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Günter Figal

Nietzsche
Eine philosophische Einführung

Reclam 
Figal · Nietzsche
Günter Figal
Nietzsche
Eine philosophische Einführung

Philipp Reclam jun. Stuttgart


Für Barbara

Alle Rechte vorbehalten


© 1999, 2004 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-950301-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-009752-6
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Seismographie . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2. Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3. Positionsbestimmungen . . . . . . . . . . 33

II. Zeit und Sein und Kunst . . . . . . . . . . . 44


1. »Vom souverainen Werden« . . . . . . . . 44
2. »Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen« 52
3. »Kunstwelten« . . . . . . . . . . . . . . . 63
4. »Vermittelung des menschlichen
Künstlers« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

III. Dialektiker unter sich . . . . . . . . . . . . . 103


1. »Das Problem der Wissenschaft selbst« . 103
2. »Monstrosität per defectum« . . . . . . . 108
3. »Abendröthe der Kunst« . . . . . . . . . . 118
4. »Scheidung der Welt« . . . . . . . . . . . 133
5. »Neue Erfindung des vernünftigen
Denkens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
6. »Selbstzertheilung des Menschen« . . . . 159
7. »Offnes Meer« . . . . . . . . . . . . . . . 172
6 Inhalt

IV. Leben der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . 181


1. »Über allen menschlichen Dingen« . . . . 181
2. »Ich lehre euch den Übermenschen« . . . 200
3. »Nicht Wille zum Leben, sondern –
so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!« . . 216
4. »Etwas Complicirtes« . . . . . . . . . . . 225
5. »Psychologie« . . . . . . . . . . . . . . . . 236
6. »Kosmisch empfinden« . . . . . . . . . . 245
7. »Du bist der Lehrer der ewigen
Wiederkunft« . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Verzeichnis der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . 281


Verzeichnis der zitierten Literatur . . . . . . . . . 285

Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294


Vorwort

Dieses Buch ist als möglichst einheitliche Darstellung


von Nietzsches philosophischer Gestalt konzipiert wor-
den. So kann man es als Möglichkeit verstehen, ohne
besondere Voraussetzungen mit Nietzsche bekannt zu
werden. Aber man sollte keine summarischen Referate
seiner Überzeugungen und Thesen erwarten. Vielmehr
geht es um Erfahrungen und Fragen, die Nietzsches
Philosophieren und Schreiben in Bewegung halten, um
Gedanken und Bilder, die sein Werk als Grundmotive
durchziehen. Mit ihrer Darstellung ergibt sich erst ein
Zusammenhang für die bekannten »Lehren« und Be-
griffe, ein Bild des Gefüges, in das sie gehören. Aller-
dings tritt dieses nicht hervor, ohne daß man genaue und
wiederholte Lektüre mit Unbefangenheit verbindet, ge-
duldige Aufmerksamkeit für Variationen und Details
mit dem Blick auf das Ganze, unter dem es erscheint wie
zum ersten Mal. So kann Nietzsche fremder, erstaunli-
cher werden und bekannter zugleich.
Die Hörer dreier Vorlesungen zu Nietzsche an der
Tübinger Universität haben meine Arbeit durch ihr In-
teresse gefördert; in Gesprächen mit Freunden, vor al-
lem mit Pavel Kouba, hat sich manches geklärt. Friede-
rike Rese hat mich mit großem Engagement bei der Fer-
tigstellung der Druckvorlage unterstützt. Dafür bin ich
dankbar.
Sommer 1998 G. F.
I.
Von außen

1. Seismographie

Immer kommt man von außen, mit Vorurteilen. Bevor


man ein Buch aufschlägt, hat man Erwartungen, die sich
erfüllen oder zerschlagen, im besten Fall auch verwan-
deln. Bei Autoren, die wirksam und einflußreich waren,
sind die Erwartungen besonders stark präpariert; Vor-
stellungen und Deutungen, Gerüchte und Meinungen
färben jede Lektüre. Je größer die Wirkung eines Au-
tors, desto vermittelter ist auch sein Bild.
Nietzsches Wirkung ist unüberschätzbar. Als er am
25. August 1900 starb, hatte er sich schon zwölf Jahre
lang in den Untiefen des Wahnsinns verloren. Er wußte
nicht mehr, wer er war, und also hat er dieses Jahrhun-
dert nicht mehr erlebt. Trotzdem ist er der wichtigste
Denker des zwanzigsten Jahrhunderts geworden: Was
Philosophie heute sein kann, versteht man nicht ohne
ihn. Nietzsche hat die Philosophie in einer zuvor unbe-
kannten Weise dramatisiert: ihre Möglichkeit in Zweifel
gezogen, aufs Spiel gesetzt und sie zugleich unter höch-
stem Anspruch erneuern wollen; er hat wie kein ande-
rer vor ihm die Schwierigkeiten formuliert, vor denen
das philosophische Denken heute steht, und zugleich
Perspektiven eröffnet, Beschreibungsmöglichkeiten der
Welt und des Lebens entworfen, die für die Zeit nach
ihm bestimmend geworden sind.
Nicht, daß alle Philosophen der vergangenen Jahr-
10 Von außen

zehnte sich auf Nietzsche berufen hätten. Manche, die


von Bedeutung sind, wie Husserl oder Frege, dürften
ihn kaum ernsthaft gelesen haben, und nicht wenige hät-
ten ihm den Titel eines Philosophen nur unter Vorbehal-
ten zugesprochen. Lange war das Wort vom »Dichter-
philosophen« in Umlauf, und das hieß für viele, hier
könne man sich die gedankliche Auseinandersetzung
sparen. Besonders galt das zu Beginn des Jahrhunderts,
als die Philosophie noch »strenge Wissenschaft« sein
wollte oder wissenschaftsorientiertes Denken im Stil
des Neukantianismus. Aber Max Weber hat Nietzsche
gelesen und Georg Simmel,1 zwei für das Selbstverständ-
nis der Moderne maßgebliche Denker. Auch Sigmund
Freud ließ sich in seinen Bann ziehen, schon seit etwa
1877, und umging ihn zugleich – aus Furcht, den unge-
trübten, diagnostischen Blick zu verlieren, weil Nietz-
sches »Ahnungen und Einsichten« sich »oft in der er-
staunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der
Psychoanalyse decken«.2
Solche Leser werfen ein Licht auf das Gelesene zu-
rück. Weber, Simmel und Freud fanden hier in un-
gewöhnlicher Klarheit, in Überschärfe zur Sprache
gebracht, was ihnen wichtig war. Nietzsche hat früh
Aspekte des Lebens gesehen und beschrieben, die sonst
erst allmählich ins Bewußtsein traten. Er hat ein seltenes
Gespür für seine Zeit gehabt, außergewöhnlich scharfen
Sinn für das Krisenhafte, das Brüchige und Gefährdete
der Moderne, ihren ungebrochenen Anspruch auf Ratio-
nalität und Fortschritt. Und er trifft das Atmosphäri-
sche, die veränderte geschichtliche Wetterlage gegen
Ende des letzten Jahrhunderts so genau, daß sich bald

1 Vgl. Hennis (1987) sowie Lichtblau (1984).


2 Freud (1925), S. 83. Vgl. Figl (1996) und Gasser (1997).
Seismographie 11

viele im Spiegel seiner Schriften wiedererkannten und


feststellen konnten, wieviel von dem, was sie bewegte,
hier schon gesagt, zumindest vorbereitet war. So jeden-
falls hat es Gottfried Benn fünfzig Jahre nach Nietzsches
Tod zusammengefaßt:
Eigentlich hat alles, was meine Generation disku-
tierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann
sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles
das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen
und erschöpft, definitive Formulierung gefunden,
alles Weitere war Exegese. Seine gefährliche stürmi-
sche blitzende Art, seine ruhelose Diktion, sein
Sichversagen jeden Idylls und jeden allgemeinen
Grundes, seine Aufstellung der Triebpsychologie,
des Konstitutionellen als Motiv, der Physiologie als
Dialektik – ›Erkenntnis als Affekt‹, die ganze Psy-
choanalyse, der ganze Existentialismus, alles dies ist
seine Tat. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der
weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche.3
Nicht die in den Anspruch der Wissenschaftlichkeit
verstrickten Philosophen also, vielmehr solche, die Zeit-
gespür und Sinn für die Erfahrungsmöglichkeiten der
Kunst hatten, mehr noch die Künstler selbst haben
Nietzsches Bedeutung am frühesten erkannt:4 Außer
Gottfried Benn Autoren wie George, Hofmannsthal,
Heinrich Mann, Musil, Rilke, auch Wilde, Yeats und
Valéry, weiter Proust, Gide, D’Annunzio, Marinetti und
andere mehr. Thomas Mann hat Nietzsche in leicht
durchschaubarer Weise zur Schlüsselgestalt seines großen
Neuzeit- und Moderneromans Doktor Faustus gemacht.

3 Benn (1950), S. 482.


4 Allgemein dazu Meyer (1983).
12 Von außen

Nietzsche, der selbst komponierte und sich bis zum


Ende seines bewußten Lebens mit Richard Wagner aus-
einandersetzte, hat auch in der Musik gewirkt. Gustav
Mahler hat das Trunkene Lied aus dem Zarathustra als
Teil seiner dritten Symphonie vertont, um nach den
Naturbildern der ersten drei Sätze und vor dem En-
gels- und Himmelsgesang des fünften und sechsten die
Stimme des Menschen erklingen zu lassen. Von Richard
Strauss gibt es eine Tondichtung Also sprach Zarathu-
stra. Die Malerin Paula Modersohn-Becker und Maler
wie de Chirico, Munch, Max Ernst, Otto Dix, Alfred
Kubin fühlten sich ihm verbunden und setzten sich mit
ihm auseinander.5 Auch noch zu erwähnen ist hier die
schon zu Lebzeiten einsetzende Devotionalienherstel-
lung6: diverse Skulpturen und vor allem der Plan eines
Nietzsche-Mausoleums, das der Architekt und Gestalter
Henry van de Velde entwarf. Benn sagt dazu, es wirke
»auf uns wie ein monströses Marmorkonglomerat etwa
aus dem Film Das indische Grabmahl oder wie das Bon-
zenpalais eines Mormonenhäuptlings«7.
Die Nähe der Künstler zu Nietzsche hat sicher mit
dem schon erwähnten literarischen Charakter seines
Werkes zu tun. Nietzsche ist als Autor von Essays und
Aphorismenbüchern einer der brillantesten Stilisten
deutscher Sprache; elegant, frech und leicht wie in der
Philosophie keiner sonst, vergleichbar höchstens noch
dem Essayisten Heinrich Heine. Außerdem ist Nietz-
sche Lyriker, kein in jedem Fall überzeugender, aber
doch einer, dem manches gelingt. Und er verfaßt mit

5 Vgl. Schmied (1994); zu Modersohn-Becker ausführlicher: Smitmans-


Vajda (1997), S. 69–113.
6 Dazu und überhaupt zur Wirkungsgeschichte: Aschheim (1992); Rie-
del (1997).
7 Benn (1950), S. 486 f.
Seismographie 13

Also sprach Zarathustra ein seltsames Buch, halb Evan-


geliumsparodie, halb neues Evangelium und an die
Lehrreden Buddhas erinnernd; ein Buch, das zwischen
Leichtigkeit und Schwulst, Meisterschaft und Kunstge-
werbe so changiert wie vieles zwischen Gründerzeit und
Jugendstil, auch noch im Expressionismus: hier fand
eine unsicher gewordene, darum auch mit großer Geste
die Zukunft entwerfende Zeit sich wieder und sah ihr
Programm: Die Möglichkeit einer Moderne, die nicht
nur aufgeklärt und entzaubert, aber auch nicht nur Spät-
zeit, dem Vergangenen nachtrauernde Romantik wäre.
So wenigstens sah es Thomas Mann, wo er Nietzsche als
»Freund des Lebens« und »Seher höheren Menschen-
tums« bezeichnete, als »Lehrer der Überwindung all
dessen in uns, was dem Leben und der Zukunft entge-
gensteht, das heißt des Romantischen«8.
Nietzsche ist also Schlüsselfigur für das Selbstver-
ständnis der Moderne.9 Und dabei ist der künstlerische
Aspekt seines Werks nicht bloß eine Frage des Stils und
der Gattungen, sondern mehr noch eine Frage der Sicht-
weise. Hier schreibt jemand, der sich nicht auf dem si-
cheren Boden geklärter Kategorien und Begriffe glaubt,
der nicht im gehegten, manchmal freilich auch bornier-
ten Raum normaler Wissenschaft die Einsichten anderer
fortschreibt oder korrigiert; aber auch kein Philosoph
im klassischen Sinn, der die Welt denkend betrachtet, die
Entwicklung des Geistes zu sich verfolgt, wie noch He-
gel, der letzte Aristoteliker von Bedeutung, der letzte
noch glaubhafte Restaurator klassischer Theorie. Mit
Nietzsche schreibt jemand, der sich der eigenen Zeit aus-
geliefert sieht wie ein Wetterfühliger dem hereinbre-

8 Mann (1924), Essays 2, S. 238.


9 Zur Modernität Nietzsches vgl. Nehamas (1994).
14 Von außen

chenden Föhn. Es paßt hierher, daß Nietzsche auch im


ganz unmittelbaren Sinn hochsensitiv war, kränkelnd,
oft bis zur Unerträglichkeit von Migräne gequält.
Nietzsche als Deuter und Beschreiber seiner Zeit ist
mehr reagierend als souverän betrachtend; sein Abstand
zu dem, was geschieht, ist immer nur vorläufig und rela-
tiv, revisionsbedürftig; seine Begriffe und Kategorien
gleichen Werkzeugen, die immer wieder problematisch
werden. Nietzsche ist ein Philosoph unter jeweils vor-
läufigen Bedingungen, so daß sich, wie Ernst Jünger ein-
mal sagt, »das Opus dem Logbuch annähert«:
Das sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in de-
nen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Un-
geheuer auftauchen. Wir sehen den Steuermann bei
der Betrachtung der Instrumente, die allmählich
glühend werden, den Kurs bedenken und sein Ziel.
Er untersucht die Wege, die möglich sind, die äu-
ßersten Routen, auf denen die praktische Vernunft
dann scheitern wird. Die geistige Erfassung der Ka-
tastrophe ist fürchterlicher als die realen Schrecken
der Feuerwelt. Sie ist das Wagnis nur der kühnsten,
lastbarsten Geister, die den Dimensionen, wenn-
gleich nicht den Gewichten des Vorgangs gewach-
sen sind. So zu zerbrechen war das Schicksal Nietz-
sches, den zu steinigen heute zum guten Ton
gehört. Nach dem Erdbeben schlägt man auf die
Seismographen ein. Man kann jedoch die Barome-
ter nicht für die Taifune büßen lassen, falls man
nicht zu den Primitiven zählen will.10
So, nicht ohne den Anklang vergleichbarer Erfahrungen,
im 1946 geschriebenen Vorwort zu der Tagebuchsamm-

10 Jünger (1949), S. 13.


Seismographie 15

lung Strahlungen. Als Zeitdeuter ist Jünger einer der


wichtigsten Nachfolger Nietzsches, seine Impulse auf-
nehmend, unter den Bedingungen der eigenen Zeit in
Verwandlung artikulierend; auch gibt es, was den Ge-
stus, den Stil angeht, Verwandtschaft: die Neigung zum
Sentenzenhaften, zum Aphorismus, die Liebe zur fran-
zösischen Moralistik und der von Autoren wie Mon-
taigne, La Rochefoucault, Rivarol artikulierten skepti-
schen Weltbetrachtung.
Allerdings gewährt diese Skepsis, die Zurückhaltung
gegenüber herrschenden Festlegungen und Tendenzen,
für die Nietzsche einmal das Wort vom »Unzeitgemä-
ßen« prägt, keine Garantie, daß man den Wirkungen der
eigenen Zeit entgeht. Jüngers Bild vom Seismographen
oder Barometer suggeriert zwar einerseits die Genauig-
keit und Unbestechlichkeit eines Meßvorgangs, wie dra-
matisch die Bedingungen für diesen auch sein mögen.
Doch andererseits erscheinen auf dem Seismographen
alle Erschütterungen, und so im Werk des seismographi-
schen Autors die Turbulenzen seines geschichtlichen Le-
bens. Wenngleich die Zeitbeschreibung nicht ohne den
Abstand des »Unzeitgemäßen« möglich ist, unterliegt
sie doch auch der eigenen Zeit: den von dieser eröffneten
Bahnen und Perspektiven, ihrem Stil, ihren Möglichkei-
ten der Artikulation.
Selbst wenn die Steinigungsversuche seltener gewor-
den sind, die kleinen, harten Kiesel der Ideologiekritik,
wie sie programmatisch von Georg Lukács formuliert
wurde,11 treffen Nietzsche deshalb immer noch. Obwohl
er nicht korrumpierbar und gegen viele Dummheiten
seiner Zeit immun war, hat Nietzsche doch deren Spra-
che gesprochen und sich etwa auf ein biologisch getön-

11 Lukács (1988).
16 Von außen

tes Vokabular eingelassen, das ihn den Vertretern einer


bloß naturalistischen Deutung des Menschen empfehlen
konnte. Manches klingt nach sozialdarwinistischer Ver-
achtung der Schwäche, der Zivilisation überhaupt, nach
Apotheose des Barbarischen und vital Aristokratischen.
Einschlägig berühmt und berüchtigt sind hier die Rede
von der »blonden Bestie«, vom »Übermenschen«. Und es
gibt Sätze, die Nietzsche besser nicht geschrieben hätte.
Darauf im Affekt zu reagieren, ist verständlich, aber
nicht sehr vernünftig. Schließlich konnten schon die Ver-
suche von Nietzsches Schwester, ihn den Nationalsozia-
listen als Vordenker anzudienen, nur um den Preis der
Einseitigkeit, der Verengung und Verfälschung und so
nur begrenzt erfolgreich sein.12 Neben den martialischen
und maßlosen Formulierungen steht unübersehbar an-
deres, das auch den damaligen Lesern nicht entging und
Nietzsche für die Rolle eines nationalsozialistischen
Philosophen denkbar ungeeignet machte: Verachtung
der gründerzeitlichen Großmannssucht, scharfe Kritik
am Nationalismus, der »Vaterländerei«, wie Nietzsche
es nennt, Abscheu vor der bösartigen Dummheit des
Antisemitismus. Der Affekt gegen Nietzsche ist dem-
nach unvernünftig, weil er der besseren, mittlerweile
auch durch zahlreiche Interpretationen belegten Einsicht
zuwiderhandelt, daß man zu fast jeder problematischen
Festlegung im Werk Nietzsches eine Korrektur findet;
nichts bleibt isoliert, in dogmatischer Setzung stehen,
jeder Gedanke, auch der provozierendste, jede Beschrei-
bung, auch die scheinbar eindeutige, gehört in ein kom-
plexes, relativierendes Geflecht und ist nur hier ange-
messen zu beurteilen.

12 Vgl. auch dazu Aschheim (1992), besonders die Kapitel 8 und 9.


Außerdem Riedel (1997).
Seismographie 17

Was von Nietzsches Kritikern gern ignoriert wird, ist,


um es noch einmal anders und mit einem Ausdruck
Kierkegaards zu sagen, sein Verfahren der »indirekten
Mitteilung«: sein Mosaikspiel des Denkens in unendlich
vielen Facetten, die Erzeugung von Einsicht durch viel-
fältige Brechung und Variation. Nietzsche erwirkt sich
die Distanz, die zu Analyse und Beschreibung nötig
ist, immer wieder aufs neue; und er weiß, daß seine Di-
stanz nicht nur erwirkt, auch ermöglicht ist – also
abhängig von Bedingungen, die in ihr nicht zur Geltung
kommen. Jedes Denken und Verstehen, jedes Begreifen
und Auslegen, vollzieht sich in einem Zusammenspiel
oder Zusammengehören von Abstandnahme und Le-
bensverstricktheit.
Damit ist eine Situation des Lebens und Erfahrens
bezeichnet, die man am deutlichsten in der Kunst emp-
findet. Vielleicht läßt sich sogar das Wesen ästhetischer
Erfahrung so fassen, daß man von einer beteiligten und
betroffenen Distanz, von einem Dabeisein auf Abstand
spricht. Für die Erfahrung von Kunstwerken ist das
wohl leicht nachzuvollziehen: Sich auf ein Werk der
Kunst einzulassen, heißt ja immer beteiligt, eingenom-
men und trotzdem frei zu sein – befreit aus den Forde-
rungen und Unumgänglichkeiten, die sich in Hand-
lungssituationen stellen. Und das Eingenommensein von
Werken der Kunst ist ja außerdem immer so, daß man
sich oft zum Urteil, zur Deutung ermuntert fühlt; man
ist dabei und hält trotzdem Distanz.
Für die künstlerische Tätigkeit gilt Ähnliches. Wer
zeichnet oder malt, schreibt oder komponiert, rückt aus
den alltäglichen Lebenszusammenhängen heraus und
geht doch nicht auf die unbeteiligte Distanz des bloßen
Beobachters – einmal unterstellt, dergleichen sei über-
haupt möglich. Vielmehr ist klar, daß die künstlerische
18 Von außen

Tätigkeit selbst auch situationsbedingt ist; bedingt oft


durch dieselbe Situation, von der man sich distanzierte.
So wäre das Innehalten in der Landschaft, um sie zu
zeichnen, eine Urszene der Kunst, ebenso der im alltäg-
lichen Leben vollzogene Schritt aus dem alltäglichen Le-
ben, um Notizen fürs Tagebuch zu machen.
In diesem Sinne ist Nietzsche Künstler gewesen und
hat sich als solcher verstanden. Und Philosophie, hat er
gedacht, müsse darin künstlerisch sein, daß sie sich nicht
zum hieratischen Lehrgebäude verfestigt oder ein ab-
straktes Begriffs- und Gedankenreich wird, sondern die
Spannung von Lebensverstricktheit und Abstandnahme
in sich austrägt. Das gilt wiederum nicht abstrakt für
»die Philosophie«, sondern für den einzelnen Philo-
sophen, also für dieses Individuum Friedrich Wilhelm
Nietzsche – sein philosophisches Denken ist gerade da,
wo es zum Leben in Spannung steht, mit dem Leben
verknüpft. Nietzsche hat das gewußt und die Philoso-
phie in sein Leben gestellt und sein Leben immer wieder
philosophisch bedacht.

2. Biographie

»Aus meinem Leben. – von F. W. Nietzsche. I. Die Ju-


gendjahre. – 1844–1858.«13 Das ist die Überschrift eines
Manuskriptes aus dem Jahr 1858, verfaßt also im Alter
von vierzehn Jahren; kein Wunder, daß das erste Kapitel
der Lebenserinnerungen hier auch das letzte bleibt. Und

13 Frühe Schriften Bd. 1, S. 1–32.


Biographie 19

dreißig Jahre später, wenige Monate vor seinem Zusam-


menbruch, beginnt Nietzsche eine kleine Schrift, deren
Thema er selbst als »extrem schwere Aufgabe« bezeich-
net: »nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansich-
ten, bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war,
mein Leben zu erzählen« – so in einem Brief vom 6. No-
vember 1888 an den Verleger Constantin Georg Nau-
mann in Leipzig (KSB 8,464). Die Schrift trägt den Titel
Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. Zwei Jahre zu-
vor, 1886, hatte Nietzsche Vorworte zu seinen früheren
Büchern mit Ausnahme des Zarathustra – also zu Die
Geburt der Tragödie, Menschliches, Allzumenschliches,
Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft – geschrie-
ben: rückblickende Selbstdarstellungen und -deutungen.
Und dazwischen, in den Büchern, ist der Autor immer
wieder präsent und macht auf sich aufmerksam, allein
dadurch, daß er zustimmt und ablehnt, im positiven wie
im negativen Sinne seine Passionen ausagiert – subtil
kommentiert und sich bisweilen auch wichtig macht.
Der Titel der späten autobiographischen Schrift, das Pi-
latus-Wort über den geschundenen Jesus (Joh. 19,5),
könnte so gesehen das Motto zu Nietzsches Werk über-
haupt abgeben: Man schaue sich den Menschen an. Wohl
kaum jemand anders seit Jean-Jacques Rousseau, den
Nietzsche übrigens verabscheute, hätte dieses Motto für
sich in Anspruch nehmen können und wollen. Man
sollte also hinschauen, nicht allzu ausführlich,14 aber
doch lang genug, um zu sehen, wie die Motive und Kon-
stellationen des Philosophierens ins Leben gehören. Was
bei Nietzsche zum Thema geworden ist, gilt ja nicht zu-
letzt für sein eigenes Leben.
14 Es gibt zwei gute Biographien, ausführlich und detailliert die eine,
wie ein spannend geschriebener Roman die andere: Janz (1978) und
Ross (1994).
20 Von außen

Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 in Röcken, ei-


nem Dorf nahe bei Leipzig, geboren. Sein Vater war
dort Pastor, die Familie überhaupt durch lutherische
Tradition geprägt: ein Großvater Superintendent und
Autor von einer Reihe aufgeklärt religiöser Bücher, der
andere Landpfarrer. Nietzsche ist ein Kind des evangeli-
schen Pfarrhauses, wie so viele vor und nach ihm, die
prägend für die deutsche Kultur gewesen sind.
Doch hat sich bei Nietzsche der protestantische An-
spruch auf Selbstprüfung und Gewissenserforschung ge-
gen den Protestantismus, gegen die christlich-jüdische
Tradition im Ganzen gewendet.15 Er wird es später als
seine wichtigste Aufgabe ansehen, alles, was er als Le-
bensverbiegung durch die Religion erfahren hat, als sol-
ches zu kennzeichnen und zu analysieren. Und dabei
wird er noch wissen, daß er dazu allein aufgrund seiner
Tradition und Herkunft imstande gewesen ist.16 »Mein
›A priori‹« nennt er einmal den tiefen Zweifel an der
Moral und ihrer religiösen Begründung; bereits als Drei-
zehnjähriger habe er sich mit der Frage beschäftigt,
»welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe«
(KSA 5,249; GM, Vorrede 3)17. Hier scheint, »a priori«,
15 Vgl. dazu die konzise Darstellung von Salaquarda (1996). Instruktiv
dazu ist auch Stegmaier (1992), S. 338–380.
16 Allein darum ist es unplausibel, Nietzsche aufgrund seiner Einstel-
lung zur jüdisch-christlichen Tradition Antisemitismus zu unterstel-
len, wie H. Cancik es tut. Vgl. Cancik (1995).
17 Wenn nicht anders angegeben, wird Nietzsche unter Angabe der
Band- und Seitenzahl zitiert nach: Kritische Studienausgabe, hrsg.
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New
York 21988. Angegeben ist außerdem die in dieser Ausgabe (KSA
14,22–24) eingeführte Abkürzung für den Titel der jeweiligen Schrift
sowie die Nummer des Textes oder Kapitels, wenn die Kapitel nicht
numeriert sind, deren Überschrift. Die Abkürzungen der hier zitier-
ten Schriften sind im Anhang noch einmal genannt. – Aufzeichnun-
gen aus dem Nachlaß sind durch die Sigle N gekennzeichnet; genannt
Biographie 21

vor aller Erfahrung, ein Riß durch das Leben gegangen


zu sein, der die Selbstverständlichkeit der Orientierung
ein für alle Mal zerstört und eine »unbedingte Verschie-
denheit des Blicks« (KSA 2,13; MA I, Vorrede 1) mit sich
gebracht hat: einen Blick auf die menschlichen Dinge wie
von außen.
Mag sein, daß Nietzsches »a priori« mit dem frühen
Tod seines Vaters zusammenhängt. Als dieser stirbt, ist
das Kind fünf Jahre alt und wächst nun in einem Frauen-
haushalt auf: als überbrav, altklug wird er geschildert; als
ein Kind, das jetzt schon die für später vorgesehene
Rolle des Pastors ausprobiert. Die Mutter war nach dem
Tod ihres Mannes von Röcken nach Naumburg gezogen,
wo Nietzsche zunächst das Domgymnasium besucht,
um dann, 1858, in die Landesschule Pforta zu wechseln.
Hier erhält er eine vorzügliche Ausbildung, vor allem in
den alten Sprachen; die Schule lebt aus humanistischem
Geist nicht weniger als aus preußischer Disziplin. Nietz-
sche ist ein guter, doch nicht weiter auffallender Schüler:
noch gibt es keine Spuren von Genialität.
Das ändert sich während der Studienjahre, zuerst ein
Jahr in Bonn und dann, ab 1865, in Leipzig. Als Schüler
von Friedrich Wilhelm Ritschl, einem seinerzeit hoch
angesehenen klassischen Philologen, entwickelt Nietz-
sche hier sehr schnell herausragende Qualitäten als jun-
ger Wissenschaftler. Trotzdem ist es ungewöhnlich, ja
wird außerdem das in der Kritischen Studienausgabe angegebene
Entstehungsjahr sowie die Nummer des Manuskripts und in eckigen
Klammern die Nummer des jeweiligen Fragmentes innerhalb des
Manuskripts. Die Hervorhebungen Nietzsches sind immer dann un-
berücksichtigt geblieben, wenn sie für den Zusammenhang der Zitate
ohne Bedeutung sind; dabei wurden die Sperrungen der Studienaus-
gabe als Kursive wiedergegeben. Geringfügige, grammatisch bedingte
Abweichungen vom Originaltext bei einzelnen Wendungen werden
nicht kenntlich gemacht.
22 Von außen

sensationell, daß Ritschl seinen unpromovierten und un-


habilitierten Schüler 1869 für eine vakante Professur in
Basel empfiehlt. Nietzsche bekommt die Stelle und tritt
sie noch im selben Jahr an. Vor ihm scheint eine glän-
zende akademische Karriere zu liegen. Daß er in den
Studienjahren Schopenhauer gelesen und wie eine Er-
weckung empfunden, daß er sich für die Kunst Richard
Wagners begeistert hatte, mochte als jugendliche Leiden-
schaft hinzunehmen sein. Warum hätte er das ernster
nehmen sollen als seine Wissenschaft?
Aber man weiß ja, daß es so kommen wird, und Anzei-
chen dafür gibt es schon bald: Als Universitätslehrer war
Nietzsche längst nicht so überzeugend, wie man es erwar-
tet hatte. Recht bald verfällt er einer müden Routine; auch
substantielle Beiträge zur Forschung bleiben aus, und
entsprechend hat die 1869 gehaltene Antrittsvorlesung,
Homer und die klassische Philologie, den Charakter eines
einsamen Glanzpunktes. Allerdings formuliert Nietzsche
schon hier ein Programm für seine Wissenschaft, das dem
Abschied gleichkommt. Sein »Glaubensbekenntnis« faßt
er durch die Umkehrung eines Satzes von Seneca: »philo-
sophia facta est quae philologia fuit« – was einmal Philo-
logie war, ist Philosophie geworden.18
Drei Jahre später ist allgemein deutlich, wie das ge-
meint war. Nietzsche veröffentlicht sein erstes Buch: Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Hier ist
die in der Antrittsvorlesung geforderte Vereinigung von
Philologie und Kunst philosophisch vollzogen. Doch
das war gleichbedeutend mit einer »grossen Loslösung«
(KSA 2,15; MA I, Vorrede 3), einem Schritt über die
Wissenschaft hinaus. Die Reaktion ließ nicht auf sich
warten. Mit einem scharfen, ja bösartigen Verriß des

18 Kritische Gesamtausgabe II,1, S. 247–270; hier S. 268.


Biographie 23

Buches profiliert sich ein junger Mann, der zum Groß-


wissenschaftler für gut ein halbes Jahrhundert wer-
den sollte: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–
1931), übrigens wie Nietzsche auch ein Absolvent der
Schule von Pforta.19 Welche Hintergründe die eisige Ab-
lehnung von Nietzsches Buch auch gehabt haben mag,
Wilamowitz konnte sich auf jeden Fall als Repräsentant
seiner Zunft fühlen. Durch sein Buch, schrieb Nietz-
sche am 7. November 1872 an die Freundin Malwida
von Meysenbug, habe er es dazu gebracht, »der anstö-
ßigste Philologe des Tages zu sein«. Für ihn Partei zu er-
greifen, sei »ein wahres Wunderwerk der Kühnheit«,
»da alles einmüthig ist über mich den Stab zu brechen«
(KSB 4,81).
Trotzdem blieb Nietzsche noch bis 1879 Professor in
Basel, und es waren Jahre für ihn, die nicht bloß akade-
mischen Alltag bedeuteten. Er hatte engen Kontakt mit
Richard Wagner und Cosima von Bülow, Wagners spä-
terer Frau, die damals in Tribschen am Vierwaldstätter
See wohnten; Nietzsche besucht sie schon 1869 zum er-
sten Mal und läßt sich nun ganz und gar in die Wagner-
sche Sache einspannen: begeistert teilt er die kulturpoli-
tischen Ambitionen Wagners, die Überzeugung also,
daß nur eine der griechischen Tragödie gleichkommende
theatralische Kunst einen neuen Mittelpunkt kulturellen
Lebens stiften und die Krise der Kultur heilen könne.
Die Geburt der Tragödie und andere Schriften geben
Zeugnis davon, so daß Wilamowitz Nietzsches Buch –
analog zur Charakterisierung der Wagnerschen Kunst
als »Zukunftsmusik« – spöttisch einen Beitrag zur »Zu-
kunftsphilologie« nennen konnte.

19 Die Schrift von Wilamowitz ist zusammen mit den Entgegnungen


auf sie zugänglich in: Gründer (1989).
24 Von außen

Ein für Nietzsche wichtiger, doch immer auch von Di-


stanz bestimmter Kontakt ergibt sich zu Jacob Burck-
hardt, dem Kultur- und Kunsthistoriker, dem skepti-
schen, aller spekulativen Gesamtdeutung mißtrauenden
Geschichtsdenker; »Philosoph« hätte er nicht genannt
sein wollen, und so mag er auch Nietzsche ein skepti-
sches Verhältnis zur Philosophie vermittelt haben: die
Möglichkeit, um der philosophischen Aufrichtigkeit wil-
len jenen dogmatischen Festlegungen und überspannten
Ansprüchen zu mißtrauen, in denen sich die Philosophie
immer wieder verfängt.20 Jedenfalls wird Nietzsche spä-
ter davon überzeugt sein, daß die innere Distanzierung
zur Philosophie gehört und man in der Philosophie
um ihrer selbst willen eine »grosse Loslösung« vollzie-
hen muß.
Als ob es die innere Befreiung von der Wissenschaft
endlich zu ratifizieren gelte, drängt Nietzsche jetzt aus
dem Basler Leben heraus. Er legt seine Professur nieder
und bleibt mit einer Pension für einige Jahre versorgt.
Er ist frei oder was man so nennt. Nun beginnt ein Wan-
derleben zwischen dem Schweizer Hochgebirge, der
Französischen Riviera und Italien.
Noch in der Basler Zeit, 1878, war Nietzsches erstes
Aphorismenbuch, Menschliches, Allzumenschliches. Ein
Buch für freie Geister erschienen; acht Jahre später hat er
es neu herausgegeben und um einen zweiten Band er-
gänzt. Das Buch ist der unmittelbare Anlaß für den
Bruch zwischen ihm und Wagner. Zwar hatte Nietzsche
das Problematische, Fragwürdige an Wagner schon lange
gesehen, doch höchstens indirekt mitgeteilt, zwischen
den Zeilen oder in Notizen, die er für sich behielt. Auch

20 Zum Verhältnis Nietzsches zu Burckhardt vgl. Jähnig (1975), S. 90–


111.
Biographie 25

Menschliches, Allzumenschliches enthält keinen Angriff.


Vielmehr kommt Wagners Name gar nicht vor, und der
Ton ist gegenüber den früheren Schriften deutlich verän-
dert. Der Bayreuther Meister sieht mit einem Mal deut-
lich, daß Nietzsche eigene, von den seinen radikal ab-
weichende Intentionen hat und kein Propagandist seiner
Kunst und seiner kulturpolitischen Ambitionen mehr
sein will.
Obwohl das Thema Wagner ihn bis zum Schluß nicht
loslassen wird, geht Nietzsche jetzt seinen eigenen Weg.
In den folgenden Jahren erscheinen in kurzem Abstand
seine Bücher: Morgenröthe. Gedanken über die mora-
lischen Vorurteile (1881), Die fröhliche Wissenschaft
(1882); zwischen 1883 und 1885 die vier Teile von Also
sprach Zarathustra; 1886 dann Jenseits von Gut und
Böse, ein Jahr darauf Zur Genealogie der Moral. Eine
Streitschrift. Zwei weitere Schriften: Der Fall Wagner.
Ein Musikanten-Problem (1888) und Götzen-Dämme-
rung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert
(1889) waren noch von Nietzsche selbst herausgegeben
worden. Das Übrige ist Nachlaß: Der Antichrist. Fluch
auf das Christentum; Ecce homo; eine Sammlung frü-
her entstandener Gedichte, Dionysos-Dithyramben, und
schließlich Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines
Psychologen. Nachlaß ist auch das umfangreiche Mate-
rial von Nietzsches Entwürfen und Notizheften, das
in der Kritischen Studienausgabe sieben umfangreiche
Bände füllt. In sechzehn Jahren ein Riesenwerk, auch
wenn man die Jugendschriften, die philologischen Ar-
beiten und Materialien nicht dazuzählt. Mehr als diese
sechzehn Jahre hatte Nietzsche nicht, und er hat sie mit
selbstzerstörerischer Intensität genutzt.
Ritschl konnte seinen Schüler nach Basel noch mit ei-
nem Hinweis auf seine Rüstigkeit und Gesundheit emp-
26 Von außen

fehlen.21 Doch bereits als Schüler hatte Nietzsche un-


ter heftigen Migräneanfällen zu leiden. Diese nehmen ab
1873 wieder zu, machen ihn fast blind, so daß er Tage in
abgedunkelten Räumen verbringen muß. Er glaubt, wie
sein Vater unter einer Gehirnkrankheit zu leiden.22
Nietzsche läßt sich 1876 für ein Jahr von der Universität
beurlauben und reist zur Erholung mit einem Freund,
Paul Rée, nach Italien. Nach der Rückkehr versucht er,
wieder zu lehren, bis er 1879 sein Entlassungsgesuch
einreicht. So hat das Ende der Universitätsjahre nicht
bloß mit seinen philosophischen und schriftstellerischen
Plänen, vielmehr auch mit Krankheit zu tun. Das Reise-
leben der folgenden Jahre ist vor allem Suche nach einem
Klima, in dem sich die Beschwerden einigermaßen ertra-
gen lassen.
Auch Nietzsches schwankende Gesundheit wird da-
bei zu einem »a priori« für sein Denken. Genesende,
schreibt er einmal, seien »die dankbarsten Thiere von
der Welt, auch die bescheidensten«; manche von ihnen
ließen keinen Tag vorbeigehen, »ohne ihm ein kleines
Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen«. So
aber sei das Kranksein und Genesen »eine gründliche
Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden aller
Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt –)« (KSA 2,19;
MA I, Vorrede 5). Meist, wenn in Nietzsches Schriften
»das Leben« gepriesen, die Flucht vor ihm in vermeint-
lich andere geistige oder ideelle Welten kritisiert wird, ist
das nicht im Sinne auftrumpfender Lebensstärke ge-
meint; als Erfahrung vielmehr, die dem Leiden und dem
Verfall, der Versuchung zum Nein-Sagen abgerungen ist.
Im Jahr 1887 verschlechtert sich Nietzsches Zustand
21 Ross (1994), S. 193.
22 Vgl. den Brief an Carl von Gersdorff vom 18. Januar 1876 (KSB
5,131–133).
Biographie 27

drastisch, ein Jahr später ermöglicht ein euphorisches


Wohlbefinden ihm seine letzte produktive Zeit. Aller-
dings finden sich in den nun entstehenden Schriften auch
deutliche Anzeichen geschwundenen Realitätssinns, aus-
setzender Selbstkontrolle. Vieles in Ecce homo changiert
bedenklich zwischen Selbstironie und Größenwahn. Am
Ende verliert er endgültig die mit anderen geteilte Welt;
welcher physiologisch bestimmbare Vorgang dazu ge-
führt hat – ob etwa eine syphilitische Infektion aus der
Bonner Studentenzeit –, ist nicht geklärt worden und
gewiß auch nicht mehr klärbar.
Die Überzeichnungen und Prahlereien, das auftrump-
fende Selbstlob von Ecce homo sind allerdings nur mög-
lich gewesen, weil Nietzsche sich immer schon mit sich
selber beschäftigt hatte. Die Selbstdarstellung ist, wie ge-
sagt, ein wichtiger Aspekt des Werkes – in den letzten
bewußten Jahren gewiß auch als Folge der immer schwe-
rer lastenden Einsamkeit. Nicht, daß Nietzsche keine
Freunde gehabt hätte; er war, im Hinblick auf Männer
und Frauen, ein zur Freundschaft begabter Mensch: Er-
win Rohde, Carl von Gersdorff und Paul Deussen, die
Studienfreunde, der Basler Theologe Franz Overbeck,
der schon einmal genannte Paul Rée, ein an »Psycholo-
gie« interessierter Philosoph mit materialistischen Über-
zeugungen, Lou Andreas-Salomé, die später mit Rilke
befreundet war und mit Freud zusammenarbeitete und
von der es ein gescheites Buch, Friedrich Nietzsche in
seinen Werken,23 gibt, Malwida von Meysenbug, eine
Freundin aus dem Wagnerkreis, die ihm auch später noch
erhalten blieb – das sind nur einige von denen, die hier
zu nennen wären; auch Heinrich Köselitz, ein glückloser
Komponist, der Nietzsche wie ein Paladin ergeben war

23 Andreas-Salomé (1894).
28 Von außen

und sich von ihm »Peter Gast« nennen ließ, gehört noch
dazu. Doch bleibt Nietzsche nach der Niederlegung sei-
ner Professur meist für sich, lebt allein in bescheidenen
Pensionen, in Sils-Maria und am Mittelmeer. Und vor
allem hat er nie bis auf einmal den Eindruck, daß ihn je-
mand versteht; die Ausnahme ist Lou Salomé, mit der
Nietzsche 1882 einige Wochen intensiven geistigen Aus-
tauschs verbringt, zunächst am Gardasee und in Luzern,
dann in Tautenburg, einem Dorf in der Nähe von Wei-
mar; daß Lou Salomé seinen Heiratsantrag ablehnt, hat
der Freundschaft viel weniger geschadet als die Intrigen
von Nietzsches Schwester. Doch grundsätzlich fühlt sich
Nietzsche allein, was die Bedeutung des Schreibens für
ihn steigert. Um als Denker präsent zu sein, muß er sich
schriftlich präsentieren; und entsprechend trägt er die
Qual, sich unverstanden zu sehen, immer mehr in seine
Schriften hinein. »Hat man mich verstanden?« – ein
Leitmotiv besonders des Ecce homo.
»Leben als Literatur« – mit dieser Formel hat Alexan-
der Nehamas den skizzierten Zusammenhang gefaßt
und als Grundzug von Nietzsches Leben und Schrei-
ben überhaupt verstehen wollen.24 Nietzsches Texte, so
meint Nehamas, beschrieben nichts, sondern exempli-
fizierten »vorzüglich ausgearbeitet und detailiert den
Idealfall seiner Idealgestalt«. Und das wiederum sei
»niemand anderes als die Gestalt, die eben diese Texte
darstellen: Nietzsche selbst« (S. 297). Nietzsche habe aus
sich selbst in seinen Schriften »eine literarische Gestalt
gemacht«, wie Goethe habe er sich selbst geschaffen
(S. 298). Seine »große Neuerung« bestehe jedoch darin,
»dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß er sagte, sich

24 Nehamas (1985). Alle Zitate im folgenden nach der deutschen Aus-


gabe (1991).
Biographie 29

selbst zu erschaffen, sei das Wichtigste im Leben«.


Nietzsche, so faßt Nehamas seine Überlegungen zusam-
men, habe gefordert, wir sollten »die Dichter unseres
Lebens« (S. 292) sein, und in diesem Sinne habe er sich
erfolgreich darum bemüht, »der Platon seines eigenen
Sokrates« zu werden (S. 299). Wenn das zutreffend ist,
wäre Nietzsche seine eigene literarische Erfindung, und
was aussehen mag wie Philosophie, wäre eigentlich Lite-
ratur.
Nimmt man die künstlerische Prägung von Nietz-
sches Werk ernst, dazu sein Talent, sich literarisch in
Szene zu setzen, hat die skizzierte Interpretation in der
Tat etwas für sich. Einleuchtend ist außerdem der Hin-
weis auf die Schriftgebundenheit von Nietzsches Den-
ken. Nach seinem Abschied von Basel hat er kaum
anders als im Medium der Schrift gewirkt. Er ist nie phi-
losophischer Lehrer gewesen, weder für einen Zirkel
privater Schüler noch öffentlich an einer Universität
oder im Vortragssaal. Als akademischer Philosoph hätte
Nietzsche wohl auch keine überragende Figur gemacht;
seine Kenntnis der philosophischen Tradition war be-
grenzt, nicht selten nur aus der zweiten Hand philo-
sophiegeschichtlicher Darstellung bezogen. Nietzsches
Philosophieren ist unakademisch: es geht ihm nicht um
die schulmäßige Darstellung klassischer Konzeptionen
und die Frage nach ihrer Konsistenz, nicht um die Teil-
nahme an gelehrten Debatten, in denen es gilt, eine
These unter Berücksichtigung möglicher Einwände mit
argumentativer Sorgfalt zu vertreten. Ja, es geht ihm
noch nicht einmal um ein philosophisches Programm,
das für sich stehen könnte und durch seinen Namen le-
diglich bezeichnet würde, wie es bei den Philosophien
von Aristoteles und Descartes, Kant und Hegel, auch bei
Husserl der Fall ist. Anders als die Genannten tritt
30 Von außen

Nietzsche nicht hinter die Entwicklung der Gedanken


zurück, so daß man sich diesen ohne Berücksichtigung
der Person widmen könnte. Es geht, immer wieder aus-
drücklich und auch dort, wo er nicht von sich spricht,
um ihn.
So käme als Vergleichsfigur in der Tat jener Denker
am Anfang der Philosophie in Betracht, auf den Neha-
mas hinweist: Sokrates. Entschieden wie außer ihm bloß
noch Kierkegaard hat Nietzsche in Sokrates eine philo-
sophische Schlüsselfigur gesehen – freilich ohne ihn zu
schätzen und ihm nacheifern zu wollen. Sokrates war
ihm eine ganz und gar problematische Figur, und die
Philosophie, wie sie mit Sokrates in die Welt gekommen
ist, ein Verhängnis. Trotzdem, wir kommen darauf im-
mer wieder zurück, ist, was Nietzsche treibt und will,
Philosophie in sokratischer Tradition: nicht auf die
isolierbare Lehre, sondern auf den Philosophierenden
kommt es an, auf den Einzelnen, der mit seiner Über-
zeugungskraft und Redlichkeit für das, was er denkt und
sagt, einsteht. Und sofern dieser Einzelne nicht unmit-
telbar, im direkten Gespräch wirkt, sondern vermittelt
durch das literarische Werk, läßt sich Nietzsches Werk in
der Tat mit dem Werk Platons vergleichen: Es ist Dar-
stellung eines Philosophen und seines Philosophierens,
nur daß im Falle Nietzsches Darstellender und Darge-
stellter identisch sind.
Aber deswegen »Leben als Literatur«, vollständige
Übersetzung des Philosophierens in literarischen Text?
Gerade der Hinweis auf Platon und Sokrates läßt an der
These zweifeln. Denn schließlich kam es Platon darauf
an, mit literarischen Mitteln vorzuführen, was für die
Späteren direkt nicht zugänglich war: ein exemplarisches
philosophisches Leben, das sich nicht in einer Lehre,
sondern im offenen, immer neu ansetzenden Gespräch
Biographie 31

artikuliert. Es geht nicht primär um Literatur, sondern


darum, literarisch dem Wesen lebendigen Philosophie-
rens gerecht zu werden.
Das gilt auch für Nietzsche: Wenn er auf sich selbst zu
sprechen kommt, ist gewiß auch Selbststilisierung im
Spiel, Selbstdeutung im Rückblick, bei der Motive und
Absichten, Einsichten und Irrtümer so erscheinen, wie
es der späteren Situation entspricht, und auch so erschei-
nen sollen. Doch wichtiger ist, was man die retrospek-
tive Aufklärung des eigenen Denkens nennen könnte:
Nietzsche will das »a priori« seines Denkens ausdrück-
lich machen und erkämpft sich deshalb auch im Hinblick
auf sein eigenes Leben die »Verschiedenheit des Blicks«,
wie sie aus dem Bruch fragloser Orientierung, dem Ende
der Selbstverständlichkeit, entsprungen war.
Nietzsche weiß nämlich sehr genau, daß der exzentri-
sche Blick, dem er seine tiefsten Einsichten verdankt,
nicht einfach gegeben ist, sondern immer wieder neu ge-
wonnen werden muß: Immer wieder sehnt man sich in
die unmittelbare Einheit des Lebens, in seine ungebro-
chene Stimmigkeit zurück, und das verdirbt oder min-
dert die Möglichkeiten der Einsicht. Zur »Erholung«
von sich, sagt Nietzsche, »gleichsam zum zeitweiligen
Selbstvergessen«, habe er immer wieder versucht, »ir-
gendwo unterzutreten«: »in irgend einer Verehrung oder
Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertig-
keit oder Dummheit«. Und wo dergleichen nicht einfach
zu finden gewesen sei, habe er es »künstlich erzwingen,
zurecht fälschen, zurecht dichten« wollen. Denn, fügt
Nietzsche hinzu: »was haben Dichter je Anderes ge-
than? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?« (KSA
2,14; MA I, Vorrede 1)
Hier ist das von Nehamas betonte Motiv vom »Dichter
des Lebens«, aber in ganz und gar anderer Durchführung:
32 Von außen

Nietzsche ist weit davon entfernt, in genialischem Über-


schwang die künstlerische Selbsterfindung oder Selbster-
schaffung zu propagieren; er kritisiert sie statt dessen,
weil sie die Einsicht verhindert, zumindest erschwert.
Dichtung des Lebens, das ist hier die Kunst der Verstel-
lung; man will sich, wie es dazu in der Fröhlichen Wis-
senschaft heißt, »von den Dingen entfernen, bis man
Vieles von ihnen nicht mehr sieht und Vieles hinzuse-
hen muss, um sie noch zu sehen«; man will die Dinge
»durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröthe
anschauen – oder ihnen eine Oberfläche und Haut ge-
ben, welche keine volle Transparenz hat« (KSA 3,538;
FW 299). Und entsprechend ist die Biographie ein Ver-
such, die Zurechtfälschungen, Zurechtdichtungen des
Lebens aufzudecken und so nicht mehr in ihnen befan-
gen zu sein.
Vertrackt ist daran nur, daß auch dies nicht ohne Zu-
rechtfälschungen möglich ist. Wo radikale Einsicht nicht
zu ertragen wäre, schafft die Zurechtfälschung einen
Spielraum der Einsicht; diese muß immer auch dichte-
risch artikuliert werden, weshalb Nietzsche die philoso-
phische Tätigkeit im ganzen als »Dichtung des Lebens«
verstehen kann – das wird sich später noch genauer zei-
gen. Aber nie ist Dichtung für Nietzsche etwas Unpro-
blematisches. Sie eröffnet, indem sie verstellt. In ihr
wirkt »List der Selbst-Erhaltung«, »Vernunft und hö-
here Obhut«. Wer kann wissen, sagt Nietzsche, »wie viel
Falschheit mir noch noth thut, damit ich mir immer wie-
der den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf«
(KSA 2,14; MA I, Vorrede 1). Einsicht ist immer nur
möglich unter Bedingungen, die sich ihr jeweils entzie-
hen und die nur durch einen Wechsel des Blickpunktes
aufdeckbar sind – um den Preis neuer Verdeckungen.
Nietzsche ist kein Programmatiker der Selbsterfindung,
Positionsbestimmungen 33

er löst die Philosophie nicht in Literatur auf, vielmehr


geht es ihm um Philosophie – inmitten eines auf Erfin-
dung und Verdeckung angewiesenen Lebens soll die
Philosophie in sich die Spannung von Abstandnahme
und Lebensverstricktheit austragen.

3. Positionsbestimmungen

Daß eine solche Philosophie schwer zu fassen, in ihren


Grundgedanken schwer zu bestimmen ist, leuchtet wohl
ein. Was soll man als Position des Philosophen Nietz-
sche betrachten, wie soll man ihn diskutieren? Mit dem
Versuch, in Nietzsches Texten einzelne Thesen festzu-
machen und als Beiträge zur philosophischen Forschung
zu werten, kommt man nicht weit, allein schon, weil
bei jeder derart identifizierten These ihre mannigfachen
Abwandlungen, Umformulierungen, Relativierungen zu
bedenken wären. Wo man das versucht, ist man jedoch
schon ins Labyrinth von Nietzsches Schreiben geraten;
man hat sich lesend ins Ganze verstrickt und verirrt sich,
so daß nur noch eines hilft: man muß Abstand vom Ein-
zelnen gewinnen und zu bestimmen versuchen, was die in
Nietzsches Philosophie wirkende Gedankenbewegung
ist. Wie und in welcher Absicht, kann man jetzt fragen,
trägt er die Spannung von Lebensverstricktheit und Ab-
standnahme aus?
Nietzsches philosophische Wirkungsgeschichte ist
der immer wieder neu ansetzende Versuch, darauf eine
Antwort zu geben. Hier lassen sich besonders wirksame
Grundformen der Nietzsche-Deutung identifizieren, Po-
34 Von außen

sitionsbestimmungen, die maßgeblich geworden sind.


Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, daß Nietzsche
in seiner radikalen Besonderheit verstanden werden
muß: als Denker, mit dem die Philosophie in eine ganz
und gar neue Situation eintritt, nicht zuletzt, was das
Verhältnis zu ihrer Tradition betrifft. Mit Nietzsche
wird alles anders, er ist der moderne Philosoph par ex-
cellence. Aber strittig ist, worin seine Modernität be-
steht.
In einer Positionsbestimmung erscheint Nietzsche als
Kritiker der Philosophie und all ihrer traditionellen
Ansprüche. Er führt die Vernunft auf die Verstrickung
ins Leben zurück und zeigt, wie Gedanken, Begriffe
und Entwürfe dessen »Zurechtfälschungen« entsprun-
gen sind. Zuerst und besonders prägnant ist diese Deu-
tung von Karl Jaspers vertreten worden: Nietzsche habe
einen »totalen Bruch« mit aller »überlieferten geschicht-
lichen Substanz«25 vollzogen. Ihm sind, wie es weiter
heißt, »alle Ideale des Menschen versunken, er will die
Moral verwerfen, die Vernunft und die Humanität preis-
geben; die Wahrheit sieht er als eine universelle Lüge;
die bisherige Philosophie ist eine ständige Täuschung,
das Christentum ein Sieg der Schlechtweggekommenen,
Schwachen und Ohnmächtigen; es gibt nichts Heiliges,
Geltendes, das nicht vor seinem Urteil gerichtet würde«
(S. 392–393). Nietzsche ist »die Selbstverzehrung«, »die
keine Welt erbaut und eigentlich nichts als Bestand
hinterläßt – der reine Antrieb ohne eine Gestaltung«
(S. 401). Nietzsche ist absolut modern, illusionslos und
ohne Einbrüche von Regression. In ihm artikuliert sich
der Anspruch der Moderne auf Selbständigkeit, Selbst-
behauptung ohne Anleihen beim Alten, vor allem jedoch

25 Jaspers (1936), S. 392.


Positionsbestimmungen 35

ihre Überwindungsdynamik: das Abräumen der tradi-


tionellen Bestände und nichts als die Gewißheit des eige-
nen Seins darin.
Für Jaspers ist Nietzsches Vernunftkritik von unüber-
bietbarer Radikalität; man könnte sie geradezu mit jener
»Zerstörung der Vernunft« identifizieren, die Georg Lu-
kács aus Nietzsche herauslesen will. Doch läßt sich allein
schon an Nietzsches Bemerkungen zum Verhältnis von
philosophischer Wahrhaftigkeit und lebenserhaltender
»Zurechtfälschung« zeigen, daß es so einfach nicht ist.
Daß die Wahrhaftigkeit und die ihr unterstellte Erkennt-
nis durch Zurechtfälschungen im Interesse des Lebens
bedingt, auch getrübt ist, heißt ja nicht, sie sei unmög-
lich. Die Erkenntnis ist nur begrenzt, und zwar durch
Bedingungen, derer man sich nie ganz versichern kann.
Eine moderatere Erkenntnis- und Vernunftkritik in
diesem Sinne haben Max Horkheimer und Theodor
W. Adorno bei Nietzsche gefunden. In ihrer Dialektik
der Aufklärung entwickeln sie die Konzeption einer be-
grenzten, durch ihre Lebenszusammenhänge bedingten
Vernunft; und wenngleich Nietzsche dabei nur selten
ausdrücklich zur Sprache kommt, ist er doch in den
Grundgedanken von Horkheimers und Adornos Buch
unverkennbar präsent: als Kritiker einer Vernunft, die
ihre Lebensgebundenheit verleugnet und erst zu sich
selbst findet, wo sie diese Leugnung zurücknimmt.
Gerade dies läßt sich freilich auch als besonders raffi-
nierte Form vernünftiger Selbstbehauptung verstehen:
Die Zurücknahme der Vernunft in die Lebensgebunden-
heit erfolgt schließlich durch nichts anderes als durch die
Vernunft. Entsprechend wäre Nietzsches kritisches Un-
ternehmen in Wahrheit ein letztes Auftrumpfen – keine
Zurücknahme der Vernunft und damit auch der Philoso-
phie in ihre Lebensbedingtheit, sondern die philosophi-
36 Von außen

sche Behauptung des Lebenszusammenhangs und Le-


bensgeschehens als desjenigen, was eigentlich ist.
So hat Martin Heidegger die Position Nietzsches be-
stimmt. Indem Nietzsche die Lebensbedingtheit der ver-
meintlich autonomen Vernunft aufdeckt, wendet er sich
zwar gegen die bisherige Philosophie – insofern wäre
der Deutung von Jaspers aus der Perspektive Heideggers
recht zu geben. Doch anders als Jaspers glaubte, dreht
Nietzsche sich damit nicht aus der bisherigen Philoso-
phie, der »Metaphysik«, wie Heidegger sie nennt, her-
aus. Was Nietzsche in seiner kritischen Einstellung für
eine »Überwindung der Metaphysik« hält, ist in Wahr-
heit »die sich selbst blendende Verstrickung in das uner-
kennbar gewordene Selbe«26, antimetaphysisch gemeinte
Metaphysik, die sich, wie Heidegger meint, vor allem im
Gedanken des »Willens zur Macht« artikuliert und hier
eine radikale und deshalb letzte Möglichkeit metaphysi-
schen Denkens entwickelt.
Heideggers Deutung, die in einer Reihe von Vorlesun-
gen und Abhandlungen ausgearbeitet wurde,27 hat ihre
Stärke darin, daß sie Nietzsche endgültig vom Ruf eines
der traditionellen Philosophie nur polemisch zugewand-
ten Autors befreit hat und ihn in die Reihe der philo-
sophischen Klassiker aufrücken ließ. Nietzsche ist, wie
Heidegger selbst es ausdrückt, der »Letzte der großen
abendländischen Denker«28; er gehört zusammen mit
Denkern wie Platon und Aristoteles, wie Descartes, Spi-
noza und Leibniz, Kant und Hegel und muß deshalb

26 Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 50, S. 232.


