DIEZEIT

Kunst im Hotel
In dieser Ausgabe:
32 Seiten Reisen-Spezial

PREIS DEUTSCHLAND 6,20 € WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R 20. OKTOBER 2022 N o 43

Fluchtpunkt Deutschland
1,2 Millionen Menschen haben in diesem Jahr bereits Schutz bei uns gesucht. Was haben wir
seit 2015 gelernt? Und geht es diesmal ohne Zerwürfnisse?  POLITIK UND STREIT
Zwei
Kämpferinnen
Luisa Neubauer und
ihre Großmutter
über Ohnmacht und
Hoffnung
Feuilleton, S. 48
Titelfoto: Daniel Etter für DIE ZEIT (Vater und Sohn nahe der ungarischen Grenze, Horgoš, Serbien, 16.10.22)

Mit dem Mut

der Verzweiflung
Navid Kermani über
die Wut im Iran und
das Versagen in
Deutschland Politik, S. 2

Zwei Kämpfer
Die Klitschko-Brüder
ATOMKRAFT UKRAINE
über den Raketen­

Machtwortgeklingel Krieg und Frieden

beschuss von Kiew und
ihre strenge Erziehung
Unterhaltung, S. 28

Der Kanzler hat von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an einen Autor,
Ergebnis: Ein Scheinriese und zwei Zwerge  VON PETER DAUSEND der die Russen hasst. Darf das sein? Leider ja!  VON VOLKER WEIDERMANN

E E
PROMINENT IGNORIERT
in Machtwort, ach Gottchen. Inhaltlich ist das nicht gedeckt, da der Kanzler, bei s ist ein Skandal. Am kommen­ die er zuvor auf Face­book und Twitter veröffent­
Olaf Scholz wird nun weithin genauerer Betrachtung, näher bei den Grünen liegt den Sonntag wird in der Frank­ lichte, zusammenfasst, dokumentiert er auch
dafür gefeiert, dass er seine Richt­ als bei der FDP (ein AKW läuft ein paar Monate furter Paulskirche der Friedens­ sein eigenes Erschrecken über sich und über
linienkompetenz – so die Über­ länger vs. drei laufen das erwünschte Zusatzjahr gar preis des Deutschen Buchhandels seine Verwandlung.
setzung von »Machtwort« ins nicht). Das Triumphale erklärt sich zum Teil­ an den ukrainischen Dichter Erschrecken über seinen Hass. Über das­
Kanzlerdeutsche – wahrgenom­ dadurch, dass den Liberalen ein Profilierungsver­ Serhij Z ­hadan vergeben. Der Pathos. Was ist passiert? Das alles wäre ihm doch
men und festgelegt hat, worauf sich Finanz­ such geglückt ist, während die Grünen bei ihrem Friedenspreis ist einer der wichtigsten europäi­ vor dem 24. Februar selbst peinlich und unange­
minister Chris­tian Lindner (FDP) und Wirt­ Identitätsthema Abstriche machen mussten. Ver­ schen Kulturpreise unserer Zeit. Die ausgezeich­ nehm und falsch erschienen. Es ist passiert, dass
schaftsminister Robert Habeck (Grüne) nicht stehen kann man die Freudengesänge aber erst nete Persönlichkeit muss, so steht es im Statut, er Kinder im Luftschutzkeller sah und sah, wie
einigen konnten: Drei statt zwei Kernkraft­ durch Lindners Ankündigung oder auch Drohung, in her­vor­ragen­dem Maße »zur Verwirklichung das die Kinder verändert. Es ist passiert, dass er
werke bleiben über den 31. Dezember hinaus
am Netz, am 15. April 2023 ist endgültig
für den Winter 2023/24 werde man auch noch eine
Lösung finden. Warum also im April 2023 ab­
des Friedensgedankens« beigetragen haben.
Der Preisträger dieses Jahres bezeichnet in
einen gefallenen Freund nicht richtig beerdigen
konnte, weil dessen Kopf nicht zu finden war. Es
Sexualallergie
Schluss mit der Atomkraft in Deutschland. Das schalten, wenn die Verlängerung doch so erfolg­ seinem soeben im Suhrkamp Verlag erschiene­ ist passiert, dass er über eine Kreuzung ging, und Botho Strauß schrieb 1981: »Die
Problem ist nur: Dem Machtwort fehlt die reich war und die Mehrheit der Wähler das auch so nen Buch Himmel über Charkiw die Russen als zehn Minuten später wurde diese Kreuzung­ Angst gehört den Atomkraftwerken.
Macht, den Streit zu be­enden. Und der Richt­ sieht? Man darf davon ausgehen, dass die FDP im »Horde«, »Verbrecher«, »Tiere«, »Unrat«. Er beschossen. Der Krieg ist passiert. Sein Land Keiner ist mehr gezwungen, sie an
linienkompetenz die eindeutige Richtung. kommenden Jahr eine neue Runde im Atomstreit schreibt: »Die Russen sind Barbaren, sie sind­ wurde überfallen. Unschuldige Menschen ster­ ihrer geschlechtlichen Quelle selbst
In seinem »Ich als Bundeskanzler ...«-Schreiben einläuten wird. Das Machtwort von Scholz hat also gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kul­ ben jeden Tag. Er selbst trägt, wie er in einem zu ertragen.« Gilt das 2022 noch?
an die Herren Minister präsentiert Scholz einen eine Restlaufzeit. tur, unsere Bildung zu vernichten.« Er schreibt: Brief, den wir im Feuilleton dokumentieren, Amerikanische Urologen berichten
Kompromiss, der so naheliegend ist, dass w ­ omög­ Machtworte von Kanzlern wirken eigentlich »Brennt in der Hölle, ihr Schweine.« schreibt, seit dem zweiten Kriegstag eine Waffe. von einer sehr seltenen Krankheit,
lich Viertklässler darauf gekommen wären, hätte nur in politischen Koch-Kellner-Verhältnissen, in Selbst wenn es hier nicht um unseren wich­ Und er schreibt: »Diese Erfahrung ist in unserer einer Art Orgasmus-Allergie. Jedem
man sie dazu aufgefordert, eine sich zuspitzende klassischen Zweierbündnissen, wenn ein Großer tigsten Preis im Namen des Friedens ginge, wäre Welt leicht zu erwerben, aber danach schwer Höhepunkt folgen coronaartige
Regierungskrise zu befrieden. Dass Lindner und einem Kleinen sagt, wo es langgeht. In einer gro­ das ungeheuerlich. Ist Literatur nicht für das wieder loszuwerden.« Symptome, die bis zu einer Woche
Habeck nicht in der Lage waren, aus ihren Maxi­ ßen Koa­li­tion, einem Zweckverband sowohl auf Gegenteil dieser einseitigen, hasserfüllten Partei­ Ein Friedenspreisträger im Krieg. Navid anhalten. Sehr selten, gewiss, aber
malpositionen (drei AKWs bis April 2024 vs. zwei Zeit als auch auf Augenhöhe, würde jeder Ver­ nahme geradezu erfunden worden? Ist das nicht Kermani, Preisträger des Jahres 2015, hatte in was, wenn sich das ausbreitet? USTO
AKWs bis April 2023) heraus diese Lösung zu ent­ such einer schurigelnden Anweisung in eine Exis­ die große Kunst: das Nicht-zu-Verstehende ver­ seiner Rede damals die Frage gestellt, ob ein
wickeln, zeigt eine innere Auszehrung der Ampel, tenzkrise der Regierung münden, wenn nicht gar stehen? Den entmenschlichten Gegner als Men­ Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen darf, Kleine Fotos (v. o.): [M] Henning Kretschmer für
DIE ZEIT; Hanka Steidle/plainpicture;
die nach gerade mal einem Jahr gemeinsamen­ in deren Bruch. Angela Merkel wusste das und schen erkennen und beschreiben? Ist es nicht und die Antwort darauf offengelassen. Heute Getty Images
Regierens ziemlich erstaunlich ist. Und sie zeigt hat zwölf Jahre lang jede »Basta«-Versuchung ge­ einfach nur fatal, in diesen grauenvollen, hass­ sagt er uns, darauf angesprochen: »Sieben Jahre
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
eine noch erstaunlichere Bereitschaft, dem Bünd­ genüber der SPD – sofern sie je aufkam – unter­ erfüll­ten Zeiten den Hass mit literarischen Mit­ später sind wir so weit. Offensichtlich darf er. 20079 Hamburg
nispartner zu schaden. Scholz hat also weniger ein drückt. Und in den vier Jahren der schwarz-­ teln noch zu verstärken? Und ­ warum? Weil der Krieg inzwischen in­ Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
Machtwort gesprochen als die Notbremse gezogen. gelben »Wunsch­ koa­li­
tion« entwickelte sie die Europa angekommen ist.« DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
Damit Grüne und Liberale in ihrer ­Raserei nicht Kunst, Machtworte wirken zu lassen, ohne sie Zhadans Erschrecken über sich und Es wird festlich werden am kommenden ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
aus Versehen seine Ampel zertrümmern. aussprechen zu müssen. Es reichte, allen Forde­ seine Verwandlung Sonntag in der Paulskirche, wir alle in unseren ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
rungen der FDP, insbesondere der nach ­einer Anzügen und Kostümen und Kleidern, der rote
Scholz musste anders vorgehen, als er es großen Steuerreform, mit so großer ­ Abprall­ Und was für ein großer, wortmächtiger Dichter Marmor ringsumher, Musik, Andacht, Reden, ABONNENTENSERVICE:
sich vorgenommen hatte – aus Ohnmacht kompetenz zu begegnen, dass die Richtlinie ein­ dieser Zhadan eigentlich ist, das wissen wir seit Würde. Geburtsort der deutschen Demokratie. Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
deutig festgelegt war. Macht ohne Worte. vielen Jahren, seit er diese modernen, lässigen, Damals, 1848, schrieb eine Augenzeugin, sie E-Mail: abo@zeit.de
Über die Richtlinienkompetenz hat der Kanzler Für ein Dreierbündnis wie die Ampel gilt im menschenfreundlichen, ihrer Zeit vorausleuch­ würde ihr Leben geben für die heiligsten Rechte
im August vor der Bundespressekonferenz Inte­ Prinzip das Gleiche wie für die Groko: Macht­ tenden Romane wie Internat und viele andere der Menschheit. »Mir war todesfreudig zu PREISE IM AUSLAND:
ressantes gesagt: »Es ist gut, dass ich sie habe. worte gefährden die Existenz. Wenn unter drei geschrieben hat. Hohelieder seiner Heimatstadt Mute. Ich hätte gewünscht, dass der Feind DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
Aber natürlich nicht in der Form, dass ich Mittelgroßen einer den Dicken markiert, kommt Charkiw, die er als kleines, tolerantes, europäi­ draußen vor dem Tore gestanden hätte und dass A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
jeman­ dem einen Brief schreibe: Bitte, Herr­ das bei den beiden anderen nicht gut an. Da sches Vielvölkerreich im Miniaturformat litera­ wir alle ­hinausgezogen wären.« B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
Minister, machen Sie das Folgende.« Zwei­ Lindner und Habeck in der Atomfrage unfähig risch beschreibt. Es ist der richtige Ort, diesen Preisträger zu
o
N 43
Monate später hat Scholz genau diesen Brief oder unwillens waren, das Offensichtliche zu­ »O Freunde, nicht diese Töne!«, hatte der in ehren. Es ist auch der richtige Preis. Der Skandal
ben, ja schreiben müssen. Wenn ein erkennen, konnte Scholz mit einem Machtwort,
geschrie­ späteren Jahren wichtigste Suhrkamp-Autor ist nicht der Dichter und nicht sein Buch. Der
Kanzler tun muss, was er nicht tun will, dann ist das keins ist, sich zu einer Größe aufblasen, die Hermann Hesse zu Beginn des Ersten Welt­ Skandal ist der russische Überfall auf die
sein Machtwort nicht Ausdruck seiner Macht, er nicht besitzt. Ihre Bockigkeit, die nicht zuletzt kriegs seinen Dichterfreunden zugerufen. Wer, Ukraine­und das tägliche Töten. Die Literatur
7 7. J A H RG A N G C 7451 C
sondern Indiz seiner Ohnmacht, die Dinge auf in Eitelkeit wurzelt, bezahlen Lindner und­ wenn nicht wir, muss sich auf das gemeinsam wehrt sich mit ihren Mitteln. Und kämpft für
die Art zu regeln, wie er sie regeln möchte. Habeck nun mit vorläufiger Selbstverzwergung. Menschliche besinnen. Wer, wenn nicht wir, nichts anderes als Frieden.
Ziemlich erstaunlich ist, wie die beiden Streit­ Ein Scheinriese und zwei Zwerge – das ist das muss dem Frieden vorausschreiben. 43
hähne auf die Festlegung von Scholz reagieren: die Ergebnis des Machtwortes von Scholz. Für die In Zhadans Buch, das nun erscheint und Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
FDP mit Triumphalismus, die Grünen mit Frust. Ampel kein gutes. das, kaum bearbeitet, seine Kriegsmitschriften, unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106207
2 POLITIK
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» Fre ih e it
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P ro te s t­s
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»Wir Regimegegner Mit dem Aufwachen der Griff zum Handy, um sich
die Videos der Nacht anzusehen, derselbe Tages­
protestieren aus zwei Gründen beginn für Millionen Iraner weltweit. Allein schon,
weiter: aus Hoffnung dass der Aufstand in die fünfte Woche geht, wider­
und aus Angst. Aus Hoffnung, spricht allen Pro­gno­sen, auch meiner. Montagmor­
gen die Bilder vom brennenden Evin-Gefängnis,
weil wir glauben, dass das Ziel das im Norden von Teheran liegt, die Flammen
– der Sturz des Regimes – in weithin sichtbar, die Rauchschwaden riechbar, die
Gewehrsalven hörbar in der Neun-Millionen-Stadt.
Reichweite liegt. Und aus Was ist mit Jafar Panahi, was ist mit Mohammad
Angst, weil wir wissen, dass Rasulof, den beiden Filmregisseuren? So ungerecht
das Regime noch brutaler wie menschlich, sich zuerst um diejenigen Häft­
linge zu sorgen, die du kennst. Vier Tote werden
zurückschlägt, sobald wir gemeldet, später acht, aber keine Namen.
aufhören. Wenn die Straßen Einige der verwackelten Aufnahmen zeigen
Angehörige in großer Zahl, die vor dem brennen­
sich leeren, wenn die den Gefängnis auf Nachricht warten und immer
Welt wieder wegschaut, wütender protestieren, den Stau auf den Stadt­
verschwinden die Menschen auto­bah­nen ringsum, Protesthupen und Frauen,
die auf den Autodächern »Tod dem Diktator«
erst recht in den Folterknästen. schreien, immer wieder »Tod dem Diktator«. Der
Jeden Tag sage ich mir wird wissen, dass der Slogan mit jedem erschosse­
deshalb, dass ich stark bleiben nen Demonstranten immer wörtlicher zu verstehen
ist und erst recht mit jedem getöteten Kind – bis­
muss. Manchmal weine ich, her sollen es 23 sein. Also müssen die Soldaten
wenn ich von den Gräueltaten noch mehr Menschen erschießen, es ist jetzt eine
Si­tua­tion auf Leben und Tod zwischen Herrscher
des Regimes der letzten und Volk. Aber das Volk sind 80 Millionen.
Wochen lese. Doch dann Seine eigene Gewalt zwingt das Regime dazu,
versuche ich, meine Trauer in immer noch mehr Gewalt anzuwenden, der Aus­
weg eines evolutionären Wandels wurde schon vor
Wut ­umzuwandeln. Jahren verpasst, und nun funktioniert die Unter­
Ich weiß, wofür ich kämpfe. drückung auch nicht mehr wie gewohnt. Selbst
prominente Gesichter der staatstreuen Öffentlich­
Für eine freie Gesellschaft. keit bekunden ihren Abscheu vor der Brutalität,
Für die Freiheit von Sportstars, Fernsehmoderatoren und mit Reza
Frauen, Homosexuellen, Amirkhani sogar der Hofdichter des Re­ gimes.
Vermutlich würde inzwischen nicht einmal mehr
für Meinungsfreiheit. ein Massaker mit über 1500 erschossenen De­
Eines Tages werden wir all monstranten wie 2019 genügen, um den Aufstand
das erreichen. Der Westen zu ersticken. Statt zu Massenprotesten in Teheran,
die zu gefährlich geworden sind, finden sich
sollte Druck auf das Regime Demonstranten im Land zu kleineren, oft klan­
ausüben, bis es ein faires destinen Aktionen zusammen, die nicht überall
gleichzeitig verhindert werden können und Tag
Referendum über für Tag neue Videos produzieren.
die Systemfrage zulässt« Ein Freund von Rasulof antwortet mit einer
Voice­mail, dass er von ihm noch keine Nachricht
Amir Ali Esfahani, 27, habe, dass aber Panahi in den frühen Morgen­
Künstler aus Teheran stunden seine Frau anrufen durfte; er sei jetzt
wieder in Sicherheit, habe er ihr gesagt, aber es
sei die schlimmste Nacht seines Lebens gewesen.
Illustration: Roshi Rouzbehani
Die Häftlinge seien aus dem brennenden Gebäude
geflohen und im Hof mit Tränengas erwartet
worden. Das ist also ein weiterer unbestätigter
Bericht, der wie die alten Hagiografien über eine
Kette mehrerer Gewährsleute überliefert wird.
Und Helden scheint es im Iran gerade mehr zu
geben als irgendwo anders auf der Welt.
So viel
Mut Seit Wochen protestieren
die Menschen im Iran. Und sie
registrieren genau, wie wenig
Solidarität aus Deutschland kommt
VON NAVID KERMANI
Ein weiteres Video zeigt den Schriftsteller Amir
Hassan Cheheltan, der aus seiner Teheraner Woh­
nung zum ZDF spricht, Bücherwände im Hinter­
grund. Die Wohnung liegt nur einen Steinwurf vom
Evin-Gefängnis entfernt, des Öfteren habe ich ihn
dort besucht. Das ist jetzt eine Revolution, sagt
Cheheltan, der zu den Bedächtigeren gehört, inso­
fern hat das Wort aus seinem Mund besonderes
Gewicht – und dass er es von Teheran aus einem
ausländischen Sender sagt. Einen Steinwurf vom
Evin-Gefängnis entfernt oder eben deshalb. Sind Sie
in Teheran?!, simse ich ihm sofort, weil ich nicht
glauben kann, dass er sich von der Lesereise durch
Euro­pa, während der er scharfe Artikel geschrieben
und mutige Interviews gegeben hat, zurück in den
Iran getraut hat. Sind Sie in Sicherheit? Er schickt
eine weitere Voice­mail, dass es ihm so weit gut gehe,
die Einreise habe problemlos geklappt. Anrufen ist
schwierig, das Internet ist zu langsam geworden
dafür, aber Sprachnachrichten kommen durch.
Wahrscheinlich war die Sehnsucht der Auslands­
iraner niemals so groß wie dieser Tage, ebenfalls in
ein Flugzeug zu steigen. Speziell Doppelstaatsbürger
müssen derzeit fürchten, im Fernsehen als Aufwieg­
ler aus dem Ausland vorgeführt und als Geisel zum
Austausch gegen iranische Geheimdienstmitarbeiter
gehalten zu werden. Aber in Deutschland zu sein
fühlt sich erst recht falsch an, hier, wo kaum jemand
um den Iran bekümmert zu sein scheint. Nicht ein­
mal im Kulturbetrieb, wo sonst resolut für Geschlech­
tergerechtigkeit und gegen jedwede Diskriminierung
gestritten wird, hört man etwas zu den Protesten im
Iran: keine Theater, die ihr Programm ändern, aus­
schließlich Autoren mit iranischem Hintergrund, die
die Bundesregierung für ihre Iranpolitik anklagen,
keine Kinos, die an die verhafteten Berlinale-
Gewinner im Iran erinnern.
Der Sport? Frauen dürfen keine Fußballstadien
betreten, Sportlerinnen sind bei internationalen
Wettkämpfen durch ihre Zwangskleidung gehandi­
capt, und Fußballprofis sitzen wegen ihrer regie­
rungskritischen Tweets im Evin-Gefängnis ein. Aber
nicht einmal in Dortmund hat die Ermordung der
16-jährigen Demonstrantin Sarina Esmailzadeh, die
eine treue Anhängerin des BVB war, für eine Trauer­
minu­te genügt. Nur einige beherzte Fans erinnerten
mit einem Plakat an sie.
Und die Politik? Annalena Baerbock wird auf
dem Parteitag der Grünen frenetisch gefeiert, ob­
wohl sie mit ihrem langen Schweigen zu den Pro­
testen den Offenbarungseid ihrer feministischen
Außenpolitik geleistet hat. Die europäischen
Sanktionen, die sie nun auf einmal persönlich mit
auf den Weg gebracht haben will, sind so harmlos,
als sollten sie vor allem den Druck von ihrer eige­
nen Person nehmen, anstatt Druck auszuüben auf
die Diktatur im Iran. Omid Nouripur, der im Iran
geboren wurde, sorgt als hüpfender, krakeelender
DJ für Spaß, während im Evin die politischen
Gefangenen in ihren Zellen zu verbrennen drohen,
auch das ein Video, das bleiben wird. Bi-scharaf,
sagte meine bald 90-jährige Mutter über den Par­
teivorsitzenden: »ehrlos«, und was im Deutschen
harmlos klingt, ist auf Persisch einer der ärgsten
Flüche überhaupt. Es war einmal, da konnte man,
wenn bei einer Partei, bei den Grünen anrufen,
wenn es um Menschenrechte ging, jetzt hebt nie­
mand mehr ab, und das ist nicht einmal im über­
tragenen Sinne gemeint.
Als vor Kurzem mehrere Tausend Studenten in
der Scharif-Universität eingekesselt waren, über­
trugen sie ihre Diskussion über Twitter live in alle
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
 
Welt. Offenbar wussten sie, wer auf welcher Seite
der Geschichte steht, denn mehr als einmal beklagten
sie sich über die mangelnde Solidarität speziell aus
Berlin. Offenkundig hat Deutschland nicht aus
seiner verfehlten Russlandpolitik gelernt, die ganz
im Zeichen von Energie und Stabilität stand, und
jetzt hat man keines mehr davon. Immerhin kom­
»Wenn ich auf die Straße
men gerade die Bilder von Drohnen herein, die der gehe, nehme ich manchmal
Iran an Russland geliefert haben soll. Wenn sich das Säcke voller Nägel mit.
bewahrheitet, könnte Europa doch noch Sanktionen
beschließen, die das Re­gime treffen. Die Tag für Tag Wir legen sie auf der Fahr­
getöteten Demonstranten im Iran reichen als Grund bahn aus, dann platzen die
offenbar nicht aus. Ungerecht, aber menschlich, sich Motorradreifen der
zuerst um Europäer zu sorgen, werden mir meine
deutschen Landsleute vielleicht entgegnen. Eines der Sicherheitskräfte. Wir wollen
beeindruckendsten Videos der letzten Tage zeigt die Schläger des Regimes ins
Hunderte Schülerinnen, 14, 15 Jahre alt, die einen
Taumeln bringen. Ich glaube,
Offizier niederbrüllen, der von einem Pult aus zu
ihnen sprechen will. So viel Energie in den hellen wir haben sie schon müde
Stimmen – ich hätte auch Angst, wenn ich hinter gemacht. Ich kann es in ihren
dem Pult stünde, so viel mehr Angst als vor angeb­
lichen oder wirklichen Randalierern. Du hast hier Augen sehen. Viele haben
keine Zukunft, sagen die Mädchen ihm. Zuletzt keine Lust mehr, ihre eigenen
sind es vor allem Bilder aus den Provinzen, die nach
Landsleute zu verprügeln.
außen dringen, aus dem ostiranischen Zahedan
etwa, wo Tausende nach dem Freitagsgebet auf die Sie werden vom Regime
Straße gingen. Wohlgemerkt nach dem Freitags­ bezahlt, aber sie unterstützen
gebet, der Kleidung und den Bärten nach zu ur­
teilen das einfache Volk. Nach dem Freitagsgebet es nicht aus vollem Herzen.
vor zwei Wochen richteten die Sicherheitskräfte dort Das macht sie schwach«
ein Blutbad an, bei dem mindestens 66 Demons­
tranten umgekommen sind. Siamak Amiri, 24,
Auf anderen Aufnahmen des Wochenendes Programmierer aus Teheran
ist zu sehen, wie in Sanandadsch, der Hauptstadt
des iranischen Kurdistans, Sicherheitskräfte mit
Maschinengewehren auf Wohnhäuser und De­
monstranten schießen. Die Herzen bewegt die
prominenteste iranische Klettermeisterin Elnas
Rekabi, Gewinnerin der Bronzemedaille bei den
Weltmeisterschaften im letzten Jahr. Bei den
Asienmeisterschaften in Seoul legte sie am Sonn­ »Nie war ich mir sicherer:
tag das Kopftuch ab, bevor sie im Nationaltrikot Die Zeit ist gekommen, das
die Wand hochging. Das alles hin­ter­ein­an­der auf Regime muss fallen. Wir
dem Smart­phone nach dem Aufstehen.
Endlich die Nachricht, dass Rasulof ebenfalls haben in den letzten Wochen
die Nacht überlebt habe. Ein weiterer Tag be­ zu viel bezahlt, zu viele tote
ginnt, an dem Millionen Auslandsiraner wie
Fremde durch ihren Alltag gehen, weil sie mit den Mädchen und Frauen
Gedanken bei ihren Landsleuten sind. Und im gesehen, als dass wir zurück­
Iran weitere Videos entstehen, damit endlich auch kehren könnten zu dem, was
die übrige Welt hinsieht.
Der Tag geht zu Ende mit Bildern des iranischen war. Unsere Bewegung muss
Staatsfernsehens, das dankbare Gefangene im Evin- Erfolg haben. Aber wir
Gefängnis zeigt, und Anna­lena Baer­bock im heute-
journal, die keine kritischen Fragen zu ihrer Iran­ können die Machthaber nicht
politik zu beantworten braucht, Staatsfernsehen auch mit unseren bloßen Händen
das. Der nächste Morgen, der Dienstag, beginnt mit davon abhalten, Kinder und
der Meldung, dass Elnas Rekabi in Seoul verschwun­
den und in den Iran entführt worden sein soll. Be­ Jugendliche zu ermorden.
stätigt sich das, dürfte sie in den nächsten Tagen Der Westen muss uns helfen«
die Reue vorführen, zu der man sie unter Folter ge­
zwungen hat. Wie vor ihr bereits so viele Iranerinnen, Asadeh Nouri, 35,
die es wagten, für ihre Rechte ein­ zu­ stehen. In Buchhalterin aus Schiras
Deutschland wird das keine Party stören, solange die
Frauenquote stimmt.
Der Schriftsteller und Friedenspreisträger
Navid Kermani lebt in Köln.
Soeben ist von ihm bei C. H. Beck »Was jetzt ­
möglich ist. 33 politische Situationen« erschienen Alle Namen von der Redaktion geändert.
Die Zitate wurden aufgezeichnet von
www.zeit.de/vorgelesen Luisa Hommerich
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022 POLITIK 3

»Unsterblichkeit bedeutet: Man muss im

Leben keine Prioritäten mehr setzen«
Christian Lindner hat Stress.

C
hristian Lindner schaut gern Serien.
Heißt es. Dabei geht ziert manchmal auch Ergebnisse. Und an denen kann man Toronto nehmen, kleiner Zwischenstopp auf dem Rück-
Er hat es sich angewöhnt, als er vor es ihm prima. Ein Porträt des Politiker messen. Olaf Scholz hat als Finanzminister eben- weg. Das hat aber nicht funktioniert, weil beim Airbus
über zehn Jahren als Generalsekretär falls mehr Schulden gemacht, aber er wurde dafür von der Luftwaffe eine Leitung durchbrannte und Lindner
der FDP zurücktreten musste. Die Bundesfinanzministers  seinen Leuten gefeiert. Schließlich konnte sich der deshalb Linie nach Hause fliegen musste. Economy Plus.
Partei war in der Krise und Lindner Sozialdemokrat Scholz mit dem Geldausgeben an das Ohne Freeland. Deutschland eben. Alles kaputt.
frustriert. Er hat sich dann 24 reinge- VON MARK SCHIERITZ ideologische Zentrum seiner Partei annähern. Der Libe- Es gibt ein paar Geschichten, die über Christian Lindner
zogen, ein Actiondrama, in dem ein rale Lindner entfernt sich mit seiner Haushaltspolitik von erzählt werden. Diese zum Beispiel: Er habe einen Kuriosi-
amerikanischer Bundesagent in acht Staffeln und 192 dem der seinen, Pragmatismus hin oder her. tätenordner für ungewöhnliche Zuschriften. Darin sei zum
Folgen Terroristen jagt. Für viele Politiker ist die Öffentlichkeit eine Zumu- Beispiel ein Brief eines Wählers aus
Im Moment schaut Lindner Andor,­ tung. Angela Merkels Reden hatten immer etwas seiner Zeit als Generalsekretär. Der
House of the Dragon und Rings of ­ Gequältes, genau wie die von Olaf Scholz heute. Wenn Briefschreiber lobt Lindners politischen
Power, die Verfilmung der Vorge- Lindner redet, dann wirkt es so, als habe er gerade viel Einsatz »auch im Sinne des deutschen
schichte des Fantasyklassikers Der Herr Spaß. Als er vor ein paar Wochen im Bundestag den Vaterlands« und wünscht ihm alles
der Ringe. Es geht darin um Macht, Haushaltsentwurf der Regierung vorstellte, hatte er Gute. »PS: Bitte schicken Sie mir getra-
Gewalt und Strategie, um den Kampf lediglich einen kleinen zusammengefalteten Zettel mit gene Unterwäsche.«
der Guten gegen die Bösen, und es handschriftlichen Notizen am Pult dabei. Kein Ablesen, Oder diese: Lindner ist ein begeister-
kommen verschiedene Geschöpfe darin keine verrutschten Sätze. Seine Botschaft: Die Politik ter Jäger. Auf seinem Handy hat er Bil-
vor: Zauberer, edle Elben und grausame der FDP ist nicht von gestern, sondern von morgen. der von seinen Abenteuern im Wald. Er
Orks, Zwerge und Menschen. Am Eine verbreitete These lautet ja, dass ein schlanker Staat, müsse, heißt es, seit er Finanzminister
vergangenen Donnerstag, Lindner ist wie ihn die Liberalen propagieren, mit Krisenzuständen ist, seine Sicherheitsleute mitnehmen,
gerade auf Reisen in Washington, nicht umgehen könne. Lindner argumentiert genau wenn er auf die Jagd gehe. Einmal habe
entwickelt sich an der Bar eines Hotels andersherum. Im Moment sei nicht das Geld knapp, er aus 80 Metern einen Keiler erlegt, per-
nach ein paar Gläsern Weißwein fol- sondern: Energie, Material, Arbeitskraft. Deshalb brau- fekter Schuss. Der Sicherheitsmann
gender Dialog: che es nicht immer neue Rettungsprogramme, sondern: habe dann gesagt: »Wenn Sie einmal
»Welches Wesen wären Sie, wenn weniger Bürokratie, niedrigere Steuern, mehr Handel. etwas anderes machen wollen, können
Sie es sich aussuchen könnten?« Mit den USA, mit Kanada, aber ebenfalls mit weniger Sie bei uns anfangen.«
»Ein Mensch.« freundlichen Ländern. Der chinesische Markt beispiels- Was diese Geschichten gemeinsam
»Ein Mensch? Aber Zauberer sind weise sei für die deutsche Wirtschaft extrem wichtig, haben: Sie sind ein bisschen witzig,
mächtig, Elben unsterblich.« da könne man sich nicht einfach so komplett zurück- und Lindner ist darin der Held. Tat-
»Unsterblichkeit bedeutet: Man ziehen. Wer soll sonst die deutschen Autos kaufen? sächlich ist Lindner nicht unwitzig,
muss im Leben keine Prioritäten mehr Für Christian Lindner kehrt mit der Knappheit und tatsächlich sieht er sich ein biss-
setzen.« gewissermaßen auch der Neoliberalismus wieder, und chen als Held. Es ist üblich, dass auf
Es ist vielleicht ein wenig fantasie- damit ist in seinen Augen die FDP auch ideologisch Auslandsreisen Hintergrundgespräche
los, wenn Christian Lindner in einer zurück im Spiel. Lindner erzählt gern, dass Deutsch- für Journalisten abgehalten werden.
Märchenwelt genau der sein möchte, land international als Problemfall gesehen wird, wie Sie finden meistens in irgendwelchen
der er auch in echt ist. Aber seine Wahl schon mal, vor den, ja, liberalen, Hartz-Reformen. In Hotels statt, und normalerweise gibt
erklärt, weshalb er in diesen Tagen Washington beispielsweise, bei der Tagung des Inter- es auch etwas zu trinken. Olaf Scholz
einen extrem entspannten Eindruck nationalen Währungsfonds. Nach den Pro­gno­sen der stand bei solchen Anlässen oft ein
macht. Obwohl seine FDP gerade in Organisation sei Deutschland neben Italien das einzige wenig verloren herum und ging früh
Niedersachsen aus dem Landesparla- Mitgliedsland in der Europäischen ­ Union, dessen schlafen. Lindner ist immer umringt
ment geflogen ist und er sich mit Wirtschaft im kommenden Jahr schrumpfen werde. und bleibt lange. Schlafen kann man,
seiner Forderung nach einem Weiter- Lindner sagt, dass die Deutschen ihre »Hausaufgaben« wenn man tot ist. Er hat jetzt auch
betrieb der Atomkraftwerke nur so halb machen müssten. So haben deutsche Finanzminister noch einen eigenen Podcast, CL+
durchsetzen konnte. Robert Habeck früher eher über Griechenland gesprochen. Oder heißt er, und das Plus steht für die
einfach aus dem Weg hexen? Olaf über Italien. Gäste, die er einlädt. Der erste Gast
Scholz in ein Elbenverlies sperren? Deshalb kann Lindner nicht viel anfangen mit der war der Publizist Michel Friedman.
Muss nicht sein! Lindner kommt gut These, die FDP müsse weiter nach links rücken, um für Mit ihm hat er über Deutschland
klar mit allem und allen. Wähler attraktiv zu werden, die die liberalen Po­si­tionen gesprochen, die großen Bögen, die
Christian Lindner ist für deutsche der Partei beim Thema Marihuana, Corona oder Ab- Weltlage. Worüber sonst.
Verhältnisse ein umstrittener Politiker. treibung gut finden, aber mit ihrer Wirtschaftsfreund- Lindner ist seit fast zehn Jahren
Seine Anhänger verehren ihn, seine lichkeit Probleme haben. So würden jene argumentieren, Parteichef. Wenn er noch drei Jahre
Gegner werfen ihm vor, mit den Ideen die die Freien Demokraten »ohnehin nicht wählen«, schafft, hat er Hans-Dietrich Gen-
von vorgestern die Probleme der Welt sagt er. Für ihn ist der gesellschaftspolitische Liberalis- scher als ewigen Parteivorsitzenden
von morgen lösen zu wollen. Für sie mus untrennbar mit dem wirtschaftspolitischen Libera- überholt. Parteichef zu sein macht
ist Lindner ein Symbol der fossilen lismus verbunden: Ein liberales Drogenrecht entspringe ihm nicht so viel Spaß wie Finanz-
Rücksichtslosigkeit, des unbedingten demselben Menschenbild wie ein liberales So­zial­recht. minister sein. Aber das hier ist eine
Geldverdienens. Aber wie sieht er das Der Staat passt nicht auf dich auf, er gibt aber auch kein liberale Partei, kein Ponyhof. Ein
eigentlich selbst? Wie blickt er auf die Taschengeld. Oder anders formuliert: Wer kiffen will, Nachfolger wird nicht aufgebaut. Er
Welt mit ihren Umbrüchen? der muss auch arbeiten. muss den alten Anführer wegbeißen.
Es gibt Politiker, die vor allem Mi- Es geht dabei natürlich nicht nur um Philosophie. Wie im Wolfsrudel. In der FDP gibt
nister sein wollen – egal in welchem Es gibt in Deutschland einfach nicht genug Kiffer, die es fünf Leute, die Lindner für füh-
Ministerium. Lindner wollte unbe- als Wähler der FDP infrage kommen. Und schon heute rungstauglich hält. Namen nennt er
dingt Finanzminister werden, nichts wird Christian Lindner bei Wahlveranstaltungen von nicht. Man kann sich aber zusammen-
anderes, der erste Liberale auf diesem Mittelständlern gefragt, ob das denn wirklich sein reimen, dass Lindners Stellvertreter
Posten seit über einem halben Jahr- müsse, dass ein Kind zwei Mütter oder Väter haben Johannes Vogel dazugehört und Bun-
hundert. Er hat sich dann in den könne. Ja, sagt er dann, das müsse sein. Aber niedrigere desverkehrsminister Volker Wissing,
Koalitionsverhandlungen gegen Robert Steuern müssten eben auch sein. Und was den Schutz Bundestagsvizepräsident Wolfgang
Habeck durchgesetzt und obendrein des Klimas angehe: Man investiere doch. Der Rest sei Kubicki eher nicht. Es ist wohl nicht
die Zusage erhalten, dass die Schul- Technologie. Technologie ist aus Lindners Sicht die falsch, anzunehmen, dass Lindner es
denbremse im Grundgesetz bleibt und Lösung sehr vieler Probleme. Seine Serien schaut er auf besser fände, wenn Kubicki sich mehr
in dieser Legislaturperiode keine ­neuen seinem Laufband, Krafttraining hält er für überschätzt, um sein Boot kümmern würde und
Steuern erhoben werden dürfen. Das auf die Ausdauer komme es an. weniger um Politik.
galt als großer Erfolg für die FDP. Die Washington macht Lindner Spaß: Termine, Akten, Christian Lindner hat in einem
Partei mit dem niedrigsten Stimmen- Entscheidungen. In seinem Ministerium ist er beliebt, Interview einmal gesagt, Unabhän-
Foto [M]: Andreas Chudowski/laif

anteil holt sich das wichtigste Ministe-
rium. Wow.
Inzwischen gibt es bei den Libera-
len Leute, die die Ämterwahl als Fehl-
entscheidung betrachten. Die FDP
steht schließlich für Sparsamkeit, und
Sparen ist schwer, wenn ein Krieg
ausbricht, die Energiemärkte verrückt-
spielen und die Erderwärmung die
Zivilisation bedroht. Lindner hat einen Sonderhaushalt
nach dem anderen eröffnet und immer mehr neue Schul-
den aufgenommen. 60 Mil­liar­den Euro für das Klima,
100 Mil­liar­den für die Bundeswehr und zuletzt 200 Mil­
liar­den für die Gaspreisbremse. Eine Bedrohung für den
Markenkern der FDP. Sagen Kritiker wie zum Beispiel
der Abgeordnete Frank Schäffler, der Anführer der beton-
harten Staatsskeptiker in seiner Partei.
Christian Lindner findet, in außergewöhnlichen Zeiten
müssten eben außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen
werden, da müsse man pragmatisch sein. Er habe sich weder
gegen die 60 Mil­liar­den Euro gewehrt noch gegen die 100
Mil­liar­den oder die 200 Mil­liar­den. Das Konzept für die
Beschaffung der Gelder sei in seinem Haus ausgearbeitet
worden. Aber er habe darauf bestanden, dass die Schulden-
bremse eingehalten werde. Und sie stehe weiter im Grund-
gesetz. Das stimmt, aber man muss ergänzen, dass die
Schuldenbremse die Schulden nicht mehr so richtig bremst.
Lindner umgeht sie mit seinen Sonderhaushalten einfach.
Niederlagen in Siege umzudeuten: Das ist hohe poli-
tische Kunst. Die gegenwärtigen Krisen zwingen Politiker
dazu, alle möglichen Prinzipien und Pläne über den
Haufen zu werfen. Christian Lindner jedoch gibt sich
Mühe, es immer so aussehen zu lassen, als habe er genau
das erreicht, was er erreichen wollte. Wenige Minuten
nachdem Olaf Scholz am Montagabend bekannt gegeben
hatte, dass die verbliebenen Kernkraftwerke bis Frühjahr
2023 in Betrieb bleiben sollen, twitterte Lindner: Der
Vorschlag finde »volle Unterstützung der Freien Demo-
kraten« – obwohl die Freien Demokraten nachweislich
etwas anderes gefordert hatten, nämlich dass die Meiler
bis 2024 laufen. Man kann genau ausrechnen, wie viel
Lindner einstecken musste: Seine Partei wollte die Lauf-
zeiten insgesamt um 39 Monate verlängern, die Grünen
überhaupt nicht. Jetzt werden es dreieinhalb Monate mehr
– und trotzdem steht Habeck als Verlierer da.
Lindners Strategie mag clever sein, sie ist aber auch
riskant. Politik ist mehr als Kommunikation, sie produ-
weil er sich so umfassend in Sachverhalte einliest und
auf seine Fachleute hört. Im Ausland wird geschätzt,
dass er nicht so herumpoltert wie einige seiner Vor-
gänger. In der amerikanischen Hauptstadt hat man
ihn bei einer Veranstaltung mit dem Präsidenten der
Bundesbank unter einen Kronleuchter in einem riesi-
gen Festsaal platziert. Die üblichen Konferenzräume
waren alle ausgebucht. Da sitzt er auf einem Podium,
weit entfernt von den für die mitgereisten Journalisten
aufgebauten Stuhlreihen, um über das Ergebnis der
Gespräche zu informieren.
»Das ist ja eine ungewöhnliche Raumsituation.«
Gelächter
»Normalerweise suchen wir Ihre Nähe.«
Gelächter
»Wir werden jetzt aber nicht heiraten.«
Gelächter
Lindner hat in Washington für ein wenig Unruhe
gesorgt, als er in einer Runde mit seinen Kollegen aus
den anderen G20-Staaten erklärte, der russische An-
griffskrieg werde in der gemeinsamen Erklärung nicht
scharf genug verurteilt. Die Sitzung war da eigentlich
schon zu Ende, man hatte seinem Tischmikrofon schon
den Strom abgestellt. Lindner wedelte mit den Händen
wie in der Schule, die kanadische Finanzministerin
Chrystia Freeland unterstützte ihn, und der Text wurde
am Ende noch einmal geändert. Er wollte Freeland ei-
gentlich in der deutschen Regierungsmaschine mit nach
gigkeit sei für ihn als Jugendlicher
sehr wichtig ge­wesen. Er wollte sein
eigenes Geld verdienen, seine Woh-
nung selbst bezahlen. Als Finanzmi-
nister ist er jetzt da, wo er sein will,
Kanzler will er nicht werden, und
eine Karriere in der Wirtschaft reizt
ihn nicht. Wenn es nach ihm geht,
dann macht er diese Legislaturperiode
zu Ende und hängt vielleicht noch einmal eine dran.
Die Chancen stehen nicht schlecht, so sieht er das. An
einem Bruch der Koalition habe keiner der drei Regie-
rungspartner ein Interesse, und bei der nächsten Bun-
destagswahl sei eine Mehrheit für das rechte oder das
linke Lager unwahrscheinlich. Also werde es wohl wieder
auf ein Dreierbündnis hinauslaufen, womöglich auf
noch einmal vier Jahre Ampel. Wenn Lindner den Kon-
flikt sucht, dann also nicht weil er die Koalition been-
den will, sondern weil er glaubt, dass sie sowieso hält.
Lindner hat eine Vereinbarung mit seiner Frau, der
Journalistin Franca Lehfeldt, die beiden haben im Sommer
geheiratet. Irgendwann ist er dran mit der Care-Arbeit,
wenn die Kinder da sind. Er habe da schon seine Vor-
stellungen: Bücher schreiben, vielleicht promovieren,
jagen, fischen, imkern. Es gebe auch ein Leben ohne die
Politik, die Medien, den ganzen Rummel. Sagt er.
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Christian Lindner, FDP, wollte unbedingt

Finanzminister werden, nichts anderes
4 POLITIK
An der Grenze zu Ungarn warten die Menschen in verfallenen Gebäuden und
in Wäldern auf den richtigen Moment, um den Grenzzaun zu überwinden
»Ich habe den Tod gesehen«
Wieder wollen Tausende Menschen über die Balkanroute nach Deutschland. Heute ist das deutlich gefährlicher  VON PAUL MIDDELHOFF; FOTOS: DANIEL ETTER
D
ie Taschenlampen der
Bundes­polizisten leuchten
über Gepäck und Gesichter.
Müde Augen blinzeln den
Beamten entgegen, Hände
reichen ihnen Pässe und Per-
sonalausweise. Ein Mann im
grünen Pullover schläft weiter, trotz des Lärms im
Abteil. »Kennen Sie den?«, fragt einer der Polizisten
den Mann gegenüber. Kopfschütteln. Der Beamte
rüttelt den Schlafenden an der Schulter. »Bundes-
polizei. Passkontrolle. Ausweispapiere, bitte.« Der
Mann setzt sich auf, kramt in seinen Hosentaschen.
Reicht das Zugticket. Einen Pass hat er nicht.
»Mitkommen«, sagt der Polizist und deutet zur
Tür. Samstagmorgen, 4.40 Uhr, der Nachtzug aus
Salzburg steht am Bahnhof Freilassing in Bayern,
kurz hinter der österreichischen Grenze. Die Bun-
despolizisten steigen aus. »Nur einer.« Sie nehmen
den passlosen Mann mit zur Dienststelle. Dort
sitzt hinter Bauzäunen schon ein Dutzend weiterer
Männer, die Kapuzen gegen die kalte Nachtluft
über die Köpfe gezogen.
Frage an den Mann aus dem Zug: Woher kommst
du? »Tunesien.« Und wie bist du hierhergekommen?
»Du verstehst überhaupt nichts«, sagt der Fremde,
»gar nichts.« Zieht seine Covid-Maske herunter, fährt
sich mit den Händen über das Gesicht. »Ich habe den
Tod gesehen in Serbien und in Ungarn. Den Tod.«
Jeden Morgen stehen die Beamten der Bundes-
polizei in Freilassing am Gleis und warten auf die
Züge, die von Österreich kommend die deutsche
Grenze überqueren, steigen ein, kontrollieren Pa-
piere. Sie stoßen auf Menschen, die seit Monaten
auf der Reise sind: Alle haben Tausende Kilometer
hinter sich gebracht, zu Fuß, manche per Flugzeug,
viele versteckt in Lieferwagen von Schmugglern. Das
Ziel ihrer Reise ist erreicht. Deutschland, endlich.
Der Weg, der hinter ihnen liegt, hat einen Namen:
Balkanroute. Es gibt keine Schilder, die seinen Verlauf
anzeigen, man kann ihn auch nicht auf Google Maps
finden, und eigentlich weiß niemand genau, wo es
langgeht. Oder besser: Er verläuft an vielen Stellen
gleichzeitig. Der Weg ändert sich, wenn es draußen
kälter wird, mehr Menschen nutzen ihn, wenn die
Inflation in der Türkei über 80 Prozent steigt, er wird
breiter, wenn die Taliban in Afghanistan auf die Zivil-
bevölkerung schießen. Nur die Richtung des Weges
ist immer dieselbe: Er führt dorthin, wo sich Men-
schen Sicherheit erhoffen. Sicherheit vor Krieg und
Vertreibung, vor Armut und Aussichtslosigkeit. Er
führt mitten hinein ins geografische Herz Europas.
Die Balkanroute ist berühmt geworden, als im
Jahr 2015 knapp eine Million Menschen auf ihr
unterwegs waren, von Griechenland durch Mazedo-
nien und Serbien Richtung Ungarn, Österreich,
Deutschland. Zwischenzeitlich geriet sie in Verges-
senheit. Jetzt sind wieder Tausende auf der Balkan-
route unterwegs. Wieder stellen Kommunen in
Deutschland Feldbetten in Turnhallen auf, wieder
treffen Politiker sich zu Krisensitzungen.
Doch wer die Balkanroute entlangreist, von
ihrem Beginn bis zum Bahnhof in Freilassing, be-
greift, dass der Weg sich verändert hat. Er ist kaum
noch zu ­sehen. Und wer ihn ausmacht, erblickt
Brutalität und Verzweiflung.
Am Evros – griechisch-türkische Grenze
Der Evros hat die Farbe von grünen Oliven, träge
fließt er dem Meer entgegen. Um diese Jahreszeit
führt er wenig Wasser. Auf der anderen Seite des
Flusses liegt die Türkei: sonnenbraune Felder, ein paar
sandige Straßen. Auf 185 Kilometern trennt der Fluss
Griechenland und die Türkei, von der griechischen
Seite aus sieht man ihn nur ein einziges Mal, zwischen
Büschen hindurch und einen steilen Abhang hinun-
ter. An allen Wegen, die ans Ufer führen, stecken rote
und gelbe Schilder im Sand: Zutritt verboten. Nicht
fotografieren. Keine Drohnen.
Das Evros-Delta ist seit Jahrzehnten militäri-
sches Sperrgebiet. Niemand außer der Armee und
ein paar Bauern kann sehen, was am Wasser vor
sich geht. Alle paar Minuten rauscht ein Jeep der
griechischen Armee auf der Straße Richtung Süden,
auf den Hügeln Stützpunkte und Antennen, darauf
Sensoren und Kameras.
Ein paar Hundert Meter vom Evros entfernt liegt
Lavara. Am Ortseingang stehen Stapel verrosteter
Eisenbahnschienen, in den Cafés am Marktplatz
sitzen alte Männer an Plastiktischen. Einer zerdrückt
mit seiner Gabel kleine gegrillte Fische. Vor ihm
ein Glas Schnaps und eine Packung Drehtabak.
Montagvormittag, 11.15 Uhr.
Seine Tochter, sagt er, lebt in Berlin. »Die jun-
gen Leute sind weggegangen«, nach Thessaloniki
und Athen, nach England und Deutschland. Alle
paar Jahre kommt sie ihn noch besuchen. Er lacht,
was soll man machen.
»Polizei«, sagt der andere Alte neben ihm und
deutet auf einen grauen Transporter, der am Café
vorbeifährt. Kein Wappen auf der Motorhaube, kein
Schriftzug an der Schiebetür. Der Transporter fällt
nur auf, weil er nicht dieselben Schrammen und Rost-
flecken hat wie die anderen Autos hier. »Das sind die
Wagen, mit denen sie die Flüchtlinge einsammeln.«
Jede Nacht kämen die Fremden vom Evros
hoch und zögen durch ihr Dorf, erzählt der Mann.
»Die Schlepper bringen sie von der türkischen Seite
bis an den Fluss.« Im Winter, wenn das Wasser
hoch steht, setzten sie die Fliehenden in Schlauch-
boote. Immer in Gruppen, mal 30, mal 50, junge
Leute, meistens Männer. »Sie machen Probleme,
brechen in die Häuser ein und stehlen«, sagt er.
Der andere fügt hinzu: »Ich finde es gut, wenn der
Grenzzaun jetzt verlängert wird.«
Menschenrechtsorganisationen berichten von
griechischen Polizisten, die den Ankömmlingen am
Titelthema:
Evros Geld und Handys abnähmen und sie zurück
auf die türkische Grenze Seite trieben. Ein lokaler
Aktivist erzählt von einem Gefängnis der Polizei, in
das Flüchtlinge vom Fluss gebracht würden, die da-
nach aber in keiner offiziellen griechischen Statistik
auftauchten. Er sagt, die Anwohner hätten nachts
Schreie gehört. Das griechische Innenministerium
beantwortet Nachfragen der ZEIT dazu nicht. Man
kann die Polizeistation von der Straße aus sehen.
Auf dem Hof stehen die gleichen grauen Lieferwagen
wie in Lavara.
Am äußersten Ende von Europa ist es tagsüber
sehr still. Es gibt Gerüchte, Unterstellungen, Schauer­
ge­schich­ten. Schwer zu sagen, was stimmt und was
nicht. Was man am Evros aber nirgends sieht, sind
Menschen auf dem Weg nach Norden.
Dreißig Kilometer weiter im Landesinneren,
zwischen weiß leuchtenden Baumwollfeldern, stehen
riesige Käfige, zum Himmel offen. Darin Container,
zwischen denen Jungs einen Ball hin und her kicken,
ein paar Meter weiter sinken Männer zum Gebet auf
die Knie. Ihre Kleidung haben sie zum Trocknen in
den Maschendraht gehängt. Neuankömmlinge wer-
den hier registriert und warten darauf, weiterreisen zu
dürfen. Für den englischen Begriff Detention Center
findet man im Online-Wörterbuch die Übersetzungen
»Straflager« und »Internierungslager«. Deutsche
Wörter voller Grauen. So richtig passen sie nicht.
Gevgelija – griechisch-mazedonische Grenze
An der Grenze zu Nordmazedonien, neben einer still-
gelegten Tankstelle, steht ein verlassenes Hotel. Wo
einmal Fensterscheiben waren, klaffen jetzt Löcher,
die Wände sind vollgesprüht, überall Plastiktüten
und leer gegessene Konservendosen. Vom Balkon
des Hotels ruft ein junger Mann herunter: »Seid ihr
Polizisten?«
Im Inneren nackter Beton, eine Frau mit Kopftuch
liegt auf Pappe, sie erschrickt, als sie Schritte auf der
Treppe hört, will ihr Gesicht verbergen, aber es gibt
keine Decken, die sie vor den Blicken schützen. Der
Mann neben ihr stapelt Tannenzweige auf ein kleines
Feuer, der Rauch ballt sich an der Decke, die schon
rußschwarz ist. Durch ein Loch in der Wand zieht er
ab. Auf dem Boden im Nebenraum liegen Fäkalien-
haufen, immer so weit von­ein­an­der entfernt, dass,
wer sich hier hinhockt, nicht in die Ausscheidungen
des Vorgängers tritt. Auf der Terrasse ruhen sich
Männer in Schlafsäcken auf dem Betonboden aus.
Woher kommt ihr? »Aus Syrien.« Egal wen man
fragt, fast alle sagen Syrien. Iraker, die sagen, dass sie
Iraker sind, trifft man entlang der Route keine. Syrien
ist die Chiffre für: Ihr müsst uns helfen.
Wie lange seid ihr schon in Griechenland?
»Viereinhalb Jahre.« Wohin wollt ihr? »Nach
Deutschland.«
Für sie spricht Ayub, 23 Jahre alt. Ihm steht nicht
so viel Angst in den Augen wie den anderen, und er
DEUTSCH
LAND
Viele Wege führen über den Balkan nach Deutschland.
Freilassing Burgenland Unser Reporter hat die eingezeichnete Route bereist
Österreich Ungarn
Subotica
Serbien
Nord- Grenzfluss Evros
mazedonien
Gevgelija
Griechenland
kann Englisch. Ayub führt durch die Hügel hinter
dem Hotel in ein Wäldchen. Dort, unter einem
Baum, sitzt ein Dutzend junger Männer um ein
Feuer, ihre nassen Socken trocknen auf Backsteinen,
die sie an die Glut herangerückt haben. Zwischen den
bärtigen Erwachsenen hockt auch ein Jugendlicher,
fast noch ein Kind. »14 Jahre«, sagt Ayub. Sie alle
seien in den vergangenen Jahren aus der Türkei nach
Griechenland gekommen. Vor einigen Jahren sind
sie vor dem Krieg geflohen, jetzt vor der Armut und
der Rechtlosigkeit in der Türkei. Aber die Grenzen
sind versperrt. Deshalb hoffen sie auf die Schlepper.
Ayub sagt, es laufe für sie alle gleich: Sie lebten in
Ghettos in Athen oder Thessaloniki und warteten
darauf, dass Verwandte, die noch in der Türkei oder
schon in Europa leben, ihnen Geld schicken. »Sie
alle sparen, damit wir hier weiterkommen«, sagt er.
1200 Euro koste die Fahrt von der mazedonischen
Grenze nach Serbien. Wer das Geld beisammenhat,
fragt herum – es gibt Männer hier mit Kontakten zu
den Schmugglern auf der anderen Seite. »Das sind
Albaner, Pakistaner, Serben, was weiß ich. Mafia
eben.« Irgendwann erhalte man einen Standort. Der
Grenzzaun liegt nur wenige Kilometer entfernt.
Sie haben es schon mehrfach versucht, sagen sie.
Aber die mazedonische Polizei hat sie erwischt und
wieder zurückgeschickt. Die mazedonischen Poli-
zisten seien keine schlechten Leute. Die in der Türkei
auch nicht. Ayub zieht seine Regenjacke aus, öffnet
den Reißverschluss seiner Sweat­shirt-­Jacke und hebt
das T-Shirt an. »Aber die Griechen sind wirklich
schlimm.« Auf dem rechten Oberarm und den­
Rippen sind dunkle Flecke zu erkennen. Sie haben
dich geschlagen? »Ja klar, Bro.« Er zeigt auf das Bein
des jungen Mannes neben ihm, der zeigt seinen
Knöchel: »Das war ein Polizeihund in Bulgarien.«
Auf der mazedonischen Seite der Grenze: ein
tiefergelegter schwarzer Audi mit getönten Scheiben.
Ein Sattelschlepper mit aufgeschlitzter Plane. Eine
graue Familienkutsche mit Platz für sieben, die Rück-
sitze ausgebaut, sodass noch mehr Personen hinein-
passen. Die Nummernschilder: Serbien, Bulgarien,
Mazedonien, Schweiz, ein Kastenwagen von Fiat aus
Offenbach am Main. Auf den Rücksitzen und Lade-
flächen: Decken und leere Softdrink-Dosen.
In Sichtweite des Grenzzauns ist ein Autofriedhof
entstanden. Immer wenn die mazedonische Polizei
einen Schlepper erwischt, stellt sie sein Fahrzeug hier
ab, während ihm in der Hauptstadt Skopje wegen
Menschenschmuggel der Prozess gemacht wird.
Der Grenzzaun hat Löcher. An einer Stelle hat
jemand versucht, eine Mulde unter den Maschen
durchzugraben. Ein paar Meter weiter liegt ein dickes
Stück Stoff auf dem Stacheldraht, in den Zacken
hängt eine Fleece-­Mütze von Adidas. Auf der anderen
Seite: Felder. Heute kann man sie wieder erkennen.
Vor sieben Jahren standen entlang des Zauns
Hunderte Zelte, Tausende Menschen aßen, schliefen,
wuschen sich, ruhten aus von den Strapazen der Tage,
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
Die Balkanroute
TÜRKEI
250 km
ZEIT- GRAFIK
die hinter ihnen lagen. Idomeni. Wer im September
2015 die Nachrichten schaute, kennt den Namen
dieses griechischen Dorfes und die Aufnahmen des
völlig überfüllten Camps. Erinnert sich an die riesigen
Trecks, die sich von hier aus auf Zentraleuropa zu-
bewegten. Das Camp Idomeni gibt es nicht mehr.
Die Staaten entlang des Weges haben ein neues
System entwickelt. Wer die Grenzen illegal über-
tritt, wird aufgegriffen, erfasst, registriert und un-
tergebracht. Auch an diesem Tag sind viel weniger
Menschen unterwegs als 2015. Man könnte den
Eindruck gewinnen, es herrsche heute mehr Ord-
nung als ­damals.
Es gibt keine Zeltstädte mehr und keine Trecks,
die auf Autobahnen wandern. Heute muss man
länger suchen, um das Elend zu entdecken. Schatten-
gestalten, die sich in Wäldern verstecken, in Liefer-
wagen verschwinden und Hunderte Kilometer
nördlich wieder auftauchen. Die es immer wieder
versuchen, und jedes Mal aufs Neue von der Polizei
zurück hinter den Zaun gebracht werden. Von all-
dem wird kaum etwas sichtbar. Aber man sieht die
Striemen auf Ayubs Rippen.
»Jeden Tag, jede Nacht werden neue Leute her-
gebracht«, sagt der Wachposten am Eingang eines
kleinen Flüchtlingslagers auf der mazedonischen
Seite. Klobige Stiefel, getönte Brille, kurz gescho-
rene Haare.
Und dann schickt ihr sie zurück zur Grenze?
Er lächelt unsicher. »Kannst du nicht eine andere
Frage stellen?« Er zögert. »Du weißt doch schon alles.«
Auf der griechischen Seite erzählen die Menschen,
dass die Polizei sie auffordert, nach Nordmazedonien
weiterzuziehen. Von da aus werden sie wieder zurück
an den Zaun nach Griechenland gebracht?
»Ja.« Der Wächter lacht. »Pingpong.«
Subotica – serbisch-ungarische Grenze
Hier im Norden von Serbien kann man die Bal-
kanroute hören. Das Summen von Haarschneide-
maschinen, mit denen sich die jungen Männer
zwischen den Ruinen gegenseitig die Köpfe rasie-
ren. Gemurmelte Gespräche in verschiedenen ara-
bischen Dialekten – marokkanisch, syrisch, tune-
sisch. Und noch ein Geräusch überall: Husten. Die
Menschen hocken auf schlammigen Wegen, liegen
in verfallenden Gebäuden der einstigen Vitaminka-
Saftfabrik auf dem Boden, tragen Plastikbeutel
durchs Lager und husten. Der Husten schüttelt die
wenigen ­Frauen und die vielen Männer, die vielen
Jungen und die wenigen Alten.
Hätte sie gewusst, wie schlimm es hier in Serbien
sein würde, wäre sie nie hergekommen, sagt eine jun-
ge Frau aus Tunesien, die einen pinkfarbenen Jogging-
anzug trägt. Im ganzen Camp verteilt liegen Leitern.
Die Schmuggler stellen sie zwischen die Grenzzäune.
Die Flüchtenden kletterten über den ersten Zaun,
dann wieder herunter und über den zweiten Zaun.
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022
Bei ihrem letzten Versuch habe sie sich das Bein ge-
brochen, als sie vom Zaun sprang, erzählt die Frau.
Zwei Monate lang sei sie an Krücken gegangen. »Ich
war vorher in der Türkei. Da hatte ich sogar einen
Job, ich habe in einem Hotel Arabisch und Franzö-
sisch übersetzt.« Sie hält inne, schüttelt den Kopf.
Milica Švabić und ihr Team haben in Belgrad ein
ganzes Bündel Krücken in ihren Transporter geladen,
nun stehen sie zwischen Kisten voller Damenbinden
und einer bierkastengroßen Batterie mit Platz für
16 Handyladekabel. »Wir haben im letzten Jahr­
sicher 70 Krücken verteilt, es verletzen sich ständig
Menschen beim Sprung vom Zaun«, sagt sie. Švabić
ist Anwältin und arbeitet für die serbische Flücht-
lingsorganisation klikAktiv. Jede Woche machen sie
und ihre Kollegen sich auf an die Nordgrenze und
be­suchen die sogenannten Squats, verlassene Bauern-
höfe und Fabriken wie die Vitaminka.
Die Schmuggler arbeiten zwar im Verborgenen,
doch hier in den Squats sind sie sofort zu erkennen.
Inmitten der zahllosen staubgrauen Gestalten trägt
einer schneeweiße Sneaker, weiße Baseball-Kappe,
fluffige schwarze Daunenweste und Kopfhörer in den
Ohren. »Sie haben die Kontrolle über alles, was hier
geschieht«, sagt Švabić. Als sie gerade mit einem
Grüppchen Frauen spricht, steckt ein Schmuggler
den Kopf durchs Fenster der verlassenen Fabrik, bellt
ein paar Worte. »Wir müssen gehen«, sagt sie. Folgen
die Helfer den Anweisungen nicht, dürfen sie die
Camps künftig nicht mehr betreten.
Die Schmuggler in den Squats waren früher oft
selber Flüchtlinge, aus Nordafrika, Afghanistan.
»Manche von ihnen haben es nach Europa ge-
schafft, aber sie kommen hierher zurück, um Geld
zu verdienen, als eine Art Job«, sagt Švabić. Über
einem der Camps kreist ein Hubschrauber der
Grenzpolizei. Es wäre einfach für die serbischen
Beamten, hierherzufahren und die Schleuser zu
verhaften. Aber das geschieht nur selten. »Es gibt
ein stilles Übereinkommen: Der Staat lässt die
Banden gewähren, und die Schmuggler bringen
die Leute aus dem Land heraus«, sagt Švabić.
Die Wanderer auf der Balkanroute beschweren
sich nicht über die serbische Polizei. Aber über die
ungarischen Polizisten. Die urinierten auf sie, drück-
ten Zigaretten auf ihnen aus, rasierten ihnen die
Köpfe. Wie in Griechenland ist es auch hier die
Polizei eines europäischen Staates, vor der sich die
Flüchtenden am meisten fürchten. Ein deutscher Arzt,
der im Auftrag einer Hilfsorganisation nachmittags
die Kranken in der Vitaminka behandelt hat, sagt:
»Die Verletzungen, die wir hier zu sehen bekommen,
­decken sich mit den Schilderungen gezielter Folter
durch die ungarischen Behörden.«
Švabić steht in einer großen Gruppe junger Män-
ner. Sie sagt, wegen der steigenden Flüchtlingszahlen
habe es neuerdings wieder viele Treffen von euro-
päischen Politikern gegeben, nun könne es gut sein,
dass es noch schwerer werde, über die Grenze zu
Fluchtpunkt Deutschland
gelangen. Empörung in der Gruppe. Aber wir kom-
men aus Syrien! Marokko ist nicht sicher! Wir müssen
dort ins Gefängnis, obwohl wir nichts gemacht haben!
Ein wenig abseits geht eine Mutter mit ihrem
Sohn an der Hand in die Felder, weg von den Män-
nern und dem Lager. Die beiden setzen sich zwischen
die Plastiktüten ins Gras, sie nimmt ihren Sohn auf
den Schoß. Er legt seinen Kopf auf ihre Schulter.
Gemeinsam schauen sie zu, wie die Sonne untergeht.
Burgenland – Österreich
Die Schlepperin trägt Handschellen. Sie weint.
Die syrische Mutter hat ihre drei Kinder in den
Armen. Auch sie weint.
Am Grenzübergang an der ungarisch-österrei-
chischen Grenze parkt ein Lieferwagen mit polni-
schem Kennzeichen, die Hecktüren stehen offen.
Ein paar Meter entfernt sitzen 29 Menschen auf
dem Schotter. Bei einer Routinekontrolle haben
österreichische Polizisten die Menschen zusammen-
gequetscht im hinteren Teil des Wagens entdeckt.
Beamte führen die beiden Schleuser ab, einen Mann
und eine Frau aus der Ukraine. Der Mann wird in
das kleine Grenzhäuschen gebracht. Die Frau bleibt
allein draußen auf der Bank in der Sonne zurück,
die Hände auf dem Rücken gefesselt.
»Ihr habt ja keine Ahnung, was da gerade vorgeht
in Europa!«, brüllt einer der österreichischen Polizis-
ten über die Straße. Er ist wütend, weil er nicht will,
dass er und seine Kollegen bei der Arbeit von der
Presse beobachtet werden. »Und die Regierung legt
den Finger auf den Mund und tut nichts.«
Rund 400 Menschen greift die Polizei derzeit pro
Tag allein im Landkreis Burgenland auf – so viele wie
seit 2015 nicht mehr. Man sieht sie auf Ver­kehrs­
inseln und an Feldwegen sitzen, schmutzig, mit Ruck-
säcken oder Plastiktüten, bewacht von Polizisten.
Ein dunkler Porsche-SUV steuert auf das
Grenzhäuschen zu, biegt auf den Parkplatz ein,
kommt zum Stehen. Heraus steigt ein Mann An-
fang vierzig, unter der engen Lederjacke ein Shirt
mit aufgeklebten Glitzersteinen. Der Mann stellt
sich als oberster Polizist des Landkreises vor. Er er-
klärt, wie es für die Leute aus dem Transporter jetzt
weitergeht: »Sie werden registriert und fotografiert.
Dann haben sie 48 Stunden, innerhalb dieser Zeit
müssen sie sich bei einer von uns angewiesenen
Stelle für das weitere Verfahren melden.«
Und in den 48 Stunden fahren die Menschen
dann einfach weiter nach Deutschland?
»Das passiert hin und wieder, ja.«
Während er spricht, nehmen Soldaten den
Menschen aus dem Lieferwagen Handys, Feuer-
zeuge und Bargeld ab und stecken die Habselig-
keiten in große Briefumschläge. Nach einer Stunde
liegen zwei Dutzend Briefumschläge auf dem
Schotter. Darin steckt alles, was die Menschen
haben für ihr neues Leben in Europa.
POLITIK
Nicht mehr Weltmeister
Aus dem Chaos von 2015 haben alle etwas gelernt. Bei manchen Lebenslügen der deutschen
Migrationspolitik ist es aber geblieben, auch im Umgang mit den Ukrainern  VON MARIAM LAU
I
n einer Lage, in der knapp eine Million
ukrainische Kriegsflüchtlinge und
112.000 Asylbewerber aus weiteren
Ländern in Deutschland Schutz su-
chen, Tausende Menschen auf der Bal-
kanroute Richtung Westen unterwegs
sind, werden die Erinnerungen an
2015 wach. Schaffen wir das noch mal?
Die guten Nachrichten zuerst: Man braucht
sich nur einige Szenen aus dem Herbst jenes Jahres
vor Augen zu führen, um zu ermessen, welche Weg-
strecke seither politisch zurückgelegt worden ist.
Es wäre heute undenkbar, dass die Bundesregierung
etwas so Grundstürzendes wie das Offenhalten der
Grenzen und den hunderttausendfachen Verzicht
auf Identitätsfeststellung im europäischen Allein-
gang ins Werk setzt, ohne dass auch nur ein Redner
im Bundestag Kritik übt – wie im Oktober 2015.
Heute würde die Fraktionschefin der Grünen kaum
ans Mikrofon treten und feststellen: »Wir sind
Weltmeister der Hilfsbereitschaft und der Men-
schenliebe!« Der damalige Wirtschaftsminister saß
in dieser Sitzung mit einem »Refugees welcome«-
Button auf der Regierungsbank, den die Bild-
Zeitung (!) unters Volk gebracht hatte.
Vermutlich kann sich jeder, der damals das
Geschehen in Deutschland verfolgte, an Gespräche
mit Freunden, Verwandten oder Kollegen erinnern,
die so eskalierten, dass man auf lange Zeit praktisch
nicht mehr mit­ein­an­der reden konnte. Das ist um­
so verblüffender, als eine Studie nach der anderen
zeigt, dass sich eine überwältigende Mehrheit der
Deutschen im Grunde völlig einig war und ist: Die
allermeisten wollen helfen – aber sie wollen auch,
dass der Staat die Kontrolle behält. Dass man weiß,
wer da kommt. Dass Offenheit nicht ausgenutzt
wird. Und dass der Staat nicht einfach kapituliert
– wie es Angela Merkel tat, als sie seinerzeit be-
hauptete, man könne Grenzen nicht schützen.
Der Brexit, die Wahl von Donald Trump, der
Erfolg von Viktor Orbán und der Einzug der AfD
in den Bundestag haben vielen zu denken gegeben.
War diese Radikalisierung unausweichlich? Oder
hat der Liberalismus sich in der Flüchtlingskrise
etwas zuschulden kommen lassen?
Dass es liberale Gründe dafür gibt, gesicherte
Grenzen wertzuschätzen – diese Einsicht lässt sich
dem Koa­li­tions­ver­trag der Ampel entnehmen.
»Humanität und Ordnung«, lautet die Leitidee.
»Nicht jeder, der kommt, kann bleiben«, steht da
– ein Satz, der eigentlich eine Selbstverständlich-
keit ist, der aber vor ein paar Jahren noch einen
Grünen-Parteitag fast gesprengt hat.
Der niederländische Migrationsforscher Paul
Scheffer, dessen jüdische Familiengeschichte ihn
früh mit lebensgefährlichen Grenzübertritten ver-
traut gemacht hat, fragt in seinem anregenden
Buch Wozu Grenzen? anlässlich der Ereignisse
2015/16: »Mit welchem Recht können wir es­
Schuhe vor einem Flüchtlingslager in Serbien (oben),
Polizeikontrolle an der
österreichisch-ungarischen Grenze (links)
anderen verbieten, sich bei uns niederzulassen?«
Aber ein Besuch in Polen brachte seinen Kosmo-
politismus ins Wanken: Ein Land, das mehrfach
von Großmächten zerteilt wurde, schätzt seine
Grenzen als existenzsichernd. In der Ukraine be-
zahlen viele derzeit den Kampf um ihre Grenze mit
dem Leben, denn es ist ebendiese Grenze, die ihnen
die Freiheit sichert. Dass die Deutschen 2015 ihre
Grenze ohne Absprache mit europäischen Nach-
barn öffneten, stieß vielen Europäern unangenehm
auf. Erst zwingen sie uns ihre Austeritätspolitik auf,
dann ihre Flüchtlinge – dieses Gefühl hat überall
auf dem Kontinent Wut erzeugt.
Das führt direkt zu den blinden Flecken der
Migrationspolitik, auch heute. Die Ampel bekennt
sich zwar zum liberalen Gedanken der Grenzsiche-
rung – überlässt aber die hässlichen oder repressi-
ven Seiten dieses Anliegens gern anderen Ländern:
Von Marokko über Griechenland bis zur Balkan-
route und der Türkei finden, gelegentlich unter
Beteiligung der europäischen Grenzschutzagentur
Frontex, brutale und menschenrechtsverletzende
Pushbacks statt – also zum Teil lebensgefährliche
Zurückweisungen von Migranten, sogar auf hoher
See –, die vom Koa­li­tions­ver­trag verurteilt, aber
letztlich hingenommen werden. »Das Problem ist«,
sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus, »dass
wir das mittlerweile in vielen Ländern als unver-
meidlich akzeptieren. Die Reputationskosten für
diejenigen, die dahinterstehen, sinken, weil immer
mehr Staaten darin keinen Bruch von Werten und
Gesetzen sehen, sondern ein Vorbild.« Knaus
glaubt nicht an eine Ordnung, ohne dass es Ver-
träge mit Herkunftsstaaten nach dem Muster des
EU-Türkei-Abkommens gibt.
Was aber wird aus jenen, die es trotz Pushbacks
nach Deutschland schaffen und die keine Verfol-
gungsgründe geltend machen können? Nicht jeder,
der kommt, kann bleiben, stimmt das? Im Ampel-
Vertrag findet sich die Ankündigung einer »Rück-
kehroffensive«. Geschehen ist allerdings bisher
nicht viel. Etwa 300.000 Menschen, deren Asyl­
gesuche abgelehnt wurden, halten sich im Land
auf – eine mittlere Großstadt. Nach wie vor gilt
im Großen und Ganzen: Wer es bis hierher schafft,
der bleibt. Und nach wie vor schleppt das Land ein
Problem von 2015 mit sich herum: Noch immer
lässt sich nur mühsam über die Spannung zwischen
einem großzügigen So­zial­staat und einer einladen-
den Migrationspolitik reden. Wer »Pull-Faktor«
sagt, fliegt aus der Diskussion.
Wenn man sich fragt, warum so wenig Energie
in die Durchsetzung eigener Rechtsentscheidungen
gesteckt wird, landet man bei den Lehren, die die
Parteien jeweils aus 2015 gezogen haben. Fragt
man beispielsweise Lamya Kaddor, innenpolitische
Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, was
in der Flüchtlingskrise passiert ist, sagt sie: »Wir
haben unsere humanitäre Verpflichtung wahrge-
5
Eine ukrainische Schlepperin in
Handschellen in Österreich
nommen und Menschen Schutz gewährt, die vor
einem Krieg geflohen sind.« Seinerzeit habe es ein
Aus­ein­an­der­klaf­fen zwischen gefühlter und wirk-
licher Realität gegeben. »Ich habe damals viele
gefragt: Wo habt ihr wegen der Flüchtlinge weniger
Lebensqualität? Wo müsst ihr euch einschränken?«
Nach ein paar Jahren sei das doch alles kein Thema
mehr gewesen. »Unsere Gesellschaft wurde nicht
von ›Fremden‹ überwältigt.« Damals sei vielen klar
geworden: Wir sind ein Einwanderungsland. »Wir
wollen Schutz bieten, aber wir wollen Mi­gra­tion
auch steuern – obwohl ich das Wort nicht mag,
weil es so nach Kontrolle klingt.«
Zum Kontrollverlust gehörten aber eben auch
die vielen Fälle von sexuellen Gewaltverbrechen,
die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht, die
Causa Anis Amri, der nicht nur einen Terror­
anschlag mit 13 Todesopfern beging, sondern
zuvor auch zigfachen Sozialleistungsbetrug.
Und was hat die U ­ nion gelernt, die damals
schließlich regierte? Auch ihr ist es nicht gelungen,
die Zahl der illegalen Aufenthalte nennenswert zu
verringern. Lange Zeit hatte sie sich dem Thema
Mi­ gra­
tion mit sehr spitzen Fingern genähert.
Schon das schlichte Bekenntnis zum »Einwande-
rungsland Deutschland« kam ihr nicht über die
Lippen. Bester Ausdruck dafür sind die »Ketten-
duldungen«: Menschen, zu denen man weder Ja
noch Nein sagte, sondern ein Jein, das sie zur
Untätigkeit verdammte, weil sie zwar nicht abge-
schoben werden konnten, aber auch nicht arbeiten
durften. Dass so die Entstehung von Clans begüns-
tigt wurde, liegt auf der Hand. Interessanterweise
brachte die Flüchtlingskrise Bewegung in die­
Sache. Fragt man den CDU-Politiker Thorsten
Frei, was seine Partei aus 2015 gelernt hat, ver-
weist er auf das »Migrationspaket« von 2019, in
dem man sich mit der SPD erstmals auf Fach-
kräfteeinwanderung einigen konnte, gleichzeitig
aber auch schärfere Konsequenzen gegen Illegale
verlangte. Die ­Union hat also in der Folge der
Flüchtlingskrise gelernt, dass sie nicht Nein sagen
kann, ohne irgendwo auch Ja zu sagen.
Die Ampel wiederum hat gelernt, dass sie nicht
Ja sagen kann, ohne irgendwem auch Nein zu sa-
gen. Sie will für die am Asylverfahren Gescheiterten
ein Chancen-Aufenthaltsrecht, sie sollen sich in
den Arbeitsmarkt einfädeln, statt in Duldung
vor sich hin zu verkümmern. Die U ­ nion verurteilt
das als Preisgabe des Asylrechts. Aber ist es nicht
auch eine Form von Kontrolle, zu der in Wahrheit
niemand eine praktikable Alternative hat?
Die deutsche Migrationspolitik ist heute
keine moralische Weltmeisterei mehr. Von ihren
Lebenslügen konnte sie sich allerdings auch
noch nicht ganz frei machen.
Siehe auch Streit, S. 10: Was die steigenden
Flüchtlingszahlen für einen Landkreis bedeuten
 6 POLITIK 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Putin will, dass sie frieren

