texte der
Kunst
wisseN
schaft
Herausgegeben von Marc-Julien Heinsch, Julia Kohushölter und Jürgen Stöhr.
2
Impressum
Eine Publikation mit Texten von Masterstudierenden des Stu-
diengangs Literatur-Kunst-Medien der Universität Konstanz 3
im Rahmen des Hauptseminars „Schlüsseltexte der Kunst-
wissenschaft“, Konstanz 2018.
Der folgende Text behandelt Aby Warburgs Arbeiten sowie seine ver-
8 schiedenen Zugänge zur Kunst und revolutionären Methoden der Kunst-
wissenschaft. Um Warburgs Persönlichkeit und seine wissenschaftliche
Arbeit besser verstehen zu können, ist es wichtig seine Biographie zu
betrachten, da diese einen großen Einfluss auf seine Arbeitsweise hatte.
Charakteristisch für Warburg ist seine moderne Denkweise, die sich vom
Ästhetikbegriff der Antike abwendet. Aufgrund seiner psychischen Er-
krankung musste er einige Jahre seines Lebens in einer Nervenheilanstalt
verbringen, in welcher er einen Aufsatz über seine Erfahrungen bei den
Hopi-Indianern ausarbeitete und präsentierte.
Im folgenden Teil der Arbeit, wird genau dieser Aufsatz thematisiert, in-
dem Warburg sich mit der kulturellen Bedeutung des Schlangensymbols
in den Traditionen der Hopi-Indianer auseinandersetzt. In diesem Volks-
stamm werden die Tiere in einen rituellen Wetterzauber einbezogen, der in
einem Regentanz mit giftigen Schlangen gipfelt. Über sich hinaus, nimmt
die Schlange im Laufe der Zeit die Symbolbedeutung eines Blitzes an, der
als Warnhinweis für Gefahr steht. Aby Warburg berücksichtigt bei sei-
nen Studien und Untersuchungen viele wissenschaftliche Teilbereiche und
gilt unter anderem als Vater der Bildwissenschaften. Mit seiner als inter-
disziplinär charakterisierten Methode untersucht er nicht nur allgemein
als ästhetisch geltende Bilder, sondern erweitert den Gegenstandsbereich
auf „Kunst“, die nicht direkt als solche erkannt wird. Auf diese Weise un-
ter-sucht Warburg auch das Schlangensymbol und bezieht dabei sowohl
Bild als auch Wortquellen in seine Forschung ein.
Sein Aufsatz Das Schlangenritual nimmt in der Kunstwissenschaft eine
bedeutende Rolle ein und dient seit der Präsentation 1923 und der Veröf-
fentlichung 1988, als wichtiger Schlüsseltext der noch heute gelesen und
rezensiert wird.
9
Aby Warburg
1
McEwan, Dorothea: Zur Entstehung des Vortrags über das Schlangenritual: Motiv und Motivation/
Heilung durch Erinnerung. Einleitung und Quellenlage. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas;
Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2007): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von
Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag, S. 268.
2
Dieser Wetterzauber wird weiter unten genauer beschrieben.
3
Schüttpelz, Erhard: Das Schlangenritual der Hopi und Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. In:
Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2007): Schlangenritual. Der Transfer der
Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin:
Akademie Verlag. S. 187.
Lisa Kirch
Das Hauptinteresse des „Kunsthis- Die Schlangen werden nach dem ritu-
torikers“ beruht darauf, herauszu- ellen Tanz freigelassen, um als Götter-
fi nden, wie sich eine „Enklave pri- boten zu dienen.8
mitiven heidnischen Menschentums
[…] erhalten konnte“, in einem tech- […] der gläubige Indianer
nisch fortgeschrittenen Land und ei- [erzwingt] das segensreiche Gewitter
ner sich dauerhaft entwickelnden Zi- durch seine magischen Praktiken, deren
vilisation.6 Im Detail beschäftigt sich für uns erstaunlichste das Hantieren 11
der Aufsatz unter anderem mit Or- mit lebendigen Schlangen ist, weil […]
namentmotiven, die auf verschiede- die Schlange in ihrer blitzförmigen
nen Töpfereien zu finden sind. Gestalt mit dem Blitz magisch-kausal
Am häufigsten verwenden die Hopi- verknüpft wird.9
Indianer eine Mischung aus realis-
tischen und symbolischen Abbildun- Neben dem Wetterzauber dient der
gen verschiedener Totemtiere. Diese Maskentanz als traditionelles Ritual
werden zu einer Art „Hieroglyphe, von Jägern und Bauern zur Nah-
die nicht mehr geschaut, sondern rungsbeschaffung, eine Verbindung
gelesen sein soll.“7 von indianischer Magie und ratio-
naler Technik.10
Wie oben schon erwähnt, nimmt die
Schlange eine Sonderstellung unter Das Schlangensymbol entwickelte
diesen Tierfiguren ein, da sie als Blitz- sich in der indianischen Tradition
symbol bei dem kulturell aufgeladenen über seine eigentliche Bedeutung hi-
Wetterzauber dient. Um den Regen naus zu einem Blitzsymbol als bildli-
zu beschwören, sammeln die Pueblo- cher Warnhinweis für Gefahr.
Indianer Giftschlangen und feiern
ein Regenfest, das in einem Masken- In einer anderen Kiwa wird auf einem
tanz mit lebendigen Schlangen gip- Sandgemälde eine Wolkenmasse dar-
felt. Während des Tanzes nimmt je ein gestellt, aus der vier verschiedenfar-
Tänzer eine Schlange in den Mund, bige Blitze, den Himmelsrichtungen
während sein Tanzpartner den Kopf entsprechend, in Schlangenform he-
der Schlange mit einer Feder ablenkt, rauskommen.11
um Bisse zu verhindern.
4
http://www.tagesspiegel.de/wissen/bildwissenschaft-statt-kunstgeschichte-gespenstergeschichte-
fuer-ewacsene/3796706.html.
5
Dorothea, McEwan: Zur Entstehung des Vortrags über das Schlangenritual: Motiv und Motivation/
Heilung durch Erinne-rung. Einleitung und Quellenlage McEwan; In: Bender, Cora; Hensel,
Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von
Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin 2007, S. 271.
6
Warburg, Aby (1988): Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kulturwissenschaftliche
Bibliothek. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, S. 10..
7
Ebd., S. 15.
Aby Warburg
8
Vgl.: Warburg, Aby; Saxl, Fritz (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.) (2007):
Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs
Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag, S. 59.
9
Aby, Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek.
Berlin 1988, S. 18.
10
Vgl.: Ebd., S. 24 f.
11
Vgl.: Ebd., S. 42.
12
Ebd., S. 56. (Abb. Buchcover)
13
Ebd., S. 10.
Lisa Kirch
14
Ebd., S. 10.
15
Bing, Gertrud; Biermann-Ratjen, Hans Harder (1958): Aby M. Warburg. Vortrag von Frau
Professor Dr. Gertrud Bing anlässlich der feierlichen Aufstellung von Aby Warburgs Büste in der
Hamburger Kunsthalle am 31. Oktober 1958 mit einer vorausgehenden Ansprache von Senator
Dr. Hans H. Biermann-Ratjen. Hamburg: Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, S. 32.
