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SchlÜssel

texte der
Kunst
wisseN
schaft
Herausgegeben von Marc-Julien Heinsch, Julia Kohushölter und Jürgen Stöhr.
2
Impressum
Eine Publikation mit Texten von Masterstudierenden des Stu-
diengangs Literatur-Kunst-Medien der Universität Konstanz 3
im Rahmen des Hauptseminars „Schlüsseltexte der Kunst-
wissenschaft“, Konstanz 2018.

Herausgegeben von Marc-Julien Heinsch (Master Literatur-


Kunst-Medien, Universität Konstanz), Julia Kohushölter
(Master Literatur-Kunst-Medien, Universität Konstanz) und
Jürgen Stöhr (Professor mit Schwerpunkt Lehre, Hochschul-
dozentur für Kunstwissenschaft in Konstanz).

Satz und Layout: Sophia Hummler (Bachelor Kommunika-


tionsdesign, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestal-
tung Konstanz)

Lektorat: Marc-Julien Heinsch, Julia Kohushölter und Nicolai


Eckert (Master L-K-M, Universität Konstanz)

Gedruckt und gebunden vom Druckservice der Universität


Konstanz in der Hausdruckerei.
Inhaltsverzeichnis
3 impressum
4
6 Vorwort
Jürgen Stöhr

8 Aby Warburg: Das Schlangenritual,


1923
Lisa Kirch

24 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes,


1935/36
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch

66 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte,


1948
Dorothee Fischer

94 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder,


1960
Magdalena Meyer

112 Theodor W. Adorno: Die Ästhetische Theorie,


1969
Lisa Olschewski
136 Beat Wyss: Trauer der Vollendung,
1985 5
Sarah Rieder

168 Georges Didi-Huberman: Die Frage des Details,


die Frage des pan,
1986
Christina Wigger

184 Max Imdahl: Bildbegriff und Epochenbewusstsein,


1987
Theresa Brauer & Sophie Elaine Reiser

214 Werner Busch: Caspar David Friedrichs


Tetschener Altar,
1998
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

252 Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine


Kunstgeschichte des hyperimage,
2013
Luisa Döderlein

286 Aby Warburg: Mnemosyne,


1926
Lisa Braun
Vorwort
Aufschließen – Erschließen – Weiterdenken
Die Analyse von »Schlüsseltexten der Kunstwissenschaft«

Der vorliegende Reader untersucht und erschließt


6 einige mehr oder weniger prominente kunst-
und kulturwissenschaftliche oder philosophi-
sche Schriften verschiedener Autoren aufs Neue.
Er widmet sich diesen ausgewählten Texten, weil
sie aus unterschiedlichen Gründen als Schlüssel-
texte für die Kunstwissenschaft des 20. Jahrhun-
derts verstanden werden müssen.
Als solche Schlüsseltexte werden hier Beiträge
angesehen, die die Forschungen des Fachs maß-
geblich angestoßen, beeinflusst oder vorange-
bracht – neu aufgeschlossen – haben.
Texte also, die je auf ihre Weise methodologisch und thematisch im wahrsten
Sinne des Wortes mehr als aufschlussreich und neues Terrain erschließend
gewirkt haben. Texte, aus denen heute noch wichtige Schlüsse gezogen
werden können.
Schlüsseltexte sind aber immer nur dann passgenaue Werkzeuge und tat-
sächlich „Schlüssel“, wenn man vor der „richtigen“ Pforte, dem vorgese-
henen Schloss, der entsprechenden Sichtweise auf die Kunstwissenschaft
steht. Bevor man den Schlüsseltext nutzt muss man sich bewusst werden,
mit welchem Interesse man es tut.
Welches fachliche und methodische Türchen soll sich öffnen und welcher
diskursive Echoraum sich auftun? Immer kommt es auf die jeweiligen
Fragestellungen und das erkenntnisleitende Interesse an.

Martin Heideggers Wesensbestimmung der Kunst als ein Sich-»Ins-Werk-


Setzen der Wahrheit« oder doch Theodor Adornos Rede vom ewigen
»Rätselcharakter« der Kunst? Oder Arnold Gehlens Nachdenken über die
Jürgen Stöhr

»Kommentarbedürftigkeit« der modernen Kunst und Hans Sedlmayrs Di-


agnose zum »Verlust der Mitte« in der Moderne? Oder stattdessen Max
Imdahls Vertrauen auf das sinnliche Erkenntnisvermögen ästhetischer
Erfahrung oder aber Werner Buschs historische Fundierung genau dieser
ästhetischen Erfahrung? Oder Georges Didi-Hubermans Dekonstruktion
jeder Sinnkohärenz im Werk? Oder soll mit Beat Wyss die Gemachtheit
jeder Kunstgeschichtsschreibung ironisch aufgedeckt werden? Oder kon-
zentriert man sich mit Felix Thürlemann erstmals auf »Bilder im Plural« 7
und entdeckt so gleich auch Aby Warburg wieder?
Die hier schließlich ausgewählten und eingehend erörterten Schlüsseltexte
stellen nur eine Momentaufnahme dar. Diese Konstellation beginnt und en-
det mit Überlegungen von und zu Aby Warburg. Diese Verklammerung ist
keineswegs zufällig. Sie hat sich im Laufe der Arbeit dadurch ergeben, dass
Aby Warburgs Bildbegriff sowohl als grundlegend als auch als zukunfts-
offen angesehen werden kann. Daher umschließt sein Denken den Reader
hier vorläufig.
Am sinnvollsten wäre es allerdings, wenn dieser Reader kontinuierlich
ergänzt werden würde durch die vielen weiteren Schlüsseltexte, die hier
schließlich am Ende nicht mehr zur Sprache kommen konnten. Was sich
damit aber nicht ändern würde, wären die zentralen Fragen, die in diesem
Reader an jeden Schlüsseltext gestellt worden sind: Was ist die Basisthese
des Textes, wie sein Argumentationsverlauf? Wie lässt er sich historisch
und methodisch kontextualisieren? Wieso ist es ein Schlüsseltext und wie
war seine damalige Rezeption und Wirkung? – Und welche Relevanz be-
sitzt er heute noch für uns?
Die hier veröffentlichten Beiträge wurden im Sommersemester 2017 an-
lässlich eines Hauptseminars von Bachelor und Master Studierenden des
Literatur-Kunst-Medien Studiengangs an der Universität Konstanz ver-
fasst und herausgegeben. Das Layout verdankt sich einer Kooperation mit
dem Studiengang Kommunikationsdesign an der Hochschule für Technik,
Wirtschaft und Gestaltung Konstanz.
Aby Warburg
Das Schlangenritual

Der folgende Text behandelt Aby Warburgs Arbeiten sowie seine ver-
8 schiedenen Zugänge zur Kunst und revolutionären Methoden der Kunst-
wissenschaft. Um Warburgs Persönlichkeit und seine wissenschaftliche
Arbeit besser verstehen zu können, ist es wichtig seine Biographie zu
betrachten, da diese einen großen Einfluss auf seine Arbeitsweise hatte.
Charakteristisch für Warburg ist seine moderne Denkweise, die sich vom
Ästhetikbegriff der Antike abwendet. Aufgrund seiner psychischen Er-
krankung musste er einige Jahre seines Lebens in einer Nervenheilanstalt
verbringen, in welcher er einen Aufsatz über seine Erfahrungen bei den
Hopi-Indianern ausarbeitete und präsentierte.
Im folgenden Teil der Arbeit, wird genau dieser Aufsatz thematisiert, in-
dem Warburg sich mit der kulturellen Bedeutung des Schlangensymbols
in den Traditionen der Hopi-Indianer auseinandersetzt. In diesem Volks-
stamm werden die Tiere in einen rituellen Wetterzauber einbezogen, der in
einem Regentanz mit giftigen Schlangen gipfelt. Über sich hinaus, nimmt
die Schlange im Laufe der Zeit die Symbolbedeutung eines Blitzes an, der
als Warnhinweis für Gefahr steht. Aby Warburg berücksichtigt bei sei-
nen Studien und Untersuchungen viele wissenschaftliche Teilbereiche und
gilt unter anderem als Vater der Bildwissenschaften. Mit seiner als inter-
disziplinär charakterisierten Methode untersucht er nicht nur allgemein
als ästhetisch geltende Bilder, sondern erweitert den Gegenstandsbereich
auf „Kunst“, die nicht direkt als solche erkannt wird. Auf diese Weise un-
ter-sucht Warburg auch das Schlangensymbol und bezieht dabei sowohl
Bild als auch Wortquellen in seine Forschung ein.
Sein Aufsatz Das Schlangenritual nimmt in der Kunstwissenschaft eine
bedeutende Rolle ein und dient seit der Präsentation 1923 und der Veröf-
fentlichung 1988, als wichtiger Schlüsseltext der noch heute gelesen und
rezensiert wird.
9
Aby Warburg

Romantischen“, und die Abwen-


dung von einer „ästhetisierenden
Kunstgeschichte“3. Der Text, der
Das Schlangenritual: 1988 erstmals veröffentlicht wurde,
Inhalt und Analyse nimmt eine wichtige Rolle in der
Kunstgeschichte ein, wobei es zum
Im Jahre 1895 reiste Aby Warburg Verständnis des Textes ratsam ist,
10 nach New York, um der Hochzeit sowohl die Entstehungsgeschichte
seines Bruders beizuwohnen. Von als auch die Biographie zu kennen,
dort aus führt ihn seine Reise nach denn Warburg bewegt sich bei sei-
New Mexiko, um dort die Kultur nen Studien „auf neuem Gelände,
der Pueblo Indianer zu beobachten irrlichternd zwischen den etablier-
und zu dokumentieren. Diese Stu- ten Disziplinen bis hin zu Psycho-
dien dienten später als Basis für sei- logie und Biologie“.4
nen Aufsatz Das Schlangenritual, der
erst während seines Aufenthalts im Nach Beendigung seiner Forschun-
Kreuzlinger Sanatorium Bellevue gen und Rückkehr nach Deutsch-
in Zu-sammenarbeit mit seinem land, ein Jahr nach Beginn seiner
Freund und Kollegen Fritz Saxl aus- Reise, wendet er sich wieder seinen
gearbeitet wurde. Bei seiner ethno- kunstgeschichtlichen Studien zu.
grafischen Spurensuche standen die Erst 28 Jahr später greift Warburg
indianischen Riten und Bräuche so- auf seine Notizen zurück. „Aus der
wie „die Malereien und Ornamente“1 therapeutisch angesetzten Schreib-
des Stammes im Zentrum seines In- übung war ganz rasch etwas anderes
teresses, mit Hauptaugenmerk auf geworden: Nicht für sich selbst wollte
der symbolischen Bedeutung der er schreiben, sondern für ein Pub-
Schlange. Diese nimmt bei dem likum. Das Format – ein Vortrag –
Wettertanz der Hopi-Indianer die hatte Vorbilder.“ Im Jahre 1923 prä-
Rolle des Blitzes ein 2 . In Warburgs sentiert er die Ergebnisse in Form
Kreuzlinger Notizen fi nden sich eines Vortrags (21. April), der als Be-
drei Motive für diese Reise angege- weis seiner geistigen Genesung die-
ben: der Wille, „mich etwas mann- nen und ihm die Entlassung aus der
hafter zu betätigen, als es mir bis- Nervenheilanstalt sichern soll.
her vergönnt war“, der „Wille zum

1
McEwan, Dorothea: Zur Entstehung des Vortrags über das Schlangenritual: Motiv und Motivation/
Heilung durch Erinnerung. Einleitung und Quellenlage. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas;
Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2007): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von
Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag, S. 268.
2
Dieser Wetterzauber wird weiter unten genauer beschrieben.
3
Schüttpelz, Erhard: Das Schlangenritual der Hopi und Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. In:
Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2007): Schlangenritual. Der Transfer der
Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin:
Akademie Verlag. S. 187.
Lisa Kirch

Das Hauptinteresse des „Kunsthis- Die Schlangen werden nach dem ritu-
torikers“ beruht darauf, herauszu- ellen Tanz freigelassen, um als Götter-
fi nden, wie sich eine „Enklave pri- boten zu dienen.8
mitiven heidnischen Menschentums
[…] erhalten konnte“, in einem tech- […] der gläubige Indianer
nisch fortgeschrittenen Land und ei- [erzwingt] das segensreiche Gewitter
ner sich dauerhaft entwickelnden Zi- durch seine magischen Praktiken, deren
vilisation.6 Im Detail beschäftigt sich für uns erstaunlichste das Hantieren 11
der Aufsatz unter anderem mit Or- mit lebendigen Schlangen ist, weil […]
namentmotiven, die auf verschiede- die Schlange in ihrer blitzförmigen
nen Töpfereien zu finden sind. Gestalt mit dem Blitz magisch-kausal
Am häufigsten verwenden die Hopi- verknüpft wird.9
Indianer eine Mischung aus realis-
tischen und symbolischen Abbildun- Neben dem Wetterzauber dient der
gen verschiedener Totemtiere. Diese Maskentanz als traditionelles Ritual
werden zu einer Art „Hieroglyphe, von Jägern und Bauern zur Nah-
die nicht mehr geschaut, sondern rungsbeschaffung, eine Verbindung
gelesen sein soll.“7 von indianischer Magie und ratio-
naler Technik.10
Wie oben schon erwähnt, nimmt die
Schlange eine Sonderstellung unter Das Schlangensymbol entwickelte
diesen Tierfiguren ein, da sie als Blitz- sich in der indianischen Tradition
symbol bei dem kulturell aufgeladenen über seine eigentliche Bedeutung hi-
Wetterzauber dient. Um den Regen naus zu einem Blitzsymbol als bildli-
zu beschwören, sammeln die Pueblo- cher Warnhinweis für Gefahr.
Indianer Giftschlangen und feiern
ein Regenfest, das in einem Masken- In einer anderen Kiwa wird auf einem
tanz mit lebendigen Schlangen gip- Sandgemälde eine Wolkenmasse dar-
felt. Während des Tanzes nimmt je ein gestellt, aus der vier verschiedenfar-
Tänzer eine Schlange in den Mund, bige Blitze, den Himmelsrichtungen
während sein Tanzpartner den Kopf entsprechend, in Schlangenform he-
der Schlange mit einer Feder ablenkt, rauskommen.11
um Bisse zu verhindern.

4
http://www.tagesspiegel.de/wissen/bildwissenschaft-statt-kunstgeschichte-gespenstergeschichte-
fuer-ewacsene/3796706.html.
5
Dorothea, McEwan: Zur Entstehung des Vortrags über das Schlangenritual: Motiv und Motivation/
Heilung durch Erinne-rung. Einleitung und Quellenlage McEwan; In: Bender, Cora; Hensel,
Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von
Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin 2007, S. 271.
6
Warburg, Aby (1988): Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kulturwissenschaftliche
Bibliothek. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, S. 10..
7
Ebd., S. 15.
Aby Warburg

Das Schlangenritual beinhaltet eine bewundernswerten Präzisionswaffe in


Textstelle, in der Aby Warburg eine der Hand des intellektuellen Men-schen
Situation beschreibt, die sich während gemacht hatte, eine Enklave primitiven
seiner Zeit bei den Hopi-Indianern heidnischen Menschentums sich erhalten
ereignete: konnte, das – obgleich dabei durchaus
nüchtern im Kampf ums Dasein tätig –
Ich habe einmal versucht, mit einer unerschütterlichen Festigkeit
12 die Kinder dieser Schule [,der amerika- gerade für landwirtschaftliche und Jagd-
nischen Aufklärungsschule,] ein deut- zwecke magische Praktiken betreibt, die
sches Märchen, das sie vorher nicht kann- wir nur als Symptom eines ganz zurück-
ten, Hans Guck-in-die-Luft, illustrieren gebliebenen Menschentums zu verur-
zu lassen, weil darin ein Gewitter vor- teilen gewohnt sind.13
kommt, und wollte sehen, ob dabei der
Blitz von den Kindern realistisch oder Warburg schließt sich allerdings aus,
in Schlangenform gezeichnet wird. Von wenn er von dieser gewohnten Verur-
14 sehr lebendigen, aber unter dem Ein- teilung redet, da er durch seine Studi-
fluß der amerikanischen Schule stehen- en die Relevanz, ja sogar Notwendig-
den Zeichnungen waren 12 realistisch keit, der oben beschriebenen Rituale
gezeichnet. Aber zwei brachten doch als „[...] ein befreiendes Erlebnis der
noch das unzerstörbare Symbol der schrankenlosen Beziehungs-Möglich-
pfeilspitzigen Schlange, wie sie in der keiten zwischen Mensch und Umwelt”
Kiwa vorkommt.12 erkennt.
Für die von ihm beobachteten Hopi-
Aby Warburg vertritt die Meinung, Indianer bilden die beschriebenen
dass die zivilisierten Menschen, de- Zeremonien eine existenzielle Grund-
nen er sich zuordnet, nicht in der La- lage ihrer Kultur. Nach Fertigstellung
ge sind, diese von ihm als primitiv des Aufsatzes und Beendigung des
beschriebenen rituellen Handlungen Vortrags zeigte sich deutlich die in-
nachzuvollziehen. Er erläutert seine terdisziplinäre Arbeit Warburgs.
Überzeugung wie folgt: Der Text konnte sowohl als Symbol-
analyse, Reisebericht, als auch als kul-
Was mich als Kulturhistoriker turhistorische Untersuchung ange-
interessierte, war, daß inmitten eines Lan- sehen werden.
des, das die technische Kultur zu einer

8
Vgl.: Warburg, Aby; Saxl, Fritz (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2007):
Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs
Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag, S. 59.
9
Aby, Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek.
Berlin 1988, S. 18.
10
Vgl.: Ebd., S. 24 f.
11
Vgl.: Ebd., S. 42.
12
Ebd., S. 56. (Abb. Buchcover)
13
Ebd., S. 10.
Lisa Kirch

Der ursprünglich aus der Kunstge- seinen Studien nachging.


schichte stammende Gelehrte, be- Aby Warburg lebte von 1866 bis 1929
wegte sich bei seinen Forschungen in einer Zeit des Umbruchs und Über-
zwischen unzähligen wissenschaft- gangs. Durch historisch wichtige Er-
lichen Teilgebieten und Diskursen. eignisse wie die „Reichsgründung,
die Weltwirtschaftskrise, [den ersten]
Weltkrieg oder die Industrialisierung“,
um nur einige exemplarisch zu nen- 13
Kontextualisierung und nen, veränderte sich die Welt sowie
Zeitgeschichte die Wissenschaft. Während in der Ver-
gangenheit noch veraltete, genormte
„Ebreo di sangue, Amburghese di Vorstellungen von Ästhetik und der
cuore, d’ anima Fiorentino“15 ( Jude Untersuchung der Kunst verbreitet
von Geburt, Hamburger im Herzen, waren, entwickelte sich die Kunstwis-
im Geiste ein Florentiner), mit die- senschaft, unter anderem mit Hilfe
sen Worten beschreibt Aby Moritz Aby Warburgs, in eine interdiszipli-
Warburg sich selbst und seine Wur- näre Richtung. Ein Kunstwerk wurde
zeln. In verschiedenen Lexikonarti- nicht mehr nur alleine im Hinblick
keln wird er als Kunst- und Kultur- auf den Künstler untersucht, man
wissenschaftler betitelt, was seiner beurteile es im Verlauf des 19. Jahr-
Meinung nach allerdings einen viel hunderts nach seiner allgemeinen
zu kleinen Kreis seiner Studien um- Kunstwertigkeit.16
fasst. Seine Selbstbeschreibung zeigt Warburg vertrat eine moderne Denk-
deutlich, dass Warburg sich selbst als weise und hatte „vor der ästhetisie-
Vermittler verschiedener Kulturen renden Kunstgeschichte einen auf-
und Wissenschaften ansieht. richtigen Ekel bekommen.
Der 1866 in Hamburg geborene Aby Die formale Betrachtung des Bildes
wuchs in einer jüdischen, wohlha- – unbegriffen als biologisch notwen-
benden Bankiersfamilie auf. Auch diges Produkt zwischen Religion und
wenn seine Familie sehr gläubig war, Kunstausübung – […] schien […]ein
empfand er seine Wurzeln als Belas- steriles Wortgeschäft.“17
tung. Früh distanzierte er sich von
seinem Geburtsort und wählte Flo-
renz als seine Wahlheimat, wo er auch

14
Ebd., S. 10.
15
Bing, Gertrud; Biermann-Ratjen, Hans Harder (1958): Aby M. Warburg. Vortrag von Frau
Professor Dr. Gertrud Bing anlässlich der feierlichen Aufstellung von Aby Warburgs Büste in der
Hamburger Kunsthalle am 31. Oktober 1958 mit einer vorausgehenden Ansprache von Senator
Dr. Hans H. Biermann-Ratjen. Hamburg: Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, S. 32.
16
Vgl.: Rösch, Perdita(2010): Aby Warburg. München: Wilhelm Fink Verlag , S. 21.
17
Gombrich, Ernst H. (2005): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Philo
Fine Arts Verlag Philo, S. 118.
Aby Warburg

Man kann in der Tat sagen, dass Aby Fritz Saxl, der ab 1914 den Buch-
Warburgs wisenschaftliches Vorge- bestand verwaltete, bemerkte viele
hen sowie seine Arbeitsmethoden Jahre später:
unstetig, aber gleichzeitig bemer-
kenswert waren, ähnlich wie sein Das war der richtige Boden für
Lebenslauf. eine private Gründung. [...] Zu Beginn
Seine wechselhafte Verfassung äu- dieses Jahrhunderts war Hamburgs Schul-
14 ßerte sich seit einer Typhuserkran- wesen fortschrittlich, die Erwachsenen-
kung im Alter von sechs Jahren und bildung hochentwickelt, die öffentlichen
trat im Jahre 1839 erneut zutage, als Sammlungen blühten – alles in merkli-
Warburg seinem Bruder sein Erstge- chem Gegensatz zum übrigen Deutsch-
borenenrecht abtrat und von diesem land. Hamburg schaute nach vorn, blieb
im Gegenzug die Finanzierung sei- aber isoliert, sowohl in seiner fortschritt-
ner geplanten Privatbibliothek zuge- lichen wie in seiner ganz stark traditions-
sichert bekam. Sein Bücherbestand gebundenen Haltung. Auch Warburgs
vervielfachte sich im Laufe seiner Gründung blieb isoliert, und das junge
Studien in verschiedenen Wissen- Unternehmen konnte sich ungestört vom
schaftsbereichen sehr schnell. War- Lärm eines alteingesessenen Universi-
burg beschäftigte sich mit den Leh- tätsbetriebes entwickeln.19
ren der Kunstgeschichte (Carl Justi),
der Kultur- und Religionsgeschichte 1920 umfasste Warburgs Sammlung
(Karl Lamprecht, Hermann Usener) einen Buchbestand von 20.000 Ex-
sowie mit der Archäologie (Reinhard emplaren.
Kekulé von Sradowitz). In den Jahren Aufgrund der politisch und wirt-
zwischen 1893 und 1897 bereiste er schaftlich beunruhigenden und in-
verschiedene Länder wie Amerika, stabilen Lage der Nachkriegszeit ver-
England oder Frankreich und häufte schlechterte sich der Gemütszustand
bis zu seiner Hochzeit im Jahr 1897 Warburgs in den folgenden Jahren.
insgesamt 9000 Büchern an. Nach In dieser Zeit diente die Bibliothek
der Geburt seiner drei Kinder ließ hauptsächlich als „Dokumentations-
er sich einige Jahre später in einer stelle des Kriegsgeschehens“20.
Villa nieder, die die Frühform von Endgültig erlag Aby Warburg seinem
Warburgs Bibliothek beherbergen Wahn nach dem ersten Weltkrieg.
sollte18.

18
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 15.
19
Saxl, Fritz (1981[1970]): Die Geschichte der Bibliothek Aby M. Warburgs (1886 –1944); In:
Gombrich, Ernst H.(1981): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main, S. 336.
20
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 18.
Lisa Kirch

Aus Angst vor Judenfeindlichkeit und der habituellen und sozialen Struk-
daraus resultierenden Anschlägen tur des Bildumfeldes. 1924 folgte
auf seine Familie erlitt er eine Psy- dann die Entlassung Warburgs und
chose und wurde infolgedessen für die Errichtung eines Forschungsge-
sechs Jahre nach Kreuzlingen in bäudes24. Ab diesem Zeitpunkt war
eine Nervenheilanstalt eingewiesen, die Privatsammlung Warburgs für je-
in dem Ludwig Binswanger der lei- den zugänglich. Aby Warburg selbst
tende Psychiater21 war22 . stellte fest, dass die Bibliothek eine 15
„[...] Stätte geistiger Gemeinschaft
In diesen Jahren entstand der Vor- für diejenigen [sei], die eine festere
trag mit dem Titel Das Schlangenritual, Methode der Kulturwissenschaft er-
der als Beweis seiner geistigen Gene- sehnen, sei es in eigener Forscher-
sung dienen sollte. arbeit, sei es bei rein aufnehmendem
In seinem Text behandelte Warburg Studium kulturwissenschaftlicher
die Rituale und Schriftzeichen der Werke“25.
Hopi-Indianer in Amerika. Seine letzten Lebensjahre verbrachte
Warburg verarbeitete in dieser Studie Warburg mit harter Arbeit an seinem
eine Feldforschung aus den Jahren Lebenswerk, dem Mnemosyne Atlas,
1895 und 1896, wobei er ein beson- den er unvollendet 1929 hinterließ,
deres Interesse an dem Schlangen- als er einem Herzinfarkt erlag26.
symbol hegte, das die Hopi-Indianer Er hinterließ zudem unzählige Auf-
als Blitz deuten und das eine wichtige sätze, die aus Vorträgen hervorgin-
Rolle in ihrer Kultur spielte. gen und drei Bücher:
Aby Warburg bedient sich bei seiner
Forschung verschiedener wissen- Sandro Botticellis „Geburt
schaftlicher Disziplinen und gilt als der Venus“ und „Frühling“. Eine Unter-
Vater der Bildwissenschaften, unter suchung über die Vorstellungen von der
anderem durch seine Ausweitung des Antike in der italienischen Frührenais-
Gegenstandsbereichs auf Bilder, die sance, Hamburg 1893.
nicht als Kunst angesehen wurden,
sowie den Einbezug von „Bild- und Bildniskunst und Florentini-
Wortquellen aller qualitativen Grade sches Bürgertum, Leipzig 1902.
und medialen Formen“23, kulturel-
len und rituellen Bedingungen und

21
Lebenslanger Freund Sigmund Freuds.
22
Vgl.: Hoffmann, Werner; Syamken, Georg; Warnke, Martin: Die Menschenrechte des Auges (2010):
Über Aby Warburg. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, S. 13. Und Vgl. Perdita, Rösch:
Aby Warburg Wilhelm Fink Verlag, Mün-chen 2010, S. 18-20.
23
Böhme, Hartmut: Aby M. Warburg (1866- 1929), In: Michaels, Axel (Hrsg.) (1997): Klassik der
Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade,München: C.H. Beck Verlag,
S. 140.
24
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 20.
Aby Warburg

Heidnisch- antike Weissagun- „psychische Entwicklungsstufe“ zur


gen in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, jeweiligen Entstehungszeit.
Heidelberg 1920. 27
Aby Warburg, der neben vielen an-
Im Laufe seines Lebens wählte War- deren Disziplinen auch eine reli-
burg drei verschiedene Zugänge zur gionswissenschaftliche Ausbildung
Kunst. Der wichtigste Einfluss, auf bei Hermann Usener genossen hatte,
16 dem viele seiner Gedanken basierten, ließ diesen wissenschaftlichen Zweig
stammten von Jacob Burghardt. in seine Arbeit einfl ießen und behan-
Er eröffnete Warburg einen interdis- delte auch die Frage nach der bibli-
ziplinären Zugang, da er „Kunst und schen Symbolbedeutung der Schlan-
ihre Werke im Kontext der Entste- ge. Die allgemein bekannteste Bibel-
hungsbedingungen ihrer Zeit [...] [so- stelle, bei der das Tier auftritt, ist
wie] Kunst [als] das Produkt von Zeit, der Sündenfall. Denn:
Raum, Künstlerpersönlichkeit und
sozialen Bedingungen“28 betrachtete. „[…] die Schlange am Baum
Der zweite Zugang zu einer neuen des Paradieses beherrscht den Gang der
Kunst durch Carl Justi, beschäftigte biblischen Weltordnung als Ursache des
sich mit der Rolle der einzelnen Künst- Bösen und der Sünde. Sie ist am Para-
lerpersönlichkeiten und ihrem Einfluss diesholz doch im Alten wie im Neuen
auf die Kunstentwicklung. Testament satanische Macht, die die Tra-
Ein weiterer Kunstwissenschaftler gödie des sündigen Menschen, der auf Er-
des 19. Jahrhunderts war Giovanni lösung hofft, hervorrief.“30
Morel, der mit seiner „Form- und Stil-
analyse“ die künstlerische Analyse „Sie ist im alten Testament,
revolutionierte.29 wie die Urschlange Tiamat in Babylon,
Großen Einfluss im Bereich der Psy- der Geist des Bösen, der Verführung. In
chologie hatte Karl Lamprecht auf Griechenland ist sie auch die gnadenlo-
Warburg. se unterirdische Fresserin: Die Erinys
Er beschäftigte sich mit der „wissen- von Schlangen umzuckt, und die Götter
schaftlichen Sozialpsychologie“ und entsenden, um zu strafen, die Schlange
der daraus resultierenden Methode selbst, als Henker. Diese Vorstellung von
zur Untersuchung von Kunstwerken der Schlange als vernichtende Unter-
im Hinblick auf ihre gesellschaftliche weltsgewalt hat wohl im Mythos und in

25
Warburg, Aby (1924): Zum Vortrage von Karl Reinhardt über ‚Ovids Metamorphosen’ in der
Bibliothek Warburg am 24. Oktober 1924. In (Hrsg.): Galitz, Robert; Reimers, Brita (1995): Der
Hamburgischen Kulturstiftung. Bd. 2, Dölling und Galitz Verlag, S. 106.
26
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 11-21.
27
Ebd., S. 38.
28
Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 24.
29
Vgl.: Aby, Warburg; Fritz, Saxl (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual.
Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger
Vortrag. Berlin, S. 187./ Vgl. Perdita, Rösch: Aby Warburg. Mün-chen 2010, S. 25-27.
Lisa Kirch

der Gruppe des Laokoon zum mächtigs- steht eine[r] Schlangen-Gottheit […] ge-
ten tragischen Symbol geführt.“31 genüber, in der wir endlich die klassische
verklärte menschenfreundliche Schön-
In der Religion sieht Warburg sowohl heit begrüßen dürfen. Der Asklepios,
die Entwicklung des Menschen, als der Heilgott der Antike, hat die Schlan-
auch der Schlange zum Symbol, denn ge, die sich um seinen Heilstab windet,
als Symbol. Seine Züge sind die Züge,
[w]enn Religion Verknüpfung die in der klassisch-plastischen Kunst der 17
heißt, so ist das Symptom der Entwick- Weltenheiland trägt.33
lung aus diesem Urzustand heraus, dass
die Verknüpfung zwischen Mensch und In der mittelalterlichen Theo-
fremder Wesenheit auf Vergeistigung logie [dagegen] sehen wir das Wunder der
dadurch hindrängt, dass der Mensch sich ehernen Schlange gewissermaßen als legi-
mit dem Maskensymbol nicht mehr zusam- time Kultverehrung merkwürdigerweise
menzieht, sondern die Verursachung rein erhalten. Kaum etwas kann die Unzerstör-
gedanklich vollzieht, d.h. zu einer sys- barkeit des Tierkultes so zeigen, wie diese
tematischen sprachlichen Mythologie fort- Verwendung, in der das Wunder der eher-
schreitet. Der Wille zur Hingabe ist eine nen Schlange hinübergleitet in die christ-
veredelte Form der Maskierung. lich-mittelalterliche Weltanschauung.
Mit dem, was wir Fortschritt in der Kul- Denn die mittelalterliche Theologie hat
tur nennen, verliert das Wesen, das die diesen Schlangenkult als Objekt der
Hingabe erheischt, immer mehr seine Überwindung so stark in Erinnerung
ungeheuerliche Erfassbarkeit und wird behalten, daß sie aufgrund dieser doch
schließlich zum geistigen, unsichtbaren ganz vereinzelten und dem Sinne und
Symbol.32 der Theologie des Alten Testaments
widersprechende Stelle das Bild der
Warburg beschäftigte sich auch mit Schlangenverehrung im typologischen
anderen Zeitperioden und deren Be- Bilderkreis bis an die Kreuzigung selbst
deutungsübertragung auf das Reptil. heranbringt.34
In der Antike stehen sich zwei Sinn-
bilder der Schlange gegenüber: Auch die mythologischen Zusam-
menhänge thematisierte Warburg, in-
[Die] Schlange als Dämon in dem er kritisierte, dass es dem „Unbe-
der pessimistischen Weltanschauung […] fangenen“ naheliegt, „die elementare

30
Aby, Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek.
Berlin 1988, S. 51.
31
Ebd., S. 44 f.
32
Ebd., S. 54.
33
Ebd., S. 46.
34
Ebd., S. 51 f.
35
Ebd., S. 44.
Aby Warburg

Entladungsform dieser religiösen selbst als eine Art Ritual diente. Sein
Magie der Indianer als Ureigentüm- erster Vortrag fand in der Nervenkli-
lichkeit primitiver Wildheit, von der nik in Kreuzlingen statt und nicht vor
Europa nichts weiß, anzusehen“, ob- einem ausgewählten Publikum. Wie
wohl: auch bei den indianischen Völkern
diente die Vorstellung seines Textes
vor 2000 Jahren gerade in dem als Beweis der psychischen Reife und
18 Ursprungsland unserer europäischen Bil- in Warburgs Fall sogar seiner geisti-
dung, in Griechenland, Kultgewohnheiten gen Genesung.36
im Schwange [waren], die an verzerrter
Kraßheit das, was wir bei den Indianern
sehen, noch übertreffen.
Relevanz als Schlüsseltext
Im orgiastischen Kult des Dionysos z.B. und heutiger Stellenwert
tanzten die Mänaden mit Schlangen in den
Händen und um ihren Kopf wand sich die Aby Warburgs Vortrag nimmt in der
lebende Schlange als Diadem, während sie Geschichte der Kunstwissenschaft ei-
in der anderen Hand das Tier hielt, das im nen wichtigen Stellenwert ein.
asketischen Opfertanz zu Ehren des Got- Er ebnet mit seinem Text den Weg
tes zerrissen wurde.35 zu einer Kunstwissenschaft, die in-
terdisziplinär fungiert und sich nicht
Abschließend kann man festhalten, mehr ausschließlich auf den ästhe-
dass Aby Warburg als Untersuchungs- tischen Wert eines Kunswerks be-
objekt seiner Studie die Schlange und schränkt. Warburg sorgt dafür, dass
ihre Symbolbildung bei Stammesri- keine Kunstwerke mehr in ein Ana-
tualen der Pueblo-Indianer festlegte. lysemodell hineingezwungen wer-
Die von ihm dokumentierten über- den, das einer bestimmten Kultur
lebenden Traditionen bildeten die entspricht und keinen zeitgeschicht-
Grundlage ihrer Kultur, die nach lichen oder sozial- psychologischen
Warburg durch die rationale Zivili- Hintergrund berücksichtigt. Er un-
sierung und Technik ausgelöscht zu tersucht die Symbole der Hopi-In-
werden drohte. dianer auf kultureller und entsteh-
Man kann aus dem Aufsatz schließen, ungsgeschichtliche Ebene, die genau-
dass auch für Warburg sein Vortrag so relevant für die aus der Schlange

35
Ebd., S. 44.
36
Vgl.: Aby, Warburg; Fritz, Saxl (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual.
Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger
Vortrag. Berlin 2007, S. 250.
Lisa Kirch

entstandenen Blitzsymbole eines eines Kunstwerks.


„primitiven Stammes“ wie für alle Mit dieser Methode ist es möglich,
anderen Kunstwerke ist, Aby War- Kunst in einem allumfassenden Rah-
burg gilt als wichtiger Vordenker der men zu sehen und sowohl soziale,
Bildwissenschaften und der Ikono- historische sowie künstlerpersönli-
logie. Im Laufe der Jahre wurde die che Aspekte einzubeziehen. Wenn Aby
Person und der Name dahinter be- Warburg von einem erweiterten Ge-
kannter als alle seine Schriften. Un- genstandsbereich sprach, ging er da- 19
tersucht man die heutige Bild- oder von aus, das Hauptaugenmerk von
Kulturwissenschaft kann man fest- dem standardisierten, ästhetisierten
stellen, dass viele Gedanken, Arbeits- Kunstwerk abzuwenden und auch
methoden und Techniken auf War- Bildformen einzubeziehen, die erst
burg zurückzuführen sind. Er schaff- auf den zweiten Blick unter die Ka-
te zur Zeit des Umbruchs im Laufe tegorie Kunst fallen (verschiedenen
des 19. Jahrhunderts eine Grundlage, Formen von Illustrationen, Abbil-
die zu einem Umdenken führte und dungen in Werbeanzeigen oder Fo-
bis zum heutigen Tag Gültigkeit be- tos in Zeitungen). Als weiteren wich-
sitzt. Eine Aufzählung dieser As- tigen von Aby Warburg angeregten
pekte fi ndet sich in Perdita Röschs Untersuchungsaspekt nennt Perdita
Arbeit über Aby Warburg: Rösch den „Entstehungskontext“ ei-
nes Kunstwerks.
Interdisziplinarität, Erweite- Nicht mehr nur der ästhetische Wert
rung des Gegenstandsbereiches,Kunst- der Kunst spielt eine Rolle, sondern
werke als abhängig vom Kontext, in dem auch der Gesamtzusammenhang und
sie entstehen, Kunstwerke als Quellen, Kontext, in den das Kunstwerk wäh-
Diachrone Betrachtungsweise, Bilder als rend seiner Entstehungszeit einzu-
ausgezeichneter Gegenstandsbereich37 ordnen ist. (Politischer und histo-
rischer Hintergrund, Auftraggeber,
Als Interdisziplinarität sieht Warburg soziale Bedingungen etc.) Des Wei-
eine methodische Grenzerweiterung und teren nutzt Warburg ein Kunstwerk
den Einbezug verschiedener wissen- als Zeitzeugen, indem er den jewei-
schaftlicher Disziplinen (Ökonomie, ligen historischen Kontext untersucht
Religion, Literatur, Ethnologie, Psy- und daraus auf den Stil und die künst-
chologie etc.) bei der Untersuchung lerische Tendenz einer bestimmten

37
Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 32.
Aby Warburg

Epoche rückschließen kann. in Form eines Nachworts des Kultur-


Einen wichtigen Stellenwert in Aby wissenschaftlers Ulrich Raulff, bein-
Warburgs Arbeit nimmt zudem „das halten. Aby M. Warburg verkörperte
Nachleben der Antike“ ein, da er sein ganzes Leben lang den Fortschritt
sich mit überzeitlichen Motiven be- und die Moderne.
schäftigt, die in verschiedenen Zeit- Er war ein „brillanter Denker“, ver-
räumen auftreten oder wieder auftre- abscheute aber das Scheiben, da er
20 ten („Renaissance in Italien, Kunst nie die an sich selbst gestellten An-
des nördlichen Europas“ 38). sprüche erfüllen konnte40.
Aus genau diesem Grund basieren
Zuletzt beleuchtet Rösch Warburgs seine Bücher größtenteils auf No-
Vorgehen der Bildbetrachtung als tizen und Aufsätzen. Es ist schwer
Mittel zur Zeitdiagnostik. Rösch zu- unter seinen Arbeiten einen komplett
folge bezeichnet Warburg „Bilder als ausgearbeiteten Text zu finden.
ausgezeichnete[n][...] Gegenstands- Auch das Manuskript Das Schlangenri-
bereich“, die einen Rückschluss auf tual sollte nie veröffentlicht werden.
menschliche oder zeitliche Zustände Warburg selbst bezeichnete es als ei-
während des Entstehungszeitraums ne „gräuliche Zuckung eines enthaup-
erlauben 39. teten Frosches“41. Bei der Fertigstel-
Das Schlangenritual ist ein vielstimmig lung des Textes ahnte er nicht, dass sein
und oft rezipierter Text. Er nimmt Vortrag die Denkweise der Forschung
dadurch seine Rolle als Schlüsseltext sowie die Untersuchungsmethoden
ein. Nicht nur Perdita Rösch, auch von Kunst revolutionieren und zu ei-
viele weitere bekannte Autoren wid- nem Schlüsseltext der Kunstwissen-
meten sich, nach Erscheinen, dem schaft werden würde.
vielseitigen Text Warburgs.
Ein Beispiel dafür sind die im Wagen-
bach Verlag erschienenen Ausgaben,
welche neben Auszügen und Kom-
mentaren von Ernst Gombrich oder
Saxl, auch eine Zusammenfassung
von Warburgs Arbeit und deren Ver-
bindung zu anderen wissenschafl i-
chen Zweigen, wie der Anthropologie,

38
Siehe unter 2.: Untersuchung zur Geburt der Venus.
39
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 32- 38.
40
Vgl.: Ebd., S. 38.
Lisa Kirch

21

41
Aby, Warburg; Fritz, Saxl (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual.
Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger
Vortrag. Berlin 2007, S. 250.
Aby Warburg

Quellenverzeichnis

Bing, Gertrud; Biermann-Ratjen, Hans Harder (1958): Aby M. Warburg.


22 Vortrag von Frau Professor Dr. Gertrud Bing anlässlich der feierlichen
Aufstellung von Aby Warburgs Büste in der Hamburger Kunsthalle am
31. Oktober 1958 mit einer vorausgehenden Ansprache von Senator Dr.
Hans H. Biermann-Ratjen. Hamburg: Kulturbehörde der Freien und
Hansestadt Hamburg.

Böhme, Hartmut: Aby M. Warburg (1866- 1929), In: Michaels, Axel (Hg.)
(1997): Klassik der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis
Mircea Eliade. München: C.H. Beck Verlag.

Gombrich, Ernst H. (1981): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie.


Frankfurt am Main: Philo Fine Arts Verlag.

Hensel, Thomas (2011): Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde.
Aby Warburgs Graphien. Berlin: Akademie Verlag GmbH.

Hoffmann, Werner; Syamken, Georg; Warnke, Martin (1980):


Die Menschenrechte des Auges: Über Aby Warburg. Frankfurt am Main:
Europäische Verlagsanstalt.

http://www.tagesspiegel.de/wissen/bildwissenschaft-statt-kunstgeschich-
te-gespenstergeschichte-fuer-erwachsene/3796706.html.
(Stand: 06.11.2017, 13:16 Uhr)

http://www.tagesspiegel.de/wissen/bildwissenschaft-statt-kunstgeschich-
te-gespenstergeschichte-fuer-erwachsene/3796706.html.
(Stand: 06.11.2017, 11:08 Uhr)
Lisa Kirch

McEwan, Dorothea: Zur Entstehung des Vortrags über das Schlangenritual:


Motiv und Motivation/ Heilung durch Erinnerung. Einleitung und Quellenla-
ge. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hg.) (2007):
Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu
Aby Warburgs. Berlin: Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag.

Schüttpelz, Erhard: Das Schlangenritual der Hopi und Aby Warburgs Kreuzlin-
ger Vortrag. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hg.) 23
(2007): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi
bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag.

Saxl, Fritz (1981 [1970]): Die Geschichte der Bibliothek Aby M. Warburgs (1886
- 1944). In: Gombrich, Ernst H. (1981): Aby Warburg. Eine intellektuelle
Biographie. Frankfurt am Main: Philo Fine Arts Verlag.

Rösch, Perdita (2010): Aby Warburg. München: Wilhelm Fink Verlag.

Warburg, Aby/ Saxl, Fritz (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes
Fest bei den Pue-blo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas;
Schüttpelz, Erhard (Hg.) (2007): Schlangenritual. Der Transfer der
Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag.
Berlin: Akademie Verlag.

Warburg, Aby (1988): Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kultur-


wissenschaftliche Bibliothek. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach.
Warburg, Aby: Zum Vortrage von Karl Reinhardt über ‚Ovids Metamorphosen’
in der Bibliothek Warburg am 24. Oktober 1924. In: Galitz, Robert; Reimers,
Brita (Hg.) (1995): Der Hamburgischen Kulturstiftung, Bd. 2, Dölling und
Galitz Verlag.
Martin Heidegger
Der Ursprung des Kunstwerks

Den Inhalt Martin Heideggers Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes


24 bildet in der ersten Fassung ein Vortrag, den er am 13. November 1935 in
der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft zu Freiburg i.Br. gehalten hat.
Die Version, die 1950 in dem Band Holzwege im Verlag Vittorio Kloster-
mann veröffentlicht wurde, umfasst insgesamt drei Vorträge Heideggers,
gehalten im Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt a.M. am 17. Und 24.
November und am 4. Dezember 1936.
Die vorliegende Ausgabe ist wort- und seitengleich mit der zweiten Auflage
des fünften Bandes der Martin Heidegger Gesamtausgabe, sowie mit der
achten Auflage der Einzelausgabe der Holzwege.
In Der Ursprung des Kunstwerkes geht der Philosoph Martin Heidegger eben
dieser Frage nach der Wesensherkunft des Kunstwerks und mithin der
Kunst selbst nach. In einem methodischen Kreisgang hinterfragt er Be-
griffe wie Kunst(-Werk), Erde, Welt und Wahrheit. Die Abhandlung wird
von der Frage nach der Kunst gerahmt, wie und wo es sie gibt und in-
wiefern sie ein Ursprung sein kann. Der Text ergründet die anfängliche
Feststellung, nach welcher der Ursprung des Kunstwerkes die Kunst ist.
Heidegger folgend sei dies so, weil die Kunst in ihrem Wesen eine ausge-
zeichnete Weise darstelle, wie Wahrheit seiend, d.h. geschichtlich werde.1
Der Ursprung des Kunstwerkes gliedert sich in drei Unterpunkte, einem
Nachwort sowie einem Zusatz und umfasst in der vorliegenden Ausgabe2
insgesamt 74 Seiten.
Die anfängliche Zusammenfassung des Textes soll den Leser über dessen
Inhalt informieren, auf die wichtigsten Argumentationsstrukturen verwei-
sen und gleichzeitig ein einleitendes Gefühl für Heideggers spezifische Me-
thodik ermöglichen. Anschließend werden Autor und Text in den Publika-
tionszusammenhang ihrer Zeit eingeordnet und es wird versucht, seinen
Status als Schlüsseltext zu klären.

1
Vgl.: Heidegger, Martin (2012 [1935]): Der Ursprung des Kunstwerkes. Frankfurt a. M.: Vittorio
Klostermann, S. 66.
2
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Frankfurt a. M.: Vittorio a. M. 2012 [1935].
25
Martin Heidegger

das gesuchte Wesen des Werkes zu-


nächst auf dessen Dinghaftigkeit zu.
Im ersten Unterkapitel „Das Ding
Zusammenfassung und das Werk“ gilt es nunmehr, das
Der Ursprung des Kunstwerks „Dinghafte des Dinges zu erfahren“5.
Die problematischen Auseinander-
Im ersten Abschnitt mit dem Titel setzungen mit dem Dinghaften, u.a.
26 „Der Ursprung des Kunstwerkes“ führt als geformter Stoff, führen Heideg-
Heidegger seine grundlegenden Über- ger zu der Ansicht, dass es eben
legungen zu den Begriffl ichkeiten, nicht das Dinghafte sei, welches er
welche sich schon im Titel abzeich- in den Blick nehmen müsse, sondern
nen, ein. Er zeichnet in diesem Kon- das Zeughafte (des Zeuges), welches
text eine Skizze der Begriffe, die er in eng mit dem Begriff des Dinges als
der weiteren Abhandlung miteinan- dessen Auslegung verbunden ist.
der in Verbindung setzten will, um
aus ihnen und mit ihnen die Frage Am Beispiel des Werkes Schuhe von
nach dem Kunstwerk zu stellen, Vincent van Gogh (Abbildung 1) un-
bzw. diese zu problematisieren. tersucht er das Zeugsein des Zeuges
Indem er die Begriffe in Beziehung und gelangt zu der methodischen Ein-
setzt und sich in einer zirkulären sicht, jenen Zeugcharakter nur durch
Bewegung ihren Ursprüngen zu nä- und in Anwesenheit eines Werkes be-
hern versucht, führt er gleichzeitig stimmen zu können.
seine Methode ins Feld, welche sich
am besten mit einem einleitenden
Zitat aus dem Nachwort Heideggers
beschreiben lässt: „Die vorstehen-
den Überlegungen gehen das Rätsel
der Kunst an, das Rätsel, das die
Kunst selbst ist. Der Anspruch liegt
fern, das Rätsel zu lösen. Zur Auf-
gabe steht, das Rätsel zu sehen.“3
Dadurch, dass er festhält, dass Wer-
ke so natürlich vorhanden sind wie Abbildung 1:
Dinge sonst auch,4 führt Heidegger Vincent van Gogh: Schuhe 1886

3
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Frankfurt a. M.: Vittorio a. M. 2012 [1935].
4
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Nachwort, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 67.
5
Ebd., S. 3.
Julia Kohushölter,

Im Werk der Kunst fi nde sich diese Die für diesen Text fundamental
Wahrheit des Zeugseins, seine We- wichtige Differenzsetzung von Erde
senhaftigkeit als Seiendes. Über den und Welt führt zu der Aussage Hei-
Weg der Bestimmung des Zeughaften deggers, dass das Werk die Erde sie
des Zeuges gelangt Heidegger nun- selbst sein lässt. Eine These, die es
mehr zurück zum Dinghaften des im weiteren Verlauf ausführlicher
Dinges und hält vorerst eine weitere nachzuzeichnen gilt. Im Charakter
methodische Überlegung fest: Die des Werkes als Werksein gehöre das 27
Forderung, vornehmlich das Sein des Aufstellen einer Welt sowie das Her-
Seienden zu denken, sowie Selbst- stellen der Erde wiederum zusam-
verständlichkeiten und Scheinbe- men, jedoch bezeichnet Heidegger
griffe zu meiden.6 diese konstitutive Konstellation als
Durch Heideggers Untersuchung des einen Streit: Ein Gegeneinander mit-
zeughaften wird deutlich, dass das hin, durch welches sich Erde und Welt
Werk selbst das Sein des Seienden wechselseitig hervorbringen.8
eröffnet und die Erörterung seiner In eben dieser Bestreitung des Streits
Wahrheit ermöglicht. besteht das Werksein des Werkes.9
So stellt sich für Heidegger im zwei- Erst durch diese Erkenntnis sei es
ten Unterkapitel: „Das Werk und die möglich, wieder versucht er zur Fra-
Wahrheit“ die Frage nach der Wahr- ge nach der Wahrheit zurückzu-
heit, die sich als Kunst ereignet. kehren. Das Wesen der Wahrheit ist
Das Charakteristikum des Werkes, nunmehr seine Unverborgenheit, wie
sein Werksein, erläutert Heidegger an Heidegger anführt. Erneut versucht
einem weiteren Beispiel, einem grie- er, das Sein der Wahrheit als Seien-
chischen Tempel. Ein Werk wie der des zu ergründen, über sein Cha-
Tempel lasse einen Gott anwesen: rakteristikum als Unverborgenes.
Er (der Tempel) selbst, auf der Erde Infolgedessen unternimmt Heideg-
stehend, stelle eine Welt auf, die im ger eine weitreichende, komplexe
Gegensatz zur Erde immer unge- Herleitung der Seinsbestimmung
genständlich sei. Indem das Werk die als Herein- und Herausstehen in/
Welt aufstelle, eröffne es gleichzeitig aus einer Lichtung, die sich als offe-
einen Raum, eine Geräumigkeit, in ne Stelle im Ganzen des Seienden
der sich z.B. Zeughaftes zueinander zeigt. In dieser Differenzlogik ist
verhalten könne.7 auch die Verborgenheit (und mit ihr

6
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 25.
7
Vgl.: Ebd., S. 30.
8
Vgl.: Ebd., S. 35.
9
Vgl.: Ebd., S. 36.
10
Vgl.: Ebd., S. 40.
Martin Heidegger

das Wesen der Wahrheit) abhängig Erde und Welt. Diese Konstellation
von der (Be-) Lichtung. Indem er der nennt Heidegger Gestalt und über sie
Verbergung zwei ausdifferenzierte gelangt er nun auch zu der Seinsbe-
Seinsarten zuweist (Versagen oder stimmung des Geschaffenseins als
Verstellen), gelangt Heidegger zu der „Festgestelltsein der Wahrheit in die
Auffassung, das Wesen der Wahrheit Gestalt.“12 Kunst bestimmt er im Um-
sei doppelte Verbergung. Doch diese kehrschluss als „ein Werden und Ge-
28 Feststellung genügt Heidegger noch schehen der Wahrheit.“13 Kunst in
nicht und er stellt die abschließende seiner Wesenshaftigkeit ist wieder-
Frage: „Was ist Wahrheit, daß sie als um Dichtung, in welcher Wahrheit -
Kunst geschehen kann oder sogar geschieht. Als Dichtung bezeichnet
geschehen muß? Inwiefern gibt es Heidegger jedoch nicht schlicht Po-
Kunst?“11 esie, sondern er defi niert Dichtung
Im abschließenden Kapitel „Die als „das entwerfende Sagen“ oder
Wahrheit und die Kunst“ wendet auch als „Sagen der Unverborgenheit
sich Heidegger erneut dem Werk- des Seienden“14 und somit als „Stif-
haften des Werkes zu und bestimmt tung der Wahrheit.“15
es sogleich über sein Geschaffensein Folglich kommt er zusammenfas-
durch einen Künstler. Dieses Schaf- send zu dem Ergebnis, dass Kunst
fen des Künstlers denkt er wieder- als Dichtung Stiftung im mehrfachen
um als ein Schaffen. Eben dieses Sinne ist. Anstiftung des Streits der
Herbringen als Schaffen sei das Ein- Wahrheit aber auch Stiftung als An-
richten der Wahrheit ins Werk. fang von etwas.16
Nun stellt sich die Frage nach der In dieser ‚Funktion’ als Anfang ist
wesentlichen Bestimmung des Ge- die Kunst geschichtlich; sie ist Ge-
schaffenseins, wie sie Heidegger un- schichte nach Heidegger insofern, als
unterbrochen an die Termini seiner dass sie Geschichte gründet.
Untersuchung heranträgt: Durch ei-
nen Rückblick auf die Definition der
Wahrheit vollzieht er erneut einen
methodischen Zirkelgang.
Der angeführte Riß als Lichtung, der
sich im Ganzen des Seienden befi n-
det, ermöglicht den Streit zwischen

11
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 44.
12
Ebd., S. 51.
13
Ebd., S. 59.
14
Ebd., S. 61.
15
Ebd., S. 63.
16
Ebd., S. 64.
Julia Kohushölter,

Inhalt und So hält er fest:


Argumentationstruktur
Ursprung bedeutet hier jenes,
Bis zu dieser abschließenden These von woher und wodurch eine Sache ist,
begeht Heidegger einen nunmehr was sie ist und wie sie ist. Das, was etwas
skizzierten, kreisförmigen Weg, wel- ist, wie es ist, nennen wir sein Wesen.
cher in dieser anschließenden Aus- Der Ursprung von etwas ist die Her-
führung gefolgt werden soll. Dabei kunft seines Wesens. Die Frage nach 29
wird vor allen Dingen, unter Berück- dem Ursprung des Kunstwerkes fragt
sichtigung der Methodik, Heideg- nach seiner Wesensherkunft.18
gers Argumentationsstruktur auf-
gezeigt, welche in der vorangegan- Sogleich negiert er eine Ursprungsbe-
genen Zusammenfassung lediglich stimmung des Kunstwerks über die
anklingen konnte. Ein Fokus liegt Tätigkeit eines Künstlers, indem er
hierbei auf den, für diesen Text kon- dessen Deklaration als Künstler dem
stitutiven, Thesen der einzelnen Ab- Werk zuschreibt.
schnitte, welche sukzessive aufein- Beide, Künstler und Werk, seien je in
ander aufbauend mit keinem Schritt sich und in ihrem Wechselbezug
übersprungen werden dürfen. durch ein Drittes, die Kunst.19
Infolgedessen wandelt sich die Frage
Wie er die Frage nach dem Wesen der nach dem Ursprung des Kunstwerkes
Kunst beantworten möchte, erläutert sogleich zu der Frage nach dem We-
Heidegger im Verlauf des Textes fol- sen der Kunst. Diese, die Kunst selbst,
gendermaßen: könne jedoch nur dort zu finden sein,
wo sie walte – im „Kunst-Werk“.20
Die Antwort auf die Frage ist Was Heidegger hier als Autor tut, re-
wie jede echte Antwort nur der äußerste flektiert er nunmehr selbst: Er be-
Auslauf des letzten Schrittes einer langen zeichnet sein wiederholtes Fragestel-
Folge von Frageschritten. Jede Antwort len an die Begriffe und ihre Verknüp-
bleibt nur als Antwort in Kraft, solange fungen selbst als „Kreisgang“, den
sie im Fragen verwurzelt ist.17 es zu vollziehen gilt. Dieser Zirkel
aus der Frage nach dem Kunstwerk,
Seine Methodik spiegelt sich bereits welche wiederum zur Frage nach dem
in dem Anfang seiner Arbeit wieder. Künstler wird, welcher sich und das

17
Ebd., S. 58.
18
Ebd., S. 1.
19
Vgl.: Ebd., S. 1.
20
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 1.
Martin Heidegger

Kunstwerk nur in wechselseitig Be- So kommt Heidegger zurück zu der


zogenheit hervorbringt, wobei bei- Frage nach dem Dinghaften und mit
de – Kunstwerk und Künstler – ihr zu der Analyse des Dings selbst.
abhängig sind von der Kunst, wel-
che jedoch nur im Kunstwerk als des-
sen Manifestation betrachtet wer- Das Ding und das Werk
den kann - eben dieser Zirkel sei
30 nach Heidegger keinesfalls ein Man- Um das Dinghafte25 des Dinges zu
gel, sondern, im Gegenteil, er ist not- erfahren müsse der Umkreis bekannt
wendig, um einer Selbsttäuschung sein, „in den all jenes Seiende gehört,
und vorschnellen Bestimmungen zu das wir seit langem mit dem Namen
entgehen.21 Ding ansprechen.“26
Über die Aufzählung einiger Dinge,
Folglich gilt: die erscheinen (einen Stein am Weg,
die Erdscholle oder den Krug, eben-
Um das Wesen der Kunst zu so wie die Milch in diesem Krug oder
fi nden, die wirklich im Werk waltet, su- das Wasser in einem Brunnen etc.),
chen wir das wirkliche Werk auf und sowie einiger Dinge, die nicht er-
fragen das Werk, was und wie es sei.22 scheinen, die er nach Kant als „das
Ganze der Welt“ betitelt, gelangt Hei-
Auf diesem Weg hält Heidegger als degger zu der Feststellung, dass bei-
ersten Schritt fest, dass das Kunst de Arten an Dingen, gemeinhin al-
werk so natürlich vorhanden sei, wie les Seiende, das überhaupt ist, in der
Dinge sonst auch: „Alle Werke haben Sprache der Philosophie ein Ding
dieses Dinghafte. Was wären sie oh- genannt wird.27 Oder andersherum:
ne dieses?“23 Sie seien jedoch noch „Im Ganzen nennt hier das Wort
etwas mehr und dieses Andere ma- Ding jegliches, was nicht schlechthin
che das Künstlerische aus. nichts ist.“28
Für dieses Künstlerisch-ästhetische Diese Feststellung helfe allerdings
scheine das Dinghafte jedoch als Un- nicht, das Dinghafte eines Dinges im
terbau zu fungieren, „darein und da- Gegensatz zu der Seinsart des Wer-
rüber das Andere und Eigentliche kes zu bestimmen. Nicht alle Dinge
gebaut ist.“24 werden leichthin als solche betitelt,
darunter der Mensch oder auch Gott.

21
Vgl.: Ebd., S. 2 f.
22
Ebd., S. 3.
23
Ebd.
24
Ebd., S. 4.
25
Auch: Dingsein, Dingheit.
26
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 5.
27
Vgl.: Ebd., S. 5.
28
Ebd.
29
Vgl.: Ebd., S. 6.
Julia Kohushölter,

So grenzt Heidegger ein, dass die Na- Aus diesem Kontext geht die Bestim-
tur- und Gebrauchsdinge, die ge- mung des Dinges hervor, „wonach
wöhnlich so genannte Dinge seien, es nicht anderes ist als die Einheit
„bloße Dinge“, wie er sie infolgedes- einer Mannigfaltigkeit des in den Sin-
sen auch nennt.29 Um ihrer Bestim- nen Gegebenen“, oder dem Ding als
mung näher zu kommen brauche es (2) „das in den Sinnen der Sinnlich-
lediglich die Betrachtung der geläu- keit durch die Empfindungen Ver-
figen Auslegung der Dinge, von wel- nehmbare.“33 Doch auch dieses Ver- 31
chen es nach Heidegger drei gibt: ständnis greift nach Heidegger zu
Eine erste, allgemeine Definition des kurz:
Dinges ist das Ding als (1) Ansamm-
lung seiner Merkmale oder „jenes, In dem jetzt genannten Ding-
um das herum sich die Eigenschaften begriff liegt nicht so sehr ein Überfall auf
versammelt haben.“30 das Ding als vielmehr der übersteigerte
Versuch, das Ding in eine größtmögli-
Doch vor allen bedenken sagt che Unmittelbarkeit zu uns zu bring-
uns schon der wache Aufenthalt im Um- en. Aber dahin gelangt ein Ding nie, so-
kreis von Dingen, daß dieser Dingbegriff lange wir ihm das empfi ndungsmäßig
das Dinghafte der Dinge, jenes Eigen- Vernommene als sein Dinghaftes zuwei-
wüchsige und Insichruhende nicht trifft.31 sen. Während die erste Auslegung des
Dinges uns dieses gleichsam vom Leibe
Zwar passe dieser geläufige Dingbe- hält und zu weit wegstellt, rückt die zweite
griff jederzeit auf jedes Ding, den- es uns zu sehr auf den Leib. In beiden
noch fasse er nicht das Wesen des Auslegungen verschwindet das Ding.34
Dinges, sondern überfalle es. Diesen
Überfall könne nur vermieden wer- Beide angesprochenen Charakteris-
den wenn man das Ding Ding sein tika werden dem Ding durch seine
lasse. Dies geschehe längst: Stofflichkeit zugesprochen. Das Ding
(3) als geformter Stoff scheint für
In dem, was der Gesicht-, Ge- Heidegger die einzige Auslegung zu
hör- und Tastsinn beibringen, in den sein, die sowohl auf die Naturdinge,
Empfi ndungen des Farbigen, Tönenden, wie auch auf die Gebrauchsdinge
Rauen, harten rücken uns die Dinge, ganz gleich gut passt. Mit ihr könne nun
wortwörtlich genommen, auf den Leib.32 auch die Frage nach dem Dinghaften

30
Vgl.: Ebd., S. 7.
31
Ebd., S. 9.
32
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 10.
33
Ebd., S. 10.
34
Ebd., S. 11.
35
Vgl.: Ebd., S. 11.
Martin Heidegger

im Kunstwerk gestellt werden, da das besonderen Weise nahe, weil es durch un-
Dinghafte am Werk offenkundig der ser eigenes Erzeugen ins Sein gelangt.38
Stoff sei, aus dem es bestehe.35
Doch auch das Stoff-Form Gefüge So möchte er dem Wink folgen und
müsse aufgrund seiner Bedeutung für zunächst eben dieses Zeughafte des
die Kunsttheorie und Ästhetik kri- Zeuges bestimmen.
tisch beäugt, bzw. die Ausweitung Um ihm näher zu kommen wählt er
32 und Entleerung des Begriffes rück- die Betrachtung eines Gemäldes von
gängig gemacht werden. Somit stellt van Gogh39, welches für Heidegger
sich für Heidegger die Frage danach, gewöhnliches Zeug – ein Paar Bau-
wo das Stoff-Form-Gefüge seinen Ur- ernschuhe – darstellt. Über diese
sprung hat - im Dinghaften des Din- möchte er „das dienliche Zeug in
ges oder im Werkhaften des Werkes.36 seinem Dienst aufsuchen“40 und be-
Als Grundzug der Dinge stellt er des- schreibt das Werk folgendermaßen:
sen Dienlichkeit fest. In dieser Dien-
lichkeit, das ‚Um-zu’ in der Verwen- Aus der dunklen Öffnung des
dung der Dinge, gründe sich die ausgetretenen Inwendigen des Schuh-
Formgebung als auch die Stoffwahl. zeugs starrt die Mühsal der Arbeits-
Sie werden angefertigt als ein Zeug schritte. In der derbgediegenen Schwere
zu etwas. Das Zeug meint nunmehr des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähig-
das eigens zu seinem Gebrauch und keit des langsamen Ganges durch die
Brauch Hergestellte.37 weithin gestreckten und immer gleichen
Das Zeug nimmt für Heidegger eine Furchen des Ackers, über dem ein rau-
eigentümliche Stellung zwischen her Wind steht. Auf dem Leder liegt das
Ding (weil durch seine Dinglichkeit Feuchte und Satte des Bodens. Unter
bestimmt) und Werk (weniger als die- den Sohlen schiebt sich hin die Einsam-
ses, da ohne dessen Selbstgenügsam- keit des Feldesweges durch den sinken-
keit) ein. In diesem Kontext versteht den Abend. In dem Schuhzeug schwingt
er die Dingbestimmung aus der Aus- der verschwiegene Zuruf der Erde […]
legung des Zeugseins des Zeuges Durch dieses Zeug zieht das klaglose
als einen Wink: Bangen um die Sicherheit des Brotes, die
wortlose Freude des Wiederübstehens der
Dieses Seiende, das Zeug, ist Not, das Beben in der Ankunft der Ge-
dem Vorstellen des Menschen in einer burt und das Zittern in der Umdrohung

36
Vgl.: Ebd., S. 13.
37
Vgl.: Ebd.
38
Ebd., S. 17.
39
Heidegger merkt etwas weiter im Text an: „Gerade in der großen Kunst, und von ihr allein ist hier
die Rede, bleibt der Künstler gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im Schaffen
sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes.“ Martin Heidegger: Der
Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 26.
40
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 18.
41
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 19.
Julia Kohushölter,

des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug Das Werk und die Wahrheit
und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.41
Um das Geschehnis der Wahrheit im
Durch die Betrachtung stellt er fest, Werk erneut sichtbar zu machen, wen-
dass das Zeugsein des Zeuges zwar in det sich Heidegger im dritten Ab-
seiner Dienlichkeit besteht, aber diese schnitt seines Textes der Betrachtung
selbst ruhe in der Fülle eines we- eines griechischen Tempels46 zu.
sentlichen Seins des Zeuges, das er Durch den Tempel, so Heideggers 33
Verlässlichkeit nennt. Durch diese Beobachtung, wird [ein] Gott anwe-
Verlässlichkeit des Zeuges sei sich send, bzw. west Gott an. Der Tempel
die Bäuerin (als imaginierte Träge- selbst steht, bzw. ruht dabei auf si-
rin der abgebildeten Schuhe) ihrer cherem Grund und öffnet – diffe-
Welt gewiss: „Welt und Erde sind renzlogisch – durch seinen festen
ihre und denen, die mit ihr in ihrer Stand allererst „die Weite des Him-
Weise sind, nur so da: im Zeug.“42 mels“47. Auf was der Tempel steht, ist
Der gewählte methodische Kniff, die Erde: „Sie lichtet zugleich jenes,
dass Anschauen eines Werkes – Van worauf und worin der Mensch sein
Goghs Gemälde – ist für Heidegger Wohnen gründet“. Sie ist es, „wohin
ein Indiz dafür, dass er vor dem Werk das Aufgehen alles Aufgehende und
je woanders war als gewöhnlich und zwar als solches zurückbirgt.
dass das Kunstwerk alleine zu wis-
sen gab, was das Schuhzeug in Wahr- Im Aufgehen west die Erde als das
heit ist: „Im Werk der Kunst hat sich Bergende.“48 Was Heidegger hier me-
die Wahrheit des Seienden ins Werk thodisch anführt ist eine Umkehr der
gesetzt.“43 Infolgedessen bestimmt er Betrachtungsweise: Anstatt von dem
das Wesen der Kunst als „das Sich- Da-sein des Tempels auszugehen, er-
ins-Werk-Setzen der Wahrheit des läutert er zuerst einmal, was der Tem-
Seienden“44, also als eine Möglich- pel durch sein Da-sein zuallererst
keit, durch die Betrachtung des Wer- ermöglicht oder anwesen lässt (wie
kes ein Seiendes, wie das Zeug, wahr- einen Gott). Was das Werk in seinem
haft zu bestimmen und fragt infol- festen Stand auf der Erde aufstellt,
gedessen nach der Wahrheit selbst, das heißt in einer wechselseitigen Be-
welche sich als Kunst ereigne.45 dingtheit hervorhebt oder, wie Hei-
degger es nennt, aufstellt, ist die Welt:

42
Ebd., S. 19 f.
43
Ebd., S. 21.
44
Ebd.,
45
Vgl.: Ebd., S. 25.
46
Kunstwerke sind für Heidegger mithin nicht (nur) Gemälde, sondern auch Bauwerke oder, im
Besonderen und wie noch zu zeigen sein wird, Poesie.
47
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 28.
48
Ebd., S. 28.
49
Ebd., S. 30.
50
Ebd., S. 31.
.
Martin Heidegger

„Werksein heißt: eine Welt aufstel- Dies ist der erste Charakterzug des
len.“49 Was aber ist die Welt, die das Werkes.
Werk aufstellt? Heidegger gibt eine
überaus vage Antwort, eine Bestim- Den zweiten Charakterzug des Wer-
mung hauptsächlich ex negativo: kes leitet Heidegger aus dessen her-
stellenden Charakter ab und fragt:
Welt ist nicht bloße Ansamm- „Aber was stellt das Werk her?“52
34 lung der vorhandenen abzählbaren oder Um diese Frage zu beantworten schaut
unabzählbaren, bekannten und unbe- er sich erneut das Zeug an und stellt
kannten Dinge. Welt ist aber auch nicht fest, dass das Material, aus dem das
ein nur eingebildeter, zur Summe des Zeug entsteht, in der Herstellung ver-
Vorhandenen hinzu vorgestellter Rah- braucht wird und in seiner Dienlich-
men. Welt weltet und ist seiender als keit aufgeht. Anders beim Werk:
das Greifbare und Vernehmbare, worin
wir uns heimisch glauben. Welt ist nie Das Tempel-Werk dagegen
ein Gegenstand, der vor uns steht und läßt, indem es eine Welt aufstellt, den
angeschaut werden kann. Welt ist das Stoff nicht verschwinden, sondern aller-
immer Ungegenständliche, dem wir un- erst hervorkommen und zwar im Offenen
terstehen, solange die Bahnen von Tod, der Welt des Werkes.53
Segen und Fluch uns in das Sein ent-
rückt halte. Wo die wesenhaften Ent- Weiterführend stellt sich das Werk in
scheidungen unserer Geschichte fallen, diesem Prozess zurück auf die Erde
von uns übernommen und verlassen, und stellt sie somit her, bzw. lässt sie
verkannt und wieder erfragt werden, da Erde sein.54 Anschaulich macht Hei-
weltet die Welt.50 degger diesen Prozess anhand des
Bildhauers, bzw. Dichters: Im Gegen-
Die Welt, wie sie Heidegger meint, satz zu einem Mauerer oder einem
eröffnet einen Raum und ermög- einfachen Redner würden erstere ihr
licht Verhältnisse – sie richtet eine Material, den Stein oder die Worte,
Geräumigkeit ein. in der Benutzung nicht aufbrauchen,
Insofern folgert Heidegger, dass das sondern sie im Gegenteil erst wahr-
Werk als Errichtendes eine Welt aufs- haftig sein lassen.55
tellt und somit das Offene der Welt
offenhält.51

49
Ebd., S. 30.
50
Ebd., S. 31.
51
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M. 2012 [1935], S. 31.
52
Ebd., S. 31.
53
Ebd., S. 32.
54
Vgl.: Ebd., S. 32.
55
Vgl.: Ebd., S. 34.
Julia Kohushölter,

Im nächsten Schritt fragt Heidegger Über die allgemeine Defi nition der
nach den Bezügen der zwei Charak- Wahrheit als etwas Wahres, bzw als
terzüge des Werkes, das (1) Aufstellen die Übereinkunft der Erkenntnis
einer Welt und das (2) Herstellen mit der Sache, gelangt Heidegger zu
der Erde, im Werk selbst: der antiken Bedeutung der Wahr-
heit als aletheia, welche er mit der
Die Welt gründet sich auf die „Unverborgenheit des Seienden“59
Erde, und die Erde durchragt Welt. Al- übersetzt. Über diese antike Defi ni- 35
lein, die Beziehung zwischen Welt und tion hinaus hätte sich keine der Aus-
Erde verkümmert keineswegs in der lee- legungen mehr mit dieser Eigenschaft
ren Einheit des sich nichts angehenden der Wahrheit als Unverborgenheit
Entgegengesetzten. Die Welt trachtet in auseinandergesetzt und sich stattdes-
ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu sen auf die Wahrheit als Richtigkeit
überhöhen. Sie duldet als das Sichöff- beschränkt. Heidegger gibt jedoch zu
nende kein Verschlossenes. Die Erde bedenken, dass etwas, um wahrhaftig
aber neigt dahin, als die Bergende je- zu sein und darauf aufbauend rich-
weils die Welt in sich einzubeziehen und tig, schon aus der Unverborgenheit
einzubehalten.56 herausgetreten sein muss. Also fragt
Heidegger danach, wie die Wahrheit
Was in der Auseinandersetzung pas- als diese Unverborgenheit geschehen
siert, nennt Heidegger einen Streit57. könne - dazu müsse er zunächst nä-
Das Werk wiederum fungiert nun als her erläutern, was die Unverborgen-
Stifter des Streites zwischen Erde und heit selbst sei.60 Über das Seiende hi-
Welt und zwar nicht, um zu schlich- naus geschehe nach Heidegger noch
ten, sondern vielmehr um den kons- etwas anderes:
titutiven Streit beizubehalten.
So passiert durch den Streit die Ein- Inmitten des Seienden im
heit von Erde und Welt im Werk. Ganzen west eine offene Stelle. Eine
Mit dieser Feststellung greift Hei- Lichtung ist. Sie ist, vom Seienden her
degger nun die Frage nach der Wahr- gedacht, seiender als das Seiende. Diese
heit wieder auf: „inwiefern geschieht offene Mitte ist daher nicht vom Seien-
in der Bestreitung des Streites von den umschlossen, sondern die lichtende
Welt und Erde die Wahrheit? Was Mitte selbst umkreist wie das Nichts,
ist Wahrheit?“58 das wir kaum kennen, alles Seiende.

56
Ebd., S. 35.
57
Streit definiert Heidegger folgendermaßen: „Im wesenhaften Streit jedoch heben die Streitenden,
das eine je das andere, in die Selbstbehauptung ihres Wesens.“ Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 35.
58
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 36.
59
Ebd., S. 37.
60
Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 39.
Martin Heidegger

Das Seiende kann als Seiendes nur sein, dieses zweifache Verbergen.
wenn es in das Gelichtete dieser Lich- Wie verhält es sich nun mit dieser
tung herein- und heraussteht. [...] Erkenntnis und den bereits auf-
Dank dieser Lichtung ist das Seiende in gezeigten Streit? Um den Kreis zu
gewissen und wechselnden Maßen un- schließen hält Heidegger fest: „Erde
verborgen. Doch selbst verborgen kann durchragt nur die Welt, Welt gründet
das Seiende nur im Spielraum des Ge- sich nur auf die Erde, sofern die Wahr-
36 lichteten sein.61 heit als Urstreit von Lichtung und
Verbergung geschieht.“62 Wahrheit
Mit anderen Worten: Die Lichtung, geschehe nunmehr im Werksein des
die das Seiende umkreist, ist für die- Werkes, denn: „Aufstellend eine Welt
ses konstitutiv. Dadurch, dass es sie und herstellend die Erde ist das Werk
gibt, sie das Seiende umkreist, gibt die Bestreitung jenes Streites, in dem
es das Seiende überhaupt. Es gibt die Unverborgenheit des Seienden
das Seiende jedoch in einer prozes- im Ganzen, die Wahrheit, erstritten
sualen Weise, in der es abwechselnd wird.“63 Dies sei jedoch nur eine Weise
in die Lichtung hereinsteht (‚be- in der Wahrheit geschehe, nämlich in
leuchtet’ wird) und aus ihr heraus- der der Schönheit, durch welche z.B.
steht, verborgen ist. So ist die Lich- das Schuhzeug unmittelbarer, rei-
tung zugleich auch immer Verber- ner, ungeschmückter in seinem We-
gung und zwar, nach Heidegger, auf sen aufgehe.64 Die abschließende Fra-
zweifache Weise: ge, die es für Heidegger nunmehr
Zum einen versage sich uns das Sei- zu beantworten gilt, ist die nach der
ende schlichtweg manchmal und wir Kunst und wie in ihr Wahrheit ge-
könnten lediglich sagen, dass es sei. schehen kann.
Für Heidegger ist dies die Verber-
gung als (1) Versagen.
Des Weiteren erscheine das Seiende Die Wahrheit und die Kunst
zwar, gebe sich jedoch anders als es
ist. Dieses Verbergen nennt er das (2) Um der abschließenden Frage näher
Verstellen. Die Lichtung selbst ge- zu kommen, hält Heidegger fest, dass
schehe als dieses zweifache Verber- das Werkhafte des Werkes in seiner
gen und somit gehöre zum Wesen der Beschaffenheit durch den Künstler
Wahrheit als der Unverborgenheit besteht.

61
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 40.
62
Ebd., S. 42.
63
Ebd.
64
Vgl.: Ebd., S. 43.
65
Ebd., S. 48.
Julia Kohushölter,

Diesen Vorgang des Schaffens denkt bezeichnet ihn Heidegger vielmehr


er als ein Hervorbringen und unter- als Grundriß oder Auf-Riß, „der die
scheidet es gleichzeitig von dem Her- Grundzüge des Aufgehens der Lich-
vorbringen im Sinne der Anfertigung. tung des Seienden zeichnet.“67
Beiden eigen sei das handwerkliche Die so wichtige Eröffnung des Streits
Tun – jedoch sei es beim Schaffen muss in den Riß (als Auf-Riß) ge-
anderer Art: bracht werden. Der Riß selbst muss
wiederum in die Erde zurückgenom- 37
Aus dem Hinblick auf die men werden um so, wie angeführt,
erreichte Wesensumgrenzung des Wer- ins Offene zu stehen. Dieser Streit, der
kes, wonach im Werk das Geschehnis zum einen in den Riß gebracht wur-
der Wahrheit am Werke ist, können wir de und zum anderen in der Erde zu-
das Schaffen als das Hervorgehenlassen rückgestellt ist, nennt Heidegger nun
in ein Hervorgebrachtes kennzeichnen. die Gestalt. Geschaffensein des Wer-
Das Werkwerden des Werkes ist eine kes heißt nun (1): „Festgestelltsein
Weise des Werdens und Geschehens der der Wahrheit in die Gestalt.“68
Wahrheit.65 Das zweite Charakteristikum des Ge-
schaffenseins eines Werkes sei „Daß“
Die Besonderheit des Schaffens im es geschaffen ist. Im Gegensatz zum
Gegensatz zur bloßen Anfertigung Zeug, in welchem diese Tatsache in
sei, dass nur diese Hervorbringung der Dienlichkeit verschwinde, trete
das Seiende als ein Einzigartiges her- sie im Werk hervor, sie sei mithin
vorbringe, „das vordem noch nicht das Ungewöhnliche an ihm (2): „Im
war und nachmals nie mehr werden Hervorbringen des Werkes liegt die-
wird.“66 Das Schaffen bürge die Wahr- ses Darbringen des ‚daß es sei’.“69
heit als Offenheit des Seienden und Doch „sowenig ein Werk sein kann,
wenn es dies tue, sei das Hervorge- ohne geschaffen zu sein, so wesent-
brachte ein Werk. Weiterhin bestehe lich es die Schaffenden [die Künstler]
das Geschaffensein aus zwei wesent- braucht, sowenig kann das Geschaf-
lichen Bestimmungen: Wie Heide- fene selbst ohne die Bewahrenden
gger bereits ausführte ist der Streit seiend werden.“70
zwischen Welt und Erde kein her- Die Weise des richtigen Bewahrens
kömmlicher Disput, zwischen zwei des Werkes würde erst und alleine
Parteien. Als konstitutiven Prozess durch das Werk mitgeschaffen und

66
Ebd., S. 50.
67
Ebd., S. 51.
68
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 51.
69
Ebd., S. 53.
70
Ebd., S. 54.
Martin Heidegger

vorgezeichnet; dies sei jedoch keines- Also ist die Kunst: die schaffende Be-
wegs der Kunstbetrieb, in dem die Tat- wahrung der Wahrheit im Werk. Dann
sache, ‚Daß’ das Werk ist, im Geläu- ist die Kunst ein Werden und Gesche-
figen und Kennerischen abgefangen hen der Wahrheit.73
wird, anstatt es in der durch es selbst
geschehenden Wahrheit zu bewahren.71 Das Geschehen der Wahrheit, als wel-
Von der rechten Bewahrung ausge- ches er die Kunst betitelt, ist nach
38 gangen stellt Heidegger fest, dass das Heidegger im Wesen Dichtung:
Werk dasjenige ist, welches die Schaf- Wahrheit als die Lichtung und Ver-
fenden in ihrem Wesen ermöglicht bergung des Seienden geschehe, in-
und aus seinem Wesen die Bewahren- dem sie gedichtet würde.74
den braucht: Sei nun die Kunst der
Ursprung des Werkes, ist sie es, wel- Dabei heißt Dichtung nicht gleich
che die Zusammengehörigkeit am Poesie, auch wenn er dem Sprachwerk
Werk, Schaffende und Bewahrende, im engeren Sinne eine ausgezeich-
entspringen lässt.72 Stellt sich nun- nete Stellung innerhalb der Künste
mehr erneut die anfängliche Frage zuweist. Wiederrum muss das ge-
danach, was die Kunst selbst als der läufige Verständnis von Sprache als
Ursprung ist – Heidegger gibt eine einer Art Mitteilung revidiert werden.
kurze Zusammenfassung der voran- Die Sprache könne, so Heidegger,
gegangenen Erkenntnisse: das Seiende als ein Seiendes allererst
ins Offene bzw. durch das Nennen
Im Werk ist das Geschehnis erst zum Erscheinen bringen. Allein
der Wahrheit und zwar nach der Wei- als dieses entwerfende Sagen versteht
se eines Werkes am Werk. Demnach er die Dichtung, welcher er wieder-
wurde im Voraus das Wesen der Kunst rum als die Sage der Unverborgen-
als das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit heit des Seienden bezeichnet.75
bestimmt. [...] Sie [die Bestimmung]
sagt einmal: Kunst ist das Feststellen Die Sagen habe weiterhin eine ge-
der sich einrichtenden Wahrheit in die schichtliche Komponente, indem
Gestalt. [...] Ins-Werk-Setzen heißt aber durch sie einem Volke seine Zugehö-
zugleich: in Gang- und ins Geschehen- rigkeit zum Welt-Geschehen vorge-
Bringen des Werkseins. Das geschieht prägt werde. Für die Kunst stellt Hei-
als Bewahrung. degger fest, dass sie in ihrem Wesen

70
Ebd., S. 54.
71
Vgl.: Ebd., S. 56.
72
Vgl.: Ebd., S. 58 f.
73
Ebd., S. 59.
74
Vgl.: Ebd.
75
Vgl.: Ebd., S. 61.
Julia Kohushölter,

Dichtung ist. Die Dichtung wieder- Daseins eines Volkes, ist die Kunst. Das
rum sei in ihrem Wesen die Stiftung ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein
der Wahrheit. Ursprung ist: eine ausgezeichnete Wei-
Noch einen Schritt weiter defi niert se, wie Wahrheit seiend, d.h. geschicht-
er die Kunst nun als Stiftung, bzw. lich wird.80
Anstiftung des Streites der Wahrheit,
Stiftung als Anfang. Dieses Wissen um den Ur-
Insofern geschehe Kunst, indem sie sprung des Kunstwerkes ist für Heidegger 39
einen Anfang stifte. Dieses Stiften fundamental wichtig für das Werden der
hat nach Heidegger selbst eine ge- Kunst. Nur dieses Wissen bereite dem Werk
schichtliche Dimension: den Raum, den Schaffenden den Weg, den
Jedes Mal, wenn ein Anfang ist, fan- Bewahrenden den Standort.81
ge Geschichte76 erst oder wieder an.
Damit sei auch Kunst geschichtlich, In ihrer Auseinandersetzung mit Der
insofern Heidegger sie als die schaf- Ursprung des Kunstwerkes schreibt Ma-
fende Bewahrung der Wahrheit im rion Hiller zu Beginn:
Werk definiert.77
Und er geht noch weiter: „Kunst Es ist das Merkwürdige an Hei-
ist Geschichte in dem wesentlichen deggers Denken, dass es sich eigentlich
Sinne, daß sie Geschichte gründet.“78 nicht erklären lässt. Nicht erklären, wenn
Mit dieser Feststellung gelangt Hei- erklären herleiten und ableiten aus an-
degger zum Abschluss seiner Arbeit derem bedeutet – aus Einflüssen, aus
und mit ihm zur Beantwortung der Übernahmen, aus seiner Auseinander-
ursprünglichen Frage nach dem Ur- setzung mit Dichtungen und der Philo-
sprung und, ob die Kunst in ihrem sophiegeschichte.82
geschichtlichen Dasein ein Ursprung
sein kann oder nicht, bzw. ob und un- Insofern soll an dieser Stelle keine
ter welchen Bedingungen sie es sein ableitende Erklärung des Textes er-
kann.79 Sein Fazit lautet nunmehr folgen, sondern eine Schärfung des
folgendermaßen: Fokus im Kontext einer Bedeutung
des Textes als Schlüsseltext der Kunst-
Der Ursprung des Kunstwer- wissenschaft. Heidegger macht deut-
kes, d.h. zugleich der Schaffenden und Be- lich, welchen Stellenwert die Kunst
wahrenden, das sagt des geschichtlichen als Wahrheit für ihn einnimmt.

