Nietzsche
Eine philosophische Einführung
Reclam
Figal · Nietzsche
Günter Figal
Nietzsche
Eine philosophische Einführung
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. Von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Seismographie . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2. Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3. Positionsbestimmungen . . . . . . . . . . 33
1. Seismographie
11 Lukács (1988).
16 Von außen
2. Biographie
23 Andreas-Salomé (1894).
28 Von außen
und sich von ihm »Peter Gast« nennen ließ, gehört noch
dazu. Doch bleibt Nietzsche nach der Niederlegung sei-
ner Professur meist für sich, lebt allein in bescheidenen
Pensionen, in Sils-Maria und am Mittelmeer. Und vor
allem hat er nie bis auf einmal den Eindruck, daß ihn je-
mand versteht; die Ausnahme ist Lou Salomé, mit der
Nietzsche 1882 einige Wochen intensiven geistigen Aus-
tauschs verbringt, zunächst am Gardasee und in Luzern,
dann in Tautenburg, einem Dorf in der Nähe von Wei-
mar; daß Lou Salomé seinen Heiratsantrag ablehnt, hat
der Freundschaft viel weniger geschadet als die Intrigen
von Nietzsches Schwester. Doch grundsätzlich fühlt sich
Nietzsche allein, was die Bedeutung des Schreibens für
ihn steigert. Um als Denker präsent zu sein, muß er sich
schriftlich präsentieren; und entsprechend trägt er die
Qual, sich unverstanden zu sehen, immer mehr in seine
Schriften hinein. »Hat man mich verstanden?« – ein
Leitmotiv besonders des Ecce homo.
»Leben als Literatur« – mit dieser Formel hat Alexan-
der Nehamas den skizzierten Zusammenhang gefaßt
und als Grundzug von Nietzsches Leben und Schrei-
ben überhaupt verstehen wollen.24 Nietzsches Texte, so
meint Nehamas, beschrieben nichts, sondern exempli-
fizierten »vorzüglich ausgearbeitet und detailiert den
Idealfall seiner Idealgestalt«. Und das wiederum sei
»niemand anderes als die Gestalt, die eben diese Texte
darstellen: Nietzsche selbst« (S. 297). Nietzsche habe aus
sich selbst in seinen Schriften »eine literarische Gestalt
gemacht«, wie Goethe habe er sich selbst geschaffen
(S. 298). Seine »große Neuerung« bestehe jedoch darin,
»dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß er sagte, sich
3. Positionsbestimmungen
dem Jahr 1873.31 Auf die Frage, was die Wahrheit sei,
antwortet Nietzsche hier, sie sei
ein bewegliches Heer von Metaphern, Metony-
mien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rheto-
risch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden,
und die nach langem Gebrauche einem Volke fest,
canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten
sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass
sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und
sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr
Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr
als Münzen in Betracht kommen.
(KSA 1,880 f.; WL 1)
Aber folgt daraus, daß es nur die Sprache und ihre
Verschiebungen gibt, ihre Effekte und Suggestionen,
und nichts, was sich als Gedanke festhalten ließe? Der-
rida würde diese Konsequenz ziehen: Einzelne Sätze,
ganze Passagen in Nietzsches Schriften mögen »lesbar«,
zugänglich sein – es wird trotzdem keine Möglichkeit
geben, sie konsistent zu interpretieren, weil der Zusam-
menhang jedes einzelnen Satzes, jeder Passage sich nicht
eingrenzen und also nicht bestimmen läßt. Im Grunde
ist jeder Satz in Nietzsches Schriften so an der Oberflä-
che verständlich und so unklar zugleich wie der von
Derrida als Beispiel zitierte: »Ich habe meinen Regen-
schirm vergessen«.32
so kann sie eine ruhige Weile sein, die sich aus der Un-
ruhe des Werdens-Vergehens heraushebt. Und am Le-
ben des Tiers hat sich noch ein anderer Vorteil der Ge-
schlossenheit gezeigt. Es lebt, wie Nietzsche sagt, »bei-
nahe innerhalb eines punktartigen Horizontes [. . .] und
doch in einem gewissen Glücke«. Also, fährt Nietzsche
fort, werde man die Geschlossenheit des Lebens »für die
wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern
in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst
etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft
Menschliches wachsen kann« (KSA 1,252; HL 1). Weil
hier vom Werden und Vergehen, vom Wechsel des Le-
bens in der Zeit abgesehen wird, nennt Nietzsche die
Gegenwart des Lebenshorizontes auch »das Unhistori-
sche« und sagt von ihm, es sei »einer umhüllenden At-
mosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um
mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu ver-
schwinden« (KSA 1,252; HL 1).