16
Vgl.: Rösch, Perdita(2010): Aby Warburg. München: Wilhelm Fink Verlag , S. 21.
17
Gombrich, Ernst H. (2005): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Philo
Fine Arts Verlag Philo, S. 118.
Aby Warburg
Man kann in der Tat sagen, dass Aby Fritz Saxl, der ab 1914 den Buch-
Warburgs wisenschaftliches Vorge- bestand verwaltete, bemerkte viele
hen sowie seine Arbeitsmethoden Jahre später:
unstetig, aber gleichzeitig bemer-
kenswert waren, ähnlich wie sein Das war der richtige Boden für
Lebenslauf. eine private Gründung. [...] Zu Beginn
Seine wechselhafte Verfassung äu- dieses Jahrhunderts war Hamburgs Schul-
14 ßerte sich seit einer Typhuserkran- wesen fortschrittlich, die Erwachsenen-
kung im Alter von sechs Jahren und bildung hochentwickelt, die öffentlichen
trat im Jahre 1839 erneut zutage, als Sammlungen blühten – alles in merkli-
Warburg seinem Bruder sein Erstge- chem Gegensatz zum übrigen Deutsch-
borenenrecht abtrat und von diesem land. Hamburg schaute nach vorn, blieb
im Gegenzug die Finanzierung sei- aber isoliert, sowohl in seiner fortschritt-
ner geplanten Privatbibliothek zuge- lichen wie in seiner ganz stark traditions-
sichert bekam. Sein Bücherbestand gebundenen Haltung. Auch Warburgs
vervielfachte sich im Laufe seiner Gründung blieb isoliert, und das junge
Studien in verschiedenen Wissen- Unternehmen konnte sich ungestört vom
schaftsbereichen sehr schnell. War- Lärm eines alteingesessenen Universi-
burg beschäftigte sich mit den Leh- tätsbetriebes entwickeln.19
ren der Kunstgeschichte (Carl Justi),
der Kultur- und Religionsgeschichte 1920 umfasste Warburgs Sammlung
(Karl Lamprecht, Hermann Usener) einen Buchbestand von 20.000 Ex-
sowie mit der Archäologie (Reinhard emplaren.
Kekulé von Sradowitz). In den Jahren Aufgrund der politisch und wirt-
zwischen 1893 und 1897 bereiste er schaftlich beunruhigenden und in-
verschiedene Länder wie Amerika, stabilen Lage der Nachkriegszeit ver-
England oder Frankreich und häufte schlechterte sich der Gemütszustand
bis zu seiner Hochzeit im Jahr 1897 Warburgs in den folgenden Jahren.
insgesamt 9000 Büchern an. Nach In dieser Zeit diente die Bibliothek
der Geburt seiner drei Kinder ließ hauptsächlich als „Dokumentations-
er sich einige Jahre später in einer stelle des Kriegsgeschehens“20.
Villa nieder, die die Frühform von Endgültig erlag Aby Warburg seinem
Warburgs Bibliothek beherbergen Wahn nach dem ersten Weltkrieg.
sollte18.
18
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 15.
19
Saxl, Fritz (1981[1970]): Die Geschichte der Bibliothek Aby M. Warburgs (1886 –1944); In:
Gombrich, Ernst H.(1981): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main, S. 336.
20
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 18.
Lisa Kirch
Aus Angst vor Judenfeindlichkeit und der habituellen und sozialen Struk-
daraus resultierenden Anschlägen tur des Bildumfeldes. 1924 folgte
auf seine Familie erlitt er eine Psy- dann die Entlassung Warburgs und
chose und wurde infolgedessen für die Errichtung eines Forschungsge-
sechs Jahre nach Kreuzlingen in bäudes24. Ab diesem Zeitpunkt war
eine Nervenheilanstalt eingewiesen, die Privatsammlung Warburgs für je-
in dem Ludwig Binswanger der lei- den zugänglich. Aby Warburg selbst
tende Psychiater21 war22 . stellte fest, dass die Bibliothek eine 15
„[...] Stätte geistiger Gemeinschaft
In diesen Jahren entstand der Vor- für diejenigen [sei], die eine festere
trag mit dem Titel Das Schlangenritual, Methode der Kulturwissenschaft er-
der als Beweis seiner geistigen Gene- sehnen, sei es in eigener Forscher-
sung dienen sollte. arbeit, sei es bei rein aufnehmendem
In seinem Text behandelte Warburg Studium kulturwissenschaftlicher
die Rituale und Schriftzeichen der Werke“25.
Hopi-Indianer in Amerika. Seine letzten Lebensjahre verbrachte
Warburg verarbeitete in dieser Studie Warburg mit harter Arbeit an seinem
eine Feldforschung aus den Jahren Lebenswerk, dem Mnemosyne Atlas,
1895 und 1896, wobei er ein beson- den er unvollendet 1929 hinterließ,
deres Interesse an dem Schlangen- als er einem Herzinfarkt erlag26.
symbol hegte, das die Hopi-Indianer Er hinterließ zudem unzählige Auf-
als Blitz deuten und das eine wichtige sätze, die aus Vorträgen hervorgin-
Rolle in ihrer Kultur spielte. gen und drei Bücher:
Aby Warburg bedient sich bei seiner
Forschung verschiedener wissen- Sandro Botticellis „Geburt
schaftlicher Disziplinen und gilt als der Venus“ und „Frühling“. Eine Unter-
Vater der Bildwissenschaften, unter suchung über die Vorstellungen von der
anderem durch seine Ausweitung des Antike in der italienischen Frührenais-
Gegenstandsbereichs auf Bilder, die sance, Hamburg 1893.
nicht als Kunst angesehen wurden,
sowie den Einbezug von „Bild- und Bildniskunst und Florentini-
Wortquellen aller qualitativen Grade sches Bürgertum, Leipzig 1902.
und medialen Formen“23, kulturel-
len und rituellen Bedingungen und
21
Lebenslanger Freund Sigmund Freuds.
22
Vgl.: Hoffmann, Werner; Syamken, Georg; Warnke, Martin: Die Menschenrechte des Auges (2010):
Über Aby Warburg. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, S. 13. Und Vgl. Perdita, Rösch:
Aby Warburg Wilhelm Fink Verlag, Mün-chen 2010, S. 18-20.
23
Böhme, Hartmut: Aby M. Warburg (1866- 1929), In: Michaels, Axel (Hrsg.) (1997): Klassik der
Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade,München: C.H. Beck Verlag,
S. 140.
24
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 20.
Aby Warburg
25
Warburg, Aby (1924): Zum Vortrage von Karl Reinhardt über ‚Ovids Metamorphosen’ in der
Bibliothek Warburg am 24. Oktober 1924. In (Hrsg.): Galitz, Robert; Reimers, Brita (1995): Der
Hamburgischen Kulturstiftung. Bd. 2, Dölling und Galitz Verlag, S. 106.