76
Geschichte definiert als „die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein
Mitgegebenes.“ Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935],
S. 65.
77
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 65.
78
Ebd., S. 65.
79
Vgl.: Ebd., S. 66.
80
Ebd.
81
Vgl.: Ebd.
Martin Heidegger

Doch was ist für ihn eigentlich Kunst? an dem Umgang mit ‚Kunst’ insge-
Um es vorweg zu nehmen: es scheint samt, nicht nur institutionell, son-
nur Weniges zu sein. dern auch theoretisch bzw. wissen-
schaftlich. Zugleich beglaubigt er sich
In Der Ursprung des Kunstwerkes zieht selbst jedoch diesen besonderen Zu-
Heidegger drei Beispiele heran: (1) Die gang zum Kunstwerk, aus dem he-
Bauernschuhe von Vincent van Gogh, raus er seine Abhandlung verfasst.
40 (2) einen altgriechischen Tempel und Ironischerweise betrachtete Heideg-
(3) ein Gedicht Hölderlins. Wie be- ger das Bild van Goghs das erste Mal
reits im Verlauf der vorangegangenen im amsterdamer Stedelijk-Museum87,
Analyse erwähnt (siehe Fußnote 39) also einer kunstbetrieblichen Umge-
orientiert sich Heidegger mit diesen bung, die ihm keine solche Erkennt-
Beispielen an dem, was er als „große nisse über das Bild erlauben sollte.
Kunst“83 bezeichnet. Es fällt schwer ein anderes Beispiel
Es fällt auf, dass dies alles Beispie- zu fi nden, welches mit einem sol-
le der abendländischen Kunst sind chen Pathos beschrieben und theo-
– auf welche er sich im Nachwort retisch eingebunden werden könnte
auch explizit bezieht.84 Methodisch wie Schuhe von Vincent van Gogh.
zweifelt Heidegger vor allen Dingen Vielleicht wirkt Heideggers Aufsatz
die Ästhetik an, welche das Kunst- deshalb etwas zu stark an einem Bild
werk als einen Gegenstand des sinn- orientiert, um für die Kunst allgemein
lichen Vernehmens, des Erlebens, gültig zu sein: Einerseits hegt er mit-
nehmen würde. Diese Art, wie der seiner Abhandlung einen allgemein-
Mensch die Kunst erlebt, solle über- gültigen Anspruch zur Bestimmung
dessen Wesen Aufschluss geben85: der Kunst in ihrer Wesenhaftigkeit,
Doch vielleicht ist das Erlebnis das andererseits steht dem gegenüber ein
Element, in dem die Kunst stirbt. Das allzu eingeschränkter Kunstbegriff,
Sterben geht so langsam vor sich, daß der sich an den drei ins Feld geführten
es einige Jahrhunderte braucht.“86 Beispielen zu erschöpfen scheint.
Was er durch seine theoretische Ab-
Vereint mit der Kritik an dem Kunst- handlung in jedem Fall erreicht hat,
betrieb, in dem das Kunstwerk nie- ist eine kontroverse Auseinanderset-
mals bei sich selbst sein kann, kon- zung mit eben diesem Bild Van Goghs,
statiert Heidegger eine eben solche was ihm u.a. in einem Artikel der Zeit

82
Hiller, Marion (2012): Heidegger und die Literatur, oder: Der Ursprung des Kunstwerkes in
seins-geschichtlicher Dimension. In: Figal, Günter/Raulff, Urlich (Hg.): Heidegger und die
Literatur, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 55-72, hier: S. 57.
83
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 26.
84
Vgl.: Ebd., S. 69/70.
85
Vgl.: Ebd., S. 57.
86
Ebd.
87
Assheuer, Thomas: Die Schuhe der Philosophen, http://www.zeit.de/2009/40/Schuhe-van-Gogh
(12.12.2017).
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch

den Titel „Die Schuhe der Philoso- 1928 übernimmt Martin Heidegger
phen“ einbrachte.88 Husserls Lehrstuhl in Freiburg. Sei-
Konträr kann argumentiert werden, ne Antrittsvorlesung trägt den Titel
dass Heideggers Ansatz auch jenseits Was ist Metaphysik?
einer Beispielfi xierung durchaus Heidegger erlangt schnell große Be-
fruchtbar gemacht wurde und wird, kanntheit. Der Philosoph Hans-Ge-
wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit org Gadamer etwa schreibt vom „re-
zu zeigen ist. volutionären Genie“ des jungen Hei- 41
degger. Sein und Zeit beeinflusst nach-
kommende Denker in Philosophie,
Theologie, Psychoanalyse, wie auch
in der Literatur- und Medienwissen-
Kontextualisierung schaft. Beispielsweise Jean-Paul Sartre,
Martin Heidegger und seine Methode Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan,
im Kontext ihrer Zeit Jacques Derridas, Hans-Georg Ga-
damer und Jürgen Habermas.90
Martin Heidegger wird am 26. Sep- Günter Figal bringt es in seinem Ein-
tember 1889 in Meßkirch geboren. führungsbuch zu Heidegger folgen-
Er entstammt einer katholischen Fa- dermaßen auf den Punkt:
milientradition und wird nach dem
Abitur Mitglied des Jesuitenordens, Heideggers Denken91 wurde
aus dem er jedoch bald wieder aus- für das tiefste und weitreichendste der
tritt. In Freiburg studiert Heidegger Moderne gehalten, und ebenso hat man
Theologie, Naturwissenschaften und sich an seinen sprachlichen Manieris-
Philosophie und wird 1919 Schüler men gestoßen und angenommen, was
und Assistent von Edmund Husserl, als Tiefsinn erscheine, sei nichts als die
dem Begründer der Phänomenolo- Beschwörung leerer Worte.92
gie als philosophischer Methode.89
Zuvor lehrt Heidegger bereits in Mar- Auf den ersten Seiten von Sein und Zeit
burg, wo unter anderem Hannah stellt Heidegger die Frage nach dem
Arendt zu seinen Schülerinnen ge- Sinn von Sein als konstitutiv für
hört. 1927 veröffentlicht Heidegger seine Philosophie vor.
Sein und Zeit. Es bleibt unvollendet, gilt Heidegger nennt seinen Untersu-
aber trotzdem als sein Hauptwerk. chungsgegenstand, der zugleich seine

88
Zu den bekanntesten Kritikern Heideggers Auslegung gehören wohl Meyer Schapiro (1968) und
Jacques Derrida (1978).
89
Die Phänomenologie nach Edmund Husserl ist Teildisziplin der Erkenntnistheorie und beschäftigt
sich mit dem, was erscheint – dem Phänomen. Dabei unterläuft sie das, seit Kant virulent
gewordene, philosophische Problem der Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung.
Der Leitspruch der Phänomenologie lautete: „Zu den Sachen selbst!“.
90
Trawny, Peter (2016): Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M.: Vittorio
Klostermann, S. 43 f.
Martin Heidegger

Methode ist, „[…] die Fundamenta- Ontologie werden soll. Ontologie ist nur
lontologie, aus der alle anderen erst als Phänomenologie möglich.99
entspringen können […].“93
Heidegger betritt mit seinem zentra- Einen grundlegenden Denkanstoß
len Werk die philosophische Welt- findet Heidegger außerdem bei Aris-
bühne in einer Zeit, da die Vormacht- toteles, der in seinem philosophi-
stellung der Strömung des Deutschen schen Nachdenken zwischen Physik
42 Idealismus94 und des daraus hervor- und Metaphysik unterscheidet.
gegangenen Neukantianismus95, in- Die Physik bezeichnet darin die phy-
nerhalb der europäischen Philoso- sische Welt, wie sie sinnlich erscheint
phie, zutiefst erschüttert ist. Eine Phi- – in Heideggers Terminologie das
losophie erschüttert von Friedrich Seiende – während die Metaphysik
Nietzsches und Sören Kierkegaards dasjenige bezeichnet, was über die
Metaphysik- und Religionskritik, so- sinnlich erscheinenden Dinge hin-
wie der Erfahrung des ersten Welt- ausgeht – das Sein (des Seienden).
kriegs.96 Heideggers Freiburger Leh- Die aristotelisch geprägte Metaphy-
rer Edmund Husserl versuchte auf sik steht also in einem engen Verhält-
diese philosophisch Krise zu reagie- nis mit der physischen Welt, wobei
ren, indem seine Phänomenologie die ihre Gegenstände eben nicht sinn-
Philosophie wieder stärker an Fragen lich erfahrbar sind.
der Existenz rückbinden sollte. Phi- Sie sind vielmehr Grundlage oder
losophie sollte wieder mehr sein, als Ursache alles sinnlich Erfahrbaren.
die bloße neukantianische Begrün- Den Ansatz, den Heidegger bei Aris-
dung wissenschaftlicher Erkenntnis.97 toteles entlehnt und der so entschei-
Heidegger ist von der hermeneuti- dend für seine gesamte Philosophie
schen Phänomenologie seines Leh- wird, ist derjenige, über das Wesen
rers Husserl inspiriert, will diese aber des Seins grundlegend nachdenken
weiterdenken und sie zu seiner Fun- zu wollen. Heidegger liest im vierten
damentalontologie98 umbauen. aristotelischen Buch zur Metaphysik
Heidegger schreibt: von einer „Wissenschaft, die das ‚Sei-
ende als Seiendes‘ […] betrachtet.“100
Phänomenologie ist Zugangs-
ort zu dem und die ausweisende Be- Über eine durch Aristoteles geprägte
stimmungsart dessen was Thema der Platon-Lesart und weitere zentrale

91
An dieser Stelle könnte man ebenso gut von Heideggers Schreiben sprechen. In Heideggers Texten
vollzieht sich das Denken im Schreibprozess und das umgekehrt das Schreiben im Denkprozess.
92
Figal, Günter (1992): Martin Heidegger. Zur Einführung, Hamburg: Junius, S. 8.
93
Heidegger, Martin (1984 [1927]): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, S. 13.
94
Der Zeitraum in dem der Deutsche Idealismus vorherrschende philosophische Strömung der
europäischen Philosophie war, wird meist zwischen dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen
Vernunft 1781 und Hegels Tod 1831 abgesteckt. Protagonisten der Strömung sind folglich
Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Friedrich Wilhelm Hegel.
95
Programmatische Rückbesinnung auf Kant in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Versuch
wissenschaftliche Erkenntnis philosophisch zu begründen.
Marc-Julien Heinsch

Lektüren von Husserl, Dilthey, He- sich auf die Spur der Frage nach dem
gel, Kierkegaard und Nietzsche ge- Sinn von Sein begeben. Heidegger phi-
langt Heidegger schließlich zu dem losophiert mit „existenziellem Ernst“
Schluss, dass alle europäische Philo- und offensiv gegen klassisch gewor-
sophie seit der griechischen Antike dene Lehren, steht aber im Zentrum
nichts Anderes getan habe, als diese des akademischen Betriebes und nicht
Frage nach dem Sinn von Sein zu um- außerhalb davon, wie etwa Nietz-
kreisen, ohne sie explizit zum The- sche seinerzeit.103 43
ma zu machen. Platon und Aristote-
les mochten den Sinn von Sein noch Heideggers Denken und Schreiben
gekannt haben, hielten ihn aber für versucht die Axiome des Denkens
zu selbstverständlich, als dass man und Schreibens, im Akt des Den-
ihn thematisieren hätte müssen. kens und Schreibens, zur Dispositi-
Und so sei der Sinn von Sein eine on zu stellen. Man könnte auch sa-
Art blinder Fleck in der europäi- gen: Heideggers Philosophie macht
schen Philosophie geblieben.101 den Versuch über das zu sprechen,
das uns im Alltag so nah ist, dass es
Heidegger fasst in Sein und Zeit jenes nicht mehr wahrnehm- und schon
Sein nun in seiner grundsätzlichen gar nicht explizit thematisierbar ist.
Zeitlichkeit als Anwesenheit auf. Er Erschwerend kommt hinzu, dass die
bestimmt das Sein ontologisch, das Heideggerschen Untersuchungsge-
heißt von seinem Seinscharakter her genstände in der Sprache keinen Platz
und in seiner zeitlichen Dimension, haben, um über sie zu sprechen.
indem er ein bestimmtes Seiendes, Wer vom Sein in seiner Zeitlichkeit
das Dasein (des Menschen), betrach- sprechen möchte, wird immer wieder
tet. In Sein und Zeit schreibt Heidegger, darüber stolpern es sowohl als Prädi-
dass die von ihm angestrebte Funda- kat wie auch als Subjekt seiner Sätze
mentalontologie in der „existenziel- verwenden zu wollen. Für Heidegger
len Analytik des Daseins“ zu suchen kommt aber gerade im Gesprochenen,
sei. Jenes Dasein habe sich „als das im sprachlichen Denken oder dem
vor allem anderen Seienden ontolo- denkenden Sprechen, das Sein zur
gisch primär zu Befragende erwie- Sprache. Er befragt die Sprache, in-
sen.“102 Anders ausgedrückt: Nur wer dem sich seine Texte von Frage zu
das Dasein ontologisch befragt, kann Frage bewegen, wobei jede Antwort

96
Vgl.: Gadamer, Hans Georg (1992 [1960]): Zur Einführung in: Heidegger, Martin (1992 [1960]):
Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 93 f.
97
Vgl.: Ebd., S. 95 f.
98
Ontologie bezeichnet grundsätzlich die philosophische Disziplin, die sich mit dem Sein als solchem
beschäftigt.
99
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984 [1927], S. 35.
100
Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 35.
101
Vgl.: Ebd., S. 38 f.
102
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984 [1927], S. 13.
Martin Heidegger

weiteres und noch kleinteiligeres Fra- Heidegger schreibt in Sein und Zeit:
gen erforderlich macht. In diesem
Prozess bedeutet jeder Schritt mit Auf dem Boden der griechi-
Heidegger nach vorn, mindestens schen Ansätze zur Interpretation des
drei Schritte zurück. Seins hat sich ein Dogma ausgebildet,
Hat er einen Begriff beispielsweise das die Frage nach dem Sinn von Sein
auf eine etymologische Bedeutungs- nicht nur für überflüssig erklärt, son-
44 ebene hin befragt, so nutzt er die dern das Versäumnis der Frage überdies
Erkenntnis, um denselben Begriff sanktioniert. Man sagt: ‚Sein‘ ist der
noch kleinteiliger zu hinterfragen. allgemeinste und leerste Begriff. Als
So entspinnt sich beim Lesen eine solcher widersteht er jedem Defi nitions-
zweifache, hermeneutische Spiralfi- versuch. Dieser allgemeinste und daher
gur. Zum einen in der Struktur des undefi nierbare Begriff bedarf auch
Textes, der fragt, um die Antwort keiner Defi nition. Jeder gebraucht ihn
auf jene Frage erneut zu hinterfra- ständig und versteht auch schon, was
gen und am Ende wieder an seinem er je damit meint. Damit ist das, was als
Anfang zu stehen. In Heideggers Verborgenes das antike Philosophieren
Sprache soll sich Verstehen perfor- in die Unruhe trieb und in ihr erhielt, zu
mativ ereignen – doch eben als Spi- einer sonnenklaren Selbstverständlich-
rale und nicht als Zirkel. Dazu kommt keit geworden, so zwar, daß, wer danach
die inhaltliche Dimension der Texte: auch noch fragt einer methodischen
nur nach dem, was schon gewusst wird, Verfehlung bezichtigt wird.105
kann angemessen gefragt und so tie-
fer darin vorgedrungen werden. In der Er formuliert es als die Aufgabe sei-
Sprache ereignet sich Wahrheit oder ner Philosophie, die Frage nach dem
passiert Erkenntnis. Vor allem über die Sinn von Sein wieder explizit zu stel-
Dinge, die sonst höchstens zur Kennt- len.106 Heidegger erhebt dadurch die
nis genommen aber nicht befragt existenzielle Ontologie über alle an-
werden. Gadamer schreibt treffend, deren philosophischen Disziplinen
dass Sein und Zeit von manchen Lesern und räumt sich selbst eine Sonderstel-
als „hermeneutische Phänomenolo- lung in der Philosophie- geschichte
gie“ betitelt wurde, weil darin „das ein. Peter Trawny schreibt in seiner
Sichverstehen das eigentliche Fun- kritischen Einführung zu Heideg-
dament dieses Fragens“ darstelle.104 gers Werk: „Heideggers Denken ist

103
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 95.
104
Vgl.: Ebd., S. 97.
Marc-Julien Heinsch

alles, nur nicht ‚moderat‘. Der Philo- übernehmen könnte. So sollte sich die
soph kennt die Extreme und nimmt Wissenschaft unter Führung von Mar-
kein Blatt vor den Mund, indem er tin Heidegger gegen die politische
das Äußerste zum Maßstab für die Einflussnahme selbst behaupten kön-
Norm erklärt und andersherum nicht nen. Dabei blieb die Rede vage genug,
denken möchte.“107 um sowohl von den Nationalsozialis-
Hans-Georg Gadamer beschreibt es ten propagandistisch instrumenta-
folgendermaßen: lisiert zu werden, als auch Heidegger 45
bei ihnen in Ungnade fallen zu lassen.
Heideggers Auftreten als jun-
ger Freiburger Universitätslehrer machte Wie zahlreiche andere Intellektuelle
in den ersten Nachkriegsjahren [des ersten war Heidegger der NSDAP nur Mittel
Weltkrieges] wahrhaft Epoche. Daß hier zum Zweck – ein Instrument, um die
eine originäre Kraft des Philosophierens propagandistisch erzeugte, deutsche
im Aufbrechen war, verriet schon die un- Volksidentität zu schärfen. Sie hatten
gewöhnliche, kraftvolle und wuchtige kein Interesse daran, einen Philoso-
Sprache, die von dem Freiburger Katheder phen die Hochschulpolitik des Rei-
ertönte.108 ches bestimmen zu lassen.109
Ein gewisser totalitärer Impetus in
Der Aspekt, der Martin Heidegger Heideggers Schreiben ließ sich den-
und seine Philosophie für viele Leser noch in die nationalistische Propagan-
von vorneherein disqualifiziert, ist da eingliedern. Zu nennen wäre hier
die Verstrickung des Philosophen das radikalisierte Denken des Verhält-
in den Nationalsozialismus. Im Jahr nisses von Sein und Zeit in den Dreißi-
1933 wird Heidegger nicht nur zum gerjahren hin zu einem Denken des
Rektor der Universität Freiburg er- Ereignisses. Zeitgeschehen und Ge-
nannt, er tritt auch in die NSDAP schichte stehen für Heidegger nun
ein. Die Selbstbehauptung der deut- in einem Zusammenhang mit dem
schen Universität ist seine Rektorats- Sein, das ebenfalls geschichtlich wird.
rede, in welcher Heidegger deutlich
macht, dass die Fundamentalontolo- Außerdem wird für Heidegger die In-
gie, als grundlegendste aller wissen- terpretation des Dichters Friedrich
schaftlichen Disziplinen, so etwas wie Hölderlin immer bedeutsamer. Aus
die hochschulpolitische Führerschaft dessen Texten heraus beschäftigt sich

104
Vgl.: Ebd., S. 97.
105
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 2.
106
Vgl.: Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 39 ff.
107
Ebd., S. 9.
108
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 94.
Martin Heidegger

Heidegger verstärkt mit der Nation, droht, verliert sich Heideggers Denken
ihrem Ursprung und ihrer Bestim- in Angriffe auf alles, was dieses Scheitern
mung.110 Diese Melange vermengt sich befördert. Neben die militärischen Fein-
mit der politischen Lage seiner Zeit de des Deutschen Reichs sowie die ‚das
und gipfelt darin, dass Heidegger „den Deutsche‘ missinterpretierenden Natio-
Deutschen“ neben „den Griechen“ nalsozialisten tritt das ‚Weltjudentum‘.
ein „epochales Geschick“ zuschreibt, Die Passagen, die Heidegger ihm widmet,
46 das sich, so eine Lesart, im National- gehören zum Schrecklichsten, aber auch
sozialismus Hitlers verwirklichen zum Dümmsten, was der Denker je ge-
könnte.111 Es kann nicht oft genug schrieben hat.112
betont werden, wie hochgradig pro-
blematisch diese Verstrickung von Heidegger distanziert sich Zeit sei-
Heideggers philosophischen Schrif- nes Lebens nie öffentlich von seiner
ten mit seinem historischen Kontext, Zeit in der NSDAP und tritt auch nie
seine Lektüre bis heute macht. offiziell aus der Partei aus. Bereits
Bis zu den Schwarzen Heften, die, 1934 legt Heidegger aber das Rekto-
herausgegeben von Peter Trawny, ramt in Freiburg nieder.
zwischen Februar 2014 und März Heidegger hält sich bis Kriegsende
2015 erschienen und zwischen 1931 mit Engagement für die Partei zurück,
und 1948 von Heidegger geschrieben leistet aber auch keinen Widerstand.
wurden, konnte man behaupten, dass 1944 wird Heidegger im Volkssturm
es im geschriebenen Werk Heideg- eingezogen, ist aber nicht an Kampf-
gers keinen Raum für offen faschis- handlungen beteiligt. Nach Kriegs-
tisches oder antisemitisches Gedan- ende erhält Heidegger von 1945 bis
kengut gibt. Das hat sich seither je- 1949 in Frankreich und Deutschland
doch fundamental geändert. Lehrverbot. Das wirft den Philoso-
Trawny schreibt dazu: phen in eine tiefe Krise und er befindet
sich zeitweilig in psychiatrischer Be-
Mit dem Ausstieg aus einer handlung. 1950 erscheint Der Ursprung
das ‚Sein‘ vergessenden Welt werden ‚die des Kunstwerkes in der Textsammlung
Deutschen‘ beauftragt, noch einmal ganz Holzwege. 1952 wird Heidegger end-
anders mit der Geschichte selbst anzu- gültig emeritiert und hält seine letzte
fangen. Als dieser Auftrag durch die ver- große Vorlesung mit dem Titel Was
heerende Politik Hitlers zu scheitern heißt Denken? In den folgenden Jahren

109
Vgl.: Martin, Bernd (1986 [1972]): Heidegger und die Reform der deutschen Universität 1933,
https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:1972/datastreams/FILE1/content
(Stand: 12.11.2017), S. 51 f.
110
Vgl.: Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 12.
111
Vgl.: Ebd., S. 13.
112
Vgl.: Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 13.
Marc-Julien Heinsch

schreibt Heidegger weiter und hält 1960 erscheint Der Ursprung des Kunst-
regelmäßig Vorträge. Seine Philoso- werkes außerdem mit einem Zusatz
phie wendet sich zunehmend der Heideggers und einer Einführung von
Technikkritik zu. Vor allem von fran- Hans-Georg Gadamer als einzelner
zösischen Philosophen wird Hei- Text bei Reclam.115
degger in den Sechzigerjahren stark Dort spricht Gadamer vom Kunst-
rezipiert und diskutiert. Über diesen werkaufsatz als einer „Überraschung“,
Weg findet Heideggers Denken auch da Heidegger in seinem bisherigen 47
wieder stärkeren Eingang in die deut- Schreiben Gebiete wie Kunst oder
schen Geisteswissenschaften. 1975 Natur fast gänzlich ausgespart
wird der erste Band der Heidegger- habe.116 Gadamer schreibt weiter,
Gesamtausgabe veröffentlicht. Im da- dass Heideggers Vorträge zum Ur-
rauffolgenden Jahr stirbt Martin Hei- sprung des Kunstwerkes ihrerzeit
degger in Freiburg-Zähringen.113 eine „philosophische Sensation“ ge-
wesen seien. Zum einen, weil die
Kunst nun doch zum hermeneuti-
Der Kunstwerkaufsatz im Kontext schen Selbstverständnis des Men-
seiner Zeit und Heideggers Werk schen und als Begründerin von Ge-
schichte verstanden werde; zum an-
Als Premiere in Martin Heideggers deren, wegen der „überraschend [neu-
schriftlichem Werk wendet sich der en] Begriffl ichkeit“ die Heidegger
Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes dafür wähle.117
explizit der Kunst als Untersuchungs-
gegenstand zu.114 Zwischen 1931 und An dieser Stelle muss in Anlehnung
1935 arbeitet Heidegger an Der Urs- an Gadamers Einführung erwähnt
prung des Kunstwerkes. Zunächst hält werden, dass mit dem Kunstwerk-
er verschiedene Vorträge zu diesem aufsatz in die relativ junge philoso-
Thema in Freiburg, Zürich und Frank- phische Disziplin der Ästhetik ein-
furt am Main. 1935 entsteht eine als schreibt. Erst im 18. Jahrhundert wird
Raubdruck veröffentlichte Fassung diese mit Alexander Baumgarten zur
des Textes und die dritte Fassung wird „Wissenschaft sinnlichen Erkennens“
schließlich erst 1950 in der Heideg- in den Rang eine Philosophiedisziplin
ger-Textsammlung Holzwege publi- – der sogenannten „klassischen Äs-
ziert und auf 1935/36 datiert. thetik“, erhoben.118

113
Vgl.: Ebd., S. 172 – 176.
114
Eine ausführliche Beschreibung aller möglichen Inspirationsquellen Heideggers, die ihn dazu
brachten sich vom Sein her mit der Kunst auseinanderzusetzen, kann und soll an dieser Stelle nicht
geleistet werden. Sehr spannende Beiträge zu diesem Thema finden sich aber in David Espinet,
Günter Figal und Tobias Keiling (Hg.) (2011): Heideggers Ursprung des Kunstwerks.
Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, auf den Seiten 210 bis 233.
115
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 16.

.
Martin Heidegger

Mit Kant wird die ästhetische Emp- das Denken des Neukantianismus über
fi ndung im Anschluss an Baumgar- die ästhetischen Probleme mit eigen-
ten zur ästhetischen Urteilskraft pro- tümlichen Vorurteilen belastet.120
blematisiert, die gleichwertig neben
Urteilen des Verstandes und der Mo- Heidegger problematisiert die neu-
ral bestehen kann. Diese Gleichwer- kantianischen Positionen zur klassi-
tigkeit rührt für Kant in der Subjek- schen Ästhetik in seinem Kunstwerk-
48 tivität des ästhetischen Empfindens, aufsatz und gliedert diese Problema-
die wiederum durch ihren Ursprung tisierung in seine Fundamentalonto-
in der göttlichen Schöpfung legi- logie ein. Innerhalb von Heideggers
timiert und keineswegs beliebig ist. Werk zeigen sich im Kunstwerkauf-
Schiller und Hegel idealisieren diesen satz deutliche Spuren des seinsge-
Subjektivismus im Genie des Künst- schichtlichen Denkens oder die An-
lers, der ontologische Wahrheit im deutung der Kehre, welche einen
Kunstwerk auszudrücken in der Lage zweiten Weg zur Beschäftigung mit
ist.119 Gadamer schreibt zum Zeit- der Frage nach dem Sinn von Sein, in
punkt des Einstiegs Heideggers in Heideggers Schaffen, aufzeigt. Frie-
das Problemfeld der philosophischen drich-Wilhelm von Hermann fasst in
Ästhetik: seinem Buch Heideggers Philosophie der
Kunst, diesen zweiten Denkweg fol-
[…] die idealistische Ästhetik, gendermaßen zusammen:
die dem Kunstwerk als dem Organon ei-
nes unbegriffl ichen Verständnisses der Die zweite Ausarbeitung [der
absoluten Wahrheit eine ausgezeichnete Seinsfrage] ist die erste Durchgestaltung
Bedeutung zugewiesen hatte, [war] längst der Seinsfrage als seinsgeschichtliches
durch die Philosophie des Neukantia- oder Ereignis-Denken. Während die erste,
nismus überdeckt. Diese herrschende fundamentontologische Ansetzung der
philosophische Bewegung hatte die kan- Seinsfrage ihre systematische Durch-
tische Begründung der wissenschaftli- führung in ‚Sein und Zeit‘ und in der
chen Erkenntnis erneuert, ohne den me- Marburger Vorlesung vom Sommerse-
taphysischen Horizont einer teleologi- mester 1927 ‚Die Grundprobleme der
schen Seinsordnung wiederzugewinnen, Phänomenologie‘ erfahren hat, liegt die
wie er Kants Beschreibung der ästheti- zweite, die seinsgeschichtliche Ausar-
schen Urteilskraft zugrunde lag. So war beitung der Seinsfrage in den ‚Beiträgen

116
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 97 f.
117
Vgl.: Ebd., S. 98.
118
Vgl.: Spree, Axel: Philosophie-Woerterbuch: Ästhetik, http://www.philosophie-woerterbuch.
de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=145&tx_
gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontrol
ler%5D=Lexicon&cHash=372e2021980ef6ccd5b641d591200ad4 (Stand: 29.11.2017).
119
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960],, S. 100 ff.
120
Ebd., S. 102 f.
Marc-Julien Heinsch

zur Philosophie‘ vor, deren Plan in den Ek-Sistenz als in der Lichtung des
Grundzügen schon seit dem Frühjahr Seins innenstehendes Wesen fasst.
1932 feststand, deren manuskriptmä- Das heißt, das Wesen des Seins wird
ßige Abfassung zwischen 1936 und 38 nun radikal zum Geschehen verzeit-
erfolgte und die erst im Jahre 1989 aus licht, das Seinsdenken wird zum Er-
dem Nachlaß veröffentlicht wurden.121 eignis-Denken. Nun soll vom Sein
her gedacht werden, was wiederum
In diesen Beiträgen zur Philosophie schrei- bedeutet, dass die Wahrheit des Seins 49
be Heidegger grundlegendes zum Da- fluide gedacht wird und das Dasein
sein und dem Wesen der Wahrheit und nur vom Sein her gedacht werden
weise explizit darauf hin, dass zu die- kann. Die Wahrheit des Seins zeigt
sen Abhandlungen und ihrer seins- sich dem Dasein in der entbergend-
geschichtlichen Denkweise auch der verbergen- den Lichtungsfigur zu
Kunstwerkaufsatz zu zählen sei. Von unterschiedlichen Zeitpunkten der
Hermann stellt fest, dass man durch Seinsgeschichte, auf unterschiedliche
Heideggers Hinweise in den Beiträgen Weise. Die Wahrheit des Seins ist für
zur Philosophie den Kunstwerkauf- Heidegger nicht länger überzeitliche
satz also im „Gesamtgefüge des Er- Konstante, sondern ebenfalls im
eignis-Denkens“ betrachten müsse.122 Fluss und muss prozessual begriffen
werden.
Über die zwei zentralen Denkwege In seinem Spätwerk variiert er daher
Heideggers, vor und nach der Kehre, seinen Leitspruch zur Frage nach
lässt sich das Folgende sagen: Im fun- dem Sinn von Sein zu Zeit und Sein.123
damentalontologischen Denken vor Der Kunstwerkaufsatz deutet das
der Kehre, das in Sein und Zeit skiz- seinsgeschichtliche Denken (nach der
ziert wird, geht Heidegger von der Kehre) an und so lässt sich darüber
Existenz als Sein des Seienden aus, streiten, welcher Werkphase man den
welchem eine überzeitliche Wahr- Text nun zuordnen möchte.
heit zukommt, die sich in der Lich- Ebenso gut lassen sich in Der Ursprung
tung zeigt. Heidegger will den Sinn des Kunstwerkes fundamentalontolo-
von Sein durch Beschäftigung mit gische Denkwege von vor der Kehre
dem Dasein besser verstehen. Nach lesen. In Heideggers Marburger Vor-
der Kehre wird Heideggers Denken lesung Die Grundprobleme der Phänome-
seinsgeschichtlich, woraufhin er die nologie von 1927 weist Heidegger die

121
Von Hermann, Friedrich-Wilhelm (1994 [1980]): Heideggers Philosophie der Kunst,
Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 2.
122
Vgl.: Ebd., S. XIV.

.
Martin Heidegger

Kunst noch nicht einem sich entwi- es auch andere zeitgenössische Hei-
ckelnden seinsgeschichtlichen Den- degger-Forscher wie Peter Trawny
ken zu. Dort erläutert er das Problem und Günter Figal.126 Heideggers Den-
der „regionalen Mannigfaltigkeit des ken weist vielmehr in Gänze die
Seins“ und skizziert die Kunst als Struktur der Kehre auf, da es sich in
eine dieser „regionalen Seinsweisen“, einer stetigen Bewegung von der
welche dann Teilgebiet von Sein und Fundamentalontologie zur Seinsge-
50 Zeit und damit fundamentalonto- schichte befi ndet. Außerdem muss
logisch zu untersuchen wäre.124 Der man bemerken, dass Martin Hei-
Kunstwerkaufsatz zeigt damit deut- degger nur selten etwas geschrieben
lich, wie problematisch eine Zwei- und dann sofort veröffentlicht hat.
teilung des Heideggerschen Werkes Zwischen 1930 und 1940 hat er kaum
ist, gerade wenn man bedenkt, dass publiziert aber wohl vieles gedacht,
Heideggers Denken und Schreiben geschrieben und skizziert. So ist Der
stark prozessual angelegt ist. Dieses Ursprung des Kunstwerkes nur in Raub-
Denken ist in derart großem Maßstab druckform eine der wenigen Veröf-
angelegt, dass verständlicherweise fentlichungen Heideggers aus jener
versucht wurde es in Phasen aufzu- Zeit, während viele andere Texte, die
teilen und so in eine nachvollzieh- er in dieser Zeit konzipiert hat, offi-
bare Ordnung zu bringen. Damit ziell auch der Kunstwerkaufsatz, erst
wird aber der Grundoperation des 15 oder 30 Jahre später in Buchform
Heideggerschen Denkens zuwider- vorlagen.127
gehandelt. Wer Heideggers Denkbe- Zusammenfassend lässt sich sagen,
wegung in ihrer radikalen Prozess- dass in der Heideggerrezeption um-
haftigkeit ernst nimmt, der kann aus stritten ist, welcher Werkphase Der
ihr weder feststehende Begriffe und Ursprung des Kunstwerkes zuzuordnen
Defi nitionen, noch Werkphasen ab- und, ob in Bezug auf Heideggers Phi-
leiten. Friedrich-Wilhelm von Her- losophie überhaupt von Werkphasen
mann vertritt die These, dass es eine gesprochen werden sollte.
„äußerliche und unsachgemäße Re-
deweise“ sei, beim Übergang von Unabhängig davon, ob nun von einem
Heideggers Fundamentalontolgie Denken Heideggers vor und nach der
zum Ereignis-Denken von der Kehre Kehre ausgegangen oder diese Be-
zu sprechen.125 Ähnlich formulieren grifflichkeit ausklammert wird, gilt es

123
Es ist klar, dass ohne tiefergehende Lektüre von Heideggers Texten aber auch Sekundärliteratur
dieser Abschnitt nur wenig erhellend wirkt. Er soll vielmehr ein Schlaglicht auf die Wichtigkeit der
Kehre in der Rezeption von Heideggers Werk werfen und sie grob umreißen. Wer sich tiefergehend
mit der Kehre und dem seinsgeschichtlichen Denken Heideggers auseinandersetzen möchte, kann
in Heideggers Brief über den Humanismus von 1946 weiterlesen. Begleitend ist Sang-Hie Shins
Wahrheitsfrage und Kehre bei Martin Heidegger, Würzburg 1993, S. 67 – 138, sowie Tobias
Keiling: Kunst, Werk, Wahrheit. Heideggers Wahrheitstheorie in Der Ursprung des Kunstwerkes,
in: David Espinet, Günter Figal und Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks.
Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 47 – 66 zu empfehlen.
Marc-Julien Heinsch

festzuhalten: Der Ursprung des Kunst- Heideggers Der Ursprung des


werkes ist einer der zentralen Texte, der Kunstwerkes darf neben Benjamins das
Heideggers Philosophie jenseits von Kunstwerk im Zeitalter seiner Reprodu-
Sein und Zeit einläutet. Im Kunstwer- zierbarkeit und der Ästhetischen The-
kaufsatz lassen sich seinsgeschichtli- orie Adornos als der wichtigste Beitrag
che Denkfiguren ausmachen, die im zur philosophischen Ästhetik im 20.
Brief über den Humanismus von 1946, Jahrhundert gelten. Heideggers Werk gibt
Unterwegs zur Sprache von 1959 oder den Anstoß zu Gadamers Philosophi- 51
Die Technik und die Kehre aus dem Jahr scher Hermeneutik und bildet einen der
1962 konsequent weitergeführt und wichtigsten Bezugspunkte der Dekon-
manifest wurden. struktion – Traditionen, in denen Dich-
tung und Kunst eine herausragende Rolle
spielen. Auch in den jüngsten Mono-
Der Ursprung des Kunstwerkes und graphien ist der ‚Kunstwerkaufsatz‘ ein
seine zeitgenössische Relevanz stets gegenwärtiger Diskussionsgegen-
stand in der philosophischen Debatte
War Der Ursprung des Kunstwerkes sei- um die Kunst. Die Aktualität und Wirk-
nerzeit ein Schlüsseltext für die Kunst- mächtigkeit im Nachdenken über Kunst
wissenschaft? Als solcher hätte der ist kaum überraschend, wenn man sieht,
Text seinen Gegenstand neu perspek- wie viele Probleme der Ästhetik Heideg-
tivieren, eine möglichst zeitlose Me- gers kurzer Text zusammenführt, und
thode in Hinsicht auf zeitabhängige man versteht, wie Heidegger sich philo-
Strömungen in der Forschung bieten sophisch positioniert: Mit der Behauptung
und Anschlusskommunikation er- andauernder geschichtlicher Relevanz
zeugen müssen. Der Kunstwerkauf- von Kunstwerken und der Vorrangstel-
satz trägt den für Heidegger typi- lung der Dichtung unter den Künsten
schen Pathos der absoluten Grund- nimmt Heidegger Themen der idealisti-
sätzlichkeit bereits im Titel. David schen Ästhetik auf, kombiniert sie mit
Espinet und Tobias Keiling schrei- Philosophemen der antiken Metaphysik
ben im Vorwort zu Heideggers Ursprung und entwickelt sie in seiner Theorie von
des Kunstwerks. Ein kooperativer Kom- Sprache und Dichtung weiter.128
mentar, welchen Stellenwert der Text
einnimmt: Heidegger erfindet die philosophische
Kunstbetrachtung also keineswegs

124
Vgl.: Friedrich-Wilhelm von Hermann: Heideggers Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1994
[1980], S. 4.
125
Vgl.: Ebd., S. XIV.
126
Vgl.: Günter Figal: Martin Heidegger, Hamburg 1992, S. 94 f. und Peter Trawny: Martin Heidegger.
Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 12.
127
Vgl.: Franzen, Winfried (1976): Martin Heidegger, Stuttgart: Metzler, S. 59.
Martin Heidegger

neu, er ändert aber den Blickwinkel des Geistes, sie gehört in das Ereignis,
weg von einer kunstgeschichtlichen aus dem sich erst der ‚Sinn vom Sein‘
Analyse der Produktionsumstände, (vgl. ‚Sein und Zeit‘) bestimmt.129
hin zu einer phänomenologischen
Untersuchung der Werke. Die Kunst vom Sein her gedacht, be-
Die Kunst, das Kunstwerk und der sitzt die Fähigkeit das Wesen eines
Künstler stehen bei Heidegger als Daseins zur Erscheinung zu bringen,
52 Gleichberechtigte nebeneinander, die indem es ins Werk gesetzt wird.
gegenseitig nur durch sich sein kön- Entscheidend und neu dabei ist, dass
nen. Im Kunstwerkaufsatz beschäf- das Kunstwerk in Heideggers Sinn
tigt er sich mit einem Werk von Vin- nicht nur das Wesen eines Dings zur
cent van Gogh, interessiert sich aber Darstellung bringen kann, sondern
nicht weiter für die Lebensumstände auch die Verborgenheit dieses Wesens
des Künstlers oder den Entstehungs- in der alltäglichen Anschauung und
zusammenhang des Bildes. Er betrach- damit das sich entbergend-verbergen-
tet Kunst auf eine Weise, die in der de Wesen der Wahrheit erscheinen
Konstanzer Kunstwissenschaft selbst- lässt. Bei Espinet und Keiling heißt
verständlich anmutet, 1936 aber re- es gar, dass die „Wahrheit der Kunst“
volutionär genannt werden kann. für Heidegger „in der radikalen In-
Er macht sie zum zentralen Zugang fragestellung der menschlichen Exis-
(die Dichtung erhält dabei innerhalb tenz, des menschlichen Erkennens und
der Künste eine Vorrangstellung) zum Handelns“ liege.130
Wesen der Wahrheit des Seins. Eine viel gewichtigere Rolle kann
Heidegger schreibt damit der Kunst eine Kunstwissenschaft ihrem Unter-
innerhalb seiner Philosophie eine suchungsgegenstand wohl nicht zu-
entscheidende Rolle zu. Im Zusatz schreiben. Wobei Heidegger als Phi-
zum Kunstwerkaufsatz in den Holz- losoph und nicht als Kunstwissen-
wegen schreibt Heidegger: schaftler agierte. Der Kunsthisto-
riker Kurt Bauch hat sich in der 1949
Die Besinnung darauf, was die erschienen Anthologie Martin Heideg-
Kunst sei, ist ganz und entschieden nur gers Einfl uss auf die Wissenschaften mit
aus der Frage nach dem Sein bestimmt. dem Gewicht von Heideggers Kunst-
Die Kunst gilt weder als Leistungsbezirk denken für die Kunstwissenschaft
der Kultur, noch als eine Erscheinung auseinandergesetzt. Er schreibt von

128
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 11 f.
Marc-Julien Heinsch

der Rolle, die ein Denker wie Heideg- und dem Wesen der Schönheit erhe-
ger der Kunstwissenschaft drängend ben, wenn schon nicht als Aufgabe der
ins Gedächtnis rufe: kunstgeschichtlichen Wissenschaft sel-
ber, so doch als ihre Frage an die Phi-
Die kunsthistorische Wissen- losophie.131
schaft spricht selten darüber, was das
ist, dessen Geschichte sie aufzeichnet. Bauch stellt fest, dass die Kunstge-
Obgleich doch diese Disziplin metho- schichte stattdessen eine tiefe Skep- 53
disch besonders durchgebildet zu sein sis gegen eine am Wesen der Kunst
scheint, erörtert sie kaum je, was ‚Kunst‘ rührenden Theorie besitze. Diesen
eigentlich ist, und wie sie sich zu dem Umstand begründet er mit dem für
Hohen verhält, das Schönheit heisst. ihn grundlegenden Unterschied von
[…] So wenig die Naturwissenschaft Wissenschaft und Philosophie.
das Wesen der Natur oder die Philolo- Während erstere „Lehren und Aus-
gie, das was Sprache ist oder sein kann, künfte […] Bestimmungen und For-
so wenig fragt die Kunstgeschichtswis- meln“ liefere, würde sich die Philo-
senschaft unmittelbar nach dem Wesen sophie damit beschäftigen „Fragen
der Kunst. Sie ist Forschung. […] von Ahnungen und Vermutun-
gen zu befreien und als das, was sie
Sie erkennt die Kunst als geschichtlich sind, ihrem Sinn nach zu durch-
und innerhalb ihrer ikonographischen schauen und zu erhellen.“132
und soziologischen, technischen und Die Kunstgeschichte, so Bauch wei-
antiquarischen, dokumentarischen und ter, dürfe sich nicht darin erschöpfen
biographischen, geistes- und formge- Kunst bloß zu vergegenwärtigen.
schichtlichen, eben aller ihrer histori- Es sei spürbar, dass der Kunst wie-
schen Zusammenhänge. […] Unausge- der philosophische Fragen gestellt
sprochen liegt aller Forschung davon werden müssten. Heidegger habe
etwas zugrunde, auch wenn dies selten diese Notwendigkeit des philoso-
anerkannt wird: sie vergegenwärtigt die phischen Fragens an die Kunst wie-
Kunst. Je unmittelbarer die Vergegen- der aufgeworfen.133
wärtigung der Kunst als eigentlicher
Sinn der Forschung betrachtet wird, Es gilt als gesichert, dass der Kunst-
desto zwingender müsste sich also doch werkaufsatz Theodor W. Adornos
die Frage nach dem Wesen der Kunst Ästhetische Theorie von 1970 stark

129
Heidegger, Martin (1980 [1950]): Holzwege, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 71.
130
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 12.
Martin Heidegger

geprägt hat. Adorno war bekannter- „[…] immer noch innerhalb einer
maßen ein Vertreter der Dialektik134 metaphysischen Auslegung des Sei-
und kritisierte Heidegger mehrfach enden – einer Verstellung der Wahr-
in seinen Vorlesungen und seinem heit des Seins – bewegt.“138
Werk. Beispielsweise in Jargon der Ei- Aus Adornos Sicht wiederum war
gentlichkeit. Zur deutschen Ideologie von Heideggers Ontologie nicht dazu im-
1964. Dennoch ergab sich aus Ador- stande dem dialektischen Charakter
54 nos Beschäftigung mit Heidegger ein der geschichtlichen Welt gerecht zu
„dissonanter Dialog“, der sich als werden und blieb daher hinter der
fruchtbar erwies.135 Komplexität der realen Umstände
Adorno nimmt die Skepsis Heideg- zurück. Adorno widerspricht Hei-
gers gegen die Kunstbetrachtungs- degger darin, dass im Kunstwerk
weise der kunstgeschichtlichen Kunst- Wahrheit in der Lichtung zum Er-
wissenschaft auf und stellt „philoso- scheinen komme, von der aus die
phische Reflexion“ und die Rolle des Geschichte möglicherweise neu ge-
„Undarstellbaren“ ins Zentrum sei- dacht werden könne. Adorno plä-
ner Ästhetischen Theorie. diert vielmehr für eine Akzeptanz
Die Kunstwissenschaft sei bei der Aus- der absoluten Unauflösbarkeit der
deutung von Kunstwerken zum Schei- Kunstwerke in übertragbaren Sinn
tern verurteilt, weil nur die Philoso- und damit zwar für ihren beliebig
phie „von der Differenz der Kunst anmutenden, aber auch universell
Zeugnis ablegen“ könne.136 spürbaren Rätselcharakter.139 Wie be-
Adorno und Heidegger sprechen der reits erwähnt entfaltet Der Ursprung
Kunst beide einen singulären und un- des Kunstwerkes auch unmittelbare
hintergehbaren Charakter zu. Wäh- Wirkung bei Hans-Georg Gadamer.
rend aber bei Heidegger die Kunst in Er schreibt in Wahrheit und Me-
ihrer Schönheit einen „ekstatischen thode. Grundzüge einer philosophi-
Überschuss“, der auf die Wahrheit schen Hermeneutik ausgehend von
des Seins hinweist, produziert, ist bei Heideggers Ansatz über das Verstehen
Adorno die Kunst eher Ausdruck ei- als Grundmodus der hermeneutische
ner tief in der Natur liegenden Rätsel- Methode in den Geisteswissenschaf-
haftigkeit.137 Adrián Navigante zu- ten: „[…] Verstehen [ist] die Seinsart
folge, sei dies ein Zeichen, dass sich des Daseins, sofern es ‚Sein-können‘
Adorno von Heidegger aus gesehen und Möglichkeit ist.“140

130
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 12.
131
Bauch, Kurt: Die Kunstgeschichte und die heutige Philosophie, in: Carlos Astrada, u. a. (Hg.)
(1949): Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften, Bern: A, Francke, S. 88 f.
Marc-Julien Heinsch

In diesem Zusammenhang ist für Günter Figal, der sich in seinem phi-
Gadamer zentral, das mit Heidegger, losophischen Werk, in dem er sich
Kunstbetrachtung einen hermeneu- immer wieder mit „der Frage der Ge-
tischen Charakter erhält und Er- genständlichkeit“ auseinandersetzt,
kenntnisse der Kunstbetrachtung wiederholt auf Heideggers Text be-
gleichwertig mit Erkenntnissen der zieht.144 Auch der Kunsthistoriker
Wissenschaft gesetzt werden.141 Hans Sedlmayr bezieht sich in Ver-
lust der Mitte von 1948 und einem spä- 55
Lorenz Dittmann schreibt: „Das ist teren Aufsatz auf Heidegger. Sedl-
ein für die Kunstgeschichtswissen- mayr geht Heideggers ontologische
schaft bedeutsames Ergebnis. Voraus- Bestimmungen indirekt, wobei er
setzung dafür ist Heideggers Ernst- auf den Kunstwerkaufsatz verweist.
nehmen der Kunst als Sich-ins-Werk- Dabei muss aber bemerkt werden,
setzen der Wahrheit.“142 Morten Tha- dass sich Hans Sedlmayr in seiner
ning fasst es folgendermaßen: Heideggerkritik weitestgehend der
Lesart des philosophischen Anthro-
Mit Kenntnis seines Werks pologen Otto Friedrich Bollnow in
lässt sich deshalb schildern, wie Gadamer dessen Buch Das Wesen der Stimmungen
in seiner philosophischen Hermeneutik von 1941 anschließt. Sedlmayrs Hei-
gerade diejenigen Gedanken aufgreift, deggerrezeption ist also eine durch
ausarbeitet und berichtigt, die er in sei- Bollnow vermittelte Lesart.145 Neben
ner Einführung zu Der Ursprung des dieser unmittelbaren, deutschspra-
Kunstwerkes als die grundlegenden chigen Lesart des Kunstwerkaufsat-
kennzeichnet.143 zes durch Adorno, Gadamer, Sedl-
mayr und Figal, sticht die französi-
Gadamer exemplifiziert so letztlich, sche Rezeption oder eher Nicht-Re-
was Heidegger im Kunstwerkaufsatz zeption hervor.
nur andeutete: Den engen Zusam-
menhang von Hermeneutik und Phä- Während Heideggers übriges Werk
nomenologie in der Kunstbetrach- in Frankreich extrem stark rezipiert
tung und ihr Verhältnis zu Wahrheit- und aufgegriffen wird, bleibt die
und Sinnstiftung durch die Kunst. Beschäftigung mit dem Kunstwerk-
Ähnlich bedeutend wie für Gadamer aufsatz sehr vage. Emmanuel Alloa
ist der Kunstwerkaufsatz auch für bezeichnet die „Vernachlässigung“

132
Vgl.: Ebd., S. 90 ff.
133
Vgl.: Ebd., S. 93.
134
Dialektik bezeichnet eine Form kritischen Philosophierens mit zahlreichen Ausprägungen.
Grundsätzlich folgt dialektisches Denken der Struktur von These, Antithese und Synthese.
135
Vgl.: Navigante, Adrián: Adorno über Heideggers Ontologie des Kunstwerkes, in: David Espinet,
Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks.
Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M. 2011, S. 241 ff.
136
Vgl.: Ebd., S. 243 f.
137
Vgl.: Ebd.
138
Ebd., S. 244.
Martin Heidegger

des Kunstwerkaufsatz es in der fran- Hierin [in der Möglichkeit


zösischen Philosophie als „geradezu eines wandernden Kultwertes eines
frappant.“146 Kunstwerkes] liegt wohl die Grunddif-
Herausragende französische Heideg- ferenz zwischen Heideggers Deutung
gerexegeten wie Maurice Merleau- der Kunst zu Benjamins Thesen, die er
Ponty, Jean-Paul Sartre, Paul Ricoeur, für Lacoue-Labarthe direkt oder indi-
Jacques Lacan, Michel Foucault, rekt rezipiert hat: Für Heidegger wäre
56 Pierre Bourdieu, Jean-François Ly- ‚die Entschälung des Gegenstandes
otard und Alain Badiou umgehen aus seiner Hülle‘ nicht Eröffnung einer
den Ursprung des Kunstwerkes in ihrer anderen Kunst, sondern das Ende von
Forschung fast gänzlich, während Kunst schlechthin.149
Henri Maldiney, Max Loreau, Jean-
Luc Nancy, Jean-Luc Marion und Der heute eher unbekannte franzö-
Philippe Lacoue-Labarthe sich zu- sische Philosoph Jean Beaufret – an
mindest auf Heideggers Gedanken den Heidegger 1946 seinen Brief
zur Kunst beziehen. Explizit mit dem über den Humanismus adressiert –
Kunstwerkaufsatz beschäftigen sich versteht Heideggers Vorträge über
Michel Haar, Paul Gilbert, Jacques den Ursprung des Kunstwerkes „als
Taminiaux, Gérard Granel, Eliane offene Herausforderung der goeb-
Escoubas und Françoise Dastur.147 belsschen Kulturpolitik“, während
Die Lektüre des Kunstwerkaufsat- Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nan-
zes beeinflusst Literaten wie André cy eher das Zelebrieren eines „Natio-
Breton, René Char, Paul Celan und nalästhetizismus“ darin erkennen.
Maurice Blanchot sowie Künstler wie Emmanuel Lévinas, Maurice Merlau-
René Magritte.148 Philippe Lacoue- Ponty, Jean-Luc Nancy und Maurice
Labarthe liest Heideggers Theorie Blanchot tauschen sich in verschiede-
zur Kunst als deutlichen Bezug auf nen Schriften indirekt über Heideg-
und expliziten Widerspruch zu Wal- gers Kunstdenken aus.
ter Benjamins Positionen in Das Kunst- So sind sie sich uneinig darüber, in-
werk im Zeitalter seiner technischen Repro- wiefern Heideggers Kunstwerkauf-
duzierbarkeit. Emmanuel Alloa macht satz vorzivilisatorisch-kultische Prä-
diese Deutung von Lacoue-Labarthe senzerfahrung zelebriere.150 An die-
an folgendem Aspekt fest: ser Stelle sollte Heideggers Einfluss
auf den zentralen Philosophen der

139
Vgl.: Adrián Navigante: Adorno über Heideggers Ontologie des Kunstwerkes, in: David Espinet,
Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.) Frankfurt a. M. 2011, S. 244 ff.
140
Gadamer, Hans Georg (1975 [1965]): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen: J.C.B. Mohr, zit. nach: Dittmann, Lorenz (1975): Kunstgeschichte im
interdisziplinären Zusammenhang, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Dittmann_
Kunstgeschichte_im_interdisziplinaeren_Zusammenhang_1975.pdf (Stand: 30.11.2017), S. 158.
141
Vgl.: Ditmann, Lorenz (1975): Kunstgeschichte im interdisziplinären Zusammenhang,
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Dittmann_Kunstgeschichte_im_
interdisziplinaeren_Zusammenhang_1975.pdf (Stand: 30.11.2017), S. 159 f.
142
Ebd., S. 160.
Marc-Julien Heinsch

Dekonstruktion, Jacques Derrida er- an der Basis einer kunstgeschichtli-


wähnt werden. Derrida betont vor chen Kunstwissenschaft gerüttelt,
allem den Aspekt des Kunstwerkauf- wäre wohl auch ein „nachästheti-
satzes, der besagt, dass ein Kunst- sches“ Kunstverständnis, das sich
werk eben nichts abbilde und nicht aus Dekonstruktion, Postmoderne
für etwas stehe, sondern selbst „ori- und Mediendenken speist, nicht
ginär“ sei, was wiederum in das Kunst- möglich geworden.153
denken von Lévinas und Blanchot 57
zurückfl ießt.151 Es scheint zunächst naheliegend,
Die Dekonstruktion wiederum be- Heidegger eine entscheidende Rolle
reitete postmodernem Denken und beim Eingang phänomenologischer
medienwissenschaftlichen Reflexio- Ansätze in die Kunstwissenschaft zu-
nen zu Heideggers Kunstbegriff den zuschreiben. Bei Lorenz Dittmann
Boden. heißt es jedoch:

Grundlegende Heideggersche Denk- Für die Kunstgeschichtswis-


figuren, wie etwa das Wesen der senschaft steht die phänomenologische
Lichtung, die sich zeigt und zugleich Methode in gleicher Relevanz neben
entzieht, zeigen eine auffällige Ähn- der hermeneutischen. Muß sie sich der
lichkeit zum differenzlogischen Me- letzteren als Geschichts- und Geistes-
diendenken von beispielsweise Gre- wissenschaft bedienen, so ist die ers-
gory Bateson oder Georg Christoph tere Grundmethode zur Erfassung der
Tholen. Heidegger wird außerdem Werke in ihrem anschaulichen Bestand.
ein starker, wenn auch indirekter Befaßt mit den Werken der bildenden
Einfluss auf die Postmoderne zuge- Kunst entwickelte sie diese Methode,
schrieben. Jacques Derrida, Michel ohne sie als solche zu kennzeichnen und
Foucault und Gilles Deleuze wer- vor der philosophischen Phänomenolo-
den in der Forschung als Denker gie. Als spezifische Methode wurde sie
der Postmoderne genannt, die mit erst von der phänomenologischen Phi-
Nietzsche und Heidegger Metaphy- losophie herausgearbeitet. Verglichen
sikkritik betrieben und Begriffe wie mit ihr muß die kunstwissenschaftliche
Wahrheit, Zeit und Vernunft ins freilich nur wie ein naiver Ansatz wir-
Zentrum ihrer Reflexion rücken.152 ken. Vielleicht aber darf gesagt werden,
Hätte Heidegger nicht so vehement daß die phänomenologische Methode,

143
Thaning, Morten: Rezeption in der philosophischen Hermeneutik, in: David Espinet, Günter Figal,
Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar,
Franfurt a. M. 2011, S. 266.
144
Vgl.: Ebd., S. 277 ff.
145
Vgl.: Morgenthaler, Simon: Textpraktiken in Hans Sedlmayrs kunstwissenschaftlicher
Theoriebildung, in: Endres, Martin; Pichler, Alex und Zittel, Claus (Hg.) (2017): Textologie: Theorie
und Praxis interdisziplinärer Textforschung, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 335.
146
Vgl.: Alloa, Emmanuel: Restitutionen. Wiedergaben des Ursprung des Kunstwerkes in der
französischen Philosophie, in: David Espinet, Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers
Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 251 f.
Martin Heidegger

nicht unangreifbar in der Philosophie, in Lorenz Dittmann fordert 1958 in sei-


der kunsthistorischen Arbeit eine ihrer nem Aufsatz Zum Thema Ontologie und
unbestreitbaren Legitimationen erhält.154 Kunstwissenschaft gar eine ontologisch
fundierte Kunstwissenschaft, beruft
Es darf also nicht so getan werden als sich aber gerade nicht auf Heidegger.
habe es phänomenologische Ansät- Hier zeigt sich der problematische
ze in der Kunstwissenschaft erst nach Schwellencharakter des Kunstwerk-
58 oder durch Heidegger gegeben. aufsatzes. Heideggers Kunstbetrach-
So lässt sich beispielsweise Heinrich tung im Text folgt nicht der Methodik
Wölffl ins Ansatz die Kunst durch in- der Kunstgeschichte, legt aber auch
tensive und vergleichende Betrach- nicht ausführlich die Methode einer
tung in Stilbegriffe zu ordnen, im wei- möglichen existenzialontologischphä-
testen Sinne als phänomenologisch nomenologischen Kunstwissenschaft
bezeichnen. Auch Aby Warburg und dar. Der Ursprung des Kunstwerkes de-
Kurt Badts kunstwissenschaftliche monstriert die komplexe Problematik
Forschung kann hier exemplarisch der kunstwissenschaftlichen Diszip-
genannt werden. Stilgeschichte, Zei- lin ohne ihr explizit praktikable Lö-
chen- und Symbolinterpretation in sungswege aufzuzeigen.
der Kunstwissenschaft kulminieren Welche Rolle der Kunstwerkaufsatz
schließlich bei Erwin Panofskys ein- dennoch innerhalb der Kunstwis-
flussreichen Deutungsschemata der senschaft einnimmt und weiterhin
Ikonographie und Ikonologie.155 einnehmen kann, soll das abschlie-
Nun unterscheidet sich aber Panofskys ßende Kapitel zeigen.
Kunstbetrachtung, will sie schließlich
methodisches Werkzeug zur Kunst-
betrachtung an die Hand geben, trotz
phänomenologischer Gemeinsam- Damals und heute ein
keit, fundamental von der Heideg- schlüsseltext?
gers, wie Jürgen Stöhr bemerkt:
Ein Schlüsseltext innerhalb der Kunst-
Daher schieden Heidegger und wissenschaft sollte seinen Gegenstand
Adorno als Vorbilder für die Disziplin aus. neu perspektivieren, eine möglichst
Ikonographie und Ikonologie wollten Rät- zeitlose Methode skizzieren und An-
sel lösen, statt sie sein zu lassen.156 schlusskommunikation erzeugen.

147
Vgl.: Ebd., S. 251 f.
148
Vgl.: Emmanuel Alloa: Restitutionen. Wiedergaben des Ursprung des Kunstwerkes in der
französischen Philosophie, in: David Espinet, Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers
Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 253 ff.
149
Ebd., S. 258.
150
Vgl.: Ebd., S. 259 ff.
151
Vgl.: Ebd., S. 263 ff.
152
Vgl.: Shin, Syng-Hwan (1996): Metaphysik-Kunst-Postmoderne. Martin Heideggers
Rationalitätskritik und das Problem der Wahrheit, Regensburg: S. Roderer, S. 144 ff.
153
Vgl.: Ebd., S. 149 f.
Marc-Julien Heinsch

Diesen Kriterien, werden sie streng Es bleibt also ein zwiespältiges Un-
angelegt, entspricht Martin Heideg- terfangen von Heideggers Kunst-
gers Der Ursprung des Kunstwerkes im werkaufsatz als Schlüsseltext für die
Hinblick auf die zeitgenössische Kunstwissenschaft zu sprechen. Als
Kunstwissenschaft nur indirekt. direkt benannten Einflussfaktor fi n-
det sich Heidegger in der kunstwis-
In der Kunstwissenschaft der Sech- senschaftlichen Literatur sehr selten.
zigerjahre bis ins heutige Jahr 2017 Michael Brötje und Jürgen Stöhr sind 59
wird Heideggers Kunstwerkaufsatz zwei zeitgenössische Kunstwissen-
kaum zitiert bzw. seine Gedanken di- schaftler, die konkret an Heideggers
rekt weitergeführt. Eine Bildbetracht- Gedanken im Kunstwerkaufsatz ar-
ungsweise wie die Ikonik der späten beiten, diese weiterdenken und aus
Siebzigerjahre nach Max Imdahl, wo ihnen eine kunstwissenschaftliche
das, was sich im Werk zeigt, nicht Methodik erarbeiten wollen. Ers-
bloßes Aufscheinen vergangener Ge- terer in Der Spiegel der Kunst: Zur
danken, Gefühle und Umstände, son- Grundlegung einer existenzial-hermeneu-
dern für sich selbst stehender wirk- tischen Kunstwissenschaft von 1990 und
mächtiger Ausdruck ist, wirkt den Ge- letzterer in Die Sorge um die Theorie.
danken in Heideggers Kunstwerkauf- Bildanschauungen und Blickoperatio-
satz sehr nah und scheint auf die eben nen mit Martin Heidegger und Michael
beschriebene Problematik reagieren Brötje von 2016. Es sollte im Verlauf
zu wollen. Bei Jürgen Stöhr heißt es dieser Arbeit deutlich geworden sein,
aber, dass sich Max Imdahl trotz einer dass Heideggers Denkbewegungen
gewissen Gedankenverwandtschaft im Kunstwerkaufsatz Anstoß für
und eines prominent platzierten, di- die großen geisteswissenschaftlichen
rekten Zitats, wohl nicht ausführlich Strömungen nach Mitte des 20. Jahr-
mit Heidegger auseinandergesetzt hunderts waren und bis heute nach-
habe.157 Und weiter: „Auf die Curricu- wirken. So hat sich der Text darum
la des Faches Kunstgeschichte hatten bemüht, den Bezug des von der
die Schriften Heideggers [nach An- Kunstwissenschaft aus der philoso-
knüpfungspunkten bei Kurt Bauch, phischen Ästhetik entlehnten Be-
Theodor Hetzer, Hans Jantzen oder griffs des Stoff-Form-Gefüges, zur
Georg Picht] keinen Einfluss mehr. Sie Kunst näher zu beleuchten und
wurden schon bald fallengelassen.“158 Kunstbetrachtung als wesentlichen

154
Lorenz Dittmann: Kunstgeschichte im interdisziplinären Zusammenhang, http://archiv.
ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Dittmann_Kunstgeschichte_im_interdisziplinaeren_
Zusammenhang_1975.pdf (Stand: 30.11.2017), 1975, S. 160.
155
Vgl.: Ebd., S. 162 ff.
156
Stöhr, Jürgen (2016): Die Sorge um die Theorie. Bildanschauungen und Blickoperationen mit
Martin Heidegger und Michael Brötje, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 27.
Martin Heidegger

Zugang zu geschichtlicher Wahrheit Allein die Frage bleibt offen, wie stark
charakterisiert. bei Heidegger tatsächlich ein nach-
In Heideggers eigener, kritischer Ma- ästhetisches Kunstverständnis ange-
nier überholt er die bis dato vorrang- legt ist, das sich als Grundstein für eine
ige, ästhetische Methodik und ver- wissenschaftliche Kunstbetrachtung
leiht dem Kunstwerk als dem Ins- jenseits der Kunstgeschichte, aber im
Werk-Setzen der Wahrheit einen on- fruchtbaren Dialog mit dieser, eignen
60 tologischen Status. Er betreibt zudem würde. Als solches müsste sich Hei-
eine philosophische Herangehens- deggers Kunstdenken auf abstrakte
weise an das Kunstwerk jenseits ei- nicht-gegenständliche Kunst ebenso
ner vorangehenden Künstlerfixierung wie auf Untersuchungsgegenstände
und damit auch, was wiederum ange- der Medien- und Kulturwissenschaf-
zweifelt werden kann, ohne die Ein- ten, exemplarisch etwa Filme oder Vi-
beziehung der genuinen künstleri- deospiele, ausweiten lassen.
schen Technik. Der Ursprung des Kunst- Zumindest ist nicht von der Hand zu
werkes regt dazu an, die Kunst als Un- weisen, dass Heideggers Denkfigur,
tersuchungsgegenstand der Kunst- aus der Betrachtung von Kunst in ih-
wissenschaft grundlegend zu befra- rer Beziehung zu Dasein und Welt,
gen und sich nicht nur an ihren Re- Erkenntnisse zu gewinnen, in den
zeptionsformen im (kunst-)geschicht- heutigen Geisteswisseschaften stär-
lichen Kontext abzuarbeiten: ker ist denn je.
Heidegger weist dem Kunstwerk viel- So scheint Der Ursprung des Kunstwerkes
mehr selbst eine prägende, historische auf den ersten Blick kein Schlüssel-
Funktion zu. text der zeitgenössischen Kunstwis-
Im Kontext seines Ansatzes lässt senschaft mehr zu sein - von einem
sich argumentieren, dass Heidegger Schlüsseltext für die heutigen Geistes-
einerseits sehr eingeschränkt auf die wissenschaften lässt sich aufgrund der
genannten Beispiele, insbesondere erzeugten Anschlusskommunikation
das Werk Van Goghs, bleibt, ander- bei etwa Gadamer, Derrida, Nancy
erseits aber den Grundstein für eine und Tholen aber gewiss sprechen.
medientheoretisch-interdisziplinär Die Spur Heideggers in die Geistes-
geprägte Kunstwissenschaft, wie sie wissenschaften des Jahres 2017 nach-
u.a. in Konstanz betrieben wird, legt. zuzeichnen, muss jedoch an anderer
Stelle geleistet werden.

157
Vgl.: Jürgen Stöhr: Die Sorge um die Theorie. Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin
Heidegger und Michael Brötje, Paderborn 2016, S. 28.
158
Ebd.
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch

61
Martin Heidegger

Quellenverzeichnis

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nach: Dittmann, Lorenz (1975): Kunstgeschichte im interdisziplinären
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Von Hermann, Friedrich-Wilhelm (1994 [1980]): Heideggers Philosophie der


Kunst, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann.
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch

Bildnachweis

Abbildung 1: Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/


wiki/File:Schoenen_-_s0011V1962_-_Van_Gogh_Museum.jpg (Stand: 65
12.12.2017).
Hans Sedlmayr
Verlust der Mitte.
Die Bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts
als Symptom und SYmbol der Zeit (1948)

Hans Sedlmayr, ein „Kunsthistoriker, der sicher zu den umstrittensten


66 Vertretern des Fachs gehört“1, polarisierte mit seiner 1948 erstmals ver-
öffentlichen Monographie Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19.
und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit.2 Im Fokus dieses Rea-
der-Beitrages steht das fünfte Kapitel „Das entfesselte Chaos“ aus diesem
Text des österreichischen Kunsthistorikers.
Sein Buch erschien 1948 innerhalb der Nachkriegskunstwissenschaft.
Womöglich auch aus dieser Perspektive heraus, schreibt Sedlmayr eine
Verfallsgeschichte der Kunst des vorhergegangenen Jahrhunderts und ver-
sucht innerhalb dieses kulturkritischen Rahmens aufzuzeigen, dass sich
die moderne Kunst durch eine, nach ihm kritisch zu bewertende, Ent-
fremdung von religiösen Bezügen auszeichne. Im Titel des Buches sind
bereits zwei zentrale Charakteristika seiner Thesen enthalten. Zum einen,
sei Kunst für Sedlmayr fähig, Menschen „in der Mitte“ zu halten, eine For-
mulierung die „den Zerfallsprozeß der abendländischen Werte beschreibt
und [zugleich] beklagt.“3 Zum anderen betrachtet Sedlmayr die bildende
Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Bild der Gesellschaft dieser Zeit. Er
diagnostiziert, dass die avantgardistische Kunst nicht mehr fähig sei, den
Menschen in seiner Mitte zu halten und beschreibt damit auf sozialer Ebe-
ne den Bruch zwischen Mensch und Gott bzw. der Religion. Sedlmayr ar-
beitet sowohl mit einem epochalen und zugleich mit einem soziologischen
Kunstverständnis. Die vorliegenden Textausschnitte zeichnen sich durch
ausgezeichnete Bildanalysen aus, welche den Text neben anderen Charak-
teristika wohl zu einem Schlüsseltext machen. Zugleich zeugen die kont-
roversen Interpretationen dieser Analysen, in Kombination mit Sedlmayrs
politischer Biografie, von der Krise in der sich die Kunstwissenschaft nach
der Herrschaft durch die nationalsozialistische Diktatur und dem Zweiten
Weltkrieg befand.

1
Männing, Maria (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 28.
2
Sedlmayr, Hans (1948): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg.
3
Beyer, Andreas (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte. Eine Einführung, Köln, S. 26.
67
Hans Sedlmayr

Die Gliederung der Kapitel des Bu-


ches in eine Dreiteilung aus „Symp-
tome[n]“, „Diagnose und Verlauf“ und
Zusammenfassung: „Zur Prognose und Entscheidung“
Ein gegner der modernen kunst versetzen Sedlmayr in die Rolle ei-
nes Arztes. Er tritt als ein Mediziner
In seinen Hauptwerken, zu denen auf, indem er Symptome einer Epo-
68 Verlust der Mitte (1948) und Die Ent- che, bzw. der Menschen einer Epoche
stehung der Kathedrale (1950) zählen,4 beschreibt, eine Diagnose verfasst
beschäftigt sich Sedlmayr primär und schließlich eine Prognose formu-
mit den Epochen des Mittelalters liert. Er schreibt somit die Kunstge-
und des Barocks in Abgrenzung zur schichte als Krankengeschichte. Hans
Kunst der Moderne.5 Sedlmayr fasst in der Einleitung sei-
Der Titel der Buches Verlust der Mitte. nes Buches sein Vorhaben zusammen,
Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahr- welches nicht rein aus kunstgeschicht-
hunderts als Symbol der Zeit enthält be- licher Perspektive zu verstehen sei und
reits die Grundthese Sedlmayrs: offenbart eine strukturalistische Denk-
Kunst fungiere nach ihm als Spiegel weise. Zugleich wird der Ton von Ver-
des gesellschaftlichen Gemüts ihrer lust der Mitte durch eine bereits anklin-
Entstehungszeit. gende kritische Sichtweise auf Neue-
rungen der Epoche etabliert:
Der Verlust der Mitte bezeich-
net für den Autor die Trennung von Die Problemstellung dieser
Menschen und Gott. [Dies] manifestiert Arbeit ist also nicht kunstgeschichtlicher
sich für Sedlmayr in der modernen Kunst: Art, sondern eine ‚Kritik’ des Geistes,
Verfallsprodukte, Symptome, Symbole der Versuch einer Diagnose der Zeit, ih-
des Unheils, der Gottlosigkeit, der Un- res Elends und ihrer Größe, von der Kunst
menschlichkeit. [...] Sedlmayrs Kunstkri- her. Sie ist nicht kunst-geschichtlich,
tik ist Ausfluß einer rückwärtsgewand- denn sie berücksichtigt mehr die Gefähr-
ten und totalitaristischen Ideologie, deren dungen der Epoche als ihre Leistungen,
metaphysisches Heilzentrum und Heil- von denen nur ganz allgemein die Rede
mittel, deren Faszinosum ‚Mitte’ heißt.6 ist. Und sie ist nicht kunstgeschichtlich,
denn sie beschäftigt der Zustand des Gan-
zen und seine Phasen im großen, nicht

4
Vgl.: Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 28.
5
Vgl.: Ebd.
6
Kerschbaumer, Gert (1992): „Hans Sedlmayr“, in: Gert Kerschbaumer, Karl Müller (Hrsg.),
Begnadet für das Schöne. Der rot-weiß-rote Kulturkampf gegen die Moderne, S. 176.
7
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 11.
Dorothee Fischer

das Einmalige des Verlaufs, mehr das Gottebendbildlichen Menschenge-


Neue als das Ineinandergreifen aller stalt äußere.“10 In diesen Aussagen
historischen Faktoren in konkreter his- wird die stark katholische Erziehung
torischer Situation.7 des Autors bereits sichtbar, auf die im
Zuge einer Kontextualisierung von
Auf diese Weise beschreibt Sedlmayr Verlust der Mitte an späterer Stelle ein-
im Verlauf des Buches zweierlei Pa- gegangen wird.
thologien. Zum ersten eine Indivi- 69
dualpathologie, nach der der einzel- Negativ zu bewertende Veränderun-
ne Mensch außerhalb des Glaubens gen durch eine verstärkte Profanisie-
nur seinen Wahnsinn fi nden kann. rung der Kunst macht Sedlmayr zeit-
Zum zweiten eine Kollektivpatholo- lich ab ca. 1760 fest.
gie, in der er die Künstler als Zeichen Grundlegend sind hier für ihn das
für den gesamtgesellschaftlichen Zer- Auflösen der Form und die ‚Entstel-
fall ausfi ndig macht. lung des Menschenbildes’.11
Des Weiteren liefert Sedlmayr in der Diesem „wird als Idealtypus des Ge-
Einleitung den Hinweis, dass er nur sunden [das…] im Sakralen gipfelnde
die bildenden Künste inklusive Ar- Gesamtkunstwerk als Gleichnis und
chitektur und nicht Theater, Film Abbild der göttlichen Weltordnung
oder Musik betrachten werde.8 und des vollkommenen Menschen“12
Der Autor verweist vornehmlich auf entgegengestellt.
architektonische Werke, um seine Sedlmayr äußert sich als Gegner ei-
Thesen der Kulturkritik der Moder- ner Stilgeschichte,13 gleichwohl er aber
ne zu untermauern. „die beiden Höhepunkte der Weltge-
Im Verlauf des Buches wird Sedlmayr schichte“ in der griechischen Kunst
die Position einnehmen, dass nur und in der Renaissance sowie der
eine „Rückkehr zur Mitte, zum Glau- Kunst des Barocks verwirklicht sieht.
ben an einen persönlichen Gott“9 die Alle spätere Kunst beschreibt er als
Menschheit retten könne. ‚dämonisch, höllisch, schlecht’.14
Den Gipfel des Verlustes der Mit-
„Denn der Abfall von ihm sei der ei- te der Menschen und ihres Gottes
gentliche Grund der Erkrankung, sieht Sedlmayr schlussendlich in der
die sich in der Kunst als Abkehr vom surrealistischen Kunst:15
natürlichen Weltbild, und von der

8
Vgl.: Ebd.
9
Kieser, Emil (1950): „Review Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr“, in: Zeitschrift für
Kunstgeschichte, 13. Band, 1. Halbjahr, S. 158.
10
Ebd.
11
Vgl.: Emil Kieser, Review Verlust der Mitte, 1950, S. 158.
12
Ebd.
13
Vgl.: Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, 1948, S. 9.
14
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 9.
Hans Sedlmayr

[D]en absoluten Nullpunkt Er misst die Kunst der Moderne am


sieht S[edlmayr] aber nicht so sehr in der Maßstab vergangener Epochen.
durch Cézanne ausgelösten ‚bedeutungs- Diese überhöht er jedoch, sodass er al-
freien Malerei’ als im ‚Chaos des totalen les Folgende, Andere, nur als schlech-
Abfalls’, dem Surrealismus der neben dem ter und als „Verlust“ deuten kann.
positiven Realismus die einzige Richtung Sedlmayr beschreibt diese Neuerun-
der modernen Malerei sei, die den Zwei- gen nicht als progressiv, sondern als
70 ten Weltkrieg überlebt habe [.]16 negativ konnotierte Vernichtungen
des Bestehenden.18 Er fordert eine
„Erneuerung des Sakralen sozusagen
von den Urgründen her“ und ruft auf
Inhalt und zu einer „Rückkehr zur Naturord-
Argumentationsstruktur nung“.19 Ebenso wie die dreigeteilte
Gliederung des Buches unterteilt sich
Im ersten Teil des Buches, den „Symp- auch das 5. Kapitel, „Das entfesselte
tomen“, stellt Sedlmayr heraus, dass Chaos“, in mehrere betitelte Abschnit-
sich vor der Profanisierung in der Mo- te, die man wie folgt einordnen könnte:
derne (z.B. im Bau von Landschafts- Als einführender Teil beginnt das
gärten, Denkmälern, Museen), Baut- Kapitel mit „Die Revolution in der
en meist auf religiöse Bedürfnisse zu- Malerei“. Darauf folgt ein zweiter
rückführen ließen (Kathedralen, Kir- Teil, der vorwiegend Beispiele von
chen). In diesem Teil fi ndet sich auch Künstlern und Gattungen mit fol-
das Kapitel „Das entfesselte Chaos“, genden Titel enthält: „Die Dämonen
das sich mit der Malerei befasst und (Goya)“, „Der verlassene Mensch (C.
im Folgenden im Fokus steht. D. Friedrich)“, „Der entstellte Mensch
(DieKarikatur)“,„DerUnsinnderWelt
Die Hauptthese Sedlmayrs, Kunst als (Grandville)“, „Das reine Sehen (Cé-
Symptom einer kranken Gesellschaft zanne)“ und „Das schreiende Bild
zu verstehen, wird im fünften Ka- (Problem des Plakats)“.
pitel des Buches deutlich hergeleitet. Als abschließender dritter Teil folgen
Hier beobachtet Sedlmayr die zuneh- die dem Kapitel namengebende Unte-
mende Isolierung einzelner Kunst- rüberschriften: „Die entfesselte Ma-
gattungen, wie z.B. die der Karikatur lerei und das Chaos“ und „Das Chaos
oder des Plakats.17 des totalen Abfalls“.

15
Vgl.: Ebd., Kapitel „Das Chaos des totalen Abfalls“, 1948, S. 133 ff.
16
Emil Kieser, Review Verlust der Mitte, 1950, S. 160.
17
Vgl.: Zwischenüberschriften in Kapitel 5, wie z.B.: „Der entstellte Mensch (Die Karikatur)“ oder
„Das schreiende Bild (Problem des Plakats)“ in Sedlmayr, Verlust der Mitte, 1948, S. 117 und
S. 126.
18
Vgl.: Ebd., S. 161.
19
Vgl.: Ebd., S. 162.
20
Ebd., S. 109.
21
Alle Zitate dieses Abschnittes sind entnommen von: Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende
Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 109.
Dorothee Fischer

Um dem Umfang dieses Reader-Bei- Er verdeutlicht diese Tendenzen u.a.


trages nicht zu überschreiten, wird an den Künstlern Goya, Caspar Da-
im Folgenden der Fokus auf die Ein- vid Friedrich, Grandville und Cé-
leitung, zwei Künstler-Beispiele (Goya zanne und fasst zusammen:
und Cézanne) und den Schluss dieses
Kapitels gelegt und die dort getrof- Der moderne Maler ist der ge-
fenen Aussagen Sedlmayrs näher fährdetste aller Künstler, abgeschnitten
analysiert. Im Rahmen dieses Ar- von der Realität, oft eine verzweifelte 71
tikels soll besonders auf das erste Existenz. […]
Beispiel Sedlmayrs, Goya sowie auf Zwar sind die großen Maler der Mo-
seine Bemerkungen zu Cézanne ein- derne zweifellos tiefere Geister als die
gegangen werden, um anhand des- Architekten, aber nirgends bricht das
sen seine Thesen und Argumentati- Dämonische so stark durch, nirgends
onsstruktur deutlich zu machen. ist die Verlassenheit so groß, nirgends
Einleitend beschreibt Hans Sedlmayr größer die Gefahr der Scharlatanerie. 22
„[d]ie Revolution in der Malerei“20
und charakterisiert die Malerei als Direkt nach Sedlmayrs kurzen Ein-
„die hemmungsloseste aller Künste“ führung zum Charakter der moder-
seit sie sich von sakralen Themen und nen Kunst folgt mit „Die Dämonen
Motiven gelöst hat, sodass ihr der (Goya)“ eine zunächst beinahe positiv
„Zufall des Beliebigen’“ drohe. klingende Beschreibung der Künst-
Durch das Fehlen eines (sakralen) lerpersönlichkeit Goyas, dem durch
„sichere[n] Ganze[n]“ könne alles Sedlmayr ein Pionierstatus zuge-
Dargestellte nur noch chaotisch sein. schrieben wird: „Zum ersten Mal ge-
So beobachtet Sedlmayr die „entfes- staltet ein Künstler unverhüllt und
selten Farbe“ als „ein Element des ohne Vorwand die Welt des Alogi-
Formlosen und Chaotischen“. schen.“23 Da Goya auch chronologisch
Die moderne Kunst versuche „den betrachtet das erste Beispiel der Re-
Mikrokosmos des Gemäldes im al- volution der Malerei sei, seien nach
ten Sinn [aufzulösen]“, sei auf der Su- Sedl-mayr dessen „Träume“ und
che nach dem „Flächenhafte[n] des „Tollheiten“ nicht nur der eigent-
Bildes“ sowie motivisch zur „Darstel- liche Schlüssel zum Werk Goyas son-
lung des Alogischen, des Traumhaf- dern ebenso zur modernen Kunst im
ten“ strebend.21 Allgemeinen.24

22
Ebd.
20
Ebd., S. 109.
21
Alle Zitate dieses Abschnittes sind entnommen von: Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende
Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 109.
22
Ebd.
Hans Sedlmayr

Sedlmayr sieht in den Serien Goyas Untermauert wird dies durch das
keine Metaphern oder Allegorien, die den Untertitel begleitende Zitat Erns
entschlüsselt werden müssen, sondern Jüngers aus Blätter und Steine: „Die
deutet diese als Traumdarstellung, verfallenen Altäre sind von Dämo-
die das Innerste des Künstlers verbild- nen bewohnt.“29
lichen. Damit verweist er auf die psy- Sedlmayr sieht des Weiteren einen Zu-
choanalytische Traumdeutung: sammenhang zwischen den neuarti-
72 gen eigentümlichen Motiven und in-
Sie können ebenso nur psy- novativen „eigentümlichen Bildmit-
chologisch gedeutet werden wie die tel[n]“30: So gewinne das Malerische
Träume selbst.25 gegenüber dem Plastischen an Wich-
tigkeit, „[o]ft wird der Hintergrund so
[Die] ‚Ikonographie’ [solcher] flach und wesenslos, daß man zwei-
Werke [wurzelt] nicht im allgemein Ver- feln kann, ob man nicht eine bloße
bindlichen […], sondern im Individuellen Kulisse sieht[.]“31
des träumenden Bewusstseins[.]26 Auch spricht Sedlmayr kritisch von
einer „wütenden Wildheit des Strichs,
In dieser Aussage steckt die Beob- die alle Form auflöst“32 Avantgardis-
achtung, dass eine Verschiebung der tische Methoden des Farbauftrages
sakralen hin zur primär profanen entgehen ihm nicht. Doch stellt er die
Kunst aus dem Individuum heraus Behauptung einer Verbindung zwi-
geschehe. Denn die moderne Kunst schen der Französischen Revolution
sei gekennzeichnet durch den „Ein- und den „Ausartungen“ in der Kunst
bruch des Höllischen in [die] Welt“ auf: nach ihm seien dies „Jahrzehnte
und auch in den Menschen selbst. [gewesen], in denen viele Künstler
Sedlmayrs These ist, dass mit dem von dämonischen Mächten besessen
Darstellen des Höllischen in der [waren.]“33 Nachdem er nun zunächst
Kunst auch „eine neue Auffassung die Gesellschaft für die Darstellungs-
vom Menschen überhaupt“27 erschei- weise in Goyas Werken verantwort-
ne. Die Ungeheuer und Gestalten lich gemacht hat, folgt ein Umschlag
Goyas seien „keine ‚Phantasie’ des in seiner Argumentation.
Künstlers, sondern eine erfahrene Er schreibt:
‚blutige’ Realität“28 , einhergehend
mit der Abkehr von der Religion. „Daß Goya dem Wahnsinn

23
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 110.
24
Vgl.: Ebd.
25
Ebd., S. 111.
26
Ebd.
27
Ebd., S. 112.
28
Ebd.
29
Ebd., S. 110.
30
Ebd., S. 113.
31
Ebd.
Dorothee Fischer

entgangen ist, hat seinen Grund darin, dieser anblickbaren Welt gleichartig
daß er inmitten dieses Bedrücktseins von aufgefaßt.“37
furchtbaren Visionen das Bild des Men- Während diese traditionellen Verfah-
schen festhalten konnte […] ren also der „Darstellung des Sicht-
Jenes Blatt […], das den Menschen ver- baren“38 dienten, beobachtet Sedl-
zweifelt kniend vor dem Dunkel des mayr einen Ausbruch aus diesem
Nichts zeigt, ist zweifellos eine Säkula- „nur gesehen“ hin zu einem „sehend
risation des Christus am Ölberg“34 hinzugewußt[en], vorgestellt[en], mit- 73
gedacht[en]“39; eine Malweise, die der
Hier spricht Sedlmayr von einem „natürlichen“ Darstellung entgegen-
der Werke Goyas, welches nicht das gesetzt sei und in Cézanne kulminiere.
Ungeheure zeigt. Gerade diese Aus- Cézannes Kunst stehe zwischen Im-
nahme sei nun sakral aufgeladen und pressionismus und Expressionismus40
zeige, dass der Künstler seine Mitte und sei:
wohl doch noch nicht verloren habe.
In den darauffolgenden Abschnitten […] die Darstellung dessen,
widmet sich Sedlmayr Caspar David was das von allen intellektuellen und ge-
Friedrich, dem „entstellten Menschen- fühlshaften Beimischungen gesäuberte
bild“35 in der Karikatur und Grand- „reine“ Sehen in der sichtbaren Welt vor-
ville bevor er im Abschnitt „Das reine fi ndet. Dieser Kampf um das pure Sehen
Sehen (Cézanne)“ über eine durch die ist selbst im hohen Grade Symptom.41
Andersartigkeit der Kunst bedingte
neue Art zu sehen schreibt.36 Dieses reine Sehen gebe es auch in
Sedlmayr fasst bisherige Verfahren der menschlichen Erfahrung, Sedl-
der Malerei mit den Linearkonstruk- mayr defi niert wie folgt:
tiven in Italien oder „dem empirisch-
malerisch[en]“ Konstruktionen bei Es ist jener seltene Zustand
den Niederländern zusammen. zwischen Erwachen und vollem Wach-
Beides seien Verfahren, die die Auf- sein, in dem sozusagen nur das Auge
gabe der Malerei als „die Darstellung wach ist, während der Intellekt noch
der im Sehen vorfi ndbaren Welt“ fest- ruht. Dann erscheint die gewohnte Welt
legen. Diese Konstruktionsverfah- als Gefüge von Flecken und Formen
ren gelten auch für fi ktive Motive verschiedener Gestalt, Farbe, Größe
– „auch jede Phantasiewelt wird als und ‚Konsistenz’; die gewohnten Dinge

32
Ebd.
33
Ebd.
34
Ebd., S. 114. Der Autor bezieht sich hier auf das erste Blatt aus Francisco de Goyas Desastres
de la guerra, Abbildung: siehe Prometheus Bildarchiv, Stichwort: Goya und Die Schrecken des
Krieges, URL: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dadaweb-6680989fc819d
5c14521a32377ec61240cbd6e42, zuletzt aufgerufen am 01. November 2017.
35
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 117.
36
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 122 bis S. 126.
Hans Sedlmayr

warten gleichsam hinter diesem farbi- […] Alles baut sich aus Farben
gen Gewebe, um aus ihm zu entstehen. auf [und] kommt zum Alleinherrschen
Dieses Gewebe […] enthält Raum, […] und ergreift das Bild.45
chaotischen Raum, von den Farben ge-
schaffen, untrennbar vermengt mit den Das Fehlen einer Komposition ma-
farbigen Elementen der Fläche.42 che die Bilder noch natürlicher –
„[s]o versteht man aber auch, daß die
74 In diesem Zustand läßt sich Bilder Cézannes viel natürlicher
von einer in dem farbigen Fleckengefüge sind, viel mehr der Wirklichkeit zu-
hervortretenden Linie nicht sagen, was gewandt, als man auf den ersten Blick
sie in der ‚Wirklichkeit’ bedeutet. Es läßt glauben möchte[.]“46 Diese Wirkung
sich auch nicht von der Beleuchtung grenzt er ab vom Impressionismus
sprechen, denn die ‚Beleuchtung’ kann (auch „Kunst des Nur-Sichtbaren“47 )
man von der Lokalfarbe nur dort ab- und der abstrakten Malerei (die kei-
heben, wo es ein Wissen um die Dinge ne vorgefundene, sondern eine er-
und ihre Farben gibt. Der Zauber die- fundene Welt darstellt).
ses Verhaltens besteht darin, daß alles An Cézanne sei das Einzigartige,
neu aussieht, daß das Alltäglichste eine dass seine Kunst
sonderbare ursprüngliche Frische, et-
was „Elementares“ gewinnt. Vor allem das Reich des Künstlerischen
gewinnt die Farbe, befreit von ihrer Auf- nicht durch ein Hinausgehen über die
gabe, die Dinge zu kennzeichnen, eine alltägliche Welt erreicht, nicht durch de-
nie gekannte Intensität. In dem Augen- ren Übersteigerung oder Überhöhung,
blick, wo unser helles Wissen sich ein- aber auch nicht durch die Verklärung
mengt, löst sich diese Erscheinung auf des Alltags, sondern durch ein Zurück-
und der Zauber ist zu Ende.43 gehen vor sie, gewissermaßen an die Ur-
Somit halten Cézannes Bilder einen sprünge, und daß sie hier das Reich der
„Zustand des Sehens fest[.]“44 Farbe ‚an sich’ entdeckt.48
Dies hat zur Konsequenz,
Dieses Ursprüngliche fi nde sie durch
[dass] bei dieser Einschrän- ein Verhalten, nicht durch einen „ge-
kung auf das pure Sehen […] in der Fläche genständlichen Bezirk“49.
die Farbe ein nie gekanntes Eigenleben
[erlangt.]

37
Ebd., S. 122.
38
Ebd., S. 123.
39
Ebd.
40
Ebd., S. 122.
41
Ebd., S. 123.
42
Ebd., S. 123 f.
43
Ebd., S. 124.
44
Ebd.
45
Ebd.
46
Vgl.: Ebd., S. 125.
Dorothee Fischer

Diese Kunst fordert somit: „einen Einfühlung bestehen. Alles ist in diesen
Zustand äußerster Teilnahmslosig- Zuständen tot und fremd, die Menschen
keit des Geistes und der Seele an sehen nur noch äußerlich, aber sie werden
den Erlebnissen des Auges [sic].“50 sich des seelischen Lebens der anderen
nicht mehr bewußt.52
Eine Forderung, die Sedlmayr nun
– nach vermeintlichem Schwärmen Sein Fazit im Abschnitt zu Cézan-
für den Künstler – als Menschenun- nes Kunst ist: 75
möglich bezeichnet, als außermensch-
lich und den „Ausbruch des Außer- [hier] beginnt die Welt labil zu werden.
menschlichen vor[bereitend.]“ Denn sobald Phänomene ohne Bedeu-
Denn: diese Kunst versagt „Einfüh- tung gesehen werden, werden sie als
lung“ und stelle den „Mensch[en] im schwankende, flüchtige, unbestimmte,
Widerspruch zur natürlichen Erfah- nicht solide Phänomene erlebt[.]53
rung mit [..] anderen Dingen auf eine
Stufe“, wie Holzpuppen, Automaten Nachdem Sedlmayr daraufhin in
und Mustern einer Tapete.51 Sedlmayrs „Das schreiende Bild (Problem des
Angst vor der Auflösung des Men- Plakats)“ problematisiert, was durch
schen wird hier in einer längeren Pas- das relativ junge Medium des Plakates
sage seines Wortlauts deutlich: passiert, schließt er mit den letzten
beiden Abschnitten sein Kapitel ab.
Cézannes Kunst ist ein In „Die entfesselte Malerei und das
‚Grenzfall’. Sie ist wie ein schmaler Grat Chaos“ zeigt sich, dass für Sedlmayr
zwischen dem Impressionismus und die Malerei nach 1900 und die mo-
dem Expressionismus, sie bereitet in derne technisierte Architektur zu-
ihrer unnatürlichen Stille den Ausbruch sammen gehören, „obwohl die neue
des Außermenschlichen vor. Denn sie Architektur so kühl und ‚sachlich’,
führt dazu, daß der Mensch im Wi- die neue Malerei so wild und irrsinnig
derspruch zur natürlichen Erfahrung erscheint“54, denn sie haben die „ge-
mit den anderen Dingen auf eine Stufe meinsame Neigung zum Auflösen
kommt. […] Hier grenzt das Verhalten der alten Ordnungen.“55 So sei bei
dieser vermeintlich ‚reinen’ Maler an das Architektur wie moderner Malerei
Pathologische, an jene krankhafte Er- unklar was oben und unten sei, beides
scheinungen, die in einem Versagen der sei derartig innovativ, dass es mit

47
Ebd.
48
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 125.
49
Ebd.
50
Ebd.
51
Ebd, S. 125 f.
52
Ebd., S. 126.
53
Ebd.
Hans Sedlmayr

nichts zuvor Gewesenem vergleich- Für Sedlmayr sind „[a]lle drei [Chaos,
bar sei. Dies sei „ein Anzeichen für Tod, Hölle] Gegenbilder des Men-
das Außermenschliche, Un-Mensch- schlichen“ und „[d]ie Darstellung der
liche dieser Kunst“.56 Als Beispiel für durch diese Mächte entstellten Welt
diese These nennt er die Montage- ist der Stoff der ‚neuen’ Malerei.“61
technik als Ergebnis der Suche eines Sedlmayr zur Folge könne sich nichts
Gestaltungsmittels, um das Außer- dem Einbruch der Unterwelt entzie-
76 menschliche darzustellen.57 hen, die Menschen werden zu Ge-
Das Bild ist zum eigenständigen Phä- spenstern, Insekten, Automaten usw.,
nomen geworden und kann keine was in und durch die Malerei gezeigt
Dekoration an der Wand mehr sein, werde.62
sondern müsse wie ein Buch für sich
betrachtet werden.58 Mit dieser Begründung erklärt Sed-
Auch gewohnte Motive werden wie in lmayr alle –Ismen
Rauschzuständen gezeigt, die Kunst
sei „von einem unbezähmbaren Drang als nur oberflächlich verschie-
ergriffen, in ihrer Anschauung die dene Äußerungen der gleichen erzeu-
Grenzen des ‚nur’ Menschlichen zu genden Grundkräfte […] – denn das
überschreiten.“59 Menschliche ist in allen seinen Erschei-
Gleichwohl Sedlmayr in der griechi- nungen eines, seine Verneinungen aber
schen Kunst Analogien fi ndet – so sind viele – 63
ringen beide ‚Künste’ immer mit den
Urmächten von Chaos und Tod – Er fährt fort seine Theorie zu
grenzt er die „neue Malerei“ negativ verteidigen:
von der antiken Kunst ab:
[Diese Theorie] läßt auch
Die neue Malerei hat in ih- schon ihre Unterschiede bis hinein in die
rem wütenden Drang, die Fesseln des Einzelheiten der Technik durchschauen,
Nur-Menschlichen abzustreifen, diese die großartige Mittel zur Darstellung
beiden Mächte in die Kunst eingelassen dieser Unwirklichkeiten entwickelt hat.
und mit ihnen eine dritte, die das Grie- Sie erklärt aber auch auf die direkteste
chentum noch nicht gekannt, die erst Weise den instinktiven Widerwillen des
das Mittelalter hervorgebracht hat: die ‚natürlichen’ Menschen gegen diese Bil-
Hölle.60 der, der einen tiefen Grund hat und nicht

54
Ebd., S. 128.
55
Ebd.
56
Ebd., S. 129.
57
Vgl.: Ebd.
58
Vgl.: Ebd., S. 128.
59
Ebd., S. 129.
60
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 129.
61
Ebd.
62
Vgl.: Ebd., S. 130 f.
Dorothee Fischer

als der Hohn der ihre Beschränktheit ver- alle nach 1880 Geborenen hätten dies
teidigenden Banausen gegen alles Neue zum Schicksal.71
und Außerordentliche abgetan werden Sedlmayr markiert die Nachkriegszeit
kann.64 als „Verfall [ – ] geistesgeschichtlich
erscheinen jetzt die extremsten Aus-
Sedlmayr postuliert, dass die nord- artungen“72 und die neue Sachlichkeit
alpine Kunst das Bild des entstell- als „,letzte’ Kunst“73, eine These die
ten Christus sowie das der Hölle er- er abschließend in „Das Chaos des 77
schaffen habe. totalen Abfalls“ untermauert. Beglei-
Doch habe es immer als Gegenbild tet wird der Titel mit einem Zitat von
zum Himmel gedient und sei nun Fjodor Michailowitsch Dostojewksij:
aus diesem Kontext entnommen.65 „Warum liebt der Mensch bis zur Lei-
In diesem Zuge bespricht Sedlmayr denschaft gleichfalls die Zerstörung
Künstler wie Munch und Schiele, wel- und das Chaos?“74
chen der sakrale Bezug abhanden ge-
kommen sei. Durch ihr Betreiben von Dieser letzte Abschnitt handelt vom
„Höllenkunst“ an dessen Schwelle, Surrealismus, der nach Sedlmayr ein-
zeigten sie allerdings trotz der Auflö-
deutigsten Form des Verfalls.
sung von Welt und Körper noch for- In ihm hätten sich mehrere Grund
male Ordnung und Schönheit.66 störungen vereint: „die Schätzung
Dennoch bezeichnet Sedlmayr einen des Alogischen, das Sich-Öffnen dem
großen Teil dieser Kunst als „tatsäch-
Chaos, der Verismus der Darstellung
lich nicht mehr Kunst“67 und die Eiseskälte der Faktur“75, dies
Die neue Malerei „erscheine unter ei-seien Elemente von „schlechter“-
ner Vielzahl ideologischer Masken“68,Kunst, ihre Quelle ist das „Vorfeld
des Wahnsinns“76, denn „Leitthema
welche sie erst in ihrer „letzten zyni-
schen Phase, im Surrealismus“69 ab- der surrealistischen Produktion ist
geworfen habe; dies habe auch dafür das absolute Chaos.“77
gesorgt die Grenzen dessen, was Kunst„Ihr Gegenstand ist, alles in allem, das
sei, zu verwischen.70 ‚Chaos des totalen Abfalls’“,78 der
Surrealismus will Sonderbarkeiten
All dies sei ein Symptom dafür, dass in ihrer Sonderbarkeit festhalten und
„[d]ie Abwendung vom Menschen Motive werden, „auch wenn sie dem
[…] unmerklich eingesetzt“ habe, Unbewußten entnommen [sind], so

63
Ebd., S. 131.
64
Ebd.
65
Vgl.: Ebd.
66
Vgl.: Ebd. S. 131 f.
67
Ebd., S. 132.
68
Ebd.
69
Ebd.
70
Vgl.: Ebd.
71
Ebd., S. 133.
72
Ebd.
Hans Sedlmayr

dargestellt, als ob sie denselben Wir- Zusammenfassend lässt sich, sagen


klichkeitsgrad hätte[n] wie die ‚nor- dass Hans Sedlmayr den Leser zu-
male’ äußere Wirklichkeit“79 nächst durch exquisite Werkbeschrei-
bungen zu einem Befürworter der
Der Surrealismus umfasse dabei modernen Kunst werden lässt:
nicht bloß die Kunst, Man bewundert die Virtuosität der
Farbfeldmalerei Cézannes oder Cas-
78 sondern [bezieht sich] auf die par David Friedrichs Können, Ne-
Umgestaltung des ganzen Lebens. Der belschwaden derart atmosphärisch
Surrealismus aspiriert darauf, universa- abzubilden.
le Lebensmacht zu werden, das Chaos
zum Prinzip zu erheben – er strebt zum Doch an dem Punkt des Schwärmens
Chaotismus. 80 wird der Leser je von Sedlmayr abge-
holt wenn dieser mit der wohlgeson-
Daher müsse es eigentlich „Sous-Re- nenen Beschreibungskunst bricht, in
alismus“81 heißen. Sedlmayr schließt dem er das vorab Beschriebene als bei-
das Kapitel mit folgenden Worten: nahe blasphemischen Ausdruck von
Künstlern, die ihren Bezug zu Gott
Und schließlich ist der Surre- verloren hätten, markiert. Dies hinter-
alismus nur die letzte Beschleunigung lässt Spuren beim Leser: dieser fühlt
im Sturze des Menschen und der Kunst, sich ertappt und ist zugleich scho-
den Nietzsche schon erfahren hatte, ckiert, dass er von der Kunstfertig-
als er 1881 sein Fragment ‚Der tolle keit der Künstler eingelullt wurde,
Mensch’ schrieb: ein Umstand der Sedlmayrs Beweis-
führung zuspielt. So lässt sich das Ar-
‚Stürzen wir nicht fortwährend? Nach gumentationsmuster festhalten, dass
rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach al- nach einer beispiellosen Beschreibung
len Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten? der Werke immer ein Bruch folgt,
Irren wir nicht durch das unendliche nachdem Sedlmayr den Ausdruck der
Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum verlorenen Mitte in diesen Werken mit
an? Ist es nicht kälter geworden? 82 bedeutungsschweren Vokabeln wie
„Verfall“, „höllisch“ und „Chaos“
beklagt.