27 Vgl. die Literaturhinweise im vorliegenden Band. Eine prägnante
und eindrucksvolle Nietzsche-Deutung in den Bahnen Heideggers
gibt Volkmann-Schluck (1991).
28 Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 43, S. 4.
Positionsbestimmungen 37

ebenso wie diese gelesen und interpretiert werden. Auch


Nietzsches Modernität läßt sich jetzt nicht mehr bloß im
Kontrast zur Tradition verstehen; wenn Nietzsche der
moderne Philosoph par excellence ist und zugleich in
die Metaphysik gehört, ist das ein Beleg für den meta-
physischen Charakter der Moderne, dafür, daß die
Selbstklärungsversuche der Moderne noch in der Tradi-
tion stehen, gegen die sie sich oft genug wenden.
Heideggers Deutung hat den Maßstab für die nach
ihm kommende Debatte gesetzt und so etwas wie eine
philosophische Nietzsche-Forschung überhaupt erst
möglich gemacht. Freilich hat die Deutung ihren Preis:
Heidegger ist allzusehr daran interessiert, Nietzsche als
den letzten Vertreter einer problematisch gewordenen
Tradition zu verstehen; so ist er seltsam blind für die
Entdeckungen, die neuen Lösungen in Nietzsches Philo-
sophie und sieht immer nur die Agonie traditioneller
Formen. Außerdem vernachlässigt Heidegger die Dar-
stellungsform von Nietzsches Philosophie – die Indi-
rektheit seiner Mitteilungen, den Facettenreichtum sei-
ner Schriften, das ständige Sich-Überholen, Revidieren
und selbstkritische Betrachten. Heidegger setzt immer
wieder dazu an, bei Nietzsche einen Grundgedanken
herauszuarbeiten, eine Lehre, die sich mit seiner Philo-
sophie im Ganzen identifizieren läßt. Nietzsche, wie
Heidegger ihn präsentiert, steht in monumentaler Ein-
heitlichkeit da, als jemand, der um das »innere Wesens-
gefüge« (GA 50,6, Anm. 8) seines Denkens gerungen hat:
ein Systematiker, der letztlich an seinem Systemanspruch
scheiterte.
Das läßt sich bestreiten, ohne daß man auf die Position
von Jaspers zurückfällt. Nietzsche erscheint dann weder
als metaphysischer Denker noch als radikaler Kritiker
38 Von außen

der Metaphysik, sondern als Autor, der allein schon


durch die Vieldeutigkeit seiner Texte den Anspruch tra-
ditioneller Philosophie unterläuft. Dadurch, nicht durch
seine polemische Bezogenheit auf die Tradition, ist er
modern, oder, wie manche lieber sagen: postmodern.
Im skizzierten Sinne hat Jacques Derrida die Schriften
Nietzsches gelesen und behauptet, hier seien die Signi-
fikanten aus ihrer Abhängigkeit vom Logos befreit.29
Nietzsche habe, mit anderen Worten, die Sprache eman-
zipiert, indem er sie nicht mehr als äußerliche, verunkla-
rende Artikulation von in sich klaren Gedanken ver-
stand. Gedanken und ihre Formulierungen sind jetzt
nicht mehr unterschieden: was man »Gedanken« nennt,
ist eine bestimmte Konstellation in der Sprache, und die
Behauptung, es gäbe ein von der Sprache unabhängiges
und der Wirklichkeit deutlich entsprechendes Denken,
ist nichts als ein Dogma – das zentrale Dogma der Meta-
physik. Nietzsche habe dagegen das Lesen und also die
Schrift und den Text als etwas gegenüber jedem erfahr-
baren Sinn »Ursprünglicheres« verstanden, wobei, wie
Derrida hinzufügt, das Wort »ursprünglicher« (»origi-
naire«) hier nur ironisch zitiert werden könne, löse doch
der Verzicht auf einen ursprünglichen Sinn die Rede
vom Ursprünglichen in der Philosophie überhaupt auf
(S. 32/36).30 Nicht das Leben, aber die Philosophie ist
Literatur – Bewegtheit im Fließen der Sprache.
Auch für diese Nietzsche-Lektüre finden sich An-
haltspunkte, allen voran eine Stelle aus der Abhandlung
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne aus
29 Derrida (1967), S. 31/36. Die zweite Seitenangabe bezieht sich auf die
deutsche Übersetzung (1974).
30 Ähnliches hat Michel Foucault im Hinblick auf Nietzsches Konzep-
tion geschichtlicher Erkenntnis geltend gemacht: Foucault (1971).
Positionsbestimmungen 39

dem Jahr 1873.31 Auf die Frage, was die Wahrheit sei,
antwortet Nietzsche hier, sie sei
ein bewegliches Heer von Metaphern, Metony-
mien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rheto-
risch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden,
und die nach langem Gebrauche einem Volke fest,
canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten
sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass
sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und
sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr
Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr
als Münzen in Betracht kommen.
(KSA 1,880 f.; WL 1)
Aber folgt daraus, daß es nur die Sprache und ihre
Verschiebungen gibt, ihre Effekte und Suggestionen,
und nichts, was sich als Gedanke festhalten ließe? Der-
rida würde diese Konsequenz ziehen: Einzelne Sätze,
ganze Passagen in Nietzsches Schriften mögen »lesbar«,
zugänglich sein – es wird trotzdem keine Möglichkeit
geben, sie konsistent zu interpretieren, weil der Zusam-
menhang jedes einzelnen Satzes, jeder Passage sich nicht
eingrenzen und also nicht bestimmen läßt. Im Grunde
ist jeder Satz in Nietzsches Schriften so an der Oberflä-
che verständlich und so unklar zugleich wie der von
Derrida als Beispiel zitierte: »Ich habe meinen Regen-
schirm vergessen«.32

31 Zu Nietzsches Sprachphilosophie vgl. Hödl (1997), Schrift (1990),


außerdem Behler (1994) und Borsche (1994).
32 Derrida (1986), S. 158–165. Der zitierte Satz ist ein Fragment aus
Nietzsches Nachlaß: KSA 9,587; N 1881, 12[62]. Zum Verhältnis
Nietzsche – Derrida vgl. Behler (1988). Instruktiv zur französischen
Nietzsche-Rezeption ist Schrift (1996) und Le Rider (1997).
40 Von außen

Andererseits kann man auch bei Derrida lesen, um die


Erfahrung der Komplexität von Texten wie denen
Nietzsches zu machen, müsse man »die Dechiffrierung
so weit wie nur möglich vorantreiben«. Nur so lasse sich
die »Grenze« eines bestimmten Sinns erfahren, denn
kein Wissen werde sie einsäumen und kein Jenseits sie
ankündigen.33 Der Sinn eines Textes oder eines Werks
erschließt sich niemals vollständig und endgültig; immer
gibt es etwas, das sich dem Zugriff des Interpreten ent-
zieht.
Allerdings ist fraglich, ob das als die wichtigste Erfah-
rung der Interpretation angesehen werden muß: Inter-
pretationen mögen begrenzt und vorläufig sein, ihr Sinn
ist doch nicht, immer nur das zu erweisen. Und fraglich
ist auch, ob eine Interpretation schon dadurch proble-
matisch wird, daß etwas sich ihr widersetzt. Es ist wohl
unmöglich, ein philosophisches oder literarisches Werk
ganz und gar aufzuschließen, so daß man von einer
Interpretation, der das nicht gelingt, kaum sagen wür-
de, sie sei gescheitert. »Ich habe meinen Regenschirm
vergessen« – das ist kein experimentum crucis, kein
Testfall für die Nietzsche-Interpretation, noch nicht ein-
mal ein maßgebliches Beispiel für die mit ihr verbunde-
nen Schwierigkeiten.
Schließlich sollte man nicht vergessen, daß der Satz
aus Nietzsches Notizbüchern stammt und, wie vieles
dort, in seinem Stellenwert unklar ist. Ein unkenntliches
Zitat, ein keimhafter Gedanke, ein Formulierungsver-
such – vieles im Nachlaß kann dies und noch anderes
sein, ohne daß es sich bündig entscheiden ließe. Mit den
von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften verhält es
sich anders: Hier ist alles sorgfältig gestaltet und mit Be-

33 Derrida (1974), zit. nach der deutschen Übersetzung (1986), S. 161.


Positionsbestimmungen 41

dacht komponiert – die Aphorismen der mittleren Bü-


cher sind oft kleine, in sich vollendete Essays. Dennoch
gilt es, Korrespondenzen zu erkennen, Verweise, An-
spielungen, Varianten. Oder, wie Nietzsche, der gelernte
Philologe, es selbst formuliert: »Ein Aphorismus, recht-
schaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er ab-
gelesen ist, noch nicht ›entziffert‹; vielmehr hat nun erst
dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst
der Auslegung bedarf.« (KSA 5,255; GM, Vorrede 8)
Es geht, wie Nietzsche hinzufügt, um »das Lesen als
Kunst«. Zu dieser gehöre aber, »was heutzutage gerade
am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch
Zeit bis zur ›Lesbarkeit‹ meiner Schriften –, zu dem man
beinahe Kuh und jedenfalls nicht ›moderner Mensch‹
sein muss: das Wiederkäuen . . .« (KSA 5,256; GM, Vor-
rede 8). Nietzsche will gründlich und sorgfältig gelesen
sein – das ist man seiner schriftstellerischen Meister-
schaft schuldig, und als Leser tut man sich einen Gefal-
len damit.
Also führt, wo es um Nietzsche geht, nur der Weg des
literaturkundigen Lesens zum Verständnis der Philoso-
phie – soviel ist wahr an der Rede vom »Dichterphiloso-
phen«. Es genügt nicht, aus Werken und Nachlaß ein-
zelne Passagen oder gar einzelne Sätze aufzunehmen
und nach der Methode des Zettelkastens zusammenzu-
stellen; der Nachlaß ist keine den Werken gleichberech-
tigte Quelle, sondern höchstens Ergänzung, aufschluß-
reich im Kontrast zum Durchgearbeiteten oder als Hin-
tergrund. Nietzsche will aus dem Zusammenhang seiner
Werke gelesen sein: in genauer Lektüre, die auch den
subtilen Hinweisen folgt, welche durch Metaphern gege-
ben sind, Anspielungen und sachliche Korrespondenzen
bemerkt. So ist das Lesen unversehens geworden, was es
eigentlich ist: Verstehen, und so erfüllt es sich, wo das
42 Von außen

Verstehen im Auslegen artikuliert wird: derart, daß man


den hervortretenden Zusammenhang in der Freiheit des
eigenen, auf die erörterte Sache gerichteten Gedankens
zur Sprache bringt. Nähe zum Text und Abstand von
ihm, genaue Auslegung und freie Variation gehören zu-
sammen.
Aber was ist hier zu verstehen? Über das Einzelne, zu
verschiedenen Themen Gesagte hinaus zwar kein philo-
sophisches System, aber doch ein Philosophieren von
großer, um nicht zu sagen: erstaunlicher Konsistenz.
Im Zentrum von Nietzsches Denken steht ein Grundpro-
blem, das mit der Rede von Lebensverstricktheit und Ab-
standnahme angezeigt, aber nicht hinreichend beschrie-
ben ist. Im Sinne einer ersten Umgrenzung könnte von
der Instabilität des Lebens, die zugleich Freiheitsimpuls
ist, die Rede sein; oder von einer Differenz, durch die das
Leben in sich unterschieden ist, so daß es nicht einfach
besteht, sondern geführt werden muß. Indem er dieses
Problem erörtert, variiert, unter verschiedenen Gesichts-
punkten anschneidet, bewegt Nietzsche sich in den Bah-
nen der traditionellen, der metaphysischen Philosophie –
jedoch nicht, wie Heidegger meinte, unfreiwillig und so,
daß er die Metaphysik in eine letzte, ebenso konsequente
wie abschließende Möglichkeit führt. Viel eher ist Nietz-
sche ein belebendes Korrektiv: jemand, der Vereinseiti-
gungen durchschaubar machen, dogmatisch festgefahrene
Denk- und Darstellungsformen auflösen will – ein meta-
physischer Denker, mit dem man besser begreift, was
Metaphysik ist und wie sie gedanklich ausgetragen wer-
den kann.
Auf diesen Austrag, den Vollzug philosophischen
Denkens, kommt es vor allem an. Nietzsche entwirft
kein Gedankengebäude, sein Philosophieren hat nichts
Architektonisches, sondern ist beweglich, lebendig: ein
Positionsbestimmungen 43

Unterwegssein. Das sollte man nicht mit Konfusion


oder Beliebigkeit verwechseln. In Nietzsches Philoso-
phieren gibt es eine Grunderfahrung, die sich gedanklich
herausbildet, indem sie variiert, auf verschiedenen Stu-
fen artikuliert wird. Die Artikulationen folgen nicht
auseinander, aber sind doch Schritte auf einem kontinu-
ierlichen Weg. Diesen Weg muß man gehen, wenn man
den Philosophen Nietzsche – und nicht bloß Einzelnes
aus seiner Philosophie – verstehen will.
II.
Zeit und Sein und Kunst

1. »Vom souverainen Werden«

Warum schreibt einer mit vierzehn Jahren seine Autobio-


graphie? Wenn nicht als Imitation des erwachsenen Le-
bens, als noch kindliches, deshalb ganz und gar ernst ge-
meintes literarisches Spiel, muß etwas ihn dazu treiben:
Er hat früher als andere eine Erfahrung gemacht, die ihn
prägte, eine Grunderfahrung vielleicht. In den ersten Sät-
zen von Nietzsches Aufzeichnungen klingt so etwas an:
Wenn man erwachsen ist, pflegt man sich gewöhn-
lich nur noch der hervorragendsten Punkte aus der
frühesten Kindheit zu erinnern. Zwar bin ich noch
nicht erwachsen, habe kaum die Jahre der Kindheit
und Knabenzeit hinter mir, und doch ist mir schon
so vieles aus meinem Gedächtniß entschwunden
und das Wenige, was ich davon weiß, hat sich wahr-
scheinlich nur durch Tradition erhalten. Die Reihen
具der典 Jahre fliegen an meinem Blicke gleich einem
verworrenen Traume vorüber.1
Nicht mehr altklug wie hier, vielmehr scharf pointiert
begegnet dieselbe Erfahrung vierzehn Jahre später, im
Buch über die Geburt der Tragödie:
Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit
nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus,
1 Frühe Schriften, Bd. 1, S. 1.
»Vom souverainen Werden« 45

im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er


ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der Kö-
nig, was für den Menschen das Allerbeste und Aller-
vorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt
der Dämon; bis er, durch den König gezwungen,
endlich unter gellem Lachen in diese Worte aus-
bricht: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kin-
der und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sa-
gen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste
ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreich-
bar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu
sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu ster-
ben«. (KSA 1,35; GT 3)
Hier klingt, im Zitat des griechischen Mythos, die prä-
gende Lektüre Schopenhauers an; man könnte die in der
Antike mannigfach belegte2 Vergänglichkeitsfabel auch
als Echo zu dem von Schopenhauer zitierten Vers Calde-
rons hören, nach dem es die »größte Schuld des Men-
schen ist, daß er geboren ward« (SW 1,484; WWV I,
§ 63).3
Und schließlich das Gleiche noch einmal, jetzt spiele-
risch und zugleich so differenziert, daß man den Zusam-
menhang, die Möglichkeit der hier beschriebenen Erfah-
rung versteht: in der zweiten Unzeitgemäßen Betrach-
tung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben4, zwei Jahre nach dem Tragödienbuch, also 1874,
veröffentlicht. Die Schrift beginnt so:
2 Vgl. dazu von Reibnitz (1992), S. 127.
3 Vgl. auch: WWV II, 4. Buch, Kap. 46. Schopenhauers Sämtliche Werke
werden unter der Sigle SW zitiert. Zitate aus Die Welt als Wille und
Vorstellung sind außerdem durch die Sigle WWV sowie die Angabe
des Teils und des Paragraphen kenntlich gemacht.
4 Zu dieser Schrift im ganzen vgl. Salaquarda (1984) und Borchmeyer
(1996).
46 Zeit und Sein und Kunst

Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie


weiss nicht, was Gestern, was Heute ist, springt
umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so
vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage,
kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, näm-
lich an den Pflock des Augenblickes und deshalb
weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu se-
hen geht dem Menschen hart ein, weil er seines
Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und
doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt –
denn das will er allein, gleich dem Thiere weder
überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will
es doch vergebens, weil er es nicht will wie das
Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier:
warum redest du mir nicht von deinem Glücke und
siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten
und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich
vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber
auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der
Mensch sich darob verwunderte. (KSA 1,248; HL 1)
Das Motiv ist jetzt deutlich: Vergänglichkeit und das
Wissen davon – vor allem jedoch die Frage, wie sie zu-
sammengehören. Auch dem Tier vergeht Moment für
Moment seines Lebens; doch merkt es das nicht, weil es
nur im Augenblick lebt und nicht weiß, daß sein Leben,
wie man wenig später liest, »ein ununterbrochenes Ge-
wesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu
verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widerspre-
chen« (KSA 1,249; HL 1). Jeder Lebensmoment ist nur,
weil andere vergehen; man ist nur, indem man nicht
mehr ist – darin liegt der Selbstwiderspruch des vergäng-
lichen Lebens, der verborgen bleibt, wo nur die Gegen-
wart da ist. In ihr gibt es keine Vergänglichkeit, oder nur
von außen, für einen Beobachter.
»Vom souverainen Werden« 47

Sobald sich ein Wesen erinnern kann, wird das anders,


und dabei entspringt eine paradoxe Erfahrung: Die Mo-
mente des Lebens vergehen nicht einfach, sondern man
hält den vergehenden, den vergangenen Augenblick fest.
Doch indem man so gegen das Vergehen anlebt, kann
man es immer nur aufs neue bestätigen. Das Vergehen
wird zur Erfahrung, wo etwas quer zu ihm steht und an-
deres meint. Und was sich ihm widersetzt, widerlegt sich
zugleich im Widersetzen.
Das macht den Überdruß und die Schwermut aus, die
neidisch auf das Tier werden läßt; und sie mag, wie der
Text andeutet, sich noch dadurch verstärken, daß man
bei allem Neid doch nicht so sein will wie das Tier. Das
Besondere im menschlichen Leben soll erhalten bleiben
– die Erinnerung also oder etwas, worauf die Erinne-
rung weist: Man will ohne Vergänglichkeit sein, aber
auch nicht bloß im Augenblick aufgehen – wobei das
Vergehen die Macht ist, aus der dieser Wille immer aufs
neue entspringt; der Neid auf die Tiere, jeder Versuch,
dem Vergehen zu entkommen, es zumindest weniger
deutlich zu sehen, weist ins Vergehen zurück. So ist das
Vergehen die Wahrheit des Versuchs, sich ihm nicht zu
fügen. Außerdem ist die Erinnerung ja kein konservie-
rendes Gefäß, in dem Bilder des Vergangenen ihre Halt-
barkeit finden. Erinnerung ist vielmehr Erinnern, Ge-
schehen und Vorgang, in und zu dem man sich verhalten
muß – selbst also Erscheinung des Sichveränderns und
darin beweglich und flüssig. Nichts bleibt, alles verän-
dert sich und verschwindet.
Die Versuche, diesen Gedanken zu fassen, nennt
Nietzsche einmal »die Lehren vom souverainen Wer-
den«, wobei das Werden ja nur die Kehrseite des Verge-
hens ist, derselbe Vorgang, nur in anderer Hinsicht be-
trachtet; Nietzsche fügt erläuternd hinzu, diese Lehren
48 Zeit und Sein und Kunst

handelten »von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und


Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit
zwischen Mensch und Thier« (KSA 1,319; HL 9). Hier
sollte man an Nietzsches schon einmal zitierte Charakte-
risierung der Sprache denken: an das »bewegliche Heer
von Metaphern, Metonymien« (KSA 1,880; WL 1), aus
dem nur, wo eine Verwendung sich einschleift, der Ein-
druck von verfügbarer Wahrheit entsteht. – Überhaupt:
Vergehen und Festhalten; Veränderung, von der man ab-
sieht; ein Werden, das nur zum Teil, nur in bestimmter
Hinsicht wahrgenommen wird, wohl auch, dem Aphoris-
mus 299 der Fröhlichen Wissenschaft entsprechend, in der
»Dichtung des Lebens« geschönt, wie »durch gefärbtes
Glas oder im Lichte der Abendröthe« gesehen wird – das
tritt als Leitmotiv, als Hauptthema hervor. Nietzsches
Thema, seine ursprüngliche Einsicht und sein Trauma, ist
das »souveraine Werden«. (KSA 1,319; HL 9).
Die Metapher hat eine geheime Pointe, so daß sie
ein noch genaueres Hinsehen verdient. Souveränität ist
oberste, unbeschränkte Macht, und diese gibt es wie
jede Macht nur, wo sie nicht alles ist: Sie muß sich ja an
etwas als mächtig erweisen. Also kann nicht gemeint
sein, daß alles nur Werden sei; wohl aber, nichts sei ohne
das Werden, alles sei von ihm durchherrscht und be-
stimmt. Nichts kann sich am Ende dem Werden, dem
Vergehen entziehen – alles ist geworden, und Vergehen
heißt: Platz machen müssen für anderes, das wird; für
alles ist das Werden, oder wie man genauer sagen müßte:
das Werden-Vergehen der Vorgang, aus dem es kommt,
in dem es seine Wirklichkeit findet.
Nietzsche hat diesen Gedanken, wie gesagt, bei Scho-
penhauer gefunden, außerdem bei den frühesten griechi-
schen Denkern, die er in Schopenhauerscher Färbung
liest – bei Anaximander von Milet, der, wie Nietzsche
»Vom souverainen Werden« 49

meint, »alles Werden wie eine strafwürdige Emancipa-


tion vom ewigen Sein« ansieht, »als ein Unrecht, das mit
dem Untergange zu büßen ist« (KSA 1,819; PHG 4),
und mehr noch bei Heraklit, jenem Denker, der für
Nietzsche »das ewige und alleinige Werden« gelehrt hat,
»die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das
fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist«; dies
aber sei »eine furchtbare und betäubende Vorstellung
und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung
verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das
Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert« (KSA
1,824; PHG 5). Vor allem die Erläuterung sagt mehr
über Nietzsche als über Heraklit – keine Frage also, wer
hier das Trauma des »souverainen Werdens« erlebt hat.5
Deshalb vermag er es so genau als Erfahrung festzuma-
chen und in der eigentümlichen Struktur des Erinnerns
zu beschreiben.
Aber noch einmal: Seine Macht kann das Werden nur
zeigen, wo ihm etwas entgegensteht. Wie das gemeint
ist, zeigt sich an der Erinnerung: Mit ihr kommt etwas
ins Spiel, das im Werden-Vergehen nicht aufgeht und
sich als das, was es ist, aus dem Werden-Vergehen nicht
ableiten läßt: Gegenwart. Ohne Gegenwart ließe sich
nichts erfahren, auch das Werden-Vergehen nicht; es
braucht gleichsam ein Feld, auf dem es erscheinen kann.
Denn für sich betrachtet ist es nichts als reines Ver-
schwinden – Entstehen, das sofort ins Verschwinden
übergeht wie ein Film, der so schnell abläuft, daß er
seine Bilder ununterscheidbar mit sich fortreißt. Be-
stimmtes Werden und bestimmtes Vergehen, Werden
und Vergehen, das erfahrbar ist, gibt es nicht ohne Ge-
genwart.

5 Vgl. Borsche (1985).


50 Zeit und Sein und Kunst

Auch das ist am Anfang der Schrift Vom Nutzen und


Nachteil der Historie erörtert. Hier war ja von der
Stummheit des Tieres als einem Anzeichen seiner abso-
luten Vergeßlichkeit die Rede gewesen; das tierische Le-
ben gleicht jenem zu schnell ablaufenden Film: alles
kommt an, um schon wieder verflossen zu sein. Das, so
hieß es, verwundere den Menschen; er finde das Tier be-
fremdlich, weil es anders sei. Und dann folgendes:
Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Ver-
gessen nicht lernen zu können und immerfort am
Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch
so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein
Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch
vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts,
kommt doch noch als Gespenst wieder und stört
die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend
löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt her-
aus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zu-
rück, dem Menschen in den Schooss. Dann sagt der
Mensch »ich erinnere mich« und beneidet das Tier,
welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirk-
lich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und
auf immer erlöschen sieht. (KSA 1,248 f.; HL 1)
Hier geht es um das Wesen oder Unwesen des Erinner-
ten: Der vergangene Augenblick ist ein »Gespenst«, ein
Wiedergänger, der im späteren Augenblick spukt, in ihm
die verlorene Gegenwart suchend. Das ist eine Störung
für den Augenblick, denn was wiederkommt, ist anders
als er: nicht einfach gegenwärtig, sondern Gegenwart des
Vergangenen, blutleere Gegenwart. So darf der Augen-
blick nicht mehr einfach er selbst sein.
Das aber heißt: es ist ihm nun nicht mehr erlaubt, ein-
fach zu vergehen, »in Nacht und Nebel zurückzusin-
»Vom souverainen Werden« 51

ken«. Der Augenblick hat sich geweitet und ist eigentlich


erst so zur Gegenwart geworden. Die Gegenwärtigkeit
des Augenblicks ist wie der Blitz; ein Gegenwartskeim,
der sein Potential nicht entfalten kann. Nun aber, wo ein
anderer Augenblick in der Gegenwart sein will und ihr
Potential braucht, kommt es zum Vorschein. Nun ist mit
einem Mal nicht mehr bloß da, was unmittelbar da ist.
Und die Gegenwart ist nicht mehr nur dieses blitzhafte
Dasein, sondern Offenheit: ein Spielraum, in dem etwas
erscheinen kann und erscheint.
Das erst entspricht dem, was man normalerweise un-
ter »Gegenwart« versteht. Die Vorstellung eines blitz-
haften Augenblicks trifft das Wesen der menschlichen
Gegenwartserfahrung nicht: Man könnte nie sagen, was
»jetzt«, »augenblicklich« eigentlich ist; das Plötzliche
kann sich nur zeigen, indem es sich vom längst Dauern-
den abhebt – wie ein Blitz vom beständigen Grund des
Himmels – und in der Erinnerung festgehalten wird.
Wollte man anders zur Sprache bringen, was »jetzt« ist,
wäre es ja, kaum daß man zu sprechen angefangen hätte,
schon wieder vergangen und ein neues »jetzt« käme
nach, um auch zu vergehen.
Aber so erfährt man die Gegenwart nicht; so stilisiert
man sie bloß, wenn man sie, orientiert am abstrakten
Gedanken des isolierten Augenblicks, vorstellt. Erfahren
wird Gegenwart immer als Weile: was jetzt ist, war
schon und wird auch noch sein; so ist Gegenwart nicht
ohne Erinnern und auch nicht ohne Vorwegnehmen.
Doch tritt das Gewesene und das Zukünftige in der wei-
lenden Gegenwart nicht hervor; was eben schon war
und demnächst sein wird, fügt sich ihr ein und läßt sie
eben dadurch sein, was sie ist: offene Weile, einfache
Präsenz.
Doch selbst wenn sich der Gedanke der Weile, der im
52 Zeit und Sein und Kunst

Erinnern zum Gegenwartsspielraum gewordenen Ge-


genwart, in Nietzsches Text findet – an eine schlichte
und mühelos erfahrene Gegenwart, wie sie gerade um-
rissen wurde, denkt Nietzsche hier offenbar nicht. Sonst
würde er das Erscheinen des vergangenen Augenblicks
in der Gegenwart kaum als Störung bezeichnen. Allein
damit ist schon gesagt, daß der ins Gegenwärtige eintre-
tende Moment des Vergangenen sich der Gegenwart
nicht ohne weiteres fügt, sondern, was dann als Lösung
allein bleibt, in die Gegenwart eingefügt werden muß –
zusammen mit den anderen Erinnerungsmomenten; nur
von einem erinnerten Augenblick zu sprechen, ist ja um
der Übersicht willen vereinfacht gewesen, und dann geht
es nicht bloß darum, den einen Moment ins Gegenwär-
tige zu integrieren, sondern alles Erinnerte, und zwar so,
daß es zum Gegenwärtigen und zueinander paßt. Das
Erinnern stellt vor Integrationsaufgaben. Sie erst ma-
chen ein zeitliches oder, wie Nietzsche sagt: »histori-
sches« Leben aus.

2. »Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen«

Das Vermögen, die Integrationsaufgaben des Erinnerns


zu lösen, faßt Nietzsche mit einem Begriff, den er wohl
von Jacob Burckhardt, aus dessen Buch Die Kultur
der Renaissance in Italien, übernommen hat: plastische
Kraft. Damit ist bei Burckhardt die Fähigkeit gemeint,
»jede Störung der inneren Harmonie« wiederherzustel-
len und so mit sich selbst eins zu sein; wer über plasti-
sche Kraft verfügt wie die »geistig Mächtigen, die Träger
»Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen« 53

der Renaissance«, kennt keine Reue und hat deshalb


auch kein Bedürfnis nach Erlösung.6 Nietzsche nimmt
den Gedanken auf und faßt ihn grundsätzlich: es gehe
um »jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen,
Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverlei-
ben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zer-
brochene Formen aus sich nachzuformen« (KSA 1,251;
HL 1). Plastische Kraft ist – wie für Burckhardt auch –
Lebenskraft, wenn man unter dem Leben einen in sich
kohärenten Zusammenhang, ein stimmiges Gefüge sei-
ner verschiedenen Aspekte und Situationen versteht.
Aber es ist die Kraft eines Lebens, das sich grundsätz-
lich, nicht bloß bei »Störung der inneren Harmonie«,
neu bildet und bilden muß, weil es nicht für sich, son-
dern bezogen auf Anderes, Fremdes existiert. Und le-
bendig sind dann nicht bloß Individuen, sondern auch
Völker und Kulturen; ohne daß man sie dadurch zu
Quasipersonen, zu »großen Menschen« stilisiert, läßt
sich von ihnen sagen, daß sie ohne das Wirken plasti-
scher Kraft überhaupt nicht bestehen könnten.
Wie dieses Wirken genauer zu verstehen ist, wird im
Kontrast zum »unhistorischen Leben« des Tieres deut-
lich. Von seinem Leben sagt Nietzsche, es gehe »auf in
der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderli-
cher Bruch übrig bleibt«. Und dann fügt er hinzu, das
Tier wisse »sich nicht zu verstellen«: es »verbirgt nichts
und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das
was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich«
(KSA 1,249; HL 1).
Das läßt an die Überlegungen zur »Dichtung des Le-
bens« in der Fröhlichen Wissenschaft denken: die Inte-
gration des Erinnerten in die Gegenwart ist nicht ohne

6 Burckhardt, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 338.


54 Zeit und Sein und Kunst

Stilisierung möglich. Also wird man sich vielleicht »von


den Dingen entfernen« müssen, »bis man Vieles von ih-
nen nicht mehr sieht«; auch kann es nötig sein, von Ein-
zelheiten abzusehen, damit eine Erinnerung mit anderen
zusammenstimmt; und schließlich mag es helfen, die
Dinge wie »durch gefärbtes Glas oder im Lichte der
Abendröthe« anzuschauen – manches muß verklärt wer-
den, wenigstens in seiner Schärfe gemildert, damit es in
der Gegenwart nicht stört, damit es erträglich ist (KSA
3,538; FW 299). Ein zeitliches oder »historisches« Leben
läßt sich ohne Verstellung nicht führen, wobei man diese
nicht für Verdrängung halten sollte: Verdrängung ist ja
keine Integration von etwas ins Gegenwartsleben, son-
dern bestätigt mehr oder weniger verzweifelt, daß sich
etwas nicht einfügen läßt.
Das Filtern und Färben, das Nietzsche sehr pointiert
mit dem Begriff der Verstellung faßt, läßt sich auch neu-
traler beschreiben: Wo etwas eingefügt wird, ist es im-
mer in bestimmter Weise gesehen; man entdeckt es als
etwas, das ins eigene Leben paßt – man deutet oder in-
terpretiert es so. Integration ist immer auch Interpre-
tation, Entdeckung in bestimmter Hinsicht unter Ab-
blendung anderer Hinsichten.7 So ist das Interpretieren
ein Entdecken, das immer auch ein Verstellen ist – Ent-
decken nur um den Preis des Verstellens.
Von der Notwendigkeit der Verstellung sind aller-
dings nicht bloß die einzelnen Momente des Erinnerns
betroffen. Was den Menschen schwermütig und über-
drüssig macht, was ihn niederdrückt, ist weniger die ver-
einheitlichende, stilisierende Erinnerungsarbeit als das
Faktum des Erinnerns selbst: also die Erfahrung des

7 Einschlägig zum Begriff der Interpretation, aber auf das Spätwerk


konzentriert ist: Figl (1982), vgl. auch Hofmann (1994).
»Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen« 55

Werdens-Vergehens unmittelbar. Dazu heißt es, der


Mensch stemme »sich gegen die grosse und immer grö-
ssere Last des Vergangenen«, sie sei ihm »eine unsicht-
bare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal
verläugnen kann, und welche er im Umgang mit sei-
nes Gleichen gar zu gern verläugnet: um ihren Neid zu
wecken« (KSA 1,249; HL 1). Beneidenswert ist, von der
Last des Werdens-Vergehens frei zu sein – darin liegt
Glück, ja Lebensnotwendigkeit, wie Nietzsche in einem
Gedankenexperiment verdeutlicht:
Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen,
der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der
verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein
Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein,
glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte
Punkte auseinander fliessen und verliert sich in die-
sem Strome des Werdens: er wird wie der rechte
Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den
Finger zu heben. (KSA 1,250; HL 1)
Hier ist nun endlich der Gegenbegriff zum Werden-
Vergehen ins Spiel gekommen: Sein, und besonders das
»eigene Sein«. Dabei ist, wenn man genau liest, erkenn-
bar, daß Nietzsche diesem Begriff einen besonderen Ak-
zent verleiht und, unter der Voraussetzung seines Ge-
dankens von der Souveränität des Werdens, auch verlei-
hen muß: Mit »Sein« ist nichts unbezweifelbar Festes,
Stabiles bezeichnet, nichts, was einfach zugrundeliegt
und die Veränderungen zuläßt und trägt; sondern ans
Sein muß man »glauben« – sogar ans eigene Sein.
Damit ist zunächst ein indirekter Einspruch gegen die
bekannteste Erläuterung des Gegenteils formuliert: ge-
gen das Gedankenexperiment, das Descartes in der er-
sten seiner Meditationes de prima philosophia (1641) an-
56 Zeit und Sein und Kunst

stellt, um mit der Unbezweifelbarkeit des eigenen Den-


kens auch die des eigenen Seins darzulegen. Daß es so
etwas wie Seiendes gibt oder, wie Descartes sagt, ein
»Ding« (res), das denkt oder sonst etwas tut – »sum
autem res vera et vere existens, sed qualis? dixi, cogi-
tans«8 –, dies hat Nietzsche wohl schon hier und später
dann ausdrücklich bezweifelt. In Jenseits von Gut und
Böse wird er das Cartesische Zweifelsargument für das
Sein der res cogitans sehr kritisch durchleuchten (KSA
5,29 f.; JGB 16). Und in der ersten Abhandlung der Ge-
nealogie der Moral wird er sagen, es gäbe kein »Sub-
strat«, »kein ›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden«
und hinzufügen, der »Thäter« sei »zum Thun bloss hin-
zugedichtet«. Das wiederum führt zu der Konsequenz:
»das Thun ist Alles« (KSA 5,279; GM 1,13) – das Sein
muß gebildet werden, und die Souveränität des Werdens
bestätigt sich auch hier. Sie kann nicht überwunden, son-
dern, wie Nietzsche deutlich sagt, nur vergessen werden.
Der Glaube ans eigene Sein ist gleichbedeutend mit Wer-
densvergessenheit.
Aber was genau ist hier mit »Vergessen« gemeint?
Entscheidend dafür ist in der vorhin zitierten Passage
die Bestimmung des Vergessens als einer »Kraft«. Ge-
meint ist also nicht das Versäumnis, die Schwäche, über
die man sich ärgert, wo sie einem widerfährt – Vergessen
ist nicht die Unfähigkeit, die mangelnde Kraft des Erin-
nerns; aber auch nicht die zufällig wiedergefundene Un-
schuld, für die es das Werden-Vergehen eine Zeitlang
nicht mehr gibt, sondern wirkliches Komplement: Ge-
genkraft – ja, gemessen daran, daß Erinnern unwillkür-
lich ist und zunächst einfach geschieht, die eigentliche

8 Descartes, Oeuvres VI,27; Meditationes de prima philosophia II,6.


»Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen« 57

Kraft: das Vermögen, dem irritierenden Geschehen des


Erinnerns entgegenzutreten.
Doch sieht man genauer hin, zeigt sich, wie das Erin-
nern von der »Kraft zu vergessen« auch abhängig ist: In-
tegrationsaufgaben sind schließlich nur zu lösen, wenn
sie begrenzt sind, wenn sie die Konzentration auf Be-
stimmtes fordern und entsprechend verlangen, von al-
lem Anderen abzusehen. Wo etwas zustande gebracht
oder gestaltet werden soll, muß man sich auf bestimmte
Züge beschränken und darf sich von »Unwesentlichem«
nicht beirren lassen, sondern muß es »vergessen« kön-
nen. Jedes Hinsehen gründet in einem Absehen.
Bei der integrierenden Vergegenwärtigung des Lebens
spielt das Absehen freilich eine noch wichtigere Rolle als
sonst. Hier ist ja, anders als bei der Herstellung von et-
was oder bei der Lösung einer klar gestellten Aufgabe,
nicht von vornherein entschieden, was wesentlich und
was unwesentlich ist: das entscheidet sich erst im Le-
bensvollzug, so daß sich mit der Integrationsaufgabe die
Aufgabe des Absehens immer wieder von neuem stellt.
Von einer »Kraft« zum Vergessen kann darum eigentlich
erst hier die Rede sein; durch das Absehen tritt erst her-
vor, was dann als Integrationsaufgabe weiter zu bewälti-
gen ist. Und natürlich wird es dabei Kontingenzen ge-
ben, auch Ungerechtigkeiten: Was vernachlässigt wird,
hätte in anderer Hinsicht vielleicht Aufmerksamkeit ver-
dient; doch selbst wenn ihm diese zuteil würde, bliebe
das Bild unvollständig, stilisiert und geschönt. Aus der
Kraft des Vergessens entspringt die »Dichtung des Le-
bens« mit all ihren Verstellungen, die interpretierende
Lebensintegration.
So behält das Vergessen und Verstellen immer auch ei-
nen positiven Sinn; die Frage muß ja sein, ob man etwas,
58 Zeit und Sein und Kunst

das vernachlässigt oder verklärt und geschönt wurde,


anders hätte bewältigen können. Man müsse wissen, sagt
Nietzsche dazu, »wie gross die plastische Kraft« (KSA
1,251; HL 1) jeweils sei, um den Grad und die Grenzen
des Vergessens zu bestimmen. Weil das Vergessen oder
Absehenkönnen die Integrationsaufgabe für die plasti-
sche Kraft umreißt, gibt es dieser erst die Möglichkeit,
wirksam zu werden.
Das Wirken der plastischen Kraft aber ist Lebens-
wirklichkeit, Erfahrung des eigenen Seins. Ans eigene
Sein zu »glauben«, heißt deshalb auch nicht, etwas, das
es nicht gibt, für existierend zu halten. Vielmehr ist da-
mit ein Vertrauen gemeint – eine Erfahrung, die man
machen kann, indem man sich im Tun auf das eigene Tun
verläßt und es – im Absehen hinsehend – vollzieht.
Das Wichtigste dabei ist, sich von der Erfahrung des
Werdens-Vergehens nicht lähmen zu lassen. Entspre-
chend erweist sich die »Kraft zu vergessen« vor allem im
Absehenkönnen davon, daß alles sich immerfort ändert.
Sie gibt einen Freiraum zum Verhalten – den Gegen-
wartsspielraum, in dem man sein kann. Daß einzelne
Handlungen, Lebensphasen miteinander zu tun haben,
daß sie ein Kohärentes und Ganzes bilden, ist nur denk-
bar, wo das Leben in seiner Vielfalt einheitlich präsent
sein kann und nicht segmentiert, in unendlich viele
Momente zerteilt wird durch eine in jedem Augenblick
wirksame Veränderung, durch den an jeder Stelle auf-
brechenden Riß der Zeit, so daß Momente des eigenen
Lebens wie Eisschollen davontreiben.
Obwohl der »Glaube« an das eigene Sein in der Wer-
densvergessenheit gründet, geht es nicht um das Ver-
drängen der Zeit; eher um die gesammelte Ruhe eines
Lebens, das in der Gegenwart aufgeht und doch so voll-
zogen werden muß, daß sich die Gegenwart als konkrete
»Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen« 59

erst bilden, entwickeln kann; um das Sicheinlassen auf


einen Spielraum, das sofort gestört, unterbrochen ist, wo
die Gegenwart nicht mehr gelebt, lebend im Tun vollzo-
gen wird, sondern wie ein Gegenstand ergriffen, festge-
halten werden soll. Also geht es um eine Gegenwartssi-
cherheit, die dem Gang übers Seil, über den schmalen
Grat eines Berges vergleichbar ist: Die Sicherheit besteht
im Gehen – aber hier besteht sie auch wirklich und wird
nicht bloß »subjektiv« empfunden, so daß man sie für ei-
nen irrigen Eindruck, für bloß phantasiert halten müßte.
Gegenwart gibt es wirklich, wo sie sich ergibt: im Vollzug
eines Tuns, das sie entwickelt, um dann in ihr zu ruhen.
Weil die plastische Kraft immer nur in bestimmtem
Maße wirkt, bildet sie auch immer nur einen bestimmten
und begrenzten Lebenszusammenhang aus. Die sich mit
ihrem Wirken ergebende Gegenwart ist »Horizont«, be-
grenzte Weite; »jedes Lebendige«, sagt Nietzsche, könne
»nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und
fruchtbar werden«, was man nicht zu bezwingen wisse,
müsse vergessen werden, und dann sei es »nicht mehr
da«: »der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts
vermag daran zu erinnern, dass es noch jenseits dessel-
ben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke giebt«
(KSA 1,251; HL 1).
Die Metapher des Horizontes gibt auch zu verstehen,
daß die Begrenztheit und Besonderheit des Lebens nicht
ein für alle Mal festgelegt ist. Immer ist in der Gegen-
wart des Lebens wie beim Horizont in der Landschaft
die Vorstellung möglich, daß es hinter der Grenze wei-
tergeht und der Blick niemals alles erfaßt, daß er seine
ihm eigentümliche Weite hat, doch auch seine Enge. Nur
in der Weite der Gegenwart kann etwas erscheinen; nur
die Enge läßt die Gegenwart einen überschaubaren Ho-
rizont sein, in dem sich ein einheitliches Bild ergibt.
60 Zeit und Sein und Kunst

So kommt es immer darauf an, die rechte Mitte von


Weite und Enge zu treffen, wobei niemals allgemein zu
sagen ist, wo sie liegt. Dies hängt, wie gesagt, von der
jeweiligen »plastischen Kraft« ab, davon also, wieviel
Kraft man hat, etwas zu einem Lebensbild zu fügen und
in seiner Komplexität und Weite zu übersehen.
Nietzsche sieht auch die Ambivalenz von Weite und
Enge deutlich und weiß genau, welcher Preis für beides
je zu entrichten ist. Der Horizont eines Lebens könne
»eingeengt wie der eines Alpenthal-Bewohners sein«, in
jedes Urteil möge ein Mensch »eine Ungerechtigkeit, in
jede Erfahrung den Irrthum legen, mit ihr der Erste zu
sein«; trotzdem stehe »er doch in unüberwindlicher Ge-
sundheit und Rüstigkeit da« – »während dicht neben
ihm der bei weitem Gerechtere und Belehrtere kränkelt
und zusammenfällt, weil die Linien seines Horizontes
immer von Neuem unruhig sich verschieben, weil er
sich aus dem viel zarteren Netze seiner Gerechtigkeiten
und Wahrheiten nicht wieder zum derben Wollen und
Begehren herauswinden kann« (KSA 1,252; HL 1). Was
hier an den Extremen des »Alpenthal-Bewohners« mit
seiner lebensförderlichen Borniertheit und des im Über-
maß differenzierenden, immer Neues aufnehmenden
Bildungsmenschen demonstriert wird, gilt allgemein: die
Geschlossenheit eines Lebenszusammenhangs wird im-
mer den Aspekt der Borniertheit haben, der Versuch,
gerecht zu sein, also einer anderen Person oder Sache
gerecht zu werden, wird immer für die Geschlossenheit
des Lebensbildes gefährdend sein müssen.
Obwohl diese beiden Gefährdungen einander zu ent-
sprechen scheinen, sind die Offenheit und die Geschlos-
senheit des Lebens im Hinblick auf seine Gegenwart
nicht einfach gleichberechtigt. Gegenwart stellt sich ja
nur mit der Geschlossenheit eines Horizontes ein; nur
»Plastische Kraft«, »Kraft zu vergessen« 61

so kann sie eine ruhige Weile sein, die sich aus der Un-
ruhe des Werdens-Vergehens heraushebt. Und am Le-
ben des Tiers hat sich noch ein anderer Vorteil der Ge-
schlossenheit gezeigt. Es lebt, wie Nietzsche sagt, »bei-
nahe innerhalb eines punktartigen Horizontes [. . .] und
doch in einem gewissen Glücke«. Also, fährt Nietzsche
fort, werde man die Geschlossenheit des Lebens »für die
wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern
in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst
etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft
Menschliches wachsen kann« (KSA 1,252; HL 1). Weil
hier vom Werden und Vergehen, vom Wechsel des Le-
bens in der Zeit abgesehen wird, nennt Nietzsche die
Gegenwart des Lebenshorizontes auch »das Unhistori-
sche« und sagt von ihm, es sei »einer umhüllenden At-
mosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um
mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu ver-
schwinden« (KSA 1,252; HL 1).
Auch hier fällt wieder auf, daß nicht von einem
schlichten Bestehen, einem Sein und nur Sein in der Ge-
genwart die Rede ist, sondern davon, daß sich das Leben
in ihr »erzeuge«. Schon vorher war als die problemati-
sche Seite übermäßiger Differenzierung und Gerechtig-
keit genannt worden, daß man sich nicht wieder »zum
derben Wollen und Begehren herauswinden« könne.
Gegenwärtigsein heißt: das Leben im Werden – wollend,
begehrend – vollziehen. Das Leben widerspricht sich,
indem es das Sein als Sein des Werdens erweist.
Andererseits hängt das Wollen-können nicht allein
von der Geschlossenheit der Gegenwart ab. Wo das Le-
ben nichts sein möchte als gegenwärtig und nur zugelas-
sen wird, was man schon kennt; wo sich das Leben
genug ist, und wo nur gilt, was man sich vollständig an-
geeignet hat, droht die Erstarrung: Es gibt, was die Voll-
62 Zeit und Sein und Kunst

endung der Borniertheit ist, nichts Fremdes mehr. Nicht


bloß, wo die Geschlossenheit des Horizontes immer
wieder gestört wird, auch, wo das Leben »zu selbstisch«
ist, um »innerhalb eines fremden den eigenen Blick ein-
zuschliessen«, kommt es zu Schaden und siecht »matt
oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin« (KSA
1,251; HL 1). Also muß man über sich hinaus denken
können und sich klarmachen, daß man nicht bloß das
Andere im eigenen Leben sieht, sondern auch Anderes
ist, das von anderswo gesehen wird; jedes im Gegen-
wartshorizont vollzogene Leben ist eins unter vielen.
Auch so widerspricht sich das Leben: Einheit von allem,
die in die unübersehbare, sich immer neu mischende
Vielheit gehört.
Also verweist das Sein, je genauer man hinschaut, ins
Werden und hebt sich andererseits doch aus dem Wer-
den heraus. Und das Werden steht immer im Sein – nur
so kann es erfahren, als Wollen und Begehren vollzogen
werden. Doch ebenso ist im Sein das Werden und Ver-
gehen vergessen, im Werden das Sein relativiert, im Ver-
gehen bedroht und vernichtet. Was sich ausschließt,
ist aneinander gebunden; was einander abblendet oder
vernichtet, aufeinander verwiesen; das Verweisen ist Wi-
dersprechen, Widersprechen ist Bezogen- und Abhän-
gigsein.
Entsprechend ist das Leben ein prekärer Mittelweg
zwischen Einseitigkeiten, es ist Austrag von Spannun-
gen, die niemals endgültig zum Ausgleich zu bringen
sind. Deshalb wird man dem Leben auch nicht durch die
Suche nach Ausgleich oder Versöhnung gerecht werden
können – dergleichen hat Nietzsche immer für mehr
oder weniger subtile Lebensflucht und Lebensverleug-
nung gehalten. Die Frage ist vielmehr, wie die prekäre
Balance, der Austrag des Streites von Werden-Vergehen
»Kunstwelten« 63

und Sein möglich ist: Wie kann die Relativierung des


Seins durch das Werden mit der Angewiesenheit des Wer-
dens auf Sein zusammen bestehen? Wie versteht man die
prekäre Mitte, in der das einander Widersprechende zur
Balance findet? Und vor allem: Wie läßt sich diese Ba-
lance und Mitte erfahren? Wie kommen Werden-Verge-
hen und Sein gleichermaßen zur Geltung – unverkürzt,
transparent, so daß ausdrücklich erfahren werden kann,
was Leben eigentlich ist? Nietzsche hat diese Fragen in
seinem ersten Buch beantwortet, indem er das Denken
auf die Kunst, speziell auf die Tragödie, verweist. An der
Tragödie kommt heraus, was Kunst eigentlich ist: ein
fruchtbarer Streit von Sein und Werden und darin Spiel-
raum der Lebenserkenntnis. Die Kunst ist Lebensmodell:
an ihr zeigt sich, wie das Leben im Streit von Werden und
Sein auf transparente Weise geführt werden kann. Also
muß man nun klären, was künstlerische Erfahrung des
Lebens ist: wie sie entspringt und sich ausbildet.

3. »Kunstwelten«

Wie Nietzsche auf die Erörterung der Tragödie gekom-


men ist, ist schnell erklärt. Schon seine Schopenhauer-
Lektüre hatte ihn von der Wichtigkeit des Themas über-
zeugen können, was bei entsprechender Neigung nicht
schwierig war. Jedoch der eigentliche Anstoß ist Richard
Wagner gewesen. Durch ihn wurde Nietzsches Interesse
auf die Kunstform der Oper, des Musikdramas gelenkt;
und es mag eine günstige Konstellation genannt werden,
daß Wagners Überzeugung, die griechische Tragödie sei
64 Zeit und Sein und Kunst

als Einheit von Wort- und Tonkunst das Vorbild für das
»Kunstwerk der Zukunft«, die Aufmerksamkeit eines
Philologen erregte. »Wir können bei einigem Nachden-
ken in unsrer Kunst keinen Schritt tun, ohne auf den Zu-
sammenhang derselben mit der Kunst der Griechen zu
treffen«9 – dieser Satz aus Wagners programmatischer
Schrift Die Kunst und die Revolution (1849) fand in
Nietzsche einen aufmerksamen Leser, der das künstleri-
sche Programm philologisch und philosophisch begrün-
den wollte.
Zum ersten Mal tritt er damit im Jahr 1870 an die Öf-
fentlichkeit. Nietzsche hält in Basel einen Vortrag, des-
sen zentraler Gedanke schon aus dem Titel spricht: Das
griechische Musikdrama. Hier sollte gezeigt werden, daß
wir uns nur angemessen vorstellen können, was die grie-
chische Tragödie gewesen ist, »wenn wir die Oper uns
einmal in kräftiger phantasiereicher Stunde so idealisirt
vor die Seele führen, daß uns eben die Anschauung des
antiken Musikdrama’s sich erschließt«. Dann zeigt sich,
wie sehr wir die Tragödiendichter mißkennen, wenn wir
sie nur als »Textbuchdichter, als Librettisten« verstehen
(KSA 1,517). Eine nachgelassene Aufzeichnung aus der
Vorbereitungszeit des Vortrags verrät, was »Aeschylus
Sophocles Euripides« eigentlich gewesen sind: »Opern-
componisten« (KSA 7,9; N 1869, 1[1]).
Das Buch über die Geburt der Tragödie ist allerdings
nicht bloß der Versuch einer philologisch-philosophi-
schen Wagner-Apologie. Vielmehr geht es darum, hinter
die Formen und Ausprägungen der abendländischen
Kultur zurückzufragen und deren Ursprünge zu klären.
Dafür ist die griechische Tragödie ein Modell: Hier fin-
det sich unverstellt, ohne Verkürzung oder Verdrängung

9 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, S. 9.


»Kunstwelten« 65

bestimmter Aspekte, was zum Wesen dieser Kultur ge-


hört: Kultur ist der Austrag des Streites von Werden-
Vergehen und Sein. Das wiederum gibt Orientierung für
den Versuch, die Kultur der eigenen Zeit zu erneuern,
sie überhaupt erst wieder zu einer ihre Möglichkeiten
ausschöpfenden Kultur zu machen. »Das Griechenthum
hat für uns den Werth wie die Heiligen für die Katholi-
ken«, notiert sich Nietzsche einmal (KSA 7,18; N 1869,
1[29]). Und in der Geburt der Tragödie heißt es:
Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch
bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Al-
terthums zu verkümmern suchen; denn in ihm fin-
den wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung
und Läuterung des deutschen Geistes durch den
Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir sonst zu
nennen, was in der Verödung und Ermattung der
jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung
für die Zukunft erwecken könnte? Vergebens spä-
hen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wur-
zel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden
Erdbodens: überall Staub, Sand, Erstarrung, Ver-
schmachten. (KSA 1,131; GT 20)
Missionarische Töne wie diese gehören zu Nietzsche
ebenso wie die klaren Sentenzen, die scharfen Pointen;
die Emphase kultureller Sendung ist Kehrseite seines
untrüglichen, alles Hohle und bloß Gewollte durch-
schauenden Blicks. Und trotzdem: es geht in der Geburt
der Tragödie nicht um imitierenden Klassizismus oder
nostalgische Griechentümelei, nicht um den hilflosen
Versuch, aus eigenem Unvermögen die Antike zu plün-
dern. Dergleichen ist ja auch den Musikdramen Wagners
fremd, in denen Nietzsche hier noch den einzigen Hoff-
nungsschimmer für die Kultur der Gegenwart sieht.
66 Zeit und Sein und Kunst

Wenn es bei den Griechen etwas über die Möglichkeiten


der Kultur zu lernen gibt, so nicht, weil bei ihnen in
historischer Einmaligkeit etwas realisiert wurde, das es
nun nachzuahmen gälte; erst später wird Nietzsche die
unwiederbringliche Einmaligkeit der griechischen Kunst,
ihre Geschichtlichkeit entdecken. Jetzt denkt er noch, daß
sich am Modell der Tragödie zeigt, was Kunst überhaupt
ist, so daß das künstlerische Tun hier mit seiner eigenen
Möglichkeit konfrontiert wird. Und die Einsicht in das
Wesen der Kunst gibt Aufschluß über die Möglichkeiten
der Kultur.
Entsprechend kann Nietzsche sein Buch mit einer all-
gemeinen und sich nur sekundär an den Griechen orien-
tierenden Überlegung eröffnen:
Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft
gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen
Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der
Anschauung gekommen sind, dass die Fortent-
wickelung der Kunst an die Duplicität des Apollini-
schen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnli-
cher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der
Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur
periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese
Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die
tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung
zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich
deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsich-
tigen vernehmbar machen. (KSA 1,25; GT 1)
Auf die beiden hier genannten Götter, Apollon und
Dionysos10, kommt es also gar nicht so sehr an. Die

10 Zur romantischen Vorgeschichte des Dionysischen und der Diony-


sos-Gestalt vgl. Frank (1988), S. 9–80.
»Kunstwelten« 67

»Duplicität«, an welche die Fortentwicklung der Kunst,


ihre Lebendigkeit, gebunden ist, ließe sich auch anders
bezeichnen, etwa mit »Begriffen«, wie die Griechen sie
im Hinblick auf die Kunst angeblich nicht hatten. Denn
gemeint ist eine Wesensbestimmung, genauer: ein We-
sensunterschied wie der zwischen dem Männlichen und
dem Weiblichen. Und wenn es dann heißt, diese beiden
seien in »fortwährendem Kampfe« und ihre Versöhnung
trete nur »periodisch« ein, so ist damit keine pessimisti-
sche Einschätzung des Verhältnisses von Männern und
Frauen gegeben, sondern allgemein der Austrag eines
unauflösbaren Gegensatzes gemeint; einer sich immer
wieder neu zur Geltung bringenden Andersheit, die bei-
dem erst eigentlich zum Leben, zu immer neuer Ausprä-
gung verhilft.
So ist auch die apollinische der dionysischen Kunst
entgegengesetzt: die »Kunst des Bildners« der »unbildli-
chen Kunst der Musik«. Beide »gehen neben einander
her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich
zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in
ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren,
den das gemeinsame Wort ›Kunst‹ nur scheinbar über-
brückt« (KSA 1,25; GT 1). Sie sind nicht einfach ver-
schieden, so daß sie einander nichts angehen, sondern
bilden sich aneinander heraus.
Zunächst sollte festgehalten werden, daß Nietzsches
Gedanke keineswegs selbstverständlich ist; warum sol-
len Bildkunst und Musik einander entgegengesetzt, statt
bloß verschieden voneinander sein? Wo in der Kunst
gäbe es Beispiele dafür, daß Bild und Musik einander zur
Überbietung, zu immer eindrucksvolleren Werken her-
ausfordern? Und schließlich: Warum nur Bild und Mu-
sik, wo sich doch von beiden noch die Wortkunst unter-
scheiden läßt?
68 Zeit und Sein und Kunst

Was Nietzsche im Sinn hat, wird schon verständli-


cher, wenn man berücksichtigt, daß er die beiden Kunst-
formen nicht für sich betrachtet, sondern auf Grund-
bestimmungen menschlichen Lebens zurückführt. So
spricht er – wohl in Anlehnung an die Terminologie
Schillers in dessen Briefen Über die ästhetische Er-
ziehung des Menschen – von zwei »Trieben«11 (KSA
1,25.26; GT 1): in Bild und Musik kann sich das mensch-
liche Leben artikulieren oder ausdrücken, sofern es
überhaupt dieses Leben ist. Das wiederum erläutert den
Rückgriff auf die Namen griechischer Götter zu ihrer
Bezeichnung: Götter sind Mächte, die das menschliche
Leben bestimmen, ohne daß man sich ihnen entziehen
kann. So verhält es sich mit dem, was im Leben zu Bild
und Musik treibt.
Warum Nietzsche nur diese beiden Grundbestim-
mungen einführt, ob es hier einen sachlichen Grund
über die suggestive Analogie zum Gegensatz der Ge-
schlechter hinaus gibt, läßt sich vorerst nur allgemein
und vorwegnehmend sagen: es hat mit der »Duplicität«
von Werden und Sein zu tun. Doch um das genauer zu
verstehen, muß man Nietzsche folgen und sich auf seine
weiteren Erörterungen einlassen. Er weiß übrigens, daß
die Phänomene, um die es ihm geht, schwer zu fassen
sind. Deshalb entscheidet er sich für ein vielverspre-
chendes, weil im allgemeinen erfolgreiches Verfahren,
»uns jene beiden Triebe näher zu bringen«: er fragt da-
nach, wie sie erfahren werden, und kommt so zu den
beiden »Kunstwelten des Traumes und des Rausches«
(KSA 1,26; GT 1).
11 Schiller unterscheidet – im zwölften Brief – zwischen dem »Stoff-
trieb« und dem »Formtrieb« des Menschen, die nach den Überlegun-
gen des vierzehnten Briefes im »Spieltrieb« vereinigt werden. Vgl.
Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 604–614.
»Kunstwelten« 69

Warum es diese beiden sind, ergibt sich aus ihrer


näheren Bestimmung. Der Traum erweist sich als das
Urbild der bildenden Kunst: Traumbilder sind die ur-
sprünglichen Bilder; sie entstehen noch ohne handwerk-
liches Tun, und entsprechend kann sich bei ihrer Erzeu-
gung jeder Mensch als »voller Künstler« fühlen (KSA
1,26; GT 1). Zugleich sind sie die ersten Bilder, die wir
als solche erfahren; an ihnen hat man die Betrachtung
von Bildern schon immer gelernt und weiß deshalb auch,
was hier Befriedigung schafft.
Es ist, wie Nietzsche meint, die Konsistenz der
Träume, die in sich schlüssige, fraglose Prägnanz ihrer
Szenen, das Einleuchten selbst noch des Wunderlichen
und Sonderbaren. Denn wunderlich, sonderbar erschei-
nen Träume ja nur, wenn wir sie, nachdem wir aufge-
wacht sind, mit dem Alltagsleben vergleichen. Träumend
hingegen, erscheint uns alles im Traum selbstverständ-
lich. Oder wie Nietzsche es sagt: »Wir geniessen im
unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen
sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Un-
nöthiges« (KSA 1,26; GT 1). Bild ist das unmittelbar
Einleuchtende: das Einheitliche, das all seine Momente
in die einfache Gegenwart einer »Weile« versammelt –
im Bild ist die Bewegung wie angehalten, stillgestellt,
und alles ist auf einmal da. Im Bild und ursprünglich im
Traumbild, jenseits vom alltäglichen Leben, erfährt man,
was Sein für das Leben eigentlich ist.
Aber mögen die Träume, wo sie geträumt werden,
von eigentümlicher Selbstverständlichkeit sein – darauf,
daß Einheitlichkeit, Konsistenz zu ihrem Wesen gehört,
kommt man nicht ohne weiteres; schließlich gibt es auch
Träume, die man träumend als wirr erlebt, abgerissene
Bilderfetzen, wie im Schlaglicht aufleuchtende Szenen,
kaum oder gar nicht verbundene Stationen. Wo Nietz-
70 Zeit und Sein und Kunst

sche die Konsistenz der Träume so entschieden hervor-


hebt, läßt er sich von einer Vormeinung leiten.
Wahrscheinlich hat er an eine Überlegung Schopen-
hauers gedacht, wie er sich überhaupt in der Geburt der
Tragödie und auch später noch oft an Schopenhauer ori-
entiert – doch selten, um ihm einfach zu folgen; meist
greift Nietzsche Gedanken und Motive auf und gibt ih-
nen eine andere, nicht selten überraschende Wendung.
Auch allgemein wird die Pointe seiner Überlegungen oft
erst klar, wenn man den Hintergrund kennt und etwas
als Modifikation oder Replik versteht.
Um die Konsistenz der Träume geht es bei Schopen-
hauer im Zusammenhang der Frage, wie Traum und
Wirklichkeit sich voneinander unterscheiden lassen. Auf
die geringere Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der Träu-
me, meint Schopenhauer, könne man sich dazu nicht
berufen. Denn Traum und waches Erleben seien ja nie
unmittelbar miteinander zu vergleichen; zum Vergleich
habe man den Traum ja bloß in der Erinnerung – da ist
es nicht verwunderlich, wenn er sich gegenüber dem
unmittelbar Gegenwärtigen blasser ausnimmt. Auch sei
es nicht überzeugend, den Traum von der Wirklichkeit
durch seine Inkonsistenz zu unterscheiden, wie Kant es
versucht habe.12 Im Traum hänge »alles Einzelne [. . .] in
allen seinen Gestalten zusammen«; der Bruch liege nur
zwischen den Träumen und der vermeintlichen Wirk-
lichkeit, die freilich auch ein »langer Traum« sein könne
(SW 1,48; WWV 1, § 5).
Wie gesagt, Nietzsches Gedanke, daß Träume in sich
konsistent und schlüssig seien, ist wahrscheinlich hier-
von beeinflußt oder angeregt worden. Und es ist auch

12 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen-


schaft wird auftreten können (1783), § 13, A 66.
»Kunstwelten« 71

durchaus im Sinne Schopenhauers gedacht, wenn er von


den Traumbildern sagt, ihre Prägnanz und Lebendigkeit
sei mit der »durchschimmernden Empfindung ihres
Scheins« verbunden: Im Träumen weiß man, daß man
träumt, und nichts anderes macht seinen eigentümlichen
Reiz aus. Zur Illustration dieses Gedankens wird Scho-
penhauer sogar ausdrücklich genannt: die »Gabe, dass
Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse
Phantome oder Traumbilder vorkommen«, habe er »als
das Kennzeichen philosophischer Befähigung« bezeich-
net (KSA 1,26 f.; GT 1). Das bezieht sich darauf, daß
Schopenhauer die »enge Verwandtschaft zwischen Le-
ben und Traum« als Grundeinsicht des Denkens kenn-
zeichnet und dafür die indische Vorstellung von »Ge-
webe der Maja« ins Spiel bringt (SW 1,49; WWV 1, § 5),
jene Vorstellung also, nach der die Erscheinungen der
Welt wie ein »Schleier des Truges« sind, »welcher die
Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehn
läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch
auch, daß sie nicht sei« und die darin »dem Traume«
gleicht (SW 1,37; WWV 1, § 3).
Doch wäre Schopenhauer nicht auf den Gedanken ge-
kommen, das illusionslose Gewahren des Erscheinungs-
schleiers als die wesentliche Möglichkeit des künstleri-
schen Blicks zu verstehen. Unter dem künstlerischen
Blick wird die Welt für ihn vielmehr zur ungetrübten Ob-
jektivität der Idee: eines Sichzeigens, das nicht mehr
durch die individuelle Form der Erkenntnis getrübt ist –
nicht mehr Gesehenwerden durch jemanden aus einer be-
stimmten Perspektive des Blicks, sondern reine Selbst-
gegenwart. Wie Schopenhauer sagt, ist das so, wenn man
die ganze Macht seines Geistes der Anschauung
hingibt, sich ganz in diese versenkt und das ganze
Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kon-
72 Zeit und Sein und Kunst

templation des gerade gegenwärtigen natürlichen


Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein
Fels, ein Gebäude oder was auch immer; indem
man, nach einer sinnvollen deutschen Redensart,
sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h.
eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und
nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des
Objekts bestehen bleibt; so daß es ist, als ob der
Gegenstand allein dawäre, ohne jemanden, der ihn
wahrnimmt, und man also nicht mehr den An-
schauenden von der Anschauung trennen kann,
sondern beide eines geworden sind, indem das
ganze Bewußtsein von einem einzigen anschauli-
chen Bilde gänzlich erfüllt und eingenommen ist.
(SW 1,257; WWV 1, § 34)
Dann, so faßt Schopenhauer diesen Gedanken zusam-
men, erscheint »nicht mehr das einzelne Ding als sol-
ches; sondern es ist die Idee, die ewige Form« (SW
1,257; WWV 1, § 34). Aber das, gerade das ist, wenn
man Nietzsche folgt, ein Traum und in seiner Scheinhaf-
tigkeit durchschaubar: nicht reines und fragloses Er-
scheinen des Idealen, sondern durchsichtiges Scheinbild;
Erscheinen, das für sich einnehmen kann, aber zugleich
frei läßt, weil es nicht alles sein will. Seine »höhere
Wahrheit«, seine »Vollkommenheit« tritt nur als solche
hervor, weil sie sich von der »lückenhaft verständlichen
Tageswirklichkeit« abhebt (KSA 1,27; GT 1). Sie ist nur
in dieser Abhebung, so daß der Traum, anders als für
Schopenhauer, seine Einheitlichkeit und Kohärenz ge-
rade nicht mit der alltäglichen Welt teilt. Traum und so-
genannte Wirklichkeit sind unterscheidbar. Der Traum
ist eine vom Alltäglichen abgehobene »Kunstwelt«.
Deshalb kann er im Hinblick auch auf die Alltagswelt
»Kunstwelten« 73

orientierend wirken: er gibt die Konsistenz, die dem


Alltag für sich genommen fehlt. Wer träumt, sieht des-
halb, wie Nietzsche sagt, »genau und gern zu: denn aus
diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vor-
gängen übt er sich für das Leben« (KSA 1,27; GT 1); und
deshalb konnte der Traum auch »das symbolische Ana-
logon« all jener Künste werden, »durch die das Leben
möglich und lebenswerth gemacht wird« (KSA 1,27 f.;
GT 1), allen voran der »Dichtung des Lebens«: Sie ist
keine Lebenserfindung, vielmehr Lebensdeutung nach
dem ursprünglich erfahrenen Vorbild des Traums, jener
Verrückung aus dem alltäglichen Leben. Auch zur Le-
bensdeutung bedarf es ja des Abstands; bisweilen muß
man anderswo sein, damit das Leben einheitlich geführt
werden kann, und der Traum ist das ursprüngliche An-
derswo: das Vorbild der »plastischen Kraft«: ausdrück-
lich werdendes Sein jenseits des Seins im Werden, wie es
gelebt werden muß.
Allein von diesem Jenseits her gibt es also Lebensge-
stalt: in sich begrenztes Leben, das seiner gewiß ist, weil
es sein Leben einheitlich führt und sich so auch erfährt.
Deshalb führt Nietzsche auch ganz unbekümmert auf
den Traum zurück, was Schopenhauer auf Zeit und
Raum zurückgeführt hatte: Individuation und Indivi-
dualität. Weil beides nicht ohne Zeit und Raum ist, las-
sen diese sich, wie Schopenhauer denkt, als »principium
individuationis« bestimmen.13 Aber für Nietzsche ist et-
was dieses Bestimmte und Einzelne, weil es sich als sol-
ches erträumt, und nicht, weil es zu dieser Zeit an die-
sem Ort ist.
Bei der Erörterung des principium individuationis
geht Schopenhauer auch einmal auf die Möglichkeit ein,

13 Vgl. SW 1,173; WWV 1, § 23.


74 Zeit und Sein und Kunst

daß die Sicherheit des in sich begrenzten, einzelnen Le-


bens gestört wird – nicht von außen, oder höchstens in-
sofern, als ein Anlaß die latente Unsicherheit des Indivi-
duums ausdrücklich werden läßt. Von einem »unvertilg-
baren und allen Menschen [. . .] gemeinsamen Grausen«
ist hier die Rede, das etwa aufbricht, wo es scheint, »daß
irgendeine Veränderung ohne Ursache vor sich ginge
oder ein Gestorbener wieder da wäre oder sonst irgend-
wie das Vergangene oder das Zukünftige gegenwärtig
oder das Ferne nah« (SW 1,482; WWV 1, § 63) – man er-
innert sich an das Gespensterhafte des wiederkehrenden
Vergangenheitsaugenblicks, von dem in der zweiten Un-
zeitgemäßen Betrachtung die Rede gewesen ist.
Eine Irritation wie diese kann es eigentlich nicht ge-
ben, wenn die in sich begrenzte Lebensgestalt Traum ist
und als solcher wiederum Schein: dann ist die Lebens-
konsistenz ja nie selbstverständlich; denn sie hebt sich
gegen die »lückenhaft verständliche Tageswirklichkeit«
ab – als Vorblick der Lebensintegration, die vom erleb-
ten Leben verschieden ist und niemals unmittelbar ge-
lebt wird, obwohl man doch nach ihr lebt.
Also ist es erstaunlich, wenn Nietzsche die Bemer-
kung Schopenhauers zum »unvertilgbaren und allen
Menschen gemeinsamen Grausen« aufnimmt. Aber dann
fährt er fort:
Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Ver-
zückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbre-
chen des principii individuationis aus dem inner-
sten Grunde des Menschen, ja der Natur empor-
steigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des
Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die
Analogie des Rausches gebracht wird.
(KSA 1,28; GT 1)
»Kunstwelten« 75

Was Nietzsche »hinzunimmt«, macht erst die Pointe


seiner Überlegung aus: wo die in sich begrenzte Lebens-
gestalt in Gefahr kommt, weil das principium individua-
tionis »zerbrochen« wird, ist das von tiefer Zustimmung
getragen; hier schreckt nicht die eigentliche Wahrheit des
Lebens, das unter der Ordnung von Zeit und Raum ver-
schleierte Chaos, sondern man sucht die Erfahrung des
»Dionysischen« und gibt sich ihr mit »wonnevoller Ver-
zückung« hin. Und wenn dabei auch noch ein Grausen
im Spiel ist, so muß das wohl als andauernder Nach-
klang der Individualität gelten, als ein Festhalten an ihr,
weil es doch nur so lustvoll ist, sie aufzugeben – und
lustvoll nur bleibt, wo man sie nicht endgültig verliert
und vernichtet. Der Rausch ist bejahte Entgrenzung:
Durchbrechen der Grenze, die dem Individuum und sei-
nem geordneten Leben gesetzt sind.
Hält man sich an diese beiden Bestimmungen –
Grenze und Entgrenzung – so tritt die Verschiedenheit
von Traum und Rausch klar hervor. Sie sind so verschie-
den wie die sonnige Klarheit Apollons vom nächtlichen
Toben des Festherrn Dionysos, wie die Statik des ihm
zugeordneten Bildes von der Dynamik der »bacchischen
Chöre« (KSA 1,29; GT 1). Und doch geht es in beiden
»Kunstwelten« um dasselbe: um Einheitserfahrung. Die
Bildwelt des Traumes gibt ein Bild des zusammenhän-
genden, nicht bloß lückenhaft verständlichen Lebens;
mit den Entgrenzungen des Rausches löst sich die Ver-
schiedenheit zwischen den Individuen auf, die Fremd-
heit zwischen Mensch und Natur wird überwunden
(KSA 1,29; GT 1) – auch so erfährt man die Einheitlich-
keit von allem, was ist.
Doch beim Apollinischen ist es Einheit auf Abstand,
Einheit, die sich nicht anders als von fern zeigt: Träu-
mend ist man aus den Zusammenhängen des Handelns,
76 Zeit und Sein und Kunst

wie sie im alltäglichen Leben gelten, gelöst – der Traum


ist nicht Leben, sondern reines Zusehen, unmittelbare
Kontemplation – man »sieht genau und gern zu«, um
sich aus den Bildern der Träume das Leben zu deuten
(KSA 1,27; GT 1). Und man bleibt auch zu den betrach-
teten Bildern auf Abstand: wissend, daß es Bilder sind
und nichts weiter – man weiß, daß man träumt. Abstand
ist auch schon die Einzelheit des Existierens; Indivi-
duum, dieser von allem Verschiedene zu sein, heißt auch:
von allem getrennt zu sein. So ist der Traum, wie ihn
Nietzsche versteht, individuelles Geschehen; kollekti-
ve Bildwelten, unausgelebtes Begehren, zu Bildern ver-
schlüsselt, gibt es hier nicht.
Die Einheitserfahrung des Rausches ist vollkommen
anders: radikal abstandslos; sie geschieht, wo man sich
mitnehmen, mitreißen läßt und sich in der Bewegung
verliert – zum Medium von Erfahrungen, vielleicht
bloßen Lebensregungen wird, statt daß man handelt.
Rausch als Manifestation des Dionysischen ist Selbstver-
gessenheit; doch nicht im Sinne einer Betäubung, son-
dern im Sinn des vorbehaltlosen Dabeiseins, das lustvoll
auf jede Abgrenzung verzichtet. Man taucht ins Leben
ein und läßt es geschehen.
Nun dürfte auch klar sein, weshalb Traum und
Rausch »Kunstwelten« sind, Ausnahmewelten, die sich
vom Leben, wie es normalerweise ist, absetzen: Das all-
tägliche Leben ist, verglichen mit ihnen, weniger eindeu-
tig: eine Mischung aus Dabeisein im Handeln und Ab-
standnehmen in Rückzug und Nachdenken; bildorien-
tiert und so auch bildhaft als Deutung, doch immer auch
durch die Verstricktheit in Situationen des Handelns und
Erlebens geprägt. Im alltäglichen Leben sind Vollzugs-
sinn und Betrachtungssinn mannigfach kombiniert, mit-
einander verschränkt, in wechselnden Kombinationen
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 77

einander untergeordnet. In den Kunstwelten sind sie


freigesetzt; nun kann jedes für sich und ausdrücklich er-
fahren werden, so daß sich auch Begriffe für die beiden
Seiten des Lebens finden lassen: Sein und Werden oder
Werden-Vergehen. Was philosophisch so genannt wer-
den mag, entspringt, wie Nietzsche im Tragödien-Buch
zeigen will, aus apollinischer und dionysischer Erfah-
rung. Man versteht das Leben nur, weil man bisweilen
aus ihm verrückt wird und »anderswo« ist.