Auch hier fällt wieder auf, daß nicht von einem
schlichten Bestehen, einem Sein und nur Sein in der Ge-
genwart die Rede ist, sondern davon, daß sich das Leben
in ihr »erzeuge«. Schon vorher war als die problemati-
sche Seite übermäßiger Differenzierung und Gerechtig-
keit genannt worden, daß man sich nicht wieder »zum
derben Wollen und Begehren herauswinden« könne.
Gegenwärtigsein heißt: das Leben im Werden – wollend,
begehrend – vollziehen. Das Leben widerspricht sich,
indem es das Sein als Sein des Werdens erweist.
Andererseits hängt das Wollen-können nicht allein
von der Geschlossenheit der Gegenwart ab. Wo das Le-
ben nichts sein möchte als gegenwärtig und nur zugelas-
sen wird, was man schon kennt; wo sich das Leben
genug ist, und wo nur gilt, was man sich vollständig an-
geeignet hat, droht die Erstarrung: Es gibt, was die Voll-
62 Zeit und Sein und Kunst
3. »Kunstwelten«
als Einheit von Wort- und Tonkunst das Vorbild für das
»Kunstwerk der Zukunft«, die Aufmerksamkeit eines
Philologen erregte. »Wir können bei einigem Nachden-
ken in unsrer Kunst keinen Schritt tun, ohne auf den Zu-
sammenhang derselben mit der Kunst der Griechen zu
treffen«9 – dieser Satz aus Wagners programmatischer
Schrift Die Kunst und die Revolution (1849) fand in
Nietzsche einen aufmerksamen Leser, der das künstleri-
sche Programm philologisch und philosophisch begrün-
den wollte.
Zum ersten Mal tritt er damit im Jahr 1870 an die Öf-
fentlichkeit. Nietzsche hält in Basel einen Vortrag, des-
sen zentraler Gedanke schon aus dem Titel spricht: Das
griechische Musikdrama. Hier sollte gezeigt werden, daß
wir uns nur angemessen vorstellen können, was die grie-
chische Tragödie gewesen ist, »wenn wir die Oper uns
einmal in kräftiger phantasiereicher Stunde so idealisirt
vor die Seele führen, daß uns eben die Anschauung des
antiken Musikdrama’s sich erschließt«. Dann zeigt sich,
wie sehr wir die Tragödiendichter mißkennen, wenn wir
sie nur als »Textbuchdichter, als Librettisten« verstehen
(KSA 1,517). Eine nachgelassene Aufzeichnung aus der
Vorbereitungszeit des Vortrags verrät, was »Aeschylus
Sophocles Euripides« eigentlich gewesen sind: »Opern-
componisten« (KSA 7,9; N 1869, 1[1]).
Das Buch über die Geburt der Tragödie ist allerdings
nicht bloß der Versuch einer philologisch-philosophi-
schen Wagner-Apologie. Vielmehr geht es darum, hinter
die Formen und Ausprägungen der abendländischen
Kultur zurückzufragen und deren Ursprünge zu klären.
Dafür ist die griechische Tragödie ein Modell: Hier fin-
det sich unverstellt, ohne Verkürzung oder Verdrängung
was hat das außer dem Namen des Satyrs mit dionysi-
schen Festen gemein?
Andererseits ist es bei näherem Hinsehen möglich, die
von Nietzsche beschriebene Struktur der dionysischen
Erfahrung unter den Bedingungen der Zivilisation in
Schillers Charakterisierungen wiederzufinden; und auch
hier, wie im Hinblick auf Schopenhauer, fällt auf, wie
Nietzsche ganz unbekümmert seine Vorlage umdeutet:
Daß die Natur, die im Dionysischen erfahren wird, bloß
gebrochen erscheint, so daß man es mit »zwei streiten-
den Empfindungen« zu tun hat, heißt für Nietzsche ge-
rade nicht, sie sei zur »Idee« geworden. Es geht nicht
um die bloße Vorstellung von etwas Verlorenem, das
sich nicht mehr erfahren läßt, sondern um die vermit-
telte Unmittelbarkeit des dionysischen Erlebens. Es ist
zur Kunst, zu Musik geworden, wobei Nietzsche an die
Form dithyrambischer Chorlyrik denkt; an Vollzugs-
kunst auf jeden Fall, die in ihrem Vollzug so distanzlos
ist, wie es das dionysische Erleben in seiner schlichten
Unmittelbarkeit gewesen war, und trotzdem nicht ein-
fach Leben, sondern eben vermittelte Unmittelbarkeit,
oder wie man auch sagen kann: Darstellung.