73
Ebd.
74
F. M. Dostojewksij, zitiert nach Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und
20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 133.
75
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 133 f.
76
Ebd., S. 134.
77
Ebd.
78
Ebd., S. 134.
79
Ebd.
80
Ebd., S. 135.
Dorothee Fischer

Eine autoritäre und zugleich religiös


orientierte Gesellschaft ist seine ge-
sellschaftliche Idealvorstellung –
denn „Sedlmayrs Prämisse ist die Vor-
Kontextualisierung stellung vom Menschen als Ebenbild
Nachkriegskunstgeschichte und Gottes.“84
Lehrstuhlwechsel
Nach einem universitären Studium 79
Hans Sedlmayrs Methode im der Architektur promovierte Sedlmayr
Kontext ihrer Zeit in Wien. Im Jahr 1931 publiziert er
ein theoretisches Manifest mit dem
Der Autor von Verlust der Mitte, Hans Titel Zu einer strengen Kunstwissenschaft
Sedlmayr, geboren am 18. Januar 1896 in welchem er eine Interpretations-
nahe der österreichisch-ungarischen technik postulierte, die ästhetische
Grenze und verstorben am 9. Juli Intention der Werke zu erkennen und
1984 in Salzburg, war nicht nur dies als Schlüssel zur Kunst-Gesell-
Zeitzeuge des Aufstiegs der NSD- schaft-Relation zu verstehen.85
AP und beider Weltkriege, sondern
auch persönlich mit dem National- Darauffolgend wandte er sich ver-
sozialismus verknüpft. Er erfuhr als mehrt dem Strukturalismus zu.
Kind eine stark konservative katho- Strukturanalytische Züge werden in
lische Erziehung, die sich auch in sei- Verlust der Mitte besonders daran deut-
nen Texten konkret widerspiegelt, so lich, dass er durch die Analyse des ge-
z.B. in der zentralen These, dass sellschaftlichen Kontexts verschie-
Kunst nur dann Kunst sei wenn sie dener Epochen und ihrer Kunstwerke
einen sakralen Bezug habe. auch die Strukturen, die diese Werke
umgeben, zu beschreiben versucht.
„Der ‚kranken’ Gegenwart setzt Sedl-
mayr in Verlust der Mitte einen escha- Leitend war der Begriff der Struktur
tologischen Ausweg entgegen. Die
von ihm erdachte Zukunft ist durch demzufolge sich alle einzelnen
die Rückbindung an autoritäre Struk- Merkmale auf zentrale Gestaltungsprin-
turen charakterisierbar.“83 zipien zurückführen ließen. Für S[edlmayr]
waren daher ‚Strukturmonographien’ von

81
Ebd.
82
Ebd., S. 136.
83
Maria Männing, Wiener Schule, 2016, S. 32.
84
Gert Kerschbaumer, Hans Sedlmayr, 1992, S. 176.
85
Vgl.: Sorensen, Lee (2017), „Hans Sedlmayr”, in: Dictionary of Arthistorians, Online-Beitrag, URL:
https://dictionaryofarthistorians.org/sedlmayrh.htm , zuletzt aufgerufen am 25. Oktober 2017.
Hans Sedlmayr

Kunstwerken vordringlicher als Entwick- während sie in ihrem Geburtsland ein


lungs- und speziell herkömmliche Stilge- zum Teil unwürdiges Ende nahm.“87
schichten, und erst eine Wissenschaft vom
historisch sich wandelnden Künstleri- Mit diesem ‚unwürdigen Ende’ ver-
schen sollte das Fach zu einer wirklichen weist Hilde Zaloscer auf Persönlich-
Kunstgeschichte machen.86 keiten wie Josef Strzygowski (1862-
1941)88 und auch auf Hans Sedlmayr,
80 Der Text Verlust der Mitte fällt zeitlich deren wissenschaftliche Arbeit – in
in eine turbulente Periode, sowohl auf unterschiedlichem Ausmaß – durch
gesellschaftlicher als auch auf wis- ihre ideologische Verstrickung in
senschaftlicher Ebene. Die Wiener den Nationalsozialismus überschattet
Schule der Kunstgeschichte, gerade wurden. Spätestens als Jakob Burck-
erst etabliert, war durch die politi- hardt und Johann Joachim Winckel-
schen Veränderungen bald auf eine mann begonnen hatten, sich mit der
Weiterführung des progressiven Ge- Antike und der Renaissance ausein-
dankengutes durch Exilanten im Aus- anderzusetzen und sie als abzugren-
land angewiesen. zende Stile beschrieben, versuchte
sich die Kunstgeschichte als junge
Viele Wissenschaftler mussten auf- Disziplin zu festigen.89 Die Neue-
grund ihrer jüdischen Herkunft oder rungen, die durch die Wiener Schule
später aufgrund ihrer nationalsozia- und vor allem durch Alois Riegl und
listischen Verflechtungen Österreich Franz Wickhoff eintraten, waren die
verlassen. Verschiebung eines rein historischen
Schwerpunkts der Disziplin hin zu
Wie Hilde Zaloscer beschreibt: einer systematisch-philosophischen
Kunstauslegung.90 Riegl und Wick-
[waren d]ie Ziele und die Me- hoff distanzierten sich von der gäng-
thoden der um die Jahrhundertwende igen Meinung, dass die auf die Anti-
in Wien entstandenen sogenannten ‚Wie- ke folgenden Epochen nur Verfalls-
ner Schule’ [...] vorbildlich und zukunfts- erscheinungen dieser Klassik wa-
weisend. Ihre großen Erfolge zeitigte die ren. Sie etablierten Epochenunter-
Wiener Schule allerdings erst – nach dem schiede als positive statt als negative
Massenexodus der Wissenschaftler aus Erscheinungen, ein Meilenstein auf
Österreich – in den USA und in London, dem Weg zu einer beinahe wertfreien

86
Feist, Peter (2007): „Hans Sedlmayr“, in: Peter Betthausen; Peter H. Feist; Christiane Fork (Hrsg.),
Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten,
Stuttgart, S. 402.
87
Zaloscer, Hilde (2004): „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte, Münster, S. 283.
88
Einen ausführlichen Abriss zu Strzygowski gibt Zalascer in ihrem Text „Kunstgeschichte und
Nationalsozialismus“ (2014), primär auf den Seiten 284-294.
89
Vgl.: Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und…
Dorothee Fischer

Stilforschung.91 [...] politisch ist Sedlmayr ein-


In Abgrenzung zu diesen Ideen lässt wandfrei. In der Verbotszeit ist er dem
sich Hans Sedlmayr verstehen, der NS Lehrerbund beigetreten und hat auch
zunächst von seinem Lehrer „Julius durch diesen seit 1.1.38 den Parteimit-
von Schlosser, [...] als vielversprechen- gliedsbeitrag gezahlt. Innerhalb des stark
der Repräsentant einer neuen Gene- verjudeten Wiener Kunstbetriebes hat
ration in die fast schon dynamisch Sedlmayr immer die völkischen Belange
anmutende Traditionslinie der Wie- vertreten, sowohl wissenschaftlich als 81
ner Schule eingeschrieben [wurde].“92 auch persönlich.96
Sedlmayr „adaptiert[e] die von Riegl
[...] vorbereitete avantgardistische Ein weiterer Bericht besagt, dass Sedl-
Lesart prinzipiell, [verlieh] ihr jedoch mayr vor dem Beginn seiner Vorlesung
eine negative modernekritische Wen- kurz nach Bekanntwerden des ge-
dung.“93 Nachdem Sedlmayr frei pu- scheiterten Attentats auf Adolf Hitler
blizierte, vorwiegend zur Barockar- im November 1939 eine Rede darüber
chitektur, entwickelte er strengere hielt, dass dem gesamten deutschen
kunstwissenschaftliche Methoden, Volk mit Hitlers Überleben großes
„die bald als Neue oder Zweite Wie- Glück widerfahren sei. Er soll zudem
ner Schule bezeichnet wurden“.94 Bei sein Auditorium dazu aufgefordert
Sedlmayr sind aber privater und aka- haben, jegliche Gegner seiner Politik
demischer Lebensweg eng verknüpft. zu melden. Diesen Vortrag schloss er
Problematisch wird dadurch, dass, mit dem Hinweis, er selbst habe der
wie Maria Männing bemerkt, „[d]ie Polizeibehörde gerade erst Meldung
kunsthistorischen [Aussagen] hier erstattet.97 Der Zeuge fährt fort:
nicht mehr von den politischen [...]
zu trennen“ sind.95 Bereits 1930 trat Prof. Sedlmayr erwies sich
Sedlmayr der – damals noch illegalen in allen Vorlesungen, die ich von ihm
– österreichischen NSDAP bei, hörte, als über-nationalsozialistisch, der
gleichwohl er zwei Jahre danach wie- nicht davor zurückschreckte, den Boden
der austrat. Es folgte jedoch baldig wissenschaftlicher Objektivität zu ver-
sein Wiedereintritt. Ein Universitäts- lassen, um die Phraseologie einer neuen
mitarbeiter teilte 1941 dem Gauper- nationalsozialistischen Kunstgeschichte
sonalamt über Hans Sedlmayr Fol- zu vertreten.98
gendes mit:

…Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 283.


90
Vgl.: Ebd.
91
Vgl.: Ebd., S. 284.
92
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“, in:
Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 28. Zitiert nach Julius von
Schlosser (1934), „Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher
Gelehrtenarbeit in Österreich“, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsfor-
schung Ergänzungsband XIII, Nr. 2, S. 145-210.
93
Maria Männing, Wiener Schule, 2016, S. 33.
94
Feist, Peter H. (2007): "Hans Seldlmayr", in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Portraits…
Hans Sedlmayr

Diese Vergangenheit kostete ihn 1945 Nach seiner Zwangsemeritierung aus


seine Professur für Kunstgeschichte. Wien „wurde er als ‚minderbelastet’
Denn „[a]ls vormals illegales NSDAP- eingestuft, sodass er 1951 nach Mün-
Mitglied wurde Sedlmayr kraft des chen gehen konnte und auch wieder
Verbotsgesetzes 47 Anfang des Jahres publizieren durfte.“104Die Berufung
1946 zwangsemeritiert und mit Publi- nach München erfolgte einigermaßen
kationsverbot belegt.“99 In den frühen unumstritten, Spekulation zufolge
82 Nachkriegsjahren publizierte er da- war der Autor für Österreichs Univer-
her gezwungenermaßen in Wien unter sitäten untragbar geworden.105 Mit
einem Pseudonym, Hans Schwarz.100 diesem Wechsel „schloss sich [an die
Publikation] eine Zeit der akademi-
schen Rehabilitierung an, die mit dem
Verlust der Mitte im Kontext von Ruf an die Münchner Ludwig-Maxi-
Sedlmayrs Werk milians-Universität endete.“106 Die
Antrittsvorlesung in München wur-
Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr den von Zeitgenossen jedoch als kühl
lehrte von 1936 bis 1945 an der Uni- bis hin zu protestreich beschrieben:
versität Wien und von 1951 bis 1963
in München. Schließlich verbrachte Der Protest richtete sich so-
er seine letzten Jahre in der Lehre wohl gegen die Berufung des Menschen
ab 1964 bis 1969 in Salzburg.101 Sedlmayr, der die Ideen des Nationalso-
Während der Zeit bis 1945 als Pro- zialismus skrupellos in die Wissenschaft
fessor für Kunstgeschichte in Wien102 hineintrug, als auch gegen den Wissen-
verfasste Sedlmayr erste Skripte zu schaftler, den Verfasser der Streitschrift
Verlust der Mitte. Genauer begann Sedl- Verlust der Mitte.107
mayr den Text zu diesem Buch wäh-
rend er 1941 noch Vorlesungen in Nach einigen Jahrzehnten in Mün-
Wien hielt.103 chen ging Sedlmayr 1965 nach Salz-
Als die Monographie Verlust der Mitte burg, nachdem sich die Mehrheit des
1948 erschien, bedeutete dies einen Kunsthistorischen Instituts in Wien
Umschwung in der Rezeption des gegen seine Wiederberufung ausge-
Autors. sprochen hatte.108„Der in Verlust der
Mitte aktivierte Antikommunismus
war während des Kalten Krieges so

…deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 401.


96
Dozentenführer der Universität Wien an das Gaupersonalamt (27. Mai 1941), zitiert nach:
Kerschbaumer, Gert (1992): Hans Seldlmayr, S. 178.
97
Vgl.: Gert Kerschbaumer, Hans Sedlmayr, 1992, S. 179.
98
Unbekannter Autor (29. Juli 1945), zitiert nach Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 179.
99
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 31.
100
Vgl.: beispielsweise Schwarz, Hans (1947): „Die Säkularisation der Hölle“ in: Wort und Wahrheit,
Band II, S. 663-676 und Wiederabdruck in Hans Sedlmayr, Der Tod des Lichtes. Übergangene
Perspektiven zur modernen Kunst, Salzburg: 1964, S. 18-39. Zitiert nach Maria Männing (2017),…
Dorothee Fischer

gut wie unangreifbar und alles an- der Nationalsozialismus auf primiti-
dere als karriereschädigend“109, be- vere, grobschlächtigere Weise gestem-
merkt Kerschbaumer. Doch hatte pelt hatte: als ‚entartete’ Kunst.“112
Sedlmayr in den Münchener Jahren
zunehmend an Polemik verloren und
in Salzburg schließlich konnte er neue Verlust der Mitte und seine
Thesen aus den Vorjahren in die Pra- zeitgenössische Relevanz
xis umsetzen und so z.B. das Altstadt- 83
erhaltungsgesetz voran bringen, wo- Nach dem Zweiten Weltkrieg herr-
durch ihm nach der Zeit akademi- schte eine allgemeine Ratlosigkeit
scher Exklusion bis in die 1970er über die Kunst, die auf ihre Art ver-
Jahre ein glanzvoller neuer Status suchte das Geschehene zu verarbei-
zukam.110 ten. Die Alliierten forderten gemein-
Schließlich wurde ihm 1972 in Salz- sam mit der deutschen Kulturpolitik
burg sogar die Ehrendoktorwürde eine ästhetische Bildung. Die Folge
verliehen.111 dessen war eine Avantgarde-Program-
Auch wenn Sedlmayr u.a. dadurch matik, die mit dem zweiten Deut-
letztlich (wieder) Teil des kunstge- schen Kunsthistorikertag 1949 und
schichtlichen Kanons wurde, ist eine unterstützt durch die Darmstädter
Nähe zum Nationalsozialismus in sei- Gespräche im Folgejahr sowie dem
nen Texten bis heute ablesbar und Beginn der Documenta ab 1955 ih-
kritisch zu beurteilen. ren Anfang nahm.113 So ist Sedlmayrs
Beschreibt Sedlmayr die „neue Kunst“ Buch auch insofern ein provokati-
als „höllisch“ und „chaotisch“, so sind ver Text, als dass – bevor es zu einer
dies – aus heutiger Zeit – Denun- wissenschaftlichen Auseinanderset-
zierungen, die nicht weit entfernt zung mit moderner Kunst nach dem
scheinen zu den wenige Jahre zuvor Nazi-Regime kommen konnte –
durch die Nationalsozialisten propa- Sedlmayr seine Modernismuskritik
gierten „entarteten“ Kunst und somit in der Tradition der NS-Propaganda
Adjektive, die mit dieser Phase kon- veröffentlichte. Doch muss man mit
notiert sind. So wird sein Buch zu ei- Blick auf die damalige Zeit eingeste-
nem „einzige[n] Plädoyer gegen die hen, dass „Hans Sedlmayrs Werk […]
moderne Kunst, die sich in langen [inhaltlich vorrangig] im Kontext
Analysen als das erweist, zu dem sie der deutschsprachigen Kulturkritik

…Hans Sedlmayr. Eine kritische Studie, Köln, Weimar, Wien, S. 29.


101
Vgl.: Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 179.
102
Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 294.
103
Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 173.
104
Vgl.: Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 31.
105
Vgl.: Gert Kerschbaumer, Hans Sedlmayr, 1992, S. 177.
106
Ebd.
Hans Sedlmayr

zu verorten [ist].“114 Männing for- Zum konkreten Kontext des Buches


muliert dies wie folgt aus: Verlust der Mitte lässt sich ergänzen,
dass es 1948, also drei Jahre nach
Kulturkritik ist der Flucht- Ende des Zweiten Weltkrieges, und
punkt moderner Fortschrittsängste, auf nach Sedlmayrs Ausschluss aus dem
den sich Ideologien und politische aber universitären Betrieb veröffentlicht
auch künstlerische Bewegungen in der wurde. Der Druck auf Sedlmayr war
84 ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rich- dementsprechend groß und es gelang
teten. Es handelt sich dabei um Zivili- ihm, ein Werk für ein breites Publi-
sationskritik in ihrer radikalsten Form, kum zu verfassen, welches ihm trotz
die sich gegen die Werte der Aufklärung Gegenstimmen eine Rehabilitation
richtet.115 in der akademischen Welt einbrach-
te. Die heute so besorgniserregende
Diese Ausrichtung bedeutet aber Nähe Sedlmayrs Texte zu Vokabeln
keine grundsätzliche Befürwortung der Nationalsozialisten war damals
des Nationalsozialismus, gleichwohl alltäglich:„,Unkultur in Reinkultur’
Sedlmayrs biografische Bezüge ein- nannte ein Wiener Kunstkritiker Ex-
deutig sind. Während die Wiener ponate des Wiener Art-Clubs.
Schule sich wertfreie Forschung auf Der ganze Klub wäre eine Gesell-
ihre Fahnen geschrieben hatte – „[e] schaft ‚abzu-schaffender’ Künstler,
in im Grunde phänomenologischer die nicht ins Künstlerhaus, sondern
‚approach’ an Werke der Kunst, der ins Irrenhaus gehörten.“117
sich außerdem um soziopolitische Sedlmayr stand also nicht alleine da
Grenzgebiete erweitert hatte“116 – mit seiner polemischen Haltung ge-
unterwanderten Sedlmayrs Thesen genüber avantgardistischer Kunst.
dieses Unterfangen, indem sein Text
Theorien gegen die Moderne beto- Der in der NS-Ära inflationär
niert und, indem er als Verfechter der gebrauchte Bannbegriff Entartung ist
figürlichen Malerei – wie es in dem bei Sedlmayr durch diverse unbelanglo-
vorliegenden Ausschnitten deutlich se Synonyme wie Antikunst substituiert,
wurde – die neue, gegenstandlose aber auch in einer modifizierten Form
Malerei abwertete. wie extremste Auswartungen präsent.
Die Negativbilder Chaos, Verfall, An-
archie und Dämonie sind aus ein und

107
Ebd., S. 178.
108
Vgl.: Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 294.
109
Ebd., S. 175.
110
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 31
111
Vgl.: Beyer, Andreas (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont, S. 24.
112
Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und…
Dorothee Fischer

demselben Arsenal gegriffen. Sedlmayr Position, die moderne Kunst und Re-
befreite die Kunstgeschichte nicht von ligion zusammendachte:
den in der NS-Ära aufgetürmten Feind-
bildern, im Gegenteil.118 Die moderne Kunst ist aber
Zugleich sind Beschreibungen wie auch positiv zu sehen [...] [und] hat uns
die folgenden eigentlich nicht zu re- das Relative unseres Weltbildes zum
lativieren. Bewusstsein gebracht, die Wirklichkeit
von Gefallenheit und Sünde. [...] Fragen 85
[...]Tod des Gesamtkunstwerks’, wir nun: Was ist unsere Aufgabe? Auf
‚Das entfesselte Chaos’, ‚Der entstellte keinen Fall ein Zurück. Katholisch sein
Mensch’, ,Das Chaos des totalen Abfalls’, heißt ja sagen. Kirche und Kunst müs-
Hinab zum Anorganischen’ und der- sen sich unausgesetzt konfrontieren,
gleichen mehr. Das sind schlagwortartig zum Schluß gibt es ein Gespräch.121
formulierte Überschriften im Buch Sedl-
mayrs, die ebenso den NS-Vernichtungs- Nicht nur innerhalb des deutschspra-
apparat und seine Handlager charakteri- chigen Raumes gab es Einsprüche
sieren könnten. Sedlmayrs Attacken rich- gegen Sedlmayrs Position, auch
ten sich aber nicht gegen die Täter, son-
dern gegen die Opfer, denen der ‚Verlust [i]m Ausland verstanden Kri-
der Mitte’ angelastet wird.119 tiker Sedlmayrs Schrift als eine Legiti-
mierung der Vertreibung und Vernichtung
Doch andere Kollegen Sedlmayrs der ‚entarteten’ Kunst und als einen An-
gingen soweit, die modernen Künst- griff auf die im Exil und in Ghettos der be-
ler mit Ausrufen „,Man müsste diese freiten Staaten wirkenden Avantgarde.122
Kerle alle vergasen!’“120 (im Jahr 1951!)
zu beschimpfen – dies beweist, die Ein weiterführender Punkt bei der
Ignoranz gegenüber der wenige Jahre Betrachtung des zeitgenössischen
zuvor stattgefundenen nationalsozia- Kontexts ist, dass „[d]ie Forschung
listischen Verbrechen. Vergessen wir zur Hysterie in der zweiten Hälfte
aber nicht die Gegenstimmen Kunst- des 19. Jahrhunderts […] einen folgen-
mäzen und Priester Otto Mauer bei- reichen Paradigmenwechsel ein [lei-
spielsweise argumentierte auf den tete]. Damit wurde neben dem Körper
Salzburger Hochschulwochen 1950 endlich auch die Seele krankheits-
gegen Sedlmayr und präsentierte eine würdig.“123 Ohne die aufkommenden

…Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 296 sowie vgl. ebd., S. 295.


113
Vgl.: Feist, Hans Sedlmayr, 2007, S. 403.
114
Maria Männing, Wiener Schule, S. 30.
115
Ebd.
116
Heide Zaloscer, Kunstgeschichte und Nationalsozialismus, 2004, S. 296.
117
Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 173.
118
Ebd., S. 175.
119
Ebd., S. 173.
120
Ebd., S. 172.
Hans Sedlmayr

Forschungen zur Psychologie inklu-


sive der Psychoanalyse124 hätte Sedl-
mayr den Zusammenhang zwischen
Kunst, Künstlern und Gesellschaft
nicht formulieren können. Relevanz
Sedlmayr fokussiert sich darauf, dass damals und heute ein Schlüsseltext?
die Künstler als kranke Individuen
86 zu Repräsentanten einer kranken Ge- Kunstgeschichte entfaltet sich
sellschaft werden, die Kunstwerke gegenstandsbedingt vorwiegend im Rück-
spiegeln dies und ermöglichen so Ein- blick und so ist es gewiss nicht von Nach-
blicke in die Psyche ganzer Völker. teil, ebenfalls aus einer gewissen Distanz
„Weil das einzelne Kunstwerk im Un- auf ihre Akteure zurückzublicken.127
terschied zum Geschehen unmittel-
bar erforscht werden könne, war es Dieser Anweisung Männings wurde
für ihn der ‚primäre Forschungsge- im Rahmen dieses Readertextes nach-
genstand’.“125 gegangen, indem sich Hans Sedlmayrs
Text mit einer Distanz von knapp 70
Maria Männing formuliert dies wie Jahren genähert wurde.
folgt aus:
Das Unterfangen dem Text aus heu-
Methodisch referenziert Sedl- tiger Perspektive eine Neulektüre zu
mayr mit seiner ‚Tiefendeutung’ keinen widmen, soll die zentrale Frage be-
geringeren als Sigmund Freud. Aus der antworten, ob und warum es sich bei
Pose des Arztes heraus, ‚legt’ Sedlmayr Verlust der Mitte um einen Schlüssel-
die Kunstwerke auf die Couch. Das von text der Kunstwissenschaft handelt.
ihm diagnostizierte Trauma – so lässt Allgemeiner gefragt:
sich anhand von Freuds Strukturmodell
der Psychoanalyse zeigen – besteht in der „[W]ieso soll man überhaupt über
Rebellion des Menschen gegen Gott. Der Sedlmayr schreiben?“128
Konfl ikt zwischen dem Ich (=Mensch)
und Über-Ich (=Gott) findet bei Sedlmayr Dies fragt sich auch Männing 2016
extern, nicht innerpsychisch statt. und beantwortet es in einem mehr-
Innere Krankheitserscheinungen sind nur seitigen Essay.129 Als Antwort liefert
die Folge dieser Spaltung.126 sie u.a., dass:

121
Mauer, Otto (1950), zitiert nach Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 176.
122
Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 177.
123
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 32.
124
Vgl.: Ebd.
125
Peter H. Feist (2007): "Hans Seldlmayr", in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Portraits
deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 402.
Dorothee Fischer

Verlust der Mitte […] nicht nur So liefert er eine moderne Cézanne-
besorgten Kulturbürger_innen sondern Interpretation, die seines Gleichen
auch Kunsthistoriker_innen Argu- sucht und beschreibt treffend das Au-
mente [lieferte], sich nicht mit neuerer tonomwerden der einzelnen Mittel.
Kunst befassen zu müssen. Dank des
Verlustes der Mitte konnte die Kunstge- Seine strukturell exakten Bildanaly-
schichte bis in die 1980er Jahre hinein sen sind beeindruckend genau und
gegenüber der zeitgenössischen Kunst auch heute noch aktuell, so z.B. in 87
weitestgehend immun bleiben.130 Diskursen der phänomenologischen
Kunstwissenschaft.
Eine hohe zeitgeschichtliche Rele- Jedoch interpretiert Sedlmayr dieses
vanz kommt Sedlmayrs Text auch in- Autonomwerden von Farbfeldern als
sofern zu, als dass sein „kulturkämp- negativ. Seine Diagnose ist somit pro-
ferische[r] Impetus, […] ihn zum meist- blematisch, nicht seine Anamnese.
gelesenen deutschsprachigen Kunst-
historiker seiner Generation machen Diese modernen Beschreibungsver-
sollte.“131 fahren sind allerdings nicht Sedlmayr
Dem Beispiel Sedlmayrs folgten Ex- allein zuzuschreiben. Er orientiert sich
perten wie Laien, die mit moderner zum Beispiel an Vorbildern wie Meyer
Kunst ‚nichts anzufangen wussten’ Schapiro, der bereits vor dem Zweiten
und sich so durch ein akademisches Weltkrieg vergleichbare Stilanalysen
Vorbild erlauben konnten, das Neue schrieb.132
als schlecht abzutun. Dennoch wurde durch Sedlmayrs
Die bis heute auch aktuelle Bedeut- Publikation Verlust der Mitte entschei-
samkeit des Textes wird anhand des dend dazu beigetragen, dass „Sedl-
Umstands offensichtlich, dass Laien mayrs Systematik die Kunsthistorio-
neuerer Kunst beispielsweise allzu grafie der Moderne bis heute subku-
oft mit einem „Das kann ich doch tan prägt. Sie hat sich im Unbewuss-
auch“-Habitus begegnen. ten der Fachkultur festgesetzt.“133
Gleichwohl provozierte die Publika-
Sedlmayrs Werk ist durch das Paradox tion eine brisante Kontroverse, da
einer pro-modernen Werkbeschrei- Sedlmayr mit ihr Gedankengut des
bung und einer contra-modernen NS-Regimes weiterführte. Es scheint
Wertung gekennzeichnet. als fiel die Rezeption Sedlmayrs in

126
Ebd.
127
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 32.
128
Ebd.
129
Vgl.: Ebd., S. 28-39.
130
Ebd. S. 28.
131
Andreas Beyer (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont, S. 26.
Hans Sedlmayr

der Nachkriegszeit kritischer aus, als in seinem Artikel Als die Moderne Gott
in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- vertrieb auf Hans Sedlmayr und ver-
hunderts.134 Dies legt nahe, dass wo- teidigt dessen Ruf.137 Dies weist dar-
möglich in den dazwischenliegenden auf hin, dass das rechtskonservative
Jahren verdrängt wurde, welche poli- Spektrum bis heute von der Figur
tische Ideologie Sedlmayr vertrat. Um Sedlmayrs angezogen wird.
die heutige Relevanz des Textes ein-
88 zuschätzen genügt jedoch ein Blick auf [Gauland] verharmlost Sedl-
die aktuelle Tagespolitik. Nach dem mayr, indem er ihn nicht nach seinem
Präsidentschafssieg Donald Trumps Parteiabzeichen beurteilen will, son-
in den USA zog bei der vergangenen dern statt dessen seine Argumentation
Bundestagswahl mit 12,6 Prozent die von der ‚alte[n] Reichsmystik’ abzulei-
rechtskonservative Partei AfD in den ten versucht. Was diese ‚alte Reichsmys-
deutschen Bundestag ein.135 tik’ sein soll, bleibt allenfalls vage.138
Männing untermauert, dass eine Be-
schäftigung mit Sedlmayr durch po- Auf diese alte und zugleich unkon-
litische Veränderungen der letzten krete Mystik vergangener Zeiten be-
fünf Jahre zunehmend an Brisanz zieht sich auch Sedlmayr in seinen
gewinnt: Schriften. So

Hatte beispielsweise noch flößte der Denker der jungen


2010 die völlig deplatzierte Abendland- Bundesrepublik gedankliches Inventar
These Guido Westerwelles Kaskaden an ein, das eigentlich für die junge De-
Gegenschriften provoziert, so konnten mokratie hätte tabu sein müssen. Der
zuletzt Bewegungen wie Pegida und ihre Schachzug funktioniert damals wie
Ableger diesen Topos wieder derartig heute unter Rückgriff auf vermeintlich
breitenwirksam verankern, so dass we- weniger inkrimierende Quellen, das
der Nachrichten noch Satire ohne ihn heißt solche, die vor der Zeit des Natio-
auskommen.136 nalsozialismus datieren.139

Einer der AfD-Gründer und nach Alles war Sedlmayr auf deskriptiver
wie vor zentrale Figur der Partei, Ale- Ebene schreibt ist faktisch korrekt,
xander Gauland, bezieht sich 2008, doch seine Gesamtdeutung ist pro-
als Gastautor in der Zeitung Die Welt, blematisch.

132
Nach Veröffentlichungen von Artikeln publizierte Meyer Schapiro zwei Bücher die thematisch
stark an Sedlmayr erinnern. Vgl. Schapiro, Meyer (1952): Paul Cezanne, New York, oder Schapiro,
Meyer (1982): Moderne Kunst – 19. und 20. Jahrhundert, Köln.
133
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 38.
134
Vgl.: Ebd., S. 30.
135
Vgl.: o.V., Wahlergebnisse Bundestagswahl 2017, in: Homepage der Tagesschau, URL: https://
www.tagesschau.de/inland/btw17/index.html zuletzt aufgerufen am 31. Oktober 2017.
Dorothee Fischer

Daß Sedlmayr noch in der und Epochen ein und dasselbe ge-
Ablehnung […] in der Beschreibung wesen. Vergleicht er mehrere aufei-
treffsichere Beobachtungen gelingen nander folgende Jahrhunderte mitei-
als vielen Befürwortern, erhellt letztlich nander ist die Feststellung, das eine
das Dilemma, in das die ideologische Veränderung erst im Laufe der letzten
Fixierung den außerordentlich begab- Jahrzehnte stattfand inkonsequent.
ten Betrachter getrieben hat.140 Denn dies bedeute, dass die Mensch-
heit unveränderlich agierte, eben bis 89
Ein Vergleich zwischen Hans Sedl- zu dem Zeitpunkt an der es seiner
mayr und Max Imdahls Theorien These zuträglich ist. Zudem können
zeigt, dass die Bildbeschreibung Im- neue Wege der Verarbeitung der erleb-
dahls der von Sedlmayr ähnelt,141 ten menschlichen Krisen in der Kunst
doch diagnostiziert Imdahl der Kunst auch als positiv und progressiv gedeu-
keine Deformation, sondern beschreibt tet werden. Sedlmayrs Versteifung
sie innerhalb seiner Theorie der Iko- auf das Religiöse ist womöglich auch
nik positiv deutend als innovativ. als Nachhall der beiden Weltkriege,
der Suche nach Geborgenheit durch
Durch Imdahls Verteidigung der Altbekanntes zu verstehen.
gegenstandslosen Kunst gegen die
Polemik Sedlmayrs, wurden entschei- Das hier betrachtete Kapitel wirkt
dende Impulse in der Theoriebildung außerhalb des Gesamtkontexts zwar
gesetzt und Sedlmayr wurde zur bereits kritisch gegenüber der „neuen“
Schattenfigur Imdahls. Kunst der Moderne, teilweise be-
schreibt er diese für ihn eigentlich
Die langfristig geringe Rezeption „schlechte“ Kunst aber nahezu eu-
Sedlmayrs ab der zweiten Hälfte des phorisch. Dies erscheint etwas inkon-
20. Jahrhunderts kann somit auf des- sistent in der Argumentation und
sen Verbindung zu nationalsozialis- besonders bei dem Part zu Cézanne
tischen Gedankengut zurückgeführt scheint unklar, wie er die Wirkweise
werden. der Werke Cézannes so treffend schil-
dern kann um sie dann, beinahe argu-
Sedlmayr argumentiert zudem so, als mentationslos, als außermenschlich
seien das Wesen der Kunst und das zu deklassieren.
Wesen des Menschen in allen Zeiten

136
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 39. dann mit Verweis
auf Guido Westerwelle (2010), „An die deutsche Mittelschicht denkt niemand“, in: Die Welt,
11.02.2010, online abrufbar unter: URL: http://www.welt.de/634790.
137
Vgl.: Gauland, Alexander (2008): „Als die Moderne Gott vertrieb”, in: Die Welt, 23.03.2008, URL:
http://www.welt.de/1820147, zuletzt aufgerufen am 31. Oktober 2017.
138
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 39.
139
Ebd.
140
Andreas Beyer (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont, S. 26.
Hans Sedlmayr

Alles in allem ist es eine religiös be- Die Problematik des Textes auf po-
haftete Theorie, die stark hierarchisch litischer Ebene ist aus heutiger Per-
funktioniert und wertende Dichoto- spektive offensichtlich. Doch ist es
mien wie „gut“ und „schlecht“ benutzt wichtig, dass die Kunstanalysen au-
– und dies teilweise vorschnell. ßerhalb ihres politischen Kontextes
zu wertschätzen sind und für sich al-
Abschließend lässt sich sagen, dass leinstehend fruchtbar gemacht wer-
90 diese Schrift in Tradition der Na- den können. Die Lektüre des Textes
tionalsozialisten gegen „entartete“ wird zugleich mit der Betonung der
Kunst im Jahr 1948 keinen so großen inhaltlichen Nähe zum NS-Regime
Nährboden fi nden konnte, dass sie zu einem wertvollen Beitrag inner-
unumstritten in den kunstgeschicht- halb der deutschen Erinnerungs-
lichen Kanon eingehen konnte. kultur. Ferner zeigt der Text, in welche
Gleichwohl sind Sedlmayrs Beobach- Krise auch die Kunstwissenschaft
tungsgabe und Werkanalysen bril- durch den Nationalsozialismus sowie
lant. Denn „[o]bwohl Methode und die zwei Weltkriege gestürzt wurde.
Urteil anfechtbar sind, dringt Sedl-
mayrs kritischer, mit weitem Über- Zusammenfassend lässt sich sagen,
blick verbundener Scharfsinn, tief in dass Verlust der Mitte eine zwiespälti-
die kunst- und geistesgeschichtliche ge Nachwirkung hatte.
Struktur der Epoche ein.“142 Zum einen scheint Sedlmayrs Polemik
Seine abwertende Grundhattung ge- gegen moderne Kunst direkt nach dem
genüber der modernen Kunst hindert Zweiten Weltkrieg aus heutiger Sicht
ihn nicht daran neue Gestaltungs- undenkbar, zum anderen führt Sedl-
mittel dieser Kunst zu erkennen und mayr in diesem Text eine Verwissen-
zu beschreiben. So handelt es sich hier schaftlichung einer Modernismus-
um einen Schlüsseltext, weil der Text kritik vor, an der Kulturskeptiker
auch exemplarisch zeigt, dass man un- auch heute noch anknüpfungsfähige
abhängig von seiner politischen Ge- Argumentationsstränge finden.
sinnung um einen neutralen Stand-
punkt in seiner wissenschaftlichen Ar- Zum Abschluss ein letztes Zitat um
beit bemüht sein muss. den Beitrag zu Sedlmayrs Hauptwerk
Verlust der Mitte zu beenden:

141
Vgl.: Imdahl, Max (1987): „Bildbegriff und Epochenbewusstsein?“, in: Reinhart Herzog; Reinhart
Koselleck, Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München: W. Fink S. 221-241 sowie der
Beitrag zu Max Imdahl des vorliegenden Readers.
142
Kieser, Emil (1950): Review Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr, in: Zeitschrift
für Kunstgeschichte, 13. Bd., H. 1, S. 158-162.
Dorothee Fischer

Verlust der Mitte (1948) wirkte


wie wohl keine andere kunsthistorische
Veröffentlichung ihrer Zeit weit über die
Fachkreise hinaus, weil dieses glänzend
geschriebene Buch über die Kunst des
19. und 20. Jahrhunderts eine grundsätz-
liche weltanschauliche und politische Be-
urteilung der Epoche vortrug, die zu- 91
nächst ihre Leserschaft absolut polari-
sierte. Mittlerweile wird sie auch von
entgegengesetzten Positionen aus diffe-
renzierend verarbeitet.

S[edlmayr]s Lebenswerk hat das Ver-


ständnis für die Eigenart des Künstle-
rischen erheblich gefördert, wobei sicht-
bar wird, wie interessegeleitet jeder For-
schungsansatz ist und wieviel fachspe-
zifischer Erkenntniszuwachs durch eine
Orientierung an übergreifenden sozio-
kulturellen Zielvorstellungen erreicht
werden kann.143

143
Peter H. Feist (2007): "Hans Seldlmayr", in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Portraits
deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 401.
Hans Sedlmayr

Quellenverzeichnis

Beyer, Andreas (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte. Eine Einführung,


92 Köln.

Feist, Peter H (2007): Hans Sedlmayr, in: Peter Betthausen; Peter H. Feist;
Christiane Fork (Hg.), Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210
Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart, S. 401-404.

Gauland, Alexander (2008): Als die Moderne Gott vertrieb, in: Die Welt,
23.03.2008, URL: http://www.welt.de/1820147, zuletzt aufgerufen am 31.
Oktober 2017.

Imdahl, Max (1987): Bildbegriff und Epochenbewusstsein?, in: Reinhart Her-


zog; Reinhart Koselleck, Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München,
S. 221-241.

Kerschbaumer, Gert (1992): Hans Sedlmayr, in: Gert Kerschbaumer, Karl


Müller (Hg.), Begnadet für das Schöne. Der rot-weiß-rote Kulturkampf gegen die
Moderne, Wien, S. 172-179.

Kieser, Emil (1950): Review Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr, in: Zeitschrift
für Kunstgeschichte, 13. Bd., H. 1, S. 158-162.

Männing, Maria (2017): Hans Sedlmayr. Eine kritische Studie, Köln, Weimar,
Wien.

Männing, Maria (2016): Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans


Sedlmayr, in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche Forschungen, Ausgabe
02/2016, S. 28-39.
Dorothee Fischer

Prometheus Bildarchiv (2017), Stichwort: Goya und Die Schrecken des Krieges,
URL: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dada-
web-6680989fc819d5c14521a32377ec61240cbd6e42, zuletzt aufgerufen
am 01. November 2017.

Sedlmayer, Hans (1948): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20.
Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg.
93
Sedlmayr, Hans (1950): Die Entstehung der Kathedrale, Freiburg.

Sedlmayr, Hans (1964): Der Tod des Lichtes. Übergangene Perspektiven zur
modernen Kunst, Salzburg.

Schapiro, Meyer (1952): Paul Cézanne, New York.

Schapiro, Meyer (1982): Moderne Kunst – 19.und 20. Jahrhundert, Köln.

Schlosser, Julius von (1934): Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick
auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich, in: Mitteilungen des österrei-
chischen Instituts für Geschichtsforschung, Ergänzungsband XIII, Nr. 2,
S. 145-210.

Schwarz, Hans (1947): Die Säkularisation der Hölle, in: Wort und Wahrheit,
Band II, S. 663-676.

tagesschau.de (2017): Wahlergebnisse Bundestagswahl 2017, in: Home-


page der Tagesschau, URL: https://www.tagesschau.de/inland/btw17/
index.html zuletzt aufgerufen am 31. Oktober 2017.

Zaloscer, Hilde (2004): Kunstgeschichte und Nationalsozialismus, in: Friedrich


Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichi-
schen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Münster, S. 283-299.
Arnold gehlen
Die Kommentarbedürftigkeit des Kunstwerks
Der Wechsel der Bildrationalität
in Arnold Gehlens Zeit-Bilder

Arnold Gehlen (1904-1976) war ein deutscher Philosoph, Soziologe und


94 einer der Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie sowie der
Leipziger Schule. Zudem galt er als Gegenspieler Theodor W. Adornos.
1940 erscheint Gehlens Werk Der Mensch, in dem er Anthropologie auf
empirischer Grundlage betreibt. Zwanzig Jahre später erscheint Zeit-Bilder.
Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Hier thematisiert er die Ma-
lerei unter der Leitidee der Bildrationalität und setzt diese in einen gesell-
schaftstheoretischen Rahmen.
Zu Beginn beschreibt er drei Etappen, in denen sich ein Wechsel der Bild-
rationalität in der Kunst vollzog: 1.) Die ideelle Kunst der Vergegenwärtigung, 2.)
Realistische Kunst und 3.) Abstrakte Malerei. Im Laufe der Zeit verschwinden
das sekundäre Motiv sowie das primäre Motiv des Gegenstandes aus der
Kunst und nur die Form im engeren Sinne bleibt. Der Bildgehalt wird
reduziert und die Begriffl ichkeit des Werks wandert in die Kommentarlite-
ratur ab. Der Gegenstand und der Begriff werden aus dem Bild geschoben,
und wird zum Begleittext. Da die Kommentare sich wie ein zweiter Rah-
men um die Bilder legen, muss ein Neukonzept des Werkbegriffs gefunden
werden. Laut Gehlen gehört die gesamte Literatur zum Wesen der Sache
selbst und ist substanzieller Bestandteil der Kunst, die sich einerseits im
optischen und andererseits im verbalen Strom manifestiert.
Die Kommentare übernehmen die Aufgaben, die das Bild durch die Re-
duktion des Bildgehaltes nicht mehr erfüllen kann. Ein Problem der Kom-
mentare ist der Mangel an Fachsprache, da die sachliche Terminologie
der traditionellen Malerei zur Beschreibung der modernen Malerei nicht
ausreicht. Nichtsdestotrotz ist der Kommentar unentbehrlich, bis sich das
Publikum „eingesehen“ hat und ein Ausbleiben der Kommentare würde
zum Stillstand der Kunst führen.

1
Vgl.: Gehlen, Arnold (2016 [1960/86]): Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen
Malerei. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 16.
95
Arnold Gehlen

Darauf folgen Teile über den Expres-


sionismus, die Politik und Freiheit,
Arnold Gehlens Zeit-Bilder. sowie die Kommentarbedürftigkeit.
Zur Soziologie und Ästhetik Schlussendlich betrachtet der Autor
der Malerei in den letzten Teilen den Manieris-
mus, die Kunst der Industriegesell-
Arnold Gehlen beschäftigt sich in schaft und die Rolle der Kunst in
96 seinem Werk Zeit-Bilder mit der Ma- der heutigen Gesellschaft.
lerei unter der Leitidee der Bildratio- In Teil I, 4 Entwurf des Ganzen erläutert
nalität und setzt dieses Thema in die Arnold Gehlen die drei Etappen,
Kunstsoziologie um. In dem ersten in denen sich ein Wechsel der Bild-
Teil des Buches werden die Epochen rationalität vollzog. Als erste Etap-
der Malerei und die bewährten Ana- pe nennt er Die ideelle Kunst der Verge-
lysenmethoden für Kunstwerke ver- genwärtigung.2 Diese Kunst stützt sich
handelt. So ist beispielsweise eine auf sekundäre Motive und Vorge-
kunsthistorische, stilanalytische oder wusstes, beziehungsweise gedank-
ikonographische Werkanalyse von lich Mitgebrachtes. Unter diese Ka-
Kunstwerken bis zum Kubismus tegorie fällt unter anderem die re-
möglich. In diesen Werken wird der ligiöse und mythologische Malerei,
Betrachter von zwei Seiten bean- die Historienmalerei seit der Renais-
sprucht. Einerseits von den ästheti- sance und die symbolische Malerei.
schen Reizen der Form und ande- Repräsentation der Kirchen und der
rerseits von dem Wiederkennen des Herrschaften und Regierung des Be-
Gegenstandes. Doch was geschieht, wusstseins der Menschen durch Kom-
wenn das Bild für den Betrachter plettierung war der Grundgedanke
kein Wiedererkennen mehr zulässt? der Kunst. Die Bildrationalität ist da-
her in ihrer Quintessenz der Feudal-
In den folgenden Teilen setzt sich gesellschaft zugeordnet und drängte
Gehlen mit dem Gegenstand, der dem Betrachter bestimmte Weltbilder
Bildfläche und der Reflexionserzeu- auf, teilweise bis in das 19. Jahrhun-
gung, dem Rätsel des Kubismus und dert hinein.
den Künstlern Klee, Kandinsky und Auf diese Etappe folgt laut Gehlen
Mondrian auseinander. als zweites die Realistische Kunst.3

2
Vgl.: Ebd.
3
Vgl.: Ebd.
Magdalena Meyer

Hier werden die sekundären Motive Schon die realistische Kunst


gestrichen und es geht nur um das hat gegenüber der idealen den Umfang
primäre Motiv des Gegenstandes. des „Malbaren“ ungemein erweitert, sei-
Das Wiedererkennen allein wird es- nen objektiven Bedeutungsgehalt jedoch
sentiell. Die Kunst streift die Fesseln verringert, also die Souveränität des Äs-
der Institutionen ab und macht sich thetischen erhöht; dasselbe spielt sich
von vorgegebenen Gedankenwelten jetzt wieder ab.5
frei. Eine Zuwendung zu dem Vor- 97
handenen, Gegenwärtigen und Wie- In Korrelation mit der Reduktion
derholbaren findet statt. In der letzten des Bildgehaltes waren die Bezugs-
Etappe wird auch das primäre Motiv systeme für die Kunst in jeder Etap-
gestrichen und nur die Form im eng- pe grundverschieden. Im ersten Fall
eren Sinne bleibt erhalten. Die Abs- war es der ideelle Bereich absoluter
trakte Malerei kommt in der nachbür- Wahrheiten und die religiöse Male-
gerlichen Industriegesellschaft auf rei bildete den Schwerpunkt.
und wendet sich von der Natur ab.4 Die „Natur“ wurde zum Bezugssys-
Die steigende Wortunfähigkeit der tem des Realismus und in der letz-
Seelen gewinnt an Bedeutung und ten, gegenwärtigen Etappe setzt sich
in der abstrakten Malerei müssen neue die Malerei mit der menschlichen
Wege gefunden werden, um diese Subjektivität auseinander.
greifbar zu machen. Mit dem Ver-
schwinden des Gegenstandes geht Die Kunst will nicht mehr lehren,
auch das Wiedererkennen verloren. präsentieren oder nachahmen, son-
Mit dem Wechsel der Bildrationali- dern Erlebnisse erregen: sich selbst
tät geht also ein laufender Redukti- erlebende Erlebnisse.6 Durch die Re-
onsprozess des Bildgehaltes einher. duktion des Bildgehalts eröffnet sich
Schichten der Bildrationalität wer- die Frage, wohin die Begriffl ichkeit
den abgetragen, bis nur noch die gewandert ist, die unserer Anschau-
Form bleibt. Mit dieser Verarmung ung beigegeben ist und die in den
und dem Abbau des Gegenstandes anderen Etappen durch den Prozess
hängt zudem ein Zuwachs an Ein- des Wiedererkennens gegenwärtig
drücken und ein Gewinn an Bewe- war. Laut Gehlen befi ndet sich diese
gungsfreiheit zusammen. jetzt in der Kommentarliteratur:

4
Vgl.: Ebd., S. 17.
5
Vgl.: Ebd., S. 18.
6
Vgl.: Ebd., S. 236.
Arnold Gehlen

Im Bilde allein war sein Sinn, Die Behauptung, man könne


die Legitimierung seines Soseins, nicht sich eine solche Kunst auch ohne Kennt-
mehr auffi ndbar, dieser Sinn zog sich in nis der Theorie, mit der sie innerlich zu-
den Prozeß seines Entstehens zurück, sammenhängt, „rein künstlerisch“ an-
in die Erfahrungen, in die Reflexionen eignen, ist durchaus nicht falsch, denn
und Theorien des Künstlers. Von hier Kunst ist auf jedem Niveau ergiebig, so
aus ging es in | gerader Linie zur Abs- wie die Natur. Die Liebe zu Blumen er-
98 traktion weiter, und die abstrakte Form- setzt nicht die Botanik, man kann beides
Farb-Fläche konnte nicht einmal mehr haben, es kommt also auf eine Frage der
als Deformation eines Gegenstandes Genügsamkeit heraus.
verstanden werden.
Im 20. Jahrhundert ist Kunst unweiger-
Das ist die Konstellation, die
lich Reflexionskunst, sie geht von irgend-
eine höchst merkwürdige Erscheinung welchen Erre-gungsmassen aus, die dann
erzeugte: Die aus dem Bild nicht mehr zugerichtet werden, überwacht, geprüft,
eindeutig ablesbare Bedeutung etabliertegefärbt, gegeneinander abgestimmt, be-
sich neben dem Bild als Kommentar, als Kuns-
lichtet und montiert, ein Prozeß, in den
tliteratur und, wie jedermann weiß, auchunweigerlich Gedankenfolgen eingehen,
als Kunstgerede [sic].7 von deren Schärfe und Zusammenhang
sehr viel abhängt. Fällt nun noch der Ge-
Die Malerei wird mit dem Einzug genstand weg, der rote Faden der Bildlo-
der peinture conceptuelle 8 wesensmäßig gik, dann wird das Risiko, in die Begriffs-
kommentarbedürftig. Vorherige Wer- losigkeit zurückzufalen, außerordentlich
ke wie zum Beispiel von Paul Cézanne, groß, wie auch das andere, daß sich der
Paul Gauguin oder Vincent van Gogh Künstler vom Kommentator entmün-
waren trotz einer Abkehr vom Re- digen läßt. Denn jetzt kommt die Frage
alismus noch zureichend allein op- „Was soll das?“, worauf eine riesige Kom-
tisch zugänglich. Wird das Bild je- mentarliteratur zu antworten sucht.
doch verrätselt, so muss der Künst-
ler den Inhalt des Werkes, der für die Und doch können gerade abstrakte Bilder
Grundkonzeption und für die Defi- voll hoher innerer Reflexionsspannung
nition der Chiffren verwendet wird, sein, schon weil das objektive Was des Bil-
selbst kommentieren oder dies ande- des, weil geradezu seine Identität zum
ren überlassen. Problem werden kann [sic].9

7
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 73.
8
Die optimale „peinture conceptuelle“ wird von Gehlen wie folgt beschrieben: „Nun plädieren
wir ja für eine „peinture conceptuelle“, die in die Konzeption des Bildes eine These über seinen
Daseinsgrund mit hineinnimmt und im Zusammenhang mit einer solchen These sich gedanklich
über die Darstellungsmittel und Formprinzipien Rechenschaft gibt. | Wenn eine peinture con
ceptuelle gegeben ist, dann sind völlig angemessene und deckende Kommentare möglich, wie der
von Kahnweiler über den Kubismus oder wie die Selbstkommentare Klees [sic].“ - Arnold Gehlen:
Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 230.
9
Ebd., S. 134 f.
Magdalena Meyer

Dadurch, dass Gehlen den Kommentar muß sie mit dem „Widerstand“ rechnen.
hier als wesentlichen Bestandteil zum Im übrigen bemerkt man am Beispiel des
Verständnis und Zugang eines Werkes Impressionismus, daß das Publikum sich
beschreibt, muss ein neues Konzept des an Gestaltungsgrundsätze gewöhnt, die
Werkbegriffs ins Leben gerufen werden. ihm zunächst rätselhaft waren. Die heute
Dies geschieht vor allem in Teil IX Kom- uferlose Kommentliteratur setzt, kurzge-
mentarbedürftigkeit.10 Der Gegenstand und sagt, die an die moderne Kunst gerich-
der Begriff wandern neben das Bild und tete Frage „was soll das überhaupt“ vo- 99
wandeln sich zum Begleittext. Fragen, die raus, und sie sollte jetzt sagen, warum „das
der Betrachter an das Werk der moder- da ist“ und warum „das so ist“, denn man
nen Malerei stellt sind nicht mehr allein kann diese Antworten aus dem Kunst-
durch die Betrachtung des Bildes zu be- werk selbst und unmittelbar selten über-
antworten. „Was soll das überhaupt?“, nehmen [sic].11
„Warum ist das da und warum ist das ge-
nau so?“ müssen jetzt durch den Kom- Die Aufgaben der Kommentare las-
mentar beantwortet werden, um das Werk sen sich in verschiedene Bereiche
verständlich zu machen. Somit wird die unterteilen. Zum einen rechtfertigen
Begleitliteratur zum substanziellen Be- sie den Souveränitätsanspruch der
standteil der Kunst und legt sich wie ein modernen Malerei, indem sie die
zweiter Rahmen um das Bild. Frage „Was soll das überhaupt?“ be-
antworten. Zum anderen sind Kom-
Im allgemeinen sind alle Rich- mentare in der Lage Verfahrensprin-
tungen der modernen Malerei kommen- zipien und Techniken zu erläutern,
tarbedürftig, die Abstraktion am meisten, um den Schaffensprozess des Bildes
der Surrealismus am wenigsten, weil des- zu beleuchten. Abgesehen davon er-
sen verdichtete Symbolik recht unmittel- füllt der Kommentar eine informa-
bar in affektive Schichten des Unterbe- torische und propagandistische Funk-
wusstseins hineinwirkt. tion. Das zögernde Publikum, wel-
Immerhin muß wenigstens erklärt wer- ches sich nach und nach an das Neue
den, weshalb diese Richtung trotz der ganz in der Kunst gewöhnen muss und sich
hervorragenden Qualität ihrer Haupt- einsehen muss, wird durch den ap-
vertreter Max Ernst und Masson im all- pellierenden, evozierenden und be-
gemeinen wenig Resonanz findet: Mit schwörenden Tons des Kommentars
psychoanalytischen Mitteln arbeitend, an die Thematik herangeführt.12

10
Vgl.: Ebd., S. 229-240.
11
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 231 f.
Arnold Gehlen

Außerdem kann der Kommentar die zweiter Rahmen um die Bilder herum,
tief verdeckte, innenoptische Bild- deren „Optizismus“ den Gedanken zu-
stimmigkeit ins Bewusstsein heben gleich anstachelt und abweist, aufruft und
und die Rolle und den Stellenwert der weiterschickt; in vielen Fällen liefern
zeitgenössischen Kunst im System sie | sogar etwas wie ein Surrogat des
der modernen Kultur beschreiben.13 verschwundenen Gegenstandes, wenn sie
Nicht nur die Aufgabe und Funktion z.B. den „kosmischen Jargon“ handhaben
100 des Kommentars kann sehr unter- und behaupten, daß der Künstler Meta-
schiedlich sein, auch seine Form des physik gemalt habe. Wenn aber diese Be-
Erscheinens ist sehr vielfältig. Ma- gleitliteratur zur Sache selbst gehört, wenn
nifeste, Kritiken, Bücher, Broschü- sie einen Bestandteil der Substanz der
ren, Ausstellungstexte Vorträge und neuen Kunst bildet, dann muß sie sich
alles Kunstgerede sind Teil der ufer- ebenso einer Kritik stellen, wie die mit
losen Kommentarliteratur. ihr verkoppelten Malerei [sic].14

Das hier vorliegende Buch ist Durch die Masse an Kommentaren


natürlich auch ein Kommentar, der auf wird jedes Bild eingebettet und zu
verschiedenen Ebenen operiert: histo- einem endlosen Kunstwerk. Jeder
risch, psychologisch, ästhetisch und so- Kommentar sollte mitgedacht oder
ziologisch; es ist geradezu aus der Unzu- zumindest bei der Betrachtung des
friedenheit mit denjenigen Schritten, Re- Bildes berücksichtigt und im An-
den, Manifesten usw. entstanden, die nicht schluss kritisiert werden. Doch ist
mehrdimensional interpretierten und da- tatsächlich jeder Kommentar in sei-
her die Perplexen des Verfassers vor der ner Existenz berechtigt und muss
neuen Malerei nicht beheben konnten. jede Bemerkung des Museumsbesu-
chers einbezogen werden? Die Un-
Diese gesamte Literatur ge- möglichkeit dieses Unterfangens ist
hört also zum Wesen der Sache selbst, sie ist nicht von der Hand zu weisen. Doch
aus inneren Gründen substanzieller Be- wer ist kommentarberechtigt? Und
standteil der Kunst, die sich in zwei Strö- welche Instanz entscheidet über die
men manifestiert, einem optischen und Authentizität des Kommentars und
einem verbalen. Man kann sich umgekehrt übt an diesem Kritik? Auch Gehlen
diese Schriften auch nicht als solche und ist sich dieses Problems bewusst,
für sich aneignen, sie legen sich wie ein wenn er der Kommentarliteratur ein

12
Vgl.: Ebd., S. 236.
13
Vgl.: Ebd., S. 74.
14
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 231.
Magdalena Meyer

„im Durchschnitt trauriges Niveau, Je näher nun das Bild der Ab-
ein lyrisches Parteichinesisch“15 zu- straktion, und innerhalb dieser wieder
schreibt.16 Ein Grund dafür ist der der sog. informellen steht, um so schwie-
Mangel an Fachsprache. Kommen- riger wird es, überhaupt noch optisch
tare versuchen die Unmittelbarkeit isolierbare Bildelemente herauszulösen,
des Bildes in die Unmittelbarkeit der denn jede Einzelheit „verschwimmt“ in
Sprache zu übersetzen, doch die op- der benachbarten. Weder das Wort noch
tische Materie lässt keine Transfor- die Analyse des Auges kommen dann 101
mation in Sprache zu. noch an klar Abgrenzbares heran, und
man kann sich vorstellen, in welche Not
Im gleichen Augenblick also, der Kommentator gerät, der jetzt etwas
da das Bild selbst uns zum Kommentar sagen soll, das nicht genau so gut oder
weiterschickt, wird er so gut wie un- schlecht auf beliebig viele andere Bilder
möglich. Die Worte fallen ihm aus.17 paßte.19

Um ein Bild zu beschreiben, ging man Steht dagegen eine Richtung


vor der modernen Malerei vom Sujet der peinture conceptuelle ferner, so
aus und schilderte die Komposition muß der Kommentar unscharf werden
in Zusammenhang mit dem Gegen- und endlich ins Schwimmen geraten,
ständlichen. Dies wird vor einem ab- bis zu dem Grenzfall hin, wo er sich in
strakten Bild unmöglich.18 reine Rhetorik auflöst, weil das Bild ob-
Die sachliche Terminologie der tra- jektiv keine sachlich umgrenzbaren Wor-
ditionellen Malerei reicht laut Geh- te hergibt, da es keine beschreibbaren
len nicht aus. Um dem Bild in seinem Elemente mehr enthält – mit welchen
Wesen näher zu kommen, verwenden Worten wollte man ein tachistisches
Kommentare häufig Analogien, Be- Bild unverwechselbar und identifizier-
helfs-Assoziationen, beziehen sich bar beschreiben?20
auf vergangene oder prähistorische
Kunst oder vergleichen das Bild mit Obwohl der Kommentar in seinem
Exotischem. Nichtsdestotrotz bleibt Wesen somit einige Probleme mit sich
die Schwierigkeit bestehen, das Bild bringt, ist er für die moderne Male-
so zu beschreiben, dass der Kom- rei unerlässlich. Nur dank des Kom-
mentar nur diesem einen Bild zuge- mentars kann durch Kritik Fortschritt
ordnet werden kann. stattfi nden.

15
Ebd., S. 75.
16
In einem Brief an Kahnweiler schrieb Gehlen einst, es seien „zu viele junge Leute, die besser
Anstreicher oder Tankstellen-Warte geworden wären“, verführt worden durch die „immense und
trügerische Propaganda der Presse, durch die ‚modernen‘ Professoren der Akademien, die leer
wären, wenn diese Leute wegblieben, durch die hochgelogene Wichtigkeit schlechter Kunst (Gilles,
Baumeister, Chagall, Soulages…), durch die allgemeine öffentliche Suggestion des ‚leichten Lebens‘,
durch die weiche Nachsicht mit der Jugend.“ Dem entsprächen die Phrasen der Kunstbücher und
es gebe für diese Leute „nur zwei Wege: in den Gag, die Farce, die Spielerei, das, was auf der
Biennale erschien“, von der er nach einem Fernsehbericht notierte: „grausiger Eindruck“ Die
andere Alternative sei der Massenverkauf von „dekorativen, garnierten Sachen“, etwa von…
Arnold Gehlen

Ein Abflauen der Kommentare wirkt Daher kann das Werk als ein kompro-
laut Gehlen sogar tödlich für die missloser Versuch, Werke der Kunst-
Kunst, da dies Stillstand bedeuten geschichte und -gegenwart von ihrer
würde. Wenn der Kommentar jedoch Bildrationalität her zu deuten, gese-
in der Gesellschaft zirkuliert, wird das hen werden. Zusätzlich betrachtet er
Kunstwerk durch ihn erweiterbar und den Prozess der Kommentarentste-
ist stets in einer Prozesshaftigkeit be- hung und die Zirkulation der Kunst
102 griffen. Zudem gewöhnt der Kom- durch den Kommentar in der Ge-
mentar das Publikum an Neuerungen sellschaft. Sein Interesse an der Kunst
und Ungewohntes in der Kunst. ist nicht „ein individuell begrenztes“,
sondern eine menschliche Möglich-
Andererseits sind die Kom- keit einer „Reaktion auf die Welt.“23
mentare mindestens noch so lange Dadurch tritt die gesellschaftstheo-
unentbehrlich, bis sich das Publikum retische Dimension der Überlegun-
„eingesehen“ hat, wobei übrigens ein gen Arnold Gehlens deutlich zutage.
solches Abflauen der Kommentarlitera- Die Problematik der Kommentarbe-
tur kein gutes Zeichen wäre, denn man dürftigkeit ist der Mangel an Selek-
würde es am ehesten unter zwei Bedin- tionsregeln. Wenn stets der komplette
gungen erwarten: Diskurs und alles Kunstgerede über
Wenn die abstrakte Malerei sich zum ein Werk mitgedacht werden soll,
Dekorativen hin entleerte oder wenn dann entsteht eine Rezensionsge-
keine echten Neuansätze mehr erfolg- schichte, die historisch für das Werk
ten, die immer zuerst befremdlich wir- wertvoll sein kann, aber nicht unbe-
ken und nicht verstanden werden, also dingt zielführend für das Verständnis
kommentarbedürftig sind. 21 des Betrachters ist. Gehlen analy-
siert und kommentiert in seinem
Mit Zeit-Bilder und der These der Werk bewusst Künstler, die sich
prinzipiellen Kommentarbedürftig- selber und ihre Werke thematisierten.
keit ging es dem Autor um eine Er- So schreibt Gehlen intensiv über Paul
fassung der Kunst, die nicht bei den Klee, Wassily Kandinsky und Piet
äußeren Bedingungen und Bezie- Mondrian. Schon dadurch wird eine
hungen der künstlerischen Produk- Differenzierung sowie eine Rang-
tion und Rezeption stehen bleibt.22 ordnung zwischen den verschiede-
nen Kommentaren geschaffen.

...Originalgraphiken, in Kaufhäusern – wodurch wenigstens eine Entlastung für die staatlichen


Förderinstanzen erwartbar sei. Sein spöttischer Trost für diese Künstler lautete: Auch „dieses
Fußvolk findet sein Publikum.“ Von der groben Zahl Minderbegabter unterschieden sich jedoch
sehr die „großen Künstler“ welche über alledem schwebten. „Kurz: als Soziologe sehe ich da zwei
Klassen, ästhetisch reiche und ästhetisch arme Menschen, in meiner Abhandlung trieb ich Armen
fürsorge [sic].“ Zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder,
Frankfurt a. M. 2016 [1960/86] S. 576 f.
17
Ebd., S. 240.
18
Vgl.: Ebd., S. 237.
19
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 237.
Magdalena Meyer

Der selbsttheoretische Kommentar


hat augenscheinlich einen höheren
Wert an Authentizität durch den
Künstler als Autor.
Zudem besteht die Gefahr der Be- Kontextualisierung
liebigkeit bei Kommentaren, da die
Quantität gegenüber der Qualität Arnold Gehlen kam am 29. Januar
überwiegt und auch hier Selektions- 1904 in Leipzig als Sohn eines Ver- 103
regeln zum Filtern der Informatio- legers auf die Welt. Neben Philo-
nen benötigt werden. Nichtsdesto- sophie studierte er Kunstgeschichte
trotz reflektiert Arnold Gehlen seine und Germanistik und legte 1927
Techniken stets mit, ist sich bewusst, seine Doktorprüfung ab.
dass Zeit-Bilder selbst ein Kommentar 1933 trat er der NSDAP und dem
ist und kritisiert die Kunstwissen- NS-Dozentenbund bei, ein Jahr später
schaft für den Umgang mit der mo- wurde er zum Lehrstuhlinhaber und
dernen Malerei. Zudem kann der Direktor des Instituts für Philo-
Kommentar als Erweiterung des Bil- sophie der Universität Leipzig er-
des auf die Rezeption des Bildes in- nannt und 1940 wechselte er nach
nerhalb der Gesellschaft eingehen. Wien. Als „reichsdeutscher“ Profes-
Dies ist dem Bild allein nicht mög- sor in Österreich wurde er 1945 nach
lich. Durch den Kommentar kann Kriegsende amtsenthoben. Schon
demnach herausgelesen werden, wel- 1947 war er im Fachbereich Sozio-
che Werke gerade populär sind und logie an der Hochschule für Verwal-
welche Ströme in der Kunst entstehen. tungswissenschaft in Speyer tätig.
Gleichzeitig kann der Kommentar Er bemühte sich um eine Professur
durch seine Zirkulation in der Ge- an der Uni Heidelberg, doch seine na-
sellschaft die Ströme in der Kunst tionalsozialistische Haltung wurde
beeinflussen. von der Frankfurter Schule stark kri-
Ob der Kommentar allerdings als tisiert, da er nicht nur Mitläufer war,
Teil des Werkes betrachtet werden sondern aktiv von Entlassungen von
sollte, ist anfechtbar. Theodor W. Professoren aus rassistischen und po-
Adorno würde dafür plädieren, dass litischen Gründen profitierte. Theo-
die gegenstandslose Kunst lieber in dor W. Adorno und Max Horkheimer
Rätselhaftigkeit verbleiben sollte. machten ihren Einfluss geltend, um

20
Ebd., S. 230.
21
Ebd., S. 236.
22
Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86],
S. 577.
23
Gehlen: Rede über Hofmannsthal [zuerst 1925], in: Lothar Samson (Hg.): Arnold Gehlen
Gesamtausgabe, Philosophische Schriften I (1925-1933), Bd. 1., Frankfurt/Main 1978, S. 1-17.
Arnold Gehlen

seine Anstellung zu verhindern. Ab die institutionenbildenden, rituell-


1962 war er an der Rheinisch-West- mimetischen Ausdrucksformen des
fälichen Technischen Hochschule Menschen als eines „darstellenden
Aachen bis zu seiner Emeritierung Wesens“ in frühen Gesellschaften.
1969 tätig. Gehlen starb 1976 in Ham- Im selben Jahr beginnt Arnold Geh-
burg.24 1940 erscheint Der Mensch. len vermutlich mit den Vorbereitun-
Dort betreibt Gehlen eine Anthro- gen für Zeit-Bilder. Vier Jahre nach dem
104 pologie auf empirischer Grundlage. Beginn seiner Forschungen erschien
Er sieht den Menschen als ein „Män- das Werk 1960 bei dem Athenäum-
gelwesen“ an, das im Unterschied zum Verlag. Ursprünglich überlegte Ar-
Tier aus der Instinktbindung entlas- nold Gehlen das Buch mit dem Titel
sen ist. Diese These geht im Kern auf Bilder, Rätsel und Auflösungen oder Nar-
Johann Gottfried Herder zurück und cissus zu versehen. Diese Überlegun-
hat gleichzeitig Gemeinsamkeiten gen wurden verworfen, doch die Fin-
mit dem „nicht festgestellten Tier“ dung des schlussendlichen Titels ist
von Friedrich Nietzsche.25 bis heute ungeklärt.26
Das „Mängelwesen“ muss seine bio- Während dem Beginn seiner Nach-
logische Unvollkommenheit durch forschungen schrieb er in einem Brief
Kulturleistungen kompensieren. Da- an seinen Oxforder Freund Marcel
durch ergibt sich bei Gehlen die Ins- Hornig am 18. November 1956:
titutionenbedürftigkeit. Die mangel-
hafte Ausstattung der menschlichen Ich versuche mich etwas in
organischen Natur dient als Basis für abstrakte Malerei und Dichtung einzu-
die Begründung von Institutionen. leben, aber zunächst mal kam ich nicht
In seiner Institutionenlehre wird der sehr weit. Es ist doch massenhaft min-
Begriff „Institution“ sehr grundle- derwertiges Zeug da, ich fi nde in dem
gend verstanden. Technische Werk- Durcheinander von Schwindel, Bluff, Ex-
zeuge, die Sprache, Rituale, die Fa- periment, Genialität usw. nicht durch,
milie, der Staat und die Kirche wer- vielleicht muss man von irgendeiner an-
den beispielsweise alle als Instituti- deren Seite aus herangehen. 27
onen defi niert.
Im Anschluss erscheint 1956 das In dem Zeitraum seiner Recherchen
Werk Urmensch und Spätkultur als zwei- begab sich Gehlen auf mehrere Kunst-
ter Teil von Der Mensch und behandelt reisen und war oft in London und in

24
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 562 f.
25
Vgl.: Johann Gottfried Herder (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin: Voß,
S. 49.
26
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 560 f.
27
Shelsky Nachlass ULB Münster, Handschriftenabteilung 30, 023 zit. nach Karl-Siegbert Rehberg:
Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 566.
Magdalena Meyer

Paris anzutreffen. Dort kaufte er sich „Vor einem unverstandenen Bilde“,


zahlreiche graphische Arbeiten von schrieb Gehlen, „fühlt sich ein den-
Max Ernst, Poliakoff, Singer und kender Mensch unbehaglich, wie wenn
Hayter. 1959 traf er das erste Mal er leidenschaftlich und eindringlich
auf Daniel-Henry Kahnweiler, ein in einer Fremdsprache angeredet
deutsch-französischer Galerist und würde“. Dieses Gefühl führte Gehlen
Kunsthistoriker. Diese Begegnung aber nicht in einen „Traditionspro-
führte zu einem intensiven Austausch test“ gegen die Moderne, wie es 1948 105
und Kahnweiler wurde zu einer der Hans Sedlmayr in seiner Polemik
Schlüsselfiguren der erkenntnisthe- Verlust der Mitte getan hatte. Wäh-
oretischen Dimension des Kubismus rend Sedlmayr klagte, seit William
für Gehlen.28 Turner habe die nicht mehr entziffer-
Zudem beschäftigte sich Gehlen aus- bare„Kunst des diffusen Farbflecks“
giebig mit Hans Sedlmayr und stimm- die „Kunst der Linie“ verdrängt,
te zu Beginn seiner Auseinanderset- nahm Gehlen die Herausforderung
zungen mit dessen Kritik an der ko- an, auch im „diffusen Farbfleck“ die
loristischen Ausschweifung und an Bildrationalität zu entschlüsseln.31
der verabscheuten Verdrängung der
Kunst der Linie durch die Kunst
des diffusen Farbflecks überein.29
Sein kurzfristiges Einverständnis mit
den Thesen Sedlmayrs war vermut- Relevanz als schlüsseltext
lich dadurch bedingt, „dass Gehlen
annahm, die scharfe Ablehnung von Arnold Gehlen war neben Max Schü-
[Sedlmayrs] Thesen beruhe in erster ler und Helmuth Plessner ein Haupt-
Linie auf ‚politischer Denunziation.“ autor der Philosophischen Anthropo-
Beide Professoren waren Mitglieder logie und ist besonders durch seine
der NSDAP gewesen, weshalb Geh- Institutionenlehre hervorgetreten.32
len seinen Kunsthistoriker-Kollegen Sein Werk Zeit-Bilder fand nach der
durchaus mit einem Selbstbezug in Veröffentlichung in 1960 in der Kunst-
Schutz nahm […].“30 Nach der aus- geschichte und -wissenschaft viel Be-
giebigen Beschäftigung mit den mo- achtung und wird bis heute rezipiert.
dernen Künsten, lehnte Gehlen Sedl- Von vielen Seiten erreichte ihn Lob
mayrs Ansicht jedoch vehement ab. von Kollegen und Freunden.

28
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 573.
29
Sedlmayr, Hans (1985 [1948]): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt a. M.: Otto Müller.
30
Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86],
S. 568.
31
Vgl.: Lepenies, Wolf: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016, S. 23.
32
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 557.
Arnold Gehlen

Sogar sein politischer Kontrahent in Bezug zu Zeit-Bilder von einem


Theodor W. Adorno, der wichtigsten großartigen Buch und wünschte sich
Vertreter der älteren Kritischen The- seinen Kontrahenten Gehlen als
orie, sprach sich für einige Aspekte Nachfolger in Göttingen.35
der Zeit-Bilder aus. Adorno machte in Die prinzipielle Kommentarbedürf-
seinen Überlegungen den „Gehalt“ tigkeit fand als „eine der erfolgreichs-
der Kunstwerke zum Gegenstand sei- ten Thesen der modernen Ästhetik“
106 ner Darstellung der modernen Kunst- großen Zuspruch, dennoch waren
werke und überschnitt sich daher in kritische Gegenstimmen vorhanden.
einigen Aspekten mit der Thematik
Gehlens.33 Der Kunsthistoriker Walter Grass-
Besonders die These der wachsenden kalp meinte, dass der Kommentar die
Kommentarbedürftigkeit der Kunst modernen Künste abwertet und des-
im Laufe der Geschichte, fand An- halb „von den Gebildeten untern den
klang bei Adorno. In einem Brief an Verächtern der Moderne gerne auf-
Arnold Gehlen schrieb er: genommen“ worden sei.36
Will Grohmann hingegen bewun-
Mein Eindruck davon ist au- derte Gehlens Ansatz 1961 im Tages-
ßerordentlich. Besonders berührt haben spiegel und lobte „das Buch von sehr
mich eine Reihe von Übereinstimmun- hohem Niveau [wird dazu beitragen]
gen der unerwartetsten Art […] die Unverständlichkeit der Kunst
Sollte ich, auf einem Fuße stehend, sagen, […] mit Verstand und Würde“ zu
was an Ihrem Buch so besonders mich ertragen.37
berührt, dann ist es das, daß Sie mit der
Trotz vieler Befürworter des Werkes,
Sache der neuen Kunst sich identifizieren,
ohne in Apologetik zu geraten und dasgab es auch negativ eingestimmte Be-
Moment von Negativität zu verleugnen,sprechungen. Einige kritisierten seine
Sprache, seine Argumentationsweise
das zur Sache selbst notwendig dazu ge-
hört. Darauf genau, kommt es aber an.und die FAZ besprach das Buch erst
Alles andere ist entweder Propaganda drei Jahre nach seiner Erscheinung.38
oder schlicht reaktionär.34 Dort wird Gehlens Interpretation der
künstlerischen Moderne scharf kri-
Auch Plessner, der von den Nazis aus tisiert und sogar der Vorwurf ausge-
Deutschland vertrieben wurde, sprach sprochen, dass Gehlen keinen Beitrag

33
Vgl.: Adorno, Theodor W.: Thesen zur Kunstsoziologie (1967) in: Adorno, Theodor W. (1977):
Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I., Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
34
Brief Theodor W. Adornos an Arnold Gehlen vom 02.12.1960, zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg:
Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 557.
35
Vgl.: Lepenies, Wolf: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016, S. 23.
36
Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86],
S. 588.
37
Grohmann, Will: Ungewöhnlicher Vorstoß in der Gegenwartskunst. Zu Arnold Gehlens
„Zeit-Bildern“, in: Tagesspiegel (01.01.1961).
38
Gehlen selber war der Ansicht, dass sein Werk die meiste Zeit negativ besprochen wurde und…
Magdalena Meyer

zu einer philosophisch-anthropolo- herauszuarbeiten, an denen Eigen-


gischen Durchdringung der Funktion tümlichkeiten des Bildbaues zu Wahr-
der Kunst geleistet habe. nehmungsfolgen für den Betrachter
werden.“41
Über die Jahre hinweg wurde das Zudem war er der Meinung, dass der
Werk Zeit-Bilder und die Thesen Geh- Status der wissenschaftlichen Erörte-
lens häufig besprochen, sei es in Zeit- rung gegenüber dem Kunstwerk ein
schriften oder in Büchern. Günter indirekter bleiben sollte. 107
Seubold setzt sich in seiner Habilita-
tionsschrift Das Ende der Kunst und der [D]er wissenschaftliche Dis-
Paradigmenwechsel in der Ästhetik mit A- kurs verkennt seine eigentliche Aufgabe,
dorno, Heidegger und Gehlen aus- wenn er mehr beansprucht, als das Un-
einander, um eine Kunst zu kritisie- sagbare (aber Sichtbare) zu umschreiben.
ren, die „modern“ ihren Nullpunkt Es geht um den kontrollierten Nach-
feiert oder sich „postmodern“ aus dem vollzug, die diskursive Überprüfung des
Fundus der Geschichte und Popular- Gesehenen. Es geht dabei immer auch
kultur bedient. Seubold zeigt in seiner darum, mehr und besser zu sehen.42
Auseinandersetzung die Genese ei-
ner generativ-destruktiven Ästhetik auf, Durch den indirekten Status des wis-
die dem gegenwärtigen Kunstschaf- senschaftlichen Diskurses, gehört der
fen neues Terrain erschließt und sich Kommentar laut Imdahl folglich nicht
die Zukunft offenhält.39 zum Kunstwerk.
Für ihn hat die Kunst ihren eigentli-
Ferner geht Gottfried Boehm in dem chen Ort im einzelnen Werk und des-
Vorwort zu Max Imdahls gesammel- sen Quellenwert hat gegenüber allen
ten Schriften auf die Unterschiede Prätexten Vorrang.43
zwischen Gehlen und Imdahl ein.40 Daher distanzierte er sich stark von
Arnold Gehlens Versuch, „die mo-
Imdahl wollte die dem Kunstwerk derne Kunst als einen in die Gestal-
eingeschriebene Sichtbarkeit sehend tung verlängerten Reflexionsprozeß
ergründen und damit auch vollziehen. zu kennzeichnen, in diesem Sinne als
In dem Zentrum seines Bemühens ein Phänomen der Verwissenschaft-
stand der Versuch, „jene bild- und lichung [sic].“44
künstlerspezifischen Gelenkstellen

…schrieb in einem Brief an den langjährigen Leiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Karl
Korn, dass das „größte Vergnügen, welches darin besteht von klugen Leuten verstanden zu werden,
ist mir selten zuteilgeworden. Das nächstgrößte dagegen, von Dummköpfen mißverstanden zu
werden, in reichem Maß [sic].“ zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen:
Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 604.
39
Vgl.: Seubold, Günther (1997): Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der Ästhetik.
Freiburg/München: Alber.
40
Vgl: Boehm, Gottfried (Hg.) (1996): Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode,
Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7-41.
41
Ebd., S. 18.
Arnold Gehlen

Wie Gehlen thematisiert Imdahl das Er bewirbt Zeit-Bilder als eine Über-
Problem der Übersetzung von opti- setzungshilfe, um aus unverstandenen
scher Materie zu Sprache. Die visuelle verstehbare Bilder zu machen und
Welt des Kunstwerks lässt sich nicht preist die Deutungen einzelner Bil-
zureichend in Sprache übersetzen. der und Künstler.

Der Wendigkeit und der über- Auch nach seinem erstmaligen Er-
108 sichtsbegabten Schnelligkeit des Auges scheinen vor fast sechzig Jahren ist
hinkt die träge Endgültigkeit der Schrift Arnold Gehlens Zeit-Bilder als Schlüs-
unvermeidlich hinterher.45 seltext der Kunstgeschichte und -wis-
senschaft nicht nur präsent, sondern
Trotz oder gerade wegen den Kon- zudem relevant, da er sich nicht vor
troversen, die Gehlens Werk auslöste, kritischem Hinterfragen scheut. Der
war die zweite Auflage der Zeit-Bilder eigene Interpretationsrahmen wird re-
schon 1972 fast vergriffen und die flektiert und auch der aktuelle Dis-
dritte Auflage wurde in einem kleine- kurs in der Kunst wird untersucht.
ren Format und mit einer Umarbei- Dadurch, dass Gehlen nicht nur eine
tung der ersten Seiten des Buches so- Einzelwerk-Analyse durchführt oder
wie einer neuen Schlusspassage ange- eine epochenspezifische Thematik
kündigt.46 Diese erschien jedoch erst aufgreift, bleibt sein Werk in jeder
nach dem Tod des Autors 1986. Hinsicht aktuell. Durch sein neues
Die Gesamtausgabe Zeit-Bilder und wei- Konzept des Kommentars und des
tere kunst-soziologische Schriften erschien Bildes als Teil des Werkes wird die
schließlich 2016 und wurde von Karl- Zirkulation des Kunstwerks inner-
Siegbert Rehberg im Vittorio Kloster- halb der Gesellschaft beobachtbar
mann-Verlag herausgegeben.47 Durch und nachvollziehbar und die Pro-
die Neuauflage 2016 sorgte Zeit-Bilder zesshaftigkeit des Diskurses spürbar.
erneut für Aufmerksamkeit.
Wolf Lepenies schrieb im Feuilleton
der Zeitung Die Welt eine ausführliche
Rezension des Buches und betitelte
dieses als eine große Streitschrift
für die moderne Kunst.48

42
Ebd., S. 8 f.
43
Vgl.: Ebd., S. 10.
44
Ebd., S. 18.
45
Ebd., S. 13.
46
Vgl.: Brief Arnold Gehlens an Herrn Grundel (Mitarbeiter des Athenäum-Verlags) vom
28.12.1972, zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder,
Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 561.
Magdalena Meyer

109

47
Für eine ausführliche Rezeptionsgeschichte des Werkes Zeit-Bilder empfehle ich den Abschnitt 5.
Rezeption der „Zeit-Bilder“ des Nachwortes in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und
Ästhetik der modernen Malerei (1960/1986), 2016, herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg,
Matthes Blank und Hans Schilling, S. 600-606.
48
Vgl.: Wolf Lepenies: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016, S. 23.
Arnold Gehlen

Quellenverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Thesen zur Kunstsoziologie [zuerst 1967] in: Adorno,
110 Theodor W. (1977): Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und
Gesellschaft I., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Boehm, Gottfried (Hg.) (1996): Max Imdahl. Refl exion, Theorie, Methode,
Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Gehlen, Arnold (2016 [1960/86]): Zeit-Bilder und weitere kunstsoziologische


Schriften, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann.

Grohmann, Will: Ungewöhnlicher Vorstoß in der Gegenwartskunst. Zu Arnold


Gehlens „Zeit-Bildern“, in: Tagesspiegel, 01.01.1961.

Herder, Johann Gottfried (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache,
Berlin: Voß.

Lepenies, Wolf: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016.

Sedlmayr, Hans (1985 [1948]): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des
neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit,
Frankfurt a.M.: Otto Müller.

Seubold, Günter (1997): Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der
Ästhetik. Freiburg/München: Alber.
Magdalena Meyer

111
Theodor w. Adorno
Die Ästhetische Theorie (1969)

Das Denken Theodor W. Adornos war im wissenschaftlichen Diskurs häu-


112 fig Gegenstand von Auseinandersetzungen und Diskussionen, vor allem
seine Texte zur Kulturkritik. Zu seinen bekanntesten Werken zählen zum
einen die gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklä-
rung, sowie die erst nach seinem Tod veröffentlichte Ästhetische Theorie. Die
posthum veröffentlichte Ästhetische Theorie weist einige Ungereimtheiten,
offene Fragen und eine zuweilen unklare Struktur auf. Auch Adornos Ar-
gumentation wirkt zunächst wenig stringent. Wie vor allem in der Dialek-
tik der Aufklärung dargestellt, kritisiert Adorno seine zeitgenössische Kultur,
als „inhaltslose Ordnung, deren Funktion ausschließlich in der Bestätigung
des Status quo besteht.“1 Kunst ist dabei lediglich ein Mittel der Kulturi-
ndustrie zur Darstellung der gesellschaftlichen Macht und lässt keinen
Raum mehr für Individualität. Die Ästhetische Theorie steckt voll von explizi-
ten und indirekten Verweisen und Bezügen auf die Dialektik der Aufklärung
und die Kulturkritik.

In der Ästhetischen Theorie geht es neben dem genannten Thema vor allem
um die Frage der Ästhetik von Kunst, also der Erfahrung des Schönen.
und dem Verhältnis von Kunst und Natur.2 Dabei spielen die Begriffe Rät-
selcharakter und das Nichtidentische eine wichtige Rolle. Adornos Fragen
nach dem Wahrheitsgehalt der Kunstwerke sowie dem genannten Nich-
tidentischen und dem Rätselcharakter soll in der folgenden Arbeit weiter
nachgegangen werden.

1
Borgards, Roland (2010): Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart: Reclam, S. 159.
2
Vgl.: Sonderegger, Ruth (2011): Ästhetische Theorie. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: Metzler Verlag,
S. 414.
113
Theodor w. Adorno

Kunstwerke zu sein, also das, was sie


zu jenem Kunstwerk gemacht hat.
Zusammenfassung: Im Folgenden spricht Adorno über
Textausschnitt Ästhetische den Rätselcharakter der Kunstwerke.
Theorie Dabei erklärt er, dass jedes Kunst-
werk und auch Kunst an sich Rätsel
Das Kapitel der Ästhetischen Theorie, seien. Jedoch entziehe sich der Rät-
114 welches in dieser Arbeit untersucht selcharakter ständig.
werden soll, beschäftigt sich mit Das, was Kunstwerke zu sagen ha-
Kunstwerken, deren Rätselcharakter ben, verbergen sie wieder, wodurch
und Wahrheitsgehalt. Der in dieser das ständige Vorhandensein des Rä-
Arbeit vorgestellte Textausschnitt tselcharakters deutlich werde. Dabei
beginnt auf Seite 179 und wie jeder sei es der Zweck des Kunstwerkes
Ab-atz des Textes direkt und mit- nach Adorno die Bestimmtheit des
ten im Fließtext, ohne Überschrift Unbestimmten zu sein. Das erläutert
oder sonstige Gliederungs- bezieh- Adorno an vereinzelten Beispielen,
ungsweise Strukturierungsversuche. wie etwa an Werken von Franz Kafka.
Dabei beschreibt Adorno Kunst- Darauf geht Adorno zum Wahrheits-
werke bereits im ersten Satz des Text- gehalt über. Dieser könne der Auflö-
ausschnitts als „nicht hermeneu- sung des Rätsels dienen, was sich je-
tische Objekte“3. Das Einzige, was doch nur auf philosophischer Ebene
hierbei an den Werken zu begreifen herausfi nden ließe. Für Adorno nä-
sei, wäre deren Unbegreifl ichkeit. hern sich Philosophie und Kunst in
Diese Aussage und Adornos zugrun- deren nicht-diskursiven Wahrheits-
deliegende Theorie wird im späteren gehalt an. Denn „die fortschreitend
Verlauf der Arbeit noch spezifischer sich entfaltende Wahrheit des Kunst-
erläutert. Von dieser Unbegreifl ich- werks ist keine andere als die des
keit leitet Adorno zum sogenannten philosophischen Begriffs.“4
Geist der Kunstwerke und dessen Be-
deutung über. Die Entstehung und
Erläuterung des Geistes der Kunst-
werke erklärt Adorno anhand des Al-
bernen und Komischen, der Geist
scheint hierbei das Intentionale der

3
Vgl.: Adorno, Theodor W (1973)[1970]: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 179.
4
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 197.
Lisa Olschewski

Inhalt und Auch wird am Anfang des Buches


Argumentationsstruktur deutlich gemacht, dass dieses Werk
nicht mehr vom Autor vollendet und
Adorno geht in seinem Text der Frage aus seinem Nachlass herausgegeben
nach, ob es überhaupt noch so etwas wurde.
wie eine ästhetische Theorie geben Aufgrund der posthumen Veröffent-
könne. Dies untersucht er in Bezug auf lichung ist der Argumentationsver-
die Geschichte und Gesellschaft, wo- lauf nicht ganz verständlich und wirkt 115
durch das Existenzrecht von Kunst- stellenweise wenig stringent. Es kann
werken erläutert werden soll.5 Wie zu nur vermutet werden, dass die Auf-
Beginn dieser Arbeit angeführt, wird teilung nicht mehr vom Autor selbst
schnell deutlich, dass es innerhalb der gewährleistet, beziehungsweise fi na-
ästhetischen Theorie keine genaue Ein- lisiert werden konnte. Der Text geht
teilung der darin beschriebenen The- einfach fl ießend von einem Thema
men gibt. So gibt es beispielsweise in ein anderes über, ohne zwischen
eine Ausgabe, ebenso wie der hier un- verschiedenen Kapiteln zu unter-
tersuchte Text, von Adornos Frau scheiden. So beginnt beispielsweise
Gretel Adorno und Rolf Tiedemann der Absatz zum Rätselcharakter, um
herausgegeben, in welcher einzelne den es hier vor allem gehen soll, auf
und besonders wichtige Punkte und Seite 179 und endet auf Seite 204 wie-
Argumentationen in einzelnen Ka- der. Es gibt jedoch auch Erwähnun-
piteln eingeteilt werden. So zum Bei- gen in weiteren Kapiteln und auf ge-
spiel Textpassagen, die sich mit der wisse Weise bauen die unterschiedli-
Gesellschaft oder Ästhetik im All- chen Textpassagen auch aufeinander
gemeinen beschäftigen, sowie zum auf. Dieser fragmentarische Charak-
Kunstwerk an sich. Hierbei steht vor ter zeichnet die Ästhetische Theorie als
allem das Naturschöne im Vordergrund Werk aus. Den gesamten Text durch-
aber auch eine Passage zum Rätselcha- zieht aber das Denken mit und über
rakter. Es befinden sich weiterhin kei- die Beziehung von Kunst, Philoso-
ne Überschriften über den einzelnen phie und Gesellschaft.
Themenblöcken, jedoch werden zen- Diese drei Themengebiete gebendem
trale Thesen und Gedankengänge des assoziativen und fragmentarischen
Textes zusammengefasst und dem Texte eine gewisse Struktur.
Text so eine Gliederung gegeben.

