269
Reinhard Hauri beginnt seinen Aufsatz zum Taschenbuch mit der Schilderung eines
Leseerlebnisses. Auf die Anregung eines Freundes hin kaufte er sich Max Picards Werk
Die Welt des Schweigens „wenn es auch teuer war. Sein Inhalt war schwierig. Es koste-
te mich viel Anstrengung, durchzukommen, aber ich las es, Satz für Satz.“ Das Buch
begleitet ihn eine ganze Weile. Hauri betont, dass Titel und Inhalt des Buches durch
Layout und Satz aufgenommen wurden: „Im festen, weißen Papier, das überall durch
die Zwischenräume eines weiten Druckes schimmerte, lag selbst etwas von Schweigen,
das der Autor an seine Leser herantragen wollte.“ All dies ließ die Lektüre des Buches
zu einem unvergesslichen Erlebnis für Hauri werden:
267
Einige sind mit dem Beisatz „Bibliothek“ oder „Bücherei“ gekennzeichnet. So nennt etwa der
Fischer Verlag seine Taschenbuchsparte Fischer Bibliothek. Weitere Beispiele sind die Insel-
Bücherei oder die dtv Text-Bibliothek (gegründet 1971). Hans-Otto Meyer begrüßt das Taschen-
buch 1961 als „Grundstock für die eigene Bibliothek“ junger Menschen. (Meyer, Hans-Otto: Das
Taschenbuch im Sortiment. In: Fischer Almanach 75 (1961), S. 136–140, hier: S. 137.) Damit
greifen die Taschenbuchreihen auf eine Tradition des 19. Jahrhunderts zurück, nach der, in Folge
des Klassikerjahrs 1867, viele preisgünstige Reihen erschienen, etwa 1874 die Familienbibliothek
fürs deutsche Volk oder ab 1872 die Deutsche Volksbibliothek für Lesevereine und Haus. Vgl. da-
zu: Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2., durchges. Aufl. München
1999, S. 269 f. Auch die Reihentitel Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft sowie Fi-
schers Exempla Classica evozieren das Bild des gültigen Kanons.
268
Meyer, Hans-Otto: Das Taschenbuch im Sortiment. In: Fischer Almanach 75 (1961), S. 136–140,
hier: S. 137.
269
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 139.
94 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Die hohe Auslage, die ausgedehnte Zeit und die Anstrengung, die ich an das Buch verschwen-
dete, ließen es mir zu einem Erlebnis werden, und diesen Aufwand wiederum hatte ich nur
leisten können, weil seine schöne Ausstattung und sein ansprechender Inhalt mich dazu ver-
lockten.270
270
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 5.
271
Ebd. Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass Hauri im Laufe des Essays seine Entwicklung hin zu
einem wohlwollenderen Verhältnis zum Taschenbuch darlegt, da er es als zeitgemäß akzeptiert
hat: „Es abzulehnen hieße Nein sagen zu unserer Zeit.“ (Ebd., S. 6)
272
Johannot, Yvonne: Quand le livre devient poche. Une sémiologie du livre au format de poche.
Grenoble 1978, S. 15.
273
Siehe u. a. Fröhner, Rolf: Das Buch in der Gegenwart. Eine empirisch-sozialwissenschaftliche
Untersuchung. Gütersloh 1961, bes. S. 141–157.
274
o. V.: Erfahrungsbericht über RO-RO-RO verbunden mit einer Analyse von 1000 Leserbriefen.
Als Manuskript gedruckt im Herbst 1947. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht uns-
re Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 33–54, S. 35.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 95
nicht wichtig, Bücher für den Schrank herzustellen, sondern Bücher an den Leser zu
bringen.“275
Gerade an dieser neuen Perspektive des ‚Verbrauchens‘ von Büchern entzündet sich
die Kritik. Nach dem Erscheinen der ersten sechs Bücher Fischer Bücherei schreibt die
Tagespost Würzburg am 19. April 1952:
So soll nach dem Programm unserer Buchfabriken die deutsche Bücherproduktion von morgen
aussehen, unsere Westentaschenkultur. Weg mit unserer Freude an dem würdig ausgestatteten
Buch, das man nach Jahren wieder herauszieht oder in den wenigen Sternstunden der Muse
nur zur Hand nimmt. Weg damit.276
Die Erwartung, die Taschenbücher würden nach einmaligem Lesen oder Anlesen weg-
geworfen, erwies sich jedoch meist als falsch.277 Spätestens mit der Qualitätssteigerung
der Taschenbuchausstattung in den 1960er Jahren wurden die Taschenbücher ebenso
ansehnlich wie haltbar. Die Befürchtung, die Taschenbücher würden die Mediennut-
zung radikal verändern und das Buch von einer Kostbarkeit zum Einwegprodukt degra-
dieren, ist also unbegründet, besonders in der kulturpessimistischen Form einer Steige-
rung der Wegwerfmentalität, von der beispielsweise noch Naumanns ‚Zukunftsvision
Buch‘ in den 1980er Jahren gezeichnet ist: Er spricht von der „Verwandlung in ein Ex-
und-Hopp-Wegwerfprodukt“ und meint: „Taschenbücher werden in Deutschland, ein
Sperrmülltag in einer beliebigen Großstadt beweist es, schon längst nicht mehr mit fei-
erlichem Gestus genutzt und aufbewahrt.“278 Das jedoch, was man unter dem Schlag-
wort der ‚Revolution des Buchmarktes‘ fasste, trat in Deutschland nicht ein. Das Ta-
schenbuch sollte, wie Wilhelm Unverhau resümiert,
ein ‚Verbrauchsbuch‘, ein ‚Massen-Konsum-Artikel‘, ein industrieller Markenartikel sein.
Kurz: eine Revolution auf dem deutschen Büchermarkt. Diese Revolution hat nicht stattgefun-
den! Es wurden keine ‚neuen Leserschichten‘ erschlossen, keine wirklich neuen Vertriebswe-
ge geöffnet und das Taschenbuch wurde auch nicht ‚verbraucht‘.279
Auch andere Verschiebungen in der Mediennutzung, die mit dem Taschenbuch in Ver-
bindung gebracht werden, erweisen sich als lediglich graduell. Eine dieser Verschie-
bungen bezieht sich auf das Verhältnis, das das Taschenbuch zur Beschleunigung als
einem essentiellen Aspekt der Moderne einnimmt. Im traditionellen Verständnis gilt das
Buch als ‚Entschleunigungsoase‘. Die Feierabendlektüre dient der Regeneration. All-
275
Ebd.
276
Zit n. Rasch, Wolfgang: Billig oder preiswert – die Gestalt der Taschenbücher. In: Die vollkom-
mene Lesemaschine. Von deutscher Buchgestaltung im 20. Jahrhundert. Hg. v. der Deutschen
Bibliothek Leipzig, Frankfurt a. M. und Berlin und der Stiftung Buchkunst. Frankfurt a. M. 1997,
S. 188–230, hier: S. 229.
277
Vgl. Vormweg, Heinrich: 25 Jahre Taschenbuch. In: Merkur 29 (1975), S. 979–985, hier: S. 984.
278
Naumann, Michael: Literatur ohne Schnörkel. Hinter der Titel-Überflutung lauern die Risiken. In:
Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1986), Nr. 34, S. 1243.
279
Unverhau, Wilhelm: 30 Jahre Taschenbuch. In: Leonhard, Max (Hrsg.): Nisus in librorum nitore.
Werner Göbel zum 65. Geburtstag. München 1980, S. 241–245, hier: S. 241.
96 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
gemein findet sich das Buch vor dem ‚Taschenbuchzeitalter‘ dort, wo die Moderne erst
in sehr geringem Maße Einzug gehalten hat: im eigenen Haus und in den Bibliotheken.
In seiner soziologischen Darstellung der allgemeinen Beschleunigung greift Rosa die
Verweigerungen der Beschleunigungstendenzen auf.
Der Ruf nach dezidierter oder radikaler Entschleunigung, der […] bisher in der Geschichte der
Neuzeit stets als Begleiterscheinung von Beschleunigungswellen auftrat, vermischt sich häufig
mit einer fundamentalen Kritik an der Moderne und mit einem grundsätzlichen Protest gegen
(weitere) Modernisierung.280
Eine Textpassage bei Thiess spricht die Kompensationsbedürfnisse aus, die von Seiten
des Bildungsbürgertums an das Medium Buch und seine Nutzung gekoppelt sind:
Die schauerlich zunehmende Zahl von Herzinfarkten beweist, daß der moderne Mensch in ein
Lebenssystem eingespannt ist, aus dessen Stahlnetz er sich selbst bei gutem Willen nicht zu
befreien vermag. In diesem System befindet sich das Buch zufolge seiner Passivität in der La-
ge eines Fußgängers inmitten eines strömenden Autoverkehrs. Er muß zusehen, daß er nicht
überfahren wird.281
Das Buch wird mit der Aufgabe betraut, eine Gegenwelt zum „stählernen Gehäuse“
(Max Weber) als Ausgleich für den Menschen in der Moderne zu schaffen. Ein Buchtyp
jedoch, der sich den Anforderungen der technischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Moderne scheinbar auf voller Linie angepasst hat, kann diese Aufgabe nicht erfüllen.
Mit dem Taschenbuch – wenn auch nicht „Verbrauchsbuch“, dann doch jedenfalls
‚Gebrauchsbuch‘ – beginnt die Pragmatik verstärkt eine Rolle für das Buch zu spielen;
nicht nur Verleger legen nun pragmatisch-materielle Beweggründe offen, auch soll sich
das Bucherzeugnis als ‚praktisch‘ erweisen angesichts der Anforderungen der dynami-
schen ‚Informationsgesellschaft‘.
Die Allianz zwischen gesteigerter Mobilität auf der einen Seite und transportfreund-
lichen Büchern auf der anderen Seite ist dabei nicht neu. Bereits 1848 wurde auf dem
Londoner Euston-Bahnhof die erste Bahnhofsbuchhandlung eröffnet.
Das Entstehen eines lesefreudigen Mittelstands steigerte den Bedarf an billiger Lektüre. So
brachte das dynamische Wachstum des Eisenbahnnetzes eine enorme Zunahme des Reisens
mit sich, natürlich wollte man sich bei der Fahrt die Zeit vertreiben.282
Und Reclam zeigte sich schon früh erfinderisch, um seine Hefte so verfügbar und mobil
wie möglich zu machen. So gab es nicht nur einen Automaten für Reclambände; „[f]ür
den Ersten Weltkrieg wurden ‚Tragbare Feldbücherein‘ entwickelt. Kästen mit jeweils
100 Nummern der ‚Universal-Bibliothek‘, und später eine Exportbücherei in dauerhaf-
280
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt
a. M. 2005, S. 146.
281
Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und Wandel. (= Akademie der Wissenschaften und der
Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur 1959. 5), S. 20 f.
282
Schmoller, Hans: Die Taschenbuch-Revolution. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel
(22. 11. 1983), Nr. 93, S. 129–140, hier: S. 130.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 97
ter Blechkassette, gedacht für Deutsche in den Tropen.“283 Mobilität kann als Vorzug
geradezu in die mediale Bestimmung des Buches integriert werden:
Ein Druckerzeugnis kann man sich überall vornehmen: im Ohrensessel und im Bett, im Auto
und im Flugzeug, am Strand und im Wald. Der Bergwanderer kann seine Hölderlin-Ausgabe
neben die Butterstulle in den Rucksack stecken und sie am Gipfelkreuz hervorholen; die Kin-
der können ihren Karl May mit roten Backen unter der Bettdecke lesen; der U-Bahnfahrer auf
dem Wege zur Arbeit kann sich in aller Ruhe die Morgenpresse zu Gemüte führen. Wer ver-
möchte sich vorzustellen, daß der Bildschirm einmal überall dorthin vordringen könnte, wo
das Gedruckte heute unbestritten ist und unbeschränkt herrscht.284
Dass die praktischen Vorzüge des Taschenbuchs für seinen Erfolg eine große Rolle
spielen, zeigen Umfrageergebnisse. Laut Fröhner werden 1961 die Argumente „billig,
bequem, platzsparend […] von neun Zehntel der Befürworter von Taschenbüchern als
die wesentlichen Vorteile angesehen.“285 In der Aufschlüsselung dieses Bündels domi-
niert dann allerdings der Preisvorteil gegenüber einem gebundenen Buch.286 Der dtv-
Verleger Göbel hingegen referiert in den 1990er Jahren:
In einer Gesellschaft, deren Wohnraum sich zunehmend verknappt, wird als häufigstes Argu-
ment für das Taschenbuch nicht der Preis (das Ausgangsargument für die Taschenbuchproduk-
tion überhaupt), sondern überraschenderweise die Handlichkeit und die Platzersparnis im Bü-
cherregal genannt.287
283
Federhen-Roske, Renate: Was billig ist, kann trotzdem gut sein. 150 Jahre Philipp Reclam jun. Mit
Qualität durch anderthalb Jahrhunderte. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel
(06. 10. 1978), Nr. 80, S. 2047–2052, hier: S. 2049.
284
Sommer, Theo: Geht das Zeitalter Gutenbergs zu Ende? In: Faulstich, Werner (Hrsg.): Medien und
Kultur. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg. Göttingen
1991, S. 95–100, hier: S. 96.
285
Fröhner, Rolf: Das Buch in der Gegenwart. Eine empirisch-sozialwissenschaftliche Untersuchung.
Gütersloh 1961, S. 52.
286
6 % der Männer und 4 % der Frauen beantworten die Frage, warum sie das Taschenbuch bevorzu-
gen, 1961 mit dem vergleichsweise niedrigen Preis, wohingegen nur jeweils 3 % anführen, dass
Taschenbuch sei bequemer und 2 % der Männer sowie 1 % der Frauen die Platzersparnis durch
das Taschenbuch zur Begründung nennen. (Ebd., S. 142.)
287
Göbel, Wolfram: Die Zukunft des Taschenbuchs. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.):
„Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Be-
gleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995.
Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 114–127, hier: S. 122.
288
Resümierend stellt Claudia Leonhardt in ihrer Studien zum Taschenbuch die Thesen Wolfgang
Kaysers vor, demzufolge, in Leonhardts Wortlaut, die „Taschenbuchkäufer einer verhältnismäßig
kleinen Gruppe angehören und ohnehin zu den häufigeren Buchkäufern zählten wie Schüler, Stu-
98 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Leser, die sich vom Buch als Statussymbol lossagte, stieg die Zahl der Taschenbuch-
käufer in dem Nachrücken dieses Käufersegments in ältere Bevölkerungsschichten.
Es lassen sich also durchaus Veränderungen durch das Taschenbuch verzeichnen, die
z. B. die Wertschätzung des materiellen Buchobjektes oder das erwartete Leseverhalten
betreffen. Sie sind jedoch nicht maßgeblich genug, um im Blick auf die Mediennutzung
das Wort ‚Revolution‘ zu bemühen. Augenscheinlich wird eine Zäsur in der Medien-
nutzung am ehesten dort, wo die Taschenbuchevolution mit der Entwicklung vom Bil-
dungsbegriff zum Informationsbegriff verbunden wird.
Schon bevor die Rede von der Informationsgesellschaft zum verbreiteten Beschrei-
bungsmodus der Gegenwart avanciert, wird in den 1960er Jahren eine Tendenz vom
Bildungskonzept zum Informationskonzept verzeichnet und artikuliert.289 Im emphati-
schen Gebrauch des Bildungsbegriffs durch das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert
umfasst er die humanistischen Ideale einer nicht unmittelbar in Nutzen umsetzbaren,
individuellen Aneignung von Welt.290 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist
zwar weiterhin die Rede von Bildung, die Semantik allerdings hat sich geändert. Georg
Bollenbeck resümiert:
Die Ausdrücke sind bis heute im alltäglichen wie im publizistisch-politischen Sprachgebrauch
präsent; sie erfahren zudem als Termini in den einzelnen Fachwissenschaften eine theoretisch-
systematische Einbettung. Diese Präsenz sollte aber nicht über die Entwertung des Deutungs-
musters hinwegtäuschen. Mit ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘ werden nicht mehr, geschichtlich folgen-
reich, Wahrnehmungen geleitet, Erfahrungen verarbeitet und Verhaltensweisen motiviert. Das
beziehungsreiche Verhältnis von sprachlicher Repräsentation und gesellschaftlicher Konstella-
tion ist mit dem Ende des Bildungsbürgertums aufgekündigt.291
denten, Akademiker.“, vgl.: Kayser, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche Literatur in unserer Zeit.
2. Aufl. Göttingen 1959, S. 15. Außerdem referiert Leonhardt die Ergebnisse einer Erhebung der
Herderbücherei von 1957, die über Buchkarten versuchte, ihren Leserkreis zu charakterisieren.
Nach dieser Untersuchung setzte sich der Leserkreis wie folgt zusammen: Akademiker, Führungs-
kräfte, Lehrer: 25 %; Vertreter informationsverarbeitender Berufe, Angestellte, Beamte: 20 %;
Schüler und Studenten: 27 %. Die Gruppe der Arbeiter, Landwirte, Handwerker war mit nur 5 %
repräsentiert, stellte aber zu dieser Zeit, so Leonhardt, mehr als Dreiviertel der Bevölkerung.
(Leonhardt, Claudia: Das Taschenbuch – seine Stellung und sein Einfluß im deutschen Buch-
markt. In: Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels. Redaktionelle Beilage
zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (12. 10. 1984), Nr. 82, S. 1947–2048, hier:
S. 2024.)
289
S. dazu etwa: Froese, Leonhard: Erziehung und Bildung in Schule und Gesellschaft. Erziehungs-
wissenschaftliche Fragestellungen. 2. Aufl. Weinheim, Berlin 1967, hier: S. 39–61.
290
Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters.
Frankfurt a. M. 1996.
291
Ebd., S. 308 f.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 99
Dahingegen verweist der Begriff der ‚Information‘ ohnehin stärker auf die Zweckge-
richtetheit der Wissensaneignung. Information ist verwendungsgeschichtlich nicht so
sehr wie Bildung von der individuellen Schwerpunktsetzung durch Neigung und Erzie-
hung geprägt, sondern versteht sich als Zugang zu objektivem Wissen. Der Übergang
von der Rede über Bildung durch das Buch hin zur Rede über Information durch das
Taschenbuch ist somit als eine entscheidende Deemphatisierung des Mediums Buch zu
werten. „Taschenbücher“, so Naumann, „sind Literatur ohne Schnörkel, Information
ohne Girlanden, sind das Buch im Zustand kommunikativer und kalkulatorischer Nüch-
ternheit.“292 Im Zusammenhang der gesellschaftlichen Umwertungen spielt die Durch-
setzung des Mediums Taschenbuch eine entscheidende Rolle. Werner Berthel reflektiert
als Verleger der Fischer Taschenbücher die veränderte Rezeption des Mediums Ta-
schenbuch vom Ende der 1950er Jahre bis 1981:
Zwei Dinge vor allem stießen damals [zur Entstehungszeit von Enzensbergers Aufsatz „Bil-
dung als Konsumgut“ (1958); EK] noch bei einem größeren Teil des Publikums auf vielleicht
uneingestandene Vorurteile. Einmal das Taschenbuch als Buch ernst zu nehmen, diese Buch-
form zu akzeptieren, und das Buch auch als Ware zu begreifen.
Hier hat sich ein Wandel des Verständnisses vollzogen, der gleichzeitig einen Wandel des Bil-
dungsbegriffs signalisiert. Diente das Taschenbuch zunächst nur dazu, ein begreifliches Nach-
holbedürfnis der Nachkriegsleser zu befriedigen – vor allem auf dem Gebiet der Belletristik –,
so änderte sich die Zusammensetzung der Taschenbuchprogramme in den nachfolgenden Jah-
ren rasch. Hinzu traten Sachbuchreihen, Lexika.293
292
Naumann, Michael: Literatur ohne Schnörkel. Hinter der Titel-Überflutung lauern die Risiken. In:
Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1986), Nr. 34, S. 1243.
293
Berthel, Werner: Man mußte in den letzten Jahren umdenken. Statement eines Taschenbuchverle-
gers. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981), Nr. 37 [Sondernummer zum
Taschenbuch] S. 1122 f., hier: S. 1122.
294
Zum Zuwachs an Sachbüchern im Taschenbuchbereich vgl. Karen Kochs Befund: „Seinen Anfang
nahm das Taschenbuch im Bereich der Unterhaltungsliteratur: von den 1951 erschienenen 25 Ti-
teln gehörten 24 zum Bereich der Belletristik. 1971 jedoch waren es bereits nur noch 56,7%, wäh-
rend heute mehr nicht-fiktionale Titel am Markt sind als Titel der Schönen Literatur.“ (Koch, Ka-
ren: Die Entwicklung des deutschen Taschenbuchmarktes von 1945 bis heute. In: Drews, Jörg;
Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschen-
buchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober
1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3),
S. 79–93., hier: S. 80.)
295
Schulz, Hans F.: Das Schicksal der Bücher und der Buchhandel. System einer Vertriebskunde des
Buches. 2., stark erw. und völlig umgearb. Aufl. Berlin 1960, S. 139.
100 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Heinz Gollhardt betrachtet 1969 das Taschenbuch im Zeitalter der Massenkultur und
verfolgt seinen Weg „Vom Bildungskanon zum ‚locker geordneten Informations-
chaos‘“.296 Gerade in der Absage an die humanistische Bildungsidee sieht er den ent-
scheidenden Unterschied der Taschenbuchproduktion nach dem Krieg zu Reclams Uni-
versal-Bibliothek. Reclams erklärtes Ziel war es, „Bildung zu vermitteln im Sinn des
Bildungsideals der Klassiker“.297 Damit repräsentiert die Universal-Bibliothek ein Ka-
nonisierungsvorhaben par excellence,298 das Alfred Kerr zu der Aussage bewegte:
„Wär’ ich der Kultusminister, ich verliehe dem Herausgeber der ‚Reclam-Bibliothek‘
einen der höchsten Orden.“299
Die Kanonisierungspraxis des Reclam Verlags wurde auch für Enzensberger zum
Maßstab, an dem die Taschenbücher nach 1950 gemessen wurden.
Reclams Unternehmen kann als historisches Regulativ unserer Analyse dienen: es verkörpert
die Bildungsidee des neunzehnten Jahrhunderts mit derselben Prägnanz, wie Rowohlts Rota-
tionsbetrieb die Massenkultur der unsrigen. Reclam sah die Universalität, um die es ihm zu tun
war, im Bilde des Arsenals. Ein für allemal sollte der Kanon dessen gelten, was man als gebil-
deter Mensch gelesen haben musste.300
296
Gollhardt, Heinz: Das Taschenbuch im Zeitalter der Massenkultur. Vom Bildungskanon zum
‚locker geordneten Informationschaos‘. In: Ramseger, Georg (Hrsg.): Das Buch zwischen gestern
und morgen. Georg von Holtzbrinck zum 11. Mai 1969, S. 122–132.
297
Meiner, Annemarie: Reclam. Geschichte eines Verlages. Stuttgart 1958, S. 26.
298
S. hierzu auch Max, Frank R.: Reclams „Gelbe Reihe“ und der literarische Kanon. In: Kutzmutz,
Olaf (Hrsg.): Warum wir lesen, was wir lesen. Wolfenbüttel 2002 (= Wolfenbüttler Akademie-
Texte. 9), S. 6–14.
299
Zit. n. Federhen-Roske, Renate: Was billig ist, kann trotzdem gut sein. 150 Jahre Philipp Reclam
jun. Mit Qualität durch anderthalb Jahrhunderte. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel
(06. 10. 1978), Nr. 80, S. 2047–2052, hier: S. 2048.
300
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 146.
301
Gollhardt, Heinz: Das Taschenbuch im Zeitalter der Massenkultur. Vom Bildungskanon zum
‚locker geordneten Informationschaos‘. In: Ramseger, Georg (Hrsg.): Das Buch zwischen gestern
und morgen. Georg von Holtzbrinck zum 11. Mai 1969, S. 122–132, hier: S. 123.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 101
sich ganz von selbst der Wunsch ein, den zu erfüllenden Zweck zum niedrigst-möglichen Preis
zu finanzieren. Wir reichen die Hand dazu, müssen es tun, sonst tun es andere.302
Das Informationspotenzial des modernen Taschenbuchs ist jedoch, trotz mancher weh-
mütiger Retrospektiven auf Reclam, durchaus gewürdigt worden. Analog zum Vertrau-
en in die Demokratisierungskräfte des neuen Buchtyps setzte man auch in die aufkläre-
rische Wirkung des vermittelten Wissens Hoffnungen. Die allgemeine Verfügbarkeit
dieses Wissens durch das preisgünstig und vielfältig vertriebene Buch, sowie die Öff-
nung des Wissenskanons etwa für populär präsentierte naturwissenschaftliche Kennt-
nisse, werden als emanzipatorisch geschätzt.
Bei Göbel heißt es rückblickend:
Noch nie in der Geschichte waren so viele Lesestoffe preiswert erreichbar, noch nie wurden so
viele phantasievolle Anstrengungen unternommen, um Menschen zum Kauf von Büchern zu
bewegen, und – dies ist ebenso aus den Zahlen ableitbar – noch nie wurden so viele Bücher
gekauft wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Noch nie war übrigens auch der
Zwang des Lesens in einer Gesellschaft zur Bildung und Orientierung des Individuums so
stark wie heute. Keine Generation von Lehrern und Hochschullehrern hatte so viele Möglich-
keiten wie die jetzige, Lektüre für den Unterricht anzuschaffen, und kaum jemals war es für
den Schüler so einfach, die gewünschte Lektüre als Taschenbuch preiswert zu erreichen.
Das im Buch gespeicherte Wissen, die private Verfügbarkeit dieses Wissens, ist heute größer
als jemals zuvor, und es war noch nie so leicht, ein Buch zu publizieren und über das Buch zu
kommunizieren. Deshalb wird das Buch, insbesondere das Taschenbuch, auch weiterhin als
Träger von Wissen und Information eine Alternative zur Elektronik bleiben.304
302
Hildebrandt, Rüdiger: Ein Plädoyer für das gebundene Buch. Statement eines Taschenbuchverle-
gers. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981), Nr. 37 [Sondernummer zum
Taschenbuch] S. 1121 f.
303
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 11.
304
Göbel, Wolfram: Die Zukunft des Taschenbuchs. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.):
„Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Be-
gleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995.
Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 114–127, S. 126 f.
102 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Und trotz Hauris zwiespältiger Haltung zum Taschenbuch bewundert er die Taschen-
buchinhalte und ihre weite Verbreitung: „Als Informationsquelle, die immer leicht zur
Hand ist, kann es unsere Gespräche beleben, unsere Beziehungen bereichern. Weil viele
es besitzen, kann es verbinden. Durch das Taschenbuch ist der Boden für das literari-
sche Gespräch in breiten Schichten wieder gelegt worden.“305 Dass selbst dort, wo das
Bildungskonzept sich zweckfrei wähnt, zweckdienliche Motive mittlerer Reichweite
eine Rolle spielen, erwähnt bereits Hans K. Platte in Bezug auf die ‚Klassiker‘ mit em-
pirischer Rückendeckung in seiner Soziologie des Taschenbuchs:
Ein eindeutiges Dauerinteresse am Taschenbuch liegt dort vor, wo die Ausbildung oder Be-
rufsausbildung einen großen Buchbedarf mit sich bringt bzw. größerer Buchbesitz als förder-
lich betrachtet wird. Auf der Produktionsseite entspricht dieser Tendenz die Zunahme der wis-
senschaftlichen Reihen, die Zunahme der Titelpublikationen in diesen Reihen, die Zunahme
der auf spezielle Berufe ausgerichteten Reihen und die Zunahme der ‚Klassiker‘ als allgemei-
ner Bildungsgrundlage.306
305
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 26 f.
306
Platte, Hans K.: Soziologie des Taschenbuches. Bemerkungen zur Taschenbuchproduktion. In:
Bertelsmann-Briefe (1962), H. 15, S. 1–28, hier: S. 18. Vgl. zur Zweckdienlichkeit einer „zweck-
frei“ sich gebenden Bildungsidee auch Wimmer, Michael: Bildungsruinen in der Wissensgesell-
schaft, Anmerkungen zum Diskurs über die Zukunft der Bildung. In: Lohmann, Ingrid; Rilling,
Rainer (Hrsg.): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schu-
le, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. Opladen 2002, S. 45–68, hier S. 48.
307
So der Titel eines Festschriftsbeitrags von Werner Adrian. (Adrian, Werner: Der Verleger als
Partner in der Bildungspolitik. In: Adrian, Werner; Hinze, Franz; Meyer-Dohm, Peter u. a. (Hrsg.):
Das Buch in der dynamischen Gesellschaft. Festschrift für Wolfgang Strauß zum 60. Geburtstag.
Trier 1970, S. 155–164.)
308
Ebd., S. 155.
Diskursive Resonanzbedingungen I: Skepsis 103
Einen nicht zu unterschätzenden Erfolgsfaktor für das Taschenbuch stellt die Bil-
dungsexpansion dar.309 Mit der Vorstellung von ‚Bildung‘ geht nun nicht länger das
Privileg und Distinktionsmerkmal bestimmter sozialer Gruppen einher. Das allgemeine
‚Recht auf Bildung‘ macht eine Ausbreitung von Bildungsgütern, Lehrmitteln und In-
formationsmaterial notwendig, so dass die hohen Auflagen der Taschenbücher nicht
mehr als Bedrohung gelten, sondern als Hoffnungsträger eines schichtenübergreifenden
Bildungszuwachses. Wähnte man sich in den 1950er und 1960er Jahren hilflos überflutet
vom Taschenbuch, so kehrt sich das Bild spätestens in den 1970er Jahren um: Die Flut
der Taschenbücher reißt die „Dammreihen“ der Privilegienwächter der Bildung ein.310
Statt des traditionellen, zum Glück aus der Mode gekommenen Ekels vor Massenproduktion,
Massen überhaupt im Zusammenhang von Geist, Bildung, Wissen sollte das inzwischen ernst-
hafte Überlegungen ganz anderer Art herausfordern. Oder läßt nicht eine Gesellschaft, die nur
ein einziges Taschenbuch im Jahr pro Kopf der möglichen Leser herstellt, doch ernsthafte Zwei-
fel aufkommen an ihrem Informations- und Bildungsstandard und sogar an der Bereitwilligkeit,
Bücher jedermann unabhängig von Vermögen und Einkommen zugänglich zu machen.311
Nicht nur die Verlängerung der Ausbildung und Verbesserung von Bildungschancen in
den 1960er Jahren kommen dem Taschenbuch zugute – auch die bereits erwähnte Ein-
stufung neuer Wissensgebiete als allgemeinbildend begründet den Zuwachs an Sach-
buchtiteln im Taschenbuchbereich. Göpfert erklärt 1961:
Dieses überraschende Phänomen der inhaltlichen Entwicklung der Taschenbücher [durch die
Ausdifferenzierung der Programme; EK] ist nur dadurch zu erklären, daß in unserer Zeit des
Umbruchs so vieler Wissenschaftsgebiete, des Hereinströmens so vieler neuer Erkenntnisse,
des Auftauchens so vieler neuer Gesichtspunkte weiterhin ein Bedürfnis nach Teilhabe an die-
sen Ergebnissen, nach Kenntnis des neuen Bildes der Welt, nach Ausweitung und Vervoll-
kommnung des Wissens besteht.312
309
„Die Bevölkerung teilt sich in Leser und Nicht-Leser, und aus den Nicht-Lesern können auch die
Verlage keine Leser machen. Ihre Zahl wächst nur mit steigender Quantität und Qualität von Bil-
dung und Ausbildung.“ (Dürr, Heidi: Taschenbuchmarkt. Die Lage war noch nie so gut. In: Buch-
markt (1972), Nr. 1, S. 36–49, hier: S. 37.); auch Karl Pressler betont das Zusammenspiel von Bil-
dung und Taschenbuchlektüre: „Die beispiellose Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte war
begleitet von einer totalen Taschenbuchexpansion.“ (Pressler, Karl H.: Tauchnitz und Albatross.
Zur Geschichte des Taschenbuchs. In: Aus dem Antiquariat. Börsenblatt für den Deutschen Buch-
handel (29. 01. 1985), Nr. 8, S. 1–10, hier: S. 1.)
310
Dieses Bild findet sich ausnahmsweise bei Hauri auch schon 1961, da durch die Taschenbücher
jeder eine Platon-Ausgabe besitzen kann: „Das Taschenbuch hat auf dem Sektor der Bildung gan-
ze Dammreihen eingerissen, und dies ist sein großes Verdienst.“ (Hauri, Reinhard: Das Taschen-
buch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 26) Interessanterweise folgt auch diese metaphorische
Wende ins Positive (die vormals bedrohliche Flut wirkt als Befreiungsschlag) der Bildwelt der
Schmutz- und Schunddebatten. Vgl. Anm. 258.
311
Vormweg, Heinrich: 25 Jahre Taschenbuch. In: Merkur 29 (1975), S. 979–985, hier: S. 983 f.
312
Göpfert, Herbert G.: Bemerkungen zum Taschenbuch. In: Der deutsche Buchhandel unserer Zeit.
Mit Beiträgen von H. Gonski, E. Hauswedele, H. Hiller, H. F. Schulz. Göttingen 1961, S. 102–
109, hier: S. 105 f.
104 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
Das Taschenbuch setzt sich als Medium durch, das breitenwirksame Informationen und
popularisierte Fachwissenschaft im Sachbuch übermittelt. Die Bildungsidee wird im
Zusammenhang mit dem Taschenbuch oftmals übertönt durch diese Funktionen. Wo sie
noch ins Feld geführt wird, hat sie ihre unbefleckte Aura der Zweckfreiheit oftmals
eingebüßt zugunsten eines Verständnisses von Bildung und Kanonwissen, das durchaus
deren Dienstbarkeit zur Steigerung symbolischen Kapitals mitbedenkt. Diese Offenle-
gung der Nützlichkeit von kanonischem Wissen hängt mit der Forderung nach allge-
meiner Zugänglichkeit der Bildung und des Wissens zusammen. So werden seit den
späten 1960er Jahren vermehrt Stimmen laut, die eine Ausnutzung der aufklärerischen
Möglichkeiten des Mediums Taschenbuch einfordern. Heinrich Vormweg erklärt im
Sound der 1970er Jahre:
[I]ch halte das Instrument, das Medium Taschenbuch für ein faszinierendes Angebot – an Ver-
leger, an Leser und an Autoren, an die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Es ist einige Anstren-
gungen wert, es zu erhalten nicht nur, sondern auch, es weiter zu differenzieren, immer neu zu
313
Gollhardt, Heinz: Das Taschenbuch im Zeitalter der Massenkultur. Vom Bildungskanon zum
‚locker geordneten Informationschaos‘. In: Ramseger, Georg (Hrsg.): Das Buch zwischen gestern
und morgen. Georg von Holtzbrinck zum 11. Mai 1969, S. 122–132, hier: S. 125.
Diskursive Resonanzbedingungen II: Akzeptanz 105
verändern und es noch wirkungsvoller zu machen als ein Medium der Sozialisierung von In-
formation, Wissen, Bildung, richtigem Bewußtsein.314
Das Aufklärungsmedium Taschenbuch hat in den 1970er Jahren demnach einen leichte-
ren Stand als je zuvor. Im Kürbiskern verrät Heinz Brüdigam, warum trotzdem Vorsicht
geboten ist beim Taschenbuch:
Allerdings ist hier nicht zu übersehen, daß sich eine Kritik der Taschenbuchproduktion nicht
so sehr am Medium orientieren dürfte, sondern vor allem an der Frage nach den gesellschaftli-
chen Bedingungen der herrschenden Kultur sowie nach den zu ihrer Veränderung notwendi-
gen Inhalten.315
Sicherlich lässt sich eine Tendenz zum Ausbau des Sachbuchbereichs für die meisten
Taschenbuchverlage in den 1960er Jahren verzeichnen und als Wende von der ‚Bil-
dungsgemeinschaft‘ zur ‚Wissensgesellschaft‘ interpretieren. Die literarischen Kanoni-
sierungsprojekte im Taschenbuchformat zeigen jedoch, dass es einige Versuche gab,
den Bildungskanon aufrechtzuerhalten und im Taschenbuch zu popularisieren (vgl. z. B.
Punkt 5.2.3).
314
Vormweg, Heinrich: 25 Jahre Taschenbuch. In: Merkur 29 (1975), S. 979–985, hier: S. 985.
315
Brüdigam, Heinz: Taschenbücher in der BRD. Bilanz einer zwiespältigen Entwicklung. In: Kür-
biskern (1971), H. 4, S. 690–702, hier: S. 702. Obwohl Brüdigam das dtv-Programm lobend
hervorhebt, will er anhand des Zahlenverhältnisses von Literatur zu Sachtitel die Verflachungsten-
denz bemessen: „Allerdings haben auch die dtv-Reihen die Gesamttendenz der Taschenbuchent-
wicklung zur Verflachung nicht aufhalten können. Obwohl beispielsweise die Sachproduktion in
den letzten Jahren auch im Taschenbuch erheblich zugenommen hat, ist sie gegenüber der Belle-
tristik im weitesten Sinne in der Minderheit geblieben.“ (S. 695)
106 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
stellungen über äußere Form und Qualität von Büchern, wie sie früher einmal vorherrschten,
wurden als überholt abgelegt.316
2.3.1 Demokratisierung
Das wichtigste Schlagwort der Taschenbuchbefürworter ist die Thomas Mann entlehnte
„Demokratisierung der Literatur“. In einem engen Sinn wird darunter verstanden, dass
nun die vormals den gebildeten und wohlhabenden Schichten vorbehaltenen Schätze der
Weltliteratur durch den geringen Preis des Taschenbuchs auch finanziell unterprivile-
gierten Schichten zugänglich gemacht werden können.
Gottfried Bermann Fischer legitimiert die Neugründung seiner Taschenbuchreihe
1952 sendungsbewusst mit seinem Bestreben,
das Buch Kreisen zugänglich zu machen, denen es aus den verschiedensten Gründen mehr
oder weniger vorenthalten oder nur schwer erreichbar war, allen jenen Schichten der Bevölke-
rung, deren Interesse an den Zeugnissen der Kultur als Folge tiefgreifender Umschichtungen
erwacht war, allen jenen, denen es die wirtschaftliche Lage nicht erlaubte, das teure Buch zu
erwerben, und schließlich der heranwachsenden Jugend und den jungen Akademikern, für die
der leichte Zugang zum Buch von lebenswichtiger Bedeutung ist.317
316
Leonhardt, Claudia: Das Taschenbuch – seine Stellung und sein Einfluß im deutschen Buchmarkt.
In: Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels. Redaktionelle Beilage zum Bör-
senblatt für den Deutschen Buchhandel (12. 10. 1984), Nr. 82, S. 1947–2048, hier: S. 2032.
317
Zit. n. Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Mas-
senpresse. Taschenbücher in Deutschland 1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift. 5),
S. 8.
318
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 28 f.
319
Ebd., S. 31.
Diskursive Resonanzbedingungen II: Akzeptanz 107
Die Popularisierung der bildungsbürgerlichen Erzeugnisse ist also nicht nur als Ent-
eignung und unzulässige Trivialisierung verstanden worden, wie in den vorigen Unter-
kapiteln beschrieben, sondern auch als volksbildnerische Möglichkeit.
Die missionarische Freude wird dabei mancherseits von Erfolgszweifeln getrübt. So
fragt Naumann besorgt, nachdem er neben einem qualitativ anspruchvollen und auch
teureren Typus die „schlichte Massenware“ beschreibt: „Hat Tucholsky geahnt, was er
tat, als er Ernst Rowohlt aufforderte: ‚Macht unsere Bücher billiger‘?“320 Und auch
Hauri scheint an den pädagogischen Möglichkeiten des Mediums Taschenbuch zu zwei-
feln:
Große Dichtung vom breiten Volke gelesen – dies ist ein alter pädagogischer Wunschtraum.
Die Bestrebungen manches Deutschlehrers hatten ihn zum Ziel. Aber seine Erfüllung scheint
plötzlich in greifbare Nähe gerückt: was ganzen Generationen von Gymnasiallehrern nicht ge-
lang, das besorgt heute der tüchtige Verleger mit einem neuen Kaschierungsverfahren und ein
bißchen Rotationsbetrieb.
Besorgt er es wirklich?321
Dennoch: Das Taschenbuch wird gerade auch von Seiten der Kulturvermittler begrüßt,
nachdem die Programme qualitativ ausdifferenziert wurden. Hans Rudolf Boßhard sieht
das Taschenbuch in der direkten Nachfolge des Buchdrucks als Vermittler und Verbrei-
ter der Werte der Aufklärung:
Das gedruckte Wort soll tausendfach und in vielen Sprachen verbreitet werden und nicht nur
für einige Bevorzugte bestimmt sein. Wir müssen uns also nicht nur mit dem Taschenbuch ab-
finden, wie das die mit einer fünfhundertjährigen Tradition belasteten Buchdrucker oft tun,
sondern wir müssen es befürworten und fördern! Was liegt denn anderes in der Erfindung der
Buchdruckerkunst verborgen, als dieser Wille des aus dem Mittelalter erwachsenden Men-
schen, das Wort zu verbreiten!322
Monika Estermann spricht gar von einer „dritten Leserevolution im Zeitalter der Pros-
perität“. Ihr zufolge „lässt sich in den Fünfzigern das massenhafte Lektüreangebot bei
zunächst gleichbleibender Hochschätzung und Bewertung des Lesens sowie seines klas-
sischen Kanons vor allem durch das Wirtschaftswunder erklären.“ Nach der ersten Le-
serevolution, die im Zeichen der Aufklärung vom intensiven zum extensiven Lesen
führte und eine ansteigende Alphabetisierung mit sich brachte und einer zweiten Le-
serevolution zur Zeit der Industrialisierung der Buchproduktion im 19. Jahrhundert,
320
Naumann, Michael: Literatur ohne Schnörkel. Hinter der Titel-Überflutung lauern die Risiken. In:
Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1986), Nr. 34, S. 1243.
321
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 18.
322
Boßhard, Hans R.: Über die Gestaltung des Taschenbuches. In: Polygraph-Jahrbuch (1966),
S. 61–80, hier: S. 61.
108 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
sieht sie in den 1960er Jahren, verknüpft mit der Bildungsreform, das Taschenbuch zur
Hauptinstanz der dritten Leserevolution aufsteigen.323
Der Leser, gefasst im Kollektivsingular der literarischen Öffentlichkeit, erlangt den
bereits skizzierten Bedeutungszuwachs. Auch in diesem Konzept von Öffentlichkeit
und deren Integration in den Literaturbetrieb finden sich Parallelen zur Tradition der
Demokratisierungs- und Aufklärungsidee. In einem Artikel in Publishers Weekly über
„Religious Books as Best Sellers“ heißt es: „Die Öffentlichkeit ist der höchste Richter
darüber, welche Bücher leben und welche sterben sollen.“324
An dieser Stelle wird ein anderes Verständnis von Demokratisierung offenbar, als es
die bisher zitierten Positionen artikuliert haben. Demokratisierung versteht sich hier
nicht als kulturpaternalistische Aufgabe, sondern als Kompetenzübergabe: Die Leser
können darüber entscheiden, was gelesen und gekauft wird, und damit auch, auf lange
Sicht, was gedruckt wird.
Dieses Verständnis beinhaltet auch das ‚Recht auf schlechte Bücher‘, also ein Pro-
gramm, das weder dem Geschmack, noch den pädagogischen Intentionen des Verlegers
entsprechen muss.
In diesem Sinne stuft Herbert Grundmann in einem „Grußwort des Börsenvereins zur
Feier des zehnjährigen Bestehens des Deutschen Taschenbuchverlages“ den „gewissen
Prozentsatz minderwertiger Inhalte“, den es ihm zufolge beim dtv zu verzeichnen gibt,
als der „demokratischen Freiheit“ zugehörig ein.325
Die Aufwertung der Figur des Lesers wird von Taschenbuchverfechtern gerne genutzt,
um zwei Typen von Büchernutzern zu unterscheiden: Dem statusbewussten Bücherkäu-
fer oder Bücherschenker wird der wirkliche Leser entgegengehalten, gemäß der Ro-
wohlt-Maxime, „keine Bücher für den Schrank herzustellen, sondern Bücher an den
Leser zu bringen.“326 Ähnlich formulierte die Zeitschrift Wir in Bezug auf rororo „Es ist
323
Estermann, Monika: Tendenzen der Literaturdistribution in der BRD durch Bücher und Zeitschrif-
ten. In: Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk 1950–1960.
Wiesbaden 1999, S. 33–57, hier: S. 54 f.
324
Zit. n. Faulstich, Werner: Bestseller – ein chronologischer Abriß bisheriger Erklärungsversuche.
In: Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels 27 (1973), S. 1509–1523, hier:
S. 1510.
325
Grundmann, Herbert: Grußwort des Börsenvereins zur Feier des zehnjährigen Bestehens des
Deutschen Taschenbuchverlages [1971]. In: Ders. (Hrsg.): Buchhandel zwischen Geist und Kom-
merz. Grundsätzliches aus drei Jahrzehnten. Bonn 1984, S. 373–377.
326
o. V.: Erfahrungsbericht über RO-RO-RO verbunden mit einer Analyse von 1000 Leserbriefen.
Als Manuskript gedruckt im Herbst 1947. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht
unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 33–54, hier: S. 35.
Diskursive Resonanzbedingungen II: Akzeptanz 109
besser, sie geben hunderttausend Lesern den längst fälligen Weitblick, als fünftausend
einen schönen Anblick!“327 Auch Jürgen Lodemann nutzte zum Bewerben der Taschen-
bücher dieses Image. Sein Slogan lautete „Leser erkennt man an Taschenbüchern“, bis
er sich angesichts seiner „Hemmungen vor Taschenbüchern“ 1981 im Börsenblatt ein-
gesteht, dass „wir Deutschen keine Lese-Narren sondern, wenn schon, dann Bücher-
Narren sind.“328
Das Taschenbuch wird mit der Heraufbeschwörung des wirklichen Lesers denjenigen
zugedacht, die im besten Sinne von seinem Inhalt Gebrauch machen, es also nutzen zur
Lesefreude und Selbstbildung. Gerade auch wenn man bedenkt, dass sich die größte
Zielgruppe aus den Bevölkerungsgruppen rekrutiert, die nicht nur in ihrer Freizeit, son-
dern auch beruflich, schul- oder studienbezogen das Taschenbuch als Arbeitsmaterial
nutzen, fallen die Vorzüge des Mediums Taschenbuch in den Blick: Es lädt geradezu
dazu ein, zu unterstreichen, gegebenenfalls Seiten herauszutrennen oder einzuknicken,
vor allem aber auch, Randmarkierungen vorzunehmen.329 Auch diese Einladung zur
‚Kommentarkultur‘ könnte dazu beigetragen haben, dass das Taschenbuch mit der
Emanzipation des Lesers verbunden wurde. Entdeckte man in Deutschland erst zöger-
lich, dass eine Niveausteigerung des Taschenbuchprogramms einem ökonomischen
Erfolg förderlich sein konnte – dies hing vielleicht auch damit zusammen, dass es erst
vergleichsweise spät statistische Erhebungen über die Käuferschaft des Taschenbuchs
gab – weist Johannot darauf hin, dass in Frankreich für die Serie der Livres de Poche
von Henri Filipacchi ausgerechnet die Schrifttype Garamond ausgewählt wurde, die für
ihre Verwendung im Bereich universitärer Publikationen bekannt war.330
Das Taschenbuch, als Arbeitsmittel der Akademiker verstanden und zum Ausweis
echter Leserschaft gekürt, kann nun von der neuen Lesergeneration gegen das repräsen-
tative Buch in Stellung gebracht werden. Der Käufer schmucker Hardcover-Ausgaben
327
Zit. n. Terrahe, Sybille: Taschenbücher bei Rowohlt: nicht nur „Verbrauchsbücher“. In: Drews,
Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Ta-
schenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom
19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbib-
liothek. 3), S. 55–63, hier: S. 58.
328
Lodemann, Jürgen: Meine Hemmungen vor Taschenbüchern. Leser erkennt man an Taschenbü-
chern. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981), Nr. 37 [Sondernummer zum
Taschenbuch] S. 1145.
329
So ist auch Johannot der Auffassung: „[L]e poche est un objet idéal de travail, qu’on ne se gêne
pas pour griffonner, souligner, corner ; on ne craint pas de s’y exprimer soi-même, en marge de la
pensée de l’auteur.“ (Johannot, Yvonne: Quand le livre devient poche. Une sémiologie du livre au
format de poche. Grenoble 1978, S. 110.)
330
Johannot erklärt diese Wahl mit dem pädagogischen Sendungsbewusstsein der Reihe: „Dès le
début, le ‘Livre de Poche’ [gemeint sind hier nicht die Taschenbücher insgesamt, sondern die
französische Reihe namens ‘Livre de poche’; EK] se voulut didactique. Les textes étaient accom-
pagnés de préface, souvent de notes, biographie, documents. Au cours des rééditions successives,
ces préfaces se modifièrent, plus délibérément orientées vers un public universitaire à mesure qu’il
fut prouvé que c’était là que se recrutait la clientèle.“ (Ebd., S. 84.)
110 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
kann in den Verdacht geraten, das Buch als Prestigegeschenk erworben zu haben oder
es als Statussymbol „in den Nussbaum-Bücherschrank [zu] sperren“.331 Die alte Klage,
dass das Buch mit Einführung des modernen Taschenbuchs zur Ware verkommt, kann
von der jungen Generation in den 1970er Jahren in genau entgegengesetzter Stoßrich-
tung aufgegriffen werden. Nicht das ‚gutbürgerliche‘, ‚schöne Buch‘ entzieht sich der
Konsumwelt, sondern gerade das schmucklose ‚Werkzeug‘ Taschenbuch. „Im Ge-
brauch“, so liest man bei Vormweg 1975, „verliert das Taschenbuch seinen Warencha-
rakter.“332
331
Suter, Gody: Der Geist in der Tasche [1956]. In: Weltwoche; zit. n. Rössler, Patrick: Aus der
Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Massenpresse. Taschenbücher in
Deutschland 1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift. 5), S. 11.
332
Vormweg, Heinrich: 25 Jahre Taschenbuch. In: Merkur 29 (1975), S. 979–985, hier: S. 985.
333
Thiess verlautbart: „Ohne Zweifel ist die Tatsache, daß die Taschenbücher eine so große Verbrei-
tung finden, objektiv von Gewicht, und sie wäre sogar von großem Gewicht, wenn sie die Lektüre
der Fünfgroschenhefte und der üblen Sensationsromane in einigen illustrierten Zeitschriften ver-
drängen könnte.“ (Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und Wandel. (= Akademie der Wis-
senschaften und der Literatur. Abhandlungen der Klasse der Literatur 1959. 5), S. 18.)
334
Stemmer, Konrad: Das deutsche Pocket-Book. In: Neue Zeitung (03. 06. 1950). Zit. n. Schulz,
Gerd: Viel Buchstaben für wenig Geld. Vom „Kind seiner Zeit“ zum Marktfaktor. Drei Jahrzehnte
Deutsche Taschenbücher. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981), Nr. 37
[Sondernummer zum Taschenbuch] S. 1139–1144, hier: S. 1140.
Diskursive Resonanzbedingungen II: Akzeptanz 111
Auch in Frankreich schätzt man zu dieser Zeit das Taschenbuch als Werkzeug zur kul-
turellen Zähmung („domestication culturelle“) im Kampf gegen die „vulgarisation“.335
Auch wenn mit diesen Funktionen des Taschenbuchs nach den 1950er Jahren kaum
mehr argumentiert wird, tritt das Taschenbuch auch später als begrüßenswerter Konkur-
rent gegen unliebsame Medien auf. „Das Taschenbuch liefert in diesem Zusammenhang
auch ein bedeutendes geistiges Gegengewicht zu den elektronischen Medien“, so etwa
dtv-Verleger Friedrich im Jahr 1994.336
Das Taschenbuch wird mit einer Vermittlungsfunktion betraut. Es soll die Welt der
genuinen Leser und ‚richtigen Bücher‘ mit der Welt derjenigen verbinden, die bislang
keinen Zugang zur ‚Buch- und Bildungswelt‘ finden konnten oder gar abtrünnig gewor-
den sind. Friedrich nennt es in seinen Aufräumarbeiten „tragisch, daß sich ein Verleger
heute dieser Mittel bedienen muß, um den ramponierten Menschen der Gegenwart aus
dem Sumpf seiner seelischen Abstumpfung zurückzulocken …“337 Anders als beim
gebundenen Buch wähnt man die Hemmschwelle für Nicht-Leser beim Taschenbuch
geringer oder hofft, dass die Noch-Leser mit Hilfe des Taschenbuchs nicht vom Medi-
um Buch abfallen.
