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PREIS DEUTSCHLAND 6,20 € WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R 6. OKTOBER 2022 N o 41
Neue Serie:
Sternstunden Freundliche
Gesellen
der Menschheit
Manchmal ist es der Mut eines Einzelnen, manchmal
Ein Gespräch mit
dem Nobelpreisträger
Svante Pääbo über
unsere Vorfahren
Wissen, S. 37
sind es die Gedanken vieler – und plötzlich ist
die Welt eine bessere: Über historische Momente,
die kaum einer kennt DOSSIER Ich weiß immer,
wo du bist!
Unsere Autorin trackt
ihren Sohn – und fühlt
sich schlecht dabei
Entdecken, S. 61
Titelillustration: Federica Bordoni
Auto statt
Eiche
KRIEG GEGEN DIE UKRAINE IRAN KLIMA
Ein 200 Jahre
alter Baum soll sechs
Verhandeln, ja –
Den Kopf frei Guter schmutziger Luxuswagen weichen.
Wie kann das sein?
aber nicht jetzt! Kompromiss Politik, S. 3
Russland muss erst noch mehr Irgendwann wird der Aufstand gegen die Mullahs Erfolg haben – Der Deal zum Kohleausstieg ist
verlieren VON MICHAEL THUMANN Berlin sollte endlich klarer Position beziehen VON NAVID KERMANI vorbildlich VON ROMAN PLETTER
D
PROMINENT IGNORIERT
Wie handelt man einen Waffenstillstand aus, er wahrscheinliche Verlauf seit Monaten hat sich die ohnehin desolate Lage Jedes nicht ausgestoßene Molekül CO₂ ist ein
wenn die Kriegsparteien nicht verhandeln der Proteste im Iran ist dieser: der Menschenrechte noch einmal dramatisch ver‑ Beitrag gegen die Erhitzung der Erdatmosphäre.
wollen? In Moskau macht Wladimir Putin Der Staat geht, wie sich be‑ schlechtert. So werden Hinrichtungen wieder Die zu Beginn der Woche geschlossene Verein‑
derzeit mit jedem Schritt klar, dass er nicht reits abzeichnet, mit Schuss‑ öffentlich vollzogen, und ihre Zahl hat sich ver‑ barung zwischen dem Kraftwerksbetreiber RWE,
reden will: Annexion der besetzten Gebiete, waffen gegen die Demons‑ doppelt – allein in der ersten Jahreshälfte waren es dem Bund und Nordrhein-Westfalen, schon
Mobilmachung, Umstellung auf Kriegswirt‑ tranten vor, mit Verhaftun‑ 251. Neben vielen anderen Regimekritikern wur‑ 2030 statt 2038 aus der Braunkohleverstromung
schaft. Er sagt: »Wir haben noch gar nicht an‑ gen, Folter, Hinrichtungen. In der Friedhofs den zwei der berühmtesten Filmregisseure des Iran auszusteigen, ist aus Klimasicht deshalb eine
gefangen.« In Kiew verbietet Wolodymyr ruhe, die folgt, setzt eine weitere Auswanderungs‑ verhaftet, die Berlinale-Gewinner Mohammad uneingeschränkt gute Nachricht.
Selenskyj per Dekret Verhandlungen mit welle ein. Nicht lange, dann wird es einen neuen Rasulof und Jafar Panahi, und vor ein paar Wochen Zugleich ist angesichts des Strommangels
Putin. Und treibt seine Truppen voran, die Anlass geben, warum die Dagebliebenen auf die hat ein Revolutionsgericht die beiden LGBT- jede zusätzlich erzeugte Kilowattstunde Strom
besetzten Gebiete zurückzuholen.
Trotzdem gibt es täglich neue Forderungen
Straße gehen, sie müssen nur erst ihre Müdig‑
keit, ihre Angst, ihren Schmerz abschütteln.
Aktivistinnen Zahra Sedighi-Hamadani und Elham
Choobdar zum Tode verurteilt. Besonders hart trifft
ein Beitrag gegen steigende Energiepreise. Der
mit der Vereinbarung einhergehende Beschluss,
Preisfrage
nach Verhandlungen. Der Papst hat dazu auf‑ Das ist der wahrscheinliche Verlauf. Und die Verfolgungswelle mal wieder die religiöse Min‑ zwei Kraftwerksblöcke bis Frühjahr 2024 Was tun gegen steigende Preise,
gerufen, Elon Musk auch. In Deutschland ha‑ doch ist bei den gegenwärtigen Protesten man‑ derheit der Bahais. Die Reaktionen der Bundes‑ weiterlaufen zu lassen, statt sie Ende des Jahres wenn das Gehalt nicht erhöht wird
ben die Talkshows den Frieden längst beschlos‑ ches anders als 2009, 2017 oder 2019, als eben‑ regierung, der Europäischen U nion? Unterhalb des stillzulegen, ist also auch eine gute Nachricht: und kein Lottogewinn gelingt? Im
sen. Nur hält sich niemand dran. Kein Wunder. falls Tausende oder sogar Millionen demons‑ wahrnehmbaren Bereichs. eine gute Nachricht für den sozialen Frieden – Keller nachschauen. Gewiss steht
Sie alle ignorieren die Mechanik des R
edens: trierten. Mit der Gleichberechtigung hat der Selbst als die Iraner überall im Land gegen die wenn auch nicht für das Klima. noch eine alte Vase da, mit einem
Erfolg versprechen Verhandlungen nur dann, Aufstand ein konkretes, für die Hälfte der Bevöl‑ Unterdrückung protestierten, war von der grü‑ So betrachtet ist dieser Kohleausstieg ein Drachen und ein paar Wolken da‑
wenn beide Kriegsparteien in einem Waffen‑ kerung im Alltag brennendes Thema, und end‑ nen Außenministerin Annalena Baerbock über schmutziger Kompromiss, der unter dem Strich rauf – ab ins Auktionshaus damit!
stillstand mehr Vorteile sehen als im Weiter‑ lich solidarisieren sich allerorten die Männer mit Tage nichts zu hören, bevor sie sich schließlich in weniger Schmutz macht als eine Welt ohne ihn. Letzten Samstag hat so eine Vase
kämpfen. Doch warum sollte ein Selenskyj die denFrauen. Neu ist ebenso, dass sich das Ver‑ New York zu einem dürren Statement über die Es wird nämlich viel Kohle unter der Erde blei‑ im französischen Fontainebleau
Waffen niederlegen, wenn sein Land dann von langen nach Freiheit, nach Rechtsstaatlichkeit Bedeutung von Frauenrechten durchrang. Für ben, statt verbrannt zu werden – und kurzfristig lindernde 7,7 Millionen Euro er‑
der Landkarte verschwinden würde? Warum und Emanzipation, das vor allem ein bürger ihre Passivität immer lauter kritisiert, plädiert wird mehr Strom zur Verfügung stehen. löst. Und im Keller ist wieder
sollte er die Rückeroberung stoppen, die liches ist, mit der existenziellen Not der ärmeren Baerbock inzwischen für Sanktionen, die aller‑ Womit der Deal ein gutes Vorbild sein mehr Platz noch dazu. USTO
geradeso gut läuft? Und umgekehrt: Warum Bevölkerung verbindet. Bisher demonstrierten dings, soweit bekannt, kaum vorsichtiger ausfal‑ könnte für die Schaltung der Ampelregierung
sollte Putin jetzt aufhören, wo er doch mit diese beiden Schichten mit ihren teils unter‑ len könnten. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz an der historischen Kreuzung des Jahres 2022. Kleine Fotos (v. o.): Jens Schlueter/Getty Images;
Hannes Jung für DIE ZEIT;
neuen Soldaten, viel mehr Waffen und Nuk schiedlichen Anliegen weitgehend getrennt. lässt weiterhin nur seinen Regierungssprecher ein Er könnte Vorbild sein für einen energie Michel Bury/Maison Osenat
leardrohungen erst richtig anfangen will? Neu ist außerdem, dass die Proteste nicht auf paar Allgemeinplätze ausrichten. ideologischen Waffenstillstand.
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
Russlands Krieg geht in entscheidende einzelne Zentren oder Regionen beschränkt sind; Wenn man sich erinnert – und viele Iraner Man hat sich ja daran gewöhnt, dass die Spit‑ 20079 Hamburg
Wochen. Wenn Putins Mobilmachung etwas sie haben weiterhin keine Führung, nicht einmal tun das, nicht nur in Deutschland –, mit welcher zen der Regierung zwar vor sozialem Unfrieden Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
bringt und wenn die Russen wieder vorrücken, Büros, auch ist der Informationsfluss durch die Empathie Angela Merkel sich etwa 2009 an die warnen, dass sie dann aber den Aufstand der DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
kann es noch lange dauern. Denn die Ukraine Drosselung des Internets stark eingeschränkt. Aber iranischen Demonstranten wandte, die sie in eigenen Parteibasen noch mehr fürchten. Anders ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
kämpft um nicht weniger als ihre Existenz. in der institutionellen Schwäche liegt zugleich eine einen Zusammenhang mit ihrer eigenen ostdeut‑ ist nicht zu erklären, dass sie ein wirksames Mittel ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Könnte ihre Armee aber allmählich die verlore‑ Chance, weil die Bewegung nicht wie früher durch schen Biografie und dem Fall der Mauer stellte, gegen hohe Energiepreise eher blockieren als
nen Gebiete zurückgewinnen, erhöhte sie den die Verhaftung ihrer Köpfe und einzelne, sichtbare lässt sich die Schmallippigkeit ihres Nachfolgers unterstützen: mehr Angebot. Man denke nur an ABONNENTENSERVICE:
Druck auf Russland, das eben – anders als Putin Massaker zerschlagen werden kann. nicht allein mit seinem norddeutschen Tempera‑ die politische Energie, die in die Behauptung der Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
behauptet – nicht um seine Existenz kämpft. Neu und für das Regime besonders bedrohlich ment erklären. Liegt es daran, dass die Bundes‑ Nichtbesorgbarkeit von Brennstäben für Atom‑ E-Mail: abo@zeit.de
In der russischen Bevölkerung wachsen die ist jedoch noch ein anderer, nämlich der ethnische regierung die Atomverhandlungen nicht gefähr‑ kraftwerke oder (kein Witz!) von Schildern für
Zweifel am angeblichen Überlebenskampf. Aspekt: Die getötete Mahsa Amini war eine Kur‑ den möchte, deren Erfolg den Zugang zu den ein Tempolimit fließt. Wenn die mal in deren PREISE IM AUSLAND:
Warum sollte Russland nicht ohne Cherson din. 45 Prozent der Iraner haben eine andere riesigen iranischen Gasfeldern öffnen würde? Es Besorgung geflossen wäre ... DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
und Charkiw leben können, wenn es davor Muttersprache als Persisch. In Kurdistan, in wäre ein weiterer Missgriff deutscher R eal- bezie‑ Es ist nicht ohne Tragik, dass nur die tem‑ A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
auch ging? Seit den Annexionsfeiern von ver‑ Belutschistan, in Aserbaidschan kann das R egime hungsweise Energiepolitik. Denn mit diesem poräre atomare und fossile Ertüchtigung das B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
gangener Woche debattieren die Russen über nicht einmal mit Bussen, Essensausgaben und Regime, das nur noch auf Waffengewalt beruht, Land ökonomisch in die Lage versetzen, nach
o
N 41
ihren verkorksten Krieg. Putin wird nervöser. Urlaubsgutscheinen Kundgebungen organisieren, ist kein verlässliches Abkommen zu erzielen. dieser Krise eine Welt ohne Atomkraft und
Er droht mit der Atombombe. Das Paradox die den Schein von Volksherrschaft herstellen; Geschichte besteht aus Entwicklungen, die Kohle zu gestalten. Wenn das Land nämlich
ist: Je schlechter es für Russland auf dem dort muss es für die Niederschlagung der Proteste unwahrscheinlich sind. Vielleicht wird dieser vorher wegen Energiemangel sozial und indus‑
Schlachtfeld läuft, desto eher öffnet sich ein Milizen aus anderen Teilen des Landes herbei‑ Tage im Iran Geschichte gemacht oder beim triell implodiert, wird es diese Kraft nicht auf‑
7 7. J A H RG A N G C 7451 C
Weg für Verhandlungen. Weil Russland reden schaffen, die dann allerdings wiederum in Tehe‑ nächsten oder übernächsten Aufstand. Dass die bringen, zumal es dann gilt, den CO₂-Ausstoß
müsste, um nicht noch mehr zu verlieren. ran, Meschhed oder Isfahan fehlen. Bundesregierung Zweifel entstehen ließ, an aus diesen traurigen Jahren zu kompensieren.
Dann hätte ein Waffenstillstandsangebot eine Leider ist aber noch etwas neu am gegenwärti‑ wessen Seite sie steht, ist daher nicht nur ein 41
Chance. Als lebensbejahende Alternative zum gen Aufstand: die Zurückhaltung der Bundesregie‑ moralisches Versagen. Es ist auch aus eigenem Alle Leitartikel finden Sie zum Hören
Einsatz von Atombomben. rung, die Islamische Republik zu kritisieren. Schon nationalem Interesse fatal. unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106207
2 POLITIK 6. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 41
Foto (o.): action press; Abb. (u., Screenshots) Quelle: twitter
I
mmer jünger werden die Frauen, eine Märtyrerin!« BBC Farsi berichtet, die weitere Proteste. Auf Videos ist zu sehen, wie die Sittenpolizei erwachsene Frauen und
die im Iran gegen das Regime der Leiche sei der Familie von den Sicherheits- sich Frauen genau dort die Haare abschnei- Mädchen daraufhin überprüft, ob die Klei-
Mullahs auf die Straße gehen. In kräften weggenommen und 40 Kilometer den – die Botschaft ist leicht zu lesen: »Geht dung den islamischen Standards entspricht.
den sozialen Medien kursieren
trotz des weitgehend lahmgeleg-
weiter im Dorf Vejsan begraben worden.
Ein sehr ähnliches Schicksal ereilte die
Der Widerstand es euch um die Haare? Bitte sehr: Hier habt
ihr sie!«
Dabei sei man naturgemäß schierer Willkür,
manchmal dem Klassenhass, manchmal dem
ten Internets mehr und mehr 16-jährige YouTuberin Sarina Esmailsade, Auch iranische Prominente, die bislang Neid oder der Begierde der Sittenwächterin
Videos von Schulmädchen, die deren Familie ebenfalls zehn Tage verzweifelt lieber die Finger von der Politik ließen, twit- oder des Moralpolizisten ausgesetzt. »Eines
singend und rufend ohne Hidschab durch gesucht hatte, bis die Behörden ihr den Leich- tern unterstützende Botschaften, manche Tages«, so habe Sotudeh ihren Mandantin-
die Straßen ziehen. In der Stadt Gohar- nam übergaben. Sie war nach Berichten von fordern sogar die Armee auf, sich vor die nen immer gesagt, »werden diese unfassliche
dasht, nahe Teheran, treiben am Montag Amnesty International mit Schlagstockhieben Demonstranten zu stellen. Der Musiker Ungerechtigkeit und das Leid, das Frauen
dieser Woche 12- bis 13-jährige, barhäup- auf den Kopf totgeprügelt worden. Homajun Schadscharian ließ bei einem Auf- angetan wird, den Iran an den Rand des Ab-
tige Schülerinnen einen Behördenleiter auf Hidschabs brennen, die Bilder der geist- tritt in Teheran ein riesiges Foto von Mahsa grunds bringen. Diesen Punkt haben wir
die Straße und rufen »Schäm dich!«. Auf lichen Führer werden von den Hauswän- Amini auf seinen Bühnenhintergrund proji- jetzt erreicht.«
einem Twitter-Foto stehen fünf von ihnen den gerissen, Autos hupen den Demons- zieren – worauf das Publikum »Tod dem Die Reaktionen des Regimes sind einer-
mit dem Rücken zur Kamera und zeigen trierenden Unterstützung zu – die Proteste Diktator« skandierte. Der iranische Fußball- seits sattsam bekannt: die unnachgiebige,
einem Konterfei der Revolutionsführer nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa star Ali Karimi, einst Spieler von Bayern rücksichtslose Niederschlagung – »sarkub«,
Chomeini und Chamenei den Mittelfinger Amini unter den Händen der Sittenpolizei München, wandte sich in den sozialen der Schlag auf den Kopf, die Repression. Der
– ein todesmutiger Akt. gehen in die dritte Woche. Sie haben keine Schülerinnen recken dem Medien an die Soldaten: »Hey, Soldat, was greise Revolutionsführer Ajatollah Chamenei,
Es ist schwierig für das Regime, Gewalt Anführer, keine Sprecherinnen, keine Aus- Bild der verhassten Religionsführer verteidigst du? Die Korruption? Die Kinder 83, über den das Gerücht umgeht, er sei
gegen Kinder und Jugendliche einzusetzen – schüsse und keine Ideologie; der Kampfruf den Mittelfinger entgegen der Geistlichkeit, die im Westen leben und längst tot und lasse sich nur noch durch ein
aber nicht unmöglich. Nika Schakarami, eine lautet einfach: »Frauen, Leben, Freiheit!« ihren Spaß haben? Verteidigst du Armut, Pros- Double vertreten, präsentierte nach zwei
16-Jährige aus dem westiranischen Chorra- Das Amorphe ist aber womöglich gerade titution und Elend unter deinen Mitbürgern?« Wochen des Schweigens die übliche Anklage:
mabad, war am 20. September nach Teheran ihre Stärke: Es sind eben irgendjemandes Der Iran hat schon mehrere Aufstände Die USA, die »Zionisten« und verräterische
gefahren, um sich den Protesten anzuschlie- Eltern, Kinder, Ehemänner und Großeltern, erlebt – aber in keinem ging es so unmittelbar Exiliraner steckten hinter den Protesten. Es
ßen. In einer letzten Nachricht, so berichtete Gläubige und Säkulare, Arme aus dem Süden, um die körperliche Lebenswirklichkeit von handele sich um eine Minderheit, die man
ihre inzwischen festgenommene Tante Atasch
Schakarami gegenüber mehreren Medien,
Reiche aus den Villenvierteln von Teheran.