5
Vgl.: Ruth Sonderegger: Ästhetische Theorie. In: Klein Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm,
Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 414.
Theodor w. Adorno

Immer wieder löst sich Adorno vom Väter der kritischen Theorie der
Blick auf die Beziehungsgeflechte der Frankfurter Schule.
drei Begriffe, indem er versucht, etwa Adornos anti-hierarchisches und di-
die Kunst isoliert zu betrachten. alektisches Denken spiegelt sich nicht
Laut Adorno kann die „Wahrheit“ der nur in der Schreibweise seiner Texte,
Kunst aber einzig durch die Philo- sondern auch in ihrer Gliederung
sophie aufgedeckt werden, weshalb oder vielmehr ihrer Nichtgliederung.
116 wieder die Verknüpfung mit diesem Ursprünglich war geplant, die Ästhe-
Thema entsteht. Dabei muss auch tische Theorie in Kapitel und Paragra-
bedacht werden, dass viele Begriffe phen einzuteilen. Davon rückte Ador-
zunächst als Gegensätze dargestellt no aber ab und so liegt der Text nur
werden aber letztendlich doch Inei- sporadisch gegliedert vor. Die un-
nandergreifen erkannt wird und sie konventionelle Schreibweise könnte
dergestalt in Beziehung zueinander daher rühren, dass Adorno den Text
gesetzt werden.6 Die Ästhetische The- weniger an eine Leserschaft richte-
orie beginnt mit einem Satz, der wie te, sondern vorrangig an sich selbst.9
ein Motto über dem gesamten Text Im Folgenden sollen nun, in Verbin-
schwebt. Mit der Aussage, dass das dung mit einigen Textausschnitten,
Einzige, was an Kunstwerken zu be- die Thesen des Textes wiedergegeben,
greifen wäre, deren Unbegreiflichkeit erläutert und problematisiert werden.
sei.7 In der Ästhetischen Theorie beschäf-
tigt sich Adorno mit der Kunst, die Kunstwerke sind nicht von der
seiner Meinung nach auch als Ergebnis Ästhetik als hermeneutische Objekte zu
eines Selbstkonstitutionsvorganges, begreifen; zu begreifen wäre, auf dem ge-
welcher den Künstler als Werkzeug genwärtigen Stand, ihre Unbegreifl ich-
benutzt, angesehen werden kann.8 keit. Was der Parole absurd so widerstands-
Dabei entsteht eine Art „zweite Na- los als Cliché sich verkaufen ließ, wäre erst
tur“, welche durch die Gesellschaft einzuholen von einer Theorie, die seine
selbst dargestellt wird. Durch seine Wahrheit dächte.
Kritik an Vorgängen und Verhältnis- Es ist von der Vergeistigung der Kunst-
sen, die die meisten Menschen einfach werke, als deren Kontrapunkt, nicht zu
akzeptierten, stach Adorno besonders sondern; er ist, nach Hegels Wort, ihr
hervor. Genau dieses Denken mach- Äther, Geist selbst in seiner Allgegen-
ten Adorno zu einem der geistigen wart, keine Intention des Rätsels.

6
Vgl.: Marcus Quent; Eckardt Lindner (2014): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu
Adornos ästhetischer Theorie. Wien: Turia und Kant Verlag, S. 10.
7
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 179.
8
Vgl.: Klein, Richard (2011): Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz. In: Klein
Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
Stuttgart: Metzler Verlag, S. 436.
9
Vgl.: Ruth Sonderegger: Ästhetische Theorie. In: Klein Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm,
Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 414.
Lisa Olschewski

Denn als solche Negation des natur-be- Wahrheitsgehalt erhalte. Das Element
herrschenden tritt der Geist der Kunst- des Komischen und Clownshaften
werke nicht als Geist auf. Er zündet in erinnert Adorno dabei an eine tröst-
dem ihm Entgegengesetzten, in der liche und bessere „Vorwelt“.
Stoffl ichkeit.
Keineswegs ist der am gegenwärtigsten Törichte Sujets wie das der
in den geistigsten Kunstwerken. Ihr Ret-Zauberflöte und des Freischütz haben,
tendes hat Kunst an dem Akt, mit dem durchs Medium der Musik hindurch, 117
der Geist in ihr sich wegwirft. Dem mehr Wahrheitsgehalt als der Ring, der
Schauer hält sie die Treue nicht durch mit seriösem Bewusstsein aufs Ganze
Reversion. Vielmehr ist sie sein Erbe. geht. Im clownschen Element erinnert
Der Geist der Kunstwerke produziert Kunst tröstlich sich der Vorgeschichte
ihn durch seine Entäußerung an die Sa- in der tierischen Vorwelt. Das Einver-
chen hindurch.10 ständnis der Kinder mit den Clowns ist
eines mit der Kunst, das die Erwachse-
Bereits aus diesem Absatz lassen nen ihnen austreiben, nicht weniger als
sich einige der Hauptthesen des Tex- mit den Tieren. […] In der Tierähn-
tes herausarbeiten. Dabei bezieht sich lichkeit der Clowns zündet die Men-
Adorno unter anderem auch auf He- schenähnlichkeit der Affen; die Kons-
gel, indem er Kritik an dessen Dia- tellation Tier/Narr/Clown ist eine von
lektik übt, und gelangt über diese Kri- den Grundschichten der Kunst.11
tik auf jenes Rätsel zu sprechen, wel-
ches seine Ästhetische Theorie bestimmt. Kunst ist also durch das Element des
Komischen an die Natur und Tier-
Adorno geht zunächst auf den Geist welt angelehnt, welche den Wahr-
des Kunstwerkes ein, der ebenfalls heitsgehalt der Kunstwerke in gewis-
nicht erkenn- beziehungsweise greif- ser Weise spiegelt. Durch die Beg-
bar ist und erst durch die Unbegreif- riffe und deren Zwänge in der „Er-
lichkeit auftritt. wachsenenwelt“ kann der Geist die
Außerdem führt Adorno das Ele- Intention des Kunstwerkes, und so-
ment des Komischen ein. Er nennt mit auch dessen Wahrheitsgehalt,
als Beispiel die Zauberfl öte, und be- nicht erscheinen, beziehungsweise
zeichnet diese als törichtes Sujet, wel- nicht erkennbar werden lassen. Wo-
ches jedoch durch die Musik ihren mit der zweite zentrale Begriff des

10
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 179-180.
11
Ebd., S. 181 ff.
Theodor w. Adorno

Textes, der Wahrheitsgehalt, einge- Korrespondenz zwischen Werk und


führt wäre. Wirklichkeit mehr Klahheit ver-
Für Adorno ist dieser an den charak- schafft hat. Des Weiteren müssen da-
teristischen (Merk-)Malen der Kunst- mit auch sowohl ästhetisch-philoso-
werke erkennbar. phische, als auch kunstgeschichtliche
Der Wahrheitsgehalt lässt sich jedoch und gesellschaftskritische Überle-
oftmals nicht direkt und eindeutig gungen in die Deutung des Kunst-
118 identifizieren, sondern muss durch werks eingebracht werden.14 Auch
Nachvollzug und Kritik jeweils aus das Kunstwerk selbst muss immer
den Werken herausgefi ltert werden. gesellschaftlich interpretiert werden.
Hierzu äußert sich Adorno folgen- Die Kunst hat dabei eine doppelte
dermaßen: Aufgabe: Einerseits muss sie eine ei-
gene Welt schaffen, sich aber ande-
Der Wahrheitsgehalt der rerseits von der Realität abheben.
Kunstwerke ist die objektive Auflösung Der Künstler erschafft eine eigene
des Rätsels eines jeden einzelnen. In Wirklichkeit, die der Betrachter er-
dem es die Lösung verlangt, verweist es kennt, aber mit seiner Realität ver-
auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein wechselt. Die Kunst kann sich dem-
durch philosophische Reflexion zu ge- nach nicht von der Realität befreien.15
winnen.Das, nichts anderes, rechtfertigt
Ästhetik.12 Wenn aber der Wahrheitsgehalt der
Kunstwerke in den Augenblick der
In der Ästhetischen Theorie heißt es, dass ästhetischen Erfahrung eingeschlos-
der Wahrheitsgehalt allein durch phi- sen wäre, so wäre er verloren.
losophische Reflexion zu gewinnen Kunstwerke sind auf deutende Ver-
sei. Dies sei auch das, was Ästhetik nunft, sowie auf die Herstellung des
letztendlich und als einziges recht- Wahrheitsgehalts durch Interpreta-
fertige.13 Jene philosophische Refle- tion, angewiesen. In diesem Fall ist
xion wäre jedoch erst dann zu ver- die philosophische Interpretation ge-
stehen, wenn der Rezipient sich über meint.
die Rolle des Kunstwerkes innerhalb
der Gesellschaft, die formal künstle- Der Wahrheitsgehalt der Wer-
rischen Lösungen, die Entwicklung ke ist nicht, was sie bedeuten, sondern was
der künstlerischen Techniken, die darüber entscheidet, ob das Werk an sich

12
Ebd., S. 193.
13
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 193.
14
Vgl.: Sauerland, Karol (1979): Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin: De Gruyter, S. 1.
15
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 135.
Lisa Olschewski

wahr oder falsch ist, und erst diese Wahr- Kunst zur wahren mimetischen Er-
heit des Werkes an sich, ist der philoso- kenntnis des Nichtidentischen Kunst
phischen Interpretation kommensurabel schaffe nach Adorno keine Freiheit
und koinzidiert, der Idee nach jedenfalls, mehr, sondern nur die Möglichkeit
mit der philosophischen Wahrheit. des Nichtidentischen.
Dem gegenwärtigen Bewusstsein, fi xiert
ans Handfeste und Unvermittelte, fällt es Dabei heißt es weiter, dass die Wahr-
offensichtlich am schwersten, dies Ver- heit des Nichtidentischen in der Auto- 119
hältnis zur Kunst zu gewinnen, während nomisierung zum Vorschein komme,
ohne es ihr Wahrheitsgehalt nicht sich wo das Kunstwerk immer Rätsel pro-
eröffnet; genuine ästhetische Erfahrung duziert, welches es dann aber nicht
muss Philosophie werden oder sie ist über- auflöst. Doch genau dort, wo sich das
haupt nicht. – Die Bedingung der Mög- Rätsel nicht lösen lässt, zeige sich der
lichkeit der Konvergenz von Philoso- Wahrheitsgehalt.17 Durch Mimesis ent-
phie und Kunst ist aufzusuchen in dem ziehe sich die Kunst der Realität.
Moment von Allgemeinheit, dass sie in Kunst nähere sich dem Nichtidentischen
ihrer Spezifi kation – als Sprache sui ge- an.18 Das Nichtidentische ist demnach
neris – besitzt.“16 das Vorübergehende und Augenblick-
hafte. Lediglich die Kunst kann diese
Ein Problem ergibt sich daraus je- Vermittlungszwänge durchbrechen
doch, denn die Philosophie ist und und somit das Nichtidentische vorstel-
bleibt an die Sprache gebunden und len. Das Prinzip von Identität und
die Wahrheit könnte hierdurch ver- begrifflicher Identifikation ist zentral
borgen sein. Adorno sieht aber diese für Adornos Denken in der Ästhetischen
„meinende“ Sprache und die Spra- Theorie und lehnt sich stark an die
che der Kunst als zugehörig, wes- Dialektik der Aufklärung von Adorno
halb beide zusammen erst die „wah- und Max Horkheimer an. Vor allem
re Sprache“ ergeben würden.18 beim beschriebenen Nichtidentischen
spielt dies eine entscheidende Rolle.
Neben dem Wahrheitsgehalt und dem Adorno versteht darunter das, was
Rätselcharakter spielt auch das Nicht- unter der Herrschaft des subjektiven
identische eine große Rolle im Text. Identitätsdenkens verloren zu gehen
Adorno nutzt die Ästhetische Theorie drohe: Durch begriffl iche Identifi-
als Beschreibung der Fähigkeit der kation des Subjekts stelle sich dieses

16
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 197.
17
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 193.
18
Vgl.: Zimmermann, Norbert (1989): Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos Theorie der
Zeitstruktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag, S. 118.
Theodor w. Adorno

in das Zentrum von Erkenntnis und Aufgrund dieser Herrschaft von Iden-
Wirklichkeit und herrsche somit tität durch Begriffe kann die Wahr-
durch das Prinzip der Identität. heit und ästhetische Erfahrung eines
Da Rationalität ihre Erkenntnis- Kunstwerks nicht erkannt werden.
kompetenz durch die Schieflage von
Subjekt und Objekt einbüße, führe Begriffl ich ist für Adorno jenes, das
dies im Umkehrschluss zu einem objektiv ist und womit sich eine Iden-
120 gesellschaftlichen Zustand der Ent- tität zwischen Begriff und Sache her-
fremdung.19 Um diese Kompetenz stellen lässt. Dadurch sieht Adorno
der Rationalität wiederherzustellen, Sprache als kunstfeindlich, denn „wah-
müsse das vorhin genannte Identi- re Sprache der Kunst ist sprachlos.“21
tätsprinzip folglich zum Versagen Kunstwerke gäben sich in ihrer Selbst-
gebracht werden, damit anschließend heit zu erkennen und nicht durch
ein neues Verhältnis von Subjekt und Sprache oder eben Begriffe. „Selbst-
Objekt entstehen könne. heit“ nach Adorno bedeutet, dass
Durch Selbstkritik solle ein Verhält- durch das Anschauen der Kunstwer-
nis mit dem vergessenen mimeti- ke deren Wesen zum Ausdruck ge-
schen Moment entstehen. bracht wird, der Betrachter entdecke
dann an ihm das Ausdrucksvolle.
Um sich selbst reflektieren zu können, Diesen Ausdruck hätten jedoch nur
müsse sich die Wahrheit selbst bezieh- Werke, die nicht von „reiner Form“
ungsweise ihre Fähigkeit zur Erkennt- sind und sich des mimetischen Mo-
nis im momentanen Zustand erfah- ments entziehen.
ren. Sie müsse sich von der sogenann- Aber auch Mimetisches dürfe nicht
ten Herrschaft, die durch begriffliche im Kunstwerk dominieren, denn der
Identifikation herrsche, lösen. Diese Ausdruck gebe Subjektives wieder,
Herrschaft entstehe durch die Iden- das sich aber erst aus der Überlage-
tifikation und daraus folgende Her- rung von mimetischen und expres-
stellung von Identität zwischen Sache siven Elementen ergebe. Durch den
und Begriff.20 Zusammengefasst be- Ausdruck gewännen Kunstwerke et-
deutet dies, das durch die Identität von was Menschliches.22
Begriffen eine Herrschaft entsteht, der Durch den Rätselcharakter und die Re-
die Gesellschaft unterliegen muss. flexion des Scheiterns der begriffl i-
chen Identität suche Ästhetik nach

19
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 7.
20
Ebd., S. 8.
21
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 77.
22
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 77.
Lisa Olschewski

dem, was sich eben nicht begriffl ich doch nicht der Fall ist und die Wirklich-
erfassen lasse und somit schon fast ta- keit verzerrt, gibt es keine Antwort, die
buisiert werde. Anschließend werde den, der so fragt überzeugte. Vollends
versucht, dies zu begreifen, durch die vor dem Wort das alles, dem Vorwurf ih-
Reflexion darüber, was diese begriff- rer realen Zwecklosigkeit, verstummen
liche Identifikation letztlich scheitern Kunstwerke. 23
lasse. Das Nichtidentische ist bei Ador-
no Gegenstand der Ästhetik und ver- Wie auch schon am Anfang des Tex- 121
sucht, über den Begriff hinaus zu ge- tes beschrieben, ist die Interpretation
langen. Ästhetik kann also als Ver- hinsichtlich des Rätselcharakters der
such angesehen werden, die Utopie Kunst lediglich der Grund, um seine
von Erkenntnis theoretisch zu rea- Unlösbarkeit zu umgehen. Kunst zu
lisieren, welche darin entsteht, das verstehen bedeutet demnach, ihre
Begriffslose mit Begriffen zu verbin- Unverständlichkeit zu verstehen.
den, ohne es ihm dabei aber gleich Durch den Versuch des Verstehens
zu tun. Folglich stellt die Ästhetik entziehe sich der Geist, beziehungs-
nach Adorno einen Versuch dar, das weise die Wahrheit des Kunstwerkes
zu sagen, was sich nicht sagen lässt. ständig. Ein Kunstwerk zu verstehen,
hieße es als Komplexion von Wahr-
Alle Kunstwerke, und Kunst heiten zu begreifen. Es gebe keine
insgesamt, sind Rätsel; das hat von alters- singuläre Wahrheit, da sich die Kunst
her die Theorie der Kunst irritiert. Das dieser entzieht. Für Adorno enden al-
Kunstwerke etwas sagen und mit dem le ästhetischen Fragen deshalb im
gleichen Atemzug es verbergen, nennt Wahrheitsgehalt, welcher sich jedoch
den Rätselcharakter unterm Aspekt der nicht genau bestimmen lässt.
Sprache. Er äfft clownshaft; ist man in Die Kunstwerke warteten auf eine
den Kunstwerken, vollzieht man sie mit, Interpretation. Kunstwerke sagten
so macht er sich unsichtbar; tritt man he- zwar etwas aus, verbergen es jedoch
raus, bricht man den Vertrag mit ihrem gleichzeitig wieder durch ihren Rät-
Immanenzzusammenhang, so kehrt er selcharakter. Kunstwerke seien „rätsel-
wieder wie ein spirit.[…] Auf die Frage haft ihres Wahrheitsgehaltes nach“24,
wie: warum wird irgend etwas nachge- die Interpretation könne aber nur den
ahmt? Oder die, warum etwas erzählt Grund der Unlösbarkeit angeben.
werde, als ob es wirklich sei, während es

23
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 182 f.
24
Ebd., S. 193.
25
Vgl.: Norbert Zimmermann: Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos Theorie der Zeit
struktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main 1989, S. 200 f.
Theodor w. Adorno

Verstehen im obersten Sinn, Grundzug der Ästhetik sei also die


die Auflösung des Rätselcharakters, die Unbegreifl ichkeit, die es zu begreifen
ihn zugleich erhält, hängt an der Vergeis- gilt. Dabei ist es die Aufgabe der ador-
tigung von Kunst und künstlerischer noschen Ästhetik, diesen Rätselcha-
Erfahrung, deren erstes Medium die Ima- rakter durch die Strukturformel der
gination ist. Aber die Vergeistigung der Kunstwerke, die die Negation des
Kunst nähert ihrem Rätselcharakter sich Identitätsprinzips beschreibt, aufzu-
122 nicht durch begriffl iche Erklärung un- decken. Primäre Aufgabe der Ästhe-
mittelbar, sondern indem sie den Rät- tik ist es daher nach Adorno, den Rät-
selcharakter konkretisiert. Das Rätsel selcharakter, als sich aus der Erfah-
lösen ist so viel wie den Grund seiner rungslogik ergebendes Merkmal, der
Unlösbarkeit anzugeben: der Blick, mit in der Negativität gegen das Identi-
dem die Kunstwerke den Betrachter an- tätsprinzip gründenden Ästhetizität
schauen. Die Forderung der Kunstwer- des Kunstwerks zu explizieren, wie
ke, verstanden zu werden dadurch, dass es durch den Zugriff des Identitäts-
ihr Gehalt ergriffen wird, ist gebunden denkens sichtbar wird.27 Diese Ex-
an ihre spezifische Erfahrung, aber zu plikation solle die Begründung des
erfüllen erst durch Theorie hindurch, Begriffs von Ästhetizität in Negati-
welche die Erfahrung reflektiert. 26 vität absichern.
Denn zum einen erweise das Begrei-
Kunstwerke sind für Adorno begriffs- fen des Rätselcharakters, dass er ei-
los, da sie einen Begriff darin haben, nerseits aus der Erfahrung des Ab-
sich der begriffl ichen Erfahrung zu weisens der identifizierenden Voll-
widersetzen. Jedoch sei der Begriff züge des Identitätsdenkens resultiere,
„Kunstwerk“ ein Ergebnis begriff- andererseits aber auch aus der diese
licher Identifikation und bilde somit Abweisung auslösenden negativen
die Bezeichnung für ein Geschehen, Verfasstheit des Kunstwerks.
welches das Begriffslose nicht be-
greifen würde. Der Zusammenhang Der adornosche Rätselcharakter lässt
zwischen dem Begriff des Kunst- hierbei zwei Seiten erkennen: Zum
werkes und dem begriffl ichen Ver- einen erscheint er in ästhetischer Er-
fahren, das es zu bestimmen gelte, fahrung und gründet zum anderen
fi nde sich in der ästhetischen Er- in der ästhetischen Identität.
scheinungsform des Rätselcharakters.

26
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 185.
27
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 6.
Lisa Olschewski

Der Rätselcharakter entsteht durch Kunstwerke erstellen eine Art Er-


Differenzbildungsprozesse eines Ob- fahrungsgeschehen. Das ist auch das,
jekts, welche das Subjekt jedoch zuerst was sie zu Kunstwerken mache und
vollziehen muss.28 weshalb sie nicht einfach einen ob-
Adorno beschreibt, dass Kunstwerke jektiven Sachverhalt darstellen.
auch erst dann erkennbar seien, wenn Durch die Problematisierung von Be-
sie durch Bezug auf sich selbst rät- griffen sowie Nachdenken über die
selhaft werden. So werde durch den Beziehung von Subjekt und Objekt, 123
Rätselcharakter deutlich, dass Authen- bezieht sich Adorno auch auf Fried-
tizität keine objektiv gegebene Ei- rich Nietzsche und Arthur Schopen-
genschaft von Objekten, aber eben- hauer, die Begriffe ebenfalls als ideelle
falls auch keine subjektive Zuschrei- Werkzeuge zur Beherrschung der
bung aus vielen Wegen von Bestim- Wirklichkeit des Subjekts angesehen
mungen sei. Authentizität sei viel- haben.29 Ästhetisches Verstehen ist für
mehr das, was zwischen der Stellung Adorno demnach kein Nachvollzug
von Subjekt und Objekt passiere. der Tiefendimension von Symbolen,
Adornos Begriff des Kunstwerkes be- sondern eine Rekonstruktion der je-
inhaltet somit die Erfahrung, die sich weiligen relationierenden „Technik
schließlich aus der Auflösung von des Bedeutens“. Hierbei geht es folg-
Subjekt und Objekt ergibt. Dieser Er- lich lediglich um die Relationen von
fahrung mache der Betrachter, wenn Einzelmomenten. Es geht nicht da-
der zu bezeichnende Begriff durch rum, einzelne Beziehungen festzu-
ästhetische Erfahrung und schluss- stellen, sondern darum, durch den
endlich dann für die ästhetische Refl- Prozess des Nachvollziehens entste-
exion bereitgestellt werde. Dabei hende Verknüpfungen herauszustel-
müsse die ästhetische Erfahrung aber len und zu erkennen.
auch gleichzeitig Reflexion ästheti-
scher Erfahrung sein, da sich der Be- Die ästhetische Bedeutung
griff des Objekts nur so bilden lasse. ist in den erfahrenden Vollzug der Ver-
So müsse sich Ästhetik immer auf knüpfung signifi kanter Einheiten zu-
ihren Gegenstand beziehen und, um rückgestaut.30
überhaupt einen Begriff des Kunst-
werks zu haben, zunächst von des- Folglich muss das Kunstwerk rekon-
sen Erfahrung ausgehen. struiert werden. Hierbei gilt nach

28
Ebd., S. 14.
29
Vgl.: Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno.
Frankfurt/Main 1985, S. 11.
30
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 54.
31
Ebd., S. 53.
Theodor w. Adorno

Adorno nun Totalität nicht mehr als Der Rätselcharakter überlebt die Inter-
abschließende Kategorie. So müssen pretation, welche die Antwort erlangt.
sich Werke auch eher an Impulsen und Ist der Rätselcharakter der Kunstwerke
Details orientieren und sind somit an nicht lokalisiert in dem, was an ihnen er-
diese gebunden. Explizit auf diesen fahren wird, im ästhetischen Verständ-
Aspekt der Rekonstruktion zielt die nis; springt er erst in der Distanz auf,
Bezeichnung zum Verstehen des an- so rechnet dafür die Erfahrung, welche
124 sonsten unverständlichen, sprachlo- in die Kunstwerke sich versenkt und
gischen Charakters. Eine wichtige die mit Evidenz belohnt wird, ihrerseits
Rolle spielt für Adorno dabei dieje- zu dem Rätselhaften: dass ein vieldeutig
nige Schrift, zu der der Code fehle, Verschlungenes gleichwohl eindeutig und
weshalb sie gewissermaßen, damit ih- demgemäß verstanden werden kann.32
re Struktur gelesen und verstanden
werden kann, versprachlicht und so- Dies erläutert Adorno am Beispiel
mit sprechend gemacht werden müsse. des Musikers, der zwar den Noten-
text als solchen lesen, aber dennoch
Jene Kategorie der Moderne nicht allumfassend, verstehen kann.
wirft als Scheinwerfer Licht über Vergan- Der Musiker könne zwar die Noten
genes; alle Kunstwerke sind Schriften, lesen und spielen aber den wirklichen
nicht erst die, die als solche auftreten, Gehalt und die Bedeutung, also das
und zwar hieroglyphenhafte, zu denen was „hinter“ den Noten steckt, kön-
der Code verloren ward und zu deren Ge- ne er nicht verstehen.
halt nicht zuletzt beiträgt, dass er fehlt. Weil aber das Lesen der „Noten-
Sprache sind Kunstwerke nur als Schrift. Schrift“ diese zwar als sprachlich
Ist keines je Urteil, so birgt doch ein jeg- ausweise, aber der Code zum Verste-
liches Momente in sich, die vom Urteil hen des Gelesenen fehle, könne die
stammen, richtig und falsch, wahr und Bedeutung der Schrift nicht entzif-
unwahr. Aber die verschwiegene und be- fert werden. Im Kunstwerk erscheine
stimmte Antwort der Kunstwerke offen- die Wahrheit vielmehr auf sinnliche
bart sich nicht mit einem Schlag, als neue Art und Weise und ist damit in ästhe-
Unmittelbarkeit, der Interpretation, son- tischer Erfahrung verhüllt. Da nun
dern erst durch alle Vermittlungen hin- aber das Kunstwerk die zur Erschei-
durch, die der Disziplin der Werke wie nung bringende Wahrheit nicht aus-
des Gedankens, der Philosophie. sprechen könne, wisse die ästhetische

32
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 189.
Lisa Olschewski

Erfahrung nicht, was diese spezi- künstlerischen Erfahrung. Je besser man


fische Erfahrung sei. Aus diesem ein Kunstwerk versteht, desto mehr mag
Grund vergleicht Adorno die Kunst- es nach einer Dimension sich enträtseln,
werke mit Rätseln und sogenannten desto weniger jedoch klärt es über sein
Vexierbildern, da sich dort der Zu- konstitutiv Rätselhaftes auf.34
sammenhang von Nachweis und Un-
begreifbarkeit einer ästhetisch ers- In diesem Sinne begreift Adorno das
chienenen Wahrheit verdeutlichen Verstehen von Kunstwerken aus der 125
lässt. Man versucht also, das Unbe- ihnen eigenen Logik, als Explika-
greifbare zu fassen, was sich aber ge- tion. Die Nachahmung und Inter-
rade dadurch immer wieder entzieht, pretation der Kunstwerke ist für
ähnlich wie ein Regenbogen, dem Adorno und vor allem für das Kunst-
man zu nahe kommt. werk selbst essenziell. Es geht um das
„Lesbarmachen“ und Versprachli-
Nicht ist der Rätselcharakter chen des Sprechenden im Kunst-
der Kunst dasselbe, wie ihre Gebilde zu werk, das sich durch Objektivierung
verstehen, nämlich sie objektiv, in der Er- auf gewisse Weise vergegenständ-
fahrung von innen her, nochmals gleich- licht hat und nun wieder gelöst wer-
sam hervorzubringen, so wie die musika- den muss.
lische Terminologie es anzeigt, der ein
Stück interpretieren soviel heißt, wie es Konstituiert der den Kunst-
sinngemäß zu spielen. Verstehen selbst ist werken immanente Prozess, ein den Sinn
angesichts des Rätselcharakters eine pro- aller Einzelmomente Übersteigendes,
blematische Kategorie. Wer Kunstwerke das Rätsel, so mildert er es zugleich, so-
durch Immanenz des Bewusstseins in bald das Kunstwerk nicht als fi xiertes
ihnen versteht, versteht sie auch gerade wahrgenommen und dann vergebens ge-
nicht, und je mehr Verständnis anwächst, deutet sondern in seiner eigenen objek-
desto mehr auch das Gefühl seiner Unzu- tiven Konstitution noch einmal hervor-
länglichkeit, blind in dem Bann der Kunst, gebracht wird. In Aufführungen, die das
dem ihr eigener Wahrheitsgehalt entge- nicht tun, die nicht interpretieren, wird
gen ist. Registriert, wer aus dem Kunst- das an sich der Werke, dem zu dienen sol-
werk heraustritt oder gar nicht in ihm che Askese vorgibt, Beute seiner Stumm-
war, feindselig den Rätselcharakter, so heit; jede nicht interpretierende Auffüh-
verschwindet er dafür trügend in der rung ist sinnlos35

33
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 184.
34
Ebd., S. 184.
Theodor w. Adorno

Verstehen könne man an den Kunst- Seine behütete Kindheit, von unter-
werken lediglich ihre Struktur. Ver- schiedlichten künstlerischen, musika-
ständnis erlange der Betrachter somit lischen Einflüssen geprägt, bestimm-
nicht nur durch die Erfassung der In- te sein weiteres Leben und Denken
tention dahinter. So ist das Kunstwerk grundlegend. Neben der Schule nahm
für Adorno zwar einerseits durch eine er Musikunterricht und komponierte
mimetische Haltung in seiner Logik selbst, deshalb lassen sich von ihm
126 und Konstruktion „nachvollzieh- auch häufig Texte zur Musikästhetik
bar“, andererseits lässt sich aber aus fi nden. So auch in der Ästhetischen
diesem Nachvollzug kein Sinn im her- Theorie, die sich jedoch auch mit gänz-
kömmlichen Verständnis erzeugen. lich anderen Bereiche der Kunst be-
fasst.36 Die Ästhetische Theorie, ebenso
Durch diese Erfahrungslogik und wie die zuvor erschienene Negative
dem daraus sich ergebenden Rätsel- Dialektik, stellt ein Hauptwerk Ador-
charakter, der ihnen konstitutiv ist, sind nos dar.37 Schon im Alter von 16 Jah-
Kunstwerke nach Adorno nicht als ren liest er die Schriften von Georg
„hermeneutische Objekte“ aufzufas- Lukács, beginnt mit 17 Jahren sein
sen. Mit dieser Formulierung richtet Philosophiestudium und schließt
sich Adorno gegen hermeneutische dieses mit seiner Promotion über
Ansätze der Deutung von Kunst- die Phänomenologie nach Husserl
werken. herausragend ab.38
Später löst sich Adorno von Husser-
ls Phänomenologie und nähert sich
Hegel an. Im Anschluss an Hegel
fasst Adorno die Wirklichkeit in der
Kontextualisierung Folge als das Resultat eines Erfah-
Adorno und seine Methode im rungs-, Entwicklungs- und Bildungs-
Kontext ihrer Zeit prozesses auf. Dabei ist die Wahrheit
in ständiger Bewegung und Entwick-
Theodor W. Adorno wurde am 11. lung. Später wird Adorno klar, dass
September 1903 in Frankfurt am Main er mit bisherigen philosophischen
geboren und starb am 6. August 1969 Begriffen die Welt nicht in seinem
in Visp. Sinne deuten kann. Dies zeigt sich
auch in der Ästhetischen Theorie, in der

35
Vgl.: Müller-Doohm, Stefan (2011): Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: Metzler Verlag,
S. 1; S. 9.
36
Vgl.: Stiegler, Bernd (2015): Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn: Ferdinand
Schöningh Verlag, S. 40.
37
Vgl.: Peter Möller, Berlin. Frankfurter Schule. http://www.philolex.de/frankfur.htm.
38
Vgl.: Müller-Doohm, Stefan: Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 2.
Lisa Olschewski

er sich gegen Begriffe und begriffl i- Für Adorno besteht folglich ein enger
che Nennungen wendet. Jedoch be- Zusammenhang zwischen Kunst und
steht bei Adorno beispielsweise ein Gesellschaft. Dabei fl ießen alle Pro-
signifikanter Unterschied zur hegel- bleme der Zeit und der Gesellschaft
schen Ästhetik. Er untersucht eher in die Kunst ein.
die Möglichkeit, ob es eine Ästhetik
und eine damit verbundene Theorie
überhaupt geben kann. Die Ästhetische Theorie im Kontext 127
ihrer Zeit
Einen weiteren Einfluss auf Adorno
stellen die Werke von Walter Benja- Die ästhetische Theorie war die letzte
min dar, welche nach dem Zweiten große Arbeit Adornos, die zum Zeit-
Weltkrieg von Adorno und weiteren punkt seines Todes 1969 kurz vor der
jüdischen Gelehrten herausgebracht Fertigstellung stand. Durch ihre post-
und veröffentlicht wurden.39 hume Veröffentlichung weist die Äs-
Vor allem Adornos Verständnis von thetische Theorie einige Besonderhei-
Kunst und Gesellschaft wurde da- ten auf. So ist das Werk an einigen
durch geprägt. Gesellschaft unterliegt Passagen verhältnismäßig schwer zu
für ihn dem Zwang und der Verwal- lesen und durch seinen zunächst un-
tung. Kunst kann dagegen keine an- strukturiert wirkenden Aufbau selbst
dere Wirklichkeit darstellen, aber geübten Adorno-Lesern unzugäng-
sie kann der Gesellschaft laut Ador- lich. Des Weiteren lassen sich Ein-
no einen Spiegel vorhalten und ihr flüsse der Dialektik der Aufklärung in
den katastrophalen Zustand zeigen, der Ästhetischen Theorie fi nden.
in dem sie sich befindet.
Diese Vermittlung bestimmt er als das Die Kritische Theorie, welche sich im
Nichtidentische. Kunst stellt sich somit Kern an die Gesellschaftstheorien von
gegen die Gesellschaft unzeigt in- Marx, Hegel und Freud orientiert,
nere Wiedersprüche und Brüche auf. basiert auf dem Titel des Aufsatzes
Traditionelle und kritische Theorie von
Kunstwerke haben ihre Grö- Max Horkheimer von 1937. Die Di-
ße einzig daran, dass sie sprechen lassen, alektik der Aufklärung von Horkhei-
was die Ideologie verbirgt.40 mer und Adorno, welche 1947 veröf-
fentlicht wurde, gilt als Hauptwerk

39
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 32.
40
Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 45.
Theodor w. Adorno

der Frankfurter Schule. Insbeson- und das damit einhergehende Fort-


dere der Abschnitt zur Kulturindustrie schrittsdenken zur Zeit der Aufklä-
erlangte große Bekanntheit. Er knüpft rung, sowie den rein instrumentel-
an einen Aufsatz von Walter Benja- len Gebrauch der Vernunft, welche
min an. Vor allem die Rolle der Mas- Adorno und Horkheimer in der Dia-
senmedien wird analysiert und kriti- lektik der Aufklärung diagnostizieren,
siert.41 Durch die Aufklärung und die wurden verschiedene „totalitäre Ge-
128 damit einhergehende Dominanz der sellschaftsmodelle“ hervorgebracht,
Vernunft hat der Mensch nach Ador- unter deren Einfluss die Ideale der
no, seine Verbindung zur Natur ver- Aufklärung in ihr Gegenteil verkehrt
loren. Adorno beschreibt in der Dia- wurden.
lektik der Aufklärung die Natur als Ob- Einen Ausweg biete eine neue Art
jekt, welches der Mensch nutzen will, Aufklärung, so gesehen eine Zerstö-
und dies nicht mehr nur als Lehr- rung der „alten“ Aufklärung durch
meisterin sondern, eine neue.44
Einerseits könne schon der Mythos
was die Menschen von der Na- als Aufklärung angesehen werden,
tur lernen wollen ist, sie anzuwenden da durch ihn das Bedrohliche und
um sie und die Menschen vollends zu Unbestimmte erzählbar und folglich
beherrschen42 beherrschbar gemacht werde.
Dadurch wird Aufklärung hier als
Im Prozess der Naturbeherrschung die Möglichkeit der Befreiung aber
und der Rationalisierung, so Adorno gleichzeitig auch als Mittel der Unter-
und Horkheimer, kristallisiert sich werfung angesehen.
der gesamte Charakter des gesell- Im zweiten Schritt besteht Aufklä-
schaftlichen Lebens, das Verhältnis rung nach Adorno in der Entmythi-
von Mensch und Natur, die Praxis sierung der Wirklichkeit.
der Arbeit, das Herrschaftssystem, Es geht hierbei um den Prozess My-
sowie die Entwicklung der Technik then durch Rationalität zu ersetzen.
und Wissenschaft, heraus.43 Weil die Aufklärung aber bean-
sprucht, eine allumfassende Erklä-
Die Dialektik der Aufklärung beein- rung der Wirklichkeit zu sein, wird
flusste Adornos Ästhetische Theorie sie andererseits selbst wiederum zur
maßgeblich. Durch den Fortschritt Mythologie.45

41
Vgl.: Peter Möller, Berlin. Frankfurter Schule. http://www.philolex.de/frankfur.htm
42
Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 84.
43
Vgl.: Mun, Byeong-Ho (1992): Intentionslose Parteinahme. Zum Verhältnis der Kunst und Literatur
zur Gesellschaft im Bann der Naturbehrrschung und Rationalisierung bei Theodor W. Adorno.
Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag, S. 13.
44
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 41.
Lisa Olschewski

Die Ästhetische Theorie und ihre reimigrierte Adorno 1949 nach Deut-
zeitgenössische Relevanz schland.47 Dabei lassen sich schon die
Einflüsse durch die Vertreibung aus
Nachdem Adorno schon zu Beginn Deutschland in Adornos Arbeiten
des Naziregimes seine Privatdozen- finden. Die Vertreibung und Flucht
tur aufgrund seiner jüdischen Her- bestätigt seine Annahme des Verfalls
kunft entzogen und zudem ein Pu- der Gesellschaftsordnung. Die „Ra-
blikationsverbot gegen ihn verhängt dikalisierung seiner Sozialkritik“ 129
wurde, floh er nach weiterer Ein- verstärkt sich in den USA und in der
schüchterung und Bedrohung durch Dialektik der Aufklärung.48
die Nazis im Jahre 1941 nach Los Hierbei beschäftigen sich Horkhei-
Angeles. Dort entstand die, erst vier mer und Adorno mit der Krise der
Jahre nach Fertigstellung publizierte, europäischen Zivilisation und suchen
und gemeinsam mit Max Horkhei- eine Antwort auf die Frage, warum
mer verfasste Arbeit Die Dialektik der die Menschheit, anstatt in einem
Aufklärung.46 Anfangs sah Adorno das wahrhaft menschlichen Zustand zu
Naziregime noch als Übergangspha- leben, eine neue Art von „Unkultur“
se und blieb deshalb noch bis 1935 in hervorruft. Beide diagnostizieren ei-
Deutschland. Dabei hoffte er auf ein ne Selbstzerstörung der Aufklärung,
schnelles Ende der Diktatur. aber auch die Anlagen für den Fa-
schismus, Stalinismus und andere ex-
Zunächst zog er nach London und tremistische Herrschaftsgrundlagen
besuchte Deutschland noch einige dieser Zeit als Teil der dialektischen
Male um sich dort mit Walter Ben- Natur der Aufklärung.49 Und beide
jamin zu treffen. Weitere Repräsen- sind der Meinung, dass die Aufklä-
tanten des Frankfurter Instituts für rung das Leben und die Freiheit des
Sozialforschung, wie beispielsweise Menschen bedrohe und, anstatt ihn
Max Horkheimer, befanden sich zu aus seiner „Abhängigkeit“ zu befrei-
diesem Zeitpunkt schon in den USA. en, seine Unfreiheit noch verschlim-
Im Jahre 1938 musste Adorno letzt- mere. Das Werk Die Dialektik der Auf-
lich doch fl iehen und zog zunächst klärung entstand unter dem Eindruck
nach New York und 1941 weiter nach der Gräueltaten des Nationalsozialis-
Los Angeles. Erst einige Jahre nach mus und der Judenverfolgung. Unmit-
dem Ende des Zweiten Weltkriegs telbar die schreckliche Konsequenz

45
Ebd., S. 42.
46
Vgl.: Stefan Müller-Doohm: Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 3.
47
Ebd., S. 10.
48
Vgl.: Stefan Müller-Doohm: Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 3.
49
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 41.
49
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 41.
Theodor w. Adorno

des deutschen Totalitarismus im Ho- Dieser Wunsch nach Herrschaft ent-


locaust vor Augen, meinten Adorno springt der evolutionären Angst vor
und Horkheimer darin die Verkeh- Unterwerfung. Ursprünglich hätten
rung der Aufklärung in ihr Gegen- die Menschen nur „zwischen ihrer
teil zu erkennen. Faschismus wird Unterwerfung unter Natur oder der
hierbei als Konsequenz einer verab- Natur unter das selbst“ zu wählen.
solutierten Aufklärung gesehen. Adorno und Horkheimer lehnen
130 sich hier an Siegmund Freud an.
Max Horkheimer und Theodor W. Durch Aufklärung wird die Natur
Adorno gelten als zentrale Figuren der in bloße Objektivität verwandelt.
Frankfurter Schule, die durch einen Die Kritische Theorie kann als Analyse
Zusammenschluss von Philosophen des Totalitarismus und des Faschismus
und Wissenschaftlern verschiedener angesehen werden, der darin wiede-
Disziplinen entstand. rum eng mit der Geschichte der ka-
pitalistischen Gesellschaft verknüpft
Sie beschäftigten sich mit den Theo- wird. Dabei geht es um eine deutliche
rien von Hegel, Marx und Freud und Kritik an der Gesellschaft, mit dem
dachten deren Thesen weiter. Die Ziel einer umfassenden gesellschaft-
Dialektik der Aufklärung sieht im Fa- lichen Reform. Dies lässt eine Verbin-
schismus keine völlige Abkehr von dung von Gesellschaftsanalyse, Kul-
der abendländischen Kultur, son- turkritik und Aufklärung zu, wie sie
dern sieht solche Extreme als Kon- heute beispielsweise in anderer Form
sequenzen an, welche immer schon in den cultural studies und visual studies
als dunkle Seite in der Aufklärung praktiziert wird.52
angelegt sind.

Die Menschheitsgeschichte ist


von einer Art Erkrankung der Vernunft Damals und heute ein
gekennzeichnet. Mittels abstrakter Be- Schlüsseltext?
griffe versucht der Mensch die Natur zu
erfassen, doch dieser Erkenntnisgewinn Schlussendlich soll nun ein Fazit die
auf Kosten einer Verarmung des Lebens Bedeutung und Rezeption des Textes
erkauft.50 für die Kunstwissenschaft der Ge-
genwart erläutern und die zentralen

50
Lorenz, Ansgar; Ruffing, Reiner (2012): Theodor W. Adorno. Philosophie für Einsteiger. München:
Wilhelm Fink Verlag, S. 23.
51
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 84.
52
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 31.
Lisa Olschewski

Erkenntnisse zusammenfassen. selbst, jedoch durch eine qualitativ


Ein wichtiger Bestandteil der Gesell- veränderte Identifikation, zum Aus-
schaft ist Kunst. Durch Adornos Kri- druck bringt. Das Kunstwerk bewahrt
tik an der Gesellschaft, vor allem damit das Nichtidentische sowohl vor der
durch die Nazi-Herrschaft verstärkt Verstellung als auch der Verdrängung.
und bestätigt, sieht Adorno in der Dadurch, dass das Wesen der Sache
Kunst vermutlich noch einen letzten selbst durch die Identifikation gel-
Ausweg, weshalb er versucht, die Be- tend gemacht wird, wird nicht nur 131
deutung einer möglichen Ästhetik wirkliche Erkenntnis möglich, son-
der Kunstwerke herauszufi ltern. Da- dern auch der Bereich des Objek-
bei sieht Adorno Kuttur – oder die tiven, über das der subjektiven Er-
Kulturindustrie – als Ordnung an, kenntnis bislang Zugängliche hinaus
deren Funktion ausschließlich in der erweitert. Das Kunstwerk zeigt, in-
Bestätigung der bestehenden gesell- dem man es erfährt, dass es sich nicht
schaftlichen Verhältnisse besteht. Es durch den herkömmlichen, begriff-
wird kein Raum für Kreativität gelas- lichen Modus der Identifikation ver-
sen, alles muss sich dem gesellschaft- stehen lässt und erst durch mimeti-
lichen Zwang anpassen und dient sches nachvollziehen „sprechend“
lediglich zur Affirmation der kapi- wird. Daraus ergibt sich jedoch auch
talistischen Machtverhältnisse.53 ein bestimmtes Konzept der Deu-
Nach Adorno ahmt Kunst nicht das tung, das sich als synthetische Ana-
Wirkliche nach, sondern zeigt ledig- lyse umschreiben lässt. Synthetische
lich das, was über dieses hinausweist: Analyse vollzieht sich als Bestim-
Für Adorno ist dies das Naturschöne.54 mung der Bestimmtheit eines Ein-
Er sieht den Zweck des Kunstwerks zelnen, vor allem durch Nachvollzug
in der Bestimmtheit des Unbestimm- all der eigenlogischen Verbindungen,
ten. Somit rettet das Kunstwerk das in denen es steht und durch die es
Nichtidentische oder Unbestimmte vor sich bestimmt und bestimmt wird.55
dem Identitätsdenken und zwar in
einem zweifachen Sinne: Zum einen Des Weiteren beschäftigt sich Adorno
vor der Gleichmachung durch die vom mit der ästhetischen Erfahrung von
Identitätsprinzip vorgegeben Identi- Kunstwerken und deren Beziehung
fikation. Gleichzeitig rettet es die I- zur Gesellschaft. Der Status und die
dentifikation, indem es diese als sie Funktion der Kunst resultieren für

53
Vgl.: Roland Borgards: Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart 2010, S. 159.
54
Vgl.: Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach
Adorno. Frankfurt/Main 1985, S. 15.
55
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 49.
Theodor w. Adorno

ihn stets aus dem Zustand der Ge- Beziehungen und Verbindung bes-
sellschaft. Ästhetisch ist für Ador- ser erkennen und deuten. So erlangt
no das, was rätselhaft wird und somit man ein tiefgehendes Verständnis.
nicht fassbar ist. Durch die Beschrei- Bei einer näheren Analyse der Ästhe-
bung einer ästhetischen Erfahrung, tischen Theorie lassen sich relevante und
anhand welcher der Begriff des ästhe- interessante Zusammenhänge zur Re-
tischen Objekts deutlich wird, kann zeption von Kunstwerken erschlie-
132 diese selbst reflektiert werden. Ästhe- ßen. Insbesondere die Überlegungen
tische Phänomene sind dabei Syn- zum Rätselcharakter, dem Nichtidentischen
thesen von Einzelmomenten, welche und dem Wahrheitsgehalt der Kunstwer-
jedoch nicht nach dem Prinzip von ke sind immer noch anschlussfähig
Identität, sondern schwer greifbar für die gegenwärtige Kunstwissen-
gebildet, und somit nicht verständ- schaft. Aus diesem Grund kann sie
lich sind. Ästhetik erscheint negativ auch als ein Schlüsseltext der Kunst-
gegenüber dem Identitätsdenken. wissenschaft angesehen werden.
Adorno sieht, wie schon in der Dia- Adornos polarisierende Art war an-
lektik der Aufklärung, das Absterben fangs der Grund für die geringe Be-
der Kultur, weshalb er versucht, mit achtung seiner Werke. Bis in die Acht-
der Ästhetischen Theorie die übrig ge- zigerjahre waren Adornos Texte und
bliebenen Möglichkeiten und Poten- Werke sehr umstritten und wurden
ziale der Kultur, in diesem Fall vor häufig kritisiert.56 Die Kritische Theorie
allem der Kunst, zu verdeutlichen. fand in einigen Punkten Anklang in-
Abschließend lässt sich festhalten, nerhalb der Studentenbewegung der
dass Adornos Werk zunächst unge- 1968er Jahre, jedoch wurde in diesem
wöhnlich und schwer zugänglich er- Zusammenhang auch die fehlende
scheint. Doch gerade diese assozia- Nähe zur Praxis kritisiert. Adorno
tive Struktur stellt eine der Beson- stand Teilen dieser Bewegung kritisch,
derheiten des Werkes dar. Um den jedoch nicht gänzlich abgeneigt ge-
Textausschnitt an sich zu verstehen, genüber, während Horkheimer diese
ist es jedoch ratsam, sowohl das ge- vollumfänglich ablehnte. Vor allem
samte Werk, als auch die genannten die zunehmende Gewaltbereitschaft
Werke, auf die sich Adorno selbst in- der Studenten wurde von Adorno
nerhalb seines Textes bezieht, eben- kritisiert.57
falls zu lesen. Dadurch lassen sich die

56
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 49.
57
Vgl.: Jens Benicke: Von Adorno zu Mao. Die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung.
Vortrag im Jour fixe der Initiative Sozialistisches Forum im Januar 2004, http://www.ca-ira.net/isf/
beitraege/pdf/benicke-adorno.mao.pdf, S. 2.
Lisa Olschewski

Die Ästhetische Theorie wurde zwar war für Adorno von zentraler Wich-
gerne als literarisches Kunstwerk ge- tigkeit. Das Besondere an Kunstwer-
handelt aber die theoretische Subs- ken ist die Unverständlichkeit. Hätten
tanz ihr eher abgesprochen. Adornos die Kunstwerke keinerlei rätselhafte
Texte waren im Allgemeinen nicht Bedeutung, wären sie nach Adorno
nur in der Soziologie bekannt, son- auch keine Kunstwerke. Dessen sollte
dern später auch in der Pädagogik man sich bei jedem Versuch ein Kunst-
und natürlich im Kunstbereich. werk zu verstehen, stets bewusst sein. 133
Vor allem seine unkonventionelle
Schreibweise gibt seinen Werken, ge-
rade auch der Ästhetischen Theorie, noch-
mals einen besonderen Stellenwert.

Manche Widersprüche, die im Werk


Adornos entstanden sind, lassen sich
nicht explizit auflösen. Hier muss sich
der Leser anpassen und entweder ver-
suchen, diese selbst aufzulösen oder
es akzeptieren, wodurch sich andere
Rezeptionen und Erfahrungen mit
dem Text erschließen und reflektieren
lassen. Wie auch schon in der Negati-
ven Dialektik stellt Adorno auch Mei-
nungen und Wertungen radikal in
Frage, was seine Besonderheit aus-
macht. Dass der Autor sein eigenes
Werk nicht selbständig fertigstellen
konnte, es aber trotzdem veröffent-
licht wurde, erweist dem Text einen
besonderen Stellenwert, insbesonde-
re innerhalb der Kunstwissenschaft.
Vor allem die Mahnung, dass es einen
endgültigen Sinn oder eine eindeu-
tige Bedeutung niemals geben wird,
Theodor w. Adorno

Quellenverzeichnis

Adorno, Theodor W.; Adorno, Gretel (Hg.); Tiedemann, Rolf (Hg.):


134 Ästhetische Theorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970.

Borgards, Roland: Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Reclam,


Stuttgart 2010.

Klein Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Adorno


Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Metzler Verlag, Stuttgart 2011.

Lindner, Burkhardt; Lüdke, W. Martin: Materialien zur ästhetischen Theorie.


Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt
am Main 1979.

Lorenz, Ansgar; Ruffi ng, Reiner: Theodor W. Adorno. Philosophie für


Einsteiger. Wilhelm Fink Verlag, München 2012.

Mun, Byeong-Ho: Intentionslose Parteinahme. Zum Verhältnis der Kunst und


Literatur zur Gesellschaft im Bann der Naturbeherrschung und Rationalisierung bei
Theodor W. Adorno. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1992.

Quent, Marcus; Lindner, Eckhardt (Hg.): Das Versprechen der Kunst.


Aktuelle Zugänge zu Adornos ästhetischer Theorie. Turia und Kant Verlag,
Wien 2014.

Sauerland, Karol: Einführung in die Ästhetik Adornos. De Gruyter, Berlin


1979.
Lisa Olschewski

Stiegler, Bernd: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Eine Einfüh-


rung. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015.

Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik


nach Adorno. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985.

Zimmermann, Norbert: Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos The-


orie der Zeitstruktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung. Peter Lang Verlag, 135
Frankfurt am Main 1989.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten-1/adornos-stil-
wenn-adorno-spricht-1712550.html (zuletzt aufgerufen: 01.02.2018).

http://judentum-projekt.de/persoenlichkeiten/wissen/adorno/index.
html (zuletzt aufgerufen: 01.02.2018).

http://www.philolex.de/frankfur.htm (zuletzt aufgerufen: 03.02.2018)

http://www.academia.edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_
Kunstwerks_bei_Adorno_2009 (zuletzt aufgerufen: 03.02.2018).

http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/pdf/benicke-adorno.mao.pdf (zu-
letzt aufgerufen: 08.04.2018).
beat wyss
TRAUER DER VOLLENDUNG (1985)

Trauer der Vollendung ist sowohl das erste Buch des schweizerischen Autors
136 Beat Wyss, als auch seine Habilitationsschrift. Hierbei sei angemerkt, dass
das Werk, eingereicht an der philosophischen Fakultät der Universität Zü-
rich, für einige Kontroversen sorgte. Trauer der Vollendung erschien 1985 im
DuMont Verlag. Wyss, geboren 1947 in Basel, studierte Kunstgeschichte,
Philosophie und deutsche Literatur in Zürich, Berlin und Rom. Er lehrte
vor allem in Deutschland – Bochum, Stuttgart und Karlsruhe – und hatte
Gastprofessuren in den USA, Dänemark und Estland inne.
Der emeritierte Professor ist ebenfalls als Gastautor für die NZZ, die Zeit
oder Cicero tätig. Sein Erstling „Trauer der Vollendung“ weißt einen anderen
Anspruch an die Kunstgeschichte auf.

In diesem Zusammenhang spielt die Kraft der Narration eine übergeord-


nete Rolle. Wyss geht es primär um die Behauptung Hegels, dass die Kunst
ihr Ende erreicht hätte. Zur Beweisführung baut Wyss vor den Augen des
Lesers ein imaginäres Museum auf, wobei kein geringerer als der Philo-
soph Georg Friedrich Wilhelm Hegel durch dieses Gebäude führt. Be-
gleitet wird dieser vom Weltgeist, der sich, während des Ganges durch das
hegelsche Museum, stets wandelt und transformiert.
Die Position Hegels stellt Wyss die Aussagen der Autoren Max Nordau,
Oswald Spengler, Hans Sedlmayr und Georg Lukács gegenüber. Auch sie
riefen das Ende der Kunst aus und kämpften gegen die Avantgarde.
Im letzten Kapitel Überlistete Vernunft vergleicht Wyss Hegels Position aus
der heutigen Sicht und grenzt zudem ein, wie Vernunft und Kunst mitei-
nander in Verbindung stehen und standen. Herausragend ist Wyss äußerst
sprachmächtige Schreibweise. Sie trägt dazu bei, die unterschiedlichen As-
pekte und Kunstwerke zu einem dichten narrativen Strang zu verweben,
der von Beginn der Kultur bis hin zur Neuzeit reicht.
137
beat Wyss

Genau wie Exponate werden diese be-


schrieben und mit den anderen „Aus-
stellungsstücken“ in Zusammenhang
gebracht.
Inhaltsangabe Von den Pyramiden, über die antiken
Skulpturen, hin zu niederländischen
Wie wird Kunstgeschichte geschrie- Tafelbildern - in allem fi ndet Wyss
138 ben? Und wer schreibt sie? Wer be- den Abdruck des Weltgeistes. Es stellt
stimmt den Kanon und wie entsteht er? sich heraus, dass dieser jedoch nur
Diese Fragen werden bei Beat Wyss flüchtig mit seinen temporären Be-
Trauer der Vollendung nur angedeutet. hausungen zufrieden war. Den Spa-
Obwohl diese Fragen nicht konse- ziergang durch Zeit und Raum geht
quent beantwortet werden, verdeut- der Leser gemeinsam mit Hegel und
licht Wyss, wie Kunstgeschichte ge- seinem Konstrukt, bis hin zur Zeit
prägt wird. Um dies zu veranschauli- der Romantik und damit zu Hegels
chen, hat sich der Autor zwei beson- eigener Lebenszeit. Hier setzt eine
dere Begleiter zur Seite gestellt: Zäsur ein. Denn nicht nur die Räume
den Philosophen Hegel und dessen des Museums scheinen nichts Reiz-
Konstrukt den Weltgeist. An beiden volleres mehr für Hegel parat zu ha-
arbeitet sich Wyss in Trauer der Vollen- ben, ebenso scheint dies für seine ei-
dung ab. Er will Hegels Behauptung gene Zeit und deren Kunst zu gelten.
auf den Grund gehen und herausfi n-
den, ob der Weltgeist tatsächlich nur
temporär in der Kunst seine Heimat Wyss reflektiert, weshalb Hegel und
gefunden hat, nur um sie dann zu- sein Weltgeist sich von der Kunst ab-
gunsten der Philosophie zu verlassen.1 wandten und warum die Sehnsucht
Dazu konstruiert Wyss ein imaginäres nach der Antike dafür so bedeutsam
Museum, durch das der Leser Hegel ist. Daran anschließend stellt Wyss
und dessen Weltgeist folgt. Das Mu- in seinem zweiten Hauptkapitel vier
seum ist unterschiedlichen Räumen Männer vor, die ebenfalls ein Ende
und ebenso verschiedenen Epochen der Kunst voraussahen. Anhand von
zugeordnet. In diesen greift Wyss für Max Nordau, Oswald Spengler, Hans
die Zeit typische Phänomene und Er- Sedlmayr und Georg Lukács, samt
scheinungen auf. ihren Theorien, beschreibt Wyss, wie

1
Hegel beschäftigte sich in seiner „Vorlesung über die Aesthetik“ mit der Bedeutung der Kunst.
Dabei stellt er nicht nur die bedeutenden Eigenschaften der Kunst aus, sondern zeigt, inwiefern die
Kunst bedeutsam für den „Weltgeist“ war. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1835) [1835]:
Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin: von Dunder und
Humblot, S. 134 f.
sarah rieder

sich gegen die Avantgarde zu Beginn


des 21. Jahrhunderts Widerstand for-
mierte. Die vier Autoren wollen dabei
dieselben Grenzen verteidigen, die Problematisierende
Hegel bereits gezogen hatte. Gene- Wiedergabe des Textes
rell lautete die Anklage, dass sich, seit
der Zeit Goethes, der Verstand aus Anders als die „klassischen“ kunsthis-
der Kunst geschlichen habe, was un- torischen Ansätze, wie beispielsweise 139
weigerlich zu ihrer Degradierung und die Ikonologie, Hermeneutik oder die
schlussendlich zu ihrem Ende führen Semiotik, ist Beat Wyss‘ Methode we-
solle. Wyss geht den einzelnen Vor- der universell anwendbar, noch lehr-
würfen genau nach, wobei er nicht nur bar. Ein Grund dafür ist, dass Wyss
ein Bild des jeweiligen Kritikers, son- gar keinen kunsthistorischen Ansatz
dern auch dessen Zeit zeichnet. liefert, sondern stattdessen eine Men-
Im letzten Kapitel Überlistete Vernunft talitätsgeschichte konstruiert. Er zählt
vergleicht nun Wyss die Position von Kunstwerke auf, beschreibt diese kurz
Hegel mit der Kritik von Nordau, Sedl- und baut sie scheinbar nahtlos in seine
mayr, Spengler, und Lukács. Argumentationsstruktur ein. Jedoch
Dabei stellt er heraus, warum Hegels ist das Kunstwerk nie allein im Fokus,
Absage zur Kunst logisch nachvoll- sondern es steht nur stellvertretend
ziehbar war. Wohingegen nicht die und sinnbildlich für seine jeweilige
Logik, sondern die Ideologie der Epoche. Wyss arbeitet sich nicht an
Motor für die Kritik der anderen den Kunstwerken selbst ab, sondern
vier Theoretiker war. nutzt diese nur, um seine Argumente
Wyss hebt im letzten Kapitel hervor, zu veranschaulichen.
warum die (Moderne) Kunst letzt-
endlich ihre Kritiker überlebt hat Daher scheint die Kunst nur Mittel
und auch in Zukunft noch lange zum Zweck zu sein. Wyss nutzt sie,
nicht zu Grabe getragen wird. um seine Thesen zu untermauern, da-
rüber hinaus werden sie aber weder
eingehend beachtet, noch behandelt.
Aus diesem Grund unterscheidet sich
seine Herangehensweise gänzlich von
anderen kunsthistorischen Ansätzen,
beat Wyss

die erst durch die intensive Auseinan- Hegel hat dem Kunsthistori-
dersetzung mit einem Kunstwerk ihre ker abgeraten, über das Schöne zu the-
Relevanz und Vorgehensweisen offen- oretisieren. Nur die Gelehrsamkeit der
baren oder dies durch den Vergleich Kunstgeschichte habe ihren bleibenden
unterschiedlicher Kunstwerke mitei- Wert; das Geschäft dieser Hilfswissen-
nander erreichen. schaft sei es, zu Händen der philoso-
Bilder zu betrachten - und daraus phischen Ästhetik ‚anschauliche Belege
140 deren Immanenz und die Bedeutung und Bestätigungen‘ zu liefern. 2
des Werkes für die Kunstgeschichte
Wyss selbst ignoriert diesen Hinweis,
herzuleiten – ist Wyss gänzlich fremd.
Seine Einsichten gewinnt er somit er wird in seinem Buch die Schönheit
nicht aus den Werken selbst, sondern zur Genüge theoretisieren, jedoch
er scheint diese bereits zuvor erlangt
wird er Hegels Anspruch auf die ge-
zu haben und verwendet die Kunst- wünschten „anschaulichen Belege und
werke dementsprechend nur noch als Bestätigungen“3 genauso gerecht.
Belege. Die Werke sind niemals Es- Hervorzuheben ist, dass Wyss sein
senz seiner Thesen, sondern lediglichVorgehen bereits auf der allerersten
Beiwerk. Klar wird diese Vorgehens- Seite transparent macht. Er will he-
weise, wenn man sich deutlich macht, rausfi nden, ob Hegel schlussendlich
dass Wyss kein Interesse daran hat, Recht behält mit seiner Behauptung,
wie ein Erwin Panofsky oder ein Fe- dass die Kunst als Interessensfeld
lix Thürlemann vorzugehen. Sein An- für den Weltgeist ausgedient habe.
satz leitet sich nicht aus der Kunst ab,
Dieser Aspekt ist das Gerüst des Bu-
sondern entstammt der Philosophie. ches. Ohne Hegel und seine Theorie
Wyss möchte nicht anhand der Phi- vom Weltgeist gäbe es nichts, woran
losophie die Kunst entdecken, son- man sich abarbeiten könnte.
dern anhand der Kunst die Philoso- Entscheidend für diesen Text ist die
phie belegen. So ist Hegel nicht nur sprachliche Kunstfertigkeit des Au-
sein Begleiter, sondern ebenso sein tors. Schließlich ist sie es, die entschei-
Berater. dend zur Wirkmacht des Textes bei-
trägt. Nicht nur die weitläufigen Ver-
Die ersten Zeilen seines Buches ver- weise auf die unterschiedlichsten
weisen darauf: Epochen machen den Text so über-
zeugend, es ist vor allem die Eloquenz

2
Wyss, Beat (1997) [1985]: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln: Dumont
Verlag, S. 15.
3
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1997 [1985]: Grundlinien der Philosophie des
Rechts. Theorie-Werkausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 275. zit. nach Beat Wyss: Trauer
der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, S. 28.
sarah rieder

und die stringente Erzählstruktur des Narrativ. Ein Narrativ, welches, gleich
Textes, die den Leser für Trauer der Voll- einem Mosaik, aus vielen kleineren
endung einnehmen. Und hier findet sich Geschichten und Zusammenhängen
die Krux des Textes. Betrachtet man besteht.
sich diesen genauer, so stellt sich he-
raus, dass ein weniger begabter Es-
sayist nicht annähernd die gleiche Wir-
kung hätte aufbauen können, wie es 141
Wyss vermag. Argumentationsstruktur
Trauer der Vollendung steht und fällt mit
der Architektur seines Textes und der Die Argumentationsstruktur zeich-
Brillanz seiner Ausführung. Während net sich einerseits durch das Stilmit-
nun Techniken wie die Ikonologie tel der Analepse und anderseits durch
oder die Semiotik – in ihren Berei- ein Zusammenwirken aus Mikro- und
chen, beziehungweise bei bestimmten Makrostruktur aus. Letzteres wird
Kunstwerken – genaue Anleitungen bereits anhand des Layouts deutlich.
bieten können, ist dies bei Wyss nicht Während das Inhaltsverzeichnis noch
möglich. Da der Autor selbst keine thematisch angeordnet und unter
Techniken vermittelt, können diese bestimmten Gesichtspunkten zuge-
nicht angewendet werden. ordnet ist, fällt auf, dass der Erzähl-
Zudem kommt erschwerend hinzu, text selbst eine übergeordnete Struk-
dass kaum jemand über die gleiche turierung enthält. Dabei fi ndet sich
Vorbildung und das gleiche stilisti- auf jeder Seite eine Art Überschrift.
sche Können wie Wyss verfügt. Die linken Seiten kennzeichnen je-
Wyss lehrt also nicht, wie man Bilder weils das Kapitel, welches man auf-
liest. Stattdessen erzählt er dem Le- geschlagen hat. Die rechten Seiten
ser, wie Epochen und Entwicklun- heben sich davon jedoch ab, da auf
gen ineinandergriffen und sich ge- jeder Seite ein Satz gesetzt wurde,
genseitig beeinflussten. der genau bezeichnend für die aktu-
Seine Geschichte der Kunstgeschich- elle Seite ist. Dabei bezieht sich die
te ist damit nicht durch das Sehen von Überschrift nicht allein auf die rechte
Bildern, Skulpturen oder von archi- Seite, sondern ebenso auf die links da-
tektonischen Bauten erfahrbar, son- rauf Folgende. Anhand dessen wird
dern offenbart sich als ein einziges die Verschränkung aus Mikro- und

4
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 143.

.
beat Wyss

Makrostruktur offensichtlich. an Verwendung von Stilmitteln, wie


Es wird deutlich, dass das Buch sich beispielsweise Anaphern und Repe-
aus lauter kleinen Bestandteilen zu- titionen. Im Text selbst werden die
sammensetzt, welche das große Ganze Verbindungen und Überkreuzungen
formen. „Für Hegel war die Kunst sei- im Aufbau des imaginären Museums
ner Zeit das letzte Aufbäumen einer visualisiert. Um dieses zu erschaffen,
überlebten Geistesepoche.“4 braucht es Exponate. Diese Expona-
142 Hegel empfand, dass die Kunst selbst te müssen in Räumen untergebracht
ihr Ende gefunden hatte. Dies würde sein, während es zwischen diesen
die Abwendung des Weltgeistes - weg Räumen Schwellen gibt. Beat Wyss
von der Kunst und hin zur Philoso- gelingt es dabei auf fiktionaler Ebene,
phie - belegen.5 Wyss möchte dieser all diese Aspekte durch die Kunstfer-
Aussage genau nachgehen. Der Ge- tigkeit seiner Sprache zum Klingen
danke Hegels bildet dabei das Skelett zu Bringen.
von Trauer der Vollendung. Es gelingt Er füllt die Räume, in denen er sie be-
Wyss aber diesen Aspekt ein wenig stimmten Epochen- und Kulturräu-
in den Hintergrund rücken zu lassen. me zuteilt. In diesen stellt er Phäno-
Zu schillernd beschreibt er all die mene und Erscheinungen der jewei-
anderen Phänomene, die dem Philo- ligen Zeit aus. Doch belässt es der
sophen, dem Weltgeist und dem Leser Autor nicht dabei. Stattdessen ver-
auf der Reise durch das Museum be- knüpft er die einzelnen Phänomene
gegnen. Letzteres hat dabei seinen untereinander.
Ursprung wieder in einer Verschrän- Dies geschieht allerdings nicht allein
kung. Während bereits die Verbin- auf einer narrativen Ebenen, welche
dung zwischen Mikro- und Makro- nur auf die zukünftige Entwicklung
ebene bezüglich der Optik thema- ausgelegt ist, denn genauso häufig
tisiert wurde, findet sich diese eben- nutzt er das repetitive Erzählen.
falls auf Ebene der Sprache und des Das gegenseitige Beziehen der ver-
Inhaltes wieder. Das Layout gibt be- schiedenen Aspekte und Elemente
reits Aufschluss darauf, wie sich der aufeinander, führt dazu, dass ein dich-
gesamte Text inhaltlich strukturiert. ter erzählerischer Strang entsteht.
Denn den Text durziehen Überkreu- Dieses repetitive Element schwingt
zungen, Wiederholungen und Über- beständig bei Wyss Argumentation
lagerungen. Sprachlich zeigt sich dies mit. Jeder Schritt, der weiter durch

5
„Der Geist als wahrer Geist ist an und für sich, und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstrakt
jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens
aller Dinge; das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und
absolut. Die erste Form nun dieses Erfassens ist ein unmittelbares und eben darum sinnliches
Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das
Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt. Die zweite Form sodann ist das vorstellende
Bewusstsein, die dritte endlich das freie Denken des absoluten Geistes. Die Form der sinnlichen
Anschauung nun gehört der Kunst an, so da[ss] die Kunst es ist, welche die Wahrheit in Weise s
innlicher Gestaltung für das Bewusstsein hinstellt[.]“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung
über die Aesthetik, In: Philipp Konrad Marheineke et al. (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Georg…
sarah rieder

das Museum führt, wird vom Echo des die Mittagsstunde des Geistes, wo die
vorausgegangen begleitet. Der Autor Griechen wohnen. […] ‚Bei den Griechen
führt die Entwicklung vom Morgen- fühlen wir uns sogleich heimatlich, denn
land über die Antike hin zum Abend- wir sind auf dem Boden des Geistes’,
land kontinuierlich fort. rief Hegel jetzt aus, seine angeborene
Jedoch lässt er es aber nie aus, Binde- Bedächtigkeit beinahe vergessend.6
glieder zu schaffen. Damit ist es ihm
möglich, einen Bogen zu spannen, Wyss, der 177 Jahre nach Hegel zur 143
der alle Kulturräume des Museums Welt kam, kann schwerlich Zeugnis
umfasst. Zusammenfassend lässt sich über dessen Charakter ablegen. Je-
sagen, dass Wyss zwei Ebenen der doch scheint sich der Schweizer mit
Erzählung miteinander verdichtet. dem zu begnügen, was er aus Hegels
Die erste Erzählebene bildet die Fra- Schriften kennt. Wyss legt dem Phi-
ge nach dem „hegelschen“ Ende der losophen dabei keine fremden Wör-
Kunst. Um diesen legt sich ganz eng ter in den Mund. Er bleibt ganz bei
die zweite, welche sich mit den Ob- den Aussagen Hegels, indem er aus
jekten und Räumen des Museums, so- dessen Schriften zitiert.
wie ihrer Bedeutung befasst. Der in- Diese Zitate werden allerdings in ei-
nere Kern bleibt zumeist im Verbor- nem anderen Kontext eingefügt.
genen. Und doch lässt ihn Wyss im- Daran wird ersichtlich, wie stark Wyss
mer wieder aufleuchten. sich der Fiktionalisierung bedient.
Dies geschieht immer dann, wenn Interessanterweise wirkt die Darstel-
Wyss den Philosophen zu bestimm- lung Hegels, als kommentierender
ten Aspekten Stellung nehmen lässt Flaneur durch die Zeiten, an keiner
oder sich der Weltgeist einer Wand- Stelle unglaubwürdig. Dass nun das
lung vollzieht. imaginäre Museum nicht wie ein Kar-
In diesen Äußerungen offenbart sich tenhaus zusammenklappt, ist einer
allerdings eine weitere Besonderheit weiteren Komponente geschuldet.
des Textes. Denn Wyss lässt seinen Die Instanz, die diesen Text interes-
Museumsführer recht lebhaft durch sant, spannend und bis zu einem ge-
das Gebäude führen: wissen Grad glaubwürdig macht, ist
die außergewöhnlich hohe Sprach-
Nun aber müssen wir uns kunst des Autors. Im schlimmsten
sputen: Hegel war schon eingetreten in Falle hätte der imaginäre Rundgang

… Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835] S. 132. Anhand dieser Abstufung Georg
Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835] S. 132.
Anhand dieser Abstufung wird deutlich, dass die Kunst nur die erste Form des „Weltgeistes“ ist,
eine Grundform, die zugunsten der späteren aufgegeben wird.
6
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 28.
beat Wyss

überladen und überzogen wirken Der Text muss dabei aber unbedingt
können. Wyss umgeht dieses Risiko, auf seine eigene Machart und da-
Kraft seines Könnens. Nicht nur, dass mit auf seine eigene „Gemachtheit“
er über einen pointierten und gewitz- verweisen. Um es mit Beuys zu sagen:
ten Schreibstil verfügt. Weit wich- Zeige deine Wunde. Denn ohne Wun-
tiger ist, wie Wyss seine Texte konst- de wäre es ein makelloser und somit
ruiert. Darin fi ndet sich eine gewisse zu glatter Text. Erst durch das Ent-
144 Paradoxie: Der Inhalt ist durch und blößen und damit Zugeben der Kon-
durch konstruiert, genauso stark fik- struktion kann Wyss seine Form der
tionalisiert, und doch stößt sich der Kunstgeschichte entstehen lassen.
Leser keineswegs daran. Denn „(s)eine Kunstgeschichte weiß
auf der Ebene ihrer eigenen Schreib-
Die Baupläne für seine Texte weise sehr genau, dass Finden und
strickt Wyss selbst. Bei keinem anderen Erfi nden eins sind.“8 Damit lässt sich
Autor wird deutlicher, wie sehr die Fak- sagen, dass das Zusammenspiel zwi-
ten dem Diktat seines Schreibens folgen schen Mikro- und Makrostruktur,
sollen. Er gängelt seine Kunstgeschich- der Aufbau und das Zusammenwir-
te durch die Korridore seiner Rhetorik, ken der Narration, genau wie die
bis jede Seite ihre Pointe hat.7 Offenlegung der Machart des Tex-
tes entscheidend für die Argumen-
Der Schweizer weiß eines genau: tationsstruktur sind.
Das Pferd muss schwitzen, nicht der
Reiter. Wyss sitzt erhaben hoch zu
Ross, die Kunstgeschichte ächzt leise
unter ihm. Sowohl der Inhalt, als auch Inhaltlicher
die Form des Textes sind genau ged- Argumentationsverlauf
rillt. Die Vielzahl an Pointen, Rück-
schlüssen und sprachlichen Pirouet- Das primäre Anliegen von Beat Wyss
ten muss die Statik des Textes erst ist, die Aussage Hegels zu überprüfen.
aushalten können. Warum aber die Der Philosoph hatte das „Ende der
fast schon epischen Ausmaße? Weil Kunst“ prophezeit.
sich nur so epische Geschichten er- Dies begründet Hegel damit, dass
zählen lassen. die Kunst dem Weltgeist keinen An-
reiz mehr böte und sich dieser nun

7
Stöhr, Jürgen (2014) [2014]: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat
Wyss, Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: transcript verlag, S. 23.
8
Ebd., S. 22.
sarah rieder

auf einem anderen Feld – dem der Philosophen und sein Konstrukt
Philosophie – betätigen müsse.9 durch ein imaginäres Museum wan-
Dieser Weltgeist muss jedoch genauer dern. Das gesamte erste Kapitel dreht
untersucht werden. sich um dieses Unterfangen, wobei
dies sowohl eine zeitliche als auch
Wenn wir, was die absolute geographische Struktur aufweist.
Idee in ihrer wahrhaftigen Wirklichkeit Wyss hat sein - bzw. Hegels - Museum
sei, kurz bezeichnen wollen, so müssten in drei Räume unterteilt: den Morgen 145
wir sagen, sie sei Geist, und zwar nicht der / das Morgenland, den Mittag / die
Geist in seiner endlichen Befangenheit Antike und den Abend / das Abend-
und Beschränkung, sondern der allge- land. Diese Räume sind zu doppelten
meine unendliche und absolute Geist, Zeiträumen verdichtet. Nicht nur, dass
der aus sich selber bestimmt, was wahr- dadurch der Gang durch das Museum
haftig das Wahre ist.10 selbst zeitlich verordnet wird, parallel
geht Hegel – und somit der Leser –
Anhand dieser Worte wird deutlich, durch die unterschiedlichen Epochen
dass diese Form von Geist weder eine des Museums. Dem Morgen sind die
zeitliche, noch eine räumliche End- verschiedenen Frühformen der Kul-
lichkeit kennt. Grenzen gibt es für tur untergeordnet: dem Sanskrit der
ihn nicht. Dabei fungiert der Geist Upanischaden, die Opferformen der
wie ein Kompass, der jedoch bestän- Bahmanas, den indischen Götterkult,
dig auf sich selbst verweist. Die Über- sowie die Kultur der Ägypter.
zeitlichkeit des Weltgeistes wird in der Die Antike läutet dagegen den Mittag
Geschichte deutlich. Hegel sah dabei ein, während das Abendland letzt-
das Streben, bzw. das „Endziel“, des endlich durch das Christentum mar-
Geistes darin, dass durch diesen letzt- kiert wird. Diese Grundstruktur wird
endlich die „Vernunft in der (Welt-) durch die Mikrostruktur gestützt.
Geschichte“11 umgesetzt wird. Hierbei greift Wyss ein Phänomen
Anhand bestimmter Epochen wird einer bestimmten Epoche auf und
deutlich, wie der Weltgeist seine Form bindet dieses in einer anderen wie-
in Phänomenen der Geschichte sucht der ein. Dadurch schafft er nicht nur
und in diesen seinen Ausdruck fi n- eine Kontinuität, sondern ebenfalls
det.12 Um nun die Aussage Hegels auf eine Kausalität. Es wird deutlich,
die Probe zu stellen, lässt Wyss den dass ohne bestimmte Einflüsse aus

9
„In dieser Weise besteht das Nach der Kunst darin, da[ss] dem Geist das Bedürfnis ersucht, sich
nur in seinem eigenen Innerem als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen. Die Kunst in
ihren Anfängen, lä[ss]t als Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig, weil
ihre Gebilde nach ihrem vollem Gehalt nicht vollendet und für die bildliche Anschauung
herausgestellt haben. Ist aber der vollkommen Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten,
so wendet sich der weiter blickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt
sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige. Man kann wohl hoffen, da[ss] die Kunst immer
mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis der
Kunst zu sein.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm
Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 134 f.
beat Wyss

vorherigen Kulturen sich spätere Denn während es in den drei vorher-


Entwicklungen nicht ergeben hät- gehenden Kapiteln nur eine Richtung
ten. Während der Reise durch die gab, nämlich nach vorne, Richtung
Zeiten wird immer wieder auch die Zukunft, wirft das letzte Kapitel ei-
Reaktion des Weltgeistes gezeigt. Die- nen einsamen Blick in die Vergangen-
ser wandelt und transformiert sich. heit zurück. Wyss stellt anhand von
Hegels Zeit und dessen Umfeld dar,
146 Entsprechend des Kulturraumes fi n- weshalb dieser zu dem Schluss kam,
det der Weltgeist seine vorläufige Aus- dass die Kunst keine Zukunft hätte.14
prägung, kann aber nie ganz in dieser
Form bleiben. Stets zieht es ihn wei- Wyss verknüpft diese Erkenntnis
ter.13 Die Reise führt bis an Hegels mit der Sehnsucht nach der Antike,
eigene Lebenszeit – dann ist der welche für Hegel und den Weltgeist
Ausgang des Museums erreicht. die ideale Epoche sei.15
Doch trotz der geschickten Verknüp-
fung der Exponate und der Räume Hingegen zeigt seine eigene Zeit, dass
hält es Hegel nicht in eben diesen. die Kunst nun dem Weltgeist nicht mehr
Er verlässt sie - und nimmt eine Er- würdig ist.16 So bleibt Hegel nichts
kenntnis mit. Die Erkenntnis, dass Anderes übrig, als dieser „Goldenen
die Kunst ihren Höhepunkt bereits Zeit“ nachzutrauern.
vor Jahrhunderten erreicht hatte und Diese Sehnsucht empfand allerdings
mit der Romantik, und somit Hegels nicht allein Hegel. Wyss macht deut-
eigenem Zeitalter, ihr Ende fand. lich, wie stark man sich in der Ro-
mantik nach der Antike sehnte.
Anders als die drei Unterkapitel von Nicht umsonst fällt hierbei das ima-
„Hegels letzter Gang durch ein Mu- ginäre Museum mit seinem tatsächli-
seum“ unterscheidet sich das letzte chem Pedant zusammen: dem Alten
Unterkapitel grundlegend von seinen Museum in Berlin.17
Vorgängern. Das vierte Kapitel der Dia-
lektik zeichnet sich sowohl durch eine Dadurch, dass die Antike für Hegel
veränderte Argumentationsstruktur, und seinen Weltgeist einen „perfekten“,
als auch durch eine Veränderung in jedoch abgeschlossenen und nicht
der zeitlichen Perspektive aus. mehr wiederholbaren Zeitraum mar-
kiert, gesellt sich zur Bewunderung

10
Ebd., S. 120.
11
Vgl.: Werner Jung: „Weltgeist“, in: Peter Prechtl / Franz-Peter Burkard (Hg.): Metzler Philosophie
Lexikon, Begriffe und Definitionen, Stuttgart, 1996, S. 568.
12
Hegel bezieht sich darauf, dass der „Weltgeist“ drei Stadien durchläuft und sich in dessen Phäno-
menen zeigt. Dabei ist das erste Stadium die Kunst, dem folgt die Religion und danach bezieht der
„Weltgeist“ das Feld der Philosophie mit ein. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung
über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 132 – 136.
13
„Der „Weltgeist“ überwand die kunstlose Starre der Frühzeit, indem er fortschritt über das Gebirge
von Balutschistan, hinunter an den Indus. Hier entfaltete der Geist seine erste künstlerische Gestalt.
[…] Die ersten Gehversuche des Geistes in der Fremde außerhalb seiner selbst fielen allerdings…
sarah rieder

die Trauer. Hegel verlegt den Schau- widersetzten sich vier Theoretiker
platz des Weltgeistes nun auf das Ge- der Kunst ihrer Zeit. Auf der einen
biet der Philosophie und lehnt die Seite stehen Max Nordau, Oswald
Kunst, als Interessensfeld des Welt- Spengler, Hans Sedlmayr und Ge-
geistes, zukünftig komplett ab. Das org Lukács, auf der anderen Seite die
imaginäre Museum endet somit bei Kunst der Avantgarde zu Beginn des
der Romantik. Damit schließt sie al- 21. Jahrhunderts. Gleich den vier
lerdings weitere Räumlichkeiten aus apokalyptischen Reitern ziehen sie 147
und versperrt allem, was nach der in den Kampf gegen die Moderne.
Romantik kommt, die Türe. Sie haben sich die Vorwürfe, welche sie
gegen diese Form der Kunst richten,
Hegels Geschichtsphilosophie auf ihre Fahnen geschrieben: „Ent-
wurde als imaginäres Museum rekonst- artung“, „Untergang“, „Verlust der
ruiert. Museal ist seine Ästhetik, da die Mitte“ und „Dekadenz“. Diese Vor-
Gegenwart von der Geschichte abge- würfe entlehnt Beat Wyss aus ihren
spalten wird. Aufnahme in das Museum Streitschriften, und benennt die Un-
fi ndet nur, was sich durch die Aura der terkapitel des zweiten Hauptkapitels
Vergangenheit und durch gesellschaftli- nach den Werken ihrer Autoren.
chen Konsens bestätigt hat. Das Uner- Die Argumentationsstruktur hat sich
wartete und noch nicht Gesichtete hat in diesem Kapitel jedoch zum voran-
keinen Platz in diesem Kunstbegriff. So gegangen stark verändert. In „Eine
staut sich am Museum das Abgewiesene; unheilige Allianz“ nutzt Wyss kaum
vor dem Hintergrund geschichtsphilo- noch die Analepsen, welche so kenn-
sophischer Borniertheit formiert sich zeichnend für seinen Spaziergang
im fortschreitenden 19. Jahrhundert durch das imaginäre Museum war.
der salon des réfusés.18 Stattdessen arbeitet sich Wyss direkt
an den Anklagen der Autoren ab.
Hier fi ndet sich der Übergang zum Wyss portraitiert dabei die jeweiligen
zweiten Hauptkapitel des Buches. Autoren und ihre Zeit, damit ihre
In „Eine unheilige Allianz“ wird Klagen gegen die Moderne verständ-
deutlich, dass nicht nur Hegel an den licher werden. Dabei beleuchtet er das
Abgesang der Kunst glaubt. Doch jeweilige Umfeld der Schriftsteller
während der Philosoph dies auf die und ihre Haltung zur Moderne. Aus
Zeit nach der Romantik bezieht, diesem ergibt sich wieder ein Narrativ,

…recht sonderbar aus. Er stürzte sich in das Meer der Sinnlichkeit und erprobte daran seine Kraft.
Die natürlichen Gebilde, in denen er sich anschaute, zeigten alle Maßlosigkeit der Erfindung.
Menschliche und tierische Formen wurden willkürlich gemischt. […] Kein Zweifel: Der „Weltgeist“
hatte, in seinem durchaus redlichen Bemühen, sich in der Natur zu entäußern, über das Ziel
hinausgeschossen.“ Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997
[1985], S. 19.
14
Wyss betont dabei, dass dieses Schicksal nicht nur die Kunst alleine trifft, sondern generell die
bildenden Künste. Dabei hebt er hervor, weshalb die Musik – ihre Botschaften seien zu unbestimmt
und dazu verdammt von der „stummen Unendlichkeit stets verschluckt“ zu werden – sowie die
Poesie – die nur aus Traum und Phantasie zu bestehen schien – ebenfalls für den „Weltgeist“…
beat Wyss

jedoch ist Wyss verstärkt an den The- verqueren Vernunft zum Opfer fiel.
sen der Ankläger interessiert. Wyss Bei allen vier Autoren macht Wyss
zeigt anhand dieser vier Autoren, dass allerdings die geschichtsphilosophi-
die Kunst der Avantgarde Feinde aus sche Ästhetik als Kern des Übels aus.19
unterschiedlichen Lagern hatte.
Während Nordau als ausgebildeter
Mediziner sowohl die Naturwissen-
148 schaft, als auch seinen Glauben an Transformation der
den Fortschritt ins Feld führte, sah narration
Spengler dagegen die Kunst mitsamt
der Zukunft unweigerlich untergehen. Hegel dachte, über seine Zeit
Sedlmayr, als gläubiger Katholik, wölbe sich die Abendröte. Der Mensch
kritisierte die Maßlosigkeit und das war mit seiner Geschichte alt geworden
Chaos der Kunst, hingegen nicht die und konnte jetzt auf ein langes Tagwerk
Taten der Nationalsozialisten, wäh- zurückblicken. In der Dämmerung lag
rend der Marxist Lukács den Künst- vor ihm, ausgebreitet in der Ferne von
lern Narzissmus und Selbstsucht Jahrtausenden, eine vollständige Samm-
vorwarf. lung der Weltkunst. Jedes Werk stellte
Wyss führt genau auf, wie die Moderne eine versteinerte Form des Bewu[sstseins
Kunst unter Beschuss geriet, wobei dar, welches die Menschheit zurückge-
er aber auch die Schwachstellen eben lassen hatte auf ihrer langen Wanderung
dieser Vorwürfe aufdeckt. zu sich selbst. Die Kunst aller Zeiten und
Im letzten Kapitel stellt Wyss noch- Völker war im Begriff sich abzurunden
mal die Ansichten und die Motivation zum Korollar des sich wissenden Geistes.
der Kritiker einander gegenüber. Er Dieser Geist war zuletzt wohnhaft gewe-
vergleicht die Aussage Hegels und sen in Am Kupfergraben 4 in Berlin; hier,
positioniert ihn und seine These im in Hegels Arbeitszimmer, endete die Pro-
Kontrast zu den Verweigerern der zession der Weltgeschichte.20
Moderne. Der Autor stellt dabei klar,
dass Hegels Entscheidung gegen die Bereits der Anfang von Trauer der Voll-
Kunst und für die Philosophie aus endung ist in Wahrheit ein Abschied.
der Vernunft geboren wurde. Wyss stellt in seinen ersten Zeilen
Im Gegensatz dazu wird bei den vier nicht nur Hegel, sondern ebenso
Autoren klar, dass die Kunst ihrer dessen Konstrukt, den Weltgeist vor.