Ein weiteres Element hat dem Taschenbuch zu seinem Erfolg verholfen und zu einer
zunehmenden Akzeptanz selbst bei Skeptikern geführt. Es wurde, mal begeistert, mal
mit einem resignativen Seufzer, als zeitgemäß empfunden. Bereits im Jahr 1905 be-
335
„J. F. Revel, directeur des collections ‘Littérature’ chez Julliard et ‘Libertés’ chez Pauvert, estime
que la culture de poche est une véritable lutte contre la vulgarisation, alors que Georges Dupré, li-
braire à la ‘Joie de lire’ à Paris, qualifie le poche comme un instrument savamment adapté de do-
mestication culturelle. Robert Pingaud pense que le poche brise le tabou du secret et que ‘son in-
dignité même fait sa valeur : (…) il ne justifie aucun culte’.“ (Johannot, Yvonne: Quand le livre
devient poche. Une sémiologie du livre au format de poche. Grenoble 1978, S. 13.)
336
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 29.
337
Das Zitat entstammt einem Text über Ernst Rowohlts Taschenbücher aus dem Jahre 1950 und soll
verdeutlichen, dass die kulturpädagogische Chance des Taschenbuchs in seinem Potenzial liegt,
den Käufern von so genannter Schmutz- und Schundliteratur als ebensolche getarnte Hochliteratur
‚unterzujubeln‘: „Das Taschenbuch mit dem knalligen Umschlag und den – sehr geschickt und
pointiert in den Text eingefügten – Zigaretten-Inseraten kann eine Bresche schlagen in das Boll-
werk des schlechten Geschmacks. Scharf betrachtet ist es natürlich tragisch, daß sich ein Verleger
heute dieser Mittel bedienen muß, um den ramponierten Menschen der Gegenwart aus dem Sumpf
seiner seelischen Abstumpfung zurückzulocken …“. (Friedrich, Heinz: Ernst Rowohlts Taschen-
bücher [1950], In: Ders.: Aufräumarbeiten. Berichte, Kommentare, Reden, Gedichte und Glossen
aus 40 Jahren. München 1987, S. 106 f., hier: S. 107.)
112 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
schwor Samuel Fischer das Taschenbuch herauf: „Das Tempo und der Rhythmus unse-
rer Zeit, die Ausbreitung von Bildung und wirtschaftlicher Kultur weisen auf das Buch
zum billigen Einheitspreis […].“338 Das Taschenbuch scheint das passende Medium zu
sein für eine schnelllebige, mobile Lebensform. Es wird aber auch, hier von Thiess,
naserümpfend ins „Zeitalter des Kleinen Mannes“ eingepasst.339 Albrecht Goes wieder-
um sieht 1954 weniger die Nähe zur Popularkultur als eine allgemeine Schlichtheit der
Kultur das Taschenbuch begünstigen: „Diese Taschenbücher wie sind sie?“, fragt Goes
und antwortet: „Ohne Goldschnitt, wie unsere Zeit, wie unser Leben, wie Sie, wie
ich.“340 Auch Hauri stuft das Taschenbuch als zeitgemäß ein. „Man kann sich über seine
Vor- und Nachteile streiten. Aber es ist wenigstens ein wahrer Ausdruck unserer
Zeit.“341
Die Zeitgemäßheit der Taschenbücher wird also von Skeptikern wie Befürwortern
empfunden. Auch kann sie instrumentalisiert werden um das Taschenbuch als Medium
gegen die Vorbehalte der deutschen Bildungsbürger durchzusetzen. Reinhard Mohn, der
den Weg des Taschenbuchs zum Käufer beschreibt, plädiert für „Aufgeschlossenheit
und Bereitschaft, neuen Situationen in einem sich ständig wandelnden Markt zu begeg-
nen“342 und formuliert 1964 suggestiv:
Man erkannte rasch und auf breiter Basis, daß sich hier ein Medium anbot, welches geeignet
war, die großen, ungelösten Bildungsaufgaben unserer Zeit bewältigen zu helfen. Man darf
dem deutschen Buchhandel bestätigen, daß er hier einmal über seinen eigenen Schatten ge-
sprungen ist.343
Gerade mit dem Zusatz „deutsch“ und seiner Kopplung an die kulturelle Retardierung
konnte man das Taschenbuch nach dem Krieg bis in die 1960er Jahre hinein als Ausweg
aus der ‚Hinterwelt‘ bewerben. Nicht von Ungefähr wird in dieser Zeit gerne der prob-
338
Zit n.: Weigand, Jörg: Zur Geschichte des modernen Taschenbuchs in Deutschland. [Rezension
zu: Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Massen-
presse: Taschenbücher in Deutschland 1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift. 5) sowie
Patrick Rössler: Lesefutter fürs Wirtschaftswunder. Rotationsdrucke und die ersten Taschenbücher
1946–1960. Eine Ausstellung in der Stadtbücherei Düsseldorf, 1996. Stuttgart 1996] In: Börsen-
blatt für den Deutschen Buchhandel [Aus dem Antiquariat (1999), Nr. 4], Nr. 34 (30.04.1999),
S. A239 f., hier: S. A239.
339
„Wir leben im Zeitalter des Kleinen Mannes, dem Autorennen, Fußball, Filme, Modenschauen
ungleich fesselnder sind als ein Buch, das Ansprüche an seine Phantasie stellt. Ich kann daher
auch den Zweifel an der Bedeutung des angeblich guten Verkaufs von Gesamtausgaben deutscher
Klassiker nicht unterdrücken. Liest man sie noch oder füllt man mit ihnen nur die Lücken der Bü-
cherschränke aus? Meistens, verschenkt man sie.“ (Thiess, Frank: Der Bucherfolg. Ursprung und
Wandel. (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Klasse der Litera-
tur 1959. 5), S. 19.)
340
Goes, Albrecht: Über die Lust, ein Taschenbuch zu lesen. In: Fischer Almanach 68 (1954), S. 10.
341
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 27.
342
Mohn, Reinhard: Der Weg des Taschenbuchs zum Käufer. Amerikanische Methoden für Deutsch-
land? In: Bertelsmann-Briefe (1964), Nr. 28, S. 1 f., hier: S. 2.
343
Ebd., S. 1.
Diskursive Resonanzbedingungen II: Akzeptanz 113
lemlose Umgang der Franzosen mit dem broschierten Buch beschworen. In Rowohlts
Broschüre 1947 proklamiert man: „Dem ‚mumifizierten‘ Buch wird in RO-RO-RO das
‚Verbrauchsbuch‘ gegenübergestellt, wie es Frankreich seit jeher kannte.“344 Der Glau-
be, dass sich in Frankreich der neue Buchtyp unproblematisch in die bestehende Buch-
kultur einfügte, hält sich hartnäckig. Hans Schmoller lässt die Taschenbuch-Revolution
auf deutschem Boden stattfinden und erläutert: „Da in Frankreich das broschierte Buch
bis in unsere Zeit hinein die Norm blieb, gab es dort nie den Gegensatz zwischen ge-
bundenem Buch und Taschenbuch, wie z. B. in Deutschland und den englischsprachigen
Ländern.“345 Die französische Selbstwahrnehmung weist das Unternehmen Taschen-
buch jedoch als gar nicht so unproblematisch aus. Johannot sieht einen deutlichen
Schnitt von den broschierten Büchern zu den industriell und massenhaft produzierten
Taschenbüchern modernen Typs und zieht an keiner Stelle eine Traditionslinie vom
broschierten Buch zum Taschenbuch.346
Und selbst in Amerika, das von Deutschen zum Stammland des niveaulosen Massen-
buchs stilisiert wurde, klingen kulturkritische Töne an. Frank L. Schick wertet in der
Einleitung seiner Geschichte des Taschenbuchs das Taschenbuch als mediale Neuerung,
die erstmalig eine Massenwirksamkeit des Buchs erwirkt: „This inundation of paper
pulp permits one for the first time to speak of the influence of books in terms of mass
exposure.”347
Die Hervorhebung der deutschen Antiquiertheit liest sich angesichts dieser Zurecht-
rückung der Perspektive wie ein Mittel zur forcierten Internationalisierung des deut-
schen Buchmarkts.
Der Ausbruch aus der ‚Sonderwegfalle‘ kann so rückgebunden werden an das Ta-
schenbuch. „Die Taschenausgaben sind von kulturpolitischer und buchhandelspoliti-
scher Bedeutung“, berichtet Hans Ferdinand Schulz. „Das Gerede vom zu teuren, zu
344
o. V.: Erfahrungsbericht über RO-RO-RO verbunden mit einer Analyse von 1000 Leserbriefen.
Als Manuskript gedruckt im Herbst 1947. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht
unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 33–54, hier: S. 35.
345
Schmoller, Hans: Die Taschenbuch-Revolution. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel
(22. 11. 1983), Nr. 93, S. 129–140, hier: S. 139.
346
Gérard Genette weist in seinem Überblick über die Taschenbuchformate darauf hin, dass das
Taschenbuch in Frankreich durchaus als ein Novum wahrgenommen wurde, das in Frankreich al-
lerdings, im Gegensatz zu Deutschland, von den Intellektuellen begrüßt wurde. Er weist hin auf:
Damisch, Hubert: La culture de poche. In: Mercure de France (November 1964) und die anschlie-
ßende Diskussion in Les Temps modernes (April und Mai 1965). In: Genette, Gérard: Paratexte.
Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1992, S. 26, Anm. 8.
347
Schick, Frank L.: The Paperbound Book in Amerika. The History of Paperbacks and their Euro-
pean Background. New York 1959, Preface, S. vii.
114 Das Taschenbuch als Popularisierungsmedium
348
Schulz, Hans F.: Das Schicksal der Bücher und der Buchhandel. System einer Vertriebskunde des
Buches. 2., stark erw. und völlig umgearb. Aufl. Berlin 1960, S. 154.
349
Göpfert, Herbert G.: Bemerkungen zum Taschenbuch. In: Der deutsche Buchhandel unserer Zeit.
Mit Beiträgen von H. Gonski, E. Hauswedele, H. Hiller, H. F. Schulz. Göttingen 1961. S. 102–
109, hier: S. 109.
350
Vgl. auch Abschnitt 2.4. Zit. n. Weigand, Jörg: Zur Geschichte des modernen Taschenbuchs in
Deutschland. [Rezension zu: Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzep-
Das Taschenbuch – ein Medienhybrid? 115
Samuel Fischers aus dem Jahre 1905 entspricht. Das Taschenbuch wird seit Tauchnitz
und der Gründung von Bahnhofsbuchhandlungen den Reisenden am Bahnhof zum Ver-
kauf angeboten wie ansonsten Zeitungen und Zeitschriften. Die Parallelen zum Medium
Zeitung erstrecken sich bis in den Bereich der Mediennutzung: In der Frühzeit des Ta-
schenbuchs dominierte die Vorstellung, das Produkt werde nach einmaliger Lektüre
entsorgt. Estermann zufolge bringt sich das Taschenbuch überdies durch die preissen-
kende Aufnahme von Werbeseiten in die Nähe des Mediums Zeitung.351
Andere Sichtweisen wiederum rücken das Taschenbuch ob seiner bunten Coverge-
staltung in die Nähe der neuen audiovisuellen Medien. In seiner Analyse der 1960er
Jahre weist Axel Schildt auf das mit dem Beginn des Farbfernsehens in Deutschland
explodierte Farbspektrum der Printmedien hin, auch wenn er die Analyse des Einflusses
von Fernsehen auf Layout und Inhalt von Zeitschriften und Zeitungen als Forschungs-
desiderat ausschreibt.
Zumindest die an Kiosken dominierenden Titelbilder von Illustrierten lassen den Eindruck ei-
nes allgemeinen Drangs zu expressiver Visualisierung und Buntheit gewinnen, der sich vor al-
lem in der zweiten Hälfte der 60er Jahre stetig verstärkte, als auch in der Mode sogenannte
‚Schockfarben‘ für Aufsehen sorgten und das Fernsehen (1967) selbst farbig wurde.352
Ein Blick auf die Taschenbuchcover Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA macht die
gestalterische Affinität zu Filmplakaten à la Hollywood sofort deutlich.353
Um sich dieses massenmedialen Images zu entledigen, setzte etwa der dtv auf die de-
zidiert schlichte Covergestaltung durch den Schweizer Plakatkünstler Celestino Piatti.
Somit ähnelt, Friedrich zufolge, das Taschenbuch auch nicht Film oder Fernsehen, son-
dern einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift: „Taschenbuchprogramme“, so der
Leiter des dtv, „sind ja eine Art Monatszeitschrift in Buchform, aufgefächert in einzelne
Titel.“354 Dieses Verständnis des Taschenbuchs greift nun wieder die Tradition der
Almanache und Jahrbücher auf, wie es sie, teils unter dem Namen ‚Taschenbuch‘ vor
allem im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland gab. Dass diese Tradition bestens
erinnert wird und mit dem Begriff ‚Taschenbuch‘ aufs engste verknüpft ist, belegt der
Eintrag „Taschenbuch“ aus dem Lexikon des Buchwesens 1953. Unter diesem Lemma
werden Almanache und Jahrbücher gefasst, das moderne Taschenbuch seit 1950 findet
keine Erwähnung.355
Da das Taschenbuch schnell produziert und preisgünstig verkauft werden kann, kann
es über diese bisher erwähnten Familienähnlichkeiten zu anderen Medien hinaus in
Verbindung zu einem weiteren Medium treten: dem Flugblatt. Gerade in den 1970er
Jahren wurden die Informationsmöglichkeiten des Taschenbuchs in den Vordergrund
gerückt, so dass eine literarisch-belletristische Ausrichtung der Programme allmählich
zurückgedrängt wurde. In einigen Fällen war es möglich, dass Taschenbücher zu brisan-
ten gesellschaftlichen oder politischen Themen innerhalb einiger Tage den Weg vom
ersten Satz bis zum Verkaufstisch machten.356 Auch diese enorme Aktualität des Ta-
schenbuchs hat weniger mit dem bisherigen Typus des Mediums Buch gemein als mit
den tagesaktuellen, journalistisch genutzten Medien.
Im Laufe der Jahrzehnte glichen sich die Taschenbücher in ihrer Ausstattung den ge-
bundenen Büchern an. Die Papierqualität und die Stabilität der Klebebindung nahmen
zu, die Umschlaggestaltung wurde bei vielen Reihen dezenter und passte sich damit den
vorherrschenden Geschmacksvorstellungen der Buchliebhaber an.357 Zudem wichen der
Vertrieb, die Mediennutzung und die Programme nicht in dem zunächst angenommenen
Maße vom gewohnten Weg ab. Die Entwicklung des Taschenbuchs zum legitimen
Buchtyp ist jedoch nicht teleologisch verlaufen. In seiner Frühphase liebäugelten die
Taschenbuchverleger durchaus mit einer transmedialen Lösung für das Taschenbuch-
format.
Eine letzte Medienverwandtschaft sei an dieser Stelle angeführt, auch wenn sie zu-
nächst verwegen anmuten mag: Das Taschenbuch hat ein zwiegespaltenes Verhältnis
zur Aktualität. Einerseits begünstigt die Produktionsweise eine Schnelllebigkeit, die das
Hardcover aufgrund seiner vergleichsweise zeitaufwändigen Produktion nicht erreichen
kann. Andererseits ermöglicht die große Backlist eines Taschenbuchverlags die lang-
fristige Speicherung von Titeln: In größerem Maße als bei vielen Hardcovertiteln kann
eine Taschenbuchausgabe nachbezogen werden, so dass viele Titel lange Zeit verfügbar
bleiben. In dieser Hinsicht trägt das moderne Taschenbuch bereits einige Züge der digi-
talen Medien: Im Internet etwa sind die Inhalte sowohl aktuell als auch lange Zeit ver-
fügbar. Forciert tritt diese Tendenz im book-on-demand-Verfahren auf, das eine be-
355
Kirchner, Joachim (Hrsg.): Lexikon des Buchwesens. Bd. 2: L–Z. Stuttgart 1953, S. 761.
356
Im dtv war 1969 für tagesaktuelle Dokumentationen eigens eine Reihe, dtv Report, geschaffen
worden, die jedoch wegen der übermächtigen Konkurrenz ähnlich profilierter Reihen etwa bei
Rowohlt bald wieder eingestellt wurde. S. auch Punkt 3.2.3.
357
Vgl. hierzu: Kampmann, Elisabeth; Morawietz, Eva: Wie das Cover so der Text? Grafische und
typografische Umschlaggestaltung im amerikanischen und deutschen Taschenbuch. In: Werner,
Sylwia (Hrsg.): Der Betrachter ist im Text! Kunstrezeption in der deutschsprachigen Literatur
nach 1945. Berlin 2011, S. 319–348.
Das Taschenbuch – ein Medienhybrid? 117
darfsorientierte Auflage und den stetigen Nachdruck vom digital verfügbar gehaltenen
Text ermöglicht. Die Literaturprojekte, wie z. B. das Projekt Gutenberg oder die google-
Datenbanken machen Literatur überall verfügbar. Eine Selektion findet statt, wird aber
von Lektüreempfehlungen weitestgehend losgelöst. „Von der großen Speicherkapazität
her gesehen,“ argumentiert auch Estermann, „tendieren die Taschenbücher in Richtung
der späteren elektronischen Systeme.“358
358
Estermann, Monika: Tendenzen der Literaturdistribution in der BRD durch Bücher und Zeitschrif-
ten. In: Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk 1950–1960.
Wiesbaden 1999, S. 33–57, hier: S. 53.
118 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Im vorigen Kapitel war die Rede von der Gründungswelle der Taschenbuchreihen, die
Rowohlts rororo-Bände seit den frühen 1950er Jahren nach sich gezogen hatte. Waren
diese Reihen an Hardcoververlage angeschlossen, wie im Fall von Rowohlt, Fischer,
Ullstein, Goldmann, Heyne, ermöglichten sie den Verlagshäusern eine nochmalige
Verwertung ihrer Titel und damit einen enormen wirtschaftlichen Vorteil. Gollhardt
erklärt den Erfolg der Verlage:
In der Gründerzeit der Taschenbuchverlage heutigen Typs zu Anfang der fünfziger Jahre war
die Zeugung derart potenter Tochter-Unternehmen eine vergleichsweise einfache Sache. Es
gab einen Titelstau (die während der Nazizeit verbotenen Bücher), ein enormes Lesebedürfnis
(der Nachholbedarf) und wenig Geld (das Wirtschaftswunder stand noch bevor).359
359
Gollhardt, Heinz: Taschenbücher. In: Arnold, Heinz L. (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland.
Stuttgart, München, Hamburg 1971, S. 117–134, hier: S. 121.
360
Beteiligt waren an dieser Aktion C.H. Beck, S. Fischer, Hanser, Insel, Kiepenheuer & Witsch,
Rowohlt, Suhrkamp u. a., 1972 wurde die Reihe nach über 200 Titeln eingestellt. S. hierzu:
Hepprich, Arnd; Franken, Dirk: Die Entstehung und Geschichte der Bücher der Neunzehn 1954–
Skizze der Gründungsgeschichte des dtv 119
Aus dieser Kooperation entstand 1960 die Idee zum dtv, eine wiederum von Witsch
angeregte Verwertungsgemeinschaft für Taschenbuchlizenzen. An ihr beteiligten sich
mit den Verlagen Beck / Biederstein, Deutsche Verlags Anstalt, Hanser, Hegner, Insel,
Kiepenheuer & Witsch, Kösel, Nymphenburger Verlagshandlung und Piper neun der
Gründungsmitglieder der Bücher der Neunzehn. Dazu kamen die Verlage Artemis und
Walter. Als Gesellschafter stieg außerdem 1978 noch Hoffmann und Campe ein. Einen
geschäftsführenden Gesellschafter fanden die Verleger in Friedrich, der als Mitglied der
Gruppe 47, als Journalist und von 1956 bis 1959 als Cheflektor der Fischer Bücherei
viele Kontakte zu Persönlichkeiten des Literaturbetriebs pflegte.361
1972. Essen 2005 [CD-ROM]; Estermann, Monika: Tendenzen der Literaturdistribution in der
BRD durch Bücher und Zeitschriften. In: Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hrsg.): Buch, Buch-
handel und Rundfunk 1950–1960. Wiesbaden 1999, S. 33–57, bes. S. 51 f.
361
Die vielfältigen Tätigkeiten des dtv-Verlegers sind nachzulesen in dessen Autobiografie: Fried-
rich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. München 2006.
362
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
363
Vgl. Punkt 4.1.1.
120 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Um sein Programm weiterhin attraktiv gestalten zu können, entwickelte der dtv sich
also seinerseits immer stärker zu einem eigenständigen Verlag, der seine Rentabilität
über Lizenzkäufe bei Nicht-Gesellschafterverlagen, zahlreiche langfristige Kooperatio-
nen und Originalausgaben im Taschenbuch sicherte. Denn, so nochmals Göbel, die
„Lizenzsituation war ja so, dass man ausweichen musste, dass man neue Dinge entwi-
ckeln musste und dass man sich öffnen musste für Unterhaltungsliteratur, für neue Pro-
grammprofile.“366
Wurden die ursprünglichen Sinnbestimmungen des ‚Projekts dtv‘ schon zu Friedrichs
Zeiten stillschweigend unterlaufen, wurde dem Modernisierungsdruck nach seinem
Weggang 1990 auch vertraglich nachgegeben. Göbel war als Verlagsleiter nicht mehr
zugleich auch Gesellschafter und
364
„Sie [die Gesellschafter; EK] haben sozusagen auch gelernt vom dtv“, berichtet Göbel. „Jede
vertrauliche betriebswirtschaftliche Zahl ist ja für einen Gesellschafter einsehbar. Der konnte ge-
nau sehen: ‚Wenn ich jetzt eine Reihe mache mit‘ – meinetwegen – ‚Songbooks, wie gehen die
denn bei dtv?‘ Das ist eine völlig schizophrene Situation, die auch einmalig ist. Es gibt sonst kein
Unternehmen, was von Konkurrenten miteinander gegründet wird, die dann auch noch mit diesem
Unternehmen in Konkurrenz treten.“ (Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlags-
leitung], 07. 03. 2007).
365
Ebd.
366
Ebd.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 121
musste zusehen, wie Stück für Stück der Verlagskonstruktion verändert wurde, das heißt, als
erstes hob man die Gleichheit der Gesellschaftsanteile auf. Es gab eine so genannte Fungibili-
tät der Anteile, das heißt, die Gewichtung der Anteile wurde unterschiedlich und einer konnte
dem anderen was abkaufen. Es gab auch einige, die inzwischen andere wirtschaftliche oder
programmatische Ziele verfolgten, die haben einfach einen Teil ihres Anteils den andern ver-
kauft, dadurch wurde das Stimmrecht verschoben, und heute sind von den ursprünglich zwölf
Gesellschafterverlagen ja nur noch vier am dtv beteiligt.367
Als 1996 Wolfgang Balk die Leitung des Deutschen Taschenbuch Verlags übernahm,
nahm er weitere entscheidende Schritte vor, um den dtv von seiner Gründungskonstruk-
tion loszulösen. Die Reihe dtv Premium, die seit 1997 auf dem Markt ist, bringt Origi-
nalausgaben und deutsche Erstausgaben als Paperbacks, in Klappenbroschur. Dieser in
Deutschland seltene Buchtyp hat größere Maße und eine hochwertigere Ausstattung als
herkömmliche Taschenbücher. Damit positioniert sich das Paperback in der Nähe des
Hardcovers, ohne dass der dtv gegen das Verbot, Bücher mit festen Umschlägen zu
produzieren, direkt verstoßen würde. In den Bestseller-Listen finden sich die Premium-
Bände inzwischen im Hardcoversegment eingeordnet, so dass der Deutsche Taschen-
buch Verlag sich auch in dieser Hinsicht von seiner ursprünglich angedachten Bestim-
mung, eine Verwertungsgesellschaft für Hardcoververlage zu sein, emanzipiert hat. Seit
2008 ist der dtv, zunächst testweise, dazu übergegangen Hardcover zu verlegen. Dabei
ist es auch hier der Bereich der Originalausgaben, in dem der feste Umschlag angeboten
wird, so dass keine unmittelbare Konkurrenz zu den Lizenzgeberverlagen besteht. „Aus
Respekt vor unseren Gesellschaftern werden wir nicht deren Originalausgaben verle-
gen“ teilt Pressesprecherin Stefanie Witzgall mit, „sondern nur dtv-Originalausgaben,
die bereits als Taschenbuch erschienen sind“.368
367
Ebd.
368
dtv produziert auch Hardcover [Meldung vom 10. 01. 2008]. In: boersenblatt.net. Online-Magazin
für den deutschen Buchhandel. URL: < http://www.boersenblatt.net/177709/ > (05. 02. 2008).
122 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Ein wichtiger Faktor für das fulminante Marktdebüt und den langfristigen Erfolg des
Verlags ist, dass es ihm gelang, sich aus dem bereits bestehenden Marktangebot an
Taschenbüchern konsequent hervorzuheben.369 Unmittelbar wahrzunehmen war diese
dezidierte Abgrenzung im Layout und in der Ausstattung der Bände. In den 1950er
Jahren folgte man weitestgehend dem von Ernst Rowohlt formulierten „Grundprinzip
der generellen Taschenbuch-Vermarktung: Taschenbücher werden nicht gekauft, sie
werden ‚mitgenommen‘, und deshalb sei ein anreißerisches Titelbild nötig.“370 Hatten
auch andere Verleger demzufolge meist auf eine bunte, kleinteilige Umschlaggestaltung
gesetzt, so wählt man für den Auftritt des dtv das Gegenteil: Das Understatement eines
weißen Umschlags und die dezente, aber wiedererkennbare Gestaltung aller Verlags-
produkte ausschließlich durch Piatti. Die Schrifttype, eine Akzidenz Grotesk, suggeriert
modernes Design, wie Susanne Wehde in ihrer Darstellung zur Typographischen Kultur
im Jahr 2000 festhält:
Seriphenlosen Antiqua-Schnitten (Grotesk-Schriften) begegnet man hauptsächlich in Werbe-
drucksachen und Sachbüchern. Grotesk-Schriften sind mit Inhaltseinheiten aus den semanti-
schen Feldern Modernität, Rationalität, Sachlichkeit, Funktionalität, Progressivität, Aktualität
korreliert. 371
369
Diesen Aspekt betont auch Verlagsleiter Friedrich: „Der Deutsche Taschenbuch Verlag hatte die
Absicht, die einzelnen Reihen seiner geplanten Produktion grundsätzlich von den schon bestehen-
den Taschenbuch-Ausgaben abzusetzen.“ (Brief von Heinz Friedrich an Walter Herdeg,
24. 04. 1963, zit. n.: Moisy, Sigrid von; Nodia, Nino; Ikas, Wolfgang-Valentin (Hrsg.): Ein Leben
im Gegenglück des Geistes. Heinz Friedrich (1922–2004). Verleger, Autor, Akademiepräsident.
Eine Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek. München 2005, S. 84 f.)
370
Rössler, Patrick: trivial = reißerisch + beliebig. Das Coverdesign früher Taschenkrimis. In: Drews,
Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Ta-
schenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom
19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994 [Veröffentlichungen der Eutiner Landesbiblio-
thek. 3], S. 94–100, hier: S. 98.
371
Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche
Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, S. 187.
372
Interview mit Fritz-Peter Steinle [Herstellung], 05. 03. 2007.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 123
Eine vergleichbare, wenn auch auf ein anderes Publikum zugeschnittene Markenprä-
gung gelang im Taschenbuchbereich 1963 noch dem Suhrkamp Verlag mit dem Fleck-
haus-Design der Edition Suhrkamp.375 Helga Märthesheimer unterstreicht in einem
Artikel von 1964 für den dtv:
Man wird der Ausstattung ihre Wirkung voll bescheinigen müssen, vor allem, weil sie sich
von der bisher für Taschenbücher üblichen deutlich abhebt, und schon der erste Blick in
die Taschenbuchständer anzeigt: hier steht dtv, während man, um die übrigen Verlage zu
unterscheiden, schon genauer hinsehen muß. Wenn Übersichtlichkeit, Klarheit und Unver-
wechselbarkeit zu den notwendigen Voraussetzungen gehören, einen Markenartikel gut und
wirkungsvoll zu verpacken, so erfüllten [sic] die dtv-Bücher diesen Anspruch geradezu in
mustergültiger Weise. (Auch die Imitation ihrer Aufmachung durch andere Verlage bestätigt
das).376
373
S. etwa Schulz, Gerd: Viel Buchstaben für wenig Geld. Vom „Kind seiner Zeit“ zum Marktfaktor.
Drei Jahrzehnte Deutsche Taschenbücher. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel
(29. 04. 1981), Nr. 37 [Sondernummer zum Taschenbuch] S. 1139–1144, hier: S. 1141. Die Bedeu-
tung dieses Corporate Design des dtv wird auch in der Traueranzeige für Celestino Piatti (1922–
2007) hervorgehoben: „Die von Celestino Piatti entworfenen weißen Taschenbücher mit der Akzi-
denz-Grotesk-Schrift prägten über dreißig Jahre lang das Erscheinungsbild des dtv.“ (Anzeige im
Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (03. 01. 2008), Nr. 1, S. 103.)
374
Nieschlag, Robert; Dichtl, Erwin; Hörschgen, Hans (Hrsg.): Marketing. 19., überarb. und erg.
Aufl. Berlin 2002, S. 1292.
375
Erst im Jahr 2004 verabschiedete sich der Suhrkamp Verlag von dieser Gestaltung seiner Bände.
S. zur Edition Suhrkamp aus Verlegersicht die Darstellung: Unseld, Siegfried: edition suhrkamp –
Geschichte und Gegenwart. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre Bücher billi-
ger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946–1963. Begleitband zur Ausstellung in der
Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994. (= Veröffentlichun-
gen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 101–113.
376
Märthesheimer, Helga: Kulturgut Taschenbuch – aufgezeigt am Deutschen Taschenbuch Verlag.
In: Frankfurter Hefte 19 (1964), S. 485–493, hier: S. 489.
124 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Produktion eine breit angelegte Vorabwerbung in den großen Städten der Bundesrepu-
blik, die auf den Wiedererkennungseffekt seiner Gestaltungsprinzipien setzte.377
Die distinktive Platzierungsstrategie des dtv sicherte ihm nicht nur eine Sonderstel-
lung innerhalb der bestehenden Taschenbuchreihen, die ihm die Aufmerksamkeit der
Buchhändler und Käufer verschaffte. Sie ermöglichte es dem Verlag zudem, eine Zwi-
schenstellung einzunehmen, die die Verlagserzeugnisse als Qualitätsprodukte auch in
herstellerischer Hinsicht kennzeichnete:378 So sollte laut Friedrich „die dtv-Reihe in
Ausstattung, Typographie und Papierqualität einen Schritt vorwärts tun über das Ta-
schenbuch hinaus in Richtung Paperback“.379 Die dtv-Bände, auch preislich etwas höher
angesetzt als andere Taschenbücher, sollten in der Außenwahrnehmung dafür sorgen,
„daß das Taschenbuch das Odium des ‚Billigen‘ überwand“.380 Erst durch diese qualita-
tiven Standards konnten im Taschenbuch wichtige Programmbereiche erschlossen wer-
den, die vormals dem Hardcover vorbehalten blieben: Geschenkbücher und Gesamt-
ausgaben. Erst eine Ausstattung, die Langlebigkeit und inhaltliche Verlässlichkeit
glaubhaft vermitteln konnte, ermöglichte dem dtv beispielsweise den Überraschungser-
folg einer Goetheausgabe zur Frankfurter Buchmesse 1961.
377
„Was die marktstrategischen Überlegungen betraf, so nutzte dtv sowohl Wochen vor dem Er-
scheinen als auch zum Erscheinen der dtv-Taschenbücher in einem Umfang und mit einer Konse-
quenz die Möglichkeiten moderner Werbung, wie sie bis dahin auf dem Buchmarkt noch nicht
gewagt worden waren. Großanzeigen in führenden deutschen Tageszeitungen und im ‚Spiegel‘
machten die Öffentlichkeit auf den neuen Taschenbuchverlag aufmerksam; außerdem zierten in
vielen deutschen Großstädten Großplakate von Celestino Piatti die Litfaßsäulen und Bauzäune; sie
signalisierten ebenfalls das ‚große Ereignis‘. Diese Voraus- und Initialwerbung bewog die Buch-
händler, ihnen anfänglichen Widerstand gegen das Unternehmen (schon damals wurde von ‚Ta-
schenbuchüberflutung‘ gesprochen) aufzugeben und sich sogar an einer großen Schaufenster-
Aktion im September 1961 zu beteiligen.“ (Friedrich, Heinz: Wie es begann. Vorwort. In: 20 Jahre
Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1981, S. 7–14, hier: S. 11.)
378
Steinle, der seit 1964 in der Herstellung des dtv arbeitete und zur Zeit des Interviews Herstellungs-
leiter des Verlags war, berichtet, dass es „ immer unsere Vorgabe“ war, „dass unsere Bücher in der
oberen Qualitätsstufe angesiedelt sind. Besseres Papier, bessere Umschläge, und natürlich auch
sehr gute Inhalte.“ (Interview mit Fritz-Peter Steinle [Herstellung], 05. 03. 2007.)
379
Brief von Heinz Friedrich an Walter Herdeg, 24. 04. 1963, zit. n.: Moisy, Sigrid von; Nodia, Nino;
Ikas, Wolfgang-Valentin (Hrsg.): Ein Leben im Gegenglück des Geistes. Heinz Friedrich (1922–
2004). Verleger, Autor, Akademiepräsident. Eine Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek.
München 2005, S. 84 f. Diese Vorreiterrolle in Sachen Ausstattung hat der dtv auch in den Folge-
jahrzehnten beibehalten können. 1981 urteilt Wolfgang Ebersberger im Börsenblatt: „Nach mei-
nem eigenen Eindruck gehen übrigens die Taschenbuchverlage am weitesten über die Grenzen
traditioneller Ausstattung hinaus, die gar kein oder nur ein vergleichsweise kleines Hardcover-
Programm führen. Das gilt besonders für Dtv.“ (Ebersberger, Wolfgang: Das kann das Taschen-
buch heutzutage alles leisten. Das neue Selbstverständnis, die neuen Reihen, die neuen Zielgrup-
pen. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981), Nr. 37, S. 1107–1112, hier:
S. 1109.)
380
Schulz, Gerd: Viel Buchstaben für wenig Geld. Vom „Kind seiner Zeit“ zum Marktfaktor. Drei
Jahrzehnte Deutsche Taschenbücher. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (29. 04. 1981),
Nr. 37 [Sondernummer zum Taschenbuch] S. 1139–1144, hier: S. 1141.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 125
Das geschlossene optische Auftreten trug das Wesentliche zur Bildung der Marke dtv
bei, auch wenn nach und nach der strenge Gestaltungskodex aufgelockert wurde und
einzelne Reihen, wie bereits Ende der 1960er Jahre das wissenschaftliche Taschenbuch,
bunte Umschläge ohne Titelgrafik erhielten. Die Entscheidung, das Layout der Verlags-
erzeugnisse zu modernisieren, wurde unter Göbels Ägide vorbereitet. Gründe dafür
waren u.a. die Diskrepanz zwischen einer starken Verlagsidentität in der Selbstwahr-
nehmung und die über Umfragen und Marktforschungsergebnisse gespiegelte Erkennt-
nis, dass die Marke dtv für das Gros der Leser bei ihren Kaufentscheidungen keine
überrragende Rolle mehr spielt.381 Als 1996 Balk den Deutschen Taschenbuch Verlag
übernahm, setzte er eine Priorität auf die konsequente Umgestaltung der Bände. „Mit
Herrn Brumshagen habe ich versucht, dem Verlag eine ausdrucksstarke Optik zu geben,
die nicht zu korsettartig wirkt“, so Balk im Interview.382 Die wichtigsten Elemente der
neuen Gestaltungslinie sind die Garamond-Schrifttype, die auch das Verlagssignet
prägt, eine Auflockerung hinsichtlich der Formate und Umschlagfarben je nach Reihe
und eine Abwendung von Grafiken hin zu Fotografien und Gemäldeausschnitten auf
dem Cover. Damit hat sich der dtv seiner gestalterischen Alleinstellungsmerkmale
weitgehend entledigt, konnte aber andererseits wieder mit einem stilvollen und zeitge-
mäßen Design anderen Verlagsauftritten Konkurrenz machen. Für den heutigen Verlag
entscheidend ist die optische Zielgruppenorientierung, die beispielsweise den Unterhal-
tungstiteln ein evident anderes Gesicht verleiht als Geschenkbändchen oder wissen-
schaftlicher Lektüre für das Fachseminar und die es vermag, gerade in der Originalaus-
gabenreihe dtv Premium, ein individuelles Layout und eine einmalige Ausstattung für
einzelne Titel zu kreieren.383
Interessanterweise kehrt man in den jüngsten marketingstrategischen Überlegungen
wieder zu einem Konzept zurück, das den Verlag als Marke etablieren soll. In ihrer
Magisterarbeit betrachtet die Buchwissenschaftlerin Sabine Luft 2004 die Programm-
vorschauen als Marketinginstrumente der Verlage und kommt zu dem Schluss:
Inwieweit man bei die [sic] Vorschaugestaltung als einem Mittel der Markenbildung sprechen
kann, soll hier nur kurz angedeutet werden. Wie bereits erwähnt, muss es Verlagen erst noch
gelingen, sich selbst, und nicht nur seine [sic] Produkte, als Marke zu positionieren. Dieser
381
Dies ging aus Gesprächen mit Schedl-Jokl und Göbel hervor, die ich im Frühjahr 2007 führte.
Statistisch belegt wird dieses in einer Umfrage des Börsenvereins 1995: Nur für 8 % der Buchkäu-
fer spielte der Verlag eine Rolle für die Kaufentscheidung. Vgl: Meyer, Andreas; Rieppel, Georg:
Die Marke macht’s. In: Buchmarkt (2000), Nr. 3, S. 44–59, hier: S. 45.
382
Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.
383
So wurde etwa die bei dtv im Oktober 2006 erschienene deutsche Erstausgabe von Marina Lewy-
ckas Unterhaltungsroman Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch mit einer Grafik verse-
hen, die an der englischen Originalausgabe orientiert ist und erhielt einen Umschlag aus grobem,
braunem Packpapier. Zusammen bilden Materialität und Haptik des Umschlags mit der Grafik und
verwaschenen Farbgestaltung eine geschlossene Ästhetik, die die zeitgleiche Tendenz, Buchum-
schlägen mit Prägedrucken und Hochglanzelementen eine möglichst glamouröse Optik zu geben,
konsequent unterlief.
126 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Weg führt vermutlich über eine stärkere Endkundenorientierung als bisher üblich. Um beim
Leser wahrgenommen zu werden, muss ein Verlag einen unverwechselbaren Auftritt schaffen;
wichtige Elemente sind hierfür ein prägnantes Logo und ein klar erkennbares Profil, das über
alle Kanäle nach außen transportiert wird.384
Als gelungene Beispiele führt Luft die Verlagsauftritte von Gräfe und Unzer sowie
Diogenes an. Dadurch also, dass die meisten Endkunden ihre Kaufentscheidungen be-
reits vor dem Betreten einer Buchhandlung getroffen haben, lohne es, die Verlagsmar-
ken direkt zu bewerben. Auch Rainer Groothuis spricht in seinen nonchalanten Antwor-
ten auf einige der ewigen Fragen rund ums Buch und seinen Verkauf die Profilstärkung
der Verlage als dringendes Desiderat an:
‚Leser kaufen nicht nach Verlagen!‘ schallt es aus den Verlagshäusern. Ja, wie sollen sie
auch?, wenn man die Verlage kaum mehr erkennt? Phänomen des Buchmarktes ist, daß die
einzelnen Marktteilnehmer (vulgo: die Verlage) wenig Wert darauf legen, sich von ihren
Nachbarn abzugrenzen. […] Daß Leser auch nach den großen Autorennamen kaufen, nach
Kommandos von Elke Heidenreich, nach Rezensionen – gut für jene Bücher, denen solche
Aufmerksamkeit widerfährt. Aber all die anderen?, die unbekannten Autoren? Ihnen und ihren
Auflagen wäre sehr geholfen, hätten die Vielleser Vertrauen in die Verlagsnamen. Profil
schafft den Profit.385
So wird von einigen Beobachtern eine Strategie, die man im dtv in den 1990er Jahren
aufgrund von Umfrageergebnissen aufgegeben hat, nach der Jahrtausendwende zum
dernier cri des Marketings in der Buchbranche ausgerufen.386
Neben der Gestaltung spielt die sprachlich kommunizierte Verlagsidentität eine wichti-
ge Rolle für das Außenbild des dtv.
Das augenscheinlichste Kommunikat ist zunächst der Verlagsname: Deutscher Ta-
schenbuch Verlag. Die bündige Formel signalisiert die allgemeine Zuständigkeit für die
Taschenbücher aus Deutschland und hat damit einen offiziellen, zumindest repräsenta-
tiven Charakter. Im April 1961 gratuliert Klaus Piper zur rentablen Namenswahl: „Ich
bin überzeugt, dass wir, werbe- und verkaufspsychologisch, durch die Bezeichnung
384
Luft, Sabine: „Visitenkarten eines Verlags“ – Aufbau, Funktion und Entwicklung der Verlagsvor-
schau seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit einer Studie zu den Vorschauen des C.H. Beck-
Verlags. Erlangen 2004 (= Studien der Erlanger Buchwissenschaft IX), S. 87.
385
Groothuis, Rainer: Papperlapapp. Antworten auf einige der ewigen Fragen rund ums Buch und
seinen Verkauf. Für Büchermacher und neugierige Leser. Mainz 2004, S. 15 f.
386
Zu dieser Trendwende siehe auch den Artikel „Die Marke macht’s“, der 2000 im Buchmarkt
erschien und feststellte, dass Marken, oder zumindest die Rede von Marken, „in der Buchbranche
plötzlich so en vogue“ sind. (Meyer, Andreas; Rieppel, Georg: Die Marke macht’s. In: Buchmarkt
(2000), Nr. 3, S. 44–59, hier: S. 44.)
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 127
Deutscher Taschenbuch-Verlag einen ganz grossen Griff getan haben!“387 Steinle erin-
nert sich an die Effekte, die diese „freche Namensgebung“ anfangs auslöste:
[…] es ist durchaus passiert, dass vor allen Dingen von ausländischen Buchhandlungen Bestel-
lungen kamen an den Deutschen Taschenbuch Verlag und da wurden dann Goldmann-Bücher,
Rowohlt-Bücher [lacht] und so weiter bestellt […] Also wir waren in manchen Augen, vor al-
len Dingen natürlich im Ausland, der […] Kopfverlag für alle deutschen Taschenbuch-
Verlage. […] Auch ein Teil des Erfolges war also die Bezeichnung und auch diese Kurzbe-
zeichnung ‚dtv‘.388
387
Brief von Klaus Piper [Piper Verlag] an Heinz Friedrich, 04. 04. 1961, Archiv dtv.
388
Interview mit Fritz-Peter Steinle [Herstellung], 05. 03. 2007.
389
Bienek, Horst: Wie war das doch mit der ‚sonderreihe‘? Ein fiktiver Brief von Horst Bienek.
Spanien, 10. April 1999. In: 20 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1981, S. 73–77,
hier: S. 74.
390
Panskus, Hartmut: Das Bewährte bewahren. Der Deutsche Taschenbuchverlag feiert sein 20jäh-
riges Bestehen. dtv hat das Medium Taschenbuch aufgewertet / Faktoren eines Erfolgs. In: Börsen-
blatt für den Deutschen Buchhandel (25. 09. 1981) Nr. 83, S. 2419 f., hier: S. 2419.
391
Reinisch, Leonhard: Kultur zu billigen Preisen. 20 Jahre dtv [Manuskript einer Sendung im Nacht-
studio. Bayrischer Rundfunk], 15. 09. 1981, S. 5, BSB Ana 655.
128 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
392
Beide hier zitierten Werbeslogans finden sich auf dtv-Papiertüten [16,5 × 30 cm], mit Werbesprü-
chen dtv (1961), BSB Ana 655.
393
Stellvertretend sei hier die oft zitierte Feststellung Plattes wiedergegeben: „[…] die in der Konzep-
tion des Taschenbuches wesentliche ‚Massenintention‘ ist weitgehend verfehlt. Die Revolution des
Taschenbuches hat nicht stattgefunden.“ (Platte, Hans K.: Soziologie des Taschenbuches. Bemer-
kungen zur Taschenbuchproduktion. In: Bertelsmann-Briefe (1962), H. 15, S. 1–28, hier: S. 22.)
394
Friedrich erklärt seine Strategie dennoch in bildungsidealistischem Ton: „Es kommt eben gar nicht
so sehr darauf an, ob möglichst viele Menschen möglichst viele Bücher lesen, sondern wichtiger
ist, daß die richtigen Leser die richtigen Bücher (möglichst auch noch zum richtigen Zeitpunkt) in
die Hand bekommen.“ (Friedrich, Heinz: Geist aus der Tasche [1966]. In: Göbel, Wolfram
(Hrsg.): „Dein Brief kam wie gerufen.“. Heinz Friedrich als Verleger. Im Auftrag der Gesellschaf-
ter und der Mitarbeiter des Deutschen Taschenbuch Verlags. [Privatdruck]. München 1990,
S. 189–197, hier: S. 194 f.)
395
Für einen Schaufensterwettbewerb im Jahr 1967 stellte der dtv den Buchhändlern Werbematerial
zur Verfügung, in dem unter der Überschrift „Autoren von Weltrang im dtv“ die folgenden
Schriftsteller aufgeführt wurden: Ivo Andrić, Jerzy Andrzejewski, Jean Anouilh, Isaak Babel, In-
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 129
Angesichts der Entwicklungen, die der Buchmarkt in den letzten Jahren erfahren hat,
lässt sich im derzeitigen Außenauftritt des dtv eine Ausweitung des Programms und
damit ein Auseinanderdriften von symbolischem und ökonomischem Kapital nach Pro-
grammsegmenten ausmachen, das in den Anfangsjahren noch nicht festzustellen war.
Das bedeutet einerseits, dass das angestrebte Verlagsimage nach wie vor auf dem An-
spruch fußt, als ein ausgewiesen literarischer Verlag wahrgenommen zu werden, der in
geborg Bachmann, Heinrich Böll, Miodrag Bulatović, Michel Butor, Jean Cocteau, William
Faulkner, Jean Genet, André Gide, Jean Girandoux, Witolt Gombrowicz, Aldous Huxley, Hans
Henny Jahnn, James Joyce, André Maurois, Henry de Montherlant, Sławomir Mrożek, Frank
O’Connor, José Ortega y Gasset, Marcel Pagnol, Cesare Pavese, Ezra Pound, Alain Robbe-Grillet,
Nelly Sachs, Nathalie Sarraute, Bruno Schulz und Michail Sostschenko.
396
Durch seine besondere Konstruktion hatte er einen finanziellen Rückhalt, der ihm, besonders in
den Jahren nach seiner Gründung, riskante Unternehmungen erlaubte.
397
Friedrich, Heinz: Zwischen Geist und Kasse. Die Taschenbuch-(Markt-)Story. Mit einem Blick
auf den Deutschen Taschenbuch Verlag. In: Drews, Jörg; Griep, Wolfgang (Hrsg.): „Macht unsre
Bücher billiger!“. Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963. Begleitband zur
Ausstellung in der Kreisbibliothek Eutin vom 19. Oktober 1994 bis 27. Januar 1995. Eutin 1994.
(= Veröffentlichungen der Eutiner Landesbibliothek. 3), S. 22–31, hier: S. 31.
398
dtv-Programm-Ankündigung April bis September 1965, BSB Ana 655.
399
dtv-Informationsbroschüre für den Schaufensterwettbewerb der Buchhändler 1967, BSB Ana 655.
Den Stolz, durch internationale Beachtung jedem Verdacht des Provinziellen zu entgehen, drückt
ein weiterer Slogan in einem Werbeflyer des Jahres 1965 aus, in dem ein heißt: „die weißen dtv-
Taschenbücher. ein internationaler Begriff“ (dtv-Werbeflyer [Din A4] 1965, BSB Ana 655.).
130 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
allen Programmbereichen für zuverlässige Qualität steht.400 Das meint zudem, dass der
dtv, wie andere Publikumsverlage, seinen Werbeetat verstärkt auf Bestseller im Bereich
der Unterhaltung und des populären Sachbuchs konzentriert. Diese Pluralität in Pro-
gramm und Imagebildung führt dazu, dass der Verlag als einheitliche Marke nicht mehr
wahrgenommen werden kann. Da aber angesichts des enormen monatlichen Titelaus-
stoßes der Taschenbuchverlage in Deutschland die jeweiligen Zielgruppen die Verlags-
aktivitäten über ihr Interessensgebiet hinaus kaum beobachten können, belastet das
Auseinanderbrechen einer einheitlichen Ästhetik und Werbesprache nach Überzeugung
der Verlagsleitung nicht das zielgruppengerechte Image des dtv.401
Für den Handlungsrahmen des dtv ist, neben den vertraglichen Voraussetzungen und
der bewussten Markenbildung in optischer wie sprachlicher Hinsicht, von Belang, wie
seine inhaltliche Profilierung reflektiert wird.
In diesem Abschnitt wird es nicht darum gehen, auf einzelne Programmbereiche de-
tailliert einzugehen. Er dient vielmehr dazu, das Selbstverständnis zu rekonstruieren,
das verschiedene Mitarbeiter hinsichtlich des Anspruchs und der Gestaltungsmöglich-
keiten im Verlag haben. Das untersuchte Material besteht hauptsächlich aus Interviews,
die ich im März 2007 mit ehemaligen und derzeitigen verantwortlichen Mitarbeitern des
Verlags geführt habe.
Dabei lassen sich zwei dominierende Charakteristika ausmachen, die immer wieder
für den dtv genannt werden: Erstens der qualitative Anspruch, der sich sowohl auf die
Auswahl der Titel bezieht als auch auf die editorische Sorgfalt; zweitens der Pluralis-
mus des Programms, der sich zunächst aus der Diversität der Gesellschafterprogramme
ergibt, der aber auch von der Verlagsleitung bewusst gefördert wurde, um den dtv vor
ideologischen Vereinseitigungen zu bewahren.
Hinsichtlich der Qualität herrscht im dtv, so Göbel, das Bewusstsein und der An-
spruch, der beste Taschenbuchverlag zu sein. Dieses Qualitätsbewusstsein war unter
Friedrichs Ägide noch stark durch die Abgrenzung ‚nach unten‘ geprägt, im Sinne eines
Selbstverständnisses als Eliteverlag.402 So berichtet Göbel aus seiner Zeit als dtv-
Verleger davon, dass
400
Ich berufe mich für diese Kurzdarstellung auf ein Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung],
16. 03. 2007.
401
So legt Balk im Interview dar: „Wer unser Klassikprogramm liest, der wird vielleicht nicht einen
Titel lesen wie ‚Ist mein Hintern wirklich zu dick‘ […]. Ich glaube nicht, dass der eine Titel das
Image für den anderen verbessert oder stört. Die liegen auch nicht in der Buchhandlung nebenein-
ander.“ (Ebd.)
402
„Bei dtv war“, so Göbel im Interview „eigentlich bis zu mir – ich hab mich schon glaube ich
ziemlich geöffnet, aber Balk noch mehr – das Bewusstsein des Eliteverlages ganz stark.“ (Inter-
view mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.)