»Wenn wir uns nicht zusammentun, bringen
Die Opfer Frauen. Die Anwältin Nasrin Sotudeh, selbst
jahrelang vom Regime inhaftiert und derzeit
disziplinieren und lenken könne. Niemand
weiß, wer ihm nachfolgt. Im Parlament
schrieb die Schülerin, sie sei auf der Flucht vor sie uns einen nach dem anderen um«, rufen auf Hafturlaub, beschreibt in einem Zoom- erhoben sich aber die Abgeordneten und
Sicherheitskräften. Studenten in einem Video aus Karadsch. Dass Gespräch, wie sie diese Tage erlebt: »Für uns riefen: »Danke, Polizei!«
Zehn Tage lang hörte die Familie nichts das Regime nun Jagd auf seine Schülerinnen ist das seit 43 Jahren eine konkrete, physische Andererseits fordern inzwischen auch
von ihr, suchte in Krankenhäusern, Polizei- und Studenten macht – die Bilder von den in Erfahrung. In einem Urteil nach dem ande- Stimmen unter den Konservativen die Auflö
revieren und Leichenschauhäusern, bis die einem Parkhaus Eingekesselten an der Tehe- ren, in einem Gesetz nach dem anderen wird sung der gefürchteten Sittenpolizei oder zu-
Behörden schließlich die Familie zur Identifi- raner Universität Scharif gingen um die durch Kleidervorschriften nach unseren mindest eine Lockerung der Kopftuch-Regeln.
kation ihrer Leiche baten. Man zeigte ihnen Welt –, dürfte wohl das beste Sinnbild dafür Körpern gegriffen«, so Sotudeh, die jederzeit Der Tod von Mahsa Amini »hat uns das Herz
nur kurz das Gesicht der Toten, das kaum sein, dass es keine Zukunft hat: Die Islami- damit rechnen muss, erneut ins berüchtigte gebrochen«, hatte das Staatsoberhaupt noch
mehr zu erkennen war, weil Nase und Schädel sche Revolution frisst ihre Kinder. Evin-Gefängnis gebracht zu werden. »Es geht gesagt. Womöglich ist diese Bemerkung zu-
zertrümmert waren. Hunderte von Protestie- Die Zahl der Toten liegt inzwischen bei nicht nur um einen Dresscode. Es geht um treffender, als ihm lieb sein kann.
Nika Schakarami, Sarina Esmailsade,
renden trafen sich daraufhin am Sonntag, mindestens 130, höchstwahrscheinlich aber Vergewaltigung und andere Übergriffe. Sie
mit 16 von der mit 16 von
eigentlich dem 17. Geburtstag des Mädchens, viel höher. Anders als früher, wo die Beerdi- schlagen dich grün und blau, und dann Mitarbeit: Nasrin Bassiri
Polizei in Teheran Sicherheitskräften
bei der Beerdigung auf dem Friedhof von gungen von Opfern der Sicherheitsbehörden wickeln sie dich wieder in einen Schleier, um
getötet erschlagen
Chorramabad, wo ihre Mutter mit einem still und diskret abliefen, herrscht auf den zu verstecken, was sie dir angetan haben.« Lesen Sie auch Abdel-Hakim Ourghi
Bild von ihr in der Hand auf Videos zu sehen Friedhöfen nun ebenso viel Wut wie Trauer, Sotudehs Tochter muss auf dem Weg zur über die Iranerinnen und das Kopftuch:
ist und ruft: »Wir sind stolz auf dich, du bist werden Begräbnisse zum Schauplatz für Universität sechs Checkpoints passieren, wo Glauben & Zweifeln, S. 60
DIE ZEIT N o 41 6. Oktober 2022 POLITIK 3
A
ls sie sich aus der Erde schob, verwandeln. Für das Weltklima ist die Eiche in der
ein dünnes Pflänzchen, die Dresdener Straße also eigentlich nicht so wichtig.
Blätter noch eingerollt, gab es Aber für Pilze, Flechten, Insekten, Vögel, Eich-
keine Autos, keine Eisenbahnen hörnchen. Eine ausgewachsene Stiel eiche behei-
und keine Flugzeuge. In Russ- matet etwa 2300 Arten. Julian Rosefeldt hat vor ein
land regierte Zar Alexander I., paar Wochen einen Mäusebussard gefilmt, der sich
und Na po
leon war gerade in in der Krone niedergelassen hatte. Und Bäume fil-
der Schlacht bei Waterloo besiegt worden. Man tern Schadstoffe aus der Luft, geben Feuchtigkeit
kann das Alter eines Baumes bestimmen, wenn ab und spenden Schatten – große, alte Bäume kön-
man den Umfang seines Stammes misst. Die Eiche nen das besser als kleine, junge. Unter einer Baum-
in einem Hinterhof der Dresdener Straße im Ber- krone sei es an heißen Tagen um bis zu fünf Grad
liner Stadtbezirk Mitte, Flurstück 372, hat einen kühler als im freien Gelände, sagt Andreas Roloff,
Umfang von 280 Zentimetern und ist damit rund Professor für Forstbotanik an der Technischen Uni-
200 Jahre alt. Sie hat den Ersten Weltkrieg über- versität Dresden. Das verhindert, dass sich Häuser
lebt und im Zweiten die Bomben, die viele der und Straßen stark aufheizen, und begünstigt die
Häuser um sie herum zertrümmerten. Sie war da, Abkühlung in der Nacht. Roloff ist Experte für
als die Mauer gebaut wurde, gleich um die Ecke, Stadtbäume, er hat ein Buch über sie geschrieben.
eine Gedenktafel erinnert heute daran, und als die Für das Klima mag es egal sein, wo ein Baum steht
Mauer fiel. Sie hat die Monarchie ausgehalten, den und wie alt er ist – Hauptsache, Baum. Für die Men-
Faschismus und den Sozialismus. Aus Berlin wur- schen ist es aber nicht egal. Ob Hitze herrscht oder
de eine Millionenmetropole, und sie ist einfach nicht, die meisten berührt der Anblick alter Bäume auf
immer weitergewachsen, dem Licht entgegen. eine Weise, die sie nicht beschreiben können. Viel-
Eichen können 1000 Jahre alt werden, die Ei- leicht weil sie sich ihrer Endlichkeit bewusst werden.
che an der Dresdener Straße hätte also noch ein
paar Jahrhunderte vor sich. Doch könnte dieser Das Gesetz sagt:
Sommer ihr letzter gewesen sein. Denn da, wo sie Baurecht bricht Baumrecht
steht, soll ein Haus gebaut werden: zehn Wohnun-
gen, vier Geschosse, eine Tiefgarage mit sechs Dass Bäume etwas anderes sind als grüne Gegen-
Stellplätzen, die Fahrzeugen mit den Abmessun- stände am Wegesrand, glaubt auch das Bezirksamt
gen eines Audi A6 Avant Platz bieten – ein Koloss von Mitte. So steht in einem Beschluss vom Mai
mit einer Länge von fast fünf Metern. So steht es dieses Jahres: »Die Pflege von Grün- und Freiflächen,
in den Bauplänen, die die Hamburger Concept- der Schutz der Bäume und der Biodiversität sind es-
Immobilien Gesellschaft mbH beim zuständigen senziell für Klimaschutz, Aufenthaltsqualität und den
Bezirksamt eingereicht hat. Die Baugenehmigung sozialen Zusammenhalt.« Die Eiche tut allen gut,
wurde am 8. August 2021 erteilt, Geschäftszeichen egal ob jemand viel oder wenig Geld hat, ihre Schön-
1140-2021-1080-Stadt(11)2 207. heit und ihr Schatten sind umsonst.
»Baustadtrat Gothe lässt in Berlin-Mitte für sechs Rosefeldt wirft Baustadtrat Gothe vor, sich nicht
SUV-Stellflächen eine 200 Jahre alte Eiche fällen – an diesen Beschluss des Bezirksamts zu halten. Er
völlig legal. Ist das noch zeitgemäß?«, schrieb Andreas hätte die Baugenehmigung einfach nicht erteilen
Knie, Verkehrsexperte am Wissenschaftszentrum sollen. Doch fragt man Gothe selbst, sagt der, er habe
Berlin, am 17. September auf Twitter. Baustadtrat »erhebliche Anstrengungen unternommen«, um eine
Gothe ist Ephraim Gothe, 58, Sozialdemokrat, Be- Fällung zu verhindern. So habe er mit der Immobi-
zirksstadtrat für Stadtentwicklung und Facility- lienfirma des Bauprojekts verhandelt, damit der
Management, und was die moralische Eindeutigkeit Baum erhalten werden könne. Sie sei aber auf Än-
der Frage angeht, die auf Twitter gestellt wurde, derungswünsche nicht eingegangen. Die Anwältin
hätte diese auch lauten können: »Baustadtrat Gothe der Concept-Immobilien habe sogar gedroht, ihn zu
ertränkt Katzenbabys. Ist das noch zeitgemäß?« Aber verklagen, wenn die Genehmigung nicht erteilt
ist es wirklich so eindeutig? Ein fieser Stadtrat? Eine werde. Das Unternehmen äußerte sich dazu nicht.
hilflose Gemeinde? Auto versus Baum? Im Mittelalter galten Eichen als Symbole des Le-
bens, ihre Wurzeln dringen bis zu 40 Meter ins Erd-
Die Eiche wölbt sich wie ein gewaltiger reich vor. Ihre Standfestigkeit hat die Menschen immer
grüner Sonnenschirm über den Innenhof beeindruckt. Eichen werden in Liedern und Gedichten
besungen. Im Gesetzbuch aber fehlt die Eiche, genau-
Der Weg zur Eiche führt durch eine Hofeinfahrt. »Die er gesagt im Baugesetzbuch. Es stammt aus dem Jahr
Eiche bleibt«, hat jemand in Großbuchstaben auf die 1960 und regelt, was in Städten und Gemeinden ge-
grau gestrichene Fassade des Durchgangs geschrieben. baut werden darf. In Paragraf 34 steht: Ein Gebäude
Daneben haben die Kinder der Nachbarschaft mit hat sich in seiner Bauweise in die » Eigenart der näheren
Kreide einen Baum gemalt, in einem Loch in seinem Umgebung« einzufügen. Eine Baubehörde kann die
Stamm sitzt eine Eule. An diesem Donnerstag – dem Farbe der Fassade vorschreiben, ebenso die Zahl der
letzten im September – haben sie aus grüner Pappe Geschosse oder die Dachform. Man darf sein Haus
Eichenblätter gebastelt und an heruntergefallenen nicht einfach pechschwarz streichen, wenn alle anderen
Ästen befestigt, die sie in die Kameras halten. Das Häuser drumherum weiß sind, und keinen Wolken-
Fernsehen ist da, ein Orchester spielt, es gibt Brezeln kratzer in einer Einfamilienhaussiedlung errichten.
und Apfelsaft. Die Anwohner haben sich zusammen- Bäume aber tragen im Baugesetz nicht zur Eigen-
geschlossen und eine Protestkundgebung organisiert. art der näheren Umgebung bei. Nach der Berliner
»Diese Eiche steht für das märchenhafte und ro- Baumschutzverordnung muss zwar jeder Laubbaum
mantische Berlin. Sie muss bleiben«, sagt Eckard mit einem Stammumfang von mindestens 80 Zenti-
Müller, Lehrer. In seiner Hand hält er ein Schild mit metern »erhalten und gepflegt« werden. Wenn sie
der Aufschrift »Auto oder Atmen«. jedoch einem ansonsten zulässigen Gebäude im Weg
»Ich kann die Eiche von meinem Küchenfenster stehen, müssen sie weichen. Wie ein Fels. Oder ein
aus sehen. Im Herbst hat sie so schöne Laubfarben, alter Schuppen. Daran ändern auch politische Ab-
Foto: Hannes Jung für DIE ZEIT
ich habe oft Bilder gemacht. Ich finde es unmöglich, sichtserklärungen nichts, wie sie im Beschluss des
dass sie jetzt wegsoll. Das ist doch nur Geldschneide- Bezirksamts zum Klimaschutz Ausdruck finden. Die
rei«, sagt Elke Pötter, Rentnerin. Sie wohnt gegenüber Eiche stehe »auf privatem Grund«, deshalb gehe von
in der Mietskaserne aus den Sechzigerjahren. einem solchen Beschluss »kein bindendes Recht« aus,
»Wie kann es sein, dass das Bezirksamt Mitte urteilt das Verwaltungsgericht. Es lehnte den Antrag
trotz der dramatischen klimatischen Entwicklun- auf einstweilige Anordnung ab, mit der die Anwoh-
gen im Hitzejahr 2022 ohne Notwendigkeit die ner verhindern wollten, dass die Concept-Immobilien
Fällung einer über 200 Jahre alten Eiche geneh- die Eiche einfach fällt, bevor in der Sache ein Urteil
Noch ist sie da: Die Eiche in der Dresdener Straße,
migt?«, fragt Julian Rosefeldt, Filmregisseur. ergangen ist. Jürgen Kaape muss sein Wohnhaus
fotografiert am 2. Oktober 2022
Rosefeldt ist einer der Anführer der Pro test nicht umplanen, die Tiefgarage auch nicht. Ab jetzt
initiative. Er wohnt mit seiner Familie in einem ehe- kann er mit der Eiche machen, was er will.
maligen Schulgebäude, an das die Eiche sich zu Um sie zu retten, müsste man Bäume mit Rechten
schmiegen scheint. Es wurde erbaut, als sie etwas mehr ausstatten. Man müsste die Gesetze ändern oder neu
als ein halbes Jahrhundert alt war. Sie hat es gut ver- interpretieren, wie es das Bundesverfassungsgericht
kraftet, auch als einige ihrer Äste abgeschnitten wur- Menschen haben sie unterzeichnet. Die Eiche ist Kronenvolumens. Wahrscheinlich würde die Wur- lehnt eine Umplanung ab. Er werde »sorgfältig mit im vergangenen Jahr tat, als es aus dem Grundgesetz
den, damit Platz war für Balkone, die vor etwa zehn inzwischen sogar auf Instagram. Der Account traum- zelmasse absterben. Die Eiche wäre tot. Oder wie das dem Baum umgehen«, sagt Jürgen Kaape, einer der eine Pflicht zur Bewahrung der natürlichen Lebens-
Jahren angebracht wurden. Das Bezirksamt hat die baum36 hat 233 Follower. Man sieht darauf Bilder Gutachten es formuliert: »Totalschaden«. beiden Geschäftsführer. Sollte dieser den Beschnitt grundlagen für die kommenden Generationen ab-
Eiche kürzlich untersuchen lassen, so wie ein Arzt der Protestaktionen und historische Aufnahmen des Immobilienentwickler haben das Gesicht der nicht überleben, könne der Stamm als begrüntes »Tot- leitete, obwohl das da so nicht drinsteht.
einen Menschen untersucht. Ergebnis: Sie sei »gesund Baugrundstücks. Früher stand die Eiche am Rand Stadt verändert, sie haben Wohnraum geschaffen, oft baumbiotop« stehen bleiben. Oder anders formuliert: Als das Baugesetzbuch verfasst wurde, war der
und vital«. Fast 20 Meter ist sie hoch, die Krone wölbt eines weiten Platzes, in den letzten Jahren kamen teuren. Doch fiele der Abschied von der Eiche leich- als ein Stück Holz, das aus der Erde ragt. Schutz der Natur noch kein großes Thema. Man
sich über den Innenhof wie ein gewaltiger grüner immer mehr Gebäude hinzu. Die Dresdener Straße ter, wenn sie für billige Wohnungen stürbe – ohne Wenn in Deutschland gebaut wird, steht oft ein wollte bauen: Häuser, Wohnungen, Gewerbeimmo-
Sonnenschirm. In Europa gibt es etwa zwei Dutzend liegt in einer bei Immobilienentwicklern beliebten Stellplätze für große Autos? Baum im Weg. Im vergangenen Jahr wurden allein bilien. Im Jahr 1950 hatte jeder Deutsche im Schnitt
Eichenarten, die Eiche in der Dresdener Straße ist eine Gegend, lange war hier, so nah an der Mauer, nicht Die Freunde der Eiche argumentieren, dass schon im Bezirk Mitte 370 Bäume gefällt, in ganz Berlin 14 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, heute
Stieleiche. Stieleichen sind für ihre Anpassungsfähig- viel los. Die Häuser, die inzwischen entstanden sind, der Verzicht auf die Tiefgarage ausreiche, um den waren es 6269. Einige waren krank oder beschädigt, sind es 47 Quadratmeter. Wohnraum ist Wohlstand.
keit bekannt. Sie sind nicht so leicht zu erschüttern. haben bodentiefe Fenster, auf den Balkonen stehen Baum zu erhalten. Dann könne das Gebäude einfach aber viele starben für Bauvorhaben. Zahlen für ganz Und weil der Wohlstand weiter wachsen soll, soll
Wenn Rosefeldt auf seinem Balkon sitzt, dann Laufräder und Blumenkübel. verschoben werden. Sie werde ohnehin nicht benötigt, Deutschland werden nicht erhoben, aber auch in noch mehr gebaut werden. Nicht nur Wohnungen,
ist es ein wenig, als säße er in ihrer Baumkrone. Er Je mehr Raum Häuser, Laufräder, Blumenkübel weil es in diesem Teil Berlins genug Parkplätze gebe. anderen Städten müssen alte Bäume weichen. auch Windräder, Mobilfunkmasten, Bahntrassen.
habe Verständnis dafür, dass neue Wohnungen ge- einnahmen, desto weniger blieb für die Eiche. Das Die Anwohner haben nachgezählt, im Umkreis von Doch es werden auch neue gepflanzt, und sollte Bäumen ihren Platz zu lassen würde bedeuten: weni-
baut werden, sagt er. Es gebe zu wenige, die Mieten mit der Planung des Neubaus betraute Architektur- 200 Metern befinden sich sechs Tiefgaragen mit die Eiche in der Dresdener Straße gefällt werden, ger von alldem für alle.
seien zu hoch. Aber man müsse so bauen, dass die büro hat bei einem Unternehmen für Baumpflege freien Stellflächen. Die Concept-Immobilien Gesell- werden auf Anordnung des Bezirksamts anderswo Eichen wachsen langsam. Nach 40 Jahren bilden
Eiche weiterleben könne. Deshalb hat die Anwoh- ein Gutachten in Auftrag gegeben. Die Krone des schaft sagt, dass nicht genug Platz für die Eiche ge- fünf sogenannte Ersatzbäume wachsen. Die Immo- sie eine Blüte, nach 60 bis 80 Jahren hängen an ihren
nerinitiative – erfolglos – vor dem Berliner Verwal- Baums ragt demnach weit in das geplante Gebäude schaffen werden könne, wenn man einfach die Tief- biliengesellschaft hat deshalb bereits 3325 Euro an die Ästen das erste Mal Eicheln. Manche hören erst auf
tungsgericht gegen die Baugenehmigung geklagt und hinein. Deshalb seien »Schnittmaßnahmen in gro- garage wegließe. Die Abmessungen der Geschosse und Stadtkasse bezahlt – dafür bekäme man in Mitte etwa zu wachsen, wenn sie 200 Jahre alt sind. Dann stehen
im Internet eine Petition für den Erhalt des Baumes ßem Umfang« notwendig. Großer Umfang heißt: damit der Wohnraum müssten verkleinert werden. In einen halben Quadratmeter Wohnfläche. Die jungen sie nur noch da, ruhig, tief verwurzelt, in voller Pracht.
gestartet. »Helft mit, dass der Traum von diesem Die Eiche würde mehr als 90 Prozent ihres Blatt beiden Fällen gilt: Der Verkauf der Wohnungen Bäume werden, wie die alte Eiche, klimaschädliches
Berliner Baum nicht endet« steht da. Mehr als 5000 volumens verlieren und mehr als 80 Prozent ihres würde weniger Geld einbringen. Das Unternehmen Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen und es in Holz www.zeit.de/vorgelesen
4 POLITIK 6. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 41
Zu Beginn seiner Herrschaft sahen manche in Xi Jinping einen Reformer. Heute erstarren
die Menschen in China vor Angst, wenn der Name des Präsidenten fällt VON XIFAN YANG
Er *
F
Liangjiahe/Peking der »roten Aristokratie« genannt werden) in einen Zhe jiang, zwei Hochburgen des Privatsektors, land, sein jüngerer Bruder ging nach Hongkong, Lehre in seiner persönlichen Karriereplanung.
