des Markusevangeliums
Thesen und Antithesen zur politischen Interpretation
des ältesten Evangeliums
Alois Hund Carrasco
1. Einführung
Die Exegese des MkEv tendiert in den letzten Jahrzehnten zunehmend dazu,
dem ältesten Evangelium imperiumskritische Tendenzen zuzusprechen und
seine Botschaft als antiflavianisch zu interpretieren. Die sog. Anti-Evan-
gelium Hypothese1 interpretiert das MkEv unter besonderer Berücksichti-
gung des damaligen soziopolitischen Kontextes und orientiert sich primär
an diesem als Referenzsystem. Ihrer Interpretation zufolge, hätten die ver-
schiedenen politischen Entwicklungen um das Jahr 70 n.Chr. (insbesondere
der Aufstieg Vespasians) Mk dazu veranlasst, eine Art ״Gegenpropaganda“
zu verfassen, in der er für die Überlegenheit Jesu gegenüber der Konkur-
renzfigur Vespasian warb. Einige Szenen des Lebens Jesu (Wunderer-
Zählungen, Motive und narrative Auffälligkeiten) seien demnach als beab-
sichtigte Kontrasterzählungen zum Aufstieg des römischen Kaisers konzi-
piert worden.2 Bestimmte Parallelen zwischen Vespasians und Jesus, insbe-
sondere die Ähnlichkeit zwischen den alexandrinischen Wundertaten und
einigen markinischen Wundererzählungen, erhalten hierbei besondere Auf-
merksamkeit.3
Auch wenn die Thesen Theißens anfangs kontrovers waren9, finden sie heute
breite Zustimmung in der Forschung. Mehrere nach der Jahrtausendwende
erschienene Studien interpretieren weiterhin das MkEv als eine Reaktions-
schrift auf das Aufkommen der Vespasian-Figur, eine Theorie, die gegen-
wärtig aus unterschiedlichen Perspektiven weiterentwickelt und ergänzt wird.
Gleichzeitig vermehrt sich die Anzahl an Publikationen, die diese Lektüre
kritisch betrachten und ihre Plausibilität hinterfragen.10 Im Folgenden soll ein
kurzer Überblick über die Hauptargumente der Anti-Evangelium Hypothese
(in Auswahl und zusammenfassend) verschafft werden. Mögliche Aporien
und diskussionsbedürftige Themen werden dabei angesprochen.
9 Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Im Jahr 1992 schrieb J. Marcus dazu:
“Contra Theißen (Lokalkolorit, 279-281), who thinks that the false Christs of
13:6, 21-22 are not Jewish figures (though cf. 278) but Roman mlers such as
Vespasian, who was regarded as a savior figure by many in the Roman Empire.
This identification is partially dependent on Theissen’s interpretation of 13:14,
with which I disagree below...” (Marcus, War, 448 Fn. 35).
10 Vgl. Bendemann, Heilung, 346; Marcus, War, 448; Huebenthal, Anti-Gospel,
157-158; Klumbies, Markusevangelium, 23.
11 Sueton, Vespasian 7; Tacitus, Historiae 4,81; Cassius Dio, Römische Geschichte
65,8,1.
12 Vgl. Bauer, Christus, 189; Winn, Purpose, 153-177; Eve, Spit, 1-17 (und ande-
re). M. Ebner sieht hier ebenfalls eine Parallele mit der Heiligung des Bartimäus
(Mk 10,46-52), da bei beiden Wunderberichten die typischen Merkmale einer
kaiserlichen Audienzszene zu finden sind (vgl. Ebner, Evangelium, 39-40).
13 So etwa E. Eve: “...Mark introduced the spittle into his story of the Blind Man of
Bethsaida to create an allusion to the Vespasian story as part of a wider concern
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tisch. S. Kim bezeichnet dieses Verfahren (hier in Bezug auf die Paulusfor-
schung) als “Parallelomania” (vgl. Kim, Christ, 29).