26
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 11-21.
27
Ebd., S. 38.
28
Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 24.
29
Vgl.: Aby, Warburg; Fritz, Saxl (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual.
Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger
Vortrag. Berlin, S. 187./ Vgl. Perdita, Rösch: Aby Warburg. Mün-chen 2010, S. 25-27.
Lisa Kirch
der Gruppe des Laokoon zum mächtigs- steht eine[r] Schlangen-Gottheit […] ge-
ten tragischen Symbol geführt.“31 genüber, in der wir endlich die klassische
verklärte menschenfreundliche Schön-
In der Religion sieht Warburg sowohl heit begrüßen dürfen. Der Asklepios,
die Entwicklung des Menschen, als der Heilgott der Antike, hat die Schlan-
auch der Schlange zum Symbol, denn ge, die sich um seinen Heilstab windet,
als Symbol. Seine Züge sind die Züge,
[w]enn Religion Verknüpfung die in der klassisch-plastischen Kunst der 17
heißt, so ist das Symptom der Entwick- Weltenheiland trägt.33
lung aus diesem Urzustand heraus, dass
die Verknüpfung zwischen Mensch und In der mittelalterlichen Theo-
fremder Wesenheit auf Vergeistigung logie [dagegen] sehen wir das Wunder der
dadurch hindrängt, dass der Mensch sich ehernen Schlange gewissermaßen als legi-
mit dem Maskensymbol nicht mehr zusam- time Kultverehrung merkwürdigerweise
menzieht, sondern die Verursachung rein erhalten. Kaum etwas kann die Unzerstör-
gedanklich vollzieht, d.h. zu einer sys- barkeit des Tierkultes so zeigen, wie diese
tematischen sprachlichen Mythologie fort- Verwendung, in der das Wunder der eher-
schreitet. Der Wille zur Hingabe ist eine nen Schlange hinübergleitet in die christ-
veredelte Form der Maskierung. lich-mittelalterliche Weltanschauung.
Mit dem, was wir Fortschritt in der Kul- Denn die mittelalterliche Theologie hat
tur nennen, verliert das Wesen, das die diesen Schlangenkult als Objekt der
Hingabe erheischt, immer mehr seine Überwindung so stark in Erinnerung
ungeheuerliche Erfassbarkeit und wird behalten, daß sie aufgrund dieser doch
schließlich zum geistigen, unsichtbaren ganz vereinzelten und dem Sinne und
Symbol.32 der Theologie des Alten Testaments
widersprechende Stelle das Bild der
Warburg beschäftigte sich auch mit Schlangenverehrung im typologischen
anderen Zeitperioden und deren Be- Bilderkreis bis an die Kreuzigung selbst
deutungsübertragung auf das Reptil. heranbringt.34
In der Antike stehen sich zwei Sinn-
bilder der Schlange gegenüber: Auch die mythologischen Zusam-
menhänge thematisierte Warburg, in-
[Die] Schlange als Dämon in dem er kritisierte, dass es dem „Unbe-
der pessimistischen Weltanschauung […] fangenen“ naheliegt, „die elementare
30
Aby, Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek.
Berlin 1988, S. 51.
31
Ebd., S. 44 f.
32
Ebd., S. 54.
33
Ebd., S. 46.
34
Ebd., S. 51 f.
35
Ebd., S. 44.
Aby Warburg
Entladungsform dieser religiösen selbst als eine Art Ritual diente. Sein
Magie der Indianer als Ureigentüm- erster Vortrag fand in der Nervenkli-
lichkeit primitiver Wildheit, von der nik in Kreuzlingen statt und nicht vor
Europa nichts weiß, anzusehen“, ob- einem ausgewählten Publikum. Wie
wohl: auch bei den indianischen Völkern
diente die Vorstellung seines Textes
vor 2000 Jahren gerade in dem als Beweis der psychischen Reife und
18 Ursprungsland unserer europäischen Bil- in Warburgs Fall sogar seiner geisti-
dung, in Griechenland, Kultgewohnheiten gen Genesung.36
im Schwange [waren], die an verzerrter
Kraßheit das, was wir bei den Indianern
sehen, noch übertreffen.
Relevanz als Schlüsseltext
Im orgiastischen Kult des Dionysos z.B. und heutiger Stellenwert
tanzten die Mänaden mit Schlangen in den
Händen und um ihren Kopf wand sich die Aby Warburgs Vortrag nimmt in der
lebende Schlange als Diadem, während sie Geschichte der Kunstwissenschaft ei-
in der anderen Hand das Tier hielt, das im nen wichtigen Stellenwert ein.
asketischen Opfertanz zu Ehren des Got- Er ebnet mit seinem Text den Weg
tes zerrissen wurde.35 zu einer Kunstwissenschaft, die in-
terdisziplinär fungiert und sich nicht
Abschließend kann man festhalten, mehr ausschließlich auf den ästhe-
dass Aby Warburg als Untersuchungs- tischen Wert eines Kunswerks be-
objekt seiner Studie die Schlange und schränkt. Warburg sorgt dafür, dass
ihre Symbolbildung bei Stammesri- keine Kunstwerke mehr in ein Ana-
tualen der Pueblo-Indianer festlegte. lysemodell hineingezwungen wer-
Die von ihm dokumentierten über- den, das einer bestimmten Kultur
lebenden Traditionen bildeten die entspricht und keinen zeitgeschicht-
Grundlage ihrer Kultur, die nach lichen oder sozial- psychologischen
Warburg durch die rationale Zivili- Hintergrund berücksichtigt. Er un-
sierung und Technik ausgelöscht zu tersucht die Symbole der Hopi-In-
werden drohte. dianer auf kultureller und entsteh-
Man kann aus dem Aufsatz schließen, ungsgeschichtliche Ebene, die genau-
dass auch für Warburg sein Vortrag so relevant für die aus der Schlange
35
Ebd., S. 44.
36
Vgl.: Aby, Warburg; Fritz, Saxl (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual.
Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger
Vortrag. Berlin 2007, S. 250.
Lisa Kirch
37
Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 32.
Aby Warburg
38
Siehe unter 2.: Untersuchung zur Geburt der Venus.
39
Vgl.: Perdita, Rösch: Aby Warburg. München 2010, S. 32- 38.
40
Vgl.: Ebd., S. 38.
Lisa Kirch
21
41
Aby, Warburg; Fritz, Saxl (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den
Pueblo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Schlangenritual.
Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger
Vortrag. Berlin 2007, S. 250.
Aby Warburg
Quellenverzeichnis
Böhme, Hartmut: Aby M. Warburg (1866- 1929), In: Michaels, Axel (Hg.)
(1997): Klassik der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis
Mircea Eliade. München: C.H. Beck Verlag.
Hensel, Thomas (2011): Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde.
Aby Warburgs Graphien. Berlin: Akademie Verlag GmbH.
http://www.tagesspiegel.de/wissen/bildwissenschaft-statt-kunstgeschich-
te-gespenstergeschichte-fuer-erwachsene/3796706.html.