ür einen Ort, den so viel Glanz Mann der Tat. Die flohverseuchte Höhle, in der agierte Xi unternehmerfreundlich und ver- seine ältere Schwester nach Kanada. Xi habe geahnt, Später warf er sie über den Haufen, sowohl in
und Glorie umweht, ist Liangjia- er bis 1975 hauste, kann man heute besichtigen. schlankte die Bürokratie. Als orthodoxer Mar- dass er im Ausland »nichts Besonderes« mehr sein seiner Außenpolitik wie auch in seiner Amtsfüh-
he recht trostlos. Runtergezogene Auf dem kohlebeheizten Bett, auf dem Xi einst xist, der er heute offiziell ist, gab er sich damals würde, erklärt der anonyme Professor seinen Weg. rung als Staatspräsident.
Ladenrollos, leerer Parkplatz. Pro- nebst fünf anderen schlief, liegen sorgsam gesta- nicht zu erkennen. Xi habe sich in Gruppen steif verhalten: »Er ließ In den Staatsmedien und in der gesamten Öf-
minentester Blickfang am Orts- pelte Baumwolldecken, die rauen Lösswände Der Sinologe Alfred L. Chan, der in Kanada sich nie in die Karten blicken.« Und: »Frauen hiel- fentlichkeit ist Xi präsent wie kein Zweiter seit Mao.
eingang ist eine mobile Polizei- sind mangels Tapeten mit Zeitungen beklebt. lebt, hat Anfang dieses Jahres eine umfangreiche ten ihn für langweilig.« Im Herzen sei Xi kein Ideo- Seit 2017 ist »Xi Jinpings Gedankengut über den
station. »Was wollen Sie hier?«, Ein paar Meter weiter, im Dorfmuseum, doku- Xi-Biografie veröffentlicht. Chan beschreibt Xi loge, sondern ein Realist, korrumpierbar nicht Sozialismus chinesischer Prägung« in der Verfassung
knurrt der Wachmann, nachdem man einen la- mentieren Schautafeln minutiös die ju gend in seinem Werdegang als ein Chamäleon: »Er durch Geld, aber durch Macht. Er sei jedoch »ex- verankert, seit 2021 wird ein gleichnamiges Fach
byrinthartigen Sicherheitsbereich passiert hat. lichen Wundertaten Xis. verhielt sich unauffällig, um für alle Seiten ak- trem getrieben« und glaube, als Prinzling und Erbe schon in der Grundschule gelehrt. Xis Parolen
Der ungebetene Besuch mit Presseausweis wird Xi senior wurde nach Maos Tod rehabilitiert zeptabel zu sein.« Xi fiel weder mit Frauenge- der ersten Revolutionsgeneration »berechtigt zu hängen an Autobahnbrücken und Hochhausfassa-
zur Aufnahme der Personalien in ein Büro zitiert, und spielte bald eine zentrale Rolle in Deng schichten noch mit Alkohol auf wie andere Jung- sein, China zu regieren«. den, sein Gesicht blickt von Wohnzimmerwänden
in dem zwei mannshohe Servertürme vor sich Xiaopings Öffnungspolitik. Als Gouverneur der kader, in Sachen Korruption blieb er skandalfrei. Als die Parteiälteren um Hu Jintao und Jiang in der Provinz und von den Altaren buddhistischer
hin brummen wie kaputte Kühlschränke. Die Provinz Guangdong schuf er in einem Fischer- Ein Geheimbericht der US-Botschaft in Peking Zemin Ende der Nullerjahre einen Kronprinzen Tempel in Tibet herab.
Technik für die 51 Überwachungskameras auf dorf namens Shen zhen die erste Sonderwirt- von 2009 an das Außenministerium in Washington suchten, galt Xi Jinping als moderat und bieder – Ein Unterschied zur Mao-Ära fällt auf: Der
dem Gelände frisst offenbar viel Strom. Personenkult um Xi wirkt im zehnten Jahr seiner
Zwischen gelben Lössfelsen, zu deren Füßen Amtszeit unterkühlt und leblos. Der »Über
Mais und Kohl wachsen, geht es einen verschlun- ragende Führer« ist omnipräsent, aber niemand
genen Weg hinauf in das Dorf Liangjiahe, wo will über ihn reden. In Liangjiahe, einem Ort, an
Staatspräsident Xi Jinping seine prägenden Jugend- dem alles dem Gedenken an den jungen Xi ge-
jahre verbrachte. Der Ort ist heute Freilichtmuseum widmet ist, haben die Menschen mit erstaun
und kommunistische Heiligenstätte zugleich. Man lichen Gedächtnisproblemen zu kämpfen. Liang
erwartet Revolutionshymnen schmetternde Mas- Yujin ist um die 70, ein für sein Alter sportlich
sen, trifft an diesem Tag aber zunächst auf eine gebauter Mann im türkisblauen Pulli. Seit Jahr-
Gruppe schwarz gekleideter Beamter mit Headsets, zehnten verkauft er Äpfel, Datteln und Zigaret-
die auf mitgebrachten Klapphockern unter einem ten an einem Dorfkiosk. Über der Kasse hängen
Weidenbaum sitzen und in andächtiger Stille einem zwei Gruppenbilder mit Xi, 1975 und 1995 in
Reiseleiter lauschen: Das Märchen spielt Anfang Liangjiahe aufgenommen. »Xi war mein Nach-
der Siebzigerjahre und handelt von einem von weit bar«, sagt der Kioskbetreiber etwas unwillig und
her angereisten Wunderknaben. »Der 15-Jährige tippt auf dem älteren Schwarz-Weiß-Bild auf
konnte 100 Kilo Weizen auf seiner rechten Schul- den jungen Kerl hinter Xi, der er einst war. Inte-
ter tragen«, spricht der Reiseleiter im salbungsvollen ressiertes Nachsetzen führt dazu, dass Liangs Ge-
Flüsterton. »Er bohrte Brunnen und baute Dämme. sichtszüge augenblicklich einfrieren. Auf die
Er verdoppelte die Ackerfläche von Liangjiahe Frage »Wie war Xi damals?« räumt er das Bild
binnen eines Jahres. Nie mehr mussten die Dorf- fort und behauptet schmallippig, er könne sich
bewohner hungern.« Ein Pfundskerl, dieser Xi »an nichts erinnern, habe alles vergessen«. Ein
Jinping! wenig fühlt man sich an Lord Voldemort erin-
Die Beamten befänden sich auf »Studien nert, den Bösewicht aus Harry Potter, den alle aus
reise«, erzählt einer aus der Gruppe. Bevor er Ehrfurcht als »Er, der nicht genannt werden darf«
weitersprechen kann, tritt ein Uniformierter aus bezeichnen.
dem Schatten und fuchtelt aufgeregt mit der Ähnliche Formen der Geschichtsdemenz of-
Hand: keine Interviews in Liangjiahe erlaubt. fenbaren andere Ex-Kameraden von Xi, denen
Viereinhalb Jahrzehnte nach dem Tod von man in Liangjiahe begegnet. Der Staat versteht
Mao Zedong hält wieder ein Alleinherrscher das Geschäft mit der Erinnerung als sein Mono-
China im Griff. Sofern nicht der Himmel über pol, lässt sich daraus schließen. Dabei setzt er
Peking einstürzt, wird Xi Jinping Mitte Oktober anscheinend auf künstliche Verknappung: Zu
auf dem 20. Parteitag seine dritte Amtszeit ab Zeiten der Kulturrevolution konnte man Mao-
sichern. Damit wird auch der Bruch mit der Ära Poster, -Anstecker, -Becher und -Statuen noch an
der politischen Öffnung endgültig besiegelt, für jeder Ecke erstehen. Von Xi-Devotionalien fehlt
den Xi seit nunmehr zehn Jahren steht. Was lässt dagegen in Liangjiahe und anderswo fast jede
sich über einen Mann schreiben, über den so gut Spur. »Gibt es nicht«, sagt der Kioskbetreiber
wie nichts Persönliches bekannt ist? Liang Yujin. »Mussten wir wegpacken«, murmelt
Wer erfahren will, wie die Bevölkerung in Chi- eine Verkäuferin mit gesenktem Kopf. Eine
na über den mächtigen KP-Führer denkt, stößt Scherenschnittkünstlerin erzählt, dass sie zu je-
schon seit einiger Zeit auf eine Mauer des Schwei- dem Geburtstag von Mao Zedong einen neuen
gens. Auf den Straßen schauen Menschen ver- Schnitt von dessen Konterfei kreiert. 120 Model-
schreckt über ihre Schulter, sobald sie den Namen le habe sie inzwischen im Angebot. Von Xi habe
Xi Jinping hören. Im Netz wachen Zensoren so sie eines, aber nur auf Vorbestellung. Warum?
eifrig über jede Nennung des Staatschefs, dass Nun, die Regeln seien nicht ganz klar, windet
viele nur noch »er« oder »derjenige« schreiben. Laut sich die Frau. Xi lebe ja noch, sie wolle auf kei-
dem Internetportal China Digital Space sind nen Fall Ärger.
35.467 Ausdrücke im Zusammenhang mit Xi ver- Je länger die Recherche andauert, desto mehr
boten. Selbst der einst geläufige, wohlwollende verfestigt sich der Eindruck, dass man nach Heh-
Spitzname »Xi Dada«, Onkel Xi, darf nicht mehr lerware sucht. Ob auf Taobao, dem chinesischen
verwendet werden. Amazon, in den Touristengassen Pekings oder im
Dabei gab sich Xi zu Beginn seiner Amtszeit Künstlerdorf Dafen in Südchina, wo Ölgemälde
Composing: Martin Burgdorff für DIE ZEIT (verwendete Fotos: imago, laif)
vor zehn Jahren alle Mühe, volksnah zu erschei- von Xi Jinping vor wenigen Jahren noch Best
nen. Er ließ sich beim Taxifahren ablichten, beim seller waren – überall heißt es: Haben wir nicht
Besuch eines Teigtaschen-Imbisses, inszenierte mehr. Nicht mehr erlaubt. Nur noch auf Lager.
sich an der Seite seiner Ehefrau, der berühmtem Kommerzielle Bustouren nach Liangjiahe, bei
Schlagersängerin Peng Liyuan, als liebevoller denen Reisegruppen Weizensäcke schleppten
Gatte. Nach Jahrzehnten der Regentschaft steifer und ein ander bei Kerzenlicht aus Karl Marx’
Technokraten kam das an. Die Welt wusste we- Kritik des Gothaer Programms vorlasen (wie das
nig über den Neuen. Chinesische Intellektuelle große Vorbild), sind seit Sommer 2018 verboten.
ebenso wie westliche Meinungsmacher hielten Xi Selbst der Suchbegriff »Liangjiahe« war 2018
im Jahr 2012 für einen potenziellen Reformer. einmal im Netz gesperrt.
Die Geschichte verlief bekanntlich anders. Was ist da los? Wo bleibt das Kultige am Per-
Wie hat es dieser Mann, den ein früherer Weg- sonenkult um Xi? Anruf bei Daniel Leese, Pro-
begleiter gegenüber US-Diplomaten als »langweilig« fessor der Sinologie an der Universität Freiburg
und »durchschnittlich intelligent« beschrieb, an die und einer der besten Kenner der kommunis
Spitze von Partei und Staat geschafft? tischen Parteigeschichte. »Am Personenkult kann
In der KP-Mythologie liegt der Schlüssel zu man erkennen, wie es um die Macht des obersten
Xi Jinpings Kaderkarriere in Liangjiahe, dem Führers bestellt ist.« Leese erzählt von Loyalitäts-
Dorf in den Lössbergen der zentralchinesischen tänzen für Mao und der Mango-Manie, die
Provinz Shaanxi. 1969 wurde Xi dorthin zur China auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution
Umerziehung durch Arbeit verbannt – als Sohn Chinas Staatschef Xi Jinping hat so viel Macht wie vor ihm nur Mao Zedong ergriff. Mao hatte 1968 eine Kiste Mangos ans
eines in Ungnade gefallenen Elitekaders. Der (in der Illustration haben wir Porträts der beiden kombiniert) Volk verschenkt, daraufhin wurde die Mango zu
Verbannungsort lag nur eine Autostunde östlich einer Art Heiligenattribut.
von Yan’an, der Wiege der chinesischen Revolu- Über wie viel Machtfülle verfügt Xi also im
tion, wo Xi senior einst als Revolutionär der ers- schaftszone des Landes. Heute ist Shenzhen mit gibt einen Einblick in das Innenleben von Xi. In als ein Kandidat, der niemandem wehtun würde. Vergleich mit Mao? »Mao konnte Menschen mit
ten Generation an der Seite Maos gedient hatte. zwölf Millionen Einwohnern ein Zentrum der dem Bericht, der von WikiLeaks veröffentlicht Sein größter Vorteil sei gewesen, dass er keiner einem Satz in den Tod schicken. Seine Macht als
Xi Zhongxun hatte es bis zum Rang eines Vize- chinesischen Hightech-Industrie. wurde, beschreibt ein namenloser Professor und Fraktion angehörte, schreibt der Xi-Biograf Al- Revolutionsführer basierte auf Loyalitäten, die
premiers gebracht, als er 1962 zum »Schwarzen Der Ruf von Xi senior als »Reformer« eilte Xi langjähriger Weggefährte Xis den späteren Staats- fred L. Chan. Xi profitierte außerdem von dem durch Kriege und harsche Kampagnen geformt
Element« abgestempelt wurde, mit Konsequen- junior voraus, als der 2012 die Macht übernahm. chef als jemanden, der von Anfang an einem ge- Umstand, dass er in seinen 17 Jahren in Fujian wurden«, sagt Leese. So gesehen habe Xi weniger
zen für die ganze Familie. Xi Jinpings eigene Bilanz als Politiker war zu dem nauen Karriereplan folgte. Andere hätten nach den loyale Unterstützer in der Armee gewonnen hat- Macht. Der kontrollierte Kult demonstriere aber
Mao beschuldigte Xis Vater, eine Verschwörung Zeitpunkt unscheinbar: Nach einem Studium in Schrecken der Kulturrevolution Zerstreuung und te. Aufgrund der geografischen Nähe zu Taiwan dafür eine andere Stärke Xis. Auf dem Höhe-
zu betreiben, nur knapp entkam er der Todesstrafe. Chemieingenieurwesen an der Pekinger Tsing- Spaß gesucht: »Xi aber entschied sich zu überleben, sind in Fujian wichtige Elite-Einheiten des Mili- punkt von Maos Macht habe ein jeder Mao-
Xi Jinping und seine Geschwister wurden jahrelang hua-Universität, in dem hauptsächlich Marxis- indem er röter als rot wurde.« Das System, unter tärs stationiert. Seine Frau Peng Liyuan wurde als Anhänger Anstecker getragen und Mango-
in der Schule gemobbt. Eine ältere Halbschwester mus auf dem Lehrplan stand, erhielt Xi dank der dem er gelitten hatte, wollte er offenbar nicht be- Sängerin der Volksbefreiungsarmee berühmt. Attrappen angebetet. Dass diese Art des Kult
Xis beging Suizid, als der Terror gegen vermeintliche Hilfe seiner Mutter seine erste Stelle. Als Sekretär kämpfen – Xi ging daran, es nach dessen eigenen Das früh aufgehäufte politische Kapital macht exzesses unter Xi nicht existiert, dass auf seinen
Abweichler während der Kulturrevolution seinen des Verteidigungsministers knüpfte er früh Kon- Regeln zu bezwingen. sich noch heute für ihn bezahlt. Befehl hin gar sämtliche Fanartikel von der Bild-
Höhepunkt erreichte. takte zum Militär. Von Mitte der Achtzigerjahre Es hätte Alternativen für ihn gegeben: Möglich- »Verstecke deine Stärken, und warte, bis dei- fläche verschwinden, »spricht für ein hohes Maß
In Liangjiahe verwandelte sich Xi der Sage an kletterte Xi in den boomenden Provinzen der keiten, ins Ausland zu gehen, schlug er aus. Seine ne Zeit gekommen ist« lautet die berühmte Ma- an zentraler Steuerung«, sagt Leese. »Xi hält den
nach vom privilegierten Prinzling (wie die Söhne Ostküste die Karriereleiter empor. In Fujian und erste Frau zog Anfang der Achtzigerjahre nach Eng- xime von Deng Xiaoping. Xi befolgte Dengs Apparat offensichtlich fest in der Hand.«
Sabine Fischer, Stiftung Wissenschaft für Politik, Claudia Major leitet die Forschungsgruppe Jana Puglierin, Chefin des Berliner
ist Russlandexpertin und hat jahrelang in Moskau gelebt Sicherheitspolitik bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik Büros des European Council on Foreign Relations
Wenn Frauen
den Krieg erklären
In der Debatte über Putins Angriffskrieg sind wichtige Stimmen weiblich. Die Expertinnen müssen mit viel Hass umgehen VON JÖRG LAU
A
uch dies ist eine Art Zeiten Strategie am Schwadronieren hindern will. Wenn Daraufhin postete der Nutzer »Klaus Kinski«: tasien. Die Absender changieren oft zwischen pa Christian Drosten und Melanie Brinkmann, die auch
wende: Nie zuvor waren in der Fischer Putins neueste Drohungen ausführlich auf »Die Gift versprühenden Trockenpflaumen werden ternalistischer Schmeichelei, Typberatung und viel Hass abbekommen hätten.
