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» Vernunft ist nicht die Kraft der Versöhnung, sondern - die Kunst der

Entzweiung.« Mit diesem Leitwort kennzeichnet Martin Seel seine Unter-


suchungen zum Begriff der ästhetischen Rationalität als einen Beitrag zur
Kritik der mehrdimensional konstituierten Vernunft.
»Ästhetische Rationalität« ist doppelsinnig, heißt: Rationalität des Ästhe-
tischen und das Ästhetische der Rationalität. Rationalität des Ästhe-
tischen: Damit meint Seel den Eigensinn - und die eigensinnige Be-
gründbarkeit - eines Verhaltens, aus dem und für das Phänomene der
unterschiedlichsten Art ästhetisch belangvoll werden. Ästhetisches der
Rationalität: Damit meint Seel den Stellenwert, den die Rationalität der
ästhetischen Praxis hat oder haben kann im Ensemble der Handlungswei-
sen, die die Rationalität einer Lebensform und Gesellschaft bestimmen.
Diesem zweiten Aspekt gilt das eigentliche Interesse der vorliegenden Ab-
handlung. Gefragt wird nicht, inwiefern das ästhetische Verhalten immer
schon vernunftbezogen ist - dies wird gezeigt, um zu fragen, inwieweit
eine vernünftige Praxis immer auch ästhetisch gestiftet sein wird. Welche
Bedeutung hat die Rationalität des Ästhetischen für die Bestimmung eines
Begriffs der Rationalität, der reich genug ist, die Formen der Orientie-
rungsbildung und Wissensverwendung, die unsere Lebenspraxis heute
bestimmen, in der Spannung von Abgrenzung, Kritik und Überlagerung
zu begreifen?
Martin Seel ist Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Wei-
tere Veröffentlichungen im Suhrkamp Verlag: Eine Ästhetik der Natur,
1991 und 1996 (stw rz31); Versuch über die Form des Glücks. Studien zur
Ethik, 1995; Ethisch-ästhetische Studien, 1996 (stw 1249).
Martin Seel
Die Kunst der Entzweiung
Zum Begriff
der ästhetischen Rationalität

Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Seel, Martin:
Die Kunst der Entzweiung : zum Begriff der ästhetischen
Rationalität/ Martin Seel. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1997
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1337)
ISBN 3-518-28937-3

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1337


Erste Auflage 1997
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1985
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Druck: Wagner GmbH, Nördlingen
Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

1 2 3 4 5 6 - 02 01 00 99 98 97
Inhalt

I ÄSTHETISCHE RATIONALITÄT? 9

a) Rationalität und Vernunft . II


b) Ästhetische Vernunftkritik. 26
c) Ästhetisches Verhalten . . 31
d) Das antinomische Modell . 41
e) Zwei Auswege ...... . 55
f) Der Weg durch die Erfahrung . 69

II SITUATION UND ERFAHRUNG 7J

1. Erfahrung machen und haben . 75


a) Erfahrung machen . 79
b) Einstellung . . . . 91
c) Erfahrungsgehalt . 104
d) Erfahrung haben . 113
e) Einstellungsarten . 118

2. Gegenwärtige Erfahrung . . . . . . . . . .
a) Erfahrung teilen und mitteilen. . ....
b) Thematisierung und Vergegenwärtigung
c) Präsentation ........ .
d) Erfahrene Erfahrung .... .
e) Dimensionen der Erfahrung .

III ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG 174

1. Ästhetische Bedeutung und Kritik 180


a) Ästhetische Relevanz ... 180
b) Das ästhetische Urteil . . . . . 202
c) Zum ästhetischen Interesse ... 215
d) Geschmack, Vorliebe, Signifikanz . 220
e) Kommentar, Konfrontation, Kritik .
f) Ästhetische Bedeutung.
g) Situation und Differenz .

2. Einwände und Ergänzungen


a) Ausdruck und Kommunikation.
b) Ästhetische Reinheit . . . .
c) Ästhetische Erkenntnis ...
d) Ästhetischer Widerspruch .

IV ÄSTHETISCHE VERNUNFT? 314

a) Der Ästhet und der Banause . . . . 315


b) Rationalität, Erfahrung, Vernunft . 317
c) Kritik der ästhetischen Utopie ... 32 5

Anmerkungen .
Literatur ....
Namenregister .
Confusion too is company up to a point.

Beckett
I

Ästhetische Rationalität?

Vernunft ist nicht die Kraft der Versöhnung, sondern - die Kunst
der Entzweiung. Das eröffnende Bekanntgeben des Grundsatzes,
dem der hermetische Name dieser Arbeit entstammt, macht
zugleich den Doppelsinn ihres zweiten Titels offenkundig, der
die Andeutung der ersten Überschrift einschränkend kommen-
tiert. Die Rede wird sein von der Rationalität des Ästhetischen
und dem Ästhetischen der Rationalität.
Rationalität des Ästhetischen: damit meine ich den Eigensinn -
und die eigensinnige Begründbarkeit - eines Verhaltens, aus dem
und für das Phänomene der unterschiedlichsten Art ästhetisch
belangvoll werden. Ästhetisches der Rationalität: damit meine
ich den Stellenwert, den die Rationalität der ästhetischen Praxis
hat oder haben kann im Ensemble der Handlungsweisen, die die
Rationalität einer Lebensform und Gesellschaft bestimmen. Die-
sem zweiten Aspekt gilt das eigentliche Interesse der vorliegen-
den Abhandlung: gefragt wird nicht, inwiefern das ästhetische
Verhalten immer schon vernunftbezogen ist: dies wird gezeigt,
um zu fragen, inwieweit eine vernünftige Praxis, die diesen
Namen nicht nur zum Hohn verdient, immer auch ästhetisch
gestiftet sein wird. Welche Bedeutung hat die Rationalität des
Ästhetischen für die Bestimmung eines Begriffs der Rationalität,
der reich genug ist, die Formen der Orientierungsbildung und
Wissensverwendung, die unsere Lebenspraxis heute bestimmen,
in der Spannung von Abgrenzung, Kritik und Überlagerung zu
begreifen?
Bereits die Formulierung dieser Frage macht deutlich, daß ihra
Bearbeitung eine Klärung der ersten Bedeutung dessen voraus-
setzt, was im Begriff der ästhetischen Rationalität angesprochen
ist. Dem Aufzeigen des ästhetischen Moments der Rationalität
geht der Nachweis einer rationalen Basis der ästhetischen Aktivi-
tät notwendig vorher. Das ist der Grund, warum sich das zentrale
Thema der Arbeit - das Ästhetische der Rationalität - räumlich

9
einigermaßen peripher, der periphere Aspekt ihres Leitbegriffs -
die Rationalität des Ästhetischen - im folgenden thematisch
zentral erörtert findet. Diese stoffliche Paradoxie ist nur der
Ausdruck des Umstands, daß die Rede von ästhetischer Rationa-
lität in ihrem Doppelsinn verstanden werden muß oder unver-
standen bleibt. Weil das so ist, wird die Analyse des ersten
Aspekts die Resultate der zweiten Betrachtung im wesentlichen
schon enthalten. Wenn es gelingt, Grundzüge einer Theorie des
ästhetischen Verhaltens zu zeichnen und die (vor allem im Um-
kreis der Kritischen Theorie noch und wieder lebendige) These
von der Rationalität des Ästhetischen zu belegen, dann sind auch
die Grundlinien einer Kritik des Ästhetischen der Rationalität im
groben bereits gezogen.
In Form einer Kritik der ästhetizistischen Vernunftkritik wendet
sich diese in einem Zug gegen die komplementären Tendenzen
einer Ästhetisierung der Vernunft und einer Entrationalisierung
des Ästhetischen. Wie das zu verstehen und warum das nötig ist
und was daraus für die Ästhetik folgt, wird dieses erste Kapitel zu
erläutern haben. Für die Ästhetik folgt (einmal mehr), daß sie
ihre Grenzen verlassen muß, um sich ihres Gebietes zu vergewis-
sern: diese Exkursion unternimmt das zweite Kapitel. Erst der
dritte Teil versucht anschließend die Konturen einer Theorie der
ästhetischen Rationalität sukzessive zu entfalten. Die hier gesam-
melten und gewonnenen Einsichten müssen im Schlußteil nur-
mehr übersetzt werden in den Zusammenhang einer nun weniger
konstruktiven als therapeutischen Kritik der ästhetischen Ver-
nunft: einer Destruktion zumal der regulativen Idealisierungen,
die der Gelungenheit ästhetischer Gegenstände und dem Glück
der ästhetischen Erfahrung von philosophischer Seite entnom-
men und eingeredet werden. Die ästhetische Wahrnehmung ist
nicht das überlegene Erkennen des Seins und auch nicht das reine
Vernehmen des Unsagbaren; die Sprache ästhetisch artikulierter
Zeichen ist weder das eigentliche Sprechen noch wider die Spra-
chen der Vernunft gesprochen.
Ich beginne die einleitende Betrachtung mit einer Auszeichnung
des Rationalitätsproblems, auf das der Obertitel der Arbeit zielt.
Dies führt zu einer ersten seriösen Erörterung der zu Beginn
spielerisch intonierten Rede von ästhetischer Rationalität. Aus
den Schwierigkeiten, auf die das somit deklarierte Vorhaben
stößt, ergibt sich die Notwendigkeit der Suche nach Möglichkei-
ten, die problemtypische Grundkonstellation von innen zu än-
dern.

a) Rationalität und Vernunft

Die Doppeldeutigkeit des Begriffs der ästhetischen Rationalität


geht zurück auf einen zweifachen Sinn unserer Rede von Ratio-
nalität und Vernunft. Beide Ausdrücke können in einem logi-
schen Plural oder Singular verwendet werden; im ersten Fall ist
eine von mehreren (oder sind verschiedene) Arten des rationalen
Verhaltens gemeint, im zweiten Fall ist es die innerhalb einer
Mehrzahl divergierender Verhaltensweisen übergreifend vollzo-
gene Praxis der Orientierung, die insgesamt als rational bzw.
vernünftig bezeichnet wird. In der Bedeutung einer ,Rationalität
des Ästhetischen, ist die ,ästheti~he Rationalität, angesprochen
als eine unter mehreren Spielarten des rationalen Verhaltens - im
Unterschied zu einem in theoretischer, instrumenteller, morali-
scher und subjektiv-präferentieller Hinsicht rationalen (oder
eben irrationalen) Handeln und Überlegen. Dagegen meint die
Wendung vom ,Ästhetischen der Rationalität, ein Merkmal jener
Praxis aus Verhaltensweisen, die sich abspielt im Vermögen einer
mehrdimensional rationalen Orientierung - Rationalität ist hier
angesprochen als der Zusammenhang der Spielarten, in die sie
sich teilt.
Auf dieser Doppeldeutigkeit der Rede von R~tionalität möchte
ich zunächst terminologisch bestehen, indem ich für ,Rationali-
tät< in der Bedeutung einer ,Rationalität-im-Singular, den Aus-
druck Vernunft reserviere. In diesem Sinn ist Vernunft ein Zu-
sammenhang von Rationalitäten; ,Rationalität< dagegen meint
eine von mehreren oder mehrere Formen des begründbaren
Handelns. Bei dieser Regelung geht es nicht einfach um das
Vermeiden unerheblicher Äquivokationen: es geht darum, die
Sprache dieser Abhandlung zu wappnen gegen die sei es rationa-
listische, sei es kursorisch-beliebige Verkümmerung ihrer Refle-
xionen über Rationalität. Unerheblich wäre die markierte Diffe-
renz nur, wäre der Zusammenhang der Rationalitäten, wäre die
Einheit der Vernunft schlicht als Summe ihrer Praktiken und

II
Diskurse zu denken. Ein solches Verständnis aber hätte von
unserem Begreifen wenig begriffen. Denn Vernunft ist prakti-
zierte Rationalität - gewiß; praktizierte Rationalität aber ist
nicht bereits gelebte Vernunft.
Hierzulande haben vor allem Jürgen Habermas und Albrecht
Wellmer' dargelegt, daß Vernunft unter heutigen Bedingungen
als ein Ensemble und praktisches Verhältnis gegeneinander dif-
ferenzierter Verständigungsformen zu begreifen ist, aus denen
sich in wechselperspektivischer Aneignung die Realitätsauffas-
sungen bilden, die eine intersubjektive Lebensform jeweils tra-
gen. Typen der Rationalität unterscheiden sich als Formen der
Rechtfertigung von Annahmen, die aus unterschiedlichem In-
teresse und mit unterschiedlichem Anspruch sei es getroffen
und vertreten, sei es im Handeln als gültig vorausgesetzt wer-
den. Darüber wird genauer zu sprechen sein. Für den Anfang
genügt es festzuhalten, daß sich Arten der Rationalität unter-
scheiden als solche der Wissensverwendung im Handeln - und
damit zugleich als Typen des pragmatisch verwendeten Wis-
sens.2 Dabei ist es wichtig zu beachten, daß rational nicht aus-
schließlich das begründete, aktuell oder gar simultan gerecht-
fertigte Handeln ist, sondern ebenso dasjenige Verhalten, das -
in dieser oder jener Hinsicht - seitens der Akteure begründbar,
zu rechtfertigen ist. ,Rationalität< bedeutet Begründbarkeit,
nicht durchweg Begründetheit. Rational sind Personen in ih-
rem Tun, für das sie gegebenenfallszureichende Gründe ange-
ben (und ergänzende annehmen) können: als Antwort auf eine
Frage oder Kritik, zur Versicherung gegen Zweifel, zur Stüt-
zung eines Vorhabens, zur Bestätigung oder Befreiung von
Konventionen, aus einem Bedürfnis der Befragung des bislang
Fraglosen, aus Neugier am Ungewußten. Um rational zu han-
deln, müssen die Handelnden die Gründe ihres Handelns nicht
aktuell kennen, mehr noch: manchmal werden sie ohne
Gründe handeln und doch rational. Nicht nur Gewohnheiten
und habitualisierte Reaktionsfolgen sind es, denen wir hörig
sind, ohne der Gründe zu achten, die uns unvermerkt leiten.
Auch die Bewältigung des Unbekannten kann sich in begründ-
baren Handlungen vollziehen. So ist der erstmals geglückte
Versuch nicht selten eine Aktion, bei der im nachhinein erst
die Gründe definitiv erreichbar sind, die besagen, warum es

12
richtig war, es so zu probieren. Von Rationalität zu reden darf
nicht bedeuten, die mögliche Spontaneität des Handelns zu leug-
nen.
Nicht zuletzt das wäre der Fall, würde Rationalität gleichgesetzt
mit Begründetheit oder einem Gebot der permanenten Begrün-
dung. Ein solches Dasein der Selbstdurchleuchtung können die
endlichen, verstrickten und vergeßlichen Menschen gar nicht
führen - und kaum führen wollen, denn das Bewußtsein sämtli-
cher Grundlagen ihrer Beteiligungen ließe sie teilnahmslos aus
allen ihren Welten fallen. Unter dem Zwang eines Ideals der
Begründetheit hätten die Subjekte nicht nur den Sinn verloren für
ein interaktives oder operatives Engagement, selbst die Gelassen-
heit der Besinnung wäre ihnen genommen: ihr ganzes Tun wäre
nurmehr ein abgründiges Gebet um Gründe. Dieses Gedanken-
spiel legt eine Alternative zwischen Begründetheit und Begründ-
barkeit durchaus nicht nahe. Eine Theorie der Rationalität in
Begriffen der Begründbarkeit versteht das Haben und Suchen,
Fordern und Geben von Gründen als einen Prozeß der Klärung
und Aufklärung in jeweils gegebenen Zusammenhängen der Le-
benspraxis, in deren Kontext Aussagen überhaupt erst als Argu-
mente und Gegenargumente zählen. Begründbar ist das Tun und
Lassen, das in solchen Kontexten begründet werden kann -
gestützt auf ein relevantes und zutreffendes Behaupten, das sich
auf Annahmen stützt, die nicht zugleich genannt und erörtert
werden. Wie Wittgenstein und Gadamer auf unterschiedliche
Weise gezeigt haben, ist noch die absoluteste Begründung -
ebenso wie die obsoleteste - auf eine Praxis der Auseinanders~t-
zung und des Argumentierens bezogen, innerhalb deren sie als
mögliche Rechtfertigung überhaupt greift. Unter der Vorausset-
zung, daß es möglich ist, verschiedene Grundarten des Argumen-
tierens zu unterscheiden, die zugleich differieren als Paradigmen
verschiedener Typen der Rationalität, läßt sich dieser wohlbe-
kannte Umstand für unsere Fragestellung mühelos dramatisieren.
Noch jede ausgeführte Begründung - sei sie theoretisch, ethisch,
ästhetisch - stützt sich auf Grundsätze und Optionen, die im
Schema der angenommenen Begründungsweise nicht ausgewie-
sen werden können. Wie gesagt: oft wird es eine weitergehende
Begründung und Ermittlung gar nicht brauchen; nicht selten aber
ist es in Überlegungen und Diskussionen nötig (oder würde

13
ihnen helfen), hinter die Schranke der dominanten Überlegungs-
weise zurückzugehen. Und das ist immer möglich. Ein Bewußt-
sein dieser Möglichkeit, das von denen, die es haben, nicht
überwiegend als Bedrohung erfahren wird, sondern als notwen-
dige Bedingung aussichtsreicher Lebensmöglichkeiten, bezieht
den modernen Standpunkt der Vernunft.
Diese »Einstellung der Vernunft« ist handelnden Individuen
gegeben in einem unspektakulären Wissen um die Relativität der
ihnen verfügbaren Arten der Versicherung. Das Wissen um diese
Relativität ist nicht primär theoretischer Natur. Es ist subjektiv
wirksam in der Fähigkeit zum mehrseitig überlegenden Beden-
ken und Bestimmen der eigenen Handlungen in ihrer Beziehung
auf die Verhältnisse, in deren Einfluß und Zusammenhang sie
stehen. Es handelt sich hier um ein aus reflexiven Erfahrungen
erwachsenes Besinnenkönnen, das nicht damit rechnet und nicht
darauf hofft, einmal die zweifelhafte, weil zweifelsfreie Ruhe des
gestillten Überschauens bleibend zu genießen; das seine erschüt-
terbare Ruhe hat im Vertrauen auf seine Veränderbarkeit ange-
sichts kommender Erfahrungen. Dieses praktische Wissen, in
dem Vernunft sich realisiert, ergibt sich unmittelbar aus der
befreienden Irritation der Erkenntnis, daß die letzten Gründe
immer woanders liegen - in der Reichweite nämlich jener Be-
trachtung, jener Vergewisseruri.g,die wir gerade nicht vollziehen.
Die zureichenden Gründe sind niemals die letzten. Die nahelie-
genden aber sind oft nicht zureichend. Die nichtdogmatische
Beurteilung dessen, was die zureichende Begründung einer Be-
hauptung oder Handlung ist, setzt immer bereits das Geschick
einer zweiten Beurteilung voraus, die meist unvermerkt über die
Relevanz der weiteren Fragen befindet, die sich anschließen an
das, was auf den ersten und den letzten Blick als hinreichende
Antwort zählt. Eine haltbare Einsicht und Begründung antwortet
nicht allein auf opponierende Thesen und Argumente; sie stützt
sich nicht nur auf weitergehende Annahmen, die als gesichert
vorausgesetzt werden; sie zehrt überdies vom Kredit andersarti-
ger Gründe als derjenigen, die im Zuge der' vorgenommenen
Prüfung in Anspruch genommen wurden.
So rekurriert der moralisch Argumentierende zum Beispiel auf
theoretisch ermittelte Einsichten oder subjektiv bewährte Eva-
luationen; so macht der theoretisch Erörternde und Erkundende
immer bereits Gebrauch von sozialen Konventionen der Darle-
gung und Demonstration; so aktualisiert der ästhetisch Urtei-
lende in jeweils unterschiedlichen Maßen ein sachliches, normati-
ves und evaluatives Wissen im Zuge von Interpretationen und
Bewertungen, die ihrerseits wiederum Einfluß haben mögen auf
die Einstellung, aus welcher der Betreffende sei es privaten, sei es
politischen, sei es intellektuellen Konflikten begegnet - und so
fort. Der Dynamik dieser Interferenzen und Übertragungen
werden wir noch häufig begegnen. Fürs erste weist die prekäre
Interdependenz der Beurteilungsweisen darauf hin, daß der Im-
petus der Vernunft vorderhand aus nichts anderem sich speist als
der Verfügbarkeit eines Reservoirs externer Gesichtspunkte ge-
genüber den Stützkräften, die das augenblickliche Handeln, die
derzeit gängige Gepflogenheit, den momentan verfolgten Gedan-
kengang leiten. Vernunft ist Übung im Wechsel der rationalen
Perspektiven.
Wie die Grundarten der Rechtfertigung zu unterscheiden sind, so
daß die differente Rationalität von Verhaltensweisen analytisch
präzisierbar wird, werden erst die folgenden Kapitel erörtern
können. Vorgreifend ist festzuhalten, daß jede dieser Begrün-
dungsweisen eine originäre Perspektive öffnet auf die Themen,
die aus ihr zur Sprache und Bearbeitung - zur Behandlung also -
kommen. Der Stellenwert als gute oder schlechte Gründe, den
bestimmte Annahmen im Zuschnitt der einen Beurteilungsweise
erhalten, ist dabei in den Zusammenhang anders gelagerter Argu-
mentationen nicht übertragbar; dennoch werden in jeder Argu-
mentation Annahmen eine Rolle spielen, die nur aus einer ande-
ren Warte stichhaltig geprüft werden können; insofern ist jede
Überlegung von den Resultaten anders gepolter Überlegungen
getragen. In der Konkurrenz ihrer Aneignungsleistungen sind die
Formen der Rationalität miteinander koordiniert. Das zeigt sich
schon daran, daß die Prämissen und Konklusionen der einen
Verfahrensweise aus der Sicht (einer) der different fundierten
Beurteilungen und Praktiken häufig umstritten und bestreitbar
sind. Wegen eines einmal verordneten Schlafpensums täglich den
Sonnenaufgang zu verschlafen, mag aus ästhetischer Sicht die
reine Sünde sein; Städte wie surrealistische Großplastiken zu
behandeln, wird für die Bewohner dieser Städte eine politisch
zweifelhafte Maxime sein; die genetische Forschung sich selbst
zu überlassen, ist mit erheblichen moralischen Risiken verbun-
den; der moralischen Forderung des fair play im Fußball kann
widersprochen werden im Namen eines taktisch begründeten
Prinzips der begrenzten Regelverletzung, etc. So sehr bestimmte
Annahmen für jeweils beide der konkurrierenden Beurteilungen
eine Rollt! spielen werden, so wird diese Rolle doch jedesmal eine
verschiedene sein: die Formen der Rechtfertigung sind in einen
Diskurs der Diskurse nicht überführbar. Sofern es sich denn um
eine eingehende Beurteilung handelt, kann nur jeweils eine Hin-
sicht der Beurteilung leitend sein - oder es werden die Betrach-
tungshinsichten wechselweise gegeneinander gestellt werden
müssen, ohne darum in einer übergeordneten Betrachtung zu
verschwimmen. Welcher Beurteilung wir letztlich das entschei-
dende Gewicht geben, ist begründbar nur wiederum mit den
Argumenten, denen wir so den Ausschlag geben, ohne damit
notwendigerweise die Postulate der konkurrierenden Beurteilung
strikt außer Kraft zu setzen. Vielmehr werden diese Postulate
einbezogen in den Gang der definitiven Überlegung und hier
nach der Kraft bewertet, die sie im Kontext dieser Überlegung
haben.
Die hedonischen oder medizinischen Gründe, die ich habe; den
Anbruch des Tages zu verschlafen, setzen die energische Beto-
nung der Einmaligkeit von Sonnenaufgängen nicht unbedingt
außer Kraft; nur habe ic,h, wenn ich dem Ausschlafen mit Be-
dacht den Vorrang gebe, meine eudämonischen oder prophylak-
tischen Gründe, das ästhetische Ansinnen hier nicht zum aus-
schlaggebenden Grund meiner Verhaltensweise zu machen. Das
Gewicht der ästhetisch einleuchtenden Behauptung, daß Sonnen-
aufgänge jedes Mal etwas einmaliges sind, wird für meine Praxis
insofern relativiert, als ich mich dafür entscheide, meinen Tages-
lauf nicht nach naturästhetischen Prinzipien dieser Art zu organi-
sieren. Diese Option ist begründbar auch dann, wenn ich darauf
verzichte, dem ästhetischen Argument mit ästhetischen Argu-
menten zu begegnen. Sie ist begründet, eben insofern ich nicht-
ästhetische Gründe habe, die ästhetischen Gründe - so gut sie als
ästhetische sein mögen - hier nicht als primär relevant zu erach-
ten, obwohl diese in Erörterungen über das bekömmliche Leben
durchaus nicht fehl am Platz sind. Die ästhetische Kritik meiner
Gepflogenheiten muß nicht ästhetisch zurückgewiesen werden,

16
um ration_alerwidert zu sein; um vernünftig erwogen zu werden
aber muß sie als ästhetische ernstgenommen sein: nämlich als
Zumutung eines Vergnügens, das mit der Lust des Bettbehagens
aufreizend konkurriert.
Auch wenn die Spannung zwischen rational konkurrierenden
Annahmen oft weniger harmlos ausfällt und das Verhältnis ver-
schiedener Beurteilungsweisen zueinander ein jeweils besonderes
ist, so macht dieses Beispiel, in dem ein externer - hier ästheti-
scher - Einwand gegen ein subjektives Präferenzverhalten intern
- aus präferentiellen Erwägungen - zurückgewiesen wird, doch
zugleich den allgemeinen Umstand deutlich, daß eine Verfah-
rensweise nicht durchweg immanent kritisiert werden muß, um
ernsthaft kritisiert zu sein. Eine ethisch argumentierende Kritik
der genetischen Forschung wird gewiß nicht deren theoretische
Resultate bestreiten, wohl aber ein tragendes Verständnis der
Praxis in Zweifel ziehen, die zu ihnen führt. Die opponierende
Beurteilung wird erwägen, ob es denn sinnvoll und verantwort-
bar ist, dergleichen wissen zu wollen; vielleicht wird sie dafür
plädieren, diesen Forschungen die schützende Anerkennung ei-
ner verdienstvoll selbstzweckhaften Tätigkeit nicht weiter zu
gewähren. Indem sie intern ansetzt, macht eine externe Kritik
ihre andersartige Beurteilungsweise kontrovers geltend. Diese
Kontroverse kann nicht auf höherer Ebene geschlichtet werden:
sie muß mit moralischen Argumenten. ausgetragen werden und
das bedeutet hier: im insistierenden Geltendmachen des ethi-
schen Problems gegenüber den empirisch-experimentellen Strate-
gien, die theoretisch als aussichtsreich und geboten erscheinen.
Sowenig diese Konfrontation unabhängig von einer Reflexion
und Debatte über den Stand der theoretischen Erkenntnis mit der
Hoffnung auf Erfolg bestanden werden kann, sowenig wird
durch die nötigen Differenzierungen und wechselweisen Korrek-
turen eine Assimilation der Betrachtungsarten erreicht (auch
dann nicht, wenn es zu einer Einigung von Kritikern und Kriti-
sierten kommt). In ähnlicher Weise wird ja häufig mit theoreti-
schen Argumenten in den Kontext moralischer Debatten einge-
griffen, ohne daß diese dadurch theoretisch entschieden würden;
in manchen Fällen mögen diese gegenstandslos werden, wenn
sich zeigt, daß ihren Besinnungen eine falsche vormoralische
Bestandsaufnahme zugrundegelegen ist - eine Entwarnung, die
wiederum aus praktisch-normativer Autorität erfolgt. Entspre-
chend kann Theoretisches und Moralisches ästhetisch, Ästheti-
sches theoretisch und moralisch, präferentiell Fragloses wie-
derum ästhetisch und moralisch (usw.) fragwürdig und kritisier-
bar erscheinen: und zwar in der Weise, daß die problematisie-
rende Betrachtung Relevanz beansprucht für den Verhaltenszu-
sammenhang, in den ihre Kritik gesprochen ist. Eine solche
Kritik zielt darauf ab, die kritisierte Praxis in Aspekten ihrer
Grundlagen anders zu fundieren.
Im Potential derartiger Konflikte beweist sich die Verkettung der
rationalen Verfahren, in welche die Vernunft sich gliedert. Zur
Beurteilung der Relevanz einer Beurteilungsweise gibt es kein
anderes Beurteilungsverfahren als das Spiel der Differenz von
Beurteilungsweisen, die durch bestimmte Annahmen einander
voraussetzend ineinander verankert sind. Welches Beurteilungs-
interesse im gegebenen Fall das relevante ist, muß jeweils inhalt-
lich-situativ ausgemacht werden. Insofern bleibt auch der ver-
nünftigsten Entscheidung noch das Gewicht - die Gewichtung -
einer Entscheidung. Nur ein schöner Glaube die Meinung, es sei
generell diejenige Entscheidung die bestbegründete, die sich nach
allen Hinsichten als vorzüglich erweist. Das ist eben bloß der
Fall, wo es am leichtesten fällt, im Einklang mit den definitiven
Gründen zu handeln. Eine trügerische Operation überdies, die
Harmonie der Verhaltensbeurteilungsarten zur regulativen Idee
der lebenspraktischen Vernunft zu küren. Derart ins Dasein
eingestimmt, wären wir taub geworden für das widerhallende
Echo der Stimmen, aus deren überlagernder Erprobung wir den
Einsatz des Hierseins nicht immer spielend bestimmen.
Die Betonung einer irreversiblen Divergenz der einander über-
schneidenden Grundbahnen der (sei es effektiven, sei es reflexi-
ven) Orientierung schließt natürlich nicht aus, daß diejenigen
Überlegungen und Gespräche die gelungensten und reichsten
sind, die ihre Kreise durch alle diese Kreise der Beurteilung
ziehen. Ausgeschlossen ist lediglich eine Auffassung, die den
Zusammenhang der Diskursformen - und sei es idealisierend -
nach dem Modell eines Diskurses höherer Ordnung stilisiert.
Sowenig es die Logik der Begründung gibt, sowenig gibt es die
Argumentation, die alle Arten von Gründen zueinander entbin-
det.3 Der Zusammenhang der Begründungsweisen ist nicht selbst

18
zu verstehen als einer der ausgeführten oder auszuführenden
Begründung, sondern als einer der möglichen Kritik. Der Kritik
nämlich an Annahmen, die aus jeweils anderer Beurteilungsart zu
bezweifeln oder bestreiten sind; freilich ebenso der kritischen
Bestätigung und Bekräftigung von Prämissen, die innerhalb der
befragten Verfahrensweise nicht weiter befragt wurden oder zu
befragen waren. Die Befragung einer extern einsetzenden Kritik
eröffnet die Möglichkeit, im Umkreis der angesprochenen The-
men andere Gründe geltend zu machen als die, die in der
gegebenen Praxis implizit oder explizit leitend waren. Das kriti-
sche Argument kündigt ein bestehendes Verständnis zumindest
probeweise auf; indem es eine andere Perspektive ins Spiel bringt,
bricht es die Kontinuität der bisherigen Sichtweise und macht
deutlich, daß im bisherigen Verständnis Voraussetzungen im
Spiel waren, die es nötig machen oder verdienen, aus neuer Warte
begutachtet zu werden. Eine Kritik, die in dieser Weise die
Grenze zwischen Diskursformen überschreitet, stellt zwischen
den Orientierungen, die so konfrontiert werden, einen Zusam-
menhang her, indem sie auf deren Differenz besteht (obschon es
sein mag, daß die Grenzen schließlich anders gezogen werden).
Nur als Praxis solcher Korrekturen ist die Einheit der Vernunft
zu denken.

Wenn sich zeigen läßt, was ich hier tastend sage, dann wird auch
deutlich werden, daß die Relativität allen Begründens selbst eine
relative ist. Sie ist relativiert in den vielfachen Möglichkeiten
vereinzelter Übergriffe einer argumentativen Kritik. Obgleich es
absolute Begründungen nicht gibt, ist nicht alles Begründen
relativ: beide Teilfeststellungen haben ihren Grund darin, daß
jede Begründungsart sich auf Voraussetzungen stützt, die nur aus
der Warte einer anderen Beurteilungsweise gegebenenfalls kri-
tisch aufgegriffen und geklärt werden können. An der Möglich-
keit und zugleich: der in Kontexten des subjektiven wie inter-
subjektiven Handelns wahrgenommenen Notwendigkeit einer
externen Kritik an Handlungsvoraussetzungen, die intern ansetzt
- nämlich an bestimmten dieser Voraussetzungen; an dieser
transitorischen Dynamik erweist sich die List der Vernunft im
Eigensinn ihrer diskursiven und dispositionalen Agenturen. In
diesem Eigensinn liegt zugleich die unaufhebbare Begrenzung

19
einer jeden extern kritisierenden Intervention. Deren Überschrei-
tung nämlich wird sich aus Voraussetzungen nähren, die nicht
zugleich Gegenstand einer reflexiven Erkundung sein können.
Die Möglichkeit - und der mögliche Erfolg - eines konkret
rationalitätskritischen Eingriffs.Jietzt eine gesicherte oder als gesi-
chert gesetzte Basis, setzt gegebene und inhaltlich fundierte
Limitationen einer Praxis voraus, auf deren Unstreitigkeit sie sich
implizit oder explizit beruft. Eine Kritik, die nicht auf fraglosen
und fraglos konsentierten Überzeugungen fußt, befindet sich
jenseits von Verständlichkeit, möglicher Akzeptabilität, treffen-
der Schärfe. Der Sog der Vernunft bezieht seine Antriebe nicht
aus einer Raserei der Kritik.
Ebensowenig aber liegt dem Begriff der Vernunft der regulative
Gedanke der vorauszusetzenden und zu ermöglichenden Einig-
keit der Argumente und Parteien unzertrennlich bei. Konsens
und Kohärenz sind konstitutive Begriffe für die Explikation eines
Begriffs der Vernunft - ebenso wie der Begriff der Kritik;
ebensowenig wie dieser insinuieren sie das überragende Ideal
eines Zustands wirklich gewordener Vernunft. Nur wenn es
gelingt, den versöhnungsphilosophischen Zierrat abzustreifen,
wird es möglich, die Idee der Vernunft greifbar zu erläutern am
Potential einer Praxis des Austauschs von Korrekturen der Pra-
xis, die die Praxis derjenigen ist, die an diesem Prozeß der
Verneinung und Bejahung beteiligt sind. Alle Rede über Ver-
nunft wäre ein leeres Getue, wäre dieses Potential nicht gegeben;
die philosophische Ausrufung der Vernunft bezieht ihre Energie
aus dem Willen, es nicht versiegen zu lassen. Allein in den
hergebrachten und vorgeformten Zusammenhängen ihrer Praxis
finden die Subjekte die Welt ihres Daseins und Handelns vor:
und einzig darin, wie sie sich zu den umgebenden Verhältnissen,
aus denen sie zehren, verhalten, kann ihr Handeln sich als
vernü~ftig oder unvernünftig erweisen. Sie beglaubigen und tei-
len eine Vielzahl von Praktiken, bevor und noch während sie
deren eine beurteilen. Darum bewährt und beweist sich die
Macht der Vernunft primär im Auftakt von Worten und Taten
der Negation. Vernünftig ist eine Praxis, die im Bewußtsein der
mehrdimensionalen Kritisierbarkeit ihrer Bedingungen erfolgt,
ohne darum in eine Manie des Begründens zu verfallen: weil die
Akteure von der Möglichkeit der korrektiven Kritik Gebrauch

20
machen im Widerstand gegen jeweils bestimmte Praktiken, die sie
nicht (mehr) zu denjenigen ihrer Praxis machen wollen. Der
kritische Vorwurf macht einen Gegenentwurf lebendig, der sich
im aufgeworfenen Zusammenhang bereits angelegt findet. Der
Einsatz einer solchen Kritik markiert den Willen der Befreiung
oder Abweisung von Verhältnissen und Projekten, die denen, die
diese Kritik üben, nicht weiter genügen - aus Gründen, deren
Verhandlung mit der distanzierenden Unterbrechung beginnt.
Um dieses Spielraums für Veränderungen willen ist die Affirma-
tion der Differenz der rationalen Beglaubigungsformen geboten.
Die verneinend angetriebene Auseinandersetzung, in der das
Potential einer erneuernden Selbstbestimmung sich erhält und
bereichert, bezeugt das gewiß nicht negative Begehren, die Pro-
jekte, an denen wir teilhaben, möchten uns mitnehmen-in und
einnehmen-für die Wirklichkeiten einer Welt, denen wir beiwoh-
nen, ohne von einer ihrer Provinzen vereinnahmt zu werden.
Denn nicht des Begründens wegen bedürfen wir der kritisch
reklamierten Gründe, sondern zur Auseinandersetzung in und
mit der Welt, in der wir uns finden. Im Einlassen auf die
Überschreitungen eines aus Vernunft orientierten Lebens kommt
somit keine zwanghafte Liebe zum Korrektiven um der Korrek-
turen willen zum Vorschein. Im Irrsinn eines unbedingten Stre-
bens nach endlicher Vollendung wäre das höchst irdische Motiv
versunken, das es gab und gibt, die labyrinthischen Wege der
Vernunft zu bahnen. Dieser Impuls ist weder vernünftig noch
unvernünftig. Es ist der, aus einer prekären Situation eine lust-
volle Tugend zu machen. Wir sind auf die Möglichkeiten des
vernünftigen Handelns verwiesen, wenn und weil wir von der
Freiheit, zu der wir nach dem Wort von Sartre verdammt sind,
dennoch etwas haben wollen. Freiheit ist der dunkle Grund der
Vernunft; Vernunft ist die Lichtung der Freiheit. Vernünftig ist
die Praxis eines mehrdimensional rationalen Handelns, durch das
die Handelnden in den Kontexten ihrer Gegenwart ihre Freiheit
geltend machen und halten - oder dies wenigstens versuchen. Im
Einsatz verschiedenartig erreichbarer Wahrheiten auf den Chan-
cen der Bestimmbarkeit der eigenen Wirklichkeit zu bestehen -
das ist die ungestillte Regung, die die rationalen Ordnungen
gegeneinander umstritten hält. Ob die, die darauf setzen, darüber
glücklich werden, ist so nicht zu sagen - aber sie bleiben im Spiel

21
des Glücks dabei, besessen von den Möglichkeiten, den zukom-
menden Gewinn zu erkennen. Sich die Freiheit nehmen, sein
Glück zu versuchen: einen anderen Anlaß, vernünftig zu sein,
wird es nicht geben.•
Von hier aus wird auch die Differenz von (singularer) Vernunft
und (pluraler) Rationalität deutlicher als bisher. Rational sind
Arten des Handelns (bzw. der Disposition zu handeln), sofern es
(in einem gegebenen Kontext) zureichende oder akzeptable
Gründe gibt, so zu handeln; überdies vernünftig ist dieses Han-
deln und Verhalten dann, wenn es auf Seiten der Akteure verbun-
den oder zwanglos verbindbar ist mit einem Bewußtsein davon,
in welchem Sinn es gute oder schlechte Gründe sind, auf die das
eigene oder fremde Verhalten sich stützt. Es mag rational sein zu
wissen, warum und wofür in dieser Weise zu handeln sei; ver-
nünftig ist die geschärfte Aufmerksamkeit dafür, worauf man
sich hiermit eingc.i'lassenhat. Vernunft ist ein skeptischer Sinn für
die rationalen Sinnzuweisungen. Dieses Gespür ist nicht antira-
tional, sondern kritisch gebrochen, also verhalten und darum
gesteigert rational, ohne doch Steigerung eines der rationalen
Vermögen zu sein. Es wird sich nicht damit beruhigen zu wissen,
ob und inwiefern diese oder jene Handlung nach üblichen Maß-
stäben richtig getan ist; es wird in dieser Beurteilung darauf
achten zu fragen, was es für den jetzigen Zusammenhang des
Handelns und das künftige Handelnkönnen bedeutet, die betref-
fende Sache so angehen zu lassen. Auch die intuitiven oder
ausgeführten Antworten auf diesen Vorbehalt werden wiederum
in dieser und jener Hinsicht rational sein oder nicht. Die ganze
Weisheit der Vernunft liegt im Offenhalten jenes Fragens.
Mit der Erinnerung daran, wofür solches Offenhalten auszuhal-
ten is.t, löst sich das Paradox einer Steigerung der Rationalität
durch ihre Störung. Denn nicht als besonders rationale Koordi-
nation der Rationalitäten ist Vernunft zu denken - das wäre
nichtssagend zirkulär: sondern als libertäre Koordination der
Möglichkeiten rationaler Orientierung. Die moderne Teilung der
Orientierungsgewalten trägt dem Umstand Rechnung, daß keine
Praxis- und Lebensform an sich offen ist für ihre bereichernde
Veränderung und selbst ihre erneuernde Erhaltung. Von seiten
der an ihr Beteiligten (und zwischen ihnen!) muß sie offen
gehalten werden in einem nicht selten riskanten und konfliktrei-

22
chen Engagement. Anders ist der doppelten Bedrohung nicht zu
begegnen, der eine gehaltvolle Selbstbestimmung zwischen den
Polen einer völligen Distanzlosigkeit und der totalen Distanzie-
rung struktutell ausgesetzt ist. Die Balance einer Freiheit, die zu
leben sich lohnt, wird eine ruhige nicht sein. Ihre Belebung kann
gelingen allein in der Anstrengung, den Wahnsinn einer um die
Blendung absoluter Gewißheiten sich ewig relativierenden Refle-
xion ebenso zu vermeiden wie den Stumpfsinn eines Anklam-
merns an die durch Überlieferung und Umgebung einmal ge-
stanzten Richtlinien des Verhaltens. Gegen die drohende Entlee-
rung und Verkümmerung der Frei_heit setzt eine vernünftige
Praxis auf den digressiven Takt und die wiaerredende Courage
einer interrationalen Urteilskraft: als der Fähigkeit von Subjek-
ten, ihr Dasein in Freiheit aus Energien der entbindenden Einbin-
dung erneuernd zu gewinnen. Dieses Vermögen der korrektiv-
kontinuierlichen Befreiung verdient den Namen einer zugleich
sozialen und existentiellen Kunst - einer Kunst der Entzwei-
ung.
Diese Wendung ist mit doppelter Betonung zu hören - ausgelobt
wird nicht einfach ein Zustand der Entzweiung, sondern ein
Umgang mit diesem, der sich aus Quellen einer souverän aktuali-
sierbaren Erfahrung speist. So gelesen intoniert das Schlagwort
von der Kunst der Entzweiung nicht noch einmal das alte Will-
kommenslied auf die modernen Entsicherungen. Statt dessen gibt
es eine leitmotivische Antwort auf irreführende Antworten auf
die Destabilisierungen der Modeme. Der Titel dieser Arbeit will
gegen den Gegensatz von Entzweiung und Versöhnung opponie-
ren, den ihr erster Satz ein letztes Mal aktiviert. Dieser ideali-
stisch konstruierte und nachidealistisch bis materialistisch viel-
fach kultivierte Gegensatz zu den Gegensätzen hat seither die
erstaunlichsten Karrieren erfahren, deren bekannteste vielleicht
die ästhetische Versöhnungsleier und deren fatalste gewiß die
politische Harmonielehre ist, die sich die Freiheiten eines besse-
ren Lebens entweder als staatlich zu garantierende oder als
gesellschaftsunmittelbar zu erblühende Aussöhnung denken. Mit
höchst unterschiedlicher Auswirkung geht die Neurose der Ver-
söhnung heute quer durch die politischen Linien und verhindert
die kämpferische Koexistenz eines Friedens, in dem die Arbeit
der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zur Entfaltung einer

23
libertär umstrittenen Sittlichkeit führen würde. »Aufhebung«
heißt das Zauberwort gegen die Klüftungen der entzauberten
Welt - je nach Geschmack und Gesinnung: Aufhebung der
Differenz von Moral und Politik, Kunst und Leben, Theorie und
Poesie, Pflicht und Neigung, Besonderem und Allgemeinem,
Damals und Heute, Rausch und Besinnung. All diese Integratio-
nen sind ein falscher Zauber geblieben: was nichts besagt, denn
dit Umstände waren widrig -: und werden ein falscher Pro-
grammzauber bleiben, wenn nicht diese und andere Differenzen
erhalten bleiben und behalten werden über den Integrationen
einer Praxis, die im Potential dieser Spaltungen regulierbar bleibt
für die, deren Praxis sie ist.
Diese Aussage ist nicht prophetisch, sie ist begrifflich; sie erin-
nert an die von Hegel analysierte »emanzipative Konstitution«
einer Gesellschaft, die sich aus der Freiheit ihrer Mitglieder nicht
bloß rhetorisch organisicm.l Hegels eigene Überhebungen sollen
hier nicht interessieren. Mit Hegel immerhin sei darauf bestan-
den, daß nichts bewahrt ist in Aufhebungen, in denen die Diffe-
renz interdependenter Bezugsweisen (Aktionsformen, Bewußt-
seinsarten) soweit schwindet, daß die differierenden Komponen-
ten nicht mehr bestimmt und wichtiger: in praktischen Konflik-
ten nicht länger gegeneinander mobilisiert werden können. Am
Wort soll es dabei nicht liegen - auch für das Ideal einer Kunst
der Entzweiung lassen sich aufhebungslogische Erläuterungen
bieten. Nur ist es hier nicht die »Entzweiung«, deren Aufhebung
gedacht und gefordert, sondern die Alternative von Entzweiung
und Versöhnung, gegen die zu denken ist. Dafür wiederum
greifen die Hegelschen Vermittlungsmittel zu weit und darum zu
kurz. Wenn wir von Freiheit reden, kann aus dem Fluchtpunkt
einer Idee der Versöhnung die Rede nicht sein.
In einer kommunikationstheoretisch säkularisierten Version läßt
sich an dem magischen Wort ,Versöhnung< (in seiner globalen
Verwendung) etwa die folgende Bedeutung ermessen. Mit den
Ansprüchen und Anforderungen des Lebens versöhnt wären die
Subjekte einer Praxis, die von ihnen in den verschiedenen Bedeu-
tungen des Wortes (erfolgreich, gerecht, schön, angenehm ... ) in
weitgehender Übereinstimmung als gut befunden würde. Aus
naheliegenden Gründen müßte die utopische Konvenienz der
Beurteilungsweisen zugleich verstanden werden als ein Zustand
der sozialen Interaktion, die sich vollzöge auf der Basis einer
kohärent fundierten, zwanglos erreichten und mühelos erreich-
baren Einigung auf Koordinaten des intersubjektiven Handelns.
Nun sind solidarische Beziehungen in diesem Sinn und ist die
Existenz entspannter Zonen des unbestrittenen Eigenlebens
durchaus eine notwendige Bedingung einer mehr als flüchtigen
Freiheit gesellschaftlich lebender Individuen. Aber die konve-
nient-konsensuelle Umbettung macht die Wirklichkeit der Frei-
heit alleine nicht aus. Sie kann lediglich die partielle B~sis liefern,
auf welcher die individuellen wie kollektiven Konflikte der Koor-
dination gewaltlos und perspektivenreich ausgetragen werden
können. Nur die befreiende Auseinandersetzung hält und setzt
die Momente der Versöhnung als solche in Kraft. Versöhnung,
die Freiheit garantiert, mag erweitert werden, zu besiegeln ist sie
nicht: denn Freiheit, die auf Übereinkunft gründet, lebt aus der
Notwendigkeit, an den Übereinkommen ihrer Gegenwart immer
auch zu zweifeln. Vollendete Befreiung wäre vollends mißlun-
gen; im Desaster einer allgemein menschlichen Vervollkomm-
nung wäre die Freiheit getilgt, Verhältnisse des verbindlich schö-
nen Lebens als verheerend zu kündigen. Daher ist auch die
linksutopische Bequemlichkeit zu verabschieden, die uns das
Reich der Freiheit als einen politisch wünschenswerten Zustand
des Befreitseins vorschreibt, in dem das Glück der anmutigen
Selbstentfaltung endlich heimkommen wird zu denen, die es bis
dahin nur in entstellten Fassungen überkam. Es schwingt, mit
anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks diejenige der
Erlösung nicht unveräußerlich mit - solange wir mit der Erwar-
tung des Glücks die Freiheit seiner leidenschaftlichen Umwer-
bung und Annahme unerläßlich verbunden denken. 6 Befreiung
ist nicht Befriedung.
Noch ist Entzweiung gleich Entfremdung. Die hartnäckige Ver-
wechslung politischer, sozialer und personaler Entzweiungen mit
den Unfreiheiten der Entfremdung, so scheint mir, ist das Miß-
verständnis, das Tnföfefrsche Erörterungen über Freiheit und
Rationalität oft in sei es dezisionistische, sei es utopistische
Paniken zwingt. Aus der hier entworfenen Konstruktion erweist
sich Entfremdung als blockierteEntzweiung: als notgedrungenes,
machtgestütztes oder im Unglück zementiertes Verhängnis ange-
sichts und entgegen der Aussichten einer kritischen Überschrei-
tung. Eines Überschreitens freilich, das nicht mehr der allseitigen
Einheit länger nachschreit und entgegenschwärmt - dieser mit
Fleiß geträumte und nicht selten akribisch vollzogene Traum fügt
den Arsenalen der Entfremdung nur fortwährend weitere Gehege
und Verliese hinzu (die sich immer dann auftun, wenn wir uns
verleiten lassen zu glauben, die Aussöhnung zu Zweien oder
Millionen sei endlich rundum gelungen oder für allemal zu
vollbringen). Eine zweite Variante kennt die Falle der im Namen
ihrer Suspension begrüßten Entfremdung; ich meine jene offen-
herzigen Theorien, die die Errungenschaften der Modeme prei-
sen als eine Pluralisierung der Möglichkeiten, den von ihr entfes-
selten Lasten der Freiheit kompensativ zu entgehen. Freiheit
wird ironisch zerdacht als ein Ausbau von Enklaven der Aus-
flucht vor ihr.7 Auf diesen Wegen münden Hegels Verfremdun-
gen in einen doppelten Aufguß der Entfremdung, der angeboten
wird als Elexier gegen die Pathologien der Zeit. Die utopisch-
naive und die kompensativ-sentimentale Entfremdungskritik un-
terschreiben die abgewendeten Seiten einunddesselben verteufel-
ten Paktes - sie nehmen der Freiheit den Schatten und damit die
Kontur einer gegen die Wirklichkeit aus ihrer Gegenwart zu
verwirklichenden Realität. Die skeptische Devise, das richtige
Leben sei bloß ein vielfältig falsches und die rigorose Entgeg-
nung, es könne ein richtiges Leben im falschen nicht geben,
verraten beide die Lust der Vernunft, von der noch die List ihrer
Entsagungen funkelt. Gegen ein derart ermüdetes Abschreiben
protestiert das Wachhalten unseres Wissens von der Kunst der
Entzweiung. Zu vergessen, sich auf diese verstehen zu wollen,
würde bedeuten, mit den Möglichkeiten der Freiheit zugleich das
Gespür für die Raffinessen hiesigen Glücks zu verlieren. Keiner
sagt, die Erfüllungen des Findens seien ohne die Leiden und
Verluste des Verlierens zu haben.

b) Ästhetische Vernunftkritik

In verkürzenden Stichworten schreibt sich dergleichen leicht.


Langwieriger ist das Unterfangen, diesem Umriß die Faßlichkeit
annehmbarer Einsichten zu geben. Auch wenn sie sich nicht an
beschaulichen Idealen betäubt, nimmt eine im Namen der Vers
nunft vernunftkritische Rede unvermeidlich Idealisierungen vor
- die Reflexionen zur Kunst der Entzweiung machen da keine
Ausnahme. Zulässig ist diese Stilisierung, soweit sie Erkenntnis
stiftet: soweit die philosophische Konstruktion des Zusammen-
hangs von Rationalität, Freiheit und Glück es erlaubt, etwas
deutlich und erfahrbar zu machen von den aktuellen Aussichten
der Projekte und Projektionen, um die das lohnende des Lebens
und Schreibens sich kristallisiert. An Widerständen mangelt es
nicht. Das Ausmessen eines mehrlinigen Rationalitätsbegriffs als
des unserer Zeit und Gesellschaft allein angemessenen Rahmens
der Erhellung ihrer Gegenwart - die Verteidigung eines pluralen
Verständnisses von Rationalität, wie sie heute von verschiedener
Seite unternommen wird, steht vor einer doppelten Schwierig-
keit: sie muß einerseits die Grundformen der sprachlich-prakti-
schen Eingestimmtheit auf die Wirklichkeiten des Handelns ab-
grenzend beschreiben und doch andererseits die interne Verbun-
denheit, das Übergängige dieser Orientierungen geltend machen;
sie muß also die Eigenheiten der gesellschaftsbildenden Weltbe-
züge aus dem Zusammenhang eines offenen Systems wechselsei-
tiger Dominanzen erläutern, in dem aus einem Einstellungstyp
das im Medium der anderen Zusichten Eingeholte und Gesetzte
nach veränderten Prinzipien aufgenommen und durchgemustert
wird; sie muß diese Klärung versuchen, ohne zurückzufallen auf
die Reduktionen und falschen Rangordnungen, die vorgenom-
men sind in den konkurrierenden Theorien, gegen deren Zu-
schnitt ein »umfassender« Rationalitätsbegriff gewonnen werden
soll; und sie muß darauf bedacht sein, die begriffslose Über-
schwenglichkeit derjenigen Theorien zu vermeiden, die es aufge-
geben haben, die Kritik am rationalistischen Selbstbild der Epo-
che im Namen einer einsichtigen und verlockenden Vernunft-
konzeption zu führen.
Mit diesem Komplex klarzukommen kann nur bedeuten, ihm
durch Beschränkungen beizukommen. Es erscheint mir nahelie-
gend und dringlich, den Streit um den Sinn der Rationalität, die
wir uns zutrauen müssen und können, einmal auf dem Gebiet der
Ästhetik auszutragen: anstatt die Auseinandersetzung, wie so
häufig, von dort nur zu eröffnen, zu beenden oder flüchtig zu
verzieren. Schließlich ist jede Theorie der Rationalität - also: der
(Art der) Erreichbarkeit von Erkennmis, Selbstbestimmung, Ge-
rechtigkeit - in bezug aufs Ästhetische ausdrücklich oder unaus-
drücklich, positiv oder negativ immer schon ausgewiesen. Umge-
kehrt stellt jede ernstzunehmende Theorie des Ästhetischen im-
mer bereits eine Antwort dar auf das, was zu ihrer Zeit als
rational und rationalisierbar gilt. Die Karriere der Ästhetik seit
Baumgarten rührt ja nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, Bewe-
gungsfreiheit zu gewinnen angesichts eines in die Enge geratenen
oder als verengend empfundenen Rationalismus der Aufklärung. 8
Die Zweifel und Verzweiflungen am Geschick der Vernunft
müssen in die Ästhetik nicht erst hineingetragen werden. Die
Gefahr einer Überfremdung der Ästhetik durch extern ent-
brannte Fragestellungen (die intern nur für ein Strohfeuer gut
sind) ist freilich erst dann erhellend vermieden, wenn es gelingt,
Grundzüge des Rationalitätsproblems an Kernthemen der ästhe-
tischen Theorie aufzufinden und dort auch die Aporien aufzuzei-
gen, in die sich eine unhaltbare Vernunftkonzeption im Zuge
ihrer Verständigung über die ästhetische Praxis unvermeidlich
verstrickt. Der vernunftkritische Weg über die ästhetische Hin-
tertreppe führt in die Gewölbe der ästhetischen ,Erfahrung hin-
ein; nur mit Hilfe korrespondierender und kontrastierender
Erinnerungen an das Netzwerk der nichtästhetischen Aneig-
nungswege aber kann es gelingen, den Grundriß der ästhetischen
Siedlungsformen in seinen Besonderheiten zu bestimmen. Wenn
das so ist, dann bewegt sich die Kritik an Fehlkonstruktionen in
der Ästhetik als solche bereits auf vernunftkritischen Pfaden,
ohne dies in jedem ihrer Schritte eigens betonen zu müssen.
Ob das wirklich so ist, muß die spätere Durchführung erweisen.
Zunächst einmal gibt die vorgeführte Unterscheidung von Ratio-
nalität und Vernunft die Gelegenheit, die Grundannahme dieser
Arbeit auf einen einfachen Nenner zu bringen: Ästhetische Ra-
tionalität ist ein konstitutiver Faktor der Vernunft. Was im
folgenden zur Debatte steht und durch dieses Kapitel vorbereitet
wird, ist eine Analyse der ästhetischen Rationalität im Interesse
einer Erörterung des Problems der ästhetischen Vernunft. Wie
schon angedeutet, wird es dar~m gehen zu zeigen, daß die Rede
(und der auch unter anderen Siegeln vermummte Gedanke) von
ästhetischer Vernunft sinnwidrig, ja vernunftwidrig ist, wenn
damit etwas anderes gemeint ist als ästhetische Rationalität im
erläuterten Sinn: also eine partiell konstitutive Funktion eines
vernünftigen Lebens. »Der höchste Akt der Vernunft« ist nicht
»ein ästhetischer Akt«, wie der Autor des ältesten idealistischen
Systemprogramms es wollte; ebensowenig konvergiert die Idee
der Wahrheit mit derjenigen der Gelungenheit ästhetischer Ob-
jekte, wie das die ästhetische Theorie Adornos postuliert. Nicht
minder unzureichend ist freilich die (bei aller Verwandtschaft)
entgegengesetzte Version, die das Potential der ästhetischen Er-
fahrung der Bestimmungskraft einer wie immer emphatisch ge-
dachten Vernunft radikal entzogen sieht. Die Auffassung einer
Rationalität-im-Singular, die die rationalen Energien des ästheti-
schen Verhaltens nicht mit begreift, ist ihrerseits sinnwidrig:
wider den Sinn der ästhetischen Entsetzungen, auf die sie sich mit
puristischer Emphase beruft. Die ästhetischen Akte und Augen-
blicke erschöpfen sich nicht in emotiven Massagen und den Heil-
oder Schockbädern im Schaume des Scheins. Vernunft, die nicht
ästhetisch ist, ist noch keine; Vernunft, die ästhetisch wird, ist
keine mehr.
Dieser Satz läßt sich offenkundig in mehrfacher Hinsicht vielfach
variieren. Vernunft, die nicht moralisch ist; nicht politisch; nicht
expressiv oder reflexiv oder kommunikativ; nicht habitualisiert
und institutionalisiert; nicht negativ und spielerisch ... : wäre
noch keine oder nicht recht eine: aber wäre sie nur oder domi-
nant dies eine - gegenseitige Verpflichtung, Regulation der Inter-
essen, Taumel der Bekundung, Exzeß der Hinterfragung, Kom-
munion der Beteiligten, eine Gewohnheit, ironische Entladung,
ein Spiel ... : so wäre sie keine oder kaum mehr eine. Diese etwas
leichtsinnigen Abwandlungen zeigen erneut, daß diese Abhand-
lung die Erläuterung des Satzes, mit dem sie beginnt, an ganz
anderen Themen vornehmen könnte als solchen, die der Region
der Ästhetik angehören. Viele Wege der Vernunftkritik führen in
jenen Kreislauf der korrektiven Konfirmierung der Freiheit, der
aus keinem Zentrum zu bestimmen ist, weil er ein Zentrum, eine
primäre Agentur nicht hat. Arbeit und Spiel einer interrationalen
Urteilskraft sind nur am Ort jeweils einer Reaktions- und Refle-
xionsweise zu verfoJgen und daran, wie es sie zu anderen Zu-
gangsweisen und Verkehrsformen treibt. Auch dann etwa, wenn
die Philosophie sich selbst und ihre Verfahren zum Thema
macht, bekommt sie Prozeß und Potential der Vernunft nicht als
solche zu fassen. »Die ,Sprache der Vernunft, ist keine Sprache

29
für sich.« Der Diskurs der Philosophie verweist in explikativer
Manier auf Vollzüge, die nicht selbst in seiner Macht liegen. Und
wenn die philosophische Theorie sich daran macht, dem anderen
Wort von Gadamer zu folgen, das besagt, die Sprache selbst sei
die Sprache der Vernunft9 - wenn sie sich den rationalen Grund-
lagen von Sprache und Kommunikation zuwendet, so stößt sie
wiederum auf Sprachen der Sprache, in welche das Kräftespiel
der Rationalität-im-Singular sich mehrfältig teilt. »So ist die
Vermittlung der Vernunftmomente kein geringeres Problem als
die Trennung der Rationalitätsaspekte, unter denen Wahrheits-,
Gerechtigkeits- und Geschmacksfragen voneinander differen-
ziert worden sind. Gegen eine empiristische Verkürzung der
Rationalitätsproblematik schützt nur die beharrliche Verfolgung
jener verschlungenen Pfade, auf denen Wissenschaft, Moral und
Kunst auch miteinander kommunizieren.«' 0
Explikationen zum Vernunftbegriff müssen notwendigerweise
ansetzen bei Typen der Rationalität-im-Plural. Insofern ist die
Einseitigkeit des Zugangs, den diese Arbeit nimmt, gar nicht
vermeidbar; auch eine mehrseitige Betrachtung müßte mehrfach
einseitig ansetzen. Darum empfinde ich die Methodik der »Theo-
rie des kommunikativen Handelns« von Habermas als durchaus
vorbildlich, auch wenn ich die kommunikative Dreiheit und
Dreieinigkeit der Vernunft für erzwungen und ihre Konstruktion
aus reinen Verständigungsfunktionen für nicht überzeugend
halte. Ob es nun drei oder vier (oder fünf oder sieben) Grundty-
pen der Rationalität sind, von denen auszugehen ist, in jedem Fall
gilt, daß jeder dieser Typen der Begründbarkeit einen Aspekt der
Vernunft hervortreibt, ohne diese zu dominieren - solange sich in
dieser Orientierung Vernunft verkörpert. Rationalismen im pejo-
rativen Sinn nämlich sind Formen einer falsch dominierten Ver-
nunft - und da es einen »höchsten Akt der Vernunft« nicht gibt,
ist jede dieser Überhebungen verkehrt (auch wenn sie ihren
Aufschwung mit den Federn einer Rhetorik der Befreiung
schmückt). So gesehen ist irrational- gefährlich irrational- nicht
so sehr der Mangel an Gründen oder das Mangelhafte bestimmter
Gründe, sondern eine Gesamtpraxis, die generell nur einer Art
von Gründen erblindend vertraut. Das mag unwahrscheinlich
oder harmlos klingen, führt jedoch auf die ungemütliche Konse-
quenz, daß in jeder der Spielarten der Vernunft zugleich eine

30
ihrer potentiellen Abarten lauert. Insofern ist die Gefahr einer
totalitären Dialektik der Aufklärung mit rationalen Mitteln gar
nicht aus der Welt zu schaffen, auch wenn uns Gründe bleiben zu
hoffen, es sei dieser erwürgenden Bewegung vielleicht zu entrin-
nen.
Diese Anmerkungen machen nochmals die besondere Veranlas-
sung deutlich, die dafür besteht, den Prozeß der Vernunftkritik
einmal wieder von ästhetischer Seite aufzunehmen. Denn gerade
auf dem Schauplatz der ästhetischen Theorie ist an Überdehnun-
gen, Karikaturen und fatalen Beschönigungen der korrektiven
Gestalt der Vernunft vielfach und mit Begeisterung gearbeitet
worden. In gebotener Vereinfachung haben wir es dabei zu tun
mit den komplementären Konzepten einmal der ästhetischen
Restitution einer aus den Fugen geratenen Vernunft und zum
anderen der ästhetischen Befreiung aus den Bindungen einer
alltagspraktisch verankerten Rationalität. Um gleich ein Mißver-
ständnis zu vermeiden: Diesen kompromißlosen Strategien ent-
stammen meines Erachtens die produktivsten Erkundungen der
ästhetischen Landschaft seit Kant und Hegel, die sich gegenüber
dieser Alternative noch einigermaßen offen verhalten (obwohl sie
bereits deutlich von ihr beeindruckt sind). Meine drastischen
Verkürzungen sollen im Augenblick nur andeuten, daß diesen
Denkströmungen mit Kompromissen nicht beizukommen ist,
wenn es gelingen soll, das Recht, das sie gegeneinander haben,
unbefangen zur Geltung zu bringen. Verlangt ist eine Politik der
radikalen Vermittlung. Eine Untersuchung zum Begriff der
ästhetischen Rationalität, die ausgeht von den Intuitionen, die ich
bislang erläutert habe, wird ergiebig nur sein, wenn es ihr mög-
lich ist, auf die rigoristischen Lösungen kritisch zu antworten,
gegen die sie die Antwort ihres Vorhabens setzt. Die Kritik der
ästhetischen Rationalität, zu der ich hier beitragen will, muß
nicht nur, sie kann sich auch vollziehen als eine Kritik der
ästhetisch dominierten Vernunftkritik. 11

c) Ästhetisches Verhalten

Trotz aller Vorübungen und Vorwegnahmen muß es auf den


ersten Blick als verrenkend erscheinen, von der Rationalität des

31
Ästhetischen soviel Aufhebens zu machen. Sind doch Kunst-
werke und ästhetische Gegenstände nicht rational oder irrational,
sondern schön oder häßlich, gut oder schlecht (gemacht), gelun-
gen oder nicht. Die an ästhetische Phänomene gewendete Sprache
sträubt sich dagegen, das gelungene Werk generell als eine Spe-
zies des Rationalen zu verstehen, so wie die gute Handlung, das
geschickte Vorgehen, das brauchbare Instrument und das schla-
gende Argument unproblematisch als rationale Vollzüge und
Produkte benannt werden können. Vollends schwierig wird es
mit dem nicht erzeugten Schönen; das kalifornische Death Valley
wird dem reisenden Betrachter als landschaftlich sensationell
oder öde erscheinen, nicht aber als rational oder irrational. Aus
dieser Sackgasse des Unbehagens bietet sich auf den zweiten
Blick der Ausweg einer rezeptionstheoretisch klingenden Erläu-
terung an. Demnach wäre ästhetisch rational nicht das gelungene
(oder schöne, erhabene ... ) Objekt, sondern das wahrnehmende
Verhalten derjenigen, die es in seiner Gelungenheit erkennen. So
gesehen, meint iisthetische Rationalität eine Sp_ielartdes (rationa-
len) Verhaltens, die sich im Erkennen des Gelungenen und
Schönen erfüllt.
Obwohl ich diese Festlegung, die natürlich noch keine Erklärung
gibt, für angemessen halte, ist es doch wichtig, es sich mit ihr
nicht leicht zu machen. Wenn wir die gewordenen Objekte der
ästhetischen Erfahrung noch einmal außer acht lassen, dann liegt
es ja durchaus nahe, zunächst die Parallelen zwischen ästheti-
schen und nichtästhetischen Artefakten zu betonen. Auch ein
beliebiger nichtästhetischer Gegenstand wird nur insofern »ratio-
nal« sein, als sich in ihm ein planendes oder probierendes Han-
deln verkörpert, das der jeweiligen Beurteilung als rational er-
scheint. Der rationale Gegenstand ist Resultat eines (erkennbar)
rationalen Handelns. Warum sollte das nicht von ästhetischen
Artefakten gelten? Muß nicht die ästhetische Rationalität im Sinn
einer Logik der Herstellung von Produkten einer bestimmten Art
verstanden werden, die wir dann »gelungen« nennen, wenn ein
dermaßen rationales Erfinden sich in ihnen verkörpert? Folglich
wäre ästhetische Rationalität eine Spielart des (rationalen) Ver-
haltens, die sich im Herstellen des Gelungenen erfüllt.
Ein vierter Blick macht klar, daß die rezeptionstheoretisch klin-
gende Formulierung diese produktionstheoretisch klingende

32
Version bereits umfaßt. Denn der gemeinsame Boden sowohl der
herstellenden als der aufnehmenden Aktivität ist das ästhetisch
·wahrnehmende Verhalten. Auch die Rationalität der Produzie-
renden erweist sich letztlich an ihrer Fähigkeit, das Gelungene als
gelungen und das Mißlungene als mißlungen zu erkennen - und
sich in ihren Konstruktionen und Setzungen schließlich an dieser
Frage zu orientieren. Wenn auch der ästhetisch Wahrnehmende
nicht notwendig ein - im strikten Sinn - Produzierender ist, so ist
in jedem Fall der ästhetisch Produzierende ein - im striktesten
Sinn - ästhetisch Wahrnehmender. Zentrales Thema einer Erör-
terung über ästhetische Rationalität ist folglich die Beurteilungs-
weise, die die ästhetische Wahrnehmung immanent leitet, ob
diese sich nun im tastenden Umgang mit den herzustellenden und
sich herstellenden Objekten vollzieht oder in der perzeptiven
Begegnung mit Gegenständen, die als ästhetische hergestellt wur-
den oder einfach als solche aufgefaßt werden. Auch diejenigen,
die ästhetisch produzierend tätig sind, sind ästhetisch produzie-
rend durch die Art, in der sie ihre Produktion wahrnehmend
testen und verfolgen, kontrollieren und korrigieren, endlich beja-
hen oder verwerfen (wobei es gleichgültig ist, in welchem Maß
diese Begutachtung ausdrücklich geschieht). Nicht die hand-
werkliche Beherrschung einmal gefundener und entwickelter
Techniken ist es, in der sich die mögliche Rationalität ästheti-
schen Produzierens beweist, sondern das artifizielle Gespür, mit
dem diese - alten oder neuen - Verfahren aktuell verwendet
werden. Künstlerische Rationalität ist nicht primär technisch
oder instrumentell, weil der Sinn und die Funktion eines jeden
Verfahrens sich in jeder seiner Anwendungen immer erst be-
stimmt und stets von neuem gefunden werden muß aus der
Besonderheit des Zusammenhangs, dessen Konstruktionselement
es ist. Im Bilden solcher Zusammenhänge, über deren Ausdruck
und Intensität es zu befinden weiß, liegt das ästhetisch erfindende
Geschick. Alle poietische Könnerschaft, deren es zur Kunstpro-
duktion bedarf, gründet in einem wahrnehmenden Sensorium für
die Machart ästhetischer Objekte. In diesem, wenn irgendwo,
liegt die Rationalität des ästhetischen Verhaltens - das ist festzu-
halten gegen Zweideutigkeiten in Adornos Rede von ästhetischer
Rationalität. 12 Die Annahme einer allgemeinen Logik des ästheti-
schen Herstellens erscheint mir so fragwürdig wie das geschichts-

33
philosophische Postulat einer Logik der »Rationalisierung« der
ästhetischen Gebilde. Was die ästhetische Praxis konstituiert, ist
eine (ihrerseits historisch gewachsene) Logik der Beurteilung der
Gegenstände, die aus ihr zur Wahrnehmung und Beurteilung
kommen. Den entscheidenden Zusammenhang hat Paul Valery
bündig marlµert: »Jeder Dichter wird schließlichsoviel taugen,
wie er als Kl:-itiker(seiner selbst) getaugt hat.« 13
Der Hinweis auf ihre gemeinsame Basis braucht die Asymme-
trien zwischen Produktion und Rezeption nicht zu verleugnen.
»Poiesis und Aisthesis sind inhaltlich nicht komplementär von-
einander abhängig: die Tätigkeit des Betrachters, der die Bedeu-
tung des vollendeten Werks aus seiner Sicht konkretisiert, setzt
die Erfahrung weder unmittelbar fort noch voraus, die der
14
Künstler in seiner Arbeit am unvollendeten Werk gewann.«
Diese von Hans Robert Jauß betonte Differenz verweist auf den
generellen Umstand, daß zwar die ästhetische Produktion Wahr-
nehmungserfahrung voraus- und fortsetzt, nicht jedoch umge-
kehrt Wahrnehmungserfahrung die Erfahrung der Produktion -
wohl aber Gegenstände und Produkte, die als ästhetisch relevant
angenommen werden. Was ästhetische Rezeption und Produk-
tion zu Grundform~n einer - eben der ästhetischen - Praxis
macht, muß sich daher an der beteiligten Form der Wahrneh-
mung ausmachen lassen. Abgesehen davon, daß ästhetische Pro-
duktionen peinigend epigonal und ästhetische Wa~rnehmungs-
akte beklemmend produktiv sein können, ist also die Rationalität
des ästhetischen Verhaltens nicht eher in der Produktion, noch
eher in der Rezeption zu suchen, sondern in der Struktur des
wahrnehmenden Umgangs mit Objekten einer bestimmten und
zu bestimmenden Art. Insofern ist das ästhetische Verhalten
grundlegend aisthetisch.
Auf dieser Linie bildet das Tal des Todes keine gesonderte
Gefahr. Die ästhetische Erfahrung mag an Kunstwerken geübt
und gebildet sein, ist aber keineswegs abhängig vom Gegebensein
ästhetisch designierter und artifiziell organisierter Vorlagen.
Wohl ist das ästhetische Verhalten immer ein Verhalten zu
ästhetisch wahrgenommenen und in diesem Sinn ästhetischen
(und ästhetisch strukturierten) Phänomenen; aber diese Phäno-
mene, die Gegenstand, Gegenüber und Umgebung des ästheti-
schen Verhaltens sind, müssen als solche nicht eigens oder aus-

34
schließlich geschaffen sein. Kunstwerke, von Sonderfällen wie
der Architektur und den zahllosen Grenzfällen zunächst einmal
abgesehen, sind (mehr oder weniger einzigartige) Gegenstände,
die uns zur ästhetischen Erfahrung auffordern oder einladen -
und zu nichts anderem. Daher ist der Grundzug des ästhetischen
Verhaltens am Beispiel der Kunstwahrnehmung besonders gut
ersichtlich. An den ästhetischen Gegenständen der Kunst wird
paradigmatisch klar, als was das ästhetische Verhalten beliebige
Objekte und Situationen aufnimmt, wenn es sie ästhetisch
nimmt. Wenn also in den späteren Analysen vorrangig von der
Kunstwahrnehmung die Rede sein wird, so liegt das schlicht
daran, daß sich hier der ästhetische Gegenstandsbezug am an-
schaulichsten und bequemsten herausarbeiten läßt, durch den
sich das ästhetische Verhalten von anderen Verhaltensweisen
zentral unterscheidet. (Das· Besondere der kunstbezogenen Ak-
tionen und Reaktionen wird dabei gelegentlich mitbeleuchtet
werden).
Trivialerweise, sollte man denken, wird eine Kennzeichnung
dessen, was ästhetischen Wahrnehmungshandlungen gemeinsam
ist, zu gewinnen sein aus einer Betrachtung ihres Verhältnisses zu
den Gegenständen, an denen sie vollzogen werden. Die Folge-
rung aber, daß allgemeine Aussagen über die ästhetische Wahr-
nehmung solche über die Natur des ästhetisc~ Wahrgenomme-
nen werden enthalten müssen, ist in ihren Folgeii, was die heutige
Diskussion betrifft, keineswegs trivial. Das Interesse nämlich, das
die ästhetische Wahrnehmung motiviert und die Form, in der sie
sich vollzieht, sind nur zu beschreiben in Anbetracht dessen, was
sie an den Gegenständen sucht, die so zur Betrachtung kommen -
und zumindest manchmal findet. Mit anderen Worten: Die Beur-
teilungsweise, mit der wir Gegenständen ästhetisch begegnen, ist
analytisch nicht zu trennen vom Artikulationsmodus dieser Ge-
genstände, sofern wir sie als ästhetische verstehen. Ästhetische
Gegenstandsstruktur und ästhetische Perzeptionsweise sind in-
terdependent: aus dieser wechselseitigen Fundierung von Urteil
und Gegenstand ist die Eigenart der ästhetischen Wahrnehmung
zu verstehen. Auf den fünften und vorerst letzten Blick zeigt sich
somit, daß die rezeptionstheoretisch »klingende« Formulierung
zu Beginn dieses Abschnitts nicht auf im engeren Sinn rezep-
tionsästhetische Gleise führt. Gegenstand der Ästhetik kann

35
nicht entweder (oder primär) die Aktivität der ästhetischen
Wahrnehmung sein oder (primär) die zeichenhafte Artikuliertheit
ästhetischer Gegenstände: ihr legitimer Gegenstand ist die
Grundstruktur der ästhetisch~n Wahrnehmungssituation als dem
Schauplatz der erfahrenden Vergegenwärtigung des Gehalts äs-
thetisch verfaßter und erfaßter Gegenstände. »Ästhetische Theo-
rie, ernüchtert gegen die apriorische Konstruktion und gewarnt
vor der aufsteigenden Abstraktion, hat zum Schauplatz die Er-
fahrung des ästhetischen Gegenstands.«' 5 Der Konstruktion der
»Ästhetischen Theorie« Adornos, aus deren früher Einleitung
dieser Satz stammt, wird diese Arbeit insofern folgen, als ihre
Analysen zur ästhetischen Wahrnehmung einmünden in die Be-
hauptung, nur als eine von anderen Formen abweichende Form
der Rationalität sei das ästhetische Verhalten zu verstehen.
Von dieser Behauptung bin ich bisher in einer Weise ausgegan-
gen, die Parallelen zu Adorno eher unwahrscheinlich hat erschei-
nen lassen. Es bietet sich daher an, die methodische Konsequenz
aus den vorangegangenen Überlegungen im Blick auf Kant und
Adorno kurz zu erläutern.
Gegenüber Kants Durchführung der Fragestellung, mit der die
»Kritik der Urteilskraft« in ihrem ästhetischen Teil einsetzt,
ergibt sich eine deutliche Verschiebung des Akzents. Kants Zu-
gang habe ich nur wiederholt, als ich gesagt habe, es liege der Sinn
de~ ästhetischen Verhaltens in einem Vermögen der wahi:;neh-
16
menden Beurteilung des Gelungenen und Schönen. Auch die
Analysen zum Begriff der ästhetischen Rationalität laufen zu auf
eine Analyse der Form der Frage nach ästhetischer Qualität, die
im Prozedere der ästhetischen Wahrnehmung leitend ist; diese
Explikation des ästhetischen Interesses aber führt über die Frage
nach der semiotischen Verfassung ästhetischer Gegenstände. Um
die beiden Fragen nach Interesse und Gegenstand der ästheti-
schen Wahrnehmung schlüssig zu beantworten, ist drittens eine
Analyse der Form der Antwort nötig, mit der das Geschehen der
ästhetischen Wahrnehmung durch die interpretativ begründbare
Bewertung ihres Gegenstandes explikativ resümiert werden
kann. Die Analyse des ästhetischen Urteils verweist auf eine
Theorie der ästhetischen Bedeutung und umgekehrt. Die ästheti-
sche Wahrnehmung ist als ein Verstehen ästhetischer Objekte zu
verstehen - und dies auch in ihren elementaren, unaufgeregten
und ekstatischen Phasen. Als eine Analyse einer verstehenden
Leistung aber ist Kants Ästhetik - zumindest in ihrer dominanten
Ausrichtung - gewiß nicht angelegt. Der immanent schlüssigen
Interpretation von Jens Kulenkampff zufolge operiert Kant mit
zwei unvermittelten Versionen des ästhetischen Urteils, deren
eines und grundlegendes rein über die Schönheit des Objekts
befindet, während das andere, dessen Logik sich in der »Kritik
der Urteilskraft« kaum expliziert findet, die Option dieser primä-
ren Wertsetzung in »spekulativer Erkenntnis« auslegend füllt.
Das eigentliche Geschmacksurteil sagt nichts über seinen Gegen-
stand aus, es bejaht oder verneint lediglich, daß sich hier eine
Wahrnehmung lohnt, die sich als ein »kontrolliertes Phantasieren
über den Gegenstand« vollzieht. Erst eine zweite und anders
geartete Beurteilung macht die Gegenstände, die diese Aktivität
wegen ihrer Gelungenheit ermöglichen, zum welthaltigen Expli-
kat von Einsichten, die an ihm gewonnen wurden. 17
Nicht schon die Unterscheidung von Stufen der eröffnenden und
resümierenden, der intuitiven und reflektierten Beurteilung, aber
die aus der Notwendigkeit solcher Unterscheidungen gefolgerte
- fundamentale - Diskrepanz von spielerischer und interpretie-
render, gebannter und erkennender Wahrnehmung führt in eine
theoretisch unhaltbare Situation. Was aus einer solchen Lösung
folgt, ist eine Theorie zweier Formen der Wahrnehmung, die sich
in zwei distinkten Möglichkeiten der Beurteilung repräsentieren.
Zwischen beiden aber herrscht eine absurde Arbeitsteilung. Das
primäre Werturteil hat kein inhaltliches Gewicht, die zuschrei-
bend gewichtende Deutung dagegen kann über den rein ästheti-
schen Wert ihres Gegenstandes nichts mehr entscheiden. Mit
dieser Aufteilung zwischen rein ästhetischer und intellektuell
auslegender Wahrnehmung und Wertung ist jede Möglichkeit
verstellt, den ästhetisch konstitutiven Gegenstandsbezug zu er-
hellen, der doch wohl spielende wie deutende Einlassung glei-
chermaßen trägt. An dieser Frage erweist sich die Unschlüssig-
keit eines Modells zweier trennbarer Phasen oder Ebenen. Denn
bereits die erste, die animativ-ankündigende Stellungnahme muß
sich auf den Vollzug »kontrollierter Phantasien« berufen, die der
betreffende Gegenstand in seiner Beschaffenheit ermöglicht; nur
wegen dieses zweckfrei gegenstandsbezogenen Gefallens kann
das ästhetische Ansinnen auf die Zustimmung anderer einen

37
dezidierten Anspruch machen. Die Probe auf diesen Eindruck
aber ist die interpretative Beschreibung, die eine ausführende -
und oft eindringende - Verständigung über Qualität und Gehalt:
nämlich über Qualität weil Gehalt und "tehalt weil Qualität
ermöglicht. Die kritisch-aktualisierende Interpretation (und von
solchen Deutungen muß hier die Rede sein) leistet eine berei-
chernde Explikation des unmittelbar-spontanen Wahrnehmens,
die ihrerseits mit jeder erneuten Konfrontation einer korrigieren-
den oder bereichernden Ergänzung offen steht. Nicht. steht der
formal ergriffenen die deutend eingreifende Zuwendung prinzi-
piell gegenüber; die ästhetische Wahrnehmung: das Verstehen
der Bedeutung ästhetischer Gegenstände vollzieht sich zwischen
den Polen einer rezeptiv-spontanen und reflexiv-experimentie-
renden Einlassung, aus deren Spannung die ästhetische Erfahrung
ihre Energien bezieht.
Der Kantische Dualismus von reinem und intellektuiertem Inter-
esse am Schönen bietet daher keine Lösung, er ist vielmehr der
Ausdruck des Scheiterns seiner Bemühung um eine Analyse der
ästhetischen Erfahrung in Form einer Analyse des ästhetischen
Urteils. Im Entweder-Oder von reiner Zusage und deutender
Aussage, zeigendem Hinweis und sagendem Aufweis ist die
Autonomie der ästhetischen Zugangsweise und ist der Sinn des
Geltungsanspruchs ästhetischer Urteile, in denen das ästhetische
Verhalten sich orientiert, gerade im Verhältnis zu moralischen
und privateq Orientierungen nicht zu bestimmen. Mit nachträgli-
chen Korrekturen - wie sie sich in der »Deduktion« und zumal
der »Dialektik der ästhetischen Urteilskraft« finden - ließ und
läßt sich die gemeinsame Kernstruktur der ästhetischen Verhal-
tensweisen nicht wieder gewinnen. Verfehlt freilich war nicht die
Konzeption einer Bestimmung der ästhetischen Wahrnehmung
aus den Verfahren der in ihr wirksamen Kritik, verfehlt war
lediglich die in der Durchführung leitende Weigerung Kants, das
ästhetische Urteil zu verstehen als Eröffnungsschri~t, vorläufigen
Endpunkt oder beiläufige Zwischenstation einer stets möglichen
Kritik, die argumentativ bestritten und beglaubigt werden kann.
Eine Analyse dieser Kritik, wie ich sie später durchführen werde,
wird sich wiederum auf Kants Hinweise zum exemplarischen
und vergegenwärtigenden Charakter der ästhetischen Beurtei-
lung stützen können. Aber sie wird behaupten, daß die Urteile
des ästhetisch verstehenden Geschmacks zugleich Urteile des
» Verstandes« sind und der »Vernunft« - solange, wie gesagt, der
Verstand bei diesem Geschäft nicht die Vernunft und diese nicht
den Verstand verliert in dem Glauben, es sei der ästhetischen
Orientierung der allein existenzleitende Rang zu gewähren. Es
wird darauf ankommen, in der »Kunst« der Kritik, wie Kant sich
ausdrückt, die rationale »Denkungsart« des ästhetischen Verhal-
tens zu entdecken. 18
Auf dem Kredit dieser Vermutungen und Versprechen will ich
versuchen, mit Kant gegen Kant und mit Kant gegen Erneuerun-
gen, die Kant in jüngster Zeit erfahren hat, die Verfahrensweise
der ästhetischen Kritik erneut zum Herzstück einer Analyse der
ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung zu machen. ' 9 Das
wird nicht bedeuten, die ästhetische Praxis auf das Niederschrei-
ben von Kunstkritiken zu reduzieren; gegen derlei Absurditäten
ist das umrissene Vorhaben gewappnet, weil es von vorneherein
darauf eingestellt ist, ästhetisches Explikat und kritische Explika-
tion, unmittelbare und vermittelnde Wahrnehmung, Urteil und
Deutung, das Ästhetische und das ästhetisch Gelungene, Ge-
machtes und Gewordenes (und was dergleichen mehr ist) nicht
miteinander zu identifizieren. Es gilt, die bewährten Differenzie-
rungen zu bewahren, ohne den falschen Entzweiungen zu erlie-
gen. Das ist der alte Vorsatz dialektischer Gelassenheit - sofern
Dialektik verstanden werden darf als die Kunst des unterschei-
denden Zusammendenkens zugehöriger Momente, die ineinan-
der nicht aufgehen.
Entgegen mancher Deutungen und Selbstdeutungen führt Ador-
nos dialektische Ästhetik eine Theorie der Interdependenz von
Gegenstandsstruktur und Beurteilungsart im Bereich der ästheti-
schen Erfahrung konsequent durch. Abgesehen davon, daß das
zentrale Paradigma des Naturschönen den Rahmen einer Pro-
duktionsästhetik ohnehin sprengt, erweist sich Adornos Behaup-
tung eines »Vorrang(s) der Produktion vor der Rezeption« als
eine eher polemisch veranlaßte Invektive, die den methodischen
Zugriff der »Ästhetischen Theorie« durchaus irreführend charak-
terisiert.20Deren zentrales Thema nämlich ist die Möglichkeit zu
erkennen, was Kunstwerke zu erkennen geben. Ästhetische
Wahrnehmung vollzieht und erfüllt sich in einem anschmiegen-
den Entdecken von Gehalten, die sich auftun an Gegenständen,

39
die als gelungen erscheinen, wenn sie Wahrheit und Volumen der
deutenden Gedanken, aus deren Zuspruch sie erfahrend erschlos-
sen werden, in konfigurativer Intensität zum Ausdruck bringen,
wie es die diskursiv beschneidende Rede selbst nicht vermag
(z.B. 19of., 193 f.). »Verstehen ist eins mit Kritik« (391): einer
Kritik, die nicht das ästhetische Objekt auf den Leisten von
Gedanken zieht, die sie für die Bedeutung der Werke hält und
diese für gelungen, weil den Gedanken für wahr; eine Kritik
vielmehr, die die Wahrheit von Gedanken und Charakterisierun-
gen, die formulierbar werden durch die Erfahrung eines Werks,
an dem sich ihr Sinn und ihre Stringenz hervorragend erweist,
zum Kriterium erhebt für dessen Gelungenheit, die nun zugleich
für die emphatische Wahrheit der Einsichten bürgt, die an ihm -
nicht räsonnierend, sondern schockhaft ( 13 1, 2 79, 36 3) - gewon-
nen wurden. »Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre
Erfahrung die Alternative wahr oder unwahr erreicht oder, als
deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht
äußerlich zur ästhetischen Erfahrung zu, sondern ist ihr imma-
nent.« (515)
Eine Theorie dieser Kritik aber, ihres besonderen Zugangs, ihres
eigensinnigen Potentials der Erweisung, kann die Ȁsthetische
Theorie« paradoxerweise nicht bieten - weil Adorno der Mei-
nung ist, diese durch seine bisherige Philosophie im wesentlichen
bereits geboten zu haben. In ihren Ausführungen zur ästheti-
schen Erkenntnis: zum Erkennen der Erkenntnis, die Kunst »ist«
(190) vermöge der Wahrheit, auf die sie »geht« (419), zehrt die
»Ästhetische Theorie« von den Positionen der zuvor geschriebe-
nen »Negativen Dialektik«, die ihrerseits die Prämissen und
Konklusionen der zusammen mit Horkheimer verfaßten »Dia-
lektik der Aufklärung« erkenntniskritisch ratifiziert. Erst die
»Ästhetische Theorie« freilich macht die radikale Probe auf die
Aussichten der programmatischen »Anstrengung, über den Be-
griff durch den Begriff hinauszugelangen.« 21 In diesem Pro-
gramm gibt es für das Spezifische der ästhetischen Kritik nicht
länger einen spezifischen Ort. Denn das philosophische, sprich:
negativ-dialektische, eigentliche Erkennen, »der Gedanke, der
sich nicht abbremsen läßt« (391), wird nun selbst zum Inbegriff
der ästhetischen Reflexion. Kritische Theorie und theoretische
Kritik werden zur ästhetischen, am ästhetischen Objekt geübten
und auf die Leuchtkraft ästhetischer Objekte verwiesenen Refle-
xion. Nur die philosophisch- antiinstrumentell- instrumentierte
Erfahrung wird den ästhetischen Gebilden gerecht, weil sie in
diesen die hermetischen Paradigmen einer unverzerrten Erkennt-
nis erkennt, die ihre Gegenstände nicht blind identifiziert, son-
dern sich mit deren »Nichtidentischem« »identifiziert« (202).
Um als Keimzellen einer alternativen Verhaltensweise der Men-
schen untereinander und zur Natur (die sie selbst sind) wirksam
zu werden, bedürfen die Kunstwerke (die ihrerseits »Nachah-
mungen« sind der »Spur des Nichtidentischen«, die am Natur-
schönen erscheint 1 IIli 14) durchaus der begrifflichen Designa-
tion, die das einzelne Werk »als Komplexion von Wahrheit«
(391) lebendig und erfahrbar macht. Erst die Funken einer be-
grifflichen Deutung bringen die Sprengkraft der gelungenen
Konstruktion zur Entladung. Daher bedürfen die Kunstwerke,
»um erfahren zu werden, des wie immer rudimentären Gedan-
kens und, weil dieser nicht sich sistieren läßt, eigentlich der
Philosophie als des denkenden Verhaltens, das nicht nach arbeits-
teiligen Verordnungen abbricht.« (520) »Genuine ästhetische Er-
fahrung muß Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht«
(197) - genuine Philosophie aber muß danach trachten, ästheti-
sche Reflexion zu werden, oder ihre Bemühung war umsonst.
Der Zusammenhang von ästhetischem Gegenstand und ästheti-
scher Kritik wird von Adorno stilisiert zur utopisch-residualen
Bedingung der Möglichkeit einer untrügerischen Erkenntnis.
Unterm Bann der verpaßten Befreiung lebt allein in der ästheti-
schen Erfahrung noch eine Ahnung authentischer Erfahrung.
Und rätselhaft bleibt, ob deren »Verheißung« nicht »Täuschung«
ist (193). 22

·d) Das antinomische Modell

Wenn die vorangehenden Betrachtungen nicht ihrerseits geblen-


det sind, lastet noch auf der neueren Ästhetik der Fluch der
ewigen Wiederkehr einer Antinomie des Geschmacks ähnlich
derjenigen, die Kant am Ende der »Kritik der ästhetischen Ur-
teilskraft« konstruiert, um ihr eine salomonische Lösung zu
geben. Wenn ästhetische Urteile begründbar sind, so scheint es,

41
sind es keine ästhetischen Urteile mehr, die so begründet werden;
wenn sie aber nicht begründet werden können, scheint die Inter-
subjektivität der ästhetischen Wahrnehmung unerklärbar zu wer-
den, aus der die Form des Austauschs ästhetischer Urteile allein
verständlich ist. Die beiden alternativen Explikationsversuche
stellen den ästhetischen Gegenstandsbezug in ein extremes Licht.
Der erste stilisiert das ästhetische Objekt zum privilegierten
Gegenstand eines - nicht selten zugleich theoretischen und mora-
lischen - Erkennens, die zweite dagegen reduziert es auf den
Gegenstand eines allein relational bestimmbaren Gefallens; im
ersten Fall geraten die ästhetischen Argumente zu den besten
aller möglichen Gründe, im zweiten dagegen sind keine Gründe
mehr sichtbar, die einen anderen dazu bewegen könnten, die
Wertschätzung eines ästhetischen Gegenstands aus nichtkontin-
genten Gründen zu übernehmen. Jeder Versuch, den besonderen
Geltungssinn ästhetischer Werturteile zu erläutern, so scheint es,
muß von Annahmen Gebrauch machen, die diesen Eigensinn
gerade bestreiten.
Das ist die Antinomie, die Kant im Paragraphen 56 der »Kritik
der Urteilskraft« formuliert, um sie daraufhin dialektisch zu
entschärfen - und es ist diese Antinomie, die Kants Lösung als
Problem hinterläßt. Nach Kants Darstellung entsteht der Schein
einer Antinomie bei dem Versuch, den platten (und spätestens
seit §§ 3 r ff. als unhaltbar erkannten) Gegensatz der Positionen
»ein jeder hat seinen eigenen Geschmack« und »de gustibus est
disputandum« zu überwinden. Die Schwierigkeit entsteht gerade
dann, wenn dem ersten Satz nicht die blinde Negation, sondern
der wohlvertraute »Gemeinort« gegenübergestellt wird, der da
lautet »de gustibus non est disputandum«: und man diesen neuen
Gegen-Satz so versteht, daß er besagt, daß über das Geschmacks-
urteil »selbst durch Beweise nichts entschieden werden, obgleich
darüber gar wohl und mit Recht gestritten werden kann. Denn
Streiten und Disputieren sind zwar darin einerlei,. daß sie durch
wechselseitigen Widerstand der Urteile Einhelligkeit derselben
hervorzubringen suchen, darin aber verschieden, daß das letztere
dieses nach bestimmten Begriffen als Beweisgründen zu bewir-
ken hofft, mithin objektive Begriffe als Gründe des Urteils
annimmt. Wo dieses aber als untunlich betrachtet wird, da wird
das Disputieren eben sowohl als untunlich beurteilt«.23 Wo defi-

42
nitive Kriterien und deduktive Folgerungsverfahren nicht letzt-
lich entscheidend sind, so unterstellt Kant, ist eine Argumenta-
tion nicht möglich. Die sinnvolle Auseinandersetzung in ästheti-
schen Fragen schließt die Möglichkeit von Beweisen nicht ein.
Die Verteidigung dieser Behauptung ist es, die in das dialektisch
zu lösende Dilemma führt. Denn auch die positive Formulierung
des scheinbar vermittelnden Grundsatzes (genauer gesagt: die
thetische Formulierung der Auslegung, die Kant dem »non est
disputandum« gegeben hat) steht noch immer im direkten Ge-
gensatz zu jenem ersten »Gemeinort«, der sagt, ein jeder habe
seinen eigenen Geschmack. Die Behauptung, daß über den Ge-
schmack sich streiten (obgleich nicht disputieren) läßt, mag zwar
differenzierter sein als die unvermittelte Gegenthese - um so
weniger aber scheint eine plausible Erläuterung in Sicht. »Denn
worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muß Hoffnung sein,
untereinander überein zu kommen; mithin muß man auf Gründe
des Urteils, die nicht bloß Privatgültigkeit haben und also nicht
bloß subjektiv sind, rechnen können.« Auch eih »Streit« muß
geführt werden - und wie sollte er geführt werden, wenn nicht
mit Gründen? An dieser Frage gerät die Verteidigung eines
Geltungsanspruchs ästhetischer Urteile in die »Antinomie des
Geschmacks«. Zwei konträre Behauptungen erscheinen gleicher-
maßen unabweisbar. »Das Geschmacksurteil gründet sich nicht
auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch
Beweise entscheiden)«: »Das Geschmacksurteil gründet sich auf
Begriffen; denn sonst ließe sich, ungeachtet der Verschiedenheit
desselben, darüber auch nicht einmal streiten (auf die notwendige
Übereinstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch ma-
chen).« Ästhetische Urteile können sich nicht auf objektive Kri-
terien stützen, sie müssen sich aber auf Kriterien stützen, um auf
intersubjektive Gültigkeit Anspruch zu machen.
Die Auflösung, die Kant im folgenden§ 57 gibt, besteht in dem
Nachweis einer Doppeldeutigkeit der nur scheinbar gleichbedeu-
tend verwendeten Ausdrücke »Begriff« bzw. »Kriterium«. »Auf
irgend einen Begriff muß sich das Geschmacksurteil beziehen«;
»aber aus einem Begriffe darf es darum eben nicht erweislich sein,
weil ein Begriff entweder bestimmbar, oder auch an sich unbe-
stimmt und zugleich unbestimmbar, sein kann.« Auf einen sol-
chen notwendig unbestimmten Begriff ist das ästhetische Urteil

43
notwendig bezogen - bestimmte (und das heißt: beschreibende)
Begriffe dagegen können niemals als »Beweisgründe« der ästheti-
schen Einschätzung dienen. Der »unbestimmte Vernunftbegriff«
nun, der im Unterschied zu den bestimmenden » Verstandesbe-
griffen« den ästhetisch-normativen Anspruch trägt, ist derjenige
eines »übersinnlichen Substrats der Menschheit«. Damit meint
Kant die allen Menschen gemeinsame Fähigkeit, die Wirklichkeit
ihres Handelns autonom zu bestimmen. Diese Veranlagung zur
Freiheit kann zwar nicht begrifflich demonstriert oder gar im
Reichtum ihrer Möglichkeiten exponiert werden. Aber sie kann
ästhetisch erinnert werden: und auf die Aktualität solchen Einge-
denkens, nicht auf Meinungen und Regeln stützt sich der An-
spruch ästhetischer Urteile. Die ästhetische Erfahrung ist eine
durch den schönen Gegenstand ermöglichte Stimmung der Be-
stimmbarkeit, die sich erhält im spielerisch wahrnehmenden Ver-
weilen an diesem Gegenstand, dessen ästhetische Qualität durch
eine seiner Bestimmungen nicht adäquat zu benennen ist. Die
Funktion des Austauschs ästhetischer Einschätzungen liegt nach
Kant darin, daß die Wahrnehmenden sich ihres gemeinsamen
Sensoriums für die Möglichkeiten einer den Menschen »angemes-
senen Glückseligkeit« oder, wie es in der ersten Auflage heißt,
»angemessenen Geselligkeit«(§ 60) im kommunikativen Umgang
zwanglos und doch streitbar vergewissern. Soweit es sich um
reine Gelungenheitswertungen handelt, wird sich diese Verstän-
digung vollziehen, ohne in eine Erörterung über den Stand der
weltlichen Dinge zu münden oder Annahmen dieser Art zu
bemühen. Denn nicht auf Erkenntnis fußt und zielt die ästheti-
sche Wahrnehmung und Beurteilung, sondern auf Aktualität und
Aktualisierbarkeit eines »Lebensgefühls« (§ 1) davon, was men-
schenmöglich ist, unabhängig davon, was als gegenwärtige Men-
schenwirklichkeit zu bestimmen, zu fordern und zu erreichen ist.
Selbst eine in der »Entwickelung sittlicher Ideen und (der) Kultur
des moralischen Gefühls« weit fortgeschrittene Gesellschaft
würde die Notwendigkeit der kommunikativen Vergegenwärti-
gung ästhetisch-gelungener »Muster« eines »allgemeinen Men-
schensinns« keinesfalls entbehrlich machen: Weil »ein späteres
Zeitalter( ... ) der Natur immer weniger nahe sein wird, und sich
zuletzt, ohne bleibende Beispiele von ihr zu haben, kaum einen
Begriff von der glücklichen Vereinigung des gesetzlichen Zwan-

44
ges der höchsten Kultur mit der Kraft und Richtigkeit der ihren
eigenen Wert fühlenden freien Natur in einem und demselben
Volke zu machen im Stande sein möchte.« (§ 60)
So vertraut oder verblüffend, suggestiv oder dubios Kants Aus-
weg aus der Antinomie in vereinfachter Raffung auch erscheinen
mag - er steht auf wackligen Pfeilern. Denn noch immer wissen
wir nicht, wie es möglich ist, einen ästhetischen Streit zuführen
im Unterschied zur wechselweisen und defensiven Berufung auf
den je eigenen Geschmack. Das Terrain ästhetischer Auseinan-
dersetzungen vermag Kant nicht zu durchmessen, weil er (gerade
in den Antinomieparagraphen) im Spagat zwischen reiner Wer-
tung und unabhängig hinzukommender Auslegung verharrt -
soweit er diese Spannung nicht (wie besonders in§ 59) durch die
ihrerseits fragwürdige Gleichsetzung des Intelligiblen mit dem
»Sittlichguten« abzumildern sucht. Kants Bewältigung der Anti-
nomie gibt keine Antwort auf die entscheidende Frage, die in ihr
Dilemma führt; seine Auflösung zieht einen teils erhellenden,
teils verdunkelnden Horizont um eine solche Antwort, deren
Position sie andeutet, ohne diese Position selbst besetzen zu
können. Eine solche Antwort müßte Auskunft geben können
über das Verhältnis der den ästhetischen Gegenstand charakteri-
sierenden Aussagen zu jenem Bestimmungsgrund, auf den wir
uns in ästhetischer Einstellung letztlich beziehen. Wie geht diese
Bezugnahme vor sich? Woher weiß ich, daß ein gegebenes Ob-
jekt die Bedingung meines freien Betrachtens ist und nicht allein
meine private Vorliebe es ist, aus der dieses Objekt mir gefällt?
Lassen sich Stimmungen, lassen sich Erfahrungen ansinnen? Ist
die Basis der ästhetischen Zumutung tatsächlich eine rein anthro-
pologische? Liegt nicht in den starren Begriffen des Grundes, des
Beweises, der Folgerung und des Argumentierens ebenfalls eine
Quelle unerkannter Äquivokationen? ·
Solange diese und weitere Fragen nicht beantwortet sind, steht
die Auflösung der Geschmacksantinomie im Verdacht einer
scheinhaften Operation. Daß die zentrale Frage des § 56 der
»Kritik der Urteilskraft« richtig gestellt, aber noch unzureichend
beantwortet ist, davon geht die Beunruhigung der Frage nach der
Rationalität des Ästhetischen aus. Daß nur eine Analyse der
ästhetischen Rationalität hier weitergehende Aufklärung errei-
chen kann, zeigt sich negativ daran, was geschieht, wenn die

45
antinomische Problemstellung theoretisch übergangen wird. Die
»Kritik der Urteilskraft« wird zum ersten Stammbuch einer
antinomischen Ästhetik. Ästhetiken nämlich, die so tun, als habe
Kant das Problem gelöst, werden eine spezifische Rationalität
des ästhetischen Verhaltens bestreiten. Ästhetiken dagegen, die
unterstellen, das Problem sei auf einer (wie immer entfernt)
kantischen Linie nicht zu lösen, werden gegen die Besonderheit
einer ästhetischen Fraktion der Rationalität opponieren; entzugs-
theoretische oder überbietungstheoretische Konsequenzen sind
die Folge. Das Ästhetische wird zum Anderen der Vernunft: sei
es gegen ihr Gesetz, sei es, gegen eine verkehrte Rationalität, auf
ihr eigentliches Gesetz gerichtet.
Überbietungsästhetisch nenne ich Theorien, die eine spezifische
Rationalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen
eines integralen Konzepts von Wahrheit und Erkenntnis, für das
die gelungenen Kunstwerke unverzichtbare Instanzen sind. Eine
besondere, von anderen Beurteilungsmodi abgehobene Logik der
ästhetischen Beurteilung kann es demnach nicht geben, weil die
ästhetische Erfahrung ein herausragender - wenn nicht der her-
ausragende - Modus des (emphatischen) Erkennens ist. Die
bekanntesten Überbietungstheoretiker sind Heidegger, Adorno
und Gadamer - neben dem frühen Schelling und dem jungen
Hegel (der in späteren Jahren ein geläuterter Überbietungsästhe-
tiker geworden ist, dessen Ästhetik nichtsdestotrotz den Charak-
ter einer - wenn auch degradierten - Überbietungstheorie be-
hält).
Entzugsästhetisch nenne ich Theorien, die eine spezifische Ratio-
nalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen eines
exklusiven Konzepts der reinen Reflexion bzw. sprachlosen In-
tensität, worin sich die ästhetische Wahrnehmung verliert, indem
sie sich freispielt aus den Bedeutungen und Begriffen eines kogni-
tiven Weltverständnisses. Gelungen, schön, erhaben sind alle
Gegenstände, die eine solche Erfahrung ermöglichen oder provo-
zieren. Eine besondere, von anderen Begründungsweisen abge-
hobene Logik der ästhetischen Argumentation kann es demnach
nicht geben, weil eine solche Ergründung die ästhetischen Ge-
genstände auf Träger umgrenzter Bedeutungen reduzieren und
damit ihren scheindichten Glanz verleugnen würde, den sie als
Medien der ästhetisch gebannten Wahrnehmungspräsenz entbin-
dend und entfesselnd erhalten. Bekannte Entzugstheoretiker sind
Nietzsche, Valery, Bataille, neuerdings lser und Bubner - und
der Kant zumindest der »Analytik« der ästhetischen Urteilskraft,
der rigoros auf der Unbestimmbarkeit der ästhetischen Gefal-
lensmomente besteht.
Meine Gegenüberstellung macht erstens deutlich, daß es sich bei
den alternativen Theorien um komplementäre Strategien handelt.
Beide verstehen den Eigensinn der ästhtitischen Praxis als gegen-
sinnig, ja gegengesetzlich, antinomisch al~o, zur Konzeption und
Wirklichkeit einer pluralen Rationalität. Die fundamentalistische
und die puristische Strategie resultieren gleichermaßen aus einer
Flucht vor der Fragestellung der von Kant identifizierten Antino-
mie. Zweitens aber macht schon meine Angabe von Namen klar,
daß an ei~e säuberliche Aufteilung des Modells und seiner Frak-
tionen auf die genannten - und auf weitere - Autoren nicht
möglich ist. Oft genug wird der Konflikt zwischen puristischen
und kognitivistischen Antworten innerhalb einer Theorie ausge-
tragen - so gewiß bei Kant, Nietzsche, Valery und Adorno.
Ebenso evident ist der Fundus von Dissensen und Ignoranzen
innerhalb der alternativen Lager. Offenkundig gibt es Verwandt-
schaften und Anleihen, die über die Grenzen der Grundpositio-
nen hinweg lebendig und fruchtbar sind und die den konträren
Zuschnitt der so vermittelten Theorien oft vergessen und an
Detailfragen auch verschwinden lassen - man denke an Heideg-
ger und Bataille, Valery und Adorno, an die Negativität Adornos
und diejenige Isers, an Gadamer und die »anhängende Schön-
heit«, an den Kult der Offenbarung bei Heidegger und Nietz-
sche. Nicht selten ist eine emphatischeEntzugstheorie von einer
radikalen Überbietungstheorie in entscheidenden Passagen nur
anhand des äußerlich wirkenden Kriteriums zu unterscheiden,
inwiefern sie sich zentral auf die in der ästhetischen Erfahrung
sich öffnende Wahrheit beruft. Zwischen dem ästhetisch gestei-
gerten Sein und dem ästhetisch gesteigerten (Sein als) Verstehen
liegt dann nur ein minimaler Schritt; ob das Eigentliche den
Namen der erreichten Souveränität oder der gelichteten Wahrheit
trägt, wird zu einer - fast - gleichgültigen Differenz. Und
schließlich gibt es Autoren wie Schopenhauer und den frühen
Lukacs, die eine puristische Überbietungstheorie zu bieten haben
und daher den ganzen Problemkrieg, den ich hier wieder ent-

47
zünde, vielleicht vor langer Zeit auf synthetischem Wege einge-
stellt haben. 24
Der Sackgasse eines synthetisierenden Auswegs wird im nächsten
Abschnitt zu folgen sein. Für den Augenblick sei festgehalten,
daß es bei der Auszeichnung des »antinomischen Modells« nicht
darum geht, ein neuartiges Einteilungsmanual für ästhetische
Theorien zu propagieren, sondern um die Markierung eines
Problems, das sich aus der Problemlage bei Kant ergibt. Die
Grobianismen der Vorstellung dieser antinomischen Konstella-
tion wird erst der spätere Verlauf dieser Arbeit mildern und
hoffentlich rechtfertigen können. Bezüglich einer bekannten und
noch andauernden Kontroverse möchte ich die Relevanz der
angesprochenen Schwierigkeiten zunächst kommentierend bele-
gen.

Der Weg zu überbietungstheoretischen Konklusionen ist höchst


einsichtig - und im Vergleich etwa zu Adorno auf eine durchaus
verhaltene Weise - gewiesen in den kunsttheoretischen Eröff-
nungspassagen von Gadamers »Wahrheit und Methode«. Gada-
mers Untersuchungen zur Substanz der hermeneutischen Erfah-
rung setzen ein »mit einer Kritik des ästhetischen Bewußtseins
(... ),um die Erfahrung von Wahrheit, die uns durch das Kunst-
werk zuteil wird, gegen die ästhetische Theorie zu verteidigen,
die sich vom Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beengen läßt.« 2 5
Gadamer rekonstruiert Genese und Grundannahmen der puristi-
schen Auffassung der ästhetischen Autonomie, um den Nachweis
zu führen, daß »gerade die Erkenntnis der Begrifflosigkeit des
Geschmacks« bei Kant selbst »über eine Ästhetik des bloßen
Geschmacks« hinausführt (46). »Der Begriff des >reinen ästheti-
schen Geschmacksurteils, ist eine methodische Abstraktion«
(4r), die nicht mit einer grundlegenden Analyse der Essenz
ästhetischer Erfahrung verwechselt werden darf. Denn »das
bloße Sehen, das bloße Hören sind dogmatische Abstraktionen,
die die Phänomene künstlich reduzieren. Wahrnehmung umfaßt
immer Bedeutung.« (87) Gadamer wendet sich gegen die (nicht
selten aus Kant gezogene) entzugstheoretische Konsequenz, die
ästhetische Erfahrung aus einer prinzipiellen Distanz oder Oppo-
sition zur Wirklichkeitserfahrung zu denken, die sich in »eigen-
bedeutsamer« (Hamann) Faszination den Bedeutungen und Rele-
vanzen des geschichtlichen Lebens entzieht. »Was eigenbedeut-
sam statt fremdbedeutsam ist, will den Bezug auf das, woher sich
seine Bedeutung bestimmen ließe, überhaupt abschneiden. Kann
ein solcher Begriff eine tragfähige Grundlage für die Ästhetik
hergeben? Kann man den Begriff ,Eigenbedeutsamkeit< über-
haupt von einer Wahrnehmung gebrauchen? Muß man nicht dem
Begriff des ästhetischen ,Erlebnisses< auch zubilligen, was dem
Wahrnehmen zukommt, daß es Wahres vernimmt, ·also auf Er-
kenntnis bezogen bleibt?« (85) - »Es gilt daher, dem Schönen
und der Kunst gegenüber einen Standpunkt zu gewinnen, der
nicht Unmittelbarkeit prätendiert, sondern der geschichtlichen
Wirklichkeit des Menschen entspricht. Die Berufung auf die
Unmittelbarkeit, auf das Geniale des Augenblicks, auf die Bedeu-
tung des ,Erlebnisses, kann vor dem Anspruch der menschlichen
Existenz auf Kontinuität und Einheit nicht bestehen. Die Erfah-
rung der Kunst darf nicht in die Unverbindlichkeit des ästheti-
schen Bewußtseins abgedrängt werden. Diese negative Einsicht
bedeutet positiv: Kunst ist Erkenntnis und die Erfahrung der
Kunst macht dieser teilhaftig.« (94)
Nicht schon in der Rede von ästhetischer Erkenntnis liegt die
überbietungstheoretische Folgerung. Diese liegt in der unqualifi-
zierten Gleichsetzung von Kunst und Erkenntnis, die dem
Kunstwerk im nächsten Schritt eine »überlegene Wahrheit« zu-
spricht (107, vgl. 445), deren Gewicht es gegen die Grenzen eines
(in Grenzen sinnvollen) methodisch-instrumentellen Denkens zu
rehabilitieren gelte. An der Erfahrung der Kunst kommt das
Gemeinsame der Erfahrungsweisen zu Bewußtsein, in denen sich
eine Wahrheit »kundtut«, die die Erkenntnismöglichkeiten der
Wissenschaften fundierend übersteigt (xxvm). Folglich darf das
auf ästhetische Phänomene gewendete Verstehen nicht länger als
Besonderheit einer ästhetischen Einstellung verstanden werden;
es wird zum paradigmatischen Anlaß einer Reflexion auf die
Bedingungen des Verstehens überhaupt. Aus der antipuristischen
»Nichtunterscheidung« (1 II) von Gelungenheit und Bedeutsam-
keit folgt für Gadamer die Notwendigkeit einer »Transzendie-
rung der ästhetischen Dimension« (so die Überschrift des ersten
Kapitels). »Um der Kunst gerecht zu werden, muß die Ästhetik
über sich selbst hinausgehen und die ,Reinheit, des Ästhetischen
preisgeben.« (88)

49
Ob nun im Namen der Kontinuität des Überlieferungsgesche-
hens oder der Notwendigkeit einer Sprengung des historischen
Kontinuums: stets sind es Formulierungen dieser Art, die das
überbietungsästhetische Credo liefern.26 Natürlich ist ihr Vor-
schlag gewollt paradox. Die zuvor und ansonsten im Namen der
ästhetischen Erfahrung und ihrer Gegenstände kritisierte Rein-
heitslehre wird auf einmal mit ~er Ästhetik und dem Begriff des
Ästhetischen überhaupt identifiziert und das umstrittene Gebiet
dem zerzausten Gegner freiwillig überlassen. Aber nur zum
Schein: um gleich darauf vereinnahmt zu werden von einer
totalitären Bewegung. Der zurecht kritisierte ästhetische Separa-
tismus, der seine theoretischen Grenzen immer überschreiten
mµß, um seine puren Gegenstände analytisch zu treffen, sieht
sich mit einem Schlag vereinnahmt von einem hermeneutischen
Imperialismus, der die Frage nach den Prinzipien der ästheti-
schen Wahrnehmung überführt in eine Theorie vom allumfassen-
den Geschehen des Verstehens.' Die Reste eines autonomiehöri-
gen Unbehagens lassen sich ködern von den Weihen der höchsten
Wahrheit,. die der ästhetischen Hingabe lauthals versprochen
werden. Gewiß führen auch die Überbietungstheorien den Un-
terschied von ästhetischer und nichtästhetischer Erfahrung und
Erkenntnis weiterhin mit; aus normativer Warte jedoch verblaßt
er zu einer marginalen Differenz, weil sich Erkenntnis überhaupt
ohne eine Explikation der ästhetischen Erfahrung nicht zuläng-
lich mehr bestimmen läßt. Was deren Besonderheit ist, kann und
darf sich um der Idee einer eigentlichen Erkenntnis willen nicht
eigentlich mehr sagen lassen.
Mit Einwänden dieser Art hat Rüdiger Bubner die idealistischen
bis materialistischen Überbietungstheorien als Formen einer »he-
teronomen Ästhetik« kritisiert.27 Die kunsttheoretisch »trans-
zendierte« ÄJthetik macht die ästhetische Erfahrung zur primä-
ren Instanz der Erläuterung ihrer philosophischen Kernbegriffe
und begibt sich damit in Gefahr, die begriffliche Analyse und den
analysierten Begriff (des Ästhetischen) gleichermaßen zu verfeh-
len (40, 63, 73). Weil die Identifikation von ästhetischer Gelun-
genheit mit emphatischer Wahrheit die Struktur der ästhetischen
Wahrnehmung offenkundig verzerrt, soll nun eine gegenläufige
Strategie auf die Verfassung ästhetischer Phänomene führen.
»Gerade wenn man ... Kunst im Verhältnis zur Wahrheit defi-
nieren will, muß man auf das gegen Wahrheit widerständige
Moment in ihr blicken.« (69) Daher beruft sich Bubner eindring-
lich auf den Kant der »reinen Reflexion« und ergänzt die Bestim-
mungen aus dem Anfang der Kritik der Urteilskraft durch den
Begriff des Scheins, der auf der Gegenstandsseite das benennt,
was als Leistung der ästhetischen Wahrnehmungstätigkeit zu
verstehen ist. Dieser rezeptive Vollzug, nicht die Struktur und
Bedeutung der Gegenstände, an denen er sich entzündet und
verlierend erfüllt, ist das Thema der Ästhetik. Das ästhetische
Objekt ist nur die Matrix eines betrachtend erzeugten Scheins,
der auf kein »dahinter liegendes Sein« verweist (69). Denn »es
gibt Kunst offenkundig nur im Raume einer durch gewisse
sinnliche Objekte ausgelösten Reflexionstätigkeit, die in einer
nicht endenden Bewegung auf allgemeine Erfassung des Gesche-
henen hin und daher selbstvergessen reine Leistungen hervor-
bringt, die zu keiner Bestimmtheit gelangen, da sie auf Sinnlich-
keit bezogen im Banne des,Objekts verbleiben.« (68)
Es lohnt sich, diesen Satz nochmals zu lesen - und Sätze dieser
Art gibt es in Bubners Arbeiten häufig. Sie zeugen von dem
Dilemma, über die ästhetische Wahrnehmung positiv etwas zu
sagen, ohne auf den vermeintlich bereits strukturverzerrendeh
Fehler einer zugleich gegenstandstheoretischen Charakterisie-
rung zu verfallen. »Gewisse« Objekte sind es, durch die die
Reflexionstätigkeit »ausgelöst« wird, auf die sie auch »bezogen«
bleibt, indem sie ihre Gefangenheit vom Gegenstand zu »erfas-
sen« sucht und darum reine Leistungen »hervorbringt«, »die zu
keiner Bestimmtheit gelangen«, weil sie »im Banne des Objekts
verbleiben.« Die Angst vor einer Überfremdung der ästhetischen
Erfahrung führt zu einem befremdlichen Umgang mit der
sprachlogischen Grammatik - und einer konsequenten Unterbe-
stimmung der in Rede stehenden Gegenstände. Der lJ.Jnterschied
der ästhetischen zur kognitiven oder instrumentellen Bezug-
nahme auf Gegenstände kann nur mehr negativ, als ein Unter-
schied eben, behauptet werden, weil von vorneherein unterstellt
wird, eine Analyse der imaginativ bestimmenden Wahrnehmung
sei dazu verdammt, den ästhetischen Gegenstand zu verwechseln
mit den Bestimmungen, die das Spiel seiner Wahrnehmung prä-
gen. Auch eine reine Wirkungstheorie redet von der Wirkung der
Gegenstände, von denen sie partout nicht reden will. Daher

51
werden ihre Leitbegriffe allesamt metaphorisch: die Reflexion,
die nichts findet, der Schein, an dem nichts ist, ein Urteilen, das
um so positiver urteilt, je mehr es »verwirrt« (65) wird, »konkret
erfahrende Subjekte« (72), die nichts in Erfahrung bringen als
stets von neuem ihr eigenes Erfahrenkönnen, eine reine Sinnlich-
keit schließlich, die total ist weil scheinhaft und scheinhaft weil
total: »Die pure Anschauung, die alles enthält, ist der Schein, und
dessen irrlichternde Natur setzt die Reflexion immer neu in
Gang. 28
Die ästhetischen Gegenstände sind die schlechthin unbestimmba-
ren Gegenstände - so. lautet das entzugstheoretische Credo. »In
keinem Bild ist das schlicht zu sehen, was der Betrachter darin
sieht, in keinem Gedicht definitiv zu lesen, was man darin liest,
und bei keinem Musikstück genügt genaues Zuhören, um das zu
hören, was in der ästhetischen Erfahrung sich gibt. Die paradoxe
Formulierung soll die Unbestimmbarkeit des ästhetischen Ge-
genstands hervorheben. Die ästhetische Erfahrung sieht etwas,
das sie nicht festmachen kann und das deshalb immer wieder da
ist.« (71) Diese Schlußfolgerung treibt Wucher mit einer altge-
dienten Trivialität, deren Befund als provokative Antwort ausge-
geben wird, anstatt zum Ausgangspunkt einer entdeckenden
Untersuchung zu werden. Daß die ästhetische Wahrnehmung in
entscheidender Hinsicht nicht einfach dem Muster einer konsta-
tierenden Dingwahrnehmung, eines wörtlichen Satzverstehens
und der akustischen Reizempfindung folgt - wer wollte das
bestreiten. Nur folgt aus dieser Unermeßbarkeit und Unersetz-
barkeit nicht die Unbestimmbarkeit ästhetischer Gegenstände als
deren definitive Bestimmung. Zu folgen hätte eine differenzier-
tere Analyse des ästhetisch wahrnehmenden Gegenstandsbezugs,
die sich nicht gleich damit beruhigt, daß der »volle Zugriff«, der
den ästhetischen Ertrag diskursiv abernten will, notwendig »ins
Leere stößt«, was er gewiß allemal tut (ebd. ). Das würde wie-
derum bedeuten zu erkunden, welche Beurteilungsart wirksam
ist im Zuge einer Wahrnehmung, die sich »zwischen Anschauung
und Begriff« unendlich spielend bewegt: aus welchen Antrieben
und Gründen sie ihre Gegenstände wählt und verwirft und was
sie an verschiedenartigen Objekten verschiedepartig erfährt (die
immergleiche Unbestimmbarkeit wird es ja alleine nicht sein).
Diese weitergehenden Erörterungen schneidet der Entzugstheo-
retiker auf eine wenn nicht strukturverzerrende, so doch höchst
strukturignorante Weise ab: »Die Analyse der ästhetischen
Wa~rnehmung hält sich strikt an die Wirkung, die von ästheti-
schen Phänomenen ausgeht und in der allein ,Kunst< zum Be-
wußtsein kommt, und sie bleibt allen weiteren Annahmen gegen-
über abstinent.« (63) Dieser methodischen Direktive, die er unter
Berufung auf Kant erteilt, folgt Bubner in einer Weise, die einem
Tabu über der Analyse bedenklich nahe kommt; von »weiteren
Annahmen« hatte es bei Kant noch gewimmelt. Auf der bereinig-
ten Linie einer rein wirkungsbezogenen Theorie ist die ästheti-
sche Wahrnehmung nur mehr charakterisierbar als die uneigentli-
che Reflexion, die sich aus den Zwängen einer jeden eigentlichen
unentwegt befreit. Was deren genaues Verfahren ist, kann und
darf sich um der Idee der entziehenden Freisetzung willen nicht
begrifflich ermitteln lassen.
Das sind nun wieder die trefflichen Einwände aus dem Fundus
einer überbietungstheoretischen Kritik. Der entzugstheoretisch
beschworene Rückgang auf die ästhetische Erfahrung, dieser
Rückgang, bekommt die Substanz der ästhetischen Wahrneh-
mung nicht zu fassen. Was er trifft, sind die zentralen Schwächen
einer konträr angelegten Analyse, die den wirkungstheoretischen
Rahmen weit überschreitet. Denn der überbietungstheoretische
Fortgang zur ästhetischen Erkenntnis, dieser Fortgang, muß die
Kapazität der ästhetischen Wahrnehmung notwendig überfrach-
ten. Der Entzugstheoretiker behält recht mit der Behauptung,
daß der Überbietungstheoretiker seinen Gegenstand verfehlt; der
Überbietungstheoretiker reüssiert mit dem Einwand, daß die
Entzugstheorie ihren Gegenstand nicht trifft. In dieser Verzah-
nung verfallen beide Fraktionen der antinomischen Ästhetik in
einen gemeinsamen Gestus. Die Ästhetik macht eine Tugend
daraus, daß ihr theoretisches Verfahren sich zu ihren Themen
letztlich aufweisend verhält wi~ der ästhetische Interpret zu
seinen Gegenständen. Adorno (und auf seine Weise auch Heideg-
ger) war nur derjenige, der diese Konsequenz offen gezogen
hat.
Dieser gemeinsame Gestus legt den unbewältigten Komplex der
streitenden Parteien geradezu ausdrücklich bloß. Es ist das puri-
stische Syndrom. Die Entzugstheorie argumentiert puristisch:
Wir müssen uns auf die rein ästhetische Attraktion besinnen, um

53
das Faszinierende und Irritierende zu verstehen, das die ästheti-
sche Erfahrung für die alltägliche Wahrnehmung und entgegen
der rationalen Versicherungsmittel hat. Dagegen macht die Über-
bietungstheorie mit Recht geltend, daß weder das Schockierende
noch das Versöhnende, nicht das Anarchische noch das Überwäl-
tigende, nicht das Kompensierende und nicht einmal das Dispen-
sierende der ästhetischen Erfahrung im Sinn einer Freisetzung
oder eines sich Freihaltens aus den mitgebrachten Weltbezügen
zu denken ist, sondern einzig aus einer Umpolung derselben
resultiert. Das Berückende der ästhetischen Erfahrung kann in
einem Vorgang der Entrückung allein nicht liegen. Die aus
diesem Vorbehalt motivierte Widerlegung des Purismus aber
muß scheitern, solange sie sich dazu versteigt, die Ideen der
Vernunft und der Wahrheit selbst ästhetisch zu konzipieren:
denn so kommt wiederum die (gerade auch von den Überbie-
tungstheoretikern ontologisch bis eschatologisch beschworene)
Gegenmacht des Ästhetischen theoretisch zu kurz. Beide Versio-
nen der ästhetischen Theorie verweigern letztlich das »Denken
der Differenz«, um seine Verkümmerung auf der Gegenseite um
so treffender zu beklagen.
Dieses notorische Unentschieden birgt zugleich den unschätzba-
ren Vorteil, daß die Argumente für eine Widerlegung des Puris-
mus, die das überbietungstheoretische Dilemma vermeidet, in
den Kontexten des antinomischen Modells fast alle bereits aufzu-
finden sind. Es kommt nur darauf an, sie als Argumente für die -
partielle - Rationalität des Ästhetischen zu lesen. Dies auf Um-
wegen zu versuchen, wird nicht bedeuten, die beiden komple-
mentären Modelle sardonisch gegeneinander auszuspielen, son-
dern zu versuchen, der Fülle ihrer wechselweisen Einsichten, die
stets auch sachliche sind, einigermaßen gerecht zu werden. In
diesem Bemühen werd(; ich einer therapeutischen Anweisung
Wittgensteins folgen: »Man muß manchmal einen Ausdruck aus
der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, - und kann
ihn dann wieder in den Verkehr einführen.« 29 So sei es mit der
Rede vom \ein Ästhetischen für eine Weile gehalten - bis wir am
Ende wieder eine Verwendung dafür haben. Das rein Ästhetische
ist nicht der paradigmatisch einfache, es ist der um eine einfache
Wendung potenzierte Fall des Ästhetischen.