(Stand: 06.11.2017, 13:16 Uhr)
http://www.tagesspiegel.de/wissen/bildwissenschaft-statt-kunstgeschich-
te-gespenstergeschichte-fuer-erwachsene/3796706.html.
(Stand: 06.11.2017, 11:08 Uhr)
Lisa Kirch
Schüttpelz, Erhard: Das Schlangenritual der Hopi und Aby Warburgs Kreuzlin-
ger Vortrag. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas; Schüttpelz, Erhard (Hg.) 23
(2007): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi
bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag. Berlin: Akademie Verlag.
Saxl, Fritz (1981 [1970]): Die Geschichte der Bibliothek Aby M. Warburgs (1886
- 1944). In: Gombrich, Ernst H. (1981): Aby Warburg. Eine intellektuelle
Biographie. Frankfurt am Main: Philo Fine Arts Verlag.
Warburg, Aby/ Saxl, Fritz (1926): Die Indianer beschwören den Regen. Großes
Fest bei den Pue-blo- Indianern. In: Bender, Cora; Hensel, Thomas;
Schüttpelz, Erhard (Hg.) (2007): Schlangenritual. Der Transfer der
Wissensformen von Tsu´ti´kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag.
Berlin: Akademie Verlag.
1
Vgl.: Heidegger, Martin (2012 [1935]): Der Ursprung des Kunstwerkes. Frankfurt a. M.: Vittorio
Klostermann, S. 66.
2
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Frankfurt a. M.: Vittorio a. M. 2012 [1935].
25
Martin Heidegger
3
Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Frankfurt a. M.: Vittorio a. M. 2012 [1935].
4
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Nachwort, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 67.
5
Ebd., S. 3.
Julia Kohushölter,
Im Werk der Kunst fi nde sich diese Die für diesen Text fundamental
Wahrheit des Zeugseins, seine We- wichtige Differenzsetzung von Erde
senhaftigkeit als Seiendes. Über den und Welt führt zu der Aussage Hei-
Weg der Bestimmung des Zeughaften deggers, dass das Werk die Erde sie
des Zeuges gelangt Heidegger nun- selbst sein lässt. Eine These, die es
mehr zurück zum Dinghaften des im weiteren Verlauf ausführlicher
Dinges und hält vorerst eine weitere nachzuzeichnen gilt. Im Charakter
methodische Überlegung fest: Die des Werkes als Werksein gehöre das 27
Forderung, vornehmlich das Sein des Aufstellen einer Welt sowie das Her-
Seienden zu denken, sowie Selbst- stellen der Erde wiederum zusam-
verständlichkeiten und Scheinbe- men, jedoch bezeichnet Heidegger
griffe zu meiden.6 diese konstitutive Konstellation als
Durch Heideggers Untersuchung des einen Streit: Ein Gegeneinander mit-
zeughaften wird deutlich, dass das hin, durch welches sich Erde und Welt
Werk selbst das Sein des Seienden wechselseitig hervorbringen.8
eröffnet und die Erörterung seiner In eben dieser Bestreitung des Streits
Wahrheit ermöglicht. besteht das Werksein des Werkes.9
So stellt sich für Heidegger im zwei- Erst durch diese Erkenntnis sei es
ten Unterkapitel: „Das Werk und die möglich, wieder versucht er zur Fra-
Wahrheit“ die Frage nach der Wahr- ge nach der Wahrheit zurückzu-
heit, die sich als Kunst ereignet. kehren. Das Wesen der Wahrheit ist
Das Charakteristikum des Werkes, nunmehr seine Unverborgenheit, wie
sein Werksein, erläutert Heidegger an Heidegger anführt. Erneut versucht
einem weiteren Beispiel, einem grie- er, das Sein der Wahrheit als Seien-
chischen Tempel. Ein Werk wie der des zu ergründen, über sein Cha-
Tempel lasse einen Gott anwesen: rakteristikum als Unverborgenes.
Er (der Tempel) selbst, auf der Erde Infolgedessen unternimmt Heideg-
stehend, stelle eine Welt auf, die im ger eine weitreichende, komplexe
Gegensatz zur Erde immer unge- Herleitung der Seinsbestimmung
genständlich sei. Indem das Werk die als Herein- und Herausstehen in/
Welt aufstelle, eröffne es gleichzeitig aus einer Lichtung, die sich als offe-
einen Raum, eine Geräumigkeit, in ne Stelle im Ganzen des Seienden
der sich z.B. Zeughaftes zueinander zeigt. In dieser Differenzlogik ist
verhalten könne.7 auch die Verborgenheit (und mit ihr
6
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 25.
7
Vgl.: Ebd., S. 30.
8
Vgl.: Ebd., S. 35.
9
Vgl.: Ebd., S. 36.
10
Vgl.: Ebd., S. 40.
Martin Heidegger
das Wesen der Wahrheit) abhängig Erde und Welt. Diese Konstellation
von der (Be-) Lichtung. Indem er der nennt Heidegger Gestalt und über sie
Verbergung zwei ausdifferenzierte gelangt er nun auch zu der Seinsbe-
Seinsarten zuweist (Versagen oder stimmung des Geschaffenseins als
Verstellen), gelangt Heidegger zu der „Festgestelltsein der Wahrheit in die
Auffassung, das Wesen der Wahrheit Gestalt.“12 Kunst bestimmt er im Um-
sei doppelte Verbergung. Doch diese kehrschluss als „ein Werden und Ge-
28 Feststellung genügt Heidegger noch schehen der Wahrheit.“13 Kunst in
nicht und er stellt die abschließende seiner Wesenshaftigkeit ist wieder-
Frage: „Was ist Wahrheit, daß sie als um Dichtung, in welcher Wahrheit -
Kunst geschehen kann oder sogar geschieht. Als Dichtung bezeichnet
geschehen muß? Inwiefern gibt es Heidegger jedoch nicht schlicht Po-
Kunst?“11 esie, sondern er defi niert Dichtung
Im abschließenden Kapitel „Die als „das entwerfende Sagen“ oder
Wahrheit und die Kunst“ wendet auch als „Sagen der Unverborgenheit
sich Heidegger erneut dem Werk- des Seienden“14 und somit als „Stif-
haften des Werkes zu und bestimmt tung der Wahrheit.“15
es sogleich über sein Geschaffensein Folglich kommt er zusammenfas-
durch einen Künstler. Dieses Schaf- send zu dem Ergebnis, dass Kunst
fen des Künstlers denkt er wieder- als Dichtung Stiftung im mehrfachen
um als ein Schaffen. Eben dieses Sinne ist. Anstiftung des Streits der
Herbringen als Schaffen sei das Ein- Wahrheit aber auch Stiftung als An-
richten der Wahrheit ins Werk. fang von etwas.16
Nun stellt sich die Frage nach der In dieser ‚Funktion’ als Anfang ist
wesentlichen Bestimmung des Ge- die Kunst geschichtlich; sie ist Ge-
schaffenseins, wie sie Heidegger un- schichte nach Heidegger insofern, als
unterbrochen an die Termini seiner dass sie Geschichte gründet.