deutschen Debatte über Krieg Twitter deutet, macht ihre Expertise in sämtlichen sich noch wundern, wie sehr der Hass der eigenen Anmache: »Sie sollten öfter hohe Schuhe tragen.« Das hat sie bestärkt, weiterzumachen, auch wenn
und Frieden so viele Frauen Auslandsredaktionen, aber auch in Regierungskreisen Bevölkerung auf sie zurückschlägt! Auf sie und ihre – »Rot steht Ihnen.« – »Sie haben Zahnstein.« – sie davon überzeugt ist, dass es viele andere gibt, die
sichtbar. Haben früher Ex- die Runde. Familien. Haben Sie als Mutter gar keine Angst?« Von »Sie sprechen zu schnell.« – »Sie sind so klein und das an ihrer Stelle könnten. »Es geht ja nicht um mich
Diplomaten und Generale mit Die drei stehen für zahlreiche andere, wie etwa dieJana Puglierin auf Twitter zur Rede gestellt, legte weiblich und sagen doch so harte Sachen.« – »Ich als Person, sondern um die Inhalte«, sagt Major. Aller
sonorer Stimme Raketen ge Russlandkennerinnen Liana Fix und Margarete Klein, »Klaus Kinski« nach: »Die gleiche Frage an Sie: Ha bin 36, komme aus Lübeck und möchte Sie auf dings gibt es eine verbreitete Aggression gegen das
zählt und Panzertypen durchdekliniert, erklären die Verteidigungsexpertinnen Constanze Stelzenmül ben Sie keine Angst um sich, bei derartiger Kriegs einen Kaffee einladen. Siehe mein Foto im Expertentum jeder Couleur, ein weltweites Phäno
nun Expertinnen die Sicherheitspolitik. Sie prägen ler, Florence Gaub und Ulrike Franke. Oder die trommelei. Es gibt da draußen auch Verrückte...« Anhang.« men, oft gezielt von Rechtsextremen geschürt.
die Talkshows, Podcasts, Nachrichtensendungen. Ukraine-Expertin Franziska Davies, die mit den ver Der Hass trifft nicht nur Frauen. Auch Männer Dass sich jedoch Frauen mit Krieg, Waffen und
So erfreulich die Diversifizierung ist – für die breiteten Mythen über das Land aufräumt. Alle wie Carlo Masala, Christian Mölling, Gustav Am meisten hilft Solidarität, Gewalt beschäftigen und damit hergebrachte Ge
Expertinnen hat der Schritt in die Öffentlichkeit diese Frauen waren der Fachwelt bekannt. Ihre Wir Gressel oder Janis Kluge sind Experten, die vor besonders wenn sie von Männern kommt schlechterklischees infrage stellen, das ist offenbar
einen hohen Preis. Es gefällt nicht jedem, wenn kung blieb aber weitgehend auf Fachpublikationen, wenigen Monaten allenfalls der Fachwelt bekannt ein ganz besonderer Trigger. Zumal wenn sie auf
Frauen den Krieg erklären. Kongresse und Hintergrundgespräche beschränkt. waren. Nun erleben sie verbale Übergriffe, wenn Auch solche scheinbar harmloseren Bemerkungen grund ihrer Expertise zu dem Urteil kommen, dass
Claudia Major von der Berliner Denkfabrik Stif Das hat sich mit dem 24. Februar geändert. sie wieder mal der allgemeinen Überforderung im sind implizite Angriffe auf die Kompetenz der Deutschland wehrhafter werden muss; dass Waf
tung Wissenschaft und Politik (SWP) hat Dutzende Angesicht des russischen Angriffskrieges mit ihrer Frauen. Wie gehen sie damit um? »Man nimmt fenlieferungen an die Ukraine erst die Vorausset
Fernsehauftritte hinter sich, vom Morgenmagazin bis Das Scheitern der deutschen Außenpolitik Expertise zum Kreml, zu Energieabhängigkeit und sich vor, das alles zu ignorieren, aber es geht einem zungen für Friedensverhandlungen schaffen; dass
zu den Tagesthemen. Sie vermag einem Millionen eröffnet neuen Stimmen eine Chance Sicherheitspolitik beizukommen versuchen. Masa doch unter die Haut«, sagt Jana Puglierin. »Man Putins nukleare Erpressung sich nicht durchsetzen
publikum die Logik der nuklearen Abschreckung la, Professor an der Universität der Bundeswehr muss sich sagen, ich lasse das nicht an mich heran, darf. Männliche Experten, die solche Positionen
verständlich zu machen, ukrainische Offensiven ein Ihre Reichweite haben die Expertinnen ironischer und nun omnipräsenter Erklärer, erzählt, er be ich mache trotzdem weiter.« – »Anfangs«, so Clau vertreten, werden politisch angegriffen. Bei Frauen
zuordnen oder das Kampfpanzer-Dilemma der weise dem bekennenden Macho Wladimir Putin zu komme »regelmäßig mehr oder weniger verklausu dia Major, »habe ich fast alles gelöscht. Dann habe lautet die Diagnose, sie seien »kriegsgeil«.
Bundesregierung zu durchleuchten. Vorletzte Woche verdanken. Dessen Angriffskrieg hat auch die sicher lierte Morddrohungen«. Es gebe aber, so Masala, ich mich mit Kolleginnen besprochen, und als wir Vielleicht ist der Backlash – der Hass, den die
zerlegte sie bei hart aber fair freundlich und sachlich heitspolitische Expertise in Deutschland in ein »definitiv einen Unterschied zwischen mir und feststellten, dass wir alle betroffen sind, beschloss Expertinnen abbekommen – in Wahrheit ein Zei
die Argumente von Kevin Kühnert gegen deutsche Trümmerfeld verwandelt. Wie konnte die Bundes den Frauen. Uns allen wird die Kompetenz abge ich, die Zuschriften aufzuheben.« chen des gesellschaftlichen Wandels, ein Preis für
Panzerlieferungen, sodass der SPD-Generalsekretär republik sehenden Auges in diese Hilflosigkeit ab sprochen, wir werden beleidigt, aber ich kriege den Das Vertrackte an sexualisierter sprachlicher den Fortschritt in der Debatte. (Was nicht recht
sich am Ende etwas pampig darauf zurückzog, er sei rutschen – militärisch blank, energiepolitisch ab ganzen sexistischen Scheißdreck nicht ab.« Gewalt: Wer die Verletzung öffentlich macht, steht fertigt, dass nur sie ihn bezahlen.)
nun mal kein Experte. hängig, diplomatisch zaghaft? Der Vertrauensverlust Sexualisierte sprachliche Gewalt gehört für als Opfer da. Keine der hier zitierten Frauen will so Claudia Major jedenfalls hat vergangene Wo
Auch Jana Puglierin, Leiterin des Berliner Büros der etablierten Berater, die das Debakel nicht haben Frauen, die sich öffentlich über Krieg und Militär gesehen werden. Keine will potenzielle Nachahmer che eine versöhnliche Erfahrung mit ihrer expo
der Denkfabrik European Council on Foreign Re kommen sehen, reicht tief. Und umgekehrt eröffnet äußern, zum Alltag. Nicole Deitelhoff, Leiterin der zu solchen Attacken ermutigen. Und leistet man nierten Rolle gemacht. Ein denunziatorischer
lations, ist regelmäßig im Fernsehen zu sehen, die Verunsicherung über das Scheitern der deut Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktfor der Sexualisierung des Diskurses, aus der man ei Kommentar in der altlinken Zeitung Neues
wenn es um Krieg und Militär geht. Vor drei Wo schen Russland-, Energie- und Verteidigungspolitik schung, wurde von einem Zuschauer als »Prostitu gentlich herauswill, nicht gerade Vorschub, wenn Deutschland rückte sie unter dem Titel »Heimat
chen erlebte sie einen unerwarteten Moment des nun neuen Stimmen die Chance, Korrekturen ierte der Transatlantischen Eliten« tituliert. Sie hatte man sie thematisiert? frontimperialismus« in die Nähe von deutschna
Ruhms, als Olaf Scholz sie vor Offizieren der Bun vorzunehmen. Aber Frauen, die sichtbar sind und in einem Interview die Idee des sächsischen Minister Schweigen ist allerdings auch keine Lösung, tionalen und faschistischen Positionen. Nachdem
deswehr in seiner Rede über die Zeitenwende zi Expertinnen – das scheint für manche eine unge präsidenten Kretschmer kritisiert, man könne den dann bleibt man mit seiner Wut allein. sie den Angriff auf Twitter selbst verlinkt hatte,
tierte: »Status quo plus Sondervermögen, das reicht heure Provokation zu sein. »Nach jedem Medien Krieg in der Ukraine »einfrieren«. Es helfe sehr, so Claudia Major, sich über beson übernahmen zahlreiche Follower die Verteidi
nicht.« Vom Bundeskanzler vor der versammelten auftritt«, erzählt Sabine Fischer, »kommt ein Schwall Jana Puglierin sah sich nach einer Lanz-Sen ders schlimme oder dämliche Reaktionen auszutau gung. Am Ende des Tages war die Gemeinde ihrer
Fotos (v. l.): Jürgen Heinrich/imago; teutopress/imago (2)
Generalität erwähnt zu werden – und dies mit von Nachrichten, darunter manche voller Hass.« dung per Mail als »eine der ungezählten, system schen, manches auch auf Twitter öffentlich zu ma Follower um Tausende gewachsen.
einem regierungskritischen Zitat –, empfindet Letztens hat sie nach einer Sendung eine solche Nach hörigen Stakkato-Schwätzerinnen« beschimpft. chen. Aus den Perlen des Hasses sollte man vielleicht Gegenhalten kann sich also auch lohnen. Sabi
Puglierin erfreut als »Wahnsinn«. Zusammen mit richt öffentlich gemacht, nicht ohne sich über die Der Zuschauer erging sich sodann in Fantasien eine kathartische Lesung komponieren, meint Major ne Fischer hat bisher vermieden, sich mit den Ab
zwei (männlichen) Kollegen hat sie jüngst einen »kreative Rechtschreibung« zu mokieren: »Dumme über die Fortpflanzung dieser sich »verkarnickelnd nur halb im Scherz – eine außenpolitische Version sendern der Hassbotschaften auseinanderzusetzen.
Plan vorgelegt, wie Deutschland mit europäischen Wessivotze absoluter Fehltritt bei Hart aber Fair.« vervielfältigenden« »Kriegsstreberinnen« und des Formats »Hate Poetry«. Sie wollte darauf, sagt sie, keine Energie ver
Alliierten Leopard-Panzer an die Ukraine liefern Sarkasmus ist ein probates Mittel, auf Distanz »Flintenweiber«. Zuschriften wie diese sind oft mit Am wichtigsten sei Solidarität, so Major, ganz be schwenden, es gebe derzeit wichtigere Kämpfe.
könnte, ohne den von Scholz gefürchteten »Allein zu gehen. Aber es funktioniert nicht immer. Klarnamen unterzeichnet. sonders von Männern. »Carlo Masala hat sexistische Nun hat sie sich jedoch entschieden, erstmals
gang«. Nicht ausgeschlossen, dass Puglierins Kon Kürzlich war Fischer zu Gast im Podcast Das Man findet in den Mails sowie in den Twitter- Attacken gegen mich und Kolleginnen mehrfach eine Hassmail rechtlich prüfen zu lassen, um sie
zept eines Tages Regierungspolitik wird. Politikteil der ZEIT. Es ging um die russische oder YouTube-Kommentaren ein breites Spek öffentlich angeprangert. Das war enorm wichtig.« zur Anzeige zu bringen. Der Absender hat den
Sabine Fischer, Russlandexpertin der SWP, wird Mobilmachung, die Erfolge der Ukrainer und die trum sexualisierter Angriffe. Es reicht von Einlas Als sie wieder mal überlegte, sich »das nicht mehr Fehler gemacht, seine geschäftliche Mailadresse zu
von Markus Lanz immer dann eingeladen, wenn er Frage, wie gefährlich der gedemütigte Putin noch sungen über angeblich »verbissenes« Aussehen, das anzutun« und einen Auftritt abzusagen, habe ein verwenden.
Politiker wie Ralf Stegner, Sigmar Gabriel oder Mar werden könne. Der Podcast wurde von Claudia »auf eine unglückliche Ehe verweist« über Beleidi Redakteur argumentiert, es sei jetzt ihre Pflicht,
kus Söder mit Tatsachenwissen über die russische Major auf Twitter empfohlen. gungen bis hin zu expliziten Vergewaltigungsfan weiter die Lage zu erklären, so wie die Virologen www.zeit.de/vorgelesen
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nungssoftware im Handy könnte Rückschlüsse auf Krankheitssymptome geben.
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IN DER MEDIZIN
Vorgaben braucht es, wer ist »Herr meiner Daten«? Und laufen wir Gefahr, dass
uns Technologieunternehmen künftig zu ihren Konditionen Daten bereitstellen?
Diese und weitere Fragen diskutieren unsere Expert:innen beim ZEIT FORUM
Gesundheit.
17. OKTOBER 2022 · 19.00 UHR · BERLIN & LIVESTREAM Eine Veranstaltungsreihe von: In Zusammenarbeit mit:
W I E V E RW U N DBA R
SIND W IR?
Die Anschläge auf die Ostsee-Pipelines haben gezeigt, wie leicht sich kritische
Infrastruktur angreifen lässt. Nun fragen sich Staaten und Unternehmen, ob sie ihre
Stromtrassen, Datenleitungen und Gasspeicher überhaupt schützen können
Z
umindest das Wasser der kehrungen wurden bereits verstärkt«, sagt
Ostsee hat sich Anfang der NORWEGEN Sebastian Bleschke, Geschäftsführer des
Woche beruhigt. An drei Verbandes der Speicherbetreiber Ines.
von vier Stellen, meldeten »Aber die Betreiber können natürlich
Eu r o p
fenbar vollständig ausge- fügt nur der Staat über die notwendigen
treten: Die Bläschen, die zuvor großflächig SCHWEDEN Mittel dazu.«
an die Oberfläche des Meeres gesprudelt Schließlich bleibt die Angst vor mög
waren, seien verschwunden. Tagelang hatte lichen Cyberangriffen. Beispiele gibt es
die Ostsee geschäumt, dort, wo seit dem genügend: die mutmaßlich russische Späh
26. September die Gas pipelines Nord atta
cke 2015 auf den Bundestag, den
Stream 1 und 2 leckten. Nun ist das Gas in Angriff von Lösegeld-Erpressern auf die
den Röhren offenbar weitgehend entwi- Colonial Pipeline in den USA im Frühjahr
chen, nur an einer Stelle sprudelte es am vergangenen Jahres, der zu einem mehr
Dienstag noch. In Behörden und Unter- DÄNEMARK tägigen Ausfall führte, oder die prorussi-
nehmen dürfte sich der Druck allerdings am schen Cyberangriffe zu Beginn des Ukrai-
nicht so schnell stabilisieren wie in den r d St re ne-Krieges, die nebenbei auch die Fern-
No 2
Pipelines. Die schäumende Ostsee hat den
S t r e am steuerung Tausender deutscher Windkraft-
Europäern vor Augen geführt, wie ver- rd anlagen lahmlegten.