…ungeeignet waren. Vgl. Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln,
1997 [1985], S. 139, 140.
15
„So war bei den Griechen z.B. die Kunst die höchste Form, in welcher das Volk die Götter sich
vorstelle, und sich ein Bewusstsein von der Wahrheit gab.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 132 – 136.
16
Dabei argumentiert er, dass zum einen die Romantik aufgrund ihres Fokus auf das Gefühl und
nicht auf den Verstand, dem „Weltgeist“ unwürdig sei. Zudem hätte der „Weltgeist“ bei seiner Reise
durch die Zeiten bereits seine ideale Behausung gefunden: Die Antike war für Hegel die Zeit der
vollendeten Kunst. Aber die Betonung liegt auf „war“. Die Kunst zur Zeit Hegels kann dem
„Weltgeist“ nichts mehr bieten. Der „Weltgeist“, welcher geformt, gebildet und geschärft werden…
sarah rieder

Jedoch tritt darin sowohl Hegels der Leser dem Architekten Beat Wyss
Weltbild, als auch seine Haltung zu zunächst durch dessen Bau und be-
Tage. Hegel war der Überzeugung, staunt dabei, wie scheinbar mühelos
dass sich die Zivilisation seiner Zeit es dem Autor gelingt, Zeit und Raum
auf dem absoluten Höhepunkt be- zu überwinden. Dazu muss der Leser
fand. Von dort aus konnte es nur noch noch nicht einmal das Museum be-
in eine einzige Richtung gehen: Ab- treten haben:
wärts. Dem Verfall der Kultur sah 149
Hegel ins Auge, denn er sah ihn schon „Wie die Eule erst bei einbre-
lange kommen. So ist sein Abgesang chender Dämmerung ihren Flug beginnt,
auf die Kunst ebenso unausweichlich so schwangen sich Hegels Gedanken vor
wie endgültig.21 der aufziehenden Nacht über die Dä-
Doch hatte Hegel Recht? Ist die cher von Dorotheenstadt. Unter ihm
Kunst tatsächlich verloren? sanken die Humboldt-Universität und
Wyss wird sich in den kommenden das Schlo[ss] an der Spree zurück in die
340 Seiten der Beantwortung dieser Überschau, welche immer weiter sich
Frage stellen. Dabei rechnet er ganz dehnte, im Westen über die Festung von
genau, legt Belege und Beweise vor Spandau hinaus, bis diese sich jetzt als
und baut sich aus diesen schlussend- unbedeutender, brauner Fleck in der mär-
lich ein Museum. Dieses soll der letzte kischen Ebene verlor. Die Prosa der Ge-
Prüfstein Hegels sein. Wird der Gang genwart schwand für Augenblicke, wäh-
durch das Museum sein hartes Urteil rend der Geist des Philosophen die Reise
gegen die Kunst rechtfertigen? zurück durchflog. Was den Gang der Ge-
Als weiteres Beweisstück kann der schichte nur blind und dringend vorange-
Weltgeist gesehen werden. Dieser re- trieben hatte, sollte als umfassende Rück-
agiert auf die unterschiedlichen Phä- schau im Wissen aufbewahrt werden.
nomene, nimmt deren Formen an, Unter den kräftigen Flügelschlägen von
stößt sie wieder ab und sucht sich ei- Minervas Wappentier zogen in der Tiefe
nen neuen Wirt. Und doch wird sich die Kulturlandschaften vorbei: das Abend-
ganz zum Schluss zeigen, dass die land, die Antike, der Orient. Der Flug
Kunst, obwohl sie mächtigen Gegen- führte nach Osten, denn dahin wiesen
wind ausgesetzt war, nicht zu Grabe die Spuren der Wanderung. Wo das Licht
getragen werden muss. aufging, hatte auch die Menschheit ihren
Bis dieses Urteil aber feststeht, folgt Anfang genommen. Dem Lauf der Son-

…will, kann sich nicht mehr an der Kunst abarbeiten.


17
Das Alte Museum in Berlin kann strukturell als das Vorbild des imaginären Museums gesehen
werden. Dort gelang es „die geschichtsphilosophische Konstruktion der Kunst mit der normativen
Ästhetik des Klassizismus“ zu vereinen. Beat Wyss: Trauer der Vollendung, S. 152. Dies konnte
durch die Architektur gelöst werden. Im unteren Stockwerk fanden sich die Skulpturen im oberen
Stockwerk die Malerei. In der Rotunde fanden sich dagegen die schönsten Stücke der Antike. Vgl.
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 152 – 154.
18
Ebd., S. 147.
19
Vgl. Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 334.
20
Ebd., S. 15 f.
beat Wyss

ne war sie schließlich gefolgt nach Wes- Der Geist entsagt dem hier und jetzt.
ten: Den Gang von Morgen nach Abend Er wendet sich der Vergangenheit zu
nannte Hölderlin die Reise des Weltgeistes und fl iegt von Berlin aus Richtung
durch die Geschichte.“22 Osten, wo Wyss den Ursprung der
Menschheit verortet. Doch die Reise
So markiert allein der Beginn der des Weltgeistes hat dort nicht ihr
Reise die Wandlungskunst, welche den Ende gefunden.
150 ganzen Text durchzieht. Anhand des Einem Zirkelschluss gleich, reist der
Textausschnittes wird eine doppelte Geist mit der Sonne zurück nach
Wandelbarkeit deutlich: Einerseits Westen, um dort wieder zu seinem
zeigt es den Transformationsvorgang, Ausgangspunkt zurückzukehren.
dem der Weltgeist unterworfen ist und Die umfassende Rückschau im Wissen ge-
anderseits zeigt es auf, wie innerhalb staltet sich als ein beständiges Rei-
der verschiedenen Zeiten und Räu- sen, von der Vergangenheit in die Ge-
me interagiert wird. Der Weltgeist genwart, von Europa über die Antike
zeigt sich in unterschiedlicher Form. in den Orient und wieder zurück.
Dabei wird zuerst auf die Eule, das Anhand dieses Abschnittes wird die
Sinnbild der Weisheit, zurückge- erste Narration sichtbar: Diese ver-
griffen. Diese wird mit Hegels Ge- folgt die Reise Hegels und dessen
danken gleichgesetzt, da beide erst Weltgeistes. Darum, was Letzteren aus-
zu Beginn der Nachtzeit ihren Flug macht und wie dieser sich transfor-
in die Vergangenheit antreten. Der miert. Es wird deutlich, dass sich nicht
Weltgeist ist allerdings ein Konstrukt nur der Weltgeist beständig neu aus-
Hegels, weshalb er automatisch mit richtet, ebenso passt sich der Text
dessen Gedanken gleichzusetzen ist. Wyss’ Rhetorik an. Rückbezügliches
Dies zeigt sich am Ende recht deut- wird aufgegriffen, nur um diesen As-
lich, wenn sich aus dem Gedanken- pekt wieder für den Sprung in das
flug der Weltgeist herausschält. „Jetzt“ zu verlassen. Diese Form der
Die dreifache Transformation des Verquickung des „Altem“ mit dem
Weltgeistes ist jedoch nur in der Inter- „Neuen“ tritt insofern zum Vorschein,
aktion mit anderen Zeiten und Räu- als Hegel, samt Weltgeist, das imaginäre
men möglich. So setzt sich der Geist Museum betreten und ihren Gang
in Bewegung, hinfort aus Berlin, über durch dieses vollziehen. Hier beginnt
das die Dämmerung hereinbricht. sich die zweite Ebene der Erzählung

21
„Mit den Ausbildungsarten der Komödie sind wir jetzt an das wirkliche Ende unserer
wissenschaftlichen Erörterung angelangt. Wir begannen mit der symbolischen Kunst, in welcher
die Subjektivität sich als Inhalt und Form zu finden und objektiv zu werden ringt; wir schritten zur
klassischen Plastik fort, die das für sich klar gewordene Substanzielle in lebendiger Individualität vor
sich hinstellt, und endeten in der romantischen Kunst des Gemüt[.]s und der Innigkeit mit der frei
in sich selbst sich geistig bewegenden absoluten Subjektivität, die, in sich befriedigt, sich nicht mehr
mit dem Objektiven und Besonderem einigt, und sich das Negative dieser Auflösung in dem Humor
der Komödie zum Bewu[ss]tsein bringt. Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur
Auflösung der Kunst überhaupt.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 579 f.
sarah rieder

zu entwickeln, indem Wyss die Werke punkt. Sie ist nicht allein das Binde-
aus der Kunstgeschichte zu Expo- glied zwischen morgenländischer und
naten stilisiert. Diese Exponate wer- antiker Kultur, sondern lauert auch
den untereinander in Verbindung ge- auf der Schwelle innerhalb des ima-
setzt. Ein sehr schönes Beispiel hier- ginären Museums. Dort überwacht
für ist die Sphinx. Ursprünglich dem sie den Übergang ebendieser Räu-
Reich der Ägypter zugehörig, greift me. Die Überkreuzung der Phäno-
Wyss sie im Zusammenhang mit der mene und das Einweben dieser in ver- 151
Sage des Ödipus wieder auf. schiedenen Epochen stärken Wyss
Narration. Sie haben überdies die
Die Begegnung des Helden mit dem Funktion als Vergleichsbeispiele zu
Ungeheuer beschreibt er anhand der dienen. Die Verklammerung aus die-
Gemälde von Gustave Moreau von sen unterschiedlichen Objekten ist
1864 und von Jean Auguste Domi- äußerst bedeutsam, bedeutsamer je-
nique Ingres aus dem Jahr 1808. denfalls als die einzelnen Objekte
selbst.
Die Bilder selbst werden nicht ein- Falls Wyss nun ein Objekt näher be-
gehend analysiert und beschrieben. schreibt, so geschieht dies nie aus
Stattdessen nutzt der Autor die Bilder einer „klassischen“ kunstgeschicht-
um seine Narration zu stärken. Die lichen Bildbetrachtung. Auch hier
Sphinx, welche zuvor bei den Ägyp- lässt sich die Sphinx heranziehen:
tern Erwähnung fand, ist für Wyss
ein Relikt. Sie wird wieder aktiviert, Gustave Moreau hat in einem
um die Verbindung zwischen der Gemälde den Moment festgehalten, wo
Epoche der Ägypter und der Griechen das Rätsel aufgebende Ungeheuer den
zu versinnbildlichen. Ihre Rolle als Wanderer angesprungen hat.
wegversperrendes Monstrum wird al- Als quälender Nachtmahr sitzt sie dem
lerdings nicht allein durch die Sage Menschen auf der Brust. ‚Wer ist es, der
des Ödipus aufgegriffen: Die Sphinx morgens auf vier Beinen geht, mittags
fungiert ebenfalls als Hüterin im ers- auf zweien und abends auf dreien?’
ten Raum des Morgens, welche den Noch während des Fragens wird die
Übergang hin zum nächsten Raum Sphinx von der Gewi[ss]heit ihrer magi-
überwacht.23 Damit wird die Sphinx schen Stärke verlassen; sie liest aus dem
zum doppelten Dreh- und Angel- forschen Blick des Ödipus, da[ss] dieser

22
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 15 f.
23
„Als letztes Standbild morgenländischen Dämmergeistes kauerte die Sphinx am Ausgang: An ihr
mu[ss]te vorbei, wer in den helleren Raum dahinter gelangen wollte. Die Sphinx versperrte mit ihren
Rätselfragen den Zutritt zur klassischen Antike.“ Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der
Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 24.
beat Wyss

das Rätsel lösen werde. Schon buckelt mächtigt sich ihrer. Nicht ihre kunst-
sie sich zum Sprung, um in der Fels- historische Bedeutung fließt in Wyss‘
schlucht zu zerschellen. […] Text ein, sie dienen ihm lediglich da-
Doch war nur Ohnmacht mythischer zu, seine Argumentation noch mehr
Vorwelt zu lesen im Gesicht der Sphinx? zum Scheinen zu bringen.
Lag in der Blässe nicht auch das Grauen Damit er die Kunstwerke entspre-
über die Zukunft von Ödipus? Buckelte chend für sich nutzen kann, muss er
152 sich ihr Katzenleib nicht zur Beschwö- sie zuerst sprachlich bändigen. Dies
rung? Halt inne, Wanderer! Löse das gelingt ihm durch seinen Schreib-
Rätsel nicht!24 stil, der sehr literarisch, stellenweise
fast schon blumig ist.
Kein Wort über die künstlerische
Strömung, den Duktus oder die Kom- Wyss [.] schneidert seine eige-
position. An dieser Textstelle wird nen quasi-literarischen Textkleider, die
deutlich, dass Wyss‘ Betrachtungen er über die Bilder hängt.25
nicht werkimmanent ausgerichtet
sind. Stattdessen: Verheißungen, Ver- Jedes Kunstwerk wird damit kunst-
mutungen, Vorhersehung. voll in Wyss‘ sprachlichen Maßanzug
Das Kunstwerk dient nur zur An- eingewoben, ganz im Stile des Meis-
regung und zur Anschauung. Es ist ters. Hervorzuheben ist, dass dieses
die Oberfläche unter der sich Wyss‘ Offenlegen der Sprache gewollt ist.
Text aufspannt. Schließlich legt er Nur dadurch wird die Konstruktion
einen ganz anderen Kontext in das des Textes offenbart und kenntlich
Bild hinein. Er nutzt die Elemente gemacht. Und nur dadurch wird dem
des Bildes lediglich, um daraus seine Leser die übergeordnete Wahrheit
eigene Erzählung zu konstruieren. des Textes zuteil: Alles ist nur eine
Dadurch wird eines deutlich, nämlich große Konstruktion. Aber ist dies da-
dass die Werke an sich für den Autor mit zugleich ein großer Schwindel?
nicht sonderlich relevant sind. Sitzt der Leser Wyss auf, blendet er
Er hätte genauso gut ein anderes diesen mit seinen sprachlichen Kunst-
Kunstwerk wählen können, um seine stücken? Die Antwort ist Nein.
Mentalitätsgeschichte entfalten zu Wyss entblößt nur eine Wahrheit, die
können. Dazu eignet sich Wyss die generell für alle Texte und darüber
Kunstwerke sprachlich an und be- hinaus ebenfalls für die Historie an

24
Ebd., S. 24, 27.
25
Jürgen Stöhr: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss,
Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: 2014, S. 20.
sarah rieder

sich gilt: Alles beruht auf Konstruk- Durch dieses schafft es Wyss einzelne
tion, auf der „Gemachtheit“ der Din- Werke und Epochen miteinander zu
ge. Wann immer Geschichte erzählt verknüpfen und damit ein Beweis-
wird, so wurde sie nicht universell mittel für die „Gemachtheit“ seines
festgelegt, nicht in Stein gemeißelt Textes sowie der Kultur darzustellen.
und nicht für die Ewigkeit beschwo- „Wyss Texte sind zu schön, um ganz
ren. Geschichte und Historie, und dies "ehrlich" zu sein.“26 Doch welche
gilt für die Kunstgeschichte, genauso Texte können dies schon für sich be- 153
wie für andere geisteswissenschaftli- anspruchen - ganz ehrlich zu sein?
che Disziplinen, sind Konstrukte, die Hier sei hervorzuheben, dass dies so-
in ihrem Ablauf logisch erscheinen. wohl für Texte als auch für die Kunst
Seine Sprache erweckt nicht nur den selbst gilt. So betonte Hegel, dass die
Text zum Leben, sondern lässt ebenso Täuschung, welche immer einen be-
Rückschlüsse auf dessen Machart zu. stimmten Anteil der Kunst ausmache,
Wyss macht deutlich, dass Kultur sich nicht von dieser trennen lässt:
nicht etwas Fixiertes und Unumstöß- „Denn das Schöne hat sein Leben in
liches ist. Er zeigt auf, dass Kultur, dem Scheine.“27
genauso wie Geschichte, ein Narrativ Auch das zweite Hauptkapitel von
in sich trägt. Ein Narrativ, welches Trauer der Vollendung zeigt, wie gut es
konstruiert ist. Dies ist insbesondere Wyss versteht, seine Texte auf Hoch-
bemerkenswert, da die Geschichte glanz zu polieren. In diesem Teil be-
selbst gerne einen Anspruch auf Fak- handelt er die Unheilige Allianz, wel-
tizität und vor allem auf Richtigkeit che sich dem Urteil Hegels anschließt,
erhebt. Trauer der Vollendung beweist dass nach der Zeit Goethes keine ver-
dagegen, dass Kultur sich nicht allein nünftige Kunst mehr entstanden sei.
durch historische Fakten bestimmen Stattdessen sei die Kunst des Abend-
lässt, sondern von jeher ein Produkt landes dem Untergang geweiht (so
der Imagination und Narration ist. Spengler), da sie zunehmend Pro-
Dies wird gerade im ersten Hauptka- dukte kranker Gehirnen sei (Nordau)
pitel „Hegels letzter Gang durch ein oder die Künstler entweder den Glau-
Museum“ veranschaulicht. ben an Gott (Sedlmayr) verloren ha-
Somit birgt das Konzept des Muse- ben, bzw. sich in ihrer Selbstsucht
ums ein zwar komplexes, allerdings und narzisstischen Neigungen (Lu-
ein äußerst wirkungsvolles Potenzial. kács) gänzlich verlieren.

26
Jürgen Stöhr: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss,
Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: 2014, S. 32.
beat Wyss

Um die einzelnen Anklagen besser brauchte niemand zu wissen. Spengler


zu verstehen, porträtiert Wyss die zelebrierte seine Glatze mit derselben
Autoren, sowie deren sozialen Hin- Eitelkeit wie Mussolini, den er schätz-
tergrund. Dabei geht er zum einen te, und wie Tommaso Marinetti, der
auf die Biographie und zum anderen Futurist, mit dem er – wohl ohne ihn
auf den zeitgeschichtlichen Kontext zu kennen – im Geist verwandt ist. Den
ein. So schafft er es, die Personen und Kahlkopf pflegte Spengler seit 1911, als
154 ihre Schriften dem Leser näher zu er nach Mutters Tod seinen Bart ab-
bringen, wie das folgende Beispiel scheren ließ. Den epochalen Wechsel
zu Spengler veranschaulicht. in der Haartracht hat er damit schon
früh vollzogen; allgemein geschieht die
Wie in seiner Sprache prä- Modernisierung der Männlichkeit erst
sentiert sich Spengler in den fotographi- im Lauf des ersten Weltkriegs. Der
schen Porträts. Das bekannteste zeigt wilhelminische Soldat rückt noch ein
ihn sitzend aus einer Blickposition, die mit dem gezwirbelten Schnauz und der
den Betrachter in die Froschperspekti- Spitzhaube, was ihm das Aussehen eines
ve zwingt. Die aufgetürmte Leibfülle Opernhelden verleiht. Die Monate und
wird zugeknöpft von einem Gehrock. Jahre im Dreck der Schützengraben zwin-
Darüber thront ein Haupt mit kahlem gen zur neuen Sachlichkeit: Nicht das
Schädel, die Augen über uns hinweg Siegfriedsidyll, sondern das Knattern
gerichtet: in die absehbare Ferne des der Maschinengewehre; nicht Schwa-
Untergangs. Eine Büste von Fritz Behn nensee, sondern die U-Boot-Flotte in
aus dem Jahr 1928 zeigt Spenglers offi- eisgrauer Gischt; nicht Richard Wagner,
ziellen Gesichtsausdruck: Zwei wulstige sondern Ernst Jünger bestimmen jetzt
Stirnbögen fassen ein mitleidslos-kaltes die Ästhetik des männlichen Schneids. 28
Augenpaar; die schmalen Lippen sind in
Bitterkeit erstarrt. Behn, der Spezialist
für Raubtierplastik, hat den Kulturpes-
simisten dargestellt als einen stierna-
ckigen Gewalttäter. Spengler dürfte es Kontextualisierung
geschmeichelt haben; er schätzte es, für Historische Kontextualisierung
abweisend und böse zu gelten. Da[ss]
sich dahinter ein Mensch verbarg, der Trauer der Vollendung zählt zu den neu-
scheu war, unsicher und sehr einsam, eren Texten, welche sich in diesem

27
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s
Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 7.
sarah rieder

Reader fi nden. Bemerkenswert ist, sein, dass Hegels Absage an die Kunst
dass dieser Text sich nicht als „klas- eine rege Debatte unter Künstlern
sischer“ Text zur Kunstwissenschaft und Kunstwissenschaftlern auslöste.
versteht. Besonders deutlich wird dies Fest steht, dass das Ende der Kunst
daran, dass das Werk mit einem der nicht von Hegel „erfunden“ wurde.
elementarsten Grundzüge der Kunst- Schon die Römer sahen in der eigenen
wissenschaft bricht: Dem Fokus auf Kunst einen Rückschritt. Sie trauer-
das Kunstwerk. ten – genau wie Hegel später – dem 155
Stattdessen wird die Kunst in einem Können der Griechen hinterher.31
philosophischen Kontext behandelt. Obwohl die Kunst des Öfteren abge-
schrieben wurde, war kein Abschied
so wirkmächtig wie der Hegels.
Wyss war dabei nicht der Erste, der So hat seine „These [.] vor allem die
einen Philosophen ins Feld der Kunst Frage nach den Möglichkeiten der
schickte. ‚Kunst nach der Kunst’ provoziert.“32
Bereits 1925 unternahm Erwin Pa- Dass nun Wyss diese These aufgreift
nofsky in seinem Aufsatz: „Über das ist keine große Innovation, wie er dies
Verhältnis von Kunstgeschichte und aber tut, ist innovativ. Er nutzt Hegels
Kunsttheorie“ den Versuch, die The- Aussage als Kerngerüst, um darum
orien eines Philosophen für die Kunst seine Auslegung der Kunstwissen-
fruchtbar zu machen. Für dieses Un- schaft aufzubauen. Die bisherigen
ternehmen stand Kant, samt seiner Systeme greifen dem Schweizer alle
transzendentalen Erkenntnis, Pate.29 zu kurz. Weder will er, wie Kemp, den
Betrachter verordnen, was dieser zu
[Panofsky] versuchte damit eine sehen hat, noch will er die Phänme-
Brücke zu schlagen zwischen Forma- ne durch bestimmte Blickwinkel re-
nalyse und Ikonographie, die er später duzieren. Die Einschränkung auf eine
kaum noch benutzte und die, überwach- Sichtweise schließt ihm zu viele an-
sen vom Gestrüpp gegenseitiger Nicht- dere aus.33 Wyss will die „Kunstge-
beachtung, in Vergessenheit geriet.30 schichte als Mentalitätsgeschichte“34
aufgreifen, weshalb ihm ein möglichst
Im Gegensatz zu Panofsky hat Wyss breites Spektrum bedeutsam ist, um
mit seinem Protagonisten mehr Er- Entwicklungen und Veränderungen
folg. Dies könnte darin begründet entsprechend nachzuspüren.

28
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 259 f.
29
Vgl.: Wyss, Beat (1996): Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne.
Köln: DuMont, S. 80.
30
Ebd., S. 80. An dieser Stelle wird recht deutlich, wie Beat Wyss noch immer über die Verbindung
von Philosophie und Kunst in der Wissenschaft denkt. Auch elf Jahre nach „Trauer der
Vollendung“ wird diese Verbindung, wenn nicht schon abgelehnt, so doch stark vernachlässigt.
beat Wyss

Da Wyss diesen speziellen Anspruch Wegweiser für die Kunstgeschichte


verfolgt, fällt es schwer Vorgänger einzusetzen. Die Differenzen zwi-
oder Vorbilder diesbezüglich zu schen Kunstgeschichte und Philo-
verorten. sophie schienen zu groß zu sein.
Wobei anscheinend eine gegenseiti-
ge Ablehnung feststellbar ist. „Ein
Einordnung in die Wissenschafts- Desinteresse für Philosophie wird
156 landschaft der Zeit von der Kunsthistorik oft noch heute
mit koketten Hemdsärmeligkeit zur
Die Tatsache, dass Wyss‘ Trauer der Schau getragen.“37 Dagegen gehörte
Vollendung als Habilitationsschrift es für manche Kunsthistoriker zum
abgelehnt wurde, belegt sehr klar, guten Ton, eine starke Abneigung
dass dieser Text anfangs gar keinen gegen die Philosophie und damit ge-
Einzug in die Wissenschaft erhalten gen Hegel zu haben, galt er und des-
sollte. So zumindest, wenn es nach sen Schüler „als politisch radikal“.38
der Kommission ging, welche die Die Abstufung, die die Kunst und
Schrift ablehnte. Wyss hatte seinen damit die Kunstgeschichte durch die
Text an der philosophischen Fakultät Kritik des Philosophen Hegels er-
der Universität Zürich eingereicht. halten hatte, scheint bis in die heutige
Die Arbeit wurde anfangs abgelehnt, Zeit nachzuwirken und ein Konkur-
da es ihr anscheinend an Fußnoten renzverhältnis zwischen Philosophie
gemangelt hätte.35 Da diese Begrün- und Kunst aufrechtzuerhalten.
dung ein wenig wackelig erscheint, Neben der interdisziplinären Aus-
stellt sich die Frage, weshalb Trauer richtung weist das Werk sich durch
der Vollendung auf so wenig Gegen- seine Mentalitätsgeschichte aus, die
liebe bei den Gelehrten stieß. so in der Kunstgeschichte noch kein
Beat Wyss nimmt dazu sowohl im Echo gefunden hat und sich deswe-
Vorwort, als auch im Nachwort zur gen schwer in eine bestimmte Schu-
dritten Auflage Stellung.36 Es muss le oder Richtung unterordnen, bzw.
den Prüfern der Kommission als un- einordnen lässt.
möglicher Affront vorgekommen zu
sein, allein Hegel wieder auf das Ta-
bleau zu bringen und diesen, mit sei-
nen kunstkritischen Äußerungen, als

31
Vgl.: Regine Prange: Ende der Kunst, S. 104, in Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon
Kunstwissenschaft, Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart, 2011.
32
Ebd., S. 105.
33
Vgl.: Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne. Köln, 1996 [1996]
S. 84 f.
34
Ebd., S. 86.
35
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 357.
sarah rieder

Inhaltliche Einordnung Das Interesse am Weltgeist und an He-


gels Ausführungen schlägt sich dabei
Neben dem Erstling Trauer der Voll- häufig in seinen Aufsätzen nieder.
endung (1985) stammen fünf weitere
Bücher aus der Feder von Beat Wyss:
Der Wille zur Kunst (1996), Die Welt als Methodische Kontextualisierung:
T-Shirt (1997), Vom Bild zum Kunstsystem Programm des Autors
(2006), Nach den großen Erzählungen 157
(2009) und Bilder von der Globalisierung In Trauer der Vollendung kommt Wyss‘
(2010). Auffallend ist, dass die ersten Form der Mentalitätsgeschichte zum
beiden Bücher in sehr kurzer zeitli- ersten Mal zum Tragen. Dieser Be-
cher Abfolge entstanden, während die griff fi ndet sich jedoch erst in seinem
letzten drei ebenfalls innerhalb von zweiten Buch: Der Wille zur Kunst.
nur drei Jahren aufeinander folgten. Dies ist nicht die einzige Verbindung.
Beat Wyss beschäftigte sich zudem Wyss arbeitet sich in Trauer der Voll-
in zahlreichen Aufsätzen mit unter- endung zum ersten Mal mithilfe eines
schiedlichen Phänomenen. So inte- Philosophen an der Kunstgeschichte
ressiert er sich innerhalb der Kunst ab, jedoch wiederholt er dieses Prin-
für verschiedene Epochen, beispiels- zip elf Jahre später in Der Wille zur
weise für die Renaissance, die Ro- Kunst. In diesem Werk strafft er den
mantik oder die Moderne, aber auch zeitlichen Rahmen deutlich und un-
für unterschiedliche Denker und The- tersucht, inwiefern die Moderne durch
orien. Dabei greift Wyss bestimmte die Künstler des 19. Jahrhunderts ge-
Theorien oder Epochen auf und be- prägt wurde. Er konzentriert sich da-
trachtet diese auf vielschichtige und bei auf den Zeitraum von 1870 bis
unkonventionelle Weise. Ein weiteres 1950, die damalige Kunstszene und
Interessensgebiet ist die Ästhetik. die dafür prägenden Künstler. Ge-
So behandelt er in seinen Aufsätzen nau wie in Trauer der Vollendung steht
auch die Art und Weise, wie gesehen ihm bei seinen Betrachtungen ein
wird, wer sieht und was gesehen wird. Philosoph zur Seite. Diesmal ist
Darüber hinaus hat der Autor ein reges es Schopenhauer und sein Begriff
Interesse an Architektur und ihrer des Schaffens, die mit der Kunst des
Wirkung. Zudem lieferte er zahlrei- 19. Jahrhunderts zusammengeführt
che Beiträge für Ausstellungskataloge. werden.

36
Wie sehr sich Wyss nun gegen die damalige Meinung behaupten musste und wie stark der
Gegenwind damals war, lässt sich nicht mehr durch Quellen belegen. Weder auf der Website des
Instituts für Philosophie noch auf der Website der Universität Zürich lässt sich etwas diesbezüglich
finden. Dies ist natürlich verständlich, da vermutlich niemand gerne einen internen Zwist öffentlich
machen möchte. Was jedoch auffallend ist, ist die Tatsache, dass „Trauer der Vollendung“ bei
DuMont erschienen ist. Der Verlag ist kein „typischer“ Ansprechpartner, wenn es um
wissenschaftliche Arbeiten geht, wollte sich aber in diesem Gebiet, u.a. mit Wyss‘ Erstling besser
behaupten.
37
Vgl.: Wyss, Beat (1996) [1996]: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne.
Köln: DuMont, S. 80.
beat Wyss

Die Mentalitätsgeschichte manifes- älteres Phänomen erklärt, indem es


tiert sich bei Der Wille zur Kunst nicht mitsamt seinen postkolonialen As-
in einem imaginären Museumsbau. pekten im Bezug zur Weltausstel-
Stattdessen arbeitet Wyss verstärkt lung in Paris 1889 aufgegriffen wird.
mit Vergleichen, indem er unter an- Dieses Mal bezieht sich Wyss auf das
derem Heidegger und Mondrian in ei- zur Weltausstellung erschienen Be-
nen Bezug setzt. Bezüglich seiner an- gleitheft und spannt durch das „Jour-
158 deren Monografien widmet sich der nal de l’Exposition universelle“ seine
Autor nun nicht mehr der Kunst al- Mentalitätsgeschichte auf. Daran wird
lein, sondern auch künstlerischen Pro- deutlich, dass Wyss unterschiedliche
dukten und den dahinterstehenden Inspirationsquellen nutzt und an-
Theorien. So werden in Die Welt als hand diesen (und Kraft seines sprach-
T-Shirt teils ganz gewöhnliche All- lichen Könnens) seine Form der Men-
tagsprodukte genauer untersucht. talitätsgeschichte entwickelt.
Diese werden zu den Stellvertretern
ihrer Epoche stilisiert. Dabei beleuch-
tet Wyss, weshalb diese Produkte,
wie etwa die Schreibmaschine oder
das T-Shirt, den „Geist“ ihrer Zeit Relevanz als Schlüsseltext
innehaben. Im Folgewerk Vom Bild Zeitgeschichtlich
zum Kunstsystem verlegt sich der Autor
von Produkten und Kunstwerken Trauer der Vollendung gewinnt seinen
auf die Theorien der Kunst. Reiz durch die Offenlegung der Text-
Dabei untersucht Wyss die Kunst aus struktur. An dieser wird deutlich, wie
der Sicht von systemtheoretischen sehr nicht nur Texte, sondern ebenso
Perspektiven. Konkret verknüpft er Konstrukte wie die Kunstgeschichte,
drei Theorien miteinander: Charles Historie, (oder besonders kritisch) die
S. Peirces Semiotik, Sigmunds Freud Realität „gebaut“ sind.
Psychoanalyse und Niklas Luhmanns Beat Wyss‘ geschichtskritischer An-
Systemtheorie. Seine bisher letzte Mo- satz ist gerade in der heutigen Zeit,
nographie Bilder von der Globalisierung welchem der Vorwurf des Postfakti-
widmet sich einem Thema, welches schen anhaftet, sehr aktuell.
recht aktuell erscheint. Jedoch wird
hier die Globalisierung als ein weit

38
Beat Wyss: Das Museum des Weltgeistes, in: Grave, Johannes/Locher, Hubert/Wegner, Reinhard
(Hg.): Der Körper der Kunst, Göttingen, 2007, S. 163 f.
sarah rieder

Dennoch ist es ein Text, dem schein- Wyss distanziert sich somit von der
bar nur sehr wenig Aufmerksamkeit „Menge (an) kluge(n) Fachkommen-
zu Teil wurde. In der Forschung ist er tare(n)“, er will Kunstwerke nicht
weder stark rezipiert noch diskutiert. durch gesetzt geltende Maßstäbe be-
Es fi nden sich kaum Werke, die sich trachten. Stattdessen will er die Flüch-
an Trauer der Vollendung anlehnen oder tigkeit und Wandelbarkeit der Bilder
sich darauf beziehen. Hierbei wird das in einer ebenso beweglichen Sprache
hohe Potenzial des Textes übersehen. wiedergeben. Daran zeigt sich, dass 159
Nicht nur, dass er die Möglichkeit bie- sich der Autor weniger als Chronist
tet über das eigene Schreiben und die der Kunstwissenschaft, sondern als
Konstruktion von Texten, sowie von deren Interpret versteht.
Wirklichkeit nachzudenken. Trauer
der Vollendung weist ebenso auf einen Wyss weist damit auf, dass weder
Blick, fernab des gängigen Kunstge- Kunstwerke noch Historie schlicht
schichtskanons, hinaus. Dies führt so- starre, unveränderliche Gebilde sind,
weit, dass Wyss sich gänzlich von der sondern bewusst von Menschen in
reinen Bildbetrachtung entfernt. einen bestimmten Kontext gesetzt
Werkanalysen, Kompositionen oder werden. Diese Flexibilität und Wan-
die Einordnung in bestimmte Strö- delbarkeit der Kunst veranschaulicht
mungen und Stile interessieren den er durch die Flexibilität und Wandel-
Autor nicht. barkeit seiner Sprache.
Stattdessen bindet er die Kunstwerke
in seinen Schreibfluss mit ein, macht Mein Buch versteht sich als
sie zu Belegen seiner Theorie. Plädoyer für den skeptischen Schlen-
Wyss selbst beschreibt seine Technik dergang auf veränderlichen und verän-
wie folgt: derbaren Provisorien hin.40

Die listige Nachgiebigkeit der Die Kunstwerke sind an sich nur „ver-
Bilder mit Worten nachzuahmen, war änderliche und veränderbare Provi-
Motiv meines methodischen Verfah- sorien“, und somit in ihrer Quintes-
rens. Die unmittelbar nachvollziehende senz selbst schon bruchstückhaft.
Ausdrucksbewegung eines Gedanken-
systems erspart eine ganze Menge kluger Diese Bruchstücke sind dabei Verän-
Fachkommentare.39 derungen unterworfen und wandeln

39
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 12.
40
Ebd., S. 14.
41
Ebd.
42
Dies gilt nun nicht für naturwissenschaftliche Phänomene. Obwohl es auch hier wieder viel
Spielraum gibt, wie diese Erkenntnisse ausgelegt werden.
beat Wyss

sich stets, auch wenn „die unwider- Wirkung / Rezeption / Kritik


stehliche Logik des Geschichtspro-
zesses“41, etwas gänzlich anderes be- Trauer der Vollendung hatte bei seiner
hauptet. Gegen diese vorgegebene Erscheinung für einen Eklat gesorgt.
Logik anzuschreiben, und damit die Von der Kommission der philosophi-
Konstruktion der Geschichte offen- schen Fakultät der Universität Zürich
zulegen, gelingt dem Autor, indem er abgelehnt, hätte man vermuten kön-
160 selbst sein eigenes Narrativ erschafft, nen, dass dies nur der Paukenschlag
dieses aber zugleich als solches ent- für den Auftakt einer glänzenden
tarnt. Wyss‘ Text verdient es deswegen Karriere sein würde. Beat Wyss hat
als Schlüsseltext zu gelten, da er dem sowohl national als auch internatio-
Leser die Augen bezüglich einer ei- nal eine Karriere als angesehener Pro-
gentlich offensichtlichen „Wahrheit“ fessor für Kunst- und Medienwissen-
öffnet: Alles ist nur ein einziges gro- schaft erlangt, dann ist es aber stiller
ßes Narrativ, nichts ist gegeben, so um ihn geworden. Seine Werke, die
wie es ist. Egal ob in der Kunstwissen- trotz ihrer unterschiedlichen thema-
schaft oder in anderen Bereichen42 , es tischen Gewichtung, die sprachliche
gibt keine einzige große Logik, nach Brillanz zum gemeinsamen Nenner
der Gegebenheit organisiert sind. haben, sind nicht in den allgemeinen
Es ist die Erzählung, die alles zu- Kanon der Kunstwissenschaft erho-
sammenfügt und zusammenhält. ben worden.43
Dieses narrative Element führt vor Daran zeigt sich, dass dem Schweizer
Augen, wie austauschbar und verän- nicht die akademische Anerkennung
derbar, dabei allerdings auch mani- zukam, die er vielleicht verdient hätte.
pulierbar, festgelegte Begriffe sind. So scheint Beat Wyss in der Kunst-
Sich dies bewusst zu machen, hilft und Kulturwissenschaft auf akade-
Kunstwerke aus einem umfassende- mischer Ebene kein gesetzter Name
ren und kritischeren Blick zu sehen. zu sein. Er selbst publizierte zu ei-
nigen Sammelbänden oder Ausstel-
lungskatalogen zahlreiche Aufsätze,
jedoch ist es auffallend, dass sich
kaum ein Kollege oder eine Kollegin
mit ihm und seinem Werk beschäf-
tigte. Was nun gänzlich verwundert,
sarah rieder

ist wie gering die Reaktion zu Trauer sowie dessen Enttäuschung beim
der Vollendung ausfiel. Warum wurde Anblick der Berner Alpen“, „Der
ein Buch, dessen Inhalt so kontrovers Process des Käsemachens“, „Ro-
erschien, dass es von universitärer mantische Natursehnsucht als Al-
Seite abgelehnt wurde, nicht stärker ternative“ und „Ossian.
thematisiert? Einzig die Rezension Oder die Kolonisierung der Land-
mit dem Titel Trauergesten von Axel schaft mit menschlichem Gefühl“.45
Burkarth beschäftigt sich intensiver So aneinandergereiht wirkt die Aus- 161
mit dem Werk. Sein Urteil fällt jedoch wahl beliebig, wobei der Fokus auf
sehr negativ aus. Burkarth sieht in den verspielten Überschriften und
Trauer der Vollendung reines Spiegel- originellen Pointen zu liegen scheint.
fechten. Die Kritik der Modernitäts- „Fasziniert zeigt sich Wyss vor al-
gegner müsse von Wyss erst wieder er- lem von der eigenen Sprachgebärde.
hitzt werden, da diese Vorwürfe sich [...] Aber der lässige Gestus des Beg-
bereits als historisch veraltet zeigen. riffsjongleurs ersetzt nur die diskur-
sive Redlichkeit. Kein Sinnzusam-
Problematisch sei zudem, dass die ge- menhang scheint für Wyss bedeut-
schichtsphilosophische Ästhetik, die sam genug, als da[ss] man ihn nicht
Wyss als Hauptargument gegen die zugunsten sprachlicher Knallkörper
Kunst der Moderne ins Feld führt, sausen lassen könnte. Wyss zeigt da-
zu einseitig betrachtet wurde. Wyss bei das Talent zum Pyromanen.“46
scheint somit außer Acht zu lassen, Hier stellt sich die Frage, was nun
dass dieser Faktor nötig war, damit wirklich unter dem Strich von der
sich die Moderne an diesem Aspekt „Revision philosophischer Buchfüh-
stoßen und damit weiterentwickeln rung in Sachen Kunst“47 bleibt. Es ist
konnte.44 Zudem kritisiert Burkarth, nicht von der Hand zu weisen, dass
dass Wyss scheinbar mehr Wert auf Wyss mit seinem Ansatz keine er-
den Unterhaltungsfaktor legt, statt schütternden neuen Erkenntnisse zu
Erkenntnisse schürfen zu wollen. Tage fördern konnte. Dies fällt mit
Zur Veranschaulichung nennt Bur- einer Fragestellung, die sich mit He-
karth mehrere Kapitel: „Der idealis- gels Absage zur Kunst und die Ver-
tische Naturbegriff, dargestellt am teidigung dieser Grenzen zu Beginn
Eingedenken der geschwollenen Fü- des letzten Jahrtausends beschäftigt,
ße eines schwäbischen Hofmeisters, nicht leicht. Wyss bietet dagegen mit

43
Dies könnte daran liegen, dass sich ein Kanon immer erst durch eine gewisse zeitliche Distanz
ändert und formiert, wobei die Schriften Beat Wyss einfach noch zu aktuell dafür sind.
44
Vgl.: Burkarth, Axel: Trauergesten, Anmerkungen zu einem Versuch den Kulturpessimismus zu
widerlegen, in: kritische berichte, 1984, 4, S. 90 f.
beat Wyss

seiner Form der Mentalitätsgeschich- Bezogen auf den kunstwissenschaft-


te einen anderen Blickwinkel auf die lichen Kontext bietet der Text zu wenig
Kunstwissenschaft, die in ihrer Aus- neue Denkanstöße oder wirklich tief-
richtung viel zu häufig, für gesetzt gründiges Material.
und unveränderlich gilt. Man begleitet Wyss gerne auf seinen
Spaziergang durch die Kunstge-
schichte. Doch im Endeffekt ist es
162 eher ein vergnüglicher Plausch, als
Einschätzung der heutigen ein tiefgreifender Exkurs über die
relevanz Kunstwissenschaft. Erwartet man
Letzteres, so schleicht sich die glei-
Trauer der Vollendung besitzt viel Po- che Enttäuschung ein, wie sie wohl
tenzial, um sich mit den Fragen aus- damals Hegel, beim Anblick der
einanderzusetzen, wie Kunst gese- Gletscher der Schweizer Berge, em-
hen und wie über diese geschrieben pfunden haben muss. Der Aspekt
werden kann. Trotz dessen wird der der Narration innerhalb der Historie
Text wahrscheinlich auch zukünftig lässt sich allerdings fruchtbar nut-
keinen größeren Platz im akademi- zen. Ebenso die damit einhergehen-
schen Diskurs erhalten Wyss‘ Metho- de Selektion. Wyss kann unmöglich
de ist nicht ohne Weiteres vermittel- die Gesamtheit der künstlerischen
bar. Man muss sich in seine Theorie Entwicklung abdecken, weswegen
„einschleichen und einfühlen“48. er gezwungen ist zu wählen.
Doch dies kann weder generell ge- Diese Selektion scheint sich bei ihm
lehrt noch gelernt werden. Dem Auf- sehr positiv auszuwirken. Schließlich
wand, sich auf diese Art und Weise kann er dadurch bewusst auswählen,
der Technik Wyss‘ anzueignen, steht welche Kunstwerke er miteinander
die Aussicht auf Erkenntnis gegen- verknüpft, damit diese der Konstruk-
über. Doch welche Erkenntnis bietet tion seiner Mentalitätsgeschichte best-
das Werk und wie weit trägt diese Er- möglich dienen. Hierbei wird sehr
kenntnis? Leider scheint Trauer der Voll- deutlich, dass jegliche Form der Ka-
endung mehr Wert auf Lesevergnügen nonisierung oder Einordnung inner-
zu legen, als neue, innovative Erkennt- halb der Kunstgeschichte, im Kern
nisse zu liefern. immer eine Konstruktion ist.

45
Ebd., S. 92.
46
Ebd.
47
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 15.
48
Jürgen Stöhr: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss,
Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: 2014 [2014], S. 12.
sarah rieder

Kunstgeschichte basiert damit, genau unumgänglich. Wyss‘ Ansatz wäre


wie jede andere Form der Historie, hier richtig, da er aufzeigt, wie stark
nicht auf scheinbar logischen Gesetz- Narration die Wahrnehmung prägt.
mäßigkeiten, genauso wenig ist sie ein Dies kommt insbesondere bei der
Ergebnis einer Verkettung unumstöß- Präsentation der Objekte und dem
licher Fakten. Es ist somit sehr sinn- gleichzeitigen Ausleuchten ihrer ei-
voll sich dessen bewusst zu sein, dass gentlichen Funktion und ihres sozio-
es innerhalb der Kunstgeschichte logischen Hintergrundes zum Tragen. 163
nicht nur Überkreuzungen, Überla- Gerade, da die Objekte gewaltsam aus
gerungen und Verbindungen gibt, son- ihrem ursprünglichen Kontext he-
dern genauso Lücken, Auslassungen rausgerissen wurden, muss beachtet
und blinde Flecke. Das dieses teils werden, dass man diese nicht aus
doch sehr brüchige Gewebe schluss- Sicht der Kolonialherren, und somit
endlich in sich geschlossen erscheint, aus Sicht der geschichtlichen „Sieger“,
ist der Kraft der Narration geschuldet. erzählt. Aus diesem Blickwinkel be-
Jedoch bringt diese Erkenntnis den trachtet, wäre die Ethnologie ein aus-
Betrachter nur bis zu einem gewissen gezeichnetes Feld um Wyss‘ Erkennt-
Grad in der Kunstgeschichte weiter. nisse anzuwenden. Ob nun kunsthis-
Wenn es allerdings ganz konkret um torisches oder ethnologisches Muse-
bestimmte Kunstwerke geht, so las- um, feststeht, dass Wyss imaginäres
sen sich diese nicht alleine durch ihre Museum für seine realen Pendants ei-
Narration bestimmen. niges bietet. Was nun den Text selbst
betrifft, so kommt es fast einer Schän-
Somit ist die Kunstwissenschaft auf dung gleich, diesen – und somit das
weit mehr angewiesen, als auf die imaginäre Museum – auseinander-
Transparenz der Textstruktur. In einer zunehmen. Denn letztendlich ma-
anderen Disziplin könnte Beat Wyss‘ nifestiert und stilisiert sich das ima-
Ansatz jedoch viel besser ein- und ginäre Museum eher als Tempel der
umgesetzt werden: in der Ethnologie. Weisheit, in dem alles mit dem hegel-
Die ausgestellten Objekte sind durch schen Weltgeist verbunden und durch-
das Herausreißen aus ihrem ursprüng- woben ist. Dieses Bauwerk zu ent-
lichen Kontext sprachlos geworden, schlüsseln bedeutet letztendlich es zu
um diese wieder dem Betrachter zu- zerstören.
gänglich zu machen, ist Narration
Wyss‘ Text kann als Gesamtkunst-
werk gesehen werde, es lässt sich nicht
durch seine Bruchstücke erfahrbar
machen, sondern nur in seiner Voll-
endung. Versucht man sich ihm den-
noch durch einzelne Passagen zu nä-
hern, so werden zwar Fragmente greif-
164 bar, das „große Ganze“, die Narra-
tion, ist dann aber verloren. Jedoch
ist auch dies nicht ohne Zweck.

Denn das Mittel soll der Wür-


de des Zwecks entsprechend sein, und nicht
der Schein und Täuschung, sondern nur
das Wahrhafte vermag das Wahrhafte zu
erzeugen.49

Wyss zeigt, dass sich der Weisheit


letzter Schluss gerade nicht in der
Wahrheit allein fi nden lässt.

49
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s
Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 8.
165
beat Wyss

Quellenverzeichnis

Burkharth, Axel: Trauergesten, Anmerkungen zu einem Versuch den Kulturpessi-


166 mismus zu widerlegen, in: kritische berichte, 1986, 4, S. 90 – 92.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesung über die Aesthik, in: Philipp Kon-
rad Marheineke, (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke, Band 10, 1 – 3,
Berlin, 1835, S. 7, 8, 120, 134 - 136, 579, 580.

Beat Wyss: Das Museum des Weltgeistes, in: Johannes Grave / Hubert Locher
/ Reinhard Wegner (Hg.): Der Körper der Kunst, Göttingen, 2007, S. 163 f.

Jung, Werner: „Weltgeist“, in: Metzler Philosophie Lexikon, Stuttgart 1996, S.


568.

Prange, Regina: Ende der Kunst, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft – Ide-
en, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2011, S. 104 f.

Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man
– Beat Wyss, Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne, Bielefeld 2014.

Wyss, Beat: Trauer der Vollendung, Zur Geburt der Kulturkritik, Köln 1997, 3.
Auflage.

Wyss, Beat: Der Wille zur Kunst, Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln
1996.
sarah rieder

167
georges Didi-Huberman
Die Frage des Details, die frage des pan

Der Text Die Frage des Details, die Frage des pan erschien erstmal 1986 im
168 la part de l'oeil, später wurde er in Didi-Hubermans Devant l'image: questions
posées aux fins d'une histoire de l'art abgedruckt. In der deutschsprachigen Aus-
gabe Vor einem Bild fehlt er. Die deutsche Übersetzung von Werner Rappl
ist zu fi nden in „Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und
Literatur“. Didi-Huberman führt in seinem Text den Begriff des pan ein,
grenzt diesen zum Terminus des Details ab. Während ein Detail identifi-
zierbar, mimetisch und deskriptiv ist, eine bestimmte Größe besitzt und
einem messbaren Raum entspringt, handelt es sich beim pan um ein nicht
identifizierbaren, nicht mimetischen, semiotisch labilen Bereich farbiger
Intensität. Pan ist „das Symptom der Malerei im Bild, wobei die Malerei
hier im Sinne einer Materialursache verstanden wird.“1
Georges Didi-Huberman (*1953) ist ein französischer Kunsthistoriker, Phi-
losoph und Hochschullehrer. Er studierte Kunstgeschichte und Philoso-
phie unter anderem bei Louis Marin, hatte Gastprofessuren an der Johns
Hopkins University, der Northwestern University, der University of Cali-
fornia, Berkeley, der University of Tokyo, der Freien Universität Berlin und
am Courtauld Institute in London inne. Georges Didi Huberman ist Ho-
norary Member des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Ber-
lin. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem 1997 mit dem
Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung, 2006 mit dem Gay-Lussac-
Humboldt-Preis, 2015 mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis und 2017 mit
der Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln.
Georges Didi-Huberman gilt als einer der einflussreichsten kunstwissen-
schaftlichen Theoretiker der Gegenwart. Seine Forschung bewegt sich an
der Schnittstelle zwischen Bildwissenschaft, Philosophie, Psychologie und
Kunstgeschichte. Sein Forschungsfeld erstreckt sich dabei von der Renais-
sance bis hin zur zeitgenössischen Kunst.

1
Didi-Huberman, Georges: Die Frage des Details, die Frage des pan Wiederabdruck in: Edith
Futscher, Stefan Neuner, Wolfram Pichler, Ralph Ubl (Hgg.): Was aus dem Bild fällt. Figuren
des Details in Kunst und Literatur, München, 2007, S. 49.
169
Georges didi-huberman

Das Detail - in seiner dreistu-


figen Erschließung: Annäherung, Auf-
teilung und Zusammenschau – wäre also
Text das Fragment, in dem ein Idealbild des
Wissens und der Gesamtheit angelegt ist.
Der Text Die Frage des Details, die Frage Dieses Idealbild ist die erschöpfende Be-
170 des pan gliedert sich in fünf Kapitel: schreibung. Im Gegensatz zum Fragment,
1. Die Aporie des Details, dessen Bezugnahme auf das ganze die-
2. Malen oder schildern, ses nur in Frage stellt, es als nicht vor-
3. Der Unfall: Eklat des Materials, handen annimmt, als Enigma oder ver-
4. Das Symptom: Ablagerung des loren gegangene Erinnerung, bekräftigt
Sinns das Detail in diesem Sinn das Ganze als
5. Jenseits des Detailprinzip. legitimierte Anwesenheit, seine Bedeu-
tung als Antwort und Bezugspunkt, ja
Im einleitenden Kapitel bezeichnet sogar im Sinne von Hegemonie.2
Didi-Hubermann das Detailsehen
als ein zentrales Werkzeug der Bild- Im Folgenden spricht er darüber,
betrachtung und beschreibt selbiges dass das Detail in der Interpretation
als einen dreistufigen Prozess. von Kunstwerken im Allgemeinen
Die Betrachtung des Details sei ein sehr beliebt ist und er Irrglaube be-
Sachverhalt, der sich in folgende drei steht, alle Details zu erkennen bedeute
Vorgänge aufteilen lässt: Erstens, die gleichsam das Kunstwerk zu kennen.
Annährung, also das Eindringen des Er vergleicht ein Kunstwerk dabei mit
Blicks in einen ausgewählten Bereich. einem verschlüsselten Text, zu dem
Zweitens, die Aufteilung, die für Didi- ein Zugang durch eine „Genauigkeit
Huberman gleichsam ein gewaltsam- der Beobachtung“3 möglich ist.
er Prozess ist, da die Detailbetrach-
tung das Abtrennen und Zerstückeln Dieser Begriff ist einer Arbeit zu den
des Bildes bedeutet. Der dritte und Beobachtungswissenschaften Gaston
letzte Schritt ist das erneute Zusam- Bachelards entnommen. Bachelard
menführen der einzelnen Teile, um stellte bei seiner Untersuchung zum
den Gesamteindruck gewinnen zu Status des Details fest, dass der Ter-
können. minus des Details den Konfl ikt zwi-

2
Ebd., S. 44.
3
Ebd., S. 46.
Christina Wigger

schen der genauen Beobachtung und völlig anders wirkt. Deutlich wird
der Klarheit der Interpretation be- dieser Unterschied am Beispiel der
schreibt. Aber was bedeutet Genau- Kunstkritik zu Tizians Œuvre, in der
igkeit der Beobachtung? Diese Frage immer wieder zu lesen ist, dass die
stellt und beantwortet der Autor dargestellten Figuren aus der Ferne
gleichsam: perfekt wirken, aus unmittelbarer
Nähe seien jedoch grobe Pinselstriche
Dieses Begriffsfeld ist das der zu erkennen.5 171
zurecht so genannten Beobachtungswis-
senschaften. Bachelard behandelte den Das Detail stellt vor allem die
Status des Details in einer berühmten Frage: von wo betrachten? Und hier han-
Arbeit aus dem Jahre 1927. Er zeigte, delt es sich nicht um Wahrnehmung, son-
dass der epistemologische Status des De- dern um den Ort des Subjekts: dort, von
tails – auch in den physischen Wissen- wo aus die Malerei gedacht wird.6
schaften, den Wissenschaften des Mes-
sens – der einer Teilung, einer Trennung Diese sehr gut nachvollziehbare Be-
des Gegenstands der Wissenschaft ist ein obachtung erweitert er um die The-
„innerer Konfl ikt, den sie nie ganz bei- orie, dass sich bei der Detailbe-
legen kann.“ Es ist ein Konfl ikt – be- trachtung aus der Nähe und dem
nennen wir ihn einmal in einer ersten eben beschriebenen ersten Schritt,
Annäherung – zwischen der Genauig- der Teilung, auch eine Teilung des
keit des beschreibenden Details und der Subjekts vollzieht.
Klarheit des Interpretationsansatzes.4
Das Beschreibende Subjekt
Bezogen auf die Malerei konstatiert trennt gleichsam – durch das Abtren-
George Didi-Huberman, dass ein fun- nen eines lokalen Bereichs aus dem
damentaler Unterschied zwischen der globalen - seinen Erkenntnisakt selbst,
Rezeption eines Kunstwerkes aus un- seine Beobachtung ab und sieht nie
mittelbarer Nähe und der aus der Fer- das gleiche ‚Lokale‘ im gleichen ‚Globa-
ne besteht. Er geht sogar so weit zu len‘, dass es zu erfassen meint.
sagen, dass bei diesen zwei verschie-
denen Möglichkeiten der Betrachtung Das beschreibende Subjekt trennt
auch vollkommen differente Dinge also eine Lokale aus der Globalen
gesehen werden und das Kunstwerk heraus. Dieser Prozess der Heraus-

4
Ebd., S. 46.
5
Vgl.: Ebd., S. 47.
6
Ebd.
Georges didi-huberman

trennung stellt einen für sich alleine


stehenden Erkenntnis- und Beobach- Der Blick aus der Nähe bringt dem
tungsakt dar. Außerdem wird deut- Subjekt die Erkenntnis über die Exis-
lich, dass nie das gleiche Lokale im tenz des Stoffes, die illusionistische
gleichen Globalen zu erkennen ist. Fernansicht wird gebrochen. Dieser
Der Rezipient erleidet eine Art Spal- Argumentation folgend gibt der Text
tung, die Didi-Huberman mit einem zu erkennen, dass der Blick, der da-
172 kleinen Vergleich erklärt: Man solle nach strebt eine Form zu erkennen
sich einen Menschen vorstellen, dem letztendlich nur dazu imstande ist
die ganze Welt als Puzzle erscheint, Form und Stoff voneinander zu un-
ihm wäre dann simultan auch die terscheiden. Diese Ausweglosigkeit
Fragilität und das mögliche Zerfallen des Blicks beschreibt Huberman als
seines eignen Körpers bewusst.7 die Aporie des Details oder die Aporie
jeder Kenntnis der Malerei aus der
Die Betrachtung von Malerei aus der Nähe.12 Das zweite Kapitel beginnt
Nähe trennt Denken und Realität des Didi-Huberman mit einer kurzen,
Subjekts ebenso voneinander ab, wie aber fundamentalen Kritik an Panof-
sich Form und Stoff trennen.8 skys Ikonologie, die ihm zu katego-
Didi-Hubermann bringt hier eine zen- risch erscheint. Es existieren laut Didi-
trale Erkenntnis auf den Punkt: Hubermann viele, auch gegenständ-
„Die Kenntnis der Malerei aus der liche Bilder, bei denen eine klare Er-
Nähe trennt ihre Formursache von kennung von Gegenständen und Fi-
ihrer Materialursache ab.“ 9 guren nicht so einfach funktioniere.
Und weiter: „Die Malerei gibt uns Dass jedes Detail in der Malerei über-
ihre Formursache nicht zu sehen, sie determiniert ist,13 erklärt er ausführ-
gibt sie uns zu interpretieren.“10 lich an einem ersten Bildbespiel.

Im Gegensatz zur Form, also die nar-


rative Ebene ist mit der Materialur-
sache die Farbe und ihre Struktur, als Der Sturz des Ikarus als
die Malerei an sich gemeint „Aber vor Beispiel für das Detail
allem gilt, dass das was die Malerei
zeigt, ihre Materialursache ist, das Didi-Huberman führt das Werk Der
heißt die Malerei.“11 Sturz des Ikarus von Pieter Bruegel

7
Vgl.: Ebd., S. 48.
8
Vgl.: Ebd., S. 49.
9
Ebd., S. 49.
10
Ebd.
11
Ebd.
12
Vgl.: Ebd., S. 50.
13
Vgl.: Ebd., S. 52.
Christina Wigger

d.Ä. als das Paradebeispiel für den die auf narrativer Ebene aus dem
Begriff des Details an. Das 73,5 × eigentlich beliebigen Menschen im
112 cm große Ölgemälde entstand Meer, die Figur des Ikarus werden
ca. 1555-1560 und ist im königlichen lassen. Die Federn repräsentieren ein
Museum der Schönen Künste in Brüs- „notwendiges ikonografisches Attri-
sel zu sehen.14 Das Gemälde zeigt eine but für die bildliche Darstellung der
Szene aus den Metamorphosen des mythologischen Szene.“15
Ovid. Hauptperson ist ein Bauer der Selbst, wenn der Körper bereits voll- 173
einen Karrenpflug bedient der von ständig im Meer versunken wäre, so
einem Pferd gezogen wird, er befi n- wäre der Sturz des Ikarus dank der
det sich auf einem schmalen Weg Federn doch beschrieben. In diesem
am Ufer einer Bucht. Hinter dieser Sinne ist das Detail als ein Sachver-
Person im Vordergrund steht ein halt zu verstehen, der in einen iden-
Hirte mit seiner Schafherde, im rech- tifikationsstiftenden Prozess einge-
ten unteren Bildteil sitzt ein Angler. bunden ist. Festzuhalten ist ebenfalls
Den Großteil des Bildes nimmt die die mimetische Funktion des Details,
bis zum Horizont reichende Wasser- ohne die sich die ikonographische
oberfläche ein. Die Bucht wird von Bedeutungsebene nicht generieren
hellen Felsen und spitzen Bergen ge- lassen kann. Betrachtet man die ma-
rahmt, vor welchen im hinteren lin- lerische Beschaffenheit der Federn
ken Teil eine Hafenstadt zu sehen ist. weisen diese kein eindeutiges Unters-
Unten rechts liegt ein großes Segel- cheidungsmerkmal auf, welches sie
schiff im Wasser. Didi-Huberman vom Schaum der Wellen differen-
betrachtet den titelgebenden Bildaus- ziert. Didi-Hubermann stellt nun die
schnitt in der unteren rechten Ecke, Frage, warum der Rezipient dieser Tat-
auf welchem vor dem großen Segel- sache zum Trotze Federn sieht, und
schiff zwei menschliche Beine aus dem beantwortet diese zugleich.
schäumenden Meer herausragend.Um Der Unterschied liegt im Hinter-
die Extremitäten herum befinden sich grund: Befinden sich die weißen Farb-
kleine, weiße halbrunde Pinselstriche, akzente auf dem Meer fungieren sie
die vom Betrachter sofort als Federn als Schaum, mit dem Schiff als Hin-
identifiziert werden. Eben diese Fe- tergrund wandelt sich die Bedeutung
dern benennt Didi-Huberman als ein des Details, die Position legitimiert
Detail per exellence, denn sie sind es, die Lesbarkeit der weißen Farbe als

14
Ob das Gemälde tatsächlich von Pieter Bruegel d.Ä. angefertigt wurde ist heute fraglich, zudem
existieren zwei Versionen des Gemäldes. Eine marginal abweichende Version auf Holz, bei der
in der oberen linken Ecke die fliegende Figur des Dädalus platziert ist, befindet sich im Brüsseler
Museum Van Buuren. Für die hier untersuchten Bildelemente sind diese Informationen jedoch
nicht relevant.
15
Georges Didi-Huberman: Die Frage des Details, die Frage des pan, Wiederabdruck, München,
2007, S. 53.
Georges didi-hubermnn

Federn. Sichtbarmachung, der camera obscura


Zum Abschluss dieses Beispiel fasst und der Landkarte. Mit dem dann
Didi-Huberman zusammen, dass folgenden zweiten, zentralen Bild-
beispiel taucht auch der Begriff des
der Begriff des Details in der pan zum ersten Mal im Text auf.
Malerei für eine auf diese Art von Ikono-
graphie gegründete Geschichte von Kunst
174 nur bedeutsam ist, wenn man die mime-
tische Transparenz des ikonologischen Die Ansicht von Delft von
Zeichen voraussetzt.16 Bildbeispiel für das pan

Dass es sogar in den Bildern der alten Als zweites Bildbeispiel nennt Didi-
Meister mehr als das ikonische De- Huberman Jan Vermeers Die Ansicht
tail gibt will er mit einem weiteren von Delft.
Bildbeispiel beweisen. Dieses ist in Das 96,5 × 115,7 cm große Ölgemälde
eine Kritik an Svetlana Alpers’ Ver- entstand 1660/61 und hängt heute im
ständnis der holländischen Malerei Mauritshuis in Den Haag.
des 17. Jahrhunderts eingebettet. Das Gemälde zeigt eine Stadtansicht
von Delft aus einer leichten Aufsicht.
Was Alpers in Frage stellt, das Im Vordergrund fl ießt ein ruhiger
ist die Vorstellung eines semantischen Fluss vor den Mauern der Stadt. Die
und narrativen Abbilds, dessen univer- Hälfte der Bildfläche nimmt die Dar-
seller Träger die Malerei wäre: Es gibt stellung des mit großen Wolken be-
Tafelbilder, die nichts erzählen, erklärt deckten Himmels in Anspruch. Die-
sie – zu Recht.17 se für Vermeer untypische Außenan-
sicht seiner Heimatstadt Delft ist laut
Svetlana Alpers, amerikanische Pro- Didi-Hubermann „Ikonografie und
fessorin für Kunstgeschichte, ver- Emblem von nichts, sie bezieht sich
tritt den Standpunkt, dass nicht jede auf kein narratives Programm, kei-
Malerei Träger eines semantischen nen vorher bestehenden Text, dessen
Narratives ist. Ein Beispiel für ein vermeintlichen historischen oder my-
Bild ohne Narrativ ist Vermeers An- thologischen oder anekdotischen oder
sicht von Delft. Ihre Argumentation metaphorischen Wert, der das Bild
fußt dabei auf zwei Instrumenten der visuell aufbereiten soll“.18 Wie reprä-

16
Ebd., S. 54.
17
Ebd., S. 55.
18
Ebd., S. 55.
Christina Wigger

sentativ für die holländische Malerei Für jemanden der das Bild betrachte,
des 17 Jahrhunderts stellt das Ge- stellt das Bildelement einen verstö-
mälde lediglich eine einfache Ansicht renden Irritationsmoment dar, an
dar, die zeigt was in der Entsteh- dem das Auge haften bleibt, eine Bild-
ungszeit gesehen wurde. stelle, die farbige, stoffl iche Materie
Didi-Huberman zitiert hier Alpers, zeigt und die die Mimesis dadurch
die in ihrem Buch Kunst als Beschreibung zum Kollabieren bringt. Für diese Art
– Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts von Betrachter ist das Gelb des Bil- 175
die These vertritt, dass Tafelbilder des das pan. Dieses Bildbeispiel zeigt
existieren, die nichts erzählen. Über das pan als Materialursache, als das
das Werk Die Gefangene von Marcel Symptom der Malerei selbst im Bild.
Proust führt Didi-Huberman schließ- Symptom bedeutet in diesem Zusam-
lich erstmalig im Kapitel „Der Un- menhang ganz konkret die Spur, die
fall: Eklat des Materials“ den Be- der Pinsel hinterlässt, weil er da war.
griff des pan ein. Der Begriff des pan fi ndet dabei zu
In Proust siebenteiligen Hauptwerk einer ersten Formulierung: der pan,
wird das „kleine gelbe Mauernfeld“, das ist das Symptom der Malerei im
welches sich rechts vom Bildzentrum Bild, wobei die Malerei hier im Sinne
in Vermeeers Ansicht befindet, als ein einer Materialursache verstanden wird
außergewöhnlich packendes Bilde- und das Material in dem Sinn verstan-
lement beschrieben. den wird, den ihm Aristoteles gab –
Didi-Hubermann übernimmt die op- etwas, das nicht auf einer Logik der
tische Operation aus der Proust-Lek- Gegensätze beruht, sondern auf einer
türe und beschreibt genau diese Stelle Logik des Begehrens und der Proten-
im Bild als Beispiel für ein pan. tion.20 In einer Fußnote auf Seite 62
Er unterscheidet zur Veranschauli- wird der Begriff des pan weiterfüh-
chung zwei verschiedene Arten diese rend erklärt: Zunächst wird dabei
Bildstelle zu betrachten: Zum einen auf die Unübersetzbarkeit des Wortes
existiere ein sehender Rezipient, der hingewiesen. Bemerkenswert ist die
das Dargestellte „entsprechend einer mehrfache Bedeutung des Begriffs im
Phänomenologie der Erkenntnis und französischen, so bezeichnet pan so-
Identifikation“19 erfasst, für so jemand wohl eine Fläche, ein Gewebe, zum
beziehe sich das gelb schlicht und er- Beispiel im Sinne einer Mauerfläche,
greifend auf die Farbigkeit der Mauer. als auch eine Art fragmentarischen

19
Ebd., S. 61.
20
Ebd., S. 76.
Georges didi-huberman

Stofffetzen. Die Gegensätzlichkeit, ein pan enthält. Durch die Zitation


die dem Begriff innewohnt lässt sich von Paul Claudels Bildbeschreibung
also bereits an seiner etymologischen zu diesem Gemälde, stellt er die Fra-
Determinierung erkennen.Als letz- gilität von allem subjektiv sichtbaren
tes und wichtigstes Bildbeispiel führt dar. So meint Claudel zum Beispiel
Didi-Huberman Die Spitzenklöpplerin die blauen Pupillen der Spitzenklöp-
von Jan Vermeer auf. plerin zu erkennen, während Didi-
176 Huberman ihre Lider geschlossen
sieht. Als viel spannender beschreibt
er, neben diesem Beispiel für ein De-
Die Spitzenklöpplerin als tail, eine andere Bildstelle, die er als
Bildbeispiel für Detail und pan „zinnoberroten Eklat“21 bezeichnet.
Das Herausströmen von rotem Faden
Das Öl auf Leinwandgemälde Die aus dem Nähnecessaire wird zu einem
Spitzenklöpplerin von Jan Vermeer Fleck, der aus dem Rahmen fällt:
entstand 1669–1670 und ist heute im Er ist ein pan Malerei. Diese Bildstelle
Louvre ausgestellt. Das Werk misst ge- zeigt sich im Vergleich zum Rest merk-
rade einmal 24,5 × 21 cm. Auf Grund würdig ungenau gemalt, die Malerei
dieser geringen Größe eignet es sich „franzt aus“ und wird zu einem ver-
als Bildbeispiel besonders gut, da ihm störenden Moment im Bild.
die Problematik der Differenzierung Im Vergleich ist klar, dass Vermeer
von Nah- und Fernsicht bereits inne- handwerklich in der Lage ist, einen
wohnt. Das kleine Gemälde forciert mimetischen Faden zu malen, an die-
eine Betrachtung aus nächster Nähe. ser Stelle wird jedoch die Material-
Das Motiv ist klar zu erkennen: eine ursache deutlich. Dank des Kontextes
junge Frau, mit braunem, zu einer auf- sieht der Betrachter die Stelle aber
wändigen Frisur geflochtenem Haar Nichtsdestotrotz im Gesamtzusam-
und gelben Kleid, sitzt an einem menhang als roten Faden. Didi-Hu-
hölzernen Arbeitstisch und klöppelt berman beschreibt das pan als eine Art
Spitze. Neben ihr steht ein samtblau- pathologisches Phänomen, welches
es, kissenförmiges Nähnecessaire aus das restliche Bild infiziert, angreift
dem weißer und roter Faden ragt. und tyrannisiert. Er verbildlicht das
Didi-Huberman zeigt, dass dieses pan drastisch: „Er schafft Sinn mit
Bildbeispiel sowohl Details, als auch Gewalt und Zweideutigkeit, wie die

21
Ebd., S. 68.
Christina Wigger

Verletzung auf einer weißen Haut zum anderen, weil in diesem Moment
dem darunter pulsierenden Blut, in- eine Bedeutung freigesetzt wird (zum
dem sie es auftauchen lässt, Sinn ver- Beispiel das Schicksal der erkrankten
leiht“22 Im Anschluss an dieses Haupt- Person betreffend), so ist auch das
beispiel nennt Didi-Huberman, um Symptom im Bild ein kritisches Er-
seine Beobachtung zu stützen, noch eignis, welches aber simultan Bedeu-
weitere Bildbeispiele, die aber jeweils tung konstituiert.24 Ebenso zeigt uns
nur sehr kurz angerissen und auf das Beispiel des hysterischen Symp- 177
die zentrale Aussage darüber, wie toms, bis zu welchem Punkt das, was
ein Detail zum pan werden kann, re- die Verbindung zwischen Ereignis
duziert werden. und Struktur, Funkeln/Eklat und
Diesem langen Kapitel folgt das vor- Verhüllung, Unfall und Bedeutsam-
letzte Kapitel „Das Symptom: Abla- keitssystem ausmacht, genau aus dem
gerung des Sinns“. Hier wird erneut Paradox der Sichtbarkeit besteht, das
die Nähe zur französischen Psy- eine solche „widerspruchsvolle, so
choanalyse nach Freud deutlich: Im plastisch dargestellte Gleichzeitig-
Begriff des Symptoms im Zusam- keit“ voraussetzt.
menhang mit pan, wohnt der Ver- So sind Bilder [image], wenn sie am
gleich zur Medizin inne. intensivsten widerspruchsvoll sind,
Als Anzeichen einer negativen Ent- vielleicht am wahrhaftigsten symp-
wicklung, im medizinischen Sinne tomatisch.“25
einer Krankheit und im konkreteren Zusammenfassend verallgemeinert
Sinne das wirre und chaotische Ver- Didi-Hubermann seinen Ansatz in-
drehen der Gliedmaßen eines Pa- dem er sagt, dass das Problem der
tienten der einen hysterische Krampf Kunsttheorie darin bestünde, dass die
erleidet. Mit diesem Beispiel will Di- Felder Phänomenologie und Semio-
di-Huberman die Bezeichnung des logie einzeln nicht wirksam sind und
Symptoms und den pans als souverä- unzureichend sind. Er plädiert für eine
nen Unfall erklären.23 stete Verschränkung der beiden Dis-
ziplinen. Um seinen Standpunkt zu
So wie die körperlichen Symptome verdeutlichen, bezieht er den Begriff
eines Anfalls souverän sind, zum ei- des pan schließlich noch auf einige
nen, weil der ganze Körper in dem andere, bereits existierende und art-
Moment davon tyrannisiert wird und verwandte Begriffe. Zum Beispiel auf

22
Ebd., S. 81.
23
Vgl.: Ebd., S. 74.
24
Vgl.: Ebd., S. 75.
25
Ebd., S. 77.
Georges didi-huberman

Roland Barthes punctum: Eine Gegen-


überstellung sei in Bezug auf die Er-
eignisdimension des Unfalls frucht-
bar, allerdings sei das punctum im Ver-
gleich vergänglich. Relevanz als Schlüsseltext
Der Betrachter wird von dem meta-
phorischen Pfeil getroffen und so Didi-Hubermans Text fi ndet seinen
178 bleibt keine „zu befragende, bildge- Platz unter den Schlüsseltexten der
bende Substanz.“26 Kunstwissenschaft zurecht. Er führt
den Begriff des pan vollkommen neu
In einem abschließenden, sehr knapp an und defi niert ihn deutlich und
gehaltenen Kapitel mit dem Titel Jen- nachvollziehbar. Die Bildbeispiele,
seits des Detailprinzips fasst Didi-Hu- die er auswählt, stammen aus dem
berman die Kernthesen seines Tex- 16. Und 17 Jahrhundert und funktio-
tes übersichtlich zusammen. Aus die- nieren mit seiner Theorie einwand-
sem rekapitulierenden Kapitel lassen frei. Seine Defi nition des pan ist al-
sich Merkmale und Eigenschaften lerdings auf bestimmte Epochen be-
der Begriffe Detail und pan heraus- schränkt und keinesfalls universell
stellen, so ist ein Detail stets identi- einsetzbar. Betrachtet man die kunst-
fizierbar, mimetisch und deskriptiv, geschichtlichen Epochen wird klar:
es ist bezeichnet stets die Formursa- mit dem Beginn des Impressionis-
che und ist daher unterscheidbar. mus, der sich in der zweiten Hälfte
Ein Detail hat immer eine bestimmte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat
Größe und entspringt einem mess- und einen entschiedeneren Übergang
barem Raum, während das pan hin- in die Moderne markiert, wird die De-
gegen nicht identifizierbar und nicht fi nition des pan, wie sie Didi-Huber-
mimetisch ist. mann verwendet, obsolet. Die skiz-
zenhafte Malweise, die vordergrün-
Es ist Materialursache und somit die dig die atmosphärische Wirkung des
Malerei selbst im Bild, das pan fällt Lichtes einfangen wollte, unterschei-
aus dem Rahmen, ist semiotisch labil det sich in punkto Präzision grund-
und offen. Dieser Bereich farbiger sätzlich von der der alten Meister.
Intensität besitzt eine nicht messbare Impressionistische Werke entziehen
Fähigkeit der Ausweitung. sich der Unterscheidung von Detail

26
Ebd., S. 77.
Christina Wigger

und pan da der Duktus stets deutlich Auffassung steht im Kontrast zu der
sichtbar ist. Der Pinselstrich ist grob künstlerischen und handwerklichen
und die Materialität der Farbe ist ein Intention der Künstler aus dem 16.
intendierter und untrennbarer Teil des und 17. Jahrhunderts, was die Unter-
Bildes. Nach Didi-Hubermans Defi- suchung noch spannender macht.
nition von pan wären also sämtlich
Gemälde seit dem Impressionismus
ein einziges pan. Pan funktioniert je- 179
doch nur in Abgrenzung zum anders-
artiges Rest eines Gemäldes: das pan Rezeption/Kritik
ist ein Detail, über welches der Be-
trachter zufällig bei der Bildbetrach- Grundsätzlich richtet sich Didi-Hu-
tung stößt, welches ihn irritiert, ver- berman mit seiner kunsttheoretischen
stört, ja sogar angreift und tyranni- Position gegen die Vorstellung der
siert. Sicherlich existieren Bildbe- Bildbetrachtung nach Panosfsky und
reiche mit ähnlichen Eigenschaften einer bloßen Ikonographie und Iko-
auch im Impressionismus oder in der nologie des Kunstwerkes. Vielmehr
zeitgenössischen Malerei, dazu müss- konstruiert er eine Metapsychologie
te die Theorie von Didi-Huberman des Bildes in der die Beziehung zwi-
aktualisiert werden. schen Bild und Betrachter von großer
Relevanz ist. In dieser wechselseitigen
Didi-Hubermans Theorie könnte der Beziehung muss die simultane Präsenz
Beweis für das Vorhandensein einer und Unbegreiflichkeit des Kunstwerks
Selbstreferentialität, einem Verweisen akzeptiert werden. Didi-Huberman
des Bildes auf das Bild-Sein selbst setzte sich dabei mit den Werken von
sein, eine Ausstellung des Gemacht- Aby Warburg, Georges Bataille und
Seins, welches bereits in der Kunst Walter Benjamin auseinander.
des 16. Jahrhunderts zu fi nden ist. Die größte Besonderheit von Didi-
Grundsätzlich ist auch die Frage, ob Hubermans Theorie und Philosophie
man ein pan erst heute als solches des Bildes ist die Einbeziehung von
wahrnehmen kann. Die einzige Mög- psychologischen Fragen. Im Gegen-
lichkeit ein pan zu identifizieren ist, satz zur Defi nition des pan, ist sein
zu sagen, es handele sich dabei um Verständnis von Bildbetrachtung ein
Malerei als vollzogenen Akt. Diese immer noch sehr aktuelles, welches
Georges didi-hubermnn

frei von der Abhängigkeit bestimmter Indem Didi-Huberman sol-


Epochen und Stile ist. Seine funda- chermaßen einen eigenen Terminus für
mentale Unterscheidung von einer piktorale Unschärfen reserviert, gleitet
Bildbetrachtung aus der Nahsicht und seine Darstellung streckenweise nicht
der Ferne ist relevant und vielseitig nur ins Dichotomische ab, sondern ver-
einsetzbar. Die psychologische Ebene passt mitunter auch die Chance, das Detail
des betrachtenden Subjekts spielt eine - wie Arasse – als ambivalentes Phä-
180 entscheidende Rolle: bei dem dreige- nomen zu begreifen, das sowohl symbo-
teilten Vorgang der Detailbetrachtung, lische wie symptomale Qualitäten auf-
dem Akt des gewaltsamen Aufteilen weisen kann.28
und wieder Zusammenfügen des Bil-
des geschieht zwangsläufig etwas mit Grundsätzlich kann Georges Didi-
dem Betrachter selbst. Hubermans Ansatz, weil er eine
Kombination aus der französischen
Der hier zusammengefasste Text fi n- Psychoanalyse und der deutschen
det, besonders im Vergleich zu an- Bildphänomenologie dargestellt, als
deren Werken von Didi-Huberman, Schlüsseltext der Kunstwissenschaft
wenig Erwähnung. Viel besprochen gesehen werden.
sind seine Hauptwerke: Das Nachleben
der Bilder. Kunstgeschichte und Phantom-
zeit nach Aby Warburg. Bilder trotz allem.
und Was wir sehen, blickt uns an. Zur Me-
tapsychologie des Bildes. In der Rezen-
sion der F.A.Z zu seinem Buch Das
Nachleben der Bilder wird Didi-Huber-
man von Wolggang Kemp als über-
zeugender Erbe von Aby Warburg
bezeichnet.27

Magnus Wieland schreibt in dem


Text Das Detail als Provokation der
Kunstgeschichte, erschienen in Interme-
dialität, Transmedialität.

27
Kemp, Wolfgang: Beschwingter Auftritt für eine alte Hausgöttin, Rezension zu Georges
Didi-Huberman Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg,
erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 11.10.2010.
In URL: https://www.buecher.de/shop/kunstgeschichte/das-nachleben-der-bilder/didi-huber
man-georges/products_products/detail/prod_id/29741458/ (07.11.2017).
28
Wieland, Magnus: Das Detail als Provokation der Kunstgeschichte, erschienen in Intermedialität,
Transmedialität. Hgg. von Alexandra Kleihues, Verlag Köln Weimar, 2007, S. 120.
Christina Wigger

181
Georges didi-huberman

Quellenverzeichnis

Didi-Huberman, Georges: Die Frage des Details, die Frage des pan Wieder-
182 abdruck in: Edith Futscher, Stefan Neuner, Wolfram Pichler, Ralph
Ubl (Hg.); Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur,
München, 2007.

Kemp, Wolfgang: Beschwingter Auftritt für eine alte Hausgöttin, Rezension


zu Georges Didi-Huberman. Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und
Phantomzeit nach Aby Warburg, erschienen in der F.A.Z am 11.10.2010.
In URL: https://www.buecher.de/shop/kunstgeschichte/das-nachle-
ben-der-bilder/didi-huberman-georges/products_products/detail/prod_
id/29741458/ (07.11.2017).

Wieland, Magnus: Das Detail als Provokation der Kunstgeschichte, erschienen


in: Kleihues, Alexandra (Hrsg.): Intermedialität, Transmedialität, Verlag Köln
Weimar, 2007.
Christina Wigger

183
Max imdahl
Bildbegriff und Epochenbewusstsein
Epochenkonstitution als Anschauungserkenntnis

Max Imdahl, geboren 1925 in Aachen, gestorben 1988 in Bochum, war


184 ein deutscher Kunsthistoriker. Von 1965 bis zu seinem Tod hatte er den
Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der zu diesem Zeitpunkt neu gegründe-
ten Ruhr-Universität Bochum inne und leitete deren Kunstsammlung in
der Abteilung Moderne. Sein Interesse galt besonders der „ästhetischen
Erfahrung“ und der werkimmanenten Phänomenalität von Kunstwerken.
Dabei ging er methodisch bildhermeneutisch vom Einzelwerk aus und
lehnte eine generalisierende und wissensbasierte Ikonographie und Ikono-
logie ab. Stattdessen fokussierte er eine nur in der Anschauung erfahrbare
„ikonische Sinnstruktur“, die in den Werken selbst erlebbar ist. Im Zuge
dessen beschäftigte sich Imdahl mit der Reflexion methodischer Vorge-
hensweisen der Kunsthistorik.1 Bekannt wurde er mit der von ihm entwi-
ckelten Ikonik, einer Lehre des erkennenden Sehens.

In dem hier vorgestellten Schlüsseltext entwickelt Max Imdahl die These,


dass das „Epochenbewusstsein“ einer Zeit jeweils unmittelbar aus der ästhe-
tischen Erfahrung von Einzelwerken verständlich werden kann. Darüber
hinaus sieht der Autor eine fundamentale makroperiodische Epochen-
schwelle, die sich darin zeigt, dass sich der Bildbegriff in den 60-er Jahren
des 20. Jahrhunderts grundlegend geändert hat: von der Relational Art zur
Nonrelational Art.

1
Vgl.: Kohle, Hubertus: Max Imdahl, in Ulrich Pfisterer (Hg.): Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 2,
München 2008, S. 217-225.
185
Max Imdahl

eingeführt wird. Unter Bezugnahme


sowohl auf gegenständliche als auch
auf abstrakte Malerei wird so ein
Inhaltsangabe, Argumentations- neues Kriterium zur Frage der Epo-
struktur und Textverlauf chenkonstitution angeboten.

Im Folgenden wird es um den Text Statt nach historisierenden Kriterien


186 Bildbegriff und Epochenbewusstsein von vorzugehen, betrachtet Imdahl das
Max Imdahl gehen, der eben diese me- einzelne Werk und seine innerbildli-
thodische Reflexion zum Inhalt hat. chen Beziehungen sowie die Bezie-
Der Text ist 1987 in dem von Rein- hung zwischen Werk und Rezipient.
hart Koselleck und Reinhart Herzog Dadurch rückt das Einzelwerk stärker
herausgegebenen Sammelband Epo- in den Vordergrund und Bildbegriff
chenschwellen und Epochenbewusstsein er- und Epochenbewusstsein werden neu
schienen. Dabei handelt es sich um gedacht. Anschließend an die sehr er-
eine Sammlung von verschriftlich- folgreichen Texte über die von Imdahl
ten Vorträgen, die im Zuge des vom entwickelte Methode der Ikonik, be-
26.09. bis 30.09.1983 abgehaltenen trachtet er nun Gemälde aus verschie-
XII. Kolloquiums der Forschungs- denen Zeiträumen. Statt der gängigen
gruppe „Poetik und Hermeneutik“ kunstgeschichtlichen Epochenklassi-
präsentiert wurden. fizierung zu folgen, plädiert er für ein
Neben Max Imdahl lieferten zum neues, beinahe ahistorisches Beschrei-
Beispiel auch Hans Belting, Anselm bungsschema, welches das Bewusst-
Haverkamp, Hans Robert Jauß, Nik- sein für Relationalität und die „Tota-
las Luhmann, sowie viele weitere na- litätsstruktur des komponierten Bil-
menhafte Historiker, Philosophen des“ ins Zentrum der Aufmerksam-
und Literaturwissenschaftler wichtige keit rückt. Hierbei sieht Imdahl die
Beiträge. Berücksichtigung der jeweils eigenen
Zentraler Ausgangspunkt des Imdahl- Rezipientenperspektive als unver-
Textes ist, dass anhand verschiedener zichtbar an, denn nur so lassen sich
chronologisch aufgeführter Einzel- die Relationen zum jeweils Ver-
beispiele aus der europäischen Kunst- gangenen und Zukünftigen erken-
geschichte, das Begriffspaar der Relati- nen. Wichtig erscheint ihm nicht die
onal- beziehungsweise Nonrelational Art Relation von Alt und Neu, sondern
Theresa Brauer & Sophie Reiser

die spezifische Art und Weise, wie der sukzessiven Abfolge von Stilpe-
und worauf sich die Perspektive rioden hinterfragt. Im Gegensatz zu
richtet: den genannten Kunstgelehrten geht
er nicht von einer zyklisch-fortschritt-
Von der gegenständlichen lichen Entwicklung der Kunst und
Malerei als dem Ausdruck einer Epoche ihrer epochalen Geschichte aus, son-
kann man erst sprechen, nachdem es die dern sucht nach einer Alternative zu
Epoche der sogenannten gegenstands- möglichen Epochenunterscheidun- 187
losen Malerei gibt, und von der Totali- gen. Kausale Zusammenhänge er-
tät eines komponierten Bildes als dem setzen sukzessive Abfolgen. Durch
Ausdruck einer Epoche kann man erst seine Abgrenzung zur Tradition stellt
sprechen, nachdem es Bilder gibt, die er sich dabei dennoch in eine Be-
auf diese Totalität thematisch verzich- ziehung zu den aufgeführten Auto-
ten. Dabei ist es ein erheblicher Unter- ren und misst demnach seiner The-
schied, ob man nun unter der Perspek- orie eine ebenbürtige Bedeutung zu,
tive der gegenstandslosen Malerei oder wenn auch unter einem methodisch
unter der Perspektive einer Malerei, die neuen Ansatz.
sich der Totalitätsstruktur des kompo-
nierten Bildes widersetzt, Epochen von-
einander unterscheidet.2
Epochendifferenzierungen
Imdahl beginnt seinen Artikel mit ei- innerhalb der „Relational Art“
nem Abriss über das historische Epo- Von Kalf über Chardin zu Cézanne:
chenbewusstsein bei kunstgeschicht- Entselbstverständlichung des Be-
lich interessanten Denkern. deutungsträgers und des Sehens.

Vor allem die unterschiedlichen nor- Max Imdahl strukturiert die Beispiele
mativen Bewertungen Lorenzo Ghi- seines Textes vor allem zu Beginn
bertis, Giorgio Vasaris und Giovanni stark chronologisch – beginnend mit
Pietro Belloris stellt Imdahl heraus. dem ältesten – umso die spezifischen
Vorangestellt sei hier der Hinweis, Eigenheiten seiner Beispielbilder
den Begriff der „Epoche“, wie Imdahl deutlich differenzieren, sowie auf-
ihn benutzt, mit Vorsicht zu genie- einander beziehen zu können.
ßen, da er die etablierte Bedeutung Anhand des Gemäldes Stillleben mit

2
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.):
Epochenschwellen und Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik, Bd. XII, München 1987,
S. 221.
Max Imdahl

chinesischer Terrine (Abb. 1) entstanden denn woraus deutlicher als aus der selbst-
1662 durch die Hand des Nieder- verständlichen Gewissheit und klaren
länders Willem Kalf, soll die emble- Erkenntnis des Bedeutungsträgers sollte
matische Bedeutung von Kunstwer- dessen signifizierende Kraft sprechen?3
ken thematisiert werden.
Das Gemälde zeigt neben der Chine- Um es prägnant zu formulieren, geht
sischen Terrine auch ein Glas, das im es bei Kalf darum, das dargestellte
188 folgenden Zitat thematisiert wird. Glas als ein Glas zu erkennen. Nicht
mehr und nicht weniger. Durch seine
perfektionierte Darstellung des Gla-
ses entsteht sinnbildliches Bedeuten,
wodurch nicht nur das Glas, sondern
auch das Wissen um die Charakte-
ristik des Glases implizit ist.
Folglich schwingt in der Darstellung
des Glases das kulminierte synästhe-
tische Wissen mit: seine glatte, kühle
Oberfläche, das Klingen von Glas an
Glas. Im Umkehrschluss würde dies
bedeuten, dass jede Entselbstverständ-
lichung des Bedeutungsträgers des-
sen emblematisches Bedeuten ein-
schränkt. Sobald der Betrachter sich
Abb.1: Willem Kalf: Stilleben mit chi- der Farbe als eigenständigem Medi-
nesischer Terrine, 1662, 64×53 cm, Öl um bewusst würde, verlöre sie ihre
auf Leinwand, Gemäldegalerie Berlin. vergegenwärtigende Kraft.

Das bildlich Gegebene ist die In Kalfs Bild ist nicht der Ge-
visuelle Repräsentation eines in seiner genstand als solcher unselbstverständ-
Faktizität keineswegs problematisierten lich, wohl aber die Prägnanz seiner bild-
Gegenstandes, es ist eine Funktion des- lichen Vergegenwärtigung. Niemand aber
sen, was jedermann von diesem Gegen- könnte (und sollte) die bildlichen Verge-
stande wissen kann. Es thematisiert somit genwärtigungsmittel, vorallem die Far-
auch dessen emblematisches Bedeuten, be, sozusagen wörtlich nehmen.4

3
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 223.
4
Ebd.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Das Bild möchte demnach weder sein dem Bildmittelpunkt entrückt steht
Motiv in Frage gestellt sehen, noch ein schlichtes Wasserglas. Bei diesem
möchte es mit dem Objekt gleichge- Kunstwerk spielt, im Unterschied zum
setzt werden. Vielmehr besteht sein vorangegangenen Werk, der koloris-
Bestreben darin, als das perfekte Ab- tische Selbstwert der Farbe eine über-
bild des Gegenstandes wahrgenom- geordnete Rolle.
men zu werden. Deshalb bleibt in die-
sem Fall die Farbe reines Mittel zum 189
Zweck. Sie existiert nicht aus sich
heraus, sondern dient der reinen Ab-
bildung. Ohne selbstständigen Eigen-
wert obliegt sie lediglich der über-
pointierten Darstellung von Wissen.
Besonders deutlich wird dies am Bei-
spiel der Lichtreflexe des dargestellten
Glases, die als Manifestation des Wis-
sens um Optik und Licht mehr als
nur Abbildung ihrer selbst sind. Abb.2: Jean-Baptiste Siméon Chardin:
Mit Kalfs Stillleben mit chinesischer Ter- Korb mit Walderdbeeren, 1761, 37×45
rine hat sich Imdahl für ein Beispiel cm, Öl auf Leinwand, Privatsammlung,
entschieden, in dem Bild- und Ding- Paris.
kohärenz in höchstem Maße überein-
stimmen. Dabei wird der Kontrast Das einfache, schlichte Wasserglas, das
zum dann folgenden Bildbeispiel be- das Gemälde zeigt, lenkt das Augen-
sonders deutlich. merk weg vom Gegenstand an sich
und hin zur Farbvielfalt.
Denn nun schließt Imdahl den Ver- Der koloristische Mehrwert über-
gleich zu Jean Baptiste Simeon Char- bietet dabei das Wissen vom Gegen-
din an. Der Korb mit Walderdbee- stand, was bedeutet, dass die Erkennt-
ren (Abb. 2), ist etwa hundert Jahre nis auf einer unvoreingenommenen
später, 1761, gemalt worden. Präsent Anschauungsweise beruht, statt wie
türmen sich kegelförmig im Zentrum im Beispiel zuvor, auf bereits gene-
des Bildes leuchtend rotere Walderd- riertem und gesichertem Wissen, das
beeren. Unmittelbar daneben und in den dargestellten Gegenständen bei

4
Ebd.
Max Imdahl

Kalf mühelos wieder erkannt werd- die diese Malweise zur Folge haben
en kann. Hier wird Imdahls Gegen- kann, deutlich zu machen, zieht Im-
position zu einem kunstgeschicht- dahl zwei philosophische Autoritäten
lichelitären Ansatz deutlich. Denn heran, die jeweils zu völlig konträren
der Rezipient muss bei Imdahls Vor- Schlüssen kommen. Während Pierre-
gehen keinerlei Vorwissen besitzen, Jean Mariette scheinbar nicht gewillt
um dieses Faktum des Mehrwerts der ist, die zuvor durch Imdahl beschrie-
190 Farbezu erkennen und zu formu- bene Anschauungsleistung zu voll-
lieren. Das sehende Sehen, das reine bringen und lediglich eine vermeint-
Sehen bildimmanenter Phänomene, liche Unfähigkeit des Malers kritisiert,
leistet hier die Sinnkonstruktion bei nimmt Denis Diderot die Gegenpo-
der Bildbetrachtung. sition ein: Er zieht die positive Bilanz,
das Auge erfahre eine Belebung.
Nicht der Gegenstand in sei-
nen vorgewussten kategorialen Qualitä- Nicht die noch so vollkom-
ten, sondern der Gegenstand in seiner un- mene Visualisierung des apriorisch Ge-
voreingenommenen, vor allem die Far- wussten, sondern die Innovation des
ben gewahrenden Gesehenheit ist ge- aposteriorischen Gesehenen zählt.6
malt. Dem wiederum entspricht wohl-
möglich auch unsere Anschauungserfah- Das Kunstwerk selbst thematisiert
rung [...] – eine Anschauungserfahrung das auf Erfahrung basierende Sehen,
in der Art einer das Sehen selbst verinner- statt das auf Vernunft basierende Wis-
lichenden Aktbewusstheit.5 sen. Nach Imdahl manifestiere sich
damit in Chardins Werk ein aufklä-
Imdahl beschreibt hier das Phäno- rerischer Ansatz, der das Selbstver-
men, das weiter oben schon kurz an- ständliche entselbstverständlicht und
gerissen wurde: Eine subjektive An- so das Wissen um die Dingwelt neu
schauungsleistung des Rezipienten, hinterfragt.
der sich seines Sehens im Prozess des- Um seine systematischen Ausfüh-
selben bewusst wird. rungen noch zu erweitern, bezieht
Die unmittelbare Erfahrung in der sich Imdahl im nächsten Schritt auf
Betrachtung des Kunstwerkes domi- Paul Cézannes Aquarell Stilleben mit
niert dabei über die Vernunft. grüner Melone (Abb. 3) aus den Jahren
Um die unterschiedliche Bewertung, 1902 bis 1906.