Russland greift die Stromversorgung der Ukraine an.
Wie sich das Land gegen Kälte und Dunkelheit stemmt  VON OLIVIA KORTAS

D
ie Männer legen die Köpfe
in den Nacken und starren
dem Ende entgegen. Der
schwarze Punkt am Himmel
nähert sich in rasender Ge-
schwindigkeit. Dann knallt
es, hohl und laut. Die Flug-
abwehr hat die russische Rakete getroffen, viel-
leicht drei Kilometer von den Männern entfernt,
noch weit oben. Der Absturz zeichnet einen Bogen
in den Himmel. Die Männer schauen noch eine
Weile, dann wenden sie sich ab und plaudern wei-
ter. Für sie ist das Alltag. Sie sind Elektriker, Schalt-
kreistechniker, Bauarbeiter. Rund 40 haben sich
auf dem offenen Feld vor dem weitläufigen­
Gelände der Industrieanlage versammelt. Hinter
Backstein- und Betonmauern ragen metallene
Gerüste in die Höhe, an denen elektrische Leitun-
gen befestigt sind. Darunter liegt ein ausgebrann-
ter Transformator, der ein wenig an ein verrostetes
U-Boot erinnert, und ein Backsteingebäude ohne
Dach. Unter Lebensgefahr halten die Männer seit
Wochen hier, an einer Transformatorenstation im
Osten der Ukraine, die Energieversorgung am
Laufen. Ihr Arbeitgeber, der Staatskonzern Ukre-
nergo, nennt sie »Soldaten an der Stromfront«.
Zweimal schon, im März und im September,
trafen russische Raketen diese Station. Der A ­ ngriff
im September hat sie weitgehend zerstört. Trotz-
dem flogen allein in der vergangenen Woche an
drei Tagen weitere russische Raketen in Richtung
der Anlage. Bis vor Kurzem wurde hier ein großer
Teil des für die Stadt Charkiw und die umliegende
Region bestimmten Stroms gewandelt und weiter-
verteilt. Die ZEIT darf die Station besuchen, die
Schäden fotografieren (großes Bild) und mit den
Arbeitern sprechen, allerdings weder den genauen
Standort noch technische Details oder Nach­namen
nennen. Die russischen Strategen sollen nicht­
erfahren, welche ihrer Angriffe erfolgreich waren
und welche nicht. Informationen wie diese würden
es ihnen erleichtern, die ukrainische Stromversor-
gung lahmzulegen.
Der russische Angriffskrieg ist am 10. Oktober
in eine neue Phase eingetreten. An jenem Mon-
tagmorgen schlugen russische Raketen zum ers-
ten Mal seit Wochen in Städten wie Lwiw und
Kiew ein, töteten und verletzten Zivilisten. Am
11. Oktober folgte ein weiterer Großangriff.­
Raketen, Drohnen und Artillerieangriffe zerstör-
ten laut dem ukrainischen Energieminister in nur
zwei Tagen ein Drittel der Infrastruktur, die für
die Stromversorgung des Landes nötig ist. Vor
allem im Westen der Ukraine sind die Schäden
groß. Tag für Tag greift Russland seither mit­
Raketen und iranischen Kamikaze-Drohnen vom
Typ Shahed-136 weitere Objekte wie Wärme-
kraftwerke und Trans­ formatorenstationen an.
Letztere sind die Knotenpunkte eines sensiblen
Netzwerks. Wenn alle wichtigen Stationen außer
Betrieb gesetzt werden, dann wird es im Land
finster. Am Dienstag schrieb der ukrainische Prä-
sident Wolodymyr Selenskyj auf Twitter, 30 Pro-
zent aller Kraftwerke des Landes seien zerstört.
Ziel der russischen Angriffe sind logistisches
Chaos und Psychoterror gleichermaßen. Die ukrai-
nische Zivilgesellschaft soll frieren und im Dun-
keln sitzen, sie soll fliehen müssen oder in diesem
Winter wie in einem längst vergangenen Jahrhun-
dert leben.
Die vollständige Reparatur einer Transformato-
renstation dauert meist monatelang. Jene Station
im Osten der Ukraine, von der aus vier Dutzend
Arbeiter eine russische Rakete sichten, funktio-
niert kaum mehr. Sie kann keine Spannung mehr
umwandeln, sondern leitet sie nur weiter, seit sie
im September getroffen wurde. Beim Angriff
brannten mehrere Transformatoren aus, die Herz-
stücke. Es dauert neun bis 18 Monate, um einen
Transformator herzustellen, und im ganzen Land
fehlen sie mittlerweile. Einer kostet mehrere Mil-
lionen Euro.
Die Reparaturen gehen schleppend voran, ob-
wohl die Zeit drängt. Täglich müssen die Arbeiter
ihre Werkzeuge wegen eines Luftalarms beiseite­
legen und das Gelände der Station verlassen. Der
Angriff im September zerstörte auch ihren Schutz-
raum. Deshalb stehen sie bei Luftalarm draußen.
Sie wirken gelassen, aber der Eindruck täuscht.
»Seit Beginn der Invasion arbeite ich hier, und ich
habe immer Angst«, sagt der 35-jährige Elektriker
Sergyj, ein schüchterner Mann mit rötlichen Haa-
ren. Eine Kollegin und ein Kollege von Sergyj­
haben beim letzten Angriff ihr Leben verloren. Der
Mann verbrannte in der Explosion, obwohl er sich
außerhalb des Gebäudes befand. Die Frau war
Fotos: Jedrzej Nowicki für DIE ZEIT (2); Reuters (o. l.); ZEIT-Grafik
Nastya Schukowa und ihr Sohn Timur hatten in Isjum wochenlang
keinen Strom (oben Mitte). Häufig werden Transformatoren
angegriffen (großes Bild), auch mit iranischen Drohnen (oben links)
kritischen Transformatorenstationen in der modernisierte die Ukraine einige Anlagen. Die
Ukraine,­also auf jene, die nicht schnell umgangen neue Technik nimmt deutlich weniger Raum ein, um die Infrastruktur vor weiteren Schlägen zu­ tralheizung nicht, mit der ihr Wohnblock im Win-
werden können. Die Hälfte konnten ukrainische oft nur fünf bis zehn Quadratmeter Fläche. »Dort, bewahren. Am effektivsten sind Flugabwehr­ ter warm bleibt. Aber nicht jeder hat einen Notfall-
Luftabwehrraketen ausschalten, bevor sie ein- wo das System modernisiert wurde, gingen die­ systeme,­aber davon gibt es nie genug im Land. plan. Nachbarin Parchomenko hat nur noch in
schlugen. Einige gingen daneben. Wären tatsäch- Raketen oft daneben«, sagt Kharchenko.
lich alle Ziele zerstört oder beschädigt worden,
geplanter Ausfall, um das System zu entlasten und
Reparaturen an Leitungen zu ermöglichen. Für die
Einwohner Charkiws kam der Ausfall jedoch über-
Charkiw raschend. Die U-Bahnen blieben mitten im­
Kiew Berufsverkehr plötzlich stehen. Jüngere Menschen
UKRAINE hasteten die langen Treppen hoch und nahmen
Isjum Taxis zur Arbeit. Die Alten, die Kranken und die
Cherson Optimisten harrten in den U-Bahn-Wagen aus, in
der Hoffnung, es gehe bald weiter. Kartenzahlun-
gen waren nicht mehr möglich, und noch bis zum
späten Nachmittag gingen in Einkaufszentren die
Lichter aus, mussten Cafés und Restaurants schlie-
ßen. In den Straßen brummten Generatoren.
Während die Bewohner Kiews und Lwiws sol-
che Ausfälle eher locker nehmen, versetzen sie die
Menschen im Osten in Angst. Die Temperaturen
fallen bei Charkiw nachts auf den Gefrierpunkt.
Noch Stunden nach Sonnenaufgang überzieht
Frost die Felder der Region. Viele Menschen­
befürchten einen Winter ohne Strom, ohne Hei-
zung, ohne fließendes Wasser. Für Hunderttausende­
ist so ein Leben seit Wochen oder Monaten bereits
Realität, vor allem in den östlichen Gebieten des
Landes. Die ukrainischen Behörden halten sich mit
Angaben über die Anzahl der Haushalte ohne
Strom zurück, auch das sind im Krieg strategische
Informationen. Am 8. Oktober, bereits zwei Tage
vor dem landesweiten Angriff auf die Infrastruktur,
hatte das Energieministerium mitgeteilt, dass
702.000 Haushalte vom Strom abgeschnitten seien.
Die Stadt Isjum, in der vor dem Krieg 46.000
Menschen lebten und die am 10. September wäh-
rend der jüngsten ukrainischen Gegenoffensive
von der russischen Besatzung befreit wurde, war
vier Wochen lang vom Stromnetz abgeschnitten,
auch fließendes Wasser gab es nicht. Anfang der
Woche trocknen dort auf den Wäscheleinen vor
den Häusern die Kleidungsstücke dicht an dicht.
Seit drei Tagen gibt es wieder Strom – und ganz
Isjum scheint die Wäsche nachzuholen. Während
der langen Wochen ohne Strom, so erzählt es die
26-jährige Nastya Schukowa, musste sie drei Kilo-
meter bis zum nächsten Brunnen laufen, um Was-
ser zu holen. Das Wasser erwärmte sie über einem
offenen Feuer im Hof, bevor sie die Wäsche für
sich, ihren Ehemann und ihren dreijährigen Sohn
mit den Händen wusch. »Wir lebten wie unsere
Großmütter früher«, sagt Schukowa. Die Kran-
kenschwester war auf der Arbeit, als sie erfuhr, dass
ihr Gebäude wieder an die Stromversorgung­
angeschlossen worden war. »Ich habe angefangen
zu weinen«, sagt sie. »Wir haben so lange auf die-
sen Moment gewartet.« Viele hier hatten irgend-
wann schon aufgehört, daran zu glauben, es im
Winter warm und hell zu haben.
An diesem Nachmittag wärmt ein Elektro­
heizer Schukowas kleines Wohnzimmer. Im Fern-
sehen läuft eine Doku über afrikanische Elefanten.
Aber weder sie noch ihr dreijähriger Sohn Timur
schenken den Tieren Aufmerksamkeit. Timur
schält Sonnenblumenkerne aus ihrer Hülle und
nascht. »Ohne Strom war es schwieriger, ihm eine
Freude zu bereiten«, sagt Schukowa. Sie haben
gepuzzelt, mit Knetgummi gespielt. Abends, wenn
Timur schlief, habe sie gemeinsam mit ihrem
Mann bei Kerzenschein Bücher gelesen, die sie aus
der Bibliothek ausgeliehen hatte.
Auf dem Hof vor ihrem Wohnblock ist ein pro-
visorisches Lager entstanden. Mehrere aus Metall­
eimern gebaute Feuerstellen stehen dort. Jeden
Abend trafen sich die 26 verbliebenen Bewohner
des Blocks vor dem Haus, kochten gemeinsam,
wärmten sich am Feuer und plauderten, über den
neuesten Tratsch vom Markt, über ihre Vergan-
genheit, über den Krieg. Sonst gab es nach Ein-
bruch der Dunkelheit gegen 19 Uhr wenig zu
tun. »Wir sind eine große Familie geworden«,
sagt Schukowas 80-jährige Nachbarin Marfa­
Parchomenko. Die Nachbarn, die sie zuvor kaum
kannte, halfen ihr, ihren Kochtopf zu tragen,
wenn sie draußen am offenen Feuer Buchweizen
oder Suppe kochen wollte. Allein hätte sie das
nicht mehr geschafft.
Wenn Nastya Schukowa von den täglichen­
Angriffen auf die Energieinfrastruktur hört,­
befürchtet sie, bald wieder ohne Elektrizität aus-
kommen zu müssen. Ihre Familie wird im Notfall
aufs Land ziehen, erzählt sie, entweder ins Haus
ihrer Eltern oder in das Haus ihrer Bekannten.
Dort könnten sie zumindest mit Holz heizen.
Die Ukrainer haben nur wenige Möglichkeiten, Denn ohne Elektrizität funktioniert auch die Zen-
»Seit September stapeln wir Sandsäcke um unsere Polen Familie. »Meine Großenkel bitten mich,
Aus seiner Geschichte folgt auch die Wider- Transformatoren«, sagt Wladymyr Sarytschew,­ nach Polen zu ziehen, aber dafür bin ich zu alt«, sagt

während des Angriffs in einem der Gebäude. Die
Rettungskräfte konnten nur Teile ihres Körpers
bergen. Mit dem Kollegen war Sergyj eng befreun-
det. »Es war ein schwieriger Moment, am Morgen
nach dem Angriff das Gelände zu betreten«, sagt er.
Er denke dennoch nicht darüber nach, den Job zu
wechseln. »Wir dürfen niemals aufgeben.«
»Den Angriff auf die Energieversorgung hat
nicht das Militär geplant, sondern Leute, die die
Architektur eines Stromnetzes sehr gut kennen
und genau wissen, wie man es zerstört«, sagt Olek-
sandr Kharchenko. Der Energieexperte leitet die
Denkfabrik Energy Industry Research Center und
berät seit 2014 ukrainische Regierungen in Ener-
giefragen. Die Raketen, sagt er, zielten auf alle
wäre im ganzen Land der Strom ausgefallen. Es standsfähigkeit des ukrainischen Energiesystems: Direktor von Ukrenergo für die östlichen Oblaste. sie. Die Fenster ihres Wohnzimmers sind bei Ein-
hätte mindestens fünf bis sieben Tage gedauert, Die Sowjetunion belieferte den Westen über die Auf seinem Handy zeigt er ein Foto; weiße Säcke schlägen zerborsten und mit Spanplatten überklebt.
schätzt Kharchenko, das System neu zu starten. Ukraine mit Öl, Gas und Elektrizität. Die Ukraine haben ein Transformatorenhäuschen in eine Ihr Heizlüfter kommt gegen die Kälte kaum an.
Die Energieexperten des Kreml benötigen produziert seither mehr Energie, als sie selbst ver- klobige­Pyramide verwandelt. Einem direkten Es sind die Ältesten und die Ärmsten, die unter
keine­Geheimdienstinformationen, um die braucht. Zwar werden jetzt die Exporte eingestellt Rake­tentreffer könnten die Sandsäcke nicht stand- den Angriffen auf die Infrastruktur am stärksten
Schwachstellen der ukrainischen Stromversorgung und die Ukrainer zum Sparen aufgefordert, aber halten. Aber Schäden durch Splitter könnten sie leiden. In zerschossenen und ausgekühlten Wohn-
zu ermitteln – es reichen alte Pläne. Als die das liegt vor allem an Problemen bei der Vertei- abwehren, hofft Sarytschew. Die Ukrainer setzen blöcken Charkiws harren Menschen aus, die
Ukraine­noch Teil der Sowjetunion war, plante lung, nicht an der Produktion. Das Stromnetz ist aber vor allem auf die Reparatur. Seit Beginn der abends über offenem Feuer Wasser erwärmen, es
und baute Moskau das Energiesystem und die­ verzweigt und deshalb resistent. In diesen Tagen Invasion werden neue Teams aus- und fortgebildet, in Flaschen füllen und sich diese unter die Decken
Infrastruktur des Landes. An den russischen Fehl- fließt elektrische Energie auch mal von Westen die schon wenige Stunden nach einem Angriff an schieben, um sich zumindest ein paar Stunden
schlägen lasse sich sogar erkennen, dass die ­Angriffe nach Osten und von dort zurück ins Zentrum des den zerstörten Objekten und Leitungen arbeiten. lang warm zu halten. Ginge es nach dem russischen
auf veralteten Dokumenten basierten, sagt Khar- Landes, weil die direkten Verbindungen zwischen Selbst in Großstädten sind gelegentliche Strom- Präsidenten, sollten wohl alle Ukrainerinnen und
chenko. Die ältere Sowjetinfrastruktur nahm viel dem Westen und dem Zentrum des Landes repa- ausfälle nichts Ungewöhnliches mehr. Erst am Ukrainer so den Winter ausharren. Mit jedem­
Platz ein, ein Objekt konnte bis zu zwei Hektar riert werden müssen. Aber mit jedem Angriff ver- Montagmorgen fiel in einigen Teilen Charkiws erneuten Schlag auf das Stromnetz und auf
groß sein. In den vergangenen drei Jahrzehnten ringert sich die Flexibilität. wieder stundenlang der Strom aus. Es war ein­ Wärme­kraftwerke kommt er diesem Ziel näher.
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022 POLITIK 7

Torten
der
Wahrheit
VON KATJA BERLIN

Foto: Felix Adler für DIE ZEIT (Langensalza, 17.10.2022/Gemälde: »18.3.1849 - Demonstration in Langensalza«; Öl auf Hartfaser; Martin Spröte,1956.)
Der Gerechtigkeitsdebatten in
Deutschland

Wutbürgermeister
Über Generationengerechtigkeit
Alle vier Wochen ruft der Über Chancengerechtigkeit

Bürgermeister von Über Verteilungsgerechtigkeit

Jetzt bekommen die Städter ein
Bad Langensalza zu Protesten gegen 49-Euro-Ticket, und was ist mit
denen auf dem Land?!
die Regierung auf. Von der
AfD will er allerdings nichts wissen 
VON AUGUST MODERSOHN
Warum wir jetzt ins
Fitnessstudio gehen

Matthias Reinz in seinem Bürgermeisterbüro

Für die Gesundheit

W
enige Stunden später
werden hier Hunderte
Demonstranten die
Öff­nung von Nord
Stream 2 fordern. Doch
am Montagmittag die-
ser Woche betrachten
nur ein paar Touristen das Rathaus von Bad­
Langensalza, ein fulminantes Barockgebäude. Das
Glockenspiel an der Wand setzt sich in Bewegung,
es ertönt die Melodie von Kein schöner Land.
Oben, am Fenster zum Rathausbalkon, steht
Matthias Reinz. Er schaut auf seine hübsche Fach-
werk-Stadt, muss laut anreden gegen das Glocken-
spiel. »Natürlich geht es uns gut, natürlich habe
ich Hoffnung«, sagt er. »Aber wenn sich nichts
ändert, fahren wir unser Land gegen die Wand.«
Seit vier Jahren ist Matthias Reinz, 45, parteilos,
der Bürgermeister von Bad Langensalza, einer
Kleinstadt in Thüringen. Normalerweise kümmert
er sich um die Sorgen der freiwilligen Feuerwehr
oder um den heimischen Rosengarten. Jetzt aber
hat er etwas gemacht, was normalerweise kaum ein
Bürgermeister tut: Er hat zu einer Demonstration
gegen die Bundesregierung aufgerufen.
Dass sich in Krisenzeiten Protest regt, im Osten
des Landes meist früher und heftiger, das kennt man
inzwischen. Neu ist in diesem viel beschworenen
heißen Herbst, wer hier mobilisiert: nicht nur
Rechtsextremisten, die AfD oder einzelne Abgeord-
nete der Linken. Nun rufen sogar regierende Poli-
tiker die Bürger auf die Straße, so wie Matthias
Reinz. Die Frage ist, was er damit bezweckt. Und
Seine Sorgen: Für dieses Jahr musste er eine
Haushaltssperre ausrufen, weil der Kommune­
weniger Einnahmen aus der Gewerbesteuer zu-
fließen. Er hat Angst davor, dass der größte Arbeit-
geber der Region, ein Unternehmen, das Alumi­
nium ver­arbeitet, pleitegehen könnte.
Nur: Sorgen haben fast alle. Hilft es wirklich,
durch diese Krise zu kommen, wenn nun sogar
Amtsträger gegen die Bundesregierung auf die
Straße gehen? Zumal Kommunalpolitiker ja
durchaus Möglichkeiten haben, sich in der Lan-
des- und Bundespolitik Gehör zu verschaffen.
Matthias Reinz sagt, ihn treibe auch das Gefühl,
eine ganz andere Meinung zu vertreten als eigent-
lich alle in der Bundesregierung. Und diese Mei-
nung sieht, kurz umrissen, so aus:
Reinz ist dafür, Nord Stream 2 zu öffnen, weil
Deutschland ohne russisches Gas wirtschaftlich
noch nicht überlebensfähig sei. Reinz ist gegen
Waffenlieferungen. Reinz will »mehr Diploma-
tie«, also auch mit der russischen Regierung, und
er will Atomkraftwerke nicht nur länger laufen,
sondern gleich neue bauen lassen. Am liebsten
regt er sich über die Grünen auf.
Da vermischt sich einiges, Geopolitik und alte
Feindbilder. Reinz erzählt, AfD-Politiker hätten
ihm schon geschrieben, er solle ihnen ihre Punk-
te bitte nicht wegnehmen. »Ich möchte mit die-
ser Partei und ihren Protesten aber nichts zu tun
haben«, sagt er. »Die haben sich auf diese The-
men draufgesetzt, weil sie merken, wie die Mehr-
heit der Menschen hier denkt.«
Die Mehrheit der Menschen? Man könnte
Aber, doch, diese Demo hier ist kein Pegida. Man
merkt das, wenn man mit Demo-Teilnehmerinnen wie
Sabine ins Gespräch kommt, 55 Jahre alt, Physio­
therapeutin. »Ich finde es gut, dass es mit dem Bürger-
meister endlich eine vernünftige Stimme gibt, die
unserer Unzufriedenheit gerecht wird«, sagt sie. »Bei
den Rechten würde ich niemals mitlaufen, und wenn
hier Rechte wären, würde ich mich auch distanzieren.«
Dann läuft sie weiter, die Demo zieht einmal durch die
Innenstadt. Ruhig gehen die Protestierenden durch die
Straßen. Noch. Wenn die Staatshilfen nicht bald an-
kommen, das ist der Eindruck, der von diesem Protest
hängen bleibt, dann wird mancher vielleicht nicht
mehr zwischen den Demos unterscheiden.
Es gibt deshalb natürlich Kritik am Vorgehen von
Matthias Reinz. Er schüre Ängste, er treibe die Leute
auf die Straße, sagen manche. Tatsächlich sagt Reinz
Sätze wie diesen: »Wenn der Winter kalt wird und es zu
ANZEIGE
Für die Figur
Für die heiße Dusche
Versorgungsengpässen kommt, kann es sein, dass wir
im schlimmsten Fall Menschenleben beklagen müs-
sen.« Es gehe ihm darum, seiner Verantwortung gerecht
zu werden und die Regierenden in Erfurt und Berlin
aufzurütteln, rechtfertigt er sich. »Ich will mir nichts Verbote, auf die sich Deutsche
vorwerfen lassen.« Und vielleicht, denkt man, spricht einigen können
auch aus Reinz manchmal nur ein Überforderter.
Später am Abend wird es noch einmal laut in Bad
Langensalza. Die AfD zieht los, man hört das schon
aus der Ferne. Dann kommt der Demo-Zug um die
Ecke. Früher, zu Corona-Zeiten, liefen hier mehrere
Hundert Menschen. Jetzt kommt da etwa ein Dutzend.
Drei Deutschlandfahnen, zwei Musikboxen, ein Mann
im blauen AfD-Outfit. Sie haben sich heute einen
langen Spaziergang vorgenommen, ganze fünf Kilo- Inlandsflüge
meter wollen sie laufen. Der AfD-Mann sagt: »Schade, Massentierhaltung
dass wir so wenige sind.« Viel weniger als vorhin vor SUV
dem Rathaus, wo er natürlich auch gewesen sei. Sonntags Rasen mähen

nke
welche Folgen das hat für die Stimmung im Land. meinen, Matthias Reinz übertreibe. Nur denken

Da rtrauen!
Demonstriert wird inzwischen allerorten. Am tatsächlich viele Ostdeutsche ähnlich wie er. Schaut

Tag der Deutschen Einheit etwa waren allein in
Thüringen 36.000 Menschen auf der Straße. Man-
cherorts werden extremistische Reden gehalten.
Anderswo sind vergleichsweise bedächtige Worte zu
hören. Am Dienstag dieser Woche trat sogar Sach-
sens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU)
bei einer Demo in Grimma auf, er wurde ausgebuht,
als er Russland als Aggressor bezeichnete. Thürin-
für Ihr Ve
man sich aktuelle Umfragen an, sieht man etwa: In
Westdeutschland fordern 44 Prozent der Bürgerin-
nen und Bürger mehr Zurückhaltung bei Waffen-
lieferungen. In Ostdeutschland sind es 60 Prozent.
Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Reinz
glaubt, die aus seiner Sicht Ungehörten bräuchten
ein Sprachrohr. Also: ihn. Er will, dass Menschen,
die seine Meinung teilen, nicht gemeinsam mit AfD

Platz 1 in der Kundenzufriedenheit

gens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und Freien Sachsen auf die Straße gehen, sondern
sprach vorige Woche in der ZEIT von einer neuen angeführt werden von anderen, die »voll und ganz
faschistischen Bewegung, einer neuen Pegida. hinter der demokratischen Grundordnung« stün-

»Kalt ist es hier, entschuldigen Sie bitte«, sagt
Matthias Reinz in seinem Büro. Er lächelt dabei ein
wenig süffisant: Kälte, Sie wissen schon, man muss
halt sparen. Er setzt sich auf eine Sofagruppe, über
der ein Gemälde hängt. Es zeigt schlachtähnliche
Szenen in Langensalza im Jahr 1849. Reinz hat sich
das Bild im Archiv des Stadtmuseums ausgesucht.
Er ist Militärprofi: Bevor er Bürgermeister wurde,
war er Soldat. Panzergrenadier, Ausbilder, Afghanis-
tan. Für einen, der sich ein Gemetzel an die Büro-
wand hängt, wirkt Reinz überraschend zugänglich.
Vor einem Monat hat er zum ersten Mal zu einer
Demonstration in Bad Langensalza aufgerufen. Es
kamen fast 1000 Leute. Reinz beschloss, die Protes-
te alle vier Wochen zu wiederholen. An diesem
Nachmittag wird es wieder so weit sein. Reinz sagt,
egal mit wem er in den vergangenen Monaten­
gesprochen habe, überall seien ihm Ängste begegnet.
»Die Leute sind zutiefst verunsichert, und ich kann
ihnen keine Antworten geben.« Es folgt ein erstaun-
licher Satz: In Bad Langensalza sei er noch nieman-
dem begegnet, der die Politik der Bundesregierung
gutheißen würde. Wöchentlich organisiere die AfD
deswegen Proteste. Aber er, der Bürger­meister,
treffe viele Menschen, die gern demonstrieren woll-
ten, bloß halt nicht mit der AfD. Reinz sagt: »Für
diese Menschen habe ich zum Protest aufgerufen.
Ich verstehe mich als erster Bürger der Stadt. Und
ich will, dass man mitbekommt, wie es uns hier
geht, was wir für Sorgen haben.«
aller Lebensmittelmärkte*
den, so sieht er sich selbst. Aber wohin führt all das?
Am Nachmittag kommt Bad Langensalza in
Bewegung. Viele Grüppchen machen sich auf zum
Marktplatz am Rathaus, man hört Polizeisirenen.
An manchen Fenstern legen sich die Leute schon
Kissen unter die Arme, zum Abstützen.
Zur Demo von Matthias Reinz, der diese heu-
te als Privatperson angemeldet hat, haben sich
knapp 500 Leute zusammengefunden, ­weniger
als beim ersten Mal; der Platz ist trotzdem voll.
Da stehen: Rentnerpaare in Seniorenbeige, junge
Familien, mittelalte Frauen und Männer. Die­
einen tragen Camp David, die anderen schicke
Handtaschen. Einer hustet, ein anderer setzt die
FFP2-Maske auf. Erster Abgrenzungs-Check, als
die Demo-Auflagen verlesen werden: Keine
Reichskriegsflaggen, sagt der Sprecher. Stille.
Niemand buht. Dann tritt Reinz ans Mikrofon:
»Seit unserer letzten Versammlung vor einigen Mehr Informationen und weitere Auszeichnungen unter
Wochen ist auf der einen Seite so viel passiert, alnatura.de/auszeichnungen
aber hat sich auf der anderen Seite doch so wenig
bewegt. Der Krieg in der Ukraine geht weiter.
Das Leid auf allen Seiten konnte nicht beendet
*
In einer repräsentativen Umfrage, durchgeführt vom Forschungsunternehmen ServiceBaro-
werden. Die Waffenlieferungen Deutschlands an meter AG, wurden 8 776 Kundinnen und Kunden zur Zufriedenheit, bezogen auf ihre Hauptein-
die Ukraine werden fortgesetzt.« Das Publikum kaufsstätten für Lebensmittel, befragt. Alnatura erhält auf einer Notenskala (1 = vollkommen
pfeift sich warm, manche rufen »Pfui!«. zufrieden, 5 = unzufrieden) die Gesamtzufriedenheitsnote 1,84 innerhalb der „Biomärkte“ und
Man kennt das. Was hier in der folgenden ist mit diesem Wert Gesamtsieger unter allen untersuchten Lebensmittelmärkten. Zeitraum der
Stunde passieren wird, ist einerseits nicht neu. Erhebung: 14.10.2021 bis 15.07.2022.
Die Forderungen. Das Amüsement über die
Grünen. Der Ärger über das Gendern.
8 POLITIK 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Illusionen
in Moskau, zum
Weinen schön
Wie ein deutscher Dirigent
für einen Abend den
Westen nach Russland brachte

Wenn ich vor dem alltäglichen Kriegswahnsinn in der

russischen Hauptstadt fliehen möchte, gehe ich mit-
unter in die Bolschaja-Nikitskaja-Straße, in den Gro-
ßen Saal des Moskauer Tschaikowsky-Konservato­
riums. Eskapismus pur, zugegeben. Vor einer Woche
war es dort sehr voll, weil ein deutscher Dirigent auf-
trat. Das ist eine Rarität in diesen Zeiten. Seit Russ-
lands Überfall auf die Ukraine kommen kaum noch
internationale Künstler nach Moskau. Jetzt also Bühne
frei für: Justus Frantz.
Der 78-jährige Dirigent und Pianist schritt in
dunkelblauem Frack samt passenden Turnschuhen
zum Pult. Dass er überhaupt hier auftritt, hat auch
mit seiner Neigung zu Russland zu tun. Der Gründer
des Schleswig-Holstein Musikfestivals ist mit der rus-
sischen Violinistin Ksenia Dubrovskaya verheiratet,
Foto: Stephane Lemouton/action press

er spricht Russisch, und er reiste in den vergangenen

Jahren immer wieder nach Russland. Die Annexion
der Krim nannte er »Wiedergutmachung eines histo-
rischen Unrechts«. Der ZEIT gegenüber bekannte er
2014, ein »Putin-Versteher« zu sein. Heute ist von
dem Verständnis wenig geblieben.
Im Großen Saal des Konservatoriums bot Frantz
ein kulturelles Gegenprogramm zur Verdammnis aller
Westlichkeit, die die russische politische Elite zele-
»Generalstreik« steht an der Wand, an der diese Demonstrantin am 16. Oktober in Paris vorbeigeht briert: Beethovens Leonore-Ouvertüre, das Schicksals-
lied und die 3. Sinfonie von Johannes Brahms. West-
licher geht’s kaum.
Das Moskauer Publikum schloss die Augen und

Präsident in der Falle

gab sich dem Westen hin. Wir saßen unter großen
Porträts berühmter Komponisten, die im Saal hoch
über den Logen angebracht sind: Tschaikowsky,
Beethoven, Bach, Glinka, Brahms, Rimski-Korsa-
kow, Schubert, Mussorgski, Wagner. Der Große
Saal ist so etwas wie eine Ruhmeshalle der deutsch-
russischen Kulturbeziehungen. Man kannte sich.
In Frankreich wird wieder gestreikt. Baut sich eine neue Gelbwesten-Bewegung auf?  VON MATTHIAS KRUPA Tschaikowsky schrieb 1888 in einem Brief an sei-
nen Bruder über seine Treffen mit Brahms in

D
Hamburg und Leipzig: »Nach der Probe frühstück-
er Präsident bewahrt Haltung, eine größere Protestwelle. Baut sich möglicher- dierende, Pensionäre und einige Teilnehmer in Selbst in den eigenen Reihen regt sich immer ten wir zusammen und zechten tüchtig. Brahms ist
auch in diesen Tagen, in denen weise sogar eine neue Bewegung auf, vergleich- gelben Westen. Eine kleine Gruppe hatte eine öfter Widerstand gegen den Präsidenten. Die- sehr sympathisch.«
manche schon die Vorzeichen bar mit den Gelbwesten, die Macrons erste Bushaltestelle besetzt, sie verteilten Zettel, darauf sem fällt es schwer, damit umzugehen. In einer Während Justus Frantz Brahms’ Schicksalslied mit
für das Scheitern seiner zweiten Amtszeit prägten? stand: »La crise sur le gâteau«. Ein Wortspiel – internen Runde soll Macron halb geklagt, halb Hölderlins Versen dirigierte, verdrängten die Zuhöre-
Amtszeit erkennen. Am Diens- Die aktuelle Auseinandersetzung wird ange- nicht die Kirsche, sondern die Krise auf dem gedroht haben: »Ich habe nicht vor, meine Auto- rinnen und Zuhörer das tägliche Geschrei im russi-
tag dieser Woche schreitet Emmanuel Macron führt von der Confédération générale du travail Kuchen. Der Slogan trifft die Stimmung vieler rität innerhalb von sechs Monaten zu verlieren.« schen Staatsfernsehen, wo Putins Starmoderator
durch den Ehrenhof am Invalidendom, um (CGT), einer der beiden großen und besonders Demonstranten. In der vergangenen Woche hat die Regie- Wladimir Solowjow unlängst dazu aufrief, Berlin zu
dort, im Namen der Republik, an das Ende des kämpferischen Gewerkschaften des Landes. Sie Ihr Protest richtete sich gegen die gestiege- rung begonnen, Arbeiter in den bestreikten bombardieren. Wo Putin dem Westen im Wochen-
Algerienkriegs vor 60 Jahren zu erinnern. Trom- fordert deutlich höhere Löhne angesichts der nen Lebenskosten, gegen den Klimawandel,­ Raffinerien und Depots zum Dienst zu ver- takt mit der Atombombe droht (»Das ist kein Bluff«)
meln wirbeln, Trompeten spielen, der Präsident Inflation. Ein Angebot des Konzerns Total- gegen die vermeintliche Untätigkeit der Regie- pflichten. Das Gesetz gibt ihr die Möglichkeit und sich auf asiatischen Gipfeln bei Xi Jinping­
verleiht Orden. Einer der Veteranen, die er aus- Energies, die Gehälter in seinen Raffinerien rung, gegen die »Superreichen«, gegen eine­ dazu, die CGT beklagt dennoch, der Präsident anheischig macht. Das ist Russlands neue Wirklich-
zeichnet, flüstert ihm zu: »Tenir bon!« Bleiben um sieben Prozent zu erhöhen, hat die CGT geplante Reform der Renten. Außerdem sicher- breche das Streikrecht. Vergleichbar ist die Kon- keit. Dieser Saal ist nur eine Illusion, aber eine wun-
Sie standhaft, halten Sie durch. als zu niedrig abgelehnt. Zwei andere, gemä- ten sie den streikenden Arbeiterinnen und­ stellation im Parlament. Dort sollte in dieser derschöne. Der Chefdirigent des Orchesters, Pawel
Macron muss schmunzeln, die Aufmunte- ßigtere Gewerkschaften haben das Angebot­ Arbeitern ihre Unterstützung zu. Mélenchon Woche über den Haushalt für das kommende Kogan, ist nach Kriegsbeginn in den Westen gegan-
rung nimmt er gern mit. Denn zur gleichen angenommen und sich nicht an dem landes­ selbst hatte zuletzt an Zustimmung verloren, Jahr entschieden werden. Wahrscheinlich setzt gen, weil er den Graben zwischen Konservatoriums-
Zeit, da er mit militärischen Ehren der Ver- weiten Streik beteiligt. Die Uneinigkeit der­ nun beschwor er von einem Lastwagen herab die Regierung ihn durch, indem sie auf ein Illusion und Russlands Realität nicht mehr ertrug.
gangenheit gedenkt, wird in weiten Teilen des Gewerkschaften bremst vorerst deren Mobili- die Geburts­stunde einer neuen »Volksfront«. An Sonderrecht zurückgreift – ohne für den Haus- Er war seit dem Mauerfall der Chefdirigent des
Landes gestreikt. Züge stehen still, Buslinien sierung, sie ändert aber nichts an der seiner Seite demonstrierte die frisch gekürte­ halt eine Mehrheit zu bekommen. Auch diese Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters – und
fallen aus, selbst die notwendigen Arbeiten an Unzufrieden­heit mit der Regierung. Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Möglichkeit ist in der Verfassung vorgesehen. natürlich hat niemand hier ihn vergessen.
einigen der abgeschalteten Atomkraftwerke Laut einer Umfrage des Meinungsforschungs- Anders als bei den Gelbwesten, deren Bewe- Das Vorgehen allerdings bestätigt diejenigen, Als der letzte Ton von Brahms’ 3. Sinfonie ver-
müssen warten. Vor vielen Tankstellen bilden instituts Elabe lehnen 49 Prozent der Französin- gung Ende 2018 spontan und fernab der Haupt- die Macron ohnehin vorwerfen, selbstherrlich stummte, brach im Großen Saal Begeisterung aus, der
sich, wie schon seit Tagen, lange Schlangen. nen und Franzosen die Streiks zum jetzigen Zeit- stadt entstanden war, sind es bislang bekannte, und autoritär zu agieren. ab Minute fünf politisch wurde. Justus Frantz ging
Das Benzin ist knapp geworden, seit einige punkt ab. Drei Viertel von ihnen sind dennoch gut organisierte Akteure – die CGT und La Dieser Falle kann er kaum entkommen: Ent- durch die Reihen der Musiker, schüttelte die Hände
der wichtigsten Raffinerien des Landes­ unzufrieden damit, wie die Regierung auf diese France Insoumise –, die den Protest gegen­ weder Macron gibt dem Druck nach und ver- der Männer, küsste die meist jungen Musikerinnen
bestreikt werden. neuerliche Krise reagiert. Macron anfachen. Viele Parolen, etwa jene von zichtet auf jeden reformerischen Ehrgeiz – oder der ersten Geigen nach orthodoxer Tradition gleich
Dort und in mehreren großen Treibstoff­ Unterstützt wird die CGT in ihren Forderungen Mélenchon, erinnern an die Wahlkämpfe des er greift durch und provoziert damit neuen Wider- dreimal auf die Wangen. Als der Jubel nicht enden
depots hatten die Ausstände bereits Ende Sep- von La France Insoumise, der Partei des ­früheren vergangenen Frühjahrs. Für den Präsidenten ist stand. Die CGT will die Streiks fortsetzen, auch wollte, ging er wieder ans Pult. Als Zugabe dirigierte
tember begonnen. Dass sie sich so schnell zu- Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. die Situation dennoch heikel. Macron ist erst Mélenchon spricht davon, die Aktionen dieser er noch einmal das wirklich zum Dahinschmelzen
spitzen würden, kommt dennoch unerwartet. Auch dieser hatte am vergangenen Sonntag vor einem halben Jahr wiedergewählt worden, Woche seien nur ein Anfang. Noch gibt es keine melancholisch-schöne Andante aus Brahms’ 3. Sinfo-
Auch Macron und seine Regierung hatten­ mobilisiert. Mehrere Zehntausend Menschen nach einem enttäuschenden Wahlkampf. Das neuen Gelbwesten. Aber 84 Prozent der Franzo- nie. Und während sich die Streicher in die letzte Illu-
damit erkennbar nicht gerechnet. Sie fürchten folgten seinem Aufruf, sie zogen in Paris zum Vertrauen in seine Regierung ist gering, im Par- sen sehen in einer Umfrage das Risiko einer sion hochspielten, weinten viele Menschen im Saal
nun, die Streiks könnten der Auftakt sein für Platz der Bastille. Unter ihnen waren viele Stu- lament hat sie keine alleinige Mehrheit mehr. »sozialen Explosion«. ganz leise vor sich hin. MICHAEL THUMANN

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Stand

25. September
2022
www.zusammengegencorona.de

Was wir wissen

Der Plan für Fakten-Booster Quelle: BMG

Herbst und Winter Schutzmaßnahmen helfen,

Ansteckungen zu vermeiden
Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes werden Gerade in den Herbst- und Wintermonaten halten wir uns wieder vermehrt in Innenräumen
ab dem 1. Oktober bundesweite Maßnahmen eingeführt, auf und die Ansteckungsgefahr ist erhöht. Mit dem geänderten Infektionsschutzgesetz sollen
die uns im Herbst und Winter besser schützen. vor allem gefährdete Personen besser vor einer Infektion mit dem Coronavirus geschützt wer-
den als in den vergangenen Jahren.
Mehr dazu lesen Sie hier.

Was wir tun

Fakten-Booster Quelle: BMG Fakten-Booster Quelle: BMG

Diese Schutzmaßnahmen gelten So können Sie sich

bundesweit ab dem 1. Oktober 2022 am besten schützen:
AHA+L-Formel
Im Alltag Maske tragen
FFP2-Masken, korrekt über Mund und Nase
getragen, senken das Infektionsrisiko deutlich.
Hygieneregeln beachten
Eine Masken- und Testnachweispflicht Zum Beispiel: Regelmäßiges Händewaschen
gilt für den Zutritt zu Krankenhäusern sowie Husten und Niesen in die Armbeuge oder
Im öffentlichen Fernverkehr gilt eine FFP2- Patientinnen und Patienten sowie Besu- sowie voll- und teilstationären Pflegeein- in ein Papiertaschentuch schützen.
Maskenpflicht. Kinder und Jugendliche cherinnen und Besucher dürfen Arztpra- richtungen und vergleichbaren Einrich- Abstand halten
von sechs bis einschließlich 13 Jahren sowie xen, Zahnarztpraxen, Dialyseeinrichtungen tungen sowie für Beschäftigte in ambu- Halten Sie möglichst einen Abstand von min-
das Personal können alternativ auch medi- und weitere Einrichtungen des Gesund- lanten Pflegediensten und vergleichbaren destens 1,5 Metern zu anderen Menschen ein.
zinische Masken (OP-Masken) tragen. heitswesens nur mit FFP2-Maske betreten. Dienstleistern während ihrer Tätigkeit.*
Lüften
Ausnahmen von der Maskenpflicht sind vorgesehen, wenn die Behandlung dem Tragen einer Maske entgegensteht, sowie für in den jeweiligen Einrichtungen behandelte, be-
Innenräume regelmäßig stoßlüften, damit sich
treute, untergebrachte oder gepflegte Personen in den für ihren dauerhaften Aufenthalt bestimmten Räumlichkeiten; ferner für Kinder unter sechs Jahren, für Personen, die aus Coronaviren nicht über Aerosole (virushaltige
medizinischen Gründen keine Maske tragen können, sowie für gehörlose und schwerhörige Menschen und Personen, die mit ihnen kommunizieren, sowie ihre Begleitpersonen. Flüssigkeitspartikel in der Luft) im Raum verbrei-
* Behandelte, betreute, untergebrachte oder gepflegte Personen sind zudem von der Testnachweispflicht ausgenommen. ten können.
Impfschutz auffrischen
Informieren Sie sich über die aktuellen
Antivirale Medikamente Impfungen
Ausreichende Dosen für STIKO-Empfehlungen und Ihren individuellen
Es stehen ausreichend – auch an die Omikron-Variante
Pflegeheime stehen bereit. Impfschutz mit dem Impf-Guide auf
angepasste – Impfstoffe sowie die Impfkapazitäten bereit.
www.corona-schutzimpfung.de.

Fakten-Booster

Zusätzlich gilt ein 1. Stufe 2. Stufe

Zweistufenplan Maskenpflicht für ÖPNV, in öffentlich zugänglichen
Maskenpflicht auch im
Innenräumen (Restaurants, Bars, Kultur, Freizeit, Sport),
Die Länder haben die Möglichkeit, je nach Infektionslage Außenbereich, wenn 1,5 Meter
in Schulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen
in zwei Stufen auf die Pandemieentwicklung zu reagieren. Abstand nicht möglich sind
für Beschäftigte und Schülerinnen und Schüler ab dem
Ab dem 1. Oktober können die Landesregierungen in ei-
5. Schuljahr (soweit dies zur Aufrechterhaltung eines Abstandsgebot,
ner ersten Stufe weitere Maßnahmen zum Schutz der Be-
geregelten Präsenz-Unterrichtsbetriebs erforderlich ist.) Personenobergrenzen bei
völkerung und unseres Gesundheitssystems beschließen.
Veranstaltungen in öffentlich
Stellt ein Landesparlament eine konkrete Gefahr für Ge- Testpflicht in Schulen, Kitas und anderen Einrichtungen
zugänglichen Innenräumen
sundheitssystem oder kritische Infrastruktur fest, kön- (z.B. Asylbewerberunterkünfte, Obdachlosenunterkünfte,
nen in dem Land weitere Maßnahmen festgelegt werden. Hafteinrichtungen, Heime der Jugendhilfe) Hygienekonzepte

Angepasste Quelle: PEI

Gut zu wissen
Booster-Impfstoffe Ab dem 1. Oktober 2022 gelten Sie rechtlich
als vollständig geimpft:
∙ nach drei Einzelimpfungen (die letzte Einzelimpfung
Die Europäische Kommission hat die muss mindestens drei Monate nach der zweiten
an die Omikron-Variante angepassten „Wir wissen nicht, wie sich die Einzelimpfung erfolgt sein),
Corona-Impfstoffe von BioNTech/ Pandemie im Herbst entwickelt.
Pfizer und Moderna für die Auffrisch- ∙ nach zwei Einzelimpfungen: plus positivem Anti-
Aber wir werden diesmal gut körpertest vor der ersten Impfung oder plus einer
impfung bei Personen ab 12 Jahren
zugelassen, die mindestens eine Grund- vorbereitet sein.“ mittels PCR-Test nachgewiesenen SARS-CoV-2-
immunisierung gegen COVID-19 er- Infektion vor der zweiten Impfung oder plus einer
halten haben. Bundesgesundheitsminister mittels PCR-Test nachgewiesenen SARS-CoV-2-
Prof. Dr. Karl Lauterbach Infektion nach der zweiten Impfung; seit der Testung
müssen 28 Tage vergangen sein.