Untersuchung heranträgt: Durch ei-
nen Rückblick auf die Definition der
Wahrheit vollzieht er erneut einen
methodischen Zirkelgang.
Der angeführte Riß als Lichtung, der
sich im Ganzen des Seienden befi n-
det, ermöglicht den Streit zwischen
11
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 44.
12
Ebd., S. 51.
13
Ebd., S. 59.
14
Ebd., S. 61.
15
Ebd., S. 63.
16
Ebd., S. 64.
Julia Kohushölter,
17
Ebd., S. 58.
18
Ebd., S. 1.
19
Vgl.: Ebd., S. 1.
20
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 1.
Martin Heidegger
21
Vgl.: Ebd., S. 2 f.
22
Ebd., S. 3.
23
Ebd.
24
Ebd., S. 4.
25
Auch: Dingsein, Dingheit.
26
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 5.
27
Vgl.: Ebd., S. 5.
28
Ebd.
29
Vgl.: Ebd., S. 6.
Julia Kohushölter,
So grenzt Heidegger ein, dass die Na- Aus diesem Kontext geht die Bestim-
tur- und Gebrauchsdinge, die ge- mung des Dinges hervor, „wonach
wöhnlich so genannte Dinge seien, es nicht anderes ist als die Einheit
„bloße Dinge“, wie er sie infolgedes- einer Mannigfaltigkeit des in den Sin-
sen auch nennt.29 Um ihrer Bestim- nen Gegebenen“, oder dem Ding als
mung näher zu kommen brauche es (2) „das in den Sinnen der Sinnlich-
lediglich die Betrachtung der geläu- keit durch die Empfindungen Ver-
figen Auslegung der Dinge, von wel- nehmbare.“33 Doch auch dieses Ver- 31
chen es nach Heidegger drei gibt: ständnis greift nach Heidegger zu
Eine erste, allgemeine Definition des kurz:
Dinges ist das Ding als (1) Ansamm-
lung seiner Merkmale oder „jenes, In dem jetzt genannten Ding-
um das herum sich die Eigenschaften begriff liegt nicht so sehr ein Überfall auf
versammelt haben.“30 das Ding als vielmehr der übersteigerte
Versuch, das Ding in eine größtmögli-
Doch vor allen bedenken sagt che Unmittelbarkeit zu uns zu bring-
uns schon der wache Aufenthalt im Um- en. Aber dahin gelangt ein Ding nie, so-
kreis von Dingen, daß dieser Dingbegriff lange wir ihm das empfi ndungsmäßig
das Dinghafte der Dinge, jenes Eigen- Vernommene als sein Dinghaftes zuwei-
wüchsige und Insichruhende nicht trifft.31 sen. Während die erste Auslegung des
Dinges uns dieses gleichsam vom Leibe
Zwar passe dieser geläufige Dingbe- hält und zu weit wegstellt, rückt die zweite
griff jederzeit auf jedes Ding, den- es uns zu sehr auf den Leib. In beiden
noch fasse er nicht das Wesen des Auslegungen verschwindet das Ding.34
Dinges, sondern überfalle es. Diesen
Überfall könne nur vermieden wer- Beide angesprochenen Charakteris-
den wenn man das Ding Ding sein tika werden dem Ding durch seine
lasse. Dies geschehe längst: Stofflichkeit zugesprochen. Das Ding
(3) als geformter Stoff scheint für
In dem, was der Gesicht-, Ge- Heidegger die einzige Auslegung zu
hör- und Tastsinn beibringen, in den sein, die sowohl auf die Naturdinge,
Empfi ndungen des Farbigen, Tönenden, wie auch auf die Gebrauchsdinge
Rauen, harten rücken uns die Dinge, ganz gleich gut passt. Mit ihr könne nun
wortwörtlich genommen, auf den Leib.32 auch die Frage nach dem Dinghaften
30
Vgl.: Ebd., S. 7.
31
Ebd., S. 9.
32
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 10.
33
Ebd., S. 10.
34
Ebd., S. 11.
35
Vgl.: Ebd., S. 11.
Martin Heidegger
im Kunstwerk gestellt werden, da das besonderen Weise nahe, weil es durch un-
Dinghafte am Werk offenkundig der ser eigenes Erzeugen ins Sein gelangt.38
Stoff sei, aus dem es bestehe.35
Doch auch das Stoff-Form Gefüge So möchte er dem Wink folgen und
müsse aufgrund seiner Bedeutung für zunächst eben dieses Zeughafte des
die Kunsttheorie und Ästhetik kri- Zeuges bestimmen.
tisch beäugt, bzw. die Ausweitung Um ihm näher zu kommen wählt er
32 und Entleerung des Begriffes rück- die Betrachtung eines Gemäldes von
gängig gemacht werden. Somit stellt van Gogh39, welches für Heidegger
sich für Heidegger die Frage danach, gewöhnliches Zeug – ein Paar Bau-
wo das Stoff-Form-Gefüge seinen Ur- ernschuhe – darstellt. Über diese
sprung hat - im Dinghaften des Din- möchte er „das dienliche Zeug in
ges oder im Werkhaften des Werkes.36 seinem Dienst aufsuchen“40 und be-
Als Grundzug der Dinge stellt er des- schreibt das Werk folgendermaßen:
sen Dienlichkeit fest. In dieser Dien-
lichkeit, das ‚Um-zu’ in der Verwen- Aus der dunklen Öffnung des
dung der Dinge, gründe sich die ausgetretenen Inwendigen des Schuh-
Formgebung als auch die Stoffwahl. zeugs starrt die Mühsal der Arbeits-
Sie werden angefertigt als ein Zeug schritte. In der derbgediegenen Schwere
zu etwas. Das Zeug meint nunmehr des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähig-
das eigens zu seinem Gebrauch und keit des langsamen Ganges durch die
Brauch Hergestellte.37 weithin gestreckten und immer gleichen
Das Zeug nimmt für Heidegger eine Furchen des Ackers, über dem ein rau-
eigentümliche Stellung zwischen her Wind steht. Auf dem Leder liegt das
Ding (weil durch seine Dinglichkeit Feuchte und Satte des Bodens. Unter
bestimmt) und Werk (weniger als die- den Sohlen schiebt sich hin die Einsam-
ses, da ohne dessen Selbstgenügsam- keit des Feldesweges durch den sinken-
keit) ein. In diesem Kontext versteht den Abend. In dem Schuhzeug schwingt
er die Dingbestimmung aus der Aus- der verschwiegene Zuruf der Erde […]
legung des Zeugseins des Zeuges Durch dieses Zeug zieht das klaglose
als einen Wink: Bangen um die Sicherheit des Brotes, die
wortlose Freude des Wiederübstehens der
Dieses Seiende, das Zeug, ist Not, das Beben in der Ankunft der Ge-
dem Vorstellen des Menschen in einer burt und das Zittern in der Umdrohung
36
Vgl.: Ebd., S. 13.