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 131
mich der Verlagsleiter von Heyne zum Mittagessen mal eingeladen hat und das erste, was er
sagte, war: ‚Ich finde das so toll, dass Sie kommen!‘ Ich sagte: ‚wieso?‘ Und er sagte: ‚Also
früher wäre bei dtv doch keiner mit mir essen gegangen.‘ […] Das war ein ganz starkes Klas-
sensystem. Das waren die ‚Trash-Verlage‘ für dtv.403
Er charakterisiert des „Elitäre“ des dtv, indem er es vom Selbstverständnis des wissen-
schaftsorientierten Suhrkamp Verlags abgrenzt404 und schließt: „Das Elitäre war mehr
ein Qualitätsgefühl. Ein Stolzsein darauf, dass man besonders gute Bücher macht. Das
war also nicht ein Denken im Hinblick auf Esoterisches oder ein Spezialistentum, son-
dern: Wir sind einfach die Besten.“405
Fand unter Friedrichs Verlagsleitung eine qualitative Abgrenzung stark durch die
Ausgrenzung bestimmter Programmbereiche und Titel statt, die seinem Begriff von
Kultur zuwiderliefen, versuchen Göbel und Balk in den 1990er Jahren, das Programm
zu öffnen, um den Verlag wirtschaftlich zu stärken. Göbel erklärt: „Ich hab’ auch weni-
ger von einem Kulturbegriff her gedacht, sondern ich wusste, dass dtv ein sehr an-
spruchsvoller Verlag ist, aber der darf nicht in Anspruch und Schönheit sterben, sondern
der muss weiter leben und der muss verkaufen.“406 Die strikte Trennung zwischen ‚legi-
timer Höhenkammkultur‘ und ‚illegitimer Unterhaltungskultur‘ wird aufgegeben.407 So
weitet auch Balk den qualitativen Anspruch aus auf die Gesamtproduktion: „Wir ma-
chen in allen Bereichen ein Qualitätsprogramm“, teilt er im Interview mit.
Das kann man nur im Vergleich mit anderen Verlagen verifizieren. Bestimmte Bücher kom-
men im dtv nicht vor. Auch im Bereich Unterhaltung ist es mir wichtig, dass qualitativ ver-
hältnismäßig hochwertige Unterhaltung, mit wenigen Ausreißern, gemacht wird. Im literari-
schen Programm sowieso. Ich glaube, da sind wir der einzige Taschenbuchverlag, der so
dezidiert ein literarisches Programm macht. Das ist bestenfalls noch mit Suhrkamp vergleich-
bar. Bei allen anderen ist das ins Schwanken gekommen. Das ist auch eine Gefahrenquelle,
aber ich denke, es ist richtig, für einen Verlag wie dtv. […] Ansonsten bewegen wir uns auf
einem gewissen Marktumfeld und müssen den Marktbedingungen auch grosso modo Rech-
nung tragen. Also, da kann man die Nase nicht mehr zu hoch tragen.408
Der Qualitätsanspruch des dtv bezieht sich jedoch mitnichten nur auf inhaltliche Kate-
gorien. Wie bereits unter Punkt 3.2.1 geschildert, galten von Anfang an bei dtv eine
gehobene Ausstattung der Bände und ein editorisches Ethos als Ausweis für die Produk-
tion ‚wertvoller‘ Bücher. Voraussetzung hierfür ist eine starke Vernetzung der Bereiche
403
Ebd.
404
„Dieses Elitäre war aber nicht das Elitäre von Suhrkamp, der so eine eigene Kultur entwickelt hat.
Dazu waren auch viel zu viel populäre Titel und zu wenig Wissenschaft bei dtv.“ (Ebd.)
405
Ebd.
406
Ebd.
407
Vgl. zum Kulturverständnis Heinz Friedrichs Abschnitt 4.2 dieser Arbeit. Die Einteilung in legi-
time und illegitime Kultur ist an dieser Stelle als zugespitzte Interpretation dieses Literaturver-
ständnisses zu verstehen.
408
Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.
132 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Herstellung und Lektorat im dtv, die sowohl der ehemalige Leiter des Wissenschaftsres-
sorts Walter Kumpmann als auch Balk hervorheben.409
Es ist zunächst diese editorische Qualitätstradition des dtv, die Balk nennt, als er
im Interview nach den Qualitätskriterien gefragt wird, denen der dtv gerecht werden
möchte:
Es gibt sicher eine formale Qualität, die das Buch als Medium betrifft, also: Wie ist die Pa-
pierqualität, die Typografie usw. Ich glaube, da haben wir ein hohes Niveau. Ein zweiter
Punkt ist, dass die Fehlerquote gering ist, wir arbeiten selbst Lizenzausgaben durch. […] Da
lege ich Wert darauf. Ich möchte, dass das Taschenbuch im Zweifelsfall eine höhere Qualität
hat als das Hardcover. Das klingt anmaßend, aber das ist so.410
409
„Es gibt Verlage“, so Kumpmann, „wo es zwischen Lektorat und Herstellung und zwischen Lek-
torat und Werbung und Verkauf eine Rivalität und ein Gegeneinander gibt. Das war bei uns nicht
der Fall.“ (Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissen-
schaft], 14. 03. 2007.) „Die [Verleger oder Lektoren] arbeiten am Text und können meistens nicht
zwischen einer Antiqua-Schrift und einer Grotesk-Schrift unterscheiden. Also hier im dtv schon,
da gibt es eine Sensibilität […].“ (Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.)
410
Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.
411
Ebd.
412
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
413
Ebd.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 133
sind.“414 Diese und ähnliche Erfahrungen bekräftigen den Verlag in seinem Selbstver-
ständnis, verlässliche Ausgaben zu bringen und, nach dem von Panskus ausgerufenen
Motto „Das Bewährte bewahren“415 eine Titelauswahl zu treffen, die Bestand hat. „Und
diese Grundtendenz, die ist fest“, so Groth. „Man ändert das Programm nicht, nur weil
irgendwo ein Hund durchs Dorf läuft. Heute hängen sie sich viel mehr an Tendenzen an
oder versuchen Trends vorauszuahnen. Das haben wir nicht gemacht.“416 Friedrich hat
in seinen Essays und Reden eine vehemente Orientierung an modischen Tendenzen oft
als eine Art kultureller Häresie abgeurteilt.417 So antwortet er anlässlich einer Frage des
Magazins Buchmarkt: „Wenn das Wort ‚Trend‘ fällt, bin ich skeptisch. Von Trends
halte ich nicht viel; sie sind oft das Gegenteil von Literatur.“418 Dadurch konnte er den
dtv gerade nach 1968 deutlich von anderen Verlagen absetzen. Kumpmann geht darauf
ein: „Man kann Rowohlt und Suhrkamp eine relativ starke Abhängigkeit von Linksbe-
wegungen in der Literaturszene und Studentenszene nachweisen. Das war bei uns nicht
der Fall.“419 Auf eine andere Art von Trendresistenz beruft sich auch Balk:
Wenn wir es uns leisten, eine Mallarmé-Ausgabe oder eine Rimbaud-Ausgabe, die mir persön-
lich auch wichtig sind, im Programm zu halten, dann ist das sicher nicht das Trendigste, was
es auf dem Markt gibt. Aber man muss auch manchmal sozusagen verlegerisch an bestimmten
Dingen festhalten, ohne nur die Ökonomie oder die Marktgängigkeit vor Augen zu haben.420
Hier erscheint die Verweigerung des Modischen als Gütesiegel eines Programms, das
nicht ausschließlich nach kurzfristigen ökonomischen Gesichtpunkten zusammenge-
stellt worden ist.
Das pluralistische Programm des dtv setzt einen großen Handlungsspielraum der ein-
zelnen Lektorate voraus. Göbel äußert sich zur Rolle des Verlagsleiters im dtv wie
folgt:
Was man kann, ist eigentlich nur: überprüfen, ob das, was die andern da bauen und zusam-
menstellen, die Linie hält und ob das wirtschaftlich auf Dauer erfolgreich ist. Im Grunde kann
ein Verleger eigentlich nur Impulse geben und eine Art opinion-leader-Funktion, eine Kon-
trollfunktion, ausüben.421
414
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Gert Heidenreich [Bayerischer Rundfunk],
16. 06. 1970, BSB Ana 655.
415
Panskus, Hartmut: Das Bewährte bewahren. Der Deutsche Taschenbuchverlag feiert sein 20jäh-
riges Bestehen. dtv hat das Medium Taschenbuch aufgewertet / Faktoren eines Erfolgs. In: Börsen-
blatt für den Deutschen Buchhandel (25. 09. 1981) Nr. 83, S. 2419 f.
416
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
417
Friedrich, Heinz: Fünf Fragen zu Ihrer Lektoratsarbeit. [Kopie eines Schreibens an Wolfgang
Körner, handschriftlich markiert: „Buchmarkt“], 11. 03. 1981, BSB Ana 655.
418
Ebd.
419
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
420
Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.
421
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
134 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
Auch Kumpmann betont, dass die Liberalität des Verlags vor allem der Tatsache ge-
schuldet ist, dass den Lektoren vertraut und ihnen weitgehend freie Hand gelassen
wurde. So beschloss Friedrich gleich zu Beginn, Mitarbeiter auszuwählen, die die Pro-
grammbereiche um Kompetenzen und Präferenzen bereicherten, die er selbst nicht ab-
deckte. Schon die Wahl des ersten Lektors, Bienek, sollte ein vielseitiges Programm
ermöglichen. Maria Friedrich begründet die Entscheidung ihres Mannes in einem Inter-
view:
Bienek war mit beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt gewesen, und als der dtv gegründet
werden sollte, haben mein Mann und ich besprochen, dass so ein Mann als Gegenposition zu
meinem Mann sehr geeignet sei. Bienek war ein sehr intuitiver Mann, mehr ein Künstler als
ein Intellektueller […] Er hat sicherlich dem Verlag eine wichtige Komponente gebracht, die
moderne Komponente, die der Verlag unbedingt brauchte.422
Es gelingt ihm, Anthologien mit früher sowjetischer Prosa, Erzähler der DDR und, mit
dem Beatles-Songbook 1971, auch popkulturelle Elemente ins Programm einzubrin-
gen.426 Seine Idee jedoch, die Worte des Vorsitzenden Mao, die so genannte ‚Mao-
422
Interview mit Maria Friedrich [Verlagsleitung dtv junior, Ehefrau Heinz Friedrich], 15. 03. 2007.
423
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
424
Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung], 06. 03. 2007.
425
Ebd.
426
Die Titel lauten Oktoberrevolution. Frühe sowjetische Prosa. München 1970, Fahrt mit der
S-Bahn. Erzähler der DDR. München 1971 und Frauen in der DDR. München 1976.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 135
Bibel‘ ins dtv-Programm aufzunehmen, stieß auf erbitterten Widerstand und wurde
nicht verwirklicht.427
Wenn es sich jedoch nicht gerade um Texte handelte, die durch Friedrichs Ideologie-
vermeidungsraster fielen, war er auch für spleenige Ideen seiner Mitarbeiter offen: Den
verlagsinternen Anekdoten zufolge stand in den Anfangsjahrzehnten jedem leitenden
Lektor, ebenso Herrn Friedrich selbst, ein ‚Narrenstück‘ zu, das realisiert werden durfte,
auch wenn andere Verlagsmitarbeiter dem Erfolg des Projekts skeptisch gegenüber
standen.428 Diese flache hierarchische Grundstruktur und Familiarität im Verlag heben
die befragten Mitarbeiter immer wieder hervor. Groth schildert den Handlungsspiel-
raum der Lektorate zu Friedrichs Zeiten an Beispielen aus dem Lexikonlektorat: „Bei
mir gab es Fälle, wo er gesagt hat: ‚Ach, das mag ich nicht‘, da hab ich gesagt: ‚Sie
befehlen es mir, sonst bleibt’s‘. Und befehlen mochte er nicht.“429 Diese Atmosphäre
von Vertrauen, Kompetenzübertragung und gegenseitiger Hochschätzung trug nach
Einschätzung der Interviewpartner viel zur Produktivität des Verlags bei. Gerade auch
die Selbstbestimmtheit der Mitarbeiter führt zu einer starken Identifikation mit dem
Verlag: „Die Identifikation des einzelnen Mitarbeiters mit dem Unternehmen war un-
glaublich hoch“, erinnert sich Göbel, „und das war auch sicher damals in anderen Un-
ternehmen nicht so stark ausgeprägt.“430 Kumpmanns Äußerung ergänzt dieses Bild:
Dazu hat beigetragen, dass der Chef, Herr Friedrich, und die beiden Prokuristen Josephi und
Jost durchaus etwas Väterlich-Familiäres hatten, dass man sich bei denen wohlfühlte; die wa-
ren keine bösen Kapitalisten oder sonst was. 431
Besonders in der Anfangszeit des dtv ist für das Selbstverständnis der Mitarbeiter essen-
tiell, dass sie das Gefühl hatten, ein Programm zu machen, das sie selbst interessierte.
Dieses Verfahren stellen Groth und Kumpmann als einen Grundsatz der Verlagsphilo-
sophie im dtv besonders heraus. Groth erläutert:
427
Diese beiden Fallbeispiele nennt Göbel (Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Ver-
lagsleitung], 07. 03. 2007.) Wolff führt außerdem aus: „Der Versuch, eine Taschenbuchausgabe
des vom Oberbaum Verlag veröffentlichten Sammelbandes Kommune 2 zu veranstalten, scheiterte
daran, dass einer der Autoren, Jan-Carl Raspe, bereits in den Untergrund abgetaucht war und
eine Genehmigung nicht mehr geben konnte.“ (Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung],
06. 03. 2007.)
428
Steinle erinnert sich an „die uralten Geschichten, wo der [Prokurist Konrad] Jost dann immer
gesagt hat ‚ein Narrenstück im Jahr haben Sie frei, Herr Friedrich.“ (Interview mit Fritz-Peter
Steinle [Herstellung], 05. 03. 2007.) Kumpmann denkt an die Lektoratskonferenzen: „Da hat der
Friedrich sich das angehört und hat gesagt ‚Hat der Kumpmann in diesem halben Jahr schon
sein Narrenstück machen dürfen? Nein? Ja, dann soll er es machen. Komm. Nächstes Buch.‘ “
(Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.)
429
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
430
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
431
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
136 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
[…] Aber etwas ganz grundsätzlich: Wir haben damals Bücher gemacht, die wir wollten, wie
wir sie wollten. Da kamen die auch schon an: ‚Ihr müsst Publikumsbefragungen machen‘ und
Gott weiß was. Wir haben es immer umgekehrt gemacht: Wir machen die Bücher, und Euch
müssen sie gefallen. Erst müssen sie uns gefallen. Heute machen die Marktforschung und Gott
weiß was. Das ist eine andere Art Verlag.
Kumpmann ergänzt:
Und das ist keine Garantie: Leute fragen, was sie für Bücher haben wollen, oder gar Buch-
händler fragen, damit kommen Sie überhaupt nicht weiter. Sie müssen die Bücher machen, die
Sie für richtig halten. Damit können Sie scheitern, oder damit können Sie Erfolg haben.
Damit deckt sich das Credo dieser beiden Cheflektoren mit dem nach außen kommuni-
zierten Selbstverständnis des dtv, wie es von Friedrich vertreten wurde. Des Öfteren sah
er sich in der Situation, Angebote von Marktforschungsinstituten abzuschlagen. 1970
antwortet er beispielsweise einer „Psychologischen Unternehmensberatung“ in Köln:
So begreiflich Ihr Interesse an einer derartigen Zusammenarbeit erscheint, so wenig erhoffe
ich mir für den Deutschen Taschenbuch Verlag von einer entsprechenden Marktforschung.
Selbstverständlich muss sich jeder Verleger Gedanken darüber machen, für welchen Perso-
nenkreis er Bücher produziert – und er wäre ein schlechter Verleger, wenn er nicht im voraus
die Erfolgschancen seiner Titel einigermassen zutreffend einschätzen könnte. Die Vorausset-
zungen für dieses richtige Einschätzen werden weniger aus der Marktforschung als vielmehr
aus der Erfahrung gewonnen: der tägliche Umgang mit der geistigen Ware Buch entwickelt
eine Art Fingerspitzengefühl für die Möglichkeiten und Grenzen des Buchvertriebs[.] Darüber
hinaus aber kann es nicht die Aufgabe eines Verlegers sein, von vornherein auf ‚Nummer si-
cher‘ zu gehen – täte er das, so wäre es bald schlecht bestellt um die Literatur. Die verlegeri-
sche Arbeit (und das macht sie interessant) besteht zu einem grossen Teil darin, Erfolg und
Misserfolg gegeneinander so auszubalancieren, dass eine tragfähige ökonomische Basis erhal-
ten bleibt. Gerade die Imponderabilien bestimmen oft einen Erfolg, den auch eine noch so ex-
akte Marktforschung niemals so vorausberechnen könnte.432
Diesen verlegerischen Grundsatz nimmt Panskus 1986 in einer Ehrung des Deutschen
Taschenbuch Verlags zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen auf. Er titelt in Bezug auf
Friedrich: „Ein Leser vervielfältigt ‚seine‘ Bibliothek“ und vermerkt:
Die Programmarbeit hat dtv groß gemacht, und sie wird letztlich vom Verleger selbst be-
stimmt, so sehr ihm die Lektorate dabei zur Hand gehen. Heinz Friedrich in dieser Funktion zu
charakterisieren, fällt nicht eben leicht. Ein Grundzug aber schält sich heraus: Er ist kein Pri-
märverleger, einer, der entdeckt, kreativ-kritisch begleitet, fördert – er ist ein Leser, der seine
Bibliothek ständig vergrößert, anreichert.433
Im Hinblick auf das breit gefächerte Programm des dtv kann man jedoch feststellen,
dass der dtv als pluralistischer Publikumsverlag seit jeher deshalb so gut funktionierte,
432
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an W. Hoffmann [Institut für empirische Psychologie,
Motivforschung, Psychologische Unternehmensberatung Köln], 07. 04. 1970, BSB Ana 655.
433
Panskus, Hartmut: Ein Leser vervielfältigt „seine“ Bibliothek. Doppeljubiläum: 25 Jahre dtv und
15 Jahre dtv Junior. Statt einer Chronik: Die Analyse eines Erfolges, der viele Faktoren hat. In:
Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (18. 02. 1986) Nr. 14, S. 405–411, hier: S. 408.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 137
weil eben nicht nur ein Leser seine Bibliothek reproduzieren konnte. So bestätigt Göbel,
dass Friedrich „vieles zwar bei dtv zuließ, weil er wusste: das ist gut und das wird auch
gehen, und da vertraut er den Lektoren, aber er hätte es sicher nicht gelesen.“434 Die
Auswahl der Titel wurde erweitert und auch beschränkt durch die Kompetenzen und
Präferenzen unterschiedlicher „Leser“. „Ohne Herrn Groth hätte es die Lexika und diese
Entwicklung der Atlanten nicht gegeben“, so Göbel, „und die Wissenschaft hätte ohne
Kumpmann [Walter Kumpmann ist promovierter Historiker; EK] […] keinen so hohen
Geschichtsanteil gehabt.“ Auch die Belletristik-Lektorate sind laut Göbel durch Ausbil-
dung, Interesse und Persönlichkeit der Lektoren geprägt:
Ohne Wolff gäbe es die Art der Belletristik nicht, die es heute gibt, ja, dass sehr viel ausländi-
sche Literatur bei dtv kommen kann, liegt daran, dass Wolff Anglist ist von Haus aus. […] Es
wäre anders, wenn da ein Germanist säße. Und Frau Schedl-Jokl hat schon sehr früh angefan-
gen, die Klassiker zu machen.435
Die Präferenzen der Mitarbeiter im dtv konnten also in die Gestaltung des Programms
einfließen, aber auch schon die der Leiter und Lektoren der Gesellschafterverlage und
natürlich die der Käufer der Gesellschaftertitel, die überhaupt erst das Wagnis einer
hohen Taschenbuchauflage ermöglichten.
Die anfängliche Verlagsphilosophie gründete auf der Annahme, dass man durch In-
tuition und das Vertrauen in das eigene Urteil und dessen Mehrheitsfähigkeit ein attrak-
tives und wirtschaftlich erfolgreiches Programm gestalten könne. Mit einer zunehmend
stark empfundenen Unübersichtlichkeit des Marktes und der Zielgruppen des Verlags-
programms, ging man auch im dtv dazu über, Marktanalysen in die Programmentschei-
dungen einfließen zu lassen. So reflektiert Balk im Interview die derzeitigen Möglich-
keiten, ein Programm nach eigenem Gusto zu erstellen und verwirft sie mit einem
Sachzwangargument:
Man kann immer weniger nach seinen eigenen Vorstellungen ein Programm machen. Wenn
ich ein Programm machen würde nur nach meinen persönlichen Interessen, würde ich sehr
schnell wahrscheinlich den Verlag gegen die Wand fahren, hätte aber vielleicht die Feuilletons
auf meiner Seite. Das ist eine bittere Erkenntnis, aber zu der muss man kommen. Es wäre un-
verantwortlich, einen literarischen Verlag zu gestalten, der ausschließlich den eigenen Intenti-
onen entspricht, das könnte man höchstens mäzenatisch machen. Das konnte man vor vierzig,
fünfzig Jahren noch eher.436
Der dtv hat sich also in zweierlei Hinsicht von seiner anfänglichen Verlagsphilosophie
wegbewegt. Zunächst einmal ist der Qualitätsbegriff, obgleich er noch immer stark die
Verlagsidentität prägt, nach Friedrichs Weggang von der Einteilung in (legitime) Hoch-
kultur und (illegitime) Populärkultur losgelöst worden: Als Qualität gilt nun vor allem
Editionsqualität – und das in jeder Sparte des erweiterten Programms. Dann wird eine
Pluralität im Verlagsprogramm nicht mehr nur dadurch erzeugt, dass in inhaltlich ver-
434
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
435
Ebd.
436
Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.
138 Der Deutsche Taschenbuch Verlag
437
Ebd.
Die Profilbildung und Markenbildung des dtv 139
In diesem Kapitel soll die Entstehung und Entwicklung des dtv-Programms in seinen
Grundzügen von seinen Anfängen bis in die jüngste Vergangenheit nachvollzogen wer-
den.
Dabei geht es zunächst um die unterschiedlichen Konstituenten des dtv-Programms,
seine Voraussetzungen und verschiedene Rücksichten, die für die Programmerstellung
eine Rolle spielen. Einige Aspekte fanden bereits in den vorigen Kapiteln Erwähnung,
werden nun aber hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Programmgestaltung vertiefend
interpretiert. Die Quellen für dieses Kapitel entstammen vornehmlich dem Nachlass
Friedrichs in der Bayerischen Staatsbibliothek München und dem Verlagsarchiv im
Deutschen Taschenbuch Verlag: Es handelt sich um Korrespondenzen und Unterlagen,
die vom Lektorat einer Projektdokumentation beigeordnet wurden, also um interne
Quellen. Somit werde ich mich in den Auswertungen aus publikationsrechtlichen Grün-
den schwerpunktmäßig auf die weiter zurückliegenden Programmentscheidungen be-
ziehen. Neben dieser historischen Schwerpunktsetzung gibt es auch eine inhaltliche
Gewichtung, die durch mein Interesse an den Korrelationen von Verlagshandlungen und
Kanonisierung begründet sind: Ich werde in dieser Darstellung vorrangig das literari-
sche Programm des dtv in den Blick nehmen, und hier vor allem das deutschsprachige
Segment. Ausnahmen werde ich vor allem dort machen, wo sie sachlich erzwungen
sind. So werden z. B. auch die dem Wissenschaftslektorat zugeordneten literaturwissen-
schaftlichen Werke und Anthologien Eingang in die Betrachtung finden. Außerdem
werde ich in Einzelfällen die programmatische Einbindung von Übersetzungen und
Sachbüchern untersuchen. Diese Entscheidung ist von Fall zu Fall unterschiedlich mo-
tiviert. Einerseits kann die Blickfelderweiterung auf die Entwicklung der Übersetzungen
und Sachbücher deutlicher als die strikte Beschränkung auf die deutschsprachige Litera-
tur Tendenzwenden in der Programmgestaltung aufzeigen. Zudem gelten für diese Pro-
grammbereiche teils gleiche Bedingungen pragmatischer und finanzieller Art. Diese
können nur durch die vergleichende Behandlung unterschiedlicher Programmsegmente
als durchgängig festgestellt werden.
140 Wie das Programm entsteht
4.1.1 Gesellschafter
Friedrich ließ als geschäftsführender Gesellschafter für das erste Programm von den
anderen Gesellschaftern Listen mit möglichen Titeln für den dtv erstellen. Auf den Lis-
ten sind diejenigen Titel verzeichnet, die sich im Originalverlag besonders gut verkauft
haben, so dass von einer lukrativen Zweitverwertung ausgegangen werden kann. Die
Gesellschafter profitieren in zweifacher Hinsicht vom dtv. Übernimmt er eine Lizenz
von ihnen, dann erhalten sie die Lizenzgebühr, oftmals mit garantierter Mindestauflage.
Außerdem erhalten sie als Gesellschafter Anteile am Gewinn des Unternehmens dtv.
Somit haben die beteiligten Hardcoververlage zwei Interessen, die auch gegeneinander
laufen können: Kurzfristig verspricht eine Lizenzübernahme aus ihrem Programm den
garantierten Erlös der vom dtv gezahlten Lizenzsumme. Langfristig jedoch haben die
Gesellschafterverlage das Interesse, den dtv vornehmlich mit Titeln zu versorgen, die
den Rentabilitätspunkt übersteigen, da sie als Gesellschafter an den Gewinnen des dtv
beteiligt sind und zudem das Vertrauen in eine synergetische Zusammenarbeit stabili-
sieren möchten.
Auf den Titellisten der Gesellschafter, die Ende des Jahres 1960 eingegangenen sind,
markieren Friedrich und vermutlich auch Bienek, welche Titel sie für die ersten Ta-
schenbuchprogramme in Erwägung ziehen. Manche der Aufstellungen weisen die Notiz
‚später‘ auf oder sind mit einem Vermerk ‚prüfen‘ versehen. Abbildung 5 zeigt eine
Anlage zu einem Schreiben des Piper Verlags an Friedrich im Dezember 1960 (Abb. 5).
Hans Rössner kommentiert im Brief:
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 141
Aufgeführt sind – nach einer ersten Übersicht – alle in absehbarer Zeit lizenzfähigen Titel, da-
bei wurden die gekennzeichnet, die zur Zeit noch unter einer auslaufenden Lizenz stehen.
Weiterhin haben wir gekennzeichnet, welche Titel erst später in Frage kommen und schliess-
lich sind die Titel mit Sternchen versehen worden, die wir für den Start ganz besonders geeig-
net finden.438
Abb. 5: Blatt 2 einer dreiseitigen Liste lizenzfähiger Titel des Piper Verlags, 1960 [Kopie]. (Quelle:
Brief von Hans Rössner [Piper Verlag] an Heinz Friedrich, 16. 12. 1960, Archiv dtv.)
438
Brief von Hans Rössner [Piper Verlag] an Heinz Friedrich, 16. 12. 1960, Archiv dtv.
142 Wie das Programm entsteht
Auf diesem Dokument sind die maschinenschriftlichen Hinweise im Piper Verlag vor-
genommen worden, die handschriftlichen Zusätze im dtv getätigt. Die Notiz oben auf
Blatt Nr. 2 bezieht sich auf Jaspers Die Atombombe und die Zukunft des Menschen.
„Auszug“ bedeutet, dass der Text in der Taschenbuchausgabe gekürzt erscheinen wird,
was angesichts der einheitlichen Preiskategorien, die wiederum zur Vereinheitlichung
der Buchumfänge führten, eine übliche Praxis war. „75 000 Garantie“ meint die dem
Lizenzgeberverlag zugesicherte Erstauflage von 75.000 Exemplaren, die mit jeweils
„14 Pfennig“ an den Lizenzgeber vergütet werden.
Ein anderes Beispiel bietet die Liste vom Kösel Verlag. Abbildung 6 zeigt einen
Auszug (Abb. 6).
Abb. 6: Blatt 2 einer dreiseitigen Liste lizenzfähiger Titel des Kösel Verlags, 1960. (Quelle: Brief des
Kösel Verlags an Heinz Friedrich, 07. 11. 1960, Archiv dtv.)
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 143
Tabelle 1: Lizenzgeber der ersten 40 Nummern im ersten dtv-Programm September 1961 bis März
1962 (fett: Originalausgaben des dtv; fett kursiv: Lizenzen von Nicht-Gesellschafterverlagen)
Nr. Autor Titel Lizenzgeber
1 Böll, Heinrich Irisches Tagebuch Kiepenheuer & Witsch
2 Yourcenar, Marguerite Ich zähmte die Wölfin Deutsche Verlags-Anstalt
3 Sieburg, Friedrich Nur für Leser Deutsche Verlags-Anstalt
4 Morgenstern, Christian Palmström Insel
5 Marshall, Bruce Auf Heller und Pfennig Jakob Hegner Verlag GmbH
6 Andres, Stefan Der Knabe im Brunnen Piper Verlag GmbH
7 Jaspers, Karl Die Atombombe und die Zukunft … Piper Verlag GmbH
8 Das Urteil von Nürnberg 1946 Originalausgabe
9 Gary, Romain Die Wurzeln des Himmels Piper Verlag GmbH
10 Roth, Eugen Ernst und heiter Carl Hanser Verlag
11 Babel, Isaak Budjonnys Reiterarmee Walter Verlag
12 Spengler, Oswald Jahre der Entscheidung C.H. Beck
13 Kippenberg, Anton (Hrsg.) Deutsche Reden und Rufe Insel
14 Littmann, Enno Arabische Märchen Insel
15 Waggerl, Karl Heinrich Brot Insel
16 Heinrich, Willi Das geduldige Fleisch Deutsche Verlags-Anstalt
17 Ortega y Gasset, José Der Mensch und die Leute Deutsche Verlags-Anstalt
18 Hering, Gerhard F. (Hrsg.) Meister der deutschen Kritik 1 Originalausgabe
19 Wolfe, Thomas Briefe an die Mutter Nymphenburger Verlagsh.
20 Thoma, Ludwig Jozef Filsers Briefwexel Piper Verlag GmbH
21 Timmermans, Felix Franziskus Insel
22 Lagerlöf, Selma Nils Holgerssons schönste Abent… Nymphenburger Verlagsh.
23 Friedell, Egon Aufklärung und Revolution C.H. Beck
24 Schirmer-Imhoff, R. (Hrsg.) Der Prozeß der Jeanne d’Arc [Köln: Bachem Verlag]
25 Belyi, Andre Petersburg Insel
26 Montherlant, Henry De Die jungen Mädchen Kiepenheuer & Witsch
27 Bernanos, Georg Die tote Gemeinde Jakob Hegner
28 Frenzel, Herbert A. Daten Deutscher Dichtung 1 Kiepenheuer & Witsch
29 Normann, Käthe von Ein Tagebuch aus Pommern Originalausgabe
30 Hlasko, Marek Der achte Tag der Woche Kiepenheuer & Witsch
31 Gide, André Der schlechtgefesselte Prometheus Deutsche Verlags-Anstalt
32 Morgan, Charles Herausforderung an Venus Deutsche Verlags-Anstalt
33 Cartier, Raymond Europa erobert Amerika Piper Verlag GmbH
34 Malvezzi, Piero Letzte Briefe zum Tode Verurteilter Zürich: Steinberg
35 Silone, Ignazio Das Geheimnis des Luca Kiepenheuer & Witsch
36 Brecht, Bertolt Frühe Stücke Suhrkamp Verlag
37 Kraus, Karl Literatur und Lüge Kösel Verlag
38 Guardini, Romano Christliches Bewusstsein Kösel Verlag
39 Schwab-Felisch, H. (Hrsg.) Der Ruf Originalausgabe
40 Carossa, Hans Der Arzt Gion Insel
144 Wie das Programm entsteht
Der dtv hatte zu Anfang vor allem darauf zu achten, dass das Programm vielseitig war
und sich keiner der Gesellschafter benachteiligt vorkam. In den Korrespondenzen fin-
den sich häufig Beschwerden der Gesellschafter an den dtv wegen einer vermeintlichen
Vernachlässigung des eigenen Verlagsprogramms bei der Lizenzübernahme. Die Über-
sicht in Tabelle 1 weist die dtv-Bände des ersten Programms September 1961 bis März
1962 samt Lizenzgeber aus (Tab. 1).
Für das erste dtv-Programm ergibt sich damit eine Aufteilung der Lizenzen wie in
Abbildung 7 (Abb. 7):
Abb. 7: Anteil der Titel in der Allgemeinen Reihe im ersten dtv-Programm September 1961 bis März
1962 nach Gesellschafter-/Nicht-Gesellschafterverlagen und Originalausgaben in Prozent
Abb. 8: Anteil der von Gesellschaftern übernommenen Titel in der Allgemeinen Reihe im ersten dtv-
Programm September 1961 bis März 1962 nach Lizenzgebern in Prozent
ten Fremdlizenzen und Originalausgaben sind, mit Ausnahme der Brechtstücke, in der
Serie dtv Dokumente platziert, die später als eigene Reihe weitergeführt wird. Die Titel
sollen „Dokumente und Daten der Historie, der Zeitgeschichte, der Literatur, der Kunst-
und Geisteswissenschaft mit authentischen Texten und Kommentaren“ vorstellen.440 In
diesem Anliegen überschneiden sie sich nicht mit den Programmen der Gesellschafter,
die neben neuerer Belletristik und Klassiker-Ausgaben vielfach geistesgeschichtliche
Essayistik bieten, aber weniger die zeitgeistresistentere Präsentation von Quellentexten.
Die Titel der Allgemeinen Reihe bildeten mit der Goethe-Ausgabe also den Auftakt
des dtv Programms. Für das folgende Programm ab April 1962 war aber bereits vor der
angeführten Teile unseres Programms sich zu einer Konzeption zusammenfügen, die nicht vor-
dringlich auf Lizenzverwertung abgestimmt ist, sondern die eigenständige verlegerische Ini-
tiative betont. Dieser Eigenständigkeit entspricht auch die Tatsache, daß der Deutsche Taschen-
buch Verlag nicht nur Bücher der angeschlossenen Gesellschafterverlage veröffentlicht, sondern
darüberhinaus Lizenzen von Verlagen erwirbt, die nicht zum Kreis der Gesellschafter gehören.
Nur dadurch wird es möglich, das Programm vielfältig auszubauen und ihm ein eigenes Gesicht zu
geben.“ [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Walter Böckmann [Littera-Informationen],
01. 03. 1962, BSB Ana 655.
440
Verlagsankündigung von 1961, zit. n. 30 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag 1961–1991. Daten
– Bilder – Bücher. München 1991, S. 35.
146 Wie das Programm entsteht
441
In der Verlagskorrespondenz finden sich häufig Hinweise von Autoren, Studenten, Hochschulleh-
rern, Buchhändlern oder anderen dtv-Lesern, die den dtv um die Veröffentlichung von ihnen
hochgeschätzter, zur Zeit nicht lieferbarer Titel bitten. Die meisten dieser Bitten werden von
Friedrich abschlägig beantwortet. Damit stellen seine Antwortschreiben einen wichtigen Fundus
für eine Programmanalyse via negationis dar. In anderen Fällen nimmt er die Anregung dankend
auf. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn ihm der Hinweis sofort einleuchtet, zum anderen und
häufiger dann, wenn die Quelle ihm besonders vertrauenswürdig erscheint.
442
Brief von Heinrich Böll an Heinz Friedrich, 25. 01. 1965, BSB Ana 655. Friedrichs Zusage, sich
um Salinger zu bemühen, folgt umgehend. In: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hein-
rich Böll, 29. 01. 1965, BSB Ana 655.
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 147
nur die „Rosinen aus dem Kuchen picken“.443 Im Falle der Werke von Klaus Mann wird
deutlich, dass das Programm auch in seinen schwächer verkäuflichen Titeln von den
Gesellschaftern bestimmt sein kann. In einem Briefwechsel zwischen dem dtv und der
Nymphenburger Verlagshandlung im Februar 1966 empört sich Friedrich:
[W]ir übernahmen seinerzeit den Roman ‚Alexander‘ von Klaus Mann, dessen Absatzchancen
wir keineswegs rosig beurteilten, im Hinblick auf die spätere Disposition eines gängigeren
Klaus Mann-Titels, und wir ließen keinen Zweifel daran, daß der ‚Mephisto‘ zu diesen gängi-
geren Titeln zähle. Stattdessen vergibt nun die Nymphenburger Verlagshandlung ohne vorhe-
rige Rückfrage bei uns den ‚Mephisto‘ an die Konkurrenz und ignoriert damit zugleich die
Tatsache, daß wir durch unser Votum für den ‚Alexander‘ bereits eine gewisse moralische
Vorleistung in Sachen Klaus Mann erbracht haben.444
Bereits 1966 also muss der dtv angesichts der Mitbewerber für Lizenzen um die Gunst
seiner Gesellschafter werben. Im Folgenden soll diese Konkurrenzsituation in ihren
Konsequenzen für die Programmstruktur dargestellt werden.
4.1.2 Konkurrenz
Da der dtv sich 1961 auf dem Taschenbuchmarkt etabliert, ist er von vorneherein von
einer starken Konkurrenz umgeben. Die hauseigenen Jubiläumsschriften des dtv bekräf-
tigen stets rückblickend: „Ende der Fünfzigerjahre waren die großen Taschenbuchverla-
ge bereits etabliert, und die Taschenbuchwelt schien aufgeteilt.“445 Fischer und Rowohlt
stellen zunächst die wichtigsten Konkurrenzunternehmen dar. Gerade im Hause Fischer,
wo Friedrich von 1956 bis 1959 Leiter des Taschenbuchbereichs, der Fischer Bücherei,
war, empfindet man den Zusammenschluss von elf starken Verlagen im dtv als beängs-
tigende Konkurrenz und Friedrichs Entscheidung, den neuen Verlag zu leiten, als Ver-
trauensbruch. Der Wettbewerb auf dem Taschenbuchmarkt wird auch darum als so
scharf empfunden, weil er sich nicht nur auf den Absatz, sondern auch auf den Einkauf
der Lizenzen auswirkt. Das Selbstverständnis Bermann Fischers als Verleger verdeut-
licht, weshalb gerade das Unternehmen dtv mit dem Fischer Verlag konkurrierte:
Sowohl bei den amerikanischen Taschenbüchern als auch bei der inzwischen erfolgreich arbei-
tenden rororo-Serie hatte man sich damals zunächst auf Unterhaltungsliteratur beschränkt. Ich
hatte ehrgeizigere Vorstellungen. […] Mein Wunsch, eine Taschenbuchserie von hohem Ni-
veau zu schaffen, aus den Taschenbüchern mehr zu machen als nur eine Serie billiger Nach-
443
So ein gängiges Vorurteil über die Lizenzpolitik des dtv, auf das auch Gollhardt rekurriert, zit. n.:
Gollhardt, Heinz: Taschenbücher. In: Arnold, Heinz L. (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland.
Stuttgart, München, Hamburg 1971, S. 117–134, hier: S. 122.
444
Briefwechsel zwischen dtv und Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, 08. 02.–17. 02. 1966, hier:
Brief von Heinz Friedrich an Berthold Spangenberg [Nymphenburger Verlagsbuchhandlung],
08. 02. 1966, Archiv dtv.
445
30 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag 1961–1991. Daten – Bilder – Bücher. München 1991,
S. 8.
148 Wie das Programm entsteht
drucke bereits erschienener Romane, kam – wie sich bald zeigte – dem Verlangen einer gro-
ßen, unabschätzbaren Leserschaft entgegen.446
Die hier zitierte Darstellung Bermann Fischers entspricht weitgehend den Vorstellungen
von Friedrich. Dieser hat den Vorteil, bei dem gleichen Ziel wie Fischer mit einem
ungleich größeren Titelreservoir und mit der ökonomischen Stärke der Gesellschafter-
verlage im Rücken auf den Markt zu kommen. Zudem hat er aus den Erfahrungen, die
er als Leiter der Fischer Bücherei sammeln konnte, gelernt: Er kennt die Strukturen und
Strategien bei Fischer und kann die dort gemachten Fehler vermeiden.447 Maria Fried-
rich berichtet im Interview von den Folgen der Konkurrenzsorgen im Fischer Verlag.
Sie bezieht sich auf einen Brief, den sie von Bermann Fischer erhielt, als sich das Ge-
rücht um die Neugründung des dtv erhärtete:
Dann bekam ich einen Brief von Bermann Fischer, der dringend davon abriet [dass Heinz
Friedrich Verleger und Mitgesellschafter des dtv werde; EK] […].
‚Wir beim Fischer-Verlag werden diese Konsequenz als Freundschaftsbruch empfinden. Das
möchten wir Ihnen ganz klar sagen, unsere Freundschaft ist zu Ende, wenn Ihr Mann das
macht.‘ Und ich hatte diesen Brief in der Tasche, der war zentnerschwer, dieser Brief. Ich bin
damit nach Bremen gefahren [wo Heinz Friedrich zu dieser Zeit Programmdirektor von Radio
Bremen war; EK] und habe meinen Mann dringend gebeten, noch einmal Bedenkzeit zu neh-
men.448
Friedrich ließ sich bekanntermaßen nicht beirren und nahm die Aufkündigung der
Freundschaft in Kauf.449 Die hier geschilderte Reaktion des Fischer Verlags verdeut-
licht, dass man einen starken Konkurrenzverlag als existentielles Risiko wahrnahm oder
zumindest die Umsatzeinbußen sehr hoch veranschlagte.
Die Wettbewerbssituation auf dem Taschenbuchmarkt hat die unmittelbare Konse-
quenz, dass die Verlage eigene programmatische Schwerpunkte herausarbeiten. Vor
allem im Bereich der gemeinfreien Autoren und im themenorientierten Sachbuch spielt
dies eine Rolle – im Bereich der verlagsrechtlich gebundenen Autoren gibt es keine
Wettbewerber, solange sich die Verlage selbst um die Pflege ihrer Autoren kümmern.450
446
Bermann Fischer, Gottfried: Bedroht – bewahrt. Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1967,
S. 387f.
447
Besonders gilt dies für die Reihe Exempla Classica, die ich im Zusammenhang der Klassikerediti-
onen im dtv betrachten möchte (Punkt 5.2.3).
448
Interview mit Maria Friedrich [Verlagsleitung dtv junior, Ehefrau Heinz Friedrich], 15. 03. 2007.
449
Die Drohgebärde hatte kurzfristig zur Folge, so Maria Friedrich, dass es den Mitarbeitern des
Fischer Verlages auf der gerade eröffneten Buchmesse untersagt war, mit den Mitarbeitern des neu
gegründeten dtv Kontakt aufzunehmen. Das normalisierte sich jedoch schnell wieder. Spätere
Korrespondenzen zwischen Friedrich und dem Fischer Verlag weisen darauf hin, dass sich die
Wogen glätten ließen, als sich herausstellte, dass die Verlage nebeneinander bestehen konnten.
(Vgl. Ebd.)
450
Auf die Anregung von Walter Müller-Seidel, Arthur Schnitzlers Werk im dtv zu verlegen, muss
Friedrich bedauernd auf die Lizenzsituation verweisen: „Mit Ihnen bin ich der Meinung, daß die-
ser österreichische Dichter in diesen Jahren eine Renaissance erleben wird – und zwar eine wohl-
verdiente. Aber nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch aus persönlicher Sympathie für das
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 149
So konnte etwa der dtv keine weitere Einzeltitel-Serie bekannter Klassiker anbieten, da
schon Rowohlt und Goldmann auf diesem Gebiet tätig waren. Auch musste der dtv
Vorhaben aufgeben, wenn diese in ähnlicher Form von anderen Verlagen realisiert wor-
den waren: Der Plan einer „ersten Bibliothek“, einer Serie Weltliteratur für Jugendliche,
die Friedrich mit dem Hegner Verlag 1963 angedacht hatte, wird aufgegeben, als Fried-
rich von der Kid-Bücherei des Obpacher Verlags erfährt, die der eigenen Konzeption zu
nahe kommt.451
Erfolge der Konkurrenten können im Allgemeinen auch rückwirken auf den Erfolg
des eigenen Programms, indem sie die Aufmerksamkeit des Publikums oder der Feuille-
tons auf bestimmte Themenkomplexe oder Literaturen einzelner Länder lenken. Fried-
rich jedoch fürchtet in diesen Fällen um das Pionierimage seines Verlags und vermeidet
es, sich an den Erfolg anderer Taschenbuchkonzepte anzuhängen. Auf ein Angebot des
Atrium Verlags, russische Literatur zu verlegen, reagiert er 1962 ablehnend mit dem
Hinweis auf sein Bestreben, „möglichst singuläre Ausgaben vorzustellen“:
Gegenwärtig ist in Deutschland eine nicht ganz unproblematische Russen-Schwemme zu be-
obachten, die nicht zuletzt von der Firma Goldmann kräftig genährt wird. Jeder Taschenbuch-
Verlag, der einen russischen Titel herausbringt, wird sofort (da die meisten Rechte frei sind)
von Goldmann konkurriert.452
Mit ähnlichen Argumenten versperrt er sich 1983 zunächst der Publikation von Helmut
Hiller: Die Geschäftsführer Gottes als eines weiteren Papst-Titels:
Wir haben damals tatsächlich wegen des Überangebots an Papst-Büchern das Lizenzangebot
in Sachen Hiller abgelehnt – und zwar aus Gründen, die jetzt noch stichhaltig sind. Wir haben
nicht nur das Buch von Hiller abgelehnt, sondern alle Titel betreffenden Inhalts, und zwar un-
abhängig von deren Qualität. Schwemmen sind immer mißlich; man kann darin auch wegge-
spült werden.453
Werk Schnitzlers würde ich liebend gern eine Edition in unserem Programm veranstalten – allein:
mir sind die Hände gebunden; denn die Rechte für Schnitzler liegen beim S. Fischer Verlag und
dieser verfügt über eine eigene Taschenbuchreihe, in der er seine eigenen Rechte unterbringt.“
([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Walter Müller-Seidel, 25. 04. 1966, BSB Ana 655.)
451
Brief von Heinz Friedrich an Peter Bachem [Hegner Verlag], 09. 07. 1963, Archiv dtv.
452
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Kurt L. Maschler [Atrium Verlag], 09. 05. 1962, BSB
Ana 655.
453
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Helmut Hiller, 29. 12. 1983, BSB Ana 655. 1986 wird
Hillers Studie schließlich doch verlegt (Hiller, Helmut: Die Geschäftsführer Gottes. Eine kritische
Geschichte der Päpste. München 1986.).
150 Wie das Programm entsteht
Cocteaus Opium. Ein Tagebuch muss verschoben werden, da die Herausgabe bereits im
Kurt Desch Verlag geplant ist. An Desch schreibt Friedrich 1964 „betrübt“ über die
Nachricht, dass der dtv nun doch nur eine Zweitverwertung bieten könnte: „Ihr Plan,
vorher eine Buchausgabe zu veranstalten, verändert natürlich die Situation und mindert
unser Interesse“ und schließt an: „– es sei denn, Sie beabsichtigen eine teure Editi-
on.“454 So erschien Cocteaus Werk 1966 im Hardcover bei Desch, 1968 als Taschen-
buch in der Sonderreihe.
Konnte sich der dtv in der bestehenden Marktlandschaft profilieren, ohne dass die
großen Konkurrenzverlage verdrängt wurden, verschärfte sich seine Situation erstmalig
1963 in zweifacher Hinsicht. In diesem Jahr tritt der Verlag Droemer Knaur ins Ta-
schenbuchgeschäft ein mit einer damals immensen Startsumme von 1,1 Millionen
DM.455 Der Verlag konnte damit im Werben um Lizenzen den dtv durch unerreichbare
Höchstgebote ausstechen und erlangte damit u.a. die Taschenbuchrechte für Bölls Bil-
lard um halb zehn vom dtv-Gesellschafter Kiepenheuer & Witsch. Außerdem startet
1963 die Edition Suhrkamp. Durch seine hochliterarische Ambition und seine persönli-
chen Verbindungen zu Gegenwartsautoren, stellt Suhrkamp unter Siegfried Unseld eine
direkte Konkurrenz im Werben um Lizenzen und Buchkäufer dar. Überdies erwirbt er
1963 den Insel Verlag, und damit, wie die Auswertung im Diagramm (Abb. 8) zeigt,
einen der wichtigsten Lizenzgeber des dtv. Der dtv reagiert auf Betreiben anderer Ge-
sellschafter mit dem Ausschluss des Insel Verlags aus dem Gesellschafterverhältnis, da
er nun an einem Unternehmen beteiligt ist, das seinerseits Taschenbücher herausgibt,
nämlich an der Edition Suhrkamp.456 In Walter Boehlich findet Friedrich einen Korres-
pondenzpartner, der den intellektuellen Austausch mit ihm über das Verlegergeschäft
und die Geschehnisse im Literaturbetrieb sucht, und an den Friedrich 1970 schreibt,
„dass wir in unseren Anschauungen und Urteilen so weit nicht voneinander entfernt
454
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Kurt Desch [Verlag Kurt Desch], 24. 06. 1964, BSB
Ana 655.
455
Diese Summe kolportiert Gollhardt, Heinz: Taschenbücher. In: Arnold, Heinz L. (Hrsg.): Litera-
turbetrieb in Deutschland. Stuttgart, München, Hannover 1971, S. 117–134, hier: S. 122.
456
Wie es zum Ausschluss des Insel Verlags kam, ist nicht dokumentiert, allerdings weist ein Schrei-
ben von Walter Boehlich darauf hin, dass der Insel Verlag forciert durch zwei Hardcoververleger
ausgeschlossen werden sollte: „Der Affront muss für Suhrkamp grösser sein als für die Insel, da
man die Insel nicht um der Insel, sondern um Suhrkamps willen hinausgeschmissen hat (auf
Betreiben, offensichtlich, zweier Leute, die die Insel selbst gern gehabt hätten).“ (Brief von Walter
Boehlich an Heinz Friedrich, 26. 03. 1963, BSB Ana 655.) Die Vertragsklausel des dtv-Gesell-
schaftervertrags lautet bis 1970 wie folgt: „§ 13: (1) Die Gesellschafter dürfen weder selbst noch
durch andere Taschenbuchreihen herausgeben. (2) Sie dürfen sich ferner weder mittelbar noch
unmittelbar an einem Unternehmen beteiligen oder Beteiligung von Unternehmen an ihrem eige-
nen Verlage zulassen, die selbst Taschenbücher herausgeben oder an denen ein Taschenbuchver-
lag beteiligt ist.“ Der zweite Absatz des Paragrafen sollte 1970 in der Gesellschafterversammlung
auf Betreiben des Kösel-Verlages gemildert werden. Daraufhin wurde der letzte Halbsatz gestri-
chen: „oder an denen ein Taschenbuchverlag beteiligt ist.“ (Brief von Heinrich Wild [Kösel-
Verlag] an Heinz Friedrich, 10. 06. 1970, Archiv dtv.)
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 151
sind, wie man aus leichtfertiger Einschätzung unserer beiderseitigen Positionen anneh-
men könnte“457. Boehlich ist von 1956 bis zum ‚Lektorenaufstand‘ 1968 Cheflektor im
Suhrkamp Verlag. Anlässlich der Aufkündigung des Gesellschafterverhältnisses für den
Insel Verlag wendet er sich bestürzt in einem Privatbrief an Friedrich:
Wäre Überlegung am Werk gewesen und nicht Affect, hätte man sich sagen müssen: jetzt ha-
ben wir, indirect, Suhrkamp, den wir ganz gern als zwölften Neger gesehen hätten, doch. Min-
destens über Unseld muss Suhrkamp daran interessiert sein, dass ein Unternehmen, an dem die
Insel beteiligt ist, blüht und gedeiht. Also: wichtige Lizenzen zunächst und vor allem an den
DTV. So hätte Unseld doch denken müssen. Und daher auch die Gesellschafter des DTV.
Während es dem Suhrkamp Verlag jetzt so gut wie unmöglich gemacht ist, scheint mir, Ihnen
Lizenzen wie bisher zu geben.458
Boehlichs Prognosen bewahrheiten sich: Einerseits die Gründung der Edition Suhr-
kamp, andererseits der Verlust eines der wichtigsten Lizenzgeber für Belletristik, des
Insel Verlags, bedeuten für den dtv eine Zäsur.