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wundbar ihre Infrastruktur ist. Und nicht
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Os t s ee
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all die anderen Röhren und Kabel, die Bür- B a lt ic P ip e durch russische Hacker
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Vier Tage nach den Explosionen in der klageschrift der USA ge-
Ostsee treffen sich in Helsinki Außenpoliti- gen drei mutmaßliche
ker, Militärs und Geheimdienstler aus der Nord s e e russische Agenten nachlesen. Sie gehören
Region zu einer schon länger geplanten nach Ansicht der Ankläger einer diskreten
Sicherheitskonferenz. Es gibt nur ein Einheit namens »Center 16« im russischen
beherrschendes Thema: die Lecks – und Geheimdienst FSB an. IT-Experten kennen
wer sie zu verantworten hat. Niemand sie besser unter dem Namen »Bezerk Bear«.
zweifelt an der russischen Urheberschaft. Die Gruppe habe zwischen 2012 und 2017
Beweise gibt es zwar nach wie vor daran gearbeitet, »dauerhaften Zugang zu
nicht, die Ermittlungen laufen. In den POLEN den Netzwerken der kritischen Infrastruk-
kommenden Tagen werden deutsche tur und zu Energie-Unternehmen weltweit
Behörden voraussichtlich einem Team der zu erlangen«. Unter anderem auch in
Dänen und Schweden beitreten, die Deutschland, wo eine Tochtergesellschaft
bereits mit der Untersuchung der Explo- NIEDER von EnBW Ziel der Angriffe gewesen sein
sionen begonnen haben. Die Indizien aber LANDE soll, wie der Bayerische Rundfunk und der
werden einmütig gedeutet. Im Vorfeld der DEUTSCHLAND WDR zuerst berichteten. Weltweit sollen
Explosionen habe es Schiffsbewegungen Hunderte Unternehmen in 135 Ländern zu
auf der Ostsee gegeben, die auf Russland den Opfern der Agenten gehören.
als Täter hinweisen. Zum Zeitpunkt der Dass derartige Bedrohungen für Unter-
Explosionen soll ein russisches Schiff un- nehmen der kritischen Infrastruktur Alltag
terwegs gewesen sein, das in der Lage sind, zeigt eine Ende August vorgestellte
wäre, unter Wasser eine solche Aktion Studie des Branchenverbands der deutschen
durchzuführen. Denkbar sei aber auch, Informations- und Telekommunikations-
heißt es, dass die Sprengsätze schon Tage, branche. Auf die Frage, wie sich in den ver-
wenn nicht Wochen zuvor platziert wor- gangenen zwölf Monaten die Anzahl der
den seien. Auch deutsche Sicherheitsbe- Cyberattacken auf ihr Unternehmen ent-
hörden gehen davon aus, dass Russland wickelt habe, antworteten 49 Prozent der
für die Sabotage verantwortlich ist. Befragten, solche Angriffe hätten »stark zu-
Motive gäbe es reichlich. Die Ostsee ist, genommen.« Weitere 38 Prozent gaben an,
seit Schweden und Finnland die Aufnahme die Attacken hätten »zugenommen«.
in die Nato beantragt haben, zum »Nato lake«, Sosehr sich die Experten einig sind, dass
zum »Nato-See«, geworden, freute sich im die kritische Infrastruktur in einer vernetz-
Mai der frühere finnische Geheimdienstchef ten Welt nicht vollständig geschützt wer-
Pekka Toveri. Russland behalte zwar seine den kann, so sehr sind Unternehmen, Be-
Zugänge zur Ostsee um St. Petersburg und hörden und Regierungen aufgeschreckt.
Kaliningrad, sei aber in Zukunft im Ostsee- Seit dem Anschlag auf die Nord-Stream-
raum »zu 90 Prozent von der Nato umgeben«.
»Nato lake«, dieser Begriff suggeriert auch, Wichtige Verbindungen Pipe line wurden die Sicherheitsmaßnah-
men an neuralgischen Punkten von Strom-
Russland könnte im Konfliktfall daran und Gasnetzen überprüft, es wurde Wach-
gehindert werden, in der Ostsee zu manövrie- Erdgaspipelines Stromkabel Datenkabel Gasleck personal aufgestockt, und die Streifenfahr-
ren, oder seinen Zugang zum EU-Binnen- ten der Polizei wurden erhöht. Innen
meer gleich ganz verlieren. Die Attacken auf Quellen: The European Natural Gas Network 2021, ENTSO-E, Submarine Cable Map (artifizielle Darstellung der Karte) ministerin Nancy Faeser kündigte zudem
die Pipelines – unmittelbar außerhalb der ZEIT-GRAFIK: Jelka Lerche gemeinsame See-Kontrollen mit Polen,
Hoheitszonen des Nato-Mitglieds Dänemark Dänemark und Schweden an.
und des Nato-Kandidaten Schweden – Hanno Pevkur, der estnische Verteidi-
könnteman auch als Warnung deuten, dass die merksamkeit der EU von der Ukraine abwendet. einander, zudem Windparks auf See mit dem Das deutsche Eisenbahn-Schienennetz ist gungsminister, sieht weitere Möglichkeiten,
russische Marine dies kaum widerstandslos hin- Russland will zeigen, dass es auch anders angreifen Festland. Dazu kommen Dutzende Glasfaser- 33.300 Kilometer lang, täglich fahren rund den Schutz zu verbessern. Im Interview mit
nehmen würde. Die Zerstörung der Rohre ist Teil kann, als wir gedacht haben, eben nicht nur mit kabel für die Internet- und Telefonverbindun- 40.000 Züge darüber. Es »dauerhaft flächen der ZEIT schlägt er vor: »Die Nato betreibt
eines hybriden Krieges um Einflusszonen. militärischen Mitteln. Wir müssen natürlich die gen. All diese Leitungen haben eines gemein- deckend zu schützen ist nicht möglich«, sagt seit Jahren air policing, also Luftraumüber
Aber auch profanere Motive werden genannt, Ermittlungen abwarten, wir haben noch keine sam: Ihren Verlauf kann jeder auf Karten im eine Sprecherin der Bahn. wachung, über der Ostsee. Wir sollten jetzt
um die These von der Urheberschaft Russlands Beweise. Aber der einzige Staat, der ein Interesse an Internet nachvollziehen. Dasselbe gilt für das deutsche Stromnetz. auch über sub policing nachdenken, also Unter
S
zu untermauern: Russland könnte durch die dieser Sabotage hat, ist Russland.« Allein das Übertragungsnetz ist gut 35.000 wasserüberwachung.«
Sabotage der eigenen Pipelines versuchen, Ver- In diesem Fall blieb der Angriff ohne Kon- olche linearen Infrastrukturen, die Kilometer lang, dazu kommt das Verteilnetz von Pevkur mahnt außerdem zu einem besseren
tragsstrafen zu umgehen, weil es kein Gas mehr sequenzen, weil durch die Röhren seit Wochen sich über Hunderte Kilometer erstre- weit mehr als einer Million Kilometern. Schon Informationsaustausch unter den Nato-Ländern
liefert. Auf der Sicherheitskonferenz in Helsinki kein Gas mehr geliefert wurde. Deutlich kriti- cken, seien »unmöglich vollständig heute wird es oft eng im Netz, weil der Ausbau – und mit den Beitrittskandidaten Finnland
bestimmen allerdings vor allem zwei andere scher wäre ein Angriff auf Leitungen, die im zu schützen«, sagt der Schweizer der wichtigen Nord-Süd-Verbindungen viele und Schweden. »Wir wissen relativ genau, was
Thesen die Debatte. Die finnische Premier Dienst sind und gerade stärker gebraucht wer- Energie- und Risikoforscher Peter Jahre lang verschlafen wurde. sich im Luftraum abspielt«, sagt er. Auch an
ministerin Sanna Marin und Jesper Møller den denn je – und von denen gibt es viele. Burgherr vom Paul Scherrer Institut. Das gelte Beim Stromnetz ist Deutschland daher Land sei die Aufklärung gut. »Was die Meere
Sørensen, Staatssekretär im dänischen Außen- Zum Beispiel die Baltic Pipe. Sie wurde am Tag nicht nur für die Leitungen am Meeresboden, besonders verwundbar: Wenn ein Angreifer zur angeht, wissen wir nur, was sich an der Ober-
ministerium, sind sich einig: Russland wollte nach dem Angriff auf die Nord-Stream-Leitungen sondern auch für die Pipelines und Stromtrassen richtigen Zeit an den richtigen Orten einige fläche tut. Darunter wird’s schwierig. Finnland
mit dem Angriff von den Scheinreferenden in eröffnet und verläuft teilweise ganz in der Nähe. an Land, die ein noch viel dichteres Netz bilden. Strommasten umlegte oder wichtige Anlagen und Schweden haben recht gute Detektions
vier ukrainischen Regionen ablenken, die west- Auf 900 Kilometer Länge transportiert sie norwe- »Da alle 100 Meter jemanden hinzustellen funk- demolierte, könnte er damit einen größeren systeme. Deswegen suchen wir jetzt eine Koope-
liche Empörung über den Völkerrechtsbruch gisches Erdgas nach Polen, in ein Land, dem die tioniert nicht«, sagt Burgherr. Kolumbien habe Stromausfall verursachen. In der Folge könnten ration mit diesen beiden Ländern«, so Pevkur.
durch eine Eskalation an anderer Stelle kontern. Russen im April als erstem in Europa die Gasliefe- das vor einigen Jahren versucht, als Rebellen dann vielerorts weitere wichtige Funktionen Auch von Deutschland erwarte er eine bessere
Zudem läuft es nicht gut für die russische A
rmee rungen gekappt haben. dort ständig die Ölpipelines attackierten. Mit kollabieren, beispielsweise die Wasserversor- Zusammenarbeit. »Alles, was Deutschland dazu
im Krieg gegen die Ukraine. Die Mobilmachung Auch Deutschland wird weiterhin über Pipe der massiven Militärpräsenz sei zwar die Zahl gung und die Telekommunikation. »Man muss beitragen kann, dass wir ein besseres Bild davon
ist chaotisch und unprofessionell organisiert, in lines versorgt. Zwei der wichtigsten liegen auf dem der Angriffe zurückgegangen – aber es habe aber genau wissen, wo die neuralgischen Punkte bekommen, was unter Wasser passiert, ist will-
russischen Medien ist so viel Kritik zu hören wie Grund der Nordsee, sie heißen Europipe 1 und 2. trotzdem weiterhin erfolgreiche Anschläge auf im System sind, um großen Schaden anzurich- kommen«, so der estnische Verteidigungsminis-
seit Beginn des Krieges nicht. Auch die Annexion Durch sie strömt norwegisches Erdgas nach Dor- die Pipelines gegeben. ten«, sagt der Risikoforscher Burgherr. ter. »Das Bewusstsein, dass wir dort bessere Auf-
der besetzten Gebiete in der Ukraine hakt: Als der num und Emden in Niedersachsen. Inzwischen Wie schwer ein Schutz solcher Anlagen in Einfacher zu bewachen als großflächige Netze klärung brauchen, ist ja jetzt immerhin da.«
Kremlsprecher kürzlich gefragt wurde, wo denn die kommt etwa ein Drittel des deutschen Gases aus Deutschland wäre, zeigen drei Beispiele. Das sind einzelne Anlagen – also etwa Transformator- Sollte es Russlands Absicht gewesen sein, im
genauen Grenzen der annektierten Gebiete ver- Norwegen, eine Unterbrechung der Pipelines Erdgas-Fernleitungsnetz ist allein auf deut- stationen, Kraftwerke, Raffinerien, Internetknoten, »Nato lake« Ostsee seine Macht zu demonstrie-
laufen, wusste er die Frage nicht zu beantworten. hätte massive Folgen. Die Norweger haben sofort schem Boden gut 40.000 Kilometer lang. Die Rechenzentren oder auch die rund 55 Verdichter- ren, könnte das erneut exakt das Gegenteil
Und an der Front erobert die Ukraine weiterhin nach dem Anschlag ihre Militärpräsenz auf See Stahlröhren mit ihren rund einen Zentimeter stationen, die an den deutschen Pipelines das Gas bewirken: eine Aufrüstung westlicher Seestreit-
Gebiete zurück: Im Osten fiel die wichtige Stadt und in der Luft erhöht. Auch weil die Nordsee der dicken Wänden liegen überwiegend in 1,5 Me- komprimieren, damit es wieder mit mehr Schwung kräfte in jener Region und eine noch engere
Liman. Und auch im Süden, im Gebiet Cherson, zentrale Knotenpunkt ist, von dem aus das nor- ter Tiefe vergraben. Und sie stehen unter durch die Rohre fließt. Solche Orte lassen sich mit Kooperation in der Nato.
konnte die ukrainische Armee weitere Ortschaften wegische Gas in die verschiedenen europäischen großem Druck. Ein Angreifer bräuchte neben Zäunen, Mauern und Kameras zumindest gegen
befreien. Der estnische Verteidigungsminister Länder verteilt wird. einem Bagger gute Nerven und eine gewisse leichte Angriffe schützen. JOCHEN BIT TNER , ALICE BOTA ,
Hanno Pevkur sagt im Gespräch mit der ZEIT: In der Nord- und Ostsee liegen auch Dut- Portion Todes verachtung – unmöglich aber Das gilt auch für die deutschen Gasspeicher JÖRG L AU, INGO MALCHER , PAUL MIDDELHOFF
»Der Wunsch Russlands ist es, dass sich die Auf- zende Stromkabel. Sie verbinden Staaten mit wäre ein Anschlag nicht. und ihre Steuerzentralen. »Die Sicherheitsvor- UND MARC WIDMANN
8 POLITIK 6. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 41
W
Hildesheim/Nordenham zur »Straßenausbaubeitragssatzung« drei Minuten nicht in den Streckbetrieb müsse, anders als die
arum hat der Mann so lang kompetent referieren kann, muss sein Land beiden noch laufenden bayerischen Meiler.
gute Laune? Es ist wirklich mögen. Weil kann das. Seine Vorliebe fürs Bei einer früheren Begegnung hatte Weil einmal
schwer zu erkennen, Detail passt außerdem ganz gut zu einem Publi- erzählt, dass Fracking ein absoluter Wahlkampf-
ob Stephan Weil ange- kum, das den Ausführungen interessiert lauscht, kracher sei. Wenn nichts gehe – Fracking gehe
sichts der jüngsten, für sturmfest und erdverwachsen. Aber nicht alle immer. Da ihn in Hildesheim niemand danach
ihn positiven Umfrage wollen heute einfach nur zuhören. fragt, was er von der Forderung des bayerischen
einfach gut drauf ist Auf dem Marktplatz haben sich mittlerweile Ministerpräsidenten halte, Niedersachsen solle
oder ob er bewusst daran arbeitet, den Stadt- zwei Protestgruppen eingefunden. Die eine hält seine vorhandenen Gasreserven durch Fracking
kämmerer von Hannover endgültig hinter sich ein Banner hoch: »Die Klimakrise ist keine Mei- erschließen, fragt Weil sich das heute Abend ein-
zu lassen. Dieses Amt bekleidete er einst, knappe nung. Wir hören auf die Wissenschaft: Maxi- fach selbst. Nach einer Abhandlung über Umwelt-
zehn Jahre lang – und das prägt sein Image als mal«. Unter dem Banner hat sich ein gutes Dut- schäden und den Widerspruch von langwierigen
gewissenhafter, stets korrekter, aber doch etwas zend Aktivisten versammelt. Sie gehören zu Ex- Erschließungsprozessen und kurzfristiger Not-
langweiliger Ministerpräsident von Niedersach- tinction Rebellion, einer Umweltschutzorganisa- wendigkeit beantwortet er Söders – und in diesem
sen bis heute. Jedenfalls steht der 64-Jährige am tion, die im Ruf steht, besonders radikal zu sein. Fall auch seine eigene – Frage mit einem donnern-
frühen Freitagabend vergangener Woche vor der In Hildesheim protestieren sie gegen die Rodung den Nein. Und bekommt ebensolchen Beifall. Als
Fachwerkkulisse des Hildesheimer Marktplatzes in der Leinemasch, die etwas mit dem Ausbau er anschließend auch noch ein Bild von Nieder-
und macht einen auf locker. des Südschnellweges zu tun hat. Als Weil die sachsen entwirft, das sich mit seinen LNG-Termi-
»Auf ein Wort mit Stephan Weil« nennt sich Gruppe bemerkt, geht er auf ihr Anliegen ein, nals, an denen nach dem Gas irgendwann grüner
die Wahlkampftour, ein Dialogformat, das den erzählt etwas von Bundesstraßen und notwendi- Wasserstoff anlanden soll, und mit seinen Trassen
Ministerpräsidenten von der üblichen Markt- gem Standstreifen, erklärt sich zu einem Treffen sowie Windrädern zur »Energiedrehscheibe
platzbühne herunterholt und unter die Leute bereit. Jemand aus seinem Tross reicht den Ak- Deutschlands« entwickeln werde, wird klar, dass
zwingt. Zur Volksnähe gehören heute Abend tivisten eine Visitenkarte. Die Frontkämpfer ge- im Thema Energiekrise nicht nur eine Chance
natürlich auch Bier und Würste, denn das Herz gen das Aussterben bedanken sich brav. steckt. Sondern auch Wahlgewinnerpotenzial.
der Sozialdemokratie schlug schon immer in der Bei der zweiten Gruppe ist nicht gleich erkenn- Je länger die Veranstaltung dauert, je länger aus
Bratwurstbude. In den Grillduft hinein scherzt bar, wer sie sind. Mehr als »Wir sind die rote Linie« »Auf ein Wort mit Stephan Weil« viele Sätze von
Weil über das 35 Kilometer entfernte Hannover und »Weil muss weg« haben sie auf ihren Fahnen Stephan Weil werden, desto mehr wundert man
als »die Stadt im Schatten von Hildesheim«, und Plakaten nicht zu sagen. Auf die Nachfrage, sich, dass ein bestimmtes Thema gar nicht zur
stellt fest, dass er noch nie in so »viele besorgte wer sie seien, entgegnet einer: »Wer bist du denn?« Sprache kommt. Eines, das in diesen Zeiten ver-
Gesichter« geblickt habe wie in diesen Tagen, Als das geklärt ist, sagt derjenige, der die linke meintlich alle umtreibt. Aber vielleicht geht es ja
und preist den starken Staat, der »in schwieriger Fahnenstange vom »Rote Linie«-Banner trägt: »Wir morgen darum.