54
e) Zwei Auswege

Nicht nur führt der Weg aus dem antinomischen Dilemma durch
die Gewölbe der nachkantischen Aporien hindurch, es mangelt
auch nicht an energisch gelegten Spuren, die eine veränderte
Orientierung im Szenarium der traditionellen Ästhetik verhei-
ßen. Dabei zielen die erhellenden Weisungen nicht aus dem
umstrittenen Terrain heraus, sondern durch überraschende Pas-
sagen in den zur Genüge unterkellerten Lustgarten der ästheti-
schen Wahrnehmung hinauf. Zwei neue Versuche, die antinomi-
sche ,Zwangslage zu sprengen und zu verwandeln, möchte ich
kurz erörtern - Karl Heinz Bohrers Ästhetik des Plötzlichen und
Franz Koppes endeetische Ästhetik.
In enger Orientierung an Bestimmungen der ästhetischen Wahr-
nehmung und der ästhetischen Neubestimmungen der Wahrneh-
mung, über die sich das moderne Bewußtsein und Bewußtsein
der Modeme seit der Romantik zentral bestimmt, entwickelt
Bohrer die These, daß sich »die Grenze des ästhetischen Phäno-
mens gegen das nichtästhetische an der zeitlichen Modalität der
Plötzlichkeit darstellen« läßt. 30 Demnach sind allein diejenigen
Phänomene und Konstrukte ästhetisch relevant, durch die - nach
einem Wort von Kleist - »etwas Unverständliches zur Welt« und
zu Bewußtsein kommt (20): und dies plötzlich: indem bis dahin
geltende und gewichtige Wirklichkeitsauffassungen unvermittelt
außer Kraft gesetzt werden. Der »Augenblick des ästhetischen
Scheins« ist ein Ereignis des Gebanntwerdens durch ein Besonde-
res, das gegenüber den Restriktionen eines zuordnenden Verste-
hens nachhaltig inkommensurabel bleibt; im Nu der Gewärti-
gung des Unerhörten bricht die Relevanzordnung der Normal-
zeit zusammen. Was sich in der Stillstellung der Kontinuität des
habitualisierten Realitätssinns vollzieht, ist ein emphatisches In-
newerden der Differenz von subjektiver Möglichkeit und objek-
tiver Wirklichkeit: das wahrnehmende Subjekt erfährt seine Ge-
genwart im schockierenden Glanz seiner unvermllltet gegenwärti-
gen Potentialität. In der Präsenz dieser glückhaft (und, mit
Heidegger gesagt, entschlossen) bejahten Benommenheit liegt die
Utopie des Ästhetischen: sich aus der Befangenheit im Herge-
brachten und Auferlegten stets von neuem imaginativ zu be-
freien.

55
Diesen an Benjamin gewonnenen, nun zur grundlegend Ȋstheti-
schen Kategorie« (72) erklärten Begriff der Gegenwart als einer
respektlosen Stillstellung des Geläufigen löst Bohrer konsequent
von der geschichtsphilosophisch-eschatologischen Stilisierung ei-
ner objektiv antizipierenden ästhetischen Utopie. Bohrers Utopie
des Ästhetischen ist radik~l präsentisch gedacht (vgl. 210 ff.): es
ist der in Augenblicken der »vorlaufenden Entschlossenheit«, der
sich plötzlich ereignenden Zukunft, gelingende Einspruch gegen
das RealitätsprinzipY »Benjamin erfand nämlich das ,konstruk-
tive Prinzip,, wie er es nannte, gegenüber der dahinfließenden
Zeit Halt zu rufen, dieses Halt mit seinem eigenen Augenblick
auzufüllen. (... ) Wir wollen jedoch am Begriff der Gegenwart
ohne den utopischen Horizont festhalten und sagen: Dieser
Augenblick, dieser Jetztpunkt gehört zur antizipatorischen
Struktur jedes ästhetischen Entwurfs, jedes Entwurfs von uns
selbst.« (73 f.) Das plötzlich ausschweifende Einhalten nimmt
nichts Bestimmtes in Aussicht, sondern leistet die stets wiederho-
lend zu erneuernde Öffnung der gegebenen Situation für die
»Signifikanz des Unbekannten« (75). Daran, ob sie eine derart
unterbrechende »Gegenwarts-Reflexion« (103) erzwingen, sind
ästhetische Konstrukte zu messen. »Das Neue, das Unverständli-
che, das Unbekannte ist nicht einfach das stilistisch Avancierte-
ste, sondern es ist das dem ,Augenblick, Adäquate« (76).
Was dermaßen in plötzlicher Erkennung zu Bewußtsein kommt,
ist nicht etwas, das mit einemmal - unverhüllt oder in voller
Wahrheit - aufscheint, es ist der vieldeutig-verlockende Schein
der Andersheit und Hinfälligkeit des Bisherigen und Bekannten:
und nichts als der Schein solchen Scheinens, wie Bohrer im
Rekurs auf Nietzsche sagt (II6 u. 121 ff.), macht die Wucht der
unverklemmt ästhetischen Wahrnehmung aus. Deren Faszination
gründet in einem »Intensitätserlebnis«, das von denen, die ihm
unterliegen, als ein »Erleben der eigenen Intensität« erfahren
wird (79). Was so erfahren wird, läßt sich begrifflich erst spät und
niemals eigentlich analysieren - mit der Zuschreibung von Be-
deutungen nimmt die Bedeutung ästhetischer Phänomene pro-
portional ab. »Das allgemeine Daß des Eindrucks von Kunst
wirkt unabhängig von der Erkenntnis des Was. Und je stärker
dieses Daß anwesend ist, um so mehr bekommt ein modernes
Kunstwerk die Chance, in sich selbst, ohne vorher schon festlie-
gende Ideen begriffen zu werden. Wir haben es zu begreifen,
bevor wir es begriffen haben.« (79)
Mit dieser Paradoxie geht Bohrer über das entzugstheoretische
Paradox einer Reflexion, die nichts ergreift, entschieden hinaus.
Bei aller Verwandtschaft ist die vorgreifende (An-)Erkenntnis
eines Unbekannten anderer Natur als ,die Reflexion auf ein
notwendig Entgleitendes. Es ist daher wichtig, sich durch die
ausgrenzenden Markierungen, die Bohrer immer wieder mit
Nachdruck setzt, nicht leichtfertig täuschen zu lassen. Zwar
kultiviert Bohrer die entzugstheoretischen Oppositionen von
reiner Wahrnehmung und begrifflicher Wahrheit, von Geist und
Schönem, Idee und Erhabenem, letztlich also die an Nietzsche
erhärtete Differenz von (wahrheitsbezogenem) Sein und (ästhe-
tisch-autonomem) Schein ohne Unterlaß und in vielfältigen Va-
rianten (7 f., 90, 98, 113, 117f., 127, 131, 196). Zugleich aber und
nicht minder nachdrücklich insistiert er auf der genuinen Er-
kenntnisleistung der plötzlichen Wahrnehmung (17f., 20, 158),
ihrer »Phantasiew.ihrheit« (105), ihrer einzigartigen »Gegen-
warts-Reflexion« (4off., 78, 103, 132), ja auf dem »tieferen
Wissen von der Welt«, das die ästhetische Erfahrung - wiederum
nach Nietzsche - birgt (125). Allein der ästhetisch Erfahrene und
vorbehaltlos Erfahrende weiß um die stets latente, je plötzlich
evidente und ewig wiederkehrende Andersheit des jeweils für
gegeben und geltend Gehaltenen. Er weiß von dem » Wider-
spruch des Seins« (125), auf nicht zu vermittelnde Weise mit dem
Seienden nicht identisch z4 sein; ein Wissen, erworben und
ekstatisch erneuert in der »ideenlosen Konzentration« (165) auf
das, was sich der Idee, der begrifflichen Fixierung entzieht. Das
erhabene Innewerden der eigenen Gegenwart ist ein instantanes
Bewußtsein zugleich des überschreitend Erhabenen - zumal der
modernen Kunst, die darum »per definitionem illegal, subversiv,
ohne Verpflichtung« ist (84, vgl. 132).
Bohrers dekonstruktive Synthese der beiden - wie es schien -
unvereinbaren Grundpositionen der Ästhetik ist ebenso beein-
druckend wie gewaltsam. Um der rein ästhetischen Reaktion
einen emphatischen Erkenntniswert zuzuweisen, bedarf es meh-
rerer gewagter Operationen. Deren erste ist die leitende Behaup-
tung, es sei die Plötzlichkeitsreaktion generell ästhetisch - und im
exzentrischen Augenblick werde die eigentliche Gegenwartsbe-

57
stimmung und projektive Selbstbehauptung geleistet. Gegenüber
der Enthaltsamkeit der Entzugstheorien wird es auf diese Weise
möglich, über die ästhetische Wahrnehmung an zahlreichen Bei-
spielen substantielle Aussagen zu machen, die in der These von
der anti-regulativen Utopie der »totalen Präsenz« (21 r) kulminie-
ren. Damit aber droht die ästhetische Erfahrung zur schlechthin
überlegenen Erfahrung zu werden, die das konventionelle Netz
des bloßen Fürwahr- und Fürwerthaltens zerreißt und dem
Ferment der Jetztzeit täuschungsfrei ins Auge blickt. Diesen
überbietungstheoretischen Fehlschluß - das ist die zweite Opera-
tion - versucht Bohrer dadurch abzuwenden, daß er die Essenz
der ästhetischen Wahrnehmung strikt an den Exzeß der momen-
tan überschreitenden Befremdung bindet. Der Prozeß der ein-
schreitenden und erschließenden Verarbeitung des plötzlich Wi-
derfahrenen ist selbst nicht ästhetisch - er löst den Magnetismus
der Augenblickserscheinung sukzessive auf. Das Ereignis der
scheinhaften Epiphanie ist autonom gegenüber allem, was aus
ihm folgen mag: daß sie es möglich machen, im Auge der eigenen
Irritation gebannt zu verweilen, macht die Eminenz ästhetischer
Konstrukte aus - was es ist, das irritiert und gar was diese
Irritation erklärt, ist demgegenüber sekundär und zielt am Kern
der ekstatischen Erschütterung notwendig vorbei. Daher hat es
keinen Sinn, von der ästhetisch überlegen eröffneten Wahrheit zu
reden - ästhetisch ist lediglich das Wissen, daß die Wahrheiten
nicht alles sind. Ästhetisch sind Situationen im Augenblick um-
stürzender Erfahrungen, aber keine Folge dieses Ereignisses ist
jemals ästhetisch, denn ästhetisch ist das Erlebnis der radikalen
Inkonsequenz: dem Gang der Dinge und dem Lauf der Zeit
enthoben zu sein - ohne Rücksicht der Folgen.
Als folgenreich aber ist die ästhetische Wahrnehmung bei Bohrer
durchaus gedacht. Die ästhetischen Setzungen und Entsetzungen
sind dezidiert gegen das kulturelle Einverständnis, gegen das
Einsinken in eine behütete Normalität gerichtet. Um die polemi-
sche Artikuliertheit der ästhetischen Erfahrung gegen ästhetizi-
stische Verkürzungen zu retten (vgl. 103), bedarf es einer dritten
Operation, die im Widerspruch zur zweiten steht und damit auch
die erste ins Wanken bringt. Die ästhetische Reaktion muß als
spontaner Vorgriff einer eingreifenden Reflexion gedacht wer-
den, genauer: als ein Offenbarwerden des nicht Verrechenbaren,
das offenkundig wird und sich öffentlich geltend macht an den
skandalösen Medien seiner Kristallisation. Wenn nun darin der
erkennende Akt einer »Selbstkritik der Gegenwart« (40) zu sehen
ist, dann wird die schlagartige Evidenz, daß die geltenden Rech~
nungen nicht aufgehen, immer zugleich der Beginn einer neuen
und kritischen Rechnung sein. In der Erleuchtung des Augen-
blicks wird die Zumutung des nachhaltig Unverständlichen als
ein folgenreich Unbekanntes noch unabsehbar erfaßt. Der Spur
des plötzlich Wahrgenommenen zu folgen bedeutet, die gesche-
hene Antizipation verändernd zu vollziehen. »Man beteilige sich
nicht an dem widerlichen Prozeß, bei dem imaginative Erfindun-
gen der vorhandenen Kultur integriert werden. Wichtig an ihnen
aber ist doch das Geg~nteil davon: der Überfall, der Zwang,
etwas zu denken, was man bis dahin noch nicht dachte.« (16) Im
Bestreben, das Greuel einer schöngeistigen Unverbindlichkeit
auszuschließen, muß Bohrer dem »Grausen« ( 116) der scheinhaf-
ten Benommenheit die übergreifende Ausstrahlung zugestehen,
die er zugleich doch abstreiten muß, um die bekämpfte Nivellie-
rung einer emphatischen Wahrheitsästhetik zu vermeiden. Wie
Peter Bürger treffend eingewandt hat, ist die ästhetische Provo-
kation »immer Provokation einer geltenden (bzw. als geltend
unterstellten) Norm oder eines anerkannten Werts. Sie lebt von
diesem Bezug und ist daher nicht als absoluter Schein zu fassen,
wie Bohrers Nietzsche-Deutung dies nahelegt.« 32
Im Interesse einer Theorie der ästhetisch erkennenden Wahrneh-
mung erweist sich die Alternative zwischen dem »Schein des
Scheinens« (Nietzsche) und dem »Schein des Scheinlosen«
(Adorno 33) mithin als trügerisch: der »Augenblick des ästheti-
schen Scheins« markiert durchaus das initiative Aufscheinen
eines zunächst unabsehbaren Andersseins und Andersseinkön-
nens. Zwar versucht sich Bohrer dieser Konsequenz mit Hilfe
seiner zweiten Operation immer wieder zu entziehen; dieses
Ausweichen aber macht nun auch die Fragwürdigkeit der Aus-
gangsprämisse offenkundig. So gewiß Plötzlichkeit der Zeitmo-
dus eminenter - eminent verändernder - Erfahrungen und gerade
der ästhetischen ist, so unbestreitbar scheint es zugleich, daß die
einschneidenden Erfahrungen nicht notwendig ästhetische sind.
Wenn dieser einfache Vorbehalt triftig ist, dann ist das einigende
Thema der Essays über das Plötzliche gar nicht die ästhetische

59
Wahrnehmung, sondern die >»Augenblicks-Struktur< kreativer
Vorgänge« (8 r) - geboten an vorrangig ästhetischem Material,
das hier natürlich besonders ergiebig ist. Als eine normative
Theorie des (vor allem intellektuell) befreienden Erlebnisses sind
Bohrers Arbeiten so ergiebig wie konsistent.
Als systematische Analyse einer, nämlich der ästhetischen Ver-
haltensweise aber können sie sich nur um den Preis einer perma-
nenten Kategorienvertauschung behaupten. Das Erkennen des
Unbekannten bzw. die Konfrontation mit dem Unbegreiflichen
ist alleine kein spezifischer Modus der Wahrnehmung und des
erkennenden Verhaltens. Weil sich auch Bohrer, gewarnt von den
dialektischen und utopistischen Totalisierungen, dafür entschei-
det, nicht zu sagen, »was Kunst ist, sondern wie sie auf uns
wirkt« (86), kann er auch das nicht sagen. Oder er kann es nur
mehr sagen, indem er die Plötzlichkeit und eigentümliche Gegen-
wärtigkeit unvordenklicher Momente willkürlich als spezifische
Natur des ästhetischen Wahrnehmens behauptet. Aber weder ist
der Schock der Präsenz als solcher ästhetisch noch wird die
Anmutung des Plötzlichen generell als Steigerung der Existenz
erfahren (auch von den »starken Naturen« nicht; noch Heidegger
hatte von der unfreiwilligen Benommenheit der Angst als einer
Form der geballten Gegenwart gewußt). Es wird eine der Haupt-
aufgaben des zweiten Kapitels dieser Arbeit sein, die ästhetische
Okkupation des Gegenwartsbegriffs rückgängig zu machen, um
das Besondere der ästhetischen Gegenwärtigkeit - durchaus im
Anschluß an Bohrer - erkennbar zu machen.
Denn eine Korrektur der beschriebenen Überdehnung liegt dem,
was Bohrer in Auseinandersetzung mit der modernen Kunst im
genaueren sagt, außerordentlich nahe. Zumal die literarischen
Produktionen, die Bohrer diskutiert, sind ja nicht nur Texte, die
Plötzlichkeitsreaktionen auslösen, sondern solche, die die Augen-
blicklichkeiten des modernen Bewußtseins auf verschiedene
Weise einzigartig vergegenwärtigt haben. Die Arbeiten etwa von
Joyce, Proust, Woolf und Musil sind darin verwandt, daß sie in
verschärfter Weise aus dem Sog der Situation geschrieben sind,
indem sie das in ihr punktuell und ephemer Erscheinende in
selektiver Intensität vor Augen führen; sie machen Formen der
innersituativen Präsenz auf neuartige Weise präsent. Was Bohrer
(gar nicht so ausschließlich) als ästhetische Reaktionsweise be-

60
schreibt, ist signifikant ermöglicht durch den spezifischen Arti-
kulationsmodus der Werke, an denen er seine Theorie gewinnt.
Die Werke, die dem »Augenblick adäquat« sind (76), werden in
der sympathetisch antizipierenden Reaktion erkannt als Präsen-
tationen einer gegenwärtig betreffenden Situation. »Das Schöne
erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in
den Dingen unbestimmbar ist« - in Erinnerung an diesen Apho-
rismus von Valery, auf den sich Benjamin und Adorno zentral
berufen haben, wird dem leeren Paradox einer Erkenntnis des
Unbekannten in seiner Unbekanntheit die weniger enigmatische
Bestimmung einer Situationscharaktere imaginativ vergegenwär-
tigenden Erkenntnis abzugewinnen sein: als einer Form der
Wahrnehmung, die die Vernunft anderer Erkenntnisformen kon-
stitutiv ergänzt.
Vor der Schwelle einer Analyse der ästhetischen Rationalität, so
scheint mir, bleibt die Wendung von einer das Unbekannte, aber
nichts Unbekanntes erkennenden Konzentration eine bloß zuge-
spitzte Formulierung des puristischen Syndroms - das Schlag-
wort einer Differenz, die gedacht werden muß, aber nur be-
schworen werden kann. Weil Bohrer den gordischen Knoten der
antinomischen Verstrickung nur durchschlagen, nicht aber auflö-
sen will, sieht er sich genötigt, die antinomische Volte mit der
unverblümten Verkündung noch zu steigern, es sei die Ästhetik
die Disziplin der notwendig paradoxen Lösungen. »Die Parado-
xie sollte sein.« (13) Wer sich der theoretischen Paradoxie entledi-
gen will, so die neuantinomische Weissagung, ist auf dem besten
Weg, sich - und am Ende auch andere - der ästhetischen Bestrik-
kungen zu entschlagen. Gegen ein solches Dogma, das das puri-
stische Tabu mit kulturkritischem Donnerwetter erneuert, hilft
nur die eine Entgegnung: ~ir werden ja sehen.

Franz Koppes Abhandlung über »Grundbegriffe der Ästhetik«


zeichnet sich gerade durch die Unverfrorenheit aus, solchen
Einschüchterungen aus dem Geist einer systematischen Neugier
zu begegnen. Koppe stellt die altbekannte Frage nach der ästheti-
schen Funktion gegenüber ihrer strukturalistischen Formulie-
rung in nunmehr pragmatischer, gegenüber ihrer materialisti-
schen Version in nunmehr zeichentheoretischer Absicht. »Denn
die Frage, wie Kunst als Zeichen eigener Art gemacht ist, läßt sich

61
nicht sinnvoll von der Frage trennen, warum sie so gemacht ist;
und umgekehrt läßt sich die Frage, warum Kunst so gemacht ist,
ebensowenig sinnvoll ohne die Frage stellen, wie sie denn eigent-
lich gemacht ist. Gesucht wird mithin eine Synthese beider - für
sich genommen kunsttheoretisch haltlosen - Halbierungen, kurz:
eine zeichenpragmatische Ästhetik.« 34 In einer überzeugenden
Kritik weist Koppe außerdem nach, daß die handelsüblichen
Kriterien der Innovation, der Mehrdeutigkeit oder Unbestimmt-
heit, der Fiktionalität und Exemplarität für sich genommen die
Spezifik des Ästhetischen noch durchaus unterbestimmt lassen
(122f.); auch die emotive Theorie der Bedeutung, die das We-
sentliche der Kunst in ihrer Kraft zur Hervorbringung von
Gefühlen sieht, wird »dem Zeichencharakter der Kunst nicht
gerecht, weil sie deren kommunikativen Handlungscharakter -
produktiv wie rezeptiv - verfehlt.« (124) Koppes eigener Vor-
schlag daraufhin lautet: »Nicht zwar das Bewirken von Gefühlen
kann Grundlage für eine Definition ästhetischer Sprachverwen-
dung sein, wohl aber die Artikulation von Bedürfnissen.« ( 12 5)
Unter Bedürfnissen versteht Koppe subjektive Dispositionen zur
Erreichung, Erhaltung und Veränderung von Situationen; ent-
sprechend werden Bedürfnisäußerungen verstanden als subjek-
tive Stellungnahmen zur faktischen oder kontrafaktischen Ge-
genwart von Situationen; als Bedürfnisäußerungen dieser Art
zählen alle Redeformen, mit denen die Sprechenden nicht primär
die Beschaffenheit der Welt bezeichnen, sondern vor allem die
Betroffenheit in ihren diversen Lebensumständen zum Ausdruck
bringen. Die Formen der bedürfnisartikulierenden oder »ende-
etischen« Rede nun stellt Koppe den Formen der »apophan-
tisch« behaupteten Rede gegenüber, wie sie am reinsten, die Prä-
gnanz lebenspraktischer Diskurse begrifflich überbietend, in den
Wissenschaften beheimatet ist (126,153,219). Nicht als behaup-
tende oder primär wahrheitsorientierte Kommunikation sind die
Sprachen der Kunst zu begreifen, sondern als - ihrerseits ausge-
zeichnete - Formen der bekundenden, primär wahrhaftigkeits-
orientierten Verständigung; das endeetische Kommunikations-
potential der Künste antwortet auf das »existentielle Artikula-
tionsdefizit« (127), das sich in alltagspraktischen Kontexten oft
schmerzlich geltend macht, wenn die Menschen versuchen, sich
in ihrer augenblicklichen Daseinslage kommunikativ darzustel-
len. In der (mehr oder weniger innovativ, mehrdeutig, fiktiv,
exemplarisch, repräsentativ - vgl. 14 3 ff. u. 147 ff.) überbietenden
Vergegenwärtigung von Bedürfnissituationen liegt das Gemein-
same der ästhetischen Ausdrucksformen. »Dabei liegt die der
gewöhnlichen Sprache überlegene Artikulationspotenz nicht al-
lein in der Fülle oder Präzision bedürfnisrelevanter Situationsde-
tails, nicht allein in der Vervielfältigung und Differenzierung
expliziter Bedürfnisunterscheidungen, sondern vor allem (und
gegebenenfalls ausschließlich) auf der konnotativen Ebene, die es
erlaubt, Situationen unausdrücklich als Bedürfnissituationen zu
vergegenwärtigen.« (128, Hervorhebungen vom Autor) In ihrem
zeichenintern geleisteten Mitbedeuten werthafter Situationsbe-
züge, in ihrer durchgeformt bedeutungshaften Phänomenalität
bringen die gelungenen Kunstobjekte nicht nur die häufig ver-
schattete und verschüttete Subjektseite der Erfahrung ans Licht -
als traditionell oder modern stimmige Konstruktionen sind sie
stets zugleich ein transzendierend-utopisches Zeugnis des an-
thropologischen Sinnverlangens. »Ästhetische Rede ist überbie-
tende endeetische Rede. Und zwar überbietend gegenüber le-
benspraktischer Rede: auf insbesondere konnotativem Wege,
unter Aufhebung ihrer phänomenalen Kontingenz, in kontrafak-
tischer Entsprechung des Bedürfnisses nach kontingenzaufhe-
bendem Lebenssinn.« (136)
Mit diesem überraschend einfachen Vorschlag zur Klärung, den
er im weiteren sukzessive differenziert, gelingt es Koppe, eine
Position zu gewinnen, von der aus die unselige Gegenüberstel-
lung von entziehender Reinheit und überlegener Wahrheit samt
ihrer diversen Mesalliancen mit dem Gewinn einer vielfachen
Aneignung passierbar wird. Im Zentrum dieser Aneignungen
steht die vertraute Theorie der Kunst als gesteigertem Ausdruck
der Subjektivität, der von keiner Wis~enschaft erreicht, ge-
schweige denn überflügelt werden kann. Die kommunikations-
theoretisch reformulierte Ausdrucksästhetik versteht die Artiku-
liertheit ästhetischer Objekte mit Adorno als ein Zeichen und
Gebilde gewordenes »Bewußtsein von Nöten« und - allerdings
auch - Freuden, ohne doch darauf zu verfallen, hierin die privile-
gierte Antizipation eines schlechthin richtigen Bewußtseins zu
sehen (85 u. 227). Ästhetische und diskursive Rede sind alternativ
und doch miteinander verbunden: zumal die praktische Bedürf-
niskritik setzt gelingende Bedürfnisartikulation voraus, die als
authentisch gelungene wiederum im Horizont einer möglichen
diskursiven Kritik erscheint. Die ästhetische Wahrheit, die un-
verfälscht paradigmatische Präsentation von Bedürfnislagen,
steht in dialektischer Spannung zur diskursiven Verständigung,
sei es praktischer oder auch theoretischer Natur: sofern denn die
ästhetischen Objekte auf solche Wahrheit Anspruch machen
(152 f.). Das Besondere und gelegentlich besonders Provokative
auch dieser nichtpropositionalen Wahrheit jedenfalls liegt im
Eigensinn der endeetischen Ausdrucksintensität begründet. Um
es mit den Worten von Habermas bündig zu sagen (zu dessen
kunsttheoretischen Bemerkungen der Versuch von Koppe in
erklärter Verwandtschaft steht, vgl. r 35 u. 22.d.): ästhetisch
gelingende Kommunikation erfüllt den Modus einer entfalteten
expressiven Rationalität. 35
In der Gradlinigkeit der Gedankenführung bei Koppe und auch
Habermas freilich lauert eine Gefahr, die den überbietungstheo-
retischen Widrigkeiten nicht ganz unähnlich ist. Es ist die Gefahr
einer Anbindung der ästhetischen Funktion an einen elementaren
Modus des kommunikativen Handelns, über den sie doch zu-
gleich entscheidend hinausreichen soll. In dieser Methodik der
progressiven Rückführung ist die Ästhetik einer emphatischen
Wahrhaftigkeit derjenigen der emphatischen Wahrheit (inklusive
Wahrhaftigkeit), gegen die sie rettend konzipiert ist, näher ver-
wandt, als ihr lieb sein kann. Mag auch die richtige Position zur
Einrenkung des antinomischen Dilemmas gefunden sein - die
sprachtheoretisch erneuerte Ausdruckstheorie setzt ihre Griffe
falsch an.
Wenn Koppe sagt, »Betroffenheit äußern, heißt, eine Verände-
rung der eigenen Bedürfnissituation bekunden« ( r 34), bedient er
sich einer pleonastischen Redeweise, die eine sachliche Schwie-
rigkeit birgt. Es ist nämlich zweierlei, ob ich ein aktuelles Bedürf-
nis (ein Verlangen-nach oder eine Neigung-zu etwas) bekunde
oder eine Situation im Lichte meiner Bedürfnisse, als Betroffener,
charakterisiere. Nur die erste Sprachform ist expressiv-bekun-
dend; die zweite schließt Wert- und Sachbehauptungen und,
wenn es sich um die Vergegenwärtigung der aktuell gegebenen
Situation handelt, Absichtserklärungen und anderweitig regula-
tive Verständigungsweisen durchaus mit ein. Auch wenn es Sinn
hat zu sagen, daß sich Bedürfnisse auf Situationen beziehen, so
hat es doch keinen Sinn, so zu reden, als seien Bedürfnisse
Situationen - als sei die Artikulation von Bedürlnissen gleichbe-
deutend mit einer bestimmten Art der Charakterisierung von
Situationen. Die Charakterisierung einer »Bedürlnissituation« ist
die Charakterisierung einer Situation auch und gerade hinsicht-
lich der in ihr - nicht zuletzt emotional - virulenten Bedürfnisse.
Die Glaubwürdigkeit von Situationsdarstellungen dieser Art
hängt hier von Graden der Wahrheit und Wahrhaftigkeit glei-
chermaßen ab; obwohl Wahres und Wahrhaftiges nicht kongru-
ieren muß (weil der Erzähler über das Widerfahrene sich täu-
schen kann), sind beide Geltungsaspekte in der Plausibilität z.B.
von Alltagserzählungen notwendig miteinander verschränkt
(denn wenn keine der Tatsachenbehauptungen stimmt, wird es
auch mit der Wahrhaftigkeit so weit her nicht sein).
Freilich, »wer nichts bedarf, kann durch nichts betroffen wer-
den« (134); so gewiß aber Betroffenheit notwendig auf »Bedürf-
tigkeit bezogen« ist (ebd.), so gewiß auch ist die »im Zeichen der
Betroffenheit« (ebd.) gegebene Darstellung von etwas - und gar
von Situationen - nicht zwanglos reduzierbar auf einen Modus
der Bedürfnisse bekundenden Rede. Was Koppe mit dem Begriff
der Bedürlnissituation in undeutlicher Vermengung mit je sub-
jektiv drängenden Bedürlnissen (oder Bedürfnislagen) sinnvoll
anspricht, ist einfach das lebendige Gesicht lebensweltlicher Si-
tuationen - ist ein Begriff der Situation, der diese nicht um das
personale Engagement und Erleben in ihr kürzt; und ist eine
Verständigung in und über Situationen, die das ebenfalls nicht
tut: und sich darin, nicht aber durch das Fehlen wahrheitsfähiger
Behauptungen, zumal von der wissenschaftlichen Rede signifi-
kant unterscheidet. Sowenig nun expressive Bedürfnisäußerun-
gen gleichgesetzt werden dürfen mit den weniger elementaren
Formen der betroffenen Situationscharakterisierung, sowenig
auch darf die ästhetische Vermittlung von Erfahrungen im Zei-
chen der Betroffenheit (vgl. r 34) mit den letzteren gleichgesetzt
werden: erst diese ist es, die in einem strikten Sinn weder
behauptet noch bekundet. Bedürfnisäußerung ist eines; betrof-
fene Vergegenwärtigung von Situationen ein zweites; ästhetische
»Rede« ein drittes. Keine dieser drei Funktionen überbietet die
andere: denn jede leistet etwas anderes.36 Was ästhetische Präsen-
tationen leisten, ist nicht die Vergegenwärtigung von »Bedürfnis-
situationen«, sondern die Darbietung von Situationen aus dem
Herzen ihrer vergangenen, dauernden oder nie gewesenen Ge-
genwart.
Wenn meine Zweifel am Konstrukt der »endeetischen Rede«
berechtigt sind, dann ist dies keine Gegenthese, sondern Koppes
zentrale Behauptung. Ihrem Vorschlag wird auf andere Weise zu
folgen sein, als dies bei Koppe geschieht. Sofern nämlich eine
endeetische oder anderweitig expressivistische Ästhetik die ge-
nannten Differenzen vernachlässigt und expressive Rede, betrof-
fene Schilderung sowie ästhetische Artikulation auf einer - auf-
steigenden - Linie ansiedelt, handelt sie sich ein hausgemachtes
Überbietungsproblem ein, für das sich keine befriedigende Lö-
sung findet. Sie muß die ästhetische Differenz behaupten, indem
sie die kommunikative Kontinuität des Ästhetischen erweist;
beides ist schlüssig nicht zu vereinen. Da es »Verfahren der
Wertkonnotation« (130) alleine nicht sind, die eine gelungene
»Interferenz von ineins sinnlicher und signifikanter Textqualität«
und nichtsprachlicher Ausdrucksintensität (167) ästhetisch be-
werkstelligen, muß ein riskanter Formbegriff herhalten, um den
ästhetischen Abstand zur bedürfniskommunikativen Normalver-
ständigung zu markieren. Die ästhetisch gelungene oder schöne
Formierung (gleich welcher traditionellen oder modernen Spiel-
art) wird definiert als das - meist kontrafaktisch - als erfüllt
vergegenwärtigte »Bedürfnis nach umfassender Sinnganzheit«
(159f., 168, 131ff.). Kunst und Ästhetisches sind gemacht und
gesehen vom »Standpunkt der Versöhnung« - dieser spekulative
Gedanke ist nicht nur anthropologisch fragwürdig (weil es das
Elementarbedürfnis nach Kontingenzüberwindung nicht gibt), er
ist auch von der Sache her nicht nötig.
Darauf werde ich in der Schlußbetrachtung wieder zurückkom-
men. Wichtiger noch ist eine zweite Folge der bei Koppe zugrun-
degelegten Konstruktion. Weil sich Koppe auf die Tragfähigkeit
des an Marcuse, Adorno und Kant entwickelten Formbegriffs
verläßt, kommt es zu einer gravierenden Vernachlässigung des
Problems der ästhetischen Beurteilung. Was Koppe über die
»ästhetische Wertschätzung« schreibt, gilt ausschließlich dem
ästhetischen Interesse, nicht aber dem Modus, in dem sich dieses
Interesse wahrnehmend und wertend realisiert. Die ästhetische

66
Kritik wird einerseits der kunstwissenschaftlichen Erkenntnis
innovativer Kunstformen (143 ff.), andererseits der praktisch-
vernünftigen Bedürfniskritik zugeschlagen ( 1 37 u. 1 53); da sie
»apophantisch« verfährt, kann sie in der Analyse »endeetischer«
Artikulationsmedien vernachlässigt werden. Gerade im Kontext
einer kommunikationstheoretischen Ästhetik halte ich eine sol-
che Trennung für trügerisch; denn die vielberedete ästhetische
Kommunikation vollzieht sich wesentlich als eine Kommunika-
tion über das, was ästhetische Objekte - gegebenenfalls - kom-
munizieren. Was ästhetische Objekte zu verstehen geben und wie
wir uns wahrnehmend zu ihnen verstehen, hängt inniger zusam-
men, als Koppe es, gestützt auf seine Grundunterscheidung,
wahrhaben kann. Hier, in der Kantischen Doppelung von ästhe-
tischer Form und Form ästhetischer Beurteilung, liegt der Schei-
tel der ästhetischen Differenz; wie die Wahrnehmenden - zumal
angesichts des aktuell Neuen - entscheiden, ob und inwiefern die
ästhetischen Phänomene ergiebig und stimmig sind, daran - und
daran allein - ist zu ermessen, was der Eigensinn des ästhetisch
wahrnehmenden Verhaltens ist. Ob die »unverkürzte Selbstmit-
teilung im kommunikativen Austausch von Bedürfnissubjekten«
( 138 f.) das schlechthin eigentümliche Interesse ist, das die ästhe-
tische Praxis leitet, wird sich daher erst zeigen müssen. Zuvor ist
eine Halbierung der zeichenpragmatischen Revision geläufiger
Halbierungen zu vermeiden: wie Kunst gemacht ist und warum
sie so gemacht ist, hängt damit zusammen, wie wir uns angesichts
ihrer Exemplare etwas aus ihr machen.37

Obwohl Koppes sprachtheoretisch ansetzende Konzeption sich


mit Bohrers phänomenologisch orientierten Thesen unmittelbar
wenig berüht, führt doch eine Lektüre, die nach Auswegen aus
der antinomischen Modellsituation sucht, hier wie dort zu einer
parallelen Konsequenz. War gegen Bohrer daran zu erinnern, daß
es nötig ist, sich über Plötzlichkeit und Gegenwärtigkeit zu
verständigen, bevor trennscharf nach der ästhetischen Plötzlich-
keit und Vergegenwärtigung gefragt werden kann, so ist Koppes
Analyse entgegenzuhalten, daß es einer genaueren Verständigung
über den Begriff der Situation bedarf, um klar zu sehen, was es
heißt, Weltbezüge im Zeichen der Betroffenheit zu vergegenwär-
tigen. Dabei zeigt es sich, daß zwar nicht die alternativen Positio-
nen des antinomischen Modells, wohl aber die konkurrierenden
Auswege aus dieser unentschiedenen Lage sinnvoll zueinander
vermittelt werden können. »Plötzlichkeit« und »Betroffenheit«
liegen einander ja wiederum sehr nahe; ihre ästhetische Relevanz
konvergiert in der komplexen Bedeutung des Begriffs, den Hans
RobertJauß schon vor Jahren wieder ins Zentrum der kunsttheo-
retischen Diskussion gestellt hat - des Begriffs der Erfahrung.38
freilich tritt auch hier das analoge Problem auf den Plan, die
ästhetiscq.e Erfahrung abzugrenzen von der entzugstheoretischen
Ausgrenzung und der überbietungstheoretischen Entgrenzung.
Und gerade die mittlerweile so populäre Berufung auf die »Er-
fahrung« zahlt in dieser Hinsicht fast ausnahmslos den Preis einer
undifferenzierten bis unklaren Vermischung der ästhetischen
Wahrnehmungsleistung mit verschiedenartigen und verschieden-
artig reichen Begriffen der Erfahrung. Wenn auch das Faktum
der Vermischtheit außer Frage steht: das genuine Verhältnis
dieser Mischung steht dafür um so mehr in Frage.
Die Diskussion mit Bohrer und Koppe legt eine kurze Folge
vermutender Antworten nahe. Wenn der plötzlich betreffende
Augenblick im nichtästhetischen Sinn der Initialmoment einer
verändernden (und nicht auf die Revision einzelner Kenntnisnah-
men zu beschränkenden) Erfahrung ist; und diese Form der
Erfahrung zu verstehen ist als die personale Erschließung einer
(neuartigen) Situation; dann könnte folgen, daß erst und allein
der ästhetische Augenblick und das ästhetisch Vergegenwärtigte
den »Augenblick auf die erschlossene Situation« (Heidegger 39)
eröffnen; und dies wäre eine wiederum verändernde Erfahrung
besonderer Art: nämlich der subjektiv freizügigen und selbst-
zweckhaften Erfahrung der Potentialität der je eigenen Erfah-
rung. Heidegger hat die existentiell einschneidende Erfahrung
mit der ästhetisch unerhört erfahrenen Erfahrung überbietungs-
theoretisch identifiziert; Bohrer folgt diesem Überbietungsge-
danken, möchte aber die Eminenz des Augenblicks zugleich als
ein ästhetisch sich Entziehendes reservieren; Koppe dagegen
konstruiert ein Kontinuum zwischen der Verständigung über
Bedürfnisse und der Vergegenwärtigung existentiell einschlägiger
Situationen in ihrer prekären Bedeutsamkeit. Der Streit um Kon-
tinuität und Diskontinuität der ästhetischen Wahrnehmung,
scheint mir und hoffe ich, wird hinfällig, wenn das ästhetische

68
Verhalten verstanden wird als eines, daß sich artikulierten Phäno-
menen zuwendet, die den Erfahrungsgehalt von Situationen in
nichtpropositionaler Prägnanz vergegenwärtigen. Ästhetische
Phänomene haben die Bedeutung präsentierter Präsenz: hier, im
Aufscheinen und in der Zumutung einer doch auch distanzierten
Gegenwart liegt die definitive Grenze der und zur ästhetischen
Konfrontation. Der ästhetisch unerhörte Augenblick ist das ver-
ändernde Gewahrwerden der wie immer aufgewühlt oder un-
merklich gearteten Augenblicklichkeit von Situationen, die mit
der Situation dieses ästhetischen Gewahrens niemals völlig kon-
gruieren. In der untilgbaren Differenz von gebannter Situation
und bannender Anspannung liegt die außerordentliche Möglich-
keit einer mit der eigenen Erfahrung experimentierenden Erfah-
rung.

f) Der Weg durch die Erfahrung

Eines macht der kommunikationstheoretische Ausgang und Zu-


gang unverblümt deutlich: das puristische Syndrom ist nur die
Kehrseite einer semantischen Phobie. Daß ästhetischer Ausdruck
der » Widerpart des etwas Ausdrückens« sei, wie Adorno es
formuliert hat, ist das gemeinsame Credo der Theorien, die
behaupten, daß die ästhetische Wahrnehmung uns von der Ver-
nunft emphatisch befreit oder emphatisch berufen ist, die entfes-
selte Ratio jetzt und dereinst zur Vernunft erst zu bringen. Wer
von einer »ästhetischen Bedeutung« als dem besonders Ästheti-
schen spricht, verrät demnach genau das Besondere des Ästheti-
schen. Gegen den Terror von Interpreten und Produzenten, die
den Gehalt der Werke glauben hersagen zu können und sollen,
richtet sich der gemeinsame Furor der antinomisch kontroversen
Ästheten. Offenkundig ist das mit Kanonen auf flügellahme
Spatzen geschossen. Denn ernstzunehmende Ästhetiker, die ge-
sagt hätten, es sei die ästhetische Bedeutung gleichbedeutend mit
derjenigen der Sätze, die Treffliches über die betreffenden Ob-
jekte sagen, hat es nie gegeben. Der Schlachtruf »against interpre-
tation« ist daher zündend nur soweit er sich gegen schlechte
Interpretationen richtet. Selbst die von Susan Sontag geforderten
»erotics of art« müssen ja die wie immer zarte Berührung suchen,
wenn ihre Abenteuer nicht bloß einschläfern sollen. Ein flaues
Anschmiegen ist hier nicht weniger tödlich als die gewalttätige
Enteignung. So berechtigt also der Horror von der impliziten
Bedeutungstheorie unbedeutender Interpretationen ist, die auf
die Übersetzung eines Gesagten zielen, so wenig berechtigt ist
andererseits die Weigerung, die spezifische Bedeuturigshaftigkeit
ästhetischer Objekte genauer zu bedenken, wie das auf semioti-
schen und erweit~rt semantischen Wegen seit längerem getan
wird. Ob es nun Bedürfnissituationen oder Erfahrungsgehalte
sind, die ästhetisch einmalig bedeutet werden: eine Analyse des
ästhetischen Verhaltens hat zu begreifen, was ästhetische Objekte
als solche und nur als solche zu verstehen geben.40
Bei aller Polemik freilich, die sich gerade in ihren Reihen findet,
sind die Überbietungstheorien des Ästhetischen dennoch alle-
samt verkappte Bedeutungstheorien; nur wird hier die befürch-
tete Verkürzung auf eine mitteilende oder beispielhafte Bedeu-
tung beantwortet durch die Behauptung einer ästhetischen Wahr-
heit, die sich der Wahrheit von Behauptungen steigernd entzieht,
obwohl es doch auch der behauptenden Interpretation bedarf,
dieser Wahrheit erkennend inne zu werden. »Der Wahrheitsge-
halt der Werke ist nicht, was sie bedeuten, sondern was darüber
entscheidet, ob das Werk an sich wahr oder falsch ist, und erst
diese Wahrheit des Werkes an sich ist der philosophischen Inter-
pretation kommensurabel und koinzidiert, der Idee nach jeden-
falls, mit der philosophischen Wahrheit.«4 ' Das Kunstwerk be-
deutet, was die philosophische Rede meint, die freilich das, was sie
zu sagen hat, alleine nicht zulänglich bedeuten kann. So formal
richtig Adorno das Verhältnis ästhetisch interpretierender Sätze zu
ihren kritisch erhellten Gegenständen faßt, so verfehlt ist es doch,
in diesem Verhältnis das Wesen der Wahrheit (in ihrer zudem ge-
schichtlich totalen Verhangenheit) zu suchen. Auch ist es nicht die
philosophische Erkenntnis, die im ästhetischen Erkennen spezi-
fisch beglaubigt wird. Was wir ästhetisch wahrnehmen und im
Zuge einer ausdrücklich interpretierenden Wahrnehmung ästhe-
tisch erkennen, sind Implikationen unseres Erkennens, Bedür-
fens und Wollens in Konfigurationen ihrer situationshaft-simul-
tanen Prägnanz und Präsenz. Diese Korrespondenzen kann eine
diskursive Rede und Analyse nicht formulieren, wie sehr sie auch
zeigend in deren Reichweite führen mag.
An die zeigende, ja »verschwindende«, dennoch aber unabding-
bar kontaktbildende Wahrnehmungsleistung einer auslegenden
Zuschreibung und Vermittlung zu erinnern, ist eines der zentra-
len Anliegen von Gadamers Reflexionen zur Hermeneutik.42
Gerade also wenn es darum geht, die überbietungstheoretische
Konsequenz zu vermeiden, wird die angekündigte Widerlegung
des entzugstheoretischen Purismus an zentrale Überlegungen bei
Gadamer und Adorno ansetzen können. Nur im Ausnützen der
Energien einer überschwenglichen Wahrheitsästhetik wird eine
Kritik der ästhetischen Überlegenheitsthese möglich, die die
puristische Entkräftung ebenso meidet wie eine grundsätzliche
Reduktion auf die Wahrhaftigkeit des subjektiven Ausdrucks.
Auch wenn es nach den präliminarischen Erkundungen scheinen
muß, als seien dem mehrseitig annoncierten Vorhaben mit dieser
Bekräftigung nunmehr endgültig alle Durchwege verriegelt.
Es bleibt ja immer noch die Möglichkeit, die bisher nachgezoge-
nen Linien streckenweise anders zu gehen. Wie oben beschrie-
ben, geht Gadamers Theorie der hermeneutischen Erfahrung
vom Ästhetischen aus, um einen umfassenden und für die ästheti-
sche Differenz nicht länger sensiblen Begriff des Verstehens zu
gewinnen. Das ist das überbietungstheoretische Vorgehen par
excellence; der puristisch Argumentierende reagiert mit einer
Rehabilitation des Standpunktes, der weitläufig überschritten
wurde. Allein - der Rückweg steht noch immer offen. Er lenkt
das Augenmerk auf Zusammenhänge, die auf dem Hinweg nicht
ersichtlich werden konnten. Nachdem die - weit mehr als kunst-
philosophisch - ertragreiche Erweiterung des Erfahrungsbegriffs
vom Ästhetischen her einmal geleistet ist, wird es möglich und
nötig, diesem Weg im Namen der ästhetischen Erfahrung noch
einmal in methodisch entgegengesetzter Richtung zu folgen:
gegen den Strom einer »Transzendierung der ästhetischen Di-
mension« zu einer neuen Unterscheidung der ästhetisch welthal-
tigen Erfahrung. Die Entzugstheoretiker wissen schon, warum
sie zurückgeblieben und nicht zurückgegangen sind. Denn eine
kritische Reise, die Gadamers Denkwegen rückwärtig folgt, führt
aus dem antinomischen Patt und damit auch aus den puristischen
Bequemlichkeiten heraus. Allerdings kann Gadamers Begriff der
Erfahrung, der auf das kommunikative Sinn- und enger noch das
auslegende Textverstehen zugeschnitten ist, hierbei nicht unbese-

71
hen übernommen werden. Mit verlagertem Akzent gilt ähnliches
für Adorno, für Heidegger, selbst für Hegel. Der Zusammenhang
von Situation und Erfahrung, auf den die ästhetische Erfahrung
einzigartig bezogen ist, darf nicht schon nach dem Modell einer
auf spezielle Wahrnehmungs- ~nd Aktionsbereiche begrenzten
Erfahrung erläutert werden, wenn er auf die besondere Be-
stimmtheit der ästhetischen letztendlich führen soll.
Mit diesen überleitenden Wo~ten nehme ich einen Vorschlag auf,
den John Dewey bereits vor fünfzig Jahren gemacht hat: »Um die
Bedeutung künstlerischer Werke zu erfassen, müssen wir diese
eine Zeitlang vergessen und außer acht lassen, um uns den
gewöhnlichen Antriebskräften und Erfahrungsbedingungen zu-
zuwenden, die wir in der Regel nicht im Zusammenhang mit
ästhetischen Überlegungen betrachten.« 43 Daß auch Deweys
Theorie der »Kunst als Erfahrung« im Ganzen zu der überbiete-
rischen Annahme tendiert, es sei eine jede »vollständige« Erfah-
rung ästhetisch, ändert an der Triftigkeit dieser Maxime nichts.
Sie formuliert den Ausgangspunkt, von dem her ich versuchen
werde, eine Linie zu ziehen, die durch die falschen Oppositionen
der antinomischen Ästhetik hindurchführt und dabei die erörter-
ten und erwähnten Sackgassen der Vermittlung meidet. Und sei
es nur, um die Fehler, die auf dieser Linie liegen, einmal in aller
Offenheit zu begehen.
II

Situation und Erfahrung

Wir machen Erfahrungen in Antwort auf Erfahrungen, die wir


haben. Wir haben Erfahrung in der Kenntnis von Situationen, in
denen wir Erfahrung gemacht haben. Eine Erfahrung machen
heißt, unserem Verhalten und Handeln eine Situation erschlie-
ßen; erfahrend finden wir uns in Situationen ein. Erfahrung
haben bedeutet, vertraut zu sein im Umgang mit den Gegenstän-
den und Themen, deren Relevanz konstitutiv ist für die Situation,
in der wir uns befinden; durch Erfahrung kennen wir uns in
Situationen aus. Die momentane Ausrichtung unseres Verhaltens
zu den diversen Lebenslagen entstammt vergangener Erfahrung:
in der Gewißheit der Erfahrung, die wir haben, sind wir einge-
stellt auf künftige Situationen der bekanntgewordenen Art. Über
diese Orientierung, die wir im Haben von Erfahrung haben,
verfügen wir allein in der Gegenwart von Situationen, deren wir
gewärtig sind vermöge der Erfahrungen, die wir gemacht haben,
als wir seinerzeit konfrontiert waren mit den Umständen, die
unserem Verhalten jetzt durch Erfahrung erschlossen sind.
Die Erfahrungsgehalte, die konstitutiv sind für den Charakter
lebensweltlicher Situationen, sind denen, die sich in diesen Situa-
tionen befinden, als solche nicht gegenwärtig: das, was wir im
Vollzug unserer Handlungen explizit voraussetzen, wahrnehmen
und vorhaben, unterscheidet sich auf spezifische Weise von dem
impliziten Wissen um die Situation, in der sich unser Handeln
vollzieht. Sowenig der Erfahrungsgehalt ihres Handelns den
Handelnden im situationsimmanenten Vollzug ihrer Handlungen
augenblicklich gegenwärtig ist, sowenig auch wird die interne
Bedeutsamkeit von Situationen greifbar in der darstellenden Rede
über das, was in Situationen zur Erfahrung gekommen ist und
kommt; die thematisierende Beschreibung und Bewertung des
Erfahrenen machen den Orientierungssinn einer Erfahrung nicht
selbst klar. Die pragmatische und partizipative Eingebundenheit
in Situationen, aus denen die Wirklichkeiten sprachmächtiger

73
und handlungsfähiger Individuen gebildet sind und fortwährend
sich bilden, ist den dermaßen zur Welt gehaltenen Subjekten
allein in der Praxis der ästhetischen Wahrnehmung gegenwärtig.
Es sind die ästhetischen Verfahren der Imagination und Kon-
struktion, die eine Vergegenwärtigung der Erfahrungsgehalte
vertrauter und fremder Situationen im Modus ihrer Erschlossen-
heit oder Bedeutsamkeit ermöglichen. Ästhetische Präsentatio-
nen stellen Komplexe eines möglichen impliziten Wissens, in
dem die wirklichkeitskonstitutiven' Auslegungen unseres Han-
delns und Daseins habituell behalten sind oder enthalten sein
könnten, in ihrer situativen Verwiesenheit heraus. Ästhetisch ist
die Erfahrung von Möglichkeiten, Erfahrung zu haben.
Wie in der Einleitung angekündigt, wird von der Eigenart der
ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung zunächst nicht und
später bloß unter anderem die Rede sein. Ich habe in diesem
Kapitel genug damit zu tun, die Behauptungen über den Zusam-
menhang von Situation und Erfahrung soweit auszuführen, daß
die These von der ästhetischen Vergegenwärtigung von Erfah-
rungsgehalten sich sachlich aufdrängt und aus dieser Zumutung
eine weniger denn vieldeutige Kontur erhält; der erreichten
Nötigung nachzugeben und den Umriß des bis dahin immerhin,
aber doch immer nur Vorgezeichneten leidlich auszufüllen, wird
Aufgabe erst des folgenden Kapitels sein. Es kommt darauf an,
das Machen und Haben von Erfahrungen zu beleuchten, bevor
Klarheit über das Machen und Haben von Erfahrung mit dem
Gemachtsein von Erfahrungen sich einstellen kann.

74
r. Erfahrung machen und haben

Eine Erfahrung machen bedeutet, eine lebensweltliche Situation


erschlie_ßen:um diesen Erfahrungsbegriff wird es im folgenden
gehen. Autoren wie Heidegger, Gadamer und Polanyi haben in
unterschiedlicher Ausführung der jedem Erfahrenden vertrauten
Intuition Nachdruck verliehen, daß Erfahrungen in einem be-
stimmten Sinn nicht gleichzusetzen sind mit dem, was über ihre
zentralen' 1Gegenstände jeweils in Erfahrung gebracht worden ist.
Was nämlich im Machen von Erfahrungen, die nicht auf diese
und jene Weise längst schon eingespielt sind, zur Erfahrung
kommt, sind nicht einzelne Sachverhalte, sondern Situationen der
Relevanz von Sachverhalten; im Verlauf innovatorischer Erfah-
rungen werden Möglichkeiten des Sichverhaltens zu Gegebenhei-
ten offenbar, die innerhalb von Situationen auf zuvor nicht
gekannte Weise thematisch werden. Wenn man den so verstande-
nen Prozeß des Machens einer Erfahrung hinsichtlich des ihm
eigentümlichen Produkts genauer betrachtet, so wird deutlich,
das das personale Erfahrungswissendurchaus anders verfaßt ist
als das je behauptbare Wissen, das die neuartig mit etwas kon-
frontierten Subjekte aus einer Erfahrung stets auch erhalten
haben. Erfahrungen gehen nicht auf in den theoretischen Er-
kenntnissen und normativen Einsichten, die in ihrem Vollzug
gewonnen wurden und die unabhängig von den erfahrend er-
schlossenen Situationen formuliert werden können. Die Konse-
quenzen des (zuletzt von Tugendhat ausführlich belegten)
scheinbar trivialen Umstands, daß die Bedeutung situationsunab-
hängig verständlicher (assertorischer) Sätze zurück- und voraus-
weist auf Situationen, in denen sich das Gesagte bewahrheiten
kann und zu bewahrheiten ist, sind keineswegs trivial. Denn was
wir durch Erfahrung immer auch erwerben, sind situationsun-
mittelbare Orientierungen - und es sind diese Orientierungen,
die uns überhaupt zur Behauptung von Erkenntnissen befähigen,
so wie es umgekehrt das Unterscheidenkönnen von Propositio-
nen ist, das uns befähigt, revidierbare Relevanzordnungen zu
etablieren, von denen wir innerhalb des Spielraums von Situatio-
nen intuitiv Kenntnis haben. 44
Erfahrungen, in denen bis dahin nicht realisierte Möglichkeiten
des Verhaltens bestimmend oder zwingend werden (ob es sich

75
dabei nun um Möglichkeiten primär der operativen, interaktiven
oder kontemplativen Praxis handelt), haben stets ein doppeltes
Resultat: sie führen zu einem situationsunabhängig aussagbaren
Wissen über das Erfahrene und zu einem situationsgebundenen
Verständigtsein auf das, was in der oder den einschlägigen Situa-
tionen aufgekommen ist. Der nach einer Seite nicht aufzulösende
Fundierungszusammenhang thematischer und nichtthematischer
Orientierungen kommt dann in den Blick, wenn man theoretisch
von vorneherein mit Subjekten rechnet, die in ihrer Welt sich
engagieren - und die Frage nach dem Gehalt von Erfahrungen
aus dieser Perspektive stellt.41
Diese Bemerkungen sollen im Augenblick nur den Vorsatz erläu-
tern, die pragmatische und performative Komponente dessen,
was es heißt, eine Erfahrung zu machen, einmal nicht zu unter-
schlagen. Wir machen Erfahrungen als Mitglieder unserer Le-
benswelt und ihrer Gliederungen selbst dann, wenn wir um
Welten aus dem eingelebten Kontext entfernt sind. Der Versuch,
am Thema des (bzw. eines) Erfahrungsbegriffs die Wirklichkeit
unseres Handelns geltend zu machen gegen die Abstraktionen
unseres je explizierbaren Wissens, genauer: gegen die theoretisch
blinde Abstraktion, als sei jedes Wissen »prinzipiell« auf das
Schema expliziter Aussagen zu bringen, dieser Versuch muß sich
allerdings hüten vor der preiswerten Versuchung, den pragma-
tisch-performativen und den kognitiv-propositionalen Aspekt
des Habens und Machens von Erfahrungen gegeneinander auszu-
spielen. Er wird sich um die Doppelnatur von Erfahrungen
bemühen, ohne voreilig das Recht von Analysen und Redeweisen
zu bestreiten, die nicht auf dieser Linie eines durch Erweiterung
der Perspektive eingeschränkten Erfahrungsbegriffs liegen.
Denn natürlich liegt zunächst einmal nichts Verwerfliches in dem
oft üblichen extensiven Gebrauch des Ausdrucks ,Erfahrung<,
der diesen Terminus in dem schwachen Sinn beliebiger Kenntnis-
nahmen verwendet: ,eine Erfahrung machen, heißt dann soviel
wie etwas zur Kenntnis nehmen, von etwas Kenntnis erhalten,
eine Information oder einen Gedanken als gültig annehmen oder
auch eine Handlungsmöglichkeit als empfehlenswert erkennen,
kurz: etwas als etwas auffassen - gleichgültig, ob es sich dabei um
sensorische oder interpretative, empirische oder evaluative Auf-
fassungen handelt (obwohl das klassische Paradigma dieses Ver-
ständnisses von >Erfahrung, sicherlich die Wahrnehmung von
Dingen und Ereignissen der äußeren Natur betrifft). Wahrneh-
mungs- und Verstehensleistungen dieser Art machen wir explizit
in assertorischen Sätzen, für die wir Wahrheit bzw. Begründbar-
keit beanspruchen.
In der Tat sind konstative - gegebenenfalls behauptbare - Annah-
men das Ergebnis einer jeden Erfahrung, also auch in dem Sinn
von Erfahrung, der hier zu erläutern sein wird. Wenn man nun
Erfahrung mit diesem Grundmerkmal einer jeden Erfahrung
schlechthin identifiziert, dann fallen nicht nur problematische
und problemlose Orientierung von vorneherein unter einen Be-
griff, sondern es wird überdies der Sinn der Orientierung mißver-
standen oder doch unterschlagen, die Individuen, die auf Erfah-
rung angewiesen sind, durch Erfahrung allererst gewinnen. Dort
geht es nicht allein um die Gewinnung von Daten, sondern um
die Aneignung eines Zugangs zu und eines Umgangs mit ihnen;
nicht allein um die Sicherung eines Tatsachenwissens, sondern
um die projektive Erschließung von Situationen einer Welt. Die
problemlos gewordenen Orientierungen, auf die wir uns im
Verfolg einer bestimmten Praxis verlassen können, sofern sie als
ein Zusammenhang fragloser und unaufwendig zu ergänzender
Kenntnisnahmen zur Verfügung stehen, sind von uns, die wir sie
jetzt in Anspruch nehmen, einmal unter Bedingungen mangeln-
der Orientierung erfahrend ausgemacht worden; und sie stehen
auch weiterhin unter dem Vorbehalt der erneuten Problematisie-
rung. »Problematisch« sollen dabei nur diejenigen Orientie-
rungsbemühungen heißen, die nicht bloß schwierig sind, sondern
bei denen Handelnde genötigt sind, die Art ihrer als selbstver-
ständlich eingeübten Voreingenommenheit hinsichtlich der (Art
der) Gegenstände zu ändern, mit denen sie augenblicklich kon-
frontiert sind bzw. sich konfrontieren. Diesen Fall werde ich
untersuchen als den, in dem wir genötigt sind, eine Erfahrung zu
machen: das ist der Fall, wenn die Möglichkeit einer angemesse-
nen und gesicherten sachlichen Einschätzung nur im Zuge einer
Änderung der mitgebrachten Einstellung gegeben ist. Gegenüber
einem auf die direkte Tatsachenfeststellung zugeschnittenen Er-
fahrungsbegriff halte ich (auch unabhängig von ästhetisch inter-
essierten Hintergedanken) eine Konzeption für ergiebig, die den
Vollzug einer Erfahrung begreift als den jeweils singulären Pro-

77
zeß der Änderung von Orientierungen in gegebenen Verhaltens-
bereichen. 46
Mit diesen Klärungen ist ein hermeneutischer Erfahrungsbegriff
nur insofern anvisiert, als sich die philosophische Hermeneutik
nicht ausschließlich auf das Verstehen fremden Sinnes - das Mo-
dell der Textauslegung und der kommunikativen Interaktion -
konzentriert: sondern die Erschließung und Erschlossenheit von
Situationen zum Thema hat, die die Gegenwart eines oder mehre-
rer Subjekte bilden. Aber auch um eine dermaßen heideggersche
Hermeneutik der Erfahrung geht es nur insoweit, als die polemi-
sche Zielrichtung (und sowohl antilibertäre wie antisoziale Be-
schränkung), die der Analyse Heideggers und zum Teil noch
Gadamers zugrunde liegt, nicht übernommen wird - als gäbe es
einen prinzipiellen Vorrang eines inwendigen Seinsverstehens
oder des Sicheinfindens in die Überlieferung vor der erkennen-
den Beurteilung und überlegenden Bewertung begegnender Um-
stände. Die Konstruktion eines Primats der »umsichtigen Ausle-
gung« gegenüber der erkennenden Aussage ist so haltlos wie die
konverse Simplifikation, es gehe der erkennende Zugriff vor dem
handelnden Engagement.47Gerade dieser sinnstiftende und sinn-
tilgende Zusammenhang ist es, für di~ sich eine pragmatisch
voreingenommene Theorie der sinnbildenden Erfahrung interes-
siert - gestützt auf die Mittel einer Hermeneutik lebensweltlicher
Projekte.
Bleibt die Frage: Wenn Behauptungen die ausdrückliche Form
dessen sind, was einerseits in jeder Erfahrung zur Wahrnehmung
kommt - was sind dann die Explikate jener ominösen Kenntnis,
die wir zum anderen durch Erfahrung gewinnen? Damit nicht
falsche Zurückhaltung die Lektüre erschwert: Diese Seite unserer
Existenz aus und für Situationen haben wir vor uns an den
Medien der ästhetischen Wahrnehmung; das Wissen, dessen Zu-
spruch wir brauchen, um etwas zu wissen, können wir vergegen-
wärtigen, erkunden und erfinden an der internen Artikuliertheit
von Kunstwerken, ästhetischen Objekten, ästhetisch distanzier-
ten Situationen und nicht zuletzt auch der konstruktiven Bauart
von - Theorien. 48
Dieser Nachsatz zeigt an, wie gut es ist, nichts zu überstürzen.
Ich beginne mit phänomenologisch ansetzenden Bemerkungen
zum Erfahrungsprozeß (a); ich werde dann zeigen, wie sich
Einstellungen, in die Erfahrungen münden, unterscheiden von
den Bezugnahmen, die in ihnen zusammengeschlossen sind (b);
ich werde anschließend die Besonderheit der Präsenz bestimmter
Situationen herausstellen gegenüber sowohl ihrer routinierten
Typisierung als auch ihrer externen Beschreibung (c); in einer
ersten Zusammenfassung präzisieren, was es heißt, Erfahrung zu
haben (d); und abschließend prüfen, inwiefern sich bestimmte
Erfahrungstypen bzw. Einstellungsarten auf der Basis der ge-
wonnenen Einsichten unterscheiden und rekonstruieren lassen
(e).

a) Erfahrung machen

Erfahrungen, die wir machen, sind Veränderungen, die uns ge-


schehen, indem wir sie vollziehen. Was sich dabei ändert, ist die
Sicht der oder bestimmter Dinge, aus der sich die Erfahrenden bis
dahin verhalten haben. Nicht jede Änderung der Ansichten über
bestimmte Dinge ist eine Erfahrung und geht zwangsläufig auf
Erfahrungen zurück; was sich durch Erfahrung ändert, ist die das
künftige Verhalten bestimmende Einstellung zu dem, was da
erfahren wurde. Eine Erfahrung machen heißt nicht einfach, eine
Ansicht und Absicht revidieren und gewinnen, sondern bedeutet,
einen veränderten praktischen Bezug erhalten zu dem neu oder
erstmals Angesehenen und Vorgenommenen.
Dieser Zugang in der Erhellung des Machens von Erfahrungen
macht es nötig, Erfahrungen zu unterscheiden von den Arten der
Bewußtheit, aus denen sie sich bilden. Solange sie sich der
Einstellung, aus der die Subjekte sich gerade verhalten, problem-
los einfügen, solange sie also fraglos sind und folgenlos bleiben
für die Wirklichkeitsauffassung, die der jeweiligen Einstellung
zugrunde liegt, solange ballen sich einzelne Wahrnehmungen,
Empfindungen, Affekte, Überlegungen - und ihre eingespielten
Verbindungen- nicht zu Erfahrungen zusammen: sie gehen nicht
in den Prozeß einer Erfahrung ein, sondern verbleiben in ihrer
Punktualität und Geformtheit vor der Schwelle der Erfahrung.
Wir sind einer Sache in verschiedenen Konstellationen emotional,
sensorisch, intellektuell gewärtig, wir sind in den Umständen
dieser Gewärtigkeit wahrnehmend tätig, aber nicht erfahrend

79
gefordert. Einzelne Wahrnehmungsereignisse und fortlaufende
Wahrnehmungssequenzen (einschließlich Überlegungsfolgen ),
solange sie in problemloser Zuordnung und Kontinuität sich
einstellen und vollziehen, sind nach dem hier zu erläuternden
Verständnis nicht schon Erfahrungen. Sie sind es nicht schon,
weil sie es nicht mehr sind. In den unaufwendigen Vollzügen des
alltäglichen Lebens werden Formen des Gewärtigseins reprodu-
ziert, aktualisiert und in Grenzen selbst variiert, die sich zu
erheblichen Teilen einmal als Erfahrung gebildet haben, die
erfahrend erlernt und erworben wurden; jetzt aber mangelt ihnen
der Zug des Widerspiels zwischen dem Einspruch unerwarteter
Gegebenheiten und dem verarbeitenden Zuspruch aus dem Re-
servoir des bereits Gewußten und Bekannten, das für Erfahrun-
gen kennzeichnend ist. Handlungs- und Wahrnehmungsroutinen
sind erfahrungsentlastet; was Erfahrung einmal war, ist Gewohn-
heit und Gewißheit geworden. Überzeugungen und Fertigkeiten
sind erfahrungserprobt und gegen die Zumutung neuer Erfah-
rung fürs erste gewappnet; was Erfahrung war, ist Wissen und
Können geworden. Die Zustände und Ereignisse, auf die wir als
Bewohner unserer alltäglichen Welt eingestellt und in denen wir
eingerichtet sind, bilden die » Welt unserer Erfahrung«, die wir in
unseren Verrichtungen stets aufs neue bestätigt finden: bilden die
mit anderen geteilte Welt, in der wir Erfahrungen machen, wenn
die Bestätigung ausbleibt, Fragloses fraglich und Vertrautes zum
Fremden wird. 49
Die registrierende Wahrnehmung, daß in der Wohnung, die ich
für längere Zeit verlassen hatte, noch alles an seinem Platz ist, ist
keine Erfahrung. Dieselbe Wahrnehmung freilich kann Bestand-
teil einer Erfahrung sein: dann etwa, wenn ich der Fremdheit der
einst so vertrauten Ordnung gewahr werde und mir in diesem
Befremden die Zeit meines Wegseins augenfällig wird, da ich
mich in der ehemaligen Szenerie unversehens ins Jetzt gestellt
finde. Dabei ist das Erlebnis der Fremdheit der Quellpunkt der
Erfahrung, von dem aus meine Aufmerksamkeit aus dem Fluß
der vorgeordneten und vorerwarteten Besonnenheit treibt. Aber
diese initiative Emotion ist nicht schon die Erfahrung. Die Erfah-
rung der verlorenen Vertrautheit besteht überdies in einer Reak-
tion auf das Befremden, mit dem sie anhebt. Diese Reaktion
besteht grob gesagt darin, sich einzufinden in ein geändertes

80
Verhältnis zur unvermutet auffälligen Situation und zu den The-
men, die damit aufgekommen sind. So mag die in ihrer Unbe-
rührtheit befremdlich erscheinende Wohnung zum Anlaß wer-
den für ein neues oder verdeutlichtes Verhältnis zu Phasen der
persönlichen Geschichte - und sei es nur ein bewußteres Einge-
stelltsein auf die Geschichtlichkeit der eigenen Person.
Der Umstand, daß Erfahrungen in der Regel emotional sich
aufdrängen und erlebnishaft einsetzen, darf nicht so bewertet
werden, als sei die Präsenz von Gefühlen oder gar Empfindungen
generell ein Indikator für den Vollzug von Erfahrungen. Nicht
Empfindungen und Gefühle schlechthin, auch nicht ihr merkli-
cher bis dominierender Wahrnehmungsbeitrag, sondern einma-
lige, die vorgefaßte Verhaltenserwartung dementierende und in
dieser Abgehobenheit prägnante Erlebnisse sind die charakteri-
stischen Anlässe für das Machen einer Erfahrung. Was sich
dermaßen aufdrängt, ist das Nichtweiterhelfen und nicht länger
Gelten des bis dahin als geltend und hilfreich Unterstellten; diese
Entlassung aus bis dahin wirksamen sinnhaften Verweisungen
wird allererst emotional verbucht und erfährt dabei eine erste
unvermittelte Bewertung, in der sich bereits ein Bedürfnis zur
neu entstandenen Lage geltend macht (diese vorgreifende Dimen-
sion kommt Empfindungen nicht oder eben nur dann zu, wenn
sie, wie häufig, mit Emotionen zusammenfallen). Von singulären
Betroffenheitsereignissen, kurz: Erlebnissen dieser Art ist die
Motorik einer Erfahrung gezündet. Das erste Verstehen eines
sich nicht mehr Verstehenden macht die Emotionalität von Er-
lebnissen aus; der Sinn von Erlebnissen liegt im bedeutsamen,
weil - noch unartikuliert - antizipativen Ausbleiben von Sinn.
Weder enthält ein solches Erlebnis schon die Bedeutung einer
gemachten Erfahrung, noch schreibt es deren Gehalt im Ganzen
vorgreifend fest: es stellt die Frage, die im Zuge der ausgelösten
Erfahrung zu beantworten ist.l 0
Diese Frage gilt der Regelung des Verhaltens gegenüber der
verwandelt oder noch unbehandelt vorgefundenen Lage und
damit einem tragfähigen, unser künftiges Handeln orientierenden
Verständnis der Situation, die sich nunmehr aufgetan hat. Für die
Vorbereitung einer Analyse der Antwort, in der wir rückblik-
kend und vorausweisend Aufschluß haben hinsichtlich der in
Erfahrung gebrachten Umstände, ist es wesentlich, den Umstel-
81
lungs-, in seltenen, aber durchschlagenden Fällen sogar Umsturz-
charakter von Erfahrungen genauer ins Auge zu fassen. Weder
Wahrnehmungsereignisse noch Wahrnehmungsabläufe machen
für sich genommen eine Erfahrung aus; erst das ereignishafte
Genötigtsein zur prozessiven Umdeutung von Wahrnehmungen
und Wahrnehmungsmustern ist für den Vollzug einer Erfahrung
entscheidend. Was den Vorgang der Erfahrung von den Arten
der nichterfahrenden Gewärtigkeit unterscheidet, ist zum einen
seine besondere Zeitlichkeit - das Merkmal diskontinuierlicher
Prozessualität; ist zum andern ein mehrseitiges (kognitives, voli-
tives und emotives) Sicheinstellenmüssen auf den problemati-
schen Gegenstand der Erfahrung. Ich bleibe zunächst beim Pro-
zeßcharakter von Erfahrungen.
Eine Erfahrung, die gemacht werden will im Unterschied zu den
Kenntnisnahmen, die uns in geübter Folge leise oder laut beglei-
ten, setzt ein mit dem Erlebnis der Fraglichkeit einer bis dahin
fraglosen Orientierung in beliebigen Situationen; sie vollzieht
sich insgesamt als ein Prozeß des Findens einer Antwort auf den
Verlust der Fraglosigkeit. Dieser Prozeß mag Augenblicke dau-
ern oder Jahre: die Antwort, die sich in ihm findet, hat Dauer bis
zum Exzeß erneuter Fragen (sofern wir sie dank oder zwangs der
wiederholten Präsenz der zugehörigen Situationen überhaupt
behalten). Wir machen Erfahrungen in der Konfrontation und
Auseinandersetzung mit Gegenständen (inklusive Ereignissen,
Sachverhalten, Personen, Äußerungen), mit denen wir uns nicht
schon oder nicht genügend auskennen; erfahrend sind wir genö-
tigt zu reagieren auf unerwartete Gegebenheiten, die im Hinblick
auf das, was wir wissen und wollen, nicht oder nicht recht
einschätzbar sind. Der Aufwand der Erfahrung ist gerufen als
Antwort auf etwas, das uns widerfährt.
Wie besonders Gadamer herausgestellt hat, liegt in der grundle-
genden Negativität von Erfahrungen zugleich ihr »eigentümlich
produktiver Sinn«Y Eine Erfahrung machen heißt immer auch,
dem, was da auf einen zukommt und einen angeht, in mehrfacher
Hinsicht zu begegnen. Für den Prozeß einer Erfahrung zeigt sich
das am Doppelcharakter der durch sie in Gang gesetzten Befrem-
dung: die Erschütterung der hergebrachten Einstellung wird
ausgestanden im Zuge einer Entfremdung de~ zugestoßenen
Neuen. Erfahrung ist Fremderfahrung - das Widerspiel von

82
Konfrontation und Aneignung entrollt sich nicht erst im aben-
teuerlichen Übergang zwischen einander abstoßenden Wirklich-
keiten, sondern spielt sich ab ebenso anläßlich von Konflikten
innerhalb leidlich stabilisierter Erfahrungswelten. Auch hier be-
deutet das Machen einer Erfahrung nicht die bloße Hinnahme
eines bislang nicht Angenommenen, sondern dessen Herein-
nahme in den Haushalt des soweit als wirklich .und möglich
Bekannten, in dem dieses Angebot und diese Zumutung gerade
nicht vorgesehen waren. Eine Erfahrung ist immer die Erfahrung
von etwas, das so nicht hingenommen werden kann, das aber
bezüglich dessen, worauf es den Erfahrenden jeweils ankommt,
was sie erreichen und vermeiden wollen, was sie erhoffen und
befürchten, zu ihrem Glück oder (wenigstens relativen) Unglück
angenommen werden muß.
Dabei kann die Erfahrung, daß der Kaffee nicht mehr bekommt,
befremd~nd sein ebenso, wenn auch gewiß nicht genauso wie die
Entdeckung der Auflösbarkeit eines sturmerprobten theoreti-
schen Dilemmas, die Offenbarung, daß eine Liebe erwidert oder
nicht erwidert wird oder die totale Anmutung, daß die Welt aus
de~ Fugen sei. Wenn es sich tatsächlich um Erfahrungen handelt
und nicht um konsequenzlose Informationen, dann zeigt jeder
dieser Fälle, daß eine Erfahrung gemacht sein will, indem die
Erfahrenden sich den Umstand, der ihnen auffällig geworden ist,
in der Weise stellen, daß sie ihre bisherige Verhaltensbereitschaft
und Zukunftserwartung angesichts der neuen Realitäten projek-
tiv umstellen. Erfahrungen vollziehen sich selten mit der Augen-
blicklichkeit, in der häufig ein altes Verständnis fragwürdig und
das Fehlen einer Orientierung offenkundig wird; die resümieren-
den Titel, mit denen wir Erfahrungen im nachhineinbenennen,
bezeichnen lediglich den primär relevanten Aspekt der Sache, zu
der wir in ihrem Verlauf einen veränderten Zugang gewonnen
haben. Nach vollzogener Erfahrung stellt sich die Situation, in
der sie erwirkt wurde, anders dar: sie reiht sich ein in die Folge
der Situationen, die durch diese Erfahrung vertraut geworden
sind und die an die Schwelle erneuter Erfahrungen führt. So wird
der Kaffeeliebhaber zum Geschmack am Tee finden müssen und
dies vielleicht nur durch eine leidvoll eingespielte Neuordnung
seiner Frühstücksvorlieben und sonstigen Entspannungsrituale
bewerkstelligen können; der Neudenker wird einen sogenannten
Ansatz auszufeilen haben, der es ihm erlaubt, seinen Grundge-
danken gegenüber dem bisher Geltenden auszuprägen und so die
Gewißheit des zündenden Einfalls in eine argumentativ bewan-
derte Orientierung innerhalb des berührten Problemfelds zu
überführen; Lust und Leid der sich Ver- und Entliebenden wer-
den darin bestehen, die Ausstrahlung des definitiven Seelenereig-
nisses auf die Situationen mitzuvollziehen, die nicht unmittelbar,
aber doch im Zuge der nun liebebesessenen oder liebefreien Zeit
in einem anderen Licht erscheinen und eine veränderte Praxis
ermöglichen und erzwingen; wer schließlich mit einemmal hadert
am Stand und am Lauf der Welt, sei es an der Erkennbarkeit ihrer
Fundamente oder der Verläßlichkeit ihrer Bewohner oder bei-
den, der steht vor dem schwierigen Übergang zu einem reflexiven
oder polemischen Weltzutrauen, der Entzweiflung einer trotzi-
gen Gläubigkeit oder eben der Umstellung auf die klaglos ver-
zweifelte Haltung, daß es nichts zu fügen und hoffen und somit
kaum auch zu fürchten mehr gebe. Jede dieser Erfahrungen, so
nehme ich an, kommt in Gang mit der Gewärtigung bestimmter
Umstände oder Ereignisse, durch die diejenigen, die diese Erfah-
rung machen werden, auf veränderte Weise von etwas okkupiert
werden und es daraufhin neu oder erstmals deuten und bewerten.
Als Erfahrung zählt und wirkt die unmittelbare Betroffenheit
von etwas gerade dann, wenn sie für die, die da betroffen sind,
sachliche und praktische Konsequenzen unausweichlich macht,
die zuvor auf diese Weise nicht abzusehen waren.
Dabei darf man das pathische Moment des Machens von Erfah-
rungen nicht einseitig betonen: von vielen, selbst katastrophi-
schen Erfahrungen läßt sich sagen, daß die, die sie machen,
immer auch so frei sind, eine Erfahrung so zu machen. Die uns
unwillkürlich aufgedrängten oder nahegelegten Sinnesänderun-
gen, die wir (im starken Sinn) Erfahrungen nennen, sind meist
auch ein Resultat der Fähigkeit, ein Verhältnis zu den prekär
gewordenen Situationen zu finden. Eine Erfahrung machen heißt
dann auch, sich Freiheit herauszunehmen oder doch die fehlende
einzuklagen: nämlich eine neue Zugangsweise zu erkennen und
zu wählen oder dann, wenn einem keine Wahl gelassen ist, das
Hinzunehmende und Erlittene in bezug aufs (nunmehr) zu Ver-
langende und Erwünschte zu bewerten. In der Nötigung- zur
Erfahrung nehmen wir die Gelegenheit zum Erfahren an: ist
doch mit der anfänglichen Irritation die Reaktion auf das Begeg-
nende nicht schon festgelegt, schreibt doch der Anstoß der
»Frage« nicht schon den Abschluß der »Antwort« fest. Wir
lassen uns auf etwas ein - und behaupten dadurch einen Spiel-
raum gegenüber dem, was uns widerfährt. Die Autonomie, die
sich darin unter Umständen auch dann realisiert und bewährt,
wenn eine Erfahrung das Mißlingen unseres Vorhabens zur Folge
hat, ist ihrerseits das Resultat einer Erfahrung des Erfahrenkön-
nens: einer Erfahrung der Möglichkeit, sich durch Erfahrung zu
ändern, erfahren an der Notwendigkeit, dem je Widerfahrenden
zu begegnen. Die Einsicht, die wir als Erfahrende gewonnen
haben und stets wieder gewinnen - und die es hier nur, Gadamer
folgend, der Hegel kritisch liestl2, aufzunehmen gilt -, ist ein
Wissen um die Vorläufigkeitvon Erfahrungen. Erfahrend bauen
wir der Zumutung künftiger Erfahrungen vor, erfahrend, in der
Umstellung angesichts der jetzt bekannten Lage, stellen wir uns
auf kommende Erfahrungen ein. Gegen Erfahrungen, seien sie
erfreulich oder nicht: gegen das Bestürzende unverhoffter Situa-
tionen hilft auf Dauer nur die Offenheit für erneute Erfahrung.
Endgültig, wenn es zu ihr kommt, ist nur die eine Erfahrung, von
der niemand zeigen kann, daß sie vorläufig ist.
Für alle anderen Erfahrungen gilt, daß sie hinausweisen über die
Situation, in der sie aufgekommen sind. Etwas so und so erfah-
rend schließen wir an die bisherige, im Vergangenen erworbene
Voreingenommenheit gegenüber der augenblicklich prekären
Sachlage an; wir schließen dort an, indem wir angesichts der
gegenwärtigen Umstände (über kurz oder lang) ein revidiertes
Verhältnis auch zu künftigen Situationen ihres Gegebenseins
gewinnen. Dabei birgt die Orientierung, aus der wir eine Situa-
tion erfahrend erschlossen haben, nicht zwangsläufig einen un-
terscheidenden Aufschluß über die relevanten Gesichtspunkte der
Sachlage, zu der wir nun verständigt sind (noch auch eine expli-
zite Einsicht in jene Situation, aus der wir zu der jetzt erreichten
Umorientierung genötigt waren). Gewiß wird in Erfahrungen
etwas als etwas (Verändertes, Neuartiges) wahrgenommen, ver-
standen, erkannt; aber welcher Zusammenhang von Fakten und
1

Themen es ist, dem die Handelnden nunmehr, nach gemachter


Erfahrung, Rechnung tragen, ist ihnen nicht immer, nicht gleich
und insgesamt kaum jemals in prägnanter und distinkter Weise
gegenwärtig. Die erfahrene Umdeutung hat nicht den Charakter
einer erkennenden Ausdeutung. Erst im Rückblick aufs Gesche-
hen der erfahrenden Aneignung kann der Zusammenhang von
Aspekten, auf den die Erfahrenden sich eingestellt haben, ersicht-
lich werden. Obwohl Erfahrungen auf ausgezeichnete und letzt-
lich einzigartige Weise zu Erkenntnissen befähigen und in den
meisten Fällen zum Erhalt expliziter Einsichten führen, führen
sie nicht allein und oft nicht primär zu Erkenntnissen, sondern
allemal zu einem Auskennen mit und dies dank einer Einstellung
zu dem, was in ihrem Verlauf bekannt geworden ist.
Das wird uns noch länger beschäftigen. Im Augenblick möchte
ich diese Behauptung plausibel machen durch-einen Hinweis auf
die allgemeine Verfassung von Situationen. Situationen sind die
Umgebungen von Individuen, die ihre Umgebung objektivieren
können, d. h. auf die Gegenstände und Ziele ihres Handelns auch
unabhängig von den Situationen,, in denen diese präsent sind und
realisiert wären, sprachlich Bezug nehmen können. Situationen
sind das, was die - vergangene, künftige, augenblickliche -
Gegenwart von Subjekten ausmacht, deren Handlungsspielraum
nicht durch die aktuelle Raumzeitlage festgelegt ist, weil sie als
sprachmächtige und sprachbedürftige Wesen stets mehr wissen
(wollen) und wollen (können) als das, was ihnen unmittelbar
gegeben und gegenwärtig ist. Situationen können daher verstan-
den werden als nach sachlichen Hinsichten und praktischen
Möglichkeiten durchgemusterte Bedeutungszusammenhänge, auf
deren Kenntnis erkennende und planende Individuen im Vollzug
ihres Handelns angewiesen sind. »Eine Situation«, schreibt Ha-
bermas in Anlehnung an Schütz/Luckmann, »ist ein durch The-
men herausgehobener, durch Handlungsziele und -pläne artiku-
lierter Ausschnitt aus lebensweltlichen Verweisungszusammen-
hängen, die konzentrisch angeordnet sind und mit wachsender
raumzeitlicher und sozialer Entfernung zugleich anonymer und
diffuser werden.«n Infolge dieser Staffelung wird der für eine
Situation relevante und charakteristische Themenkreis zuneh-
mend unüberschaubar und verschwimmt in einem um die mo-
mentane Ausrichtung gezogenen Horizont aus Aspekten, die für
das gegenwärtige Verhalten nicht in Betracht genommen werden
müssen.
Eine Situation kennen heißt nun nichts anderes als eine Relevanz-

86
stufung etabliert haben, die für die Wirklichkeit eines Gesche-
hens und für den möglichen Erfolg eines Handelns maßgebend
ist. Wir sind mit einer Situation vertraut, wenn wir wissen,
welche ihrer nicht thematischen Aspekte für das, worum es in ihr
geht, relevant sind oder relevant werden könnten. Wir wissen,
was eine Situation ausmacht, ohne die subsidiären Hinsichten,
die sie mit bestimmen, aktuell bestimmen zu können. Sich in und
mit einer Situation auskennen, heißt nicht so sehr, über die
Handlungsmöglichkeiten, die sie bietet,- im Bilde zu sein, es
bedeutet praktisch voreingenommen zu sein gegenüber dem, was
zur Behandlung kommt und zur Verhandlung steht. Erfahrung
hat, wer innerhalb einschlägiger Situationen, auf ihrem schwan-
kenden Boden und in ihren wechselnden Perspektiven weiß, was
zu tun und zu lassen ist. '
Das gilt für Situati.onen der verschiedensten Art. Es gilt nicht nur
für den Kaffeeliebhaber, der sich für seine Entspannungs- oder
Konzentrationszwecke auf ein festes Ritual verlassen kann, für
den Stadtbewohner, der mühelos und rechtzeitig an die Orte
seiner Verabredung findet, für den Automechaniker, der Moto-
ren routinemäßig kontrolliert und repariert, für den Politiker, der
seine diversen Pappenheimer drohend und schmeichelnd und
versprechend im Zaum hält, sondern etwa auch für den Melan-
choliker, der die Mehrzahl seiner Lebensstationen so reizlos und
folgenlos flüchtig befindet und erwartet wie noch stets seit jener
unglücklichen Affaire, und es gilt auch für den Hegelspezialisten,
der, wenn das Thema Hegel aufkommt, gleich ein Bündel von
Argumenten und Strategien parat hat, mit denen er das Banau-
sentum der Hegelverächter wieder einmal für alle Mal entlarvt.
Selbst das Nachdenken über die Verfassung von Situationen ist
eine - durch das Thema ,Situation, und das Projekt der theoreti-
schen Klärung bestimmte - Situation derer, die sich und anderen
in einer bestimmten Absicht den Charakter von Handlungssitua-
tionen klarmachen wollen. Überlegungs- oder Diskussionssitua-
tionen sind nicht identisch mit den manchmal so genannten
»Problemsituationen«, verstanden als der Zusammenhang der
Probleme (Fragen, Themen), die in ihnen bearbeitet werden;
Überlegungssituationen sind Zeitspannen, in denen wir aus ei-
nem bestimmten Bedürfnis, in einer bestimmten - praktischen
:oder theoretischen - Absicht, unter Voraussetzung einer Reihe
von Annahmen, die Antwort auf eine gegebene Frage suchen.
(Sie werden, grob gesagt, zu Erfahrungssituationen, wenn auch
die Fragen fragiich werden, von denen wir glaubten ausgehen zu
können). Nicht in jeder Situation sind die räumlichen Bedingun-
gen des aktuellen Verhaltens besonders signifikant; viele Situatio-
nen sind nicht primär durch die Raum- und Zeitkoordinaten, die
sie umspannen, definiert: weder die wirtschaftliche Situation (der
Bewohner) eines Landes, nicht die existentielle Situation des
Melancholikers, noch die Situation dessen, der im zweiten Kapi-
tel seiner Arbeit umständlich den Boden bereitet für die Polemik
des vierten. Nicht jede Situation läßt sich angeben und aufsuchen
wie eine Wahrnehmungssituation; viele lassen sich nur beispiel-
haft vorführen, erzählend vergegenwärtigen oder anhand ihrer
Themen rekonstruierend benennen. Situationen, deren primäre
Gegenstände Abstrakta sind - der Begriff ,Situation,, die Kon-
zeption einer Arbeit, des Melancholikers bisheriges Leben - sind
darum nicht selbst abstrakt; abstrakt ist nur die Rede von Situa-
tionen, die eine Mehrzahl von Situationen unter eine Kennzeich-
nung oder einen Typus faßt: die wirtschaftliche Situation des
Landes X, die Problemsituation der nachkantischen Philosophie,
die Lebenssituation des Melancholikers oder der Melancholiker
allgemein. Jede konkrete Situation setzt ein Subjekt voraus, das
sich zu dem verhält, was ihm in ihr mehr und weniger bedeutsam
wird - und somit ein bestimmtes Zeitverhältnis und soziale wie
biographische Beziehungen verschiedener Art. Die Rede von
subjektlosen Situationen ist eine abgeleitete Redeweise. Situatio-
nen sind bestimmt durch die Praxis der in ihnen mit etwas
befaßten Subjekte, gleich ob es sich um vorrangig herstellende,
überlegende oder interaktive Vollzüge handelt, gleich welche Art
der Verbindung von operativen, kontemplativen und kommuni-
kativen Praktiken das situationsbestimmende Engagement je-
weils konstituiert.
Entgegen den Erfahrungen, die wir haben, sind wir veranlaßt,
Erfahrungen zu machen, wenn die unterstellten Relevanzord-
nungen, auf die wir uns bislang in praxi verlassen haben, ihren
orientierenden Sinn verlieren. »Eine Erfahrung machen« heißt,
eine vorausweisende Einstellung zu jeweils problematischen Um-
ständen finden durch eine Veränderung der von diesen Umstän-
den aufgestörten ursprünglichen Einstellung, mit deren Irritation

88
eine Situation als Erfahrungssituation überhaupt erst dringlich
wird.
Bevor ich die Skizze zum Erfahrungsprozeß in eine Analyse des
genuinen Produkts von Erfahrungen, der Einstellungen also,
überführe, ist eine Bemerkung angebracht zu den » Veränderun-
gen«, die durch Erfahrung bewirkt werden. Wenn ich von Erfah-
rungen als Einstellungsänderungen rede, gebrauche ich den Aus-
druck » Veränderung« in dem weiten Sinn, der die Bekräftigung
und Abschwächung einer Position mit umfaßt. Ohne diesen
Zusatz wäre das hier Gesagte einigermaßen überzogen. Denn die
meisten Erfahrungen revolutionieren nicht unsere Stellung in der
Welt, sondern geben ihr einen Stoß, eine Nuance, eine Schattie-
rung. Nur wenige Erfahrungen - die schönsten, die schlimmsten,
die umwerfendsten, die einer im Laufe seines Lebens hat, sind so
einschneidend, daß sie wenn nicht die Erfahrenden, so doch eine
ihrer Einstellungen zu bestimmten Dingen mit einem Schlage
ganz verändern. Oft auch muß sich eine Erfahrungssituation
mehrmals begeben, bis eine Erfahrung tatsächlich vollzogen ist.
Schließlich ist zu beachten, daß Kollektive und Individuen, die
ihr Wissen und Wollen aus Erfahrung organisieren, in einer
Mehrzahl von Wirklichkeiten und somit Bereichen möglicher
Erfahrung existieren, die ihrerseits in diverse und nicht immer
umstandslos kompatible Realitätsaspekte und Typisierungen zer-
fallen.54Die ein Verhalten motivierende und orientierende Ak-
tualität von Bedeutungszusammenhängen, kurz: der Sinn, der
sich erfahrend umbildet, ist immer gegen reale und mögliche
andere Sinnfassungen und Relevanzvorgaben prägnant und pre-
kär. Erfahrend setzt sich Sinn gegen andernorts und vormals als
verbindlich und erträglich genommenen Sinn eine Zeitlang
durch.
Weil das so ist und weil es das einigende Firmament über den
Sinnprovinzen und ihren Horizonten, die bereits unseren Alltag
unterteilen und die alltägliche Welt ausmustern gegenüber den
nichtalltäglichen Vorkommnissen und Bezirken, jedenfalls für
die Heutigen nicht gibt; weil der Zusammenhang der Orientie-
rungen, auf die wir in den verschiedenen Situationen angewiesen
sind, als übergreifender Zusammenschluß nicht faßbar ist, son-
dern greifbar wird allein in der Praxis und Geschichte des Durch-
laufens einander ablösender Situationen: darum können und
müssen wir bestimmte Erfahrungen immer wieder machen -
Erfahrungen, deren Ergebnis, die seinerzeit mitbekommene und
mitgenommene Einstellung, inzwischen wenn nicht gegenstands-
los und verloren, so doch in der Verarbeitung anderer Eindrücke
überlagert und verdrängt worden ist. Nur weil Bekräftigungen
und Abschwächungen (nicht aber routinemäßige Bestätigungen
und Aktualisierungen) auch Veränderungen sind - Veränderun-
gen zumal gegenüber konkurrierenden Auffassungen, denen ge-
genüber die erfahrend erneuerte Einstellung sich ihr Recht ver-
schafft -, hat es Sinn, vom wiederholten Vollzug einer Erfahrung
zu reden.
Diese Ergänzungen dürfen nicht so verstanden werden, als sei das
Auftreten von unerwarteten und zuwiderlaufenden Umständen
schlechthin als eine Nötigung zur Erfahrung zu interpretieren.
Nicht jede Enttäuschung von Erwartungen an Situationen zwingt
die Handelnden zu Einstellungsänderungen - oft genügt zur
Bewältigung der unvermuteten Lage ein Einstellungswechsel. Für
viele Situationen ist ein Einstellungswechsel von vorneherein
vorgesehen und die Umstellung längst zur Gewohnheit gewor-
den. Wenn du nicht willst, dann ziehe ich andere Saiten auf;
wenn das Ding nicht will, gehen wir zu anderen Methoden über:
mit solchen Methoden oder, mit dem Ausdruck von Schütz,
»Rezepten« der Umschaltung sind wir für viele, nur eben nicht
für alle Fälle ausgestattet: »für alle Fälle«, die immer nur viele
Fälle sind. Gerade durch Erfahrung haben wir ein unauffälliges
Vorbereitetsein auf vielfache Einstellungswechsel erworben: wir
vollziehen diese - vom gesprächsbereiten zum autoritären Auf-
treten, von der Entspannung der Pause zur Anspannung der
Arbeit, vom schwelgend atmosphärischen zum schrittweise ana-
lytischen Lesen usf. - täglich und oft stündlich in mannigfachen
Formen, ohne dabei auf die Übersetzung erneuter Erfahrungen
im geringsten angewiesen zu sein. Mit einer Einstellung nämlich
erwerben wir zugleich die Kompetenz der situativ geregelten
Einnahme dieser Einstellung; die Beurteilungen, die in Einstel-
lungen festgeschrieben sind, sind erlernt und eingeprägt als
eine Befähigung zur fraglosen Anwendung und Umsetzung
des so behaltenen Wissens. Der Transfer zwischen aneinander
anschließenden oder miteinander konkurrierenden Zugangs-
weisen ist immer schon vorbereitet und muß nicht erst einge-

90
schliffen werden - bis es eben zu einem Stau, einem Bruch,
einem Riß im Kontinuum der wechselvollen Verrichtungen
kommt.
Ich halte fest: Einstellungsänderungen sind nötig, wenn ein
Einstellungswechsel problemlos nicht möglich ist; diese - erfah-
rende - Änderung wird nötig auch dann, wenn es nicht eine neue
Einstellung zu bisher unbekannten oder irrelevanten Gegeben-
heiten zu finden gilt, sondern auch dann, wenn es darauf an-
kommt, eine (ähnlich) bereits einmal gefaßte Einstellung gegen-
über anderen, seither gewonnenen oder dominant gewordenen
Dispositionen zu rehabilitieren oder bekräftigen. Auch wenn
jede Erfahrung eine Erneuerung bewirkt, so ist keinesfalls jede im
strengen Sinn innovativ oder gar inventiv.

b) Einstellung

Wie mehrfach angedeutet, zeigt sich die Mehrsinnigkeit der


erfahrenden Auseinandersetzung mit etwas nicht in ihrer prozes-
siv-projektiven Struktur allein; sie ist überdies zu ersehen an der
Art der Kenntnisnahme, die sich im Zuge von Erfahrungen findet
und verliert. Denn korrigiert und konformiert werden hier nicht
nur die separaten Meinungen und Absichten, die Individuen auf
Grund nicht zuletzt von Erfahrungen haben, sondern betroffen
sind auch die situationsunmittelbaren Orientierungen von Sub-
jekten, die sich gegenüber aktuellen Umständen gemäß ihrer
intuitiv abgestimmten Meinungen, Bedürfnisse und Absichten
verhalten - tangiert ist die performative Einstellung zu den je
relevanten Gegebenheiten, die sich allein durch Erfahrung ändert
und zu deren Revision oder Bekräftigung eine Erfahrung immer
auch führt.
Einstellungen sind generalisierte Situationseinschätzungen un-
mittelbar praktischer Natur. Um die Eigenart dieses nicht-expli-
ziten und nicht-reflexiven Verständigtseins zu verstehen, kommt
es darauf an zu klären, was Einstellungen unterscheidet von den
Tatsachenannahmen, Intentionen und Bedürfnissen, die eine Si-
tuation aus der Perspektive derer charakterisieren, die sich in ihr
befinden und befunden haben. Vorweg und grob gesagt liegt der
ganze Unterschied darin, daß wir die Stellungen zur gegebenen
Lage nicht unterscheidend einnehmen und aufeinander abstim-
men müssen, sofern wir auf die betreffende Situation eingestellt
sind. Worauf wir unter bestimmten Umständen aus sind, womit
wir es dabei zu tun haben (was wir als relevant wahrnehmen,
verstehen, erkennen), wie die jeweiligen Objekte zu nehmen und
wie wir von ihnen - ihrer Präsenz und Dringlichkeit - eingenom-
men sind: solange eine Einstellung vorhält, ist das Verhältnis
dieser Bezugnahmen und Bezüge derart festgestellt und geregelt,
daß es weder gefunden und geübt werden muß, noch geklärt
werden braucht, noch oft bestimmt werden kann. Es ist daher
geboten, die volitive, kognitive und emotive Relation auf anste-
hende Gegenstände ins Auge zu fassen und nachzuvollziehen,
wie diese Positionen integriert sind in den weitgehend »ent-
sprachlichten« Verbund einer Einstellung. Zum Zweck dieser
Analyse wird es nötig sein, dieses mehrseitige und integrale
Verständnis in die Komponenten der regulativen, konstativen
und expressiven Thematisierung zu zerlegen, mittels derer die auf
eine Praxis eingeschworenen Akteure die Einschätzung explizie-
ren könnten oder müßten, von denen sie in vertrauten Situatio-
nen im wesentlichen a tergo geleitet sind. Nur wenn es gelingt,
das Phänomen der Einstellung auseinanderzunehmen in die Ar-
ten der Bezugnahme, die es konstituieren, wird eine leidlich klare
Auskunft darüber zu gewinnen sein, in welchem Verhältnis sie
grundsätzlich ineinandergreifen zu jenem Wissen, dessen tra-
gende Bestandteile sie immer schon sind.
Entgegen einer verbreiteten Gepflogenheit unterscheide ich also
zwischen Einstellungen und Arten von Standpunkten (Positio-
nen, Stellungnahmen), die als Formelemente von Einstellungen
aufzufassen sind. Das bedeutet, daß der Begriff der Einstellung,
um den es hier geht, nicht zu bestimmen ist im Verweis auf die
Verstehensbedingungen einzelner Satztypen oder Arten von
Sprechhandlungen; die Grundstruktur von Einstellungen, ver-
standen als Produkte lebensweltlich-sinnbildender Erfahrungen,
ist vielmehr zu verstehen als ein Verhältnis von Standpunkten,
die ihrerseits (in der Tat) als Modi der sprachlichen Bezugnahme
zu verstehen sind. Insofern setzt die Einstellungsanalyse ein
ungefähres Verständnis der grundlegenden Sprachfunktionen
voraus.ss Demgegenüber unterscheiden sich Einstellungsarten
auf allgemeiner Ebene als Akzentuierungen des Verhältnisses von

92
Standpunkten oder Stellungnahmen, das Einstellungen generell
sind; sie unterscheiden sich danach, in welcher Weisedie (in jedem
Fall) konstitutiven Komponenten einer Einstellung ausschlagge-
bend bzw. leitend sind für die Praxis, die in der jeweiligen
Einstellung fundiert ist. Insofern setzt die Differenzierung von
Einstellungstypen eine vorläufige Bestimmung des Begriffs der
Einstellung voraus.
Gehen wir also den besagten Komponenten zunächst einige
Schritte weit nach.S6
Eine Einstellung zu etwas haben bedeutet erstens, eine Maxime
oder Regel des Verhaltens gegenüber den Objekten dieser Einstel-
lung angenommen haben. Eine Einstellung haben heißt, eine
Antwort gefunden haben auf die praktische Frage, wie den
Objekten, mit denen wir es zu tun haben (wollen), zu begegnen
sei; jeder Einstellung liegt die Bejahung (bzw. Verneinung) einer
oder einer Reihe von Handlungsmöglichkeiten zugrunde. Mit
der Annahme einer Einstellung ist ein Wille - und sei es (auch)
ein Widerwille - gebildet und gefaßt: gegenüber dem Teetrinken,
den Möglichkeiten der Entspannung, dem Umgang mit Wählern,
der Art persönlicher Beziehungen, einer Art zu leben usf. Für
den allgemeinen Charakter von Einstellungen ist es dabei gleich-
gültig, ob es sich jeweils um eher technisch-instrumentelle, so-
ziale oder subjektiv-präferenzbestimmte Regelungen handelt; ob
also mit der - wie immer bewußt gewählten und überlegend
entworfenen - handlungsleitenqen Option primär bestimmt und
entschieden wurde, was gut ist für einen gegebenen Zweck, was
gut ist für alle potentiell Beteiligten oder was sich empfiehlt für
den Handelnden selbst.57Da nun Einstellungen ein resümieren-
des und vorausweisendes Verhältnis zu den Gelegenheiten bil-
den, die in ihnen ausgelegt sind, können nicht beliebig momen-
tane Absichten, sondern nur generalisierte Intentionen (Maxi-
men) hier eine Rolle spielen. Schon deshalb darf die bloße
Akzeptanz von Verhaltensweisen, wie sie deutlich wird in der
Verwirklichung erklärter Absichten bzw. der Befolgung oder
Nichtbefolgung ergangener Aufforderungen, nicht gleichgesetzt
werden mit dem habitualisierten praktischen Verhältnis, in dem
wir eingestellt sind auf die Bedingungen, mit denen wir im
Verfolg bestillimter Absichten zu rechnen haben. In Einstellun-
gen sind Intentionen geregelt; die Selbstverständlichkeit dieser

93
Regelungen beruht auf anderem als nur der Bestimmtheit des
Wollens.
Eine Einstellung zu etwas haben nämlich bedeutet zweitens,
einen Satz von Annahmen über das, was im Handeln erwartet
wird und zu erwarten ist, als gesichert zu unterstellen. Eine
Einstellung zu etwas haben heißt immer auch, zu wissen oder zu
wissen glauben, wie die Objekte, mit denen wir es zu tun haben
(werden), beschaffen sind; jeder Einstellung liegen Annahmen
über eine bestimmte Handlungswirklichkeit zugrunde. Die Rea-
lität, mit der wir so rechnen, besteht aus den inhaltlich und
relevanzförrnig koordinierten Sachverhalten, die angesichts je-
weiliger Vorhaben direkt und indirekt gegenständlich werden.
Die für Einstellungen bezeichnende abgeschirmte Gewißheit, wie
sich zu verhalten sei, fußt darauf, daß in den betreffenden Situa-
tionen eine Reihe von Gründen fraglos leitend ist, aus denen sich
ergibt und die dafür sprechen, wie gehandelt werden kann und
soll oder muß. Deskriptive und evaluative Annahmen über die
Objekte unsere Tuns stellen solche Gründe dar. In dem Bestand
deskriptiver Annahmen, die unser Verhalten instruieren, ist die
von der Art unserer Zuwendung unabhängige Beschaffenheit der
Gegenstände vorgemerkt, mit denen wir es in einer bestimmten
Situation zu tun haben: sei es der Unterschied in Geschmack und
Wirkung von Tee und Kaffee, sei es die Kenntnis typischen
Wählerverhaltens, sei es das Funktionieren von Automotoren, sei
es die Art der mit einer Krankheit verbundenen Schmerzen etc.
Während beschreibende Annahmen klarstellen, womit in einer
Situation zu rechnen ist und somit epistemische Gründe bereit-
stellen dafür, was getan werden kann, geben bewertende An-
nahmen Auskunft darüber, was in welcher Hinsicht gut, besser
oder schlechter ist für das, worum es den Handelnden geht; sie
geben an, welche Möglichkeiten sich für unser Verhalten empfeh-
len und geben somit praktische Gründe dafür, was getan werden
sollte oder müßte: was der Kaffee dem Tee voraus hat (warum er
geschmacklich vorzuziehen ist), wie den Wählern zu begegnen
ist, was taugliche Motoren (erfolgreiche Reparaturen) sind, bis
zu welchem Grad die eigenen Schmerzen oder die des Patien-
ten erträglich sind. Auf die komplexen Beziehungen zwischen
den unterschiedlichen Arten deskriptiver und evaluativer Aus-
sagen kann ich hier ebensowenig eingehen wie auf die

94
unterschiedlichen Arten der - starken bis schwachen - Begründ-
barkeit der entsprechenden Behauptungen; das eine oder andere
werde ich bei Gelegenheit nachtragen. Auch ohne eine genauere
Erörterung läßt sich festhalten, daß deskriptive wie evaluative
Annahmen einen bestimmten Spielraum des Handelns unter
gegebenen Umständen festlegen und Entscheidungen für ein
bestimmtes Handeln jeweils nahelegen. Mittels konstativer Aus-
sagen (also deskriptiver und evaluativer Behauptungen) machen
wir die Voraussetzungen und Gründe - berichtend, überlegend,
argumentierend - explizit, auf denen die eingespielten Verhal-
tensdispositionen einer Einstellung beruhen. Einstellungen sind
auf Beschreibungen und Bewertungen gestützte regulative
Orientierungen; die unmittelbare Verfügbarkeit dieses Orientie-
rungswissens aber beruht auf noch anderem als gesicherten bzw.
für gesichert gehaltenen Erkenntnissen über das, worauf wir
momentan ausgerichtet sind.
Vor dem Aufsuchen des dritten Elements ist eine Zwischenbe-
merkung angebracht. Es könnte scheinen, als ergäben die ersten
beiden Momente einer Einstellung zusammengenommen nichts
anderes als den Begriff einer durch sachliche Informationen und
interessengebundene (oder das Interesse bindende) Auszeichnun-
gen abgesicherten und gestützten praktischen Stellungnahme.
Wie Ernst Tugendhat hervorgehoben hat, sind diese Stellungnah-
men, auch wenn es begründete sind, nicht soweit begründbar,
daß nicht am Ende die Absicht eigens erklärt und über das
weitere Verhalten entschieden werden müßte.s8 Gesicherte prak-
tische Stellungnahmen sind Absichtserklärungen (bzw. Anord-
nungen), für die evaluative (bzw. normative) Behauptungen
Gründe darstellen; diese Bewertungen sind um so stabiler, je
mehr sie getroffen sind in Kenntnis der sachlichen Zusammen-
hänge, die in ihnen als gegeben vorausgesetzt und als erwartbar
oder erwirkbar eingeschätzt sind. Nun haben die in situativer
Auseinandersetzung versierten Absichten, auf die ein habituali-
siertes Verhalten eingeschworen ist, gegenüber reflexiv und dezi-
siv geklärten praktischen Fragen eine besondere Qualität - sie
schließen aufseiten der Individuen, die sie verfolgen, die Gewiß-
heit der Fähigkeit ein, sich so zu verhalten, wie es für die
abgeschätzten Gelegenheiten erwartet, vorgesehen oder als un-
vermeidlich angesehen wird. Die Bestimmung dessen, was zu tun

95
sei, ist im Kontext von Einstellungen nicht in erster Linie gestützt
auf Betrachtungen über das Vorgegebene und zu Erreichende,
sondern ist wesentlich gesichert aus der Kenntnis vormaliger
Situationen, in denen es ein entsprechendes Unternehmen zu
realisieren galt. Eine aus Erfahrung erworbene Handlungsdispo-
sition enthält ein praktisches Wissen über die Realisierbarkeit
einer Reihe von Handlungsmöglichkeiten; es ist diese innersitua-
tiv erworbene Gewißheit, so und so tatsächlich handeln zu
können (oder sich verhalten zu müssen), es ist die kognitiv
kontrollierte Geübtheit einer Praxis, was die in Einstellungen
enthaltenen Optionen von den wie immer mit Gründen ausge-
statteten, wie immer ausführlich begründeten praktischen Stel-
lungnahmen unterscheidet. i 9
Der Hinweis auf diese Differenz darf nicht zu einer vorschnellen
Identifizierung von Einstellungen und praktischen Fähigkeiten
führen. Die einstellungshafte Orientierung ist praktisch in einem
weiteren, radikaleren Sinn. Diejenigen, die auf etwas eingestellt
sind, sind nicht nur einer Fähigkeit positiv oder negativ sicher, sie
wissen auch, wann der Moment der Anwendung dieser Fähigkeit
gekommen ist. Sie wissen nicht nur, unter welchen Umständen
ein Handeln realisierbar ist, sondern auch, wann es zu realisieren
ist. In Einstellungen ist die Realisierung von Handlungsmöglich-
keiten immer schon vorbereitet. Was Einstellungen gegenüber
gesicherten praktischen Stellungnahmen und einem auf das Ken-
nen von Handlungsmöglichkeiten reduzierten praktischen Wis-
sen kennzeichnet, ist die Unmittelbarkeit der auf Elemente unter-
schiedlichen Wissens gestützten Orientierung darüber, was wie
wann vorrangig zu tun ist - und zwar so, daß der Kurs der unter
den gegebenen Umständen zu vollziehenden Aktione,n keiner
überlegenden und probierenden Bestimmung bedarf. 60 Wenn
man dem deutschen Wort ,realisieren, für einen Augenblick
seinen deutsch-englischen Doppelsinn beimißt: nämlich etwas als
etwas aufzufassen und einer Möglichkeit des Handelns zu folgen
(eine Sache und eine Gelegenheit wahrnehmen), dann läßt sich
schlicht festhalten: eine Einstellung einnehmen, heißt eine Situa-
tion realisieren. Weil der Spielraum zwischen Möglichkeit und
Wirklichkeit für gegebene Bedürfnisse und gefaßte Vorhaben
bereits ausgelegt und damit die Züge des Verhaltens im voraus
festgelegt sind, wird der Doppelsinn dieser »Realisierung« ange-
sichts strukturell bekannter Umstände erst gar nicht prekär. Für
das Verhalten in den aus Erfahrung typisierten Situationen ist der
Konflikt zwischen dem Sosein und dem Sozunehmen der in
ihnen relevanten Gegenstände zwar nicht aufgehoben, aber für
die Dauer des Bündnisses der Einstellung entproblematisiert.
Diese Liaison hat Bestand und kommt zustande drittens auf
Grund einer eingespielten emotiven Gestimmtheit gegenüber den
Sachlagen, zu denen Einstellungen ein projektives Verhältnis
sind. Eine Einstellung haben bedeutet vertraut zu sein mit der
eigenen unmittelbaren Reaktion auf das, womit wir in einem
bestimmten Engagement konfrontiert waren und jetzt konfron-
tiert sind. Jede Einstellung fußt auf einer subjektiv charakteri-
stischen Befindlichkeit angesichts der aus ihr gegenwärtigen
Umstände. Die Befindlichkeit, auf deren Vertrautheit es hier
ankommt, ist emotional; in der affektiven Bewußtheit von Emo-
tionen machen sich Bedürfnisse als momentan befriedigt oder
unbefriedigt geltend; in Gefühlen artikuliert sich eine augen-
blickliche Voreingenommenheit hinsichtlich Objekten oder Ver-
haltensmöglichkeiten, an d~nen Subjekte Anteil nehmen bzw.
denen sie ausgesetzt sind. Emotionen sind die Art, etwas als
etwas aufzufassen, indem eine Bewertung seiner Zukömmlichkeit
dispositional oder motivational wirksam wird; die bewertende
Charakterisierung ihrer Gegenstände, die Gefühle enthalten, er-
folgt im Zuge einer mit dieser Gewärtigung unmittelbar gegebe-
nen Neigung, ihnen handelnd zu begegnen. 61
Für die Geschlossenheit von Einstellungen nun, dank derer wir
für eine bestimmte Verhaltensweise fraglos voreingenommen
sind, ist die Konstanz von Bedürfnissen hinsichtlich der anste-
henden Begebenheiten kein hinreichender Garant: in der Stabili-
tät von Einstellungen machen sich Bedürfnisse auf gleichblei-
bende Weise bemerkbar. Erst die affektive Applikation minde-
stens eines in dieser Vermeidung vertrauten Bedürfnisses setzt
den einmal gefaßten Vorsatz und die seinerzeit erworbene Vor-
kenntnis spontan in den Stand ihrer augenblicklichen Relevanz.
Der Kontakt der in Einstellungen koordinierten Stellungnahmen
zu den Situationen, denen sie gelten und für die sie aufeinander
bezogen sind, wird affektiv geschlossen. Im Sichäußern von
Emotionen ergeht ein unwillkürlicher Vorschlag, was als Kern-
aspekt der jeweiligen Lage zu betrachten sei; Gefühle leisten eine

97
erste und unmittelbare Vermittlung von Themen und Projekten,
die den Charakter von Situationen bestimmen für die, die sich in
ihnen befinden und in sie begeben. Gewiß schreiben auch kon-
stante, im Zuge des Erwerbs von Praktiken und des Auslebens
von Erfahrungen oft erst gebildete - sich einstellende - Emotio-
nen denen, die sie haben, nicht den Gesamtcharakter ihrer je
aktuellen Wirklichkeit vor: aber sie machen wenn nicht den, so
doch jedenfalls einen Bedeutungszusammenhang präsent, der
konstitutiv oder mitkonstitutiv ist für die Einschätzung der
augenblicklichen Lage. An der Auskunft der Gefühle kann sich
die volitive und kognitive Orientierung eingreifend und erin-
nernd orientieren: so ist das Behagen am ersten Schluck Kaffee
das Erkennungszeichen, um das das Frühstücksritual sich ab-
spielt; läßt der vertraute Widerwille angesichts mundtoter oder
aufmüpfiger Wähler der Wahlkampfroutine ihren Lauf; zeichnet
das Gefühl »es wird schon vorübergehen« oder »es ist nicht
auszuhalten« dem leidgeprüften Schmerzverhalten die Bahn; gibt
das Hochgefühl des Hegellesens und Hegeldenkens dem Hege-
lianer die Gewißheit, die analytischen Banausen im Sack zu
haben; erinnert die schleichende Frustration in Situationen, die
andere begeisternd finden, den Melancholiker an die Vergeblich-
keit des irdischen Glückstrebens und erneuert seine Maxime des
»Laß fahren dahin«. Die affektive Reaktion gibt einen im gegebe-
nen Zusammenhang vertrauten Impuls, auf den die nachfolgende
Praxis abgestellt ist. Es darf also nicht verwundern, daß die
Einschätzungen, die eine Einstellung ausmachen, gefühlsmäßig in
und zu dieser Disposition gehalten sind. Was wir vor aller
Überlegung wissen, womit wir ohne Bedenken rechnen, wäre
anders nicht zu behalten. Elllotional ist das Band einer Einstel-
lung geknüpft, emotional - im Betroffensein - wird dieser Bann
gebrochen. Die gefühlsmäßige lnvolviertheit in Verhaltenslagen,
die wir in expressiven Sätzen uns bewußt machen und denen wir
in expressiven Äußerungen und leibgebundenen Expressionen
Ausdruck geben, ist das dritte Element des integrierten Verstän-
digtseins, das eine Einstellung ausmacht.6'
Nur der Zusammenhang dieser drei Komponenten, so meine ich,
macht den Holismus eines praktischen Wissens verständlich, von
dem wir nichts wissen müssen, weil es oft und gerade stillschwei-
gend seine unaufwendigen Orientierungsdienste tut. Natürlich
ist uns einiges von dem, was wir da wissen und als gültig und
verbindlich unterstellen, in den so erschlossenen Situationen
durchaus bewußt gegenwärtig: wir nehmen ja zur Kenntnis, was
gegeben ist und vor sich geht, und wir wissen zumindest, was wir
in den eingespielten Aktionen und Reaktionen unmittelbar wol-
len. Aber weder die Präsuppositionen, die unsere fraglose Auf-
fassung stützen, noch die weitergehenden Optionen, nach denen
die momentane Intention sich richtet, noch auch die Bedürfnisse,
die wir augenblicklich befriedigen und vernachlässigen, sind uns
im einstellungsmäßig gedeckten Handeln in der Regel präsent.
Das Verhältnis aus Absichten, Erkenntnissen und Befindlichkei-
ten, das diesem unbedenklichen Agieren den Rahmen gibt, ist
zum Zeitpunkt der Einnahme dieser Einstellung niemals gegen-
wärtig. Keine Einstellung kann die Aufmerksamkeit lenken, de-
ren Gegenstand sie zugleich ist.63

Ein ebenso naheliegender wie irreführender Einwand gibt Anlaß,


das konstitutive Ineinandergreifen der Komponenten einer Ein-
stellung genauer zu verdeutlichen. Der Einwand stellt die Selb-
ständigkeit des dritten, des emotiv-expressiven Faktors in Frage.
Ist die emotive Gestimmtheit nicht lediglich eine psychologische
Begleiterscheinung des Machens von Erfahrungen und insofern
nur ein Faktor des Erfahrungsprozesses, nicht aber ein notwendi-
ges Moment ihres Resultats? Geht die affektive Bewußtheit nicht
durch die Habitualisierung von Verhaltensweisen einerseits in
den schließlich gefaßten Absichten und andererseits in der gesi-
cherten Erkenntnis der situationsrelevanten Tatsachen auf? Wohl
kaum. Die gedankenlose Aufteilung von Emotionen in ihren
kognitiven und ihren Antriebsaspekt mißversteht den Anteil, den
wir durch Gefühle an Situationen überhaupt haben. Wäre der
affektive Kontakt zu Situationen akzidentiell, verschwände ihre
Gegenwart in dem bloßen Gefühl eines Schwindels unfaßlicher
Daten.
Einen ersten Hinweis auf die Eigenständigkeit der emotiven
Dimension gibt die Beobachtung, daß das Votum der Gefühle
nicht notwendigerweise konform geht mit den regulativen und
konstativen Orientierungen, aufdie wir uns im Zuge einer Erfah-
rung eingestellt haben. Jemand, der sich entgegen seiner Veranla-
gung dazu gebracht hat, regelmäßig früh aufzustehen, muß das

99
deswegen nicht mit Begeisterung tun. Der spontane Widerwille
kann h~er das Signal sein für das Inkrafttreten des heroischen
Willens. Auch für gewichtigere Fälle gilt, daß der emotive Erken-
nungsdienst nicht immer eine kostenlose Antriebshilfe leistet.
Entsprechend wird die Einschätzung, die sich in der Gefühlsre-
aktion bemerkbar macht, nicht immer übereinstimmen mit der
objektivierten Einschätzung, die für das Verhalten in der betref-
fenden Situation ausschlaggebend geworden ist. Gewiß wird der,
der sich die Praxis des Frühaufstehens abgerungen hat, bis auf
weiteres der Meinung sein, daß das für ihn eine bittere Pille ist,
weil es seinem morgendlichen Schlafverlangen ~o gar nicht ent-
spricht. Aber unser Heros der Selbstüberwindung ist außerdem
davon überzeugt, daß es - dennoch - gut für ihn ist, früh
aufzustehen: weil er neben der Gewißheit, was unmittelbar das
Beste wäre, zu der Einsicht gekommen ist, daß er die Zeit der
Vormittage braucht, um andere und nachhaltigere Frustrationen
zu vermeiden. Auf die praktischen Implikationen dieser Einsicht
hat er sich durch leidvolle Erfahrung besonnen. Natürlich wäre
es für den Betreffenden angenehmer, wenn die Widerrede der
Bedürfnisse mit der Zeit verstummte; über die strikte Konsonanz
ihrer Komponenten jedoch ist die Bindung der Einstellung nicht
zu definieren.
Wäre es anders, wären wir in der Aktualisierung von Einstellun-
gen dem Diktat der eingelebten Gefühle unvermeidlich unter-
worfen, so könnten wir eine Einstellung nicht gegebenenfalls
willentlich einnehmen oder wechseln oder reflexiv in Frage stel-
len - sie wäre uns immer nur eingegeben. Allerdings liegt es im
Wesen von Einstellungen, daß sie nicht beliebig eingenommen
und abgelegt werden können, sondern nur da, wo die gegebene
Lage einen solchen Wechsel oder eine solche Änderung erlaubt
oder. erzwingt. Eine Einstellung »einnehmen« heißt ja nichts
anderes, als etwas Bestimmtes tun (wollen) und sich in diesem -
wie immer vorsätzlichen und zielbewußten - Tun auf ein prakti-
sches Wissen verlassen zu können, das sich um die handlungslei-
tende Absicht im Zuge ihrer Realisierung gebildet hat. Für den
anhaltenden Erfolg dieser vorproduzierten Projekte, die sich
verstetigt haben im Testbad der von ihnen aufgeworfenen Situa-
tion, ist die Vermeidung der erstbetroffenen Neigungen ein
unverzichtbarer Aufweis. Auch ein Wegweiser, der in eine fal-

IOO
sehe Richtung zeigt, gibt denen, die das wissen, einen Hinweis
auf den richtigen Kurs.
Wo sich freilich Wille und Neigung, Gefühlseinschätzung und
objektives Wissen in beständigem, von Fall zu Fall anders ent-
schiedenem Konflikt befinden, da steht den Handelnden die
sowohl beruhigende als beschränkende Fassung einer Einstellung
nicht zu Gebot. Wo andererseits nicht nur die emotive und die
objektivierende Charakterisierung, sondern auch die spontane
und die regulierende Gewichtung der zentralen Situationsfakto-
ren einander nahegerückt sind, dort können wir uns oft weitge-
hend auf das sprichwörtliche Gefühl als dem Koordinator der
tätigen Sinne verlassen - weil wir seinem Urteil, das eines aus
Erfahrung ist, aus Erfahrung trauen. Die so vertrauten Gefühle
sind eben nicht bloß Gefühle. Die erworbene Erfahrung macht
sich hier bemerkbar als ein Verfügen über erfolgreiche Intuitio-
nen. Intuitionen sind volitiv instruierte, vor allem aber kognitiv
versierte: durch Bewährung bewahrheitete und durch Bewahr-
heitung bewährte Gefühle. 64
Der Skeptiker in Gefühlsangelegenheiten gibt sich damit noch
nicht zufrieden. Daß wir uns in einer Situation auskennen, so
lautet der wiederholte Einwand, verdanken wir nicht auch den
Zuflüsterungen der Emotionen, sondern allein unserem prakti-
schen Wissen über die (im Maßstab unserer Interessen) als rele-
vant erachteten Umstände: und zu diesen, für eine Situation in
der Tat konstitutiven Sachverhalten, gehört eben unsere Befind-
lichkeit in dieser Situation selbst mit hinzu. Es ist daher nicht der
Affekt, der uns eine Orientierung gibt, wir sind es, die uns über
die auftretende Emotion (und ihre Verläßlichkeit) orientieren
und somit über eine solide Orientierung verfügen. Nicht nur das
emotiv Verzeichnete, auch die Emotionen selbst gehen als Daten
in den Korpus des situationsbezogenen Wissens ein; ihr soge-
nannter »Erkenntnisdienst« löst sich in den Bestand der erreich-
baren konstativen Annahmen auf. Nichts anderes, mein lieber
Ekstatiker, der du deinen Gefühlen hörig bist, anstatt sie kritisch
auszuhören, war zu beweisen.
Für diese Demonstration kann ich mich nur bedanken. Denn
genau in der Alternative von Hörigkeit und Anhörung liegt die
Fehlleistung, die den Beitrag der affektiven Bewußtheit verkennt.
ilu dieser Unterschlagung kommt es, wenn die Betroffenheits-
101
wertungen gleichgesetzt werden einerseits mit den Aussagen und
Erklärungen, die sie im nachhinein bestätigen oder korrigieren
(würden) und andererseits mit den Aussagen, mit denen über die
Art der Betroffenheit berichtet werden kann. Die affektiven
Reaktionen aber, soviel objektiv Annehmbares sie auch enthalten
mögen, sind nicht einfach vorläufig-unbedachte Feststellungen
und Festlegungen. Weil sie beides, Option und Auffassung,
ungeschieden enthalten und dieses doppelte Verständnis unwill-
kürlich artikulieren, geben sie situationsintern unmittelbare Hin-
weise, die durch die mögliche Ausschreibung dessen; was sie
spontan zuschreiben, in praxi niemals gänzlich ersetzbar sind.
Sowenig räumliche und zeitliche Angaben vollständig ablösbar
sind von dem Umstand, daß es sich dabei um Verweisungen
handelt, die von Subjekten etabliert worden sind, die sich hier
und jetzt, damals und dort, angesichts dieser und jener Objekte
und Ereignisse aufhalten und aufgehalten haben, sowenig sind die
pragmatischen Orientierungen, die ein Verhalten gliedern, ablös-
bar von den augenblicklich werthaften Direktiven, durch welche
die Subjekte als Betroffene wissen, was zu tun ihnen nahe und
fern liegt, was für ihre Vorhaben mehr und weniger, positiv und
negativ bede.utsam ist. Emotionen fungieren als werthafte Indika-
toren. 61 Sie stellen denen, die sie haben, die eigene bedürfnisge-
bundene Parteinahme nicht dar, sie stellen ein solches Engage-
ment her. Die Prägnanz von Situationen ist an die Präsenz von
Gefühlen gebunden.
Mit anderen Worten, der Einwand, Emotionen seien wohl zu
verstehen als Begleitvorgänge von Erfahrungsprozessen (und na-
türlich Daseinslagen überhaupt), nicht aber als irgend relevanter
Faktor des Resultats von Erfahrungen, unterschätzt den Unter-
schied zwischen der situationsinternen Kenntnis aus Betroffen-
heit und der situationsexternen (oder auch internen) Kenntnis der
Betroffenheit. Wer Gefühle generell für bloße Begleiterscheinun-
gen des Lebens und Handelns erachtet, macht den Fehler, die Art
der je subjektiven Befindlichkeit in einer Situation den Sachver-
halten gleichzuordnen, die die Handelnden während ihres jewei-
ligen Engagements als relevant wahrnehmen. Der Gefühlsskepti-
ker konstruiert die Innenperspektive von Situationen, als wäre sie
nichts weiter als eine verworrene Außenperspektive; und über-
sieht dabei, daß die Außenperspektive, die es uns erlaubt, die

102
Aspekte einer Situation unbeirrt zu trennen und zu summieren,
nur eine konturlose Innenperspektive wäre: wollten wir denn
anfangen, diese Perspektiven gegeneinander auszuspielen, anstatt
ihren Zusammenhang zu begreifen. Nur solange wir uns außer-
halb einer bestimmten Situation befinden, und das heißt: in einer
anderen als derjenigen, die wir erinnernd, überlegend, rekonstru-
ierend zum Thema machen, gehört die Art der Betroffenheit in
ihr zu den konstatierbaren Sachverhalten, deren Existenz für
diese Situation neben allen anderen Umständen charakteristisch
ist. Innerhalb von Situationen dagegen gehört die affektive Be-
wußtheit gerade nicht primär zu den Sachverhalten, die wir als
relevant zur Kenntnis nehmen. Sie gehören wesentlich zu der Art
und Weise, in der wir die Umstände, die wir besehen, behandeln,
bedenken, zur Kenntnis nehmen. Wir sind in dieser und jener
Modalität für etwas empfänglich und empfindlich und damit
involviert in das Geschehen, das uns nicht total gegenwärtig, das
aber unsere Gegenwart ist. 66
Daher ist die in Einstellungen präparierte Gegenwart ohne die
Zutat der affektiven Voreingenommenheit nicht zu denken. Ein-
stellungen sind ein unmittelbar praktisches Verhältnis im Sinn
einer regulativen Vorentschiedenheit der Akteure gegenüber den
Möglichkeiten, sich hinsichtlich der Objekte dieser Einstellung
zu verhalten; die Unbedenklichkeit dieser Zugangsweise hat
Bestand auf Grund eingespielter affektiver Beziehungen zu den
als thematisch konstatierten Sachverhalten, die damit für ein
aktuelles Vorhaben augenblicklich als mehr und weniger, positiv
oder negativ relevant gegenwärtig sind. In der Einstellung zu
etwas ist die Praxis des Umgangs mit etwas geregelt; solange wir
einer Praxis selbstverständlich folgen, haben wir eine intuitive,
nur zu einem geringen Teil explizite Kenntnis des mit unseren
Vorhaben aufgeworfenen Zusammenhangs von Themen, die um
die zentralen Gegenstände der gegenwärtigen Ausrichtung in
Stufen abnehmender Relevanz geordnet sind. Einstellungen ent-
halten ein holistisch verfaßtes Verständnis relevanter Bedeutun-
gen, die eine Situation für das Verhalten · und Handeln in ihr
charakterisieren.