26 Vgl. Windisch, Orakel, 66-68.
27 Siehe dazu: Theißen, Lokalkolorit, 277-284; Winn, Purpose, 173-177.
28 Vgl. Windisch, Orakel, 6.
29 Winn, Purpose, 178.
30 Vgl. Ebner, Evangelium, 35, Fn. 32; Windisch, Orakel, 5-9.
31 Josephus, Bellum 6, 312-313.
Jesus, Vespasian und die antillavianische Lektüre ... 119
da?64 65
Ob66Mk sich dessen bewusst war, dass die angegebene Route in Wirk-
lichkeit einen Umweg darstellte, ist ebenso zweifelhaft. Mehrere geogra-
phische Ungenauigkeiten im Evangelium suggerieren eher, dass der Evan-
gelist sich in der Region nicht gut auskannte.65 66
72
Vgl. Becker, Markus-Evangelium, passim; Becker, Historiographieforschung, 1-
18; Becker, Krieg, 213-236.
73
Vgl. Becker, Markus-Evangelium, 20.264.265 und 382.
74
Becker, Markus-Evangelium, 401.
75
Vgl. Becker, Krieg, 217.
76
Vgl. 2.1.
77
Vgl. 2.5.
78
Vgl. 2.6.
79
Nach der Definition von R. Zimmermann: ״Eine ,historiographische Fälschung‘
liegt vor, wenn ein Historiker eine Geschichte als ,wahr‘ ausgibt, die auf erfun-
denen Primärquellen und Fakten beruht“ (Zimmermann, Geschichtstheorien, 437).
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Kritik. Die Tendenz zur Entlastung der Römer von der Schuld am Tode
Jesu ist ebenfalls bemerkenswert. Obwohl die Todesstrafe von den Römern
befohlen und durchgeführt wurde, gelten im markinischen Bericht die
Volksmenge, Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste als die ״wahren“
Schuldigen (Mk 15,8-13).86 Der Präfekt der Provinzen Judäa und Samaria,
zweifelsohne die römische Hauptfigur des Evangeliums, verhält sich
dagegen Jesus gegenüber gutmütig, versucht sogar ihn durch die Pascha-
Amnestie vor der Wut der Menschenmenge zu retten (Mk 15,14). Zu dieser
Szene kommentiert W. Stegemann:
״Das apologetische Interesse, Jesus vom Vorwurf anti-römischen
Verhaltens zu entlasten, wird auf zweierlei Wegen umgesetzt: Einer-
seits werden die judäische Führungselite und die Volkmenge so dar-
gestellt, dass sie auf Jesu Hinrichtung beim römischen Statthalter
dringen; andererseits findet der Statthalter keine Schuld an Jesus, gibt
aber dem Drängen der einheimischen Elite und des Volkes nach.“87
4. Schlusswort
Die Annahme der Existenz einer verborgenen antiflavianischen Botschaft in
dem MkEv ist in der heutigen neutestamentlichen Exegese weiterhin
umstritten. Obwohl entsprechende Thesen gegenwärtig auf breite Zustim-
mung stoßen, finden sich in der Forschung ebenfalls Stimmen, die sie
kritisch betrachten und ihr unter anderem Systemimmanenz und Spekula-
tion vorwerfen.88 In der Kritik steht ebenso die exegetische Herangehens-
weise antiflavischer bzw. antiimperialer Interpretationen: Die Auslegung
des MkEv im Lichte außertextlicher Ereignisse führe dazu, Übereinstim-
mungen zwischen den Aussagen des Textes und damaligen politischen
Szenarien zu ״erzwingen“89.
Summary
The exegetical research of the Gospel of Mark increasingly tends to attribute anti-
imperialist traits to the earliest Gospel. Some of its scenes had been conceived as
intentional contrasting narratives to the figure of Vespasian. The following study criti-
cally examines this widespread, yet still controversial reading of the Gospel of Mark.
90 Huebenthal merkt dazu an: “Contemporary readers, especially those whose per-
sonal faith and understanding of Jesus have been shaped by Mark’s Gospel, may
find it disturbing and reductionistic to be told that the Gospel should be
understood as a warning about social climbing and that Jesus is primarily an
anti-type of the Roman Emperor.” (Huebenthal, Anti-Gospel, 140).
Jesus, Vespasian und die antiflavianische Lektüre ... 129
Zusammenfassung
Die Mk-Forschung tendiert zunehmend dazu, dem ältesten Evangelium imperiums-
kritische Tendenzen zuzusprechen. Einige Szenen des Evangeliums seien demnach
als beabsichtigte Kontrasterzählungen zur Vespasian-Figur konzipiert worden. Die
vorliegende Untersuchung widmet sich der Überprülimg dieser an Beliebtheit zuneh-
menden, jedoch weiterhin umstrittenen imperiumskritischen Lektüre des MkEv.
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