37
Vgl.: Ebd.
38
Ebd., S. 17.
39
Heidegger merkt etwas weiter im Text an: „Gerade in der großen Kunst, und von ihr allein ist hier
die Rede, bleibt der Künstler gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im Schaffen
sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes.“ Martin Heidegger: Der
Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 26.
40
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 18.
41
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 19.
Julia Kohushölter,
des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug Das Werk und die Wahrheit
und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.41
Um das Geschehnis der Wahrheit im
Durch die Betrachtung stellt er fest, Werk erneut sichtbar zu machen, wen-
dass das Zeugsein des Zeuges zwar in det sich Heidegger im dritten Ab-
seiner Dienlichkeit besteht, aber diese schnitt seines Textes der Betrachtung
selbst ruhe in der Fülle eines we- eines griechischen Tempels46 zu.
sentlichen Seins des Zeuges, das er Durch den Tempel, so Heideggers 33
Verlässlichkeit nennt. Durch diese Beobachtung, wird [ein] Gott anwe-
Verlässlichkeit des Zeuges sei sich send, bzw. west Gott an. Der Tempel
die Bäuerin (als imaginierte Träge- selbst steht, bzw. ruht dabei auf si-
rin der abgebildeten Schuhe) ihrer cherem Grund und öffnet – diffe-
Welt gewiss: „Welt und Erde sind renzlogisch – durch seinen festen
ihre und denen, die mit ihr in ihrer Stand allererst „die Weite des Him-
Weise sind, nur so da: im Zeug.“42 mels“47. Auf was der Tempel steht, ist
Der gewählte methodische Kniff, die Erde: „Sie lichtet zugleich jenes,
dass Anschauen eines Werkes – Van worauf und worin der Mensch sein
Goghs Gemälde – ist für Heidegger Wohnen gründet“. Sie ist es, „wohin
ein Indiz dafür, dass er vor dem Werk das Aufgehen alles Aufgehende und
je woanders war als gewöhnlich und zwar als solches zurückbirgt.
dass das Kunstwerk alleine zu wis-
sen gab, was das Schuhzeug in Wahr- Im Aufgehen west die Erde als das
heit ist: „Im Werk der Kunst hat sich Bergende.“48 Was Heidegger hier me-
die Wahrheit des Seienden ins Werk thodisch anführt ist eine Umkehr der
gesetzt.“43 Infolgedessen bestimmt er Betrachtungsweise: Anstatt von dem
das Wesen der Kunst als „das Sich- Da-sein des Tempels auszugehen, er-
ins-Werk-Setzen der Wahrheit des läutert er zuerst einmal, was der Tem-
Seienden“44, also als eine Möglich- pel durch sein Da-sein zuallererst
keit, durch die Betrachtung des Wer- ermöglicht oder anwesen lässt (wie
kes ein Seiendes, wie das Zeug, wahr- einen Gott). Was das Werk in seinem
haft zu bestimmen und fragt infol- festen Stand auf der Erde aufstellt,
gedessen nach der Wahrheit selbst, das heißt in einer wechselseitigen Be-
welche sich als Kunst ereigne.45 dingtheit hervorhebt oder, wie Hei-
degger es nennt, aufstellt, ist die Welt:
42
Ebd., S. 19 f.
43
Ebd., S. 21.
44
Ebd.,
45
Vgl.: Ebd., S. 25.
46
Kunstwerke sind für Heidegger mithin nicht (nur) Gemälde, sondern auch Bauwerke oder, im
Besonderen und wie noch zu zeigen sein wird, Poesie.
47
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 28.
48
Ebd., S. 28.
49
Ebd., S. 30.
50
Ebd., S. 31.
.
Martin Heidegger
„Werksein heißt: eine Welt aufstel- Dies ist der erste Charakterzug des
len.“49 Was aber ist die Welt, die das Werkes.
Werk aufstellt? Heidegger gibt eine
überaus vage Antwort, eine Bestim- Den zweiten Charakterzug des Wer-
mung hauptsächlich ex negativo: kes leitet Heidegger aus dessen her-
stellenden Charakter ab und fragt:
Welt ist nicht bloße Ansamm- „Aber was stellt das Werk her?“52
34 lung der vorhandenen abzählbaren oder Um diese Frage zu beantworten schaut
unabzählbaren, bekannten und unbe- er sich erneut das Zeug an und stellt
kannten Dinge. Welt ist aber auch nicht fest, dass das Material, aus dem das
ein nur eingebildeter, zur Summe des Zeug entsteht, in der Herstellung ver-
Vorhandenen hinzu vorgestellter Rah- braucht wird und in seiner Dienlich-
men. Welt weltet und ist seiender als keit aufgeht. Anders beim Werk:
das Greifbare und Vernehmbare, worin
wir uns heimisch glauben. Welt ist nie Das Tempel-Werk dagegen
ein Gegenstand, der vor uns steht und läßt, indem es eine Welt aufstellt, den
angeschaut werden kann. Welt ist das Stoff nicht verschwinden, sondern aller-
immer Ungegenständliche, dem wir un- erst hervorkommen und zwar im Offenen
terstehen, solange die Bahnen von Tod, der Welt des Werkes.53
Segen und Fluch uns in das Sein ent-
rückt halte. Wo die wesenhaften Ent- Weiterführend stellt sich das Werk in
scheidungen unserer Geschichte fallen, diesem Prozess zurück auf die Erde
von uns übernommen und verlassen, und stellt sie somit her, bzw. lässt sie
verkannt und wieder erfragt werden, da Erde sein.54 Anschaulich macht Hei-
weltet die Welt.50 degger diesen Prozess anhand des
Bildhauers, bzw. Dichters: Im Gegen-
Die Welt, wie sie Heidegger meint, satz zu einem Mauerer oder einem
eröffnet einen Raum und ermög- einfachen Redner würden erstere ihr
licht Verhältnisse – sie richtet eine Material, den Stein oder die Worte,
Geräumigkeit ein. in der Benutzung nicht aufbrauchen,
Insofern folgert Heidegger, dass das sondern sie im Gegenteil erst wahr-
Werk als Errichtendes eine Welt aufs- haftig sein lassen.55
tellt und somit das Offene der Welt
offenhält.51
49
Ebd., S. 30.
50
Ebd., S. 31.
51
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M. 2012 [1935], S. 31.
52
Ebd., S. 31.
53
Ebd., S. 32.
54
Vgl.: Ebd., S. 32.
55
Vgl.: Ebd., S. 34.
