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Sascha Freyberg - Skript des Vortrags bei der Nietzsche-Konferenz in Naumburg (Oktober 2010)

’Einige werden posthum geboren.’ Friedrich Nietzsches Wirkungen

Nihilismus und symbolische Form. Nietzsche bei Ernst Cassirer


Der Titel meines Vortrages „Nihilismus und symbolische Form“ soll nicht so sehr eine
Gegenüberstellung der beiden hier behandelten Denker evozieren, sondern vielmehr ein ihnen
gemeinsames Problemfeld bezeichnen, vor dessen Hintergrund ich die folgenden Ausführungen
stellen möchte. Diese sollen einen kurzen Einblick in die Nietzscherezeption von Ernst Cassirer
geben.
Geht man dieser Frage nach, so ist man vor das Problem gestellt, dass eine zusammenhängende
Darstellung und übergreifende Interpretation Nietzsches bei Cassirer nicht existiert. Das mag
zunächst verwundern, da Cassirer für seine umfassenden Lektüren und Behandlungen
verschiedenster Gebiete fast schon berüchtigt ist. Warum sollte er sich gerade einem Denker so
wenig gewidmet haben, der einerseits, wie es mittlerweile einige Male bemerkt worden ist, doch
seinem eigenen Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen teilweise gar nicht so fern
steht? Als Verbindungsglieder könnten bspw. Fragen der Symbolizität des Weltzugangs, der
Animalität des Menschen, der relationalen Denkweise, und die Betonung der Legierungen von
Kunst, Wissenschaft und Philosophie (und Ethik&Ästhetik?) angeführt werden. Auch wenn man
andererseits die Differenzen betrachtet, die sich von philosophischer Seite aus beider Werke
ergeben, sollte eine Auseinandersetzung mit dem „Favoriten der Zeit Nietzsche“ für Cassirer als
Notwendigkeit erscheinen.
Stattdessen finden sich aber (vor allem) im Spätwerk Cassirers nur kurze Hinweise,
(Namensnennungen, Sentenzen und Begriffe) wenn man so will „Spuren einer Interpretation“,
welchen im Folgenden nachgegangen werden soll. Nicht so sehr den inhaltlichen Parallelen als die
konkreteren Spuren sollen hier im Mittelpunkt stehen. Eine weitere Schwierigkeit stellt sich durch
Cassirers Stil, der nicht nur systematische und historische Darstellung ineinander fließen lässt,
sondern auch die Namen und Positionen einzelner Denker als Figuren für eigene oder Dritte
Argumentationen durchlässig macht und so immer an einen allgemeineren Kontext anbindet.
Gerade wenn man die Nietzscherezeption bei Cassirer betrachtet, wird klar dass es nicht die
Positionierung gegenüber Nietzsche, sondern die Darstellung bestimmter Konsequenzen seines
Denkens und ihrer Aufnahme in der zeitgenössischen Philosophie geht, der Cassirers Interesse gilt.
Es ist besonders in seiner Kritik dann oft nicht klar, ob Cassirer damit auf Nietzsche abzielt oder nur
auf dessen Rezeption. Dass aber dies Fragwürdigkeit besteht ist schon bemerkenswert.