4. »Vermittelung des menschlichen Künstlers«

Traum und Rausch sind Kunstwelten, keine Kunst. Bis-


her, so eröffnet Nietzsche das zweite Kapitel seines
Buches, seien das Apollinische und das Dionysische
als »künstlerische Mächte« betrachtet worden, »die aus
der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen
Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunst-
triebe zunächst und auf directem Wege befriedigen«
(KSA 1,30; GT 2). Kunstwelten, Kunsttriebe – das sind
die Bereiche und Lebensregungen, in denen Kunst allein
möglich ist. Bevor es die Kunst gibt, muß sie ja möglich
sein; und wo es sie gibt, läßt sich, was sie ermöglichte,
gleichsam rückblickend von ihr aus verstehen und be-
nennen. So können Traum und Rausch »künstlerisch«
genannt werden, ohne daß sie doch Kunst sind.
Ihnen, als den »unmittelbaren Kunstzuständen der
Natur gegenüber ist«, wie Nietzsche betont, »jeder
Künstler ›Nachahmer‹« (KSA 1,30; GT 2), und das be-
stimmt sein kunstphilosophisches Programm: Er wen-
78 Zeit und Sein und Kunst

det sich den Griechen zu, »um zu erkennen, in welchem


Grade und bis zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der
Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in
den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des griechi-
schen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem
aristotelischen Ausdrucke, ›die Nachahmung der Natur‹
tiefer zu verstehn und zu würdigen« (KSA 1,31; GT 2).
Das entscheidende Wort, »Nachahmung«, »Nachah-
mung der Natur« steht hier mit Bedacht in Anführungs-
zeichen, die man wie Warnlichter verstehen darf; kaum
ein anderes Wort hat ja in der Kunsttheorie so viel Kon-
fusion erzeugt; Nachahmung, denkt man oft, sei Imita-
tion: etwas noch einmal und schlechter. Aber das ist irre-
führend, und entsprechend sollte man nicht meinen, daß
ein Künstler das Träumen oder die Entgrenzung des
Rausches imitiert, indem er so tut, als ob er träume oder
berauscht sei.
Aufschlußreicher als die – bei Aristoteles übrigens
nicht belegte – Formel von der »Nachahmung der Natur«
ist deshalb Nietzsches Rede von einer »directen« und
entsprechend auch indirekten Befriedigung der Kunst-
triebe, von ihrer »Vermittelung« durch den menschlichen
Künstler und entsprechend ihrer Unmittelbarkeit. Was
unmittelbar ist, manifestiert sich: es tritt auf und ist ein-
fach da. Dasein durch Vermittlung ist im Unterschied
dazu ermöglichtes Dasein: hier bedarf es eines Mittels, ei-
nes Mediums, damit etwas erscheinen kann. Vermittlung,
vermitteltes Erscheinen – das ist mit »Nachahmung«
eigentlich gemeint. Vermittlung ist das Wesen der Kunst.
Was das genauer heißt, will Nietzsche »an den Grie-
chen« und nicht in allgemeinen kunsttheoretischen Er-
wägungen erörtern, und warum er so denkt, zeigt sich
bald: die griechische Kultur ist für ihn in sich künstle-
risch gewesen, so daß man an ihrer Entstehung begreift,
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 79

was Kunst ist; und, wie man hinzusetzen darf: an der


Kunst, wo sie transparent geworden ist, versteht man
das Wesen der Kultur, wenn die griechische ein Modell
für Kultur im eigentlichen Sinne ist. Kunst und Kultur
gehören zusammen, wenn Kultur vermitteltes Leben ist,
und Kunst immer Kunst der Vermittlung.
Um diesen Gedanken weiter zu entwickeln, sollte
man noch einmal auf den zentralen, schon zu Anfang
des Buches artikulierten Gedanken zurückkommen, daß
die beiden »Triebe« des Apollinischen und des Dionysi-
schen »zumeist im offnen Zwiespalt mit einander« ste-
hen und, »sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
Geburten« reizen, »um in ihnen den Kampf jenes Ge-
gensatzes zu perpetuiren, den das Wort ›Kunst‹ nur
scheinbar überbrückt« (KSA 1,25; GT 1). Das kann erst
jetzt eingelöst werden; zuvor ist ja von der Kunst nicht
eingehend die Rede gewesen. Für sich, als unmittelbare
Kunstwelten genommen, stehen das Apollinische und
das Dionysische unverbunden, gleichgültig nebeneinan-
der; die Erfahrung des Traumes ist nicht auf die des Rau-
sches bezogen. »Kampf«, also den Austrag des Gegen-
satzes, gibt es erst in der Kunst, so daß man die Kunst
geradezu als Kampf bestimmen kann.
Daß Kunst immer Kunst der Vermittlung ist, hat also
nichts mit Ausgleich oder Versöhnung zu tun. Es heißt,
daß sie aus dem Impuls der Entgegensetzung entspringt
und sich von etwas entfernt, das so zum Anderen wird.
Kunst ist zunächst Abstoßung, Reaktion, Überschreiten
eines Lebensbereichs, und das muß sie bleiben, wo sie
ihrem Wesen gerecht werden und sich als Medium einer
Vermittlung setzen will – nur im Abstand gibt es für
die Kunst etwas, das sie vermittelnd vergegenwärtigen
kann. Dabei hat sie, wie man sehen wird, verschiedene
Möglichkeiten, Abstoßung und Vermittlung zu sein. In
80 Zeit und Sein und Kunst

der Kunst ist außerdem das Erstaunliche möglich, das


Andere, von dem sie sich abstößt, noch frei und offen
zur Geltung zu bringen: es weder zu domestizieren noch
unterwürfig zu bestätigen. So und nur so findet das
Leben überhaupt die ihm eigene Balance.
Um das zu zeigen, erzählt Nietzsche eine kurze
Geschichte der griechischen Kultur – nicht mit histori-
schem Anspruch auf die Erhellung des einmalig Gesche-
henen, sondern im Sinne eines Modells: eines maßgeb-
lichen Beispiels. Erzählt wird die Geschichte eines er-
staunlichen Friedensschlusses. Mit ihm ist, wie Nietz-
sche sagt, »der wichtigste Moment in der Geschichte des
griechischen Cultus« gegeben: »wohin man blickt, sind
die Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar« (KSA
1,32; GT 2). Und wenn es Modell ist, wird man hier
lernen können, was Kultur eigentlich ist; wie sie sein
müßte, um bestehen zu können.
Der Konflikt, der dann friedlich gelöst wird, ist mit
der Verbreitung orgiastischer Feste in Griechenland aus-
gelöst worden: einem Toben gegen alle Maße der Zivili-
sation, das Nietzsche als »abscheuliche [. . .] Mischung
von Wollust und Grausamkeit« (KSA 1,32; GT 2) cha-
rakterisiert. Dem habe sich die herrschende Kultur nicht
länger widersetzen können, und deshalb sei es schließ-
lich darum gegangen, »dem gewaltigen Gegner durch
eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die
vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen« (KSA
1,32; GT 2).
Nietzsche versteht diesen Konflikt als ersten Austrag
des Gegensatzes zwischen dem Dionysischen und dem
Apollinischen. Demnach ist die griechische Kultur für
ihn zunächst apollinisch gewesen, doch war sie zunächst
kaum das, was später unter diesem Namen entfaltet
wird. Von einem »fortgesetzten Kriegslager« ist die
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 81

Rede; eine »trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlos-


sene Kunst« sei das Gestalten dieser Kultur gewesen,
recht passend zu einer kriegsgemäßen und herben Erzie-
hung, einem grausamen und rücksichtslosen Staatswesen
(KSA 1,41; GT 4). Und obwohl Nietzsche das für die
Zivilisation bedrohliche orgiastische Toben als »diony-
sisch« bezeichnet, ist auch damit nicht das Spätere, noch
nicht einmal etwas spezifisch Griechisches gemeint. Nur
im Hinblick auf den gelungenen Friedensschluß läßt sich
deshalb auch die »ungeheure Kluft« aufdecken, »welche
die dionysischen Griechen von den dionysischen Barba-
ren trennt« (KSA 1,31; GT 2).
Kurz und vorwegnehmend gesagt, entsteht die Kluft
dadurch, daß die Griechen sich dem orgiastischen Trei-
ben weder auslieferten noch es zu unterdrücken suchten.
Sie machten eine Kunstform daraus; erst bei ihnen wird
das Dionysische zu einem »künstlerischen Phänomen«
(KSA 1,33; GT 2). So bekommt es Gestalt und läßt sich
im begrenzten Rahmen ausdrücklich erfahren. Das ist
nur möglich gewesen, weil das Sich-Mitreißenlassen
vom Leben jetzt im Rahmen der Zivilisation, unter ihren
Bedingungen geschieht. Es ist vermittelte Unmittelbar-
keit geworden: als sich abstoßende Reaktion auf die For-
men zivilisatorischen Lebens, die braucht, wovon sie
sich abstößt.
Vermittelte Unmittelbarkeit ist ein höchst eigenarti-
ges, man könnte sogar meinen: paradoxes Phänomen:
ein Lebensvollzug, der seine Unbekümmertheit verloren
hat, nicht mehr einfach und dabei in sich ist, vielmehr
gebunden an etwas ihm Fremdes und darin gebrochen;
gehindert am einfachen So-sein und doch als Lebens-
vollzug möglich, weil die Gebrochenheit nicht lähmt
und das Sich-Mitnehmenlassen vom Lebensgeschehen
nicht immer wieder unterbricht, um die Aufmerksam-
82 Zeit und Sein und Kunst

keit auf das Andere zu zwingen wie auf einen Bewacher.


Auch die vermittelte Unmittelbarkeit kann Unmittel-
barkeit sein – und andererseits bleibt sie doch immer auf
das Andere bezogen; das Andere wird kein Moment im
Lebensgeschehen, so daß dieses nun wieder in sich sein
könnte – durch die Vermittlung hindurchgegangen und
jetzt wieder neue, am Ende reichere Unmittelbarkeit,
wie es im Sinne von Hegels Dialektik zu denken wäre.
Vermittelte Unmittelbarkeit bleibt etwas Ambivalentes:
gebrochen und unbekümmert zumal – so, daß die Bre-
chung gleichbedeutend mit einem Herausheben oder
Absondern ist: das Lebensgeschehen findet gleichsam
neben dem Leben statt, man weiß, daß dies hier nicht
einfach das Leben ist, sondern etwas Begrenztes und
Domestiziertes. Und dennoch ist es Leben, so daß man
sich auch hier von der Lebensbewegtheit mitnehmen
lassen kann und das vielleicht sogar noch mehr genießt,
weil es nicht einfachhin, sondern unter besonderen Be-
dingungen geschieht.
Nietzsche beschreibt diesen Zusammenhang, indem er
zunächst auf »die wundersame Mischung und Doppel-
heit in den Affecten der dionysischen Schwärmer« auf-
merksam macht – auf »jene Erscheinung, dass Schmer-
zen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle
Töne entreisst«. Das ist für ihn einerseits ferner Nach-
klang des orgiastischen Ineinanders von »Wollust und
Grausamkeit«; doch andererseits und vor allem ist es
Ausdruck einer Freude im Verlust – oder eines Schmer-
zes, der eingenommen ist von der Möglichkeit, das Ver-
lorene jetzt in anderer Form zu erfahren: »In jenen grie-
chischen Festen«, sagt Nietzsche dazu, »bricht gleichsam
ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie
über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe«
(KSA 1,33; GT 2). »Sentimentalisch« – das Wort ist hier
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 83

Schlüssel; um zu verstehen, was gemeint ist, muß man es


klären.
Nietzsche nimmt mit ihm einen Begriff auf, den Schil-
ler in seiner Abhandlung Über naive und sentimentali-
sche Dichtung (1795) eingeführt hatte. Der Ausdruck ist
eine Abwandlung des im achtzehnten Jahrhundert üb-
lich gewordenen, aber auch schon abgenutzten Wortes
»sentimental«, das wiederum eine deutsche Form des
französischen und englischen »sentimental« ist; die deut-
sche Übersetzung von »sentimental« ist »empfindsam«.
»Sentimentalisch« meint nun bei Schiller – wie übrigens
schon »sentimental« bei Lawrence Sterne, durch dessen
A sentimental journey through France and Italy (1768)
der Ausdruck populär geworden war – ein gebrochenes
Empfinden. Der sentimentalische Dichter, so heißt es bei
Schiller, »reflektiert über den Eindruck, den die Gegen-
stände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die
Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und
uns versetzt.« Und Schiller fährt fort:
Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen,
und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichteri-
sche Kraft. Der sentimentalische Dichter hat es da-
her immer mit zwei streitenden Vorstellungen und
Empfindungen, mit der Wirklichkeit als der Grenze
und mit seiner Idee als dem Unendlichen zu tun,
und das gemischte Gefühl, das er erregt, wird immer
von dieser doppelten Quelle zeugen.14
Fügt man jetzt noch hinzu, daß Schiller als Grundfor-
men der sentimentalischen Dichtung die Satire und die
Elegie ansieht, so ist die Anknüpfung Nietzsches an
diese Überlegungen dunkel genug. Elegie und Satire –

14 Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 720–721.


84 Zeit und Sein und Kunst

was hat das außer dem Namen des Satyrs mit dionysi-
schen Festen gemein?
Andererseits ist es bei näherem Hinsehen möglich, die
von Nietzsche beschriebene Struktur der dionysischen
Erfahrung unter den Bedingungen der Zivilisation in
Schillers Charakterisierungen wiederzufinden; und auch
hier, wie im Hinblick auf Schopenhauer, fällt auf, wie
Nietzsche ganz unbekümmert seine Vorlage umdeutet:
Daß die Natur, die im Dionysischen erfahren wird, bloß
gebrochen erscheint, so daß man es mit »zwei streiten-
den Empfindungen« zu tun hat, heißt für Nietzsche ge-
rade nicht, sie sei zur »Idee« geworden. Es geht nicht
um die bloße Vorstellung von etwas Verlorenem, das
sich nicht mehr erfahren läßt, sondern um die vermit-
telte Unmittelbarkeit des dionysischen Erlebens. Es ist
zur Kunst, zu Musik geworden, wobei Nietzsche an die
Form dithyrambischer Chorlyrik denkt; an Vollzugs-
kunst auf jeden Fall, die in ihrem Vollzug so distanzlos
ist, wie es das dionysische Erleben in seiner schlichten
Unmittelbarkeit gewesen war, und trotzdem nicht ein-
fach Leben, sondern eben vermittelte Unmittelbarkeit,
oder wie man auch sagen kann: Darstellung.
Nun versucht Nietzsche, diesen Darstellungscharakter
der dionysischen Kunst genauer zu fassen, und führt
dazu den Begriff des Symbols ein:
Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur
höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fä-
higkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt
sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers
der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja
der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur sym-
bolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist
nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 85

nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des


Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch
bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die ande-
ren symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhyth-
mik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm.
Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen
Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener
Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die
in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will:
der dithyrambische Dionysusdiener wird somit
nur von Seinesgleichen verstanden!
(KSA 1,33 f.; GT 2)
Das läßt sich mit Hilfe einer Bestimmung aus Schel-
lings Philosophie der Kunst interpretieren, wo vom Sym-
bolischen als einer »Darstellung mit völliger Indiffe-
renz«15 die Rede ist. Im Symbol ist, was zur Geltung
kommen soll, ganz und gar präsent; es ist da und wird
nicht bloß »gemeint« oder »angezeigt«. Trotzdem hat
man es mit keiner schlichten Präsenz zu tun, in der et-
was einfachhin da ist – unmittelbar es selbst und nur das.
Symbolik ist »Darstellung«, nur eben von der Art, daß
in ihr die Verschiedenheit des Darstellenden vom Darge-
stellten keine Rolle spielt. Und genau in diesem Sinne
versteht Nietzsche die dionysische Kunst, wenn er von
einer »Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte«,
von der »Höhe der Selbstentäusserung« spricht: Hier
geschieht das gleiche Sich-Mitnehmenlassen wie im ein-
fachen Erleben, doch nun im Medium der Kunst, in
Tanz und Musik, und nicht im Taumel ausschweifenden
Lebens.
Vielleicht wird man die Formulierung von der »Dar-
stellung mit völliger Indifferenz« trotzdem noch irritie-
15 Schelling, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, S. 239.
86 Zeit und Sein und Kunst

rend finden können: Darstellung ist nun einmal durch


Differenz bestimmt, so daß »völlige Indifferenz« nur
dem zuzukommen scheint, was einfach nur da ist. Aber
es gibt ein Phänomen, auf das Schellings Formulierung
und Nietzsches Beschreibung genau passen: das Phäno-
men des Ausdrucks. So kann in den Zügen und im Mie-
nenspiel eines Menschen seine Wesensart, seine Lebens-
weise erscheinen, ohne daß man sagen würde, es werde
darauf nur verwiesen, oder wie jemand sei, werde bloß
angezeigt. Vielmehr ist seine Wesensart und Lebens-
weise unmittelbar gegenwärtig: Weltoffenheit oder Bor-
niertheit, Weite und Enge, Entschiedenheit oder Passivi-
tät – all das und alles dergleichen ist in Zügen und Mie-
nenspiel, in Gesten und Redeweise einfach da, ohne mit
diesen Formen identisch zu sein. Niemand drückt Stim-
mungen und Gefühle aus, ohne sie zu empfinden; an-
dernfalls hat man es nicht mit Ausdruck, sondern mit
einem Nachmachen oder Vorspiegeln zu tun. Ausdruck
ist also Darstellungsform, sofern auch hier die für alle
Darstellungen wesentliche Differenz von Darstellendem
und Dargestelltem gilt – in der Kunst, wo der Ausdruck
ja nicht unwillkürlich ist, sondern gestaltet wird, tritt
das noch deutlicher hervor. Dennoch ist die Darstellung
insofern »mit völliger Indifferenz«, als sie trotz der Ver-
schiedenheit ihrer beiden Momente das Dargestellte
ganz da sein läßt.
Das läßt sich noch unter einem zweiten Aspekt be-
trachten, und dieser ist für Nietzsches Konzeption der
dionysischen Kunst von besonderem Interesse. Wenn
Stimmungen und Gefühle nur zum Ausdruck kommen,
wo sie empfunden werden, dann, so läßt sich vermuten,
sind sie wenigstens manchmal auch dadurch zu wecken,
daß man sie ausdrückt. Man läßt sich dann von der Aus-
drucksform mitnehmen und gerät so in eine Stimmung,
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 87

ein Lebensgefühl hinein. Denn Ausdrucksform ist ja


Vollzugsform: man kommt nicht umhin, geschehen zu
lassen, was der Form ihren Sinn gibt. Sonst wird die Be-
wegung kein Ausdruck und bleibt hölzern, verzwungen,
ein ungeschickter Versuch. Das liegt an der eigentümli-
chen Distanzlosigkeit der von Nietzsche so genannten
»leiblichen Symbolik«: In der Bewegung findet man um
so schwerer Abstand zu sich, je vollkommener man in
der Bewegung ist.
So läßt sich verständlich machen, wieso dionysische
Kunst vermittelte Unmittelbarkeit ist: Erfahren des Mit-
genommenseins, der »Selbstentäusserung«, wie Nietz-
sche es nennt, und doch ermöglicht durch die Aus-
drucksformen des Tanzes und der Musik, in denen man
zum Ausdruck, oder wie es im gleichen Sinn heißt: zum
»Kunstwerk« wird (KSA 1,30; GT 1). Und hier mag
dann auch jener »sentimentalische Zug« der dionysi-
schen Kunst entspringen, jene Gebrochenheit, durch
welche sie überhaupt Kunst ist: derart, daß in ihr die
Ahnung einer Unmittelbarkeit spielt, die nicht gesucht
und inszeniert werden müßte.
Um Kunst zu werden, müßte das Apollinische von
vergleichbarer Gebrochenheit sein, und es scheint nicht
schwer, dafür ein Anzeichen zu finden: Schon die unmit-
telbare Erfahrung des Traumes, bei der man die Bilder
als solche durchschaut, unterscheidet sich ja vom norma-
len Lebensgeschehen. Doch sind Träume noch keine
Werke der Kunst. Bei ihnen fehlt das ausdrückliche Her-
ausheben und Abstoßen, das Grundzug aller Kunst als
vermittelter Unmittelbarkeit ist; Kunst ist Leben, das
nicht einfach Leben sein will – das müßte auch im apolli-
nischen Erfahren zur Geltung kommen.
Um so erstaunlicher könnte man finden, daß Nietz-
sche auch Schillers Gegenbegriff zum Sentimentalischen
88 Zeit und Sein und Kunst

aufnimmt und die apollinische Kunst als »naiv« bezeich-


net. Doch »naiv« ist bei Schiller kein Ausdruck schlich-
ter Unmittelbarkeit. Wie beim Sentimentalischen hat
man es auch beim Naiven mit einem »gemischten Ge-
fühl« zu tun: Es entspringt aus dem Widerspruch zwi-
schen einer noch ungetrübten Idealvorstellung und der
Erfahrung, daß Ideale nie vollkommen erreichbar sind.
Das Naive verbindet, wie Schiller es ausdrückt,
die kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die
letztere gibt es dem Verstand eine Blöße und be-
wirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsre (theoreti-
sche) Überlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir
aber Ursache haben, zu glauben, daß die kindische
Einfalt zugleich eine kindliche sei, daß folglich
nicht Unverstand, nicht Unvermögen, sondern eine
höhere (praktische) Stärke, ein Herz voll Unschuld
und Wahrheit, eine Quelle davon sei [. . .], so ist je-
ner Triumph des Verstandes vorbei, und der Spott
über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der
Einfachheit über.16
Ähnlich hatte übrigens schon Kant die Naivität erläu-
tert. Wie es bei Kant heißt, lacht man »über die Einfalt,
die es noch nicht versteht, sich zu verstellen, und erfreut
sich doch auch über die Einfalt der Natur, die jener
Kunst hier einen Querstrich spielt« (KU, B 229 / A 226;
§ 54). Das Naive, so lassen diese Überlegungen sich zu-
sammenfassen, ist die Unmittelbarkeit, wie sie aus der
Perspektive ihres Verlustes gesehen wird; man erfährt
sich nicht als naiv, sondern wird höchstens so erfahren.
Demnach kann auch die apollinische Kunst als naiv
immer nur von außen erscheinen. Der Betrachter weiß

16 Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 697.


»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 89

mehr, als die Bilder von sich aus zeigen wollen. So ist
dem Betrachter, wie Nietzsche sagt, klar, daß die apol-
linische Kunst »immer erst ein Titanenreich zu stür-
zen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräfti-
ge Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über
eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbar-
ste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss« (KSA
1,37; GT 3). Natürlich ist hier die Erfahrung des souve-
ränen Werdens und Vergehens gemeint, vor allem die
des Vergehens. Was durch die apollinische Kunst besiegt
wird, illustriert Nietzsche dann an jener Geschichte vom
gefangenen Silen, aus der man seine eigene Grunderfah-
rung herauslesen konnte.
Apollinische Kunst ist, so betrachtet, Vergessen – des-
halb kann sie auch für jemanden, der das Vergessene
kennt, naiv sein. Aber sie ist ein Vergessen besonderer
Art, jener Art, wie sie schon in der »Dichtung des Le-
bens« begegnete: Das Leben gerät nicht einfach aus dem
Blick, sondern wird in bestimmtem Licht, in bestimm-
ter Einfärbung gesehen: Wenn der apollinische Künstler
seine Bilderwelt wie einen Traum durchschaue und »wei-
ter träumen« wolle, müsse er, wie Nietzsche sagt, »den
Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig verges-
sen haben« (KSA 1,38; GT 4). Hier kommt es auf die
»Zudringlichkeit« des Tages an – sie, nicht der Tag als sol-
cher und damit der Gegensatz von Tag und Traum ist ver-
gessen. Im Gegenteil entspringt mit der »inneren Lust am
Schauen« die beglückende Erfahrung, daß die Vergeblich-
keit des Lebens nicht mehr berührt; der Schmerz der Ver-
gänglichkeit ist »vergessen« und scheint überwunden,
nicht diese selbst. Die apollinische Kunst braucht das,
wovon sie sich abstößt, damit sie als Schein um so klarer
hervortreten kann.
Nietzsche erläutert und veranschaulicht diesen Ge-
90 Zeit und Sein und Kunst

danken in der beschreibenden Deutung eines Gemäldes


von Raffael: Transfiguration. Mit der Wahl dieses Bei-
spiels ist, bei aller Orientierung an der griechischen
Kunst, noch einmal darauf hingewiesen, daß die Rede
vom Apollinischen und Dionysischen nicht historisch
zu verstehen ist, sondern im Sinne einer allgemeinen
Konzeption der Kunst. Außerdem ist das Gemälde, wie
Nietzsche es sieht, apollinisches Kunstwerk par excel-
lence: Raffael, einer »jener unsterblichen ›Naiven‹«, habe
»in einem gleichnissartigen Gemälde [. . .] den Urpro-
zess des naiven Künstlers und zugleich der apollinischen
Cultur« dargestellt (KSA 1,39; GT 4).
Die Szene mit dem epileptischen Knaben in der unte-
ren Hälfte des Bildes ist, wie Nietzsche sagt, »Wider-
schein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge«
(KSA 1,39; GT 4). Sie ist bildliche Darstellung des sich
im Werden und Vergehen selbst widersprechenden Le-
bens, sofern sie Darstellung des Schmerzes ist. Hier er-
scheint die Entgrenzung und Auflösung des Lebens als
Leiden und Krankheit, der Zusammenbruch der Selbst-
kontrolle als Vergehen der Individualität.
Mit der Verklärung Christi in der oberen Hälfte des
Bildes steige nun »aus diesem Schein [. . .] eine visions-
gleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im er-
sten Schein Befangenen nichts sehen – ein leuchten-
des Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem,
aus weiten Augen strahlenden Anschauen« (KSA 1,39;
GT 4). Mit dieser »Scheinwelt« feiert die Bildkunst sich
selbst.
Dazu aber mußte auch das unverklärte Leben ins Bild
gesetzt werden. Wir sehen, wie Nietzsche sagt, die
»apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die
schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und
begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Nothwen-
Raffael: Die Verklärung Christi
um 1518 (Rom, Pinacoteca Vaticana)
92 Zeit und Sein und Kunst

digkeit« (KSA 1,39; GT 4). Das Leben bedarf der Ver-


klärung, und Verklärung ist Kunst nur in Abstoßung
vom Leben.
Doch ist der Streit von Kunst und Leben hier ein
Streit in der Kunst. Das Kunstwerk vergegenwärtigt,
wovon es sich abhebt. Die apollinische Kunst nimmt das
ihr gegenüber Andere in sich hinein und gestaltet es
nach ihren Gesetzen, wobei die Gestaltung selbst nur
durch den Abstoß vom Leben entspringt. Das Werk ist
einer Gegenbewegung entsprungen, die es in sich ab-
fängt, zur Ruhe kommen läßt und gestaltet.
Nietzsche macht diese beiden Aspekte kenntlich, in-
dem er den für die apollinische Kunst zentralen Begriff
des Scheines differenziert: Im Hinblick auf die Darstel-
lung des schmerzgezeichneten, sich entgrenzenden Le-
bens spricht er von »Widerschein«, im Hinblick auf die
Verklärung von einer »visionsgleichen Scheinwelt«. Ein
Widerschein ist eine Abspiegelung – kein unmittelbares
Leuchten, sondern Reflex. Hier drückt sich das Leben
unter bildlichen Bedingungen aus; was für sich genom-
men dionysischer Ausdruck wäre, erscheint ganz und
gar in apollinischer Präsenz. Die »Scheinwelt« dagegen
ist »visionsgleich«, einem Traumgesicht ähnlich und da-
mit rein bildhaft, in sich geschlossen, abgehoben vom
Leben. Sie ist die reine Artikulation der apollinischen
Kunstwelt.
Raffaels Gemälde ist beides – Scheinwelt und Wider-
schein: Auch die Szene im unteren Teil ist integriert in
die Bildform; und die Verklärung Christi ist Moment
der Abhebung vom Leben, die das Bild als Ganzes ist.
Doch sind die beiden Formen des Scheins nicht von glei-
cher Bedeutung: Indem das Gemälde auch das sich wi-
dersprechende Leben in die Scheinwelt integriert, nimmt
es den Widerschein in sich auf; er ist zur Bildform ge-
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 93

worden und verbirgt sich so in der Bildform. Und so ist


die Bildform nicht bloß Schein als Erscheinung, sondern
auch Schein im Sinne des Trugs: sie verbirgt ihr eigenes
Ausdrucksmoment und damit ihr Entspringen aus dem
Leben.
Aber der Trug ist durchschaubar, weil das Verdecken
im Zeigen geschieht: Als Erscheinung zeigt das Bild so
noch, was in seiner Konzeption Widerschein gewesen
ist. Raffaels Gemälde verleugnet das Ausdrucksmoment
des Widerscheins nicht, sondern trägt den Unterschied
von Widerschein und Scheinwelt aus, indem es das un-
verklärte Leben verklärt zur Erscheinung bringt. Das
Bild ist, »in höchster Kunstsymbolik«, was es zeigt: Ver-
klärung, Transfiguration – ein Transfigurieren, das in
sich doppelte Vermittlung ist: Vermittlung des Lebens
zum Widerschein und dessen Vermittlung in die Bild-
form zur Scheinwelt.
Also muß man festhalten, daß apollinische Kunst we-
sentlich vermittelnd, nicht vermittelt ist; deshalb finden
sich nur Spuren des Ausdrucks in ihr, und wesentlich ist
sie Gestaltung: Bildung einer Form, in der etwas er-
scheint und zugleich nur scheinbar, das heißt: indirekt
und nach Maßgabe der Form da ist. Deshalb kann die
apollinische Kunst »naiv« sein: Wo sie in sich transfigu-
riert und verklärt hat, was ihr gegenüber das Andere ist,
kann sie die Irritation durch das Andere vergessen ma-
chen. Jetzt kann es bloß noch das Andere im Zusam-
menhang der immer schon vollzogenen Verklärung sein
– bezaubert vom Charme und von der Beschränktheit
des Naiven.
Weil die apollinische Kunst vermittelnd ist, konnte sie
zum Ursprung der dionysischen werden. Dionysische
Kunst entspringt ja nicht aus dem Leben unmittelbar,
sondern erst unter den Bedingungen apollinisch gepräg-
94 Zeit und Sein und Kunst

ter Zivilisation. So ist sie vermittelt, »sentimentalisch«;


sie hat das Vermitteln von der apollinischen Kunst, also
von einem ihr Anderen, gelernt und kann es durch-
schauen, weil sie ihm immer auch fremd bleibt. Das heißt
aber nicht, dionysische Kunst sei nichts weiter als eine
Modifikation der – apollinischen – Bedingungen, unter
denen sie entspringt. Im Gegenteil ist sie eine unredu-
zierbare Kunstform; in ihr wird aufgenommen, was in
der apollinischen Kunst marginal blieb, und zur Kunst
ausgebildet: aus apollinischen Ansätzen bildet sich im
dionysischen Erfahren die Musik als Ausdruckskunst.
Um zu verstehen, wie das möglich ist, sollte man
einerseits an das gestische Moment der Bildkunst, etwa
den Vorgang des Malens, denken und andererseits die
Bildkunst nicht zu eng fassen. Für Nietzsche ist diese
auch im Medium des Wortes möglich: so kommt im
Epos eine Welt derart zur Sprache, daß dies an die Ge-
schlossenheit des Traumes gemahnt. Homer, bemerkt
Nietzsche einmal, sei ein träumender Grieche (KSA
1,31; GT 2); er ist ein Dichter, der die Bilderfahrung des
Traumes in die wache Sprache des Tages vermittelt. Das
aber geschieht im Rhythmus der Sprache; er ist die
einzige Regung eines Geschehens in der apollinischen
Kunst und bleibt als solcher fast unkenntlich, weil seine
»bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zu-
stände entwickelt wurde« (KSA 1,33; GT 2). Was im
apollinischen Epos nur »Wellenschlag des Rhythmus«
ist, wird dann auf dionysische Weise freigesetzt: als Mu-
sik, die erst diesen Namen verdient; erst hier gibt es »die
erschütternde Gewalt des Tones«, erst hier fließt »der
einheitliche Strom des Melos«, und so öffnet sich »die
durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie« (KSA
1,33; GT 2).
Sobald sich die dionysische Kunst derart entwickelt
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 95

hat, kann sie selbst auch vermittelnd werden: sie kann


aufnehmen, was ihr gegenüber das Andere ist und auf
ihre Weise darstellen. Das geschieht im Gesang, der ur-
sprünglichen Lyrik, wo die Musik das Begrenzte, in sich
Geschlossene und Individuelle in sich aufnimmt und so
in ein Verhältnis zur Bildform tritt. Lyrik ist in ihrem
Wesen Musik, der Lyriker ein dionysischer Künstler, der
ein tönendes »Abbild« des Lebens hervorbringt – »eine
Wiederholung« der bewegten Welt, wie Nietzsche es
ausdrückt. Diese erzeugt nun aber »eine zweite Spiege-
lung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel«: das zu
Vorstellungsbild und Gestalt gebildete Wort. So wird die
Musik dem Künstler »wie in einem gleichnissartigen
Traumgebilde« sichtbar (KSA 1,44; GT 5). Lyrik ist bei-
des: »bild- und begriffsloser Wiederschein« des diony-
sisch erfahrenen Lebens und Bild, wobei das Bild aus
der Musik freigesetzt wird und sie zugleich auch spie-
gelt: Kein lyrisches Bild steht für sich, sondern wird nur
aus dem Tönen und Fließen der Sprache verstanden und
ist zugleich dessen Bild: seine Erscheinung, die nicht ver-
klärend verbirgt, sondern bildhafte Gestaltung des Aus-
drucks ist – Freisetzung apollinischer Präsenz aus dio-
nysischem Kunstgeschehen.
Im Grunde ist damit auch schon das Entscheidende
zur Tragödie und ihrer »Geburt« gesagt: Nietzsche ver-
steht die Tragödie als theatralisch entwickelte Lyrik; als
Kunstform, die aus dem Chor hervorgeht und Dialog
und Handlung als Bilder, als »Visionen« des Chorge-
schehens entwickelt. Unter der Tragödie haben wir, wie
Nietzsche es selbst sagt, »den dionysischen Chor zu ver-
stehen, der sich immer von neuem wieder in einer apol-
linischen Bilderwelt entladet. Jene Chorpartien, mit
denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewisser-
massen der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dia-
96 Zeit und Sein und Kunst

logs d. h. der gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen


Dramas.« (KSA 1,62; GT 8)
Diese Formulierung ist aufschlußreich für den Ver-
gleich der dionysischen Kunst mit der apollinischen:
Daß die für sich realisierte apollinische Bildform der
»Mutterschooss« jener Lebensentgrenzungen sei, die sie
in sich darstellt, hätte Nietzsche nicht sagen können. Im
Gegenteil, sie setzt sich von ihnen ab und bringt sie zur
Darstellung, um sich selbst als Transfiguration kund-
zugeben. So kommt das Leben als Geschehen und Voll-
zug in der Bildkunst nur mittelbar vor; wo die apolli-
nische Kunst sich in Bildwerken artikuliert und nicht,
wie im Epos, Vollzugskunst ist, bleibt die Bewegtheit
des Lebens für sie unwesentlich: alles kommt auf die ge-
sammelte Präsenz des Bildhaften an. Auch wo in der
Kunst dieses Jahrhunderts versucht wurde, die Bild-
kunst der Malerei zu einer Vollzugskunst zu machen –
Action Painting war ein Name dafür – bleibt vom leib-
lichen Dasein des Künstlers, von seiner Ausdrucksbewe-
gung am Ende nichts als die ins Gebilde vermittelte
Spur. Apollinische Kunst ist darin vermittelte Unmittel-
barkeit, daß sie unmittelbar Bild ist – in und durch sich
selber vermittelt.
Demgegenüber ist die dionysische Kunst bei aller Ver-
mittlung unmittelbares Geschehen; sie ist gestisch be-
wegt, lebendiger Ausdruck und damit Leben. Das läßt
sie im Vergleich mit der apollinischen Kunst vorrangig
sein, und entsprechend gehört es für Nietzsche zum We-
sen der Tragödie, daß sie »als Ganzes eine Wirkung« er-
reicht, »die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen
liegt« (KSA 1,139; GT 21). So einnehmend sie auch sein
mögen – die evozierten Bilder ruhen hier nicht selig in
sich, sondern bleiben in das Geschehen ihrer Freisetzung
gebunden. Die Lust, sich von diesem mitnehmen zu las-
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 97

sen, widerstreitet der ruhigen Kontemplation und läßt


erfahren, daß die Kunst aus dem Leben entspringt und
gebildet wird. »Die hellste Deutlichkeit des Bildes«, sagt
Nietzsche, genüge hier nicht; und zur Erläuterung fügt
er hinzu, das Bild scheine »eben sowohl Etwas zu offen-
baren als zu verhüllen«; es fordere »mit seiner gleich-
nissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers,
zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes
auf«, und doch halte andererseits »jene durchleuchtende
Allsichtbarkeit das Auge gebannt« und wehre ihm, »tie-
fer zu dringen« (KSA 1,150; GT 24). So bestehe das Er-
lebnis der »wahrhaft aesthetischen Zuschauer« (KSA
1,151; GT 24) darin, »zugleich schauen zu müssen und
zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen« (KSA
1,150; GT 24). Der wahrhaft ästhetische Zuschauer
»theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle Lust
am Schein und am Schauen und zugleich verneint er diese
Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der Ver-
nichtung der sichtbaren Scheinwelt« (KSA 1,151; GT 24).
Was hier beschrieben wird, ist die ebenso intensive
wie klare Erfahrung des Scheins: es gehört zu ihm, daß
er verspricht und nie vollständig erfüllt, daß er bindet
und zugleich nicht wirklich zu binden vermag. Jedes
Kunstwerk nimmt in Anspruch und muß doch wieder
freilassen, weil es zu seiner Erfahrung gehört, daß sie
auch anders zu machen ist: mit anderen Werken. Daß es
nicht bloß ein Kunstwerk gibt, daß ein Künstler nicht
bloß ein Werk schafft, gehört zum Wesen der Kunst.
Kunst ist Werk, aber mehr noch Erwirken, und das, so
glaubt Nietzsche, komme im Drama zur Geltung.
Dann aber realisiert das Drama die äußerste Möglich-
keit der Kunst: Es wird zum Lebensausdruck schlecht-
hin und zur Weltdarstellung. In ihm manifestiert sich
der Streit zwischen Werden-Vergehen und den Gestalten
98 Zeit und Sein und Kunst

des Seins, »das spielende Aufbauen und Zertrümmern


der Individualwelt«, und damit eine Erfahrung, um die
es auch geht, »wenn von Heraklit dem Dunklen die
weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das
spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen auf-
baut und wieder einwirft« (KSA 1,153; GT 24).
Das bei Diels/Kranz als B 52 gezählte Heraklit-Frag-
ment, um das es hier geht, ist von Nietzsche recht frei
wiedergegeben und phantasievoll erweitert.17 Vom Spiel
im Sandkasten ist bei Heraklit nicht die Rede, sondern
vom Aion, der ein spielendes, bei einem Brettspiel die
Steine setzendes Kind sei. »Aion« mag dabei als »Le-
ben«, auch als »Lebenskraft« übersetzt werden, so daß
Nietzsche hier das Entscheidende träfe. Etwas anders
verhält es sich mit seiner Auffassung des Spieles: Bei
Heraklit hat man wohl eher an ein strategisches Spiel
zu denken, so daß die »weltbildende Kraft« hier als
eine planende, um Durchsetzung bemühte erscheinen
könnte, selbst wenn sie als Kind bezeichnet wird; das
läßt sowohl an Unerfahrenheit wie an noch offene
Möglichkeiten denken – die weltbildende Kraft ist noch
jung.
Bei Nietzsche hingegen wird der Satz zu einem Künst-
lerporträt: zur Darstellung einer »plastischen Kraft«, die
sich mit dem einmal Zustandegebrachten nicht begnü-
gen will, sondern zerstört, um aufs neue bilden zu kön-
nen – auf das Bilden, nicht auf die Bilder kommt es an.
So gelesen entspricht der Satz jenem Grundsatz Ana-
ximanders über das souveräne Werden, nach dem alles
Buße zahlen muß und für seine Ungerechtigkeit gerich-
17 Ausführlich zu dieser Problematik: Wohlfart (1991); zu diesem Buch
und anderen im Literaturverzeichnis genannten Forschungsbeiträgen
vgl. Figal (1993). Aufschlußreich zur Metapher des Spiels ist Fink
(1986).
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 99

tet wird nach der Ordnung der Zeit.18 Doch er entspricht


ihm widersprechend und umdeutend: als »Rechtferti-
gung des Werdens« (KSA 1,822; PHG 5), als der »meta-
physische Trost«, mit dem uns, wie Nietzsche sagt, »jede
wahre Tragödie entlässt«. Im Tragischen liegt die Ein-
sicht, »dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem
Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und
lustvoll sei« (KSA 1,56; GT 7). Im Tragischen gehört die
Erfahrung des Schrecklichen mit der Bejahung des Le-
bens zusammen.
Was all dies genauer heißen soll, hat Nietzsche in der
Schrift zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen (1873) ausgeführt. Hier skizziert er in kraftvollen
Strichen die Heraklitische Kosmologie: die Umbildun-
gen des ewigen Feuers als der kosmischen Lebenskraft
in verschiedene Elemente und Gestalten und nennt dies
»ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören
ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Un-
schuld«; derart sei »in dieser Welt allein das Spiel des
Künstlers und des Kindes« (KSA 1,830; PHG 7). Und
zur Erläuterung heißt es dann noch:
Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwa-
chende Spieltrieb ruft andere Welten ins Leben.
Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber
fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald
es aber baut, knüpft und fügt und formt es gesetz-
mäßig und nach inneren Ordnungen.
So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an,
der an dem Künstler und an dem Entstehen des
Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit
doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der
Künstler beschaulich über und wirkend in dem
18 Anaximander, Fragment B 1; Diels/Kranz I,89.
100 Zeit und Sein und Kunst

Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel,


Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des
Kunstwerkes paaren müssen. (KSA 1,831; PHG 7)
In der Geburt der Tragödie ist das auf den bündigen
Satz gebracht, »nur als aesthetisches Phänomen« seien
»das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« (KSA
1,47; GT 5): Das souveräne Werden erscheint jetzt nicht
mehr nur als die alles vertilgende Furie des Vernichtens
und der Vergeblichkeit, sondern als Grund der Schöpfer-
kraft; alles Vergehen dient der Herausbildung neuer
Formen. Und mehr noch: diese Formen sind keine Pro-
dukte beliebiger Laune, gleichgültiger Willkür, sondern
ihre Herausbildung ist »gesetzmäßig« und folgt »inne-
ren Ordnungen«. Also geht es nicht nur um die schlichte
Manifestation einer Lebenskraft, die nichts will als sich
manifestieren, sondern um die Ausprägung von Ord-
nungen, von in sich gefügter Einheit.
Dafür ist wesentlich, was hier »Ausprägung« genannt
wurde: Ordnung und Fügung erfährt man ja nur, indem
sie sich ausprägt und nicht einfach wie selbstverständlich
besteht. Deshalb braucht die Ordnung, die sinnvolle
Struktur, ihr Gegenprinzip: Keine Ordnung ist einfach
sie selbst, sondern immer braucht sie ein Anderes, das
sich ihr fügen kann und doch in keiner glatten Synthese
aufgeht – vielmehr Anderes bleibt und Widerpart, damit
sich Struktur und Gestalt an ihm zeigt: ausdrücklich her-
vortritt. So trägt, wie es bei Nietzsche hieß, »der Streit
der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht«.
Besonders deutlich ist das im Erscheinen des Kunst-
werks, das ja wirkliches Erscheinen ist und kein selbstver-
ständliches Dasein: Harmonie, die hervorkommt und nur
hervorkommen kann, weil sie im »Widerstreit« bleibt mit
dem unbegrenzt Vielfältigen, Wandelbaren; das »Noth-
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 101

wendige«, in sich ganz und gar Überzeugende, das an-


ders nicht sein kann, und doch die Unwägbarkeiten des
»Spiels« hat, die Anmut des Leichten – wie etwa eine
Linie, die nicht anders gezogen sein dürfte und doch
mühelose, fast beiläufige Geste bleibt. So ist das Ästhe-
tische, wir dürfen auch sagen: das Schöne, »gegenstre-
bige Fügung« im Sinne Heraklits: Zusammengehören
des Auseinanderstrebenden und nur so Glücken und
Gelingen.
Also ist die Sehnsucht des »wahrhaft aesthetischen
Zuschauers« über die Bilder hinaus kein bloßes Unge-
nügen an den Gestalten in ihrer Bestimmtheit, sondern
Vorgefühl neuen Erscheinens, mehr noch Gefühl je-
ner Unbestimmtheit, aus der etwas entstehen kann. So
wird aus dem entgrenzenden Sich-Mitreißenlassen des
Dionysischen »plastische Kraft«: Hervorbringenkönnen
und -wollen. Die »ästhetische« Erfahrung des Werdens-
Vergehens ist gestaltvermittelt auch dort, wo sie über
Gestalten hinausführt – ohne Vorblick auf die Werke
prägt sich kein Bilden aus. So ist es die vermittelte Un-
mittelbarkeit der Kunst, was die ästhetische Rechtferti-
gung der Welt bewirkt.
Trotzdem bleibt die Lust am Bilden von der Lust am
Bild verschieden – sie erfüllt sich in ihren Gestalten
nicht und hat nicht an ihnen genug. Die Bilder sind Ar-
tefakte, Produkte des Bildens und weisen so immer ins
Bilden zurück. Man wird sogar die Scheinerfahrung des
Apollinischen auf die dionysische Lust am Bilden bezie-
hen können: sofern sie als Schein durchschaubar sind,
lassen die Bilder sich als Ausdruck des Bildens verste-
hen, so daß der apollinische Künstler sich allein durch
Spiegelung, Reflexion in seinem dionysischen Widerpart
als bildender Künstler erfährt. Für sich bleibt er naiv
und geht im Bild auf.
102 Zeit und Sein und Kunst

Damit bestätigt sich noch einmal, daß beide Formen


der Kunst, obwohl sie nur aneinander wirklich zur Gel-
tung kommen, letztlich nicht gleichberechtigt sind. Zwar
beendet Nietzsche sein Buch mit der einem »greisen
Athener« zugesprochenen Aufforderung, beiden Gott-
heiten, Apoll und Dionysos, zu opfern (KSA 1,156; GT
24). Doch besteht andererseits kein Zweifel daran, daß
ihm Dionysos von beiden der wichtigere ist. Das ent-
spricht seiner Konzeption des souveränen Werdens, der
Überzeugung, dieses sei »Fundament aller Existenz«,
»Untergrund der Welt« (KSA 1,155; GT 25), das Herr-
schende eben, das immer wieder seine Herrschaft er-
weist. Und es entspricht der Überzeugung, die Kunst sei
die Wahrheit des Lebens: als solche muß sie Ausdruck
und Bejahung des Werdens sein.
Aber das ist ja nur möglich, weil die Kunst sich, ver-
mittelt wie sie ist, vom Werden unterscheidet. Wo die
Wahrheit des Lebens bejaht werden soll, gibt es sie nicht
ohne Lebensdistanz; nur so kann sie das Leben bestim-
men. Darin erweist sich das Recht des Apollinischen;
weil es vermittelnd ist und Abstand ermöglicht, ist es die
Wahrheit der dionysischen Kunst – während das Dio-
nysische, weil es die Befangenheit in der Statik der Bil-
der durchbricht, die Wahrheit der apollinischen Kunst
ist. Hier zeigt sich die Wahrheit jeweils von anderswo
her, und so wird es auch im Hinblick auf die Kunst über-
haupt sein: Die Wahrheit der Kunst erscheint jenseits
von ihr, während das Andere der Kunst in ihr seine
Wahrheit findet.
III.
Dialektiker unter sich

1. »Das Problem der Wissenschaft selbst«

Im Jahr 1886, also vierzehn Jahre nach dem ersten Er-


scheinen, bringt Nietzsche sein Tragödien-Buch noch
einmal heraus, nun versehen mit dem einleitenden Ver-
such einer Selbstkritik. Ein »fragwürdiges« Buch sei es,
»wunderlich« und »schlecht zugänglich« (KSA 1,11; GT,
Versuch 1), »schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich,
bilderwüthig und bilderwirrig« (KSA 1,14; GT, Ver-
such 1), beeinträchtigt durch die »schlechten Manieren
des Wagnerianers« (KSA 1,15; GT, Versuch 3). Auch
die Charakterisierung des Ganzen als »Artisten-Meta-
physik« (KSA 1,13; GT, Versuch 2) ist nicht einfach
neutral gemeint. Schon in seinem ersten Aphorismen-
buch Menschliches, Allzumenschliches I (1878) hatte sich
Nietzsche gegen die entsprechenden, auf Schopenhauer
zurückgehenden Passagen seines Erstlings gewandt: der
Gedanke, daß die »Traumbild-Welt des Künstlers« ein
Modell für die »Erscheinungswelt« überhaupt sein kön-
ne, wird nun abgelehnt; die »metaphysische Vorausset-
zung«, nach der »unsere sichtbare Welt nur Erscheinung«
ist, sei »falsch« (KSA 2,185; MA I,222): Es gibt, wie
Nietzsche betonen möchte, »hinter« den Erscheinun-
gen keine Weltsubstanz – kein »Ding an sich« namens
»Wille«, und also keine von ihm strikt unterschiedenen
Erscheinungen. »Metaphysische« Reste dieser Art finden
sich im Tragödien-Buch allerdings nicht sehr oft und sind
104 Dialektiker unter sich

mit seiner Kunstphilosophie außerdem nur schwer zu


vereinbaren. Wie sollte etwa die Versicherung, daß der
dionysische Künstler »gänzlich mit dem Ur-Einen, sei-
nem Schmerz und Widerspruch, eins geworden« sei
(KSA 1,43 f.; GT 5), neben dem Gedanken vom apolli-
nisch vermittelten Charakter der dionysischen Kunst be-
stehen?
Also mag die Selbstkritik gelegentlich zu streng sein
und das Eigenständige, über Schopenhauer Hinausge-
hende vernachlässigen – unzweifelhaft artikuliert sie ei-
nen Bruch: Schopenhauer und Wagner, die Leitbilder der
frühen Basler Jahre, sind inzwischen problematisch ge-
worden. Für Wagner gilt das besonders: Seine »Unbän-
digkeit, Maasslosigkeit« (KSA 7,758; N 1874, 32[15]) ist
Nietzsche schon aufgefallen, als er noch die Eloge Ri-
chard Wagner in Bayreuth (1876) vorbereitete. Es sei
»ein Glück, dass Wagner nicht auf einer höheren Stelle,
als Edelmann, geboren« und »auf die politische Sphäre«
verfallen sei (KSA 7,765; N 1874, 32[35]). Auch die pro-
blematischen Seiten der Wagnerschen Kunst sieht Nietz-
sche genau: etwa die »Gefahr der Affectmalerei« oder
»das Berauschende, das Sinnliche Ekstatische, das Plötz-
liche, das Bewegtsein um jeden Preis – schreckliche Ten-
denzen!« (KSA 7,760; N 1874, 32[16]).
Wichtiger als der Abschied von den frühen Helden ist
freilich die Neuorientierung. Auf sie kommt es Nietz-
sche an, wenn er kontrastierend die Befangenheit seines
ersten Buches hervorhebt. Denn auch was ihn nun inter-
essiert, läßt sich bis in die Tragödien-Schrift zurückver-
folgen: Auf »eine Frage ersten Ranges und Reizes« sei er
hier gestoßen, »noch dazu eine tief persönliche Frage«
(KSA 1,11; GT, Versuch 1). Er habe damals »etwas
Furchtbares und Gefährliches« zu fassen bekommen,
»ein Problem mit Hörnern«, »ein neues Problem«. Und
»Das Problem der Wissenschaft selbst« 105

dann zur Erläuterung: »heute würde ich sagen, dass es


das Problem der Wissenschaft selbst war – Wissenschaft
zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig ge-
faßt«. Gerade weil die Erörterungen des frühen Buches
wie selbstverständlich »auf den Boden der Kunst« ge-
stellt waren, hat die Frage nach der Wissenschaft aufbre-
chen können: »denn das Problem der Wissenschaft kann
nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden«
(KSA 1,13; GT, Versuch 2).
Mit der Wissenschaft ist hier nicht zuletzt die Philo-
sophie gemeint, und also gilt die Grundfrage des Tragö-
dienbuches auch, ja vor allem ihr; die Philosophie er-
scheint als »problematisch« und »fragwürdig«, als etwas,
das im Lichte der Kunst seine fraglose Orientierungs-
kraft verliert. Nietzsche möchte nach der Darstellung im
Versuch einer Selbstkritik wissen, was die Wissenschaft,
»als Symptom des Lebens angesehn«, bedeutet, »wozu,
schlimmer noch, woher« alle Wissenschaft ist (KSA 1,12;
GT, Versuch 1): ob sie am Ende »eine feine Nothwehr
gegen – die Wahrheit« (KSA 1,13; GT, Versuch 1) ge-
nannt werden muß.
Wissenschaft, Philosophie ist möglicherweise Not-
wehr gegen die Wahrheit – also Lüge und Trug. Deshalb
ist Nietzsche überzeugt davon, daß »das Problem der
Wissenschaft nicht auf dem Boden der Wissenschaft
erkannt werden« kann, sondern nur auf dem Boden
der Kunst. Im frühen Tragödien-Buch meint Nietzsche,
zum ersten Mal eine Aufgabe formuliert zu haben, die
ihm inzwischen »nicht fremder wurde«: die Aufgabe
nämlich, »die Wissenschaft unter der Optik des Künst-
lers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens . . .«
(KSA 1,14; GT, Vorrede 2). So und nur so ist es möglich,
die Verstellungen, die von Wissenschaft und Philosophie
erzeugt werden, als solche zu erkennen.
106 Dialektiker unter sich

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Was hier ar-
tikuliert wird, ist keine Verabschiedung der Philosophie,
auch nicht ihre Zurückführung auf Kunst und Literatur,
sondern ein philosophisches Programm. Nietzsche hält,
wie sich zeigen wird, an der traditionellen Bestimmung
der Philosophie fest und will durchaus in ihrem Sinne Phi-
losoph sein: Auch für ihn ist Philosophie der Versuch, die
Verschattungen allen anderen Wissens, des nur scheinba-
ren Wissens erst recht, zu durchschauen und sich aus den
Verstellungen des alltäglichen Erfahrens, der selbstver-
ständlichen Weltorientierung zu lösen. Doch sieht Nietz-
sche die traditionelle Aufgabe der Philosophie durch ihr
eigenes Wesen erschwert: Zur Lösung ihrer Aufgabe be-
darf es einer Selbstaufklärung der Philosophie. Es geht für
den Philosophen darum, den Hang zur Unwahrheit in
seinem Tun zu sehen und die Schwierigkeiten zu überwin-
den, die durch die Philosophie selbst erzeugt werden.
Allerdings ist auch diese philosophische und gegen die
Philosophie gerichtete Skepsis nicht ganz neu. Daß die
Philosophie sich »in Dunkelheit und Widersprüche«
stürzt und es schwer hat, ihre selbstverschuldeten Irrtü-
mer zu erkennen, hatte schon Kant in der Vorrede zur
ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) be-
tont (KrV, A VIII) und zum Ausgangspunkt seines kriti-
schen Programms gemacht. Nur hält Kant eine »Selbst-
erkenntnis« (KrV, A XI) der Vernunft noch für möglich,
weil er glaubt, daß die Vernunft sich nur dann über ihre
Möglichkeiten täuscht, wenn sie »über die Grenze aller
Erfahrung« hinausgeht und »keinen Probierstein der
Erfahrung mehr anerkennen« will (KrV, A VIII). Für die
Vernunftkritik gibt es demnach einen Maßstab in der er-
fahrungsgeleiteten, und das heißt für Kant: wissenschaft-
lichen Erkenntnis – in der Erkenntnis, wie sie von den
modernen Naturwissenschaften repräsentiert wird. Ver-
»Das Problem der Wissenschaft selbst« 107

nunftkritik ist eine immanente Angelegenheit der Ver-


nunft; sie wird im Horizont von Philosophie und Wis-
senschaft vollzogen.
Nietzsche ist dem kritischen Programm Kants, dieser
Grundlegung philosophischer Modernität, immer ver-
pflichtet geblieben, und nicht zuletzt das hat ihn zu ei-
nem modernen Philosophen gemacht. Andererseits ist es
ganz im Sinne der philosophischen Modernität, daß
Nietzsche die Kantische Grundfigur, den Vernunftzwei-
fel, noch radikalisiert: Wenn Philosophie und Wissen-
schaft gleichermaßen durch einen Hang zur Verstellung
charakterisiert sind, kann die Philosophie sich für ihre
Selbstaufklärung nicht mehr auf die Wissenschaft beru-
fen. Also führt Vernunftkritik jetzt über die Vernunft
und ihre Artikulation in Wissenschaft und Philosophie
hinaus; sie bedarf eines Anderen, der Kunst, damit sie
einen Maßstab gewinnt und sich artikulieren kann. Die
Kunst ist für die Vernunft, was das apollinische Traum-
bild für das Leben war.
Aber warum soll die Kunst dieses Andere von Philo-
sophie und Wissenschaft sein? Nietzsches Antwort dar-
auf wird immer dieselbe bleiben: Weil die Philosophie
bei der Kunst auf ihre eigene Geschichte zurückblickt.
Indem man verfolgt, wie Philosophie und Wissenschaft
entstehen und sich entwickeln, sieht man, wie es zu den
hier eigentümlichen Verstellungen kommt und sich eine
»Nothwehr« gegen die Wahrheit ausbildet. Auch dies ist
ein prägnant moderner Zug in Nietzsches Denken: die
Überzeugung, daß man Aufschluß über das Gegenwär-
tige nicht aus diesem gewinnt, sondern nur aus einem
geschichtlichen Rückblick, der den Ursprung des Ge-
genwärtigen freilegt; und daß man den Ursprung selbst
erst mühsam gewinnen muß, wie ein Archäologe die
Grundrisse einer früheren Stadt. Heidegger wird dieses
108 Dialektiker unter sich

Programm wieder aufnehmen und unter dem Titel einer


»Destruktion« der philosopischen Überlieferung durch-
führen: Das Selbstverständnis des späteren Denkens
muß »abgebaut« werden, damit, was es eigentlich ist und
wohin es gehört, zum Vorschein kommt.
Nietzsche skizziert am Anfang seiner Schrift Die Phi-
losophie im tragischen Zeitalter der Griechen, wie er
sich die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft
denkt: Philosophie, heißt es hier, sei »gefährlich, wo sie
nicht in ihrem vollen Rechte« sei – »und nur die Gesund-
heit eines Volkes, aber auch nicht jedes Volkes, giebt ihr
dieses Recht« (KSA 1,805; PHG 1). Gesund aber sei ein
Volk, das »Kultur« und in seinem Leben »Einheit des
Stils« (KSA 1,812; PHG 2) habe – wie die Griechen
durch die Tragödie. Also wird die griechische Erfindung
der Philosophie problematisch – »gefährlich«, wo sie
sich aus dem Zusammenhang der »tragischen« Kultur
emanzipiert. Dadurch bildet sie sich als Wissenschaft
heraus und zerstört die Kultur, in die sie gehörte. Der
Ursache für diese Zerstörung will Nietzsche schon in der
Geburt der Tragödie auf die Spur kommen.