103
c) Erfahrungsgehalt

Erfahrungen, die wir machen, sind Veränderungen, die uns ge-


schehen, indem wir sie vollziehen. Eine Erfahrung machen heißt,
etwas so zur Kenntnis zu nehmen, daß die Wahrnehmenden
genötigt sind, sich in dem Bereich, von dem sie Kenntnis erhalten
haben, anders zu verhalten. Durch Erfahrung lernen wir etwas
kennen, indem wir Züge unserer bisherigen Praxis ändern. In
diesem Sinn habe ich von der Doppelstruktur einer jeden Erfah-
rung gesprochen: wir bringen etwas in Erfahrung derart, daß die
bis dahin praxisleitende Einstellung eine Änderung erfährt. Wir
gewinnen ein Verständnis, indem sich zugleich in dem zugehöri-
gen komplexen Vorverständnis Verlagerungen ergeben. Jede Er-
fahrung setzt ein mit einem doppelten Verständnisverlust: der
Irritation darüber, was von einer Sache zu halten sei, und dem
Verlust der Sicherheit, wie mit der neuen Lage umzugehen ist.
Folglich mündet jede Erfahrung über kurz oder lang in einen
doppelten Verständnisgewinn: einer Auffassung über das, was
erfahren wurde, und einer Einstellung zu der Situation der
Aktualität dessen, was Gegenstand der Erfahrung war.
Aus der Sicht der vorangegangenen Erörterungen ist dieses Resü-
mee noch durchaus ungenau. Denn es hat sich gezeigt, daß die
Doppelnatur von Erfahrungen im Medium einer dreifachen Posi-
tionsfindung gebildet ist. Die Zwiefältigkeit des hier besproche-
nen Erfahrungswissens darf nicht auf das Schema expliziter vs.
impliziter Konstatierungen vereinfacht werden. Wohl stellt die
analysierte Einstellungsorientierung ein zu wesentlichen Teilen
implizites Wissen dar, aber es ist dies ein Wissen, das die Sach-
kenntnis, die es enthält, nur zugleich mit der Vorentschiedenµeit
regulativer Festlegungen und der Vertrautheit emotionaler Bin-
dungen verfügbar hält. Mit jeder Erfahrung müssen wir uns
doppelt und dreifach unserer Lage besinnen.
Es könnte scheinen, als hätte ich den einen Aspekt des Habens
und Machens von Erfahrungen: den anfangs betonten Umstand,
daß wir Erfahrungen nur machen, indem wir etwas in Erfahrung
bringen (Ansichten über uns und die Welt gewinnen), in der
Diskussion weitgehend unterschlagen, weil so viel von der Ein-
stellung als dem genuinen Resultat von Erfahrungen die Rede
war. Dieser Eindruck jedoch wäre unangemessen, denn jede
Einstellung ist per definitionem eine Einstellung zu etwas, wor-
auf wir so eingestellt sind. Wer eine Einstellung hat, weiß etwas
darüber, womit er so Erfahrung hat, und er kann in der Regel,
spätestens wenn er gefragt wird, auch etwas darüber sagen, was er
aus eigener Erfahrung weiß. Entsprechend bedeutet die Ände-
rung von Einstellungen stets auch, etwas innerhalb einschlägiger
,Situationen (als) verändert konstatieren: gleichgültig, ob dieser
Revision Absichts- oder Bedürfnisänderungen nun vorausgehen
oder nachfolgen, solange sie nur erfolgen; und gleichgültig, ob
diese anders- oder neuartige Kenntnis gegebener Tatsachen mit
einem Bewußtsein über die zugleich geänderte Handlungsregel
und einer veränderten Befindlichkeit zusammengeht oder nicht;
gleichgültig auch, ob die resultierende andersartige Praxis einher-
geht mit einer ausführlichen situationsexternen Kenntnis des
Zusammenhangs von Stellungnahmen, die für das innersituative
Verhalten nunmehr ausschlaggebend sind. Das weitgehend impli-
zite Wissen der Einstellung schließt ein explizites Wissen über
zentrale Aspekte der mit ihrer Einnahme gegebenen Lage,
schließt die konstative und auch regulative und expressive The-
matisierbarkeit von Situationsmerkmalen ja keineswegs aus, son-
dern schließt zumal die ausdrückliche Konstatierung anstehender
Gegebenheiten notwendig ein. In jedem Fall nämlich können die
praxissteuernden, weil Handlungsimperative koordinierenden
Beurteilungen und Intuitionen in konkreten Vollzügen nur grei-
fen, wenn einige der tragenden Annahmen sich als weiterhin
gültig erweisen. Ohne die Wiederholbarkeit expliziter Feststel-
lungen sind Einstellungen nicht wirksam.
Freilich bedeutet und bewirkt die Änderung solcher tragender
Annahmen immer schon mehr als die Revision einer geltenden
Meinung. Mit ihr ändert eine Einstellung ihren Zuschnitt; auf
dem Weg der Erfahrung wird eine neuartige Situation zur Wirk-
lichkeit einer revidierten Praxis. Genauso verhält es sich mit
Absichts- und Bedürfnisänderungen, die so durchschlagend sind,
daß ihre Wandlung Konsequenzen hat für das Verhältnis der
Bezugnahmen, mit denen sie das Bündnis der Einstellung einge-
gangen waren. Wann eine Absichtsänderung die Preisgabe einer
Einstellung bedeutet anstatt eines Einstellungswechsels; wann
eine Meinungsänderung einer Einstellung die Grundlage ent-
zieht, anstatt einen neuen oder korrigierten Grund für die bishe-
rige Einstellung zu bieten; wann eine veränderte emotive Reak-
tion einer geänderten Bedürfnislage Ausdruck gibt und Geltung
verschafft, anstatt nur momentan ein anderes Bedürfnis zu ver-
melden: diese Grenze zwischen Ergänzung und Korrektur, der
Grat zwischen den Eigenarten der je besonderen Einnahme und
dem Beginn einer umdeutenden Aufgabe einer Einstellung ist
abstrakt nicht zu bestimmen; das zeigt sich immer nur und
immer erst am Schicksal der Erwartungen, mit denen die aus
Erfahrung gestimmten Subjekte den vermeintlich bekannten und
- nicht selten ebenso vermeintlich - unbekannten Lebenslagen
begegnen. Denen, die davor und dabei sind, eine Einstellung zu
verlieren, kündigt sich diese Schwelle nicht erst an, um dann
überschritten zu werden: der Schritt ins Offene einer unvertrau-
ten Situation ist schon getan im Augenblick der affektiven Be-
stürzung, die anzeigt, daß wir uns nicht mehr und noch nicht
auskennen in dem, was wir tun und da, wo wir sind. Von der
emotionalen Zündung einer Erfahrung, von dem Erlebnis der
Fremdheit, mit dem der Bruch des einstellungsmäßigen Pakts
von Stellungnahmen denjenigen, die aus seiner Sicherheit agiert
haben, momentan offenkundig wird, war bereits zu Anfang
dieses Kapitels die Rede. Nach allem, was ich über Gefühle
gesagt habe, dürfte jetzt verständlicher sein, daß in der Irritation
über den Verlust einer Orientierung ein erster, allerdings meist
noch unverbindlicher, erst in der folgenden Reaktionszeit zu
korrigierender und zu paraphierender Vorschlag zur Neuorien-
tierung unmittelbar und ungefähr ergeht.
Vor allen Dingen aber setzt das singuläre Betroffenheitsereignis
eine - unvermutet gegenstandslose - Erwartung außer Kraft.
Nicht zufällig stoßen wir an dieser Stelle auf einen eminenten
Begriff des Augenblicks. Was immer die Unausweichlichkeii
einer erfahrenden Revision dominant veranlaßt (ob nun eine
Betroffenheitsänderung oder nicht) - das plötzlich einsetzende
Erlebnis der Andersheit ist der Anfang einer jeden einschneidend
situationsbildenden Erfahrung. Hier ist auch wiederzuerkennen,
was Bohrer einseitig für die ästhetische Erfahrung hat reklamie-
ren wollen: eine exzentrische Gewärtigung, die inzentrisch wirk-
sam wird. Der Einbruch einer anderen Wirklichkeit wird erfah-
rend zugelassen in der gesteigerten Verwiesenheit auf die eigenen
Möglichkeiten - ein Rückstoß, der ebenso bitter ausfallen kann

106
wie lustvoll und süß. Eine lebensweltlich ausufernde Erfahrung
läßt eine Gegenwart absehbar werden, die noch nicht ins Maß der
Gewohnheit, des Vertrauten, des immer schon Gewußten und
Beherrschten stimmt. Pointiert gesagt ist jede Erfahrung die
Erfahrung ein,er Gegenwart, die wird. Aber das ist mißverständ-
lich gesagt, weil die so »erfahrene« Gegenwart nicht der Gegen-
stand der Erfahrung ist, sondern die Situation, die sich im Zuge
der Erfahrung neuartig realisiert. Die neue Situation wird im
initialen Erlebnis nicht vorgreifend erkannt, sondern fürs erste, in
einer ersten Erschließung werthaft geformt.
Während des Vollzugs von Erfahrungen sind die mit ihren
Vorurteilen entzweiten Subjekte im übrigen nicht aller orientie-
renden Vorkenntnis ledig - denn ohne die Grundlage von Vor-
verständnissen, die aktuell nicht zu bezweifeln sind, könnte keine
der handlungsleitenden Auslegungen überhaupt fragwürdig wer-
den und wäre eine an ihren Zielen und Objekten irre gewordene
Praxis, sei es im versuchsweisen Agieren, sei es überlegend, sei es
in kommunikativer Auseinandersetzung, nicht zu beheben. Im
Zuge von Erfahrungen sind wir nicht mit einem Schlage der
Kenntnis aus bisheriger Erfahrung ledig, aber wir stehen dem,
was uns befremdend betrifft, ohne eine zureichene, angemessene,
befriedigende, eindeutige, zwingende Einstellung gegenüber. In-
sofern ist alles Verhalten, ist auch die lernende und erfahrende
Orientierungssuche immer schon einstellungsmäßig präfiguriert;
die gegenwärtige Situation erhält Konturen aus dem Erfahrungs-
wissen aus ähnlichen oder - und sei es vermeintlich- vergleichba-
ren1Situationen. Aber es ist immer nur ein Teil der Situationen, in
denen wir uns befinden werden, die erfahrend bereits erschlossen
sind. Nicht jede Situation, in der wir uns einmal oder mehrmals
befunden haben, ist uns aus Erfahrung erschlossen; nicht zu
allem, was uns, uns betreffend, begegnet ist, sind wir im Stande
einer Einstellung verständigt. Und jede besondere Situation kann
den ihr zugewiesenen Charakter augenblicklich verlieren - auch
wenn die meisten und zumal die alltäglichen Situationen dies in
der Regel glücklicherweise, gelegentlich aber verfluchenswerter-
weise selten tun. Wir machen Erfahrungen in Antwort auf Erfah-
rungen, die wir haben. Wir haben Erfahrung auf Abruf der
Erfahrungen, die wir machen. Eine Erfahrung machen heißt, eine
lebensweltliche Situation erschließen. In den Einstellungen, die

107
wir aus Erfahrung erworben und erhalten haben, haben wir
Kenntnis der Verfaßtheit von Situationen, die Stationen unserer
Praxis waren und deren Bekanntheit über die Gegenwart hinaus
die Erwartungen ans Kommende bestimmt.
Ein erneuter Einwand macht klar, daß die gerafften Erinnerun-
gen an die anfänglichen, an Heidegger und Gadamer anlehnenden
Betrachtungen den zwischenzeitlichen Stand der Dinge allzu
großzügig resümieren. Wie verhält sich das situationsübergrei-
fende praktische Wissen der Einstellung zu den aktuellen Situa-
tionen, in denen es greift? Ist es denn zulässig, die - interne -
Kenntnis von Situationen mit der mehr oder weniger routinierten
Bekanntheit gleichzusetzen, welche die Gewißheit der Einstel-
lung ihnen verleiht? Wird nicht mit der Rede von der erfahrungs-
haften Erschlossenheit von Situationen die zumindest potentielle
Besonderheit einer jeden qegenwart unterschlagen - also: be-
steht nicht eine Differenz zwischen der erfahrenen Erwartung an
eine Situation und dem Eindruck ihrer jeweiligen Präsenz?
Es wäre absurd, diesen Unterschied zu leugnen, denn das Spezifi-
sche der Einstellungsorientierung liegt gerade darin, daß dieser
Unterschied, solange die Einstellung währt, nicht ins Gewicht
fällt. Für die Dauer einer Einstellung wird die Eigenart der je
konkreten Situation nicht in der Weise auffällig, daß diese Diffe-
renz eine Irritation der derzeit maßgeblichen Sicht der Dinge
provoziert. Auch und gerade die vertraute Situation ist durch
einen Spielraum zufälliger Charaktere bestimmt; aber die Betei-
ligten wissen zwischen dem Wesentlichen und dem - jetzt, hier -
Unwesentlichen routiniert zu unterscheiden. In gegebenen Um-
ständen über unmittelbare Relevanzzuschreibungen verfügen be-
deutet also nicht, die dermaßen strukturierten Situationen in allen
ihren Zügen als gleichartig zu erwarten und anzutreffen. Augen-
blicklich virulente Stimmungen, Eingebungen und Impulse, die
in der mitgebrachten Einstellung nicht ausgemacht waren, stür-
zen uns nicht zwangsläufig sogleich ins Wechselbad neuer Erfah-
rungen, sondern können aus unserer Sicht nebensächliche Beson-
derheiten einer solide etablierten und weiterhin amtierenden
Verhaltensorientierung sein. Daß heute Föhn herrscht, ich einen
Kater habe, unter Euphorie leide, den Gedanken habe, es könnte
auch ganz anders sein, es hiermit einmal andersherum versuche -
diese Zumutungen und Anwandlungen können zunächst einmal

108
Anlässe sein für einen schlichten Einstellungswechsel; auch wenn
es dazu nicht kommt, bewirken und bedeuten sie nicht automa-
tisch einen Umsturz der Verfahrensmöglichkeiten, auf die ich
eingestellt bin: es ist bloß möglich, daß sie eine Änderung bisher
geltender Relevanzsetzungen provozieren; ebenso ist es möglich,
daß diese Abweichungen gegenüber der bisherigen Praxis ledig-
lich als Begleiterscheinungeneiner gleichbleibenden Zugangs-
weise fungieren. Bis die Grenze zur Erfahrung einmal fällt, kann
die Regelung der Einstellung viele Variationen, Abirrungen und
sogar Ausnahmen dulden.
Mit diesen Ergänzungen soll die Frage nach der Besonderheit
einzelner Situationen nicht weggeschoben werden. Im Kontext
der Einstellungsanalyse war von Situationen immer schon im
Plural die Rede, nämlich als einer Reihe und Menge von Situatio-
nen eines Typs,mit denen Subjekte aus Erfahrung bekanntgewor-
den sind und zu denen sie ihre Lebensumstände erfahrend verar-
beiten. Die einzelne Situation kam nur zur Sprache als diejenige,
an der eine alte Praxis und Sichtweise ihr Ende findet. Durch
diese Darlegungsweise, die das Erfahrunghaben bei den Erfah-
renden immer schon voraussetzt und den Prozeß von Erfahrun-
gen primär an den Eigenarten ihres Produkts, der (geänderten)
Einstellung, erläutert hat, bin ich noch nicht dazu gekommen,
einen positiven Begriff der Präsenz und Bekanntheit einer Situa-
tion zu geben, gleichgültig,ob und inwieweit die Akteure auf das
in ihr Anstehende eingestellt sind. Schließlich kennen wir eine
Situation in gewisser Weise auch dann, wenn wir uns (noch) nicht
in ihr auskennen. Nötig ist eine genauere Bestimmung der Ver-
faßtheit von Situationen. Nach allem Bisherigen ist das Wesentli-
che bereits damit getan, den fehlenden Begriff zu bilden.
Gesucht ist ein Titel für das je momentane Verhältnis von und zu
koordinierten Sachverhalten, das die Prägnanz einer je aktuellen
Situation bestimmt, ohne notwendig die typisierende Erschlos-
senheit einer vertrauten Verhaltenslage zu sein. Ich werde die
prozessiv erworbene Einstellung fortan unterscheiden von dem
Erfahrungsgehalt, der das konkrete, aus ihrem Auge erschei-
nende Gesicht einer gegebenen Situation formiert. Ein Erfah-
rungsgehalt ist der Zusammenhang von Impulsen und Charakte-
ren, die das Besondere einer Situation gleichzeitig bestimmen.
Mit dem Begriff des Erfahrungsgehalts ist also zunächst nichts

109
anderes gemeint als das mehrseitige und auf diversen Präsupposi-
tionen und Präokkupationen beruhende Verständnis der zu ei-
nem gegebenen Zeitpunkt im Verhalten primär gegenständlichen
Phänomene. Gegenüber dem erläuterten Begriff der Einstellung
allerdings fehlt hier die Bestimmung der aus einer Anzahl oder
Dauer von Auseinandersetzungen resultierenden Fixierung eines
Verhältnisses von Stellungnahmen, wodurch eine Praxis unter
den so bekannten Bedingungen unproblematisch zur Realisie-
rung gelangt. Der Ausdruck »Erfahrungsgehalt« zielt auf nichts
weniger und nichts weiter als die Art der simultanen Beziehun-
gen, aus denen sich Subjekte zu dem, wozu sie sich primär
verhalten, mit allen ihren Sinnen im Kontext ihrer projektiven
Einlassung aktuell verhalten. Erfahrungsgehalte sind das, was
gegebene Situationen wirklich macht für die, die sich in ihr
befinden.
Wohlgemerkt ist die Rede vom »Erfahrungsgehalt von Situatio-
nen« als abkürzende Rede zu lesen; denn genaugenommen sind
Erfahrungsgehalte kein Verhältnis zu und Verständnis von Situa-
tionen, sondern eines zu den thematisch und nichtthematisch
belangvollen Gegenständen, das eine Situation als Gegenwart von
Handlungssubjekten konstituiert. Wir haben, finden und nehmen
uns etwas vor und befinden uns somit im Weltausschnitt einer
Situation. Entsprechend sind wir im Verfügen über eine Einstel-
lung nicht eigentlich auf eine Situation eingestellt, sondern auf
das zu einem Zeitpunkt aus Anlaß und im Kontext bestimmter
Vorhaben primär und in primären Hinsichten Gegebene. Auf
diesen kleinlichen Differenzierungen zu bestehen bedeutet ledig-
lich, an den oben skizzierten Charakter von Situationen zu
erinnern und daran, daß die Bedeutung von Erfahrungsgehalten
nicht im Hinweis auf einen vorausgesetzten Begriff der Situation
bestimmt wurde, sondern umgekehrt der vorläufige Situations be-
griff jetzt aus dem erfahrenden, Erfahrungsgehalte zuweisenden,
Prozedere des Umgehens mit thematischen Gegenständen erhär-
tet ist. Das im Gedächtnis, kann die vereinfachende Redeweise
getrost beibehalten werden.
Wichtig ist außerdem, den Terminus ,Erfahrungsgehalt, nicht als
Parallelbildung zu dem des ,Sachverhalts, aufzufassen. Erfah-
rungsgehalte sind nicht besondere, etwa besonders komplexe
Sachverhalte, sondern ein komplexes Verständigtsein zu Sach-

110
verhalten, also den propositionalen Gegenständen, die das the-
matische Zentrum einer augenblicklichen oder andauernden
mehrseitigen Bezugnahme jeweils bilden. Natürlich lassen sich
Erfahrungsgehalte situationsextern wie komplexe Sachverhalte
beschreiben und analysieren; und gewiß sind die Sachverhalte, zu
denen wir uns erfahrend verständigt haben und verständigen, in
der Regel komplexer Natur. Aber es ist nicht Komplexität
schlechthin, die für Erfahrungsgehalte charakteristisch ist, son-
dern die kognitiv-konstative, volitiv-regulative und emotiv-ex-
pressive Bedeutsamkeit von Umständen, die Subjekten als anste-
hend-begegnende gegenwärtig sind: sei es die Notwendigkeit des
Frühaufstehens, die ich einsehe, der ich folge, die ich verfluche,
sei es Josefines Liebe, über die ich im Zweifel bin, die ich erhoffe
und erwerben will, sei es die Fragwürdigkeit eines theoretischen
Paradigmas, von der ich überzeugt und besessen und dessen
Überfälligkeit ich zu erweisen entschlossen bin. Mit der beispiel-
haften Nennung möglicher Situationsthemen ist nun keineswegs
der Erfahrungsgehalt dieser Situationen wiedergegeben, sondern
lediglich das Zentrum, der Brennpunkt eines Zusammenhangs
maßgeblicher Bedeutungen festgehalten, die die enggezogenen
oder weitläufigen Koordinaten einer bestimmten Verhaltenslage
bilden. Zwar zeigt sich das Kennen und Verstehen der eigenen
und fremder Situationen nicht zuletzt daran, ob es den Erzählen-
den und Interpretierenden möglich ist, mindestens eines der
zentralen Themen eines bestimmten Verhaltens zu formulieren;
mit solchen Charakterisierungen aber deuten wir die bedeutsame
Einweisung in eine Praxis bzw. die erlebnishafte Ausstrahlung
einer einmaligen Konfrontation immer nur an. Andererseits gerät
die ausführende Analyse konkreter Erfahrungsgehalte leicht in
den Sog einer schlechten Unendlichkeit, weil jede Situation - in
den Bildungen ihres Horizonts - prinzipiell so weit reicht wie die
Welt, der die Menschen angehören, die sich jetzt im Kreis dieser
Wirklichkeit befinden. Erfahrungsgehalte, seien sie unscheinba-
ren oder erhabenen Gegenständen anhängig, sind die Grundein-
heiten des (heideggerschen) In-der-Welt-seins; Einstellungen,
seien sie Ausdruck begrenzter oder umfassender Praktiken, sind
die kleinsten unterscheidbaren Größen von (wittgensteinschen)
Lebensformen. Im Prozeß der Erfahrung: im Zuge der Um-
schreibung von Erfahrungsgehalten wird etwas auffällig und
III
aufdringlich, das wir vermöge der simultanen wie sukzessiven
Veränderung unserer zu Einstellungen legierten Standpunkte
aufnehmen (müssen) in das oft minimal und weniger oft rigoros
geänderte Ensemble der uns unvermerkt präsenten Wirklichkei-
ten unserer Welt.
Noch einmal meldet sich der niedergehaltene Skeptiker zu Wort.
Er hält die begriffliche Konstruktion namens »Erfahrungsgehalt«
für eine bloße Mystifikation. Warum, so fragt er, kann man es
nicht bei der Unterscheidung des Sachgehalts von Themen, ihrer
praktischen Relevanz und des Erlebniswerts aktueller Konfron-
tationen belassen? Hinter dieser Frage steht die Befürchtung, es
werde unter dem Titel des Erfahrungsgehaltes unter der Hand ein
dunkler alter Erlebniswert zur eigentlichen oder eigentlich kon-
kreten Erkenntniskraft stilisiert. So ehrenwert dieses Bedenken
grundsätzlich ist (sofern es gegen eine irrational überbietungs-
ästhetische Erkenntnistheorie zielt), so hysterisch ist seine Appli-
kation an dieser Stelle. Denn bei den Unterscheidungen, die dem
Nörgler so lieb und teuer sind, habe ich es nicht nur belassen,
sondern habe ständig mit ihnen operiert in dem Versuch, den
Zusammenhang von Situation und Erfahrung zu erhellen. Dieser
Zusammenhang aber ist nicht zu verstehen, solange man es bei
einem positivistischen Nebeneinander situationsbildender Merk-
male nur beläßt; es kam darauf an zu sehen, wie unterschiedliche
Bezugnahmen - auf Zeit - integriert sind zu der Erschlossenheit
von Situationen, die das Ergebnis von Erfahrungen ist: sofern
man die Bedeutung von ,Erfahrung, nicht von vorneherein epi-
stemologisch verkürzt. In diesem Sinn ist der Begriff des Erfah-
rungsgehalts eine Bezeichnung für die Konstellation von Stel-
lungnahmen, die eine Situation als Handlungssituation konstitu-
ieren und deren habituelle Festlegung eine bindende Orientie-
rung in Situationen eines Typs bedeutet. Ich kann nur wiederho-
len: die weitgehend nichtexplizite Koordinationsleistung von
Erfahrungsgehalten liegt nicht in der Macht opaker Erlebnisse,
sondern in einem unter anderem durch Betroffenheit strukturier-
ten Engagement hinsichtlich vorgegebener und vorgenommener
Umstände. Nicht allein die Betroffenheit durch etwas, sondern
die Bedeutsamkeit: die volitiv und kognitiv und emotiv, kurz: die
lebensweltlich artikulierte Gegebenheit von etwas macht den
vollen Sinn der erfahrenen Begegnung mit etwas aus.

!12
d) Erfahrung haben

Das Ergebnis der Erfahrungsanalyse ist zwar nicht mehr vorläu-


fig, aber noch nicht vollständig. Bevor ich mich dem erneuten
Einwand zuwende, es sei pauschal über alle unterschiedlichen
Einstellungstypen hinweggeredet worden und nur darum gelun-
gen, der gefühlsskeptischen und holismenfeindlichen Kritik den
Boden zu entziehen, möchte ich einige Ergänzungen nachtragen
zum Charakter des Wissens, das wir im Haben von Einstellungen
haben. Wie ist das besondere, auf besondere Weise praktische
Wissen beschaffen, das wir aus je eigener Erfahrung haben?
1. Das Wissen der Einstellung ist personal; es resultiert aus der
erfahrenden Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten durch
Subjekte, für deren Praxis das, worüber sie Bescheid wissen und
worin sie bewandert sind, seinerzeit relevant geworden ist und sie
daher zur Erfahrung genötigt hat. Dieses subjektive Engagement
ist es ja, was ein Wissen aus Erfahrung unterscheidet von den
angesammelten Kenntnissen und nichtrealisierten Vorhaben, zu
deren Verwendung es in Situationen eigenen Betroffenseins nie-
mals oder noch nicht gekommen ist. Natürlich können Einstel-
lungen auch gebildet sein aus der Aneignung von Überlieferun-
gen und fremden Erfahrungen - wenn die Aneignung sich vollzo-
gen hat im Medium eigener Erfahrung, also der Veränderung
hergebrachter Einstellungen. Auch sekundäre Erfahrungen sind
dann Erfahrungen.
n. Das mehrseitige und eingeprägte Verständnis, das in der Fest-
schreibung von Erfahrungsgehalten besteht und die Erschlossen-
heit von Situationen bedeutet, stellt ein großteils implizites Wis-
sen dar, das sich durch eine Rekonstruktion der in ihm enthalte-
nen Optionen und Annahmen gewiß explizieren läßt, das aber
durch ein dermaßen explizites Wissen über das, worauf die
Handelnden implizit verständigt sind oder waren, nicht ersetzbar
ist. Die Orientierung der Einstellung stellt ein spezifisches Wis-
sen dar, durch das die Bewältigung von Situationen intuitiv
geregelt ist. Michael Polanyi hat in seinen Studien über Wissen
und Bedeutung dargelegt, daß es ganz falsch wäre, diesem mehr-
fach instrumentierten und abgestimmten Auskennen lediglich die
Funktion der Aufwandsersparnis und passiven Speicherung von
Kenntnissen zuzuschreiben. Einstellungen bergen ein Vorwissen,

IIJ
genauer: stellen einen als Vorwissen praktisch organisierten Zu-
sammenhang von Kenntnissen ungefragt zur Verfügung, ohne
deren unproblematischen, ein Handlungsfeld umgrenzenden und
vormusternden Einsatz wir weder fähig wären, etwas eingren-
zend zu erkennen und eingreifend zu bearbeiten, noch uns darauf
verstünden, uns mit anderen ausschnitthaft über etwas zu ver-
ständigen. Jedes explizite Wissen und vorsätzliche Tun ist auf
dem Hintergrund - unter der Voraussetzung - einer von aktuell
nichtartikulierten Bezügen getragenen Kenntnis gegeben und
gebildet; jede Handlung vollzieht sich auf der Basis von Orientie-
rungen, die für ihre Ausrichtung unbemerkt eingesetzt werden.
Die im Haben von Einstellungen gegebene Orientierung muß
verstanden werden in ihrer Funktion der Ermöglichung aus-
drücklicher Bezugnahmen und Zuwendungen gleich welcher
Art. 67
III. Das weitgehend implizite Wissen der Einstellung, über das
Individuen verfügen, indem sie mit den Gegenständen und in den
Gebieten ihres Verhaltens aus Erfahrung vertraut sind, ist ein
praktisches Wissen, weil es in der Kenntnis von Verhaltensmög-
lichkeiten besteht und ist ein, in vielfältige Vermittlungen einge-
wiesenes, unmittelbar praktisches Wissen, weil in ihm die Bedin-
gungen der Realisierung von Verhaltensmöglichkeiten so behal-
ten sind, daß über den Ort dieser Zugangsweise nicht erst
befunden werden muß. Es handelt sich um Orientierungen, die
sich verkörpern in den Praktiken, auf die Akteure eingeschworen
sind, seitdem sich ihnen eine Situation konstant erschlossen hat.
Für diese oft bis zur Besinnungslosigkeit und jedenfalls zur
Unbedenklichkeit geübten, habitualisierten, eingesprochenen
und verabredeten Realisierungen hat sich der insbesondere von
Ryle propagierte Begriff eines »know how« eingebürgert; ge-
meint ist ein Können, das darin besteht zu wissen, wie ein
Vorhaben anzugehen ist, ohne ein überlegendes Bewußtsein da-
vo11zu entwickeln, welche Annahmen in diesem Tun im einzel-
nen als gültig vorausgesetzt werden und welche Regeln es sind,
denen die jeweilige Praxis in problemloser Weise vorrangig
folgt.6s
Es wäre aber oberflächlich, die erläuterte Erfahrungsorientie-
rung, soweit sie eine implizite ist, mit diesem Begriff des implizi-
ten Wissens schlechthin gleichzusetzen. Denn erstens macht die

114
einfache Beherrschung von Regeln bzw. die Gewißheit und
Geübtheit von Fähigkeiten nicht allein schon das situationswie-
derbildende Erfahrungswissen aus, das nicht (nur) die Ausführ-
barkeit von Tätigkeiten, sondern die vertraute Realisierung von
Situationen garantiert. Zweitens resultiert nicht jede Erfahrung in
einem erfolgreichen Verhaltenkönnen in den Situationen, die
erfahrend erschlossen wurden; nicht jede Erfahrung mündet in
ein umsichtiges Zurandekommen mit dem Erfahrenen. Ich trage
das nach in der Korrektur einiger Stilisierungen, die aus Darstel-
lungsgründen kaum zu vermeiden waren. Auch aus einem Schei-
tern, das irreversibel und unergründlich ist, können wir eine
Einstellung erhalten. Die erfahrene Kenntnis einer Situation hat
also nicht notwendig den Charakter eines versierten Könnens; sie
kann auch münden in das resignative Wissen, daß mit einer
bestimmten Lage nicht zurechtzukommen ist. Der Sinn von
Erfahrungen kann darin liegen, Bemühungen, die unvermeidlich
sein mögen, als sinnlos zu erfahren.
1v. Die situative Vermittlung von Selbstverständnis und Sachver-
ständnis, in der wir auf die Aktualität von Themen aus Erfahrung
unmittelbar reagieren, ist nicht korrigierbar wie die einzelnen
Stellungnahmen, die wir auf der Basis von Einstellungen jederzeit
vornehmen können. Im Fall der Einstellungsreflexion schließt die
Möglichkeit der reflexiven Kritik die Möglichkeit einer reflexiven
Korrektur nicht ein. Die Korrektur einer Einstellung kann refle-
xiv angeleitet sein, sie wird in keinem Fall reflexiv vollzogen.
Es ist ein seinerseits erlerntes und stets von neuem zu erlernendes
Können, das uns befähigt, das Verhältnis von momentanen
Wahrnehmungen und weitergehenden Annahmen, konkreten
Absichten und allgemeinen Interessen, einschlägigen Bedürfnis-
sen und augenblicklichen Gefühlen aufspürend und bedenkend
zu vergegenwärtigen: ein Vermögen, das allererst darin liegt, die
Einschätzungen und Optionen, die im Verbund der Einstellung
vertäut sind, aus ihrer stillschweigenden, das eigene Handeln
determinierenden Fügung artikulierend zu befreien. Wenn uns
dabei leitende Bezugnahmen, die wir in der Einschreibung von
Erfahrungsgehalten automatisch unterzeichnet und erneuert ha-
ben, nunmehr als unrichtig und falsch, sinnlos oder illusionär
erscheinen, dann wird die bisherige Einstellung, wird ein bislang
selbstverständliches Verhalten, wird die Bedeutsamkeit einer ver-

115
trauten Sachlage fragwürdig. Nur ist mit der Kritik an einzelnen
Verständnissen, die Anteil haben am erfahrungshaften Verstän-
digtsein, die Eingenommenheit für eine bestimmte Praxis noch
nicht gebrochen. Mit der Kritik einzelner Absichten, Meinungen
und Gefühlseinbildungen, die für eine Einstellung tragend sind,
mag die betreffende Einstellung gefährdet sein; gefallen ist sie
damit noch nicht. Denn die Einstellung ist ein Verhältnis, das wir
in letzter Instanz nur erfahrend: in der so undurchsichtigen wie
unausweichlichen Gegenwart problematischer Situationen auflö-
sen können. So wie die Geübtheit der Urteilskraft nicht durch
immer neue Regelungen angeleitet und gesichert werden kann,
sondern nur am Beispiel von Fällen, an denen die Auffassung sich
bereichert und schärft, so sind auch Einstellungen letztendlich
nicht aus der Warte von Metapositionen, also aus der Perspektive
anderer Situationen als derjenigen korrigierbar, die durch sie
erschlossen waren und jetzt verändert zu erschließen sind. Erfah-
rung haben heißt Urteilskraft habitualisiert haben; diese Verfas-
sung ist nicht in direkten Eingriffen, sondern allein aus der
Nötigung von Situationen zu renovieren. 69
v. Einstellungen organisieren Sinn. Der subjektive Sinn von
Handlungen und Verhaltensweisen liegt in der unzweifelhaften
Bedeutsamkeit der Gegenstände, die während ihrer Ausführung
und Dauer thematisch Bedeutung haben und gewinnen. Der Sinn
von Situationen liegt im Spiel der Differenz von Bedeutsamkeit
und Bedeutung.7°
Bedeutung haben Phänomene gemäß der prädikativen Unter-
scheidungen, anhand derer wir sie identifizieren; diese Bedeu-
tung kennen heißt wissen, wann die Sätze, mit denen wir Gegen-
ständen Eigenschaften zuschreiben, also einen Sachverhalt dar-
stellen, wahr sind bzw. ihre Behauptung berechtigt ist oder wäre.
Die Bedeutung von Phänomenen ist gebunden an die Bestim-
mungen, die wir ihnen im Zuge konstativer Thematisierungen
explizit verleihen und verliehen haben; wir stellen diese Bedeu-
tung klar, inde!Il wir die entsprechenden Aussagen machen und
gegebenenfalls ausweisen oder begründen. Indem wir auf etwas -
ob behauptend oder nicht - thematisch Bezug nehmen, nehmen
wir an, erwarten, verlangen, wünschen, versprechen, beteuern
und stellen infrage, daß p: und sind uns dessen bewußt, daß
dieser Sachverhalt (der gleichbleibt, auch wenn die unterschiedli-

116
chen Satzmodi unterschiedlichen Anwendungs- und Verstehens-
bedingungen unterliegen), den wir als gegeben feststellen oder
kundtun, dessen Verwirklichung wir verlangen, uns wünschen
oder uns vornehmen, einer derjenigen ist, um die es gegenwärtig
geht.7' In der Unterscheidung von Bedeutungen haben und äu-
ßern wir Verständnisse von dem, was im Zentrum unserer Auf-
merksamkeit liegt.
Bedeutsam sind Phänomene entsprechend des für ihr aktuelles
Verständnis konstitutiven Zusammenhangs nichtthematischer
Bezüge; die Kenntnis dieser subsidiären Relevanzen ist notwen-
dig implizit. Die Bedeutsamkeit von Themen ist der nach gegen-
wärtigen Interessen intuitiv ausgemusterte Zusammenhang von
Annahmen und Regeln, die wir in der Zuwendung zu den
primären Gegenständen unseres Handelns als gültig unterstellen.
Der Gesamtkontext, aus dem die zu einem Zeitpunkt themati-
schen Phänomene belangvoll und signifikant werden, hat die
Struktur von Erfahrungsgehalten, die den Charakter von Situa-
tionen aktuell bestimmen. Im Beiliegen und Beimessen von Er-
fahrungsgehalten wird etwas in seiner Bedeutung für ein gegen-
wärtiges Verhalten bedeutsam.7 In der Fraglosigkeit und Kon-
2

stanz der Bedeutsamkeit, die thematischen Phänomenen zu-


kommt, sind Individuen habituell auf die Praxis verständigt, in
der sie diesen begegnen.
Wie gesehen, ist in der Festschreibung von Erfahrungsgehalten
nicht nur ein Verhältnis von Bezugnahmen, sondern auch eines
von thematischer Ausrichtung und kontextueller Einbindung,
der Bedeutung und der Bedeutsamkeit von etwas, für eine Weile
bestimmt. Erfahrungsgehalte sind themenspezifische Bedeutsam-
keitszuweisungen; durch diese Zuordnung von Themen und
Projekten und Einordnung von Projekten in nicht akute Themen
hat das, was und womit wir zu tun haben, nicht nur die Bedeu-
tung, die ihm zukommt, sondern auch den Sinn, den wir ihm
geben bzw. der ihm gegeben ist. »Sinn«, heißt es bei Heidegger,
ist »das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält, ohne daß
es selbst ausdrücklich und thematisch in den Blick kommt. Sinn
bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her
etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden
kann. Das Entwerfen erschließt Möglichkeiten, das heißt solches,
das ermöglicht.« 73 Womit wir Erfahrung haben, dem ist auch
Sinn verliehen - ob uns dieser gefällt oder nicht; womit wir
Erfahrung machen, das hat noch keinen Sinn oder keinen mehr -
auch das wird uns gefallen oder auch nicht gefallen.

Die Dialektik von Bedeutung und Bedeutsamkeit wird uns noch


länger beschäftigen. Sie wird uns beschäftigen im Gefolge der
Frage, wie wir uns der Erfahrung, die wir haben, in ihrer
situationserschließenden Potentialität versichern können; diese
Frage wird zu der Antwort führen, daß Erfahrungsgehalte im
Modus ihrer Bedeutsamkeit allein ästhetisch, in der Konzentra-
tion und im Verweis auf ästhetische Gegenstände, zu vergegen-
wärtigen und zu kommunizieren sind. Bevor es dahin im Rah-
men einer Betrachtung von Möglichkeiten der Gegenwärtigkeit
von Erfahrung kommt, möchte ich eine zweite Ergänzung vor-
nehmen, die ich am Beginn dieses Abschnitts bereits versprochen
habe. Immerhin läßt sich die kursorische Nachbetrachtung zur
Klassifizierbarkeit von Einstellungsarten so durchführen, daß am
Ende der ersten Runde über Situation und Erfahrung der Stellen-
wert der ästhetischen Erfahrung und Einstellung abgrenzend
präzisierbar und spekulativ andeutbar wird.

e) Einstellungsarten

Nicht nur eine Unzahl von Einstellungen läßt sich unterscheiden,


sondern auch eine Vielzahl von Arten, Einstellungen zu unter-
scheiden. Am naheliegendsten, aber auch wahllosesten lassen sich
Einstellungen unterscheiden nach ihren Gegenständen bzw. The-
men, seien sie unscheinbar oder erhaben: wir kennen Einstellun-
gen zu Hegel und zum Frühstücken, zur Politik und zum Sport,
zum Niedergang der Kultur und zur Möglichkeit der Letztbe-
gründung, zur Kunst und zum Leben, zu Schmerzen und Freu-
den, zu Tod und Teufel, zu Gott - nicht aber zur Welt: denn
indem wir eingestellt sind auf etwas, sind wir der Welt angehörig,
deren Situationen Teile oder Bruchteile der Realitäten unseres
Daseins sind.
Andererseits liegt es auf der Hand, Einstellungen zu sortieren
nach Temperamenten, die sich in ihnen verstetigen mögen; so
kennen wir Einstellungen, die hemmungslos sind und skrupulös,

rr8
flexibel und starr, pragmatisch und reflektiert, teilnehmend und
zynisch, lasch und begeistert, polemisch und zögernd, sachlich
und - emotional: wobei zu bedenken ist, daß »emotionale« von
weniger (und scheinbar nicht) »emotionalen« Einstellungen sich
nicht dadurch unterscheiden, daß Gefühle einmal eine Rolle
spielen und die anderen Male nicht, sondern allein dadurch, wie
sie diese ihre konstitutive Rolle spielen. Wer eine emotionale
Einstellung hat, ist gewohnt, seinen Gefühlen unmittelbar den
Ausschlag und Ausdruck zu geben; der Sachliche dagegen prüft
und filtert seine emotionalen Reaktionen in geübter Distanzie-
rung: ihm ist jedes eruptive Gehampel zuwider.
Schließlich kann man Einstellungen nach den Interessen unter-
scheiden, die dem erfahrend konturierten Verhalten zugrunde
liegen und in ihm zum Ausdruck kommen: Einstellungen sind
operativ oder kontemplativ, spielerisch oder zweckgerichtet,
egoistisch oder altruistisch, strategisch oder solidarisch, mora-
lisch oder ästhetisch, theoretisch - und alle praktisch in dem Sinn,
daß in ihnen personale Zugangsweisen bis auf den Widerruf
erneuter Erfahrung habituell ausgemacht sind.
Es soll hier nicht darauf ankommen, die auffälligen Überschnei-
dungen zwischen diesen Einteilungen lange zu erörtern. Viel-
mehr bietet die naheliegende Unterscheidung nach zugrundelie-
genden Interessen einen Anhaltspunkt für eine Sichtung von
Einstellungstypen auf allgemeinster Ebene. Entscheidend ist
hierfür nicht, wie wir Einstellungen aus dieser und jener Warte
bestimmen und bewerten, entscheidend wird dann, welche Art
von Bewertung intern bestimmend ist für welche Art des Engage-
ments, auf das Individuen einstellungsmäßig verständigt sind.
Auf allgemeinster Ebene nämlich differieren Typen von Einstel-
lungen als formal unterscheidbare Zugangsweisen, die sich darin
voneinander abheben, welche Art von Gründen in welcher Weise
für welche Art von Zielen im Verhalten implizit ausschlaggebend
sind. Arten der Praxis, die so gegründet sind, differieren als Arten
des verhaltensleitenden Zusammenhangs von Interessen und
Gründen, wobei das Gewicht von Gefühlswertungen wiederum
eine jeweils spezifische Rolle spielt. Die genauen Grenzen zwi-
schen den Einstellungsarten, wie sie im realen Handeln maßge-
bend sind, sind dabei nicht nur kontingenterweise, sondern
definitionsgemäß unscharf: weil Einstellungen Akzentuierungen

119
des oben beschriebenen Verhältnisses von Bezugnahmen sind,
die in allen Einstellungen eine - unterschiedliche - Rolle spielen:
und damit den Keim einer anders gepolten Verhaltensweise in der
jeweils dominanten Sicht der Dinge immer schon und immer
noch enthalten. Um es mit den Worten von Habermas zu sagen:
Auf allgemeiner Stufe unterscheiden sich Arten von Einstellun-
gen als Dimensionen möglicher Rationalität.74
Auf den ersten Blick liegt etwas stark Paradoxes in der Behaup-
tung, daß sich Einstellungen, die entproblematisierten Verhal-
tensmodi, als Formen der möglichen Rechtfertigung von Verhal-
tensinteressen abstrakt unterscheiden. Besteht doch das Unpro-
blematische und Unmittelbare, der Schutz und nicht selten der
Zwang der aus Erfahrung eingefahrenen Verhaltensgewohnheit
eben darin, daß es nichts zu überlegen und bedenken mehr gibt.
Nur heißt das wiederum nichts anderes, als daß wir selbst, daß
andere oder die Umstände uns diese Bedenklichkeit abgenom-
men haben. Worin die Einstellung gründet, ist nicht länger
Gegenstand einer Begründung. Die Anatomie von Einstellungen
aber besteht aus fraglosen Beurteilungen und damit in der häufig
ungewußten Gewißheit, was für diese Beurteilungen spricht. Die
Unterschiede dieser Beurteilungsart sind kennzeichnend für die
unterschiedlichen Einstellungsarten, wenn es auch für das impli-
zite Wissen der Einstellung kennzeichnend ist, daß es der überle-
genden Beurteilung derer entzogen bleibt, die aus dieser Einstel-
lung handeln.
Für eine kurze Übersicht bietet es sich an, auf die Unterschei-
dung zwischen epistemischen und praktischen Gründen zurück-
zugreifen, von der ich oben (S. 94) schon Gebrauch gemacht
habe. Epistemisch sind Gründe für die (Annahme zugunsten der)
Annahme, daß etwas der Fall ist bzw. der Fall sein werde.
Praktisch sind Gründe dafür (Annahmen zur Stützung des Vor-
schlags und Vorhabens), zu bewirken, daß etwas der Fall (sein)
werde. Wenn Einstellungen zu verstehen sind als Affirmationen
von Handlungsmöglichkeiten auf der Basis von Annahmen über
einschlägige Handlungswirklichkeiten; und diese Annahmen ei-
nen Zusammenhang deskriptiver und evaluativer Aussagen dar-
stellen, die einerseits die Realität, andererseits die Qualität der ins
Auge gefaßten Handlungsweise beurteilen - dann müßten sich
Einstellungen nach dem Verhältnis einteilen lassen, in dem epi-

120
stemische und praktische Gründe jeweils zueinander stehen (auf-
einander abgestellt sind) in der Funktion, Interessen einer be-
stimmten Art mit praxisbindender Wirkung auf unbestimmte
Dauer zu fundieren. Eine Bestätigung für die gesuchte Differen-
zierung liegt darin, den je besonderen Stellenwert der emotiona-
len Komponente zu benennen, an dem sich die Einstellungsarten
zusätzlich unterscheiden.
Theoretisch sind Einstellungen, für die leitend ist das Interesse an
Erkenntnissen über die Welt, genauer: an der Behauptung und
Prüfung von Aussagen und an der Konstruktion und Kritik von
Aussagesystemen um der empirischen (auch experimentellen)
und argumentativen Wahrheitsbeurteilung willen. Dabei sind die
Bewertungen der vielfältigen Arten des erkennenden bzw. theo-
riepraktischen Vorgehens gebunden an Stellungnahmen zur Trif-
tigkeit (nichttrivialen Wahrheit) der auf der Grundlage bestimm-
ter Voraussetzungen erreichten und zu erwartenden epistemi-
schen Resultate. Ob eine Wissensfrage sinnvoll, eine Untersu-
chungsmethode ergiebig, eine Argumentationsstrategie überzeu-
gend, ein Forschungsansatz lohnend ist, entscheidet sich letztlich
daran, ob akzeptable epistemische Gründe angebbar sind für die
Annahmen, die am Eingang und am Ende des jeweiligen Unter-
nehmens stehen. Die Richtigkeit praktischer Bewertungen ist
hier abhängig (allerdings nicht ableitbar) von der Wahrheit theo-
retischer Annahmen (die nicht im engeren Sinn Sätze einer
Theorie sein müssen). Die Beurteilung dieser Wahrheit hat mit
irgendeinem Zuspruch der Gefühle natürlich nichts zu tun. Der
orientierende Beitrag der Gefühle innerhalb eines theoretischen
Vorgehens beschränkt sich auf den sympathisch-antipathischen
Umgang mit Fragestellungen, durch die das theoretische Feld in
mehr und minder aussichtsreiche Zugänge gegliedert ist. Solange
sie nicht thematisch werden, sind diese Relevanzen unter ande-
rem emotional präsent, woraus sich im theoretischen Arbeiten
wiederum intuitiv-unmittelbare Direktiven an das augenblickli-
che Vorgehen ergeben. Die heuristisch produktive Funktion der
affektiven Beteiligung hat im theoretischen Zusammenhängen
aber keine definitiven, sondern bestenfalls inventive Folgen; für
die jeweils erreichten Resultate ist die ehemals oder andauernd
gefühlsmäßige Einkleidung so unerheblich wie ihre Anregung
dem suchenden Fortgang unverzichtbar war. »Erkannt wird ...
121
in einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, lnnervatio-
nen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen,
kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen
transparenten Erfahrung.« 75
Instrumentell sind Einstellungen, in denen leitend ist das Inter-
esse an der Realisierung vorgegebener und feststehender Zwecke;
worauf es hier ankommt, ist die Wirksamkeit der Mittelwahl und
Mittelverwendung für ein vorbestimmtes Ziel. Mit unterschiedli-
chen Beliebigkeitsspielräumen (wenn unterschiedliche Mittel
gleich effektiv sind) sind hier die ausschlaggebenden praktischen
Gründe (x ist gut für y) rückführbar auf epistemische Gründe
(die Verwendung von x bewirkt y). Relativ zu den gegebenen
Zwecken und ungeachtet offenbleibender Entscheidungsspiel-
räume sind hier die praktischen Bewertungen rückführbar auf
theoretische Annahmen über den Zusammenhang von Mitteln
und Zwecken. Für die Rationalität operativer und strategischer
Kalkulationen sind Gefühlswertungen streng akzidentiell; die
Wirksamkeit der verwendeten Verfahren muß sich unabhängig
von solcher Voreingenommenheit erweisen lassen. Für den ver-
sierten Einsatz und Vollzug instrumenteller Prozeduren aller-
dings ist die Unwillkürlichkeit emotionaler Einweisungen durch-
aus konstitutiv: aber in keiner anderen Weise, als das für Einstel-
lungen generell kennzeichnend ist.
Moralisch (sozial normativ) sind Einstellungen, in denen leitend
ist das Interesse an einer nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit
erfolgenden Regelung interpersonaler Beziehungen, genauer: an
der Etablierung, Erhaltung und Korrektur gemeinsamer Zweck-
setzungen, die einen gegenseitig anzuerkennenden Freiheitsspiel-
raum normativ festlegen. Hier ist die Wahrheit epistemischer
Annahmen (über die Beschaffenheit der sozialen Verhältnisse) zu
einem wesentlichen Teil abhängig von der Richtigkeit bzw.
Akzeptierbarkeit praktischer Bewertungen. Die normativen
Gründe für oder gegen die Annahme von Handlungsregeln ha-
ben hier ein selbständiges Gewicht (und sind genuin an andere
adressiert). Das Votum der Gefühle ist hier durchaus elementar.
Wie besonders Strawson hervorgehoben hat, wird die Verletzung
von Ansprüchen, die Subjekte im Handeln als moralisch legitim
unterstellen, zumeist in emotionalen Reaktionen allererst kennt-
lich; insofern sind Gefühle insbesondere des Verletztseins und

122
der Achtung als die elementaren Wahrnehmungen im Bereich des
Moralischen zu verstehen.76 Zwar ist die Antwort, die es in
moralischen Auseinandersetzungen zu finden gilt, durch das
initiale Gefühl nicht schon fixiert: jedoch erhebt dieses die Fra-
gen, die der moralischen Überlegung und Entscheidung aufgege-
ben sind.
Subjektiv oder objektiv präferentiell sind Einstellungen, für die
leitend ist das Interesse am eigenen Wohlergehen oder besser und
schöner: in denen Visionen und Passionen des individuell er-
strebten und erhofften Glücks ausschlaggebend sind. (Subjektiv
sind meine Präferenzen für das, was ich mag, »weil« ich es - nun
einmal- mag; objektiv sind meine Präferenzen für das, wofür ich
mich entscheide, weil es gut für mich ist. In der präferentiellen
Einstellung gehen der unmittelbare und der objektivierte Vorzug
immer bereits zusammen. 77) Die praktischen Gründe, die in der
Formung der persönlichen Lebensführung tragend sind, sind
abhängig von der Art gegebener Bedürfnisse, die in evaluativen
Bewertungen gegeneinander abgewogen werden; im Kontext der
evaluativen Wertschätzung ist die Richtigkeit praktischer Optio-
nen abhängig von der Wahrhaftigkeit expressiver Artikulationen
und selbstinterpretativer Aussagen. Das Votum der Affekte ist
hier klarerweise fundamental. Denn zwar können wir unsere
Gefühle - können wir uns als Fühlende - immer auch falsch
verstehen und kann die momentane Dominanz von Gefühlen uns
die Relevanz von Bedürfnissen unglücklich einschätzen lassen.
Ob aber die - sei es überlegend getroffene, sei es schicksalhaft
gefallene - Entscheidung, die unser derzeitiges Präferenzverhal-
ten prägt, eine glückliche war oder nicht, das zeigt sich nur
wiederum daran, wie wir mit ihr glücklich werden. In Fragen des
individuell guten Lebens bildet daher die Gefühlswertung den
Ausgangs- und den Endpunkt rationaler Orientierungen.
Diese definitorische Skizze hat zunächst einfach den Zweck,
knapp zu illustrieren, wie eine Klassifikation von Einstellungsar-
ten auf der Basis des entwickelten Einstellungsbegriffs möglich
ist. Im Unterschied zu der bei Habermas gegebenen Darlegung
hat sich dabei die anfangs (S. 92) hervorgehobene Differenz zwi-
schen (semantisch oder pragmatisch gefaßten) Redestandpunkten
und der komplexen Sichtweise von Einstellungen erneut bestä-
tigt. Im Kontext dieses Begriffs der Einstellung gibt die Art des

123
Satzes, den einer denkt oder äußert, überhaupt nichts darüber zu
erkennen, aus welcher Einstellung er sich gerade verhält. Auffor-
derungen und Absichtserklärungen, Behauptungen und Expres-
sionen geben nicht bestimmten Einstellungen prominent Aus-
druck. Im jeweiligen Handlungs- und Verständigungskontext
muß es sich jeweils zeigen, welche Einstellung in der gegebenen
Situation die maßgebliche ist. Einstellungen sind nichts Reines
analog den sprachlichen Vorkommnissen, die sich unter be-
stimmten Bedingungen auf die methodische Reinheit linguisti-
scher »Standardformen« bringen lassen. Einstellungen sind auch
nichts per definitionem Rationales - als käme der Verbund ihrer
Stellungnahmen nur zustande, wenn diese nichts Irriges oder
Irreführendes enthalten. Nur zu häufig ist das der Fall. Deswegen
sind die Grundarten der Einstellung allein als Formen möglicher
Rationalität zu unterscheiden. Bereits im vorigen Kapitel habe
ich hervorgehoben, daß die Dimensionen möglicher Rationalität
zugleich als Dimensionen der möglichen Irrationalität zu verste-
hen sind. Das bedeutet im jetzigen Zusammenhang, daß alle die
Faktoren, die für die Konsistenz von Einstellungen verantwort-
lich sind, sowohl für als auch gegen die Rationalität der in ihr
festgeschriebenen Verhaltensweise von Belang sein können.
Nicht die Gefühle sind das (allein) Irrationale, irrational ist der
bornierte, letztlich erfahrungsfeindliche Umgang und ist das
gewohnheitsblinde Verwachsensein unter anderem mit den eige-
nen Gefühlen.
Die auf dieser Linie unterschiedenen Einstellungsarten dürfen
nicht mit der doppelten Bedeutung der Rede von übergreifenden
Einstellungen zusammengemengt werden. Was üblicherweise als
die »alltägliche«, »natürliche« oder »performative« Einstellung
bezeichnet wird, ist der hochgradig routinierte Vollzug von
Einstellungswechseln, der im Zuge einer sozial gesteuerten Ein-
gewöhnung zu einer entdifferenzierten, von keiner dominanten
Perspektive durchschnittlich geprägten Verhaltensdisposition zu-
sammengewachsen ist: zu jener alltäglichen Praxis, die den Kon-
text aller speziellen und spezialisierten Praktiken bildet. Während
der soziologische Begriff der »natürlichen« Einstellung formu-
liert ist, um die primäre Wirklichkeit des sozialen Lebens auszu-
zeichnen, steht der Begriff der existentiellen oder Lebenseinstel-
lung für die Haltung, die das einzelne Individuum zu den Wirk-

124
lichkeiten seines Daseins hat. Wie die alltagsweltliche Einstellung
schließt auch die existentielle Einstellung die verschiedenen
nichtübergreifenden Einstellungsarten von vorneherein ein, wo-
bei dem einen Einstellungstypus mehr und dem anderen weniger
Gewicht zukommen wird. Was wiederum bedeutet, daß der eine
oder andere Rationalitätsaspekt (das eine oder andere Rationali-
tätsdefizit) im Leben einer Gemeinschaft und im Leben der
einzelnen in dieser Gemeinschaft mehr oder minder von Bedeu-
tung ist.
Das entscheidende Defizit der soweit gegebenen Klassifikation
liegt ohne Zweifel darin, daß die Bestimmung der ästhetischen
Einstellung in ihr noch keinen Platz gefunden hat. Zur Ausfül-
lung dieser Leerstelle ist ein nochmaliger Blick auf das bisherige
Schema der Einstellungen von Nutzen. Bei genauerem Hinsehen
zeigt es sich, daß in der gegebenen Klassifikation drei praktische
der einen theoretischenEinstellung gegenüberstehen (obgleich sie
alle auf ihre Weise das unmittelbar praktische Wissen der Einstel-
lung organisieren). Trotz der gravierenden und keineswegs gra-
duellen Unterschiede zielen die instrumentelle, die moralische
und die präferentielle Einstellung auf einen Zustand der Wirk-
lichkeit, der durch die jeweilige Art des Verhaltens zustandekom-
men soll: es sind praktische Gründe, die bewußt oder unbewußt
den Ausschlag für das betreffende Verhalten geben. Aus der Sicht
theoretischer Einstellungen dagegen ist der praktische Teil, etwa
die Durchführung einer Untersuchung bzw. die Produktion
einer Theorie, lediglich eine Folge der Bemühung, zu erkennen,
was ist.78 Das Trennende der theoretischen zu den praktischen
Einstellungen ist auch dadurch bezeichnet, daß die theoretische
Einstellung als solche reflexiv und diskursiv angelegt ist. Mit der
Einnahme einer theoretischen Einstellung sind wir immer schon
mehr oder weniger stark disponiert, uns nicht allein auf die in den
bisherigen Überlegungen erworbenen Kenntnisse und Intuitio-
nen zu verlassen. Die theoretische Einstellung ist eine Einstellung
der Einstellungsgefährdung: das, nicht etwa die Abstinenz von
Gefühlen, ist die Idealisierung, die mit dem regulativen Begriff
der Diskursivität hier sinnvollerweise zu verbinden ist.
Nun ist allerdings weder Reflexivität noch Diskursivität ein
Privileg der theoretischen Praxis - ihre Besonderheit liegt nur in
der primären und von vorneherein überlegend geleisteten Er-

r25
kenntnisorientierung. Auch in den Bereichen der instrumentel-
len, moralischen und den subjektiven Präferenzen offenen Pra-
xis ist oft ein Spielraum und nicht selten die Notwendigkeit der
überlegenden Vergewisserung gegeben; die Überlegungen, die
dort vollzogen, und die Erkenntnisse, die dabei gewonnen wer-
den, haben wiederum ein jeweils unterschiedliches Gesicht und
Gewicht - die .oben gemachten Andeutungen brauchen jetzt
nicht weitergeführt zu würden. Daß aus einer bestimmten Ein-
stellung, welche immer es sei, Überlegungen vollzogen werden,
sich anbieten oder aufdrängen, bedeutet nicht schon, daß Erfah-
rung gefordert wäre; daß Erfahrung gefordert ist, bedeutet au-
ßer im Fall der theoretischen Erfahrung nicht schon, daß Über-
legungen vollzogen werden. Wenn Überlegungen erfolgen, die
überdies reflexiver Natur sind, sich also auf Aspekte der Einstel-
lung rückbeziehen, die in der Bewältigung bestimmter Situatio-
nen bislang maßgeblich war, dann sind die Themen dieser Über-
legungen nicht die Einstellungen, sondern lediglich konstitutive
Bestandteile derselben - als da sind Annahmen, Vorsätze, Vor-
lieben und Abneigungen, die bislang unauffällig ineinanderge-
griffen haben. Was die Subjekte, die an ihren hergebrachten
Gepflogenheiten zweifeln oder sich diesen neugierig zuwenden,
in direkt thematischer Zuwendung verstehend zu fassen kriegen,
sind nur wieder die zu Einzelannahmen und Verhaltensvor-
schlägen geronnenen Einstellungsatome, nicht aber das Syn-
drom, das diese verbunden und damit die Subjekte dieser Erfah-
rung an das Geschehen einer Situation gebunden hat. Diese
Entzogenheit der Gehalte der eigenen Einstellung gilt für die
theoretische Reflexion genauso wie für jede praktisch fundierte
Überlegung.
Als Einstellungen sind Einstellungen nicht begründbar - es sei
denn ästhetisch. Allein ästhetisch, in der wahrnehmenden Hin-
wendung zu Objekten, die Erfahrungsgehalte verkörpern und
somit als Ausdrucksmedien weniger von als für Einstellungen
fungieren; und die von den Wahrnehmenden insoweit als gelun-
gen beurteilt werden, als die von diesen Objekten präsentierte
und eröffnete Sichtweise ihnen akzeptabel, aus Erfahrung geteilt
oder durch Erfahrung teilbar erscheint - allein ästhetisch: ver-
möge einer Kritik ästhetischer Objekte, die diese anschaulich
und geltend macht als ein Grund für die Einstellung, die der

126
Urteilende ihm gegenüber (erfahrend gewonnen) hat: allein
ästhetisch sind Einstellungen begründbar.
Ich lasse einstweilen dahingestellt, in welchem Sinn hier von
»Begründung« genau die Rede ist; ich führe nur das Schema der
unreinen Einstellungstypen der Vollständigkeit halber in speku-
lativer Zeichnung aus.
Ästhetisch sind Einstellungen, in denen leitend ist das Interesse an
der Vergegenwärtigung von Erfahrungsgehalten, die innerhalb
einer gegebenen Lebensform die Aktualität und inwendige Ver-
faßtheit der eigenen Erfahrung zur Wahrnehmung bringen. Aus
ästhetischer Einstellung (im ästhetischen Verhalten) kommt die
zweckfreie oder zweckindefinite Akzeptabilität von Einstellun-
gen (gleich welcher Art und Vernetzung) zur Beurteilung, indem
Objekte einer bestimmten Art zum Grund gemacht werden für
das Machen oder Aktualisieren von Erfahrungen, die den Wahr-
nehmenden (manchmal erst somit) zugänglich (geworden) sind.
Im Kontext der ästhetischen Kritik basiert das Geben eines
praktischen Grundes auf der Wahrheit von Aussagen (über das
ästhetische Objekt) und der Wahrhaftigkeit bekundeter Reaktio-
nen (auf das Objekt), die einander gegenseitig bedingen. Gelun-
gen sind ästhetische Objekte, die erläutert werden können als
Explikate der Erfahrung und Einstellung, die an ihnen affiziert
und provoziert, erneuert und gewonnen wurde. Weder prakti-
sche noch epistemische Gründe, noch die Valenz expressiver
Bekundungen dominieren das Sprachspiel der ästhetischen Kri-
tik.

127
2. Gegenwärtige Erfahrung

Es sind die subjektiven Erfahrungen, in denen die Bedeutsamkeit


der Lebenswelt sich bildet und hält und verändert; es ist das
hergebrachte und von den einbezogenen anderen mitgetragene
Ausgelegtsein der Handlungsrealität, in deren vorgefaßter Deut-
lichkeit die Subjekte Erfahrung machen. Individuen sind es, die
Erfahrung machen und somit zu Subjekten werden; es sind
Sozietäten, die Erfahrung vor- und weitergeben an ihre Mitglie-
der, die ihrerseits Erfahrungen machen in der erneuernden Auf-
nahme der eingespielten kommunalen Praxis. Wir machen also
Erfahrung nicht nur in Antwort auf Erfahrungen, die wir bereits
gemacht haben, sondern ebenso in Antwort auf Erfahrungen, die
wir selbst (noch) nicht haben. Zwar ist die Welt unserer - je
subjektiven - Erfahrung keine andere als die Gesamtheit und
Übergängigkeit der uns mehr oder weniger geheimnislos bekann-
ten Situationen. Aber diese leidlich stabile Erschlossenheit einer
Vielzahl von Begebenheiten kommt zustande durch die Interak-
tion mit Subjekten, denen dieselben Gegenstände auf ähnliche
Weise bedeutsam waren, sind oder werden könnten. Die Typik
vertrauter Situationen ist das Ergebnis bewährter Orientierun-
gen, ermöglicht durch die Abstimmung mit und die Korrektur
von Verhaltensweisen, die von anderen in diesen Fällen einge-
schlagen oder vorgeschlagen wurden. Die Signifikanz von Situa-
tionen, seien sie längst vertraut oder unvermutet fremd, ist
evident oder fraglich in der fraglosen, weil sprachlich eingeschlif-
fenen Unterscheidbarkeit des Realen vom Irrealen, des Wichtigen
vom Unwichtigen, des Begehrenswerten vom Abscheulichen, des
Aussprechlichen vom Unaussprechlichen. Die Orientierung in
vielen Situationen ist ermöglicht durch bedeutungsbezogene Be-
deutsamkeitszuweisungen, die sich nicht in der einzigartigen
Erfahrung einzelner erst ergeben haben, die vielmehr in der
nachfolgenden Partizipation an Praktiken innerhalb einer sprach-
lich gemeinsam diversifizierten Welt übernommen wurden. Wir
machen Erfahrungen als Teilhaber einer und mehrerer Lebens-
formen; eine Erfahrung machen wir, wenn es uns drängt, einen
Aspekt dieser Teilhaberschaft sei es distanzierend, sei es intensi-
vierend neu zu definieren.
Die Übereinstimmung in der Sprache, die nach Wittgenstein eine

128
Lebensform ausmacht, ist eine des Teilens einer Menge von
Erfahrungen im hier explizierten Sinn.79 Gemeinsame Sprache
und gemeinsame Erfahrung sind gewachsen und verändern sich
simultan auf dem Boden einer in wesentlichen Bereichen geteilten
Praxis. Diese Übereinstimmung in der Sprache, die inhaltliche
Differenzen weit übergreift, fußt auf der Gemeinsamkeit von
Einstellungen, die selbst durchaus sprachgebunden sind. Die
immer unvollständige und wie immer partielle Konformität von
Einstellungen ist es, vor deren Hintergrund Dissens und Dissi-
denz ihren Ernst, ihre Gewalt und ihren Glanz erst gewinnen.
Noch der abweichendste Habitus, solange er als solcher kennt-
lich und aufregend ist, antwortet auf eine sozial eingestimmte
und in der Verweigerung erinnerte Habitualisierung; die Schwer-
kraft noch der polemischsten Anrede, der ironischsten Kommu-
nikation und der irrwitzigsten Denkbewegung rührt aus dem
Antrieb, Bedeutungen aufzuwirbeln aus dem an Verwerfungen
reichen Boden des Sinns, der in der bis dahin vertrauten Sprach-
welt der feste Grund einer jeden sinnvollen Regung und Hand-
lung war.
Die gesellschaftstragende und identitätsbildende lntersubjektivi-
tät auch der je individuellen Praxis und Erfahrung ist zumal von
soziologischer Seite vielfach dokumentiert; ich kann es daher bei
diesen Andeutungen belassen.80 Was im folgenden ausschließlich
interessieren wird, ist die Frage, inwieweit den Mitgliedern einer
(modernen) Gesellschaft, den an einer Pluralität von Lebensfor-
men und Lebenswelten Partizipierenden, die erfahrungsmäßigen
Voraussetzungen, aus denen sie agieren, im Modus ihrer situa-
tionsbildenden Erschlossenheit thematisch und anschaulich wer-
den können. Aus Gründen der Einfachheit werde ich diese Frage
primär als eine Frage der Kommunizierbarkeitvon Erfahrungs-
gehalten behandeln - obschon, wie sich zeigen wird, mit deren
Möglichkeit zugleich die der solitären Vergegenwärtigung gege-
ben ist (ohne daß diese von jener offenkundig in einem starken,
nichttrivialen Sinn abhängig wäre). Mit Hilfe der noch unzuläng-
lich geklärten Differenz von Bedeutung und Bedeutsamkeit ge-
fragt: Wie ist eine Kommunikation der Bedeutsamkeit situativer
Bezugnahmen möglich?
Ich werde zunächst erkunden, was es heißt, sich über das Teilen
von Erfahrungen zu verständigen; auch wenn wir uns mit der

129
lntersubjektivität von Erfahrungen nicht lange aufhalten, muß
doch wenigstens die Probe auf den Singular des Teilens einer
Erfahrung erfolgen (a). Diese Ausgangsüberlegung wird den Weg
öffnen für eine Betrachtung grundlegender Formen der Charak-
terisierung von Erfahrenem. Diese Charakterisierungsweisen un-
terscheiden sich als Modi symbolischer Artikulation: wir können
Erfahrenes nicht nur präsentisch und retrospektiv thematisieren,
sondern auch in seiner subsidiären Aktualität innerhalb von
Situationen andeutend vergegenwärtigen und schließlich Erfah-
rungsgehalte in situationsungebundener Manier vergegenwärti-
gend präsentieren bzw. präsentativ vergegenwärtigen (b und c).
Mit der Ausführung eines Beispiels, das den Zusammenhang
dieser Suggestion verdeutlicht, gelangen wir endgültig in den
Vorhof der heiligen Hallen der Ästhetik, dessen Pforten rück-
blickend geschlossen werden mit einem Ausblick auf die Dyna-
mik der ästhetischen Erfahrung im Kraftfeld der übrigen Erfah-
rungsdimensionen (d und e).

a) Erfahrung teilen und mitteilen

Wir teilen eine Erfahrung mit anderen, wenn wir uns in einer
Situation befunden haben, in der auch diese sich befanden. Die
Identität von Erfahrungen verweist auf die Gleichheit von Situa-
tionen. Die Gleichheit von Situationen besteht nicht notwendig
und niemals ausschließlich in der Identität von Raum-Zeit-Ver-
hältnissen: um eine Erfahrung mit jemandem zu teilen, müssen
wir uns nicht zur selben Zeit am besagten Ort befunden haben,
wo diesem jenes widerfuhr. Lebensweltliche Situationen (von
denen hier die Rede ist) sind Stationen in Raum und Zeit, die
umstandsbedingte Stadien oft auch umstandsbestimmter Vorha-
ben sind, die sich auf Vororientierungen und Verhaltenserwar-
tungen stützen, an deren Schicksal sich die Bewältigung einer
gegenwärtigen Lage entscheidet. Situationen sind daher zumal als
räumliche Positionen nicht allein und oft nicht primär zu bestim-
men, sondern werden verständlich erst als zeitlich umgrenzte und
an leitenden Themen orientierte Arten des Verfolgs individueller
oder kollektiver Handlungsprojekte. Mehrere Subjekte haben
eine Erfahrung gemeinsam, wenn ihnen ein gleichartiges Vorha-

130
ben (oder eine gleichlautende Vorerwartung) unter gleichartigen
Umständen (angesichts derselben als relevant und akut empfun-
denen Gegenstände) den Aufwand der Erfahrung abgenötigt hat;
wenn das der Fall war, haben sie sich in derselben Situation
einmal befunden oder befinden sich - in dieser Hinsicht - noch in
derselben Lage. Dieselbe Erfahrung gemacht haben bedeutet,
einem thematischen Komplex denselben Erfahrungsgehalt einmal
beigemessen haben.
Nun ist die gleichlautende Zuschreibung nicht identisch mit der
gleichartigen Festschreibung von Erfahrungsgehalten ( 109 f.); es
darf die Identität von Erfahrungen nicht mit dem Erhalt identi-
scher Einstellungen umstandslos gleichgesetzt werden. Einer der-
art starken Lesart würde die geläufige Beobachtung widerspre-
chen, daß viele Menschen eine Erfahrung teilen, also mit einer
bestimmten Situation bekanntgeworden sind, ohne doch das
Selbstverständnis der Einstellung zu teilen, zu der das Bekannt-
gewordene sukzessive verarbeitet worden ist. Eine Erfahrung
teilen, bedeutet nicht notwendigerweise, dieselbe Einstellung
gewonnen zu haben: im Teilen einer Erfahrung haben wir oft nur
dieselbe Einstellung verloren.
Ein Pazifist und ein Militarist können die Erfahrung einer Ge-
fechtssituation teilen, obwohl sie aus der Erfahrung dieser Situa-
tion eine konträre Konsequenz gezogen haben. Beiden mag die
Brüchigkeit ihrer bisher bürgerlich gesicherten Existenz aufge-
gangen sein zusammen mit der erschütterten Erwartung an eine
geordnete Dramatik militärischer Handlungen. Beiden freilich
stellt sich die Bedeutung ihrer Erlebnisse rückblickend höchst
unterschiedlich dar: der Militarist meint die Fragwürdigkeit eines
konstant befriedeten Dahinlebens erkannt zu haben, das nicht
durch das Stahlbad normalitätssprengender Grenzsituationen ge-
gangen ist (und das Kriegsgefecht für den Gipfel der unwillkürli-
chen Beirrung halten); der Pazifist glaubt die Scheinheiligkeit
eines jeden Friedens und einer wohlsituierten Friedfertigkeit
erkannt zu haben, die insgeheim auf die kriegerische Sicherung
des Wohlhabens angewiesen, wenn nicht angelegt sind. Die
beiden Kontrahenten im Habitus können also eine bestimmte
Erfahrung durchaus teilen, ohne in der Deutung übereinzustim-
men, die sie der betreffenden Situation im nachhinein und in
einem größeren Zusammenhang geben: vorausgesetzt, daß sie
131
nicht schon vor ihren ersten Gefechtserfahrungen konträr einge-
stellt waren auf das, was sie da erwartet hat. Dann nämlich, wenn
sie als Kontrahenten ins Gefecht gegangen und als ideologische
(und nunmehr nicht nur ideologische) Gegentypen aus ihm
herausgekommen sind, haben sie sich die meiste Zeit gar nicht in
derselben Situation befunden (oder werden dies um keinen Preis
zugestehen wollen). Demgegenüber wiederum teilt der Militarist,
der zum Pazifisten wird, mit diesem eine Erfahrung, gleich ob
nun der Pazifist schon vorher einer war oder nicht: denn nun
haben beide die Abscheulichkeit und Irregularität des Kriegsge-
schehens am eigenen Leibe erfahren, von der sie zuvor nicht oder
nur aus fremden Quellen wußten.
Die Rede von geteilten Erfahrungen geht also in jedem Fall auf
die Annahme geteilter Einstellungen zurück: nur muß dies nicht
eine gegenwärtige, noch andauernde Einstellung sein, die mehre-
ren, die eine Erfahrung gemeinsam haben, jetzt noch verbindlich
ist; zum Teilen einer Erfahrung: zur gemeinsamen Bekanntheit
mit Situationen reicht es oft hin, eine Einstellung geteilt zu
haben. So wie extrem verschiedene Ausgangslagen in den Voll-
zug gleichartiger Erfahrungen einmünden können 81 , so kann das
Teilen von Erfahrungen darin bestehen, die ehemals gemeinsame
Welt anläßlich derselben Ereignisse verlassen zu haben. Nicht
immer ist es der ganze Verlauf, ist es der Prozeß der Erfahrung,
dessen Bekanntschaft wir mit denen teilen, mit denen wir eine
Erfahrung teilen.
Wenn nun derjenige, der eine Situation bereits kennt, sich ihren
Charakter distanzierend klarmachen will, dann verfügt er über
keine anderen Mittel als diejenigen, mit deren Hilfe er dem hier
unerfahrenen anderen dies klarmachen könnte. Die Eigenart von
Situationen ist für den, der sie kennt, nicht anders thematisierbar
als so, wie er sie einem andern beschreibend verständlich machen
müßte. Zwar kennt der Erfahrene eine Situation, die der hier
Unerfahrene nicht kennt; somit verfügt jener über ein Wissen,
das dieser nicht hat. Wie gesehen jedoch schließt die Bekanntheit
oder Vertrautheit mit einer Situation eine Informiertheit über
ihren Charakter nicht notwendig ein (auch dann nicht, wenn ein
Hof von Erinnerungen an ihre Gegenwart lebendig ist). Auch
der, der eine Reihe von Situationen, die ihm widerfahren sind, in
erinnernder Explikation strukturiert, wird die Typengleichheit

132
von Situationen nur daran erkennen, was, bezogen auf welches
Engagement, das in ihnen primär Anstehende war. Die Bedeu-
tung einer Situation ergibt sich in der Rekonstruktion des Betei-
ligten aus dem Verhältnis, das zwischen Handlungsprojekt und
Verhaltenserwartung und dem hieraus maßgeblich gewesenen
Zusammenhang von Tatsachen damals bestand. Obwohl wir
häufig vereinfachend so reden, ist der Charakter von Situationen
durch bestimmte Themen oder Intentionen oder Arten der Invol-
viertheit nicht bestimmt. Nur dann können wir eine Situation
abkürzend und vereinfachend so kennzeichnen, wenn sich der
Zusammenhang der drei konstitutiven Komponenten für uns und
die Adressaten unserer Rede im großen und ganzen von selbst
versteht.
Diese nicht selten gegebene Möglichkeit darf nicht dazu verlei-
ten, den Gesamtcharakter von Situationen zumal mit den The-
men zu verwechseln, die in ihnen zentral gewesen sind. Die
Angabe der Themen (bzw. der Absichten oder Stimmungen) ist
vom Sinn der Formulierung eines Titels für Situationen zu unter-
scheiden, der die Position aus Positionen synthetisierend zu
umreißen sucht, die für die Gegenwart dieser Situation prägend
war. So mögen der Militarist und der Pazifist im Rückblick auf
ihre ersten Gefechtserfahrungen übereinstimmend festhalten, es
sei dies eine Situation der panischen Lähmung im Auge einer
doch zugleich irrealen Bedrohung gewesen. So hat Hegel eine
epochale Einstellungsänderung benannt, als er das frühstücksri-
tuelle Zeitungslesen als »eine Art von realistischem Morgense-
gen« angesprochen hat. Di_eresümierenden Titel, die den Ge-
samtcharakter von Situationen angeben, skizzieren Art und Be-
dingung der Beteiligung an den Zuständen und Vorgängen, de-
nen die Handelnden sich ausgesetzt sahen. Sie referieren nicht
(nur) das Sujet, sie signalisieren den Gehalt der betreffenden
Situation.
Die Betonung liegt auf »signalisieren«. Die titulierenden Sätze,
mit denen auf die Bedeutung von Situationen verwiesen wird,
sagen diese Bedeutung nicht aus; sie geben lediglich den Bezugs-
punkt an, an dem eine aufschlußreich beschreibende Situations-
darstellung sich orientieren muß. Diese Darstellung von Situa-
tionscharakteren kann sich wiederum auf sehr verschiedene
Weise abspielen; als Grundformen sind festzuhalten die alltags-

133
sprachlich erzählende Mitteilung gegenüber der eher systema-
tisch rekonstruierenden Analyse. Nicht auf die Unterschiede, auf
das Gemeinsame dieser Darstellungsformen kommt es hier an.
Sie geben nicht Erfahrungsgehalte wieder, sondern Zusammen-
hänge von Sachverhalten, die auf den holistisch gegliederten
Erfahrungsgehalt der in Rede stehenden Situationen verweisen.
Sie überführen das situationsbildende (wesentlich auch konsta-
tive) Verständigtsein und Sichverständigen zu Sachverhalten in
die (wesentlich konstative) Beschreibung oder Schilderung der
Sachverhalte, die in den betreffenden Situationen gegeben waren,
ohne großteils für die Betroffenen als Tatsachen präsent und
faßlich gewesen zu sein. Der Preis der differenzierenden Trans-
parenz ist ein Mangel an verweisender Prägnanz. Die summativ
objektivierende Darstellung von Situationszusammenhängen
kann die notwendig desartikulierte, aus momentan unbestimm-
ten und unbestimmbaren Bestimmungen erwirkte und formierte
Einlassung ins seinerzeit Anstehende, kann den - wie immer
stabilisierten - Sinn situationsunmittelbarer Orientierungen nicht
im vollen Sinn reformulieren. Im Modus ihrer Bedeutsamkeit
sind Erfahrungsgehalte nicht beschreibbar.
Mit anderen Worten: Die Verstehbarkeit der situationscharakte-
risierenden Aussagen, die eine Erfahrung resümierend titulieren,
ist an anderes gebunden als die Verfügbarkeit von Beschreibun-
gen der genannten Art. Die genaue Bedeutung situationscharak-
terisierender Aussagen ist - wie die jeder anderen Behauptung -
nur verständlich, wenn klar ist, was es heißt, daß sie sich bewahr-
heitet haben oder bewahrheiten würden. Behauptungen über den
Charakter von Situationen sind aber nicht verifizierbar wie Aus-
sagen über einzelne Tatsachen der Wahrnehmung. Ihre Bedeu-
tung - ihre besondere Charakterisierungsfunktion - ist nicht
schon verstanden, wenn die wörtliche Bedeutung des Satzes
verstanden ist, der als Aussage zur Bedeutung einer Situation
verwendet wird. Um den Sinn dieser Aussage zu verstehen, ist es
nötig, zu beurteilen, ob sie den situationsinternen Zutrag der
extern als situationsrelevant beschreibbaren Umstände auf-
schlußreich trifft. Voraussetzung dafür ist die Kenntnis gleicher
oder vergleichbarer Situationen. Wenn diese Voraussetzung einer
beschreibend ausgerichteten Verständigung über Erfahrungen
fehlt, dann entfällt die Möglichkeit der wechselseitigen Verste-

134
henskontrolle und Darstellungskorrektur, dank derer sich die
Betrachtung auf den Spuren der Bedeutsamkeit der ehemals
erfahrend erschlossenen Umstände hält. Wer diese Spuren nicht
annähernd bereits kennt, weil sie erfahrend ihm eingeschärft
wurden, wird sie in keiner Beschreibung nachgezeichnet fin-
den.
Diese Grenze der Thematisierbarkeit lebensweltlicher Erfahrun-
gen jedoch bezeichnet nicht das Ende der Möglichkeiten, sich
eigener und fremder Erfahrungen betont ZU versichern. Die
unausdrücklichste Art, sich des Charakters von Situationen zu
vergewissern, ist gewiß die, sich in die entsprechende Situation,
soweit dies möglich ist, aufsuchend und herbeiführend zu bege-
ben: dort wird es sich zeigen, ob die erwartete Lage von den
Beteiligten auf gleichbleibende und gleichartige Weise aufgenom-
men wird. Diese Probe aufs Eingestelltsein hat häufig nicht den
Charakter einer aktiven Prüfung. Im Zuge des Befindens in
vertrauten oder befremdlichen Umständen sind wir vergewissert
und finden uns irritiert über die Konstellation, aus der wir uns bis
dahin verhalten haben. So wie uns viele der alltäglichen Situatio-
nen fraglos erschlossen sind, so sind uns auch viele der Einstel-
lungen der Menschen, mit denen wir Umgang haben, aus der
selbstverständlichen Aktualisierung situationsinterner Beziehun-
gen vertraut. Der geteilten, der abweichenden oder auch der
konträren Bedeutsamkeit situationskonstitutiver Themen müssen
wir uns dort nicht erst umständlich vergewissern; sie ist evident
und wird aktualisiert in den Formen der in unterschiedlichen
Maßen und Arten kommunikativen Interaktion. Die Charaktere
von Situationen erweisen sich hier als empraktisch definiert.
Was es mit diesem sich Erweisen auf sich hat, ist nun gerade aus
den Fällen erklärbar, in denen es nicht ganz so selbstverständlich
ist, wie die Koordinaten einer gegebenen Situation verlaufen.
Dann nämlich sind wir genötigt, uns in mehr oder weniger
ausdrücklichen Formen innerhalb einer Situation der Bezüge zu
vergewissern, aus denen wir uns aktuell verhalten. Der Prägnanz
gegebener Situationen nämlich können wir uns nicht allein in
thematisch vergegenständlichender Hinwendung, sondern
ebenso und zugleich in vielfachen Formen der vergegenwärtigen-
den Einlassung und Äußerung vergewissern. Mehr noch - allein
im wechselweisen Zutrag dieser Artikulationsmodi ist uns die

135
Realität unseres Handelns im Handeln gegenwärtig. Durch ver-
gegenwärtigende Akte machen wir uns und anderen Aspekte der
anhaltenden Bedeutsamkeit von etwas deutlich, ohne den sinnbil-
denden Kontext des so Gegenwärtigen darstellend zu distanzie-
ren. Was man nicht sagen will und kann, das läßt sich oft noch
zeigen.

b) Thematisierung und Vergegenwärtigung

In § 53 r der »Philosophischen Untersuchungen« trifft Wittgen-


stein eine weitreichende Unterscheidung. »Wir reden vom Ver-
stehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen
andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in
dem Sinne, in welchem er durch keinen anderen ersetzt werden
kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.)
Im einen Fall ist der Gedanke eines Satzes, was verschiedenen
Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in
diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)« 82
Wittgenstein geht es darum, die Variationsbreite unserer Rede
von »verstehen« aufzuzeigen; dazu werden die extremen Pole
eines rein propositionalen und eines dezidiert ästhetischen Ver-
stehens markiert. Daß Wittgenstein auch noch das Verstehen
eines Gedichts als Verstehen eines »Gedankens« bezeichnet,
eines Gedankens, der sich allein in den Zeilen des Gedichts
ausgedrückt findet, hebt nur besonders hervor, daß es dabei um
etwas anderes geht als die Mitteilung und das Begreifen von
Gedanken in Freges Gebrauch des Wortes (deren Identität in
ihrer bedeutungserhaltenden Übersetzbarkeit besteht). 83 Gemes-
sen am Kriterium der Übersetzbarkeit steht das ästhetische Ver-
stehen dem Verstehen von Sachverhaltsmitteilungen radikal ent-
gegen. Auf dem Weg, diesen Gegensatz des zum Verstehen
Gehörigen zu klären, ist es hilfreich, im Kontext der Überlegun-
gen bei Wittgenstein einen dritten Spannungspol der Rede vom
Verstehen kenntlich zu machen.
Diese zusätzliche Unterscheidung betrifft weniger das Verstehen
von Sätzen als von Äußerungen (in der weiten Bedeutung des
situierten Vorkommens von Sätzen, sei es in Redesituationen, sei
es in Texten). Hier läßt sich erneut eine Differenz zum proposi-

136
tionalen Verstehen konstatieren, die sich analog zu Wittgensteins
Abgrenzung des ästhetischen Verstehens fassen läßt. Vom Ver-
stehen einer Äußerung können wir einerseits in dem Sinn reden,
in dem beliebig oft wiederholte Verwendungen dieser Äußerung
denkbar sind, die alle kommunikativ sinngleich sind; aber auch in
dem Sinn, in welchem diese Äußerung in kaum einer anderen
Verwendungssituation gleichermaßen von Bedeutung sein wird.
Es ist zweierlei, ob ich den primären Sinn der Rede eines anderen
verstehe (ob ich verstehe, was der andere sagt) oder überdies die
besondere Situation der Rede; ob ich verstehe, wovon die Rede
ist oder ob ich zusätzlich mitverstehe, wie es um das geht, wovon
die Rede ist. Das erste Verständnis werde ich zunächst so erläu-
tern, daß ich den Inhalt des Gesagten in anderen Worten repro-
duziere; das zweite Verständnis werde ich zunächst so erläutern,
daß ich auf Besonderheiten der betreffenden Verstehenssituation
verweise. Die Unterscheidung, um die es hier geht, darf nur dann
mit dem Unterschied des Verstehens von Sätzen und Äußerun-
gen gleichgesetzt werden, wenn als Äußerung nur der konkrete
Gebrauch von sprachlichen Ausdrucksmitteln verstanden wird
und nicht etwa eine in bestimmten Kontexten konventionell und
formelhaft standardisierte Sprachverwendung. Das Kennen sol-
cher Verwendungsweisen ist ja für Wittgenstein auch beim pro-
positionalen Verstehen von vorneherein konstitutiv. An Wittgen-
steins Überlegungen zum Begriff der sprachlichen Regel wird
aber zugleich deutlich, daß das Gespür für die Art einer vorlie-
genden sprachlichen Verwendung nicht immer schon ein Gespür
für das Charakteristische dieser (und nur dieser) aktuellen Ver-
wendung ist. Das Kennen allgemeiner Kontextbedingungen eines
bestimmten sprachlichen Vorkommens ist etwas anderes als das
Verstehen der momentane·n Situationsbindung, in der eine Äuße-
rung im Wie ihres Geäußertwerdens steht: wodurch oft etwas zu
verstehen gegeben wird, was kein anderes Vorkommen derselben
Äußerung zu verstehen geben kann. 84 So wenig wie das ästheti-
sche, von dem es sich seinerseits kategorial unterscheidet, ist das
performative Verstehen (wie ich sagen werde 81) auf ein proposi-
tionales Verstehen rückführbar.
Diesen Unterschieden des Verstehens entsprechen Unterschiede
der Bedeutung. Der Begriff der thematischen Bedeutung, den ich
oben (S. II6f.) von den Kontexten der nichtthematischen Be-

137
deutsamkeit unterschieden habe, ist daher nur einer der Bedeu-
tungsbegriffe, deren es zur Beschreibung des vollen Sinns der
sprachlichen Welterschließung bedarf. Wie die verschiedenen
Verstehensbegriffe sind die verschiedenen Bedeutungen der Be-
deutung - die semantisch-propositionale, die pragmatisch-per-
formative, die ästhetisch-präsentative - gleichursprünglich. Im-
mer schon bewegt sich nicht nur das kommunikative Verstehen,
bewegt sich die verstehende Orientierung in der Welt in der
Möglichkeit dieser drei Dimensionen. Die Modi des Bedeutens,
die ich in diesem und im nächsten Abschnitt unterscheiden
werde, sind Weisen nicht nur, in denen die Menschen sich
artikulieren, ebenso sind es Weisen, in denen sie die Welt arti-
kuliert finden. Nicht nur artikulieren wir etwas in thematischer,
performativer und ästhetischer Bedeutung, ebenso finden wir
etwas in diesen Modi des Bedeutens artikuliert. Nicht nur the-
matisieren wir etwas in propositional differenzierter Artikula-
tion, wir finden auch etwas als etwas thematisch artikuliert.
Nicht nur vergegenwärtigen wir anderen etwas durch die Art,
in der wir uns verbal oder nonverbal äußern, wir werden häu-
fig uns einen Zusammenhang vergegenwärtigen, ohne ihn auf
eine Sammlung von Feststellungen zu bringen. Nicht nur kön-
nen wir uns ästhetisch artikulieren, häufiger finden wir etwas
ästhetisch artikuliert. Indem sich die bedeutungshaften Artikula-
tionsweisen als Modi der Artikuliertheit sprachlicher Zeichen
und Zeichenverwendungen unterscheiden, unterscheiden sie sich
als Modi der Artikuliertheit einer sprachlich erschlossenen
Welt.
Die Unterscheidung dieser Artikulationsmodi, um die es im
folgenden gehen wird, liegt quer zu der geläufigen Unterschei-
dung der Verständigungsmodi, sei diese »semantisch« als Unter-
scheidung von Satzmodi oder »pragmatisch« als Unterscheidung
von Sprechakten getroffen. Die Unterschiede der Verständi-
gungsmodi liegen in Unterschieden der stellungnehmenden Be-
zugnahme auf das in sprachlichen Ausdrucksformen Angespro-
chene (und auf die, die damit gegebenenfalls angesprochen sind).
Die Unterschiede der Artikulationsmodi liegen in Unterschie-
den der zeichenhaften Differenziertheit dessen, was in den ver-
schiedenen - und verschieden stark differenzierten - Verständi-
gungsmodi jeweils zum Ausdruck gebracht wird. Nicht am
Paradigma der Verständigungsmodi: allein an der Differenz der
Artikulationsmodi sind die sprachtheoretisch aufschlußreichen
Grundbegriffe der Bedeutung und des Verstehens zu explizie-
ren. 86
Diese These zur Anlage einer nichtreduktiven Bedeutungstheorie
wird im weiteren nur insoweit eine Rolle spielen, als ihre Impli-
kationen Wege weisen auf der Suche nach der Erfahrbarkeit der
Erfahrungen, die wir und die andere vollzogen haben. Es ist klar,
daß die Frage nach der Kommunizierbarkeit von Erfahrungsge-
halten durch eine neue Erörterung der unterschiedlichen Ver-
ständigungsmodi nicht beantwortet werden kann - wo doch die
integrative Entdifferenzierung des aus diesen Positionen Sagba-
ren für den Holismus der Einstellungsorientierung verantwort-
lich ist. Nach den Ermittlungen des vorigen Abschnitts ist ebenso
klar, daß die konstellative Verfassung von Erfahrungsgehalten
nicht durch ihre thematisch artikulierte Darstellung vermittelbar
ist. Dennoch ist es geboten, kurz auf die Struktur der thematisie-
renden Zeichenverwendung zu sprechen zu kommen, damit der
Artikulationsmodus der Vergegenwärtigung anschließend als ei-
genständige Dimension des Bedeutens abgehoben werden kann.
Diese Eigenständigkeit wird freilich nicht im Sinn einer Unab-
hängigkeit zu verstehen sein. Es wird darauf ankommen, die
unabdingbare Komplementarität dieser Artikulationsmodi zu er-
kennen. Am Leitfaden der Erkundung der Möglichkeiten einer
Gegenwärtigkeit situationsbildender Erfahrungen wird diese
Einsicht schließlich zu der benachbarten Annahme führen, daß
dem Paar der weltkonstitutiven Gewärtigungsformen, das diesem
Abschnitt den Titel gibt, das weitere Komplement der ästheti-
schen Artikulationsweise noch fehlt.
I. Thematisierend sind sprachliche Handlungen, thematisch zur
Kenntnis genommen und gebracht sind Phänomene, sofern die
Zeichen und Zeichenverbindungen, unter deren Verwendung
etwas aufgefaßt oder zu verstehen gegeben wird, dieses zeichen-
intern als etwas festhalten und bestimmen. Symbolische Einhei-
ten gelten demnach als Thematisierungen, wenn sie zumindest
insoweit propositional differenziert sind, als referenzialisierende
und prädizierende Zeichenfunktionen unterscheidbar sind (ob
deren Verhältnis nun grammatisch geregelt ist oder nicht). Ein
Gegenstand wird identifiziert oder bezeichnet oder als identifi-

139
zierbar angegeben, indem er prädikativ charakterisiert wird. The-
matisierung ist Bezeichnung durch zeicheninterne Charakterisie-
rung.
Diese Bestimmung mag unnötig vage oder verquer erscheinen,
solange man den Artikulationsmodus der Thematisierung gleich-
setzt mit der Bauart vollständiger Sätze oder gar von assertori-
schen Sätzen. Das wäre jedoch voreilig, denn als thematisierend
will ich jede Art von Zeichen und Zeichenverwendungen be-
schreiben, die eine erkennbare Subjekt-Prädikat-Struktur haben.
Thematisierende Ausdrucksformen sind also keineswegs immer
linguistische Symbole; auch bildliche Darstellungen sind thema-
tisierend, soweit sie dem Kriterium der propositionalen Differen-
ziertheit genügen. 87 Dennoch sind vollständige Sätze und sind
zumal Aussagesätze für den Begriff der Thematisierung in be-
stimmter Weise paradigmatisch, da in Aussagen die Existenz von
Sachverhalten behauptet wird, die in den übrigen Formen der
Thematisierung formuliert oder dargestellt werden, ohne be-
hauptet oder notwendigerweise als existierend dargestellt zu
werden. Ein thematisierendes Zeichen verstehen nämlich heißt,
zu wissen, was es bedeuten würde, den angegebenen Sachverhalt
als gegeben zu behaupten; es bedeutet zu wissen, wie die Wahr-
heit solcher Behauptungen zu beurteilen wäre.
An der wörtlichen Bedeutung von Aussagesätzen läßt sich daher
die situationsunabhängige Verstehbarkeit der thematisierenden
Ausdrucksformen stellvertretend verdeutlichen. Wir verstehen
diese Sätze, wenn wir die Verwendungsregeln der in ihnen vor-
kommenden Ausdrücke kennen (selbst für bildliche Darstellun-
gen gilt, daß gewisse Konventionen des Darstellens erfüllt sein
müssen, damit sie als Darstellungen allgemein lesbar sind -
solange es nicht um künstlerische Darstellungen bzw. die ästheti-
sche Valenz von Darstellungen geht). Soweit die Bedeutung
sprachlicher Ausdrücke nicht allein in dem Beitrag liegt, den sie
zur Bildung und Verknüpfung von Sätzen leisten, verweist ihre
Bedeutung auf Situationen ihrer korrekten Verwendung und
verweist die Bedeutung prädikativer Ausdrücke und der Sätze, in
denen sie vorkommen, auf Situationen der Gegebenheit bzw.
Verifizierbarkeit des mit ihnen Gesagten. Für den grundlegenden
Fall der Wahrnehmungsprädikate hat Tugendhat die konstitutive
Situationsrelativität der situationsirrelativen Verstehbarkeit der
allgemeinen Sprachausdrücke analysiert. »Es handelt sich ...
nicht um eine Situationsunabhängigkeit, die darin bestünde, daß
sie mit Situationen nichts mehr zu tun hat, sondern um eine
Situationsunabhängigkeit von sich in Wahrnehmungssituationen
befindlichen und in ihren Wahrnehmungssituationen ständig
wechselnden Gesprächspartnern in ihrer Bezugnahme auf belie-
bige Wahrnehmungssituationen, in denen sie sich befinden oder
auch nicht befinden. Es sind diese zwei Seiten - die Situationsun-
abhängigkeit im Situationsbezug -, die in der Rede von der
Verifizierbarkeit von Klassifikationen, die sich auf Wahrnehmba-
res beziehen, vorausgesetzt sind.« 88 In unserem Zusammenhang
kommt es nur darauf an, diese stillschweigende Indexikalität auch
der nicht-indexikalischen Thematisierung von der andersartigen,
nämlich immer situationsabhängigen Situationsbezogenheit der
Ausdrucksformen abzuheben, für die ich am Ende des vorigen
Abschnitts den Titel »vergegenwärtigender« Akte bereitgestellt
habe.
In einer Weise, die gleich näher zu besprechen sein wird, machen
vergegenwärtigende Ausdrucksformen die augenblickliche (oder,
wenn es sich um schriftliche Kontexte handelt, die den Textver-
lauf bestimmende) Bedeutsamkeit, die den Verständigungspro-
zeß tragenden Sinnkonnotationen, eines explizit oder implizit
thematischen Bezugs deutlich. Die Bedeutung eines Vergegen-
wärtigungsaktes gründet darin, Aspekte der Bedeutsamkeit des-
sen, was bedeutet wird, situativ (kontextuell) klarzustellen. Dies
geschieht so, daß ein sei es sprachlicher, sei es nichtsprachlicher
Akt vollzogen wird, der das, was primär zu verstehen gegeben
wird, nicht selbstgenügsam formuliert, sondern einen gegebenen
Kontext in Anspruch nimmt, in dessen Rahmen sich etwas als
bedeutet erst erweist, weil eine zugeordnete Bedeutsamkeit ver-
stehbar wird. Aspekte der Kontextbedeutung treten hier gleich-
rangig neben das in diesem Kontext Angedeutete und Erwiesene;
auf diesem Weg sind Hintergrundorientierungen und ist die
mehrfache Eingenommenheit von etwas im Modus ihrer Bedeut-
samkeit kommunizierbar. Diese Vergegenwärtigungsleistungen,
so möchte ich zeigen, dürfen nicht auf eine bloß implizite The-
matisierung verkürzt werden.
Nun ist es so, daß jede, auch jede propositional differenzierte
Zeichenverwendung und jedes propositional artikulierte Verste-
hen sich immer schon in einem Horizont bedeutsamer Sinnzu-
weisungen vollzieht. Wir lernen, kennen und behalten, variieren
und revidieren die Bedeutung von Ausdrücken in Zusammen-
hängen eines Sprachsystems; Sprachsysteme ändern sich zusam-
men mit den Praktiken und Lebensformen, denen sie organisie-
rend Ausdruck geben und nach deren Bedürfnissen sich die
kollektive Organisation von Ausdruckspotentialen unüberschau-
bar verändert. Die wörtlich-thematischen Bedeutungen einzelner
Ausdrücke verstehen wir nicht allein, weil wir den lexikalischen
Kontext von Nachbar- und Konträrbedeutungen kennen, son-
dern weil wir in diversen Anwendungssituationen gelernt haben,
ihren Gebrauch von abweichenden Gebrauchsweisen zu unter-
scheiden und die Legitimität bestimmter Verwendungsweisen zu
beurteilen. Wir kennen die wörtliche, bereichstypische, nichtau-
ratische Bedeutung von Ausdrücken, Wendungen und Sätzen,
weil wir gelernt haben und darin geübt sind, diese von der -
bedeutsamen - Aura (von der »Atmosphäre«, wie Wittgenstein
gelegentlich sagt89) besonderer Verwendungen und Belehnungen
zu unterscheiden, die ihnen zu unterschiedlichen Zeiten unter-
schiedlich zukommen wird. Das Wissen um die Bedeutungskon-
texte aber, aus denen einzelne Ausdrücke Bedeutung haben, ist
gegeben aus dem Zusammenhang lebensweltlicher Erfahrungen
damit, auf welche Weise derart wovon die Rede ist. Die Verfü-
gung über ein prädikatives Unterscheidungswissen in einer Spra-
che ist das Resultat der Erschließung einer Fülle von Situationen
mit Hilfe dieser Unterscheidungen: in der bedeutsamen Ausbil-
dung und Applikation eines unausgesprochenen Wissens, aus
dessen Reservoir den thematischen Phänomenen ein Sinn verlie-
hen ist, den diese fürs menschliche Verstehen nicht hätten, wären
sie in bodenlos reiner Aussage zu benennen. 90
Obwohl also die Verwendung und das Verstehen von Ausdrük-
ken und Sätzen keine bestimmten Bedeutsamkeitszuweisungen
notwendig enthält, ist doch die Orientierung in sprachlichen
Unterscheidungsfeldern nur mit der Aktualisierbarkeit einge-
spielter Bedeutsamkeitszuweisungen gegeben. Insofern ist das
propositional differenzierte Bedeutungsverstehen an Bedeutsam-
keitszuweisungen gebunden: weil Ausdrücke wie Sätze nur im
Kontext soziokulturell ausgelegter, ausgehandelter, partizipativ
erfahrener und individuell gefärbter Wirklichkeiten überhaupt
Bedeutung haben. Insofern ist das thematische Bedeutungsver-
stehen von Bedeutsamkeitszuweisungen doch zugleich trennbar:
weil das Wissen um die Bedeutung einzelner Ausdrücke und
Aussagen keine speziellen Kontextvoraussetzungen nötig macht
von der Art, wie sie den Sinn aktueller Zeichenverwendungen
immer schon konturieren. Sowenig nun eine schlechthin autarke,
von der Gebundenheit an Situationsbeziige und der Konkretheit
des je besonderen Denkens und Kommunizierens freigesetzte
Thematisierung möglich ist, sowenig sind andererseits reine Ver-
gegenwärtigungsleistungen möglich, durch die ein sondierungs-
freier Aufweis von Sinnbeziehungen gelänge: denn die vergegen-
wärtigenden Handlungen erfolgen und haben Sinn allein in Be-
reichen der Möglichkeit der thematisierenden Ausdrucksverwen-
duug.
Die Komplementarität von Thematisierung und Vergegenwärti-
gung wird besser begreiflich, wenn deutlich wird, warum sie auf
die Dichotomie von »Sagen«und »Zeigen« nicht direkt abbildbar
ist. Die lexikalische Bedeutung von Ausdrücken nämlich schließt
die Zeigbarkeit ihrer Verwendungsweise von vorneherein ein:
diesesZeigen, das Zeigen des Gebrauchs, den wir etwa von einem
Wahrnehmungsprädikat machen, das Hinweisen auf die Um-
stände, an denen sich bewahrheitet, was ich zuvor behauptet
habe, die ostensive Angabe der Richtung, in der es aus dem
(Konstanzer Stadtteil) Paradies nach Gottlieben geht - dieses
Zeigen vergegenwärtigt die gegenwärtige Relevanz des so Aufge-
wiesenen alleine nicht. Das vergegenwärtigende »Zeigen«, das
alle Formen der sagenden Rede immer schon begleitet und sich
dieser in seinen subtilsten Formen immer auch bedient, beginnt
erst da, wo Wichtigkeiten eines gegenwärtigen Handlungszusam-
menhangs mitbedeutet werden, die für das Worumwillen eines
leitenden Gegenstandsbezugs tragend sind. Dieses Zeigen macht
Aspekte der erfahrungsgeladenen Wirklichkeit eines Situations-
zusammenhangs in der Dauer dieser Wirklichkeit nichtthema-
tisch präsent. » Wenn die Wirklichkeit demgemäß eine Art von
Abfallprodukt der Erfahrung und für alle ungefähr identisch war,
weil, wenn wir sagen: ,schlechtes Wetter<,,ein Krieg,, ,ein Miet-
wagenstand,, ,ein beleuchtetes Restaurant,, ,ein blühender Gar-
ten,, jeder weiß, was wir meinen - wenn die Wirklichkeit das
wäre, so würde zweifellos eine Art von kinematographischem
1 43
Film dieser Dinge genügen, und der ,Stil<,die ,Literatur<, die sich
von ihren einfachen Gegebenheiten entfernten, nur ein künstli-
ches Beiwerk sein. Aber war die Wirklichkeit denn das?« Nein -
sie war es nie und ist es nicht, auch wenn die Möglichkeiten ihrer
Vergegenwärtigung nicht erst bei Artikulationsleistungen wie
dem Romanwerk von Proust beginnen.9'
n. Vergegenwärtigend nenne ich (vorläufig nur kommunikative)
Handlungen, mit denen Aspekte einer Situation herausgestellt
werden, so daß etwas unter den gegebenen Umständen für andere
ersichtlich wird, ohne daß das Gemeinte (überhaupt oder im
genauen Sinn des Meinens) thematisch explizit dargestellt würde.
Vergegenwärtigend verweisen wir - mehr oder weniger deutlich
feststellend, fordernd, fragend usw. - auf etwas, was wir allein
aus der Situation dieses Aufzeigens zur Kenntnis bringen. Das
bedeutet, daß wir nicht nur ein aktuelles Situationsverständnis
voraussetzen, auf das wir in der kommunikativen Handlung
setzen, wir setzen dieses ein, um uns gemeinsamer Orientierun-
gen zu vergewissern oder, wenn diese Gemeinsamkeit nicht
gegeben ist, um Teile unserer augenblicklichen Einstellung nicht-
explikativ zu exponieren. Vergegenwärtigung ist zeichenexterne
Charakterisierung durch situationsgebundene Aktualisierung.
Auch wenn die vergegenwärtigenden Akte und Operationen oft
mittels propositional differenzierter Zeichen vollzogen werden:
als vergegenwärtigende sind sie nicht propositional differenziert
(denn sie sagen das Angedeutete nicht aus), sondern performativ
integriert (sie artikulieren den Kontext einer Bezugnahme). In
der scheinbaren Umwegigkeit vergegenwärtigender Leistungen
liegt ihre unverzichtbare kommunikative und reflexive Funktion:
die präsentische Verdeutlichung von Zugangsweisen als inner-
situativ wirksamer _Handlungsvoraussetzungen.
Es führt in die Irre, wenn diese Funktion etwa verstanden wird
nach dem Modell des Auffälligwerdens und Auffälligmachens
von Anzeichen: als ob der Bauer, wenn er die Bäurin mit einem
Blick oder einer Geste darauf hinweist, daß die Schwalben tief
fliegen, damit bewirke, daß die Bäurin auf den kommenden
Regen schließt und erkennt, daß sie beide sich mit dem Heuma-
chen werden beeilen müssen. Nun ist die Geste des Bauern gewiß
eine (sehr schlichte) vergegenwärtigende Handlung. Diese be-
steht aber nicht primär darin, daß die Bäurin dazu gebracht wird,