Es wird daher die These (?) vertreten, dass vor dem Hintergrund der zeitgenössischen
philosophischen Nietzscherezeption, ganz zu schweigen vom allgemeineren öffentlichen
„Kampfplatz“ der Nietzscheauslegung bis hin zum Nietzsche-Kultus in den ersten Jahrzehnten des
zwanzigsten Jahrhunderts, Cassirers Umgang mit Nietzsches Werk aus heutiger Sicht eine anti-
ideologische Strategie im Umgang mit dem Text deutlich macht, der uns heute wieder als modern
erscheint.1 (-> konkreter!) ...eine " eigentliche Apologie wider die Anhänger" (Kant AA VIII, 250)
Cohens Verdikt
Dass Cassirer Nietzsches Schriften wenigtens teilweise sehr gut kannte, wird nicht nur anhand der
Stellen deutlich, wo Nietzsche erwähnt wird, sondern ist uns auch aus der kurzen Biographie
Cassirers überliefert, welche Dimitry Gawronsky verfasst hat, der wie Cassirer in Marburg bei dem
Neukantianer Hermann Cohen studierte. Gawronsky berichtet, dass es Cohen bei der Schilderung
des unglaublich guten Gedächtnisses Cassirers „niemals vergaß“ „in einem fast ärgerlichen Ton“
herauszustellen, dass dieser nicht nur „ganze Seiten aus den meisten Werken der klassischen
Dichter und Philosophen auswendig zitieren“, sondern auch [Zitat] „sogar alle modernen Dichter,
wie z.B. Nietzsche und Stefan George […] stundenlang auswendig hersagen“ konnte.[Zitat Ende]
1 (eine 'epistemische' Selbstbeobachtung)(Die anti-dogmatische Ausrichtung schon im bloßen Ansatz seiner
Philosophie, welche ganz auf Zusammenarbeit setzt, hat bewirkt, dass seine Philosophie nach seinem Tode zunächst
kaum rezipiert wurde....eine historische Aussage über das vergangene Jh. „Das Jh. der Ideologie“, Aufstieg und Fall
der wissenschaftlichen Philosophie, Stärke und Schwäche des Idealismus: cf. Edgar Wind-Vorwort, cf. Cassirer im
Exil: Philosophie muss sich den gesellschaftlichen Problemen stärker widmen. ...Die Distanz in der Philosophie)
Der „ärgerliche Ton“, der die Missbilligung nicht verhehlen kann, verleiht dem Bericht hier
sozusagen die nötige Signifikanz. (...) Wie man der Anekdote entnehmen kann, war Nietzsche,
Cohens Ansicht nach, eigentlich kein Philosoph. Dass die zeitgenössische Philosophie sich so stark
auf ihn beruft, nur ein Zeichen ihrer Verblendung. Kurz vor seinem Tod hatte Cohen in seiner
„Einleitung mit kritischem Nachtrag“ zu Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus
eine scharfe Kritik an der Entwicklung der kontemporären Philosophie vorgelegt. Den [Zitat] „Fall
Nietzsche“ sah er als Beispiel für die falschen Tendenzen dieser Entwicklung in der
zeitgenössischen Philosophie, in der die Verbindung zur Wissenschaftlichkeit aufgelöst wird.2 Er
fungiert als Symptom für eine Entwicklung der Philosophie zur Kunst. Logik und gewissenhafte
Philosophiegeschichte hätten hier keinen Platz mehr. Dass sich besonders viele jüdische
Intellektuelle zu Nietzsche hingezogen fühlten, kann nur noch zur Verstärkung von Cohens
Verärgerung geführt haben.
Cassirer jedenfalls ist diesem Verdikt Cohens nicht gefolgt. Weder in Bezug auf Nietzsche, noch in
Bezug auf die hier bezeichneten Tendenzen, welche in der Kritik am Idealismus zusammen liefen
und größtenteils von Cassirer mit dem Begriff der „Lebensphilosophie“ bezeichnet werden. Mit der
Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen begab sich Cassirer endgültig in das
Spannungsfeld zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie. In seinem dreibändigen
Hauptwerk erwähnt Cassirer Nietzsche nie, doch seit seinen Arbeiten zum Problem der deutschen
Geistesgeschichte, wie er sie seit dem bisher vielleicht unterschätzten Freiheit und Form von 1916
vorgelegt hat, wird die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie und dem von ihr erkorenem
Stammvater Nietzsche unausweichlich. In dem 1921 veröffentlichten Aufsätzen in Idee und Gestalt
wird Nietzsche ertsmals mit einem für Cassirer wichtigen Bezug, wenn nicht der wichtigste, in
einen Zusammenhang gebracht.3
Cassirer stütze sich immer wieder auf Goethische Gedanken und dies ermöglichte ihm auch eine
differenzierte Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie. Er konnte somit ihre
Fragen aufnehmen, die sich vor allem um den Begriff des „Lebens“ gruppierten, ohne ihren
Antworten zu folgen. Diese Art der historischen Abstützung ist ein typisches Merkmal von
Cassirers Stil und so hatte er auch keine Schwierigkeiten Goethe als einen Vorläufer der
Lebenspholosphie anzuerkennen oder ihn mit Nietzsche in Verbindung zu bringen. Die Nähe der
beiden zeigt Cassirer z.B. in Bezug auf Goethes Begriff der Bildung und seinem Freiheitsbegriff
auf, der wie bei Nietzsche eine Wertsetzung impliziere. Goethes Lebensbegriff ist wie in neueren
Forschungen gezeigt (cf. Ferrari, Krois, Möckel), ein wichtiger Faktor in Cassirers Werk und hat bis
in seine Terminologie gewirkt. (Basisphänomene, Monas etc.) Cassirer kannte also in der
Auseinandersetzung mit der „Lebensphilosophie“ ihre historischen Bezugspunkte sehr gut. Neben
Goethe sind dies vor allem Schopenhauer und Nietzsche.