Mit dem stetigen Zuwachs an Konkurrenz und dem damit verbundenen Absinken der
garantierten Auflagenhöhen seit den 1960er Jahren wird die Konkurrenz der Taschen-
buchverlage zur omnipräsenten Tatsache, die eigene Programmvorhaben nicht mehr
zwangsläufig unmöglich macht. In der heutigen Verlagspolitik sind nicht mehr ganze
Themengebiete oder Sprachräume für das Engagement des dtv dadurch gesperrt, dass
auch andere Verlage sich um sie bemühen. Vielmehr versucht man im dtv die Konkur-
renz durch die Qualität oder den niedrigeren Preis zu überrunden.
457
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Walter Boehlich, 18. 02. 1970, BSB Ana 655.
458
Brief von Walter Boehlich an Heinz Friedrich, 26. 03. 1963, BSB Ana 655.
152 Wie das Programm entsteht
in unseren Reihen nicht die rechte Nachbarschaft für einen Titel dieser Art. Er stünde ziemlich
vereinzelt (und damit auch verloren) zwischen den übrigen Editionen, und die Erfahrung lehrt,
dass ein solcher Einzelgänger seine Papiertage vorwiegend in Lagerhallen und nicht in den
Händen der Leser verbringt.459
In diesem zweiten Fall wird die Kontinuität der Reihe über qualitative Kriterien herge-
leitet, im ersten über die Typisierung. Ob das Reihenzwangargument mehr höfliche
Camouflage oder tatsächliche verlegerische Rücksicht ist, und damit selektierende
Funktion für die Programmzusammenstellung hat, lässt sich anhand der Quellen letzt-
lich nicht entscheiden – die sonstige Diversität des dtv-Programms, auf die später
(Punkt 4.1.6) noch näher eingegangen werden soll, legt jedenfalls nahe, dass das Rei-
henzwangargument auch als höfliche Form einer anders begründbaren Absage dient.
Über diese anzweifelbaren Einschränkungen des Handlungsspielraums hinaus, liegen
für das Taschenbuch Besonderheiten seiner Rentabilität vor, die sich aus der Kalkulati-
on für diesen Buchtyp ergeben.
Anders als das Hardcover muss das Taschenbuch, vor allem in den 1950er und
1960er Jahren, eine hohe Auflage eines Titels absetzen, damit dieser ökonomisch er-
folgreich ist. Die folgende Erklärung, mit der Friedrich die Absage einer Erstausgabe im
dtv kommentiert, rekurriert auf diesen Zwang:
Ein Taschenbuchverlag wie der unsere lebt nämlich auf dem Gebiet der Belletristik aus zwei-
ter Hand – das heisst: er übernimmt nur Lizenzen von bereits erschienenen Büchern. Diese
Haltung entspringt nicht etwa Ignoranz gegenüber literarischen Erstlingen oder weniger be-
kannten Autoren, sondern sie resultiert aus der Tatsache, dass wir von vornherein hohe Aufla-
gen vorsehen müssen. Diese hohen Auflagen können nur gewagt werden, wenn ein ‚vorge-
wärmtes‘ Interesse der Leserschaft vorausgesetzt werden darf.461
Verstärkt wird dieses Selektionsmerkmal dadurch, dass der dtv anfangs keine Werbung
für einzelne Titel veranstaltet.462 Da die Buchhändler die Ausgaben über den Fortset-
459
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Guenther Oesterreich, 10. 04. 1970, BSB Ana
655.
460
Brief von Heinz Friedrich an Josef Rast [Walter Verlag], 30. 06. 1969, Archiv dtv.
461
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Friedel Schreiber, 23. 10. 1972, BSB Ana 655.
462
An Hans M. Jürgensmeyer vom Hegner Verlag gibt Friedrich denn auch die auf ein Weihnachts-
buch von Charly Clerc (Der Herbergswirt verteidigt sich) bezogene Rückmeldung: „Da wir nun
keine herausstellende Werbung für einen Einzeltitel veranstalten können (mithin auch keine Mög-
lichkeit haben, das Publikum speziell auf diesen Band hinzuweisen) müssen wir befürchten, daß
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 153
zungsbezug erhalten und nicht für einzelne Titel optieren, konzentrieren sich die Wer-
beanstrengungen des Verlags auf das Verlagsimage und ganze Reihen. Neben der Wer-
bung fällt der Sonderstatus der Taschenbücher auch in den Buchbesprechungen des
Feuilletons ins Gewicht. Groth berichtet:
Damals wurden Taschenbücher überhaupt nicht besprochen, und wenn Sie in der Belletristik
keine Kritik kriegen im Feuilleton, kann das Buch kein Erfolg werden. Taschenbücher wurden
so halbjährlich einmal besprochen, aber nur mit einem halben Satz jedes Buch. Wenn es über-
haupt vorkam. Die Resonanz war gleich null.463
Unter diesen Voraussetzungen ist die Auswahl der Autoren und Titel stark einge-
schränkt. Sie führen dazu, dass der dtv vor allem auf bekannte Namen setzen muss, die
den Lesern noch von der Hardcoverausgabe her im Gedächtnis sind. Autoren, die nur
einem Fachpublikum oder Spezialpublikum geläufig sind, können angesichts der gefor-
derten Auflagenhöhe nicht im Taschenbuch verlegt werden. Mit diesen Argumenten
lehnt Friedrich 1964 auch die Veröffentlichung der Werke Rudolf Naujoks ab, die vor
allem die verlorenen Ostgebiete thematisieren:
Meine im Hinblick auf Fritz von Unruh vorgebrachten Argumente gelten nicht minder für die
Bücher von Rudolf Naujok. […] Das Taschenbuch ist (man mag das bedauern) nicht das rech-
te Vehikel, um einen Autor zu einem sogenannten Comeback zu verhelfen. Weder die Presse
noch das Publikum nehmen ausreichend Notiz von einer derartigen Neuerscheinung; sie geht
hilflos in der Flut der monatlichen Taschenbuch-Produktion unter. Nur der Originalverlag hat
hier Möglichkeiten, den Autor erneut vorzustellen und ihn werbemäßig sowie publizistisch zu
unterstützen.464
Angesichts dieser Absagen darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass die hier ange-
führten Selektionskriterien absolute Geltung hätten. Vielmehr wird anhand der Verlags-
quellen deutlich, dass in Ausnahmefällen schon früh die Möglichkeit genutzt wurde,
derartige Hindernisse zu überwinden. Einen knappen Monat vor der obigen Absage
schreibt Friedrich einen Serienbrief an führende Redakteure in Rundfunk und Presse,
der die Journalisten zur Rezension der dtv-Bände motivieren soll. Allem voran geht es
ihm um die Eigenproduktionen des dtv, die noch auf keine Bekanntmachung durch die
Hardcoverausgabe eines Gesellschafters zurückschauen können:
[…] verschiedene Redaktionen haben in den letzten Wochen die Absicht geäußert, der Ta-
schenbuchproduktion, deren Bedeutung im deutschen Buchhandel vor allem im Hinblick auf
junge Leser ständig zunimmt, stärkere Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings bemerkten
zahlreiche Kollegen übereinstimmend, es sei ihnen nur unter Schwierigkeiten möglich, die
monatlichen Neuerscheinungen auf dem Taschenbuchmarkt kritisch zu sichten. Sie baten da-
die Taschenbuch-Ausgabe sich sang- und klanglos dem Fundus schwer verkäuflicher Titel ein-
gliedert.“ (Brief von Heinz Friedrich an Hans M. Jürgensmeyer [Hegner Verlag], 09. 03. 1965, Ar-
chiv dtv.)
463
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
464
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Rudolf Lenk, 20. 10. 1964, BSB Ana 655.
154 Wie das Programm entsteht
her zur redaktionellen Erleichterung um unmittelbare Zusendung der Taschenbücher, die zum
Beispiel der Deutsche Taschenbuch Verlag unter eigener redaktioneller Verantwortung her-
ausgibt oder die er als Lizenzgaben aus besonderem Grund zu akzentuieren wünscht.
Mit Vergnügen greife ich diese Anregung auf und übersende Ihnen in der Anlage zusammen
mit der Presseinformation unserer Werbeabteilung aus der Titelfolge des Monats Oktober fol-
gende Bände:
Georg Picht ‚Die deutsche Bildungskatastrophe‘ […] [aktualisiert]
Wladimir Majakowski ‚Liebesbriefe an Lilja‘ […] [deutsche Erstausgabe]
Salcia Landmann ‚Jüdische Anekdoten und Sprichwörter‘ […] [Originalausgabe]
Außerdem erlaube ich mir, Ihnen bei dieser Gelegenheit auch die ersten Bände unserer auf
20 Bände berechneten Schiller-Ausgabe auf den Tisch zu legen. Diese Edition ist identisch mit
der Dünndruckausgabe von Schillers Sämtlichen Werken, die im Carl Hanser Verlag, Mün-
chen, bereits vorliegt.465
Die Presse kann also, aufgrund sporadischer Besprechungen die oft über die Annotation
nicht hinauskommen, ebenso wenig wie die Einzeltitelwerbung ausschlaggebende
Kaufmotivation bei Taschenbuchlesern sein, wohingegen man im Hardcoververlag die
Presse als den wichtigsten Multiplikator einschätzt. Die Folge dieses Ungleichgewichts
für die Taschenbuchprogramme ist zunächst, wie oben beschrieben, vor allem in der
Beschränkung des Programms auf Titel zu sehen, die ohne die Vermittlung durch das
Feuilleton genug Attraktionswert haben und sich in ihrer Ausrichtung an eine breite
Leserschaft wenden.
Wenn jedoch die Taschenbuchverlage deutsche Erstausgaben veranstalten oder inno-
vative Originalausgaben lancieren, versichern sie sich der Resonanzverstärkung durch
die Presse und erhöhen den Werbeetat auch für Einzeltitel. Da die Taschenbuchformate
inzwischen über 26 % der Novitäten im Bereich Belletristik stellen,466 gelten die Ein-
schränkungen vor allem im Bereich der Lizenzausgaben – und auch hier mindert die
sinkende Auflagenstärke der Titel das Risiko, dass sich ein Verlag durch den mangeln-
den Erfolg einzelner Projekte existenziell schadet. Somit können auch Titel ins Pro-
gramm übernommen werden, die in der Presse voraussichtlich weniger präsent sind.
4.1.4 Backlist
Der dtv lebt, vor allem in den ersten Dekaden seines Bestehens, von den Verkäufen aus
seiner Backlist, d. h. von den so genannten Longsellern, die nicht nur unmittelbaren
Absatz finden, sondern über die Gültigkeit des aktuellen Programms hinaus gekauft und
nachbestellt werden. Diese Tatsache bedingt zugleich die programmatische Stoßrich-
tung des Programms: Titel, die sich in der Backlist befinden, sind keine tagesaktuellen
465
Serien-Brief von Heinz Friedrich an führende Redakteure von Rundfunk und Presse, 24. 09. 1964,
BSB Ana 655.
466
Aktuelle Zahlen bieten die Jahrbücher Buch und Buchhandel in Zahlen, die für das Jahr 2006 den
Anteil der Taschenbücher an der Gesamtproduktion in der Sachgruppe Belletristik bei 26,3 % ver-
zeichnen. (Buch und Buchhandel in Zahlen (2007), S. 67.)
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 155
Bücher, sondern Bücher, deren Inhalt und Ästhetik ungebunden an konkrete Ereignisse
noch nach vielen Jahren von Interesse sind. Diesem Grundsatz entsprechen nicht nur die
dtv-Titel im Sachbuchbereich, wo der Verlag entweder Titel bringt, die, wie die dtv
Dokumente, um Neutralität der Darstellung bemühte Quellensammlungen sind, oder
aber Titel, die schon bei Erscheinen historisch gewordene Perspektiven darstellen. Als
ein Beispiel hierfür mag Spenglers Schrift Jahre der Entscheidung gelten, die 1933 im
C.H. Beck Verlag erstveröffentlicht wurde.
In der Außenkommunikation wird die auf Backlist-Pflege abgestellte Programmpoli-
tik des dtv der paraökonomischen Kulturpflege zugeschrieben. Im Börsenblatt formu-
liert Panskus 1981:
So hat dieser Verlag sich selten am Vabanquespiel um Lizenzen mit hohen Einsätzen beteiligt,
hat sich lieber zehn langlebige Titel als einen kurzlebigen Bestseller für das gleiche Geld ein-
gekauft. Mit dieser, von Branchenagenturen spöttisch belächelten Einkaufspolitik brachte man
eine Backlist zustande, um die andere die Mannschaft aus der Münchener Friedrichstraße nur
beneiden können.467
Neben den durchaus realen Konsequenzen der Backlist-Pflege für die literarische Land-
schaft Deutschlands ist eine gut funktionierende Lagerhaltung in den ersten Jahrzehnten
der wichtigste ökonomische Faktor des Verlags. So äußert sich Friedrich gegenüber
Piper 1969:
Wie Sie aus zahlreichen Informationen wissen, die ich der Gesellschafter-Versammlung vor-
trug, resultiert der überwiegende Anteil unseres Umsatzes aus Verkäufen der sogenannten
‚backlist‘. Das Verhältnis der Erlöse aus den Neuerscheinungen eines Monats und den Titeln
der backlist beziffert sich etwa 3 : 1, und das heißt: drei Viertel des Umsatzes kommen aus dem
Lager und ein Viertel aus der Erstauslieferung.468
In einem folgenden Brief an Piper pocht Friedrich nochmals auf die Wichtigkeit der
Backlist: „erst bei den Neudrucken wird eine Gewinnspanne erreicht, die ins Gewicht
fällt.“469 Angesichts dieser Voraussetzung wird deutlich, dass der dtv in den Anfangs-
jahren auch ökonomisch kein Interesse daran hatte, auf die schnelllebigeren Unterhal-
tungstitel oder tagesaktuellen Sachbücher zu setzen.
467
Panskus, Hartmut: Das Bewährte bewahren. Der Deutsche Taschenbuchverlag feiert sein 20jäh-
riges Bestehen. dtv hat das Medium Taschenbuch aufgewertet/Faktoren eines Erfolgs. In: Börsen-
blatt für den Deutschen Buchhandel (25. 09. 1981) Nr. 83, S. 2419 f., hier: S. 2419.
468
Brief von Heinz Friedrich an Klaus Piper [Piper Verlag], 05. 03. 1969, Archiv dtv. Der Anlass für
diesen Brief ist die beabsichtigte Befristung der Lizenzverträge durch den Piper Verlag, die Fried-
rich mit dem Hinweis auf die ökonomische Relevanz der backlist für den dtv zu verhindern ver-
sucht. Da mir leider keine buchhalterischen Vergleichsdaten vorliegen, kann ich die Richtigkeit
des angegebenen Verhältnisses „3 : 1“ nicht überprüfen. Es ist davon auszugehen, dass die Angabe
allenfalls leicht aufgerundet ist, da nach Aussage von Göbel die Bilanzen des dtv für die Gesell-
schafter einsehbar waren und der dtv nach mehrfachen Aussagen von Heinz Friedrich die Erstauf-
lagen durchaus etwas vorsichtiger kalkulierte, so dass es leicht zu Nachauflagen kam. (Interview
mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.)
469
Brief von Heinz Friedrich an Klaus Piper [Piper Verlag], 01. 04. 1969, Archiv dtv.
156 Wie das Programm entsteht
Abb. 9: Entwicklung und Verhältnis von Erstauflagen und Neuauflagen im dtv 1961 bis 1990 nach
Anzahl der verlegten Titel. (Quelle der hier zusammengestellten Daten: 30 Jahre Deutscher Taschen-
buch Verlag 1961–1991. Daten – Bilder – Bücher. München 1991, S. 33–106.)
Das Diagramm (Abb. 9) zeigt, für die Jahre 1961 bis 1990, die absolute Zahl der im dtv
verlegten Titel, aufgesplittet nach Erstauflagen und Neuauflagen. Die Bedeutung der
Backlist für den dtv wird hier ersichtlich: Bereits im Jahr 1967 hat die Anzahl der ver-
legten Neuauflagen (88) die Erstauflagen (84) dieses Jahres übertroffen. Bis zur statisti-
schen Spitze im Jahr 1989, wo 286 Erstauflagen 815 Neuauflagen gegenüber stehen,
steigt die Anzahl der Neuausgaben nahezu stetig an, wohingegen die monatlich lancier-
ten Erstauflagen mit einem Höchstwert von 338 im Jahr 1985 bei ungefähr 300 Titeln
pro Jahr stagnieren.
Der ökonomische Status der Backlist ändert sich indes im Laufe der Bestehenszeit
des dtv grundlegend. Das hängt auch damit zusammen, dass die Anfangsauflagen von
Titeln auch mit geringerer Zahl an Exemplaren rentabel werden und die Buchhandlun-
gen weniger Stellfläche für die Lagerbestände bereit halten. Laut Balks Ansicht im Jahr
2007 ist die Backlist des dtv „rein ökonomisch betrachtet eher ein Fehler“. Er wertet als
den „gewaltigste[n] Umbruch“ seiner Verlagsleitung, dass nun mehr Originalausgaben
gemacht werden und „der große Backlist-Anteil zugunsten von Neuerscheinungen ge-
schrumpft“ ist.470 Das wiederum ermöglicht eine Verschiebung des Programms von den
dauerhaften Programmbeständen in Richtung aktueller Titel.
470
Interview mit Wolfgang Balk [Verlagsleitung], 16. 03. 2007.
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 157
Für die Konturierung des Programms ist ein weiterer Bereich entscheidend, der aus
literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht unmittelbar in den Sinn kommt: der Be-
reich der Herstellung und der Gestaltung.
Wie in den Präliminarien geschildert: Erst die hohe herstellerische Qualität der dtv-
Bände ermöglicht es, Titel zu produzieren, die über einen längeren Zeitraum genutzt
werden. Herstellungsleiter Steinle resümiert: „Ich kann keine Goethe-Ausgabe machen,
die mir beim einmaligen Lesen auseinander fällt.“471 In ähnlicher Weise bedingen an-
dere herstellerische Faktoren die Selektion der Titel.
Eines der wichtigsten Auswahlkriterien der ersten dtv-Programme ist der Umfang der
geplanten Titel. Da der dtv zunächst mit nur zwei Preiskategorien arbeitete, dem Ein-
fachband und dem Doppelband, verboten sich aus kalkulatorischen Rücksichten alle
Titel, die für einen Doppelband zu viele Seiten hatten. Aus absatzstrategischen Gründen
wiederum waren diejenigen Titel ausgeschlossen, deren Umfang den Einfachband un-
terschritt. Ausnahmen konnte sich der Verlag nur dann erlauben, wenn ein Werk attrak-
tiv genug war, um die Leser zum Kauf zweier Bände oder eines sehr schmalen Bänd-
chens zu bewegen.
Die Frage etwa, welche Romane von Heinrich Mann im dtv verlegt werden, ent-
scheidet sich 1961 vor allem am Umfang. „Wie Sie wissen,“ so Friedrich an Hilde
Claassen über die Henri IV-Romane,
schätze ich das Buch ganz außerordentlich – aber ein erster Blick auf den Umfang hat mich
ohnehin stutzig gemacht, ob dieser Roman fürs Taschenbuch überhaupt verwendungsfähig ist.
Man müßte ihn zumindest in drei Teile aufteilen, um den gesamten Text unterbringen zu kön-
nen, und eine Dreiteilung ist stets eine mißliche Sache fürs Taschenbuch. Rowohlt hat mit dem
‚Schweyk‘ zum Beispiel recht trübe Erfahrungen gemacht. Anders steht es natürlich mit der
‚Kleinen Stadt‘, die sich ohne weiteres dem Taschenbuchformat anpassen läßt.472
Auch im Falle des Romans Lennacker von Ina Seidel sind die Überlegungen dokumen-
tiert. Friedrich schreibt 1965 an die DVA:
Kopfzerbrechen bereiten Sie uns mit dem Lizenzangebot Ina Seidel. Wir haben den
‚Lennacker‘ kalkuliert – mit dem Ergebnis, daß sich der Umfang noch nicht einmal in einem
Band für DM 6.80 unterbringen läßt. Die Verwendung einer kleineren Schrifttype verbietet
sich bei diesem Buch von selbst; denn kein Romanleser erträgt auf 5–6000 Seiten dieses Au-
genpulver – ganz davon abgesehen, daß wir bei Ina Seidel mit einem Leserkreis aus älteren
Herrschaften rechnen müssen, der sich ohnehin zu einem hohen Prozentsatz aus Brillenträgern
rekrutiert. Den Roman in zwei Bänden (analog zu ‚Ulysses‘ und zur ‚Strudlhofstiege‘) heraus-
471
Interview mit Fritz-Peter Steinle [Herstellung], 05. 03. 2007.
472
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hilde Claassen [Claassen Verlag], 16. 10. 1961, BSB
Ana 655.
158 Wie das Programm entsteht
zubringen, scheue ich mich; denn ich glaube nicht, daß wir im vorliegenden Fall mit dem glei-
chen Verkaufseffekt rechnen dürfen wie bei den genannten Titeln.473
Die Veröffentlichung der Gedichte von Mao Tse-tung lehnt Friedrich gegenüber Jörg
Bauer vom Verlag Hoffmann und Campe wiederum mit dem Argument ab, der Umfang
wäre zu schmal.474
Von seinem Informationsbesuch bei Penguin Books vom 17.–20. April 1962 berich-
tet Friedrich, die „Penguin-Leute“ hätten „keine Schwierigkeiten mit den Umfängen, da
sie eine weitaus differenziertere Preisstaffelung vorsehen als wir.“475 Obwohl die Ein-
schränkung des Programms durch die Umfangskalkulation immer wieder in seiner Kor-
respondenz thematisiert wird, löst sich der dtv erst 1970 von seiner Unterteilung in
Einfachbände, Großbände und Doppelbände. Er gibt sie zugunsten einer Preisgruppen-
regelung auf, die die dtv-Bände zwischen 2,80 DM und 9,80 DM staffelt. Nun ist es
möglich, seitenstarke Bücher gewinnbringend zu produzieren, da sie in der obersten
Preiskategorie platziert werden können und seitenschwache Titel ladenpreislich attrak-
tiv anzubieten.
Einen weiteren Schub an Möglichkeiten erfährt die Programmgestaltung Mitte der
1970er Jahre, als die Technik des Dünndrucks auch im Taschenbuchbereich eingesetzt
werden kann. Göbel erinnert sich im Interview:
Der Druckereileiter von Nördlingen, der so einmal im Jahr die Großkunden besuchte um Re-
verenz zu erweisen, ließ sich krachend in den Ledersessel fallen bei Friedrich im Zimmer, das
war ’76 und sagte: [Verstellen der Stimme; EK] ‚Ei, jetzt könnetmer auch Dünndruck auf der
Rolle verarbeite‘ – und dieser Satz, das kann man wirklich nachweisen, ist die Grundlage der
Dünndruckklassiker bei dtv gewesen.476
Die ersten Dünndruckausgaben im dtv wurden als solche mit einem entsprechenden
Aufdruck gelabelt, da Dünndruckpapier auch Anspruch suggeriert: Es ist bekannt als
der typische Bedruckstoff für Bibelausgaben. Erst durch die Dünndruckausgaben im
Taschenbuch konnte der dtv die Dünndruck-Klassiker der Verlage Winkler und Hanser
ins Programm nehmen und die Reihe dtv Weltliteratur erfolgreich auf dem Markt posi-
tionieren. Die Dünndrucktechnik hatte neben diesem Gewinn an Ausstattungsqualität
auch finanzielle Vorteile, da bei den Großprojekten wie z.B. dem Deutschen Wörter-
buch der Brüder Grimm im Bogendruck die Herstellungskosten und die Versandkosten
473
Brief von Heinz Friedrich an Felix Berner [DVA], 08. 12. 1965, Archiv dtv. Den Ulysses von
James Joyce brachte der dtv in seiner Sonderreihe, die Strudlhofstiege von Heimito von Doderer in
der Allgemeinen Reihe.
474
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Jörg Bauer [Hoffmann und Campe], 28. 10. 1965, BSB
Ana 655.
475
Bericht über den Informationsbesuch bei Penguin Books in London 17.–20. April 1962, unter-
zeichnet von Heinz Friedrich, 10. 05. 1962, BSB Ana 655.
476
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 159
zu hoch gewesen wären.477 Mit dem Dünndruckverfahren konnte, so Göbel, das zuläs-
sige Postgewicht eingehalten werden; erst jetzt wurde das Projekt durchführbar. Bereits
im Laufe der 1980er Jahre wurde die Dünndrucktechnik in der Außenkommunikation
des dtv weniger bedeutsam, da die Buchkäufer die Wertigkeit des Dünndruckpapiers
nicht mehr gleichermaßen schätzten. Im Jahr 2007 argumentiert Steinle pragmatisch.
„Dünndruck ist bei uns kein Marketingaspekt mehr“, so Steinle, „Dünndruck ist inzwi-
schen ein reines Hilfsmittel zur Veröffentlichung von umfänglichen Werken.“478 Am
Beispiel einer Kleist-Werkausgabe in einem Band erklärt er, dass diese Ausgabe mit
1800 Seiten nur über den Dünndruck in einem Band unterzubringen ist. Auch im Falle
von Tolstois Krieg und Frieden hat der Dünndruck die Kassette abgelöst. So werden die
Herstellungs-, Verpackungs- und Versandkosten gemindert und schließlich der Laden-
preis gesenkt. Im konkurrenzreichen Gebiet der Klassikerausgaben ist dieser Preisvor-
teil mit den herstellerischen Vorzügen ein Kriterium für die Titelwahl im Verlag, da
sich so erst die Ausgabe gegen andere, inhaltlich vergleichbare oder gleiche Ausgaben
durchsetzen kann. Der Klassiker-Boom in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren
ist nur vor dem Hintergrund der erweiterten technischen Möglichkeiten denkbar.
Die Geschenkbände, wie sie seit der Jahrtausendwende erscheinen, profitieren ebenso
von den individualisierten Herstellungsverfahren. Prägedrucke auf dem Umschlag, Zwei-
farbdruck innen und Sonderformate ermöglichen es dem dtv, Gedichtanthologien wie
Gedichte für einen Frühlingstag oder So schöne Blumen blühn für Dich eindeutig aus
dem allgemeinen Programm herauszuheben und als Geschenkbücher zu identifizieren.
War bisher von der technischen Seite der Herstellung die Rede, möchte ich nun auf
die Bedeutung der Umschlaggestaltung für die Programmzusammenstellung eingehen.
Wie bereits in den Einleitungskapiteln geschildert, wurde die Gestaltung des gesamten
dtv-Programms sowie seiner Werbemittel bis 1996 offiziell von Piatti verantwortet.
Wolff macht die einheitliche Gestaltung der dtv-Bände durch Piatti für das Scheitern
ganzer Programmbereiche verantwortlich:
Man muss in dem Zusammenhang erwähnen, dass zur Auswahl der Autoren indirekt sehr stark
auch Celestino Piatti beigetragen hat, was ich unter anderem deshalb für ein großes Unglück
gehalten habe, weil er durch seine Unfähigkeit, irgendwelche Umschläge zu machen, die
Spannung signalisierten, verhindert hat, dass wir zum Beispiel vernünftige Krimis hier machen
konnten.
Er fährt fort:
Der Grafiker ist nach meiner Erfahrung, zumindest, wenn es so einen Hausgrafiker gibt, im-
mer ein großes Problem für das Lektorat. Er [Piatti; EK] hat durch seine spezifische Optik die
477
Interessanterweise war es Böll, der Friedrich den ersten Hinweis gab: „Ich würde mich auch freu-
en, wenn Sie eines Tages das Wörterbuch der Brüder Grimm als Taschenbücher herausbringen
würden!“ schreibt er 1964: Brief von Heinrich Böll von Heinz Friedrich, 08. 01. 1964, BSB
Ana 655. Erst jedoch mit dem Dünndruck und Göbels Engagement für den Grimm wurde das Pro-
jekt im dtv realisierbar.
478
Interview mit Fritz-Peter Steinle [Herstellung], 05. 03. 2007.
160 Wie das Programm entsteht
Auswahl der Titel automatisch mitbestimmt. Es ging hier eigentlich immer nur das Freund-
liche, Heitere, letztlich auch ein bisschen Unverbindliche, Emblematische. Und es ging nie das
Dämonische, Spannende, Dunkle und so weiter. Es hatte vielleicht ja auch seine Berechtigung
und auch seine imagebildende Kraft, aber er hat damit zum Beispiel das Entstehen eines Un-
terhaltungsprogramms hier verhindert.479
Besonders stark fällt die Diskrepanz zwischen Gehalt und Gestalt also im Bereich der
Kriminalliteratur und des Thrillers aus. Die Reihe dtv Phantastica, die von 1979 bis
1983 ‚klassische‘ und neue Texte der Gruselliteratur bringt, tauscht das typisch weiße
Gewand der dtv-Bände mit einem schwarzen Grundton. Dennoch, so Wolff, bleibt die
Gestaltung zu harmlos: „Von Stephen Kings Brennen muß Salem hat es der dtv ge-
schafft ‚stolze‘ zehntausend Exemplare zu verkaufen. Das zeigt, wie wenig das hier
reinpasste, damals.“480
Auch im Bereich der Popkultur für ein junges Publikum gerieten Lektorat und Gra-
fiker aneinander. Göbel referiert einen Fall, in dem Piatti seinen Auftrag quittieren
musste.
Wir haben das Beatles-Songbook gemacht, das hat Wolff gemacht, dann hat er eins zur Gruppe
The Who gemacht, und dann hat Piatti einen Umschlag vorgelegt, und alle sagten nur ‚Um
Gottes Willen, diese holzschnittartigen …– das kommt nicht hin‘. Dann hat Piatti also vier
verschiedene Versuche gemacht, und dann schrieb er einen ganz zentralen Brief: ‚Lieber Herr
Wolff, ich hab’ es jetzt vier mal versucht, ich bin Ihretwegen sogar auch in eine Disko gegan-
gen‘ – da war er schon sechzig, der Piatti – ‚Es ist immer nur ein Piatti rausgekommen, bitte
nehmen Sie einen anderen Grafiker.‘481
Da Piatti als Einzelner bald nicht mehr die steigende monatliche Titelanzahl gestalte-
risch betreuen konnte, wurde im Rahmen des von ihm entworfenen Grundkonzepts seit
den frühen 1980er Jahren die Umschlaggestaltung immer stärker auch von anderen
Personen im Verlag weitergeführt.482 Erst jedoch mit der Übernahme der Verlagsleitung
durch Balk 1996 ist eine radikale Neugestaltung der dtv-Bände durchgeführt worden,
die den einzelnen Programmbereichen umschlagästhetischen Spielraum lässt. Da die
Programmvorschauen inzwischen nicht mehr das Gesamtprogramm vorstellen, sondern
nach einzelnen Sparten getrennt sind, kann eine einheitliche Ästhetik für den jeweiligen
Programmbereich, also die „Unterhaltung“ oder die „Literatur“ durchgeführt werden.
Im Vergleich etwa der Programme Herbst 2007 fällt auf, dass die Unterhaltung das
Spektrum der optischen und haptischen Gestaltungseffekte ausschöpft, während die
Literatur eher auf eine dezente Farbskala und die herkömmliche Oberfläche setzt.483
479
Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung], 06. 03. 2007.
480
Ebd.
481
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
482
Ich beziehe mich hier auf Schilderungen aus dem Interview mit Wolfram Göbel (ebd.) und Aussa-
gen Maria Schedl-Jokls, die darauf hinweist, dass schließlich das Programm September-April
1992 erstmals ohne die Coverillustrationen Piattis erscheint.
483
Vgl. hierzu die Beobachtungen von Sabine Steinkopf zur Buchwerbung in Prospekten, die aller-
dings durch die klare Hierarchisierung geistiger Werte normativ überformt sind: „Je höher der
Handlungsrahmen und Grundsätze des dtv 161
4.1.6 Pluralismus
Ein Punkt, der unter der personellen Perspektive in Kapitel 3 bereits angeklungen ist, ist
der Pluralismus des Programms. Einerseits ergibt er sich per se aus den Programmen
der unterschiedlichen Gesellschafter. Andererseits wird er gerade in Zeiten einer von
Friedrich empfundenen politischen Monolatrie um 1970 sendungsbewusst gepflegt. Der
dtv bemüht sich, die Vertreter verschiedener politischer und wissenschaftlicher Auffas-
sungen zu Wort kommen zu lassen, vermeidet aber alles Extreme. Seine Auffassung
teilt Friedrich Walter Boehlich mit, mit dem er über viele Jahre einen sporadischen
Briefwechsel führt. Auf eine neckende Frage des Suhrkamp-Lektors Boehlich nach der
Linie des Verlagsprogramms im dtv kontert Friedrich:
Nun, lieber Freund Boehlich, da muß ich sagen: stellen Sie sich vor, jeder hätte eine Linie –
wo bliebe da der Suhrkamp Verlag? Wir verzichten aus reiner Kollegialität auf Linie und auch
auf Stromlinie, um den Ruf Ihres Hauses im Hinblick auf dieselbe zu mehren […].484
geistige oder materielle Wert des Druckerzeugnisses, je komplexer und schwerer zugänglich sein
Inhalt und je mehr Anforderungen an die Zielgruppe gestellt werden, um so höher der Grad an op-
tischer und sprachlicher Dezenz in der Präsentation.“ (Steinkopf, Sabine: Buchwerbung in Pros-
pekten. Bochum 1994, S. 155.)
484
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Walter Boehlich [Suhrkamp Verlag], 05. 04. 1968,
BSB Ana 655.
485
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Wolfgang Niehaus [Verlag Freies Geistesleben],
27. 11. 1980, BSB Ana 655.
162 Wie das Programm entsteht
heute: insofern wäre es gar nicht schlecht, sich mit der Revolutionärin von ehemals
erneut auseinanderzusetzen.“486
So kommt es, dass im dtv Programm Spengler neben Marx, Böll neben Benn zu fin-
den ist.
Für die Integration politisch ‚anrüchiger‘ Texte, die von den zeitgenössischen Beob-
achtern als rechts, reaktionär oder zumindest konservativ eingestuft wurden, musste der
dtv sich öfters rechtfertigen. So berichtet Friedrich 1963 Rudolf Ibel, dass der dtv vom
Vorwärts nicht nur wegen einer „volkstümlich[en]“ Benachwortung der Goethe-Aus-
gabe kritisiert wurde, sondern dass die SPD-Zeitung den dtv zuvor noch „geschmack-
vollerweise neofaschistischer Tendenzen verdächtigt hat“.487 Das für 1962 geplante
Erscheinen des Bandes Götter und Helden der Germanen wird vom Autor Eckart Pete-
rich kurzfristig verweigert, als dieser die gleichzeitige Publikation der Jahre der Ent-
scheidung von Oswald Spengler in der Programmplanung entdeckt. Hier ist es nicht
allein die Veröffentlichung des von Peterich als protofaschistisch eingeschätzten Do-
kuments, sondern vor allem die Übernahme eines unkritischen Vorworts, die Peterich
zu diesem Schritt bewegt. Friedrich rechtfertigt das Erscheinen des Spengler-Titels,
obwohl er sogleich eingesteht, dass das Vorwort im Falle einer Neuauflage zu ändern
sei. Er beruft sich erneut auf den Pluralismus des Programms:
Die übrige Produktion unserer Reihe wird unschwer erkennen lassen, daß wir uns einer höchst
möglichen, einzig auf Qualität begründeten Liberalität befleißigen – einer Liberalität aller-
dings, die demagogische, intolerante oder inhumane Tendenzen radikal ausschließt.488
Dieser Pluralismus verleiht dem Verlag um 1970 einen schweren Stand. Zwar kann er
ökonomisch durchaus erfolgreich operieren, jedoch fühlt Friedrich die ‚kulturelle Ge-
meinde‘ auseinanderbrechen. Autoren werden im Zuge der Politisierung des Literatur-
betriebs von den nun meinungsbildenden Verlagen, allen voran Suhrkamp, nicht nur
hinsichtlich ihrer literarästhetischen Qualität, sondern auch als partei- oder sozialpoli-
tisch engagierte Intellektuelle inszeniert.489 Hier kann und will der dtv mit seinem plura-
486
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Friedrich Minssen [Studienbüro für politische Bil-
dung], 18. 11. 1968, BSB Ana 655.
487
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Rudolf Ibel, 07. 02. 1963, BSB Ana 655.
488
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Peter Bachem [Hegner Verlag], 08. 01. 1962, Archiv
dtv.
489
Andreas Franzmann definiert den Intellektuellen anlässlich seiner Untersuchung zur Dreyfus-
Affäre wie folgt. „Intellektuelle sind Personen, die in einer öffentlichen Debatte über ein für die
Zukunft ihres Gemeinwesens zentrales Thema mit einer wertgebundenen Argumentation hervor-
treten, so daß sich ihre Person und die von ihnen verkörperte Position für die Öffentlichkeit un-
trennbar verbinden und sie, wenn sie sich in der Debatte mit ihren Argumenten halten können, zu
einer Art öffentlicher Institution werden, auf die die Öffentlichkeit nicht verzichten kann, solange
die Position Anhänger findet. Der Typus zeigt sich also nur dann, wenn es solche Debatten gibt.
Er manifestiert sich im charakteristischen Träger eines öffentlichen Krisenräsonnements.“ (Franz-
mann, Andreas: Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in
der Affäre Dreyfus, Frankfurt a. M. 2004, S. 13.) „Der intellektuelle Schriftsteller“, so bestimmt
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 163
listischen Programm nicht anknüpfen und verliert in diesen Jahren viele junge Leser an
den politisch entschiedeneren Suhrkamp Verlag.
Da die Einschränkungen, innerhalb derer der „Gusto“ ‚walten‘ konnte, bereits beschrie-
ben sind, geht es nun darum, diesen Geschmack näher zu bestimmen. Dazu ist ein Blick
in die Zeit vor Friedrichs Verlegerschaft sinnvoll.491
Matthias Beilein in Bezug auf den Begriff des Intellektuellen bei Bourdieu, „ist ein Grenzgänger
zwischen dem literarischen Feld und dem Feld der Politik. Sein ‚Engagement‘ ist keinen bestimm-
ten ästhetischen oder ideologischen Vorgaben verpflichtet. Er agiert als Schriftsteller im politi-
schen Feld, meist vermittelt über Instanzen des publizistischen Feldes und folgt auch dort den spe-
zifischen Regeln des literarischen Feldes.“ (Beilein, Matthias: 86 und die Folgen. Robert Schindel,
Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008, S. 92 f.)
490
[Interview] Friedrich, Heinz; Schmitt, Christian: Heinz Friedrich: Ich hab’ was gegen die Bestsel-
ler-Konfektion [1979]. In: Schmitt, Christian: Vor dem Ende der Lesekultur – 20 Jahre Buch- und
Literaturmarkt aus nächster Nähe. Basel 1990, S. 101–104.
491
Ich beziehe mich, wo nicht anders gekennzeichnet, auf die Selbstaussagen Friedrichs in dessen
Autobiografie. (Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert.
München 2006.)
164 Wie das Programm entsteht
Diese Textstelle dokumentiert also nicht nur, dass Friedrich der Literatur ein „men-
schenbildnerische[s]“ Potenzial zuschreibt, sondern weist, in der Verschränkung von
geistes- und naturwissenschaftlichen Fragestellungen, auf einen wichtigen Interessens-
schwerpunkt hin. Dieser hatte, etwa in der Präsenz der Schriften Arnold Gehlens und
Konrad Lorenz’, offensichtliche Konsequenzen für das Programm des dtv und ist damit
ein wichtiges Indiz dafür, dass Friedrich innerhalb der gegebenen Einschränkungen in
hohem Maße seine Programmautonomie wahrgenommen hat. Da meine Studie sich
jedoch vorrangig mit der deutschsprachigen Literatur befasst, werde ich im Folgenden
auf das immense Interesse Friedrichs für biologische und anthropologische Fragestel-
lungen nicht näher eingehen. Es ist jedoch, wie ich unter Punkt 4.2.1 zeigen werde, mit
Fragestellungen der Lebensphilosophie verquickt, die Friedrichs Denken und Bewer-
tungsmaßstäbe stark geprägt haben – und die damit auch die Literaturauswahl für den
dtv beeinflusst haben.
492
Ebd., S. 93.
493
Ebd., S. 96. S. zur Inszenierung der Bedeutung des Kernkanons für die literatrische Sozialisation
in Autobiografien auch: Korte, Hermann: „Meine Leserei war maßlos“. Literaturkanon und Le-
benswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007, bes. S. 108–114.
494
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Karl Friedrich, 21. 03. 1972, BSB Ana 655.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 165
Die Bedeutung Werner Deubels für Friedrich liegt in seiner Rolle des ‚väterlichen‘
Mentors, die er für kurze Zeit, von 1948 bis zu seinem Tod 1949, einnimmt. Friedrich
sucht 1947 im hessichen Roßdorf bei Darmstadt forciert nach Möglichkeiten, Kontakt
zu Kulturschaffenden zu erhalten. Als er im Frühjahr 1948 mit seinen literarischen Ver-
suchen bei der Gruppe 47 Kritik erntet,495 zieht er sich verletzt zurück und intensiviert
den Kontakt zu dem in mittelbarer Nachbarschaft lebenden Deubel. Dieser war ihm als
Autor schon seit einer Aufführung des Deubel-Stücks Der Ritt ins Reich im Darmstäd-
ter Landestheater 1939 bekannt. Persönliche Bekanntschaft schloss er erst im Februar
1948, als ihn der ältere Herr nach einem Vortrag anspricht. Friedrich schildert die Be-
gegnung in seiner Autobiografie rückblickend:
Als glühender (in der Tat: aus bekennerischer Leidenschaft ‚glühender‘) Verehrer und weltan-
schaulicher Gefolgsmann von Ludwig Klages öffnete er mir die Erkenntnistore zu dessen Le-
495
In seiner Autobiografie entsinnt sich Friedrich: „Die Auszüge aus der ‚Straße Nirgendwo‘ fanden
ein geteiltes Echo. Diese Texte seien zu romantisch, zu poetisch-exzentrisch und damit ein wenig
gestrig.“ (Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. Mün-
chen 2006, S. 266.)
166 Wie das Programm entsteht
bensphilosophie und versuchte mich intensiv für diese biozentrische Weltsicht in die weltan-
schauliche Pflicht zu nehmen.496
In Deubel findet Friedrich einen Gesprächspartner, der seine damalige Begeisterung für
pathetische Literatur widerspiegelt, statt sie, wie in der Gruppe 47 vorherrschend, mit
Nüchternheit zu beantworten. Nach Friedrichs enttäuschender Erfahrung bei der Gruppe
47 tröstet ihn Deubel, indem er ihn über die Gruppe und ihre ästhetischen Maßstäbe
‚aufzuklären‘ versucht:
Auch könnten Sie sich viel Argumentation ersparen, durch eine handfeste Aufdeckung der
Herkunft der Zeitgeistideologie ‚engagierte Dichtung‘. Der Herkunftsort aller dieser weltan-
schaulichen und literarischen Saisonangelegenheiten war u. ist in jedem Falle der geheime
Wille zur Entseelung (sprich: Judaisierung = kalte Bolschewisierung).497
Stattdessen leitet er seinen Eleven auf die eine andere Tradition: „Seele! – Das ist über-
haupt das Stichwort.“ Friedrich, der auf die antisemitische Stoßrichtung der Deu-
bel’schen Ausführungen nicht eingeht, lässt sich allerdings auf dessen Kanonempfeh-
lungen ein und wird gelobt. Deubel quittiert:
Was Sie außer Nietzsche sonst noch zitieren – Kleists ‚Marionettentheater‘; das Brambilla-
Zitat, hat mich riesig gefreut, zeigt es mir doch, daß Sie auf der rechten Fährte pürschen [sic].
Unsere stärksten Bundesgenossen stehen in der Romantik, genauer: im Raum zwischen Herder
und Bachofen-Nietzsche.498
Angeregt liest Friedrich auch Deubels Schriften und beschließt, sich für den Verkannten
einzusetzen.499
Für seine Literaturbetrachtungen bedient sich Deubel konsequent der Terminologie
und Optik von Ludwig Klages. Wie Gerhard Kaisers Untersuchungen zu Deubels Schil-
lerbild zeigen, legt dieser Klages’
bipolares, antagonistisches Weltdeutungsschema zugrunde, demzufolge sich alle Religionen,
Gesinnungen, Geschmacksrichtungen und Wissenschaften einteilen lassen in biozentrische,
496
Ebd., S. 296.
497
Brief von Werner Deubel an Heinz Friedrich, 12. 07. 1948, BSB Ana 655.
498
Ebd.
499
Vgl. die folgenden Briefe: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Werner Deubel,
28. 10. 1948, BSB Ana 655; [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Werner Deubel,
14. 11. 1948, BSB Ana 655; [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Werner Deubel,
28. 10. 1 948, BSB Ana 655. Zunächst versucht er es bei Gottfried Benns Verlag, dem Limes Ver-
lag in Wiesbaden, dann fragt er bei Alfred Andersch an, der in der Sendung Abendstudio plant,
„eine Reihe von ‚reaktionär‘ verschrieenen Persönlichkeiten herauszustellen und positiv zu wer-
ten“ ([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Werner Deubel, 28. 10. 1948, BSB Ana 655.)
Andersch jedoch lehnt ab, Friedrich vermittelt die Nachricht und erklärt: „Begriffe wie ‚Kulturre-
volution‘, ‚Aufstand der deutschen Seele‘ waren für ihn (als ‚Sozialisten‘) rote Tücher. Aber da
ich mit ihm persönlich ganz gut stehe und ihm ja oft auch reichlich ‚reaktionär‘ komme (er also an
starken Tabak aus dieser Richtung gewöhnt ist), gebe ich die Hoffnung nicht ganz auf.“ ([Durch-
schlag] Brief von Heinz Friedrich an Werner Deubel, 14. 11. 1948, BSB Ana 655.)
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 167
‚deren Rangordnung der Werte vom Leben bestimmt wird, und logozentrische, die gewollt
oder ungewollt der Diktatur des Geistes gehorchen.‘500
Nach dieser Rubrizierung wird Goethe als Biozentriker verehrt, während Schiller letzt-
lich im inneren Kampf dem Kantischen Einfluss des Logozentrismus erliegt.501 Der
vorrangige Referenztext für die Korrespondenz zwischen Friedrich und Deubel ist Kla-
ges’ 1929 bis 1932 erschienenes Werk Der Geist als Widersacher der Seele. Dessen
Grundannahme besteht darin, dass das konstruktive, kraftvolle Prinzip des Lebens im
stetigen Kampf mit dem destruktiven Prinzip des Geistes liegt. Klages zeichnet entlang
der zivilisatorischen Fortschrittsgeschichte einen degenerativen Verlauf, in dem das
Leben bzw. die Seele von der zunehmenden Dominanz des zerstörerischen Geistes be-
droht wird, bis zur Vernichtung.502
Aus diesem, über Deubel vermittelten, Dualismus ergibt sich die Parteinahme Fried-
richs für „Seele“ und „Leben“, was mit einer tendenziellen Fortschritts- und Verstan-
desskepsis einhergeht.503
Die Bedeutung Deubels für Friedrich besteht darin, dass er ihn in seinem Interesse
für die, nun als ‚biozentrisch‘ benennbaren, Literaten und Philosophen, allen voran
Klages und Nietzsche, aber auch für Goethe und Benn bestärkt und auf weitere Bezugs-
texte aufmerksam macht. Zudem vermittelt er dem jungen Friedrich brieflichen Kontakt
zu Klages und anderen lebensphilosophischen und ratioskeptischen Korrespondenzpart-
nern, etwa dem Buchhändler Kurt Saucke oder Herbert Grundmann, dem Vorsitzenden
der Klages-Gesellschaft und Leiter der Verlagsbuchhandlung Bouvier in Bonn. Mit
zunehmender Akzeptanz jedoch, die Friedrich beruflich und persönlich im literarischen
Feld widerfährt, distanziert er sich von dem unbekannten bis geächteten Deubel und
500
Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008,
S. 290. Kaiser untersucht, zitiert und referiert hier: Deubel, Werner: Schillers Kampf um die Tra-
gödie. Umrisse eines neuen Schillerbildes. Berlin-Lichterfelde 1935 (= Das deutsche Leben 1),
S. 4. Deubel entlehnt sein Zitat, nach Kaiser: Prinzhorn, Hans: Die Wissenschaft am Scheidewege
von Leben und Geist. Festschrift zu Ludwig Klages’ 60. Geburtstag, Leipzig 1932.
501
Dies gilt, wie Kaiser herausstellt, für Deubel vor allem in Bezug auf die theoretischen Schriften
Schillers, wohingegen manche Dramen unter Goethes Eindruck durchaus biozentrische Anklänge
finden. Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Ber-
lin 2008, S. 290–293.
502
„Der Geist als dem Leben innewohnend bedeutet eine gegen dieses gerichtete Kraft; das Leben
sofern es Träger des Geistes wurde, widersetzt sich ihm mit einem Instinkt der Abwehr – Das We-
sen des ‚geschichtlichen‘ Prozesses der Menschheit (auch ‚Fortschritt‘ genannt) ist der siegreich
fortschreitende Kampf des Geistes gegen das Leben mit dem (allerdings nur) logisch absehbaren
Ende der Vernichtung des letzteren.“ (Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele.
3 Bde. Leipzig 1929–32, hier: Bd. 1, S. 69.) S. auch: Pauen, Michael: Wahlverwandtschaft wider
Willen? Rezeptionsgeschichte und Modernität von Ludwig Klages. Bonn 1999. S. 21–43.
503
Vgl. hierzu seine zahlreichen zeit- und kulturkritisch angelegten Essays, etwa in: Friedrich, Heinz:
Aufräumarbeiten. Berichte, Kommentare, Reden, Gedichte und Glossen aus 40 Jahren. München
1987.
168 Wie das Programm entsteht
504
Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. München 2006,
S. 296.
505
Im Jahr 1956, als er bereits in Frankfurt die Fischer Bibliothek leitet, antwortet er auf eine entspre-
chende Nachfrage der Witwe: „Glauben Sie nicht, daß ich vergessen könnte, was mir der Umgang
mit Werner Deubel bedeutet hat. Ich zehre unvermindert von dem Kapital, was er mir mitgab. Hat
er doch meinem denken [sic] seinerzeit die entscheidende Richtung gegeben.“ ([Durchschlag]
Brief von Heinz Friedrich an Erika Deubel, 05. 12. 1956, BSB Ana 655.)
506
Als nach einer Lesung in der Schule seiner Töchter, zu der er Hans Werner Richter gebeten hatte,
Rückfragen zu seiner in der Ankündigung des Autors getroffenen Unterscheidung zwischen
Schriftstellern und Dichtern kommen, antwortet Friedrich in einem Brief an die Klasse: „Der
Dichter schafft kraft seiner schöpferischen Fähigkeiten neue Wirklichkeiten; er beschreibt die
Wirklichkeit nicht nur, sondern versucht sie zu durchdringen und sie, indem er sie ‚verdichtet‘, zu
überhöhen und zu steigern. […] Je stärker der Begriff des Dichters im Verlauf dieser Epoche ent-
wertet wurde, desto mehr setzte sich die weitaus unpathetischere, sachgerechtere Bezeichnung
Schriftsteller für den ‚Berufsautor‘ durch, der ohnehin stärker in den Vordergrund trat.“ Als Bei-
spiele für Dichter in der Gegenwart nennt er den Schülern Paul Celan, Ingeborg Bachmann und
Ilse Aichinger, wohingegen er Richter zum Vertreter der Schriftsteller bestimmt. ([Durchschlag]
Brief von Heinz Friedrich an die Klasse 11 c / d des Louise-Schröder-Gymnasiums in München,
15. 05. 1970, BSB Ana 655.)