Weitere Informationen und die

genannten Quellen finden Sie unter:
zusammengegencorona.de/
116 117 und 0800 0000837 bmg.bund Bundesministerium für Gesundheit
(English, , Türkçe, Русский) für weitere Informationen, bmg_bund bundesgesundheitsministerium
faktenbooster kostenfrei
 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

10 STREIT
Titelthema: Fluchtpunkt Deutschland

Wird es schwieriger
als 2015?
Illustration: Nathalie Lees für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

Er ist Landrat von Bad Tölz, sie sitzt dort im Kreistag. Auf die Flüchtlingszahlen in ihrem Ort schauen sie völlig verschieden: Josef Niedermaier (Freie Wähler)
warnt vor Überlastung und einer »Katastrophe«. Die Grüne Barbara Schwendner sagt: Wer Panik schürt, wird die Probleme nicht bewältigen – im ganzen Land
DIE ZEIT: Herr Niedermaier, Sie sind Landrat im 15 bis 20 Euro Miete pro Quadratmeter sind hier Million Syrer auszuweisen. Frau Schwendner, was Lebensunterhalt zu verdienen. Die meisten Zuwan- stand in den Gemeinderäten. Schon seit 2014
bayerischen Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Sie sa- normal. Zu mir kommen fast täglich junge Familien können Landkreise überhaupt tun, um auf diese derer kommen auf dem Asyl-Ticket. Unsere Auslän- wurde ich teilweise beleidigt und beschimpft –
gen, Sie wüssten nicht mehr, wo Sie die vielen aus unseren Gemeinden, die keine Bleibe finden. Entwicklung zu reagieren? derbehörde muss dann die Aufenthaltsgründe wieder und das droht jetzt wieder. Im Moment kommen
Menschen unterbringen sollen, die Asyl suchen. Sie Selbst denen müssen wir jetzt frei werdende Im- Schwendner: Kurzfristig mehr Gemeinschafts­ auseinandersortieren. Das lähmt die Verwaltung. die Leute hintenrum zu mir und sagen: »Jetzt hörst
warnten sogar vor einem »Katastrophenfall«, zitierte mobilien vor der Nase wegmieten. Viele Ukrainer unterkünfte schaffen, etwa in Turnhallen. Und wir ZEIT: Mit Blick auf die Ukraine-Flüchtlinge ha- aber endlich auf mit deinem Flüchtlingsschmarrn!«
Sie die Lokalpresse. Was macht Ihnen so viel Sorge? sind zwar privat einquartiert, aber etwa 500 hat müssen die Gemeinden ins Boot holen. Dazu ben Sie gesagt, die Bundesregierung spreche »Ein- Wenn ich ein bisschen drastischer formuliere,
Josef Niedermaier: Wir im Landratsamt müssen mein Amt unterbringen müssen. Am stärksten braucht es keine Panikmache, sondern ganz viel ladungen« aus und schaue nun dabei zu, »wie es dann um diese Lokalpolitiker aufzuwecken.
die Hilfe für die vielen Menschen, die gerade zu überfordert sind Kitas und Schulen. Die Kinder- Kommunikation, Motivation und Zuversicht. die Bevölkerung zerreißt«. Was meinen Sie damit? ZEIT: Man bekommt den Eindruck, Sie beide
uns kommen, organisieren. Dabei gehen meine gärten sind heillos überfüllt. Trotzdem ist ja klar, Und Ehrlichkeit. Wir müssen sagen: Weltweit gibt Niedermaier: Damit meine ich, dass die Flücht- müssen ein Problem ausbaden, das selbst für die
Mitarbeiter nach Tausenden Überstunden wegen dass die Flüchtlingskinder dort reinmüssen. es große Fluchtbewegungen, die nicht spurlos an linge aus der Ukraine ja nicht ins Asylverfahren Bundesregierung eine Nummer zu groß ist. Eine
Corona ohnehin schon auf dem Zahnfleisch. Des- Schwendner: Sepp, uns eint die Sorge um den so- uns vorbeigehen werden. Aktuell kommen wieder kommen, sondern direkt anerkannt werden. Sie Lehre aus 2015 ist auch, was nicht funktioniert –
halb ist in unserer Behörde der Katastrophenfall zialen Zusammenhalt. Aber wir haben das auch viele Menschen aus Afghanistan und Syrien. bekommen Hartz-IV-Leistungen, ab 2023 auch nämlich die Flüchtlingsverteilung in Europa:
quasi schon eingetreten. Diese Krise droht uns alle schon mal geschafft ... Demnächst vielleicht auch aus dem Iran. das neue Bürgergeld. Das sehen viele in unserer Deutschland hat in diesem Jahr bereits über eine
zu überfordern, auch die Bevölkerung. ZEIT: »Die Situation ist schlimmer als 2015«, das Niedermaier: Du nennst zu Recht die Gemeinden. Gesellschaft als Einladung. Million Schutzsuchende aufgenommen, in Frank-
ZEIT: Frau Schwendner, Sie sind grüne Kreis- waren kürzlich Ihre Worte, Herr Niedermaier. Wir sind darauf angewiesen, dass die uns Grund- Schwendner: Ich halte das für Mumpitz. Sicher, es reich wurden nur gut 100.000 registriert.
tagsabgeordnete im selben Landkreis. In einer Niedermaier: Das ist auch so. Damals gab es eine stücke überlassen. Aber dann heißt es: »Oh, dorthin gibt diese Sonderregelung für Ukraine-Geflüchtete. Niedermaier: Tja, das stimmt. Nur, was sollen wir
Versammlung haben Sie kürzlich »Jammern auf Welle der Hilfsbereitschaft, zahlreiche Helferkreise nicht noch eine Flüchtlingsunterkunft! Wir brau- Und unter ihnen sind vielleicht ein paar wenige, denn tun? Die bayerischen Landräte sind im No-
hohem Niveau« kritisiert – bei denen, die wie haben sich gegründet. Einige gibt es heute noch, chen dringend Sozialwohnungen.« Das kann ich die das als Anreiz sehen. Aber die Menschen kom- vember wieder für vier Tage in Brüssel. Aber selbst
Herr Niedermaier von Überforderung sprechen. aber nicht mehr in dieser Dichte. Selbst der größte nicht totschweigen. Klar, es gibt viele Gutwillige men doch nicht wegen einer »Einladung« – sie wenn ich im Handstand im Europaparlament
Warum? Menschenfreund ist halt irgendwann erschöpft. mit weitem Herzen. Aber es gibt auch die anderen, flüchten vor einem schrecklichen Krieg! Dass es rumlaufen würde – wen interessiert’s? (lacht)
Barbara Schwendner: Bei uns im Kreis klagen in- Hinzu kommt: Nach Kriegsbeginn im Februar die sagen: Jetzt reicht’s. Wenn man denen einfach jetzt zwei Klassen von Geflüchteten gibt, sehen ZEIT: Allerdings haben auch die Kommunen nach
zwischen Sportvereine, sie könnten nicht trainie- haben viele bei uns großherzig Ukrainer bei sich »Wir schaffen das« antwortet, wird man ausgelacht. übrigens auch manche Ukrainer kritisch. Das Pro- 2015 viele Unterkünfte und viel Personal für
ren, weil Geflüchtete ihre Turnhalle belegen. Ich aufgenommen. Nun sagen mir manche: Wir hel- Schwendner: Ich bleibe dabei. Man kann mit den blem ist allerdings nicht, dass für sie eine schnelle Flüchtlinge zurückgebaut.
verstehe den Frust. Aber wir haben Krieg in Euro- fen gern, aber das wird so langsam zur familiären Leuten über alles reden. und pragmatische Lösung gefunden wurde, die Niedermaier: Klar, wir haben nach der Flüchtlings-
pa! Im Vergleich zu dem, was Menschen in der Belastung. ZEIT: Mittlerweile sagt auch Bundesinnenminis- ihnen auch Zugang zum Arbeitsmarkt erlaubt. krise mindestens zwei Drittel des Personals in dem
Ukraine erleiden, ist es doch etwas leichter zu Schwendner: Ja, es passiert, dass Menschen, die terin Nancy Faeser (SPD), dass sie sich sorgt. Der Das Problem ist, dass dies im regulären Asylver- Bereich wieder abgebaut. Aber ich bringe es poli-
verkraften, wenn man vielleicht mal den Aufstieg helfen wollen, sich reinstürzen und dann aus- Bund habe aber schon zwei Milliarden Euro für die fahren so irrsinnig lange dauert. tisch nicht durch, so viele Stellen dauerhaft zu hal-
in der Bezirksliga verpasst. Ich kenne auch die powern. Wenn sie merken, wie anstrengend es Flüchtlingsunterbringung bereitgestellt, außerdem Niedermaier: Wer verfolgt ist oder aus Kriegsgebie- ten. Nun müssen wir wieder von vorne anfangen.
Arbeitsbelastung in unseren Behörden. Trotzdem ist, mit Menschen aus Krisenregionen zusammen- 300 Immobilien mit Platz für 64.000 Menschen. ten kommt, der muss bei uns aufgenommen wer- Schwendner: So ist es. Überall der gleiche Fehler:
halte ich es für unangemessen, ja sogar gefährlich, zuwohnen, sind sie oft frustriert. Das kann sich Die seien nur zu zwei Dritteln belegt. Nehmen Sie den, da sind wir uns einig. Was ich schwierig finde, Sobald eine Krisen-Infrastruktur nicht mehr ge-
von »Katastrophe« zu sprechen. Das ist Panik­ aber auch wieder bessern, wenn es Erfolge gibt, die Hilfe des Bundes nicht an? Barbara, ist aber, wenn man einfach sagt: Es wird braucht wird, wird sie abgewickelt. Wir müssen da
mache. Damit schürt man doch nur Angst in der wenn die Menschen in Jobs Fuß fassen oder die Niedermaier: Ich muss immer lachen, wenn ich dann schon gehen, wir kriegen das hin. Es ist ge- nachhaltiger werden.
Bevölkerung. Kinder in der Schule mitkommen. Und mal zu diese Zahlen höre. Bei uns im Landkreis gibt’s fährlich, die Sorgen und Nöte der Leute nicht ernst Niedermaier: Es könnte tatsächlich billiger sein,
Niedermaier: Entschuldigung, Barbara – wir ken- den Zahlen: Deutschlandweit machen Geflüch- keine Bundesimmobilien, wir haben schon längst zu nehmen. Wir sehen doch, was bei der Nieder- Unterkünfte dauerhaft vorzuhalten, statt sie immer
nen uns schon seit Schultagen –, meine drastische tete 3,7 Prozent der Bevölkerung aus. Bei uns im keine leer stehenden Kasernen mehr. Neubauten sachsen-Wahl passiert ist: Die AfD hat sich auf 11 neu aufbauen zu müssen. Aber es gab halt nach
Wortwahl ist berechtigt. Vor fünf Wochen hat uns Kreis sind es 1,7 Prozent. Sage also bitte niemand, scheitern auch nicht am Geld, jedenfalls nicht bei Prozent fast verdoppelt. Deswegen: Ja, wir müssen 2016 Druck aus der Bevölkerung und den Kom-
der Landesinnenminister angekündigt, dass sich wir hier seien übermäßig belastet. Außerdem gibt uns in Bayern. Wir brauchen die Grundstücke! die Leute mitnehmen. Du weißt, was mein Spitz- munen, Flüchtlingsunterkünfte wieder abzubauen.
über die Balkanroute wieder deutlich mehr Flücht- es heute Strukturen, Unterkünfte und Erfahrun- Und schon unter normalen Umständen dauert es name im Wahlkampf war? Der Erklär-Bär. Bloß, ZEIT: Sie haben beide an mehr Bürgerverantwor-
linge auf den Weg machen. Ich habe daraufhin in gen, die wir 2015/16 noch gar nicht hatten. Da- locker zwei Jahre, eine Gemeinschaftsunterkunft irgendwann stößt man damit an Grenzen. tung appelliert. Tun Sie persönlich etwas, um zu
vier Bürgerversammlungen erläutert, was uns da mals war übrigens mit bis zu 4000 Geflüchteten zu errichten. Jetzt kommt noch die Handwerker- Schwendner: Sepp, mir macht das ja auch Sorgen. helfen?
erwartet – und bin auf eine Mauer des Schweigens kalkuliert worden. und Materialknappheit hinzu. Wenn die Flücht- Unser Kreis ist nicht frei von fremden- und demo- Niedermaier: In meiner 70-Stunden-Woche bleibt
gestoßen, auf Verdrängung. Auch die Niedermaier: Ja, das war das Horror­ lingszahlen weiter so steigen wie prognostiziert, kratiefeindlichen Tendenzen. Gerade leider nicht so viel Platz für anderes als
örtliche Presse hat das Thema nur be- szenario. Diese Zahl hätten wir keines- macht es mir Angst. Ja, wir sind ein reiches Land, deshalb ist es für mich ein No-Go, von für Landratsarbeit. Aber in diesem
dingt interessiert. Mir hat das keine falls unterbringen können. Heute kom- und wir müssen das managen. Aber wir müssen »Horrorszenarien« oder »Katastrophen« Rahmen tue ich ja, was ich kann.
Ruhe gelassen, deshalb werde ich nun so men laut Prognosen von Bundes- und auch schauen, dass die Gesellschaft daran nicht zu sprechen. Denn damit gibst du nicht Schwendner: Ich begleite schon länger
deutlich: Es geht wieder los, wir müssen Landesregierung zu den 2500 Geflüch- verzweifelt. nur den Fremdenfeinden recht; solche Geflüchtete. Von 2015 an wohnte
etwas tun! teten, die schon da sind, jede Woche 50 Schwendner: Der Bund kann uns schon finanziell Worte demotivieren auch die Gutwilli- ein junger Armutsgeflüchteter aus
ZEIT: In Ihrem Landkreis mit 128.000 hinzu. Da kann man sich ja ausrechnen, helfen. Aber Berlin muss, hier sind wir uns einig, gen, weil die Angst bekommen. Einer Gambia bei uns. Er ist inzwischen
Einwohnern leben derzeit etwa 2500 wie schnell unser Puffer von 400 Unter- rasch Strukturen schaffen, damit die Geflüchteten der Fehler von 2015/16 war es, dass zurück in seine Heimat gegangen –
Flüchtlinge, gut die Hälfte davon kunftsplätzen, etwa in Turnhallen, ver- bei uns gut integriert werden können. Wenn die wir polarisiert diskutiert haben: Die das war aber nur deswegen möglich,
Ukrainer. Wie viele waren es denn braucht sein wird. Was, Barbara, kommt nicht arbeiten können, fördert das den Sozialneid. einen haben die Lage idealisiert, mit weil mein Mann und ich ihn dabei
2015/16, und warum ist die Lage aus danach? Es muss deswegen viel schneller geklärt werden, »Wir schaffen das«. Die anderen haben unterstützen, dort eine eigene Exis-
Ihrer Sicht heute angespannter? Josef Niedermaier ZEIT: Europa steht womöglich erst am wer hierbleiben darf und wer nicht, sodass die sie dramatisiert, mit »Überfremdung«. Barbara tenz aufzubauen. Er hat eine Hühner-
Niedermaier: 2016 hatten wir etwa (Freie Wähler), 59, Beginn einer noch viel größeren Flucht- Leute nicht jahrelang untätig in den Unterkünften Wir müssen halt immer wieder gebets- Schwendner farm gegründet. Das jedenfalls haben
2000 Flüchtlinge. Aktuell sind es 2569 ist Bäckermeister bewegung. Russland bombardiert in rumsitzen. Damit ist ja keiner Seite geholfen. mühlenartig erklären, was jetzt nötig (Grüne), 59, wir geschafft.
Menschen. Die müssen ja irgendwo und Landrat von der Ukraine vor dem Winter gezielt die Niedermaier: Ja, wir brauchen ein Einwanderungs- ist. Familien- und
unterkommen. Und wir sind eine Re- Bad Tölz- Strom- und Wärmeversorgung. Zu- gesetz, um allen, die aus wirtschaftlichen Gründen Niedermaier: Das tue ich, aber ich treffe Lebensberaterin, Das Gespräch moderierten
gion mit extremem Wohnraummangel, Wolfratshausen gleich droht die Türkei damit, eine kommen, die Möglichkeit zu geben, sich hier ihren auf immer mehr demokratischen Wider- sitzt im Kreistag Jochen Bittner und Stefan Schirmer
 »Eine Demokratie, in der
nicht gestritten wird, ist keine.«
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022 HELMUT SCHMIDT 11

Wer darf überleben?

Fotos: privat

Fotos: privat
Tonio Walter, 51, ist Tatjana Hörnle, 58, leitet
Der Bundestag berät gerade über die Triage – und darüber, ob in Notlagen Patienten sogar von Strafrechtsprofessor an
der Universität Regens-
die strafrechtliche Abtei-
lung am Max-Planck-Insti-
Beatmungsmaschinen getrennt werden dürfen, um Platz für andere mit besserer Prognose zu ­schaffen. burg und Richter am tut zur Erforschung von
Bayerischen Obersten Kriminalität, Sicherheit
Hier debattieren zwei Juristen, ob das vertretbar wäre Landesgericht und Recht in Freiburg

E
Es ist eine Frage, die an das Selbstverständnis einer Gesellschaft rührt: Was
geschieht, wenn die Kapazitäten auf den Intensivstationen in einer Notlage
Tonio Walter: Der Gesetzentwurf zur Triage auf Intensivstatio-
nen, der im Bundestag diskutiert wird, hat zwei Hauptregeln: Gibt »Die schlichte
nicht für alle reichen? Deutschland verfügt zwar über die meisten Intensiv- es mehr Patienten als freie Plätze, bekommt derjenige mit der
betten in ganz Europa – aber eine Pandemie könnte auch das beste
Gesundheitssystem an Grenzen bringen. Bundestag und Bundesrat ringen
höchsten »aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlich-
keit« den nächsten freien Platz. Und es soll verboten sein, jemanden
Entscheidungsregel
➼
deshalb gerade um ein Gesetz zur »Triage« (von frz. »Sortierung«). Es soll
regeln, wer einen Behandlungsplatz bekommt, wenn es eigentlich keinen
wieder von einem Platz zu entfernen, auch wenn es neue Patienten
mit besserer Prognose gibt. Fangen wir mit diesem Verbot der
›Wer zuerst kam‹
mehr gibt. Darf man Menschen nach Überlebenschancen sortieren? Und im
Extremfall Patienten wieder von Beatmungsmaschinen abklemmen? Tatjana
sogenannten Ex-post-Triage an, also dem Verbot, jemandem ein
Intensivbett wegzunehmen, in dem er oder sie schon liegt. Ich
ist keine überzeugende
Hörnle und Tonio Walter befassen sich schon lange mit diesen Fragen finde dieses Verbot richtig. Du, liebe Tatjana, nicht – oder?
Lösung«
➼ Tatjana Hörnle
Tatjana Hörnle: So ist Walter: Aber was heißt »sehr schlecht« und was »deut- Hörnle: Mir scheint das nicht so einfach zu sein, lieber Tonio – und auch nicht un-
es. Ich finde, dass in ex- lich besser«? Zudem wäre das, meine ich, eine vorsätz- streitig. Ich würde argumentieren: Der Schwerpunkt liegt in so einem Fall bei einem
tremen Lagen während liche aktive Tötung, um jemand anderen zu retten – Unterlassen, nämlich bei der unterbliebenen Fortsetzung medizinischer Versorgung.
einer Pandemie Inten- jemanden, für dessen Not der Getötete nichts kann. Ein Das sehen viele Rechtsexperten ebenso. Und auch der Bundesgerichtshof hat einen
sivpatienten mit sehr Vater etwa, der einen Passagier aus dem Rettungsboot Fall, in dem der Schlauch einer Magensonde durchgeschnitten wurde, als unterlas-
schlechter Prognose ➼ wirft, um Platz für seinen ertrinkenden Sohn zu schaf- ➼ sene Fortsetzung der Behandlung eingestuft. In deinem Beispiel ist die Lage anders:
notfalls Platz machen fen, tut etwas Verbotenes. Weil ein Leben nicht gegen Wer einen anderen aus dem Boot ins offene Meer wirft, beendet eine erlangte
müssen für Patienten ein anderes abgewogen werden darf. Das war bislang sichere Lage. In der Intensivmedizin ist nicht die Nutzung eines Geräts oder eines
mit deutlich besserer unstreitig und wird aus der Verfassung abgeleitet; aus Bettes entscheidend. Das Überleben hängt davon ab, dass etwas getan wird. Dass
Überlebenschance. der Wertgleichheit aller Menschen. rund um die Uhr weiterbehandelt wird. Dieses Tun würde unterlassen.

➼
Walter: Findest du wirklich, das Abschalten eines
Beatmungsgeräts ist kein aktives Tun? In der von dir
zitierten BGH-Entscheidung steht das Gegenteil: Die
Umdeutung eines aktiven Verhaltens, etwa beim Ab-
schalten eines Beatmungsgeräts, in ein Unterlassen
sei in der Vergangenheit »zu Recht abgelehnt« worden.
Denn natürlich ist es eine Handlung, ein Gerät aus-
zuschalten. Zudem ähnelt der Platz in einem Ret-
tungsboot einem intensivmedizinischen Behandlungs-
platz: Man hat eine Rettungschance, keine Garantie.
Hörnle: Ich würde hervorheben, dass die Gerichte nicht iso-
liert eine drastische Handlung wie das Durchschneiden des
Schlauchs oder ein Extubieren bewerten, sondern den Ge-
samtkontext. Unser Kontext ist die intensivmedizinische Ver-
sorgung für die Wochen nach der Notaufnahme. Wird diese
➼ versagt, liegt ein Unterlassen vor. Daher meine ich, dass eine
Neuverteilung bereits zugeteilter Intensivbetten nicht verfas-
sungswidrig wäre und das geplante Gesetz dies erlauben dürfte,
ja erlauben sollte. Die schlichte Entscheidungsregel »Wer zu-
erst kam« ist keine überzeugende Lösung.
Walter: Du willst
tatsächlich, dass
der Gesetzgeber
Ärzte dazu ver-
pflichtet, im Fall
➼ der Fälle eine wo- ➼ oder Embolien hätten dann keine Chance auf intensivmedizinische Versorgung. Sie
möglich rettende
Behandlung zu
beenden?
Hörnle: Tatsache ist doch, dass sich die Überlebenswahrscheinlichkeit oft erst beurteilen
lässt, wenn die Behandlung begonnen hat. Und man muss sich vor Augen halten, was dies
bedeutet, wenn wir es einmal mit einem noch aggressiveren Virus als Corona zu tun be-
kämen: Die Liegezeiten bei zum Beispiel Atemwegserkrankungen sind besonders lang,
die Intensivstationen wären schnell voll. Menschen mit Herzinfarkten, Schlaganfällen
würden trotz exzellenter Überlebenschance vor den Türen der Intensivstationen sterben,
während begonnene Behandlungen wochenlang fortgesetzt würden, obwohl ein Über-
leben des Patienten zunehmend unwahrscheinlich ist. Kannst Du Dir den Aufschrei in
der Öffentlichkeit bei einer Schließung von Intensivstationen vorstellen?

➼
Walter: Geschlossene Intensivstatio-
nen gäbe es auch mit der Ex-post-Triage,
wie du sie forderst; und zwar für die-
jenigen, die man wieder vor die Tür
schöbe. Und »aufschreien« werden
nicht nur die Angehörigen eines In-
farktpatienten, der unversorgt stirbt;
sondern auch die eines Pandemie-Be-
troffenen, der noch eine Chance hat –
und durch Extubierung getötet würde.
Hörnle: Ja, in Extremlagen gibt es keine Lö-
sung, die allen gerecht wird. Aber das Verbot der
Neubewertung nach der Bettenzuteilung würde
die Lage nur verschlechtern. Wenn Patienten
mit minimaler Überlebenschance lange einen
➼ Platz belegen, sind Intensivstationen viel länger
komplett geschlossen. Unter der unflexiblen
»Wer zuerst kommt«-Regel werden also mehr
Menschen sterben. Ein verantwortungsvoller
Gesetzgeber müsste das verhindern.
Walter: Richtig ist, dass eine nach-
trägliche Triage die schiere Zahl der
Überlebenden erhöhte. Das berech-
tigt aber trotzdem nicht dazu, Un-
schuldige zu töten. Sonst dürfte
➼ man bei Lieferengpässen für Herz-
schrittmacher Kranken deren Gerä-
te wieder aus der Brust schneiden
und Spenderorgane bei Komplika-
tionen wieder entnehmen.
Hörnle: Hier sind
wir wieder beim
Unterschied zwi-
schen »aktiv töten«
und »in Katastro-
➼ phenlagen Be- ➼ Überlebenschance nur ein paar Tage Behandlung bräuchte. Willst du auch das?
handlungen nicht
weiterführen« –
die Fälle sind
nicht vergleichbar.
Walter: Noch ein Gegenargument: Wäre das Ziel allein eine möglichst hohe Zahl
von Überlebenden, müsste man von Anfang an anders triagieren, und zwar nicht
nur gemäß den Überlebenschancen, sondern auch mit Blick auf die Behandlungs-
dauer. Jemand, der zwar gute Überlebenschancen hat, aber zwei Wochen lang ein
Bett bräuchte, müsste dann hinter jemandem zurückstehen, der mit gleich großer
Ich weiß: Die meisten Ärzte wollen allein nach Überlebenschancen triagieren.
Denn das minimiert die Zahl erfolgloser Behandlungen, und es sind ihre Miss-
erfolge, auch die unverschuldeten, die den Ärzten zu schaffen machen. Mensch-
lich ist das verständlich – aber es ist keine Legitimation für ein Triagekriterium.

➼
Hörnle: Zum letzten Punkt: In den Extremlagen einer Pandemie
stehen Behandelnde unter gewaltigem Stress. Sie brauchen und
verdienen volle Unterstützung. Schon deshalb muss ihre Berufs-
ethik respektiert werden, deren Grundlage lautet: »Wir wollen so
viele Leben retten wie möglich.« Ich halte im Übrigen in Katastro-
phenlagen, die Schutzpflichten für das Leben aller Bürger aus-
lösen, Verantwortungsethik auch für die richtige Grundlage staat-
licher Organisation. Das heißt: Auch der Staat sollte dann danach
streben, möglichst viele Menschenleben zu retten.
Walter: Die Ärzte brauchen Unterstützung, ja! Aber wir
dürfen nicht ihnen zuliebe die Verfassung missachten, die
jedem Menschenleben denselben Wert zumisst. Zudem sind
ärztliche Verlaufsprognosen öfter falsch, als viele meinen.
➼ Ein Bekannter von mir lebt nur deshalb noch, weil Ange-
hörige den Ärzten verboten hatten, die vermeintlich sinn-
lose Beatmung zu beenden. Jetzt geht es ihm wieder gut. So
etwas geschieht immer wieder. Erst recht in einer Pandemie,
in der das Virus mutiert – und Krankheitsverläufe variieren.
Hörnle: Zur Verlässlichkeit von Pro­
gno­sen: Fehler kommen vor, ja, das gilt
für viele Einschätzungen von Fachleu-
ten. Die Konsequenz kann aber nicht
➼ sein, auf Prognosen zu verzichten. Und
die Prognosen von erfahrenen Medizi-
nern sind in der Regel hinreichend ver-
lässlich. Mir scheint, dass Du intensiv-
medizinisches Wissen unterschätzt.

➼
Walter: Alle Experten überschätzen die Qualität ihrer Pro­
gno­sen. Auch Intensivmediziner. Das heißt natürlich nicht,
dass man ihre Pro­gno­sen in den Wind schlagen sollte. Es ist
nur ein weiterer Grund, ihnen nicht sämtliche Triage-Ent-
scheidungen zu überlassen. In einem Fall bin ich allerdings
dafür, dies zu tun: wenn nach Meinung der Ärzte klar ist,
dass ein Patient sehr bald sterben wird. Dann sollte er keinen
Platz mehr auf der Intensivstation bekommen; und wenn er
einen hat, von ihm getrennt werden. Denn gegenüber einem
Todgeweihten gibt es keine Rettungspflicht mehr.
Hörnle: Zustim-
mung, und das ist
auch unstreitig:
Wenn keine Indika-
tion für inten­siv­
➼ medi­zi­ni­sche ➼ Meinung, dass es Alte und Menschen mit Behin-
Behandlung mehr
besteht, ist sie
abzubrechen.
Walter: Sprechen wir noch einmal über die Hörnle: Wichtig ist, direkte Diskriminierung auszu-
Triage vor Behandlungsbeginn, also wenn Men- schließen. So steht es im Gesetzentwurf. Mir erscheint
schen in die Notaufnahme kommen. Gegen das es aber nicht überzeugend, wenn du die Gesamtzahl
Kriterium »Höhe der Überlebenschance«, wie es aller Toten ausblendest und stattdessen die Gruppen-
der Gesetzentwurf vorsieht, spricht nach meiner todeszahlen vergleichst. Denn wohin führt das? Es gibt
➼ Studien, die zeigen, dass mehr Männer lebensbedroh-
derungen diskriminiert, denn ein hohes Alter lich an Covid-19 erkranken als Frauen – würdest Du
und bestimmte Behinderungen senken die folgern, dass man für eine ausgeglichene Gruppen­
Überlebenswahrscheinlichkeit. Deshalb bin ich bilanz Zuteilungsentscheidungen beeinflussen müsste?
für eine Zufallstriage. Hier und da mal eine Frau wegtriagieren?
Walter: Es geht mir nicht um
»Gruppenbilanzen« allein aufgrund
des Krankheitsverlaufs – sondern
aufgrund von Entscheidungen, mit
denen die Nachteile des Alters und
➼ vor allem einer Behinderung noch
verstärkt werden. Verhindern lässt
sich das nur durch eine Zufallsaus-
wahl – unter denen, die noch eine
Überlebenschance haben.

➼
»Gegenüber einem Hörnle:
Du willst
Walter: Im
Prinzip ja. In
Hörnle: Ich halte es, genauso wie wahr-
scheinlich die meisten Ärzte, für keine gute
Walter: Das
glaube ich schon
Hörnle: Absolut, ja.
Wenn aus der Diskussion
Todgeweihten würfeln? der Praxis
könnte eine
Idee, Entscheidungen über Leben und Tod
davon abhängig zu machen, welchen Namen
– und weiß es
auch von vielen.
um die Triage eines für
den Gesetzgeber folgt,
gibt es keine ➼
Zufalls-Soft-
ware entschei- ➼
das Zufallsprogramm auf einem Bildschirm
erscheinen lässt. Für mich ist das eine gruse- ➼
Aber wie dem
auch sei: Es muss ➼
dann, dass er für ein so
gutes Gesundheitssystem

Rettungspflicht den. lige Vorstellung. Ich glaube auch nicht, dass

Menschen bereit wären, zu akzeptieren, dass
mehr dafür getan
werden, dass es
zu sorgen hat, dass hof-
fentlich niemals Klinik-

mehr«
keine ärztliche Entscheidung maßgeblich bei uns zu keiner Teams in diese Dilemma-
wäre, sondern ein Computerprogramm. Triage kommt. Situation kommen.

Tonio Walter
 12
Foto: privat
ZEITNAH
Ihre Chance, unsere Hoffnung
Einst hat Felix Lill (hinten links) über die Alterung von Gesellschaften promoviert.
Daher weiß der ZEIT-Autor, »welche noch krassere Lücke bald beim Pflegepersonal in
Deutschland herrschen wird«. Hilfe könnte von den Philippinen kommen: In der
Hauptstadt Manila traf Lill gut ausgebildete Pflegekräfte, die gern hierzulande arbeiten
würden. Wenn da nur nicht die deutsche Bürokratie wäre ...  WIRTSCHAFT, SEITE 23
Foto: The Art Archive/Shutterstock
Das Herz Amerikas
So gespalten die Vereinigten Staaten zurzeit sind – auf
etwas sind alle Amerikaner stolz: ihre Verfassung.
Doch das 235 Jahre alte Schriftstück befördert auch
den Streit. Welche Rolle spielt das nur vier Seiten lange
Dokument für die Zukunft der USA?  DOSSIER, S. 13
IN DEN REGIONALAUSGABEN
ZEIT im Osten  Alles sah danach
aus, dass Ali T.s Lokal in
Chemnitz von Rechtsextremen
angezündet worden war, doch in
Wahrheit steckte Ali T. selbst
hinter der Tat  ZEIT Österreich  Die Autorin
VON VALERIE SCHÖNIAN  16
In der Kunstwelt ist die Leipziger
Foto: Yael Malka
Schule berühmt. Ausgerechnet
ihre wichtigsten Vertreter aber
kennt man kaum. So wie den be­
gnadeten Maler Lutz R. Ketscher  Österreichische Firmen ziehen
Sheila Heti (Foto) braucht
VON CAROLIN WÜRFEL  18
ihr Nachthemd, Martin
Suter seinen Anzug:
ZEIT Schweiz  Die Emser Werke
In unserem Literaturheft entwickelten nach dem Zweiten
verraten uns Schriftsteller,
Weltkrieg mithilfe von Nazi-
was sie beim Bücher­
Spezialisten eine Rakete und eine
schreiben anziehen
eigene Napalm-Variante. Die
Öffentlichkeit sollte davon nichts
erfahren  verrissen. Zu Unrecht!  Newsletter
VON REGUL A BOCH SLER  16
Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper.
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112009_ANZ_371x70_X4_ONP26 1
Titelthema: Fluchtpunkt Deutschland
Poetin des Meeres
»Sternstunden der Menschheit«,
Teil 3: Mit ihrem Buch »Der
stumme Frühling« begründet
Rachel Carson 1962 die
Umweltbewegung  WISSEN, S. 35
Brigels wartet auf eine Verbin­
dung mit zwei Nachbardörfern.
Sie soll das Leben zurückbringen   Audiodatei im »Premium­
18
VON MANUEL A ENGGIST 
Mieze Medusa schreibt in ihrem
Roman gegen das Patriarchat an.
Steht es um die Emanzipation
in Österreich wirklich so
schlecht?   16
sich nur zögerlich aus Russland
zurück. Es geht um viel Geld und
langjährige Verbindungen  
VON SIMONE BRUNNER  17
»Nebenan«, das neue Stück von
Daniel Kehlmann im Wiener
Burgtheater, wurde von der Kritik
VON JOACHIM RIEDL  18
INHALT
POLITIK
Aufstand  Über den Mut der iranischen
•2
Demonstranten und die Wut der Exil-
Iraner  VON NAVID KERMANI 
FDP  Christian Lindner hat Stress.
Ein Porträt  VON MARK SCHIERITZ  • 3
Heißt es. Dabei geht es ihm prima.
Titelthema: Fluchtpunkt Deutschland  jetzt wieder Notfallpläne entwickeln
Immer mehr Flüchtlinge kommen über
die Balkanroute nach Deutschland.
Eine Reportage von Europas Grenzen  Hürden hierzulande halten viele
VON PAUL MIDDELHOFF  4
Die Regierung will ihren humanitären
Verpflichtungen nachkommen – und
zugleich die Einwanderung kontrollieren  86 Jahren noch mal für die FDP in den
VON MARIAM L AU  5 Bayerischen Landtag. Ein Gespräch  24
Ukraine  Die jüngsten russischen ­
Angriffe haben das Energienetz schwer
beschädigt. Wie es ist, ohne Strom zu
leben  VON OLIVIA KORTAS  6
Proteste  Ein Bürgermeister aus dem
Erzgebirge ruft zu Demonstrationen
gegen die Regierung auf. Warum?  Vitali und Wladimir Klitschko Ein
VON AUGUST MODERSOHN 
Frankreich  Formiert sich eine neue
Allianz gegen Emmanuel Macron? 
VON MAT THIAS KRUPA 
Russland  Warum ein Auftritt des
deutschen Dirigenten Justus Frantz
in Moskau das Publikum zu Tränen
rührte  VON MICHAEL THUMANN 
STREIT
Titelthema: Fluchtpunkt Deutschland  Schulpolitik wurde
Der Bad Tölzer Landrat JOSEF NIEDER-
MAIER und seine Kreistags-Kollegin
BARBAR A SCHWENDNER streiten darüber,
ob steigende Flüchtlings­zahlen die
Gesellschaft bald überlasten  10
Triage  Die Strafrechtler
Foto: Erich Hartmann/Magnum Photos/Agentur Focus
TATJANA HÖRNLE und TONIO WALTER
diskutieren, was gerecht ist, wenn es
um Leben und Tod geht  11
DOSSIER
Die Verfassung der USA  Sie ist zwar
schon 235 Jahre alt – hat aber mehr mit
der aktuellen Spaltung des Landes zu
tun, als man denken könnte  VON FRITZ HABEKUS S 
VON KERSTIN KOHLENBERG  13
GESCHICHTE
Parteiverbote  Vor 70 Jahren hat das ­
Bundesverfassungsgericht erstmals eine
Partei für verfassungswidrig erklärt:
Die rechtsextreme ­SRP, ein Sammel­
becken für Alt- und Immer-noch-Nazis.
Das Urteil hallt bis heute nach 
VON HEINRICH WEFING  17
VERBRECHEN
Brandanschlag  Alles sah danach aus,
dass Ali T.s Lokal in Chemnitz von
ZUM HÖREN
Rechtsextremen angezündet worden war,
doch in Wahrheit steckte Ali T. selbst
Die so gekennzeichneten
Artikel finden Sie als hinter der Tat  Jazz  Über ein wunderbares Konzert in
VON VALERIE SCHÖNIAN  18
bereich« unter
www.zeit.de/vorgelesen
WIRTSCHAFT
ANZEIGEN IN
DIESER AUSGABE Inflation  Sie steigt und steigt. Wie
• 19
kann man sie wieder senken? 
Bildungsangebote und
VON KOLJA RUDZIO 
Stellenmarkt
(ab Seite 38);
Energie  Wegen der hohen Gas- und
Agenda Kultur:
Holzpreise klauen immer mehr
Museen, Kunstmarkt,
Kriminelle Brennholz im Wald. Eine
Bühnen (Seite 54)
• 20
Ermittlung unter Bäumen 
FRÜHER VON MARCUS ROHWET TER 
INFORMIERT!
Womit keiner rechnet  Solar- und
Die aktuellen Themen Windenergie sollen ausgebaut werden,
der ZEIT schon am
die Förderung steht bereit. Doch zu
Mittwoch im ZEIT-Brief, wenige wollen sie haben 
dem kostenlosen
VON MARC WIDMANN  21
www.zeit.de/brief Galeria  Warum die Zombie-Kaufhaus­
kette nicht mit Staatsgeldern gerettet
werden sollte  Spitzenkoch, den es in ein Provinzlokal
VON ANN-K ATHRIN NEZIK  21
Die ZEIT-Edition »Bibliothek des Wissens«
Wissenschaft,
leidenschaftlich erzählt
Anschaulich, mitreißend und manchmal amüsant erzählen 8 führende Wissenschaftlerinnen und
8 herausragend Forscher der Gegenwart, darunter Dirk Brockmann oder Jonathan B. Losos, von ihren Herzensthemen.
erzählte Astrophysik Evolutionsbiologie Klimaforschung Komplexitätsforschung
Sachbücher Künstliche Intelligenz Meeresbiologie Neurologie Psychologie
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*zzgl. 4,95 € Versandkosten | Bestell-Nr.: 41755 | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
Big Tech  Das Metaversum von Mark Theater  Porträt der österreichischen
Zuckerberg wird kaum besucht. Verlieren Schauspielerin Stefanie Reinsperger ­
die großen Silicon-Valley-Konzerne ihre anlässlich der Premiere von Thomas
Gefolgschaft?  Bernhards »Theatermacher« in Berlin 
VON HEIKE BUCHTER  21 VON JUDITH LIERE  51
Einzelhandel  Wie Tatjana Steinbrenner, Museum  Was passiert, wenn die Strom­
Leiterin des Kaufhauses Ganz in Bens­ versorgung unterbrochen wird und die
heim, ihr Haus durch die Krise führt. Alarmsicherungen ausfallen? Dies ist nur
Ein Gespräch  22 ein Szenario von vielen, für die Museen
• 52
 
Pflege  Deutschland wirbt um philippi­ VON TOBIAS TIMM 
nische Fachkräfte. Doch bürokratische
Musik  Das Festival in Donaueschingen
davon ab, zu kommen  steht vor einem Neubeginn 
VON FELIX LILL  23 VON MIRKO WEBER  52
Medien  Der ehemalige Chefredakteur Literatur  Kim de L’Horizon gewinnt
des »Focus«, Helmut Markwort, will mit mit seinem Roman »Blutbuch« den
Deutschen Buchpreis 2022 
VON FLORIAN EICHEL  53
ZEIT für Geld  Wie findet man einen Ein Gespräch mit dem Germanisten
unabhängigen Finanzberater? Peter Demetz, der jetzt 100 Jahre alt
VON MONA LINKE  25 wird  54
UNTERHALTUNG GLAUBEN & ZWEIFELN
Engel  Woher kommt der Glaube, dass
7 Gespräch mit den Brüdern über Bomben die Seelen der Verstorbenen im Jenseits
auf Kiew, die Identität der Ukrainer und fortleben? Und warum ist er auch heute
Erinnerungen an ihren Vater  28 so populär?  VON ULRICH GREINER  56
8
WISSEN KINDER- & JUGENDBUCH
Bildung  Das Ruhrgebiet ist der größte
– EIN SPEZIAL
schulische Brennpunkt der Republik.
Die Pädagogen vor Ort geben trotzdem
Vier Seiten Heiterkeit für diesen
8 dunklen Herbst
• 29
nicht auf  VON ANANT AGARWAL A UND
MARTIN SPIEWAK  Der Oberspaßmacher  Der Brite David
Walliams ist Fernseh-Comedian. Für
Wie Hamburg zum Vorbild für gute seine Kinderbuch-Bestseller setzt er auf
Humor und Ungezogenheit. Ein
VON MARTIN SPIEWAK  30 Gespräch über das Quatschmachen und
die Kraft der Fantasie 57
Gesundheit  Die Darmkrebsvorsorge
• 31
bringt längst nicht so viel wie gedacht  Wie schreiben in düsteren Zeiten? 
VON JAN SCHWEITZER 
Antworten von Paul Maar, Cornelia
Funke, Andreas Steinhöfel und anderen
Klima  Der Wolkenforscher Bjorn Kinderbuchautoren  57
Stevens wirft seinen Kollegen vor, zu
alarmistisch zu sein  32 Seitenweise gute Laune  Zwölf
Empfehlungen neuer Kinderbücher
Technik  Paketboote ohne Paketboten zum Lachen und Staunen  58
sollen in Berlin Päckchen zustellen 
VON FR ANZISK A SCHINDLER  33
LEO – DIE SEITE
Serie: Sternstunden der Menschheit (3) 
Die Biologin Rachel Carson wurde mit FÜR KINDER
einem ­dystopischen Buch zur ­
Interview  Können Bücher trösten? Und
• 35
Begründerin der Umweltbewegung 
ist Lesen überhaupt wichtig? Darüber
spricht der ZEIT LEO-Kinderrat 60
Infografik  Verletzungen im Fußball 44
Und, wie war das Buch?  Fünf Kinder,
fünf Romane – und fünf Kritiken 60
FEUILLETON
Friedenspreis  Ein Briefwechsel des ENTDECKEN
ukrainischen Autors Serhij ­Zhadan
Herbstgedichte  Kein Mensch kann in
mit seinem amerikanischen ­Kollegen
Reginald Dwayne Betts über die Macht
dieser Zeit unschuldige Lyrik schreiben,
ohne peinlich zu werden. Aber Bots und
von Worten und Waffen 45
künstliche Intelligenzen – bekommen
Corona  Ob Lesung oder Konzert – das die inzwischen lesbare Zeilen hin?
Publikum wird noch ­immer vermisst  VON GABRIEL PROEDL  61
VON MORITZ HÜRTGEN  46
Entdeckt  Proustscher Stinkebrei
Protest  Was der Tomatensuppen- VON AL ARD VON KIT TLITZ  63
anschlag auf einen Van Gogh für die
Sticken  Wie man Nadelstiche gegen
Kunst und den Klimakampf bedeutet 
Krieg und Krankheit setzen kann
VON HANNO R AUTERBERG  46
VON MARINA WEISBAND  64
Hertha BSC  Aus dem Fanblock auf die
Berlin  VON PETER KÜMMEL  46
Ehrentribüne: Ein Porträt des neuen
Pop  Kanye West als Meister und Vereinspräsidenten Kay Bernstein,
• 65
Produkt der Digitalisierung  eines ehemaligen Hertha-Ultras
VON AUGUST MODERSOHN 
VON L ARS WEISBROD  46
Musical  Hip-Hop: »Hamilton« im Wie es wirklich ist ...  als Deutscher
die Ehrenbürgerwürde der Stadt Kiew zu
Hamburger Operettenhaus 
VON FLORIAN EICHEL  46 erhalten 
VON TOBIAS KUR ZMAIER  66
Kino  Fatih Akin erzählt in seinem ­
neuen Film »Rheingold« die Geschichte
RUBRIKEN
• 47
des Rappers Xatar 
VON ANTONIA BAUM 
Leserbriefe  16
Aktivismus  Die Umweltaktivistin Luisa
Hochkonzentriert 34
Neubauer und ihre Großmutter Dagmar
Reemtsma über ihr gemeinsames Buch Die Position 38
»Gegen die Ohnmacht«  48
Worum geht’s? 39
Kolumne  Über den Linden 
VON MA XIM BILLER  50 3½ Fragen 40
Serie  »The Bear« erzählt von einem Impressum 50
verschlägt  VON SOPHIE PAS SMANN  50 Was mein Leben reicher macht 66
14.10.22 13:54

Das Gesetz
Vor den Kongresswahlen in drei Wochen
sind die USA so zerrissen wie nie zuvor.
Und das, obwohl es etwas gibt, worauf alle ­
Amerikaner stolz sind: Ihre Verfassung.
Warum sich in der aktuellen Krise des Landes
vieles um ein 235 Jahre altes Schriftstück
dreht  VON KERSTIN KOHLENBERG
P
lötzlich ist alles ganz ruhig. Als sei man durch
eine Sicherheitsschleuse gegangen, die viel
mehr herausfiltert als Waffen aus Metall. Hin-
ter dem Eingang des Gebäudes 701 Constitu-
tion Avenue in Washington verstummt ein
Amerika, das jetzt, kurz vor den Kongress-
wahlen, besonders aggressiv klingt. Still folgen
die Menschen den Wegweisern des Amerikanischen National-
archivs, die sie über marmorne Flure und Treppen führen, bis
zu einer Rotunde. Aus der hohen Kuppel fällt Licht herab
und lässt das erstrahlen, wofür sie alle gekommen sind. Das
Herz Amerikas.
Hinter mit Argongas befülltem Sicherheitsglas liegt es,
von zwei Beamten bewacht, von zwei amerikanischen Flaggen
eingerahmt und nur wenig erleuchtet, damit sein Pergament aus
Schafshaut keinen Schaden nimmt: die amerikanische Verfas-
sung. 1787 mit der Hand geschrieben, vier Seiten und sieben
Artikel kurz. Ganz oben, in großen Buchstaben, die berühmten
Worte We the ­People.
Wie alles, was der Mensch macht, ist auch die amerikanische
Verfassung nicht perfekt. Auf dem ersten Blatt, dort, wo erläu-
tert wird, wie der Präsident seines Amtes enthoben werden darf,
sind zwei dicke Flecken Tinte zu sehen.
»Nicht anfassen!«, flüstert ein Ehemann seiner Frau zu.
»Es ist doch nur das Glas!«, flüstert sie zurück.
»Auch das nicht!«
Die Verfassung Amerikas, das ist immer etwas gewesen,
worauf alle Amerikaner gleichermaßen stolz waren. Vier Mo-
nate lang hatten Vertreter von zwölf der damals 13 amerika-
nischen Staaten im Sommer 1787 jeden Tag, bis auf Sonntag,
in Philadelphia darüber gestritten, welche Regierungsform sie
sich geben wollten. Wie konnten sie ihre Freiheit bewahren,
die sie sich gegen Englands Monarchie erkämpft hatten? Wie
konnten sie ihre unterschiedlichen Interessen unter einen Hut
bringen, damit eine Nation mit einer gemeinsamen Identität
entstand?
Aus Virginia war der 55-jährige Plantagenbesitzer und
Composing: DZ (verw. Fotos: The Art Archive/Shutterstock; mauritius images)
Sklavenhalter ­George Washington angereist, aus New York
der 30-jährige Aufsteiger Alexander Hamilton. Der Diplomat
und Forscher Benjamin Franklin wohnte vor Ort in Philadel-
phia, der Hauptstadt von Pennsylvania, und war mit seinen
81 Jahren so alt, dass sie ihn in einer Sänfte zu den Sitzungen
tragen mussten. Insgesamt 55 Männer, von denen viele schon
damals lebende Mythen waren. Washington, der Walnüsse
mit einer Hand knacken konnte, hatte als Oberbefehlshaber
die Rebellion gegen England angeführt. Dass 230 Jahre später
ein Musical über seinen Adjutanten Hamilton zu einer der
erfolgreichsten Broadway-Produktionen aller Zeiten werden
würde, hätte ihn wahrscheinlich nicht einmal überrascht.
Damit nichts von den Gesprächen nach außen drang, blie-
ben die Fenster des Pennsylvania S­ tate ­House trotz der mör-
derischen Hitze geschlossen. Als die Verfassung schließlich
am 17. September unterzeichnet war und Benjamin Franklin
vor die Tür trat, fragte ihn eine Dame, wofür die Herren sich
denn entschieden hätten: Republik oder Monarchie? »Eine
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
DOSSIER
Republik«, antwortete Benja-
min Franklin, »wenn ihr sie er-
halten könnt.«
Können sie sie erhalten?
★★★
Bob Phillips steht in Jeans und mit Laptop
unter dem Arm vor einer verschlossenen
Tür. In der Pandemie hat er von zu Hause
gearbeitet, und was einmal sein Büro in
einem leicht vergammelten viktorianischen
Haus in der Stadt ­Raleigh in North Carolina
war, ist nun ein frisch renovierter Co-­Working-­
Space. Phillips hat die Berechtigung und den
­Code für die Tür im Handy eingespeichert, den-
noch kann er das digitale Schloss nicht öffnen. Er
zuckt mit den Schultern. Glücklicherweise scheint
eine prächtige Herbstsonne durch die Bäume, er setzt
sich erst einmal auf die Veranda.
Phillips ist das, was man einen professionellen Repu-
blik-Erhalter nennen könnte. Er arbeitet für die Organi-
sation Common ­Cause, was man mit »Gemeinsame Sa-
che« übersetzen kann. Seit den 1970ern versucht sie, die
Schwachstellen der Republik zu reparieren, also etwa Wah-
len gerechter zu machen, die Parteienfinanzierung zu refor-
mieren und den Gemeinwohlgedanken zu stärken. Phillips
hat da viel zu tun. Er war zwar mal Journalist, aber jetzt auf
der Veranda stellt er wie ein Arzt, der den Ermüdungsbruch
eines Schienbeins auf einem Röntgenbild präsentiert, eine
Schautafel auf den Stuhl. Es zeigt die 14 Wahlbezirke von
North Carolina. Phillips fährt mit dem Finger um sieben da-
von, alle rot. Dann fährt er um vier blaue. Drei sind neutral
grau. So haben die Republikaner vor einem Jahr, im Herbst
2021, die Wahlbezirke für die kommende Kongresswahl am
8. November festgelegt. Sieben Bezirke, in denen die Mehrheit
der Wähler ganz sicher die Republikaner wählt. Vier Bezirke, in
denen mehr Demokraten wohnen. Also sieben sichere Sitze für
die Republikaner, vier für die Demokraten.
Auf der Schautafel sieht es so aus, als wäre North Carolina
ein von den Republikanern dominierter Bundesstaat. In
Wahrheit aber sind die Hälfte der Bürger hier Anhänger der
Demokraten. Die Republikaner haben die Grenzen der Bezirke
genau so ge­zogen, dass sie einen maximalen Vorteil haben.
Und weil die Republikaner in North Carolina gerade an der
Regierung sind, glauben sie, dass sie das auch dürfen.
»Das ist unfair«, sagt Bob Phillips und tippt auf das Plakat.
Vielleicht könnte man es auch so sagen: Ein Republik-
Erhalter wie Phillips, der darin geübt ist, solche Dia­gno­sen
zu stellen, erkennt auf der Schautafel eine Art Fraktur des
Gemeinwesens. Phillips hat sich vorgenommen, sie zu heilen.
Was gar nicht so einfach ist.
Das Problem mit den Wahlbezirken existiert nicht nur in
North Carolina. Im Bundesstaat New York haben die regieren-
den Demokraten 2020 versucht, so viele Bezirke wie möglich
der Spaltung
für sich zu sichern. In Alabama stünden den
Schwarzen ihrem Anteil an der Bevölkerung
entsprechend zwei Wahlbezirke zu, die regieren-
den Republikaner haben ihnen aber nur einen
gegeben – weil Schwarze vor allem die Demokraten
wählen. Es ist in fast jedem Bundesstaat das Gleiche:
Wer an der Macht ist, denkt zuallererst an sich und
seine Partei.
Und dann sind da noch die vielen anderen Pro-
bleme.
Die Vereinigten Staaten von Amerika in diesem Herbst
2022, das ist ein Land, in dem der frühere Präsident in
einer Amtszeit gleich zweimal des Machtmissbrauchs
angeklagt wurde.
Ein Land, in dem enttäuschte Wähler das Parla-
mentsgebäude gestürmt haben, um die Zertifizierung
der Präsidentschaftswahl zu verhindern.
Ein Land, das sich in zwei Lager aufgespalten hat,
von denen jedes das andere als größte Bedrohung Ame-
rikas sieht. In dem die Menschen sich bewaffnen, als
stünde der nächste Bürgerkrieg schon vor der Tür.
Wie kann es sein, dass die amerikanische Demokratie
so sehr in Gefahr geraten ist? Müsste nicht genau davor
das Dokument Schutz bieten, auf dessen Bedeutung sich
alle in Amerika einigen können? Diese vier Seiten Perga-
ment, verabschiedet im September 1787?
Eine Verfassung ist so etwas wie die Betriebsanleitung einer
Demokratie. Monarchen oder Diktatoren brauchen keine,
denn sie haben die Macht ja ganz alleine. Wenn die Macht aber
vom Volk ausgeht – We the P ­ eople –, dann legt die Verfassung
fest, wie sie in Bahnen gelenkt wird, damit das Land regiert
werden kann, damit nicht jeden Tag Millionen Menschen über
alle möglichen Fragen abstimmen müssen. Die Verfassung legt
auch fest, welche Institutionen die Macht der Regierenden
kontrollieren sollen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen das
Gefühl haben, dass es auch dann gerecht zugeht, wenn sie ihren
Willen einmal nicht bekommen. Eine Verfassung soll den Staat
zusammenhalten.
Das Exemplar von Bob Phillips ist ein kleines blaues Ta-
schenbuch und liegt zwischen Rechnungen und anderen wich-
tigen Dokumenten in der Schublade seines Nachttisches.
Gleich im ersten Artikel, zweiter Absatz, lassen sich Hinweise
darauf finden, was eine faire Wahl ausmacht: Da steht, das
Volk solle alle zehn Jahre gezählt werden. Das klingt fast ein
bisschen zu bürokratisch für Amerika. Aber wenn die ganze
Macht vom Volk ausgeht, dachten die Gründerväter, dann ist
es eben wichtig, dieses Volk zu zählen. Nur so kann es in der
Regierung richtig repräsentiert werden. Die Republikaner von
North Carolina können daher argumentieren, dass sie der Ver-
fassung gefolgt sind: Als sie im Herbst 2021 die Wahlbezirke
neu festlegten, nahmen sie als Grundlage die aktuelle Volks-
zählung von 2020. Sie haben genau darauf geachtet, dass in
jedem der 14 Bezirke etwa 750.000 Menschen leben.
Sie haben den Kuchen in 14 gleich große Stücke geschnitten.
Nur: In sieben Stücken sind fast alle Smarties.
Das Original der amerikanischen Verfassung.
Sie wurde am 17. September 1787 von
13
Amerikas Gründervätern verabschiedet und
ist die älteste niedergeschriebene
Verfassung der Welt
Die Schwierigkeit, die Phillips hat, ist diese: Über faire
Wahlen steht nichts weiter in den sieben kurzen Artikeln der
Verfassung. Dort steht lediglich, das Abgeordnetenhaus solle
sich aus Mitgliedern zusammensetzen, die von den Menschen in
den jeweiligen Bundesstaaten bestimmt werden. Punkt.
Das deutsche Grundgesetz ist da mit seinen 146 Artikeln
ausführlicher. Artikel 38 legt fest, wie Wahlen in ganz
Deutschland auszusehen haben. Sie müssen allgemein sein,
das heißt, jeder und jede Deutsche ab 18 darf wählen. Sie
müssen unmittelbar sein, das heißt, die Abgeordneten werden
direkt gewählt. Außerdem frei und geheim, und vor allem:
gleich. Eine Gewichtung von Stimmen wie die, gegen die Bob
Phillips kämpft, ist in Deutschland verboten. Im Bundes-
wahlrecht ist dann genau erläutert, wie die Wahlkreise gezo-
gen werden müssen. Damit es fair zugeht, übernimmt das
eine unabhängige Kommission.
Das Grundgesetz wurde nach zwölf Jahren Diktatur zwi-
schen Herbst 1948 und Frühjahr 1949 ausgearbeitet. Die Män-
ner und Frauen, die in Bonn tagten, wussten, was alles nötig ist,
um es vor Missbrauch zu schützen. Sie hatten miterlebt, wie
eine moderne Demokratie von innen heraus zerstört werden
kann. Diese Erfahrung konnten die Delegierten, die 1787 in
Philadelphia tagten, unmöglich gemacht haben. Sie waren ja ge-
rade erst dabei, die Demokratie neu zu erfinden.
Ist die amerikanische Verfassung vielleicht einfach zu alt?
Kann es sein, dass Amerika heute auch deshalb unter so vielen
Problemen leidet, weil seine Betriebsanleitung schon 235 Jahre
auf dem Buckel hat? Gibt es für eine Demokratie so etwas wie
den Fluch der frühen Geburt?
Zwanzig Jahre kämpft Bob Phillips jetzt schon für gerechte
Wahlbezirke. Er tut das nicht für eine bestimmte Partei. Er
hat gemeinsam mit den Republikanern an einem Gesetz für
eine unabhängige Wahlkommission gearbeitet, als in North
Carolina noch die Demokraten regierten und die Grenzen der
Bezirke in ihrem Sinne zogen. Seit die Republikaner regieren,
arbeitet er mit den Demokraten zusammen. Alle seine Ge-
sprächspartner hätten ihm immer gesagt, dass faire Wahlen
gut für die Demokratie seien, sagt Phillips. Aber niemand
wollte auf seinen Vorteil verzichten, wenn er gerade an der
Macht war.
In einer Anhörung sprach ein Politiker der Republikaner
dann offen aus, was alle wussten: »Ich schlage vor, dass wir
Bezirke ziehen, die (...) Republikanern einen politischen Vor-
teil verschaffen.« Der Politiker war ein Freund von Phillips.
»Da wurde mir klar, dass wir so niemals weiterkommen wer-
den«, sagt Phillips.
Er änderte seine Taktik. Wenn die Repräsentanten des Vol-
kes es nicht schafften, das Wählen gerecht zu machen, dann
musste Phillips sich eben an eine Institution wenden, die die
Repräsentanten kontrollieren soll. Er klagte vor einem Gericht
in North Carolina. Und tatsächlich, die Richter urteilten im
Februar 2022, dass die Wahlbezirke, wie sie die Republikaner
gezogen hatten, unfair gegenüber den Demokraten seien. Das
Fortsetzung auf S. 14
14 DOSSIER 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Das Gesetz der Spaltung  Fortsetzung von S. 13
Gericht setzte eine Kommission ein, die die Grenzen neu fest-
legte. Sie spiegelten nun in etwa das tatsächliche Verhältnis
zwischen den Wählergruppen wider. Die Smarties waren jetzt
mehr oder weniger gleich verteilt.
Es sah nach einem Sieg für Bob Phillips aus. Aber dann
hatten die Republikaner eine Idee, womit sie das Urteil der
Richter doch noch ausstechen konnten. Mit der amerikani-
schen Verfassung.
Wie bitte? Genau, das dachte auch Bob Phillips.
★★★
James Madison war erst 36 Jahre alt, als er am 3. Mai 1787 in
Philadelphia eintraf, der damals größten Stadt des Landes. Elf
Jahre war Amerika nun schon unabhängig, aber es war immer
noch ein wackliger Staatenbund ohne richtiges Zentrum. Ma-
dison kam wie G ­ eorge Washington aus Virginia, auch er hatte
eine Plantage und besaß Sklaven. Anders als Washington war
Madison nicht in den Kampf gegen die Engländer gezogen. Er
beherrschte Latein, Griechisch, Hebräisch und Französisch,
zum Heiraten war er noch nicht gekommen. Schon knapp
zwei Wochen vor der geplanten ersten Sitzung war er angereist.
Der kleine, schmale Madison sorgte sich um seine Gesundheit
und wollte sich erst einmal von der strapaziösen Fahrt in der
Postkutsche erholen.
Madison war nicht nur das, was man heute wohl einen
Hypochonder nennen würde. Er war auch ein Perfektionist.
Er wollte den Verfassungsentwurf, den er als Arbeitsgrundlage
für die Beratungen geschrieben hatte, noch einmal in Ruhe
jenem schwülheißen Sommer, in dem Philadelphia von stechen-
den schwarzen Kriebelmücken geplagt wurde, stritten die Dele-
gierten erbittert über diese Fragen. Jeder wollte seine Interessen
wahren. Der Süden sah die Zukunft Amerikas in einem boden-
ständigen Agrarland, dafür brauchte er so viele Sklaven und so
wenig Regulierung von oben wie möglich. Der Norden sah die
Zukunft Amerikas in einem industriellen Power­house, dafür
brauchte er eine starke Regierung, mit einheitlicher Wirtschafts-
politik und zentralem Bankensystem.
Am Ende war der Appetit auf eine Zentralregierung nicht
groß genug. Die Herrschaft des englischen Königs steckte
allen noch in den Knochen. So kam es, dass die Delegierten
einen Satz in die Verfassung schrieben, auf den 235 Jahre
später die Republikaner in North Carolina stießen, als sie
nach einem Weg suchten, wie sie doch noch ihren Willen be-
kommen und sich wie gewünscht Wählerstimmen sichern
konnten. Erster Artikel, vierter Absatz: »Die Art und Weise,
wie Senatoren und Abgeordnete gewählt werden, wird von
den jeweiligen Landesparlamenten fest-
gelegt.« Nicht von oben, von irgendeiner
zentralen Instanz.
Am 25. Februar 2022 ging beim
Obersten Gericht in Washington, dem
Es geht nicht
Su­preme Court, eine Petition der Repu-
blikanischen Partei ein. Das Argument:
mehr um faire
Als in North Carolina Richter anordne-
ten, die Grenzen der Wahlbezirke neu
Wahlen. Es
zu ziehen, handelten sie gegen die ame-
rikanische Verfassung. Die Republika- geht darum,
ner lesen aus dem Satz, dass allein die
Landesparlamente über die Art und wer die Macht
In Raleigh, North Carolina, hat es Phillips mittlerweile in
das Innere des viktorianischen Hauses geschafft. Er zeigt die
hölzerne Treppe hinauf. Im ersten Stock des Co-­Working-­
Space hatte er damals sein Büro. »Da saß ich, als der Anruf
kam.« Es war Hofellers Tochter, die ihn in einer anderen Sache
um Rat bat. Später stellte sich heraus, dass sie die Festplatten
ihres Vaters hatte. Darauf entdeckte Phillips dann über
100.000 Dokumente und Landkarten mit Informationen
zur Struktur der amerikanischen Wählerschaft. Dank dieser
Datenmassen und immer leistungsfähigerer Algorithmen hatte
Hofeller am Ende für die Republikaner Abstimmungsbezirke
wie erwünscht gezeichnet. »Michelangelo der Wahlkreise«
nannte ihn einmal ein Journalist.
Erfunden hat Thomas Hofeller das Ganze nicht. Schon einer
der Männer, die in Philadelphia die Verfassung verabschiedeten,
Elbridge Gerry aus Massachusetts, hatte der Versuchung nicht
widerstehen können. Seitdem spricht man in den USA von
Gerrymandering. Denn der Bezirk, den Gerry zog, sah aus wie
ein Salamander. Aus sala-mander wurde
dann gerry-mander.
Hofellers Verdienst für die Republi-
kaner lag darin, die Wirkung dieser
Form der Wahlmanipulation um ein
Vielfaches zu erhöhen. Die moderne
Technik hatte aus einem ungenau schie-
ßenden Bajonett eine automatische Prä-
zisionswaffe gemacht. Ihr Einsatz half
den Republikanern nach 2010 dabei,
auf der Ebene der Bundesstaaten eine
Wahl nach der anderen zu gewinnen.
Heute beherrschen sie 30 der 50 Parla-
Alles ist öffentlich, man kann sich auf die Zuschauertribüne
setzen und zuhören. Und jedem, der das tut, wird schnell klar,
dass die Mehrheit der Richterinnen und Richter am Su­preme
Court keinesfalls glaubt, die Verfassung sei zu alt. Ganz im
Gegenteil. Sie glauben, dass die Verfassung im Lauf der Zeit viel
zu sehr an die Moderne angepasst worden ist.
Um das zu verstehen, muss man in die 1930er zurücksprin-
gen, in die Zeit der Weltwirtschaftskrise nach dem großen Bör-
sencrash. In Deutschland half die Krise Hitler dabei, an die Macht
zu kommen. Auch in Amerika gab es damals Massenarbeitslosig-
keit, Industriekonzerne waren am Boden, die Bauern verzweifelt,
die meisten Banken pleite. Präsident Franklin D. Roose­velt wollte
das Land mit Wirtschafts- und Sozialreformen wieder auf die
Beine bringen. Er legte ein gigantisches staatliches Wiederaufbau-
programm auf. Roosevelt, ein Demokrat, ließ in Tennessee meh-
rere Staudämme errichten, das schuf Tausende Jobs und brachte
billigen Strom in ländliche Gebiete. Er stärkte die Rechte der
Arbeiter und unterstützte die Gewerkschaften, damit es nie wie-
der zu einer solchen Krise kommen könnte. Das Problem war
nur, dass er das nicht durfte.
Die Gründerväter hatten in ihrer Abneigung gegen eine
starke Zentralregierung den Rahmen dessen beschränkt, wofür
die Politiker in der Hauptstadt zuständig waren. Sie sollten
nicht in die Selbstständigkeit der Bundesstaaten hineinregie-
ren. Doch genau das tat Roose­velt. Er griff tief in die Abläufe
der Maschine Amerika ein und gründete unzählige staatliche,
aus Washington gesteuerte Regulierungsbehörden. Der Su­preme
Court reagierte, indem er die ersten von Roose­velts Gesetzen
wieder einkassierte.
Der Präsident sah seinen New Deal in Gefahr, mit dem er
doch die Demokratie retten wollte. In dieser Lage tat er etwas

durchgehen. Ein Jahr lang hatte er sich auf seiner Tabak- und
Getreideplantage daheim in Virginia durch Bücher über die
antiken Demokratien in Rom und Athen gearbeitet, hatte
Schriften über neuzeitliche Staatsgebilde wie die Schweiz und
das Heilige Römische Reich Deutscher Nation studiert. Seit-
dem war er davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten
nur mit einer starken Zentralregierung zu einer Nation zusam-
menwachsen konnten.
Die zwölf Einzelstaaten, die ihre Delegierten nach Phila-
delphia geschickt hatten, unterschieden sich von­ ein­
an­
der.
Auf der einen Seite die auf Sklavenarbeit aufbauenden, land-
wirtschaftlich geprägten Staaten im Süden. Auf der anderen
Seite die Staaten im Norden, die die Sklaverei ablehnten und
in denen gerade die Industrialisierung begann. Auch inner-
halb der einzelnen Staaten selbst sah Madison nur Gegensät-
ze. Die Armen und die Reichen. Die Schuldner und die Geld-
verleiher. Die Anglikanische Kirche und die Presbyterianische
Kirche. Die Maschine Amerika war so kompliziert, dass sie
dringend eine umfassende Betriebsanleitung brauchte.
Von Montesquieu, dem französischen Philosophen der Auf-
klärung, hatte Madison die Idee übernommen, dass der Miss-
brauch der Macht nur durch die Aufteilung der Macht verhin-
dert werden kann. Aber wie? Worüber sollten die einzelnen
Staaten bestimmen und worüber die Zentralregierung? Und was
war mit den Machtverhältnissen zwischen den Staaten? Sollten
die kleinen genauso viel zu sagen haben wie die großen? In
hat – absolute
Weise der Wahlen entscheiden dürfen.
Niemand sonst. Also, da sie gerade im
Parlament von North Carolina die
Mehrheit haben: sie selbst.
Im Sommer hat der Supreme Court
Macht, ohne
der Vereinigten Staaten ihre Petition an-
genommen. Es geht in diesem Fall jetzt
Kontrolle
nicht mehr nur darum, wie eine faire
Wahl abzulaufen hat. Es geht jetzt darum,
wer die Macht hat. Die absolute Macht, ohne Kontrolle. Der
Su­preme Court muss entscheiden, ob Politiker, nur weil sie an
der Regierung sind, etwas tun dürfen, von dem jeder weiß, dass
es ungerecht ist – ohne dass Richter sie daran hindern können.
Die Republikaner von North Carolina versuchen mithilfe der
amerikanischen Verfassung, die Demokratie auszuhebeln.
Als die Gründerväter in Philadelphia tagten, durften in
Amerika nur sechs Prozent der Bevölkerung wählen, weiße
Männer, die Grund und Boden besaßen. Die Wahlbezirke
wurden grob per Hand gezogen. Dass es irgendwann mal
Computer und einen Mann wie Thomas Hofeller geben würde,
ahnten sie nicht.
Hofeller war ein Politstratege mit einem Faible für Zahlen
und Chorgesänge. 2010 begann er im Auftrag der Republika-
ner, gigantische Datenbanken für fast jeden Bundesstaat an­zu­
legen. Nach seinem Tod vor vier Jahren kamen der Republik-
Erhalter Bob Phillips und seine Anwälte in ihren Besitz.
mente. Und das, obwohl ihre Kernwäh-
lerschaft, die älteren weißen Amerika-
ner, immer mehr schrumpft.
Hätten die Gründerväter gewusst,
dass all das möglich ist – hätten sie dann
den einen oder anderen Artikel genauer
formuliert? Wären sie auf das Thema
Wählen womöglich ausführlicher einge-
gangen? Darüber kann man spekulieren,
was aber natürlich zu nichts führt. Wichtiger als die Frage, wie
die Verfassung damals hätte geschrieben werden müssen, ist
die Frage, wie man sie heute lesen muss.
★★★
Der Supreme Court der Vereinigten Staaten steht in Washing-
ton neben dem Kongressgebäude auf dem Kapitolshügel. Ein
neoklassizistischer Gigant aus weißem Marmor. Hier arbeiten
die fünf Männer und vier Frauen, die die Betriebsanleitung
Amerikas besser kennen als jeder andere. An zwei bis drei
Tagen in der Woche hören sie sich in ihren schwarzen Roben
die Argumente der Anwälte in den Fällen an, die sie angenom-
men haben. Die Petition der Republikaner aus North Caroli-
na kam noch nicht zur Sprache. Die Wahlen in diesem Herbst
werden deshalb in Stimmbezirken abgehalten, deren Grenzen
fair gezogen sind.
zutiefst Undemokratisches: Er drohte dem Su­preme Court, er
werde ihn vergrößern und die neuen Stellen mit seinen Leu-
ten besetzen. So zwang Roose­velt die Richter, die Verfassung
künftig in seinem Sinn auszulegen. Er verschaffte der Zentral-
regierung Rechte, die ihr die Gründerväter verwehrt hatten.
Mithilfe einer politischen Erpressung erzwang er den moder-
nen Sozial- und Verwaltungsstaat.
Das war die erste Welle der Modernisierung, die über die
Verfassung hinwegrollte.
Es ist nicht so, dass James Madison und die anderen ge-
glaubt hätten, ihre Verfassung sei so perfekt, dass sie niemals
an eine veränderte Gegenwart angepasst werden müsste. Ihnen
war klar: Ihr Werk war im besten Fall unvollständig. Allerdings
wollten sie nicht, dass jemand damit beginnt, in ihrem Text
herumzuschreiben wie in einem Word-Dokument. Dazu wa-
ren sie dann doch zu stolz. Sie sahen Amerikas Betriebsanlei-
tung eher als eine Art PDF, unveränderbar, aber doch offen für
weitere Dokumente, die man hinzufügen konnte. Sie fingen
sogar selbst damit an.
Vier Jahre nach dem Sommer von Philadelphia ergänzten sie
die Verfassung um die ersten zehn von heute insgesamt 27 Zu-
sätzen. Sie legten Rechte fest, die jedem amerikanischen Bürger
von Natur aus zustehen und ihm niemals genommen werden
dürfen. Redefreiheit, Re­li­gions­frei­heit, Versammlungsfreiheit, das
Recht auf Waffenbesitz. Aber auch das heute ziemlich absurd
klingende Recht, zu Friedenszeiten die Unterbringung von Sol-

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20. Deutscher Kongress 4. Oktober 2022

Corporate M&A Kap Europa,

Frankfurt am Main

Allen Herausforderungen zum

Fotos: © Jose Poblete
Trotz – die M&A-Aussichten
bleiben positiv
Das Fazit für das vergangene Jahr ist beeindruckend: Noch nie gab es so viele Firmenübernahmen.
Gleich zu Beginn der Veranstaltung sprach Dr. Matthias Heiden, CFO Nicht nur in Vorträgen, auch an Infoständen informierten sich die Teil-
Doch kann sich der positive Trend im krisengebeutelten Jahr 2022 fortsetzen? Auf dem 20. Deutschen
der Software AG, mit Jana Gioia Baurmann, Redakteurin Ressort nehmenden – und nutzten die Gelegenheit zum persönlichen Austausch,
Corporate M&A Kongress, der am 4. Oktober in Frankfurt am Main stattfand, diskutierten Experten aus Arbeit bei ZEIT ONLINE, über die Rolle von Fusionen und Übernahmen wie beispielsweise hier am Stand von Heuking Kühn Lüer Wojtek.
Konzernen und mittelständischen Unternehmen über die aktuellen Herausforderungen des M&A-Geschäfts. in einer unsicheren Wirtschaftslage.

