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Ernährungspraxis – Säuglinge, Kinder, Jugendliche – Beratungswissen kompakt, Alexy, Ute,

Hilbig, Annett und Frauke Lang, hrsg. von Martin Smollich, Stuttgart 2020

Dr. Gerd Leidig, Köln

Königin oder Arbeitsbiene – eine Frage der Ernährung

Frühkindliche Programmierung von Ernährungsgewohnheiten haben einen entscheidenden Anteil


daran, wie gesund wir als Erwachsene durchs Leben gehen. Für die Honigbiene hängt von der
Ernährung noch viel mehr ab, doch davon später mehr. Wie sich Säuglinge, Kleinkinder und
Jugendliche ernähren sollen, sagt uns die Wissenschaft mit evidenzbasierten Empfehlungen. Für
den Laien ist es oft sehr schwer, seriöse und unseriöse Berichte und Meldungen voneinander zu
unterscheiden. Daher gibt es ein wachsendes Interesse an einer bedürfnis- und bedarfsgerechten
Beratung zu Fragen der gesunden Ernährung. So widmet sich die „Buchreihe Ernährungspraxis“ der
Übersetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in alltagstaugliche Praxisempfehlungen. Der
Inhalt dieser Neuerscheinung in obiger Reihe orientiert sich an den Lebensphasen von der Geburt
bis zum Jugendlichen und nicht an Nährstoffen oder biochemischen Prinzipien. Das Autorenteam
umfasst 27 Fachkräfte aus unterschiedlichen Fachgebieten und garantiert damit eine bunte Vielfalt
fachlicher Expertise und relevanter Inhalte für die Beratungspraxis. Die zitierte Literatur befindet
sich immer am Ende eines jeweiligen Kapitels und ermöglicht so die vertiefende Lektüre der
benutzten Quellen und Forschungsarbeiten, wobei die jüngsten Zitate aus dem Jahr 2018 stammen,
also einen sehr aktuellen Wissensstand wiedergeben. Blauunterlegte Merksätze, prägnante
Definitionen, praxisrelevante Infokästen, übersichtliche Tabellen und anschauliche Farbabbildungen
lockern nicht nur den Fließtext lesefreundlich auf, sondern erleichtern das Verständnis und
unterstützen so die Rezeption.

Zielgruppe des Buches sind Ernährungsfachkräfte wie Ökotrophologen und DiätassistentenInnen,


aber auch andere, die in ihrem beruflichen Alltag zu Ernährungsfragen bzw. -problemen beraten,
wie bspw. Apotheker, PTA, Ernährungsberater sowie Ärzte.
Die in etwa gleich umfänglichen zwei inhaltlichen Schwerpunkte widmen sich im ersten Teil der
Ernährungspraxis von gesunden Säuglingen, Kindern und Jugendlichen sowie im zweiten Teil den
ernährungstherapeutischen Konzepten für kranke Kinder und Heranwachsende.