507
Auch verteidigt er eigene Lektüreresultate gegen Deubels Orthodoxie, 1949 etwa die Nietzsche-
deutung Martin Bubers. In: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Werner Deubel,
31. 01. 1949, BSB Ana 655. Vgl. zur bisweiligen antisemitischen Zweitcodierung von „biozent-
risch“ und „logozentrisch“ als „gräkogermanisch“ bzw. „gräkojudaisch“ bei Klages und Deubel:
Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008,
S. 290, Anm. 279.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 169
rung von Umwelt, die durch eine, alle Lebensbereiche durchdringende, Kommerziali-
sierung hervorgerufen wird. Befördert wird dieser Prozess von der menschlichen Geis-
teshybris und den empirischen Wissenschaften.
Friedrich denkt bei der Lebensphilosophie auch nicht an eine parteipolitische Codie-
rung, die ihn in die Nähe des rechten Lagers rücken könnte, sondern sieht das Interesse
am Leben und der Seele gerade entgegengestellt einer tagespolitischen Losung. In die-
sem Verständnis der conditio humana trifft er sich mit dem ebenfalls geschichtsskepti-
schen und biologisch argumentierenden Gottfried Benn. Die Begeisterung für Benn
wiederum bekräftigt seine Faszination für Nietzsche und seine Hochschätzung Goethes
als eines ebenfalls dem Leben Zugehörigen. So liest sich Friedrich im ‚Schneeballsys-
tem‘ immer weiter durch den Kanon einer formästhetisch interessierten, aber nicht ver-
standesmäßig dominierten Literatur, in der das Ewige vor dem Engagierten rangiert.
Benns ästhetische Kategorien fallen bei Friedrich auf fruchtbaren Boden. So antwor-
tet er noch 1981 an Wolfgang Körner vom Buchmarkt auf dessen Fünf Fragen zu Ihrer
Lektoratsarbeit, dass er unter den angebotenen Manuskripten durchaus thematische
Schwerpunkte ausmachen könne: „die deutsche Nabelschau, möglichst hintersinnig,
tiefenpsychologisch oder nach Müttern suchend. Nächste Kategorie: kokette intellektu-
elle Verfremdungsakrobatik. Und, natürlich: Lebenshilfe.“508
Die genannten Bezeichnungen sind wortwörtlich oder in leichter Variation in Benns
poetologischer Rede Probleme der Lyrik von 1951 wiederzufinden. Das „Erregende[]“,
„Faszinative[]“ der Kunst stellt Benn der dumpfdeutschen Innerlichkeit entgegen, die er
situiert „bei den Müttern, diesem beliebten deutschen Aufenthaltsort“.509 Er betont die
Ernsthaftigkeit des Kunstschaffens vor dem ‚spielerischen‘ Experiment und desavouiert
es als „eine Art Neutönerei in der Lyrik“. Auch verhöhnt Benn das allgegenwärtig beob-
achtete Bedürfnis nach Lebenshilfe, das, anstatt zur Standhaftigkeit zu erziehen, zu
Weichlichkeit und Eskapismus verführe. Benn wiederum bezieht viele seiner ästheti-
schen Überzeugungen von Nietzsche, allen voran die Vorstellung, dem konstatierten
Nihilismus mit einer Apotheose der Kunst, einem Bekenntnis zur Form, zu begegnen.
Anders als Klages, der den Geist als Widersacher der Seele ausmacht und sich auf die
Seite letzterer schlägt, eröffnet Benn die Dichotomie zwischen Geist und Leben, um
fatalistisch ganz für den Geist zu votieren: „Die neue Formel ist ja eben: nur Geist“,
schreibt er an den Bremer Kaufmann und langjährigen Korrespondenzpartner Friedrich
508
Kopie eines Schreibens von Heinz Friedrich an Wolfgang Körner, handschriftlich markiert:
„Buchmarkt“, betitelt: „Fünf Fragen zu Ihrer Lektoratsarbeit“, 11. 03. 1981, BSB Ana 655.
509
Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik [1951]. In: Ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Stutt-
garter Ausgabe. Hg. v. Ilse Benn u. Holger Hof. Bd. VI: Prosa 4. Stuttgart 2001, S. 9–44, hier:
S. 22. Auch gegenüber Enzensberger spricht Friedrich mit Benns Worten von der Qualität der En-
zenberger’schen Verse im Vergleich zu den „Wortbastelein verschiedener Neutöner“. ([Durch-
schlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Magnus Enzensberger, 30. 11. 1964, BSB Ana 655.)
170 Wie das Programm entsteht
Wilhelm Oelze. „Alles nur Geist! Das ‚Leben‘? Du lieber Gott, das ist ja schon bei
Nietzsche ein Krampf“.510
Benns Formel vom „Gegenglück, dem Geist“511 entlehnt Friedrich 2002 für eine
Publikation512 und notiert für die Memoiren: „Benn und Klages – für mich markierten
sie keine Gegensätze, sondern sie boten zwei Perspektiven auf dasselbe Problem, näm-
lich auf die ‚cerebrale‘ Verwirrung und Verirrung des neuzeitlichen Homo sapiens.“513
Die Benn-Adaptation Friedrichs weist dennoch auf eine wichtige Verschiebung in sei-
nem Denken hin. Unter dem Einfluss Deubels, und, nicht zu vergessen, dem noch fri-
schen Eindruck des Krieges, ist der junge Friedrich einer diffus-pathetischen Exklama-
tionsästhetik zugetan.514 Sie äußert sich in der unhinterfragten Euphorie für ‚das Leben‘
– wobei unklar ist, was die ‚Lebensgläubigen‘ unter diesem Identifikationsbegriff genau
verstehen.515 Durch die apodiktische Poetologie Benns, die sich aller Sentimentalitäten
verwehrt,516 sowie die dezidiert nüchterne Ästhetik der Gruppe 47, vor allem auch die
persönliche Begegnung mit Schriftstellern seiner Generation, koppelt Friedrich seine
ästhetischen Maßstäbe in den 1950er Jahren zusehends von den lebensphilosophischen
510
Benn, Gottfried: Briefe an F. W. Oelze. 1932–1945. Vorwort von F. W. Oelze. Hg. v. Harald Stein-
hagen u. Jürgen Schröder. Wiesbaden, München 1977, S. 41.
511
Benn Gedicht „Einsamer nie“ endet mit der Zeile „dienst du dem Gegenglück, dem Geist“. In:
Benn, Gottfried: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Ilse Benn u. Ger-
hard Schuster. Bd. I: Gedichte 1. Stuttgart 1986, S. 135.
512
In seiner Autobiografie Erlernter Beruf: Keiner berichtet Friedrich: „Immer wieder flüchtete ich
[während der Schulzeit; EK] in eine Traumwelt. Oder ahnte ich bereits etwas von jenem ‚Gegen-
glück des Geistes‘, das dem ‚gezeichneten Ich‘ das ‚Doppelleben‘ zwischen realer und ästheti-
scher Wirklichkeit versprach? Als ich 1950 Gottfried Benns Bekenntnisse zu diesem Doppelleben
zwischen Kunst und Wirklichkeit in die Hand bekam, erschrak ich: Ich las sein Buch wie eine
Analyse der eigenen Persönlichkeit.“ (Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an
das 20. Jahrhundert. München 2006, S. 69.) Auch eine von der Bayrischen Staatsbibliothek kura-
tierte Ausstellung für den Verlagsleiter nimmt den Titel 2005 auf. Ausstellungskatalog: Moisy,
Sigrid von; Nodia, Nino; Ikas, Wolfgang-Valentin (Hrsg.): Ein Leben im Gegenglück des Geistes.
Heinz Friedrich (1922–2004) Verleger, Autor, Akademiepräsident. Eine Ausstellung der Bayeri-
schen Staatsbibliothek. München 2005.
513
Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. München 2006,
S. 297.
514
Dies zeigen auch einige frühe Gedichte Friedrichs, die in seiner Autobiografie abgedruckt sind:
Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert. München 2006,
S. 211–213. Vgl. außerdem Friedrichs bereits 1948 im Stahlberg Verlag erschienenes literarisches
Debüt, die dramatische Vision Die Straße Nirgendwo. (Friedrich, Heinz: Die Straße Nirgendwo.
Die golgäthäischen Gesichte, Phantasien, Gaukeleien und Träume eines Landstreichers; eine Vi-
sion am Karfreitag. Karlsruhe 1948.)
515
Zur Lebensphilosophie allgemein s. Albert, Karl: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietz-
sche bis zu ihrer Kritik bei Lukács. Freiburg, München 1995.
516
Vgl. vor allem die einflußreichen, von Hans Bender als „ars poetica“ geadelten „Probleme der
Lyrik“ von 1951. (Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik [1951]. In: Ders.: Sämtliche Werke in sie-
ben Bänden. Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Ilse Benn u. Holger Hof. Bd. VI: Prosa 4. Stuttgart 2001,
S. 9–44.)
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 171
Einflüssen ab. Auch jetzt noch gelten ihm die Werke Goethes, Nietzsches, Benns und
Klages’ als zentrale Bezugspunkte und Steinbrüche applizierbarer Philosopheme. Für
die Literatur der Gegenwart hingegen entwickelt er Leitlinien, die das vormalige Pathos
überwinden und es ihm ermöglichen, die Texte der Gruppe 47 wertzuschätzen.
Auf einem Autorentreffen des Stahlberg Verlags bei der Gräfin Degenfeld lernt Fried-
rich Hans Werner Richter kennen. Dieser lobt seinen dort vorgestellten Text Meine
Gedanken zur geistigen Lage der jungen Generation und bezieht ihn in ein Planungs-
treffen für die Ruf-Nachfolge, die Zeitschrift Der Skorpion, ein.517 Im September 1947
treffen sich einige der späteren Mitglieder der Gruppe 47 bei Ilse Schneider-Lengyel,
um einander Texte vorzutragen und zu entscheiden, welche davon in die erste Ausgabe
des Skorpion aufgenommen werden sollen. Friedrich liest aus seinem Theaterstück Die
Straße Nirgendwo. Eine dramatische Vision, dessen Pathos die Tagungsteilnehmer
befremdet.518 Nachdem er als Schriftsteller bei der Gruppe scheitert, fühlt er sich weni-
ger dem gruppenartigen Verbund verpflichtet, als einzelnen Mitgliedern, die er persön-
lich schätzt. Besonders Alfred Andersch, sein späterer Chef beim Abendstudio im Hes-
sischen Rundfunk, nimmt sich seiner an. Als Friedrich sich unter dem Schock der Kritik
der Gruppe 47 an seinem Theaterstück Die Straße Nirgendwo zurückzieht, beschwich-
tigt ihn Andersch: „Ich meine, Sie ziehen augenblicklich falsche Konsequenzen. Sie
schreiben: ‚Es muss mich sprengen – dann wird es!‘ Nein, verdammt noch mal! […]
Natürlich gehören Sie zu uns.“519 Er versucht den Debütanten, zeitgleich mit Deubels
Bemühungen, mit Lektürehinweisen auf den richtigen Weg zu bringen:
Literatur ist ein Handwerk, ein ganz simples und hin und wieder wunderschönes Handwerk, in
dem man vom Lehrling zum Meister aufsteigt (Ich selbst betrachte mich als Lehrling). Zum
Teufel mit Ihrem Nietzsche! Lesen Sie Stendhal, Flaubert, die modernen Amerikaner, Goe-
the!520
517
Der Zeitschrift wird letztlich keine Lizenz erteilt, so dass die Probenummer, die hier geplant
wurde, nicht erscheinen konnte.
518
Ausführlich nachzulesen ist der Beginn der Bekanntschaft zu Richter und anderen Mitgliedern der
Gruppe 47 in Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert.
München 2006, S. 247–274, bes. S. 254–272. Friedrichs unmittelbare Reaktionen auf die Kritik
sind insbesondere dem Briefwechsel mit Alfred Andersch zu entnehmen, BSB Ana 655.
519
Brief von Alfred Andersch an Heinz Friedrich, 08. 05. 1948, BSB Ana 655.
520
Ebd.
172 Wie das Programm entsteht
holbedürftigen Deutschen nach dem Krieg vor allem über Rowohlts Rotations-Romane
vermittelt bekommen.521 Ungeklärt bleibt, inwieweit diese Aufzählung tatsächlich der
bevorzugten Lektüre entspricht, da in der Korrespondenz zu dieser Zeit hauptsächlich
die euphorische Klages-Lektüre dokumentiert ist.522 1949 mahnt ihn Richter in einem
Brief, seine Entrüstung über die Kritik der Gruppe 47 nicht in eine politische Frontstel-
lung zu überführen. Er weist auf die Vielfalt der literarischen Präferenzen in der Gruppe
hin, die die Bandbreite der zeittypisch gegeneinander ausgespielten poésie pure und
littérature engagée umfasst:
Und, lieber Herr Friedrich, dies noch als Warnung, seien Sie vorsichtig mit der Beurteilung
der Leute, die sich in der Gruppe 47 zusammengefunden haben. Sie sind unter keinen Um-
ständen unter einen Hut, literarischer, weltanschaulicher, politischer oder soziologischer Art
zu bringen, aber gerade davon lebt die Gruppe. Und die meisten von ihnen kennen und lieben
ihren Andre Gide, Claudel, Romain Rolland usw. genau so wie sie Gorki, Hemingway, Bal-
zac, Zola und Flaubert schätzen.523
Wo in diesem Reigen internationaler Literaten vor allem Gide und Claudel für die Posi-
tion der poésie pure vereinnahmt wurden, stehen die letztgenannten Autoren repräsenta-
tiv für den Typ des politisch und sozial engagierten Intellektuellen, dem für gewöhnlich
auch der hier in die erste Trias sortierte Rolland zugerechnet wird. Eine der politischen
Mission vermeintlich untergeordnete Literatur ist das von Friedrich abgelehnte Gegen-
bild zu seinen ‚Literatur-Heroen‘.
Problematischerweise zeichnet sich für ihn in der Gegenwart eine Tendenz zur litté-
rature engagée ab, die, seinen Maßstäben zufolge, zur Verflachung oder gar Zerstörung
des Daseins führt. Die lebensphilosophisch geprägten Autoren, die oft der älteren Gene-
ration angehören, werden als ‚gestrig‘ abgelehnt oder gar dem faschistoiden Irrationa-
lismus zugerechnet und verabscheut. Für Friedrich jedoch verläuft die Demarkationsli-
nie nicht zwischen den Fahnenwörtern ‚links‘ und ‚rechts‘, sondern zwischen einer
‚ideologischen‘ und einer ‚wirklichen‘, ‚künstlerischen‘ Literatur von anthropologi-
schem Belang. Wie er dem Kulturjournalisten Heinz Orff 1962 mitteilt, ist ihm, auch
zur Zeit seines Engagements in der und für die Gruppe 47, die Klassik näher als die
521
Auch mit diesem Hinweis auf die „Lesehilfen in Sachen Gegenwarts-Literatur“ durch das Ta-
schenbuch in: Friedrich, Heinz: Erlernter Beruf: Keiner. Erinnerungen an das 20. Jahrhundert.
München 2006, S. 231.
522
Es mag allerdings durchaus sein, dass sich Friedrich aufgrund seiner brieflichen Austauschmög-
lichkeiten schriftlich vorrangig über seine Klages-Lektüre äußerte, die genannten Autoren aber
zeitgleich las.
523
Brief von Hans Werner Richter an Heinz Friedrich, 17. 04. 1949, BSB Ana 655. Leider ist der
vorangegangene Brief Friedrichs nicht erhalten. Auf eine wohl ebenso unmittelbare wie ungehal-
tene Reaktion Friedrichs auf seinen ‚Verriss‘ durch die Gruppe weist Richter jedoch hin: „Ihren
Brief habe ich seinerzeit nicht beantwortet, weil ich davon überzeugt bin, dass Sie selbst davon
Abstand nehmen werden, wenn Sie sich den Brief etwa nach einem Jahr noch einmal gründlich
ansehen.“
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 173
Gegenwartsliteratur.524 Den Anfängen der Gruppe 47 bleibt Friedrich vor allem über die
abrupt zerstörte Hoffnung verbunden, politischen Einfluss nehmen zu können. Als er
sich 1971 für einen Radiobeitrag im NDR nochmals rückschauend mit dem Ruf be-
schäftigt, teilt er seine Gedanken in einem Brief Andersch mit:
Für mich jedenfalls war die Wiederbegegnung mit dem politischen Programm, dem wir uns
damals verpflichteten, fast ein Schock. […] Bestätigt hat dieses Vierteljahrhundert Nach-
kriegspolitik leider alles, was Sie und Richter damals befürchteten und wogegen Sie sich ver-
wahrten. Das ist ein schwacher Trost für uns, aber, wie ich meine, eine historische Rechtferti-
gung ihrer geistigen Existenz. (Ich glaube, man darf das ohne Bedenken so hochtrabend
aussprechen …)525
Die Werke der in den frühen 1960er Jahren öffentlich sehr präsenten Vertreter der
Gruppe, Günter Grass, Uwe Johnson und Martin Walser, werden von Friedrich durch-
aus in ihrer Bedeutung für die internationale Anerkennung der deutschen Literatur
wahrgenommen.526 Er sieht die jüngeren Mitglieder der Gruppe 47 jedoch als eine neue
Generation mit ihm fremden Zielsetzungen an. Distanziert kommentiert die Erlebnisse
der ausgearteten Berliner Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1965 gegenüber dem damals
amtierenden Berliner Bürgermeister Willy Brandt. Seine Kritik entzündet sich an den
„absonderlichen Eskapaden“ des eingeladenen Kabarettisten Wolfgang Neuss, die er als
„Schlußakkord unter das, was wir geplagten Zuhörer in den drei Tagen zuvor über uns
hatten ergehen lassen müssen“, bewertet.
Auf die alte Garde der Gruppe 47, zu der auch ich mich als ‚Gründungsmitglied‘ rechnen darf,
wirkten die Äußerungen der jüngsten literarischen Generation wie ein Schock. Von kritischem
524
Vgl: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Heinz Orff, 19. 12. 1962, BSB Ana 655.
525
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Alfred Andersch, 27. 10. 1971, BSB Ana 655. Doch
bereits von Erich Kuby, der nach Entlassung von Andersch und Richter durch die amerikanischen
Besatzer den Ruf herausgibt, distanziert er sich entschieden. Die für das erste Programm des dtv
geplante Dokumentation zum Ruf legt den Schwerpunkt auf die Ära Andersch, wie Friedrich die-
sem versichert: „Es kam mir nicht darauf an, dem Kubysmus die Fanfare blasen zu lassen. Der
Schwerpunkt unserer Publikation liegt selbstverständlich auf der Ära Richter/Andersch; das war
nie anders konzipiert.“ Er bekräftigt: „Ursprünglich wollte ich sogar nur diesen Abschnitt präsen-
tieren – aber diese Absicht läßt sich kaum realisieren. Man muß schon den ‚Ruf‘ als ganzes vor-
stellen.“ ([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Alfred Andersch, 06. 06. 1961, BSB Ana
655.)
526
So schreibt er dem Redakteur des Hamburger Sonntagsblatts über Tendenzen auf dem Buchmarkt:
„Deutschland konnte sich in den letzten Jahren, wie ich meine, mit einigen Werken wieder einen
Rang im internationalen Buchgespräch sichern – ich denke dabei nur an die Erfolge von Günter
Grass, Uwe Johnson und Martin Walser.“ ([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Kurt Lo-
thar Tank [Redaktion Sonntagsblatt, Hamburg], 16. 09. 1963, BSB Ana 655.) Interessanterweise
spricht Friedrich hier nicht pro domo: Zu diesem Zeitpunkt ist keiner der genannten Autoren bei
dtv repräsentiert.
174 Wie das Programm entsteht
Engagement für oder gegen die Gesellschaft war in diesen Arbeiten nichts mehr zu spüren; sie
degradierten sich vielmehr zum reinen Selbstzweck.527
Einzig die Vorstellung, dass er über den dtv seine Deutungsmacht des Bildes der Grup-
pe 47 aufrecht erhalten und mit gutem Erfolg verbreiten kann, gibt ihm, so weiter im
Brief an Brandt, die Hoffnung, „daß die Arbeiten, die uns auf der jüngsten Tagung der
Gruppe 47 aufgetischt wurden, nicht schlechthin mit der Geisteshaltung unserer jüngs-
ten Staatsbürger gleichgesetzt werden“.528
Dann jedoch, zwei Jahre später, muss er sich in einem Brief an Wolfdietrich Schnur-
re erneut ‚Luft machen‘.
Unser Denken wird oberflächlicher, unsere Gefühle nivellieren sich, und der Blick auf die
Phänomene der Wirklichkeit verliert an Schärfe. Kein Wunder, daß in einer derartigen Situati-
on auch die Epik verkümmert. Fürs Erzählen bleibt einfach keine Zeit mehr; stattdessen be-
gnügt man sich mit punktuellen Wortballspielen, die weder Logik noch Entwicklung (für bei-
des braucht man Zeit) verlangen.529
der Gruppe 47 erlangt für Friedrich nie den Status, den die Klassiker der Weltliteratur in
seiner Lektürebiografie einnehmen. Diese rezipiert er als ‚Wegweiser‘ und liest sie,
ebenso von ferne bewundernd wie hautnah applizierend, wohingegen jene für ihn litera-
risch gestaltete Dokumentation bleibt.
Seine Motivation, die Literatur der Gruppe 47 zu verlegen, hat eine dreifache Wur-
zel: Sie ist ökonomisch sehr erfolgreich und zieht auch andere junge Autoren zum Ver-
lag. Zudem ist Friedrich mit vielen der Autoren persönlich bekannt. Vor allem mit
Lenz, zögerlicher auch mit Böll, entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis.532
Ein dritter Grund schließlich liegt in dem, was Friedrich, mit einer Formulierung Bölls,
die „Solidarität der Generation“ zu nennen pflegt.533 Für seine Identität sind die Genera-
tionenzugehörigkeit und das einschneidende Kriegserlebnis wichtiger als die soziale
Verortung oder eine politische Standortbeziehung. Dies liegt vor allem daran, dass
Friedrichs Jahrgang, 1922, die ältere Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus ver-
bringt und die Kriegssituation einen stringenten Lebenslauf vereitelt. So kann Friedrich
nicht seinen geistigen Interessen durch den Besuch einer Universität nachgehen, son-
dern wird unmittelbar nach dem Notabitur 1940 eingezogen. Schließlich, auch das iden-
titätsprägend, hat sein Jahrgang ihm zufolge die höchste Kriegsgefallenenquote zu ver-
zeichnen.
Friedrich fühlt sich, wie bereits angeführt, der politischen Handlungsmöglichkeiten
seiner Generation beraubt. Die politischen Visionen der selbsternannten „Jungen Gene-
ration“ (Hans Werner Richter) werden in Friedrichs Darstellung zunächst durch den
Krieg, dann durch die Besatzungsmächte und schließlich durch Restauration und satu-
rierte Wirtschaftswundermentalität verhindert.
Die „junge Generation“ umfasst in Fremd- und Selbstzuschreibung nicht eine alters-
mäßig homogene Gruppe, sondern ist in Bourdieus Terminologie als Gruppierung
strukturell junger Akteure zu verstehen.534 Wie Richter, der die Begriffsbildung als
Titel eines berühmten Ruf-Artikels verwendet,535 artikuliert auch Alfred Andersch den
Anspruch der jungen Generation, die ‚Alten‘ baldmöglichst abdanken zu lassen und die
Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge in der politisch-publizistischen Öffentlich-
keit zu lenken.536 „Denn man kommt nicht um die Tatsache herum, daß wir es sein wer-
532
Im Fall Böll lag die Lizenzübernahme insofern besonders nah, da Böll Autor beim dtv-Ge-
sellschafter Kiepenheuer & Witsch war.
533
Die Rückführung des Ausdrucks auf Böll rührt von: Friedrich, Heinz: Aufräumarbeiten. Berichte,
Kommentare, Reden, Gedichte und Glossen aus 40 Jahren. München 1987, S. 19.
534
Vgl. hierzu auch Winter, Hans-Gerd: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): „Uns selbst mussten wir miss-
trauen.“ Die „junge Generation“ in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hamburg, Mün-
chen 2002, S. 8–15, hier: S. 9.
535
Richter, Hans W.: Jugend und junge Generation. In: Der Ruf 1 (1946), H. 6, S. 7 f.
536
Die Zuordnung zu den ‚Alten‘ und den ‚Jungen‘ bestimmt das Selbstverständnis vieler Autoren.
Auch Thomas Mann folgt diesem Schema bei der Bestimmung der bedeutenden Werke der Nach-
kriegszeit. „Und zwar scheinen mir diese Werke ganz vorwiegend von älteren und alten Autoren
zu kommen, wahrscheinlich weil ihr Horizont weiter, ihre Bildung und Erfahrung reicher ist als
176 Wie das Programm entsteht
den, die in den nächsten Jahrzehnten das politische Klima in Deutschland machen wer-
den.“537
Mit dem 1926 geborenen Siegfried Lenz tauscht sich Friedrich über den Generatio-
nenzusammenhalt aus und schreibt ihm 1967:
Was die Frage des Generationen-Horizonts angeht, so bewegt mich Deine Zustimmung; bestä-
tigt sie doch, daß meine – im Grund mehr auf Empfindungen als auf rationale Einsicht ge-
gründete – Vermutung über das geistig-menschliche Zusammengehörigkeitsgefühl unserer
Jahrgänge mit der Wirklichkeit nachdrücklich übereinstimmt.538
Dann schlägt er Lenz die praktische Umsetzung vor. „Vielleicht sollten wir, die wir
diesen Jahrgängen angehören, diese Solidarität noch stärker betonen als bisher: sie
könnte geradezu fermentierend wirken auf unsere verkorkste Gegenwart.“539 Die ge-
scheiterten politischen Hoffnungen sublimiert er in ein kulturelles Sendungsbewusst-
sein, das konstitutiv für das Programm des dtv ist.
Auch wenn er den Unterhaltungswert der Prosatexte Bölls und Lenz’ wahrnimmt,
gewinnen diese doch vor allem als Zeugnisse der Kriegs- und Nachkriegsrealität für
Friedrich Gewicht. Ein Brief an Wolfdietrich Schnurre aus dem Jahr 1966 verdeutlicht,
was er an der ersten Generation der Gruppe 47, entgegen aller Vorbehalte, schätzt:
Wenn ich sachlich über das nachdenke, was so manche Autoren unmittelbar nach dem Krieg
produzierten, so muß ich erkennen, daß auch damals recht viel Mist geschrieben wurde. Ein
grundsätzlicher Unterschied [zur zeitgenössischen literarischen Produktion; EK] besteht aller-
dings: mit formalen Taschenspielertricks arbeiteten wir nicht, sondern wir bekannten uns ehr-
lich zu unseren Mitteln auch dann, wenn sie unzulänglich waren. Und ein wenig mehr als die-
se Wunderknaben von heute hatten wir auch zu sagen. Allein die schwere Zeit nach dem
Zusammenbruch zwang uns Themen auf, um die sich die Poeten von heute vergeblich bemü-
hen; Themen, die das Leben der Gesellschaft in Ausnahmesituationen zeigt, können nicht in
der Retorte erzeugt werden.540
die der in die Auflösung hineingeborenen Jungen.“ (Mann, Thomas: Wie steht es um die Nach-
kriegsdichtung? In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 10: Reden und Aufsätze
2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 1974, S. 924.) Brigitta M. Schulte weist auf die Zählebigkeit
der Etikettierungen ‚jung‘ und ‚alt‘ im literarischen Feld nach 1945 hin, die „mit dem Älterwerden
der Republik wie mit dem der Literaten beider Couleur […] längst hätte obsolet werden können.“
(Schulte, Brigitta: Jungbrunnen. „Nicht heute jung, einstmals nur“. Ilse Langner über die Deutsche
Akademie für Sprache und Dichtung, ihre Mitglieder, ihre Politik, ihre Leistung nach 1949. In:
Winter, Hans-Gerd (Hrsg.): „Uns selbst mussten wir misstrauen.“ Die „junge Generation“ in der
deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hamburg, München 2002. S. 283–291, hier: S. 286.)
537
Andersch, Alfred: Das Unbehagen in der Politik. Eine Generation unter sich. In: Frankfurter Hefte
2 (1947), H. 9, S. 912–925, hier: S. 916.
538
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 17. 02. 1967, BSB Ana 655.
539
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 17. 0 2. 1967, BSB Ana 655.
540
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Wolfdietrich Schnurre, 30. 11. 1966, BSB Ana 655.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 177
Sicht inhaltlich banal bleiben. Seine persönliche Abneigung gegen experimentelle Lite-
ratur trifft sich mit der erwartbaren Absatzschwierigkeit, wie er in einem Interview für
das Börsenblatt 1971 verdeutlicht:
Ich sehe nur eine gewisse Gefahr in der augenblicklichen formalistischen, spielerischen Ent-
wicklung der Belletristik, wo ja nicht mehr allzu viel mitgeteilt wird, sondern wo mit den
Formen nur noch gespielt wird, wo die Versatzstücke strukturell verbaut werden; da öffnet
sich eine Sackgasse, und da macht der Leser nicht mehr mit. Das ist eine Spielerei, an der ei-
nen gewissen Gefallen hat, wer sie intellektuell nachvollziehen kann, die aber eine breite Le-
serschaft nicht begreift.541
Im Taschenbuch sind, wie es hier weiter heißt, die „guten alten Autoren […] nach wie
vor sehr gefragt“, die eine „erzählende Mitteilung vermitteln“.542 Somit setzt der dtv in
der Allgemeinen Reihe auf ‚klassische Erzähltexte‘.543
Andererseits sperrt sich das literarische Wertungsmuster Friedrichs aber auch pau-
schal gegen jede Form der ‚bloß‘ unterhaltenden Literatur. Vor allem wenden sich seine
Kriterien gegen fiktionale oder nichtfiktionale Texte, die die Kommerzialisierung, Poli-
tisierung (gemeint im Sinne von Parteipolitik und ‚Ideologie‘) oder Banalisierung des
Lebens bejahen und damit, in Friedrichs kulturkritischem Duktus formuliert, die ‚Zer-
störung der Gattung Mensch‘ vorantreiben.
Die Aspekte der ‚Ernsthaftigkeit des Kunstschaffens‘ und der ‚Inhaltsschwere des
Ausgedrückten‘, oder, anders ausgedrückt, Authentizität und Belang, markieren die
Überschneidung des zunächst umrissenen Kanonfokus auf lebensphilosophisch orien-
tierte Autoren mit den ‚Klassikern‘ und den Autoren der Generation Friedrichs. Wie ich
im Folgenden zeigen möchte, sind sie von fundamentaler Bedeutung für die Programm-
gestaltung des dtv.
541
Friedrich, Heinz: Taschenbuchperspektiven. [Interview mit Heinz Friedrich] In: Börsenblatt für
den Deutschen Buchhandel (21. 09. 1971), Nr. 75, S. 2256–2262, hier: S. 2261.
542
Ebd., S. 2262.
543
Mit der von Bienek kuratierten Sonderreihe hat sich der Verlag zwar früh ein Forum für experi-
mentellere Literatur geschaffen. Friedrich persönlich bleiben die stets als belanglose Privat-
Spielerei verdächtigte experimentelle Lyrik, wie etwa die konkrete Poesie, aber auch die Texte
Arno Schmidts, zeitlebens fremd. Bezüglich einer Arno-Schmidt-Lizenz schreibt er an Hans Die-
ter Müller vom Goverts Verlag: „Unbeschadet der Tatsache, daß ich Arno Schmidt für einen inter-
essant-begabten Mann halte, kann ich mich mit seinen vulgären Extravaganzen nicht anfreunden.
Auch scheint mir vieles, was er von sich gibt, verschroben und exaltiert. Daher möchte ich mich
ungern zu einem Arno Schmidt-Propagandisten machen – nicht alles, was verrückt klingt, ist gut.“
([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Dieter Müller [Henry Goverts Verlag],
10. 05. 1963, BSB Ana 655.)
178 Wie das Programm entsteht
Die Konsequenzen, die Friedrichs literarische Sozialisation mit den hier genannten
Schwerpunkten für das Programm des dtv beinhaltet, bewegen sich im Rahmen der im
Abschnitt 4.1 geschilderten Voraussetzungen und Rücksichten.
Sie äußern sich durch Inklusion und Exklusion von einzelnen Titeln und Autoren
oder ganzen Programmbereichen, aber auch tendenziell, d. h. in der Präferenz oder Be-
nachteiligung einiger Segmente. Die augenscheinlichste Konsequenz ist Friedrichs En-
gagement für die hier vorab erwähnten Autoren, insbesondere für Goethe, Nietzsche,
Klages, Benn, Böll und Lenz.
Im dtv erscheinen mehrere Gesamt- und Studienausgaben der Werke Goethes. Die
vielgerühmte kritische Studienausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, herausgegeben
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erscheint 1980 im dtv als Lizenzausgabe von
de Gruyter in 15 Bänden. Sie ermöglicht als erste kritische Edition der Werke Nietz-
sches eine breite wissenschaftliche Rezeption des Philosophen.
Friedrichs Einsatz für Klages indes muss entgegen Friedrichs Intentionen hauptsäch-
lich auf publizistischem Gebiet stattfinden. Zwar schreibt er 1961 dem Buchhändler und
Klages-Verehrer Kurt Saucke: „Mein Hinweis auf Carus, Klages und Bachofen war
durchaus nicht rhetorisch gemeint. Ich habe tatsächlich die Absicht, späterhin diesen
Autoren Ausgaben zu widmen.“544 Sein Wunsch jedoch, Klages’ Hauptwerk Der Geist
als Widersacher der Seele im dtv zu bringen, stößt auf den Widerstand seiner Mitarbei-
ter. Kumpmann entsinnt sich: „Und Friedrich wollte den Klages mal bringen. Dagegen
hab ich opponiert, und er sagte: ‚Sie haben es ja nicht gelesen‘. Dann hab ich gesagt:
‚Ich werd den Teufel tun und das noch lesen‘.“545 Kumpmann, der die Schriften Klages
aus politischen Gründen ablehnte, leitet also das Fehlen des Klages-Titels im dtv aus
seinem Widerspruch her: „Er wollte das Buch bringen, und wir haben es nicht gebracht.
Als er merkte, dass wir das nicht wollten.“546 Von Friedrichs Seite ist nur ein Brief an
Herbert Grundmann archiviert, der das Scheitern der Ausgabe auf die missliche Um-
fangskalkulation zurückführt: „[…]wäre das Opus nicht so umfangreich, so liesse sich
um der Vorliebe willen ein Auge zudrücken.“547 Im dtv erscheinen insgesamt zwei Titel
von Klages, Die Handschrift des Menschen 1964 und 1968 Ausdrucksbewegung und
Gestaltungskraft. Dabei hat Friedrich bewusst darauf geachtet, ein Klagesbild zu ver-
mitteln, das den Denker vom Verdacht des Antisemitismus und Protofaschismus be-
544
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Kurt Saucke, 03. 08. 1961, BSB Ana 655.
545
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
546
Ebd.
547
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Herbert Grundmann [Bouvier], 23. 01. 1981, BSB Ana
655. Dort heißt es: „Ich bin betrübt, dass ich mich von diesem Vorhaben trennen muss, denn ich
verdanke gerade diesem Werk viel – und ich bin auch der Meinung, dass es, trotz neuester Er-
kenntnisse auf dem Gebiet der ‚Geist-Forschung‘ an grundsätzlicher Aktualität kaum etwas einge-
büsst hat. Aber man muss einfach wissen, wo die eigenen verlegerischen Grenzen liegen“.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 179
wahren sollte. Anlässlich des 100. Geburtstag Klages’ kündigt er Hans Eggert Schröder
von der Klages-Gesellschaft an: „Ich möchte im Dezember 1972 einen grösseren Arti-
kel schreiben und veröffentlichen mit dem Ziel, die Bedeutung von Klages endlich aus
dem Zwielicht ideologisch-politischer Auseinandersetzung herauszuholen.“548 Noch
1979 fühlt er sich durch Berthold Spangenbergs Kritik herausgefordert, sein Faible für
Klages zu verteidigen und als intellektuelle Neugierde an geistesgeschichtlichen Positi-
onen zu neutralisieren. Spangenberg hatte anlässlich der Friedrich’schen Publikation
Kulturkatastrophe gegenüber einigen Thesen Friedrichs und gegenüber dessen Bezugs-
punkt Klages Bedenken anmeldet. Friedrich antwortet ihm:
Mich interessiert weder rechts noch links; was mich interessiert, das ist die geistige Entwick-
lung der Menschheit – und in diesem Zusammenhang sind für mich Marx oder Feuerbach,
Voltaire oder Descartes ebenso potentiell interessant und wichtiggwie [sic] Nietzsche oder
Spengler, wie Burkkhardt [sic] oder Benn.549
Der Letztgenannte stellt über viele Jahre ein Ziel Friedrichs verlegerischer Bemühungen
dar, weshalb der Fall Benn als ‚verhinderte Autorenpflege‘ unter Punkt 4.2.4 gesondert
dargestellt werden soll. Auch Friedrichs Engagement für die Werke Bölls soll, da dieser
Autor für den dtv von so großer Bedeutung ist, in eine genauere Analyse integriert wer-
den (Kapitel 8).
Auf Friedrichs Einsatz für Lenz möchte ich jedoch an dieser Stelle bereits eingehen,
da der Autor exemplarisch für die Autoren der Gruppe 47 stehen kann.
Die Geschichte der Lenz-Ausgaben im dtv beginnt mit einem vernichtenden Gutach-
ten des Lektors Bienek. Dieser, selbst ein Autor, mischt seine literarästhetische Wertung
mit Vorbehalten gegen die als Gefälligkeit interpretierte Sanftmut von Lenz. Er befin-
det:
Bei den beiden Büchern von Siegfried Lenz handelt es sich, kurz gesagt, um bessere Unterhal-
tungsromane. […] Beide Bücher sind flüssig geschrieben, allzu flüssig, geben dem Leser kei-
nen Widerstand, stecken voller Sentimentalitäten, die Lenz, als geschickter Routinier, in einem
modernen, knappen Satzgefüge verfremdet. Ich glaube, über die literarische Qualität von Lenz
sind wir uns einig: sie ist keineswegs außerordentlich. Er ist mir ein allzu glatter Schreiber,
wenn ich es hart sagen soll: ein Illustrierten-Autor. Es ist nicht von ungefähr, daß die Ge-
schichten von Lenz in KRISTALL erscheinen können, aber auch noch in ‚Anthologien junger
Autoren‘. Ich will damit sagen, daß er auf der einen Seite die Anspruchslosigkeit einer Illus-
triertenstory hat, auf der andern aber so mit der modernen Erzählweise vertraut ist, daß er ge-
rade noch literarisch ernst genommen wird. Sie kennen ihn ja sicher ziemlich genau von der
Gruppe 47 her, wo er mehr durch seine Freundlichkeit besticht als durch sein Talent. Typisch
ist für ihn z. B., daß er überhaupt keine Feinde hat: und das dürfte einem guten Autor nicht
passieren!
548
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Eggert Schröder [Klages-Gesellschaft], Mar-
bach, 03. 05. 1971, BSB Ana 655.
549
Brief von Heinz Friedrich an Berthold Spangenberg [Verlag Ellermann-Spangenberg],
06. 12. 1979, Archiv dtv, als Antwort auf: Brief von Berthold Spangenberg [Verlag Ellermann-
Spangenberg] an Heinz Friedrich, 20. 09. 1979, Archiv dtv.
180 Wie das Programm entsteht
Wie dem auch sei, wir werden mit Lenz zwar keinen großen Lorbeer gewinnen, ein Geschäft
ist sicher damit auch nicht zu machen, aber vielleicht ist es nicht schlecht, wenn wir neben
Waggerl, Fussenegger – in diesem Genre – einen jüngeren ‚Nachkriegsautor‘ haben. Vielleicht
können wir uns mit Hoffmann und Campe einigen, daß wir zunächst ‚Der Mann im Strom‘
nehmen. Beide Romane auf einmal einzukaufen, halte ich im Augenblick für etwas gewagt.
Vielleicht kann man H[offmann]. und C[ampe]. mit dem zweiten Buch ‚Brot und Spiele‘ so
vertrösten, daß der Verlag nicht verärgert ist. Später können wir immer noch sehen, was wir
damit machen. Sollte Hoffmann und Campe sich nicht darauf einlassen, dann, meine ich, müß-
ten wir eben verzichten.550
Dieses Gutachten weist auf eine eher pragmatisch als ästhetisch gerechtfertigte Wahl
der Werke von Lenz für den dtv hin.
Bienek neigt dazu, als Autor seine Kollegen durchweg zunächst formalästhetisch zu
beurteilen. Dagegen wendet sich Friedrich aus persönlichen und verlegerischen Grün-
den, vielleicht aber auch aufgrund einer anderen Einschätzung der Textqualitäten, mit
lobenden Worten an den Autor. An dieser Stelle sei an die Feststellung des vorigen
Kapitels (Punkt 4.2.2) erinnert, dass Friedrich an die Literatur der Gruppe 47 andere
Maßstäbe anlegt als an die Klassiker der Weltliteratur. So rühmt er an Lenz neben er-
zählerischen Qualitäten auch die Relevanz der Aussage. Er gibt die Rückmeldung:
Die sprachlichen Qualitäten Ihres neuen Buches sind bedeutend. Auch die Technik des Erzäh-
lens hat mich sehr beeindruckt – ganz abgesehen von dem Thema, das auf ungewöhnliche
Weise eine Situation aufzeigt, in der sich der heutige Mensch (und zwar nicht nur im Krieg)
bewähren muß. Das Buch gewinnt dadurch den Umriß einer Parabel.551
Immer wieder drückt sich in Friedrichs Briefen an Lenz die Hochschätzung des Freun-
des darüber aus, dass er ihm einen exponierten Rang in der deutschen Gegenwartslitera-
tur zuspricht. Anlässlich der dänischen Übersetzung des Heimatmuseums spricht er von
„Weltliteratur“ und einer „Bestätigung Deines Ranges“.552 Gelten die Klassiker, insbe-
sondere Goethe, Friedrich als vollkommen, so wagt er es im Fall der Gegenwartslitera-
tur durchaus, lektorierend einzugreifen. Er schlägt auch Lenz Kürzungen seiner Texte
vor. Durch seine Hinweise soll der Geschichtenerzähler, eine Erzählung von Lenz, zu
dem werden, „was in ihm angelegt ist: nämlich eine bewegende Parabel über die ‚Be-
förderung der Humanität‘ durch die Macht der Phantasie – und damit letztlich die Para-
bel von der Legitimität des Schreibens überhaupt.“553 Den anthropologischen Anspruch,
den Friedrich an die Literatur erhebt, nämlich als „‚Beförderung der Humanität‘“ zu
wirken, sieht er in der Gegenwart nur selten eingelöst. Den Schriftsteller als moralische
Instanz entdeckt er hauptsächlich in Böll und Lenz, welchem er 1983 anerkennend
schreibt: „Ein denkender Schriftsteller ist mehr als ein Schriftsteller; er verkörpert Ge-
550
Gutachten über Siegfried Lenz von Horst Bienek an Heinz Friedrich, 20. 02. 1962, BSB Ana 655.
551
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 12. 06. 1963, BSB Ana 655.
552
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 04. 06. 1981, BSB Ana 655.
553
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 15. 04. 1981, BSB Ana 655.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 181
wissen.“554 Friedrichs Auffassung ist nicht zu verwechseln mit einem Plädoyer für die
littérature engagée, die ihm weiterhin fremd bleibt. Die moralische Bedeutung des
Schriftstellers (wohlgemerkt nicht des Dichters), liegt darin, die menschlichen Grund-
konstanten und ihre Einlösung in der Gegenwart zu reflektieren. Als homme de lettre
sollte der Schriftsteller mit den Mitteln der erzählenden Literatur, hier phantasievolle
Narration und einfühlsame Wirklichkeitsschilderung, eine Besinnung des Lesers beför-
dern, statt als Intellektueller in partei- oder gesellschaftspolitische Debatten des Tages-
geschehens aktiv einzugreifen.
Die Literaturbewertung mischt sich mit Wehmut, als Friedrich mit Bölls Tod im Jahr
1985 von einem weiteren Generationsgenossen Abschied nehmen muss. Es bedeutet für
ihn auch das Ende einer literarischen Ära. 1987 heißt es in einer Brief an Lenz:
Das ist eben das Kunststück im besten Sinn des Wortes: in einer Zeile auszusagen, wozu an-
dere ganze Romankapitel brauchen.
Ich schaue mich um, wo einer sein könnte, der Dir das heute nachschreibt, oder der das gar
übertrifft. Ohne faules Kompliment: Ich sehe keinen: Dem Heinrich [Böll] gelangen solche
Passagen undedem [sic] Grass in seiner großen Zeit auch. Aber jetzt verleppert sich das alles
in Unverbindlichkeiten oder in Sprach-L’art-pour-l’art. Offenbar ist es sehr schwer, ins volle
Menschenleben hineinzufassen – und zwar auch dann, wenn es nicht so voll ist. Du beweist
mit deinen Geschichten, daß man nur genau hinschauen muß, um diese Geschichten wahrzu-
nehmen – und zwar wahrzunehmen, daß sie wahr sind.555
Die Texte von Lenz werden bei Hoffmann und Campe verlegt, zunächst kein Gesell-
schafterverlag. Doch schon in den 1960er Jahren gehen die Lizenzen für Lenz traditio-
nell an den dtv.556 Friedrich begründet seine Treue vor Albrecht Knaus von Hoffmann
und Campe mit der ‚nostalgischen‘ Hochschätzung Lenz’scher Prosa:
[A]uch ich bin so altmodisch, ‚richtige‘ Erzähler mehr zu schätzen als die neumodischen Satz-
bastler, die keck montierte Wörter bereits als Inhaltsoffenbarungen empfinden und die sich
dann auch noch darüber aufregen, wenn das Publikum vor ihren Erleuchtungen nicht in die
Knie sinkt. Bei Siegfried Lenz erblicke ich Menschen und Schicksale – und wo trifft man in
der heutigen Literatur schon auf dieselben …? Halten wir also treu zu unserem Autor und
Freund. Auch das Lesepublikum wird uns diese Treue zu vergelten wissen.557
554
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 28.03.1983, BSB Ana 655. Dort heißt
es weiter: „Und dies aus gutem Grund: Wer nämlich, indem er gestaltet, versucht, dem nahezu-
kommen, was man menschliche Wahrheit oder auch Wirklichkeit (was vielleicht identisch ist)
nennt, der kommt nicht umhin, sich über dieses schwierige Geschäft auch Gedanken zu machen.“
555
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 15.12.1987, BSB Ana 655.
556
An Lenz meldet er 1967: „So haben wir nun bald das Lenz-Œuvre komplett.“ ([Durchschlag]
Brief von Heinz Friedrich an Siegfried Lenz, 13.01.1967, BSB Ana 655.) Nur die Taschenbuch-
rechte der Masurischen Geschichten hatte Friedrich bereits als Lektor für die Fischer Bücherei
eingekauft.
557
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Albrecht Knaus [Hoffmann und Campe Verlag],
08.03.1968, BSB Ana 655.
182 Wie das Programm entsteht
Umgehend nach Erhalt der Programmvorschau von Hoffmann und Campe zieht er
die Lenz-Titel ‚an Land‘, um der Gefahr zuvorzukommen, dass Knaus die Lizenzen an
andere Taschenbuchverlage vergibt. 1970 geht es um „Lenz ‚Beziehungen‘ – diesen
Titel erbitte ich im Hinblick auf unsere kontinuierliche Lenz-Pflege auf jeden Fall für
uns zu reservieren, zumal Sie inzwischen einen Lenz-Titel an Rowohlt gegeben ha-
ben.“558 Das freundschaftliche Verhältnis Friedrichs zu Knaus und die Bekräftigung der
„Lenz-Pflege“ im dtv führen schließlich 1977 dazu, dass der Verlag in den Kreis der
Gesellschafter aufgenommen wird.
Neben diesen direkten Auswirkungen des Literaturgeschmacks und der persönlichen
Beziehungen Friedrichs auf das Programm des dtv ist dieses auch durch die unterreprä-
sentierten Programmbereiche oder -aspekte konturiert. Gerne beruft sich Friedrich auf
einen Artikel, der genau diese Profilierung via negationis im Blick hat: „Die Süddeut-
sche Zeitung schrieb einmal über dtv: man erkennt die Qualität dieses Verlags an dem,
was er nicht macht. Damit ist eigentlich alles gesagt.“559
Ich möchte anhand ausgewählter Beispiele die titelmäßig auffällig ‚dünn besiedelten‘
Bereiche im dtv-Programm der Ägide Friedrich aufzeigen. Dies sind die Unterhaltungs-
literatur, drastisch-erotische Literatur und tagespolitische Stellungnahmen. Auf die mit
letzter Nennung angesprochene ‚weltanschauliche Neutralität‘, die der dtv über weitge-
hende politische Abstinenz zu wahren hoffte, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter
eingehen. Ihre Gründe sind mit der pluralistischen Ausrichtung des Programms schon
hinreichend erläutert worden (Punkt 4.1.6).
Was zunächst, gerade im Vergleich mit anderen Taschenbuchreihen, auffällt, ist die
schwache Präsenz von dezidiert unterhaltender Literatur im dtv. In einem Brief an die
DVA argumentiert Friedrich bei der Rückweisung der angebotenen Lizenzangebote
imagestrategisch:
Sie erbitten mit diesem Schreiben unsere Entscheidung über Otto Braun, Hans Ferdinand
Döbler, Ana Maria Matute, Las Vergnas, Gasperini, Abour und Faller.
Leider muss ich Ihnen sagen, daß wir die genannten Titel nicht in unser Programm überneh-
men können. Mit Unterhaltungsliteratur operierten wir bisher sehr vorsichtig, um unser an-
spruchsvolles belletristisches Erscheinungsbild nicht aufzuweichen. Diesen Kurs wollen wir
auch in der nächsten Zeit beibehalten.560
Auch Maria Friedrich betont im Interview: „Unterhaltung war sicherlich bei uns zu-
nächst relativ klein geschrieben.“561 Wolff illustriert am Beispiel des ‚Spannungsautors‘
John Le Carré, dass Friedrich „das Entstehen eines Unterhaltungsprogramms im dtv
bewusst und fast gewaltsam verhindert“ habe. Diesen, auch zu Zeiten des Lizenzange-
558
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Albrecht Knaus [Hoffmann und Campe Verlag],
22. 01. 1970, BSB Ana 655.
559
Hier zitiert aus: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Helmut Hiller, 29. 12. 1983, BSB Ana
655.
560
Brief von Heinz Friedrich an Felix Berner [DVA], 26. 10. 1965, Archiv dtv.
561
Interview mit Maria Friedrich [Verlagsleitung dtv junior, Ehefrau Heinz Friedrich], 15. 03. 2007.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 183
bots schon erfolgreichen Autor des Gesellschafterverlags Kiepenheuer & Witsch, lehnte
Friedrich, Wolff zufolge, aus Gründen der Niveauwahrung ab.562
Interessant ist Friedrichs Grenzziehung zwischen ‚E‘ und ‚U‘, ernster und unterhal-
tender Literatur. Aus Anlass einer Ablehnung des Werkes Hans Habes für den dtv gibt
er in einem Schreiben an den Walter Verlag zu bedenken:
Die Entscheidung, die wir hier getroffen haben, ist nicht neu. Vor die gleiche Alternative wur-
den wir gestellt, als die Romane von Remarque, von Vicky Baum, von Morris L. West und
anderen Erfolgsautoren ähnlichen Genres auf unserem Tisch lagen. Wir kamen in allen diesen
Fällen nach langen Überlegungen stets zu dem Schluß, lieber zu verzichten, als die nun einmal
eingeschlagene und à la longue erfolgreiche Richtung unserer Programmplanung aufzugeben.