Hohe Inflationsraten, veränderte Zins-
politik, die Corona-Pandemie, der
Ukrainekrieg, die Taiwankrise und
gestörte Lieferketten gehen auch am
Bereich Merger & Acquisitions nicht
spurlos vorüber. »Ich kann mich an
keine Situation erinnern, in der wir so
schlimme Rahmenbedingungen hat-
ten«, fasste es Dr. Michael Drill, Vor-
sitzender des Vorstands der Lincoln
International AG, knapp zusammen.
Neu ist der Krisenmodus dabei nicht:
Bereits 2021 war wirtschaftlich und
politisch kein einfaches Jahr, den-
noch verzeichnete der M&A-Bereich Hesselmann, Co-Founder und Mana- der Lieferkettenprobleme und Preis- Kernprozess – zumindest in größe- Tauber, Managing Director bei Viess-
Rekordzahlen, sowohl bei den Trans- ging Partner der DealCircle GmbH. steigerungen nun der Lagerbestand ren Unternehmen«, betonte Martin mann Investment, von divers ange-
aktionen als auch beim Transaktions- »Auch deshalb wird es in den Jahren erhöht werden muss und die aktuellen Köster, Head of M&A and Strategic legten Übernahmen, um langfristig
volumen. Doch warum eigentlich? 2022 und 2023 wahrscheinlich weni- Verwerfungen schon eingepreist sind, Projects der Schaeffler Group, »bei neue Märkte und Zukunftsbereiche
»Viele Unternehmen hatten 2020 ger große Übernahmen, aber dafür zählte Matthias Krankowski, Partner kleineren Unternehmen liegen jedoch für die Unternehmensgruppe zu
unter dem Eindruck der Pandemie viele Transaktionen im Bereich Mid- bei Ebner Stolz, auf – und dies sind nicht immer alle Daten vor, viele erschließen.
ihre M&A-Pläne erst einmal hint- und Small-Cap geben«, so Hessel- nur einige der Aspekte, die nun ver- Unternehmen können uns nicht ein- Nicht zuletzt widmeten sich die
angestellt und damit 2021 einen mann weiter, »im Bereich jenseits der mehrt im Vordergrund stehen. Gleich- mal den CO₂-Ausstoß nennen.« Referenten der Frage »Wie finden
gewissen Nachholbedarf. Zum an- 500 Millionen ist der Markt nahezu zeitig erschweren Sanktionen und Käufer und Verkäufer zueinander?«.
deren befinden wir uns in einer Zeit zum Stillstand gekommen. Dafür ist Regulierung vor allem internationale M&A nicht hintanstellen Hier spielen zunehmend auch digitale
des Generationswechsels. In vielen das Transaktionsvolumen im unteren Übernahmen und Merger. Dies be- Technologien, die Unternehmens-
Gründungen der Baby-Boomer- Mid-Cap-Bereich bis 60 Millionen stätigte auch Dr. Christian von Wis- Ein weiteres zentrales Thema war die verkäufer und passende Bieter zu-
Generation steht nun die Unterneh- umso höher.« Gleichzeitig werden die tinghausen, Partner bei Advant Bei- allgemeine Bedeutung von M&A auch sammenbringen, eine Rolle. Einig
mensnachfolge an«, erklärte Kai Deals immer komplexer, betonte Drill. ten: »Heute spielt das Außenwirt- in unsicheren Zeiten. Boris Dürr, Part- waren sich die Teilnehmenden aber
schaftsrecht eine große Rolle im ner bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, auch über die Grenzen digitaler
Über die aktuellen Heraus- Mehr Kontrolle im Vorfeld M&A-Prozess: Kann die Transaktion unterstrich: »Jedes Unternehmen Lösungen – sie sollen den mensch-
forderungen und Ände-
rungen im M&A-Prozess
die Sicherheitsinteressen Deutsch- sollte über M&A nachdenken. Gerade lichen Austausch vereinfachen, aber
unterhielten sich Kai Hes- Die Komplexität macht sich gleich lands betreffen? Ist sie am Ende rüs- dort, wo kein organisches Wachstum nicht ersetzen, persönliche Verhand-
selmann, Co-Founder und am Anfang des M&A-Prozesses in der tungsrelevant? Es wird generell in mehr möglich ist, sind sie für die lungen bleiben auch in Zukunft ein
Managing Partner, Deal-
Circle GmbH ESG, Martin Due Diligence bemerkbar, also der der EU sehr viel mehr geprüft als vor Unternehmensentwicklung beson- Kernstück des M&A-Prozesses.
Köster, Head of M&A and Prüfung des eventuell zu überneh- zehn Jahren, gleiches gilt für die USA ders wichtig.« Wie breit die Motiva-
Strategic Projects, Scha-
effler Group, Dr. Ulrich
menden Unternehmens oder Teil- und Asien.« tion gestreut sein kann, zeigte sich in
Quay, VP Joint Ventures bereichs. Viele Aspekte müssen nun Ein weiterer Trend, der auf dem einer Podiumsdiskussion mit aktuel- Der 20. Deutsche Corporate M&A
China, BMW Group, und verstärkt beleuchtet werden, von der Kongress zur Sprache kam, ist die len Praxisbeispielen: Während es für Kongress wurde veranstaltet vom
Dr. Christian von Wisting- Studio ZX, einem Unternehmen der
hausen, Partner, ADVANT Reaktionszeit des Krisenmanage- wachsende Bedeutung der ESG (Envi- die Zeiss Gruppe besonders wichtig ZEIT Verlagsgruppe, in Zusammenarbeit
Beiten, mit der Moderato- ments bis zur Recovery-Zeit, den ronmental Social Governance), also ist, technologische Neuentwicklungen mit dem Bundesverband Mergers &
rin Jana Gioia Baurmann Acquisitions e. V. und weiteren Partnern.
aus dem Ressort Arbeit, Auswirkungen der Pandemie auf den die unternehmerische Sozialverant- dazuzukaufen, so Daniel Ritter, Head
www.studiozx.de/events/ma
ZEIT ONLINE. Cash Flow und der Frage, ob wegen wortung. »ESG ist mittlerweile ein of M&A bei Zeiss, berichtete Timo

Premium Partner: Partner: Aussteller: In Zusammenarbeit

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EOUITY
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022 DOSSIER 15

Composing: DZ (verw. Fotos: The Washington Post/Getty Images (l.); David Butow/Redux/laif (r.); mauritius images)

Links: Proteste ­
gegen Polizei­g ewalt
nach dem
Tod des Schwarzen
George Floyd, ­
Minneapolis,
Juni 2020. Rechts:
Trump-Anhänger
stürmen das ­
Kapitol, Washington,
Januar 2021

daten im eigenen Haus ablehnen zu dürfen. Ende des 18. Jahr- ben. Wenn sie die Macht hätten – sie würden es tun. Sie ten sie nach ihrem viermonatigen Ringen im Zur Petition der Republikaner aus North Carolina hat sich
hunderts war eben eine große Gefahr, die man sich für die Repu- wollen keine (...) von Gott gegebenen Rechte, keine Mei- ­State ­House von Philadelphia pessimistisch kürzlich in einem einmaligen Vorgang die Versammlung der
blik vorstellen konnte, ein militärisch übergriffiger und über- nungsfreiheit. Sie wollen die Fundamente unserer Nation in die Zukunft. Sie waren sich mehr als un- Vorsitzenden aller 50 Obersten Gerichte in den Bundesstaaten
mächtiger König wie in England. radikal verändern.« sicher, ob ihr Experiment gelingen würde – ob geäußert. Republikaner wie Demokraten gleichermaßen. Sie
In den 1960ern hatte Amerika ganz andere Probleme. Nicht Marsha Blackburn, Senatorin aus Tennessee: »Wir das, was sie hier zum Leben erweckten, eine alle haben ihre Kollegen in Washington davor gewarnt, der
die Angst vor der Monarchie beschäftigte die Menschen, son- werden die Verfassung der Vereinigten Staaten niemals neu große Zukunft vor sich hatte. streng wörtlichen Interpretation der Verfassung zu folgen. In der
dern Rassismus und Sex. schreiben.« George Washington dachte, die Verfassung Regel mischen sich die nachgeordneten Richter nicht in die
Die Sklaverei war durch einen Verfassungszusatz, die Num- Aus der juristischen Bewegung, mit der all das begann, werde keine 20 Jahre alt werden. Alexander Belange des Su­preme Court ein, in diesem Fall aber hielten sie
mer 13, längst verboten worden. Nun forderte die Bürgerrechts- gingen sechs Richterinnen und Richter hervor, die heute am Hamilton sagte voraus, dass Amerika in es für nötig. Wenn es ihnen nicht mehr erlaubt sei, das Handeln
bewegung das Ende der Rassentrennung, die es in den Südstaaten Su­preme Court sitzen und dort eine Zweidrittelmehrheit Anarchie versinken werde. Die meisten der Regierenden zu überprüfen, verkündeten sie, dann wäre ein
weiterhin gab. Separate but equal, getrennt und doch gleich, haben. Die Macht der Umweltbehörde in Washington, Teil Delegierten waren fest davon überzeugt, Grundpfeiler Amerikas abgeschafft. Der Föderalismus, der den
war das wirklich verfassungskonform? Sollten Schwarze wirklich des verhassten Verwaltungsstaates, haben sie bereits be- dass die unterschiedlichen Vorstellungen, Republikanern doch eigentlich heilig ist. Jedenfalls so lange, wie
nicht auf weiße Schulen gehen dürfen? Und was war mit Paaren, schnitten, das Waffenverbot in New York aufgehoben. Das wie Amerika aussehen sollte, das Land spalten er ihnen einen politischen Vorteil verschafft.
die Zugang zu Verhütungsmitteln wollten? In vielen Bundesstaa- Recht auf Schwangerschaftsabbruch haben sie zurückge- würden. Jeder von ihnen hatte Zugeständnisse Bei all den Unklarheiten und Gefahren, die die Verfassung
ten war alles, was eine Schwangerschaft verhindern konnte, aus nommen, über die Verhütung diskutieren sie noch. Mögli- gemacht. Wer aus dem Süden kam, akzeptierte heutzutage birgt, fragt man sich, ob man das Herz Amerikas
religiösen Gründen verboten. cherweise werden sie demnächst die Gleichstellungspro- mehr Macht für die Zentralregierung, als er wollte. nicht wieder mal stärken müsste. Damit es nicht irgendwann
Die Politiker hätten auf diese Herausforderungen hin neue gramme an Universitäten, eingeführt nach dem Ende der Wer aus dem Norden kam, akzeptierte die Eigen- aufhört zu schlagen.
Verfassungszusätze beschließen können. Dafür braucht man im Rassentrennung, als verfassungsfeindlich einstufen. Sie ständigkeit der einzelnen Staaten. Jeder sah in dem Einer, der genau das versucht, ist Jeffrey Rosen. Er ist der
Kongress in Washington eine Zweidrittelmehrheit, und noch zerknüllen ein Post-it nach dem anderen. Sie wollen, Kompromiss, der am Ende herausgekommen war, Leiter des National Constitution Center, einer ziemlich beein-
dazu in jedem einzelnen Bundesstaat eine Dreiviertelmehrheit. dass man endlich wieder das Original erkennt. die einzige ­ Chance, die ­ Union zusammenzuhalten. druckenden Bildungsstätte am Ende einer idyllischen Promenade
Das ist heute illusorisch und war es auch schon 1960. Die Anhörungen zu den Wahlbezirken in North Und den Auslöser für ihren Untergang. in Philadelphia, ganz in der Nähe des Ortes, wo vor 235 Jahren
Damals begann trotzdem die zweite Welle der Modernisie- Carolina werden voraussichtlich im Dezember begin- Die größte Angst der Delegierten lag in der Ahnung, dass die vier Seiten auf Pergament unterzeichnet wurden. Rosen ist
rung. Der Supreme Court entschied, dass die Rassentrennung nen. Vier der Richter haben schon Sympathie für die sie die Amerikaner überschätzt haben könnten. Würden stolz darauf, dass die Web­site seines Centers zu den am häufigs-
in den Schulen gegen die Verfassung verstoße. Beim Thema Sex Argumentation der Republikaner gezeigt. Das heißt, sie ihre Mitbürger all den Verführungen widerstehen, der ten besuchten Museums-­Web­sites Amerikas gehört. Vor einem
wurden die Obersten Richter erfinderisch. Das Recht auf Ver- glauben offenbar, dass man den Satz aus der Verfassung ständigen Sehnsucht nach Macht und Geld? Würden sie Jahr kam er auf die Idee, drei Gruppen an die Frage zu setzen,
hütung, argumentierten sie, sei derart selbstverständlich, dass – »Die Art und Weise, wie Senatoren und Abgeordnete es schaffen, das Gemeinwohl über das Eigenwohl zu wie die Verfassung reformiert werden könnte. Eine bestand aus
die Gründerväter es in ihren ersten zehn Zusätzen mitgedacht gewählt werden, wird von den jeweiligen Landesparlamen- stellen? Oder war der Mensch tief im Inneren eben doch konservativen Juristen, das war das back to the roots-Team. Eine
hätten. Wer sein Haus vor Eindringlingen schützen darf, der ten festgelegt« – absolut wörtlich nehmen muss. Ohne den kein Demokrat? Auch nicht der Amerikaner? andere bestand aus linken Juristen, das war das New-Deal-
wird ja wohl auch sein Ehebett vor der Regierung schützen historischen Kontext von damals. Ohne das Wissen darum, dass Nur ein Gründervater glaubte bis zu seinem Tod an Team. Die Mitglieder der dritten Gruppe standen in ihren An-
dürfen. So schuf der Supreme Court ein neues Recht, das Recht die Gründerväter eine möglichst gerechte Demokratie aufbauen die amerikanische Verfassung. Das war der Hypochonder­ sichten irgendwo dazwischen. Sie alle kamen von den besten
auf Privatsphäre. 1973 garantierte er auf ähnliche Weise das wollten und sich dabei auf Philo­so­phen wie Montesquieu bezo- James Madison. Universitäten, ­darunter Yale, Prince­ton, Stanford.
Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch. gen, den Vordenker der Gewal­ten­teilung. An einem sonnigen, immer noch sehr heißen Nachmittag Rosen wusste, es war nur ein kleiner Versuch ohne direkten
Fakten schaffen wie Roosevelt. Oder die kreative Neuinter- Die Demokraten, mit ihren politischen Erpressungen und in diesem Herbst ist wenig los auf Madisons früherer Plantage Einfluss auf die große Politik. Im besten Fall würde das Experi-
pretation der Verfassung. Das waren die beiden Strategien derer, dem Hinbiegen der Verfassung, waren in der Vergangenheit Montpelier in Virginia. Am Gatter neben der Auffahrt hat die ment Anregungen geben und eine Botschaft senden: Es ist nicht
die fanden: Unsere Betriebsanleitung mag toll sein – aber sie ist durchaus auch trickreich. Und doch ist diesmal etwas grundle- Stiftung, die sein Erbe verwaltet, über einem gigantischen alles verloren. »Wie bei einem Geschwisterpaar, das ziemlich
auch ziemlich alt. gend anders. Gibt der Su­preme Court den Republikanern aus LOVE-Schrift­zug die berühmten Worte We the P ­ eople angebracht. zerstritten ist und sich dennoch gemeinsam um die geliebten
Viele konservative Juristen waren darüber alles andere als glück- North Carolina in vollem Umfang recht, könnte dies eines der Dahinter Vom Winde verweht-Feeling. Endlose Wiesen, weiße alten Eltern kümmert«, sagt ­Rosen.
lich. Sie fragten sich, ob es überhaupt noch etwas gab, das nicht wichtigsten Grundprinzipien einer Republik aushebeln – dass Zäune, ein Gutshaus mit prächtigem Portikus. Tour­guide an Die Juristen trafen sich nicht im S­ tate ­House, sondern auf
aus der Verfassung abgeleitet wurde. Was war Amerikas Betriebs- der Verlierer einer Wahl das Ergebnis anerkennen muss. diesem Tag ist eine junge Historikerin. Die Arbeitsatmosphäre Zoom. Die Gruppen debattierten zuerst getrennt von­ein­an­der
anleitung noch wert? Aus dem PDF war ihrer Meinung nach eine Der Weg dahin könnte so aussehen: Wenn der Supreme Court hier sei gerade »nicht sehr lovely«, erzählt sie. und schrieben jeweils ihre perfekte neue Verfassung. Zu R ­ osens
zerfledderte Materialsammlung geworden, mit zig vollgekritzelten tatsächlich entscheidet, dass der Satz aus der Verfassung den Landes- Vor einem Jahr entschied die Stiftung, ihre Macht mit den Überraschung standen in den verschiedenen Entwürfen einige
Post-its und angehefteten Blättern voller fragwürdiger Kommen- parlamenten unbegrenzte Macht über Wahlen verschafft und Ge- Nachfahren der von J­ ames Madison versklavten Menschen zu sehr ähnliche ­Ideen. Ein paar Monate später tagten die Teams
tare. Die moralisch-religiösen Grundsätze der Gründerväter, die richte keinerlei Kontrollfunktion mehr haben, dann hätte das wo- teilen. Der Stiftungsrat sollte zur Hälfte mit ihnen besetzt dann gemeinsam und einigten sich auf fünf neue Verfassungs-
Amerika bislang zusammengehalten hatten, verloren an Bedeu- möglich Folgen für die nächsten Präsidentschaftswahlen in zwei werden. Doch der Friede hielt nicht lange. Es gab plötzlich zusätze, von denen sie glauben, dass sie Amerika guttun würden.
tung. Die Zahl der Gläubigen und Verheirateten sank. Die Ge- Jahren. Die Republikaner könnten dann argumentieren: Auch bei Beschwerden aus dem konservativen Lager: In Montpelier Zusatz 28: Der Präsident muss nicht in den USA geboren
burtenrate der weißen Amerikaner ging zurück. Das Gefühl eines der Wahl des Präsidenten haben die Parlamente das letzte Wort. seien keine amerikanischen Flaggen zu sehen. Als Besucher sein.
großen Verlusts machte sich breit. Sie könnten sich weigern, den Sieg eines Demokraten anzuer- erfahre man zu wenig über die Verfassung und die stolzen Zusatz 29: Die Macht des Präsidenten wird eingeschränkt.
Und so formierte sich eine juristische back to the roots-Bewe- kennen. Kurz gesagt würde das bedeuten, dass die meisten Versuche Seiten der amerikanischen Geschichte und stattdessen zu viel Zusatz 30: Das Amtsenthebungsverfahren wird verändert.
gung. Sie propagiert, dass die Verfassung und ihre 27 Zusätze ­Donald Trumps, den Wahlsieg 2020 im Nachhinein von Joe ­Biden über die Sklaverei. Zusatz 31: Die Amtszeit der Obersten Richter wird begrenzt.
nur im Original richtig verstanden werden können. Nur das, zu stehlen, 2024 legal wären. Eine Wahl in Amerika würde sich Die Stiftung zog die Idee mit den Nachfahren zurück. Jetzt Zusatz 32: Die Ergänzung der Verfassung durch Zusätze
was geschrieben steht, soll gelten. dann nicht mehr sonderlich von den Scheinreferenden in der Ost- wird an einer Notlösung gearbeitet, um die Spaltung zwischen wird einfacher gemacht.
Es ist ein Fundamentalismus, wie man ihn nur aus der Reli- ukraine unterscheiden. Das würden sich die Demokraten sicher Links und Rechts zu überwinden. Was James Madison damals übrigens sein Leben lang an die
gion kennt. Während die amerikanische Linke von der »leben- nicht gefallen lassen. Da sie keine Gerichte mehr anrufen könnten, Nicht mal auf Madisons Plantage bekommen sie es hin. Verfassung hat glauben lassen, war aus seiner Enttäuschung ge-
den Verfassung« redet, die sich atmend mit der Gesellschaft ver- könnte es zu Aufständen kommen. Es wäre das Ende der ­Union. Wäre man ein Pessimist wie Washington und Hamilton, könnte boren. Er war ja einer von denen gewesen, die eine starke Zen-
ändert, sieht die Rechte in der Verfassung ein in Stein gemeißel- Und alles nur wegen eines einzigen Satzes in einem 235 Jahre man sich bestätigt fühlen: Der Mensch ist wirklich nicht zur tralregierung wollten und sie nicht bekamen. Er fand sich mit
tes Monument, wie die Zehn Gebote. Die Republikanische alten Schriftstück. Demokratie geboren. dem Ergebnis ab, weil er etwas erkannte: Der Kompromiss
Partei hat sich dieser Sicht mittlerweile völlig verschrieben. Andererseits sind da die vielen Beispiele, von denen Bob Phil- machte die Verfassung nicht nur schwach. Er machte sie zu-
Donald Trump: »Leute, wir lieben den zweiten Verfassungs- ★★★ lips sagt, er mache sich mit ihnen immer Mut. In Virginia hat gleich auch stark. Der ständige Streit um die Auslegung dieser
zusatz (das Recht, Waffen zu tragen, Anm. d. Red.). Niemand 2020 ein Volksentscheid dazu geführt, dass es dort jetzt eine wenigen Worte, auf die er und die anderen sich in Philadelphia
liebt ihn mehr als wir.« Der Politologe Dennis Rasmussen hat kürzlich untersucht, welche unabhängige Kommission gibt, die die Wahlbezirke festlegt. geeinigt hatten, all die Argumente und Gegenargumente, all
Pete Hegseth, konservativer Fernsehmoderator: »Sie wollen Chancen die Gründerväter der Verfassung gaben. Das Ergebnis: Arizona, Kalifornien und Iowa haben schon länger solche Kom- das politische Hin und Her – Madison glaubte, das würde den
die Verfassung zerfetzen, wollen sie umstürzen und neu schrei- keine großen. Obwohl sie zu Beginn so optimistisch waren, blick- missionen, 2018 führten vier weitere Staaten welche ein. Vereinigten Staaten eine gewisse Dynamik verleihen.
16
Zur Ausgabe Nr. 41
Wir mögen weder
Gras noch Rinde
Sophie Neukam: »Die Lügen
der Fleischesser«  ZEIT NR. 41
Fleischesser sollten sich schon im Supermarkt
informieren können, wie das Produkt, das
schlussendlich auf ihren Tellern landet, im
Schlachthof eigentlich hergestellt wird. Eine
Idee wäre es, dass Fleischbetriebe einen QR-
Code auf der Verpackung anbringen, der den
Kunden beim Scannen einen ehrlichen Ein-
blick in die Produktionsabläufe geben würde.
Achtung, Spoiler: Der Part, bei dem Krank-
heiten einfach rausgeschnitten werden, ist­
besonders widerwärtig. 
MICHAEL AY TEN , TRIER
Wenn wir essen, geht es darum, die Haupt-
nährstoffe Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate
aufzunehmen. Im Laufe der Evolution haben
wir gelernt, den metabolischen Nutzen des
Bissens in Sekundenbruchteilen zu erkennen
– deshalb mögen wir weder Gras, Stroh noch
Baumrinde.
Die hohe Attraktivität von Fleisch begründet
sich aus seiner Zusammensetzung: essenzielle
Aminosäuren, Fette, Mineralien und Vita-
mine. All das hat weder etwas mit Klimakrise
noch mit Macht oder Mannsein, sondern mit
Biologie zu tun. 
GÜNTHER HENZEL, PER E-MAIL
Zur Wahrheit gehört: Wir essen zu viel
Fleisch (was unserer Gesundheit nicht gut-
tut). Flexitarische Ernährung wäre optimal,
denn wir brauchen die Tierhaltung, um die
nicht essbare Biomasse in Lebensmittel zu
verwandeln! Zur Wahrheit gehört eben auch,
dass weltweit 70 Prozent (und in Deutsch-
land 33 Prozent) der Fläche Grünland/Steppe/
Grasland sind. 
STEFAN THURNER , SCHEYERN
Baum oder SUV
Mark Schieritz: »Hier könnte
bald Ihr Auto stehen«  ZEIT NR. 41
Die Bedeutung von Bäumen für das Stadt-
klima wird leider vollkommen unterschätzt –
vor allem die Bedeutung alter Bäume. Eine
200 Jahre alte Eiche hat mit ihren etwa
600.000 Blättern eine Fläche von zwei Fuß-
ballfeldern, über die sie an einem sonnigen
Tag 36.000 Kubikmeter Luft reinigt. Um so
einen Baum zu ersetzen, müssten 2000 junge
Bäume gepflanzt werden. »Alte« Bäume sollte
man daher – soweit möglich – erhalten, be-
sonders in Städten. 
PROF. CHRISTIAN UNGERMANN , OSNABRÜCK
Die vorgetragene Meinung, die Eiche würde
nur wegen eines halben Dutzends SUVs ge-
fällt werden, ist starker Tobak. Als hätten die
zukünftigen Wohnungskäufer ihre übergroßen
Karossen dort schon virtuell eingeparkt. Der
SUV hat es auf den ersten Platz der Liste der
Hassobjekte geschafft. 
BERND NASNER , PER E-MAIL
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen
in einer Teilauflage: in|pact media GmbH, 10178
Berlin; BIBER Umweltprodukte-Versand GmbH,
AT-6850 Dornbirn; Walbusch Walter Busch
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LESERBRIEFE
Äußerlichkeiten statt Argumente
Jens Jessen: »Wer ist Precht – und wenn ja, wie viele?  ZEIT NR. 41
Ich lese gerade mit Gewinn das Buch von Richard
David Precht und Harald Welzer über »Die vierte
Gewalt«. Auch wenn ich nicht jeden Satz der
beiden Autoren unterschreibe, liefern sie doch
eine Fülle von Denkanstößen, die mir neue Dif-
ferenzierungen ermöglichen.
Entsprechend interessant finde ich, wie Medien
mit dieser Analyse der beiden umgehen. In der
neuen ZEIT demonstriert Jens Jessen – aus mei-
ner Sicht bemerkenswert offen –, wie er die Rolle
»der« Medien einschätzt: Sie können Menschen
einen Kopf kürzer machen, ohne auch nur mit
einem einzigen Satz auf irgendein inhaltliches­
Argument der Angegriffenen einzugehen. Selten
habe ich von einem Medienvertreter eine so un-
geschützt offene, zynische Beschreibung »eine(r)
Art Grundgesetz(es) aller Medien« gelesen.
Im Vorwort ihres Buches hoffen die Autoren auf
eine offene Debatte und darauf, dass ihre inhalt-
liche Argumentation nicht – wie so oft gesche-
hen – durch simple Personalisierung abgewehrt
wird. Der Artikel von Jens Jessen belegt ein-
drucksvoll, wie wichtig das Buch ist.
KL AUS KNOCHE, SEEHEIM-JUGENHEIM
Dies ist der beste Artikel zur Causa Precht, den
man bis jetzt finden kann.
Weder stimmt der Autor in den schrillen Chor
der Verächter ein noch in den zaghaften der (mit-
unter heimlichen) Verteidiger. Auf kurzer Strecke
beleuchtet er den Fall fundiert und kommt zu
Erkenntnissen, die die Debatte weiterbringen.
Man hatte nicht mehr damit gerechnet.
ASTRID L AMM , BERLIN
Das Buch von Precht und Welzer »handelt« nicht
vom Verlust der Meinungsfreiheit, sondern es be-
hauptet ihn. Beide können es nicht ertragen, dass
Für die Bildung auf die Barrikaden
Jeannette Otto: »Die Lücken im Lehrerzimmer bedrohen das ganze Land«  ZEIT NR. 41
»Bildungsnotstand«: Das Wort ist schon ein paar
Jahrzehnte alt. Nichts dazugelernt in den Schul-
ministerien der Länder? Die von der Pandemie
gebeutelten Kinder und Jugendlichen, deren­
Zukunftsaussichten von der Klimakatastrophe
bedrohlich verdüstert werden, können einem
leidtun. Und die Lehrer dazu. Wenn das Schick-
sal von zehn Millionen Schülerinnen und Schü-
lern auf dem Spiel steht, darf und muss auch
über eine Grundgesetzänderung nachgedacht
werden, mit der die heilige Kuh des Föderalismus
um ein paar Koteletts abgespeckt wird.
LUDWIG ENGSTLER-BAROCCO, BONN
Eine Bekannte von mir, die vor drei Jahren das
Lehramtsstudium in Hamburg absolvierte, hatte
danach Probleme, eine feste Stelle als Lehrerin zu
bekommen. Immer wieder nur befristete Ange-
bote. Ergebnis: Sie suchte sich einen Job woan-
ders. Und da blieb sie dann und denkt nicht mehr
daran, sich nochmals für ihren Traumberuf an
einer Schule zu bewerben. Auch so kann man
dringend benötigte Lehrkräfte abschrecken.
GEORGES WILKERLING, HAMBURG
Ich bin Grundschullehrerin und habe beim Lesen
nur genickt. Der Mangel ist täglich spürbar. Die
Leidtragenden sind die Schüler – weil sie in Klas-
senzimmern mit viel zu vielen Kindern sitzen und
viel zu oft auf sich alleine gestellt sind. Weil In-
klusion bedeutet, einfach alle Schüler mit ihren
unterschiedlichen Bedürfnissen in einen Klassen-
raum zu stecken, ohne sicherzustellen, dass die
ihnen öffentlich von Fachleuten widersprochen
wird. Die beiden weigern sich seit Kriegsbeginn,
Osteuropaexperten zuzuhören, um ihre Bildungs-
lücke, betreffend die Ukraine und Russland, zu
füllen.
Und Jens Jessen verteidigt diese Haltung und­
beklagt mit ihnen eine angebliche »gemeinsame
Position in den Medien« zum Thema.
So eine gemeinsame Position gibt es jedoch nicht.
Wie könnten sonst Precht und Welzer − und v­ iele
andere Leute − ihren angeblichen Pazifismus im-
mer wieder in Talkshows und anderen Medien
ausbreiten? CL AUDIA STURSBERG, BAD BOLL
Jens Jessen bestätigt die Grundaussage im Buch
von Richard David Precht, dass die Auseinander-
setzung in der Sache der moralischen Anklage
von Personen gewichen sei, indem er über Precht
schreibt, »Mode-, Frauen- und ­Klatschillustrierte«
hätten ihn gemocht, den »gut gekleideten Mann
mit Sex-Appeal«, aber nun sei es mit diesem­
»Albumbild« des Philosophen erst einmal vorbei:
»In der Talkshow zeigte Precht ein zornentbrann-
tes Gesicht, eine kurz vor dem Weinen zitternde
Lippe.«
HOLGER OEHMICHEN , HOLLENSTEDT
Ich bin kein Precht-Fan (finde, er hat’s etwas
übertrieben), habe mir die Talkshow von Markus
Lanz aber wegen des Themas angesehen.
»Aggressive Körperhaltung«, »zornentbranntes
Ge­sicht«, »kurz vor dem Weinen« – hallo? Geht’s
auch eine Nummer kleiner? SIBYLLE DREWS , FR ANKFURT/M .
Jens Jessen weiß, das bessere Argument sollte­
gewinnen; wie wäre es, wenn er dann auch argu- Vielleicht zeigte Herr Precht einfach nur seine
mentieren würde? narzisstische Kränkung darüber, dass er mal nicht
Wer wie sitzt, schaut und warum wessen Lippen im Wohlwollen der Mehrheitsmeinung badet.
zittern et cetera, davon bekomme ich schon­ K ARO KÖHLER , DETMOLD
Bedürfnisse der Kinder auch erfüllt werden kön-
nen. Weil an einer Schule mit 300 Schülern eine
einzige Sonderpädagogin arbeitet.
Sie schreiben, dass die hohe Teilzeitquote zum
Lehrermangel beiträgt. Das stimmt sicherlich,
aber man muss sich ja fragen, warum das so ist.
Von meinen etwa 20 Kollegen arbeitet eine Per-
son (!) Vollzeit. Ich bin Anfang 30 und seit circa
drei Jahren im Schuldienst tätig. Ich arbeite Teil-
zeit, weil ich gesund bleiben will, um diesen­
Beruf, den ich über alles liebe, langfristig ausüben
zu können. 
BODIL STAHR , PER E-MAIL
Die hohen Teilzeitquoten sind das Ergebnis e­ iner
unfassbaren Mehrbelastung: Inklusionskinder
und Jugendliche mit schwierigen Biografien­
häufen sich. Und die Dokumentationspflichten:
die ­Gefährdungsbeurteilung jedes Versuchs in
den Naturwissenschaften, die Gutachten zwecks
Pseudoobjektivierung von Noten; und entdecke
ich eine Kindeswohlgefährdung, darf ich das Ju-
gendamt erst nach sieben (!) Handlungsschritten
belästigen und habe mindestens so lange die­
Verantwortung für den »Fall«.
Um meine Arbeit vernünftig zu machen, brauche
ich vor allem weniger Unterrichtsstunden und
die Streichung der unsinnigen Datenerhebungen.
Denn die Sau wird vom vielen Wiegen nicht­
fetter. STEFANIE ROSKEN , PER E-MAIL
Die Situation ist völlig absurd: Menschen gehen
auf die Straße wegen Impfschäden, gegen Wind-
Christian Lindner Mariam Lau Roman Pletter
Eine Veranstaltung von:
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
Weitere Leserbriefe finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
Bestürzender
Vollpfostenpatriarch
Jörg Lau: »Wenn Frauen den
Krieg erklären«  ZEIT NR. 41
anderswo (ungewollt) zu viele Informationen, der Die von Ihnen porträtierten drei Damen sind
Artikel passt nicht in die ZEIT. ja offensichtlich eine herausragende Auswahl
THOMAS STEINBACH , PER E-MAIL von Fachpersonen in der Debatte um Putins
Angriffskrieg.
Precht und Welzer haben ein Buch geschrieben, Was mich dabei bestürzt, ist, wie das vereinigte
in dem sie Leitmedien und Medienschaffende Vollpfostenpatriarchat reagiert: Schmähungen,
massiv kritisieren. Sie erwähnen Journalisten­ Beleidigungen und Drohungen aller Art.
namentlich, nicht unbedingt die feine englische Was mich noch mehr bestürzt, ist unser
Art, aber zumindest offen, und so wie ich es­ Rechtsstaat, der hier keinen Beißreflex zeigt.
gelesen habe, gehen diese Angriffe nicht ins Nichtstun ist definitiv eine Form der Unter-
Persön­liche. Genauso müssen die Kritiker Precht stützung für die Zerstörungswütigen. 
und Welzer es aushalten, dass die Kritisierten sie HANNS-J. GILLER , LICHTENFELS
wiederum kritisieren.
Aber speziell Precht nun als Querulanten und Wie kann es sein, dass die Verfasser solcher
Vertreter von Außenseiterpositionen abzustem- Beiträge in den sozialen Netzwerken kaum
peln und damit zu einer »Hassfigur« werden zu jemals strafrechtlich zur Verantwortung ge­
lassen, geht doch über eine normale inhaltliche zogen werden? Mit Meinung und Meinungs-
Kritik dieses Buches hinaus. Und was hat Prechts freiheit haben Beleidigungen und Bedrohun-
Äußeres mit dieser ganzen Sache zu tun? gen nichts zu tun. Es wäre meines Erachtens
REGINA STOCK , KIEL für den Rechtsstaat und die Dis­ kus­
sions­
kultur gut, wenn solche Straftaten tatsächlich
In besagter Talkshow hätten Precht und Welzer verfolgt und bestraft würden.
angesichts von Melanie Amanns und Robin Ale- DR . ULRICH WILLMES , PADERBORN
xanders unzutreffendem Zitieren aus ihrem Buch
und Amanns schnellfeuerartig vorgebrachten Es gibt für prominente Menschen nur einen
»Widerlegungen« wahrlich aus der Haut fahren gangbaren Weg zwischen Selbstzerstörung und
können, taten sie aber nicht. Es war vielmehr Ignorieren: Die Social-Media-Kanäle müssen
überaus bedauerlich, dass Amann, die Spiegel- von Profis betreut werden. Diese beantworten
Frau, und der Welt-Mann Alexander sich so ange- alle entsprechenden Reaktionen – gegebenen-
griffen fühlten, anstatt der ernst zu nehmenden falls auch mit Anzeigen. Und sie machen da-
Sorge der Autoren nachzugehen – einer Sorge, bei immer klar: Dieser Tweet erreicht die
die ich durchaus teile. Adressatin nicht, sie ist geschützt und lässt
sich von Ihrer Gewalt nicht kaputt machen.
Es muss deutlich werden, dass solche verbale
Gewalt bestenfalls ins Leere läuft, schlimms-
tenfalls auf den Schreiber zurückfällt. 
REINHARD HAMANN , AHRENSBURG
Die Meinungen der von Ihnen vorgestellten
Wissenschaftlerinnen sind auf jeden Fall kri-
tisierbar.
In der von Ihnen zitierten Sendung hart aber
fair konnte von Fairness keine Rede sein. Ke-
vin Kühnert war als (einziger) Vertreter eines
umsichtigeren Verhaltens bezüglich Waffen-
lieferungen im Ukraine-Krieg in der Minder­
heit. Er zog sich übrigens nicht, wie von­
Ihnen behauptet, darauf zurück, er sei in
räder und für geschlechterneutrale Dixi-Klos, dieser Frage kein Experte, sondern verwies
aber für die Bildungspolitik geht niemand auf die auf Fachleute in seiner Regierung, die eben-
Barrikaden.  DIETER SCHÖNEBORN , BUX TEHUDE falls zu einem umsichtigeren Verhalten raten.
Mir macht die Waffenhysterie und Kriegs-
Als ich vor 50 Jahren Lehrer geworden bin, hatte treiberei in den öffentlichen Medien, wie
mein Beruf einen hohen Status. Ich war in die- auch in Ihrer Zeitung, Angst. 
sem Beruf sehr glücklich und konnte gut arbeiten ULRIKE HEIDEMANN-JOHN , K AISERSL AUTERN
– auch weil ich von der Gesellschaft anerkannt
war. Das hat sich im Laufe der Jahre gewaltig­ Mich wundert, dass den Damen bislang eine
geändert. Außerdem hat man Berufsbildung und naheliegende Frage noch nicht gestellt wor-
existenzielle Absicherung für die Lehrerschaft den ist: ob sie bereit wären, ihre Söhne und
eingeschränkt: Die Dauer des Referendariats Töchter in einen Krieg zu schicken. Ein be-
wurde regional von 24 Monaten auf 21 verkürzt, kanntes Sprichwort meint diesbezüglich tref-
und immer mehr Politiker denken darüber nach, fend: »Auf fremdem Arsch ist gut durchs
Lehrkräfte nicht mehr zu verbeamten.  Feuer reiten.« PROF. TITUS SIMON , OBERROT
DR . HANS HARTMUT K ARG, PER E-MAIL
Viel wichtiger als eine Imagekampagne wäre in
meinen Augen die »Zähmung« der Eltern. So-
lange Mutti und Vati vor ihren Sprösslingen über IHRE POST
Lehrer herziehen oder sogar mit dem Anwalt­
drohen, wenn die Note oder der Abschluss nicht erreicht uns am schnellsten unter der
standesgemäß ausfallen, so lange nützt auch eine E-Mail-­Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit
bunte Kampagne nichts. der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
THOMAS MEICHLE, PER E-MAIL Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen
Ausgaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
Der Mangel an Lehrkräften: das klassische Bei- unter Nennung Ihres Namens und des
spiel für den Schweinezyklus. Zu erwarten ist, Wohnortes zu veröffentlichen. Für den Inhalt
dass die Politik nun aus Not Quereinsteiger ein- sind Sie als Einsender verantwortlich;
stellen wird. Und damit den Lehrerberuf beschä- die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und
digt. Doch wir brauchen gut befähigte, moti­ redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
vierte Lehrkräfte. Das sollte unserer Gesellschaft können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter
etwas wert sein.  REINHARD KOINE, BAD HONNEF diskutieren und uns auf Face­book folgen.
Fotos v. l. n. r.: © Bundesministerium der
Finanzen/Photothek, Dominik Butzmann,
Maximilian Probst | Anbieter: Zeitverlag Gerd
Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
Nach Russlands Angriff auf die Ukraine und inmitten der Energie-Krise in
Deutschland steht FDP-Chef Christian Lindner nach nicht einmal einem Jahr
im Amt als Bundesfinanzminister vor einer Reihe schwieriger Fragen: Wie
bringt er seine Versprechen, die Schuldenbremse einzuhalten und die Steuern
nicht zu erhöhen, mit der neuen Weltlage in Einklang? Welche Bürger und
Unternehmen will er entlasten? Darüber sprechen mit ihm Mariam Lau und
Roman Pletter, DIE ZEIT.
Beginn: 18.00 Uhr | Livestream auf www.zeit.de und
über die Facebookseiten von ZEIT und ZEIT ONLINE
Tickets und Informationen: www.zeit.de/veranstaltungen
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17.10.22 14:39
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022
E
s war eine gespenstische Begegnung
der jungen Republik mit ihrer Ver-
gangenheit, die da am 1. Juli 1952 in
Karlsruhe begann. Vor dem Bundes-
verfassungsgericht waren die Anführer
der Sozialistischen Reichspartei (SRP)
erschienen, lauter Alt- und Immer-
noch-Nazis, Unbelehrbare, Revanchisten und Anti­
semi­ten, denen die Gaskammern von A ­ uschwitz als
»revolutionäre Methodik« galten. Ihnen gegenüber­
saßen die zehn Richter und eine Richterin des Ersten
Senats, von denen die meisten dem Nazi-Staat distan-
ziert bis ablehnend begegnet waren. Eine beispiellose
Konfrontation, eingekleidet in die Formeln und For-
malitäten des Juristischen: die neue Macht gegen die
alte, die Demokratie versus ihre Feinde.
Und republikfeindlich war die SRP. »Treue zum
Reich« versprach sie, bestritt die Legalität der Bundes-
republik. Als einzige legale Regierung erkannte sie die
Regierung Dönitz an, das von Hitler ernannte letzte Auf-
gebot des »Dritten Reiches«. Ihre Wähler fand sie vor
allem bei Heimatvertriebenen, ehemaligen Parteigenos-
sen und Frontkämpfern, Arbeitslosen und Müttern von
Gefallenen. 1951 zählte sie gut 10.000 Mitglieder.
Der Lautsprecher der SRP, ihr bekanntester Redner,
war Otto Ernst Remer, der seine Prominenz auf ein
unseliges Rendezvous mit der Geschichte gründete. Als
Kommandeur des Wachbataillons »Großdeutschland«
in Berlin hatte er nach Stauffenbergs Anschlag auf Hitler
am 20. Juli 1944 vereitelt, dass die Widerstandskämpfer
Goeb­bels verhaften, und dann auf persön­lichen Befehl
Hitlers für ein paar Stunden die Niederschlagung des
Aufstandes kommandiert. Vermutlich wäre der Staats-
streich auch ohne sein Eingreifen gescheitert. Die NS-
Propaganda aber feierte ihn als Helden, Remer wurde
zum General befördert, nach dem Krieg stilisierte er sich
zum Retter des Reiches. In der gleichen Situation würde
er sofort wieder dasselbe tun, dröhnte er und denun-
zierte die Attentäter als »Landesverräter«.
Bei der Wahl in Niedersachsen (wo die SRP-Bundes-
zentrale saß) wurde die Partei am 6. Mai 1951 mit elf
Prozent viertstärkste Kraft und erhielt 16 Sitze im Land-
tag, darunter vier Direktmandate. Sie ließ sich damit
endgültig nicht mehr ignorieren. Bundesinnenminister
Robert Lehr, CDU, der sich selbst im Widerstand gegen
die Nazis engagiert hatte, forderte vehement ein Verbot.
Und drei Tage nach der Niedersachsenwahl zitierten die
Alliierten Hohen Kommissare Bundeskanzler Adenauer
zu sich. Vor allem der Amerikaner John McCloy wurde
überdeutlich. Er erklärte, die Alliierten würden »ein-
greifen«, sofern sich das »zu irgendeiner Zeit als not-
wendig erweisen« sollte.
Adenauer allerdings hatte ein Problem. Das Grund-
gesetz sah zwar die Möglichkeit eines Parteiverbots vor,
aber nur eine einzige Institution sollte dafür zuständig
sein: das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht jedoch
existierte noch gar nicht. Streitigkeiten der Parteien
hatten die Wahl der Richter verzögert, zwei Jahre lang
hatte sich Adenauer um dieses Gericht nicht gekümmert,
jetzt plötzlich brauchte er es – und machte Druck. Ein
halbes Jahr später, im September 1951, nahm das Ver-
fassungsgericht in Karlsruhe seine Arbeit auf. Womöglich
wäre es ohne das SRP-Verfahren noch länger eine Leer-
stelle im Verfassungsgefüge geblieben.
Das also war die Lage, in der im November 1951 der
Antrag der Bundesregierung auf Feststellung der Ver-
fassungswidrigkeit in Karlsruhe einging: Die Nazis waren
noch oder wieder aktiv, die SRP zog sie an »wie ein
Ma­gnet«, wie die Richter später feststellten, und das Ver-
fassungsgericht hatte seinen ersten spektakulären Prozess,
der im In- und Ausland aufmerksam beobachtet wurde.
Keine drei Jahre war das Grundgesetz alt. Noch war offen,
wohin sich die Republik entwickeln würde.
Das Gericht hat sich die Sache geradezu demons-
trativ nicht einfach gemacht. Auf keinen Fall sollte der
Eindruck entstehen, Karlsruhe sei ein juristischer Voll-
strecker der politischen Wünsche der Bundesregierung
oder gar der Alliierten. Allen zehn Richtern und der
einen Richterin, Erna Scheffler, im Ersten Senat dürfte
bewusst gewesen sein, dass es um mehr ging als nur um
die Zukunft der SRP. Es ging auch um die Zukunft des
Gerichts selbst, seine Stellung zu den anderen Staats-
gewalten. Und es ging um die Zukunft der Demokratie.
Das Gericht hatte sich eben erst eta­bliert, und mit jedem
Urteil musste es aus den Abstraktionen des Grundgeset-
zes etwas Anwendbares, politisch Folgenreiches machen.
Das SRP-Verfahren warf tatsächlich eine fundamen-
tale Frage auf – eine der ältesten Fragen, die sich jeder
liberalen Verfassung stellen: Wie viel Freiheit soll den
Feinden der Freiheit gewährt werden?
Das Grundgesetz gab darauf eine kämpferische Ant-
wort. Die Bonner Verfassung wollte »wehrhaft« sein,
wie der Publizist Ernst Friedlaender im Juli 1952 in
einem Kommentar zum SRP-Verfahren schrieb: »Das
Grundgesetz will die Demokratie vor dem Selbstmord
bewahren, vor einem Selbstmord, wie ihn die Weimarer
Republik in übergroßer Toleranz verübte.«
Gleich mehrere Instrumente hatten die Mütter und
Väter des Grundgesetzes dafür bereitgelegt. Nach Arti-
kel 18 etwa kann, wer die Grundrechte missbraucht,
diese Grundrechte verlieren. Die wichtigste Waffe der
Demokratie im Kampf gegen ihre Feinde aber ist das
Parteiverbot. Eine Partei vom Wettbewerb um die Mehr-
heit auszuschließen ist das rigoroseste Mittel, das sich in
einer Parteiendemokratie denken lässt – und zugleich
das heikelste. Denn immer könnte die Partei, die gerade
die Mehrheit stellt, in Versuchung geraten, eine unlieb-
same Konkurrenz auszuschalten. Auch das war eine der
Lehren aus Weimar: Die Mehrheit sollte sich nicht be-
liebig des politischen Gegners entledigen können. Des-
halb sollte nicht die Exekutive zuständig sein, sondern
das unabhängigste Gremium, das die neue Verfassung
kannte: das Verfassungsgericht.
Dadurch kam dem Gericht nicht nur erhebliche
Macht zu. Sondern zunächst die Aufgabe, die Vorausset-
zungen eines Parteiverbots überhaupt erst zu definieren.
Der Artikel 21 Grundgesetz war eher vage formuliert:
»Parteien«, heißt es da, »die nach ihren Zielen oder nach
dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die
freiheitliche demokratische Grundordnung zu beein-
trächtigen oder zu beseitigen [...], sind verfassungswidrig.«
Aber was sollte das sein, die »freiheitliche demokratische
GESCHICHTE
Abb.: Bundesarchiv
Die Grenzen
der Toleranz
Vor 70 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht erstmals eine
Partei verboten – die SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP.
Bis heute dient das Urteil als Richtschnur bei der Verteidigung der
Demokratie gegen ihre Feinde  VON HEINRICH WEFING
Grundordnung«? Und wer konnte sagen, wann
eine Partei »darauf ausgehe«, diese Ordnung zu
beseitigen? Noch waren das alles nur Worte auf
Papier, gute politische Vorsätze. Nun musste sich
zeigen, ob daraus auch etwas folgte.
Und noch etwas verkomplizierte die Sache.
Immer war klar, dass es nicht nur um die SRP
ging. Denn zeitgleich hatte die Regierung Ade-
nauer einen ähnlichen Antrag gegen die KPD
gestellt. Der Kanzler wollte sich, in politischer
Symmetrie, als Vorkämpfer gegen die Extreme
zeigen und versuchte, Links- und Rechtsextre-
misten in eins zu setzen. Die KPD war unter den
Nazis brutal verfolgt worden, wurde nun aber, im
beginnenden Kalten Krieg, ein Einfluss-Instru-
ment der DDR und der Sow­jet­union. Sie zu ver-
bieten war gleichwohl problematisch: Immer
noch hoffte man in Bonn, jedenfalls halboffiziell,
auf gesamtdeutsche freie Wahlen. Und die waren
ohne die Kommunisten kaum denkbar.
Jede Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts vermaß damals neues, unbekanntes
juristisches Gelände. Heute sind die meisten Ent-
scheidungen des Gerichts unterfüttert mit schier
endlosen Verweisen auf frühere Urteile; die Rich-
ter bewegen sich auf vorgezeichneten Wegen. Das
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Rechtsextremes Sammelbecken: Wahlaufruf
der von den Altnazis Fritz Dorls und Otto Ernst
Remer geführten SRP aus dem Jahr 1949
ANZEIGE SRP-Urteil musste unweigerlich anders sein, wie
ein erster Schritt ins Offene.
Am 1. Juli, mitten in der Sommerhitze, eröff-
Jetzt am Kiosk! nete der Präsident des Gerichts, der ehemalige
preußische Finanzminister Hermann Höpker-
Aschoff, die mündliche Verhandlung. »Voll be-
setzte Pressetische und ein überfüllter Zu­schauer­
raum zeigten, welches Interesse die Öffentlichkeit
an dem Prozeß nimmt. Besucher, die keinen Ein-
tritt mehr fanden, versammelten sich in der Vor-
halle des Gerichts und folgten der Verhandlung
durch Lautsprecher«, schrieb ein Reporter.
Zehn Verhandlungstage waren angesetzt, die
wichtigsten Vertreter der Partei wurden vernom-
men, Tonbänder mit Reden Remers abgespielt,
Zeugen schilderten die Atmosphäre der Kund-
gebungen. Anfangs gaben sich die SRPler noch
siegessicher. Süffisant im Ton, aber völlig zu Recht
wiesen sie darauf hin, dass ja auch in den anderen
Bonner Parteien reichlich ehemalige NSDAP-
Mitglieder vertreten seien, warum man denen das
nicht vorwerfe? Doch schon am dritten Verhand-
Oder gratis lesen: lungstag zeichnete sich ab, dass die Dinge schlecht
www.zeit.de/zg-heft liefen für die SRP. Mehrfach hatten ihre Anwälte
beantragt, die Staatskasse möge die Prozesskosten
und ihre Honorare übernehmen, die Partei sei
12.09.22 11:53
17
dazu außerstande. Als das Gericht dies ablehnte, legten
die Anwälte ihr Mandat nieder und reisten ab. Derweil
»stieg das Thermometer unaufhörlich«, berichtete eine
Nachrichtenagentur, »die Wachtmeister spritzten mit
einem Gartenschlauch gegen die Fassade und reichten
den Richtern Himbeerwasser«.
Durch die Abreise ihrer Anwälte verschlechterte sich
die Lage der SRP-Vertreter drastisch. Sie mussten sich
nun ohne juristischen Beistand äußern, was sie ein paar
Tage durchhielten, ehe sie ebenfalls abreisten, obwohl
das Gericht, wie sein Präsident betonte, »mit einer
wahren Engelsgeduld verfahren« sei.
Am 23. Oktober 1952 erging das Urteil. Es war nach
dem Verlauf der mündlichen Verhandlung keine Über-
raschung mehr. Der Erste Senat erklärte die SRP für
verfassungswidrig.
Liest man die 98 Schreibmaschinenseiten des Urteils,
spürt man den Ton des Neuen, einen Sound, wie er
dem Gericht heute ganz fremd ist. Karlsruhe schrieb
Rechtsgeschichte – und gab mit wuchtigen Worten das
erhoffte vergangenheitspolitische Si­gnal. Das Urteil, hieß
es in der offiziellen Pressemitteilung, besitze eine »Trag-
weite von wohl noch nicht übersehbaren Ausmaßen«.
Ehe sie zum Urteil kamen, definierten die Richter die
eigenen Maßstäbe. Die freiheitliche demokratische
Grundordnung, von der im Artikel 21 die Rede ist, sei
eine »rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der
Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem
Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und
Gleichheit«. Dann zählten sie einige Grundprinzipien
auf, die notwendig dazugehören müssen: die Achtung
der Grundrechte, die Gewaltenteilung, das Mehr­
parteiensystem, eine starke Opposition, um nur einige
zu nennen. Diese Definition findet sich seither in vielen
Urteilen und jedem Lehrbuch.
Damit stand der Maßstab fest. Im längsten Abschnitt
der Entscheidung prüften die Richter nun, ob die SRP
den Anforderungen genügte. Das Ergebnis war klar: Die
anti­semi­ti­schen Tendenzen der Partei widersprachen der
Verpflichtung auf die Menschenrechte; ihr Programm
zielte auf die Abschaffung des Mehrparteiensystems.
»Die SRP«, schrieben die Richter, »ist in ihrem Pro-
gramm, ihrer Vorstellungswelt und ihrem Gesamtstil
der früheren NSDAP wesensverwandt.«
Die Partei und alle Nachfolgeorganisationen wurden
verboten, ihr Vermögen wurde eingezogen, und, am
spektakulärsten: Auch alle Parlamentsmandate verfielen,
was sofort zu Diskussionen führte. Bei der Beratung des
Gesetzes über das Verfassungsgericht – der juristischen
Grundlage für alle Verfahren in Karlsruhe – war ein
Mandatsverlust wegen eines Parteiverbots nämlich er-
wogen, aber abgelehnt worden. Das, argumentierten die
Abgeordneten, sei mit dem Prinzip des freien Mandats
der Parlamentarier nicht vereinbar. Das Gericht in Karls-
ruhe nahm dieses Argument zur Kenntnis – und setzte
sich darüber hinweg. Es sei widersinnig, eine Partei als
verfassungswidrig zu verbieten, aber die Mandatsträger
der Partei zu schützen. Das war auch ein Si­gnal in Rich-
tung Bonn: Wie die Verfassung zu interpretieren ist,
bestimmen in Zukunft wir.
Adenauer tobte. In einem »Teegespräch« mit Journa-
listen sagte er im Dezember 1952: »Wir können es nicht
zulassen [...], daß sich über dem Parlament ein neues
Organ bildet, das [...] für sich in Anspruch nimmt,
Gesetze zu schaffen«. Gleich das erste große Urteil des
Verfassungsgerichts trieb damit den Antagonismus zwi-
schen den Staatsgewalten hervor, der in der Institution
eines starken Verfassungsgerichts unweigerlich angelegt
ist. Diese Spannung ist geblieben, bis heute; Adenauer
konnte daran so wenig ändern wie seine Nachfolger.
Und er musste sich fügen, auch deshalb, weil er das
Gericht noch brauchte – für das Verfahren gegen die
KPD. Doch das Gericht in Karlsruhe zögerte. Für das
Verbot der SRP benötigten die Richter nur ein knappes
Jahr, für das der KPD fast fünf. Am Ende gab es aber
auch hier keinen Zweifel. Auch die KPD wollte ein
grundlegend anderes System – die Einparteienherrschaft,
die Abschaffung des Kapitalismus. Mit der Freiheitsord-
nung des Grundgesetzes wäre das nicht zu vereinbaren
ge­wesen. Dass die KPD in der Bundesrepublik nur eine
Splitterpartei war und die Lage in der DDR nicht ge-
rade verlockend wirkte, spielte keine Rolle. »Politische
Zweckmäßigkeitserwägungen«, betonte der Verfassungs-
gerichtspräsident vor der Verkündung des KPD-Urteils,
seien dem Gericht »versagt«.
Nur wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepu-
blik war damit der Rahmen der Parteiendemokratie
definiert. Das verfassungsrechtliche Immunsystem war
getestet worden und hatte funktioniert. Die Entschei-
dung beweise, hieß es in der Pressemitteilung des Ver-
fassungsgerichts zum SRP-Urteil mit reichlich Pathos,
»dass die junge deutsche Demokratie kein leeres Gefäß
ist, das man beliebig missbrauchen und schließlich
zertrümmern kann«.
Jahrelang herrschte danach Ruhe. Die Republik
eta­blier­te sich, der Wohlstand wuchs. Immer noch kra-
keelten ein paar Altnazis, und viele Deutsche mochten
nicht von einer »Befreiung« durch die Alliierten sprechen.
Allenfalls Splittergruppen aber sehnten den Führerstaat
zurück. Otto Ernst Remer hingegen gab keine Ruhe.
Mehrfach wurde er wegen Volksverhetzung und Holo-
caust-Leugnung verurteilt; schließlich floh er ins Ausland,
zuletzt nach Spanien, wo er im Oktober 1997 starb.
Zweimal wurde seither noch ein Parteiverbot versucht,
zweimal gegen die NPD, zweimal scheiterte das Unter-
fangen. Zuerst 2003, aus formalen Gründen, weil sich
herausstellte, dass die Parteiführung mit Spitzeln des
Verfassungsschutzes durchsetzt war. Dann 2017, als die
Karlsruher Richter der NPD zwar bescheinigten, »ver-
fassungsfeindlich« zu sein, ein Verbot aber für nicht
gerechtfertigt hielten, weil die Partei zu unbedeutend sei.
Damit wich das Gericht von seiner Argumentation von
1956 für das Verbot der ebenso unbedeutenden KPD ab.
Ein Akt verfassungspolitischer Gelassenheit: Längst ist
die Republik eine andere geworden, auch das Verfassungs-
gericht hat sich verändert, und mehr denn je gehen die
Bedrohungen der Freiheit von weitverzweigten Netz-
werken des Hasses aus statt von einer einzigen, straff
geführten Partei. Unverändert aber gelten die Prinzipien
des SRP-Urteils von vor 70 Jahren. In aller Klarheit hat
es definiert, wo die Toleranz der Demokratie für ihre
Feinde enden muss, wenn sie sich selbst erhalten will.
 18 VERBRECHEN 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Für acht Jahre soll Ali T. hinter Gitter, unter anderem wegen
schwerer Brandstiftung und Betrug