144
einen praktischen Schluß zu vollziehen, der veranlaßt wäre durch
eine Erkenntnis darüber, was der Bauer von ihr will; sie besteht
vielmehr darin, daß der Bauer zu verstehen gibt, was in der
gegebenen Lage die für sein Handeln relevanten Voraussetzun-
gen sind: daß es bald regnen wird, daß sie beide sich beeilen
müssen, wenn das Heu noch trocken unters Dach kommen soll
und daß er selbstverständlich annimmt, daß die Bäurin daran
ebenso interessiert ist wie er selbst. Die Bäurin versteht den
Hinweis aufs Anzeichen (das für sich genommen kein symboli-
sches Zeichen ist) als eine Aktualisierung dieser Voraussetzun-
gen, weil sie diese in ihrer situativen Relevanz nicht nur aus
Erfahrung kennt, sondern in unserem Fall überdies teilt. Sie
versteht die Geste des Bauern als vergegenwärtigende Handlung,
weil sie den fraglichen Zusammenhang versteht, aus dem sie ihre
Bedeutung erhält. Darin, daß sie zum selben Schluß kommt wie
der Bauer auch, erweist sich eine gemeinsame Orientierung als
aktuell bindend. Dieses Vorverständnis hat der Bauer kommuni-
kativ aktualisiert. Daß es regnen wird, hätte er ja auch sagen
können.
Durch vergegenwärtigende Äußerungen wird ein Verständnis auf
der Basis eines wechselseitig vermuteten Vorverständnisses arti-
kuliert. Natürlich dient diese Artikulationsweise nicht allein der
abkürzenden Affirmation unwiderruflicher Einigkeiten - dann
wäre sie als Kommunikationsform recht wenig wert. Vielmehr
macht es die vergegenwärtigende Verständigung zugleich mög-
lich, auf der Basis einer partiell geteilten Situationsbindung ein
gegebenes Vorverständnis zu erweitern und zu korrigieren, als
vermeintliches zu dementieren oder auch eine abweichende
Sichtweise - provokativ - ins Spiel zu bringen. Auf der Basis
eines momentanen, intersubjektiv mehr oder weniger weitrei-
chenden Vorverständnisses stellt die vergegenwärtigende Hand-
lung Aspekte dieses Verständigtseins als Momente der hier und
jetzt maßgeblichen Eingenommenheit von etwas und für etwas
heraus.
111. Nicht jedes Wort, nicht jeder Satz, nicht jede Darstellung
steht in einem Kontext der Vergegenwärtigung, der verstanden
werden muß, um die Bedeutung des Wortes, des Satzes, der
Darstellung zu verstehen. Jede Äußerung dagegen ist vergegen-
wärtigend vollzogen und ist in ihrem vollen Sinn nur verstanden,

145
wenn ihre situative Perforation, wenn die performative Kompo-
nente dieser Äußerung (mit) verstanden ist. Und nicht jede
Äußerung ist zugleich thematisierend artikuliert, obgleich ihre
Verständlichkeit davon abhängt, daß Anteile des Vergegenwär-
tigten in thematisierender Rückfrage und Klärung explizit wer-
den können. Die Formen der Vergegenwärtigung sind schlech-
terdings unübersehbar; sie müssen nicht in eine typologische
Ordnung gebracht werden, um in ihrer kommunikativen Funk-
tion verstanden zu werden. Gemeinsam ist ihnen allen das
Merkmal der andeutenden Charakterisierung: ob diese Andeu-
tung nun gestisch, mimisch oder intonierend erfolgt, ob sie in
der Choreographie einer Handlung sich verwirklicht, ob sie sich
der sprachlichen Anspielung bedient oder der Vielfalt rhetori-
scher Tropen; welche Verbindung diese Ausdrucksfiguren auch
eingehen mögen - gemeinsam ist den Formen der andeutenden
Charakterisierung, daß sie als kommunikative Handlungen nur
verständlich sind, wenn aus dem Zusammenhang der Situation,
in der sie geäußert werden, ersichtlich wird, welches die unaus-
gesprochene Frage ist, die sich Adressant und Adressaten ge-
meinsam stellt (bzw. die diesen von jenem durch vergegenwär-
tigte Akte als gemeinsame aufgegeben wird). Die vergegenwärti-
gende Handlung spricht das Unausgesprochene eines gemein-
sam - wenn auch oft unterschiedlich - Betreffenden unausge-
sprochen aus.
Die präsentische Konturierung eines aktuellen Kontext also,
indem etwas thematisch wird ohne direkt (oder überhaupt) the-
matisiert zu werden, ist kennzeichnend für jede Art der Verge-
genwärtigung. Die Funktion der auf den ersten Blick so »indi-
rekten« Vergegenwärtigungsleistungen liegt gerade darin, sich
über Kontextbezüge möglichst direkt zu verständigen. Zumal
die alltägliche Kommunikation ist voll dieser komprimierenden
Arabesken, mit denen wir uns die geradlinigen Umwege der
ausführlich gesetzten Rede mit Artikulationsgewinn ersparen.
Indem sich die kommunizierenden Subjekte in ihren vergegen-
wärtigenden Äußerungen verstehen, zeigt es sich nicht nur,
sondern zeigen sie sich, daß sie sich in den momentanen Bedin-
gungen ihrer Interaktion partiell gleich verstehen. Ohne diese
stillschweigend beredte Koordination wäre eine polemische
Auseinandersetzung zum Beispiel gar nicht möglich: da jeder
polemische Disput mit der bewußten Auseinandersetzung auf
den beiden Ebenen des thematischen Sagens und des vergegen-
wärtigenden Bedeutens erst beginnt.91
Gerade hier zeigt es sich, daß thematisierende und vergegenwär-
tigende Kommunikation keineswegs in Konkurrenz zueinander
stehen, wie sehr auch das auf der einen Artikulationsebene
Bedeutete dem auf der anderen Ebene Vermittelten in anderen
Fällen widersprechen mag. So wie ein konträres Verständnis in
Bereichen des thematisch explizit Gesagten in bodenlose Mißver-
ständnisse führt, wenn die Kommunikation nicht durch ein
gewisses gemeinsames Vorverständnis und durch partiell aktuali-
sierbare Intuitionen gesichert ist, so wird auch die vergegenwärti-
gende Verständigung ausdruckslos, wenn sie sich nicht in Berei-
chen der Möglichkeit abspielt, auf das Angedeutete und Aufge-
wiesene gegebenenfalls thematisch zu rekurrieren. Thematisie-
rung ohne Vergegenwärtigung wird dann leer, Vergegenwärti-
gung ohne Thematisierung wird dann blind: diese Interdepen-
denz von propositionaler und performativer Bedeutung machen
die gegenwärtigen Betrachtungen bewußt.93 Auch die diskursiv-
ste Rede muß sich in den Formen ihres Redens des Fragezusam-
menhangs vergewissern, der den Gang ihrer Überlegung treibt.
Das fängt bei der Wortwahl, fängt beim Rhythmus der Wieder-
holungen an. Nur die formalen Sprachen sind rein thematisie-
rend: ihr Sinn liegt in den außerformalen Zwecken, für die sie
entworfen werden. Andererseits setzt jedes stumme Einverständ-
nis, setzt das »blinde« Sichverstehen, wenn es denn als Verstehen
wirklich soll begreifbar sein, die Möglichkeit einer wie immer
depotenzierenden Thematisierbarkeit von Inhalten dieses Verste-
hens voraus. In dieser Möglichkeit ist der stumme oder auf
sparsamste Abbreviaturen zurückgestufte Umgang manchmal
eine äußerst beredte Form der Interaktion. Das kann der Fall sein
bei eingespielten Arbeitsverhältnissen oder in der kontemplativen
Einigkeit zweier Naturfreunde, die, auf des Berges Höhen wan-
dernd, einander mit stummen Gesten von der Erhabenheit der
Gebirgsgestalten schwärmen: das lautlose Voila ihrer panorama-
tischen Armzeichen ist die gehaltvolle Bekundung komplexer
Impressionen und stellt, wenn auch der andere einhält und
seufzend ausschnauft, ein geballtes Einverständnis sowohl her als
dar; und erneuert einen schmerzlich schwelenden Konflikt, wenn

1 47
der andere, anstatt ergriffen zu verharren, geradeaus auf den
steinigen Wegboden zeigt und dem säumigen Schwärmer somit
bedeutet: laß die sentimentale Trödelei, da vorne ist die Bergsta-
tion, ich will mein Bier.
rv. Es lohnt sich, bei dem Beispiel des Beispielgebens kurz zu
verweilen. Schon in ausgeführteren Formen der possesiven Ex-
emplifikation ist ein genuin vergegenwärtigendes Moment ent-
halten. Possesiv ist ein Beispielgeben, in dem etwas vorgezeigt,
vorgeführt oder vorgemacht wird, das den Zusammenhang der
Eigenschaften eines Gegenstands oder einer Handlung enthält,
den der Beispielgebende zu verstehen geben oder seinen Übungs-
partnern beibringen will. Wer uns durch Medien und Verfahren
der possesiven Charakterisierung etwas nahebringen will, cha-
rakterisiert nicht in Form beschreibender oder appellativer An-
sprache, was er meint oder was verlangt ist; er macht Handlun-
gen und Objekte zum Zeichen seiner Auffassung der betreffen-
den Dinge, deren Bedeutung die Adressaten dann verstehen
(lernen), wenn sie (bereits) wissen und (zusätzlich) erkennen und
beherzigen, worauf es im gegebenen Zusammenhang ankommt
und welches der speziell vergegenwärtigte Zusammenhang ist.
Ähnliches gilt auch für viele der Beispiele, die nicht als gegen-
ständliche Exempel oder exemplarische Handlungen dargeboten,
sondern in thematisierender Rede gegeben werden. Mit Aus-
nahme der Angabe von Fallbeispielen für einen bereits geklärten
allgemeinen Sachbestand, mit der Ausnahme derjenigen Formen
des Beispielgebens und Beispielverstehens, die - in Kants Worten
- eine Sache rein der »bestimmenden Urteilskraft« sind, zielt das
Verständigen durch Beispiele stets zugleich auf die Herausarbei-
tung des Fragezusammenhangs, dessen aufklärender Beantwor-
tung das Geben von Beispielen dient. Diese Beispielverständi-
gung trägt zur Klärung thematischer Sachverhalte bei, indem sie
zugleich die Art einer maßgeblichen Themenstellung konturiert.
»Beispiele weisen über sich hinaus. Sie weisen über sich hinaus,
indem sie auf etwas zurückweisen.« 94
Von den Arten der possesiven Exemplifikation unterscheidet sich
die thematisierend ausgeführte Beispielrede durch einen extrem
erweiterten Horizont des exemplarisch Kommunizierbaren. Was
beispielhaft angesprochen wird, muß nicht länger in der Situation
der beiherspielenden Rede anwesend sein. Zwar bleibt das Gelin-
gen der vergegenwärtigenden Mitteilung weiterhin abhängig von
Gemeinsamkeiten der gegebenen kommunikativen Situation (die
im Fall von Schreibern und Lesern eine hypothetische ist). Die
Bedeutung der vergegenwärtigenden Beispielverständigung
bleibt weiterhin abhängig von der Situation (dem Textkontext)
der Verständigung, wenngleich das so Bedeutete nicht länger
etwas sein muß, was in dieser Situation direkt aufweisbar ist. In
thematisierender Beispielgebung können beliebige Themen aus
dem Umfeld eines fraglichen Themas hervorgeholt und vergegen-
wärtigend eingebracht werden, ohne ihnen den zubringenden
Status von charakteristischen und charakterisierend aktualisierten
Aspekten der vorrangig problematischen Sache zu nehmen. »Die
Verständigung durch Beispiele ist eine Weise der indirekten
Mitteilung. Der Mitteilende beschränkt sich darauf, den anderen
eine - nämlich seine, des anderen - Verstehenssituation zu verge-
genwärtigen und ihm so eine Orientierungshilfe zu geben. Er
mutet ihm zu, sich selbst über das zu verständigen, was er schon
mitbringt.«~5 Dieses Resümee von Günter Buck ist vor allem auf
Lernsituationen gemünzt; daher tritt hier eine deutliche Asym-
metrie hervor, die für die Beispielkommunikation im allgemeinen
gewiß nicht gilt - und selbst für Lehrsituationen nicht gilt, wenn
die Lehrenden selbst und wieder Lernende sind. Wer ein Beispiel
gibt, macht stets auch sein Verständnis zusammen mit der Unter-
stellung und dem Ansinnen deutlich, auch das bisherige Ver-
ständnis des andern (und sei es in destruktiver Erhellung) zu
treffen. Er setzt an einem Punkt des vermutlich gemeinsamen
Verstehens an, um den wahren Sachverhalt erkennbar zu machen,
indem er den Kontext eines angemessenen Verständnisses verge-
genwärtigend präzisiert. Wer sich mit anderen so verständigt,
vergegenwärtigt allerdings nicht schon seine Verstehenssituation
als ganze, sondern verhält sich im Überlegen so, daß er sich
Bezüge des momentan engagierten Wissens gegenwärtig macht;
wollte er sich den maßgeblichen Zusammenhang dieser Bezüge
auf einmal vergegenwärtigen, so würde er jeden Zusammenhang
verlieren.
v. Daß vergegenwärtigende Kommunikations- und Verstehens-
leistungen einer bestimmten Art erst durch die Verwendung
thematisierender Ausdrucksmittel möglich werden, ist keine Be-
sonderheit des verbal ausgeführten Beispielgebens. Die Gebun-

149
denheit an thematisierende Artikulationsformen ist ebenso den
zahlreichen Formen der nichtwörtlichen, uneigentlichen, figürli-
chen Rede eigen: auf vielfache Weise indirekt sind alle die
Äußerungsformen, mit denen wir in thematisierender Rede etwas
anderes zu verstehen geben als das, was die verwendeten Sätze
(oder auch Versatzstücke) für sich genommen besagen. Es würde
zu weit führen, Fälle wie die ironische und auslassende, über-
und untertreibende Rede, die Formen der Modusvertauschung
oder die Arten der idiomatischen Verkürzung auch nur halbwegs
eingehend zu erörtern. Es muß ausreichen zu wiederholen, daß
auch diese Formen andeutender Rede Aspekte eines als gemein-
sam gegebenen Kontexts kommunikativ aktualisieren und somit
ein für eine gegebene Situation wechselseitig vorausgesetztes und
vorauszusetzendes Vorverständnis implizit, aber oft nachdrück-
lich koordinieren. Wiederum können diese Ausdrucksformen
eher der vergewissernden Bestätigung, der beiläufigen Korrektur
oder dem sardonischen Dementi dienen. Wiederum haben wir es
zu tun mit Arten der Einweisung in und der Abstimmung von
Situationsperspektiven, die nicht in der Form einer direkten
regulativen Anrede und Widerrede erfolgen, sondern als situa-
tionsabhängige Äußerungshandlungen, die meist nicht auf einen
der Verständigungsmodi eindeutig zugeschnitten sind. Die pri-
märe Funktion auch dieser Redeweisen ist die Vergegenwärti-
gung von situativen Bedeutsamkeitsaspekten: diesen verschaffen
die indirekten Kommunikationsformen eigens Geltung. Insofern
ist die Palette der uneigentlichen Redeweisen kein sekundäres
und nicht einmal ein abgeleitetes Ausdruckspotential. Die figür-
lichen und idiomatischen Redeweisen sind Formen der zeigenden
Kommunikation auf dem Niveau einer reich entwickelten Spra-
che: deren Reichtum der Differenzierung zugleich den themati-
sierenden und vergegenwärtigenden Artikulationsweisen ent-
springt, 96
Uneigentliche Thematisierung ist keine uneigentliche Kommuni-
kation. Sie ist so eigentlich wie die direkt thematisierende Ver-
ständigung auch. Beide Artikulationsmodi sind gleichursprüng-
lich. Im Rahmen sprechakttheoretischer Untersuchungen hat
Searle gezeigt, daß noch im Rahmen der wörtlichsten und trivial-
sten Verständigung kontextuelle Annahmen mitbedeutet und
verstehende Orientierungen angedeutet werden, die sich aus dem
puren Wortinhalt des Gesagten nicht von selbst verstehen.97
Dieser ganze, hier nur angerissene Zusammenhang wird sofort
evident, wenn man sich nicht blind an linguistisch präparierte
Standardformen der Rede klammert, sondern sich danach richtet,
wie Rede und Überlegung sich im Standardfall vollziehen. Im
Austausch bereinigter Standardsätze kommt ein vernünftiges Ge-
spräch jedenfalls nicht zustande.98 Vielmehr sind wir in jeder Art
der kommunikativen Auseinandersetzung (und schließlich selbst
in der Konstruktion theoretischer Texte) darauf angewiesen und
gehalten, uns des Gesprächszusammenhangs mit Mitteln der
andeutenden Präzisierung sei es korrigierend oder zustimmend,
vorwegnehmend oder nachtragend, beteuernd oder erinnernd zu
versichern. Wir verstehen die Verfahren, mit denen das geschieht,
solange wir uns auf den gesprächstragenden Kontext partiell
verstehen; wir bleiben dieser Kontextorientierung gewiß, indem
wir die Redesituation weiterhin vergegenwärtigend strukturie-
ren. Wir beherrschen die Ausdrucksmittel der thematisierenden
Vergegenwärtigung (der Vergegenwärtigung mit den Mitteln the-
matisch artikulierter Redeformen), wir verstehen den unmittelba-
ren Sinn der indirekten Sprechhandlungen, wenn wir (meist
intuitiv) wissen, was der Witz - was das Bedeutsame - daran ist,
das Gemeinte auf diese Weise zu äußern, anstatt es lang und breit
oder kurz und brutal zu sagen.99
Vergessen wir über der thematisierenden Vergegenwärtigung
nicht deren nonverbales Repertoire, von dem auch innerhalb von
Redezusammenhängen ständig Gebrauch gemacht wird. Das be-
ginnt mit den Freiheiten der Interpunktion, der Intonation,
reicht von der rhythmisch-sequentiellen Gliederung von gespro-
chenen (und natürlich geschriebenen) Texten über den Einsatz
der Gebärden bis zur mimischen Artikulation und den Möglich-
keiten des szenischen Ausdrucksverhaltens. Das sind Formen vor
allem der expressiven Selbstdarstellung, die aber ebensogut zu-
gleich und gelegentlich dominierend appellative und Feststel-
lungsfunktionen (mit) übernehmen können. Ich möchte diese
erneuten Hinweise an dieser Stelle nur zum Anlaß nehmen, eine
immanente Grenze hervorzuheben, die den Reichtum unserer
kommunikativen Vergegenwärtigungshandlungen immer bereits
beschränkt. Nicht alles, was im Verhalten eines Subjektes zum
Ausdruck kommt, wird von ihm zum Ausdruck gebrach_i;nicht

rp
all das, was wir - in wohlwollender Muße, ästhetischer Wahrneh-
mung, szientifischer Akribie, haßerfüllter Beobachtung - an sei-
nem Benehmen als bedeutsam vergegenwärtigen können, kann
derjenige, der sich vor den Augen seiner Betrachter so gibt, in
souveräner Vergegenwärtigung zu verstehen geben. Was Aus-
druck ist, ist darum nicht zum Ausdruck gegeben. Daß mein
Gesicht Freude oder Ärger zeigt, heißt nicht immer, daß ich
Freude und Ärger zeige; ob es das heißt, muß sich aus dem
Kontext meines Verhaltens (und der Kenntnis meiner Person)
erst zeigen. Obwohl es nicht von ungefähr kommt, daß wir
umgangssprachlich hier keine genauen Unterscheidungen ma-
chen - weil es oft äußerst schwierig ist zu wissen, was für eine
Bedeutung ein Ausdruck und eine Handlung haben, ob diese
gewollt oder ungewollt waren, aufrichtig oder unaufrichtig
etc. 100 ; obwohl es oft diffizil und gelegentlich unmöglich sein
mag, den Unterschied zwischen dem, was einer zeigt und dem,
was in seinem Gebaren sich zeigt, klar zu treffen, ist die prinzi-
pielle Unterscheidung selbst unverzichtbar: denn sonst läge der
Schluß nahe, alles, was unser Verhalten offenkundig und verbor-
generweise bestimmt, sei von uns ausdruckshaft nicht nur den
anderen präsentierbar, sondern, nicht zuletzt im Spiegel der
anderen, von uns für uns selbst zu vergegenwärtigen - wenn wir
uns nur richtig ausdrücken könnten! Diese Quadratur der Arti-
kulation ist unmöglich, weil jeder, der sich in einer gegebenen
Situation vergegenwärtigend äußert, damit einen Aspekt seiner
Lage akzentuiert. Und weil diese Äußerung sinnvoll und ver-
ständlich nur ist, wenn andere Aspekte der Situation fraglos
bekannt sind, die nicht zugleich vergegenwärtigt werden müssen
- und können. Allein in einer - aus Erfahrung - artikulierten
Umgebung ist es möglich, sich vergegenwärtigend zu artikulie-
ren. Diejenigen, die es sich leisten können, eine Situation als eine
insgesamt symbolisch beseelte zu betrachten, befinden sich nicht
(mehr) in ihr: sie sitzen im Theater, als Liebende auf der Lauer,
als Deuter über ihren Transkripten._
vr. Aus der bedeutungskonstitutiven Interdependenz des propo-
sitionalen und des performativen Verstehens folgt, daß die in
komplementärem Verhältnis thematische und vergegenwärti-
gende Orientierung keine Besonderheit des kommunikativen
Handelns ist. An der bedeutsamen/ bedeutungshaften Strukturie-

r 52
rung von Situationen des Handelns und an der auf unterschiedli-
che Weise bedeutungsvollen Gewärtigung von Situationsmomen-
ten ändert sich nichts Wesentliches, wenn wir die methodische
Beschränkung auf kommunikative Koordinationsleistungen jetzt
rückgängig machen. Die Arten, in denen wir uns selbst etwas
verständlich machen, entsprechen denen, in denen wir jemandem
etwas und uns verständlich machen. Auch die Menschen, die sich
in nicht interaktiven Situationen befinden, müssen sich in diesen
zugleich thematisierend und vergegenwärtigend orientieren -
und zwar auch dann, wenn es sich um längst erschlossene und
keinen innovativen Überlegungsaufwand fordernde Situationen
handelt. Auch in der solitären Konfrontierung mit beliebigen
Themen wird einiges von dem, was sich in der gegebenen Lage
mitversteht, im Modus nichtthematischer Orientierungen zu ver-
gegenwärtigen sein. Gewiß ist dieses einsame Orientierungsver-
mögen aus der Erfahrung der kommunikativen Koordination
von Aktionen und Praktiken wesentlich erworben; und gewiß
ergeben sich in der monologischen Anwendung signifikante Un-
terschiede; aber Vergegenwärtigung ist darum sowenig wie The-
matisierung ein schlechthin kommunikativer Vorgang. Es verla-
gern sich einige Gewichte, mehr nicht. So nimmt der Stellenwert
der gestischen Verdeutlichung ab, weil in vielen Fällen das wan-
dernde Auge und der Ton der Stimmung die redende Hand
ersetzen; das spielende Probieren tritt an die Stelle der einweisen-
den Vorführung; die reflektierende Urteilskraft orientiert sich an
Beispielen, die stärker parenthetisch in den Fluß der Überlegung
eingegliedert sind; die expressiven Reaktionen werden teils leiser,
teils lauter werden, die Deutlichkeit eines auffälligen Seufzers
ändert das nicht; der innere Monolog der handlungsbegleitenden
Überlegungen, Kommentare, Anfeuerungen und Verwünschun-
gen wird sich in weit höherem Maß indirekt, abbreviatorisch und
idiomatisch abspielen als in der Sphäre des kommunikativen
Austauschs: weil die, die allein zugange sind und allein mit sich
zu Rate gehen, von dem Geflecht von Bezügen, innerhalb deren
sie agieren, zwar nicht zwangsläufig mehr wissen als die ander-
mals Mittuenden, aber stets ungleich mehr fraglos voraussetzen
werden als diese. Die Mittel, mit denen wir uns als einzelne etwas
bewußt machen und bewußt halten, sind keine prinzipiell ande-
ren als die, von denen wir Gebrauch machen, wenn wir uns mit

153
anderen über ein Thema oder über die momentane Lage verstän-
digen. Hier wie dort ist die Gegenwart von Situationen allein im
Zusammenhang von thematischer Bezugnahme und vergegen-
wärtigender Klärung präsent. Hier wie dort ist das vergegenwär-
tigende Bewußtmachen auch dann verlangt, wenn wir uns der
gegebenen Einstellung in reflexiver Problematisierung thematisch
zuwenden; denn auch die kritische Suspension von Bedeutsam-
keitsbindungen muß Kontakt halten zu Vorverständnissen, in
deren Perspektive ihr die bisherige Orientierung sinnvoll fraglich
werden kann. Und auch die reflexive Befragung, sei sie kommu-
nikativ oder nicht, kann nicht die Situation total vergegenwärti-
gend entrücken, aus deren Bedrängung der Stoff und die Energie
der unzufriedenen Entbindung kommen.

Die Gelegenheit für einen dramatisierenden Rückblick ist ge-


kommen. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach
der Kommunizierbarkeit von Erfahrungen hat sich zunächst der
zuvor explorierte Zusammenhang von Situation und Erfahrung
erneut bestätigt. Durch Erfahrung sind wir nicht nur doppelt und
dreifach auf eine Vielfalt von Praktiken verständigt - aus dem
Reichtum der sprachvermittelten Erfahrung sind wir zugleich
befähigt, uns innerhalb von Situationen doppelt und dreifach
hinsichtlich fraglicher Themen mit uns selbst und beteiligten
anderen zu verständigen. Was sich außerhalb von Situationen
darstellt als Diskrepanz von behauptbarem Wissen und engagier-
tem Kennen, das erweist sich innerhalb von Situationen als in der
Dialektik von Thematisierung und Vergegenwärtigung immer
bereits vermittelte Klärung und Orientierung. Situationen, seien
sie kommunikativ oder nicht, sind nicht allein.dreifach (kognitiv,
volitiv, emotiv) eruiert, sie sind auch für die, die sich in ihnen
befinden, zugleich doppelt artikuliert: die jeweils zentralen Ge-
genstände einer Situation sind als zentrale gewußt und wißbar im
Rahmen eines Kontexts bedeutsamer Annahmen und Optionen,
der in seiner subsidären Perforierung aspekthaft mit vergegen-
wärtigt werden muß. Allerdings kann der Erfahrungs- oder
Sinngehalt einer gegenwärtigen Situation, kann der Gesamtzutrag
des in ihr Thematischen und Bedeutsamen den in ihr befangenen
Subjekten nicht zu Bewußtsein kommen. Die Erschlossenheits-
weise einer gegenwärtigen Situation können wir auch vergegen-

1 54
wärtigend nicht vollständig charakterisieren. Jedes Einverständ-
nis in ihr ist aus verborgenen Quellen gemeinsamer Erfahrung
gespeist.
Das bedeutet, daß der ausschweifende Exkurs über Formen der
vergegenwärtigenden Bewußtheit und Kommunikation (und ihr
Verhältnis zur thematisierenden Artikuliertheit und Artikula-
tion) das negative Resultat der ersten Betrachtung über die
Möglichkeiten der unverkürzten Mitteilung von Erfahrungen
von anderer Seite wiederholt. Weder innerhalb (im Zuge eines
andauernden Engagements) noch außerhalb (in der Distanz einer
rückblickenden Darstellung) von Situationen ist die Erschlossen-
heitsweise, die sie als Situationen bestimmt hat und bestimmt, in
der einstellungshaften und gegenwartskonstitutiven Integration
von Bezugnahmen und Bezügen charakterisierbar. Und dies
weder im kommunikativen Austausch noch in der einsam verge-
wissernden Explikation. Keine noch so detaillierte Beschreibung
kann den Erfahrungsgehalt, der das Thema ihrer rekonstruktiven
Bemühung bildet, im Modus seiner Bedeutsamkeit zur Darstel-
lung bringen; kein innersituativ noch so transparentes Verhalten
kann vergegenwärtigend all das andeuten und ausdrücken, was
sein exaltiertes Engagement augenblicklich grundiert und be~
dingt. Die Physiognomie der (monadischen Bruchteile von) Le-
bensformen, die sich in Situationen manifestieren, so könnte es
scheinen, ist in ihren präsentischen Besonderheiten weder enga-
giert noch distanziert selbst wahrnehmbar und erfahrbar.
Ware das alles, was zu sagen wäre, so wäre zum Abschluß dieser
aporetischen Studie festzuhalten, daß die interne Bedeutsamkeit
von Situationen und auch die mögliche Gemeinsamkeit von
Erfahrungen nicht eigentlich erweisbar sind, sondern sich in der
Immanenz der sei es interaktiven, sei es nichtkommunikativen,
sei es erfahrenden, sei es nichterfahrenden Vollzüge immer erst
und stets wieder erweisen werden. Es würde sich den Menschen
zeigen, wie sie an sozialen und existentiellen Projekten beteiligt
sind, aber nicht sie könnten sich exemplarisch und experimentell
vor Augen führen, wie sie aus Erfahrung an den Wirklichkeiten
ihres Daseins Anteil haben. Partizipation, als syndromische Syn-
these innerweltlicher Positionen, wäre nicht distanzierbar - es
gäbe keine Möglichkeit, den Subjekten wäre keine Einstellung
gegeben, aus der sich die eigene Gehaltenheit zur Welt gegenüber

1 55
ihren nahen, fernen, ausdenkbaren und unausdenkbaren Wirk-
lichkeiten verherrlichend bis verdammend geltend machen ließe.
Es wäre nichts da, wovor und worin wir in diesem Begehren
innehalten könnten. Situationen wären als lebensweltliche Situa-
tionen weder charakterisierbar noch charakterisiert zu finden.

c) Präsentation

Wie es scheinen könnte, ist es nicht: nicht nichts, sondern alles,


was irgend wahrnehmbar ist, ist prinzipiell dafür offen und
potentiell geeignet, Inbild und Inschrift, Klangzeichen und szeni-
scher Aufweis, Verkörperung und Manifestation, kurz: Präsenta-
tion von Erfahrungsgehalten zu sein. Nur sind diese Präsentatio-
nen weder thematisierende noch vergegenwärtigende Zeichen
noch bloß ein Allerlei aus beiden; nur sind diese Zeichen weder
aus einer neutralen Inhaltsvermittlung zu verstehen noch aus dem
Schutz der unmittelbaren Beteiligung an dem, was sie zeigen.
Denn weder das propositionale noch das performative Verstehen
kann der sinnhaften Präsenz erfahrungsentsprungener Gegen-
warten gegenwärtig werden; da hilft auch alle Zusammenarbeit
der beiden Verstehensweisen alleine nichts. Soweit also war das
skeptische Resümee ganz zutreffend. Es war nur voreilig, wie das
die Art der pessimistischen Skepsis ist. Denn um all das Schöne,
Hinreißende, Erschreckende, Besänftigende und Betäubende zu
tun, das wir vermeintlich, den Beschränkungen der bisherigen
Analyse zufolge, gar nicht tun können - müssen wir es einfach
trotzdem tun, wie wir es längst gelernt, erfahren, erfunden
haben: wir müssen uns in eine jener besonderen Situationen
begeben, deren eigenartige Bestimmung es ist, zum Thema den
Gehalt solcher Situationen zu haben, in die wir uns im Augen-
blick nicht engagiert finden. Ein Wechsel der Einstellung genügt.
Die Situation der ästhetischen Wahrnehmung ist eine Situation
der imaginativ-kontemplativen Situationsbildung angesichts (in
der Konstruktion) von Gegenständen, in denen die Wahrneh-
menden die Charaktere von Situationen verkörpert finden (denen
die ästhetisch Produzierenden diese verkörpernd eingeben). Es
sind die ästhetischen Gegenstände, die dazu da (gemacht oder
aufgefunden) sind, um Erfahrungsgehalte im Modus ihrer Be-
deutsamkeit zum Thema der verstehenden Wahrnehmung und
Erfahrung zu machen.
Wie sich später im genaueren zeigen wird, teilt auch die ästhetische
Wahrnehmungssituation die besprochenen allgemeinen Merk-
male einer jeden Situation. Auch als ästhetisch Wahrnehmende
treten wir aus dem Kreis der Erfahrung nicht heraus. Was die
Stationen und Orientierungen der ästhetischen Praxis von Situa-
tionen und Einstellungen anderer Art unterscheidet, wird zu
verstehen sein aus der strukturellen Verfaßtheit ihrer thematischen
Objekte - und aus der Art und dem Interesse des verstehenden
Umgangs mit ihnen. Die Situation der ästhetischen Wahrnehmung
ist konstituiert durch ein Interesse an der Gewärtigung und
zentriert um die Gegenwart erscheinender Situationen. Wie be-
reits im Einleitungskapitel angemerkt, können diese »Situatio-
nen«, die niemals (ganz) kongruieren mit der Situation derjenigen,
die ihren Gehalt gerade wahrnehmend, erfahrend, deutend erkun-
den, äußerst verschiedener Art sein: das Reich der ästhetischen
Sinne reicht von Blumenvasen über proppenvolle Fußballstadien
bis hin zu Kunstwerken, die Bedingungen ihrer ästhetischen
Wahrnehmung ästhetisch exponieren. Es handelt sich hier um
»Situationen«, die wir uns veranschaulichen, die wir heraus- und
hergestellt finden, ohne in die Bedeutungsbezüge, die uns an ihnen
charakteristisch erscheinen, in der Weise involviert zu sein, wie
wir sie augenblicklich in ihnen präsentiert finden. Ob ich das
Versagen des Vollstreckers verfluche oder dem raunenden Unmut
der Menge in seinen akustischen Wellenschlägen nachhöre, ist
zweierlei. Noch die ästhetisch raffinierteste Reflexion auf die
Kunst kann die Grenze zwischen ästhetischer Wahrnehmung und
dem ästhetisch Wahrgenommenen zwar paradox exponieren, aber
nicht überspringen. In den meisten Fällen sind die ästhetisch
Wahrnehmenden ohnehin in einer ganz anderen Lage und Verfas-
sung als sie es wären im Eindruck der Erfahrung, deren Verfaßt-
heit sie ästhetisch erfahren. Denn egal wie die ästhetischen Gegen-
stände im einzelnen beschaffen sein mögen, als ästhetisch wahrge-
nommene sind es keine für die Wahrnehmenden gegebenen
Situationen, sondern ereignishaft bedeutsame Zeichen realer und
möglicher Situationen. Den Augen und Ohren des inspirierten
Ästheten verwandeln sich die unscheinbarsten Zustände der Welt
in Erscheinungen des erfahrenden Daseins in ihr.

1 57
Diese längst absehbaren Thesen kehren das »negative Resultat«
der bisherigen Überlegungen nicht einfach ins Positive um. Denn
es bleibt dabei, daß Erfahrungsgehalte ungebrochen weder kom-
munikativ mitteilbar noch privativ vergewisserbar sind. Es bleibt
dabei, daß Erfahrungsgehalte weder in thematisierender noch in
vergegenwärtigender Direktheit mitteilbar sind, wie immer diese
Artikulationsmodi auch ineinandergreifen werden. Zu dieser
Mitteilbarkeit nämlich bedarf es der Vermittlung der ästhetischen
Gegenstände, bedarf es eines vorausgehenden Verstehens, das in
das Schema des Empfangens von Mitteilungen (oder des Aufneh-
mens von Hinweisen und Andeutungen) überhaupt nicht paßt.
Präsentation ist weder Repräsentation noch das Präsentmachen
einer andauernden Beteiligung. Die für die ästhetische Wahrneh-
mung relevante Signatur von Gegenständen und zumal die Kon-
stitution von Kunstwerken ist das durch ihr Sichtbar-Werden
zum Ereignis Werden von Erfahrungen, die nicht als etwas in der
Welt zur Darstellung kommen, sondern als Sichtweisen der Welt
sich artikuliert finden, die sich dem wahrnehmenden Verstehen
in der inneren Ausprägung und Konstruktion seiner Objekte
bieten. »Die Kommunikation der Kunstwerke mit dem Auswen-
digen«, sagt Adorno, »mit der Welt, vor der sie selig oder unselig
sich verschließen, geschieht durch Nicht-Kommunikation; darin
eben erweisen sie sich als gebrochen.« Wir müssen die Welt,
102

vor der ihre Ausdrucksform sich verschließt, in sie hineintragen,


um die ihre zu erschließen. Auf diesen Prozeß des Verstehens ist
die ästhetisch durchaus ermöglichte Mitteilbarkeit von Erfahrun-
gen notwendig bezogen. Die Mitteilbarkeit von Erfahrungsgehal-
ten, wie sie in der Kommunikation über ästhetische Objekte
möglich wird, ist auf das präsentative Bedeutungsverstehen bezo-
gen, das selbst weder ein Verstehen übersetzbarer Mitteilungen
noch das Mitverstehen immer schon gegebener Weltbezüge ist.
Bevor ich einem ausgeführten Beispiel eine schwerere Bürde
übertrage als viele beiläufige Exempel zu tragen vermöchten, will
ich die vergleichende Betrachtung der welterschließenden Arti-
kulationsmodi beenden, damit es möglich wird, die Erörterung
der ästhetischen Artikulationsweise unmißverständlich zu begin-
nen.
Ästhetisch sind symbolische Einheiten verschiedenster Machart,
mit denen weder (primär) Sachverhalte formuliert, noch (primär)
aktuelle Situationsbezüge hervorgehoben, sondern Charaktere
von Situationen situationsinvariant dargeboten werden. Ästheti-
sche Zeichen mögen in unterschiedlichen Maßen propositional
und performativ artikuliert sein - als ästhetische sind sie allererst
präsentativ artikuliert: sie verkörpern Erfahrungsgehalte der Ei-
genschaften, Themen oder sogar Thesen, die die Wahrnehmen-
den in und an ihnen auffinden und als relevant für ihre Aus-
drucksfunktion bewerten. An etwas - an Kunstwerken, Perso-
nen, Landschaften, Naturobjekten, Gebrauchsdingen, Texten,
Ausdrücken usw. - ein ästhetisches Interesse nehmen bedeutet,
diese Gegenstände auf ihre präsentische Ausdrucksqualität hin zu
besehen und beurteilen. Ästhetische Wahrnehmung, Produktion
und Erfahrung ist gerichtet auf Zeichenobjekte (und ihre Herstel-
lung), die die Funktion haben oder auffällig (gemacht) werden in
ihrer Eigenart und Eignung, Beziige der Bedeutsamkeit dessen,
was als ihre Bedeutung erkennbar ist, in ihrer situationsartigen
Verweisungsdichte erfahrbar zu machen. 103
Mit den Formen der Vergegenwärtigung teilen ästhetische Prä-
sentationen das Merkmal, in wesentlicher Hinsicht propositional
nicht artikuliert zu sein. Sofern in ihnen überhaupt etwas ausge-
sagt oder dargestellt wird, ist der Sinn dessen, was sie darbieten,
in keinem Fall eindeutig (und häufig gar nicht) gleichzusetzen mit
den Inhalten der aussagehaften Bedeutungselemente; der ästheti-
sche Gehalt ergibt sich vielmehr allein aus der - durch festste-
hende grammatische, bildnerische und sonstige Bedeutungsre-
geln keineswegs insgesamt determinierten - Gesamtgestaltung
des jeweiligen Objekts. Im kategorischen Unterschied zur nicht-
ästhetischen Vergegenwärtigung nämlich ist die ästhetische Ver-
gegenwärtigung eine Vergegenwärtigung nicht von partiellen Si-
tuationsbezügen, sondern von Erfahrungsgehalten, dem, was den
Charakter von Situationen insgesamt prägt. ' 04
Die Art also, in der die präsentativen Zeichen ein Grundmerkmal
der vergegenwärtigenden Äußerungen teilen, trennt sie unwider-
ruflich vol'.ldiesen: denn mit den Arten der Thematisierung teilen
ästhetisch relevante Gegenstände das Merkmal der internen Arti-
kulation. Paradox gesagt, handelt es sich bei ästhetischen Präsen-
tationen um Verfahren oder Formationen der situationsindefini-
ten Vergegenwärtigung. Was dermaßen gegenwärtig wird, sind
nicht kontextuelle Aspekte der Bedeutsamkeit einer sei es impli-

159
ziten, sei es expliziten Thematisierung, sondern ist die zeichenin-
tern entfaltete Textur einer besonderen Situation. Das themati-
sche Zentrum dieser zeichenhaften Situationen ist oft auf den
ersten und manchmal auf viele Blicke nicht zu erkennen; nicht
selten bleibt es flüchtig innerhalb der wechselnden Peripherien
eines Werkes. Ob nun ein fixes Thema auffindbar ist oder nicht:
der Gehalt ästhetischer Präsentationen wird ersichtlich und ist
explorierbar im reflexiven Spiel der tastenden Charakterisierung
und Titulierung der im Objekt imaginativ zu entdeckenden
Situation. Seien sie auch zaghaft und zitternd gesprochen - allein
auf diese aspektgebundenen und verkürzenden Einflüsterungen
hin erheben die ästhetischen Ausdrucksmedien ihre bedeutsame
Stimme. Weil das so ist, kann man den präsentativen Artikula-
tionsmodus paradox nicht nur als ein autonomes Zeigen, sondern
komplementär als ein heteronomes Sagen bestimmen. Denn hier
wird nicht auf der sei es trivialen, sei es nichttrivialen Vorausset-
zung bedeutsamer Grundierungen etwas distinktiv und diskursiv
bedeutet, hier wird (oder findet sich) ein verdichteter Bedeu-
tungszusammenhang erstellt, dessen Prägnanz als bedeutsame
Darbietung allein aus dem nun subsidiären Zuspruch deutend
eingeblendeter Bedeutungen kenntlich wird.
Was ästhetische Bedeutung im genaueren ist, wird aus der Logik
dieser Zuschreibung zu erklären sein; die Struktur der ästheti-
schen Wahrnehmung und Erfahrung erweist sich letztlich an der
Verfahrensweise der ästhetischen Kritik. Wie jedes ernst(zu)neh-
mende Verstehen ist auch das ästhetische Verstehen von vornher-
ein beurteilend und wertend; wer die Verfassung der vorgenom-
menen Objekte nicht ernst nimmt, dem wird sich das Spiel der
ästhetischen Wahrnehmung nicht mitreißend spielen. Ein ästheti-
sches Objekt verstehen, heißt darüber zu befinden, inwiefern es
gelungen ist oder nicht: dieses schlichte Urteil in seinen vielfa-
chen Schattierungen ist Anfang und Ende jeder ästhetischen
Wahrnehmung, gleich in welchem Maß sie sich in ausdrücklichen
Deutungsversuchen vollzieht. Als gelungen (oder schön, authen-
tisch, erhaben usf.) beurteilt werden ästhetische Gebilde, die von
den Wahrnehmenden verstanden werden als Präsentationen sol-
cher Erfahrungsgehalte, die sie teilen oder - durch ästhetische
Erfahrung - zu teilen gekommen sind; ohne viel Abstriche
gelungen sind Objekte und Werke, die von den Urteilenden

160
verstanden (und kommunikativ geltend gemacht) werden können
als Explikate von und Beispiele für eine von ihnen geteilte
Einstellung. Emphatisch gelungen sind ästhetische Produktio-
nen, die Ausdruck der Gehalte von Einstellungen sind, die wir an
ihnen allein erfahren haben.
Inwiefern aber ist der präsentative Artikulationsmodus den Modi
der Thematisierung und der Vergegenwärtigung komplementär?
Er ist es auf andere Weise, als es für das Verhältnis der beiden
letzteren gilt. Es ist nicht so, daß wir uns denkend und handelnd
immer schon ästhetisch artikulieren bzw. orientieren, so wie
jedes Verstehen - und auch das ästhetische! - immer bereits
thematisierende und vergegenwärtigende Anteile hat. Die oben
behauptete Komplementarität liegt hier so, daß mit der Ausdiffe-
renzierung der Formen der propositionalen und performativen
Orientierung die Möglichkeit der ästhetischen Gewärtigung im-
mer bereits gegeben ist. Wer durch Erfahrung teilhat an einer
Welt, hat damit die Möglichkeit und in der Regel auch das
Verlangen der ästhetisch erfahrenden Vergegenwärtigung der
Gegenwarten dieser Welt.

d) Erfahrene Erfahrung

Nehmen wir an, Eduard wollte einem, den wir Anton nennen,
der ein weniger haltloser Kopfarbeiter sei als der, den wir Eduard
nennen - angenommen, Eduard wollte diesem Anton, der zur
Zeit andersartigen Passionen folgt, klarmachen, was es seiner
Erfahrung und Überzeugung nach auf sich hat mit der Natur-
wüchsigkeit gedanklicher Einfälle. Eduard redet so daher vom
Luftzughaften des Anwehens gedanklicher Funde und der Unbe-
rechenbarkeit geistiger Erntezeiten, ohne freilich den ermuntern-
den und erleichternden Zuspruch eines »So ist es!« zu verneh-
men; der uneinsichtige und von intellektuellen Wetterwechseln -
derzeit - unberührte Anton verharrt in amüsierter Reserve, un-
terstellend, so ernst sei das wohl alles nicht zu nehmen. Eduarden
aber ist es ernst damit, und er möchte, daß Anton versteht, was er
meint - wie kann Eduard seine Erfahrung mit dem Betreiben von
Gedankengeschäften einem verständlich machen, der sie so nicht
hat oder sich ganz anders dazu versteht?

161
Wenn unsere Ermittlungen richtig waren, kann er zunächst grob
viererlei tun.
Zum einen kann Eduard versuchen, in erzählender Wiedergabe
die Arten und Gefühle der Desorientierung zu beschreiben, aus
denen nach seiner Erfahrung eine leidlich verläßliche Orientie-
rung im Denken einzig zu haben ist. Er kann von den Prozessen
der Abschweifung und Konzentration, den Wellen der Ver- und
Entzweiflung, den Meriten eines schrittweisen und eines ganz-
heitlichen Überlegens, den Phasen des wild entschlossenen und
des gleichmütig fatalistischen Vorgehens berichten - davon, wie
es ihm ergeht, wenn er versucht, etwas theoretisch abzuhandeln.
Wenn Eduard in Form ist und Glück hat (und Anton nicht allzu
sardonisch reagiert), kann es ihm gelingen, diesen Redeschwall
pointenhaft zu kondensieren: Soweit es mich betrifft, mein Lie-
ber, ist Denken das Bemühen, um des Einblicks willen den
Überblick zu verlieren.
Zum anderen kann Eduard seinen bislang notgedrungen mund-
faulen Zuhörer dazu animieren, sich mit ihm auf das Glatteis von
Spekulationen über eine mögliche Psychopathologie der intellek-
tuellen Erfahrung zu begeben. Aus nun theoretischer Einstellung
mögen sie zusammen darüber räsonnieren, was es auf sich hat mit
dem Moment des Nichtintendierbaren von Reflexionsverläufen
und zufallenden Erkenntnissen. Wenn die beiden ihres szientifi-
schen Dilletierens müde werden, werden sie, wie das zu sein
pflegt, Ausflucht in einer wilden These suchen, etwa in der
Behauptung, es sei die Hellhörigkeit ebenso der zielsicheren wie
der frei flanierenden Urteilskraft an den inkalkulablen Resonanz-
raum eines hinfälligen Körpers gebunden. »Inspiration ist soma-
tische Rührung.«
Schließlich wird Eduard die theoriepraktischen Konsequenzen
erläutern wollen, die sich aus den gesammelten objektiven und
subjektiven Daten zunächst einmal für ihn ergeben (haben). Er
wird dem staunenden Anton erläutern, wie er auf dem Wege
schmerzlicher Erfahrung gelernt hat, seine Kopfarbeiten - tech-
nisch-instrumentell - so zu organisieren, daß die produktiven
Einfälle nicht in der Disziplin eines übertriebenen Kalküls ein-
fach wegrationalisiert werden, ohne daß die verfolgten Projekte
sich im Taumel endloser Digressionen verflüchtigen. Das mag so
geschehen, daß Eduard seinem Gegenüber eine gedrängte Predigt
hält über die Grundnormen eines ideal geregelten Arbeitstages;
die goldene Regel wird etwa lauten: Was du ohne Mühe (aus
deinem Zutun ungehindert) kannst besorgen, das verschiebe
ruhig auf morgen (denn das hilft dir nicht weiter und hält dich
nur auf).
Im Fortgang des Abends, nach dem Konsum einiger Rauschmit-
tel, ist es denkbar, daß Eduard die privacive, die theoretische und
die instrumentelle Darlegung schließlich mit einer moralisch
entflammten Verdeutlichung krönt. Eine andere Denkpraxis als
die seine, so hört er sich dekretieren, ist mit der Ethik des
theoretischen Denkens im Grunde überhaupt nicht vereinbar.
Antons Proteste kommen diesmal energisch; doch nur zu einer
kleinen Korrektur des einmal Gesagten erklärt sich Eduard be-
reit: All die bezahlten Denker, die andere Ziele im Auge haben
als den Weg ins Auge des Sturms über den Gedankenmeeren,
sind keinen öffentlichen Pfennig wert.
In der wohlgeordneten Folge, in der es hier vorgestellt ist, wird
sich das Gespräch zwischen Eduard und Anton nicht vollziehen.
In der realmündlichen Rede gehen sowohl die unterschiedlichen
Verständigungsmodi als auch diverse einstellungstypische The-
matisierungsinteressen munter durcheinander. Denn die Einstel-
lung, aus der sich die beiden Freunde zueinander verhalten, ist
eine unspezifisch, weitläufig, flanierend kommunikative; und
diese sieht im Unterschied zu situativ spezialisierten Handlungs-
und Redeeinstellungen einen ständigen Positions- und Sicht-
wechsel immer schon vor. Darin mag gelegentlich auch ein
Hemmnis und eine besondere Quelle von Mißverständnissen
liegen, in unserem Fall aber liegt in einer beweglichen Verständi-
gungsweise für Eduard die einzige Möglichkeit, vor Anton ein
Bild der Situation zu entwerfen, die ihm erfahrend vertraut
geworden ist. Nur vermöge einer derart unreinen Darlegungs-
weise, die sich und den anderen der Wahrhaftigkeit des Bekunde-
ten mal eben an der Begründetheit allgemeinerer Annahmen
versichert, die mit Beteuerungen arbeitet ebenso wie der apellati-
ven Anrede, die mit Fragen Antworten gibt, mit überspitzten
Antworten Fragen stellt, die ihre Ausführung ironisch bricht und
metaphorisch bündelt und vieles mehr: nur mit diesen normaler-
weise zwanglos verfügbaren Ausdrucksmitteln, mit deren Ein-
satz Eduard zugleich auf die Antworten, Einschübe, Minen und
Gegenreden Antons reagiert - nur so kann er seine Darlegung
einigermaßen so gestalten, daß er Grund hat zu hoffen, für Anton
werde der Kern dessen, was er zu sagen habe, nach und nach
erkennbar.
Ob Anton versteht, was Eduard ihm sagt, hängt wiederum davon
ab, ob jener in der Lage ist, in Eduards Anreden einen sinnvollen
und auch leidlich konsistenten Äußerungszusammenhang zu er-
kennen. Da wir voraussetzen, daß beide etwa dieselbe Sprache
sprechen und auch sonst einander nicht ganz fremde Wesen sind,
hängt Antons verstehende Empfänglichkeit für das, worum es
Eduard in rudernder Rede geht, nurmehr von einem Umstand
ab: ob er zum mindestens etwas Erfahrung hat mit dem, was das
Kernthema ihrer Ermittlungen und Phantasien ist.
Daß er sie hat, zeigt sich daran (und könnte sich anders kaum
zeigen), daß er fähig ist und sich animieren läßt, auf Eduards
Auslassungen schließlich einzugehen und im jetzt gemeinsamen
Diskurs eingreifend mitzuhalten, ohne bloß zu schwadronieren -
denn dies würde Eduard, weil es ihm ernst ist, sofort auffallen,
obgleich er selbst durchaus zum Schwadronieren neigt. In wech-
selndem Zuspiel und gegenseitiger Korrektur entwerfen sie das -
typisierende - Bild einer ihnen in stark unterschiedlichen Schat-
tierungen bekannten Situation, wobei sich herausstellen kann,
daß die Gemeinsamkeit ihrer Erfahrungen doch stärker oder
doch weniger stark ist, als sie anfänglich angenommen hatten.
Um sich der Fährnisse ihrer denkerischen Eskapaden und der
Eigenart eines intellektuellen Abenteurertums nochmals von ei-
ner anderen Seite zu vergewissern, um einen weiteren Test für
den Grad der Übereinstimmung ihrer Einstellung in reflexiven
Praktiken ins Spiel zu bringen, können sie endlich auf die Suche
nach ästhetischen Exempeln verfallen, in denen etwas von der
Erfahrung artikuliert ist, die sie in diskursivem Kreisen zu fassen
suchen. Anton zieht Valerys Monsieur Teste, Musils Ulrich,
Doderers Stangeler und Bernhards Roithamer aus dem Ärmel -
denkende Roman- und Prosahelden, in denen er die Paradoxien,
Irrungen, Überhebungen und die fragile Befreiungskraft eines
modern ungeschützten Erkennens intensiv bis exzessiv ausgestal-
tet findet. Eduard denkt weniger an literarische Verdopplungen,
er findet in musikalischen Darbietungen das von ihm Gemeinte
prismatisch insinuiert. Er verweist auf Saxophonsoli von An-
thony Braxton - du kennst doch dieses zögernd insistierende,
strauchelnd kreisende, stets fast abirrende Verfolgen eines nie
ganz gefaßten und festgehaltenen Motivs und Motivgangs, den
zielgleichgültig unnachgiebigen Duktus dieser musikalischen
Monologe - so vollzieht sich auch eine Denkanstrengung, die
diesen Namen verdient. Die ist ja nicht zu verwechseln mit dem
planen Resultat von Argumentationen, die sich aufs geduldige
Papier brav und stumm hingetextet finden, wenn der Wirbel, der
Staub und das Getöse sich längst gelegt haben. Obwohl es auch,
wie Anton einwirft, Theorietexte gibt, deren Zeilen den Atem
ihres Gedachtwerdens noch atmen - wenn sie sich als hin und her
gewendetes Zettelgut in den Gestaden eines gebundenen Buches
finden, wie in Wittgensteins »Untersuchungen« -- Und die
»Bemerkungen« erst! --- Und wo steht das, wo der eine sich
fragt, ob die Menschen wohl denken, weil es sich bewährt habe,
zu denken-?
Lassen wir den Abend mit diesem Dialog verrauschen - aber
nehmen wir an, daß Eduard Tage oder Wochen später zu Anton
kommt mit der beglückten Begrüßung, er habe da ein kleines
Kunststück gefunden, an dem all das dran sei, wovon er ihm
neulich abend in den Ohren gelegen habe. Er hat das Buch gleich
mitgebracht. 105 Es handelt sich um ein Gedicht von Octavio Paz
und liest sich wie folgt:
Der Tag tut seine Hand auf
Drei Wolken
Und diese wenigen Wörter
Anton, der Meinung, sie beide hätten sich Jungst am Ende
verstanden, reagiert mit einem Blinzeln - ist ja ganz hübsch - nur
seh' ich nicht recht, wie das zusammenhängen soll mit dem,
wovon wir's da hatten -? Eduard, ungeduldig wie jeder, der
frisch überwältigt ist, seine Emphase an den Mann bringen will
und statt dessen betulich ausgezwinkert wird: Eduard läßt eine
exegetische Tirade vom Stapel.
Mensch, guck halt hin: das Gedicht inszeniert das Geschehen des
Einfalls, der zu ihm führt, das Ereignis seines momentanen
Gelingens; es kann, was sage ich, muß! zugleich gelesen werden
als Manifestation, als festgehaltener Augenblick der sekunden-
schnellen Anmutung, in der die Sensation eines Sinns sich findet
- und zwar in medialer, intentionsloser, die bisherigen Antwor-
ten und Versuche als gegenstandslos versengender Evidenz. Das
ist ein höchst poetisches, weil äußerst profanes Notat einer
profanen Erleuchtung.
Aber gut, ich mach langsam: Die erste Zeile liest sich wie eine
konventionelle Naturmetapher, obwohl sie in ihrer naiven Ein-
fachheit das geläufige Repertoire der Rede vom Wetter - zumin-
dest in der deutschen Übersetzung - ein wenig unterbietet.
Beschrieben wird ein Vorgang, der auch die beiden folgenden, für
sich genommen statischen, Andeutungen als Momente eines Er-
eignisses, einer Veränderung bestimmt. Es liegt zunächst nahe,
den eröffnenden Satz in seinem alltäglichen Sinn zu verstehen:
daß es - draußen - hell wird, die Sonne aufgeht, der Morgen
anbricht oder, weniger wahrscheinlich, eine den Tag verdü-
sternde Wolkendecke aufbricht und das Sonnenlicht den Tag
erhellt. Das zweite ist unwahrscheinlich, weil eine Wolkendecke,
die aufbricht, sich nicht flugs in drei Wolken ballt, die sichtbar
werden, sichtbar geworden sind aus der Warte dessen, der den
Tag sich öffnen sieht. Jedenfalls scheint es sich um eine Verände-
rung zu handeln, die mit Erleichterung aufgenommen wird -
verzeichnet wird ein Moment der Erhellung, Befreiung, Ent-
krampfung, etwas - die Unfertigk~it, Unentschiedenheit des
Tages? - löst sich, und drei Wolken, deren Benennung ohne
schmückenden Ballast in die Strophenmitte geschoben ist, zeigen
sich schwerelos und statisch im Ausschnitt des Augenblicks.
Diese minimale Szenerie wird in der dritten Zeile pointiert
verbunden mit einem weiteren, wiederum durch kein Ereignis-
wort spezifizierten Datum, das allerdings konträr steht zum
Naturgeschehen des Beginns sowie auch zu dem in der mittleren
Zeile vermerkten Stand der unverfügbaren Dinge. Mit dem (ein-
zigen) Bindewort und mit der demonstrativen Anfügung erhält
die letzte Zeile ein besonderes Gewicht, das die scheinbare
Unwucht zwischen den ersten beiden Zeilen und der nachgesetz-
ten Notierung ausgleicht. Denn das Hinzukommen »diese(r)
wenigen Worter«, ihr plötzliches, wie naturhaft geschehendes
Sicheinfinden, ihr einmaliges (und vielleicht auch nur momenta-
nes) Lesbarwerden ist es, das dem für sich genommen banalen
Naturvorgang und der zunächst schlichten Naturzeichnung eine
eminente Bedeutung gibt.

166
Durch die Zufügung der abschließenden Zeile werden auch die
beiden ersten erneut - und erst jetzt definitiv - aufgeladen. Denn
jetzt ist nicht mehr nur von einem Naturvorgang die Rede,
sondern von diesem in seiner Gleichzeitigkeit, Gleichartigkeit
und sogar Ununterscheidbarkeit mit dem Sichtbarwerden eines
Sinns; der Knoten löst sich, so wie der Tag seine Hand auftut.
Die Anfangs- und Schlußzeile spielen sich ihre Bedeutung wech-
selhaft zu. Im Kontext gesehen ist die erste Zeile nicht mehr nur
eine metaphorische Naturaussage, sondern ebenso eine - licht-
mystische Anklänge einspielende - Metapher auf den Vorgang
des Erkennens; der karge Hinweis der Schlußzeile, daß da wenige
Wörter - auffällig - sind, wird durch die Einbindung ins äußere
Ereignis dynamisiert und darum erst zum Signum eines implosiv
dramatischen Vorgangs. Die meteorologische Lesart der An-
fangszeilen wird zweitrangig - was sich löst und öffnet, ist der
Krampf von Fehlversuchen die bisher verbaute Sicht im Verste-
hen oder Schreiben (denn um geschriebene Wörter geht es): der
Durchbruch, der sich in einer leisen Verschiebung ergibt, ist es,
durch den die zuvor geschlossene »Hand« des Tages sich auftut.
Der Tag ist längst schon da, nur das wahrnehmende Subjekt hatte
sich bis jetzt nicht in ihn gefunden, war zur eigenen Präsenz nicht
erwacht, weil eine glückliche Sicht aufs Bedrängende solange
verhangen war. Im unwillkürlichen, fast unmerklichen Ereignis
des erlösenden Einfalls fügt sich die Gegenwart des Tages ins Lot
des Gelingens.
Langsam, Anton, sei nicht so ungeduldig, der Witz kommt ja erst
- vergiß die Zwischenworte nicht! Denn es ist die zweite Zeile,
die die Kontamination von äußerem und innerem Vorgang ver-
schärft und die äußeren Zeilen zu Ausdruckskomponenten eines
Sinnereignisses macht. Diese Zeile ist nicht nur - als Naturbild -
an den Anfangssatz angeschlossen, sondern überdies durch einen
syntaktisch-semantischen Parallelismus mit den Schlußworten
eng verbunden. Drei Wolken (stehen am Himmel). Und diese
wenigen Wörter (stehen zu lesen). Die komplementäre Verkür-
zung legt eine parallele Bedeutung nahe - so wie drei Wolken am
Firmament sich einfinden, so haben sich diese vorliegenden
Wörter eingefunden - in einem von keiner faßlichen Intention
gebildeten Arrangement. Sonst unverbundene, aufeinander nicht
schon bezogene Wörter sind mit einemmal auffällig, nicht schon
verbundene, wohlgesetzte Worte - wenn es diese Differenz im
Spanischen nicht gibt, was ich nicht weiß, dann hatte der
Übersetzer eine glückliche Intuition. Nur bleibt es nicht bei
vereinzelten, hereingespielten Bedeutungen - der Augenblick,
den das Gedicht konstruiert, ist der, wo diese unzusammen-
hängend verstandenen, bislang nichts hergebenden, tastend ge-
schriebenen Wörter unvermutet zusammentreten in die Bezie-
hung der gefundenen Konstellation. Dies mag irgendeine Be-
deutsamkeit irgendwelcher Ausdrücke irgendwelchen Inhalts
sein, die ein neues Verständnis (und sei es enigmatisch) er-
schließen: einen dieser Glücksfälle haben die Lesenden vor Au-
gen. Das Gedicht selbst ist ein Produkt des blitzhaften Vor-
gangs, den es erfaßt - das Demonstrativpronomen der Schluß-
zeile weist allererst auf die Wörter, die ihre eigene Genese so
unscheinbar wie beredt bedeuten. Drei Wolken sind es, die es
zueinander getrieben hat, drei grammatisch kaum verbundene
Zeilen sind es, die zusammenfinden in die zwanglose Präsenta-
tion ihrer eigenen plötzlichen Bindung. Indem sie einen Au-
genblick der glückhaften Einsicht bannt, öffnet die kleine Stro-
phe den Blick für den Grund ihres eigenen Gelingens; und
weil sie gelungen ist, kann sie fast nichtssagend zeigen, wie es
momentan zugeht, wenn wir verstehend uns und etwas fin-
den.
Du wirst dich erinnern, Anton, ich hatte neulich vom Luftzug-
haften, nicht gradlinig Erwirkbaren, entscheidend Naturwüch-
sigen des Habens von Einfällen gesprochen. Hier: dieses Ge-
dicht hat dieses Anwehende-Angewehte, weil es ganz lakonisch
und knapp, wie hingesagt und sekundenschnell - wenn du
willst: wie aus dem Wind gesprochen - hergibt, was der beson-
dere Charakter der kurzlebigen Situationen ist, in denen uns
aufgeht und aufgegangen ist, wie es - hiermit und damit - ist.
Es verkörpert die unsichtbare Strahlung solcher Augenblicke in
ihrer Melancholie: denn nicht wir haben's gefunden, es hat uns
getroffen - und ihrem Triumph: denn wir haben erkannt, daß
wir's haben. Dieses beinahe Garnichts, das eine alte Denk- und
Versuchsordnung aus den Scharnieren kippt, das haben wir in
unserem monströsen Diskurs und besoffenen Gerede nicht ein-
gefangen und nur bloß immer angeredet - aber das, wie es hier
steht, das war's, wovon wir gesprochen haben! Genial, mein

168
Lieber, genial, ich hätte nie gedacht, daß einer das so raffiniert
nichtig 'rausbringen könnte ...
Dem lieben Anton schwirrt der Kopf, er muß das hermeneuti-
sche Schnellfeuer erst einmal verwinden. Halten wir uns an
Eduard. Was ist mit ihm geschehen? Nichts Schlimmes - er hat
eine ästhetische Erfahrung gemacht und hat dieser, wo er sich
ohnehin gern reden hört, in geübter Performation sogleich Aus-
druck gegeben. Aber hat er das, was er da interpretativ am
Beispiel des Gedichts wieder anspricht: hat er das alles nicht
längst gewußt und die Erfahrung, deren Gehalt er ästhetisch
gestaltet findet, nicht schon häufig gemacht? Wie konnte es jetzt
schon wieder zur erfahrenden Erregung kommen? Aus zwei
Gründen. Erstens, weil auch die Bekräftigung und nichtinnova-
tive Bereicherung einer Einstellung als Erfahrung zählt; Eduard
liest das Gedicht als eine unerwartete Bestärkung seiner - habitu-
ellen - Auffassung davon, was eine sinnvolle theoretische Praxis
ist. Gewiß liefern die drei Zeilen keinen (neuen) Grund dafür, zu
behaupten, Inspiration sei somatische Rührung - der Eindruck
der verweilenden Lektüre aber kann für Eduard der aufrührende
Anlaß sein, es entgegen seiner bisherigen Skrupel einmal mit
einer ernsthaften Version dieser These zu versuchen. So kann die
Konfrontation mit dem minimalen, aber für großartig befunde-
nen Paz-Gedicht durchaus eine Änderung in der theoretischen
Einstellung seines inspirierten Lesers zur Folge haben - und sei
diese ihrerseits nimimaler Natur. Zweitens wird Eduard einer
ihm bisher unbekannten Möglichkeit des Verhaltens gewahr und
sieht sich genötigt, sich dieser gegenüber erfahrend zu verständi-
gen: das Gedicht eröffnet ihm (auf ganz andere Weise als die
erwähnten Braxton-Soli) eine ungeahnte Möglichkeit, sich des
Erfahrungsgehalts von Situationen, die er bereits kennt, im Mo-
dus ihrer Bedeutsamkeit zu vergewissern - einer Situation, in
deren Bann er momentan nicht - mehr oder so nicht - steht. Die
Situation, die sich ihm und die er sich so erschließt und die
zentriert ist um das vorliegende Gedicht, ist eine Situation der
ästhetischen Wahrnehmung: ein Thema dieser Situation ist die
Präsentation eines Erfahrungsgehalts, an der Eduard seine Erfah-
rung mit dem, was er im Netz der poetischen Aufweisungen
bedeutet findet (»die N aturwüchsigkeit erheblicher Einfälle«),
vergegenwärtigt; er tut dies in unserem Fall ausdrücklich, näm-
lieh indem er den Charakter des Gedichts deutend expliziert und
sich somit seiner eigenen Befangenheit vom Präsentierten verge-
wissert; indem er sein Verständnis überdies relativ spontan kom-
muniziert, verleiht er zugleich seiner - ästhetischen - Erfahrung
am Gedicht indirekt Ausdruck. Um es kurz zu sagen - Eduard
hat eine Erfahrung gemacht, indem seine ästhetische Einstellung
eine Revision erfahren hat. Die ästhetische Einstellung ändern,
heißt unerdenkliche Möglichkeiten der Erkennbarkeit teilbarer
Erfahrungen zu erschließen: an zeichenhaften Gegenständen, die
Erfahrungsgehalte in Form ihrer situationsbildenden Verwei-
sungsdichte präsentieren.
Dafür hat uns Eduard ein erstes ausführliches Beispiel geboten.
Halten wir uns kurz noch die möglichen Reaktionen seines
Freundes Anton vor Augen. Er kann Eduard Recht geben und
sein Entzücken teilen - dann hat er auf dem gelockerten Boden
der nächtlichen Diskussionen zusammen mit einer neu schattier-
ten ästhetischen Einstellung die Einstellung zum Theorietreiben
jetzt erst eigentlich gewonnen, die Eduard bereits vor der ange-
zettelten Debatte zu eigen war. 106 Er kann schlagartig feststellen,
daß er's damals so jedenfalls nicht gemeint und verstanden hat;
dann wird ihn auch das Gedicht weit weniger oder ganz anders
beeindrucken; die drei Zeilen geben ihm weniger eine neue
Erfahrung als vielmehr, zusammen mit der exegetischen Suada,
einen genaueren Einblick in Eduards Erfahrung. 107 Schließlich
kann er das Gedicht einfach läppisch und Eduards Begeisterung
deplaziert finden - er wird sich Gedanken über Eduard machen,
aber keine Erfahrung am poetischen Text. Zur ästhetisch erfahre-
nen Erfahrung wird es dann nicht kommen: weder macht Anton
eine ästhetische Erfahrung, noch sieht er sich in der Lage, auf
dem Wege der ästhetischen Kommunikation etwas über Eduards
Erfahrung zu erfahren.

e) Dimensionen der Erfahrung

Ästhetisch ist die Erfahrung mit der Gemachtheit von Erfahrun-


gen, die für die Gegenwart der Erfahrenden bestimmend sind
oder durch die ästhetische Erfahrung für ihre Gegenwart bestim-
mend werden. Diese Erfahrungsbezogenheit schließt die ästheti-
sehe Erfahrung in den Kreis der lebensweltlichen Erfahrungen
ein und macht zugleich ihren besonderen Stellenwert im Reigen
der Erfahrungsarten aus. Im Vollzug ästhetischer Erfahrungen
treten die Menschen aus der Verbundenheit mit ihrer Lebens-
form nicht aus; sie treten vor Objekte oder nehmen Interesse an
Objekten, an denen sie erkennen und erfahren, was sie aus
Erfahrung gegenwärtig bindet und benimmt. Auch ästhetisch
machen sie Erfahrungen in Antwort auf Erfahrungen. Auch im
Kontext der ästhetischen Wahrnehmung werden die aufgefunde-
nen Grundstrukturen einer lebensweltlich engagierten Situa-
tionsbildung anzutreffen sein. Nur ist die ästhetische Situation
daran gebunden, daß die Gebildetheit von Situationen, daß die
Bedeutung von Erfahrungsgehalten zum Gegenstand des verste-
henden Verhaltens wird. Ästhetisch machen wir Erfahrungen mit
Erfahrungen. Dieser strukturelle Gegenstand und nicht ein be-
sonders zu qualifizierender Erfahrungsprozeß bestimmt allererst
die Eigenart der ästhetischen Wahrnehmung. Das bedeutet nicht,
daß wir die Erfahrung, die wir ästhetisch machen, am Objekt
dieser Erfahrung simultan vergegenständlichen können. Wir er-
fahren ästhetisch nicht die ästhetische Erfahrung, die wir gerade
machen; diese Möglichkeit schließt der Erfahrungsbegriff bereits
aus. Wir machen Erfahrung mit der Gemachtheit bedeutsamer
Erfahrungen.
Der zusammenfassende Ausblick zeigt an, daß dieses Kapitel
mehr über die Gemeinsamkeit der ästhetischen Erfahrung mit
den anderen Erfahrungsarten zutage gebracht hat als über die
Differenz der ästhetischen Einstellung und Erfahrung. Mehr als
Anhaltspunkte für die Frage nach der ästhetischen Differenz
waren auch gar nicht zu erwarten. Was zu erweisen war, war das
Recht der Vermutung, der Stellenwert des ästhetischen Verhal-
tens werde aus einem besonderen Verhältnis zur erfahrenden
Erschlossenheit der Wirklichkeiten jener Welt zu bestimmen
sein, an der die ästhetisch Wahrnehmenden immer schon Anteil
haben. Dieser Verdacht hat sich in bereits spezifizierter Form
bestätigt durch den Nachweis, daß Erfahrungsgehalte allein äs-
thetisch im Modus ihrer Bedeutsamkeit zu gewärtigen sind.
Dieser Nachweis konnte nur gelingen, weil das leitende Thema
dieses Kapitels gerade nicht die ästhetische Erfahrung war, son-
dern ein eng gefaßter allgemeiner Begriff der Erfahrung. Denn
der Sinn sowohl der als auch für ästhetische Wahrnehmung und
Erfahrung entspringt der Grundstruktur der Erfahrung selbst:
durch Erfahrung sind wir auf Situationen einer Praxis verstän-
digt, über deren präsentischen Charakter wir uns nur aspekthaft
und reduktiv verständigen können - es sei denn in der Präsenz
und im Geltendmachen von ästhetischen Präsentationen. In der
ästhetischen Praxis verhalten wir uns zu den stillschweigenden
und unerhörten Modalitäten unserer Erfahrung und Praxis.
In sozialer, instrumenteller, präferentieller und theoretischer
Einstellung und Erfahrung engagieren sich die Handelnden auf
höchst unterschiedliche Weise in ihrer Welt, indem sie Projekte
entwerfen, kritisieren und ausführen, an denen ihnen aus unter-
schiedlichen Gründen liegt. Gegenüber allen diesen Praxisformen
besteht das ästhetischeEngagement allererst darin, daß die derart
Erfahrenen sich als in ihrer Welt engagiert wahrnehmen und
erfahren: in der Vergegenwärtigung von Situationscharakteren,
deren Erfahrungsgehalt sie aus dem Fundus ihrer bisherigen
Erfahrung imaginativ entdecken. In Abwandlung einer Formel
von Jauß läßt sich sagen, der ästhetischen Erfahrung sei der
Charakter einer Selbsterfahrung als Fremderfahrung eigen: nicht
nur erfahren die Subjekte etwas über ihre eigene Person oder
über die Verhältnisse, in denen sie leben bzw. auf die sie einwir-
ken können - oder mehreres davon zugleich; sie machen Erfah-
rung damit, was es in der Welt ihrer Gegenwart heißt, Erfahrung
zu machen und zu haben. Sie erfahren sich als Subjekte ihrer
Erfahrung. »Im ästhetischen Verhalten erfährt das Subjekt die
Aneignung einer Erfahrung des Sinns von Welt.«108 In diesem
distanzierenden Engagement liegt eine altbekannte Besonderheit,
die uns später nochmals begegnen wird. In ästhetischer Einstel-
lung sind wir auf Erfahrung aus: andernorts nehmen wir diese oft
nur in Kauf. Ästhetisch verfolgen wir keinen anderen Zweck als
den, die Sinnhaftigkeit unserer Erfahrungen zu erfahren. Das ist
nicht weniger paradox als schon bei Kant. Denn wenn Erfahrun-
gen einsetzen mit der Nötigung, sich neu zu besinnen, dann folgt
aus dem Willen zur Erfahrung die Bereitschaft, den Sinn aufs
Spiel zu setzen.
Halten wir, vor diesem Rätsel stehend, wenigstens den Sinn des
bisherigen Vorgehens fest. Aus dem Zusammenhang der Ent-
wicklung und Erörterung eines Begriffs lebensweltlicher Erfah-
rung sind wir auf die Spur der ästhetischen Verhaltens- und
Ausdrucksweisen gestoßen. Das gemeinsame Merkmal dieser
Formen der Gewärtigung und Kommunikation war es, Möglich-
keiten der Vergegenwärtigung von Erfahrungsgehalten zu reali-
sieren. Es hat sich gezeigt, daß es zur Realisierung dieser Mög-
lichkeiten ein genuines Interesse gibt, das in der Natur von
Erfahrungen selber liegt. Es ist ein grundlegendes Interesse von
Individuen, die so frei sind, erfahren zu müssen. Es gilt der
Vergegenwärtigung von Elementen ihrer Lebensform am Beispiel
zeichenhaft präsenter Situationen, an denen die Erschlossenheits-
weise vertrauter oder unvertrauter Welten sich zeigt. Dieses
Interesse ist ästhetisch. Es sucht und schafft sich die Gegen-
stände, an denen das Verlangen nach Erfahrung mit der eigenen
Erfahrung sich befriedigen läßt. Von diesem Interesse lebt auch
die Institution der Kunst, aus deren Entwicklungen wiederum
die ungebundene und sporadisch ästhetisierende Wahrnehmung
einen erheblichen Teil ihrer Energien bezieht. Wir haben die
Kunst nicht nur, wie Nietzsche es wollte, um die Wahrheit
auszuhalten, sondern um uns zur Gehaltenheit in unseren Über-
zeugungen, Vorhaben und Passionen nochmals zu verhalten.
III

Ästhetische Erfahrung

Eine Direktive von Dewey war es, die den Weg zum Schauplatz
der ästhetischen Erfahrung umgeleitet hat zu Erkundungen der
allgemeinen Natur des Machens lebensweltlicher Erfahrungen.
Eine Überlegung Deweys zum Darstellungscharakter von Kunst-
werken wiederum kann den Gang der Analyse einweisen in die
Spur, auf der die Besonderheit der ästhetischen Wahrnehmung
gegenüber den nichtästhetischen Wahrnehmungsweisen in ihrer
komplexen Veranlagung beschreibbar wird. » Wenn ,repräsentie-
rend, eine buchstabengetreue Nachahmung bedeutet, so besitzt
das Kunstwerk diese Eigenschaft nicht, denn ein solches Ver-
ständnis ignoriert die Einzigartigkeit des Werks, die durch das
personale Medium bedingt ist, durch das Szenen und Ereignisse
hindurchgegangen sind. (... ) Repräsentation kann aber auch
heißen, daß das Kunstwerk denen, die es beeindruckt, etwas über
das Wesen ihrer Erfahrung der Welt sagt: daß es die Welt in
Form einer von ihnen gemachten neuen Erfahrung präsen-
tiert.« '09 In der Lesart des vorangegangenen Kapitels - Kunst-
werke sind Zeichen, die als Präsentationen von Erfahrungsgehal-
ten fungieren. Das als gelungen erfahrene Kunstwerk, sagt De-
wey, konstituiert die Erfahrbarkeit der Erfahrung, die es, die
allein dieses Werk zugleich - bedeutet.
Die Frage dieses Kapitels wird es sein, was es bedeutet, daß
Phänomene etwas ästhetisch bedeuten. Die Auskunft, es seien
Erfahrungen in ihrer situativen Integrität, die so bedeutet wür-
den, beantwortet diese Frage nicht; sie gibt lediglich die Vermu-
tung, die es erlaubt, die leitende Frage sinnvoll zu stellen. Die
formelhafte Vermutung, die gewonnen wurde aus der Betrach-
tung der Möglichkeiten, Erfahrungen gegenwärtig zu haben und
machen, wird den Ausgangspunkt bilden für eine Untersuchung
der Verfaßtheit ästhetischer Gegenstände, die eine Analyse der
Bedingungen ihrer Wahrnehmung von vorneherein mit umfaßt.
Wie verstehen wir die Gebilde, zu denen wir uns aus ästheti-
schem Interesse verstehen?

1 74
Deweys Folgerung weist einen Weg, dem ihr Autor nur mit
halber Kraft nachgegangen ist. Viele andere sind ihm zeitweilig
gefolgt oder haben ihn gekreuzt. Die Originalität des Satzes von
der ästhetischen Bedeutung liegt allein in seiner bündigen
Schlichtheit. Der Behauptung nämlich, daß Kunst und Ästheti-
sches in irgendeinem Sinn Erfahrung bedeuten, eignet die unpa-
thetische Allgemeinheit einer vielbeschworenen Trivialität, der
die unterschiedlichsten Theorien Substanz und Schärfe verlei-
hen.
Was ist das »Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen«
anderes als das Talent, Begriffe und Begebenheiten in der Kon-
zentration bedeutsamer Verschränkungen evident zu machen, die
in ihrer Vieldimensionalität anders gar nicht ersichtlich sind?
»Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist
nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur,
aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt«; nur dem künstleri-
schen Genie aber gelingt es, »inexponible« Ideen, die übers
empirisch-konzeptuell Faßliche hinausgehen, »in einer Vollstän-
digkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel
findet«. In der kreativen Präsentation solcher »Vorstellungen der
Einbildungskraft«, mit denen wir uns unterhalten, »wo uns die
Erfahrung zu alltäglich vorkommt«, wird unsere üblicherweise
prädikativ vereinzelnde Wahrnehmung und Reflexion »auf unbe-
grenzte Art ästhetisch erweitert.«II0
-Wenn Gadamer mit einer
Formulierung Hegels sagt, die Kunst bringe den Menschen vor
sich selbst, so ist darin die Bestimmung enthalten, daß Kunst-
werke dies bewirken, indem sie die Aufnehmenden einbeziehend
konfrontieren mit Situationen, die ihnen als Charaktere ihrer
geschichtlichen Lage erkennbar werden. Kunst ist »Welt-An-
schauung«: in ihren herausragenden Werken macht sie den An-
schauenden das »Ganze des Inderweltseins« erfahrbar. - So-
111

weit Benjamin die ästhetische Erfahrung als eine auratische be-


stimmt, der beliebige Gegenstände in Augenblicken des unwill-
kürlichen Eingedenkens rätselhaft auffällig werden, »so ent-
spricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der
Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als
Übung absetzt.« Dinge der geläufigen Wahrnehmung werden zu
Malen der Erfahrung, die der ästhetisch Wahrnehmende mit
ihnen hat und an ihnen bannt. Vergleichbares gilt nach Benjamin
1 75
auch für die gelungenen Werke zumindest einer traditionellen
Kunst; hier stellt sich das Schöne dar als ein Schleier eingewobe-
ner Korrespondenzen, durch den die magische Bedeutung des
verborgenen Gegenstands seiner Darbietung mimetisch »abgebil-
det« erscheint. »Mit einer freilich gewagten Abbreviatur« ...
»käme man dahin, das Schöne zu bestimmen als den Gegenstand
der Erfahrung im.Stande seines Ähnlichseins. Diese Bestimmung
würde sich wohl mit Valerys Formulierung decken: ,Das Schöne
fordert vielleicht die servile Nachahmung dessen, was in den
Dingen undefinierbar ist.<«m - Anders als bei Valery, der die
Differenz von Freiheit und Wahrheit im Namen der ästhetisch
erfahrbaren Freiheit mit Nachdruck hervorhebt, fällt die ästheti-
sche Erfahrung für Benjamin (wie auch bei Heidegger, Gadamer
und Adorno) mit einem emphatischen Erkennen zusammen,
durch das die Erfahrenden ihrer Gegenwart augenblicklich inne-
werden. Wie für Adorno machen sich für Benjamin in dieser
Erfahrung radikal utopische Energien geltend. In der ästhetisch
»profanen Erleuchtung« tut eine »Welt allseitiger und integraler
Aktualität« sich auf zusammen mit der erweckten Regung, »ein
ganzes Leben mit der höchsten Geistesgegenwart zu laden«. Die
ästhetisch befreiende Erfahrung wird zum Modell einer Utopie
der Erfahrung. IIJ - Auch für den expressiven Ausdruckstheoreti-
ker ist die ästhetische Erfahrung eine auf das eigene Erfahrungha-
ben und Erfahrenkönnen rückbezogene Steigerungsform der
Wahrnehmung: aber nurmehr eine unter anderen. Die in ästheti-
schen Objekten glücklichenfalls geleistete »instruktive Verkörpe-
rung von exemplarischen Erfahrungen«, von der Habermas
spricht, ermöglicht die betroffene Explikation und ausdrückliche
Änderung evaluativer Einstellungen, nicht aber die privilegierte
Erkennung einer zur Wahrheit entstellten Wirklichkeit der ge-
sellschaftlich-politischen Situation. Nicht auf theoretische oder
praktische Wahrheit, sondern auf die Wahrhaftigkeit subjektiven
Ausdrucks ist die ästhetische Kommunikation »spezialisiert«.114
- Allein der konsequente Purist wird bestreiten, daß ästhetische
Objekte in einem strikten Sinn Erfahrung bedeuten. Weil die
ästhetisch brisanten Phänomene sich allem auf die Welt der
Erfahrung faßlich verweisenden Bedeuten bedeutsam entziehen,
bedeuten sie zwar Erfahrung für die Wahrnehmenden: ohne
jedoch selbst (in einem semiotischen Sinn) Erfahrung zu bedeu-
ten. Das Objekt der Kunst wird hier zum Signum und Ereignis
der Erfahrung an ihm. Die ästhetische Präsenz ist nicht rückführ-
bar auf eine zeichenhafte Präsentanz. Die ästhetischen Gegen-
stände sind Medien der Erfahrung, die, solange sie eine zentral
ästhetische ist, in der Intensität und Freiheit eines Erfahrens um
der Erfahrung willen verweilt, ohne daß es angemessen wäre,
allgemein (und oft im besonderen auch) nach dem Was dieser
Erfahrung zu fragen. Was solche Erfahrungen und ihre Objekte
unterscheidet, ist das Wie der Intensität, mit der sie den Gleich-
lauf der Wahrnehmung durchbrechen. Nicht einer Bedeutung
wegen sind Kunstwerke gemacht - denn nur die schlechten sind,
was sie bedeuten. 111
Die kurze Montage aus Materialien zum ersten Kapitel macht
deutlich, wie unklar die mit Dewey formulierte These noch ist.
Als bloße Formel der Aneignung verwendet, entpuppt sie sich
rasch als eine trübe Quelle der Verwässerung. Der gegenläufige
Versuch, den in seiner verkürzten Form sehr ungenauen Vor-
schlag einmal mehr in einen produktiven Satz zu verwandeln,
sieht sich wieder mit den in der Einleitung noch kommentierend
vom Leibe gehaltenen Fehden konfrontiert. Trotz aller vorberei-
tenden und vorwegnehmenden Reflexionen nämlich steht die
Entkräftung der puristisch-entzugstheoretischen Vorbehalte
noch aus: eine Entkräftung, die als solche nur zählt, wenn es ihr
gelingt, auch die überbietungstheoretischen Komplementärfol-
gen zu vermeiden (vgl. oben S. 53f. u. 69 ff.). Zur Präzisierung
dieser Aufgabe kann die Lektüre einiger Bemerkungen bei Witt-
genstein genügen.
»Die Bedeutung eines Wortes ist das, was die Erklärung der
Bedeutung erklärt«: läßt sich Wittgensteins bekannte Parole im
Feld der ästhetischen Wahrnehmung überhaupt anwenden? Ich
meine ja. Lesen wir zunächst den Nachsatz, mit dem Wittgen-
stein den methodischen Grundsatz erklärt: »Willst du den Ge-
brauch des Worts ,Bedeutung, verstehen, so sieh nach, was man
Erklärung der Bedeutung nennt.«" 6 Eine formelle Übertragung
auf den ästhetischen Kontext macht keine Schwierigkeiten -
willst du wissen, was mit ästhetischer Bedeutung gemeint ist, so
sieh nach, wie man sich über ästhetische Objekte erläuternd
verständigt. Bei der von Wittgenstein angesprochenen »Erklä-
rung« geht es nicht um die Angabe von Ursachen oder Gründen

177
dafür, warum etwas - gesagt, gemacht, geworden- ist, wie es ist;
es geht darum, ein gegebenes Verständnis - sei es von sprachli-
chen Verwendungen, sei es von ästhetischen Gegenständen -
explikativ zu vermitteln. »Wie kann ich aber in jenem zweiten
(i.e. ästhetischen, M.S.) Falle den Ausdruck erklären, das Ver-
ständnis übermitteln? Frage dich: Wie führt man jemand zum
Verständnis eines Gedichts, oder eines (musikalischen, M.S.)
Themas? Die Antwort darauf sagt, wie man hier den Sinn er-
klärt.«"7 Evidentermaßen kann eine solche Erklärung in ästheti-
scher Hinsicht nicht durch eine bedeutungsgleiche Übersetzung
des Verstandenen geschehen. Die Interpretation des Paz-Ge-
dichts sagt nicht dessen Bedeutung aus und sagt dennoch etwas
über den Gehalt des Gedichts. Die Funktion interpretativer
Aussagen ist eine in besonderem Sinn zeigende. Die Bedeutung
eines ästhetischen Objekts ist nicht das, was die angemessen
interpretierenden Sätze (oder auch Gesten und Vorführungen)
für sich genommen bedeuten; ihre Bedeutung liegt darin, was sie,
wenn sie treffend sind, am ästhetischen Objekt zu verstehen
geben. Insofern liegt der Schlüssel zur Erkundung des Sinns der
ästhetischen Bedeutung durchaus in einer Erklärung des Sinns
der Aussagen, die ihre Bedeutung erklären.
Auf der hiermit vorgezeichneten Linie wird innerhalb der (mehr
oder weniger strikt) sprachanalytischen Ästhetik seit längerem
operiert. Ihr theoretisches Bemühen um die ästhetische Verste-
hensleistung freilich muß mager bis irreführend bleiben, soweit
sie es sich versagt, zugleich mit dem Interesse dieses Verstehens
auch das so Verstandene begrifflich zu fassen. 118 Erst eine herme-
neutisch orientierte Vorbereitung gibt einer im engeren Sinn
sprachphilosophischen Betrachtungsweise die Substanz, aus der
eine detaillierte Analyse des Umgangs mit ästhetischen Objekten
den - mit Koppe zu reden »lebenspraktischen« - Sinn dieses
Umgangs auch trifft. 119 Andererseits macht erst die angelsäch-
sisch beheimatete Thematisierung des Sprachspiels der ästheti-
schen Kritik den Weg frei für eine eingehende zweite, nunmehr
speziell der ästhetischen Erfahrung gewidmete Analyse des Zu-
sammenhangs von Situation und Erfahrung.
Der erste Abschnitt dieses Kapitels führt eine Betrachtung des
soeben deklarierten Zuschnitts durch; als Theorie der ästheti-
schen Beurteilung stößt sie dabei auf die Struktur-immanente
Rationalität des ästhetischen Verhaltens. Der zweite Abschnitt
fügt notwendige Ergänzungen an, indem er die zentralen Be-
hauptungen nochmals den aus dem ersten Kapitel vorhersehba-
ren Entgegnungen stellt.
1. Ästhetische Bedeutung und Kritik

Ein ästhetisches Objekt verstehen, heißt beurteilen, inwiefern es


schön oder gelungen ist. Um diesen einfachen Zusammenhang
von Bedeutung und Kritik wird es im folgenden gehen. Es wird
darauf ankommen, die ästhetische Wahrnehmung als ein Verste-
hen zu verstehen und diese Aneignung als eine essentiell wer-
tende zu begreifen. Gestützt auf die Vorbereitungen des letzten
Kapitels werde ich zunächst präzisieren, an welcher Art von
Gegenständen wir ästhetisch Interesse nehmen (a); die ontologi-
schen Klärungsversuche machen erneut die Notwendigkeit einer
urteilslogischen Fundierung evident: der folgende Abschnitt un-
ternimmt eine erste Verständigung über den Status ästhetischer
Urteile (b); eine Zwischenüberlegung stellt klar, wie die Behaup-
tung und Auszeichnung eines in der ästhetischen Kritik leitenden
Interesses zu verstehen ist (c); anschließend werde ich Formen
der ästhetischen Beurteilung unterscheiden, die nicht nach dem
Modell einer im engeren Sinn ästhetisch-verstehenden Kritik
verfahren (d); im vierten Schritt gebe ich einen Grundriß der
argumentativen Basis und explikativen Funktion kunstkritischer
Stellungnahmen (e); diese Analyse verlangt nach einer komple-
mentären Erläuterung des Begriffs der ästhetischen Bedeutung
(f); diese Betrachtung dann erlaubt eine abschließende Verständi-
gung über die Erfahrung, die wir in ästhetischer Einstellung
haben und machen (g).

a) Ästhetische Relevanz

Wozu ästhetische Urteile gefällt werden und wohin sie führen,


läßt sich in drei Hinsichten annähernd bestimmen. Wovon ist in
der kritischen Rede über Ästhetisches die Rede; was wird in der
ästhetischen Beurteilung gesagt; worauf kann sich das Gesagte
rechtfertigend stützen. Jede dieser Fragen verweist auf die beiden
anderen Aspekte. Daher werden die Antworten dieses Unterab-
schnitts, der auf sehr formale Weise erörtert, wovon aus ästheti-
schem Interesse die Rede ist, einen stark zirkulären Charakter
haben, der sich gibt, je mehr wir der Sache kreisend näher
kommen.

180
In ästhetischen Urteilen ist von ästhetischen Gegenständen die
Rede. Denn ästhetisch ist, was ästhetisch besehen wird. Und es
gibt nichts, was nicht ästhetisch aufgefaßt werden könnte; jeder
Gegenstand, der einmal das Objekt eines flüchtigen ästhetischen
Interesses war, ist für die Dauer dieses Interesses zum ästheti-
schen Gegenstand geworden; die meisten sind es nicht geblieben.
Ästhetische Gegenstände, mit einem Wort, sind die Gegenstände
eines ästhetischen Interesses - wie immer (wenig) lohnend diese
Hinwendung auch sei. Der ästhetische Gegenstand muß kein
ästhetisch relevanter, geschweige denn gelungener Gegenstand
sein. Die Welt des Ästhetischen schließt das für irrelevant Befun-
dene zumindest für die Dauer dieses Befindens mit ein. So wird
der Salzstreuer, den ich täglich benutze und den ich in einem
ästhetisch wachen Moment für plump befinde, um ihn fürderhin
wie gewohnt zu benutzen, meiner Wahrnehmung für diesen
Moment durchaus zum ästhetischen Gegenstand. Er wird dies
aber nur für eine Anschauung, die über eine hypothetische Phase
nicht hinauskommt; nichts anderes hält die kahle Behauptung der
Plumpheit fest. Weil der Salzstreuer meiner digressiven Auf-
merksamkeit keinerlei ästhetische Würze verliehen hat, besteht
kein Anlaß, ihn weiterhin für ein ästhetisches - sprich: ästhetisch
relevantes - Machwerk oder Fundstück zu halten. Und da es sich
um einen beliebigen Salzstreuer handelt, der weder von Loos
entworfen, noch gar von Duchamp plaziert oder von Oldenburg
einbalsamiert wurde, besteht auch nicht der weitere Anlaß, das
eigene Desinteresse unter dem Einfluß kunstästhetischer Magne-
tismen reflexiv auf die Probe zu stellen. Daß etwas zum Gegen-
stand einer ästhetischen Beurteilung wird, impliziert nicht schon
die Voraussetzung, es sei wert, ästhetisch wahrgenommen zu
werden; das ästhetische Urteil spricht ästhetische Qualität nicht
nur zu, es spricht sie auch ab. Und zwar bereits auf elementarer
Basis. Der Gegenstand des ästhetischen Interesses ist nicht immer
ein ästhetisch interessanter Gegenstand.
Entsprechend ist der ästhetisch relevante Gegenstand keineswegs
immer gelungen oder schön. Was unschön oder mißraten ist, ist
nicht darum schon irrelevant. Während das Irrelevante jenseits
von Gut und Böse (gestellt worden) ist, steht das ästhetisch
Unerträgliche oft im Zentrum der Auseinandersetzung. Auf ver-
mittelte Weise kann das Verfehlte ästhetisch dennoch etwas

181
hergeben, während das Irrelevante einfach das unmittelbar
Nichtssagende ist. Nun können sich zwei Behauptungen, deren
eine etwas für irrelevant, deren andere ein Kunstobjekt für
exemplarisch mißraten erklärt, durchaus einmal desselben Prädi-
kats bedienen; beides könnten ästhetisch »plumpe« Objekte sein.
Was beide Sätze trotzdem unterscheidet, ist ihre Verwendung:
erst im Kontext des kritischen Umgangs wird sich zeigen, ob ein
gegebenes Verdikt nur die Gelungenheit oder sogleich die Rele-
vanz des betreffenden Gegenstands verneint. Die Differenzen,
um die es hier geht, sind offenkundig graduell. Das Schlechte
unterscheidet sich dadurch vom Irrelevanten, daß es Gegenstand
eines immerhin dauerhaft(er)en ästhetischen Interesses war und
potentiell weiterhin ist.
Das kann sehr verschiedene Ursachen haben - und sei es nur die,
daß es schwer fällt, sich über die ästhetische Qualität eines
Objekts klar zu werden oder mit anderen zu einigen. Der Gegen-
stand ästhetisch-öffentlicher Verrisse zum Beispiel ist auch für
die Autoren dieser Kritiken ästhetisch deswegen relevant, weil er
es nötig und nicht selten erleichternd möglich macht, ästhetische
Konzeptionen und Kriterien negativ zu behaupten und pole-
misch zu bekräftigen. Karin Strucks »Klassenliebe« und Max
Frischs »Montauk« sind relevant, weil sie das Elend einer auto-
biografischen Larmoyanz dokumentieren, die sich seitdem in der
deutschsprachigen literarischen Welt verheerend breit gemacht
hat (würde Eudard sagen). Der unschuldige Salzstreuer gibt für
solche Pointen nichts her. Damit etwas als ästhetisch relevant
gelten kann, muß es von mindestens einem ästhetisch Interessier-
ten für wert befunden werden, ästhetisch wahrgenommen zu
werden, sei es auch unter Umständen weder gelungen noch schön
noch sonst aus eigener Kraft ästhetisch von besonderer Bedeu-
tung. »Hier gefällt's dir?« - »Nein; aber Cezanne hat hier
gemalt.«
Ästhetisch relevant wäre demnach all das, was ästhetisch bedeu-
tend oder für die ästhetische Wahrnehmung und Auseinanderset-
zung (vermittelt) von Bedeutung ist. Auch das ist noch eine sehr
weiträumige Bestimmung. Wahrend aber im weitesten Sinn des
Wortes all das ästhetisch ist, was so wahrgenommen wird, ist
ästhetisch relevant nur das, was diese Wahrnehmung auf Grund
seiner Beschaffenheit verlohnt. Das ist keine Sache des bloßen
Dafürhaltens und dafür Nehmens wie die suchend-flanierende
oder okkasionell-testende Ästhetisierung beliebiger Objekte es
zunächst ist. Ästhetisch relevant ist das, von dem behauptet
werden kann, daß es ästhetisch von Interesse ist; irrelevant
dagegen sind Objekte, für die sich eine ästhetische Relevanz nicht
behaupten läßt. Für das Urteil der Irrelevanz gibt es keine
besondere Rechtfertigung, solange es nicht als Gegensatz zu einer
irrigen Relevanzbehauptung formuliert wird: wenn ein solcher
Gegensatz sich ergibt, so liegt darin bereits ein erster (wenn auch
alleine nicht zureichender) Anhaltspunkt dafür, das betreffende
Objekt hier für relevant zu halten - sofern es zum Kristallisa-
tionspunkt einer Kontroverse zu werden scheint. Damit es so
kommt, muß zumindest der Ansatz einer Rechtfertigung für die
Relevanzbehauptung ersichtlich sein. Diese wird immer darlegen
müssen, ob der angesprochene Gegenstand ein unbedingtes oder
nur ein bedingtes Interesse verdient. Denn nur das Gelungene ist
an sich selbst relevant: das mäßig oder nicht Gelungene ist
relevant bloß für anderes. Behauptungen der Relevanz, die nicht
Zuschreibungen der Schönheit oder Gelungenheit sind, müssen
daher durch Aussagen über den Grad und die externe Hinsicht
der Relevanz erläutert werden. Die Bücher von Struck und Frisch
sind Beispiele dafür, was von diesen und anderen Autoren nach-
her an Schlimmerem noch kam. Das bedeutet, daß auch die
Bewertung der Relevanz im Hinblick auf Grade und Möglichkei-
ten des Gelungenen formuliert wird. Die Gründe für die Behaup-
tung der Relevanz ästhetischer Objekte sind abhängig von der
Art der Gründe zur Verteidigung des Gelungenen und Schönen.
Wer Gelungenheit nicht beurteilen und diese seine Einschätzung
nicht am Gegenstand und für den Gegenstand erläutern kann, der
kann auch die Relevanz des Mißlungenen nicht begründen.
Ästhetisch ist, was unter der Frage nach ästhetischer Gelungen-
heit steht. Ästhetisch relevant ist, was gelungen ist oder für das
Interesse am Gelungenen von Interesse ist. So sehr es darauf
ankommt, das Ästhetische nicht mit dem Gelungenen (oder
Schönen) zu identifizieren, sowenig läßt sich die Verfaßtheit
ästhetischer Gegenstände von der (Form der) Frage nach ihrer
Gelungenheit (oder Schönheit) trennen. 120
Das wird besonders deutlich am ästhetischen Bereich der Kunst.
Wahrend bestimmte Gebrauchsdinge zum Beispiel darin ästhe-
tisch gefallen, daß sie zugleich einen Ausdruck ihrer Funktion
enthalten, sind Kunstwerke gemacht und werden beurteilt um
der Funktion ihres immanenten Ausdrucks willen. Aber nicht
alles, was in erster Linie zu diesem Zweck gemacht ist, ist darum
schon ein Produkt der Kunst im ästhetisch und normativ engeren
Sinn des Wortes; sonst wäre jedes Amateurgedicht gleich ein
Kunstwerk. Werke der Kunst sind Objekte, die den an sie
gestellten (und in der Regel vom Künstler auch erhobenen)
Anspruch auf originären Ausdruck wenn nicht erfüllen, so doch
auf eine aufschlußreiche oder riskante Weise verfehlen bzw. auf
eine neuartige Weise erkennbar erheben. Kunst ist ein ausge-
zeichneter (und meist auf besondere Weise institutionell und
öffentlich geregelter) Bereich des Ästhetischen: in dem es wie-
derum nicht nur Ausgezeichnetes gibt. Aber darum ist nicht alles
Schlechte, das als Kunst firmiert, auch darum schon Kunst. Hilf-
reich ist hier das Diktum von Benn, das Gegenteil der Kunst sei
nicht die Natur, sondern das gut Gemeinte. Wobei es immer die
Frage ist, was das gut Gemeinte vom gut Gemachten trennt und
jenes von dem, was nur gut gemeint ist. Für das riskant Miß-
lungene und die respektabel Gescheiterten sehen die Metropolen
der Kunst einen besseren Platz vor als für das betulich Stim-
mende und allzu Geratene, das über kurz oder lang als ein
Exemplar des langweilig Mißratenen an Boden verliert. Diese
Fragen der Kunstbewertung sind nicht dadurch schon beantwor-
tet, daß einer oder wenige (Lektoren, Galeristen, Kritiker und die
Artisten selber) darüber entscheiden;sie sind daher zu beantwor-
ten, was für und gegen eine solche Entscheidung spricht:und hier
kann es sein, daß nur einer oder einige wenige mit einer Beurtei-
lung Recht haben, das sie von den (interessierten) Vielen für lange
Zeit nicht erhalten. Daß nicht anerkannt wird, worin man sich
erkennen könnte und daß anerkannt wird, woran ästhetisch
nichts zu erkennen ist, liegt bei aller Dummheit, die auch im Spiel
sein mag, an der radikalen Parteilichkeit des ästhetischen Aner-
kennens selbst. Diese ist in der modernen Kunstpraxis von
vorneherein verankert; dem kunstbezogenen Zentralbereich des
Ästhetischen ist die öffentliche Auseinandersetzung um seine
Grenzen immer schon wesentlich. Nicht erst in diesem J ahrhun-
dert hat die Kunstproduktion darauf eigens reagiert; eine Zeit-
lang in diesem Jahrhundert konnte es scheinen, als sei die Kunst,
die mit den Bedingungen und Grenzen der Kunst experimentiert,
das eigentliche Zentrum der Kunst. Obwohl das eine experimen-
telle Übertreibung ist (denn allgemein betrachtet, ist die Refle-
xion auf Grenzen und die Grenze der Kunst »nur« ein ,zentrales
Movens derselben), macht sie doch in ihren ästhetischen wie
theoretischen Ausprägungen die werthafte Umstrittenheit gerade
der Kunstpraxis mit Nachdruck zum Thema. Der Umgang mit
Kunst: und zwar nicht nur mit der modernen, sondern auch mit
der vergangenen, die der jetztzeitlichen Erfahrung noch und
wieder bedeutsam ist; der Umgang mit Kunst ist wesentlich eine
Praxis der kritischen Kommunikation über das ästhetische Ver-
stehen. Diese Verständigung »kritisiert die Produkte der schönen
Kunst, so wie jene das Vermögen selbst, sie zu beurteilen.«m
Auch diese Bemerkungen zum Ästhetischen der Kunst dienen
noch vor allem der trivialen bis tautologischen Vergewisserung
eines sinnvollen Sprachgebrauchs. Eine dritte Überlegung
schließt sich hier an. Sie gilt der spezifischen Gegenständlichkeit
ästhetischer Gegenstände. In einer überzeugenden Zusammen-
fassung der jüngeren Debatte zur Ontologie von Kunstwerken
hat Günter Patzig - in Auseinandersetzung mit Wollheim und
Goodman - die These vertreten, daß es in keinem Fall das pure
physische Objekt ist, mit dem das ästhetische Objekt identifiziert
werden darf: auch nicht im Fall der bildenden Kunst. »Auch in
der bildenden Kunst ist das Kunstwerk nicht identisch mit dem
physischen Gegenstand, der es repräsentiert oder trägt: Es ist
vielmehr der Inbegriff derjenigen Elemente und Eigenschaften
des physischen Gegenstandes, die für seine ästhetische Erfahrung
relevant sind. Ob man als das Kunstwerk diese reale Basis
möglicher ästhetischer Erfahrungen bezeichnen soll oder das
objektiv-nichtwirkliche Sinngeflecht von buchstäblichen und
metaphorischen Eigenschaften, das einem hinreichend vorgebil-
deten Rezipienten zugänglich ist, scheint nicht ohne einen gewis-
sen Dogmatismus entscheidbar zu sein.« 122 In jedem Fall aber
muß das ästhetische Objekt unterschieden werden von den kon-
kreten und konkretisierenden Erfahrungen, die es ermöglicht
und die es ermöglicht haben: das ,Kunstwerk ist ein Selbständiges
gegenüber dem Geschehen von Genese und Rezeption, in dem es
seinen Status als Kunstwerk erhält und bewahrt. Ob etwas ein
Kunstwerk ist, wird gewiß in der Geschichte von Genese und
Rezeption entschieden; auch darauf, was die relevanten Eigen-
schaften eines ästhetisch relevanten Gegenstandes sind, hat die
historische Praxis der Beurteilung einen naturgemäß entscheiden-
den Einfluß; deswegen aber fällt das ästhetische Objekt selbst
nicht mit den aneignenden Auffassungen der Produzenten und
Rezipienten und lnszenatoren zusammen, die ihm aus einem
bestimmten Verständnis wahrnehmend begegnen. Die Identität
ästhetischer Objekte ist nicht bestimmt durch die ihnen jeweils
interpretativ zugeschriebene Bedeutung. Ein ästhetisches Objekt
ist demnach kurz gesagt das, was an einem ästhetisch relevanten
Objekt ästhetisch relevant ist. 123
Der Begriff der Relevanz hat jetzt eine doppelte Bedeutung
gewonnen. War zunächst nur der ästhetische Stellenwert eines
Gegenstandes angesprochen, so sind im Begriff der ästhetischen
Relevanz nun auch die Eigenschaften gemeint, auf Grund derer
ein Gegenstand ästhetisch als mehr oder weniger relevant beur-
teilt wird. Es bietet sich an, zwischen funktionaler und materialer
Relevanz zu unterscheiden. Ästhetisch funktional relevant sind
die Ausdrucksqualitäten der Gegenstände, die ästhetisch von
Interesse sind: im Zuschreiben funktionaler Eigenschaften wird
darüber befunden, ob und inwiefern Objekte der Wahrnehmung
ästhetisch gehaltvoll sind. Gemäß der vorläufigen Erläuterung ist
funktional relevant all das, was ästhetisch bedeutend oder für die
ästhetische Auseinandersetzung von Bedeutung ist. Material re-
levant demgegenüber sind diejenigen Eigenschaften ästhetisch
wahrgenommener Gegenstände, die ihre funktionale Relevanz
konstituieren: das also, was die spezifische Gegenständlichkeit
eines präsentativen Zeichens bestimmt. Material relevant ist das
am ästhetischen Gegenstand, was seinen ästhetischen Status defi-
niert, wenn dieser Gegenstand ästhetisch wahrgenommen und
für ästhetisch leidlich wichtig genommen wird. Funktional rele-
vant ist dieser Gegenstand andererseits darum, weil er material
relevante Eigenschaften besitzt. Ob ein Gegenstand solche Ei-
genschaften hat, ist wiederum nur dadurch zu ersehen, daß ihm
eine ästhetisch funktionale Bedeutung zumindest versuchsweise
beigemessen wird. Die beiden Aspekte der ästhetischen Relevanz
stehen zueinander in einem Verhältnis der wechselseitigen Fun-
dierung. Das ästhetisch (funktional) Irrelevante besitzt keine
ästhetisch (material) relevanten Eigenschaften.