5
Ebd., S. 224.
6
Ebd.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

visuell entstehen zu lassen. Es geht


hierbei um die Berücksichtigung ei-
ner rezeptiv-ästhetischen Bilderfah-
rung: Einem „entbegriffl ichte[n] Se-
hen“7 des Gegenstandes.

Der Gegenstand – in diesem Fall das


Glas – entsteht somit durch den Akt 191
des Malens und des Sehens gleicher-
Abb.3: Paul Cézanne: Stilleben mit grü- maßen. Folglich wird Sinn in Cé-
ner Melone, 1902-1906, Aquarell, zannes Malerei nicht durch die apri-
Kreide, 31,5×47,5cm, Privatbesitz. orische Übereinstimmung von Bild
und Ding generiert, sondern wird un-
Das Trio aus Melone, Apfel und Was- ter den Regeln einer quasi schon im-
serglas, das durch Blattwerk und ei- pressionistischen Wahrnehmung neu
nen Korb ergänzt wird, nimmt das defi niert. Cézannes Position befasst
obere Bildfeld in Anspruch und sich deshalb vor allem mit der Natur
verläuft sich zum oberen Bildrand der Wahrnehmung und nicht mit dem
hin in Farbspuren. Das untere Bild- wahrgenommenen Objekt selbst.8
feld wird nur von der Tischplatte ein- Durch das optische Angebot von
genommen und erscheint im Kon- Farbflecken schafft Cézannes Ma-
trast erstaunlich leer. lerei eine neue bildgegenständliche
Fast 150 Jahre später als Chardin an- Konstitution. Es wirkt gegenstands-
zusiedeln, geht es Imdahl zu Folge in schaffend in dem Sinne, dass die
Cézannes Malerei vor allem um einen „Bildmittel[...] den Gegenstand nicht
optischen Eindruck: Auf dem Bild- den Gesetzen der tastenden Erfah-
träger setzen sich visuell empfundene rung entsprechend [konstituieren]“,
Flecken zu einem geschlossenen Ge- sondern gemäß den Gesetzen „eines
füge zusammen. Das Auge nimmt vi- in sich abgeschlossenen, geregelten,
suelle Eindrücke in Form von Nuan- dem reinen Sehen verpfl ichteten
ces (Farbschattierungen und Abtö- Bildorganismus.“9
nungen) und Taches (Farbflecken) auf,
welche durch die Malerei systemati-
siert werden, um so den Gegenstand

7
Henle, Susanne: Claude Monet. Zur Entwicklung und geschichtlichen Bedeutung seiner Bildform,
Diss. Bochum, 1978, hier S. 95.
Max Imdahl

Diese Auf- und Loslösung der alltä- In diesem Zusammenhang geht es


glichen Sinnzusammenhänge ist nö- vor allem um die Differenz zwischen
tig, um die beschriebenen visuellen der Dingkohärenz und der Bildko-
Empfi ndungen unter ihren eigenen härenz. Erstere beschreibt den Sinn-
Regeln erfassen zu können und letz- zusammenhang des Gegenstandes
tere gleichzeitig mitzurefreflektieren: selbst: Das Glas ist ein Glas. Bei Letz-
terer steht vor allem der Sinnzusam-
192 Dass auch Cézannes Malerei menhang zwischen dem Gegenstand
in der vorherrschenden Orientierung auf und dessen Abbildung im Vorder-
die Farbe Aktbewusstheit thematisiert, grund. Es handelt sich hierbei um ei-
nämlich eine Erfahrung eröffnet, in der ne auf Vorwissen begründete mime-
der Sehende sein Sehen selbst erfährt, tische Repräsentationslogik. Die Ab-
ist nicht zu bezweifeln, und ebenso bildung des Gegenstandes stimmt
wenig, dass sie sich von jedem begriff- folglich mit dem Vorwissen über die-
lichen Vorverständnis der Dinge, zum sen überein. Fallen Bild- und Ding-
Beispiel eines Glases, befreit. Das wird kohärenz zusammen, folgt die Be-
deutlich an der Gegenstandsferne der trachtung den bei Kalf noch gültigen
Farbenvielfalt und der erregenden Un- Regeln der Sinngenerierung. Treten
bestimmtheit und Unendgültigkeit der diese beiden jedoch auseinander, ent-
Dinggrenzen. steht ein Verlust der Identitätskon-
Am Maßstab unseres mitgebrachten stanz und folglich der Verlust von
Wissens vom Gegenstande verhalten sich apriorischem Sinn.
die linearen und koloristischen Bild-
daten inkohärent zueinander, kohärent Cézannes Malerei führt jedoch ge-
sind sie allein im Kontext der ästheti- nau diese Differenz in seinen Werken
schen Selbstgesetzlichkeit des Bildes. vor Augen: „Indem das Bild den Ge-
Dingkohärenz und Bildkohärenz treten genstand auf diese Weise generiert,
auseinander, wie sie freilich ebenso über ist der Gegenstand selbst in unvor-
jede bloß zufällige Entzweiung hinaus denklicher Präsenz und Qualität ge-
in wechselseitig notwendiger Ausschlie- genwärtig.“11
ßung korrelieren. Denn die Bildkohä-
renz besteht nur unter der Bedingung Durch die Möglichkeit, dass das Bild
der gegenständlichen Inkohärenz und seine eigene Logik unvordenklich
umgekehrt.10 generiert, wird Sinn erzeugt.

8
Ebd., S. 89.
9
Ebd., S. 90.
10
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 226.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Jeder einzelne Bildausschnitt und bezieht sich Imdahl auf den Begriff
Blickwinkel bringt seine eigene äs- der „Wilden Ontologie“. Das Sehen
thetische Kohärenzstruktur hervor selbst ist nun Akt eines unmittelbares
und schafft somit eine ästhetisch Erlebnisses und als solches durch-
neue Realität unter Regeln, welche bricht es die Einstellung einer per-
nur für diesen Augenblick Wirksam- manenten, klassifi zierenden Denk-
keit beanspruchen. Im Beispiel Cé- ordnung. Das Sein der Dinge ist hier-
zannes vertritt somit nicht mehr die bei für die Erkenntnis Illusion und 193
Fläche die Projektionsebene, viel- Schein. Die Bildform ist nicht mehr
mehr entstehen Flächen, Raum und Ordnung sprachlich bezeichenbarer,
Objekt durch eine im Werden begrif- benennbarer Gegenständlichkeit,
fene Anschauung. sondern Organisation optischer Be-
Unter diesem Aspekt lässt Cézanne züge zwischen den Gegenständen.
sich der impressionistischen Sinnes- Ziel hierbei ist in erster Linie eine
wahrnehmung zuordnen. Allerdings Überwindung sprachlich fi xierter
strebt er darüber hinaus eine Ordnung und normativer Begriffl ichkeiten,
der Bilddaten an, welche in sich selbst wodurch sich die Dinge nicht mehr
schlüssig ist und den „Dingen der Ma- in ein Ordnungsgefüge eingliedern
lerei untersteht, die das Chaos der lassen.14 Im Fall des zu betrachtenden
reinen Wahrnehmung überfängt“12 . Stillebens15 von Cézanne ist das Glas
Es entsteht bei Cézanne so ein durch- im Bildraum kein Glas gemäß dem
organisierter, in sich abgeschlossener sprachlichen Begriff. Es entsteht ein
Bildorganismus. Betrachten, das sich von der alltäglich
gewussten Terminologie befreit.16
Cézannes Malerei versteht sich darin, Das Bild wird folglich Wiedergabe
die Dinge, welche Bewegung sugge- spezifisch neuer Erfahrungen und
rieren, in ihrer Bewegtheit zum Still- bleibt damit keine Projektion vorge-
stand zu bringen, um den Betrachter wusster Dinghaftigkeit.
darauf aufmerksam zu machen, die
Dinge selbst als in ihrer Bewegung Die Erscheinung des Dings
und Veränderung befi ndlich zu be- stimmt nicht mit seiner Existenz über-
trachten.13 In dieser neuen, durch den ein. Ziel der Kunst ist [...] allein die Er-
Akt des Sehens und Malens entstan- scheinung der Dinge, denn nur diese
denen Welt-Bildordnung Cézannes, Erscheinung ist sinnlich erfahrbar.17

11
Ebd., S. 227.
12
Henle, Susanne: Claude Monet. Zur Entwicklung und geschichtlichen Bedeutung seiner Bildform,
1978, S. 93.
13
Vgl.. Ebd., S. 95.
Max Imdahl

Fasst man die unterschiedlichen ma- Dabei liegt das Interesse im Gegen-
lerischen Positionen von Kalf bis Cé- satz zu den bisher behandelten Tafel-
zanne ins Auge, ergibt sich folgen- bildern auf makrostrukturalen Ge-
des Zwischenergebnis. meinsamkeiten. Um den Gegensatz
In der ästhetischen Erfahrung der von „Fragment“ und „Totalität“ zu
divergieren den Malereien werdenje verdeutlichen, beschreibt Imdahl zu-
unterschiedliche „Epochenbewusst- erst die Bedingungen des autonomen
194 seine“ ins Werk gesetzt. Tafelbildes als geometrische Grund-
form mit in sich enthaltenen ver-
schiedenartigen Einzelformen:

Das komponierte Bild ist ein


Lorrain versus Stella: komplexes, in sich notwendiges und ganz-
von der Relational Art zur Nonre- heitsstiftendes Relationsgefüge.18
lational Art – epochaler Bewusst-
seinswandel und veränderter Die bildimmanenten Formen neh-
Bildbegriff. men dabei Bezug auf die rechteckige
Rahmenform des übergeordneten
Allen bisher betrachteten Bildbei- Gesamtgefüges.
spielen ist gemein, dass es sich um ge- Nach Imdahls Urteil ist das Tafelbild
genständliche Malerei sowie konzi- eine der wichtigsten Errungenschaf-
pierte und komponierte Tafelbilder ten der europäischen Malerei, in der
mit mikrostrukturellen innerbildli- Ausschnitt und Gesamtzusammen-
chen Unterscheidungen handelt. hang reziprok gedacht werden.
Ausnahmslos alle Maler – von den Zur Unterstreichung seiner Gedan-
Goldenen Niederländern bis Cézanne ken zieht Imdahl die (unvermeidliche)
– folgen dabei einem stringenten kunsthistorische Instanz Leon Bat-
Bildbegriff: dem des komponierten tista Alberti hinzu, der seinerzeit be-
Tafelbildes als klassischem Werkbe- reits das Gemälde als finestra aperta
griff. Imdahl verlässt nun die Gattung beschrieb.
des Stillebens und wendet sich einem Imdahl fügt dem allerdings noch ei-
Kunstwerk der Landschaftsmalerei nen Aspekt hinzu, indem er die Kom-
zu. Anhand dieses Beispiels führt er poniertheit eines Gemäldes noch ein-
den Begriff des „Fragments“ ein. mal hervorhebt.

14
Vgl.: Ebd.
15
Die Autorinnen berufen sich auf Schreibweise „Stilleben“ nach Prof. Karin Leonhard.
16
Vgl.: Ebd., S. 51.
17
Ebd., S. 53.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Er schreibt dazu: wir nur die Beziehungen!


Die Epoche des komponierten Tafel-
Das komponierte Bild ist ei- bildes strebt demnach, das Ausschnit-
nerseits – hinsichtlich seines Motivs – thafte, das Fragmentarische eines
ein so oder so gewählter oder auch wähl- Fensterausblicks in gestaltete Tota-
barer Ausschnitt, eine fi nestra aperta [...] lität zu überführen. In Bezug auf das
und es ist andererseits – in Hinsicht auf Bildbeispiel von C. Lorrain, Der Mittag
die formale Komposition – ein endgül- (Abb. 4) von 1651 bedeutet dies, dass 195
tiger, so und nicht anders strukturierter eine grenzenlose Landschaft, lediglich
Zusammenhang und als dieser ein ge- ausschnitthaft – fragmentarisch –
staltetes Ganzes.19 abgebildet werden kann und durch
das Medium der Kunst zu einer Ganz-
Das Kompositionelle des kompo- heit transformiert werden muss. Nach
nierten Bildes beschreibt Imdahl als einer Bildbeschreibung des Kunst-
„ästhetische Positivität“20, das heißt werkes, welche vor allem auf das Zu-
als dessen Bestimmtheit, und stellt es sammenspiel von Architektur und
als den Ursprung seiner Schönheit Natur im Goldenen Schnitt eingeht,
heraus: schließt Imdahl das folgende zusam-
menfassende Fazit an.
Für die integrale Seinsverfas-
sung des Kunstwerkes folgt, dass seine Der äußere Umriss des Bil-
Schönheit, die ästhetische Positivität, des und das innerbildliche Ordnungsge-
nicht durch ein ‚Einzelnes bestimmt füge begründen sich wechselseitig und
wird, sondern durch das Viele, für das bilden eine unveränderliche, endgültige
allein ja kompositionelle, rationale Be- Gesamtgestalt: Eine Totalität. Wie das
stimmungen gelten.’ Nimmt man es prin- Ganze im Einzelnen, so ist im Einzelnen
zipiell, so steckt das eigentliche Problem das Ganze kopräsent. 22
des komponierten Bildes darin, das Be-
liebige und auch Fragmentarische eines In Claudes [Lorrain] Bild ist die
Fensterdurchblicks in eine gestaltete To- Unterscheidung zwischen der formalen,
talität zu überführen. 21 der Idee der Relational Art verpfl ichteten
Bildtotalität und dem motivischen Aus-
Oder mit George Braques Worten: schnitt aus einer naturgemäß bildüber-
Vergessen wir die Dinge, betrachten greifenden Landschaft vorausgesetzt als

18
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 229.
19
Ebd., S. 230.
20
Ebd.
21
Ebd.
Max Imdahl

eine überwundene Differenz, insofern wieso das Fragment als abgeschlos-


senes Bild funktioniert.
der landschaftliche Ausschnitt in der Ge-
Seine Antwort darauf lautet: Indem
stalt jener formalen Bildtotalität vor Au-
gen kommt und mithin die bildübergrei- man die Landschaft in der Totalität
des Werks in einem endgültigen Ord-
fende Landschaft selbst als Totalität de-
fi nierbar wird. 23 nungsgefüge präsentiert, ist auch die
scheinbar unbegrenzte Landschaft in
196 seinem Bildausschnitt strukturierbar.
Der Ausschnitt verhält sich zum Gan-
zen wie das Ganze zum Ausschnitt.
Positioniert man nun den Betrachter
vor dem Bild, führt dies zu einem sei-
ner Selbst gewissen Subjekt im Raum.
Hier wird nun der Begriff der Re-
lational Art eingeführt, der konkre-
tisiert, was zuvor bereits analysiert
wurde: „Was der moderne Begriff
Abb.4: Claude Lorrain: Der Mittag, der Relational Art bezeichnet, ist eine
1651, Öl auf Leinwand, 116×160 cm, hierarchische Struktur der Subordi-
Hermitage Museum. nation ungleicher Elemente unter ein
von diesen selbst konstituiertes in-
Wir sehen zum einen spezifische Bild- dividuelles Ganzes.“24
details, die gleichzeitig einen Zusam-
menhang oder – um bei Imdahls Vo- Seit Giotto seien Bildelemente durch
kabular zu bleiben – eine Totalität ihre gemeinsame Unterordnung un-
bilden. Das Bild ist also gleichzeitig ter eine Totalität, unter ein Bildgan-
Fragment (in Bezug auf die unendli- zes, das sie bilden, miteinander ver-
che Weite der Landschaft) sowie kom- bunden – relational.
positionelle Totalität. Die Relational Art befasst sich mit
Wobei der Begriff des Fragments da- ikonischer Totalitätsbildung, was be-
bei präzise gewählt ist, da er das De- deutet, dass die Gesellschaft exakt
fizit stärker impliziert, als beispiels- weiß, wie sie in und zur Welt steht.
weise das Wort Ausschnitt. Folge- Solange die Relational Art das Kunst-
richtig stellt sich Imdahl die Frage, schaffen der Zeiten bestimmt, haben

22
Ebd., S. 231.
23
Ebd., S. 234.
24
Ebd., S. 233.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

diese Gesellschaften ein „Bewusst- jenem Maler, der ursprünglich den


sein“, von dem, was sie grundlegend Terminus der Relational Art begrün-
bestimmt. Innerhalb des Werkes wer- det hatte. Das gegenstandslose Werk
den Relationen auffindbar, die so auch ist eine shaped canvas, ein in seiner Um-
auf die eigene außerbildliche Wirk- rissgestalt unregelmäßiges Gebilde,
lichkeit anwendbar sind. dessen innere Struktur – ungleich
Die Welt stellt sich als eine Bewältig- dem Tafelbild – die äußere Form des
bare dar, genau deshalb, weil die Ab- Kunstwerkes bestimmt. 197
bilder dieser Welt selbst relational
geordnet sind. Die weiterführende
These Imdahls lautet nun: Mit dem
Aufkommen der Nonrelational Art
trete dann aber ein epochaler, zäsur-
hafter „Bewusstseinswandel“ zu Tage.

Die Relational Art und die Nonrelational


Art lassen sich in ihrem bildimmanen-
ten Ganzheitscharakter in der Form
„tatsächlich unterscheiden“, „wie sich Abb.5: Frank Stella: Quathlamba,
ähnlich, wenngleich weniger grob, 1964, Shaped Canvas, 139×666 cm,
verschiedene Epochen der Malerei Metallpulver in Polymer-Emulsion auf
nach verschiedenen Modalitäten der Leinwand, Museum of Contemporary
Raumdarstellung unterscheiden las- Art, Tokio.
sen“. 25 Das nonrelationale Bild ist
stets ein ungegenständliches, „kon- Die sehr klare und rational durch-
kretes“ Werk, das zur „symbolische[n] schaubare additive Kombination von
Form“26 des Zweifels wird. Es wird V-Formen ist zwar in sich geschlos-
Ausdruck eines gestörten Verhältnis- sen, ließe sich allerdings auch eben-
ses von Mensch und Welt. so unendlich erweitern. Unverkenn-
bar schafft ein derart mechanisches
Frank Stellas Quathlamba (Abb. 5), Kombinationsprinzip mit qualitativ
gemalt 1964, wird hierzu von Imdahl immer identischem Gesamtergebnis
als Beispiel herangezogen. Es han- die Idee individueller, ästhetischer
delt sich um ein Bildbeispiel von eben Ganzheitsstiftung ab.“27

25
Vgl.: Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 233. Diese Passage Imdahls
ist explizit in Parallelität zu Panofskys Deutungen zu den Errungenschaften der Zentralperspektive zu
verstehen. Vgl. Panofsky, Erwin: Perspektive als symbolische Form (1927). Vgl. auch Stöhr, Jürgen:
Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite, in: Blümle, Claudia, Johannes Grave
(Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés, Vol. 7, 2017, 81-96, 90 f .: „Vor seinem zu frühen Tod 1988
war die Tendenz für den Bochumer schon deutlich absehbar. Alles lief [bei Frank Stella] auf eine
»vollends irrationale Formkombinatorik« hinaus. Und es ist so, als ob Imdahl doch noch ein letztes Mal
auf Erwin Panofsky habe zurückkommen wollen. In diesem Irrational-Wer den des Tafelbildes sah er
in Umkehrung zur Erfindung der Zentralperspektive wie bei Panofsky beschrieben – die »symbolische
Form«, »Welt auch als ein nicht zu Bewältigendes zur anschaulichen Erfahrung zu bringen«“.
Max Imdahl

Dieses mechanische Kombinations- sprechen, um so der Frage nachzuge-


prinzip negiert das Prinzip der ästhe- hen, ob gegenstandslose Kunst not-
tischen Ganzheitsstiftung aus Zwei- wendigerweise gleich Nonrelational
fel an der Beherrschbarkeit der Welt Art ist. Jericho lässt sich der gegen-
und zugunsten der Betonung einer standslosen Malerei zuordnen und
bloßen Bildfaktizität. widersetzt sich der Ganzheitsidee
der Relational Art. Somit entspricht
198 Bis dato befand sich der Text Im- es zunächst der These in Imdahls
dahls in einer vorbereitenden Funk- aufgeworfener Frage.
tion auf das, was nun folgen soll.
Dies formuliert der Verfasser in fol-
gen dem Umkehrschluss: „Jedenfalls
ist kaum zu bestreiten, dass erst im
Lichte der Nonrelational Art die Errun-
genschaften der Relational Art deut-
licher bewusst werden.“28 Erst in
Abgrenzung zur jeweils folgenden,
andersartigen Epoche, lässt sich die
vorhergegangene spezifizieren. Das
anschließende Kapitel wird sich nun
damit näher auseinandersetzen.
Abb.6: Barnett Newman: Jericho, 1968-
69, 269×285,8 cm, Acryl auf Leinwand,
Musee National d‘Art Moderne, Paris

Newman, Lorrain und Das ungerahmte, schwarz-rote, gleich-


Mondrian oder die Frage: schenklige Dreieck lässt durch sei-
Ist gegenstandslose Kunst ne eigene Form keine internen Rela-
notwendigerweise gleich tionen zu. Durch sein großes Format
Nonrelational Art? von 269 cm auf 285,8 cm lässt sich das
Werk nie in seiner Ganzheit betrach-
Im Folgenden kommt Max Imdahl ten. Trotzdem soll der Betrachter sich
auf das Kunstwerk Jericho (Abb. 6) direkt vor dem Werk positionieren,
(1968-69) von Barnett Newman zu um durch die nahe Betrachtung einen

26
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 286.
27
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 233.
28
Ebd.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Überwältigungsmoment innerhalb Der hieraus entstehende Verlust der


der Seherfahrung zu erleben. Durch Orientierung führt gleichermaßen zu
das partielle Erschließen der Gesamt- einer Desorientierung des Betrach-
heit wandert der Blick des Betrachters ters. Um zu erklären, warum das Drei-
im Gegensatz zum Landschaftsge- eck in diesem Fall als Nonrelational Art
mälde nicht horizontal über das Ge- zu verstehen ist, führt Imdahl den
mälde, sondern wird von unten nach Begriff des „bildüberschreitenden
oben geführt. Die Totalitätsanmu- Plus“ ein. 199
tung des in sich geschlossenen Drei-
ecks wird in Jericho durch einen ro- Das Plus, zu dem sich das
ten Streifen verletzt, der durch eine Bild wie ein Fragment verhält, ist eine
leichte Versetzung aus der Spiegel- bildüberschreitende Seinsheit, ohne jede
achse entsteht. Hierbei handelt es sich begriffl ich fassbare oder natürliche zum
um einen wahrnehmungspsycholo- Beispiel landschaftliche Entsprechung.
gischen Effekt mit radikalen Konse- Das bildüberschreitende Plus hat selbst
quenzen: Das Werk stellt selbst sein kein bestimmtes Aussehen, als grund-
Fragment-Sein aus. Durch den roten sätzlich Unfassbares wird es dennoch
Streifen, welcher die Eulersche Ge- erfahrbar. Es wird erfahrbar durch die
rade des Dreiecks mit seinem linken bildgestiftete Spannung zwischen Tota-
Rand bestätigt, wird diese jedoch lität und Fragment. 29
gleichsam in Frage gestellt, da der
Streifen insgesamt von der Symme- Die Totalität des Dreiecks wird durch
trieachse nach rechts abgerückt ist. den Bruch evoziert und durch den
Besonders deutlich wird das im obe- aus der Mitte versetzten roten Strei-
ren Bereich des Dreiecks, in dem der fen zu einem Fragment von ebenje-
Winkel nur vom linken Rand, nicht nem im Zitat beschriebenen „Plus“.
aber exakt von der Mitte des Streifens Letzteres wird trotz seiner Unfass-
durchschnitten wird. Der im Rezep- lichkeit durch die bildgestiftete Span-
tionsprozess entstehende Aufwärts- nung zwischen Totalität und Fragment
impuls verletzt die Totalität und for- erfahrbar. Darüber hinaus kann die
male Geschlossenheit des Dreiecks Spannung zwischen der Totalität des
genau dort, wo es am meisten Stabi- Dreiecks und dem Fragmentarischen
lität besitzt – in dessen Spitze. des Streifens innerhalb des Bildes
nicht gelöst werden.

29
Ebd., S. 236.
Max Imdahl

Nach Imdahl stellt genau dieser As- Der Rezipient verliert die Gewissheit
pekt etwas Besonderes und grundle- seines eigenen Standortes.
gend Neues dar. Dies wird vor allem Das „Plus“ entzieht dem Rezipienten
im Unterschied zu Lorrains Land- seine Selbstgewissheit. Diese unfass-
schaftsbild deutlich, in dem das „Plus“ liche Erfahrung der Welt als einer
durch die Kopräsenz von Ausschnitt nicht zu bewältigenden, wird im Bild
und Ganzheit erfahrbar wird. Darin selbst zum Thema und somit vom Be-
200 liegt dessen spezifischer Charakter. trachter zwar erschließbar jedoch
Das Ziel dieses durch Imdahl an- nicht bewältigbar. Dieses Prinzip der
geführten Vergleichs zwischen der Erfahrbarmachung von Unfasslich-
Kunst Lorrains und Newmans ist keit wird auch bei Newmans Jericho
nicht die normative Ablehnung der zum „Bildsujet“: Die Totalität (das
Nonrelational Art als Nicht-Können, Dreieck) wird aufgebrochen (durch
sondern die Analyse von unterschied- die Linie), so zum Fragment eines
lichen Formen des Kunstwollens. „Plus“ und folglich in sich selbst ent-
In Jericho kann sich das Fragment im zweit.
Gegensatz zum Landschaftsbild Lor-
rains nicht in Totalität erfüllen. Dennoch ist in Newmans Bild
Demnach lässt sich die besondere die Spannung zwischen Totalität und Frag-
Leistung des Newmanschen Kunst- ment so sehr sie selbst, dass sich niemals
werks wie folgt beschreiben: ein nur illustratives Verhältnis zur Zerstö-
rung der Stadt31 herstellen kann. Die Leis-
[Das bildüberschreitende Plus tung des Bildes beruht vielmehr darin, das
wird als] unbeherrschbares repräsen- Fassbare und Messbare eines gleichschenk-
tiert in eben dem Maße, in welchem das ligen Dreiecks durchaus nicht zu verleug-
Bild ein unbeherrschbares, in sich selbst nen, aber doch die darin einbeschlossene
gestörtes geometrisches Gebilde ist: Gewissheit einer Totalität in Frage zu stel-
Das eigentlich unanschauliche und un- len und – letzter Konsequenz – Welt auch
fassliche bildüberschreitende Plus wird als ein nicht zu Bewältigendes zur an-
schaulichen Erfahrung zu bringen.32
als ein prinzipiell unfassliches erschließ-
bar, allerdings wird seine Unfasslichkeit
insofern fasslich, als fasslich wird, dass Nichtsdestotrotz lässt sich die Kunst
sie im Medium geometrischer Ordnung von Frank Stella und Barnett Newman
nicht fasslich werden kann.30 aus der Perspektive der Relational Art

30
Ebd., S. 237.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

nur negativ diskutieren, da sie beide die bildimmanente Komposition je-


in ihren Arbeiten die selbstverständ- doch nicht erforderlich.
liche Totalität der Relational Art in Durch die unterschiedliche Breite der
Frage stellen. Aber nur durch den Streifen entstehen unterschiedliche
Vergleich und die daraus resultieren- Anschauungsrichtungen, in welcher
de Abgrenzung zur Relational Art wird sich die waagrechte und senkrechte
die Existenz einer nicht näher zu de- Progression sowie Regression gegen-
fi nierenden Entität – dem „Plus“ – seitig bedingen. Dieses Wechselspiel 201
verdeutlicht. In diesem Zuge lässt bedarf eben keiner Ergänzung über
sich die zuvor aufgeworfene Frage den Bildrand hinaus, da die Seiten-
erneut thematisieren, ob ein notwen- ränder als diagonal verlaufende En-
diger Zusammenhang zwischen der titäten den exakten Vermittlungswert
Relational Art und der gegenständ- zwischen Vertikalität und Horizon-
lichen Malerei sowie vice versa der talität darstellen. Daraus resultiert,
Nonrelational Art und der gegenstands- dass es sich bei diesem Bildbeispiel
losen Malerei bestehen muss. zwar um ein Werk der gegenstands-
losen Kunst handelt, es jedoch trotz-
Anders formuliert: „Endet die Epo- dem relational ist.
che der gegenständlichen Malerei mit
dem Ende der Relational Art?“33
Zur Beantwortung der Frage führt
Imdahl Piet Mondrians Werk Kom-
position mit gelben Linien (Abb. 7) von
1933 ein. Es handelt sich um eine
übereck gestellte quadratische Lein-
wand, die den Betrachter im ersten
Augenblick verführt, die senkrechten
und waagrechten Linien des Gemäl-
des über den Bildrand hinaus fortzu-
führen. Diese würden sich im rechten
Winkel zu einem Viereck zusammen-
schließen und so eine Orientierung Abb.7: Mondrian: Komposition mit gel-
inmitten der Unendlichkeit bieten. ben Linien, 1933, Öl auf Leinwand, 133
Diese imaginäre Ergänzung ist durch ×133 cm, Gemeentemuseum, Den Haag.

31
Für den ikonografischen Bibelkontext siehe Jos 6, 20: „Und das Volk erhob ein Geschrei, und sie
stießen in die Posaunen. Und es geschah, als das Volk den Schall der Posaunen hörte, und als das
Volk ein großes Geschrei erhob, da stürzte die Mauer an ihrer Stelle ein, und das Volk stieg in die
Stadt hinein, jeder gerade vor sich hin, und sie nahmen die Stadt ein.“.
32
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 237.
33
Ebd., S. 238.
Max Imdahl

[Denn] so sehr es auch die Er- Max Imdahls Epochen-


gänzung der Streifen über das Bildfeld verständnis und Bildbegriff
hinaus anregen kann, [ist es] dennoch
ein in seinen Grenzen sinnvoll geschlos- Ohne tiefer auf das herkömmliche
sener Kosmos. Das Bild stellt einen for- Epochenverständnis der Kunstge-
malen, Orientierungsgewissheit vermit- schichte einzugehen, arbeitet Imdahl
telnden Zusammenhang vor Augen, und stetig daran, dieses durch sein neu
202 dieser ist – jedenfalls gemäß der Ein- eingeführtes methodisches Vokabu-
schätzung Newmans – keineswegs offen lar zu Analyse und Charakterisierung
auf eine metaphysische, das heißt im von Kunstwerken aufzubrechen.
Verständnis des Malers nicht mehr sys- Deutlich wird dies an jenem Zitat:
tematisierbare Seinssphäre.34
Die mögliche, immerhin griff-
Da Mondrians Werk keine zwangs- ige und als solche auch nur selten bestrit-
läufige Erweiterung über seine Gren- tene Epochenzäsur zwischen gegen-
zen hinaus fordert, lässt es sich nicht ständlicher und gegenstandsloser Kunst,
als unbegreifliches Fragment bezeich- [...] verliert ihre Schärfe in dem Maße, in
nen und ist folglich auch nicht als non- dem – wie zum Beispiel in den Bildern
relational zu defi nieren. Mondrians und Claude Lorrains – die ge-
Die Struktur von Komposition mit gel- genstandslose nicht anders als die gegen-
ben Linien lässt sich bildimmanent er- ständliche Malerei in der Form der Re-
schließen, weswegen kein Verweis auf lational Art, also in der Form des kom-
ein bildübergreifendes „Plus“ mög- ponierten Bildes zu Geltung kommt.35
lich und nötig ist. Der Betrachter er-
fährt durch die strukturelle Geschlos- Imdahl fasst Kunstwerke übergrei-
senheit des Werkes eine Orientie- fend unter dem Begriff der Relational
rungsmöglichkeit, die ihm seiner ei- Art zusammen, die keinerlei innere-
genen Position versichert. pochale Verbindung besitzen.
Die Zuordnung erfolgt zwar chro-
nologisch von Kalf bis Mondrian,
aber ohne die klassischen Stilbegriffe
zu verwenden. Als Grundsatzunter-
scheidung dienen epochendifferen-
zierend die Begriffe Realtional Art

34
Ebd., S. 239.
35
Ebd., S. 240.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

und Nonrelational Art. die sich „auf ein abstraktes Wohlge-


fallen oder auf unverbindlichen in-
Die Epochenfrage ist also ei- tellektuellen Reiz orientiertes Umge-
ne Frage des jeweils historisch beding- hen mit Zitaten ohne den Ernst einer
ten Standpunkts.36 wirklichen Überzeugung“39 reduzie-
eren ließe. Imdahls vorfestgelegtes
Erst in Anbetracht des Neuesten, Verständnis von „Postmoderne“ –
des Andersartigen – der Nonrelational die bloße eklektische Sammlung von 203
Art – lässt sich ex negativo das Vorher- Zitaten vergangener Epochen – ver-
gegangene relativieren. sperrt sich von Imdahls historischem
Dies gilt ebenso für das Verhältnis Standpunkt aus jeglicher Stringenz,
von Relational und Non Relational Art: die eine Abgrenzung ermöglichen
würde.
„Auch hier gilt, dass das jeweils
Neuste den Unterschied zum jeweils
nächstbenachbarten Älteren verabsolu- Kontextualisierung und
tiert, und zwar kann das Bewusstsein zeitgeschichtliche Relevanz
vom jeweils Neusten all diejenigen In- als Schlüsseltext
novationen relativieren oder assimilie-
ren, die zu jenem jeweils nächstbenach- Bei der Recherche um die Hintergrün-
barten Älteren erst geführt haben.“37 de des Textes Bildbegriff und Epochen-
bewusstsein ließ sich nur wenig Litera-
Der Text endet mit einer in Anbe- tur in Hinblick auf die damals zeit-
tracht der vorhergegangenen Metho- genössische, wie auch auf die heuti-
dik erstaunlich deutlichen, normati- ge Rezeption ausfi ndig machen.
ven Kritik – die sich auch stilistisch Man kann nur mutmaßen woran dies
von der übrigen Abhandlung unter- liegen mag. Die spärliche zeitgenös-
scheidet – an der Postmoderne. Wo- sische Rezeption des Textes mag zum
bei der Ursprung dieser Kritik nicht Teil an dessen Entstehungszeitraum
unverständlich ist, doch darauf wird im Jahr 1983 liegen.
im nächsten Abschnitt noch einge- Die Anfang der 80er Jahre des 20.
gangen werden. Imdahl spricht vom Jahrhunderts zunehmende Diskussi-
„Großmarkt der Postmoderne“38. on um die beginnende Entwicklung
Er spricht von einer Postmoderne, des Begriffs der Postmoderne war

36
Ebd.
37
Ebd.
38
Ebd., S. 241.
39
Ebd.
Max Imdahl

für Imdahl zeitlich gesehen eine un- Mit Beginn der Postmoderne ent-
glückliche Fügung. Denn der Groß- wickelten sich neue Diskurse, denen
teil der zeitgenössischen Diskussio- Imdahl jedoch keine Diskussionsan-
nen drehte sich mit François Lyotards gebote liefert. Die prekäre Frage, ob
La Condition postmoderne, erschienen beispielsweise die Nonrelational Art
1979, und Charles Jencks The Rise of mit der Postmoderne gleichzusetzen
Postmodern Architecture von 1975, um sei, hätte Imdahl noch deutlich ver-
204 die Konstituierung und Problemati- neint. Sein kritischer Postmoderne-
sierung der „Postmoderne“, als einer Begriff hinderte ihn folglich konse-
Epoche der Pluralität, mehrfachen quent an einer Annäherung an die neu-
Kodierung und Heterogenität. en Phänomene dieser jungen Epoche.
Durch die Ablehnung des Fortschritt- Sein Problem mit der Postmoderne
gedankens der Moderne und der da- lässt sich vor allem dadurch erklä-
mit verbundenen Überzeugung von ren, dass er den zugehörigen Künst-
der Erfassbarkeit und Gestaltbar- lern und deren Werken eine wahllose
keit der Welt, entfernt sich die „Post- Stil-Vielfalt unterstellte.
moderne“ rasant von den metho- Diese neuen Positionen konnte er
dischen Rahmenbedingungen und nicht anerkennen, weil sie aus seiner
Möglichkeiten der Ikonik.40 Sicht auf diese Weise keine kohären-
ten Fragestellungen entwickelten.
Die relativ späte Publikation des Für ihn galten Künstler, welche an
Imdahl-Textes hatte nun offenbar einem Tag abstrakt malten und sich
zur Folge, dass seine Thesen von dem am nächsten Tag dem Fotorealismus
damals brandaktuellen Diskurs über zuwendeten, als charakterlos und ko-
die aufkommende Postmoderne über- pistisch. So versäumte Imdahl den
holt wurden. Moment der Anbindung seines Voka-
Da die Ikonik zum Beispiel die Akku- bulars an das der Diskussion über die
mulation von Zitaten, wie sie in Wer- Postmoderne.
ken der Postmoderne häufig auf- Auch im heutigen kunstwissenschaft-
treten, nicht unmittelbar verstehen lichen Verständnis bleibt Imdahls Be-
kann, konnte Imdahl nachmoderne griff der Nonrelational Art zu allge-
Arbeiten nicht in seine kunstwissen- mein. Dadurch ist er im wissenschaft-
schaftlichen Analysen einbeziehen. lichen Diskurs schlecht verhandelbar.

40
Vgl.: Stöhr, Jürgen: Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite, in: Blümle,
Claudia, Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés, Vol. 7, 2017, S. 81-96, 90 f.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Noch spezifischer formuliert: Es ge- wissenschaftliche Reaktion, in Form


lang Max Imdahl nicht, seinen im Text von Kommentaren, erfuhr.
eingeführten Begriff der Nonrelational Ein weiteres Problem bei der Verbrei-
Art in einen Begriff der Postmoderne tung stellen neben dem frühen Tod
zu überführen. Beziehungsweise: Max Imdahls auch die Berufswege seiner
Imdahl verstarb, bevor ein veritabler Promovierten dar. Die meisten seiner
und kompatibler Postmoderne-Be- Schüler gingen nach ihrer Promotion
griff etabliert war, der hätte zeigen in die Praxis, wurden Kuratoren oder 205
können, dass die Nonrelational Art Museumsdirektoren und können nun
selbst schon „postmodern“ ist.41 das Wirken Imdahls aufgrund ihrer
Profession nicht direkt weitergeben.
Jene, die eine Professur innehaben,
sind allerdings aufgrund der Institu-
Einschätzungen zur heutigen tion, in der sie tätig sind, meist stark
Relevanz als Schlüsseltext an einen kunsthistorischen Diskurs
gebunden, für den die Thesen Im-
Warum aber gelingt es dem Text auch dahls wenig Anknüpfungspunkte be-
heute nicht, die Rezeption zu erhal- reithalten. Jedoch gibt es auch hier
ten, welche ihm zustünde? Ein Faktor herausragende Ausnahmen: Der an
mag sein, dass Imdahl vor allem mit der Universität Basel emeritierte Gott-
Kollegen aus Literaturwissenschaft fried Boehm versucht beispielsweise
und Hermeneutik in Kontakt stand, die Ikonik auf eine größere philoso-
deren Ausführungen und Ansätze in phische Basis zu übertragen, um so
der heutigen Rezeption als etwas über- die Methode weiter zu situieren.
holt gelten und mittlerweileanders Der Hamburger Universitätsprofes-
behandelt werden. sor Wolfgang Kemp verband die Im-
Hinzu kommt, dass Imdahls Vor- dahls Bilddenken tiefer mit den re-
gehensweise einer werkimmanenten zeptionsästhetischen Ansätzen Wolf-
Periodisierung damals wie heute auf gang Isers. Auch Gundolf Winter,
Widerstand in der klassisch betrie- Professor für Kunstgeschichte an der
benen Kunstgeschichte stößt. Dabei Universität Siegen, lässt sich zu den
könnte es sich um den casus knacksus Wenigen zählen, welche Imdahls Me-
handeln, warum Imdahls Text Bild- thodik in den heutigen kunstwissen-
begriff und Epochenbewusstsein kaum schaftlichen Diskurs zu integrieren

41
Ebd.
Max Imdahl

versuchten. Doch auch sein Tod im Imdahl zufolge muss der Betrachter
Jahr 2011 schränkt die Rezeption und keinerlei Vorwissen von Epochen und
das Nachwirken ein. deren Umbrüchen besitzen, da sich
Neben Gerd Blum, der die Professur die gesamte Bewusstwerdung dieser
für Kunstgeschichte an der Kunst- werkimmanent abspielt.
akademie Münster innehat, ist es auch Gezeigt wird die Einstellung zur Welt
Anliegen des an der Universität Kon- alleine schon anhand des Werkes
206 stanz lehrenden Professors Jürgen selbst. Imdahl gelingt es, dieses Phä-
Stöhr, den Texten und Ansätzen Max nomen in seinem Text anhand der
Imdahls neues Gehör zu verschaffen. werkinhärenten Analyse künstleri-
Ein neuster Beitrag von 2017, der da- scher Arbeiten aufzuzeigen. Hierbei
zu dienen soll, die Rezeption Imdahls geht er weder philosophisch noch so-
auch in Frankreich erneut anzuregen, zial-ökonomisch vor, sondern betont,
befi ndet sich in dem deutsch-fran- wozu das Bild selbst und somit auch
zösischen Journal Regards croisés. Das die reine unvoreingenommene Werk-
Magazin wird von den Berliner und rezeption fähig sind.
Bielefelder Professor_Innen Claudia Eingehend auf die Liste der Kriterien
Blümle und Johannes Grave heraus- für einen Schlüsseltext, wie sie in der
gegeben. Die Dossierbeiträge zu Max Einleitung durch Jürgen Stöhr be-
Imdahl stammen von Mathias Blanc, reits charakterisiert wurden, lassen
Mira Fliescher, Angeli Jahnsen und sich besonders fünf Punkte in Bezug
Jürgen Stöhr. auf Imdahls Artikel herausarbeiten.
Vor allem bezüglich der aufgeführten Vorallem sein neuer Ansatz zur grund-
Schwierigkeiten lässt sich nun die sätzlichen Periodisierung von Kunst
Frage, warum Imdahls Text Bildbegriff unterstreicht die methodische Rele-
und Epochenbewusstsein trotzdem die vanz des Textes. Imdahl folgt nicht der
Relevanz besitzt als Schlüsseltext re- herkömmlich-chronologischen Vor-
zipiert und gelehrt zu werden, erneut gehensweise der Kunstgeschichte, die
stellen. Maßgeblich ist wohl die sich vom Allgemeinen ins Spezifische,
aus dem Text generierende Erkennt- Kunstwerke unterschiedlichen Epo-
nis des Lesers, dass Kunstwerke selbst chen zuschreibt. Stattdessen fußt sein
Epochenschwellen visualisieren kön- Interesse auf dem Spezifischen: dem
nen, sofern man dem Einzelwerk aus- Bild und dessen bildimmanenter
reichend Beachtung schenkt. Struktur. Denn „[f]ür Imdahl war das
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Reden über ein Bild ein strenges Re- Imdahls finale Argumentation bezüg-
alisieren der Bildvorgaben.“42 Dem- lich „seiner“ zeitgenössischen Epo-
nach handelt es sich auch um eine bild- che – der Moderne –, wird bemerk-
immanente Vorgehensweise. Dabei bar, dass die Ikonik bei der Auseinan-
durchbricht auch Imdahls kunstphi- dersetzung mit Werken der Postmo-
losophischer Ansatz die anerkannte derne an ihre Grenzen stößt.
hierarchische Struktur der Kunstge- Imdahls polemischer Postmoderne-
schichte. Mit Hilfe einer neutralen Begriff begründet sich wohl haupt- 207
Bildbetrachtung nähert sich Imdahl sächlich darin, dass sie nicht rein phä-
den spezifischen Eigenheiten unter- nomenologisch interpretierbar ist.
schiedlicher Kunstwerke an. Im Sin- Viele künstlerische Arbeiten nach
ne, der sich eine Epochendifferenz 1960 wirken so unberechenbar und
erschließenden Ikonik, wird das anta- „gestört“, dass die Ikonik ihren Auf-
gonistische Begriffspaar der Relational bau nicht mehr nachvollziehen kann.
und Nonrelational Art als neue Diffe- „Hier operiert die ‚ästhetische Erfah-
renzcharakterisierung eingeführt. rung’ in der absoluten Inkohärenz.
Sie fi ndet in den Bildern keine An-
Die Begriffe – ursprünglich erdacht dockstelle mehr für ihre Sehmaß-
von Frank Stella – werden vor allem stäbe“43. Anhand der Werke von Frank
durch Imdahls Text geprägt und in Stella hatte die Ikonik gerade begon-
das kunstwissenschaftliche Vokabu- nen, ihre eigenen Grenzen und me-
lar integriert. Mithilfe dieser neuen thodischen Inkompetenzen unfrei-
Möglichkeiten der Differenzierung willig zu reflektieren.
gelingt es, die sich einem konventio- Die Ikonik ist auch nicht in der Lage,
nellen Zugang versperrende Nonre- postmoderne Zitate zu sehen, da sie
lational Art in Abgrenzung zur Rela- werkimmanent ausgerichtet, die nö-
tional Art ex negativo zu erschließen. tigen Kontext nicht mitsehen will.
Was Max Imdahls „Scheitern“ an Die Ikonik kann keine ironische visu-
der „eigenen“ Epoche angeht, ist es elle Kommunikation verstehen und
immer notwendig, einen Text in sei- folglich nicht zu einem der wesent-
nem historischen Standpunkt sowie lichen Kerne der Postmoderne vor-
in seiner im Nachhinein daraus resul- dringen.44
tierenden Beschränktheit oder Inno- „Irrationale“ Bildkonstruktionen der
vativität zu reflektieren. Liest man Nonrelational Art – wie die Arbeiten

42
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 159.
43
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 282.
44
Ders.: Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite, in: Blümle, Claudia,
Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés, Vol. 7, 2017, S. 81-96, 90 f.
Max Imdahl

Stellas – kann die Ikonik durch ihre Intensive Bildbeschreibungen argu-


Methodik gerade noch als Grenzphä- mentieren aus dem jeweiligen Werk
nomen verstehen und verorten. Es heraus, unberührt von normativer
„stellt sich [aber] heraus, dass die Fun- Kritik. Die Sehdiagnose ermöglicht
damentalunterscheidung [relational- einen nicht elitären Rezipienten-
nonrelational ] nur so lange funktio- standpunkt. Von „Ich sehe alles, was
niert, wie man sich in einer kohä- ich weiß“ zu „Ich weiß nur, was ich
208 renten Zeitspanne bewegt“45. Die Iko- sehe“. Auch das Scheitern der Ikonik
nik leugnet ihre eigene Begrenztheit als „Methodik“ an der Postmoderne
nicht, sondern leistet mit Hilfe ihrer wird im Umkehrschluss zu einem
eigenen Vorgehensweise weiterhin fruchtbaren Mehrwert. Dann näm-
eine konsequente Bildbeschreibung. lich, wenn
Sie arbeitet berechenbar im Rahmen
ihrer eigenen Kapazitäten und „pro- die Bravour der Imdahlschen
tokolliert im gleichen Zuge ruhig ihr Ikonik besteht darin, dass sie ihre eigene
eigenes Scheitern mit“46. Unzuständig- und Unzulänglichkeit als
Wendet man sich jedoch speziell der welthistorischen Wendepunkt versteht.
Nonrelational Art zu, wird deutlich, Mit der Nonrelational Art trete die Welt
dass nicht nur die Ikonik an ihre Gren- in das kritische Stadium des ‚Wirklich-
zen stößt, sondern auch der Mensch keitsverlustes’.49
seine berechenbare „Orientierungs-
gewissheit“47 im Sinne einer anthro- Folglich werden nach Imdahl alle be-
pozentrischen Weltsicht verliert. Da kannten Epochenunterscheidungen
Imdahl keinerlei Interesse an Kon- aufgelöst und durch die alles ent-
textforschung und Quellenliteratur scheidende Antinomie von Relatio-
besaß und es sich bei seinem Zugang nal und Nonrelational Art ersetzt.
um einen rein visuellen handelt, muss Durch die sogenannte „Verweige-
auch seine Methodik als solche reflek- rung einer Ganzheitsstiftung“50 durch
tiert werden48. Dies ist möglicher- die Nonrelational Art erfährt der Be-
weise sein blinder Fleck, der unre- trachter unmittelbar die Erschütte-
flektiert zu polemischen Schlüssen rung des In-der-Welt-Seins des Men-
führt. Nimmt man allerdings den schen – ab den 60er Jahren des 20.
umgekehrten Standpunkt ein, wird Jahrhunderts. Mit den Bildern Stel-
der Mehrwert der Methodik deutlich: las dringt dies ins Bewusstsein einer

45
Ders.: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 292.
46
Ebd., S. 283.
47
Ebd., S. 285.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

anbrechenden neuen Epoche. in Bildbegriff und Epochenbewusstsein he-


Ein Schlüsseltext zeichnet sich vor raus. Mit Hilfe seiner Methodik ge-
allem durch seine Nachwirkungen lingt es ihm – trotz der Anwendungs-
aus, seine bedeutende methodische problematik auf postmoderne und
Relevanz im Nachklang. Doch in- noch folgende Werke – die Begriffe
wieweit ist Imdahls Ansatz zukünf- der Relational und Nonrelational Art
tig noch methodisch relevant? Streit- als neues Begriffspaar anhand der
bar ist in den Augen der Autorinnen Kunst Frank Stellas zu etablieren. 209
die Vorstellung einer zeitlos unhin-
terfragbaren Gültigkeit eines Textes.
Beschäftigt man sich mit Sedlmayr
und Imdahl, deren Texte beide Teil
unseres Schlüsseltextkanons sind,
wird bereits deutlich, worauf die Ar-
gumentation hinausläuft:
Zwei ähnlich deskriptive Methoden
führen zu vollkommen unterschied-
lichen Schlussfolgerungen und (nor-
mativen) Bewertungen des Gesehe-
nen. Beide haben allerdings ihre Be-
rechtigung sowie Gültigkeit, auch
wenn sich die Autoren dies mit ziem-
licher Sicherheit gegenseitig abge-
sprochen hätten. Imdahls Interesse
an den Bildern als solchen, deren
bildimmanenter Komposition sowie
dem übergeordneten Gesatteindruck,
werden es auch zukünftig ermög-
lichen, Kunstwerke rein auf ihre vi-
suelle Kraft hin zu untersuchen.

Genau diese, sich einer Wertung ent-


ziehenden, auf das Einzelwerk ein-
gehende Betrachtung stellt Imdahl

48
Rosenberg, Raphael: Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Angemessenheit von Max
Imdahls Kunstbetrachtung, 1996, S. 1, aufgerufen unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/
volltexte/2006/193 (Zugriff: 27.11.2017).
49
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 285.
50
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 237.
Max Imdahl

Quellenverzeichnis

Blümle, Claudia: Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés,
210 Vol. 7, 2017. (Mit Beiträgen von Mathias Blanc, Mira Fliescher, Angeli
Jahnsen und Jürgen Stöhr)
https://www.revue-regards-croises.org/français/numéros/no-7-2017/
(Zugriff: 12.7.2018).

Henle, Susanne: Claude Monet. Zur Entwicklung und geschichtlichen Bedeutung


seiner Bildform, Diss. Bochum 1978.

Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, in Reinhart Herzog,


Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwellen und Epochenbewusstsein, Poetik und
Hermeneutik, Bd. XII, München 1987, S.221-242.

Kohle, Hubertus: Max Imdahl, in Ulrich Pfisterer (Hg.): Klassiker der Kunst-
geschichte, Bd. 2, München 2008, S. 217–225.

Rosenberg, Raphael: Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Ange-
messenheit von Max Imdahls Kunstbetrachtung, 1996, online aufgerufen unter:
http://archiv.ub.uniheidelberg.de/artdok/volltexte/2006/193 (Zugriff:
27.11.2017).

Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die Kunst des 19. Und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1998.

Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man -
Beat Wyss. Eine Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld
2010.
Theresa Brauer & Sophie Reiser

Stöhr, Jürgen: Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite,


in: Blümle, Claudia, Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Cro-
isés, Vol. 7, 2017, 81-96.

Bildnachweis 211
Abb.1: Willem Kalf: Stilleben mit chinesischer Terrine, 1662, 64×53 cm,
Öl auf Leinwand, Gemäldegalerie Berlin.
http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/heidicon_
kg-624ec06de69083ea715768cae1166b0f194c7639 (Zugriff: 27.11.2017).

Abb.2: Jean-Baptiste Siméon Chardin: Korb mit Walderdbeeren, 1761,


37×45 cm, Öl auf Leinwand, Privatsammlung, Paris.
ht t p://pr ome t he u s .u n i - ko e l n . de/p a ndor a/i m a g e/show/d a d a -
web-985a7d4d8232dc6abff9ecbd9202536d0baea18c (Zugriff: 27.11.2017).

Abb.3: Paul Cézanne: Stilleben mit grüner Melone, 1902-1906, Aquarell,


Kreide, 31,5×47,5cm, Privatbesitz.
ht t p://promet heus.u n i-koel n.de/pa ndora/i ma ge/show/berl i n _
udk-1d613c1b919e3afdfe2aaad760a5eee5aa2a370c (Zugriff: 27.11.2017).

Abb.4: Claude Lorrain: Der Mittag, 1651, Öl auf Leinwand, 116×160 cm,
Hermitage Museum.
https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/digital-col-
lection/01.+paintings/36651 (Zugriff: 27.11.2017).

Abb.5: Frank Stella: Quathlamba, 1964, Shaped Canvas, 139×666 cm, Me-
tallpulver in Polymer-Emulsion auf Leinwand, Museum of Contemporary
Art, Tokio.
http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/961/
friesen/Friese_t.html (Zugriff: 27.11.2017).
Max Imdahl

Abb.6: Barnett Newman: Jericho, 1968-69, 269×285,8 cm, Acryl auf


Leinwand, Musee National d‘Art Moderne, Paris.
http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/bern-0f247625f-
39cfebcf6b32a2510a7a30651054426 (Zugriff: 27.11.2017).

Abb.7: Piet Mondrian: Komposition mit gelben Linien, 1933, Öl auf Lein-
wand, 133×133 cm, Gemeentemuseum, Den Haag.
212 http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/eichstaett_ub-b7e-
1ba37a7894fa73d86a840b42373ee3b4ebfa6 (Zugriff: 27.11.2017).
Theresa Brauer & Sophie Reiser

213
werner busch
Caspar David Friedrichs Tetschener Altar, 1998

Werner Busch, Kunsthistoriker und Begründer der funktionsgeschichtli-


214 chen Methode in der Kunstwissenschaft, verfasste 1998 einen Beitrag zum
sogenannten Tetschener Altar von Caspar David Friedrich. Dieser ist ein
Werk, das exemplarisch für die zur Zeit seiner Entstehung stattfi ndende
Debatte über die klassische Gattungshierarchie steht. Erstens, da es als Al-
tarbild konzipiert kein – wie lange Zeit üblich – Historienbild, sondern eine
Landschaft zeigt. Zweitens, weil surch den erstgenannten Punkt und durch
die am und über das Werk geführte Debatte sich Gattungsgrenzen neu zu
definieren scheinen. Bei der Analyse des Werkes kombiniert er den ikonogra-
fisch-ikonologischen Ansatz mit geschichtlichen Hintergründen zur Ent-
stehungsgeschichte und Ansätzen zur damaligen und heutigen Funktion
des Gemäldes zur funktionsgeschichtlichen Methode.

Diese exerziert er damit an einem Beispiel durch, bringt somit eine neue
Herangehensweise in den wissenschaftlichen Diskurs ein und sorgt für
einen Leitfaden bzw. eine Orientierungshilfe für diejenigen, die sich selbst
an einer Methode versuchen möchten, die eine historische mit einer struk-
turellen Betrachtungsweise kombiniert.
Außerdem greift Werner Busch den damals aufkommenden und bis heute
fortbestehenden Methodenpluralismus in der Kunstgeschichte auf und ver-
deutlicht damit neue Zugänge zur Kunstgeschichte.
215
Werner busch

dem jeweiligen Ort ihrer Inanspruch-


nahme. Wozu dienten sie, wer hat sie
wie und warum so und nicht anders ge-
fertigt, gesehen, genutzt, inszeniert, in
Autor und Entstehung Beziehung zu anderem gesetzt.3

In seinem Text zu Caspar David Werner Busch (*1944) ist deut-


216 Friedrichs Tetschener Altar von 19981 scher Kunsthistoriker.4 Er studierte
erläutert Werner Busch die Entsteh- Kunstgeschichte, Archäologie und
ungsgeschichte des Werkes, seine his- historische Hilfswissenschaften in
torische und religiöse Einordnung, Freiburg, Wien und London.5 1973
sowie den Zusammenhang von Deu- schloss er mit seiner Dissertation über
tung und Struktur. William Hogarth in Tübingen ab.6
Dabei geht er auch auf den kunstwis- Später war er als wissenschaftlicher
senschaftlichen Forschungsstand zu Assistent am kunsthittorischen Insti-
Friedrichs Altar ein. Darüber hinaus tut der Universität Bonn, wo er 1980
veranschaulicht er die Signifi kanz zur Kunsttheorie und Kunstgeschich-
der Komposition und vereint damit te des 19. Jahrhunderts habilitierte.7
eine Analyse der historischen Rah- Von 1981 bis 1988 hatte er eine Pro-
menbedingungen mit der Deutung fessur am Kunsthistorischen Institut
des Werkes in seiner individuellen der Universität Bochum inne und seit
Erscheinung zu einem funktionsge- 1988 war er Lehrstuhlinhaber am
schichtlichen Ansatz, zu dem er ge- Kunsthistorischen Institut der Frei-
nerell anmerkt:2 en Universität Berlin, wo er seit 2010
emeritiert ist.8 Er ist Autor zahlrei-
In öffentlichen Museen bei- cher wissenschaftlicher Publikatio-
spielsweise befindet sich das Kunstwerk nen zur niederländischen Kunst des
erst kaum zweihundert Jahre. Zuvor stand 16. und 17. Jahrhunderts sowie zur
es in anderen Lebenszusammenhängen. englischen und deutschen Kunst des
Seine veränderten Lebenszusammen- 18. und 19. Jahrhunderts.9
hänge fordern eine veränderte Sehweise
Um sie begreifen zu können, fragen wir Sein zuletzt erschienenes Werk ist
nicht nur nach dem Ort des Erscheinens die 2015 veröffentlichte Monografie
der Bilder, sondern nach der Funktion an über den Maler Adolph Menzel.10

1
Vgl.: Busch, Werner (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Simek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280.
2
Vgl.: Busch, Werner (1987): Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim: Quadriga Beltz, S. 3.
3
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 1.
4
Vgl.: o.A.: „Professor Dr. Werner Busch. Zur Person“. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/khi/
institut/ehemalige/emeriti/busch/index.html (Stand: 06.08.2017).
5
Vgl.: o.A.: Professor Dr. Werner Busch. Zur Person 2017.
6
Vgl.: Ebd.
7
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Weitere Forschungsschwerpunkte nicht richtig kombiniert hat, und dass


sind die Kunsttheorie, Druckgraphik deshalb eine Aufarbeitung der detail-
und Zeichnung sowie das Verhält- lierten Entstehungsgeschichte sowie
nis von der Kunst und Naturwissen- eine genauere strukturelle Analyse
schaften im 18. Jahrhundert.11 ausstünde und besonders deren Kom-
Werner Busch ist außerdem Mitbe- bination für die Deutung des Werkes
gründer und Herausgeber der Kunst- ausschlaggebend sein wird.17
historischen Arbeitsblätter.12 217
Die bisherigen Deutungen, die immer
Werner Buschs Text zum Tetschener entweder religiös oder politisch aus-
Altar erschien zunächst als Beitrag13 gerichtet waren, sollen zusammen-
in dem von Marek J. Siemek heraus- geführt werden und der Miteinbezug
gegebenen Sammelwerk Natur, Kunst, von Malprozess, Kompositionsana-
Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik lyse, Nutzungs- und Funktionsana-
aus gegenwärtiger Sicht 14, bevor er spä- lyse und Beobachtungen zu Rahmen
ter in seiner Monografie zu Caspar und Format soll zeigen, dass der Tet-
David Friedrich mit dem Titel Cas- schener Altar durch den Einfluss kon-
par David Friedrich. Ästhetik und Re- kreter historischer Rahmenbedin-
ligion15 als zweites Kapitel in einem gungen unterschiedlich rezipiert wur-
breiteren Kontext veröffentlicht wur- de und ihm auch seine komplexen
de. Buschs Buch zu Friedrich ist in Entstehungsbedingungen strukturell
sechs Kapitel gegliedert und thema- bzw. ikonisch eingeschrieben sind.
tisiert Friedrichs Selbstbild, den Tets- Diese Einschreibungen werden von
chener Altar, den Mönch am Meer, so- Busch Schritt für Schritt erläutert.18
wie die Abtei im Eichenwald, Fried-
richs Werkprozess, Struktur und Lek- Sein Aufsatz zum Tetschener Altar ist
türe der Pendants und Friedrichs Be- aufgrund dieser neuartigen Heran-
ziehung zu dem Philosophen Fried- gehensweise, die eine ikonologisch-
rich Schleiermacher.16 ikonografisch bzw. kompositorisch-
strukturelle Analyse und eine Aufar-
Die Grundthesen des Aufsatzes sind, beitung zeitgeschichtlicher Bedin-
dass die Forschung einige gute An- gungen vereint, als Schlüsseltext zu
sätze hervorgebracht, diese aber bis- bezeichnen und gibt an einem Bei-
her nicht brauchbar ausgewertet bzw. spiel Aufschluss darüber, wie man die

8
Vgl.: Ebd.
9
Vgl.: o.A.: Werner Busch erhält den Richard-Hamann-Preis für Kunstgeschichte.
http://www.geschkult.fu-berlin.de/aktuelles/Werner-Busch.html (Stand: 06.08.2017).
10
Vgl. o.A.: Werner Busch erhält den Richard-Hamann-Preis für Kunstgeschichte 2016.
11
Vgl. Ebd.: „Werner Busch“. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Busch.html (Stand: 06.08.2017).
12
Vgl. o.A.: Professor Dr. Werner Busch. Zur Person 2017.
13
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280.
Werner busch

beiden methodischen Ansätze ge-


winnbringend in Verbindung brin-
gen kann. Dieser sogenannte funk-
tionsgeschichtliche Ansatz will den Inhaltsangabe und Analyse
Produktionsprozess in seinem gesell- des Textes
schaftlich-historischen Umfeld be- Inhaltsangabe des Buches
trachten und seine Wirkweise als his-
218 torisch geworden ansehen.19 Busch entfaltet seine Argumenta-
Auch der Rezeptionsprozess soll un- tionsstruktur in sechs Kapiteln, wo-
tersucht werden und somit als Funk- bei er sich dabei, entgegen bisheriger
tionsgeschichte, der Analyse des in- stark symbolisch-metaphorischer An-
dividuellen Kunstwerkes den Boden sätze, Friedrichs Werken über den
bereiten.20 kompositorischen Bildaufbau nä-
hert. Seine schlichte, regelrecht klas-
Immer wieder soll gefragt sische Methode zeigt, wie viel sich
werden: wozu diente das Kunstwerk, alleine im bloßen Hinschauen, al-
wie wurde es benutzt, wem hat es wie leine durch eine sorgfältige Bildbe-
genutzt, wer hat es warum so und nicht trachtung, erschließen lässt und er-
anders gemacht, gebraucht und verstan- klärt damit die Wichtigkeit der bild-
den. Warum diente es plötzlich neuen sprachlichen Deutung. Seine Vorge-
Zwecken? Wie änderte sich dadurch hensweise veranschaulicht er im Lau-
sein Aussehen, seine Struktur?21 fe der Abhandlung anhand von Zeich-
nungen und Gemälden Friedrichs.
Mit diesen Fragen soll das Nach der Beleuchtung einzelner
Kunstwerk nicht etwa auf seine dienen- Werke und den unmittelbar daraus
de Funktion reduziert werden, sondern gewonnenen Erkenntnissen, widmet
es soll vielmehr gerade das Verhältnis sich Busch im Anschluss übergeord-
von individueller Erscheinung und his- neten Fragestellungen. 23 Das zweite
torischer Bedingtheit am Werk selbst Kapitel des Buches beschäftigt sich
deutlich machen. 22 mit dem Tetschener Altar. Buschs Un-
tersuchungen kreisen hierbei vor al-
lem um Komposition und Werkpro-
zess und leiten die Einzelmotive von
zuvor gefertigten Naturstudien ab.24

14
Vgl.: Marek J. Siemek (1998): Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus
gegenwärtiger Sicht. Fichte-Studien-Supplementa 10; Amsterdam: Rodopi.
15
Vgl.: Busch, Werner (2003): Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München: Beck.
16
Vgl.: Ebd.
17
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263–280.
18
Vgl.: Ebd.
19
Vgl.: Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 4.
20
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

In einem additiven Prozess erwei- Die Komposition der Abtei unterliegt


tert der Künstler laut Busch die so den Grundsätzen der Symmetrie und
entstandene „Naturwahrheit“ an- des Goldenen Schnitts.
schließend durch die raffinierte Kom- Diese geometrische Grundordnung
positionsstruktur.25 Die genauen Na- hebt die Negation des korrelierenden
turbeobachtungen werden in das Werkes auf, beziehungsweise erhält
Strukturschema des Bildes integriert, die Hoffnung auf Erlösung aufrecht.
auf dessen Fläche sie über ihre äs- Die Hoffnungslosigkeit im Mönch am 219
thetische Wirkung in eine höhere Meer auf der einen Seite sowie die
Sphäre gelangen. Hoffnungsverweigerung in Abtei im
Eichenwald auf der anderen Seite, bring-
Der Autor [Werner Busch, en eine zeitliche Komponente hervor:
Anm. der Verfasserinnen] vermag nicht ein Vorher und ein Nachher, das für
nur wiederum den Goldenen Schnitt den Betrachter erfahrbar ist.
als vorherrschendes Prinzip aufzuzei- Das vierte Kapitel, das den Werkpro-
gen, sondern erstmals einen vermittels zess Friedrichs behandelt, gestaltet
diesem zwischen Bild und Rahmen ge- sich laut Kepetzis als heterogenes
stifteten Übergang. Wenn Busch abschlie- Kapitel.30
ßend feststellt, diese absolute Geometrie
sei eine ‚ästhetische Ordnung‘, die einzig Sehr erhellend ist Buschs Aus-
noch eine ‚Ahnung des Überirdischen‘ einandersetzung mit Friedrichs Zeich-
vermittle, ist dies ein erster Hinweis auf nungen und den auf diesen notierten
das argumentative Ziel des Buches. 26 Worten, Zahlen und Markierungen. Er
zeigt, dass der Maler durch die notierten
Das dritte Kapitel geht auf den Mönch Angaben nicht nur exakt Ort und Zeit
am Meer und die Abtei im Eichenwald ihrer Entstehung festhält, Licht- und
ein und versteht sie als „einander gegen- Farbphänomene notiert, sondern auch
seitig Sinn verleihende Pendants“27. die relative Entfernung der Gegenstän-
Würde bei ersterem eine „ästhetische de zueinander bezeichnet, die Hori-
Ordnung […] absichtsvoll verwei- zontlinie markiert, et cetera: Es handelt
gert“28 und somit eine Hoffnungs- sich um Studien, die mit der Absicht
losigkeit markiert, kompensiert dies angefertigt worden sind, später als Ge-
das Pendant mit seinem klaren geo- mäldevorlagen zu dienen.31
metrischen Ordnungsprinzip.29

21
Werner Busch (1997): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München: Piper, S. 25.
22
Ebd., S. 5.
23
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280.
24
Vgl.: Kepetzis, Ekaterini: „Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich“.
http://www.sehepunkte.de/2004/03/2319.html (Stand: 24.07.2017).
25
Vgl.: Ebd.
26
Ebd.
Werner busch

Busch präsentiert das Neben- und Mit- Neben dem Luthertum und dem Pie-
einander von Naturwahrheit und künst- tismus identifiziert er hierbei Schlei-
lerischen Ordnungsprinzipien32 und legt ermachers Texte als Basis und wich-
dar, dass dem Betrachter durch die tigste Beeinflussung von Friedrichs
jeweilige Komposition ein interpre- ästhetischer Religionsauffassung.37
tatorischer Leitfaden an die Hand Besonders im Vergleich gemalter Stim-
gegeben wird.33 mungen und religiöser Anschauungen
220 Im fünften Kapitel beschäftigt sich lasse sich diese Nähe konstatieren.38
Busch mit Werken, die von Fried-
rich als Pendants konzipiert wurden. Friedrich und Schleiermacher waren
Wie bereits anhand von Mönch am Meer beide im protestantischen Glauben
und Abtei im Eichenwald gezeigt – ob ihrer Zeit verwurzelt. Sie vertraten
hier der Pendantcharakter beider nicht nur einen im Wesen übereinstim-
Werke tatsächlich intendiert war oder menden Frömmigkeitsbegriff sondern
vom Interpreten nachträglich her- auch die Vorstellung von individua-
angetragen wurde ist nicht abschlie- lisierter Religion.39
ßend geklärt 34 – versucht Busch ne- In der Betrachtung der göttlichen
ben Überlegungen zur Tradition der Schöpfung erkennt Busch sowohl bei
Bildpaare darzulegen, welche Folgen Schleiermacher, als auch bei Fried-
die antithetische Präsentationsform rich, eine grundsätzlich passive Hal-
auf den Betrachter hat. tung des Gläubigen. Somit können
In der Lektüre und der Struktur, kurz Friedrichs Werke weder als religiöse
der Zusammenschau der oft gegen- noch als politische Handlungsauffor-
sätzlichen Werke, soll der Betrachter derung verstanden werden.40
zu einer Synthese, ergo zum Ver- Die direkte Überführung von Natur-
ständnis der Grundanschauung des studien in seine Werke zeigt die ma-
Malers gelangen.35 Der Frage, inwie- lerische Demut im Werkprozess an.
fern Friedrich Schleiermachers Phi-
losophie Caspar David Friedrich geis- Auf der Grundlage eines reli-
tig prägte, geht Busch in seinem letz- giösen Gefühls werden die Naturge-
ten Kapitel nach. Busch zufolge findet genstände in eine ästhetische Ordnung
die visionäre Grundfigur des Malers überführt und dadurch die Findung
in Schleiermachers Philosophie ihr in eine nachvollziehbare und ordentliche
theoretisches Fundament.36 Empfi ndung transformiert.“41

27
Ebd.
28
Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 76.
29
Vgl.: Hildebrand-Schat, Viola: „Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik
und Religion“, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/6498/torstensson.
pdf ?sequence=1 (Stand: 16.11.2017), S. 289.
30
Vgl.: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 76.
31
Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
32
Ebd.
33
Vgl.: Ebd.
34
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Kurz: Die natürlichen Versatzstücke Argumentationsverlauf des zweiten


werden durch Ästhetisierung trans- Kapitels
zendiert und erlangen somit Sinn.42
Im Folgenden wird genauer auf die
Damit geht Friedrich über eine reine Argumentationsstruktur und die in-
Verbindung von Kunst und Religion haltlichen Aspekte des zweiten Kapi-
hinaus. Das subjektive Auslegen der tels zum Tetschener Altar eingegangen.
christlichen Botschaft wird in der 221
Kunst zu einer Form des Gottes- Busch beschäftigt sich zunächst mit
dienstes. Busch zufolge hat Friedrich der ersten Ausstellung des Werkes,
in Schleiermachers 1799 veröffent- die Weihnachten 1808 stattfand, und
lichtem Werk Reden über Religion eine macht daran auch seine Bedeutung
Art Anleitung gesehen, Kunst reli- für die zeitgenössische Gesellschafts-
giös zu betreiben.43 Durch die geome- und Kunstwelt fest:46 Er sagt, dass
trische Setzung kommt der Künst- das Bild „Friedrich mit einem Schlag,
ler im Malprozess der Idee, wie sich mit einem Bild, zu einer Art frühro-
Gott in der Natur offenbart, näher. mantische[n] Identifikationsfigur“47
Er sieht sich in der Verantwortung, habe werden lassen.
als Mittler das eigene Näherkommen
an das Göttliche an den Betrachter An seine Bemerkungen nach bisher
heranzutragen. Dieser soll im Nach- nicht untersuchten bzw. vernachläs-
vollzug des Malprozesses und damit sigten Fragestellungen – zum einen
in der Nachempfindung der Gefühle einer genaueren strukturellen Analy-
des Malers, „die Empfi ndung des se und zum anderen einer genaueren
Künstlers im eigenen Gefühl als Re- historischen Verortung des Werkes –
ligion […] verwahren, um dadurch schließt er einen Forschungsüber-
Sinn für sich zu restituieren.“44 Ob- blick an.48 Dabei stellt Werner Busch
wohl Busch zahlreiche Verbindungs- die Ansätze von beispielsweise Hel-
linien an konkreten Beispielen auf- mut Börsch-Supan, Michael Brötje,
zeigt, scheint einigen Forschern die Gerhard Eimer und Leo Koerner
Umsetzung von Schleiermachers äs- kurz vor und kommt zu dem Schluss,
thetischem Protestantismus in Frie- dass die Deutungen immer entweder
drich Strukturprinzipien konstruiert rein religiös oder rein politisch aus-
und fragwürdig.45 fallen.49

35
Vgl.: Ebd.
36
Vgl.: Viola Hildebrand-Schat: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und
Religion 2004, S. 291.
37
Vgl.: Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
38
Vgl.: Schwarz, Manfred: „Der Kunsthistoriker Werner Busch sieht in Caspar David Friedrichs
strengem Bildaufbau eine religiöse Ästhetik: Gottes Geometer“. https://www.berliner-zeitung.de
/16006978 (Stand: 11.12.2017).
39
Vgl.: Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
40
Vgl.: Ebd.
Werner busch

Busch sieht es jedoch als notwendig, im Gebirge darstellt.54 Diese wird


beide „Ansätze zusammenzuführen im März 1807 auf einer Ausstellung
und gegeneinander abzuwägen“50, um in Dresden gezeigt. Die spätere Grä-
somit das bildsprachliche Verständ- fi n von Thun und Hohenstein sieht
nis in seinem Wechselspiel aus Form diese Sepia und bittet ihren künfti-
und Inhalt schildern zu können.51 gen Ehemann, Graf Thun, diese zu
erwerben. Als Überraschung für die
222 Nach der Forschungsgeschichte und im September bevorstehende Hoch-
der Festlegung seines Vorhabens geht zeit gibt der Graf bei Friedrich ein
Busch im Einzelnen auf die Entste- Altarbild in Auftrag, das nach Vor-
hungsgeschichte des Altares ein.52 bild der Sepia gestaltet sein soll und
Hierbei gibt er zunächst die Entsteh- angeblich für die Hauskapelle der
ungsgeschichte laut Rühle von Lilien- Thuns gedacht ist.55 Nachdem Graf
stern wieder und verbindet diese mit und Gräfi n Ende Juli oder Anfang
neueren Hinweisen aus einem tsche- August im Atelier Friedrichs zu Be-
chischen Archiv, nämlich aus den Pa- such waren, schreibt die Gräfi n in
pieren der Familie Thun.53 einem Brief, dass das Bild wohl doch
nicht zu haben sei und der Künstler
es seinem König vermachen wolle.56

Am 5. September heiraten
die Thuns, bei der Ausstellung im De-
zember scheint längst klar gewesen zu
sein, daß das Bild nun doch nach Tet-
schen geht.57

Abbildung 1: Caspar David Friedrich: Die Ausstellung an Weihnachten 1808


Sepia Kreuz im Gebirge (1806/07), kam auf Wunsch von Friedrichs
Berlin, Kupferstichkabinett Freunden und fand in dessen Woh-
nung statt und „[Um] den Eindruck
Demnach fertigt Friedrich im Jahre von der Wirkung des Bildes in sei-
1806 bzw. 1807 eine Sepia (ähnlich nem Bestimmungsort zu erwecken,
der Sepia auf Abb. 1, das Original ist habe er den Raum verdunkelt, Lam-
verloren gegangen) an, die ein Kreuz pen angebracht, das Bild auf einen

41
Imorde, Joseph: „Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion
2003“, S. 2. https://arthist.net/reviews/45.html. (Stand: 12.11.2017).
42
Fraglich bleibt für einige Forscher an dieser Stelle jedoch, so beispielhaft für Imorde, ob sich
„allein durch den Nachvollzug dieser vom Künstler subjektiv verfügten Ordnung, […] im Betrachter
ein religiöses Gefühl einstellen kann, eine selbstbeobachtende Verwahrung einer höheren Realität,
die der Zielrichtung Schleiermachers folgt.“ Diesen Gedanken fortführend, fragt sich Imorde,
inwiefern das Strukturmodell Friedrichs tatsächlich in der Lage sei, „über das Verhältnis von
Wirklichem, gegenständlich Einzelnem und transzendentem Unendlichen anschaulich zu reflektieren
und die Reflektion dem Betrachter als einen vom Gefühl getragenen Denkraum zu eröffnen.“
(Joseph Imorde: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003, S. 2.)
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Tisch gestellt und diesem mit schwar- überhaupt im Bilde erkennbar zu sein,
zem Tuch verhängt. [D]er Andrang bei die Naturwahrheit zerstören. Friedrichs
der Ausstellung sei groß gewesen“.58 durch den Rahmen von außen herange-
tragene Sinnfestlegung hebe zusätzlich
Im Januar 1809 wurde dann ein Zei- das gattungsmäßige Wesen der Land-
tungsartikel von Basilius von Ram- schaft auf, bringe sie in Kontexte, in de-
dohr in der Zeitung für die elegante Welt nen sie nichts zu suchen habe.62
veröffentlicht, der zum sogenannten 223
Ramdohrstreit führte.59
Beim Ramdohrstreit ging es haupt-
sächlich um unterschiedliche Vor-
stellungen von Gattungshierarchien,
Der Streit wurde durch den kritischen
Artikel von Ramdohr über das Bild
Kreuz im Gebirge losgetreten.
Nicht zuletzt, weil sich mehrere na-
mhafte Kritiker seiner Argumenta-
tion anschlossen.60
Das Werk entspricht laut Ramdohr
nicht der klassischen Gattungshie-
rarchie, da es als Altarbild nicht tra-
ditionellerweise eine Historienszene,
sondern eine Landschaft zeigt.61

[…] schließlich schließt er Abbildung 2: Caspar David Friedrich:


konsequent von seinem klassischen Gat- Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge),
tungsverständnis, daß die Allegorisie- 1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5
rung der Landschaft ihre Gattungsgren- cm, Galerie Neue Meister im Alber-
zen sprenge, Landschaft habe nur für tinum, Staatliche Kunstsammlungen
sich Ausdruck, wenn sie naturwahr sein Dresden
wolle; den Landschaftsgegenständen von
außen zugemessene Bedeutung, aus de- Busch kritisiert in seinem Text zum
ren Verhältnis zueinander der Bildsinn Tetschener Altar, dass die Forschung
sich ergeben solle, müsse vollständig, um bisher:

43
Joseph Imorde: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003, S. 1.
44
Ebd.
45
Unbestritten ist, ob sich Schleiermacher und Friedrich gekannt haben. Sie sind sich
nachgewiesenermaßen zwei Mal begegnet. Bezüglich der Ableitung bestimmter Werke Friedrichs
aus dem Geiste Schleiermachers ist sich die Forschung jedoch höhst uneinig. Während sich Werner
Busch und Inken Mädler (Kirche und bildende Kunst der Moderne. Ein an F. D. E. Schleiermacher
orientierter Beitrag zur theologischen Urteilbildung. Tübingen 1997) für eine Beeinflussung des
Malers durch den Theologen stark machen, warnen Forscher wie Helmut Börsch-Supan (Caspar
David Friedrich und Berlin. Der Anfang einer Vorgeschichte. In: Berlin in Geschichte und Gegen
wart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1988, S. 51-80) oder Andreas Arndt…
Werner busch

[…] immer gleich und aus- 1800 verstärkt in den Fokus der künst-
schließlich von den Kritikpunkten des lerischen und kunsttheoretischen Inte-
Kammerherrn von Ramdohr ausgegan- ressen geriet. Damals bestand jedoch
gen ist. So genau dessen Beobachtungen auch die Möglichkeit einer gegenteiligen
sind, sie beschreiben Einzelphänomene, Lesart, welche in der Indienstnahme ei-
nicht die Gesamtstruktur des Werkes, fer- nes an sich autonomen Landschaftsge-
ner schließt Ramdohr von den Gegen- mäldes als Altarbild gerade keinen Akt
224 ständen und der Wirkung unmittelbar künstlerischer Emanzipation, sondern
auf die Bedeutung, zeigt nicht die Form im Gegenteil einen Rückfall in die he-
der künstlerischen Bedeutungsgenerie- teronome Einbindung von Kunst sah.
rung im einzelnen.63 Letzteres entspricht der Position von
Friedrichs schärfstem Kritiker Basilius
Im Anschluss an die Unsicherheiten von Ramdohr.66
bezüglich der Gattungsfestlegung
sowie der Hängung im Hause Thun Werner Buschs Herangehensweise
schreibt Busch: will rekonstruieren, wie kompliziert
es zu Friedrichs Lebzeiten war, in
Ihr Status [der Bilder] ist un- einem Kunstwerk Naturverehrung
klar, sie konnten noch religiöse Funk- und protestantisch-christliche The-
tion ausüben, Friedrich hatte sein Bild ologie zusammenzubringen.
zum Altarbild deklariert, doch der be- Der Tetschener Altar stellt laut Chris-
rühmte Vorbehalt des Freiherrn von tian Scholl aufgrund der ungewöhn-
Ramdohr, die Landschaft scheine auf lichen Integration des Traditionellen
die Altäre kriechen zu wollen, benennt und der Inszenierung eines Modus-
das Problem sehr präzise.64 bruches ein wichtiges Zeugnis für
die Gattungsumbrüche um 1800 dar
Die Gattungs- und Funktionsfest- und kann als Versuch verstanden wer-
schreibung ist folglich nicht klar, so- den, die Gattungshierarchie durch-
dass die ästhetische Nutzung vor- lässig zu machen.67
herrschend ist.65 Scholl schreibt dazu:
Für die Forschung ist dies ein
Man kann deren Rahmung in Glücksfall, dokumentiert der Streit doch
einem emanzipatorischen Sinne als Auf- einen einschneidenden Wandel im Ver-
wertung einer Gattung verstehen, die um ständnis von Kunst, der beim »Tetschener

…(Friedrich Schleiermacher als Philosoph. Berlin [u.a.] 2013) davor, Schleiermachers Wirkung auf
Friedrich zu überschätzen.
46
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 263.
47
Ebd.
48
Vgl.: Ebd., S. 263 ff.
49
Vgl.: Ebd., S. 265-66.
50
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam: …
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Altar« im komplexen Zusammenwirken Die geschilderte Hängungsproble-


von neuartiger Bildgestalt, ungewöhn- matik dokumentiert die Unsicher-
licher Funktionszuweisung und inner- heit im Umgang mit religiösen Bil-
wie außerbildlicher Inszenierung greif- dern Anfang des 19. Jahrhunderts.74
bar wird.68 Indem Friedrich Landschaftsmalerei
mit Sakralem verbinde, überschreite
Christian Scholl zufolge er unzulässigerweise, so wirft ihm
stellt der Tetschener Altar ein Musterbei- Ramdohr vor, die Grenzen des Gen- 225
spiel dafür dar, „in welchem Maße die res Landschaftsmalerei.75
jeweiligen Interpretationen nicht nur Denn ein Altarbild, das eine Land-
vom Geschichts-, sondern auch vom schaft zeigt, lasse sich keiner klassi-
Medienverständnis abhängig sind.“69 schen Gattungshierarchie zuordnen.
Im Umkehrschluss bedeutet dies,
Ursprünglich geplant, sollte das Bild dass Friedrich nicht mehr von einem
in der Hauskapelle auf Schloss Tet- statischen Gattungsbegriff ausgeht,
schen aufgestellt werden. Dazu kam sondern von einem dynamischen.
es jedoch, entgegen der Verabredung Ein Landschaftsgemälde, das als Al-
zwischen dem Maler und der Familie tarbild dienen soll, gab es in der bis-
Thun, nicht.70 herigen Kunstgeschichte noch nicht.
Eine solche Kapelle fehlte schlicht- Wurde bis zu diesem Zeitpunkt die
weg. Nachdem auch Pläne, das Bild religiöse Funktion eines Kunstwerks
nach Prag zu schicken, verworfen wur- ausschließlich mittels Historienma-
den, erhält das Bild im Schlafzimmer lerei erreicht, wagt Friedrich den Ver-
der Gräfi n seinen Aufstellungsort, such in der Landschaftsmalerei reli-
„offenbar ohne sein [des Malers] Wis- giöse, ästhetische und zugleich abbil-
sen“71. Bis zum 19. Jahrhundert ver- dende Funktionen zu verankern.
blieb es, so ist es fotografisch doku- Dieser, zur damalige Zeit skandalöse
mentiert, an diesem Ort, begleitet von (Fort-)Schritt birgt die Idee, dass Gat-
einer gerahmten druckgrafischen Re- tung und Funktion des Bildes nicht
produktion Raffaels Sixtinischer Ma- mehr eindeutig sind. Der Bildstatus
donna.72 „Beide Bilder dürften an die- wird unklar, was sich besonders auf
sem Ort nicht eigentlich Andachts- die Frage eines geeigneten Ausstel-
bildfunktion gehabt haben“73. lungsortes auswirkt. Im Endeffekt,
so führt Busch fort, wird „das Museum

… Rodopi, S. 263–280, S. 266.