»Hier steckte mein ganzer

Traum drin«, hatte Ali T.
erklärt, als er 2018 im
Brandschutt seines
Restaurants Mangal
in Chemnitz stand.
Alles sprach zunächst für eine rechtsextreme Tat. Doch vor Gericht wurde Ali T. jetzt verurteilt,
den Brandanschlag auf das eigene Lokal selbst veranlasst zu haben  VON VALERIE SCHÖNIAN
Das Feuer zerstörte den Eingang des Restaurants von Ali T. Der
Einbruch in die Gaststätte war wohl vorgetäuscht

W
ie langwierig dieser Pro­
zess war und welche­
Gefühle sich dabei an­
gestaut haben, erkennt
man am Ende. Als am
Dienstag vergangener
Woche im Sitzungssaal
036 des Chemnitzer Landgerichts die Vorsitzende
Richterin nach acht Monaten das Verfahren gegen
Ali T. mit dem Urteilsspruch beendet, bricht­
dessen Frau weinend auf ihrem Stuhl zusammen.
Ali T., schaut nach ihr, findet sie nicht, weil sie
Als das Urteil begründet wird, das noch nicht
rechtskräftig ist, sitzt Ali T. zusammengesunken­
neben seinem Verteidiger. Er wischt sich ab und an
mit den Händen über sein Gesicht. Die Vorsitzende
Richterin Simone Herberger erklärt, dass Ali T. aus
Sicht des Gerichts sein Restaurant selbst in Brand
stecken ließ und dafür 300.000 Euro von der Versi­
cherung »kassiert« habe. Auch wenn niemand verletzt
worden sei, so habe er doch »billigend in Kauf ­
genommen«, dass die Menschen in den Wohnungen
über dem Restaurant, die zu diesem Zeitpunkt
schliefen, zu Tode hätten kommen können. Getan
des Landeskriminalamtes abgeholt habe, sei diese
ihr mit den Worten übergeben worden: »Wir
wünschen Ihnen keinen Erfolg.«
In der Tat wirkt manches zu Beginn des Prozes­
ses überstürzt. Die Verteidigung bekommt erst
sehr kurzfristig Akteneinsicht. Kommunikations­
daten sind nicht ausgewertet. Noch laufende Er­
mittlungen gegen andere mögliche Tatbeteiligte
beeinflussen immer wieder das Verfahren. Außer­
dem entsteht zunächst der Eindruck, als ob das
Gericht den Aufwand für den Prozess möglichst
gering halten will. Das ändert sich allerdings, auch Mangal geplant habe und ihm für die Ausführung
wirklich nur Zeuge ist – oder auch selbst etwas mit
dem Brand zu tun hat. Er ist 36 Jahre alt, sein Vor­
name ist in Chemnitz nicht sehr geläufig, er soll
hier anonymisiert werden und Salih Demir hei­
ßen. Demir hat Ali T. gegenüber der Polizei schwer
belastet, in den Ermittlungsakten spielt er eine
wichtige Rolle. Die ZEIT konnte diese Akten ein­
sehen und im Januar erstmals darüber berichten
(Nr. 2/22).
Demnach sagte Salih Demir im Juli 2021 ge­
genüber der Polizei aus, dass Ali T. die Tat im
Unklar bleibt auch nach dem Gerichtsurteil,
ob der Hauptbelastungszeuge Salih Demir seinen
Freund Ali T. nicht nur verpfiffen, sondern ihm
beim Anschlag auf das Mangal auch geholfen hat.
Das Gericht geht davon aus, dass Letzteres nicht
der Fall war, denn die Ermittler werteten Demirs
Handy aus. Ein paar Stunden nach dem Brand
suchte er bereits nach »polizei chemnitz«, einen Tag
später nach »chemnitz brand versicherung« und
noch einen Tag später nach »versicherungsbetrug
melden«. Warum will einer einen Versicherungs­
betrug melden, an dem er selbst beteiligt war?

zusammengekrümmt in der dritten Reihe sitzt, vor
ihr stehen Journalisten. Ali T. wird wütend, er ruft,
dass er nicht getan habe, was ihm vorgeworfen
werde. Und dass »die Nazis« dieser Prozess freuen
werde. Kurz darauf verlässt Ali T. den Raum, in
Handschellen und mit Fußketten, schuldig ge­
sprochen.
Mit Nazis hatte in diesem Fall tatsächlich alles
angefangen.
Der Sommer 2018 in Chemnitz: Nachdem im
August der Deutschkubaner Daniel H. bei einem
Streit mit Asylbewerbern erstochen wurde, nutzen
Rechtsextreme seinen Tod, um zu Aufmärschen auf­
zurufen. Sie mobilisieren Gefährten im ganzen Land
und ziehen durch die Straßen der Stadt, gefolgt von
Tausenden Bürgern. Anfänglich ist die Polizei in der
Unterzahl, die Bilder gehen um die Welt. Deutsch­
land diskutiert in der Folge über den Begriff »Hetz­
jagden«, später verliert in diesem Zusammenhang
Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen
habe Ali T. all das, weil er in Geldnot stecke, hoch
verschuldet sei.
Die Tatnacht, wie sie im Prozess geschildert
wurde: Gegen zwei Uhr am 18. Oktober 2018 ver­
schütten drei Männer an drei Stellen Benzin im
Mangal, legen eine Art flüssige Zündschnur bis
zum Eingang und entzünden das Feuer. Sie flüch­
ten durch die Tür, die eine Panikverriegelung hat,
die man also auch dann von innen öffnen kann,
wenn sie von außen verschlossen ist. Zu sehen sind
die drei Männer auf Ausschnitten einer Video­
kamera vom Café gegenüber. Einer der drei hält
einen Gegenstand in der Hand, wohl einen Ben­
zinkanister. Sie steigen in einen roten Škoda Fabia.
Das Feuer greift auf Möbel und Fußboden
über. Es kommt zu einer Verpuffung, die einen
Knall verursacht – ein Glück für die Menschen,
die in den oberen Etagen schlafen. Denn eine der
Nachbarinnen wird von dem Lärm geweckt. Sie
schaut aus dem Fenster, sieht noch die drei Män­
wegen des sehr fordernden Verteidigers Andrej
Klein. Immer neue Prozesstermine werden ange­
setzt, weitere Zeugen vorgeladen. Am Ende wer­
den an 27 Verhandlungstagen mehr als 125 Men­
schen vernommen. Unter ihnen Anwohner, Kolle­
gen, Feuerwehrleute, Ermittler.
Zum Verhängnis werden Ali T. vor allem jene
Spuren in seinem Restaurant, die darauf hindeu­
ten, dass die Täter nicht gewaltsam von außen ein­
gedrungen sind. Sondern dass sie Hilfe bekommen
haben müssen von jemandem, der freien Zugang
zum Mangal hat.
Da ist zum Beispiel der Kanister, der auf der
Flucht der Männer in dem Video zu sehen ist.
Nicht jedoch auf dem Hinweg. Folglich muss das
Benzin wohl im Restaurant bereitgestanden ­haben.
Zudem gehen die Ermittler davon aus, dass die
Täter von der Panikverriegelung wussten. Deswegen
legten sie die flüssige Zündschnur bis zur Tür und
verschwanden dann schnell wieder.
der Brandstiftung 50.000 Euro geboten habe. Das
Inventar sollte dabei »nicht verbrennen, sondern
nur verrußen«, damit man es danach noch »ver­
äußern« könne. Nachdem er, Demir, abgelehnt
habe, habe T. »einen seiner Bekannten« mit der
Ausführung beauftragt.
Aber wie glaubwürdig ist Salih Demir? Diese
Frage stellte sich schon vor Prozessbeginn. Demir
bewegt sich in einem fragwürdigen Milieu. Als die
ZEIT ihn im November vorigen Jahres in seiner
Wohnung traf, bot Demir an, gegen Geld ver­
schiedene Informationen preiszugeben (was die
Reporterin ablehnte). Sie betrafen sogenannte En­
keltricks, Behördenkorruption, Clan-Kriminalität.
Auch während des Prozesses ließen Bekannte
von Demir ihn in keinem guten Licht dastehen.
Ein Bekannter aus seiner Jugend nannte ihn einen
»Schwätzer«, der »viel rede«, aber nicht unbedingt
die Wahrheit. Auch in seiner Akte steht, dass er
»vielfach wegen Trickdiebstahls- und Betrugstaten
E
inmal geht das Gericht einer Spur
nach, die nahelegen könnte, dass sich
der Brand im Mangal doch ganz an­
ders zugetragen haben könnte. Dass
doch ein rechtsextremer Hintergrund
existiere. So wird ein Zeuge vernommen, der den
Angeklagten Ali T. aus der Haft kennt. Dieser
Zeuge gehörte zur rechtsterroristischen Gruppe
»Revolution Chemnitz«. Er ordnet den Brand­
anschlag auf T.s Restaurant seiner Szene zu. Aller­
dings kann der Zeuge weder genauere Angaben
noch Indizien oder gar Beweise liefern. So spielt
am Ende die ursprüngliche Annahme der Ermitt­
ler – nämlich ein rechtsextremes Motiv – im Pro­
zess nur für kurze Zeit eine Rolle.
Ali T. kam vor 30 Jahren aus der Türkei nach
Deutschland. Er arbeitet seit zwanzig Jahren in der
Gastronomie, er hat keine Vorstrafen. Ali T.s Familie,
also seine Frau, seine Schwester, seine Brüder und

seinen Job. In Chemnitz selbst kommt es zu rassis­
tischen Überfällen auf Restaurants, auf Menschen,
auch eine Terrorzelle gründet sich, deren Mitglieder
schnell von der Polizei gefasst werden.
Wenige Wochen danach, am 18. Oktober 2018,
brennt das Mangal, das türkische Restaurant von Ali
T. Schnell wird er als das nächste Opfer von Rechts­
extremen in Chemnitz angesehen, er selbst stellt das
so dar, auch die Polizei ermittelt zunächst in diese
Richtung. Überregionale Medien berichten, die ZEIT
besucht ihn damals in seinem zerstörten Restaurant.
Ali T. trifft den sächsischen CDU-Ministerpräsiden­
ten Michael Kretschmer (unter anderem bei einer
Veranstaltung der ZEIT in Leipzig) und sogar Bun­
deskanzlerin Angela Merkel. Die damalige Chem­
nitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD)
gibt ihm ihre Nummer, so erzählt T. es damals.
Heute, vier Jahre später, kommt das Landgericht
zu dem Schluss, dass alles ganz anders gewesen sein
muss. Es verurteilt Ali T., 50 Jahre alt, zu einer Frei­
heitsstrafe von acht Jahren wegen des versuchten
Fotos: imago
ner wegrennen. Dann ruft sie die Feuerwehr, der
Notruf geht um kurz vor halb drei ein. Die Ret­
tungskräfte sind schnell vor Ort und können alle
Bewohner unversehrt evakuieren. Es entsteht ein
Schaden in fünfstelliger Höhe.
Und Ali T.? Der befindet sich zu dem Zeit­
punkt einige Kilometer entfernt, in Frankenberg,
seinem Wohnort. Nach Auffassung des Gerichts
hat er den Brand im Mangal nicht selbst gelegt,
aber die drei Männer damit beauftragt.
T. bestreitet die Tat bis heute. Bis auf die­
wütenden Worte am letzten Verhandlungstag hat
er während des Verfahrens nichts gesagt. Die Stra­
tegie der Verteidigung war von Anfang an darauf
ausgelegt, Beweismittel und Motive in Zweifel zu
ziehen, genau wie die Glaubwürdigkeit des Haupt­
belastungszeugen und die Unvoreingenommen­
heit des Gerichts.
Schon am ersten Prozesstag, einem Dienstag­
morgen Anfang Februar, wirft T.s Verteidiger­
Andrej Klein der Staatsanwaltschaft vor, unbe­
U
in Erscheinung getreten ist«. seine beiden Kinder, hat die Verhandlung eng be­
nd da ist das Fenster, durch das die Vor Gericht schweigt Salih Demir. Er und Ali gleitet. Die Richterin erwähnt das in ihrer Urteils­
Täter in das Mangal gekommen T. kennen sich gut, im Gerichtssaal gehen ihre begründung: Die Familie sei in den acht Monaten
sind. Bis zu den letzten Verhand­ Blicke am Tag von Demirs Erscheinen an­ein­an­der »immer vertreten« gewesen. Das sei zu Ali T.s Guns­
lungstagen hin ist es Thema im Pro­ vorbei. Salih Demirs Anwalt erklärt, sein Mandant ten ausgelegt worden. Das Motiv für die Tat sieht das
zess. Mehrere Sachverständige brin­ verweigere die Aussage. Denn der steht wegen des Gericht in den Schulden, T. habe sich mit seinem
gen Griffe mit, Rahmenteile, erklären »Riegel«, Mangal-Brands selbst im Fokus der Ermittler. Das Restaurant finanziell übernommen.
»Schließbleche« und zeigen an den Saalfenstern hat auch mit einem weiteren Zeugen zu tun, der Nach dem Urteil steht T.s Schwester im Flur des
des Gerichtssaals, wie so etwas funktioniert. Am im Prozess vernommen wird. Es handelt sich um Gerichts und sagt, dass sie weiter von seiner Unschuld
Ende all dieser Ausführungen zeigt sich, dass die eine sogenannte Vertrauensperson der Behörden. überzeugt sei. Der Anwalt hat bereits Revision ein­
Täter versucht haben müssen, bewusst eine falsche So werden Leute genannt, die der Polizei Infor­ gelegt.
Spur zu legen: Zwar sah das Fenster nach der Tat mationen geben und deren Identität geschützt Abgeschlossen ist der Fall des Brandanschlags auf
so aus, als sei es aufgehebelt worden, wodurch der wird. Dieser Mann, wir nennen ihn hier Dennis das türkische Restaurant Mangal noch lange nicht.
Eindruck entstehen sollte, die Täter hätten sich­ Tischler, hat sich laut den Akten im Januar 2021 Denn die Ermittler suchen weiter nach den drei­
gewaltsam Zutritt verschafft. Tatsächlich aber, so bei der Chemnitzer Polizei gemeldet, nachdem Personen, die den Brand gelegt haben sollen. Ein
die Gutachter, sollte es nur nach einem Einbruch 10.000 Euro für Hinweise ausgelobt wurden. Er Bekannter Ali T.s taucht in den Akten in diesem Zu­
aussehen. Der Schluss der Ermittler: Das Fenster gab an, dass zwischen Salih Demir und Ali T. »die sammenhang auf. Während des Gerichtsprozesses
ist bewusst offen gelassen worden. So konnten die Idee entstanden« sei, den Brand zu legen und als sitzt er einmal auch im Zeugenstand, doch verweigert
Täter problemlos und lautlos eindringen. Bevor sie »rechtsextremen Terrorakt« darzustellen. Demir er die Aussage. Die Staatsanwaltschaft macht dazu
wieder verschwanden, hinterließen sie die ver­ soll die Planungen übernommen und mit der Aus­ auf Nachfrage keine weiteren Angaben. Sie lässt nur
meintlichen Hebelspuren. führung »alte Bekannte« beauftragt haben. Dennis mitteilen, die Ermittlungen dauerten an.

15-fachen Mordes, der versuchten Brandstiftung mit dingt einen Schuldigen präsentieren zu wollen. Als Wer aber waren die Täter? Das ist bis heute­ Tischler sagt vor Gericht aus, er habe seine Infor­
Todesfolge, besonders schwerer Brandstiftung und Kleins Mitarbeiterin kurz vor Prozessbeginn, wie ungeklärt. Im Laufe des Prozesses kamen auch mationen von der Freundin Salih Demirs, mit der Mitarbeit: Mona Berner, Sophie Laaß,
des Betrugs. vereinbart, eine Festplatte mit Daten an der Pforte Zweifel daran auf, ob der Hauptbelastungszeuge er eine Affäre gehabt habe. Aaron Wörz

In der Ausgabe der »Zeit« Nr. 9/2022 vom
24.02.2022 wurden auf S. 18 in einem Beitrag
mit dem Titel »Rüdiger und die Detektive«
unwahre Behauptungen über mich verbreitet.
Gegendarstellung
1. Unwahr ist, dass ich »eine anonyme an­
gebliche Bürgerinitiative« gegründet haben
soll. Wahr ist vielmehr, dass ich keine Bür­
gerinitiative gegründet habe.
2. Unwahr ist die Behauptung, ich hätte ich derartige Anzeigen und Großplakate
»Anzeigen sowie Großplakate, auf denen nicht finanziert habe.
der OB als düsterer Mafioso dargestellt Homburg, den 16.03.2022.
wurde«, finanziert. Wahr ist vielmehr, dass Dr. Andreas Spaniol

Anmerkung der Redaktion: Wir sind verpf lichtet, diese Gegendarstellung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt abzudrucken.

WIRTSCHAFT
Völlig
losgelöst
Die Inflation steigt und
steigt. Was kann den
Höhenflug der Preise stoppen? 
VON KOLJA RUDZIO
E
in Mittel gegen die Inflation ist eine
tonnenschwere Turbine, die mit
600 Grad heißem Wasserdampf an-
getrieben wird. Sie ist das Herzstück
eines Kohlekraftwerks mit Schorn-
stein und Kühlturm, das die Klein-
stadt Bexbach im Saarland überragt.
Das Kraftwerk wurde in den vergangenen Jahren nur
in Notfällen eingesetzt, die Turbine lief bloß alle paar
Wochen für wenige Stunden. Doch ab November
soll sie nahezu rund um die Uhr in Betrieb sein und
damit genug Strom für zwei Millionen Haushalte
produzieren.
Das hilft gegen Inflation. Denn der wichtigste
Grund für die irrwitzig gestiegenen Preise ist die
Energieknappheit. Öl und Gas kommen nicht mehr
aus Russland und sind deshalb knapp und teuer
geworden. Auch Strom wird oft mithilfe von Gas
erzeugt – entsprechend sind die Tarife gestiegen.
Normalerweise ist es die Aufgabe der über 3500
Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank (EZB)
in Frankfurt am Main, die Teuerung in Schach zu
halten. Doch in dieser Krise ist vieles nicht normal.
Und deshalb spielt auch die Bundesregierung eine
wichtige Rolle, die mit darüber entscheidet, welche
Kraftwerke laufen.
Die Frage ist nur: Wie entschlossen bekämpfen
Regierung und Währungshüter die Teuerung?
Nutzen sie alle Mittel? Und ist die Inflation noch zu
kontrollieren?
Zuletzt erhöhten sich die Preise für die Lebens-
haltung in Deutschland in einem Tempo wie seit
Dezember 1951 nicht mehr – um zehn Prozent in-
nerhalb eines Jahres. Besonders extrem war der Preis-
anstieg bei Lebensmitteln (19 Prozent), Strom (21
Prozent), Diesel (48 Prozent), Erdgas (95 Prozent)
und Heizöl (108 Prozent). Bis in die Mittelschicht
hinein sorgen sich Menschen, dass sie ihre Energie-
rechnung nicht mehr bezahlen können. Bäckereien
und andere Handwerksbetriebe bangen wegen der
gestiegenen Kosten um ihre Existenz, Wirtschafts-
verbände warnen vor einer Deindustrialisierung des
Landes, und der Einzelhandel befürchtet eine Pleite-
welle, weil die Kunden das Geld zusammenhalten.
Eine dauerhaft hohe Inflation, warnte Bundesbank-
präsident Joachim Nagel vergangene Woche, sei »der
größte Wohlstandsvernichter«.
Und die Preise dürften weiter steigen. Der Bundes-
bankchef hält im kommenden Jahr über sieben Prozent
Inflation für wahrscheinlich, vier führende deutsche
Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten in einer ge-
meinsamen Pro­gno­se fast neun Prozent. Erst ab 2024
soll sich die Lage normalisieren – die Institute schätzen
die Teuerungsrate auf dann rund zwei Prozent. Das
entspräche der als unschädlich geltenden, von den
Notenbanken sogar als nötig angesehenen Inflations-
rate. Pro­gno­sen, die bis in das übernächste Jahr reichen,
sind jedoch extrem unsicher. Einige Experten halten
die Angaben für 2024 auch für zu optimistisch: »Die
Gefahr ist groß«, sagt etwa der Ökonom Volker Wie-
land, der lange dem Sachverständigenrat für Wirtschaft
angehörte, »dass die Inflation wieder unterschätzt wird.«
Die Wurzel der aktuellen Inflation ist, stark ver-
einfacht: Das Angebot an verfügbaren Gütern und
Waren ist kleiner als die Nachfrage. Das treibt die
Preise. Deshalb hilft, was entweder die Nachfrage
nach den Gütern senkt – oder deren Angebot erhöht.
Auf das Angebot, vor allem an knapper Energie,
kann die Bundesregierung einwirken. Und sie tut das
auch: Gerade hat der Bundeskanzler entschieden,
dass die letzten drei Atomkraftwerke dreieinhalb
Monate länger laufen sollen als ursprünglich geplant.
Außerdem treibt die Regierung den Bau von Termi-
nals für den Import von Flüssiggas an der Nordsee-
küste voran. Und sie hat erlaubt, dass ab Oktober ein
Dutzend Reservekraftwerke, die bisher nur in Not-
fällen eingeschaltet werden durften, im Dauerbetrieb
laufen. So wie das Kraftwerk in Bexbach.
Doch reicht das? Veronika Grimm, die Energie-
expertin im Wirtschafts-Sachverständigenrat, for-
dert seit Wochen, die Laufzeit der Atomkraftwerke
um mehrere Jahre zu verlängern und auch zu prü-
fen, ob sich stillgelegte Meiler reaktivieren lassen.
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank,
sagt: »Um die Inflation zu bremsen, müssen wir alle
verfügbaren Kraftwerke einsetzen, die Strompro-
duktion hochfahren, das Planungsrecht entrümpeln
und endlich beim Bau der Stromleitungen von
Norden nach Süden vorankommen, damit wir die
Windenergie voll nutzen können.« Und Volker
Wieland, der ehemalige Wirtschaftsweise, meint:
»Wir sollten Fracking erlauben und unsere eigenen
Gasvorkommen in Deutschland erschließen.« Dann
müsse man weniger extrem teures, mit Schiffen
transportiertes Flüssiggas importieren, das in den
USA mit der gleichen Methode aus dem Boden ge-
holt werde. »Die Bundesregierung müsste jetzt alles
tun, um die Energieknappheit zu verringern«, sagt
der Ökonom, »aber das tut sie nicht.«
Klar ist: Ob Kohle, Fracking oder Atomkraft –
alle diese Wege, den Preisanstieg zu dämpfen, haben
ihre Kehrseiten. Wer mit ihnen die Inflation be-
kämpft, muss ökologische Probleme und Risiken in
Kauf nehmen.
Risiken birgt allerdings auch das Mittel gegen
Inflation, über das die EZB verfügt. Sie wird es der
Wirtschaft am Donnerstag kommender Woche
voraussichtlich wieder verabreichen. Dann versam-
meln sich die Notenbankchefs der Euro-Länder und
das EZB-Direktorium im 41. Stock des seltsam
schrägen Büroturms der Europäischen Zentralbank
in Frankfurt, um über die Leitzinsen zu entscheiden.
Anschließend, um 14.15 Uhr, wird ein Mitarbeiter
des Pressestabs in einer Telefonkonferenz mit Journa-
listen die Beschlüsse vorlesen. Sekunden später rea-
gieren die Investoren an den Finanzmärkten.
Das wichtigste Mittel der EZB sind Zinsen. Wenn
sie ihren Einlagenzins anhebt, bedeutet das: Banken
bekommen für Geld, das sie bei der EZB parken, einen
höheren Zinsertrag. Das sorgt dafür, dass die Institute
auch im Geschäft mit ihren Kunden höhere Zinsen
festsetzen. Wer sich Geld leihen will, um ein neues Auto
zu kaufen, ein Haus zu bauen oder eine neue Maschine
anzuschaffen, muss dann mehr dafür bezahlen. Kredite
werden teurer, das verringert die Nachfrage. So funk-
tioniert die Geldpolitik der Notenbanken.
Dass die Zinsen steigen müssen, um die Inflation
wieder in den Griff zu bekommen, darüber sind
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
10 sich die meisten Notenbanker einig. Denn die
Energieknappheit lässt sich kurzfristig nicht kom-
plett beseitigen, und sie ist auch nicht die einzige
Ursache der aktuellen Teuerung. Zu der hat bei­
Rasanter getragen, dass die Preise von Lebensmitteln gestie-
gen sind, dass es bei vielen Lieferketten hakt und
Anstieg dass Staaten und Notenbanken in den ersten beiden
Pandemiejahren viel Geld in die Wirtschaft ge-
Verbraucherpreisindex pumpt haben, was verspätet für einen Nachfrage-
im Vergleich zum schub sorgte. »Der Preisdruck in der gesamten
Vorjahresmonat Wirtschaft hat an Breite und Stärke zugenommen«,
in Prozent stellte EZB-Chefin Chris­tine La­garde Anfang Sep-
8 tember fest. Deshalb seien weitere Zinserhöhungen
nötig, um die Nachfrage zu dämpfen.
Allerdings wirkt dieses Mittel nur sehr langsam.
Auch wenn die Märkte für Anleihen oder Tagesgeld
binnen Sekunden auf eine Leitzinserhöhung reagieren,
wird dadurch noch nicht das Stück Butter im Super-
markt billiger. Der Weg von den Zinsen zu den Preisen
für Butter, Autos oder Diesel ist verschlungen. Ein Bei-
spiel: Wenn mit den Leitzinsen die Bauzinsen steigen,
Februar 2022: wird einige Zeit später weniger gebaut, weil sich manche
Angriff auf Käufer die Finanzierung nicht mehr leisten können.
die Ukraine Einige Handwerker haben weniger zu tun, sie ver-
6 brauchen weniger Diesel und weniger Baumaterial und
verschieben vielleicht die Anschaffung eines neuen
Fahrzeugs. Das alles verringert die Nachfrage und den
Preisdruck – nur eben nicht sofort.
Die Zeitverzögerung, bis diese Wirkung tatsäch-
lich eintrifft, sei »lang und variabel«, stellte der Öko-
nom Milton Friedman schon 1961 fest. Als normal
gelten eineinhalb Jahre, auch zwei Jahre sind nicht
ungewöhnlich. Das heißt: Die Entscheidung, die
kommende Woche im EZB-­ Tower fällt, entfaltet
ihre volle Wucht womöglich erst Anfang 2024.
Man kann sich das vorstellen wie bei einem
4 Supertanker, der unglaublich träge auf einen Lenk­
impuls reagiert. So träge, dass es Jahre braucht, bis
er seinen Kurs ändert.
Leitzinserhöhungen haben noch eine Kehrseite: Sie
kosten Wachstum. Ökonomen sprechen von einer sacri­
Februar 2020: fice ratio (»Opferrate«). Um die Inflation um einen
Beginn der Prozentpunkt zu drücken, muss man kurzfristig viel-
Corona-Krise leicht zwei Prozentpunkte Wachstum opfern. Allerdings
gilt hier das Gleiche wie bei der Zeitverzögerung: Die
Kosten sind wechselhaft. Eine feste sacri­fice ratio, mit
der man kalkulieren könnte, gibt es nicht.
Die Trägheit und die Kosten einer inflations-
2 dämpfenden Geldpolitik sind in der aktuellen Krise
besonders tückisch. Denn die Wirtschaft befindet
sich ohnehin auf dem Weg in eine Rezession, und
die Nachfrage könnte bald deutlich schrumpfen.
Wie schwer die Rezession wird, weiß niemand, aber
die Bremsmanöver der EZB verstärken sie. Hinzu
kommt, dass es für einige hoch verschuldete Länder
schwieriger wird, ihren Staatshaushalt zu finanzieren,
wenn die Zinsen steigen. Wie rigide kann da die
Zentralbank das Geld verknappen?
In der aktuellen Situation, warnt Pierre-Olivier
Gourinchas, bestehe für die Notenbanken in aller
Welt das Risiko, falschzuliegen – und entweder zu
stark oder zu wenig zu bremsen. Im einen Fall,
Sep. Sep. meint der Chefökonom des Internationalen Wäh-
2017 2022 rungsfonds, riskieren sie eine schwere Rezession, im
19
anderen eine außer Kontrolle geratene Inflation.
Illustration: Martin Naumann für DIE ZEIT; ZEIT-Grafik, Quelle: Statistisches Bundesamt
Gefährlicher sei das zweite Szenario. Denn wenn die
Inflation erst einmal außer Kontrolle ist, wird es
noch kostspieliger, sie wieder einzufangen. Das zeigte
sich Ende der 1970er-Jahre, als die US-Notenbank
zu spät handelte und später die Wirtschaft umso
brutaler abwürgen musste. Gourinchas fordert des-
halb »einen entschlossenen Fokus auf die Inflations-
bekämpfung«.
Sein Appell richtet sich nicht nur an die Noten-
banken. Auch die Regierungen beeinflussen die Nach-
frage. Wenn sie Preisdeckel für Energie einführten und
großflächig Subventionen verteilten, so der IWF-
Experte, konterkariere das die Bemühungen der Wäh-
rungshüter, die Nachfrage zu dämpfen. In Deutschland
kritisieren manche Ökonomen deshalb Maßnahmen
wie den Tankrabatt oder eine Gaspreisbremse. Damit
kann eine Regierung zwar vorübergehend die Preise
senken. »Aber das Geld, das der Staat verteilt, wird zu-
mindest zum Teil ausgegeben und trifft auf ein knappes
Angebot. Auf Dauer verfestigt das die Inflation«, warnt
Volker Wieland. Hilfsprogramme seien nötig, müssten
sich aber auf die wirklich Bedürftigen beschränken.
Im Kampf gegen die Inflation spielen also Kraft-
werke, Zinsen und – eher problematisch – staatliche
Ausgabenprogramme eine Rolle. Hinzu kommt noch
eine psychologische Komponente. Denn der abge-
droschene Spruch, Wirtschaft sei zur Hälfte Psycho-
logie, stimmt bei der Inflation tatsächlich. Ob sie
schlimmer wird, hängt auch davon ab, ob die Men-
schen glauben, dass sie schlimmer wird. Ihre Inflati-
onserwartungen, das ist eine gesicherte Erkenntnis,
haben großen Einfluss auf die Preisbildung. Zum einen
erhöhen Gewerkschaften ihre Lohnforderungen, wenn
sie eine steigende Inflation erwarten, zum anderen
erhöhen Unternehmer dann ihre Preise umso stärker.
Was wiederum zu mehr Teuerung und noch mehr
erwarteter Inflation führt.
Auch um diesen Prozess gar nicht erst in Gang
kommen zu lassen, pochen viele Experten darauf,
dass die EZB und die Bundesregierung jetzt ent-
schlossen handeln. Und wirklich alles versuchen, um
den Preisanstieg zu dämpfen.
Sind sie dabei auf einem guten Weg? Die EZB
befragt regelmäßig Konjunkturexperten und nor-
male Bürger, mit welcher Teuerung sie rechnen. Die
gute Nachricht ist: Bei der letzten Umfrage unter
den Profis schätzten die Teilnehmer die Inflation
mittelfristig auf 2,1 Prozent. Die schlechte: Bei
den Bürgern wächst die Überzeugung, dass es anders
kommt. Sie rechneten zuletzt mit einer mittelfristi-
gen Inflation von fast fünf Prozent. Also deutlich
über dem Zwei-Prozent-Ziel der EZB.
Wer hat recht? »Am Ende kommt es auf die In­
fla­tions­erwar­tun­gen der Verbraucher an«, sagt
Commerzbank-Ökonom Jörg Krämer. »Stu­dien zei-
gen, dass die Verbraucher in Umbruchphasen ein
gutes Gespür dafür haben, wie es mit der Inflation
weitergeht.« Der Tanker bewegt sich also wohl weiter
in die falsche Richtung.
Siehe Seite 22: Ein Kauf haus und die Inf lation
www.zeit.de/vorgelesen
20 WIRTSCHAFT 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Raubzug mit Kettensäge

Gas ist teuer, Holz erst recht. Deshalb zieht es Kriminelle jetzt in den Wald. Eine Ermittlung unter Bäumen  VON MARCUS ROHWETTER
Holzpellets
Holzpellets
undHolzpellets
Holzpellets
Preisentwicklung für Brennholz und Holzpellets
und
Brennholzund
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Preisentwicklung
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Foto: Kilian Schönberger; ZEIT-Grafik, Quelle: Statistisches Bundesamt, Veränderung zum Vorjahresmonat
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D
2022

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en Tatort erreicht Jörg Je begehrter das Holz, desto eher lohnt sich ein rät hatte sie jemand schon zum Wegesrand bald seit 20 Jahren betreibt, sagt er: »So etwas Nein, sagt sie, ein Brennholzhändler sei un-
Februar 2022

April 2022

Juni 2022

August 2022
Februar2022
2022
Februar 2022

April2022
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Juni2022
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Juni 2022

August2022
2022
August 2022

Bober mit dem Ge- Waldspaziergang mit Kettensäge. geschafft. wie dieses Jahr habe ich noch nie erlebt.« ter dieser Anschrift unbekannt.
ländewagen. Er biegt Jörg Bober aus Wernsdorf hat sogar einen Tage später habe ihn dann ein Waldbesu- Damit meint Könen aber nicht nur die Holz-Kriminalität gibt es auch deswegen,
Februar
Februar

April
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Juni
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August
August

in einen engen Forst- Lkw-Fahrer erwischt, als dieser die letzten cher angerufen, weil jemand die Stämme Menschen, die Holz bei ihm kaufen wollen. weil das Risiko, entdeckt zu werden, gering ist.
weg nahe der branden- Stämme abholen wollte: ein Lohnunterneh- mit einem Traktor wegschaffte. Block sagt, Sondern auch jene, die irrigerweise dachten, Und wenn, geht es eher um Tausende Euro als
burgischen Gemeinde mer, der bloß einen Auftrag erfüllte. Bis er habe sofort die Polizei alarmiert und sei in sie hätten es getan. Er kenne inzwischen um Millionen. Wohl auch daher bleiben viele
Wernsdorf ein. Nach nach Finnland habe er die Spur der Hinter- den Wald gefahren. Dort sei der Täter noch mehrere. Einer sitze auf 2000 Euro Schaden, Ermittlungsverfahren erfolglos. Hendrik Block
einer kurzen, rumpeligen Fahrt hält er an männer verfolgen können, sagt Bober. Straf- bei der Arbeit gewesen: ein Mann aus einem ein anderer habe fast 3000 Euro verloren. von der Waldeckischen Dominialverwaltung
einem mit Kiefern bestandenen Hang. Bo- anzeige habe er gestellt, eine Schadensersatz- Dorf in der Nachbarschaft. »Der hatte sich »Ein Kunde rief mich an einem Sonntag- sagt, er habe im Februar eher zufällig einen
ber steigt aus und stapft einige Schritte in klage bereite sein Anwalt noch vor. Das die Bäume einfach für seine Holzheizung morgen um sieben Uhr an und hat mir erzählt, Lastwagenfahrer kontrolliert, der Holz aus
den Wald hinein. »Hier«, sagt er, »hier und meiste Holz aber sei verloren. Vermutlich geholt«, sagt Block. dass er auf einen Betrüger reingefallen sei«, einem der Wälder bringen wollte, aber keine
hier« und deutet jedes Mal auf einen der längst zu Konstruktionshölzern, Spanplatten Solche Fälle gebe es vielleicht fünf- bis sagt Könen. »Da hatte jemand mit Fotos von Abholpapiere vorweisen konnte. »Der Auftrag-
Baumstümpfe, die alle paar Meter aus dem oder Papier verarbeitet. Oder zu Brennholz zehnmal im Jahr. »Aber die Dunkelziffer ist meinem Betrieb auf Face­book eine Anzeige geber kam aus der Slowakei«, sagt Block. »Die
moosigen Waldboden ragen. Die Bäume, – auch wenn man dafür normalerweise an- natürlich riesig, vor allem bei den kleineren geschaltet. Alles lief dann über den Face­book-­ Polizei hat die Ermittlungen aber eingestellt,
die hier mal standen, hat nicht er gefällt. dere Bäume als Kiefern verwendet. Mengen – wenn sich jemand den Koffer- Mes­sen­ger: Bei Vorab-Überweisung auf ein weil der Aufwand angesichts des Schadens
Diebe haben sie abgesägt. Die gestiegene Nachfrage nach Feuerholz raum mit Brennholz volllädt.« ausländisches Konto sollte der Schüttraum- dann doch sehr hoch gewesen wäre.«
Bober, von Beruf Ingenieur, gehört süd- ist der jüngste Treiber der Wald-Kriminali- Es ist wenig verwunderlich, dass Men- meter 45 Euro kosten, also extrem wenig. Aber Blocks Lösung für das Problem, zumin-
östlich von Berlin ein Stück Wald. Im April tät. Immerhin elf Millionen Kaminöfen gibt schen kurz vor dem Winter nach Alternati- das Holz kam natürlich nie an.« dest gelegentlich, ist Hightech: Waldschutz
wurde er Opfer von Kriminellen. »Die wa- es im Land. Jetzt, wo es kälter wird, dürften ven zum teuren Gas suchen. Nach wie vor ist Für Betrüger sind Kaminbesitzer derzeit per Satellit. »Wir schützen unser Holz auch
ren mit dem Harvester hier, mit Lastwagen, sich viele Menschen daran erinnern, dass sie Holz billiger, wenngleich es schon deutlich eine gefragte Zielgruppe. Könen ist längst mit GPS-Sendern«, sagt er. »In einem Polter
mit allem«, sagt er. Harvester sind professio- ihre Bude mit Holz auch dann noch heizen mehr kostet als vor einem Jahr. Um 86 Pro- nicht der einzige seriöse Brennholzhändler, bohren wir einzelne Stämme an, dann kommt
nelle Erntemaschinen: Binnen Sekunden können, wenn die Abschlagszahlungen für zent ist der Preis für Brennholz und Holz- dessen Identität von Kriminellen miss- der Sender rein. Das sieht man nicht. Sobald
fällen sie eine Kiefer und schneiden den Gas nicht mehr zu bezahlen sind. Und so pellets seitdem gestiegen, teilte das Statisti- braucht wurde. Der Bundesverband Brenn- jemand das Holz bewegt, bekommen wir
Stamm auf eine transportable Länge. »Mehr ziehen etliche auf eigene Faust los, um sich sche Bundesamt im September mit. Je nach holzhandel führt eine Liste mit fast 20 mut- eine Push-Nachricht und können prüfen, ob
als 100 Bäume haben sie mir gestohlen, das Brennstoff zu holen. Was erstens kriminell Region bezahlt man für einen Raummeter maßlichen Holz-­Fake­shops. das seine Richtigkeit hat.« Als Polter be-
sind drei Lkw-Ladungen voll – mit Hän- ist. Und zweitens lebensgefährlich. Buche, also einen Würfel gestapelter Holz- Manche der Anbieter wirken auf den ersten zeichnet man in der Forstwirtschaft Stapel
ger!«, sagt Bober. Der Schaden: um die »Erst kürzlich war ich mit der Polizei im scheite mit einem Meter Kantenlänge, um Blick überzeugend echt. Der Onlineshop von von gesammeltem Holz, wie Wanderer sie
5000 Euro. Wald, wir haben einen Holzdieb in flagranti die 130 Euro. Fichte ist günstiger, brennt MKW Energie Holz aus der Nähe von Stutt- oft am Wegesrand sehen.
Gesetzlose in Wäldern gab es immer ertappt«, sagt Hendrik Block. Er leitet die aber nicht so lange. Wenn man denn das gart etwa. Die Firma wirbt mit einem kleinen Die Tracker-Variante ist inzwischen ver-
schon. Die Räuber im Spessart etwa, den Waldeckische Dominialverwaltung in Bad Glück hat, sich die Holzsorte aussuchen zu bunten Holzlaster als Logo und schreibt, dass breitet, auch die Thüringischen Staatsforste
tumben Hotzenplotz, den Freiheitskämpfer Arolsen. Seit 800 Jahren kümmert man sich können. Oft gibt es gar keines mehr. Was sie »langjährige Erfahrung und ein hoher An- und einige andere Großwaldbesitzer verwen-
Robin Hood. Doch egal ob historisch belegt hier um die riesigen Forste im nördlichen eine weitere Art von Holz-Gaunern anlockt. spruch an Holzqualität und Nachhaltigkeit« den sie. Ab und zu schlagen die Geräte Alarm.
oder nur gut ausgedacht, eines hat sich ge- Hessen, früher für den Adel, heute für den David Könen ist Kaminholzhändler aus auszeichneten. Das Angebot ist breit, die Fotos So gesehen hat sich nicht viel geändert in
ändert: Früher waren die dunklen Gestalten Landkreis Waldeck-Frankenberg. Block ist Elsdorf, einer Stadt in der Nähe von Köln. sind hübsch, und der Raummeter Buche den vergangenen Jahrhunderten. Holz-Räuber
im Wald auf das Geld von Reisenden aus. der Chef des größten kommunalen Waldes Es ist schwer, ihn in diesen Tagen überhaupt kostet bloß 89,99 Euro. Gegen Vorkasse, dafür hat es in den Wäldern immer schon gegeben,
Heute stehlen sie den Wald selbst. in Deutschland. ans Telefon zu bekommen. »Anrufe und bundesweit versandkostenfrei. immer schon waren sie schwer zu finden, und
Zwar gibt es keine offizielle Statistik über In einem Waldstück sei ein gutes Dut- E-Mails werden derzeit nicht entgegenge- Erst bei näherem Hinsehen ergeben sich immer schon haben sich Waldbesitzer etwas
das Ausmaß des Holzklaus. Die Meldungen zend Eichen und Buchen gefällt worden, er- nommen!!!!!« steht auf seiner Internetseite, Zweifel: Die Internetseite des vermeintlich einfallen lassen. Bevor es Satelliten und GPS-
über derartige Fälle häuften sich allerdings, zählt Block am Telefon. Allerdings nicht und: »Zur Zeit können wir keine neuen Be- alteingesessenen Betriebs ist erst seit Juni on- Sender gab, erzählt einer, habe man die Stämme
berichtet die Arbeitsgemeinschaft Deutscher von einem Profi: So schlecht angesägt waren stellungen annehmen!!« line. Die für Rückfragen angegebene Han- am Wegesrand auch schon angebohrt. Nur
Waldbesitzerverbände. Die Schäden dürften sie, dass einige von ihnen immer noch Wenn man aber nicht bei ihm anruft, um dynummer ist nicht vergeben, eine E-Mail habe man damals Schießpulver in die Löcher
sich auf jährlich »mehrere Millionen Euro« schräg in den Kronen ihrer Nachbarbäume nach Brennholz zu fragen, hat man doch eine mit Fragen bleibt unbeantwortet. An der im gefüllt. Um Diebe zu finden, musste man bloß
summieren, teilt die Interessenvereinigung mit. hingen – eine potenziell tödliche Gefahr Chance auf ein paar Worte. Bis zu 300 An- Impressum genannten Firmenadresse befin- warten, bis irgendwo ein Ofen explodierte.
Für organisierte Banden wie für einzelne für Spaziergänger oder Pilzsucher. Andere fragen erhalte er am Tag, Anrufe, Mails, Briefe, det sich in Wahrheit ein Autohaus. Den An-
Gelegenheitstäter gilt nämlich gleichermaßen: aber waren umgefallen. Mit schwerem Ge- Besuche. Obwohl er das Geschäft hier schon ruf dort nimmt eine Mitarbeiterin entgegen: www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022
Eigentlich soll es nun richtig losgehen mit dem Ausbau
von Wind- und Solarenergie. Die Förderung steht bereit,
aber nur wenige wollen sie haben. Wie kann das sein?
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben
die erneuerbaren Energien praktisch nur noch
Freunde in der deutschen Politik. »Freiheitsenergien«
nennt Christian Lindner sie jetzt, und Robert Habeck
will sie »entfesseln« von der Bürokratie, die sich in
den Merkel-Jahren über sie gelegt hat. Bei so viel
politischer Liebe könnte man meinen, dass es nun
schnell geht mit dem Bau von Sonnen- und Wind-
kraftwerken. Doch das täuscht leider sehr.
Tatsächlich lahmt der Ausbau weiterhin, viele
Projekte stecken fest und werden nicht verwirklicht.
Das zeigen die neuesten Zahlen der Bundesnetz-
agentur. Die Behörde hat gerade Förderungen für
Windräder an Land ausgeschrieben, für Anlagen mit
einer Leistung von zusammen 1320 Megawatt (was
immerhin einem Kernkraftwerksblock entspräche).
Doch gerade mal 87 Projekte haben sich auf die
staatliche Abnahmegarantie zu einem gesicherten
Mindestpreis beworben, mit einer Leistung von
zusammen 772 Megawatt. Fast die Hälfte des För-
dervolumens bleibt also ungenutzt; es finden sich
schlicht nicht genügend Projekte.
Bei der Solarenergie sieht es noch düsterer aus:
Hier sollten im August garantierte Förderungen für
767 Megawatt neu installierter Leistung auf Ge-
bäudedächern verteilt werden. Doch gemeldet haben
sich nur 106 Interessenten mit zusammen 201 Mega­
KOMMENTAR
Lasst den Zombie sterben!
Die Bundesregierung sollte den Warenhauskonzern Galeria diesmal
nicht retten, denn ihm fehlt ein Geschäftsmodell mit Zukunft
Galeria kämpft ums Überleben. Wieder einmal.
Der Warenhauskonzern, der vor drei Jahren aus
der Verschmelzung von Karstadt und Kaufhof
entstand, steckt in einer existenzbedrohenden Not-
lage und ruft laut Medienberichten nach finanziel-
ler Hilfe vom Staat. Das Unternehmen begründet
seine Schieflage mit den hohen Energiepreisen
und der fast ungebremsten Inflation.
Was für ein Déjà-vu: Erst Anfang dieses Jahres
hatte die Bundesregierung dem Unternehmen
Unterstützung in Höhe von 250 Millionen Euro
gewährt. Ein Jahr zuvor war es sogar ein Darlehen
von 460 Millionen Euro. In einer Ausnahmesitua-
tion wie der Pandemie war das vielleicht noch ge-
rechtfertigt. Aber jetzt? Sollte die Bundesregierung
die Hilfe ablehnen, auch wenn ein Teil des schon
geflossenen Geldes damit wohl futsch wäre.
Erstens sollte der Staat in Zeiten wie diesen nur
dann Millionen in ein angeschlagenes Unternehmen
pumpen, wenn es so systemrelevant ist, dass ohne
sein Überleben eine ganze Branche kollabieren würde.
Das System, um das es geht, sind die Innenstädte.
Und ja, ihnen geht es schlecht. Die Fußgängerzonen
mittelgroßer deutscher Städte sind Orte der Trostlo-
sigkeit. Nur: Dass die Warenhäuser von Galeria für
diese Innenstädte die letzte Rettung sind, wie etwa
WIRTSCHAFT
Womit keiner rechnet
Die Preise für Windräder sind stark gestiegen
watt. Gut zwei Drittel des staatlichen Förderangebots
fanden demnach keine Abnehmer.
Was ist da los? Warum stockt der Ausbau der
Erneuerbaren ausgerechnet jetzt, da sie doch drin-
gender denn je herbeigesehnt werden? Die traurige
Antwort: Zwar wurden alte Hindernisse in den
vergangenen Monaten von der Regierung angepackt,
aber bis sie verschwinden, braucht es noch Zeit.
Dafür sind inzwischen massive wirtschaftliche Pro-
bleme dazugekommen, die vielen Projekten gerade
regelrecht die Luft abschnüren.
Katja Wünschel verantwortet beim Energie-
konzern RWE den Ausbau von Wind- und Solar-
parks in Europa. In den vergangenen Jahren waren
ihre größten Probleme, dass die deutschen Kom-
munen kaum geeignete Flächen für Windräder
bereitstellten und die Genehmigungsverfahren ewig
dauerten. »Wir benötigen im Schnitt sieben Jahre,
bis ein Projekt baureif ist«, sagt Wünschel. »Das ist
viel zu lange.« Dank verschiedener Gesetzesände-
rungen werde das nun langsam besser. Und die
Widerstände sinken. »Wir sehen erste Kommunen,
die bisher nicht für Erneuerbare offen waren und
ihre Meinung jetzt ändern«, sagt sie.
Dafür ist aber ein neues Problem hinzugekom-
men, das alle Fortschritte zunichtemacht. »Die
steigenden Kosten sind eine enorme Herausforde-
der Handelsverband behauptet, stimmt so nicht.
Denn die Filialen des Konzerns sind aus Osna-
brück oder Iserlohn längst verschwunden, ge-
blieben sind Ein-Euro-Shops und SB-Bäckereien.
Zweitens wäre das Überleben des Unterneh-
mens auch mit einem neuen Staatskredit nicht
gewiss. Karstadt und Kaufhof wurden über Jahre
schlecht geführt. Mehrmals wechselten sie den
Eigentümer, wurden herumgereicht wie Socken
auf dem Grabbeltisch. Übrig geblieben ist ein
Zombie ohne tragfähiges Geschäftsmodell. Die
Läden und der Online-Shop wirken trotz Bemü-
hungen um Modernisierung aus der Zeit gefallen.
Gut möglich, dass Galeria früher oder später
wieder Geld benötigen würde.
Wenn überhaupt, sollte nur ein Mann ein-
springen: René Benko, österreichischer Milliar-
där und über seine Signa-Holding Eigentümer
von Galeria. Damit könnte er beweisen, dass es
ihm nicht bloß um die Immobilien geht.
Keine Frage: Für die 16.000 Beschäftigten
wäre ein Ende von Galeria eine Tragödie. Aber
noch nie waren ihre Chancen, schnell einen
neuen Job zu finden, so groß wie jetzt. Ob im
Handel oder in der Gastronomie: Sie werden
überall gebraucht. ANN-K ATHRIN NEZIK
rung«, sagt Wünschel. »Egal ob ich einen Vertrag für
eine neue Windturbine unterschreibe oder einen
Bauvertrag für die Fundamente und Straßen dorthin
– überall haben sich die Kosten sehr stark erhöht.«
Schon vor dem Krieg kostete ein modernes
Windrad allein zwischen 3,85 und 4,5 Millionen
Euro. »Inzwischen sind die Preise um 40 bis 50 Pro-
zent gestiegen«, sagt Johannes George, Windenergie-
Experte beim Bundesverband der Energie- und
Wasserwirtschaft. Die Preissprünge führten dazu,
dass Projekte kaum mehr kalkulierbar seien. In-
zwischen würden die Hersteller gar keine verbind-
lichen Preise mehr für ihre Windräder nennen.
Stattdessen bieten sie Verträge mit sogenannten
Preisgleitklauseln an und reichen die steigenden
Rohstoff- und Energiekosten laufend weiter. Monat
für Monat klettern die Preise der Windräder. Ge-
zahlt wird erst kurz vor der Lieferung.
Zudem sind auch die Zinsen für Kredite ge-
stiegen, von gut einem auf mehr als vier Prozent.
Das Ergebnis: Viele Projekte rechnen sich nicht
mehr. Zumindest nicht in den Augen der Banken.
Die Kredithäuser verweigern Finanzierungszusagen,
deshalb können viele Projektentwickler ihre bereits
genehmigten Windparks nicht bauen.
Katja Wünschel von RWE erklärt, wie das sein
kann, obwohl der Strompreis derzeit so hoch ist wie
KOMMENTAR
Game over, Big Tech
Das Metaversum hat kaum Besucher. Woran das liegt? Die großen
Digitalkonzerne haben verlernt, Millionen Nutzer zu begeistern
Es sollte ein Neuanfang sein: Im vergangenen
Herbst rief Mark Zuckerberg – oder besser ge-
sagt: sein virtueller Doppelgänger – den Auf-
bruch ins Metaversum aus. In dieser digitalen
Parallelwelt sollen die Menschen künftig spie-
len, lernen, einkaufen, arbeiten oder einfach
nur abhängen. Dafür müssen sie sich eine VR-
Brille aufsetzen. Die stammt – logisch – von
Zuckerbergs Konzern, der inzwischen auch
Meta heißt. Es war eine Ansage: Der Konzern
will sich im Metaversum neu erfinden und so
seine vielen Skandale hinter sich lassen.
Nun, ein Jahr später, ist die Ernüchterung
groß. Das Metaversum des Konzerns ist ver-
waist, wie interne Dokumente belegen, über
die das Wall Street Journal berichtet. Facebook,
Instagram und WhatsApp, die Social-Media-
Plattformen aus Zuckerbergs Reich, haben
rund 3,5 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer –
rein rechnerisch die Hälfte der Weltbevölke-
rung. »Horizon Worlds«, die virtuellen Meta-
Welten, zählen dagegen gerade einmal 200.000
regelmäßige Besucher. Das entspricht der Ein-
wohnerzahl von Kassel. Im »Murder Village«,
wo Nutzer Detektiv spielen können, gebe es
oft niemanden zu ermorden, berichteten die
21
noch nie: »Solche großen Millionenprojekte werden
Foto: Maurice Tricatelle/dpa
auf 30 bis 35 Jahre gerechnet, da sind hohe Strom-
preise am Anfang nicht entscheidend, sondern es
zählen die langfristigen Einnahmen.« Und die
könne niemand vorhersehen.
Hier kommt nun der Staat ins Spiel. Er garantiert
den Projektentwicklern in den Ausschreibungen
einen auf 20 Jahre festen Mindestabnahmepreis für
ihren Strom. Bis zu sechs Cent pro Kilowattstunde
waren es im vergangenen Jahr, dieses Jahr fiel der
Preis auf 5,88 Cent.
Angesichts der gestiegenen Kosten sei das zu
wenig, argumentiert die Energiebranche. Der Aus-
weg sei daher klar: Der Gesetzgeber müsse die garan-
tierte Mindestvergütung anheben oder gleich an die
Inflation koppeln. Dann würden die Banken die
Projekte auch wieder langfristig finanzieren.
Die Bundesnetzagentur aber ist zurückhaltend;
sie sehe keine »strukturelle Unterförderung«, teilt
ein Sprecher mit, manche Projektentwickler
würden womöglich nur taktieren und bessere
Konditionen abwarten. Ob die Behörde richtig-
liegt, wird sich im kommenden Jahr zeigen. Dann
wird sie statt fünf Gigawatt wie in diesem Jahr
fast 13 Giga­watt an Onshore-Windkraft-Leistung
neu ausschreiben. Und dafür braucht sie mehr
Interessenten als je zuvor.  MARC WIDMANN
Reporter des Wall Street Journal, die sich dort um-
sahen. Auch optisch kommen Metas virtuelle Wel-
ten wie schlechte Videospiele daher. Die digitalen
Avatare bewegen sich ohne Beine durch »Horizon
Worlds«. Zwar hat Zuckerberg versprochen nach-
zubessern, aber schon jetzt steht fest: Das Meta-
versum des Konzerns ist bislang eine Enttäu-
schung, die Neuerfindung erst mal gescheitert.
Und er ist nicht der einzige Tech-Konzern,
dem die Gefolgschaft abhandenzukommen droht.
Auch andere haben ihre Fähigkeit verloren, Pro-
dukte zu erfinden, die Millionen begeistern. Apple
war unter Steve Jobs berühmt dafür, zu wissen,
was Nutzer wollen, bevor sie es selbst wussten.
Sein Nachfolger Tim Cook begnügt sich damit,
die Aktionäre zu befriedigen. Apples letzter großer
kreativer Wurf liegt sechs Jahre zurück, als das
Unternehmen die AirPods auf den Markt brachte,
kabellose Kopfhörer.
Die Entzauberung der vermeintlich so genialen
Köpfe aus dem Silicon Valley hat etwas Gutes:
Sie macht den Weg frei für Gründer, die sich zur
Abwechslung mal drängenden Menschheitspro-
blemen wie dem Klimawandel widmen und sich
nicht in schlecht gemachten virtuellen Welten
verlieren.  HEIKE BUCHTER
22 WIRTSCHAFT 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

»Ich kämpfe für das, was ich liebe«

Tatjana Steinbrenner leitet das Kaufhaus »Ganz« in Bensheim. Ein Gespräch über Kauflust, tote Innenstädte und das ständige Wechseln der Preisschilder

Bensheim, Hessen, ein Freitagmorgen. In der
Altstadt steht das Kaufhaus »Ganz«. Gerade noch
war die Chefin, Tatjana Steinbrenner, gut gelaunt
ins Freie spaziert. »Ist es nicht schön hier?«, hatte sie
gefragt. Nun beißt sie sich beim Blick auf die
Hausfront auf die Lippe. Sie zeigt auf eine Stelle
zwischen Schaufenster und Wandfliesen: Zwei
riesige Dellen ruinieren dort das sonst makellos
rote Vordach.
Tatjana Steinbrenner: Gleich zwei Lieferwägen sind hier
in den letzten Wochen hängen geblieben. Das passiert
andauernd, weil dieses Vordach so eine unpraktische
Höhe hat. Und wissen Sie was? Ohne die hohe Inflation
wäre das Dach schon weg.
DIE ZEIT: Was hat denn die Inflation mit dem Vor-
dach zu tun?
Steinbrenner: Schon vor der Corona-Pandemie haben
wir geplant, die Front neu bauen und verglasen zu
lassen, viel Licht ins Innere zu lassen. Ein neues Café
sollte her, ein Secondhandbereich. Aber wegen der
großen Unsicherheit aufgrund der Preissteigerungen,
der aktuell insgesamt schwierigen Situation und der
Corona-Monate haben wir unsere Investitionen erst
mal auf Eis gelegt.
Die große Drehtür trennt Herbstluft und Raum-
duft. Hinein in den Alles-Laden. Seniorinnen mit
Hut. Aufsteller mit Markenkleidern. Dazwischen
tobende Kinder.
Steinbrenner: Sehen Sie? Wie schön wäre es, wenn wir
hier einen lichtdurchfluteten Eingang hätten.
ZEIT: An Ihrer Werbetafel draußen muss das Licht als
Folge der Energiesparregeln die meiste Zeit über aus
bleiben. Die Automatikscheiben vor der Drehtür
dürfen gesetzlich auch nicht mehr dauerhaft offen
stehen. Das hat die Regierung entschieden. Was hal-
ten Sie davon?
Steinbrenner: Natürlich nehmen wir die Situation sehr
ernst. Und natürlich sind die neuen Verordnungen
wichtig, um gemeinsam die Energiekrise anzugehen.
Aber die Innenstadt darf nicht dunkel und zu einem
Angstraum werden. Die nächtliche Beleuchtung hat
Menschen zu uns gebracht, die offenen Türen sahen
einladend aus. Verhältnismäßigkeit ist angesagt und
keine Symbolpolitik!
ZEIT: Wollen Sie keine Energie sparen?
Steinbrenner: Im Gegenteil. Wir sparen im Handel,
wo wir nur können, beleuchten etwa die Schaufenster
freiwillig weniger, allein schon wegen der Kosten.
Dass uns die Politik so wenig vertraut, enttäuscht
mich. Wir sind Unternehmer und selbst verantwort-
lich für unser Handeln.
ZEIT: Trotzdem scheint hier viel los zu sein. Vor Laden-
öffnung standen einige Kunden Schlange.
Steinbrenner: Ich bin froh, dass meine Kunden weiter-
hin zahlreich kommen. Aber sie kaufen seit der hohen
Inflation leider weniger. Gleichzeitig steigen unsere
Ausgaben enorm.
ZEIT: Seit wann kaufen die Kunden weniger?
Steinbrenner: Seit dem russischen Überfall auf die
Ukraine sind die Verkaufszahlen gesunken. Als dann
im Sommer die hohe Inflation eingesetzt hat, sind sie
noch weiter nach unten gegangen.
ZEIT: Bei welchen Produkten spüren Sie das?
Steinbrenner: Bei so ziemlich allem, was die Menschen
nicht akut benötigen: Schmuck, schöne Kleidung, ein
neues Teeservice, Spielsachen ...
ZEIT: Und daraufhin haben Sie die Investitionen ins
Gebäude gestoppt?
Die meisten Kunden haben aber Verständnis, wenn ich
es erkläre. Wir machen die Preise ja nicht selbst.
Kundschaft kommt, die Arbeit ruft, Inge Bösel ver-
abschiedet sich.
ZEIT: Frau Steinbrenner, wer macht die Preise, wenn
nicht Sie?
Steinbrenner: Wir können alle Preise händisch ändern.
Meistens haben wir unverbindliche Preisempfehlun-
gen. Wenn Erhöhungen beim Hersteller anfallen, pas-
sen wir die Preise bei uns an.
ZEIT: Profitieren die Produzenten von der Krise?
Steinbrenner: Es gibt bestimmt einige, die diese Situa-
tion ausnutzen. Aber auch die Produzenten kämpfen –
teilweise sind die Rohmaterialien um ein Vielfaches
teurer geworden.
ZEIT: Verdienen Sie nicht auch an der hohen Inflation?
Etwa wenn Sie Waren teurer verkaufen, die Sie bereits
im Vorjahr eingekauft haben?
Steinbrenner: Dass wir noch Ware auf Lager hatten,
wirkte sich kurz positiv aus. Das hat sich aber schnell
wieder ausgeglichen: Da die Produkte beim Nach-
kaufen auch für uns teurer wurden und alle Kosten
stiegen, wird das aktuelle Gewinnergebnis nicht das
beste werden. Genau wie bei Corona sind wir die
Verlierer der Inflation.
Die Rolltreppe hinunter, hinein in das Herz des
Kaufhauses: die Abteilung für teurere Accessoires.
Zarte Goldkettchen und Ringe liegen in Vitrinen
aus. An der Wand hängen schlichte, pastellfarbene
Handtaschen.
ZEIT: Luxus ist ja offenbar trotz Inflation gefragt:
Prada konnte seine Europa-Absätze im ersten Halb-
jahr 2022 um 89 Prozent erhöhen. Läuft es hier auch
so gut?
Steinbrenner: Beim High-End-Luxus ja. Bei Main-
stream-Ware, etwa einer Handtasche für 100 bis 150
Euro, ist es schwieriger. Bei einem großen Teil unserer
Kunden schlägt die aktuelle Situation stärker zu als
bei anderen.
ZEIT: Wäre es eine Lösung, teurere Marken aufzuneh-
men, um auf Reichere zu setzen?
Steinbrenner: Nein. Wir sind ein Kaufhaus für alle. Wir
haben hier eine Versorgungsfunktion. Natürlich müssen
wir uns weiterentwickeln und auch mal neue Dinge
ausprobieren. Oft ist es aber Bewährtes, das plötzlich
schwächere Bereiche ausgleicht.
ZEIT: Zum Beispiel?
Steinbrenner: Aktuell verkaufen wir sehr erfolgreich
Koffer und Reisegepäck. Die Kunden berichten mir:
Sie verzichten auf so ziemlich alles, aber sie reisen
weiter, flüchten in eine heile Welt. Es gibt weitere
Boom-Abteilungen, ich zeige Ihnen eine.
Steinbrenner schreitet voran – und wird gestoppt.
Eine kleine Schlange hat sich vor einer Kasse inmitten
von Wolle, Garn und Bastelbedarf gebildet.
Die Verkäuferin fehlt. »Ich muss schnell«, sagt
Steinbrenner und übernimmt die Kasse. Biep, biep,
Lächeln, fertig.
ZEIT: Haben Sie zu wenig Personal, Frau Steinbren-
ner?
Steinbrenner: Wir haben 52 Mitarbeiter, während Co-
rona haben auch wir Personal verloren. Und es wird
immer schwieriger, neue Leute zu kriegen.
ZEIT: Wie wollen Sie das lösen?
Tatjana
Steinbrenner: Meine Mitarbeiter sind meine zweite