Besonders in den ersten Lebensmonaten ist der Energiebedarf, der für das Wachstum benötigt wird,
vergleichsweise sehr hoch. Er beträgt zirka 40 % der zugeführten Energie im ersten Monat und
sinkt dann im Laufe des ersten Lebensjahres bis auf 3 %. Bereits nach zwei Lebensjahren hat ein
Kleinkind bereits die Hälfte seiner Körperlänge als Erwachsener erreicht und nach einem weiteren
Jahr fehlen am ausgewachsenen Kopfumfang nur noch zehn Prozent. Der Energiebedarf für die
körperliche Aktivität korreliert naturgemäß stark mit der Intensität und Dauer der Bewegungen.
Kinder und Jugendliche sollten sich nach den Empfehlungen der WHO täglich mindestens eine
Stunde mit mittlerer bis hoher Intensität bewegen. Dabei erreichen nur zirka ein Viertel der
befragten Mädchen und zirka ein Drittel der befragten Jungen diese Werte. Diese mangelnde
Bewegung als Kleinkind wird in der weiteren Entwicklung oft beibehalten und erhöht so das
Risiko, als Erwachsener früher und schwerwiegender an bestimmten Zivilisationskrankheiten zu
leiden.
Der „essenziellste“ Nährstoff für Kinder ist das Wasser. Bei Frühgeborenen (24.SSW) liegt der
Wasseranteil am Gewicht bei zirka 90 % und sinkt dann nach und nach auf 55-60 % bei
Erwachsenen. Gerade Neugeborene und Säuglinge haben bei Fieber, Erbrechen und Diarrhö einen
besonders hohen Flüssigkeitsbedarf, der neben den natürlichen Faktoren wie dem sogenannten
unmerklichen Wasserverlust (Perspiratio insensibilis) und einer noch unreifen Niere den
Wasserbedarf oft kritisch erhöht.
Die Darstellung zu den energieliefernden Nährstoffen (Fette, Proteine und Kohlenhydrate) folgt
quantitativ den D-A-CH-Referenzwerten (2018). Für die Ernährungsberatung besonders wertvoll
sind die hilfreichen Bewertungen bei der qualitativen Zusammensetzung der Ernährung. So wird
aufgrund der noch nicht voll entwickelten glomerulären Filtrationsrate der Niere (GFR) davor
gewarnt, Säuglingen bis zu vier Monaten unverdünnte Kuhmilch zu geben, da aufgrund des höheren
Gehalts an Mineralstoffen und Proteinen die Gefahr einer hypernatriämischen Dehydratation
besteht. Insgesamt wird bei der Proteinzufuhr im Säuglings- und Kleinkindalter, hier vor allem bei
der Milchmenge, eher Zurückhaltung empfohlen, während in den ersten beiden Lebensjahren die
Fettmenge im Gegensatz zur Proteinmenge auf das spätere Adipositasrisiko keinen Einfluss zu
haben scheint.
Besonders in den Infokästen und Merksätzen finden sich wichtige Fakten und Tipps, die in die
Beratung von Schwangeren und Stillenden einfließen können: Da die Muttermilch mindestens 8
Mikrogramm Jod pro 100 ml enthalten sollte, wird die Substitution mit 100 bis 150 Mikrogramm
Jod pro Tag empfohlen, da ohne diese Zufuhr die Muttermilch nur zirka 6,4 Mikrogramm Jod pro
100 ml enthält. Bei der Beikost hängt es von der Zutatenliste ab, ob einer weitere
Nahrungsergänzung der Mutter notwendig ist. Bei Vitamin D lautet die aktuelle Empfehlung, dem
Säugling in den ersten 18 Monaten täglich 400-500 I.E. als Tablette oder in Tropfen zu geben.
Säuglinge sollten nicht permanent an einer Flasche nuckeln dürfen, da allein durch Leitungswasser
beim Dauernuckeln Karies ausgelöst werden kann.
Bei den prä- und postnatalen Risikofaktoren für die Entwicklung metabolisch-programmierter
Erkrankungen erscheinen die besonders relevant, bei denen durch eine gezielte Beratung der
Risikofaktor erkannt und bestenfalls modifiziert werden kann. So scheint zu kurzes Stillen ein
Risiko für kindliche aber auch adulte Adipositas zu sein: „Jeder Monat zusätzliches Stillen war mit
einer Abnahme des Risikos für Übergewicht von ca. 4 % verbunden.“ Besonders der relativ niedrige
Proteingehalt der Muttermilch und dass er sich der Wachstumsgeschwindigkeit des Säuglings
anzupassen scheint, stehen besonders im Fokus der Forschung. Die evidenzbasierte Stillempfehlung
lautet daher: „möglichst 4-6 Monate voll stillen und danach neben der Beikost weiter teilstillen“.

Vor allem beim ersten Kind werden junge Eltern besonders den Ernährungsplan im ersten
Lebensjahr zu schätzen wissen. Auch hier wird die Bedeutung des Stillens für eine gesunde
frühkindliche Entwicklung betont. Neben dem geringeren Adipositas-Risiko werden 13 weitere
Gesundheitseffekte vorgestellt, die mit dem Stillen assoziiert sind. Dem selbstgesteckten Ziel der
Praxisrelevanz kommen die Autoren immer wieder mit Praxistipps entgegen. So empfehlen sie bei
einer eher dickflüssigen 1-Nahrung eine mittelgroße Lochung des Saugers, da bei zu kleinem Loch
der Säugling sich zu sehr anstrengen muss und er möglicherweise zu wenig Milch bekommt. Auch
warnen sie vor der Bezeichnung „Folgenahrung“, die eine logische Reihenfolge der Produkte
impliziert, ohne dass eine Umstellung dabei zwingend notwendig ist.