2. »Monstrosität per defectum«

Verantwortlich für den Untergang der tragischen Kultur


ist letztlich nur ein Mann: Sokrates.1 An ihm sei »das
Kunstwerk der griechischen Tragödie« zugrunde gegan-
1 Als ausführliche Darstellungen von Nietzsches Verhältnis zu Sokrates
vgl. Bertram (1965) und Sandvoss (1966); instruktiv ist auch Hadot
(1987) und, vor allem für den Bezug auf die Tragödie, Sallis (1991).
»Monstrosität per defectum« 109

gen (KSA 1,83; GT 12). Zunächst habe zwar ein Dichter,


Euripides, die Prinzipien des »aesthetischen Sokratis-
mus« (KSA 1,85; GT 12) in die tragische Kunst einge-
führt und sie damit zum »dramatisirten Epos« gemacht
(KSA 1,83; GT 12) – was gleichbedeutend damit gewe-
sen sei, der Musik ihren Vorrang zugunsten des Bild-
haften, des apollinischen Aspektes der Tragödie, zu
nehmen. Aber das werde dann von Sokrates selber voll-
endet, indem er das Apollinische ganz aus dem Zusam-
menhang der Tragödie, aus seinem fruchtbaren Streit mit
dem Dionysischen, herauslöse und als etwas Eigenstän-
diges, eben als Philosophie, ausbilde. Am Ende ist die
apollinische Bilderfahrung zum Wissen erstarrt, das Se-
hen hat sich in die Sicherheit des Gesehenhabens verkap-
selt, und das Bild hat sich zum Schema, zum abstrakten
Begriff modifiziert. Was Theater war, ist nun Theorie.
Das hätte als die Tat eines einzelnen Menschen kaum
Bestand gehabt, wenn nicht eine das Individuelle über-
steigende Kraft in ihm wirksam gewesen wäre; in diesem
Einzelnen namens Sokrates kam, wie Nietzsche denkt,
etwas Allgemeines hervor. Entsprechend bestimmt er
die entscheidende Wendung vom Theater zur Theorie
genauer, indem er den Typos des »theoretischen Men-
schen« mit dem Künstler, und zwar dem apollinischen
Künstler vergleicht. Dabei geht er vom Gemeinsamen
aus; beide haben, wie er sagt, »unendliches Genügen am
Vorhandenen« (KSA 1,98; GT 15) – jedoch auf sehr ver-
schiedene Weise:
Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung
der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an
dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Ent-
hüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt
sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen
110 Dialektiker unter sich

Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Pro-


zess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft
gelingenden Enthüllung. (KSA 1,98; GT 15)
Kunst, so läßt der erste Teil dieses etwas rätselhaft for-
mulierten, doch in der Sache nicht unklaren Satzes sich
umschreiben, ist immer nur relative, sich einer Hülle ver-
dankende Enthüllung, ein Entdecken, dem seine Gebun-
denheit an das Verdecken eingeschrieben ist: ein Ent-
decken und Zeigen durch Darstellung. Was im Kunst-
werk erscheint, kann nur in seiner Angewiesenheit auf
den Schein verstanden werden – auf das jeweilige, be-
stimmte Aspekte freigebende und andere verbergende
Erscheinen. Es hat die unverwechselbare, darin auch be-
schränkte Anwesenheit dieses individuellen Kunstwerks,
und man erfährt es in seinem Erscheinen, indem man
diese Anwesenheit sein läßt.
Mit der Theorie verhält es sich anders. In ihr lebt die
Überzeugung, erst das Durchdringen des Scheins sei
wahre Enthüllung, und im Verwerfen je bestimmter Er-
scheinungsweisen käme so etwas wie »die Sache selbst«
ans Licht. Doch wenn das eine Täuschung ist und an
die Stelle jeder verworfenen Erscheinung sofort eine
neue tritt, ist die Theorie eine unendliche, immer wieder
neu sich stellende Aufgabe, an deren Lösung man jedes-
mal scheitert; ihren Jüngern müßte, wie Nietzsche sagt,
eigentlich
zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade
durch die Erde graben wollten: von welchen ein
Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebensläng-
licher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der
ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei,
welches vor seinen Augen durch die Arbeit des
Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein
»Monstrosität per defectum« 111

Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf


eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche
wählt. (KSA 1,98; GT 15)
Doch natürlich wird es auch ihm nicht gelingen, das
»Antipodenziel« zu erreichen.
Die Theorie, wie Nietzsche sie versteht, ist jedoch
nicht bloß ein unaufgeklärtes, in den Mythos der totalen
Enthüllung verfangenes Tun – das wäre eine noch recht
oberflächliche Beschreibung. Genauer betrachtet, ist sie
ein Tun ganz besonderer Art, das es im Zusammenhang
der Kunst trotz aller Abstoßung vom normalen Leben
so nicht gibt: ein Negieren, ein stilles oder ausdrückli-
ches Neinsagen.
Schon der theoretische Anspruch ist dadurch geprägt:
Man erhebt ihn, indem man das Wissen der anderen ne-
giert und bestreitet, das von ihnen Gesehene und Prä-
sentierte sei die Sache, wie sie »in Wahrheit« ist. Zu-
nächst muß dabei noch gar keine klare Vorstellung von
der Sache und ihrer Wahrheit im Spiel sein – die Unter-
stellung, jemand habe sich allzu naiv am unmittelbar Er-
scheinenden oder allgemein am Selbstverständlichen ori-
entiert, reicht aus. Wo der theoretische Anspruch nur als
Mißtrauen gegenüber den Einstellungen, Fähigkeiten
und Sichtweisen anderer artikuliert wird, ist er sogar be-
sonders glaubwürdig, weil er sich dann mit dem An-
schein besonderer Aufgeschlossenheit verbindet. Theo-
retisch in diesem Sinn ist nicht die Behauptung des Wis-
sens, sondern die Einklammerung all dessen, was sonst
als Wissen galt – die Behauptung des Nichtwissens also.
Natürlich ist damit wieder Sokrates ins Spiel gekom-
men, der vom delphischen Orakel als der Weiseste be-
nannt wurde und, als er daran ging, den Orakelspruch
zu überprüfen, feststellen konnte, daß andere etwas zu
112 Dialektiker unter sich

wissen glaubten, während er selbst nichts wußte und


auch nicht glaubte, etwas zu wissen (Apol. 21d).2 Dabei
ist »Wissen« in einem sehr spezifischen Sinne verstan-
den: als die Fähigkeit, einzusehen, was man tut und er-
fährt, und davon Rechenschaft geben zu können. Etwas
einfach nur zu beherrschen, »von Natur aus« sicher zu
sein (Apol. 22c) oder, wie Nietzsche es formuliert, »aus
Instinct« (KSA 1,89; GT 13), ist demgegenüber nichts
wert. So wendet Sokrates gegen die Dichter ein, fast alle
anderen könnten besser über ihre Werke sprechen als sie
selbst (Apol. 22c). Sokrates, heißt es bei Nietzsche, sieht
»den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und
schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrt-
heit und Verwerflichkeit des Vorhandenen«; deshalb
lehnt er »die bestehende Kunst« ebenso ab »wie die
bestehende Ethik« (KSA 1,89; GT 13). Sokrates, wie
Nietzsche ihn sieht, ist das Genie der Verneinung.
Gewiß ist diese These überspitzt und einseitig. Trotz-
dem wird man nicht gut bestreiten können, daß sie
Entscheidendes trifft. So hat Sokrates die »bestehende
Ethik« gewiß nicht einfach abgelehnt, weil es seinem
verneinenden Wesen entsprach; er kritisiert keine in ih-
rer Selbstverständlichkeit intakte Lebensform, sondern
wirkt eher wie ein Seismograph, der, wie auch die Sophi-
sten, eine Krise erfährt und auf sie reagiert. Dennoch
zieht er daraus die Konsequenz einer radikalen Neuori-
entierung: Wie Hegel es in seinen Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie formuliert, ist mit Sokrates
das Sittliche »auf die Subjektivität gestellt« worden;3 was
wahr und recht ist, gilt nicht mehr einfach, sondern muß
erfragt und verstanden werden. Und gewiß ist auch

2 Vgl. Figal (1998a), bes. S. 46–54.


3 Hegel, Werke, Bd. 18, S. 490.
»Monstrosität per defectum« 113

die sokratische Dichtungskritik keine bloße Mißach-


tung der schöpferischen Kraft. Vielmehr weiß Sokrates,
daß Dichtung »auf poetische Weise in Rätseln« spricht
(Resp. 332b–d) und nur deshalb ihren Anspruch auf Le-
bensorientierung nicht ohne weiteres einlösen kann; sie
muß gedeutet werden, damit man versteht, was gemeint
ist. Dennoch liegt auch darin ein Bruch, weil die Autori-
tät nun der Deutung zukommt: sie löst im Bestimmen
des Gemeinten und im prüfenden Erwägen seiner Über-
zeugungskraft ein, was die Dichtung für sich in An-
spruch nahm. Also will Sokrates in der Tat die Stelle her-
kömmlicher Ethik und Kunst mit der Philosophie be-
setzen. Im Zentrum seines neuorientierenden Denkens
steht ein deutliches Nein.
Aber die Philosophie, wie Nietzsche sie versteht, ist ja
keine aus sich verständliche Haltung und Denkform,
sondern von Sokrates aus dem Zusammenhang einer
durch die Kunst geprägten Kultur freigesetzt worden.
Wo also kommt das Neinsagen her, mit dem die theore-
tische Einstellung und in diesem Sinne die Philosophie
entspringt?
Um das zu beantworten, weist Nietzsche auf das dai-
monion hin, auf die göttliche Stimme, die in Sokrates ge-
legentlich spricht: sie »mahnt, wenn sie kommt, immer
ab« (KSA 1,90; GT 13), und genauso schildert es Sokra-
tes selbst: die Stimme habe ihn davor bewahrt, sich auf
die Politik einzulassen, und damit sein Leben für lange
Zeit erhalten. Sie hat ihn, wie man das interpretieren
kann, im Abstand vom Handeln und von der Hand-
lungswelt zum Philosophen gemacht und so ihm und
auch den Athenern genutzt (Apol. 31d–e).
Doch für Nietzsche spricht hier nicht, wie für Sokra-
tes selbst, die intuitive Sicherheit des eigenen Schicksals,
der »Instinkt« einer philosophischen Lebenshaltung, der
114 Dialektiker unter sich

von der Untreue gegenüber dem eigenen Wesen abhält


und darin der Stimme des Gewissens vergleichbar ist.
Das daimonion des Sokrates sei vielmehr eine seltsame
Inversion: Während nämlich »bei allen productiven
Menschen der Instinct gerade die schöpferisch-affirma-
tive Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmah-
nend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum
Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre
Monstrosität per defectum!« (KSA 1,90; GT 13) Das so-
kratische Neinsagen ist eine Modifikation jener Schöp-
ferkraft, die den Künstler dazu treibt, mit den schon be-
stehenden Werken nicht zufrieden zu sein und im Vor-
blick auf neue Werke über sie hinauszudrängen. Doch
ist das künstlerische Neinsagen in die Bejahung des Her-
vorbringenwollens gebunden; die bestehenden Werke
sind nicht grundsätzlich negiert, sondern es soll nur mit
ihnen nicht genug sein, der Künstler will neu aus dem
Reichtum des Möglichen schöpfen. In der sokratischen
Behauptung des Nichtwissens hingegen wird das Nein-
sagen emanzipiert; nun wird es zum Grundzug, so daß
sich der Vollzugssinn des Lebens gegen etwas artiku-
liert und das Dionysische zum nüchternen Rausch des
auf »Enthüllung« gerichteten Denkens verkehrt wird.
Nichtsdestoweniger ist hier noch die Kraft des Künst-
lers am Werke: Bei Sokrates hat sich die Schöpferkraft
zum »logischen Trieb« modifiziert, und dieser zeigt in
seinem »fessellosen Dahinströmen [. . .] eine Naturge-
walt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven
Kräften zu unsrer schaudervollen Überraschung antref-
fen« (KSA 1,91; GT 13). Nietzsches Sokrates ist ein sa-
tyrhaft besessener Künstler, der sich selbst nicht mehr
als solcher verstehen kann.
Nun spricht viel dafür, daß Sokrates, wie er in den
Platonischen Dialogen begegnet, einem »künstlerischen«
»Monstrosität per defectum« 115

Selbstverständnis treuer geblieben ist, als Nietzsche


meint. Es kommt Sokrates weniger darauf an, die Er-
scheinungen zu verneinen, als darauf, sie als solche aus-
drücklich und durchsichtig zu machen; und er weiß sehr
genau, daß jede Erörterung einer Sache nur vorläufig ist,
durch andere ergänzt werden muß und nie zu einer voll-
kommenen »Enthüllung« führen wird. Insofern gleicht
Sokrates eher dem von Nietzsche beschriebenen »wahr-
haft aesthetischen Zuschauer« der Tragödie, der »über
das Schauen« hinauskommen will (KSA 1,150 f.; GT 24)
und nicht im Schein befangen bleibt. Nicht der Platoni-
sche Sokrates, sondern allein derjenige Nietzsches wäre
dann auch die »Monstrosität per defectum«.
Nietzsches Blick auf Sokrates fokussiert jedoch immer
nur denselben Punkt, und, wie schon einmal gesagt,
sieht er weniger ihn als etwas in ihm, eine Grundfigur,
die verallgemeinerbar ist: den »Typus des theoretischen
Menschen« (KSA 1,98, GT 15), des theoretischen Opti-
misten, der in seinem »Glauben an die Ergründlichkeit
der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss
die Kraft einer Universalmedizin beilegt« (KSA 1,100;
GT 15). Man muß gar nicht wissen, daß der Platonische
Sokrates auf die Erforschung des Wesens der Dinge aus-
drücklich verzichtet,4 um hier eher an die Fortschritts-
gläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts zu denken
als an den Anfang der Philosophie. Sokrates wird bei
Nietzsche zum »Urbild« (KSA 1,100; GT 15) der mo-
dernen Wissenschaft, und das »Urbild« dürfte zum nicht
geringen Teil eine Projektion späterer Bilder sein.
Nietzsche hat das selbst jedoch nie problematisch ge-
funden: Weil Sokrates für ihn der Ursprung der Wissen-
schaft ist, bleibt für ihn alle Wissenschaft sokratisch, und

4 Vgl. Phaid. 99d.


116 Dialektiker unter sich

entsprechend versteht er die eigene Zeit, wie deren ganze


abendländische Vorgeschichte, als sokratische Epoche.
Wir sehen, sagt Nietzsche, »wie der Einfluss des Sokra-
tes, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus,
sich, gleich einem in der Abendsonne immer grösser
werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet
hat« (KSA 1,97; GT 15); und wir können uns klarma-
chen, wie sich nach Sokrates »eine nie geahnte Universa-
lität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebil-
deten Welt« entwickelt und schließlich zur »erstaunlich
hohen Wissenspyramide der Gegenwart führt« (KSA
1,100; GT 15). Niemand, resümiert Nietzsche, könne
deshalb zögern, »in Sokrates den einen Wendepunkt und
Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen« (KSA
1,100; GT 15).
Weil Sokrates für ihn »Typus« oder »Urbild« ist, kann
Nietzsche bei seiner Auseinandersetzung mit der Wis-
senschaft immer wieder auf Einwände zurückgreifen, die
er schon gegen Sokrates formuliert hat. Sobald er in sei-
nen späteren Schriften die Wissenschaft und die Philo-
sophie als Wissenschaft kritisiert, wird er die zentralen
Gedanken seiner Sokrates-Darstellung aufnehmen und
zeigen wollen, daß Begriffe und Schemata im Grunde
genommen Bilder sind – abstrakt gewordene Vorstellun-
gen, verdünnte und verkürzte, zu Chiffren und Zeichen
entsinnlichte Zeichnungen, an die man sich allgemein
hält, damit das Leben stabil sei. Zeichen sind konventio-
nelle Erstarrungen, Feststellungen, in denen die Sprache
»eine Gewalt für sich geworden« ist, »welche nun wie
mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt«
(KSA 1,455; WB 5).
Aber so ermöglichen die Zeichen es auch, sich in der
Welt, veränderlich und überwältigend reich, wie sie ist,
zurechtzufinden: mit ihnen sind Orientierungsmarken
»Monstrosität per defectum« 117

gesetzt, Verbindungen geknüpft. Zeichen sind Schein im


doppelten Sinne: sie enthüllen, machen in bestimmter
Hinsicht zugänglich, aber verdecken auch und sind des-
halb sofort mißverstanden, wenn man glauben würde,
was in ihrem Zusammenhang erfahren werde, sei »die
Wirklichkeit« oder »die Realität«. Wo immer gesagt wird,
das begrifflich Enthüllte sei wirklich oder real, es sei, was
sonst gar nicht oder bloß undeutlich in den Blick käme,
hat das meist nur den Sinn, den Kunstcharakter des be-
grifflichen Denkens zu leugnen, zu verbergen. Oder es
entspringt aus einer Naivität, die vom Kunstcharakter des
Denkens gar nichts mehr weiß, weil die Erfahrung des
Scheines diskreditiert, das Erscheinen im Interesse einer
vermeinten »Sache selbst« verworfen wurde.
So spricht Nietzsche, zehn Jahre nach der Geburt der
Tragödie, in der Fröhlichen Wissenschaft einmal die
»Realisten« an, indem er ihren Glauben an die Enthül-
lung, daran, daß die Welt wirklich so beschaffen sei, wie
sie ihnen erscheine, zum Anlaß eines Gedankenexperi-
mentes nimmt:
Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran
»wirklich«? Zieht einmal das Phantasma und die
ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchter-
nen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Her-
kunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet,
– eure gesammte Menschheit und Thierheit!
(KSA 3,421 f.; FW 57)
Wenn ihr, so ließe die Reihe sich fortsetzen, imstande
wäret, zwischen »Zuthat« und »Sache« überhaupt zu
unterscheiden; wenn ihr sagen könntet, was denn »die
Sache« noch sein soll, sobald man davon absieht, wie sie
erscheint. Nicht, daß wir umgekehrt sagen könnten, es
gäbe diesen Berg, jene Wolke dort nicht, und alles sei
118 Dialektiker unter sich

Einbildung, Wachtraum oder dergleichen. Nur können


wir »die Sache« niemals neben ihre Erscheinungen hal-
ten – so, aber nur so verstanden, ist die Unterscheidung
von »Sache« und »Erscheinung« sinnlos. Es gibt keine
Extrapolation einer für sich greifbaren Sache aus den
mannigfachen Möglichkeiten ihres Erscheinens – so wie
man aus den verschiedenen Lektüren eines Textes nie
den »Text selbst« destillieren und für sich, ohne Lektüre,
erfahren kann.
»Schein«, so heißt das in Nietzsches Worten, ist
»wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, –
was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als
eben nur die Prädicate seines Scheines«; Schein ist viel-
mehr »das Wirkende und Lebende selber, das soweit in
seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen,
dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts
Mehr ist« (KSA 3,417; FW 54) – ein schwebendes Wir-
ken also, ein Netz des Verständlichen und Sinnvollen,
das real und durchschaubar zugleich ist wie der Traum
des apollinischen Künstlers und das man verliert, wo
man es zugunsten einer festeren oder zuverlässigeren
Wirklichkeit durchstoßen will. Man muß sich an der
Kunst orientieren, um das sehen zu können.

3. »Abendröthe der Kunst«

Wenn die Wissenschaft und die wissenschaftliche Philo-


sophie im Mythos der totalen Enthüllung verblendet
sind und der Chimäre einer Sache selbst nachjagen – was
wäre plausibler, als die Theorie wieder in die Kunst
»Abendröthe der Kunst« 119

zurückzunehmen? Nietzsches kulturpolitisches Pro-


gramm, wie es im Tragödien-Buch entwickelt ist, war ja
in diesem Sinne gemeint. Nietzsche glaubte, in der
»deutschen Musik« und besonders natürlich bei Wagner
deutliche Anzeichen für das »allmähliche Erwachen des
dionysischen Geistes« (KSA 1,127; GT 19) zu erkennen.
Und weil außerdem Philosophen wie Kant und Scho-
penhauer »die zufriedne Daseinslust der wissenschaftli-
chen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu
vernichten« unternahmen und also die Verselbständi-
gung der Philosophie rückgängig gemacht haben (KSA
1,128; GT 19), spricht alles dafür, »dass wir gleichsam in
umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des
hellenischen Wesens analogisch durchleben und [. . .]
jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur
Periode der Tragödie« schreiten (KSA 1,128; GT 19).
Nun ist es wieder möglich, »dass an die Stelle der Wis-
senschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die
sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkun-
gen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem
Gesammtbilde der Welt zuwendet« (KSA 1,118; GT 18).
Philosophie im eigentlichen Sinne, als Weisheit, ist nur
möglich, wo sie keine Wissenschaft sein will und sich
durch die Kunst ein »Gesammtbild« der Welt vorgeben
läßt. Da ein solches durch die modernen Tragödien Wag-
ners wieder erschlossen worden ist, kann Nietzsche den
Epochenwechsel verkünden: »Die Zeit des sokratischen
Menschen ist vorüber« (KSA 1,132; GT 20).
Doch war das voreilig, und Nietzsche merkt es, wie
man gesehen hat, recht bald; er begreift, wieviel Schwär-
merei in seinem Wagnerianertum war. Aber, was noch
wichtiger ist, er versteht auch den Grund dafür, daß er
derart zum Schwärmer werden konnte: es ist die Kunst,
genauer die Suggestionskraft, die von der Kunst ausge-
120 Dialektiker unter sich

hen kann und die allzu leicht bezaubert und täuscht. So-
bald das gesehen wird, stellt sich das Verhältnis von
Kunst und Wissenschaft ganz anders dar.
Deutlich tritt das in Nietzsches erstem Aphorismen-
buch, Menschliches, Allzumenschliches I, hervor. Das
»vierte Hauptstück« des Buches trägt den Titel »Aus der
Seele der Künstler und Schriftsteller«, und was hier mit-
geteilt wird, ist zu einem beträchtlichen Teil als Ergebnis
von Selbsterforschung zu lesen – so auch als Einsicht
in Denk- und Empfindungsweisen, die Nietzsche nicht
mehr selbstverständlich sind; in diesem Sinne spricht
er später, 1886, im Zuge seines Lebensrückblicks von
der schon einmal erwähnten »grossen Loslösung« (KSA
2,15; MA I, Vorrede 3) – oft ist es ja so, daß erst im Ab-
schied von etwas klar wird, was es gewesen ist: ein Le-
benszustand tritt ins Bewußtsein, wo man ihn verläßt
und wie eine Haut abstreift.
So ist Nietzsche klar geworden, wie sein Verhältnis
zur griechischen Vergangenheit in problematischer
Weise durch die Kunst, genauer durch eine ihrer wesent-
lichen Möglichkeiten bestimmt war: die Kunst ist »To-
dtenbeschwörerin«, »sie flicht [. . .] ein Band um ver-
schiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkeh-
ren« (KSA 2,142; MA I,147) – läßt sie dabei als lebendig
erscheinen. Woran er hier denkt, hatte Nietzsche schon
zwei Jahre zuvor, in der vierten Unzeitgemäßen Be-
trachtung mit dem Titel Richard Wagner in Bayreuth,
gesagt, als er Wagner den »Deuter und Verklärer einer
Vergangenheit« nannte (KSA 1,510; WB 11). Und daß
die Vergegenwärtigung des Vergangenen künstlerisch ist,
Aufgabe der »plastischen Kraft«, so daß alle Geschichte
ihre Bestimmtheit und »Objectivität« allein durch die
Kunst bekommt, war schon in der zweiten Unzeitgemä-
ßen Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Histo-
»Abendröthe der Kunst« 121

rie für das Leben, ausgeführt worden (bes. KSA 1,285–


302; HL 6–7). Die Kunst läßt etwas gegenwärtig sein,
das nicht da ist, und dabei spiegelt sie vor, man erhielte
es in seiner vollen Lebenswirklichkeit zurück.
Doch kommt bei der Überlegung in Menschliches, All-
zumenschliches I noch etwas Entscheidendes hinzu: Man
müsse es dem Künstler nachsehen, sagt Nietzsche hier,
wenn er wegen seiner vergegenwärtigenden Kraft »nicht
in den vordersten Reihen der Aufklärung« stehe; er sei
»zeitlebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben und auf
dem Standpunct zurückgehalten, auf welchem er von
seinem Kunsttriebe überfallen wurde«. Und dann folgt
die Bemerkung: »Empfindungen der ersten Lebensstu-
fen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer
Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhun-
derts. Unwillkürlich wird es zu seiner [des Künstlers]
Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen; diess ist sein
Ruhm umd seine Begränztheit.« (KSA 2,142 f.; MA
I,147) Der Künstler und jeder künstlerisch Empfindende
ist im Unklaren über das eigene Tun; daß es der Lebens-
wirklichkeit nicht entspricht, bleibt verborgen – das ist
die Kehrseite des Träumens, der Eingenommenheit von
schönen Bildern und Vorstellungen. Selbst wo man die
Bildwelt der Kunst als solche erkennt, was ja im Tragö-
dien-Buch als Wesenszug ästhetischer Erfahrung heraus-
gearbeitet worden war, bleibt das Lebensfremde der
Kunst unproblematisiert. Der Künstler sei »Kind oder
Jüngling«, sagt Nietzsche, und man erinnert sich an
die Naivität als Grundzug der apollinischen Kunst. Wer
naiv ist, hält unbefangen für möglich, was schon lange
verloren ist. Alle Künstler sind deshalb »immer und
nothwendig Epigonen«: sie kommen zu spät und be-
schwören, letztlich umsonst, das Vergangene. So »be-
schwichtigen und heilen« sie »nur vorläufig, nur für den
122 Dialektiker unter sich

Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer


wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten,
indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten,
welche zur That drängen, aufheben und palliativisch ent-
laden« (KSA 2,143; MA I,148).
Nietzsches kritische Einstellung zur Kunst, wie sie
hier artikuliert wird, ist gewiß neu und überraschend.
Von »Aufklärung« war zuvor nicht die Rede gewesen,
und die Verbesserung der gegenwärtigen Zustände war
ja gerade von der Kunst erwartet worden.5 Dennoch
vollzieht Nietzsche keinen radikalen Bruch mit seinen
früheren Überzeugungen; eher ist es, wie die zitierten
Überlegungen zu verstehen geben, ein Erwachsenwer-
den, ein Verlieren der Naivität und so ein illusionsfreie-
res Gewahren und Artikulieren der eigenen Position,
Einsicht in die Grenzen der Kunst auch und also Vorbe-
halt gegenüber der Präsenz, wie die Kunst sie zu evozie-
ren vermag.
Dabei wird die Kunst nicht einfach verworfen; Nietz-
sche sieht vielmehr nur ein, daß der Versuch eines gro-
ßen und emphatischen »Noch einmal« zum Scheitern
verurteilt ist: es gibt keine griechische Tragödie mehr,
erst recht nicht in jenem oberfränkischen Festspielthea-
ter, das Nietzsche im Sommer 1867 besucht und schon
bei den Vorarbeiten zu Richard Wagner in Bayreuth un-
verholen skeptisch beurteilt hatte. Die große Kunst und
ihre Zeit sind vorbei. Deshalb sollte man sie, wie Nietz-
sche jetzt denkt, aus der späteren Zeit verstehen und sich
über den Zeitriß zwischen damals und heute keine nai-
ven, keine künstlerischen Vorstellungen machen.
Wozu auch? Wichtig als Bezugspunkt ist die Kunst
5 Zur ›Aufklärung‹ bei Nietzsche vgl. Röttges (1972), Montinari (1982),
Ottmann (1985), Simon (1989), zu Aufklärung und Kunst: Sloterdijk
(1986).
»Abendröthe der Kunst« 123

gerade in ihrem Vergangensein – so erst, im Kontrast


zum Gegenwärtigen, tritt sie als solche hervor. Zum Ab-
schluß seiner Beobachtungen und Überlegungen zur
»Seele der Künstler und Schriftsteller« sagt Nietzsche,
den Künstler werde »man bald als ein herrliches Ueber-
bleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren
Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück
früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie
nicht leicht Unseresgleichen gönnen«. Und dann heißt
es noch: »Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindun-
gen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf
unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die
Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel
unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob
wir sie schon nicht mehr sehen.« (KSA 2,186; MA I,223)
Wir müssen uns im Lichte der Kunst verstehen und kön-
nen es nicht mehr als Künstler tun.
Aus welcher Perspektive Nietzsche hier spricht und
seine Leser als seinesgleichen in die Mitwisserschaft zieht,
ist schon seit den ersten Seiten von Menschliches, Allzu-
menschliches I klar: Nietzsche widmet das Buch, ohne
dessen Namen zu nennen, Voltaire, aus Anlaß seines hun-
dertsten Todestages, und er stellt dem Ganzen als Motto
eine Passage aus Descartes’ Dissertatio de Methodo bzw.
Discours de la méthode voran,6 in dem Descartes die Le-
bensmaxime formuliert, er wolle seine »Vernunft ausbil-
den und den Spuren der Wahrheit« nachgehen7. Es geht
um die Wissenschaft und ein in der Wissenschaft geführ-
tes Leben – um ein erwachsenes Leben, in dem man die
Entwicklung, die stattgefunden hat, ausdrücklich bejaht
und so modern sein will, wie man durch die Ausbildung

6 Vgl. Rethy (1976).


7 Descartes, Oeuvres VI,555; Discours de la méthode III,5.
124 Dialektiker unter sich

der Wissenschaft geworden ist: »Der wissenschaftliche


Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.«
(KSA 2,186; MA I,222) Damit ist jetzt die Position be-
stimmt, in der sich Nietzsche verstehen will.
Aber man sollte nicht glauben, Nietzsche widerrufe
nun auch die Wissenschaftskritik des Tragödien-Buches
und komme erst später, in der selbstkritischen Vorrede,
wieder auf diese zurück. Der Aphorismus 223 über die
»Abendröthe der Kunst« sagt ja deutlich genug, daß auch
hier schon »die Wissenschaft unter der Optik des Künst-
lers« gesehen werden soll: Sie und also auch ein wissen-
schaftlich geführtes Leben steht im Lichte der unterge-
gangenen Kunst. Daß die Wissenschaft sich aus der Kunst
»entwickelt« hat, wie Nietzsche es im Tragödien-Buch zu
zeigen versuchte, muß man wissen und im Sinn behalten,
wenn man Wissenschaft angemessen betreiben will. Was
oberflächlich als Absage an die Kunst erscheinen mag –
der Hinweis auf ihr Vergangensein, ist genauer betrachtet
ein Medikament gegen etwas, das Nietzsche als den »Erb-
fehler aller Philosophen« bezeichnet: gegen den »Mangel
an historischem Sinn« (KSA 2,24; MA I,2). Mit dem
»historischen Sinn« ist natürlich nicht jener übersteigerte
Historismus gemeint, der in der zweiten Unzeitgemäßen
Betrachtung kritisiert wird, also nicht jenes Sichverlieren
im Werden und in der vermeintlichen Objektivität einer
Fakten auf Fakten häufenden Geschichtswissenschaft.
Gemeint ist reflektierende Erinnerung: das Gegenwärtig-
halten des Vergangenen, aber ohne es naiv für gegenwärtig
zu nehmen, sondern gerade in seiner Andersheit – als Be-
zugs- und Orientierungspunkt, von dem her das Gegen-
wärtige sich verstehen läßt. Das »historische Philosophi-
ren« in diesem Sinn bleibt seiner eigenen Vorgeschichte in
der Kunst eingedenk und führt so über die Verschlossen-
heit einer sich absolut setzenden Wissenschaft hinaus.
»Abendröthe der Kunst« 125

Und mehr noch: Wenn zur Wissenschaft geworden


ist, was einst Kunst war, muß die Wissenschaft in sich
noch gleichen Wesens mit der Kunst sein – nicht Kunst
im Sinne jenes naiven Hervorbringens, wie es dargestellt
wurde, sondern eben die »Weiterentwicklung« der
Kunst: die Entfaltung ihrer Grundzüge und Möglich-
keiten auf anderer Stufe.
Daß es so ist und die Wissenschaft den Maßstab für den
gegenwärtigen Stand geistiger Tätigkeit abgibt, bestätigt
sich für Nietzsche nicht zuletzt durch die neuere Kunst.
Schon zu Anfang von Menschliches, Allzumenschliches I
hält er fest, daß »unsere Künste selber immer intellectua-
ler, unsere Sinne geistiger werden« (KSA 2,26; MA I,3).
Später, im vierten Hauptstück, wird das erläutert. Die Er-
fahrung der Kunst, sagt Nietzsche hier, sei inzwischen
dadurch geprägt, daß die Sinne »sogleich nach der Ver-
nunft, also nach dem ›es bedeutet‹ und nicht mehr nach
dem ›es ist‹ fragen«. In der Musik ertrügen wir komple-
xere Strukturen, »viel mehr ›Lärm‹«, weil wir eingeübt
seien, »auf die Vernunft in ihm hinzuhorchen«, und ent-
sprechend sei man auch in der Malerei »weit über Das
hinausgegangen, was man früher Farben- und Formen-
freude nannte« (KSA 2,177; MA I,217). Wie Nietzsche
hinzufügt, werde die Welt dadurch zwar »hässlicher als
je« (KSA 2,178; MA I,217), aber, wie schon im dritten
Aphorismus gesagt wird, ist dies die Kehrseite davon,
daß »das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich
fortwährend vertieft und erweitert« und »uns Allen der
geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste
Gliederbau und das erhabenste Bauwerk« (KSA 2,26;
MA I,3). Die neuere Kunst drängt vergeblich dahin,
Wissenschaft zu werden, und also muß die Wissenschaft
auf ihre Weise sein, was einmal die Kunst gewesen ist.
Das wiederum kann sie nur im Lichte der Kunst sein.
126 Dialektiker unter sich

So ist also die Situation, in der Nietzsche sich als Wis-


senschaftler, als Philosoph unter den Bedingungen der
Wissenschaft präsentiert. Es ist, verglichen mit der »Zeit
des sokratischen Menschen«, die Zeit einer neuen und
besseren Chance: die Wissenschaft kann und muß nun
übernommen werden, ohne daß die Gefahr ihrer Ver-
kapselung und einseitigen Behauptung gegen die Kunst
besteht. Vielmehr kann die Wissenschaft aus der Erinne-
rung an die Kunst als das, was sie ist, transparent sein.
Die Geschichte nimmt einen neuen Anfang, gerade da-
durch, daß man illusionslos zurückblickt und so ein
freies Verhältnis zu den Möglichkeiten der eigenen Ge-
genwart gewinnt.
Aber was hier neu, als eigentümliche Situation der
Moderne erscheinen mag, ist, wenn man genauer hin-
sieht, Wiederholung: Die skizzierte Einstellung bringt
Nietzsche in die Nähe jenes Philosophen, der aus der
Erinnerung an Sokrates zum Begründer aller späteren
Philosophie wurde: Platon.8 Dieser stand zum ersten
Mal, exemplarisch für alle spätere Zeit, vor der Aufgabe
einer Philosophie nach dem Ende der Kunst und mußte
versuchen, den ursprünglich kunstgebundenen Charak-
ter des Denkens zu wahren und dennoch seiner sich her-
ausbildenden Eigenständigkeit Genüge zu tun.
Nietzsche hat Platon immer bewundert, den »Zauber«
seiner »Denkweise« auf sich wirken lassen, »welche eine
vornehme Denkweise war« (KSA 5,28; JGB 14). Wie Pla-
ton wollte er selbst sein: jemand, der zwar nicht wie »der
jugendliche Tragödiendichter Plato« seine Dichtungen
verbrannt, aber doch immerhin seine naiv jugendliche
Begeisterung für die Kunst aufgegeben hatte; und vor al-

8 Wichtige Impulse für die Deutung von Nietzsches Verhältnis zu Pla-


ton gibt Picht (1988).
»Abendröthe der Kunst« 127

lem jemand, bei dem »unbesiegbare Anlagen gegen die


sokratischen Maximen ankämpften« (KSA 1,92; GT 14)
und die Kraft dieser Anlagen noch groß genug war, »um
die Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte
Stellungen zu drängen« (KSA 1,93; GT 14). Nietzsche
wollte Platon noch einmal sein und dennoch eigenstän-
dig, gleichsam spiegelverkehrt – das erklärt die gelegent-
lichen polemischen Spitzen.
In der Geburt der Tragödie hatte Nietzsche die – wie
er meint: durchaus fragwürdige – Leistung Platons in ei-
ner Neubestimmung der Kunst gesehen. Platon sei »in
der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst über-
haupt gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines
Meisters zurückgeblieben« und habe »doch aus voller
künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen
müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm
abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt« gewe-
sen sei (KSA 1,93; GT 14). Die Philosophie hatte dem-
nach zunächst keine andere Möglichkeit als die der
künstlerischen Form, wenn sie sich überhaupt artikulie-
ren wollte. Was man als wissenschaftliche Philosophie
im engeren Sinn kennt, bildet sich erst später heraus, in-
dem, wie Nietzsche es ausdrückt, »der philosophische
Gedanke die Kunst« dominiert und »überwächst« (KSA
1,94; GT 14). Aber das ist ja durch die Besinnung auf die
Herkunft der Philosophie aus der Kunst revidiert, und
die »Dominanz« des philosophischen Gedankens hat
zumindest ihre Selbstverständlichkeit verloren. Die Si-
tuation ist nun wieder ähnlich wie am Anfang der philo-
sophischen Tradition: Eine von der Kunst getrennte
Philosophie kann sich im Lichte der Kunst, in von der
Kunst eröffneten Möglichkeiten artikulieren.
Auch was das im einzelnen heißen soll, hat Nietzsche
am Platonischen Vorbild gezeigt. Seiner Beschreibung
128 Dialektiker unter sich

zufolge war bei Platon die Artikulation der Philoso-


phie durch eine »Mischung aller vorhandenen Stile und
Formen« geschehen, durch die Entwicklung einer Form,
die »zwischen Erzählung, Lyrisches, Drama, zwischen
Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch
das strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen
Form durchbrochen hat«. Das Ergebnis war der Plato-
nische Dialog; dieser sei »gleichsam der Kahn« gewesen,
»auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt al-
len ihren Kindern rettete« (KSA 1,93; GT 14). Ein flüch-
tiger Blick auf Nietzsches eigenes Werk reicht aus, um
zu sehen, daß er hier auch vorausahnend von sich selbst
spricht: Prosa und Poesie, Erzählung und Lyrisches,
Sentenz und Abhandlung, Ernstes und Spielerisch-Iro-
nisches sind bei ihm nicht weniger gemischt als im Pla-
tonischen Dialog. Und was im Platonischen Dialog
durch die wechselnde Konstellation der Gesprächspart-
ner ermöglicht worden war, ist in Nietzsches Werk
durch die meist »Aphorismus« genannte Form der
Kurzprosa bewirkt: es wird ein Mosaik von Korrespon-
denzen, verschiedenen Akzentuierungen und Sichtwei-
sen geschaffen, ein reiches, sich immer wieder neu zu-
sammenfügendes Spiel der Gedanken und Einsichten.
Im Tragödien-Buch erscheint die Heterogenität oder
Offenheit der literarischen Form bei Platon nur als
Symptom der Spätzeit, während die mit ihr verbun-
denen Darstellungs- und Einsichtsmöglichkeiten unbe-
dacht bleiben. Nietzsche spricht nur davon, daß die
Kunst hier zur Magd der Philosophie gemacht und »zu
einem engen Sich-Anklammern« (KSA 1,94; GT 14) an
deren Stamm genötigt werde. Doch ist klar, daß literari-
sche Formen zur Darstellung philosophischen Denkens
besonders gut geeignet sind, wo sie heterogen und offen
bleiben: So fehlt ihnen die verklärende Kraft, und sie
»Abendröthe der Kunst« 129

nehmen den Leser nicht gefangen. Damit ist Ähnliches


erreicht wie für den »wahrhaft aesthetischen Zuschauer«
der Tragödie, der an der jeweiligen Gestalt des Kunst-
werkes kein Genügen findet. Aber mit der Ähnlichkeit
tritt auch die Verschiedenheit hervor: Während es in der
ästhetischen Erfahrung um die Lösung von der jeweili-
gen Gestalt zugunsten anderer Gestalten, zugunsten des
Gestaltens überhaupt geht, weist das künstlerische Ge-
stalten in der Philosophie über jede Gestalt, über das
Gestalten hinaus.
Deshalb gehört, wie Nietzsche betont, zur Philoso-
phie die »Vorsicht im Schreiben«. Sie ist nach einer
Überlegung in Menschliches, Allzumenschliches I not-
wendig, weil sonst die sprachliche Form das Denken be-
stimmt und beschränkt. »Wer erst geschrieben hat«, sagt
Nietzsche, »und die Leidenschaft des Schreibens in sich
fühlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und erlebt, nur
Das noch heraus, was schriftstellerisch mittheilbar ist. Er
denkt nicht mehr an sich, sondern an den Schriftsteller
und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum
eigenen Gebrauche.« (KSA 2,167 f.; MA I,200) Deshalb
kann es kurz vorher in sentenzhafter Zuspitzung heißen:
»Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt,
Schriftsteller zu werden.« (KSA 2,164; MA I,192)
Das ist denkbar nahe an Platons Vorbehalt gegen die
schriftliche Mitteilung, wie sie im Phaidros, auch im
Siebten Brief artikuliert ist. Nur ist die Begründung des
Vorbehalts verschieden akzentuiert: Bei Platon erklärt er
sich im Hinblick auf den Leser und aus dem Verständnis
der Philosophie als eines lebendigen Gesprächs, das sich
im geschriebenen Text nur unvollkommen niederschlägt;
im Text sind Gedanken ein für alle Mal fixiert, so daß sie
nicht genauer erläutert oder gegen Verdacht, unplausibel
zu sein, verteidigt werden können. Für Nietzsche ist die
130 Dialektiker unter sich

Schrift im Hinblick auf den Denker und Autor selbst


problematisch. Dieser kommt durch das Schreiben in die
Gefahr, nicht mehr um die Aufrichtigkeit seines Den-
kens besorgt zu sein und bei der Mitteilung Zugeständ-
nisse zu machen: Aspekte seines Gedankens zu unter-
schlagen oder, schlimmer noch, diesen so zu formulie-
ren, daß er leichter Zustimmung und Beifall findet. In
ansprechender Formulierung, zugespitzt und aus seinem
Kontext herausgehoben, findet ein Gedanke oft leichter
die Aufmerksamkeit eines Lesers und ist so doch nicht
mehr der eigene Gedanke.9
Nun meint Nietzsche nicht, man solle sich philoso-
phierend des Schreibens enthalten, sondern nur, man
solle sich der Gefahren des Schreibens bewußt sein und
darauf achten, daß es zwischen Denken und Schreiben
eine Zäsur gibt: etwas löst sich heraus, isoliert sich, und
erst dadurch ist umrissen, was man »einen Gedanken«
nennt. Nicht das Denken, wohl aber der formulierte Ge-
danke ist ein rhetorisches Phänomen: es geht nicht mehr
um die Einsicht »zum eigenen Gebrauche«, sondern
darum, wie etwas sich möglichst überzeugungskräftig
vertreten läßt.
Man soll also, wo es ums Denken geht, zunächst an
sich selbst denken; aufrichtiges Philosophieren ist nur
möglich, wo es von einer »Sorge um sich«10 geführt

9 Überlegungen wie diese sollten bedacht werden, wenn man Nietz-


sches Verhältnis zur Rhetorik bestimmen will. Zwar hat Nietzsche
seine Konzeption der Sprache unzweifelhaft bei der Beschäftigung
mit der rhetorischen Tradition gewonnen; aber daraus sollte man
eben nicht schließen, Nietzsche habe sein philosophisches Denken
ganz der Rhetorik unterstellt, wie es z. B. de Man (1979), Kap. 5,
sieht. Zu Nietzsches Verhältnis zur rhetorischen Tradition vgl. Kop-
perschmidt/Schanze (1994) und Klein (1997).
10 Foucault hat den Begriff in die neuere Debatte eingeführt. Vgl.
Foucault (1984), Bd. 3; Hadot (1987).
»Abendröthe der Kunst« 131

wird. Es gehört ins Leben und hat allein dadurch seine


Aufrichtigkeit und Freiheit, seine Beweglichkeit und die
Bereitschaft zur Selbstkorrektur, zur Vorläufigkeit und
dazu, immer wieder neu zu beginnen. Und damit auf
dem Geschriebenen wenigstens ein Abglanz des so ver-
standenen Denkens liegt, muß man versuchen, seine Le-
bendigkeit darzustellen: im Unterbrechen, Neuanfan-
gen, Sich-ins-Wort-fallen und dadurch, daß man seine
Gedanken so miteinander verwebt, aufeinander verwei-
sen läßt, daß etwas von ihrer Komplexität und Kontex-
tualität erfahrbar wird.
Doch selbst, wo das gelingt wie in Nietzsches Apho-
rismenbüchern, besteht die Gefahr, daß der Text für das
Denken genommen wird. Deshalb muß der Leser wis-
sen, daß der Autor immer schon weiter ist, über das Ge-
schriebene hinaus. Er soll das fertige Werk nicht über-
schätzen, das immer nur festhält und, indem es festhält,
das lebendige Denken verrät und nur enthält, was seine
Lebendigkeit schon verloren hat. Die Eule der Minerva,
hat Hegel einmal geschrieben, beginne »erst mit der ein-
brechenden Dämmerung ihren Flug«, die Philosophie
komme »immer zu spät« und erkenne etwas erst, »nach-
dem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet
und sich fertig gemacht« habe.11 Nietzsches Version da-
von ist der letzte Aphorismus von Jenseits von Gut und
Böse, in dem von den »geschriebenen und gemalten Ge-
danken« die Rede ist, die ihre Neuheit schon »ausgezo-
gen« haben und von denen einige furchtbarerweise be-
reit sind, »zu Wahrheiten zu werden: so unsterblich sehn
sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so lang-
weilig« (KSA 5,239; JGB 296). Was wie unsterblich er-
scheint, ist jedoch nur erstarrt. Es ist Abbild geworden,

11 Hegel, Werke, Bd. 7, S. 28; Rechtsphilosophie, Vorrede.


132 Dialektiker unter sich

leere Hülle wie eine Muschel, aus der das Leben gewi-
chen ist.
Noch einmal: Ähnliches könnte auch Platon gesagt
haben. Seine Dialogkunst ist ja ein Versuch, den Leser
ans lebendige Denken zu erinnern und gegenwärtig zu
halten, daß es nicht um abstrakte Lehren, um »Wahrhei-
ten« geht, sondern um Gedanken, die in den Zusam-
menhang des Lebens gehören. Philosophie, das ist die
von Platon allen Späteren mitgeteilte Überzeugung, läßt
sich nur als philosophisches Leben, als das Leben des
Philosophen verstehen. Und dieser existiert nie allge-
mein, sondern als dieser Bestimmte und Einzelne, so als
dieses Individuum Sokrates. Deshalb steht Sokrates im
Zentrum Platonischer Dialoge, genauer derjenigen, die
zeigen wollen, was Philosophie, was philosophisches
Leben überhaupt ist. Und deshalb hat Nietzsche als Phi-
losoph nicht nur platonische, sondern auch sokratische
Züge – unwillentlich und ohne daß sie in seinem Sokra-
tes-Bild reflektiert wären.
Mit Platons Stellung zwischen Kunst und Philosophie
und der aus ihr entwickelten Einsicht in die Schwierigkei-
ten und Gefahren der schriftlichen Mitteilung scheint nun
allerdings der einzige Anknüpfungspunkt für Nietzsche
gegeben zu sein. Denn Platon, daran läßt Nietzsche kei-
nen Zweifel, ist bei aller Verschiedenheit von Sokrates
doch Sokratiker im Sinne von Nietzsches Sokrates-Bild
gewesen; er hat die Sokratische Modifikation der apolli-
nischen Kunst zur Philosophie aufgenommen und sogar
noch radikalisiert, indem er das theoretische Neinsagen
zu Schein und Erscheinung begründen wollte und des-
halb bestrebt war, »die jener Pseudo-Wirklichkeit« des
Erscheinenden »zu Grunde liegende Idee darzustellen«
(KSA 1,93; GT 14). Platon mit seiner »Ideomanie«, sei-
nem »fast religiösen Formen-Wahnsinn« (KSA 3,597;
»Scheidung der Welt« 133

FW 357), ist so der Erfinder des Idealismus und der Me-


taphysik, jener Wissenschaft, »welche von den Grund-
irrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es
Grundwahrheiten« (KSA 2,40; MA I,19).
Aus Nietzsches Überlegungen zur »Vorsicht im
Schreiben« sollte man jedoch gelernt haben, gegenüber
derart pointensicheren Formulierungen vorsichtig zu
sein; die Gefahr sprachlicher Festlegung, die immer auch
eine Gefahr des Vergröberns ist, betrifft neben dem Au-
tor auch den Leser. Also hilft im Hinblick auf Nietz-
sches Verhältnis zu Platon nur eine Differenzierung, die
scheinbare Verständlichkeiten auflöst. Dabei geht es um
die Frage, was Metaphysik ist – was Nietzsche darunter
versteht und wie sich sein Denken dazu verhält.

4. »Scheidung der Welt«

Aufschlußreich ist dafür zunächst der Aphorismus 5 aus


Menschliches, Allzumenschliches I, mit der Überschrift
»Missverständniss des Traumes«. Was aus der Geburt
der Tragödie als apollinische Grunderfahrung bekannt
ist, kann, wie Nietzsche meint, zugleich das metaphysi-
sche Denken verständlich machen: »Im Traume glaubte
der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cul-
tur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der
Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man
keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden.«
(KSA 2,27; MA I,5)
Metaphysik ist also »Scheidung der Welt«, und das
heißt: Auslegung, aber auch Bekräftigung und Verfesti-
134 Dialektiker unter sich

gung jener Abstandnahme, die sich im Traum unmittel-


bar erleben läßt. So gesehen ist sie nicht bloß »Missver-
ständnis des Traumes«, sondern ebenso des Bildes: des-
sen Scheincharakter wird nicht als ungegenständliche
Einheit des Lebens genommen, sondern als Sein aus-
drücklich gemacht – als ein anderes, zweites Sein, das
dem ersten gegenübersteht. Metaphysik ist Bilderfah-
rung, die ein Bild festhalten will und es für ebenso wirk-
lich hält wie das nicht bildhafte Leben.
Allerdings ist das »Missverständnis des Traumes«
in diesem angelegt, zumindest, wenn man sich an der
Traumbeschreibung des Tragödien-Buches orientiert:
Zum Traum gehört ja seine ausdrückliche Differenz vom
alltäglichen Leben, und nicht zuletzt diese macht seine
Anziehungskraft aus. Wer träumt, hatte es in der Geburt
der Tragödie geheißen, »sieht gern und genau zu«, denn
aus den Bildern, die er sieht, »deutet er sich das Leben«
(KSA 1,27; GT 1). Dazu aber muß man auf die Bilder
vertrauen, sich an ihnen orientieren. Einen Gesichts-
punkt für das Verständnis des Lebens geben sie nur ab,
wo sie eine gewisse Selbständigkeit bekommen und so
wenigstens tendenziell den Charakter einer »zweiten
realen Welt« annehmen.
Man braucht also, wenn nicht die »zweite reale Welt«,
so doch wenigstens dieselbe Welt in anderer Hinsicht,
damit das Leben verständlich, deutbar, erkennbar ist.
Alles Verstehen, Deuten und Erkennen besteht darin, et-
was von etwas her zu erfassen und es nicht in dumpfer
Vorfindlichkeit zu nehmen; so versteht man den Blick in
die Landschaft von einem Gemälde her, deutet einen Le-
benskonflikt nach dem Muster eines Dramas und er-
kennt das Tier dort als Katze nach dem Bild, das man
vom Aussehen der Katze hat.
Orientierungen dieser Art können isoliert sein und
»Scheidung der Welt« 135

für sich erfahren werden. Doch sind sie immer auch mit-
einander verbunden und bilden so ein mehr oder weni-
ger dicht geknüpftes Orientierungsnetz. Sie lassen sich
deshalb auch im Ganzen befragen, unter dem Gesichts-
punkt, wie sich das Leben überhaupt führen läßt. Nun
will man wissen, welche Gesamtorientierung »dem Le-
ben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung ge-
ben« (KSA 2,28; MA I,6) kann; es geht um den »Sinn«,12
um den Orientierungsrahmen des Lebens, um die Frage,
von woher sich das Leben im Ganzen verstehen läßt.
Das aber ist die philosophische, die metaphysische
Frage par excellence. Ihretwegen gibt es »in allen Philo-
sophien so viel hochfliegende Metaphysik«: die Nei-
gung, der Erkenntnis »den höchsten Nutzen zuzuschrei-
ben« (KSA 2,28; MA I,6) – besonders natürlich der phi-
losophischen Erkenntnis, die verspricht, was man ein
Weltbild13 nennen könnte: ein Bild, von dem her sich das
Leben im Ganzen erschließt.
Doch je umfassender eine Fragestellung ist, desto
mehr ist sie auch mit Erwartungen belastet, und das be-
einträchtigt, wie Nietzsche denkt, ihre Sachlichkeit. »Die
abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft« könn-
ten »rein sachlich behandelt« werden; bei »allgemeinen
grossen Wissenschaften« komme die Frage »wozu? zu
welchem Nutzen?« ins Spiel, und diese dominiere bei
der Philosophie, an »der Spitze der gesammten Wissens-
pyramide« (KSA 2,27; MA I,6). Wo der Abstand von
den Lebenszusammenhängen in ihrer Vielfalt und Un-
überschaubarkeit am größten scheint, ist die Erkenntnis,

12 Gerhardt hat darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsche als erster


die heute geläufig gewordene Formel vom »Sinn des Lebens« ver-
wendet, und zwar in einer Nachlaßnotiz aus dem Jahr 1875 (KSA
8,32; N 1875, 3[63]); vgl. Gerhardt (1992), S. 21.
13 Zu diesem Begriff vgl. Heidegger (1938).
136 Dialektiker unter sich

genauer betrachtet, am tiefsten ins Leben verstrickt. Die


Philosophie, so faßt Nietzsche diesen Gedanken einmal
zusammen, »schied sich von der Wissenschaft, als sie die
Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt
und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklich-
sten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen:
durch den Gesichtspunct des Glücks unterband man die
Blutadern der wissenschaftlichen Forschung – und thut
es heute noch« (KSA 2,28; MA I,7). Durch den »Ge-
sichtspunct des Glücks«, durch die von Sokrates immer
wieder gestellte Frage, wie man leben soll, wird die Wis-
senschaft zur »Dichtung des Lebens«.
Daß es eine Dichtung des Lebens von besonderer Art
ist, hatte Nietzsche schon an der verdeckten Künstlerna-
tur des Sokrates gezeigt; hier war deutlich geworden,
wie sie mit dem Mythos der totalen Enthüllung zusam-
mengehört: Die Philosophen deuten das Leben im gan-
zen und tun doch so, als ob sie es erkennen würden, als
ob es hier nichts gäbe außer Hinschauen und Aufzeigen.
In der Fröhlichen Wissenschaft kommt Nietzsche dar-
auf dann noch einmal zurück und spricht vom »Wahn
der Contemplativen« (KSA 3,539; FW 301), von der
Illusion, »als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse
Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben
ist«; wer als Philosoph in diesem Wahn befangen sei,
übersehe, »dass er selber auch der eigentliche Dichter
und Fortdichter des Lebens ist« (KSA 3,540; FW 301).
Zuvor, im Aphorismus 299, war übrigens zum ersten
Mal vom »Dichter unseres Lebens« die Rede gewesen.
Und dann, wie so oft den Leser als seinesgleichen ins
Vertrauen ziehend: »Wir, die Denkend-Empfindenden,
sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das
noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von
Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufen-
»Scheidung der Welt« 137

leitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns


erfundene Dichtung wird fortwährend von den soge-
nannten practischen Menschen [. . .] eingelernt, eingeübt,
in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt.«
Philosophen sind Weltbildentwerfer, die zwar auch die
Kraft hinzusehen, »vis contemplativa«, haben müssen,
aber vor allem doch Hervorbringungskraft, »vis crea-
tiva«, damit sie machen können, was »noch nicht da ist«:
eine geordnete, gegliederte und gewertete Welt – »die
Welt, die den Menschen Etwas angeht« (KSA 3,540; FW
3). Eine solche Welt gibt es nicht einfach und ein für alle
Mal; sie muß hervorgebracht, und das heißt nach einer
Bestimmung in Platons Sophistes: ins Sein geführt wer-
den (Soph. 219b).
Aber es ist fraglich, ob die im Lichte der Kunst geführte
Selbstaufklärung der Philosophie, wie sie hier vorge-
schlagen wird, erfolgreich sein kann. Wo ein Weltbildent-
wurf unter dem Gesichtspunkt des »Glücks« steht und
von der Frage nach dem sinnvollen Leben geführt ist,
wird die hervorgebrachte Welt im Nu verbindlich: der
»eigentliche Dichter des Lebens« tritt in seine Dichtung
ein und versteht sich in deren Horizont: als jemand, der
»die Welt, die den Menschen Etwas angeht«, erkennt und
aufzeigt und von ihr her das menschliche Leben deutet.
So erweist sich die eigentliche Dichtung des Lebens als
Metaphysik, und zugleich wird offenbar, daß sie immer
schon metaphysisch gewesen ist: Der Entwurf eines Welt-
bildes schließt dessen Verbindlichkeit ein.
Also läßt sich die Metaphysik, verstanden als Welt-
bildentwurf, nicht allein dadurch korrigieren, daß man
sie ins Licht der Kunst stellt, denn Metaphysik ist eine
Dichtung besonderer Art: über ihre Grundfrage nach
einer »Welt, die den Menschen Etwas angeht«, führt
nichts hinaus, auch wenn einzelne Weltbildentwürfe sich
138 Dialektiker unter sich

in Frage stellen, modifizieren oder ersetzen lassen. Ge-


rade, wo es darum geht, den Zusammenhang des Lebens
neu zu erdichten, ist die Grundfrage und mit ihr auch
die erwartete Verbindlichkeit des Entwurfes im Spiel.
Also ist die philosophische Selbstaufklärung an eine
andere Instanz als die Kunst verwiesen. Damit man in
der Geschlossenheit metaphysischer Weltbildentwürfe
nicht gefangen bleibt, bedarf es der Wissenschaft und da-
bei vor allem einer Schätzung der »kleinen unschein-
baren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefun-
den wurden« und, wie Nietzsche hinzufügt, »höher zu
schätzen« seien »als die beglückenden und blendenden
Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen
Zeitaltern und Menschen entstammen« (KSA 2,25; MA
I,3). Nur durch Differenz, nur im Streit gibt es Einsicht:
Wie im Lichte der Kunst erscheint, was die Wissenschaft
eigentlich ist, ergibt sich Klarheit über die Kunst meta-
physischer Weltbilder nur durch die Wissenschaft. Wis-
senschaft ist aufgrund ihrer unprätentiösen Sachlichkeit
Aufklärung der Metaphysik.
An der Oberfläche liest sich Nietzsches Programm
einer solchen Aufklärung wie manch anderes aus sei-
ner Zeit: metaphysikfeindlich und wissenschaftsgläu-
big.14 Die Schätzung der »kleinen unscheinbaren Wahr-
heiten« sei »bescheiden, schlicht, nüchtern«, ja »männ-
lich«, sie zeige »Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit«
an, und allmählich werde »die gesammte Menschheit zu
dieser Männlichkeit emporgehoben« werden (KSA 2,25;
MA I,3). Zwar würden die »Verehrer der Formen« zu-
nächst »gute Gründe zu spotten haben«; aber das werde

14 Zur Wissenschaftlichkeit von Nietzsches Denken vgl. Gerhardt


(1988), S. 163–187.
»Scheidung der Welt« 139

wohl daran liegen, daß »ihr Auge sich noch nicht dem
Reiz der schlichtesten Formen erschlossen« habe; mögli-
cherweise auch daran, daß »die in jenem Geiste erzo-
genen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich
von ihm durchdrungen« seien, »so dass sie immer noch
gedankenlos alte Formen« nachmachten – »und diess
schlecht genug, wie es Jemand thut, dem nicht mehr viel
an einer Sache liegt«. Aber schließlich werde man erken-
nen, wie sehr das »Ausspinnen von Symbolen und For-
men« inzwischen ein »Kennzeichen der niederen Cul-
tur« sei (KSA 2,26; MA I,3).
Man wird Nietzsche kaum noch unterstellen, er ha-
be seine Wissenschaftskritik vergessen, wenn man die
ebenso subtilen wie deutlichen Anspielungen dieser
Sätze versteht. Die »Freunde der Formen« sind leicht als
die »Freunde der Ideen« ( 7 nO Q "* r ª aO … "* r { ıO F 7 « ) erkenn-
bar, von denen in Platons Sophistes (erstmals 248a) die
Rede ist: als die reinen und zum Dogmatismus neigen-
den Vertreter der sogenannten Ideenlehre mithin, die im
Verlauf des Dialogs zu einer Modifikation ihrer reinen
Lehre genötigt werden. Um eine solche Modifikation
geht es auch Nietzsche: Er will die Freunde der Formen
an die »schlichteste Form« gewöhnen, und dabei ist er
überzeugt davon, daß sich der Geist, in dem sie erzogen
wurden, erst so wirklich zur Geltung bringen ließe; nur
wer die »schlichteste Form« erkennt, ist von diesem
Geist »völlig und innerlich« durchdrungen. Also geht es
bei der Wissenschaft, die Nietzsche favorisiert, um die
richtige Weise, mit Formen umzugehen – dies und nicht
der Mythos der totalen Enthüllung wird den Trivialme-
taphysikern, denen an ihrer Sache nichts mehr liegt, ent-
gegengehalten. Bei Platon gab es für das, was Nietzsche
hier »Wissenschaft« nennt, einen anderen Namen: Dia-
140 Dialektiker unter sich

lektik.15 Es geht, unter beiden Bezeichnungen, um ein


Denken nach dem Ende der Kunst, eine relativierende,
aufklärende Ergänzung der Dichtung des Lebens.

5. »Neue Erfindung des vernünftigen Denkens«

Sein wissenschaftliches Programm formuliert Nietzsche


schon im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzu-
menschliches I; es sind die ersten Sätze des Buches über-
haupt, und so ist an ihrem Anspruch kaum ein Zweifel
möglich:
Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wie-
der fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage
an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas
aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel
Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes
aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses
Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für
Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern?
(KSA 2,23; MA I,1)
Acht Jahre später, in Jenseits von Gut und Böse, klingt
es ganz ähnlich: »Wie könnte Etwas aus seinem Gegen-
satz entstehn?« und auch die Beispiele sind zum Teil
dieselben: Wahrheit und Irrtum, Selbstlosigkeit und Ei-
gennutz, »das rein sonnenhafte Schauen des Weisen«
und die »Begehrlichkeit« (KSA 5,16; JGB 2). Auch wo
15 Also müßte man der These von Deleuze (1962), Nietzsche habe nicht
dialektisch gedacht, widersprechen. Aber Deleuze denkt auch nur an
Hegels Dialektik, nicht an diejenige Platons.
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 141

Nietzsche die Frage nicht ausdrücklich stellt, wird er sie


immer wieder zu beantworten suchen, so daß man sie als
Leitfrage seiner ›wissenschaftlichen‹ Philosophie verste-
hen kann.
Vor allem hat die Frage jedoch Schlüsselcharakter für
Nietzsches Verständnis der Metaphysik. Sie ist, wie
Nietzsche denkt, durch die Metaphysik und die in ihr
vorgenommene »Scheidung der Welt« nur scheinhaft be-
antwortet und damit nicht ernstgenommen worden. Die
»metaphysische Philosophie«, heißt es in Menschliches,
Allzumenschliches I, habe sich über die Frage hinwegge-
holfen, »insofern sie die Entstehung des Einen aus dem
Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge
einen Wunder-Ursprung« angenommen habe, »unmit-
telbar aus dem Kern und Wesen des ›Dinges an sich‹
heraus« (KSA 2,23; MA I,1). Sie habe, nach der korre-
spondierenden Stelle im späteren Buch, geglaubt, »im
Schoosse des Sein’s, im Unvergänglichen, im verbor-
genen Gotte, im ›Ding an sich‹ müsse ihr Grund lie-
gen« (KSA 5,16; JGB 2). Etwas ist, was es ist, und mit
seinem Gegenteil hat es nichts zu tun – gegen diese und
ähnliche Glaubensartikel konzipiert Nietzsche seine
»historische Philosophie«: als planvolle Aufmerksam-
keit auf das Werden und damit als Relativierung der
starren Gegensätze im Anschein des Seins.
Aber es kann nicht darum gehen, die Gegensätze auf-
zulösen, weil das Denken dann jede Kontur verlöre und
im Einerlei unterginge. Wie anders als in Unterschei-
dungen, Gegensätzen soll man denken? Es geht allein
darum, nicht in ihnen befangen zu bleiben. Entspre-
chend löst sich auch mit der Relativierung der Gegen-
sätze die metaphysische »Scheidung« oder besser: »Un-
terscheidung« der Welt nicht auf. Sie wird nur anders
akzentuiert – anders als das bei den »Ideenfreunden« der
142 Dialektiker unter sich

Fall war. Und dann erscheint auch das Programm einer


Relativierung der Gegensätze nicht mehr so metaphy-
sikkritisch wie auf den ersten Blick, sondern eher als ein
Versuch, gegen die Dogmatisierung der Gegensätze eine
offene Fragestellung wiederzugewinnen. Nietzsche rich-
tet sich gegen eine Position, wie sie für ihn bei Platon
repräsentiert ist, und kommt mit seinem Versuch einer
Öffnung des Denkens zugleich auf Platon zurück.
Nietzsches Charakterisierung der Metaphysik im Hin-
blick auf das Problem der Gegensätze ist nämlich Anspie-
lung und Replik auf eine entsprechende Debatte im Pla-
tonischen Phaidon. Hier geht es, in der Frage nach der
Unsterblichkeit der Seele, zunächst darum, ob aus den
Toten, die im Hades sind, wieder Lebende werden kön-
nen, so wie zuvor aus den Lebenden Tote geworden sind.
Dem gibt Sokrates nun eine grundsätzliche Wendung, in-
dem er sagt, alles, bei dem es ein Entstehen gäbe, komme
nirgend anders her als aus dem Gegenteil, sofern es ein
solches gebe, wie zum Beispiel das Schöne dem Häßlichen
Gegenteil sei und das Gerechte dem Ungerechten und
ebenso tausend anderes (Phaid. 70d–e).
Erläutert wird das nun freilich nicht an einfachen Be-
zeichnungen wie »schön« und »häßlich«, sondern an
Komparativen wie »größer« und »kleiner«, »stärker«
und »schwächer«, »langsamer« und »schneller«, auch
»gerechter« und »ungerechter«. Das leuchtet auch be-
sonders gut ein: Wer größer, stärker oder schneller wird,
ist zuvor kleiner, schwächer oder langsamer gewesen.
Der neue Zustand läßt sich nur relativ zum vorausge-
henden fassen – oder er ließe sich fassen, wenn das Vor-
ausgehende überhaupt ein Zustand wäre und nicht selbst
wieder nur etwas Relatives: ein Übergang, der als Über-
gang betrachtet schon wieder verschwunden, weil zum
nächsten Übergang geworden ist. In komparativen Ver-
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 143

hältnissen wie den skizzierten zeigt sich also »das souve-


raine Werden«.
Der Gedanke ist im Phaidon allerdings zurückgehal-
ten, bestenfalls angedeutet. Erst später, im Philebos, läßt
Platon seinen philosophischen Helden auf das Problem
noch einmal zurückkommen. Hier wird gezeigt, daß mit
Relationsbegriffen wie den genannten das »Grenzen-
lose« oder »Unbestimmte« ( D¥ y ª O / 7 r ) gemeint ist – das
Wesen des »souverainen Werdens«: Alles, was »mehr-
und-weniger« ( Q æ7 U "¥ F F ı7 r Q ª % ¥ æO A` Q Q 7 r ) werden kann,
ist als solches ohne bestimmte Größe und deshalb immer
nur im Übergang. Die bestimmte Größe wäre demge-
genüber ein Zustand und damit ein Ende des Überge-
hens; sofern etwas maßvoll, in sich bestimmt ist, verän-
dert es sich nicht (Phileb. 24a–d).
Das gilt jedoch nicht nur für die bestimmte Größe,
sondern grundsätzlicher noch für die Möglichkeit, et-
was, das »mehr oder weniger« sein kann, in seiner Be-
stimmtheit zu verstehen. Der Bewegung des Übergehens
ist nicht zu entnehmen, um was für einen Übergang es
sich jeweils handelt; man weiß nicht, was es ist, von dem
aus oder in das etwas übergeht. Um zu verstehen, daß
etwas »größer« oder »kleiner« wird, muß man wissen,
was »groß« bedeutet und was »klein«.
Damit aber, so meint der Platonische Sokrates im
Phaidon, sei ein Gegensatz ins Spiel gekommen, bei dem
das Entgegengesetzte nicht mehr auseinander hervorge-
hen oder ineinander übergehen könne: die Größe selbst
werde niemals klein werden. Aber mehr noch: auch wo
man von etwas sagt, daß es groß ist, wird dieses Groß-
sein niemals das Kleine aufnehmen, sondern entweder
Platz machen, sobald das Kleine als das Gegenteil heran-
kommt, oder verschwinden (Phaid. 102d–e). Was sich je-
weils zeigt und was wir verstehen, wo wir von etwas sa-
144 Dialektiker unter sich

gen, es sei groß, verändert sich nicht. Es gehört nicht ins


Werden, sondern ist eine Bestimmung des Seins.
Also müßte man Nietzsches Behauptung widerspre-
chen, die »metaphysische Philosophie« habe »die Ent-
stehung des Einen aus dem Anderen«, das ihm entge-
gengesetzt ist, geleugnet (KSA 2,23; MA I,1). Im Phai-
don, unzweifelhaft einem Text der »metaphysischen
Philosophie« und vielleicht sogar ihrem Grundtext, soll
vielmehr die Möglichkeit solchen Werdens verständlich
gemacht werden. Dazu aber, betont Sokrates, müsse
man zwischen den einander entgegengesetzten Dingen
und dem, wodurch etwas, das man so und so nennt, sei-
nen Namen hat, unterscheiden und sagen, daß dieses nie
ein Übergehen ineinander zuläßt (Phaid. 103b–c). Die
sich verändernden Dinge müssen von etwas her, das von
ihnen unterschieden ist, verstanden werden, damit sie
überhaupt verständlich sind. Das ist die metaphysische
Scheidung oder Unterscheidung der Welt, man kann
auch sagen: die metaphysische Differenz.
Natürlich ist hier von den Ideen die Rede; sie geben
dem, was in bestimmter Weise ist, eben diese Bestimmt-
heit. Was man eigentlich versteht, wo etwas als groß
oder klein oder schön erscheint und als solches erkannt
wird, ist eine Idee – nicht dieses schön erscheinende
Ding, dieser schön erscheinende Mensch, sondern »das
Schön«, das man in beiden Fällen, Ding oder Mensch,
erfährt. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Sokrates
sagt, daß etwas dadurch schön sei, daß es »an jenem
Schön« teilhabe (Phaid. 100c).
Doch wer hier mit dogmatischem Anspruch vorgetra-
gene Gedanken über das Sein der Ideen erwartet, speku-
lative Mitteilungen über die nur schwer faßbaren Enti-
täten einer anderen und »intelligiblen« Welt, sieht sich
getäuscht. Sokrates behandelt die Ideen geradezu respekt-
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 145

los: etwas oft Durchgeschwätztes und entsprechend Ab-


gedroschenes nennt er sie ( y 7 F f ? / ıf F ` Q ¥ ; Phaid. 100b),
und seine Überzeugung, etwas sei durch Teilhabe am
Schönen schön, kommt ihm simpel, fast einfältig vor
(Phaid. 100d). Auch scheint ihm eine nähere Auskunft,
was mit der »Teilhabe« von etwas an einer Idee gemeint
sei, nicht wichtig; ob man, bezogen auf das jeweils Er-
scheinende, von der Anwesenheit des Schönen sprechen
soll oder von der Gemeinschaft mit ihm, glaubt er offen
lassen zu können (Phaid. 100d).
Aufschluß über den Grund für seine Sorglosigkeit
gibt Sokrates selbst, wenn er sagt, er setze die Ideen vor-
aus ( nf y 7 ? ıª U ª r 7 W ; Phaid. 100b). Das ist im Sinne eines
Vertrauens gemeint, das jede weitere Frage nach Erläute-
rung und Begründung ausschließt, nicht im Sinne einer
Annahme auf Probe. Sokrates hält sich an die Ideen, er
verläßt sich auf ein Verständnis, wie es unter Vorausset-
zung der Ideen möglich ist, weil er sich auf die Frage, auf
welche Weise und von woher etwas schön oder anders-
wie sei, nicht einlassen will; Erklärungen dieser Art hält
er für verwirrend (Phaid. 100d). Etwas ist schön, weil es
schön ist; was »schön« eigentlich heißt oder »groß« oder
»gerade«, läßt sich nicht weiter ableiten und derart er-
klären – darauf läuft alles, was Sokrates hier zu den
Ideen sagt, hinaus. Ideen sind keine für sich existieren-
den Quasigegenstände, sondern Einheitsgesichtspunkte,
unter denen man etwas an einer Sache versteht und ent-
sprechend hervorheben kann.
Wenn es sich so verhält, ist Nietzsches Versuch eines
antidogmatischen Abbaus der platonischen Ideenan-
nahme ohne die beabsichtigte Pointe. Die schon im Tra-
gödien-Buch artikulierte Unterstellung, mit den Ideen
solle das der »Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende«
(KSA 1,93; GT 14) geltend gemacht werden, das eigent-
146 Dialektiker unter sich

lich Wirkliche hinter dem, was nur als wirklich er-


scheint, läßt sich nicht halten. Was Nietzsche als den
nachvollziehbaren, aber versteckten Grund der Ideenan-
nahme zu ihrer Entlarvung herausarbeiten will, ist kaum
anderes als das, was mit ihr gemeint war.
Man lese dazu einen Text aus dem erst 1887 hinzu-
gefügten fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, der
dem »Ursprung unseres Begriffs ›Erkenntniss‹« gewid-
met ist. Erkenntnis, sagt Nietzsche hier, sei »Nichts wei-
ter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zu-
rückgeführt werden« (KSA 3,593 f.; FW 355). Und dann
heißt es:
Und wir Philosophen – haben wir unter Erkennt-
niss eigentlich mehr verstanden? Das Bekannte, das
heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns
nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend
eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in
dem wir uns zu Hause wissen: – wie? ist unser Be-
dürfniss nach dem Erkennen nicht eben dies Be-
dürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem
Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas
aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte
es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erken-
nen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden
nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Si-
cherheitsgefühls sein? . . . Dieser Philosoph wähnte
die Welt »erkannt«, als er sie auf die »Idee« zurück-
geführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm
die »Idee« so bekannt, so gewohnt war? weil er sich
so wenig mehr vor der »Idee« fürchtete?
(KSA 3,594; FW 355)
Der hier artikulierte Grundgedanke könnte aus
Nietzsches Einwänden gegen den »Realismus« in der
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 147