Foto: Felix Schmitt für DIE ZEIT

Steinbrenner: Ja. Ich habe die Planung ab dem März
nicht weiter nach vorne getrieben, da mir der Mut in
der aktuellen Zeit leider fehlt.
Vorbei an Print-T-Shirts und einem Reisebüro.
Steinbrenner begrüßt Stammkunden. »Das ›Ganz‹
ist der Mittelpunkt der Stadt«, sagt die 76-jährige
Karen Krämer, die mit ihrer Freundin Bärbel
Hartmann, 75, gekommen ist. »Man trifft sich.
Wir kaufen oft Postkarten.«
ZEIT: Ist der Umbau jetzt für immer abgeblasen?
Steinbrenner: Nein, irgendwann machen wir das noch.
Wir Unternehmer sind auch in der Pflicht, bald wieder
richtig Geld zu investieren. Sonst rutschen wir alle so
richtig in die Rezession.
ZEIT: Was glauben Sie, wann wird die Lage wieder
besser?
Steinbrenner: Ich erwarte keine Erholung vor 2024.
Ich sehe eher jeden Tag, wie alles schwieriger wird.
ZEIT: Wo zum Beispiel?
Steinbrenner: Da stelle ich Ihnen mal eine Expertin
vor. Sie kann das am besten beantworten.
Die Rolltreppe hinauf, an der Damenkleidung
vorbei. Zwischen Dosenöffnern und Gusseisentöpfen
steht in der Haushaltswarenabteilung die
Verkäuferin Inge Bösel, 57. In der Hand hält sie
eine Klarsichthülle mit kleinen Zetteln.
ZEIT: Hallo, Frau Bösel, was machen Sie da?
Inge Bösel: Wir führen 300.000 Artikel, andauernd
steigen die Preise. Ich bin nur noch am Umetikettieren.
ZEIT: Mehr als sonst?
Bösel: Ich habe mit 16 Jahren angefangen, hier in der
Porzellanecke zu arbeiten. 41 Jahre. Aber so etwas habe
ich noch nie erlebt.
ZEIT: Wie reagieren die Kunden auf die Inflation?
Bösel: Manche bezeichnen uns als Wucherer, etwa weil
der Preis des Apfelweinglases von 3,29 Euro auf 4,99
Euro erhöht wurde. Das ist in Hessen ein Kulturgut.
Aber alles aus Glas wurde teurer, um bis zu 30 Prozent.
Familie, und natürlich verdienen sie im Einzelhandel
nicht so viel wie in anderen Branchen. Wir haben trotz
der gestiegenen Kosten die Gehälter angepasst. Vorher
lagen sie im Schnitt bei 2250 Euro, heute 150 Euro
höher. Ich versuche die Mitarbeiter aber auch zu för-
dern, ihnen Freiheiten zu geben und ihre Arbeit wert-
zuschätzen. Ohne sie wäre auch ich nicht erfolgreich.
ZEIT: Und bis dahin springen Sie ein?
Steinbrenner: Klar, das lag auch an der Abteilung, die
ist wichtig. Kurzwaren sind unsere DNA. Das hat
letztens eine Befragung bestätigt. Alles, was wärmt,
Wäsche oder Socken, läuft gerade auch. Das liegt an
der Angst der Menschen vor einem kalten Winter, die
in anderen Bereichen für Flaute im Verkauf sorgt. Aber
auch schon vorher haben wir von Textilien gelebt, be-
sonders Damenkleidung und -wäsche bringen Geld
ein. Ach, hallo, Brigitte!
Die Stammkundin Brigitte Spyrka, 64, grüßt
freundlich. Sie ist gekommen, um neue Socken zu
kaufen. »Meine Eltern und Großeltern waren hier
schon Stammkunden«, erzählt sie.
Steinbrenner: 70 Prozent unseres Umsatzes machen
wir durch Stammkunden mit Kundenkarte. Das sind
23.000 Menschen, halb Bensheim. Auch wenn alles
schlechter läuft – durch sie geht es uns verhältnis­
mäßig gut.
ZEIT: Kommen Sie mit diesem Kundenstamm sicher
durch die Krise?
Steinbrenner: Nur wenn die Kunden bleiben. Bald
bringen wir eine App heraus, damit wir noch mehr
Menschen ansprechen. Die kann als Ersatz für die
Kundenkarte benutzt werden – und wir können mit ihr
personalisierte Werbung ausspielen.
ZEIT: Wie gewinnt man heute neue Kunden?
Steinbrenner: Wir setzen auf Events und auf Marken
für junge Leute, machen bei Stadtaktionen mit und ent-
wickeln beispielsweise gemeinsam mit Studenten neue
Konzepte für den Eingangsbereich.
ZEIT: Greifen Ihre Strategien?
Steinbrenner: Die Kundenkarten werden mehr. Ins­
Steinbrenner,
51, führt das
Kaufhaus mit
ihrer Schwester
in dritter
Generation
gesamt muss der Einzelhandel die Krisen aber geeint ZEIT: Sorgen Sie sich darum, dass die Fußgängerzone
stemmen: Ich setze mich dafür ein, dass er mehr Un- und die Innenstadt nach all den Krisen weniger belebt
terstützung von der Politik bekommt. sind oder gar aussterben?
ZEIT: Sie sitzen neben großen Handels-CEOs in einem Steinbrenner: Während der Lockdowns hatten wir uns
»Wir Beratergremium des Bundeswirtschaftsministeriums,
engagieren sich in Verbänden.
große Sorgen gemacht, ob die Leute in die Einkaufs-
straßen zurückkehren. Seither engagieren wir uns, auch
Unternehmer Steinbrenner: Ich kämpfe für das, was ich liebe, auch
wenn meine Arbeitswoche dadurch noch länger wird.
gemeinsam mit dem Land und der Stadt, gezielt in
die Zentren zu investieren. Die Angst war aber vorerst
Es ist wichtig, aus der Praxis zu berichten, die Probleme unbegründet: Die Menschen sind ja wieder in die
sind auch in und Herausforderungen zu benennen.
ZEIT: Mit Erfolg?
Innenstädte zurückgekommen.
ZEIT: Und Sie glauben, das wird auch in Zukunft so
der Pflicht, Steinbrenner: Die Politik hat uns oft überraschend gut
zugehört, etwa bei den Corona-Hilfen. Momentan
sein?
Steinbrenner: Auf jeden Fall! Die Leute kommen und
bald wieder klappt das noch nicht so gut. Trotzdem glaub ich: Der
Einzelhandel hat noch viel vor.
sind gerne hier.
ZEIT: Aber sie kaufen weniger.
ZEIT: Dafür muss er die Krisen überleben – und gegen Steinbrenner: Das stimmt. Dafür, dass sie in der In-
richtig Geld Online-Händler bestehen. Glauben Sie wirklich, dass
Sie gegen Amazon und Co. ankommen?
nenstadt nicht nur spazieren gehen, sondern auch
Geld ausgeben, müssen wir stärker kämpfen denn je.
zu investieren. Steinbrenner: Wir haben selbst zwei Online-Shops.
Allein damit können wir den großen Rivalen zwar
ZEIT: In Zeiten steigender Preise könnten die Men-
schen entscheiden: Ich kaufe nicht, wo es schön ist,
Sonst rutschen nichts entgegensetzen, mit der Kombination aus
Online und Handel vor Ort jedoch schon. Einen der
sondern wo es günstig ist.
Steinbrenner: Das ist doch keine Entweder-oder-Ent-
Shops haben wir bei Zalando eingerichtet, da wird scheidung. Die Leute wollen alles: billig im Netz,
wir alle so fleißig online bestellt. Wichtiger ist unser eigener:
Hier sehen die Kunden im Netz, was es gibt – und
schön vor Ort, am besten billig und schön überall. Ich
bin mir sicher: Der Markt ist groß genug für Kauf-
richtig in die kommen dann vorbei, um sich beim Kauf beraten zu
lassen.
häuser und Amazon, trotz aller Probleme.
ZEIT: Was machen Sie, falls sich die Welt und der
Rezession« Auf dem Weg zum Ausgang, ein Abstecher zu Anna
Handel irgendwann beruhigen?
Steinbrenner: Kräftig in meine Mitarbeiter investie-
Sophie, 24. Sie betreut die Kaufhaus-Instagram- ren, der Fachkräftemangel wird Dauerkrise bleiben.
Seite. »Die Zukunft wird gut«, glaubt sie. »Trotz Das Vordach endlich loswerden. Und ein großes Fest
Krise sehen immer mehr junge und alte Leute feiern.
Waren – und seien es nur Handtücher – auf Insta
und kommen gezielt vorbei.« Das Gespräch führte Felix Leitmeyer
 DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022
Formulare
statt Pflege
Philippinische Fachkräfte würden gern
die Alten in Deutschland pflegen.
Doch die deutsche Bürokratie treibt sie
in andere Länder  VON FELIX LILL
A
ls seine Klienten vom Termin
bei der deutschen Botschaft in
Manila zurückkommen, er-
kennt Jason Heinen schon an
ihren Gesichtsausdrücken: Da
ist wieder etwas schiefgelau-
fen. »Wie war’s?«, fragt der
49-Jährige die drei jungen Erwachsenen auf Ta-
galog, einer der auf den Philippinen verbreiteten
Sprache. »Sie haben gesagt, uns fehlen noch Do-
kumente«, druckst die eine. »Aber eigentlich hat-
ten wir alles dabei!« Jason Heinen verdreht die
Augen. »Manchmal verstehe ich es einfach nicht«,
murmelt er dann auf Deutsch.
Heinen vermittelt philippinische Pflegekräfte
nach Deutschland, wo sie dringend benötigt wer-
den. Jedenfalls in der Theorie. »Die deutsche Bot-
schaft hat jetzt verlangt, dass die Kandidatinnen
neben der Bescheinigung ihres Deutschniveaus noch
eine Anmeldung für einen weiterführenden Kurs in
Deutschland vorlegen«, sagt er. Dabei sei dieser
Nachweis durch Abstimmungen mit dem deutschen
Krankenhaus, in dem die Bewerber bald arbeiten
werden, schon vorhanden. Bis alle Fragen geklärt
sind, wird Heinen also seine Klienten, die heute
eigentlich ihr Arbeitsvisum für Deutschland ab-
holen wollten, zunächst zurück in ihre Heimat-
provinzen im Süden schicken. »Für den nächsten
Behördengang muss ich dann noch mal einen Flug
nach Manila buchen. Das wird alles teuer«, sagt eine
der Bewerberinnen, die ihren Namen nicht nennen
will, um es sich mit ihrem künftigen Arbeitgeber
nicht zu verscherzen. Aber sie fügt hinzu: »Ich habe
nicht mehr den Eindruck, dass man mich in
Deutschland unbedingt haben will.«
Jason Heinen soll eigentlich ein deutsches
Problem lindern, den Pflegenotstand. Doch da-
bei bekommt er es mit einem anderen deutschen
Problem zu tun: der Bürokratie.
Im Zentrum von Manila leitet der Philippi-
ner, der selbst über 25 Jahre als Pfleger in
Deutschland gearbeitet hat, die Repräsentanz von
Saisy Professionals. Das Unternehmen vermittelt
ausländische Pflegekräfte in die Bundesrepublik.
Dienstleister wie Heinen – und die Arbeitskräfte,
die er bereitstellt – müssten inmitten des deut-
schen Pflegenotstands eigentlich hofiert werden.
20.000 Pflegestellen sind in Deutschland laut der
Bundesagentur für Arbeit unbesetzt. Wegen der
alternden Bevölkerung dürften bis 2030 eine
halbe Million solcher Fachkräfte fehlen.
Die Philippinen könnten da helfen. Kaum ir-
gendwo hat man sich derart auf den Export von
Arbeitskräften spezialisiert wie in dem südostasiati-
schen Land mit seinen 110 Millionen Einwohnern.
Schon in den 1980er-Jahren, als die Bevölkerung
stark wuchs, aber der Arbeitsmarkt prekär blieb,
begann die Regierung mit der gezielten Entsendung
von Arbeitskräften. Rund zwei Millionen Philippi-
nerinnen und Philippiner arbeiten laut amtlicher
Statistik heute auf den Frachtschiffen, Baustellen
und in Krankenhäusern reicherer Länder, rund
17.000 davon in Deutschland.
Heinen führt durch ein modernes Gebäude,
das aus kleinen Einzelbüros, Besprechungszim-
mern und einer aufgeräumten Kaffeeküche be-
Fotos: Hannes Jung/laif; privat (u.)
steht. Hier sind deutsche Jobausschreibungen or-
dentlich an Pinnwände geheftet. Die Mitarbeiter
leiten Deutschkurse für ihre Klienten und führen
Gespräche mit deutschen Krankenhäusern. »Vor
Anfragen von deutschen Kliniken können wir
uns kaum retten«, sagt Heinen.
Rund 1000 Stellenangebote deutscher Kran-
kenhäuser und Pflegeheime liegen Saisy Profes-
In dem Artikel »83 Prozent Inflation« (ZEIT Nr. 42/22) über die hohe Teuerungsrate in der Türkei sind uns zwei
Fehler unterlaufen. Die Felder der Bauern, die unser Reporter besuchte, sind nicht 3000, sondern 30 Hektar groß.
Zudem waren auf einem der Bilder nicht Cranberrys zu sehen, sondern Kornelkirschen.
sionals derzeit insgesamt vor. Aber Heinen sagt:
»Es wird allmählich schwierig, diese Plätze mit
philippinischen Bewerbern aufzufüllen. Deutsch-
land konkurriert mit anderen Ländern, die auch
händeringend nach Pflegekräften suchen.«
Und andere Länder sind teilweise viel unbüro-
kratischer. So absolviert man auf den Philippinen
üblicherweise ein vierjähriges Bachelorstudium,
um Pflegekraft zu werden. Der Abschluss wird
etwa im Mittleren Osten, in Australien, Kanada
oder Großbritannien meist ohne Weiteres aner-
kannt. »Aber wenn wir die Unterlagen in Deutsch-
land einreichen«, sagt Heinen, »kommt fast immer
ein Defizitbescheid zurück.«
Warum ist das so? Die Bezirksregierung Münster,
die für das Land Nordrhein-Westfalen das Niveau
ausländischer Pflegeausbildungen überprüft, teilt
dazu auf Anfrage mit: »Vergleichsgrundlage für die
Ausbildungen, die im Ausland erworben wurden,
ist die jeweilige Ausbildungs- und Prüfungsverord-
Jason Heinen, 49,
vermittelt
Pflegekräfte nach
Deutschland. Er
hat selbst 25 Jahre
als Pfleger
in Deutschland
gearbeitet
20.000
Pflegestellen
sind in Deutschland laut der
Bundesagentur für Arbeit
derzeit unbesetzt
nung des entsprechenden reglementierten Referenz-
berufes in Deutschland.«
Die studierten Philippiner können nach Auf-
fassung deutscher Behörden offenbar nicht mit in
Deutschland ausgebildeten Fachkräften mithalten.
»Das Studium umfasst in den Philippinen einen
hohen Anteil an Stunden in einem sogenannten
Skillslab«, heißt es von der Bezirksregierung. Aber:
»Diese Stunden werden in Deutschland dem theo-
retischen und praktischen Unterricht zugeordnet
und nicht der praktischen Ausbildung. So ergibt
sich für die Philippinen ein Stundenumfang von
1776 Stunden in der praktischen Ausbildung und
nicht die erforderlichen 2500 Stunden.«
Für Philippiner, die trotzdem nach Deutsch-
land wollen, hat das zwei bedeutende Konsequen-
zen: erstens Nachsitzen. Und zweitens weniger
Geld. »Wenn man einen Defizitbescheid hat,
muss man in Deutschland noch eine mehrmona-
tige Zusatzausbildung machen«, erklärt ein Pfleger,
der gerade seinen Sprachtest bestanden hat und in
wenigen Tagen nach Nordrhein-Westfalen ziehen
wird, um dort in einem Krankenhaus zu arbeiten.
»Aber bis wir die Zusatzausbildung bestanden
haben, kriegen wir nur einen Vertrag als Pflege-
hilfskraft.« Oft dauert das ein halbes Jahr.
Berichtigung
WIRTSCHAFT 23
Eine
philippinische
Pflegerin in
einem Heim
in Meißen
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Das Einstiegsgehalt für eine Hilfskraft von rund
2300 Euro brutto, etwa 1600 Euro netto, ist in-
ternational kaum wettbewerbsfähig. »Eine Woh-
nung, die 600 Euro kostet, kann man sich davon
Jörg Pilawa
fast nicht leisten«, sagt Jason Heinen und rechnet
vor: »Im Grunde ziehen diese Menschen ja in ein
anderes Land, um von dort einen Teil ihres Gehalts
zurück nach Hause zu schicken und ihre Familien
zu unterstützen.« Die Geldrücksendungen der
Millionen Auslandsphilippiner sind Teil der Ent-
sendungspolitik und bilden eine wichtige Stütze der
Volkswirtschaft. Sie betragen rund zehn Prozent des
Bruttoinlandsprodukts.
So erscheinen andere Länder wie Kanada,
Australien oder die Vereinigten Arabischen Emi-
rate, wo Pflegekräfte von Anfang an bis zu dop-
pelt so viel verdienen können, zunehmend attrak-
tiv. Zwar haben Deutschland und die Philippinen
erst im Juni ein Abkommen vereinbart, das die
Zahl philippinischer Pflegekräfte in Deutschland
von derzeit rund 6000 deutlich erhöhen soll. Es
werde »hoffentlich zur Ausdehnung eines gegen-
seitig vorteilhaften Austauschs zwischen Deutsch-
land und den Philippinen führen«, sagte Deutsch-
lands Botschafterin in Manila, Anke Reiffenstuel,
nach der Unterzeichnung. Allerdings haben sich
inmitten der Pandemie auch andere Staaten um
die Gunst der Philippiner bemüht.
»Die Zahl der Klienten, die nach Deutschland
wollen, hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren
halbiert«, sagt Jason Heinen. Noch gebe es mehr
Interessenten als Stellenausschreibungen. Aber
Heinen befürchtet, dass sich dies bald ändert.
In den Philippinen wurde der Mindestlohn in
öffentlichen Krankenhäusern während der Pan-
demie um gut 40 Prozent auf rund 615 Euro er-
höht. »Gemessen an den Lebenshaltungskosten
stehen die Philippinen damit nicht mehr so
schlecht da«, findet Heinen. Mittlerweile will
auch die philippinische Regierung mehr Pflege-
profis im Land halten.
Trotz der verschärften Konkurrenzlage könnte
Deutschland wohl ein begehrter Lebensmittel-
punkt sein. Die deutsche Botschaft wirbt mit
»den hohen Standards deutscher Arbeitsgesetze,
dem umfassenden sozialen Sicherungssystem in-
klusive Gesundheits-, Pensions- und Arbeitslo-
senversicherung«. Bei Saisy Professionals betont
man zudem, dass in Deutschland die Gehälter
pünktlich gezahlt werden, relativ wenige Über-
stunden anfallen und die Demokratie hohe Frei-
heiten und öffentliche Sicherheit bietet.
Dennoch ärgert sich Jason Heinen manchmal
über das Land, in dem er die meiste Zeit seines
Lebens verbracht hat. »Es muss wirklich nicht
sein, dass Deutschland den philippinischen Ab-
schluss nicht anerkennt.« Um die Lücken zu
schließen, brauche es keine mehrmonatige Zu-
satzausbildung, das lerne man in ein paar Wochen
im Job.
Aber Flexibilität scheint in deutschen Kranken-
häusern und Behörden nicht oberste Priorität zu Jeden Tag mindestens 1 Mio. €
sein. Zusätzlich zu Deutschkenntnissen auf B2-
Level, das ein »fortgeschrittenes Niveau« bestätigt,
wird künftig noch ein Fachsprachtest verlangt. Eine
Art Pflege-Deutsch, das die philippinischen Pfle-
DIE MILLIONENFRAGE:
gerinnen und Pfleger ebenfalls beherrschen müs-
SPIELEN SIE MIT?
sen. Aus deutscher Sicht zwar verständlich. Aus
philippinischer Perspektive aber möglicherweise
ein weiterer Grund, sich im englischsprachigen
Ausland nach einem Job umzusehen. Englisch ist
ohnehin Amtssprache auf den Philippinen, die
meisten müssen zum Pflegen nicht erst eine neue
Sprache lernen. START: 1. Dezember 2022.
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gemeinsamen amtlichen Liste („White List“) laut GlüStV 2021.
24
»Mein Herzdoktor
DIE ZEIT: Herr Markwort, Sie werden im
Dezember 86 Jahre alt und wollen bei der
bayerischen Landtagswahl im nächsten Jahr
erneut kandidieren. Wenn Sie wiederge-
wählt werden, wären Sie am Ende der Legis-
ist dagegen«
laturperiode fast 92. Was sagt eigentlich Ihr
Arzt zu Ihrem Vorhaben?
Helmut Markwort: Mein Herzdoktor ist
natürlich dagegen, ich habe ja vier Bypässe.
Schon vor vier Jahren hat er mir abgeraten:
»Um Himmels willen, Sie kriegen einen
Schlaganfall im Parlament!«
ZEIT: Warum lassen Sie es dann nicht sein?
Markwort: Ich habe etliche Gelegenheiten
versäumt, mit der Politik aufzuhören. Und
das, obwohl ich die Arbeit als Abgeordneter
häufig als stressig empfinde. Ich mag es zum
Beispiel nicht, früh aufzustehen. Ich bin
86 Jahren noch mal für die FDP in den
eher der Typ für Nachtsitzungen. Aber weil
ich schwer Nein sagen kann, habe ich mich
überreden lassen.
ZEIT: Sie opfern sich also?
Markwort: Ich tue es für die FDP! Wir ha-
ben bei der Landtagswahl 2018 nur ganz
knapp die Fünfprozenthürde geschafft. Ich
bin von Listenplatz 16 auf Platz zwei vor-
gewählt worden. Daran sehen Sie: Ich ziehe
Stimmen. Ohne mich gäbe es meine tüchtige
Fraktion im Landtag nicht.
ZEIT: Ihr bisheriger Stimmkreis wird dies-
mal einen anderen Kandidaten ins Rennen
schicken. Hat Sie das gekränkt?
Markwort: Ach was, ich bin nicht beleidigt!
Parteifreunde haben mich animiert zu einer
Kampfkandidatur. Die hätte ich vielleicht
auch gewonnen, aber in meinem Alter will
ich keine aufkommenden Talente bremsen.
ZEIT: FDP-Kollegen erzählen, dass Sie un-
bedingt weitermachen wollten.
Markwort: Ich selbst wollte nur noch auf
der Liste kandidieren, aber die FDP in Frei-
sing möchte mich gerne als Direktkandida-
ten gewinnen. Ich werde einen fulminanten
Wahlkampf liefern mit vielen Stammtischen
und Schafkopf-Rennen. Das Kämpfen liegt
mir.
ZEIT: Sie nannten die Plenarsitzungen im
Landtag die »größte Zeit­ver­bren­nungs­
maschine«.
Markwort: Die Bemerkung zielt auf Wie-
derkäuer und Abgeordnete, die bloß vor­
lesen, was ihnen Referenten aufgeschrieben
haben. Eine Qual! Dann gehe ich raus und
esse eine Debrecziner. Sobald Kollegen auf-
treten, die ihre Argumente in freier Rede
vortragen, gehe ich wieder rein ins Plenum.
ZEIT: Seit Sie vor vier Jahren ins bayerische
Parlament gewählt wurden, haben Sie ledig-
lich 15 Anträge gestellt; Ihre Kollegin Julika
Sandt zum Beispiel, die einzige Frau in Ihrer
Fraktion, kam in derselben Zeit auf 431
Anträge. Sie haben 48-mal vor dem Plenum
gesprochen; Frau Sandt 148-mal. Mit Fleiß
glänzen Sie im Landtag nicht gerade.
Markwort: Ich habe Respekt vor dem Ein-
satz von Julika Sandt. Ich selber wirke eher
nach außen. Jede Woche erreichen mich
Anfragen aus allen Teilen Bayerns und
auch aus anderen Bundesländern. Dort
helfe ich gerne mit Referaten und Diskus-
sionen. Ich trage vor allem mit meiner
Bekanntheit bei, die ich nicht der FDP
verdanke, sondern dem Focus und meinen
Fernsehsendungen.
ZEIT: Verstehen wir das richtig: Während
Ihre Kollegen die Arbeit machen, schreiben
Sie Autogramme?
Markwort: Wenn jemand ein Autogramm
von mir hat, dann wählt er uns vielleicht
auch. Alle zwölf in der Fraktion wollen
wiedergewählt werden. Und alle wissen: Ich
helfe als Zugpferd.
ZEIT: Was tun Sie denn konkret für die
Bürger, die Sie gewählt haben?
Markwort: Ich bin der medienpolitische
Sprecher der FDP-Fraktion. Anfang No-
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Zwei erfolgreiche Veranstaltungsformate an einem Tag:
Deutschland und die Zeitenwende –
Auf dem Weg in eine souveräne Zukunft?
Deutschlands Wirtschaft durchlebt unruhige Zeiten. Sich überlagernde
Krisen erfordern umsichtiges Handeln von Politik und Unternehmen, damit
unsere Wirtschaft souverän und unsere Demokratie stabil bleibt. Wie das
gelingen kann, diskutieren wir bei ZEIT für Demokratie und beim Deutschen
Wirtschaftsforum am 3. November 2022 in der Frankfurter Paulskirche.
Melden Sie sich schon jetzt an! Einfach den QR-Code scannen
oder über studiozx.de/events/paulskirche2022 anmelden.
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WIRTSCHAFT
vember bringe ich ein Gesetz zur Reform des
Bayerischen Rundfunks ein. Das Thema
wurde mir durch die vielen Skandale bei der
ARD regelrecht zugeschwemmt.
ZEIT: Und was hätten die Bürger von diesem
Gesetz?
Markwort: Wir leisten uns den teuersten
öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt.
Da gibt es Vier- und Fünffachstrukturen, die
abgebaut gehören! Ich habe schon vor 48
Jahren in der Zeitschrift Gong die Auflösung
von Radio Bremen gefordert. Ich will errei-
chen, dass mehr Geld ins Programm fließt
Helmut Markwort, ehemaliger und weniger in die Verwaltung. Das ist mein
Thema. Ansonsten können Sie als Op­po­si­
Chefredakteur des »Focus«, will mit tion nur auf Fehler der Regierung hinweisen.
ZEIT: Sie sitzen selbst seit 2019 im obersten
Kontrollgremium des BR, im Rundfunkrat.
bayerischen Landtag. Wieso? An Ihrer Entsendung gab es viel Kritik, unter
anderem deshalb, weil Sie über Ihre Firma
Plenarsitzungen langweilen ihn doch Medienpool an rund 30 privaten Rundfunk-
sendern beteiligt sind, darunter Radio Gong
und Antenne Bayern. Wie unabhängig kann
ein Medienunternehmer andere Medien
kontrollieren?
Markwort: Warum sollte ich nicht unabhän-
gig sein?
ZEIT: Weil Sie als Rundfunkrat private Inte-
ressen verfolgen könnten. Ihre Sender kon-
kurrieren doch mit dem BR.
Markwort: Ich bin für mehr und besseres
öffentlich-rechtliches Programm! Private
Sender können das niemals ersetzen. Meine
Idee, ein Focus-Radio aufzumachen, musste
ich vor 30 Jahren aufgeben, weil das viel zu
teuer gewesen wäre.
ZEIT: Bald beginnen Sie mit dem Wahl-
kampf. Haben Sie diesmal mehr zu bieten als
Ihre Prominenz und Kartenspiele?
Markwort: Ich biete meine Bildung, meine
Unabhängigkeit und meine wirtschaftliche
Erfahrung. Ich habe in meinem Leben
Hunderte Arbeitsplätze geschaffen. Deshalb
ärgere ich mich über Grüne mit kaum Be-
rufserfahrung, die mir im Landtag Vorträge
darüber halten, wie die Wirtschaft funktio-
niert.
ZEIT: Sie schreiben im Focus immer noch
jede Woche Ihre Kolumne »Tagebuch«, in
der Sie gern über andere Politiker herziehen.
Vermengen Sie publizistische Macht mit
politischem Mandat?
Markwort: Unter meinem »Tagebuch« steht,
dass ich für die FDP im Landtag sitze. Ich
schreibe selten über Politik in Bayern. Ich
fühle mich in guter Tradition. Herbert Weh-
ner war Herausgeber der Hamburger Morgen-
post, der FDP-Politiker Augstein schrieb im
Spiegel, und der CDU-Abgeordnete Bucerius
schrieb regelmäßig in der ZEIT.
ZEIT: Sie schreiben wohlwollend über Par-
teifreunde, zuletzt über Marie-Agnes Strack-
Zimmermann.
Markwort: Mag sein. Ich schreibe auch voller
Mitgefühl über Christian Lindner, der mit
zwei linken Parteien klarkommen muss. Die
FDP erlebt so viel medialen Gegenwind, dass
eine liberale Stimme nicht schadet.
ZEIT: Sie waren fast 17 Jahre lang Chef­
redakteur von Focus, haben mehr als 800
Titel verantwortet. Worauf sind Sie rück-
blickend besonders stolz?
Markwort: Darauf, dass es den Focus gibt. Als
wir anfingen, gab uns kaum jemand eine
Chance. Dass wir den Focus gegen alle Wider-
Foto: Dirk Bruniecki für DIE ZEIT
stände auf den Markt gebracht haben, darauf
bin ich stolz.
ZEIT: Im Jahr 2003, zehn Jahre nach Grün-
dung, verkaufte der Focus mehr als 800.000
Hefte. Seither ist die Auflage um 70 Prozent
geschrumpft. Der Spiegel, dem Sie damals
den Kampf ansagten, verkauft trotz schwieri-
»Wenn jemand ein Autogramm von ger Jahre dreimal so viele Hefte. Wieso spielt
mir hat, dann wählt er uns Focus keine Rolle mehr?
vielleicht auch«: Helmut Markwort mit Markwort: Focus spielt noch eine Rolle, viel-
seinem Hund Emil zu Hause leicht eine kleinere.
ZU GAST IN DER PAULSKIRCHE
3. November 2022
live in der Paulskirche, Frankfurt am Main
Dr. Martin Brudermüller Dr. Robert Habeck
Vorstandsvorsitzender, Bundesminister für
BASF SE Wirtschaft und Klimaschutz
Premium Partner Deutsches Wirtschaftsforum: Kooperationspartner Veranstalter:
Deutsches Wirtschaftsforum:
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
ZEIT: Haben Sie als Chefredakteur Ge-
schichten über Leute zurückgehalten, um
ihnen nicht zu schaden?
Markwort: Ich hatte große Seelenkonflikte
wegen FC-Bayern-Chef Uli Hoeneß. Focus
hat damals seine Steueraffäre aufgedeckt. Ich
habe Hoeneß angerufen, und er bat mich,
das nicht zu veröffentlichen. Das habe ich
natürlich abgelehnt, aber wir haben seine
Stellungnahme komplett gedruckt. Nach
den Berichten waren viele bei Bayern Mün-
chen stocksauer, ich wurde auf der Tribüne
beschimpft. Hoeneß hingegen konnte meine
Situation verstehen.
ZEIT: Sie haben beim Focus einmal einen
Text über den ehemaligen Bayern-Profi
Franck Ribéry gestoppt, in dem es um dessen
sexuelle Eskapaden ging. Damals saßen Sie
im Aufsichtsrat des FC Bayern. Wie viel
Nähe erlaubt journalistische Distanz?
Markwort: An einen solchen Vorfall kann
ich mich nicht erinnern. Wenn ich Artikel
gestoppt habe, dann nur, falls die Faktenlage
zweifelhaft war.
ZEIT: Laut einem Bericht des Hamburger
Abendblatts sollen Sie es Ihren Redakteuren
untersagt haben, weiter über den Skandal um
Ribéry und eine minderjährige Prostituierte
zu berichten.
Markwort: Das klingt nach HSV-Brille. Ich
habe Ribéry nie persönlich kennengelernt.
ZEIT: Sie haben beim BR viele Jahre die
Sendung Sonntags-Stammtisch moderiert.
Stimmt es, dass Ihr Abgang dort nicht frei-
willig war?
Markwort: Der war ärgerlich! Als ich für
den Landtag kandidierte, hat man mir die
Sendung ohne Begründung bereits Monate
vor der Wahl weggenommen. Seit damals
weiß ich übrigens auch, wie eng die Aus-
wahl der Talkshow-Gäste im öffentlich-
rechtlichen Rundfunk ist.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Markwort: Beim Stammtisch musste ich oft
stundenlang telefonieren, damit auch mal
ein konservativer Gast eingeladen wurde. Die
Redaktion wollte am liebsten Leute wie
Konstantin Wecker haben. Linke Kabarettis-
ten waren die Lieblinge.
ZEIT: Das Hamburger Verlagshaus Gruner +
Jahr, das Traditionsblätter wie stern und
Brigitte verlegt, wurde gerade von RTL ge-
schluckt. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Markwort: Das ist ein dramatischer, trauri-
ger Niedergang. Ich war ja selbst mal, als
Leiter der Düsseldorfer Redaktion, beim
stern. Was waren das für hochnäsige und
mächtige Leute in Deutschland! Es ist ein
Jammer, dass Gruner + Jahr jetzt verscher-
belt wird und alle Zeitschriften auf den
Prüfstand kommen. Das ist ein böses Signal
für alle Kollegen, die dort arbeiten.
ZEIT: Mit Ihrem Verleger Hubert Burda
pflegten Sie die Tradition, jeden Sonntag zu
telefonieren und sich über die Weltlage aus-
zutauschen. Tun Sie das heute noch?
Markwort: Wir telefonieren jetzt werktags.
Ich gebe zu: Wir reden nicht ganz ohne
Selbstzufriedenheit über den Niedergang
von Gruner + Jahr. Die haben Burda ja ver-
ächtlich behandelt, haben ihn »Schwarz-
wald-Springerle« genannt.
ZEIT: In einem Interview mit der Weltwoche
sagten Sie kürzlich: »Ich habe Sorge, wenn ich
mal nichts zu tun hätte.« Hören Sie nicht auf,
weil Sie sonst in ein Loch fallen würden?
Markwort: Ich habe vorgesorgt. Ich habe in
meinem Leben viele Firmen gegründet, aus
denen mich niemand aus Altersgründen hi-
nauswerfen kann, weil sie mir gehören.
Anderswo werden die Alten ja abgeschoben,
müssen spätestens mit 80 raus aus den Auf-
sichtsräten. Mir passiert das nicht!
Das Gespräch führten
Kerstin Bund und Stefan Schirmer
Roberta Metsola
Präsidentin,
Europäisches
ropäisches Parlament
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022 WIRTSCHAFT 25

Wie finde ich einen unabhängigen Finanzberater?,

fragt Philipp Sadrozinski*

ZEIT für Geld

Lieber Herr Sadrozinski,
Sie sind 30 Jahre alt und wünschen sich einen Berater
für Ihre Geldanlage. Eine Person aus Fleisch und Blut
also, mit der Sie über Lebensversicherungen, Immobi-
lienfonds oder Aktien sprechen können. Das ist heut-
zutage schon etwas Besonderes, holen sich die meisten
jungen Menschen ihr Finanzwissen doch inzwischen
ausschließlich aus dem Internet. Anders als früher, als
Mitarbeiter der örtlichen Kreissparkasse auch mal sonn-
tags zum Kaffee vorbeikamen, um über Bausparpläne zu
Illustration: Arne Bellstorf für DIE ZEIT
arbeitet: Er erhält eine Prämie, sobald er einen bestimmten
Fonds oder Bausparvertrag verkauft. Durch dieses Beloh-
nungssystem kann es passieren, dass Sie am Ende mit einer
Geldanlage dastehen, die in Wahrheit eher dem Berater
Freude bringt als Ihnen. Zwar hat der Gesetzgeber in den
vergangenen Jahren einige Vorschriften erlassen, um Ver-
braucher besser zu schützen. Zum Beispiel müssen seit 2009
Gesprächsprotokolle geführt werden, damit Ihnen nicht
das letzte Schrottzertifikat aufgeschwatzt werden kann. Der
Interessenkonflikt verschwindet damit aber nicht.
Völlige Autarkie können Sie nur von einem Honorar-
Doch wie finden Sie einen wirklich guten Honorarbe-
rater? Sie könnten zum Beispiel in den Vermittlerregistern
der BaFin oder der Industrie- und Handelskammer (IHK)
nach­sehen. Die dort aufgelisteten Experten haben eine
Zulassung und stehen unter Aufsicht der Behörden. Damit
soll unter anderem sichergestellt werden, dass Ihr Berater
nicht doch heimlich Provisionen einheimst. Denn auch
das kommt vor, obwohl die Bezeichnung »Honorar-Fi-
nanzanlageberater« inzwischen geschützt ist. Wer in einem
der Register auftaucht, hat außerdem eine Ausbildung in
Finanzwesen oder hat zumindest in einer Prüfung bewie-
tens in der ersten Sitzung werden Sie die Frage beantwor-
ten müssen, wo Sie denn eigentlich einmal hinmöchten.
Was wollen Sie finanziell erreichen und wann? Träumen
Sie von einem Haus mit Garten oder vom Auswandern?
Sollen die Kinder ihr Studium bezahlt bekommen oder ab
18 auf eigenen Beinen stehen? Und wie viel hätten Sie gern
jeden Monat, wenn Sie mal in Rente sind?
Auch der Honorarberater mit der besten Ausbildung
kann Ihnen nur dann eine gute Geldanlage empfehlen,
wenn er Ihre Situation und Ihre Ziele genau kennt. Des-
wegen sollten Sie diese Themen auch nicht überspringen,

plaudern. Das ist aber ja auch nicht das, was Sie sich
vorstellen. Sie wollen unabhängig beraten werden, also
nicht von jemandem, der bei einer Bank oder einer Ver-
sicherungsgesellschaft angestellt ist oder im Dienste ei-
nes Unternehmens steht, das Vermögen verwaltet.
Das halte ich für eine sehr gute Entscheidung. Der Kreis-
sparkassen-Mitarbeiter kann nämlich noch so freundlich
sein, letztlich ist er Verkäufer. Zumindest wenn er wie die
meisten Finanzberater in Deutschland auf Pro­vi­sions­ba­sis
berater erwarten. Das sind Makler, die ohne Finanzvertrieb
oder Bank im Rücken arbeiten und allein von Ihnen be-
zahlt werden. Und zwar über ein fixes Stundenhonorar,
das vorher festgelegt wird und in der Regel zwischen 150
und 300 Euro beträgt. Eine Pro­vi­sion gibt es also nicht.
Und deswegen ist es einem Honorarberater theoretisch
völlig egal, ob Sie Ihr Geld in eine Lebensversicherung oder
in einen teuren Schiffsfonds stecken, oder es einfach unter
Ihr Kopfkissen stecken. Er bekommt sein Geld so oder so.
sen, dass er oder sie Ahnung von der Materie hat. Trotzdem
kann ein bisschen Eigenrecherche nicht schaden: Googeln
Sie am besten mal den Experten oder die Expertin, die Sie
sich herausgesucht haben. Gibt es Bewertungen von Kun-
den oder Erfahrungsberichte über die Zusammenarbeit?
Vielleicht haben Sie sich das Ganze etwas müheloser
vorgestellt. Aber Sie sollten ohnehin nicht davon ausgehen,
dass Sie sich zurücklehnen und berieseln lassen können,
sobald Sie einen Honorarberater engagiert haben. Spätes-
um etwa keine teure Beratungszeit zu verplempern. Ein
bisschen persönliche Plauderei ist wichtig, um zu einer
guten Lösung zu kommen. Vielleicht treffen Sie Ihren
künftigen Honorarberater dann doch einfach auf einen
gemeinsamen Kaffee – ganz unverbindlich natürlich.
Ihre Mona Linke
*Name geändert

In unserer Kolumne beantworten wir jede Woche eine Geldfrage. Es schreiben im Wechsel: Die freie Autorin Mona Linke und
der langjährige ZEIT-Autor Rüdiger Jungbluth. Stellen Sie Ihre Fragen unter: www.zeit.de/geldfrage

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Die Mehrheit der Über- NICOLE MAIBAUM Wünsche wie zum Beispiel die 25 Prozent bis zum Renteneintritt ein unabhängiger Experte, eine gelebter Alltag. Seit vielen Jahren
langersehnte Weltreise erfüllen, nicht geschaff t, die Immobilien- unabhängige Expertin den Wert ist die Immobilienverrentung
80-Jährigen in Deutsch- Es gibt Wünsche, an denen noch das tägliche Leben fi nan- schulden vollständig zu tilgen. des Wohneigentums. Eine wich- beispielsweise in Großbritan-
kann nichts und niemand zieren. Gerade für etliche ältere Ein Umstand, der den Rentenein- tige Voraussetzung für einen nien, Frankreich und in den USA
land (61 Prozent) ist so rütteln. Kein Krieg, keine Menschen ist dies eine bittere Er- tritt belastet: Für 56 Prozent der möglichen Vertragsabschluss ist ein fester Bestandteil der Alters-
Pandemie, keine Inflation. kenntnis, haben sie doch zumeist Befragten hat sich die fi nanziel- in der Regel, dass das Eigentum versorgung. Lukrative Modelle
aktiv, dass sie den Alltag Einer davon ist: In den eigenen viele Jahre hart gearbeitet und le Situation im Ruhestand ver- komplett oder zumindest zu wie die Umkehrhypothek, bei
vier Wänden selbstbestimmt einen Großteil ihres Verdienstes schlechtert. Und auch der Blick einem großen Teil abbezahlt der Immobilieneigentümer ein
eigenständig bewältigen und fi nanziell unabhängig den in die eigenen vier Wände ge- in die Zukunft verheißt keine ist. Neben dem ermittelten Wert Darlehen erhalten, welches erst

können. Auch fühlen sich Lebensabend zu genießen. Für

die Mehrzahl der Seniorinnen
steckt. Am Ende der Berufstätig-
keit und mit Eintritt ins Renten-
Besserung: Rund 30 Prozent er-
warten eine weitere fi nanzielle
hängt die Höhe der monatlichen
Rente auch vom Alter und Ge-
nach dem Tod aus dem Verkaufs-
erlös der beliehenen Immobilie

die Hochaltrigen mit ihrer und Senioren in Deutschland ist

dies das angestrebte Ziel. Gut zu
Wohnumgebung verbunden wissen: Damit es auch tatsäch-
lich gelingt und nicht etwa am
und haben großes Vertrauen lieben Geld scheitert, gibt es
interessante lukrative Ideen.
in ihre Nachbarschaft. Ein sicheres Dach über dem Kopf.
Dies ergab die erst Ein Rückzugsort, wo man sein
kann, wie man will und ist. Ein
jüngst vom Bundes- Domizil, eingerichtet nach dem
eigenen Geschmack und vor al-
seniorenministerium lem ausgerichtet auf die eigenen
Bedürfnisse – mit zunehmendem
veröffentlichte Studie Alter wird ein solches Zuhause
für die meisten von uns immer
»Hohes Alter in wichtiger. Der Besitz einer Im-
alter dann zwar mit einem Dach
über dem Kopf dazustehen, aber
die Mittel für Extras wie Reisen
und Hobbies oder aber »nur« das
Halten eines hohen Lebensstan-
dards nicht vorhanden sind, ist
ernüchternd. Denn die gesetz-
lichen Rentenansprüche reichen
in vielen Fällen nicht aus und dies
auch angesichts der Entwicklung
Zuhause wohnen von Kaufkraft und Inflation, die
bleiben, mit den Wert des Vermögens belas-
der eigenen tet, sowie mögliche Kosten für
die eigene Gesundheit, welche
Immobilie die proportional zum Älterwerden
Rente aufbessern ansteigen können.
und sich Dieses mögliche Szenario
Verschlechterung in den kom-
menden fünf bis zehn Jahren. Die
Tilgung von Restschulden auf der
Immobilie ist da kaum zu schaf-
fen, viele Träume wie Reisen etc.
Mit einer Zeitrente lassen sich mitunter
auch Abzüge bei einem früheren Eintritt
in den Ruhestand ausgleichen
bleiben auf der Strecke, zumal
sich etliche Geldinstitute äußerst
schwer tun beziehungsweise es
sogar ablehnen, Seniorinnen und
Senioren noch ein Darlehen zu
gewähren.
schlecht der späteren Bezieherin-
nen beziehungsweise Bezieher
ab. Als Faustregel lässt sich sagen:
Je älter man zu Vertragsbeginn
ist, desto höher fällt die Immobi-
lienrente aus. Auch gibt es in den
meisten Fällen die Möglichkeit
einer Einmalzahlung oder aber
die Kombination aus Einmalzah-
lung und Zeitrente. Gut zu wis-
sen: Mit dem Verkauf kann man
zurückgezahlt wird, konnten
sich in Deutschland zwar bisher
nicht etablieren, doch auf reges,
zunehmendes Interesse stoßen
erwähnte Varianten der Leibren-
te. Zumal sich so auch eventuell
Abzüge bei einem möglichen frü-
heren Eintritt ins Rentenalter be-
quem ausgleichen und damit den
mitunter ersehnten Ruhestand in
den eigenen vier Wänden näher
rücken lassen.
Übrigens, schon gewusst?
Vom altersgerechten Wohnen
über fi nanzielle Fördermöglich-
keiten und Programme bis hin zu
Alltagstipps bietet das Service-

Deutschland«. mobilie, ganz egal, ob es sich um

ein eigenes Haus oder eine eige-
ne Wohnung handelt, war dabei
schon immer ein fundamentaler
Teil der Altersvorsorge und gibt
einem insbesondere in aktuellen
Zeiten – mit unter anderem einer
weiter zunehmenden Inflation –
ein gutes Gefühl von Sicherheit
und Absicherung.
Die Krux aber ist: Der Besitz
einer Immobilie, dieses beruhi-
gende und nicht selten durchaus
große Vermögen, ist buchstäblich
»eingemauert« und damit nicht
flexibel verfügbar. So kann eine
selbstgenutzte Immobilie weder
so Wünsche wie spiegeln auch Ergebnisse einer
aktuellen Studie wider. Demnach
eine langersehnte besitzt zwar mehr als die Hälfte
Weltreise, das der Seniorinnen und Senioren in
Ausleben eines Deutschland ein Eigenheim und
lebt damit im Alter mietfrei, doch
Hobbies oder der Weg dahin war steinig: Zwei
auch einen Drittel dieser Gruppe investier-
hohen, höheren te während des Berufslebens ihr
Lebensstandard Geld überwiegend in die eigene
Immobilie. Darüberhinaus noch
erfüllen. weiter Geld zur Seite zur legen,
war für viele der heutigen Rent-
nerinnen und Rentner nicht mög-
lich. Und obwohl nahezu jeder
Cent in das eigene Haus, die eige-
ne Wohnung floss, haben es rund
Kann alles sein, muss aber al-
les nicht sein. Denn es gibt eine
lukrative Möglichkeit, das Wohn-
eigentum in Liquidität umzu-
setzen, ohne es zu verlieren. Die
Rede ist von der sogenannten
Immobilienrente. Mir ihr ver-
wandelt man das eigene Haus
oder die Eigentumswohnung in
bare Münze und kann trotzdem
darin weiter so lange wohnen
bleiben, wie man möchte. Prinzip
und Prozedere sind dabei einfach
erklärt: Nach der Kontaktaufnah-
me mit einem der mittlerweile
bundesweit zahlreichen Anbieter
von Immobilienrenten ermittelt
ein lebenslanges, unpfändbares
Wohnungs- und Nutzungsrecht
erhalten, welches im Grundbuch
gesichert ist, ebenso wie die Zah-
lungen der Immobilienrente.
Überdies kümmern sich die viele
Anbieter sogar auch um die In-
standhaltung der Immobilie und
tragen dafür im Idealfall die Kos-
ten. Anders gesagt: Man kann in
seinem gewohnten Umfeld eine
neue fi nanzielle Freiheit genie-
ßen und sich dank dieser auch
am Lebensabend langersehnte
Wünsche erfüllen.
Was verlockend klingt, ist üb-
rigens in anderen Ländern längst
portal »Zuhause im Alter« zahl-
reiche nützliche Informationen.
So liefert die extra vom Bundes-
ministerium für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend initiierte
Internetseite etwa Tipps zum
barrierefreien Umbau, berich-
tet anhand konkreter Beispiele
über das bundesweite Modell-
programm »Leben wie gewohnt«,
nennt konkrete Anlaufstellen
und Ansprechpartnerinnen, An-
sprechpartner und gibt sogar
Tipps die Nachbarschaftshilfe.
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Einrichten – das Zuhause Steuererklärung

Mit nur wenigen
Handgriffen kann
man sich optische
Abwechslung leicht gemacht
neu aufleben lassen
in sein Zuhause
holen: So ver-
wandeln sich etwa
Holzkommoden
Schon gewusst? Für viele
und -tische schnell
und einfach dank
steuerpflichtige Rent-
einer Überarbei-
NICOLE MAIBAUM Möbel, geschweige denn einem
Umzug der Fall wäre.
Gewiss, damit macht man nichts
falsch, weiße Räume wirken
tung und eines
Anstrichs in neue
nerinnen und Rentner
Es wird ungemütlich, zumin- Schon Leonardo da Vinci, homogen und ruhig, doch be-
Blickfänge. Auch
an den Wänden und Pensionärinnen
dest draußen: Heftige Wind- ebenso wie Isaac Newton und reits eine einzige Wand in einem geben dabei
böen fegen über die Straßen, Dichterfürst Johann Wolfang anderen Farbton kann schon insbesondere
Sand- oder Rosé-
und Pensionäre wird die
Regen prasselt herab, nasses von Goethe waren fasziniert von eine ganz besondere Atmosphä-
Laub liegt auf den Gehwegen. Farben. Kein Wunder, lösen sie re schaffen. Und das Schöne ist:
Nuancen den Ton
an, wenn es gemüt- Steuererklärung noch
Angesichts der herbstlichen doch im Menschen oftmals be- Wenn es doch nicht gefällt oder lich werden soll.
Grüße wird es höchste Zeit, sich stimmte Stimmungen und Emo- einem nach einiger Zeit erneut einfacher. Der Grund
drinnen einen gemütlichen nach Abwechslung ist, einfach
Rückzugsort zu schaffen – nicht
Orange macht es wieder Überstreichen! Ein Eimer ist der »Steuerlotse«,
für den Winterschlaf, sondern
für erholsame Auszeiten vom gesellig, grün fördert
Farbe kostet zum Glück kein Ver-
mögen, zudem braucht man fürs ein kostenlos nutzbarer
Alltag. Getreu dem Motto »Nicht die Kreativität
nur Wohnen, sondern Wohl-
Malen nicht zwingend die Hilfe
eines Fachbetriebs.
Service des Bundes-
fühlen!« braucht es oftmals nur tionen aus. Doch nicht nur das:
ein paar Handgriffe, um dem Als Wandfarbe können sie auch
Apropos: Selbst Badezimmer
und Küche, deren Renovierung
finanzministeriums.
Zuhause ein wohltuend neues
Lebensgefühl einzuhauchen.
Räume größer, kleiner, länger,
kürzer, tiefer oder höher wirken
gemeinhin mit einem klei-
nen Vermögen und ordentlich
Ohne ELSTER-Konto,
lassen und sind damit ideal, um
Kennen Sie das? Beim Blättern dem Zuhause ein neues Lebens-
Schmutz verbunden wird, er-
strahlen dank ein paar leichter
schnell und unkompli-
in Wohnzeitschriften, beim An- gefühl einzuhauchen. Die Farbe und zudem preisgünstiger Hand- ziert mit Schritt-für-
schauen manch einer Werbung Orange beispielsweise vermittelt griffe in einem neuen Licht. So dies einfach die Schranktüren Wer angesichts der immer küh- und -tische können sich schnell
im Fernsehen, beim Besuch bei für viele Lebensfreude und Ge- lassen sich beispielsweise auch mit speziellen Folien bekleben, ler und grauer werdenden Tage und einfach im Do it yourself- Schritt-Anleitung hilft der
Freunden oder auch insbeson- selligkeit, wirkt aktivierend und hier mit einem neuen (Teil-)An- die es in verschiedenen Dekors ein wenig mehr atmosphärische Verfahren dank einer Überarbei-
dere zu dieser Jahreszeit beim ist damit ideal für Räume wie das strich frische Akzente setzen, gibt, oder aber einfach die Griffe Wärme in sein Zuhause bringen tung und eines Anstrichs in neue Steuerlotse Singles und
Abendsparziergang, wenn in den Esszimmer oder die Küche. Die und mit Hilfe von Fliesenauf- austauschen. Auch hier gibt es möchte, kann dies zum Beispiel Blickfänge verwandeln. Auch an
Wohnungen das Licht brennt Farbe Gelb wirkt ebenfalls auf- klebern verschwinden gleich eine große Auswahl an Farben, mit Accessoires aus Naturmate- den Wänden geben insbesonde- Paaren beim Ausfüllen
und man durch die Fenster mit munternd, überdies wärmend noch unschöne Bohrlöcher. Ein Formen und Materialien. rialien tun. Kleine Regale, Bil- re Nuancen aus dem Sand- oder
einem kurzen Blick das Leben und lässt zudem kleine Räume neuer Duschvorhang und oder Ob eher pflegeleicht oder pfle- derrahmen und Kerzenhalter Rosé-Bereich den Ton an, wenn der Unterlagen für den
anderer erhaschen kann, denkt größer und höher wirken. Glei-
man manchmal kurz: Schön ches gelingt mit Weiß, das alles
ein neues Mattenset bewirken
manchmal im Badezimmer be-
geintensiv, ob Kaktus, Calathea,
Orchidee, Elefantenbaum oder Zimmerpflanzen
es gemütlich werden soll. Das
Tolle ist, dass sich die weichen Fiskus. Mehr unter www.
sieht das aus! Auf einen Tapeten- rein und klar erscheinen lässt.
wechsel oder gar einen Umzug Im Gegensatz zu blauen Räu-
reits optische Wunder, ebenso Yucca-Palme – auch Pflanzen be-
einflussen die Wahrnehmung der
sind gut für die
und gern auch erdigen Farbtöne
nahezu bedenkenlos miteinan-
steuerlotse-
Gesundheit
hätte ich auch mal Lust. Denn men werden rote wärmer wahr-
so sehr das eigene Zuhause ein genommen, die Wandfarbe Grün
Naturmaterialien Räume nachhaltig und spielen
daher bei der (Um-)Dekoration
der kombinieren lassen.
Übrigens: Mit den genannten
rente.de
geschätzter Rückzugsort ist: Ge- soll die Konzentrationsfähigkeit
sorgen für mehr
eine wichtige Rolle. Zumal sich aus Holz, Kissen verschiedenster Accessoires und der möglichen
wohntes verliert mitunter nach und Kreativität fördern. Noch viel atmosphärische bei der großen Auswahl an ver- Größen mit Woll- oder Filzbe- farblichen Raumgestaltung zieht
einiger Zeit seinen Reiz und wird mehr könnte über die verschie- Wärme schiedensten Übertöpfen zusätz- zug, verwittertes Treibgut, Mit- dann auch gleich Hygge mit ein.
unter Umständen gar langweilig. denen Wirkungsweisen von Far- lich farbliche und gestalterische bringsel vom Waldspaziergang Dabei handelt es sich nicht etwa
Die inspirierende Wirkung fehlt! ben berichtet werden, ist es doch wie es in der Küche am Haken Akzente setzen lassen und so wie schön gewachsene Äste oder um einen neuen Mitbewohner,
Genau diese aber kann man sich eine Wissenschaft für sich, die baumelnde farbenfrohe neue einem Raum einen neuen Aus- getrocknete Blätter, Dekoscha- eine neue Mitbewohnerin son-
mit ein paar Accessoires und we- bereits zig Bücher füllt. Somit ist Geschirrtücher und oder Topf- druck verleihen können. Überdies len aus Beton oder Korbgeflecht, dern um das längst internatio-
nigen Handgriffen in sein gelieb- es auch fast erstaunlich, wie viele lappen tun. Und: Wer sich eine leistet das Stückchen Natur in den Sisal-Körbe für Zeitschriften und nal bekannte und ursprünglich
tes Heim holen, ohne dafür gleich doch beim Streichen der Wän- Veränderung wünscht, aber nicht vier Wänden etwas Gutes für die Kuscheldecken aus Leinen sor- dänische Lebensgefühl, das ein-
Unsummen an Geld auszugeben de in ihrer Wohnung oder ihrem gleich die komplette Einrichtung Gesundheit, geben doch Pflanzen gen schnell für ein behagliches hergeht mit Glück und Zufrie-
wie es bei der Anschaffung neuer Hause auf schlichtes Weiß setzen. austauschen möchte, kann über- Sauerstoff an den Raum ab. Ambiente. Auch Holzkommoden denheit. 