186
So ist der Salzstreuer eben bloß ein Salzstreuer; zu sagen, es sei
ein plumper Salzstreuer, bedeutet eben dies zu sagen. Mit dieser
funktionalen Zuschreibung wird eine ästhetische Funktion nicht
anerkannt, sondern abgesprochen. Ästhetisch ist an diesem Ding
nichts dran; nicht einmal die stoische Grazie des Behäbigen
eignet dem Utensil, was ihm mit knapper Not die Würde der
gefällig einladenden Nutzbereitschaft verleihen könnte. Hätte
das Objekt den Ausdruck des passiv Spendablen, so hätte es ihn
auf Grund seiner gestaltbedingten »Behäbigkeit«, die ihm eine
paradoxe Grazie verleihen würde. Neben Stoff und Gestalt,
seinen material konkreten Eigenschaften, hätte es auch die meta-
phorische Eigenschaft des Behäbigen; in diesem Fall wäre auch
das eine materiale Eigenschaft, auf die sich die Behauptung über
den Ausdruck des Gegenstands stützt, der mit der Anerkennung
einer »gewissen Grazie« angedeutet ist. Vielleicht ist es nur
Salzstreuern möglich, eine Grazie zu haben, die im Behäbigen
gründet.
Schon dieses absurd einfache Beispiel macht deutlich, daß die
beiden Relevanzen in der ästhetischen Wahrnehmung nicht säu-
berlich voneinander geschieden sind; ästhetisch wahrnehmen
heißt, diese Relevanzen am Gegenstand probierend und spielend
zu bilden. Auf vorgeformte »ästhetische Begriffe« ist hier niemals
Verlaß - denn gewiß kann Behäbigkeit auch eine funktionale
Eigenschaft sein, und es ist denkbar, daß Grazie einmal zum
materialen Bestand eines ästhetischen Gegenstandes gehört. Nur
sehr wenige Prädikate sind nur auf einer ästhetischen Sprach-
ebene verwendbar; wichtiger als die Klassifizierung von Prädika-
ten ist die Unterscheidung der explorativen Verwendung von
Prädikaten in der Wahrnehmung und Beurteilung ästhetischer
Objekte. Hierfür ist es nötig, innerhalb der materialen und
funktionalen Charakterisierung jeweils zwei Formen der Aussage
zu unterscheiden.
Auf der Ebene der materialen Charakterisierung bereits muß
zwischen beschreibenden und zuschreibenden Aussagen unter-
schieden werden. Daß das Gedicht von Paz drei Zeilen hat, eine
konventionelle Naturmetapher sowie einen syntaktischen und
semantischen Parallelismus enthält, sind beschreibende Aussagen
- wenn auch bereits mit abnehmender Eindeutigkeit. Auch den
folgenden Satz aus Eduards Interpretation möchte ich noch als
eine beschreibende Kennzeichnung verstehen: »Durch die Zufü-
gung der abschließenden Zeile werden auch die beiden anderen
erneut - und jetzt definitiv - aufgeladen.« Diese (noch) beschrei-
bende Charakterisierung benennt und beleuchtet ästhetische
Qualitäten des Gedichts, Qualitäten also, die für seine Aus-
drucksfunktion entscheidend sind, noch ohne diese Funktion
selbst zu charakterisieren. Das gleiche tun die auf materialer
Ebene zuschreibenden Sätze, die freilich einer interpretativen
Deutung und definitiven Bewertung bereits engere Grenzen zie-
hen. Zuschreibungen benennen metaphorische Eigenschaften ih-
res Gegenstandes. Eduards Behauptung, das Paz-Gedicht habe
etwas Flüchtig-Leichtes, ist hierfür ein Beispiel. Damit ist für
(s)eine Interpretation sicher etwas Entscheidenderes gesagt, als
etwa mit der Feststellung, das Gedicht sei kurz. Die Valenz dieser
Zuschreibung ist aber soweit noch durchaus offen: was Flüchtig-
keit hat, kann dennoch flüchtig gemacht sein oder diese Flüchtig-
keit zum Nachteil seiner poetischen Wucht enthalten. Obwohl
also die materialen Charakterisierungen selektive und gewich-
tende Aussagen machen über Qualitäten, die für die ästhetische
Qualität von Bedeutung sind, wird mit diesen Charakterisierun-
gen doch weder über Gehalt noch Qualität entscheidend befun-
den. Befunden wird über die primäre Artikuliertheit des ästheti-
schen Materials, ohne schon über Kraft und Bedeutung dieser
Artikulation zu befinden.
Das Zeitadverb »schon« jedoch könnte irreführen: denn die
Wahrnehmung und explikative Bestimmung ästhetisch-materia-
ler Qualitäten geht dem Auffinden ästhetisch-funktionaler Qua-
litäten nicht irgendwie vorher, sondern geht mit dieser notwen-
dig zusammen. Eine Gegenstandsbeschreibung, die nicht auf der
vermutenden Suche nach ästhetischem Ausdruck wäre, ist eben
keine ästhetische Beschreibung; dasselbe gilt für metaphorische
Kennzeichnungen. u 4 Materiale Charakterisierungen fungieren
als solche nur im Hinblick auf eine behauptete oder gesuchte
ästhetische Funktion. Die ästhetische Beschreibung und Zu-
schreibung leistet immer schon eine Verständigung über das
Interesse, das wir an dem Gegenstand dieser Charakterisierung
nehmen oder genommen haben. Diese Verständigung ist elemen-
tar nicht in einem zeitlichen, sondern im logisch-begrifflichen
Sinn. Sie geht der ästhetischen Wertung und Interpretation nicht

188
prinzipiell vorher oder folgt ihr prinzipiell nach; sie erkundet
und klärt, was es ist, dem ästhetische Relevanz beigemessen und
dem dieses und jenes Maß der Gelungenheit zugesprochen wird.
Urteile über die funktionale Relevanz ästhetischer Gegenstände
setzen Annahmen über deren ästhetischen Korpus nicht voraus,
sondern mit.
Den Text von Paz für ein Gedicht, einen ästhetischen Text also
(und überdies ein Produkt der Kunst), zu halten, bedeutet aus
begrifflichen Gründen, an ihm eine Reihe ästhetisch materialer
Eigenschaften wahrzunehmen. Ohne materiale Relevanz keine
funktionale und umgekehrt. Die Behauptung der ästhetischen
Relevanz eines Gegenstands schließt Behauptungen über den
ästhetischen Gegenstand dieser Relevanz notwendig mit ein.
Entsprechend schließt ein intersubjektiver Konsens über das
normative Faktum der Relevanz einen Konsens darüber ein, was
der Gegenstand dieser Übereinstimmung, was das Ästhetische
am materiellen Substrat des betroffenen Gegenstandes ist. Ware
dieses gemeinsame Mitverständnis nicht gegeben, so wäre der
vermeintliche Konsens im wörtlichen Sinn gegenstandslos. Aller-
dings ist es wichtig, die Grenzen dieser elementaren Möglichkeit
der Übereinstimmung nicht zu übersehen. Denn die einsame
oder gemeinsame Überzeugung, daß ein Gegenstand ästhetisch
relevant ist, besagt noch nichts Bestimmendes darüber, wie sehr
das Objekt ästhetisch von Interesse ist, wie hoch also die unter-
stellte Relevanz einzuschätzen sei. Anton, der Eduards Fund-
stück beim ersten Lesen lediglich »ganz hübsch« fand, mag die
eingebauten Parallelismen und die anhaftende Flüchtigkeit (usw.)
durchaus wahrgenommen haben, mag also durchaus denselben
ästhetischen Text gelesen haben, als er Eduard so provozierend
gleichmütig hat abfahren lassen. Ein Konsens über die Relevanz:
über den zumindest relativen Wert eines ästhetischen Objekts
und wesentliche der Eigenschaften, die es als ein ästhetisches
konstituieren; ein solcher Konsens schließt einen Konsens über
den Grad der Relevanz, den ästhetisch absoluten Wert des Ob-
jekts, über seine Gelungenheit also, nicht notwendigerweise mit
ein. Um das genauer zu verstehen, ist es nötig, auch im Bereich
der funktionalen Charakterisierung zwei Hinsichten der Be-
stimmbarkeit ästhetischer Objekte zu unterscheiden.
Neben der Differenz der Urteile über Relevanz und Gelungen-
heit ist der weitere Unterschied zwischen Aussagen über den
Grad der Relevanz und solchen über die Art des ästhetischen
Gehalts von entscheidendem Gewicht. In abkürzender Rede
zeigt sich hier die Differenz von (Aussagen über) Gelungenheit
und Bedeutung. Sowenig nämlich die Behauptung der ästheti-
schen Relevanz schon eine dezidierte Stellungnahme zur ästheti-
schen Gelungenheit enthält, sowenig gibt eine Stellungnahme
zum Grad der Gelungenheit bereits eine Bestimmung des ästheti-
schen Gehalts, auf dessen Erfahrbarkeit oder Ermangelung dieses
ästhetische Urteil sich notwendigerweise stützt. Ein Konsens
über den Umstand der Gelungenheit schließt einen interpretati-
ven Konsens nicht zwangsläufig mit ein. Ein ästhetischer Kon-
sens im vollen Sinn des Wortes freilich muß beides mit einschlie-
ßen, ebenso wie ein Konsens über ästhetische Relevanz eine
übereinstimmende Charakterisierbarkeit der ästhetisch elementa-
ren Phänomenalität des betreffenden Gegenstandes mit umfaßt.
Und natürlich wird ein Konsens hinsichtlich der ästhetischen
Gelungenheit einen über die Relevanz des beurteilten Gegenstan-
des immer mit einschließen. Denn während Behauptungen zur
ästhetischen Relevanz auf dem Niveau materialer Kommentie-
rungen erläutert werden, werden Behauptungen zur Gelungen-
heit, die eigentlich ästhetischen Urteile, durch eine weitergehende
Charakterisierung der ästhetischen Funktion gestützt, die ihrer-
seits auf der material beschreibbaren und zuschreibbaren Phäno-
menalität des ästhetischen Zeichens fußt. Das Relevanzurteil, die
Anerkennung oder Aberkennung irgendeinesästhetischen Werts,
deutet über die ästhetische Ausdrucksqualität noch gar nichts an;
das in engerem Sinn ästhetische (Wert-)Urteil dagegen macht eine
Aussage zur Qualität der ästhetisch wahrgenommenen Qualitä-
ten. Es trifft Aussagen zur funktionalen Eminenz des ästhetisch
relevanten Objekts.
In seiner einfachen Form aber läßt auch dieses Urteil, das die
Intensität und Ergiebigkeit eines Wahrnehmungsvollzugs evalua-
tiv resümiert, den Gehalt des Wahrgenommenen noch durchaus
unbestimmt. Lediglich in der Wahl der Urteilsprädikate gibt die
ästhetisch definitive Wertbehauptung (oft) einen Hinweis auf Art
und Grund der vorgefundenen Qualität. Ob ein ästhetisches
Objekt als »schön«, »brillant«, »raffiniert«, »erhaben«, »zart«,
oder »vertrackt« bewundert oder als »scheußlich«, »zahm«, oder
»verblasen« mißbilligt wird, indiziert nicht selten einen Unter-
schied in der Sache, den der lobende oder tadelnde Satz freilich
nur andeutet, nicht aber selbst bestimmt. Diese »Unterschiede in
der Sache« rühren daher, als was ein ästhetisches Objekt gelun-
gen oder auf welche Art es mißlungen ist. Die genauere Bestim-
mung der Ausdrucksleistung ästhetischer Objekte obliegt der
ästhetisch-funktionalen Interpretation, deren Sätze Aussagen
machen über den Gehalt, über die Bedeutung ihrer Gegenstände.
Wahrend die Wertsätze des ästhetischen Urteils nur festhalten, ob
die ästhetische Artikulation reichhaltig oder armselig (ob der
Gegenstand in seiner Relevanz funktional eminent oder defi-
zient) ist, trifft die zuschreibende Interpretation Aussagen dar-
über, was der ästhetische Gegenstand intern artikuliert oder zu
artikulieren verfehlt. Dabei macht die funktional-interpretie-
rende Charakterisierung explizit, was die Basis der resümieren-
den Bewertung ist.
Nach Eduards Interpretation »hat« jenes Gedicht das Unvermu-
tet-Flüchtige, das dem Ankommen von Einfällen gleichsam na-
turhaft eignet. Mit dieser Spezifikation führt Eduard die meta-
phorische Charakterisierung, die zunächst allein das »Flüchtige«
des Gedichts auffällig macht, zu einer interpretativen Aussage
fort. Auch diese ist nicht beschreibend, sondern ebenfalls zu-
schreibend; aber auch jene erste begrenzte Zuschreibung kann
bereits als eine interpretative Zuschreibung gelten. Dennoch liegt
zwischen der metaphorischen Zuschreibung und ihrer interpre-
tativen Fortschreibung ein entscheidender Schritt. Die erste gibt
nur eine phänomenale, die zweite eine überdies funktionale
Charakterisierung der betreffenden Zeilen. Nur die zweite, er-
weiterte Aussage sagt etwas über die ästhetische Bedeutung des
Paz-Gedichts aus. Für Aussagen dieser Art möchte ich den Titel
der »Interpretation« oder »Deutung« reservieren; die ästhetisch-
materialen bzw. phänomenalen Charakterisierungen behandle
ich als Formen des mehr oder weniger interpretativen »Kommen-
tars«. Dieser hebt Aspekte am ästhetisch-semantischen Potential
eines Zeichens hervor - Keimzellen oder Brennpunkte des durch
sie möglicherweise dargebotenen Ausdrucks; die zuschreibende
Interpretation oder Deutung dagegen macht Aussagen über die
ästhetische Funktion der kommentierend benennbaren Eigen-
schaften und regionalen Charaktere des ästhetischen Materials.
So macht Eduard auf die Bedeutung der Zeilen von Paz aufmerk-
sam mit der interpretativen These, die Strophe sei das Notat einer
profanen Erleuchtung. Erläutert und erweitert wird diese Be-
hauptung durch Ausführungen wie diese: »Indem sie einen Au-
genblick der glückhaften Einsicht bannt, öffnet die kleine Stro-
phe den Blick für den Grund ihres eigenen Gelingens.« Die
Frage, wie solche Aussagen zu begründen sind, wird uns später
beschäftigen. Für Eduards Deutung ist der Eindruck des Flüch-
tig-Leichten - und ist die N achvollziehbarkeit dieses Eindrucks -
ersichtlich von entscheidendem Gewicht. Die Verfügbarkeit ma-
terialer Charakterisierungen ist also gewiß notwendig zur Recht-
fertigung ästhetischer Interpretationen; ob sie aber auch ausrei-
chend ist, muß vorerst offen bleiben.
Denn es kommt darauf an, ein weiteres Begründungsverhältnis
herauszustellen. Edaurd begründet seine Behauptung der Gelun-
genheit des Paz-Gedichts mit der interpretativen Aussage, es
handle sich hier um ein auch auf das eigene Gelingen bezogenes
Notat einer profanen Erleuchtung. Auch eine Analyse dieser
Form des Begründens ist jetzt noch verfrüht. Vorerst genügt es
festzuhalten, daß sich in Eduards eloquenter Reaktion auf das
Poem von Paz eine allgemeine Bedingung der ästhetisch werten-
den Wahrnehmung zeigt. Diese prägt auch die Reaktion der
stumm und staunend Genießenden, wenn sie denn ästhetisch
verstehend gebannt sind und genießen. Das dezidiert bewertende
Urteil (»Genial, mein Lieber, genial«), das über den Grad der
ästhetischen Relevanz befindet, ist begründbar - allein - durch
bestimmende Aussagen zur berückenden oder ermangelnden
Ausdrucksleistung der betreffenden Gegenstände. Die ästheti-
schen Interpretationsaussagen sind wesentlich evaluativer Natur,
weil Aussagen zum ästhetischen Gehalt zugleich der Art der
funktionalen Relevanz ihrer Gegenstände gelten. Wie zuletzt
Danto eindringlich klargestellt hat, würde eine wertneutrale
Wahrnehmung und Interpretation bereits die materiale Artiku-
liertheit und erst recht den präsentativen Ausdruck ästhetischer
Objekte im Ansatz verfehlen. »If it is an artwork, there is no
neutral way of seeing it; or, to see it neutrally is not to see it as an
artwork.« 121
Das hat weitreichende Konsequenzen. Denn die ästhetische In-
terpretation spricht ihren Objekten ästhetische Bedeutung, ästhe-
tisch erfüllte Artikulation, zu oder ab. Die entdeckende Wahr-
nehmung, auf die sich das ästhetische Werturteil beruft und
stützt, vollzieht auf einer zweiten Stufe den analogen Prozeß, den
die hypothetisch-erkundende Wahrnehmung in Betracht der ge-
gebenen oder mangelnden Relevanz eines Objektes vollzieht.
Und das Modell, nach dem sich diese »erste«, sprich: elementare,
vorkostende Prüfung vollzieht, ist ohne Zweifel jene »zweite«,
synthetische, auskostende Erkundung, die nicht nur auf das Daß
eines primären oder vermittelten Gehalts, sondern auf den ästhe-
tischen Gehalt unmittelbar zielt. Am ästhetischen Gehaltvollen
schließlich ist die ästhetisch testende Wahrnehmung gebildet und
geübt; und das Interesse auch am relativ Gelungenen ist aus dem
Verlangen und der Erfahrung des absolut Gelungenen motiviert.
Nur das ästhetisch Gelungene nämlich ist das ästhetisch unmit-
telbar Bedeutende; was ästhetisch autonome Bedeutung hat (und
nicht bloß erkennbar prätendiert), das ist gelungen. Nur das
Gelungene hat an sich selbst Bedeutung; nur »das Schöne ist sich
selber selig«. Das ästhetische Gelungene ist das, was ästhetisch
relevant ist, weil es für die aktuelle Wahrnehmung unbedingt
Bedeutung hat; das ästhetisch Relevante dagegen, das nicht ge-
lungen ist, ist von Bedeutung nur für anderes, das ästhetisch
gelungen ist oder gelingen könnte. Die Bedeutung dieses (be-
grenzt) Relevanten ist ästhetisch in einem abgeleiteten Sinn.
Denn nur das Gelungene ist ästhetisch relevant in dem doppelten
und vollen Sinn, daß es von Bedeutung ist, weil es ästhetisch-
autonome Bedeutung hat.
Diese Thesen führen auf eine Grundspur der ästhetischen Diffe-
renz. Der Unterschied zwischen ästhetischer Bedeutung und
derjenigen von (nichtästhetischen) Aussagen fällt unmittelbar ins
Auge. Die wörtliche Bedeutung einer Aussage bleibt sich gleich,
ob wir sie nun für wahr halten oder nicht. Die Bedeutung des
Satzes »Einige Tiger sind grün« ist evident, auch wenn wir von
der sachlichen Richtigkeit nicht überzeugt sind. Sie würde sich
nicht ändern, wenn er durch das Auftreten naturgrüner Tiger
überraschend verifiziert würde. Bei ästhetischen Zeichen dagegen
verhält es sich so, daß mit der Bewertung ihrer Angemessenheit
auch das Verhältnis ihrer Bedeutung sich radikal ändert. Wer das
Paz-Gedicht läppisch findet, wird nicht das an ihm finden, was
Eduard an ihm findet. Er wird keinen erheblichen Bedeutungs-

193
unterschied sehen zwischen den Zeilen von Paz und dem Elabo-
rat seines Doppelgängers ,Paz,:
der Himmel reißt den Vorhang auf
drei Strahlen treffen
auf diese zitternden Zeilen
Natürlich ist das ein ganz anderer Text als derjenige des wahren
Paz. Die Wcirter, die Stilfiguren, die Korrespondenzen sind
andere. Auch ist das Gedicht des unbekannten Schreibers weni-
ger »leicht« als das des bekannteren Dichters; dafür bedient es
sich eines dynamischeren Vokabulars. »Aber egal«, sagt der Paz-
Verächter, »im Ganzen gesehen handelt es sich bloß um zwei
Versionen derselben Einfallslosigkeit, die mit lyrischer Anma-
ßung dargeboten wird; wenn den Poeten die Luft ausgeht, ma-
chen sie beschauliche Syllogismen aufs eigene fruchtlose Schrei-
ben.« -Aus dem Hintergrund Eduards Stimme: »Auch das muß
man können!« - Der Verächter kühl: »Also ehrlich, hätt' ich
nicht gewußt, welches das vom echten Paz ist - ich hätt's nicht
gewußt.« - Eduard, der Verehrer: »Banause!«
Ich unterstelle, daß es ungefähr klar ist, wie Eduard dem Banau-
sen fluchend und zeigend zu Leibe rücken wird (ich werde damit
gelegentlich weiter spielen). Es lohnt sich, das Beispiel noch
anders zu wenden. Es ist denkbar daß ,Paz, Eduards Interpreta-
tion des Paz-Gedichts zu lesen bekommt und in der lobeshungri-
gen Aufregung der ersten Lektüre tragischerweise glaubt, es sei
von seinem (an obskurer Stelle veröffentlichten) Gedicht die
Rede. Er nimmt nur die Sätze auf, die den Text nicht zitieren,
sondern bündelnd über ihn sprechen. In ihm jubiliert es: endlich
werde ich gewürdigt, wie es mir gebührt - das war es doch,
worum es mir ging! Das Gedicht von Paz, wie es in Eduards
Deutung sich liest, hätte die Bedeutung (oder eine wesentliche
der Bedeutungen), die ,Paz, mit seinem Machwerk hat artikulie-
ren wollen - nur halt, wie ich mit Eduard annehme, völlig
verfehlt hat. Er hat wenn nicht diese, so doch überhaupt eine
ästhetisch prägnante Bedeutung so sehr verfehlt, daß man sich
streiten kann, ob das Produkt ästhetisch überhaupt ernst genom-
men werden soll. Eduard würde seine Relevanz glatt bestreiten -
wenn es nicht so ein wunderbares Beispiel wäre für die oft
minimale Differenz zwischen fatalen und genialen Kurzgedich-

194
ten. Eduard würde seine Relevanz sofort bejahen, wenn bekannt
würde, daß die drei abgewandelten Zeilen aus der Feder des
wahren Paz stammen und eine Vorfassung der endgültigen Ver-
sion darstellen - sie wären ein Beispiel zugleich der selbstkriti-
schen Könnerschaft des Autors Paz. Für sich genommen bleibt
das lyrische Erzeugnis allemal mißraten. Für sich genommen hat
es keine ästhetische Bedeutung; es ist lediglich symptomatisch für
eine (zunächst) verkümmerte poetische Intention. Relevant ist es
nur insofern, als es ästhetisch signifikant ist, nicht aber weil es an
sich selbst ästhetisch von Bedeutung wäre. Gäbe es die sekundä-
ren Gründe für seine ästhetische Beachtung nicht, gäbe es keinen
Anlaß, dem Konglomerat aus stumpfer Metaphorik, dürftiger
Logik nebst isolierter Assonanzbildung die vom Autor gewiß
behauptete ästhetische Form tatsächlich nachzusagen. Statt einem
konstitutiven Minimum an ästhetischer Einheit, einer wechsel-
weisen Korrespondenz von Ausdrucksmitteln (die sich im glück-
lichen Fall zu einer Korrespondenz der Korrespondenzen ver-
dichtet), hätten wir in der Tat nichts anderes vor uns als das
schiere Dokument der ambitionierten Einfallslosigkeit. Nicht
nur die autonome Bedeutung, wohl auch die Relevanz wäre ihm
abzusprechen. Sein verbleibender Dokumentcharakter jedenfalls
hätte mit einer ästhetischen Bedeutung im strikten Sinn nichts zu
tun. Denn weder die schlechten noch die vermeintlichen Kunst-
werke bedeuten, daß sie schlecht sind. Andernfalls gäbe es aus-
schließlich gute, weil die schlechten ihre Wahrheit darin hätten,
offen und unverfroren schauderhaft zu sein. 126
Das ästhetisch Triviale ist ästhetisch falsch; und das ästhetisch
Verfehlte ist für sich genommen ästhetisch bedeutungslos. So läßt
sich der Unterschied der ästhetischen zur propositionalen Bedeu-
tung mit kurzen Worten benennen. Freilich wäre es trügerisch,
die radikale Differenz zwischen ästhetischer und nichtästheti-
scher Bedeutung in ihren methodischen Folgen für die Erklärung
dieser Arten des Bedeutens zu überschätzen. Hier wie dort
nämlich ist letztlich das konstativ oder ästhetisch Angemessene
(die begründete und glücklich plazierte Behauptung, das als
gelungen erfahrene Kunstwerk) das Modell, an dem theoretisch
verstanden werden muß, was die Frage nach Wahrheit bzw.
Gelungenheit und was die begründete Antwort auf diese Frage
hier wie dort heißt. Zwar tut sich hier sofort ein erneuter
195
Unterschied auf: sofern sich in der Begründung eines assertori-
schen Satzes die Wahrheit (und die Gelungenheit der Behaup-
tung) dieses Satzes erweist, während die Rechtfertigung einer
positiven ästhetischen Wertbehauptung dazu dient, die Gelun-
genheit des Gegenstands der evaluativen Aussage zu erweisen
(sofern eben Wertaussagen wie die ästhetischen nicht direkt auf
die Beschaffenheit, sondern auf die angemessene Beschaffenheit
ihrer Gegenstände zielen). Aber diese Besonderheit - die im
übrigen keine ästhetische Besonderheit ist - ändert nichts daran,
daß in beiden Fällen der Sinn einer Artikulationsform an Beispie-
len der jeweils überzeugenden oder akzeptablen Artikulation
erläutert werden muß.
Auch diese Parallelität im Andersartigen wird gerne verzerrend
interpretiert. Es ist klar, daß der Begriff der Behauptung den der
Wahrheit impliziert und doch nicht nur die wahre Behauptung
eine Behauptung ist. Aus der intimen Konnexion von ästheti-
scher Gelungenheit und ästhetischem Gehalt aber scheint zu
folgen, daß im ästhetischen Bereich nur das emphatisch Adäquate
den Titel des ästhetisch oder kunstästhetisch Relevanten verdient.
Diese Position hat Adorno energisch vertreten. »Der Begriff des
Kunstwerks impliziert den des Gelingens. Mißlungene Kunst-
werke sind keine, Approximationswerte der Kunst fremd, das
Mittlere ist schon das Schlechte.«127 Obwohl Behauptungen wie
diese aus der Erkenntnis der gerade beschriebenen Besonderheit
des ästhetischen Ausdrucks formuliert sind, ist doch die Identifi-
zierung des Ästhetischen mit dem ästhetisch autonom Bedeuten-
den (und darum einmalig Gelungenen) nicht einmal im Bereich
des Kunstästhetischen plausibel. Die dogmatische Gleichsetzung
des Ästhetischen mit dem emphatisch Gelungenen mag in be-
stimmten Zusammenhängen eine heilsame Vereinfachung sein;
dem ästhetischen Verhalten insgesamt aber wird sie nicht gerecht,
weil sie den urteilenden Subjekten ein absolutes Wissen, eine
magische Intuition für das Gute zumutet, das der erwägenden
und eben auch: abwägenden Beurteilung gar nicht bedarf (zu
schweigen von den oben erwähnten - und von Adorno weidlich
genutzten - Verständigungsmöglichkeiten, die gerade das riskant
und bizarr Mißlungene der ästhetischen Kommunikation öffnen
kann). Wie es bessere und schlechtere Aufführungen und Inter-
pretationen von Werken gibt, so gibt es bessere und schlechtere
Werke (zumal auch innerhalb eines Oeuvres!). Es hat keinen
Sinn, die Gradualität der ästhetischen Wertschätzung zu Ehren
der überragenden Werke einfach zu leugnen; indem diese die
relativierende Begutachtung sprengen, erweisen sie sich als über-
ragend. So gewiß also das emphatisch Gelungene jenseits des
mehr oder weniger Gehaltvollen steht, so gewiß steht das weni-
ger Bedeutende noch oft auf der Seite des ästhetisch Bedeutenden
und steht das Unbedeutende nicht selten dennoch im Bezirk des
Ästhetischen und sogar der Kunst. 128
Denn das präsentativ Artikulierte ist nicht notwendig eine be-
deutsame Präsentation. Auch der ästhetisch aufgefaßte Salz-
streuer wurde für einen kurzen Moment in seiner präsentativen
Struktur besehen; alles und jedes kann wie ein ästhetisch Bedeu-
tendes besehen, gelesen, angehört werden (soviel haben die Flu-
xus-Inspiratoren der ästhetischen Wahrnehmung schon erspielt).
Nur heißt das nicht, daß alles und jedes eine ästhetisch autarke
Bedeutung hat. Der plumpe Salzstreuer trägt keine der Zuschrei-
bungen, mit denen ich ihn ästhetisch zu entzünden versuclie. Das
ästhetisch Relevante hingegen, das mißraten ist, hat eine nach-
weislich präsentative Struktur, auch wenn der Nachweis ihrer
Erheblichkeit in extremen Fällen (wie jenem Gedicht von ,PaZ<)
die externe Begründung eines speziellen Interesses am kargen
Potential des betreffenden Gegenstands verlangt. Ästhetische
Bedeutung im strikten Sinn hat nur das leidlich gelungene oder
schöne Objekt; nur hier führt der Nachweis seiner ästhetischen
Struktur bruchlos auf die Explikation seiner immanenten Bedeu-
tung.
Obwohl diese Klarstellung der Analyse der Bedeutung ästheti-
scher Bedeutung erheblich vorausgreift (indem sie auf den Vor-
griff des vorigen Kapitels zurückgreift), ist es möglich, diesen
Zusammenhang thetisch zu resümieren - ohne die Entschuldi-
gung, es sei alles nur vorläufig gemeint. Ästhetisch sind die
Gegenstände, die nach Merkmalen der präsentischen Artikula-
tion besehen (wahrnehmend erkundet) werden. Ästhetisch (über-
dies) relevant sind Gegenstände, für die sich eine präsentative
Struktur behaupten läßt- und sei es nur, daß sich ein vermitteltes
Interesse an ihrer unerfüllten Artikuliertheit begründen läßt.
Ästhetisch (überdies) gelungen oder schön (usw.) sind die prä-
sentativen Gegenstände, die ästhetisch intern Bedeutung haben,

1 97
so daß die Erläuterung ihrer Relevanz nicht auf Aussagen zur
Genese und Genealogie dieser Objekte zurückgeführt werden
muß; hier läßt sich am Objekt ein präsentativer Gehalt behaup-
tend vergegenwärtigen (wobei ein Wissen über Herkunft und
Kontext allemal von Nutzen ist).
Für die anfängliche Bestimmung der ästhetischen Relevanz folgt
hieraus eine leichte Korrektur. Das ästhetisch Relevante ist ent-
weder das ästhetisch im vollen Sinn Bedeutende - das präsen-
tative Zeichen, das seinen Artikulationsmodus erfüllt; oder aber
der Gegenstand, der wegen seiner (wie immer wenig erfüllten)
präsentativen Struktur für die Erfahrung des Bedeutenden und
die Auseinandersetzung um diese Erfahrung von Bedeutung
ist. 129 Mit »präsentativer Struktur« ist wiederum der Zusammen-
hang der materialen Ausdruckseigenschaften gemeint. Diese
Struktur ist »erfüllt«, wenn die Funktion, mit der sie als relevante
erkennbar werden, die eines internen Ausdruckszusammenhangs
ist - wie bei dem Gedicht von Paz; diese Struktur ist nicht
»erfüllt«, wenn die gesuchte Ausdrucksfunktion lediglich die
eines externen Aufschlusses über ästhetische (oder auch nicht-
ästhetische) Zusammenhänge ist - wie im Fall des Gedichts von
,Paz,, solange dieses als ästhetisch relevantes Erzeugnis - als
Gedicht - überhaupt anerkannt wird. In beiden Fällen der ästhe-
tischen Relevanz (des Gelungenen und des Mißlungenen) ist der
ästhetische Gegenstand das Ausdruckspotential, das die materiale
Kommentierung beschreibt. Denn zwar ist der ästhetische Ge-
genstand der Gegenstand eines interpretativen Wahrnehmens,
aber die ästhetisch wahrnehmende - die funktional konkretisie-
rende - Interpretation ist nicht der ästhetische Gegenstand. Ge-
wiß ist das ästhetische Potential das Potential für diese Konkreti-
sierungen, gerade deshalb aber muß der ästhetische Gegenstand
von den Formen seiner aktualisierenden Aneignung unterscheid-
bar bleiben. Und obwohl der relevant mißlungene Gegenstand
mit dem gelungenen und schönen die allgemeine Struktur der
ästhetischen Relevanz teilt, ist die Rede vom ästhetischen Poten-
tial von der wahrnehmungsleitenden Erwartung, es möge sich aus
ihm eine intern erfüllte Bedeutung entfalten, keineswegs trenn-
bar. Darum verweist der Begriff der ästhetischen Relevanz auf
den des gelungenen Werks. Und auch die Einigkeit über das
Faktum der Gelungenheit ist oft nur die beste der guten Gelegen-
heiten, eine ästhetische Auseinandersetzung zu führen: als einen
Streit über die Bedeutung des Gelungenen. Den Regeln dieses
von Kant konzedierten Streitens sind wir noch immer auf der
Spur.
Die Möglichkeit der ästhetisch und kunstkritisch argumentieren-
den Verständigung liegt grundsätzlich in der Erreichbarkeit eines
Einverständnisses darüber, wovon bei allem möglichen Dissens
jeweils die Rede ist. Das besagt nicht, daß es eine schlechthin
neutrale Basis der ästhetisch interpretativen Auseinandersetzung
gibt. Was immer als unproblematisch »neutrale« Verständigungs-
basis erscheint, mag für jeweils diese Verständigung eine unbe-
streitbare Ausgangslage sein; der mindestens nötigen gemeinsa-
men Beschreibungssprache, mit der die noch (funktional) unin-
terpretierte Identität eines ästhetischen Gegenstandes angebbar
ist, müssen wir uns an diesem Gegenstand oft erst kommunikativ
versichern. Eine Kontroverse über die funktionale Relevanz
ästhetischer Objekte muß als eine Verständigung auch über den
Fundus der materialen Relevanz, über das elementar Charakteri-
stische der umstrittenen Gegenstände geführt werden, um als ein
Konflikt verschiedener Deutungen überhaupt zu greifen. Wäh-
rend Krisen und Konflikte der ästhetischen Deutung und Wer-
tung nicht immer in der Umwälzung beherrschender Konzeptio-
nen der ästhetischen Gegenständlichkeit ihre Ursache haben, sind
ästhetische Revolutionen in aller Regel Erschütterungen der Auf-
fassung, was in einem gegebenen Zusammenhang als ästhetisches
Material überhaupt zählen darf, kann, muß. Die ästhetische
Entdeckung der Natur öffnet dem Auge ein völlig neues Feld des
ästhetisch Wahrnehmbaren (und der ästhetischen Produktion
einen originären Quellgrund darbietender Energien). Die Ent-
wicklung der Photographie nimmt der nachkommenden Porträt-
malerei die souveräne Verfügung über die (oft zugleich materiale
und funktionale) Qualität der »getreuen« Darstellung. Bei Ce-
zanne gewinnt das Durchscheinen der unbehandelten Leinwand
eine ästhetisch zentrale Qualität, die für die Lebendigkeit der
Bildfläche verantwortlich ist. Die architektonische Ästhetik der
kahlen Fläche macht das scheinbar Ausdruckslose zur ästhetisch
konstitutiven Eigenschaft. Der Tonfilm macht die Stummheit
seines Vorgängers auf neue Weise sprechend und macht die
schauspielerisch extreme Artikulation auf lange Zeit stumm. Die
1 99
frühen Filme Warhols machen das Fehlen eingreifender Schnitt-
folgen zur ästhetisch aufreizenden Qualität. Die photorealisti-
sche Malerei gibt dem Pathos des Abbildens ihre ehemals meta-
physische Würde mit ironischer und reflexiver Gewalt zurück.
Aus den Bewegungen und Sprüngen der Dialektik von materialer
und funktionaler Relevanz lassen sich die spannendsten Ge-
schichten aus der Geschichte der ästhetischen Erfahrung erzäh-
len. Die Selbständigkeit der Kunstwerke gegenüber den Interpre-
tationen, die sie ästhetisch zur Geltung bringen, setzt diese nicht
außerhalb der Geschichte. Im Gegenteil. Nur solange der ästhe-
tische Gegenstand eine fortdauernde Geschichte des interpre-
tativen Wahrgenommenwerdens hat, solange nur wird er seine
Selbständigkeit im Prozeß der deutenden Aneignung bewahren;
andernfalls wird er zum biographischen und historischen Doku-
ment. Das ästhetisch Bedeutende lebt von und mit der Auseinan-
dersetzung um seine Bedeutung. Freilich ist die Gewordenheit
und Gewachsenheit ästhetischer Konventionen und ist die Dyna-
mik und Dialektik ästhetischer Revolutionen hier nicht das
Thema. Hier geht es darum, wie ästhetische Konventionen aufge-
nommen und gekündigt werden, auf welche Art ästhetische
Positionen verteidigt und bestritten werden können: um die
Fundierung der ästhetischen Praxis im Prozedere der ästheti-
schen Beurteilung. Dabei wäre es verfehlt, sich den Begriff des
Ästhetischen durch vage Bestimmungen des Akzeptierten oder
Exzeptionellen äußerlich vorgeben zu lassen. Ästhetisch ist nicht
das konventionellerweise Ästhetische und auch nicht das, was
sich keiner Konvention je fügt, sondern das (wie immer konven-
tionell oder unkonventionell) in der ästhetischen Wahrnehmung
Relevante. Dabei kommt es hier nicht darauf an, zu sagen, was
relevant ist und was nicht, sondern zu erkennen, wie wir uns
klarmachen und anderen sagen, was relevant ist und wie wir das
Relevante vom Irrelevanten, das Gelungene vom Mißlungenen,
die plausible Deutung von der irreführenden unterscheiden.
Wäre ein Leser davon überzeugt, daß ,Paz, das Genie und Paz
der Dilettant ist, daß also Eduard und Seel die Banausen sind und
nicht der von ihnen namenlos als Banause Gescholtene, so wäre
dieser ästhetische Vorbehalt alleine noch kein Argument gegen
das, was diese Seiten theoretisch behaupten; es läge auf Seiten des
Lesers nur ein allerdings kapitaler Bruch des Vertrauens auch in

200
die theoretischen Intuitionen des auf dem konkreten Gebiet
seiner abstrakten Überlegungen so sträflich inkompetenten Au-
tors vor. So fern und so nah stehen sich das ästhetische und das
theoretische Urteil im Gehege der Ästhetik.

Der erste Schritt in der Analyse des Sinns ästhetischer Urteile hat
auf die Unterscheidung von Stufen der Relevanz ästhetischer
Phänomene geführt. Es handelt sich dabei um Stufen der unter-
schiedlich elementaren Bewertung des Ausdruckspotentials
ästhetisch wahrgenommener Gegenstände; sie müssen zugleich
verstanden werden als Niveaus der möglichen intersubjektiven
Übereinstimmung über Objekte und Bereiche der ästhetischen
Erfahrung. Relevanz, Gelungenheit, Bedeutung - das Verhältnis
dieser drei Größen macht den Zusammenhang des ästhetischen
Interesses zu seinen Gegenständen aus: den Zusammenhang, der
konstitutiv ist für das ästhetische Verhalten. Der Begriff des
Ästhetischen verweist auf den der ästhetischen Relevanz und
dieser auf den Begriff des ästhetisch Gelungenen, der seinerseits
auf die besondere Bedeutung des ästhetisch Bedeutenden ver-
weist. Die methodischen Konsequenzen sind klar. Es zeigt sich,
daß eine Klärung des Begriffs der ästhetischen Bedeutung letzt-
lich der Schlüsselist zum Verständnis der ästhetischen Relevanz
und Gelungenheit, die ihrerseits der natürliche Ausgangspunkt
sind für die Frage nach der ästhetischen Bedeutung. Weil die
Beurteilung der Gelungenheit gegenüber derjenigen der Relevanz
die speziellere ist; und Aussagen zur ästhetischen Bedeutung eine
wiederum speziellere Bestimmung ästhetischer Objekte geben als
die resümierende Wertbehauptung dies tut; und doch Relevanz
und Gelungenheit im Interesse am Bedeutenden beurteilt wer-
den: darum kann erst die eingehende Erörterung des speziellsten
der ästhetischen Grundbegriffe, der ästhetischen Bedeutung also,
den hier projektiv umrissenen Zusammenhang von Bestimmun-
gen begrifflich auch besiegeln. Bis dahin muß ich für vier weitere
Abschnitte die Geduld der Leser fordern.

201
b) Das ästhetische Urteil

Nach einer ersten Verständigung darüber, wovon in der Rede


vom Ästhetischen die Rede ist, kommt es als zweites darauf an,
zu sehen, was in Stellungnahmen der ästhetischen Kritik eigent-
lich ausgesagt wird. Die vorangegangenen Betrachtungen legen es
nahe, das ästhetische »Sprachspiel der Kritik« als einen Zusam-
menhang mehrerer Sprachformen zu begreifen. Dabei ist der
Stellenwert der Sätze, die üblicherweise »ästhetische Urteile«
genannt werden, offenkundig zentral; denn diese resümieren
(und antizipieren oft zugleich) das Lohnende der Wahrnehmung,
dessen nähere Bestimmung den material und funktional charakte-
risierenden Aussagen vorbehalten bleibt. Die Besonderheit dieser
ästhetischen Beschreibungen und Interpretationen ist nur zu
verstehen aus dem Beitrag, den sie zur Stützung und Erläuterung
ästhetischer Wertbehauptungen leisten oder leisten können. Vor
einer detaillierten Klärung der ästhetischen Begründungsstruktur
muß folglich erörtert werden, was hier eigentlich zur Begrün-
dung steht: welchen Anspruch auf Geltung die Sätze erheben, die
in ästhetischen Argumentationen zur Begründung stehen.
Da sich an der allgemeinen Struktur ästhetischer Urteile wenig
ändert, ob sie nun dem ästhetisch Relevanten im weitesten Sinn
oder ob sie kunstästhetischen Phänomenen gewidmet sind, werde
ich mich in den folgenden Abschnitten vorrangig auf den Sinn
kunstkritischer Stellungnahmen konzentrieren. Das Recht dieser
repräsentativen Behandlung wird bei Gelegenheit wieder zu prü-
fen sein.
Wenn ein Kunstwerk als gelungen oder mißlungen, schön oder
unschön, erhaben oder banal, brillant oder fade (usw.) beurteilt
wird, so wird mit diesen evaluativen Behauptungen allemal ge-
sagt, inwiefern der betreffende Gegenstand in ästhetischer Hin-
sicht gut oder schlecht ist. Das gilt ebenso für komparative
Bewertungen; und es gilt unabhängig davon, mit welchen Prädi-
katen der ästhetischen Wertschätzung Ausdruck gegeben wird:
,irre< und ,genial,, ,bescheuert< und ,widerlich, können hier
ebenso prägnant Verwendung finden wie das neutralere ,gelun-
gen,, an das ich mich aus Gründen der Einfachheit weiterhin
halte. Die ästhetische Qualität als eine Spezies des Guten zu
verstehen, heißt zunächst nichts anderes als die Aussagen, in

202
denen über diese Qualität befunden wird, zur vielgestaltigen
Klasse der Wertsätze zu zählen. Über den allgemeinen Status
dieser Sätze gibt Tugendhat die folgende Auskunft. »Wenn wir
uns überlegen, was wir meinen, wenn wir von etwas sagen, es sei
gut, so geht es offenbar nicht um eine deskriptive Eigenschaft, die
der Gegenstand an und für sich hat, sondern um eine Eigenschaft,
die der Gegenstand dank unseres Wollens und Wünschens hat.
Wenn ich sage ,das ist gut,, so meine ich: ich bin dafür, es drückt
sich darin eine praktische Zustimmung aus; in ,es ist schlecht,
Ablehnung.« Im Unterschied zu rein subjektiven Präferenzbe-
kundungen (»ich mag das (nicht)«; »das gefällt mir (nicht)«) aber
wird »mit ,gut, nicht nur überhaupt ein Vorzug, eine Wahl zum
Ausdruck gebracht (... ), sondern eine objektive, begründete
Wahl.«' 30 Die in der Wertbeurteilung formulierte Einschätzung
drückt die Zustimmung zu einer bestimmten Verhaltensweise
aus, aus der die beurteilten Gegenstände als gut oder schlecht
erscheinen. In den objektiven Wertsätzen wird von einem be-
stimmten Verhalten behauptet, daß es einer Sache oder Situation
(mehr oder weniger) angemessen ist. Der Gebrauch dieser Sätze
reicht von der technischen Anweisung über die moralische Beur-
teilung bis zum persönlichen Rat. 'JI
Sollte es sich auch bei den ästhetischen Urteilen um objektive
Wertbehauptungen handeln, müßte ihr besonderer Status inner-
halb der von Tugendhat gegebenen Charakteristik dieser Wert-
sätze zu lokalisieren sein. »Es sind Aussagesätze, also Sätze, die
einen Objektivitätsanspruch, einen Wahrheitsanspruch erheben,
ohne daß doch bisher schon zu sehen ist, wie dieser Anspruch
einzulösen ist. Was diese Sätze so besonders merkwürdig macht,
ist, daß sie einem Gegenstand einerseits eine objektive Eigen-
schaft zusprechen, daß aber diese Eigenschaft auf unser subjekti-
ves, voluntatives Verhalten verweist, auf die Vorzüglichkeit des
Gegenstandes für uns, aber auf diese Vorzüglichkeit wiederum
so, daß diese als eine objektive angesehen wird, als eine, die für
uns maßgebend ist, nicht von uns ausgeht.«' 32 Diese Erläuterung
erinnert daran, daß nicht allein die ästhetischen Werturteile pro-
blematische Gebilde sind: neben vielleicht den moralischen sind
es nur diejenigen, bei denen sich die Problematik am meisten
verwickelt. Denn genau die Alternative zwischen subjektiver
Wahl und objektiver Begründung scheint hier nicht zu greifen.
Diese Intuition hat schon Kant mit der Wendung von der »sub-
jektiven Allgemeinheit« ästhetischer Urteile in paradoxer Genau-
igkeit formuliert: weder tut die ästhetische Bewertung nur eine
private Beziehung kund, noch kann sie sich auf einen verbindli-
chen Maßstab der evaluativen Charakterisierung stützen. »Eben
darum aber muß auch die ästhetische Allgemeinheit, die einem
Urteile beigelegt wird, von besonderer Art sein, weil sich das
Prädikat der Schönheit nicht mit dem Begriffe des Objekts, in
seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet, verknüpft und doch
eben dasselbe über die ganze Sphäre der Urteilenden aus-
dehnt.«'33 Keine wie immer sensible Beschreibung des ästheti-
schen Objekts, so argumentiert Kant, kann einen hinreichenden
Grund dafür abgeben, es für ästhetisch gut oder schlecht zu
befinden - »weil jene Art Urteile gar nicht auf das Objekt
geht.«' 34 Dennoch wird der Urteilende unterstellen, daß seine
Beziehung zum Objekt angemessen ist - denn sonst könnte er
den anderen die Übereinstimmung nicht einmal »ansinnen«, die
er nach Kant mit strikten Gründen ohnehin nicht fordern
kann. 'Jj Es ist wichtig zu sehen, daß die ästhetisch prekäre
Ambivalenz auch in Tugendhats Bestimmung der Wertsätze von
vorneherein eingebaut ist. Auch das »für uns« Relevante bezieht
sich ja auf unsere Bedürfnisse und Interessen: nur eben nicht in
der Weise, daß die Bewertung dieser Relevanz ausschlaggebend
von unserer affektiven Betroffenheit, genauer gesagt: von der
Unmittelbarkeit unserer je privaten Neigungen - und in diesem
Sinn allein »von uns« - abhängt. 136 Für die unterschiedlichen
Arten der Wertbegründung, so ist zu vermuten, wird ein je
unterschiedliches Verhältnis dieser beiden Pole festzustellen
sem.
Die Unterschiede, die hier zu erwarten sind, werden Unter-
schiede auch in der Objektivität des mit begründeten Wertsätzen
Gesagten sein. Nach Tugendhat reicht die Objektivität von
Wertsätzen im allgemeinen so weit, wie es intersubjektive Krite-
rien und damit etablierte Begründungsverfahren gibt, auf die sich
eine Bewertung stützen kann. Im Fall der relativen Wertbeurtei-
lung, dort also, wo »gut« soviel bedeutet wie »gut für diesen
Zweck, diese Funktion«, liegt das entscheidende Kriterium letzt-
lich in der empirisch feststellbaren - kausalen - Wirkung, die der
bewertete Faktor zur Erreichung des vorgegebenen Zwecks bzw.

204
zur Erfüllung der angegebenen Funktionen hat. Von dieser in-
strumentell-relativen Wertbeurteilung unterscheidet Tugendhat_
einige Formen der selbständigen Verwendung von »gut« und
»besser«; das Wort »gut«, so kann man sagen, bedeutet hier nicht
gut für etwas, sondern gut als etwas. Diese Verwendung liegt
nicht nur in der Begründung persönlicher Präferenzen vor, wo es
darum geht, die für mich beste Handlungs- und Lebensweise zu
erkennen (das nichtinstrumentelle »gut für mich« geht letztlich
immer auf ein »gut als«, auf die attributive Qualifizierung einer
Lebens- und Handlungsweise zurück). Diese Verwendung ist
grundlegend auch in der moralischen Beurteilung, da die mora-
lisch guten Handlungsweisen nicht gut für das Erreichen indivi-
dueller und kollektiver Zwecke sind, sondern gut sind als Hand-
lungen, die ein möglichst freies Handeln in der gemeinsamen
Welt garantieren. 'l 7 Von dieser in einem (aristotelisch) weiten
Sinn ethisch zu nennenden Verwendung von Wertprädikaten nun
läßt sich mit Tugendhat eine weitere Form der nichtrelativen
Wertbeurteilung unterscheiden, die wie die moralische und die
existentielle Wertbehauptung von der instrumentellen Mittelwahl
abgehoben werden müssen. In Sätzen wie »das ist ein besserer
Wein als jener«, »dieses Musikstück ist besser als jenes«, »das ist
ein besserer Pianist als jener«, sagt Tugendhat, ist ein instrumen-
teller »Bezug auf eine Funktion und entsprechende Kausalsätze
gar nicht gegeben«. »Man kann diese Sätze als ästhetische Sätze
oder Geschmacksurteile bezeichnen. Hier basiert das Begrün-
detsein der Präferenz nicht auf irgend etwas in den Objekten, auf
Kausalzusammenhängen, sondern auf einem bestimmten Wie der
Präferenz selbst. Wir neigen hier dazu zu sagen: besser in diesem
Sinn ist dasjenige, das von einem in diesem Gebiet erfahrenen
Präferenzverhalten vorgezogen wird, und wir unterstellen, daß
das Präferenzverhalten aller Personen, sofern sie nur erfahren
genug sind, konvergiert.«' 38
Das ist so gewiß keine befriedigende Erklärung (und soll es an
seiner Stelle auch gar nicht sein); schon für den Fall der Prämie-
rung von Weinen - auf den ich unten näher zu sprechen komme -
bleiben Fragen offen, die sich für die Kunstbeurteilung auf
andere Weise und dringlicher stellen. Auf den ersten Blick er-
scheint Tugendhats Bestimmung rein zirkulär: ästhetisch vorzüg-
lich ist das, was von denen, die sich darauf verstehen, vorgezogen
205
wird. Die Auskunft, daß das ästhetische Urteil auf ästhetischer
Erfahrung beruht, führt uns jedenfalls aus den gleichfalls zirkulä-
ren Exkursionen des vorigen Abschnitts noch nicht heraus. Eine
andere Lektüre der zitierten Sätze dagegen kommt zu einem
produktiveren Ergebnis. Es bietet sich zunächst an, das »Wie der
Präferenz«, das nach Tugendhat die Basis ästhetischer Beurtei-
lungen stellt, nicht von vorneherein als ein Wie der ästhetischen
Präferenz zu verstehen, wie das insbesondere der Nachsatz vor-
schreibt. Bei aller nötigen ästhetischen Bildung wäre die Basis der
ästhetischen Beurteilung dann gar nicht eine bestimmte Art der
Erfahrung, sondern die Lebenserfahrung und Lebenseinstellung
derjenigen, die ein ästhetisches Urteil fällen. Die ästhetische
Präferenz wäre eine auf existentielle Präferenzen bezogene Präfe-
renz, wobei der ästhetisch-objektive Vorzug im Unterschied zur
ästhetisch-subjektiven Vorliebe nicht lediglich darauf bezogen
wäre, was mir persönlich gefällt oder mir über mich etwas sagt,
sondern darauf, was für sich besehen angemessene Einstellungen
zu den Wirklichkeiten des Lebens sind.
Auch hier wäre also die Hinsicht des »für uns« Relevanten
unterscheidbar von dem, was nur »von uns« her bedeutsam ist.
Jedoch ist diese erste Vermutung über die Geltungsbasis ästheti-
scher Urteile noch durchaus ungenügend. Zum einen muß strikt
unterschieden werden zwischen der Erfahrung, die aus dem
ästhetischen Verstehen an den gelungenen Werken zur Wahrneh-
mung kommt und der individuellen Gesamterfahrung, die nach
diesem Vorschlag als »Kriterium« der ästhetischen Beurteilung
kandidiert. Nicht die alle lebensweltlichen Sichtweisen umfas-
sende Gesamterfahrung ist es, deren Angemessenheit im Zuge
der ästhetischen Beurteilung mit zur Beurteilung steht, zur Dis-
kussion kann immer nur die in einem besonderen Erfahrungszu-
sammenhang enthaltene Sichtweise stehen, die sich in der ästheti-
schen Vergegenwärtigung aus dieser Gesamterfahrung als ange-
messene erschließt. Zum andern fällt unser erster Kandidat auch
nach dieser Klarstellung eindeutig durch. Denn wie immer die
individuelle Lebenserfahrung in den Prozeß der ästhetischen
Beurteilung eingehen mag, als individuelle kann sie die Basis
einer generellen Wertbehauptung nicht sein. Der einstellungs-
übergreifende Erfahrungsbezug der ästhetischen Beurteilung, der
Erfahrungsbezug, der mit der Einnahme einer ästhetischen Ein-

206
stellung immer schon vorgenommen ist, muß anders gefaßt wer-
den, wenn hier der intersubjektive Bezugspunkt der ästhetisch-
objektiven Wertungen erkennbar sein soll. Die entscheidende
Korrektur ist leicht vorzunehmen. Nicht das Ganze der je indivi-
duellen Erfahrung, ein hypothetisch Gemeinsames in den Lebens-
erfahrungen der Zeitgenossen ist der Fixpunkt, aus dem die
Angemessenheit von Einstellungen und Sichtweisen im Zuge der
Beurteilung ästhetischer Gegenstände behauptet werden kann.
Das hypothetisch Gemeinsame der lebensweltlichen Erfahrungen
ist aber nichts anderes als der notwendig unbestimmte Begriff der
Gegenwart, die den Angehörigen einer Welt gemeinsam ist.
Gerade wenn man es (gegen Bohrer) vermeidet, denen Gegen-
wartsbegriff ästhetisch zu okkupieren, läßt sich der emphatische
Gegenwartsbezug der ästhetischen Kritik (mit Bohrer) unzwei-
deutig formulieren. Dann wird die Idee der geschichtlichen Ge-
genwart, an der sich die Valenz lebensweltlicher Erfahrungen
bemißt, als das übergreifende »Kriterium« ästhetischer Wertaus-
sagen erkennbar.
Offensichtlich ist das kein Kriterium im üblichen Sinn. Vielleicht
aber ist es ein Kriterium in dem Sinn, in dem bei Kant der Begriff
des Übersinnlichen jener »unbestimmte« Begriff ist, auf den sich
das ästhetische Urteil notwendig bezieht. Wenn wir Kants Rede
von der begriffslosen Beurteilung einmal probeweise so verste-
hen, daß es sich um eine (im üblichen guten Verstand) kriterien-
lose Beurteilung handelt, die sich doch auf so etwas wie ein
Kriterium muß stützen können, so ergibt sich eine neue Antwort
auf die Frage nach der Basis der ästhetischen Urteile aus einer
vorsichtigen Umformulierung der Antwort, mit der Kant die
»Antinomie des Geschmacks« dialektisch auflöst. In der Thesis
sollte es daher heißen: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht
auf bestimmten Kriterien; in der Antithesis aber: Das Ge-
schmacksurteil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimm-
ten Kriterium (nämlich von der den Urteilenden gemeinsamen
Gegenwart); und alsdann wäre zwischen den Positionen der
Antinomie des Geschmacks (daß ästhetische Urteile wie objek-
tive Präferenzaussagen behauptet werden, aber nicht auf Krite-
rien sich stützen) kein Widerstreit. ' 39
Dieser Vorschlag folgt Kants Theorie der Möglichkeit ästheti-
scher Urteile aufs Wort: mit der gravierenden Abweichung, statt
207
dem »übersinnlichen Substrat der Menschheit« die erfahrungs-
entbrannte Gegenwart der Menschen als jenen »indemonstrablen
Begriff« zu benennen, der den intersubjektiven Anspruch des
ästhetischen Urteilens verständlich macht. Meine Abwandlung
hebt hervor, daß nicht etwas über aller Erfahrung den Bezugs-
punkt der ästhetischen Kritik ausmacht, sondern vielmehr die
Unterstellung eines Gemeinsamen in der Erfahrung der Angehö-
rigen einer geschichtlichen Zeit. Das transzendentale Faktum, das
den Geltungssinn ästhetischer Urteile erklärt, ist nicht einfach die
intelligible Ausstattung der Menschen, es ist der Weltcharakter
der Wirklichkeiten, in denen sie leben, zusammen mit der Verän-
derlichkeit und Veränderbarkeit ihrer je gegenwärtigen Welt. Das
immergleiche Inderweltsein ist der Angelpunkt des ästhetischen
Behauptens nicht. Sein Bezugspunkt ist die zeitgebundene Ge-
genwart des Inderweltseins, auf die sich das ästhetisch-objektive
Urteil in hypothetischem Ausgriff bezieht. 140
Die abgewandelte Übernahme der These von Kant hat abwei-
chende Konsequenzen in den zugeordneten Fragen zur Folge.
Einmal nimmt sie den ästhetischen Urteilen ihren bei Kant
behaupteten Anspruch auf Universalität. Nicht schlechthin »je-
dermanns« Beistimmung sinnt dieses Urteil geradewegs an, son-
dern die Zustimmung all derjenigen, die teilhaben an der Welt der
Erfahrung, aus der das ästhetische Objekt Bedeutung gewinnt
(bzw. in der es ohne Bedeutung bleibt). Zwar kann dies in
einzelnen Fällen auf einen Anspruch der Universalität hinauslau-
fen, aber der Geltungssinn der ästhetischen Wertaussagen ist über
einen Anspruch der Universalität nicht zu definieren. Ihr ge-
nuiner Anspruch ist nicht universal, er ist mondial (auf kulturelle
Welten bezogen). Basis ihrer Behauptung ist die offene Hypo-
these einer mit den angesprochenen anderen gemeinsamen Welt.
Diese Allgemeinheit des ästhetischen Urteilens muß andererseits
unterschieden werden von der bloß kommunalen Allgemeinheit
der Begründung von Wertsätzen zu Aspekten des guten Lebens
innerhalb konkreter Lebensformen und partikularer Lebensbe-
reiche (soweit diese nicht in Behauptungen über das moralisch
richtige Handeln umgewandelt werden). Diese ethisch-kommu-
nalen Wertaussagen sind stets auf (mehr oder weniger genau)
bestimmte Personen und Personengruppen gemünzt. Das sind
die kunstkritischen Urteile nicht; auch wenn sie, wie häufig,

208
konkrete Adressaten haben, gelten sie immer einer hypotheti-
schen Gemeinschaft, die manchmal erst durch die ästhetische
Erfahrung sich als solche erkennt. Die entscheidende Differenz
zur kommunal-präferentiellen Bewertung ist sachlich darin be-
gründet, daß die Einschätzung der ästhetischen Kritik nicht
einfach die Vorzüglichkeit eines Gegenstands oder einer Situa-
tion auf Grund der Kenntnis dieser Gegebenheiten behauptet: sie
beurteilt ihre Gegenstände danach, ob sich an ihnen eine Erfah-
rung manifestiert, deren Gewärtigung einen Zusammenhang der
gemeinsamen Gegenwart in ihrer situativen Existentialität erhellt.
Damit eine dieser Erfahrungen zum Thema der ästhetisch kriti-
schen Rede werden kann, muß es irgendeine geteilte Erfahrung
im angesprochenen Wirklichkeitsbereich immer bereits geben.
Denn nicht der übergreifende Horizont der Gegenwart wird im
Austausch ästhetischer Urteile als verbindlich reklamiert, das
Wesentliche besonderer Sichtweisen in dieser Gegenwart und für
das gegenwärtige Leben steht in der ästhetischen Reflexion zur
Verhandlung: auf der Basis der konstitutiven Unterstellung, daß
wir, was die in Rede stehenden Erfahrungen betrifft, in einer
gemeinsamen Gegenwart leben. Die umfassende Sicht der Welt,
die individuell oder kollektiv als das maßgebende Gesicht der
Gegenwart empfunden wird, ist auch in ästhetischer Explikation
nicht zu rechtfertigen.
Damit ist - zweitens - angedeutet, daß meine Umformulierung
dem ästhetischen Urteil einen Spielraum der Rechtfertigung gibt.
Das eigenartig unbestimmte »Kriterium« der ästhetischen Beur-
teilung entläßt Gründe einer besonderen Art. Deren Verfassung
wird im weiteren Verlauf der Darlegung nur zu klären sein, wenn
einsichtig wird, daß die ästhetischen Begründungsprädikate (»ge-
lungen« usw.) keine Kriterien formulieren. Sie geben lediglich
beispielbezogene Unterscheidungen an die Hand, deren Verwen-
dung in jedem Einzelfall allein okkasionell: gelegentlich dieses
Gegenstands gerechtfertigt und zusätzlich komparativ beglaubigt
werden kann. Wie sich noch zeigen wird, ist Kants Behauptung,
daß »in Ansehung der logischen Quantität ... alle Geschmacks-
urteile einzelne Urteile« sind 141, zwar gerade nicht für alle Ge-
schmacksurteile, aber jedenfalls für die kunstkritischen Wertaus-
sagen zutreffend. Daher ist die Erwartung verfehlt, sie könnten in
einem strikten Sinn kriteriell begründet werden. Die Frage nach
209
der Rechtfertigung ästhetischer Urteile jedoch ist damit nicht
erledigt. Sie gewinnt mit dieser Einsicht erst ihren genauen Sinn -
wenn Kant denn recht mit der Behauptung hatte, ein Streit in
ästhetischen Fragen sei sinnvoll zu führen.
Die revidierte Fassung des Arguments, mit dem Kant die Antino-
mie des Geschmacks schlichtet, öffnet die Theorie der ästheti-
schen Kritik - drittens - einem Verständnis dafür, wie die
kritische Beurteilung auf die Besonderheiten des je einzelnen
Werks reagiert. Kants These von der Bezogenheit auf das über-
sinnliche Substrat der Menschheit, die den Status ästhetischer
Urteile erkläre, bleibt merkwürdig indifferent gegenüber dem,
was die ästhetisch singulären Wertaussagen über die Qualität
ihrer einzelnen Gegenstände zu sagen haben. Die Auskunft, es sei
die anthropologisch-transzendentale Veranlagung zur Freiheit,
die an der Totalität des schönen Gegenstandes, im Spiel der
ästhetischen Wahrnehmung, als innerweltlich wirksam erfahren
werde, bleibt beim allgemeinsten Inhalt jeder ästhetischen Erfah-
rung stehen. Mit der allgemeinen Bestimmung der ästhetischen
Erfahrung als erfahrener Erfahrung kann die neue Formulierung
zugleich deutlich machen, was der unverwechselbare Gehalt
einzelner ästhetischer Erfahrungen und was das konkrete Thema
der ästhetisch-kritischen Explikation dieser Erfahrungen ist. Die
These, daß der unbestimmte Begriff der Gegenwart es ist, auf den
ästhetische Argumente sich beziehen, erlaubt es, das ästhetische
Verstehen als die Beglaubigung bestimmter Sichtweisen zu ver-
stehen, wie das schöne und gelungene Objekt sie eröffnend
artikuliert. Bestimmt ist das Besondere dieser Sichtweisen in den
gelungenen Objekten selbst. Diese sind gelungen, weil das in
ihrem Korrespondenzzusammenhang Erscheinende als Darbie-
tung einer angemessenen Sichtweise erfahren wurde. Die Inter-
pretationen der ästhetischen Kritik weisen auf den Gehalt dieser
Sichtweisen hin. Nicht aus einem »Begriff« oder aus bestimmten
Kriterien kann die ästhetische ·Behauptung der Gelungenheit
gerechtfertigt werden. Wohl aber anhand von Begriffen, die am
ästhetischen Gegenstand das Bedeutsame der Erfahrungen gel-
tend machen, die er in seiner konfigurativen Ausprägung artiku-
liert.
Die im Blick auf Kant gezeichnete Skizze führt auf die Grund-
struktur der ästhetischen Argumentation. Ästhetische Argu-

210
mente, Argumente für ein ästhetisches Werturteil, werden gege-
ben, um den Gegenstand dieser Wertung zum Argument zu
erheben. Der ästhetische Gegenstand wird geltend gemacht als
ein (positives) Explikat oder ein (negatives) Exempel von Erfah-
rungen, um deren Vergegenwärtigung willen die ästhetische Ar-
gumentation erfolgt. Die ästhetische Wertung kommt in der
wahrnehmenden Affirmation einer Sichtweise zustande, die der
Wertende als eine für die Gegenwart wesentliche Sicht der Dinge
erfahren hat oder am gelungenen Kunstwerk erfährt; die Begrün-
dung des ästhetischen Urteils vollzieht sich als Argumentation
zugunsten der Sichtweise, aus der das ästhetische Objekt als
gelungen oder mißlungen erscheint; diese Argumentation kann
sich nur so vollziehen, daß der ästhetische Gegenstand interpre-
tativ zum positiven oder negativen Grund des Teilens der wer-
tungskonstitutiven Sichtweise erhoben wird. Das zirkuläre Mo-
ment der ästhetischen Begründung: daß der ästhetische Gegen-
stand zum Grund für eine Sichtweise erhoben wird, auf Grund
deren er als gelungen oder mißlungen erscheint, macht das ästhe-
tische Argumentieren nicht zu einem haltlosen Geschäft. Einmal
wird es sich zeigen, daß die ästhetische Reflexion sich als ein
Prozeß der Korrektur zwischen wertender Reaktion und aufwei-
sender Interpretation vollzieht. Der ästhetische Begründungszir-
kelist keineswegs leer, an ihm erkennen wir die Bedingungen der
Möglichkeit des ästhetischen Verstehens. Zum andern ist mittler-
weile klar, daß nicht die am ästhetischen Gegenstand bejahte
Sichtweise der wertbildende Bezugspunkt der ästhetischen Beur-
teilung ist: Bezugspunkt der ästhetischen Wertbehauptungen,
deren Inhalt die an der Formung ästhetischer Gegenstände sich
erweisende Akzeptabilität von Sichtweisen und Einstellungen ist,
ist jener unfaßliche Begriff der Gegenwart, an dem die überper-
sönliche Adäquatheit von Sichtweisen sich unausgesprochen be-
mißt.
Auch in diesem Zusammenhang ist es wichtig, nicht ausschließ-
lich das ästhetisch positive Urteil im Auge zu haben. Als gelun-
gen oder schön werden ästhetische Objekte beurteilt, denen eine
Situation der Erfahrungswelt der Wahrnehmenden sich eingebil-
det zeigt. In den eminentesten Fällen wird sich das so ereignen,
daß ihnen eine Situation ihrer Welt hier überhaupt erstmals
erscheint. Die Einmaligkeit der großen Kunst hat die Gewalt,
211
eine Sichtweise zu eröffnen, die im lebensweltlichen Erfahrungs-
kontext bis dahin nicht erreichbar war. Ästhetisch mißlungen,
uninteressant oder irrelevant dagegen sind Gegenstände, an de-
nen wenig oder nichts der Erfahrung der Wahrnehmenden korre-
spondiert und folglich ihre ästhetische Erfahrung entzündet: wie
viele Bedeutungscharaktere die testende Imagination ihnen auch
beilegen mag. Während das gelungene Werk in der ästhetischen
Argumentation geltend gemacht werden kann als ein Explikat der
Erfahrungsweise, aus der es als gelungen erfahren wurde, wird
das mißlungene Objekt im ästhetisch unmittelbaren Interesse
bestenfalls zu einem Exempel für Erfahrungen, die der Urteilende
nicht vollziehen kann. Und das bedeutet hier: auch nicht vollzie-
hen will. Ums stellvertretende Mit- und Nachvollziehen geht es
dem ästhetischen Kritiker nicht. Auch am Fremdartigen geht es
ihm darum, die - verändernde - Strahlung aufs Eigene zu erfah-
ren. Gelungen ist, was meine Erfahrung als angemessen erken-
nend anerkennt; nicht dagegen alles, worin eine Erfahrung sich
spiegelt (denn das ist oft nur signifikant). Was meiner ästheti-
schen Erfahrung als angemessene Präsentation erscheint, ist
darum nicht eine Präsentation nur meiner Erfahrung. Es ist eine
Präsentation von Erfahrungsgehalten aus dem Geist einer Ein-
stellung wie der meinen (die ich so vielleicht erst hier gewonnen
habe). Diese Angemessenheit ist nicht privater Natur, sie kann
ästhetisch behauptet werden. Das gelungene Kunstwerk verkör-
pert eine angemessene Sicht der Dinge im Kontext der Welt, aus
der es etwas bedeutet. Angemessen wozu? Angemessen dazu,
was in der bedeutungskonstitutiven Hinsicht die richtige Einstel-
lung im gegenwärtigen Leben ist.
Für Eduard ist das Gedicht von Paz ein Juwel der kontemplati-
ven und kommunkativen Vergegenwärtigung jener Erfahrung,
die er im Gespräch mit Anton nicht recht fassen konnte. Aus
dieser Erfahrung, so meint Eduard, sollte man sich in der theore-
tischen Arbeit (wie auch in der lyrischen Produktion) orientie-
ren; wer hier die richtige Einstellung hat, der müßte das Geniale
des Gedichts erkennen - und wer sie nicht hat, der möge hieran
beginnen, sie zu erwerben. Die Besprechung des Gedichts von
,Paz< hingegen wird Eduard mit einer solchen (expliziten oder
impliziten) Aufforderung zur Erfahrung nicht versehen - denn
dieses Machwerk präsentiert keine Erfahrung, die zu teilen sich

212
lohnen würde; dafür (und darum) gibt es eine Anschauung von
schlechter Lyrik. Auch in dieser abwertenden Aussage liegt noch
eine Bekräftigung der Einstellung, die die Basis dieses Urteils
bildet. » Wer daran etwas findet, ich sage dir, der sieht die Dinge
falsch.« Dieser Appell aber kann nicht, wie der preisende, den
Gegenstand seiner Anrede als positiven Grund seiner Rede zur
Geltung bringen.
Um die Eigenart ästhetischer Begründungen klarer zu fassen, ist
ein erneuter Blick auf die Rolle von episternischen und prakti-
schen Gründen von Nutzen. Epistemische Gründe sind Aussa-
gen, die der Begründung einer Aussage dienen. Begründungen,
für deren Gelingen die Gültigkeit epistemischer Gründe aus-
schlaggebend ist, die also der Begründung von Aussagen (oder
Aussagesystemen) gelten, sind theoretische Begründungen. Theo-
retische Stellungnahmen sind Aussagen, die nach einer epistemi-
schen Begründung verlangen. Mit einem Ausdruck von Tugend-
hat lassen sich die theoretischen Stellungnahmen als »selbstge-
nügsame« Behauptungen kennzeichnen; der Anspruch, der mit
diesen Behauptungen erhoben wird, ist schlicht der, daß die
betreffenden Aussagen wahr sind. In den paradigmatischen Fäl-
len handelt es sich hier um deskriptive Aussagen. Diese - in
einem weiten Sinn von »theoretisch« - theoretischen Aussagen
bedürfen einer episternischen Begründung, die sich im Nachweis
der Wahrheit der zu begründenden Aussagen erfüllt.
Obwohl auch hier Wahrheit beansprucht wird, verhält es sich bei
den Wertsätzen doch anders. Diese Behauptungen sind nicht wie
die theoretischen »selbstgenügsam«, sie beziehen sich immer
schon auf ein Verhalten, das mit der Wertbehauptung befürwor-
tet wird. Wertsätze als solche stellen Gründe dar für und gegen
ein bestimmtes Verhalten. In praktischen Argumentationen (und
zumal den ethischen) geht es also letztlich nicht um die Begrün-
dung einer Aussage, sondern um die begründete Etablierung
einer Handlungsweise; das resümierende Werturteil gibt hier
lediglich den definitiven Grund, der bestimmt, was das richtige
Verhalten ist oder wäre. Auch diese Aussage kann wiederum
begründet werden, eine Begründung, die in der Regel aus Aussa-
gen verschiedener Art besteht (die Rechtfertigung der Behaup-
tung, daß es gut ist, der genetischen Forschung Grenzen zu
ziehen oder daß es für mich besser ist, den Sonnenaufgang zu

213
verschlafen, wird andere als nur Wertannahmen zu Rate ziehen).
Das Prozedere einer solchen praktischen Begründung aber muß
verstanden werden als die Ermittlung und Plazierung der letzt-
lich ausschlaggebenden Wertaussage. Deren Begründung gilt der
Bereitstellung eines überzeugenden Grundes in der Entscheidung
für ein Handeln. Der Nachweis der praktischen Wahrheit einer
Aussage gilt stets ihrer Bestimmung, Stützung und Stärkung als
eines maßgebenden Grundes. ' 4 '
Wiederum anders verhält es sich mit dem Geben ästhetischer
Gründe. Zwar gibt auch das ästhetische Urteil einen abschließen-
den Grund, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten; was
gelungen ist, ist es wert, ästhetisch wahrgenommen zu werden.
Insoweit gilt auch für ästhetische Begründungen die eben umris-
sene allgemeine Logik ethisch-praktischer Begründungen. Im
Vergleich zur epistemischen Argumentation aber ist der Begrün-
dungsgang hier ein weiteres Mal gebrochen. Das ästhetische
Werturteil nämlich gibt einen definitiven Grund für das ästheti-
sche Wahrnehmungshandeln, indem es das ästhetische Objekt als
positiven oder negativen Grund für das Haben, Machen und
Teilen einer Einstellung vergegenwärtigt. Der Bestimmung und
Plazierung dieses explikativen Arguments dienen die Formen der
materialen und funktionalen Charakterisierung, deren genaueres
Ineinandergreifen noch zu erörtern sein wird. Gerade das ästhe-
tisch positive Urteil macht das Objekt seiner Rede in seiner
ästhetischen Beschaffenheit und Bedeutung geltend als einen
Grund für den Vollzug einer Erfahrung, um deretwillen die
ästhetische Zuwendung sich lohnt. In thematischer Rede ist
dieser Grund keinesfalls formulierbar, er findet sich ausschließ-
lich im präsentativen Ausdruckszusammenhang- in den Aufwei-
sungs»gründen« - des ästhetischen Gegenstands. Der Nachw:eis
der Wahrheit einer ästhetischen Wertaussage gilt stets der expli-
kativ vergegenwärtigenden Erhellung eines Erfahrungsgrundes
(nun im wörtlichen und metaphorischen Sinn der Rede von
Gründen), der niemals auf den propositionalen Gedankeninhalt
behauptender Aussagen rückführbar ist. Ästhetische Argumenta-
tion ist das Geltendmachen eines sich ausdruckhaft Zeigen-
den. '43
Überspitzt gesagt, geht es in ästhetischen Argumentationen über-
haupt nicht darum, eine Wertaussage zu begründen. Die Begrün-

214
dung des ästhetischen Urteils gilt der Rechtfertigung der Sicht-
weise und Einstellung, deren Gehalt das gelungene Werk prä-
sentiert. Es geht also auch nicht schlichtweg um die Begrün-
dung eines ästhetischen Verhaltens; es geht um die Beglaubi-
gung der einstellungskonstitutiven Erfahrungsgehalte, deren
Vergegenwärtigvng das .ästhetische Verhalten gilt. Die Begrün-
dung des ästhetischen Urteils ist der Weg der ästhetischen Ar-
gumentation, nicht ihr Ziel. Das Ziel ist die Erfahrung von und
mit Erfahrungen, die somit, durch die ästhetische Erfahrung,
als eigene erfahren und erfahrbar werden. Der Sinn ästhetischer
Begründungen liegt darin, sich des Potentials der eigenen Er-
fahrung zu vergewissern - derjenigen, die wir haben, derjeni-
gen, nach der es uns verlangt, derjenigen, zu der wir fähig sind.
In kommunikativer Verwendung gibt ein ästhetisches Urteil
daher immer einen Vorschlag zur Erfahrung. Diese Aufforde-
rung zielt nicht primär darauf, etwas in Erfahrung zu bringen.
Sie zielt auf die Teilhabe an einer Welt der Erfahrung, an einer
Form des Lebens, die der Urteilende um ihrer selbst willen für
richtig erachtet. Das ästhetische Objekt, das als Grund für
diese Teilhabe vergegenwärtigt wird, wird in der ästhetisch po-
sitiven Beurteilung angeführt als ein objektives Explikat einer
richtigen Sicht der Dinge, auf die es eine Sicht gewährt. Was
nur mir meine Erfahrung präsent macht, ist nicht ästhetisch
gelungen. Kunstwerke sind keine Andenken, soviel sie auch zu
denken geben.

c) Zum ästhetischen Interesse

Obwohl die ästhetische Beurteilung sich nicht in der Begründung


resümierender Wertaussagen erfüllt, sondern dem Ge!tendma-
chen des eigentlich ästhetischen Grundes gilt, ist die Frage nach
den Gründen in der Kunstkritik keineswegs belanglos. Worauf
stützen sich die Argumente, mit denen ein gelungenes Werk zum
"Argument« gemacht wird? Wie läßt sich das ästhetische Inter-
esse an einem Objekt »explikativ« rechtfertigen und gegenüber
einer bloß privaten Affinität als angemessen behaupten? Und wie
geht die »Rechtfertigung von Einstellungen« vor sich, die das
Haben von Erfahrung nicht nach bestimmten externen Gesichts-

215
punkten beurteilt, sondern um der Erfahrung willen, die so
erworben und erneuert wurde?
Vor den weitergehenden Antworten ist eine ganz andere Überle-
gung gefordert. Denn es wird Zeit, die Prämisse zu überprüfen,
die ich aus dem vorigen Kapitel übernommen habe - die Unter-
stellung, das es so etwas wie das ästhetische Interesse überhaupt
gibt. Daß die ästhetische Wahrnehmung sich als Vergegenwärti-
gung von Erfahrungsgehalten vollzieht und das ästhetische Ver-
halten diesem Bestreben und Bedürfnis dominant folgt - der
Zweifel, ob es sich bei diesen großzügig zusammenfassenden
Bestimmungen nicht um eine willkürliche Verengung handelt,
hat einiges für sich. Das ästhetische Interesse, von dem her eine
Theorie des Ästhetischen sich ausführen ließe, regiert die ästheti-
sche Praxis nicht so ohne weiteres, wie ich das bislang vereinfa-
chend angenommen habe. Der Geschmack an gutem Wein und
bizarrer Kleidung, die exklusive Vorliebe für Flötenmusik oder
für Bilder des späten Mondrian, das Interesse an der Lyrik des
Jahres 1914 oder an faschistischen Propagandafilmen sind nicht
zwangsläufig ästhetisch in der bisher fraglos unterstellten Bedeu-
tung - obwohl diese Interessen und die entsprechenden Bewer-
tungen in einem jeweils bestimmten Sinn durchaus ästhetisch
sind.
Dieses Zugeständnis provoziert umgehend die weitere Frage, wie
sich die nunmehr verschiedenen ästhetischen Interessen zueinan-
der verhalten und wie es zur Auszeichnung des genannten einen
Interesses kommt. Die Antwort kann nicht überraschen. Es ist
dieses Interesse und die ihm zugehörige Beurteilungsweise, das
die ästhetische Praxis als eine eigenständige und eigenständig
rationale konstituiert. Dieses Interesse ist keine Erfindung der
Ästhetik, es ist der seit Baumgarten und Kant reflektierten und
von den Reflexionen der Ästhetik beeinflußten ästhetischen Pra-
xis in weitläufigen Varianten erwachsen. Dieses Interesse ist es
weiterhin wert, philosophisch verteidigt zu werden: im Aufweis
der mit seiner relativen Verselbständigung wirklich gewordenen
Möglichkeit einer ästhetischen Dimension der Freiheit. In diesem
Interesse gründet die Vernunft des Ästhetischen; diesen Aspekt
der Vernunft zur Geltung zu bringen, ist das normative Anliegen
der vorliegenden Analyse der Bedingungen der ästhetischen
Wahrnehmung.

216
Wie eine Erinnerung an das vorangegangene Kapitel deutlich
macht, ist die damit verbundene thematische Auszeichnung
durchaus sachlich begründet. Zur Formulierung des ästhetischen
Interesses ist es dort gekommen auf dem Weg der Unterschei-
dung von Möglichkeiten der Vergewisserung und Mitteilung von
Erfahrungen. Eine dieser Möglichkeiten ist die Vergegenwärti-
gung von Erfahrungsgehalten in ihrer situationsbildenden Inte-
grität. Diese Befragung, Vergewisserung und Kommunikation, so
war die Vermutung, ist nur in einem wahrnehmenden oder auf
dort Wahrnehmbares verweisenden Bezug auf ästhetische Ge-
genstände möglich; als präsentative Zeichen ermöglichen diese
eine Vergegenwärtigung von Situationscharakteren, die sich von
der situationsunmittelbaren Vergegenwärtigung partieller Hand-
lungsvoraussetzungen spezifisch unterscheidet. So naheliegend es
nun scheinen mag, das Interesse an einer ganzheitlichen Verge-
genwärtigung von Erfahrungen für ein schlechthin anthropologi-
sches zu halten - die vorhin und jetzt erörterte Form seiner
Befriedigung an ästhetisch-autonomen Gegenständen ist es ohne
Zweifel nicht. Die Wahrnehmung ästhetischer Objekte dieser Art
ist die heutige Bedingung der Möglichkeit, Erfahrungen in ihrer
simultanen Bedeutsamkeit inne zu werden. Und es sind die
synthetischen Objekte der Kunst, welche die Möglichkeit und
Ergiebigkeit dieser Wahrnehmung in allen ihren auch sporadi-
schen Formen stets erneuernd offenhalten und erweiternd erkun-
den. Mit Verständigungstexten und Stadtteilfesten ist das auf die
Dauer alleine nicht zu machen. Ob entschieden avantgardistisch
oder nicht: Kunst ist ästhetische Avantgarde. Die vergegenwärti-
gende Autonomie des Kunstwerks, die seine ästhetisch-bedeu-
tungshafte Situierung stets von neuem fraglich und nötig macht,
gibt die Möglichkeit, es als Zeichen einer Situation und Erfah-
rung erfahren zu können. Die ästhetische Situation der imaginati-
ven Situationsbildung aber ist ihrerseits ein Zeichen der spezi-
fisch modernen, aus traditionalen Orientierungsbindungen ent-
zweiten Situation.
Walter Benjamin hat verschiedentlich behauptet, in der Modeme
- und spätestens seit den Katastrophen des ersten Weltkriegs - sei
die Erfahrung unaufhaltsam im Schwinden begriffen; er belegt
dies an einem Verfall bestimmter Formen des mündlichen Erzäh-
lens.'44 Nun ist bei Benjamin offenkundig von einem einge-

217
schränkten, auf traditionale Gesellschaftsformen zugeschnittenen
Typus der Erfahrung die Rede: von Erfahrungen, deren Bedeu-
tung und lebenspraktische Folgen sich für einen unmittelbar
aktualisierbaren kollektiven Gemeinsinn ohne Mühe verständlich
machen läßt. Benjamin spricht hier von Erfahrungen, deren
Erwerb gleichbedeutend ist mit dem Erhalt einer kommunikativ
mitteilbaren Lebenserfahrung. Auch ohne eine genauere Prüfung
der vielleicht romantisierenden Voraussetzungen läßt sich Benja-
mins Diagnose versuchsweise akzeptieren: das Machen von Er-
fahrungen ist heute weniger denn je mit einer direkten Mitteilbar-
keit nicht des Erfahrenen, sondern der Erfahrung verbunden.
Das liegt nicht an einem Verfall der Sprache und Rede, sondern
an einer Veränderung der Lebenswelten, in denen Erfahrung
möglicherweise zur Sprache kommt (welche Verfallserscheinun-
gen in diesen Handlungsbereichen auch immer wirksam sein
mögen). Die Situationen, die modern zur Erfahrung kommen,
sind nicht länger Provinzen und Bezirke einer fraglos gemeinsac
men Welt; in eminenten Erfahrungen gerät die Zugehörigkeit zu
einer Lebenswelt selbst in Zweifel - nicht selten ist es diese
Teilhabe, die eine Revision erfährt. Damit aber ist den Konven-
tionen eines zwanglosen Erzählens der Boden wenn nicht entzo-
gen, so doch schwankend geworden. Mehr und mehr wird ein
Erzählen, das noch Geschichten und nicht lebensgeschichtliche
Daten erzählt, zu einer ästhetischen Kunst - und die Kunst zu
einem Seiltanz, der nichts mehr erzählt, dafür seine verschlüssel-
ten Luftübungen zeigt.
Auf diese artifiziellen Leistungen nun wird sich eine Mitteilung
von Erfahrungen mehr und mehr beziehen: das ästhetische Ob-
jekt wird zum Medium der Vergegenwärtigung von Erfahrungen,
das nicht selbst in einen bestimmten Erfahrungszusammenhang
eingebunden ist, sondern von den ästhetisch Erfahrenden für die
Besinnung auf ihre Erfahrungen produktiv gemacht wird. Dieses
Bedürfnis, das sich in unmittelbarer Kommunikation nur mehr
erschwert und in reduzierten Formen verwirklichen kann, sucht
und schafft sich hermetische und nichthermetische Quellen der
sei es einsamen, sei es auf veränderte Weise kommunikativen
Vergegenwärtigung praxiskonstitutiver Weltbezüge. Ursprung·
und Persistenz des modernen Kunstverständnisses, das seine
vielen Beerdigungen bislang so berauschend wie ernüchternd

zr8
überlebt hat, sind soziologisch am ehesten daraus zu erklären,
daß die ästhetische Kritik - und sei es der bloße Austausch
ästhetischer Urteile - zur primären Form der Verständigung über
Lebenserfahrungen wird. Gleichzeitig wird das ästhetische Ver-
halten zu einer spezialisierten Form der Wahrnehmung und
Kommunikation, die mit einer spezialisierten Form der Herstel-
lung - wie mir scheint notwendig - zusammengeht: mit der
Fabrikation ästhetisch-autonomer Zeichengebilde. Die Eigensin-
nigkeit der ästhetischen Praxis auch da, wo sie nicht künstlerische
und kunstbezogene Praxis ist, geht nicht aus einem grundsätzli-
chen Verfall der Erfahrung hervor. Sie entsteht mit der zugleich
gefährdenden und befreienden Diffusion eines verbindlichen Zu-
sammenhangs der Erfahrungen, der sich im Erleben der Indivi-
duen kontinuierlich fortschreiben und traditional erneuern
würde.
Diese bescheidenen Spekulationen machen einmal mehr klar,
warum die Alternative zwischen auratischer und nichtauratischer
Erfahrung der Kunst und ästhetischer Phänomene, mit der Ben-
jamin gelegentlich operiert hat, in dieser Opposition nicht haltbar
ist. Auch die modernste Kunsterfahrung ist häufig, wenn nicht
immer, auratisch: die mehr oder weniger einmalige Erfahrung
einer am Objekt erscheinenden Erfahrung, deren Situation uns in
dieser Wahrnehmung fern liegt, so nah uns die vergegenwärtigte
Erfahrung auch gehen mag. 145 Ich werde unten zu zeigen versu-
chen, warum diese abgewandelte Definition der Aura die ästheti-
sche Bezugnahme selbst auf Filmkomödien aus Hollywood oder
auf Bilder von Barnett Newman beschreibt. Was sich in der
Geschichte der ästhetischen Wahrnehmung radikal ändert, ist der
konstruierende und rezeptive Umgang mit den ästhetisch-aurati-
. sehen Materialien und.Phänomenen; in diesem Punkt, abgesehen
von den esoterischen Empfindlichkeiten, bleibt Adorno gegen
Benjamin im Recht. »Fundament« der ästhetischen Wahrneh-
mung ist nicht entweder das »Ritual« oder die »Politik«, ihr
Fundament ist das Konvergierende der Erfahrungen, die in der
ästhetischen Wahrnehmung als für die Gegenwart wesentlich
erfahren werden. Gerade damit, daß Erfahrungen nicht länger
nur innerhalb der gegebenen sozialen Praxis mit vergegenwärtigt
und angesprochen werden, sondern innerhalb des gesellschafts-
bildenden Handelns sich Praktiken des erfahrenden Umgangs

219
mit Erfahrungen etablieren, entsteht eine Form der Rationalität,
die auf den Sinn der außerästhetischen Orientierungen nicht
rückführbar ist, ·wie sehr auch diese Orientierungen zum Inhalt
der ästhetischen Erfahrungen werden. Das Interesse der Verge-
genwärtigung von Erfahrungen im Modus ihrer Bedeutsamkeit
hat sich emanzipiert aus den Vorgaben der Handlungsbereiche,
in denen sich das gesellschaftliche Leben nach sozial festgelegten
Funktionen durch Erfahrung organisiert.
Es kann hier nicht darum gehen, diese kunstsoziologischen Intui-
tionen ausführend zu belegen. Ich habe sie erwähnt, um die
Herkunft der Behauptung des ästhetischen Interesses (und den
Grund seiner Auszeichnung) verständlich zu machen. Die Gül-
tigkeit der damit verbundenen Annahmen werde ich wie bisher
nicht soziologisch oder historisch, sondern begrifflich belegen.
Ich werde wiederum zurückgehen auf Unterscheidungen, die
grundlegend sind für die ästhetische Praxis heute, soweit sie einer
eigensinnigen Logik der Orientierung folgt. Eine indirekte Probe
auf die soziologischen Intuitionen ist darin enthalten. Wenn die
Unterscheidungen, die ich in den beiden folgenden Abschnitten
(weiterhin in Verbindung mit Kant und Benjamin) treffe, etwas
für sich haben, dann spricht auch einiges dafür, daß der hier ins
Zentrum gestellte Begriff des ästhetischen Interesses für eine
soziologisch-historische Erklärung mehr für sich hat, als ich
raffend zusammengetragen habe.
Vor allem aber markieren die Differenzen, auf die es jetzt an-
kommt, zugleich Minimalbedingungen ästhetischer Rationalität.
Grundkriterium ästhetischer Rationalität nämlich ist die Beherr-
schung von Unterscheidungen, die eine unzweideutige Verstän-
digung und Auseinandersetzung in ästhetischen Fragen über-
haupt ermöglichen.

d) Geschmack, Vorliebe, Signifikanz

Unter diesen Titeln möchte ich drei weitere Formen der in


weiteren Bedeutungen ästhetischen Beurteilung unterscheiden.
Jeder dieser Bewertungsweisen fehlt ein jeweils anderes Grund-
merkmal der soweit am Modell der Kunstkritik erläuterten ästhe-
tisch-kritischen Stellungnahme. Die Beurteilung des genießenden

220
Geschmacks verfährt nicht interpretierend; das Urteil der Vor-
liebe ist nicht begründbar; Aussagen über die ästhetische Signifi-
kanz vernachlässigen den Aspekt der autonomen Gelungen-
heit.
Die beiden erstgenannten Urteilsformen fallen in den Bereich der
objektiv oder subjektiv präferentiellen Bewertung; die letztge-
nannte Art der Beurteilung fällt für sich genommen in die
Zuständigkeit einer theoretisch (historisch und soziologisch) und
moralisch (und ideologiekritisch) orientierten Einschätzung und
Kritik. Dennoch können alle diese Urteilsformen mit einigem
Recht ästhetisch heißen: im ersten Fall, weil es um die Attraktion
von Gegenständen rein um ihrer empfindenden Wahrnehmung
willen geht; ebenso im zweiten Fall, in dem überdies ein Interesse
an der Vergegenwärtigung privater Erfahrungen maßgebend sein
kann; ästhetisch ist auch die Signifikanzbeurteilung, weil (im
engeren Sinn) ästhetische Objekte insbesondere der Kunst es
sind, die als solche zum Gegenstand einer (wenn auch nicht im
engeren Sinn ästhetisch) interessierten Erläuterung und Erfor-
schung werden.
In keiner dieser Beurteilungsarten aber verkörpert sich die be-
hauptete und gesuchte ästhetische Rationalität. Keiner liegt ein
von den im vorigen Kapitel unterschiedenen Grundtypen der
Rationalität spezifisch abweichender Modus der Rechtfertigung
zugrunde. Nur die ästhetisch interpretierende und aktualisie-
rende Kritik bietet ein Modell der ästhetischen Rationalität im
strikten Sinn beider Begriffe.

r. Geschmack
Von dem »Reflexions-Geschmack«, den die »Kritik der l,Jrteils-
kraft« zu ergründen sich vornimmt, unterscheidet Kant mit
Nachdruck die andere Art von ästhetischen Urteilen, deren
Erzeugung ausschließlich dem »Sinnen-Geschmack« obliegt. ' 46
Dieser beurteilt das Angenehme und ist privat (denn hier hat ein
jeder seinen eigenen Geschmack); jener beurteilt das Schöne und
macht einen rechtmäßigen Anspruch auf jedermanns Beistim-
mung (weil der Geschmack hier auf eine »allgemeine Stimme«
sich besinnt). Während sich das Urteil des Sinnengeschmacks
nach Kant auf die Unmittelbarkeit des Wohlempfindens oder
Mißvergnügens stützt, ist es für die Bewertungen des Reflexions-

221
geschmacks nicht nur legitim, sondern eigentümlich, universelle
Übereinstimmung zu fordern. Beim Sinnengeschmack läßt sich
ein Konsens lediglich feststellen (freilich durch Gewöhnung und
Übung auch herstellen), was auch hier in der Regel zur Freude
der Beteiligten geschieht (einmal abgesehen von den exzentri-
schen Snobs und polemischen Exzentrikern, die es lieben, in
ihren ästhetischen Optionen mißfallend aufzufallen).
Ich ziehe es vor, hier zwischen genießendem und verstehendem
Geschmack zu unterscheiden. Der deszendenten Karriere des
Geschmacksbegriffs entsprechend liegt es zudem nahe, das Urteil
des genießenden Geschmacks abkürzend unter dem Titel des
»Geschmacksurteils« zu führen und dem Urteil der ästhetisch
verstehenden Kritik den einfachen Namen des Ȋsthetischen
Urteils« zu belassen. Gewiß versteht auch der verstehende Ge-
schmack oft zu genießen und muß der genießende oft erst lernen,
sich aufs Schmecken und Gefallen-Finden zu verstehen. Insofern
verweist die Opposition von Verstehen und Genießen allein auf
eine Differenz im wertenden Gegenstandsbezug, die bestehen
bleibt, wie immer Genuß und Reflexion sich jeweils vermischen
und stimulieren. Das ästhetisch genießende Urteil bezieht sich
auf die empfindend oder fühlend unterscheidbare Beschaffenheit
seiner unmittelbaren Gegenstände: das ästhetisch verstehende
Urteil dagegen bezieht sich auf die allein interpretativ erkennbare
ausdruckhafte Beschaffenheit seiner Objekte. »Reine reale
Dinge«, wie es bei Danto heißt, sind hier ohne Interesse, weil
allein ausdruckhafte Gegenstände - allein das Ausdruckhafte der
Gegenstände - von Interesse ist. 147 ·

Für beide Arten des ästhetischen Urteils sieht Kant die Möglich-
keit einer Begründung nicht vor. Bereits für das Geschmacksur-
teil ist diese Festlegung allzu rigide. In einem begrenzten Maß
sind diese durchaus begründbar. Denn auch der folgt einem
absurden - wie Kant sagt »lächerlichen« - Sprachgebrauch, der
148

behauptet, sich mit Weinen auszukennen und dennoch der An-


sicht ist, die guten Weine seien nur immer gut für ihn. Wer so
redet, verwechselt nicht zuletzt physiologische Verträglichkeit
mit geschmacklicher Qualität. Wer dagegen über geschmackliche
Qualität befindet, wird sich auf evaluativ relevante Merkmale des
Gegenstands berufen, in deren Unterscheidung und Gewichtung
er einen Vorzug objektiv begründet. Im Unterschied zur ökono-

222
misch-funktionalen Wahl eines Weins, den ich mir finanziell
leisten kann und im Unterschied ebenso zur Präferenz für den
Wein, den ich aus alter Gewohnheit oder landsmannschaftlicher
Verbundenheit (»nun einmal«) mag, setzt die Rede vom guten
Wein die Verfügbarkeit von Geschmackskriterien immer bereits
voraus. Dieser Wein hier ist gut, weil er herb ist - und zwar nicht
kompromißlerisch halbtrocken und dünnblumig lau, sondern
anständig trocken, ohne doch am Gaumen flach zu verkümmern;
er ist, was ein redlicher Elsässer oder Pfälzer Riesling (diese
Paradigmen eines guten Weißweins!) zu sein hat: vielstimmig
sauer. Gestützt auf Kriterien dieser (oder auch einer liberaleren)
Art sind Geschmacksurteile einsichtig begründbar. Die evalua-
tive Beschreibung, die dem Urteil zugrunde liegt, steht einer
intersubjekten Überprüfung offen. Das ist für die Delikatesse
von Weinen nicht anders als in Fragen der Bequemlichkeit von
Sesseln, der Gefälligkeit von Moden der Kleidung, der Besinnung
auf den Selbstwert des Frühaufstehens bis hin zur Erörterung
über den Reiz von Ferienorten. Auf der Basis von Kriterien ist
die geschmackliche Präferenz behauptbar: intersubjektiv be-
gründbar sind diese Aussagen auf der Basis einer Übereinstim-
mung in den herangezogenen Kriterien. '49
Die Notwendigkeit der Annahme solcher Kriterien, das »Wie der
Präferenz«, auf das sich solche Urteile stützen, ist nicht selbst
begründend zu stützen. Die begründete Wahl ist hier die Folge
eines (mehr oder weniger kontingenten) subjektiven Wollens.
Insofern hat Kant auch wieder recht: die Begründbarkeit von
Urteilen des genießenden Geschmacks gehen auf das Faktum der
subjektiven Vorliebe und auf das Faktum eines intersubjektiven
Konsenses der Vorlieben zurück. Diese Gemeinsamkeit aber ist
nicht das Resultat von Erwägungen, sie ist mehr oder weniger
gemeinsam erworben; nur wer einmal auf den Geschmack ge-
kommen ist, ist fähig, in Fragen dieses Geschmacks zu richten.
Andererseits hat ein »Ansinnen« der Übereinstimmung hier (im
Unterschied zu Kants Auffassung) ohne Zweifel einen Sinn - nur
eben keine Argumente, d. h. kein irgend logisches Recht. An die
geschmackliche Präferenz der anderen können wir nur appellie-
ren: versuch's doch selbst, versuch's doch damit - und du wirst
sehen! Worin freilich keine strenge Prognose, sondern eben ein
Vorschlag zum Teilen eines Genusses liegt. Die Aufforderung

223
zum Kennen- oder Schätzenlernen eines Vergnügens, die gele-
gentlich auf eine Aufforderung zur Erfahrung hinauslaufen wird,
ist am eigenen Beispiel und am Beispiel berühmter Geschmacks-
konversionen bloß illustrierbar.Der Streit zwischen den Anhän-
gern mundvoller Blumigkeit vs. vielstimmiger Herbheit kann
ausgetragen werden allein im persuasiven Spiel der Lästerung und
Verlockung.
Das im engeren Sinn ästhetische Urteil dagegen, so habe ich
behauptet, enthält eine Aufforderung zur Erfahrung, die begrün-
det werden kann. So macht die kunstkritische Interpretation das
gedeutete Werk zum wertenden Explikat einer an ihm bekräftig-
ten oder durch es gewonnenen Sichtweise. Anstatt auf der Basis
einer vorhandenen - durch Erfahrung erworbenen - Präferenz
zugunsten einer Wertaussage und damit für ein bestimmtes Ge-
schmacksverhalten zu argumentieren, machen die Urteilenden
hier das Objekt ihres Urteils als Grund für das Haben der
Erfahrung geltend, deren Relevanz sie am ästhetischen Gegen-
stand oft erst erfahren haben. Das Plädoyer für ein Geschmacks-
verhalten ist hier das Plädoyer für die verstehende Teilhabe an
einer als gegenwartsadäquat erfahrenen Sichtweise und an Ein-
stellungen, die Folgen der ästhetisch bejahten Sichtweisen sind.

n. Vorliebe
Sowohl vom ästhetisch-verstehenden als auch vom geschmack-
lich-genießenden Urteil muß das Votum der ästhetischen Vor-
liebe unterschieden werden. Dieses Urteil tut einen nicht be-
gründbaren, weil nicht objektivierbaren Vorzug kund. Es kann
sich sowohl auf Objekte des sensuell-affektiven Gefallens als
auch auf die Gegenstände der ästhetisch-verstehenden Beurtei-
lung beziehen; beide Male aber bezieht es sich nicht ausschlagge-
bend auf die sensuelle oder symbolische Beschaffenheit seiner
Gegenstände, sondern auf den Grad der subjektiven Betroffen-
heit und Affinität. Der Einfachheit halber unterscheide ich auch
hier wieder zwischen geschmacklicher und ästhetischer Vor-
liebe.
Von der geschmacklichen Vorliebe als der Basis des geschmack-
lich begründbaren Vorzugs war bereits die Rede. Interessant ist
hier der zusätzliche Fall, bei dem Vorzug und Vorliebe, zwei
Vorlieben verschiedenen Niveaus also, differieren. Es könnte

224
sein, daß ein Pfälzer einen einheimischen Riesling seinem Elsässer
Verwandten vorzieht, obwohl der Elsässer gemessen am - akzep-
tierten - Kriterium des vielstimmig Sauren der eindeutig bessere
ist. Weil er eine Vorliebe fürs Pfälzische hat, weicht der pfälzer
von seiner eigenen Geschmacksnorm ab: die Herkunft des Weins
ist für ihn ein Grund, den objektiv schlechteren zu wählen. Die
Vorliebe als solche liefert (noch) keinen Grund, das Objekt dieser
Neigung allgemein für vorzüglich zu halten; das subjektive Mo-
tiv reicht allenfalls hin, das abweichende Präferenzverhalten die-
ses Kenners zu erklären. Wenn es denn ein Kenner ist, wird er
sich hüten, aus der landsmannschaftlichen Bindung ein ge-
schmackliches Kriterium zu machen und folglich einen generel-
len Satz zu behaupten (»die Pfälzischen Weine sind einfach die
besten«). Obwohl ein geschmackliches Kriterium (»gute Weiß-
weine sind vielstimmig sauer«) immer einer gegebenen Vorliebe
entspringt, ist die geschmackliche Vorliebe nicht als solche be-
reits ein Kandidat für Kriterien einer möglichen Begründung.
Gravierender ist die Verwechslung von subjektiver und objekti-
ver Präferenz im Bereich der im engeren Sinn ästhetischen Beur-
teilung. Sie kommt der erwähnten Verwechslung von Kunstwer-
ken mit privaten Andenken gleich. So könnte unser Pfälzer, den
es in die Feme verschlagen hat, behaupten, dieser Wein hier
bedeute für ihn die Pfalz, »wie sie leibt und lebt«. Ihm bedeutet
er das - der Wein allein bedeutet gar nichts; Weine sind Getränke
und nicht Symbole - jedenfalls im Wirtshaus. Für den Pfälzer
und für das pfälzische Lebensgefühl mag dieser Wein durchaus
»mehr sein als bloß ein Getränk«; aber am Wein ist dieses
Lebensgefühl nicht ersichtlich: ich kann dieses Lebensgefühl
nicht erklären, indem ich - einem Friesen - diesen Wein erkläre.
Der Wein ist nicht Ausdruck einer Weltauffassung; beim Wein
mag von dieser sich einiges ausdrücken. Und nicht bei einem
jeden - bei einem Kaiserstühler kommt dieser Pfälzer erst gar
nicht in Fahrt.
Der sentimental genossene Wein ist klarerweise ein Grenzfall:
geschmackliche Vorliebe und ästhetische Belehnung liegen hier
auf einer Linie. Für die ästhetische Vorliebe eindeutiger paradig-
matisch ist der in jeder sonstigen Hinsicht wertlose Gegenstand,
der mir auf Grund einer persönlichen Beziehung überaus am
Herzen liegt. Als Objekte eines ästhetisierenden Andenkens

225
können die ästhetisch abwegigsten Dinge dienen, denen die
subjektive Affinität eine Aura des Bedeutsamen verleiht, die sie
für Unbeteiligte nicht haben und auch durch vieles Zeigen und
Sagen nicht erhalten können. Der oben erwähnte Salzstreuer
kann nach bestem ästhetischen Dafürhalten einfach plump sein,
er kann überdies bis zur Unbrauchbarkeit disfunktional oder
beschädigt sein, dennoch kann ich ihn über alle Maßen schätzen,
weil es der Salzstreuer ist, den ich damals auf jener Reise mit jener
Gesellin unter jenen Umständen in jenem Restaurant habe mitge-
hen lassen und kein Gegenstand auf der Welt mir diese damalige
Situation so in Erinnerung ruft wie eben dieser nach allen sonsti-
gen Kriterien miserable Salzstreuer. Gegenstände der ästhetisch
reinen Vorliebe sind Objekte, die ästhetisch relevant sind aus-
schließlich für die, die mit ihnen ein privates Erlebnis verbinden.
Objekte des reinen Andenkens sind ästhetische Objekte ohne
ästhetischen Gehalt, ohne erkennbar präsentative Struktur. Sie
werden mit einer solchen ausschließlich imaginativ versehen; was
für mich gehaltvoll ist, ist darum noch nicht selbst gehaltvoll.
Nun könnte ein photorealistisches Gemälde einen überdimensio-
nal vergrößerten Salzstreuer genau des Typs zeigen, wie ich ihn
seinerzeit erbeutet habe und noch heute (trotz seiner Mängel und
Macken) benutze. Aus dem Effekt einer unverhofften und unver-
hofft geadelten Reminiszenz würde mich das Bild sicherlich
entzücken; ein Urteil über die ästhetische Qualität des Bildes
selbst gibt dieses Entzücken nicht. Die vorliebenartige Affinität
kann ein Motiv sein, um sich auf eine Wahrnehmung der ästhe-
tisch-objektiven Qualitäten des Bildes einzulassen oder aber, wie
es ja nicht selten geschieht, es bei der privaten Anrührung (oder
Abstoßung) geschmäcklerisch zu belassen.
Eine Notiz von Wittgenstein gibt Anlaß zu einer grundsätzliche-
ren Betrachtung. »Engelmann sagte mir, wenn er zu Hause in
seiner Lade voll von seinen Manuskripten krame, so kämen sie
ihm so wunderschön vor, daß er denke, sie wären es wert, den
andern Menschen gegeben zu werden. (Das sei auch der Fall,
wenn er Briefe seiner verstorbenen Verwandten durchsehe).
Wenn er sich aber eine Auswahl davon herausgegeben denkt, so
verliere die Sache jeden Reiz und Wert und werde unmöglich.
(... ) Wenn E. seine Schriften ansieht und sie wunderbar findet
(die er doch einzeln nicht veröffentlichen möchte), so sieht er sein

226
Leben als ein Kunstwerk Gottes, und als das ist es allerdings
beachtenswert, jedes Leben und alles. Doch kann nur der Künst-
ler das Einzelne so darstellen, daß es uns als Kunstwerk er-
scheint; jene Manuskripte verlieren mit Recht ihren Wert, wenn
man sie einzeln, und überhaupt, wenn man sie unvoreingenom-
men, das heißt, ohne schon vorher begeistert zu sein, betrach-
tet.«'50 Begeisterung, Affinität und Sympathie sind in der ästheti-
schen Kritik durchaus gefragt, nur müssen sie von jenem Vor-
schuß der Neigung unterschieden werden, der allein in den
»subjektiven Privatbedingungen« seine Ursache hat und nicht der
wahrnehmenden Begegnung mit dem ästhetischen Gegenstand
entspringt (auch hier also sind Kants Bedenken nicht ohne einiges
Recht). Die ästhetisierende Vorliebe ist gleichgültig gegenüber
den ästhetisch inkorporierten Gehalten. Über ästhetische Rele-
vanz und Gelungenheit kann die bloße Vorliebe nichts entschei-
den, weil sie sich um die interne Gelungenheit ihrer Objekte
nicht schert. Die Gründe, die ich für meine Vorlieben angeben
kann, sind immer nur meine Gründe, nicht aber solche, die
Qualitäten des ästhetischen Gegenstandes zur Geltung bringen.
Für die ästhetische Kritik dagegen gilt: »Was nur für einen
Einzigen Wert hat, das hat überhaupt keinen Wert.«'P
Daß die Vorliebe über den objektiven Wert nichts entscheidet,
gilt auch dann, wenn Vorliebe und Wertschätzung miteinander
kongruieren. Daß ich ein Faible habe für späte Mondrians, hebt
den späten Mondrian, den ich in meine Räume hänge, nicht
schon über den frühen Ernst oder die Bildentwürfe von Male-
witsch hinaus. Das Faible für Mondrian macht diesen nicht
gelungener als gelungen. Im übrigen muß diese Vorliebe nicht auf
konkret biographischen Anlässen beruhen. Sie kann ebensogut in
ästhetisch-subjektiven Idiosynkrasien gründen. Es könnte sein,
daß ich den späten Mondrian gerade• daum liebe, weil einige
dieser Bilder - neben einigen Sachen bei Matisse - zu den
wenigen gehören, die eine dominante und doch produktive Ver-
wendung der gelben Farbe haben, die ich für die heikelste aller
Farben halte. Ich liebe Mondrian, weil ihm die Rettung des
Gelben gelingt. Von dieser Affinität zu der Behauptung, daß der
Wert der späten Bilder von Mondrian in ihrer Rettung des
Gelben liegt, ist es ein eigener Schritt: diesen Schritt kann ich tun,
nur muß ich dann Fragen zulassen, die im anderen Fall kaum
aufkommen werden. Wie realisiert sich diese Apologie einer
Farbe in den einzelnen Bildern? Was ist der Unterschied zum
frühen Mondrian, außer daß er in der amerikanischen Zeit eben
mehr Linien - über?, auf? - die Bildfläche zieht und es daher auch
zu mehr gelben Linien kommt? Liegt der Unterschied nicht eher
im Rhythmus als in der Farbe? Wie verhält sich diese angebliche
Rettung der Farbe zur Auferstehung der Farben in Newmans
Serie » Who's afraid of red, yellow and blue ?«, die doch gegen die
Idealisierung der reinen Farben konzipiert war, wie sie Mondrian
und andere vorgenommen haben?
Der Unterschied zwischen ästhetischer Vorliebe und ästhetischer
Wertschätzung ist verstanden, wenn man sich klarmacht, daß die
sogenannten Kriterien, deren wir uns im ästhetischen Verhalten
ja durchaus bedienen, hier primär eine Sache der Vorliebe sind.
Kriterien sind Faustregeln der Vorliebe, nicht Grundlage einer
interpretierenden Kritik. Vor dem einzelnen Kunstobjekt hilft
ein Kriterium ästhetisch wenig: vor vielen ist es zu allerhand
nutze. Kriterien sind brauchbar für die Auswahl der suchenden
Orientierung und für die Entscheidung von Käufern, aber nicht
für die eingehende Kritik. Wer im Buchladen ein Buch will, ist
mit Kriterien gut beraten. Wer ein Buch liest - was hat er von
seinen Kriterien! Er hat es gern komisch - aber wenn das Buch
nicht komisch ist, was dann? Sie liebt die psychologische Raffi-
nesse - nur ist davon hier nichts zu finden und trotzdem ist's gut.
Spannend haben alle es gern - die einen finden die Spannung bei
Joyce, die anderen bei Hammett, die einen bei Mondrian, die
andern bei Wois, die einen bei Webern, die anderen bei Parker.
Und möglicherweise haben sie alle recht, denn das ästhetisch
Gute ist immer spannend, nur eben auf tausendfältige Art.
Aber wir haben doch Kriterien, auf die gerade eine objektivie-
rende Wertung sich maßgeblich stützt! Nein: wir haben die
gelungenen Werke, die wir aus praktischen Gründen gelegentlich
auf Kriterien verkürzen. Ästhetischer Maßstab ist allein das
ästhetisch Gelungene, das nach keinem fixen Maßstab gelungen
ist. Damit ist gesagt, daß die gelungenen Werke in einem be-
stimmten Bereich in der ästhetischen Beurteilung als Koordina-
ten fungieren, die sich genau dann verändern, wenn wir auf
herausragend und neuartig Gelungenes stoßen. Die ästhetischen
Standards, die die innovativ gelungenen Werke setzen, legen,
richtig verstanden, keinen Modus des Gelingens fest; sie exempli-
fizieren ein Niveau möglichen Gelingens, das durch sie verän-
dernd eröffnet worden ist und das die nachfolgenden großen
Werke eröffnend verändern werden, Ästhetische Standards sind
Standards der Eröffnung, des möglich Gewordenen; keine Krite-
rien der Entscheidung. Ästhetisch erfahren ist nicht, wer über
sichere Kriterien verfügt, sondern wer die Sicherheit hat, sich von
seinen Vorurteilen zum ästhetisch Interessanten zwar oft führen,
aber am Ziel nicht blenden zu lassen. Die auf Kriterien gestützte
Meinung über einen bestimmten Gegenstand ist in der ästheti-
schen Kritik immer nur eine Vormeinung, die am konkreten
Objekt zur Prüfung steht. Nicht die Kriterien richten das Ob-
jekt, sondern das Objekt, wenn an ihm etwas ist, berichtigt die
Bequemlichkeit der Kriterien. Ein noch so inniger Konsens über
ästhetische Kriterien ändert daran nichts.
Mit anderen Worten, die ästhetische Wahrnehmung fängt da erst
richtig an, wo die Kriterien ihren Dienst versagen. Soviel ist der
Begriffsangst der ästhetischen Puristen ohne Vorbehalt zuzuge-
ben. Der auf einen vermeintlich objektiven, aber sachfremden
Bewertungsmaßstab festgelegte Zugang beläßt es bei der äußerli-
chen Vorliebe und läßt es zur eingehenden Liebe und erkennen-
den Verachtung nicht kommen. Das gilt aber für Kriterien der
»Vieldeutigkeit« und der rasenden »Unbestimmtheit« genauso
wie für solche der parteilich genauen Wiedergabe. Anstatt vorher
schon zu wissen, daß das Gute ergreifend unbestimmt oder
schöpferisch widerspiegelnd ist, lassen die ästhetisch Wahrneh-
menden, die nicht sicherheitshalber auf die ästhetische Lust
verzichten, sich subjektiv auf den Ausdruck ihrer Gegenstände
ein, der auch den Sinnen - unbestimmt vieler - anderer aufgehen
könnte, wenn diese es nicht beim Zaudern der Vorlust beließen.
» The problem of the critic, as of the artist, is not to discount his
subjectivity, but to include it; not to overcome it in agreement,
but to master it in exemplary ways.«'52

III. Signifikanz
Wahrend das Urteil der Vorliebe signifikant ist lediglich für den,
der es äußert, schreiben Signifikanzbewertungen ihren Gegen-
ständen die objektive Eigenschaft zu, für einen bestimmten Um-
stand auf besondere Weise bezeichnend zu sein. Gegenstand der

229
Vorliebe ist das Objekt eines derzeitigen Gefallens; Gegenstand
der Signifikanzaussagen ist das Objekt seiner Zeit oder Art.
Aussagen dieser Art freilich sind nicht primär ästhetisch, sondern
in Zusammenhängen eines theoretischen Begründens oder auch
der moralischen Kritik von Belang. Denn behauptet wird hier,
daß etwas - einzelne Aussagen, Objekte, Handlungen, Ereig-
nisse, Biographien usw. - einzigartig oder stellvertretend auf-
schlußreich ist für einen allgemeineren Zusammenhang empiri-
scher oder begrifflicher Art. Zu einer Sonderform des ästheti-
schen Urteils wird die Signifikanzbewertung zunächst einfach
dadurch, daß Gegenstände auf Grund ihrer ästhetischen Verfaßt-
heit für signifikant befunden werden. Ästhetischen Objekten
wird eine dokumentarische oder symptomatische Bedeutung zu-
gewiesen. Aus dieser Warte werden Kunstwerke nach ihrem
Wert als zeitgeschichtliche und natürliche kunstgeschichtliche
(und insofern auch zeitgeschichtliche) Dokumente oder als Para-
digmen einer ideologiekritischen Betrachtung beurteilt. Um äs-
thetische Signifikanzurteile aber handelt es sich nur, wenn es die
präsentative Struktur von Gegenständen ist, die um Aufschluß
ersucht wird über historische, soziale oder auch philosophische -
und kunstphilosophische - Themen. Wenn das doppelseitige
Bemalen von Leinwänden allein die materielle Armut des betref-
fenden Malers dokumentiert, so liegt darin keine ästhetische
Signifikanz. Wenn das Oeuvre eines nach heutiger Einschätzung
zweitrangigen Malers zum Paradigma einer bestimmten Stilart,
einer bestimmten Naturauffassung oder einer bestimmten Habi-
tusform erklärt wird, haben wir es mit ästhetischen Signifikanz-
behauptungen zu tun. Es scheint problemlos zu sagen: Ästhe-
tisch signifikant sind Gegenstände, die ästhetisch relevant sind
derart, daß sie (vorzüglich) geeignet sind, als Belege oder Bei-
spiele zu dienen für Aussagen über eine Epoche, eine Gattung,
ein Oeuvre ... , kurz: über einen theoretischen oder politischen,
historischen oder kunsthistorischen Zusammenhang.
Nur ist die Sache ganz so einfach nicht. Denn das ästhetisch
signifikante Zeichen muß nicht im erläuterten Sinn auch ästhe-
tisch relevant sein (und nur ästhetische Artefakte können ästhe-
tisch signifikant sein). Ein von Benjamin inspirierter Soziologe,
der den »Ausdruckszusammenhang«' 53 einer Epoche zum Ge-
genstand seiner Untersuchungen macht, könnte Objekte wie

230
unseren Salzstreuer, könnte Senfspender und Ketchupflaschen,
könnte die Emblematik der Snack-Bars und Coffee-Shops zu
Anlässen einer ästhetisch sensibilisierten Deutung machen, ohne
doch zugleich der Meinung zu sein, diese Objekte seien für sich
genommen ästhetisch relevant. Diese Möglichkeit der Betrach-
tung resultiert aus dem oben erörterten Umstand, daß prinzipiell
jedes Objekt wie ein ästhetisches angesehen und aufgenommen
werden kann - ob es diesen Versuch nun unmittelbar entlohnt
oder nicht.
Auch die reine Vorliebe verfährt ja in dieser Weise mit ihren
Objekten. Von der privativen Belehnung der Vorliebe aber un-
terscheidet sich die generalisierende Beurteilung der Signifikanz
diametral. Ist jene affektiv, so ist diese methodisch begründet. Bei
der Signifikanzermittlung blenden die Wahrnehmenden das Vo-
tum ihrer subjektiven Affinität aus, wenn es darum geht, den
Ausdruckswert der vorgenommenen Gegenstände zu erfassen -
oder blenden es auf eine ausschließlich heuristische Beihilfe
zurück. Auf eine radikale Weise befolgt dieses Vorgehen den von
Gadamer hermeneutisch propagierten » Vorgriff der Vollkom-
menheit«. 154 Der aus unserer ästhetisch aktuellen Einschätzung
vollkommen irrelevante Salzstreuer wird besehen wie ein ästhe-
tisch ausdrucksstarkes Gebilde. Die Vermutungen darüber, wo-
für bestimmte Objekte in bestimmten Kontexten ästhetisch signi-
fikant sein mögen, liefern hier zugleich - theoretische - Kriterien
dafür, inwieweit die gesuchte präsentative Exemplarität in den
vorliegenden Fällen gegeben ist. Das Unding von einem Salz-
streuer kann so zu einem Inbegriff der Plastikkultur werden,
wenn es in seiner trivialen Formung zum aufschlußreichen Ex-
empel eines gesellschaftlichen Verhältnisses zu den reprodukti-
ven Genüssen erhoben wird; auf diesem Weg kann es für einen -
über externe Fragestellungen herangetragenen - Erfahrungszu-
sammenhang signifikant werden, von dem es, allein für sich
besehen, nichts entbirgt: den es als einzelnes Ding in keiner
Weise zu entdecken verlockt.
Die (in einem meist theoretischen Interesse) ästhetisierende Si-
gnifikanzbewertung macht eine Vorgabe - der Gelungenheit/
Schönheit oder zumindest der Relevanz -, die das Urteil der
ästhetischen Kritik nicht gibt. Ohne diese wie immer metho-
disch-experimentierende Vorgabe (oder eben Feststellung) der

231
ästhetischen Relevanz kann es eine Ermittlung der ästhetischen
Signifikanz von etwas nicht geben - weil anders eine ästhetische
Phänomenalität von Gegenständen überhaupt nicht wahrnehm-
bar ist. Kein Gegenstand ist ästhetisch signifikant, der nicht
zuvor - und sei es hypothetisch -.-als ästhetisch relevant angese-
hen wurde. Denn nur in einer ästhetisch-kritischen Wahrneh-
mungsweise ist er als ästhetisch ausdruckhafter gegeben. Aus
diesem ontologischen Vorrang der kunstkritischen Beurteilungs-
weise freilich folgt keine epistemische Priorität der ästhetisch-
kritischen gegenüber der theoretisch-informierenden Beurtei-
lungsweise, weil Daten über den (Entstehungs- )Kontext eines
Werks prinzipiell zugleich mit seiner Bewertung und Anerken-
nung als Kunstwerk erreichbar sind. Aber erst wenn ein Gegen-
stand als ästhetisch relevant gesetzt oder vorausgesetzt ist, treten
Signifikanz und Gelungenheit als alternierende Bewertungen aus-
einander. Was gelungen ist, ist gelungen-als; was signifikant ist,
ist signifikant-für. Signifikant sind ästhetische Objekte für Zu-
sammenhänge, in denen sie an ihrem Ort und in ihrer Zeit stehen;
die gelungenen Gegenstände dagegen sind gelungen nicht als
Zeugnisse für einen externen Zusammenhang, sondern als Me-
dien der durch sie konstituierten und vermittelten Erfahrung, aus
welchen Bedingungen sie auch entstanden sein mögen. »Das
Kunstwerk ist nur nebenbei ein Dokument. Kein Dokument ist
als solches ein Kunstwerk.,<'55
Näherliegende Beispiele für diese Differenz liefern die Tragödien
und Tragikomödien der künstlerischen Intentionen. Ein beson-
ders unsägliches Gedicht von Friederike Kempner kann außeror-
dentlich signifikant sein für das Selbstbild als Dichterin, das diese
Autorin von sich hatte. Der Nachweis dieser Behauptung wird
sich auf Daten über Person und Werk stützen; auf dieser Basis
geführt wird dieser Nachweis durch eine Explikation des betref-
fenden Gedichts, die nun gewiß nicht kunstkritisch verfährt
(denn da gäbe es wenig zu sagen), sondern den Sinn der angewen-
deten poetischen und subpoetischen Verfahren im Lichte dessen
erläutert, was das Poem evozieren soll. Noch das miserable
Kunststück ist oft vollendet signifikant für die blendende Ambi-
tion, die an ihm seine Spuren hinterlassen hat - und sonst keine.
Signifikanz für ein dichterisch vergebliches Bemühen ist eben
etwas ganz anderes als die Schönheit eines Gedichts, das gelungen

232
ist als ein memento der Vergeblichkeit eines die poetischen
Wcirter stur reihenden Wollens.
Wir erinnern uns des armen ,Paz,. Immerhin hat auch seine karge
Erfindung im theoretischen Zusammenhang allerhand Aufschluß
geboten: gerade das Mißlungene war hier signifikant für die
Reichweite und Grenze der ästhetischen Relevanz. Der wahre
Paz dagegen wäre ein interessantes Beispiel nicht nur in Zusam-
menhängen der ästhetischen Theorie, sondern etwa für ein Ver-
stehen der Reflexionen, die Adorno über das im Erkennen zum
Erkennen »Hinzutretende« zum besten gibt. '5 6 Diese Funktion
kann das Gedicht von Paz freilich nur erfüllen, weil es gelungen
ist und in seiner Gelungenheit als ein bedeutsames Explikat
eingeführt wird. Behauptungen zur ästhetischen Signifikanz wer-
den schnell absurd, wenn die Frage der ästhetischen Valenz ganz
vernachlässigt wird. Ausklammerung der Wertung darf nicht
Blindheit für den Wert bedeuten. Sonst kämen wir dazu, die
Kempner wie die symbolistische Lyrikerin zu behandeln, die sie
bloß gelegentlich sein wollte. Sonst kommt man leicht dahin, das
Exemplar einer ästhetischen Gattung, an dem sich die Merkmale
dieses Genres besonders gut darstellen lassen, darum bereits für
ein ästhetisch hervorragendes Produkt dieser Gattung zu halten.
Was signifikant ist, ist nicht notwendig darin gelungen, wofür es
signifikant ist; und was gelungen ist, ist nicht in dem, als was es
gelungen ist, auch sogleich signifikant.
Leni Riefenstahls 1934 über den Reichsparteitag der NSDAP
gedrehter Film »Triumph des Willens« ist ein historisches Doku-
ment von außerordentlichem Rang, weil es sich hier um eine
ästhetisch hochartikulierte Darbietung weniger der Ereignisse
des Parteitages handelt als vielmehr davon, wie die faschistischen
Ideologen sich die Aufnahme ihrer Inszenierungen auf seiten des
untertänigen Volkes erträumt haben. Wie real diese Träume
geworden sind, ist für den Wert dieses Dokuments nur sekundär
von Bedeutung - ein großer Erfolg beim Publikum - und gerade
beim Publikum untergeordneter Parteiversammlungen - ist der
Film wegen seiner artifiziellen Überspanntheit nie gewesen; die
Verblendungen dort waren wohl konkreter als die der Bewegung
im Film verliehenen metaphysischen Weihen. Auch wenn man
das in Rechnung stellt, ist Riefenstahls Film nicht nur im ästheti-
schen Kontext - für die Geschichte des Propagandafilms - signi-

233
fikant; er ist auch historisch höchst aufschlußreich, weil er eine
genuine Ausdrucksleistung vollbringt, die ihm nicht erst metho-
disch eingesehen werden muß. »Eine genuine Ausdrucksleistung
vollbringen« heißt aber doch, ästhetisch gelungen zu sein - sind
dann Signifikanz und Gelungenheit hier nicht notwendigerweise
identisch, anstatt nur zwei verschiedenartige (wenn auch gleich-
zeitige) Auszeichnungen zu sein? Nein - weil Gelungensein nicht
immer bedeutet, im Sinne der Erfinder gelungen zu sein.
Das wird klar bei einer genaueren Differenzierung der Beurtei-
lungsmomente, die hier einschlägig sind. Ob gelungen oder
nicht: ästhetisch relevant ist der Film einmal darum, weil er einen
filmhistorisch interessanten und einmaligen Schnittpunkt dar-
stellt; er kreuzt die Techniken des russischen Revolutionsfilms
mit dem deutschen Stil neusachlich montierter Dokumentarfilme
in einer Weise, durch die das auf synthetische Wahrnehmungslei-
stungen und die ordnungsstürzende Spontaneität der politischen
Massen bauende Pathos der frühen sowjetischen Agitationsfilme
jetzt der nackten Verherrlichung des Führerprinzips weicht; es
weicht der Glorifizierung einer rituellen Ordnung, die dem
demokratisch verwirrten Menschenleben eine hierarchische Hei-
lung angeblich wieder und endlich verleiht. Ästhetisch relevant
ist der Film also zumindest darum, weil er für eine künstlerisch
wichtige Entwicklung signifikant ist. Die Signifikanz des Films
aber erstreckt sich nicht allein auf den Aufschluß, den er über
kunstrelevante Faktoren gibt. »Triumph des Willens« ist - in
seiner ästhetischen Machart - historisch signifikant, weil er zu
seiner Zeit von politisch maßgebender Seite (dem Goebbelsschen
Propagandaministerium) nicht nur in Auftrag gegeben, sondern
dort auch als gelungen bewertet wurde. Der Film wurde als ein
authentischer Ausdruck der faschistischen »Bewegung« verstan-
den. Aus heutiger Sicht gelungen aber ist der Film nicht, weil
Goebbels an ihm Gefallen fand. Zumindest passagenweise ist der
Film eine ästhetisch gewaltige Projektion, weil er das nationalso-
zialistische Projekt in erschreckender Weise exponiert. Aus
kunstkritischer Warte würde ich behaupten, daß die überdau-
ernde Brillanz gerade der Anfangssequenz darin liegt, daß die
Vorstellung der Szenerie für die heutige Erfahrung etwas umwer-
fend und tödlich Komisches hat. Über hunderttausenden block-
weise geordneten Untertanen schwebt der gottgleiche Führer

2 34
herab, um daraufhin als ein winziges Männlein zwischen den
Heerscharen seiner gebannten Getreuen entgegen der überdi-
mensionalen Bühne seines keuchenden Auftritts stolzierend zu
eilen: das ist weit absurder als ein Chaplin, der, Hitler markie-
rend, verzückt den zum Platzen gespannten Luftballon der Welt-
kugel umschmeichelt. Gelungen, oder angemessener: erschüt-
ternd ist diese Sequenz, weil sie in ihrer grotesken Steigerung ein
vollendeter Ausdruck der barbarischen Absurdität des Führer-
prinzips ist. (Nicht von ungefähr arbeiten die bedeutenden anti-
faschistischen Spielfilme häufig mit mehr oder weniger kraß
komisierenden Mitteln. 1 57)
In der Hinsicht, in der diese Sequenz eine »genuine Ausdrucks-
leistung« noch heute enthält, ist sie gerade nicht signifikant. Sie
ist signifikant nicht für die Absurdität des Führerprinzips, son-
dern für das Führerprinzip und die Art seiner Propagierung. Nur
selten ist ein ästhetisches Erzeugnis der Vergangenheit dokumen-
tarisch aufschlußreich in eben der Hinsicht, in der seine Aus-
drucksleistung in der Gegenwart von andauerndem Interesse ist.
Gerade ein ästhetisch unmittelbares Interesse, das nicht blind
aktualisierend die Werke verschiedener Zeiten verschlingt, als
seien sie alle just entstanden, wird für den Unterschied zwischen
historischer Signifikanz und aktueller Prägnanz hellhörig blei-
ben: und oft in dieser Differenz einen besonderen Reiz der
ästhetischen Wahrnehmung finden. Ein Verhalten zu ästhetisch
überlieferten Objekten dagegen, das auf der Identifizierung ihrer
Gegenstände mit den ihnen historisch zugeschriebenen (oder
doch historisierend zuschreibbaren) Bedeutungen besteht, läßt
sich, was die ästhetische Erfahrung betrifft, auf die Alternative
zwischen preisgebender Einfühlung und vergessender Abschrei-
bung ein: auf die Wahl zwischen zwei Illusionen, denen nur die
konsequent zu folgen vermögen, denen ein lebendiges Interesse
am Ästhetischen aus Gründen der methodischen, ideologischen
oder hagiographischen Entsagung längst abgestorben ist.
Mit wenigen Worten: Ästhetisch signifikant sind Objekte nach
ihrem Wert als Dokumente der Erfahrung, aus der sie stammen;
als ästhetisch gelungen werden Ausdrucksmedien bewertet ge-
mäß ihrer Kraft, geteilte oder teilbare Erfahrungen zu präsentie-
ren: gemäß der Erfahrung, die sie aktuell bedeuten.