51
Vgl.: Ebd.
52
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.)
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 267.
53
Vgl.: Ebd., S. 267 ff.
54
Vgl.: Ebd.
55
Vgl.: Ebd., S. 267 f.
56
Vgl.: Ebd., S. 268.
57
Ebd.
Werner busch

[…] der für seine Rezeption geschaf- In Gustav Adolph IV., der, so schreibt
fene adäquate Ort sein“76. Den Über- Busch, auch „als Politiker ein Ro-
legungen zur Aufstellungsproblema- mantiker“82 war, sah der franzosen-
tik des Tetschener Altars aufgrund von feindliche Friedrich einen der viel-
Gattungs- und Funktionsüberschrei- leicht letzten erbitterten Gegner Na-
tungen fügt Busch ergänzend Über- poleons. Neben einer ähnlichen po-
legungen zu einem bereits zuvor ent- litischen Auffassung verband beide:
226 standenen Funktionswandel an.77
Ursprünglich nämlich, so führt Busch […] eine besondere pietisti-
aus, war das Gemälde Friedrichs als sche, dem Herrnhutertum nahestehende
Geschenk für seinen König Gustav Frömmigkeit, die Friedrich in Greifswald
Adolph IV. von Schweden geplant.78 bereits durch Kosegarten nahegeracht
Als schwedischer Untertan – Pom- worden war und mit der Gustav Adolph
mern, wo der Maler 1774 geboren offenbar gerade in Dresden um das Jahr
wurde, war bis 1815 schwedisch – 1804 in enge Berührung gekommen ist.83
beabsichtige Friedrich offenbar, den
Regenten zu verherrlichen und ihn Unklar bleibt aufgrund der schlech-
gleichzeitig auf den Kern der luthe- ten Quellenlage, weshalb das Gemäl-
rischen Rechtfertigungslehre, sowie de schlussendlich doch nicht nach
auf die Prädestination pochende Schweden ging, sondern für das böh-
Glaubensrichtung hinzuweisen.79 mische Schloss Tetschen erworben
Beide sind sich vermutlich während wurde.84 Die bereits angesprochene
der regelmäßigen Besuche des Königs Naturfrömmigkeit, die Friedrich und
in Dresden begegnet.80 Gustav verband, hat den Maler, Busch
zufolge, auch zu seinem Tetschener Al-
Friedrich stimmte mit seinem tar angeregt.85 Der Kunsthistoriker
König nicht nur politisch überein. Wich- verweist hier auf Pfarrer Ludwig
tiger noch dürfte das Faktum der gleichen Gotthard Kosegarten und einen von
religiösen Überzeugung sein. Erst die An- ihm angestoßenen Entwurf für eine
nahme einer Mischung aus politischen Kapelle mit vorgelagertem Rondell
und religiösen Gründen dürfte verständ- in Vitte auf Rügen. Der um 1805/06
lich machen können, warum Friedrich zu datierende Entwurf sollte Predig-
ein derartiges Bild für seinen König als ten unter freiem Himmel möglich
geeignet erachtet haben kann.81 machen, wodurch sich der Naturraum

58
Ebd., S. 267.
59
Vgl.: Ebd., S. 268.
60
Vgl.: Ebd.
61
Vgl.: Ebd., S. 273.
62
Ebd.
63
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 273.
64
Vgl.: Ebd., S. 269.
65
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

zum Andachtsraum entfalte.86 Beide sehen in der Schönheit der Na-


Eine weitere Beeinflussung – in die- tur einen Resonanzraum Gottes, er-
sem Falle literarischer Art – die Fried- kennen jedoch gleichzeitig, dass die
rich dazu bewegte, das Verhältnis von Kunst, indem sie die konkrete Natur
Natur, Kunst und Religion malerisch abstrakt fasst, den durch Tradition ge-
zu verarbeiten, sieht Busch in Ludwig heiligten, selbstverständlichen Be-
Tiecks Franz Sternbald Wanderungen 87. deutungskontext der Dinge zunich-
Der Protagonist des romantischen temacht.91 Die allegorische Wieder- 227
Romans begegnet auf seiner Italien- gabe der Dinge ist nicht dazu imstan-
reise einem Eremiten, der ihn auf ein de, ihnen Sinn zu verleihen. Hierfür
Landschaftsbild hinweist. Das Bild bedarf es den Künstler als bedeutungs-
zeigt „einen Pilger, der aus einem vermittelnde Instanz. Die Dinge, die
nächtlichen dunklen Hohlweg kom- „aus den sie einst tragenden (Sprach-)
mend auf dem Berge ein von fern her Bildern herausgefallen“ seien, „kön-
glänzendes Kruzifi x wahrnimmt“88. nen allein durch den Künstler, durch
Sowohl der Eremit, als auch Franz subjektive Inanspruchnahme, ästhe-
Sternbald begreifen das Bild, das dem tisch vor dem Verfall gerettet wer-
Maler zufolge „das zeitliche Leben den“ 92 .
und die überirdische himmlische
Hoffnung“89 darstellen solle, nicht. Weiter fährt Busch fort:

Beide stellen fest: Im Sinne von Prädestinations-


und lutherischer Gnadenlehre ist der
[...], daß die Erfahrung Gottes Gläubige auf Erden ohne Gewissheit, in
in der Natur zwar wahr ist, die Kunst ihr seiner Hingabe an die Natur als Gottes
jedoch nur in allegorischer Form Aus- Schöpfung erfährt er zwar sich selbst
druck geben kann, sie fügt die wahrge- in seiner Sehnsucht, doch vermag er
nommenen Gegenstände zusammen, in des Göttlichen dabei nicht teilhaftig zu
der Absicht, ihnen so Sinn zu geben. Es werden – Gott mag sich in der Natur
ist dies eine Form der Suche nach dem offenbaren, aber nicht im Menschen,
Höchsten, nur auf diesem, dem allegori- der den Abglanz des Göttlichen in der
schen Wege möglich.90 Natur wahrnimmt, der ihm jedoch nur
für den Moment als tröstlich erscheinen
kann. Seine einzige Hoffnung – und

66
Scholl, Christian (2015): Caspar David Friedrich: Der "Tetschener Altar". Wirkungsästhetik versus
Regelästhetik In: Marek, Kristin und Schulz, Martin (Hg.)Kanon Kunstgeschichte. Paderborn:
Fink, S. 12-33, S. 19.
67
Vgl.: Ebd., S. 25.
68
Ebd., S. 14.
69
Ebd.
70
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 267.
71
Ebd., S. 268.
Werner busch

insofern ist die Reflexion des Kreuzes


begriffl ich faßbaren allegorischen und
Christi allentscheidend – ist die auf das
vor allem religiös-allegorischen Sinnge-
Leben nach dem Tode.93 halt zu veranschaulichen, einen ‚sensus
allegoricus‘, den der Betrachter […]
In der Natur kann der Mensch die ‚hinter‘ dem ‚sensus litteralis‘ erkennt
göttliche Offenbarung zwar wahr- oder wenigstens erahnt.96
nehmen, ein religiöser Sinngehalt
228 hingegen bleibt ihm verborgen. Die In diesem Sinne entwickelt sich aus
einzige Hoffnung, die der Mensch im der romantischen Frömmigkeit eine
Erkennen des göttlichen Abglanzes Art Kunstreligion. Friedrich hat, so
hegt, ist die Hoffnung auf ein Leben schreibt Busch:
nach dem Tode, die Hoffnung, im Jen-
seits Unendlichkeit zu erlangen.94 […] seine Kunst bei der Dar-
Diesen Gedanken macht sich, Busch stellung der Natur als beständigen Got-
zufolge, Friedrich zunutze, indem er tesdienst angesehen, als fortwährende
die in geometrischen Verhältnissen Aufforderung zur absoluten Konzentra-
ausgedrückte Schönheit der Natur in tion in Demut. Diese Konzentration ist
den Dienst des Hinübergleitens ins auch jeweils beherrschendes Bildthema,
Jenseits stellt. Die Ästhetik der Land- das handlungsaktive Bilder ausschließt.97
schaft lenkt den Blick fort von der Un-
mittelbarkeit und auf ein Leben nach Hier lässt sich erneut eine Verbin-
dem Tode, auf Unendlichkeit. dung zu Schleiermacher festmachen,
Kurz: Das Gefühl, „das die Idee der der im zweiten Kapitel seiner 1799 er-
Unendlichkeit mit sich führt, […] lei- schienen Schrift Über die Religion fest-
tet von der Anschauung zur Reflexi- hält:
on der Transzendenz“.95
Kunst entwickelt sich zur Grundlage Ihr [der Religion] Wesen ist we-
um religiöse Gefühle zu erzeugen. der Denken noch Handeln, sondern An-
Die Landschaftsmalerei Friedrichs schauung und Gefühl. Anschauen will sie
zielt darauf: das Universum, in seinen eigenen Darstel-
lungen und Handlungen will sie es andäch-
[…] über die Vermittlung einer tig belauschen, von seinen unmittelbaren
‚ästhetischen Stimmung‘ oder ‚Rüh- Einflüssen will sie sich in kindlicher Pas-
rung‘ und über ‚Reverien‘ hinaus einen sivität ergreifen und erfüllen lassen.98

72
Vgl.: Ebd.
73
Ebd., S. 269.
74
Vgl.: Ebd.
75
Vgl.: Ebd.
76
Ebd.
77
Vgl.: Ebd.
78
Vgl.: Busch, Werner (2015): Forschungsbericht zur nicht unproblematischen kunsthistorischen
Romantik-Forschung in Deutschland: Friedrich, Runge und Zeitgenossen In: Hühn, Helmut (Hg.):
Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin: De Gruyter, S. 37-50,
S. 42.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Schleiermacher zufolge ist die Reli- erneut auf Ramdohrs Kritik ein.
gion weder dem Denken, noch dem Er versucht zu zeigen, dass Friedrichs
Handeln, sondern einzig und allein Bild nicht nur sehr wohl religiöse As-
dem Gefühl unterworfen. pekte enthält, sondern dass es nicht
Die Religion wird zur passiven, an- weniger als die gesamte Komposi-
dächtigen Kontemplation, die er als tion Gottes würdigt.
subjektives, autonomes Gefühlser-
lebnis beschreibt.99 Durch bloße An-Dem Bild fehle alles, was ein zeit- 229
schauung des Universums kann der genössisches Landschaftsbild aus-
Mensch das Sichtbare reflektieren, mache, konstatiert Ramdohr Buschs
sich in das übergreifende Ganze der Ansicht nach zu Recht: Friedrichs re-
Natur einordnen und dadurch ein ligiöse Landschaft widerspricht dem
Gottesbewusstsein entwickeln. zeitgenössischen Verständnis einer
Religion wird in diesem Zuge auf Landschaft, die „nur für sich Aus-
Innerlichkeit bezogen, auf die Ge- druck [habe], wenn sie naturwahr sein
fühle und Beziehungen eines Indi- wolle“101. Weder ist die Lichtführung
viduums, die auf eine höhere Entitätnatürlich, noch fi nden Zentral- oder
verweisen. Im übertragenen Sinne istLuftperspektive Anwendung im Tet-
Friedrichs Landschaftsmalerei damit schener Altar.102 Die „von außen heran-
als ästhetischer Erfahrungsraum zu getragene Sinnfestlegung hebe […] das
verstehen. gattungsmäßige Wesen der Land-
schaft auf, bringe sie in Kontexte, in
Nach dem Aufzeigen motivischer denen sie nichts zu suchen habe“103.
Anregungen widmet sich Busch dem
praktischen Malprozess, um die dar- Die rigide Auffassung eines Ram-
aus gewonnenen Erkenntnisse auf die dohrs begründet Busch mit seinem
Rezeption des Werkes, unter der Be- aufklärerisch geprägten Allegoriebe-
rücksichtigung seiner Komposition, griff, dem zufolge nur das auf mehr
anzuwenden. Buschs Ziel ist es, aus verweisen könne, was im Bild selbst
der ästhetischen Ordnung des Bildes verfremdet, daher nicht natürlich
seine Bedeutung zu generieren.100 dargestellt ist:

Um den Denkprozess vor dem Leser [Ramdohr] kritisiert indirekt


transparent werden zu lassen, geht er den romantischen Symbolbegriff eines

79
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263–280, S. 271.
80
Vgl.: Ebd., S. 269.
81
Ebd., S. 270.
82
Ebd., S. 269.
83
Ebd., S. 270.
84
Vgl.: Ebd., S. 265.
85
Vgl.: Ebd., S. 271.
86
Vgl.: Ebd.
Werner busch

Schelling, wonach das Symbolische im- weitere Bildentwicklung“106.


mer auch das Universale sei, es nicht nur Er überträgt zunächst mit Bleistift
vertrete, und insofern auf verschiedene und schließlich mit der Rohrfeder al-
Weise leicht zu allegorisieren sei, jede le Details auf helle Grundierung. In-
Allegorisierung verweise auf das Sym- dem er die Vorzeichnungen im Mal-
bol, gebe eine Ahnung, ohne das Symbol prozess nicht unter einer deckenden
je zu erschöpfen. […] Alle Verstöße in Farbschicht verschwinden lässt, son-
230 Friedrichs Bild, […] sieht er [Ramdohr] dern in dünnen Lasurschichten eine
als Resultat des Versuchs, dieses Ah- Landschaft schafft, verhüllt er „das
nungsvolle zu erzeugen, den Rahmen der Natur Nachgeahmte mit farbigen
mit seinen eindeutigen religiösen Zei- Schleiern unterschiedlich weit“107 und
chen begreift er als mitgelieferten Re- versieht es damit:
ferenzrahmen dieses Ahnungsvollen.104

Friedrich habe, so beschreibt Busch,


mit der Abkehr von vorherrschenden
Normen und Regeln im Tetschener Al-
tar, „bewußt die Krücken der Kunst
abgelehnt, um auf eigenen Füßen zu Abbildung 5: Caspar David Friedrich,
gehen“105. Skizzen und Studien, 1804-1807

Im Anschluss daran wendet sich Busch […] im Prozeß der Malerei mit
der Werkentstehung zu. Als Vorlage einem zusammenbindenden Ton […],
verwendet Friedrich eine querforma- der nicht nur die Vereinzelung der Ge-
tige Sepia (ähnlich der Sepia in Abb. 1). genstände und ihre äußerliche Markie-
Um das Ganze in ein Hochformat rung aufhebt, sondern sie zugleich der
umzuwandeln, studierte er abermals momentanen Gestimmtheit des Malers
zeichnerisch Fichten. „Trotz der of- unterwirft. […] Diese sonderbare Form
fensichtlichen Stilisierung des Tetsche- der durchscheinenden Übermalung des
ner Altars geht die Darstellung des Vorgegebenen markiert in der Tat einen
Einzelgegenstandes grundsätzlich auf Verwandlungsprozeß, bei dem das Natur-
unmittelbare Naturstudien zurück, vorbild nicht nur im Hegelschen Sinne
ja, sie sind Grundbedingung für die aufgehoben, sondern in der subjektiven

87
Ebd.
88
Ebd.
89
Ebd.
90
Ebd.
91
Vgl.: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 186.
92
Ebd.
93
Ebd., S. 272.
94
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 272.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Färbung im Sinne der Romantik wahr Das in Öl ausgeführte Gemälde ist


wird, um mit Schelling zu formulieren, nur wenig höher als breit und nähert
Anteil am Universalen nimmt.108 sich ohne Rahmen entschieden einem
Quadrat (Abb. 3). Mit diesem Format
Um aus der ästhetischen Bildordnung hebe das Gemälde nicht nur eine Hie-
die Bildbedeutung – die „Ahnung des rarchie von oben und unten auf, son-
Überirdischen“109 – zu entwickeln, dern verweise gleichzeitig auch auf
ist es Busch zufolge unabdingbar, das absolute Maßverhältnisse.111 231
bisher ungeklärte Verhältnis von Rah- Den Rahmen zunächst außen vor-
men und Bild, von Bild- und Rahmen- lassend, fällt eine äußerst sparsame
ordnung zu klären.110 Motivik auf (Abb. 3): Ein felsiger
Gipfel, bewachsen mit Fichten und
bekrönt von einem Kreuz, der im Ge-
genlicht der auf- oder untergehenden
Sonne den Eindruck eines schwar-
zen Dreiecks hervorruft.
Die planimetrische Komposition, so
zeigt Busch, hat Friedrich aufs Gen-
auste kalkuliert: Der Maler nutzte al-
le vier Linien des Goldenen Schnitts
(Abb. 4). Zur wirksamsten Linie er-
klärt er hierbei die rechte Senkrechte,
die durch den senkechten Kreuzbal-
ken läuft. Die linke Senkrechte hin-
Abbildung 3: Caspar David Friedrich: gegen geht durch den mittleren der
Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge), fünf Sonnenstrahlen und verweist in
1807/08, Öl auf Leinwand, gedanklicher Verlängerung auf die
115 × 110,5 cm, Galerie Neue Meister Basis der Tafel.112 „Damit ist in der
im Albertinum, Tat“, so folgert Busch, „der Punkt ih-
Staatliche Kunstsammlungen Dresden res endgültigen Unterganges mar-
kiert. Sie verabschiedet sich aus der
Natur und geht in eine andere Ord-
nung über, die durch die Symbolik
des Rahmens verdeutlicht wird“113.

95
Brandt, Reinhard (2009): Zur Metamorphose der Kantischen Philosophie in der Romantik.
Rhapsodische Anmerkungen In: Bauereisen, Astrid (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen
zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen
& Neumann, S. 85-101, S. 91-92.
96
Noll, Thomas (2006): Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich. Physikotheologie
Wirkungsästhetik und Emblematik; Voraussetzungen und Deutung. München, Berlin: Dt.
Kunstverl., S. 100.
97
Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 272.
98
Schleiermacher, Friedrich (2011) In: Meckenstock, Günter (Hg.): Über die Religion. Reden an die
Gebildeten unter ihren Verächtern In: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Berlin:…
Werner busch

Die untere Waagerechte des Golde- Dreieck um das allsehende Auge Gottes
nen Schnittes schneidet den Kreuz- auf dem Rahmen in Beziehung gesetzt,
fuß, wo sie gleichzeitig auf die rechte das Auge selbst zur verdeckten, für den
Senkrechte des Goldenen Schnittes, Menschen nicht unverstellt erfahrbaren
sowie auf die beiden, der Bergsilhou- göttlichen Sonne, die Strahlen zu den
ette folgenden Schenkel trifft. Strahlen, aber auch zur Fünfzahl der
Der erste davon folgt in einem 40°- krönenden Engel, die Abendstunde des
232 Winkel dem Berganstieg, der zweite Bildes zum Abendstern im Scheitel des
folgt dem Abstieg zur rechten unte- Bogens, die eucharistischen Zeichen zu
ren Bildecke in einem Winkel von 45°. Seiten des göttlichen Auges schließlich
Gemeinsam erwecken sie – Buschs zum Kreuz Christi als Erlösungszeichen,
Auffassung nach – den Eindruck „ei- die Fichten zu den Säulen, aus denen die
ner extremen, unverrückbaren Ver- sich vereinigenden Palmzweige als Trost
ankerung des Felsens“114. und Versöhnungszeichen wachsen.118

Eine besondere, wenn auch auf den Busch zeigt:


ersten Blick nicht direkt erkennbare
Bedeutung komme auch der oberen […] wie aus der Verschrän-
Waagerechten des Goldenen Schnit- kung ästhetischer Grundlinien – Senk-
tes zu, die durch den Körper Christus rechte und Waagerechte des Goldenen
führt115 (Abb. 4). Indem sie exakt die Schnitts – nicht nur die Gegenstände
Höhe der rahmenden Säule markiert, bezeichnet, sondern auch aufeinander
thematisiert sie „nachdrücklich den bezogen werden und wie Vorne und
Übergang vom Bild zum Rahmen“116 Hinten über reine Flächenbezüge auf-
und gleichermaßen „den Übergang einander reagieren, ohne jedoch dabei
von der irdischen zur überirdischen Kompromisse bei der Naturwiedergabe
Sphäre“117. In der Bildordnung sei so- einzugehen119
mit, wie Busch konstatiert, ein ästhe-
tischer Konnex hergestellt worden, Mit anderen Worten:
im Zuge dessen: Friedrichs Durchkomponierung des
Werkes bezieht sich vorrangig nicht,
[…] man von einer Korres- wie in der Malerei bisher üblich, auf
pondenz zwischen Rahmen und Bild ge- den Landschaftsraum, sondern auf
sprochen und dabei die Bergform zum die Bildoberfläche.120

…De Gruyter, S. 211.


99
Vgl.: Manfred Schwarz: Der Kunsthistoriker Werner Busch sieht in Caspar David Friedrichs
strengem Bildaufbau eine religiöse Ästhetik: Gottes Geometer.
100
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 280.
101
Friedrich Schleiermacher (2011): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern In: Meckenstock, Günter (Hg.): Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Berlin:
De Gruyter, S. 273.
102
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):…
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Die geradezu mathematische Berech- (Abb. 4):


nung der bildlichen Strukturen über
Farbflächen, Formen und Kontraste, Während das Bild zunächst
geht Hand in Hand mit der scheinba- eine Landschaftsansicht suggeriert, er-
ren Ungeschicklichkeit der räumli- zwingt der auffällige Rahmen mit seinen
chen Darstellung. Putten und Palmzweigen, mit Stern und
Dieser Widerspruch wird durch das Strahlensymbol in der Bildachse, mit
Zusammenspiel von Bild und Rah- Ähren und Reben eine ganz andere Be- 233
men verstärkt121. trachterhaltung und fordert zur symbo-

lischen Deutung heraus.122

Busch zeigt damit, dass der Tetsche-


ner Altar vollkommen den Gesetzen
des Goldenen Schnittes unterliegt
und die Tiefen des Werkes in seiner
Geometriesierung liegen.123
Ein weiterer wichtiger Punkt ist laut
Werner Busch die Subjektivität der
Naturerfahrung:

Friedrichs Naturerfahrung,
zuerst ortlos den Phänomenen hingege-
ben, angesichts der politischen Verhält-
nisse und seiner religiösen Überzeu-
gung per se ohne Hoffnung, da ohne
jede Gewißheit, wandelt sich im Werk-
prozeß bei demutsvoller Hingabe an
Abbildung 4: Caspar David Friedrich: die Erscheinung mit Hilfe ästhetischer
Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge), Ordnungsprinzipien zu einer Ahnung
1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 des universellen Zusammenhanges —
cm, Galerie Neue Meister im Alber- um mit Schlegel zu formulieren —, die
tinum, Staatliche Kunstsammlungen zwar auch keine Gewißheit verspricht,
Dresden – mit eingezeichneten Kom- aber doch punktuellen Trost bereithält,
positionslinien (Goldener Schnitt) weil sie ihn subjektiv erfahrbar macht.124

…Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 273.
103
Friedrich Schleiermacher (2011): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern In: Meckenstock, Günter (Hg.): Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Berlin:
De Gruyter, S. 273.
104
Ebd., S. 273 f.
105
Ebd., S. 274.
106
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 275 f.
Werner busch

Busch fasst am Ende seines Artikels Kontextualisierung


zusammen: Historische Kontextualisierung

Insofern ist Friedrichs Land- Wie obige Textbetrachtung verdeut-


schaft naturwahr und kosmologisch zu- licht hat, ist der Aufsatz von Werner
gleich. Ja, die Naturwahrheit, der Aus- Busch zum Tetschener Altar historisch
gang von der Hingabe an die Natur, oh- wie methodisch von äußerster Rele-
234 ne Rücknahme dieses Ausgangspunktes, vanz, da er in einer neuen Herange-
ist unabdingbare Voraussetzung für re- hensweise bisherige Ansätze, näm-
ligiöse oder kosmologische Erfahrung, lich einerseits die strukturell-kompo-
sie bleibt zwar im Weltlichen befangen, sitorische Analyse und andererseits
liefert aber qua Selbsterfahrung eine Ah- die Berücksichtigung der historis-
nung des Überirdischen, das hier in äs- chen Rahmenbedingungen zusam-
thetischer Ordnung aufgehoben ist, für menführt und zu einem funktions-
den Künstler nur so aufhebbar ist.125 geschichtlichen Ansatz vereint.127

Der gesteigerte Stellenwert, den die Es ist daher nicht überraschend, dass
Romantiker dem Religiösen beima- sich Friedrich-Forscher immer wie-
ßen, hat eine verändernde Auswir- der auf Busch beziehen, was im Fol-
kung auf die Beziehung zwischen genden anhand zweier aktueller Bei-
Subjekt und Natur. Indem sich in der spiele aufgezeigt werden soll.
Landschaft die Rekonstruktion gött-
licher Schöpfung vollzieht, sich in ihr Detlef Stapf wendet Buschs Überle-
Bedeutung visualisiert und sie gleich- gungen, dass sich Friedrich dem Na-
zeitig als Anregung für religiöse Re- turraum über ästhetisch-religiöse
flexionen konzipiert wird, entfaltet Erfahrungen nähert, auf eine bisher
sie ihr Potential als Protektions- und in der Geschichte des Tetschener Altars
Reflexionsebene.126 außer Acht gelassene Vermutung an.
Er geht davon aus, Friedrich habe
das Altarbild insgesamt dreimal ge-
malt.128 Stapf entnimmt dies einer
Bemerkung von Kurt Karl Eberlein
aus dem Jahr 1939, der neben der
Gräfi n Thunauch die Fürsten von

107
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 275 f.
108
Ebd.
109
Ebd., S. 280.
110
Vgl.: Ebd., S. 277.
111
Vgl.: Ebd.
112
Vgl.: Ebd., S. 278.
113
Ebd.
114
Ebd., S. 277.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Mecklenburg-Sterlitz und Gotha- Während Busch den Übergang von


Coburg nennt. Er stellt eine ganze der irdischen zur himmlischen Sphä-
Reihe Indizien vor, mit welchen er re anhand des Übergangs vom Bild
zu belegen sucht, dass das Gemälde zum Rahmen belegt, signalisiert letz-
im Auftrag des Mecklenburg-Ster- terer für Grave in erster Linie die
litzer Herzogs für die Kirche von Bestimmung des Bildes als Altarre-
Hohenzieritz gefertigt worden sei.129 tabel.133 In seinem Aufsatz zu Caspar
Als geeigneten Aufstellungsort in der David Friedrichs Kreuzlandschaften 235
Hohenzieritzer Kirche führt Stapf weist er, wie Busch, den Ähren und
eine Altarnische auf, für deren Ab- Weinranken auf dem Rahmen eine
messungen das Werk ideal geeignet eucharistische Symbolik zu. Ebenso
sei: „Friedrichs Altar würde die Run- dem göttlichen Auge im Dreieck da-
dung der Nische zwischen den bei- zwischen, welches von einem Kranz
den als weiß gestrichenen Balken aus Strahlen umgeben ist. Allerdings
ausgeführten Säulen unter der Kan- zieht er daraus den Schluss, dass
zel präzise abdecken.“130 Friedrich Grave in seinem Tetschener
Des Weiteren beziehe der Rahmen Altar keineswegs den Versuch einer
die Raumarchitektur mit ein. Indem Revitalisierung des Altarbildes un-
das Altarbild eine fensterähnliche ternommen habe:
Form annimmt, erweise sich der Al-
tar als ein Weg, den Kirchenraum hi- Die bemerkenswerte Aufwer-
naus in die Natur zu verlegen, ohne tung des Landschaftsgemäldes zum Al-
dabei jedoch das sakrale Sujet zu tarbild, die Friedrich mit dem ‚Kreuz im
verlassen.131 Gebirge‘ vollzog, steht jedoch in einem
Gedanklich führt Stapf dem Leser irritierenden Widerspruch zu der Skep-
die Lichtverhältnisse vor und greift sis, die er weniger als zehn Jahre später
ebenso auf die bereits von Busch auf- Altargemälden gegenüber erkennen ließ.
gefasst Schwebeerfahrung132, den un- Sowohl im Jahre 1815, als Friedrich kurz-
klaren Ort des Betrachterstandpunk- zeitig in die Beratungen über einen neuen
tes zurück. Ganz anders geht der Altar für St. Marien in Greifswald ein-
Bielefelder Kunsthistoriker Johannes bezogen wurde, als auch 1817/1818 im
Grave mit Buschs Neuerungen um. Zuge der Planungen zur Umgestaltung
der Chorpartie der Stralsunder Marien-
kirche hat der Maler in aller Klarheit von

115
Vgl.: Ebd., S. 278.
116
Ebd., S. 278 f.
117
Ebd., S. 279 f.
118
Ebd., S. 276 f.
119
Viola Hildebrand-Schat: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und
Religion 2004, S. 287.
120
Vgl.: Ebd., S. 289.
121
Vgl.: Ebd., S. 290.
122
Neddens, Christian (2017): Ästhetik des Kreuzes. Theologie des Bildes bei Caspar David Friedrich
– auch im Blick auf Schleiermachers ‚Reden‘ In: Von Scheliha, Arnulf und Dierken, Jörg (Hg.):…
Werner busch

der Integration von Gemälden in die Die Stilgeschichte nimmt eine prinzi-
Hauptaltäre abgeraten.134 piell kunstimmanente Formentwick-
lung an, wohingegen die Ikonologie
Zudem verstärke der Umstand, dass die Gedankengänge einer bestimm-
Friedrich nur sporadisch Altarbilder ten Zeit auch anhand literarischer
entwarf und dabei stets ein Kreuz in Zeugnisse transparent werden lässt.138
das Zentrum der Darstellung rückte,
236 Grave zufolge die Zweifel an der Deu- Beide Herangehensweisen, so ver-
tung, er würde Landschaftsmalerei- zeichnet Busch 1997 werden „zwei-
en als Altarbilder schaffen.135 fellos noch mit beträchtlichem Er-
Er schließt daraus, dass Friedrich folg betrieben, aber es zeichnet sich
„dem Landschaftsgemälde zwar – immer mehr ab, daß auch die Ikono-
vielleicht erstmals in der deutschen logie, als vorherrschende Methode,
Malerei – den Rang eines Altarbilds an ihrem Ende angelangt ist“139.
zugewiesen, seine Haltung dieser Er spricht in diesem Zusammen-
Bildaufgabe gegenüber […] aber hang auch von einem „unaufhebba-
dennoch von einer starken Ambiva- ren Bruch mit der Vergangenheit“140.
lenz gekennzeichnet“136 ist.
Genährt wird seine Skepsis gegenü-
Buschs Text entstand in einer Zeit, ber einer ikonologischen Bildannähe-
in der die Kunstgeschichte bereits rung von einer Außenvorlassung des
zwei sich überschneidende Phasen Entstehungsprozesses und des Kon-
hinter sich hatte. Kunstwerke wur- textes künstlerischen Schaffens.141
den erfasst, kategorial geordnet und Die ständige Suche nach den Bedeu-
benannt. tungsträgern birgt die Gefahr, die
Die eine Phase war die Stilkritik und ästhetischen Dimensionen des Wer-
-geschichte. Die andere die Deutung kes zu vernachlässigen.142
der Bildgegenstände, die Ikonologie. Bei der Überwindung von bisherigen
In Deutschland kommt nach einer Herangehensweisen soll dem Einzel-
langen Phase rein stilkritischer Her- gegenstand wieder mehr Bedeutung
angehensweisen, nach 1910 und ver- zukommen.
stärkt nach 1950, der Inhaltsbedeu-
tung und -geschichte, der Ikonologie, Dabei reicht es nicht mehr
eine größere Aufmerksamkeit zu.137 aus, ihn [den Einzelgegenstand] bloß zu

… Der Mensch und seine Seele. Bildung Frömmigkeit Ästhetik : Akten des Internationalen
Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster September 2015. Berlin, Boston:
De Gruyter, S. 673-703, S. 676.
123
Gerade darin wurde Busch allerdings auch kritisiert. Als „ikonische Askese“ beschreibt Claudia
Schmölders seine neuartige Methode der Bedeutungserschließung. „Strenger als jeder Pietist
schweigt er [Busch] von Sinnlichkeiten wie Farbe, Licht und Stimmung, also von Atmosphären;
er reduziert sie auf Kegelschnitte und Sphären. Fast gehen Busch dabei die Bilder selber verloren,
beinahe auch die Geschichte.“ (Schmölders, Claudia: „Rezension von: Werner Busch. Casper
David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003“, http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_
id=6102.html (Stand: 17.11.2017).
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

benennen und etwa sein Thema heraus- Die Unternehmung des Au-
zubekommen, aber es erscheint auch tors aber, anhand einer ikonischen Ord-
nicht möglich, ihn allein aus sich heraus nung des Bildes eine höhere Realität für
zum Sprechen zu bringen. sich selbst dingfest zu machen, nötigt
Vielmehr erscheint es nötig, aus der Er- auch wegen des methodisch fundierten
klärung seines individuellen Produkti- Ein-Sehens Respekt ab und erinnert an
onsprozesses im gesellschaftlichen Kräf- das hermeneutische Vorgehen Max Im-
tefeld der Entstehungszeit seine Wirk- dahls, dem zu seiner Zeit die Ikonik auch 237
weise als historisch geworden und ge- das Mittel war, dem eigentlich Unsagba-
sellschaftlichem Wandel unterliegend zu ren sprachlich so nahe als möglich zu
begreifen. Nicht nur seine abziehbare kommen. Imdahl steht im Buch von Wer-
Mitteilung, sondern die individuelle ‚For- ner Busch – offenbar verborgen - auf er
mulierung‘ der Mitteilung und der Pro- rechten senkrechten Linie des Goldenen
zeß seiner Rezeption sind historisch zu Schnitts, auf dem Lieblingsplatz der
untersuchen.143 Bildhelden.145

Buschs Methodik, sich dem Werk Wie Imdahl, geht es auch Busch um
über bildimmanente Strukturen zu die Reflexion der Bildlichkeit.
nähern, erinnert an die hermeneuti- Denn Busch zufolge ist es der refle-
sche Vorgehensweise Max Imdahls. xive Charakter , der die romantische
Im weitesten Sinne tritt Busch in die Kunst ausmacht. Diesen haben sei-
Fußstapfen des Ikonik-Begründers. ner Ansicht nach zur damaligen Zeit
Im Anschauungsmodus der imdahl- nicht alle Kunsthistoriker gesehen.
schen Methode bedarf Sinn keiner So führt er in seinem Aufsatz Zu
außerbildlichen Maßstäbe, sondern Verständnis und Interpretation romantischer
erschließt sich alleine durch die in- Kunst Friedrich Theodor Vischer auf,
terne Struktur eines Kunstwerkes. 144 der nicht erkennen wollte:
Die ikonische Anschauung setzt Bild-
mit Sinnstrukturen gleich, es geht […], daß Reflexion das Kenn-
einzig um die Reflexion dessen, was zeichen aller Moderne seit dem 18. Jahr-
dem Bild durch bloße Anschauung hundert war. Indem er Reflexion als kunst-
entnommen werden kann. feindlich, als einen neuen Idealismus ver-
hindernd disqualifizierte, versuchte er
Imorde schreibt dazu: das entscheidende Charakteristikum der

124
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 280.
125
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 280.
126
Vgl.: Noll, Thomas; Stobbe, Urte und Scholl, Christian (2012): Landschaftswahrnehmung um 1800.
Imaginations- und mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche In: Noll, Thomas (Hg.):
Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst Literatur Musik und Naturwissenschaft.
Göttingen: Wallstein-Verl., S. 9-26, S. 13.
Werner busch

Moderne, das sie erst zur Moderne macht, monierte, macht gerade die besondere re-
zu eliminieren. Und da er nach wie vor al- flektive Qualität des ‚Tetschener Altares‘
lein auf den Gegenstand der Kunst, den aus, der uns die Diskrepanz von Natur
Inhalt fixiert war, die klassische Rangord- und Geschichte, von verfaßter Religion
nung mit der Historie an der Spitze weiter- und Naturmystik erfahren läßt und zwar
hin fraglos akzeptierte, entging ihm, wie in seiner an Spannung reichen Form.149
anderen, daß das reflexive Moment sich
238 in der Kunstpraxis der Moderne in der Friedrich steht, Busch zufolge mit
Spannung oder gar Diskrepanz von Form seiner religiösen Landschaftsmale-
und Inhalt niederschlug, und so war er rei, nicht bruchlos in akademischer
auch nicht in der Lage, die Qualität der Tradition, sondern reflektiert die
Moderne an ihrem historischen Ort auf- Romantik, deren reflexiven Charak-
zusuchen.146 ter in der „künstlerischen Praxis, in
der Struktur der Werke selbst“150, zu
Während sich im Klassizismus pri- finden ist. Es geht nicht mehr um die
mär die Kunst und ihre klassische Erzählung primär exemplarischer
Geschichte abzeichne, reflektiere die Geschichten:
Romantik „primär den Verlust des
universalen Zusammenhangs, bzw. […], die tagespolitischer Akti-
den Bruch zwischen Natur und Ge- vierung oder moralischer normativer
schichte“147. Entscheidend dabei sei, Nutzanwendung offenstehen, sondern
so führt Busch direkt daran anschlie- es wird ein vorherrschender, von der
ßend aus, „daß die Form der Refle- Formstruktur getragener Ton angeschla-
xion beide Male die stilisierende, ab- gen, der im Betrachter weiterklingt, ihm
strahierende, bewußt künstliche Li- nicht bloß Gegenstände benennt, sondern
nie ist“148. vielmehr die Gegenstände einer psy-
Demzufolge liegt gerade in den Vor- chisch erfahrbaren Grundgestimmtheit
würfen, die dem Tetschener Altar zur unterstellt.151
damaligen Zeit entgegengebracht
wurde, seine besondere Bedeutung Die zuvor eindeutige Verweiskraft
begründet. Busch hält fest: von Zeichen und tradierter Symbo-
lik wird stark gemindert und die se-
Was der Freiherr nun freilich mantische Verbindung zwischen Zei-
aus klassisch akademischem Blickwinkel chen und Bedeutung aufgehoben.

127
Vgl.: Busch, Werner (1997): Die englische Kunst des 18. Jahrhunderts In: Busch, Werner (Hg.): Funkkolleg
Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. Busch, Werner (Hg.): München: Piper,
S. 703-729.
128
Vgl.: Stapf, Detlef: „Caspar David Friedrichs verborgene Landschaften. Die Neubrandenburger
Kontexte“, http://www.caspar-david-friedrich-240.de/p_book.2.html#P-Book
(Stand: 17.11.2017), S. 180.
129
Vgl.: Ebd., S. 180-181.
130
Ebd., S. 181.
131
Ebd., S. 185.
132
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Natur, Kunst, Freiheit…
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

„Das Zeichen [wird] individuell-will- Stellvertreterfunktionen noch auf


kürlich verfügbar und aktivierbar Verbildlichung einer begriffl ichen
und […] [verliert] dadurch seine Gül- Abstraktion abziele, sondern „auf
tigkeit“152 . Der Künstler versucht, die breitere Bedeutungsfelder, deren
Minderung, beziehungsweise den Präzisierung individueller Setzung
Verlust des Zeichens durch eine mit- offensteht“155. Bildsinn, so hat Busch
tels ästhetischer Strukturen neu ge- in einer langen Beweiskette am Tetsche-
stifteter Ordnung zu kompensieren. ner Altar vorgeführt, entstehe durch 239
In einem Katalogbeitrag zur Fried- ästhetische Strukturen. Damit greift
rich-Ausstellung in Essen und Ham- er die zwei, seiner Ansicht nach bisher
burg 2006/2007, schreibt Busch: einzigen, strukturell-formalanalyti-
schen Ansätze in der Friedrich-For-
Die Richtung unserer Refle- schung auf: Börsch-Supans Disserta-
xion gibt Friedrich durch das Gezeigte tion zur „Bildgestaltung bei Caspar
vor, eine defi nitive Antwort nicht. Seine David Friedrich“156, sowie einen
Bilder sind nicht in einem verbindlichen Aufsatz von Michael Brötje157. Ihre
Text auflösbar, und schon gar nicht sind strukturellen Beobachtungen nimmt
sie bloße Umsetzungen eines vorab er auf und entwickelt sie weiter, um
existierenden Textes, insofern sind sie zu dem Schluss zu gelangen, dass der
auch keine Programmbilder, ihnen fehlt Maler über die kompositorische Zu-
Eindeutigkeit.153 ordnung auf der Bildfläche die Ge-
genstände zeichenhaft auflädt.Damit
Er fährt fort: soll der Verlust religiöser Symbolik
kompensiert werden.158 „Die Gegen-
Das hier Entfaltete ist nichts stände haben“, so schreibt Busch
Vorgewußtes, etwa aus der literarischen 1993 in Das sentimentalische Bild „dem
Romantik abgeleitetes, sondern aus den Betrachter gegenüber eine unge-
Bildern in ihrer Wirkweise aufgrund ih- wöhnliche Freiheit gewonnen“159.
rer Anlage Abgewonnenes.154 Ihr Gewinn allerdings ging auf Kos-
ten der Möglichkeit verbindlicher
Buschs hier beschriebener Ansatz Sinnstiftung. Kepetzis schreibt dazu:
verfolgt eine metaphorische Bildan- Der Preis dieser neuen Ordnung ist
lage, die im Gegensatz zu einer sym- der Verlust von Allgemeingültigkeit
bolischen oder allegorisch weder auf und sinnstiftender Determiniertheit,

Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Hg. von Marek J. Siemek. Amsterdam:…
Rodopi, S. 263-280, S. 276.
133
Vgl.: Grave, Johannes (2013): Kreuzlandschaften. Caspar David Friedrich als Maler von Altar
bildern? In: Schneider, Matthias (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St. Nikolai.
Schwerin: Helms, S. 55-76, S. 56 f.
134
Ebd.
135
„Bekräftigt wird dieser Zweifel durch die Zurückhaltung und Skepsis, die Friedrich Altarbildern
gegenüber gezeigt hat, als er Vorschläge für die Neugestaltung der Marienkirchen in Greifswald
und Stralsund unterbreitete. Seine Empfehlungen und Entwürfe bestätigen, dass er kaum
beabsichtigt haben dürfte, die Landschaftsmalerei als neue Leitgattung der Altarbildkunst…
Werner busch

insofern eben auch eine Offenheit Bild-Wissenschaft geprägt war“162 .


der Werke für nachträgliche, nie als Der Aufsatz ist daher zeitgeschicht-
„endgültig“ festzuschreibende In- lich insbesondere relevant, da er den
terpretationen. Damit steht am Ende Methodenpluralismus aufgreift und
ein Ergebnis, dass in der Friedrich- zwei Methoden miteinander kombi-
Forschung nicht neu ist: Die seman- niert – und somit auch eine Öffnung
tische Offenheit und Polyvalenz der der Kunstwissenschaft zur Verbin-
240 Bilder. An Friedrichs Bilder können dung verschiedener Ansätze hin re-
also unterschiedliche Deutungen he- präsentiert.
rangetragen werden, ohne dass diese Zuvor waren in der Kunstgeschichte
einander gegenseitig ausschlössen. die Methoden der Stilkritik und -ge-
Vielmehr können sie aufgrund der schichte bzw der Inhaltsdeutung und
Polyvalenz der Bilder gleichberech- -geschichte der Ikonologie, vorherr-
tigt nebeneinander stehen. 160 schend. Busch stellt fest, dass die
Kunstgeschichte und Kunstwissen-
Buschs Aufsatz zum Tetschener Altar schaft zunehmend von der Vorherr-
vereint demzufolge eine ikonische schaft einer Methode entferne und
Analyse mit dem Einbezug der zeit- sich der Synthese der Methoden an-
geschichtlichen Bedingungen zu ei- nehme.163 Wie schon eingangs aufge-
nem funktionsgeschichtlichen An- worfen, geht es in Buschs Ansatz in
satz, auf den es abschließend näher zentraler Weise auch um die Funk-
einzugehen gilt. tion der Kunstwerke. Er stellt sich
immer wieder die Frage nach der Ver-
bindung zwischen Funktionszusam-
Methodische Einordnung menhängen und künstlerischen Ge-
staltungsweisen.164
Der Text entstand 1998, in einer Zeit,
in der man bereits von einem Me- Das Kunstwerk soll dabei „nicht
thodenpluralismus in der Kunstge- etwa auf seine dienende Funktion re-
schichte bzw. Kunstwissenschaft duziert werden, sondern es soll viel-
sprechen kann161 und die von einer mehr gerade das Verhältnis von in-
Methodendiskussion rund um die dividueller Erscheinung und histo-
„Erweiterung zu einer umfassenden rischer Bedingtheit am Werk selbst
Wissenschaf der Visual Culture bzw. deutlich machen.“165

einzuführen.“ ( Johannes Grave (2013): Kreuzlandschaften. Caspar David Friedrich als Maler von
Altarbildern? In: Matthias Schneider (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St.
Nikolai. Schwerin: Helms, S. 55-76, S. 73.).
136
Johannes Grave (2013): Kreuzlandschaften. Caspar David Friedrich als Maler von Altarbildern? In:
Matthias Schneider (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St. Nikolai. Schwerin:
Helms, S. 55–76, S. 57.
137
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 3.
138
Vgl.: Ebd.
139
Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Zum Funktionsbegriff in der Kunst- Rahmenbedingungen, sondern auch


geschichte schreibt Busch 1997, dass den Funktionswandel eines Werkes
„der Begriff überraschenderweise so als Formkonstituenz zu begreifen.169
gut wie keine Rolle gespielt“ hat.166
Zur der bisherigen vorherrschenden Eine Funktionsgeschichte ent-
Vernachlässigung der Funktionsge- wirft, wie jede geschichtliche Betrach-
schichte in der Kunstgeschichte äu- tungsweise, zunächst einmal in mehr
ßert sich Busch folgendermaßen: oder weniger groben Zügen ein Bild 241
der sich wandelnden Kräfte, die auf den
Warum die Kunstgeschichte jeweiligen Behandlungsgegenstand ein-
die Funktionsfrage - sieht man von den gewirkt haben. Von allgemeingeschicht-
allerjüngsten Ansätzen ab - nicht auf- lichen Fragestellungen unterscheidet sich
gegriffen hat, ist schwer zu sagen. Die die Funktionsfragestellung an die Kunst
Antwort wäre nur aus einer Geschichte aber insofern, als sie ihre Kriterien am
des Faches Kunstgeschichte zu gewin- Kunstwerk selbst zu entwickeln bzw. zu
nen. Grob vereinfacht kann man sagen: überprüfen hat.170
Einer langen Phase überwiegend form-
geschichtlicher Fragestellungen folgte Laut Busch sind die vier zentralen
eine lange Phase überwiegend inhalt- Funktionen von Kunst die religiöse,
lichthemengeschichtlicher Beschäftigung die ästhetische, die politische und die
mit der Kunst. Heute wird von den ver- abbildende Funktion.171 Die ästhe-
schiedensten Seiten her der Versuch einer tische Funktion eines Kunstwerkes
Synthese von form- und inhaltsgeschicht- ist immer vorhanden und kann zum
licher Betrachtungsweise versucht. Als Selbstzweck werden, sie kann sich al-
ein solcher Versuch mag auch der hier so auch ändern. Alle anderen Funk-
vorgeschlagene funktionsgeschichtliche tionen des Kunstwerkes werden ihm
Ansatz begriffen werden.168 zugewiesen und können ihm jeweils
wieder – beispielsweise durch einen
Neu an Buschs Ansatz ist also die Normenwandel in der Gesellschaft
Kombination der Klärung des histo- – abgesprochen werden.172
rischen Kontextes und der Analyse Buschs Überlegungen zu einem funk-
ikonischer Strukturen, zu einem funk- tionsgeschichtlichen Ansatz werden
tionsgeschichtlichen Ansatz, der ver- auch von anderen Kunsthistorikern
sucht, nicht nur nach äußerlichen wie beispielsweise Dieter Kimpel,

140
Busch, Werner (1987): Romantik. Annweiler: Plöger, S. 10.
141
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 4.
142
Vgl.: Manfred Schwarz: Der Kunsthistoriker Werner Busch sieht in Caspar David Friedrichs
strengem Bildaufbau eine religiöse Ästhetik: Gottes Geometer.
143
Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 3 f.
144
„Thema der Ikonik ist das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu
ersetzen ist.“ Imdahl, Max (1994): Ikonik, Bilder und ihre Anschauung. In: Boehm, Gottfried (Hg.):
Was ist ein Bild? München 1994, S. 300.
Werner busch

Robert Suckale, Horst Bredekamp, Der Funktionsbegriff „wird heute


Hans Belting, Wolfgang Kemp oder in den verschiedensten Bereichen
Winfried Nerdinger in ihre Analy- unseres Faches eher selbstverständ-
sen miteinbezogen.173 Im Sinne des lich benutzt.“177 Demnach kann man
Methodenpluralismus schreibt Busch folgern, dass Busch, unter anderen,
zur Funktionsuntersuchung: einen wichtigen Beitrag für die Ein-
führung der Funktionsfrage in die
242 Auch in historischer Sicht ist Kunstwissenschaft geleistet hat –
die Funktionsfragestellung sicher nur eine nicht zuletzt durch die Publikation
Möglichkeit der Herangehensweise an einschlägiger Sammelwerke mit um-
Kunst, allerdings eine, die in methodi- fassender Berücksichtigung aller E-
scher und erkenntnistheoretischer Hin- pochen in funktionsgeschichtlicher
sicht nicht nur dem Forschungsstrand der Perspektive.178
Disziplin Kunstgeschichte angemessen
zu sein scheint, sondern auch Ergebnisse
verspricht, die auf anderem Wege nicht
zu haben sind und einen Aspekt in den
Vordergrund rücken, der geeignet sein Relevanz als Schlüsseltext
könnte, eine Brücke zwischen Kunst-
werk als historischer Überlieferung und Werner Buschs Text zum Tetschener
seiner individuellen, für den gegenwär- Altar stellt die sogenannte funktions-
tigen Betrachter zu aktivierenden Er- Beispiel dar und liefert somit einen
scheinung zu schlagen.174 Leitfaden und eine Orientierungshil-
fe für jene, die sich für die Methode
Laut Werner Busch ist die Frage nach interessieren oder diese selbst verfol-
der Funktion der Kunst – wie man in gen möchten. Buschs Methode kann
seinem Nachwort zum Sammelband als Anstoß zu einer Werkbetrachtung
Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst – und dies selbstverständlich nicht
im Wandel ihrer Funktionen175, das ur- nur auf Werke von Caspar David
sprünglich 1987 erschien und zu dem Friedrich bezogen – gesehen wer-
er 1997 anlässlich der Neuausgabe den, die den Zusammenhang zwi-
in Nachwort verfasste – nicht mehr schen Bildsprache und dem Bildin-
mit einem solchen Reizcharakter be- halt sichtbar werden lässt.
legt wie es zuvor der Fall war.176

145
Joseph Imorde: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003, S. 3.
146
Werner Busch: Romantik. Annweiler 1987, S. 10.
147
Ebd.
148
Ebd.
149
Ebd., S. 14.
150
Ebd., S. 16.
151
Ebd., S. 19.
152
Busch, Werner (1985): Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der
deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Zugl.: Bonn, Univ., Habil.-Schr. Berlin: Mann, S. 37.
153
Gaßner, Hubertus (2006): Caspar David Friedrich, die Erfindung der Romantik. München: Hirmer, S. 32.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Demzufolge versucht die kunstwis- in der Lage ist, das Verhältnis zu er-
senschaftliche Funktionsgeschichte: hellen, daß zwischen den jeweiligen
historischen Rahmenbedingungen
[…] Form und Inhalt auf Grund der Kunst und ihrer individuellen
einer Zweckrelation miteinander zu ver- Erscheinung besteht.“180
knüpfen. […] Werner Busch [sieht], in An-
lehnung an Horst W. Janson (1913–1982),
im funktionsgeschichtlichen und kontex- 243
tuellen Ansatz eine Synthese aus formge-
bundener Stilgeschichte und inhaltgeben-
der Ikonologie in Richtung einer allgemei-
nen, bildorientierten Kulturgeschichte.179

Der heutige Stellenwert des Textes


bzw. des im Text an einem Beispiel
ausgeführten Ansatzes von Busch ist
hoch, da er in seiner Synthese von
form- und inhaltsgeschichtlicher Be-
trachtungsweise die Interdependenz
der Methoden exemplarisch vorführt:
Das Werk hat seine eigene Struktur,
diese Struktur basiert allerdings auf
historischen Bedingungen. Indem
ikonische Strukturen durch den Kon-
text erklärt werden, soll dieser Zu-
sammenhang generell durch die
funktionshistorische Methode und
exemplarisch am Beispiel des Tetsche-
ner Altares bewiesen werden.

So erläutert Busch auch in seinem


Werk zur Geschichte der Kunst und
ihren Funktionen, dass „gerade [die]
Frage nach der Funktion der Kunst

154
Ebd., S. 35.
155
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 25.
156
Vgl.: Börsch-Supan, Helmut (1960): Die Bildgestaltung bei Caspar David Friedrich. München.
157
Vgl.: Brötje, Michael: Die Gestaltung der Landschaft im Werk Caspar David Friedrichs und in
der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen
19 (1974), S. 43-88.
158
Vgl.: Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
159
Busch, Werner (1993): Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die
Geburt der Moderne. München: Beck, S. 294.
160
Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
Werner busch

244 161
Vgl.: Wolfgang Brassat and Hubertus Kohle (2009): Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur
Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft, Kunst & Wissen; Köln: Deubner Verl. für
Kunst, Theorie & Praxis, S. 7.
162
Wolfgang Brassat and Hubertus Kohle: Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur Methodik
und Geschichte der Kunstwissenschaft. Köln 2009, S. 7.
163
Vgl.: Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 3.
164
Vgl.: Ebd., S. 6; Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer
Funktionen. München 1997, S. 23.
165
Ebd., S. 5.
166
Vgl.: Ebd., S. 24.
167
Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München
1997, S. 24.
168
Ebd., S. 25.
169
Vgl.: Ebd., S. 797.
170
Ebd., S. 797 f.
171
Vgl.: Ebd., S. 16.
172
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 7.
173
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997.
174
Ebd., S. 796 f.
175
Ebd.
176
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 799.
177
Ebd., S. 799.
178
Vgl.: Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987; Werner Busch:
Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München 1997.
179
Weddigen, Tristan (2003): Zur Funktionsgeschichte In: Functions and decorations. Art and ritual
at the Vatican Palace in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. von Tristan Weddigen. Città del
Vaticano, Turnhout: Biblioteca Apostolica Vaticana; Brepols, S. 9-25, S. 11.
180
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 3.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

245
Werner busch

Quellenverzeichnis

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246 München. Uni-Druck.

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Brassat, Wolfgang; Kohle, Hubertus (2009): Methoden-Reader Kunstgeschich-


te. Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft. Kunst & Wissen.
Köln: Deubner Verl. für Kunst, Theorie & Praxis.

Busch, Werner (1985): Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und


Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Zugl.: Bonn, Univ.,
Habil.-Schr. Berlin: Mann.

Busch, Werner (1987): Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim:


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Busch, Werner (1987): Romantik. Annweiler: Plöger.

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Funktionen. München: Piper, S. 703-729.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

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Marek J. (Hg.): Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus
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247
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torischen Romantik-Forschung in Deutschland: Friedrich, Runge und Zeitgenossen
In: Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Hg. von
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Werner busch

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Noll, Thomas; Urte Stobbe und Christian Scholl (2012): Landschaftswahr-


nehmung um 1800. Imaginations- und mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche
In: Noll, Thomas (Hg.): Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in
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o.A.: Werner Busch erhält den Richard-Hamann-Preis für Kunstge-


schichte. http://www.geschkult.fu-berlin.de/aktuelles/Werner-Busch.
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Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

Schmölders, Claudia: Rezension von: Werner Busch. Casper David Friedrich.


Ästhetik und Religion 2003. http://literaturkritik.de/public/rezension.php?-
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Rodopi.

Stapf, Detlef: Caspar David Friedrichs verborgene Landschaften. Die


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de/p_book.2.html#P-Book (Stand: 17.11.2017).

Weddigen, Tristan (2003): Zur Funktionsgeschichte In: Weddigen, Tristan


(Hg.): Functions and decorations. Art and ritual at the Vatican Palace in the Middle
Ages and the Renaissance. Città del Vaticano, Turnhout: Biblioteca
Apostolica Vaticana; Brepols, S. 9-25.
Werner busch

Bildnachweis

Abb.1: Caspar David Friedrich: Sepia Kreuz im Gebirge (1806/07), Ber-


lin, Kupferstichkabinett
http://de.wahooart.com/A55A04/w.nsf/O/BRUE-7YXQKB/$File/Cas-
par+David+Friedrich+-+Cross+in+the+Mountains+.JPG
(Stand: 22.11.2017).
250
Abb.2: Caspar David Friedrich: Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge),
1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 cm, Galerie Neue Meister im
Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
http://de.wahooart.com/A55A04/w.nsf/O/BRUE-7YXQKB/$File/Cas-
par+David+Friedrich+-+Cross+in+the+Mountains+.JPG
(Stand: 22.11.2017).

Abb.3: Caspar David Friedrich: Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge),


1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 cm, Galerie Neue Meister im
Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
http://www.quatember.de/images/bg38052.jpg (Stand: 22.11.2017).

Abb.4: Caspar David Friedrich: Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge),


1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 cm, Galerie Neue Meister im Al-
bertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden – mit eingezeichneten
Kompositionslinien (Goldener Schnitt), mit nachträglich hinzugefügten
Kompositionslinien
Verfügbar unter: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/
digidia-f9cbc648c624fbad769ffbc246cd60628bfb1f3b.jpg
(Stand: 22.11.2017).

Abb.5: Caspar David Friedrich, Skizzen und Studien, 1804-1807


https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dc/Fichtenstudie.jpg
(Stand: 22.11.2017).
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle

251
felix thürlemann
Mehr als ein Bild.
Für eine Kunstgeschichte des hyperimage

Ob in Museen und Galerien, illustrierten Büchern oder im Kunstunterricht


252 – Bildobjekte oder deren fotografische Reproduktionen werden oft gemein-
sam in einem mehrteiligen, kalkulierten Arrangement präsentiert. Die Auto-
ren dieser Zusammenstellungen sind zumeist Sammler, Kunsthistoriker oder
Künstler selbst. Die Wurzeln dieser Tradition gehen bis in die Antike zurück
und sind seit dem Aufkommen der Sammelpraxis zu Beginn des 17. Jahrhun-
derts aus der westlichen Kultur nicht mehr wegzudenken. Die Kunstwissen-
schaft hat sich bisher hauptsächlich für ein Hintereinander einzelner Bildobjekte
interessiert, für Bilder und zeitlich vorausgehende Vor-Bilder. Der schweizer
Kunstwissenschaftler und -historiker Felix Thürlemann plädiert in seiner Mo-
nografie Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage (2013) hingegen
für ein neues Forschungsfeld: Er öffnet die Bildwissenschaft für das Betrach-
ten von Bildern in einem Nebeneinander, für das gleichzeitige Sehen von Bildin-
halt und -präsentation. Das Studium pluraler Bildformen, so Thürlemann, sei
eine wichtige, bislang vernachlässigte Quelle für die wechselnden historischen
Konzepte von „Kunst“.1 Felix Thürlemann interessiert sich vor allem für kal-
kulierte Zusammenstellungen von unabhängigen Bildobjekten – Gemälden,
Zeichnungen, Fotografien und Skulpturen –, die nicht auf Dauer gestellt sind,
sondern stets für neue Konstellationen offenbleiben. Dafür etabliert er den
Begriff des hyperimage und entwickelt die These, jede Zusammenstellung von
Bildwerken zu einem größeren Ganzen käme einer Deutung und ästhetischen
Wertung der beteiligten Werke gleich. Daraus lasse sich eine »Kunstgeschichte
des hyperimage« entwickeln.2 Zur Illustration seiner These entwickelt der Autor
nach einer programmatischen Einführung neun exemplarische Fallbeispiele,
die, in drei thematischen Gruppen zusammengefasst, jeweils drei Aspekte der
Praxis der hyperimage-Bildung beleuchten. Thürlemann schließt dadurch eine
Lücke der Kunstwissenschaft und schafft mit seiner Monografie – so die These
der vorliegenden Arbeit - einen Schlüsseltext der Kunstwissenschaft.

1
Vgl.: Thürlemann, Felix (2013): Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage.
München: Wilhelm Fink Verlag, S. 8.
2
Vgl.: Ebd.
253
felix thürlemann

der Schriften Felix Thürlemanns ein-


ordnen lässt und welchen Stellenwert
sie innerhalb der Theoriearchitektur
des Autors einnimmt. Anschließend
vorwort wird der Blick geweitet und unter-
sucht, inwiefern der Text methodo-
Im Mittelpunkt der vorliegenden Ar- logisch, inhaltlich als auch historisch
254 beit steht der Kunstwissenschaftler kontextualisiert werden kann. Hier-
Felix Thürlemann mit seinem Werk bei stellt die historische Einordnung
Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte die größte Herausforderung dar, da
des hyperimage. Die Monografie er- der Text mit vier Jahren vergleichs-
schien im Jahre 2013 und ist eine der weise jung ist und die Reflektion der
neusten Publikationen des Autors. eigenen Epoche ohne zeitlichen Ab-
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, stand immer nur subjektiv erfolgen
die hohe Relevanz der Theorie des kann. Im letzten Kapitel soll schließ-
hyperimage für die Kunstwissenschaft lich die Relevanz der Monografie als
aufzuzeigen und somit die Aufnahme Schlüsseltext diskutiert werden.
des Textes in den vorliegenden Rea- Warum ist der Text für seine Zeitge-
der und die damit einhergehende Eti- nossen relevant?
kettierung als kunstwissenschaftli- Inwiefern ist er anschlussfähig und was
chen Schlüsseltext zu argumentieren. ist bereits an Anschlusskommunika-
Hierbei erfolgt nach ein paar kurzen tion erfolgt?
Worten zum Autor eine ausführliche Welchen Stellenwert wird der Text in
Einführung in die Theorie des hyper- Zukunft wohl einnehmen?
image. Der Aufbau der Monografie
wird reflektiert, es wird anhand zahl-
reicher Zitate durch den Text geführt
und auch eine kritische Reflektion
soll am Ende des Kapitels nicht aus- der Autor Felix Thürlemann
bleiben.
Anschließend kommt es in Kapitel Der heute in Zürich lebende Kunst-
drei zu einer Kontextualisierung der wissenschaftler Felix Thürlemann (ge-
Monografie. Vorerst stellt sich die Fra- boren 1946 in St. Gallen, Schweiz)
ge, wie sich die Publikation innerhalb arbeitet über ein breites Spektrum an
luisa döderlein

kunsthistorischen Gegenständen. Sei- An der École pratique des hautes études


ne Forschungsschwerpunkte liegen arbeitete er bei Algirdas Julien Grei-
vor allem auf dem Gebiet der visuellen mas an einer allgemeinen semioti-
Semiotik als Bedeutungsanalyse der schen Erzähltheorie mit, was seinen
Bildenden Kunst, der frühniederlän- bildtheoretischen Ansatz nachhaltig
dischen Malerei sowie der in der vor- geprägt hat.4
liegenden Arbeit diskutierten The- 1979 promovierte Felix Thürlemann
orie und Geschichte des hyperimage. abermals, diesmal jedoch mit einer 255
Die Themen seiner Buchpublikatio- kunstwissenschaftlich-semiotischen
nen sind dadurch sehr vielfältig und Arbeit zu Paul Klee an der Pariser
umfassen neben dem hyperimage die Universität Sorbonne. Von 1981 bis
Malerei der Moderne (Paul Klee, Was- 1984 schlossen sich Forschungsauf-
sily Kandinsky), die barocke Architek- enthalte in New York (Institute of Fine
tur (Francesco Borromini) und die Arts) und Rom (Schweizerisches Institut)
frühniederländische Malerei (Robert an. 1985 folgte die Habilitation für
Campin und Rogier van der Weyden).3 das Fach Kunstgeschichte an der
Zuletzt erschien der Sammelband Universität Zürich mit einer Arbeit
Venedig – Florenz – Neapel. Ein foto- über Wassily Kandinsky.
grafisches Reisealbum, 1877 (Frankfurt Nach Lehraufträgen an den Univer-
am Main 2017). sitäten Genf, Zürich und Basel nahm
Bevor sich Felix Thürlemann inten- er einen Ruf auf die Professur für
siv der Kunstwissenschaft und Kunst- Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte
geschichte zuwandte, studierte er fran- an der Universität Konstanz an, wo er
zösische Sprache und Literatur so- bis zu seiner Emeritierung 2014
wie lateinische und mittellateinische lehrte.5 Felix Thürlemann lebt heute
Literatur an den Universitäten Zü- in Zürich, ist verheiratet mit der Kul-
rich und Besançon sowie an der Pa- turjournalistin Barbara Basting und
riser École pratique des hautes études, hat zwei Kinder.
bis er 1974 promovierte. In seinem
postgradualen Studium in Paris ver-
legte er seinen Schwerpunkt auf die
Kunstgeschichte, übernahm jedoch
stark den semiotischen Ansatz aus
der Literaturwissenschaft.

4
Vgl.: Ganz, David; Thürlemann, Felix (2010): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen
Mittelalter und Gegenwart. Berlin: Reimer, S. 390.
5
Vgl.: Exzellenzcluster – Kulturelle Grundlagen von Integration, Universität Konstanz: Prof. Dr.
Felix Thürlemann: https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/thuerlemann.html
(Stand: 04.10.17).
felix thürlemann

Mehr als ein Bild. beleuchtet, um so einen Eindruck von der


Für eine Kunstgeschichte des Vielfalt zu geben, mit der das hyperimage
hyperimage (2013) in den drei Bereichen eingesetzt wird.6
Zum Aufbau
Der Aufbau des Buches orientiert
Die sehr übersichtlich strukturierte sich folglich an den Verantwortlichen
Monografie Mehr als ein Bild. Für eine der jeweiligen Zusammenstellungen:
256 Kunstgeschichte des hyperimage erschien den Sammlern, den Kunsthistorikern
im Jahre 2013. und den Künstlern. Unter diesem Ho-
Nach einer programmatischen Ein- rizont präsentiert Thürlemann jeweils
leitung, in der Thürlemann die Vorge- drei exemplarische Fallstudien, die
schichte des sogenannten hyperimage historisch geordnet einen Bogen vom
aufzeigt und diesen Begriff anschlie- 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart
ßend definiert, erläutert und von ähn- spannen. Die Gruppe der Sammler,
lichen Phänomenen abgrenzt, folgen die die der Kuratoren einschließt, ist
verschiedene Beispielgruppen, die die Thürlemann zufolge die wichtigste:
von Thürlemann aufgestellte These
einer möglichen Kunstgeschichte des hy- Die […] mit Bedacht zusam-
perimage stützen sollen. Zum Aufbau mengestellten Bilderwände sind vielfach
dieser Fallbeispiele erläutert Thürle- hochkomplexe Gebilde, die entweder per-
mann selbst: sönliche ästhetische Anschauungen sicht-
bar machen oder […] ein für die entspre-
Der vorliegende Band ist zwei- chende Epoche gültiges ästhetisches
fach gegliedert. Er umfasst neun Kapitel, System illustrieren.“ 7
die, in drei thematischen Gruppen zusam-
mengefasst, jeweils drei Aspekte der Pra- Hier wählt Thürlemann ein Gemäl-
xis der hyperimage-Bildung beleuchten. de Frans Francken d.J., die Bilder-
In ihrer historischen Abfolge geben sie wände Vivant Denons und die Zusam-
gleichzeitig einen Überblick über das un- menstellungen der umfangreichen
tersuchte Phänomen von Beginn des 17. Sammlung Johann Valentin Prehns
Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Drei als Beispiele.
Praxisfelder – die der Sammler, der Kunst- Die zweite Gruppe beinhaltet drei be-
historiker und der Künstler werden jeweils deutende Kunsthistoriker und Kunst-
in drei verschiedenen Ausformungen theoretiker des 20. Jahrhunderts, die

6
Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 21.
7
Ebd.
luisa döderlein

mit fotografischen Reproduktionen Zweitens hat sich mit dem Prinzip der
in einer „je besonderen Art“8 arbeiten: Interaktivität ein neues Verhältnis zu den
Heinrich Wölffl in, Aby Warburg und Bildern herausgebildet, das mit dem Be-
André Malraux. Die letzte Gruppe griff des hyperimage nicht mehr adäquat zu
widmet sich drei Künstlern des 20. fassen ist.12
Jahrhunderts und der Gegenwart:
Pablo Picasso, Pierre Bonnard und
Wolfgang Tillmans. Praktiken des hyperimage 257
Die Künstler werfen hier einen kriti- Definition und Eingrenzung
schen Blick auf ihr eigenes Schaffen,
wobei aus der ordnenden Tätigkeit eine Die vorliegende Arbeit widmet sich
eigene künstlerische Form entsteht. ausschließlich der Einleitung der Mo-
nografie zu den Praktiken des hyper-
Thürlemann ist sich in seiner Ab- image, die den programmatischen Teil
handlung bewusst, dass nur ein „Ein- des Buches darstellt.
druck von der Vielfalt“10 gegeben wer- Die neun sich im Buch anschließen-
den kann und er nicht alle Formen den Fallbeispiele dienen der Veran-
des pluralen Bildgebrauchs über alle schaulichung der These und könnten
Epochen hinweg behandeln kann. hier in der angemessenen Kürze nicht
Aspekte, die er entweder ganz aus- wiedergegeben werden, ohne an re-
blendet oder nur im Hintergrund be- levantem Inhalt und Detailtreue ein-
handelt, sind zum Beispiel Skulpturen, zubüßen. Eine Lektüre der Beispiele
Sammelbände, Übergangsphänomene ist jedoch sehr empfehlenswert, um
zwischen hyperimage und Collage oder den Umfang der Möglichkeiten, die
die Integration von Skulpturen in den hohe Bandbreite der Anwendungs-
architektonischen Kontext.11 formen der Theorie der hyperimage und
Auf die Behandlung des Internets die große Beobachtungsgabe des Au-
verzichtet Thürlemann ganz bewusst, tors zu begreifen.
da es erstens: Im Folgenden sollen als theoretische
Einführung nur die Seiten sieben bis
[...] heute für einen Einzelnen 24 der Einleitung behandelt und er-
unmöglich [ist], einen wirklichen Überblick läutert werden.
über alle Formen der Präsenz von digita- Bereits der erste Abschnitt der Mo-
lisierter Kunst im Internet zu gewinnen. nografie ist von hoher Relevanz und

8
Ebd.
9
Vgl.: Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage.
München 2013, S. 129.
10
Ebd., S. 21.
11
Vgl.: Ebd., S. 22.
12
Ebd., S. 22 f.
felix thürlemann

stellt die wichtigsten Prämissen der künstlerische (Ausdrucks-)Formen


hyperimage-Bildung dar: wie Gemälde, Zeichnungen, aber
auch Fotografien und Skulpturen; er
Gegenstand dieses Buches ist arbeitet folglich mit einem sehr wei-
eine besondere Form des Bildes im Plu- ten Bildbegriff. Doch eine Eingren-
ral. Nicht die sprichwörtliche ‚Bilderflut‘ zung ist hier unabdingbar: Plurale
ist das Thema. Mit hyperimage wird eine Bildformen wie beispielsweise antike
258 kalkulierte Zusammenstellung von aus- Bildzyklen und spätmittelalterliche
gewählten Bildobjekten – Gemälden, Wandaltäre, graphische Bilderfolgen
Zeichnungen, Fotografien und Skulp- und Installationen der zeitgenössis-
turen – zu einer neuen, übergreifenden chen Kunst werden ausgeschlossen.
Einheit bezeichnet. Der Begriff verweist Der Grund hierfür ist, dass die
auf verschiedene Arten des Zusammen- Bildobjekte der hyperimages nach der
spiels von Bildern, wie sie bei der Präsen- Definition Thürlemanns grundsätz-
tation von Kunstwerken in Museen und lich autonom sind und unabhängig
Ausstellungen, bei der Projektion im Un- voneinander entstanden – erst in
terricht, aber auch im Layout von Bild- einem späteren, sekundären Prozess
bänden beobachtet werden können.13 werden sie zu räumlichen Anord-
Charakteristisch für alle diese Phänomene nungen zusammengefasst.15 Der Ar-
ist, dass die Zusammenstellungen nicht auf rangeur der Bildobjekte tritt dadurch
Dauer gestellt sind und dass die jeweiligen als zusätzlicher Autor auf.16
Bilder – entweder als Originale oder als Die räumlichen Anordnungen, die
fotografische Reproduktionen – für neue Präsentationsformen, sind dessen un-
Konstellationen offen bleiben.14 geachtet weiterhin überaus vielfältig.
Was die verschiedenen Präsentations-
Es geht folglich nicht um die chaoti- formen jedoch stets verbindet, ist der
sche Bildervielfalt, die in Zeiten der Zeitfaktor der pluralen Bildgefüge:
Smartphones und des Internets in Es sind nie dauerhafte, permanente
aller Munde ist, sondern um ein be- Zusammenstellungen der einzelnen
wusstes Arrangement spezifischer Objekte, sondern variierbare, tem-
Bildobjekte. Der Begriff image oder poräre Verbindungen, die stets flexi-
der der Bildobjekte darf hier nicht zu bel für neue Arrangements bleiben.17
eng gesehen werden: Unter Bildobj- Thürlemann betont an einer ande-
ekten versteht der Autor verschiedene ren Stelle, es gehe bei hyperimages:

13
In einer Fußnote führt Thürlemann folgende zwei Werke an, die einen Überblick über die
mehrteiligen Bildformen in der europäischen Kunstgeschichte geben: David Ganz, Felix
Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart.
Berlin 2010 und Blum, Gerd; Bogen, Steffen; Ganz, David; Rimmele, Marius (2012): Pendant Plus.
Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin: Reier.
14
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 21.
15
Vgl.: David Ganz, Felix Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“. In: David
Ganz / Felix Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 14.
luisa döderlein

[...] nicht um ein Phänomen der nur bei besonderen Gelegenheiten vom
Bildproduktion im engeren Sinn, sondern Besitzer einzeln entrollt und betrachtet
um ein Phänomen der Montage, bei dem wurden, ist für die westliche Kultur der
ausgehend von existierenden, bereits be- Display, das permanente offene Zurschau-
deutungstragenden Einheiten (Bildern, stellen einer ganzen Sammlung von Bil-
bzw. ihren fotografischen doubles) in ei- dern, seit dem frühen siebzehnten Jahr-
nem Prozess von Arrangement und Re- hundert die Regel. 23
Arrangement übergreifende Einheiten 259
(„Bild-hypertexte“) mit jeweils neuer Be- Thürlemann widmet anschließend
deutung geschaffen werden […]18 der Vorgeschichte der hyperimages ein
ganzes Kapitel, wobei er insbeson-
Es handelt sich demgemäß nicht um dere auf den antiken Historismus
eine bloße Addition der autonomen und die christliche Kunst mit ihren
Bildobjekte, sondern sie werden in ih- Ikonen und Bildsystemen eingeht –
rem Zusammenspiel zu einem Bedeu- dies soll jedoch an dieser Stelle über-
tungsträger eigener Geltung, der – sprungen werden und kann im Buch
wie die einzelnen Bausteine – als nachgelesen werden.
Sinngefüge analysiert und auf die Re-
geln der Zusammenstellung hin be-
fragt werden kann.19 Rezeption:
Wie Thürlemann im darauffolgen- Einzelwerk und hyperimage
den Absatz des Buches schreibt, sind
hyperimages ein Charakteristikum west- Das Thema wirft natürlich die Frage
licher Bildkultur20 und eine bereits auf, welchen zusätzlichen Zugewinn
alte Praxis21. Das Phänomen der Bild- es birgt, anstatt einzelner Bilder auch
kombinatorik hat zwar antike und plurale Bildformen in ihrem Zusam-
mittelalterliche Wurzeln, kam aber menspiel zu betrachten und zu ana-
erst mit der Verbreitung des Sam- lysieren. Denn „auf einer generellen
melwesens zu Beginn des 17. Jahr- Ebene der Gestaltung“24 lassen sich
hunderts zur Ausprägung:22 Einzelbild und hyperimage nicht von-
einander unterscheiden. „[G]rund-
Während in den fernöstlichen sätzlich können die hyperimages wie die
Kulturen, in China und Japan, die zusam- einzelnen Bilder, aus denen sie beste-
mengerollt aufbewahrten Kunstbilder hen, mit den gleichen Instrumenten

16
Vgl.: Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44, Hier: S. 40.
17
Thürlemann wählt in der hier vorgestellten Einleitung des Buches ein Triptychon zur
Veranschaulichung zweier verschiedener Blickeinstellungen. Er etikettiert dies zwar nicht als
hyperimage, doch kann diese Wahl den Leser leicht auf eine falsche Spur führen. Denn ein
Triptychon zählt nicht als hyperimage, da es eine permanente Zusammenstellung dreier Bilder ist.
18
Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universität Konstanz. Prof. Dr.
Thürlemann: Theorie des hyperimage. Abstract,
https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 26.11.17).
felix thürlemann

analysiert und beschrieben werden. distanzierter Position, die er als ana-


Auch Einzelwerke sind in sich viel- lytisch-reflektierend kennzeichnet.27 Die-
teilig und einer übergreifenden kom- ser Wechsel zwischen den Blickein-
positorischen Ordnung unterwor- stellungen gegenüber dem gleichen,
fen“25, so der Autor. Weshalb beschäf- visuellen Objekt sei ein Phänomen,
tigt sich Thürlemann also mit plu- das die westliche Bildkultur bis heute
ralen Bildformen? Er konstatiert: entscheidend geprägt habe.28
260
Der Hinwendung zum „Bild Wir haben gelernt, im Kunst-
im Plural“ liegt die These zugrunde, kontext den Bildern gegenüber abwech-
dass die Verbindung mehrerer Bilder selnd zwei ganz unterschiedliche Hal-
genuine Sinnpotentiale besitzt, die nicht
tungen einzunehmen: Wir lassen uns
deckungsgleich sind mit denen, über die
von einem jeweiligen Bild beeindrucken,
das Bild im Singular verfügt. Auch kann
mitreißen, berühren; wir genießen es und
die Bedeutung komplexer Bildordnun- versuchen seine Botschaft zu verstehen
gen nicht als Summe der Bedeutung ih- – oder aber: wir gehen auf Distanz, indem
rer Konstituenten verstanden werden. 26
wir das gleiche Bildobjekt gegen ein an-
deres, ähnliches ausspielen, um in einem
Hyperimages müssen somit in der Re- analytisch-reflektierenden Prozess die
zeption des Betrachters etwas bewir- je spezifischen Elemente der Gestaltung
ken, was ein Einzelwerk nicht ver- zu erfassen und kritisch einzuordnen.29
mag. Dies sei laut Thürlemann die
Spannung zwischen Vielheit und Die beiden Blickeinstellungen sind
Einheit, der beständige Wechsel zwi- nahezu komplementär zueinander:
schen zwei bestimmten Blickeinstel- Die Einzelwahrnehmung hat dem Autor
lungen, die ein generelles Merkmal nach einen fast „erotischen Cha-
ausschließlich pluraler Bildformen rakter“30, während die vergleichende
darstellen. Wahrnehmung eine „intellektuelle
Operation“31 darstellt. Dies wird hier
Bei den genannten zwei Arten des stark an der Wortwahl Thürlemanns
Sehens handelt es sich um die Einzel- deutlich. Natürlich vermag es ein Bild
wahrnehmung, die Thürlemann als nicht, den Betrachter wortwörtlich
identifizierend-personal beschreibt, mitzureißen oder zu berühren; die Be-
und die vergleichende Wahrnehmung aus griffe weisen jedoch auf die innere

19
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 8.
20
Vgl.: Ebd., S. 8.
21
Vgl.: Ebd., S. 7.
22
Vgl.: Ebd., S. 8.
23
Ebd., S. 8.
24
Ebd., S. 16.
25
Ebd.
26
Ganz / Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“ In: David Ganz, Felix
Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart. …
luisa döderlein

Bewegtheit des Rezipienten bei der einer zirkulären Struktur werden im-
Betrachtung des Bildes hin, auf seine mer mehr Details der Bildobjekte ent-
affektive Reaktion. Bei der analytisch- deckt. Ein weiterer Effekt der Re-
refl ektierenden Blickeinstellung hin- zeption von hyperimages ist dem Autor
gegen verwendet Thürlemann sehr nach das Prinzip der Distanzierung, das
kühle, emotionslose Begriffe: Bilder er folgendermaßen kategorisiert:
könnten gegeneinander ausgespielt
werden, Elemente würden erfasst und Wenn der Betrachter ein ein- 261
kritisch eingeordnet. Der Wechsel zwi- zelnes Kunstwerk in ein Verhältnis zu
schen diesen beiden komplementä- anderen Werken setzt, hat jedes der be-
ren Formen des Sehens ist ein dyna- troffenen Werke einen doppelten Stellen-
mischer Prozess mit einem großen wert: Es steht nicht mehr für sich allein,
Potential für die Rezeption: es exemplifiziert gleichzeitig auch das äs-
thetische Regelwerk, das seine Aufnah-
Zum einen gilt: Wer von der me in das übergreifende System der Prä-
vergleichenden Wahrnehmung auf das sentation rechtfertigt. Im Falle der Pen-
Einzelbild zurückkehrt, macht die im danthängung ist es neben der Aufteilung
Vergleich erkannten Gemeinsamkeiten nach Schulen in erster Linie das Gattungs-
und Differenzen als neue Kategorien system, das Netz der ästheteschen Ka-
der Sinnstiftung fruchtbar; er sieht im tegorien, das die Produktion und Präsen-
Einzelwerk ‚Dinge‘ - formale Eigenhei- tation der Werke geregelt hat.33
ten, Gesten, Objekte, Bezüge zwischen
den dargestellten Objekten und Akteure Welche Blickeinstellung vom Be-
-, die er zuvor nicht gesehen hat. Dieses trachter eingenommen wird, ist da-
im Einzelbild Neu-Erkannte kann bei bei nicht zwingend individuell und
der Rückkehr zum großen Ganzen wie- willkürlich.
derum als Vorgabe für neue Verknüp- Die Blickeinstellung hängt stark von
fungen dienen.32 der Präsentation der Bildobjekte ab,
von ihrer Verteilung im Raum.
Diesen Effekt bezeichnet Thürle-
mann als Prinzip der wechselseitigen Schär- Felix Thürlemann betont:
fung. Die Art der Betrachtung chan-
giert zwischen einem erotischen und Die räumliche Anordnung
einem intellektuellen Blick und in der Bilder regelt die Rezeption und ist

…Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 8.


27
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 15.
28
Vgl.: Ebd.,
29
Vgl.: Ebd., S. 15.
30
Felix Thürlemann: „Bild gegen Bild. Für eine Theorie des vergleichenden Sehens“. In: Gerd Blum,
Steffen Bogen, David Ganz, Marius Rimmele: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin
2012, S. 391-401, Hier: S. 394 f.
31
Ebd.
32
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013, S. 16.
felix thürlemann

ein konstitutives Element im Prozess Folge der vergleichenden


der Bedeutungsstiftung.34 Wahrnehmung:
Wechselseitiges Kommentieren

An dieser Stelle kann eine kurze Er- Durch das Prinzip der Distanzierung
läuterung der im obigen Zitat aufge- und dem Prinzip der wechselseitigen Schär-
führten Pendanthängung aufschluss- fung kommt es zu einem wechselseitigen
262 reich sein. Die Pendanthängung bildet Kommentieren der Bildobjekte, was der
eine Unterkategorie der hyperimages und Autor als die „interessanteste und
hat ein ganz eigenes Regelsystem an produktivste Eigenschaft des hyper-
Anordnungen von Bildobjekten im image“35 ansieht. Plurale Bildformen
Raum. Während meist ein als beson- entwickeln eine „zirkuläre, metadis-
ders wichtig oder wertvoll erachtetes kursive Struktur“36:
image an prominenter Stelle auf der
Mittelachse angebracht ist, sind die Jedes Werk der bildenden
restlichen Bildobjekte fächerartig sym- Kunst wird von den übrigen Werken,
metrisch zueinander angeordnet. mit dem zusammen es ein hyperimage
Das mittige Bild steht für sich al- bildet, aufgrund der vergleichenden Ak-
lein, die anderen Bilder hingegen tivität des Rezipienten, gleichsam kom-
haben eine rahmende Funktion und mentiert und gedeutet. Im Vergleich mit
jeweils ein Pendant, das meist ein ähn- anderen erscheint das jeweils fokussier-
liches Format hat und der gleichen te Werk bezüglich gewisser formaler
Gattung und/oder Schule angehört. und inhaltlicher Eigenschaften ´so wie´
Dies führt dazu, dass das mittige Bild oder ´anders als´ das Partnerbild, was
identifizierend-personal angesehen einer kategorialen Erfassung der beiden
wird, während die übrigen Bilder Bilder gleichkommt. (…) Die Nachbar-
durch ihre Hängung eine analytisch- bilder zeigen dem Betrachter, wie er ein
refl ektierende Blickeinstellung provozie- bestimmtes Bild sehen soll.37
ren. Ihr meist ähnliches Format und
dieselbe Gattung oder Schule provo- Um mehrere Bilder miteinander zu
zieren beim Betrachter einen Ver- vergleichen, ist vom Betrachter im-
gleich. mer eine Abstraktionsleistung ge-
fordert; er benötigt die Fähigkeit zur
Kategorienbildung.

32
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013, S. 16.
33
Ebd.
34
David Ganz, Felix Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“ In: David Ganz
/ Felix Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart, Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 18.
35
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013, S. 20.
36
Ebd.
37
Ebd.
´
luisa döderlein

Der Betrachter geht auf die Suche nach Hyperimages können über
Gemeinsamkeiten und/oder Diffe- ihre spezifische Ausgestaltung den dif-
renzen – seien diese auf inhaltlich- ferenzierenden […] oder den syntheti-
ikonographischer oder kennerschaftlich- sierenden Modus […] in der Wahrneh-
stilgeschichtliche Ebene.38 mung favorisieren, oder aber beide zu-
Um mehrere Bildobjekte auf kenner- einander im Gleichgewicht halten. Wäh-
schaftlich-stilgeschichtlicher Ebene zu ver- rend in der kunstwissenschaftlichen
gleichen, wird eine differenzierende Arbeit die Extreme gesucht werden – 263
Grundhaltung eingenommen: Iko- die Kunsthistoriker praktizierten bis vor
nographische Gemeinsamkeiten gel- Kurzem meist entweder Kennerschaft
ten zwar als Basis, sollen jedoch oder Ikonographie – , zielt die klassische
nicht beachtet werden – stattdessen museale Präsentation von Kunstwerken
liegt der Akzent auf den Differen- in der Pendanthängung darauf ab, dass
zen der Gestaltung auf der Ebene beide Seheinstellungen, jene, die sich für
der Gattung, der Schule, der Epo- die dargestellten Themen und Gegen-
che, etc. Das Universum der Kunst stände, und jene, die sich für die stilisti-
wird hier folglich nach formalen Ka- schen Differenzen interessiert, einander
tegorien der Gestaltung geordnet. die Waage halten.40
Eine dazu komplementäre syntheti-
sierende Grundhaltung führt zu der
inhaltlich-ikonographischen Ebene: Für eine Kunstgeschichte des
Während von stilistischen Differen- hyperimage
zen abgesehen wird, geht der Betrach-
ter auf die Suche nach thematischen Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte
Gemeinsamkeiten zwischen den Wer- des hyperimage – der Titel der Monogra-
ken und Werkgruppen, nach den in- fie klingt vielversprechend und der
haltlichen Kategorien des dargestell- interessierte Leser wird folglich viel
ten Sachverhalts. Als Beispiel für die- erwarten. Bezeichnend ist hier jedoch,
se Ebene wählt Thürlemann ein Ap- dass Felix Thürlemann der Geschich-
fel-Stillleben, das seiner These nach te des hyperimage nicht einmal ein ei-
neben einem weiteren Apfel-Still- genes Kapitel widmet. Er macht zwar
leben anders wahrgenommen werde auf die Relevanz des Themas aufmerk-
als neben einem Stillleben, das Zi- sam und setzt durch seine Kategori-
tronen oder Quitten zeige.39 sierung und seine Fallbeispiele erste

38
Vgl.: Thürlemann: „Bild gegen Bild. Für eine Theorie des vergleichenden Sehens“. In: Gerd Blum,
Steffen Bogen, David Rimmele, Felix Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik,
Berlin 2012, S. 391-401, Hier: 394 f.
39
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 20.
40
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 20.
felix thürlemann

Ansätze einer Geschichtsschreibung, die betroffenen künstlerischen Objekte


führt diese hier jedoch nicht voll- neu gedeutet.41
ständig aus. Es muss beachtet wer-
den, dass sich Thürlemann für eine Als Beispiel für eine Neuordnung
Kunstgeschichte des hyperimage aus- der Rangfolge verschiedener Künst-
spricht, diese jedoch nicht in seinem ler und Bildobjekte führt Thürle-
Buch verspricht. In einem einzigen mann die Fragen „Wer ist wichtiger,
264 Abschnitt des Buches geht der Autor Poussin oder Caravaggio“ und „Wem
auf den Untertitel der Monografie gehört der Primat, Reni oder Raf-
ein: Für eine Kunstgeschichte des hyperi- fael“42 an – Fragen, die im Laufe der
mage. Er plädiert: Zeit immer wieder neu diskutiert
und folglich verschieden beantwortet
Die Geschichte der europä- wurden.
ischen Kunst kann, wenn man sie unter Mit wandelndem Geschmack und
dem Gesichtspunkt der hyperimage- sich fortentwickelnden Entdeckun-
Bildung betrachtet, grundsätzlich neu gen der Kunstwissenschaft wird die
gedacht werden. Die Kunstgeschichte er- Anführung verschiedener Künstler
scheint unter diesem Aspekt als ein kon- und Werke und deren Rangordnung
tinuierlicher Prozess der Neuordnung der verändert. Ihre Position innerhalb der
tradierten und jeweils neu geschaffenen hyperimages wird neu ausgelotet und
Bilder. Den wechselnden ästhetischen die Geschichte des hyperimage dadurch
Wertvorstellungen entsprechend wurde fortgeschrieben.
nicht nur die Menge der wichtigen Bilder, Wie das zuvor genannte Zitat zeigt,
die eine Präsentation verdienten, laufend wird die Kunstgeschichte des hyper-
neu bestimmt, auch innerhalb des über image Thürlemann zufolge nur für die
längere Zeit kanonischen Bestandes an europäische Kunst geschrieben, da
Kunstbildern wurde deren Rangfolge re- das Zurschaustellen von Bildobjekten
gelmäßig revidiert. […] Das beständige – wie bereits ausgeführt wurde – ein
Neuordnen der Bilder, bei dem traditio- Charakteristikum westlicher Bild-
nelle Nachbarschaften aufgelöst und neue kultur ist.
geschaffen werden, spiegelt jedoch nicht Außerdem kann davon ausgegangen
nur den Wandel des Geschmacks. werden, dass die Geschichte des hy-
Mit jedem neuen Arrangement – dies ist perimage bei Thürlemann zu Beginn
die Hauptthese dieses Buches – werden des 17. Jahrhundert beginnen würde,

41
Ebd., S. 8 f.
42
Ebd., S. 9.
luisa döderlein

da das Sammelwesen erst zu jener Zeit (1) die Analyse einzelner Bei-
in Europa zur Ausprägung kam. spiele – etwa historischer Bilderhän-
Dies ist jedoch schon alles, was der Au- gungen – mit dem Ziel, die zugrunde-
tor hier an Hinweisen zur Geschichts- liegenden syntagmatischen Regeln zu
schreibung des hyperimage liefert. erfassen,

Weitere Informationen dazu fi nden (2) die anschließende Beschrei-


sich in dem drei Jahre zuvor erschie- bung der an einer genügend großen 265
nenen Sammelband Das Bild im Plural, Zahl repräsentativer Beispiele analysier-
das Felix Thürlemann zusammen mit ten syntagmatischen Regeln in ihrer his-
David Ganz herausgegeben hat. Dort torischen Entwicklung.
schreiben die beiden Autoren über Eine solche doppelte Untersuchung
die mögliche Geschichtsschreibung: kann als Beitrag zu einer Geschichte des
Sehens im Sinne einer historischen Her-
Für die Bestimmung von Epo- meneutik verstanden werden, da jede
chenschwellen pluraler Bilder wird man Suprazeichenbildung immer auch eine
nicht von einer Dichotomie zwischen Anweisung an den Rezipienten enthält,
Epochen des einen und Epochen der vie- wie er mit den in das Gesamtgefüge
len Bilder ausgehen können. Zu fragen ist integrierten Einzelwerken umzugehen
vielmehr, welche Anordnungsformen, hat, welche Kategorien er bei ihrer Re-
Semantisierungen und Praktiken pluraler zeption als relevant betrachten soll.45
Bilder mit einem zeit- und kulturspezifi-
schen Index versehen werden können.43 Ausgehend davon kann festgestellt
werden, dass Thürlemann nur den
Die Frage ist nach Wahrnehmungs- ersten Teil der Zielsetzung erfüllt:
mustern pluraler Bildlichkeit und spe-
zifischen Organisationsformen, die Er analysiert einzelne Fallbeispiele
sich mit fortlaufender Zeit verändert verschiedener Epochen. Von einer
haben.44 Zudem nennt Thürlemann genügend großen Zahl kann bei neun
in dem Aufsatz Vom Einzelbild zum Beispielen jedoch kaum gesprochen
hyperimage zwei Zielsetzungen der Un- werden. Thürlemann spannt außer-
tersuchung visueller Suprazeichen: dem zwar einen Bogen vom 17. Jahr-
hundert bis in die Gegenwart, be-
handelt pro Zeitalter jedoch immer

43
David Ganz, Felix Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“ In: David Ganz /
Felix Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 15.
44
Vgl.: Ebd., S. 10.
45
Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik (2004)“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 7-39, Hier: S. 40.
felix thürlemann

nur eine Gruppe der hyperimage-Au- Auswirkung auf die Lektüre der da-
toren: Für das 17. Jahrhundert die rauffolgenden Fallbeispiele.
Sammler und Kuratoren, für das 20. Das Beispiel kann den Leser jedoch
Jahrhundert die Kunsthistoriker und leicht auf eine falsche Fährte locken
-theoretiker und für sowohl das oder aber – wenn er die fälschliche
20. Jahrhundert als auch für die Ge- Einordnung bemerkt – Misstrauen
genwart die Gruppe der Künstler. gegenüber der vorgeschlagenen Ord-
266 Nach welcher Systematik jedoch bei- nung erwecken, so dass die darauf-
spielsweise Künstler ihre Bildobjek- folgenden Beispiele nicht mehr un-
te im 18. Jahrhundert anordneten, befangen gelesen werden.
darüber fi ndet sich keinerlei Infor-
mation. Bis heute steht ein umfassen-
der Versuch aus, die vollständige his-
torische Entwicklung pluraler Bild-
formen zu untersuchen und zu sys-
tematisieren.