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28
UNTERHALTUNG
»Man kann uns nicht brechen«
Die Brüder Klitschko sind neben Präsident
Wolodymyr Selenskyj die bekanntesten Männer
der Ukraine. Seit Beginn des russischen
Angriffskrieges verbringen Vitali, 51, seit 2014
Bürgermeister von Kiew, und der fünf Jahre
jüngere Wladimir die meiste Zeit gemeinsam in
der ukrainischen Hauptstadt. Die erste Anfrage
für das Doppelgespräch erfolgte am vorletzten
Montag. Immer wieder wurde versucht, einen
Zeitpunkt zu finden, an dem beide zusammen
in Ruhe an einem Videotelefonat teilnehmen
können. Aber immer wieder detonierten Raketen
in Kiew. Am Ende entstand dieses Gespräch
aus mehreren Telefonaten und schriftlichen
Ergänzungen der beiden Brüder.
DIE ZEIT: Vitali Klitschko, Wladimir Klitschko
– Sie beide tauchen meistens im Doppelpack auf,
und als Duo werden Sie am kommenden Dienstag
auch den Preis des Heinrich-Heine-Gesprächs-
kreises für Zivilcourage bekommen. Gleichzeitig
werden mehrere Städte in der Ukraine mit russi-
schen Raketen und Kamikaze-Drohnen angegrif-
fen. Ist es nicht ein seltsames Gefühl, in einem
friedlichen Land einen solchen zivilen Preis zu
erhalten, während daheim Menschen sterben?
Vitali Klitschko: Wir können bei der Preisverlei-
hung nicht vor Ort sein und nehmen grundsätz-
lich für uns selbst keine Preise an, während in der
Ukraine gekämpft wird. Auszeichnungen, Preise,
Anerkennungen – die können immer nur der
gesamten Ukraine gelten, allen Ukrainerinnen
und Ukrainern, die zusammenstehen.
ZEIT: Die Laudatio wird Marie-Agnes Strack-
Zimmermann halten, Vorsitzende des Verteidi-
gungsausschusses des Bundestags. Was ist wichti-
ger für Sie, der Preis oder dass Sie ihn von einer
entscheidenden Politikerin der Koalition verliehen
bekommen?
Vitali Klitschko: Alles ist gut, was der Ukraine
Aufmerksamkeit und Hilfe bringt.
Wladimir Klitschko: Alle deutschen Politiker, die
trotz des Krieges nach Kiew kommen, haben mei-
nen größten Respekt. Mein Eindruck ist, dass sich
der Blick bei allen verändert, sobald sie die Orte des
Krieges und des Schreckens mit eigenen Augen se-
hen und ihnen klar wird, was auf dem Spiel steht.
Vitali Klitschko: Was Politiker angeht: Wir haben
Unterstützerinnen und Unterstützer in fast allen
deutschen Parteien und hoffen, dass wir gerade bei
der Luftabwehr endlich mehr Hilfe bekommen.
Ich habe Frau Strack-Zimmermann in Kiew getrof-
fen. Sie hat genau verstanden, was die Ukraine
braucht. Ich hoffe, dass ihre Forderung nach
Kampfpanzern innerhalb der Koa­li­tion bald erfüllt
wird.
ZEIT: Sie sind beide Boxweltmeister im Schwerge-
wicht und weltweit bekannt. Sie sollen zusammen
laut der US-Wirtschaftsagentur Bloomberg rund
100 Millionen Euro besitzen. Sie könnten jetzt die
Sonne Floridas genießen oder sich wenigstens in
Sicherheit in Hamburg oder Berlin aufhalten.
Aber ein Großteil Ihres Vermögens soll in ukrai-
nischen Immobilien stecken. Hat das etwas mit
Ihrem Engagement zu tun?
Wladimir Klitschko: Nein, es geht hier um etwas
viel Größeres: um unser Land, unsere Heimat,
unsere Familie. Für mich war immer klar, dass ich
bereit bin, für meine Ukraine zu kämpfen.
ZEIT: Vitali, weshalb sind Sie in die Politik ge­
gangen?
Vitali Klitschko: Weil ich für Demokratie und
Freiheit politisch einstehen wollte. Der russische
Angriff ist ein Angriff gegen alles Ukrainische,
gegen all das, was wir uns seit Jahren aufgebaut
haben in Sachen Fortschritt und Demokratie. Putin
und sein Re­gime wollen uns vernichten. Es geht
um unsere Existenz als Nation.
ZEIT: Wladimir, Ihr Bruder hat als Kiews Bürger-
meister einen Job in der Ukraine – Sie aber sind
einfach nur so da, als Bruder und als freiwilliger
Reservist der Armee. Warum?
Wladimir Klitschko: Weil ich Ukrainer bin. Als ich
vor Ausbruch des Krieges bei der Territorialvertei-
digung begann, habe ich viele Menschen kennen-
gelernt, Junge, Alte, Männer, Frauen: Sie alle hat
geeint, dass sie die Ukraine verteidigen wollen. Da
ist niemand mehr oder weniger wert.
ZEIT: Welche Rolle spielt es für Ihre Courage, dass
Sie beide zusammen dort sind?
Vitali Klitschko: Courage zeigen in diesen Stunden
diejenigen, die Drohnenangriffe abwehren, die an
der Front stehen oder bei Cherson versuchen ...
Wladimir Klitschko: ... unser Land zu verteidigen,
ja. Das sind die Helden, ohne die wären wir schon
lange erledigt.
ZEIT: Es gibt ein anrührendes Foto von Ihnen,
Vitali, wie Sie als Kind Ihren fünf Jahre jüngeren
Bruder auf dem Schoß halten. Wie war Ihr Ver-
hältnis in der Kindheit?
Vitali Klitschko: Wladimir wurde von unseren
Eltern immer netter behandelt!
ZEIT: Das Klischee sagt, dass kleine Brüder oft
nerven, war das bei Ihnen auch so?
Vitali Klitschko: Am meisten hat mich genervt, dass
meine Eltern immer verlangt haben, dass ich auf
ihn aufpassen soll. Ich konnte fast nie allein mit
Freunden losziehen. Der Kleine war immer dabei.
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
Erst Boxweltmeister, dann Nationalhelden: Seit Kriegsbeginn kämpfen die
Brüder Wladimir und Vitali Klitschko für ihr Land. Ein Gespräch über Bomben
auf Kiew, das Durchhaltevermögen der Ukrainer – und ihren Vater
Foto (Ausschnitt): Efrem Lukatsky/AP/dpa
Wladimir Klitschko (links) unterstützt seinen Bruder Vitali, den Bürgermeister von Kiew
ZEIT: Wie kam es dann zu Ihren nahezu parallel Wladimir Klitschko: Das ständige Umziehen hat
verlaufenden Lebenswegen – beide Boxer, beide dafür gesorgt, dass wir uns immer neuen Situatio-
nun Gesicht der Ukraine? nen anpassen und mit anderen Menschen klar-
Wladimir Klitschko: Die Lebenswege mögen pa- kommen mussten. Das hat uns in der Karriere sehr
rallel aussehen, aber wir sind dennoch sehr unter- geholfen und nützt uns jetzt besonders.
schiedlich. ZEIT: Ihre Mutter ist Russin und spricht bis heute
Vitali Klitschko: Ja, wir sind wie Feuer und Was- kein Ukrainisch. Wie kommt sie mit dem Krieg
ser. Wir sind Brüder, wir lieben uns, aber wir und den Rollen, die Sie beide darin spielen, nun
konnten früher gut mit­ein­an­der streiten. Im Krieg zurecht?
ist nun alles anders, da streitet man sich nicht ein- Wladimir Klitschko: Unsere Mutter kommt aus
fach so. Sibirien, im Pass ist sie Ukrainerin. Sie steht für die
ZEIT: Ihr Großvater war Kompaniechef in der vielen Menschen im Land, die russischsprachig
Roten Armee, Ihr Vater war Oberst der Sow­jet­ aufgewachsen sind, auch heute noch ausschließlich
armee, dann Generalmajor der ukrainischen Armee Russisch sprechen, aber eine total proukrainische
und Attaché bei der Nato und der ukrainischen Haltung haben.
Botschaft in Deutschland. Er ist mit 64 Jahren an ZEIT: Sie beide haben als Kinder daheim Russisch
Krebs gestorben, weil er nach der Reaktorkata- gesprochen. Sprache ist ein prägendes Element des
strophe von Tschernobyl an den Aufräumarbeiten Selbstverständnisses. Wie kommt es, dass Sie jetzt
beteiligt war. Was für ein Mann war er? als Ukrainer handeln?
Wladimir Klitschko: Ein hochdisziplinierter Vitali Klitschko: Wir haben, solange ich denken
Mann und ein wahrer Ukrainer. Wenn er noch kann, als Ukrainer gehandelt, die Sprache hat da-
am Leben wäre, hätte er sich wohl sofort freiwillig ran nichts geändert. Aber ich habe insbesondere
gemeldet, um seine Ukraine zu verteidigen. nach der Maidan-Revolution 2014 damit begon-
Vitali Klitschko: Ich denke, dass er jetzt sehr stolz nen, mehr Ukrainisch zu sprechen, die Sprache
wäre auf sein Land. besser zu lernen.
ZEIT: Wie hat er Sie beide geprägt? Wladimir Klitschko: Vitali spricht schon lange
Vitali Klitschko: Er hat uns mit militärischer Dis- sehr gut Ukrainisch, ich versuche es jetzt auch. Die
ziplin erzogen, die uns noch heute ausmacht. Das Sprache gehört in der Tat maßgeblich zur Kultur
gilt sowohl sportlich als auch politisch. dazu.
ZEIT: Welche Rolle spielt es, dass Sie mit Ihren ZEIT: Woher nehmen die Ukrainer eigentlich ihr
Eltern oft von Militärstützpunkt zu Militärstütz- resilientes Nationalgefühl, wo sie doch den Russen
punkt umgezogen sind? so nah sind?
Wladimir Klitschko: Das ist in unserer Geschichte
begründet, Kiew zum Beispiel hat eine sehr lange
eigene Historie und steht für eine große Kultur.
ZEIT: Die oft auch familiäre Nähe zwischen Rus-
sen und Ukrainern ist ja ein Thema, das in diesem
Krieg immer wieder eine Rolle spielt. Wie werden
die Menschen nach dem Krieg mit­ ein­an­
der
wohl weiterleben? Wird dort ein ewiger Graben
bleiben?
Vitali Klitschko: Es hat mich gerade zu Beginn des
Krieges geschockt, wie viele Russen die Propagan-
da geglaubt haben, die ihnen im Staatsfernsehen
über die angeblichen Nazis in Kiew erzählt wurde.
Nach dem Krieg kann nur nach Putin sein. Mit
ihm als Präsident werden die Russen sich nicht
verändern.
ZEIT: Es sieht ja so aus, als könnte der Krieg noch
sehr lange dauern. Wladimir Putin setzt offenbar
auf eine Zermürbungstaktik, darauf, dass sein
Land länger durchhält. Wie lange halten die
Ukrainer noch durch?
Wladimir Klitschko: Man kann uns nicht brechen,
wir werden so lange durchhalten, wie es sein muss.
Je heftiger Russland uns angreift, desto größer
wird der Wille, uns weiter zu verteidigen.
ZEIT: Aber sind das nicht nur Durchhalteparolen?
Denken das auch die Menschen, die Angehörige
verloren haben, deren Häuser zerstört werden, die
frieren auf dem Land?
Vitali Klitschko: Die Ukraine hat der Welt doch in
den vergangenen Monaten bewiesen, dass wir alles
durchhalten können. Ganz ehrlich: Ich wünsche
mir, dass unsere Partner sich weniger mit dieser
Frage beschäftigen und stattdessen noch entschie-
dener Waffen liefern. Davon hängt alles ab. Vor
allem auch, wie lange der Krieg noch dauert.
ZEIT: Die ukrainische Regierung hat – auch nach
den russischen Raketenangriffen der vergangenen
Tage – das Volk zum Energiesparen aufgefordert,
damit nicht alles zusammenbricht. Dabei hat der
Winter noch gar nicht begonnen. Wie schlimm
kann er werden?
Vitali Klitschko: Wir rechnen mit dem Schlimms-
ten und versuchen uns so gut wie möglich vorzu-
bereiten. Aber noch mal: Wir werden auch diesen
Winter überstehen.
ZEIT: Wie bereitet man als Bürgermeister eine
Millionenstadt auf einen Not-Winter vor?
Vitali Klitschko: Indem man alles dafür tut, die
zivile Infrastruktur, so gut es geht, zu schützen,
Notfallpläne erstellt und mit unseren westlichen
Partnern eng zusammenarbeitet. Das unterschei-
det uns von Russland: Wir haben zum Glück
Freunde überall auf der Welt.
ZEIT: Jetzt schickt Moskau schon die ersten der
angeblich 300.000 mobilisierten neuen Soldaten
Richtung Front. Kann die ukrainische Armee dem
standhalten?
Wladimir Klitschko: Als Kiew angegriffen wurde,
hieß es, dass wir uns nur ein paar Tage lang ver-
teidigen könnten. Danach hieß es, Russland würde
uns im Osten überrennen, Gegenoffensiven hätten
eh keine C ­ hance. Nichts davon ist passiert! Und
schauen Sie sich doch an, was in Russland gerade
los ist: Die Mobilisierung hat ein völliges C ­ haos
ausgelöst.
ZEIT: Mag sein, dass die Russen schlecht ausgebil-
det und ausgerüstet sind. Aber trotzdem sind es
einfach sehr viele.
Vitali Klitschko: Wir sind auch viele – und wir
kämpfen auf dem Boden unseres Landes.
ZEIT: Offenbar versucht Putin auch, Alexander
Lukaschenko, den Diktator von Belarus, in den
Krieg hineinzuziehen. Tausende der neuen russi-
schen Soldaten sollen sich zusammen mit belarus-
sischen Einheiten im Norden aufstellen. Erneut
eine Front im Norden, die die ukrainische Armee
zwingen könnte, ihre Truppen im Süden und
Osten auszudünnen. Was will Kiew tun?
Vitali Klitschko: Wir sind auf alles vorbereitet.
Wenn Lukaschenko seine Truppen in die Ukraine
schickt, dann schickt er sie in den sicheren Tod.
ZEIT: Wie sollte der Krieg Ihrer Meinung nach
enden? Würde Präsident Selenskyi irgendwann
den Donbass opfern oder die Krim, um Putin ei-
nen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Krieg zu
eröffnen?
Vitali Klitschko: Der Krieg kann nur dann enden,
wenn der letzte russische Soldat unser Land ver-
lassen hat.
Wladimir Klitschko: Wie sollen wir denn ver­
handeln? Putin würde die taktische Pause doch
nur zur Aufrüstung nutzen und die Ukraine dann
erneut angreifen.
ZEIT: Bislang steht die Bevölkerung in den meis-
ten EU-Staaten noch hinter der Unterstützung
für die Ukraine, die Biden-Regierung in den USA
sowieso. Aber der Winter wird hart, viele Men-
schen etwa in Deutschland verlieren gerade Geld
durch hohe Gaspreise und Inflation. Wie wollen
Sie dafür sorgen, dass diese Leute sich nicht von
der Ukraine abwenden?
Vitali Klitschko: Jeder muss doch – trotz aller wirt-
schaftlichen Schwierigkeiten – erkennen, worum
es geht: Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, dann
wäre das das Ende der Welt, wie wir sie kennen,
dann kann es nach uns Ukrainern jederzeit jeden
treffen. Es geht hier nicht allein um die Ukraine,
sondern auch um euch!
ZEIT: Es gibt in Deutschland Leute, die es wohl
am liebsten sehen würden, wenn die Ukraine auf-
gäbe und Putin in Verhandlungen entgegenkäme.
Die Autoren Richard David Precht und Harald
Welzer haben ein Buch geschrieben. Um es kurz
zu sagen: Sie behaupten, die deutschen Me­dien
würden die Regierung in den Krieg treiben – was
viele im Land nicht wollten. Wie stehen Sie dazu?
Wladimir Klitschko: Ich kenne die Autoren nicht.
ZEIT: Das Buch steht auf Platz eins der Bestseller-
liste. Die Theorien der beiden scheinen irgendwie
zu verfangen.
Wladimir Klitschko: Egal auf welcher Liste es
steht: Ich kann ihnen nur raten und lade die bei-
den herzlich ein, einmal selbst in die Ukraine zu
reisen, um zu sehen, was hier wirklich passiert.
ZEIT: Aber ist die Angst vieler Deutscher davor,
dass Putin Atombomben einsetzen könnte, nicht
doch nachvollziehbar?
Vitali Klitschko: Wenn wir in der Ukraine keine
Angst haben, warum sollten die Deutschen dann
Angst haben? Wenn es zu einem Einsatz kommt,
dann doch gegen uns.
ZEIT: Vielleicht macht den Deutschen Angst, dass
eine erste Atombombe zu einem globalen Schlag-
abtausch führen könnte.
Vitali Klitschko: Diese Debatte ist doch genau das,
was Putin erreichen will: Angst, Verunsicherung,­
Chaos. Das sollten wir nicht zulassen.
Die Fragen stellte Cathrin Gilbert
 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Bildung ․ Gesundheit ․ Klima ․ Technik ․ Serie: Sternstunden der Menschheit ․ Infografik: Fußball
Fotos: Daniel Chatard für DIE ZEIT (l.); Daniel Chatard

WISSEN 29

Die Schulleiterin der Dortmunder Nordmarkt-Schule, Alma Tamborini, Eine Treppe zur A 40, die Autobahn wird auch Sozialäquator genannt.
hält Lamentieren für Zeitverschwendung Sie teilt das Ruhrgebiet in Arm und Reich

Im toten Winkel
Das Ruhrgebiet ist der größte pädagogische Brennpunkt der Republik. Es gibt zu viele Schüler, die kaum Deutsch sprechen –
und zu wenige Lehrer. Eine Grundschule in Dortmund kämpft um jedes Kind  VON ANANT AGARWALA UND MARTIN SPIEWAK

E
in Dienstagvormittag auf dem stapfen morgens hungrig durch das Tor und erzäh- Etwa zwei von drei Kindern im Ruhrgebiet tor, Ordner in der Hand, darin die Abholzeiten daran, einen Kreis oder ein Viereck zu zeichnen.
Dortmunder Nordmarkt. Hristina len, dass ihre letzte Mahlzeit das Mensaessen am wachsen in benachteiligten Stadtvierteln auf, heißt für jedes Kind. Badeanzüge für den Schwimm­ An der Grundschule am Dortmunder Nordmarkt
Dimitrov und Ninja Schroda­ Tag davor war. Viele tragen zu kleine Schuhe. es im Bildungsbericht Ruhr 2020. In Dortmund unterricht? Gibt es in den meisten Familien nicht. hatten beim letzten Sprachstandtest 93 Prozent der
fädeln sich durch das Gedränge, Nichts prägt eine Schule so sehr wie ihr soziales leben rund 30 Prozent in Hartz-IV-Haushalten, in Also muss der Förderverein ran. In dem sind nur Kinder keinen altersgemäßen Wortschatz.
vorbei an Wassermelonen, Grill- Umfeld, nichts beeinflusst den Lernerfolg von Gelsenkirchen über 40 Prozent – bundesweiter Re- Lehrkräfte, keine Eltern. Die Dortmunder Nordstadt sei immer »das
zangen und Schlüpfern für einen Schülern stärker als deren familiäre Herkunft. Das kord. »Von sozialen Brennpunkten zu sprechen ist Tamborini sieht durchaus Erfolge, mögen sie Migrantenviertel« gewesen, dort lasse sich die ­gesamte
Euro. Die beiden sind Sozialarbei- kann man in der Dortmunder Nordstadt besonders eine Verharmlosung der realen Situation«, sagt der auch bescheiden sein: die erste Romamutter im westdeutsche Einwanderungsgeschichte ablesen, sagt
terinnen an der Grundschule vor Ort, der Markt- drastisch beobachten. Aber auch in Duisburg oder Soziologe Volker Kersting von der Ruhr-Universität Deutschkurs für Eltern. Oder dass zum Schulstart der Bildungsforscher Aladin El-­Mafaalani. Er lebt
besuch gehört zu ihrem Job. Es ist nämlich so:­ Oberhausen, Bochum, Herne kämpfen Lehrerin- Bochum. »Es handelt sich nicht um punktuelle, deutlich weniger Kinder gefehlt haben als im letz- selbst in Dortmund, war im Familienministerium
Immer dienstags, wenn Wochenmarkt ist, fehlen an nen und Sozialarbeiter jeden Tag gegen Sprach- sondern um flächendeckende, massive Armut.« ten Jahr; damals tauchten nach den Corona-­ des Landes für Integration zuständig. Er kennt die
der Nordmarkt-Schule besonders viele Kinder im und Bildungsarmut, gegen Perspektivlosigkeit. In der Öffentlichkeit interessiert das so gut wie Monaten rund 80 Kinder wochenlang nicht auf, Spielregeln der Politik.
Unterricht. Sie helfen bei den Einkäufen, hängen Seit rund 20 Jahren prüft die Wissenschaft, wie niemanden. Kein Bildungspolitiker schlägt Alarm, weil in Rumänien noch Ferien waren. Aus ihrem Die wichtigste lautet: Wer regieren will, braucht
herum. Dimitrov und Schroda sprechen Mütter gut Kinder hierzulande lesen, schreiben und rech- in nationalen Bildungsvergleichen kommt das Ruhr- hellen Büro im Erdgeschoss kann Tamborini tags- Wählerstimmen. Im Ruhrgebiet sind sie weniger
und Väter an, erinnern an die Schulpflicht und nen können. Den aktuellen Leistungsstand in den gebiet nicht vor: Es ist ja kein Bundesland, nicht über Männer beim Dealen beobachten. Aber darum zu holen. Hier liegen zehn der zwölf Wahlkreise
sammeln im besten Fall ein paar Kinder ein. Bundesländern haben die Forscher und Forsche- einmal eine Verwaltungseinheit. Mit kaum einer kann sie sich nicht auch noch kümmern. mit der bundesweit geringsten Wahlbeteiligung.
Neben einem Kaffeestand halten die beiden eine rinnen vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Region identifizieren sich ihre Bewohner so wie mit Lange Zeit sorgte in der Nordstadt die Stahl- Im Duisburger Norden wählten bei der Landtags-
Mutter auf, sie hat zwei Söhne im Schlepptau. Bildungswesen am Montag vorgelegt. Der Befund dem Pott – und kaum eine liegt so im toten Winkel. firma Hoesch für Jobs, Wohnungen und die Hoff- wahl im Mai nur 38 Prozent. Geht es nach Wäh-
Warum sind die Jungs nicht in der Schule? war erschreckend: Nie zuvor war das Kompetenz- Würden sie nach dem offiziellen Lehrplan un- nung, dass es die nächste Generation besser hat. lerstimmen, so sind die Regierungsfraktionen
Sie wurden beschnitten, es blutet noch etwas. niveau der Grundschüler so niedrig wie heute. In terrichten, sagt Alma Tamborini, »wäre es ein täg- Doch bereits in den 1970er-Jahren zeichnete sich von CDU und Grünen vor allem den Menschen
Ein paar Minuten später treffen sie auf die Eltern Berlin und Bremen kann jeder dritte Zehnjährige liches Scheitern«. Ein bisschen Lesen, ein bisschen der wirtschaftliche Niedergang ab. Der Kohle- jenseits des Ruhrgebietes verpflichtet, denn dort
eines Mädchens, das seit dem Ende der Sommer­ nicht richtig lesen und rechnen. Diese beiden Rechnen, ein sozialer Umgang miteinander – bergbau rentierte sich nur noch dank hoher Sub- holten sie fast alle ihre Direktmandate.
ferien vor drei Wochen noch gar nicht da war.­ Stadtstaaten bilden die Schlusslichter. Nordrhein- wenn die Schüler das am Ende der vierten Klasse ventionen, auch Stahl war anderswo billiger. Das In Dortmund-Nord wiederum können viele
»Melissa in Rumänien«, sagt der Vater und erklärt, Westfalen, das vor 20 Jahren in den Länderver- könnten, sei ihre Arbeit erfolgreich gewesen. letzte Werk in Dortmund schloss 2015, die An­ gar nicht zur Wahl gehen, weil sie keine Deutschen
dass die Familie aus ihrer Wohnung geflogen sei. gleichen noch auf Platz sechs stand, ist mittlerweile Tamborini, 41, leitet die Dortmunder Nordmarkt- lage wurde nach China verschifft. Wer es schafft, sind. Es dürfte wenige andere Orte in Deutschland
Die Nordmarkt-Grundschule liegt an einem fast zu ihnen abgerutscht. Grundschule seit 2015. Erst seien die Syrer ge- zieht weg. In den leeren Wohnungen kommen geben, wo so viele Menschen ohne Wahlberechti-
von Platanen umsäumten Platz, auf dem schon Das liegt nicht am Münster- oder Sauerland, kommen, dann wieder gegangen. Zu viele Aus- Armutsflüchtlinge unter. gung so konzentriert leben, sagt El-Mafaalani.
morgens ein paar Verlorene ihr Pils trinken. Sie hat nicht an der Region Bonn-Rhein-Sieg oder Ost- länder hier, habe ein Vater zu ihr gesagt. So ist es in der Dortmunder Nordstadt oder in »Vielleicht wird es hier deshalb zugelassen, dass
einen gewissen Ruf. Unter Lehrkräften, die sich westfalen-Lippe. Es liegt am Revier. Hier grassiert Tamborini beschönigt nichts, Lamentieren Duisburg-Marxloh, in Gelsenkirchen-Schalke oder zwischen Kita und Grundschule Dealer ihre­
lieber nicht bewerben. Unter deutschen Familien, die Bildungsarmut ebenso lange wie in Berlin, aber hält sie für Zeitverschwendung. Die Schul­ in Oberhausen-Mitte. Die Folgen für Schulleite- Drogen verkaufen.«
die sie meiden. 94 Prozent der Nordmarkt-Eltern betrifft rund zehnmal mehr Schülerinnen und leiterin und ihr Kollegium treibt eine Frage um: rinnen wie Tamborini: Mit jedem Jahrgang be- Eigentlich müsste die Bildungsarmut die Politik
bekommen Geld vom Amt oder haben es bean- Schüler als in Bremen – und hat stellenweise kaum »Wie müssen wir uns verändern, damit wir zu ginnt die Integration von Neuem. 28 Prozent der aufrütteln, die Parteien müssten sich im Wahl-
tragt. Von den 420 Schülern haben 416 eine­ vorstellbare Ausmaße angenommen. Anders ge- unseren Kindern passen?« Da immer weniger El- Grundschüler im Revier sprechen laut Bildungs- kampf mit Konzepten und milliardenschweren Ver-
Migrationsgeschichte. Im Schnitt sprechen nur ein sagt: Der größte Ballungsraum der Republik ist tern Stundenpläne lesen können, stehen morgens bericht Ruhr zu Hause kein Deutsch. Bei den Vor-
bis zwei Kinder pro Klasse gut Deutsch. Manche ihre größte pädagogische Krisenregion. eben Frau Schroda und Frau Dimitrov am Schul- schultests scheitert rund ein Viertel der Kinder Fortsetzung auf S. 30

Mehr Wissen
Jedes Jahr vergibt die Robert Bosch Stiftung den Deutschen Schulpreis. Trotz seiner allgegenwärtigen
Probleme geht das Ruhrgebiet dabei nicht leer aus: acht von bislang 97 bundesweit prämierten Schulen liegen in der Region.
Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2022-43
30 WISSEN 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

Bildung

Finnland
an der Elbe
Wie Hamburg zum Vorbild für
gute Schulpolitik wurde

S
o ist das mit schlechten Zeugnissen.
Überraschend kommen sie selten, aber
wenn man die Ergebnisse schwarz auf
weiß vor sich hat, muss man trotzdem
schlucken. Laut aktuellen Daten des In-
stituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
(IQB) haben die Leistungen der deutschen Grund-
schüler und Grundschülerinnen im Lesen und
Rechnen einen Tiefststand erreicht. Schulforscher
sprechen vom zweiten Pisa-Schock.
Eine Ursache liegt auf der Hand: Corona. Tat-
sächlich hat der Fernunterricht in Deutschland –
kollabierende Lernplattformen, digital überforder-
te Pädagogen – nur mäßig funktioniert. Mancher
Kultusminister macht sich jetzt Mut: Corona war
eine pädagogische Ausnahmelage. Das nächste
Zeugnis fällt sicher besser aus.
Das wäre die erste falsche Schlussfolgerung aus
den Ergebnissen. Denn die Pandemie verstärkte
einen existierenden Negativtrend. Bereits vor Co-
rona ging es mit den Leistungen bergab, obwohl
in den vergangenen 20 Jahren viel passiert ist. Pro
Schüler gibt Deutschland im internationalen Ver-
Foto: Daniel Chatard für DIE ZEIT

gleich überdurchschnittlich viel Geld aus. Aus

Halbtags- wurden Ganztagsschulen. Lehrkräfte
beklagen nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel
an Reformen.
Vielleicht sind Schulen und Kultusbürokratien
überfordert? Schließlich müssen sie nicht nur Co-
rona bewältigen, sondern auch mehrere Flüchtlings-
Die Sozialarbeiterin Ninja Schroda sortiert Spenden wellen. Vielleicht geht da einfach nicht mehr?
in der Kleiderkammer der Nordmarkt-Grundschule Das wäre der zweite Irrtum. Denn es geht
durchaus mehr. Den Beweis liefert Hamburg. Die
Hansestadt ist das einzige Bundesland, das die
Schulleistungen im Lesen in den vergangenen zehn
Jahren leicht verbessern konnte. Trotz Corona und
einer sehr hohen Migrantenquote. Früher fand
Im toten Winkel ... Fortsetzung von S. 29 Schulpolitik allein kann in Quartieren, wo sich heute – Wahlklatsche morgen. So erging es Sylvia baren Bücher überfordern die Kinder – und die man Hamburg neben Bremen und Berlin stets am
Migration, Armut und fehlender Aufstiegswillen so Löhrmann, als die Grünen mit ihr als Spitzenkan- darin abgebildeten Familien mit blonden Haaren, Ende des Kompetenzrankings, heute steht die Stadt
sprechen überbieten. Aber die soziale Segregation, massiv ballen wie in Teilen des Ruhrgebiets, keine didatin 2017 ihre Stimmen halbierten; und im Mai Hund und Garten haben mit der Realität am Nord- in der oberen Tabellenhälfte. Bei den guten Lesern
wie an der Nordmarkt-Schule und anderswo im Bildungswunder bewirken. Selbst die besten Schu- auch der FDP, nach fünf Jahren mit Bildungsminis- markt wenig zu tun. Seit ein paar Jahren fährt übertrifft sie gar den Dauersieger Bayern.
Revier, ist kaum ein Thema. In der Landeshaupt- len sind keine Schicksalskorrekturanstalten. Doch terin Yvonne Gebauer. »Weltbeste Bildung« hatte außerdem jeweils die Hälfte einer Klasse an zwei Wie kommt der Erfolg zustande?
stadt Düsseldorf verwaltet man die Not bestenfalls der Staat kann Ungleichheiten durch sein Bildungs- Spitzenkandidat Christian Lindner zuvor verspro- Wochentagen auf den Bauernhof oder in den Wald, Hamburg schaut genau hin. Schon Ende der
oder ignoriert sie. Der Streit, ob die Schüler acht system entschärfen. Im Ruhrgebiet müssten dafür chen und bot nach dem Wahlsieg eine weitgehend während die andere Hälfte mit der Klassenlehrerin Neunzigerjahre hat die Schulverwaltung ein soge-
oder neun Jahre bis zum Abitur lernen, wurde­ etwa Schüler im Dortmunder Norden mehr Haus- ­ahnungslose Frau aus der zweiten Reihe auf. arbeitet. Die Kinder sollen mal etwas anderes sehen nanntes Bildungsmonitoring aufgebaut. Fast jedes
dagegen zum Riesenaufreger. Politikern bereitet aufgabenbetreuung und Lernangebote erhalten als Bildungspolitisch steht NRW im Vergleich mit als die Nordstadt. Jahr bekommen Hamburger Schulen Informatio-
es auch mehr Ärger, wenn Eltern in Köln oder im Dortmunder Süden, in Duisburg-Marxloh anderen Bundesländern nicht nur bei den Leis- An Ideen und Projekten mangelt es dem nen über den Leistungsstand ihrer Schüler. Die
Düsseldorf nicht die Wunschkita für ihr Kind­ müssten sich die Schulen mit den kleinsten Lern- tungen der Schülerinnen und Schüler schlecht da. Ruhrgebiet nicht. Sie heißen »Jedem Kind ein In- Lehrkräfte können so frühzeitig Lernlücken er-
bekommen, als wenn in Dortmund-Nord Hun- gruppen finden und in Gelsenkirchen-Nord die Nirgends in Deutschland sind die Grundschul- strument« oder »Ruhrtalente« oder »Familien- kennen und nachverfolgen, ob Förderstunden
derte Familien auf einen Schulplatz warten. Lehrerinnen mit den höchsten Gehältern. klassen voller als hier (23,4 versus 20,9 Kinder im grundschulzentren«. Die Dichte der Hilfsange- helfen oder Unterrichtsveränderungen anschlagen.
Am Nordmarkt, unweit vom Tor, an dem Frau Die Realität ist oft umgekehrt. Konkret hat das Bundesschnitt), nirgends liegen die Ausgaben pro bote ist so groß, dass man in jeder Ruhrstadt Nach Corona konnten sie Kompetenzverluste da-
Schroda und Frau Dimitrov stehen, sieht man der Bochumer Soziologe Jörg-Peter Schräpler mit Grundschüler niedriger (6100 Euro versus 7100 denselben Witz hört: »Du kannst dein Kind aus her zielgerichteter ausgleichen.
morgens Kinder in Schulbusse steigen. Sie fahren seinem Kollegen Horst Weishaupt belegt. Danach Euro im Bundesschnitt). Ein besonders eklatantes dem Fenster werfen – es gibt immer einen Street- Hamburg handelt konsequent. Leistungen
in Viertel, die sie nicht kennen, oft etliche Kilo- kommen Grundschüler in Städten außerhalb des Ergebnis politischer Ratlosigkeit sind die sechs worker, der es auffängt.« Nur sei aus den vielen messen allein reicht nicht, man muss auch reagieren.
meter entfernt. Denn die Nordstadt ist voll. Auch Ruhrgebiets im Schnitt auf mehr Unterrichts- weiterführenden Schulformen: Eltern können für Initiativen nie eine abgestimmte Strategie gewor- Als klar wurde, dass es mit den Rechtschreibfähig-
die Schule von Alma Tamborini ist am Anschlag. stunden als Schüler im Ruhrgebiet. Ihr Fazit:­ ihr Kind nach Klasse vier zwischen Real-, Haupt-, den, sagt der Bildungsforscher El-Mafaalani. keiten der Grundschüler stetig bergab ging, führte
Auf dem Hof stehen zweistöckige Container, Bildungsbenachteiligungen würden durch die Sekundar-, Gesamt- und Primusschulen und Gym- Dortmund geht es dabei noch vergleichsweise die Hansestadt einen verbindlichen Basiswortschatz
in denen einige Klassen untergebracht sind, auch Behörden noch begünstigt. nasium wählen. Weltweit dürfte das einmalig sein. gut. Zwar ist die Stadt hoch verschuldet, aber nicht ein. Ebenso verpflichtend ist die Förderung aller
die von Miriam de Castro. Die 38-Jährige hält Bild- Ein weiterer Grund für die ungerechte Mittel- Dorothee Feller ist erst ein paar Monate im Amt. im Zwangshaushalt. Es gibt solvente Stiftungen und Kinder, die mit viereinhalb Jahren zu schlechte
tafeln hoch, jeden Tag macht sie eine Viertelstunde verteilung ist die ungleiche Finanzstärke der Kom- Falls sie neue Ideen hat, gerade fürs Ruhrgebiet, sind Unternehmen, regelmäßige Bildungsberichte und Deutschkenntnisse aufweisen. Und: Kein Land gibt
Vokabelübungen, nur ein Kind kennt das Wort munen. Zwar stellt das Land die Lehrkräfte. Für diese noch nicht aus dem Ministerium gedrungen. einen Schulentwicklungsfonds. Die Zuständigen so viel Geld aus für Schulen in benachteiligten Quar-
Dusche. Die Schüler in ihrer Klasse sind sieben oder das nicht pädagogische Personal und die Gebäude Auch im kurzen Gespräch mit der ZEIT bleibt sie für Kitas, Schulen und Jugendhilfe arbeiten eng tieren – gezielt, nicht mit der Gießkanne.
acht Jahre alt, eine kleine Gemeinschaft, die mit aber zahlen die Kommunen. Das führt dazu, dass vage. Entlastung der Lehrkräfte von Verwaltungs- zusammen. In Duisburg findet man davon vieles ANZEIGE
Begeisterung ihrer Lehrerin folgt. Hier gebe es in Münsteraner Schulen eher Smartboards stehen aufgaben und mehr Studienplätze fürs Lehramt, nicht – deshalb steht die Stadt noch deutlich
keine Grüppchenbildung, sagt de Castro. Aber die als in Oberhausen und dass Düsseldorf eher reno- Fortbildungen für besseren digitalen Unterricht. schlechter da. Es ist ein Teufelskreis: Ausgerechnet
Kinder sprechen eben in Drei-Wort-Sätzen, wenn vierte Klassenräume hat als Herten. Das klarste Versprechen im Koalitionsvertrag: jene Kommunen, die am dringendsten Geld für
überhaupt. Als sie vor zwölf Jahren hier angefangen Ebendort, in Herten, beginnt es an einem 10.000 zusätzliche Lehrkräfte. Diese sollen nicht Bildung brauchen, haben am wenigsten und ver- FÜR MEHR WIRTSCHAFTSWISSEN:
habe, sagt de Castro, seien am Nordmarkt vor allem Dienstagmorgen Mitte September zu schütten.
Kinder der zweiten oder dritten Generation aus Dorothee Feller besucht die Rosa-Parks-Gesamt-
per Gießkanne, sondern mithilfe eines Sozial­index
auf die Schulen verteilt werden. Der existiert in
armen so noch weiter.
Natürlich gibt es auch im Ruhrgebiet gute
Ihr Gutschein
türkischen und portugiesischen Familien gewesen. schule, untergebracht in einem Betonbau aus den Nordrhein-Westfalen seit wenigen Jahren. Die Schulen. Der erste Hauptpreisträger des Deut- im Wert von
29,99 €
»Viele waren im Kindergarten und sprachen 1970ern, an dem sich jeder Milliliter Niederschlag Idee: Schulen in armen Stadtvierteln mit hohem­ schen Schulpreises der Robert Bosch Stiftung,
Deutsch.« Jetzt sei es eben anders. als schwarzer Fleck auf der Fassade verewigt. Der Migrantenanteil bekommen einen Personalbonus. die Grundschule Kleine Kielstraße, liegt eben-
Im Ruhrgebiet macht man wenig Wind. Wer Wolkenbruch kommt wie bestellt: In den Saal, wo Bislang fällt der Index aber kaum ins Gewicht – zu falls in der Dortmunder Nordstadt. Bevor sie
mit Schulleitungen oder Lehrkräften spricht, die neue nordrhein-westfälische Bildungsministerin wenig Geld. An der Nordmarkt-Schule etwa sorg- Rektorin am Nordmarkt wurde, hat Alma Tam-
hört Sätze wie: Wird immer schwieriger, aber was mit der Schulleitung und einigen Pädagoginnen te er laut Alma Tamborini bislang für eine halbe borini an der Schule gearbeitet und von dort, so Code: W7S-ZT2-X4W
soll man machen? Oder: Dafür ist halt kein Geld über deren Alltag sprechen will, regnet es rein. zusätzliche Stelle. sagt sie, den Spirit mitgebracht: totale Offenheit
da, leider. »Die Lehrkräfte im Ruhrgebiet sind Schulbesuche nach den Sommerferien gehören In Hamburg (siehe Artikel rechts), dem Vor- für neue Ideen, totaler Fokus auf die Bedürfnisse
frustrationstolerant«, sagt Aladin El-Mafaalani. zur Ministerinnenroutine, zumal im ersten Amts- bildland für die sozial gesteuerte Mittelvergabe, der Kinder.
»Die klagen nicht, die machen einfach.« Füße jahr. Hände schütteln, Wertschätzung zeigen. Die unterstützte der Senat die Brennpunktschulen, Auf dem Pausenhof, im Unterricht, auch auf
stillhalten, zum eigenen Nachteil. CDU-Politikerin spricht von »großen Herausfor- indem er das Budget des Bildungsressorts erhöhte. dem Wochenmarkt kann man sehen: Das Kolle- Einlösbar unter
Es gibt auch ein anderes Ruhrgebiet. Oft liegt derungen«, es seien »keine einfachen Zeiten«. Dem Im ärmeren Nordrhein-Westfalen ist das kaum gium der Nordmarkt-Schule wirkt nicht genervt wiwo.de/code
es in derselben Stadt. Um von einer Welt in die Kollegium dankt sie für »absolutes Herzblut«. Was möglich. Hier müsste man Schulen in guten oder mitleidig. Aber Tamborini sieht auch den
andere zu wechseln, muss man nur in den Bus eine Bildungsministerin so sagt, wenn sie nett sein Lagen etwas wegnehmen, um es weniger privile- Verschleiß. »Im letzten Jahr hatten wir keinen
oder die Straßenbahn steigen und die A 40 über- will, aber auch nicht weiterweiß. gierten zu geben. Undenkbar. einzigen Tag, an dem niemand krank war«, sagt
queren. Man nennt sie auch Sozialäquator, er Sechs Lehrerstellen sind am Tag des Feller- Zudem existieren zusätzliche Pädagogen nur auf sie. Es ist ein Abnutzungskampf.
trennt den armen Norden vom reichen Süden Besuchs an der Rosa-Parks-Schule unbesetzt, des- dem Papier. In NRW herrscht wie in allen Bundes- Für eine neue Idee hat Tamborini die NRW-
des Reviers. In Dortmund, Duisburg oder Essen halb müssen sie Unterricht kürzen, in Biologie, in ländern Lehrermangel. Lehrkräfte können sich Schulgesetze prüfen lassen. Einen Paragrafen, der
geht er mitten durch die Stadt. Kunst und in Sport. Und bei der Sprachförderung weitgehend aussuchen, wo sie anfangen, Brenn- ihnen den Schritt verbietet, haben sie nicht gefun-
Im Norden stammt die Mehrheit der einge- von Kindern, deren Deutsch nicht gut ist. Auf die punkt-Schulen gehören eher nicht dazu. Selbst wer den. Also machen sie es jetzt: fünf Jahre Grund-
schulten Kinder aus armen Einwandererfamilien, letzte Ausschreibung, eine sonderpädagogische diesbezüglich Orientierungsprobleme hat, dem schule statt vier. Ein Jahr mehr für Zähneputzen, Hamburg riskiert Konflikte. In vielen Hambur-
die oft nicht gelernt haben, bis hundert zu zählen Stelle, bekam die Schulleitung nicht eine einzige reicht ein Blick ins Internet. Hier teilt der Sozial- Leseübungen und Fahrten auf den Bauernhof. Ein ger Grundschulen muss die Klasse jeden Tag 20 Mi-
und einen Stift richtig zu halten. Nach vier Jahren Bewerbung. Dabei ist die Rosa-Parks-Schule kein index die Schulen nach sozialer Belastung in Stand- Jahr mehr im Kampf gegen die Bildungsarmut. nuten im Chor lesen. »Pädagogik von gestern«,
wechseln die meisten von ihnen auf die Haupt- Problemfall, sondern nur die einzige Gesamtschule orttypen ein. Es beginnt bei Typ 1 (Pädagogenpara- lautete anfangs die Kritik. Doch Schulforscher haben
oder Gesamtschule. Südlich der A 40 gibt es fast in Herten, ein typischer Fall: gut 1000 Schülerinnen dies) und endet bei Typ 9 (Bildungsnotstand).  www.zeit.de/vorgelesen die Methode getestet, sie funktioniert. Und als­
keine Hauptschulen. Denn die meisten Schüler und Schüler, 75 Prozent Migrantenkinder, ein biss- An der Dortmunder Grundschule am Nord- Reaktion auf die schlechten Mathe-Fähigkeiten
hier gehen sowieso aufs Gymnasium. chen Inklusion, motiviertes Kollegium. markt, Typ 9, dröhnt Despacito aus einer koffer- schickt die Schulbehörde seit einiger Zeit Grund-
In wenigen Regionen Deutschlands dürfte sich Vier Jahrzehnte war das Schulministerium in großen Boombox auf dem Schulhof. Discopause schullehrkräfte in Kitas, die vor der Einschulung mit
die Biografie eines Kindes so genau anhand des Nordrhein-Westfalen in sozialdemokratischer nennen sie das, Jungs und Mädchen wackeln mit Zahlenspielen und Abzählreimen auf das Rechnen
Viertels voraussagen lassen: Gesundheitszustand, Hand, seit 2005 wechselte es alle paar Jahre seine den Hüften, zwei Lehrerinnen tanzen mit. Seit sie HINTER DER GESCHICHTE vorbereiten. Obwohl die Initiative in der tendenziell
kognitive Fähigkeiten bei Schulbeginn, Schulab- politische Farbe: schwarz, grün, gelb, mit Dorothee die Musik spielen, gibt es weniger Konflikte in den bildungsskeptischen Kita-Szene (Kampfbegriff »Ver-
schluss. In der vergangenen Dekade ist der soziale Feller nun wieder schwarz. Beides hat den Schulen Pausen. Es ist eine von vielen kleinen und größeren Unter der Überschrift »Gefangen schulung«) auf wenig Begeisterung stieß.
Graben tiefer geworden. Laut »Bildungsbericht nicht gutgetan: die Dauerherrschaft der SPD sowie Innovationen an der Schule von Alma Tamborini. im Ghetto« berichtete ZEIT-Redakteur Hamburg wahrt Kontinuität. Kaum etwas ist
Ruhr« hat sich die Armut in den vom Bergbau die vielen Intermezzi danach. Stets versprachen die In den Klassen stehen Zahnputzbecher, seit die Martin Spiewak schon einmal über guten Schulleistungen abträglicher als eine stets
geprägten Vierteln verschärft, gerade in Dortmund, Regierungen Großes: »Beste Bildung«, »Kein Kind Zahnärztin in über 400 der 420 Münder Karies die Situation der Schulen in wechselnde Schulpolitik. Im Hamburg steht­
Duisburg, Essen, Bochum und Gelsenkirchen. Für zurücklassen«, »Chancenland NRW«. Ein Konzept oder andere Krankheiten entdeckte. Manche Kin- Dortmund-Nord. Er schrieb: »Viel zu Bildungssenator Ties Rabe seit elf Jahren an der
den Bildungsbereich stellt der Bericht eine »zuneh- gegen Bildungsarmut stand nicht dahinter. der seien irre stolz gewesen, zum ersten Mal eine spät erkennen Schulbehörden und Spitze der Schulbehörde, länger als jeder andere
mende Spreizung« fest. So schaffen im Ruhrgebiet Eine der Bedingungen der Grünen zur jetzigen eigene Zahnbürste zu besitzen, erzählt eine Lehre- Bildungspolitiker, dass sich die Kultusminister.
zwar stets mehr Schüler das (Fach-)Abitur, aber Koalition mit der CDU soll geheißen haben: rin. In den Regalen und auf den iPads befindet sich Integrationsprobleme nicht mit ein Früher sind die Kultusminister auf der Suche nach
auch die Quote der Hauptschulabschlüsse und der Wir machen alles außer Bildung. Schule gilt in Schulmaterial, das die Pädagogen selbst geschrieben paar Projekten lösen lassen.« Inspiration nach Finnland und Kanada gepilgert.
Anteil der Schüler ohne Abschluss steigen. NRW als Hochrisikoressort. Motto: Verantwortung und illustriert haben. Die auf dem Markt verfüg- Der Artikel erschien im April 2000. Heute hilft eine Reise an die Elbe. MARTIN SPIEWAK
 DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022
Anzahl
Jährliche
Spiegelungen
Diagnosen
512.428 Frauen und
Männer ließen sich
2019 in Deutschland
mit einer Koloskopie
auf Darmkrebs
oder seine Vorstufen
20 %untersuchen
Teilnehmer
Neueste Daten zeigen: Eine Darmspiegelung bringt weniger als gedacht. Ist die Untersuchung trotzdem sinnvoll?  VON JAN SCHWEITZER
V
orsorge rettet Leben, heißt es
immer. Wolfgang drückt es­
etwas anders aus: »Wenn der
Darmkrebs bei mir nicht in
diesem frühen Stadium ent­
deckt worden wäre, wäre ich an
diesem Darmkrebs gestorben.«
Jahrelang hatte er keine Praxis von innen gesehen
– »man geht doch nur zum Arzt, wenn man
krank ist«, sagt er –, bis seine Frau ihn dazu
drängte, eine Darmspiegelung zur Krebsvorsorge
machen zu lassen.
Wolfgang erzählt von seiner Erfahrung in ei­
nem Video des Bundesgesundheitsministeriums.
Es ist beeindruckend, wenn er berichtet, wie die
Untersuchung sein Leben gerettet hat, und es
klingt absolut plausibel: Was man früh entdeckt,
kann man noch gut behandeln.
Wolfgangs Geschichte könnte aber eine­
Ausnahme sein. Darauf deuten zumindest Er­
gebnisse einer neuen Studie hin. Danach ist
der Nutzen einer Darmspiegelung als Vorsorge
gegen Krebs längst nicht so groß, wie man bis­
lang dachte. Und das könnte Konsequenzen für
das deutsche Gesundheitssystem haben: für die
Menschen, die sich der Untersuchung unter­
ziehen, für die Ärzte, die sie durchführen, aber
auch für die Krankenkassen und ihre Beitrags­
zahler, also für so gut wie jeden.
Die Vorsorgeuntersuchung nehmen jedes
Jahr Hunderttausende Menschen in Anspruch,
allein 2019 waren es 512.428, wie das Zentral­
institut für die kassenärztliche Versorgung heraus­
gefunden hat. Sie alle wollen damit eine der
häufigsten Krebsarten verhindern: Bei Frauen ist
ein Tumor im Darm die zweithäufigste Krebs­
erkrankung, 2019 wurden 26.000 Neu­erkran­
kun­ gen dia­ gnos­ti­
ziert, bei Männern war er
mit fast 33.000 neuen Fällen die dritthäufigste
Tumorart.
Die Studie, die vor zwei Wochen im New
England Journal of Medi­cine erschienen ist, wirft
gut begründete Zweifel am Nutzen der Methode
auf. Sie ist keine dieser zahlreichen Untersuchun­
gen, die Mediziner machen, um mit mäßiger
Qualität irgendeinen Zusammenhang zu finden
oder auszuschließen – nein, sie ist die erste, die
mit dem Goldstandard der medizinischen For­
schung den Nutzen der Darmspiegelung für die
Krebsvorsorge untersucht hat: »Randomisiert«,
also per Zufall, teilten Wissenschaftler um den
Gastroenterologen Michael Bretthauer von der
Universität Oslo Menschen im Alter von 55 bis
64 Jahren in zwei Gruppen auf. Die einen be­
kamen das Angebot, sich per Koloskopie, so der
Fachausdruck für die Spiegelung des Dickdarms,
untersuchen zu lassen. Die anderen erhielten es
nicht, sie bildeten die Kontrollgruppe. Die For­
scher verfolgten dann, bei wie vielen Probanden
später Darmkrebs dia­gnos­ti­ziert wurde und wie
viele daran starben.
Insgesamt fast 85.000 Menschen in vier Län­
dern wurden in die Untersuchung eingeschlos­
sen – eine beeindruckende Größe. Wertvoll ist
die Studie aber vor allem wegen der Randomisie­
Illustration: Anne Gerdes/ZEIT-Grafik
rung der Probanden, das macht sie statistisch so
aussagekräftig.
Jetzt, nach zehn Jahren, zogen die Autoren
eine erste Bilanz – und die fiel ernüchternd aus:
Mit der Einladung zur Koloskopie konnte man
das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, nur um
18 Prozent senken. Die meisten Experten hatten
mit einem deutlich größeren Effekt gerechnet,
Was guckst du!
manche gingen davon aus, dass die Vorsorge die
Gefahr um 90 Prozent reduzieren könne.
Das Risiko, an Darmkrebs zu sterben, wurde
sogar noch weniger gesenkt, nämlich nur um
zehn Prozent, das war nicht einmal si­gni­fi­kant,
wie Statistiker sagen, weswegen man nur von
einem Trend spricht, der sich in den Zahlen
andeutet. Noch ernüchternder sind die absolu­
ten Zahlen: Die Darmspiegelung vermochte das
Risiko für die Erkrankung nur um 0,22 Prozent­
punkte zu senken, und zwar von 1,2 Prozent bei
denjenigen, die keine Offerte zur Darmspiege­
lung erhielten, auf 0,98 Prozent bei denjenigen
mit Untersuchungsangebot. Das ist ein sehr
kleiner Wert.
Die Ergebnisse zeigen auch, dass ohnehin
nur sehr wenige Teilnehmer an Darmkrebs er­
krankten. An dem Krebs gestorben waren nur
0,31 Prozent derjenigen, die nicht gespiegelt
wurden, und 0,28 Prozent in der Gruppe mit
einer Spiegelung.
Die neuen Zahlen könnten nun auch die
Überzeugungen der Gastroenterologen erschüt­
tern. »Von einigen ist das Krebs-Screening per
Darmspiegelung als eine Art von Weltrettung
verkauft worden – es ist ja auch eine wichtige
Geldquelle für viele Ärzte«, sagt der Studienautor
Bretthauer, der selbst koloskopiert.
In Deutschland zahlen die Kassen das Darm­
krebs-Screening im Rahmen eines Vorsorgepro­
gramms: Männer können ab 50 Jahren eine erste
Darmspiegelung machen lassen. Ist die unauffällig,
dürfen sie sich nach frühestens zehn Jahren einmal
erneut untersuchen lassen. Das Risiko steigt mit
dem Alter. Und weil es bei Frauen etwas geringer
ist, wurde das Prozedere bei ihnen um fünf Jahre
versetzt; sie können mit 55 Jahren beginnen.
Ob sich an diesem Vorsorgeprogramm mit
den neuen Zahlen etwas ändert, ist fraglich.
Deutsche Experten wie der Epidemiologe Her­
mann Brenner vom Deutschen Krebsforschungs­
zentrum in Heidelberg sehen die eher positiven
Seiten der Studie. Mit ihr erhalte die Vorsorge-
Koloskopie nun, 20 Jahre nach ihrer Einführung
in Deutschland, »das lang erwartete ›Gütesiegel‹
des Nachweises der Senkung des Darmkrebs­
risikos durch eine randomisierte Studie«. Wenn­
gleich die Reduzierung eher marginal ausfällt.
Trotzdem ist die Untersuchung nicht gänzlich
nutzlos. Sie ist eine der ganz wenigen Methoden,
die man tatsächlich als Krebsvorsorge bezeichnen
kann und nicht nur als Krebs­früh­erkennung. Bei
der Vorsorge kann man eine Krankheit wirklich
vermeiden, bei der Früh­erkennung weiß man­
lediglich eher davon. Ob sie auch einen Nutzen
hat, ist nicht immer klar – die Betroffenen können
trotzdem an dem Krebs versterben oder müssen
manchmal aufwendige und auch riskante Nach­
untersuchungen erleiden.
Bei der Darmspiegelung können die Unter­
sucher sogenannte Polypen entdecken, also
Wucherungen der Darmschleimhaut, die zwar
gutartig sind, sich aber später zu bösartigen Tu­
moren entwickeln können. Schon während der
Untersuchung entfernen sie diese Polypen, dem
Krebs wird also wirklich vorgebeugt. Zudem ist
die Koloskopie sehr zuverlässig: Ist schon ein
Krebs gewachsen, findet der Arzt oder die Ärztin
ihn auch meist, in etwa 95 Prozent der Fälle.
Wobei das auch vom Untersucher abhängig ist:
»Die Koloskopie ist nur so gut wie derjenige, der
sie macht«, sagt Christian Pox, Chefarzt der Medi­
zinischen Klinik am Krankenhaus St. Joseph-
WISSEN Anzahl 31
Gesundheit
Diagnosen
Häufige Diagnose
Anzahl 20 % Teilnehmer
Bei 26.266 Frauen
und 32.701
Männern wurde
2019 Darmkrebs
festgestellt
Diagnosen
20 % Teilnehmer
Seltene Vorsorge
Weniger als
20 Prozent der
Teilnahmeberechtigten
nutzen das
Angebot einer
Darm­spiegelung
zur Vorsorge
Stift in Bremen und Koordinator der Leitlinie Eine Schwäche, die auch der Studienautor Brett­ halten sollte, das nach den neuen Erkenntnissen
»Kolo­rek­ta­les Karzinom«. »Wir haben in Deutsch­ hauer benennt. Schließlich dauert es einfach, bis ein nicht ­besonders wirkungsvoll ist, lacht er erst mal
land aber gute Kriterien, damit eine Koloskopie nur Krebs gewachsen ist und sichtbar wird. Auch bei kurz auf und antwortet dann fast schon salomo­
von jemandem gemacht wird, der es gut kann.« einer unauffälligen Koloskopie kann er schon­ nisch: »Als Staat oder Krankenkasse ist es gut, ein
Mindestens 200 Untersuchungen jährlich müsse wuchern, aber eben noch nicht sichtbar sein – viel­ Programm für die Menschen anzubieten, die sich
ein niedergelassener Arzt nachweisen, damit er die leicht auch nach zehn Jahren noch nicht. wirklich untersuchen lassen wollen.« Um Geld zu
Zulassung dafür bekommt und von den Kassen Die Studie sei deswegen auch auf 15 Jahre an­ sparen, solle man erst einmal andere Programme
bezahlt wird. »Und wer etwas häufiger macht, der gelegt, sagt Bretthauer. Jetzt habe man nur erste zur Früherkennung herunterfahren, solche für
macht es besser«, sagt Pox. Zwischenergebnisse gewinnen wollen, weil dieses Brust- oder Prostata­ krebs etwa, deren Nutzen
Die neue Studie kommentiert er eher zurück­ Intervall zur Darmkrebsvorsorge empfohlen werde. zweifel­haft ist. Denn die Koloskopie sei immer
haltend. Man müsse sie zwar beachten, sagt Pox, Bretthauer erwartet, dass mit mehr Zeit die Sterb­ noch die M­ ethode, die am besten helfe. »Nur d­ ieses
aber auch die Einschränkungen sehen. Man dürfe lichkeit in der Gruppe der Untersuchten »ein ›Ihr müsst da unbedingt hingehen, alle müssen
»jetzt nicht so tun, als ob Koloskopie keinen Nut­ bisschen kleiner wird im Vergleich zur Kontroll­ mit­machen‹ – damit sollte man aufhören.«
zen hat«. Mit den Einschränkungen meint Pox zum gruppe«. Fragt man Bretthauer, ob Deutschland
Beispiel den Zeitpunkt der Bilanz nach zehn J­ ahren. denn weiterhin ein Vorsorgeprogramm aufrechter­ www.zeit.de/vorgelesen
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Tierversuche können bald der Vergangenheit angehören!
In jeder Branche durchlaufen neu entstehende Produkte verschiedene Phasen bis sie letztendlich auf den Markt kommen. In
der Branche der Medizinprodukteentwicklung ist dieser Zyklus sehr kosten- und zeitintensiv. Ein Münchener Start-Up hat die
Mission, das zu verändern!
DIE VISION DAHINTER DER VERALTETE VS. DER VERBESSERTE ZYKLUS
Die Entwicklung von Medizinprodukten bedarf zahlreichen Studien
und Tests, für die eine große Menge an Daten erforderlich ist. Diese
Daten werden durch Tests und Versuche an Menschen und Tieren
gesammelt, um die Sicherheit und Effektivität des Medizinproduk-
tes zu zeigen. Die zukunftsfähige Vision liegt nun darin, unnzäh-
lige Tier- und riskante Humanversuche innerhalb klinischer Studien
und bei der Entwicklung von Medizinprodukten zu minimieren und
durch virtuelle Simulationen zu ersetzen.
VON PHYSISCHEN ZU VIRTUELLEN PATIENTEN
Im herkömmlichen Zyklus muss bei einem unerwünschten
Zwischenfall in einer der Phasen der Medizinproduktentwicklung,
Das “Neu-Denken” der veralteten Arbeitsweise wird durch die Be- zum ersten Schritt zurückgekehrt werden. Mit dem Einsatz virtu-
reitstellung virtueller Patienten (sogenannte digitale Zwillinge) er- eller Patienten kann das Gerätedesign in jedem Schritt validiert
möglicht. So werden nach der Erstellung eines Prototypen - ähn- werden, sodass die optimale endgültige Passform sichergestellt
lich wie in der Automobilbranche - vorerst virtuelle Simulationen
werden kann.
durchgeführt, die die Funktionen des zu entwickelnden Produktes
aufzeigen können. Mögliche Gefahren, Probleme oder fehlende DIE ENTSTEHENDEN VORTEILE
Funktionen können somit frühzeitig ermittelt und behoben werden,
noch bevor zahlreiche Tier- und Menschenversuche durchgeführt Kosten- und Zeitersparnis
werden. Reduzierung der Tierversuche
Ein 2019 gegründetes Startup Gewährleistung der Produktsicherheit vor der Durch-
aus München stellt eine große führung klinischer Versuche
Ein digitaler Zwilling ist eine
digitale Repräsentanz eines Datenbank zur Verfügung, Schließung der Ungleichheitslücke bei unterrepräsentier-
materiellen oder immateri- welche Entwicklern ermöglicht, ten Bevölkerungsgruppen
ellen Objekts. eine Vielzahl an Tests an virtu-
ellen Patienten verschiedenster DIE REVOLUTION IN DER BRANCHE
Die neue Methode ist auf dem Vormarsch. Die FDA (Food and Drug
Herkunft, biologischen Ges-
chlechts oder Alters durchzuführen. Durch die Vielzahl an beste- Administration) die für die Zulassung zuständige US-Regulierungs-
henden spezifischen Daten kann exakt auf die entsprechende behörde, sowie die Europäische Kommission, haben der Model-
Zielgruppe eingegangen werden. Vor allem Kinder und Frauen sind lierung eine wichtige Rolle zugewiesen. Das bedeutet, dass neue
bei herkömmlichen Tests unterrepräsentiert. Ein weiterer Vorteil Geräte schneller auf den Markt kommen und Leben retten können,
besteht darin, dass die tatsächliche Patientenzielgruppe sehr früh ohne dass dafür unnötig Tiere und Menschen eingesetzt werden
in den Entwicklungsprozess eingebunden werden kann. müssen.
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 32
Foto: Virginia Woods-Jack/Millennium Images
Was machen die Wolken, wenn das
Klima wärmer wird? Das erforscht
Bjorn Stevens, Direktor am Max-
Planck-Institut für Meteorologie in
Hamburg. Seine Forschungsgruppe
simuliert Wolken in Klimamodellen.
Der Weltklimabericht stützt sich
in Wolkenfragen maßgeblich auf
seine Expertise. Aktuell würde
Stevens den Weltklimabericht
allerdings am liebsten umschreiben.
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Unternehmen und Karrieren
_ VI EL FALT LE B E N
EINE BOTSCHAFTERIN DES MITEINANDERS
Lisa Lamprecht ist 28 Jahre
alt – und arbeitet seit zwölf
Jahren bei der Deutschen
Bank. Im Mittelpunkt ihrer
Arbeit stehen Menschen und
nicht Zahlen.
Lisa ist als Auszubildende im
Privatkundengeschäft der Bank
gestartet und bildete sich neben-
her weiter fort. Zunächst zur Bank-
fachwirtin und dann mit einem
Studium in Betriebswirtschaft und
Wirtschaftspsychologie. Über eine
Zwischenstation in der Personal-
abteilung ist sie zu ihrem heutigen
Arbeitsplatz in der Investment-
bank gekommen, wo sie an
strategischen Aufgaben mitwirkt.
Im Rahmen eines Mentoring-
programms bringt sie derzeit
Kolleg*innen-Duos zusammen,
die sich bei ihren Treffen aus-
tauschen und gegenseitig ins-
pirieren. Wissensaustausch gilt
als strategische Aufgabe in
großen Unternehmen, denn er
fördert Zusammenarbeit über
Berufs- und Bereichsgrenzen
hinweg. Lisa macht sich in ihrem
Bereich dafür stark.
Im Fokus von Lisas Arbeit stehen
die Menschen in und um die
Deutsche Bank AG
Taunusanlage 12
60325 Frankfurt am Main
careers.db.com
»Zu viel Kinderbuch-Wolke«
Wie viel Angst dürfen Wissenschaftler in der Klimadebatte verbreiten? Der Wolkenforscher Bjorn Stevens wirft
seinen Kollegen vor, alarmistisch zu sein. Er findet: Wir wissen noch viel zu wenig
DIE ZEIT: Professor Stevens, der
Weltklimabericht bezeichnet Wolken
als den größten Unsicherheits­fak­
tor für Klima-Vorhersagen. Woran
liegt das?
Bjorn Stevens: Sehen Sie die Wolke
da draußen? In meinem Fachgebiet
stellen sich die meisten eine Wolke
vor wie diese kompakten weißen­
Objekte am blauen Himmel.
ZEIT: So wie im Kinderbuch.
Lisa Lamprecht setzt sich für Vielfalt
und Teilhabe bei der Deutschen
Bank ein. Aus ihrer Sicht wird das
Unternehmen so auch erfolgreicher.
Über
85.000
Menschen arbeiten weltweit bei der Deutschen Bank.
46 Prozent von ihnen sind Frauen, und die Bank will
die Vielfalt in allen Bereichen weiter stärken. Dafür hat
sie zum Beispiel Diversity-Initiativen und Mentoring-
Programme ins Leben gerufen. Die Bank verfolgt das
Ziel, dass bis 2025 35 Prozent der Führungspositionen
von Frauen besetzt sind.
Stevens: Ja, eine hübsche Schäfchen­
wolke. Als könnte man eine Linie um
den Rand der Wolke ziehen. Aber das
ist eine optische Täuschung, wie jeder
weiß, der mal in den Bergen in eine
Wolke gestiegen ist.
ZEIT: Weil es langsam nebliger wird?
Stevens: Genau. Wolken sind Trickser.
Selbst wenn die Konturen scharf sind,
ähnelt die Wolkenstruktur eher der
von Blätterteig. Trotzdem orien­tie­ren
Deutsche Bank. »Wir können
nur erfolgreich sein, wenn nicht
jede*r nur an sich denkt«, sagt
sie. Der One-Bank-Gedanke
prägt ihre Arbeit wie kein anderer.
Und dabei spielen Vielfalt und
Teilhabe eine große Rolle. »Wenn
ein Kopf mehr mit am Tisch sitzt,
dann ist die Diskussion schon
vielschichtiger. Unterschiedliche
Perspektiven öffnen uns weitere
Blickwinkel.«
Lisa sieht sich als Botschafterin
des Miteinanders. Um die
Herausforderungen der Zukunft
zu meistern, braucht es
Menschen mit verschiedenen
Erfahrungen und Ideen, die
offen besprochen werden
können. Die Deutsche Bank
ist ein guter Ort für vielfältige
Talente, weil sie selbst so
divers aufgestellt ist, findet
Lisa: »Die Struktur der Bank
bietet sehr viele Möglichkeiten
und alle können hier ihren
eigenen Weg finden. Genau,
wie es für sie richtig ist.«
Mehr über das Arbeiten, Vielfalt
und Teilhabe sowie aktuelle Jobs
bei der Deutschen Bank:
careers.db.com
WISSEN
Klima
sich viele Wissenschaftler an den Kinder­
buch-Wolken, weil sie einfacher zu simulie­
ren sind. Die Klimamodelle werden dadurch
ungenauer.
ZEIT: Wie viel Wasser enthält diese Wolke?
Stevens: Eine Wolke von der Größe eines Alt­
baus kann nur einen Liter Wasser enthalten.
ZEIT: Das würde ja in eine Maß Bier passen!
Stevens: Würde man das gesamte kondensierte
Wasser der Atmosphäre gleichmäßig um den
Globus verteilen, erhielte man einen Wasser­
film, der nur zwei Zehntelmillimeter dick ist.
ZEIT: Warum beeinflussen Wolken dann das
Klima so sehr und überfluten ganze Länder?
Stevens: Überschwemmungen entstehen, weil
Wolken riesig sein können und die Luftzirku­
lation in Unwettern das Wasser ständig nach­
füllt. Und das Klima beeinflussen sie, weil sie
aus einer riesigen Anzahl Tröpfchen bestehen,
die mit dem Sonnenlicht und der Wärme­
strahlung interagieren. Eine sehr große Wolke
hat fast so viele Tröpfchen, wie es Sterne im
Universum gibt. Und es gibt viele Wolken, sie
bedecken zwei Drittel der Erde.
ZEIT: Wärmen oder kühlen sie den Planeten?
Stevens: Beides. Die Energiebilanz der Erde
hat zwei Anteile: erstens das einfallende Son­
nenlicht und zweitens die von der Erde abge­
gebene Wärme, also Infrarotstrahlung. Alle
Wolken haben kühlende Wirkung, indem sie
die Menge des Sonnenlichts, das die Erd­
oberfläche erreicht, verringern. Und alle Wol­
ken haben wärmende Wirkung, indem sie die
Infrarotstrahlung der Erde absorbieren, so­
dass sie nicht in den Weltraum entkommt –
der Treibhauseffekt. Die Bilanz zeigt: Wasser­
reiche niedrige Wolken über dem tropischen­
Ozean haben den größten Kühleffekt und
wasserarme Eiswolken in großen Höhen den
stärksten Erwärmungseffekt. In der Summe
ist der Kühleffekt größer.
ZEIT: Und wie verändert sich diese Bilanz
mit der globalen Erwärmung? Wissenschaft­
ler vom Potsdam-Institut für Klimafolgen­
forschung (PIK) haben vor Kurzem ein Worst-­
Case-­Sze­na­rio veröffentlicht. Darin wird auch
erwähnt, dass unser Planet bis zum Ende des
Jahrhunderts so warm werden könnte, dass
alle Wolken quasi verdampfen und wir dem
Untergang geweiht sind.
Stevens: Das ist Unsinn. Einfach ausgedrückt:
Die Atmosphäre will bewölkt sein, weil Luft
nach oben steigt. Es ist schwer, Wolken los­
zuwerden.
ZEIT: Warum behaupten die Potsdamer
Klima­for­scher etwas anderes?
Stevens: Das müssen Sie sie fragen. Ich kann
nur bewundern, wie die Kollegen dort die
Fachliteratur nach den alarmierendsten Ge­
schichten durchforsten. Ich finde es schade,
dass diese dann unkritisch präsentiert werden.
ZEIT: Das Szenario ist also falsch?
Stevens: Ja. Es basiert auf einer aus dem Zu­
sammenhang gerissenen Arbeit unseres In­
stituts und auf einem zweiten Paper, das zahl­
reiche Mängel hat.
ZEIT: Welche Mängel?
Stevens: Das dramatische Verhalten des Kli­
mas in dieser Simulation beruhte auf einer
groben Vereinfachung der Wolken, die mit
der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Wenn man
genau hinschaut, halten die alarmierendsten
Geschichten einer wis­sen­schaft­lichen Über­
prüfung oft nicht stand.
ZEIT: Meinen Sie auch Kipppunkt-Progno­
sen wie die zum Abschmelzen des Antarktis-
Eises, zum Kollaps des Golfstroms und zur
Versteppung des Amazonas-Regenwalds?
Stevens: Ja, und die meisten anderen. Natür­
lich wird sich die Welt durch die globale Er­
Was beim
Klima zählt
Im Klimaabkommen von Paris
hat sich die Staatengemeinschaft
2015 das Ziel gesetzt, die globale
Erwärmung auf »deutlich unter«
2 Grad zu begrenzen, möglichst
auf 1,5 Grad im Vergleich zur
vorindustriellen Zeit. Im wissen­
schaftlichen Diskurs wird häufig
über eine andere Zahl diskutiert,
die Klimasensitivität: Sie gibt an,
um wie viel Grad die globale
Durchschnittstemperatur an­
steigt, wenn sich die CO₂-Kon­
zentration in der Atmo­sphäre im
Vergleich zur vorindustriellen
Zeit verdoppelt. Das könnte
Mitte des Jahrhunderts der Fall
sein, wenn alles so bleibt.
wärmung verändern, in einigen Regionen
auch dramatischer. Aber wie, wo und wann,
ist noch alles andere als sicher.
ZEIT: Im deutschen Klimadiskurs warnt das
PIK meist vor Tipping-Points, während Ihr
Institut die Gefahr von Kipppunkten eher
herunterspielt. Woran liegt das?
Stevens: Kipppunkte sind faszinierend, und
es ist gut möglich, dass es sie gibt. Aber sie
sind auch eine Frage der Definition. Woran
denken Sie beim Wort Tipping-Point?
ZEIT: An eine sich selbst verstärkende Rück­
kopplung, die unumkehrbar ist.
Stevens: Eine sich beschleunigende Verände­
rung, die man nicht rückgängig machen
kann, richtig. Wie ein Bleistift, der herunter­
fällt. Er kann nicht wieder von selbst nach
oben fallen. Aber die Tipping-Points, die
mein Kollege Hans Joachim Schellnhuber
und andere am PIK hervorheben, basieren
auf ihrer privaten, viel schwächeren Defini­
tion. Da werden Tipping-Points umgedeutet,
sodass auch weniger abrupte oder sogar um­
kehrbare Klimaveränderungen darunter­fallen.
Mit dieser Neudefinition finden sie Kipp­
punkte überall. Dann ist Dauer­alarm. Mein
Institut verharmlost Kipppunkte nicht, wir
legen nur mehr Wert auf Klarheit.
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
ZEIT: Beneiden Sie das Potsdam-Institut um
seine Medienpräsenz?
Stevens: Wer würde nicht gerne interessant
sein? Leider bevorzugen die Menschen Ge­
schichten über den Weltuntergang. Davon
verstehe ich nicht viel.
ZEIT: Wollen Sie damit sagen, dass die glo­
bale Erwärmung kein Problem ist?
Stevens: Sie ist ein Riesenproblem, auch weil
wir so wenig über ihre tatsächlichen Auswir­
kungen wissen. Ob und wo biblische Dürren
und Überschwemmungen auftreten werden,
ist laut IPCC für fast alle Regionen ungewiss.
ZEIT: Stefan Rahmstorf vom PIK vergleicht
sich mit einem Arzt, der herausgefunden hat,
dass Rauchen gefährlich ist, und jetzt die Men­
schen dazu aufrufen müsse, damit aufzuhören.
Stevens: Als Wissenschaftler erkläre ich den
Leuten gerne, wie die Dinge, von denen ich
etwas verstehe, funktionieren. Aber was quali­
fiziert mich, ihnen zu sagen, wie sie sich ver­
halten sollen? Das muss der gesellschaftliche
Diskurs ergeben, der mehr von gutem Jour­
nalismus als von charismatischen Wissen­
schaftlern geprägt sein sollte. Wenn die Men­
schen nicht lernen, selbst zu denken, sind wir
sowieso verloren.
ZEIT: Lassen Sie uns noch mal über die Ge­
fahr von Wolken sprechen. Werden Wolken
die globale Erwärmung beschleunigen?
Stevens: Die interessante Zahl hier ist die
Klimasensitivität. Sie beziffert, wie stark sich
die Erde erwärmt, wenn die CO₂-Konzen­
tration in der Atmosphäre sich verdoppelt ...
ZEIT: ... verglichen mit der CO₂-Konzentra­
tion vor der Industrialisierung. Das wäre noch
in diesem Jahrhundert?
Stevens: Wenn wir so weitermachen wie bis­
her, ja. Im letzten IPCC-Bericht war man
sich einig, dass die globale Durchschnitts­
temperatur dann wohl um 2,5 bis 4,0 Grad
Celsius ansteigen würde. Wobei die höheren
Temperaturen den Simulationen zufolge we­
sentlich durch eine Veränderung der Wolken
verursacht werden. Diesen Effekt halten wir
heute für überbewertet.
ZEIT: Waren die Modelle fehlerhaft?
Stevens: Ja. Zu viel Kinderbuch-Wolke, zu
wenig echte Wolke. Im Weltklimaforschungs­
programm haben wir uns die Klimamodelle
vorgeknöpft. Die Modelle mit den extrems­
ten Vorhersagen sind durchgefallen, und das
Vertrauen in die weniger katastrophalen Wer­
te der Klimasensitivität hat zugenommen.­
Meiner Meinung nach wird der Beitrag der
Wolken aber immer noch überbewertet.
ZEIT: Wie hoch ist er denn?
Stevens: Auf Basis unserer neuesten Messun­
gen und der Fortschritte in der Theorie würde­
ich heute sagen: null.
ZEIT: Null?
Stevens: Richtig, das ist zumindest meine
Arbeitshypothese. Die Klimasensitivität liegt
dann eher am unteren Ende der IPCC-Schät­
zung, etwa bei 2,8 Grad. Wir sollten weiter­
suchen, aber bis jetzt steht der Beweis aus,
dass die Wolken eine große Rolle spielen.
Das Gespräch führte Max Rauner
 DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022
M
ittwochmorgen am Berli-
ner Westhafen. Ein Greif-
arm lädt Sperrmüll auf
rostige Kähne. Es schep-
pert und kracht. Dennoch
gilt alle Aufmerksamkeit
im Hafenbecken II einem
sehr viel kleineren Gefährt. Es ist knallgelb, sieht
aus wie eine Kreuzung aus Tretboot und DHL-
Container, und es macht höchstens surrende­
Geräusche. In Zukunft soll es Päckchen und­
Pakete auf den Berliner Wasserstraßen transpor-
tieren, und zwar autonom.
Selbstfahrende Bahnen gibt es schon lange.
Flugzeuge landen per Autopilot, wenn die Sicht
für menschliche Augen zu schlecht ist. In der
Auto­mobil­bran­che gibt es Spur­halte­assis­ten­ten
und Einparksysteme, bei denen die automatisierte
Technik fährt und der Fahrer überwacht. Im Mai
hat Mercedes ein Auto auf den Markt gebracht,
das bei Stau auf der Autobahn die Steuerung
übernehmen kann. Nur die Schifffahrt hängt
hinter­her im autonomen Fahren. Das soll sich­
Foto: Ole Witt für DIE ZEIT [M]
ändern – und zwar nicht nur für Frachtschiffe auf
hoher See, sondern auch im Kleinen.
A‑Swarm (»Autonome elektrische Schifffahrt
auf Wasserstraßen in Metropolregionen«) heißt
das Projekt, bei dem ein Forschungsverbund aus
Universitäten und Unternehmen die Paketboote
ohne Paketboten im Berliner Westhafen erprobt.
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Selbststeuernde Schiffe sollen in Berlin umweltfreundlich und günstig Päckchen zustellen.
Wie funktioniert das?  VON FRANZISKA SCHINDLER
153 Kilometer Wasserstraßen stehen in Berlin zur
Verfügung. Wenn es gelingt, sie stärker für den Trans-
port von Gütern zu verwenden, könnten die Haupt-
städter gleich mehrfach profitieren. Die Straßen
würden entlastet, und sofern die Boote mit Elektro-
antrieb fahren, nähme die Luftverschmutzung in der
Stadt ab. Wenn sie das auch noch ohne Kapitän
schaffen, entfallen Lohnkosten, die die Paketzustel-
lung per Schiff sehr teuer machen würden.
Mittels Magneten zu mehreren zusammengekop-
pelt, ergeben A‑Swarm-Boote ein Frachtschiff. Im
Verband könnten sie vom Paketzentrum am Rande
der Stadt die Spree hinaufschippern. Sobald sie im
Zentrum angekommen sind, zieht jedes A-Swarm-
Boot seiner Wege – dorthin, wo die Pakete zugestellt
werden sollen. Acht Meter soll ein Boot lang sein
und damit Platz für mehrere Hundert Pakete bieten.
Die schwimmenden Minitransporter sollen ihre
Fracht bei Verteilstationen an den Ufern der Stadt
abladen. Von dort gelangen die Sendungen per
E-Fahrrad bis an die Haustür.
Die wichtigste Eigenschaft, die das Boot fürs
autonome Fahren braucht, haben Björn Kolewe
und seine Kollegen ihm schon beigebracht: »Am
meisten freut es uns, dass die A‑Swarm-Boote so
gut auf der Stelle stehen können«, sagt der Elektro-
techniker vom Institut für Automatisierungstech-
nik der Universität Rostock. Haben Autos einmal
angehalten, bewegen sie sich nicht mehr, Boote
aber schaukeln aufgrund von Wellen und Strö-
WISSEN
Technik
der Zukunft
mung auch ohne Antrieb hin und her. »Unser­
Algorithmus kann inzwischen alle Wasserbewe-
gungen so ausgleichen, dass das Boot genau da
bleibt, wo wir es haben wollen«, erklärt Kolewe.
Das Boot muss auch in der Lage sein, selbst-
ständig Kollisionen zu vermeiden. Dafür ist ein
A-Swarm-Boot mit 16 Radaren und zwei Laser-
sensoren ausgestattet, welche die Umgebung ab-
tasten. Erkennt das System einen Gegenstand im
Wasser, berechnet der Optimierungsalgorithmus
sogleich eine neue Route.
Als Gegenstand im Wasser muss heute die
Bernhard Lampe herhalten. Das Forschungsboot
hat die Rostocker Uni nach ihrem größten Rege-
lungstechniker benannt, Kolewe sitzt am Steuer.
Einen kurzen Moment steigt die Spannung, als das
Postboot direkt auf die Bernhard Lampe zusteuert.
Gebannt blicken drei Ingenieure auf die vier Moni-
tore ihrer schwimmenden Forschungsstation.
Dort zeichnet sich ab, was wenige Sekunden später
auch auf dem Wasser zu sehen ist: Das Postschiff
umfährt das Boot mit einem Sicherheitsabstand
von zwei Metern, wie geplant. Das tut es auch bei
Kaimauer, Entenfamilien und treibendem Schilf.
Wo Enten die komplette Wasserstraße für sich
in Anspruch nehmen, würde es stehen bleiben
(beispielsweise auf dem Landwehrkanal kein un-
realistisches Szenario).
Damit die Pakete es künftig bis nach Neukölln
schaffen, muss das A-Swarm-Boot erkennen, wel-
33
ches Hindernis es gerade vor sich hat: Handelt es ANZEIGE
sich etwa um einen Lastenkahn oder um eine
Dein Wegweiser
Boje? Dafür gleichen seine Entwickler Radardaten
mit Kamerabildern ab. Anschließend trainieren sie
zum Doktortitel
eine künstliche Intelligenz darin, die Muster in
den Radardaten dem entsprechenden Hindernis
zuzuordnen, sodass das Schiff sich unnötige Um-
wege künftig spart.
Wenn es dann Schwimmer und Dampfer aus­
ein­an­der­hal­ten kann, fehlt zum autonomen Fahren Jetzt
nur noch der Führerschein. »Irgendwann müssen kostenlos
wir die A‑Swarm-Boote auch darin trainieren, die lesen!
Verkehrszeichen der Schifffahrtsordnung zu lesen«,
sagt Kolewe. Von denen verstehen sie bisher nichts.
Allerdings ist auch das Schifffahrtsrecht noch nicht
für die Zukunft gewappnet. Selbst zu Testzwecken
ist autonomes Fahren auf dem Wasser in Deutsch-
land noch verboten: Sobald ein A-Swarm-Boot sich
aus Hafenbecken II hinausbewegt, muss jemand
mit an Bord sein (solange es nicht mit Post voll­ In Kooperation mit:
gepackt ist, bietet es mehreren Personen Platz).
Die Automobilbranche ist da weiter: Seit 2017
gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Rahmen www.zeit.de/promotionsratgeber
für teilautonome Autos, seit 2021 für vollständig
autonome. Im Schifffahrtsrecht ist man noch
längst nicht so weit.
Wetten darüber abschließen, wer schneller ein-
satzbereit ist – Gesetz oder Transportboot –, will stadt per autonomem Boot zugestellt werden. Bis
111955_ANZ_71x100_X4_ONP26 1 28.09.22 09:06
Kolewe nicht. Seine Pro­gno­se: Mindestens zehn dahin können also einige Entenküken den Land-
Jahre wird es noch dauern, bis Pakete in der Haupt- wehrkanal hinunterschwimmen.
34
Das All auf Erden (1/6)
In Israels Wüste –
dem Mars so nah
Foto: Florian Voggeneder
Die Wüste Negev ähnelt in vielen geologischen Merkmalen und in ihrer Trockenheit dem Roten Planeten
Bis der erste Mensch einen Fuß auf den Mars
setzt, dürfte es noch dauern. Aber wie ein
Aufenthalt auf dem Roten Planeten aussehen
könnte, das wird bereits erforscht: Im ver-
gangenen Jahr haben sich sechs sogenannte
Analog-Astronautinnen und -Astronauten in
Israel auf eine simulierte Reise zum Mars be-
geben. Im Ramon-Krater in der Negev-Wüste
probte die Organisation Österreichisches
Weltraum Forum zusammen mit der israeli-
In einer neuen Serie zeigen wir Bilder von sogenannten Analogmissionen. Forscher simulieren dabei Weltraummissionen auf der Erde
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schen Raumfahrtagentur eine Mars-Mission.
Drei Wochen lang taten die Crewmitglieder
so, als erforschten sie unseren Nachbarplane-
ten, führten Experimente durch und erprob-
ten verschiedene Geräte. Dabei ging es etwa
um die Frage, wie Menschen und Maschinen
sich in der kargen Landschaft des Roten Pla-
neten ohne GPS orien­tie­ren können. Wissen-
schaftler testeten in der Wüste Israels eine
Drohne, die mit einer kamera­basierten Navi-
WISSEN
gation arbeitet. Die gesammelten Daten hel-
fen bei der Weiterentwicklung der Technolo-
gie. Außerdem widmete sich die Crew auch
medizinischen Fragen: Die Analog-Astronau-
ten nahmen Bilder ihrer Netzhaut auf, da
Augenschäden ein Risiko bei Allaufenthalten
sind. Das gleiche Experiment führte Matthias
Maurer später auf der ISS durch. Analoge
und echte Raumfahrt sind also bisweilen gar
nicht weit von­ein­an­der entfernt. ALENA WEIL
Das Traditionshaus Geldermann steht
seit 1838 für deutsch-französische
Sektkultur und setzt seit der Gründung
in der Champagne bis heute auf die
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13.10.22 10:26
Hochkonzentriert
Wie Zucker beim
Denken hilft
Der Schokoriegel teilt Konzentrations-
suchende in drei Lager: Die einen ver-
wahren ihn griffbereit in der Schublade,
um nachzuhelfen, wenn die Konzentrati-
on schwindet. Die anderen meiden ihn,
aus Sorge, in das berüchtigte »Zucker-
loch« zu fallen. Und die dritte Gruppe
neigt zum Vermitteln: Kurzfristig verur-
sache Zucker ein konzentrationsfördern-
des Hochgefühl, hervorgerufen durch
das Glückshormon Dopamin – darauf
aber folge das Tief, weil Insulin den­
Blutzuckerspiegel schnell unter das Aus-
gangsniveau senke.
Letztere Sicht dürfte die meisten­
Anhänger haben, sie klingt plausibel und
rechtfertigt den Schokoladeneinsatz im-
merhin in bestimmten Situationen. Erst
im Jahr 2019 räumte eine internationale
Überblicksarbeit in der Zeitschrift
Neuro­ science & Biobehavioral Reviews
mit dem versöhnlichen Irrtum auf. Sie
fand keine Hinweise darauf, dass Zucker
im Körper einen Anstieg der Konzentra-
tion verursacht – wohl aber darauf, dass
er nach dreißig bis sechzig Minuten un-
aufmerksam und müde macht, also die
Konzentration erschwert.
Dass trotzdem so viele Menschen
vom Zuckerhoch berichten, ließ For-
schern dennoch keine Ruhe. Vielleicht,
so damals die Hypothese eines Teams um
den Psychologen Daniel C. Molden, löst
nicht der Zucker im Körper ein Konzen-
trationshoch aus – sondern nur sein Ge-
schmack? Also ließ man Probanden mit
süßen Limonaden lediglich den Mund
ausspülen; schlucken durften sie nicht.
Dabei absolvierten sie den sogenannten
Stroop-Test, bei dem man die Schrift­
farbe von Wörtern auf einem Bildschirm
bestimmen soll. Konzentration erfordern
vor allem die »inkongruenten Kombina-
tionen«, in denen zum Beispiel »GRÜN«
in roten Buchstaben erscheint. Die Pro-
banden, die den Mund mit gezuckerter
Limonade spülten, reagierten tatsächlich
schneller als eine Vergleichsgruppe, die
In loser Folge stellt Volker Kitz, Autor des Buches »Konzentration«, die wichtigsten
wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vor, wie man sich besser konzentriert
Gute Frage
Tragen Sie
freiwillig Maske?
Nein
27 %
Geschlecht
14
31 30
männlich
23
33
18
24
weiblich 34
18
41
Ja, fast immer
Ja, aber nur in öffentlichen Räumen
Ja, aber das entscheide ich spontan
bzw. abhängig davon, wie voll es ist
Die Blätter fallen, die Corona-­Inzidenzen
steigen: Es ist Herbst. Der Streit über
eine strengere Maskenpflicht gehört in-
zwischen dazu wie Kastanien und Later-
nenlieder. Baden-Württemberg sieht sie­
kommen, Bayern eher nicht. Und Karl
Lauterbach mahnt einheitliche Regeln
an. Aber wie halten es die Deutschen von
sich aus mit der Maske? Die ZEIT hat mit
dem Meinungsforschungsinstitut Infas
gefragt: »Tragen Sie freiwillig eine Maske
20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43
Süßstoff in ihrer Mundspülung hatte.
Eine Erklärung lautet: Der Geschmack
des Zuckers fördert über das Belohnungs-
zentrum im Gehirn die Selbstkontrolle.
Weil der Zucker aber praktisch nicht in
den Blutkreislauf gelangt, macht er nicht
müde.
Gleichwohl hat unser Gehirn einen
hohen Energiebedarf, den es hauptsäch-
lich mit Glukose deckt. Unterzuckerung
trägt also sicher nicht zu Konzentrations-
fähigkeit bei. Aber die sogenannten ein-
fachen ­Zucker in Traubenzucker, Honig,
industriellen Süßigkeiten und gesüßten
Getränken treiben den Blutzuckerspiegel
zu rasch in die Höhe. Besser, weil über
einen längeren Zeitraum verwertbar, sind
Polysaccharide: komplexe, langkettige
Kohlenhydrate. Sie stecken in Vollkorn-
produkten, Kartoffeln, Gemüse.
Was hilft noch dabei, sich zu konzen-
trieren? Am ehesten kann sich die­
Wissenschaft auf Omega-3-Fettsäuren
einigen, enthalten zum Beispiel in Thun-
fisch, Lachs, Makrele, Mandeln, Wal­
nüssen, Olivenöl, Spinat, Brokkoli, Soja-
bohnen, Tofu. Auf die Gedächtnisleis-
tung hat sich das Gewürz Kurkuma in
Studien positiv ausgewirkt, ebenso Flavo-
noide in grünem Tee oder Blaubeeren.
Und, auch wenn Sie es schon zu oft
gehört haben: Trinken Sie Wasser! Be-
reits milde Dehydrierung schadet der
Konzentration. Über die richtige Menge
kursieren viele Zahlen, und keine davon
ist richtig. Denn der Trinkbedarf ist
höchst individuell. Er hängt von vielen
Faktoren ab, vom Körpergewicht, von
der Ernährung, der Bewegung und der
Temperatur. Die gute Nachricht: Es ist
nicht nötig, ständig nachzurechnen, wie
viel Sie getrunken haben. Die Wissen-
schaft nutzt als zuverlässiges Kriterium
»UCol«. Das steht für ­urine ­color, die
Urinfarbe. Optimal ist champagner. Ver-
dunkelt sich Ihr Urin Richtung Oran-
gensaft, machen Sie sich die Kon­zen­tra­
tion schon unnötig schwer. VOLKER KITZ
Gesamt Ja
73 %
Alte und neue
Alter Bundesländer*
16
25 25
18–30 West
2 20
Jahre
43 39
8 8
21
24
65 Jahre 44
Ost
und älter
37 25
*ohne Berlin
Nein, so gut wie nie
ZEIT- GRAFIK/Quelle:
Infas; Erhebungszeitraum September 2022,
1005 Befragte; telefonische Befragung auf
Basis einer Zufallsstichprobe
zum Schutz vor ­einer Corona-Infektion?«
Heraus kam: Fast drei von vier Deutschen
tragen zumindest gelegentlich eine Mas-
ke, obwohl sie nicht vorgeschrieben ist.
Dabei war die Inzidenz im Befragungs-
zeitraum September noch deutlich nied-
riger als derzeit. Unter den 18- bis 30-­
Jähri­gen gibt es sogar etwas mehr konse-
quente Maskenträger als in der Gene­ra­
tion »65 plus«. Im Osten jedoch hat die
Maske wenig Freunde. HANNA GR ABBE
DIE ZEIT N o 43 20. Oktober 2022 WISSEN 35