Nun versucht Nietzsche, diesen Darstellungscharakter
der dionysischen Kunst genauer zu fassen, und führt
dazu den Begriff des Symbols ein:
Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur
höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fä-
higkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt
sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers
der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja
der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur sym-
bolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist
nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht
»Vermittelung des menschlichen Künstlers« 85
mehr, als die Bilder von sich aus zeigen wollen. So ist
dem Betrachter, wie Nietzsche sagt, klar, daß die apol-
linische Kunst »immer erst ein Titanenreich zu stür-
zen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräfti-
ge Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über
eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbar-
ste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss« (KSA
1,37; GT 3). Natürlich ist hier die Erfahrung des souve-
ränen Werdens und Vergehens gemeint, vor allem die
des Vergehens. Was durch die apollinische Kunst besiegt
wird, illustriert Nietzsche dann an jener Geschichte vom
gefangenen Silen, aus der man seine eigene Grunderfah-
rung herauslesen konnte.
Apollinische Kunst ist, so betrachtet, Vergessen – des-
halb kann sie auch für jemanden, der das Vergessene
kennt, naiv sein. Aber sie ist ein Vergessen besonderer
Art, jener Art, wie sie schon in der »Dichtung des Le-
bens« begegnete: Das Leben gerät nicht einfach aus dem
Blick, sondern wird in bestimmtem Licht, in bestimm-
ter Einfärbung gesehen: Wenn der apollinische Künstler
seine Bilderwelt wie einen Traum durchschaue und »wei-
ter träumen« wolle, müsse er, wie Nietzsche sagt, »den
Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig verges-
sen haben« (KSA 1,38; GT 4). Hier kommt es auf die
»Zudringlichkeit« des Tages an – sie, nicht der Tag als sol-
cher und damit der Gegensatz von Tag und Traum ist ver-
gessen. Im Gegenteil entspringt mit der »inneren Lust am
Schauen« die beglückende Erfahrung, daß die Vergeblich-
keit des Lebens nicht mehr berührt; der Schmerz der Ver-
gänglichkeit ist »vergessen« und scheint überwunden,
nicht diese selbst. Die apollinische Kunst braucht das,
wovon sie sich abstößt, damit sie als Schein um so klarer
hervortreten kann.
Nietzsche erläutert und veranschaulicht diesen Ge-
90 Zeit und Sein und Kunst
Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Was hier ar-
tikuliert wird, ist keine Verabschiedung der Philosophie,
auch nicht ihre Zurückführung auf Kunst und Literatur,
sondern ein philosophisches Programm. Nietzsche hält,
wie sich zeigen wird, an der traditionellen Bestimmung
der Philosophie fest und will durchaus in ihrem Sinne Phi-
losoph sein: Auch für ihn ist Philosophie der Versuch, die
Verschattungen allen anderen Wissens, des nur scheinba-
ren Wissens erst recht, zu durchschauen und sich aus den
Verstellungen des alltäglichen Erfahrens, der selbstver-
ständlichen Weltorientierung zu lösen. Doch sieht Nietz-
sche die traditionelle Aufgabe der Philosophie durch ihr
eigenes Wesen erschwert: Zur Lösung ihrer Aufgabe be-
darf es einer Selbstaufklärung der Philosophie. Es geht für
den Philosophen darum, den Hang zur Unwahrheit in
seinem Tun zu sehen und die Schwierigkeiten zu überwin-
den, die durch die Philosophie selbst erzeugt werden.