Kritik

Wie bereits im vorigen Kapitel er-


läutert, kann die Kritik angebracht,
dass die im Untertitel des Buches
angesprochene Kunstgeschichte des Abb. 1: Frans Francken d.J., Der
hyperimage nicht ausreichend behan- Triumph der Malerei 1 (über Ortelius
delt wird. Ein weiterer Kritikpunkt hinaus), um 1620. Wien, Kunsthistori-
muss bei der Behandlung des Gemäl- sches Museum
des Frans Franckens d. J. Der Triumph
der Malerei 1 (über Ortelius hinaus) und Wie in Kapitel „zum Aufbau“ be-
dessen Einordnung in die Ordnungen schrieben, ordnet der Autor Felix
der Sammler angebracht werden. Als Thürlemann die hyperimages sowohl
erstes und ältestes Fallbeispiel der historisch als auch nach den Bild-
Monografie ist es an prominenter Arrangeuren. Dass diese vorgeschla-
Stelle platziert und hat damit auch gene Systematik jedoch nicht in jedem
luisa döderlein

Fall haltbar ist, demonstriert das in Das Beispiel widerspricht vorerst in


Abb. 1 gezeigte Fallbeispiel „Frans einigen Elementen der Eingrenzung
Francken d.J. – um 1620: Auf dem Thürlemanns, dass hyperimages nie
Weg zur Pendanthängung“46 eher un- dauerhafte, permanente Zusammen-
freiwillig. Bei dem um 1620 entstan- stellungen einzelner Bildobjekte sei-
denen, annähernd quadratischen Ge- en, sondern stets variierbare und tem-
mälde handelt es sich – wie Thür- poräre Verbindungen darstellen wür-
lemann selbst im ersten Absatz des den. Einige der dargestellten Gemäl- 267
Kapitels konstatiert – um ein „fin- de zitieren Werke der Zeitgenossen
gierte[s] hyperimage“47. Das Gemälde Frans Frankens und fügen sich somit
ist eine malerische Collage die Samm- der Eingrenzung Thürlemanns.
lungsstücke jeder Art wiedergibt. Denn indem Frans Franken sie ab-
Diese Sammlungsstücke – „natura- malt, arbeitet er – ähnlich wie bei-
lia, Münzen, Schmuckstücke, Statu- spielsweise Kunstwissenschaftler, die
etten und Zeichnungen, aber auch aus fotografischen Reproduktionen hype-
Gemälde“48 – sind in dem im Gemäl- rimages erschaffen – mit malerischen
de simulierten Raum auf die Wand Reproduktionen und fügt diese in sein
und die vorgelagerte Tischplatte ver- Arrangement ein. So bleiben sie für
teilt. Die dargestellte Sammlung re- neue Verbindungen offen. Viele der
kurriert, wie Thürlemann auf Seite dargestellten Gemälde sind jedoch
29 darstellt, durch ein Porträt und eigene Entwürfe Frans Frankens.
einen Schriftzug auf den Humanis- Diese bestehen nur innerhalb des hier
ten, Kartographen und Sammler Ab- gemalten Gemäldes und fallen somit
raham Ortelius (1527 - 1598), sodass aus der Eingrenzung der variierbaren
der Schluss sich dem Betrachter auf- und temporären Verbindungen.
drängt, die dargestellte Sammlung
könne ihm zugeschrieben werden. Nach der Defi nition Thürlemanns
passt das Beispiel folglich nur einge-
Obwohl das gewählte Beispiel einen schränkt in dessen Eingrenzung.
schönen Einblick gibt, wie Bildobjek- Es muss jedoch ein zusätzlicher, stär-
te sich gegenseitig kommentieren und kerer Kritikpunkt angebracht werden:
gemeinsam eine neue Bedeutungse- Bei den auf dem Gemälde darge-
bene eröffnen, birgt es dennoch einige stellten Gegenständen und Kunst-
Schwierigkeiten und Widersprüche: werken kann von keinem von ihnen

46
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 29-45.
47
Ebd., S. 29.
48
Ebd.
49
Vgl.: Ebd., S. 30.
felix thürlemann

mit Sicherheit gesagt werden, dass es Hier erstellt folglich kein Sammler ein
sich je in Ortelius´ Besitz befand.49 hyperimage, sondern ein Künstler, der
Frans Franken gibt keine real beste- die Rekurrenz auf den Sammler nur
hende Sammlung wieder, sondern er nutzt, um einen kritischen Kommen-
nutzt die Referenz auf den Sammler tar über die alte Sammelpraxis male-
zu einem visuellen Kommentar, wie risch zu formulieren. Der Sammler
Thürlemann ausführlich darstellt: ist nicht selbst aktiv, sondern Gegen-
268 stand der Reflexion des Künstlers.
Im Kontext des Gemäldes Das von Thürlemann gewählte Bei-
wird der religiöse Diskurs, ins Allego- spiel hätte somit besser in Kapitel der
rische gewendet, auch zu einer kunst- „Hyperimages der Künstler“ gepasst
theoretischen Aussage: Die vom Maler als in das Kapitel der „Ordnungen
inszenierte Rede von der echten christ- der Sammler“. Durch seine ausführ-
lichen Gabe, bei welcher der Wert des liche Deutung des Beispiels deckt
Geschenkes nicht von der Kostbarkeit Thürlemann seine fälschliche Ein-
der Materialien abhängt, kann auch als ordnung in die „Ordnungen der
ein kritischer Kommentar über die alte Sammler“ selbst auf, bleibt dem Le-
Sammelpraxis der Wunderkammer ver- ser jedoch einer kritischen Reflexion
standen werden. dieses Umstandes schuldig.
Der Sammlung von Preziosen und Ra-
ritäten wird die neue Form der Samm-
lung, jene von Gemälden, gegenüber-
gestellt, bei der die Kunstfertigkeit des
Künstlers und seine Erfi ndungsgabe Kontextualisierung
den eigentlichen Wert des Sammelgutes
ausmachen. Das Gemälde von Frans Nach der inhaltlichen Einführung
Francken d.J. ist keine dokumentarische wird im folgenden Kapitel die Mono-
Darstellung der Sammlung des Ortelius grafie Mehr als ein Bild. Für eine Kunst-
und sie ist – als Ganzes betrachtet – auch geschichte des hyperimage umfassend kon-
nicht das Modell einer idealen Sammlung. textualisiert. Hierfür soll vorerst die
Das Gemälde zeigt die Geschichte einer Verbindung des Autors zu der These
Transformation.50 des hyperimage genauer beleuchtetwer-
den. Es stellt sich die Frage, inwie-
fern sich das hier vorgestellte Werk in

50
Ebd., S. 35.
luisa döderlein

die Schriften und die Theoriearchi- Den Begriff hyperimage führte Thür-
tektur Thürlemanns einfügt. lemann dann in einem Vortrag im
Jahre 2002 ein, allerdings – in seinen
Anschließend wird die methodolo- eigenen Worten - „in einem ganz un-
gische Vorgehensweise Thürlemanns terschiedlichen Wissenschafts- und
genauer untersucht und schließlich Medienkontext“.
folgt eine inhaltliche Einordnung sei- Der Vortrag wurde publiziert unter
nes Schaffens. dem Titel: „Vom Einzelbild zum 269
Im letzten Teil dieses Kapitels erfolgt hyperimage. Eine neue Herausforder-
eine historische Einordnung, die auf- ung für die kunstgeschichtliche Her-
zeigen soll, unter welchen historischen meneutik“ und kann in dem Sammel-
Bedingungen das Buch und allgemein band von Ada Neschke-Hentschke
Thürlemanns These zum hyperimage Les herméneutiques au seuil du XXIéme
entstanden. siècle (Löwen/Paris 2004, S. 223-247)
nachgelesen werden.
Es folgten viele weitere Publikatio-
Kontextualisierung innerhalb der nen zu dem Thema, so unter anderem
Schriften des Autors der Beitrag „Die Bilder im Kontext
ihrer Präsentation – Interview mit
Die hier vorgestellte Monografie aus Felix Thürlemann“ in Klaus Sachs-
dem Jahr 2013 ist eine der neusten Hombachs: Wege zur Bildwissenschaft:
Publikationen Thürlemanns. Interviews (Köln 2004) und das Buch:
Die Theorie zum hyperimage tritt hier Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildfor-
jedoch nicht erstmalig auf, sondern men zwischen Mittelalter und Gegenwart
stellt das Ergebnis langjähriger For- (Berlin 2010). An den Titeln der Pu-
schungen dar, was ein Blick auf die blikationen wird augenfällig, dass
Publikationen des Autors bestätigt. Thürlemann sich jahrzehntelang mit
So fi ndet sich das Thema der pluralen der Verbindung von Bild und Raum
Bildgefüge und der Verbindung von und den Verbindungen von einzel-
Bild und Raum immer wieder, oft nen Bildobjekten miteinander be-
bereits im Titel, wie beispielsweise schäftigte.
in einer Veröffentlichung von 1990: Des Weiteren fügt sich die Mono-
Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer grafie zu den hyperimages durch die se-
semiotischen Kunstwissenschaft (Köln). miotische Herangehensweise auch
felix thürlemann

methodologisch sehr gut in Thürle- „Zeichen, wie zum Beispiel Bilder,


manns Schaffen ein. Wörter, Gesten und Gerüche vermit-
Der aus der Literatur- und Sprach- teln Informationen aller Art in Zeit
wissenschaft kommende Forscher und Raum. In Zeichenprozessen (Se-
übernahm schon früh den semioti- miosen) werden Zeichen konstitu-
schen Ansatz aus der Literaturwis- iert, produziert, in Umlauf gebracht
senschaft und wendete ihn als visu- und rezipiert,“51 so die Deutsche Ges-
270 elle Semiotik, als Bedeutungsanalyse ellschaft für Semiotik. Thürlemann lern-
der Bildenden Kunst an. Dies zeigt te die Semiotik in einem literaturwis-
sich beispielsweise am Titel der sehr senschaftlichen Kontext in seinem
frühen Publikation von 1982: Studium der französischen Sprache
Paul Klee. Analyse sémiotique de trois pein- und Literatur sowie der lateinischen
tures. Éditions l´Age d´Homme (Lau- und mittellateinischen Literatur ken-
sanne 1982) oder an der bereits ange- nen, was an seiner Wortwahl immer
führten Veröffentlichung: Vom Bild wieder deutlich wird. So schreibt er
zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen beispielsweise:
Kunstwissenschaft (Köln 1990).
Dieser Punkt führt zum nächsten Grundlage für die zu erarbei-
Unterkapitel, in dem die Vorgehens- tende Theorie des hyperimage ist es, die
weise Thürlemanns genauer analy- jeweiligen Bildensemble als Texte, d.h.
siert werden soll. als nach unterschiedlichen syntaktischen
Verfahren geordnete, bedeutungstragende
Ensembles zu untersuchen.52
Methodologische Einordnung
Oder:
Was den Forschungskontext anbe-
langt, stellt Thürlemanns Ansatz eine Der Arrangeur der Bilder tritt
methodologische Position innerhalb bei der visuellen Suprazeichenbildung als
der jüngeren Kunstgeschichte dar, die ein zusätzlicher Autor auf, der mit Hilfe
auf bereits vorhandenen Ansätzen der von den Künstlern geschaffenen
aufbaut. So ist eine der Grundlagen Bildtexte neue „Bild-Satzgefüge“ zu-
Thürlemanns kunstwissenschaftli- sammenstellt.53
chen Schaffens die Semiotik – die
Wissenschaft von Zeichenprozessen.

51
Deutsche Gesellschaft für Semiotik: Semiotik: Interaktiv und transdisziplinär!,
http://www.semiotik.eu/ (Stand: 04.12.17).
52
Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universtität Konstanz.
Prof. Dr. Thürlemann: Theorie des Hyperimage. Abstract,
https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 04.12.17).
53
Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik 2004“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele,
Felix Thürlemann (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44,
Hier: S. 40.
luisa döderlein

Hier fallen Begriffe wie Texte, Aut- Bildobjekte gemeinsam betrachtet.


or oder Bild-Satz gefüge auf, deren Pro- Die einzelnen Bilder fungieren dann
venienz eindeutig in der Literatur- zueinander wie Syntagmen, die ge-
wissenschaft liegt. Als Felix Thürle- meinsam ein großes Zeichensystem
mann in seinem postgradualen Stu- ergeben. Zur Begründung dieser Vor-
dium seinen Schwerpunkt auf die gehensweise soll an folgendes, bereits
Kunstgeschichte verlegte, übernahm angeführtes Zitat erinnert werden:
er stark den semiotischen Ansatz aus 271
der Literaturwissenschaft, wandte je- Auf einer generellen Ebene
doch fortan die Semiotik als visuelle der Gestaltung lassen sich hyperimage
Semiotik als Bedeutungsanalyse der und image, Bildgefüge und Einzel-
Kunst an. Während diese Methodik bild, voneinander nicht unterscheiden.
unter vielen Kunstwissenschaftlern Grundsätzlich können die hyperimages
noch als konventionell gelten kann, wir die einzelnen Bilder, aus denen sie
nahm Thürlemann eine beachtens- bestehen, mit den gleichen Instrumen-
werte Ausweitung der bild-semio- ten analysiert und beschrieben werden.
tischen Vorgehensweise vor. Auch Einzelwerke sind in sich vielteilig
Denn die klassische Bildsemiotik un- und einer übergreifenden kompositori-
tersucht einzelne Bilder und unter- schen Ordnung unterworfen.54
scheidet innerhalb einer Bildstruktur
Syntagmen als die Zusammenstellung Thürlemann überträgt folglich das,
einzelner Zeichen. Ein Bildfeld be- was sonst semiotisch mit einem
ziehungsweise ein Teil des Bildes Einzelbild gemacht wird, auf einen
stellt somit ein zusammenhängendes, neuen Gegenstandsbereich:
kleines Zeichensystem dar, das aus multiple Konstellationen, sprich gan-
mehreren Zeichen gebildet wird. ze Bilderwände, Projektionslogiken
Um zu einer vollständigen Interpre- oder Layoutlogiken. Anstatt eine iso-
tation des Bildes zu gelangen, kommt lierte Betrachtung eines einzelnen
es dann zu einer Synthese aller Syn- Bildes vorzunehmen, untersucht er
tagmen. Thürlemann weitet diesen das bedeutungsgenerierende Zusam-
Ansatz insofern aus, als dass er die menspiel mehrerer Bildobjekte in
Synthese der Syntagmen eines ein- einem Nebeneinander.
zelnen Bildes als Ausgangspunkt Ausgehend von diesem erweiterten
nimmt und damit arbeitend mehrere bild-semiotischen Vorgehen erklärt

54
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 16.
felix thürlemann

Thürlemann als die Rezeption von Die Kombination der beiden Modi in
Bildobjekten. Als langjähriger Do- einer gemeinsamen Matrix, so seine
zent der Universität Konstanz macht These, bringe eine höherstufige Organi-
sich die Methodik der Konstanzer Schule sationsform hervor, die erzählende und
hier bemerkbar, die sich der Rezep- thematische Bilder zu sinnträchtigen
tionsästhetik verschrieben hat. Die Figuren zusammenschließt.55
Rezeptionsästhetik fragt nach der ge-
272 danklichen und emotionalen Wahr- Der Ansatz von Thürlemann zielt
nehmung künstlerischer Werke und hingegen auf Phänomene bildlicher
inwieweit sie bereits im Gegenstand Bedeutungsproduktion, die grund-
angelegt ist bzw. erst im Prozess dersätzlich der „Möglichkeit des Neu-
Rezeption entsteht. Hier nimmt Thür- arrangements“56 unterliegen.
lemann abermals eine Weiterentwick- So betrachtet er im Gegensatz zu
lung bzw. Ausweitung der Methodik Kemp das Zusammenspiel von Bild-
vor: Er entwickelt die Rezeptionsäs- objekten, die jedoch vollkommen un-
thetik in der Kunstwissenschaft in- abhängig voneinander entstanden
sofern weiter, als dass er sie nicht und für neue Konstelltionen offen-
nur auf Einzelbilder, sondern auch bleiben.
auf plurale Bildformen anwendet. Daran erforscht Thürlemann dann,
Als einer der wenigen Forscher, die wie die Einzelbilder innerhalb der
neben Thürlemann eine ähnliche pluralen Konstellation rezipiert wer-
Vorgehensweise vorweisen, ist Wolf- den, wobei die Rezeption und die
gang Kemp zu nennen. Er befasst Blickeinstellung stark von der Prä-
sich in erster Linie jedoch mit den sentation abhängig sind, von der Ver-
festen Bildsystemen der Erzählbilder,teilung der Bildobjekte im Raum „Die
räumliche Anordnung der Bilder re-
die er in der frühchristlichen Fresken-
malerei fi ndet. gelt die Rezeption und ist ein konsti-
tutives Element im Prozess der Be-
Kemps Interesse galt der deutungsstiftung,“57 so Thürlemann.
Wechselwirkung zweier Modalitäten
des Bildes in pluralen Bildformen der Ausgehend davon plädiert der Autor
mittelalterlichen Sakralkunst – er nann- mit der von ihm vorgeschlagenen Ge-
te sie den »narrativen« und den »thema- schichte des hyperimage für eine his-
tischen« Modus. torische Rezeptionsforschung.

55
David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David Ganz,
Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 12.
56
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 25.
57
Ebd., S.18.
luisa döderlein

Betrachte man die hyperimages ver- des Einzelbildes formuliert, jedoch die
schiedener Zeiten und Epochen, so Verbindung mehrerer Bilder in Zyklen
schreibt er, könne daran festgestellt oder Ensembles nicht zum Gegenstand
werden, welchen Künstlern, Gattun- der Reflexion gemacht.60
gen, Schulen etc. mehr Bedeutung zu-
gesprochen wurde und welchen we- Künstlerische Bildwerke so würden
niger. Es müsse also die Neuordnung hauptsächlich autonom betrachtet.
von hyperimages betrachtet werden, um 273
daraus eine Geschichte entwickeln Nur ein paar wenige Wissenschaftler
zu können. Thürlemanns Vorgehen und Forschergruppen beschäftigten
ist, so lässt sich zusammenfassen, eine sich bereits mit dem Thema.
„Verschränkung von theoretischer So unter anderem John Ruskin, der
und historischer Perspektive.“58 um die Mitte des 19. Jahrhunderts
einen Anlauf unternahm, „theore-
tische Zugänge zum Problem der
Inhaltliche Einordnung Mehrbildlichkeit zu ebnen,“61 in-
dem er die Zerteilung mehrgliedri-
Nach der methodologischen Kon- ger Ausstattungsprogramme in ein-
textualisierung soll im folgenden Un- zelne Bildfelder kritisierte.
terkapitel eine inhaltliche Einord- Diesem Sachverhalt wurde erst eini-
nung der Thematik erfolgen. In der ge Jahrzehnte später von den Vertre-
Einführung des Sammelbandes Das tern der ersten Wiener Schule der Kunst-
Bild im Plural, das Felix Thürlemann wissenschaft Beachtung geschenkt, al-
zusammen mit David Ganz im Jahre lerdings mit Fokus auf der Dimen-
2010 herausbrachte, werden bereits sion der Zeit.
einige Aspekte der Forschungsge-
schichte der pluralen Bildformen er- Besonders die Unterscheidung von
läutert. Vorerst betonen die beiden kontinuierendem, distinguierendem und kom-
Autoren, dass es eine kontinuierliche plettierendem Erzählstil, die von Franz
theoretische Auseinandersetzung mit Wickhoff Ende des 19. Jahrhunderts
diesem Thema nicht gebe.59 entwickelt wurde, habe großen Ein-
fluss gehabt.62 Sie habe jedoch dazu
Die Kunsttheorie der frühen beigetragen, so betonen Thürlemann
Neuzeit [habe] Konzepte der compositio und Ganz kritisch, „dass das Problem

58
Ebd., S. 8.
59
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 10.
60
Ebd., Fußnote 9: Vgl. Thomas Puttfarken, The Discovery of Pictorial Composition. Theories of
Visual Order in Painting 1400-1800, New Haven/London 2000.
61
Vgl.: David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David
Ganz, Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 11.
62
Vgl.: Ebd.
felix thürlemann

des einen und der vielen Bilder von und ein Zusammenwirken von Selektion
der Kunstgeschichte lange genug nur und Kombination.65
in der eingeschränkten Optik der
Narration entlang eines Zeitpfeils betrach- Mit der Einsicht in die Kons-
tet wurde“.63 Dies ist jedoch nur ein truiertheit des klassischen Meisterwerks
Aspekt unter vielen innerhalb des war in den 1980er Jahren eine Situation
Untersuchungsgebiets der pluralen entstanden, die nach neuen Epochenent-
274 Bildformen. würfen der Geschicht künstlerischer Bild-
„Eine neue Aufmerksamkeit für die produktion verlangte.“66
übergreifenden visuellen Kontexte,
innerhalb derer sich das einzelne Bild Hierbei bildeten sich zwei gegensätz-
manifestiert,“ fi nden die Autoren in liche Lager. Während das eine wei-
den „methodischen Strömungen […], terhin die Autonomie des Kunstwer-
die die Kunstgeschichte nach 1968 kes betonte und dieses mit „älteren,
geprägt haben.“64 religiösen Formen kultischer Allein-
Sie schreiben: stellung von Bildern konfrontierte“67,
erklärten die anderen das Zusammen-
Die Ansätze, auf die sie [die stellen einzelner Bildobjekte zum
Strömungen nach 1968] rekurrierten, Hauptmerkmal einzelner Epochen
wie Funktionsgeschichte, Kontextfor- der Kunstgeschichte. Hier wird noch
schung, Semiotik oder Systemtheorie, einmal beispielhaft auf Wolfgang
hatten auf ihre je spezifische Weise An- Kemp verwiesen, der das sogenannte
teil daran, dass das klassische Modell Bildsystem zum Spezifikum der westli-
des Einzelbildes nunmehr als Resultat chen Kunst des Mittelalters erklärte.
einer künstlerischen Herausprägung de-
konstruiert werden konnte. Ein weiterer Forscher, der hier erwäh-
In der Erschließung von Sinnpotentialen nenswert ist, ist Werner Hofmann
der Mehrteiligkeit fanden insbesondere mit seinem Werk: Die Moderne im Rück-
strukturalistische Ansätze, sei es eher se- spiegel.68 Ähnlich wie Kemp beschäf-
miotischer, sei es eher narratologischer tigt er sich mit der mittelalterlichen
Ausrichtung, ein reiches Betätigungfeld, Kunst, bringt diese jedoch in Ver-
das wie geschaffen war für die eigenen me- bindung mit der Kunst der Moderne.
thodischen Grundannahmen: eine Erzeu- Ganz und Thürlemann fassen den
gung von Sinn über binäre Oppositionen Ansatz zusammen:

63
Ebd.
64
Ebd., S. 12.
65
Ebd.
66
David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David Ganz,
Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 12.
67
Ebd.
68
Hofmann, Werner (1998): Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte,
München: Beck.
luisa döderlein

tationen vorzunehmen, die jedoch


Die Entwicklung der moder- stets eine Schwachstelle aufwiesen
nen Kunst nach 1800 charakterisierte er und nicht auf alle pluralen Bildkon-
[Hofmann] als Infragestellung der Ein- stellationen angewendet werden konn-
heit des Bildes, die sich in einer Mannig- ten. Wie im Kapitel Mehr als ein Bild.
faltigkeit von Phänomenen der »Polyfo- Für eine Kunstgeschichte des hyperimage
kalität« artikuliere: der Mehransichtig- dieser Arbeit zur Systematisierung der
keit des Kubismus, den Materialmischun- hyperimages aufgezeigt wurde, grenzt 275
gen Klimts, den Bilderserien des Impress- auch Thürlemann sein Forschungs-
ionismus oder den Gitterstrukturen der feld der pluralen Bildgefüge stark ein;
Konzeptkunst. seine Systematik ist auch nur auf ein
Hofmanns Pointe lag darin, die Zersplit- begrenztes Feld pluraler Bildformen
terung des Bildes in der Moderne mit anwendbar.
den Bildsummen des Mittelalters zusam- Er entwickelt allerdings für den von
menzusehen und seine Untersuchungen ihm betrachteten Aspekt eine umfas-
so zu einem Gesamtpanorama westlicher sende Systematisierung, die auf alle
Kunstgeschichte auszuweiten. Bildkonstellationen dieser Art ange-
Es ergaben sich so zwei lange Perioden wendet werden kann und über ein
der „Polyfokalität“, die des Mittelalters großes Anschlusspotenzial verfügt.
und jene der Kunst nach 1800.69

Ganz und Thürlemann sehen diesen Historische Einordnung


Ansatz zwar als relevant, kritisieren
jedoch gleichzeitig die Trennung Wie im vorigen Abschnitt aufzeigt,
zwischen Monofokalität und Polyfo- fand der Modus pluraler Bildlichkeit
kalität, die nicht immer exakt gezo- zwar immer wieder Aufmerksamkeit
gen werden könne und keineswegs in der kunsthistorischen Forschung,
deckungsgleich sei mit der Differenz wurde allerdings nie hinreichend sys-
zwischen dem Singular und dem Plural tematisiert und historisch differen-
von Bildern.70 Wie die beiden Auto- ziert. Felix Thürlemann unternimmt
ren in den Aspekten der Forschungs- diesen Versuch zu einem Zeitpunkt,
geschichte folglich aufzeigen, gab an dem dies zwar keine dringliche
es nur einige wenige Versuche, Sys- zeithistorische Relevanz hat, aller-
tematisierungen pluraler Bildpräsen- dings längst überfällig ist.

69
David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David Ganz,
Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 13.
70
Vgl.: Ebd., S. 14.
felix thürlemann

Buch, alle diese Verfahren können formal


Den Anstoß zur Systematisierung mit der hypertext-Bildung durchaus ver-
der hyperimages gab Thürlemann das glichen werden.73
Phänomen des hypertextes, was ihn auch
zur Benennung der pluralen Bildge- Dies veranlasste Thürlemann dazu,
füge als hyperimages inspirierte.71 nun auch die hyperimages in der Kunst
zu systematisieren.
276 Das Phänomen des hypertextes wur- Es spielten jedoch noch andere zeit-
de zu einer Zeit von Literaturtheo- historische Entwicklungen eine Rolle.
retikern diskutiert, als der Gebrauch So kam es durch die immer besser
des Computers auch in den Geistes- und preiswerter werdende Druck-
wissenschaften zur Norm wurde.72 technik zu einer erhöhten Verbrei-
Thürlemann beschreibt die Verbin- tung von illustrierten Kunstbüchern,
dung zwischen dem hypertext, den der was – so Thürlemann – eine „neue
auch „Verlinkung“ nennt, und dem Ära der Geschichte des hyperimage“74
hyperimage folgendermaßen: einleitete.
Thürlemann konstatiert: „Qua Ab-
Das Verfahren der „Verlin- bildung wurde jedes visuelle Artefakt
kung“ erlaubte es dem neuen Leser-Au- jeder Zeit und jeder Kultur jedem an-
tor, zwischen gegebenen Texten und dern grundsätzlich gleichgestellt und
Textelementen immer wieder andere, damit für jede Form der hyperimage-
überraschende Pfade zu legen, um so Bildung verfügbar gemacht.“75
neuen Sinn zu generieren.
Was im Bereich des Textes als eine neu- Er fährt fort:
artige, experimentelle Form der Krea-
tivität erschien – die Produktion von Be- Mit dem Siegeszug des bildfä-
deutung durch Kombination von vorge- higen Internet wurde diese Öffnung noch
gebenen, bereits bedeutungstragenden potenziert, aufgrund der globalen Verbrei-
Einheiten – war jedoch in der bildenden tung ohne spezifischen Adressaten in ihrer
Kunst längst gängige Praxis. Die Hän- Bedeutung aber wieder eingeschränkt.76
gung von Bildern in Ausstellungen und
ihr regelmäßiges Umhängen, die varia- Auf den Zusammenhang von hyper-
blen Kombinationen von Bildern bei der image und Word Wide Web wird im
Lichtbildprojektion im Hörsaal und im letzten Abschnitt dieser Arbeit ge-

71
„Die Entscheidung, unter dem Begriff des hyperimage über die Möglichkeiten der 'Verlinkung'
von Bildern nachzudenken, war damals als Provokation des Kunstwissenschaftlers an die
Literaturtheoretiker gedacht.“ (Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des
hyperimage. München 2013, S. 7.).
72
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 70. Der Begriff hypertext wurde von Ted Nelson geprägt, der nach 1967 das Modell der
Text- und Bildverarbeitung, das Vannevar Bush nach dem zweiten Weltkrieg mit seiner Memex-
Maschine ersonnen hatte, für die digitale Ära modifiziert und weiterentwickelt. (Vgl. Felix
Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
luisa döderlein

nauer eingegangen, die Nennung hier der digitalen Medien besitzt eine mindes-
ist jedoch für den Nachvollzug einer tens zweitausendjährige Vorgeschichte. 77
historischen Entwicklung wichtig.

Thürlemann sieht zudem eine große


Relevanz des Themas für das eigene
Fach: Die Bedeutungskonstitution Relevanz als Schlüsseltext
von pluralen Bildformen sei für die 277
Kunstgeschichte als Methodenlehre Die Einordnung der Monografie
als auch für die Kunstgeschichte als Thürlemanns Mehr als ein Bild. Für
Gegenstandsbereich von großer Be- eine Kunstgeschichte des hyperimage in
deutung: den vorliegenden Reader und die da-
mit einhergehende Etikettierung als
(1) Bildzusammenstellungen Schlüsseltext der Kunstwissenschaft
in der Form von Bildserien, vor allem mag auf den ersten Blick bei einem
aber in der Form von Bildpaaren, spielen gerade erst vier Jahre alten Text ver-
für die Disziplin der Kunstgeschichte wundern. Noch kann der Text Thür-
eine zentrale Rolle als heuristische Ins- lemann nicht als kanonisch bewährt be-
trumente der didaktischen Vermittlung. zeichnet werden, ob er dies jemals
(Man denke nur an die in den kunst- wird, wird sich erst im Laufe der Jah-
historischen Vorlesungen noch immer re, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte
beinahe obligatorische Dia-Doppelpro- zeigen.
jektion). Die heuristischen und didakti- Die vorliegende Arbeit hat es sich
schen Verfahren der Syntagmatisierung jedoch zur Aufgabe gemacht auf-
sind weitgehend blinde Flecken der kunst- zuzeigen, welch hohe Relevanz und
geschichtlichen Praxis. Ihre Aufklärung methodologische Innovativität die
sollte Teil einer kritischen Selbstreflexion Thesen Thürlemanns haben und wie
des Faches sein. groß das Anschlusspotenzial seiner
Ausführungen ist. Darauf sollten die
(2) Die Syntagmatisierung von Ausführungen im vorigen Abschnitt
Einzelbildern zur Konstitution von visu- als Vorbereitung dienen.
ellen Suprazeichen ist seit der Antike ein An den verschiedenen Aspekten der
charakteristisches Element der abend- zeitgenössischen Ereignisse und Ent-
ländischen Bildkultur. Das „hyperimage“ wicklungen sollte aufgezeigt werden,

…Thürlemann (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44. Hier: S. 23.)
73
Ebd. S. 7.
74
Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universtität Konstanz. Prof. Dr.
Thürlemann: Theorie des Hyperimage. Abstract,
https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 29.11.17).
75
Ebd.
76
Ebd.
77
Felix Thürlemann: Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik (2004), In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix…
felix thürlemann

wie wichtig eine längst überfällige nennt, spielt in der kunstwissen-


Systematisierung pluraler Bildfor- schaftlichen Forschung eine große
men ist – sowohl für vergangene Rolle. Thürlemann interessiert sich
Epochen als auch für die Gegenwart jedoch nicht für ein Hintereinander,
und Zukunft. sondern verschiebt den Fokus auf ein
Für eine weitere Argumentation der Nebeneinander einzelner Bildobjekte.
Relevanz der These soll der Autor Er sieht es als „notwendige Ergän-
278 erneut selbst zu Wort kommen: zung“79, nicht nur die (zeitlich) voraus-
gegangenen Bilder zu betrachten, son-
Während die kunstgeschicht- dern auch das Zusammenspiel von
liche Forschung einen guten Teil ihrer Bildern in der Gegenwart. Somit er-
Arbeit dazu aufgewendet hat, die Bilder öffnet er ein neues Forschungsfeld
´hinter´ einem ausgewählten Bild zu be- für die Kunstwissenschaft: Er öffnet
stimmen, d.h. Bilder, die für dessen Ge- die Bildwissenschaft auf das gleich-
nese wichtig gewesen sein mögen, wird zeitige Sehen von Hängung und Bild-
der Fokus im Folgenden verschoben. inhalt. Dies unternimmt er in einem
Es werden Fälle untersucht, in denen der begriffsprägenden Text. Die von ihm
Blick auf Bilder durch andere Bilder in etablierten Bezeichnungen wie hype-
einem Nebeneinander greifbar wird. […] rimage oder die analytisch reflektierende
Die Untersuchung der hyperimages stellt oder identifizierend-personale Blickeinstel-
damit eine notwendige Ergänzung und lung können auf alle pluralen Bild-
Reflexion zur genetisch konzipierten, nach formen angewendet werden, unab-
dem Einfluss-Modell operierendeKunst- hängig von Epoche, Stil, Genre, etc.
geschichte dar.78 und haben somit ein hohes Anschluss-
potenzial. Seine Ausführungen ver-
Wie Thürlemann hier aufführt, hat fügen über eine gewisse Zeitlosigkeit;
sich die Kunstwissenschaft bisher die Ergebnisse kennzeichnet eine
hauptsächlich mit Bildobjekten be- Gültigkeit über alle Moden und Per-
schäftigt, die aufeinander aufbauen spektivenwechsel hinweg. Der Text
– so zum Beispiel die gleichen ikono- fungiert somit als Schlüssel, als ein
graphischen Traditionen verfolgen, übertragbares Tool und gibt methodi-
der gleichen Schule angehören, etc. sche und pragmatische Anweisungen.
Besonders die Interpiktoralität, das Inwiefern diese von anderen kunst-
Einfl uss-Modell, wie Thürlemann es wissenschaftlichen Forschern bereits

…Thürlemann (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44, Hier: S. 25.
78
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 8.
79
Ebd.
luisa döderlein

verwendet oder sogar weiterentwic- untersucht, Alexander Linke, der


kelt wurden und inwiefern die Me- die typologischen Rochaden in der
thode auch auf sich gerade andeu- Antwerpener Jesuitenkirche in den
tende, zukünftige Bereiche ange- Blick nimmt oder Martina Dobbe, die
wendet werden kann, darüber sollen visuelle Argumentationsmuster bei
die folgenden zwei Abschnitte Auf- Francis Galton und Bernd und Hilla
schluss geben. Becher analysiert.
Die zweite hier anzuführende Fest- 279
schrift wurde von Gerd Blum, Stef-
Anschlusskommunikation fen Bogen, Marius Rimmele und er-
neut David Ganz herausgegeben und
Im Rahmen der Forschungen von Fe- erschien anlässlich des 65. Geburts-
lix Thürlemann zum hyperimage ent- tages von Felix Thürlemann: Pen-
standen zwei Sammelbände, die in dant Plus: Praktiken der Bildkombina-
der vorliegenden Arbeit bereits mehr- torik (Berlin 2012). In diesem Sam-
fach zitiert wurden und die das For- melband sind zwei Texte Thürle-
schungsfeld historisch und systema- manns von 2004 und 2005 wieder-
tisch breiter bearbeiten: So das Hand- abgedruckt. Außerdem nehmen die
buch Das Bild im Plural. Mehrteilige Bild- einzelnen Aufsätze in den Kapiteln
formen zwischen Mittelalter und Gegen- Pendant +1, Spielregeln, Autorschaft, Räu-
wart (Berlin 2010), das Thürlemann me und Medien, Wahrnehmungsmuster im
zusammen mit David Ganz heraus- Konfl ikt, Grenz fälle der Differenz und
gab, wobei besonders die Einführung schließlich Pentand +2 Thürlemanns
zum Singular und Plural der Bilder Begriff des hyperimage auf, um ihn in
einen guten Überblick über das For- verschiedenen Perspektiven weiter-
schungsfeld gibt. Die sich daran an- zuentwickeln. Sie reichern mit ihren
schließenden Aufsätze verschiedener eigenen Beiträgen das Forschungs-
Kunstwissenschaftler und -histori- feld an und zeigen, welch zahlreiche
ker beschäftigen sich jeweils mit einer Aspekte dem Feld pluraler Bildfor-
spezifischen Thematik innerhalb des men entnommen werden können.
Forschungsfeldes wie zum Beispiel
Jeannet Hommers, die die Mehran-
sichtigkeit historisierter Kapitelle am
Beispiel von Saint-Andoche in Saulieu
felix thürlemann

Ausblick unzugänglichen Software-Elementen


überlassen werden.80 Aber auch die Dif-
Am Ende dieser Arbeit stellt sich die ferenz zwischen […] dem Künstler und
Frage, welche Relevanz die Thesen dem Betrachter, wird in einem noch
Thürlemanns zum hyperimage in Zu- nie da gewesenen Ausmaß in Frage
kunft einnehmen werden und welche gestellt. Die Kommunikationsstruktur
Ereignisse und Neuerungen das Po- der klassischen Bildkultur, die von […]
280 tential innehaben, die These Thürle- dem Gefälle zwischen einem aktiven
manns weiterzuentwickeln, zu trans- Produzenten und einem passiven Re-
formieren oder gar zu ersetzen. Zu zipienten bestimmt war, wird im Zeit-
Beginn der vorliegenden Arbeit wur- alter der elektronischen Medien immer
de bereits die sogenannte „Bilderflut“ häufiger die Form eines offenen, kaska-
angeführt, die durch die fotografi- denartigen Prozesses annehmen, bei dem
schen Reproduktionen und Digitali- von unterschiedlichen Akteuren suk-
sierung von Bildern und insbesonde- zessive neue kreative Impulse einge-
re durch das Internet die Kultur über- schossen werden. Vor allem aber wird
schwemmt. Thürlemann steht dieser das Prinzip der Interaktivität, das die
sowohl neugierig als auch skeptisch elektronischen Medien, insbesondere
gegenüber. In dem Aufsatz Vom Ein- das Internet, entscheidend prägt, zu ei-
zelbild zum hyperimage. Eine neue Heraus- nem nochmals veränderten Verhältnis
forderung für die kunstgeschichtliche Her- zwischen dem Bild und dem sogenan-
meneutik (2004) in dem Sammelband nten user […] führen. Das digitale Me-
Pendant Plus. Praktiken der Bildkombi- dium verlangt von ihm, dass er die Bil-
natorik äußert er sich darüber, wie der […] ständig in Bewegung hält, sie
sich durch die Digitalisierung von transformiert und immer neu zusam-
Bildern das Konzept Künstler – Werk menstellt. Welche Formen der Syntag-
– Rezipient radikal verändern wird: matisierung sich dabei als Normen eta-
blieren werden, scheint im Augenblick
Grundsätzlich in Frage steht offen. Sicher aber ist, dass die Welt der
der Begriff des Autors/Künstlers, wenn Bilder nach der elektronischen Revolu-
die Prozesse der Produktion, der Trans- tion nicht mehr die gleiche sein wird wie
formation und der Zusammenstellung zuvor.“81
der Bilder nun zum Teil Zufallsgenerato-
ren und vordefi nierten, dem Anwender

80
Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik (2004) In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44, Hier. S. 40-41.
Als Beispiel für einen solchen Zufallsgenerator führt er den Image swirl an, „eine automatisierte,
interaktive Form der hierarchisierten Bildpräsentation“, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte
und inzwischen wiedereingestellt wurde.
81
Ebd.
82
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 22 f.
luisa döderlein

Thürlemann schließt das Internet verschiedenster Objekte oder Ereig-


sehr bewusst aus seinen Forschun- nisse bewegt, wo er verweilt und wel-
gen aus, da er das Ausmaß eines sol- che Bereiche er überhaupt nicht be-
chen Projekts scheut. Es ist für einen rührt. Somit bietet die Methode auch
Einzelnen unmöglich, einen Über- die Möglichkeit, kunsthistorische
blick über alle Formen der Präsenz Fragestellungen zur Rezeption von
von digitalisierter Kunst im Inter- Kunstwerken empirisch zu unter-
net zu gewinnen.82 suchen. Wie Hanna Brinkmann und 281
Eine Erforschung dieses Bereiches Laura Commare in dem Aufsatz Blick_
müsste in größerem Rahmen durch- folgen. Zur Visualisierung von Augenbe-
geführt werden. Außerdem hätte sich wegungen bei der Kunstbetrachtung aus-
mit dem Prinzip der Interaktivität, führen, wird das eye tracking bereits
so Thürlemann, ein neues Verhältnis vermehrt in der Kunstwissenschaft
zu den Bildern herausgebildet, das mit genutzt. Es dient dazu, Blickmuster,
dem Begriff des hyperimage nicht mehr Aufmerksamkeitsstrukturen und
adäquat zu fassen sei.83 Sehkonventionen bei der Rezeption
von Kunstwerken aufzudecken.85
Ob dieses Projekt in Zukunft von Das eye tracking als Analyseinstrument
anderen Kunstwissenschaftlern oder birgt jedoch auch Gefahren hin-
-historikern bearbeitet werden wird, sichtlich der Interpretation der Er-
ist im Moment noch nicht abzusehen. gebnisse. Brinkmann und Commare
Eine andere technische Neuerung betonen:
scheint jedoch sehr vielversprechend
– für die Rezeptionsforschung allge- [Es ist] möglich, Zusammen-
mein als auch für die These Thürle- hänge zu übersehen, da sie nicht deutlich
manns im Besonderen: Das soge- visualisiert werden – oder aber umge-
nannte eye tracking. Eye-Tracking-Ge- kehrt, aus Visualisierungen statistische
räte erlauben es, „Blickbewegungen Zusammenhänge abzuleiten, die über-
durch apparative Verarbeitung in vie- haupt nicht vorhanden sind Ein sorgfäl-
len Varianten visualisiert und somit tiger und reflektierter Umgang mit den
als Spuren sichtbar [zu machen].“84 Visualisierungsinstrumenten ist somit
eine notwendige Voraussetzung für va-
Die Visualisierungen zeichnen auf, lide und reproduzierbare Ergebnisse.86
wie sich der Blick bei der Rezeption

83
Ebd.
84
Brinkmann, Hanna und Commare, Laura: Blick_folgen. Zur Visualisierung von Augenbewegungen
bei der Kunstbetrachtung, http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2015_0389.pdf
(Stand: 29.11.17).
85
Vgl.: Brinkmann, Hanna und Commare, Laura: Blick_folgen. Zur Visualisierung von
Augenbewegungen bei der Kunstbetrachtung,
http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2015_0389.pdf (Stand: 29.11.17).
86
Ebd.
felix thürlemann

Diese Apparatur stellt somit keines-


wegs eine Gefahr da, Thürlemanns
Thesen zu ersetzen oder abzulösen.
Stattdessen könnte sie die Forschung
in diesem Feld überaus bereichern
und es ermöglichen, die Seheinstel-
lungen, die Thürlemann theoretisch
282 beschreibt, auch praktisch nachzu-
vollziehen und empirisch zu überprü-
fen. Es bestünde beispielsweise die
Möglichkeit, bei der Pendanthäng-
ung zu untersuchen, bei welchen Bil-
dern das Auge lange verweilt – sie
folglich identifizierend-personal betrach-
tet –, und welche Bildpaare es als
Pendants akzeptiert und folglich zwi-
schen ihnen hin und her springt.
Die Zukunft der hyperimage-Forschung
hat somit großes Zukunftspotenzial,
das sich bereits in der heutigen Zeit
abzeichnet. Klar ist, dass sie auch in
Zukunft nicht an Relevanz verlieren
wird. Vorerst müssen die bereits beste-
henden hyperimages systematisiert und
kategorisiert werden, um eine Kunst-
geschichte des hyperimage der Vergang-
enheit zu schreiben, wie Thürlemann
sie einfordert. Des Weiteren ist ein
Ende der hyperimage-Bildung auch in
Zukunft nicht in Sicht. Bilder werden
in der westlichen Kultur gemeinsam
präsentiert und fordern so den Rezi-
pienten heraus, mehr, als nur ein Bild
zu sehen.
luisa döderlein

283
felix thürlemann

Quellenverzeichnis

Blum, Gerd; Bogen, Steffen; Ganz, David; Rimmele, Marius (2012):


284 Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik. Berlin: Reimer.

Ganz, David; Thürlemann, Felix (2010): Das Bild im Plural. Mehrteilige


Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin: Reimer.

Hofmann, Werner (1998): Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstge-


schichte, München: Beck.

Kemp, Wolfgang (1994): Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen,


München; Paris; London: Schirmer-Mosel.

Puttfarken, Thomas (2000): The Discovery of Pictorial Composition. Theories of


Visual Order in Painting 1400-1800, New Haven; London: Yale University
Press.

Thürlemann, Felix: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausfor-


derung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik“. In: Ada Neschke-Hentschke
(2004): Les herméneutiques au seuil du XXIéme siècle, Löwen; Paris: Bibliothe-
que Philosophique De, S. 223-247.

Thürlemann, Felix: „Bild gegen Bild. Für eine Theorie des vergleichenden Sehens“.
In: Blum, Gerd; Bogen, Steffen; Ganz, David; Rimmele, Marius (2012):
Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik. Berlin: Reimer, S. 391-401.

Thürlemann, Felix (2013): Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperi-
mage, München: Wilhelm Fink Verlag.
luisa döderlein

Brinkmann, Hanna; Commare, Laura: Blick_folgen. Zur Visualisierung von


Augenbewegungen bei der Kunstbetrachtung, http://www.visualpast.de/archive/
pdf/vp2015_0389.pdf (Stand: 29.11.17).

Deutsche Gesellschaft für Semiotik: Semiotik: Interaktiv und transdisziplinär!,


http://www.semiotik.eu/ (Stand: 04.12.17).

Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universtität 285


Konstanz. Prof. Dr. Thürlemann: Theorie des Hyperimage. Abstract, https://
www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 29.11.17).

Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration, Universi-


tät Konstanz: Prof. Dr. Felix Thürlemann, https://www.exzellenzcluster.
uni-konstanz.de/thuerlemann.html (Stand: 04.12.17).

Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universität


Konstanz. Prof. Dr. Thürlemann: Theorie des hyperimage. Abstract, https://
www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 26.11.17).

Bildnachweis

Abb.1: Frans Francken d.J., Der Triumph der Malerei 1 (über Ortelius hin-
aus), um 1620. Wien, Kunsthistorisches Museum, Prometheus Bildarchiv:
Kunst- und Raritätenkammer, http://prometheus.uni-koeln.de/pando-
ra/image/show/dresden-f8c3ad622f1be8637f365bcc6083196ebcdf3e40
(Stand: 02.12.17).
Aby Warburg
der Bilderatlas Mnemosyne

Der Bilderatlas Mnemosyne war Aby Warburgs letztes, großes Werk nach sei-
286 ner Rückkehr aus dem Kreuzlinger Sanatorium.1 Der Idee nach existierte
der Bilderatlas seit etwa Oktober 1926.
Die Arbeit an ihm fand aber bereits drei Jahre später durch Warburgs Tod
im Oktober 1929 ein jähes Ende.2 Der Bilderatlas kann durchaus als Sum-
me und Ausdruck des Warburgschen Denkens zu diesem Zeitpunkt be-
trachtet werden, denn er vereint in sich Warburgs bisherige Forschungen
und stellt eine Synthese seiner theoretischen Überlegungen und konkreten
Einzelanalysen dar.

Der Atlas, wie er ursprünglich in einem Bildband und zwei begleitenden


Textbänden geplant war, liegt heute allerdings nur in Rekonstruktionen
vor, basierend auf drei fotografischen Serien und wenigen Texten, haupt-
sächlich einem Einleitungstext und einem Begleittext zur Tafel 55.3
Die Tafeln nutzte Warburg seit Beginn der Arbeit an seinem Bilderatlas
auch zur visuellen Darstellung seiner Argumente bei Vorträgen und Aus-
stellungen. Die Zusammenstellung der Bilder und Reihung der Tafeln in
einem gedachten Atlas diente Warburg so zur Veranschaulichung des zen-
tralen Themas seiner Forschung: dem Nachleben der Antike.
Trotzdem waren die Tafeln nicht nur Illustration seiner mündlichen oder
schriftlichen Beiträge. Durch die Zusammenstellung der Fotografien auf
den Tafeln sollte vielmehr die „Theorie des sozialen Gedächtnisses“4 deut-
lich werden um die darauf basierende Idee einer „kunstgeschichtlichen
Kulturwissenschaft“5 aufzuzeigen und den „Prozess der Aneignung der
Welt“6 durch den Menschen nachzuvollziehen.

1
Vgl.: Rösch, Perdita (2010): Aby Warburg, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, S. 95.
2
Vgl.: Ebd., S. 95.
3
Vgl.: Ebd., S, 96.
4
Ebd., S. 97.
5
Ebd.
6
Vgl.: Bauerle, Dorothee (1988): Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu
Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster: Lit Verlag, S. 9.
287
Aby Warburg

Warburg konnte seine oben genann-


ten, zerstreuten Einzelstudien, die sein
Arbeiten prägten, nicht mehr zu einer
Theorie zusammenfassen.
Der Aufbau des Bilderatlas So ist heute neben seiner abgeschlos-
senen Dissertation über Botticelli, in
Infolge meines sehr prekären
der er das bewegte Beiwerk als Ver-
288 Gesundheitszustandes konnte ich mich der
Einsicht nicht erwehren, dass jetzt oder
ursacher des antikischen Charakters
nie noch einmal die Möglichkeit bestand, der Werke Botticellis herausstellte
alle meine zerstreuten Einzelstudien in ei- und sich darin dem Themenkomplex
nem Gesamtwerke zu vereinigen, das den der Bedeutung des Nachlebens der
auf ein einheitliches Ziel gerichteten Sinn Antike in der europäischen Renais-
meiner vielfachen Bemühungen zeigt. […] sance annäherte, der Bilderatlas als
[Es ist] mir gelungen, das Material für wahrscheinlich angestrebtes Haupt-
einen Bilder-Atlas zusammenzubringen, werk seines Arbeitens nur fragmen-
in dem man an seinen Bilderreihen die tarisch erhalten. Von den ursprüng-
Funktion der vorgeprägten antikisieren- lich geplanten Bild- und Textbänden
den Ausdruckswerte bei der Darstellung sind nur fotografische Serien und ein
inneren und äußeren bewegten Lebens Einleitungstext erhalten, sowie ein
ausgebreitet sieht und der zugleich die begleitender Text zu Tafel 55.
Grundlage sein soll für die Entwicklung Es kann also höchstens im übertra-
einer neuen Theorie der Funktion des genen Sinne von einem Schlüsseltext
menschlichen Bildgedächtnisses.7 die Rede sein, wenn man sich mit War-
burgs Bilderatlas beschäftigt. Man
Die von Warburg in einem seiner müsste vielmehr von einem Schlüs-
wahrscheinlich letzten Briefe, nur 14 selartefakt oder –fragment sprechen.
Tage bevor er verstarb, angespro- Dennoch sind die Ideen und Grund-
chene „Theorie der Funktion des gedanken, die dem Bilderatlas zu-
menschlichen Bildgedächtnisses“, grunde liegen, wegweisend für die
die er in seinem Bilderatlas zu de- Rezeption von Kunstwerken der
monstrieren gedachte, sollte vor sei- nachfolgenden Jahre, sowie für die
nem Tod nicht mehr abschließend Disziplinen der Kulturwissenschaft,
festgehalten werden. Kunstwissenschaft und Bildwissen-
schaft.

7
Vgl.: Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: 2010, S. 96.
Lisa BRAUN

auf seinen Bildtafeln in der konstruk-


Warburgs nur fragmentarisch vorlie- tiv offenen Manier der klassischen
gender Bilderatlas kann daher inhalt- Moderne durch das Nebeneinander-
lich als eine Schlüsselidee oder ein stellen von Bildern in einem darstel-
Schlüsselmoment der Wissenschafts- lenden Modus des Zeigens und Um-
geschichte begriffen werden. Um die schreibens veranschaulicht.10
dem Atlas zugrundeliegenden Ge- Abschließend sollten die Tafeln für
danken Warburgs darzustellen, wer- den Bildband des Bilderatlas foto- 289
den im Verlauf dieses Beitrags daher grafiert werden, wobei nicht klar ist,
sowohl Passagen aus verschiedenen ob die Tafeln dabei ihren ungeord-
Texten und Bemerkungen Warburgs neten Charakter behalten hätten, wie
zur Illustration herangezogen, als er auf den vorliegenden Fotografie-
auch wissenschaftliche Beiträgen der Serien zu sehen ist, oder ob die Bil-
auf Warburgs Tod folgenden Jahre. der noch geordnet und beschriftet
Die existierenden Fotografie-Serien worden wären.11
von Warburgs Bildtafeln stammen
aus den Jahren 1928 und 1929.8 Die
abfotografierten Tafeln waren im
Grunde große, mit schwarzem Tuch
bespannte Pinnwände, auf denen Fo- das Konzept Mnemosyne
tografien von Hoch- und Gebrauchs-
kunst, von Münzen, Briefmarken und Perdita Rösch stellt in diesem Zusam-
Zeitungsausschnitten lose befestigtmenhang die Frage, ob der fragmen-
waren. Sie waren Warburgs Experi- tarische Charakter des Atlas mögli-
mentierfeld, vor dem er mit Mitarbei-
cherweise ein Ausdruck von Warburgs
tern und Besuchern der Warburg- Scheitern sein könnte, seine nicht er-
Bibliothek die Abfolge und Ordnung reichte Synthese aufzeigt, oder ob das
der Bilder auf den Tafeln, sowie der
Fragmentarische vielmehr Methode
Tafeln untereinander diskutierte und
war und dem Denken und Arbeiten
abänderte, um sie als visuelle Argu-
Warburgs generell innewohnte.12 Was
mentation funktionieren zu lassen.9sicherlich angenommen werden kann,
ist, dass der Atlas Warburg als Sum-
Darin verbirgt sich das innovative me der eigenen Forschung zur Ori-
Moment Warburgs, der Sachverhalte entierung und Vergegenwärtigung

8
Vgl.: Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: 2010, S. 95.
9
Vgl.: Ebd., S. 97.
10
Vgl.: Ebd., S. 97.
11
Vgl.: Ebd., S. 97.
12
Vgl.: Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: 2010, S. 97 f.
Aby Warburg

innerhalb des eigenen Forschens und Warburgs Methodik


Denkens diente.13 In der Variabilität Distanz und Sorophrosyne
der Bildtafeln stellt er Warburgs of-
fenes Denken zur Schau und verdeut- Für die Klärung der für Warburg
licht, weshalb Warburg sich schwer tat grundlegenden Begriffl ichkeiten, ist
mit dem wissenschaftlichen Schrei- die Einleitung des Bilderatlas äußerst
ben, das Ergebnisse mit Endgültig- fruchtbar. Bereits in Warburgs ersten
290 keit behauptet und darstellt und sei- Sätzen wird ein großer Teil der für das
nem von Bewegung und Offenheit Verständnis seines Denkens wich-
geprägtem Denken gänzlich zuwider tigen Schlagworte abgearbeitet.
lief.14 Dem Bilderatlas ist die Denk-
weise seines Schöpfers deutlich ein- Bewusstes Distanzschaffen
geschrieben, was Perdita Rösch noch zwischen sich und der Außenwelt darf
konkretisiert, indem sie festhält, dass man wohl als Grundakt menschlicher Zi-
der Atlas: vilisation bezeichnen; wird dieser Zwi-
schenraum das Substrat künstlicher Ge-
[…] in sich die doppelte Mög- staltung, so sind die Vorbedingungen er-
lichkeit sowohl des Distanzverlusts durch füllt, dass dieses Distanzbewusstsein zu
hantierende Praxis wie des Distanzge- einer sozialen Dauerfunktion werden
winns und damit des Denkraumgewinns kann, deren Zulänglichkeit oder Versa-
durch das überblickhafte, zusammen- gen als orientierendes geistiges Instru-
schauende Sehen [trägt].“15 ment eben das Schicksal der menschli-
chen Kultur bedeutet.17
Dies entspricht Warburgs These von
der Polarität, nach welcher sich Ori- Durch die Benennung der Welt als
entierung und Denkraumgewinnung etwas dem Menschen Fremdes kann
stets in der Schwingung zwischen Ma- er sein Ich von diesem ‚ Nicht-Ich dis-
gie und Vernunft ereignet.16 tanzieren und durch dieses erkennen-
de Benennen seine Umwelt durch Zei-
chensetzung konstituieren.18
Jede der menschlichen Ausdrucks-
leistung nach außen stellt Distanz zwi-
schen Bewusstsein und Welt her, denn
im Ausdruck wird die unmittelbare

13
Vgl.: Ebd., S. 98.
14
Vgl.: Ebd., S. 99.
15
Ebd., S. 98.
16
Ebd., S. 98.
17
Warburg, Aby Moritz: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Warnke, Martin; Brink, Claudia (Hg.)
(2000): Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin: De Gruyter Verlag, S. 3-6.
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 10.
18
Vgl.: Bauerle, Dorothee (1988): Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu
Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster, S. 10.
Lisa BRAUN

Erfahrung von Welt verarbeitet und


nicht einfach verdoppelt.19
Diese Scheidung von Ich und Welt ist
Grundlage des Denkens und als Vo-
raussetzung für die Orientierung in Denkräume
der Welt zu sehen, denn „Orientie-
rung ist für Warburg Überbegriff Dem zwischen religiöser und
für jede bewusste Beziehungsnahme mathematischer Weltanschauung schwan- 291
des Menschen zur Umwelt.“20 kenden künstlerischen Menschen kommt
Die Ausdrucksleistung des Menschen das Gedächtnis sowohl der Kollektiv-
wird dabei zu einem Instrument der persönlichkeit wie des Individuums in
Orientierung, die dem als Speicher einer eigentümlichen Weise zur Hilfe:
gestalteten Distanzbewusstseins be- nicht ohne weiteres Denkraum schaf-
wahrt bleibt. Diese Distanzierungs- fend, wohl aber an den Grenzpolen des
versuche sind für Warburg das eigent- psychischen Verhaltens die Tendenz zur
liche Thema der Kulturgeschichte.21 ruhigen Schau oder orgiastischen Hin-
gabe verstärkend.
Der Erwerb des Distanzge- Es setzt die unverlierbare Erbmasse mne-
fühls zwischen Subjekt und Objekt ist misch ein, aber nicht mit primär schützen-
die Aufgabe der sogenannten Bildung der Tendenz, sondern es greift die volle
und das Kriterium des Fortschritts des Wucht der leidenschaftlich-phobischen,
Menschengeschlechts. Es wäre das ei- im religiösen Mysterium erschütterten
gentliche Objekt der Kulturgeschichte gläubigen Persönlichkeit im Kunstwerk
den jeweiligen Stand der Besonnenheit mit stilbildend ein, wie andererseits auf-
zu beschreiben. 22 zeichnende Wissenschaft das rhythmi-
sche Gefüge behält und weitergibt, in dem
Wichtig ist also nicht nur das Distanz- die Monstra der Phantasie zu zukunfts-
schaffen, sondern damit einherge- bestimmenden Lebensführern werden.
hend auch die Besonnenheit, „die Um die kritischen Phasen im Verlauf die-
Sorophrosyne“23, denn erst die Soro- ses Prozesses durchschauen zu können,
phrosyne, die den Zwang des unmit- hat man sich des Hilfsmittels der Erkennt-
telbaren Reagierens auf Eindrücke nis von der polaren Funktion der künst-
unterbrechen kann, ermöglicht inne- lerischen Gestaltung zwischen einschwing-
haltendes Erkennen.24 ender Phantasie und ausschwingender

19
Vgl.: Ebd., S. 10.
20
Ebd., S. 10.
21
Vgl.: Ebd., S. 10.
22
Warburg, Aby Moritz, zit. nach: Hönes, Christian; Pfisterer, Ulrich (2015): Aby Warburg: Fragmente,
Berlin: De Gruyter Verlag, S. 162.
23
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 23.
24
Vgl.: Ebd., S. 23.
Aby Warburg

Vernunft noch nicht im vollen Umfang Mnemosyne, engramm, Symbol


der durch ihre Dokumente bildhaften
Gestaltens möglichen Urkundendeutung Die Kunst kann sich nie end-
bedient. Zwischen imaginären Zugreifens gültig der magischen Funktion, das Feind-
und begriffl icher Schau steht das hantie- liche zu bannen, entreißen. Jegliches –
rende Abtasten des Objektes mit darauf auch das reflektierteste Kunstschaffen
erfolgender plastischer oder malerischer bleibt dieser ursprünglichen Bannungs-
292 Spiegelung, die man den künstlerischen und Entledigungsenergie verhaftet, bleibt
Akt nennt. 25 bedroht durch Eruptionen primitiver
phobischer Wildheit. 29
Der zuvor beschriebene Raum der
Distanz wird von Warburg als Denk- Durch die kollektive Erinnerung, die
raum benannt, wodurch dieser Raum Mnemosyne, bleibt also die ursprüng-
zur Bedingung des Denkens wird. liche Betroffenheit als ein „Engramm
Doch erst durch die sinnhafte Ausge- [dieser ] leidenschaftliche[n] Erfah-
staltung, die ästhetische Formung der rung als gedächtnisbewahrtes Erbgut
geschaffenen, aber noch leeren Dis- […]“30 erhalten. Diese Engramme
tanz, wird diese zum Denkraum und schlagen sich in dem „[…]Prozess der
wird beispielsweise in Kunstwerken Symbolisierung und Sublimierung
dauerhaft.26 „Die Skala dieser Sinnge- [nieder], der das menschliche Kultur-
bungsversuche reicht von der religiö- verhalten auszeichnet […]“.31 Wenn
sen Verknüpfung der Phänomene bis Warburg auch nie eine Theorie oder
zu deren wissenschaftlicher Erkennt- Philosophie der Kunst verfasste, so
nis.“27 In der Verwendung des Wor- bilden seine versprengten Gedanken,
tes „phobisch“ klingt außerdem der Notizen und Einzelanalysen vor al-
von Warburg ausgemachte Urgrund lem in Bezug auf einen Symbolbe-
jeden Bildschaffens an: Angst und griff trotzdem den Kern seiner Kunst-
genauer die Bannung von Angst.28 und Kulturwissenschaft, als einer
Psychologie des menschlichen Aus-
drucks aus der sich seine Motivana-
lyse ergibt.32 Dorothee Bauerle ver-
weist in Bezug auf Warburgs Sym-
bolbegriff auf Friedrich Theodor Vi-
schers Aufsatz Das Symbol aus dem

25
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink (Hg.): Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3-6.
26
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 23.
27
Ebd., S. 12.
28
Vgl.: Ebd., S. 22
29
Ebd., S. 23.
30
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink (Hg.): Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3.
Lisa BRAUN

Jahr 1887, der als Hintergrund von zerlegenden Ordnung des Gedankens
Warburgs Arbeiten durscheine. so sehr gelöst wird, dass sie sich in Be-
Vischer gliedert die Verknüpfung von griffe verflüchtigt.34
Bild und Bedeutung, also den Pro-
zess der Symbolbildung, in drei Stu-
fen: die dunkel-verwechselnde Stufe,
die Stufe der vorbehaltenden Ver-
knüpfung und die logisch-sondernde Zwischenräume 293
Stufe.
Die dunkel-verwechselnde Stufe, in In diesem Spannungsfeld, quasi „[…]
der Bild und Bedeutung verwechselt zwischen Greifen und Begriff, auf
werden und das Bild als Aushilfe für halbem Weg zwischen wissenschaft-
das Wort dient, beispielsweise bei re- licher Erkenntnis und magischem
ligiösen Praktiken, steht im schroffen Denken […]“35 hat das Bild als aus-
Gegensatz zur logisch-sondernden druckshaft Gestaltetes seinen Ort.
Stufe, in der das Bewusstsein vor- Durch das Gewahrwerden dieser
herrscht, „[…] das[s] Bild und Bedeu- Pendelbeziehung zwischen den zwei
tung nur durch ein tertium compa- Polen, „[…] der künstlerischen Ge-
rationis verknüpft […]“.33 staltung zwischen einschwingender
Für Warburg als Denker des Zwi- Phantasie und ausschwingender Ver-
schenraums war aber die zweite Stu- nunft […]“36, werden „[…] Bilder zu
fe, die Stufe der vorbehaltenden Ver- deutbaren Urkunden der Weltan-
knüpfung von großem Interesse. eignug“.37
Es handelt sich um die Stufe der Sym-
bolbildung und des Symbolverständ- Warburg erweitert Vischers Sym-
nisses, auf der: bolbegriff der vorbehaltenden Ver-
knüpfung zu einem Bindeglied zwi-
[…] das Symbol als Zeichen ver- schen Kulturwissenschaft und Psy-
standen wird und dennoch als Bild leben- chologie.38 Das Bild wird zum Zeugen
dig bleibt, wo die seelische Erregung, zwi- geistiger Prozesse und spiegelt den
schen diesen beiden Polen in Spannung tragischen, aber menschlichen Kampf
gehalten, weder durch die bindende Kraft zwischen Logik und Phantasie wider.
der Metapher so konzentriert wird, dass sie Nicht nur das Kunstschaffen, auch der
sich in Handlung entlädt, noch durch die Kunstgenuss ist von diesem Kampf

31
Kemp, Wolfgang: Fernbilder. Benjamin und die Kunstwissenschaft, in: Burkhardt Lindner (Hg.)
(1978): Links hatte noch alles sich zu enträtseln… Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt: Syndikat
Verlag, S. 248.
32
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 20.
33
Vischer, Friedrich Theodor (1887): Das Symbol, in: Philiosophische Aufsätze – Eduard Zeller zu
seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig: Fues Verlag, S. 190.
34
Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik,
S. 172, in: Dessoir, Max (Hg.) (1931): Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft,
Bd. 25, Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 163-179.
Aby Warburg

betroffen, schwankt er doch zwischen das zu vereinen versucht, was unver-


dem: einbar ist. „Der Gehalt eines Kunst-
werkes wäre dann die Nachzeichnung
[…] [l]eidenschaftliche[n] dieses Unauflösbaren.“43
Sich-Selbst-Verlieren, […] [als auch der] Warburgs Herangehensweise könnte
kühl distanzierende[n] Besonnenheit in als eine „Ikonologie des Zwischen-
der ordnenden Betrachtung der Dinge. raums“44 charakterisiert werden, wo-
294 […] Die Extreme treffen zusammen – mit die Lehre und Erforschung der
für einen Augenblick versöhnt – in der Bilder und Zeichen, die den Raum der
Doppelheit des Bildes: es ist Denkbild Besonnenheit setzen und erfüllen,
und Kunstbild zugleich.39 gemeint wären.45

Die Aussöhnung der gegensätzlichen


Pole im Bild war für Warburg von gro-
ßer Bedeutung, denn das Bild wird
zur Erinnerungsspur eines Zustan- Pathosformeln
des jenseits der Spaltung von Ich und
Welt.40 Darin liegt das Paradoxon: In seinem Vortrag in der Bibliote-
eine Konfiguration von Rationalität ca Hertziana sagte Warburg selbst,
und Hingabe, die sich aber der dis- dass er „die Funktion des bildhaften
kursiven Sprache verweigert.41 War- Gleichnisses in der kosmologischen
burg fasste dies zwar nie ausdrück- und charakteriologischen Orientie-
lich in Worte, durch die Verwendung rung […] [in seinem Bilderatlas]
von Gegensatzpaaren und deren Ge- am Nachleben der Antike im Zeital-
genüberstellung versuchte er aber der ter der europäischen Renaissance“46
nicht fassbaren Mitte habhaft zu untersuchen will.
werden.42
Warburg nimmt einen Prozess der
Kunst kann also als ein Produkt der Bildprägung an, Raum und Zeit ü-
gestalteten Distanz, des Zwischen- bergreifend, den er mit dem Termi-
raums verstanden werden und ist da- nus der Pathosformel benennt. Pathosfor-
bei sowohl etwas Sinnliches, das aber meln sind die Ausdrucksgebärden der
durchsetzt ist von Rationalität und Be- antiken Kunst. Sie stellen Moment-
sonnenheit und somit zu etwas wird, aufnahmen derjenigen Zeitpunkte

35
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 19.
36
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink: Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3.
37
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 19.
38
Vgl.: Ebd., S. 16.
39
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 20.
40
Vgl.: Ebd., S. 20.
Lisa BRAUN

dar, die aus der Masse der Gebärden in einer Art Gedächtnisfunktion des
des täglichen Lebens als gewisse, be- Körpers Spuren hinterlassen und re-
sonders ausdrucksvolle Bewegungen flexartig abgespielt werden können.51
des Körpers ins Bewusstsein treten.
Sie sind „[…] Ausdrucksformen zwei-
ter Potenz“.47 Sie überdauern die Zeit:

[…] indem sie als Kunstwerke gebärde, AUsdruck, Hantierung 295


aufgefunden oder übermittelt wurden,
in irgendeiner greifbaren Form für den Die Ausdrucksgebärde wird
hantierenden Menschen: als behauener von Warburg also als symbolische Form
Stein, als bemaltes Papier – jedenfalls als behandelt, und ist wie jedes Symbol in
Objekte, die zum hantierenden Menschen den Kontext von Tradition und Überlie-
in einer gerätmäßigen Beziehung stehen.48 ferung eingebunden.52

In den Pathosformeln fallen in ge- Ausdruck wird ebenfalls durch Ge-


wisser Weise die drei Stufen Gebärde, räte geschaffen, die die Funktion des
Hantierung und Kunst zusammen, Körpers erweitern und ergänzen, wie
anhand ihrer lassen sich die Ebenen beispielsweise Kleidung, worin War-
des Ausdruckhaften präzise zeigen.49 burg den Versuch der Grenzüber-
Vor der Wort- und Bildschöpfung schreitung zwischen Ich und Nicht-
steht die Gebärde, als erste und di- Ich, zwischen Körper und Außenwelt
rekteste, da oft instinktive Sprache sieht. Er nennt diesen Vorgang Han-
des Körpers. Warburg nannte sie die tierung.53 Dabei werden Geräte zu
„Urwort[e] leidenschaftlicher Dyn- Trägern von Ausdruckswerten, die
amik“50. auf den Menschen zurückwirken:
Ewald Hering, auf den Warburg auch Beispielsweise Kleidung54, die dem
in seinem Kreuzlinger Schlangenri- Menschen, der sie trägt Würde ver-
tual-Vortrag verweist, konkretisiert leihen oder ihn degradieren kann.
in seiner Abhandlung Über das Gedächt-
nis als eine allgemeine Funktion der orga- Der Mensch ist [also] nicht al-
nisierten Materie außerdem, dass die lein hantierendes, sondern auch tragen-
aus Reizen umgesetzten Muskelbewe- des Tier. Durch diese Fähigkeit findet
gungen durch häufige Wiederholung eine Fälschung des Außenbildes, falls

41
Vgl.: Ebd., 1988, S. 20.
42
Vgl.: Ebd., S. 21.
43
Ebd., S. 21.
44
Warburg, Aby Moritz (1929): Mnemosyne, Entwürfe zum Vortrag, gehalten am 19. Januar 1929,
Bibliotheca Hertziana, Rom, zit. nach: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz
Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 13.
45
Vgl.: Ebd., 1988, S. 14.
46
Ebd., S. 14.
47
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 19.
Aby Warburg

es ein wahrer Kraftanzeiger sein soll, Zulänglichkeit oder Versagen als orien-
statt, falls besonders eine Schmückung tierendes geistiges Instrument eben das
in Berechnung der äußeren Wirkung Schicksal der menschlichen Kultur be-
stattfand.55 deutet.58

Gerät, Kleidung oder Schmuck wei- Die antiken Pathosformeln waren


sen darüber hinaus auf eine Ebene also derart kraftvoll, dass sie leben-
296 hin, auf der der Mensch Objekte her- dig blieben und verschiedene, zeit-
stellt nicht nur um sich zu erweitern, gemäße Inhalte in sich aufnahmen.
sondern auch um sie sich gegenüber- Warburg beschäftigte dabei, warum
zustellen und sie aus der Distanz kon- und in welcher Form diese immer
templierend zu betrachten.56 wieder aufgegriffen wurden.
„Welcher besonderen Art sind die
Hier beginnt Kunst im enge- Gebärden, die zu zentralen Bildtypen
ren Sinn, denn hier erst tritt das innehal- einer Kultur werden, welche Wirkun-
tende Moment im Ausdruck als bewuss- gen gehen von der gefundenen Bild-
te, gestaltete und gestaltende Besinnung formel aus?“59
auf. […] Ausdruck im Kunstwerk ist
nicht bloße Verdoppelung des subjektiv Warburg verfolgte den Prozess der
Gefühlten. Ausdrucksvoll ist Kunst, wo Wiederaufnahme antiker Bildformeln
aus ihr, subjektiv vermittelt ein Ande- zunächst am Beispiel der Frührenais-
res spricht. Ausdruck von Kunst ist das sance nach. Die Künstler der Zeit stei-
Innewerden und Benennen der Welt als gerten nicht nur traditionelle Mus-
etwas, das dem Ich fremd ist.57 ter zu intensiveren und empathische-
ren Gesten und Ausdrücken, denn
Im bildhaften Ausdruck wird der die Bildersprache des Mittelalters
Zwischenraum gestaltet wurde als ausdrucksarm und erstarrt
empfunden, sondern sie suchten nach
[…] zu einer sozialen Dauer- anderen Mustern, in welchen ein ex-
funktion, die durch den Rhythmus vom pressiverer, körperlicher Ausdruck
Einschwingen in die Materie und Aus- und eine intensivere Welterfahrung
schwingen zur Sophrosyne jenen Kreis- vorgeprägt waren.60 Die antiken Pa-
lauf zwischen bildhafter und zeichen- thosformeln, waren nach Warburg
mäßiger Kosmologie bedeutet, deren eben solche vorgeprägten Formen

48
Wind, Edgar (1931): Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die
Ästhetik, S. 176, in: Max Dessoir (Hg.): Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft,
Bd. 25, Stuttgart 1931, S. 163-179.
49
Vgl. Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 31.
50
Warburg, Aby Moritz, zit. nach Gombrich, Ernst (2012 [1981]): Aby Warburg. Eine intellektuelle
Biografie, Hamburg: Philo Fine Arts Verlag, S. 3.
51
Vgl. dazu: Hering, Ewald (1921): Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der
organisierten Materie, Leipzig: Wilhelm Engelmann Verlag.
Lisa BRAUN

extremen Ausdrucks, die von den Warburg hat gezeigt, dass


Künstlern aufgenommen wurden. man eine Theorie des ästhetischen Aus-
Bei der Wiederaufnahme der antiken drucks nur entwickeln kann, wenn man
Pathosformeln handelt es sich um auf die magischen Erfahrungswurzeln
ein „[…] bildungsmäßig bewusstes von Kunst und auf die elementaren For-
Wiederaufnehmen, ein historisches men des mimischen oder gerätmäßig
Zitieren der stillen Größe klassisch- erweiterten Ausdrucks zurückgreift.
normativer Vorbilder“.61 Denn hier ist der Ursprung jeder Bild- 297
schöpfung, ein Ursprung über den sich
Die Pathosformeln forderten zu einer das Bildschaffen im Laufe der Geschich-
Auseinandersetzung mit der mittel- te zwar erhebt, den es aber nie völlig ab-
alterlichen Bildersprache auf und be- schütteln kann.
wirkten in ihrem Nachhall leiden-
schaftlicher Hingabe eine Verände- Geschichte der Kunst wäre dann die
rung des Lebensgefühls, denn die mit- Geschichte des Erhebungsversuchs von
telalterliche Lebensverneinung wur- den magischen Wurzeln, die Geschichte
de durch sie in Frage gestellt.62 Kri- der Differenzierung von den ursprüng-
tikern dieser These strich Warburg lichen Ausdrucksformen, zugleich aber
bereits in der Einleitung des Bilder- das Eingedenken des Ursprungs. Der
atlas über den Mund, indem er kon- Bezug auf die Geschichte – und das gilt
statierte: gleichermaßen für den Forscher, den
Künstler und den Betrachter – ist aber
Hedonistische Ästheten ge- nicht nur ein äußerliches Konstatieren
winnen die wohlfeile Zustimmung des oder Aufgreifen der bereitliegenden
kunstgenießenden Publikums, wenn sie symbolischen Leistungen: die seelische
solchen Formenwechsel aus der Pläsier- Naturgeschichte der Vorprägungen wird
lichkeit der dekorativen größeren Linie selbst ein Desiderat der Kunstgeschich-
erklären. Mag wer will sich mit der Flora te. Das Problem der Überlieferung, un-
der wohlriechenden und schönsten Pflan- zureichend erfasst als ein oberflächliches
zen begnügen, eine Pflanzenphysiologie Kopieren und Belehnen des Vorrats, den
des Kreislaufs und des Säftesteigens kann die Tradition bereitstellt, wurde von War-
sich aus ihr nicht entwickeln, denn diese burg fixiert und eingeschränkt: Bedeu-
erschließt sich nur dem, der das Leben im tung und Wirkung der Restitution der
unterirdischen Wurzelwerk untersucht.63 Antike in der europäischen Renaissance

52
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 27.
53
Vgl.: Ebd., S. 28.
54
Vgl.: Carlyle, Thomas (1903 [1888]): Sartor Resartus, London: Chapman & Hall Verlag, S. 43.
55
Aby Moritz Warburg, zit. nach: Ulrich Pfisterer; Christian Hönes: Aby Warburg: Fragmente,
Berlin 2015, S. 81.
56
Vgl. Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 30.
57
Ebd., S. 30.
58
Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg 2012, S. 288 f.
Aby Warburg

war sein Thema, Erinnerung seine zent- wiederhergestellt werde, dass es auf aktu-
rale Kategorie.“64 elle Bedürfnisse zu antworten vermag.67

Die Solidarität von Vergangenheit


und Gegenwart ist nur möglich, weil
soziales und kollektives das kollektive Gedächtnis – entge-
Gedächntnis gen dem historischen, das den Wan-
298 del bedenkt – vor allem ein Bild der
Das Phänomen des Fortlebens einmal Ähnlichkeiten gibt: Es fixiert die Mo-
geprägter Formen sollte im Bilder- mente des Wiedererkennens im Ver-
atlas vertieft und durch die Konstruk- gangenen und bildet so den Sitz der
tion einer Instanz, nämlich eben die- Tradition. Warburg untersucht in die-
sen Bilderatlas, begründet werden, sem Zusammenhang die Bedeutung
der die kollektive und soziale Mneme und Wirkung der sozialen Mneme für
aufzeigt.65 Anzunehmen wären in die- die Bildprägung.
sem Zusammenhang Parallelen zur „Die Bilderreihen des Bilderatlas soll-
Durkheimer-Schule, die die Synthese ten letzten Endes auch das Rätsel der
einzelner Bewusstseine zu einem kol- Gedächtnisfunktion formulieren hel-
lektiven Bewusstsein annimmt, das fen“68, denn Warburg wollte in Er-
zugleich mehr ist als ihre Summe. fahrung bringen, wie:

[…] cette synthese a pour effet […] die sprachlichen und bild-
de dégager tout un monde de sentiments, förmigen Ausdrücke entstehen […] [und]
d’idees, d‘images qui, und fois nés, obé- nach welchem Gefühl oder Gesichtspunkt,
issent à des lois leur sont propres.66 bewusst oder unbewusst, werden sie im Ar-
chiv des Gedächtnisses aufbewahrt, und
Maurice Halbwachs als Durkheim- gibt es Gesetze, nach denen sie sich nie-
Schüler konkretisierte den Sitz des derschlagen und wieder herausdringen?69
kollektiven Bewusstseins auf das so-
ziale Gedächtnis. Das soziale Ge-
dächtnis besteht für ihn aus

[…] kollektiven Erinnerungen


[…], durch die Vergangenes in einer Weise

59
Saxl, Ftitz (1932): Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst, in: Gustav Kafka (Hg.): Bericht
über den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena, S. 18.
60
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 31 f.
61
Fritz Saxl: Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst, in: Gustav Kafka (Hg.): Bericht über
den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena 1932, S. 23.
62
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 31 f.
63
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink: Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3.
Lisa BRAUN

Die Bildtafel 55 Warburgs Manet-Vortrag in Rom zu


erschließen.73 Folglich sind der aus
Um Warburgs geplantes Vorgehen dem Vortrag hervorgehende Text und
im Bilderatlas zu betrachten, kann die Bildtafel 55 als zueinander gehö-
nur die Bildtafel 55 mit dem einzigen, rig anzunehmen. Warburgs enge Mit-
heute existierenden Begleittext, der arbeiter Fritz Saxl und Gertrud Bing
von Warburg verfasst wurde, Manets messen vor allem diesen letzten Ar-
‚Déjeuner sur l’herbe‘, Die vorprägende beiten große Wichtigkeit zu, da War- 299
Funktion heidnischer Elementargottheiten burg in ihnen seinen Gegenstands-
in der Entwicklung modernen Naturge- bereich erweiterte und die Erkennt-
fühls, herangezogen werden. Neben nisse der Forschung zum Nachleben
der Einleitung ist er der einzig aus- der Antike in der Renaissance auch auf
formulierte Text, der Teil der geplan- die Nachrenaissance übertrug und
ten Textbände des Bilderatlas werden weiterführend zeitgenössische Bezü-
sollte. Die Bilder sind auf der Tafel ge zu den antiken Formeln herstellte.74
„nach dem Modus der Beziehungen
und Konfigurationen“70 angeordnet Das Problem der Rezeption
und spiegeln darin Warburgs viel- der Antike ist als allgemein menschliches
schichtiges Denken. Die in einer Fo- Problem ewig, aber auch als historisches
tografie existierende Tafel 55 ist Teil nicht bloß in dem Renaissance-Problem.
der vierten und größten Tafelgruppe Daher hat Warburg gerade in den letzten
innerhalb der insgesamt 63 Tafeln Jahren die Rezeption der Antike in der
mit 971 darauf arrangierten Objekten Nach-Renaissancekunst Europas unter-
und beschäftigt sich inhaltlich mit sucht. In der Reihe von Tafeln, die zu
Objekten der Renaissance.71 den eindrucksvollsten des Atlas gehören,
Die Tafel 55 zählt zu den letzten Ar- wird […] am Déjeuner sur l‘herbe von
beiten vor seinem Tod, denn Warburg Manet […] die immer gleichbleibende
stellte sie erst nach seinem Vortrag in Stärke dieses Kampfes mit der Kunst
der Bibliotheca Hertziana im Januar seiner Zeit deutlich gemacht.75
1929 zusammen und fügte sie dem
Repertoire der existierenden Bildta- Warburgs Manet-Text wurde ange-
feln hinzu.72 Das Verständnis der Ta- regt durch eine Entdeckung seines
fel 55 sei laut Werner Hoffmann voll- Hamburger Freundes Gustav Pauli,
ständig aus den Aufzeichnungen zu der die lagernde Gruppe aus Manets

64
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 33 f.
65
Vgl.: Ebd., 1988, S. 35.
66
Durkheim, Emile (1960 [1912]): Les formes élémentaires de la vie religieuses. Le système totémique
en Australie, Paris: Les Presses universitaires de France, S. 605.
67
Maus, Heinz (1985): Das kollektive Gedächtnis. Geleitwort zu Maurice Halbwachs, Frankfurt:
Fischer Taschenbuch Verlag, S. 7.
68
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 36.
Aby Warburg

Déjeuner einer Gruppe von Flussgöt- und Naturwissenschaften durch ei-


tern in einem Stich Raimondis nach- nen Exkurs zu Leonardo Da Vinci.
empfunden fand.76 Am Ende des Textes nimmt er noch
Zu Beginn seines Textes nennt War- einmal Bezug auf diese Paarung von
burg den Grund für seine Auseinan- Kunst- und Naturwissenschaften und
dersetzung mit Manet und dem Déjeu- vergleicht den Stich Das Urteil des Paris
ner sur l’herbe und stellt das Ziel seiner von Marcantanio, welches für ihn den
300 Arbeit heraus, einen Nachweis des Zwischenschritt der Entwicklung von
Nachlebens der antiken Gebärden Raimondi zu Manet bildet, mit einem
über ihre Zeit hinaus und bis hin zu Zwischenkieferknochen, einem ana-
Manet zu erbringen.77 Im zweiten tomischen, evolutionstheoretisch be-
Textabschnitt78 zeigt Warburg kurz deutungsgeladenen Begriff.82
den Forschungsstand bezüglich Ma- Bereits im ersten Satz betont Warburg
nets Vorbild Raimondi auf und nennt die Schwierigkeiten, denen er sich mit
die, seinem Urteil des Paris zugrunde seiner Wahl des Déjeuner sur l’herbe als
liegenden, antiken Sarkophagen, um einem typischen ‚l’art pour l’art‘-Ge-
dann im dritten Abschnitt79 die Dar- mälde als Untersuchungsobjekt stellt,
stellung der Lagernden auf den be- hinsichtlich des geplanten Nachwei-
nannten Sarkophagen, auf Raimon- ses von sachlichen und formalen Zu-
dis Stichen, auf Stichen Bonasones sammenhängen zum Nachleben der
und schließlich auf Manets Déjeuner Antike. Um diesen Nachweis zu er-
sur l’herbe zu untersuchen. Daran bringen und Zusammenhänge aufzu-
anschließend geht Warburg kurz auf zeigen, versucht Warburg zuerst die
die Entwicklung der antiken Gesten Übernahme antiker Gesten von den
der Lagernden und deren Bedeutung antiken Plastiken, über Raimondis
ein.80 Danach stellt er einen kurzen Renaissance-Stich bis hin zu Manets
Exkurs über die Notwendigkeit einer modernem Gemälde zu verfolgen.
kunstgeschichtlichen Kulturwissen- Wichtig sind ihm dabei aber nicht
schaft an, für die das Hinzuziehen so- nur die Analogien, sondern auch die
wohl schriftlicher als auch bildlicher Differenzen, denn Tradition meint
Quellen bei der Untersuchung von in diesem Fall nicht nur das Fort-
Kunstwerken notwendig ist.81 schreiben, sondern den „[…] Zwang
Anschließend zieht Warburg auf Sei- der Auseinandersetzung mit den Vor-
te 271 eine Parallele zwischen Kunst- prägungen.“83

69
Warburg, Aby Moritz: Reiseerinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer. Materialien zur
Psychologie primitiver Religiosität als Quelle logischer Verknüpfung, Vortrag vom 21. April 1923
in Kreuzlingen, zit. nach: Gombrich, Ernst (2012 [1981]): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biogra-
fie, Hamburg: Philo Fine Arts Verlag, S. 222.
70
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 6.
71
Vgl.: Van Huisstede, Peter: Der Mnemosyne-Atlas. Ein Laboratorium der Bildgeschichte, S.135,
in: Galitz, Robert; Reimers, Brita (Hg.) (1995): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe… trauernder
Flussgott“. Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, S. 130-171.
72
Vgl.: Ebd., 1995, S. 149.
Lisa BRAUN

301

Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 55, 1928, London,


Warburg Institute, © The Warburg Institute

73
Vgl.: Hoffmann, Werner: Der Mnemosyne-Atlas. Zu Warburgs Konstellationen, S. 179, in: Galitz,
Robert; Reimers, Brita (Hrsg.): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe… trauernder Flussgott“.
Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, S. 172-183.
74
Vgl.: Hoffmann, Werner: Der Mnemosyne-Atlas. Zu Warburgs Konstellationen, S. 179, in: Galitz,
Robert; Reimers, Brita (Hrsg.): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe… trauernder Flussgott“.
Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, S. 172-183.
75
Saxl, Fritz (1980): Warburgs Mnemosyne-Atlas, S.315, in: Wuttke, Dieter: Aby M. Warburg.
Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden: Verlag Valentin Körner, S. 313-316.
76
Vgl.: Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg: 2012, S. 363.
Aby Warburg

Deshalb geht es Warburg in seinem Die Relevanz als ein Fragment


Manet-Text auch nicht nur darum, die gebliebener Schlüsseltext
übernommenen Ausdrucksgebärden
aufzuzeigen, sondern „die Abwei- Zuletzt haben Felix Thürlemann und
chung der Wiedergabe besonders ins Georges Didi-Huberman eindrückli-
Blickfeld zu nehmen“84. Ziel ist es also che Analysen vorgelegt, wie Aby War-
zu zeigen, wie „diese überlieferten burgs Bildverständnis nachzuvollzie-
302 Prägewerte des Ausdrucks“85 „von hen ist.87 Die provisorischen, groß-
einem befreienden Genie [,in diesem formatigen Bildtafeln mit ihren an-
Fall Manet,] umgekehrt und einer neu- gehefteten Reproduktionen, die der
en Verwendung zugeführt werden.“86 Privatier arrangierte und die er hatte
Warburg verdeutlicht in seinem Ma- fotografieren lassen, zeugen bis heu-
net-Text, wie sich der Wandel der te von einer beispiellos innovati-
Darstellung der antiken Gesten von ven, „diagrammatischen“88 Bildher-
den Sarkophagen über Raimondis meneutik. Diese Tafeln provozieren
Urteil des Paris über einen Zwischen- die Kunstwissenschaft, indem sie ein
schritt zu Manet vollzogen hat. Den Denken in „semantische[n] Netz[en]“
Künstler, den er in diesem Zwischen- und „topologische[n] Ordnung[en]“
schritt ausmacht, teilt er jedoch nicht aufrufen. Die „bedeutungsgenerie-
mit, sondern fordert den Betrachter rende Kraft“89 dieser Bildzusammen-
indirekt auf, diesen, wie in der Denk- stellungen bleibt dabei grundsätzlich
bewegung auf seinen Bildertafeln unkontrollierbar und damit zukunfts-
durch eine Zusammenschau der Bild- offen.
werke, selbst zu ermitteln.

77
Vgl.: Warburg, Aby Moritz: Manets ‚Déjeuner sur l’herbe‘, Die vorprägende Funktion heidnischer
Elementargottheiten in der Entwicklung modernen Naturgefühls, S. 262- 263, zit. nach: Wuttke,
Dieter (1989): Kosmopolis der Wissenschaft: E.R. Curtis und das Warburg Institute;
Briefe 1928-1953 und andere Dokumente, Baden-Baden: Verlag Valentin Körner, S. 257-272.
78
Vgl.: Ebd., S. 263.
79
Vgl.: Ebd., S. 263 ff.
80
Vgl.: Ebd., S. 269 f.
81
Vgl.: Ebd., S. 270.
Lisa BRAUN

82
Vgl.: Aby Moritz Warburg: Manets ‚Déjeuner sur l’herbe‘, Die vorprägende Funktion heidnischer
303
Elementargottheiten in der Entwicklung modernen Naturgefühls, S. 271, zit. nach: Dieter Wuttke:
Kosmopolis der Wissenschaft: E.R. Curtis und das Warburg Institute; Briefe 1928-1953 und andere
Dokumente, Baden-Baden 1989, S. 257-272.
83
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 42.
84
Ebd., S. 41.
85
Ebd., S. 40.
86
Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg 2012, S. 364
87
Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. Wilhelm Fink
Verlag, München 2013. S. 97-116. Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder.
Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Surkamp, Frankfurt am Main 2010.
88
Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. Wilhelm Fink
Verlag, München 2013. S. 100 ff.
89
Ebd., 109.
Aby Warburg

Quellenverzeichnis

Bauerle, Dorothee (1988): Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein


304 Kommentar zu Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster: Lit Verlag.

Carlyle, Thomas (1903 [1888]): Sartor Resartus, London: Chapman & Hall
Verlag.

Gombrich, Ernst (2012 [1981]): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie,


Hamburg: Philo Fine Arts Verlag.

Durkheim, Emile (1960 [1912]): Les formes élémentaires de la vie religi-


euses. Le système totémique en Australie, Paris: Les Presses universitaires
de France.

Hering, Ewald (1921): Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der
organisierten Materie, Leipzig: Wilhelm Engelmann Verlag.

Hönes, Christian; Pfisterer, Ulrich (2015): Aby Warburg: Fragmente, Berlin:


De Gruyter Verlag.

Hoffmann, Werner (1995): Der Mnemosyne-Atlas. Zu Warburgs Konstellati-


onen, in: Galitz, Robert; Reimers, Brita (Hg.): Aby Warburg. „Ekstatische
Nymphe… trauernder Flussgott“. Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling
und Galitz Verlag, S. 172-183.

Hemp, Wolfgang (1978): Fernbilder. Benjamin und die Kunstwissenschaft, in:


Lindner, Burkhardt (Hg.): Links hatte noch alles sich zu enträtseln… Walter
Benjamin im Kontext, Frankfurt: Syndikat Verlag.
Lisa BRAUN

Maus, Heinz (1985): Das kollektive Gedächtnis. Geleitwort zu Maurice Halb-


wachs, Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag.

Naber, Claudia (1995): ‚Heuernte bei Gewitter‘. Aby Warburg 1924-1929, in:
Galitz, Robert; Reimers, Brita (Hg.): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe…
trauernder Flussgott“. Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz
Verlag, S. 104-129.
305
Rösch, Perdita (2010): Aby Warburg, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

Saxl, Fritz: Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst, in: Kafka, Gustav
(Hg.)(1932): Bericht über den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für
Psychologie, Jena: Gustav Fischer Verlag.

Saxl, Fritz (1980): Warburgs Mnemosyne-Atlas, in: Wuttke, Dieter: Aby M.


Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden: Verlag
Valentin Körner, S. 313-316.

Van Huisstede, Peter (1995): Der Mnemosyne-Atlas. Ein Laboratorium der


Bildgeschichte, in: Galitz, Robert; Reimers, Brita (Hg.): Aby Warburg.
„Ekstatische Nymphe… trauernder Flussgott“. Portrait eines Gelehrten, Hamburg:
Dölling und Galitz Verlag, S. 130-171.

Vischer, Friedrich Theodor (1887): Das Symbol, in: Philiosophische Aufsätze –


Eduard Zeller zu seinem fünfzig jährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig:
Fues Verlag.

Warnke, Martin; Brink, Claudia (2000): Aby Warburg: Der Bilderatlas


Mnemosyne, Berlin: De Gruyter Verlag.

Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die
Ästhetik, in: Dessoir, Max (Hg.) (1931): Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
Kunstwissenschaft, Bd. 25, Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 163-179.
Aby Warburg

Wuttke, Dieter (1989): Kosmopolis der Wissenschaft: E.R. Curtis und das War-
burg Institute; Briefe 1928-1953 und andere Dokumente, Baden-Baden: Verlag
Valentin Körner.

306 Bildnachweis

Tafel 55, S. 10: Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 55, 1928,
London, Warburg Institute, © The Warburg Institute
https://www2.hu-berlin.de/census/ausstellung/dejeuner/bilder/5Wand/
Warburg_Tafel_55_bearb-gross.jpg (entnommen am 21.01.18, © The
Warburg Institute).
Lisa BRAUN

307
Schlüsseltexte
sind aber immer nur dann passgenaue Werkzeuge
und tatsächlich »Schlüssel«, wenn man vor der
»richtigen« Pforte, dem vorgesehenen Schloss,
der entsprechenden Sichtweise auf die Kunstwis-
senschaft steht. Bevor man den Schlüsseltext
nutzt muss man sich bewusst werden, mit welchem
Interesse man es tut. Welches fachliche und metho-
dische Türchen soll sich öffnen soll und wel-
cher diskursive Echoraum sich auftun? Immer
kommt es auf die jeweiligen Fragestellungen und
das erkenntnisleitende Interesse an.

Jürgen Stöhr

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