Serie: Sternstunden der Menschheit

M Die Stimme
an kann über Rachel Carson der nach draußen und beobachtete die Vögel. Sie komplett – und mit ihnen ihr Gesang. Der Früh­
eine Heldinnengeschichte er­ waren ­neben dem ­Ozean ihre zweite große Liebe. ling beginnt zu verstummen.
zählen. Sie geht so: Ein Mäd­ Ganz in der Nähe des Sommerhauses habe ich Carl Safina, ein gefeierter Autor von Büchern
chen aus armen Verhältnissen mich mit Jeff Cherry verabredet. Sein Geld verdient über die Umwelt und das Meer, erinnert sich, wie
träumte vom Meer, und als aus er Silent Spring als Jugendlicher entdeckte: »Ich war
er mit Antiquitäten, in seiner Freizeit kartiert er die
dem Mädchen eine Frau wur­ Vogelpopulationen der Region. Er soll helfen zu 14, und ich hatte ungefähr 30 Seiten gelesen. Dann

der Natur
de, da studierte es als Erste in
der Familie. Sie fand eine Anstellung als staatliche Bio­
login, und in ihrer Freizeit schrieb sie poetische Bücher
über den ­Ozean. Die Bücher machten sie bekannt,
vom Erlös kaufte sie sich ein kleines Haus in M ­ aine an
der Ostküste der USA. Dort schrieb sie gegen Ende
ihres Lebens an ihrem letzten Buch. Es war anders als
die vorherigen. Keine Poesie, sondern eine Anklage
gegen das massenhafte Ausbringen von Umweltgiften,
die Insekten töteten, Vogelpopulationen vernichteten
Mit ihrem Buch »Silent Spring« begründete
und Menschen krank machten. Das Buch handelt­
davon, was es bedeutet, morgens im Frühling aufzu­
Rachel Carson die Umweltbewegung.
wachen und keine Vögel mehr zu hören.
Das zog den Zorn der Chemie- und der Agrar­indus­
trie auf sich, die Kampagnen gegen die Autorin starte­
ten und Klagen einreichten, aber sie blieb standhaft.
Präsident John F. Kennedy lud sie ins Weiße Haus ein.
Sie legte ihre Argumente vor dem US-Kongress dar und
verteidigte sich im Fernsehen. Bald darauf starb ­Rachel
Carson. Sie erlebte nicht mehr, was ihre Recherchen mit
auslösten – und zwar weltweit: 1968 verbot Ungarn als
erstes Land das Insektengift DDT, später folgten fast
alle Länder Europas. Die USA verbannten es 1972. Zwei
Jahre zuvor war dort die staatliche Umweltbehörde
gegründet und der Clean Air Act gegen Luftverschmut­
zung erlassen worden. 1972 folgte auch der Clean W ­ ater
Act zur Reinhaltung des Wassers.
Rachel Carson starb, ohne zu wissen, dass ihr Buch
mehr veränderte als nur Gesetze: Sie warb dafür, dass
Menschen sich organisieren, um sich gegen Umwelt­
verschmutzung zu wehren, sie gab dem ökologischen
Gewissen eine Stimme. Ein Jahrzehnt danach waren
Naturschutzorganisationen entstanden, die es bis heute
gibt und die eine weltweite Reichweite haben. Carson,
so geht die Heldinnengeschichte zu Ende, hat den
Grundstein für die globale Umweltbewegung gelegt –
mit dem Buch, das vor 60 Jahren in den USA erschien:
Der stumme Frühling. Im Original: Silent Spring.
Die Heldinnengeschichte ist wahr, alles in allem ist
sie eine gute Geschichte. Aber wie das bei Heldinnen­
geschichten so ist, leuchten die Scheinwerfer die Pro­
tagonistin so hell aus, dass im Licht nur noch Kon­
turen übrig bleiben, keine Nuancen.
»Nichts sollte jemals nur eine einzelne Geschichte
sein«, sagt Kerri Arsenault. Sie sitzt in ihrem Garten in
Connecticut, dem Teil der USA, wo die Häuser groß
sind und weiße Fassaden haben, davor weitläufiger
Rasen, militärisch kurz geschoren. New England.
Arsenault ist Buchkritikerin und Autorin. Sie
kommt aus einer Arbeiterfamilie in ­Maine und hat
ein Buch über die Papiermühle geschrieben, die g­ iftige
Chemikalien in den Fluss leitet, der durch das Dorf
ihrer Kindheit fließt. Es ist ein warmer Tag, wir sitzen
im Garten, und hinter uns turnen knallorange Vögel
in den Apfelbäumen herum, Balti­more-­Tru­pia­le.­
Arsenault sagt: »­Rachel Carson und ihre Wirkung
sind von einer dicken Schicht Mythos umgeben. Die
muss man knacken – dann wird es spannend.«
Wir treffen uns, weil sie eine Biografie über ­Rachel
Carson schreibt. Oder besser: schreiben will. Noch
besser: schreiben muss. »Bei Carson läuft zusammen,
was mich interessiert«, sagt sie: »vergiftete Communitys,
das Leben am Rande der Gesellschaft und die Frage, wie
man über Umwelt schreibt. Das sind meine Themen.
Es kommt mir vor, als hätte ich gar keine andere Wahl.«
Carson wird 1907 in Pennsylvania als jüngstes von
drei Kindern geboren. Der Vater verspekuliert sich
mit Grundstücken. Carson schreibt schon als Kind,
schließt die Highschool als Klassenbeste ab, studiert
Naturwissenschaften – ungewöhnlich für ­Frauen da­
mals. Sie bringt es zu einem Master in Zoologie an der
Johns Hopkins University, will promovieren, gibt den
Plan aber 1934 auf. Sie muss unterrichten, um ihre
Familie zu unterstützen. »Das ist eine Sache, die oft
nicht miterzählt wird: dass Carson lange richtig arm
war«, sagt Arsenault.
verstehen, welchen Einfluss Carson auf die leben­
dige Welt hatte, und zwar an dem Ort, der ihr so
wichtig war.
»Das kühle Wetter ist typisch für diese Jahres­
zeit«, sagt Cherry, und dann unterbricht er sich:
»Hast du gehört? Rotkardinal. Die brüten hier erst
seit ein paar Jahrzehnten.« Wieso? »Na ja, Klima­
wandel«, sagt Cherry. Wir wollen weiter, kommen
aber nicht voran, weil wir ständig stehen bleiben.
Cherry sieht eine Sing­ammer, hört einen Rotflügel­
stärling und beobachtet zwei Goldwaldsänger. Die
ersten 500 Meter dauern eine halbe Stunde.
Eine Spurensuche an dem Ort, Das Haus ist grau, es fällt kaum auf zwischen
den Stämmen, dem steinernen Himmel, dem ver­
wo alles begann  VON FRITZ HABEKUSS schmierten Horizont. An der Seite erkennt man
Foto: Erich Hartmann/Magnum Photos/Agentur Focus; ZEIT-Grafik
musste ich es weglegen. Ich dachte, ich müsste kot­
zen, so sauer hat es mich gemacht.« Erst ein paar
Jahre später traut er sich, es zu Ende zu lesen.
Silent Spring, das ohne Untertitel auskommt,
beginnt mit einer Parabel: »Es war einmal ein
Städtchen im Herzen Amerikas, in dem alle Ge­
schöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben
schienen.« In den folgenden Kapiteln wechseln
Recherche, Poesie und Appelle ein­ an­
der ab.­
Carson hantiert in Silent Spring mit einer Menge
Zahlen, sie ist genau, geradezu pedantisch. Auf
manchen Seiten wiederholt sie Jahreszahlen dop­
pelt oder dreifach.
Dass DDT ein paar Jahre nach dem Erscheinen
des Buchs tatsächlich verboten wurde, ist auch Car­
sons Erfolg – aber nicht nur. Und hier beginnt der
Teil der Story, der zur Geschichte der einsamen
Heldin, die aus dem Nichts kam, nicht ganz passt.
Zuerst war Silent Spring gar kein Buch. Es wur­
de als Serie im Magazin The New Yorker veröffent­
licht. Es hatte also schon vor seiner Drucklegung
als Buch eine riesige Leserschaft und war mit­
einem Gütesiegel versehen. Zur gleichen Zeit
streikten in Kalifornien hispanische Farmarbeite­
rinnen und -arbeiter dagegen, dass sie Ackergifte
einatmen mussten. Anders als Carson, die eine
weiße Mittelschicht erreichte, kam dieser Protest
von unten. Zudem waren mit der Zeit Schädlinge
zunehmend resistent gegen DDT geworden, außer­
dem war schlicht das Patent ausgelaufen. Das Ver­
bot des Gifts war billig zu haben. All das wird in
dieser Heldinnengeschichte oft vergessen.
Die Vögel von ­Maine hat es dennoch gerettet.
Jeff Cherry will vor dem Abschied noch etwas
zeigen. Im Fluss gleich nebenan kehren die Mai­
fische in ihre Laichgewässer zurück. Silberne Kör­
per bahnen sich zuckend den Weg stromaufwärts.
Er zeigt auf einen Fischadler, der über uns fliegt.
Durchs Fernglas erspäht er erst einen, dann einen
zweiten Weißkopfseeadler. »Zu Carsons Zeit gab
es hier in der Gegend nur ein einziges Nest, das
war gleich da drüben«, sagt er – das DDT hatte
die Eierschalen vieler Greifvögel so brüchig wer­
den lassen, dass die Eltern sie beim Brüten zer­
drückten. Heute kenne er eine Handvoll Nester
im Umkreis von fünf Meilen.
Silent Spring ist nicht der einzige Grund, aber
Teil der Antwort, warum sich in ­Maine manche
Dinge zum Besseren gewendet haben. Seit 50 Jah­
ren ist DDT hier nun verboten. Greifvögel, die bei­
nahe ausgestorben waren, haben sich erholt. Ge­
zielter Schutz wirkt, vor allem wenn es um Tiere
wie den Weißkopfseeadler geht, das Wappentier
der USA. Carson hat die Aufmerksamkeit auf das
Schicksal dieser Geschöpfe gelenkt.
Die großen Zeitläufte aber konnte auch Silent
Spring nicht aufhalten. Als das Buch veröffentlicht
wurde, hatten US-amerikanische Bauern die Wahl
zwischen 37 verschiedenen Pestiziden. Heute sind
es mehr als 1000 – und die Mengen, die ausge­
bracht werden, haben sich verzehnfacht. Das­
Artensterben, das damals höchstens als lokales
Phänomen aufgefallen war, ist zur globalen Krise
geworden, die die Stabilität des Erdsystems gefähr­
det. Rachel Carson hätte heute viel zu schreiben,
wenn sie denn noch lebte.
1960 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert –
das Schreiben von Silent Spring war ein Wettrennen
gegen ihr eigenes Sterben. Als sie nach der Veröf­
fentlichung zur Anhörung vor dem US-Kongress
eingeladen war, rang sie schon mit dem Tod. In ei­
nem Brief beschrieb sie ihre Sorge, es nicht vom
Saaleingang zu Fuß zu ihrem Platz zu schaffen –
ihre Krankheit versteckte sie, um ihren Feinden
keine Angriffsfläche zu bieten. Genau wie den Fakt,
dass sie wohl Frauen liebte. Die einzige Beziehung,

1935 stirbt Carsons Vater. Von nun an kümmert
sie sich ganz um ihre kränkliche Schwester, deren beide
Töchter und ihre alternde Mutter, ihr Geld verdient sie
als Wissenschafts-Redakteurin für die Umwelt­behörde
Fish and Wild­life Service. Abends und am Wochen­
ende schreibt sie für Magazine. Als 1957 eine ihrer
Nichten stirbt, adoptiert Carson deren fünfjährigen
Sohn, ­Roger. Schreiben geht anfangs nur nebenbei.
Bis sie Erfolg hat, dauert es. 1941 veröffentlicht sie
ihr erstes Buch, Under the Sea-Wind. Gute Kritiken,
schleppende Verkäufe. Ihr zweites Buch, veröffentlicht
1951, The Sea Around Us, schlägt ein. 1955 der dritte
Teil der Meerestrilogie, The ­Edge of the Sea. Da ist sie
schon ein Literaturstar. Carson sieht sich selbst als
»Poetin des Meeres«, nicht als die scharfzüngige Ver­
teidigerin der Umwelt, als die man sie später feiert.
Die Küste Maines mit ihren Gezeitentümpeln und
den Strandschnecken, die darin leben, den Ane­
monen, die ihre Tentakel ausstrecken – man spürt­
Carsons Liebe zu diesem ulkigen Leben noch heute in
ihren Zeilen. Hat man sie gelesen, sieht man die raue
Küste mit ihren nebligen Morgen und stillen Nadel­
wäldern anders: mit mehr Verständnis und zugleich
mit einem gewissen Unglauben.
Mit den Tantiemen ihrer Bestseller kauft sich­
Carson die Freiheit, das Beamtenleben aufzugeben –
und 1953 das kleine Häuschen in ­Maine. Diesen Ort
hat sie geliebt wie keinen anderen, auch weil er sie so
inspiriert hat. Das Haus steht noch, es gehört jetzt­
Roger, jenem Jungen, den Carson als Fünfjährigen
adoptiert hat. Die Adresse: 16, Carson ­Lane. Heute
kann man es wochenweise mieten. Hier schrieb sie an
Silent Spring. Es begann damit, dass empörte Leserin­
nen von der Ostküste ihr Briefe schickten. Sie berich­
teten von sterbenden Vögeln. Carson versuchte, Kolle­
gen für das Thema zu begeistern, als Investigativrepor­
terin sah sie sich nicht. Aber irgendwie ließ es sie dann
doch nicht los. Sie tauschte sich mit Forschern aus,
sammelte Zeitungsausschnitte – und ging immer wie­
Die Autorin in Southport im Jahr 1962 – dem Erscheinungsjahr von »Silent Spring«
Sternstunden der
Menschheit
Teil 3
In Anlehnung an Stefan Zweigs ­
gleichnamiges berühmtes Buch stellen wir
Schicksalsmomente der Geschichte aus
den vergangenen hundert Jahren vor.
Teil 4 nächste Woche im Feuilleton:
Max Brod verbrennt Franz Kafkas
Werke nicht.
Alle bisher erschienenen Folgen der Serie
finden Sie unter ­www.zeit.de/sternstunden
über die etwas bekannt ist, ist die zu Dorothy Free­
man, die sie in ­Maine kennenlernte. Die meisten
Briefe zwischen den beiden sind nach Carsons Tod
1964 vernichtet worden, so wie sie es sich ge­
wünscht hatte. Einen ihrer letzten schrieb sie in
Southport, einem kleinen Ort an der Küste, ganz
in der Nähe ihres Sommerhauses. Darin adressiert
sie Freeman mit: »Du liebe Eine«. Hier hat Free­
man Carsons Asche ins Meer gestreut. Das Hotel,
wo sie sich trafen, gibt es noch. Eine Mitarbeiterin
im New­agen Sea­side Inn zeigt den Weg zur Ge­
denktafel für Carson. »Hier, endlich, wieder zum
Meer zurückgekehrt« steht darauf. Ein Seetaucher
fliegt knapp über dem Wasser entlang.
Ein paar Monate nach dem ersten Besuch sitze
ich wieder im Garten von Kerri Arsenault, Carsons
Biografin. Sie ist weitergekommen mit ihrem Pro­
jekt, hat immer wieder Carsons Nachlass an der
eine breite Fensterfront, hier steht Carsons Schreib­ ­
Yale University durchforstet, will bald zu einer
tisch noch immer. Näher heran kommen wir nicht, Carson-Konferenz nach München, bei der es da­
das Haus ist gerade vermietet. Cherry zeigt auf eine rum geht, wie relevant sie heute ist. Die Oktober­
Wanderdrossel, die vorbeifliegt, der Frühlingsbote sonne scheint. »Wie groß ist Carsons Erfolg«, fragt
in den USA schlechthin, ein Vorgartenvogel: Arsenault, »wo es der Natur schlechter geht als je
»Selbst die war damals selten geworden.« zuvor?« Dann will sie wissen, was mein Urteil nach
Damals, das ist die Zeit, über die Carson in­ der Recherche ist.
Silent Spring schreibt. Nach dem Zweiten Welt­ Vielleicht, antworte ich, muss Carson keine
krieg, als in den USA der massenhafte Einsatz Heldin sein und kann dennoch Großes vollbracht
von Insektengiften wie DDT, Dieldrin und Hep­ haben. Die Liste an konkreten Erfolgen, die ihr
tachlor begann. Gegen Schädlinge wurden die zugeschrieben werden, ist vielleicht gar nicht so
Chemikalien von Flugzeugen versprüht. Carson wichtig wie etwas anderes: Sie hat es geschafft, ein
beschreibt in Silent Spring, wie die Gifte »wahllos Bewusstsein für die Netzwerke und die Verletzlich­
aus der Luft herunterregnen«, auf Vorgärten und keit der Natur zu eta­blieren.
Kuhherden, auf Flüsse und Alleen, auf Äcker Silent Spring beruht auf einem Kerngedanken,
und Obstplantagen – und sie beschreibt die toten der schlicht klingt: Wenn die Menschheit die­
Käfer, Schwebfliegen und Raupen, die Vögel auf­ Natur vergiftet, wird die Natur für den Menschen
picken, woraufhin Letztere kurz darauf zuckend giftig. Das ist ökologisches Denken. Damit hat
am Boden liegen. Carson merkt es selbst: Vor Carson unseren Blick auf die Welt verändert.
ihrem Fenster im Häuschen am Meer werden die
Vögel seltener, manche Arten verschwinden fast  www.zeit.de/vorgelesen
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Annette Kehnel

Das war der

ZEIT WISSEN ANNETTE KEHNEL
Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte,

Nachhaltigkeits-
Universität Mannheim

„Im Prinzip haben wir ein verzerrtes

kongress am Bild von der Vergangenheit. Schwerter

und Beile sind aus Metall, die halten

29. September länger und sind in unseren Museen zu

sehen. Während Kleider, Hängematten,

2022
Taschen alle wiederverwertet und
weiterbenutzt wurden, also wieder
in den Stoffkreislauf eingegangen sind.
Das hat den Nachteil, dass wir im
Museum nur Gewalt sehen, während
wir die Intelligenz des Wiederverwertens
Wie mutig müssen wir sein? gerade erst wiederentdecken.“
Radialsytem Berlin
Das war die zentrale Frage, die
uns an diesem Tag beschäftigt
hat. Der Fokus lag dabei auf
Klimaschutz im Energiesektor.

Auf der Bühne im Radialsystem Berlin sprachen Andreas Sentker,

geschäftsführender Redakteur DIE ZEIT, Ricarda Richter,
Redakteurin im Ressort Green DIE ZEIT und Zacharias Zacharakis,
Redakteur bei ZEIT ONLINE mit:

INITIATOREN-TALK SPOTLIGHT ENERGIEEFFIZIENZ UND Pao-Yu Oei Julia Hammelehle

Klaus Wiegandt
Vorstand & Stifter, Forum für Verantwortung
Dr. Kai Bender
Market Leader Deutschland und Österreich,
Oliver Wyman
KLIMANEUTRAL BIS 2045 –
WIE SCHAFFEN WIR DAS?
Dr. Patrick Graichen
Staatssekretär im Bundesministerium
für Wirtschaft und Klimaschutz
Tim Janßen
Co-Gründer und geschäftsführender Vorstand,
Cradle to Cradle NGO
Dr. Carsten Rolle
Abteilungsleiter Energie- und Klimapolitik, BDI e.V.
WIE BEGEGNEN WIR GEOPOLITISCHEN
HERAUSFORDERUNGEN?
Julia Hammelehle
Policy Advisor, Münchner Sicherheitskonferenz
Dr. Joachim Lang
Managing Partner, Strategic Minds Company &
Senior Advisor, Oliver Wyman
Ricarda Lang, MdB
Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen
Prof. Dr. Pao-Yu Oei
Leiter DAAD Klimazentrum und Professor
an der Universität Flensburg
WAS KOMMT AUF DIE ZIVILGESELLSCHAFT ZU?
Lea Dohm
Psychotherapeutin und Referentin,
Dt. Allianz für Klimawandel und Gesundheit
Prof. Dr. Nora Szech
Lehrstuhl für Politische Ökonomie,
Karlsruher Institut für Technologie, KIT
Paul Weimann
Vizepräsident, VdK Deutschland
SPOTLIGHT WASSERSTOFF
Dr. Stefan Kaufmann
Berater Wasserstoff, ThyssenKrupp
Till Mansmann, MdB
Innovationsbeauftragter „Grüner Wasserstoff“,
Bundeministerium für Bildung und Forschung
Dr. Jörg Walter
Director & Head of Hydrogen Technical,
RWE Generation SE
ENERGIESUFFIZIENZ
Steffen Joest
Bereichsleiter Industrie, Mobilität &
Energieeffizienz, dena
Prof. Dr. Annette Kehnel
Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte,
Universität Mannheim
Prof. Dr. Christa Liedtke
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie
SPOTLIGHT WÄRMEGEWINN UND
WÄRMESPEICHERUNG
Christian Hein
Head of Sustainability, Aurubis AG
Philipp Pausder
Co-Founder & CEO, thermondo
Jörg Stäglich
Partner Energy & Natural Resources, Oliver Wyman
SPOTLIGHT ERNEUERBARE ENERGIEN
Dr. Claudius da Costa Gomez
Geschäftsführer, Bundesverband Erneuerbare Energie
Stefan Kapferer
Vorsitzender der Geschäftsführung, 50Hertz Ricarda Lang & Joachim Lang
Prof. Dr. Volker Quaschning
Professor für Regenerative Energiesysteme,
HTW Berlin
PATRICK GRAICHEN
Staatssekretär im Bundesministerium
WÜRDIGUNG: SCIENTISTS FOR FUTURE für Wirtschaft und Klimaschutz
Dr. Gregor Hagedorn
Akademischer Direktor, Museum für Naturkunde Berlin „Wir haben eine Energiekrise, wir haben
und Mitgründer Scientists for Future Krieg in der Ukraine und wir haben eine
dadurch ausgelöste Energiepreiskrise.
Wie können diese miteinander verschränkten
ABSCHLUSSPODIUM
Prof. Dr. Felix Creutzig Krisen auch gemeinsam gelöst werden?
Mercator Research Institute on Global Commons Auf der ersten Ebene gibt es hier keinen
and Climate Change Widerspruch: Alles das, was gut ist, um die
Dr. Miriam Vollmer
Klimakrise zu bekämpfen, macht uns auch
Fachanwältin für Verwaltungsrecht & Lehrbeauftragte
für Energierecht, Universität Bielefeld automatisch unabhängiger von russischen
Kohle-, Gas- und Ölimporten.“
Patrick Graichen
Die Diskussionen haben
wir aufgezeichnet und sie
sind verfügbar auf:
www.mut-zur-nachhaltigkeit.zeit.de
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MIRIAM VOLLMER
Fachanwältin für Verwaltungsrecht &

Ein +3 Grad- Lehrbeauftragte für Energierecht,

Universität Bielefeld

Szenario wäre “Die Wahrscheinlichkeit, dass Energie einge-

verheerend spart wird, steigt ins Gigantische, wenn klar

ist, wer das zu tun hat. Das ist ein bisschen wie
von Klaus Wiegandt Vorstand & Stifter in einer WG-Küche: Wenn klar ist, dass jeden
Forum für Verantwortung Tag abgewaschen werden muss, dann kommt
es zwar nur darauf an, dass das auch tatsäch-
lich passiert. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass
das passiert, ist viel größer, wenn wir einen
Plan haben, auf dem steht Montag: Martin und
Dienstag: Miriam.”
Miriam Vollmer Miriam Vollmer & Felix Creutzig

Sie fordern daher den Weltklimarat auf, in einem

Klaus Wiegandt
Seit Jahren habe ich in meinen öffentlichen Äu-
ßerungen immer wieder betont, dass die Klima-
folgendebatte nur die Themen im Fokus hat, die
zwar für Millionen Menschen insbesondere in den
Schwellen- und Entwicklungsländern gravierend,
aber keine Bedrohung für die gesamte Mensch-
heit sein werden. Dazu gehören u. a. der Anstieg
der Meeresspiegel um bis zu 45 cm bis zum Ende
des Jahrhunderts, die dauerhafte Überflutung von
großen Teilen Bangladeschs, das weltweite Ab-
schmelzen der Gletscher oder des Grönlandeieses
in ca. 150 bis 200 Jahren.
Sonderbericht der entscheidenden Frage nachzuge-
hen, ob der von Menschen verursachte Klimawandel
zu einem weltweiten Zusammenbruch der Gesell- Ähnliches sehen wir auf der Kapitalmarktseite:
schaften oder sogar zum Aussterben der Menschheit Nachhaltige Anlageprodukte liegen angesichts
führt. des steigenden Umwelt- und Klimabewusstseins
im Trend. Zahlreiche Unternehmen und Staaten
Dieses außerordentliche Fazit hat große Schnittmen- emittieren Green Bonds, um konkrete nachhalti-
gen zu unserem Buch, in welchem Wissenschaftlerinnen ge Projekte zu finanzieren. Hintergrund ist, dass
und Wissenschaftler einen Blick in diese Heißzeit nachhaltige Geschäftsmodelle heute tendenziell
werfen, die vor allem die Ernten der globalen Land- leichter Zugang zu Kapitalgebern finden als nicht
wirtschaft durch Starkregen, begleitet von Stürmen nachhaltige Modelle.
mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 250 km/h,
und landesweiten Überschwemmungen sowie extre-
men Dürren massiv beeinträchtigen werden.
Kai Bender
Klimakiller Digitalisierung?
Aber auch die weltweiten materiellen Schäden
Welche Rolle spielt die
werden unvorstellbar hoch ausfallen und in einer digitale Transformation beim
Größenordnung von mehr als 10 % des Weltsozialpro-
Thema Nachhaltigkeit?
duktes liegen. Immer wiederkehrende Zerstörungen
der weltweiten Infrastrukturen und der Wohn- und
5 Fragen an
Dr. Kai Bender,
Diese Frage lässt sich so einfach nicht beant-
Geschäftsgebäude sowie die damit verbundenen
worten. Einerseits hat Digitalisierung tatsächlich
laufenden Unterbrechungen der Lieferketten in der
Wirtschaft bringen dann selbst die Weltwirtschaft
an den Rand eines Zusammenbruchs.
Market Leader negative Auswirkungen auf das Klima, denn mit
der wachsenden Nachfrage nach Technologien

Die bedrohlichste Folge eines ungebremsten Kli-
mawandels für alle Menschen auf dem Globus ist
eine heute kaum vorstellbare Radikalisierung des
Wettergeschehens. Dazu kommt, dass eine durch-
schnittliche Erderwärmung von +3°C an Land zu
+6°C führt, weil die zu 70% die Erde bedeckenden
Ozeane den Durchschnitt senken - mit verheeren-
den Folgen für alle Bereiche der Gesellschaften
auf dem Globus. Diese Fakten fanden bisher so
gut wie keinen Eingang in die öffentliche Debatte.
Mitte 2021 entschloss ich mich, ein Klimabuch her-
auszugeben, in dem unterstellt wird, der Klimaver-
trag von Paris sei gescheitert und die Erderwär-
mung auf durchschnittlich +3°C gestiegen. Welche
Welt droht dann u.a. vier Milliarden Menschen,
die heute jünger als 20 Jahre sind, darunter ein
Teil unserer Kinder und alle unsere Enkelkinder?
Im August 2022, kurz nach Erscheinen unseres
Buches „3 GRAD MEHR“, schlug eine Nachricht
aus der Welt der Wissenschaft zum Klimawandel
wie eine Bombe ein: Führende Klimatologen um
Luke Kemp von der Cambridge Universität ver-
öffentlichten im Fachjournal PNAS einen Artikel
unter dem Titel „Climate Endgame“. In dem Report
werfen sie dem Weltklimarat (IPPC) vor, die dro-
henden Folgen einer Erderwärmung von „3 Grad
und mehr“ seit Jahren kaum zu beachten. „Facing
a future of accelerating climate change while
blind to worst-case scenarios is naive risk mana-
gement at best and fatally foolish at worst”.
Eine Erderwärmung von +6°C an Land macht Teil-
gebiete auf unserem Globus unbewohnbar und führt
damit zwangsläufig zu Massenmigrationen, die bezo-
gen auf Afrika – insbesondere Europa vor kaum lös-
bare Probleme stellen werden. Unzählige Menschen
werden verhungern, verdursten oder verlieren durch
kriegerische Auseinandersetzungen um die knapper
werdenden Ressourcen ihr Leben. So ein Szenario
dürfen wir niemals zulassen.
Gleichzeitig zeigen die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler aber auch auf, dass wir es noch in
unserer Hand haben, zumindest die Begrenzung der
Erderwärmung auf +2°C abzusichern. Voraussetz-
ungen, die jedoch die Weltgemeinschaft zuvor
erfüllen muss, sind:
Die Organisation des politischen Willens, endlich
die dringend notwendigen Finanzmittel für eine
erfolgreiche Klimaschutzpolitik der nächsten beiden
Jahrzehnte zur Verfügung zu stellen. Und unter dem
Gesichtspunkt der Klimagerechtigkeit muss sicherge-
stellt werden, dass der „Löwenanteil“ der zukünftigen
Klimainvestitionen von dem einen Prozent der
reichsten Weltbevölkerung zu tragen ist.
Die Ergänzung des Klimavertrags von Paris um die
naturbasierten Lösungen: allen voran der Stopp der
Abholzung der Regenwälder sowie die Aufforstung
von 350 Milliarden Bäumen in den Tropen und Sub-
tropen, eine Wiedervernässung der trockengelegten
Weltmoore, die Humusanreicherung in den Böden als
klimarelevante Kohlenstoffsenke sowie eine Wende
im Bausektor so weit wie möglich hin zu einer
Rückkehr zum Holzbau.
und die Durchführung eines unabdingbaren wissen-
schaftlich gestützten Diskurses über die Folgen einer
Drei-Grad-Erderwärmung in und mit der Zivilgesell-
schaft.
Nur wenn der Mehrheit der Bevölkerung bewusst
wird, was bei einer durchschnittlichen +3°C-Erd-
erwärmung auf vier Milliarden heute lebender Men-
schen, darunter unsere Enkelkinder, zum Ende dieses
Jahrhunderts an verheerenden Folgen zukommt,
kann in einer Demokratie die Politik die Messlatte auf
jene Höhe legen, die inzwischen notwendig ist, um
die Erderwärmung auf zumindest +2°C zu begrenzen.
Deutschland und
Österreich,
Oliver Wyman
Pandemie, Ukraine-Krieg,
Energiekrise. Beim Tempo
aktueller Entwicklungen
drohen die Klimaziele in
den Hintergrund zu rücken.
Wo steht das Thema
Nachhaltigkeit auf der Agenda
deutscher Unternehmen?
Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind längst in
allen Geschäftsbereichen wichtige Themen und
stehen weit oben auf der Agenda deutscher
Unternehmen. Auch wenn derzeit eine Reihe von
Krisen die Aufmerksamkeit der Politik und der
Medien in Anspruch nimmt und auf den ersten
Blick „dringender“ wirken: sie werden sich nicht
lösen lassen, wenn wir nicht nachhaltiger wirt-
schaften. Ein Beispiel: Mittelfristig wird es keine
Lösung der Energiekrise ohne einen höheren
Anteil erneuerbarer Energien geben. Das zeigt:
Nachhaltigkeit ist keine „zusätzliche Aufgabe“,
sondern ein zentraler Lösungsbaustein zur
Krisenprävention.
Wie passen wirtschaftliche
Interessen und Nachhaltigkeit
zusammen? Können gewinn-
orientierte Unternehmen
nachhaltig sein?
Es mag zunächst widersprüchlich klingen, tatsäch-
lich aber MÜSSEN gewinnorientierte Unternehmen
auch nachhaltig sein. In vielen Branchen beobach-
ten wir bereits, dass Kunden ihre Kaufentscheidun-
gen häufig auch von Nachhaltigkeitsaspekten ab-
hängig machen. Dieses Verhalten wird sich weiter
verstärken.
und Dienstleistungen steigt auch die Anzahl an
großen Rechenzentren, die in hohem Maße Energie
verbrauchen und CO2 ausstoßen. Dazu kommen
zum Beispiel Blockchains, die in ihrer Mehrzahl auf
energieintensiven Validierungsalgorithmen beru-
hen. Andererseits hat Digitalisierung das Potenzial,
durch Verlagerung physischer Prozesse in den di-
gitalen Raum Emissionen zu vermeiden, etwa beim
Ersatz physischer Meetings durch Videokonferen-
zen. So können Ressourcen wesentlich effizienter
genutzt werden, was wiederum zu weniger Ener-
gieverbrauch führt. Ich bin zuversichtlich, dass sich
die positiven Aspekte durchsetzen werden und
Digitalisierung ein wichtiges Instrument im Kampf
um mehr Nachhaltigkeit bleibt.
Was sind die größten Chancen
für den Wirtschaftsstandort
Deutschland?
Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale
Verantwortung und der Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen müssen Hand in Hand gehen,
damit Entwicklungen dauerhaft tragfähig sind.
Die Chancen Deutschlands liegen in der Entwick-
lung und Vermarktung nachhaltiger, sprich grüner
Technologien für die Industrie. Klimaschonende
Stahlproduktion, CO2-reduzierter (Güter)Verkehr
und zukunftsfähige Wärmeversorgung – zum
Beispiel aus industrieller Abwärme – sind nur
einige Beispiele hierfür.
Die Gen Z geht fürs Klima auf
die Straße. Entscheidet sich
der Kampf um Talente für
Unternehmen in Zukunft an
ihren Nachhaltigkeitszielen?
Nicht nur, aber auch. Die Wünsche und Ansprüche
der Gen Z im Arbeitsleben sind sehr vielschichtig.
Wir beobachten, dass neben dem sozialen Enga-
gement auch das Thema Nachhaltigkeit für Bewer-
berinnen und Bewerber zunehmend eine wichtige
Rolle spielt. Sie tendieren zu Unternehmen und
Marken, die ihre eigenen Werte widerspiegeln.
Kein Arbeitgeber kann sich leisten, das zu
ignorieren.

Eine Initiative von: Copyright Fotos:

Phil Dera für Holtzbrinck Berlin
38 20. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 43

STELLENMARKT
Rankings allein reichen nicht
Wenn es um die Qualität der Hochschul­
lehre geht, stehen häufig Bewertungen,
Rankings und datengestützte Vergleiche
im Fokus (ZEIT Nr. 34 und 35). Und ja,
wir brauchen empirische Stu­dien. Sie lie­
fern Informationen darüber, ob die Hoch­
Die Position:
Hochschulen wollen wissen, wie gut ihre Lehre ist –
und vergessen dabei einen entscheidenden Aspekt  VON ANTJE MANSBRÜGGE
Fach vertreten. Es sind Menschen, die Wie aber lassen sich solche Lernsitua­ in ­einem vollen Hörsaal agieren. An eini­
eine Lernumgebung für Studierende ge­ tionen mit­ein­an­der vergleichen? Und wie gen wenigen Hochschulen gibt es für die
stalten – und mit ihnen. Es geht dann stellt man sicher, dass sie eine ebenso große Lehr­entwicklung Freisemester, ähnlich den
zum Beispiel darum, einen komplizierten Anerkennung erfahren, wie Erfolge in der Frei­semestern für Forschungszeiten. Das
philosophischen Text zu verstehen oder Forschung? Diese Fragen kommen in der sollte Schule machen. Ebenso muss sich
ein statistisches Problem zu meistern; zu­ jetzigen Debatte viel zu kurz. die Lehre für die Karriere in der Wissen­

Foto: David Ausserhofer

schulen ihre Ziele erreichen. Auch können
sie mächtige Reformtreiber sein, denn die
Politik schätzt Zahlen für die Steuerung.
Es gibt jedoch noch einen anderen Teil
der Wirklichkeit: die individuelle Ebene.
Wir müssen stärker auf die Einzelnen
schauen: die Professorinnen und Dokto­
randen, die Dozentinnen und Forscher.
Denn sie tragen die Lehre. Hochschulen
sind nicht nur komplexe Organisationen,
sie sind auch Versammlungsorte von ein­
zelnen Wissenschaftlern und Wissen­
schaftlerinnen, die mit Leidenschaft ihr
künftige Ärzte müssen eine Anamnese
einüben, Musikerinnen eine Tonfolge mit
eigenem Ausdruck erreichen. Und im
Fach Biologie wird anders gesprochen
und gelernt als im Institut nebenan bei
den Ingenieuren. Lehren und Lernen er­
fordern Hingabe und Zeit – bei Studie­
renden wie Lehrenden gleichermaßen.
Die eine gute Lehre für alle gibt es nicht.
Stattdessen setzt sich die Lehrqualität­
einer Hochschule aus dem individuellen
intrinsischen Bemühen von sehr vielen
Einzelnen zusammen.
Messungen allein sind nicht die Ant­
wort. Vielmehr braucht es eine Kultur,
die Aufmerksamkeit und Wertschätzung
für die Lehre aufbringt, die sich interes­
siert, nachfragt, in den Austausch geht.
Konkret heißt das: Lehrende brauchen
Antje Mansbrügge Zeit in i­hrem Arbeitsalltag, sie müssen
ist Vorstandsmitglied der ihre Vor­lesungen oder Praktika vorberei­
Stiftung Innovation ten, sie müssen den Studierenden Feed­
in der Hochschullehre back geben und deren Lernwege begleiten.
Und sie brauchen Zeit, selbst zu lernen:
wie sie anschaulicher erklären, wie sie
sinnvoll digitale Me­dien einsetzen, wie sie
schaft lohnen. Das beginnt schon bei den
Berufungsverfahren, in denen das Lehr­
konzept und die Probe­vor­lesung wichtige
Entscheidungsgrundlagen bieten. Und wa­
rum diskutiert die Fach-Community die
Lehr­veranstaltungen nicht genauso­wie die
Thesen im letzten Fachaufsatz?
Wir brauchen also beides: das Wissen
aus breit angelegten Evaluationen einer­
seits und andererseits die Aufmerksamkeit
für den einzelnen Lehrenden, für das kon­
krete individuelle Lernen und Lehren.
Bildung ist mehr als Zertifizieren.

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trend. Vor allem öffentliche Transportmittel werden wichtiger.
Sie müssen gleichzeitig als Arbeits-, Ruhe- und Gesprächsraum
für Gruppen und Familien nutzbar sein. Das gilt auch für
selbstfahrende Autos; die Zeit hinter dem Steuer kann ja neu
genutzt werden. Um Fahrzeuge der Zukunft multifunktional
zu gestalten, braucht es Kreativität und Ästhetik, aber auch
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dem Design. Es ist für die Mobilitätswende wesentlich.
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STELLENMARKT
Worum geht’s ... in Transportation Interior Design?
VON CHRISTINE PRUSSKY
Das sagt die Studentin
In die Kreativbranche wollte ich immer. Unsicher war ich,
wohin genau. Bei der Suche verschlug es mich nach Reutlingen
zur Werkschau des Studiengangs. An dem Tag wurde ich so
unglaublich freundlich empfangen, dass die Sache klar war. Bei
uns geht es familiär zu, wir sind nur 13 Leute im Jahrgang.
Viele kommen aus der Region und haben einen angestammten
Freundeskreis. Trotzdem finden auch Auswärtige immer An-
schluss. Seit ich studiere, achte ich verstärkt auf Stoffe, Muster
und Farben, etwa auf Reisen. Ich bemerke häufiger, was mir
gefällt und wo das perfekte Design nicht gefunden wurde.
Nicole Waibel studiert im fünften Bachelorsemester
Transportation Interior Design an der Hochschule Reutlingen
DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM
MIT ZUKUNFT.
39
Gut zu wissen
Studium: Transportation Interior Design ist ein sieben­
semes­tri­ger Bachelorstudiengang. Gestalterisch im Zentrum
stehen Fahrzeuge und deren Interieurs. Das 2006 auf Initia-
tive der Fahrzeugindustrie entwickelte Studium ist der Hoch-
schule zufolge einmalig in Deutschland. Vermittelt wird
auch Wissen in Kommunikation und Marketing, Werkstoff-
kunde, Ergonomie und Restauration. Achtung: Wer sich
bewirbt, braucht eine Mappe. Spezielle Mappenkurse wer-
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Beruf: Jobs finden Absolventen in der Fahrzeugindustrie
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tätig oder gründen selbst ein Unternehmen. Gefragt sind ihre
speziellen Designkenntnisse beispielsweise im Jachtbau.