Fröhlichen Wissenschaft noch im Gedächtnis sein. Auch


dort hatte er auf die Gewohnheit rekurriert, um die Her-
kunft der Realitätsunterstellung plausibel zu machen.
»Herkunft, Vergangenheit, Vorschule« (KSA 3,422; FW
57) – das sind Faktoren, durch die sich so etwas wie Ge-
wohnheit, Lebensstabilität herausbildet, so daß man sich
zu orientieren vermag. Und immer geht es beim Erken-
nen darum, etwas Neues, Befremdliches in den Rahmen
der bekannten und vertrauten Schemata zu stellen. Er-
kanntsein ist Bekanntgewordensein – dafür steht schon
die sokratische Erläuterung des Wissens als »Erinne-
rung« (Men. 81c–d).
Ideen aber sind, weil man sie immer wieder erkennt,
das Bekannte par excellence, die Bedingungen dafür, daß
etwas Begegnendes als bekannt erscheinen kann: etwas
ist schön, weil es schön ist – weil man es als etwas er-
kennt, als welches man auch schon anderes erkannte.
Mag sein, daß, wie Nietzsche betont, das Bekannte par
excellence nicht einfach gegeben ist, sondern in kultur-
oder gattungsgeschichtlicher Bildung entwickelt wurde,
so daß »die Kraft der Erkenntnisse [. . .] in ihrem Alter,
ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedin-
gung« (KSA 3,469; FW 110) liegt. Aber nichtsdesto-
weniger ist sie doch Kraft der Erkenntnis, indem sie
die Welt unter bestimmten Gesichtspunkten aufschließt.
Ideen bilden den Horizont dieser aufgeschlossenen
Welt, als Aufschließungsgesichtspunkte, die nur wirken,
wo sie sind und nicht werden.
Das Sokratische Plädoyer für das Vertrauen auf die
Ideen kann deshalb auch als Selbstbeschränkung, als
Konzentration auf die Innenseite einer verständlichen
Welt gedeutet werden. Sokrates will sich, wie erwähnt,
durch andere Erklärungen, warum etwas so ist, wie es
ist, nicht verwirren lassen; die Frage nach der Herkunft
148 Dialektiker unter sich

des Verständlichen, nach seinem Entstehen täuscht für


ihn nur darüber hinweg, daß Verständlichkeit unhinter-
gehbar ist und alles, was sich verändert, in den Zusam-
menhang einer verständlichen Welt gehört.
Gerade dies aber wird von Nietzsche bezweifelt, und
damit ist das eigentliche Motiv seines Programms einer
Relativierung der Gegensätze genannt: Nietzsche will
nicht nur auf die Zusammengehörigkeit des Gegensätz-
lichen im Werden aufmerksam machen – das hat, wie
man gesehen hat, der Platonische Sokrates auch schon
getan. Sondern Nietzsche will den Grundgegensatz von
Werden und Sein selbst relativieren und so die sokrati-
sche Beschränkung auf die Innenseite der verständlichen
Welt als problematisch erweisen.
Das ist der Hintergrund, wenn Nietzsche fragt, wie
die »Kraft« der Erkenntnis erworben wurde, oder wenn
er die »Herkunft des Logischen« erkunden will: »Woher
ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Ge-
wiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich unge-
heuer gewesen sein muss.« Aus der Ähnlichkeit von et-
was »auf Gleichheit« zu raten, sei etwa »in Betreff der
Nahrung« und der dem Menschen »feindlichen Thiere«
eine Frage des Überlebens gewesen – und das, wo es
doch »an sich nichts Gleiches« gibt (KSA 3,471; FW
111). Außerdem sei »der Begriff der Substanz [. . .], der
unentbehrlich für die Logik ist«, dadurch zustande ge-
kommen, daß »lange Zeit das Wechselnde an den Din-
gen nicht gesehen, nicht empfunden worden« (KSA
3,472; FW 111) sei; auch die Annahme des Identischen
und Beharrenden, dem sich wechselnde Eigenschaften
zuschreiben lassen, gehört zu den »uralt einverleibten
Grundirrthümern« (KSA 3,469; FW 110) und war als
solche für die Erhaltung menschlichen Lebens unver-
zichtbar: »die nicht genau sehenden Wesen hatten einen
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 149

Vorsprung vor denen, welche Alles ›im Flusse‹ sahen.«


(KSA 3,472; FW 111) Man erinnert sich an die »Kraft zu
vergessen«, von der in der zweiten Unzeitgemäßen Be-
trachtung die Rede gewesen war: jedes Hinsehen ist
durch ein Absehen ermöglicht, jede Orientierung in der
Welt durch ein Verdecken erkauft. Eine aufgeschlossene
Welt ohne Abschließung und Ausschließung gibt es
nicht, und das ist, wie Nietzsche denkt, vor allem auf die
sokratische Selbstbeschränkung zu beziehen. Es geht
weniger darum zu zeigen, daß die »Logik« aus dem Un-
logischen, die Verständlichkeit der Welt aus dem Chaos
entstanden ist, als vielmehr um die Zusammengehörig-
keit des Gegensätzlichen, darum, daß die Einsicht in
diese gegen die »Kraft zu vergessen«, die Selbstabschlie-
ßung in der Verständlichkeit immer wieder neu gewon-
nen werden muß. Nietzsche trägt die metaphysische
Differenz aus, und derart gehört sein Denken in die Me-
taphysik. Aber er geht erkennend gegen die »metaphysi-
sche« Furcht an, die er dem Erkennen zuordnet – es gilt,
der Neigung zum Vertrautmachen zu widerstehen und
sich auf das Unbekannte einzulassen.
Von hier aus läßt sich auch der Titel des fünften
Buches der Fröhlichen Wissenschaft verstehen: »Wir
Furchtlosen«. Nietzsche wendet sich nicht gegen die
Ideenannahme als solche, nur gegen das – wie er meint:
furchtbedingte – Vertrauen, das in sie gesetzt ist. Die
Furcht vor dem Unendlichen, Maßlosen des »souverai-
nen Werdens« soll nicht länger das Denken bestimmen;
man soll hinsehen lernen, Grenze und Grenzenloses in
ihrer Spannung aushalten können. So gleicht das Den-
ken jenem Gang übers Seil, der im Hinblick auf das Ver-
hältnis von Zeit und Gegenwart und den »Glauben« ans
eigene Sein erwähnt wurde: ein Grund- oder Leitmotiv,
das Nietzsches philosophisches Selbstverständnis durch-
150 Dialektiker unter sich

weg bestimmt und in der Fröhlichen Wissenschaft so ar-


tikuliert ist:
Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauer-
lich und ironisch fühle ich mich mit meiner Er-
kenntniss zum gesammten Dasein gestellt! Ich habe
für mich entdeckt, dass die alte Mensch- und Thier-
heit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit al-
les empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt,
forthasst, fortschliesst, – ich bin plötzlich mitten
in diesem Traume erwacht, aber nur zum Be-
wusstsein, dass ich eben träume und dass ich wei-
terträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehen:
wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um
nicht hinabzustürzen. (KSA 3,416 f.; FW 54)
Dem Chaotischen, Unverständlichen Rechnung zu tra-
gen, ohne aus der verständlichen Welt abzustürzen; dieses
als »Wahrheit« der verständlichen Welt zu erkennen und
gleichwohl zu wissen, daß alles Erkennen nur um den
Preis des »Irrtums«, der Verstellung erkauft ist – das ist
die Essenz des hier artikulierten philosophischen Pro-
gramms, Variation eines schon aus Nietzsches frühen
Schriften vertrauten Gedankens; die beiden Götternamen
Apollon und Dionysos standen dafür, wie schon bei Pla-
ton waren sie Chiffren für Grenze und Grenzenloses.16
Aber nicht mehr die Kunst als vermittelte Unmittelbar-
keit, sondern die Philosophie trägt jetzt den Streit von
Sein und Werden, von Wahrheit und Unwahrheit aus;
jetzt ist es der Denker, »in dem der Trieb zur Wahrheit
und jene lebenserhaltenden Irrthümer ihren ersten
Kampf kämpfen« (KSA 3,471; FW 110).
Was Nietzsche hier beschreibt, ist die Philosophie je-

16 Vgl. dazu Picht (1988), S. 248–250.


»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 151

ner »freien Geister«,17 für die schon Menschliches, Allzu-


menschliches I geschrieben war; jene noch zukünftigen,
freilich absehbaren Köpfe, deren »entscheidendes Ereig-
niss«, ein Grundmotiv für Nietzsches Leben und Den-
ken, in einer »grossen Loslösung« (KSA 2,15; MA I,
Vorrede 3) bestand. Die Freiheit des freien Geistes ist
immer Befreiung, so daß er »vorher um so mehr ein ge-
bundener Geist war und für immer an seine Ecke und
Säule gefesselt schien« (KSA 2,15 f.; MA I, Vorrede 3) –
gebunden ins Interieur einer um den Preis des Irrtums
verständlichen Welt.
Daß Philosophie in ihrem Wesen Befreiung ist, läßt
natürlich wieder an Platon denken, genauer an die alle-
gorisierende Geschichte philosophischer Erfahrung, die
im Zentrum der Politeia erzählt wird und als »Höhlen-
gleichnis« bekannt ist; nur, möchte man vielleicht ein-
wenden, daß der Weg hier aus der Höhle der Meinun-
gen, des Scheins und der Täuschung ins Freie der Ver-
ständlichkeit führt: zur ausdrücklichen Erfahrung der
Ideen im dialektischen Denken, während Nietzsches
»freie Geister« sich mit dem Abgrund des Unbegrenzten
zu konfrontieren haben.
Dennoch hat die Philosophie der »freien Geister« ihr
Vorbild in Platons Dialektik: auch sie lebt aus der Ein-
sicht in die Zusammengehörigkeit von Sein und Werden,
Bestimmtheit und Unbestimmtheit, und setzt nur einen
anderen, komplementären Akzent. Dialektik im plato-
nischen Sinne ist eine gedanklich vollzogene Bewegung
im Zusammenhang von Ideen, bei der sich die Verständ-
lichkeit von etwas möglichst transparent und deutlich
zeigen soll: Man geht, nach einer Skizze des dialekti-
schen Vorgehens im Philebos (16d–e), von der Bekannt-

17 Vgl. dazu auch Gerhardt (1996a).


152 Dialektiker unter sich

heit einer Sache in einer Idee aus und versucht dann,


sie soweit zu differenzieren, bis sich die wesentlichen
Aspekte ihrer Verständlichkeit herausgestellt haben.
Hierbei kommt es darauf an, die bestimmte Zahl dieser
Aspekte festzuhalten und das, womit man es zu tun hat,
erst dann in die Unendlichkeit möglicher Verständnis-
facetten, Erscheinungsformen und Bezüge zu entlassen.
Jede Sache, so läßt dieser Gedanke sich umformulieren,
steht in einem Feld möglicher Hinsichten der Verständ-
lichkeit, und es kommt darauf an, die jeweils zu erken-
nende Sache in diesem Feld zu begrenzen – jedoch so,
daß der Anteil des Vielfältigen in ihr, so weit wie zu ih-
rer Verständlichkeit nötig, zur Geltung kommt.
Dialektik ist also keineswegs nur die Zurückführung
des Neuen auf das Bekannte, des Vielfältigen auf die
überschaubare, weil immer schon irgendwie überschaute
Einheit; vielmehr das Sicheinlassen auf das komplexe,
letztlich grenzenlose Feld des Verschiedenen, der Diffe-
renzen und Abstufungen, um derart die zu erkennende
Sache in ihrem ganzen Reichtum zu gewinnen. Zwar
geht es dabei um ein Festhalten dieser Sache, um ein An-
spannen der gedanklichen Möglichkeiten, damit im un-
endlichen Feld des Verschiedenen die Sache als geglie-
derte Einheit gehalten, in ihren Grenzen und Konturen
gewahrt werden kann; aber sofern die gegliederte Ein-
heit nicht ohne Erfahrung des Grenzenlosen zu gewin-
nen ist, hat die Verständlichkeit hier nicht mehr den
Charakter eines verspiegelten Weltinnenraums. Wo die
Erfahrung des Grenzenlosen zugelassen wird, kann von
einem schlichten Vertrauen auf die Ideen nicht mehr die
Rede sein. Dialektik ist statt dessen der Austrag von
Spannung und Streit; sie führt über das Verständliche
hinaus und läßt es dadurch transparent sein.
Nietzsche hat sehr deutlich gesehen, daß die Platoni-
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 153

sche Dialektik ein solches Abenteuer des Geistes ist: die


Entdeckung der Welt in ihrer Verständlichkeit und die
Erfahrung, in der Verständlichkeit nicht einfach gebor-
gen zu sein, sondern eigenen Stand und eigenes Ver-
ständnis erringen zu müssen, erringen zu können. So hat
er es jedenfalls im Aphorismus 544 der Morgenröthe
dargestellt:
Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches
durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen
Dialogs geht, das Jauchzen über die neue Erfindung
des vernünftigen Denkens, was versteht der von
Plato, was von der alten Philosophie? Damals füll-
ten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das
strenge und nüchterne Spiel der Begriffe, der Ver-
allgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrie-
ben wurde – mit jener Trunkenheit, welche viel-
leicht auch die alten grossen strengen und nüchter-
nen Contrapunctiker der Musik gekannt haben.
(KSA 3,314; M 544)
Dieser nüchterne Jubel des Denkens, fährt Nietzsche
fort, sei nicht zuletzt Kontrasterfahrung gewesen. Man
habe »in Griechenland den anderen älteren [. . .] Ge-
schmack noch auf der Zunge« gehabt: »und gegen ihn
hob sich das Neue so zauberhaft ab, dass man von der
Dialektik, der ›göttlichen Kunst‹, wie im Liebeswahn-
sinn sang und stammelte« (KSA 3,314 f.; M 544). Jenes
Alte aber sei »das Denken im Banne der Sittlichkeit« ge-
wesen, »für das es lauter festgestellte Urtheile, festge-
stellte Ursachen, keine anderen Gründe als die der Au-
torität« gegeben habe (KSA 3,315; M 544). Also ist Dia-
lektik Freiheitserfahrung, das Denken freier Geister:
Losgekommensein aus unbeweglichen Lebensverhält-
nissen, die das Fragendürfen und Fragen nicht kannten
154 Dialektiker unter sich

– also auch nicht die im Vollzug des Denkens gefunde-


ne Antwort, die unselbstverständliche, nie ganz und gar
fraglose Einsicht.
Aber obwohl Nietzsche dem Platonischen Anfang der
Philosophie so nah ist und sich denkend in derselben
Grundspannung von Grenze und Grenzenlosigkeit hält,
kann und will er diesen Anfang nicht imitieren. Durch
die Geschichte ist ein Abstand zwischen Antike und
Moderne gelegt, der die unmittelbare Wiederaufnahme
früherer Möglichkeiten verhindert und über den man
sich nur »künstlerisch«, durch eine Beschwörung und
Verklärung des Vergangenen hinwegtäuschen könnte.
Aber das hat Nietzsche ja längst durchschaut, und so
weiß er auch, daß wir uns nicht einfach zu Griechen, zu
den Entdeckern der »Logik« machen können. »Wir mo-
dernen Menschen«, sagt er, immer noch im Aphorismus
544 der Morgenröthe, »sind so sehr an die Nothdurft
der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, dass sie uns
als der normale Geschmack auf der Zunge liegt« (KSA
3,315; M 544). Was im Platonischen Dialog, überhaupt
am griechischen Anfang der Philosophie gedankliches
Abenteuer war, ist zu einer Art »Sittlichkeit« geworden.
Nun sind die ehemals lebendigen Formen, Regeln und
Schemata des Denkens »festgestellt«, zu Tode bestimmt.
Die Situation des Denkens ist nun ganz anders.
Nietzsche hat das im fünften Buch der Fröhlichen
Wissenschaft unter dem Titel »Warum wir keine Ideali-
sten sind« noch einmal besonders deutlich gemacht. Der
Idealismus, also die Überzeugung, man müsse sich in
der Gegenstellung zum Sinnlichen an das »kalte Reich«
der Ideen halten, sei früher »beinahe die Bedingung
des Philosophirens« gewesen, während wir heute »alle-
sammt Sensualisten« seien (KSA 3,623; FW 372) und die
Ideen für »schlimmere Verführerinnen« als die Sinne
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 155

hielten: »sie lebten immer vom ›Blute‹ des Philosophen,


sie zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns
glauben will, auch sein ›Herz‹« (KSA 3,624; FW 372) –
sie machten den Lebenszusammenhang, in dem sie kon-
zipiert wurden, vergessen.
Aber diese idealismuskritische Überzeugung, fügt
Nietzsche hinzu, könne »noch eben so falsch sein« wie
der Idealismus selbst. Beides lebt ja aus der Entgegenset-
zung von Sinnlichem und Nicht- oder Übersinnlichem,
ohne die Unhintergehbarkeit des Gegensatzes selbst zu
bedenken. Aller Idealismus, sagt Nietzsche zur Vorbe-
reitung der entscheidenden Pointe, sei »bisher Etwas wie
Krankheit« gewesen – »wo er nicht, wie im Falle Plato’s,
die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesund-
heit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit
eines klugen Sokratikers war«. Und dann heißt es noch:
»Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug,
um Plato’s Idealismus nöthig zu haben? Und wir fürch-
ten die Sinne nicht, weil – –« (KSA 3,624; FW 372).
Natürlich ist zu ergänzen: weil unsere Sinne so wenig
zum Fürchten, weil sie ganz und gar nicht »übermäch-
tig« sind. Uns fällt es leicht, allzuleicht, »Sensualisten«
zu sein, und deshalb sollten wir uns auch im Hinblick
auf die Wahrheit unseres Sensualismus nicht zu sicher
fühlen: höchstwahrscheinlich haben wir sie durch eine
falsche, wenigstens reduzierte Auffassung der Ideen er-
kauft und vergessen, daß Werden und Sein, Sinnlichkeit
und Idealität immer auf strittige Weise zusammengehö-
ren. Statt »Idealismus« und »Sensualismus« gegeneinan-
der auszuspielen und um der Behauptung des einen wil-
len das andere dogmatisch zu verneinen, sollte man sich
deshalb auf das Grundverhältnis einlassen, das in beiden
Positionen verschieden und zugleich verkürzt ausge-
prägt ist. Und man sollte zugleich sehen, daß nicht in je-
156 Dialektiker unter sich

der geschichtlichen Situation dieselbe Ausprägung des


Grundverhältnisses möglich ist.
In diesem Sinn hat Nietzsche das Verhältnis von An-
tike und Moderne in einer nachgelassenen Aufzeichnung
bestimmt, die zwar dem Titel nach von der »Physiologie
der Kunst«, aber in der Sache deutlich von der Dialektik
handelt. Nietzsche spricht hier von »Sinn« und »Lust an
der Nüance«, an »dem, was nicht generell ist«, und
nennt das »die eigentliche Modernität«. Diese läuft, wie
es nun heißt, »dem Triebe entgegen, welcher seine Lust
und Kraft im Erfassen des Typischen hat: gleich dem
griechischen Geschmacke der besten Zeit«. Und noch
zur Erläuterung dieses Triebs: »Ein Überwältigen der
Fülle des Lebendigen ist darin, das Maaß wird Herr, jene
Ruhe der starken Seele liegt zu Grunde, welche sich
langsam bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzu-
Lebendigen hat.« (KSA 12,289 f.; N 1886–87, 7[7])
Die »Lust und Kraft im Erfassen des Typischen«, der
ausgeprägten Gestalt, des Bestimmten und darin Ein-
heitlichen, läßt sich unschwer als Grundzug des dialekti-
schen Denkens erkennen: als Möglichkeit und Motiv des
Versuchs, eine Sache in ihrer Bestimmtheit zu erfassen,
wobei sich das Erfassen des Typischen in der Vielfalt der
Gliederung, der Komplexität der Aspekte überhaupt
erst bewährt. Herausfordernd für das Erfassen des Typi-
schen und es derart in Gang haltend, ist das Vielfälti-
ge und damit jene »Fülle des Lebendigen«, mit deren
»Überwältigen« das »Maaß« Herr wird. Das Maßvolle
aber ist das in seiner Lebendigkeit Geordnete, das Le-
bendige, das eine Gestalt findet – nach einer Formulie-
rung aus dem Platonischen Politikos alles, was in der
Mitte zwischen den Extremen wohnt (Pol. 284e); es ist
das, was weder mehr noch weniger als das Angemessene
ist (Pol. 284a) – das weder nur Einfache noch auch die
»Neue Erfindung des vernünftigen Denkens« 157

unendliche Vielheit, sondern das in seiner Bestimmtheit


Gegliederte, das in seiner bestimmten Zahl zum Ganzen
gefügte Vielfältige. Darin, dies aufzufinden, liegt in der
Tat ein »Widerwillen vor dem allzu Lebendigen«, vor
dem Grenzenlosen, das jede Bestimmtheit verschlingt.
Man weiß schon aus dem Aphorismus 372 der Fröhli-
chen Wissenschaft, daß die Platonische Dialektik für
Nietzsche trotzdem nicht lebensfeindlich war: Einbin-
dung des überlebendigen Lebens vielmehr, ähnlich der
Bändigung des Dionysischen zur Kunst mit apollini-
schen Gestaltungsmöglichkeiten. Aber weil »wir Moder-
nen« in einer ganz und gar anderen Situation leben, in-
dem wir durch die selbstverständlich gewordenen For-
men und Schemata des Denkens bestimmt sind, kommt
es nun darauf an, das Verhältnis von Typos und Nuance
anders zu akzentuieren: Nun gilt es, ohne daß man dabei
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Typisierung
vergißt, Gespür für die Nuancen zu wecken, für die Ab-
stufungen, Verschiedenheiten, die unendlichen Möglich-
keiten der Unterscheidung; allein so läßt sich dem Den-
ken jene Lebendigkeit zurückgeben, die es als Platoni-
sche Dialektik hatte. Die moderne Philosophie im Sinne
Nietzsches ist spiegelverkehrt bezogen auf die antike
»Erfindung des vernünftigen Denkens« als dessen »neue
Erfindung« (KSA 3,314; M 544); sie ist, wie Nietzsche
sich schon früh, während der Arbeit am Tragödien-
Buch, notierte, »umgedrehter Platonismus« (KSA 7,199;
N 1870/71, 7[156]).
Trotz seiner Modernität ist das dialektische Philoso-
phieren nicht auf selbstverständliche Weise an der Zeit,
sondern »unzeitgemäß«. Man verlangt, wie Nietzsche
bemerkt, gegenwärtig »gerade das Gegentheil dessen
von der Philosophie, was die Griechen von ihr empfien-
gen« (KSA 3,314; M 544): aus Überdruß an der selbst-
158 Dialektiker unter sich

verständlich gewordenen »Logik«, der fraglos verständ-


lich gewordenen Welt drängt man auf unmittelbare, das
begriffliche Denken übersteigende Gewißheit, auf un-
mittelbare, nicht mehr ausweisbare Intuition, was etwa
mit Schellings Gedanken einer »intellectualen Anschau-
ung« angezeigt ist. Aber dergleichen ist für Nietzsche
nichts weiter als ein Symptom philosophischer Ro-
mantik, Merkmal spätzeitlicher Schwarmgeister. Deren
»feinerer Ehrgeiz«, so faßt er seine Überlegung zusam-
men, »möchte gar zu gerne sich glauben machen, dass
ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und
vernünftige Wesen«. Entsprechend weist Nietzsche die
Künstler-Philosophie, die man ihm selbst allzugern un-
terstellt, deutlich zurück: was man hier wolle, sei letzt-
lich überhaupt keine Philosophie, sondern »Religion«
(KSA 3,315; M 544). Moderne Philosophie muß Dialek-
tik, Platonische Dialektik sein.
Man weiß nun, wie Nietzsche ein dialektisches Philo-
sophieren dieser Art durchführen will: indem er, wo es
um die Beschreibung von Phänomenen geht, die Trenn-
schärfe gegensätzlicher Bestimmungen in Zweifel zieht,
um die strittige Zusammengehörigkeit von Sein und
Werden, Bestimmtheit und Unbestimmtheit in den Phä-
nomenen aufzuzeigen. Nietzsches Dialektik ist skep-
tisch, verflüssigend, auflösend: sie konfrontiert die Ge-
gensätze, in denen sie sich bewegt, mit der unendlichen
Differenziertheit einzelner Ausprägungen. Sofern das
Gegensätze betrifft, die unmittelbar lebensorientierend
sind, ist dialektisches Philosophieren im Sinne Nietz-
sches gleichbedeutend mit Abstandnahme von den sonst
unbefragten Lebensformen und Lebensverhältnissen
überhaupt. Nietzsches Dialektik ist Kritik der Moral.
6. »Selbstzertheilung des Menschen«

Wir hätten, sagt Nietzsche in der Vorrede zur Genealo-


gie der Moral18, »eine Kritik der moralischen Werthe nö-
thig« (KSA 5,253; GM, Vorrede 6), und damit formu-
liert er ein Programm nicht nur für diese späte, das
Thema zusammenfassend behandelnde Schrift: Vieles,
wenn nicht das meiste in Nietzsches Aphorismenbüchern
ist demselben Programm in der einen oder anderen Weise
zuzuordnen. Aber wie kritisiert man die Moral – nicht
eine Moral wohlgemerkt, sondern die Moral überhaupt?
Ersteres wäre ja ebenso leicht wie im Grunde borniert:
daß die Lebensformen anderer unselbstverständlich sind,
in ihren Festlegungen willkürlich erscheinen und manch-
mal auf Selbsttäuschung zurückgeführt werden können,
läßt sich im allgemeinen leicht feststellen; weniger klar ist
dabei, von welchen Voraussetzungen her man die Kritik
formuliert. Es mag deshalb einleuchtend sein, wenn man,
im Sinne einer Verflüssigung der Gegensätze, die schein-
bar uneigennützigen Handlungen dem Egoismus annä-
hert, in der betonten Aufrichtigkeit die Täuschung am
Werk sieht oder in anderer Hinsicht die Schattierungen
und Zwischentöne des Verhaltens und seiner Motive her-
vorhebt; aber das bleibt naiv, wenn nicht die Frage nach
der Moral des Kritikers gestellt wird: nur so kann die
Kritik glaubwürdig sein – dagegen gesichert, daß sie
nicht bloß Vorurteile bestätigen, Dogmen ausleben will.
Recht verstandene Kritik der Moral ist also immer
Selbstkritik, Bemühen um Selbsterkenntnis und der-
art Sache des »intellectualen Gewissens«: »die Allermei-
sten«, sagt Nietzsche im zweiten Aphorismus der Fröh-

18 Zur Genealogie der Moral im ganzen vgl. Stegmaier (1994).


160 Dialektiker unter sich

lichen Wissenschaft, fänden »es nicht verächtlich, diess


oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich
vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider
bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die
Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben« (KSA
3,373; FW 2). Weil das kritisch und als Maßstab der Mo-
ralkritik gemeint ist, muß diese darum bemüht sein, ihre
eigene Möglichkeit zu erweisen; und wenn das »intellec-
tuale Gewissen« zur Moral des Kritikers gehört, erweist
sich die Moral als die wesentliche Bedingung ihrer eige-
nen Kritik.
Darauf läuft Nietzsches Programm einer »Kritik der
moralischen Werthe« in der Tat hinaus. Die Rede vom
»intellectualen Gewissen« zeigt ja deutlich an, daß die
Frage nach den Überzeugungen, an die man glaubt und
nach denen man lebt, nicht im Sinne eines kalten, unbe-
teiligten Wissenwollens gestellt, sondern der »Sorge um
sich« unterstellt ist und darin der Moral wenigstens
ähnlich: auch hier geht es um die an bestimmten Maßstä-
ben oder, wie Nietzsche sagt: »Werten« orientierte Füh-
rung des Lebens. Im »intellectualen Gewissen« spricht
gleichsam eine innere, zur Aufrichtigkeit mahnende
Stimme, hier regt sich jener Antrieb im Leben, den
Nietzsche auch »Wille zur Wahrheit« nennt. Der Wille
zur Wahrheit aber ist die letzte und radikalste Ausprä-
gung einer Moral, die sich als prägend für die moralische
Kultur überhaupt erweist: der Moral des »asketischen
Priesters«; im Willen zur Wahrheit hat man es mit der
»strengsten, geistigsten Formulirung« des »asketischen
Ideals« zu tun (KSA 5,409; GM 3,27).
In der Moral ist also die Möglichkeit ihrer Kritik an-
gelegt; und wenn es sich dabei nicht bloß um immanente
Klärungen, sondern um eine Kritik der Moral im ganzen
»Selbstzertheilung des Menschen« 161

handelt, kann sie nur als Rückblick formuliert sein: wie


die Betrachtung früheren Lebens aus dem Abstand des
Älterseins, verbunden mit dem Gefühl, sich aus den Be-
fangenheiten des früheren Lebens befreit zu haben.19
Nietzsche formuliert es radikaler und dramatischer: In
der Kritik der Moral werde der Wille zur Wahrheit sich
bewußt, und daran gehe »die Moral zu Grunde«. Das sei
»jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den näch-
sten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das
furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoff-
nungsreichste aller Schauspiele . . .« (KSA 5,410 f.; GM
3,27). Moral, zumindest was man darunter verstand, ist
ins Zeitalter der Erosion eingetreten – das zu beschrei-
ben und in seinen Folgen zu bedenken, hat Nietzsche als
seine wichtigste zeitdiagnostische Aufgabe verstanden;
wie schon bei der »Abendröthe der Kunst« erscheint die
eigene Zeit durch ein Nicht-mehr gezeichnet, das sie
auszutragen, zu bestehen hat. Und auch jetzt wieder ist
die Erfahrung des Nicht-mehr zentral für Nietzsches
philosophisches Selbstverständnis; wie er die Situation
seines Philosophierens sieht und wie er die mit ihr
gegebenen Gefahren und Möglichkeiten einschätzt, er-
schließt sich von hier aus. Die Erörterung der Moral
führt an die Grenze der Dialektik und schließlich auch
über diese hinaus.
Doch zunächst ist natürlich zu klären, was Nietzsche
unter Moral genauer versteht. Ein guter Anhaltspunkt
dafür ist der Aphorismus 57 aus Menschliches, Allzu-
menschliches I; hier ist das Entscheidende besonders
deutlich gesagt, und man sieht außerdem schnell, wie
die Frage nach der Moral mit anderen, schon erörterten

19 Dazu auch Scott (1990), S. 13–52.


162 Dialektiker unter sich

Dingen zusammenhängt. Der Aphorismus trägt den Ti-


tel »Moral als Selbstzertheilung des Menschen« und be-
ginnt mit einer Reihe von Beispielen:
Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine
Sache hat, wünscht, dass Jemand komme und ihn
selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache
deutlicher darstelle und die in ihr enthaltenen Fra-
gen ohne Rest beantworte. Das liebende Mädchen
wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe
an der Untreue des Geliebten bewähren könne.
Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Va-
terland auf dem Schlachtfeld falle: denn in dem
Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wün-
schen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie
sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter
Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen.
(KSA 2,76; MA I,57)
Das scheinen, wie Nietzsche nun kommentiert, alles
»unegoistische Zustände« zu sein, Wünsche, in denen es
nicht mehr um einen selbst geht, sondern um eine überge-
ordnete »Sache«, die wichtiger ist als man selbst. So ist ja
die Moralität des Handelns in einer für die Moderne und
so auch für Nietzsche maßgeblichen Weise formuliert
worden: als Fähigkeit, sich im Handeln so zu bestimmen,
daß die »Neigung« kein Handlungsmotiv ist – nur dann
hat, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten sagt, der Handlungsvorsatz, die Maxime, »einen
moralischen Gehalt« (GMS, BA 10).
Die strikte Trennung von Eigeninteresse und Morali-
tät wird nun von Nietzsche bezweifelt, getreu seinem
Programm einer Relativierung der Gegensätze. »Ist es
nicht deutlich«, fragt er, »dass in all diesen Fällen der
Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen,
»Selbstzertheilung des Menschen« 163

ein Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich,


dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil
den anderen zum Opfer bringt?« Und kurz darauf, als
Zusammenfassung und jetzt in der Form einer These:
»In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als indi-
viduum, sondern als dividuum.« (KSA 2,76; MA I,57)
Um diesen Gedanken zu erläutern, hätte Nietzsche
gut eine Überlegung aus Platons Politeia (Resp. 437b–
439d) heranziehen können: Zur Beantwortung der Fra-
ge, ob die menschliche Lebendigkeit, die • f < ı` , in sich
gegliedert sei oder nicht, weist Sokrates darauf hin, daß
wir etwas begehren und dies zugleich unvernünftig fin-
den können, etwa, weil der Genuß schädlich wäre. Unter
der Voraussetzung, daß nichts zur gleichen Zeit Ent-
gegengesetztes tun oder erleiden kann (Resp. 436b–c),
muß man das Begehren und den gegen es gerichteten
Vorbehalt verschiedenen »Teilen« der Lebendigkeit zu-
schreiben. Entsprechend würde jemand, der sich gegen
das Begehren entscheidet und »etwas Anderem in sich«
den Vorzug gibt, etwa der eigenen Gesundheit vor dem
Genuß, sich als »dividuum« behandeln und damit die
Struktur seiner Lebendigkeit in bestimmter Weise zur
Geltung bringen.
Trotzdem hat man es hier noch nicht mit Moral im
Sinne Nietzsches zu tun. Zu dieser gehört ja, daß man
die Entscheidung gegen »Etwas von sich« als »unegoi-
stisch« versteht und das Bevorzugte entsprechend nicht
mehr als Teil seiner selbst ansieht – so kann es »das
Gute« sein, an dem man sich zu orientieren hat; Moral
ist Orientierung am Guten, das Gute ist der Orientie-
rungspunkt der Moral. Allerdings ist, was als Orientie-
rungspunkt dient, variabel: Für den Autor geht es um
die zu klärende »Sache«, für das Mädchen um »die
Liebe«, für den Soldaten ums »Vaterland« und für die
164 Dialektiker unter sich

Mutter um ihr Kind. So ist die Moral eine besondere


Ausprägung der »Dividualität«: In ihr wird das eigene
Leben an etwas gemessen, das, um als Maßstab dienen
zu können, vom eigenen Leben unterschieden, gleich-
sam nach außen verlagert worden ist.20 Die Moral ist
eine Variante der metaphysischen »Scheidung der Welt«;
es geht darum, das eigene Leben von etwas her zu ver-
stehen, um es überhaupt führen zu können.
Die dogmatische Abtrennung des Anderen, von dem
man sich den Sinn des eigenen Lebens vorgeben läßt, ist
in der Moral allerdings mit besonderen Schwierigkeiten
verbunden: allzu offensichtlich gehört ja »die Sache«, um
die es dem Autor geht, das »Vaterland« für den Solda-
ten, auch das Kind für die Mutter zum eigenen Leben
dazu; man lebt nicht als verkapselte Einheit und muß
sich auf die Welt wie auf etwas Fremdes beziehen, son-
dern lebt welthaft, im Zusammenhang von Sachbezug,
anderen Menschen und Institutionen. Deshalb muß man
sich in ihr als dividuum behandeln – man ist es nicht ein-
fach. Zwar ist das nur möglich, wenn die moralische
»Selbstzertheilung« oder Selbstunterscheidung in der
Struktur des Lebens angelegt ist – etwa im Sinne des
Platonischen Gedankens einer gegliederten Lebendig-
keit. Aber den Riß zwischen »Etwas von sich« und »et-
was Anderem von sich« zieht man selbst durchs Leben
und weiß mehr oder weniger deutlich, daß es so ist. Wie
sonst könnte man sich an etwas orientieren? Wieso,
wenn es nicht zum eigenen Leben gehörte, ginge es ei-
nen als Orientierungspunkt überhaupt etwas an? Durch
die »Dividualität« des Lebens scheint seine Individuali-
tät durch.

20 Eine dem bisher Entwickelten ähnliche, aber in diesem Punkt alter-


native Deutung findet sich bei Gerhardt (1996a).
»Selbstzertheilung des Menschen« 165

Deshalb gibt es, wie Nietzsche denkt, auch die Mög-


lichkeit eines anderen moralischen Selbstverstehens: der-
art, daß man sein Leben »individuell« führt und inte-
griert, was unter dem Gesichtspunkt der »Dividualität«
abgespalten wird. Wer das vermag, handelt »nach seinem
Maassstab über die Dinge und Menschen, er bestimmt
für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er
ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss
dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen
und Ehrenhaften« (KSA 2,91; MA I,94). Was ehrenhaft
oder nützlich ist, wird hier nicht mehr von den Ande-
ren, der Gemeinschaft als etwas, das man zu tun hat,
vorgegeben. Man bestimmt es selbst aufgrund einer mo-
ralisch wirksamen »plastischen Kraft«.
Trotzdem ist ein Leben dieser Art weit entfernt von
Willkür und Egoismus. Nietzsches spätere Erörterungen
haben das eher verdunkelt als erhellt, wozu nicht zuletzt
das Schlagwort von der »Herren-Moral«, die der »Skla-
ven-Moral« der Unzufriedenen, ihr Leben Zerteilenden
entgegengesetzt ist (KSA 5,208; JGB 260), beigetragen
hat. Aber hier denkt Nietzsche nicht an den Stärkeren,
der sich besser dünkt, oder gar an den dreisten Erfolgs-
menschen, sondern an den verantwortungsvollen Bür-
ger, der durch die »Erkenntnis« befähigt ist, »das Nütz-
lichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen
dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allge-
meiner dauernder Geltung der momentanen voranzu-
stellen«. Es geht um jemanden, der ein allgemeines Le-
ben zu führen vermag, wobei ihm die Allgemeinheit
nicht wie etwas für sich Bestehendes und Äußerliches er-
scheint; sie verwirklicht sich vielmehr nur im jeweiligen
Leben und erscheint so als »sein [. . .] Maassstab«. Wer
das verstanden hat, »lebt und handelt als Collectiv-Indi-
viduum« (KSA 2,91; MA I,94). Erst das ist wahre Indivi-
166 Dialektiker unter sich

dualität, Unzerteiltheit des Lebens, die nicht einfach be-


steht, sondern sich im Leben realisiert.21
Auch hier kommen wieder platonische Entsprechun-
gen ins Spiel: Nach einer Bestimmung im ersten Buch
der Politeia ist »Dividualität« freilich kein Phänomen der
Moral in ihrer problematischen Form, sondern ihres
Mangels: ein Ungerechter lebt mit sich in Zwietracht und
ist sich selbst Feind, während der Gerechte mit sich über-
einstimmt (Resp. 352a). Entsprechend ist Gerechtigkeit
die Individualität, die Unzerteiltheit des Lebens. Und
sie ergibt sich nicht durch die Orientierung an einem
abstrakt Allgemeinen, sondern kommt wie die ande-
ren Tugenden auch nur durch die einzelnen Bürger, die
»Collectiv-Individuen«, ins Gemeinwesen hinein (Resp.
435e). Also ist das platonische Gerechtigkeitsverständnis
Modell für das, was Nietzsche die »Moral des reifen In-
dividuums« nennt, und als solche die »höchste [. . .] Stufe
der bisherigen Moralität« (KSA 2,91; MA I,94).
Aber nur der »bisherigen« – sollte es demnach noch
höhere Stufen der Moralität geben können? Selbst wenn
es am Ende des zweiten Buchs von Menschliches, Allzu-
menschliches I, das der »Geschichte der moralischen
Empfindungen« gewidmet war, zunächst so klingt, rech-
net Nietzsche nicht mit einer moralischen Überbietung
der »bisherigen Moralität«. Wenn uns in späterer Zeit
unser »Handeln und Urtheilen so beschränkt und über-
eilt« vorkommt wie »jetzt das Handeln und Urtheilen
zurückgebliebener wilder Völkerschaften« (KSA 2,104;
MA I,107), hat das einen anderen Grund: Nietzsche hält
es für möglich, daß »die Menschheit aus einer morali-
schen sich in eine weise Menschheit umwandeln könne«

21 Hier könnte die Erörterung von Nietzsches Verhältnis zur Politik


anschließen. Als maßgebliche Darstellung vgl. Ottmann (1987).
»Selbstzertheilung des Menschen« 167

(KSA 2,105; MA I,107). Das wäre für ihn gleichbedeu-


tend mit der allgemein verbreiteten Einsicht in die
Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichen: man würde
verstehen, daß »Lust, Egoismus, Eitelkeit nothwendig
zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer
höchsten Blüthe« sind, und sie deshalb auch nicht mehr
»geringschätzen«. An die Stelle einer anderes ausschlie-
ßenden moralischen Orientierung und der mit ihr ver-
bundenen Festlegungen träte »eine neue Gewohnheit«,
ein neues Ethos, wie man das ins Griechische übersetzen
darf: das Ethos »des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-
Hassens, Ueberschauens« (KSA 2,105; MA I,107). Man
würde sein Leben wahrhaft im Zusammenhang führen,
weil man verstanden hätte, daß zur eigenen Orientie-
rung auch das ihr Widersprechende gehört.
Das führt in der Tat über jede Moral, auch die der In-
dividualität, hinaus, in der ja das Gegensätzliche, Wider-
sprechende keine konstitutive Rolle spielt: was sich dem
allgemeinen Leben eines »Collectiv-Individuums« nicht
fügt, läßt es auf sich beruhen. Doch kann solche Gleich-
gültigkeit niemals gesichert sein: schließlich ist man
nicht von Natur aus allgemein, sondern macht sich das
Allgemeine zu eigen, so daß es nie mit dem Individuel-
len zu einer unterschiedslosen Einheit verschmelzen
kann. Und sobald man im eigenen Leben nur etwas die
Allgemeinheit Störendes findet – »Lust, Egoismus, Ei-
telkeit«, was auch immer, schlägt die Moral der Indivi-
dualität leicht in »Selbstzertheilung« um. Sofern sich das
in ihrem Rahmen nicht begreifen läßt, bleibt die Moral
der Individualität naiv, und zwar auch in ihrer höchsten
Ausprägung, der platonischen Gerechtigkeitsmoral: hier
ist ja noch nicht einmal gesehen, daß die »Dividualität«
ein moralisches Phänomen ist und nicht bloß das Ge-
genteil der Moral. Also gibt es gegen die Gefahr der
168 Dialektiker unter sich

»Selbstzertheilung« letztlich nur eines: man muß philo-


sophisch ihre Möglichkeit durchschauen, und das wie-
derum ist gleichbedeutend mit dem Schritt über die Mo-
ral hinaus in die »Weisheit«.
Mit dieser lösen sich die eigenen, zuvor moralischen
Orientierungen freilich nicht einfach auf – sonst gäbe es
ja auch nichts dem Eigenen Widersprechendes mehr, das
man als solches zu begreifen hätte. Und folglich kann es
auch nicht darum gehen, »Lust, Egoismus, Eitelkeit«
und was sonst noch der eigenen Lebensorientierung wi-
dersprechen mag, zu Orientierungspunkten des eigenen
Lebens zu machen – das würde die Situation nicht
grundsätzlich ändern, sondern nur eine andere Ausprä-
gung des moralischen Selbstverständnisses sein. Viel-
mehr kommt es darauf an, moralische Unterscheidungen
als solche zu durchschauen und sich nicht mehr naiv
aus ihnen zu verstehen: man soll sein Leben nicht in
der Selbstverständlichkeit des Ausschließens führen, weil
das schon der erste Schritt zur »Selbstzertheilung« ist.
Umgekehrt wird so in der Moral der »Dividualität«
ausdrücklich, was auch in der Moral der Individualität
vollzogen wird: ein Unterscheiden und Ausschließen
und nur so die Herausbildung einer bestimmten Lebens-
form; Moral ist immer die Verneinung von Lebens-
aspekten um des Lebens willen. Das aber wird radika-
lisiert, auf besonders intensive Weise ausgetragen, wo
man um des eigenen Lebens willen zu diesem Leben im
ganzen Nein sagt.
Wie nach den einschlägigen Passagen der Geburt der
Tragödie zu vermuten wäre, müßte deshalb auch Sokra-
tes, das Genie der Verneinung, das Urbild des morali-
schen Menschen abgeben. Dafür spräche immerhin der
Aphorismus 340 aus der Fröhlichen Wissenschaft, in dem
der »spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger
»Selbstzertheilung des Menschen« 169

Athens« nur bewundert wird, um der Enttäuschung


über sein letztes Wort um so mehr Kontur zu verleihen.
Das Leben sei »eine Krankheit« – nichts anderes habe
Sokrates mit seiner unmittelbar vor dem Tod geäußerten
Bitte, dem Asklepios einen Hahn zu opfern, sagen wol-
len: »Ein Mann, wie er, der heiter und vor Aller Augen
wie ein Soldat gelebt hat, – war Pessimist! Er hatte eben
nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens
sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl versteckt!«
(KSA 3,569; FW 340)
Doch gehört dieses »innerste Gefühl« eben nicht zur
Philosophie, sondern wurde durch sie nur verborgen; es
ist, philosophisch gesehen, ein Atavismus, und entspre-
chend wird Sokrates die Zunge durch etwas Nichtphilo-
sophisches gelöst: seinen Pessimismus bewirkt »der Tod
oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit«
(KSA 3,569; FW 340). Wahrscheinlich ist es die Fröm-
migkeit gewesen, oder zumindest hat sie eine entschei-
dende Rolle gespielt: dafür spricht das Opfer an den
Gott der Heilkunst, den Sohn des sokratischen Gottes
Apollon. Sokrates hat »am Leben gelitten« (KSA 3,570;
FW 340) und das Leben zugunsten einer Gesundung im
Tode verneint, weil er im religiösen Denken befangen
blieb. Religion, die Unterscheidung von Diesseits und
Jenseits, ist die intensivste und folgenreichste Zerteilung
des Lebens.
Nietzsche hat das in der dritten Abhandlung zur Ge-
nealogie der Moral am Typus des »asketischen Priesters«
besonders eindrucksvoll dargestellt. Der asketische Prie-
ster sei »der fleischgewordne Wunsch nach einem An-
ders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad
dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Lei-
denschaft« (KSA 5,366; GM 3,13). Mit der »Macht sei-
nes Wünschens« bezaubere er »die ganze Heerde der
170 Dialektiker unter sich

Missrathnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen«,


indem er ihnen ein Leben jenseits ihres eigenen Lebens
eröffne, ein »Anders-sein«, das sich als Sein erweisen
soll: von sich weg, über sich ins Jenseitige hinaus und ge-
rade darin auf verquere Weise bei sich. Unter dem aske-
tischen Ideal lernt man so gut wie nirgendwo anders die
Kunst, zum Leben neinsagend zu leben. Die religiöse
Moral stellt die Welt im ganzen unter das Prinzip der
»Selbstzertheilung des Menschen«, indem sie eine Welt
jenseits der Welt erfindet, um der diesseitigen auf para-
doxe Weise einen Sinn zu geben; sie ist, wie Nietzsche es
sieht, lebensverneinende Dichtung des Lebens, Vollen-
dung der Moralität, die es ermöglicht, sich im Hinblick
auf die Welt im ganzen moralisch zu verstehen.
In Sokrates wirkt das asketische Ideal – so erklärt
Nietzsche sich jetzt den verneinenden Charakter sokra-
tischen Denkens. Und was für Sokrates, das Urbild des
Philosophen, gilt, läßt sich auch allgemein fassen. Der
»philosophische Geist«, sagt Nietzsche in der dritten
Abhandlung zur Genealogie der Moral, habe sich »zu-
nächst immer in die früher festgestellten Typen des con-
templativen Menschen verkleiden und verpuppen müs-
sen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als reli-
giöser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur
möglich zu sein«; so habe das »asketische Ideal« des reli-
giösen Menschen »dem Philosophen als Erscheinungs-
form, als Existenz-Voraussetzung gedient«. Der Philo-
soph mußte, wie Nietzsche zur Erläuterung hinzufügt,
das asketische Ideal »darstellen, um Philosoph sein zu
können, er musste an dasselbe glauben, um es darstellen
zu können« (KSA 5,360; GM 3,10). Für die frühen Phi-
losophen war demnach unklar, daß sie Philosophen wa-
ren; sie verhielten sich als ungebrochene Darsteller des
asketischen Ideals und waren nur, was die darstellten.
»Selbstzertheilung des Menschen« 171

Von Darstellung oder Verkleidung kann hier deshalb


auch nur im Rückblick die Rede sein, nachdem sich die
Philosophie wie ein Schmetterling aus der Puppe des re-
ligiösen Bewußtseins gelöst hat. Philosophie ist Meta-
morphose des religiösen Bewußtseins, Verwandlung des
asketischen Ideals. Der pessimistische Sokrates ist eine
noch unvollkommene Verwandlung.
Aber nicht nur die Befangenheit im Religiösen, auch
der Versuch, sich ihm philosophisch entgegenzusetzen,
läßt die Verwandlung scheitern und erweist sich als der
letzte Sieg des asketischen Ideals. Wollte man philoso-
phisch aus der Entwicklungsgeschichte der Philosophie
heraus, wäre der Wunsch, anders und anderswo zu sein,
nur aufs neue bestätigt. Also ist Philosophie nur mög-
lich, wo man sich vom asketischen Ideal befreit und zu-
gleich dem Überwindungsdenken entgeht – nicht mehr
versucht, über das asketische Ideal hinauszukommen,
sondern den Wunsch nach einem Anderswo verblassen
läßt und die Kraft, die dem asketischen Ideal geopfert
wurde, in andere Bahnen lenkt. Dazu muß man das dia-
lektische Programm einer Verflüssigung der Gegensätze
auf die Grundüberzeugung des asketischen Ideals an-
wenden. Nur so kann sich erfüllen, was im Aphorismus
107 von Menschliches, Allzumenschliches I als Weisheit
jenseits moralischer Orientierung entworfen war: Es
geht darum, das Anderswo und das Hier und Jetzt,
Diesseits und Jenseits wieder zu verbinden und so eine
Welt, befreit vom asketischen Ideal, zu entdecken. Da-
durch entzieht sich die Welt im ganzen der religiös-mo-
ralischen Deutung. Sie verliert, von woher sie als ganze
zu deuten war; sie öffnet sich und wird beunruhigend
dabei.
172 Dialektiker unter sich

7. »Offnes Meer«

Nietzsche hat sich als Entdecker einer solchen Welt ver-


standen und deshalb auch Kolumbus zu seinem Helden
und Vorbild gemacht. Unter den Liedern des Prinzen
Vogelfrei, die den Anhang der Fröhlichen Wissenschaft
bilden, findet sich dies (KSA 3,649; FW, Anhang):

Nach neuen Meeren


Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, in’s Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit – :
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!

Wie schon im Aphorismus 54 der Fröhlichen Wissen-


schaft kommt auch hier die Ambivalenz einer philoso-
phischen Grunderfahrung zur Sprache: die Furchtlosig-
keit des Aufbruchs in eine Welt, die als verständliche
nicht mehr gesichert ist, und zugleich der »Schauder«
vor dem Unendlichen, Unausgeloteten, Maßlosen. Aber
der Schauder läßt sich jetzt nicht mehr ausgleichen, in-
dem man ihn mit der Orientierung am Verständlichen
zusammenhält und nach dem Vorbild der Platonischen
Dialektik den Streit von Bestimmung und Unbestimmt-
heit, von Grenze und Grenzenlosigkeit austrägt. Jetzt
steht die Bestimmtheit der Welt im ganzen auf dem
Spiel: Die Entdeckungsreise, zu der sich der »freie
Geist« aufmacht, geht »neuen Meeren« zu, ohne daß
»Offnes Meer« 173

Land zu erwarten wäre: »vielleicht gab es noch niemals


ein so ›offnes Meer‹« (KSA 3,574; FW 343).
Ähnliches liest man auch im Aphorismus 124 der
Fröhlichen Wissenschaft. Wir Philosophen haben, wie es
dort heißt, »das Land verlassen und sind zu Schiff ge-
gangen«, und dabei haben wir »die Brücke hinter uns, –
mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebro-
chen« – eine Loslösung ohne Einschränkung und Rück-
halt. Dennoch ist ungewiß, ob sie die erwartete Freiheit
bringt. Der Ozean, auf dem wir nun sind, »brüllt« zwar
»nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und
Gold und Träumerei der Güte«. Aber, so spricht Nietz-
sche das Entdeckerschiff an, »es kommen Stunden, wo
du erkennen wirst, dass er [der Ozean] unendlich ist und
dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit«.
Und dann, den kleinen Text abschließend: »Oh des ar-
men Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die
Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heim-
weh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre,
– und es giebt ›kein Land‹ mehr!« – Alles, was nicht Un-
endlichkeit wäre, ist zurückgeblieben, wie Brücke und
Land. Dort, so scheint es, sei man freier gewesen, weil das
Unendliche als Gegenteil des Begrenzten, Bestimmten
die Freiheit versprach. Aber nun gibt es nichts mehr au-
ßer der Unendlichkeit, nichts weist mehr über sie hinaus,
so daß wir, mit dem Titel des Aphorismus gesagt, »im
Horizont des Unendlichen« gefangen sind (KSA 3,480;
FW 124).
Nietzsche hat denselben Gedanken später noch ein-
mal anders formuliert und diesmal in seinen philosophi-
schen Konsequenzen entfaltet: im Aphorismus 374 der
Fröhlichen Wissenschaft, einem Schlüsseltext seiner Phi-
losophie. Hier geht es um die Frage, »wie weit der per-
spektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es
174 Dialektiker unter sich

irgend einen andren Charakter noch hat« (KSA 3,626;


FW 374) – ob also »Dasein« in seinem Weltverstehen an-
ders sein kann als jeweilig: offen und begrenzt zugleich
durch seine Erfahrungsweise und Erfahrungssituation.
Jedes »Dasein« hat, wie man schon aus der zweiten
Unzeitgemäßen Betrachtung weiß, seinen »Horizont«,
seine Weite und Enge; jeder Blick auf die Welt ist, als
»Dichtung des Lebens«, in der einen oder anderen Weise
gefärbt, gefiltert, vergröbert und verklärt; und so ist je-
der Blick je besonders, ohne daß er auf seine Besonder-
heit festzulegen wäre – einen Schritt weiter, und die Welt
bietet sich anders dar: den Horizont eines »Daseins«
gibt es nicht einfach, sondern man zieht ihn um sich und
zieht ihn immer wieder neu, und dabei erschließt sich
auch die perspektivisch gesehene Welt des jeweiligen
»Daseins«: es gibt sie nicht einfach, sie ergibt sich im
Deuten und Interpretieren.
Wenn das so ist, muß man jedoch so konsequent sein
und die Frage, ob »alles Dasein essentiell ein auslegen-
des« sei oder es noch ein anderes gebe, als unbeantwort-
bar zurückweisen. Es kann »auch durch fleissigste und
peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung
des Intellekts nicht ausgemacht werden«, weil »der
menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin
kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen
zu sehn und nur in ihnen zu sehn«: Wir haben über-
haupt keinen Begriff davon, was ein nichtperspektivi-
scher Intellekt sein könnte. Ja, wir können nicht einmal
wissen, »was es noch für andre Arten Intellekt und Per-
spektive geben könnte«; danach forschen zu wollen,
wäre nur »hoffnungslose Neugierde« (KSA 3,626; FW
374) – wir fänden immer nur uns selbst und müßten uns
das, was anders sein könnte, an unseren eigenen Mög-
lichkeiten verständlich machen. Weil sich nicht ausschlie-
»Offnes Meer« 175

ßen läßt, daß es Formen des Intellekts und der Perspek-


tivität gibt, die ganz anders als die uns bekannten sind,
ist uns, wie Nietzsche zusammenfassend sagt, die Welt
»noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die
Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche
Interpretationen in sich schliesst«. So ist die Welt, wie
Nietzsche schon mit dem Titel des Aphorismus sagt,
»unser neues ›Unendliches‹« (KSA 3,627; FW 374).
Aber wo ist das alte oder ältere zu suchen? Allein daß
Nietzsche seinen Gedanken vom Unendlichwerden der
Welt aus einer Überlegung zu Interpretation und Per-
spektive22 gewinnt, deutet auf Leibniz als Vorgänger und
ungenannt bleibenden Gesprächspartner hin. Bei ihm, in
der Monadologie, ist die Perspektivität des Erfahrens
nicht nur besonders anschaulich erläutert, sondern auch
als Ausgangspunkt für den Gedanken einer unendlichen
Welt genommen: Wie dieselbe Stadt, wenn sie von ver-
schiedenen Punkten aus betrachtet werde, ganz anders
erscheine und perspektivisch wie vervielfältigt sei, so ge-
schehe es auf gleiche Weise, daß es durch die unendliche
Vielheit der einfachen Substanzen ebenso viele verschie-
dene Welten gäbe, die jedoch nur die Perspektiven einer
einzigen seien, gemäß den verschiedenen Blickpunkten
jeder Monade.23 Die Welt besteht nicht einfach und wird
dann erfahren, sondern ist immer nur wie gespiegelt
in den sie erfahrenden geistigen Einheiten, die Leibniz
»Monaden« nennt. Durch sie gibt es die Welt, wie eine

22 Zum »Perspektivismus« bei Nietzsche vgl. Kaulbach (1990).


23 Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 464 f.; Monadologie, § 57:
»Et, comme une même ville regardée de différents côtés paraı̂t toute
autre, et est comme multipliée perspectivement; il arrive de même,
que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme au-
tant de différents univers, qui ne sont pourtant que les perspectives
d’un seul selon les différents points de vue de chaque Monade.«
176 Dialektiker unter sich

Stadt durch ihre Bewohner, in unendlichen Facettierun-


gen; aber sie ist, wie Leibniz betont, dennoch eine:
zusammengehaltene Harmonie aller möglichen Sicht-
weisen durch Gott,24 der, als notwendige Substanz, der
letzte Grund aller Dinge ist.25
Einen solchen, die Ordnung der Welt garantierenden
Gott will Nietzsche sich nicht mehr vorstellen; seine
Möglichkeit wird noch nicht einmal erwogen, obwohl
uns beim Unendlichwerden der Welt »der grosse Schau-
der« erfaßt – die Angst, nicht mehr in eine geordnete
und verständliche Welt, einen % ı7 5 U 7 W , wie das auf Grie-
chisch hieß, eingebunden zu sein. Nietzsche erwägt nur,
ob man wohl Lust haben könnte, dieses »Ungeheure
von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu
vergöttlichen« und »etwa das Unbekannte fürderhin als
›den Unbekannten‹ anzubeten«. Aber dagegen scheint
ihm zu sprechen, daß »zu viele ungöttliche Möglichkei-
ten der Interpretation mit in dieses Unbekannte einge-
rechnet sind, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der
Interpretation, – unsre eigne menschliche, allzumensch-
liche selbst, die wir kennen . . .« (KSA 3,627; FW 374).
Und dann gibt es allem Anschein nach bloß noch eine
Antwort, jene nämlich, die Nietzsche schon im Aphoris-
mus 125 der Fröhlichen Wissenschaft durch den »tollen
Menschen« verkünden ließ: »Gott ist todt.« (KSA 3,481;
FW 125)
Aber man sollte die Überzeugung des »tollen Men-
schen« nicht vorschnell mit derjenigen Nietzsches iden-
tifizieren. Immerhin war nur von einer Vergöttlichung
der Welt »nach alter Weise« die Rede gewesen; und
schließlich könnte ein Gott auch die »ungöttlichen Mög-

24 Ebd., S. 464 f.; Monadologie, § 59.


25 Ebd., S. 454–457; Monadologie, § 38.
»Offnes Meer« 177

lichkeiten der Interpretation«, die »Teufelei, Dummheit


und Narrheit« in sich haben – vielleicht müßte er nicht
für die Fülle des Guten und die Allwissenheit einstehen
und so, unter anderem so im Gegensatz zur Welt ver-
standen werden. In Jenseits von Gut und Böse fragt
Nietzsche einmal, ob »nicht erst der Gegensatz die
rechte Verkleidung« sei, »in der die Scham eines Gottes
einhergienge« (KSA 5,57; JGB 40), so daß seine Gött-
lichkeit verkannt würde, wo man sich am Gegensatz ori-
entiert. Dann wäre die Verkündigung des »tollen Men-
schen« wirklich nur Ausdruck seiner Tollheit: er sieht
die aus dem Selbstzerteilen entsprungene Vorstellung
Gottes wie eine abgeworfene Verkleidung im Staub lie-
gen und folgert den Tod ihres früheren Trägers.
Doch selbst wenn es so ist – sofern man sich bisher an
der Verkleidung orientiert hatte, ist die Irritation ver-
ständlich und nicht weniger groß, als wenn Gott wirklich
tot wäre. Man hat einen Anhalts- und Orientierungs-
punkt verloren; etwas, von dem her man die Welt in ihrer
Ordnung, in ihrer Einheit und ihren Grenzen – in ihrem
Sein verstanden hatte, ist nicht mehr da. Der »tolle
Mensch« hat es als erster gemerkt und in seiner Tollheit
gesehen, daß der Tod Gottes kein schicksalhaftes Ereignis
war, sondern Mord: »Wir haben ihn getödtet, – ihr und
ich! Wir Alle sind seine Mörder!« (KSA 3,481; FW 125)
Will man wissen, wie eine nicht durch Tollheit über-
steigerte und verzerrte Version dessen aussehen könnte,
kann man sich, wie so oft bei Nietzsche, vom Kontext
auf die Spur bringen lassen. So ist im Aphorismus 122
von der »moralischen Skepsis im Christenthum« die
Rede: das Christentum habe »in jedem einzelnen Men-
schen den Glauben an seine ›Tugenden‹« vernichtet – wo
die Erbsünde gilt, ist die Vervollkommnung des eigenen
Lebens nichts oder nur wenig wert. Aber »die selbe Skep-
178 Dialektiker unter sich

sis« habe sich schließlich »auf alle religiösen Zustände und


Vorgänge wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung« (KSA
3,478; FW 122) übertragen: die christliche Selbstprüfung
wendet sich gegen sich selbst – Nietzsche kommt, wie
man weiß, in der Genealogie der Moral auf diesen Gedan-
ken ausführlich zurück. Auch was im Aphorismus 123
der Fröhlichen Wissenschaft angedeutet ist, führt er dort
aus: das Lob der Wissenschaft, wie es traditioneller- und
kirchlicherweise artikuliert wurde, führt schließlich dazu,
daß die Erkenntnis selbst zur »Leidenschaft« wird und
mehr ist »als ein Mittel« (KSA 3,479; FW 123) – man erin-
nere sich an den »Willen zur Wahrheit« als letzte Ausprä-
gung des »asketischen Ideals« (KSA 5,410 f.; GM 3,27).
Schließlich sollte man sich noch einmal an den Apho-
rismus 124 über den »Horizont des Unendlichen« erin-
nern, der dem über den »tollen Menschen« unmittelbar
voraufgeht: Die Einsicht in die Unendlichkeit der Welt
läßt sich konsequenterweise nicht mit dem Gedanken ei-
ner umfassenden Weltordnung verbinden: »Wir haben
das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen« – wir
haben uns darauf eingelassen, die Welt als unüberschau-
baren Zusammenhang von Perspektiven und Interpreta-
tionen zu verstehen, und dazu paßt der Gedanke eines
Gottes, der Grund und Ordnungsgarant ist, nicht mehr.
Im Grunde fällt Leibniz hinter Spinoza und seine Iden-
tifikation Gottes mit der einen Weltsubstanz, die unend-
lich viele Attribute hat (Ethica I, definitio 6)26, zurück;
wo Gott von der Natur nicht unterschieden wurde –
»Deus, sive Natura« ist bei Spinoza (Ethica IV, praefa-
tio; propositio 4)27 die Formel dafür –, war Gott als das
Gegenüber der Welt schon »tot«.

26 Spinoza, Opera – Werke, Bd. 2, S. 86 f..


27 Ebd., S. 382–387; 392–395.
»Offnes Meer« 179

Also artikuliert der »tolle Mensch« mit seiner Ver-


kündung nur, was schon längst vollzogen ist – wer sich
über ihn lustig macht, hat es bloß nicht gemerkt, weil die
Kirchen noch stehen und besucht werden; er hat »das
grösste neuere Ereigniss« (KSA 5,573; FW 343) in seiner
Tragweite noch nicht begriffen: Mag es auch weiterhin
Religion und Religiosität in der Welt geben, aufrechten
Glauben und Vertrauen auf Gott, so ist doch ein Verste-
hens- und Deutungsgebäude der Welt ins Wanken gera-
ten, wo die Welt nicht mehr in der metaphysisch-theolo-
gischen Scheidung von Diesseits und Jenseits verortet
wird. Sobald es kein Gegenüber gibt, von dem her die
Welt im ganzen zu deuten wäre, ist sie ortlos geworden,
offenes Meer.
Seit der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsche sein
Philosophieren ganz aus dieser Situation verstanden; er
trägt die Spannung aus, die durch den Verlust sicheren
Bodens und die Frage, wie man in der neuen Offenheit
wird leben können, erzeugt ist. So sind Philosophen
wie er die »geborenen Räthselrather«, die »gleichsam
auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen
hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute
und Morgen hineingespannt«, »Erstlinge und Frühge-
burten des kommenden Jahrhunderts« (KSA 3,574; FW
343) – modern in ihrer Zwischenzeitlichkeit:28 darin,
daß sie ins Gestern nicht mehr und ins Morgen noch
nicht gehören, auch nicht ins Heute, sofern es im Un-
klaren über sich ist; Philosophen, die, wie der Rätselra-
ter Ödipus vor der Sphinx, zu erraten haben, was der
Mensch ist – ob ein Wesen, das die Möglichkeit hat, sich
in einer neuen Weise des Lebensentwurfs neu zu ent-
decken.