Lebensphilosophie – Metaphysik des Lebens – Der „Wille zur Macht“
(historischer Kommentar zur Stellung der Lebensphilosophie?)
Den dritten Band seines Hauptwerkes, der 1929 erschien, wollte Cassirer ursprünglich mit einer
2 Cohen: „Einleitung mit kritischem Nachtrag“ zu: Lange: Geschichte des Materialismus. 9. Aufl.
Leipzig 1918 (cf. auch Cohen, Werke V), Anhangsseiten 9-10: „Es war unserer Zeit vorbehalten,
derartige Größen als Philosophen anzuerkennen und unter die Klassiker der Philosophie
aufzunehmen, von denen es eingesehen und zugestanden wurde, daß die Logik in ihren Werken
nicht nur schwach vertreten, sondern schlechterdings vakant sei. Der Fall Nietzsche wird als ein
unerfreuliches Zeichen von der Situation, welche der Philosophie gegenüber unsere Zeit einnimmt,
und von dem Gewissen, welche sie sich aus ihr macht, dastehen. Gerade dieser Fall macht es
dem sanftesten Auge deutlich, was der Philosophie bevorsteht, wenn die geschichtliche
Unwissenheit die Miene [d]es Originaldenkers annimmt, und auf das gute Recht naturpoetischer
Gaben gestützt, mit aphoristischer Stellenschriftstellerei in die Muße hereinbricht, welche dem
modernen Leser von der Journallektüre noch übrig gelassen wird. Solche Zustände würden die
regelmäßigen werden, wenn der Betrieb der Philosophie auf die interessante Einseitigkeit, welche
von jeher den Stil der Sophistik bildete, eingerichtet wird; wenn er von der ernsten,
unnachlaßlichen Forderung des genauen Zusammenhangs mit der Geschichte der Philosopie
abgetrennt und losgerissen wird. […] So wird die Geschichte der Philosophie zu einer Art
Kapellmeistermusik.“
3 (Pandoratext, Goethe & Kleist... spätere Verbindung: „Bildung“ und „Freiheit“: aktiv-passiv, wertsetzend etc.)
„Kritik der Philosophie der Gegenwart“ beschließen; ein Vorhaben, das zu einer fast zweijährigen
Verzögerung der Veröffentlichung führte und welches er aufgrund des bereits großen Umfangs des
Bandes zunächst verwarf. Im Vorwort des Bandes kündigte er an, dass er dieses Problem in einer
gesonderten Publikation behandeln wollte. Daraus sollte später jedoch nur ein Aufsatz in der
„Neuen Rundschau“ erscheinen. Die ausführlichere Auseinandersetzung wollte er in einem vierten
Band vorlegen („Metaphysik der symbolischen Formen“).4 Die Lebensphilosophie5 sieht Cassirer
in einer metaphysischen Konstellation zwischen „Geist“ und „Leben“ gefangen, die fast alle
Gebiete der Philosophie berührt. Daher bezeichnet er sie auch an vielen Stellen als eine
„Metaphysik des Lebens“. Cassirer polemisiert nicht gegen diese Konstellation an sich, sondern
sieht in ihr den [Zitat] „Ausdruck des modernen Lebens- […] und Kulturgefühls“6 Er wendet sich
sogar gegen diejenigen, explizit wird hier Rickert genannt, die die „Lebensphilosophie“ als bloße
„Modeströmung“ abtun wollen und von vornherein als disqualifiziert betrachten.7 Cassirer versucht
dagegen diese Konstellation zu begreifen und ihre Prämissen freizulegen. Hier wird Nietzsche als
Vertreter der Lebensphilosophie genannt, sowie gleichzeitig mit Schopenhauer als ihr Vorgänger.