Allerdings ist auch diese philosophische und gegen die
Philosophie gerichtete Skepsis nicht ganz neu. Daß die
Philosophie sich »in Dunkelheit und Widersprüche«
stürzt und es schwer hat, ihre selbstverschuldeten Irrtü-
mer zu erkennen, hatte schon Kant in der Vorrede zur
ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) be-
tont (KrV, A VIII) und zum Ausgangspunkt seines kriti-
schen Programms gemacht. Nur hält Kant eine »Selbst-
erkenntnis« (KrV, A XI) der Vernunft noch für möglich,
weil er glaubt, daß die Vernunft sich nur dann über ihre
Möglichkeiten täuscht, wenn sie »über die Grenze aller
Erfahrung« hinausgeht und »keinen Probierstein der
Erfahrung mehr anerkennen« will (KrV, A VIII). Für die
Vernunftkritik gibt es demnach einen Maßstab in der er-
fahrungsgeleiteten, und das heißt für Kant: wissenschaft-
lichen Erkenntnis – in der Erkenntnis, wie sie von den
modernen Naturwissenschaften repräsentiert wird. Ver-
»Das Problem der Wissenschaft selbst« 107
hen kann und die allzu leicht bezaubert und täuscht. So-
bald das gesehen wird, stellt sich das Verhältnis von
Kunst und Wissenschaft ganz anders dar.
Deutlich tritt das in Nietzsches erstem Aphorismen-
buch, Menschliches, Allzumenschliches I, hervor. Das
»vierte Hauptstück« des Buches trägt den Titel »Aus der
Seele der Künstler und Schriftsteller«, und was hier mit-
geteilt wird, ist zu einem beträchtlichen Teil als Ergebnis
von Selbsterforschung zu lesen – so auch als Einsicht
in Denk- und Empfindungsweisen, die Nietzsche nicht
mehr selbstverständlich sind; in diesem Sinne spricht
er später, 1886, im Zuge seines Lebensrückblicks von
der schon einmal erwähnten »grossen Loslösung« (KSA
2,15; MA I, Vorrede 3) – oft ist es ja so, daß erst im Ab-
schied von etwas klar wird, was es gewesen ist: ein Le-
benszustand tritt ins Bewußtsein, wo man ihn verläßt
und wie eine Haut abstreift.
So ist Nietzsche klar geworden, wie sein Verhältnis
zur griechischen Vergangenheit in problematischer
Weise durch die Kunst, genauer durch eine ihrer wesent-
lichen Möglichkeiten bestimmt war: die Kunst ist »To-
dtenbeschwörerin«, »sie flicht [. . .] ein Band um ver-
schiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkeh-
ren« (KSA 2,142; MA I,147) – läßt sie dabei als lebendig
erscheinen. Woran er hier denkt, hatte Nietzsche schon
zwei Jahre zuvor, in der vierten Unzeitgemäßen Be-
trachtung mit dem Titel Richard Wagner in Bayreuth,
gesagt, als er Wagner den »Deuter und Verklärer einer
Vergangenheit« nannte (KSA 1,510; WB 11). Und daß
die Vergegenwärtigung des Vergangenen künstlerisch ist,
Aufgabe der »plastischen Kraft«, so daß alle Geschichte
ihre Bestimmtheit und »Objectivität« allein durch die
Kunst bekommt, war schon in der zweiten Unzeitgemä-
ßen Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Histo-
»Abendröthe der Kunst« 121
leere Hülle wie eine Muschel, aus der das Leben gewi-
chen ist.
Noch einmal: Ähnliches könnte auch Platon gesagt
haben. Seine Dialogkunst ist ja ein Versuch, den Leser
ans lebendige Denken zu erinnern und gegenwärtig zu
halten, daß es nicht um abstrakte Lehren, um »Wahrhei-
ten« geht, sondern um Gedanken, die in den Zusam-
menhang des Lebens gehören. Philosophie, das ist die
von Platon allen Späteren mitgeteilte Überzeugung, läßt
sich nur als philosophisches Leben, als das Leben des
Philosophen verstehen. Und dieser existiert nie allge-
mein, sondern als dieser Bestimmte und Einzelne, so als
dieses Individuum Sokrates. Deshalb steht Sokrates im
Zentrum Platonischer Dialoge, genauer derjenigen, die
zeigen wollen, was Philosophie, was philosophisches
Leben überhaupt ist. Und deshalb hat Nietzsche als Phi-
losoph nicht nur platonische, sondern auch sokratische
Züge – unwillentlich und ohne daß sie in seinem Sokra-
tes-Bild reflektiert wären.