28 Vgl. Figal (1994), S. 56–72.


180 Dialektiker unter sich

Nietzsches Antwort darauf hat zwei Seiten: Einmal


setzt er alles daran, die vermeintlich neuen Orientie-
rungsmöglichkeiten nach dem »Tod Gottes« kritisch zu
befragen, allen voran die Wissenschaftsgläubigkeit und
die Fortschrittsverfangenheit seiner Gegenwart: Wo –
unter dem Titel des »Realismus« (KSA 3,421 f.; FW 57)
– der Glaube an die »Wirklichkeit« und ans Naturgesetz
den alten Glauben ersetzt, ist das nur schlechte, weil sich
nicht als solche durchschauende Interpretation, und
nicht anders steht es mit den säkular gewordenen Heils-
erwartungen an die Geschichte, wie Nietzsche sie schon
in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung glossiert
hatte (KSA 1,315–323; HL 9). Wissenschafts- und
Geschichtsgläubigkeit sind »Schatten« Gottes – »und
wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen« (KSA
3,467; FW 108), das ist Programm bis in die letzten be-
wußten Jahre. Zum anderen läßt Nietzsche sich auf die
Frage ein, was es heißen könnte, bewußt in einer Welt
nach dem Tod Gottes zu leben. Wie versteht man die
Welt im ganzen, wenn nicht von etwas her, das ihr jen-
seitig ist? Nietzsche antwortet darauf mit einer Dich-
tung, die im Hinblick auf die Wahrheit transparent sein
soll – einer Dichtung des wahren Lebens.
IV.
Leben der Erkenntnis

1. »Über allen menschlichen Dingen«

Im Anhang der Fröhlichen Wissenschaft, unter den Lie-


dern des Prinzen Vogelfrei, findet sich ein Gedicht, des-
sen erster Entwurf auf das Jahr 1882 zurückgeht (KSA
3,649; FW Anhang). Es folgt in der Sammlung dem Ko-
lumbus-Gedicht Nach neuen Meeren wie eine Antwort
und heißt in seiner endgültigen Fassung Sils-Maria:
Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei –
– Und Zarathustra gieng an mir vorbei . . .
Das Gedicht ist Anrede, eine »Freundin« wird ange-
sprochen, und so mag die biographische Deutung nahe-
liegend sein. Trotzdem bleibt es zweitrangig, wer ge-
meint ist – versteht man mehr, wenn man weiß, daß es
Lou Andreas-Salomé war? Wichtiger ist die Szene selbst,
und sie ist seltsam: einleuchtend und rätselhaft, für sich
sprechend und aufklärungsbedürftig zugleich. Es geht
um die Stunde der kürzesten Schatten, den Mittag: die
Stunde des Innehaltens, in der man den Schatten sucht,
weil das Licht am hellsten ist, so daß eines die Erfahrung
des anderen steigert. Beides erlebt man mit gleicher In-
182 Leben der Erkenntnis

tensität und damit im Ausgleich; sobald die Sonne den


Zenit überstiegen hat, wird die Erfahrung von Licht und
Schatten zurücktreten, und man wird wieder deutlicher
sehen, was im Lichte erscheint und durch die Schatten
Körper und Tiefe bekommt. Jetzt, im Mittag aber ist all
das unwichtig geworden: keine gegliederte Welt oder
Landschaft; als einziges der See, und auch dieser nicht als
Einzelheit, sondern wie ein Ganzes – denken wir an eine
unter der Sonne metallisch blinkende Oberfläche, an ei-
nen glatten Spiegel, von dem man doch weiß, daß seine
Oberfläche die einer Tiefe ist – an einen See, der liegt
»wie Seide und Gold und Träumerei der Güte« (KSA
3,480; FW 124).
Daran ist der im Gedicht Sprechende hingegeben: er
ist »ganz See«, also kein Betrachter auf Abstand, doch
auch niemand, der sich in die Bewegtheit des Lebens
verstrickt – alles liegt ruhig; er ist weder selbstbewußt
noch selbstvergessen, sondern in jener Mitte zwischen
beidem, die hier als Genießen benannt ist: Wer etwas
genießt, geht nicht darin auf und bleibt von ihm auch
nicht wie von einem Gegenstand getrennt; man ist bei
der Sache, ohne von ihr ganz und gar beherrscht zu sein.
Genuß ist so verstanden ein Schillern zwischen Diffe-
renz und Indifferenz, ein Unterschiedensein, das sich
doch nie zu einem Unterschied verfestigt und auch nicht
in den übergreifenden Bindungen des Gemeinsamen un-
tergeht.
Dafür gibt es im Gedicht das Wort »Spiel«. Spiel ist
Bewegung, die nicht festlegt, sondern immer von neuem
das Miteinanderspielende ins Verhältnis bringt; und
Spiel ist auch Freiheit, die Offenheit, daß etwas über-
haupt in neue Verhältnisse zu anderem treten kann.
»Ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag« – die Reihung
zeigt an, daß See und Mittag hier Weisen des Spiels sind.
»Über allen menschlichen Dingen« 183

Das Spiel ist natürlich auch das dem »ernsthaften« Le-


ben Entgegengesetzte; es ist weder zweckhaftes Handeln
noch Willensanstrengung. Das Genießen, von dem das
Gedicht spricht, ist »ohne Ziel«; es stellt sich nur ein, wo
nichts mehr bewirkt werden soll. Erst hier kann es auch
die Bereitschaft für Anderes und Neues geben; solange
man etwas will und Zwecke verfolgt, ist alles im Licht
dieser Zwecke gesehen: als förderlich oder hinderlich,
wertvoll oder belanglos. Solange man sich im Bereich
des Handelns bewegt, kommt man nicht umhin zu »wer-
ten«, während die eigentümliche Offenheit, die das Ge-
dicht zur Sprache bringt, »jenseits von Gut und Böse« ist.
Spiel, verstanden als Erfahrung des Zwecklosen, und
Genuß als die Mitte von Selbstsein und Selbstlosigkeit –
das läßt an etwas in sich Genügsames, Gerundetes den-
ken; gemeint wäre so ein Zustand der Erfüllung, eines
Lebens, an dem nichts mehr fehlt – ª af … ¥ O U 7 r ıO ¥ ist das
griechische Wort dafür. Doch gibt es kein Erfülltsein,
ohne daß zugleich die Unerfülltheit gegenwärtig wäre:
als voraufgegangener, nun überwundener Zustand und,
sofern das Erfülltsein keine Seligkeit ist, als das immer
wieder Mögliche, aus dem sich die Erfüllung wiederum
einstellen kann. Von dergleichen ist im Gedicht nicht die
Rede. Nicht um Erfüllung, um Erwartung geht es, wie
der erste Vers mit betonter Deutlichkeit sagt.
Aber das Warten ist ein Warten »auf Nichts«. Also,
wie man mit vollem Recht schließen könnte, kein War-
ten, denn ohne etwas, das man herbeisehnt oder be-
fürchtet, kann vom Warten nach üblichem Verständnis
nicht die Rede sein. Selbst vage Erwartungen, etwa dar-
auf, daß eine gegenwärtige Lebenssituation sich ändert,
müssen bestimmt werden können, wenigstens indirekt
durch das, von dem man wünscht oder befürchtet, daß
es aufhört. Trotzdem ist die Rede vom »Warten auf
184 Leben der Erkenntnis

Nichts« keineswegs widersinnig: sie gibt Bereitschaft,


Ansprechbarkeit zu verstehen, eine Offenheit, die nur
deshalb Offenheit ist, weil in ihr nichts Bestimmtes –
und das heißt eben: »nichts« erwartet wird. Es gibt Er-
eignisse, die nur in solcher Offenheit möglich sind: man
verliebt sich nicht anders als so; und Einfälle, Gedanken
müssen erwartet, aber unausgedacht sein, damit sie sich
einstellen können.
Also darf man vermuten, daß das Ereignis der zwei-
ten, nur zwei Verse umfassenden Strophe mit der war-
tenden Offenheit, wie sie umrissen wurde, zusammen-
gehört. Das Ereignis als solches, in seiner Bestimmtheit
ist unerwartet; und doch konnte es nur in die wartende
Offenheit eintreten: unvorhergesehen, unverhofft und
nicht befürchtet, im Augenblick – »plötzlich«.
Was plötzlich geschieht, ist eine Erscheinung: Jemand
zeigt sich, tritt auf und bleibt doch flüchtig, ungreifbar;
er geht vorbei: zeigt sich und verschwindet. Dennoch
wird sein Name wie selbstverständlich genannt: Zara-
thustra. Es scheint klar, wer das ist, ohne daß irgend et-
was über ihn gesagt wird. War er schon immer bekannt?
Oder hat seine Identität sich später herausgestellt, so daß
die Nennung des Namens nicht unmittelbar mit der
Erscheinung zusammengehörte, sondern im Nachhinein
möglich geworden wäre? Oder gehen Fragen wie diese
an der Sache vorbei, weil mit ihnen vergessen wurde,
daß Erscheinungen keine Personen sind und sie nicht
wie diese identifiziert werden können?
Wenn es so ist, wäre mit dem Namen selbst schon das
Entscheidende gesagt: er nennt die Erscheinung als sol-
che. Und die Erscheinung ist das, was mit der warten-
den Offenheit, dem Spiel von Licht und Schatten, von
Selbstsein und Selbstvergessenheit zusammengehört; was
in die Offenheit dieses Spiels eintreten konnte und sie
»Über allen menschlichen Dingen« 185

mit seinem Eintreten – zur Erscheinung bringt. Wo die


Erscheinung beim Namen genannt wird, ist die Situa-
tion ihres Erscheinens gemeint: Eins wird zu Zwei; das
schwebende Different- und Indifferentsein mit der Welt,
das Sein zwischen Licht und Schatten, das seinen Spiegel
im See findet, in seiner Oberfläche und Tiefe, nennt
jetzt, »plötzlich«, einen Namen und will, über sich hin-
ausblickend, mit ihm zur Sprache kommen.
Wo Eines auf diese Weise zu Zwei wird, hat man es
mit einem eigenartigen Verhältnis zu tun. Wenn das Er-
ste im Zweiten einen Widerpart findet, man könnte auch
sagen: eine Ergänzung, ist das Zweite mehr als eine Pro-
jektion des Ersten: es wird nicht bloß ausgedacht und
vorgestellt, so daß es aus dem Lebensumkreis des Ersten
allein nicht begriffen werden kann. Das Zweite er-
scheint, es tritt ungerufen auf und steht also außerhalb
des Ersten. Dennoch kann das Zweite nicht ohne das Er-
ste sein; es wird von ihm benannt und gerufen. Das Er-
ste begegnet keinem Zweiten, sondern geht unwillkür-
lich über sich hinaus und nennt einen Namen, der eine
Gestalt meint. Im Gestalten dieser Gestalt käme das Er-
ste in dem, was es ist, zur Sprache.
Aber was ist das Erste, also das Leben und Erleben in
wartender Offenheit? Es ist, mit einem bisher noch
nicht beachteten Wort des Gedichtes gesagt, »Zeit ohne
Ziel«; Zeit ohne Zukunft also und damit auch Zeit ohne
Vergangenheit im Sinne des bereits Erlebten, Erledigten,
Vollbrachten. Derart kommt das Vergangene ja nur in
den Blick, wo es vom Bevorstehenden, Liegengelasse-
nen, Unfertigen unterschieden wird. Zeit, die man von
der Zukunft und der Vergangenheit aus versteht, ist im-
mer die Zeit, in der und mit der es Ziele gibt. Demge-
genüber ist eine »Zeit ohne Ziel« einfach nur »Weile«,
Gegenwart, die nichts als Gegenwart ist. In der ersten
186 Leben der Erkenntnis

Fassung des Gedichtes hatte Nietzsche dafür noch ein


anderes Wort: »Ewigkeit«. »Dem Mittag Freund und
Freund der Ewigkeit« hatte hier die letzte Zeile gehei-
ßen (KSA 10,108; N 1882, 3[3]). Zeit, die nur Weile ist,
Ewigkeit – das ist es, was dann, nach der unter die Lie-
der des Prinzen Vogelfrei aufgenommenen Fassung, mit
dem Namen Zarathustra benannt sein will.
Hier sollte man kurz innehalten und nachfragen, ob
denn Zeit, selbst wenn sie im skizzierten Sinne als Weile
verstanden wird, mit Recht »Ewigkeit« heißen kann.
Zeit und Ewigkeit erscheinen doch als verschieden, als
gegensätzlich sogar. Aber sollte sich das eine dann
so leicht an die Stelle des anderen setzen lassen, wie es
in den beiden Fassungen von Nietzsches Gedicht ge-
schieht? Unterstellt man, diese Fragen hätten sachliches
Gewicht, wird das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit
zum Problem: Wie läßt sich Zeit denken ohne das, was
wir meist als ihr Wesentliches verstehen: daß etwas war
und nicht mehr ist oder daß etwas sein wird und noch
nicht ist? Was ist eigentlich »Zeit ohne Ziel«, jenes selt-
same Schweben zwischen Zeit und Nichtzeit? Und was
ist Ewigkeit, wenn nicht einfach das Jenseits von Zeit?
Wobei, wenn sie das Jenseits von Zeit wäre, wir weder
Begriff noch Vorstellung von ihr hätten, weil unser Be-
greifen und Vorstellen nie ohne Zeit ist. – Zeit, die mehr
als nur Zeit ist, Ewigkeit in der Zeit: Gedanken wie diese
sollen mit dem Namen Zarathustra benannt sein.
Oder, um es nun mit den Worten des seltsamen Buches
zu sagen, das diese Gedanken ausführt und eine Antwort
geben soll, wie sie zu denken sind: Zarathustra ist »der
Lehrer der ewigen Wiederkunft«, das zu sein, ist sein
»Schicksal« (KSA 4,275; Za III, Der Genesende). Der Ge-
danke von der ewigen Wiederkunft ist, wie Nietzsche
es in seiner späten Selbstdeutung, Ecce homo, sagt, »die
»Über allen menschlichen Dingen« 187

Grundconception des Werks« (KSA 6,335; EH, Also


sprach Zarathustra 1).
Das Buch hat vier Teile, wobei der vierte und letzte
Teil als Privatdruck erschien und auch in die einbändige
Ausgabe, die Nietzsche 1886 veranlaßte, nicht aufge-
nommen wurde. Das ist nachvollziehbar, denn das Werk
kulminiert mit dem dritten, der ewigen Wiederkunft ge-
widmeten Teil, und der vierte wirkt, von hier aus gese-
hen, nur locker angeschlossen, beinah disparat. Demge-
genüber ist die Zusammengehörigkeit der ersten drei
Teile deutlich zu spüren; und das liegt nicht bloß am
Ton, nicht bloß am dichten Geflecht der Motive, son-
dern vor allem daran, daß sie wirkungsvoll auf den zen-
tralen Gedanken des Buches hin komponiert sind.1
Damit ist auch gesagt, daß nicht alle Teile des Zara-
thustra vom Wiederkunftsgedanken handeln. Zarathu-
stra ist nicht bloß »der Lehrer der ewigen Wiederkunft«;
zunächst führt er sich als Lehrer ganz anders ein: »Ich
lehre euch den Übermenschen« (KSA 4,14; Za I, Vorrede
3); und später im zweiten Teil nennt er als Inhalt der von
ihm artikulierten Lehre den »Willen zur Macht« (KSA
4,149; Za II, Von der Selbst-Ueberwindung). Also gibt
es drei Lehren Zarathustras, die, nach der Aussage von
Ecce Homo, auf die »Grundconception« der Wieder-
kunftslehre zulaufen. Was das genauer heißt, muß sich
bei ihrer Erörterung klären.
Zunächst geht es jedoch um die Form, in der Nietz-
sche diese Lehren präsentiert: Wieso braucht er über-
haupt einen Lehrer und vertraut Gedanken, die zentral
für ihn sind, einem anderen an? Das Gedicht, das die Er-
scheinung des Lehrers zur Sprache bringt, gibt darauf
keine Antwort, sondern spricht mit dem Vorbeigang Za-

1 Als durchgehenden Kommentar zum ersten Teil vgl. Pieper (1990).


188 Leben der Erkenntnis

rathustras nur von dem, was hier erläuterungsbedürftig


ist; es artikuliert ein Geschehen im Namen und deutet es
nicht.
Die Erscheinung eines Lehrers in Nietzsches Werk
muß, von außen betrachtet, nicht überraschen. Lehrer-
figuren hat es hier schon immer gegeben, und man
kann sie rückblickend als Vorläufer Zarathustras iden-
tifizieren. Schon während der Arbeit an seinem er-
sten Buch skizziert Nietzsche eine – deutlich am Vor-
bild Hölderlins orientierte – Empedokles-Tragödie (vgl.
KSA 7,233–237.269–271; N 1871, 8[30]–[37].9[4]). Vor
allem jedoch die Heraklit-Schilderung der Schrift Die
Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zeigt
an, wie der junge Nietzsche sich einen wahren Philoso-
phen vorstellt: Heraklit, so heißt es hier, habe »als sein
königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven
Vorstellung«, während er »gegen die andre Vorstellungs-
art, die in Begriffen und logischen Combinationen voll-
zogen wird, als gegen die Vernunft sich kühl, unemp-
findlich, ja feindlich« zeige (KSA 1,823; PHG 5); radikal
verschieden sei er vom »beschränkten Menschen, der
auseinander und nicht zusammen schaut«, dagegen dem
»beschaulichen Gotte«, also dem die Welt im ganzen be-
trachtenden Gott, ähnlich (KSA 1,830; PHG 7). Es sei
wichtig, von Menschen wie Heraklit zu wissen, daß sie
einmal gelebt hätten. An sich nämlich, fügt Nietzsche
zur Erläuterung hinzu, scheine »jedes Streben nach Er-
kenntniß, seinem Wesen nach, ewig unbefriedigt und
unbefriedigend«; und deshalb werde »Niemand, wenn
er nicht durch die Historie belehrt« sei, »an eine so kö-
nigliche Selbstachtung und Überzeugtheit, der einzig be-
glückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen«
(KSA 1,834; PHG 8). Nach dieser, mit einem Wort der
zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung gesagt: »monu-
»Über allen menschlichen Dingen« 189

mentalischen« Darstellung erfaßt Heraklit die Welt im


ganzen, und damit reicht seine Betrachtungskraft über
das Menschliche hinaus. Deshalb weiß er, daß alles von
ihm Artikulierte wahr ist: es ist Weisheit und nicht bloß
Liebe zu ihr, das Gesagte eine Lehre statt bloßer Annä-
herung.
Es ist nun aufschlußreich, Nietzsches frühes Heraklit-
Porträt neben eine Aufzeichnung zu halten, die in man-
cher Hinsicht bedeutsam ist. In ihr ist zum ersten Mal
von der ewigen Wiederkunft als einem Grundgedanken
die Rede; früher, in der zweiten Unzeitgemäßen Be-
trachtung, hatte es nur eine beiläufige Erwähnung gege-
ben, in der die Absurdität des Gedankens herausgestellt
wurde, (KSA 1,261; HL 2). Die Aufzeichnung ist datiert
und einem Ort zugewiesen: »Anfang August 1881 in
Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher
über allen menschlichen Dingen! –« (KSA 9,494; N
1881, 11[141]). Allein das ist bemerkenswert, und zwar
nicht bloß, weil Nietzsche seine Aufzeichungen nur
höchst selten datiert und so durch eine Datierung her-
vorheben kann, daß etwas besonders wichtig ist. Vor al-
lem darf die Ortsangabe auf die aus der Fröhlichen Wis-
senschaft bekannte Metapher bezogen werden, und dann
besagt sie: 6000 Fuß über dem Meer als der unendlichen
Welt, im souveränen Abstand, ganz und gar anders als
der Entdecker-Philosoph, der sich zu Schiff begeben
und das Land hinter sich abgebrochen hat.
Die Ortsangabe tritt außerdem in Korrespondenz zu
Nietzsches Gedicht von der Erscheinung des Lehrers.
Nach eigenem Zeugnis kam Nietzsche der Gedanke an
die Gestalt erst im Winter 1881 in Italien (KSA 6,336 f.;
EH, Also sprach Zarathustra 1); doch gibt es Aufzeich-
nungen, die früher ins Jahr zu datieren und in Sils-Maria
entstanden sind (KSA 9,519; N 1881, 11[195]–11[197]).
190 Leben der Erkenntnis

Hoch über allen menschlichen Dingen – so hatte Nietz-


sche auch Heraklit gesehen, und eben dort, »jenseits von
Gut und Böse«, wo alles »ganz nur Spiel« ist, erscheint
Zarathustra; er ist, auf die Abhandlung über die Philoso-
phie im tragischen Zeitalter der Griechen zurückbezo-
gen, eine Figuration Heraklits; auch er ist ein Lehrer des
»Weltspiels«.
Aber noch einmal: Wieso überhaupt eine Lehrerge-
stalt dieser Art? Die Antwort gibt Nietzsches Aufzeich-
nung. Hier ist das Programm einer »Philosophie der
Gleichgültigkeit« skizziert, die sich von jeder Beherr-
schung durch Triebe und Leidenschaften freigemacht ha-
ben soll; es gehe darum, sich »wie die Kinder« zu dem
zu stellen, »was früher den Ernst des Daseins aus-
machte«. Und zur Erläuterung des letzteren fügt Nietz-
sche hinzu: »Unser Streben des Ernstes ist aber alles als
werdend zu verstehen, uns als Individuum zu verleug-
nen, möglichst aus vielen Augen in die Welt sehen, leben
in Trieben und Beschäftigungen, um damit sich Augen
zu machen, zeitweilig sich dem Leben überlassen, um
hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen«
(KSA 9,494 f.; N 1881, 11[141]).
Das ist eine sehr anschauliche Beschreibung von Nietz-
sches eigener Philosophie, wie sie mit Menschliches,
Allzumenschliches I einsetzt: jener Dialektik der Nuance
also, bei der es darauf ankam, den »metaphysischen«
Glauben an die Gegensätze außer Kraft zu setzen und
die Dinge der Welt, besonders die menschlichen Verhal-
tens- und Denkweisen, in der Zusammengehörigkeit des
Gegensätzlichen anzusehen. Ein Denken dieser Art aber
muß sich auf die Verhältnisse des menschlichen Lebens
eingelassen haben, um sie dann, im Wechsel des Blicks,
durchschauen zu können. Das konnte Nietzsche in der
dritten Abhandlung der Genealogie der Moral prägnant
»Über allen menschlichen Dingen« 191

zusammenfassen: »Es gibt nur ein perspektivisches


Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und je mehr
Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen,
je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe
Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird un-
ser ›Begriff‹ dieser Sache, unsere ›Objektivität‹ sein.«
(KSA 5,365; GM 3,12) Nicht eine von jeder Sichtweise
befreite »Sache«, sondern das Leben im Reichtum seiner
Aspekte bietet sich so dar. Aufklärung über das Leben
im Leben; Aufklärung, die sich ihrer eigenen Bedingt-
heit durch das Leben, durch »Triebe und Beschäf-
tigungen« bewußt ist – so könnte man das Programm
dieses »ernsthaften« Philosophierens noch einmal zu-
sammenfassen.
Nun will Nietzsche die Überzeugung, daß alles Ver-
halten und Erkennen ein Lebensvollzug und als solcher
durch Triebe und Leidenschaften bestimmt ist, durch
sein Programm einer »Philosophie der Gleichgültigkeit«
nicht widerrufen; daß er auch weiterhin zu den Analy-
sen der früheren Bücher steht, demonstriert er allein da-
durch, daß er sie wieder aufnehmen und variieren kann
– in den nach dem Zarathustra geschriebenen Büchern
Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Mo-
ral, im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft. Aber
mit den Überlegungen, wie sie in der Sils-Maria-Auf-
zeichnung angestellt werden, kommt ihm doch ein ande-
res und neues Verhältnis zu den Lebensverhältnissen,
wie sie in den dialektischen Analysen der früheren Bü-
cher dargestellt werden, in den Blick: Zwar wird zuge-
standen, die Triebe, also die je in bestimmter Richtung
und Perspektive gehenden Lebensregungen, seien »Fun-
dament alles Erkennens«; aber, fügt Nietzsche hinzu, es
komme darauf an zu wissen, »wo sie Gegner des Erken-
nens werden«. Und dann heißt es: »in summa abwarten,
192 Leben der Erkenntnis

wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben


können – und in wiefern eine Umwandlung des Men-
schen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu er-
kennen.« (KSA 9,495; N 1881, 11[141])
Hier geht es um nichts weniger als eine Umkehrung
des Verhältnisses von Leben und Erkennen: Das Erken-
nen soll nicht mehr nur als eine Vollzugsweise des Le-
bens verstanden werden, was einschließt, daß es blinde
Flecke hat, das Leben dichterisch filtert und sich in
seinen Motiven niemals durchschaut. Vielmehr erwägt
Nietzsche die Möglichkeit, daß Wissen und Wahrheit die
Leidenschaften und Triebe, die Lebensregungen im gan-
zen prägen und »sich einverleiben«, so daß Wissen und
Wahrheit zur Lebensform werden. Dazu müßte man
sich aus den Lebensverhältnissen, wie sie unmittelbar
gegeben sind, lösen; man müßte ganz frei von den Re-
gungen des Lebens geworden sein, um sie dann wieder
in Freiheit zu ergreifen. Abkehr von den Leidenschaften
also und die – unvermeidliche – Rück- und Hinkehr zu
ihnen; denn es gibt, wie Nietzsche sagt, für die Erkennt-
nis »kein Mittel, als die Quellen und Mächte der Er-
kenntniß, die Irrthümer und Leidensch具aften典 auch zu
erhalten, aus deren Kampfe nimmt sie ihre erhalten-
de Kraft« (KSA 9,495; N 1881, 11[141]). Wenn die Er-
kenntnis nicht von den Verhältnissen und Regungen des
Lebens bestimmt sein will, muß sie diese verwandeln
und so bestimmen, daß sie nichts anderes mehr als das
Medium der Erkenntnis sind.
Das von Nietzsche skizzierte Programm einer »Philo-
sophie der Gleichgültigkeit« hat eine Vorgeschichte in
seinem Denken: Schon in der zweiten Unzeitgemäßen
Betrachtung hatte er einen »überhistorischen« Stand-
punkt erörtert, auf dem man »gar keine Verführung
mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Ge-
»Über allen menschlichen Dingen« 193

schichte verspüren könnte« (KSA 1,254; HL 1); auch die


in Menschliches, Allzumenschliches I erwogene Möglich-
keit einer Verwandlung der moralischen in eine »weise
Menschheit« (KSA 2,103–106; MA I,107) gehört hierher.
Erst die Sils-Maria-Aufzeichnung aber läßt das Vorbild
für Nietzsches Programm deutlich werden; die Formel
von der »Umwandlung des Menschen« verweist auf Pla-
tons Politeia: Bildung oder Erziehung, y ¥ O … ª ı« ¥ , sagt So-
krates hier, sei eine Umwendung ( y ª / O ¥ º * º ı` ) der gan-
zen Seele, und zwar vom Werdenden zum Seienden hin,
vor allem zu dem, was am Seienden das Erscheinendste
sei ( Q 7 "f D7 r Q 7 W Q æ7 4 ¥ r ı7 Q ¥ Q 7 r ). Dies, so heißt es, müsse
die Seele fähig werden, betrachtend auszuhalten. Es ist,
wie Sokrates hinzufügt, das Gute (Resp. 518c–d).
Indem man erläutert, was damit gemeint ist, nimmt
man bereits vertraute Gedanken wieder auf. Gut ist et-
was, sofern es geordnet ist, in sich gefügt und stimmig,
von klar umrissener Gestalt; um so mehr ist es eigentlich,
und also auch um so deutlicher erkennbar. Um das zu ver-
stehen, muß man jedoch lernen, was Stimmigsein, Ge-
fügtsein eigentlich ist: die Ausprägung einer Gestalt im
Veränderlichen, die Darstellung von Formen in jeweiliger
Konstellation. Erst wenn man Verständnis für die Diffe-
renz zwischen dem Sichdarstellenden und der jeweiligen
Darstellung gewonnen hat, weiß man auch, verschiedene
Darstellungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Klarheit
und Prägnanz zu unterscheiden. So ist Bildung oder Er-
ziehung zur Erfahrung des Guten gleichbedeutend mit
einem Kurs im Erfahren von Darstellungen, und hier
ist das erste, daß man sich nicht mehr einfach am Vor-
findlichen, an dem, was sich unmittelbar gibt und zeigt,
orientiert. Erforderlich ist Freiheit gegenüber dem Sich-
zeigenden.
Das aber heißt einmal: Erforderlich ist die Fähigkeit,
194 Leben der Erkenntnis

dieses von etwas anderem her zu verstehen – etwa die je-


weilige Erscheinung von einer Form, die sich in ihr aus-
prägt. Es heißt außerdem: auch diese Form nicht für
selbstverständlich zu nehmen, sondern ausdrücklich in
ihrem Erscheinen zu erfahren, das heißt: in der Offen-
heit, in der sie erscheint. Diese Offenheit ist, wie es in
der Politeia ausdrücklich heißt, für das Verstehbare oder
Erkennbare wie die Sonne für die sichtbaren Dinge (vgl.
Resp. 508a–509b). Und wie die lichtspendende Sonne
verschieden von dem ist, was im Licht erscheint, ist sie
nicht einfach das Gute, sondern dessen Idee; also dasje-
nige, was das Gute als solches überhaupt verständlich
sein läßt, weil es ihm gegenüber Freiheit gibt und so
auch die Möglichkeit einer freien Zuwendung zu ihm.2
Das platonische Bild von der Sonne nimmt Nietzsche
schon in seiner ersten Aufzeichnung zum Zarathustra
auf, und zwar in deutlicher Korrespondenz zum Sils-
Maria-Gedicht: »Die Sonne der Erkenntnis steht wie-
der einmal im Mittag«, heißt es hier (KSA 9,519; N
1881, 11[196]), und das kehrt dann zu Anfang des Zara-
thustra wieder: »Zarathustra’s Vorrede« ist Anrede an
die Sonne, Erfahrung jener Freiheit mithin, von der auch
schon in der Aufzeichnung »6000 Fuss über dem Meere«
unter dem mißverständlichen Titel einer »Philosophie
der Gleichgültigkeit« die Rede gewesen war. Es geht wie
bei Platon auch bei Nietzsche um die Erfahrung einer
Freiheit, die nicht mehr, wie im dialektischen Denken,
durch den Zusammenhang des Lebens und die Einge-
bundenheit in ihn beschränkt ist.
Das führt zu der Frage zurück, warum Nietzsche eine
Figur wie Zarathustra braucht, um das Programm dieser
Philosophie auszuarbeiten. Die Antwort ist schon zitiert

2 Vgl. auch Figal (1993b), Figal (1998b).


»Über allen menschlichen Dingen« 195

und braucht nur als solche hervorgehoben zu werden:


Man muß, wie Nietzsche geschrieben hat, »abwarten,
wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben
können – und in wiefern eine Umwandlung des Men-
schen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu er-
kennen« (KSA 9,495; N 1881, 11[141]). Ähnlich heißt es
übrigens schon im Aphorismus 110 der Fröhlichen Wis-
senschaft: »Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einver-
leibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.«
(KSA 3,470; FW 110) Also ist der Zustand eines wahren
Lebens noch nicht erreicht; Nietzsche weiß, daß er ihn
nicht erreicht hat, sondern nur aufgrund einer herausge-
hobenen Erfahrung für möglich halten kann. Diese
Möglichkeit trat auf und ging vorbei – in einer Situation,
die selbst ganz Möglichsein, Offenheit für das in sie ein-
tretende Mögliche war. So konnte »Eins zu Zwei« wer-
den, so wurde der Eine, wie Nietzsche später sagen
wird, »überfallen«: durch einen »Typus« (KSA 6,337;
EH, Also sprach Zarathustra 1), den er beim Namen des
Stifters der altiranischen Religion nannte, ohne diesen
als historische Figur zu meinen. Der Name ist Chiffre,
wie schon Apollon und Dionysos im Tragödien-Buch.
Zarathustra ist der sich wandelnde und dann verwan-
delte Mensch; er ist der Weise, der seiner »Weisheit über-
drüssig« geworden ist, »wie die Biene, die des Honigs
zu viel gesammelt hat« (KSA 4,11; Za I, Vorrede 1).
Doch mag Nietzsche auch noch so sehr betonen, daß
für ihn die Erscheinung Zarathustras Überfall, Inspira-
tion war – er hat ihn zum Helden eines Buches gemacht
und gedichtet. Zwar kann man sich als Autor kaum
deutlicher von seinem Buch unterscheiden, als Nietzsche
es schon mit dem Titel getan hat: Also sprach Zarathu-
stra – und nicht ich. »Glaube ja nicht«, schreibt Nietz-
sche am 7. Mai 1885 an seine Schwester, »daß mein Sohn
196 Leben der Erkenntnis

Zarathustra meine Meinungen ausspricht. Er ist eine


meiner Vorbereitungen und Zwischenspiele.« (KSB 7,48)
Doch natürlich ist die Erscheinung Zarathustras ein Bild,
das Nietzsche entwirft: Der Zarathustra ist ein durch
und durch modernes, komplexes und anspielungsreiches
Buch, in seinen pathetischen Elementen ebenso wie in
den skurrilen und alptraumhaften; ein Buch, in dem sich
Parodie und Ernst manchmal kaum unterscheiden lassen
und Großartiges neben dem bloß Gewollten und des-
halb Abstürzenden steht: ein Fin-de-siècle-Buch, das in
vielem an die anachronistischen Mythen von Wagners
Musikdramen denken läßt, aber auch an den Jugendstil
in seiner eigentümlichen Mischung aus Strenge und
Rankenwerk; ein Buch schließlich, das auf die Tradi-
tion zurückgeht und mit ihren Elementen spielt, um
etwas ganz und gar Neues zustandezubringen: nämlich,
wie es schon in den ersten Aufzeichnungen heißt,
den »Entwurf einer neuen Art zu leben« (KSA 9,519;
N 1881, 11[197]).
Entsprechend ist Nietzsches Selbsteinschätzung: Goe-
the und Shakespeare hätten nicht »in dieser ungeheuren
Leidenschaft und Höhe zu athmen« gewußt, Dante sei,
»gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger«, und
die Dichter des Veda, der heiligen Texte im Sanskrit,
seien »nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zara-
thustra zu lösen« (KSA 6,343; EH, Also sprach Zarathu-
stra 6). Nur einer wird hier nicht genannt und niedriger
gestellt, denn an ihm hat Nietzsche Maß genommen:
Platon, der mit seinem Porträt des Sokrates das »Ideal
der edlen griechischen Jugend« (KSA 1,91; GT 13) ge-
schaffen hatte; Platon hat, wie es in der Geburt der Tra-
gödie kurz darauf hieß, das Bild »des durch Wissen und
Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen« ent-
worfen und damit »das Wappenschild, das über dem
»Über allen menschlichen Dingen« 197

Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Be-


stimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich
und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen«
(KSA 1,99; GA 15).
Doch Sokrates hat, wie Nietzsche im Aphorismus 340
der Fröhlichen Wissenschaft aufdecken wollte, »am Le-
ben gelitten« und das Leben als »eine Krankheit« be-
trachtet (KSA 3,569 f.; FW 340). Entsprechend ist es prä-
zise komponiert, wenn zwei Abschnitte später unter
dem Titel »Incipit tragoedia« der Text folgt, der ein Jahr
später den Anfang des Zarathustra bilden wird (KSA
3,571; FW 342). Zarathustra ist Nietzsches Sokrates, sein
Gegenentwurf zu ihm; als Philosophengestalt viel mehr
Anti-Sokrates, als er, trotz aller Anspielungen auf das
Neue Testament, Anti-Christus sein könnte. Mit Zara-
thustra »beginnt die Tragödie« – wir erinnern uns: die
Einsicht in die Zusammengehörigkeit des Schrecklichen
mit der Bejahung des Lebens. Es wird also jene tragische
Lebens- und Weltsicht neu entworfen, die durch Sokra-
tes nach der Überzeugung des jungen Nietzsche zerstört
worden war und, entgegen früheren Hoffnungen, im
Musikdrama Wagners nicht wiedergewonnen werden
konnte. Dessen Platz füllt Nietzsche nun selbst aus: Das
erste Buch des Zarathustra wurde, wie er in seiner Au-
tobiographie schreibt, »in der heiligen Stunde fertig ge-
macht, in der Richard Wagner in Venedig starb« (KSA
6,336; EH, Also sprach Zarathustra 1). Und der Schluß
des vierten, in der ersten Auflage letzten Buches der
Fröhlichen Wissenschaft läßt auch keinen Zweifel zu, wie
Nietzsche die Wiedergewinnung des Tragischen artiku-
liert sah: zwischen Sokrates und Zarathustra, im Apho-
rismus 341, steht die erste Mitteilung des Wiederkunfts-
gedankens.
Mit dem Zarathustra kehrt Nietzsche also zu wichti-
198 Leben der Erkenntnis

gen Motiven seiner frühen Philosophie zurück: wieder


beschäftigt ihn das Vor- und Gegenbild Richard Wag-
ners, wieder die Möglichkeit eines antisokratischen Den-
kens, und vor allem tritt die Frage nach der Gestalt des
Philosophen, die ihn an Heraklit und Schopenhauer fas-
ziniert, an Sokrates herausgefordert hatte, wieder ins
Zentrum seiner Aufmerksamkeit; es geht nun wieder
ausdrücklich um die Philosophie als Lebensform, um
die Frage, wie ein Leben im ganzen philosophisch sein
könnte.
Das aber verändert Nietzsches Verhältnis zur Kunst:
sie ist jetzt nicht mehr die untergegangene Sonne, in de-
ren Licht man wissenschaftlich philosophiert, und wird
auch nicht mehr nur als das Täuschende, Glättende gese-
hen, gegen das man die Einsicht in die Nuancen, Vermi-
schungen und Widersprüchlichkeiten des Lebens dialek-
tisch zur Geltung bringen muß. Die Kunst wird jetzt
unmittelbar bedeutsam für die Philosophie: Nur sie ver-
mag es, ein philosophisches Leben im Ganzen und die in
ihm wirkende Grunderfahrung darzustellen. Was Philo-
sophie ist, erfährt man zwar im Vollzug des Philoso-
phierens. Doch kann man es nur zeigen, indem man ei-
nen Philosophierenden zeigt und dabei Erfahrungen, die
sonst im Verborgenen bleiben, künstlerisch darstellt. So
geht umgekehrt, was Philosophie ist, in die Kunst ein.
Die philosophisch verwandelte Kunst wird zur Dich-
tung des wahren Lebens.
Das waren die Platonischen Dialoge auch schon gewe-
sen: Sokrates war für Platon der Philosoph par excel-
lence, derjenige, an dem sich die Philosophie als Lebens-
form verstehen läßt; nicht auf Gedanken, Argumente
und Lehren allein kommt es an, sondern darauf, wie sie
in den Zusammenhang eines Lebens gehören und so erst
überzeugend sind. In Platons Dialogen, allen voran im
»Über allen menschlichen Dingen« 199

Phaidon, ist das gestaltet worden, zur Begründung einer


Tradition, in der das eigenständige Philosophieren mit
der Erinnerung an Sokrates verbunden sein sollte.3
Vielleicht wird das Verhältnis Nietzsches zu Platon
nirgends deutlicher als hier: Auf die traditionsbildende
Kraft der Erinnerung will Nietzsche sich nicht mehr ver-
lassen. An die Stelle der Erinnerung tritt bei ihm der
»Entwurf einer neuen Art zu leben« (KSA 9,519; N
1881, 11[196]). Platon mag Sokrates in seinem Leben
und Denken frei gestaltet haben, erfunden hat er ihn
nicht, sondern noch die Erfindung eingesetzt, um das
Wesen seines Helden zur Geltung zu bringen. Dagegen
ist Zarathustra eine ganz und gar literarische Gestalt, als
Erfindung der Versuch, die Möglichkeit der Philosophie
neu zu erweisen. Und es läßt sich, wie Nietzsche selbst
weiß, nicht sagen, ob diese Möglichkeit einmal wirklich
sein und sich im Leben ausprägen wird. Deshalb kann
die Dichtung auch nur ein »Zwischenspiel« sein, wie
Nietzsche an seine Schwester geschrieben hatte: Zara-
thustra behält nicht das letzte Wort, sein Schöpfer iden-
tifiziert sich mit ihm genauso wenig wie Platon mit So-
krates. Aber während Platon sich in der Sokratischen
Tradition auch da verstehen konnte, wo er von Sokrates
abwich, muß Nietzsche gegen den erdichteten Helden
auf die Wirklichkeit des philosophischen Lebens zu-
rückkommen: Die Erfindung bleibt durch dialektische
Erörterungen und, wie man sehen wird, auch anders er-
gänzungsbedürftig. Weil Zarathustra in einer anderen
Perspektive als Nietzsche, in der eines Lehrers, spricht,
geht Nietzsche auch wieder über ihn hinaus. Schon im
Rahmen der Dichtung wird der Lehrer sich als beleh-
rungsbedürftig erweisen.

3 Zum Phaidon vgl. Figal (1996), S. 132–151.


200 Leben der Erkenntnis

Immerhin soll die Dichtung des philosophischen Le-


bens ein Anhaltspunkt sein können – als Projektion, die
sich selbst einholt und legitimiert: Indem Nietzsche eine
»neue Art zu leben« entwirft, will er den Entwurf als
deren Vorwegnahme einsichtig machen, so daß Entwurf
und Entworfenes zusammengehören: Zarathustra soll
ein Leben verkörpern, zu dem seine Erfindung ein erster
Schritt ist. Für das, was hier geschieht und entworfen
wird, läßt Nietzsche seinen Helden ein Wort finden, das
auch die erste Lehre Zarathustras bezeichnet: Über-
mensch.4

2. »Ich lehre euch den Übermenschen«

Philosophische Lehrer müssen, wie es scheint, von oben


kommen. »Gestern stieg ich nach Piräus herab« – so der
von Sokrates gesprochene erste Satz des Platonischen
Dialogs über den Staat (Resp. 327a); vom Abstieg wird
später im Dialog, und zwar an zentraler Stelle, noch ein-
mal die Rede sein: Wo der Bildungsweg der Philosophie
mit dem »Höhlengleichnis« veranschaulicht wird, geht
es zunächst um den Weg aus dem Unterirdischen ins
Freie, auf dem man lernt, Darstellungen, Erscheinungen
als solche zu verstehen; dann aber um den Rückweg des
zu philosophischer Einsicht Gekommenen und darum,
welche Erfahrungen er bei dem Versuch macht, von sei-
ner Einsicht zu sprechen: wer das versucht, ist seinen

4 Nietzsche hat dieses Wort bei Goethe kennenlernen können. Vgl.


Faust I, Vers 490.
»Ich lehre euch den Übermenschen« 201

Zuhörern lächerlich oder bedrohlich; er stört die Ruhe


alltäglicher Verständigung.
Wie Sokrates geht es auch dem Anti-Sokrates Zarathu-
stra: In zehn Jahren der Einsamkeit »verwandelte sich
sein Herz«, und weil er nun seine Weisheit »verschenken
und austheilen« möchte, muß er »in die Tiefe« steigen, er
muß zu den Menschen »hinab« (KSA 4,11 f.; Za I, Vor-
rede 1). Er geht »in die nächste Stadt« und findet »da-
selbst viel Volk versammelt auf dem Markte« (KSA 4,14;
Za I, Vorrede 3). Zu diesem spricht er, in Geste und Duk-
tus nun freilich Buddha und Jesus ähnlicher als Sokrates:
Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist
Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr
gethan, ihn zu überwinden?
Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus:
und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein
und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den
Menschen überwinden?
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter
oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll
der Mensch für den Übermenschen sein: ein Ge-
lächter oder eine schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen ge-
macht, und Vieles ist in euch noch Wurm, Einst
wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch
mehr Affe, als irgend ein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur
ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von
Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern
oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille
sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!
202 Leben der Erkenntnis

Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde


treu und glaubt Denen nicht, welche euch von
überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind
es, ob sie es wissen oder nicht.
(KSA 4,14 f.; Za I, Vorrede 3)
Am leichtesten erschließt sich die zweite Hälfte dieser
Passage, die vom Gegenbild zum Übermenschen han-
delt: Hier finden sich bekannte Motive, als erstes Nietz-
sches früherer Gedanke von der »Scheidung der Welt«,
also der »Metaphysik« (KSA 2,27; MA I,5). Der »Weise-
ste von euch«, und nach Platons Apologie ist das Sokra-
tes, ist »ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und Ge-
spenst«: ein Wesen, das an sich eine bloß vegetative
Leiblichkeit von der »Seele« unterscheidet und so nie-
mals als ein Wesen lebt und, zwiespältig, wie es ist, nicht
weiß, wie es sich selber verstehen soll. Darum besteht
auch die Gefahr, sich »von überirdischen Hoffnungen«
verführen zu lassen – etwa vom Vertrauen auf die Un-
sterblichkeit der vom Leib getrennten Seele, wie es So-
krates im Phaidon artikuliert hatte. Überirdische Hoff-
nungen dieser Art scheinen einen Ausweg aus dem
Zwiespalt zu weisen, indem sie der Seele, dem »Ge-
spenst«, Aussicht auf ein fortdauerndes Leben machen.
Aber dabei vertiefen sie den Zwiespalt des Lebens nur;
obwohl Gegenbild der Verzweiflung, halten sie am
Denkmuster der Verzweiflung fest.
Nun wäre es leicht, dem wiederum die Treue gegen-
über der »Erde« entgegenzusetzen: das Einssein mit
sich, bei dem zwischen Leib und Seele nicht mehr unter-
schieden wird, so daß die Leiblichkeit als beseelt, die
Seele als leiblich erfahren werden kann. Doch ist das
kein Zustand, auf den man sich einfach besinnen oder
den man einfach erlangen könnte. Wie sich gezeigt hatte,
»Ich lehre euch den Übermenschen« 203

ist der Mensch moralisch durch »Selbstzertheilung« cha-


rakterisiert, was auch in der Moral der Individualität
nicht grundsätzlich überwunden werden konnte. Des-
halb muß »der Mensch« überwunden werden, und zwar
dadurch, daß er »Etwas über sich hinaus« schafft: den
Übermenschen.
Nun hat man einen ersten Anhaltspunkt dafür, was es
mit der Rede vom »Übermenschen« auf sich hat: Man
sollte nicht denken, nach dem Menschen käme der Über-
mensch wie der Mensch nach dem Affen. Mit einer von
vermeintlich objektiver Warte festgestellten Möglichkeit
der Evolution hat der Gedanke des Übermenschen
nichts zu tun. Es gibt den Übermenschen nur durch den
Menschen; dadurch, daß der Mensch über sich hinaus-
geht, indem er »Etwas über sich hinaus« schafft: sich
selbst in einer »neuen Art zu leben«. Die Rede vom
Übermenschen verweist auf die Umwandlung des Men-
schen, die ein Umschaffen ist, so daß der Mensch, als der
Schaffende dieser Umwandlung, sich im neuen Zustand
durchaus noch erkennt. Der Übermensch ist dann aber
kein vom Menschen verschiedenes Wesen, sondern der
über sich hinausgehende, sich umwandelnde Mensch
selbst, der nun als Mensch durch das Umwandeln be-
stimmt ist – als ob der Affe sich zum Menschen umge-
schaffen hätte und nun sein neues menschliches Wesen
als das eigentliche des Affen erkennen würde, wie es
durch die Umschaffung erwiesen worden ist.
Sofern ein Umschaffen dieser Art den Zwiespalt von
Leib und Seele überwinden würde, wäre der Mensch in
der Tat einheitlich geworden, und der Übermensch wäre
gleichbedeutend mit der Überwindung des Zwiespalts.
Das heißt aber nicht, man hätte es jetzt mit einem in je-
der Hinsicht einheitlichen Leben zu tun. Schließlich be-
steht nun die Differenz zwischen Mensch und Über-
204 Leben der Erkenntnis

mensch, und es ist eine Differenz, die sich nicht schließt,


wenn der Übermensch sich nur als der über sich hinaus-
gehende Mensch, als die bewußte, in sich durchsichtige
Selbstumwandlung des Menschen verstehen kann. Nur
würde man hier kaum noch von einem Zwiespalt spre-
chen wollen: Mensch und Übermensch sind ja nicht wie
Leib und Seele getrennt, sondern als differente in der
Bewegung des Über-sich-Hinausgehens und Umschaf-
fens zusammengehalten. Im Übermenschen zeigt sich
auf »neue Art«, was der Mensch als Wesen, das Abstand
von sich nehmen kann, ist und immer schon war.
Der Mensch aber war eben dies in der »Selbstzerthei-
lung«, als der Zwiespalt von Leib und Seele. Also würde
sich mit dem Übermenschen zeigen, daß der Zwiespalt
von Leib und Seele – und dem entsprechend von Diesseits
und Jenseits – nichts anderes als eine unvollkommene,
fehlgegangene Ausprägung jener Differenz war, die das
Wesen des Menschen und Übermenschen ist. Orientiert
man sich an der Bewegung des Umschaffens, so erscheint
der Zwiespalt von Leib und Seele, von Diesseits und
Jenseits wie der Affe, aus menschlicher Perspektive ge-
sehen: als »ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham«.
Deshalb kann der Übermensch auch nie an die Stel-
le des Menschen treten und den Menschen als etwas
Gleichgültiges hinter sich lassen. Wie sich der Mensch
im Affen als einem erheiternden und peinlichen Bild sei-
ner selbst erkennt, wird sich der Übermensch immer im
Menschen erkennen: Der Übermensch ist, was einmal
Mensch gewesen ist und in seinem Gewesensein bleibt.
Dann aber wird es den Übermenschen nie einfach geben,
sondern er wird nur im Austrag seiner Differenz zum
Menschen zu gewinnen sein. Das ist ja allein schon mit
seinem Namen gesagt: Der Über-Mensch ist immer auch
Mensch: als das, was der Mensch über sich hinaus schaf-
»Ich lehre euch den Übermenschen« 205

fen kann; als dieses Über-sich-Hinausschaffen selbst,


weil es ja nie ein vom Schaffen und Schaffenden ablösba-
res Ergebnis gibt; kein Werk oder Kunstwerk, das au-
ßerhalb des Schaffensprozesses entstünde und Bestand
hätte. Übermensch ist der Mensch, sofern er sich nicht
bloß aus dem versteht, was er faktisch gewesen ist und
als mögliche Ziele daraus ableiten kann. Indem er von
sich loskommt, gewinnt der Mensch vielmehr ein neues
Verständnis seiner selbst. »Übermensch« ist ein Name
für die menschliche Freiheit.
Das führt wieder auf den platonischen Gedanken von
der Umwandlung der ganzen Seele zurück. Die Erfah-
rung der Idee des Guten, wie sie in der Politeia beschrie-
ben wird, führt über den normalen Lebensbereich der
Menschen hinaus, sogar noch über das, was sich über-
haupt nach menschlichen Maßstäben verstehen läßt;
also, in den Bildern des »Höhlengleichnisses« gesagt,
nicht nur aus der Höhle ins Freie, sondern über die im
Freien sich zeigenden und verständlichen Dinge hinweg
auf die wegen ihrer Helle kaum sichtbare Sonne. Die
Idee des Guten ist nicht das Sein der Dinge, sondern ist
jenseits des Seins und überragt dieses an Würde und
Macht (Resp. 509b). Sie ist die Möglichkeit dieses Seins
ebenso wie seiner Erkenntnis. Deshalb ist ihre Erfah-
rung die Bedingung eines freien, nicht mehr in die Be-
stimmtheit des Verständlichen und Sichzeigenden ge-
bundenen Lebens; freie Zuwendung zu dem, was ist,
gibt es nur, wo man sich von allem, was ist, gelöst hat.
Erst durch die Erfahrung des Übermenschlichen ist das
Menschliche wirklich offen.
Nun scheint das Übermenschliche hier freilich ganz
anders verstanden zu sein. Aus dem Text der Politeia
wird unmißverständlich klar, daß die Erfahrung der Idee
des Guten etwas mit der Erfahrung des Göttlichen zu
206 Leben der Erkenntnis

tun hat. Wenn nach der zitierten Rede vom »Jenseits des
Seins« der Name Apollons genannt wird, verweist das
auf die Bestimmung der Philosophie, die Sokrates in sei-
ner Verteidigungsrede vor Gericht gibt: Philosophie ist
»Dienst für den Gott« (Apol. 23c), und gemeint ist der
Gott des delphischen Orakels.
Von einer Frömmigkeit wie der des Sokrates und erst
recht von jeder anderen ist Zarathustra weit entfernt;
man braucht sich nur an die Polemik gegen die ȟberir-
dischen Hoffnungen« zu erinnern und kann zur Ergän-
zung zitieren, wie das Motiv vom Tod Gottes ausdrück-
lich aufgenommen wird: Bei seinem Weg herab zu den
Menschen hatte Zarathustra einen alten Einsiedler ge-
troffen und sich darüber gewundert, daß dieser »noch
Nichts davon gehört« hatte, »dass Gott todt ist« (KSA
4,14; Za I, Vorrede 2). Und wenig später, bei der Rede
auf dem Marktplatz, noch einmal ähnlich: »Einst war
der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb,
und damit starben auch diese Frevelhaften.« (KSA 4,15;
Za I, Vorrede 3)
Allerdings geht es auch bei der Platonischen Rede von
der Idee des Guten nicht um die »Eingeweide des Uner-
forschlichen« (KSA 4,15; Za I, Vorrede 3), nicht um Vor-
stellungen davon, was das Göttliche oder ein Gott in
Person sei. Mit einer mythischen Religiosität dieser Art
oder grübelndem Tiefsinn hat die Philosophie im sokra-
tisch-platonischen Sinne nichts zu tun, und entspre-
chend läßt sich von hier aus der Unterschied zum Ge-
danken des Übermenschen nicht verstehen. Dafür ist
vielmehr entscheidend, daß die Erfahrung der Idee des
Guten bei Platon als Einsicht, genauer müßte man sagen:
als Grenzerfahrung der Einsicht konzipiert ist: Sie ist
wie der Blick auf die Sonne, die selbst noch ein Sichtba-
res, jedoch mit dem Auge nicht zu fixieren ist.
»Ich lehre euch den Übermenschen« 207

Für Nietzsches Zarathustra hingegen ergibt sich die


Erfahrung des Möglichen von Sein und Erkennen und
mit ihr die philosophische Freiheit allein daraus, daß
man etwas über sich hinaus »schafft«. Das hätte Platon
anders gesehen. Das Schaffen bringt keine Freiheit, weil
es notwendig in maßgebliche Orientierungen eingebun-
den ist, die festlegen, was man überhaupt schaffen kann
und letztlich auch wie; jedes Schaffen unterliegt einem
»Bauplan«, es ist nur aufgrund eines Herstellungswis-
sens möglich und so niemals freie Tat. Vielmehr bleibt es
der vertrauten und verständlichen Welt immanent, ein-
gebunden in deren Orientierungsmöglichkeiten.
Eine vergleichbare Immanenz wäre für Zarathustra nun
gerade mit der Überzeugung verbunden, eine Grenz-
erfahrung der Einsicht, des Sehens, führe über das Im-
manente hinaus und ließe das Göttliche in den Blick
kommen. Was wie ein Überschreiten, wie Transzendenz
erscheint, wäre aus seiner Perspektive ein besonders inten-
sives Ausagieren der Immanenz, nur scheinbare Freiheit.
Denn was als Anderes erscheint und gefaßt wird, ist im
Grunde das Eigene – Ergebnis eines Bedeutung erzeugen-
den Schaffens. In Zarathustras Sprache klingt das so:
Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits
des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines
leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir
da die Welt.
[. . .] Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf,
war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen
Göttern!
Mensch war er, und nur ein armes Stück Mensch und
Ich: aus der eigenen Asche und Gluth kam es mir,
dieses Gespenst, und wahrlich! Nicht kam es mir
von Jenseits! (KSA 4,35; Za I, Von den Hinterweltlern)
208 Leben der Erkenntnis

Aus der Verstrickung in solche Dichtungs- und Deu-


tungsverhältnisse soll das Neu- und Umschaffen als
reine Transzendenzbewegung eine Befreiung sein: sie
und nur sie ist Lösung von undurchschauten Deutungs-
hypothesen – und damit wieder der Erfahrung ver-
gleichbar, die man nach platonischer Darstellung mit der
Idee des Guten macht – jener letzten Offenheit, die an-
deres ist als das Bestimmte, auf das man vertraut, um die
Welt zu verstehen. Auch Zarathustra kann die Erfah-
rung, die ausdrücklich keinem Gott oder metaphysisch
gedeuteten göttlichen Prinzip gewidmet ist, gerade des-
halb als göttlich verstehen und sagen, wo er über das
Menschliche hinausgelange, tanze durch ihn ein Gott
(KSA 4,50; Za I, Vom Lesen und Schreiben). Das ist ein
Gott, der ähnlich dem sokratisch-platonischen Apollon
nicht mehr in der Verkleidung des Gegensatzes ein-
hergeht, und doch dessen Gegenbild ist: kein Gott der
Kontemplation, sondern des Lebensvollzugs nach dem
Modell des Schaffens und Umschaffens – Dionysos, der
schon hier, bei größtmöglicher Nähe, das Gegenbild
zum philosophischen Sonnengott des Sokrates ist. Doch
ist es kein Zufall, daß der Name des Dionysos im Zara-
thustra nicht genannt wird und seine Vorstellung nur
eine ganz periphere Rolle spielt. Nietzsches philosophi-
sche Dichtung ist Buch der Umwandlung aus eigener
Kraft, Buch des »Untergangs« und »Übergangs« (KSA
4,17; Za I, Vorrede 4) und damit gebunden an die Er-
fahrung, daß die überkommenen Deutungsverhältnisse
brüchig geworden sind.
Deshalb kann sich die Frage nach der Selbstüber-
schreitung des Menschen im Sinne Zarathustras stellen,
und deshalb hat der Gedanke vom Übermenschen auch
einen geschichtlichen Sinn: Der Mensch ist deshalb
»Etwas, das überwunden werden soll«, weil er von sich
»Ich lehre euch den Übermenschen« 209

aus zum »letzten Menschen« zu werden droht oder


schon »letzter Mensch« geworden ist.
Zarathustra zeichnet das Bild des »letzten Menschen«,
um die Menschen, die vom Übermenschen nichts wis-
sen wollen, aufzurütteln: Es komme die Zeit, »wo der
Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den
Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogen
verlernt hat, zu schwirren«; die Zeit, »wo der Mensch
keinen Stern mehr gebären«, also die Welt neu verstehen
wird. Das ist die Zeit »des verächtlichsten Menschen, der
sich selber nicht mehr verachten kann« (KSA 4,19; Za I,
Vorrede 5). Hier ist ein Ausschnitt aus seinem Bild:
»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehn-
sucht? Was ist Stern?« – so fragt der letzte Mensch
und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr
hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein
Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der
letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letz-
ten Menschen und blinzeln.
(KSA 4,19; Za I, Vorrede 5)
Die letzten Menschen sind die vollendeten Postme-
taphysiker, die rundum zufriedenen Hier-und-Jetzt-
Bewohner. Große Worte und Begriffe sind ihnen gleich-
gültig geworden, so daß noch nicht einmal mehr die
kleinste Irritation von ihnen ausgeht – kein fortschritts-
gefärbter Atheismus zum Beispiel, sondern bloß noch
die achselzuckende Frage, was Schöpfung sei. Und keine
Irritation durch die Frage, wie man leben soll, sondern
die Gewißheit, so wie man lebt, sei es richtig – man hat
ja das Glück erfunden: Krankwerden und Mißtrauen gilt
als »sündhaft« (KSA 4,20; Za I, Vorrede 5) – man schätzt
210 Leben der Erkenntnis

eine problemlose Gesundheit und versteht einander so


gut, daß kein Bruch und kein Schmerz mehr sein darf,
keine Skepsis und keine Frage. Statt dessen »ein wenig
Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel
Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben«. Davor
aber hat man »sein Lüstchen für den Tag und sein Lüst-
chen für die Nacht«, wobei alle gleich sein, gleich fühlen
sollen: »wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus«.
Religion und Philosophie? »Man ist klug und weiss
Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spot-
ten«. Und wenn man zu den Feinsten gehört, sagt man
gern: »Ehemals war alle Welt irre.« (KSA 4,20; Za I, Vor-
rede 5) Hier gibt es kein Jenseits mehr, aber auch kein
Über-sich-Hinaus; keine Trennung von Leib und Seele,
aber auch keine Sehnsucht, nur Ruhigsteller und Mun-
termacher. Dafür verwendet Nietzsche in seinen späte-
ren Aufzeichungen den Begriff des »Nihilismus«.5
Wenn all das, was die letzten Menschen mit Achsel-
zucken betrachten wie veraltetes Gerät oder aus der
Mode gekommene Kleider, zum Menschen gehört, sind
sie eine Bedrohung des menschlichen Lebens, ohne daß
dieses gegen ihre selbstgerechte Gleichgültigkeit zu ver-
teidigen wäre. Sobald die Deutungsverhältnisse, in die
sich die Menschen verstrickt hatten, problematisch ge-
worden sind, kann man sie nicht mehr aufrecht erhalten
oder restituieren – nur die Bewegung, die ihr Wesen ist,
anders vollziehen oder gegen alles in der Weise der
Glückserfinder gleichgültig werden. Also ist der Mensch,
wie er in Selbstzerteilung existiert hat, jetzt keine Mög-
lichkeit mehr. Es gibt nur noch den letzten Menschen
oder den Übermenschen. Jetzt wird offenkundig, daß
5 Vgl. zu diesem Begriff und den mit ihm gemeinten Phänomenen:
Kuhn (1992); in systematischer Hinsicht: Heidegger (1940), Gesamt-
ausgabe, Bd. 48.
»Ich lehre euch den Übermenschen« 211

Mensch sein heißt, den Übermenschen in sich zu haben:


nicht auf das Faktische festgelegt sein, tendenziell über
sich hinaus.
Zarathustra findet dafür ein schönes Bild, das der Si-
tuation seiner ersten Rede an das auf dem Marktplatz
versammelte Volk abgelesen ist. Man hört ihm kaum zu
und nimmt ihn nicht ernst, da man den Auftritt eines
Seiltänzers erwartet. Ihn nimmt Zarathustra nun zum
Anlaß für ein Gleichnis des Menschen:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier
und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-
dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein ge-
fährliches Schaudern und Stehenbleiben.
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine
Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden
kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang
und ein Untergang ist. (KSA 4,16 f.; Za I, Vorrede 4)
Das Bild ist konzentrierte Philosophie, die, in Begrif-
fen entwickelt, eine Reihe der bisher entwickelten Be-
stimmungen noch einmal zusammenfaßt: Der Mensch
ist keine Substanz, also keine Wesenseinheit, die sich in
mannigfachen Veränderungen immer wieder als dieselbe
erweist und so dasjenige ist, dem man die Veränderun-
gen zusprechen kann; aber auch kein Subjekt: kein in
seinem Vollzug identisches Leben, das alle Zustände und
Erfahrungen grundsätzlich als die seinigen hat; noch
nicht einmal etwas aus sich selbst Verständliches und
Bestimmbares, sondern ein spannungsvolles Verhältnis
zwischen dem in sich befangenen Leben und einem an-
deren und bevorstehenden und möglichen Sein – das ist
immer so, in jeder geschichtlichen Situation, nur daß es
nicht in jeder ausdrücklich zur Geltung kommt. Der
212 Leben der Erkenntnis

Mensch ist ein Weg; aber kein Weg zu einem Ziel, so daß
wir durch ein »Noch nicht« bestimmt wären und »un-
terwegs« zu unserer eigentlichen Bestimmung; sondern
Verbindung des durch einen Abgrund Getrennten: Er-
messen eines unendlichen Abstandes zwischen dem, was
man war, und dem, was man sein will, eines Abstandes,
den man zu sein hat und nicht als das eigene Sein fest-
stellen kann. Der Weg ist gefährlich, wenn man ihn geht
und derart »Untergang« und »Übergang« sein will –
nicht mehr, wie man war und immer anders als man sein
wird; aber auch, wenn man zurückblickt auf das Gewe-
sene, das man nicht mehr ist, oder innehält und zurück-
bleibt hinter dem, was sein kann: immer ist hier eine
Differenz auf dem Weg: das ist man nicht und nicht das
– nicht Tier und nicht Mensch und nicht wirklich und
endgültig über sich hinaus.
Wenn der Mensch, wie das Bild sagt, ein Seil ist,
müßte der Seiltänzer, der nun auftreten soll, jemand
sein, der den menschlichen Weg über den Abgrund ge-
hen will: ein Mensch, der das menschliche Leben zu füh-
ren versucht. Dieser Mensch aber, der Seiltänzer, stürzt
ab; an ihm wird das Gefährliche des menschlichen Le-
bens demonstriert und gezeigt, wie dieses Leben nicht
geführt werden kann.
Was den Menschen in seinem Leben bedroht, hat im
Gleichnis des Buches eine Gestalt, bei der man zunächst
nicht genau weiß, mit wem man es zu tun hat: »ein bun-
ter Gesell, einem Possenreisser gleich«, wird er genannt,
und wenig später stößt er »ein Geschrei aus wie ein Teu-
fel«; einer, der wie ein Narr aussieht und dabei eine
»fürchterliche Stimme« hat (KSA 4,21; Za I, Vorrede 6);
einer, der lächerlich ist, so daß man ihn nicht ernst neh-
men müßte, und erschreckend zugleich. Wer das ist, er-
fährt man durch sein Verhalten und Reden.
»Ich lehre euch den Übermenschen« 213

Er springt aus derselben kleinen Tür eines Turmes wie


der Seiltänzer heraus und bestreitet diesem sein Recht,
das zwischen zwei Türme gespannte Seil betreten zu ha-
ben: »Was treibst du hier zwischen den Thürmen? In
den Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, ei-
nem Bessern, als du bist, sperrst du die freie Bahn«. Der
Mensch hätte Tier bleiben sollen, in den Turm gesperrt,
aus dem er kommt. Und der Bessere, das ist der bunte
Gesell, der Possenreißer selbst. Denn plötzlich stieß er
»ein Geschrei aus wie ein Teufel und sprang über Den
hinweg, der ihm im Wege war. Dieser aber, als er so sei-
nen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den Kopf und
das Seil; er warf seine Stange weg und schoss schneller
als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die
Tiefe.« (KSA 4,21; Za I, Vorrede 6)
Was sich hier abspielt, ist Rivalität, dann ein Kampf
auf Leben und Tod. Jemand neidet dem Menschen, der
Seiltänzer ist, den Gang übers Seil; er will ihn hindern,
Mensch als Übergang zu sein, und überspringt ihn, da-
mit er ihn aufhalten kann. Das gelingt und kostet den
andern das Leben – den Kopf und das Seil. Der andere
war leicht zu erschrecken; offenbar ist er seinen Weg
nicht wachen Sinnes gegangen und wußte nicht, worauf
er sich einließ. Er kannte die Möglichkeiten seines
Menschseins nicht wirklich und blieb hinter dem, was er
hätte wissen müssen, zurück. Davon kommt ihm ster-
bend eine Ahnung. »Ich bin«, sagt er, »nicht viel mehr
als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge
und schmale Bissen« (KSA 4,22; Za I, Vorrede 6) – ein
Artist oder Künstler, der meint, es sei leicht, über sich
hinauszugehen.
Sein Nebenbuhler macht später noch einen Versuch:
mit Zarathustra, der sich um den sterbenden Seiltän-
zer gekümmert hatte und nun, mit der Leiche auf dem
214 Leben der Erkenntnis

Rücken, einen Ort sucht, um sie zu begraben (vgl. KSA


4,23; Za I, Vorrede 8). Da macht sich »der Possenreisser
vom Thurme« an ihn heran und rät ihm, die Stadt zu
verlassen. Zu viele, sagt er, haßten Zarathustra hier,
nämlich »die Guten und Gerechten«, nicht weniger »die
Gläubiger des rechten Glaubens« – die Menschen dies-
seits von Gut und Böse also und alle, für die Gott noch
nicht tot ist.
Es spricht vieles dafür, daß Zarathustra weiß, wer ihn
hier aus der Stadt treiben wollte. Jedenfalls spricht er
später wie selbstverständlich von ihm: von seinem »Teu-
fel«, den er »ernst, gründlich, tief, feierlich« fand und
nun beim Namen nennt: »es war der Geist der Schwere,
– durch ihn fallen alle Dinge« (KSA 4,49; Za I, Vom Le-
sen und Schreiben). Und dann, im dritten Teil des Bu-
ches, wird gesagt, was dieser Geist alles schuf: »Zwang,
Satzung, Noth und Folge und Zweck und Wille und
Gut und Böse« (KSA 4,248; Za III, Von den alten und
neuen Tafeln 2) – alles, worin man eingesperrt ist, so-
lange man sich daraus versteht, gehorsam oder in Trotz
und Verneinung, im Versuch, das Vorgegebene zu über-
winden. Der Geist der Schwere will nicht, daß der
Mensch ein Übergang ist und sich selbst, mit allem, was
zu seinem menschlichen Leben gehört, umschafft in eine
den Menschen übersteigende, weil nicht mehr als Ge-
genbewegung zum Zwang verstandene Freiheit; er will
das menschliche Leben als Faktum, als ein So-und-
nicht-anders.
Also entkommt man dem Geist der Schwere nicht, wo
man das Faktische des Lebens nicht sieht oder dagegen
anrennt. Dann erschrickt oder resigniert man bloß, so-
bald er erscheint, und bestätigt seine Gewalt. Das Fak-
tische des Lebens muß vielmehr angenommen, getragen
werden; wo man das Schwere zu tragen vermag, zieht es
»Ich lehre euch den Übermenschen« 215

nicht mehr herab. Wo man es nicht mehr wie der Künst-


ler überspringen will, verliert es seine Bedeutung.
Vieles von dem, was Zarathustra in seinen Reden, die
den ersten Teil des Buches ausmachen, sagt, läßt sich als
Einübung in das Faktische des Lebens begreifen; als An-
leitung, dieses Faktische zu tragen. Das klingt schon in
der »Vorrede« und ihrer Lehre an, daß man der Erde
treu bleiben solle: das irdische Leben annehmen, statt es
in der problematischen Hoffnung auf das Überirdische
zu verachten. Letzteres ist, wie man später erfährt, eine
Verachtung, die dem irdischen Leben, dem »Leib« selber
entspringt. Sie kommt aus einer »Müdigkeit, die mit Ei-
nem Sprunge zum Letzten will«, einer Verzweiflung an
»Leiden« und »Unvermögen« der endlichen, immer vor-
läufigen Existenz (KSA 4,36; Za I, Von den Hinterwelt-
lern). Hier springt man willkürlich über das Leben hin-
aus, um seine Vollendung, seinen Sinn zu erfahren, und
hat doch alles vermeintlich Überirdische und Über-
menschliche nur aus dem Leben, »von Leib und Erde«
genommen. Auch die Tugend soll »irdische Tugend«
sein, weder »Gottes Gesetz« noch »Menschen-Satzung
und -Nothdurft: kein Wegweiser für Über-Erden und
Paradiese« – also keine falsche, nie erreichbare Vollkom-
menheit, kein bester Zustand des Lebens, der sein Maß
und seine Wirklichkeit nach anderswohin verlegt: in den
Himmel oder die vergötzte Institution, die utopische
Phantasie. Aus der recht verstandenen Tugend ergibt
sich das in sich stimmige, nicht mehr entzweite Leben.
Also fordert die Lehre vom Übermenschen zunächst
in scheinbarer Paradoxie den Rückgang auf das, was der
Mensch in seinem Leben ist; es geht darum, das eigene
Leben in dem, was es ist, zu akzeptieren, einschließlich
der Lebensdeutungen, die äußerlich und selbständig ge-
worden sind – und darum, die Enttäuschungen, Verar-
216 Leben der Erkenntnis

mungen, die mit ihrem Verlust verbunden sind, als sol-


che auf sich zu nehmen. Der Geist muß, wie Zarathustra
in seiner Rede »Von den drei Verwandlungen« sagt, zum
Kamel werden: zum »tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht
innewohnt« und der »nach dem Schweren und Schwer-
sten verlangt« – »Was ist schwer? so fragt der tragsame
Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will
gut beladen sein« (KSA 4,29; Za I, Von den drei Ver-
wandlungen). Wo das geschieht, ist dem Geist eine Ver-
wandlung widerfahren – eine erste Umwandlung, die
zur Prägung des Lebens durch die Erkenntnis führen
soll. Doch stehen dem Geist, nach dem Titel von Zara-
thustras Rede, noch zwei weitere Verwandlungen bevor.
In der nächsten wird er zum Löwen, das heißt: der Geist
lernt nun zu sagen: »Ich will« (KSA 4,30; Za I, Von den
drei Verwandlungen). Dem entspricht die Lehre vom
Willen zur Macht.