Zeit an der Seite seiner Bürger steht«. Bei seinen sind gegen Corona.« Das ist der Reporter auch, aber
Worten geht Weil auffallend oft in die Knie, fe- was soll das heißen? »Wir sind gegen die Maß- Niemand fragt nach Putins Drohungen,
dert nach und wippt dabei zugleich mit seinem nahmen.« Ach so, Querdenker. Hier auf dem niemand nach der Rolle Deutschlands
Oberkörper, sodass es aussieht, als versuche sich Marktplatz stehen sie heute zu acht.
der Landesvater in der Kunst des Ganzkörper- Radikale Umweltaktivisten, die sich beim Am nächsten Tag ist Weil mit seinem Tross 180
kopfnickens. Zuversicht kann man ja gerade gar Ministerpräsidenten bedanken, und Corona- Kilometer nordwärts gezogen, nach Nordenham
nicht genug vermitteln. Und schon gar nicht in Leugner am Rande der Wahrnehmungsschwel- nahe Bremerhaven. Gleiches Format, gleiches
einem Landtagswahlkampf, von dem Weil sagt, le – mehr »Volksaufstand« (Annalena Baerbocks Setting, ein Ministerpräsident, viele Bratwürste.
er sei so völlig anders als alle bisherigen. Prognose für den Herbst) ist in Hildesheim nicht Erneut steht Weil auf einem Marktplatz, bloß
An diesem Sonntag wählen die Niedersachsen zu bekommen. In Gifhorn und Langenhagen sei nicht vor Fachwerk, sondern vor Klinker. Noch
einen neuen Landtag. In den Umfragen liegt die das schon ganz anders gewesen, werden sowohl einmal der nun bekannte Ablauf: die örtliche Kan-
SPD vier bis fünf Prozentpunkte vor der CDU, Weil als auch Genossen aus seinem Tross nach didatin, Eröffnungsstatement, Bierdeckel-Fragen,
die große Koalition könnte von einem rot-grünen dem Ende der Veranstaltung erzählen. Ein Mix Ministerpräsidenten-Antworten. Die Umwelt-
Bündnis abgelöst werden, die FDP bangt um den aus Rechten, Querdenkern und Russland-Freun- proteste richten sich heute gegen die Weserver-
Einzug ins Parlament, die AfD dürfte von gut sechs den, die Weil als »Kriegstreiber« beschimpften, tiefung, Versalzung, Verschlickung, Artensterben.
auf rund zehn Prozent zulegen. hätten dort für Randale gesorgt. Auch für den Nicht Extinction Rebellion steckt dahinter, son-
Angesichts eines Krieges mit nuklearer Eskala- kommenden Samstag, für den großen Wahl- dern ein buntes Völkchen aus ziemlich alt bis ganz
tionsgefahr, von Energiemangel, Versorgungseng- kampfabschluss mit Bundeskanzler Scholz und jung. Weils Repertoire: »Noch nie so viele besorgte
pässen und zahlreichen Menschen, die nicht wis- diversen Ministern, rechnet man in der SPD mit Gesichter«, »heilfroh und dankbar«, Fracking: igitt.
sen, wie sie über den Winter kommen sollen, ist größeren, organisierten Protesten. Das Publikum hört wieder interessiert zu. Aber
eine Landtagswahl von, nun ja, überschaubarer auch hier in Nordenham spielt keine Rolle, was
Bedeutung. Andererseits könnte das Ergebnis aber Die 200 Milliarden von Olaf Scholz sind gerade nicht nur Deutschland, sondern die ganze
auf gleich drei Fragen Antworten liefern: Wie für Weil willkommener Rückenwind Welt bewegt: Niemand fragt nach dem Krieg in
kommt der Versuch der Bundesregierung an, all der Ukraine. Niemand nach den Drohungen
den Problemen mit Entlastungspaketen, »Doppel- Vor der Hildesheimer Bratwurstbude zückt die Putins mit Nuklearwaffen, niemand nach der
wumms«-Verkündungen und einer Flut an war- Moderatorin nun die Bierdeckel mit den Ener- RolleDeutschlands. Nicht ein einziges Mal, so
men, aber leider nicht wärmenden Worten ent- giefragen. Kommt die Gaspreisbremse? Müssen erzählt es Weil, sei er auf all seinen Veranstaltungen
gegenzuwirken? Wie hoch ist das Vertrauen, das die Atomkraftwerke länger laufen? Wie funktio- in diesen Wochen nach den deutschen Waffen
die Menschen der Berliner Ampelkoalition (noch) niert das mit den LNG-Terminals an der Nord- lieferungen an die Ukraine gefragt worden.
entgegenbringen? Und schließlich: Schlägt sich die see? Wofür will Weil die eine Milliarde Euro an Seltsam, dieser Wahlkampf. Themen, die nur
vielfach konstatierte Entfremdung der Deutschen Landesmitteln einsetzen, die er im Kampf gegen von sehr lokaler Bedeutung sind. Ein Krieg, der
vom demokratischen System bereits in Wahl explodierende Preise zugesagt hat? Am Tag vor gar nicht überall interessiert. Und eine Protest-
ergebnissen nieder? Dies alles dem Niedersachsen- Weils Auftritt in Hildesheim hat der Kanzler stimmung, der man nicht begegnet. Vielleicht
Resultat abzulauschen scheint nur deshalb mög- seinen »Doppelwumms« verkündet. 200 Milliar- sind viele Niedersachsen schlicht ein bisschen zu
lich, weil die Landtagswahl – wie nicht nur von den Euro will Olaf Scholz aufwenden, um die unaufgeregt oder gar zu dröge, um sich aus der
Weil, sondern aus allen Parteien zu hören ist – von Energiekrise abzufedern. Willkommener Rücken Ruhe bringen zu lassen. Und so bleiben Zweifel,
einem einzigen, bundespolitischen Thema geprägt wind für Niedersachsens Ministerpräsidenten. ob das Wahlergebnis am kommenden Sonntag
sein soll: den steigenden Gas- und Stromkosten. Folglich wird Weil auch nicht müde zu betonen, tatsächlich etwas über die Qualität der Ampel-
Wird der kommende Sonntag also ein großer Test- wie »heilfroh« er über den Beschluss der Ampel- politik aussagen wird. Selbst in globalen Krisen-
lauf für den Bund? koalition sei. Und wie »dankbar«. Der »Doppel- zeiten bleibt eine Landtagswahl eine Landtags-
In Hildesheim haben sich rund 200 Interessier- wumms« dürfte der eigentliche Grund für Weils wahl. In der es vor allem darum geht, welcher
te um das SPD-Wahlplakat versammelt, der etwas demonstrativ gute Laune sein. Konkurrent Kandidat am besten zum Land passt.
betuliche Slogan lautet: »Das Land in guten Hän- Bernd Althusmann, der CDU-Spitzenkandidat, Noch mal zurück nach Hildesheim. Als alle
den«. Nach Weils Vorgeplänkel kommen jetzt die hat seine Kampagne ganz auf den Verdruss der Fragen abgearbeitet sind, schreibt Weil Auto-
Bierdeckel zum Einsatz. Auf die konnten Besucher Bevölkerung über die Bundesregierung ausge- gramme. Ein junger Mann stellt sich als
ihre Fragen an den Ministerpräsidenten und die richtet. Gegen Althusmanns »Die Ampel kann es Konstantinos vor und fragt, ob er für einen Freund
Fotos: Philip Bartz für DIE ZEIT
örtliche Wahlkreiskandidatin schreiben. Eine nicht«-Parole hat Weil nun Scholz’ Milliarden Weils Krawatte haben könne. Weil trägt aber
Moderatorin trägt vor, was die Hildesheimer im Wahlkampfgepäck. keine. Er erkundigt sich nach dem Namen des
wissen wollen. Obwohl Landesthemen im Wahl- Heilfroh und dankbar ist Weil auch darüber, Freundes und bittet Konstantinos um eine Auf-
kampf angeblich keine Rolle spielen, geht es jetzt nicht Ministerpräsident in Bayern, sondern in nahme mit seinem Handy. Konstantinos hätte jetzt
erst mal um Landesthemen: um die Vorteile einer Niedersachsen zu sein. Jedenfalls sagt er das. Nie- noch gern eine Grußbotschaft für zwei weitere
Landeswohnungsbaugesellschaft, die Probleme mit dersachsen beziehe sein Gas aus Norwegen und den Freunde. Also grüßt Weil die beiden per Handy-
dem Südschnellweg, die Notwendigkeit von Niederlanden, nicht aus Russland wie Bayern, und video und verspricht Marten, dem Schlips-Freund,
multiprofessionellen Teams an Brennpunktschu- habe – im Gegensatz zum Freistaat – die Energie- bald wieder Krawatten zu tragen. Konstantinos
len etwa. Dem zugereisten Beobachter fällt wieder wende entschieden vorangetrieben. Mit dem Er- Wahlkampf in Hildesheim am vergangenen Freitag: bedankt sich überschwänglich. Vier Stimmen
ein, was Wahlkämpfer zwischen Schwerin, Stutt- gebnis, dass Niedersachsen nicht auf Atomstrom SPD-Ministerpräsident Stephan Weil schreibt Autogramme, scheinen Weil schon mal sicher, als er entschwin-
gart und Saarbrücken letztlich auszeichnet: Wer angewiesen sei, weshalb das AKW in Lingen jetzt Querdenker demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen det. Bester Laune natürlich.
A
ls am Sonntagabend in Brasilien de statt, und überhaupt haben sich mehrere als zuvor die demokratischen Institutionen in- (wie hohe Soldzahlungen und generöse Pensio-
die Ergebnisse der Präsident- hochrangige Militärs zuletzt offen und in Uni- frage stellen. Das Oberste Gericht etwa, über das nen) sehen. In Lulas Amtsjahren zwischen
schaftswahl ausgezählt wurden, form an die Seite Bolsonaros gestellt. Die bra- Bolsonaros Leute seit Monaten Verschwörungs- 2003 und 2011 hatten die Militärs eigentlich
war das Staunen groß: Warum silianische Tageszeitung Estadão bekam kurz vor theorien verbreiten, oder das Wahlsystem, das keine schlechten Erfahrungen mit dem Links-
hatte der amtierende Präsident dem Wahlsonntag noch zugesteckt, dass die angeblich zuungunsten des Präsidenten manipu- politiker gemacht: Der hatte zum Beispiel die
Jair Bolsonaro ein viel besseres Ergebnis ge- Spitzen der Armee sich darauf geeinigt hätten, liert werde. Sozialleistungen für Soldaten großzügig ausge-
holt als von den Meinungsforschern erwartet? jedweden Wahlsieger zu »akzeptieren« – aber Und selbst wenn es zu einem Wahlsieg Lu- weitet. Auf Widerstand der Militärspitzen gab
Es wird jetzt Ende Oktober eine Stichwahl dann schickte umgehend die Pressestelle der las kommt und man ihn in den Präsidenten er den Plan auf, eine Wahrheitskommission für
geben (bei der dann freilich doch der frühere Armee ein Dementi heraus. palast lässt, käme das Land noch lange nicht die Aufarbeitung von Folterverbrechen einzu-
Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva favori- Brasilien hat düstere Erinnerungen an zur Ruhe. Am vergangenen Sonntag fanden richten. Auf diese Weise hielt Lula den Frieden
siert ist). In der Aufregung über das über eine Militärdiktatur in den Jahren 1964 bis auch Gouverneurs- und Parlamentswahlen mit den Generalen.
raschende Ergebnis geriet eine Frage in Ver- 1985. Folter war verbreitet, Hunderte von statt – und viele Verbündete Bolsonaros legten Gerade das freilich mag im Jahre 2022 die
gessenheit, die in den Wochen zuvor immer Dissidenten wurden umgebracht. Doch ein Amtsinhaber Jair Bolsonaro glatte Durchmärsche hin. Falls Konflikte mit Bedrohung der brasilianischen Demokratie noch
wieder gestellt worden war: Wird das Militär beachtlicher Teil der urbanen oberen Mittel- dem Parlament und den Bundesstaaten das verstärken: Ein Teil der Gesellschaft wünscht
einen Putsch versuchen, um die Rückkehr schicht und viele Angehörige der Soldaten- Land am Ende sogar für den Verhandlungs- sich die Diktatur zurück, weil man schlicht nicht
des Linkspolitikers Lula zu verhindern? Sie milieus pflegen einen nostalgisch-verklärten keit, weil Lula da Silva mit enormem Vorsprung künstler Lula da Silva unregierbar machen, genug über die Schrecken dieser Epoche auf-
wird sich in den Wochen bis zum Stichent- Blick auf diese Zeit. Da sei man auf den vorn zu liegen schien. Die Umfragen legten könnte ein Streit um seine Absetzung ausbre- geklärt hat. Das knappe Ergebnis des ersten
scheid umso drängender stellen. Straßen sicher gewesen, und die Politiker einen überwältigenden Wahlsieg schon im ersten chen – und es wäre wiederum die Art von Wahlgangs macht es jedenfalls wahrscheinlicher,
Es ist eine Frage, die vor allem Bolsonaro noch nicht korrupt (was nicht stimmt). In Durchgang nahe – und bei so viel Klarheit Durcheinander, die möglicherweise zu Rufen dass die Sehnsucht nach einer Militärregierung
immer wieder aufgebracht hat. Mal kündigte diesen Kreisen hält sich bis heute der Gedan- hätte Bolsonaro kaum glaubhaft die Wahl an- nach den Generalen führt. in den nächsten Wochen wieder wächst. Denn
er an, dass er nicht freiwillig den Präsidenten- ke, die Militärs seien eine Art Oberaufpasser: zweifeln können, und die Militärspitzen hätten Unter welchen Umständen die sich auf sol- eines scheint absehbar: Die Demokratie wird
palast räumen werde. Dann erschien er auf Sie dürften einschreiten und das Vaterland auch schwerlich von chaotischen Verhältnissen che Ansinnen einlassen könnten, ist eine ande- sich in einem harten und schmutzigen Wahl-
Kundgebungen, wo viele Fans ganz offen eine retten, falls ein korrupter Politikzirkus in der reden können. re Frage. Die Militärführung ist bei diesem kampf vor der Stichwahl von ihrer hässlichsten
Machtergreifung des Heeres forderten. Zum Hauptstadt Brasília der Sache nicht gewach- Jetzt aber ist das Chaos da. Die kommenden Thema gespalten. Es gibt Generale, die in der Seite zeigen. TH O M AS FI S C H ER M A N N
nationalen Unabhängigkeitstag Anfang Sep- sen sei. vier Wahlkampfwochen dürften sehr schmutzig Übernahme von Regierungsverantwortung
tember fand in Rio de Janeiro ein Bolsonaro- Die Militärputsch-Frage verschwand aller- werden, mit Korruptionsvorwürfen und Fake- Gefahren für die Reputation der Truppe und Lesen Sie auch Thomas Fischermann über den
Wahlkampfauftritt samt einer Art Militärpara- dings für Wochen wieder aus der Öffentlich- News, und das Bolsonaro-Team wird noch lauter für ihre eigenen, recht zahlreichen Privilegien brasilianischen Regenwald, Wirtschaft, S. 21
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V
iel tiefer hinab geht es nicht mehr: er betrifft nicht allein die Regierungschefin, sondern
Die Tories, die im Vereinigten Kö- die gesamte Partei.
nigreich regierende Konservative Die Premierministerschaft von Liz Truss ist
Partei, liegen im Durchschnitt der nämlich die Frucht einer tief sitzenden, über lange
jüngsten Umfragen um 23 Prozent Jahre aufgestauten Frustration im Herzen der bri-
hinter der sozialdemokratischen Labour-Oppo- tischen Konservativen. Man konnte sie während
sition zurück. Die neue Premierministerin Liz des Sommers spüren, als die Parteimitglieder nach
h den
Truss hat einen desaströsen Start hingelegt, mit Boris Johnsons Rücktritt über die Wahl eines Nach-
m it m ache n, da mit wir gut durc
einem durch kein Sparprogramm abgesicherten folgers und über den richtigen politischen Kurs Jetzt l.de
: energiewechse
Steuersenkungspaket, das die Finanzmärkte und diskutierten. Immer wieder machte sich in Ver- Winter kommen
viele ihrer eigenen Parlamentarier so entsetzt hat, sammlungen und in Privatgesprächen das Gefühl
dass es schon nach wenigen Tagen teilweise wie- Luft, Großbritannien werde in Wahrheit nur dem
der zurückgenommen werden musste. Die ge- Namen nach konservativ regiert, die Tories seien
plante Reduktion des Spitzensteuersatzes er- zu weit nach links gerückt und sozialdemokratisiert,
schien in der gegenwärtigen Krisenlage dann die alten Erfolgsrezepte der Partei-Ikone Margaret
doch als allzu extreme Begünstigung der Rei- Thatcher (viel Markt, wenig Staat) würden ver-
chen. Bei Redaktionsschluss quälten sich die gessen, wenn nicht verraten. Selbst Johnson, der
Tories durch einen deprimierenden Parteitag, mit dem Brexit doch einen Herzenswunsch der
auf dem sich bereits die nächsten Streitfälle ab- Rechten erfüllt hatte, wirkte mit seiner Begeisterung
zeichneten – etwa darüber, welche Einschnitte für Ökologie und Multikulturalismus aus dieser
bei den Sozialleistungen zur Haushaltskonsoli- Perspektive viel zu soft und kuschelig. So kann es
dierung nötig und durchsetzbar sein würden. Als nicht weitergehen, wir müssen zurück zu einem
Optimist kann bei den Konservativen mittler- echten, kantigen, harten Konservativismus – das
weile gelten, wer lediglich eine herzhafte Nieder- war die Grundstimmung vieler an der Tory-Basis.
lage bei der nächsten Unterhauswahl erwartet. Liz Truss hat sich beim Mitgliederentscheid
Weniger sonnige Gemüter sorgen sich schon um über die Johnson-Nachfolge durchgesetzt, weil
die Existenz der Partei als gestaltungsfähige poli- sie die ideologische Nostalgie bedient und eine
tische Kraft. Rückkehr zum konservativen Kerngeschäft ver-
Liz Truss hat den Abstieg der Tories, der in der sprochen hat, besonders zum schlanken Staat
skandalgeplagten Spätzeit ihres Vorgängers Boris und zur Freiheit des Geldverdienens. Ihre Strate-
Johnson begann, nicht etwa gestoppt, sondern im gie massiver Steuersenkungen ist der Versuch,
Gegenteil noch beschleunigt. Zum Teil liegt das am diese Philosophie in die Tat umzusetzen. Nach
Fotos: Mateus Bonomi/AA/dpa (o.); Jack Hill/ddp (u.)
10 STREIT
Wie saniert man ARD und ZDF?
Nach der RBB-Affäre stehen die Öffentlich-Rechtlichen im Feuer: Zu groß, zu teuer, zu ineffizient seien sie. Stimmt das?