Mit Platons Stellung zwischen Kunst und Philosophie
und der aus ihr entwickelten Einsicht in die Schwierigkei-
ten und Gefahren der schriftlichen Mitteilung scheint nun
allerdings der einzige Anknüpfungspunkt für Nietzsche
gegeben zu sein. Denn Platon, daran läßt Nietzsche kei-
nen Zweifel, ist bei aller Verschiedenheit von Sokrates
doch Sokratiker im Sinne von Nietzsches Sokrates-Bild
gewesen; er hat die Sokratische Modifikation der apolli-
nischen Kunst zur Philosophie aufgenommen und sogar
noch radikalisiert, indem er das theoretische Neinsagen
zu Schein und Erscheinung begründen wollte und des-
halb bestrebt war, »die jener Pseudo-Wirklichkeit« des
Erscheinenden »zu Grunde liegende Idee darzustellen«
(KSA 1,93; GT 14). Platon mit seiner »Ideomanie«, sei-
nem »fast religiösen Formen-Wahnsinn« (KSA 3,597;
»Scheidung der Welt« 133
für sich erfahren werden. Doch sind sie immer auch mit-
einander verbunden und bilden so ein mehr oder weni-
ger dicht geknüpftes Orientierungsnetz. Sie lassen sich
deshalb auch im Ganzen befragen, unter dem Gesichts-
punkt, wie sich das Leben überhaupt führen läßt. Nun
will man wissen, welche Gesamtorientierung »dem Le-
ben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung ge-
ben« (KSA 2,28; MA I,6) kann; es geht um den »Sinn«,12
um den Orientierungsrahmen des Lebens, um die Frage,
von woher sich das Leben im Ganzen verstehen läßt.
Das aber ist die philosophische, die metaphysische
Frage par excellence. Ihretwegen gibt es »in allen Philo-
sophien so viel hochfliegende Metaphysik«: die Nei-
gung, der Erkenntnis »den höchsten Nutzen zuzuschrei-
ben« (KSA 2,28; MA I,6) – besonders natürlich der phi-
losophischen Erkenntnis, die verspricht, was man ein
Weltbild13 nennen könnte: ein Bild, von dem her sich das
Leben im Ganzen erschließt.
Doch je umfassender eine Fragestellung ist, desto
mehr ist sie auch mit Erwartungen belastet, und das be-
einträchtigt, wie Nietzsche denkt, ihre Sachlichkeit. »Die
abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft« könn-
ten »rein sachlich behandelt« werden; bei »allgemeinen
grossen Wissenschaften« komme die Frage »wozu? zu
welchem Nutzen?« ins Spiel, und diese dominiere bei
der Philosophie, an »der Spitze der gesammten Wissens-
pyramide« (KSA 2,27; MA I,6). Wo der Abstand von
den Lebenszusammenhängen in ihrer Vielfalt und Un-
überschaubarkeit am größten scheint, ist die Erkenntnis,
wohl daran liegen, daß »ihr Auge sich noch nicht dem
Reiz der schlichtesten Formen erschlossen« habe; mögli-
cherweise auch daran, daß »die in jenem Geiste erzo-
genen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich
von ihm durchdrungen« seien, »so dass sie immer noch
gedankenlos alte Formen« nachmachten – »und diess
schlecht genug, wie es Jemand thut, dem nicht mehr viel
an einer Sache liegt«. Aber schließlich werde man erken-
nen, wie sehr das »Ausspinnen von Symbolen und For-
men« inzwischen ein »Kennzeichen der niederen Cul-
tur« sei (KSA 2,26; MA I,3).
Man wird Nietzsche kaum noch unterstellen, er ha-
be seine Wissenschaftskritik vergessen, wenn man die
ebenso subtilen wie deutlichen Anspielungen dieser
Sätze versteht. Die »Freunde der Formen« sind leicht als
die »Freunde der Ideen« ( 7 nO Q "* r ª aO … "* r { ıO F 7 « ) erkenn-
bar, von denen in Platons Sophistes (erstmals 248a) die
Rede ist: als die reinen und zum Dogmatismus neigen-
den Vertreter der sogenannten Ideenlehre mithin, die im
Verlauf des Dialogs zu einer Modifikation ihrer reinen
Lehre genötigt werden. Um eine solche Modifikation
geht es auch Nietzsche: Er will die Freunde der Formen
an die »schlichteste Form« gewöhnen, und dabei ist er
überzeugt davon, daß sich der Geist, in dem sie erzogen
wurden, erst so wirklich zur Geltung bringen ließe; nur
wer die »schlichteste Form« erkennt, ist von diesem
Geist »völlig und innerlich« durchdrungen. Also geht es
bei der Wissenschaft, die Nietzsche favorisiert, um die
richtige Weise, mit Formen umzugehen – dies und nicht
der Mythos der totalen Enthüllung wird den Trivialme-
taphysikern, denen an ihrer Sache nichts mehr liegt, ent-
gegengehalten. Bei Platon gab es für das, was Nietzsche
hier »Wissenschaft« nennt, einen anderen Namen: Dia-
140 Dialektiker unter sich
7. »Offnes Meer«
tun hat. Wenn nach der zitierten Rede vom »Jenseits des
Seins« der Name Apollons genannt wird, verweist das
auf die Bestimmung der Philosophie, die Sokrates in sei-
ner Verteidigungsrede vor Gericht gibt: Philosophie ist
»Dienst für den Gott« (Apol. 23c), und gemeint ist der
Gott des delphischen Orakels.
