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Dem Bild des „Historismus“ setze Nietzsche „das 'Nein des überhistorischen Menschen'“ entgegen,
der von der Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgeht. Die Geschichte als
Motivation und Anknüpfungsmöglichkeit wird somit von Nietzsche erst bzw. wieder in ihr Recht
gesetzt. Wie es typisch für Cassirers Stil ist, versucht er die geistesgeschichtliche Genealogie auf
die prägnanten Formen und Strömungen zu bringen. Nietzsche wird hier nicht, wie später wieder im
Essay on Man10 mit Schopenhauer, sondern mit Jacob Burckhardt assoziiert. Cassirer erkennt die
konzeptionelle Nähe der beider Denker, und zeigt wie eng Nietzsche sich an Burckhardt anschließt.
Besonders wichtig ist hier die Betrachtung der Objektivität in der Geschichtsschreibung. Burckhardt
lehne jegliche Apotheose der Staatsmacht ab. Nietzsches Geschichtsauffassung wird im Essay on
Man noch einmal thematisiert. Diesmal wird sie jedoch dargestellt, ohne direkt mit Burckhardt
verbunden zu werden. Nun wird Nietzsche wieder als Schopenhauer-Schüler gezeigt, dessen
Prämisse einer klaren Trennung vom „life of action“ und dem „life of thought“ nicht haltbar sei. Für
Cassirer ist es eine „geistesgeschichtliche Anomalie“ dass sich sowohl Burckhardt als auch
Nietzsche auf Schopenhauer berufen, der der historischen Betrachtung vollkommen abgeneigt
gewesen sei. Im Zusammendenken von Schopenhauer, Burckhardt und Nietzsche werden
Unterschiede genauso wie Übereinstimmungen erkennbar. Cassirer verfährt in diesem
Zusammenhang, wie auch an anderen Stellen, mit seinen Nietzschereferenzen durchaus
„strategisch“. Mal wird Nietzsche eher Burckhardt, dann wieder Schopenhauer anverwandelt. Hier
zeigt sich die Distanz, die Cassirer zu Nietzsche Werk hält, welche es ihm ermöglicht Nietzsche als
Referenz aufzunehmen und trotzdem kritisch zu bleiben. Wenn Cassirer von Nietzsche spricht,
scheint immer auch eine andere Referenz im Hintergrund zu stehen, die je noch Kontext wechseln
kann. In anderen Fällen scheint Nietzsche die Rolle des ungenannten Dritten zu übernehmen.
Deutlich wird dies auch in dem letzten Werk Cassirers The Myth of the State, in der er die
theoretische Vorgeschichte des Nationalsozialismus beleuchten will. Nietzsche wird hier nur am
Rande erwähnt; eingehend werden dagegen Macchiavellis Schriften,11 sowie Hegel, Carlyle und
Gobineau, welche er wohlgemerkt im § „Myth of the 20th Century“ behandelt. Hat Nietzsche also
für Cassirer nicht genügend Gewicht, um hier ebenfalls eine Rolle zu spielen oder identifiziert
9 Nz: Chemie der begriffe und Empfindungen, cf. Maimon „die echte »pragmatische« Geschichte der Philosophie“
10 EM, wo im übrigen die (auch von Foucault bekannte) Trias von Nietzsche, Freud und Marx als prägend für die
einseitig verfahrenden moderne Theorie genannt wird.
11 MS, ECW 25, 117: „In the whole history of literature the fate of Machiavelli’s »Principe« is the best witness to the
truth of the saying: »Pro captu lectoris habent sua fata libelli.« [»The fortune of a book depends upon the capacity of
its readers.« Terentianus Maurus, De litteris, syllabis, pedibus et metris (chap. 2, v. 1286), London 1825, pp. 14-59:
p. 57. ] Vers 258. [Cf. Lichtenberg: Der Zusammenstoß von Kopf und Buch...]