Hier streiten WDR-Intendant Tom Buhrow und die Medienmanagerin Julia Jäkel, früher Chefin von Gruner + Jahr
Buhrow: Die Frage wird mir in den Landtagen gen ist astrein. Was fehlt, sind mehr prononcierte Aber es sollte Grenzen der Partizipation geben,
Tom Buhrow, 64, immer gestellt. Meine Antwort ist: Ihr seid es, die Stimmen, ja, konservative, aber auch linke. Das wenn es um die Kontrolle von Milliardenbudgets
war Sprecher der darüber entscheiden. Meinungsspektrum sollte wieder breiter werden, geht, die wir als Gesellschaft zur Verfügung stellen.
»Tagesthemen«. Jäkel: Tom, Sie machen es sich zu einfach und mi- auch abseits der Talkshows. Und die wirklichen In der Privatwirtschaft fand in den letzten Jahren
2013 wurde er niaturisieren sich als Intendant. Konflikte unserer Gesellschaft sollten behandelt eine erhebliche Professionalisierung statt. Dort
WDR-Intendant. Buhrow: Gar nicht. Wenn ich in den Landtagen die werden: Zugezogene versus Einheimische, Alt ver- folgt die Besetzung strengsten Anforderungsprofi-
Derzeit führt Forderung nach Verkleinerung höre, dann frage ich sus Jung, Arm versus Reich. len, das sollte auch hier geschehen. Tom, wissen
er interimistisch immer zurück: »Auf welche Welle von Ihrer Lan- Buhrow: Wissen Sie, was? Ich fand zum Beispiel Sie, wie oft der Verwaltungsratsvorsitz des NDR
die ARD desrundfunkanstalt wollen Sie verzichten?« Dann Hauser & Kienzle eine super Sendung. Hier wur- wechselt?
schallt es einem empört entgegen: »Auf gar keine!« den unterschiedliche Positionen zivil diskutiert, Buhrow: Alle 15 Monate, wenn ich mich recht
ZEIT: Aber wenn Tom Buhrow sich hinsetzen und die Protagonisten haben sich nicht totgebrüllt. entsinne.
würde und einen Plan für eine neue ARD entwer- Für diese Programmfarbe – ob man etwas Ähn Jäkel: Genau. Wie sollen da Themen grundlegend
fen würde, würde man doch zuhören! liches nicht wieder auflegen kann – laufen gerade vom Vorsitz angepackt werden? Es gibt aber auch
Buhrow: Natürlich, das habe ich auch bereits – aber erste Überlegungen. andere Extreme wie beim Hessischen Rundfunk:
dann reagiert jeder reflexhaft nach seinen Partiku- ZEIT: Und Sie finden da einen Konservativen? Da führt ein Mann den Verwaltungsrat, der 1972
larinteressen. Die ZEIT fragte vor Kurzem Men- Buhrow: Warten Sie mal ab. zum ersten Mal in den Rundfunkrat gewählt
schen aus der Medienbranche, was wir ändern ZEIT: Fallen Ihnen auf Anhieb zwei konservative wurde. Kein Witz.
müssten. Was kommt raus? Der Chef eines Produk- Stimmen bei der ARD ein? Buhrow: Ich breche hier mal eine Lanze für die
tionsunternehmens sagt: Wir brauchen mehr Geld Buhrow: Ja, sofort. Ich sage jetzt aber keine Na- Aufsicht. Der Verwaltungsrat kümmert sich vor
für fiktionale Produktionen. Der pensionierte men, weil ich niemanden labeln will. allem um die Finanzen. Hier ist auch entsprechen-
Nachrichtenmoderator sagt: Mehr Geld für Nach- ZEIT: Teilen Sie die Kritik, die ARD sei links-grün? de Fachexpertise vertreten. Der Rundfunkrat muss
richten. Und alle finden, die Intendantinnen und Zuletzt entbrannte sie, als ein WDR-Kollege, selbst breit besetzt sein; das ist ja eine Art Parlament aus
Intendanten sollten mal nicht so bürokratisch sein. grüner Kommunalpolitiker, in den Tagesthemen die der Breite der Gesellschaft. Diese kritischen Kon-
Jäkel: Einspruch! Die Welt hat sich doch funda- Grünen kommentierte. trollen sind für uns auch ein wichtiger Schutz.
mental verändert, die Krisen sind größer, die Lö- Buhrow: Der Kollege ist dort Schriftführer, aber ZEIT: Herr Buhrow, Sie wären auch ein guter Poli
sungsversuche mutiger. Nur das aktuellste Beispiel: keine Frage: Er hätte das dem WDR sagen müssen. tiker geworden. Ausgleichen in alle Richtungen,
Wir waren abhängig von russischem Gas. Was ha- Das war ein Fehler. Meine Aufgabe besteht auch niemandem schaden: Ist das Ihr Job?
ben wir nach Russlands Angriff auf die Ukraine darin, Regeln und Compliance-Strukturen zu ver- Buhrow: Da gehört noch eine Menge mehr dazu!
getan? In kürzester Zeit die Gasspeicher irgendwie bessern und dafür zu sorgen, dass sie eingehalten Zum Beispiel unpopuläre Entscheidungen zu
aufgefüllt, indem wir das Gas woanders besorgt ha- werden – auch in solchen Fällen. treffen.
ben. Weil wir es unbedingt wollten. Diesen Geist ZEIT: Hat das Öffentlich-Rechtliche denn ein Jäkel: Mir scheint es, als würden Sie sich im Zuge
meine ich. Kai Gniffke, Intendant des SWR, sagte Problem mit den Kontrollinstanzen? dieser Affäre gerade neue Fesseln anlegen. Aber wa-
auf einer Pressekonferenz, man müsse in den nächs- Buhrow: Es gibt keine andere Institution in rum trauen Sie sich nicht raus aus dieser Verzagt-
ten Jahren darüber sprechen, ob es ein gemeinsames Deutschland, die so reguliert, so überwacht und so heit? Warum macht sich die ARD in dieser Krise so
Mantelprogramm für die Dritten geben solle. In durchleuchtet ist. Private Unternehmen haben in klein? Wenn Sie nicht aus diesem reaktiven Modus
den nächsten Jahren? Erst? Wir müssen jetzt all der Regel nur eine Handvoll Aufsichtsratssitzungen rauskommen, geben andere den Rahmen für Dis-
diese Frage stellen: Auch, wie wertvoll sind uns klei- im Jahr. Wir haben zwei Aufsichtsgremien: den kussionen vor. Wer wehrt sich, wenn Springer-
nere Sender, die sich nicht selbst tragen? Rundfunkrat und den Verwaltungsrat. Die tagen in Zeitungen Kampagnen fahren? Wo ist die intellek-
ZEIT: Rund acht Milliarden Euro an Beitragszah- der Regel jeweils einmal im Monat. Eine extreme tuelle Speerspitze einer Reformbewegung? Nutzen
lungen erhalten die Öffentlich-Rechtlichen pro Regulierungsdichte. doch Sie den Gestaltungsraum und die Energie der
Jahr. Herr Buhrow, Sie könnten auch ohne Hilfe Jäkel: Trotzdem gab es die RBB-Affäre. vielen Reformwilligen in Ihren Sendern.
der Politik den Wasserkopf abbauen: Verwaltung, Buhrow: Das stimmt, deswegen muss sie auch lü- ZEIT: Ein Nicken kann man in der Zeitung nicht
Pensionen, Gehälter, Chefetagen verkleinern. Es ckenlos aufgeklärt werden. sehen, Herr Buhrow!
»Wer uns noch schlanker will, muss gibt Schätzungen, wonach nur 40 Prozent der
Gebühren direkt fürs Programm aufgewendet wer-
den, 30 Prozent fürs Personal.
ZEIT: Frau Jäkel, Sie sind heute Aufsichtsrätin und
Beirätin in mehreren Unternehmen. Wie könnte
gute Kontrolle bei der ARD gehen?
Buhrow: Ich bin total d’accord und habe meine Zu-
kunftsvision »ARD 2030« Anfang 2021 skizziert.
Unter anderem habe ich mich für eine gemeinsame
sagen, worauf man verzichten soll« Buhrow: Der Wasserkopf ist ein Klischee. Wer
macht denn Programm? Das Personal. Und wir
Jäkel: Mit Professionalität. Die Gremien sind die
Achillesferse des Rundfunks: Wenn sie nicht funk-
Mediathek mit dem ZDF ausgesprochen, als es da-
für noch heftige Ablehnung gab. Aber noch mal:
verändern so vieles. Wir bündeln Kompetenzen, tionieren, ist das System in Gefahr. Für große, weiter gehende Veränderungen brauchen
wie von Ihnen gefordert. Wir haben zum Beispiel ZEIT: Woran machen Sie das fest? wir einen gesamtgesellschaftlichen Dialog.
die bundesweite Radio-Infonacht, die vom NDR Jäkel: Es gibt zwölf Rundfunkräte mit 542 Mit-
Tom Buhrow: Darf ich mit einer Frage starten? gibt es immer mehr, die sagen: Wir wollen euch für die ARD produziert wird. Wir sitzen doch gliedern. Das sind Laiengremien, besetzt mit Das Gespräch moderierten
DIE ZEIT: Gerne. weiterhin, aber nicht mehr in dieser Struktur und nicht auf den Händen und tun nichts. Wir sparen vielen engagierten, interessierten Ehrenamtlichen. Cathrin Gilbert und Martin Machowecz
Buhrow: Sagen Sie, Frau Jäkel: Sind die privaten Größe. Die Kritik entzündete sich an dem Tag, an in der ARD bis 2028 knapp eine Milliarde Euro
Medienhäuser happy, dass wir uns in der ARD zur- dem von der geräteabhängigen Gebühr auf den ein. Wir haben vor allem in Verwaltung und Pro-
zeit sehr mit uns selbst beschäftigen müssen? Rundfunkbeitrag pro Haushalt umgestellt wurde. duktion gekürzt, das Programm, so weit es geht,
Julia Jäkel: Natürlich nicht. Aber ich spreche nur Jäkel: Ich fürchte, das Problem ist größer. Die Krise geschont. Wir werden diesen Reformkurs fortset-
für mich, und ich bin ein Fan des Programms von des Öffentlich-Rechtlichen ist fundamental. Es geht zen. Aber wer uns noch schlanker haben will, muss Julia Jäkel, 50,
ARD, ZDF, Deutschlandfunk und Kika, das Sys- doch nicht nur um die Höhe der Gebühren, son- sagen, worauf man verzichten soll. Ex-CEO von Gruner +
tem ist weltweit einmalig, sein Programm ist sach- dern darum: Wird mit dem Geld ordentlich umge- ZEIT: Es schreibt Ihnen aber niemand vor, wie viel
Jahr (u. a. »stern«,
lich und unabhängig. Dass es gut funktioniert, ist gangen? Werden die Anstalten so geführt und wird Sport, Kultur, Unterhaltung Sie brauchen. »Geo«), ist Aufsichts
für unsere Demokratie essenziell. Ich wünsche mir dort so gearbeitet, wie es einer modernen Gesell- Buhrow: Wir haben den Sportetat gekürzt wie
rätin und Beirätin,
den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesund und schaft angemessen ist? Es liegen doch so viele Fragen kaum einen anderen. Aber die Bevölkerung erwar- etwa in der Tech-
kraftvoll. Damit wären wir beim Problem. in der Luft, über die die Gesellschaft frisches, wirk- tet zu Recht, dass wir ein Breitenprogramm für alle Firma Adevinta und
ZEIT: Inwiefern? lich offenes Nachdenken verlangt. machen. Die Kultur haben wir sehr bewusst mit bei der Holtzbrinck
Jäkel: Gesund und kraftvoll kommt er mir nicht Buhrow: Da bin ich gespannt. ARD Kultur in Weimar gestärkt. Publishing Group, die
gerade vor. Jäkel: 21 Fernsehprogramme und 73 Hörfunkwel- ZEIT: Verstehen Sie die Aufregung über die In-
auch 50 Prozent an
ZEIT: Nach der RBB-Affäre ist Tom Buhrow als len, braucht man die wirklich alle? Warum nutzt tendantengehälter? Mit über 400.000 Euro pro der ZEIT hält
ARD-Vorsitzender Krisenmanager. Frau Jäkel, wir man nicht Deutschlandradio Kultur als Mantel- Jahr liegen Sie über dem Bundeskanzler.
haben Sie um dieses Gespräch gebeten, weil Sie programm für die regionalen Kulturprogramme? Jäkel: Darf ich Tom da mal verteidigen? Ich finde,
Gruner + Jahr, ein privates Medienhaus, geführt Wozu sieben Infowellen? Warum bilden die regio- dieser Teil der Debatte geht am Problem vorbei.
haben. Bemitleiden Sie ihn? nalen Funkhäuser nicht Kompetenzschwerpunkte, Transparenz und klare Kriterien müssen erzeugt
Jäkel: Nein, im Gegenteil. Für jemanden, der die sondern halten Strukturen doppelt vor? Spätestens werden. Aber zu fordern, das Gehaltsniveau zu sen-
Dinge grundlegend verändern möchte, ist das ein bei der Zusammenlegung der Mediatheken von ken, ist populistisch. Wichtiger ist die Frage: Wie
günstiger Moment. Wenn man die Öffentlich- ARD und ZDF wird die Fülle an programmati- mache ich dieses so geschlossene System durchlässi-
Rechtlichen moderner, kreativer, schlanker gestalten schen Überschneidungen für jeden sichtbar. Aber ger? Für Talente mit anderen Erfahrungshinter-
möchte, stehen die Fenster offen: Alle verlangen genauso wichtig sind die Fragen: Was wollen wir gründen als den Öffentlich-Rechtlichen. Nicht weil
nach Reformen. Schade, dass wir den RBB-Skandal behalten, stärken? Etwa die Reporter vor Ort oder es die Privaten automatisch besser können, sondern
gebraucht haben, um dahin zu kommen. eine klare regionale Verankerung? Nichts davon weil andere Perspektiven so wichtig sind, um gut zu
Buhrow: Ich habe vom ersten Tag an beim WDR weiß ich besser, aber es verlangt Befassung. arbeiten. Wieso machen Sie das nicht, Tom?
Dinge reformiert: der crossmediale Umbau der Pro- Buhrow: Solche grundsätzlichen Fragen sind legi- Buhrow: Genau das tue ich. Ich habe gleich zum
grammdirektionen, ein Kulturwandel, der digitale tim. Ich kann Ihnen aber auch sagen, was die De- Amtsantritt zwei meiner Direktorinnen aus der
Ausbau bei gleichzeitiger Verschlankung der Struk- batte begrenzt: die Vorgaben der Politik. Die ist es, privaten Wirtschaft geholt, eine davon ist Katrin
turen. Schon kurz nach meinem Amtsantritt ent- die uns den Auftrag erteilt. Friedrich Merz fragte Vernau, die ich jetzt für ihren Einsatz als Intendan-
schied ich, dass wir 500 Stellen abbauen müssen. auf dem CDU-Parteitag: Warum sind hier 58 Kor- tin beim RBB beurlaubt habe.
Das haben wir mittlerweile geschafft. Mit weiteren respondenten akkreditiert? Das war etwas populis- Jäkel: Vielleicht müssen wir klarer definieren, was
Maßnahmen sparen wir insgesamt 100 Millionen tisch. Es gibt Delegierte aus 15 Bundesländern auf die Kriterien für das Spitzenpersonal zukünftig sind.
Euro pro Jahr. Es ist nicht so, dass wir erst anfangen. so einem Parteitag. Über deren Standpunkte wird Mut und Managementerfahrung sollten zum An-
Die Sender und die ARD insgesamt reformieren dann auch in den Regionalprogrammen berichtet. forderungsprofil gehören. Mehr als das Bespielen
sich seit Jahren. Aber die grundsätzlichen Fragen Jäkel: Ja, aber ... von Gremien über Jahre.
Fotos: Gene Glover für DIE ZEIT
werden seit Jahrzehnten im Vierjahreszyklus zwi- Buhrow: Noch einen Punkt, bitte: Wenn man das ZEIT: Frau Jäkel, Sie mussten sich als Chefin von
schen Politik und Sendern hin und her geschoben. ändern will, müssen wir die Debatte darüber ehr- Gruner + Jahr am Markt beweisen. Die Menschen
Jäkel: Genau das finde ich unbefriedigend. ARD lich in der Gesellschaft führen und uns fragen: geben freiwillig Geld für Magazine oder Online-
und ZDF zeigen auf die Politik und sagen: Die Po- Was wollen wir in Zukunft vom Öffentlich-Recht- Abos aus. Für den öffentlich-rechtlichen Rund-
litik muss sich bewegen. Die Politik zeigt zurück lichen und was nicht mehr? Wenn dann dabei funk muss jeder zahlen. Hat Sie das gestört?
und sagt: Warum reformiert ihr euch nicht? Nie- rauskommt, dass es weniger Sender geben soll, Jäkel: Nein. Erst mal ist es gut, dass es nicht so ge-
mand geht nach vorne, auch Sie nicht. Dabei würde braucht es einen breiten Konsens, und die Politik regelt ist wie neuerdings in Frankreich mit einem
ich mir von Ihnen eine grundlegende Idee wün- muss die Entscheidung treffen. steuerfinanzierten Modell. Da wird der Rundfunk
JA, NEIN,
findet ILEANA GRABITZ. Die Regierung kann nicht schreibt ANNA MAYR : In der Not über Schuldenbremsen
alle Härten abfedern. So ernst die Lage auch ist zu reden, ist bloß politische Folklore
Gerade mal zweieinhalb Jahre ist es her, dass Olaf regler im Herbst nun doch etwas weiter aufdrehen Ich stand in einem Schneideratelier in Berlin-Mitte, geben, für Windräder, Solaranlagen, Förderpro-
Scholz, damals noch Bundesfinanzminister, die können als nötig. Warum eigentlich? Hohe Preise am vergangenen Freitag, als mir die Rezession zum gramme für Passivhäuser und Wärmepumpen.