Von einer Frömmigkeit wie der des Sokrates und erst
recht von jeder anderen ist Zarathustra weit entfernt;
man braucht sich nur an die Polemik gegen die ȟberir-
dischen Hoffnungen« zu erinnern und kann zur Ergän-
zung zitieren, wie das Motiv vom Tod Gottes ausdrück-
lich aufgenommen wird: Bei seinem Weg herab zu den
Menschen hatte Zarathustra einen alten Einsiedler ge-
troffen und sich darüber gewundert, daß dieser »noch
Nichts davon gehört« hatte, »dass Gott todt ist« (KSA
4,14; Za I, Vorrede 2). Und wenig später, bei der Rede
auf dem Marktplatz, noch einmal ähnlich: »Einst war
der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb,
und damit starben auch diese Frevelhaften.« (KSA 4,15;
Za I, Vorrede 3)
Allerdings geht es auch bei der Platonischen Rede von
der Idee des Guten nicht um die »Eingeweide des Uner-
forschlichen« (KSA 4,15; Za I, Vorrede 3), nicht um Vor-
stellungen davon, was das Göttliche oder ein Gott in
Person sei. Mit einer mythischen Religiosität dieser Art
oder grübelndem Tiefsinn hat die Philosophie im sokra-
tisch-platonischen Sinne nichts zu tun, und entspre-
chend läßt sich von hier aus der Unterschied zum Ge-
danken des Übermenschen nicht verstehen. Dafür ist
vielmehr entscheidend, daß die Erfahrung der Idee des
Guten bei Platon als Einsicht, genauer müßte man sagen:
als Grenzerfahrung der Einsicht konzipiert ist: Sie ist
wie der Blick auf die Sonne, die selbst noch ein Sichtba-
res, jedoch mit dem Auge nicht zu fixieren ist.
»Ich lehre euch den Übermenschen« 207
Mensch ist ein Weg; aber kein Weg zu einem Ziel, so daß
wir durch ein »Noch nicht« bestimmt wären und »un-
terwegs« zu unserer eigentlichen Bestimmung; sondern
Verbindung des durch einen Abgrund Getrennten: Er-
messen eines unendlichen Abstandes zwischen dem, was
man war, und dem, was man sein will, eines Abstandes,
den man zu sein hat und nicht als das eigene Sein fest-
stellen kann. Der Weg ist gefährlich, wenn man ihn geht
und derart »Untergang« und »Übergang« sein will –
nicht mehr, wie man war und immer anders als man sein
wird; aber auch, wenn man zurückblickt auf das Gewe-
sene, das man nicht mehr ist, oder innehält und zurück-
bleibt hinter dem, was sein kann: immer ist hier eine
Differenz auf dem Weg: das ist man nicht und nicht das
– nicht Tier und nicht Mensch und nicht wirklich und
endgültig über sich hinaus.
Wenn der Mensch, wie das Bild sagt, ein Seil ist,
müßte der Seiltänzer, der nun auftreten soll, jemand
sein, der den menschlichen Weg über den Abgrund ge-
hen will: ein Mensch, der das menschliche Leben zu füh-
ren versucht. Dieser Mensch aber, der Seiltänzer, stürzt
ab; an ihm wird das Gefährliche des menschlichen Le-
bens demonstriert und gezeigt, wie dieses Leben nicht
geführt werden kann.