Die Ernährungsempfehlungen im ersten Lebensjahr bilden mit zirka 100 Seiten eindeutig den
Schwerpunkt dieses empfehlenswerten Handbuchs für die praktische Ernährungsberatung. Bei der
Ernährung von Kindern und Jugendlichen liegt das Hauptaugenmerk auf der „Optimierten
Mischkost“, der Ernährungspyramide, Nahrungsergänzungsmitteln, Kindern in der
Gemeinschaftsverpflegung und alternativen Ernährungsformen. Der erste Teil schließt mit dem
vierten Kapitel ab, in dem Wege zu einer gesunden Ernährung als Lernprozess beschrieben werden.
Obwohl Umfragen bestätigen, dass Kinder besonders gerne süße und fettreiche Lebensmittel
bevorzugen, erscheint dies doch mehr die Folge des Angebots und der Belohnung für erwünschtes
Verhalten zu sein, als auf einer genetischen Disposition zu beruhen. Präferenzen für bestimmte
Lebensmittel hängen somit stark vom soziokulturellen und kulinarischen Umfeld ab und sind
Ergebnis von Lernprozessen, die nach ihrer Ausprägung in den ersten Lebensjahren auch die
Ernährungsgewohnheiten des Erwachsenen entscheidend determinieren.

Im zweiten Teil erläutern die Autoren die Ernährung des kranken Kindes. Die 10 Kapitel widmen
sich entweder Aspekten, bei der die Ernährungs- bzw. Kostform als Therapeutikum genutzt wird
(akute Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Mukoviszidose, Nierenbeschwerden) oder bei
denen die Art und Zusammensetzung der Ernährung optimiert werden müssen (Adipositas,
Mangelernährung, Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten und ketogene
Ernährungsformen). Aufgrund der vergleichsweise zu hohen Zahl bereits übergewichtiger bis
adipöser (Klein)Kinder beteiligen sich die gesetzlichen Krankenkassen an den Kosten einer
Ernährungstherapie, für die der behandelnde Arzt eine Notwendigkeitsbescheinigung auf der
Grundlage von § 43 SGB V ausstellen kann. Die Ernährungstherapie umfasst in der Regel fünf
Beratungseinheiten, entweder im Einzel oder im Gruppensetting. Die notwendigen Qualifikationen
der Ernährungsfachkräfte für den Kostenzuschuss durch die GKV sind im „Leitfaden Prävention“
nach dem § 20 SGB V (www.vdek.com) hinterlegt. ApothekerInnen können bekanntlich über ihre
jeweiligen Apothekerkammern durch eine umfangreiche Weiterbildung (12 Monate und 100
Seminarstunden) die Zusatzbezeichnung „Ernährungsberatung“ erwerben. Leider gibt es bislang
keine Rahmenverträge der Apothekerverbände mit der GKV, die eine Teilnahme der
weitergebildeten ApothekerInnen an der durch die GKV bezuschussten Ernährungstherapie
ermöglichen. So bleibt den entsprechend qualifizierten und motivierten KollegenInnen bislang
„nur“ die Möglichkeit, eine evidenzbasierte Ernährungsberatung auf dem freien Markt anzubieten.
Dazu bietet ihnen das vorgestellte Buch eine wertvolle Unterstützung, in dem die neuesten
Erkenntnisse der Ernährungsmedizin praxisnah und gut lesbar dargestellt werden.
Bei dem eingangs erwähnten Beispiel aus der Tierwelt, freut sich die Honiglarve, die ausschließlich
mit Gelée Royal gefüttert wurde, auf ein 4-6 Jahre währendes Leben als Königin, während den
schlechter ernährten Larven nur ein halbes Lebensjahr als Arbeiterin vergönnt ist.

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