235
e) Kommentar, Konfrontation, Kritik

Es ist jetzt möglich, eine strukturelle Beschreibung des Sprach-


spiels der ästhetischen Kritik zu geben: wie sie in ihrer Beurtei-
lung verfährt, worauf ihre resümierenden Wertungen sich stüt-
zen.
Die vorstehenden Betrachtungen haben in negativer Abgrenzung
herausgestellt; worum es der ästhetisch-kritischen Überlegung
und Bewertung geht. Eine positive Erläuterung kann nur gelin-
gen, wenn die vorausgegangenen Abgrenzungen nicht als einfa-
che Ausgrenzungen mißverstanden werden. Die subjektive Reak-
tion der Sympathie spielt für die ästhetische Beurteilung eine
Rolle ebenso wie die Kenntnis und Erkenntnis der Signifikanz
ihrer Gegenstände. Bekundungen der Affinität und Aussagen zur
dokumentarischen und kontextuellen Qualität von Kunstwerken
gehören dem Sprachspiel der ästhetischen Kritik wesentlich zu:
nur sind es nicht die Wertungen der Vorliebe und der Signifi-
kanz, um die es dieser Art der ästhetischen Wertung, um die es
im »ästhetischen Urteil« geht. Die Gründe der ästhetischen Kri-
tik sind auf die Gründe der subjektiv-präferentiellen Einschät-
zung und der theoretisch-wissenschaftlichen oder moralisch-
politischen Beurteilung nicht rückführbar; und doch ist die äs-
thetische Argumentation nicht von den Inhalten separierbar, die
dort zur Verhandlung stehen.
Wer den Sinn ästhetischer Argumentation verstehen will, ist gut
beraten, der in der neueren Ästhetik allzu üblichen Art der
Aufteilung zwischen ästhetischer »Beschreibung«, »Interpreta-
tion« und »Bewertung« nicht blind zu vertrauen. ' 18 Die Unter-
scheidung ist völlig unangemessen, sofern eine Trennbarkeit ihrer
Glieder behauptet wird; sie ist irreführend, wenn behauptet wird,
es seien dies die Grundtypen von Aussagen über ästhetische
Gegenstände. »Beschreibungen« des ästhetischen Materials,
wenn sie denn ästhetische Charakterisierungen bieten, sind we-
sentlich auch interpretativ; »Interpretationen« des Gehalts, der
funktionalen Relevanz, ästhetischer Objekte sind notwendiger-
weise bereits wertend - wenn es denn ästhetische Interpretatio-
nen sind. Obwohl sich manches Sinnvolle in und mit ihr sagen
läßt, ist die gewohnte Dreiteilung wenig geeignet, die entschei-
denden Gelenkstellen der ästhetischen Kritik einsichtig zu ma-
chen. Jedenfalls dann nicht, wenn im Auge behalten wird, daß es
am Thema der »ästhetischen Kritik« nicht um ein Spiel der
Prämierung geht, das der ästhetisch substantiellen Erfahrung
äußerlich hinzutritt, sondern um die primäre Auffassungsweise
von Kunstwerken und anderen ästhetischen Gegenständen -
gleichgültig, ob deren Wahrnehmung zu einer expliziten Kritik
faktisch ausgeführt wird.
Diese Vorbehalte legen es nahe, innerhalb der kunstkritischen
Rede zwei Charakterisierungsformen zu unterscheiden, die Mo-
mente der Interpretation und Wertung auf ihre Weise beide
enthalten, ohne alleine die kunstkritische Interpretation und
Wertung zu geben. Der ästhetische Kommentar macht Aussagen
zum ästhetischen Material auf der Basis hypothetischer An-
nahmen zur ästhetischen Funktion; Aussagen der ästhetischen
Konfrontation treffen Feststellungen zum Wie der funktionalen
Relevanz auf Grund der subjektiv-unmittelbaren Reaktion aufs
ästhetische Material. Die ästhetische Kritik leistet eine zugleich
aktualisierende und objektivierende Synthese aus Kommentar
und Konfrontation. Erst die im engeren Sinn kunstkritischen
Aussagen geben eine Bestimmung zum präsentativen Gehalt
ihrer Gegenstände; nur im Kontext ihrer Verwendung zur Erhel-
lung der gegenwärtigen Ausdrucksfunktion ästhetischer Objekte
fungieren Aussagen des Kommentars und der Konfrontation als
Argumente der ästhetischen Kritik.

r. Kommentar
Der ästhetische Kommentar macht Aussagen zur materialen Re-
levanz und über die historische, kunsthistorische und biographi-
sche Signifikanz seines Gegenstandes, soweit diese für die ästheti-
sche Phänomenalität eines Werks von Bedeutung ist. Der Kom-
mentar trifft Bestimmungen darüber, welchem geschichtlichen
Zusammenhang ein Kunstobjekt entstammt und welches die
Eigenschaften sind, die seine präsentative Artikuliertheit bestim-
men.
Der Zusammenhang dieser beiden Aspekte der kommentieren-
den Rede ist unschwer zu erkennen. Der Kommentar sichtet die
Qualitäten, die ein ästhetisches Objekt ästhetisch definieren; zur
materialen Relevanz eines Kunstwerks aber gehört seine ästheti-
sche Position, gehört seine Signifikanz im kunsthistorischen Zu-

237
sammenhang oft wesentlich dazu. Daß Riefenstahls »Triumph
des Willens« ohne den sowjetischen Revolutionsfilm nicht denk-
bar ist, ist eine Aussage über ästhetische Eigenschaften des Films,
insbesondere über die Art der Montage und die Verwendung
stilisierender Mittel; diese Adaption ist ohne eine Betrachtung
der damit geleisteten ideologischen Kontrafaktur nicht sinnvoll
zu beschreiben. Der ästhetische Gegenstand steht nicht außer-
halb der Zeit, in der er entstanden ist und aus der er zu uns
kommt: das gilt nicht allein für seinen möglichen Wert als
historisches und kunsthistorisches Dokument, es gilt nicht min-
der für seine ästhetisch unabhängige Konstitution. Ebensowenig
steht er außerhalb der Zeit, in der wir ihm begegnen: darin liegt
seine riskante Unabhängigkeit von den Intentionen und Deutun-
gen, die sein Werden und Wirken begleitet haben.
Im Kontext der ästhetischen Kritik steht das kommentierende
Nachzeichnen und Aufzeigen zeitgeschichtlicher und kunst-
geschichtlicher Designationen ausschließlich im Dienst der ma-
terialen Charakterisierung der ästhetischen Gegenstände. Der
ästhetische Kommentar steht nicht notwendig in unmittelbar
kunstkritischen Diensten; in kunstkritischer Funktion gilt er der
vorbereitenden, versichernden und erweiternden Bestimmung
des in Rede und zur Wahrnehmung stehenden ästhetischen Ob-
jekts. Diese Bestimmung gilt denjenigen Momenten, Partien und
Zusammenhängen des ästhetischen Objekts, die für die Bestim-
mung seines Gehalts von ausschlaggebender Bedeutung sind. Der
Kommentar führt an das Potential der (möglichen) Bedeutung
hin oder führt in es ein; eine Explikation des ästhetischen Gehalts
leisten die kommentierenden Aussagen selbst nicht.
Ich habe oben (187ff.) bereits zwischen beschreibender und
zuschreibender Kommentierung unterschieden. Es kommt jetzt
darauf an, den Beitrag zu bestimmen, den die beiden Grundarten
der ästhetisch-materialen Charakterisierung für die ästhetische
Kritik leisten; dabei wird nach den Kriterien zu fragen sein, auf
die sich die entsprechenden Aussagen jeweils stützen.
Beschreibend nenne ich solche Sätze des ästhetischen Kommen-
tars, aus denen für die ästhetische Wertung nichts folgt, die aber
Aussagen machen über Eigenschaften des ästhetischen Objekts,
die für seine ästhetische Auffassung und Beurteilung von Bedeu-
tung sind. Für das Gedicht von Paz habe ich Beispiele genannt -

238
eine Abwechslung kann nichts schaden. Barnett Newmans
» Who's afraid of red, yellow and blue III« »ist ein Riesenbild, es
mißt in der Höhe 2,45 m und in der Breite 5,44m. Die Farben des
Bildes sind Kadmium-Rot, Kadmium-Gelb und Ultramarin-
Blau. Unten links ist das Bild signiert ,Barnett Newman 67,«.159
Daß gute Beschreibungen oft am Einfachsten beginnen, heißt
nicht, daß Beschreibungen sich nur an das Einfache halten; das
ästhetisch orientierte Beschreiben ist genauso schwierig wie das
Zuschreiben und die aphoristische Kondensation - und dort
kann man es sich meist weniger gut leicht machen als hier. Mit
einiger Phantasie gelesen, deutet die Fortsetzung der Beschrei-
bung von Max Imdahl, die einem extrem einfach zu beschreiben-
den Gegenstand gewidmet ist, die exzessiven Weiterungen des an
Bildern, Büchern, Gebäuden, Musikstücken usw. Beschreibungs-
möglichen an. »Newmans Bild ist eine mit Ölfarben bemalte
Leinwand. Dabei spielen Operationen des Maiens selbst eine
Rolle. Die anonyme Homogenität des beherrschenden Rot ist das
Ergebnis äußert disziplinierter Maivorgänge, die als solche sozu-
sagen subkutan spürbar bleiben. Das linke Blau (15 cm breit)
spielt dagegen in offenen, unmittelbar deutlichen Valeurs. Ho-
mogen ist wiederum das rechte Gelb (2,5 cm breit). Wahrend
aber die Grenzlinie zwischen diesem homogenen Gelb und dem
Rot geringfügig unregelmäßig verläuft, ist das valeurreiche Blau
strenger gegen das Rot abgesetzt.«' 60
Einfach an den Aussagen des beschreibenden Kommentars ist
nur das Kriterium, auf das sie sich stützen: Kriterium ist der
ästhetische Gegenstand, wie er sich auch einer ästhetisch (noch)
uninteressierten Wahrnehmung bietet. Es sind nicht eigentlich
ästhetische Qualitäten, die so beschrieben werden; es sind Eigen-
schaften, die wahrgenommen werden müssen, um die ästhetische
Eigenart des Gegenstandes wahrzunehmen. In der bildenden
Kunst sind das Eigenschaften des physischen Objekts, in dem das
Werk sich materialisiert; in der Literatur gehört dazu die Rekon-
struktion der Handlung (sofern es eine gibt), die äußere Gliede-
rung eines Textes, das verwendete Vokabular, oft auch die Be-
stimmung der Gattung; in der Musik die Charakterisierung der
äußeren Anlage und Einteilung und der Besetzung der entspre-
chenden Stücke. Für diese und andere Kunstformen haben sich in
der künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Rede kunsttech-

239
nische Beschreibungssprachen herausgebildet, die nach Art des
ästhetischen Materials sehr unterschiedlich ausfallen: und die mit
der Entwicklung dieses Materials eine stets erneuernde Umbil-
dung erfahren, wobei sich nicht selten Revisionen in der elemen-
taren Grammatik der kommentierenden Prädikation ergeben.
Was Zuschreibung einmal war, kann nur zur Beschreibung wer-
den; was wie eine Beschreibung aussieht, kann Zuschreibung
(geworden) sein.
Wie dem auch werde, die kommentierende Beschreibung stellt
klar, welche derjenigen stofflichen und elementar gestaltenden
Bezüge und Nuancen, die bestimmbar sind, noch ohne ihre
Ausdrucksfunktion im Werkganzen zu bestimmen: welche dieser
vorästhetischen Objektqualitäten für alle weitergehenden Be-
stimmungen des ästhetischen Gegenstands von Bedeutung sind.
Auf welche dieser werkimmanenten Daten eine ästhetische Deu-
tung sich stützt, ist für ihre Triftigkeit oft eine entscheidende
Frage; ein Argument für ästhetische Interpretationen ist es stets,
daß sie dem beschreibbaren Material ihres Gegenstandes auf-
schlußreich Rechnung tragen. Die kommentierende Beschrei-
bung ist eine wesentliche Stütze der kunstkritischen Interpreta-
tion: hier wird ein erstes Mal bestimmt, was es ist, das zu
interpretieren ist - und was es war, an dem die ästhetische
Wahrnehmung sich abgespielt hat.
Die Auswahl und Akzentuierung, die eine beschreibende Kom-
mentierung auch an den (für eine Beschreibung) einfachsten
Fällen unvermeidlich vornimmt, sieht sich in den Formen der
kommentierenden Zuschreibung deutlich verschärft. Diese gelten
den Charakteren des ästhetischen Materials, die nur dann wahr-
nehmbar sind, wenn es - wenn das, was beschreibend an ihm zu
ermitteln wäre - ästhetisch wahrgenommen wird. 161 Einer etwas
großzügigen Gepflogenheit folgend, habe ich diese Kennzeich-
nung oben als metaphorische beschrieben; in jedem Fall handelt
es sich bei den zuschreibenden Kommentarsätzen um Aussagen,
die verglichen mit sachlich-neutralen Beschreibungen von Ob-
jekten, Prozessen, Texten usw. einen scheinbar uneigentlichen
Charakter haben. 162 Zu denken ist an die » Flüchtigkeit« des Paz-
Gedichts, die »Trägheit« des Salzstreuers, die » Verhaltenheit«
eines Musiksatzes oder die »Rasanz« einer filmischen Sequenz;
auch in dem zuletzt zitierten Stück der Beschreibung des Bildes
von Newman liegt eine zuschreibende Bestimmung da vor, wo
Imdahl das dominierende Rot als »anonym« bezeichnet. Die
Zuschreibungen des Kommentars benennen funktional bedeut-
same Beziehungen am ästhetischen Phänomen - und dies so
direkt und eigentlich wie möglich. Auch die Behauptung der
»Anonymität« der homogenen und monochromen Farbfläche
markiert bereits einen Aspekt des Bildgefüges, sofern hiermit die
Spannung hervorgehoben wird, die zwischen der Erscheinung
der Farbe und ihrer erkennbaren (oder »spürbaren«) Verarbei-
tungsweise sich ergibt, die ihrerseits mit dem genannten Wechsel-
verhältnis von gleichmäßiger und ungleichmäßiger Bildausfüh-
rung korrespondiert. Die zuschreibende Charakterisierung
macht solche Beziehungen in ihrer ausdruckhaften Bezogenheit
deutlich, indem sie diese in oft metaphorischer Kennzeichnung
benennt.
Darin liegt ein vergegenwärtigendes Moment der zuschreibenden
Rede, das in der Betrachtung der vergegenwärtigenden Artikula-
tion im vorigen Kapitel nicht zur Sprache gekommen ist. In der
Betrachtung der verbal »thematisierend« vollzogenen Vergegen-
wärtigungsakte waren dort die Artikulationsformen zu beachten,
in denen ein situationsrelevanter Bedeutungszusammenhang
durch den Gebrauch von Sätzen angezeigt wird, in denen etwas
anderes (oder anders) zur Sprache kommt als das, was mit der
vergegenwärtigenden Verwendung dieser Sätze in einer bestimm-
ten Situation angesprochen ist. Von dieser, wie verkürzend gesagt
werden kann, »thematisierenden Vergegenwärtigung« aber un-
terscheiden sich die Formen der »vergegenwärtigenden Themati-
sierung«, unterscheiden sich die der thematisierenden Aritkula-
tion zuzurechnenden Ausdrucksformen, die in ihrer situations-
unabhängigen Rede vergegenwärtigende Leistungen mit über-
nehmen. Paradigmatisch hierfür ist die metaphorische Rede. Es
muß ausreichen, das Besondere dieser Sprachform in zwei Sätzen
zu beleuchten. In metaphorischen Aussagen und Äußerungen
wird nicht in erster Linie ein unmittelbarer Kontext der Rede
verdeutlicht, es wird eine bedeutsame Textur des Beredeten
charakterisiert. Nicht einen Aspekt der momentanen Verständi-
gungssituation hebt die metaphorische Aussage hervor; die meta-
phorische Verständigung bringt sachliche und werthafte Relevan-
zen an den Gegenständen ihrer Rede zur Geltung. Der Kontext,
der im Verstehen metaphorischer Redeweisen verständlich wird,
ist weniger einer der Thematisierung, der augenblicklichen Be-
zugnahme, als vielmehr einer des Themas, einer der Phänomene,
die so angesprochen sind. Für unseren Zusammenhang bedeutet
das, daß die metaphorisch (oder auch metonymisch, oder kraß
vergleichend usw.) »zuschreibende« Charakterisierung ästheti-
scher Objekte nicht wie die Wahrheit der strikt beschreibenden
Aussagen in prädikativ eindeutiger Verifizierung überprüft wer-
den kann. Ihre Geltuhg gründet in der Auffindbarkeit der meta-
phorisch behaupteten Sinnbeziehungen, ihre Geltung entscheidet
sich daran, inwieweit diese im wahrnehmenden Umgang mit dem
Objekt der Aussage nachvollziehbar sind. Erst mit diesen For-
men der Kommentierung werden Bestimmungen zum konkret
ästhetischen Potential einzelner Kunstwerke getroffen. Bezeich-
net werden Qualitäten, die für ihre ästhetische Funktion konsti-
tutiv sind, ohne diese selbst zu benennen.
Zurück zur Entfesselung der polaren Buntheiten. Der folgende
Kommentar von Imdahl beginnt wiederum mit einer beschrei-
benden Bestimmung, um dann freilich an und über die Grenze
des strikt Beschreibenden zu gehen. »Indem das Rotkontinuum
das faktische Bildkontinuum gerade nicht ausnutzt, sondern
knapp unterschreitet, indem also die Farbe selbst nicht determi-
niert ist durch die Determination des faktischen Bildfelds, er-
scheint sie unbedingt, nämlich frei vom Bild als von einem
materiellen Substrat und einer begrenzten Form.« 163 Was noch
als Beschreibung beginnt, führt direkt auf eine kommentierende
Zuschreibung, die an den drei Farbflächen ein zentrales Merkmal
hervorhebt, das das ästhetische Potential des Bildes akzentuiert.
»Vermöge dieser ... Differenz zwischen Rot und Bild erscheint
die Farbe nicht ans Bild gebunden, sie ist nicht bloß ein Überzug
oder ein Kleid des begrenzten Bildkontinuums und nicht dessen
farbige Affirmation, wohl aber tritt sie - wenn jemals in der
Malerei überhaupt - vor Augen als eine autonome, sich selbst
hervorbringende, das heißt vom Substrat des Bildes und seiner
Form befreite Erscheinung: indem die seitlichen Randzonen das
Rotkontinuum vom Bildkontinuum befreien, ist dieses selbst in
das befreite Kontinuum des Rot transformiert. Das Bildkonti-
nuum ist eine Funktion des Rotkontinuum.« 164 Dieser letzte Satz
nun geht seinerseits an die Grenze der kommentierenden Rede,
indem er eine erste Aussage zur ästhetischen Gesamtfunktion
des Bildes trifft. An dieser Stelle und in dieser Form aber
verbleibt die Aussage im Gestus des Kommentars, sofern sie
sich einer Behauptung darüber enthält, was sich aus der befrei-
ten Farberscheinung für die ästhetische Wahrnehmung ergibt.
Kommentiert wird der - »antikompositionelle« - Bildzusam-
menhang; der Witz des Bildgeschehens kommt hier nicht selbst
zur Sprache.
Natürlich fungiert auch hier das besprochene Objekt als primä-
res Kriterium für die Angemessenheit der Kommentierung.
Aber der Gegenstand der zuschreibenden Kommentierung ist
immer bereits ein ästhetisch aufgeladener Gegenstand; das phy-
sische Objekt alleine belegt die Behauptung von der »autono-
men Erscheinung« der beherrschenden Farbe nicht. Nur die
ästhetisch interessierte und sensibilisierte Wahrnehmung macht
eine solche Charakterisierung möglich und kontrollierbar. Im
Unterschied also zur kommentierenden Beschreibung appellie-
ren die zuschreibenden Charakterisierungen nicht allein an je-
dermanns - ästhetisch unschuldige - Wahrnehmung, sondern an
die ästhetische Erfahrung derer, die sich dem betreffenden Ge-
genstand konfrontieren. Hier, aber auch nur hier, scheint der
unter den ästhetisch »Erfahrenen« erreichbare Konsens ein zu-
sätzliches Kriterium für die Angemessenheit ästhetischer Cha-
rakterisierungen zu sein. Dieser im interpretierenden Kommen-
tar beanspruchte und antizipierte Konsens bezieht sich allein
darauf, was am ästhetischen Gegenstand ästhetisch relevant ist:
nicht auf seinen absoluten Wert und nicht auf seine immanente
Bedeutung. Er gilt der konstitutiven Artikuliertheit des ästheti-
schen Objekts, nicht dem, was sich in ihm artikuliert findet, was
es vermöge der angelegten Konstruktionsmomente bindet und
spannt.
Die Erreichbarkeit einer solchen Einigung ist somit zugleich ein
Kriterium dafür, ob interpretative Charakterisierungen am äs-
thetischen Objekt als Aussagen der kommentierenden Klärung
oder der kritischen Deutung zu verstehen sind: nur für erstere
ist das Mißlingen einer faktischen Einigung ein hinreichender
Grund, an ihrer Triftigkeit zu zweifeln. Der zuschreibene Kom-
mentar stützt sich auf ein Wissen, das im ästhetischen Kontext
mehr oder weniger verbindlich ist; die zuschreibende Kritik

243
dagegen stützt sich auf das kommentier~nd Erweisbare und auf
Erfahrungen, welche die, die kein Einsehen haben, versäumt
haben zu machen.
Von der kommentierenden Aussage zur kunstkritischen Inter-
pretation führt kein direkter Weg - und der Konsens der Erfahre-
nen hilft auf diesem Weg nicht weiter. Zwar ist eine erhellende
Kommentierung ohne eine Einschätzung der ästhetisch aktuellen
Funktion ihres Gegenstandes kaum möglich; ein guter Kommen-
tar setzt eine Meinung zum ästhetischen Wert in aller Regel
voraus. Aber nicht diese Einschätzung ist es, die der Kommentar
formuliert. Gewonnen sind die Aussagen auf der Basis von
Hypothesen oder Vermutungen (oder auch nur einer antizipati-
ven Ahnung) zur Art der ästhetischen Bedeutung; anders wäre
über die »konstitutive Artikuliertheit« ästhetischer Objekte
kaum etwas zu sagen. Aber die Bestimmung präsentativer Struk-
turen im Objekt legt seine präsentative Leistung nicht selbst
schon fest: sie gibt zentrale Anhaltspunkte für eine solche Be-
stimmung. Die Aussagen der zuschreibenden Kommentierung
legen damit Hinsichten der Bewertung durchaus nahe, wobei sie
sich auf die Sätze der - neutral - beschreibenden Kommentierung
stützen, deren Bestimmungen nun fortgeschrieben werden im
Licht einer dezidiert ästhetischen Gegenstandswahrnehmung, die
freilich den aneignenden Zugriff aufs Ganze nicht riskiert. Das ist
der Vorbehalt der kommentierenden Rede: daß sie die Erkun-
dung des Gehalts der konkretisierenden Erfahrung offenhält -
und es der ästhetischen Kritik überläßt, hierzu Thesen zu formu-
lieren, die den Schutz einer Betrachtung verlassen, die von vorne-
herein darauf reflektiert, was jedefrau und jedermann müßten
wahrnehmen können.

II. Konfrontation
Äußerungen der Konfrontation bestimmen nicht das ästhetische
Objekt, sie machen Angaben über die Wirkung, die ein ästheti-
sches Objekt auf den Wahrnehmenden subjektiv übt. Während
der Kommentar das Feld der ästhetischen Wahrnehmung struk-
turell sichtet und Vorschläge zur Auffassung einzelner Partien
und partieller Funktionen macht, geben die Äußerungen der
ästhetischen Konfrontation einen direkten Vorschlag zum Wert
des ästhetischen Ganzen. Die Aussagen des Kommentars sind

2 44
selbständig begründbar: die konfrontative Einschätzung dagegen
ist primär emotional und als solche gar nicht zu begründen: ihre
Objektivierung obliegt den synthetisierenden Aussagen der
kunstkritischen Interpretation.
Nun ist die ästhetische »Konfrontation« zunächst einmal nicht,
wie der ästhetische Kommentar, eine spezifische Dimension der
Rede über Kunst und Ästhetisches. Was die Formen der Rede,
die ich unter diesem Titel zusammenfasse, eint, ist, daß sie zentral
auf das Ereignis der Wahrnehmung eines ästhetischen Objekts
bezogen sind. Sie geben dem ästhetischen Erlebnis auf unmittel-
bare oder vermittelte Weise Ausdruck. In ihrer unmittelbaren
Form geben sie dem Gesamteindruck der ästhetischen Wahrneh-
mung expressiv Ausdruck. Auf diese Weise führen sie eine
ausdrücklich und offensiv wertende Einschätzung in den Zusam-
menhang der ästhetischen Kritik ein. Die unmittelbare Wieder-
gabe ist immer eine Äußerung der begeisterten bis gelangweilten,
hingerissenen bis angewiderten, verstörten bis ungerührten Be-
troffenheit am ästhetisch eruierten Gegenstand. Auch die Aus-
kunft über die Konfrontation sagt wenig über den auf diese
Weise erfahrenen oder aus jenen Gründen vermißten ästhetischen
Gehalt. Mit ihr ist eine vorläufige Anmutung gegeben und ein
vorgreifendes Ansinnen geäußert, daß es sich hier um ein ergiebi-
ges (oder entbehrliches) Objekt ästhetischen Interesses han-
delt.
Dabei ist die ästhetisch-konfrontative Verständigung nicht not-
wendig auf die Äußerung der unmittelbaren Betroffenheit am
Gegenstand beschränkt; auch nicht auf die retrospektive Erinne-
rung und Wiedergabe der subjektiven Reaktion. Denn die pri-
märe Reaktion kann auf zwei Arten erläutert werden. Einmal
durch die erzählende Schilderung, wie es mir im Prozeß der
Wahrnehmung ergangen ist. Zum andern durch eine Explikation
der Annahmen, die meine Reaktion entscheidend beeinflußt ha-
ben. Diese - empirischen bis metaphysischen, moralischen bis
politischen - Annahmen können all das betreffen, wovon ich am
gegebenen Werk etwas erfahren habe - und werden fast immer
auch vergleichende Annahmen über den Gehalt und die Qualitä-
ten anderer Kunstwerke enthalten, die in meiner ästhetischen
Wahrnehmung von Bedeutung waren. Weder die erzählende
Schilderung aber, noch die rekonstruktive Ermittlung leistet eine

2 45
Begründung der unmittelbar werthaften Reaktion. Sie werden
diese lediglich erklären. Und sie beweisen, daß die Reaktion eine
ästhetische war, wenn die Erläuterung der Reaktion auf den
Gegenstand von sich aus auf eine Vergegenwärtigung seiner
ästhetischen Gestaltung führt. Im engeren Sinn nämlich - in dem
Sinn, der die Affinität der bloßen Vorliebe ausschließt, ist dieje-
nige Reaktion eine ästhetische, deren Erläuterung zwangsläufig
auf eine Kritik des ästhetischen Gegenstands führt.
Andererseits kommen die Sätze der Kritik an den Setzungen des
ästhetischen Erlebens in keinem Fall vorbei. Denn nur durch das
Votum der subjektiven Konfrontation kommt die Applikation
jenes unbestimmten »Kriteriums« der ästhetischen Beurteilung
zustande. Den essentiell subjektiven Zugang gerade einer Kritik,
die nicht einem »konditionslosen Subjektivismus« gehorcht, hat
zuletzt Karl Heinz Bohrer in aller Deutlichkeit betont:
»Die ästhetische Reaktion, die zum Wert-Urteil führt, ist immer
schon ein synthetischer Akt, der bloß in verschiedene Phasen
zerfällt, wobei die erste schließlich von der letzten eingeholt
wird. Die erste, methodologisch vor allem relevante Phase nen-
nen wir Antizipation. Antizipiert wird hier schon das endgültige
Urteil durch den Vorgang der Sympathie. Diese Sympathie be-
ruht nicht auf dieser oder jener schon erkannten formalästheti-
schen Wertigkeit, nicht auf einem Wiedererkennen vorab gegebe-
ner Ideen. Sie ist ein Ereignis zwischen Subjekt und Objekt, bei
dem die ganze diffuse Komplexität des Subjekts antizipierend in
Kraft tritt. Diese nur als intuitiv-imaginative Handlung be-
schreibbare erste Phase der Antizipation leitet sich unmittelbar
aus der Beobachtung ab, daß wir lange vor einem intellektuell
begründeten Urteil schon in ein elementares Wertverhältnis tre-
ten, das sich auf keines der später gefundenen Kriterien
stützt.«' 65
Bohrer macht ernst mit der These von der Singularität ästheti-
scher Urteile: wer Singularität sagt, muß auch Subjektivität sa-
gen; wer das sagt, gibt den Geltungsanspruch ästhetischer Urteile
nicht begrifflich auf, sondern stellt ihn gegen »analytische Illusio-
nen« allererst klar. Der entscheidende Hinweis gilt zunächst der
grundlegend affektiven Bindung des ästhetisch interessierten Ge-
genstandsbezugs. Im ästhetischen Verhalten ist diese auf eine
wiederum besondere Weise konstitutiv, die sich von ihrer ele-
rnentaren Rolle im moralisch-interaktiven und ihrer fundamenta-
len Wertung im Bereich auch objektiv-präferentieller Optionen
signifikant unterscheidet. Die wertende Erkennung der emotio-
nalen Gewärtigung ist für die ästhetische Wahrnehmung essen-
tiell, weil allein ihre unmittelbaren Direktiven es erlauben, die
Totalität des ästhetischen Gegenstandes wahrnehmend zu ent-
werfen. Gefühle sind hier nicht nur in der Situation der Wahr-
nehmung orientierend wirksam - sie weisen den Zugang in die
wahrzunehmende Situation. Die sympathische oder antipathi-
sche Reaktion entwirft einen Zusammenhang des ästhetisch
Wahrgenommenen, dem die Wahrnehmung unterscheidend al-
lein nicht folgen kann: und mutet der Wahrnehmung eine Ein-
schätzung zu, die erst im Zuge einer interpretierenden Reflexion
kontrollierend gestützt werden kann. Die Gespanntheit eines
ästhetischen Ausdruckszusammenhangs, so verstehe ich Bohrer,
ist allererst zu ermessen an der eigenen Anspannung im Kontakt
der Wahrnehmung; der Zutrag der ästhetisch inkorporierten
Korrespondenzen bemißt sich wesentlich an der emotional for-
mierten subjektiven Korrespondenz auf diese.
Diese Beantwortung aber ereignet sich nicht einfach in der
Hervorbringung von Gefühlen, sie entspringt einem subjektiven
Engagement, aus dem die Wahrnehmenden sich den ästhetischen
Phänomenen wertend konfrontieren; und zwar »unter Anwesen-
heit aller (ihrer) lebenspraktischen Interessen.«' 66 Im ästhetischen
Interesse liegt es gerade, die vergegenwärtigende Neugier nicht
theoretisch und moralisch, nicht privativ oder am Halt ästhetisch
erwählter Kriterien vorweg zu limitieren; darin liegt die »Interes-
senlosigkeit« eines auf ästhetische Erfahrung gerichteten Interes-
ses. Von hier aus erscheint nun auch der Gedanke einer »ideenlo-
sen Konzentration« einleuchtend, die sich nach Bohrer in der
ästhetischen Wahrnehmung manifestiert. »Breton stellte fest, daß
jene Frau, jene Idee Eindruck auf ihn machte, er war aber
keineswegs fähig zu sagen, welchen Eingruck. Ebenso ist das
allgemeine Daß des Eindrucks von Literatur zunächst unabhän-
gig von der Erkenntnis des Was.«'67
Nicht unabhängig vom Was des Präsentierten erfolgt die primäre
Wertung, sie erfolgt unabhängig von seiner deutenden Erkennt-
nis. Die wertende Antizipation greift der interpretierenden Be-
trachtung vor und gibt erst damit eine reflektierende Erkundung

247
der ästhetischen Gehalte frei, die sich auf die normativen Fakto-
ren besinnt, die »innerhalb der Antizipation« ausschlaggebend
waren. Mit den »später gefundenen Kriterien«, die das unmittel-
bar gefällte Urteil ex post begründen können, meint auch Bohrer
nicht ästhetisch fixe Normen, sondern den veränderlichen Stan-
dard herausragender Konstruktionen, deren Kenntnis in der
Erfahrung dieses Gegenstands normativ wirksam war. 168
Als eine phänomenologische Beschreibung des ästhetisch werten-
den Verhaltens gelesen, halte ich Bohrers Thesen für weitgehend
plausibel. Wenig plausibel dagegen ist die entscheidende urteils-
logische Folgerung. Aus der überzeugenden Annahme, daß der
Zugang zum aktuellen Gehalt ästhetischer Phänomene allein im
Einsatz der subjektiven Affinität erschlossen wird, zieht Bohrer
den voreiligen Schluß, daß diese unmittelbare Einschätzung das
Resultat einer überlegenden Wertung bereits unwiderruflich
prägt. Im Kontext der ästhetischen Kritik jedoch ist auch die
subjektive Reaktion ein Gegenstand der Kritik: der Kritik des
ästhetischen Gegenstands, der beurteilt wird zusammen mit der
Angemessenheit unserer Reaktion auf ihn.
Bohrers Modell zweier Phasen der Wahrnehmung nimmt eine
Vereinfachung vor, die eine Verzerrung enthält. Bohrer unter-
stellt von vorneherein, daß die subjektive Reaktion am ästheti-
schen Gegenstand eine zum Ästhetischen des Gegenstandes ist;
und er muß dies unterstellen, weil er das Ästhetische von Gegen-
ständen allein von der wahrnehmenden Reaktion her bestimmen
will. Ob die subjektive Reaktion der präsentativen Artikuliertheit
eines Gegenstandes, so wie er sich auch für andere darbietet,
angemessen ist, kann daher für Bohrer die Frage gar nicht sein; in
Frage steht allein die Brisanz der Objekte, die sich danach
entscheidet, ob sie dem »Augenblick« des Subjekts - plötzlich -
»adäquat« erscheinen oder nicht. Dieses Urteil aber soll durchaus
am Objekt begründbar sein; damit das sein kann, schreibt Bohrer
der subjektiven Reaktion im Namen ihrer synthetisierenden
Komplexität unter der Hand eine ästhetische Objektivität immer
schon zu: was diese ihren Gegenständen intuitiv zuschreibt, das
kommt ihnen ästhetisch fraglos zu. Der Verweis auf die Komple-
xität ihrer Voraussetzungen hilft der Frage nach der Begründbar-
keit ästhetischer Urteile nicht weiter. Diese Komplexität muß
sich, wenn schon, in der Form der Begründung selbst erweisen.
Und diese Komplexität zeigt sich eben nicht zuletzt daran, daß
sich die Gültigkeit des Votums der Sympathie und Antipathie im
Gang einer überlegenden Begründung stets erst - wieder - bewei-
sen muß. Es ist nicht möglich, die »Anwesenheit aller lebens-
praktischen Interessen« zu behaupten und andererseits zu negie-
ren, daß private Vorlieben und Abneigungen, daß eine primär
moralische Entrüstung oder theoretische Begeisterung die ästhe-
tische Wahrnehmung blockieren können: Reaktionen, die sich an
äußerlichen oder irrelevanten Faktoren ihres Gegenstandes ent-
zünden und eine ästhetisch triftige Wahrnehmung und Beurtei-
lung gerade verhindern. Die Gesamterfahrung ästhetischer Sub-
jekte in die ästhetische Erfahrung theoretisch einzuschließen,
kann nur bedeuten, der subjektiven Affinität einen lediglich
bedingten Vorschuß zu geben.
Allein die folgende Festlegung, so scheint mir, wird einerseits
dem Kern der Bohrerschen Thesen und andererseits der fragilen
Objektivität ästhetischer Urteile gerecht. Gegen die Stimme der
subjektiven Affinität geht im ästhetischen Urteil nichts; aber
Sympathie und Antipathie entscheiden nicht allein. Ihre Bekun-
dung und Erläuterung ist in ästhetischen Begründungen ebenso
essentiell wie die Ausführungen des Kommentars es sind. Kom-
mentar und Konfrontation haben ein Vetorecht: gegeneinander:
in der Einschätzung ihres Beitrags zur wertenden Kritik. Die
interpretativen Aussagen der ästhetischen Kritik. sind es, die die
entscheidenden Gründe einer ästhetischen Bewertung formulie-
ren; diese sind kritisierbar durch Sätze des Kommentars wie der
Konfrontation; eine interpretative Zuschreibung ist begründet,
wenn sie nach beiden Seiten konsistent erläutert werden kann.
Auf den Sinn dieser »Konsistenz« komme ich noch zu sprechen.
Vorerst bleibt der Status der konfrontativen Äußerungen von
Interesse. Ihnen kommt im ästhetischen Diskurs eine Argument-
stelle zu. Das Faktum meiner positiven oder negativen Betroffen-
heit ist eine irreduzible und keinesfalls nur heuristische Basis
ästhetischer Urteile. Ästhetische Urteile sind immer auch expres-
sive Äußerungen, nur gehen sie in der Bekundung von Vorlieben
nicht auf. Die subjektive Betroffenheit ist ein Moment der ästhe-
tischen Beurteilung, das ihr Verfahren nicht dominiert. In ästhe-
tischen Begründungen zielt der Rekurs auf die eigene Erfahrung
am Gegenstand über die Subjektivität des Urteilenden notwendig

2 49
hinaus. Im Kontext der ästhetischen Kritik geben die konfron-
tativen Äußerungen ein Beispiel dafür, wie am betreffenden
Gegenstand zu reagieren sei. Sie führen Bedingungen der Wahr-
nehmung vor Augen, aus welchen der betreffende Gegenstand
die Bedeutung erhält, die der Urteilende interpretativ behauptet.
Auf dieses Beispiel der eigenen Erfahrung muß sich die norma-
tive Explikation ästhetischer Objekte immer bereits stützen, eben
weil die Aktualität des ästhetischen Potentials anders als durch
die subjektive Konfrontation gar nicht zur Erscheinung kommt.
Das faktische Wie der Betroffenheit alleine aber gibt den hinrei-
chenden Grund der Bewertung nicht her: es muß sich am Gegen-
stand erst zeigen {lassen), ob die Art der Begegnung seine unmit-
telbar belangvollen Qualitäten auch erhellend zeigt.
Eduards Begeisterung für das Gedicht von Paz hat seinen Grund
in den Erfahrungen, von denen im kreisenden Gespräch mit
Anton die Rede war. Sie fußt nicht auf einem fixen ästhetischen
Kriterium, sie entspringt der am Gedicht evozierten Resonanz zu
der Besessenheit im theoretischen Arbeiten, die für Eduard cha-
rakteristisch ist. Diesem Erfahrungszusammenhang gibt Eduard
in seiner deutenden Tirade wiederum mit Ausdruck, auch ohne
von seiner persönlichen Betroffenheit am Gedicht viel erzählen-
des Aufhebens zu machen. Auch führt er nicht (noch einmal) die
Annahmen über die Natur von Einfällen auf, die seine Einschät-
zung - seine ästhetische Hochschätzung - wesentlich bestimmen.
Er verzichtet auf einen Vergleich mit schäbigen Elaboraten, wie
das von ,Paz, eines ist, und auch auf Hinweise auf Glanzleistun-
gen, wie einige der Solostücke von Braxton das seiner Ansicht
nach sind. All das und weiteres mehr aber sind Faktoren, die
seine ästhetische Wertung entscheidend bestimmen - weil sie
entscheidend sind für die Erfahrung, aus der er das Gedicht
erfährt. Eduard beschränkt sich darauf, das Gedicht zum norma-
tiven Explikat einer Erfahrung wie der seinen zu machen: einer
Erfahrung, die durch die Lektüre des Gedichts bereits modifi-
ziert worden ist. Er redet über das Gedicht im Licht seiner
Erfahrung (an ihm). Mit der Plausibilität dieser Interpretation
steht und fällt auch das Aufschlußreiche seiner Reaktion: hätte
Eduard auf das Gedicht von ,Paz, im ersten Moment (oder auch
nachhaltig) so reagiert wie auf jenes von Paz, so wäre es für
Anton ein leichtes, das Abwegige dieser Reaktion zu erweisen.

250
Diese Sympathie wäre ästhetisch nicht am Gegenstand zu stüt-
zen: auch mit den schönsten Annahmen über die Natur unpro-
duktiver Augenblicke nicht: und auch nicht mit den besten
Ausführungen über die formverwandte japanische Haiku-Lyrik.
Auch ästhetisch ersetzt die erste Begeisterung die abschließende
Wertung nicht.
Es hilft nichts zu sagen, daß Eduard, dem Kenner, dergleichen
nie passieren würde. Wie wir ihn kennen, würde Eduard gegen
dieses letzte Beispiel gewiß protestieren: »Wenn mich etwas
richtig packt, dann weiß ich, daß es gut ist; das mit dem ,Paz<
würde mir nie passieren - reine Unterstellung!« Selbst wenn es so
wäre - was ich bezweifle: weil selbst die brillanten Kenner wie
unser Eduard von Stimmungen abhängig sind, die ihr spontanes
Urteil über das ästhetisch Stimmige gelegentlich irreführen wer-
den; selbst wenn es so wäre - an Status und Struktur ästhetischer
Urteile ändert sich dadurch nichts. Ästhetisch angemessen und in
der ästhetischen Wertung ausschlaggebend ist die Reaktion, de-
ren Erklärung über den ästhetischen Gegenstand Aufschluß
gibt.
»Wer vor Newmans ,Who's afraid of red, yellow and blue III<
tritt, ist überwältigt von dem beherrschenden Kontinuum des
Rot als einem Wert der Fülle, der Expansion, der Energie und der
prinzipiellen Indifferenz gegenüber aller Begrenztheit, Form und
Bestimmtheit im Sinne der Ebene und der räumlichen Tiefe. In
Newmans Bild ist diese Erscheinung des Rot bedingt durch die
seitlichen blauen und gelben Randzonen links und rechts.«' 69 Mit
diesem Rekurs auf die unmittelbare Bilderfahrung leitet Imdahl
die kommentierende Auslegung ein, aus der ich oben zwei Passa-
gen zitiert habe. Diese Beschreibung der Bildwirkung ist kaum
als eine empirische Aussage über ein faktisches Rezeptionsverhal-
ten zu verstehen: es ist eine Aussage drüber, wie das Bild erfahren
wird, wenn es richtig- und in der richtigen Distanz 170 - gesehen
wird. lmdahl hat es so erfahren: und hat es in einer Weise
erfahren, die ihm die Selbstdeutung des Künstlers akzeptabel
macht. »Newman selbst hat, was seinen Umgang mit Farben
betrifft, davon gesprochen, er habe noch nie mit der Absicht auf
harmonische Konstellationen mit Farben manipuliert, sondern
immer nur versucht, die Farbe als solche zu ,erschaffen, oder sie
auf ihre ,absolute Qualität< zu bringen.« 171 Der Sinn dieses

251
künstlerischen Vorhabens und die Kraft einer ästhetischen Inten-
tion, die versucht, Konstruktionen zu finden, die eine ungemil-
derte Erfahrung des ästhetisch Erhabenen (wieder) möglich ma-
chen, sind trivialerweise nur aus der Konfrontation mit den
resultierenden Konstrukten zu ermessen. Aussagen über das
Gelingen eines solchen Vorhabens müssen sich auf die Art der
Bestätigung in der eigenen Erfahrung notwendig stützen; und
eine Aussage über das Wie des Gelingens wird die Grenzen einer
(nur) kommentierenden Vergewisserung immer auch überschrei-
ten. Daß in Newmans Bild das »Bildkontinuum eine Funktion
des Rotkontinuum« ist, mag (vielleicht) noch vertretbar sein,
ohne - implizit oder explizit - auf die eigene, überwältigte oder
ennuierte, Reaktion aufs Bild zurückzugehen. Eine Deutung wie
die folgende bezieht die Aktualität der subjektiven Wahrneh-
mungsreaktion ausdrücklich mit ein. »Der Beschauer wird nicht
mittels des Bildes als einer Repräsentation verwiesen auf ein sonst
unsichtbares, aber in der Ahnung schon bekanntes Ganzes, wel-
ches das eigentliche Thema des Bildes wäre, sondern der Be-
schauer selbst ist thematisiert als der im Anblick der erhabenen
Erscheinung des Bildes seine eigene Erfahrung Erfahrende und
dadurch Erhobene.« 172
Die Interpretation von Imdahl will eine »Einführung« geben in
die Malerei Newmans am Beispiel eines seiner herausragenden
Werke. Als eine Einführung ist sie ein vorrangig kommentieren-
der Text; die Qualität dieses Kommentars aber liegt - neben
seinen Qualitäten als Kommentar - in seiner kritischen Funktion;
er ist kritisch nicht im philologisch-historischen, sondern im
parteilichen Sinn. Er will zeigen, daß »Barnett Newmans An-
spruch an die gegenstandlose Malerei ... außerordentlich« ist. I7l
Es ist das die Parteilichkeit einer jeden ästhetischen Kritik, ob sie
ihre Einschätzung nun primär kommentierend oder erzählend,
deskriptiv oder interpretativ, expressiv oder appellativ, extensiv
oder verkürzend, paradox oder kursorisch zum besten gibt.
Nicht welche Art von Sätzen und Äußerungen in welchem Maß
in ihnen vorkommen, macht einen Kommentar zur Kritik, macht
die Betroffenheitsäußerung zur normativen Beurteilung, macht
eine Kritik zur ästhetischen Kritik, sondern worauf diese Sätze
zielen: was sie über ihren Gegenstand sagen - und mit welchem
Anspruch sie dies sagen. Wenn sie auf den ästhetisch-aktuellen
Gehalt ihrer Gegenstände zielen, stehen sie in einem Kontext der
Begründbarkeit von der Art, der die augenblickliche Analyse
gewidmet ist. Thema dieser Analyse ist die geltungslogische
Verfassung der ästhetischen Argumentation, nicht aber die Viel-
falt der Formen, in denen sich die ästhetische Kritik faktisch
vollzieht.
Es ist also nicht von einem bestimmten Stil der Kritik hier die
Rede. Der Blick auf einige der Grundtypen der kunstkritischen
Sprache hebt das hervor. In der mündlichen Kommunikation
über Ästhetisches wird der Anteil an expressiven und erzählen-
den Äußerungen in aller Regel weit höher sein als in der kunst-
wissenschaftlichen Rede, soweit sich diese eine ästhetische Wer-
tung zutraut; die Ausführungen des professionellen Kritikers
werden die kommentierende und konfrontative Klärung stärker
zugunsten der im engeren Sinn kritischen Aussagen vernachlässi-
gen. Auch läßt sich aus der spezifischen Begründbarkeit ästheti-
scher Urteile kein abstraktes Kriterium dafür gewinnen, was eine
gute Kritik ist. Der Apodiktiker, der kaum kommentiert und den
Hörern oder Lesern sich niemals in direkter Rede erklärt, kann
ebenso inspirierend und überzeugend sein wie der Betroffen-
heitskritiker, der seine Besprechungen in einer fast erzählenden
Manier verfaßt. Wenn es schlechte Kritiker sind, sind beide
Formen gleichermaßen unerträglich: ob es schlechte Kritiker
sind, wird sich aus der Kenntnis einiger der Werke erweisen,
denen sie sich gewidmet haben. Gute Kritiker sind zunächst
einmal die, die fähig sind, bereits im Stil ihrer Kritik auf die
Besonderheit ihres Gegenstands zu reagieren - so wie alle, die ein
Sensorium für ästhetische Differenzen und Differenzierungen
haben, sich der Eigenart der einzelnen ästhetischen Gegenstände
erst einmal wahrnehmend überlassen. Diese Sensibilität des äs-
thetischen Wahrnehmens freilich ist mit einer besonderen Kom-
petenz der Verbalisierungder ästhetischen Erfahrung nicht not-
wendig verbunden, wenngleich das ästhetische Sensorium ohne
eine gewisse Fähigkeit der Beurteilung interpretierend ausgeführ-
ter Kritiken kaum gedacht werden kann. Die ästhetische Leiden-
schaft muß eine Leidenschaft der ästhetischen Kritik, muß die
gefährliche Lust an der zeigenden Versprachlichung der ästheti-
~chen Gehalte nicht sein. Dennoch wird sie immer eine kritische
Leidenschaft sein, die Affairen der Begeisterung und des Unmuts

2 53
nicht nur mit ihren unmittelbaren Objekten hat, sondern ebenso
mit den Kritiken und Kritikern, die den Weg ihrer Erfahrung
kreuzen. Alle Verwünschungen treffen den Kritiker, der das
ästhetisch Wunderbare dümmlich zerredet; gelindes Lob ereilt
den genialen Interpreten, der das ästhetisch Überwältigende erst
überwältigend erfahrbar macht.
Für die Rolle der konfrontativen Reaktionen und Äußerungen
halte ich fest: die ästhetische Kritik kann sich auf die am Gegen-
stand affektiv tangierte Erfahrungsbasis nicht einfach verlassen;
sie muß diese zur definitiven Basis der Beurteilung an ihrem
Gegenstand immer erst machen; damit ist auch die unmittelbare
Reaktion einem Vorbehalt ausgesetzt. Auch der Vorschlag zum
Ganzen bleibt zunächst ein Vorschlag:es muß sich immer erst
zeigen, ob die imaginativ-intuitive Belehnung zu sinnvollen in-
terpretativen Behauptungen führt. Das endgültige Urteil ist das
Ergebnis einer reflexiven Erkundung und Interpretation: darauf
ist gegen Bohrers Auffassung zu bestehen. Kritik ist betroffene
Kommentierung, die den Kommentar überschreitet; erst diese
Überschreitung führt in die ästhetisch funktionale Interpretation;
mit dieser aber stehen die Setzungen der Betroffenheit selbst zur
Kritik: einer Kritik freilich, deren Recht oft erst durch die
folgende Wahrnehmung wieder zu beglaubigen ist. Es bei der
Entschiedenheit, dem Aufschluß und nicht selten der Sturheit der
erstmalig-einmaligen Reaktion nicht zu belassen, ist ein nicht
unwesentliches Movens ästhetischer Rationalität.

III. Kritik
Die primären Gründe der ästhetischen Kritik sind weder die
Aussagen des Kommentars noch die Anmutungen und Annah-
men aus dem Verlauf der Konfrontation, sondern diejenigen
Aussagen, mit denen eine ästhetisch-funktionale Interpretation
ausdrücklich geleistet wird. Die Zeilen von Paz sind gelungen,
(unter anderem) weil sie das Notat einer profanen Erleuchtung
sind; das Bild von Newman ist ein außerordentliches Werk,
(unter anderem) weil es die Autonomie der beherrschenden
Farbe zur Erscheinung des Erhabenen bringt; der Beginn von
Riefenstahls » Triumph des Willens« ist eine starke Sequenz, weil
er die im Film behauptete Überlegenheit des Führerprinzips in
komischer Zersetzung ad absurdum führt. Diese kunstkritischen

2 54
Interpretationssätze, die ihren Objekten eine ästhetisch-aktuelle
Funktion behauptend zuschreiben, stützen sich auf Sätze des
Kommentars und der Konfrontation. Der Kommentar sagt, daß
der Film ein faschistischer Propagandafilm ist, der mit diesen und
jenen Mitteln arbeitet; meine Konfrontation sagt, daß der Anfang
etwas unglaublich Komisches hat; die kritische Behauptung ist,
daß die stilisierenden Mittel aus heutiger Sicht umschlagen in eine
groteske Demontage des absichtsvoll Stilisierten. Kommentar
und Konfrontation liefern jeweils notwendige, aber alleine nicht
hinreichende Gründe einer ästhetischen Wertung. Hinreichend
begründet ist ein ästhetisches Urteil, das durch eine interpretative
Behauptung zugleich erläutert und gestützt werden kann, die die
Wertungen der Konfrontation so formuliert, daß darin die Be-
stimmungen des Kommentars aufgenommen werden. Kunstkriti-
sche Interpretationen können als begründet gelten, soweit und
solange ihnen weder das Votum der ästhetischen Konfrontation
noch die Aussagen des Kommentars widersprechen. Nicht Veri-
fikation, Falsifikation ist der Grundbegriff der ästhetischen Ar-
gumentation.
Aber liegt nicht in der Kritik des Riefenstahl-Films ein eklatanter
Widerspruch zwischen kommentierender und kritischer Inter-
pretation? Nein. An diesem extremen Beispiel wird lediglich die
Differenz von kommentierender und überdies kritischer Charak-
terisierung besonders deutlich. Die kritische Aussage nimmt die
Bestimmungen des Kommentars ja durchaus auf - aber sie gibt
dem Kommentar zur ästhetischen Verfassung des Films eine
zweite Deutung, die im Licht seiner unmittelbar erfahrenden
Aufnahme erfolgt. Die Kritik widerspricht den Wertungen, die
der Kommentar hypothetisch nahelegt; diese radikale Differenz
der Wertung hat eine radikale Aneignung des ästhetischen Poten-
tials zur Folge, die den Zuschreibungen des Kommentars einen
neuartigen Stellenwert gibt, sich aber weiterhin auf das im Kom-
mentar charakterisierte Material bezieht. Kommentierend alleine
ist diese zweite Interpretation gar nicht zu halten; denn sie gilt
der Gesamtfunktion des Gegenstands (hier: einer Passage) für die
gegenwärtige Wahrnehmung: worüber die Aussagen der kom-
mentierenden Rede selbst gar nichts behaupten. Das krasse Bei-
spiel macht den Extremismus der ästhetischen Kritik nur irritie-
rend deutlich. Auch in seinen mildesten (und sympathetisch

255
einfühlenden) Formen ist dem ästhetisch unmittelbaren Interesse
ein direkt aneignender Impetus eigen: wissen - sehen, hören,
spüren: erfahren - zu wollen, was der ästhetische Gegenstand in
seiner objektiven Beschaffenheit der gegenwärtigen Wahrneh-
mung bedeutet.
Die dezidiert kritischen Interpretationsbehauptungen verfahren
zuschreibend wie bereits die interpretierenden Sätze des Kom-
mentars. Jedoch sind sie·das Ergebnis einer wesentlich konstruk-
tiven Operation, die mit dem aus Erfahrung sensibilisierten
Auffinden ästhetischer Gegenstandsqualitäten nicht gleichgesetzt
werden darf. Anspruch und Leistung der kritischen Deutung ist
es, die imaginativ-wertende Synthese der Konfrontation auf eine
oder mehrere Thesen zu bringen, die zugleich die Charakterisie-
rungen des Kommentars unter synthetischen Aspekten reformu-
lieren (oder zu reformulieren erlauben). Kunstkritische Reflexion
ist der Prozeß, Deutungen dieser Art zu finden und an ihrem
Gegenstand zu korrigieren, zu verteidigen, zu erweitern. Synthe-
tisch sind diese Deutungen - und Deutungsfragmente - gegen-
über Kommentar und Konfrontation: sie korrigieren die subjek-
tive Reaktion am ästhetischen Objekt und beurteilen den präsen-
tativen Ausdruck des Gegenstands auf dem Grundriß der kon-
frontativen Antizipation. Die interpretativen Aussagen der Kritik
objektivieren den Eindruck der Wahrnehmung und aktualisieren
die Sichtung des Kommentars: anders ist die interne Artikula-
tion, ist der Ausdruckssinn, ist die funktionale Relevanz, sind Art
und Grad der Gelungenheit ästhetischer Objekte nicht zu erken-
nen. Dieses Erkennen ästhetischer Gehalte macht die kunstkriti-
sche Deutung explizit. Oft wird sie nur in Aspekten bestimmen,
was die ästhetisch unmittelbar interessierte Aneignung am Ge-
genstand ausgemacht hat oder ausmachen könnte; und das, was
dort wahrnehmend und erfahrend »ausgemacht« wurde, sagt die
kunstkritische Zuschreibung nicht selbst aus; auch ihre Bestim-
mungen verweisen auf das, was am Gegenstand zu erfahren und
nicht zu erfahren ist. Im Unterschied zu den kommentierenden
Hinwe_isenauf das ästhetische Potential jedoch machen die Zu-
schreibungen einer dezidierten Kritik Angaben zur ästhetischen
Bedeutung ihres Gegenstands. Die kritischen Interpretationsaus-
sagen beurteilen den Sinn des Zusammenhangs der am präsentati-
ven Gegenstand erkennbaren Momente der Artikulation.
über den Status der kunstkritischen Zuschreibung und den Sinn
der ästhetischen Bedeutung besteht soweit noch keine Klarheit;
vielleicht ist jetzt klar, warum ich gesagt habe, daß hier der
Schlüssel zum Verstehen des ästhetischen Verstehens liegt. Erst
der folgende Abschnitt wird den Versuch einer eingehenden
Klärung unternehmen. Hier kommt es vorerst darauf an, die
Funktion der wertenden Interpretationssätze im Sprachspiel der
ästhetischen Kritik deutlich zu machen. Warum diese Aussagen
ihre Funktion erfüllen, dem ästhetisch resümierenden Werturteil
die entscheidenden Gründe zu liefern, wird also einer weiterge-
henden Erklärung bedürfen, auch wenn es über den kritischen
Dienst dieser Sätze zu einer bereits abschließenden Verständi-
gung kommt.
Dieser wird deutlicher, wenn wir die bis jetzt betrachteten positi-
ven Wertungen mit der Begründbarkeit negativer Wertaussagen
vergleichen. Auf den ersten Blick scheinen sich eklatante Unter-
schiede zu ergeben - als sei die Struktur der ästhetischen Beurtei-
lung eine jeweils andere, wenn es zu einem positiven oder
negativen Urteil kommt. Offenkundig kann ein negatives Urteil
nicht in demselben Sinn wie das positive durch eine Bedeutungs-
zuschreibung begründet werden - denn dieses Urteil schreibt
seinem Gegenstand ja die autonome Bedeutung ab. Kann es hier
so etwas wie eine »funktionale Interpretation« überhaupt geben,
die über den Gesamteindruck des ästhetischen Objekts inhaltlich
Auskunft gibt?
Nehmen wir an, daß Eduard und der Banause sich immerhin
darauf verständigen können, es sei das Gedicht von ,Paz, unsäg-
lich, (unter anderem) weil es ein »Syllogismus der Einfallslosig-
keit« ist. Das ist weder eine kommentierende Behauptung noch
eine direkte Auskunft über die Wirkung der Zeilen. Ebensowenig
wird eine erschließendeZuschreibung gegeben. Denn nicht liegen
Relevanz und Gehalt des Gedichts darin, das traumatisch Ver-
stellte einfallsloser Tage in karger Verzweiflung zu insinuieren:
das Gedicht ist einfallslos und das in einer prätentiösen Schlicht-
heit, die den Fall nur um so schlimmer macht. Es ist mißlungen,
weil in seiner Kürze nichts lebt als der Atem einer aufwendig
verpuffenden Prätention. Das ist eine eindeutig interpretative
Aussage auf der Ebene der Kritik. Sie ist ebenso explikativ und
zeigend wie eine freundlichere Interpretation es wäre. Gesagt

257
wird: Seht's Euch an, Ihr werdet nichts finden als ein verkrampf-
tes Flüstern um nichts. Es ist ästhetisch ohne Bedeutung, weil es
ästhetische Bedeutung nur prätendiert. Es ist signifikant für eine
ästhetische Absicht, aber nicht aus eigener Kraft relevant.
Kritische Nullbehauptungen wie diese haben ein merkwürdiges
Gesicht. Wenn mit ihnen gesagt wird, was ein ästhetisches Arte-
fakt zwar sein soll, aber nicht ist, haben sie das Aussehen von
Sätzen des Kommentars, die nun jedoch, in einer anderen, zwei-
ten Verwendung, als ausdrücklich kritische Stellungnahme be-
hauptet werden. Es muß sich aber bei den negativen Deutungsbe-
hauptungen nicht um eine polemische Wiederholung vorkriti-
scher Aussagen handeln. So hält die Kennzeichnung des Gedichts
von ,Paz, als eines »Syllogismus der Einfallslosigkeit« das Nega-
tivbild seiner Lektüre in bündelnder Zuspitzung fest. In solchen
Fällen ist auch von der abwertenden Kritik eine eigens konstruk-
tive Leistung verlangt. Genau zu sagen, was das Fatale am Öden,
Langweiligen und Abstrusen ist, verlangt eine ähnliche Findig-
keit wie das Auffinden von Bedeutungsaspekten, die darauf
hinweisen, was am Gelungenen das Gelungene ist. Obwohl die
kritischen Zuschreibungen im negativen wie im positiven Fall als
explikative Interpretationen fungieren, ist andererseits das Ergeb-
nis dieser Explikation ein deutlich anderes. Während die positive
Kritik sich darin erfüllt, den ästhetischen Gegenstand zum Expli-
kat der Sichtweise zu erheben, die an ihm gewonnen oder
erneuert wurde, erhebt die negative Kritik ihren Gegenstand
lediglich zu einem Exempel für Ausdrucksobjekte, an denen die
erfahrende Erkenntnis einer zu bejahenden Sichtweise nicht zu
erhalten ist. Auch wenn der Kritiker in dieser Weise ein Exempel
statuiert, macht der den ästhetischen Gegenstand zum Argument
für eine von ihm geteilte Sichtweise: für eine Sichtweise, die an so
einem Objekt nichts über ihren Gehalt erfährt, geschweige denn
in eröffnender Erfahrung sich ändert.
Trotz des abweichenden Resultats also ist die Grundstruktur
ästhetischer Begründungen dieselbe, ob für oder gegen die Ge-
lungenheit der beurteilten Werke argumentiert wird. Zum Ver-
stehen ästhetischer Argumente ist es stets von entscheidendem
Gewicht, den genauen Stellenwert der Aussagen zu verstehen, die
als die primären Gründe im kunstkritischen Sprachspiel fungie-
ren. Wenn Arno Schmidt von Stifters »Nachsommer« sagt, das
Buch sei »eine Bonanza des verknöchertsten Aberwitzes«, ' 74
dann könnte das, für sich betrachtet, eine höchst anerkennende
Charakterisierung sein: selten so gelacht. Es wäre denkbar, daß
die grimmig-heitere Reaktion und die erste interpretative Expli-
kation fortgeführt würden zu einer Deutung, die uns nahebrin-
gen will, der »Nachsommer« sei eine vollendete Parodie auf das
Genre des Bildungsromans, wie es sich vorher und selbst nachher
in der deutschsprachigen Literatur breitgemacht hat. So ist es ja
immer: was schlecht ist, könnte schließlich eine Parodie des
Schlechten sein, was einfallslos ist, ein verzweifeltes Memento
der Einfallslosigkeit, was lächerlich ist, könnte ironisch komisch
sein, das Langweilige ein virtuoser Umgang mit Leerstellen, das
Häßliche ein Monument gegen die falsche Schönheit. Solche
Fragen stehen in der ästhetischen Kritik zu Entscheidung; und
gerade an diesen Zweifelsfällen wird klar, daß weder die Ermitt-
lungen des Kommentars noch die Setzungen der sympathischen
oder antipathischen Begegnung alleine einen hinreichenden Auf-
schluß geben können.
Die Kraft, die kunstkritischen Argumenten zukommt, macht das
Beispiel komischer Werke in paradigmatischer Nüchternheit
klar. Zur Komik gehört die Reaktion des Lachens. Zwar kennt
das Lachen und zumal die komische Reaktion auf Kunstwerke
unzählige Formen - es kann sich laut abspielen und leise, pru-
stend und kichernd, mitfühlend und grausam, verlachend und
mitlachend, spottend und freudig und vieles andere mehr. Aber
wir wissen alle, was es heißt, komisch zu reagieren - und sind alle
nicht in der Lage, etwas komisch zu finden, auf das wir nicht
komisch reagieren. Damit etwas komisch ist, muß es möglich
sein, es in der Unmittelbarkeit noch der vermitteltsten Komik
komisch zu finden.
Ernst Lubitschs Filmkomödie »Sein oder Nichtsein« spielt in
Warschau nach der Okkupation Polens durch das nationalsozia-
listische Deutschland. Ich halte diesen Film für einen der besten
antifaschistischen Filme: und es ist einer der komischsten Filme,
die ich kenne. Warum? In Kürze darum, weil er der blutigen
Schmiere der Gestaposchergen die unblutige Eitelkeit, Schwäche
und Eifersucht der Schauspielertruppe entgegenstellt, die sich in
einem komplizierten Spiel der Vertauschung gegen die terroristi-
schen Intrigen der Okkupatoren zur Wehr setzen muß. Alle

259
Motive einer im Theatermilieu angesiedelten Schmierenkomödie
sind versammelt. Indem die für sich genommen reichlich ermü-
dete Komik des Unterhaltungstheaters in den - realistisch be-
trachtet - absolut irrealen Kontext des politischen Widerstands
übertragen ist, gewinnt sie eine befreiende Schärfe, die auch
unabhängig vom propagandistischen Anlaß eine unverminderte
Aktualität behält. Die komische Irrealität der Szenerie und
Handlung macht die Irrealität - die tödliche Nichtigkeit - der
machtidealistischen Zurschaustellung des faschistischen Regimes
in einem Feuerwerk der Verkehrungen kalt zunichte. Die un-
menschliche Illusion einer militärischen Bereinigung der demo-
kratisch-dekadenten Schwächen einer leidlich freien Gesellschaft
ist schlagender nie evident gemacht worden: die Obristen aller
Gattungen machen Ernst mit dem Unernst, den sie zu tilgen
behaupten. Die pathetische Parteinahme für die moralischen
Insuffizienzen, die in raffinierten Verdrehungen und Variationen
gegen die Theatralik der Endlösung mobilisiert werden, gibt dem
Film die Substanz, immer komischer zu werden, je öfter man ihn
sieht.
Je öfter ich ihn ansehe jedenfalls. Für die Behauptung, daß »Sein
oder Nichtsein« ein guter Film ist, muß ich nicht darauf beste-
hen, daß er immer komischer wird: es reicht, daß er komisch
bleibt - um diese Komik zu erfahren, müssen andere nicht für die
Vorlust aufs Lachen (hier) so anfällig sein, wie ich es bin.
Komisch bleiben aber muß er schon. Was ich einmal komisch
fand und jetzt nicht wieder komisch finde, stellt das ursprüngli-
che Urteil in Zweifel. Denn wäre der Film nicht komisch, so wäre
er entsetzlich fade und peinlich moralisch. Er bedeutet, was ich
ihm nachsage, nur weil und insofern er komisch ist. Die Interpre-
tation, die ich kurz gegeben habe - und länger sind Kritiken und
kritische Äußerungen ja oft nicht - steht und fällt mit der
Nachvollziehbarkeit der konfrontativen Reaktion. Zwar ist die
Behauptung, daß der Film komisch ist (und nicht nur eine
Komödie sein soll, wie eine solche gemacht ist) nicht selbst eine
interpretative Behauptung. Sie ist eine direkte Wertbehauptung,
die einer bestimmten Art der Wahrnehmung entspringt und eine
klare Direktive für eine interpretative (Selbst-)Verständigung
gibt. Entsprechendes gilt für Prädikate wie »spannend«, »vir-
tuos«, »intensiv«, »verhalten«, »dynamisch« usw., wenn sie pau-

260
schal, also zur Behauptung der funktional »erfüllten« Relevanz
eines ästhetischen Gegenstandes verwendet werden. In der Regel
(aber auch nur in der Regel) bedeutet das Komische nicht
Aspekte der eigenen Komik, sondern präsentiert etwas in komi-
scher Manier. Zu sagen, der Lubitsch-Film sei umwerfend ko-
misch, meint, daß er - in jener doppelten Bedeutung - von
eminenter Bedeutung ist. Alle Gründe, die ich für dieses ästheti-
sche Urteil anführen kann, werden sich immer auch auf das
Faktum meiner Reaktionsweise am Gegenstand stützen. Zwar
behaupte ich nicht einfach, der Film sei gut, weil ich ihn zum
Lachen fand - das wäre vorerst nur die Bekundung einer Vorliebe
(»ich finde sowas - nun mal - komisch«); ich behaupte, daß der
Film ästhetisch bedeutet, was ich in der komischen Reaktion -
vor allen deutenden Überlegungen - an ihm verstanden habe.
Stets aber ist in den kunstkritisch interpretativen Aussagen mit
unterstellt, daß es dem betreffenden Gegenstand angemessen sei,
so erfahren zu werden, wie der Urteilende ihn erfahren hat. In
dieser Unterstellung liegt ein sowohl expressivesals appellatives
Moment. Die kritische Behauptung sagt, wie der Film erfahren
werden sollte und greift dabei auf das Erleben desjenigen zurück,
der eine solche Behauptung macht. Das ästhetische Erleben
seinerseits ist unwiderruflich in der personalen Gesamterfahrung
der wahrnehmenden Subjekte fundiert. Daher habe ich gesagt,
daß im ästhetischen Urteil und in den Behauptungen, die es
primär stützen, stets eine Aufforderung zur Erfahrung bzw. die
Bekräftigung einer Einstellung formuliert wird, für die letztlich
keine anderen Gründe angegeben werden können als das ästheti-
sche Objekt selbst: auf das alle interpretative Rede in vergegen-
wärtigender Ergründung verweist.
Wenn aber das nichts nützt? Wenn ich es mit einem rigoristi-
schen Esoteriker zu tun habe, der erstens Hollywoodfilme ver-
achtet (auch wenn emigrierte Österreicher die Regie führen) und
es zweitens politisch heillos naiv findet, die Nazis in einer Weise
entlarven zu wollen, als seien sie bloß die schlechteren Klamot-
teure? Nun - dann werden wir uns eben streiten. Und wir
können uns ausgiebig streiten, ohne nur auf den Austausch von
Präferenzen zu verfallen. Der Kontrahent wird versuchen, meine
Interpretation kommentierend zu schwächen: ·ou tust so, als
seien es die reinen Antihelden, die hier das falsche Heldentum
261
zersetzen - aber was sind's denn wirklich: Theaterstars mit ihren
Allüren. Die Stars gehen in den Untergrund und spielen die
Gestapo an die Wand - daß ich nicht lache. Er wird auch meine
Reaktionen anzweifeln: Was sagst du denn zu dieser umständli-
chen Zwischenpassage, die ganz im bieder-pathetischen Ton der
Heimatpropaganda gehalten ist? Diese betuliche Rückversiche-
rung wirst du wohl auch beim fünften Mal nicht komisch aufre-
gend finden. Er wird mir schließlich das Happy- End kommentie-
rend und fluchend in Erinnerung rufen: Spätestens hier ist es mit
der »schlagenden Schärfe« des Films zu Ende - und das hat
Folgen fürs Ganze. - Darauf werde ich meinerseits einiges zu
entgegnen haben; ich verweise auf die Notwendigkeit von Kon-
trasten der Tonlage, um den anarchischen Effekt eines Spiels im
Spiel im Spiel bis hin zur ironischen Dialektik des Schlusses voll
auszuspielen. Beide - Befürworter und Verächter - werden wir
versuchen, eine Interpretation zu finden oder unsere erste Deu-
tung so zu differenzieren und zu forcieren, daß sie dem anderen
das zeigt, was wir am Film erfahren haben und den anderen
motiviert, seine eigene Wahrnehmung nochmals zu bedenken
und günstigenfalls noch einmal direkt zu erproben.
Die Argumentation gegen eine ästhetische Bewertung kann auf
verschiedener Ebene Widersprüche und Mängel der bestrittenen
Sichtweise geltend machen. Sie wird einmal versuchen, Wider-
sprüche und folgenreiche Lücken in den Aussagen des Kommen-
tars und der Konfrontation nachzuweisen; gegen meine Behaup-
tung, der Film sei eine transformierte Komödie, hebt der Kontra-
hent die konventionellen Mittel der filmischen Komik hervor;
gegen die Bekundung einer unaufhaltsam komischen Wirkung
macht er die lähmende Einbettung der komischen Passagen gel-
tend, deren entkräftende Wirkung auch ich müßte erfahren ha-
ben. Andererseits dienen diese beiden Arten der Infragestellung
dem Aufweis von Inkonsistenzen auf der Ebene der kritischen
Interpretation - und somit der Widerlegung wenn nicht der
resümierenden Wertung, so doch der Art ihrer Begründung (der
Widerlegung eines falschen Verständnisses der ästhetischen Qua-
lität). Antifaschistisch mobilisierte Anarchie ist mit einem arti-
stenromantischen Happy End nicht vereinbar; komisierende
Mittel, die der ideologisch-expliziten Sicherung bedürfen, erge-
ben keinen komischen Exzeß. Sowohl von der Seite des Korn-
rnentars wie aus seiner konfrontativen Begegnung versucht der
:Kontrahent mein enthusiastisches Verständnis zu erschüttern.
Ob er nun recht hat oder ich die angemessene Auffassung habe,
ist aus einer allgemeinen Logik der ästhetischen Zuschreibung
nicht zu entscheiden; wie das konstruktive Potential ästhetischer
.Materialien erst in dem Zusammenhang des Werks sich be-
stimmt, in das sie sich eingearbeitet finden, so ist die Plausibilität
der kritischen Interpretationsaussagen und Zuschreibungen nur
an dem Werk (oder Werktypus) zu ermessen, dem auf diese
Weise Bedeutung zu- oder abgesprochen wird. Ästhetische Kri-
tik ruft Widerspruch nicht nur hervor, sie bestimmt an ihren
Objekten, was ein Widerspruch ihrer Wahrnehmung wäre und
was an den abweichenden Bewertungen eine widersinnige J\uf-
forderung zur Erfahrung ist.
Wenn aber die Widerlegung mißlingt? Dann haben wir uns ein
Stück weit verständigt, auch wenn wir nicht einig geworden sind.
Der andere ist nicht einfach uneinsichtig - sonst ließe sich gar
nicht streiten; nur sieht er nicht, vermag nicht recht zu sehen, was
ich zu sehen glaube; er hat keinen Sinn für die Komik, wie ich sie
hier entdecke. Weder kriteriell noch deduktiv kann ich diesen
Sinn demonstrieren, ich kann ihn nur ansinnen: im Aufweis
meiner interpretativen Gründe. Vielleicht werden wir uns ja noch
einig. Ihm mag das Lachen noch kommen, mir mag es beim
sechsten Mal so vergehen, daß ich veranlaßt bin, meine Meinung
zu ändern (anstatt die mangelnde Affinität auf den störenden
Einfluß äußerer Umstände zurückzuführen). Einander beikom-
men können wir nur vermöge der »subjektiven Allgemeinheit«
von Bestimmungen, die das ästhetisch bedeutsame Zeichen le-
bendig machen als eine Präsentation von Gehalten, die tragende
Bezüge auch unserer Welt der Erfahrung entfalten - oder von
Bestimmungen, die das ästhetisch mißratene Produkt als das
Symptom einer falschen Einstellung vor Augen führen.
Wer sich angesichts des Films von Lubitsch »weigern sollte,
Komisches zu registrieren«, der wäre mit der - kommentierenden
- Sicherheit bestimmter Kriterien allein »nicht zur Raison zu
bringen«. »Denn: Voraussetzungen und Bedingungen dafür, daß
sich etwas komisch ausnimmt, als Komik aufgefaßt, akzeptiert
und quittiert wird, sind aufgrund der historischen, sozialen,
kulturellen, psychischen, situativen Faktoren so komplex und
problematisch, ein allgemein verbindlicher und gültiger Begriff
des Komischen ist so unabsehbar, daß ich es für ausgeschlossen
halte, die Behauptung, hier handle es sich ... um Komik, so zu
verifizieren, daß diese Behauptung (und mithin der sie bestim-
mende Eindruck) absolute intersubjektive Verbindlichkeit ge-
wönne.«'75 So, wie es Wolfgang Preisendanz für den Fall der
Komik behauptet, verhält es sich generell mit den Zuschreibun-
gen der ästhetischen Kritik. Es verhält sich so nicht nur mit dem
ästhetischen Werturteil selbst, sondern ebenso mit den Deutun-
gen, die es vorrangig stützen. Wie mit meinen Sätzen über
Lubitsch, so verhält es sich mit Eduards Thesen zu Paz und den
funktional-interpretativen Aussagen bei lmdahl. Absolute Verifi-
kation ist nicht zu haben: wohl aber die Plausibilität hinreichend
aufschlußreicher Gründe, die für ein ästhetisches Verhalten spre-
chen, indem sie mindestens einen Kernaspekt des am Gegenstand
in seiner Totalität Wahrnehmbaren formulieren, ohne dabei die
Evidenzen der unmittelbaren Wahrnehmung zu übergehen (wie
sie die Sätze des Kommentars und der Konfrontation im Kontext
der Kritik benennen). Die Erwartung einer strikten Verifizierbar-
keit ästhetischer Urteile wäre auch ganz widersinnig. Ist es doch
der Sinn ästhetischer Argumentationen, daß die Objekte, die in
ihnen zur Geltung gebracht werden, zu Argumenten unserer
Erfahrung und Einstellung werden.
Diese Basis ästhetischer Interpretationen ist immer dann in Kraft,
wenn Aussagen nicht über die Signifikanz, sondern zum Gehalt
ästhetischer Objekte getroffen werden. Wenn es ihr darauf an-
kommt, ist auch die Kunstwissenschaft ästhetische Kritik; sie ist
Kritik mit dem Schwerpunkt auf Aussagen des Kommentars.
Auch eine Kritik, die nicht den sichernden und ausführenden
Anspruch der kritischen Wissenschaft erhebt, gibt immer auch
einen Kommentar; sie ist Kommentar vorrangig aus der Sicht der
erstmaligen oder erneuerten Konfrontation. Wo immer kunstkri-
tische Interpretationen gesucht und gegeben werden, zählt nicht
eine Form der Wahrnehmung, die jedes Subjekt mit Sicherheit
machen könnte oder müßte machen können, wenn es sich nur in
die richtige Position begeben oder die richtigen Prämissen sach-
lich einsehen würde. Was Kant die »Maxime der Urteilskraft«
genannt hat, ist in der ästhetisch unmittelbar interessierten Wahr-
nehmung gerade nicht das leitende Prinzip. ' 76 Die ästhetische
Reflexion am Gegenstand oder auf die Gegenstandserfahrung ist
nicht darauf aus, geradewegs »an der Stelle jedes andern« zu
denken. Sie zielt auf die Vergegenwärtigung der Erfahrung, die
durch das gelungene Objekt spezifisch erkennbar und in beson-
derer Weise intersubjektiv vermittelbar wird: nicht allen, sondern
unbestimmt vielen Individuen. Die Urteilenden vergegenwärti-
gen ihren Gegenstand so, wie auch andere auf ihn reagieren
könnten (und sollten), die nicht biographische Doppelgänger der
Wahrnehmenden sind, sondern Angehörige ihrer werdenden und
vergehenden Welt. In der Gemeinsamkeit ästhetischer Einschät-
zungen zeigt sich nicht allein die Gemeinsamkeit von Erfahrun-
gen, ihre konstitutiven Gehalte werden vom ästhetischen Objekt
gezeigt.

f) Ästhetische Bedeutung

Anton und Eduard waren zusammen im Konzert und streiten


jetzt darüber, ob die gehörte Musik (und besonders jenes eine der
gespielten Stücke) wild gewesen sei oder bloß laut. Stellen wir
uns Anton und Eduard etwas schlichter vor, als wir sie kennen,
und lassen wir es dabei, daß die beiden die Frage »wild oder laut«
hier für den entscheidenden Streitpunkt halten (und sich auch
über die Differenz von Aufführung und Aufgeführtem keine
Gedanken machen).
Anton findet das Stück gut, weil es wild ist; Eduard hält es für
mißlungen, weil es ihm außer beachtlichen Phonstärken nicht viel
zu hören gibt. »Das ist ein - wirklich - wildes Stück«; »das ist -
aber - eine laute Angelegenheit«. In der gedachten Verwendung
geben beide Aussagen erstens eine zusammenfassende Wertung
und zweitens einen entscheidenden interpretativen Hinweis auf
den primären Grund dieser Wertung. Die Musik ist in ihrer
Wildheit gut; die Musik ist trotz ihrer Phonstärke schwach. Auch
in Eduards Mißfallensäußerung ist eine interpretative Stellung-
nahme enthalten. Denn nach seiner Auffassung war die Musik
nicht nur laut, sie war nur laut; seine Aussage hat den Status einer
kritischen »Nullbehauptung« der oben erörterten Art. Für Edu-
ards Ohren hatte die Lautstärke keine erkennbare Funktion; weil
sie keine hatte, fand er das Ganze nicht nur bloß laut, er fand's
überdies - dafür, daß es ohnehin schlecht war - auch zu laut. In
bescheidenerer Form läßt er sich das Schlechte noch eher gefal-
len.
Laut ist die Vorstellung gewesen: darüber sind sich Eduard und
Anton vollkommen einig. Trotz der konträren Bewertungen ist
eine weitergehende Übereinstimmung der kommentierenden
Charakterisierung denkbar. Eduard könnte zugestehen, das
Stück habe den einen oder anderen wilden Moment gehabt; aber
diese paar Augenblicke, so wird er sagen, machen das Stück nicht
selbst schon wild - im Gegenteil: sie machen nur deutlich, wie
vorlaut es um Wildheit bemüht ist. Für Antons Empfinden
dagegen war die Musik weder zu laut noch aufs Ganze gesehen
bloß laut, denn für seine Ohren hatte die Lautstärke eine erkenn-
bare ästhetische Funktion: dem Stück den Charakter der Wild-
heit zu geben, den es andernfalls in dieser eindringlichen Weise
nicht hätte haben können. Nach Antons Meinung ist das Stück
wild unter anderem, weil es laut ist. Eduard dagegen hat das
Ganze mißfallen, weil er außer ungewöhnlichen Lärmgewalten
nichts besonderes an ihm finden konnte und kann. Er hat wohl
gehört, daß es sich hier um Musik einer bestimmten Art handelt.
Er sagt nicht: das Ganze ist ein dröhnender Witz, aber keine
Musik. Aber er hat nichts wahrnehmen können, was ihm als
besondere Qualität dieses besonderen Stücks fesselnd aufgefallen
wäre. Jedenfalls »nichts von Bedeutung«. Das bißchen Wildheit,
sagt er, greift nicht über, verebbt im bloßen Lärm; was dem Stück
zur Wildheit fehlt, ist der Atem, das Gehetzte, die Anspannung
des Fortgangs - so wie es ist, rattern die Klangmuster und
Melodiefetzen einfach vorbei. »Ich bitte dich!« - hält Anton
dagegen: und schon geht die Post ab. »Atemlos ist das Stück, ja,
aber nicht ohne Atem! Hast du nicht den Wechsel, die Dehnun-
gen und Schnellungen im rhythmischen Fortgang gehört? Die
Gewalt der gleichförmigen Partien liegt doch darin, daß ihre Hast
gegen die minimalen Stockungen und Sprünge, gegen das Zerrei-
ßende auch der Melodie - überspielend - komponiert ist. Und die
lähmende Monotonie des Endes, worin der akustische Exzeß sich
in die Erschöpfung steigert!«
Wie abgesprochen, werden wir den Quadrierungen der Bered-
samkeit unserer Beispielmänner diesmal nicht folgen. Das einfa-
che Beispiel gibt einen drastischen Anlaß, die Beobachtung zu

266
erneuern, daß nicht bestimmte Prädikate, sondern bestimmte
Verwendungsweisen von Prädikaten die Formen der Charakteri-
sierung im Sprachspiel der ästhetischen Kritik bestimmen. Edu-
ard gebraucht dasselbe Prädikat, um drei sehr verschiedene Be-
hauptungen zu machen. Das Stück ist laut; es ist (vor allem) laut;
und es ist (nichts als) laut. Die erste Charakterisierung ist be-
schreibend; die zweite gibt eine kritische Zuschreibung; die dritte
ein zusammenfassend wertendes Urteil. Anton, der in der be-
schreibenden Prädikation mit Eduard übereinstimmt, läßt seine
Entgegnung mit einer zuschreibenden Kommentierung begin-
nen, die er ohne lange Wortklauberei zu einer kritischen Deutung
und einer zusammenfassenden Bejahung sich fortschreiben läßt.
Das Stück hat etwas Wildes; es ist wild; ein wildes Stück!
Vielleicht war es sogar ein wilder Abend, den Anton nicht zuletzt
durch diese Musik verlebt hat. Nur macht eine wilde Musik noch
keinen wilden Abend und ist ein wilder Abend mit Musik nicht
notwendig ein Abend mit wilder Musik. Unter anderem liegt dies
daran, daß Antons wohlwollende Reaktion, aus der ihm die
Wildheit der Musik hörbar wird, nicht ihrerseits eine wilde sein
muß. Ein bestimmtes Gefühl der Bewilderung und ein entfessel-
tes Gebaren gehören der Wahrnehmung des ästhetisch Wilden
nicht notwendig zu (ein Fehlschluß, auf den Wittgenstein immer
wieder hingewiesen hat). Die ästhetische Sympathie ist eine des
Erkennens, nicht des Aufgehens im Erkannten. Zumal wenn es
sich um Rockmusik handelt, kann es natürlich sein, daß Anton
auf das Gehörte expressiv »abfährt«; nicht nur agiert er sein
Hören tanzend ab, er nimmt die Musik im Tanzen und durch das
Tanzen wahr und stellt zugleich Züge seiner Wahrnehmung nach
außen dar; sein begeistertes Tanzen gibt eine Interpretation der
Musik, auf die er tanzt. Genausogut aber kann es sein, daß er die
wilde Musik stumm und still in sich aufnimmt: und es am Ende
ein ruhiger Abend war im Hören einer wilden Musik. Vielleicht
ist Eduard derjenige, der sich austobt: dafür, sagt er, ist das Zeug
gerade gut genug. Wenn er tanzt, wird er wahrscheinlich anders
tanzen als Anton tanzen würde (wenn er ein leidlich expressiver
Tänzer ist). Eduard bewegt sich indifferenter - zur Musik: es mag
ihn anderes zum Tanz verlocken als nur die Musik. Wenn er
andere Motivationen hat und entsprechend in Stimmung ist, mag
also auch Eduard einen wilden Abend verleben. Diesen - schö-
nen _ wilden Abend aber verlebt er nicht, wenn er die Auffüh-
rung der Musiker stur aus der Warte des enttäuschten Kritikers
verfolgt und am Ende dem euphorischen Anton kühl entgegen-
hält: Ich kann mir nicht helfen, mein Bester, diese bombastische
Lärmüberwältigung, die macht mich ganz wild.
Der verblüffte Anton wird darauf bestehen, die Musik sei in ihrer
Wildheit gut - ein Grund, genau hinzuhören, kein Grund, wild
zu werden (aber vielleicht auch eine Gelegenheit, sich einen
richtig wilden Abend zu machen). Was nun ist gesagt mit inter-
pretativen Zuschreibungen der ästhetischen Kritik? Es wird et-
was gesagt zur ästhetisch-aktuellen Funktion des betreffenden
Gegenstands. Das unterscheidet sie von Aussagen zum ästheti-
schen Potential des Objekts. Die Behauptung, das gehörte Stück
sei laut, ist wahr, wenn es laut ist. Die Behauptung, das Stück
habe wilde Momente, ist wahr, wenn es wilde Momente hat, die
erkennbar sind für die, die sich mit dieser Art Musik ein bißchen
auskennen. Die Behauptung, das Stück insgesamt sei - wesentlich
- wild, ist wahr, wenn es seine Wildheit ästhetisch bedeutet (und
in diesem Sinn wild ist).
Wenn in der beschriebenen Weise gesagt wird, ein Musikstück sei
»wild«, so ist damit nicht allein gesagt, was für es (im Ganzen
gesehen) charakteristisch ist: gesagt ist, wofür die Musik charak-
teristisch ist, was sich in ihr artikuliert. Der Gedanke, daß
ästhetische Objekte in einer bestimmten Weise charakteristisch
sind für das, was sie in funktionaler Hinsicht charakterisiert, ist
der eigentlich produktive Grundgedanke der Ästhetik von Nel-
son Goodman. 177 Das Problem ist nur, daß Goodman diesen
Gedanken nicht selbst produktiv machen kann. Denn er vermag
nicht zu sagen, wie die ästhetischen Gegenstände sich auf diejeni-
gen ihrer Charaktere beziehen, die eine interpretative Wahrneh-
mung an ihnen entdeckt. Wenn aber das nicht gelingt, läßt sich
auch die semiotische Eigenheit der ästhetischen Zeichen nicht
erweisen. Die Kunstwerke werden begrifflich zu bloßen Beispiel-
gegenständen degradiert, was sie bekanntlich, je besser sie sind,
desto weniger eigentlich sind.
Vom Begriff der Exemplifikation gehen die entscheidenden
Überlegungen bei Goodman aus.178 Für die Signifikanz von
Beispielen stellt Goodman eine »Umkehrung der Bedeutungs-
richtung« fest: Exempel (einschließlich beispielhaft thematisierter

268
Phänomene) beziehen sich nicht - »denotierend« - auf etwas in
der Welt, sie charakterisieren das, was an ihnen bezeichnet
(»denotiert«) wird. Sie beziehen sich auf den Besitz, auf das
Haben der Eigenschaften, auf das sich unser Verstehen an ihnen
verdeutlichend bezieht. Beispielhafte Phänomene thematisieren
nichts, sie vergegenwärtigen, was an ihnen thematisch wird: das
ist der Unterschied in der Bezugnahme, auf den Goodman zielt.
Diese »Umkehrung der Bedeutungsrichtung«, diese Differenz
der Artikulation, ist nach Goodman ein konstitutives Merkmal
ästhetischer Zeichen. Das ästhetische Objekt, so muß man extra-
polieren, ist ein Exempel, an dem die ästhetische Wahrnehmung
erst erkennend auffinden muß, was es vergegenwärtigend zu
verstehen gibt. Das ästhetische Zeichen ist nicht für einen be-
stimmten Verständigungszweck ausgezeichnet, es ist das in der
Regel komplexe Medium eines zweckfreien Erkennens. ' 79 Die
zuschreibend imaginierende Erschließung von Kunstwerken ex-
perimentiert mit unserer Sprache für die Phänomene, die wir an
ihnen ausgeprägt finden; die ästhetischen Objekte sind daher
ausgezeichnete Gelegenheiten, sich des Sinns der Unterscheidun-
gen erneuernd, variierend und bereichernd zu vergewissern, die
für die Orientierung in den Welten, die wir haben und »machen«,
wesentlich sind oder es somit werden.
Das gilt zumal dann, wenn es das ästhetische Verstehen mit
Formen der »metaphorischen Exemplifikation« zu tun hat; und
fast alle Kunstwerke von einiger Bedeutung geben Zusammen-
hängen Ausdruck, die nur mittels metaphorischer Kennzeich-
nung an ihnen aufzufinden sind. Im Unterschied zur reinen
Exemplifikation und zur ästhetischen Repräsentation bezeichnet
Goodman die »metaphorische Exemplifikation« als das expres-
sive Moment der ästhetischen Artikulation, weil er annimmt, daß
die metaphorischen Zuschreibungen sich notwendig auf die Spra-
che des subjektiven Erlebens stützen. Auch die sogenannte Ex-
pressivität ästhetischer Objekte ändert nichts an der grundsätzli-
chen Artikuliertheit ästhetischer Zeichen: sie beziehen sich cha-
rakterisierend auf das, was für sie vor allem chrakteristisch ist.
» The signifikant properties of a work, we might say, are those it
signifies.«180 Mit Auskünften wie dieser versucht Goodman dem
immer wiederkehrenden Einwand zu begegnen, der bezweifelt,
daß es sich bei den ästhetisch »selbständigen« Beispielen über-
haupt um symbolische Gegenstände handelt (und der in seiner
radikalen Form das Konzept der ästhetischen Bedeutung über-
haupt negiert). Ästhetische Objekte, sagt Goodman, sind Zei-
chen, die erhellen, was sie erhellt. Was aber unterscheidet diese
»Zeichen« von den Gegenständen, die einfach sind, was sie sind?
Offenbar wiederum nur, daß es besondere Gelegenheiten sind,
zu zeigen, was es heißt, zu sein, wie sie sind. Goodmans Grund-
begriff des Ästhetischen fällt auf die ästhetische Armut von
Beispielen zurück. Kunstwerke wären Beispiele ohne spezifi-
schen Kontext und meist komplexer Natur.
Ich halte das für eine reductio ad absurdum. Denn Beispiele ohne
beispielgebenden Kontext sind eben keine Beispiele. Sonst wäre
alles, was »denotiert werden« kann, von vornherein ein Beispiel.
Die beispielhaften Phänomene jedoch werden zu Beispielen allein
in Kontexten der Verständigung, in denen sie Aspekte eines
themengebundenen Zusammenhangs bestimmen helfen (vgl.
oben S. 148 f.). Das beispielhafte Phänomen, das im Beispielgeben
zum Objekt und Medium einer vergegenwärtigenden Handlung
wird, bedeutet für sich genommen überhaupt nichts. Goodman,
so könnte man sagen, verwechselt das Exempel mit der Exempli-
fikation; er vernachlässigt die pragmatische Dimension des Bei-
spielgebens, in der ein Beispielgegenstand die ihm verliehene
signifikante Kraft gewinnt. 181 Würden daher Kunstwerke nur
charakterisieren, was sie charakterisiert, so würden sie sich aus
eigener Kraft überhaupt nicht »beziehen« und wären - auch im
weitesten Sinn von »symbolisch« - als symbolische Medien gar
nicht zu verstehen. Daß Goodman gegen Einwände dieser Art
stur behauptet, es sei dies Charakteristischwerden der Charakte-
ristika eine signifikative Dimension eigenen Rechts, beweist nur
wieder die Unbeirrbarkeit seiner zentralen Intuition. Und macht
deutlich, daß Goodman ihr nicht geben kann, was ihr gebührt:
die dialektische Unterscheidung des ästhetischen Ausdrucks von
der Bedeutung der Ausdrücke, mit denen wir das Charakteristi-
sche des ästhetischen Ausdrucks benennen.
Es ist das Richtige und verstörend Einfache dieser Intuition, daß
der ästhetische Gegenstand - wie das Exempel - das Medium
eines wesentlich explikativen Verstehens ist. Beide Male gilt es
einen Zusammenhang von Bedeutungen zu verstehen, den es in
der Vergegenwärtigung der Ausprägung des betreffenden Gegen-
stands zu erfassen gilt. Während aber der Beispielgegenstand für
etwas steht, auf etwas verweist in einem externen Verständi-
gungszusammenhang, in dem er okkasionell Bedeutung gewinnt,
präsentieren Kunstwerke einen Zusammenhang interner Verwei-
sungen, au.s dem sie eine Sicht dessen darbieten, als was sie zu
verstehen sind. Beispiele geben in einem fraglichen Zusammen-
hang etwas zu verstehen; wenn es sich um mehr als bloße
Fallbeispiele handelt, vergegenwärtigen die betreffenden Bei-
spiele Teile des sachlichen Zusammenhangs, aus dem sie ihre
Bedeutung als Beispiele gewinnen. Die gelungenen Kunstwerke
dagegen nehmen die Charaktere und Themen, auf die sie inter-
pretierend bezogen werden, in den Artikulationszusammenhang
ihrer internen Korrespondenzen zurück. Ihre Bedeutung ist es,
einen weltkonstitutiven Sinnzusammenhang der Zuschreibungen
zu exponieren, durch die sich ihre phänomenale Ausprägung als
ein Zusammenhang sinnhafter Korrespondenzen erschließt. Der
ästhetisch gelungene oder schöne Gegenstand artikuliert die
welthaltige Artikuliertheit dessen, als was er sich uns artikuliert.
Was sich so charakterisiert findet, ist ein holistischer Zusammen-
hang der Bedeutsamkeit der nichtästhetischen Bedeutungen, die
dem ästhetischen Gegenstand interpretativ zugeschrieben wer-
den. Der Gehalt ästhetischer Zeichen liegt also nicht in dem,
worauf sie sich, vermittelt durchs interpretativ wahrnehmende
Bezogenwerden, beziehen: er liegt in der präsentativen Entfal-
tung eines Sinnhorizonts der Charaktere, die erkannt werden
müssen, um ihre funktional erfüllte Relevanz zu erkennen.
Wie schon in der ersten, vorläufigen Erörterung der ästhetischen
Bedeutung hervorgehoben (vgl._n.2.c), unterscheidet sich die
»vergegenwärtigende« Leistung der ästhetischen Zeichen von den
Formen der situationsabhängigen Vergegenwärtigung durch die
situationsunabhängige Präsentation von Sinnbeziehungen, die
allein hiermit in ihrer situationskonstitutiven Totalität verste-
hend erfahrbar werden. Im krassen Gegensatz zu Beispielen sind
die ästhetischen Gegenstände Zeichen eines autonomen Zeigens -
nicht nur, weil hier das einzelne Zeichen zeigt, was allein dieses
zeigt; vor allem, weil allein diese Zeichen aus interner Beziehung
zeigen. Die ästhetischen Beispiele »mit eingezogenem Kontext«,
wie paradox gesagt werden kann, sind eben keine Beispiele. Es
sind - in jenem unspezifisch weiten Gebrauch des Wortes »sym-
bolisch«, den Goodman macht - symbolische Besonderungen der
Erfahrungsgehalte, die am gelungenen und schönen Objekt in
thematisch zuschreibender Exploration zu »vergegenwärtigen«
sind (vgl. auch S. 241 f.). Das macht die präsentativen Zeichen oft
auch zu hervorragenden Beispielen. Aber ihre erfüllte Bedeutung
liegt nicht in der hinzukommenden Signifikanz in ästhetischen
und nichtästhetischen Belangen; ihre funktionale Eminenz ist
gegeben, wenn sie Bezüge der aktuellen Bedeutsamkeit der Gege-
benheiten aufweisen, auf die sie vermöge ihrer Verfaßtheit be-
ziehbar sind. Dabei ist es gleichgültig, ob sie sich auf die Inhalte,
deren Gehalt sie präsentativ entfalten, auch thematisch beziehen
oder nicht. Ein Musikstück, das wild ist, charakterisiert die Wild-
heit, die es hat; ein Gedicht, das von wilden Nächten spricht, mag
die Wildheit charakterisieren, von der es spricht. Ästhetische Ob-
jekte zeigen, woher sie etwas zeigen, sie bringen die Erfahrung zur
Sprache, aus der sie sprechen, indem sie die Erfahrung ausdruck-
haft konstituieren, von der die Sprache der ästhetischen Kritik in
ihren bejahenden Stellungnahmen spricht.
In eine ähnliche Richtung gehen die Korrekturen, die Danto an
der Engführung des Goodmanschen Programms vorgenommen
hat. Gegen Goodman besteht auch Danto darauf, daß die Rede
von der allgemeinen »symbolischen« Verfassung ästhetischer Ge-
genstände erst sinnvoll wird, wenn gesagt werden kann, was denn
die ästhetische Darbietung kategorial von der Darstellung unter-
scheidet, die vom Inhalt der ästhetischen Darbietung gegeben
werden kann. Dieses Problem erörtert Danto folgerichtig an der
allgemeineren Frage, was die ästhetische »Darstellung« von der
Darstellung von Sachverhalten in der Welt trennt. Trotz ihrer
inkonsistenten Ausarbeitung ist Dantos Grundthese mit der hier
vertretenen Auffassung vereinbar: Es ist die genuine Bedeutung
von Kunstwerken, Sichtweisen der Welt zur Darstellung zu
bringen, die in keine Darstellung der Welt überführt werden
können. 182 In einem ebenfalls von Goodman inspirierten Aufsatz
»Über Bedeutung in der Literatur« kommt Gottfried Gabriel
zum gleichen Ergebnis. Die Differenz von Beispielverstehen und
ästhetischem Verstehen formuliert Gabriel so, daß es im ästheti-
schen Erkennen auf die Leistung der am Gegenstand »reflektie-
renden« Urteilskraft ankomme, während zum Verstehen gegebe-
ner Beispiele allein die »bestimmende« Urteilskraft beansprucht
sei.183Freilich ist diese Kennzeichnung noch durchaus unzurei-
·chend, denn auch im Beispielverstehen kommt es ja nicht selten
darauf an, auf den Zusammenhang voraus- und rückbesinnend zu
»reflektieren«, in dem das Beispiel seinen Sinn gewinnt. Die
ästhetisch verstehende Reflexion ist auf eine besondere Weise
verlangt, als es ihr darum geht, die zeicheninternen Korrespon-
denzen ihrer Gegenstände ohne situative Vorgaben suchend und
verweilend zu bilden, Korrespondenzen, durch die das ästhetisch
Gezeigte, das es zu verstehen gilt, die Bedeutung eines in seiner
integralen Bedeutsamkeit sich Zeigenden gewinnt, der dieses
Verstehen eigentlich gilt. Das ästhetische Verstehen gilt schließ-
lich nicht der Bedeutung der eigenen Zuschreibungen, es gilt der
ästhetischen Bedeutung, die in der wertend zuschreibenden Er-
kundung verlockender Gegenstände zur ausdruckhaften Erschei-
nung kommt; in dieser testenden Erschließungsfunktion liegt der
kunstkritische Sinn der ästhetisch-funktionalen Interpretationen.
Der Logik dieser sei es implizit spielenden, sei es explizit deuten-
den Reflexion ist der vorangegangene Abschnitt gefolgt. Den
bedeutungstheoretischen Aspekt dieses Verstehens haben Danto
und Gabriel erkannt, wenn sie nahelegen, daß dieses Verstehen
dem lnnewerden weltbildender Sichtweisen gilt - wenngleich
gegen beide Autoren festgehalten werden muß, daß das ästhetisch
primäre Verstehen stets der Beurteilung der gegenwartsbezoge-
nen Angemessenheit der ästhetisch entweder vermittelten oder
verfehlten Sichtweisen gilt. Mit beiden Autoren wiederum läßt
sich sagen, daß der ästhetisch erfüllte Ausdruck darin besteht,
den Gehalt lebensformgebundener und lebensformbindender
Einstellungen zu artikulieren. Wie Danto verwendet auch Ga-
briel hier einen Begriff der Einstellung, der »entgegen emotivisti-
schem Sprachgebrauch« »emotive und kognitive Aspekte« um-
faßt.184
Nachdem die Lektüre analytischer Autoren wieder auf die eher
hermeneutisch gewonnene These geführt hat, daß das ästhetische
Interesse der Präsentation von Erfahrungsgehalten gilt, ist eine
ergänzende Differenzierung möglich. Sie betrifft den Rechtferti-
gungssinn der ästhetischen Argumentation. 181In der bisherigen
Analyse der ästhetischen Beurteilung habe ich noch ohne eine
genauere Abgrenzung dargelegt, wie in der Argumentation für
ein ästhetisches Urteil die Sichtweise oder Einstellung gerechtfer-

2 73
tigt wird, die entweder am gelungen Objekt gewonnen oder am
mißlungenen Werk nur bestätigt wurde. Gerade im Fall der
positiven Bewertung aber ist es nicht dasselbe, ob die im ästheti-
schen Objekt präsente Sichtweise als wesentlich oder in einem
stärkeren Sinn als richtig bewertet wird. Für das Bewußtsein der
Gegenwart wesentlich sind Erfahrungen, deren Bekanntschaft
für ein richtiges Leben wesentlich ist; in einem stärkeren Sinn
wesentlich sind die durch Erfahrung erworbenen und zu erwer-
benden Sichtweisen, die uneingeschränkt als Gehalte richtiger
Einstellungen im gegenwärtigen Leben beurteilt werden. Die im
schwächeren Sinn wesentlichen Sichtweisen gehen als wichtige
Teilperspektiven in den Erfahrungszusammenhang der durch sie
veränderten, aber sie auch wiederum modifizierenden Lebens-
weise ein. Auch die Kunstwerke, die derart wesentliche Sichtwei-
sen zur vergegenwärtigenden Erfahrung geben, werden häufig
ohne Paradoxie als gelungen, schön usw. bewertet. Unserer
emphatischen Bejahung aber werden die Kunstwerke und ästhe-
tischen Gegenstände zuteil, die eine Sichtweise eröffnen, die wir
als eine uneingeschränkt richtige Sicht der Dinge ästhetisch erfah-
ren. In der Explikation und Verteidigung dieser Einschätzungen
rechtfertigen wir zugleich auch die Einstellung, deren vollen
Gehalt wir im ästhetischen Gegenstand dargeboten finden. In
den anderen Fällen der ästhetischen Wertschätzung werden wir
uns darauf beschränken, die Relevanz der Erfahrung geltend zu
machen, die im ästhetischen Gegenstand zum Ausdruck kommt.
Relevant sind diese Erfahrungen durchaus für unsere jetzige
Einstellung, auch wenn der Gehalt dieser Einstellung, auch wenn
unsere Sicht der betreffenden Dinge sich nicht vollständig mit
dem hier artikulierten Sinnzusammenhang deckt. Für die beiden
der nunmehr unterschiedenen Möglichkeiten jedoch ist festzu-
halten, daß das ästhetische Urteil, das seinem Gegenstand eine
ästhetisch erfüllte Bedeutung zuspricht, in jedem Fall die Be-
gründbarkeit der hier erscheinenden Sichtweise behauptet: auch
wenn es nicht in jedem Fall die uneingeschränkte Angemessen-
heit der Erfahrung behauptet, die wir haben, wenn wir die
betreffende Sicht gewonnen haben.