Was den Menschen in seinem Leben bedroht, hat im
Gleichnis des Buches eine Gestalt, bei der man zunächst
nicht genau weiß, mit wem man es zu tun hat: »ein bun-
ter Gesell, einem Possenreisser gleich«, wird er genannt,
und wenig später stößt er »ein Geschrei aus wie ein Teu-
fel«; einer, der wie ein Narr aussieht und dabei eine
»fürchterliche Stimme« hat (KSA 4,21; Za I, Vorrede 6);
einer, der lächerlich ist, so daß man ihn nicht ernst neh-
men müßte, und erschreckend zugleich. Wer das ist, er-
fährt man durch sein Verhalten und Reden.
»Ich lehre euch den Übermenschen« 213
4. »Etwas Complicirtes«
JGB 19) teilt sich die Spannung mit, so daß sie als solche
ausgetragen werden kann. Die Autorität des Komman-
dos und der Eigensinn der Gefühle treten erst unter dem
»Affekt des Commando’s« hervor, also etwa die mehr
oder weniger klare Einsicht, was das Richtige wäre, und
das »Ich will nicht« in allen Formen: Lethargie, Be-
quemlichkeit, Abhängigkeit von etwas, das man zugleich
los sein möchte.
Dabei sind die beiden in Spannung befindlichen Mo-
mente keineswegs gleichberechtigt. Wer befiehlt, ist
deutlich in der besseren Position; durch ihn ist das Ver-
hältnis zu einem Befehlsempfänger ohne dessen Zutun
eröffnet, und zwar so, daß der andere in Abhängigkeit
versetzt wird. Der andere soll gehorchen, und abhängig
vom Befehl bleibt er auch in dessen Verweigerung, im
»Ich will nicht«; der Befehlende ist Herr der Situation.
Das hat Nietzsche bewogen, die vermeintliche, einem
erdichteten Vermögen zugeschriebene »Freiheit des Wil-
lens« als »Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den,
der gehorchen muss« (KSA 5,32; JGB 19), zu verstehen.
Damit bringt er den Gedanken der Autarkie wieder ins
Spiel: Wer befiehlt, wird nicht vom Leben fortgerissen
und ist nicht in mannigfache Abhängigkeiten verstrickt;
er hat Abstand, »Überlegenheit« gefunden und kann
sich gerade deshalb mit der Situation des Handelns iden-
tifizieren; alles, auch das Verhalten des Befehlsempfän-
gers, ist durch ihn bestimmt und gehört zu ihm.
Wahrscheinlich ist man geneigt, sich das am Verhältnis
zwischen verschiedenen Personen zu veranschaulichen,
und gewiß fände man dabei auch ein reiches Spektrum
an Beispielen dafür, was es heißt, eine Situation zu be-
stimmen. Man könnte beschreiben, wie die Autorität des
Kommandierenden sich mehr oder weniger subtil arti-
kuliert und entsprechend mehr oder weniger angreifbar
»Etwas Complicirtes« 229
5. »Psychologie«
6. »Kosmisch empfinden«
kein Streben, das sich von einem Sein, auf das es ginge,
noch unterscheiden ließe; die Sache, die sich selbst zu er-
halten strebt, ist in dem, was sie ist, nichts anderes als
dieses Streben. Es gibt sie, indem sie sich erhält.
Damit läuft auch die Kritik des »Willens zum Da-
sein«, wie sie im Zarathustra formuliert ist, ins Leere,
zunächst jedenfalls: Was nicht sei, heißt es hier, könne
nicht wollen, und was im Dasein sei, »wie könnte das
noch zum Dasein wollen« (KSA 4,149; Za II, Von der
Selbst-Ueberwindung) – wie könnte oder müßte ein
Sein, das besteht, noch gewollt werden? Wenn es so
wäre, wie hier unterstellt wird, wäre das Wollen des
Daseins in der Tat eine sinnlose Geste. Doch verhält es
sich anders, wenn das Dasein in seiner Bestimmtheit in
nichts anderem als diesem Wollen besteht. Wie Nietz-
sche nimmt auch schon Spinoza das bestimmte Sein
einer Sache in das Lebensgeschehen und die Weise des
Lebensvollzugs zurück.