3. »Nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s


dich – Wille zur Macht!«

»Alle Wesen«, hatte Zarathustra gelehrt, »schufen Etwas


über sich hinaus«. Deshalb solle der Mensch nicht »die
Ebbe dieser grossen Fluth« (KSA 4,14; Za, Vorrede 3),
vielmehr Übermensch sein wollen; er soll maßnehmen
an dem, was »alle Wesen« sind, um so zu erfahren, was
ihm in seiner Lebendigkeit entspricht. Vielleicht kommt
er nur so darüber hinaus, ein moralischer Selbstzerteiler
zu sein, bezogen auf sich und zugleich in dem Wahn be-
fangen, er orientiere sich an etwas, das anders ist. Der
»Nicht Wille zum Leben . . .« 217

menschliche Blick müßte frei für »alle Wesen«, für das


Lebendige im ganzen werden, um wirklich Übermensch
zu sein.
Dann fiele auf den Gedanken vom Übermenschen
selbst noch ein neues Licht: auch der Übermensch bleibt
ja am Menschlichen orientiert, bezogen auf »den Men-
schen«, dessen Wahrheit er sein soll. Und dann müßte
der Lehrer des Übermenschen seinen Gedanken anders
zu fassen lernen, so daß er dem, was er denken will, bes-
ser gerecht werden kann. Zarathustra wäre ein der Be-
lehrung bedürftiger Lehrer, der sich den Menschen ent-
ziehen, seine Weisheit aufs Spiel setzen und neu erfahren
muß, um sich in solcher Verwandlung treu bleiben zu
können.
So geht er »dem Lebendigen« nach, »die grössten und
die kleinsten Wege«, damit er »seine Art erkenne«; er
fängt seinen Blick »mit hundertfachem Spiegel« auf, da-
mit, »wenn ihm der Mund geschlossen war«, das Auge
des Lebendigen zu ihm reden könnte – »Und sein Auge
redete zu mir« (KSA 4,147; Za II, Von der Selbst-Ueber-
windung). Zarathustra übt die Vielfalt des perspektivi-
schen Blicks; er beherzigt die Einsicht, daß unser »Be-
griff« einer Sache, unsere »Objektivität« um so vollstän-
diger wird, »je mehr Augen, verschiedne Augen wir
uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen« (KSA 5,365;
GM 3,12).
Doch am Ende führt nicht das, sondern führt nur Be-
lehrung zum Ziel. Das Leben selbst muß Zarathustra
sein Geheimnis offenbaren; nur derart belehrt, kann er
selbst wieder Lehrer sein und den »Weisesten« noch
Antwort geben, was das »Räthsel« ihres Herzens ist.
Entsprechend teilt Zarathustra die Lehre des Lebens
mit, indem er das Leben selbst zu Wort kommen läßt:
»Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille
218 Leben der Erkenntnis

zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur


Macht!« (KSA 4,149; Za II, Von der Selbst-Ueberwin-
dung)
Wille, so läßt sich das verstehen, ist ursprüngliche Le-
bensregung, so daß sich aus ihm das Wesen des Lebens
erschließt. Und wenn man diesen Willen als Willen zur
Macht denken muß, kann die Macht dem Willen nicht
äußerlich sein; sie ist dann kein beliebiges Ziel, sondern
etwas, das in der Struktur des Willens selbst liegt. Also
muß man diese Struktur genauer zu beschreiben versu-
chen, wenn man die Formel vom Willen zur Macht ver-
stehen will.
Das entspricht auch der Komposition des Zarathu-
stra. Es zeigt sich recht bald, lange bevor die Formel
vom Willen zur Macht eingeführt wird, daß der Wille
das zentrale Thema des zweiten Teils ist. Schon im zwei-
ten Stück, »Auf den glückseligen Inseln«, ist vom Willen
die Rede: zur Erläuterung des Gedankens, daß der
Übermensch geschaffen werden muß. Das mag plausibel
erscheinen: Schaffen und Wollen, so denkt man viel-
leicht, haben ja etwas miteinander zu tun.
Aber Schaffen und Wollen sind keineswegs dasselbe,
und es ist auch nicht so, daß die treibende Kraft im Schaf-
fen als Wollen verstanden werden könnte. Mit der Erör-
terung des Wollens kommt etwas Neues, die Orientie-
rung am Schaffen Korrigierendes ins Spiel. Nach dem,
was Zarathustra sagt, bezieht sich das Wollen nur auf die
Bedingung des Schaffens. In seinen Worten klingt das so:
Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu ge-
boren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein
wollen und der Schmerz der Gebärerin.
Wahrlich, durch hundert Seelen gieng ich meinen
Weg und durch hundert Wiegen und Geburtswe-
»Nicht Wille zum Leben . . .« 219

hen. Manchen Abschied nahm ich schon, ich kenne


die herzbrechenden letzten Stunden.
Aber so will’s mein schaffender Wille, mein Schick-
sal. Oder, dass ich’s euch redlicher sage: solches
Schicksal gerade – will mein Wille.
(KSA 4,111; Za I, Auf den glückseligen Inseln)
Wollen, »redlicher« gefaßt, besteht nicht darin, sich
aus eigener Kraft zu verwandeln, sondern ist, wie es
scheint, gleichbedeutend mit dem Akzeptieren des
Schicksals, hier des Schicksals, ein Schaffender zu sein –
eben der Bedingung des Schaffens. Das läßt zunächst an
die erste Verwandlung des Geistes denken: an die »Trag-
samkeit« als die Bereitschaft, das eigene Leben als Fak-
tum, das es ist, auf sich zu nehmen; das Abschiedneh-
men, von dem Zarathustra spricht, mag als die Trennung
von manchem scheinbar entlastenden, jedoch in Wahr-
heit vom eigenen Leben wegführenden Lebensverständ-
nis gemeint sein.
Aber mit der Einführung von Wollen und Wille
kommt etwas Neues ins Spiel: »solches Schicksal ge-
rade«, sagt Zarathustra, und dann, nach einem die Pointe
markierenden Gedankenstrich, »will mein Wille«. Das
Schicksal zu wollen, ist offenbar etwas anderes, als es nur
zu akzeptieren und wie ein Lastkamel auf den Rücken zu
nehmen: Im Akzeptieren bleibt es Schicksal, etwas, das
gegeben ist und dem man sich fügen muß. Genau das än-
dert sich, wo vom Wollen die Rede sein kann; Schicksal
ist ja, was man nicht gewollt hat, so daß sich im Wollen
das Schicksalhafte des Schicksals verliert. Oder wie Zara-
thustra es sagt: »Wollen befreit: das ist die wahre Lehre
von Wille und Freiheit.« (KSA 4,111; Za I, Auf den
glückseligen Inseln) Zuvor schon, als die Verwandlung
des Geistes zum Löwen beschrieben worden war, hatte
220 Leben der Erkenntnis

es geheißen, jetzt wolle der Geist sich »Freiheit [. . .] er-


beuten und Herr sein in seiner eignen Wüste« (KSA 4,30;
Za I, Von den drei Verwandlungen). Erst im Wollen, der
zweiten Verwandlung des Geistes, kommt die mit der
Rede vom Übermenschen gemeinte Freiheit zum Tragen.
Wille und Freiheit gehören zusammen – eben so, daß der
Hinweis auf den befreienden Charakter des Wollens die
»wahre Lehre von Wille und Freiheit« ist.
Aber wie soll das Wollen befreien können, wenn da-
mit mehr gemeint ist als die willentliche Beseitigung von
Einschränkungen und Hindernissen? Kann das Wollen
Freiheit erlangen? Oder müßte man nicht vielmehr sa-
gen, Wollen setze Freiheit voraus, so daß es sie höchstens
bestätigt? Und läßt sich ein Schicksal überhaupt wollen?
Oder ist die Rede davon nicht bloß eine Verschleierung
dessen, worum es in Wahrheit geht: des Akzeptierens
und Sichfügens? Also: In welchem Sinne ist hier von
Freiheit und Wille die Rede, und wie überhaupt kann
sinnvollerweise von Freiheit und Wille die Rede sein?
Für die Antwort auf die zuletzt genannten Fragen
gibt Zarathustras Rede vom befreienden Wollen einen
Hinweis: Wenn der Gedanke vom befreienden Charak-
ter des Wollens die »wahre« Lehre von Wille und Frei-
heit ist, muß er als Widerlegung und Ablösung ei-
nes anderen Gedankens, einer anderen Lehre von Wille
und Freiheit, gemeint sein. Daß es so ist, läßt sich bele-
gen: Zarathustras Lehre bezieht sich unausdrücklich auf
Nietzsches schon recht früh formulierte Kritik an der
Annahme einer »Freiheit des Willens«.
In Aphorismus 18 von Menschliches, Allzumenschli-
ches I findet sich unter dem Titel »Grundfragen der Me-
taphysik« eine Überlegung dazu. Die Meinung, »alle
Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien
Willens« (KSA 2,39; MA I,18), führt Nietzsche hier dar-
»Nicht Wille zum Leben . . .« 221

auf zurück, daß wir Empfindungen und Handlungen als


isolierte und in sich abgeschlossene Ereignisse auffassen,
als etwas, das »ohne Verbindung mit Früherem oder
Späterem« auftaucht. Und dann zur Illustration: »Wir
haben Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der
Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl
scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen,
es isolirt sich und hält sich für willkürlich.« (KSA 2,40;
MA I,18)
Ob das nun gerade beim Gefühl des Hungers der Fall
ist, kann man bezweifeln. Doch gewiß gibt es Empfin-
dungen oder Vorstellungen, die »ohne Verbindung mit
Früherem oder Späterem« auftauchen, etwa die plötz-
liche, nicht durch Hunger erregte Lust auf etwas Be-
stimmtes zu essen oder zu trinken: Appetit. Das mag
dann ein Anhaltspunkt dafür sein, das eigene Verhalten
allgemein willkürlich zu finden und anzunehmen, »daß
jede einzelne Handlung isolirt und untheilbar ist«, wie
Nietzsche, die Problematik aufnehmend, im zweiten
Band von Menschliches, Allzumenschliches sagt (KSA
2,546; MA II, WS 11). Von Handlungen dieser Art läßt
sich dann auch denken, sie seien gewollt.
Wille und Wollen ist so gesehen nichts anderes als das
Ergebnis einer widerlegbaren Deutung des Lebens: wir
können uns leicht davon überzeugen, daß Empfindun-
gen und Verhaltensweisen nicht so isoliert sind, wie wir
annehmen, um für sie, als ihre willentlichen Urheber,
verantwortlich zu sein. Man solle deshalb, sagt Nietz-
sche in der Morgenröthe einmal, nicht zu schnell über
den lachen, »welcher aus seiner Kammer tritt, in der Mi-
nute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: ›ich will,
dass die Sonne aufgehe‹« (KSA 3,116; M 124) – wir ma-
chen es alle genauso, indem wir uns das, was geschieht,
zurechnen. Und als Konsequenz solcher Beobachtungen
222 Leben der Erkenntnis

kann Nietzsche dann die Existenz des Willens über-


haupt bezweifeln: »Es giebt keinen Willen«, heißt es
in einer nachgelassenen Aufzeichnung (KSA 10,663;
N 1883–84, 24[32]).
Schon der Zarathustra ist ein Beleg dafür, daß man
dies nicht als letztes Wort zur Sache verstehen sollte,
und einige Jahre später kann Nietzsche die Rede vom
Willen präziser »eine falsche Verdinglichung« nennen
(KSA 12,26; N 1885–86, 1[62]): Wille, verstanden als et-
was, das mich die isoliert betrachtete Handlung tun läßt
– das gibt es nicht, wenn es solche Handlungen nicht
gibt. Aber damit ist nicht gesagt, die eigentümliche Deu-
tung von Ereignissen und Verhaltensweisen, die mit der
Rede vom Willen vollzogen wird, sei deshalb sinnlos. Sie
könnte ihren Sinn vielmehr um so klarer erweisen, je
deutlicher sie aus der Bindung an die Voraussetzung ein-
zelner Handlungen gelöst wird. Wille, so würde das zu-
nächst wohl paradox erscheinende Ergebnis einer sol-
chen Überlegung lauten, bezieht sich genau betrachtet
nicht auf Einzelnes, sondern auf das Leben überhaupt.
Im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches
findet sich ein dafür aufschlußreicher Text, unter dem Ti-
tel »Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstan-
den ist« (KSA 2,545; MA II, WS 9). Nietzsche knüpft
hier offensichtlich an den Gedanken aus dem Aphoris-
mus 124 der Morgenröthe an, nach dem das Wollen
nichts mit einer tatsächlichen Verursachung von Ereig-
nissen zu tun hat. Immer, so der entscheidende Gedanke,
suche man die Freiheit des Willens da, wo man »am fe-
stesten gebunden« sei, also in den Verhaltensweisen, die
man ohnehin schon vollziehe: »es ist, als ob der Seiden-
wurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen
suchte«. Das aber komme daher, »dass Jeder sich dort am
»Nicht Wille zum Leben . . .« 223

meisten für frei« halte, »wo sein Lebensgefühl am gröss-


ten« sei; und noch zur Erläuterung: »Das, wodurch der
einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt,
meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element
seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpf-
sinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als nothwendige
Paare zusammen.« (KSA 2,545; MA II, WS 9) »Freiheit«
ist demnach bloß ein anderes Wort für eine besonders in-
tensive Erfahrung des eigenen Lebens; diese und nicht die
in eine übersinnliche Welt gehörige Unabhängigkeit von
den mannigfachen Gebundenheiten in Lebenszusam-
menhänge ist eigentlich gemeint, wo man sein Leben un-
ter dem Gesichtspunkt des Wollens versteht.
Das ist jedoch keine Reduktion der Freiheit, sondern
wirkliche Erläuterung: Der Zustand gesteigerten Le-
bensgefühls besteht darin, daß man sich als uneinge-
schränkt, unbehindert und unabhängig erfährt. Freiheit
ist der durch eine Lebensdeutung eröffnete Spielraum
des Verhaltens, für den es gleichgültig ist, ob es Bedin-
gungen des eigenen Lebens gibt, insofern als diese für
das Verhalten keine ausdrückliche Rolle spielen. Freiheit
ist Leichtigkeit im Gegensatz zur Schwere des Müssens
und Festgelegtseins und entsprechend die Stimmigkeit
eigenen Lebens, das Einigsein mit sich. Alles, was sich
im Horizont des Erlebens zeigt, fügt sich zum schlüssi-
gen Bild eines Spielraums, in dem sich mein Leben voll-
zieht und in dem es »mein« Leben ist. So kann man sich
auch seine Handlungen zurechnen, ohne daß man sich
als ihren Verursacher deuten und andere Ursachen aus-
schließen muß. Entscheidend ist die Selbstgenügsamkeit
des Lebenszusammenhangs: Unabhängigkeit im Sinne
der Erfahrung, daß nichts fehlt und nichts widersteht.
Auf Griechisch gibt es dafür ein Wort: ¥ af Q ı¥ / % ª O ¥ . Frei-
224 Leben der Erkenntnis

heit im erläuterten Sinne ist Autarkie und keine Willens-


freiheit.6
Trotzdem hat Autarkie etwas mit dem Wollen im üb-
lich verstandenen Sinne zu tun. Es gibt die Autarkie
ja nicht einfach als glücklichen Umstand oder Wider-
fahrnis, das man wie ein Geschenk annimmt, während
man den entgegengesetzten Zustand bedauert. Vielmehr
strebt man danach, autark zu sein: man will als Last
empfundene Einschränkungen überwinden, das sperrig
ins eigene Leben Hereinstehende integrieren – »plasti-
sche Kraft« war Nietzsches früher Name dafür. Im Wol-
len ist immer Freiheit gemeint; man will es sich im be-
sten Sinne des Wortes leichtmachen, nicht von der
Schwere des Schicksals niedergedrückt sein, und das
hängt von der Überwindung einzelner Hindernisse, von
der Integration einzelner Momente ab. Doch umgekehrt
läßt sich das immer nur aus einem autarken Zustand ver-
stehen – wie anders sollte man wissen, was zu überwin-
den oder zu integrieren ist, als dadurch, daß man es auf
einen bestimmten Zustand bezieht? Also ist das Wollen,
genauer betrachtet, das Bejahen des eigenen Lebens und,
damit verbunden, ein Verstehen des Verhaltens auf die
Autarkie dieses Lebens hin. Die Autarkie des Lebens
bildet sich durch das Leben immer wieder neu heraus,
und das kann nur von der Autarkie her verstanden wer-
den. Dafür steht die Formel vom Willen zur Macht.
Das zeigt sich nicht nur an Nietzsches Verständnis des
Wollens, sondern auch an seinen Überlegungen dazu, was
Macht sei. In einer Aufzeichnung aus der Entstehungszeit
von Menschliches, Allzumenschliches I schreibt Nietz-
6 Vom politischen Sinn dieses Wortes aus ergeben sich Möglichkeiten ei-
ner anthropologischen, im Hinblick auf die politische Philosophie
konzipierten Deutung des Willens zur Macht, wie sie bei Gerhardt
(1996) entwickelt ist.
»Etwas Complicirtes« 225

sche, die »Freude an der Macht« sei »nicht darauf zu-


rückzuführen, dass wir uns freuen, in der Meinung an-
derer bewundert dazustehen«. Macht ist, anders gesagt,
nichts, was primär unser Verhältnis zu anderen betrifft;
sie besteht nicht darin, anerkannt oder geschätzt zu sein,
sondern dergleichen hat nur Bedeutung, wenn es dazu
beiträgt, zum »Gefühl seiner Macht« zu kommen. Wie
Nietzsche hinzufügt, erklärt sich die »Lust an der
Macht« nämlich »aus der hundertfältig erfahrenen Un-
lust der Abhängigkeit, der Ohnmacht« (KSA 8,425; N
1876–77, 23[63]). Der »freieste Mensch«, notiert sich
Nietzsche drei Jahre später, habe »das größte Machtge-
fühl über sich« (KSA 9,488; N 1881, 11[130]). Macht ist
Unabhängigkeit, Freiheit im Sinne der Autarkie.

4. »Etwas Complicirtes«

In Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 19, ist der


Gedanke besonders genau und ausführlich dargestellt,
so deutlich gefaßt, daß man sagen müßte, hier und nicht
in den nachgelassenen Aufzeichnungen liege der Schlüs-
sel für die Konzeption des Willens zur Macht. Wollen,
sagt Nietzsche hier, sei »vor Allem etwas Complicirtes,
Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist« (KSA 5,32;
JGB 19). Drei Aspekte seien hier auseinanderzuhalten:
Erstens eine »Mehrheit von Gefühlen«, dann zweitens
das »Denken« und schließlich und »vor Allem noch ein
Affekt«.
Das wird nun von Nietzsche erläutert, und dabei zeigt
sich zunächst, daß die Gefühle, von denen die Rede ist,
226 Leben der Erkenntnis

eine Lebenssituation erschließen – darin, daß sie nicht so


bleiben muß, wie sie ist: »ein Gefühl des Zustandes, von
dem weg« und »das Gefühl des Zustandes, zu dem hin«,
spielen hier zusammen, außerdem »das Gefühl von die-
sem ›weg‹ und ›hin‹ selbst« und schließlich »noch ein be-
gleitendes Muskelgefühl«. Man erlebt einen Zustand als
unangenehm und verhält sich dazu – noch ohne jedes
Reflektieren und Nachdenken. Der Zustand ist nicht
bloß Faktum, eine Alternative zu ihm nicht bloß als das
Bessere vorgestellt, sondern man fühlt sich, wie undeut-
lich auch immer, aus dem Zustand gelöst, nämlich im
Weg- und Hindrängen, das man vielleicht nur als Un-
ruhe spürt. Also ist die Unannehmlichkeit des Zustan-
des, in dem man sich befindet, verbunden mit der An-
nehmlichkeit eines anderen oder genauer: seiner wie
auch immer gegebenen Vorstellung. Das wird meist von
jener ganz leiblichen Bereitschaft zur Veränderung be-
gleitet sein, die Nietzsche als »Muskelgefühl« bezeich-
net: Anspannung, die Bereitschaft zum Verhalten ist.
Wenn als nächstes Moment das Denken ins Spiel
gebracht ist, so wäre im simplen, auf ein »Volks-Vor-
urtheil« (KSA 5,32; JGB 19) zurückgehenden Verständ-
nis des Wollens ohne große Schwierigkeiten zu sagen,
worum es geht: Beim Wollen muß etwas gewollt sein,
und weil dies nicht unmittelbar erfahren werden kann,
läßt es sich nur in der Form eines Gedankens fassen.
Denkend artikuliert man das Ziel des Wollens; man
nimmt sich – willentlich – etwas vor als etwas, das sein
soll und dann, in einzelnen, denkend erarbeiteten Schrit-
ten realisiert wird.
Von einer Erläuterung wie dieser scheint Nietzsche
gar nicht so weit entfernt zu sein, wenn er sagt, »in je-
dem Willensakte« gebe es »einen commandirenden Ge-
danken«; der Gedanke artikuliert, was zu tun ist. Aber
»Etwas Complicirtes« 227

daß er dies in der Form eines Kommandos, eines Befehls


tut, ließe sich im Zusammenhang der von Nietzsche
kritisierten Auffassung des Wollens nicht sagen. Nach
dem philosophischen »Volks-Vorurtheil« würde der Ge-
danke ja den Willen nur bestimmen; eine Fähigkeit oder
Disposition, »Wille" genannt, würde ausdrücklich und
wirksam, nachdem sie durch das Denken einen Inhalt
bekommen hat.
Aber im Sinne Nietzsches ist der Wille kein isoliert
faßbares Vermögen. Die Rede von ihm ist nur möglich,
weil es so etwas wie kommandierende Gedanken gibt –
Gedanken, die in der Befehlsform »Du sollst« artikuliert
sind. Man kann sich das mit einer recht einfachen Über-
legung verständlich machen: Erst wo ein kommandie-
render Gedanke artikuliert wird, gibt es über das diffuse
Weg- und Hindrängen, über die als Unruhe gespürte
Veränderlichkeit der Situation hinaus etwas, zu dem
man sich deutlich verhalten kann. Befehle sind Hand-
lungsvorgaben, zu denen man Stellung nehmen muß: er-
füllend oder verweigernd, gehorsam oder sich widerset-
zend – »ich will« oder »ich will nicht«. Dafür, wie man
sich nun verhält, mögen die Gefühle ausschlaggebend
sein – etwa so, daß die Neigung, sich einer als unange-
nehm empfundenen Situation zu entziehen, schwächer
ist als die Unannehmlichkeit, wie sie eine Veränderung
mit sich brächte. Aber ohne den kommandierenden Ge-
danken hätte man dem Gefühl nicht ausdrücklich nach-
geben können: »Ich will nicht« – das kann man erst sa-
gen, wo durch den kommandierenden Gedanken eine
Situation geschaffen wurde, in der das Gefühl in Span-
nung zum Denken steht.
Mit dieser Spannung ist im Grunde auch schon das
dritte von Nietzsche genannte Moment des Wollens be-
rücksichtigt. Im »Affekt des Commando’s« (KSA 5,32;
228 Leben der Erkenntnis

JGB 19) teilt sich die Spannung mit, so daß sie als solche
ausgetragen werden kann. Die Autorität des Komman-
dos und der Eigensinn der Gefühle treten erst unter dem
»Affekt des Commando’s« hervor, also etwa die mehr
oder weniger klare Einsicht, was das Richtige wäre, und
das »Ich will nicht« in allen Formen: Lethargie, Be-
quemlichkeit, Abhängigkeit von etwas, das man zugleich
los sein möchte.
Dabei sind die beiden in Spannung befindlichen Mo-
mente keineswegs gleichberechtigt. Wer befiehlt, ist
deutlich in der besseren Position; durch ihn ist das Ver-
hältnis zu einem Befehlsempfänger ohne dessen Zutun
eröffnet, und zwar so, daß der andere in Abhängigkeit
versetzt wird. Der andere soll gehorchen, und abhängig
vom Befehl bleibt er auch in dessen Verweigerung, im
»Ich will nicht«; der Befehlende ist Herr der Situation.
Das hat Nietzsche bewogen, die vermeintliche, einem
erdichteten Vermögen zugeschriebene »Freiheit des Wil-
lens« als »Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den,
der gehorchen muss« (KSA 5,32; JGB 19), zu verstehen.
Damit bringt er den Gedanken der Autarkie wieder ins
Spiel: Wer befiehlt, wird nicht vom Leben fortgerissen
und ist nicht in mannigfache Abhängigkeiten verstrickt;
er hat Abstand, »Überlegenheit« gefunden und kann
sich gerade deshalb mit der Situation des Handelns iden-
tifizieren; alles, auch das Verhalten des Befehlsempfän-
gers, ist durch ihn bestimmt und gehört zu ihm.
Wahrscheinlich ist man geneigt, sich das am Verhältnis
zwischen verschiedenen Personen zu veranschaulichen,
und gewiß fände man dabei auch ein reiches Spektrum
an Beispielen dafür, was es heißt, eine Situation zu be-
stimmen. Man könnte beschreiben, wie die Autorität des
Kommandierenden sich mehr oder weniger subtil arti-
kuliert und entsprechend mehr oder weniger angreifbar
»Etwas Complicirtes« 229

ist; wie jemand seine Autorität um so besser bewahrt, je


unabhängiger er vom Verhalten der anderen ist, unter
anderem, weil er seinen Anspruch auf Situationsbestim-
mung immer neu, situationsangemessen, zu artikulieren
vermag. Aber das sind, genauer betrachtet, äußerliche
Verhältnisse, die es nur unter einer Bedingung geben
kann: Wer eine Situation, erst recht einen umgreifenden
Lebenszusammenhang bestimmen will, muß imstande
sein, sich selbst zu bestimmen.
Darauf läuft Nietzsches Analyse des Wollens hinaus,
wobei die Frage, was Selbstbestimmung ist, eine sehr
besondere Antwort findet. »Ein Mensch, der will«, sagt
Nietzsche, »befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht
oder von dem er glaubt, dass es gehorcht« (KSA 5,32;
JGB 19). Die Einschränkung ist hier das Wichtigste:
darauf, ob das »Etwas« wirklich gehorcht oder nicht,
kommt es nicht an. Wie sollte man das auch nachprüfen?
Entscheidend ist ja nur, daß der kommandierende Ge-
danke die von ihm geschaffene Situation wirklich be-
stimmt – oder, wie man eigentlich sagen müßte: ver-
ständlich macht, so daß alles, auch das sich Widersetzende
von ihm aus gesehen werden kann. Selbstbestimmung ist
Lebensdeutung, kein rätselhaftes Wirken eines Menschen
auf sich nach dem Modell mechanischer Vorgänge.
Damit ist Nietzsche auf das gestoßen, »was das Wun-
derlichste am Willen ist, – an diesem so vielfachen Dinge,
für welches das Volk nur Ein Wort hat«:

[. . .] insofern wir im gegebenen Falle zugleich die


Befehlenden und Gehorchenden sind, und als Ge-
horchende die Gefühle des Zwingens, Drängens,
Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche
sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pfle-
gen; insofern wir andererseits die Gewohnheit ha-
230 Leben der Erkenntnis

ben, uns über diese Zweiheit vermöge des syntheti-


schen Begriffs »ich« hinwegzusetzen, hinwegzu-
täuschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze
Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von
falschen Werthschätzungen des Willens selbst ange-
hängt, – dergestalt, dass der Wollende mit gutem
Glauben glaubt, Wollen genüge zur Aktion. Weil in
den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo
auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam,
also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich
der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da
eine Nothwendigkeit von Wirkung gäbe; genug, der
Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von
Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins
seien –, er rechnet das Gelingen, die Ausführung
des Wollens noch dem Willen selbst zu und ge-
niesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls,
welches alles Gelingen mit sich bringt.
(KSA 5,32 f.; JGB 19)
Illusionär ist bei der geschilderten Erfahrung die
Überzeugung, alles, was geschieht, ließe sich dem eige-
nen Vermögen »zurechnen«, überhaupt die Vorausset-
zung eines solchen Vermögens. Der innere Zwiespalt,
der Kampf zwischen Befehlen und Gehorchen, ist dage-
gen real, und ebenso das Gelingen und der mit ihm ver-
bundene »Zuwachs des Machtgefühls«: das Eintreten
einer Situation, die man »wollen«, als eigene bejahen
kann. Dabei ist eines auf das andere verwiesen: Ohne
den inneren Kampf und das ihn auslösende Kommando
könnte vom Gelingen ja gar nicht die Rede sein – gelin-
gen kann nur, was erwünscht war, im Verhalten einen
leitenden Gesichtspunkt abgab und auch hätte scheitern
können. Ohne das mögliche Gelingen würde man den
»Etwas Complicirtes« 231

inneren Kampf andererseits nicht geführt haben – es


lohnt nur, sich zu disziplinieren und anzustrengen, wo
ein positives Ergebnis zu erwarten ist.
Also ist das kommandierende Denken auch gut bera-
ten, keine unausführbaren Befehle zu geben und, statt
anzunehmen, das »Wollen genüge zur Aktion«, mit den
Fakten und Möglichkeiten, in deren Kontext man sich
verhält, zu rechnen. Doch wird es auch hier Grenzen der
Berechenbarkeit geben, so daß es am Ende nicht mehr
kontrollierbar ist, wie und wodurch ein Befehl des Den-
kens zur Geltung gebracht worden ist – wie hoch der
Anteil des »Wollens« an der »Aktion« eigentlich war.
Entscheidend ist allein das Gelingen, dies also, daß der
kommandierende Gedanke lebensdeutend zur Geltung
kommt.
Das läßt sich noch genauer formulieren, wenn man
bedenkt, daß alles, was zum Vollzug des Wollens gehört,
durch den kommandierenden Gedanken gefärbt ist oder,
anders formuliert, in seinem Licht erscheint. Der kom-
mandierende Gedanke macht den Gesichtspunkt aus,
unter dem sich die mannigfachen Lebensregungen und
Lebensmomente in jeweiliger Einheitlichkeit zeigen –
das ist seine Freiheit oder Unabhängigkeit von allem,
was als einheitlich Gedeutetes seiner »Macht« unterliegt.
Die Einheitlichkeit erfährt man dabei im Gelingen: man
erlebt, wie ein komplexes Geflecht von Geschehen und
Verhalten sich als Zusammenhang des eigenen, eigens
gedeuteten Lebens zeigt; und das wiederum wird als
»Zuwachs jenes Machtgefühls« erfahren, »welches alles
Gelingen mit sich bringt«. Macht ist der Grundzug des
einheitlichen, unter einem Deutungsgesichtspunkt be-
stimmten, sich bestimmenden Lebens: Sein, das aus der
Freiheit des Bestimmens und Deutens als Deutungsbe-
stimmtheit erfahren und, gleichsam retrospektiv, als Be-
232 Leben der Erkenntnis

stätigung eigenen Könnens gedeutet wird. So läßt sich


dann auch die Verstricktheit ins Lebensgeschehen positiv
deuten: als Werden zum Sein.
Wie dieses Ergebnis weiter zu interpretieren ist, hat
Nietzsche selbst zu verstehen gegeben – indirekt, wie so
oft. Als ob es sich um einen Kommentar zu seiner Erör-
terung des Wollens handelte, bemerkt er im unmittelbar
folgenden Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse,
»dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts
Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern
in Beziehung und Verwandtschaft zu einander empor-
wachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in
der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten,
doch eben so gut einem Systeme angehören als die
sämmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils«. Die
»verschiedensten Philosophien« füllten »ein gewisses
Grundschema von möglichen Philosophien immer wie-
der« aus und liefen »immer von Neuem noch einmal die
selbe Kreisbahn«, so daß »ihr Denken [. . .] in der That
viel weniger ein Entdecken« sei »als ein Wiedererken-
nen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen
fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele« (KSA 5,34;
JGB 20). Diese Vermutung bestätigt sich für den Gedan-
ken des Willens zur Macht in besonderem Maße. Um
sich davon zu überzeugen, muß man das Gefüge von
Gefühlen, Denken und Affekt nur genauer ansehen.
Dann nämlich wird klar, daß es sich in Nietzsches Be-
schreibung um nichts anderes als ein »Wiedererkennen«
oder »Wiedererinnern« der platonischen Beschreibung
der Seele handelt, wie sie im vierten Buch der Politeia
gegeben ist (Resp. 435a–441c). Seele im platonischen
Sinne, • f < ı` , ist gleichbedeutend mit Lebendigkeit,
sie ist die Struktur oder das Gefüge des Lebens – wie
auch der Wille zur Macht. Und wie Nietzsche nach ihm
»Etwas Complicirtes« 233

unterscheidet auch Sokrates verschiedene Teile oder


Aspekte, was bei der Erörterung der »Selbstzertheilung
des Menschen« schon einmal angesprochen wurde: zu-
nächst das Vermögen zu begehren ( aª y O ? f U ` Q O % ı7 r ) und,
weil man den Begierden nie einfach folgen muß, etwas,
das ihm entgegengesetzt ist: dasjenige, womit man nach-
denkt ( F 7 º O 5 Q O % ı7 r ) und das den Begierden Einhalt zu
gebieten vermag. In der Seele gibt es mit den Begierden
etwas Befehlendes und mit dem Denken ebenso etwas,
das deren unmittelbare Wirksamkeit verhindert und ein
anderes ist, weil es über das Befehlende herrscht (Resp.
439c). Man sieht also, daß Nietzsche selbst die Metapho-
rik von Befehl und Gehorsam aus dem platonischen Zu-
sammenhang übernimmt; er setzt sie nur etwas anders
ein, indem er ausschließlich dem Denken Befehlscharak-
ter zuspricht.
Auch die besondere Bedeutung des »Affekts« hat
Nietzsche in der Politeia kennenlernen können. Hier ist
vom ? f U ı7 W die Rede (Resp. 439e–441c), was man nur
schlecht übersetzen kann; am besten vielleicht noch als
»Lebensbewegtheit«, in dem Sinne, daß der ? f U ı7 W das
Leben in seinem Vollzug eigentlich ausmacht. Dabei ist
an ein besonders intensives Gefühl der Lebendigkeit zu
denken, und eben das findet ein Echo in Nietzsches
Rede vom »Affekt«.
Bei aller Verwandtschaft der Konzeptionen läßt sich
allerdings auch die Differenz nicht übersehen. Zwar
ist bei Nietzsche wie bei Platon das Denken in der
Lebendigkeit die herrschende Instanz; und wie es gemäß
dem sokratischen Konzept darauf ankommt, daß in der
Führung des Lebens die drei »Teile« der Seele im rech-
ten Verhältnis sind – also die Vernünftigkeit wirklich
herrscht, die Begierden sich fügen und die Lebensbe-
wegtheit den Konflikt zugunsten der Vernünftigkeit
234 Leben der Erkenntnis

austrägt –, so läuft es auch nach Nietzsches Konzept dar-


auf hinaus, daß sich der kommandierende Gedanke im
Leben zur Geltung bringen muß. Aber während im pla-
tonischen Zusammenhang eine wirkliche Herrschaft des
Denkens über die Begierden als möglich erscheint, ver-
steht Nietzsche das Denken als Interpretieren, und ent-
sprechend ist sein Herrschaftscharakter anders gefaßt: er
zeigt sich allein darin, daß die Geschehnisse und Verhal-
tensweisen im Spielraum des Denkens erscheinen: Das
Werden kommt zum Sein und bleibt dennoch Werden.
Genau das war im platonischen Zusammenhang an-
ders gewesen. Sokrates gebraucht die Formel vom »Wer-
den zum Sein« im Philebos, um das Zusammenspiel der
beiden zuvor unterschiedenen Arten ( ª DO … ` ) des Seien-
den, des Unbegrenzten und der Grenze, als das ihnen
gegenüber Dritte zu bezeichnen. Dieses Dritte, sagt So-
krates, sei das »aus diesen beiden zu Einem Zusammen-
gemischte« (Phil. 23d). Es geht, wie es wenig später in
der vollständigen Version der genannten Formel heißt,
um das Werden zum Sein, das aus den mit der Grenze
zusammengehörigen Maßen zustandegebracht ist (Phil.
26d). Die verwendeten Metaphern zeigen, wie man sich
das zu denken hat: orientiert am Modell der Herstel-
lungskunst, der Q ıª < r ` , und zwar derart, daß etwas Un-
bestimmtes durch Begrenzung in die Maße einer be-
stimmten Gestalt gebracht wird. Werden zum Sein, das
ist in der Q ıª < r ` die Ausprägung einer Form im Material;
das gelingende Herausarbeiten von dem, was man wie
einen Bauplan wissen kann, im Diffusen, Veränderli-
chen, auch Widerspenstigen, sich der Prägung selten
ganz und gar Fügenden. Und wie nah man hier am Ge-
danken der Seele ist, zeigt ein Blick auf den Gorgias, wo
Sokrates deren besten Zustand ( a¥ / ª Q ı` ) am selben Mo-
dell zu veranschaulichen sucht: als % ı7 5 U 7 W und Q ı¥ v O W –
»Etwas Complicirtes« 235

als schöne, das heißt: erscheinende Ordnung und zwar


so, daß sie nicht einfach von sich aus da ist, sondern an-
geordnet, gebildet werden muß (Gorg. 503d–504e). So-
krates verschweigt auch die Gewaltsamkeit solcher Bil-
dung nicht, indem er sagt, der Handwerker sammle das
für sein Werk Erforderliche auf und zwinge dann das
Verschiedene mit dem Verschiedenen zusammen (Gorg.
503e).
Wie vieles sich davon bei Nietzsche auch wiederfin-
den mag – eine entscheidende Pointe ist doch, daß er
sich in der Konzeption des Willens zur Macht vom Mo-
dell des Herstellens und »Schaffens« gelöst hat. Ohne
daß die Gefühle schon in bestimmter Weise wirksam
und bestimmte Entwicklungen absehbar sind, hat kein
»kommandierender Gedanke« Aussicht auf Erfolg; der
»kommandierende Gedanke« bewirkt eigentlich nichts,
während er bei entsprechender Disposition und Ent-
wicklung den jeweiligen Zusammenhang des Lebens im
ganzen verständlich zu machen vermag. So ist der Tri-
umph des Denkens nichts anderes als die beglückende,
doch oft genug als Wirkung mißverstandene Erfahrung
der Verständlichkeit: »L’effet c’est moi: es begiebt sich
hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen
Gemeinwesen begiebt, dass die regierende Klasse sich
mit den Erfolgen des Gemeinwesens identificirt« (KSA
5,33; JGB 19). Der wahre Herrscher ist der erfolgreiche
Deuter, sofern dieser das Geschehen und Wirken in eine
ausdrückliche Einheit hebt und es derart ausdrücklich
sein, in die Erscheinung kommen läßt; wahres Herr-
schen ist Präsentieren, sinnvolles Vergegenwärtigen von
etwas, das ohnehin geschieht, es ist das Aufschließen ei-
nes Zusammenhangs für das, was geschieht – darauf
läuft Nietzsches Version der auch von Platon übernom-
menen Parallelisierung von Staat und Einzelseele hinaus.
236 Leben der Erkenntnis

Wichtiger als diese Umakzentuierung ist jedoch, daß


Nietzsche überhaupt auf die platonische Konzeption
der Seele zurückgeht. So teilt er mit Platon nicht bloß
die Situation eines Philosophierens nach dem Ende der
Kunst, nicht bloß das Verständnis der Philosophie als
Dialektik und als Dichtung des wahren Lebens, sondern
auch die Bestimmung der »Sache«, mit der es die Philo-
sophie eigentlich zu tun hat, wo sie den Streit von Sein
und Werden austrägt. Wenn Nietzsche vom »Leben«
spricht und vom Willen zur Macht, meint er die Seele –
ohne daß man diesen Bezug sieht, bleibt die Rede von
der »Lebensphilosophie« Nietzsches ein nichtssagendes
Etikett und die Formel vom Willen zur Macht für Miß-
verständnisse offen. Wo Nietzsche sich daran macht, die
eine Sache seines Philosophierens zu nennen, kommt
die Seele zur Sprache; Philosophie ist in diesem Sinne
»Psychologie«.

5. »Psychologie«

Ausdrücklich wird die Philosophie in Jenseits von Gut


und Böse auch so bezeichnet. Bisher, sagt Nietzsche hier,
sei »die gesammte Psychologie [. . .] an moralischen Vor-
urtheilen und Befürchtungen hängen geblieben«, sie
habe »sich nicht in die Tiefe gewagt«. Und was das
heißen soll, erfährt man gleich darauf: Die Psycholo-
gie müsse als »Morphologie und Entwicklungslehre
des Willens zur Macht« gefaßt werden, und daran habe
»noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift: so-
fern es nämlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrie-
»Psychologie« 237

ben wurde, ein Symptom von dem, was bisher ver-


schwiegen wurde, zu erkennen« (KSA 5,38; JGB 23).
Das mag sein und ist sogar wahrscheinlich; auch was
die »moralischen Vorurteile« betrifft, mag Nietzsche
im Recht sein: niemand vor ihm dürfte den Gedanken
»von der gegenseitigen Bedingtheit der ›guten‹ und der
›schlimmen‹ Triebe« (KSA 5,38; JGB 23) so konsequent
und facettenreich verfolgt haben. Zugleich aber weiß
Nietzsche sehr genau, daß die Konzeption der Philoso-
phie als Psychologie nichts Neues ist. Man werde, so
schließt er den Gedankenzusammenhang der skizzierten
Überlegungen ab, »verlangen dürfen, dass die Psycho-
logie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt
werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen
Wissenschaften da sind« (KSA 5,39; JGB 23). Die Paral-
lele zum Eröffnungssatz von Menschliches, Allzumensch-
liches I, nach dem »die philosophischen Probleme [. . .]
jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der
Frage« annehmen »wie vor zweitausend Jahren« (KSA
2,23; MA I,1), müßte unübersehbar sein. Die Philosophie
ist jetzt »wieder«, wie erstmals bei Platon, Psychologie
und als solche »nunmehr wieder der Weg zu den Grund-
problemen« (KSA 5,39; JGB 23).
Was die »Grundprobleme« sind, hat Nietzsche deut-
lich genug gesagt: die Psychologie muß sich »in die
Tiefe« wagen und zu einer »Morphologie und Entwick-
lungslehre des Willens zur Macht« werden: seine ver-
schiedenen Formen zu bestimmen und in ihrem Entste-
hen auseinander verständlich zu machen versuchen. Und
sie kann nicht auf das menschliche Leben im Sinne der
»complicirten« Struktur des Wollens beschränkt sein,
wenn sie wirklich »Herrin der Wissenschaften« sein will.
Dann muß sich der Gedanke des Willens zur Macht als
leitend für alle Wissenschaften erweisen. Worum es hier
238 Leben der Erkenntnis

geht, sagt am deutlichsten der erste Titelentwurf zu ei-


nem Buch, das Nietzsche selbst nicht geschrieben hat
und das als Kompilation nachgelassener Aufzeichnun-
gen später auf höchst problematische Weise zu seiner
Wirkungsgeschichte beitrug: »Der Wille zur Macht. Ver-
such einer neuen Auslegung alles Geschehens.« (KSA
11,619; N 1885, 39[1]) Damit sollte, wie Nietzsche eine
Zeitlang geplant hat, die Lehre des Lebens, wie sie im
Zarathustra mitgeteilt wird, eingelöst werden.
Aber das Buchprojekt, das Nietzsche mit dem genann-
ten Titel versehen hat, wandelt sich: zeitdiagnostische,
moralkritische Fragen treten mehr und mehr in den Vor-
dergrund, und die entscheidende Frage einer »neuen
Auslegung alles Geschehens« konzentriert sich im Ge-
danken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Darin
liegt, wie man sehen wird, Konsequenz: der Wieder-
kunftsgedanke wird sich als angemessene Artikulations-
form der »neuen Auslegung« erweisen.
Doch ist der Wiederkunftsgedanke schon die Lösung
eines Problems, wie es sich mit der Ausweitung des Ge-
dankens vom Willen zur Macht auf alles Lebendige erst
stellt. Deshalb muß man zunächst fragen, warum Nietz-
sche sich dieses Problem überhaupt auflädt – warum soll
die Struktur des Willens zur Macht, wie sie sich bei der
Analyse des Wollens geklärt hatte, die Struktur alles Le-
bendigen sein? Denken und Fühlen, der Streit zwischen
beiden und seine jeweilige Entscheidung durch die Inter-
pretationsmacht des Denkens – das scheint so eindeutig
zum menschlichen Leben zu gehören, daß man die Aus-
weitung des Gedankens für eine fragwürdige Projektion
halten könnte.
Nietzsche deutet schon bei seiner Analyse des Wol-
lens an, wieso man nicht allein das menschliche Leben
»Psychologie« 239

als Wille zur Macht verstehen soll: Wenn der Befehlende


sich »mit dem Ausführenden als Eins setzt« – wie »die
regierende Klasse sich mit den Erfolgen des Gemeinwe-
sens identificirt« –, nimmt er dabei, wie Nietzsche sagt,
»die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werk-
zeuge« in Anspruch: der Erfolg eines Handelns wird
nicht bloß gedacht, sondern auch leiblich gefühlt – im
Geschick des Zugreifens etwa oder in der erfolgreich
eingesetzten Körperkraft. Die in der Perspektive des
kommandierenden Denkens erfolgreichen »Werkzeuge«
sind aber, wie Nietzsche hinzufügt, »›Unterwillen‹«
oder – bei ihm selbst ohne distanzierende Anführungs-
zeichen: »Unter-Seelen«. Denn, so wird das lapidar er-
läutert, »unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler
Seelen« (KSA 5,33; JGB 19).
Das ist buchstäblich, nicht im übertragenen Sinne ge-
meint, und der Gedanke leuchtet auch ein: alles Leibli-
che ist lebendig, und wo ein Teil des Körpers eigens ge-
fühlt wird und sich aus einer Komplexität von Gefühlen
heraushebt, kann er nur erscheinen wie etwas Lebendi-
ges für sich. Außerdem wirkt die erfolgreiche Muskel-
kraft grundsätzlich nicht anders als das erfolgreiche
Denken: wo sie etwa einen Widerstand überwindet, be-
stimmt sie eine Situation; die bewältigten Kräfte oder
Lasten erscheinen in ihrem Licht.
Aber auch für das Denken gibt es Anlaß, die erfolgrei-
chen »Werkzeuge« – ob ausdrücklich oder nicht – als
»Unter-Seelen« aufzufassen: Sein »Machtgefühl« ist ja
vor allem davon abhängig, daß alles sich zur Einheit ei-
nes vom Denken bestimmten Lebenszusammenhangs
fügt; ein Lebenszusammenhang erscheint im Licht des
Denkens, so daß er der Lebenszusammenhang des Den-
kens, sein Leben, ist. Macht ist Autarkie: die Erfahrung,
240 Leben der Erkenntnis

daß nichts in dem von ihr beherrschten Bereich fremd


ist. Nur wo das Denken nicht allein lebendig sein will,
kann es lebendig sein.
Jetzt ist bloß noch ein weiterer Schritt nötig, damit
man sieht, was es mit der »neuen Auslegung alles Ge-
schehens«, der Ausweitung des Gedankens vom Willen
zur Macht auf alles, was ist, auf sich hat: Nur wo alles le-
bendig und Wille zur Macht ist, kann alles als Moment
des eigenen Lebens erscheinen, so daß hier nichts grund-
sätzlich fremd, vom eigenen Leben geschieden ist. Mit
der »neuen Auslegung alles Geschehens« wird jede
»Selbstzertheilung« überwunden, ohne daß man diffus
mit allem Eins sein wollte. Vielmehr spielt das Leben in
einer Differenz, die sich gerade nicht zur Unterschieden-
heit verhärtet: Aus dem Abstand des kommandierenden,
die Situation bestimmenden Deutens versteht man alles
als das eigene Leben und stellt das isoliert betrachtete, nur
oberflächlich »eigene« Leben zugleich in alles zurück.
Während die Möglichkeit einer solchen Lebensdeu-
tung im Zarathustra dichterisch entworfen werden soll,
hat das dialektische Philosophieren die Aufgabe, sie ge-
danklich vorzubereiten – die Selbstzerteilungsversuche
des Denkens zu unterlaufen. Das gilt natürlich vor allem
für einen, den wirksamsten und fatalsten Versuch: die
Unterscheidung von Leib und Seele, Materie und Geist.
In diesem Sinne weist Nietzsche einmal auf die Kon-
zeption des kroatischen – nicht wie Nietzsche schreibt:
»polnischen« – Physikers Boscovich (Boškovič) hin,
nach dem Atome als Kraftzentren zu denken sind. Die-
ser Gedanke sei »der grösste Triumph über die Sinne,
der bisher auf Erden errungen worden« sei (KSA 5,26;
JGB 12); trotzdem müsse man in Bekämpfung des »ato-
mistischen Bedürfnisses« noch weiter gehen und »auch
jener anderen und verhängnissvolleren Atomistik den
»Psychologie« 241

Garaus machen, welche das Christenthum am besten


und längsten gelehrt« habe, »der Seelen-Atomistik«
(KSA 5,27; JGB 12). Aber selbst wenn man die Über-
zeugung, nach der die Seele »etwas Unvertilgbares, Ewi-
ges, Untheilbares, als eine Monade« zu verstehen sei,
aufgebe, sei es, »unter uns gesagt, ganz und gar nicht nö-
thig, ›die Seele‹ selbst dabei los zu werden und auf eine
der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu
leisten« (KSA 5,27; JGB 12). Im Gegenteil, wenn die
materialistische Atomistik wirklich »zu den bestwider-
legten Dingen« gehört, »die es giebt« (KSA 5,26; JGB
12), spricht alles dafür, die »Seelen-Hypothese« auch
dort zur Geltung zu bringen, wo sonst der Materialis-
mus sein Recht behauptet.
Diese Konsequenz wird dann im Aphorismus 36 von
Jenseits von Gut und Böse auch wirklich gezogen – nicht
in der Form einer dogmatischen Behauptung, sondern,
oberflächlich betrachtet, einer Hypothese, also eines Ge-
dankens, dem man vertraut und den man seiner Kon-
zeption und Beschreibung der Welt zugrundelegt. »Ge-
setzt«, schreibt Nietzsche,
dass nichts Anderes als real »gegeben« ist als unsre
Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir
zu keiner anderen »Realität« hinab oder hinauf
können als gerade zur Realität unsrer Triebe – denn
Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu ein-
ander –: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen
und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht
ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die soge-
nannte mechanistische (oder »materielle«) Welt zu
verstehen? (KSA 5,54; JGB 36)
Damit, fügt er hinzu, sei nicht gemeint, daß die Welt
eine »Täuschung« sei, vielmehr nur »vom gleichen Reali-
242 Leben der Erkenntnis

täts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, – als eine


primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles
in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im
organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet« – viel-
leicht als eine »Vorform des Lebens« (KSA 5,54 f.; JGB
36). »Zuletzt« sei es »nicht nur erlaubt, diesen Versuch
zu machen«, sondern, »vom Gewissen der Methode aus,
geboten« (KSA 5,55; JGB 36).
Nun folgt eine Überlegung, die das offenbar erläutern
und begründen soll. Ausgangspunkt ist dabei der Ge-
danke der Kausalität: Wenn man von dergleichen reden
wolle, sei es »eine Moral der Methode«, »nicht mehrere
Arten« anzunehmen, »so lange nicht der Versuch, mit
einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste
Grenze getrieben« sei – »(– bis zum Unsinn, mit Ver-
laub zu sagen)«. Dann aber sei »die Frage [. . .] zuletzt,
ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob
wir an die Causalität des Willens glauben«. Und dann
heißt es: »thun wir das – und im Grunde ist der Glaube
daran eben unser Glaube an Causalität selbst –, so müs-
sen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität
hypothetisch als die einzige zu setzen«. Jetzt braucht
Nietzsche bloß noch zu unterstellen, »unser gesammtes
Triebleben« könne »als die Ausgestaltung und Verzwei-
gung Einer Grundform des Willens« ebenso erklärt wer-
den wie jede organische Funktion, nämlich des Willens
zur Macht; dann ergibt sich, daß »alle wirkende Kraft«
als Wille zur Macht zu bestimmen wäre, und zwar »ein-
deutig«: »Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren
›intelligiblen Charakter‹ hin bestimmt und bezeichnet –
sie wäre eben ›Wille zur Macht‹ und nichts ausserdem«
(KSA 5,55; JGB 36).
Ob es so ist, bleibt hier unentschieden. Und wie sollte
es auch entschieden werden? Tut Nietzsche, wenn man
»Psychologie« 243

ihn nur genau genug liest, nicht alles, um das, was er


suggeriert, zugleich in Frage zu stellen? Oder sollte er
wirklich vergessen haben, daß es nach seiner Analyse des
Willens problematisch genug ist, an die Kausalität des
Willens zu »glauben«? Schließlich ist ja das Wollen »et-
was Complicirtes«, bei dem es keine eindeutig feststell-
baren Bewirkungen gibt. Zur Kompliziertheit gehört
außerdem ein kommandierender Gedanke. Ist das Den-
ken also wirklich nur ein Verhalten der Triebe zueinan-
der, wie Nietzsche hier sagt? Oder hebt das nicht den
Gedanken einer gegliederten Lebendigkeit, wie er mit
der Formel vom Willen zur Macht bezeichnet ist, wieder
auf? Und sagt Nietzsche nicht selbst, mit dem Versuch,
»alle wirkende Kraft« in der vorgeschlagenen Weise als
Wille zur Macht zu bestimmen, sei ein Gedanke »bis an
seine äusserste Grenze« getrieben – »bis zum Unsinn,
mit Verlaub zu sagen«?
Die Antwort auf diese Fragen ist im Zusammenhang
von Jenseits von Gut und Böse längst gegeben – im
Aphorismus 22. Nachdem er sich über den Glauben an
die »Gesetzmässigkeit der Natur« lustig gemacht und
die Naturgesetze zu bloßen Interpretationen erklärt hat,
sagt Nietzsche hier, es könnte jemand kommen und,
statt die Natur wie die Naturwissenschaftler zu deuten,
»mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretations-
kunst« etwas anderes aus ihr verstehen wollen, nämlich
aus all ihren Formen und Gebilden den Willen zur
Macht. Und dann, an die Adresse der Naturwissen-
schaftler: »Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist
– und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? –
nun, um so besser. –« (KSA 5,37; JGB 22)
Das ist keine Relativierung, keine skeptisch motivierte
Zurücknahme des Gedankens vom Willen zur Macht.
Problematisch und »populär geredet« (KSA 5,56; JGB
244 Leben der Erkenntnis

37) ist nur die Unterstellung, man könne die Interpreta-


tion der Welt im ganzen als Wille zur Macht aus dem
Glauben an die Kausalität ableiten und diese »in die
Dinge hineindichten, hineinmischen« – dann »treiben
wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben,
nämlich mythologisch« (KSA 5,36; JGB 21). Wenn das
nichtmythische, aufgeklärte Reden und Denken ein be-
wußtes Interpretieren ist, weiß man jedoch, daß Inter-
pretationen sich nicht als plausibel erweisen lassen, in-
dem man sie mit dem Interpretierten zu vergleichen ver-
sucht oder sich Gedanken macht, wie das Interpretierte
»an sich«, ohne jede Interpretation aussehen könnte.
Entsprechend sinnlos ist dann auch die Behauptung, das
Interpretierte sei wirklich so beschaffen, wie es sich in
der Interpretation zeigt. Aber das heißt nicht, die Inter-
pretation sei reine Willkür, die mit der interpretierten
Welt gar nichts zu tun hätte: die Welt zeigt sich ja nur in
ihren Interpretationen. Interpretation ist Welterfahrung,
wie das Lesen die Erfahrung eines Textes ist.
Mit dem Eingeständnis, daß es sich beim Gedanken
des Willens zur Macht um eine Interpretation handelt,
ist außerdem nicht gesagt, dieser Gedanke sei genauso
viel oder genauso wenig wert wie jeder andere, der auch
Interpretation ist. Es gibt ja den Unterschied zwischen
schlechteren und besseren – mythologischen und aufge-
klärten, transparenten – Interpretationen. Und was dies
betrifft, ist der Gedanke des Willens zur Macht allein da-
durch ausgezeichnet, daß mit ihm das Leben selbst als
Interpretationsgeschehen gedeutet wird und der Ge-
danke so in allem Gedeuteten zu finden ist wie das kom-
mandierende Denken im komplexen Geschehen des füh-
lenden, sich verhaltenden Lebens. Eine Interpretation,
die den Interpretationscharakter aller Erfahrung heraus-
stellt, beweist damit auch ihre eigene Transparenz, und
»Kosmisch empfinden« 245

so ist sie stimmiger als jede, die von ungeklärten Voraus-


setzungen, naiven oder mythischen Annahmen abhängig
bleibt. Daß es keinen externen Maßstab zur Bewertung
von Interpretationen gibt, heißt nicht, man müsse des-
halb auch auf ihre Bewertung verzichten. Auch die Inter-
pretation eines Textes überzeugt ja durch ihre im Ver-
gleich mit anderen größere Stimmigkeit und Transpa-
renz; außerdem dadurch, daß sie differenzierter ist und
nuancierter und so ein reicheres Spektrum an Phänome-
nen erschließen kann.