Ich nehme das reduktive Musikbeispiel wieder auf. Für einen


Hörer wie Anton liegt die Bedeutung und das Faszinierende des

2 74
gespielten Stücks darin, daß es in konstellativer Dynamik Sinnbe-
ziehungen exponiert, die er mit Erfahrungen - jetzt - verbindet,
die wesentlich den Charakter der Wildheit haben: und dies in
einem durch das Musikstück aufweisend bestimmten und an ihm
hinweisend zu bestimmenden Sinn. In seiner Wildheit gehört,
erfüllt es die ästhetische Funktion, die Entfaltung eines wilden
Geschehens, Augenblicks, Ereignisses zu sein. Es hat die symbo-
lische Artikuliertheit einer wilden Situation. Freilich wird kein
Musik- oder sonstiges Kunststück, so wild es auch sei, die
Gesamtheit der Implikationen, Belehnungen und Besetzungen
präsentieren, die die, die es als ein wildes hören oder verstehen,
mit dem Bedeutungsfeld des » Wilden« aus Erfahrung verbinden.
Und zwar nicht nur darum, weil jedes neue oder neu gedeutete
Stück, das gut ist unter anderem, weil es wild ist, der Bedeutsam-
keit dessen, was wir als »wild« bezeichnen, eine zusätzliche oder
verändernde Musterung gibt - so wie sich mit den Orgien des
Free Jazz der Sinn dessen erweitert, was als Erfahrung des
Wilden und wilde Erfahrung ansprechbar ist; sondern weil es die
Bedeutsamkeit der Erfahrung des Wilden oder wilder Erfahrun-
gen nicht gibt. Die Wildheit eines Musikstücks, wenn es denn
derart wild ist, daß es seine Wildheit ästhetisch bedeutet, ist stets
eine besondere, im Artikulationsgefüge des Werks besonderte.
Wenn den Wahrnehmenden daran liegt, können sie diese Beson-
derheit annähernd und andeutend weiter bestimmen. Seine Wild-
heit kann lustvoll sein oder panisch, lähmend oder verhalten,
rauschhaft oder bezaubernd, terrorisierend oder animativ, insi-
stierend oder explosiv, leise oder laut; sie kann mehreres zugleich
sein und anderes dazu. Aber der inexponible Resonanzraum, der
sich eröffnet, wenn wir uns dazu verstehen, es in seiner Wildheit
gelungen und in seiner Lautstärke wild zu finden, wird immer
nur eine der Figurationen auftun, in denen sich die erfahrend
verwobenen Bedeutungen des » Wilden« sinngebend und sinneh-
mend ineinander verschlingen. Kunstwerke und die ästhetisch
sonst ergiebigen Erscheinungen sind nicht die zauberhaft immer-
gleich welthaltigen Monaden, es sind perspektivisch aufgeladene
Moleküle der an ihnen erscheinenden Welt. Die Wildheit der
Beatles in »Heiter Skelter«, des Art Ensembles of Chicago in
einigen seiner Pariser Sessions und die Wildheit Weberns in
manchen seiner Bagatellstücke sind extrem verschiedener Art. In

2 75
jedem dieser und der zahllos denkbaren weiteren Fälle wird mit
einem identischen Ausdruck auf ganz verschiedene ästhetische
Bedeutungen verwiesen. 186 Daran zeigt sich nochmals, daß die
ästhetische Bedeutung nicht diejenige der in ästhetischen Deu-
tungen verwendeten Begriffe ist. Die ästhetische Bedeutung ist
das, worauf wir verweisen, wenn wir diese Begriffe im Kontext
ästhetisch anerkennender Wertungen verwenden. Wir verwenden
unsere Begriffe ästhetisch, wenn wir sie zur Explikation unserer
Sicht der Dinge verwenden, die im Unterschied zu unseren
Ansichten über die Dinge begrifflich nicht aussagbar ist.
Was sich dieser Zuwendung als ästhetische Bedeutung zeigt - das
muß sich zeigen. Es muß sich zeigen beim Hören eines Musik-
stücks, das erst einmal - nur? - laut ist, es muß sich zeigen an
jenem Film von Lubitsch, der erst einmal- nur beim ersten Mal?
- einfach komisch ist. Was es ist, das sich ästhetisch bedeutet
findet, kann angesprochen werden durch die interpretative Zu-
schreibung eines einfachen Prädikats - jeder Art: »dieser wilde
Fortgang« - »dieses Rot bei Tizian«; durch eine kennzeichnende
Charakterisierung: »die Auferstehung der Farben«, »die anti-
kompositionelle Restitution des Erhabenen« in der Serie von
Newman; durch die Formulierung eines Gedankens, der erhellt,
was ein Werk ästhetisch erhellt: »Einfälle, ästhetische wie theore-
tische, sind nicht intendierbar - wie das kommt und zugeht,
zeigen die Zeilen von Paz« (was sich wiederum so umformulieren
läßt, daß gesagt wird, die »Nichtintendierbarkeit von Einfällen«
sei es, die im unscheinbaren Gefüge der Zeilen zu vergegenwärti-
gen sei - ein nominalisierter Gedanke, ein Thema, die auf den
Sinn des ästhetisch Exponierten verweisen). Ob es sich um
gegenständliche - auch thematisierende - oder ungegenständliche
Kunstwerke handelt, in jedem Fall haben die interpretativen und
darin kritischen Zuschreibungen die Funktion, zu benennen, was
in der Artikuliertheit des ästhetischen Zeichens eine Charakteri-
sierung erfährt. Man kann das den Gegenstand, den Inhalt, das
Thema, den Bezugspunkt, den primären Charakter und anders
nennen: was so angegeben wird, ist niemals der Gehalt der so
besprochenen Werke. Es ist ein Titel der Situation, die die
Wahrnehmenden ästhetisch präsentiert finden (der von den Ti-
teln der Werke abweichen, aber auch mit ihnen übereinstimmen
kann - wenn sie einen haben). Dieser kritisch zugesprochene
Titel zeigt an, was sich am und im ästhetischen Potential der
aktuellen Erfahrung zeigt. Wer eine Vorliebe hat für die ästheti-
schen Terminologien des Scheins, kann auch sagen, die Interpre-
tation spreche aus, was am betreffenden Werk vor allem er-
scheine: und wird, ganz zu Recht, darauf bestehen, daß nicht das
Erscheinende, sondern der Schein dieses Erscheinens das ästhe-
tisch eigentlich Wesentliche sei. Ohne Erscheinendes aber ist der
schönste Schein nur ein leerer Schein - ein Nebel der Anmutung,
der keine ästhetisch schattenhaften oder strahlenden Erleuchtun-
gen birgt. Kein ästhetischer Schein ohne ausdruckhaft Erschei-
nendes, an dem das Ausdrucksobjekt die ästhetische Bedeutung
des »Scheins«, sprich: eines in das Erscheinende verwobenen
Sinngefüges erhält. ' 87
Es ist klar, daß die Bedingungen des ästhetischen Bedeutens für
die verschiedenen Kunstarten oft ganz verschiedene sind: eine
Verschiedenheit, auf die ein neugieriger Betrachter, Leser und
Hörer sich nicht allzu sicher verlassen wird; er ist zu synästheti-
schen Wahrnehmungseskapaden gerne bereit, von denen er sich
an der Wucht der gelungenen Reduktionen bestürzend erholt.
Aufs Gelungene, Schöne, Bestürzende ist er allemal aus. Und er
hat eines dieser chamäleonhaften Kriterien dafür, was das ästheti-
sche Gute, Schöne und Entsetzende ist. Paul Valery hat es ihm
zur Verfügung gestellt. »Der Gegenstand eines Werkes ist das,
worauf ein Werk, wenn es schlecht ist, zusammenschrumpft.« 188
Das Schlechte hat nur die Bedeutung der ästhetischen Signifi-
kanz; das Gute hat die Bedeutung der präsentativ inkorporierten
oder inszenierten Bedeutsamkeit. Denn der Gegenstand eines
Werkes ist das, worauf ein Werk, wenn es gut ist, sich zuspitzt,
um seine, des Werkes, Bedeutung zu entfalten, indem es der
Bedeutsamkeit seines Gegenstandes Ausdruck verleiht.

g) Situation und Differenz

Ein ästhetisches Objekt verstehen heißt beurteilen, inwiefern es


schön oder gelungen ist: diesen Zusammenhang von ästhetischer
Bedeutung und ästhetischer Kritik sollten die vorangegangenen ·
Abschnitte erläutern. Wenn deren Analyse angemessen war,
müßte sich jetzt ein Bild der ästhetischen Wahrnehmungssitua-

277
tion zeichnen lassen. Es ist dies eine Situation der verstehenden
Situationsbildung, die sich von Erfahrungssituationen andernorts
(die ja ebenfalls Situationen der Situationserschließung sind) da-
durch unterscheidet, daß es hier darum geht, den Charakter einer
Situation vergegenwärtigend zu erkennen, die nicht gleichbedeu-
tend ist mit der Situation dieses wahrnehmenden Erkennens. Die
ästhetische Wahrnehmung gilt der präsentischen Erschließung
von Situationen, von denen die Wahrnehmenden nicht (gänzlich)
umschlossen sind.
Antons und Eduards Reaktionen auf das - zumindest laute -
Musikstück haben bereits klargemacht, daß die ästhetisch wahr-
genommene »Situation« nicht gleichgesetzt werden darf mit der
Situation der ästhetischen Wahrnehmung. Zwar ist es richtig zu
sagen, die ästhetische Wahrnehmungssituation sei als ästhetische
durch das definiert, was relevant ist für die Wahrnehmung des
Gegenstandes, dem das ästhetische Verhalten gilt. Aber es wäre
verheerend zu folgern, die Bedeutung des ästhetischen Gegen-
standes sei das, was die Situation seiner Wahrnehmung bestimmt.
Die Situation der ästhetischen Wahrnehmung ist eine der beurtei-
lenden Objekterschließung: das Interesse an den betreffenden
Gegenständen muß sich an diesen oft erst finden und formieren,
um sich glücklichenfalls an die Artikuliertheit seines Gegenstan-
des zu halten. Die aktuelle Bedeutung des ästhetischen Gegen-
standes, wenn er eine hat, und der Wen des ästhetischen Gegen-
standes, auch wenn er nicht von Bedeutung ist, dürfen nicht
gleichgesetzt werden mit den Wenigkeiten des individuellen
Wahrnehmungsprozesses, der zu einem kritischen Verstehen und
einer verstehenden Einschätzung führt. Kein Kunstwerk bedeu-
tet die Wirkungen, die es provoziert; es bedeutet die Gehalte, die
es nicht zuletzt durch seine Wirkung präsentiert. Das Glück der
ästhetischen Wahrnehmung ist nicht das ästhetisch wahrgenom-
mene Glück, die Wut der ästhetischen Wahrnehmung nicht die
ästhetisch wahrgenommene Wut.
Das wäre trivial, wenn auch die Konsequenz es wäre. Die Konse-
quenz nämlich ist, daß kein ästhetisches Objekt genau die Erfah-
rung bedeutet, die wir an ihm machen, wenn wir eine Erfahrung
an ihm machen. Das gilt gerade für die gelungenen Werke, die
uns zur Erfahrung überwältigen. Das ästhetisch Mißlungene ist ja
mißlungen gerade darum, weil wir an ihm nichts über unsere
Welt erfahren: wir erfahren bestenfalls etwas über die Welt, aus
der es stammt, aber wir erfahren nichts, was Situationen unserer
Welt bestimmt oder sie fortan bestimmend wird. Das ästhetisch
Gelungene dagegen wird in seiner Gelungenheit wahrgenommen
durch Erfahrung. Auch in der wiederholten Begegnung bedeutet
eine konzentrierte Vergegenwärtigung des Gelungenen eine Er-
fahrung für die, die es in seiner Gelungenheit erkennen. Sie
verändert die Sicht auf das, was so zur Wahrnehmung kommt.
Sie verändert die Wahrnehmenden in jenem weiten Sinn, der die
Erneuerung und Bekräftigung einer bereits bekannten und sogar
altvertrauten Sichtweise mit umfaßt. Als aktualisierende oder
umstürzende Erfahrung ist die intensive Wahrnehmung des Ge-
lungenen stets und immer neu wirksam, weil es die Besonderheit
der ästhetischen Gehalte entgegen einer routiniert schematisie-
renden Orientierung am Objekt immer erst und immer wieder
(anders?) zu entfalten gilt. Und in jedem Fall ist der erfahrende
Vollzug einer zugleich vergegenwärtigten Erfahrung _etwasande-
res als der primäre Vollzug der so vergegenwärtigten Erfahrung.
Eine Erinnerung an den Prozeß der ästhetischen Erfahrung
macht das deutlich. In der Analyse der ästhetischen Beurteilungs-
weise war von diesem Prozeß immer schon die Rede. Die Stadien
und Stationen der ästhetischen Kritik markieren Grundbedin-
gungen der ästhetisch simultanen Wahrnehmung in ihren unmit-
telbar gebannten und auch in ihren reflektierend eingehenden
Formen. Im Zusammenspiel: im Zuspiel aus konfrontativer Re-
aktion, phänomenaler Bewanderung und kritischer Konstruktion
spielt die ästhetische Erfahrung sich ab. Die Sätze des Kommen-
tars, der Konfrontation und der Kritik machen die Orientierun-
gen nur explizit, die in der wahrnehmenden Gegenstandserkun-
dung leitend waren. Allerdings wird eine explizite und ausge-
führte Deutung oft Aspekte zur Geltung bringen und Vorschläge
und auch Vorbehalte hinzufügen, die in einer künftigen Wahr-
nehmung (stärker) von Belang sein werden. Die Interpretations-
aussagen einer positiven Kritik nun benennen primäre Aspekte
dessen, wovon die ästhetisch gehaltvolle Wahrnehmung eine
Erfahrung war. Die Einstellung, die sich in den erheblichsten
dieser Erfahrungen ändert, ist die Einstellung zu dem, was immer
die aktuelle Interpretation anspricht, um dem Werk Bedeutung
zuzusprechen - aus welchem Bereich des Handelns, des Erle-

279
bens, der Wirklichkeit diese konstitutiven Charaktere und The-
men auch stammen mögen. Auch die situationsbildenden Ge-
halte eines ästhetischen Verhaltens können es sein, die im äs-
thetisch wahrnehmenden Verhalten zur Erfahrung kommen.
Selbst dann jedoch erfahren wir nicht die (ästhetische) Situa-
tion, aus der wir dies erfahren; wir erfahren etwas von der
Verfaßtheit bestimmter unserer ästhetischen Erfahrungen, in-
dem wir diese Erfahrungen ästhetisch noch einmal oder erst-
mals vollziehen.
Eine ästhetische Erfahrung ist der ästhetische Vollzug einer
Erfahrung. Zum einen nämlich wird - durchaus - die Erfah-
rung vollzogen, die das ästhetisch gelungene Objekt bedeutet.
Zum andern aber ermöglicht das bedeutsame Objekt ein Erfah-
renkönnen dieser Erfahrung, das es nicht zugleich auch bedeu-
tet. Das gelungene Objekt bedeutet den Gehalt einer Erfahrung
und ist darum für das wahrnehmende Verhalten mit der Wir-
kung (durch die Provokation) einer ästhetischen Erfahrung von
Bedeutung (funktional eminent). In der ästhetischen Erfahrung
ereignet sich eine Änderung der Einstellung zu dem, als was
das gelungene Objekt erfahren wird, und es ereignet sich eine
Veränderung des ästhetischen Eingestelltseins auf Möglichkei-
ten, der eigenen Erfahrung erfahrend zu begegnen. Beide Ver-
änderungen geschehen zugleich. Eine ästhetische Erfahrung
machen heißt, sich die Sichtweise oder Einstellung zu eigen
machen, deren Gehalte das ästhetische Objekt präsentiert; da-
mit untrennbar verbunden ist der Erwerb einer veränderten
ästhetischen Einstellung zu den Objekten und Formen, deren
Wahrnehmbarkeit sich in der ästhetischen Erfahrungssituation
neuartig erschließt. Nicht zwei Erfahrungen sind es, die der
ästhetisch Erfahrende macht. Er macht die Erfahrung einer
neuartigen oder einzigartigen Wahrnehmungssituation, die er-
möglicht ist durch die Präsenz eines ästhetischen Objekts, das
eine Irritation der mitgebrachten Erfahrung bewirkt durch die
Art und Kraft seiner präsentativen Artikulation. Wer so er-
fährt, erfährt nicht die aktuelle Situation seiner Wahrnehmung,
er verhält sich in dieser Situation so, daß ihm der situativ-
integrale Bedeutungszusammenhang einer anderen Situation
zur Erfahrung kommt. Das gelungene Objekt bedeutet nicht
die ästhetische Erfahrung, es bedeutet die Erfahrung, die ästhe-
tisch zur Erfahrung kommt. Die ästhetisch Erfahrenden erfahren
nicht ihre aktuelle Erfahrung, sie erfahren eine Situation ihrer
Welt.
Dieser Versuch einer entwirrenden Klarstellung folgt keinem
pedantischen Selbstzweck. Er versucht, dem Irrgarten des anti-
nomischen Modells zu entkommen. Wenn es stimmt, was ich
hier sage, dann ist ein Begriff des Ästhetischen und der ästheti-
schen Erfahrung gewonnen, der immun ist gegen die Verdünnun-
gen und Überdehnungen, deren die verschwisterten Parteien der
beschriebenen Antinomie sich schuldig machen. Die ästhetische
Erfahrung ist weder ein von den Dimensionen der Lebenserfah-
rung separater Modus der Erfahrung, noch eine Erfahrung, die
die Dimensionen der Erfahrbarkeit zu einer »vollständigen« oder
überbietend vereinigenden Erfahrung umfaßt. Die ästhetische
Differenz liegt nicht in einer grundsätzlichen Differenz zur le-
bensweltlichen Erfahrung, sie liegt in der konstitutiven Diffe-
renz, aus der lebensweltliche Erfahrungen zur ästhetisch imagi-
nativen Erfahrung kommen (vgl. oben 17off.).
Das gelungene Werk führt die Erfahrenden nicht aus der Welt
ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser frei: es gibt ihnen
die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten. Der
ästhetische Vollzug einer Erfahrung gewährt einen Spielraum
gegenüber der angeeigneten Erfahrung, der im Prozeß dieser
Erfahrung durchgehend wirksam bleibt. Diesem Umstand hat
Jauß mit der Wendung Ausdruck gegeben, es sei die ästhetische
Erfahrung nicht nur eine Freisetzung von (den Bindungen der
lebensweltlichen Praxis), sondern ebenso und zugleich eine Frei-
setzungfür (ein verändertes Verhalten in und zu dieser Praxis). ' 89
Die Benommenheit durch ästhetische Erfahrung und in ihrem
Vollzug ist eine wesentlich freiwillige. Die ästhetische Wahrneh-
mung am gelungenen Objekt ist ein Erfahrungshandeln, wie es
keine der nichtästhetischen Erfahrungssituationen sonst gewährt.
Was wir ästhetisch erfahren, müssen wir nicht (um eines be-
stimmten Erfolgs willen oder aus einer spezifischen Not heraus)
erfahren: wir begeben uns in die Erfahrungssituation, lassen uns
ein auf die Erfahrung, deren Möglichkeit das gelungene Objekt
uns gibt. Das Unwiderstehliche der Erfahrung ist hier das, dem
wir weder widerstehen noch ausweichen wollen. Zwar reicht ein
entscheidendes Freiheitsmoment in viele der situationsbildenden
Erfahrungen (jeder Art) hinein (vgl. 84 f.). In der ästhetischen
Erfahrung aber nehmen nicht nur wir eine - abgenötigte -
»Gelegenheit zur Erfahrung« konstruktiv an: wir nehmen eine
Gelegenheit zur Erfahrung wahr, indem wir ein Objekt, das diese
Gelegenheit bietet, weil es Erfahrung bedeutet, zum Anlaß einer
Reise in die Welt unserer Erfahrung nehmen. Der Sinn dieser
Reise liegt nicht in einem zuvor bekannten Wohin, er liegt in der
erkennenden Befreiung vom verkehrten weil verfahrenen Sinn.
Das Wissen, in das die ästhetische Erfahrung mündet, gilt allererst
den Möglichkeiten - den Gelegenheiten - einer erfahrenden
Verlebendigung von Bedeutungshorizonten, die eine situations-
differente Erschließung von erfahrenen, befürchteten, erträumten
Weltbezügen entbieten. Auch dieses Wissen hat primär den
Charakter eines Könnens. Auch dieses Können resultiert aus der
wiederholten Bekanntschaft mit Situationen einer bestimmten
Art: hier sind es Situationen, in denen es um die präsentative
Vergegenwärtigung von Erfahrungen geht. Für die im Gemacht-
haben ästhetischer Erfahrungen organisierte Fähigkeit, sich auf
das eigene Erfahrunghaben und Erfahrenkönnen in nichtanalyti-
scher Hinwendung zu beziehen, ist ein Merkmal bezeichnend,
daß ich als eine Besonderheit des ästhetischen Interesses bereits
erwähnt habe (vgl. 172). Die ästhetische Einstellung, das Haben
ästhetischer Erfahrung, orientiert unser Verhalten auf - weitere
Erfahrung. Im ästhetischen Verhalten suchen wir die Gelegen-
heit, Bezüge unserer Erfahrung zur Erfahrung bringen. Die
Erfahrung, die wir so, im präsentativen Verstehen der ästheti-
schen Gehalte, gewinnen, unterscheidet sich in einer Hinsicht
radikal von den Einstellungen, wie wir sie nichtästhetisch, im
Geschehen einer ungedoppelten Situation, erhalten haben. In
dieser Hinsicht unterscheidet sich die ästhetisch veränderte
Sichtweise oder Einstellung auch von der veränderten ästheti-
schen Einstellung, aus der die Praxis unserer ästhetischen Wahr-
nehmung sich künftig orientieren wird. Die durch ästhetische
Erfahrung vermittelte Sichtweise oder Einstellung ist durch die
anerkennende Vergegenwärtigung ihres Gehalts zwar anschau-
end verlebendigt und möglicherweise reflexiv konfirmiert: in den
thematischen Situationen bewährt ist sie darum nicht. Die ästhe-
tisch vollzögene Einstellungskorrektur und Welterschließung ist
radikal projektiver Natur: ist bezogen auf das Projekt einer Welt,
aber nicht (schon) einbezogen in die konkreten Situationen ihrer
Praxis. ' 90
In dieser wahrnehmenden Distanz zu den Möglichkeiten der
Praxis, auf die sie bezogen ist, vollzieht sich die ästhetische
Praxis; dieser distanzierenden Konzentration gilt das ästhetische
Engagement. Auf dem Spiel steht hier nicht die Orientierung
innerhalb der vergegenwärtigend erfahrenen Situation, ins Spiel
dieser Wahrnehmung kommt die Angehörigkeit zu einer Welt
wie derjenigen, zu der die an den Spuren des ästhetischen Ob-
jekts lesbare Form der Erfahrung - Form des Lebens - gehört.
Was immer nach oder während der ästhetischen Erfahrung als
Sinn dieser Erfahrung interpretativ benennbar ist - die ästheti-
sche Erfahrung setzt diesen Sinn ins Spiel einer Wahrnehmung, in
der die bedeutsame Funktion seiner bedeutungshaften Kompo-
nenten erkennbar wird. Die Situation der ästhetischen Erfahrung
ist eine - ist die Situation, in die wir uns begeben um der
erkennenden Erfahrung willen. Die ästhetische Wahrnehmung ist
also genau genommen kein Spiel: denn das Spiel spielt innerhalb
einer durch seine Regeln vorweg definierten Situation. Die ästhe-
tische Erfahrung ist spielerisch vollzogene Erfahrung - ist bei
aller Ergriffenheit eine aus der Differenz zur erfahrenen Situation
ermöglichte Erfahrung. Das ästhetisch gelungene und schöne
Objekt bedeutet nicht die Erfahrung, die es für die Wahrnehmen-
den bedeutet, weil es für die Wahrnehmenden einen Spielraum
bedeutet gegenüber der Erfahrung, die es bedeutet.

Diesen Spielraum gewährt gerade auch ein Bild wie Newmans


»Who's afraid of red, yellow and blue m«. Dieser Spielraum ist es
geradezu, den das Bild ästhetisch zum Problem erhebt, indem es
die Differenz von wahrnehmender Präsenz und bildlicher Prä-
sentanz scheinbar verwischt. Das Bild ist ein riesiges Suchbild,
das einer konfigurativen Wahrnehmung das zuordnende Finden
verweigert. Indem es dieses Finden verweigert, verweigert es
jedoch nicht das Finden schlechthin. Es fordert heraus zu einer
Erfahrung mit der ästhetischen Erfahrung, indem es dem Sehen
jede Möglichkeit nimmt, sich in das Objekt einzusehen; es
bezieht sich auf das Abweisende seiner bildlichen Erscheinung
und macht somit die Bedingung eines ästhetisch souveränen
Sehens präsent, das sich aus formalästhetischen Vorregelungen
imaginativ befreit. Das Bild richtet sich gegen die Illusion eines
Sehens, das sein Objekt zu vereinnahmen glaubt oder von ihm
sich vereinnahmen läßt - und eines Maiens, das auf eine Kongru-
enz von Bild und Betrachtung zielt. In seiner dynamisch agressi-
ven Ausdrucksverweigerung gibt das Bild eine ästhetische Apo-
logie der ästhetischen Differenz: es bedeutet diese Differenz,
indem es das beherrschende Farbkontinuum zur Erscheinung
eines - nach Kantischen Begriffen zugleich mathematisch und
dynamisch - Erhabenen freisetzt.
Das Irritierende des Bildes liegt nun gerade darin, daß es diese
Apologie dadurch leistet, daß es die Situation des Bildes der
Situation am Bild extrem nahe bringt. Die Situation des Bildes ist
ein Moment des erhabenen Eindrucks; die Situation am Bild ist
der Eindruck eines erhabenen Moments. Auch dieser Eindruck
ist ein erhabener. Was diesen Eindruck der (konfrontativen)
Präsenz von der präsentierten Erscheinung der ungebändigt-
überwältigenden Farblichkeit unterscheidet, ist die erfahrende
Reaktion auf das sinnliche Überwältigtwerden, die das Zurück-
geworfensein auf die Potentialität des Sehens erkennend bejaht.
Das Bild gibt den Anteil der untilgbaren, auch von ihren Objek-
ten nicht absorbierbaren Selbsterfahrung in der ästhetischen Er-
fahrung ästhetisch zur Erfahrung; es bringt zum Ausdruck, daß
die ästhetische Erfahrung nicht alles, was sich in ihr erfahrend
vollzieht, an dem Objekt, das sie so erfährt, vor sich bringen
kann. Und das Bild bringt dies so zum Ausdruck, daß seine
Erfahrung zugleich ein extremes Beispiel ist für das, was es zum
Ausdruck bringt. Die Differenz, die es konstitutiv markiert, ist
damit nicht getilgt: denn zwar verleiht das Bild einer Erfahrung
Ausdruck, die es auch bewirkt; aber es gewährt einen Spielraum
der Vergegenwärtigung des erlebten erhabenen Moments, der
dem Moment, den es bildlich artikuliert, nicht selbst zukommt.
Die erhabene Erfahrung des Erhabenen ist etwas anderes als die
Erfahrung des Erhabenen oder nur eine erhabene Erfahrung.
Ein ätherischer Wanderer, der das Erhabene der Bergwelt be-
wundert, kontempliert nicht den Eindruck des Erhabenen, son-
dern das Unbeirrte und weltenthoben Fremde der umgebenden
Szenerie, das er erhoben genießt; ihm ist die Landschaft nicht
schön, weil sie erhaben ist, sie ist erhaben (und nur in diesem Sinn
»schön«), weil sie ihm eine von den städtisch-niederen Wirren
des Menschlichen bereinigte Situation vor Augen führt. Die
Bergkette bedeutet nicht ihre Erhabenheit, sie ist erhaben; das
Bild von Newman dagegen bedeutet den Charakter des Erhabe-
nen, der ihm zukommt, weswegen es nicht zuletzt gelungen ist.
Das Bild ist außerordentlich nicht nur, weil es erhaben ist,
sondern weil es Erhabenheit ästhetisch zeigt: und hierin das
Differenzmoment der ästhetischen Erfahrung auf extreme - und
extrem raffinierte, weil scheinbar genau dafür indifferente -
Weise exponiert. 191
Die Bildserie von Newman aber gibt nicht nur Anlaß, die in der
Ästhetik verbreitete Vorstellung einer »totalen Vermittlung« von
Objektbedeutung und Objekterfahrung zu bezweifeln, wie das
vor allem Überbietungstheorien gerne behaupten. 191 Das Bild
von Newman ist zugleich eine gute Gelegenheit, den Sinn einer
strikt wirkungsbezogenen Position auf die Probe zu stellen, aus
der zumal die entzugstheoretischen Auffassungen argumentieren.
Sowohl die überbietungstheoretische als auch die entzugstheore-
tische Ästhetik übergehen die in der ästhetischen Wahrneh-
mungssituation wirksame Differenz. Während für den Überbie-
tungstheoretiker die Bedeutung eines Kunstwerks das ist, als was
es in seiner Gelungenheit erfahren wird, liegt seine funktionale
Eminenz für den Entzugstheoretiker allein in der Erfahrung
seiner Wirkung, die nicht zu einem Verstehen der ästhetischen
Bedeutung stilisiert werden darf. Der moderne Entzugstheoreti-
ker beruft sich dabei auf den spätestens in diesem Jahrhundert
radikal veränderten Charakter der kunstästhetisch relevanten
Objekte, die sich des traditionellen Werkcharakters längst entle-
digt hätten und daher nicht als Verkörperungen eines irgend
zeichenhaften »Gehalts« zu verstehen seien. In exemplarischer
Form hat wiederum Bubner dieses Argument vorgebracht. '9 3
Und auf den ersten Blick kommt ein Werk wie das Bild von
Newman dieser Auffassung hilfreich entgegen.
Denn eine im hergebrachten Sinn verkörpernde Darbietung lei-
stet dieses Kunstobjekt in der Tat nicht. Eher kommt ihm die
Bedeutung einer präsentativen Inszenierung zu. Das Bild ver-
weist nicht auf eine außer ihm liegende Wirklichkeit oder auf eine
von seinem Bildcharakter und ihren ästhetischen Bezügen auch
ablösbare, allgemeine Idee, der es aus den Konturen seines ästhe-
tischen Potentials einen bedeutsam-besonderen Ausdruck ver-
liehe. Dennoch inszeniert es eine - seine - bildliche Erscheinung
so, daß es sich auf bestimmte Charaktere seiner organisierten
Präsenz charakterisierend bezieht; die von Imdahl hervorgeho-
bene Autonomie des beherrschenden Rotkontinuums, die erha-
bene, nicht einordenbare Verselbständigung des zentralen Bild-
moments ist es, der das Bild in dynamischer Spannung Ausdruck
verleiht. Gewiß gibt es exzentrischere Inszenierungen als diese,
die sich noch innerhalb der - wenn auch überdimensionierten -
Fläche einer begrenzten Bildtafel vollzieht. Es gibt - um von
Duchamp, dem Meister nicht der ästhetischen Kunstaufhebung:
dem Meister der ästhetischen Grenzerhebung, einmal zu schwei-
gen - die Objekte wie jene »Brillo-Box« von Wahrhol, die allein
durch ihre starr verkehrte Plazierung den Charakter einer ästhe-
tisch relevanten Konstruktion gewinnen. Jedoch hat es keinen
Sinn, die Beispiele laufend zu wechseln. Für die Brillo-Boxes und
andere randgängige Kunstoperationen verweise ich auf meinen
Gewährsmann Danto, der überzeugend für die Kontinuität des
Ausdruckhaften ästhetischer Objekte argumentiert, gerade wo
sie mit der überlieferten Ausdrucksweise unversöhnlich bre-
chen.194Das Bild von Newman ist auffällig genug. Es ist eigenar-
tig genug, um zu verstehen, warum eine theoretische Operation
die Phänomene, auf die sie sich emphatisch beruft, verfehlen
muß, wenn sie ihnen auch den Charakter einer präsentativen
Inszenierung abspricht und ihr Besonderes nurmehr in der Inten-
sität ihres Wahrgenommenwerdens lokalisieren will.
Das Besondere der jeweiligen Intensität nämlich ist nicht gleich-
bedeutend mit der Besonderheit des jeweils wahrgenommenen
Objekts. Wer auf der prinzipiellen Unbestimmbarkeit des ästhe-
tischen Objekts besteht zugunsten der Eigenart der wahrneh-
menden Reaktion an ihm, verfehlt die Besonderheit gerade auch
der ästhetisch wahrnehmbaren Aktivität. Objekte mit ähnlicher
Wirkung werden zu gleichbedeutsamen Objekten: und am Ende
gibt es - bei allen Unterschieden des jeweils Beschreibbaren- nur
mehr das ewig eine erhebender- und genialerweise unbestimm-
bare Objekt. Die Irritation, über die Imdahl anläßlich des dritten
Bildes der »Who's afraid«-Serie Auskunft gibt, dürfte für alle
Bilder dieser Reihe wesentlich die gleiche sein: aber sie vermerkt
jeweils verschiedenes, eben weil es erheblich verschiedene Bilder
sind, wie sehr sie sich in ihrer ästhetischen Methodik auch

286
gleichen und wie sehr sie mit der gleichen Intuition und Intention
geschaffen sind. Das Bild » Who's afraid of red, yellow and blue
IV«, 274 X 603 cm groß, hat einen symmetrischen Aufbau. Die
Farben sind dieselben wie auf dem dritten Bild der Serie. Zu
sehen ist links eine rote, rechts eine gelbe Farbfläche, in der Mitte
befindet sich ein weit schmalerer, ca. 60 cm breiter, blauer Farb-
streifen. Der Farbauftrag ist durchgehend homogen, die Abgren-
zungen sind exakt gezogen. Reine Farben, reiner Aufbau: genau
der ideelle Absolutismus seiner äußeren Organisation ist es, den
das Bild radikal dementiert. Neben der Größe des Bildes sind es
zunächst die geballten Farbzonen, die für eine extreme Unwucht
des Bildes sorgen. Das Rot tritt stärker hervor als die mildere
Strahlung des Gelb; diese für die Wahrnehmung »schiefe« Bild-
lage wird gekontert durch die bei genauerem Hinsehen doch
unterschiedliche Abgrenzung der dominanten Kontinua zum
mittleren Blau. Der Auftrag der blauen Farbe überlagert die rote
Nachbarzone minimal; was als Ausgleich der benannten Un-
wucht erscheinen könnte, verstärkt aber wiederum die Geladen-
heit, Geballtheit der roten Fläche. Zudem ist es für das bloße
Auge nicht kontrollierbar, ob die symmetrische Erscheinung
tatsächlich einem exakten Maß folgt. Das Bild inszeniert den
Zweifel an seiner Form: und den Zweifel an den sogenannten
reinen Formen und ihren Gesetzen. Es ist ein Stück - wiederum -
antikompositioneller Malerei: im Festgewand einer total kompo-
sitionellen. Was es zum Ausdruck bringt, ist die Emanzipation
der - reinen - Farben gegen ihre reine, idealisierende Formie-
rung. Es hält gleichsam den Moment dieses Ausbruchs fest. Die
Ordnung fällt der Autarkie des Sehens. Das Bild ist die dialekti-
sche Konstruktion einer Bildlichkeit »off balance«.195
Während Bild III zur Funktion der dominanten Farbe wird, wird
BildIV zur schreienden Antifunktion seiner abgemessenen Ord-
nung. Beide Bilder verweigern ein relationierendes Gesehenwer-
den in überwältigender Manier; beide geben den Eindruck eines
erhabenen Moments. Aber nur das eine bedeutet einen Moment
des erhabenen Eindrucks; Bild IV bedeutet das Illusionäre einer
rein formalen Stimmigkeit - auf seinerseits erhabene Weise;
dagegen ist das Nichtige der bloß stimmigen Form in dem, was
Bild III darbietet, nur impliziert: nicht das ist es, was es primär
zum Ausdruck gibt. Beide Bilder wiederum bewirken wesentlich
die Erfahrung, der sie Ausdruck geben; und beide setzen doch
zugleich die Differenz, aus der der Unterschied zwischen ver-
meintlich vollkommener Form und ästhetischer Ausdruckskraft
ästhetisch überhaupt zur Erfahrung kommt.
Mit anderen Wonen, dieselben Aussagen über die ästhetische
Wahrnehmungssituation, über die Erfahrung des absolut nicht
Verrechenbaren verweisen hier auf verschiedene Bedeutungen
der ästhetisch präsentiert gefundenen Erfahrung. Verwandt sind
beide Bilder in der Apologie des ungezähmten Ausdrucks; diffe-
rent in der Methode der Überwältigung und dem, was sie in ihrer
erhabenen Methodik zu verstehen geben. Beide Bilder reflektie-
ren Grundbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung mit po-
lemischer Gewalt. Beide aber bedeuten weder die Situation ihres
Wahrgenommenwerdens, noch verweigern sie das ästhetische
Bedeuten. Die Situation des Erkennens ist beide Male nicht
identisch mit dem Gehalt des Erkannten. Die .erfahrend vollzo-
gene Reflexion auf die ästhetische Wahrnehmung ist beide Male
nicht die vollzogene Vergegenwärtigung der somit vollzogenen
Erfahrung. Beide Male vollzieht sich ein Spiel der Wahrneh-
mung, das nicht sich selbst zur Erfahrung bringt, sondern Situa-
tionen des ästhetischen Wahrnehmens, Situationen der Wahrneh-
mung wie auch der gegenwärtig vollzogenen, im Verstehen der
Bedeutung seines Gegenstandes erfahrend vergegenwärtigt. Auch
das Objekt, das einer ästhetischen Erfahrung Ausdruck gibt, gibt
nicht der Erfahrung im ganzen Ausdruck, die es provoziert. Der
ästhetisch präsentierte Eindruck des Erhabenen gibt nicht dem
Ausspielenkönnen dieses Eindrucks zugleich Ausdruck. Der äs-
thetisch erhaben präsentierte Eindruck der erhabenen Naturge-
walt einer antikompositionellen Malerei gibt nicht der erhabenen
Wirkung ihrer Formvernichtung zugleich Gestalt.
2. Einwände und Ergänzungen

Es gibt vier zentrale Einwände gegen den vorangegangenen Ver-


such einer Analyse des Zusammenhangs von ästhetischer Beur-
teilung und Bedeutung. Jeder dieser Einwände rekurriert auf
Positionen, die im ersten Kapitel mehr oder weniger grob distan-
ziert worden sind. Der Kommunikationstheoretiker vermag
nicht einzusehen, warum die ästhetische Bedeutung nicht in
Analogie zu expressiven Äußerungen soll verstanden werden
können. Der Entzugstheoretiker sieht keinen Unterschied zwi-
schen der ästhetisch konstitutiven »Unbestimmtheit« und einer
ästhetisch präsentierten »Bedeutsamkeit«. Der Überbietungs-
theoretiker sagt, was ich zur Entgegnung auf den Entzugstheore-
tiker sage, habe er immer schon gesagt. Der, den die Überbie-
tungstheoretiker geneigt sind, den Positivisten zu nennen, kann
ein Begründungsverhältnis in der Struktur der ästhetischen Beur-
teilung nicht erkennen. Ich werde diesen Einwänden kurz Aus-
druck verleihen und sie aus dem Reservoir der vorangegangenen
Überlegungen zu beantworten suchen. Ich werde die Vorbehalte
nicht detailliert erwidern, sondern das Aufleben der um hunderte
von Seiten gealterten Kontroversen zum Anlaß nehmen, das
Vorangegangene kommentierend zu ergänzen. Ohnehin habe ich
keine besseren Antworten als die, die ich ausdrücklich und
unausdrücklich schon gegeben habe.

a) Ausdruck und Kommunikation

Der Vorbehalt einer kommunikationstheoretischen Ästhetik geht


aus von der Annahme, die ich in der Auseinandersetzung mit
Koppe in leicht veränderter Form aus ihrem Kontext übernom-
men habe. Was die »Präsentation von Erfahrungsgehalten« von
anderen Arten der Situationscharakterisierung unterscheidet, ist
doch eben dies, daß Situationen in ihrer Prägnanz für die invol-
vierten Subjekte zur Darbietung kommen. Folglich handelt es
sich hier um überbietende Formen der expressiven Kommunika-
tion; diese nehmen die betroffene Sicht der Welt in die Artikula-
tion der Betroffenheit in ihr unveräußerlich hinein. Das ge-
lungene Werk ist nicht nur wahrhaftig wie die expressiv ange-
messene Äußerung, es ist authentischerAusdruck einer subjektiv
gesehenen Welt. Und das Authentische ist in aller Regel exempla-
risch oder paradigmatisch von Bedeutung für die Selbsterfahrung
einer Gruppe, Gesellschaft oder Epoche. Das Gelungene ist das
Authentische: das, nicht die Aufweisung impliziter Weltbezüge
im allgemeinen, ist das Besondere der ästhetischen Kommunika-
tionsmedien und folglich auch der ästhetischen Erfahrung. 196
Meine Absicht war es zu zeigen, daß eine solche Rückbindung
der ästhetischen Artikulation an eine bestimmte Form der kom-
munikativen Verständigung nicht haltbar ist. Von jeder dieser
Formen gibt es einen natürlichen Übergang zu den Ausdrucks-
formen der Kunst, sofern es darauf ankommt, den Gesamtzu-
sammenhang einer Situation zu exponieren, aus der (oder von
der) die Rede ist. Nicht einer dieser Übergänge oder »Überbie-
tungen« ist es, was die ästhetische Artikulation definiert, sondern
die situationsunabhängige Präsentation von Situationszusam-
menhängen im Modus ihrer simultanen Bedeutsamkeit. Für die
nichtsprachlich verfaßte Kunst ist eine solche Überbietung ohne-
hin schwer zu konstruieren; und eine Transformation nichtästhe-
tischer Ausdrucksmittel in ästhetische wird immer zugleich eine
»Unterbietung« des hergebracht kontextuellen Sinns dieser Aus-
drucksmittel sein. Die Präsentation von Erfahrungsgehalten ent-
stammt keinem bestimmten Modus der Verständigung, sie ist
eine eigene Art der Artikulation (wobei unterscheidbar expres-
sive, konstative und regulative Elemente eine unterschiedlich
starke Rolle spielen mögen). Die entscheidende Leistung dieser
Ausdrucksform, die sie von der Bedeutung thematisierender und
situativ vergegenwärtigender Zeichen und Handlungen unter-
scheidet, hat Dieter Henrich einmal so formuliert: » Will man
davon ausgehen, daß der Mensch in der Tat stets in der Aneig-
nung von Welt begriffen ist, so würde ich sagen, daß Kunst nicht
eine Weise dieser Aneignung, sondern die Darstellung dieser
Aneignung selbst ist.( ... ) Kunst ist weder Darstellung von Welt,
noch auch Darstellung nur von Subjektivität, sondern Darstel-
lung von Subjektivität in Welt.«'97
Mit dem Scheitern einer Rückbindung an Grundformen der
Verständigung wird der kommunikative Status ästhetischer Zei-
chen selbst fragwürdig. Präsentation ist nicht Kommunikation,
sondern ist die Artikuliertheit für eine Wahrnehmung, die sich als
Vergegenwärtigung von Erfahrungsgehalten vollzieht. Kommu-
nikative Absichten definieren nicht den Sinn und Status ästhe-
tisch gemachter Gebilde, so oft und so sehr auch kommunikative
Intentionen mit ihrer Konstruktion verbunden sein mögen. Der
Künstler gibt nichts zu verstehen, er macht etwas, das in der
beschriebenen Weise aus sich Bedeutung hat; nur wenn ihm die
Konstruktion eines gespannten Ausdruckszusammenhangs ge-
lingt, mag es auch gelingen, von sich etwas mitzuteilen. Aus
diesem Grund ist Adorno nicht müde geworden, der Rede von
der ästhetisch kommunizierenden Bekundung das Hegelsche
Wort der Entäußerung ins Gebilde entgegenzuhalten. 198 Ador-
nos Begriff der »Authentizität« von Kunstwerken zielt gerade
nicht auf die exemplarische Wahrhaftigkeit der Produzierenden
in dem, was sie zu artikulieren sich vornehmen, sondern auf den
Gehalt und die Gewalt der Konstrukte, die aus der Realisierung
der produktiven Intuition und dem Eigensinn des verwendeten
Materials resultieren. Gelungen ist nicht der wahrhaftig wieder-
gegebene Erfahrungszusammenhang, sondern die präsentativ ge-
ladene Konstruktion, an der den Wahrnehmenden die Gegenwart
ihrer Erfahrung erfahrbar wird. Ästhetischer Ausdruck ist der
» Widerpart des etwas Ausdrückens«, weil das, was hier zum
Ausdruck kommt, ästhetisch nur zum Ausdruck kommt, wenn
das Charakterisierende dem materialen Zusammenhang des Aus-
drucksmediums unübersetzbar einbehalten bleibt. In Anbetracht
der Autonomie des ästhetischen Zeichens sowohl gegenüber den
Stationen seiner Herstellung als den Situationen seiner Wahrneh-
mung halte ich es für aussichtslos, Adornos Begriff des ästheti-
schen Gegenstands kommunikationstheoretisch zu korrigieren.
»Kein Kunstwerk ist in Kategorien der Kommunikation zu
beschreiben und zu erklären.« 199
Die ästhetische Praxis dagegen ist unter anderem in Kategorien
der Kommunikation zu analysieren. Gerade weil die ästhetischen
Objekte nicht primär kommunikative Zeichen sind, sind zumal
die gelungenen Werke die hervorragenden Medien der Reflexion
und Kommunikation, die eine intersubjektiv geübte Kritik an
ihnen erkennt. Das Kommunikative der Kunst ist zu verstehen
aus den Formen ihrer Kritik. Die Kommunikation von Erfahrun-
gen in ihrer integralen Bedeutsamkeit spielt sich wesentlich ab in
Formen der Kommunikation über ästhetische Objekte. Das be-
deutet, daß die Erfahrung des ästhetisch Gelungenen immer auch
die Erfahrung einer ausgezeichneten Möglichkeit der Kommuni-
kation des ästhetisch Erfahrenen ist. Wie Kant sich ausdrückt,
gehört dem ästhetischen Vergnügen die besondere »Mitteilbar-
keit« des in der spielerischen Wahrnehmung aktivierten »Lebens-
gefühls« entscheidend zu. Das ästhetische Interesse gilt nicht
allein dem privativen Verstehen, es gilt oft wesentlich auch der
explikativen Kommunikation lebensweltlicher Erfahrungen. Da-
mit diese aber gelingen kann, muß jenes bereits begonnen ha-
ben.
Nun findet sich die explikative Rolle der ästhetischen Kritik etwa
bei Habermas in durchaus ähnlicher Weise bestimmt (einmal
abgesehen davon, daß er sie als Vergegenwärtigung eines kom-
munikativen Zeichens versteht). Habermas jedoch nimmt an, es
sei die ästhetische Kritik - wie das ästhetische Objekt - auf einen
Geltungsanspruch, den Anspruch der » Wahrhaftigkeit«, »spezia-
lisiert«.100Das Gegenteil scheint mir richtig. Bei aller Spezialisie-
rung, die sich aus der Notwendigkeit einer sensiblen Kommen-
tarsprache ergeben mag: die ästhetische Kritik bildet einen, wenn
nicht den entspezialisierten Diskurs. Das ist ihre spezielle Funk-
tion, ermöglicht und vermittelt durch die Gegebenheit der ästhe-
tischen Gegenstände, denen diese Verständigung gilt. In der
zeigenden Erläuterung der Sichtweise, aus der das ästhetische
Objekt als gelungen oder mißlungen erscheint, werden Aussagen
eine Rolle spielen, die auf theoretische, moralische oder ethisch-
präferentielle Geltung Anspruch erheben: zusammen mit jenen,
deren Anspruch derjenige der expressiven Wahrhaftigkeit ist und
die das subjektiv unmittelbare Erleben eines Werks oder auch das
vom Werk tangierte eigene Leben betreffen. Die genaue Analyse
der Grundlagen der ästhetischen Kritik macht deutlich, daß ihr
explikatives Begründungsvermögen damit steht und fällt - oder
doch steigt und sinkt -, daß keine der nichtästhetischen Gel-
tungsdimensionen in ihr die Oberhand gewinnt. Eben darin
wurzelt der Sinn der ästhetischen Geltung. Eben darin gründet
die Möglichkeit, die Angemessenheit von Sichtweisen außerhalb
des Banns ihrer unmittelbar wirklichkeitsbildenden Wirksamkeit
zu beurteilen und zu verhandeln.
Denn nur ästhetisch sind Sichtweisen und Einstellungen be-
gründbar: so ist das Besondere der ästhetischen Beurteilung in
knappster Form zu bestimmen. Gewiß ist es allerorten möglich
und üblich, die eigene Einstellung zu bekräftigen und an die
Einstellung der andern zu appellieren; derartige Absichten und
Aufforderungen aber sind begründbar allein durch die Bewer-
tung bestimmter Handlungen, die es auszuführen und die Aus-
zeichnung bestimmter Einsichten, die es sich zuzumuten gilt.
Appelliert wird an die Einstellung, die ein bestimmtes Handeln
ermöglicht und den Vollzug bestimmter Einsichten allererst zu-
läßt. Begründet werden praktische Vorschläge dieser Art durch
Annahmen über das, worauf wir so eingestellt sind und uns
einzustellen haben. Die Gesamteinstellung, der Bestand des im-
pliziten Wissens, aus dem diese Notwendigkeit der Einsicht und
des Handelns sich ergibt, ist in diskursiver Rede selbst nicht
verständlich zu machen und fordernd nahe zu bringen: auch
nicht in Belangen des instrumentellen oder moralischen Han-
delns. Appelle dieser Art sind abhängig vom Haben und Machen
der Erfahrung, aus der sich die Notwendigkeit des betreffenden
Verhaltens zeigt. Nur am ästhetischen Objekt ist eine explikative
Begründung der Einstellung möglich, der selbst die besten unse-
rer Gründe und Handlungen immer auch entstammen. Die ein-
zigartige Erkenntnis, die wir aus ästhetischer Erfahrung gewin-
nen, ist ein Wissen um unsere Beteiligung an Praxis- und Lebens-
formen, aus der wir zu der Gegenwart unserer Wirklichkeiten
gehalten sind. Wie Mukafovsky geschrieben hat, ist dieses in der
Form von Aussagen nicht formulierbare Wissen am Kunstwerk
nur dann zu erwerben und zu erneuern, wenn »das wahrneh-
mende Individuum auf es keineswegs nur mit einer Teilreaktion
antwortet, sondern mit allen Momenten seiner Stellung zur Welt
und zur Wirklichkeit.«' 0'

b) Ästhetische Reinheit

Der entzugstheoretische Einwand gegen den Versuch einer


Theorie der ästhetischen Bedeutung läßt sich am einfachsten mit
einer raffinierten Überlegung bei Wittgenstein formulieren. Im
»Braunen Buch« unterscheidet Wittgenstein zwischen einer tran-
sitiven und einer intransitiven Verwendung des Wortes »be-
stimmt«.20' Im transitiven Gebrauch gilt der Hinweis auf einen

2 93
»bestimmten« Ausdruck (oder eine bestimmte Bedeutung) eines
thematischen Gegenstands einem besonderen Merkmal dieses
Gegenstands oder einer vergleichend zu bestimmenden Eigen-
schaft; die intransitive Verwendung dagegen legt Nachdruck auf
die physiognomische Eigenart eines Objekts, die durch konkrete
Beschreibungen (oder Zuschreibungen) gerade nicht zu erschöp-
fen ist. Der Entzugstheoretiker nimmt diese Anregungen gerne
auf. Alle Bestimmungen an ästhetischen Objekten, so wendet er
ein, haben stets die von Wittgenstein benannte intransitive Funk-
tion: sie lenken die Wahrnehmung auf bestimmte Zusammen-
hänge, ohne doch die Bedeutung des ästhetischen Phänomens
enteignend zu bestimmen. Ästhetischer Ausdruck hat die Be-
stimmtheit des von allen Bestimmungen nicht Bestimmten - das
ist die ganze »Theorie der Bedeutung«, die hier nötig und zuläs-
sig ist.
Wittgensteins eigene Reflexionen lassen das entscheidende Ver-
hältnis weniger eindeutig erscheinen als der ästhetische Purist es
haben will.
» Wir wollen nun einen sehr lehrreichen Fall von jenem Gebrauch
des Wortes ,bestimmt< betrachten, in dem es nicht auf einen
Vergleich weist und dennoch den starken Anschein erweckt, als
tue es gerade das - den Fall, wenn wir den Ausdruck eines
Gesichts betrachten, das primitiv in dieser Weise gezeichnet ist:

Laß dieses Gesicht einen Eindruck auf dich machen. Du magst


dann geneigt sein zu sagen: ,Ich sehe doch nicht nur bloße
Striche; ich sehe ein Gesicht mit einem bestimmten Ausdruck.,
Aber du meinst nicht, daß es einen auffallenden Ausdruck hat,
noch wird das als Einleitung zu einer Beschreibung des Aus-
drucks gesagt, obwohl wir eine solche Beschreibung geben und
z.B. sagen könnten: ,Es sieht aus wie ein selbstzufriedener
Geschäftsmann, auf dumme Weise anmaßend, der sich, obwohl
er fett ist, einbildet, er sei ein Ladykiller., Aber das würde nur als
eine annähernde Beschreibung des Ausdrucks gemeint sein.
,Worte können es nicht genau beschreiben,, sagt man manchmal.

2 94
Und doch hat man das Gefühl, daß das, was man den Ausdruck
des Gesichts nennt, etwas ist, was man von der Zeichnung des
Gesichts trennen kann.«' 0 J
Was Wittgenstein hier beschreibt, ist die possesive Artikuliertheit
des physiognomischen Ausdrucks und eben auch ästhetischer
Zeichen, von der auch Goodmans Theorie der ästhetischen Sym-
bolisierung ihren Ausgang nimmt. Im Unterschied zu Goodman
aber macht Wittgenstein klar, daß es nicht einzelne Merkmale
ästhetischer Gegenstände sind, die von ihnen bedeutet würden.
Er wendet sich gegen die » Täuschung«, es sei der Ausdruck, den
ein Gegenstand »hat«, von diesem trennbar im Unterschied zu
den Merkmalen, die ihm zukommen. » Was ein Gegenstand ist,
meinen wir, ist mit ihm verbunden; was er hat, kann von ihm
getrennt werden.« 204 Den Grund dieser Täuschung sieht Witt-
genstein darin, daß wir die »annähernde Beschreibung« von
Ausdruckscharakteren verwechseln mit dem, worauf es in der
Wahrnehmung eines Ausdrucksobjekts vor allem ankommt.
Dann entsteht nämlich der Eindruck, es sei der physiognomisch
wahrgenommene Gegenstand nur eines unter vielen möglichen
Zeichen für das, was an ihm »zum Ausdruck« komme. Der »volle
Eindruck«, den wir in einer kontemplativ verweilenden Betrach-
tung nehmen, hat aber mit der Fixierung einzelner Bestimmun-
gen gerade nichts zu tun. » Wenn ich das Gesicht mir einprägen
lasse und seinen ,bestimmten Eindruck, betrachte, dann werden
keine zwei Dinge aus der Vielfalt in einem Gesicht miteinander
verglichen; es ist da nur eines, das mit Nachdruck beladen wird.
Wenn ich seinen Ausdruck in mich aufnehme, dann finde ,ich
keinen Prototyp dieses Ausdrucks in meinem Geist; vielmehr
breche ich gleichsam ein Siegel von dem Eindruck.« 101
Der Entzugstheoretiker sieht sich hiervon genau bestätigt. Die
Frage nach dem Was des ausdruckhaft Bedeuteten ist eine schiere
Illusion, die die eindringliche Wahrnehmung des Ausdrucksob-
jekts gerade verstellt. Die sogenannten »Interpretationen«, mit
denen wir unsere ästhetische oder ästhetisierende Wahrnehmung
erläutern, haben die rein animative oder performative Funktion,
dem Nachdruck zu verleihen, was die ausdruckhafte Gestalt des
betreffenden Gegenstandes ist. Nicht etwas kommt zum Aus-
druck, der Gegenstand hat eine Ausdrucksstruktur, die sich in
ihm allein realisiert. Lies doch weiter!, sagt der Purist: und du

2 95
wirst sehen, daß Wittgenstein in einmaliger Klarheit den Trug-
schluß destruiert, vor dem ich dich schon immer gewarnt habe.
»Dieselbe sonderbare Illusion, der wir verfallen sind, wenn wir
etwas zu suchen scheinen, das von einem Gesicht ausgedrückt
wird, während wir uns doch in Wirklichkeit den Merkmalen vor
uns ausliefern - diese selbe Illusion beherrscht uns sogar noch
stärker, wenn wir uns eine Melodie wiederholen und sie ihren
vollen Eindruck auf uns machen lassen und dabei sagen: ,Diese
Melodie sagt etwas,, und es ist, als ob wir finden müßten, was sie
sagt. Und doch weiß ich, daß sie nichts sagt, was ich in Worten
oder Bildern ausdrücken könnte. Und wenn ich mich nach dieser
Einsicht darein ergebe zu sagen, ,Sie drückt nur einen musikali-
schen Gedanken aus<, dann würde das nicht mehr bedeuten als
,Sie drückt sich selbst aus,.«206 Es ist gerade die Alternative von
reiner, »physiognomischer« Immanenz und verweisender Prä-
gnanz, die ich in Fragen der ästhetischen Bedeutung für äußerst
irreführend halte. Dennoch gibt das Wittgenstein-Zitat einem im
ästhetischen Verstehen grundlegenden Sachverhalt ganz zutref-
fend Ausdruck. Was im ästhetischen Objekt artikuliert ist und
was wir an ihm zu verstehen haben, ist durch keine interpretative
Aussage übersetzend zu bestimmen. Was die kritische Auslegung
immer nur leisten kann und soll, ist die Bestimmung von Aspek-
ten, denen das ästhetische Zeichen in der oben beschriebenen
Weise Ausdruck verleiht. Die Interpretation sagt nicht, was das
ästhetisch Bedeutete ist, sie sagt, wie ihr Gegenstand wahrzuneh-
men sei, um in seiner Bedeutung verstanden zu werden. Das, dem
ein ästhetischer Gegenstand Ausdruck verleiht, das, als was er
wahrzunehmen ist, um in seiner Gelungenheit wahrgenommen
zu werden, ist das, worauf er sich bezieht, um es kraft seiner
internen Artikuliertheit possesiv zu charakterisieren. Das ge-
lungene Werk bedeutet einen Zusammenhang der Bedeutsamkeit
dessen, was immer in ihm zum Ausdruck kommt. Die interpre-
tative Hervorhebung von Ausdruckscharakteren und verstehens-
leitenden Themen benennt Aspekte des Bedeutens, nicht aber die
ästhetische Bedeutung selbst. Funktionale Zuschreibungen dieser
Art sind in der ästhetischen Wahrnehmung durchaus konstitutiv:
wer keinen dieser Aspekte sieht, unter denen das Objekt ästhe-
tisch von Bedeutung ist, der wird nicht das Bedeutsame verneh-
men, dem es Ausdruck verleiht.
Auch dieses Verhältnis findet sich bei Wittgenstein im Vorbeige-
hen erhellt. Wieder einmal hat sich der Purist übereilt zufrieden-
gegeben. Die ästhetische Ausdrucksimmanenz nämlich »bedeutet
nicht, daß das plötzliche Verstehen eines musikalischen Themas
nicht darin bestehen könnte, daß ich eine verbale Ausdrucksform
finde, die ich als verbales Äquivalent des Themas begreife. Und in
derselben Weise könnte ich sagen ,Nun verstehe ich den Aus-
druck des Gesichts,, und was geschah, als das Verstehen kam,
war, daß ich das Wort fand, das den Ausdruck des Gesichts
zusammenfaßte.«' 07
Nun ist die Rede von einem »Äquivalent« des ästhetisch Artiku-
lierten sicher nicht angemessen; und auch das »Zusammenfas-
sende« einer funktionalen Interpretation liegt weniger darin, zu
sagen, was sich am Gegenstand zeigt, als vielmehr in thematischer
Explikation zu zeigen, wovon das ästhetische Zeichen spricht.
Die zusammenfassende Deutung (und Bewertung) legt »Nach-
druck« auf Ausdruckscharaktere des ästhetischen Potentials, die
entscheidend sind für das, was sich zeigt, wenn wir uns seinen
relevanten Merkmalen erfahrend »ausliefern«. Der Weg ins Reich
ästhetischer Gegenstände führt durch das Nadelöhr zuschreiben-
der Anmutungen und Angaben, die geschmeidig genug sind,
Momente des artikulierten Sinns zu treffen, ohne dabei das
Gefüge der ermöglichenden Korrespondenzen zu verletzen. Ver-
sperrende Reduktionen der Bedeutung sind diese Bestimmungen
nur, wenn sie als Wiedergaben der ästhetischen Bedeutung miß-
verstanden werden.
Diese Überlegungen machen das Dogma der ästhetischen Puri-
sten gegenstandslos. Dieses Dogma besagt, daß eine Theorie der
ästhetischen Bedeutung den Ausdrucks- oder lntensitätenzauber
des ästhetischen Objekts zwangsläufig mit den Formen seiner
interpretativen Besprechung verwechseln muß. Diesem ver-
meintlichen Zwang sind die Betrachtungen dieses Kapitels nicht
erlegen. Weder entzieht sich der Prozeß der ästhetischen Wahr-
nehmung einer phänomenologischen und sprachkritischen Ana-
lyse, noch führt eine solche Analyse dazu, der ästhetischen
Erfahrung die Substanz theoretisch zu entziehen. Damit besteht
auch für die defensiven Dienstleistungen einer ästhetischen Rein-
heitslehre keine weitere Verwendung.
Denn selbst die Reservate einer vermeintlich reinen Schönheit

2 97
können jetzt aufgelöst werden. Das wirklich Schöne ist nicht
einfach schön. Das ästhetisch Schöne mag auf nichts in der Welt
referierend verweisen, mag keine gestalthaft eindeutig bestimm-
baren Figurationen enthalten, mag allein wegen der Formung
eines gegebenen Materials gefallen: mag in allen denkbaren Hin-
sichten designativ so unschuldig sein wie möglich: so unbestimmt
schön, wie der immergleich schmachtende Purist es sich denkt,
wird auch dieser ideale Gegenstand eines freien Wohlgefallens
nicht sein. Nicht nur, weil es wiederum je besondere Objekte
sind, die auf solche Weise gefallen; sondern weil sie, als Objekte
des verstehenden Geschmacks, je verschiedenes bedeuten. ' 08 Der
ästhetisch schöne Gegenstand, der vor allem darum unsere Auf-
merksamkeit verdient, weil »er sich in seiner Schönheit präsen-
tiert«, präsentiert diese seine Schönheit in einer Weise, die wir
deutlich machen, wenn wir die Art seiner Schönheit bestimmen
(wollen). Das Objekt ist schön, weil es unendlich verspielt ist,
weil es Grazie h~t, weil es von nervöser Sinnlichkeit vibriert, weil
es akkurat ist und zart, verlockend und unheimlich, virtuos und
vertrakt, weil es schwerelos ist und ihm jede Rhetorik mangelt' 0 9
- und was dergleichen charakterisierende Auszeichnungen wei-
tere sind. Schönheit überhaupt gibt es hier so wenig wie Wildheit
an sich oder Flüchtigkeit als solche. Das »schlechthin« Schöne ist
schön, weil es einen Modus der Schönheit bedeutet. Das ästhe-
tisch »Reine« ist gelungen, weil es dem Sinn ästhetischer Prädi-
kate, die seine Schönheit funktional charakterisieren, ästhetisch
Ausdruck verleiht. Im rein Ästhetischen materialisiert sich eine
abstraktive Destillation von Gehalten der ästhetischen Erfah-
rung: sie laden ein zum Verweilen bei der Erfahrung des ästheti-
schen Verweilens. Das Gefallen an solchen Objekten beinhaltet
die durch ästhetische Erfahrung gewonnene oder erneuerte Aner-
kennung ästhetischer Konzeptionen: sie laden ein zu einer be-
stimmten Art, sich zur Gehaltenheit in den irdischen Belangen
ästhetisch zu verhalten. Im übrigen sind die dieserart reinen, weil
auf Modi der ästhetischen Gestimmtheit ästhetisch bezogenen
Kunststücke nicht immer auch schön. Denn die Modi des Ästhe-
tischen, die präsentativ dargeboten werden, sind nicht notwendig
Modi des Schönen.
Diese antipuristische Erklärung des ästhetisch Puren macht ver-
ständlich, warum der theoretische Ansatz beim rein Ästhetischen
so wenig ergiebig ist. Die ästhetische Prädikation muß in ihren
verschiedenen Dimensionen bereits verstanden sein, damit Ge-
halt und Behauptung der ästhetischen Reinheit erklärbar werden.
Das »rein Ästhetische« ist das Ästhetische, das vor allem auf
Ästhetisches sich bezieht. Abgesehen von dieser Besonderheit ist
es nicht mehr und nicht weniger ästhetisch als das meiste Ästheti-
sche auch. Daß die sogenannte ästhetische Reinheit ein systema-
tisch gesehen abgeleitetes Phänomen ist, bedeutet andererseits
nicht, daß sie für die ästhetische Wahrnehmung von prinzipiell
geringerer Bedeutung sei. Das betörende Ornament kann ästhe-
tisch so erheblich sein wie die komische Zersetzung des blutigen
Dekors der Macht. Außerdem ist das auf ästhetische Gehalte
konzentrierte Ästhetische nicht notwendig ornamental oder de-
korativ. Nicht zuletzt Werke wie jene Serie von Newman geben
Anlaß, den ästhetischen Purismus vom Kopf einer substanzlosen
Enthaltung auf die Füße einer reflexiven Potenzierung zu stellen
- gerade N ewmans ästhetische Polemik gegen eine puristische
Ästhetik wird so zum Paradigma einer ästhetisch reinen Präsen-
tation. "0
Neben der vermeintlich ausdrucksabgewandten Kunstschönheit
könnten auch die schönen Gebrauchsdinge und das Naturschöne
als ästhetische Phänomene erscheinen, die sich dem hier entfalte-
ten Verständnis nicht fügen. Die Schönheit von Dingen des
alltäglichen und instrumentellen Gebrauchs ist ohne Zweifel
anders zu verstehen als die Gelungenheit der autonomen Zeichen
der Kunst. Jene sind nicht darum schön, weil sie Funktionen
ihres Ausdrucks sind (denn dann wären es - auch - ästhetisch
autonom bedeutsame Objekte: solche ästhetischen Zwitter sind
nicht einmal selten). Sie sind schön, weil sie der Gebrauchsfunk-
tion, die ihnen zweckhaft zugewiesen ist, ästhetisch Ausdruck
geben. Für die Beurteilung dieser Schönheit ist es wesentlich, daß
die jeweiligen Gegenstände ihren praktischen Zweck erfüllen und
daß es eine aus praktischen Erwägungen sinnvolle Funktion ist,
der sie ästhetische Sichtbarkeit verleihen. Den hier einschlägigen
Zusammenhang von funktionaler Signifikanz und ästhetischer
Konvenienz hat Albrecht Wellmer benannt: »Wo die Vollkom-
menheit der Konstruktion bei einsichtigen Zwecken, und sei es
die gelungene Korrespondenz zum gestisch-motorischen Bewe-
gungsraum des Körpers, in Ausdruck resultiert, dort erlangen die

2 99
Dinge em Eigengewicht, sind als funktional schöne zugleich
mehr als bloße Mittel, ein Stück Zweckmäßigkeit ohne
Zweck.«zr'
Das Besondere des Naturschönen liegt demgegenüber in der
radikalen Abstinenz von Zweckzuweisungen sowie in der Abwe-
senheit von Spuren einer dokumentarischen Bedeutung. Das
Naturschöne ist das Schöne, das in keiner Weise signifikant ist
für einen externen Zusammenhang. Hierin liegt seine unverwech-
selbare Faszination und die strikte Differenz zu den eminenten
Werken der ästhetischen Kunst. Aus dieser Perspektive erschei-
nen die beiden üblichen (Gegen-)Thesen zum Verhältnis von
Kunst und Natur beide im Recht. Einerseits ist die ästhetisch
besehene Natur eine »Nachahmung der Kunst«, wie Oscar Wilde
aphoristisch behauptet hat. Die ästhetische Naturerfahrung voll-
zieht sich nach dem Modell der Kunsterfahrung; im schönen
Naturding und vor der erhabenen Szenerie findet sie ausdruck-
hafte Zeichen existentiell belangvoller Erfahrungen. Andererseits
aber hat nicht nur eine künstlerische Ästhetisierung der Natur,
sondern hat die Kunst überhaupt an der Erfahrung des Natur-
schönen ein unverzichtbares Modell: eine Anschauung ästheti-
scher Phänomene, die für nichts von Bedeutung sind als das, was
sie in ihrem Bestimmtwerden begrifflich unerreichbar bestim-
men. Daß die Abhängigkeit der ästhetischen Naturwahrnehmung
von der Kunstwahrnehmung nicht die (ganze) Wahrheit ist, hat
zuletzt Adorno wieder ausführlich begründet. Wahrgenommen
wird das Naturschöne »ebenso als zwingend Verbindliches wie
als Unverständliches, das seine Auflösung fragend erwartet. We-
niges vom Naturschönen hat auf die Kunstwerke so vollkommen
sich übertragen wie dieser Doppelcharakter. Unter seinem
Aspekt ist Kunst, anstatt Nachahmung der Natur, Nachahmung
des Naturschönen.« 112

c) Ästhetische Erkenntnis

Die Erwiderungen auf die kommunikationstheoretischen und die


entzugstheoretischen Vorbehalte machen es den überbietungs-
theoretischen Entgegnungen aufreizend leicht. Der überbie-
tungsästhetische Kritiker wird lakonisch konstatieren: das ist es

300
ja, was ich seit langem predige. Das Kunstwerk entfaltet eine
Bedeutung, an die keine begriffliche Bestimmung heranreicht,
obwohl es einer interpretativen Wahrnehmung bedarf, um zu
vernehmen, was das Werk überlegen offenbart. - Es würde mich
freuen, wenn der Kritiker im wesentlichen recht hätte. Denn ich
habe versucht zu sagen, was die Überbietungstheorien immer
schon sagen: ohne doch die Konsequenz der These von der
Überlegenheit der ästhetischen Erkenntnis mit zu vollziehen.
Und auch diese Weigerung hat sich weitgehend darauf be-
schränkt, den überbietungstheoretischen Paradoxien eine nicht-
paradoxe Formulierung zu geben.
Ich möchte das an Adorno verdeutlichen. Die entzugstheoreti-
schen Vorbehalte, die ich eben erörtert habe, sind in der »Ästhe-
tischen Theorie« stets präsent - doch Adorno gibt ihnen eine
Wendung, die der puristischen Konklusion, das Kunstwerk sei
Schein ohne Erscheinen, genau zuwider läuft. »Wie in Musik
blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu verschwin-
den vor dem Versuch, es dingfest zu machen. Kunst ahmt nicht
Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Natur-
schöne an sich. Das nennt, über die Aporie des Naturschönen
hinaus, die von Ästhetik insgesamt. Ihr Gegenstand bestimmt
sich als unbestimmbar, negativ. Deshalb bedarf Kunst der Phi-
losophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen
kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann,
indem sie es nicht sagt. Die Paradoxien der Ästhetik sind ihr vom
Gegenstand diktiert: ,Das Schöne erfordert vielleicht die sklavi-
sche Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar
ist.<«211 Adornos Verwendung des Zitats aus Valerys »Windstri-
chen« macht den Unterschied zur entzugstheoretischen Pointe
evident - das scheinhaft Unbestimmbare der Kunstwerke ist das
Medium ihrer Ausdrucksleistung, ihrer ästhetischen Wahrheit. In
der »Nachahmung«, der »Mimesis« dessen, was »an den Dingen
unbestimmbar« ist, was die begriffliche Gegenstandsbestimmung
und eine diskursive Auseinandersetzung von Merkmalen und
Bedeutungen eines Phänomenzusammenhangs gerade in und we-
gen ihrer distinktiven Klärung nicht bestimmen kann: in der
Mimesis des Nichtidentischen der wie immer benennbaren the-
matischen Bezüge beweist sich der Wahrheitsgehalt der Kunst.
»Der Zweck des Kunstwerks ist die Bestimmtheit des Unbe-

301
stimmten«: Adorno dreht die puristische Devise zur Formulie-
rung des kognitiven Gehalts der Kunst. 214
Damit diese Gehalte erkennbar werden, bedarf es einer interpre-
tativen Wahrnehmung. »Die Werke, vollends die oberster Digni-
tät, warten auf ihre Interpretation. Daß es an ihnen nichts zu
interpretieren gäbe, daß sie einfach da wären, radierte die Demar-
kationslinie der Kunst aus. Am Ende mögen sogar Teppich,
Ornament, alles nicht Figürliche am sehnsüchtigsten der Dechif-
frierung harren. Den Wahrheitsgehalt begreifen postuliert Kritik.
Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht
begriffen wäre, und das ist das kritische Geschäft.« 215 Dem
Leitmotiv dieser Sätze bin ich in anderer Weise gefolgt, als es die
Durchführung bei Adorno erlaubt. Der Unterschied zu den
Konsequenzen bei Adorno betrifft vor allem den Begriff der
ästhetischen Wahrheit. Für Adorno »konvergiert« die Gelungen-
heit von Kunstwerken mit der Wahrheit ihrer philosophisch
instrumentierten Interpretation. »Philosophie und Kunst kon-
vergieren in deren Wahrheitsgehalt: die fortschreitend sich ent-
faltende Wahrheit des Kunstwerks ist keine andere als die des
philosophischen Begriffs.«216 Für den »philosophischen Begriff«
in Adornos Verständnis ist kennzeichnend »die Anstrengung,
über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.« 217 Ich
verstehe das und auch den Gedanken des Nichtidentischen so,
daß es in einer Reflexion, die sich vom »identifizierenden Den-
ken« emanzipiert, darum geht, den Beziehungssinn, die aus der
Geschichte und Praxis der sprachlichen Welterschließung er-
wachsenen (und mit jeder erneuten und neuartigen Bezugnahme
stets fortgebildeten) Korrespondenzen der Bedeutsamkeit des zu
Bedenkenden mit zu bedenken. Eine aus diesem Sensorium
operierende Besinnung »wäre nichts anderes als die volle unredu-
zierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion«, wie es in
der »Negativen Dialektik« heißt. Diese Form der Erkenntnis
wird für Adorno zum Inbegriff des Erkennens; »emphatisch«
wahr sind nur der Gedanke und die Bestimmung, die sich zu
ihren Gegenständen verhalten wie die Sätze einer kunstkritischen
Interpretation zu den ihren. »Erkenntnis hat keinen ihrer Gegen-
stände ganz inne. Sie soll nicht das Phantasma eines Ganzen
bereiten. So kann es nicht die Aufgabe einer philosophischen
Interpretation von Kunstwerken sein, ihre Identität mit dem

302
Begriff herzustellen, sie in diesem aufzuzehren; das Werk jedoch
entfaltet sich durch sie in seiner Wahrheit.« 218
An dieser These scheint mir alles richtig: nur daß hiermit nicht
ein Inbegriff der Erkenntnis formuliert ist, sondern allein der
Begriff der ästhetischen Erkenntnis. In dieser Lesart liegt offen-
kundig eine Differenz ums Ganze. Wie ich bereits im Anfangska-
pitel erläutert habe, ist Adornos Begriff der philosophischen
Reflexion ein extremer Begriff der ästhetischen Kritik. Der Ex-
tremismus dieser Konzeption der Kritik rührt daher, daß Adorno
zugleich einen normativen Begriff der diskursiven Rede nach
diesem Modell konstruiert. Aus einem einfachen Grund ist das
unannehmbar. Ich muß Begriffe haben, um über den Begriff
hinaus zu denken - mit ihnen. Mehr noch: ich muß mich der
Wahrheit von Aussagen selbständig versichern können, um mir
den Erfahrungsgehalt der in ihnen verwendeten Bestimmungen
auch ästhetisch vergegenwärtigen zu können. Die Einsicht in die
bedeutsame Fundierung unseres sprachlich erworbenen Wissens,
das Wissen um die Besonderheit der Gegenstände, die wir nach
unterschiedlichen Hinsichten prädikativ unterscheiden und iden-
tifizieren, macht das Verstehen (und ein Bestehen auf) der wörtli-
chen Bedeutung eines Ausdrucks und macht die Identifikation
von Gegenständen durch eines oder einige seiner Merkmale nicht
zu einem heillosen oder widersinnigen Geschäft. Eine dialekti-
sche Theorie der Sprache hat vielmehr die Differenzen des kon-
stitutiven Zusammenhangs von propositionaler und nichtpropo-
sitionaler Bedeutung auszuarbeiten: indem wir etwas begrifflich
erkennen, verstehen wir uns auf dieses Erkennen in einer Weise,
die sich zum Gegenstand der Erkenntnis keineswegs identifizie-
rend verhält. Immer schon orientiert sich die begriffliche Rede
über das begrifflich Gesagte hinaus: das von Adorno gescholtene
»identifizierende Denken« macht sich dagegen nur systematisch
blind.
Zu dieser rationalistischen Blindheit verhält sich Adornos
Sprachtheorie auf eine irritierende Weise komplementär: denn
auch das zur dominierenden Wahrnehmungsweise erhobene mi-
metisch zarte Erkennen würde die entscheidende Differenz uto-
pisch überspringen. Es ist schon merkwürdig - im Namen einer
Rettung des Nichtidentischen an dem, was wir in thematischer
Zuwendung erkennend identifizieren, möchte Adorno die Diffe-
renz zwischen thematischer und nichtthematischer, propositional
expliziter und kontextuell impliziter Orientierung endgültig til-
gen. Das diskursive Erkennen soll in einem Zuge nichtdiskursiv
sein: nämlich erkennend auf den Erfahrungszusammenhang sich
richten, den es in begrifflicher Unterscheidung vor sich bringt.
Dieser Utopie des Erkennens kommt die ästhetische Reflexion
für Adorno täuschend nahe; weil aber nur die begrifflich inter-
pretierende Rede die Sachverhalte bestimmen kann, auf deren
Wahrheit die ästhetischen Gehalte »gehen«, und weil andererseits
nur die ästhetische Entfaltung des begrifflich Zugesprochenen
diesem die Substanz einer »unreduzierten Erfahrung« verleihen
kann, bleiben die Prozeduren des begrifflichen Erkennens und
die Verfahrensweisen der ästhetischen Artikulation bis zur
Stunde der Befreiung in der ästhetischen Erfahrung aporetisch
aneinander gekettet. So wie die deutende »Reduktion«, ohne die
sie nicht »fortleben« könnten, »an den Kunstwerken frevelt«, so
ist zugleich »das Bedürfnis der Werke nach Interpretation als der
Herstellung ihres Wahrheitsgehalts Stigma ihrer konstitutiven
Unzulänglichkeit. Was objektiv in ihnen gewollt ist, erreichen sie
nicht.« 119 Wenn man aber auf die irreführende Diffamierung der
diskursiven Rede verzichtet, muß auch von einer konstitutiven
Unzulänglichkeit der ästhetischen Objekte nicht länger die Rede
sein: was vom »Standpunkt der Versöhnung«110 aus Defizienzen
sein mögen, wird in seiner konstitutiven Andersheit "derArtikula-
tion und des Bedeutens ersichtlich. m
Erst diese Distanzierung der utopischen Distanz macht eine
Unterscheidung von ästhetischer und nichtästhetischer Erkennt-
nis möglich, die sich dennoch auf zentrale Erkenntnisse der
»Ästhetischen Theorie« bezieht. Im ästhetischen Verstehen be-
darf es der prädikativen Sondierung von Ausdrucksmerkmalen,
deren Zuschreibung auf die präsentierten Gehalte verweist, in-
dem sie den zeichenhaften Bedeutungsraum erschließt. Nur so
werden wir der ästhetischen Erkenntnis teilhaftig, die ein ge-
lungenes Werk vermittelt. Das ästhetische Verstehen ist begriffs-
vermittelt: diskursiv ist es nicht. Denn die Begriffe, die die
ästhetische Wahrnehmung leiten, führen die Bedeutung des
Wahrgenommenen nicht aus; sie führen in die signifikative Dy-
namik eines Werkes lediglich ein.
Um die Differenz zwischen begrifflicher und ästhetischer Bedeu-
tung nicht zu verwischen, habe ich es bislang vermieden, von
»ästhetischer Wahrheit« zu sprechen. Die hervorragenden Werke
sind nicht begrifflich wahr, sie sind gelungen. Als hervorragend
gelungene aber geben sie einer als angemessen erfahrenen Sicht-
weise Ausdruck - und darin sind sie ästhetisch »wahr«. Die
ästhetische »Wahrheit« ist nur dann gegeben, wenn die Angemes-
senheit einer Sichtweise am ästhetisch gelungenen Kunstwerk
erscheint. Nur hier, nur im Kontext der ästhetischen Kritik, geht
die Behauptung der Angemessenheit von Sichtweisen mit Be-
hauptungen der ästhetischen Wahrheit oder Falschheit zusam-
men. Wie gesehen, ist die Beurteilung von Sichtweisen nicht per
se eine ästhetische. Ästhetisch ist die Beurteilung der Präsenta-
tion weltbildender Sichtweisen. Und nur am gelungenen Werk
kommt hier die Bejahung einer Sichtweise mit der Bejahung der
ästhetischen Artikulationsform zur Deckung: deshalb ist dieses
Werk gelungen: weil es die präsentative Objektivierung einer für
die Gegenwart zu bejahenden Sichtweise ist. Nur in dieser Beur-
teilung ist die Bewertung von Sichtweisen argumentativ begründ-
bar. Was vor allem in überbietungstheoretischen Ko.ntexten »äs-
thetische Wahrheit« genannt wird, ist die zeichenhaft gespannte
Präsenz von Gehalten, die Gehalte der eigenen Erfahrung -
geworden - sind. Die ästhetische Erkenntnis besteht einmal
darin, zu erkennen, ob der ästhetische Gegenstand eine derartige
Präsentationsleistung erbringt; wenn das der Fall ist, erfüllt sie
sich zum andern im Vollzug der Erkenntnis, die der ästhetisch
gelungene Gegenstand kraft seiner einmaligen Konstitution ver-
mittelt. Diese zweite Erkenntnis besteht mit Adorno gesprochen
darin, der Wahrheit des gelungenen Kunstwerks teilhaftig zu
werden. Diese Wahrheit ist nicht die Wahrheit der ästhetischen
Wertaussagen (die eine begriffliche ist), es ist die Wahrheit ihrer
präsentativen Gegenstände, die ihnen zukommt, wenn sie gelun-
gen sind. 211
Diese »zweite« Erkenntnis, auf die die ästhetische Wahrnehmung
zielt und die das ästhetisch positive Werturteil bezeugt, betrifft
nicht die theoretischen oder ethischen Einsichten, zu denen uns
der ästhetische Verstehensprozeß auch geführt haben mag. Deren
Gültigkeit ist im Verweis auf den ästhetischen Gegenstand nicht
zu erweisen, sondern allein unabhängig von diesem argumentativ
zu begründen. Gewiß werden Kunstwerke den Sinn von Aussa-
gen, deren Formulierung sie - als Reflexionsmedien, die wahr-
heitsproduktiv sind auch für ein diskursives Erkennen - provo-
ziert haben, oft hervorragend verdeutlichen; aber dann gewinnen
sie in ihrer Signifikanz Bedeutung und nicht primär in ihrer
Gelungenheit. Was in der genuin ästhetischen Erkenntnis beglau-
bigt wird, ist die Sichtweise oder (überdies, vgl. 273 f.) die
Einstellung, deren »unreduzierter« Gehalt am ästhetisch gelunge-
nen Objekt erfahrbar wird.
Ohne Frage aber spielt die Wahrheit der in einer kritischen
Auslegung zu verwendenden Aussagen für das ästhetische Er-
kennen eine entscheidende Rolle. Die Triftigkeit eines ästheti-
schen Urteils hängt ab von der Angemessenheit der kommentie-
renden Charakterisierung und der Akzeptierbarkeit der funktio-
nalen Interpretation. Die Akzeptierbarkeit der deutenden Zu-
schreibungen ist abhängig nicht nur von den Behauptungen des
Kommentars, sondern zugleich von einer täuschungsfreien, also
wahrhaftigen Erläuterung der konfrontativen Reaktion und der
Gültigkeit der Annahmen (über die bedeutungskonstitutiven
Charaktere und Themen des ästhetischen Objekts), die in der
unmittelbaren Wahrnehmung eine normative Rolle spielen. Aber
weder die Erläuterung der persönlichen Erfahrung noch eine
Erörterung der sachlichen Gründe, die ausschlaggebend sind in
der sympathischen oder antipathischen Reaktion, bestimmen den
Gang der ästhetischen Argumentation; eine ausführende Zuwen-
dung zu diesen Hintergründen führt aus dem Sprachspiel der
Kritik über kurz oder lang heraus.1'3 Alle die Explikationsmo-
mente, die in einer exzessiven Kritik zur Sprache kommen,
fungieren als Elemente einer ästhetischen Kritik nur solange sie
gepolt sind auf die präsentative Vergegenwärtigung der im ästhe-
tisch unmittelbaren Interesse in Betracht genommenen Ob-
jekte.
In der ästhetischen Beurteilung sind also die Geltungsdimensio-
nen der theoretischen, der moralischen und der ethisch-präferen-
tiellen Wahrheit oft alle versammelt: die Art dieser Versamm-
lung, ihre Integration in den Gang ästhetischer Interpretationen,
macht den Eigensinn ~es ästhetischen Argumentierens aus. So-
wenig die ästhetische Argumentation mit der Orientierung und
der Begründbarkeit der nichtästhetischen Verhaltensweisen anti-
nomisch konkurriert, sowenig auch konvergiert die ästhetische

306
Kritik mit einer diskursiven Begründung der Annahmen über die
Welt, die in ihren Urteilen eine mitentscheidende Rolle spielen.
Obwohl es vollkommen richtig ist zu sagen, das ästhetische
Erkennen sei ein Erkennen wider die Beschränkungen des dis-
kursiven Erkennens, vermittelt das gelungene Werk doch keine
schlechthin überlegene Erkenntnis. Denn das diskursive Erken-
nen bleibt ein Erkennen wider die Unfaßlichkeit des ästhetischen
Erkennens. Eine Tragödie des erkennenden Bewußtseins vermag
ich in dieser wechselseitigen Überlegenheit nicht zu erkennen.
Eher doch ist es ein Glück, unwiderruflich verschiedene Stellun-
gen im Erkennen zu haben, die einander inwendig berühren,
woraus die Intensität der konträren Zuwendung entspringt. Das
gelungene Werk vermittelt eine nichttheoretische Erkenntnis von
Erfahrungszusammenhängen, die gerade auch ein hochreflektiert
theoretisches Erkennen unhintergehbar fundieren. In dieser
nichtdiskursiven (obgleich konstitutiv sprachvermittelten) Er-
kenntnis liegt das einzigartige Potential einer ästhetischen, durch
das ästhetische Objekt und seine Kritik vermittelten Kritik. Es ist
dies eine Kritik an unterlassener, versäumter, verdrängter, zu
kurz gekommener Erfahrung. Nur sekundär, nur im Modus
subsidiärer Implikationen gilt diese Kritik dem, was versäumt
wurde, in Erfahrung zu bringen. Sie gilt primär einer Sicht der
Dinge, einem Verständigtsein auf Situationen der gemeinsamen
Welt, denen sich die ästhetisch kritisierte Praxis noch nicht
geöffnet oder wieder verschlossen hat. In der Fähigkeit einer
derartigen Kritik und in der Bereitschaft, sich durch ästhetische
Urteile und Argumente zu einer erfahrenden Vergegenwärtigung
der eigenen Erfahrung motivieren zu lassen, liegt das Vermögen
der ästhetischen Rationalität.

d) Ästhetischer Widerspruch

Der letzte Einwand, skeptisch gegenüber den drei bisher genann-


ten Vorbehalten, lautet, daß meine Erwiderungen nicht skeptisch
genug waren - zumal gegenüber dem Objektivismus einer über-
bietungstheoretischen Ästhetik. Den Geltungsanspruch ästheti-
scher Urteile aus ihrer Begründbarkeit erklären zu wollen, ist
selbst eine überbietungsästhetische Manie; sie führt aus der Anti-
nomie des Geschmacks nicht heraus, sondern erst recht in sie
hinein. Ich möchte diesem Einwand aus dem Mund Harald
Frickes Geltung verleihen, der in einer Analyse zum »Aussage-
sinn literarischer Werturteile« das Verhältnis der relevanten
Komponenten einer ästhetischen Kritik anders beschrieben hat,
als ich es getan und gegen die überbietungsästhetische Verzer-
rung verdeutlicht habe.
»Es zeigt sich also, daß in einem literarischen Werturteil alle drei
Komponenten enthalten sind, für die sich Indizien schon aus
seiner sprachlichen Form ergeben hatten: eine Aussage über
Eigenschaftendes beurteilten Werks, ein persönliches Bekenntnis
meiner positiven oder negativen Beziehung zu ihm und eine
Forderung nach Allgemeingültigkeit dieser Bewertung. Von den
drei genannten logischen Strukturen ist somit Variante ( 1) als
deskriptiv, Variante (2) hingegen als expressivund Variante (3) als
appellativ zu interpretieren.« 114 Auch bei Fricke gilt die entschei-
dende Frage dem Verhältnis der aufgefundenen .Komponenten;
diese lassen sich wohl »unterscheiden, aber nicht voneinander
isolieren. Es handelt sich nicht um eine bloße Addition dreier
unabhängiger Äußerungen, sondern um die Integration in eine
einzige, einheitliche Äußerung des literarischen Werturteils. Wir
drücken sowohl unser persönliches Urteil als auch dessen allge-
meinen Geltungsanspruch in der Weise aus, daß wir eine wer-
tende Beschreibung des literarischen Gegenstands geben.« 115
Von der Sache her wäre zu erwarten, daß eine Betrachtung der
»Integration« der Urteilskomponenten auf die Analyse der Sätze
führt, deren primäre Funktion es ist, eine »wertende Beschrei-
bung« des ästhetischen Gegenstands zu formulieren - der Sätze
der ästhetisch-funktionalen Interpretation. Seltsamerweise je-
doch sind die Aussagen der kritischen Interpretation bei Fricke
gar nicht vorgesehen. Nach Frickes Meinung ist die Beschreibung
eines literarischen Texts, ist jede Art von Aussagen ȟber Eigen-
schaften des beurteilten Werks« bis hin zur Beurteilung seiner
»Originalität« und der Behauptung etwa einer »großartige(n)
Struktur von Klangbeziehungen« 116 eine Sache der strengen Wis-
senschaft, die selbst keine ästhetischen Wertungen trifft; ihre
Charakterisierungen mögen ein positives oder negatives Urteil
motivieren, aber die Bestimmung der ästhetischen Qualitäten
eines Gegenstands kann sich (wenn es, wie eben in der Wissen-

308
schaft, sein soll) jeder wertenden Konsequenz enthalten. Mit
unseren Worten: Die Charakterisierung des ästhetischen Gegen-
stands ist Sache allein des Kommentars und nicht auch einer
kritischen Synthese. Von einer »wertenden Beschreibung« darf
nach Frickes eigener Konzeption genau genommen die Rede
nicht sein. Denn die ästhetische Beurteilung markiert hier ledig-
lich einen Zusammenhang von Beschreibung und hinzukommen-
der Wertung, die sich aus den Sympathien der Konfrontation
ergibt. Es kann nicht verwundern, daß eine desintegrierende
Analyse diesen Stils hinsichtlich der Begründbarkeit ästhetischer
Urteile zu einer reservierten Folgerung kommt.
»Die entscheidende Antwort lautet hier zunächst negativ: Es
handelt sich nicht um ein Begründungsverhältnis. Von einer
triftigen Begründung kann man ja nur dann sprechen, wenn der
Übergang von der Geltung der begründenden Argumente zur
Geltung der fraglichen Aussage oder Forderung durch irgendein
zugrundeliegendes, widerspruchsfreies logisches System gesi-
chert ist. Es führt aber kein Weg von einer objektiven Aussage
über einen Text zum Bekenntnis meines subjektiven Gefallens
daran oder zu der Forderung nach intersubjektiver Verallgemei-
nerung dieses Gefallens.«227
Auf eine argumentationstheoretische Debatte soll es hier nicht
ankommen. Wenn man die Möglichkeit und den Sinn von Be-
gründungen auf das reduziert, was Fricke allein für Begründun-
gen hält, dann erhält schon die Frage nach der Rationalität der
ästhetischen Beurteilung einen stark rhetorischen Zug. 228 Ich
möchte meine Erwiderung enger auf den ästhetischen Kontext
beziehen. Der Argumentation bei Fricke liegt ein doppelter
Fehlschluß zugrunde: eine Verwechslung von ästhetischer Signi-
fikanz mit ästhetischer Bedeutung und eine Verwechslung des
Urteils der Vorliebe mit den Aussagen der Kritik.
Bei Fricke ist durchgehend unterstellt, die »objektiven Aussagen«
über ästhetische Textqualitäten seien von ästhetischen Wertungen
frei. Wie gesehen aber gilt dies nicht einmal für die Aussagen des
Kommentars, die Aspekte einer Wertung immer bereits nahele-
gen. Das gilt erst recht nicht für eine funktionale Interpretation,
die komprimierende Aussagen zur Bedeutung eines ästhetischen
Gegenstands trifft. Dagegen ist Fricke der Ansicht, Aussagen
über die ästhetische Eminenz von Texten hätten mit ihrer ästheti-
sehen Beurteilung nur insoweit etwas zu tun, als sie diese zwar
»motivieren«, nicht aber einen ästhetischen Wert behaupten. 119
Nun handelt es sich bei Aussagen über die Könnerschaft eines
Autors, über den »literarischen Rang« eines Textes zweifellos um
Wertaussagen reinsten Wassers. Das wird auch Fricke nicht
bestreiten; diese Aussagen hält er durchaus für begründbar - im
Zusammenhang einer wissenschaftlichen Textbeschreibung. Auf
einmal also haben wir es mit zwei grundverschiedenen Formen
der Wertung zu tun; die eine ist striktest begründbar, die andere
kann nicht begründet werden. Ich halte diese Aufteilung für
absurd. Der Sinn einer ästhetischen Kritik geht in dieser Division
für alle Mal verloren. Was Fricke der strengen Wissenschaft
vorbehält, sind die Wertungen der - literaturhistorischen - Signi-
fikanz; hier, für eine literaturhistorische Betrachtung, sind
Brechts frühe Lehrstücke (die Fricke als Beispiel heranzieht) von
erheblicher Bedeutung: für die Konzeption des Theaters, die
Brecht in ihnen zu entwickeln begann. Diesen Stücken aber »den
bleibenden Rang der Klassizität« zuzuschreiben, ist etwas ganz
anderes: nämlich eine fragwürdige Aussage der Kritik. Sätze
dieser Art sind ohne einen Rekurs auf die subjektive Wahrneh-
mungserfahrung überhaupt nicht zu begründen. Die bleibende
Aktualität eines ästhetischen Objekts muß sich ja wohl in der
Konfrontation mit diesem erweisen. Am ästhetischen Paradigma
der Komik habe ich zu zeigen versucht, daß jede Aussage zur
funktionalen Relevanz eines ästhetischen Zeichens auf das Bei-
spiel der subjektiven Erfahrung notwendig zurückgehen muß.
Nur so ist der ästhetische Rang eines Gegenstands zu bestimmen:
welche Bedeutung als ein Dokument ästhetischer Entwicklungen
ihm auch zukommen mag. Nur eine Wissenschaft, die sich auf
den zweiten Aspekt konzentriert, kann strikte lntersubjektivität
beanspruchen; sobald sie dem ersteren sich zuwendet (und wegen
dieser Zuwendung hat ja die kunsthistorische Untersuchung vor
allem Bedeutung) sind auch ihre Gründe nicht theoretischer,
sondern ästhetischer Natur.
Was Fricke über das ästhetische Urteil sagt, trifft folglich auf
einen erheblichen Teil derjenigen Aussagen zu, die er von den
Bestimmungen der Kritik gerade unterscheiden will. »Literari-
sche Werturteile sind keine reinen Tatsachenbehauptungen, also
nicht als wahrheitsfähige Aussagen präzisierbar; und sie haben

310
immer eine subjektive Komponente, sind also nicht wissenschaft-
lich begründbar.« 230 Nur gibt es eben andere Formen der Be-
gründung als die einer strengen Wissenschaft: Formen, an denen
gerade die ästhetisch orientierten Wissenschaften erheblich parti-
zipieren. Wenn das eingesehen ist, hat es durchaus Sinn, auch für
die ästhetischen Interpretationsbehauptungen einen Wahrheits-
anspruch anzunehmen. In diesem Sinn wahr ist eine ästhetisch
funktionale Charakterisierung, die eine Aussage zur ästhetischen
Bedeutung trifft, die dem ästhetischen Potential tind der aktuell
vergegenwärtigenden Gegenstandserfahrung konstruktiv gerecht
wird.
Am Wort soll es nicht liegen. Wer statt von der »Wahrheit«
kunstkritischer Behauptungen lieber von ihrer »Angemessen-
heit« oder »Plausibilität« sprechen will, mag das tun. Das Ent-
scheidende ist, daß die ästhetische Kritik sich auf interpretative
Aussagen zu ihren Gegenständen stützt, durch deren Auslegung
das ästhetische Objekt zu einem Argument wird für die (Sicht-
weise bzw.) Einstellung, aus der das dezidierte Urteil gesprochen
ist. Nur das Werturteil, das in diese Struktur eingebunden ist, ist
ein Urteil der ästhetischen Kritik; nur dieses ist aus einer Integra-
tion von Sprachfunktionen zu verstehen, deren Verhältnis be-
stimmend ist für die Art der Gründe, die im ästhetischen Verhal-
ten ausschlaggebend sind. Auf eine Analyse dieser Struktur läßt
sich Fricke gar nicht erst ein. Er reduziert die ästhetische Wer-
tung auf das private Votum der Vorliebe, die an ihrem Gegen-
stand nicht aufzeigen kann, warum er auch andere faszinieren
oder langweilen müßte. Kritik wird zu einer Frage des Mögens,
nicht eines besonderen Verstehens. Der Geltungsanspruch in
ästhetischen Urteilen ist dann nurmehr aus dem Faktum der
kritischen Auseinandersetzung zu erklären: nicht aber durch eine
Analyse ihrer Form zu beglaubigen: wie ehedem bei Kant.23 '
Zwar betont Fricke immer wieder den Anteil der Gegenstandsbe-
schreibung im ästhetischen Urteil- aber nur, um den angeblichen
Zwang des angeblich wissenschaftlichen Wissens schließlich zu-
gunsten der »Freiheit des Glaubens« aufzuheben und somit dem
privaten Geschmack großzügig »Platz zu schaffen«.232 Er vermag
nicht zu sehen, daß gerade die Freiheit der ästhetischen Wahr-
nehmung, die besondere Freiheit des ästhetischen Verhaltens, mit
der spezifisch erkennenden Verstrickung der ästhetischen Erfah-

311
rung aufs innigste zusammenhängt. Mit einem Wort: Nur weil es
eine besondere Art von Widersprüchen in der Erläuterung des
ästhetischen Verhaltens gibt, ist der Anspruch auf die Geltung
ästhetischer Urteile berechtigt und sind die gelungenen Objekte
die freiwillige Anspannung der verstehenden Erkundung wert.
Zum Beleg dieser Vorbehalte gegen die mit Fricke formulierten
Vorbehalte gibt es keine bessere Illustration als das Beispiel, das
Fricke für seine Partei ins Feld führt. »Es läßt sich auch beim
besten Willen nicht bestreiten, daß die Romane Jean Pauls ein
gerütteltes Maß an Sentimentalität aufweisen. Man braucht viel-
leicht nicht gleich das harte Wort Nietzsches zu benutzen, Jean
Paul - dieses ,Verhängnis im Schlafrock<- gieße über alles ,eine
widerliche Tränenbrühe,. Aber allein das Zählen und Klassifizie-
ren all der Tränen, die im ,Titan< vergossen werden, wäre schon
eine germanistische Dissertation wert. Ich erkenne hier also die
Aussage ,Jean Pauls Romane sind Belegfälle für literarische Senti-
mentalität, als Prämisse an - ebenso aber auch die allgemeine
Prämisse ,Literarische Sentimentalität ist unausstehlich<. Wenn es
hier mit logischen Dingen zuginge, müßte ich nun auch die
Folgerung ,Jean Pauls Romane sind unausstehlich, anerkennen.
Doch weit gefehlt - ich würde noch heute mit einer bewundern-
den Formulierung Lichtenbergs sagen: ,Ein Schriftsteller wie
Jean Paul ist mir noch nicht vorgekommen, unter allem was ich
seit jeher gelesen habe.,« 1 JJ
»Belegfälle«, »allgemeine Prämissen«, dazu die unwägbare Ingre-
dienz der Neigung: so geht der Gang einer ästhetischen Kritik
nun gerade nicht. Dabei bin ich mit dem Leser Pricke durchaus
einer Meinung. Einmal abgesehen vom harmonisierenden Finale,
das im übrigen ohne größere Tränenstürme vonstatten geht, ist
der »Titan« ein ganz außerordentliches Buch. Aber nicht trotz
der sentimentalen Passagen, sondern nicht zuletzt wegen ihrer
intermittierenden und konstrastiven Funktion im Gesamtgefüge
des Romans. Die tränenseligen Exzesse sind ein unverzichtbarer
Teil der humoristischen Schreibweise; sie sind es zusammen mit
den satirischen Exkursen und Digressionen und den tödlichen
Reflexionen des wahnsinnig-heiteren Protagonisten Schoppe.
Von Jean Paul gibt es kaum ein sentimentales Werk, aber alle
seine größeren Arbeiten operieren mit sentimentalen Passagen
und sentimentalen Zwischentexten.134 Nietzsche, der Ecker-

312
manns Gespräche mit Goethe für eines der herausragenden
Sprachkunstwerke seines Jahrhunderts hielt, konnte den Extre-
mismus der literarischen Methode selbst der Jean Paulschen
Idyllen natürlich nicht verstehen. Aber das ist wohl kein Grund
zu meinen, es gäbe für die Wertschätzung dieser humoristischen
Kunst keine ästhetischen Gründe. Zu sagen, Jean Pauls Prosa sei
vor allem sentimental, ist eine völlig unangemessene Charakteri-
sierung: so sehr sie wesentlich auch in sentimentaler Manier
geschrieben ist. Ästhetisch: im Kontext der ästhetischen Kritik
gesehen, ist es der reine Widerspruch, zu behaupten, diese Litera-
tur sei - in einem pejorativen Sinn - sentimental und gleichzeitig
zu bekunden, es sei dies eine wunderbare Literatur: und in
diesem Widersinn auch noch auf die Zustimmung anderer zu
hoffen. Frickes Wertung ist akzeptabel, seine Erläuterung - seine
Begründung - dieser Wertung ist es nicht: sie stützt sich auf eine
unangemessene funktionale Charakterisierung, die einen, zusam-
men mit der positiven Schlußwertung, zweifelnd neugierig darauf
macht, wie Fricke diesen Roman denn lesend erfährt - ich
schätze, er liest ihn nicht in sentimentaler Identifikation (die
zumindest herbe Stauungen erleiden müßte), sondern im erken-
nenden Vollzug der Hochspannung, die Jean Paul dem bildungs-
idealistischen Konzept der Identität verleiht, um in humoristi-
scher Skepsis und Negativität die Geschichte der Autonomiewer-
dung seines Helden Albano zu erzählen. So aber, wie Fricke seine
Wertschätzung im Beispiel zum besten gibt, widerspricht die
Bekundung der Sympathie der interpretativen Charakterisierung
und diese widersprichtden »Beschreibungen«, die bereits eine
elementar kommentierende Textanalyse zu geben hätte.
Daß ich dergleichen sentimentales Zeug nun einmal mag, gibt mir
keinerlei »Recht«, für den Zufall dieser Neigung fordernd zu
»streiten«. Nur ein Begriff der argumentierenden Kritik, nicht
aber ein letztlich erneut gegenstandsindifferenter Begriff des
Gefallensführt aus der Antinomie des Geschmacks heraus.
IV

Ästhetische Vernunft?

Ästhetisch ist das Verhalten, das sich zur Welt seiner Erfahrung
erfahrend zu verhalten sucht. Rational ist dieses Verhalten, sofern
es begründbar ist - wenn die ästhetisch Wahrnehmenden gegebe-
nenfalls begründen können, warum sie an diesen und nicht jenen
Objekten ein ästhetisches Interesse nehmen. Allerdings zeigt sich
die Rationalität der ästhetischen Praxis weniger im Gelingen
allseits überzeugender Begründungen - sie zeigt sich in der
Fähigkeit, Bereitschaft und nicht zuletzt der Lust an ästhetischer
Kritik. Für den Sinn dieser Kritik ist die Möglichkeit einer
argumentativen Einigung konstitutiv, auch wenn der Sinn ästhe-
tischer Auseinandersetzungen nicht schon verloren ist, wenn hier
und jetzt eine Einigung nicht zustande kommt. Der ästhetische
Streit hält die Selbstverständlichkeiten eines aus Erfahrung ge-
prägten Weltverständnisses wenigstens umstritten; die ästheti-
sche Übereinkunft gibt die Erfahrung, die in ihr vergegenwärti-
gend erkannt wird, nicht einfach in die Selbstverständlichkeit der
Einstellung zurück: sie etabliert eine Norm des ästhetischen
Verhaltens, die darauf zielt, sich Erfahrungsmöglichkeiten einer
bestimmten Art erfahrend zu konfrontieren'. Diese »Normen«
sind die gelungenen und schönen Objekte selbst. Im Anerkennen
und Aberkennen ihrer Gelungenheit und Schönheit, wodurch
wir unsere ästhetische Praxis organisieren, sind wir darauf einge-
stellt, von den Fundamenten und Fermenten unserer Erfahrung
etwas zu erfahren. Die ästhetische Einstellung ist die unmittelbar
und spielerisch einstellungsbezogene Einstellung.
Ich möchte die besondere Rationalität, die sich in ästhetischen
Einstellungen mehr oder weniger artikuliert verkörpert, zunächst
durch eine Reihe aphoristischer Bemerkungen skizzieren, die das
Potential der ästhetischen Vernunft aus negativer Warte um-
schreiben. Der »Ästhet« und der »Banause« sind die zwei Ide-
altypen eines ästhetisch wenig idealen Verhaltens. Die überra-
schende Konsequenz, daß auch der Ästhet, der das ästhetische

3!4
Verhalten zum Prinzip seines Daseins macht, sich als ästhetisch
gesehen arme Figur erweist, führt zurück auf den anfangs behan-
delten Zusammenhang von Rationalität und Vernunft. Das Di-
lemma des Ästheten macht den Widersinn einer Erwartung an
das umarmende Ästhetischwerden der Vernunft offenkundig.
Was sich aus der erneuten Verteidigung eines pluralen Vernunft-
begriffs für die häufig gefeierte Vermählung des Ästhetischen mit
dem Utopischen ergibt, wird die abschließende Betrachtung mit
ernüchternder Emphase kommentieren.

a) Der Ästhet und der Banause

1. Ein Ästhet ist der, der in seinem Handeln keine anderen


Gründe zuläßt als die schließlich ästhetischen (der die anderen
Gründe nur duldet als solche, die den ästhetischen Grund, das
begnadete Werk, zur Geltung bringen). Ein Banause ist der, der
sich alles mögliche gefallen läßt - nur kein ästhetisches Argu-
ment.
II. Der Ästhet hat sich den Banausen zum Gegner erkoren. Dem
Banausen ist die Feindschaft egal. Das schmerzt den Ästheten wie
sonst wenig.
III. Der Ästhet ist der Schatten des Banausen. Solange es Banau-
sen gibt, wird es auch Ästheten geben.
IV. Der Banause verwechselt das ästhetische Urteil mit dem Urteil
der Vorliebe. Der Ästhet dagegen verläßt sich nur auf sein eigenes
Urteil: worauf er sich besonders viel einbildet, wenn es keiner
mit ihm teilt (»alles Banausen!«).
v. Den Ästheten interessiert die enigmatische Form. Der Banause
begeistert sich für die Stoffe (s)eines wunderlichen Lebens.
VI.Die ästhetische Kritik des Banausen erschöpft sich darin, zu
erzählen, wie es ihm hierbei und damit erging. Die Kritik des
Ästheten klammert sich an das vielsagende Detail. Der Banause
kennt die Lust des Verreißens nicht. Der Ästhet hat beim Verriß
das höchste Vergnügen: gnadenlos wühlt er in den Wunden des
mißglückten Moments.
vn. Der Ästhet kennt nichts, was nicht eine ästhetische Kritik
verdient. Der Ästhet beurteilt Menschen, Handlungen, Situatio-
nen ausschließlich nach der Würde ihrer Anmut und der Kraft
ihres Ausdrucks - das Schöne oder Erhabene ist ihm das einzig
Gute und Wahre. Man komme ihm nicht mit der nackten Wahr-
heit und der reinen Verpflichtung. So lange er weiß, was für ihn
oder für das Allgemeine dabei herausspringt, läßt sich der Ba-
nause gerne verpflichten.
IX. Dem Ästheten ist das Falsche immer das Triviale: er verwech-
selt die Irrungen des Lebens mit denen der mißratenen Werke.
Der Banause hält die Sensationen der Kunst für einen mehr oder
weniger erfrischenden Aufguß des Lebens.
x. Der Ästhet ist nicht der Verführer, er ist der von der reinen
Möglichkeit Verführte. Der Banause ist darin gut, alles auf den
Nenner der puren Wirklichkeit zu führen.
XI.Der Ästhet sucht das Heil in der exzentrischen Position:
immer außen vor. Der Banause möchte ganz in der Mitte seines
Lebens stehen: immer voll dabei.
xn. Die Welt des Ästheten ist ein unsagbares Gleichnis der Welt.
Die Welt des Banausen gleicht immer dem, wie seine Stimmung
grad ist.
XIII.Der Ästhet flieht die ungebrochene Situation wie der Teufel
das Weihwasser. Der Banause meidet die Anschauung seiner
Situation wie der Fromme die Versuchung.
XIV.Der Ästhet trägt all seine Erfahrungen auf den Markt der
Kunst. Der Banause verspielt seine Erfahrungen sogleich auf der
Börse des nächstmöglichen Glücks.
xv. Der Ästhet ist ein Gefangener seiner Passion - es gehen ihm
die Leidenschaften aus, die es nötig hätte zum Erleben der
Erfahrungen, denen seine Leidenschaft gilt. Der Banause bringt
sich um die Möglichkeit, seine Obsessionen befreiend zu erfah-
ren.
xv1. Der Ästhet erwirbt die Welt, indem er sie verliert. Der
Banause tilgt die Welt, indem er sie erwirbt.