»Bazooka« rausholte, um die deutsche Wirtschaft sind die beste Motivation zum Energiesparen – ge- ersten Mal live begegnete. »Gut, dass Sie kommen«, Zweitens gibt es eine soziale Krise. Alles wird immer
in der Corona-Pandemie zu retten. Heute, inzwi- rade für Menschen mit mehreren Autos, großen sagte die Schneiderin, die ich zuletzt vor ungefähr teurer, weil es weniger Energie-Angebot gibt, weni-
schen Kanzler, verspricht Scholz den Bürgerinnen Häusern und Privatsaunen. einem Monat gesehen hatte. »Ich mache nämlich ger Material und zu wenig Menschen, die Dinge
und Bürgern: You’ll n ever walk a lone – ihr werdet Es gibt also gute Gründe dafür, die Doppel- zu.« – »Warum machen Sie denn zu?«, fragte ich. produzieren. Kohlensäure wird teuer, denn sie ist
niemals allein gehen müssen. Wirtschaftsminister Wumms-Bazooka nicht immer allzu schnell und »Läuft nicht mehr so«, sagte sie. ein Nebenprodukt der gasintensiven Düngemittel-
Robert Habeck will bei den Unternehmenshilfen allzu bereitwillig rauszuholen. Auch weil wir nicht Während der Pandemie, erzählte sie, habe es produktion. Eventuell machen Sektfabriken und
»nicht kleckern, sondern klotzen«. Und jetzt folgt wissen, wie lange diese Krise noch anhält – der über- Monate gegeben, in denen sie zehn Euro Umsatz kleine Brauereien zu. Die dortigen Mitarbeiter
Ileana Grabitz noch der »Doppel-Wumms«: 200 Milliarden Euro, nächste Winter etwa könnte in puncto Energiever- machte, mehr nicht. Es sei kaum jemand gekom- könnten ihre Jobs verlieren wie die Schneiderin ihr Anna Mayr ist
ist Politik- um die steigenden Energiekosten für die Bevölke- sorgung noch härter werden als der kommende. men, denn Schneiderinnen sind Menschen für Atelier. Wer keinen Job hat, geht nicht ins Restau- Redakteurin im
Ressortleiterin rung und für die Wirtschaft abzufedern. Bäckereien, Krankenhäuser, Stahlunternehmen, sie besondere Anlässe, und von denen gab es keine. Sie rant, weshalb dann auch die Restaurants schließen. Hauptstadtbüro
von ZEIT ONLINE Rhetorisch scheint die Krise also schon gelöst: alle ächzen unter hohen Energiekosten; zeitgleich habe Verträge mit Anzug-Geschäften in der Nähe, Schon jetzt geht die Nachfrage extrem zurück, der ZEIT
Der Staat öffnet die Geldschleuse und schwemmt droht eine tiefe Rezession. Dummerweise hilft aber die ihr Kunden schickten, aber die Geschäfte hatten die Leute behalten ihr Geld bei sich, aus Angst.
das Land mit Liquidität. Schließlich wird das Geld auch der Gaspreisdeckel abermals vielen, die es nicht zu, die Kunden bestellten im Internet und liefen Rezession bedeutet, dass alles immer schlimmer
ja offenbar überall gebraucht. Zuletzt hat Bundes- unbedingt bräuchten. Zielgerichtete Hilfen für dann eben in schlecht sitzenden Hosen rum. Auch wird. Dass Tausende ihre Jobs verlieren und Hun-
tagspräsidentin Bärbel Bas besorgt festgestellt, dass Unternehmen und Privatverbraucher wären besser jetzt komme kaum jemand, außerdem seien Miete derte Unternehmen zumachen. Für große Arbeit-
viele schon lange nicht mehr spontan ins Kino gewesen (scheitern aber leider schon daran, dass der und Energiepreise gestiegen. Also: lieber jetzt ge- geber, die trotz Krise weiter produzieren können,
gehen oder ein Restaurant besuchen könnten. deutsche Staat noch immer über keine Möglich- ordnet schließen und einen kleineren Laden suchen hätte das zwar auch Vorteile – sie könnten wieder
Hier zeigt sich schon die ganze Unschärfe des keiten zu direkten Zahlungen an Bürger verfügt). oder einen anderen Job, als im nächsten Jahr pleite- niedrigere Löhne zahlen, denn es gäbe wieder ar-
großen Geklotzes: Worum geht es eigentlich? Um Doch egal wie: All das kostet Milliarden. Wie gehen. Immerhin, sagte sie, sei bei uns kein Krieg. beitslose Fachkräfte. Aber das ist zynisch.
eine Existenzsicherung von Bürgerinnen und Wirt- auch der Kampf gegen den Klimawandel und die Währenddessen demonstrierten auf dem Ale- Der Gaspreisdeckel ist deshalb richtig. Die da-
schaft? Oder darum, dass wir alle weiter Schnitzel militärische Zeitenwende. Wer wollte verantworten, xanderplatz Handwerker mit Rechten und Ver- rüberliegende Diskussion um Schulden und deren
essen können und den Filmstart von Die Schule der angesichts dieser Kostenlawine irgendwo Geld zu schwörungstheoretikern für Frieden oder die Öff- Bremse ist nur politische Folklore; in einer Krise
Illustration: Filip Fröhlich für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat; Urban Zintel für DIE ZEIT (u.r.)
magischen Tiere 2 nicht verpassen? verschleudern? Auch wenn es für manche ein neuer nung von Nord Stream 2 oder gegen die Diktatur muss der Staat Geld in Umlauf bringen. Menschen
Gewiss, in einem wirtschaftsstarken Land wie Gedanke zu sein scheint: Die Mittel sind endlich, der parlamentarischen Demokratie, ich bin un organisieren sich in Staaten, weil sie sich darauf
unserem müssen Menschen in Krisen darauf ver- noch dazu in einem Land, dessen wirtschaftlicher sicher. Jedenfalls dachte ich, dass offensichtlich ist, einigen, dass es für jeden Einzelnen sicherer ist, von
trauen dürfen, nicht alleingelassen zu werden. Wer Erfolg zu einem Gutteil auf bislang billigem rus für wen man gerade Politik machen müsste: Leute, einer Gemeinschaft beschützt zu werden. Das soll-
angesichts der dramatisch steigenden Preise bald die sischem Gas basiert. Das es nun nicht mehr gibt. die verlieren könnten, was sie sich aufgebaut haben. te auch auf Jobs und warme Wohnungen zutreffen.
Miete nicht mehr bezahlen und den Kindern keine Nicht nur haushalterisch, auch gesellschaftlich Die Schuldenbremse ist letztlich nur ein Grenz- Zugleich können die Unternehmenshilfen, die
Schulbrote, keine warme Kleidung und kein or- gehen die Vollkaskoversprechen fehl. In Zeiten wert, ein Indikator. Wie bei einer Weight-Watchers- Entlastungen für Bürger und mögliche Änderungen
dentlich temperiertes Zuhause bieten kann, muss der Krise punktuell einzugreifen ist gut. Aber je Diät: Du darfst bloß soundso viele Kalorien essen. am Steuersystem nicht auf einem Wertesystem
Hilfe bekommen, und zwar schnell. mehr es zur Selbstverständlichkeit wird, dass die Außer Obst, das darf man, so viel man will, und beruhen, das die ökologische Krise ignoriert. Alles
Richtig ist aber auch: Es gibt genügend Men- Schuldenbremse wieder und wieder ausgesetzt wird, außer natürlich, du machst Sport, dann sind ein hängt zusammen – aber alles könnte auch anders
schen, die alleine gehen können – und die muss der der Staat zahlt und alle Belastungen abfedert, desto paar Punkte mehr drin. Der Staat soll nicht dauer- zusammenhängen, neue Verbindungen sind mög-
Staat alleine gehen lassen. Insgesamt hat die Ampel mehr droht die Eigenverantwortlichkeit zu ver- haft mehr ausgeben, als er einnimmt. Außer es lich, Innovationen eh. Wir können nicht bis in alle
nun wuchtige 295 Milliarden Euro frei gemacht für kümmern. Und damit das Bewusstsein dafür, dass handelt sich um Investitionen, außer es gibt eine Zeiten mit Ammoniak düngen, weil es nicht bis in
Entlastungen. Leider auch für gut situierte Leute, der Staat keine über der Gesellschaft schwebende Katastrophe, außer es ist eine besondere Notlage. alle Zeiten Gas gibt; das heißt überraschenderweise
die durchaus ohne Hilfen zurechtkämen. Ob Tank- Einrichtung ist, die bei Bedarf Geld regnen lässt. Wir sind in einer Notlage. auch, dass wir nicht auf ewig billigen Sekt bekom-
rabatt, 9-Euro-Ticket, der Abbau der kalten Pro- Wir alle sind der Staat – und jede und jeder Einzel- Erstens gibt es eine ökologische Krise, gegen die men. Es muss jetzt Investitionen in die Zukunft
gression oder die pauschale Mehrwertsteuersenkung ne ist für ihn mitverantwortlich. Zum Beispiel dafür, jetzt gehandelt werden muss. Nicht erst, wenn die geben. Crémant produziert seine Kohlensäure selbst,
für bestimmte Lebensmittel, die nun manche for- die nachfolgenden Generationen mitzudenken. Sie gesamte Ukraine zurückerobert wurde. Nicht erst, bei der Gärung mit Hefe in der Flasche. Das makro-
dern – hier kommen Entlastungen auch den Bes- haben mit den Folgen der Klimakatastrophe genug wenn die Inflation zurückgegangen ist. Um die öko- ökonomische, langfristige Ziel sollte sein: eine
serverdienenden zugute, die deshalb den Heizungs- zu tun, sie brauchen nicht noch unsere Schulden. logische Krise abzuwenden, muss man Geld aus- Gesellschaft, in der sich jeder Crémant leisten kann.
Dausend Prozent
55 %
der Deutschen haben die Sorge, dass es im Krieg zwischen Russland
und der Ukraine zu einer nuklearen Eskalation kommen könnte.
Unser Kolumnist verrät, wohin man im Ernstfall fliehen muss
Aktuelle Civey-Umfrage für die ZEIT
Peter Dausend
Im Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die man überall auf der Welt die Einschläge Uff! Und dabei sind das nur drei Bei- demnächst auch mal vorbei sein könnten. zuziehen? Oder wollten die mal The Texas ist politischer
Bombe zu lieben stürzt sich ein durch Dutzender Atomraketen, denen drei Mil- spiele aus dem reichlich ausgestatteten Und zwar für alle Zeit. Chain Saw Massacre sehen, sind aber irr- Korrespondent im
geknallter texanischer Offizier – rittlings auf liarden Menschen zum Opfer fallen. Genre des Atomkrieg-Films. Angesichts Interessant wäre auch, welche Filme jene tümlich in Findet Nemo gelandet und trauen Hauptstadtbüro
einer Atombombe sitzend, mit Freuden In The Day After ist man einen Schritt dieses Doomsday-Mixes aus Wahnsinn, 32 Prozent der Deutschen geprägt haben, sich nicht, einzugestehen, dass sie vor Rüh- der ZEIT
gejohle seinen Cowboyhut schwenkend – weiter. Nach einem Atomkrieg sind die Zwangsläufigkeit und Zivilisationsbruch die sich null Sorgen machen. Sissi – Schick- rung geweint haben? Die Kategorie »Weiß
aus einem US-Bomber auf sein Ziel in der Städte unbewohnbar. Überall entstehen erscheint es fast erstaunlich, dass »nur« 55 salsjahre einer Kaiserin? Bambi? Oder doch ich nicht« sollte man in Umfragen streichen.
Sowjetunion. Die Schlusssequenz zeigt die Flüchtlingslager, die Lebensmittel reichen Prozent der Deutschen die Sorge umtreibt, eher Dumm und Dümmer und Der Blinde? Zurück zur »Apokalypse now«. Wohin
Vernichtung der menschlichen Zivilisation. nicht aus. Es fehlt an Medikamenten, Seu- im Krieg zwischen Russland und der Ukrai- Und jene 13 Prozent, die mal wieder man angesichts des heraufziehenden dritten
In Terminator 3 löst eine künstliche chen brechen aus. Die Armee übernimmt ne könnte es zu einer nuklearen Eskalation nicht wissen, was sie sind, besorgt oder Weltkrieges fliehen soll? Na, ins Kino natür-
Intelligenz jenen Atomkrieg aus, der in die Kontrolle, lässt willkürlich Zivilisten kommen. Wer den Weltuntergang regel- nicht: Haben die ihr bisheriges Leben damit lich. Um es mit Arnold Schwarzenegger,
Terminator 2 noch verhindert werden erschießen. Menschen bewaffnen sich und mäßig zur Primetime serviert bekommt, verbracht, sich Dazed and Confused (Be dem ewigen Terminator, zu sagen: »Komm
konnte. In der letzten Einstellung sieht töten einander, um zu überleben. sollte eigentlich erwarten, dass Primetimes nebelt und verwirrt) als Dauerschleife rein- mit, wenn du leben willst.«
POLITIK Krisen Klaus Regling ist der Chef des Medien Warum regen sich alle auf über
europäischen Rettungsfonds, sein ganzes Richard David Precht?
Iran Die Proteste weiten sich aus, Berufsleben lang hat er Länder gerettet. VON JENS JES SEN 52
obwohl das Regime brutal gegen die Ein Gespräch 22
Demonstranten vorgeht Kolumne Grand Slam
VON MARIAM L AU 2 Delivery Hero Wie der deutsche VON ANDREA PETKOVIĆ 53
Konzern am Persischen Golf Wander
• 24
Immobilien Wird in Berlin eine arbeiter ausbeutet Kunst Die Ausstellung »Atmen« in der
• 53
200 Jahre alte Eiche gefällt, damit eine VON ANN-K ATHRIN NEZIK Hamburger Kunsthalle
•3
Tiefgarage für sechs SUVs entstehen VON PETER NEUMANN
kann? VON MARK SCHIERITZ Rezession Sie könnte Ostdeutschland
härter treffen als den Rest des Landes. Kino »The Woman King« von
China Staatschef Xi Jinping galt früher Droht vielen Unternehmen die Pleite? Gina Prince-Bythewood
als Reformer. Heute erstarren Menschen VON M . DEBES , A . MODERSOHN UND VON JENS BALZER 53
in Angst, wenn man nur seinen Namen M . NEJEZCHLEBA 26
ausspricht VON XIFAN YANG 4 Bücher meines Lebens Warum ich
nicht aufhören kann, Gottfried Benns
Krieg Nie zuvor haben so viele Frauen GREEN. Gedichte zu lieben
den Deutschen Militär und Sicherheits- VON FLORIAN ILLIES 54
Schifffahrt Die zweitgrößte Reederei
•6
politik erklärt. Sie zahlen dafür einen
hohen Preis VON JÖRG L AU der Welt nimmt Kurs auf Klima Emily Brontës Roman »Wuthering
neutralität VON RICARDA RICHTER 29 Heights« hat mich zur obsessiven Leserin
Foto: Yen Duong für DIE ZEIT
• 30
VON J. BIT TNER , A . BOTA , J. L AU, davon, als sie behaupten Kino Ein Gespräch mit dem Regisseur
I . MALCHER , P. MIDDELHOFF UND VON SOPHIE NEUK AM Ruben Östlund über seinen neuen Film
M . WIDMANN 7 »Triangle of Sadness« 55
»Die Grenzen des Wachstums«
Niedersachsen So einen Wahlkampf Vor 50 Jahren schrieb Dennis Meadows Pop Das neue Album der Post-Punk-
hat noch niemand erlebt: Unterwegs mit dieses große Buch. Jetzt warnt er die Band Die Nerven VON TIMO POS SELT 56
SPD-Ministerpräsident Stephan Weil Menschheit ein letztes Mal 31
ZEITNAH VON PETER DAUSEND 8 Roman Stephen King »Fairy Tale«
Der Ökotester Kalt duschen VON JENS BALZER 57
Rückkehr an einen schicksalhaften Ort Brasilien Nach der ersten Runde der VON HENNING SUS SEBACH 32
Präsidentschaftswahl drohen dem Land
chaotische Wochen Warum haben wir das nicht? KINDER- &
VON THOMAS FISCHERMANN Dänemark zahlt südlichen Ländern Geld
14 Jahre alt war die Vietnamesin Pham Thi Nhanh, als sie sich beim Massaker von 9
für seine Umweltsünden JUGENDBUCH
My Lai in einem Bunker vor US-Soldaten versteckte. Mehr als 50 Jahre später zeigte sie Großbritannien Der Fehlstart der VON L AUR A CWIERTNIA 32
LUCHS-Preis Oktober für Stefanie
neuen Premierministerin Liz Truss
Tanja Stelzer den Ort, an dem ihr ausgerechnet ein amerikanischer Pilot das Leben VON JAN ROS S 9 Journalismus Ein Medien-Start-up will Höflers Kinderbuch »Feuerwanzen lügen
nachhaltige Turnschuhe herstellen. Passt nicht« über Armut im reichen Deutsch-
rettete. Zum Auftakt unserer neuen Serie »Sternstunden der Menschheit« erzählt die das zusammen? VON ANNE KUNZE 33 land VON JUDITH SCHOLTER 59
ZEIT-Reporterin von diesem Sieg der Moral über die Mordlust DOSSIER, SEITE 13 STREIT Die LUCHS-Jury empfiehlt 59
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk WISSEN Interview Die Erfinderin der Bilder-
WDR-Intendant Tom Buhrow und
Bildung In den Schulen herrscht ein buchbiografie-Reihe »Little People, Big
Medienmanagerin Julia Jäkel streiten
dramatischer Lehrermangel. Was die Dreams« spricht über starke Frauen und
darüber, was bei ARD und ZDF
Vorbilder für Kinder 59
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dringend anders werden muss 10 Politik jetzt tun muss
VON JEANNET TE OT TO
Krisenhilfe Sollte der Staat in der Not
sparsamer sein? Ein Pro & Contra VON Nobelpreis Warum die Auszeichnung GLAUBEN & ZWEIFELN
ILEANA GR ABITZ UND ANNA MAYR 11 rückwärtsgewandt ist
VON STEFAN SCHMIT T 36 Kopftuch In den vergangenen Jahr-
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