Wenn Nietzsches Kritik treffen soll, müßte er dem-
nach Spinozas eigentümliche Deutung des Lebensvoll-
zugs für problematisch halten. Genauso geht Nietzsche
vor, und der entscheidende Punkt ist dabei gerade die
Identifikation von Sein und Selbsterhaltung: Sofern bei
Spinoza das bestimmte Sein als Selbsterhaltung verstan-
den wird, ist diese umgekehrt auch nichts anderes als der
erhaltende Vollzug bestimmten Seins: eines Seins, das
aufgrund bestimmter Eigenschaften als das eines be-
stimmten Dinges umrissen werden kann. Obwohl für
Spinoza alles, was ist, als Modifikation des einen sub-
stantiellen göttlichen Seins begriffen werden muß, ist
doch jedes Ding als eine solche Modifikation in seinen
Wesenseigenschaften wohlbestimmt. Die Welt in Gott
ist eine Welt diskreter Dinge.
Das – aber auch nur das – will Nietzsche anders sehen.
»Kosmisch empfinden« 251
8 Auf diese Pluralität des Willens zur Macht, die ja auch schon im
Aphorismus 19 von Jenseits von Gut und Böse mit der Rede von den
»Unter-Willen« und »Unter-Seelen« zur Geltung kommt, hat erstmals
Müller-Lauter (1971) und (1974) nachdrücklich hingewiesen und da-
mit die Nietzsche-Forschung maßgeblich bestimmt. Vgl. auch Abel
(1984).
252 Leben der Erkenntnis
der Zeit ist, hat die Zeit als solche nie ein Ende; es gibt
unendlich viel Zeit – eine Ewigkeit und eine andere.
Auch dies, daß es zwei Ewigkeiten gibt, wird sich
nicht ändern, solange man in der Zeit ist. Ohne die Un-
terscheidung der zwei Ewigkeiten gäbe es keine Zeit,
wenn diese erst durch das Innehalten im Augenblick er-
öffnet wird: Das Innehalten am Torweg »Augenblick«
unterscheidet ja die beiden Zeitwege. Natürlich kann
man zurückschauen und sich vorstellen, wie ein Stück
von dem, was nun Vergangenheit ist, einmal Zukunft
war; man kann vorausschauen und sich denken, wie das
Vorausliegende einmal Vergangenheit sein wird. Aber
daran zeigt sich nur, daß keiner der beiden Wege ohne
den andern zu erfahren ist. Jeden von ihnen, und dann
auch jeden seiner Abschnitte, versteht man nur aus ihm
selbst und seinem Gegenteil. Daß sie einander »wider-
sprechen«, läßt sie sein, was sie sind.
So denkt man in der Zeit und solange man in der Zeit
ist. Entsprechend geht es über die Zeitvorstellung hin-
aus, wenn Zarathustra nun den zwergenhaften Geist der
Schwere fragt, ob die »beiden Wege sich ewig wider-
sprechen«. Die Antwort kommt sofort: »Alles Gerade
lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit
ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.« (KSA 4,200;
Za III, Vom Gesicht und Räthsel 2)
Die Antwort kommt, als ob die Frage zu leicht gewe-
sen wäre. Obwohl sie in ihrer Kürze rätselhaft scheinen
mag, wirkt der Gedanke des Zwergs im ersten Moment
tiefer und anspruchsvoller, als er eigentlich ist. Er besagt
ganz schlicht, daß nichts so sei, wie es erscheine: gerade
Linien gibt es nicht, alles, was wir als »gerade« verste-
hen, ist es in Wahrheit nicht, so daß die vermeintliche
Wahrheit, es sei gerade, selbst als »krumm« erscheint. So
hatte Nietzsche selbst argumentiert, schon in Menschli-
»Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft« 271
1. Nietzsche
2. Platon
3. Kant
4. Schopenhauer
Werke
Abel, Günter: Die Dynamik der Willen zur Macht und die
ewige Wiederkehr. Berlin / New York 1984.
Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken
(1894). Frankfurt a. M. 1983.
Aschheim, Steven E.: The Nietzsche Legacy in Germany 1890–
1990. Berkeley 1992. – Dt.: Nietzsche und die Deutschen.
Karriere eines Kults. Stuttgart/Weimar 1996.
Becker, Oskar: Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewi-
gen Wiederkunft (1936). In: O. B.: Dasein und Dawesen. Ge-
sammelte philosophische Aufsätze. Pfullingen 1963. S. 41–66.
Behler, Ernst: Derrida – Nietzsche. Nietzsche – Derrida.
München/Paderborn/Wien/Zürich 1988.
– Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche. In: »Centauren-Ge-
burten«. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen
Nietzsche. Hrsg. von Tilman Borsche, Federico Gerranata
und Aldo Venturelli. Berlin / New York 1994. S. 99–111.
Verzeichnis der zitierten Literatur 287