316
xvn. Der Ästhet und der Banause sind stolz auf ihren untrügli-
chen Blick. Sie lassen sich nicht blenden - der eine nicht vom
Schein des Glücks, der andere nicht vom Schein der Kunst. Das
ist beider Verblendung.
xvrn. Beide, der Ästhet und der Banause, sind tief beunruhigt
vom Verhalten dessen, den sie den Barbaren nennen. Der Ästhet
und der Banause sagen: Der Barbar in seiner blinden Unschuld
versündigt sich am wahren Dasein. Nach einer Definition des
Ästheten ist der ein Barbar, der die Kunst und das Leben - am
Ende gar wissentlich! - durcheinanderbringen will. Der Banause
gibt eine schlichtere Bestimmung: Der Barbar will nicht - kann
nicht? - einsehen, wie der Hase nun mal läuft. Aus entgegenge-
setztem Vorbehalt formulieren der Ästhet und der Banause höf-
lich, aber bestimmt, die gleichlautende Warnung: »Mein lieber
Barbar, wenn du hier unter uns leben willst - du mußt dich
entscheiden.«
x1x. Der Barbar nimmt das freundlich zur Kenntnis: und formu-
liert die Lehre des Barbaren. Sie enthält vier Grundsätze, die er
nächtelang zu erläutern versteht. Ihr verspielt eure Freiheit, wenn
ihr alles in eine Form der Erfahrung kehrt. Der Mensch hat
mehrere Leben in einem. Er ist nur da ganz Mensch, wo er darauf
verzichtet, immer den ganzen Menschen zu spielen. Die reine
Illusion ist immer Illusion der Reinheit.

b) Rationalität, Erfahrung, Vernunft

Vernunft, die nicht ästhetisch ist, ist noch nicht recht eine;
Vernunft die ästhetisch wird, ist keine mehr. Der Banause und
der Ästhet mußten dazu herhalten, die beiden Pole dieses Grund-
satzes erneut zu verdeutlichen. Wahrend der Banause sich ästhe-
tisch irrational verhält, verhält der Ästhet sich ästhetisch rational
in einer Weise, die den Sinn und die Vernunft der ästhetischen
Rationalität zum Verschwinden bringt. Dem Ästheten zerrinnt
das Befreiende des ästhetischen Verhaltens, an das er sich mit
borniertem Eifer klammert. Die Irrationalität einer ästhetisch
totalen Rationalisierung ist gleichbedeutend mit der Preisgabe
einer libertären Vernunft. Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit
ist der rigoristische Ästhet der größere Banause als ein ästheti-
scher Banause, der nur ein ästhetischer Banause ist. Während
dieser die Vernunft seiner Praxis (lediglich) um die mögliche
Rationalität ihrer ästhetischen Dimensionen kürzt, verkürzt der
wildgewordene Ästhet die Möglichkeiten einer vernünftigen
Orientierung auf ihre ästhetischen Fakultäten - und läßt gerade
auch die Energien des Potentials der ästhetischen Erfahrung und
Kritik versiegen. Die ästhetisch gewordene Vernunft, d·ie ästheti-
sche Rationalität, die sich aufspielt, als sei sie die wahre Instanz
der Vernunft, verkehrt sich zum ästhetischen Freiheitsentzug.
Denn ästhetische Freiheit gibt es nur da, wo wir durch ästheti-
sche Erfahrung einen Spielraum der Freiheit geltend machen, der
nicht bloß wiederum ein Exerzierfeld ästhetischer Freiheiten ist.
Die zur einzigen oder höchsten Instanz der Kritik stilisierte
ästhetische Kritik wird auch ästhetisch steril: sie kann nicht
länger bezeugen, was die Gewalt und das Verführerische ihrer
eminenten Gegenstände ist. Sie wird zur routinierten Explikation
von Erfahrungen, die zu exklusiven Gewohnheiten der weltabge-
wandten Wahrnehmung abzusterben drohen. Das ästhetische
Interesse verliert alles intersubjektive und in der Folge auch
subjektive Interesse, wenn es zu einem Interesse nurmehr an den
Facetten des je eigenen ästhetischen Interesses wird.
Ein ironischer Triumph des partiellen Banausen über den bor-
nierten Rigoristen kennzeichnet nicht allein das Verhältnis der
Abarten des ästhetischen Verhaltens: er ist bezeichnend für die
Dialektik (der Gefährdungen) einer jeden grundlegenden Spielart
der Vernunft. Die Reihe der in vernunftkritischer Absicht ide-
altypischen Karikaturen läßt sich mühelos fortsetzen. Der Mora-
list und der Zyniker, der Grübler und der Naive, der Hedonist
und der Asket, der Perfektionist und der Dilettant: für alle diese
Paare gilt eine analoge Konfliktstruktur und Dilemmatik, wie sie
im Verhältnis zwischen dem Ästheten und dem Banausen maßge-
bend sind. Daß der sozialskeptische Zyniker noch vernünftiger
denkt und handelt als der ichlose Moralist, daß der distanzlos
Naive um einiges freier lebt als der ewig hinterfragende Grübler,
daß der asketisch Zaudernde seine Lebenszeit etwas vernünftiger
verbringt als der rasende Hedonist, daß der lässige Schluderer
durchaus souveräner operiert als der vollkommenheitsbesessene
Perfektionist - all das sagt nichts gegen die Moral, das Denken,

318
die Lust und das Vollkommene: es sagt etwas gegen Formen der
rationalistischen Vereinseitigung der Rationalität. Was immer ein
Mangel an moralischer, theoretischer, ethisch-präferentieller, in-
strumenteller und ästhetischer Rationalität Fatales bewirken mag
- diese partiellen Defizienzen einer vernünftigen Praxis sind für
das Schicksal der Freiheit lange nicht so verheerend wie eine
Dezimierung der lebenspraktischen und gesellschaftsbildenden
Orientierung auf einen Modus der Kritik und der Erfahrung es
wäre. Lieber begrenzte Irrationalität als eindimensional ent-
grenzte Rationalität.
Jedoch wird es Zeit, die illustrativen Verzerrungen in den Zusam-
menhang zurückzuholen, den sie erhellend verzerren. Der Äs-
thet, der Moralist usw. sind keine Prototypen, sondern extreme
Gestalten der Verhaltensweisen, die sich als Formen der Hand-
lungsrationalität grundsätzlich unterscheiden. Der moralisch
Handelnde unterscheidet sich sowohl vom Zyniker als auch vom
dogmatischen Moralisten; er ist ein ausgesprochener Widersacher
des Zynikers und der lustlosen und phantasiearmen Leute, die
aber auch jede ihrer Handlungen daraufhin prüfen, ob sie mit
dem Sittengesetz in idealer Übereinstimmung sei. Wer immer
alles moralisch sieht, dem geht das moralische Urteil ab; wer
immer alles theoretisch hinterfragt, der beherrscht nicht die
Kunst des theoretisch produktiven Fragens; wer immer aufs
Maximum der Lusterfüllung kalkuliert, dem werden die Sensa-
tionen der Lust bald vergehen; wer im produzierenden Handeln
·stets und geradewegs auf das allseits Vollkommene aus ist, dem
wird nie etwas nach menschlichen Möglichkeiten Vollkommenes
gelingen; wer alle Augenblicke ästhetisch kontrolliert, dem wird
weder die Gunst des Augenblicks noch die Ekstase eines ästheti-
schen Augenblicks jemals zuteil.
Ein ganzer Komplex von Bornierungen und Banausien kommt in
Sicht, wenn man sich einmal konzentriert auf die Gefährdungen
einer libertären Vernunft, die ihr entstehen durch ihre Verkür-
zung auf einen vermeintlichen überbietenden oder umfassenden
Typus der Rationalität. Was ich hier treibe, ist nicht einfach ein
übermütiges Spiel mit Worten; es ist die Hervorhebung der
Risiken einer subjektiven Autonomie, die versucht, gegenüber
den externen, überkommenen und vormals übernommenen Ver-
haltenszuweisungen kritikfähig zu bleiben. Es könnte ja sein, daß

319
wir längst in ein hilfloses Rollenbündel glücklichenfalls verstan-
desträger Banausien und schlimmerenfalls schizophrener Rigo-
rismen zerfallen sind oder zerfallen. Die absurde Rückführung
der Spielarten einer vernünftigen Praxis auf ihre rigoristisch
verblendeten Extreme leistet so etwas wie eine negative Defini-
tion der Menschenwürde - sie umschreibt den Spielraum der
interrationalen Kritik, indem sie die Substanz einer Freiheit
benennt, die unmittelbar bezogen ist auf die Idee und die Hoff-
nung einer Vervielfältigung des hiesigen Glücks. Dieser digressiv
aufklärende Antrieb eines mehrseitigen Dabeiseins ist es, was der
behüteten Einfalt des Rigoristen die Freiheit des »Barbaren« so
unbehaglich macht. Die vernunftlosen weil vernunftgierigen Ri-
goristen erleben die Barbarei der Vernunft als die reine Bedro-
hung ihrer geordneten Welt, die sie für den Maßstab eines
vernünftigen Lebens halten. Die Rigoristen klammern sich an
ihre mit gewaltsamer Kunst entworfenen Kriterien des Vernünf-
tigen und Guten, anstatt sich an die befreiende Kunst der regula-
tiven Entzweiung zu halten.
Die experimentelle Besichtigung einiger Möglichkeiten der extre-
men Entfremdung von Rationalität und Vernunft geben einem
anderen Grundsatz der einleitenden Betrachtung einen genaueren
Sinn. Was vernünftig ist, ist rational, aber das Rationale ist nicht
immer schon vernünftig. Rationalität, so nehme ich an, ist par-
tielle Rationalität in der anfangs beschriebenen Bedeutung. Ra-
tional ist ein Verhalten, das in einer bestimmten Weise begründ-
bar oder für Einwände der Kritik zugänglich ist. Selbst der
Ästhet und der Moralist (usw.) verhalten sich in diesem Sinn
rational, denn sie sind jederzeit willens, ihre Optionen und
Maximen zu begründen und allzeit auf dem Sprung, die der
andern zu kritisieren. Aber die Begründungen für ihr eigenes
Verhalten und die Kritiken, mit denen sie um sich werfen,
werden stumpf, weil sie zunehmend blind geworden sind gegen
den übergreifenden Zusammenhang des Lebens und gesellschaft-
lichen Handelns, aus dem ästhetische und moralische Bewertun-
gen ihren Sinn immer neu werden gewinnen müssen. Ihre Argu-
mente werden stumpf, so berechtigt sie im Detail und in Einzel-
fällen oft dennoch sein mögen. Sie vermögen ihre Kritik nicht
länger eingreifend zu situieren, weil sie den Blick verloren haben
für den sei es konstruktiven, sei es destruktiven Stellenwert ihres

320
nominell kritischen Tuns. Der Ästhet und der Moralist (usw.)
haben es verlernt, sich zur Partialität ihrer rationalen Orientie-
rungen rational - und das heißt jetzt: vernünftig - zu verhalten.
Ihre Rationalität wird rationalistisch, weil sich ihnen der reflexive
Kontakt mit dem lebensweltlich komplexen Erfahrungszusam-
menhang wegkürzt, der ja nicht selbst auf eine der Orientie-
rungsdimensionen zugeschnitten ist, auf die sie sich verzagend
spezialisieren.
Was ich in normativer Auszeichnung als » Vernunft« bezeichnet
habe, ist Rationalität ohne diesen Verlust an erfahrungsgebunde-
ner und erfahrungsoffener Urteilskraft. Rationalität-im-Singular,
der Zusammenhang der Rationalitäten, der sich nicht auf einen
singularen Modus der Rationalität totalitär reduziert, muß ver-
standen werden als ein in der Verschiedenheit der Praxisformen
verfügbares Potential einer interrationalen Kritik. Vernunft ist
die Überschreitung der Rationalität innerhalb ihrer möglichen
Diskurse. Rationalität und Vernunft fallen dort zusammen, wo in
den Arten der rationalen Orientierung ein reflexives Verhältnis
zu der dominanten Art der Begründung eines Handelns zwang-
los aktivierbar ist. Nur dort fallen Rationalität und Vernunft
zusammen, wo die Spielarten der Vernunft nicht spurlos ineinan-
der verschwimmen. Vernünftig ist nicht die vereinnahmende
oder nivellierende Versöhnung der rationalen Orientierungswei-
sen, vernünftig ist die kritisch befreiende Kunst ihrer Entzwei-
ung.
Diese Explikation des Vernunftbegriffs kommt dem Gedanken
einer kommunikativen Rationalität, wie ihn Habermas entworfen
hat, gewiß sehr nahe. Denn die »Kunst der Entzweiung« besteht
ja wesentlich in der kritischen »Kommunikation« der Möglich-
keiten einer rationalen Orientierung, die sich ihrerseits wesent-
lich in Formen der intersubjektiven Auseinandersetzung und
Handlungskoordination realisiert. Und Habermas' Theorie der
Rationalität ist zentral aus einer Kritik nicht nur einer begriffli-
chen, sondern jener geschichtlich äußerst folgenreichen Verkür-
zung des Sinns von Rationalität motiviert, wie sie sich zumal im
Überhandnehmen der instrumentellen Vernunft manifestiert. In
seiner Auseinandersetzung mit Lukacs schlägt Habermas einen
nichttraditionalistischen Maßstab für Bedingungen einer ver-
nünftigen Praxis vor. »In kapitalistischen Gesellschaften ist das

321
Muster der Rationalisierung ... dadurch bestimmt, daß sich der
Komplex kognitiv-instrumenteller Rationalität auf Kosten prak-
tischer Rationalität durchsetzt, indem sie kommunikative Le-
bensverhältnisse verdinglicht. Deshalb ist es sinnvoll, die Frage
zu stellen: ob nicht die Kritik des unvollständigen Charakters der
als Verdinglichung auftretenden Rationalisierung ein Ergän-
zungsverhältnis von kognitiv-instrumenteller Rationalität einer-
seits, moralisch-praktischer und ästhetisch-expressiver Rationali-
tät andererseits als den Maßstab zu Bewußtsein bringt, der dem
unverkürzten Begriff der Praxis, wir können sagen: dem kommu-
nikativen Handeln selbst innewohnt.« 235 Wie immer die Pole
unterschieden werden, aus deren Verhältnis ein unverkürzter
Begriff der Rationalität zu gewinnen ist: meine hier wieder
aufgenommenen Bemerkungen zum Rationalitätsbegriff sollten
daran erinnern, daß in jeder - und nicht nur der instrumentellen -
Spielart der Vernunft auch ein spezifisches Potential der Bedro-
hung ihres kritischen und kommunikativen Zuspiels lauert.
Erklärungsbedürftig scheint mir auch die Rede von einem »Er-
gänzungsverhältnis« der Fraktionen der Vernunft. Ich habe die-
ses Verhältnis zu Anfang dieser Arbeit erläutert als eines der
möglichen Kritik; die Formen der Rationalität ergänzen einander
in der wechselseitigen Kritik an (und Begründung von) Prämis-
sen und Konsequenzen (und, wie jetzt klar ist, auch von Sicht-
weisen und Einstellungen), die in den jeweils anders gelagerten
Begründungsprozeduren nicht zulänglich zu erläutern und zu
rechtfertigen sind. Aus der Logik dieser Übergriffe, die keine
vereinnahmenden Ausgriffe sind, kann freilich Habermas das von
ihm beschriebene »Ergänzungsverhältnis« nicht erklären. Denn
Habermas identifiziert die Grundarten der Rationalität mit den
drei sprachpragmatisch unterschiedenen Geltungsdimensionen
(der theoretischen » Wahrheit«, der moralischen »Richtigkeit«,
der expressiven »Wahrhaftigkeit«), die als voneinander unabhän-
gige, gleichwohl in jeder Sprechhandlung koexistierende Wert-
sphären dargestellt werden. Dieser Aufbau macht es unmöglich,
den Zusammenhang der kardinalen Rationalitätstypen als ein
Verhältnis der möglichen Kritik an Vorverständnissen zu den-
ken, die die rationalen Zugangsweisen nicht aus jeweils eigener
Kraft, sondern allein füreinander und das heißt: im begründen-
den Rückgang auf intern unerreichbare Implikationen der anders

322
gegründeten Argumentationsformen, leisten können. (Hier,
denke ich, ist die Stelle, an der Habermas ein Moment der älteren
Kritischen Theorie vorschnell preisgegeben hat.) Wenn man da-
gegen, wie ich es oben andeutungsweise versucht habe (vgl.
120 ff.), die Grundarten der Rationalität als Formen der Begründ-
barkeit von Praktiken unterscheidet, wird der Zusammenhang
der Vernunft unmittelbar als derjenige der kritischen Interdepen-
denz ihrer rationalen Vermögen verständlich. Es zeigt sich dann,
daß die Grundbegriffe der Rationalität an eindimensionalen Stan-
dardformen der Rede nicht darstellbar sind. Der Geltungssinn
des theoretischen Urteils und der verschiedenen Formen prakti-
scher Urteile ist ebenso wie der Sinn des ästhetischen Urteils
allein aus dem mit unterschiedlichen Begründungszielen verbun-
denen alternierenden Ineinandergreifen epistemischer und prak-
tischer Gründe zu verstehen, deren Bedeutung als Aussagen im
Kontext einer Theorie der Bedeutung zu erklären ist, deren
Grundunterscheidungen nicht auf die unterschiedlichen Rationa-
litätsbegriffe abbildbar sind.236 Wenn man die kardinalen Ratio-
nalitätsbegriffe in dieser Weise statt nach dem Modell der Akzep-
tierbarkeit einzelner Sprechakte nach den komplexen Begrün-
dungsverhältnissen unterscheidet, aus denen die Grundarten ver-
haltensleitender Interessen eine Rechtfertigung erfahren können,
ist mit der Differenzierung von Rationalitätstypen die Frage nach
ihrer Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsfähigkeit im we-
sentlichen bereits beantwortet. Es sind unterschiedliche Anen
beschreibender und bewertender Aussagen, die in unterschiedli-
chen Kontexten in unterschiedlicher Funktion als ausschlagge-
bende Gründe zählen (und in unterschiedlicher Weise an das
Votum expressiver Äußerungen rückgebunden sind bzw. von
ihnen begleitet werden). Es sind Prioritäten der Begründung von
Verhaltensweisen, deren Argumente auf differente Formen der
Gültigkeit Anspruch machen und dennoch, auf dem Weg der
hierbei verwendeten Annahmen und der hierbei aktualisienen
Einstellungen, untergründig stets auch miteinander verbunden
sind. Nicht nur spielen in der ästhetischen Begründung theoreti-
sche und ethische Annahmen eine oft entscheidende Rolle,
ebenso macht die ethische Begründung in ihren moralischen oder
außermoralisch-präferentiellen Erwägungen immer von theoreti-
schen und nicht selten ästhetischen Annahmen Gebrauch, und

32 3
auch die theoretische Begründung führt oft ethische und manch-
mal ästhetische Annahmen mit, deren Begründung sich ihrer
genuinen Kompetenz entzieht.237
Die ausgreifende Begründung dieser Thesen würde die Kompe-
tenz dieser Abhandlung überschreiten. Wenn sie aus den in ihr
verfolgten Argumentationen und zusammen mit den hierbei
vergegenwärtigten Intuitionen wenigstens plausibel sind, ge-
winnt der regulative »Maßstab« einer kommunikativen Vernunft
einen veränderten Sinn. Maßstab wäre nicht länger der »Aus-
gleich zwischen ergänzungsbedürftigen Momenten«, wie Haber-
mas an anderer Stelle formuliert.' 38 Maßstab ist dann die Leben-
digkeit einer befreienden Auseinandersetzung und Kritik. »Kom-
munikation« innerhalb der rationalen Orientierungsformen mag
häufig auf ein »Einverständnis« der streitenden Parteien und
einen »Ausgleich« der divergierenden Praktiken zielen: aber
weder das allseitige Einverständnis der gesellschaftlich Handeln-
den noch der versöhnende Ausgleich ihrer lebenspraktischen
Orientierungen sind ein immanentes Ideal einer libertär verstan-
denen Vernunft. Die politisch regulative Implikation eines unver-
kürzten Begriffs der Rationalität ist nicht Freiheit durch kommu-
nikative Versöhnung, sondern Freiheit durch Kommunikation
(so paradox das in den Begriffen der »Theorie des kommunikati-
ven Handelns« auch klingt). Erhaltung, Erneuerung und Erwei-
terung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit in For-
men einer kommunikativ diversifizierten Kritik sind mit der
regulativen Idee eines Zustands der Versöhnung gerade nicht
vereinbar. Freiheit und Versöhnung sind begrifflich nicht kom-
plementär.139
Ich möchte mich zum Schluß erneut auf die ästhetische Seite des
Problems konzentrieren. Interessanterweise hat sich ja für die
Struktur der ästhetischen Beurteilung durchaus so etwas wie ein
»Ausgleich« - ein Gleichgewicht - der maßgebenden Begrün-
dungselemente ergeben. Nicht epistemische oder praktische
Gründe und auch nicht die Bekundung der konfrontativen Reak-
tionen sind in der ästhetischen Kritik in der Weise ausschlagge-
bend, daß die abschließende Wertung sich auf eines dieser Ele-
mente dominant stützen würde, geschweige denn auf es rück-
führbar wäre. Wenn aber der Gedanke eines »Ausgleichs« der
rationalen Orientierungen das regulativ letzte Wort einer ver-
nunftkritischen Betrachtung wäre - müßte dann nicht eine auf die
ästhetisch gelungenen Werke bezogene Reflexion und Kommu-
nikation nun doch als eine herausragende Instanz, als ein utopi-
sches Exerzitium einer Vernunft verstanden werden, die es im
»Leben«, außerhalb der Kunstpraxis, erst noch und erst eigent-
lich zu realisieren gilt? Kommt dann nicht doch dem ästhetisch
rationalen Verhalten die geschichtsphilosophische Rolle einer
statthaltend freigesetzten Erprobung der emphatisch wahren,
guten und schönen Praxis zu? Diese Vorstellung, es sei die
ästhetische Erfahrung und Kritik eine utopische Simulation der
eigentlichen Erfahrung und Kommunikation, möchte ich ab-
schließend kritisch kommentieren. Gerade am Thema der ästheti-
schen Utopie läßt sich zeigen, daß eine Utopie der Versöhnung
unter emanzipatorischen Gesichtspunkten ein irreführender Vor-
griff und eine verfehlte Erwartung ist.

c) Kritik der ästhetischen Utopie

In einer Abhandlung über den Zusammenhang der Grundkate-


gorien in der Ästhetik Adornos hat Albrecht Wellmer die utopi-
sche Dimension der ästhetischen Erfahrung in einer Weise the-
matisiert, die zwar einerseits skeptisch bleibt gegenüber der
überbietungstheoretischen Totalisierung, andererseits aber der
utopischen Emphase des Adornoschen Denkens solidarisch blei-
ben möchte.
»Wir haben uns auf verschiedenen Wegen einer Neuinterpreta-
tion des Zusammenhangs der Kategorien Wahrheit, Schein und
Versöhnung bei Adorno genähert. Die Kunstwahrheit erschien
dabei als ein Interferenzphänomen der verschiedenen Dimensio-
nen des alltäglichen Wahrheitsbegriffs. Dieser freilich ist mit
einer utopischen Perspektive verknüpft: der einer gewaltlosen
Kommunikation. So wie im Begriff der Kunstwahrheit die drei
Wahrheitsdimensionen interferieren, so sind sie in der Idee einer
gewaltlosen Kommunikation miteinander zusammengeschlossen.
Das Spezifisch-Utopische aber, das die Kunst beiträgt, ist in jeder
ihrer authentischen Produktionen auch schon gegenwärtig: die
Überwindung der Sprachlosigkeit, die sinnliche Kristallisation
des in der Erfahrung zerstreuten Sinns. Gewaltlose Kommunika-
tion aber bedeutet nicht die Aufhebung der Kunst; das Kunst-
schöne steht nicht für das Ganze der Vernunft, vielmehr bedarf
die Vernunft der Kunst zu ihrer Erhellung: ohne ästhetische
Erfahrung und ihre subversiven Potentiale müßten unsere mora-
lischen Diskurse blind und unsere Interpretationen der Welt leer
werden.«' 40
Kunst ist nicht die Antizipation des Ganzen einer mehrdimensio-
nalen Vernunft, die der korrektiven Erfahrung des Ästhetischen
dann nicht länger bedürfte. Die Kunst ist ein Potential der Er-
fahrung, dessen eine vernünftige Praxis bedarf, um ihres kriti-
schen Potentials explikativ aufgeschlossen zu bleiben und kom-
munikativ inne zu werden. So überzeugend diese Klarstellung
und die ihr zugrundeliegende Interpretation auch ist - in ihrer
Kritik an Adorno greift sie doch um einen Schritt zu kurz. Denn
in der Kunstwahrheit interferieren die beteiligten Geltungshin-
sichten durchaus nicht so, wie sie in anderen Bereichen der gelin-
genden Verständigung interagieren. Die ästhetische Form des ln-
einandergreifens der Geltungsdimensionen ist das Besondere des
Ästhetischen. Wie Wellmer anschließend selbst betont, ist dieses
Besondere kein Modell für etwas übergreifend anderes, schon gar
nicht für das Ganze der Vernunft. Mir scheint daher, daß der Zu-
rückweisung des leidigen Aufhebungsgedankens eine Zurückwei-
sung der versöhnungsgläubigen Festlegung der Kunst auf einen
besonders utopischen Auftrag direkt nachfolgen muß. Gerade im
Kontext einer politischen Utopie der gewaltlosen Kommunika-
tion hat die kritisch gemeinte Berufung auf die utopische Berufung
der Kunst nicht länger einen vernünftigen Sinn.
Das wird deutlich an den absichtsvoll unspezifischen Bestim-
mungen, mit denen Wellmer das genuin Utopische der Kunst
benennt. Die »Überwindung der Sprachlosigkeit« ist ja bereits
ein normatives Telos der alltagssprachlichen Verständigung, wie
Wellmer mit Habermas unterstellt. Sie ist also nicht spezifisch an
der Gelungenheit von Kunstwerken zu beglaubigen, gerade dann
nicht, wenn deren Artikuliertheit nicht in verkürzenden Analo-
gien zu grundlegenden Verständigungsformen verstanden wird
(wie auch Wellmer es gegen Habermas vermeidet). Wegen ihrer
auf besondere Weise kommunikationsermöglichenden Gehalte
hat die Kunsterfahrung an der sprachimmanenten Norm der
Verständigung durchaus ihren Anteil - die kommunikative Ver-

326
gegenwärtigung von Erfahrungsgehalten geht als ein weiterer Pol
in das Reservoir einer reichen zwischenmenschlichen Verständi-
gung ein. Die kommunikativen Formen der ästhetischen Kritik
stehen somit der Utopie einer kommunikativ dominierten Koor-
dination gesellschaftlicher Verhältnisse keineswegs entgegen.
Aber sie fügen ihr auch nichts hinzu, was nicht im Gedanken
eines mehrseitig und kritisch verständigungsvermittelten Han-
delns schon ausgesprochen wäre.
Auch das zweite Element, das Wellmer benennt, wäre mißver-
standen, würde es zur generell utopischen Qualität erhoben. Die
»sinnliche Kristallisation des in der Erfahrung zerstreuten Sinns«
ist ja zunächst einmal das, was die gelungenen Werke jetzt und
heute zur Wahrnehmung geben. Das Verstehen der aktuellen
Bedeutung eines ästhetisch bedeutenden Gegenstands ist eine
Erfahrung, die uns zuteil wird in der vollzogenen Erkenntnis von
Sinnbeziehungen, die unsere Gegenwart bestimmen. Wenn diese
ästhetische Erfahrung - bei aller Vorsicht - doch zu einem
Modell utopischer Erfahrung stilisiert wird, scheinen überbie-
tungstheoretische Konsequenzen unausweichlich. Die Festle-
gung der ästhetischen Erfahrung auf ein genuin utopisches Ele-
ment läuft Gefahr, das Verstehen ästhetischer Gegenstände er-
neut zum eigentlichen Paradigma einer unverkürzten Erfahrung
zu erheben, wie es gewiß bei Adorno gemeint war. Das Kunst-
werk wird zum negatorischen Kraftwerk einer entgrenzten Er-
fahrung, die mit den Beschränkungen des Sinns auch die perspek-
tivischen Umgrenzungen des alltagspraktischen Handelns über-
schreitet: und stünde somit doch für den utopischen Erfahrungs-
grund des mit sich selbst einig gewordenen Ganzen einer mime-
tisch zarten Vernunft. Die ästhetische Erfahrung genuin utopisch
zu verstehen bedeutet, ihr überschreitendes antinomisch zu kon-
struieren: gegen das Gesetz auch einer in kritisch korrespondie-
rende Gewalten gewaltlos geteilten Vernunft. Auch wenn dies
nach Wellmers Deutung die Notwendigkeit einer Aufhebung der
Kunst nicht mit einschließt, so überspringt doch die utopische
Auszeichnung der ästhetischen Erfahrung die unabdingbare Dif-
ferenz zu den Formen der in lebensweltliche Praktiken situativ
eingebundenen Erfahrung, eine Differenz, die die Sensationen
der ästhetischen Erfahrung gerade bedingt.
Auch die von Karl Heinz Bohrer vorgeschlagene Unterscheidung
der ästhetischen Utopie von einer Utopie des Ästhetischen kann
den Gedanken einer innigen Verbindung des Ästhetischen mit
dem Utopischen nicht überzeugend reformulieren. Wie schon die
Opposition zwischen dem »Schein des Scheinlosen« und dem
»Schein des Scheinens« ist auch diese zweite Alternative unzu-
länglich konstruiert. Was Bohrer mit dem Kontrast der beiden
Utopien meint, läßt sich durch eine einfache Umformulierung
deutlich machen. Er stellt der ästhetisch vorscheinhaften Präsenz
der Utopie eine ekstatisch scheinhafte Utopie der Präsenz gegen-
über. Demnach ist der ästhetische Schein nicht länger notwendig
ein Vorschein (dies wird zu einer bloß inhaltlichen Frage)- es ist
der Glanz des phantastisch-fiktionalen Selbstentwurfs der Wahr-
nehmenden angesichts ästhetisch eminenter Konstrukte. Diese
utopische Qualität ist für Bohrer (im Unterschied zur Wellmer-
schen Auffassung) nicht in der Geformtheit des ästhetischen
Objekts, sondern vor allem in den charakteristischen Formen
seiner Wirkung angesiedelt: es ist die »Utopie des Augenblicks«,
der »totalen Präsenz«, die aus den Bedingungen der Handlungs-
wirklichkeit imaginativ heraustritt. 14 '
Im Anfangskapitel habe ich dargelegt, daß diese Thesen Gefahr
laufen, die ästhetische Differenz nach der anderen (entzugstheo-
retischen) Seite zu überspringen, so daß es nicht länger möglich
ist, den Gedanken der ästhetischen Erkenntnis, an dem Bohrer
festhalten will, plausibel zu erläutern,. Wird die Idee einer reichen
Gegenwart zur an sich selbst »ästhetischen Kategorie« erklärt, so
geht ein Begriff der Gegenwart verloren, in der die ästhetische
Erfahrung verändernd und eingreifend wirksam werden könnte.
Die Utopie der entgrenzten Gegenwärtigkeit wird zur Utopie
des folgenlos transzendierenden Augenblicks. Die antiregulative
»Utopie des Ästhetischen«, die Bohrer normativ postuliert, ist
die leere Paradoxie einer überschwenglichen Präsenz, die sich
ortlos verhält zu den Orientierungen, die in ihr außer Kraft
gesetzt sind. Der kritisch-polemische Sinn der ästhetisch intensi-
ven Wahrnehmung, auf den es Bohrer zugleich doch ankommt,
ist nicht zu erläutern in Begriffen einer Utopie, die nichts antizi-
piert als die pure Freisetzung von den Projekten und Projektio-
nen des bisher Rezipierten.
Die Rede vom Überschreitenden der ästhetischen Erfahrung
wird bodenlos, wenn sie von regulativen Wirkungen dieses Über-

328
schreitens gänzlich abgelöst wird - soweit bin ich mit Wellmer
einig auch gegen Bohrers Reduktion der utopischen Dimension
des Ästhetischen. Aber der spezifisch regulativen Komponente
der Kunsterfahrung wird man philosophisch nur gerecht, wenn
man hierin ein nichtutopisches Regulativ erkennt. Auf den ersten
Blick mag das nicht weniger paradox erscheinen als der Vorschlag
von Bohrer. Aber wer »regulativ« sagt, muß nicht »utopisch«
sagen: das Regulativ der ästhetischen Erfahrung ist ein korrekti-
ves Prinzip, und es ist in seiner korrektiven Funktion nur zu
verstehen, wenn es nicht zugleich als eine utopische Antizipation
verstanden wird. Das regulative Moment der ästhetischen Erfah-
rung liegt einfach - in seiner einzigartigen Motivation zur Erfah-
rung. Das ästhetische Interesse ist eines an der Erfahrung um der
Erfahrung willen: umwillen der erfahrenden Begegnung mit der
eigenen Erfahrung. »Erfahren!« - so, ohne weiteren Zusatz,
lautet der ästhetische Imperativ. Darin liegt die Aufforderung,
sich der Möglichkeiten der Freiheit unter den Bedingungen der je
historischen Gegenwart in distanzierender Vergegenwärtigung
zu besinnen. Diese Besinnung vollzieht sich vermöge einer Er-
fahrung mit der eigenen Erfahrung. Diese Erfahrung überschrei-
tet die Projektionen des alltagspraktischen Handelns, nicht um
ihre Begrenzungen und Zusichten prinzipiell zu dementieren,
sondern um sich den Möglichkeiten und Grenzen dieser Praxis
verändernd zu konfrontieren. Sie überschreitet diese Orientie-
rungen, weil das Verhalten, das in diese Erfahrung führt, sich auf
nichts weiter orientiert als auf Gelegenheiten der spielerisch
erfahrbaren Erfahrung. Im Unterschreiten aller weitergehenden
Zwecksetzungen liegt das digressive Potential des ästhetisch
wahrnehmenden Verhaltens.
In der ästhetischen Erfahrung und der aus ihr argumentierenden
Kritik geschieht nicht eine totalisierende Rechtfertigung der Welt
und ihrer augenblicklichen Gegenwarten als ästhetischer Phäno-
mene; am ästhetischen Phänomen kann eine nach vorgegebenen
Fragen nicht zugeschnittene und gegenwärtig bedeutsame Sicht
der Welt gerechtfertigt werden. Und als eine Korrektur hand-
lungsleitender Okkupationen wird diese Kritik nur solange zäh-
len, als sie sich stützt auf Erfahrungen und Einsichten, die
tragend sind für die Praxis in dieser Welt, deren Erfahrungsbe-
dingungen jetzt zur reflexiven Vergegenwärtigung kommen. Der
ästhetischen Kritik, der es allererst um die Offenheit für Erfah-
rung geht, muß es auch um das Offenhalten einer externen Kritik
ihrer eigenen Grundlagen gehen.
Die regulative Forderung eines Offenseins für Erfahrung nun ist
mitnichten utopisch. Wir müssen uns die erfahrende Freisetzung
von unserer Befangenheit in der gegebenen Praxis immer schon
zutrauen können, um uns auf utopische Normen des gesellschaft-
lichen Handelns überhaupt wirksam zu beziehen. Auch ist der -
ebenso freiheitsbedingte wie freiheitsbedingende - Anspruch ans
eigene Erfahrenkönnen nicht als solcher ästhetisch. Ästhetisch ist
die Hinwendung und der spezifisch begründbare Verweis auf
Medien der Erfahrung, an denen die - mondiale - Notwendigkeit
des Machens bestimmter, vom ästhetisch gelungenen Objekt in
seiner begrifflich und situativ »unbestimmten« Artikuliertheit
bestimmter Erfahrungen verstehend vollzogen und kritisch erör-
tert werden kann. Das gelungene Werk und seine Erfahrung sind
nicht von vornherein auf einen anderen Zustand der Erfahrbar-
keit negatorisch und transzendierend bezogen (so sehr auch
utopische Welten ästhetisch bedeutet sein mögen). Das gelungene
Werk gibt die Möglichkeit einer befreienden Begegnung mit der
eigenen Erfahrung - jetzt, hier, heute.
In dieser auf ästhetische Gehalte konkret und konkretisierend
bezogenen Affirmation des Erfahrenkönnens im Erfahrunghaben
und des Erfahrunghabens durchszweckfrei und freizügig aktuali-
sierte Erfahrenkönnen liegt die ästhetische Dimension der Frei-
heit und Vernunft. Das ästhetische Jetzt der Erfahrbarkeit ist
radikal präsentisch - daran erinnert zu haben, ist Bohrers ent-
scheidender Verdienst. Die präsentische Vergegenwärtigung von
Erfahrungsgehalten ist auf die lebensförmige Gehaltenheit in
Erfahrungszusammenhängen korrektiv bezogen - darauf ist mit
Wellmers Adorno-Lektüre nachdrücklich zu bestehen. Die kom-
munikative Utopie aber, wie sie Habermas und Wellmer entwer-
fen, ist eine im Kern politische,keine essentiell ästhetischprojek-
tierte. Lassen wir die utopischen Projektionen im Feld der Poli-
tik, dem sie zugehörig entstammen! - seien die politischen Ver-
hältnisse ihrer Annäherung auch so entfernt wie sie sind.' 42 Die
Offenbarungen der ästhetischen Erfahrung bedürfen einer utopi-
schen Stilisierung nicht: ihre befreienden Sensationen, wenn wir
nur wollen und finden, gehen uns nahe genug.

330
Das Potential ästhetischer Rationalität, so denke ich, ist nur dann
theoretisch unverzerrt begriffen, wenn man nicht der von Schiller
bis Marcuse, Bloch und Adorno tradierten Metaphysik der ästhe-
tischen Form neuerlich erliegt. Diese wie immer materialistisch
säkularisierte Eschatologie versteht die Artikuliertheit eines jeden
gelungenen Kunstwerks als einen transzendierenden Vorgriff
aufs uneingeschränkt gute, befreite, schöne, erlöste Leben. Vor
allem Marcuse hat die ästhetisch stimmige Form auf diese Weise
zum Maßstab einer dereinst vollendeten Befreiung euphorisch
erhoben, der mit der vollbrachten Emanzipation selbst gegen-
standslos würde oder, wie die späten Schriften einschränkend
präzisieren, auch noch der befreiten Gesellschaft als kontrollie-
rende Instanz wenn nicht mehr voran, so doch nebenan stehen
würde. 143 Ästhetisch gelungene Form wird gedacht als Form
einer befreiten Gesellschaft (in der die Einzelnen alle gleicherma-
ßen zentral für das gesellschaftliche Ganze stehen, das sich in
ihrem Handeln verkörpernd reproduziert): das ist die letzte,
formalistisch gewordene Rettung des überbietungsästhetischen
Arguments. - Franz Koppe, seines Zeichens gewiß kein ästheti-
scher Überbietungstheoretiker, hat dennoch versucht, über einen
Begriff der ästhetischen Form den essentiell utopischen Status
der Kunst auf anthropologischer Basis zu reformulieren. Die
Konsequenz dieses Unternehmens ist vorzüglich geeignet, die
Unhaltbarkeit eines ästhetisch argumentierenden Versöhnungs-
glaubens abschließend zu illustrieren. Nach Koppes Auffassung
wird dem teleologischen Bedürfnis der Menschen nach »kon-
tingenzaufhebendem Lebenssinn« durch die ästhetische Form
»kontrafaktisch entsprochen«.144 Mit einem Wort: Kunst und
Kunsterfahrung werden hier definiert als die Vergegenwärti-
gung eines anthropologisch allgemeinen Anspruchs auf Versöh-
nung, wie immer weit wir endlichen Wesen von dessen Erfül-
lung - noch oder immer - entfernt sein mögen. Was immer es
außerdem und im einzelnen sei - das gelungene Kunstwerk soll
die Vorspiegelung eines dauerhaft ungefährdeten Glücks der in
ihren beschränkten Glücksmöglichkeiten seit jeher darbenden
Menschen sein.
Wäre die Kunst wirklich und notwendigerweise das, was Koppe
ihr im Anschluß an jene Tradition der spekulativen Ästhetik
zuschreibt, so wäre sie tatsächlich eine mehr oder weniger syste-

331
matische Verhinderung der Freiheit, wie es Christian Enzensber-
ger einmal mit genau analogen Argumenten, jedoch praktisch
konträren Konsequenzen dargestellt hat. ' 4' Zumal beim frühen
Marcuse war die Theorie der ästhetischen Transzendenz noch mit
einem klaren Bewußtsein ihrer abgründigen Ambivalenz gerade
unter Gesichtspunkten der ästhetisch projektierten Befreiung
verbunden. In zentralen Bereichen der bürgerlichen Kunstpraxis
nämlich, gegen die Marcuse ideologiekritisch polemisiert, ver-
kommt die schöne Verheißung eines utopisch anderen Zustands
zur separativ genossenen Befriedigung darüber, das alles doch, nur
recht eigentlich gesehen, in seiner vielversprechend besten Ord-
nung sei.' 46 Trotz der vielen Versuche, die vorher und seither
unternommen und durch die politischen Lager hinweg nachgebe-
tet wurden, sehe ich keine Möglichkeit, das utopische Glücksver-
sprechen der Kunst gegen den beschaulichen Verrat an ihren
kontrafaktischen Energien dialektisch zu retten. Ein solches
Glück nämlich, wie es die Kunst angeblich immer doch verheißt -
ein solches Glück wäre »über der Praxis«. Im Scharfsinn seiner
Radikalität hat allein Adorno nicht gezögert, diese unvermeidliche
Konsequenz einer verhohlen theologischen Ästhetik ausdrücklich
zu bejahen.' 47 Ein Glück über der Praxis wäre ein Glück auch
jenseits der Freiheit, es wäre den Entscheidungen eines selbstbe-
stimmten Handelns enthoben, durch das sich die Menschen in
Situationen verstricken und an Projekten beteiligen, über die sie
niemals in sinnsicherer Durchschaubarkeit verfügen. Keine Frei-
heit ohne Kontingenzen: ohne die fortdauernde Nötigung zur
Orientierung gegen den zufallenden Orientierungsverlust; Wer
die Freiheit will, muß die Enttäuschung der Erfahrung wollen.
Eine wenn nicht befreite, so doch aus ihrer selbstzerstörenden
Unmündigkeit sich befreiende Menschheit hätte das totalitäre
Bedürfnis nach durchgehend kontingenzaufhebender Sinnsätti-
gung nicht. Mit der Minderung der Entfremdung wäre sie dem
Zwang zur Versöhnung entfremdet. Der Vorschein ist die Tau-
schung. Lieber keine Kunst als eine dieses ewig selben Scheins.
Nicht die befriedende Stillung des Sinnverlangens, seine erken-
nende Bereicherung ist im Glanz der geglückten Konstruktionen
versprochen. In der Erfüllung ihres »Verlangens nach Verlan-
gen«'48,das sich an und in unendlichen Formen befriedigt, liegt die
ästhetische Lust der endlich in Freiheit Lebenden. Die pre-

332
käre Gegenwart der Freiheit, nicht ihre verschwindende Zukunft,
werden sie ästhetisch erfahren.
Anmerkungen

1 Der zusammen mit Carlos Pereda dafür verantwortlich ist, daß ich
glauben konnte, diese Arbeit schreiben zu müssen.
2 Ich halte mich hier an die »vorläufige Begriffsbestimmung« von
,Rationalität, bei J. Habermas, Theorie des kommunikativen Han-
delns, 2 Bde, Ffm 1981, Bd. 1, 25-71.
3 Da gibt es nur die formalen Gesetze der Logik, die aber, wie
Toulmin beispielhaft gezeigt hat, einem »substantiellen« Argumen-
tieren keineswegs als solche die Regel geben, vgl. S. Toulmin, Der
Gebrauch von Argumenten, Kronberg 1975.
4 »Aufklärung - der Gedanke, daß es vernünftig wäre, glücklich zu
sein« - eine polyphone Verteidigung der Unverfrorenheit eines
unverklemmt rationalen Freiheitsverlangens bietet P. Sloterdijk in
seiner »Kritik der zynischen Vernunft«, 2 Bde., Ffm 1983 (Zitat= I,
245). - »Vernunft setzt Freiheit voraus und reicht nur soweit wie
sie«: zum Zusammenhang von Vernunft, Freiheit und Verneinung s.
auch E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanaly-
tische Philosophie, Ffm 1976, 107 ff. u. 5I 5 ff. (Zitat = 118). - Zum
Motiv des Labyrinths und zu der Einstellung, aus der ich diese
einleitenden Sätze schreibe, vgl. das Vorwort von C. Castoriadis, in:
ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Ffm 1981,
7 ff.
5 » Wir sind so sehr auf die negative Wertung dessen, was Hegel
Entzweiung nennt, fixiert, daß es selbst in der einfachen Wiedergabe
seiner Theorie fast unmöglich ist, den Klang des Negativen zu
vermeiden und die Vorstellung fernzuhalten, es sei die Entzweiung
mit dem Verfall und Ende des substantiellen Lebens identisch.«
J.Ritter, Subjektivität und industrielle Gesellschaft, in: ders., Sub-
jektivität, Ffm 1974, 9 ff., hier 27 f.
6 Ich entstelle einen Satz von Benjamin aus dessen zweiter These über
den Begriff der Geschichte. »Glück, das Neid in uns erwecken
könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Men-
schen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten
geben können. Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung
des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit.« W. Benjamin,
Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäu-
ser, Bd. 1. 2, 692.
Etwas verhaltenere Kritiken der versöhnungsutopischen Reduktio-
nen (zumal der älteren Kritischen Theorie) finden sich bei A. Well-

334
mer, Thesen über Vernunft, Emanzipation und Utopie, Ms Kon-
stanz, 1979; ders., Reason, Utopia and the Dialectic of Enlighten-
ment, in: Praxis 3/i983; J. Habermas, Die Verschlingung von My-
thos und Aufklärung, in: K.-H. Bohrer (Hg.), Mythos und Mo-
deme, Ffm 1983, 405 ff. Ich komme auf diesen Komplex im Schluß-
kapitel zurück.
7 Das beste Beispiel ist Odo Marquards »Abschied vom Prinzipiel-
len«, Stuttgart 1981; ähnliches geschieht in den französischen, Ba-
taille bagatellisierenden Theorien, denen Freiheit nur noch in Maßen
der Intensität einer sterilen Verausgabung denkbar ist, z.B.
J. F. Lyotard, Intensitäten, Berlin 1978.
8 Dazu 0. Marquard, Kant und die Wende zur Ästhetik, in: ZfphF
16/i962, 231-243 u. 363-374 und B. Lypp, Ästhetischer Absolutis-
mus und politische Vernunft. Zum Widerstreit von Reflexion und
Sittlichkeit im deutschen Idealismus, Ffm 1972.
9 H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen (4) 1975, 398 u.
379.
10 J.Habermas, (1981), 11, 585.
1r Die programmatischen Überlegungen, die ich hier anstelle, haben
deutliche Parallelen mit dem Vorhaben, das Peter Bürger in seiner
jüngsten Arbeit »Zur Kritik der idealistischen Ästhetik«, Ffm 1983,
in Angriff nimmt. Auch Bürger versucht innerhalb einer klassischen
Opposition - derjenigen von Autonomie und Aufhebung - zu
operieren, um diese Alternative schließlich gegenstandslos zu ma-
chen. Trotz erhellender Interpretationen und Vorschläge scheint mir
das am Ende mißlungen (oder nur ironisch gelungen: nämlich
zugunsten der alten Opposition), wenn Bürger schließlich befindet,
die »Besonderheit des Ästhetischen« sei »nicht mehr unser Pro-
blem«, weil es durch die Auseinandersetzung mit der idealistischen
Ästhetik möglich geworden sei, »die Rückführung der Kunst in die
Lebenspraxis zu denken (... ) als ein Projekt, das nicht das der
Avantgardebewegungen wiederholt.« (189) Das läuft, soweit ich
sehe, auf die Aufhebung eines Problems durch das Mittel der
Leugnung hinaus. Dagegen scheint es mir geboten, das Besondere
der ästhetischen Praxis zu begreifen, um zu verstehen, inwiefern
diese eine relevante Form unserer Lebenspraxis darstellt. Nicht ist
die Alternative von Autonomie und Aufhebung zögerlich aufzuhe-
ben, sondern die relative Autonomie der ästhetischen Weltsicht
plastisch - in ihrer Welthaltigkeit - herauszustellen, so daß sich die
Frage der Aufhebung hier erledigt. Gewiß kann man auch das wieder
eine Aufhebung nennen, nur hebt sie das Problem nicht auf, bevor
sie es löst. (Für die »Avantgardebewegungen« folgt daraus, daß sie
nicht gescheitert, sondern gelegentlich einer falschen Selbstinterpre-

335
tation erlegen sind). - Eine ähnliche Position vertritt Wellmer
(19836).
12 Die zum Ausdruck kommt in Sätzen wie: »Die Rationalität der
Kunstwerke wird zu Geist einzig, wofern sie untergeht in dem ihr
polar Entgegengesetzten.« - »An der Irrationalität des Ausdrucks-
moments hat Kunst den Zweck jeglicher ästhetischer Rationalität.«
T.W.Adorno, Ästhetische Theorie, Ffm (2) 1973, 180 u. 175, vgl.
86-97. Zu Adornos Begriff der ästhetischen Rationalität s. auch
Bürger (1983), 112-u6 und Wellmer (19836).
13 P. Valery, Windstriche, Ffm 1973, 126.
14 H. R.Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1,
München 1977, 166.
15 Adorno (1973), 513·
16 »Die Definition des Geschmacks, die hier zum Grunde gelegt wird,
ist: daß er das Vermögen der Beurteilung des Schönen sei. Was aber
dazu erfordert wird, um einen Gegenstand schön zu nennen, daß
muß die Analyse der Urteile des Geschmacks entdecken.« (KdU § 1
Anm.).
17 J. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Ffm 1978,
bes. 155 f. u. 161, vgl. 111. - Zur Einseitigkeit der puristischen
Reduktionen in der KdU vgl. Kulenkampffs ergänzenden Aufsatz
»Über Kants Bestimmung des Gehalts der Kunst«, in ZfphF 33/
1979, 62 ff.
18 Die prägnantesten, wenn auch insgesamt sehr kargen Hinweise auf
die Verfahrensweise der Kritik (nicht als einer »Wissenschaft«,
sondern einer »Kunst«) finden sich bei Kant in den§§ 32, 33, 60. In
§ 32 beteuert Kant, daß er sich in ästhetischen Dingen angesichts
vermeintlich kriterieller Beweisgründe die Ohren zustopft, »keine
Gründe und kein Vernünfteln« hören mag und eher annehmen wird,
»daß jene Regeln der Kritiker falsch sein, oder wenigstens hier nicht
der Fall ihrer Anwendung sei, als daß ich mein Urteil durch Beweis-
gründe a priori sollte bestimmen lassen, da es ein Urteil des Ge-
schmacks und nicht des Verstandes oder der Vernunft sein soll.«
(Herv. von mir) Natürlich wird meine Anspielung auf diese Stelle
der Kantischen Verwendung von »Verstand« und »Vernunft« nicht
gerecht.
19 Es scheint mir ein deutlicher Mangel der neueren, stark von Kant
inspirierten Theorien der ästhetischen Erfahrung, daß sie sich aus
verschiedenartigen Gründen veranlaßt sehen, auf eine eingehende
Analyse der ästhetischen Kritik zu verzichten.
20 Adorno (1973), 527 f. (hieraus die Angaben auf den folgenden
Seiten).
21 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Ffm 1970, 25.
22 Zu den Voraussetzungen und Aporien der »Ästhetischen Theorie«
vgl. T. Baumeister/]. Kulenkampff, Geschichtsphilosophie und phi-
losophische Ästhetik. Zu Adornos ,Ästhetischer Theorie<, in:
NHfPhil 5/J973, 74 ff.; R. Bubner, Kann Theorie ästhetisch wer-
den? Zum Hauptmotiv der ästhetischen Theorie Th. W. Adornos,
in: B. Lindner/M. Lüdke (Hg.), Konstruktion der Modeme, Mate-
rialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos, Ffm 1980; A. Well-
mer, Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung
der Modernität, in: L. v. Friedeburg/J. Habermas (Hg.), Adorno-
Konferenz 1983, Ffm 1983, 138ff. Zur Problemlage der nachkanti-
schen Ästhetik vgl. P. Pfaff, Die ästhetische Antinomie »auf dem
gegenwärtigen Stand«, in: Euphorion 70/r976, 359ff.
23 I. Kant, Werke, hg. v. W. Weischedel, Wiesbaden 1957, Bd. v, 443.
Ich referiere den Gedanken-, nicht den genauen Argumentations-
gang des § 56.
24 Beide konstruieren die ästhetische Erkenntnis aus einem rigorosen
Gegensatz von Kunst und Leben - während der normale Entzugs-
theoretiker in der Betonung der Differenz von ästhetischer Veraus-
gabung und lebensprakcischer Vereinnahmung den Gedanken einer
spezifischen Erkenntnis gerade verabschiedet und der konventio-
nelle Überbietungstheoretiker diese Erkenntnis immer auch als eine
des eigenen Lebens und im zeitlichen Dasein versteht. - Zum frühen
Lukacs vgl. Bürger (1983), 45 ff.
25 Gadamer (1975), xxrx; hieraus auch die folgenden Angaben im Text.
26 »Ästhetische Erfahrung muß sich selbst überschreiten«, Adorno
(1973), 519; vgl. auch die erwähnte Konvergenzbehauptung, ebd.,
197. - »So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-
Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden. Aber bislang hatte es die
Kunst doch mit dem Schönen und der Schönheit zu tun und nicht
mit der Wahrheit«; es gilt also, die »Fragestellung der Ästhetik«
selbst zu erschüttern: M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks,
in: ders., Holzwege, in: ders., Gesamtausgabe, Ffm 1976ff., Bd. 5,
r ff., hier 2 r u. 24.
27 R. Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in
NHfPhil 5/r973, 38 ff., bes. 60 (aus diesem Aufsatz stammen die
folgenden Angaben). Zur Kritik der Überbietungstheorie am Bei-
spiel Gadamers s. F. Koppe, Sprache und Bedürfnis, Stuttgart 1977,
65-72; zur Darstellung der Kontroverse zwischen Hermeneutik und
Ideologiekritik einerseits, Überbietungs- und Entzugsästhetik ande-
rerseits s. P. C. Lang, Hermeneutik, Ideologiekritik, Ästhetik. Über
Gadamer und Adorno sowie Fragen einer aktuellen Ästhetik, Kö-
nigstein/Ts. 1981.
28 R. Bubner, Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, in: W. Oelmüller,

337
(Hg.), Kunst und Philosophie 1, Paderborn 1981, 245 ff.; vgl. auch
die abgedruckte Diskussion, 262 ff,
29 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Ffm 1977, 79.
30 K. H. Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen
Scheins, Ffm 1981, 7 - daraus auch die folgenden Angaben.
31 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit (15) 1979, bes.§§ 62 u. 65.
32 Bürger (1983), 76. - In dieselben Schwierigkeiten führt Foucaults an
Bataille gewonnenes Konzept der nicht-affirmativen Bejahung und
Lyotards Ästhetik der affirmativen Suspension jeglicher Signifikanz,
s. M. Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: ders., Von der
Subversion des Wissens, München 1974, 32 ff. u. J.F. Lyotard, Es-
says zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982.
33 Adorno (1973), 199, vgl. 423.
34 F. Koppe, Grundbegriffe der Ästhetik, Ffm 1983, 112 (hieraus die
folgenden Angaben).
3 5 Zu Habermas s. neben den bei Koppe angegebenen Arbeiten Haber-
mas (1981), Bd. 1, 41 f., 68-71, 138 f. u. 464 f. Vgl. J.H., Die Modeme
- ein unvollendetes Projekt, in: Die Zeit Nr. 39/i9. 9. 1980.
36 Weil eine jede etwas anderes bietet, kann jede die beiden anderen auf
ihrem Gebiet überbieten. In der mündlich kunstlosen Erzählung,
wie es mir da und dort ergangen ist, komme ich, so wie ich heute
zum Damaligen stehe, unter Umständen in lebendigerer Weise vor
und zum Vorschein, als dies in einer artistisch dargebotenen oder
artifiziell ausgeführten Vergegenwärtigung der Fall sein könnte -
weil der Künstler, wenn er gut ist, in seinem Artefakt verschwindet.
Andererseits sind endeetische Kurzformen wie »Ich liebe dich« oder
»Du kotzt mich an« in ihrer Kürze und Formelung schlechterdings
nicht zu überbieten - ihnen eignet eine interaktive Faßlichkeit und
Klarheit, die durch nichts zu ersetzen ist, schon gar nicht durch
ästhetische Überbietungen.
37 In diesem Punkt sieht Habermas entschieden klarer als Koppe:
Kunst und Kunstkritik sind notwendig aufeinander bezogen, vgl.
Habermas (1981), Bd.1, 4d. u. 70. - Womit freilich noch nicht
geklärt ist, wie sich die expressive zur ästhetischen Rationalität, wie
sich der Anspruch auf die » Wahrhaftigkeit« von Äußerungen zu
dem »Anspruch auf Authentizität« im ästhetischen Ausdruck (ebd.,
41) verhält.
38 H. R. Jauß, Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz
1972.
39 Heidegger (1979), 3-28; zur Deutung dieses Zitatsplitters und zum
Augenblickstheorem bei Heidegger s. G. Wohlfahrt, Der Augen-
blick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche
und Heidegger, Freiburg - München 1982, 113 ff., bes. 121.
40 Das Zitatstück stammt aus Adorno (1973), 171; vgl. S. Sontag,
Against Interpretation, in: dies., Against Interpretation and other
Essays, New York 1966, 5 ff. Eine bündige Zusammenfassung der
Argumente gegen eine bedeutungstheoretisch orientierte Ästhetik
findet sich bei W. Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, 12-37.
41 Adorno (1973), 197.
42 Gadamer (1975), bes. 375 f.
43 J.Dewey, Kunst als Erfahrung (1934), Ffm 1980, 10. Zur Würdi-
gung und Kritik der Ästhetik von Dewey s. Iser (1976), 216 ff.; Jauß
(1977), 162ff.; vgl. Adorno (1973), 525.
44 Ich lese Tugendhats Analyse der prädikativen Satzform (E. T., Vor-
lesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Ffm
1976, Teil n) im Horizont von Heideggers Betrachtungen zur
Welt!ichkeit der Welt, in dem sie erklärtermaßen - spannungsreich -
steht. Zur Exposition derjenigen Fragestellung bei Heidegger, die
hier vor allem interessiert, s.. M. H., Sein und Zeit, Tübingen (15)
1979, §§ 15-18. Gadamers Ausführungen zur Erfahrungstheorie fin-
den sich in: H.-G. G., Wahrheit und Methode, Tubingen (4) 1975,
250-359. Ebenfalls in der kritischen Nachfolge Heideggers stehen
Apels Arbeiten über »Sprache und Welterschließung«, in: K. 0. A.,
Transformation der Philosophie, Ffm 1976, Bd. I, 77 ff.; vgl. auch die
spätere Einleitung, bes. 22 ff.
45 Michael Polanyi hat eine grundlegende »dual nature of awareness«
als wechselseitigen Zutrag von fokaler Ausrichtung und subsidiärer
Einstellung phänomenologisch postuliert: M. P./H. Prosch, Mea-
ning, Chicago - London 1975, bes. 39 u. 175; vgl. auch M. Polanyi,
Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, London
1958. - Zur Betonung des innerweltlichen (und leiblichen) Engage-
ments im Kontext einer Theorie der Erfahrung vgl. K. 0. Apel
(1976), Bd. II, 87f., 99, 102.
46 Wenn nicht anders vermerkt, wird im folgenden stets in diesem Sinn
von Erfahrung die Rede sein. Für die Arten der nach diesem
Sprachgebrauch nicht notwendig erfahrenden Kenntnisnahmen und
Orientierungsleistungen verwende ich die Termini »wahrnehmen«,
»verstehen«, »erkennen«, etc.; wenn der Zusammenhang klar ist,
gebrauche ich gelegentlich einen dieser Ausdrücke (insbesondere
»Wahrnehmung« und »wahrnehmen«) als Deckbegriff für konstatie-
rende Bewußtseinsleistungen.
47 Zur »umsichtigen Auslegung« siehe Heidegger (1979), § 33, bes.
158; vgl. z.B. 336. In der Einschätzung Heideggers stütze ich mich
auf Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprach-
analytische Interpretationen, Ffm 1979, bes. 8. Vorlesung, 164-192.
Zu Gadamers Ausweitung des hermeneutischen Ansatzes zu einer

339
»universalen Hermeneutik ... , die das allgemeine Weltverhältnis des
Menschen« betrifft, sofern sie auf die grundlegende »Sprachverfas-
sung unserer Welterfahrung« reflektiert, siehe ders. (1975), 449 ff.,
hier 4p.
48 Eine verwandte These vertreten Polanyi/Prosch in: Meaning, a.a.O.,
bes. Kap. rv u. v.; da ich aber die Ausführung für nicht sehr
befriedigend halte, werde ich mich in der späteren Diskussion an der
in der Einleitung skizzierten Traditionslinie orientieren.
49 Vgl. A. Schütz/T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Ffm 1979,
bes. 30 ff. u. 95 ff.
50 Zur Explikation eines (der lebensphilosophischen Tradition näher-
liegenden) emphatischen Erlebnisbegriffs, den ich als »singuläres
Betroffenheitsereignis« ein wenig depotenziere, vgl. unterschiedlich
Gadamer (1975), 60-66 und Bohrer (1981), z.B. 31 ff. u. 79.
Zur Dialektik von Erlebnis und Erfahrung siehe auch W. Benjamin,
Das Passagen-Werk, in: ders. (1972ff.), Bd. v, Teil 2, 962-968;
»Gewohnheiten sind die Armatur der Erfahrungen. Von Erlebnissen
wird diese Armatur angegriffen« (967).
51 Wahrheit und Methode, a.a.0., 336; vgl. 348: »Wir sahen schon,
daß die Negativität der Erfahrung logisch gesehen die Frage impli-
ziert. In der Tat ist es der Anstoß, den dasjenige darstellt, das sich
der Vormeinung nicht einfügt, durch den wir Erfahrungen machen.
Auch das Fragen ist daher mehr ein Erleiden als ein Tun. Die Frage
drängt sich auf, es läßt sich ihr nicht länger ausweichen und bei der
gewohnten Meinung verharren.« Den konstitutiven Negativitäts-
aspekt (den Gadamer allerdings überbetont) unterstreicht auch
J.Dewey (1980), Kap. m: »Eine Erfahrung machen«, 53, 57, 71.
52 »Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in
einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfah-
rung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird«, a.a.O., 338.
Freilich verkürzt Gadamer (hierin Hegel näher als seine Kritik
es andeutet) die Freiheit, die im Erfahrung-machen liegt, auf das
angerührt-aufnehmende Überlassen an ein Geschehen, das »nicht
unser Tun an der Sache, sondern das Tun der Sache selbst ist«
(439). Dagegen meine ich, daß dem Freigespieltwerden neuer
Ansichten das sich Freispielen aus Gegebenheiten wesentlich zuge-
hört.
Zum Kontrast vgl. J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbeck
1962, Teil 1v, Kap. n, »Freiheit und Geworfenheit: Die Situation«,
z.B. 619: »Wir fangen nun an, das Paradoxe der Freiheit zu erken-
nen: es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch
Freiheit.«
53 Habermas (1981), Bd. u, 187. - Vgl. Heideggers Analyse des In-der-

340
Welt-seins, in: Heidegger (1979), bes.§§ 14-18, 28-31, 67-71; s.Ga-
darner (1975), 419 ff.
54 Ich paraphrasiere Einsichten bei Schütz/Luckmann (1979), bes.
171ff. U. 224 ff.
Im übrigen möchte ich daran erinnern, daß •Lebenswelt« nicht
gleichzusetzen ist mit »Alltagswelt«: die Lebenswelt fällt mit derjeni-
gen des Alltags keineswegs zusammen, sondern diese bildet den für
die Handelnden fundamentalen, für eine Theorie der Lebenswelt (zu-
nächst) paradigmatischen Begriff von »Welt«. Vgl. ebd., 25-29 und
bes. A. Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: ders., Ge-
sammelte Aufsätze, Den Haag 1971, Bd. 1, 237 ff. Zum Kontext s.
P. Berger/T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Ffm 1970.
55 Mit regulativen Sätzen/ Äußerungen beziehen und bestimmen wir
einen Standpunkt im Sinne eines gegenwärtigen Engagements: wir
legen unseren Willen (für uns oder gegenüber anderen, allein oder
mit anderen) in der Formulierung einer bestimmten Absicht oder
Anordnung fest.
Mit konstativen Sätzen/Äußerungen beziehen und bestimmen wir
einen Standpunkt als Erkennende: wir etablieren eine kognitive
Relation, indem wir einen Sachverhalt als gegeben behaupten.
Mit expressiven Sätzen/ Äußerungen bestimmen und beziehen wir
einen Standpunkt als durch etwas Betroffene: wir artikulieren einen
gegebenen Zustand, den wir als Zustand unseres subjektiven Befin-
dens (uns oder anderen) vergegenwärtigen.
56 Die genannten drei Elemente einer Einstellung betonen unterschied-
lich Dewey (1980), 69 und Habermas (1981), Bd.r, 44rf. Zum
Begriff der Einstellung siehe besonders Schütz/Luckmann (1979),
261-270.
57 Zum Status praktischer Fragen und Stellungnahmen s. Tugendhat
(1976), Vorl. 7 (bes. 112ff.) u. 27 (bes. 513) und ders. (1979), 182ff.
u. 238.
58 Tugendhat (1979), 238.
59 Diese Konzeption des praktischen Wissens entwickelt Tugendhat in
Orientierung an Heidegger in: ders. (1979), 212 ff.
60 »Eine Einstellung kommt also der Bereitschaft gleich, unter typi-
schen Umständen typische Verhaltensweisen, somit auch typische
Um-zu-Motivationsketten, in Gang zu setzen. Und zwar sofort,
ohne erst ,planen< zu müssen.« Schütz/Luckmann (1979), 265.
61 In unserem Zusammenhang ist es dabei gleichgültig, ob diese Ein-
schätzung durch den Affekt zustande kommt - wie z.B. in der
Sympathie für Personen - oder ob der emotiv verzeichnete Umstand
auch unabhängig vom aktuellen Gefühl zu konstatieren wäre - wie

34 1
z.B. im Fall einer gegebenen Bedrohung. S. wiederum Tugendhat
(1979), Heidegger interpretierend, 193-209, bes. 202 f. Neben dieser
Arbeit stützt sich meine Erörterung über Gefühle vor allem auf
C. Taylor, Erklärung des Handelns, in: ders., Erklärung und Inter-
pretation in den Wissenschaften vom Menschen, Ffm 1975, 6 5 ff., bes.
83-97. - Zur Phänomenologie der Gefühle siehe ferner A. Heller,
Theorie der Gefühle, Hamburg 1981 und G. Ryle, Feelings, in: The
Philosophical Quarterly 1/r 9 51, 193 ff. - Siehe ferner die Arbeiten
von W. P. Alston (Emotion und Gefühl, 9 ff.), E. Bedford (Emotio-
nen, 34 ff.) und G. Pitcher (Emotionen, 82 ff.), alle in: G. Kahle (Hg.),
Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle, Ffm 1981.
Ich habe oben (S. 81) bereits die Differenz zwischen Emotionen und
Empfindungenerwähnt, die darin besteht, daß letztere keine Deutung
von etwas geben bzw. vorschlagen; empfindend tut sich uns etwas
kund, nehmen wir etwas wahr, so daß wir zu einem Urteil über die
Gegenstände dieser Empfindung kommen (s. Tugendhat 1979,
112 ff.); aber Empfindungen selbst enthalten kein Urteil; sie mögen
angenehm sein oder unangenehm, aber sie haben keinen propositio-
nalen Gegenstand, den sie - wie Gefühle einschließlich Stimmungen -
als den, der sie hat, positiv oder negativ betreffend bewerten. Daher
spielen Empfindungen als Element von Einstellungen keine spezifi-
sche Rolle, wiewohl sie, wie in jedem Tun und Wahrnehmen,
natürlich eine erhebliche Rolle spielen. (Daß ich, wenn ich Hunger
habe, etwas essen muß, weiß ich - fraglos - nicht aufgrund einer
erworbenen Einstellung, sondern der mitgegebenen körperlichen
Ausstattung; wenn ich freilich dann, wenn ich anständig Hunger
habe, ohne Rücksicht auf Kosten und Mühen den Nahrungsberei-
tungsstrategien des Herrn Bocuse und anderer Küchenakrobaten
dogmatisch folge, dann kommt darin durchaus eine Einstellung zum
Ausdruck - aber gewiß keine zum Hunger, kaum eine zum Essen,
sondern eine zum (und zu mehr als dem) Speisen: als der angemesse-
nen Art, den Hunger zu stillen.)
62 Vgl. Schütz/Luckmann (1979), 264.
63 S. Polanyi/Prosch ( 1975), Kap. 11. u. III.
64 Für die, die wittgensteinsche Proteste anmelden wollen, sei ausdrück-
lich festgehalten: Ich behaupte nicht, die dominante Verhaltensregel,
der wir einstellungspraktisch folgen, sei emotional konstituiert; noch
behaupte ich, die Befolgung irgend einer der im Zuge des Erwerbs
und Erhalts von Einstellungen angenommenen und beherrschten
Regel sei durch den Zuspruch angehöriger Affekte garantiert; ebenso-
wenig war davon die Rede, es seien die einzelnen Kenntnisnahmen,
die im Rahmen von Einstellungen unproblematisch vorgenommen
werden, durch sublime Evidenzgefühle ermöglicht. Die Bedeutungs-

342
und Verhaltensregeln, die hier ineinandergreifen, sind denen, die
ihnen folgen, als einzelne nicht erst in der Perforation bestimmter
Begleitemotionen geläufig. Aber - und allein - das Ensemble von
Regeln und Annahmen, auf deren Internalisierung eine Einstellung
beruht, ist für die Zeitspanne ihrer Einnahme unter emotionaler
Beteiligung aktualisiert; nicht die Anwendung einer Regel, der An-
wendungsfall einer Mehrzahl aufeinander bezogener Regeln ist im
Zuge eingespielter Praktiken durch das Votum vertrauter Emotionen
mit bestimmt. Dermaßen eine Praxis zu beherrschen, meint anderes
als nur die Fähigkeit, einer leitenden Regel zu folgen - nämlich die je
momentane Gewißheit, wann welche Regel als leitendes Prinzip zu
gelten habe (und daß ihr hier - wie gewohnt - der Vorrang zu
gewähren sei).
Zu den Spannungen zwischen Regel, Habitus und Praxis siehe
P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Ffm 1976, bes. Teil
II, Kap. 2 u. 3.
65 Zum System raumzeidicher Verweisungen in Wahrnehmungssitua-
tionen s. Tugendhat (1976), Vorl. 23-25 und H. N. Castaneda, Indi-
katoren und Quasi-Indikatoren, in: ders., Sprache und Erfahrung,
Ffm 1982, 148 ff. Natürlich sind Gefühlswörter keine Indikatoren,
sondern Ausdrücke, mit denen zu verstehen gegeben wird, daß
etwas hier und jetzt bzw. damals und dort auf diese oder jene Weise
bedeutsam (gewesen) ist für jemanden.
66 In diesem Sinn sagt A. Heller, daß »fühlen heißt, in etwas involviert
zu sein«, Heller (1981), 19.
67 Zu Polanyi vgl. Anm. 4 5; ähnliches findet sich bereits bei Heidegger,
der allerdings einen Primat der unartikulierten, sprachlich ungemu-
sterten Bedeutsamkeit bzw. Potentialität von Situationen behauptet,
etwa (1979), 87: »Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein
je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der
Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so
etwas wie ,Bedeutungen< erschließen kann, die ihrerseits wieder das
mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.« Diesen Zusam-
menhang von Bedeutung und Bedeutsamkeit werde ich unten
(Nr. v.) und im folgenden Unterkapitel anders darstellen, angeregt
durch Tugendhats Kritik an der Idee einer vorprädikativen Erschlos-
senheit von Situationen, siehe Tugendhat (1979), r8r ff., bes. 187.
68 Vgl. G. Ryle, Der Begriff des Geistes, Ffm 1969, Kap. 11.
69 Ich verstehe Urteilskraft, das nicht erklügelnde rationale Gespür, als
Fähigkeit, Selbstverständnis und Sachverständnis bzw. Handlungs-
entwurf und behandelten Gegenstand nichtthematisch zu koordinie-
ren. Ansätze einer Theorie der Urteilskraft am Paradigma des Bei-
spielverstehens finden sich bei G. Buck, Lernen und Erfahrung,

343
Stuttgart-Berlin-Köln, 1967. Zum Verhältnis von Regel und Urteils-
kraft s. R. Bubner, Sprache, Handlung und Vernunft, Ffm 1976,
1975 ff.
70 Dies mag ein (erfahrungsentlastet) routtniertes Zuspiel sein oder
ein (erfahrungsstürmisch) aufgeregtes Verwirrspiel. In den bedeu-
tungstheoretischen Fragen, die ich noch mehrmals berühren
werde, verdanke ich wesentliche Anregungen den Vorlesun-
gen, die Charles Taylor im Sommersemester 1981 in Konstanz
gehalten hat (vgl. die Vorüberlegungen in: ders., Hegel, Ffm 1978,
733-747).
Zur folgenden Unterscheidung vgl. auch Polanyi/Prosch (1975),
z.B. 50. Die Besonderheit der »ästhetischen Bedeutung• nehmen die
folgenden Bemerkungen noch nicht in Betracht.
71 Ich folge den Grundlinien der verifikationistischen Behauptbar-
keitssemantik, vertreten von Tugendhat (1976) und Dummett, bes.:
What is a Theory of Meaning?, in: G. Evans, J.McDowell, (Hg.),
Truth and Meaning, Oxford 1976, 67ff.
71. Das hat Folgen auch für ein systematisierendes Verstehen
des je
historischen Sinns und Sinnverstehens, wie Gadamer gegen eine
methodologisch rigide Kritik der Hermeneutik zu Recht betont: »In
den hermeneutischen Wissenschaften wird durch die sprachliche
Formulierung nicht einfach auf einen Sachverhalt gewiesen, den man
auf andere Weise durch Nachprüfung zur Erkenntnis bringen kann,
sondern stets auch ein Sachverhalt im Wie seiner Bedeutsamkeit
sichtbar gemacht. Das macht eine besondere Forderung an sprachli-
chen Ausdruck und Begriffsbildung aus, daß hier der Verständniszu-
sammenhang mitbezeichnet werden muß, in dem der Sachverhalt
etwas bedeutet.• Gadamer (1975), 51.6.
73 Heidegger (1979), 324.
74 Habermas (1981), bes. Kap. 1: »Zugänge zur Rationalitätsproblema-
tik«; ich weiche in einigen Punkten vom Differenzierungsschema bei
Habermas ab.
75 Th. W. Adorno, Minima Moralia, Ffm 1971, 99 f. - Eine Analyse der
Art von Vorgriffen und Fragestellungen, die das theoretische Ver-
halten immer bereits bestimmen, bietet W. Kuhlmann, Reflexion
und kommunikative Erfahrung. Untersuchungen zur Stellung philo-
sophischer Reflexion zwischen Theorie und Kritik, Ffm 1975; zur
Funktion von Gefühlen in kognitiven Prozessen vgl. A. Heller
(1981), n4ff.
76 P. F. Strawson, Freiheit und Übelnehmen, in: U. Pothast (Hg.),
Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Ffm 1978, 1.01 ff.; vgl.
J.Habermas, Diskursethik - Notizen zu einem Begründungspro-
gramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln,

344
Ffm 1983, 53ff., bes. 60; vgl. C. Pereda, Theorie der Argumentation,
Konstanz 1975, 26off.
77 Zu diesen Unterscheidungen s. E. Tugendhat, Langage et Ethique,
in: Critique 37/i981, 1038ff.
78 Allerdings gibt es auch Gründe dafür, die instrumentelle Einstellung
der theoretischen zuzurechnen (wie es bei Habermas geschieht), weil
ihr die leitenden Zwecke immer von außen vorgegeben sind und alle
internen Bewertungen hier auf theoretische Annahmen rückführbar
sind. Weil aber die ausschlaggebenden Gründe hier stets solche für
ein Handeln sind (und nicht für die Geltung von Aussagen), gehört
die instrumentelle Einstellung letztlich der Familie der praktischen
Einstellungen an.
79 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Schrif-
ten Bd. 1, Ffm 1969, § 241; »>Sosagst du also, daß die Übereinstim-
mung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?<-
Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache
stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der
Meinungen, sondern der Lebensform.«
In dieselbe Richtung zielt Gadamer (1975), 415 ff., bes. 419: »Die
Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der
in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt
sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben.«
80 Z.B. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Ffm 1969;
Berger/Luckmann (1970); Bourdieu (1976); Habermas (1981), bes.
Kap. v; zur historisch angelegten Habitusforschung s. N. Elias, Über
den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Ffm 1977.
8 1 Das beste Beispiel hierfür stammt von Hegel. Herr und Knecht
leben auf demselben Gut in getrennten Welten, bis sie - durch
erschütternde Erfahrung - erkennen, daß die ausschließende Ord-
nung beider Sphären erzwungen ist aus der Macht des jeweils
anderen und somit die Stärke und Schwäche des einen nur die
Schwäche und Stärke des anderen ist: dies erkannt, können beide
nicht wie bisher nebeneinander existieren. - Hegel, Phänomenologie
des Geistes, rv. A.
82 Wittgenstein (19½), 452.
83 »Was aber wesentlich ist, hängt von dem Zwecke ab. Dem auf das
Schöne in der Sprache gerichteten Sinne kann gerade das wichtig
erscheinen, was dem Logiker gleichgültig ist. So überragt der Inhalt
eines Satzes nicht selten den in ihm ausgedrückten Gedanken.~
G. Frege, Der Gedanke, in: ders., Logische Untersuchungen, hg. v.
G. Patzig, Göttingen 1966.
84 Die Unterscheidung einerseits der kontextuellen Umstände, an de-
nen die Verwendungsweise eines Wortes oder Satzes erkennbar ist,

345
und andererseits der Eigenheiten einzelner Verwendungssituatio-
nen, in denen der Gebrauch sprachlicher Ausdrucksmittel eine
Bedeutung gewinnen kann, die mit ihrer gebrauchstypischen Ver-
wendung nichts zu tun hat (und zwar ohne den Beginn einer neuen
Verwendungsweise zu matkieren), halte ich für den positiven Er-
trag der bei Wittgenstein zumeist negativ formulierten Überlegun-
gen zu den »charakteristischen Begleitphänomenen« des Denkens
und Sprechens.
85 Ich gebrauche den Ausdruck •performativ« hier wie bisher in der
Bedeutung »situationsbezogen (engagiert)« vs. »sachbezogen (in-
formiert)«. »Situationsbezogen« heißt dabei nicht notwendig »auf
die Gegenwart eines Kosubjekts bezogen«; in diesem Sinn sind
performative Handlungen nicht immer bereits interaktive Handlun-
gen.
86 Die Nichtunterscheidung dieser beiden Differenzierungsebenen
halte ich für einen gravierenden Mangel der sprachtheoretischen
Passagen in Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns (der
nicht zuletzt dafür verantwortlich ist, daß Habermas die ästhetische
Dimension der expressiven Verständigung aufpropft, anstatt ihre
Indifferenz gegenüber den sprachakttheoretisch rekonstruierbaren
Redepositionen anzuerkennen). Die Unterscheidung thematisieren-
der und vergegenwärtigender Handlungen darf im übrigen nicht
verwechselt werden mit der von und seit Austin propagierten Dif-
ferenz von illokutionären und perlokutionären Akten. Ich unter-
scheide hier nicht zwischen »sagen« und »bewirken« wollen, son-
dern zwischen zwei Formen, sich bzw. etwas verständlich zu ma-
chen; keine dieser beiden Formen ist genuin mit »perlokutiven
Effekten« verbunden; vgl. dagegen Habermas (1981), 388 u. 393 f.
87 Auch fiktionale Datstellungen fallen unter diesen Begriff: auch
Bilder von Einhörnern und Engeln sind thematisch artikulierte
Zeichen. Probleme der bildlichen Darstellung erörtern ausführlich
N. Goodman, Sprachen der Kunst, Ffm 1973 (Kap. I u. 1v) und
A. C. Danto, The Transfiguration of the Commonplace. A Philoso-
phy of Art, Cambridge, Mass. 198r.
88 Tugendhat (1976), 450.
89 Wittgenstein (1969), 493, vgl. z.B. 501, 53of. u. §§ 533 ff.
90 Den Holismus des Sprachverstehens betont in übertreibender, aber
erhellender Stilisierung auch Gadamer ( 197 5), 4 34.
Zur Geschichte und Bedeutungsfülle des Begriffs »Bedeutsamkeit«
s. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Ffm 1979, Teil 1, Kap. 3. -
Zum Begriff der Bedeutungsregel s. Saul A. Kripke, Wittgenstein on
Rules an Private Language, Oxford 1982.
91 M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ffm 1967, 3977.
92 Die Unterscheidung, um die es hier geht, ist verwandt mit derjeni-
gen zwischen »digitaler« vs. »analoger« Kommunikation, wie sie
eingeführt wird bei P. Watzlawick, J. H. Beavin, D. D.Jackson,
Menschliche Kommunikation, Bern 1969, 53-63. Sie ist aber auf
diese nicht übertragbar - aus drei Gründen. Erstens ist es irrefüh-
rend, die Kommunikation auf der »Beziehungsebene« als eine »Me-
takommunikation« über das auf der »Inhaltsebene« Gesagte zu
verstehen (vgl. 56); zweitens (und deshalb) wird die sprachfunktio-
nale Komplementarität der beiden Artikulationsmodi bei Watzla-
wick et al. allzu abstrakt konstruiert und voreilig auf eine inhaltliche
Differenz gebracht (Information vs. Beziehung); drittens ist die
Unterscheidung dort strikt ans interaktive Verhalten gebunden,
während ich die Möglichkeit der solitären Vergegenwärtigung be-
grifflich von vorneherein mit einbeziehen will (und nur aus Darstel-
lungsgründen zunächst anders verfahre).
93 Auch die sprechakttheoretisch so genannten »explizit performativen
Äußerungen«, mit denen Vergegenwärtigungshandlungen aktuell
kommentiert werden (»hiermit weise ich darauf hin, hiermit be-
haupte, fordere, verspreche ich« usw.) sind in ihrer unzweideutigen
Verständlichkeit von einem situativen Gelingen bzw. einer situativen
Gemäßheit ihrer Ausführung abhängig, die durch die explizit dekla-
rierende Form alleine nicht zu garantieren ist. Liegt es nicht daran,
liegt es nicht an der zusätzlich zur thematisierenden Klarstellung zu
leistenden Plazierung dieser Äußerungen, daß es mit dem Blick auf
die performativen Sätze bzw. Satzteile nicht recht entscheidbar
scheint, ob sie nun als regelrechte Feststellungen zu verstehen sind
oder nicht? Müssen die explizit performativen Äußerungen nicht als
thematisierend-vergegenwärtigende Zwitter verstanden werden, an-
statt als das herausragende Paradigma des performativen Bedeutens
und Verstehens? Vgl. G. Grewendorf, Haben explizit performative
Äußerungen einen Wahrheitswert?, in: ders. (Hg.), Sprechakttheorie
und Semantik, Ffm 1979, 175 ff.
94 G.Buck, Lernen und Erfahrung, Stuttgart-Berlin-Köln, 1967, 132.
95 Ebd., 134.
96 Zur Analyse der uneigentlichen Redeweisen s. J. R. Searle, Indirect
Speech Acts, in: ders., Expression and Meaning. Studies in the
Theory of Speech Acts, Cambridge 1979, 29 ff.
97 J.R.Searle, Litera! Meaning, in: ders. (1979), 12off.
98 Entgegen der hier vertretenen Meinung möchte Habermas zeigen,
•daß der verständigungsorientierte Sprachgebrauch der Originalmo-
dus ist, zu dem sich die indirekte Verständigung, das Zu-verstehen-
geben oder das Verstehen-lassen, parasitär verhalten« (Habermas
1981, 388). Die Unterscheidung zwischen verständigungsorientierter

347
vs. strategischer Kommunikation hat aber meines Erachtens mit
derjenigen zwischen direkt vs. indirekt thematisierender Rede zu-
nächst einmal nichts zu tun. Auf beiden Ebenen kann ich mich
entweder taktisch oder kooperativ verhalten; vgl. Anm. 86.
99 Obwohl die vergegenwärtigende Artikulation nach einem Modell
der intentionalen Semantik meines Erachtens nicht angemessen be-
schrieben werden kann, hat diese durch ihren weiten Kommunika-
tionsbegriff durchaus wesentliches zur Erhellung dieser Verständi-
gungsfunktion beigetragen; vgl. H. P. Grice, Logik und' Konversa-
tion, in: G. Meggle (Hg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung,
Ffm 1979, 243 ff.
100 Selbst hier ist das Verhältnis von Ausdruck und Intention diffizil;
daß ich einen Ausdruck - der Freude - kommunikativ zeige, bedeu-
tet nicht schon, daß ich intendier(te), das zu zeigen; daß ich Freude
zu zeigen intentiere, bedeutet nicht schon, daß ich Freude auch zeige
- manchmal zeigt sich nur, daß ich Freude zu zeigen intendiere. Zum
gesamten Komplex siehe A. Tormey, The Concept of Expression. A
Study in Philosophical Psychology and Aethetics, Princeton 1971.
101 Daran ändert auch der jetzt geklärte Umstand nichts, daß eine
»reine« Thematisierung von Erfahrungssituationen genaugenommen
gar nicht möglich ist, weil jeder rekonstruierende und erzählende
Text immer schon vergegenwärtigende Momente enthält. Es werden
auch hier stets nur Aspekte der Bedeutsamkeit sein, die sich an der
Art der Beschreibung mehr oder weniger aufschlußreich ablesen
las;en. Solange es sich um summative Darstellungsverfahren handelt,
bleibt die integrative Gegenwart von Situationen unbeschreiblich.
102 Adorno (1973), 15.
103 Ähnliche Auffassungen hat der osteuropäische Strukturalismus for-
muliert, wenn er - bei Jakobson und Mukafovsky - die ästhetische
Funktion aus dem »Bezug des Zeichens auf sich selbst« bestimmt;
allerdings sagt diese Bestimmung paradoxerweise nichts über die
Funktion der so fixierten ästhetischen Funktion. Vgl. hierzu Koppe
(1983), 27ff.
104 Daß ich aus Gründen der Einfachheit auch vom ästhetischen Verste-
hen und seinen Gegenständen als Formen der Vergegenwärtigung
rede, wird nicht bedeuten, es der situationsbezogenen Vergegenwär-
tigung heimlich anzugleichen. Es kommt nur darauf an, die ästhe-
tisch präsentative Vergegenwärtigung von der nichtästhetisch per-
formativen jeweils zu unterscheiden. (Mit dem willkommenen
sprachlichen Doppelsinn, Verstehen und Verstandenes auf einen
Begriff zu bringen, kann eben nur das Wort » Vergegenwärtigung«
dienen, nicht aber die zum ästhetischen Leitwort erhobene »Prä-
sentation«. Zur Doppelbedeutung des Artikulationsbegriffs, die für
jede der unterschiedenen Artikulationsweisen maßgeblich ist, vgl.
oben S. 138.).
105 0. Paz, Gedichte, Ffm 1977, 27. Das spanische Original lautet: EI
dia abre la mano / Tres nubes / Y estas pocas palabras.
106 Natürlich wäre Antons so erneuerte Einstellung noch sehr frisch
und fragil - ob sie wirklich tiefsitzt und hält, wird sich erst erwei-
sen müssen, wenn er sich wieder mit Arbeiten der Stirn energisch
befaßt.
107 Das würde heißen, daß Anton eine ästhetisch vermittelte kommu-
nikative Erfahrung macht - er erfährt etwas über Eduard, was sein
Verhältnis zu ihm ändert. Wenn ihn selbst und seine ästhetische
Wahrnehmung das Gedicht nicht zur Erfahrung beeindruckt, dann
macht er keine ästhetische Erfahrung - denn seine ästhetische Ein-
stellung ändert sich nicht. Ästhetische Erfahrung ist nicht per se
kommunikativ - sie ist es nur dann, wenn mehrere in gemeinsamer
Erhellung eines ästhetischen Gegenstandes ästhetische Erfahrung
machen: wie das im ersten der hier angenommenen Fälle der Fall
sein könnte.
Ich erinnere daran, daß ich von »ästhetischer Kommunikation« nur
dann rede, wenn es sich um Kommunikation über ästhetische Ob-
jekte handelt. Denn es bleiben die Zweifel, oh und inwiefern ästhe-
tische Objekte seihst etwas kommunizieren.
108 H.R.Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1,
München 1977, 59. Nach Jauß (ebd.) ist die Grundbestimmung der
ästhetischen Erfahrung »Selbstgenuß im Fremdgenuß«. Nach allem,
was wir über Erfahrung in Erfahrung gebracht haben, scheint
es zweifelhaft, ob ein Erfahrungstyp primär über Genußquali-
täten sinnvoll bestimmter ist - keine Erfahrung ist ein reiner
Genuß. - Die These von Jauß trifft m. E. allein auf Teile der
ästhetischen Wahrnehmung zu: einer Wahrnehmung zumal, die
die Phase der erfahrenden Erschütterung fürs erste hinter sich
hat.
109 Dewey (1980), 99, vgl. 101 f.; ich habe die Übersetzung leicht
verändert, vgl. J. Dewey, Art as Experience, New York 1958, 83 u.
85 f.
uo Alle Zitate aus Kant, KdU, § 49, B 192-195.
III Gadamer (1975), 45 u. 55 bezieht sich auf folgenden Satz aus der
Einleitung zu Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik«: »Es ist also
das allgemeine Bedürfnis des Kunstwerks im Gedanken des Men-
schen zu suchen, in dem es eine Art und Weise ist, dem Menschen
vor ihn zu bringen, was er ist.« - Den Gedanken der Kunst als
!weit-Anschauung« entwickelt Gadamer (wiederum im Verweis auf
Hegel) in ders. (1980), 8.

349
I 12 W. Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders. (1972 ff.),
1.2, 605 ff., hier 644 u. 639. ·
II} Die Zitatstücke aus W. Benjamin, Der Sürrealismus, in: ders.
(1972 ff.), rr.r, 195 ff., hier 297 u. 309 sowie ders., Zum Bilde
Prousts, ebd., 3 ro ff., hier 320.
II4 Habermas (1981), 1, 68 u. ders. (1983), 414.
115 Argumente dieser Art finden sich in den anfangs genannten Arbei-
ten von Iser, Bubner und Bohrer; besonders einschlägig sind hier die
Reflexionen von Paul Valery, etwa die »Fragmente aus dem Memoi-
ren eines Gedichtes«, in: ders., Zur Theorie der Dichtkunst, Ffm
1975, 101 ff. und ders., Eupalinos oder der Architekt, Ffm 1973;
siehe dazu H. Blumenberg, Sokrates und das ,objet ambigu, - Paul
Valerys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des
ästhetischen Gegenstandes, in: FS für Helmut Kuhn, hg. v. H. Wied-
mann, München 1964, 285 ff.
116 Wittgenstein (1969), § 560, 459·
117 Ebd. § 533, 452 f.
118 Einen Überblick gibt der Sammelband R. Bittner/P. Pfaff (Hg.), Das
ästhetische Urteil, Köln 1977; besonders das kritische Nachwort von
Bittner ist instruktiv - Bittners These ist, daß die sprachanalytische
Ästhetik ohne einen Begriff des ästhetischen Interesses letztlich
bodenlos bleibt.
119 Das ist auch die Einschätzung bei J.Zimmermann, Sprachanalyti-
sche Ästhetik, Stuttgart-Bad Cannstatt r 980.
120 Für diesen Zusammenhang exemplarisch ignorant ist N. Goodman,
Sprachen der Kunst, Ffm 1973, 256-163. Aus einem berechtigten
Vorbehalt gegen die gedankenlose Gleichsetzung des Ästhetischen
mit dem ästhetisch Vorzüglichen zieht Goodman die haltlose Folge-
rung, es sei die ganze Frage der Bewertung völlig nebensächlich.
Gerade weil die meisten Beiträge zur Ästhetik sich von vorneherein
aufs ästhetisch Gelungene konzentrieren, fehlt es an fundierten
Analysen zur ästhetischen Kritik. - Den Ausdruck ,gelungen, ge-
brauche ich hier als Stellvertreter für die Prädikate, mit denen ein
ästhetisch positives Urteil resümierend ausgesprochen wird; näheres
unten.
Im übrigen ist die Einheit der Beurteilungsweise, die das ästhetisch
Gute mit dem ästhetisch Schlechten verbindet, keine Eigentümlich-
keit der ästhetischen Dimension. So gehören ja auch die unmorali-
schen Handlungen ins Feld der moralisch relevanten Handlungen -
weil sie, wie die moralischen, unter dem Gesichtspunkt der sozialen
Rechtfertigbarkeit beurteilt werden. Wie sich schon am unterschied-
lich starken Wertakzent der Prädikate ,ästhetisch, und ,moralisch<
zeigt, führt die für die verschiedenen Erfahrungsbereiche analoge

350
Problemlage nicht zu analogen Antworten im Detail. Z.B. ist die
moralisch unauffällige Handlung oft besonders moralisch, das ästhe-
tisch unauffällige Erzeugnis jedoch kaum besonders ästhetisch.
121 Kant, KdU § 34, B 144.
122 G. Patzig, Über den ontologischen Status von Kunstwerken, in:
F. W. Korff, Redliches Denken, FS für G. G. Grau, Stuttgart-Bad
Cannstatt 1981, 114ff., hier 126. Vgl. R. Wollheim, Art and its
Objects. An lntroduction to Aesthetics, New York and Evanston
1971 u. Goodman (1973), Kap. 111.
123 Vgl. Patzig, a.a.O., 124: »Ein Kunstwerk ist das, was einem Original
und einer perfekten Kopie gemeinsam ist, so wie das literarische
Kunstwerk als das bezeichnet werden könnte, was zwei in allen
ästhetisch relevanten Hinsichten übereinstimmende Textrepräsen-
tanten gemeinsam haben.« Zum Gegenstand literarischer Wertur-
teile s. H. Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der
Literatur, München 1981, 192-198.
124 Das irrelevante Salzfaß ist ein bauchiges Salzfaß, in das allerhand
reingeht. Das relevante Salzfaß ist bauchig-behäbig, das mit träger
Geste einlädt zu seinem Gebrauch. Das Prädikat »bauchig« ist im
zweiten Satz Bestandteil einer ästhetischen Charakterisierung, im
ersten Satz nicht.
125 A. C. Danto, The Transfiguration of the Commonplace. A Philoso-
phy of Art, Cambridge, Mass., 1981, 119.
126 Diese Überlegung macht klar, daß man die Frage, ob etwas ein
Kunstwerk ist, schlecht am Vorliegen einer künstlerischen Intention
ausschließlich entscheiden kann, wie dies Dantos Betrachtungen
zum Status von Kunstwerken implizieren (vgl. Danto 1981, 129,
135, 140). Zu diesem und weiteren Einwänden vgl. meine Rezension
der deutschen Übersetzung (Die Verklärung des Gewöhnlichen,
Ffm 1984), in: Phil. Rundschau 32/r985, im Erscheinen.
127 Adorno (1973), 280.
128 Zwar nicht alles, aber einiges davon gesteht Adorno schon wenige
Seiten später zu: »Nicht wegzudenken ist von Rang und Qualität
eines Kunstwerks das Maß seiner Artikulation. Generell dürften
Kunstwerke um so mehr taugen, je artikulierter sie sind: wo nichts
Totes, nichts Ungeformtes übrig ist; kein Feld, das nicht durch die
Gestaltung hindurchgegangen wäre. Jetiefer es von dieser ergriffen
wird, desto gelungener das Werk.« Ebd., 284.
129 Ohne diesen Zusatz wäre die Information, daß Paz längere Zeit im
Femen Osten gelebt hat, am Ende selbst ein ästhetisches Faktum.
130 E. Tugendhat, Langage et Ethique, in: Critique 37/1981, 1038ff.,
hier 1042 f.; alle Zitate folgen Tugendhats deutschsprachigem Manu-
skript. Unter dem Titel »Der semantische Zugang zur Moral« ist

351
eine veränderte Fassung dieses Aufsatzes erschienen in: ders., Pro-
bleme der Ethik, Stuttgart 1984, 57ff.
131 Zu Recht betont Tugendhat, daß auch Aussagen darüber, was gut ist
für mich (oder gut ist für ihn oder sie), sinnvoll begründet werden
können. »Es wäre ein Irrtum zu meinen, daß der individuelle
Personenbezug, der in diesem »für ihn«, »für mich« enthalten ist,
der vorhin herausgestellten Personenirrelativität, die zur Objektivi-
tät eines Wertsatzes gehört, widerspricht. Denn es handelt sich um
zwei voneinander unabhängige Personenbezüge. Etwas kann. für
mich gut sein, obwohl es mir nicht gefällt, und ob es für mich gut ist,
kann von jedem anderen vernünftig überlegenden ebenso beurteilt
werden wie von mir, sonst könnten wir einander nicht raten. (... )
Der Unterschied zwischen subjektivem und objektiv begründetem
Präferenzverhalten sieht hier auf einer ersten Ebene so aus, daß das
subjektive vom unmittelbaren Gefühl bestimmt ist, während das
objektive auch auf mein künftiges Wohl und Wehe Rücksicht
nimmt,« [Tugendhat (1981), 1045).
132 Ebd., 1043f.
133 KdU § 8, B 23 f.; die Formel von der »subjektiven Allgemeinheit«
wird eingeführt am Ende von § 6.
134 KdU § 8, B 23.
135 Ebd., B 25 f.
136 Diesen Zusammenhang betont bereits Kant in der »Untersuchung
der Frage: ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der
Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe«;
»die Auflösung dieser Frage ist der Schlüssel zur Kritik des Ge-
schmacks, und daher aller Aufmerksamkeit würdig« - so Titel und
Anfang des § 9.
137 Tugendhat (1981), 1044ff.; was das moralisch Gute betrifft, nimmt
mein Referat Tugendhats neueste Überlegungen in Betracht, in:
ders., Retraktationen, in: ders. (1984), 132ff.
138 Tugendhat (1981), 1045.
139 »In der Thesis sollte es daher heißen: Das Geschmacksurteil gründet
sich nicht auf bestimmten Begriffen; in der Antithesis aber: Das
Geschmacksurteil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimm-
ten, Begriffe (nämlich vom übersinnlichen Substrat der Erscheinun-
gen); und alsdann wäre zwischen ihnen kein Widerstreit.« KdU,
§ 57, B 237. -
Die Kant-Lektüre, die ich im folgenden erläutere, verdankt wesentli-
che Anregungen der Vorlesung über »Das Gute und das Schöne«,
die Friedrich Kambartel im Sommersemester 1983 in Konstanz
gehalten hat (auch wenn ich bezüglich der Begründbarkeit ästheti-
scher Urteile zu anderen Ergebnissen komme).

352
140 Die Differenz zu Kant erscheint größer als sie ist, wenn man
übersieht, daß der im zweiten Kapitel entwickelte Weltbegriff die
Kantische Unterscheidung von intelligibler und empirischer Welt
umgreift. - Eine Verdeutlichung der hier berührten Zusammenhänge
verdanke ich Diskussionen mit Thomas Rentsch, dessen einschlägige
Studie über »Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprach-
analysen zu den Grundlagen der philosophischen Anthropo-
logie«, Stuttgart 1985, ich bei der Abfassung dieser Arbeit nicht
kannte.
141 KdU, § 8, B 24. - Die Singularität ästhetischer Urteile wird ebenfalls
hervorgehoben bei: M. Macdonald, Einige Besonderheiten der äs-
thetischen Argumentation; A. Isenberg, Kunstkritische Mitteilung;
St. Hampshire, Logik und Wertschätzung; alle in: Bitmer/Pfaff
_(1977),33 ff., 42 ff., 55ff. Verwandte, wenn auch auf einen fragwür-
digen Begriff des ästhetischen Objekts gestützte Überlegungen fin-
den sich wiederum bei Dewey (1980), Kap.xm.
142 »Der Sinn der Rede von einer Begründung ist also hier letztlich
nicht eine Begründung von (einer Aussage), sondern eine Begrün-
dung für (ein Handeln).« E. Tugendhat, Der semantische Zugang
zur Moral, in: ders. (1984), 59ff., hier 84. Was Tugendhat in seinen
»Vorlesungen über Probleme der Ethik« (ebd., 57-131) als Beson-
derheit des moralischen Argumentierens hervorhebt, verweist m. E.
auf den Status praktischer Argumentationen allgemein; das Beson-
dere der moralischen Gründe liegt allein im spezifisch verpflichten-
den Charakter der ausschlaggebenden Gründe. - Die Formen der
praktischen und auch der theoretischen Argumentation sind ein
eigenes Thema; im jetzigen Zusammenhang kommt es ausschließlich
auf die Grenzlinien zum ästhetischen Argumentieren an. Vgl. die
vorbereitenden Bemerkungen oben, S. 120ff.
143 Die spezifisch zeigende Funktion ästhetischer Argumente betont
eindringlich P. Ziff, Gründe in der Kunstkritik, in: Bittner/Pfaff
(1977), 63 ff.
144 W. Benjamin, Der Erzähler, in: ders. (1972 ff.), 11.2.,438-465; ders.,
Erfahrung und Armut, ebd., 11.1,213-219; ders., Über einige Motive
bei Baudelaire, ebd. 1.2, 605-653.
145 Ich beziehe mich hier auf die Abhandlung »Das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Benjamin
(1972 ff.), r.2, 431-508, in der ersten Fassung besonders auf Ab-
schnitt 4 u. 5, in der zweiten 3 u. 4. In der ersten Fassung lautet die
Definition der Aura: »Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit:
einmalige Erscheinung einer Feme, so nah sie sein mag« (ebd., 440).
146 KdU, § 8; vorbereitet wird diese Unterscheidung in den §§ 3 u. 7.
Ein erhellender Kommentar zu dieser Differenz findet sich in St. Ca-

353
vell, Aesthetic Problems of Modern Philosophy, in: ders. (1969),
73 ff., bes. 86-94.
147 Vgl. Danto (1981), Kap. 1-111.Zum Sinn der Rede von einem ästheti-
schen Interesse im Rahmen der Theorie Kants vgl. D. Crawford,
Kant's Aesthetic Theory, Madison Wisc. 1974, 44-53 u. 144f. - Zu
beachten ist in diesem Zusammenhang, daß beide Arten des Ge-
schmacksurteils dasselbe Ding zum Anlaß einer Beurteilung nehmen
können, obwohl es sich um jeweils ontologisch differente Gegen-
stände handelt (und nicht wenige Artefakte auf diese Doppelgesich-
tigkeit zugeschnitten sind). So kann die Begutachtung eines Klei-
dungsstücks neben seinem farblichen Reiz und seiner komfortablen
Päßlichkeit auch der erotischen Raffinesse und gestalterischen Be-
deutsamkeit gelten; so kann eine Landschaft für ihre Tauglichkeit zu
Erholungszwecken (einer bestimmten Art) oder um ihrer ästhetisch-
physiognomischen Präsenz willen begutachtet werden.
In diesen und anderen Fällen gehen beide Betrachtungsweisen oft
zwangsläufig zusammen. Ein besonders vertrackter Grenzfall ist das
kunstvoll komponierte Essen. Gut ist das Essen, das vorzüglich
schmeckt; ästhetisch schön ist ein Essen, das aussieht als schmecke es
gut (obwohl es vielleicht miserabel mundet); die Kunst der Menüzu-
bereitung ist es, beide Forderungen zu erfüllen; die Kunst des
Verzehrs ist es hier, beide Leistungen zu genießen: was nur möglich
ist, wenn wir dem genießenden Geschmack die zerstörende Ober-
hand gewähren - auf daß im ästhetisch-sensuellen Erinnerungsbild
beim anschließenden Kaffee der volle Gehalt des virtuosen Mahles
erst eigentlich zum erfüllenden Nachgeschmack finde.
148 Vgl. KdU § 7: »In Ansehung des Angenehmen gilt also der Grund-
satz: ein jeder hat seinen eigenen Geschmack (der Sinne). Mit dem
Schönen ist es ganz anders bewandt. Es wäre (gerade umgekehrt)
lächerlich, wenn jemand, der sich auf seinen Geschmack etwas
einbildete, sich damit zu rechtfertigen gedächte: dieser Gegenstand
(... ) ist für mich schön. Denn er muß es nicht schön nennen, wenn es
ihm bloß gefällt.« - Ebenso muß einer nicht schon gut nennen, was
er bloß mag.
149 Mit etwas anderem Akzent ein ähnliches Weinbeispiel erörtert
R. Haller, Das Problem der Objektivität ästhetischer Wertungen, in:
NHfrh 5/x973, xo5-n7.
150 Wittgenstein (1977), 17 f.; Hervorhebung von L. W.
151 P. Valery, Dichtkunst und abstraktes Denken, in: ders., Zur Theorie
der Dichtkunst, Ffm 1975, 136ff., 163. Die ganz analogen Probleme
ergeben sich im Verhältnis zum Ästhetischen etwa von Landschaf-
ten. Die Schönheit von Landschaften ist derart, daß ich sie gegen-
über anderen behaupten und erläutern kann; die Faszination der

354
»Landschaft meiner Kindheit« aber muß nicht mit ihrer Natur- oder
Stadtschönheit zusammenfallen.
152 Cavell (1969), 94.
153 Vgl. Benjamins methodische Reflexionen zur geplanten Passagen-
Arbeit, bes. das Konvolut N, in: W. B. (1972 ff.), v.1, 570-611, speziell
573 f. Verwandte Methoden werden in der heutigen Sozialforschung
erörtert und praktiziert. Wie die Begründung eines soziologischen
Verfahrens der ästhetischen Signifikanzerhebung liest sich z.B.
U. Oevermann et al., Die Methodologie einer objektiven Hermeneu-
tik in den Sozialwissenschaften, in: H. G. Soeffner (Hg.), Interpre-
tative Verfahren in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979, 3 52 ff.
154 Gadamer (1975), 278 u. 352.
155 W. Benjamin, Dreizehn Thesen wider Snobisten, in: ders., Einbahn-
straße, in: ders. (1972 ff.), 1v.1, 83 ff., 107.
156 Vgl. Adorno (1970), 224ff.
157 Neben Chaplins »Großem Diktator« denke ich vor allem an Lu-
bitschs »Sein oder Nichtsein«, aber auch an Hawks' »To have and
have not«, Hitchocks »Lifeboat« und andere; auch Syberbergs Hit-
lerfilm hat seine Stärken meist da, wo mit komischen Kontrasten und
Verkehrungen operiert ist. Literarische Beispiele zum selben Zusam-
menhang erörtert W. Preisendanz, Zum Vorrang des Komischen bei
der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen
unserer Zeit, in: ders./R. Warning (Hrsg.), Das Komische, München
1976, 153 ff.
r 58 Prominente Befürworter dieser Distinktion sind z.B. M. C. Beards-
ley, Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism, New York
1956; E. D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972;
M. Weitz, The Philosophy of C~iticism, in: Proceedings of the Third
International Congress of Aesthetics, Torino 1957, 207-216. Die
neuere Diskussion referieren und kommentieren M. Sirridge, Artistic
Intention and Critical Prerogative, in: The British Journal of Aesthe-
tics 18/J978, 137-154 und Zimmermann (1980), 152-173.
159 M. lmdahl, Barnett Newman. Who's afraid of red, yellow and blue
m, Stuttgart 1971, 3.
160 Ebd.
161 Vgl. Weitz (1957), 211: »In descriptive criticism we are asked to see
something which is in the work, whether we notice it or not; in
interpretative criticism we are asked to perceive something in a certain
way - as something; for example, the melody as vivacious.«
162 Zur Rede von den wesentlich metaphorischen Eigenschaften - und
dem wesentlich Metaphorischen - der Kunstwerke vgl. Goodman
(1973), Kap.II, Patzig (1981) und Danto (1981), Kap. v. u. VII.
163 lmdahl, a.a.O., 14.

355
164 Ebd., 14f. Im folgenden geht Imdahl auch auf die Funktion der
andersfarbigen Randstreifen ein. »In Newmans Bild potenzieren die
Farben Blau und Gelb das beherrschende Rot, und zwar noch mit
der Wirkung eines in sich selbst dynamischen Kontinuum, indem
nämlich Rot und Blau anders aufeinander reagieren als Rot und
Gelb.« (16)
165 Bohrer (1981), 31; gegen einen »konditionslosen Subjektivismus«
wendet sich Bohrer S. 37.
166 Ebd., 32.
167 Ebd., 34.
168 Ebd., 34 f.
169 Imdahl (1971), 14.
170 »Unser Bild ... gehört dem Amsterdamer Stedelijk Museum. Dort
hängt es in einem großen Saal, der dem Beschauer einen weiten
Abstand vom Bild ermöglicht. Wer den Saal betritt, sieht das Bild
zunächst aus der Ferne. Diese Aufhängung widerspricht den Ab-
sichten Newmans, denn Newman selbst hat ausdrücklich gefordert,
daß der Beschauer das Bild aus der Nähe betrachten müsse. ( ... )
Streng genommen gehört Newmans Bild in einen eher gangartigen
Querraum, der eine große Distanznahme des Zuschauers von vorn-
herein verhindert.« Ebd., 4.
171 Ebd., 14.
172 Ebd., 9.
173 Ebd., 27.
174 A. Schmidt, Der sanfte Unmensch, Einhundert Jahre Nachsommer,
in: ders., Nachrichten von Büchern und Menschen 2, Ffm 1971,
114ff., hier 132.
175 Preisendanz (1976), 155f.
176 Vgl. KdU, § 40. Als »Maxime der Urteilskraft« bezeichnet Kant
dort die zweite der »Maximen des gemeinen Menschenverstandes«,
die lautet: »An der Stelle jedes anderen denken.« (B 159).
177 N. Goodman, Sprachen der Kunst, Ffm 1973; ders., Ways of
Worldmaking, Indianapolis 1978. - Aufschlußreiche Kommentare
zu den »Languages of Art« geben P. Pfaff, Einleitung, in: ders./
R.Bittner (1977), 13ff., bes. 26ff. und J.Kulenkampff, N.Good-
man: Sprachen der Kunst, in: Phil. Rundschau 25/r978, 161ff. Zum
neuesten Stand der Diskussion siehe die Beiträge unter dem Titel
»Aesthetics and Worldmaking: An Exchange with Nelson Good-
man«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 39/r980, 249-
280.
178 Goodman (1973), bes. Kap. n; ders., (1978), bes. Kap. IV u. vu. - Es
ist nicht schwer, immanent zu zeigen, daß der Begriff der Exemplifi-
kation (und enger noch, der metaphorischen Exemplifikation) für
Goodmans Überlegungen zur Ästhetik von vorneherein grundle-
gend ist - auch wenn Goodman selbst das anders sieht. Was ästheti-
sche Repräsentationen von nichtästhetischen unterscheidet, ist eben
ihr hinzukommend exemplifikatorischer Charakter, s. Goodman
(1973), 42, 56, 76, 253 ff. u. ders. (1978), 69. Diese Auffassung
vertritt auch J. Margolis, What is When? When is What? Two
Questions for Nelson Goodman, in: JAAC 37/i980, 268.
179 Vgl. Goodman (1973), 259.
180 N. Goodman, Replies, in: Erkenntnis 12/r978, 153ff.; Goodman
formuliert dies in Entgegnung auf Einwände von M. C. Beardsley,
Languages of Art and Art Criticism, ebd., 95 ff.
181 Besonders deutlich in Goodman (1973), 62: »Denotieren heißt
Bezugnehmen, aber denotiert werden heißt nicht notwendigerweise,
auf etwas Bezug nehmen. Und doch ist der Ausdruck wie die
Repräsentation eine Weise der Symbolisierung« (Hervorhebung von
mir, M.S.). - Ähnliche Probleme mit dem Exemplarischen (und
Typischen) erörtert Franz Koppe für die Ästhetik von Lukäcs,
s. Koppe (1983), 63 ff.
182 Danto (1981), bes. Kap. VI u. vn; vgl. Anm. 126.
183 G. Gabriel, Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit
ästhetischer Erkenntnis, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie
8/r983, 7ff., bes. 18ff.
184 Ebd., 13.
185 Hier nehme ich eine Anregung von Albrecht Wellmer auf.
186 Eine ähnliche Auffassung zur musikalischen Bedeutung vertritt
H. H. Eggebrecht, Über begriffliches und begriffsloses Verstehen
von Musik, in: P. Faltin (Hg.), Musik und Verstehen, Innsbruck
1976, 48 ff.; verwandte Überlegungen finden sich bei C. Dahlhaus,
Das »Verstehen« von Musik und die Sprache der musikalischen
Analyse, in: Faltin (1976), 37ff. Gegen einen Ȋsthetischen Seman-
tismus« der Musiktheorie wenden sich P. Faltin, Der Verstehensbe-
griff im Bereich des Ästhetischen, ebd., 58 ff. und Beardsley (1956),
318ff.
187 Außerordentlich erhellend sind in diesem Zusammenhang die Über-
legungen zu einer »Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks«,
der sich Gottfried Boehm am Thema der Bildlichkeit ästhetischer
Bilder widmet, s. ders., Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: ders.,
H. G. Gadamer (Hg.), Seminar: Hermeneutik und die Wissenschaf-
ten, Ffm 1978, 444 ff. Der Möglichkeit, ja Notwendigkeit und
faktischen Wirksamkeit eines konstruktiv zuschreibenden Sehens
würde Boehm allerdings nicht zustimmen, da er die interne Über-
gangsstruktur des Bildes extrem betont, so daß für die ästhetische
Charakterisierungfunktion kein Raum mehr bleibt (wogegen ich

357
meine, daß die bildliche Dynamik erst einer zuschreibend interpre-
tierenden Wahrnehmung überhaupt zugänglich ist). Vgl. vom selben
Verf., Die Dialektik der ästhetischen Grenze, in: NHfPhil 5/i973,
118ff. und »Kunsterfahrung als Herausforderung der Ästhetik«, in:
Oelmüller (1981), 13ff.
Grundbedingungen eines ästhetisch-literarischen Lesens untersucht
G. Gabriel am Thema der »fiktionaleM (und fiktional aufgefaßten)
Rede: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Litera-
tur, Stuttgart-Bad Cannstatt 1975 u. ders., Fiction and Truth, Re-
considered, in: Poetics, 11/i982, 541ff.
188 Valery (1971), 93.
189 Jauß (1977), 62 f.
190 Aus dem Verkennen einmal der Notwendigkeit dieser Distanz, ander-
mal die;es Bezugs entspringen die Ideologien einer »Aufhebung«
der Kunst bzw. ihrer prinzipiellen Opposition gegen »das Leben«.
191 Ich weiche hier von Imdahls Interpretation ab; Imdahl vertritt
die These, durch das Bild von Newman werde eine Differenz von
Bildlichkeit und Bilderfahrung auf einmalige Weise etabliert, woge-
gen bei herkömmlichen Bildern eine Identität von bildlicher Präsen-
tation und Erfahrung am Bild gegeben sei. Ders., Überlegungen zur
Identität des Bildes, in: Marquard/Stierle (1979), 187ff., bes. 210.
192 »Die Verwandlung ins Gebilde und die totale Vermittlung« behan-
delt Gadamer (1975), 105ff.
193 Bubner (1973), 60-63.
194 Danto (1981), bes. vdf. u. 208.
195 Über den Beginn seiner Arbeit an der Serie schreibt Newman: »I
began this, my first paintage in the series, »Who's afraid of red,
yellow and blue«, as a ,first<painting, unpremediated. I did have the
desire that the painting be asymmetrical and that it create a space
different than any I had ever done, sort of-off balance. lt was only
after I had bui!t up the main body of red that the problem of color
became crucial, when the only colors that would work were red,
yellow and blue. lt was at this moment that I realized that I was now
confronting the dogma that color must be reduced to the primaries,
red, yellow and blue. Just as I had confronted other dogmatic
positions of the purists, neo-plasticists and other formalists, I was
now in confrontation with their dogma, which had reduced red,
yellow and blue into an ideadidact, or at best, had made ehern
picturesque«. B. N. in: Hommage aBarnett Newman, Nationalgale-
rie Berlin, 198r.
196 Zum Begriff des Exemplarischen, Repräsentativen und Paradigmati-
schen in diesem Zusammenhangs. Koppe (1983), 147ff. u. Haber-
mas (1981), 41.
197 Die zitierten Sätze entstammen einem Statement von Henrich in der
Diskussion seiner Thesen über »Kunst und Natur in der idealisti-
schen Ästhetik« während des ersten Kolloquiums über »Poetik und
Hermeneutik« in Gießen 1963. Siehe H. R.Jauß (Hg.), Nachahmung
und Illusion, München 1969, 225 (Henrichs schriftlicher Beitrag
ebd., 128 ff.).
198 Ich beschränke mich auf einen Beleg aus Adornos Essay über
»Valerys Abweichungen•, in: ders., Noten zur Literatur II, Ffm
1972, 42 ff., hier 75. »Für Valerys ästhetische Erfahrung bewähren
Kraft und Spontaneität des Subjekts sich nicht in seiner Bekundung,
sondern, Hegelisch, in seiner Entäußerung: je gründlicher das Ge-
bilde vom Subjekt sich ablöst, desto mehr hat das Subjekt darin
vollbracht. ,Ein Werk dauert gerade insofern es ganz anders zu er-
scheinen vermag, als es sein Verfasser geplant hat., [W 175 (= Valery
1971, M. S.)] Schneidend kritisiert Valery, was zu schwach ist, sich
zu objektivieren, die bloßen Intentionen; was immer Dichter sich
bei Werken denken oder in Werke legen, ohne daß es von ihnen sich
emanzipierte und zu einem an sich Beredten und Verbindlichen
würde.«
199 Adorno (1973), 167, vgl. 17of.
200 Habermas (1983), 414.
201 Mukafovsky (1970), 97.
202 L. Wittgenstein, Eine Philosophische Betrachtung (Versuch einer
deutschen Umarbeitung des Brown Book, ergänzt durch die engli-
sche Fassung), Ffm 1980, 247 ff.
203 Ebd., 25of.
204 Ebd.
205 Ebd., 255.
206 Ebd., 256.
207 Ebd., 257.
208 Lediglich verweisen möchte ich auf den Unterschied zwischen der
Wahrnehmung des Einzelnen in seiner Besonderheit und der ästhe-
tisch verstehenden Wahrnehmung. Obwohl auch die ästhetische
Wahrnehmung oft kontemplativ ist und immer aufs Besondere ihrer
Gegenstände geht, könnte man hier zwischen ästhetischem und
kontemplativem Interesse am Besonderen unterscheiden. Das ästhe-
tische Interesse geht auf die Besonderheit eines ausdruckhaft präsen-
tierten Gehalts, den es im gelungenen oder schönen Objekt verkör-
pert findet; die reine Kontemplation dagegen geht überhaupt nicht
auf Bedeutungen, sie verweilt beim Sosein eines beliebig gewählten
Objekts: hier ist jedes Objekt in gleicher Weise geeignet, Gegen-
stand der Anschauung zu sein - besondere Gründe für die kontem-
plative Hinwendung zu diesem oder jenem gibt es nicht; und auch

359
eine Erkenntnis wird bei diesem Vorgang nicht gewonnen: gewon-
nen wird die staunende Abwendung von jeder, auch einer kognitiven
Intention ohne dafür den sinnlösenden Schock der Erfahrung spie-
lend zu erleiden.
Den Unterschied, den ich hier markiere, vernachlässigt G. Gabriel
(1980), 17. Auf die Grenzfalldiskussion, die sich mit dieser Unter-
scheidung auftut, möchte ich für diesmal verzichten.
209 Auf die Bedeutung, die gerade das Fehlen andernorts gewichtiger
ästhetischer Charaktere in der Wahrnehmung der vermeintlich rei-
nen Kunstobjekte hat, weist Danto bereits in seiner ersten Studie
zum Status von Kunstwerken hin (The Artworld, in: The Journal of
Philosophy, 61/x964, 571ff., bes. 583f.).
2 1o Natürlich führen diese Reflexionen den puristischen Begriff der
Reinheit ad absurdum. In jedem Fall ist die Konstruktion ästhetisch
reiner Gebilde im nunmehr transformierten Verstand eine künstle-
risch extreme Operation. Was auf diese Weise gelingt, ist oft, ja
meist geeignet und berufen, andere als ästhetisch reflexive Bedeutun-
gen empfangend zu entbergen - so wie das ästhetisch eminente
Objekt nicht selten, ja häufig auf den Modus seiner Gelungenheit
ästhetisch reflektiert.
Meine Stichworte zur ästhetischen »Reinheit« sind eine vorläufig
letzte Stellungnahme in einer langwierigen Kontroverse mit Gerald
Müller, der noch einmal die scheinbar von aller objektiven Weltlich-
keit bereinigten Attraktionen der ästhetischen Lustempfindung fei-
ert (s. G. M., Philosophische ästhetik versus ästhetisches manifest.
Rekonstruktion und systematischer vergleich der ästhetischen theo-
rien Kants und Oscar Wildes, Konstanz 1983).
211 A. Wellmer, Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von
Modeme und Postmoderne, in: Merkur 37/x983, 133ff., hier 142..
212 Adorno (1973), 111. Eine Differenzierung des von Wilde pointierten
Aspekts bietet Koppe (1983), 184ff.
213 Adorno ( 1973), 113. - Mehr noch als die bisherigen Ausführungen
dieses Kapitels sind die folgenden Betrachtungen zu Adorno eine
Folge unvergessener und unabgeschlossener Gespräche mit Albrecht
Wellmer.
214 Ebd., 188.
215 Ebd., 193f.
216 Ebd., 197.
217 Adorno (1970), 25.
218 Beide Zitate ebd., 23.
219 Adorno (1973), 194.
220 »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu
verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie
sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat
kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles
andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück
Technik.« Adorno, Minima Moralia, Ffm 1971, 333.
22r Auch das Ästhetische der Philosophie - das Ästhetische zumal in
Adornos philosophischem Stil - bringt die diskursive Rede und die
Präsentation der Erfahrung, aus der die Rede ist (bzw. die sich durch
die Rede hindurch artikuliert), nicht zur Deckung. Texte dieser Art
operieren mit zugleich beiden Artikulationsformen: wenn sie gut
sind, zu ihrem Gewinn, wenn weniget gut, mit unerträglichen
Folgen. In den seltensten Fällen aber stimmt hier das behauptend
Entfaltete mit dem ästhetisch primären Charakter dieser Texte über-
ein (derart, daß der Erfahrungsgehalt genau der Erkenntnisse zum
Ausdruck käme, für die der diskursive Fortgang Geltung bean-
sprucht). Gerade für die »Ästhetische Theorie« scheint mir diese
Kongruenz im Verschiedenen nicht gegeben: der Beweis wäre eine
Sache für sich.
222 Zum Doppelaspekt der ästhetischen Erkenntnis vgl. Gabriel (1975),
108f.
223 Auch das, auch diese »transitorische« Wirkung des Ästhetischen, ist
eine besondere Leistung zumal der ästhetischen Kommunikation
(wie besonders Jauß (1977) betont); dieser Bewußtmachungseffekt,
der vom ästhetischen Objekt wegführt, das ihn ausgelöst hat, muß
aber strikt unterschieden werden von der ästhetischen Erkenntnis
und ihrer kritischen Explikation, die auf den Gehalt dieses Objekts
bezogen bleibt.
224 H. Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur,
München 1982, 202 f.
225 Ebd., 203.
226 Vgl. ebd., 202 u. 204f.
227 Ebd., 203.
228 Eine argumentationstheoretische Kritik hätte an der überzogenen
Unterscheidung von (deduktiver) Begründung und (rationaler!)
»Motivation« zu beginnen. Vgl. a.a.O., bes. 204.
229 Ich beziehe mich im folgenden auf Frickes Erörterung von Hanns
Johsts (faschistischem Propagandastück) »Schlageter«, das der Leser
Fricke zwar für politisch fatal, der Wissenschaftler in ihm aber für
einen »handwerklich sauber gearbeiteten politischen ,Reißer<» hält
(allerdings wiederum »epigonaler« Machart u. a. weil von »O
Mensch-Pathos« »triefenden« Einlagen durchzogen, ebd., 215 ff.).
Dagegen stellt Fricke die frühen Lehrstücke Brechts, die zwar
kritisch (das heißt hier soviel wie moralisch) gesehen ähnlich ab-
wegig seien wie das Machwerk von Johst, wissenschaftlich betrach-
tet aber den »bleibenden Rang der Klassizität« einnähmen (22of.).
230 Ebd., 205.
231 Ebd., 201 f.: »Die bloße Tatsache, daß über literarische Werturteile
ausdauernd und heftig gestritten wird, beweist also schon, daß darin
nicht nur von einem subjektiven Gefallen des Sprechers, sondern
immer auch von der allgemeinen Geltung des Urteils die Rede ist.
Jedoch wird auch diese allgemeine Geltung nicht behauptet - dann
wäre sie ja durch das abweichende Urteil des Gesprächspartners
bereits widerlegt - sondern sie wird nur gefordert.«
232 Ebd., 221.
233 Ebd., 203.
234 Eine poetische Explikation seiner literarischen Methode bietet Jean
Paul vor allem in der »Geschichte meiner Vorrede zur zweiten
Auflage des Quintus Fixlein«.
235 Habermas (1981), 1, 485.
236 Vgl. oben 136ff.; nur im Fall der ästhetischen Bedeutung ist ein
bestimmter Bedeutungsbegriff unmittelbar ein Leitbegriff der Expli-
kation eines bestimmten Begriffs der Rationalität - eben des ästheti-
schen Verhaltens.
237 Für die moralische Argumentation kommt Habermas dieser offenen
Abgrenzung recht nahe in: ders. (1983), 115f.
238 Habermas (1981), 1, 112.
239 Diese Komplementarität behauptet Habermas ebd., 523; vgl. 533.
240 A. Wellmer, Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische
Rettung der Modernität, in: L. v. Friedeburg/J. Habermas (Hg.),
Adorno-Konferenz 1983, Ffm 1983, 138ff., hier 172.
241 Ich beziehe mich hier vor allem auf den Aufsatz ;Utopie des
,Augenblicks, und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der
Modemen Literatur«, in: Bohrer (1983), 18off.
242 Ich schreibe das in Erinnerung an eine Diskussion mit Horst
Seyfried und Rolf Zimmermann.
243 H. Marcuse, Versuch über Befreiung, Ffm 1969; ders., Konterrevo-
lution und Revolte, Ffm 1973; ders., Die Permanenz der Kunst,
München 1977. Die extremste Version des ästhetischen Utopismus
bei Marcuse findet sich in dem 1969 erschienenen Aufsatz »Befrei-
ung von der Überflußgesellschaft«, in: Kursbuch 16, 185ff. Die
fatalen Analogien der links-utopischen Idee einer ästhetischen Ge-
sellschaft (daß die »Gesellschaft als Kunstwerk ... heute die größte
Utopie, die radikalste Möglichkeit von Befreiung« ist, behauptet
Marcuse ebd., 194) zu dem rechts-utopischen Programm des ästheti-
schen Staates hat Martin Jürgens wenig später mit Nachdruck zu
bedenken gegeben (ders., Der Staat als Kunstwerk. Bemerkungen
zur ,Ästhetisierung der Politik,, in: Kursbuch 20, 1970, 119ff.).
244 Koppe (1983), 136; vgl. bes. 141.
245 C. Enzensberger, Literatur und Interesse. Eine politische Ästhetik
mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur, 2 Bde., München
1977.
246 H. Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: ders.,
Kultur und Gesellschaft 1, Ffm 1970, 56ff.; besonders im »Versuch
über Befreiung« ist dieses Thema mit durchgehalten.
247 »Promesse du bonheur heißt mehr als daß die bisherige Praxis das
Glück verstellt: Glück wäre über der Praxis. Den Abgrund zwischen
der Praxis und dem Glück mißt die Kraft der Negativität im
Kunstwerk aus.« - »Je mehr künstlerische Erfahrung ihre Gegen-
stände hat, je näher sie ihnen in gewissem Sinn ist, desto ferner rückt
sie ihnen auch; Kunstbegeisterung ist kunstfremd. Damit durch-
bricht ästhetische Erfahrung, wie Schopenhauer wußte, den Bann
sturer Selbsterhaltung, Modell eines Bewußtseinsstandes, in dem das
Ich nicht länger sein Glück hätte an seinen Interessen, schließlich
seiner Reproduktion.« Adorno (1973), 26 u. 514ff.
248 P. Valery, Der Unendlichkeitsfaktor in der Ästhetik, in: ders., Über
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Namenregister

Adorno, Th. W. 29, 33, 36, 39-41, Castoriadis, C. 334


46f., 53, 59, 61, 63, 66, 69ff., Castaneda, H. N. 343
158,176,196,219,233,291, Cavell, St. 3 54 f.
300-3o5, 325, 327, 330 ff., Cezanne,P. 182,199
336ff., 344,348,351, 359ff., Chaplin, Ch. 23 5, 3 55
363 Crawford, D. C. 3 54
Alston, W P. 342
Apel, K. 0. 339 Dahlhaus, C. 357
ArtEnsemble of Chicago 275 Danto, A. C. 192, 222, 272 f., 286,
Austin, J. L. 346 333 f., 346, 351, 354, 360
Dewey,J. 72, 174, 177, 339 ff.,
Bataille, G. 47,335,338 439,353
Baumeister, T. 337 Doderer, H. v. 164
Baumgarten, A. G. 28,216 Duchamp,M. 181,286
Beardsley, M. C. 355,357 Dummett, M. 344
Beatles, The 27 5
Beavin,J.H. 347 Eggebrecht, H. H. 3 57
Bedford, E. 342 Elias, N. 345
Benjamin, W. 56, 61, 175 f., 217- Enzensberger, C. 3JI f., 363
220, 230, 334, 340, 350, 353, 355 Ernst, M. 227
Benn, G. 184
Berger, P. 341,345
Bernhard, Th. 164 Faltin, P. 3 57
Foucault, M.-338
Bittner, R. 350
Frege, G. 136, 345 f.
Bloch, E. 331
Fricke, H. 307-313, 3 51, 36 1 f.
Blumenberg, H. 347, 350
Frisch, M. 182 f.
Bocuse, P. 342
Boehm, G. 357f.
Bohrer, K. H. 55-61, 67f., 106, Gabriel, G. 272f., 357f., 359f.,
207,246-249,254,327-330, 361
338,340,350,356,362 Gadamer, H. G. 13, 30, 46 f., 48-
Bourdieu, P. 343, 354 50, 71, 75, 78, 82, 85,108,
Braxton, A. 164f., 169,250 175 f., 231,335,337, 339ff.,
Brecht, B. 310, 362 344ff., 349f., 355,358
Bubner, R. 47, 50-53, 285, 337f., Grewendorf, G. 347
344,350,358 Grice, H.P. 348
Buck, G. 149, 344, 347 Goodman, N. 185, 268-273, 295,
Bürger, P. 59,335 ff. 346, 35of., 356f.

37 1
Habermas, J. 12, 30, 64, 86, 120, Koppe, F. 55, 61-68, 289,331,
123, 176, 178, 292, 321-324, 337 f., 348, 357, 3 59 f., 363
326, 330, 334f., 338, 341, Kripke, S. A. 347
344 ff., 350, 3 59, 362 Kuhlmann, W. 344
Haller, R. 354 Kulenkampff,J. 37, 336f., 356
Hamann, J. G. 48
Hammett, D. 228 Lang, P. C. 337
Hampshire, St. 3 53 Loos,A. 181
Hawks, H. 355 Lubitsch, E. 259-264, 276,355
Hegel, G. W. F. 24, 26, 29, 31, 46, Luckmann, T. 86, 34off., 345
72, 85, 87, 98, II8, 133, 175, Lukacs, G. 47,321,337,357
291, 340, 345, 349f. Lyotard,J.F. 335,338
Heidegger, M. 46f., 53, 55, 60, Lypp, B. 335
68, 72, 75, 78, 108, II l, II7,
176, 337ff., 343 f. Macdonald, M. 353
Heller, A. 342 f., 345 Malewitsch, K. 227
Henrich, D. 290,359 Marcuse, H. 66,331 f., 362f.
Hirsch,E.D.355 Margolis,J. 357
Hitchcock, A. 355 Marquard, 0. 335
Horkheimer, M. 40 Matisse, H. 227
Mead, G. H. 345
Imdahl, M. 239,242,251 f., 264, Mondrian, P. 216, 227 f.
280,355 f., 358 Müller, G. 360
Isenberg, A. 353 Mukarovsky,J.293,348,359
Iser, W. 47,339,350 Musil, R. 60, 164

Jackson, D. D. 347 Newmann, B. 219,228,239,


Jakobson, R. 348 242 f., 251 f., 254,276, 283-288,
Jauß, H. R. 34, 68,172,281,336, 299,349,352
338f., 349,358,36 1 Nietzsche, F. 47, 56f., 59, 173,
Jean Paul 312 f., 362 31zf.
Johst, H. 361 f.
Joyce,J. 60,228 Oevermann, U. 355
Jürgens,M. 362 Oldenburg, C. 181

Kambartel, F. 352 Parker, Ch. S. 228


Kant, I. JI, 36-39, 41-48, p, 53, Patzig, G. 185 f., 351,356
66f., 148, 172, 175,199,204, Paz, 0. 165-170, 178, 187ff., 191-
207-210,216,220-224,227, 195, 198!200, 212,233,238,
264,284,292, 3u, 336f., 349, 240,250,254,264,276,349,
351 ff.,356 352
Kempner, F. 232 f. Pereda, C. 334, 345
Kleist, H. v. 55 Pfaff, P. 337,350,356

372
Pitcher, G. 342 Tormey, A. 348
Polanyi, M. 75, n3, 339f., 342ff. Toulmin, St. 3 34
Preisendanz, W. 263 f., 355 f. Tugendhat, E. 75, 95, 14of.,
Prosch, H. 339 f., 342 ff. 203-206, 213,334, 339ff., 346,
Proust, M. 60, 143 f., 347 352f.

Rentsch, Th. 3 53 Valery, P. 34, 47, 61, 164, 176,


Riefenstahl, L. 233 ff., 238, 254f. 277,301,336,350, 354f., 358f.,
Ritter, J. 334 359,363
Ryle, G. 114,342,344
Warhol, A. 200, 286
Sartre, J. P. 2 1, 340 Watzlawick, P. 347
Schelling, F. G. 46 Webern, A. 228,275
Schiller, F. 3JI Weitz, M. 3 55
Schmidt, A. 258f., 356 Wellmer, A. 12, 299f., 325-330,
Schopenhauer, A. 47 334 ff., 357,360,362
Schütz, A. 86, 90, 340 ff. Wilde, 0. 300, 360
Searle,J.R. 150,347 Wittgenstein,L. 13, 54, u1, 128,
Seyfried, H. 362 r36f., 142,165, r77f., 226f.,
Sirridge, M. 3 5 5 293-297, 338, 342 f., 345 f., 35o,
Sloterdijk, P. 334 359
Sontag, S. 69, 339 Wohlfahrt, G. 338
Stifter, A. 258 f. Wollheim, R. 185, 3 5I
Strawson, P. F. 122, 345 Wois 228
Struck, K. 182 f. Woolf, V. 60
Syberberg, H. J. 3 55
Ziff, P. 353
Taylor, Ch. 342, 344 Zimmermann,]. 350,355
Tizian 276 Zimmermann, R. 362

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