Julia Kohushölter,
Im nächsten Schritt fragt Heidegger Über die allgemeine Defi nition der
nach den Bezügen der zwei Charak- Wahrheit als etwas Wahres, bzw als
terzüge des Werkes, das (1) Aufstellen die Übereinkunft der Erkenntnis
einer Welt und das (2) Herstellen mit der Sache, gelangt Heidegger zu
der Erde, im Werk selbst: der antiken Bedeutung der Wahr-
heit als aletheia, welche er mit der
Die Welt gründet sich auf die „Unverborgenheit des Seienden“59
Erde, und die Erde durchragt Welt. Al- übersetzt. Über diese antike Defi ni- 35
lein, die Beziehung zwischen Welt und tion hinaus hätte sich keine der Aus-
Erde verkümmert keineswegs in der lee- legungen mehr mit dieser Eigenschaft
ren Einheit des sich nichts angehenden der Wahrheit als Unverborgenheit
Entgegengesetzten. Die Welt trachtet in auseinandergesetzt und sich stattdes-
ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu sen auf die Wahrheit als Richtigkeit
überhöhen. Sie duldet als das Sichöff- beschränkt. Heidegger gibt jedoch zu
nende kein Verschlossenes. Die Erde bedenken, dass etwas, um wahrhaftig
aber neigt dahin, als die Bergende je- zu sein und darauf aufbauend rich-
weils die Welt in sich einzubeziehen und tig, schon aus der Unverborgenheit
einzubehalten.56 herausgetreten sein muss. Also fragt
Heidegger danach, wie die Wahrheit
Was in der Auseinandersetzung pas- als diese Unverborgenheit geschehen
siert, nennt Heidegger einen Streit57. könne - dazu müsse er zunächst nä-
Das Werk wiederum fungiert nun als her erläutern, was die Unverborgen-
Stifter des Streites zwischen Erde und heit selbst sei.60 Über das Seiende hi-
Welt und zwar nicht, um zu schlich- naus geschehe nach Heidegger noch
ten, sondern vielmehr um den kons- etwas anderes:
titutiven Streit beizubehalten.
So passiert durch den Streit die Ein- Inmitten des Seienden im
heit von Erde und Welt im Werk. Ganzen west eine offene Stelle. Eine
Mit dieser Feststellung greift Hei- Lichtung ist. Sie ist, vom Seienden her
degger nun die Frage nach der Wahr- gedacht, seiender als das Seiende. Diese
heit wieder auf: „inwiefern geschieht offene Mitte ist daher nicht vom Seien-
in der Bestreitung des Streites von den umschlossen, sondern die lichtende
Welt und Erde die Wahrheit? Was Mitte selbst umkreist wie das Nichts,
ist Wahrheit?“58 das wir kaum kennen, alles Seiende.
56
Ebd., S. 35.
57
Streit definiert Heidegger folgendermaßen: „Im wesenhaften Streit jedoch heben die Streitenden,
das eine je das andere, in die Selbstbehauptung ihres Wesens.“ Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 35.
58
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 36.
59
Ebd., S. 37.
60
Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 39.
Martin Heidegger
Das Seiende kann als Seiendes nur sein, dieses zweifache Verbergen.
wenn es in das Gelichtete dieser Lich- Wie verhält es sich nun mit dieser
tung herein- und heraussteht. [...] Erkenntnis und den bereits auf-
Dank dieser Lichtung ist das Seiende in gezeigten Streit? Um den Kreis zu
gewissen und wechselnden Maßen un- schließen hält Heidegger fest: „Erde
verborgen. Doch selbst verborgen kann durchragt nur die Welt, Welt gründet
das Seiende nur im Spielraum des Ge- sich nur auf die Erde, sofern die Wahr-
36 lichteten sein.61 heit als Urstreit von Lichtung und
Verbergung geschieht.“62 Wahrheit
Mit anderen Worten: Die Lichtung, geschehe nunmehr im Werksein des
die das Seiende umkreist, ist für die- Werkes, denn: „Aufstellend eine Welt
ses konstitutiv. Dadurch, dass es sie und herstellend die Erde ist das Werk
gibt, sie das Seiende umkreist, gibt die Bestreitung jenes Streites, in dem
es das Seiende überhaupt. Es gibt die Unverborgenheit des Seienden
das Seiende jedoch in einer prozes- im Ganzen, die Wahrheit, erstritten
sualen Weise, in der es abwechselnd wird.“63 Dies sei jedoch nur eine Weise
in die Lichtung hereinsteht (‚be- in der Wahrheit geschehe, nämlich in
leuchtet’ wird) und aus ihr heraus- der der Schönheit, durch welche z.B.
steht, verborgen ist. So ist die Lich- das Schuhzeug unmittelbarer, rei-
tung zugleich auch immer Verber- ner, ungeschmückter in seinem We-
gung und zwar, nach Heidegger, auf sen aufgehe.64 Die abschließende Fra-
zweifache Weise: ge, die es für Heidegger nunmehr
Zum einen versage sich uns das Sei- zu beantworten gilt, ist die nach der
ende schlichtweg manchmal und wir Kunst und wie in ihr Wahrheit ge-
könnten lediglich sagen, dass es sei. schehen kann.
Für Heidegger ist dies die Verber-
gung als (1) Versagen.
Des Weiteren erscheine das Seiende Die Wahrheit und die Kunst
zwar, gebe sich jedoch anders als es
ist. Dieses Verbergen nennt er das (2) Um der abschließenden Frage näher
Verstellen. Die Lichtung selbst ge- zu kommen, hält Heidegger fest, dass
schehe als dieses zweifache Verber- das Werkhafte des Werkes in seiner
gen und somit gehöre zum Wesen der Beschaffenheit durch den Künstler
Wahrheit als der Unverborgenheit besteht.
61
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 40.
62
Ebd., S. 42.
63
Ebd.
64
Vgl.: Ebd., S. 43.
65
Ebd., S. 48.
Julia Kohushölter,
66
Ebd., S. 50.
67
Ebd., S. 51.
68
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 51.
69
Ebd., S. 53.
70
Ebd., S. 54.
Martin Heidegger
vorgezeichnet; dies sei jedoch keines- Also ist die Kunst: die schaffende Be-
wegs der Kunstbetrieb, in dem die Tat- wahrung der Wahrheit im Werk. Dann
sache, ‚Daß’ das Werk ist, im Geläu- ist die Kunst ein Werden und Gesche-
figen und Kennerischen abgefangen hen der Wahrheit.73
wird, anstatt es in der durch es selbst
geschehenden Wahrheit zu bewahren.71 Das Geschehen der Wahrheit, als wel-
Von der rechten Bewahrung ausge- ches er die Kunst betitelt, ist nach
38 gangen stellt Heidegger fest, dass das Heidegger im Wesen Dichtung:
Werk dasjenige ist, welches die Schaf- Wahrheit als die Lichtung und Ver-
fenden in ihrem Wesen ermöglicht bergung des Seienden geschehe, in-
und aus seinem Wesen die Bewahren- dem sie gedichtet würde.74
den braucht: Sei nun die Kunst der
Ursprung des Werkes, ist sie es, wel- Dabei heißt Dichtung nicht gleich
che die Zusammengehörigkeit am Poesie, auch wenn er dem Sprachwerk
Werk, Schaffende und Bewahrende, im engeren Sinne eine ausgezeich-
entspringen lässt.72 Stellt sich nun- nete Stellung innerhalb der Künste
mehr erneut die anfängliche Frage zuweist. Wiederrum muss das ge-
danach, was die Kunst selbst als der läufige Verständnis von Sprache als
Ursprung ist – Heidegger gibt eine einer Art Mitteilung revidiert werden.