Klages ist für Cassirer ein besonders klares Beispiel eines „folgerechten systematischen und
historischen Abschluss[es]“ der „Lebens- und Willens-Metaphysik“, welche auf Schopenhauer und
Nietzsche zurückgehe. Diese Metaphysik beruht auf eienr Auffasung des Geistes dem keinen
„selbstständige Macht“ entspreche. Er ist somit nur ein „bloßes Idol, ein Trug- und Schreckbild“,
dass nur bewiesen werden könnte wenn die Negativität des Geistes in allen seinen konkreten
Gebilden nachgewiesen werden würde, was Klages allerdings nicht leistet. Cassirer stellt dem sein
Vorgehen in der Philosophie der symbolischen Formen gegenüber und hier wird im Geistigen nicht
„der Wille zur Macht“ sondern der „Wille zur Form“, der „Wille zur Gestaltung“ sichtbar. Cassirer
versucht die Pluralität der Gestaltungsformen aus ihrer Symbolizität zu erklären, deren
Bedeutungen nicht einfach aufeinander reduzierbar sind und somit verschieden Perspektiven der
Sinngebung darstellen. Solange die Lebensphilosophie bei einer substanzialistischen Auslegung des
Geistbegriffes bleibe, muss sie entweder zur Inkonsequenz oder Aporie Zuflucht nehmen.8 Die sich
der Auseinadersetzung mit der „Lebensphilosophie“ anschließenden Bemerkungen Cassirers im
Nachlass der dreißiger Jahre, wo er sich dem Versuch einer Theorie der Basisphänomene widmet,
zeigen eine Konzentration auf die Diskussion des Wahrheitsbegriffs und moralischer bzw. ethischer
Probleme. Die „Lebensphilosophie” und andere mit ihr von Cassirer assoziierte Theorien wie
„Fiktionalismus“ und „Pragmatismus“ müssen dabei in ihrer teilweisen Nähe zu Cassirers eigenem
systematischen Entwurf gesehen werden. Daher war die Abgrenzung für Cassirer um so wichtiger.
Der Unterschied besteht nach Cassirer in der völligen Aufgabe von Normativität bei diesen
„voluntaristischen“ Theorien. Auch Nietzsche wird in diesem Zusammenhang wieder genannt. In
der Kritik am Nietzsche der „Lebensphilosophie“ wollte Cassirer die intellektuellen Grundlagen
einer Ideologie bekämpfen, deren Wirkungen mehr oder weniger direkt zur Ideologie des
Faschismus führten. Hier stellt sich die Frage inwiefern Nietzsche von Cassirer mit diesen
4 Warum wir bisher so wenig über Cassirers Nietzscherezeption wussten, ist durch die
Veröffentlichung der nachgelassenen Manuskripte Cassirers deutlicher geworden:
Die zu ihrem Verständnis wichtige Auseinandersetzung mit der „Lebensphilosphie“,
die die Grundlage des vierten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen
bilden sollte, wurde zu Lebzeiten nie veröffentlicht. Die widrigen Zeitumstände
scheinen tragischerweise einer der Gründe gewesen zu sein, warum Cassirer später
das Projekt eines vierten Bandes nicht mehr ausgeführt hat. Im Nachinein ist dieser Umstand sicherlich als eine der
Ursachen für die Marginalisierung der Cassirerschen Philosphie nach seinem Tode anzusehen.
Die mangelnde Verortung und Anbindung der PsF in den, bzw. an die Debatten der zeitgenössischen Philosophie hat
dazu beigetragen. Dieses Unzeitgemäße scheint jedoch andererseits ein Grund für das neubelebte Interesse an seiner
Philosophie zu sein. (Trotz Unterschieden in den philosophischen Konzeptionen, erscheinen Nietzsche und Cassirer
hier als Zeitgenossen) Problem der Philosophie: zeitgebunden-zeitlos
5 genauere Bennenung: Zitat! Nietzsche, Simmel, Bergson, Dilthey etc.
6 ECN 1, 8. Zitat!
7 Simmel, Klages! → cf. Möckel! Problem: Wird Nietzsche mit den behandelten Positionen identifiziert oder
differenziert Cassirer hier? (Skidelsky vs. Möckel) Problem jeder Nietzscherezeption: Umgang mit dem Nachlass,
insbesondere die Kompilation „Der Wille zur Macht“ ist hier einschlägig.
8 Nietzsche sieht er hier als konsequente Weiterführung von Schopenhauer
Tendenzen gleichgesetzt wird. Einerseits wird an bestimmten Exaltationen, wie der Formel vom
„Willen zur Macht“ Kritik geübt, andererseits erscheint eine Unterscheidung berechtigt, da sich
selbst in diesem Kontext Verweise finden, die nicht so negativ sind. So sieht Cassirer Platons
Staatslehre explizit zwischen „Willen zur Macht“ und „Gerechtigkeit“ gespannt. Nietzsche wird in
anderen Kontexten durchaus positiv aufgenommen.