[…] Legen Sie meinen Mitarbeitern und mir diese Absage nicht als literarischen Hochmut
aus.563
Der gemeinsame Nenner, den er für die, m. E. nicht offensichtlich in „ähnlichen Gen-
res“ schreibenden Autoren Erich Maria Remarque, Vicky Baum und Morris L. West
nennt, ist deren Beliebtheit: Es sind „Erfolgsautoren“. Anders als die ebenfalls höchst
erfolgreichen Autoren Böll, Grass oder Lenz, haben sie jedoch einen anderen Generati-
ons- und Erfahrungshorizont, so dass sie von Friedrich hinsichtlich ihrer literarischen
Qualität kategorisch von den Literaten der Gruppe 47 unterschieden werden. Der Pazi-
fist Remarque und die Jüdin Baum emigrierten aus Deutschland, Morris L. West ist
Australier. Für die negative Beurteilung des, genau wie Remarque und Baum in der
Weimarer Republik sehr populären jüdischen Autors Jakob Wassermann bietet Wolff
im Interview die Erklärung an, dass Friedrich „einfach ungeprüft die Verurteilung Was-
sermanns durch das Dritte Reich fortgesetzt“ habe.564
Einer der ersten Unterhaltungsautoren im dtv war Ephraim Kishon. Der 1964 lan-
cierte Titel Drehen Sie sich um, Frau Lot. Satiren aus Israel erreichte nach 12 Jahren
eine Auflage von einer Million Exemplaren, wofür dem Autor das goldene Taschen-
buch verliehen wurde. Dieser und andere Titel, die vom Verlag eher als Unterhaltungs-
literatur eingestuft werden, sind jedoch als solche nicht gekennzeichnet, sondern wur-
den, so Wolff, „vom Mantel der Literatur zugedeckt.“565 Mit der Reihe Crime Ladies,
die Wolff 1990 mit den Lektorinnen Andrea Wörle und Christiane Filius-Jehne betreut,
wird die Unterhaltungssparte im Programm selbstbewusster präsentiert. Aber erst mit
der Trennung der Bereiche Literatur und Unterhaltung in optischer und schließlich auch
personeller Hinsicht unter Balk ist, Wolff zufolge, die Emanzipation des Unterhaltungs-
programms abgeschlossen.
Neben der schwachen Präsenz von Unterhaltungstiteln ist auch die Absenz von ex-
plizit erotischer Literatur besonders offensichtlich, die bei Friedrich unter Pornografie-
Verdacht gestellt wird. Seine auch in zahlreichen Publikationen formulierte Ablehnung
562
Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung], 06. 03. 2007.
563
Brief von Heinz Friedrich an Josef Rast [Walter Verlag], 30. 06. 1969, Archiv dtv.
564
Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung], 06. 03. 2007.
565
Ebd.
184 Wie das Programm entsteht
einer freizügigen Schilderung von Sexualität in der Literatur speist sich aus einer Angst
vor der ‚Pornografierung‘ der Gesellschaft, worunter er, zusammengefasst, die Geschäf-
temacherei mit dem Intimen versteht. Pornografie ist für Friedrich vornehmlich ein
Nachkriegsphänomen, das er zu Lasten der ‚Amerikanisierung‘ verbucht. So finden sich
in Bieneks Sonderreihe einige Titel, die trotz drastischer Schilderungen des Sexualaktes
Friedrichs Einwänden dadurch entgehen, dass sie aufgrund ihrer avantgardistischen
Ästhetik den Kunstcharakter in den Vordergrund rücken. Der ästhetizistisch argumen-
tierende Bienek erreicht 1964 sogar die Publikation von Blaise Cendrars’ Roman Ma-
dame Thérèse, in dessen Eingangsszene die masochistisch bewilligte Vergewaltigung
einer alten Frau geschildert ist. Dieser dtv-Titel wurde im Folgenden, wie Wolff schil-
dert, oft als Präzedenzfall angeführt, wenn die Lektoren im Verlag gegen Friedrichs
Willen libertinäre Titel bringen wollten: „Darauf konnte man sich sozusagen immer
wieder berufen, wenn man sagte: ‚Wir sollten hier vielleicht Bukowski machen‘.“566
Wie Wolff berichtet, mussten einige Bukowski-Lizenzen jedoch, nachdem Friedrich auf
die obszönen Inhalte hingewiesen wurde, an den Fischer Verlag übergeben werden.567
Neben einer generellen Ablehnung sexuallastiger Titel, gibt es hinsichtlich der eroti-
schen Literatur auch Bedenken, die vorrangig ihre Präsentation im Taschenbuch betref-
fen. So führt Friedrich gegenüber dem Scherz Verlag an, dass er die freie Übersetzung
der Epigramme Marcus Valerius Martialis’, Frech und frivol nach Römersitte betitelt,
für eine bibliophile Edition durchaus tolerabel findet, jedoch einer massenhaften
Verbreitung im Taschenbuch kritisch gegenüber steht.
In einer bibliophilen Ausgabe läßt sich die pointierte Mutation des Erotischen (Martial) in das
Sexuelle heutiger Provenienz durchaus noch vertreten; in einem Taschenbuch aber, das ja
nicht zuletzt auch sehr viele junge Menschen in die Hand bekommen, nähme sich eine Veröf-
fentlichung als das aus, was sie dann auch wäre: eine Spekulation auf die gewinnbringende
Sexwelle. Und an dieser Börse möchte ich, offen gestanden, nicht mitbieten.568
Interessant an diesem Brief ist die pädagogische Haltung Friedrichs, bibliophilen Lesern
durchaus die Lektüreerfahrung zuzugestehen, die angenommene Taschenbuch-Ziel-
gruppe junger Leser jedoch vor den drastischen Versen zu bewahren.569
566
Ebd.
567
Heute ist Bukowski mit einigen Titeln bei dtv, anderen aber auch bei Fischer und KiWi vertreten.
568
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Heinz Klüter [Scherz Verlag], 25. 05. 1966, BSB Ana
655. Zuvor begründet Friedrich in diesem Brief: „In Großauflage zu billigem Preis kann man diese
Verse nicht veröffentlichen, und zwar nicht aus Gründen der Prüderie, sondern wegen der sexuel-
len Vergröberung des Originals. Ich verglich eine Reihe von Eindeutschungen mit dem lateini-
schen Urtext und musste feststellen, daß Herr Mostar [Hermann Mostar, der Übersetzer; EK] je-
weils noch ein Tütchen Sexualpfeffer zu der ohnehin scharf gewürzten Martial-Kost hinzugab.
Dadurch geraten die Verse oft bis an die Grenze des Pornographischen, und gelegentlich huschen
sie sogar darüber hinweg.“
569
Diese doppelgleisige Argumentation mag jedoch, dies gilt es zu bedenken, durchaus dem Respekt
und der Höflichkeit geschuldet sein; Schließlich war der Titel im Scherz Verlag schon als bibli-
ophile Ausgabe gedruckt worden und Friedrich wollte die Verhandlungspartner nicht brüskieren.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 185
Als eine weitere Konsequenz der literarästhetischen Sozialisation Friedrichs ist seine
Hochschätzung Gottfried Benns zu werten. Sie ist deshalb nicht unter den vorigen Ab-
schnitt subsumiert, da das Werk Benns für das dtv Programm keine herausragende Rolle
spielt. Dies ist allerdings weniger einem mangelhaften Interesse des dtv zuzuschreiben,
als unterschiedlichen widrigen Umständen, die es hier exemplarisch zu schildern gilt.
Bedeutend ist die zunächst vergebliche Autorenpflege Benns insofern, als Friedrich hier
einen Missionarsgeist entwickelt: Benn gilt ihm als der Autor, mit dessen Hilfe die
verworrenen Zeitumstände entworren werden können, verehrungswürdig gleich einem
poeta vates. Mit diesem Pathos begegnet der dtv-Leiter ansonsten nur Goethe und
Nietzsche.570 Konnte er für diese beiden Autoren im dtv verlegerisch wirken, so bleibt
eine umfassende Rehabilitierung Benns, dem in den 1960er Jahren vor allem mit öffent-
lichem Desinteresse und Hohn begegnet wurde, zunächst verwehrt. Folgerichtig schöpft
570
Friedrich konnte auch persönlich Bekanntschaft mit Benn machen, wie Maria Friedrich im Inter-
view erzählt: „Bei Benn ist er auf einen ähnlich denkenden Menschen gestoßen, der sehr gut for-
mulierte und weiter ausbaute, was er selbst dachte. Die Faszination für Benn fing ja schon 1948
an, als die ‚Statischen Gedichte‘ herauskamen. Benn war ein paar Mal bei uns zu Hause, wir ha-
ben uns auch in andern Städten getroffen, wenn er Vorträge hielt. Es war eine schöne, ja freund-
schaftlich zu nennende Bekanntschaft.“ (Interview mit Maria Friedrich [Verlagsleitung dtv junior,
Ehefrau Heinz Friedrich], 15. 03. 2007.)
186 Wie das Programm entsteht
Friedrich in diesem Fall auch außerverlegerische Möglichkeiten aus, um etwas für den
Autor zu tun.
Gottfried Benn erreicht als Autor in den frühen 1950er Jahren eine exzeptionelle
Publizität.571 Er steht in dieser Zeit für eine avantgardistische Position und gilt gerade
jungen Lesern als Vertreter der internationalen Moderne, die sie bislang nicht hatten
kennen lernen können: Zunächst wegen der restriktiven Kulturpolitik der Nationalsozia-
listen, dann aufgrund der weiterhin kulturkonservativen Ausrichtung der Nachkriegszeit
und wegen des materiellen Mangels an Büchern.
Doch die Verehrung Benns ist von kurzer Dauer und wird abgelöst vom Interesse an
der außerdeutschen Moderne und der engagierten Literatur.
Die Deutungen und Spekulationen, was letztlich zu Benns spätem Ruhm geführt ha-
ben mag, sind so vielfältig und zeitgebunden wie die Rezeption selbst. Von den Einen
als Pionier des Anti-Konventionellen gefeiert, von den Anderen in einem letzten Auf-
bäumen gegen die Moderne abgelehnt um dann, ein paar Jahre später, von den ehemali-
gen Anhängern aus der jungen Generation als Garant der Restauration zu den ‚ewig
Gestrigen‘ abgeschoben zu werden – so ließe sich verknappt ein Strang der Bennrezep-
tion skizzieren. Nach der anfänglichen Euphorie für den Dichter beginnen Schriftsteller
seit den späten 1950er Jahren, etwa in der Gruppe 47, sich von ihrem einstigen Idol
vehement abzugrenzen und ihren eigenen Literaturbegriff in Abgrenzung zu formulie-
ren. Die bekanntesten Konvertiten stellen Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühm-
korf dar. Im Fall Enzensberger betont Peter Uwe Hohendahl die Affinitäten zu Benns
Poetologie, die einem zeitgenössischen Leser Enzensbergers präsent gewesen seien und
erst durch die Umdefinierung Enzensbergers zum politischen Dichter in den Hinter-
grund gedrängt worden seien. „Am deutlichsten erscheinen die gemeinsamen Prädispo-
sitionen und Fixierungen im Begriff des autonomen Kunstwerks und der Reservatio
gegen jede Form des direkten Engagements.“572
Friedrich, der diesen Umschwung zur politisch engagierten Literatur nie vollziehen
wird, bleibt Benn auch in den 1960er Jahren ‚treu‘. „Überhaupt überzeugt mich die
Lebenshaltung Gottfried Benns immer mehr;“ lässt er Benns langjährigen Korrespon-
denzpartner Oelze wissen, mit dem er von 1962 bis 1977 Briefe wechselt, „sie ist wahr-
scheinlich für unsereinen die einzig mögliche, um sich vor dem Sog der allgemeinen
Nivellierung behaupten zu können.“573
571
Zu Zeiten des Expressionismus war Benn hingegen nur einem kleineren Kreis bekannt, wie Ho-
hendahl hervorhebt: „Überschaut man die Rezeption Gottfried Benns im expressionistischen Jahr-
zehnt, so wird deutlich: die Wirkung war auf die Avantgarde beschränkt.“ (Hohendahl, Peter U.
(Hrsg.): Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns. Frankfurt a. M.
1971, S. 29.)
572
Hohendahl, Peter U.: Gottfried Benns Poetik und die deutsche Lyriktheorie nach 1945. In: Jahr-
buch der deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 369–398, hier: S. 388.
573
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an F. W. Oelze, 08. 02. 1963, BSB Ana 655.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 187
Bei Max Niedermayer, Benns Verleger im Limes Verlag Wiesbaden, bittet Friedrich
nun immer wieder um Benn-Lizenzen für den dtv. Durch den gemeinsamen Bezugs-
punkt Benn verbunden, wird er in seinen Lizenzbitten von Oelze unterstützt. Dieser
votiert gar für eine „Volksausgabe“ der Werke Benns im dtv.574
Friedrich fährt in seinen Verhandlungen die Strategie, sendungsbewusst auf das auf-
klärerische Potenzial Benn’schen Gedanken- und Schriftguts hinzuweisen. 1961 über-
legt er
ob vielleicht eine Zusammenstellung verschiedener Aufsätze von Benn unter dem Titel ‚Kunst
und Macht‘ opportun sei. Ein derartiger Titel ist attraktiv. Das Thema ist aktuell und gerade
heute nicht ohne Pikanterie. […] Letzten Endes wollen wir ja nicht nur Geschäfte machen,
sondern auch zur Klärung der geistigen Lage beitragen.575
Max Niedermayer gibt für die Publikation zu bedenken, dass bereits Lizenzverpflich-
tungen mit Ullstein für einige der Aufsätze bestehen und mahnt:
Die zum Thema passende ‚Rede an die Emigranten‘ und ‚Der neue Staat und die Intellektuel-
len‘ sind aber doch zu problematisch, um sie in einem Taschenbuch zu bringen. Aber auch der
von Ihnen ausgewählte Expressionismus bedarf ja einer kleinen Kommentierung, die Sie wohl
in einem Vorwort oder Nachwort geben werden.576
Der Limes-Verleger ist stets darauf bedacht, den ‚politischen‘ Benn in den Hintergrund
treten zu lassen, so dass er schließlich auch die geplante dtv-Veröffentlichung Kunst
und Macht zurückstellen lässt.577 Friedrich jedoch sieht in der Publikation der umstritte-
nen Texte Benns aus den 1930er Jahren die Chance, einer quellengemäßen, objektiven
Auseinandersetzung mit Benn Vorschub zu leisten. Anlässlich der Briefpublikationen
Benns im Limes-Band Den Traum alleine tragen teilt er Oelze diesen Standpunkt mit:
Die Edition
erhellt Benns Existenz während der bitteren Jahre im 3. Reich schlaglichtartig und desavouiert
auch kleinliche Geister, die glaubten, diesem Autor wegen seiner angeblich zwielichtigen poli-
574
Darauf weist ein Brief Friedrichs an den Bennforscher Edgar Lohner hin: „Ich las mit grosser
Genugtuung, daß Herr Dr. Oelze, obwohl ich ihn in meiner Bremer Zeit eigentlich über das erträg-
liche Maß hinaus vernachlässigt habe, offenbar noch mit guten Erinnerungen meiner gedenkt und
sogar in Sachen Benn zugunsten des Deutschen Taschenbuch Verlages interveniert hat. Doppelt
erfreut bin ich über die Tatsache, daß Sie, sehr verehrter Herr Professor, den Gedanken einer dtv-
Edition Benns sehr unterstützen. Ich bin mit Herrn Niedermayer vom Limes Verlag bereits wegen
Einzelausgaben im Gespräch, aber eine „Benn-Volksausgabe“ übersteigt natürlich alle meine Er-
wartungen.“ ([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Edgar Lohner, 05. 12. 1961, BSB Ana
655.)
575
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Max Niedermayer [Limes Verlag], 08. 09. 1961, BSB
Ana 655.
576
Brief von Max Niedermayer [Limes Verlag] an Heinz Friedrich, 13. 01. 1962, BSB Ana 655.
577
Siehe [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Max Niedermayer [Limes Verlag], 12. 10. 1962,
BSB Ana 655.
188 Wie das Programm entsteht
tischen Haltung am Zeuge flicken zu können. Diesen zusätzlichen Effekt darf man nicht unter-
schätzen.578
Als Alternative zum verwehrten Konzept des Bandes Kunst und Macht versucht er 1962
Niedermayer für eine Taschenbuchausgabe der frühen Dramen Benns zu gewinnen.
Doch auch hier kommen die Bedenken des Erstverlegers: „Dazu gehörte vielleicht ein
sehr gutes Nachwort, das sich ausgesprochen mit diesen Arbeiten befaßt. Nichts politi-
sches!“579
Zwei Jahre später erscheint also in der Sonderreihe Benns Die Stimme hinter dem
Vorhang und andere Szenen. Als dann die Benn-Lizenzen 1963 an Droemer Knaur
gehen, den finanzstarken Neuling im Taschenbuchgeschäft, reagiert Friedrich beküm-
mert: „Nur im Falle Benn bin ich nun einmal sensibel, und zwar nicht aus verlegeri-
scher Raffgier und Prominenten-Hascherei, sondern weil ich mich diesem Autor persön-
lich zutiefst verbunden weiß.“580 Benn im „Ramschladen“ Droemer zu sehen, enttäuscht
Friedrich tief.
Im geheimsten Winkel meines Herzens hatte ich immer noch gehofft, wir könnten später ein-
mal in der Reihe unserer Gesamtausgaben das gesamte Œuvre von Benn, das Sie so muster-
gültig vorgelegt haben, in Taschenbuch-Form herausgeben. Das wäre eine Tat gewesen, die
uns beiden sicherlich viel Ruhm und auch ein Stückchen Geld eingebracht hätte. Nun ja …581
Solidarisierend schließt er: „Ich glaube, es ehrt uns alle, die wir uns unmittelbar nach
dem Krieg zu diesem Mann bekannten, daß wir seine überzeitliche Größe instinktiv
spürten.“582 Da jedoch in Deutschland in den 1960er Jahren immer weniger Leser von
der „überzeitlichen Größe“ Benns überzeugt scheinen und ihn vielmehr als bedenklich
578
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an F. W. Oelze, 11. 07. 1966, BSB Ana 655.
579
Brief von Max Niedermayer [Limes Verlag] an Heinz Friedrich, 07. 11. 1962, BSB Ana 655.
580
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Max Niedermayer [Limes Verlag], 27. 11. 1963, BSB
Ana 655.
581
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Max Niedermayer [Limes Verlag], 05. 02. 1964, BSB
Ana 655.
582
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Max Niedermayer [Limes Verlag], 07. 06. 1966, BSB
Ana 655.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 189
Friedrich ist, trotz des wehmütigen Eingeständnisses, dass auch er die Ausgabe gern
verlegt hätte, durchaus positiv gestimmt hinsichtlich der volkspädagogischen Chancen
der Edition. Auch hierin wird die Besonderheit des ‚Falls Benn‘ evident: Friedrich nei-
det nicht den Erfolg der preisgünstigen Limes-Ausgabe, auch wenn diese seine eigenen
Ausgabenpläne vorerst zunichte macht. Dem höheren Ziel, Benns Kunst und Denken zu
größerer Popularität zu verhelfen, ist man auch so näher gerückt.
Aufgrund der zögerlichen Haltung Niedermayers kommen, solange dieser den Limes
Verlag führt, nur drei Benn-Titel im dtv zustande: 1962 erscheint Das gezeichnete Ich.
Briefe aus den Jahren 1900–1956. Nach den frühen dramatischen Texten, die die Son-
derreihe unter dem Werktitel Die Stimme hinter dem Vorhang 1964 bringt, folgt Benns
autobiografisches Prosastück Doppelleben 1967. Die Dokumentation Den Traum allei-
ne tragen bringt der dtv jedoch erst 1969 heraus, ein Jahr nach Niedermayers Tod.
Die Kommunikation mit der Nachfolgerin des Verlegers, Marguerite Schlüter, ver-
läuft konstruktiver. Auf einen weiteren Benn-Plan Friedrichs, eine Gesamtausgabe der
Lyrik, antwortet sie 1970: „Ich würde auch sagen, daß er auf Grund Ihrer alten und
starken Affinität zu eben diesem Autor nirgends anders so legitim wäre wie bei Ih-
nen.“586 Die Gedichtausgabe scheitert, diesmal aus Konkurrenzgründen zur Limes-
Ausgabe. Zudem stellt sich nun die Zusammenarbeit mit Benns Witwe als schwierig
heraus. Ilse Benn möchte, wie Schlüter an Friedrich weiterleitet, einen „Ausverkauf“
583
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Max Niedermayer [Limes Verlag], 09. 06. 1967, BSB
Ana 655.
584
Ebd.
585
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an F. W. Oelze, 31. 01. 1968, BSB Ana 655.
586
Brief von Marguerite Schlüter [Limes Verlag] an Heinz Friedrich, 26. 02. 1970, BSB Ana 655.
190 Wie das Programm entsteht
der Werke Benns verhindern und ist deswegen Lizenzausgaben gegenüber kritisch ein-
gestellt. Eine übermäßige Präsenz des Autors im Taschenbuchformat, so gibt auch
Schlüter zu bedenken, führe zur konsequenzenreichen „Inflation“.587 Friedrich gibt sich
geschlagen und setzt erst 1973 wieder ein, sein Interesse am Werk Benns zu bekunden.
Die nächste Station auf Friedrichs Streben nach einer Benn-Ausgabe stellt eine gemein-
sam mit dem Langen Müller Verleger Herbert Fleissner „im großen Stil“ geplante
„Benn-Renaissance“ dar.588
Doch auch diese stößt auf den Widerstand der Witwe. Ilse Benn hat bereits einen an-
deren Verlag auserkoren, das Werk ihres Mannes preiswert zu publizieren. Schlüter
gesteht sie in einem Brief, den diese Friedrich weiter leitet:
[I]ch kann aus meinem Herzen keine Mördergrube machen: ich will nicht dtv, ich will
SUHRKAMP. Bei dem Grossunternehmen dtv fliesst auch die Benn Ausgabe mit im grossen
Strom, aber ohne specielle Benn-Leser. Bei Suhrkamp würde Benn auffallen. Er wäre sozusa-
gen inmitten seiner Feinde und hätte ein weites Feld, neue Leser zu gewinnen.589
Angesichts dieser bemerkenswerten Politik, stellt sich der Limes Verlag jedoch eindeu-
tig auf die Seite des dtv. Schlüter kommentiert den Brief von Ilse Benn gegenüber
Friedrich: „Big old Benn und sich freuen, wenn er bei Suhrkamp landet, das ist doch
weiß Gott zuviel.“590 An Ilse Benn schreibt sie noch deutlicher: „Die Spekulation auf
die ideologisch völlig verrannten Sozio-Politologen, die Suhrkamps Stammleserschaft
bilden, was die Edition anlangt, würde mit Sicherheit danebengehen. Diese Leute lesen
Benn ganz gewiß nicht.“591 Das wichtigste Argument, was sie neben wirtschaftlichen
Gesichtspunkten – und, nota bene, verknüpft mit diesen – für den dtv ins Feld führt, ist
die Kanonisierungsfähigkeit des Verlags:
Bei einer Lizenz von solchem Gewicht ist es sehr wesentlich, daß es eben nicht bei der Garan-
tiesumme und der Garantieauflage bleibt, sondern daß eine Einnahmequelle auf Dauer er-
schlossen wird.
Für einen solchen Langzeiterfolg scheint mir (und nicht mir allein) dtv eher prädestiniert.
Nicht nur, weil er sich seit Jahren als der führende deutsche Taschenbuchverlag durchgesetzt
hat. Schließlich hat er ja durch seine bisher erschienenen Benn-Ausgaben bewiesen, daß GB
[Gottfried Benn; EK] bei ihm richtig liegt, seine Leser und Käufer findet, und das erwartet
man ja von einer Lizenzausgabe: daß sie ‚unters Volk‘ kommt – sonst wäre sie sinnlos.592
587
Vgl. Ebd.
588
Hierauf verweist der Brief von Marguerite Schlüter [Limes Verlag] an Heinz Friedrich,
19. 07. 1973, BSB Ana 655.
589
Ablichtung des Briefes von Ilse Benn an Marguerite Schlüter, 26. 11. 1973, BSB Ana 655.
590
Brief von Marguerite Schlüter [Limes Verlag] an Heinz Friedrich, 04. 12. 1973, BSB Ana 655.
591
Ablichtung des Briefes von Marguerite Schlüter an Ilse Benn, 07. 12. 1973, BSB Ana 655.
592
Ebd.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 191
lich jedoch bleibt das langersehnte Projekt eher eine Enttäuschung. „Mit der Taschen-
buchausgabe“, erstattet Friedrich dem Erstverlag Bericht, „haben wir zwar keine Sor-
gen, aber in Euphorie setzt uns die Absatzlage auch nicht gerade.“593 Dabei konnte der
dtv, wie Friedrich gegenüber Fleissner angibt, schon nach 6 Monaten auf über 9.000
verkaufte Exemplare zurückblicken. Dies ist jedoch, gemessen an anderen, zeitgleich
lancierten Kassetten-Ausgaben, bescheiden. Im Verlag erklärt man sich die vergleichs-
weise zaghafte Reaktion des Publikums dadurch, dass die Limes-Ausgabe ein erstes
Bedürfnis nach günstigen Benn-Ausgaben gesättigt hat. Außerdem wurden die Eigen-
heiten der originalen Wellershoffausgabe in die Ausgabe unverbessert übernommen.594
Dabei findet eine zeitgenössische Resonanzschwäche für das Werk Gottfried Benns, die
man angesichts der vielen öffentlichen Schmähungen des politisch diskreditierten Au-
tors hätte annehmen können, keine Erwähnung. Im Gegenteil: Friedrich bewertet ge-
genüber Fleissner – auf die wohl provokativen Anfragen des Verlegers des Langen
Müller Verlags hin – die Veröffentlichung der Kassette positiv.595 Er spricht von einer
„gewaltige[n] Resonanz, die unsere Neuausgabe von Benns Werk in der Öffentlichkeit
ausgelöst hat“ und übersendet Fleissner zum Beweis begeisterte Rezensionen.
Bedenkt man, dass zuvor, 1968, bei Limes die preisgünstige achtbändige Ausgabe
von Benns Werken, herausgegeben von Wellershoff, verlegt wurde, so ist die Absatzbi-
lanz von 9.000 Exemplaren tatsächlich beachtlich. Sie entspricht nicht dem Bild, das die
junge Generation von der Popularität Benns zeichnet, wenn sie ihn und die von ihm
repräsentierte Kultur immer wieder für tot erklärt.596 Doch scheint die im Fall Benn als
593
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Marguerite Schlüter [Limes-Verlag], 18. 02. 1976,
BSB Ana 655.
594
Dies sind die Gründe, die Friedrich gegenüber Fleissner anführt, der im Namen der Verlagsgruppe
Langen Müller Rechenschaft fordert, in: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Herbert
Fleissner [Verlagsgruppe Langen Müller], 01. 04. 1976, BSB Ana 655.
595
Friedrich hatte Marguerite Schlüter zugeredet, den Limes Verlag der Verlagsgruppe Langen Mül-
ler anzugliedern, so dass Fleissner nun auch ein direktes ökonomisches Interesse am Verkaufser-
folg der Benn-Lizenzausgaben trägt.
596
Schon 1958 forderte Walter Muschg Benns Abdankung: „Meine Kritik will dazu beitragen, daß er
[Benn; EK] zugunsten der Größeren abdanken muß, denen er im Wege steht und auf deren Ver-
mächtnis Sie ein Anrecht haben.“ (Muschg, Walter: Absage an G. Benn. Brief an Jürgen
P. Wallmann. In: Hillebrand, Bruno (Hrsg.): Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen 1957–1986.
Mit
einer neuen Bibliographie. Frankfurt a. M. 1987, S. 30–32, hier: S. 32.) Franz Schonauer wieder-
um verteidigt Benn 1960 gegen Muschgs „fanatische[n] Moralismus“, weist aber auf den bislang
„nicht durchschauten Zusammenhang zwischen Denken und Ideologie“ hin: „Der Tod Benns
machte außerdem evident, daß seine Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg durch außerlitera-
rische Umstände zustande gekommen war, denn Benns Rolle während der Jahre 1948 bis 1952 ist
die eines Entlastungszeugen; am Beispiel seines provozierenden ahistorischen Eskapismus orien-
tierte sich die durch den Krieg und seine Folgen verwirrte deutsche Intelligenz bürgerlicher Her-
kunft.“ (Schonauer, Franz: Der Monolog eines Intellektualisten. In: Hillebrand, Bruno (Hrsg.):
Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen 1957–1986. Mit einer neuen Bibliographie. Frankfurt
a. M. 1987, S. 36–42, hier: S. 36 f.)
192 Wie das Programm entsteht
Tatsächlich kommt es Mitte der 1980er Jahre zu einer publizistisch breit gestützten
Wiederaufnahme der Beschäftigung mit dem Autor. Benn kann nun aus der historischen
Distanz abwägender und differenzierter betrachtet werden, als dies angesichts der Ver-
pflichtung zu eindeutigen politischen Standortmarkierungen in den 1960er und 1970er
Jahren möglich war.
In einem „Benn-Renaissancen“ betitelten Typoskript von 1985 reflektiert Wolfgang
Rothe die Bedingungen der jeweiligen Rezeptionsgipfel. Er macht zunächst mentale
Tendenzwenden dafür verantwortlich, die in Zeiten politischer Resignation den Rück-
zug ins Private und in mythische Gedankenwelten suchen. Zudem verweist er auf die
Bedeutung der Werkausgaben für die Resonanzwellen: „Natürlich war und ist die ver-
597
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Herbert Fleissner [Verlagsgruppe Langen Müller],
01. 04. 1976, BSB Ana 655.
598
Vgl. etwa: [Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Gernot Sittner [Süddeutsche Zeitung],
15. 01. 1986, BSB Ana 655: „Die Akademie bereitet ende [sic] April eine größere Veranstaltung zu
Ehren und zum Andenken von Gottfried Benn vor. Benn war Mitglied der Akademie bis zu sei-
nem Tod, also liegt es nahe, daß auch wir uns mit dem Autor zu seinem 100. Geburtstag beschäf-
tigen. Aber es ist nicht nur dieser offizielle Anlaß, der uns und der mich im besonderen zu dieser
Planung anregt, sondern es ist auch die, wie ich meine, säkulare Bedeutung Benns, die eine Ausei-
nandersetzung mit diesem Autor notwendig macht. Ich habe auf dem beiliegenden Papier meine
Gedanken zu einer Veranstaltung und damit auch zu meinem Einführungsvortrag skizziert.“; auch:
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hubert Arbogast [Klett-Cotta], 24. 09. 1986, BSB Ana
655.
599
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Ulrich Ott [Schiller Nationalmuseum], 05. 05. 1986,
BSB Ana 655.
Die literarästhetische Sozialisation Friedrichs und ihre Konsequenzen für das Programm 193
stärkte Beachtung Gottfried Benns zeitsynchron mit Werkausgaben“, stellt er fest und
begründet die zeitgenössische hausse mit dem Erscheinen der Taschenbuchausgabe des
Fischer Verlags, die die Erstfassungen der Werke Benns enthält. Er bestimmt die ge-
genseitige Begünstigung von Ausgabe und Resonanz, die „wechselseitige Induktion“,
damit, „daß Werkausgaben nicht voraussetzungslos vom Himmel fallen, vielmehr eine
neue Aktualität des betreffenden Schriftstellers ebensosehr ausdrücken, wie sie umge-
kehrt dessen Beachtung fördern“.600
Der Fall Benn ist ein extremes Beispiel dafür, dass Autorenpflege auch und über-
haupt von anderen Faktoren abhängen kann als dem Gusto des Verlegers. Die ver-
gleichsweise spärliche Präsenz des Autors im Programm des dtv lässt eben keine Rück-
schlüsse darauf zu, dass der Verlag nicht willens gewesen wäre, Benn zu popularisieren.
Da alle verlegerischen Mittel ausgeschöpft waren, bemüht sich Friedrich, die Populari-
tät seines literarischen Idols über andere Kanäle zu erhöhen. Der Fall Benn zeigt auch,
dass die Autorenpflege durch Friedrich keineswegs nur ökonomisch motiviert war, da
ihm selbst ein gestiegenes Interesse am Werk Benns, außer im zeitlich begrenzten Kon-
text der dtv-Ausgaben, nicht unmittelbar ökonomisch zugute kam. So ist es vor allem
ein kulturelles Sendungsbewusstsein, was Friedrich veranlasst, die Trommel für Benn
zu rühren.
600
Rothe, Wolfgang: Benn-Renaissancen. Typoskript von 1985. In: Hillebrand, Bruno (Hrsg.): Über
Gottfried Benn. Kritische Stimmen 1957–1986. Mit einer neuen Bibliographie. Frankfurt a. M.
1987, S. 251–261, hier: 251 f.
194 Kanonreflexion und Programmgestaltung
War bislang im Allgemeinen von den Faktoren die Rede, die das dtv Programm gene-
rieren, strukturieren und konturieren, so soll es in diesem Kapitel der Arbeit speziell um
die Kanonfrage und ihre Reflexion seitens der Mitarbeiter des Verlags gehen. Dazu
möchte ich den Kanonbegriff zugrunde legen, den ich in der Einleitung dieser Arbeit
formuliert habe. Unter Kanonreflexion verstehe ich die Handlungen, die sich explizit
oder intuitiv mit dem kanonischen Status eines Werks auseinandersetzen. Dies sind
nicht immer direkte Wertungshandlungen, sondern auch Reflexionen über den Be-
kanntheits- oder Beliebtheitsgrad eines etablierten, oft vor längerer Zeit erstpublizierten
Titels oder Autors und seine Präsenz in den Bildungsinstitutionen.
Ich möchte zunächst untersuchen, inwieweit die Kanonreflexion für die verschiede-
nen Verlagsmitarbeiter eine Rolle spielt und in welchem Sinne man von einem ‚Kanon-
bewusstsein‘ im dtv sprechen kann. Dazu werde ich die schon für das allgemeine
Programm konstitutiven, und offensichtlich kanonreflexiven, Referenzkonsultationen
einführend voranstellen.
Dann wird es um den Sonderfall der ausgewiesenen ‚Klassiker‘ gehen. In der Beob-
achtung ihrer verlegerischen Betreuung lassen sich Akzentverschiebungen wahrneh-
men, die vor dem Hintergrund der Konkurrenzsituation in ein Engagement münden, das
sich in den Bereichen Gesamtausgaben und Klassikerreihen niederschlägt. Unter letzte-
ren möchte ich die seit 1997 bestehende Reihe Bibliothek der Erstausgaben für eine
vertiefte Analyse herausgreifen, um an ihr die Kanonisierungsüberlegungen im Verlag
zu rekonstruieren und die derzeitige Kanonisierungspraxis mit dem kulturellen Sen-
dungsbewusstsein von Friedrich zu kontrastieren.
Im Weiteren rückt die Frage einer Textsortenpräferenz und eines Gattungskanons in
den Horizont der Untersuchung, bevor die notorischen Kanonisierungsmedien der An-
thologien und Literaturgeschichten im dtv betrachtet werden sollen.
Eine der wichtigsten Größen in kanonbezogenen Entscheidungen des Verlags sind
die resonanzverstärkenden Maßnahmen, die im publizistischen oder institutionellen
Bereich vorgenommen werden. Sie bilden den Untersuchungsgegenstand des folgenden
Abschnitts.
Abschließend soll in diesem Kapitel die Reflexion der Kanonisierungsmöglichkeiten
via Taschenbuch dargestellt werden.
Referenzkonsultation und Kanonbewusstsein im dtv 195
601
Hier: Friedrich, Heinz: Taschenbuchperspektiven. [Interview mit Heinz Friedrich] In: Börsenblatt
für den Deutschen Buchhandel (21. 09. 1971), Nr. 75, S. 2256–2262, hier: S. 2258.
196 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Tabelle 2: Kenntnis von Texten schöngeistiger Literatur bei Abiturientinnen 1960 in Prozent (n = 615
Abiturientinnen; Quelle: Haseloff, Otto W.: Das Buch im Erleben unserer Jugendlichen. In: Bertels-
mann Briefe (1960), H. 2, S. 10. [Tabelle 14])
vor allem deren inhaltliche Aneignung eine über die Schule hinausgreifende Eigenaktivität
und ein persönliches auswählendes Interesse erfordern, ist die Informationsbreite in vielen Fäl-
len erstaunlich gering. Typische Beispiele hierfür sind etwa ‚Über den Fluß und die Wälder‘,
‚Die Mitschuldigen‘ oder ‚Verlorene Illusionen‘.602
Die junge Leserschaft, die Friedrich als Hauptadressaten des Programms annahm, re-
kurriert 1960 demnach vor allem auf die Präsenz der Titel in den Feldern Schule, Öf-
fentlichkeit und Buchmarkt: Auf Lektürekanones, auf die diskursive Präsenz der Titel
etwa im Feuilleton und auf Bestseller.
Tabelle 3 soll nachvollziehbar machen, ob die Nennungen der Abiturientinnen in das
dtv-Programm eingegangen sind und überhaupt hätten eingehen können (Tab. 3). Dazu
sind für die Titel, die mehr als 30 % der Befragten in obiger Studie von 1960 genannt
haben, die Rechteinhaber und zeitgleich bzw. zeitnah erschienene Taschenbuchausga-
ben anderer Verlage genannt. Eine gewisse Konkurrenz stellen auch die Buchclub-
Ausgaben dar, die ich aber an dieser Stelle nicht ausgewertet habe, da sie die Lizenz-
möglichkeiten des dtv nicht tangieren und im Hinblick auf die Vertriebswege keine
unmittelbare Konkurrenz zur Taschenbuchausgabe darstellen. Den in der Spalte Rechte
genannten Verlagen eignen die Rechte für die Titel oder die Lizenz für deren Überset-
zung. Falls sie über eine eigene Taschenbuchsparte oder einen angegliederten Taschen-
buchverlag verfügen, ist im Feld Konkurrenz „s. links“ vermerkt. Zu beachten ist hier,
dass auch bei gemeinfreien Autoren die Lizenz eine Rolle spielt, sofern sie sich auf die
Ausgabe und/oder die Übersetzung des Titels bezieht. Im Fall von Stendhal besaß der
Insel Verlag in Wiesbaden, also ein dtv-Gesellschafter Verlag, eine Ausgabe, die der
dtv hätte nutzen können.
Die beiden rechten Spalten weisen die Ausgaben der betreffenden Titel im dtv nach,
wobei in der ersten Spalte die Ausgaben bis 1970 verzeichnet sind, die demnach auf
Lizenzverhandlungen aus dem zeitlichen Umfeld der obigen Studie basieren. Die letzte
Spalte lässt die Ausgaben erkennen, die nach 1970 im dtv erschienen sind. Die Bedin-
gungen für diese Ausgaben sind nicht mehr die gleichen wie für die Ausgaben bis 1970,
auch liegen alle Titel nach 1990 außerhalb des Zeitrahmens von Friedrichs Verleger-
schaft. Das hier genannte Jahr kennzeichnet die jeweils erste Auflage der Ausgabe.
Folgeauflagen sind nicht gekennzeichnet. Im Fall von Heine sind nacheinander vier
Ausgaben des Wintermärchens in verschiedenen Programmsparten und Ausstattungen
erschienen, die deswegen gesondert aufgeführt werden. Gesamtausgaben sind in der
Tabelle nicht berücksichtigt worden, sondern nur Einzelausgaben. Abweichend davon
habe ich bei kürzeren Texten Ausgaben mit mehreren Texten eines Autors (z. B. bei
Brecht und Heine) als solche gekennzeichnet und aufgenommen. Da nur Daten bis Juli
2009 aufgenommen wurden, ist die Gültigkeit der Aussagen zur Lieferbarkeit eines
Titels nur bis zu diesem Stand gewährleistet.
602
Haseloff, Otto W.: Das Buch im Erleben unserer Jugendlichen. In: Bertelsmann Briefe (1960),
H. 2, S. 10.
198 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Tabelle 3: Titel nach Haseloff: Das Buch im Erleben unserer Jugendlichen (1960) im dtv und anderen
Taschenbuchverlagen mit Nachweis der Lieferbarkeit bis Juli 2009 (n = 615 Abiturientinnen; fett
[EK] = lieferbar; Quelle: Vgl. Haseloff, Otto W.: Das Buch im Erleben unserer Jugendlichen. In:
Bertelsmann Briefe (1960), H. 2, S. 10.)
Rowohlt
Aus dieser Übersicht geht hervor, dass der dtv von den Titeln, die in Haseloffs Studie
von über 30 % der befragten Abiturientinnen als bekannte Titel genannt wurden, die
verfügbaren und konkurrenzmäßig sinnvollen Titel auch verlegt hat. Dies waren in den
1960er Jahren nur zwei Titel. Der erste, Goethes Reineke Fuchs, ist seit 1949 bei Rec-
lam in Stuttgart in einer Ausgabe mit den Märchen erhältlich, aber nicht als Einzelaus-
gabe präsent. Die dtv-Ausgabe war Teil der Goethe-Gesamtausgabe, die der Taschen-
buchverlag von dem Gesellschafter Artemis übernommen hatte und mit neuen
Referenzkonsultation und Kanonbewusstsein im dtv 199
Vorworten von Peter Boerner versehen ließ. Die Titel konnten jedoch einzeln erworben
werden. Ein weiterer gemeinfreier Autor, Heine, wurde von dtv nicht verlegt, was vor
allem über die Konkurrenzsituation zu erklären ist: Sowohl bei Goldmann als auch bei
Reclam ist der Titel ab 1960 im Taschenbuch erhältlich.603 Eine ähnliche Konkurrenzsi-
tuation liegt auch im Falle Stendhals vor, den Rowohlt und Goldmann im Programm
haben.
Bei den Lizenzausgaben ergibt sich das folgende Bild: Der dtv hat hier von den ange-
führten Titeln nur einen erwerben können. Er bringt 1964 die Claassen-Lizenz von
Heinrich Manns Untertan. Die letzte Nachauflage dieses Titels erschien im dtv 2002,
seitdem bringt Fischer neben der Pflege von Thomas Mann auch Heinrich Mann im
Taschenbuch. Der einzige Gesellschafter des dtv, der unter den Nennungen vertreten ist,
ist Kiepenheuer & Witsch. Erstaunlicherweise erhält nicht der dtv die Lizenz für den
zugkräftigen Böll-Titel Billard um halb zehn, sondern der – für die 1960er Jahre – un-
verhältnismäßig viel Lizenzgebühr zahlende Verlag Droemer Knaur. Die Tatsache, dass
sich der finanzstarke Verlag zwischen die Gesellschafter drängen konnte, erregt in ho-
hem Maße Friedrichs Missfallen, da er schon als Auftakt seines Taschenbuchpro-
gramms 1961 Bölls Irisches Tagebuch setzt und sich für die Pflege des Böll’schen
Werkes verantwortlich fühlt.
Die übrigen Lizenzgeber – Fischer, Rowohlt, Ullstein – sind entweder selbst an Ta-
schenbuchverlage angegliedert oder besitzen eine Taschenbuchsparte. Die Verlage Kai-
ser in München und Suhrkamp haben die Taschenbuchrechte ihrer Titel, da sie zu dieser
Zeit keine eigene Verwertungsmöglichkeit hatten, an den Fischer Verlag gegeben, die
Taschenbuchlizenz für Graham Greene von Zsolnay ging an Rowohlt.
Die Recherche der Lizenzvergaben an Taschenbuchverlage im Jahr 1960 macht deut-
lich, unter welch starker Konkurrenz der dtv auf den Markt kam. In der von mir erstell-
ten Übersicht fehlen zudem noch die Buchclub-Ausgaben und reine Schulausgaben
außer Reclam, da diese einen anderen Vertriebsweg nutzen als das Taschenbuch. Au-
ßerdem fehlen die Ausgaben der Titel aus den Verlagen der DDR.
Anhand der Tabelle wird plastisch, welcher Zusammenhang zwischen dem Bekannt-
heitsgrad eines Autors und der Ausgabe im Taschenbuch liegt. Auf eine gegenseitige
Begünstigung von Popularität und Taschenbuchausgabe lässt schließen, dass die unter-
suchten 15 Titel 1960 größtenteils im Taschenbuch erhältlich sind.604 Dies können sie
603
Die große Popularität des Autors Heinrich Heine setze dabei erst Ende der 1960er Jahre ein und
ging mit einer Aufwertung und Wiederentdeckung engagierter Literatur einher. Dokumentiert und
forciert wird dieses Interesse durch die Heine-Ausgabe des Hanser-Verlags, die Klaus Briegleb
herausgab. Darüber hinaus könnte auch das schwache persönliche Interesse Friedrichs am Autor
Heinrich Heine eine Erklärung bieten: In seiner Korrespondenz ist ein Interesse für den Autor
Heine oder dessen Werke nicht dokumentiert.
604
Vgl. die Interpretation von Haseloff unter der Tabelle: „Vor allem die in der Schule behandelten
oder preisgünstig im Buchhandel erhältlichen Schriften sind tatsächlich bekannt.“ (Haseloff, Otto
W.: Das Buch im Erleben unserer Jugendlichen. In: Bertelsmann Briefe (1960), H. 2, S. 10.)
200 Kanonreflexion und Programmgestaltung
bei einem Rentabilitätspunkt von mindestens 50.000 Exemplaren Auflage nur, wenn der
Titel auf eine gewisse Resonanz rechnen kann, eben weil er in der Öffentlichkeit disku-
tiert oder schon als Bestseller dargeboten wird. Die Taschenbuchausgabe wiederum
wirkt sich als rückverstärkendes Echo aus, die dem bereits vorhandenen Interesse mate-
riell nachkommt und es aufgrund des niedrigen Preises ermöglicht, die Titel als Unter-
richtsgegenstand oder Seminarlektüre zu wählen.
Eine wichtige Tendenz ist schließlich auch noch an der Tabelle zu ersehen: Der dtv
übernimmt in späteren Jahren auch Titel in sein Programm, die bis dahin bei Nicht-
Gesellschafterverlagen, in diesem Fall bei Rowohlt, liefen. Die ‚Abwerbung‘ ist nur
unter der Voraussetzung denkbar, dass sich der Taschenbuchmarkt weiter ausdifferen-
ziert hat und die Titel auch bei einer geringeren Auflagenhöhe durch die gestiegenen
Preise rentabel bleiben können. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass noch im-
mer fünfzehn gleiche Titel bei mindestens 30 % der Hauptzielgruppe bekannt sind.605
Es fehlt im dtv-Programm jedoch bislang Schnitzlers Liebelei, die nun auch, 70 Jahre
nach Tod des Autors, gemeinfrei ist. Andere Werke von Schnitzler, der Reigen, die
Traumnovelle und Lieutenant Gustl werden inzwischen in der Reihe Bibliothek der
Erstausgaben geführt.
Die Beziehung zwischen der im Archiv gefundenen Liste und der Programmarchitek-
tur im dtv darf jedoch nicht als monokausal angenommen werden, auch nicht im Rah-
men der schon dargestellten Einschränkungen. Sie ist schließlich nur ein Orientierungs-
punkt unter anderen, die Friedrich zu Rate zieht, als er die Leitung des dtv übernimmt.
Wichtig ist die Liste deshalb, weil sie auf die Resonanzfähigkeit von Titeln, ungeachtet
derer Entstehungskontexte und -zeiten rekurriert und damit als ein Baustein unter ande-
ren einen kanonischen Status der Titel indiziert.
Auch ein zeitnahes Projekt, die Bibliothek der Erstausgaben, ist für den Marktauftritt
1997 vorbereitet worden unter Zuhilfenahme verschiedener Lektürelisten. Darunter sind
zunächst die schriftlich fixierten und in Listenform präsentierten Leseempfehlungen der
philosophischen Fakultäten verschiedener Universitäten zu verstehen. Ich werde darauf
unter Punkt 5.4.1, wenn ich die Reihe charakterisiere, nochmals eingehen.
Über diesen Rekurs auf Manifestationen des Kanons in Form von Erhebungen des
Bekanntheitsgrads von Autoren oder von Lektürelisten hinaus, findet Kanonreflexion
im dtv auch auf einer Metaebene statt. Für den dtv lässt sich ein Wandel im Kanonver-
ständnis festmachen, der einerseits an die Literatur- und Kanonbegriffe einzelner Mitar-
beiter gebunden ist und zudem auch den Bedeutungswandel eines bürgerlichen Lektü-
rekanons widerspiegelt. Unter der Ägide Friedrich verwendet der dtv den Begriff des
Kanons selbstverständlich und fasst darunter sowohl Werke, die im schulischen und
universitären Lektürekanon zu finden sind, als auch Texte, die von Experten hochge-
schätzt und in der Öffentlichkeit als kanonisch wahrgenommen werden. Es sind dies
605
Hier sei hingewiesen auf die später in anderem Zusammenhang noch zitierte Umfrage im germa-
nistischen Seminar der Universität München (Punkt 5.4.2).
Referenzkonsultation und Kanonbewusstsein im dtv 201
zunächst Texte, die zugleich als ‚klassisch‘ bezeichnet werden und deren Status und
Wert für Friedrich nicht in Frage stehen. Dieser Klassiker-Kanon entspricht weitgehend
dem bürgerlichen Literaturkanon, wie er vor allem im 19. Jahrhundert kultiviert wurde.
Dazu treten diejenigen Texte, die für eine Epoche oder einen Stil repräsentative Merk-
male ausgeprägt haben. Dieses Kanonverständnis reproduziert wiederum besonders die
Kanonisierungsmaßstäbe der Literaturwissenschaftler. Es ist an die Voraussetzung ge-
bunden, dass ein emphatisches Interesse an der Literaturgeschichte besteht. Bei Fried-
rich zeigt sich dieses vor allem darin, dass er die Literaturgeschichte als Maßstab der
Geistesgeschichte anerkennt und ihr sogar die Vorreiterrolle zuweist.606 Beispielsweise
befindet er über die historischen Avantgarden: „Die Expressionisten, Futuristen und
Dadaisten haben zweifellos Entscheidendes für die geistige Entwicklung des
20. Jahrhunderts getan.“607
Für Friedrich ist der Kanon kein sich dynamisch entwickelndes Konstrukt, sondern
eine Art Sedimentierung des überzeitlich Besten, das unabhängig von der faktischen
momentanen Hochschätzung durch die Kanonisierungsinstanzen und das allgemeine
Publikum besteht und Wert hat. Den Umschwung im Literaturbegriff, der durch den
Generations- und Mentalitätswechsel der 1960er Jahre stattfand, nimmt er dabei nicht
als neue Richtschnur an, sondern deutet ihn als Abkommen vom ‚rechten Weg‘. Das
Interesse an politischen Texten bleibt ihm fremd, ebenso wie der operationale Kanon
ihm als Degenerationsform der alten ‚Interpretationskunst‘ erscheint. Gegenüber Hans-
Georg Gadamer äußert er:
Heute nähert man sich geistigen und auch schöpferischen Verhältnissen auf andere Art,: [sic]
nüchterner, sicher auch kleinlicher, analytischer und rationaler. Die Interpretationen verlieren
an Wärme und auch an Überschau – und das heißt: sie sind eigentlich dem, was die Vorgänger
taten, unterlegen.608
Seine Nachfolger im dtv betrachten die Kanonfrage weitaus unbeteiligter. Sie agieren
vor dem Hintergrund eines Kanonverständnisses, das ein nach Lebensbereichen seg-
mentiertes Konstrukt vorstellt. So sind die Reihen im dtv seit den 1980er Jahren, als
Göbel als Programmchef und späterer Verleger und schließlich Balk als Verleger die
Verlagshandlungen stark bestimmen, nicht einem Kanonideal verpflichtet, das einen
allgemeinen Kanon unter der Meinungsführerschaft der Literaturwissenschaftler rekon-
struiert. Vielmehr wenden sie sich an Kanonbedürfnisse einzelner Instanzen und Ziel-
gruppen, wie die Bibliothek der Erstausgaben (Abschnitt 5.4) oder die Reihen Autoren-
bibliothek und Weltliteratur für Anspruchsvolle, die im siebten Kapitel der Arbeit näher
606
Diese Verschmelzung von literarischem und geistigem Ausdruck ist ein (an Benn geschulter)
Grundgedanke Friedrichs, hier gegenüber Carl Schmitt formuliert: „Für eine Zeit, die sich im
Geistigen zunehmend amorph präsentiert, ist die rhythmische Prosa offenbar der einzige Weg,
sich noch dichterisch zu äußern.“ ([Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Carl Schmitt,
02. 06. 1965, BSB Ana 655.)