6. »Kosmisch empfinden«

Ein Bedenken stellt sich wohl trotzdem immer wieder


ein: Nietzsches Analyse des Wollens ist ja allzu deutlich
der Struktur des menschlichen Lebens und Deutens ab-
gelesen. Wenn überhaupt, so scheint sie nur hier über-
zeugen zu können, nicht aber im Hinblick auf andere
Formen des Lebens und die »Realität« überhaupt, von
der in Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 36, als ei-
ner »Vorform des Lebens« die Rede gewesen ist (KSA
5,55; JGB 36). Wo es nicht um das menschliche Leben
geht, scheint zumindest die Rede vom »Willen« nur
metaphorisch zu sein, im Sinne eines besonders leicht
durchschaubaren Anthropomorphismus.
Allein, der metaphorische Charakter einer Äußerung
spricht genauso wenig gegen sie wie der Umstand, daß
man sie als »anthropomorphistisch« bezeichnen könnte;
zumindest dann, wenn Metaphern grundsätzlich nicht
weniger sinnvoll und aussagekräftig sind als Redewei-
246 Leben der Erkenntnis

sen, die wir für nichtmetaphorisch halten, und das mag,


wie Nietzsche schon sehr früh plausibel zu machen ver-
suchte, daran liegen, daß letztlich alle Sprache metapho-
risch ist. Im Sprechen, so einer der zentralen Gedanken
der Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermo-
ralischen Sinne, werden »die Relationen der Dinge zu
den Menschen« (KSA 1,879; WL 1) ausgedrückt und
nicht etwa die Dinge selbst bezeichnet, so daß allein
schon das Zusprechen einer Eigenschaft wie »hart« me-
taphorisch ist; man »überträgt« sie von der Erfahrung
auf das Erfahrene.
Sprache, so läßt sich dieser Gedanke auch formulieren,
gibt uns eine anthropomorphe Darstellung und Diffe-
renzierung der Welt, so daß jemand, der die Welt im
Kontext der Sprache untersucht, immer nur »die Meta-
morphose der Welt in den Menschen« verfolgt und sich
um »das Verstehen der Welt als eines menschenartigen
Dinges« bemüht (KSA 1,883; WL 1). Jede Frage, jedes
Forschungsprojekt gehört in den Rahmen einer be-
stimmten Sprache und damit auch immer schon in eine
menschliche bestimmte Sicht oder Perspektive. Welt ist
für Menschen immer menschliche Welt.
Unter dieser Voraussetzung wirkt der »anthropomor-
phe« Charakter des Willens vielleicht weniger irritie-
rend. Wir können das Leben im ganzen nur aufgrund
unserer Erfahrung deuten, und auch, wo eine Lebens-
form uns anders als die unsere erscheint, orientieren wir
uns bei ihrer Beschreibung mehr oder weniger aus-
drücklich an der unseren. Wenn das unumgänglich ist,
kommt es auch nicht darauf an, eine Deutung des Le-
bens im ganzen in seiner Lebendigkeit zu finden, die
von unserer eigenen Lebendigkeit absieht, sondern eine
Deutung, die auf überzeugende Weise sagt, was Leben-
»Kosmisch empfinden« 247

digkeit ist. Mit dem Gedanken des Willens zur Macht


geht es um nichts anderes als das.
Deshalb ist dieser Gedanke nicht bloß gegen dogmati-
sche Übersteigerungen wie Idealismus und Materialis-
mus, sondern immer auch gegen andere, wie Nietzsche
glaubt: weniger überzeugungskräftige Konzeptionen der
Lebendigkeit gerichtet gewesen. Vor allem hat Nietzsche
sich dagegen gewehrt, das Leben auf einen Erhaltungs-
oder Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen. Aufschluß-
reich ist dafür schon eine recht frühe, wahrscheinlich auf
Ende 1876 zu datierende Aufzeichung. Hier fragt Nietz-
sche, warum man ȟberhaupt einen Erhaltungstrieb an-
nehmen solle«, und fährt dann fort:
Unter zahllosen unzweckmäßigen Bildungen ka-
men lebensfähige, fortlebensfähige vor; es sind
millionenjahrelange Anpassungen der einzelnen
menschlichen Organe nöthig gewesen, bis endlich
der jetzige Körper regelmäßig entstehen konnte und
bis jene Thatsachen regelmäßig sich zeigen, welche
man gewöhnlich dem Erhalt具ungs典trieb zuschreibt.
Im Grunde geht es dabei jetzt ebenso nothwendig,
nach chemischen Gesetzen, zu, wie beim Wasser-
falle mechanisch. Der Finger des Klavierspielers hat
keinen »Trieb« die richtigen Tasten zu treffen, son-
dern nur die Gewohnheit. Überhaupt ist das Wort
Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall
dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an
Organismen noch nicht auf ihre chemischen und
mechanischen Gesetze zurückgeführt sind.
(KSA 8,405 f.; N 1876–77, 23[9])
Wie man sieht, ist Nietzsche hier noch weit von seiner
Konzeption des Willens zur Macht und der durch sie
248 Leben der Erkenntnis

möglich gewordenen Kritik des naturalisierenden Den-


kens entfernt; die »Zurückführung« auf »chemische und
mechanische Gesetze« erscheint ihm noch möglich und
sinnvoll. Doch bereitet er hier andererseits seine spätere
Psychologie schon vor, indem er Lebensgestalten unter
dem Gesichtspunkt ihrer Herausbildung versteht. Von
daher gewinnt er auch sein entscheidendes, freilich eher
angedeutetes als klar formuliertes Argument gegen die
Annahme eines »Erhaltungstriebs«: diese, müßte man
mit Nietzsche sagen, ist naiv, indem sie das Bestehen
einer Lebensgestalt, eines Lebewesens, voraussetzt und
suggeriert, nun komme es bloß noch darauf an, das Be-
stehende zu erhalten. Doch wenn sich in Wahrheit bil-
det, was besteht, liegt es auch nahe, alles, was wie Erhal-
tung aussieht, als Fortführung des Herausbildens, als
unauffällig gewordenes Herausbilden zu interpretieren.
Das ist in der zitierten Aufzeichnung durch den Hinweis
auf die Fähigkeit des Klavierspielers gesagt: dieser prak-
tiziert, wenn er richtig spielt, im Grunde das gleiche wie
zu der Zeit, als er das Klavierspiel erst lernte. Gelerntha-
ben heißt dann: unausdrücklich tun, was man ausdrück-
lich während des Lernens tat – auch dies eine Variante
auf den Gedanken, daß Sein immer vom Werden zum
Sein her zu begreifen ist.
Man sollte zum genaueren Verständnis dieses Zusam-
menhangs hinzufügen, daß Nietzsche seine Kritik des
Erhaltungstriebs zuerst, in der Phase der zitierten Auf-
zeichnung, gegen Schopenhauer und seinen Gedanken
eines »Willens zum Leben« gerichtet hat. Dieser Begriff,
notiert sich Nietzsche, sei zwar ein »sehr glücklicher
Fund« gewesen, für den man »seinem Urheber [. . .]
im Namen der deutschen Sprache dankbar sein« müsse;
aber der Begriff habe »vor der Wissenschaft sich noch
nicht das Bürgerrecht erobert« (KSA 8,406; N 1876–77,
»Kosmisch empfinden« 249

23[12]) – warum das so ist, meint Nietzsche durch seine


Kritik des Erhaltungstriebs plausibel machen zu können.
Später dann, nachdem er den »sehr glücklichen Fund«
der Formel vom Willen zum Leben aufgenommen und
zum Vorbild seiner Formel vom Willen zur Macht ge-
nommen hat, führt Nietzsche den Gedanken des Erhal-
tungs-, oder wie er jetzt sagt, »Selbsterhaltungstriebs«
auf Spinoza, genauer auf eine »Inconsequenz Spinoza’s«
zurück. Der Gedanke sei überflüssig und solle deshalb
der »Principien-Sparsamkeit« geopfert werden: Selbster-
haltung sei »nur eine der indirekten und häufigsten Fol-
gen« des Willens zur Macht (KSA 5,27 f.; JGB 13). Das
wird mit der Bemerkung begründet, »etwas Lebendiges«
wolle »seine Kraft auslassen«; als Lebendiges ist es, wie
man noch deutlicher sagen sollte, Kraft, auch und gerade
da, wo es Gestalt ist, die sich in der Wirklichkeit ihres
Lebensvollzugs zur Geltung bringt – »ausläßt«. Eine
Gestalt besteht nicht, es gibt sie nicht als etwas Vorhan-
denes, sondern sie gestaltet sich immer wieder neu.
Von hier aus läßt sich nun auch sagen, worin die
»Inconsequenz Spinoza’s« besteht. Es ist, wenn man
Nietzsches Einschätzung teilt, eine wirklich subtile, der
Wahrheit sehr nahe kommende Inkonsequenz: Spinoza
kommt mit seinem Gedanken des »Selbsterhaltungs-
triebs« dem, was Nietzsche denken will, so nahe, daß
sich die Kritik an ihm überhaupt erst lohnt.
Der Selbsterhaltungstrieb ist nämlich das Streben, mit
dem irgendeine Sache in sich zu sein strebt, und als sol-
ches nichts anderes als das wirkliche Wesen dieser Sache
(Ethica III, propositio VII, Conatus, quo unaquaeque
res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius
rei actualem essentiam)7. Selbsterhaltung ist demnach

7 Spinoza, Opera – Werke, Bd. 1, S. 272 f.


250 Leben der Erkenntnis

kein Streben, das sich von einem Sein, auf das es ginge,
noch unterscheiden ließe; die Sache, die sich selbst zu er-
halten strebt, ist in dem, was sie ist, nichts anderes als
dieses Streben. Es gibt sie, indem sie sich erhält.
Damit läuft auch die Kritik des »Willens zum Da-
sein«, wie sie im Zarathustra formuliert ist, ins Leere,
zunächst jedenfalls: Was nicht sei, heißt es hier, könne
nicht wollen, und was im Dasein sei, »wie könnte das
noch zum Dasein wollen« (KSA 4,149; Za II, Von der
Selbst-Ueberwindung) – wie könnte oder müßte ein
Sein, das besteht, noch gewollt werden? Wenn es so
wäre, wie hier unterstellt wird, wäre das Wollen des
Daseins in der Tat eine sinnlose Geste. Doch verhält es
sich anders, wenn das Dasein in seiner Bestimmtheit in
nichts anderem als diesem Wollen besteht. Wie Nietz-
sche nimmt auch schon Spinoza das bestimmte Sein
einer Sache in das Lebensgeschehen und die Weise des
Lebensvollzugs zurück.
Wenn Nietzsches Kritik treffen soll, müßte er dem-
nach Spinozas eigentümliche Deutung des Lebensvoll-
zugs für problematisch halten. Genauso geht Nietzsche
vor, und der entscheidende Punkt ist dabei gerade die
Identifikation von Sein und Selbsterhaltung: Sofern bei
Spinoza das bestimmte Sein als Selbsterhaltung verstan-
den wird, ist diese umgekehrt auch nichts anderes als der
erhaltende Vollzug bestimmten Seins: eines Seins, das
aufgrund bestimmter Eigenschaften als das eines be-
stimmten Dinges umrissen werden kann. Obwohl für
Spinoza alles, was ist, als Modifikation des einen sub-
stantiellen göttlichen Seins begriffen werden muß, ist
doch jedes Ding als eine solche Modifikation in seinen
Wesenseigenschaften wohlbestimmt. Die Welt in Gott
ist eine Welt diskreter Dinge.
Das – aber auch nur das – will Nietzsche anders sehen.
»Kosmisch empfinden« 251

Wird der Vollzugssinn des Lebens als Wollen verstanden,


so schließt das, wie er denkt, ein, daß keine Lebensgestalt
in sich ruht, sondern immer schon über sich hinauslangt
und sich wesentlich auf anderes bezieht, an dem sie sich
interpretierend, integrierend bewährt; nur so bildet sie
sich auch als bestimmte Gestalt, als vermeintlich in sich
Begrenztes heraus, so daß die Selbsterhaltung im Sinne
Spinozas in der Tat als Folge des Willens zur Macht ver-
standen werden könnte. Sein muß als je bestimmte Kon-
stellation des Willens zur Macht, als Sein eines Ensembles
von Kräften, das von einer Kraft dominiert wird, verstan-
den werden:8 Zwar geht es in der Autarkiebildung, die
der Wille zur Macht ist, um das Resultat der Autarkie,
doch weil sie sich immer im komplexen Zusammenhang
wirkender, nie wirklich beherrschter Kräfte herausbildet,
ist die Autarkie letztlich nichts anderes als die Möglich-
keit und Notwendigkeit neuer Autarkiebildung. Lebens-
deutungen, einheitliche Spielräume des Lebens, bilden
sich – als »Werden zum Sein« – im komplexen Lebensge-
schehen immer wieder neu heraus. In diesem Sinne kann
»das Leben« selbst zu Zarathustra sprechen und sagen, es
sei »das, was sich immer selber überwinden muss« (KSA
4,148; Za II, Von der Selbst-Ueberwindung).
Freilich ist dies ein Gedanke, der die Autarkie in der
Autarkiebildung, die Macht im Willen zur Macht immer
wieder, kaum daß sie hervortritt, zu dementieren scheint.
Wo immer etwas eine Gestalt findet, treibt das Möglich-
sein, als Wesen dieser Gestalt, sie wieder auf Anderes,

8 Auf diese Pluralität des Willens zur Macht, die ja auch schon im
Aphorismus 19 von Jenseits von Gut und Böse mit der Rede von den
»Unter-Willen« und »Unter-Seelen« zur Geltung kommt, hat erstmals
Müller-Lauter (1971) und (1974) nachdrücklich hingewiesen und da-
mit die Nietzsche-Forschung maßgeblich bestimmt. Vgl. auch Abel
(1984).
252 Leben der Erkenntnis

Interpretations- und Integrationsbedürftiges zu. Autar-


kie gibt es dann entweder nur in der Selbstbeschränkung
des »geschlossenen Horizontes«, von dem in der zweiten
Unzeitgemäßen Betrachtung die Rede war; aber dann
wäre sie um den Preis der Unwahrhaftigkeit erkauft –
man schließt sich ab und nimmt, was anders ist, nicht
zur Kenntnis. Oder es gibt sie als Leben der Erkenntnis,
derart, daß nichts mehr außerhalb des Lebenshorizontes
ist, so daß dieser sich aufhebt. Nun darf es nichts An-
deres mehr geben, nichts mehr darf abgeblendet sein;
alles, was ist, muß grundsätzlich in den Spielraum des
»eigenen« Seins gehören. So ist die Ausweitung des Ge-
dankens vom Willen zur Macht auf alles, was ist, letztlich
um der Konsistenz des Gedankens willen gefordert.
Nietzsche hat die Vorstellung, man selbst sei alles, und
alles was ist, sei wie man selbst, schon früh erwogen –
auch sie gehört zu den Leitmotiven seiner Philosophie.
Schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung stellt
er sich die »mächtigste und ungeheuerste Natur« vor, die
alles Vergangene »in sich hineinziehen und gleichsam zu
Blut umschaffen« würde (KSA 1,251; HL 1). Man erin-
nere sich außerdem an die Stelle aus dem Aphorismus 54
der Fröhlichen Wissenschaft, wo Nietzsche von der Ent-
deckung berichtet, »dass die alte Mensch- und Thierheit,
ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfin-
denden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fort-
schliesst« (KSA 3,416 f.; FW 54). Und deutlicher noch
ist eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1881, übrigens ins
selbe Heft geschrieben wie die Sils-Maria-Aufzeichnung
»6000 Fuss über dem Meere«:
Wir sind Knospen an Einem Baume – was wissen
wir von dem, was im Interesse des Baumes aus uns
werden kann! Aber wir haben ein Bewußtsein, als
»Kosmisch empfinden« 253

ob wir Alles sein wollten und sollten, eine Phanta-


sterei von »Ich« und allem »Nicht-Ich«. Aufhören,
sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schritt-
weise lernen, das vermeintliche Individuum abzu-
werfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den
Egoismus als Irrthum einsehen! Als Gegensatz ja
nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe
zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein!
Über »mich« und »dich« hinaus! Kosmisch emp-
finden! (KSA 9,443; N 1881, 11[7])
Hier ist auf ein vertrautes, bis in Nietzsches philoso-
phische Anfänge zurückgehendes Motiv angespielt. In
der Geburt der Tragödie war vom Zerbrechen des Indi-
viduationsprinzips die Rede gewesen, von der Auflö-
sung der Grenzen, des jeweiligen Horizontes, in dem
sich individuelles Leben vollzieht. Ähnliches kommt in
der Bereitschaft des »freien Geistes« zum Ausdruck, sich
auf das Meer des Unendlichen zu begeben. Das ist die
Kehrseite des »Anthropomorphismus«, wie er mit der
Ausweitung des Gedankens vom Willen zur Macht ge-
geben war: Wo alles wie der Mensch ist, ist der Mensch
auch wie alles; nichts unterscheidet ihn grundsätzlich
von dem, was sonst ist. Aber hier ist trotzdem nicht
mehr wie beim Dionysischen des Tragödien-Buches an
Selbstauflösung gedacht, nicht mehr an die Schauder er-
regende Ausfahrt ins Unendliche, sondern eben an »kos-
misches« Empfinden und die Erwartung, mit ihm ließe
sich ein neues, nicht mehr durch Abgrenzung bestimm-
tes Bewußtsein des Lebens entwickeln: ein Leben, in
dem man nicht mehr in der vertrauten, von anderem ab-
gegrenzten Weise »man selbst« wäre. Es geht bei der
Ausweitung des vermeintlich eigenen Lebens in ein
Ganzes um die Gewinnung eigenen, nicht mehr durch
254 Leben der Erkenntnis

»Selbstzertheilung« gefährdeten Lebens; man soll ein


der Indifferenz zu anderem Leben entsprechendes Ver-
ständnis des eigenen Lebens im ganzen finden. Mit ihm
verwandelt der Geist sich zum dritten Mal.

7. »Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft«

Die Szene ist im Gebirge: Zarathustra wacht auf und


springt von seinem Lager »wie ein Toller«; seine Stimme
läßt alles Getier des Waldes erschrecken, so daß es sich
davonmacht, »fliegend, flatternd, kriechend, springend,
wie ihm nur die Art von Fuss und Flügel gegeben war«.
Denn Zarathustra ruft seinen »abgründlichen Gedan-
ken« herauf, er ruft ihn aus seiner Tiefe, damit er ihm
»ewig wach« bleibe. Nicht das nämlich, sagt er, sei seine
Art, »Urgrossmütter aus dem Schlafe zu wecken«, damit
sie dann »weiterschlafen« (KSA 4,270; Za III, Der Gene-
sende 1).
Was hier gespielt wird, ist die Wiederholung einer
Opernszene. Zarathustra verhält sich, als ob er selbst
Wotan und sein Gedanke die Urmutter Erda wäre, die
»Allwissende« und »Urweltweise«, die Wotan, »vor
einem gruftähnlichen Höhlentore« stehend, beschwört
(Siegfried III/1).9 Zarathustras Gedanke nennt, was in
Wagners Musikdrama die Erdgöttin weiß: den Sinn der
Erde. Und damit ist der »abgründliche Gedanke« Einlö-
sung des Anspruchs, der mit der Rede vom Übermen-
schen erhoben war.

9 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 6, S. 152.


»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 255

Deshalb muß es auch Zarathustras Gedanke sein, ein


Gedanke, der ihm dadurch zu eigen ist, daß er ihn findet
und austrägt; er kann ihm nicht, wie der Gedanke des
Willens zur Macht, vom Leben gelehrt werden. Mit dem
»abgründlichen« Gedanken geht Zarathustra selbst über
das menschliche Verständnis hinaus und findet die Ant-
wort auf die Frage nach der neuen, nicht mehr im alten
Sinne menschlichen Selbstdeutung des Lebens; darin
wird er »seinen« Willen zur Macht vollziehen, selbst ein
Ausdruck des Willens zur Macht sein. Und sofern der
»abgründliche Gedanke« sich im Leben ausprägen, das
Leben bestimmen soll, wird mit ihm die Probe auf die
Frage der Sils-Maria-Aufzeichnung gemacht, ob und wie
weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben las-
sen, damit ein Leben ganz aus Erkenntnis möglich ist.
Mit dem »abgründlichen Gedanken« erst soll die Um-
wandlung des Menschen erreicht werden.
Aus seiner eigenen Tiefe kann Zarathustra den Ge-
danken nur als etwas ihm schon Bekanntes heraufrufen;
der Gedanke ist da und bloß noch nicht wach – er be-
stimmt nicht das gegenwärtige Leben. Und damit dies
geschehe, ruft ihn Zarathustra herauf: »ewig« soll er ihm
wach bleiben, als etwas in jedem Augenblick Denkbares
und Gedachtes, wie ein Grundton, wie ein bestimmtes
Licht, in dem alles auf eigentümlich gefärbte Weise er-
scheinen kann. Bekannt war ihm der Gedanke als ein
»Gesicht und Räthsel« geworden, als deutungsbedürf-
tige Vision, an deren Ende er »nicht mehr Mensch«, son-
dern »ein Verwandelter« ist (KSA 4,202; Za III, Vom
Gesicht und Räthsel 2).
Doch ist die Verwandlung nicht einmal geschehen und
damit für immer vollzogen. Was sich mit ihr eröffnet, ist
nicht mehr als eine Möglichkeit: etwas, das in die Tiefe
des eigenen Lebens absinken kann und, wo dies ge-
256 Leben der Erkenntnis

schieht, bloß noch wartet; so aber auch etwas, das sich


wecken und wahrnehmen läßt und dann wirklich ist, ei-
gentlich da und das Leben bestimmend. Wo die Mög-
lichkeit des »abgründlichen Gedankens« geweckt wird,
entscheidet sich erst, ob er wirklich ein eigener, das Le-
ben bestimmender Gedanke ist.
Für Zarathustra wendet sich das zum Schlimmen: er
hält seinem Gedanken nicht stand. Ekel überfällt ihn,
sobald seine »letzte Tiefe [. . .] an’s Licht gestülpt« ist
und sein »Abgrund redet«. Er stürzt »nieder gleich
einem Todten« (KSA 4,271; Za III, Der Genesende 2) –
beinah, so scheint es, hätte sich der Todessturz des Seil-
tänzers, des Artisten wiederholt.
Doch Zarathustra kommt wieder zu sich, erholt sich
langsam. Er wird von den zwei Tieren gepflegt, die ihm
schon von Anfang an zugesellt sind, als Wesen, die ver-
körpern, was er sein will und in gewissem Maße auch ist:
Schlange und Adler, wobei die Schlange das klügste Tier
ist – »klug von Grund aus« – und der Adler das stolzeste
(KSA 4,27; Za I, Vorrede 10); die Schlange das Erdtier,
Tod und Heilung verbindend, und der Adler das hoch
im Gebirge hausende Tier – »6000 Fuss über dem Meere
und viel höher über allen menschlichen Dingen« –, ein
Tier, das sich frei in die Lüfte erhebt, der Herrscher- und
Siegesvogel des Zeus und Herrschafts-, Souveränitäts-
allegorie seitdem. So stehen die Tiere für die Erde und
für die philosophische Einsicht, für den »Sinn der Erde«
und damit für Zarathustras »abgründlichen Gedanken«.
– Zarathustra kommt zu sich und ist nach sieben Tagen
ein »Genesender«; einer, der die Sprache wiederfindet
und nun von den Tieren ermuntert wird, mit »neuen
Liedern« seine Seele zu heilen – »dass du dein grosses
Schicksal tragest, das noch keines Menschen Schicksal
war« (KSA 4,275; Za III, Der Genesende 2). Denn Zara-
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 257

thustra ist, wie die Tiere, Zarathustras »abgründlichen


Gedanken« erläuternd, sagen, »der Lehrer der ewigen
Wiederkunft«; das ist sein »Schicksal«, das er zu akzep-
tieren hat und, besser noch: im befreienden Wollen über-
nehmen kann. Aber wie sollte, da es Last ist und kaum
zu tragen, »diess grosse Schicksal nicht auch« seine
»grösste Gefahr und Krankheit sein« (KSA 4,275 f.; Za
III, Der Genesende 2)?
Gefahr, Krankheit und Verwandlung – sie gehören
mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft aufs eng-
ste zusammen. Die Umkehrung des Lebens, die mit
der Einprägung des Gedankens ins Leben geschieht, ist
tiefster Schmerz, Ekel und Abscheu, doch andererseits
neuer Beginn, ein bis dahin unbekanntes Leichtwerden
– dem Gedanken der ewigen Wiederkunft entspricht ja
die dritte Verwandlung des Geistes, mit der aus dem Lö-
wen ein Kind wird. »Unschuld«, heißt es dazu, sei »das
Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus
sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-
sagen«; und dann noch, zur Erläuterung: »seinen Willen
will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltver-
lorene« (KSA 4,31; Za I, Von den drei Verwandlungen).
Wieder stößt man auf vertraute Motive: das Verges-
sen, mit dem sich für das Leben der Horizont schließt,
aus der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Spiel und
unschuldiges Schaffen, die heraklitische Chiffre des Kin-
des aus der Geburt der Tragödie. Man sieht also auch
hier wieder, wie Nietzsche bei seinen frühen Gedanken
bleibt und sie neu formuliert; wie er sie vom Modell der
künstlerischen Erfahrung gelöst hat und nun philoso-
phische – metaphysische – Zentralmotive mit ihnen ver-
bindet: als erstes das aus sich rollende Rad, die erste Be-
wegung.
Es mag sein, daß Nietzsche bei dieser Metapher an die
258 Leben der Erkenntnis

Verse des Dichters und Mystikers Angelus Silesius ge-


dacht hat: »Nichts ist das dich bewegt 兾 du selber bist
das Rad 兾 Das auß sich selbsten laufft 兾 und keine Ruhe
hat.«10 Doch stehen auch diese Verse in einer weiter zu-
rückgehenden Tradition: der des platonischen Gedan-
kens von der Selbstbewegung der Seele, die, nach einer
Formulierung aus den Nomoi, deren Wesen ausmacht,
so daß die Seele als Bewegung, die sich selbst zu bewe-
gen vermag, definiert werden kann (Nom. 896a). Schon
im Phaidros war die Seele als »das Sichselbstbewegende«
( Q æ7 ¥ af Q 7 % O r ` Q ı7 r , Phaidr. 245c) und aufgrund ihrer
Selbstbewegung als unsterblich verstanden worden: Nur
bei dem, was anderes bewege und durch anderes bewegt
werde, gebe es ein Aufhören der Bewegung und also
auch des Lebens. Das Sichselbstbewegende jedoch bleibe
bei sich und sei, Anfang der es ist, unentstanden; aus
dem Anfang entstehe notwendig alles Entstehende, die-
ser selbst aber aus nichts (Phaidr. 245c–d). Das aus
sich selbst rollende Rad ist Metapher für das in sich be-
wegte, aber selbst keinem Werden und Vergehen unter-
liegende Sein.
Dann müßte auch die Formulierung, der Geist wolle
nun seinen Willen, zu diesen Gedanken in Beziehung ste-
hen; es müßte gemeint sein, daß es dem Geist mit seinem
Willen um das Sein, mit dem Sein um seinen Willen gehe.
Oder anders: erst mit der dritten Verwandlung, mit dem
Gedanken der ewigen Wiederkunft, käme der Geist
eigentlich zu dem, was er in seiner Lebendigkeit ist.
Es ginge um das Sein der Seele, um die Seele und ein
ihr zugehöriges, von ihr her zu verstehendes Sein. In die-
sem Sinne hat Nietzsche sich in der Zeit zwischen Ende

10 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann, Krit. Ausg., hrsg.


von Louise Gnädinger, Stuttgart 1984 [u. ö.], S. 33.
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 259

1886 und Frühjahr 1887 notiert: »Dem Werden den Cha-


rakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille
zur Macht.« Und kurz darauf: »Daß Alles wiederkehrt,
ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an
die des Seins: Gipfel der Betrachtung.« (KSA 12,312; N
1886–87, 7[54]) Der Gedanke der ewigen Wiederkunft
prägt »den Charakter des Seins« ins Werden, als ob man
ein Siegel in Wachs drückt; solche Ausprägung ist der
eigentliche Vollzug der Lebendigkeit, das Werden zum
Sein, in dem sich, was Philosophie traditionellerweise
ist: Kontemplation, Theorie, erst vollendet; sie ist »Gip-
fel der Betrachtung«. Der Gedanke der ewigen Wieder-
kunft soll Dichtung des Lebens sein, die eine Deutung
»aufprägt« und doch nicht verschleiert, filtert, in günsti-
geren Farben malt, sondern wirklich »Betrachtung« ist:
unmittelbare Erfahrung des Lebens in seinem Sein.
Doch wie kann Nietzsche einen solchen Gedanken zu-
lassen, ohne seine Grundeinsicht in den verstellenden
Charakter jeder Entdeckung preiszugeben? Als wollte er
seiner Rede von der »Welt des Seins« und ihrer Betrach-
tung selbst ins Wort fallen, nimmt er wenig später in
derselben Aufzeichnung eben diesen Gedanken auf: Er-
kenntnis sei nur als »Irrthum über sich selbst, als Wille
zur Macht, als Wille zur Täuschung« möglich. Doch zeigt
sich bald, daß dies nur für eine Erkenntnis »im Werden«,
eine ins Werden und seine wechselnden Konstellationen
eingebundene Erkenntnis gilt. Sie ist wie die Kunst oder
als Kunst »Wille zur Überwindung des Werdens«, und sie
ist »kurzsichtig, je nach der Perspektive« (KSA 12,313; N
1886–87, 7[54]) – kurzsichtig auch darin, daß sie bloß
Nahe- oder Näherliegendes in den Blick nimmt, jeweils
Bestimmtes, das ins Ganze gehört. Auf dem »Gipfel der
Betrachtung« aber hat sich der Blick auf das Ganze gewei-
tet, und das Ganze kann ungetrübt zum Erscheinen kom-
260 Leben der Erkenntnis

men. Nur darf man es nicht wie etwas behandeln, das


aus einer bestimmten Perspektive, um den Preis der Ver-
deckung entdeckt wird. Die »Welt des Seins« kommt
nur zur Geltung, wo man sie nicht zu erkennen ver-
sucht: Erkennen vollzieht sich immer im Werden, und
zwar so, daß es sich über dieses täuscht.
Also darf die Einsicht, die nach der Aufzeichnung
»6000 Fuss über dem Meere« das Leben im ganzen be-
stimmen soll, kein Erkennen sein – nur so wäre sie als
»Betrachtung« des Lebens im ganzen möglich. Das
klingt paradox und ist es doch nur, wenn sich das Leben
nicht anders erschließt als dadurch, daß es entdeckt wird.
Daß es anders ist, belegt Nietzsches erste Mitteilung des
»abgründlichen Gedankens«, der vorletzte Aphorismus
im vierten und ursprünglich letzten Buch der Fröhlichen
Wissenschaft. Er steht, daran sei noch einmal erinnert, in
der Mitte zwischen Sokrates und Zarathustra, zwischen
dem Gedanken, daß wir »auch die Griechen überwin-
den« müssen, weil Sokrates »am Leben gelitten«, mit
einem grundsätzlichen Nein zum Leben gedacht habe
(KSA 3,570; FW 340), und der Geschichte von »Zara-
thustra’s Untergang« (KSA 3,571; FW 342), vom Ab-
stieg des neuen Lehrers zu den Menschen. Der Text
nimmt die Lehre Zarathustras vorweg und heißt »Das
grösste Schwergewicht«:
Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon
in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir
sagte: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und ge-
lebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige
Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran
sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und
jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich
Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wieder-
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 261

kommen, und Alles in der selben Reihe und Folge


– und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht
zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augen-
blick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins
wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr,
Stäubchen vom Staube!« – Würdest du dich nicht
niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und
den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast
du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo
du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott und
nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke
über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du
bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die
Frage bei Allem und Jedem »willst du diess noch
einmal und noch unzählige Male?« würde als das
grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!
Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben
gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als
nach dieser letzten Bestätigung und Besiegelung? –
(KSA 3,570; FW 341)
Hier ist ein Gedankenexperiment formuliert und doch
eine Überlegung, die, ehe man sich’s versieht, unabweis-
bar geworden ist: Sobald die Frage, wie man auf die Mit-
teilung des Dämons reagieren würde, einmal gestellt ist,
kann man sich ihr nicht mehr entziehen; man versteht ja
sofort, daß nach der Einstellung zum eigenen Leben ge-
fragt wird und der Gedanke, jeder Lebensaugenblick
käme genau so, wie man ihn jeweils erlebt, wieder, nur
eine Form dafür bietet, diese Frage zu stellen. Auch, sich
ihr zu verweigern, wäre gleichbedeutend mit einer Ant-
wort: Wer die Vorstellung von der Wiederkunft des Le-
bensaugenblicks nicht will, hat sich auch schon gegen
den Lebensaugenblick selbst entschieden.
262 Leben der Erkenntnis

So hat die Frage – »Wie wäre es, wenn« – ihre eigene


Verbindlichkeit und Erschließungskraft: Einmal gestellt,
bringt sie das Befragte, hier das Leben im ganzen, in den
Blick und nötigt dazu, sich zu ihm zu verhalten. Und
es gehört zur Verbindlichkeit der Frage, daß sie in
der Form eines Gedankenexperimentes formuliert wird:
Würde der Gedanke von der ewigen Wiederkunft be-
hauptet, als Lehre vertreten, könnte man ihn auf der
Stelle bezweifeln und diskutieren; man wäre vom eige-
nen Leben weg zu vermeintlich sachlichen Problemen
gekommen, von der Verbindlichkeit philosophischen
Fragens zu Erörterungen, die einen selber nichts angehn.
Man sieht: nicht nur ein Befehl, auch eine Frage schafft
ihre Situation; auch die Frage, und die philosophische al-
len anderen voran, ist ein »kommandierender Gedanke«,
ein Gedanke, der jemanden, über den er Gewalt be-
kommt, »verwandeln und vielleicht zermalmen« würde,
indem er auf das Leben und Dasein hinwendet und die
Möglichkeit, sich zu diesem zu verhalten, freisetzt – als
ob die Fesseln der alltäglichen Lebensverstricktheit, in
die auch das perspektivische Erkennen gehört, sich ge-
löst hätten.
Dafür, daß es so ist, spricht auch die durch die Frage
eröffnete Situation: Sie ist so offen, daß der Gefragte sie
selbst deuten, gestalten kann, offener als die Situation ei-
nes Befehls je sein könnte: der Befehl bleibt, gleichviel,
ob man ihn ausführt oder verweigert, immer etwas ge-
genüber der Ausführung Selbständiges; er bleibt sich
gleich, während die Frage sich je nach Antwort verwan-
deln kann. Zumindest ist es beim vorliegenden Gedan-
kenexperiment so: Ob der Gedanke der ewigen Wieder-
kunft des Lebens von einem Dämon stammt oder von
einem Gott, wird allein durch die Einstellung des Ge-
fragten entschieden; es hängt davon ab, ob der Gedanke
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 263

»das grösste Schwergewicht« ist oder eine »letzte ewige


Bestätigung und Besiegelung«.
Ähnlich verhält es sich übrigens bei dem Gedankenex-
periment, das Nietzsche als Vorbild gedient haben mag:
Wenn Descartes am Ende seiner ersten Meditation an-
nimmt, alle Dinge der äußeren Welt seien nichts anderes
als Vorspiegelung, wie sie durch Träume bewirkt wird
(externa nihil aliud esse quam ludificationes somni-
orum), so ist das mit der Vorstellung verbunden, ein bö-
ser Geist, der allmächtig und geschickt sei, habe all sei-
nen Fleiß an diese Täuschung gewandt (genium aliquem
malignum eundemque summe potentem et callidum om-
nem suam industriam in eo posuisse, ut me falleret). An-
dernfalls, wenn die Gegebenheit der Außenweltdinge
für den Geist keine Täuschung ist, wäre es angemessen,
den allgütigen Gott als Quelle der Wahrheit (optimum
Deum, fontem veritatis) anzunehmen.11
Aber selbst wenn es ganz beim Gefragten, beim Leser
des Gedankenexperimentes, liegt, welche Antwort, ob
Gott oder Dämon, er geben will, sind die Antworten in
ihrem Stellenwert keineswegs gleichberechtigt. So wie
die Wahrheit der Außenwelterfahrung wie von selbst
aus Gott als ihrer Quelle fließt, während die vollständige
Täuschung in ihrer Widernatürlichkeit die höchste An-
strengung fordert, kann auch die Billigung des Gedan-
kens von der Wiederkunft nur »Bestätigung und Besie-
gelung« sein – im Unterschied zu seiner Ablehnung, mit
der »das grösste Schwergewicht« aufs Leben gelegt wird.
Es ist, wie zu ergänzen wäre, ein Schwergewicht, das
zum Leben nicht eigentlich gehört, sondern auf ihm la-
stet wie Bürde von außen, in einer »Selbstzertheilung«
des Lebensverstehens. Wo hingegen etwas bestätigt und

11 Descartes, Oeuvres VII, 22; Meditationes de prima philosophia I,12.


264 Leben der Erkenntnis

besiegelt wird, darf es nur ausdrücklicher und dadurch


auch mehr sein, was es eigentlich ist. Der Gedanke von
der Wiederkunft des Lebens, so ist damit indirekt ge-
sagt, gehört dem Leben eigentlich zu. Obwohl, zumin-
dest im vorliegenden Text, ein Experiment, ist er kein
dem Leben fremder und unangemessener Gedanke; viel-
mehr eine Lebensdeutung, die, wenn man entsprechend
eingestellt ist, plausibel sein sollte, wie es die Interpreta-
tion eines Kunstwerks sein kann.
Überhaupt spielt die Kunst für die Konzeption des
Gedankens eine entscheidende Rolle. Ihr hat Nietzsche
offenbar die Möglichkeit einer positiven Erfahrung der
Wiederkunft abgelesen und damit dem schon oft be-
dachten Verhältnis von Kunst und Leben wieder eine
neue Facette abgewonnen. Ein Kunstwerk, notiert er
sich einmal, wolle man »immer wieder erleben«; und
dann, dies auf das Leben übertragend: »So soll man sein
Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen
denselben Wunsch hat!« (KSA 9,505; N 1881, 11[165])
Ein kurz darauf festgehaltener Gedanke variiert das. Er
wolle, schreibt Nietzsche hier, »gegen die Kunst der
Kunstwerke eine höhere Kunst lehren: die der Erfin-
dung von Festen« (KSA 9,506; N 1881, 11[170]), von Le-
bensfesten, wie man zu ergänzen hätte: jeder Augenblick
durch das »Immer wieder« zu einer Lebensfeier bekräf-
tigt und besiegelt. Wenn das möglich ist, bedarf es nicht
mehr einer der Kunst abgelernten stilisierenden Abrun-
dung des Lebens.
Während die zitierten Sätze aus der Zeit stammen, in
der Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft
erstmals entwirft, und so mit der Aufzeichnung »6000
Fuss über dem Meere« zusammengehören, läßt sich die
andere, die negative Fassung des Wiederkunftsgedankens
bis in die Zeit von Nietzsches ersten Schriften zurückver-
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 265

folgen. Wieder erweist sich die zweite der Unzeitge-


mäßen Betrachtungen als besonders aufschlußreich. Das
größte Schwergewicht müßte der Wiederkunftsgedanke
schon für zwei hier geschilderte Typen von Menschen
sein, die sonst nicht viel miteinander gemein haben.
Für die »historischen Menschen«, die an die Verände-
rung des Lebens durch die Zeit glauben und hoffen,
»dass der Sinn des Daseins im Verlaufe eines Prozesses
immer mehr ans Licht kommen werde«, müßte der Ge-
danke unerträglich sein, weil er mit ihrem Geschichts-
bild unvereinbar wäre. Fortschrittsüberzeugt, wie sie
sind, würden sie nicht »die letzten zehn oder zwanzig
Jahre noch einmal [. . .] durchleben« (KSA 1,255; HL 1)
wollen; das würde ja nur die Manifestation des für die
Zukunft erwarteten Sinns der Geschichte verzögern.
Anders als sie sind sich die ȟberhistorischen Men-
schen« gewiß, daß »die Welt in jedem einzelnen Augen-
blicke fertig ist und ihr Ende erreicht« hat. »Was«, fragt
Nietzsche in ihrem Namen, »könnten zehn neue Jahre
lehren, was die vergangenen zehn nicht zu lehren ver-
mochten« (KSA 1,255; HL 1), wenn »das Vergangene
und das Gegenwärtige [. . .] Eines und dasselbe« ist,
»nämlich in aller Mannichfaltigkeit typisch gleich und als
Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes
Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher
Bedeutung« (KSA 1,256; HL 1)? Wenn auch diese – für
Nietzsche wohl vor allem durch Jacob Burckhardt re-
präsentierte – Überzeugung schon die Vorstellung einer
Wiederholung der letzten zehn oder zwanzig Jahre un-
erträglich macht – wieviel mehr den Gedanken, »dieses
Leben«, wie man es jetzt lebt und gelebt hat, werde sich
»noch einmal und noch unzählige Male« (KSA 3,570;
FW 341) wiederholen?
Doch man muß weder fortschrittsgläubig noch vom
266 Leben der Erkenntnis

Ekel vor der Einförmigkeit der Welt erfüllt sein, um die


Vorstellung der ewigen Wiederkunft für nahezu uner-
träglich, eben für das größte Schwergewicht zu halten.
Es reicht schon, sich klar zu machen, daß hier gemeint
ist, alles, wirklich alles ereigne sich ohne die geringste
Variation und Abweichung noch einmal: es wird »nichts
Neues« am Leben sein, sondern »alles unsäglich Kleine
und Grosse« soll wiederkommen, »und Alles in der sel-
ben Reihe und Folge«. Das ist anders als die Erfahrung
eines Kunstwerks, wie Nietzsche sie zur Erläuterung der
»ewigen Bestätigung und Besiegelung« des Lebens her-
angezogen hatte: Keine Lektüre, keine Aufführung einer
Musik und keine Betrachtung eines Bildes ist zweimal
wirklich dieselbe; ein Kunstwerk will man »immer wie-
der erleben«, weil es sich so in seinem Reichtum erst
wirklich aufschließt – je größer ein Werk, desto weniger
schöpft man es aus, desto mehr kann es in der Vielfalt
seiner Möglichkeiten erfahren werden. Sofern dies in der
Vorstellung der ewigen Wiederkunft fehlt, ist Nietzsches
Illustration des Gedankens durch die Kunsterfahrung
nicht treffend. Was man sich vorzustellen hat, ist nicht
die bereichernde Wiederholung, sondern eben die bis ins
kleinste Detail genaue und darin sinnlose Wiederkehr –
wie die Lektüre eines Textes wieder und wieder, ohne
daß man etwas anders versteht. Das Gedankenexperi-
ment sagt es ja deutlich genug: »Die ewige Sanduhr des
Daseins wird immer wieder umgedreht.«
Andererseits denkt man bei der spontanen Äußerung
des Wunsches, ein Kunstwerk noch einmal zu erleben,
nicht nur daran, was das Werk möglicherweise noch an
neuen Aspekten zu bieten hat. Vielmehr wird auch das
gegenwärtige oder gerade vergangene Erleben unterstri-
chen; man sagt einfach nur ja zu dem, was man erlebt,
man möchte, es solle ewig dauern, und wenn das schon
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 267

nicht möglich ist, soll es wenigstens noch einmal ge-


schehn. So kann der Wunsch einer Wiederkehr in der Tat
»Bestätigung und Besiegelung« sein – freilich nur dann,
wenn die Vorstellung der Wiederkehr nicht dominiert,
sondern Hinweis ist, Anzeige und Gleichnis einer ewi-
gen, zeitlosen Präsenz.
Dann müßte auch in Nietzsches Gedankenexperiment
mit der Frage, ob man »diess noch einmal und noch un-
zählige Male« wolle, Vergleichbares gemeint sein. Es
ginge vor allem um das, was mit der Vorstellung gemeint
ist, und weniger um das Vorgestellte. Aber weil sich das
eine vom anderen nicht wirklich trennen läßt und nur
die Akzente verschieden gesetzt werden können, steht
einmal die Bejahung des Lebens, des befreienden Wol-
lens, und zum anderen das Vorgestellte, die ewige Wie-
derkehr als ein Geschehen, im Vordergrund – wechsel-
weise, so daß eines ins andere umschlagen kann, Lebens-
bejahung in die sinnlose, weil für sich vorgestellte
Wiederkehr und umgekehrt. Also kommt es darauf
an, den Sinn des Vorstellens immer wieder neu zu ge-
winnen. Die Vorstellung der ewigen Wiederkunft des
Gleichen wäre derart auszutragen, daß man durch das
Vorgestellte zu einer Bestätigung und Besiegelung des
Daseins erst finden müßte: man hätte das Vorgestellte als
das »größte Schwergewicht« auf sich zu nehmen, um es
dann, indem man den Sinn der Vorstellung entdeckt,
abwerfen zu können.
Das wird durch eine seltsame Geschichte belegt, in der
Zarathustra seine Erfahrung mit dem Gedanken der
ewigen Wiederkunft mitteilt. Er erzählt sie »den kühnen
Suchern, Versuchern« und bestimmt sie für jeden, der
»je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere ein-
schiffte« (KSA 4,197; Za III, Vom Gesicht und Räth-
sel 1); es ist also eine Geschichte für jene freien Geister
268 Leben der Erkenntnis

und Philosophen, die sich ins Unendliche hinausgewagt


haben und nun, wie Ödipus vor der Sphinx, aus einem
Rätsel sich selbst erraten sollen.
Was Zarathustra erzählt, ist eine Geschichte über die
Grunderfahrung der Philosophie; es ist wie das Höhlen-
gleichnis der Politeia ein Vorstellungsbild für die Ver-
wandlung der Seele. In heimlicher Korrespondenz zu
der von Sokrates erzählten Geschichte geht es auch hier
aufwärts – zwar nicht durch einen künstlich erleuchteten
unterirdischen Raum, aber durch »leichenfarbne Däm-
merung«, und nicht von einem Befreier geführt, gegen
den Widerstand des ungewohnten Blicks gewaltsam
nach Draußen gezerrt, sondern mit einem Schwerge-
wicht auf der Schulter: »halb Zwerg, halb Maulwurf«,
einer, der »Bleitropfen-Gedanken« ins Hirn träufelt.
Natürlich ist es der »Geist der Schwere«, Zarathustras
»Teufel und Erzfeind«. Er verspottet Zarathustra, den
Selbstüberwinder, den es immer wieder auf sich zurück-
wirft, bis dieser den Mut faßt, ihn zum Kampf zu for-
dern: »Zwerg! Du! Oder ich!« (KSA 4,198; Za III, Vom
Gesicht und Räthsel 1)
Der Kampf geht, wie der zwischen dem Seiltänzer
und seinem Widersacher, auf Leben und Tod und wird
doch nur mit Gedanken und Worten geführt: als philo-
sophischer Disput über Zarathustras »abgründlichen
Gedanken«. Es ist, wie sich schnell zeigt, ein Disput
über die Zeit, und Zarathustra eröffnet ihn so:
Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter:
der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier
zusammen: die gieng noch Niemand zu Ende.
Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit.
Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andre
Ewigkeit.
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 269

Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich


gerade vor den Kopf: – und hier, an diesem Thor-
wege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name
des Thorwegs steht oben geschrieben: »Augen-
blick«.
(KSA 4,199 f.; Za III, Vom Gesicht und Räthsel 2)
Das Bild ist leicht zu verstehen und dennoch ausle-
gungsbedürftig: Die zwei Wege, von denen Zarathustra
spricht, gibt es nur durch den Torweg, genannt »Augen-
blick«; ohne ihn führte nur ein Weg hinauf oder hinab,
und man könnte sich vorstellen, ihn weiter, immer wei-
ter zu gehen. Das ändert sich jedoch mit dem ersten In-
nehalten: es ist wie eine Markierung – jetzt ist man hier,
an einem bestimmten Ort, und schaut voraus und zu-
rück. Das ist nur mit dem Innehalten möglich gewor-
den; eine Gegenwart, die weder Vergangenheit ist noch
Zukunft, sondern Zäsur, Zeitmarke, eröffnet beide. Jetzt
erst gibt es das, was wir unter »Zeit« verstehen, wäh-
rend es zuvor nur ein ungegliedertes, bewußtloses Flie-
ßen gab.
Jeder der beiden Zeitwege kann nun beliebig durch-
messen werden; jeder währt »eine Ewigkeit« – er ist un-
endlich, und wie sollte es anders sein? Das Ende eines
Zeitwegs könnte man sich ja nur als ein Innehalten vor-
stellen; man schritte in Gedanken die ganze Zukunft, die
ganze Vergangenheit aus, bis man stehen bleiben müßte,
um zu sagen, hier käme nichts mehr. Aber wie sollte es
möglich sein, sich den Weg nicht immer noch weiter zu
denken, auch dann, wenn er sich hinter und vor uns im
Dunkel verliert? Mit jeder Markierung hat man etwas
Neues vor sich. Das Problem konnte Nietzsche aus
Kants Erörterung der ersten Antinomie der reinen Ver-
nunft (KrV, B 454–461) bekannt sein: Solange man in
270 Leben der Erkenntnis

der Zeit ist, hat die Zeit als solche nie ein Ende; es gibt
unendlich viel Zeit – eine Ewigkeit und eine andere.
Auch dies, daß es zwei Ewigkeiten gibt, wird sich
nicht ändern, solange man in der Zeit ist. Ohne die Un-
terscheidung der zwei Ewigkeiten gäbe es keine Zeit,
wenn diese erst durch das Innehalten im Augenblick er-
öffnet wird: Das Innehalten am Torweg »Augenblick«
unterscheidet ja die beiden Zeitwege. Natürlich kann
man zurückschauen und sich vorstellen, wie ein Stück
von dem, was nun Vergangenheit ist, einmal Zukunft
war; man kann vorausschauen und sich denken, wie das
Vorausliegende einmal Vergangenheit sein wird. Aber
daran zeigt sich nur, daß keiner der beiden Wege ohne
den andern zu erfahren ist. Jeden von ihnen, und dann
auch jeden seiner Abschnitte, versteht man nur aus ihm
selbst und seinem Gegenteil. Daß sie einander »wider-
sprechen«, läßt sie sein, was sie sind.
So denkt man in der Zeit und solange man in der Zeit
ist. Entsprechend geht es über die Zeitvorstellung hin-
aus, wenn Zarathustra nun den zwergenhaften Geist der
Schwere fragt, ob die »beiden Wege sich ewig wider-
sprechen«. Die Antwort kommt sofort: »Alles Gerade
lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit
ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.« (KSA 4,200;
Za III, Vom Gesicht und Räthsel 2)
Die Antwort kommt, als ob die Frage zu leicht gewe-
sen wäre. Obwohl sie in ihrer Kürze rätselhaft scheinen
mag, wirkt der Gedanke des Zwergs im ersten Moment
tiefer und anspruchsvoller, als er eigentlich ist. Er besagt
ganz schlicht, daß nichts so sei, wie es erscheine: gerade
Linien gibt es nicht, alles, was wir als »gerade« verste-
hen, ist es in Wahrheit nicht, so daß die vermeintliche
Wahrheit, es sei gerade, selbst als »krumm« erscheint. So
hatte Nietzsche selbst argumentiert, schon in Menschli-
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 271

ches, Allzumenschliches I: Die Logik, heißt es hier, be-


ruhe »auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirkli-
chen Welt« entspreche (KSA 2,31; MA I,11). Man denke
auch an die Überlegungen zum »Ursprung der Erkennt-
niss« und zur »Herkunft des Logischen« in der Fröhli-
chen Wissenschaft (KSA 3,469–472; FW 110,111).
Nietzsches Gedanke wird nun vom Geist der Schwere
auf die Zeit bezogen: Wenn nichts so ist, wie es er-
scheint, können sich auch die zwei Ewigkeiten, Vergan-
genheit und Zukunft, nicht »ewig widersprechen« – nur
dadurch, daß wir innehielten, eine Zeitmarke setzten, ist
die Unterscheidung zustande gekommen. Dadurch, daß
wir vor- und zurückblicken, unterscheiden wir zwei
Formen der Zeit, und es ist auch unser zeitliches Erfah-
ren von etwas und wieder etwas, das uns zu der Über-
zeugung führt, die Zeit ginge in jeder Richtung weiter
und weiter. Wenn aber die Vorstellung zweier ewig in
verschiedene Richtungen führender Wege falsch ist, folgt
die Antwort in der Tat von selbst, denn es gibt nur eine
Alternative: die Zeit ist selber ein Kreis.
Zarathustra konnte mit der Antwort des Zwergs also
rechnen und scheint mir ihr auch gerechnet zu haben.
Denn er widerspricht dem Zwerg nicht, sondern droht
ihm, so leicht solle er es sich nicht machen – »Oder ich
lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuss – und ich
trug dich hoch!« (KSA 4,200; Za III, Vom Gesicht und
Räthsel 2) Anders als der Seiltänzer der Vorrede fürchtet
Zarathustra den Geist der Schwere nicht: Er hat ihn an-
genommen, er trug ihn – wie ein Kamel – den Berg hin-
auf, und er weiß, daß der Geist der Schwere nur wirkt,
wo ein Gewicht als zuviel, als zu schwer empfunden
wird und man selbst, wie ein Seiltänzer, nur leicht sein,
die Schwerkraft überlisten will. Wenn man hingegen
das größte Schwergewicht trägt, verliert der Geist der
272 Leben der Erkenntnis

Schwere seine Gewalt und macht es sich leicht: Nicht


darauf, daß die Zeit ein Kreis ist, kommt es an, sondern
auf die Unendlichkeit der Kreisbahn und darauf, was in
der unendlichen Zeit geschieht. Erst damit ist die eigent-
liche Schwere genannt. Wenn man sie auf sich zu neh-
men vermag, ist man wie ein Löwe – stark genug, gegen
den Geist der Schwere zu kämpfen.
»Siehe [. . .] diesen Augenblick!« sagt Zarathustra: »Von
diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige
Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit.« Und
dann das Entscheidende:
Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen,
schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muss
nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon
einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein?
Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du
Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser
Thorweg nicht schon – dagewesen sein?
Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge ver-
knotet, dass dieser Augenblick alle kommenden
Dinge nach sich zieht? Also – – sich selber noch?
Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in
dieser langen Gasse hinaus – muss es einmal noch
laufen! –
Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine
kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und
du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen
Dingen flüsternd – müssen wir nicht Alle schon da-
gewesen sein?
– und wiederkommen und in jener anderen Gasse
laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen
Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen? –
(KSA 4,200; Za III, Vom Gesicht und Räthsel 2)
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 273

Auch dies, wie der Text vom größten Schwergewicht,


ist als Frage artikuliert; und wie anders sollte es sich
auch artikulieren lassen? Die Vorstellung des ewigen
Wiederkommens, wie Zarathustra sie hier entwickelt, ist
ja auch Gedankenexperiment, nicht in Erfahrung über-
setzbar. Wie sollten wir wissen, ob wie alles so auch
diese Situation wiederkommt? Wir müßten uns jetzt
daran erinnern, so daß die Erinnerung zum Wiederkom-
menden gehören würde, und das ist offensichtlich nicht
der Fall. Obwohl die Vorstellung sich auf »alles und je-
des« bezieht, ist sie an nichts Bestimmtem zu konkreti-
sieren. Aber gerade so setzt sie eine Erfahrung des Le-
bens im ganzen frei. Hier geht es um das Sein von Leben
und Welt und darum, wie es ist, dieses Sein zu verlieren.
Das fängt mit einer schon vertrauten und harmlos er-
scheinenden Vorstellung an: mit der Vorstellung der un-
endlichen Zeit im Bild der zwei Wege. Aber dann wird
der Augenblick, die Zäsur und Zeitmarke, selbst in die
Zeit gestellt: So kann er gewesen und zukünftig sein.
Und wenn das Gewesene immer wiederkommt, das
Zukünftige immer auch schon gewesen ist, unendliche
Male, gilt das auch für »diesen Augenblick«. Er hat dann
seine Rolle als Zäsur und Zeitmarke verloren und läuft
in der Zeit – »in dieser langen schaurigen Gasse«.
Man kann sich leicht klarmachen, warum die Vorstel-
lung schaurig ist und Zarathustra sich, wie er unmittel-
bar anschließend sagt, vor seinen »eigenen Gedanken
und Hintergedanken« (KSA 4,201; Za III, Vom Gesicht
und Räthsel 2) fürchtet: Die Verzeitlichung des Augen-
blicks ist gleichbedeutend mit dem Verlust der eigenen
Gegenwart – und letztlich jeder Gegenwart, da jede vor-
stellbare Zeitmarke in der verabsolutierten Zeit ver-
schwindet. Die Gegenwart des eigenen Lebens wird zu
einem Geschehen, das man wie von außen betrachtet,
274 Leben der Erkenntnis

ohne noch sagen zu können von woher. So geht die Zeit


selbst verloren, zumindest als erfahrbare und erfahrene
Zeit, und auch das Geschehen läßt sich nicht mehr vor-
stellen, nachdem die Zeit es verschlungen hat. Die Vor-
stellung ist wie ein Zerren in die reine Äußerlichkeit, aus
der es zudem keine Erlösung gibt. Weil jedes Geschehnis
»ewig wiederkommen« wird, ist man eingesperrt in die
ewig sinnlose Äußerlichkeit des Werdens.
Hier versickert der Disput über die Zeit, wie Zarathu-
stra ihn mit dem Geist der Schwere geführt hatte. Zara-
thustra redet »immer leiser« (KSA 4,200; Za III, Vom
Gesicht und Räthsel 2) und verstummt schließlich ganz;
er fürchtet sich ja vor seinen Gedanken und Hinter-
gedanken, und für diese Furcht gibt es keinen Begriff
mehr, sondern nur noch ein Bild: das »Gesicht und
Räthsel«, eine Vision äußersten Grauens, weder eindeu-
tig Traum noch eindeutig Wachen. Zarathustra sieht
einen Menschen am Boden liegen, »sich windend, wür-
gend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze
schwere Schlange aus dem Munde hieng«. Der Riesen-
wurm des Werdens ist ihm in den Schlund gekrochen,
als er sich allzusehr auf seine Vorstellung einließ. Da
gibt es nur eine Rettung: »Beiss zu! Beiss zu!« schreit
Zarathustra (KSA 4,201; Za III, Vom Gesicht und Räth-
sel 2), und der Hirt folgt seinem Rat. Er befreit sich von
der Erstickung durch das Werden, indem er die Zeit
unterbricht; er findet im befreienden Wollen den Augen-
blick wieder und ist nun »nicht mehr Hirt, nicht mehr
Mensch«, sondern »ein Verwandelter, ein Umleuchteter,
welcher lachte!« – »Niemals noch auf Erden lachte je ein
Mensch, wie er lachte!« (KSA 4,202; Za III, Vom Gesicht
und Räthsel 2) Kein Mensch mehr, sondern Über-
mensch: einer, der die Freiheit zum Sein findet und dazu,
die Gegenwart seines Lebens dem Werden aufzuprägen;
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 275

einer, für den das Werden nichts äußerlich Vorgestelltes


mehr ist, sondern in die Gegenwart seines, des umfassen-
den Seins gehört. Alles, was geschieht und geschehen
kann, spielt sich nun in der Macht eines Gedankens ab, der
sich mit dem Ganzen »identificirt« (KSA 5,33; JGB 19).
Wenn das der Sinn der Geschichte »Vom Gesicht
und Räthsel« ist, läßt sich nun auch der Sinn des
Wiederkunftsgedankens verstehen – unabhängig davon,
ob dieser Gedanke plausibel, gar beweisbar ist oder
nicht: Die Vorstellung des Werdens unter dem Ge-
sichtspunkt der ewigen Wiederkunft ist die Bedingung
für die Möglichkeit einer »Identifikation« mit ihm. Das
Werden muß ja geschlossen sein, wie ein Kreis, wie die
wohlgerundete Kugel des Seins im Lehrgedicht des Par-
menides,12 damit es als Ganzes zum Sein werden kann,
und eben diese Geschlossenheit wird mit dem Wieder-
kunftsgedanken formuliert. »Jede andere Vorstellung«,
schreibt Nietzsche in einer späten Aufzeichnung, »bleibt
unbestimmt und folglich unbrauchbar« (KSA 13,376;
N 1888, 14[188]). Sie fügt sich nicht zu einem Ganzen.
Also hat man das Werden als eine »bestimmte Größe
von Kraft« zu denken und eine »bestimmte Zahl von
Kraftzentren« anzunehmen, so daß die Welt »eine bere-
chenbare Zahl von Combinationen, im großen Würfel-
spiel ihres Daseins, durchzumachen hat« (KSA 13,376;
N 1888, 14[188]). Diese Annahme wird durch die An-
nahme einer unendlichen Zeit gestützt – davon ist
Nietzsche schon zu Anfang seiner Beschäftigung mit
dem Wiederkunftsgedanken überzeugt. So notiert er
sich schon im Zusammenhang der Aufzeichnung »6000
Fuss über dem Meere«: »Wenn nicht alle Möglichkeiten
in der Ordnung und Relation der Kräfte bereits er-

12 Parmenides, Fragment B 8, Vers 43; Diels/Kranz I,238.


276 Leben der Erkenntnis

schöpft wären, so wäre noch keine Unendlichkeit ver-


flossen. Weil dies aber sein muß, so giebt es keine neuen
Möglichkeiten mehr und alles muß schon dagewesen
sein, unzählige Male.« (KSA 9,500; N 1881, 11[152])13
Unendliche Zeit und endliche Möglichkeiten: beides
macht die Welt zu einem ewigen Spiel, bei dem sich das
Werden so weit wie nur möglich dem Sein angenähert
hat und sich das Sein in der Vorstellung des Werdens
darstellen läßt. Das unaufhörliche – »ewige« – Wieder-
kehren ist nicht zeitlos, wie es das wahrhaft Ewige wäre,
sondern nur, wie Nietzsche mit der Formel sagt, die im
Platonischen Timaios das Wesen der Zeit benennt, »Ab-
bild der Ewigkeit« (KSA 9,503; N 1881, 11[159]).14
Aber damit ist auch gesagt, daß Zeit und Zeitlosigkeit,
Werden und Sein hier nicht zur Deckung kommen. Im
Gegenteil, um sie aufeinander zu beziehen, hat man sie
radikal voneinander zu unterscheiden: Das Werden be-
kommt ja Seinscharakter nicht ohne den Gedanken einer
unendlichen Zeit, während das eigene Sein im – unzeitli-
chen – Augenblick ist; der Seinscharakter des Werdens
ist von einer Vorstellung abhängig, die das eigene Sein
verschwinden läßt, und entsprechend gewinnt man das
eigene Sein nur wieder, indem man sich von dieser Vor-
stellung befreit. Weil Augenblick und unendliche Zeit
sich nicht gleichsetzen lassen, bleibt auch die Darstellung
des Werdens als Sein fragil; man kann sie nicht festhal-
ten, ohne dasjenige, wofür man sie festhalten will, das ei-
gene Sein, zu verlieren.
Also ist der Gedanke von der ewigen Wiederkunft
keine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Sein
der Seele; dieses Sein gibt es nicht, es läßt sich nur dar-
13 Für die Frage nach der »Beweisbarkeit« dieses Gedankens besonders
interessant ist immer noch Becker (1936), vgl. auch Abel (1984).
14 Zur Deutung der Platonischen Formel vgl. Figal (1992).
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 277

stellen – auf prekäre, in sich strittige Weise. Und ent-


sprechend dürfte auch kein Leben der Erkenntnis mög-
lich sein, das ganz durch den Wiederkunftsgedanken
geprägt wäre. Das Leben der Erkenntnis bleibt dichteri-
scher Entwurf, ein »Gesicht und Räthsel« für freie Gei-
ster, ein Gleichnis und eine Geschichte, die nur für den
Austrag des Streites von Sein und Werden, von Augen-
blick und Zeit steht und nicht für deren Versöhnung.
Zarathustra scheint das zu wissen, wenn er, die Naivi-
tät seiner Tiere belächelnd, deren muntere Version des
Wiederkunftsgedankens »ein Leier-Lied« nennt, gesun-
gen von »Schalks-Narren und Drehorgeln« (KSA 4,273;
Za III, Der Genesende 2), ein Lied, das sich in die
schöne Vorstellung vom »Ring des Seins«, von einer in
sich geschlossenen, sinnvollen Welt, der wohlgerundeten
Kugel, hineinlügen kann, weil die Erfahrung des »Ge-
sichts und Räthsels« nicht mehr präsent ist. Der Wieder-
kunftsgedanke führt nicht zur Erfahrung eines Kosmos
zurück.15
Dann aber läßt sich auch die Grunderfahrung der
»freien Geister« nicht durch ihn revidieren, und von hier
aus betrachtet, ist es bedeutsam, daß Nietzsche seine
prägnanteste Formulierung für die Unendlichkeit der
Welt nach dem Zarathustra, im fünften Buch der Fröhli-
chen Wissenschaft, findet. Daß uns die Welt »noch ein-
mal« unendlich geworden ist, darf nun auch auf den
Lehrer der ewigen Wiederkunft bezogen werden –
»noch einmal«, nach dem Entwurf eines Lebens der Er-
kenntnis, ist uns »freien Geistern« die Unendlichkeit der
Interpretationen klar geworden: Die Welt ist mehr als
das, was wir kennen oder uns vorstellen mögen, mehr
15 Das hat Karl Löwith deutlich gesehen, aber als eine unreflektierte
Aporie von Nietzsches Denken verstanden. Vgl. Löwith (1935), bes.
S. 255 f.
278 Leben der Erkenntnis

als die von uns »kosmisch« empfundene Welt. Sie ent-


zieht sich noch dem »übermenschlichen« Versuch, ihr als
dem Werdenden das Sein aufzuprägen. Wo dieser Ver-
such unternommen wird, gehört er ins Geschehen des
Lebens, das derart über jedes Sein hinaus ist und es an
Würde und Macht noch überragt.
Was hier in Orientierung an den – schon einmal ge-
nannten – Worten formuliert ist, die der Platonische So-
krates zur Charakterisierung der Idee des Guten findet
(Resp. 509b), ist von Nietzsche, im zweideutigen Spiel
einer sich durchstreichenden Theologie, mit dem Namen
des Dionysos benannt worden.16 Der Aphorismus 374
der Fröhlichen Wissenschaft bereitet, ohne daß der Name
fällt, die entscheidende Überlegung vor. Wir erinnern
uns: Ob wohl jemand Lust haben könnte, »dieses Unge-
heure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort
wieder zu vergöttlichen«, hatte Nietzsche hier gefragt
und im Sinne einer Antwort auf die »zu vielen ungött-
lichen Möglichkeiten der Interpretation« hingewiesen,
die in dieser Welt enthalten seien (KSA 3,627; FW 374).
Man weiß, daß der Einwand nur zutrifft, wenn das
Göttliche in der »Verkleidung« des Gegensatzes er-
scheint und sich so von allem Menschlichen unterschei-
det (KSA 5,57; JGB 40); wenn das Göttliche derart jen-
seits des Menschlichen ist, daß man nach ihm nicht mehr
fragen kann, wie nach der – apollinischen – Idee des Gu-
ten gefragt werden konnte, sondern es vorstellen muß
und dabei seine Jenseitigkeit durch die Anpassung an
eigene, »diesseitige« Vorstellungsweisen erkauft.
Derart ist Nietzsches Dionysos nicht, und also hat
man hier auch nicht mit der Geburt oder Wiedergeburt

16 Dazu sind immer noch am aufschlußreichsten: Reinhardt (1935) und


Strauss (1983); vgl. auch Figal (1994).
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 279

eines Gottes aus dem Geiste der Altertumswissenschaft


zu tun. Dionysos ist keine vorstellbare Gestalt, sondern
der Gott, der sich als solcher entzieht, der »grosse Zwei-
deutige« (KSA 5,238; JGB 295), ein philosophierender
Gott, der wie Eros, der Dämon der Philosophie im Pla-
tonischen Symposion, in der Mitte zwischen Weisheit
und Unwissen steht (Symp. 203e–204a) – zwischen dem
Menschlichen und dem, was des Menschen Maß über-
steigt. Dionysos ist ein Name für den Schritt über die
Grenze zum Unbegrenzten, umgekehrt für den Schritt
vom Werden zum Sein; ein Name für das Geschehen der
Lebendigkeit oder Seele mithin, für das Spiel des Unter-
schiedenen, das sich in keine einfache Bestimmung zu-
rücknehmen läßt: die Seele ist immer schon über das
Sein und über das Werden hinaus. Darum hat Nietzsche,
gegen eine auf den Gedanken des Seins fixierte Tradi-
tion, »Psychologe« sein wollen, wie es Platon vor ihm
gewesen ist.
Verzeichnis der Siglen

1. Nietzsche

KSA Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg.


von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Mün-
chen; Berlin / New York 21988.
KSB Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hrsg.
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Mün-
chen; Berlin / New York 1975–1984.
EH Ecce homo. Wie man wird, was man ist (entstanden
1888/89; ersch. 1908)
FW Die fröhliche Wissenschaft (1882, 21887)
GM Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887)
GMD Das griechische Musikdrama (1870)
GT Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
(1872, 21874)
HL Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom
Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
(1874)
JGB Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philoso-
phie der Zukunft (1886)
M Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vor-
urtheile (1881, 21887)
MA I, II Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie
Geister (I, 1878, 21886; II, 1879, 21886)
N Nachlaß
PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
(1873)
282 Verzeichnis der Siglen

WB Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück: Richard


Wagner in Bayreuth (1876)
WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne (1873)
WS Der Wanderer und sein Schatten (1880)
Za I–III Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Kei-
nen (1883–85, 21887)

2. Platon

Apol. Apologie des Phaidr. Phaidros


Sokrates Phileb. Philebos
Gorg. Gorgias Pol. Politikos
Men. Menon Resp. Politeia
Nom. Nomoi Soph. Sophistes
Phaid. Phaidon Symp. Symposion

3. Kant

GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten


KrV Kritik der reinen Vernunft
KU Kritik der Urteilskraft
Prol. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik,
die als Wissenschaft wird auftreten können
Verzeichnis der Siglen 283

4. Schopenhauer

SW Sämtliche Werke. Textkrit. bearb. und hrsg. von


Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Stuttgart / Frank-
furt a. M. 1961.
WWV Die Welt als Wille und Vorstellung
Verzeichnis der zitierten Literatur

Werke

Jacob Burckhardt: Gesammelte Werke. Basel/Stuttgart 1978.


[René Descartes:] Œuvres de Descartes. Publiées par Charles
Adam et Paul Tannery. Paris 1897–1910.
Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in
14 Bänden. Hamburg 81966.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage
der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Hrsg. von
Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.
1969–71.
Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm
Weischedel. Darmstadt 1956–64.
Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften. Darm-
stadt 1965–89.
Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg.
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin / New
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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus-
gabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
München; Berlin / New York 21988.
Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften. Hrsg. von Hans Joachim
Mette [u. a.]. München 1994. [Reprogr. Nachdr. der Ausgabe:
Friedrich Nietzsches Werke und Briefe. Hist.-krit. Gesamt-
ausgabe. Werke, nach fünf Bänden abgebrochen.]
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienaus-
gabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
München; Berlin / New York 1975–84.
Platonis Opera (Tomus I–V). Recognovit brevique adnotatione
critica instruxit Ionnes Burnet. Oxford 1900 [u. ö.].
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in 6 Bänden. Frankfurt a. M. 1985.
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke
und Herbert G. Göpfert. München 81987.
Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Textkrit. bearb. und
hrsg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Stuttgart / Frank-
furt a. M. 1961.
Baruch de Spinoza: Opera – Werke. Lat. und dt. 2 Bde. Darm-
stadt 1978–79.
Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 3.
Leipzig 1872.
Die Fragmente der Vorsokratiker. Hrsg. von Walther Kranz.
Übers. von Hermann Diels. Zürich 171974. [Unveränd.
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Zum Autor

Günter Figal, Jahrgang 1949, studierte in Heidelberg


Philosophie (bei Hans-Georg Gadamer, Dieter Henrich,
Michael Theunissen und Ernst Tugendhat). Er wurde
1976 promoviert und habilitierte sich 1987. Seit 1989 ist
er Professor für Philosophie an der Universität Tübin-
gen, seit 1992 Mitherausgeber der Internationalen Zeit-
schrift für Philosophie. Er hat u. a. folgende Bücher ver-
öffentlicht: Theodor W. Adorno. Das Naturschöne als
spekulative Gedankenfigur (1977), Martin Heidegger.
Phänomenologie der Freiheit (1988, 21991), Das Untier
und die Liebe. Sieben platonische Essays (1991), Heideg-
ger zur Einführung (1992, 21996), Für eine Philosophie
von Freiheit und Streit. Politik – Ästhetik – Metaphysik
(1994), Sokrates (1995, 21998), Der Sinn des Verstehens.
Beiträge zur hermeneutischen Philosophie (1997).

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