Cassirer Nietzsche einfach nicht mit seinen sogenannten „Lehren“, wie sie in der Rezeption so
deutlich hervorzutreten scheinen? Mir scheint Letzteres der Fall zu sein, hatte Cassirer doch die
Begründung der Naturrechtslehre ausgerechnet auf ein Nietzsche-Zitat aufgebaut: Der Mensch ist
ein Tier, das versprechen kann. Die Position des Begründers der modernen Naturrechtslehre Hugo
Grotius wird so ausgerechnet mit einem Nietzschezitat zusammengefasst. In der sachlich
nüchternen und zugleich literarischen Schreibweise Cassirers wird somit eine Methode erkennbar,
die keine absoluten dogmatischen Gegensätze, sondern nur Probleme und Übergänge anerkennt.
Dies ist die schon bei Nietzsche beschriebene Methode einer „historischen Philosophie“, einem
Diskursdenken, ähnlich der „pragmatischen“ Philosophiegeschichtsschreibung Salomon Maimons
das unter Ausblendung sozialer und ökonomischer Faktoren und ideologischen Standpunkten unter
dem Namen eines Philosophen, dessen Frage und System betrachtet (Foucault: discours-pensée).
Die Trennung von Person und Sache lässt sich bei Cassirer auch für seine Nietzscherezeption
aufweisen. (relative Seltenheit der Erwähnung positiv-Signifikant vor dem Hintergrund des
Kultus?)
Schluß – Götzendämmerung (zum Nihilismus? Zur Ausgangsthese?)
Zusammenfassend kann im Hinblick auf Cassirers Nietzscherezeption gesagt werden, dass in ihr
zwar kritische Töne überwiegen – jedoch Nietzsche als „Philosoph und Kulturkritiker” wie auch
bspw. als „Philologen“ gewürdigt wird und Cassirer sich nicht auf eine konkrete Haltung zu dessen
Werk festlegt. Die Differenzierung von Nietzsches Werk und seiner Rezeption ist meist aber doch
nicht immer klar durchgehalten. Von reiner Ablehnung kann auf jeden Fall nicht gesprochen
werden. Dafür sind die Referenzen zu differenziert. Im Umgang mit dem erkorenem Stammvater
der „Lebensphilosophie“ zeigt sich zudem eine Seite an Cassirer, die man gewitzt nennen könnte.
(diskursiver Humor: die Auflösung dogmatischer Standpunkte im historischen Fluss des Diskurses;
das relationale Denken). Vor dem Hintergrund des allgemeinen Interesses an Nietzsche
„dekonstruiert“ Cassirer das zeitgenössische Nietzschebild, sowohl im wörtlichen wie auch im
konzeptuellen Sinne. Hier erweist sich die praktische Relevanz von Interpretation und Kritik. Aus
dem verzerrten Bild, das durch Polemiken geprägt ist, die nicht Nietzsches waren, wird reiner Text,
dessen vermeintliche „Lehren“ in einer geistesgeschichtlichen Genealogie aufgelöst werden. Aus
Positionen werden dabei Entwicklungslinien. So kann Cassirer, aus heutiger Sicht, fast schon als
Verteidiger Nietzsches erscheinen, sowohl gegen dessen Gegner, wie auch gegen dessen Anhänger.
Nietzsche gilt ihm, so gewinnt man den Eindruck, als ein weiterer Vertreter derjenigen deutschen
bzw. euopäischen Geistesgeschichte, die er in Freiheit und Form (1916) so emphathisch beschworen
hatte. Dies ist Teil von Cassirers Plädoyer für eine zukunftsfähige Philosophie, die sich den
Grundproblemen der Erkenntnis widmet und zwar nicht in ihren Ergebnissen, aber doch in ihrer
Richtung ihre Einheit beweist als andauernde philosophische Forschung.
Sascha Freyberg - Skript des Vortrags bei der Nietzsche-Konferenz in Naumburg 2010