607
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Bernhard Wette, 24. 04. 1963, BSB Ana 655.
608
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans-Georg Gadamer, 28. 09. 1983, BSB Ana 655.
202 Kanonreflexion und Programmgestaltung
untersucht werden sollen. Hier wird ein Kanon durch sprachliche und bildliche Rhetorik
evoziert, der sich speziell an bestimmte Zielgruppen innerhalb und außerhalb der Insti-
tutionen wendet. Gerade auch die Tatsache, dass der dtv von vielen Titeln Parallelaus-
gaben lieferbar hält, weist auf die Tatsache hin, dass die Verlagsmitarbeiter von der
Vorstellung eines Kanons abweichen und dazu tendieren, Literatur in unterschiedlichen
Partialkanones zu positionieren.
Lässt sich derart ein Kanonbegriff der verantwortlichen dtv-Mitarbeiter rekonstruie-
ren, kann ich in einigen Fällen auch auf explizite Äußerungen zu Kanonfragen zurück-
greifen. Beim Interview wartet Wolff mit seinen Überlegungen zur Kanonisierungspra-
xis des dtv auf. Er bemerkt, dass Verlage vor allem dann kanonisieren könnten, wenn
sie selbst einen hohen Grad an personeller Kontinuität hätten. War dies bei Friedrich,
dem geschäftsführenden Gesellschafter auf Lebenszeit, noch der Fall, so ist es, laut
Wolff, für einen angestellten Verleger schwer, sich jahrzehntelang auf seiner Position
zu halten und somit diese Kontinuitäten zu schaffen. Dies führe dazu, dass „die Bezie-
hungen zwischen Verlagen und Autoren nicht mehr so stabil sind, wie sie es früher
gewesen sind.“ Neben dieser personellen Kontinuität im Verlag und der Verbundenheit
Friedrichs mit der Gruppe 47 nennt Wolff noch die Dauerhaftigkeit der Beziehungen zu
den Lizenzgebern. Nur diese ermögliche es dem dtv, ‚Autorenpflege‘ zu betreiben, also
möglichst alle Werke eines Autors im Programm zu versammeln.609 Hatte der dtv zu
Beginn noch Vertragsvordrucke, in denen keine Beschränkung der Vertragsdauer vor-
gesehen war, so sind die heute vergebenen Lizenzen stets befristet. Infolgedessen wird
ein Autor durch verschiedene Verlage ‚durchgereicht‘ und nicht mehr im gleichen Maß
wie früher mit einem bestimmten Taschenbuchverlag konnotiert.
Über diese generellen Reflexionen zur Kanonfrage gibt Wolff außerdem Hinweise,
welche Referenzpunkte er für die Programmgestaltung genutzt hat. Er nennt die im dtv
erschienenen Anthologien von Reich-Ranicki, an denen man sich im Verlag orientiert
hätte.610 Darüber hinaus erachtet Wolff seine Aufenthalte beim Wettbewerb zum Inge-
borg-Bachmann-Preis „wo ich mich jedes Jahr sozusagen kritisch fortgebildet habe“ als
kanonrelevant: Als Grund für seine Orientierungssuche in Klagenfurt gibt er an, dass
man dort ästhetisch-formal über Literatur diskutieren könne und die „dort versammelten
Kritiker und Germanisten Maßstäbe für das entwickeln, was mal Literatur werden könn-
te.“611
Dabei sind Überlegungen, ob und in welcher Hinsicht der Verlag zur Kanonisierung
von Literatur beitragen kann, für viele Mitarbeiter des Verlags neu oder gar befremd-
lich. Nachdem ich ihm auf seinen Wunsch den Arbeitstitel der vorliegenden Arbeit
609
Diese Ausführungen entstammen: Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung], 06. 03. 2007.
610
Ebd. Hier ist vor allem die Anthologie deutscher Erzählungen von 1980 zu nennen, deren Einzel-
bände lauten Anbruch der Gegenwart, Gesichtete Zeit, Notwendige Geschichten, Erfundene Wahl-
heit, Verteidigung der Zukunft. 1986 folgen außerdem die Deutschen Erzählungen des 20. Jahr-
hunderts.
611
Interview mit Lutz-W. Wolff [Unterhaltung], 06. 03. 2007.
Die ‚Klassiker‘ 203
genannt habe, bemerkt Kumpmann nachdenklich: „Von außen – das merkt man, wenn
man im Verlag arbeitet und Feuilleton liest – wird ein Verlag, ein Lektorat viel stärker
als meinungsbildend usw. gedacht, als es ist.“ Etwas später im Gespräch kommt er auf
diesen Punkt zurück:
Ist das Programm eines Verlages ein Abbild der Interessen der Leser und der Allgemeinheit,
oder nicht? Geben wir das vor, und die richten sich nach uns, oder passiert da draußen was,
und wir richten uns darauf ein? Das ist eine Frage, die hätte ich auch mal gerne beantwortet.
Ich weiß es nicht.612
Scheinen manche Reaktionen auf den Begriff des ‚Kanons‘ im dtv gewissermaßen ver-
halten, so nutzt man den Begriff des ‚Klassikers‘ für einen Autor oder Titel dort hinge-
gen sehr unbefangen. Auf diese ‚Klassiker‘ und ihre Platzierung im dtv-Programm
möchte ich im folgenden Abschnitt eingehen.
612
Interview mit Winfried Groth [Nachschlagewerke] und Walter Kumpmann [Wissenschaft],
14. 03. 2007.
613
Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. Bd. 15: Kind-Krus. 21., völlig neu bearb. Aufl. Leipzig,
Mannheim 2006, S. 114.
204 Kanonreflexion und Programmgestaltung
614
Wie überhaupt die Frage der Generation als konstitutiv für Friedrichs Denken angenommen wer-
den kann.
615
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Edwin M. Landau, 25. 03. 1981, BSB Ana 655.
Die ‚Klassiker‘ 205
Manierismus interessiert.“616 Durch das Taschenbuch jedoch – hier findet sich wieder
der Hinweis auf die Ignoranz der Taschenbuchausgaben seitens der Rezensenten – „ist
diese Grabbe-Renaissance kaum zu inaugurieren.“617 Um seine Zweifel dem optimisti-
scheren Bekannten in Israel zu begründen, muss Friedrich auf seine Intuition verweisen:
„[I]ch fürchte, daß ich hier den Puls des Leser-Interesses ein wenig besser fühlen kann
als Sie in dem etliche tausend Kilometer entfernten Israel. Und dieser Puls geht leider
nach wie vor schwach.“618
Auch die Bitte Landaus, zwei Stücke Paul Claudels ins Programm aufzunehmen,
schlägt Friedrich mit Blick auf das derzeitige Rezeptionstief ab:
Im übrigen stelle ich auch fest, dass gerade die grossen französischen Autoren aus der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts, ob Rolland oder Gide, ob Valery oder Montherlant, ob Bernanos,
Jammes oder Claudel, gegenwärtig im Windschatten des Interesses stehen. Das gilt übrigens
ebenso für Thomas und Heinrich Mann, für Stefan Zweig, für Döblin (ausser Alexanderplatz)
und andere in Deutschland. Zwar bin ich überzeugt, dass gerade diese bedeutenden Autoren
wieder eine Renaissance erleben werden – gegenwärtig jedoch hat sie noch nicht eingesetzt.619
Die hier artikulierte Kanonintuition lässt sich noch genauer fassen. An Landau, der sich
weiterhin für das Werk Paul Claudels auch im dtv einsetzt, verweist er in dem Brief, in
dem er 1981 die generationelle Rezeptionsschübe erläutert, auf die anhaltende Rezepti-
onsflaute des französischen Autors. Dabei rekurriert er auf seine Wahrnehmung der
Theaterprogramme: „Die wenigen Aufführungen reichen einfach nicht aus, um vorerst
eine Claudel-Renaissance via Großauflage einzuleiten.“620
Gilt die Programmgestaltung der Theater Friedrich als Indikation einer Popularität
der Stücke, so spielt deren literaturwissenschaftliche Rezeption eine geringere Rolle, da
sie nur einen sehr kleinen Personen- und damit Käuferkreis umfasst. Nach dem Durch-
mustern einer Vorschlagsliste für den dtv, erstellt von Eckhart Häckh, weist Friedrich
Tiecks Sternbald, Brentanos Godwi und Gellerts Briefwechsel zurück: „Diese literarhis-
torisch, aber auch poetisch wichtigen Werke können im Taschenbuch kaum in sehr
hoher Auflage (und die ist nun einmal notwendig) abgesetzt werden.“621 Auch Klop-
stocks Messias lehnt Friedrich 1961 aufgrund seiner geringen Popularität ab.622
Der Kanon der Universitätsdozenten ist also durchaus als stichwortgebende Instanz
gefragt – doch ist die Diskrepanz zwischen dem Experteninteresse und den Popularisie-
rungsmöglichkeiten via Taschenbuch zu groß, als dass man sich im dtv im Einzelnen
tatsächlich an die Empfehlungen halten könnte.
616
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Rubinsohn, 29. 04. 1964, BSB Ana 655.
617
Ebd.
618
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Rubinsohn, 13. 05. 1964, BSB Ana 655.
619
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Edwin M. Landau, 27. 06. 1973, BSB Ana 655.
620
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Edwin M. Landau, 25. 03. 1981, BSB Ana 655.
621
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Eckhart Häckh, 03. 03. 1964, BSB Ana 655.
622
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans A. Birch, 26. 07. 1961, BSB Ana 655.
206 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Stellt sich Friedrich meist auf den Standpunkt, das Publikum verschmähe zu unrecht
die ‚Perlen der Weltliteratur‘, so finden sich auch Quellen, in denen er einen Populari-
tätsschwund aus den Textschwächen des betreffenden Werks herleitet und eine qualita-
tive Selektion überdenkt. Gegenüber Wolfgang Baumgart wägt er die Möglichkeiten ab,
Barockromane im Taschenbuch zu bringen. Er rechnet generell mit einer flauen Rezep-
tion.
Der ‚Simplizissimus‘ macht da eine rühmliche Ausnahe: Grimmelshausen war ein Autor, der
seine Phantasie immer wieder auf die Linie des Wesentlichen zurückzwang und dadurch eine
Dichte des prosaischen Ausdrucks erreichte, die nach ihm nur wenige Schriftsteller wiederho-
len konnten. Der Abbé Scarron verfällt den gleichen Unarten wie etwa Beer: verliebt in erzäh-
lerische Details, läßt er seiner Phantasie freudig die Zügel schießen, auch auf die Gefahr hin,
daß sich manche Situationen in leichten Varianten wiederholen. Wie gesagt: ich glaube nicht,
daß ein größeres Publikum durch eine Neuveröffentlichung im Taschenbuch angesprochen
und aktiviert werden könnte. Vor einigen Jahren hat Rowohlt bereits mit einer Ausgabe von
Johann Beer im Taschenbuch ebenfalls Schiffbruch erlitten.623
Von den Barockromanen wählt er also den Simplicissimus als einzigen – pragmatisch –
taschenbuchfähigen und – qualitativ – popularisierungswürdigen Titel aus.
Neben diesen allgemeinen Reflexionen zum kanonischen Status eines Autors oder
Werks, verdient ein Projekt aus der Anfangszeit des dtv in diesem Zusammenhang be-
sonderes Interesse. Es handelt sich um eine 1962 angedachte Kooperation zwischen
europäischen Taschenbuchverlagen für eine Edition „internationaler Klassiker“. Die
Klassiker der meistgesprochenen europäischen Sprachen, angedacht sind im Projekt
Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und „vielleicht auch Spanisch“, sollen in der
Originalsprache für das jeweils fremdsprachige Publikum aufbereitet werden, d. h. „mit
einer Einführung, kritischem Apparat, Bibliographie, und Glossarium ebenfalls in der
Originalsprache“.624 In dieser Sache verhandelt Friedrich im Vorfeld mit Dieter Pevsner
von Penguin Books, um die Chancen einer solchen Zusammenarbeit zu begutachten.
In Pevsners erstem diesbezüglichem Schreiben gibt er protokollartig die mündlich
getroffenen Vereinbarungen wieder. Zur Zielgruppe gab es folgende Überlegung:
1. Wir kamen überein, daß die Titel so ausgewählt werden müssen, daß sie für alle drei der
folgenden Publikumsschichten in Frage kommen:
a. die Intelligenz (oder wie immer man sie nennen will),
b. Studenten
c. Schüler im letzten oder vorletzten Jahr des Gymnasiums
Der Plan sah des Weiteren vor, dass „jeder von uns eine Liste vorbereiten würde mit
25–50 Titeln (allerdings nicht in der eigenen Sprache), von denen er meint, daß sie auf
dem Markt ankommen würden.“625
623
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Wolfgang Baumgart, 14. 12. 1963, BSB Ana 655.
624
[Übersetzung] Brief von Dieter Pevsner [Penguin Books] an Heinz Friedrich, 25. 04. 1962, BSB
Ana 655.
625
Ebd.
Die ‚Klassiker‘ 207
Das Auswahlprinzip orientiert sich hier also eindeutig nicht an einer Empfehlung von
Autoritäten, sondern ist ganz auf die Marktbedürfnisse eingestellt. Diese wiederum
bilden aufgrund der projektierten Zielgruppen hauptsächlich die Bedürfnisse der Bil-
dungsinstitutionen ab. Folglich denkt Friedrich umgehend an eine Konsultation der
institutionellen Literaturvermittler: „Die wünschbaren ausländischen Klassiker für den
deutschen Gebrauch“, lässt er Penguin wissen, „werden wir inzwischen in Zusammen-
arbeit mit einigen fachkundigen Leuten (vor allem mit Schulen und Universitäten) auf-
zustellen versuchen.“626
Die Problematik des Unternehmens liegt jedoch für Friedrich auf der Hand: Die si-
cherste Abnahme eines Klassikers im Taschenbuchformat erfolgt in Deutschland über
den Massenabsatz in den Schulen. Dieses Feld jedoch besetzt Reclam, der „vorherr-
schende Lieferant der klassischen Schullektüre.“627 Auch der Reiz des Internationalen,
den die Kooperation in Friedrichs Augen mitbringen würde, wird durch die Konkurrenz
entkräftet. Im dtv ruft man sich die zweisprachige Shakespeare-Ausgabe des Rowohlt
Verlags in Erinnerung. Sie stellt nicht nur eine ähnliche Konzeption mit ähnlichen Ziel-
gruppen vor, sondern gibt zugleich ein schlechtes Beispiel ab, da sie nur mäßig reüssie-
ren konnte. „Ich frage mich nun: wenn schon zweisprachige Ausgaben problematisch
sind,“ argumentiert Friedrich gegen die anvisierte Kooperation, „wie schwierig muß das
erst bei reinen fremdsprachigen Ausgaben sein.“628 Eine Beratschlagung mit Buchhänd-
lern und Professoren, die Friedrich in Folge vornimmt, bestätigt seine Vorsicht: Der
internationalen Klassiker-Serie wird für den deutschen Buchmarkt von beiden Seiten
keine große Erfolgschance zugemessen.629
Die Bedenken überwiegen, das Projekt kommt nicht zustande. Dennoch ist es als
Vorhaben zur Untersuchung der Kanonsensibilität im dtv von Interesse. Sein exempla-
rischer Status für das Programm des dtv besteht darin, dass man, erstens, versucht, mit
den Klassiker-Editionen vorrangig die Bildungsinstitutionen zu beliefern; zweitens, in
dem Bestreben, die eigenen Vorhaben durch institutionelle Befürwortung abzusichern.
Drittens, auch dies wird an dem Beispiel deutlich, sorgt der Wettbewerb mit Reclam
und den großen Taschenbuchkonkurrenten dafür, dass der dtv in seinem Handlungs-
spielraum hinsichtlich der Klassiker stark eingeschränkt ist. Anders als bei den Autoren,
deren Rechte noch bei einem einzigen Verlag liegen, konkurrieren die Taschenbuchver-
lage im Bereich der Klassik nicht nur gebietsweise (wie im Sachbuchbereich), sondern
titelweise.
626
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Dieter Pevsner [Penguin Books], 04. 05. 1962, BSB
Ana 655.
627
Ebd.
628
Ebd.
629
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Dieter Pevsner [Penguin Books], 20. 06. 1962, BSB
Ana 655.
208 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Bevor das Klassik-Programm des dtv näher untersucht werden soll, möchte ich den
Handlungsrahmen sichtbar machen, innerhalb dessen sich das Engagement des dtv be-
wegen konnte. Dieser wird – abgesehen von den bereits für das allgemeine Programm
dargelegten Voraussetzungen und Rücksichten – für die Klassik besonders stark durch
die Konkurrenz begrenzt. Auf diesem Gebiet sind die Verlage Reclam, Fischer, Gold-
mann und Rowohlt hervorzuheben.
Da der Reclam Verlag mit der Universal-Bibliothek durch seinen ostentativen volks-
pädagogischen Impetus und sein Monopol in den Schulen und Universitäten eine Son-
derstellung einnimmt, möchte ich ihn vorab gesondert betrachten. Er stellt schließlich
nicht nur eine Konkurrenz für den dtv dar, sondern auch eine Art Vorbild Friedrichs in
Sachen literarisches „Pantheon“.630
In Selbst- und Fremdzuschreibung gilt die Universal-Bibliothek des Reclam Verlags
als Kanonisierungsunternehmen. Gegründet wurde die Reihe im so genannten „Klassi-
kerjahr“ 1867.631 Durch eine gesetzliche Neuregelung erloschen am 9. November 1867
die Vertragsrechte an den Werken der bis 1837 verstorbenen Autoren, wie auch im
Folgenden die Rechte an einem Autor 30 Jahre nach dessen Tod verfielen.632 So waren
Reclam und andere Verlage in der Lage, preisgünstige Ausgaben dieser Autoren auf den
Markt zu bringen. Eine erste Publikumsanzeige umreißt Reclams Programmatik.
Das Erscheinen s ä m m t l i c h e r c l a s s i s c h e r W e r k e unserer Literatur, die ein allge-
meines Interesse in Anspruch nehmen und deren Umfang es gestattet, wird versprochen. Hier-
durch sollen aber keineswegs Werke, denen das Prädicat ‚classisch‘ nicht zukommt, die aber
nichts destoweniger sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen, ausgeschlossen werden. Man-
ches fast vergessene gute Buch wird wieder ans Tageslicht gezogen werden – andere Werke
sollen, in die ‚Universal-Bibliothek‘ eingereiht, zum ersten mal vors Publicum treten. Die bes-
ten Werke fremder und todter Literaturen werden in guten deutschen Uebersetzungen in der-
selben ihren Platz finden.633
Dabei setzt Reclam nicht nur auf den Publikumsgeschmack, indem Werke aufgenom-
men werden sollen, die nicht ‚klassisch‘, wohl aber ‚beliebt‘ genannt werden können,
sondern will auch ein individuell vom Käufer zusammengestelltes Programm ermögli-
630
„Philipp Reclams Pantheon“ nannte Thomas Mann die Universal-Bibliothek in einer Festrede für
den Verlag. Hier zit. n. Bode, Dietrich: Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsge-
schichte 1828–2003, Stuttgart 2003, S. 97.
631
Schulz, Gerd: Das Klassikerjahr 1867 und die Gründung von Reclams Universal-Bibliothek. In:
Bode, Dietrich (Hrsg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek. Verlags- und kulturgeschichtli-
che Aufsätze. Stuttgart 1992, S. 11–28.
632
Inzwischen liegt diese Frist bei 70 Jahren nach dem Ableben des Autors (Gesetz über Urheber-
rechte und verwandte Schutzrechte [UrhG] § 64, Fassung 17. 12. 2008).
633
Zit. nach: Bode, Dietrich (Hrsg.): Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte
1828–2003. Stuttgart 2003, S. 23 f.
Die ‚Klassiker‘ 209
chen, indem die Werke einzeln erhältlich sind.634 Es ist also in der Reclam’schen Öf-
fentlichkeitsarbeit avant la lettre wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht ein kanoni-
sches Bildungsprogramm als Komplettpaket dem Käufer als ‚der Kanon‘ angedient
wird, sondern der Leser als Entscheidungsträger in den Blick gerät, der eigene Schwer-
punkte in ‚seiner Bibliothek‘ setzen kann. Diesen Gedanken der ‚eigenen Bibliothek‘
greifen nach Reclam mehrere Taschenbuchserien im Namen auf. In einer Anzeige der
Universal-Bibliothek in der Leipziger Zeitung 1868 befindet sich zudem die Auflistung
der ersten 40 Titel der Universal-Bibliothek:
1. Goethe, Faust. Erster Theil.
2. Goethe, Faust. Zweiter Theil.
3. Lessing, Nathan der Weise.
4. Körner, Leyer und Schwert.
5. Shakspere, Romeo und Julie.
6. Müllner, Die Schuld.
7. Hauff, Wilhelm. Die Bettlerin vom Pont des Arts.
8. Kleist, H. v., Mich. Kohlhaas.
9. Shakspere, Julius Cäsar.
10. Lessing, Minna v. Barnhelm.
11. Börne, Ausgewählte Skizzen und Erzählungen. Erster Band.
12. Schiller, Wilhelm Tell.
13. Shakspere, König Lear.
14. Knigge, Die Reise nach Braunschweig.
15. Schiller, Die Räuber.
16. Lessing, Miß Sara Sampson.
17. Shakspere, Macbeth.
18. u. 19. Jean Paul, Dr. Katzenbergers Badereise. Zwei Theile.
20. Iffland, Die Jäger.
21. Shakspere, Othello.
22. Hauff, Wilhelm, Jud Süß.
23. Kotzebue, A. v., Der Rehbock.
24. Hebel, J. P., Allemannische Gedichte.
25. Hoffmann, E. T. A., Das Fräulein von Scuderi.
26. Shakspere, Die Kunst eine böse Sieben zu zähmen.
27. Beer, Michael, Der Paria.
28. Lessing, Gedichte.
29. Moreto, Donna Diana. Bearbeitet von C. A. West.
30. Angely, Reise auf gemeinschaftliche Kosten.
634
„D a d i e B ä n d e e i n z e l n k ä u f l i c h s i n d , ist Jedermann in den Stand gesetzt, sich eine
Bibliothek nach eigenem Geschmack und Bedürfniß zusammen zu stellen, ohne genöthigt zu sein,
neben den gewünschten, auch ihm vollkommen gleichgiltige Werke mit in den Kauf nehmen zu
müssen.“ (Ebd.)
210 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Hier wird ersichtlich, dass Reclam zunächst vor allem die ‚nationalen‘ Klassiker vor
Augen hatte, rechnet man Shakespeare, wie damals nicht unüblich, dazu. Als Ausnahme
findet sich in diesen ersten 40 Heften nur eine Komödie des spanischen Dramatikers
Moreto.636
Annemarie Meiner erläutert in ihrer Verlagsgeschichte den nationalen Schwerpunkt
im frühen Reclam-Programm:
Deutsche Dichtung, ergänzt durch die ältesten germanischen Denkmäler (‚Beowulf‘, ‚Edda‘),
vom ‚Gudrun‘– und ‚Nibelungenlied‘ bis zur großen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts überwiegt – hier fühlt man sich, natürlicherweise, am tiefsten verpflichtet; die Natio-
nalliteratur steht, ganz im Sinne der Goetheschen Betrachtungen von 1827 / 30, vor der ‚allge-
meinen Weltliteratur‘.637
635
Anzeige der Universal-Bibliothek in der Leipziger Zeitung, 04. 02. 1868, zit. n. Bode, Dietrich
(Hrsg.): Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte 1828–2003. Stuttgart 2003,
S. 24.
636
Hans Schmoller hingegen ist der Ansicht, dass das Reclam’sche Programm von Anfang an die
Weltliteratur im Blick hatte: „Daß die Nummern 1 und 2 in Reclams Universal-Bibliothek Teil 1
und 2 von Goethes Faust enthielten, ist fast selbstverständlich, daß aber Gogol und Puschkin,
Bjørnson und Ibsen, Plato und Kant schon in den ersten zehn Jahren herausgebracht wurden, be-
weist, daß der Blick schon auf Weltliteratur gerichtet war.“ (Schmoller, Hans: Die Taschenbuch-
Revolution. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (22. 11. 1983), Nr. 93, S. 129–140,
hier: S. 132.)
637
Meiner, Annemarie: Reclam. Geschichte eines Verlages. 2., überarb. und erg. Aufl. Stuttgart 1961,
S. 41 f.
638
Bode, Dietrich: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek. Verlags- und
kulturgeschichtliche Aufsätze. Stuttgart 1992, S. 9 f., hier: S. 9.
Die ‚Klassiker‘ 211
Meiner einerseits damit, „Schmutz und Schund mit gesunder, ‚nahrhafter Hausmanns-
kost‘ zu bekämpfen“, andererseits verwahrt sie sich davor, „jene Schriftsteller, welche
die Herzen des großen Publikums im Sturm gewinnen, weil sie Wünsche und Träume
befriedigen“ vorschnell als minderwertig abzutun: „Wo die Grenze zwischen hoher und
leichter Literatur, zwischen ‚gutem‘ und ‚billigem‘ Unterhaltungsschrifttum verläuft,
darüber können die Meinungen sehr auseinandergehen.“639
In Anton Philipp Reclams Anspruch, „charakterfeste, in sich ruhende, seelisch reiche
Persönlichkeiten heranbilden zu helfen“640 spielt die ‚sozial idealistische‘641 Mentalität
des Liberalismus eine große Rolle. Georg Jäger sieht Reclam ganz in dieser Tradition,
der auch etwa Meyer’s Groschen-Bibliothek der Deutschen Klassiker für alle Stände
(1850–1855) unterstand.
Wie andere Verleger auch, übersetzte Anton Philipp Reclam ein Bildungsprogramm in ein
Verlagsprogramm. Drei Momente waren es, die im Rahmen dieser Bildungsidee die Bedin-
gungen der Möglichkeit des Erfolges der Universal-Bibliothek schufen: das Selbstverständnis
der Deutschen als Kulturnation, das ‚Projekt der deutschen Literaturgeschichte‘ und die Ka-
nonbildung. Die Kanonbildung wurde zum Ansatzpunkt verlegerischer Programmplanung, die
beiden anderen Konzepte legitimierten sie und stellten ihre gesellschaftliche Akzeptanz
sicher.642
Die Verbindung zur kanonischen Literatur bekräftigte sich nochmals, als der Reclam
Verlag den Austausch mit der Schule suchte. Nach 1900, so Jäger, „orientierte sich die
Auswahl von Titeln verstärkt an der Kanonbildung in der Schule.“643 Diese Synergie
zwischen Bildungsinstitution und Verlag, die laut Hartwig Schultz daraus entstand, dass
in beiden Instanzen Bildungsbürger agierten, führte zu gegenseitigen Abhängigkeiten.
Schon in der Schule war man bald auf die preiswerten Hefte angewiesen, denn der Staat stellte
die notwendigen Lehrmittel nicht kostenfrei zur Verfügung und die Schüler der Gymnasien
gehörten nicht alle zum Besitzbürgertum. Der Verlag wiederum konnte nur dann einen dauer-
haften Absatz erreichen, wenn er Texte anbot, die dem Lehrplan entsprachen und dadurch
639
Meiner, Annemarie: Reclam. Geschichte eines Verlages. Stuttgart 1958, S. 48 f.
640
Ebd., S. 26.
641
Thomas Mann sprach in seiner Festrede auf den Verlag 1928 in Bezug auf Anton Philipp Reclam
von einem „Idealismus […] sozialer Natur“. „Er [Reclam; EK] wollte dem Volke dienen, der gro-
ßen Masse, durch Verbreitung des Geistes, im Vertrauen auf den Geist.“ Mann, Thomas: Hundert
Jahre Reclam. Rede, gehalten am 01. 10. 1 928 zum 100-Jahr-Jubiläum der Firma Philipp Reclam
jun. im Alten Theater zu Leipzig. In: Ders.: Zwei Festreden. Stuttgart [1928] 1967, S. 45–63, hier:
S. 57.
642
Jäger, Georg: Reclams Universal-Bibliothek bis zum Ersten Weltkrieg. In: Bode, Dietrich (Hrsg.):
Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek. Verlags- und kulturgeschichtliche Aufsätze. Stuttgart
1992, S. 29–45.
643
Ebd., S. 42.
212 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Es bleibt jedoch nicht bei der Programmaffinität zum Lektürekanon. Reclam geht ab
1952 dazu über, an den Lehrplänen orientierte „Lesepläne“ zu veröffentlichen. Diese
sind nach Schulstufen gegliedert und werden von einem Fachpädagogen herausgege-
ben.645 Andreas Lerner sieht auch in der verstärkten Ausrichtung des Verlagsprogramm
auf Literatur, Philosophie und andere Geisteswissenschaften nach 1945 eine Antwort
auf die Nutzung der Universal-Bibliothek in den Bildungsinstitutionen.646 Rainer Moritz
geht so weit, die Entwicklungen der 1960er Jahre als Zäsur zu werten und veranschau-
licht seine Auffassung anhand eines Werbebriefs von Dietrich Bode, der 1963 an die
Universitätsgermanisten ging. Reclam bot den Professoren „Texte aus der deutschen
Literatur“ an, „die Sie und die Studenten der Germanistik interessieren werden, sei es,
daß diese Texte sonst überhaupt nicht in Neuausgaben zugänglich sind, oder sei es nur,
daß sie für eine Benutzung in Seminarübungen sonst kaum so preiswert angeschafft
werden können.“647 Das Verkaufsargument im Universitätssektor lautet somit: erst-
malige Verfügbarkeit der Texte bei gleichzeitiger Bezahlbarkeit durch die Studierenden.
Das Monopol auf die Versorgung der Schulen und Universitäten war Reclam auch nach
dem Erscheinen der ersten Taschenbuchreihen ‚modernen Typs‘ gesichert. Einzig der
Goldmann Verlag unternahm den Versuch, die Klassiker gesammelt als Taschenbücher
zu bringen.
Obschon der Reclam Verlag alleinig die Schulen und die Bildungsbeflissenen mit
preisgünstigem Lektürestoff versorgte, bestand offensichtlich das Bedürfnis, sich scharf
von den Taschenbucheditionen der 1950er und 1960er Jahre abzugrenzen. Meiner wid-
met dem Verhältnis von „UB [Universal-Bibliothek] und Taschenbücher“ 1961 gleich
einen ganzen Abschnitt ihrer historischen Darstellung. Das Kapitel versammelt die
gängigen Vorbehalte gegen das Taschenbuch: Es sei amerikanisch, ein buchuntypisches
Phänomen, das, ephemer und aktualitätssüchtig, den Buchmarkt mit belanglosen bis
unsittlichen Schriften überflute.648 In klarer Distinktion vom vermeintlichen Taschen-
644
Schultz, Hartwig: Reclams Universal-Bibliothek und der deutsche Bildungsbürger. In: Bode,
Dietrich (Hrsg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek. Verlags- und kulturgeschichtliche Auf-
sätze. Stuttgart 1992, S. 46–66, hier: S. 47.
645
Lerner, Andreas: Die Universal-Bibliothek in der Schule. In: Bode, Dietrich (Hrsg.): Reclam.
125 Jahre Universal-Bibliothek. Verlags- und kulturgeschichtliche Aufsätze. Stuttgart 1992,
S. 299–330, hier: S. 319.
646
Ebd.
647
Dietrich Bode: Brief an Universitätsdozenten, November 1963, Verlagsarchiv, zit. n. Moritz,
Rainer: Entwicklungslinien der Universal-Bibliothek 1960–1980. In: Bode, Dietrich (Hrsg.): Rec-
lam. 125 Jahre Universal-Bibliothek. Verlags- und kulturgeschichtliche Aufsätze. Stuttgart 1992,
S. 399–410, hier: S. 400.
648
„Die UB gehört zur Familie der Taschenbücher insoweit, als ihre Bändchen billig sind und in die
Tasche gesteckt werden können. Das ist aber auch alles, was sie mit den Taschenbüchern ameri-
kanischer Prägung gemeinsam hat, die heute in zahllosen Reihen den Büchermarkt überfluten. Es
Die ‚Klassiker‘ 213
buchkonzept spricht sich Meiner nochmals für die Bildung aus. In der im Folgenden
zitierten Passage wird eine Mischung aus Argumenten und Vorurteilen, davon divergie-
renden Statistiken und Fahnenwortreihungen präsentiert. Diese sollen das alte Verlags-
ethos nochmals heraufbeschwören und verweisen dabei deutlich auf die Problematik
einer solchen anachronistischen Bildungsrhetorik:
Ganz bewußt hat Reclam beim Aufkommen der Taschenbücher nicht auf diesen neuen Buch-
typ umgeschaltet. Er ist sich und seinem in neunzig Jahren bewährten Verlagsgedanken treu
geblieben und hat auch den altmodischen und zugleich anspruchsvollen Titel seiner Samm-
lung, hinter dem das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts hervorschaut, nicht geändert – Wieder
eine universale Bildungsbibliothek zu schaffen, darum geht es Reclam heute.
Damit wären wir bei dem vielgeschmähten Begriff Bildung angelangt und der Frage, ob und
wie weit heute noch Bildung möglich sei und gewünscht werde. Im Strudel der verschiedenar-
tigsten Reize sehen wir die nivellierte Masse von Kulturkonsumenten, die ihr bißchen ‚Bil-
dung‘ dort aufnimmt, wo sie es mühelos, ohne selbst etwas dazu beizutragen, geliefert be-
kommt. Die Konsumenten lesen nicht, denken nicht, setzen sich mit nichts und niemand
auseinander. Und doch erreichen gerade bei den Taschenbüchern die Bände mit der ‚schwe-
ren‘ Literatur besonders hohe Auflagen und hat eine Bildungsbibliothek wie die UB in drei-
zehn Jahren nach dem Krieg die Gesamtauflage von 64 Mill. erreicht. Wie reimt sich das
zusammen? Solange es Deutsche gibt, werden sie mit dem Begriff Bildung und seiner Umset-
zung in die Tat ringen. Auch, ja gerade im Atomzeitalter! Nehmen wir es wie Reclam und die
Taschenbücher als ein gutes Zeichen, daß so viel Aufnahmebereitschaft und so ernstes Streben
nach Orientierung vorhanden sind. Die Folgen der zweiten industriellen Revolution für Wirt-
schaft, Gesellschaft und den einzelnen sind noch nicht abzusehen. Lediglich eines wissen wir
genau: nur selbständig denkende und verantwortungsvoll handelnde Menschen werden den
Anforderungen unseres Zeitalters und der Automatisierung gewachsen sein. Die Aufgabe aller
Kulturmittler besteht darin, sie heranzubilden. Die nach Leitbildern und Lebensinhalten su-
chenden Jugendlichen müssen die Bildungsmöglichkeiten und -einrichtungen erhalten, die sie
brauchen, um für die Zukunft gewappnet zu sein und um zu verhindern, daß das Mehr an Frei-
zeit, das ihnen beschert wird, zu einem Danaergeschenk werde. Bei dieser neuen großen Er-
ziehungsarbeit könnten Reclam und seine UB wieder wie einst eine tragende Rolle spielen.649
fehlen ihr schon die für das Taschenbuch typischen äußeren Merkmale: der grellfarbige Bildum-
schlag, der den Blick des Passanten auf sich lenken und zum Kauf anreizen soll, es fehlt alles Ag-
gressive im Sinne der modernen Werbepsychologie. Sie kommt still und bescheiden daher, ohne
locken und verführen zu wollen. Sie ist einfach da mit ihren 1250 Nummern, da fehlt kein Titel,
der seit 1947 erschienen ist; wer einen davon wünscht, bekommt ihn auch. UB und Taschenbücher
gehen ganz verschiedene Wege. Auf Grund ihres Zwanges zur Produktion sind die Taschenbuch-
reihen ständig auf der Suche nach neuen, vornehmlich zugkräftigen Titeln, da der Käufer in unse-
rer schnellebigen Zeit gern das Neueste haben will. Bei dem raschen Produzieren kann es leicht
geschehen, daß die neuen Titel die älteren verdecken und verdrängen.“ (Meiner, Annemarie: Rec-
lam. Geschichte eines Verlages. 2., überarb. und erg. Aufl. Stuttgart 1961, S. 99.)
649
Ebd., S. 100 f.
214 Kanonreflexion und Programmgestaltung
rung der Lektüre („Die Aufgabe aller Kulturmittler besteht darin, sie [selbständig den-
kende und verantwortungsvoll handelnde Menschen] heranzubilden.“) im Zuge der
(volks-) erzieherischen Aufgaben („große[n] Erziehungsarbeit“).
Die Bedeutung des Reclam’schen Verlagsprofils für den dtv besteht darin, dass die-
ser unter Friedrichs Ägide versucht, das Vorhaben Reclams zeitgemäß fortzuführen.
Diesen Aspekt hat auch Michael Itschert im Blick, der seine Magisterarbeit zur Pro-
grammgestaltung des dtv mit dem folgenden Fazit schließt:
Der dtv stellt so von seinem Ansatz her in gewisser Weise den Versuch dar, die Intention, die
Anton Philipp Reclam im 19, [sic] Jahrhundert mit seiner ‚Universal-Bibliothek‘ verfolgt
hatte, nämlich einen Literaturkanon bürgerlicher Provenienz bereitzustellen, für das 20. Jahr-
hundert fortzusetzen.650
Da die typischen Schullektüren noch immer von Reclam gestellt werden, engagiert sich
Friedrich auf diesem Gebiet nicht. Die Alternative, statt der bekanntesten Klassiker die
randständigeren zu verlegen, erprobte er als Lektor der Fischer Bücherei – und schei-
terte. Der folgende Abschnitt widmet sich diesem und anderen Versuchen der großen
Taschenbuchverlage, klassische Texte auf den Markt zu bringen. Die Darstellung bleibt
auf die drei Verlage Fischer, Goldmann und Rowohlt konzentriert, da diese die Haupt-
konkurrenten des dtv darstellten.
650
Itschert, Michael: Der Deutsche Taschenbuch Verlag 1960–1966 [unveröffentl. Magisterarbeit der
Universität Mainz, DLA Marbach], o. O. 1996, S. 99.
Die ‚Klassiker‘ 215
war. Der Hunger nach geistiger Nahrung, nach Information, nach der Ausfüllung der Bil-
dungslücken, die in den Jahren des Nazismus entstanden waren, war riesengroß.651
Die Auswahl der ersten Texte für seine Taschenbücher begründet er in dem Kompro-
miss, seinen Qualitätsanspruch zu zeigen, ohne ein breites Publikum zu verschrecken:
noch musste man im Taschenbuchbereich mit Auflagen von 50.000 Exemplaren kalku-
lieren.652
Neben der allgemeinen Reihe startet Fischer unterschiedlich konzipierte Taschen-
buchreihen. Unter den belletristischen sticht besonders die Reihe Exempla Classica
hervor, erschienen 1960 bis 1963. Sie enthält nach Eigenaussage des Verlags
einhundert klassische Meisterwerke der abendländischen Literatur: jedes Buch steht als Bei-
spiel für eine Epoche, für den Geist einer Nation, für eine literarische Form. Die in sich geord-
nete Auswahl vermittelt die Ganzheit großer dichterischer Tradition. Sie vereinigt die unge-
kürzten, sorgfältig herausgegebenen und erläuterten Texte zu einer jedem erreichbaren
Klassiker-Bibliothek.653
Die Reihe wird gerahmt von Goethe: Der erste Titel ist Wilhelm Meisters theatralische
Sendung, der einhundertste und letzte Gedichte II. Dazwischen finden sich ‚klassische‘
Autoren von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, wobei die Auswahl, wie vom Verlag
angekündigt, auf die so genannte ‚abendländische‘ Tradition beschränkt ist.
Was einen durchschlagenden Erfolg der Reihe verhindert haben könnte, pointiert
Göbel wie folgt: „Die Exempla Classica war eine Reihe von Klassikern, die keiner lesen
will.“654 Tatsächlich finden sich unter den einhundert Titeln zahlreiche Texte, die kon-
ventioneller Weise als ‚Nebenwerke‘ eingestuft werden. Statt den Candide, bringt die
Reihe Voltaires Die Prinzessin von Babylon und Zadig. Von Fontane wird die ver-
gleichsweise unpopuläre Cécile verlegt. Aber auch die gewöhnlich als ‚Hauptwerke‘
eingestuften Titel fehlen nicht: Die Buddenbrooks sind ebenso vertreten wie Hölderlins
Hyperion.
Dadurch, dass die Reihe sowohl kernkanonische Titel als auch eher unpopuläre Titel
von Autoren integriert, die im Leserkreis als bekannt vorausgesetzt werden können,
liegt die Vermutung nahe, dass sie eher an Autoren als an Einzeltiteln orientiert ist. Im
Anhang befindet sich eine Titelliste der Reihe Exempla Classica (Tab. 16).655
651
Bermann Fischer, Gottfried: Bedroht – bewahrt. Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1967,
S. 387.
652
So wählte Fischer die folgenden ersten sechs Titel: 1. Thornton Wilder Die Brücke von San Luis
Rey; 2. Thomas Mann Königliche Hoheit; 3. Joseph Conrad Der Verdammte der Inseln; 4. Stefan
Zweig Fouché; 5. Pearl S. Buck Die Frauen des Hauses Wu; 6. Carl Zuckmayer Herr über Leben
und Tod.
653
Exempla Classica [Verlagsanzeige]. Hier in: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhoch-
deutscher Text und Übertragung. Frankfurt a. M. 1963 (= Exempla Classica 84), S. 142.
654
Interview mit Wolfram Göbel [Programmchef und Verlagsleitung], 07. 03. 2007.
655
Dabei wird ersichtlich, dass manche der Autoren mit Vor- und Nachnamen, andere nur mit dem
Nachnamen genannt sind, was unter Umständen auf ihre Popularität Rückschlüsse ziehen lässt.
Überdies weisen die Zusätze „Dbd.“ und „Gbd.“ darauf hin, dass die umfangreicheren Werke ei-
216 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Interessant ist an dieser Stelle, dass die Reihe von Friedrich konzipiert wurde, als er
noch Leiter der Fischer Bücherei war. Unter diesem Vorzeichen erlangt die Unterneh-
mung auch eine zusätzliche Bedeutung als Laboratorium für die Verkäuflichkeit klassi-
scher Titel.
Die Reihe galt den einen als hervorragend ausgewählte Sammlung kanonischer Auto-
ren, andere hingegen verstanden die Reihe als eine Ramschkiste, die mit großen Namen
beschildert war. Enzensberger wiederum, nachdem er den Verfall des Klassik-Konzepts
durch die inflationäre Rubrizierung beliebiger Werke als „Klassiker“ dargelegt hat, hebt
in spöttelndem Tonfall kontrastiv die Exempla Classica als Produkt eines literarischen
Konservatismus hervor:
Schier eigensinnig wird hier noch einmal die Gültigkeit eines Kanons behauptet, zu dessen
Definition es des sechsköpfigen Professoren-Komitees, das für die Auswahl verantwortlich
zeichnet, am Ende gar nicht bedurft hätte, so unverrückt hält sie an den traditionellen Grenzen
fest.656
ner anderen Preiskategorie zugeordnet sind, der des Großbandes bzw. des Doppelbandes. Andere
Werke wurden durch zusätzliche Werke desselben Autors ergänzt, um den standardisierten Um-
fang des Taschenbuchs füllen zu können (z. B. Shakespeares Richard III, der gemeinsam mit Lie-
bes Leid und Lust und Macbeth in einem Band herausgebracht wird.)
656
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. 1969, S. 134–166, hier: S. 147.
657
Ebd., S. 147 f. Enzensberger vermisst vor allem Faulkner und Brecht und bemängelt, dass man für
das „europäisch-exklusiven Pantheon“ Joyces Jugendbildnis dem Ulysses vorgezogen habe.
658
Alle Zitate zit. n. Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 15.
Die ‚Klassiker‘ 217
Konzept verweist rhetorisch auf das Bewusstsein, dass Lesegewohnheiten und postu-
lierter Kanon auseinandergetreten sind.
Aufgrund der Marketingstrategie, dass die Leser zum Eintreten in einen „EC-Club“
bewegt wurden, wie auch des Konzeptes, unbekanntere Werke zu lancieren, geriet Fi-
scher bei einigen Kritikern in den Verdacht, sich die Programmatik der Exempla Classi-
ca als „kulturelles Galamäntelchen“ umgehängt zu haben.659 Dieter E. Zimmer äußert in
der Wochenzeitung Die Zeit 1960 den Verdacht, bei Fischer habe „nicht die unvorein-
genommene Bemühung um Qualität, sondern allein der Wunsch Pate gestanden, ein
paar noch nicht vorhandene Titel auf den Markt zu bringen.“660
Die Bände der Exempla Classica waren kein Erfolg für Fischer. Die erste Lehre, die
Friedrich selbst aus den Erfahrungen mit dieser Reihe zog, war, dass er kein Team von
professoralen Autoritäten mehr engagierte, um die Klassik-Titel auszuwählen und ge-
wissermaßen ex cathedra zu ‚bewerben‘. Die zweite Konsequenz war, dass er sich im
dtv auf die gängigen Titel beschränkte, statt diejenigen Titel zu lancieren, an die sich
bislang kein Verleger gewagt hatte. Dies zeigt zugleich die Einsicht in die Beschränkt-
heit der Kanonisierungsmöglichkeiten via Taschenbuch. Auf die Bitte Paul Stöckleins,
Ferdinand von Saar zu verlegen, antwortet er 1965, das Taschenbuch sei „nicht der
rechte Platz für diese Wiedergutmachung literarischer Unterlassungssünden“ und er-
klärt:
Selbst unsere spärlichen Versuche, bekanntere Autoren der Vergangenheit (Grimmelshausen,
Sealsfield, Bierbaum) durch eine hohe Taschenbuch-Auflage zu akzentuieren, schlugen fehl,
weil uns das Publikum die Gefolgschaft verweigerte. Ein Gedankenaustausch mit meinen Kol-
legen vom Fischer-Verlag bestätigte leider diese trüben Erfahrungen; denn auch die Reihe
‚exempla classica‘ erbrachte nicht den Erfolg, den sich die Initiatoren davon erwartet haben.
Gewiß: der Reihe haften einige Mängel, vor allem in der Gesamtplanung, an – aber jede ein-
zelne Edition ist, soweit ich das überschauen kann, recht sorgfältig ediert. Gerade für junge
Menschen, insbesondere Germanisten, könnten die exempla classica eine wertvolle Hilfe sein.
659
Siehe Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Mas-
senpresse. Taschenbücher in Deutschland 1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift. 5),
S. 35.
660
Zimmer, Dieter E: Beitrag. In: Die Zeit (22. 1. 1960), zit. n. Rössler, Patrick: Aus der Tasche in die
Hand. Rezeption und Konzeption literarischer Massenpresse. Taschenbücher in Deutschland
1946–1963. Karlsruhe o. J. [1997] (= rheinschrift. 5), S. 36. Insgesamt jedoch schildert Bermann
Fischer die Aufnahmebereitschaft für seine literarischen Taschenbucheditionen als unproblema-
tisch. Er verzeichnet hingegen die bestehenden Vorbehalte gegen das Taschenbuch als hinderlich
für den Sachbuchbereich: „Während die literarische Produktion der Fischer Bücherei ungeteilten
Beifall gefunden hatte, setzte gegen unsere wissenschaftlichen Taschenbücher heftiger Widerstand
von gewisser Seite her ein: nicht etwa gegen ihre Qualität – die war unangreifbar – aber gegen die
‚Profanisierung höchster geistiger Güter‘ durch ihre Massenverbreitung. Die merkwürdigsten Ar-
gumente wurden ins Feld geführt, u. a. die Achtung vor den geistigen Werten würde durch die zu
leichte Zugänglichkeit zerstört; um ein Buch richtig in seinem Wert zu schätzen, müsse man es
sich vom Munde absparen; diese hier so billig auf den Markt geworfenen Einsichten und Erkennt-
nisse wären nicht für jedermann bestimmt […].“ (Bermann Fischer, Gottfried: Bedroht – bewahrt.
Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1967, S. 392 f.)
218 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Wenn wir heute eine Auswahl aus Ferdinand von Saar oder auch von der bekannteren Ebner-
Eschenbach bringen, so bin ich gewiß, daß uns die Hälfte der Auflage liegen bleibt – und das
ist ein Effekt, der den Aufwand leider nicht lohnt.661
Doch der Markt für die ‚zentralen‘ Werke der literarischen Tradition war bereits durch
Goldmann besetzt. Die als Goldmanns Gelbe Taschenbücher angeboteten Klassiker-
Editionen im Taschenbuchformat galten allerdings als so unsorgfältig ediert, dass sie
eher Empörung auslösten, als dass es ihnen gelang, Reclam ernsthafte Konkurrenz zu
bieten. Enzensberger etwa moniert die „schäbige Art und Weise, wie Goldmann lange
Zeit die kanonischen Texte editorisch behandelt hat. […] Die Ehrfurcht vor den Klassi-
kern, auf die der Verleger beim Käufer spekulierte, schlug er auf diese Art selber in den
Wind.“662 In ähnlichem Tonfall vermerkt Hauri:
Mit unverhüllter Absicht brach er [der Goldmann Verlag; EK] ins Revier des Reclam-Verlags
ein und druckte alles, wonach die Schule Bedarf hatte, nicht aus Liebe zum Kind, sondern weil
hier der Absatz garantiert und die Texte vogelfrei waren. Die großen Schriften abendländi-
scher Tradition wurden zusammen mit ein paar allgemeinen Phrasen der Einleitung in grelle
Bände gesteckt und für DM 1.90 abgegeben.663
Für die anderen Taschenbuchverlage, die ebenfalls eher Leseausgaben statt Arbeits-
grundlagen für Schule und Universität im Programm führten, stellten Goldmanns Klas-
siker jedoch durchaus eine ernstzunehmende Konkurrenz dar.
Im dtv etwa gibt man Goldmanns wegen 1963 den Plan auf, Brentanos Märchen zu
verlegen. Friedrichs apologetische Erklärung an den Heidelberger Germanisten Arthur
Henkel lautet:
Offensichtlich hat der Goldmann-Verlag, der ja in seinen Entscheidungen sehr gewissenlos ist,
Nachricht von unserem Vorhaben, eine Edition der Märchen von Brentano zu veranstalten,
bekommen. Er kündigt jetzt, zugleich mit der Herausgabe des ersten Bandes, eine Brentano-
Ausgabe (Ausgewählte Werke) an, in der die Märchen in zwei Bänden vollständig enthalten
sind. […] Ich bin wirklich betrübt, daß unser schöner Gedanke der Märchen-Ausgabe durch
Goldmann nun so nachhaltig verwässert und wahrscheinlich sogar zunichte gemacht wird.
Aber so ist das immer: man gibt sich Mühe, ein Buch sorgfältig und mit der nötigen Verant-
wortung vorzubereiten, ein anderer jedoch, der sich weniger Gedanken um die Stichhaltigkeit
seiner verlegten Texte macht, wittert das Vorhaben, indem er rasch einen beliebigen Text auf
den Markt wirft.664
Rowohlt wiederum brachte 1957 bis 1973 die Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur
und der Wissenschaft auf den Taschenbuchmarkt. Die insgesamt 198 Titel wurden von
Ernesto Grassi unter der Mitarbeit von Walter Hess und Wolfgang von Einsiedel he-
661
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Paul Stöcklein, 28. 01. 1965, BSB Ana 655.
662
Enzensberger, Hans M.: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion. In: Ders.:
Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. [1958] 1969, S. 134–166, hier: S. 148.
663
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 13.
664
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Arthur Henkel, 20. 06. 1963, BSB Ana 655.
Die ‚Klassiker‘ 219
rausgegeben.665 Enzensberger lobte die Reihe als herausragende Edition, und auch
Hauri befindet: „Das sorgfältigste Unternehmen in der Herausgabe klassisch geworde-
ner Texte stellen ‚Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft‘ dar. Ihnen
liegt eine klare Zielsetzung zugrunde.“ Aus der internen Verlagsankündigung zitiert er,
es sollen „‚nicht die landläufigen, freigewordenen Klassiker-Texte nachgedruckt wer-
den […], sondern Perlen der Weltliteratur in besten Übersetzungen […], nicht für die
breite Masse, sondern für literarisch und wissenschaftlich interessierte Leser.‘“666 Die
Nummer 1 der Reihe sind Platons Sämtliche Werke, gefolgt von Graciáns Criticón oder
Über die allgemeinen Laster des Menschen.