Geschichte/ „Historismus“ - „historische Philosophie“ 9
Im vierten Band seines groß angelegten Werkes „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft der neueren Zeit“, welcher vor 1940 noch im schwedischen Exil abgeschlossen
worden war, thematisiert Cassirer „Grundformen und Grundrichtungen der historischen Erkenntnis“
und schreibt Nietzsches Zweiter »Unzeitgemäßer Betrachtung« (1874) einen tiefgreifenden Einfluss
auf die Theorie der Geschichte zu. Nietzsche trete in „Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für
das Leben“ nicht als Gegner der Geschichte auf, „was er bekämpfte, war nicht sie selbst; denn sie
war und blieb für ihn eine echte und dauernde Quelle des Enthusiasmus“, sondern als ihr
eigentlicher Verteidiger und Erneuerer. [Zitat]
Der Geschichte hat der Philologe Nietzsche in keiner Phase seiner Entwicklung entsagt oder
entsagen können. Wogegen er sich wandte, war nicht sie selbst, sondern ein entstelltes Bild von ihr,
das der moderne »Historismus« gezeichnet hatte. [Zitat Ende]

Dem Bild des „Historismus“ setze Nietzsche „das 'Nein des überhistorischen Menschen'“ entgegen,
der von der Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgeht. Die Geschichte als
Motivation und Anknüpfungsmöglichkeit wird somit von Nietzsche erst bzw. wieder in ihr Recht
gesetzt. Wie es typisch für Cassirers Stil ist, versucht er die geistesgeschichtliche Genealogie auf
die prägnanten Formen und Strömungen zu bringen. Nietzsche wird hier nicht, wie später wieder im
Essay on Man10 mit Schopenhauer, sondern mit Jacob Burckhardt assoziiert. Cassirer erkennt die
konzeptionelle Nähe der beider Denker, und zeigt wie eng Nietzsche sich an Burckhardt anschließt.
Besonders wichtig ist hier die Betrachtung der Objektivität in der Geschichtsschreibung. Burckhardt
lehne jegliche Apotheose der Staatsmacht ab. Nietzsches Geschichtsauffassung wird im Essay on
Man noch einmal thematisiert. Diesmal wird sie jedoch dargestellt, ohne direkt mit Burckhardt
verbunden zu werden. Nun wird Nietzsche wieder als Schopenhauer-Schüler gezeigt, dessen
Prämisse einer klaren Trennung vom „life of action“ und dem „life of thought“ nicht haltbar sei. Für
Cassirer ist es eine „geistesgeschichtliche Anomalie“ dass sich sowohl Burckhardt als auch
Nietzsche auf Schopenhauer berufen, der der historischen Betrachtung vollkommen abgeneigt
gewesen sei. Im Zusammendenken von Schopenhauer, Burckhardt und Nietzsche werden
Unterschiede genauso wie Übereinstimmungen erkennbar. Cassirer verfährt in diesem
Zusammenhang, wie auch an anderen Stellen, mit seinen Nietzschereferenzen durchaus
„strategisch“. Mal wird Nietzsche eher Burckhardt, dann wieder Schopenhauer anverwandelt. Hier
zeigt sich die Distanz, die Cassirer zu Nietzsche Werk hält, welche es ihm ermöglicht Nietzsche als
Referenz aufzunehmen und trotzdem kritisch zu bleiben. Wenn Cassirer von Nietzsche spricht,
scheint immer auch eine andere Referenz im Hintergrund zu stehen, die je noch Kontext wechseln
kann. In anderen Fällen scheint Nietzsche die Rolle des ungenannten Dritten zu übernehmen.
Deutlich wird dies auch in dem letzten Werk Cassirers The Myth of the State, in der er die
theoretische Vorgeschichte des Nationalsozialismus beleuchten will. Nietzsche wird hier nur am
Rande erwähnt; eingehend werden dagegen Macchiavellis Schriften,11 sowie Hegel, Carlyle und
Gobineau, welche er wohlgemerkt im § „Myth of the 20th Century“ behandelt. Hat Nietzsche also
für Cassirer nicht genügend Gewicht, um hier ebenfalls eine Rolle zu spielen oder identifiziert

9 Nz: Chemie der begriffe und Empfindungen, cf. Maimon „die echte »pragmatische« Geschichte der Philosophie“
10 EM, wo im übrigen die (auch von Foucault bekannte) Trias von Nietzsche, Freud und Marx als prägend für die
einseitig verfahrenden moderne Theorie genannt wird.