Wo Friedrich das von ihm selbst betreute Programm der Exempla Classica in seine
Verlagsentscheidungen für den dtv einplanen konnte, wurden seine Pläne von den unbe-
rechenbaren Aktionen des Goldmann Verlags manches Mal durchkreuzt.
Rowohlts Klassiker-Reihe zielt wiederum aufgrund ihrer editorischen Qualität auf
ein ähnliches Publikum ab wie der dtv.
Die verlagsinternen Überlegungen hierzu dokumentiert ein Schreiben Friedrichs an
den Gymnasiallehrer und Übersetzer Walter Widmer:
Ein Tagesordnungspunkt verwies auf die Frage der Klassiker-Ausgaben. Wir haben im Kreis
der Gesellschafter ausgiebig und mit unterschiedlicher Meinung über den Komplex diskutiert,
die Argumente, die ich Ihnen schon vorgetragen habe, spielten dabei wiederum eine zentrale
Rolle: Es gibt bereits in drei Taschenbuch-Verlagen Editionen klassischer Autoren, nämlich
bei Rowohlt, Fischer und Goldmann. Die singuläre Veröffentlichung einiger klassischer Titel
im Deutschen Taschenbuch Verlag scheint daher wenig sinnvoll; denn sie würde angesichts
der auf diesem Gebiet wirklich erdrückenden Konkurrenz kaum Chancen haben.
Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu begegnen, bestünde darin, eine konsequente
Klassiker-Reihe aufzubauen und dem Leser vorzustellen. In diesem Falle würden sich
Doubletten nicht vermeiden lassen, wenn die Titelfolge einigermaßen repräsentativ ausgewählt
wird. Außerdem müßten wir damit rechnen, daß gute Übersetzungen oder textkritisch gesi-
cherte Werke bereits an die bestehenden Klassiker-Reihen vergeben sind, so daß wir uns der
schwierigen Aufgabe gegenübersähen, entweder eigene Übersetzungen anfertigen zu lassen
oder die Texte noch einmal zu überprüfen. […]
Diesen handfesten und realistischen Einwänden war, wie Sie sicher verstehen werden, kaum
zu begegnen, zumal sie mit meiner Skepsis, Klassiker-Editionen bei uns gegenüber, weitge-
hend übereinstimmten. Ich selbst bin betrübt über die Einschränkungen, die ich mir in punkto
Klassiker-Ausgaben auferlegen muß; denn ich habe ja vor mehreren Jahren bei Fischer (und
damals noch ohne die Konkurrenz von Goldmann und Rowohlt) eine Klassiker-Reihe aufzu-
bauen versucht, die leider nicht mit dem nötigen Nachdruck betrieben worden ist.667
665
Spricht eine Statistik aus dem Jahr 1975 davon, dass die Reihe 198 Titel enthält, heißt es in der
Verlagschronik, dass hier „ca. 150“ Titel erschienen sind. Diese Divergenz könnte damit zu erklä-
ren sein, dass einige Titel mehrbändig erschienen sind und die Zählung unterschiedlich vorge-
nommen wurde. Vgl: Naumann, Uwe; Rössler, Patrick (Hrsg.): 50 Jahre rororo. Eine illustrierte
Chronik. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 15–17 bzw. S. 27.
666
Hauri, Reinhard: Das Taschenbuch ein Bildungsgut? St. Gallen 1961, S. 14.
667
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Walter Widmer, 26. 01. 1962, BSB Ana 655.
220 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Die hier getroffenen Abwägungen münden in die Entscheidung, sich im dtv auf „Groß-
ereignisse“, also Gesamtausgaben, zu spezialisieren: „In diesem Zusammenhang“, so
Friedrich gegenüber Christ und Welt, „kamen wir folgerichtig auf die Idee, anstelle der
Einzelausgaben von Klassikern Gesamtausgaben zu versuchen.“668 Diese haben den
Vorteil, selbst Reclams Unternehmungen ‚die Stirn bieten‘ zu können, eine bisherige
Marktlücke im Taschenbuchsegment zu schließen und ziehen außerdem die Aufmerk-
samkeit der Öffentlichkeit auf den dtv. Erst in den 1970er Jahren, nachdem die Aufla-
genhöhe bereits allgemein sinkt, kann es sich der dtv leisten, Parallelausgaben zu vor-
handenen Klassikertiteln zu lancieren und auf Titel auszuweichen, die ‚zentrale‘ Werke
des literarischen Kanons flankieren.
Unter den Klassikern, die im dtv seit seinem Bestehen verlegt wurden, ragt das Werk
Goethes heraus. 1961 beginnt die Herausgabe Goethes Sämtlicher Werke in 45 Bänden
auf der Grundlage der Artemis-Gedenkausgabe, herausgegeben von Ernst Beutler, wo-
bei der dtv großen Wert darauf legte, die Bände von Peter Boerner neu einrichten zu
lassen und so ein ‚eigenes‘ Projekt aus der Lizenzübernahme des Gesellschafterverlags
zu machen. Einen Reprint der Beutler-Ausgabe bringt der Verlag im Jahr 1977 als
Dünndruckversion in 18 Bänden auf den Markt. Es folgt zum 150. Todestag Goethes im
Jahr 1982 die Hamburger Ausgabe, von Erich Trunz herausgegeben. Das vielleicht
gewagteste Unternehmen in diese Richtung stellt die vierte Goethe-Ausgabe im dtv dar,
die im Jahr 1987 auf den Markt gebrachte Weimarer Sophien-Ausgabe in 143 Bänden.
Damit positioniert sich der dtv als derjenige Verlag, der für die Popularisierung der
Werke Goethes zuständig ist. Goethe wird zu einem ‚Aushängeschild‘ des dtv. Er steht
für die Solidität des Programms, das, über alle Moden erhoben, das Zuverlässige in
zuverlässiger Form bringt. Bienek entsinnt sich der Vorüberlegungen zum dtv-Pro-
gramm, wo bereits Friedrichs Gedanke an eine Goethe-Gesamtausgabe im Taschenbuch
feststand:
Und ich erinnere mich auch, daß Friedrich gleich seine Lieblings-Idee hervorholte: eine voll-
ständige Ausgabe von Goethes Werken in 45 Bänden, nach der Artemis-Ausgabe, die aber in
Leinen fast unerschwinglich war; es war sein Traum, Goethe so wirklich zum Volksklassiker
zu machen. So kühn, ungewöhnlich, ja verrückt diese Idee war (ihre Verwirklichung zog sich
dann auch, bis zum letzten Band, über zwei Jahre hin), niemand konnte damals ahnen, was sie
dann für Folgen im Hinblick auf Gesamtausgaben im Taschenbuch haben sollte.669
668
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Dieter Hoffmann [Redaktion Christ und Welt],
23. 11. 1961, BSB Ana 655.
669
Bienek, Horst: Wie war das doch mit der ‚sonderreihe‘? Ein fiktiver Brief von Horst Bienek.
Spanien, 10. April 1999. In: 20 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag 1961–1981. München 1981,
S. 73–77, hier: S. 75.
Die ‚Klassiker‘ 221
Auf die Goethe-Ausgabe folgt in drei Bänden Des Knaben Wunderhorn, dann die Wer-
ke Kleists, Büchners und Schillers. Da dem Bezug über die Backlist gerade im Bereich
der Klassiker hohe Bedeutung zukommt, lohnen sich die Investitionen in die sorgfältige
Edition und solide wie aktuelle paratextuelle Flankierung hier besonders. Friedrich
erläutert, er sei der Meinung
Editionen umfangreicherer Art (wie zum Beispiel diese Texte der Weltliteratur) so hieb- und
stichfest wie nur irgend möglich herauszugeben und sie dadurch über einen möglichen Tages-
erfolg hinaus wertbeständig zu erhalten. Solche Objekte lohnen sich nur, wenn sie Longseller
sind.670
Schließlich holt die Konkurrenz den dtv ein: nach 1965 wird es für den Verlag schwie-
rig, vollständige Werkausgaben zu verlegen. Doch nicht nur die Konkurrenz wirkt sich
hier aus, sondern auch das Kaufverhalten der Leser, deren Interesse sich meist auf die
literarischen Texte der Autoren beschränkt. Nachdem 1965 die erste Gesamtausgaben-
euphorie im dtv verklungen ist, kommen vielfach Auswahlausgaben ohne Tagebuchein-
träge und Briefe im dtv zustande. Die „Taschenbuchehre“, die der dtv mit Martin Bu-
bers Bibel einlegen könnte, so Friedrich an den Gesellschafter Hegner, „reicht eben nur
für eine kräftige Initialzündung aus – spätestens nach Band 4 verhallt das Echo, und wir
müssen sehen, wie wir die begonnene Editon mit Anstand und ohne allzu großen Ver-
lust zu Ende bringen.“671
Der Absatz, weiß Friedrich, hängt dabei auch stark vom Rang im schulischen Lektü-
rekanon ab: „Bei Goethe, Schiller und Kleist liegen die Verhältnisse wesentlich günsti-
ger;“ ergänzt er im Fall Buber, „denn diese Autoren gehören zum ‚klassischen Bestand‘
und ihre Werke werden auch (was für uns recht wesentlich ist) in den Schulen gele-
sen.“672 So wagt man sich für Werkausgaben an die weniger unumstößlichen Kanon-
größen nicht heran, nachdem andere Verlage mit Thomas Mann (Fischer), Benn (Li-
mes) und Kant (Suhrkamp) Enttäuschungen hinnehmen mussten und selbst bei
etablierten Autoren wie Dostojewski (Fischer) mit der Taschenbuchedition zögern. Dem
Walter Verlag sagt Friedrich 1969 eine Edgar Allan Poe-Ausgabe ab, da diese ins bishe-
rige Konzept nicht leicht zu integrieren sei:
Für uns stellt sich noch das spezielle Problem, daß wir bisher nur lupenreine Klassiker im lite-
rarhistorischen Sinne vorlegten (Goethe, Schiller, Kleist, Büchner, Wunderhorn), die Klassiker
der Moderne aber aus unserem Angebot ausklammerten. Wir müßten uns demnach rein wer-
bemäßig etwas einfallen lassen, um nach Goethe, Kleist und Schiller den gesamten Poe eini-
germaßen sinnvoll in die bisherigen Klassiker-Offerten einbauen zu können.673
Poe zählt in Friedrichs Betrachtung also nicht als „lupenreine[r] Klassiker“, und, was
für eine Taschenbuchausgabe schließlich ausschlaggebend ist, das „Interesse für Edgar
670
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Wolfgang Stapp [Stapp Verlag], 08. 03. 1968, BSB
Ana 655.
671
Brief von Heinz Friedrich an Peter Bachem [Hegner Verlag], 29. 10. 1965, Archiv dtv.
672
Ebd.
673
Brief von Heinz Friedrich an Herbert Placzek [Walter Verlag], 04. 02. 1969, Archiv dtv
222 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Allan Poe ist weder dem Interesse für Benn noch dem für Tucholsky oder dem für einen
anderen ‚publikumswirksamen‘ Autor gleichzusetzen.“674
Die Folge dieser Überlegungen ist, dass das Werk Poes im dtv zunächst in verschie-
dene Reihen eingestreut wird und dann in Jahresabstand als Einzelausgaben in die Rei-
he dtv Klassik gebracht wird, statt als Gesamtausgabe zu erscheinen.675
Auch bei anderen Autoren bleibt Friedrich skeptisch hinsichtlich ihrer Kanonizität,
verstanden als Möglichkeit, ihre Werke in hohen Stückzahlen abzusetzen: „45 Bände
Goethe waren schon ein harter Brocken“ erklärt er Hans Rubinsohn, der ihm eine Her-
der-Ausgabe vorschlug, „aber 45 oder gar 50 Bände Herder würden in Deutschland
sicherlich nicht die 25.000 oder 30.000 Leser finden, die für unsere Großauflagen drin-
gend notwendig sind.“676
Neben diesen resonanzstrategischen Überlegungen spielen auch im Klassikerbereich
pragmatische Rücksichten allgemeinerer Art eine Rolle: Der dtv muss die edierten
Klassiker vorrangig aus den Programmen der Gesellschafter entnehmen. Außerdem
weist die Pause zwischen den Klassiker-Ausgaben von 1961–1965 und späteren Jahren
darauf hin, dass der dtv das Kaufverhalten seiner Leser nicht überstrapazieren wollte.
„Ein kontinuierliches Gesamtausgaben-Programm würde nach unseren Erfahrungen
[…] die Möglichkeiten, Gesamtausgaben im Taschenbuch zu veranstalten, überfor-
dern“, erklärt der dtv-Leiter auf die Bitte des Zürcher Stauffacher Verlags hin, im Be-
reich Klassik zu kooperieren. „Wir setzten aus diesem Grund weitere Neuerscheinungen
vorübergehend aus, um unseren Interessenten Gelegenheit zu geben, die bisher erschie-
nenen Werke anzuschaffen.“677
Die Klassikerausgaben sind in den späten 1960er Jahren also zunächst einmal weni-
ger attraktiv geworden für den dtv, da die zugkräftigen Titel nun auch von den Konkur-
renzverlagen publiziert werden und die Auflagenhöhe noch sehr vorsichtige Dispositio-
nen gebietet. Friedrich veranlasst dies zu kulturkritischen Klagen, die auch vor dem
Hintergrund der mentalen Umbruchsituation 1968 gelesen werden müssen. An seinen
engen Bekannten, den Schriftsteller und Übersetzer Johannes von Guenther, schreibt er
1968:
Und was die Klassiker angeht: sie erleben nur eine Scheinblüte. Den unbefangenen Beobach-
ter des Buchmarkts mag die Veröffentlichung sogenannter Volksausgaben höher stimmen,
aber hinter den Kulissen dieser Volksausgaben sieht es längst nicht so rosig aus, wie dieser
674
Brief von Heinz Friedrich an Josef Rast [Walter Verlag], 06. 02. 1976, Archiv dtv.
675
Der Goldkäfer, 1976, dtv Zweisprachig und 1979, dtv Bibliothek Kubin. Dann, in der Reihe dtv
Klassik: Detektivgeschichten, 1979; Faszination des Grauens, 1981; Der Teufel im Glockenturm
und andere groteske Erzählungen, 1983; Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nan-
tucket, 1984; Die Maske des roten Todes. Sämtliche Arabesken, 1984; Phantanstische Fahrten.
Das Tagebuch des Julius Rodmann. Ein Sturz in den Malstrom, 1985; Der Ballon-Jux und weitere
Phantastische Fahrten, 1986; Gedichte – Poems, 1986.
676
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Hans Rubinsohn, 17. 03. 1964, BSB Ana 655.
677
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Eugen Th. Rimli [Stauffacher Verlag], 15. 09. 1964,
BSB Ana 655.
Die ‚Klassiker‘ 223
Beobachter anzunehmen geneigt ist. Wir leben im – wie man so schön zu sagen pflegt – Um-
bruch, die Werte stürzen wie Aktienkurse, und es wird uns schwer fallen, ihnen wieder neues
Leben und damit neue Aktivität einzuimpfen.678
Der dtv zieht daraus die Konsequenz, die Klassiker nun doch weitgehend als Einzeltitel
bzw. in ausgewählten Werkzusammenstellungen in sein Programm zu nehmen.679 Als
Ausnahmen ist es neben der herausgeberischen Betreuung des Goethe’schen Werks vor
allem die Kritische Studienausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, mit der der dtv
1980 Editionsgeschichte schreibt. In 15 Bänden bringt er die veröffentlichten und un-
veröffentlichten Werke des Denkers als kritische Ausgabe, die nach den Originalmanu-
skripten und der Kritischen Gesamtausgabe de Gruyters von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari erstellt wurde. Erst durch die gesicherte Textbasis, die diese Ausgabe offe-
riert, ist eine wissenschaftliche Nietzsche-Rezeption möglich, nachdem sich vorige
Studien auf die unzuverlässigen Zusammenstellungen Elisabeth Förster-Nietzsches
bezogen.680 Die Nietzscheausgaben de Gruyters und dtvs also wirken sich, diese These
kann man aufgrund der zahlreichen folgenden textkritischen Untersuchungen stützen,
als verstärkendes Rückkopplungsphänomen auf die bereits im Laufe der 1970er Jahre
zunehmende Nietzscherezeption aus. War diese vor allem in Frankreich bei Deleuze,
Derrida, Foucault u. a. entstanden, so konnte in den folgenden Jahren die Nietzschere-
zeption wissenschaftlich wie didaktisch ausgeweitet werden.
678
[Durchschlag] Brief von Heinz Friedrich an Johannes von Guenther, 02. 05. 1968, BSB Ana 655.
679
Die seit 1987 erscheinende Alfred Döblin Werkausgabe in Einzelbänden stellt in mehrerlei Hin-
sicht einen Sonderfall dar. Sie umfasste zunächst die erzählerischen, philosophischen und kriti-
schen Schriften Döblins auf der Grundlage der von Walter Muschg begründeten Ausgabe des
Walter Verlags. Nachdem dort jedoch die Herausgabe stockte, entschied sich der dtv dafür, sich
fortan auf die Romane Döblins zu beschränken. Da die Rechte für die Döblin-Ausgabe inzwischen
bei Fischer liegen, werden ab 2013 auch die Taschenbuchrechte von dtv auf Fischer übergehen.
Die Entscheidung für Einzelbände ist generell deshalb vorteilhaft, weil sie eine größere Zielgruppe
ansprechen, also beispielsweise von Schülern und Studenten erworben werden können, die sich
nur für ein einzelnes Werk interessieren. Auch können die schwächer verkäuflichen Titel vorsich-
tiger kalkuliert werden, das bekannteste Werk Döblins, Berlin Alexanderplatz, jedoch in einer hö-
heren Startauflage auf den Markt gebracht werden. Darüber hinaus weckt die Einzeltiteledition
keine Erwartungen an eine editorische Vollständigkeit, die auch etwa Briefe und Tagebucheinträ-
ge des Autors berücksichtigt.
Vergleicht man also die Vorgehensweise des dtv im Fall Goethe und im Fall Döblin, so ist ersicht-
lich, dass hier gravierende Unterschiede bestehen. Wo das Werk Goethes parallel in Einzeltiteln
und verschiedenen Gesamtausgaben vorliegt, ist man im Fall Döblins und anderer vorsichtiger.
Eine reine Liebhaberausgabe, wie der Reprint der Sophien-Ausgabe der Werke Goethes, wird für
diese Autoren nicht gewagt. Die Titel wiederum als reine Nutzausgaben für Schule und Studium
zu konzipieren, ist aufgrund der Reclam’schen Alleinherrschaft in diesen Feldern nicht möglich.
680
Nietzsches Schwester hatte eigenmächtig und intentional überformt eine Ordnung der unveröffent-
lichten Manuskripte vorgenommen, die heute als unzuverlässige, nicht zuletzt auch durch Überar-
beitungen Förster-Nietzsches verfälschte, Quelle angesehen wird. S. hierzu: Hoffmann, David M.:
Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner,
Gustav Naumann, Josef Hofmiller; Chronik, Studien und Dokumente. Berlin 1991.
224 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Abb. 10: Beispiele für Umschläge der Reihe dtv Klassik (Poe, Edgar A.: Die Maske des Roten Todes.
Sämtliche Arabesken. München 1984; Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow. München 1985;
Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal. München 1986. Quelle: Fünfund-
zwanzig. Eine dtv-Dokumentation. München 1986, S. 21.)
heitsgrad der Autoren rechnen kann, der die teure Einzeltitelwerbung gar nicht nötig
macht. Außerdem werden die Titel weniger aktuell, als vielmehr okkasionell und lang-
fristig abgesetzt. Das meint, dass die Titel anlässlich eines Jubiläums, einer Verfilmung
oder im Zuge einer anderen Edition Beachtung in der Öffentlichkeit finden oder aber
kontinuierlich über die Backlist bezogen werden können. Das Diagramm in Abbil-
dung 11 veranschaulicht die Verteilung nach Lizenzübernahmen für die ersten dreißig
Bände der Textbibliothek, die 1971–1976 erscheinen (Abb. 11).
In absoluten Zahlen: 12 Gesellschafterlizenzen stehen 10 Originalausgaben und 8 von
Nicht-Gesellschafterverlagen übernommenen Lizenzen gegenüber. Das Vorgehen des
dtv im Bereich klassischer Literatur ist folglich von dem im Bereich der zeitge-
nössischen Literatur unterschieden: Die Titel werden nicht nur nach ihrem jüngsten
Hardcovererfolg ausgewählt, sondern nach der erwartbaren Resonanz. Um sich a priori
ein Bild davon machen zu können, welche Titel genügend Aufmerksamkeit für eine me-
dientypbedingte hohe Auflage akkummulieren können, greift der Verlag auch hier auf
Referenzen zurück. Wie besonders im Fall der hier exemplarisch vertiefend untersuch-
ten Reihe Bibliothek der Erstausgaben zu sehen ist, sind im Bereich der Klassik die
institutionellen Autoritäten, Lehrende an Schule und Universität, die maßgeblichen
Instanzen. Sie wirken schließlich nicht nur als Berater mit Insiderwissen, sondern kön-
nen die Verlagserzeugnisse auch nach deren Erscheinen bei ihren Kollegen und Schü-
lern bzw. Studenten bekannt machen.
226 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Abb. 11: Die ersten 30 Titel der dtv Textbibliothek nach Gesellschafteranteilen Lizenzen
Die Referenzkonsultation hat, wie bereits gezeigt, von Beginn an in der Konzeption des
dtv-Programms eine Rolle gespielt. Sie hat jedoch dort ihre Grenzen, wo sie den An-
sichten der Verantwortlichen im Verlag entgegenläuft. In der Ära Friedrich etwa wird
evident, dass dieser den kanonrelevanten Instanzen sein Vertrauen entzieht, wenn sie
sich für sein Empfinden zu stark am Geschmack des Zeitgeists orientieren. Die
Nymphenburger Verlagshandlung berät er 1965 bei dem Plan einer Reihe Dramen der
Weltliteratur. Das Konzept der Reihe sieht vor, die Texte aufzunehmen, die „zum eiser-
nen Bestand der deutschen Spielpläne“ gehören. Gerade an diesem Selektionsprinzip
entzündet sich Friedrichs Widerspruch:
Die Geschichte der dramatischen Dichtung hat nur zu oft bewiesen, daß gerade bedeutende
Werke dieser Spezies durch die Aufführungspraxis stiefmütterlich behandelt wurden. Zwar
können Sie den ‚Prinzen von Homburg‘ und ‚Amphytrion‘ von Kleist dokumentieren, aber auf
die ‚Penthesilea‘ müßte nach den jetzigen Richtpunkten der Auswahl verzichtet werden. Auch
Grabbes und Hebbels Dramen (insbesondere die ‚Nibelungen‘) sowie der Faust II oder
Shakespeares ‚Troilus und Cressida‘, das ‚Wintermärchen‘ und ‚Romeo und Julia‘ (die Titel-
figuren lassen sich sonderbarerweise nicht mehr zureichend besetzen) müßten wahrscheinlich
auf eine Präsentation verzichten.
So reizvoll natürlich eine Zusammenstellung nach Spielplantauglichkeit auch erscheinen mag,
als Titelleiste muß sich dieses Arrangement notgedrungen buntscheckig und fast zufällig aus-
nehmen.681
Sein Gegenvorschlag offenbart die Diskrepanz, die der Verlagsleiter zwischen dem
Kanonstatus eines Werks und dem faktischen Rang laut Theaterspielplänen wahrnimmt:
681
Brief von Heinz Friedrich an Berthold Spangenberg [Nymphenburger Verlagshandlung],
26. 11. 1965, Archiv dtv.
Bibliothek der Erstausgaben 1997–2007. Exemplarische Analyse 227
Meiner Ansicht nach müßte die Planung von aktuellen Spielplanbezügen absehen und sich
konsequent auf die wichtigsten Werke der dramatischen Weltliteratur beschränken; dadurch
würde eine reich kommentierte und dokumentierte Textbibliothek entstehen, die sowohl dem
Laien, aber auch den Studenten und Fachleuten als wichtiges Kompendium dienen könnte.682
Die Gegenwart, so wieder der inzwischen bekannte Tenor Friedrichs, verkennt die lite-
rarischen Größen und trifft falsche Prioritäten in der Literaturauswahl. Den kulturkriti-
schen Impetus eines Kanonverständnisses, das den Rang eines Autors losgelöst von
aktueller Hochschätzung oder empirischem Bekanntheitsgrad festmacht, vernimmt man
bei Friedrichs Nachfolgern nicht mehr. Gerade das zeitnahe Beispiel der Bibliothek der
Erstausgaben, eines ausgewiesenen Kanonprojekts des Verlags, zeigt, dass man den
Kanon Mitte der 1990er Jahre als Konvolut faktisch berühmter und durch die Bildungs-
institutionen geschätzter wie genutzter Titel versteht – nicht als das mit Absolutheitsan-
sprüchen verteidigtes Pantheon der unfehlbaren Geistesgrößen.
Die Reihe Bibliothek der Erstausgaben stellt Titel aus dem ‚klassischen‘ Bestand der
deutschsprachigen Literatur vor. Sie wird herausgeberisch durch Joseph Kiermeier-
Debre und im Klassik-Lektorat des dtv von Maria Schedl-Jokl betreut. Die Serie mit
gemeinfreien Texten umfasst inzwischen über siebzig Einzelbände und wurde in Vor-
ankündigungen auf hundert bis hundertundfünfzig Texte projektiert. Die Betitelung als
„Bibliothek“ suggeriert, dass die Auswahl der Texte nicht beliebig ist, sondern einer
Sammlung gleicht.
Die editorisch anspruchsvolle Grundidee der Reihe ist, statt einer redigierten, aktuali-
sierten oder vereinfachten Fassung, die Texte in ihrer orthografischen und editorischen
Erstfassung zu übernehmen, wobei in Fraktur gesetzte Texte in Antiqua wiedergegeben
werden. So wurden Erstausgaben, die oftmals nur schwer zugänglich sind und noch
nicht als zuverlässige Studienausgaben etabliert waren, allgemein verfügbar. Laut
Schedl-Jokl war es das Ziel der Reihe, durch eine neue Editionspolitik die Schwächen
anderer Textausgaben zu vermeiden, bei denen allzu sorglos auch sinnverändernde
Eingriffe in die Texte vorgenommen wurden, um die Textgestalt zeitgenössischer er-
scheinen zu lassen. Auch sollte die Bibliothek der Erstausgaben eine Alternative zu den
vorherrschenden Ausgaben letzter Hand darstellen. Obgleich die Idee zur Reihe schon
älter war, spielte in der Außenkommunikation der Reihe die deutsche Rechtschreibre-
form von 1996 eine Rolle: Sie führte noch einmal die Historizität orthographischer
682
Ebd.
228 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Konventionen vor Augen.683 Die Edition sollte auch als Zeichen einer Wende zur Au-
thentizität verstanden werden. Reihentitel wurden dementsprechend in der Vorschau als
eine „unmittelbare und unverstellte Beschäftigung mit dem dichterischen Wort“684 be-
worben.
Die hauptsächlichen Zielgruppen der Reihe, auch dies verrät die Vorschau, bilden
„Lehrende, Schüler und Studenten“, denen eine „solide und erschwingliche Arbeits-
grundlage“ geboten wird.685 Daneben sollen sich aber auch „Literaturliebhaber“ von dem
gediegenen Layout angesprochen fühlen. Die Reihe zeichnet sich durch ein kleines For-
mat (116 × 170 mm) – zwischen Reclam-Heft und Taschenbuch – aus und ist einheitlich
gestaltet. Die Hintergrundfarbe des Umschlags ist ein tiefdunkles Blau. Auf der Vorder-
seite befinden sich unter dem Verlagssignet, das oben mittig platziert ist, der Autorenna-
me und der Werktitel. Am unteren Rand mittig ist der Reihenname, „Bibliothek der Erst-
ausgaben“, abgedruckt. Zwischen Werktitel und Reihenname wiederum befindet sich ein
quadratischer Ausschnitt eines Gemäldes. Thema und Entstehungszeit des Bildes sind im
Hinblick auf den Inhalt des Textes ausgewählt. Abbildung 12 zeigt den ersten Titel der
Reihe, Lessings Nathan der Weise, nach der Erstausgabe von 1779 (Abb. 12).
Auf dieser für Lessings Nathan gewählten Darstellung findet sich eine Hand, die einen
goldenen Ring zwischen den Fingern hält. Kenner des Textes verstehen die Anspielung
unmittelbar. Sie bezieht sich auf das ‚Kernstück‘ des Lessing’schen Dramas, die an
Boccaccio orientierte „Ringparabel“, die in der Literaturvermittlung als Plädoyer für
religiöse Toleranz gedeutet wird. Auf der Rückseite des Umschlags, der so genannten
U4, befindet sich das entsprechende Zitat aus dem Text. So ergeben Umschlagbild und
pointiertes Zitat als Klappentext die Insignien des Kanonstatus, indem sie sich auf den
Inhalt und die in den Deutungskanones als zentrale Aussage eingeschriebene Textpas-
sage beziehen.
Die Bände der Bibliothek der Erstausgaben sind, gemäß den intendierten Zielgrup-
pen, auf die Nutzung in Schule und Universität ausgelegt. Sie enthalten den ungekürz-
ten Originaltext mit Zeilenzähler und Originalpaginierung und bieten obendrein einen
Anhang zu Verfasser und Werk, sowie Informationen zur Textgestalt und eine biobi-
bliografische Texttafel. Die Texte sind nicht kommentiert, jedoch sind einzelne Wörter
in einem Glossar erklärt.
683
Außerdem wurde gerade in den Bildungsinstitutionen, wo auch die Bibliothek der Erstausgaben
genutzt werden soll, eine allgemein verbindliche Neuerung der Rechtschreibung in Frage gestellt.
Diese bildungsinstitutionelle Reserve gegenüber der Reform wurde von den Printmedien und Ver-
lagshäusern mitgetragen, die enorme Umsatzverluste für ihre Backlist bzw. langwierige und kost-
spielige Umschulungsprogramme fürchteten. So beschlossen auflagenstarke Presseerzeugnisse,
wie die FAZ, die Rechtschreibreform zu ignorieren, was zu einem Interregnum unterschiedlicher
Schreibweisen führte. An diese allgemeine Verunsicherung und streckenweise Verweigerungshal-
tung knüpfte der dtv bei der Bewerbung seiner Editionsprinzipien an.
684
dtv-Sondervorschau zur ersten Staffel der Bibliothek der Erstausgaben [vierseitiger Folder Din
A4; 1997], Archiv dtv.
685
Ebd.
Bibliothek der Erstausgaben 1997–2007. Exemplarische Analyse 229
Abb. 12: Umschlagseiten 1 und 4 von Lessing: Nathan der Weise in der Bibliothek der Erstausgaben
(Lessing, Gotthold E.: Nathan der Weise. München 1997. Quelle: Archiv dtv. Farbige Darstellung s.
Farbblock.)
Bei der Planung des Unternehmens wurden sowohl Erfahrungswerte von Schul- und
Hochschullehrenden eingeholt als auch Lektürelisten und manifestierte Kanones kon-
sultiert. In einem internen Schreiben, das die vom Klassik-Lektorat geplante Reihe den
anderen Verlagsmitarbeitern vorstellt, heißt es:
Auf der Suche nach dem Literaturkanon an deutschen Schulen und Universitäten lassen sich
etwa 100–150 Einzeltexte vom Barock bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ausfindig machen,
die alljährlich als Lektüre gebraucht werden. Diese Titel sind der Fundus unserer Bibliothek.686
Damit ist das Auswahlspektrum für die Reihe bereits umgrenzt: Der Literaturkanon
entspricht diesem Zitat zufolge dem Bedarf an Schulen und Universitäten, ist also insti-
tutionell verankert. Auffällig ist auch seine Beschränkbarkeit auf einhundert bis einhun-
dertfünfzig Einzeltexte. Dass die Zahl hier so vage gefasst ist, deutet auf einen ‚wei-
chen‘ Kanonbegriff hin, der den Verschiebungen und der marginalen Verortung von
Texten im Lektürekanon Rechnung trägt. Hier ist, auch dies bemerkenswert, nicht von
Autoren die Rede, sondern von Einzeltexten. Findet eine popularisierte Rezeption der
‚Klassiker‘ meist über die Autoren und eine unter Umständen stark biografisch gepräg-
te, jedenfalls durch Faszination erwirkte Auseinandersetzung mit dem Autor statt, deu-
686
Anmerkungen zum Start der neuen Reihe Bibliothek der Erstausgaben (1995 oder 1996) [Einseiti-
ges Papier für eine verlagsinterne Vorstellung der Reihe], Archiv dtv.
230 Kanonreflexion und Programmgestaltung
tet eine Orientierung an den Einzeltexten darauf hin, dass man hier die obligatorischen
Lektüren im Blick hat: Im Rahmen der bildungsinstitutionellen Beschäftigung mit Tex-
ten steht zumeist der einzelne Text im Vordergrund, nicht das gesamte Schaffen eines
Autors.
Der Plan, eine Klassikerreihe mit Erstausgaben zu verlegen, wurde Schedl-Jokl zu-
folge schon öfter während der langjährigen Bekanntschaft der Lektorin mit Kiermeier-
Debre diskutiert. Kiermeier-Debre hatte schon in Form eines anderen Projektes Erstaus-
gaben der Klassiker zusammengestellt: Gemeinsam mit Wilfried Baatz und Fritz Franz
Vogel hatte er die Klassische Basisbibliothek auf CD-ROM herausgegeben, die im glei-
chen Jahr erschien wie die erste Staffel der Bibliothek der Erstausgaben im dtv.687 In
den Unterlagen zur Reihenplanung im dtv sind Listen der Titel enthalten, die im Umfeld
des CD-ROM-Projekts gesichtet und gescannt wurden. Diese Listen enthalten also die
Titel, deren Erstausgaben dem dtv über den Herausgeber Kiermeier-Debre ohne zusätz-
liche Recherche und größeren Aufwand zugänglich waren. Ich werde diese Bestandslis-
ten im Folgenden mit den Titeln der Reihe Bibliothek der Erstausgaben in Beziehung
setzen, um die Selektionsakte und Schwerpunktsetzungen für die Reihe im dtv deutlich
zu machen. Wie Schedl-Jokl betont, stellen die Listen aber keineswegs die Grundlage
für die weitere Bearbeitung im dtv dar, sondern sind vom Verlag lediglich zur Kenntnis
genommen worden. Dabei ist auch zu bedenken, dass sich die digitale Sammlung und
die Taschenbücher als Medien in Vertriebsmodus und Zielgruppe unterscheiden. Allein
schon daraus ergeben sich Unterschiede in der Textauswahl. Die CD-ROM wird samt
allen auf ihr enthaltenen Texten erworben, bei den dtv-Bänden hingegen kann der Leser
wählen, welche Titel er kaufen möchte und welche nicht. Somit können es sich die
Verlage im Fall der CD-ROM eher als im Fall der Printversion des Projektes ‚leisten‘,
auch weniger populäre Texte auszuwählen. Es kann sich sogar, wie Sven Hanuschek in
einer Rezension des CD-ROM-Projekts betont, als Vorteil herausstellen, im digitalen
Format nicht nur den Kernkanon zu präsentieren: Wer sich auf eine oft getroffene Aus-
wahl von Texten beschränkt, läuft eher Gefahr, dass sein Projekt bald von der Konkur-
renz mit einem technisch höher entwickelten Medienformat auf dem Markt abgelöst
wird.688
Die Texte in den Bestandslisten des Herausgebers wurden eingeteilt in eine „Biblio-
thek kanonischer klassischer Texte“ (Tab. 4) und eine Liste mit der Überschrift „fakul-
tativ (erweiterter Kanon)“ (Tab. 5). Die erste Liste (Tab. 4) enthält Texte, die als zentral
eingestuft werden.
687
Baatz, Wilfried; Kiermeier-Debre, Joseph; Vogel, Fritz Franz: Die klassische Basisbibliothek auf
CD-ROM 1. Drama, Epik, Lyrik. Aarau u. a. 1997.
688
Hanuschek, Sven: Rezension zu: Baatz, Wilfried; Kiermeier-Debre, Joseph; Vogel, Fritz Franz:
Die klassische Basisbibliothek auf CD-ROM 1. Drama, Epik, Lyrik. Aarau u. a. 1997. In: Jahr-
buch für Computerphilologie 1 (1999), Online-Ausgabe, (URL: <http://computerphilologie.uni-
muenchen.de/jahrbuch/jb1/hanuschek.html >, 20. 09. 2010)
Bibliothek der Erstausgaben 1997–2007. Exemplarische Analyse 231
Autor Titel
Arnim (Ludwig Achim v.) Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau
Kleist Amphitryon
Kleist Penthesilea
Wezel Belphegor
232 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Tabelle 4: (Fortsetzung)
Autor Titel
Büchner Lenz
Wieland Musarion
Gozzi Turandot
Tabelle 4: (Fortsetzung)
Autor Titel
Thoma Lausbubengeschichten
Thoma Magdalena
Thoma Moral
Es folgt eine zweite Liste, die in der Überschrift die Ergänzung trägt: „fakultativ (erwei-
terter Kanon)“ (Tab. 5).
234 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Autor Titel
Gryphius Horribilicribrifax
Gryphius Gedichte
Lohenstein Agrippina
Herder Volkslieder
Brentano, Clemens Die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl
Heine Reisebilder
Hauff Märchen
Stifter Witiko
Abbildung 13 zeigt eine Zusammenstellung von Titeln aus den Bestandslisten des Her-
ausgebers, die vom Klassik-Lektorat mit handschriftlichen Notizen und Unterstreichun-
gen versehen wurde (Abb. 13). Die handschriftlichen Randnotizen beziehen sich auf die
Gattungen und die Herkunft der Autoren und vermerken Alternativen zum maschinen-
schriftlich fixierten Titel eines Autors: Beispielsweise sind neben den Beiträgen Goe-
thes zu dieser Kanonliste die Gattungsbezeichnungen „Roman“, „Drama“ und „Lyrik“
angebracht. Auf der zweiten Seite wurden die österreichischen Autoren Grillparzer,
Raimund und Nestroy mit einem „Ö“ gekennzeichnet. Einzelne Texte sind durch farbi-
ge Unterlegung markiert worden. Der Blick auf die endgültige Liste, die ich später in
diesem Kapitel untersuchen möchte, zeigt, dass dies die für besonders wichtig und ver-
legenswert erachteten Titel sind.
Wie Schedl-Jokl im Gespräch erklärt, war die Reihe Bibliothek der Erstausgaben aus
kulturprogrammatischen Gründen so konzipiert, dass sie den Kanon der deutschspra-
chigen Literatur mit der Epoche der Aufklärung beginnen lässt. In der Bibliothek der
Erstausgaben wird diese durch Lessings Nathan, den Auftakttitel der Reihe, repräsen-
tiert. Eine zusätzliche Motivation zu diesem Schritt war auch die Schwierigkeit, die
Erstausgaben der Werke vor 1800 zu transkribieren und als unkommentierte Schulaus-
gaben zu vertreiben.689
Für die Entscheidung, welche der Titel in die Bibliothek der Erstausgaben im dtv
übernommen werden sollen, spielen neben den bereits bekannten Voraussetzungen und
Rücksichten auch die eine Rolle, die speziell die Herausgabe von Erstausgaben betref-
fen: Die Zugangsmöglichkeit zur Erstausgabe ist eine unerlässliche Vorbedingung. Die
Erstausgaben der Titel, die auf den Bestandslisten des Herausgebers aufgeführt sind,
standen dem dtv bereits ohne größeren Neuaufwand zur Verfügung. Die Erstausgabe, so
denn erreichbar für die Herausgeber, muss aber auch als maßgebliche oder zumindest
als eine mit etablierten Ausgaben gleichwertige Ausgabe anerkannt sein. Bei den tat-
sächlich bislang publizierten Titeln der Reihe wurde zudem auf mehrbändige Publika-
tionen verzichtet, so dass zum Beispiel Goethes umfangreicher Wilhelm Meister in der
Bibliothek der Erstausgaben nicht zu finden ist. Auch die Konkurrenzsituation in Form
der gut eingespielten Versorgung der Bildungsanstalten durch Reclams gelbe Hefte
wurde berücksichtigt: Zwar stellt eine Reclam-Ausgabe keinen Hinderungsgrund für
einen geplanten Titel dar. Wenn die Kalkulation im dtv jedoch nur eine Ausgabe er-
laubt, die ladenpreislich weit über dem entsprechenden Reclam-Angebot liegt, mindert
dies die Absatzaussichten gerade im schulischen Bereich. Nicht zuletzt spielt auch eine
Rolle, ob die geplanten Titel bereits in der eigenen Backlist zu finden sind. In diesem
Fall, beispielsweise bei Trakls Dichterischem Werk, Stifters Nachsommer oder der Ge-
schichte des Fräulein von Sternheim von Sophie von La Roche, wurde auf eine Über-
führung des Titels in die Bibliothek der Erstausgaben verzichtet. Gerade letztere Fälle
689
Dennoch finden sich in dieser Bestandsliste auch bei den Barocktexten Notizen zu Textalternati-
ven: Gryphius‘ Horribilicribrifax und die Gedichte sind mit einem Fragezeichen markiert, der
handschriftliche Zusatz „Squentz“ verweist auf die Absurda Comica oder Herr Peper Squentz.
236 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Abb. 13: Bestandsliste des Herausgebers II für die Reihe Bibliothek der Erstausgaben, 1996/1997
(Zweiseitige Auflistung „Deutscher Taschenbuch Verlag – Deutsche klassische Literatur in Erstaus-
gaben“ zur Vorbereitung der Reihengestaltung der Bibliothek der Erstausgaben 1996 oder 1997; Quel-
le: Archiv dtv.)
gilt es zu bedenken, denn sie zeigen auf, dass das Fehlen eines Autors in der Bibliothek
der Erstausgaben noch nicht bedeutet, dass der entsprechende Titel vom dtv nicht ver-
legt worden wäre.
Eine der letzten Vorbereitungsstufen für die Bibliothek der Erstausgaben stellt eine
Auflistung der Startstaffel dar, die Kiermeier-Debre an Schedl-Jokl im August 1996
sandte (Tab. 6). Das Begleitschreiben vermerkt: „So würde die Liste einerseits einen
Bibliothek der Erstausgaben 1997–2007. Exemplarische Analyse 237
guten, repräsentativen Querschnitt geben und für den Schnellstart auch zu machen
sein!“690
690
Liste mit angehefteter Begleitnotiz von Joseph Kiermeier-Debre an Maria Schedl-Jokl [Klassik-
Lektorat], 02. 08. 1996, Archiv dtv.
238 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Tabelle 6: Startstaffel I für die Reihe Bibliothek der Erstausgaben (Quelle: Archiv dtv)
Autor Titel
Büchner Lenz
fakultativ:
Verglichen mit den Bestandslisten, ist diese Liste auf die umfangmäßig vergleichsweise
kurzen Texte beschränkt. Sowohl von der Themenwahl, als auch vom Voraussetzungs-
reichtum der Texte zielt die hier getroffene Auswahl auf die Schule ab. Gleicht man sie
mit den Bestandslisten ab, fehlen Autoren wie Ludwig Thoma, Johann Karl Wezel,
Ludwig Anzengruber und Paul Ernst. Außerdem fehlen die dort genannten, jedoch in
Bibliothek der Erstausgaben 1997–2007. Exemplarische Analyse 239
der Schule von keiner Fachzuständigkeit gedeckten Übersetzungen der Werke Shakes-
peares durch Wieland und Schlegel / Tieck.691 All diese Beobachtungen deuten darauf
hin, dass man sich in der Intention, einen „guten, repräsentativen Querschnitt“ (s. o.) zu
bieten, als vorrangiges Selektionskriterium die Popularität und Unterrichtstauglichkeit
der Texte gesetzt hat. Geht man jedoch von den Maßgaben der Popularität und schuli-
schen Nutzung der Titel aus, könnte man etwa Heine oder Fontane vermissen. Fehlen
sie noch in der letzten dokumentierten Entwurfsfassung, sind diese Autoren jedoch in
der endgültigen Startstaffel der Reihe enthalten.
Deutlich wird der Einfluss, den die „Leseliste zur Deutschen Literatur“, durch das In-
stitut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München per
Umfrage unter seinen Lehrenden ermittelt, auf die endgültige Reihenfassung hatte. Die
von Günter Häntzschel u. a. ausgewerteten Ergebnisse streuen so stark, dass es kein
Werk gab, das bei höchstens 30 möglichen Nennungen konsensuell als besonders le-
senswert eingestuft wurde. Bei der Literatur nach 1945 war die Anzahl der Nennungen
sogar auf 3 beschränkt, was den selbstkritischen Anmerkungen der Veranstalter zufolge
bewirkt haben könnte, dass die Blechtrommel in der Auflistung so viele Stimmen auf
sich sammeln konnte. Unter der Überschrift „Der Kanon ist tot – es lebe der Kanon!“ ist
das Ranking abgebildet, das die Umfrage für die zehn meistgenannten Titel ergeben hat:
1. Goethe: ‚Faust‘ (36; ‚Faust‘ I 10, ‚Faust‘ 26)
2. Lessing: ‚Nathan der Weise‘ (33)
3. Goethe: ‚Die Leiden des jungen Werthers‘ (33)
4. Grimmelshausen: ‚Simplicissimus‘ (29)
5. Günter Grass: ‚Blechtrommel‘ (29)
6. Goethe: ‚Wilhelm Meister‘ (28; ‚Lj.‘ [Lehrjahre] 12, ‚W.M.‘ 16)
7. Theodor Fontane: ‚Effi Briest‘ (25)
8. Franz Kafka: ‚Der Prozeß‘ (25)
9. Georg Büchner: ‚Woyzeck‘ (24)
10. Thomas Mann: ‚Der Zauberberg‘ (23)692
Der dtv nun adaptiert diese Listung für eine weiteres Startstaffel-Notat: Unter der Über-
schrift „Start mit folgenden Titeln: Hitliste (Rangordnungsskala)“ sind die gemeinfreien
Texte der obigen Aufzählung übernommen:
Goethe: Faust
Lessing: Nathan der Weise
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
Grimmelshausen: Simplicissimus
Goethe: Wilhelm Meister
Fontane: Effi Briest693
691
Die Bibliothek der Erstausgaben enthält nur deutschsprachige Werke, außerdem ist eine zweispra-
chige Ausgabe der Werke Shakespeares in Neuübersetzungen im dtv lieferbar.
692
Auszug aus: Häntzschel, Günter u. a./Institut für Deutsche Philologie an der Universität München:
Der Kanon ist tot – es lebe der Kanon! Leseliste zur Deutschen Literatur [Ergebnis der Umfrage],
Archiv dtv.
693
Start mit folgenden Titeln. Hitliste (Rangordnungsskala) (1996), Archiv dtv.
240 Kanonreflexion und Programmgestaltung
694
Anmerkungen zum Start der neuen Reihe Bibliothek der Erstausgaben (1995 oder 1996) [Einseiti-
ges Papier für eine verlagsinterne Vorstellung der Reihe], Archiv dtv.
695
Brief von Maria Schedl-Jokl [Klassik-Lektorat] an Peter Wapnewski, 27. 01. 1997, Archiv dtv.
Bibliothek der Erstausgaben 1997–2007. Exemplarische Analyse 241
Tabelle 7: Endgültige Fassung: Bis Oktober 2007 in der Reihe Bibliothek der Erstausgaben erschie-
nene Titel (Reihenfolge nach dtv-Nummerierung; Quelle: Archiv dtv)
Tabelle 7: (Fortsetzung)
rierung sortiert, sondern streng chronologisch, so dass sie die Seite der Außenwahrneh-
mung wiedergibt. An der erscheinungschronologischen Ordnung der endgültigen Rei-
henfassung orientiert sich auch die Reihenfolge der Titel aus den Bestandslisten, so dass
deren ursprüngliche Ordnung aufgelöst wurde. Die schwarz hinterlegten Titel in weißer
Schrift wurden in allen vier hier ausgewählten Listen einbezogen, die dunkelgrau hin-
terlegten nur in drei. Die mittelgrau markierten Titel traten wiederum nur in zwei Listen
auf, die hellgrauen fanden vor der tatsächlichen Übernahme in die Reihe nur einmal
Erwähnung. Titel, die zwar in den Bestandslisten genannt werden, für die publizierte
Reihe jedoch verworfen wurden, sind in dieser Liste nicht übernommen worden, son-
dern folgen in einer weiteren Liste (Tab. 17, Anhang). Titel schließlich, die erst in die
faktische Aufstellung übernommen wurden, sind auf weißem Grund gedruckt. Hand-
schriftliche Vermerke sind durch gerade gestellte Kreuze (+) hervorgehoben, einge-
klammerte Kreuze bedeuten, dass nicht der exakte Titel in der Liste genannt wurde,
sondern Oberbezeichnungen, wie „Erzählungen“ oder nur der Autorenname.
Diese synoptische Gegenüberstellung von Bestandslisten, Vorbereitungsstadium und
Endfassung ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst fällt auf, dass sich die
hier vorgelegte Auswahl gemeinfreier Texte nicht nur aus den Bestandslisten rekrutiert,
sondern auch etliche bislang unerwähnte Texte enthält. Unter den Titeln, die 1997, im
Startjahr der Reihe, publiziert wurden, finden sich nur zwei, die weder in den Bestands-
listen, noch in der ersten Startstaffel-Liste Erwähnung fanden: Goethes Faust II und
Jeremias Gotthelfs Schwarze Spinne. Dabei wurden beide im Dezember lanciert, sind
also noch nicht im Frühjahrsprogramm 1997, in dem die Reihe vorgestellt wurde, ent-
halten. Je weiter man sich in der Liste voranarbeitet, desto mehr Titel treten auf den
Plan, die im CD-ROM-Projekt und früheren Verlagslisten mit Klassiker-Titeln für die
Reihe keine Rolle spielten: Aufgabe der Titel in der Startstaffel war es, die Reihe mit
absatzsicheren Titeln auf dem konkurrenzreichen Klassiker-Markt zu etablieren. Diese
Beschränkung auf Kernkanontexte der Lektürekanones wird in der Reihenlaufzeit zu-
gunsten einer Diversifizierung aufgegeben.
Auffällig ist des Weiteren, dass die später in die Reihe übernommenen Werke vor-
nehmlich von Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verfasst wurden. Die dtv-
Reihe ist also weniger als die Bestandslisten an Texten des 18. Jahrhunderts orientiert
und schließt mit ihrem programmatischen Auftakt Aufklärung die Texte des 17. Jahr-
hunderts aus. Für das CD-ROM-Projekt wurden auch umfangreiche Werke verwendet,
die dtv-Reihe bringt vor allem Texte schmaleren Umfangs: Statt Stifters Bunte Steine
beispielsweise wählte man für die Reihe im dtv seine kürzere Erzählung Brigitta in
beiden Fassungen.
Außerdem überwiegen in den Titeln, die über den Bestand der CD-ROM hinaus ge-
hen, Prosa und, etwas schwächer ausgeprägt, Drama. Im Vergleich zu den Bestandslis-
ten finden sich in der Bibliothek der Erstausgaben vor allem weitere Dramen von Schil-
ler und Goethe. Schnitzler steuert den Reigen bei und Hofmannsthals Dramen und
Libretti ergänzen die Aufstellung. Dennoch: Die nun noch stärker vertretenen Erzählun-
244 Kanonreflexion und Programmgestaltung
Tabelle 8: Synoptische Aufstellung der Titel der Reihe Bibliothek der Erstausgaben (nach den ver-
schiedenen Bestandslisten und der endgültigen Fassung, Reihenfolge chronologisch nach Erschei-
nungsdatum)
geplante Startstaffel II
geplante Startstaffel I
Bestandsliste Hrsg. II
Bestandsliste Hrsg. I
Tabelle 8: (Fortsetzung)
geplante Startstaffel II
geplante Startstaffel I
Bestandsliste Hrsg. II
Bestandsliste Hrsg. I