11 MS, ECW 25, 117: „In the whole history of literature the fate of Machiavelli’s »Principe« is the best witness to the
truth of the saying: »Pro captu lectoris habent sua fata libelli.« [»The fortune of a book depends upon the capacity of
its readers.« Terentianus Maurus, De litteris, syllabis, pedibus et metris (chap. 2, v. 1286), London 1825, pp. 14-59:
p. 57. ] Vers 258. [Cf. Lichtenberg: Der Zusammenstoß von Kopf und Buch...]
Cassirer Nietzsche einfach nicht mit seinen sogenannten „Lehren“, wie sie in der Rezeption so
deutlich hervorzutreten scheinen? Mir scheint Letzteres der Fall zu sein, hatte Cassirer doch die
Begründung der Naturrechtslehre ausgerechnet auf ein Nietzsche-Zitat aufgebaut: Der Mensch ist
ein Tier, das versprechen kann. Die Position des Begründers der modernen Naturrechtslehre Hugo
Grotius wird so ausgerechnet mit einem Nietzschezitat zusammengefasst. In der sachlich
nüchternen und zugleich literarischen Schreibweise Cassirers wird somit eine Methode erkennbar,
die keine absoluten dogmatischen Gegensätze, sondern nur Probleme und Übergänge anerkennt.
Dies ist die schon bei Nietzsche beschriebene Methode einer „historischen Philosophie“, einem
Diskursdenken, ähnlich der „pragmatischen“ Philosophiegeschichtsschreibung Salomon Maimons
das unter Ausblendung sozialer und ökonomischer Faktoren und ideologischen Standpunkten unter
dem Namen eines Philosophen, dessen Frage und System betrachtet (Foucault: discours-pensée).
Die Trennung von Person und Sache lässt sich bei Cassirer auch für seine Nietzscherezeption
aufweisen. (relative Seltenheit der Erwähnung positiv-Signifikant vor dem Hintergrund des
Kultus?)
Schluß – Götzendämmerung (zum Nihilismus? Zur Ausgangsthese?)
Zusammenfassend kann im Hinblick auf Cassirers Nietzscherezeption gesagt werden, dass in ihr
zwar kritische Töne überwiegen – jedoch Nietzsche als „Philosoph und Kulturkritiker” wie auch
bspw. als „Philologen“ gewürdigt wird und Cassirer sich nicht auf eine konkrete Haltung zu dessen
Werk festlegt. Die Differenzierung von Nietzsches Werk und seiner Rezeption ist meist aber doch
nicht immer klar durchgehalten. Von reiner Ablehnung kann auf jeden Fall nicht gesprochen
werden. Dafür sind die Referenzen zu differenziert. Im Umgang mit dem erkorenem Stammvater
der „Lebensphilosophie“ zeigt sich zudem eine Seite an Cassirer, die man gewitzt nennen könnte.
(diskursiver Humor: die Auflösung dogmatischer Standpunkte im historischen Fluss des Diskurses;
das relationale Denken). Vor dem Hintergrund des allgemeinen Interesses an Nietzsche
„dekonstruiert“ Cassirer das zeitgenössische Nietzschebild, sowohl im wörtlichen wie auch im
konzeptuellen Sinne. Hier erweist sich die praktische Relevanz von Interpretation und Kritik. Aus
dem verzerrten Bild, das durch Polemiken geprägt ist, die nicht Nietzsches waren, wird reiner Text,
dessen vermeintliche „Lehren“ in einer geistesgeschichtlichen Genealogie aufgelöst werden. Aus
Positionen werden dabei Entwicklungslinien. So kann Cassirer, aus heutiger Sicht, fast schon als
Verteidiger Nietzsches erscheinen, sowohl gegen dessen Gegner, wie auch gegen dessen Anhänger.
Nietzsche gilt ihm, so gewinnt man den Eindruck, als ein weiterer Vertreter derjenigen deutschen
bzw. euopäischen Geistesgeschichte, die er in Freiheit und Form (1916) so emphathisch beschworen
hatte. Dies ist Teil von Cassirers Plädoyer für eine zukunftsfähige Philosophie, die sich den
Grundproblemen der Erkenntnis widmet und zwar nicht in ihren Ergebnissen, aber doch in ihrer
Richtung ihre Einheit beweist als andauernde philosophische Forschung.

Sascha Freyberg - Skript des Vortrags bei der Nietzsche-Konferenz in Naumburg 2010

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