kurze Zusammenfassung der voran- Die Sprache könne, so Heidegger,
gegangenen Erkenntnisse: das Seiende als ein Seiendes allererst
ins Offene bzw. durch das Nennen
Im Werk ist das Geschehnis erst zum Erscheinen bringen. Allein
der Wahrheit und zwar nach der Wei- als dieses entwerfende Sagen versteht
se eines Werkes am Werk. Demnach er die Dichtung, welcher er wieder-
wurde im Voraus das Wesen der Kunst rum als die Sage der Unverborgen-
als das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit heit des Seienden bezeichnet.75
bestimmt. [...] Sie [die Bestimmung]
sagt einmal: Kunst ist das Feststellen Die Sagen habe weiterhin eine ge-
der sich einrichtenden Wahrheit in die schichtliche Komponente, indem
Gestalt. [...] Ins-Werk-Setzen heißt aber durch sie einem Volke seine Zugehö-
zugleich: in Gang- und ins Geschehen- rigkeit zum Welt-Geschehen vorge-
Bringen des Werkseins. Das geschieht prägt werde. Für die Kunst stellt Hei-
als Bewahrung. degger fest, dass sie in ihrem Wesen
70
Ebd., S. 54.
71
Vgl.: Ebd., S. 56.
72
Vgl.: Ebd., S. 58 f.
73
Ebd., S. 59.
74
Vgl.: Ebd.
75
Vgl.: Ebd., S. 61.
Julia Kohushölter,
Dichtung ist. Die Dichtung wieder- Daseins eines Volkes, ist die Kunst. Das
rum sei in ihrem Wesen die Stiftung ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein
der Wahrheit. Ursprung ist: eine ausgezeichnete Wei-
Noch einen Schritt weiter defi niert se, wie Wahrheit seiend, d.h. geschicht-
er die Kunst nun als Stiftung, bzw. lich wird.80
Anstiftung des Streites der Wahrheit,
Stiftung als Anfang. Dieses Wissen um den Ur-
Insofern geschehe Kunst, indem sie sprung des Kunstwerkes ist für Heidegger 39
einen Anfang stifte. Dieses Stiften fundamental wichtig für das Werden der
hat nach Heidegger selbst eine ge- Kunst. Nur dieses Wissen bereite dem Werk
schichtliche Dimension: den Raum, den Schaffenden den Weg, den
Jedes Mal, wenn ein Anfang ist, fan- Bewahrenden den Standort.81
ge Geschichte76 erst oder wieder an.
Damit sei auch Kunst geschichtlich, In ihrer Auseinandersetzung mit Der
insofern Heidegger sie als die schaf- Ursprung des Kunstwerkes schreibt Ma-
fende Bewahrung der Wahrheit im rion Hiller zu Beginn:
Werk definiert.77
Und er geht noch weiter: „Kunst Es ist das Merkwürdige an Hei-
ist Geschichte in dem wesentlichen deggers Denken, dass es sich eigentlich
Sinne, daß sie Geschichte gründet.“78 nicht erklären lässt. Nicht erklären, wenn
Mit dieser Feststellung gelangt Hei- erklären herleiten und ableiten aus an-
degger zum Abschluss seiner Arbeit derem bedeutet – aus Einflüssen, aus
und mit ihm zur Beantwortung der Übernahmen, aus seiner Auseinander-
ursprünglichen Frage nach dem Ur- setzung mit Dichtungen und der Philo-
sprung und, ob die Kunst in ihrem sophiegeschichte.82
geschichtlichen Dasein ein Ursprung
sein kann oder nicht, bzw. ob und un- Insofern soll an dieser Stelle keine
ter welchen Bedingungen sie es sein ableitende Erklärung des Textes er-
kann.79 Sein Fazit lautet nunmehr folgen, sondern eine Schärfung des
folgendermaßen: Fokus im Kontext einer Bedeutung
des Textes als Schlüsseltext der Kunst-
Der Ursprung des Kunstwer- wissenschaft. Heidegger macht deut-
kes, d.h. zugleich der Schaffenden und Be- lich, welchen Stellenwert die Kunst
wahrenden, das sagt des geschichtlichen als Wahrheit für ihn einnimmt.
76
Geschichte definiert als „die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein
Mitgegebenes.“ Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935],
S. 65.
77
Vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 65.
78
Ebd., S. 65.
79
Vgl.: Ebd., S. 66.
80
Ebd.
81
Vgl.: Ebd.
Martin Heidegger
Doch was ist für ihn eigentlich Kunst? an dem Umgang mit ‚Kunst’ insge-
Um es vorweg zu nehmen: es scheint samt, nicht nur institutionell, son-
nur Weniges zu sein. dern auch theoretisch bzw. wissen-
schaftlich. Zugleich beglaubigt er sich
In Der Ursprung des Kunstwerkes zieht selbst jedoch diesen besonderen Zu-
Heidegger drei Beispiele heran: (1) Die gang zum Kunstwerk, aus dem he-
Bauernschuhe von Vincent van Gogh, raus er seine Abhandlung verfasst.
40 (2) einen altgriechischen Tempel und Ironischerweise betrachtete Heideg-
(3) ein Gedicht Hölderlins. Wie be- ger das Bild van Goghs das erste Mal
reits im Verlauf der vorangegangenen im amsterdamer Stedelijk-Museum87,
Analyse erwähnt (siehe Fußnote 39) also einer kunstbetrieblichen Umge-
orientiert sich Heidegger mit diesen bung, die ihm keine solche Erkennt-
Beispielen an dem, was er als „große nisse über das Bild erlauben sollte.
Kunst“83 bezeichnet. Es fällt schwer ein anderes Beispiel
Es fällt auf, dass dies alles Beispie- zu fi nden, welches mit einem sol-
le der abendländischen Kunst sind chen Pathos beschrieben und theo-
– auf welche er sich im Nachwort retisch eingebunden werden könnte
auch explizit bezieht.84 Methodisch wie Schuhe von Vincent van Gogh.
zweifelt Heidegger vor allen Dingen Vielleicht wirkt Heideggers Aufsatz
die Ästhetik an, welche das Kunst- deshalb etwas zu stark an einem Bild
werk als einen Gegenstand des sinn- orientiert, um für die Kunst allgemein
lichen Vernehmens, des Erlebens, gültig zu sein: Einerseits hegt er mit-
nehmen würde. Diese Art, wie der seiner Abhandlung einen allgemein-
Mensch die Kunst erlebt, solle über- gültigen Anspruch zur Bestimmung
dessen Wesen Aufschluss geben85: der Kunst in ihrer Wesenhaftigkeit,
Doch vielleicht ist das Erlebnis das andererseits steht dem gegenüber ein
Element, in dem die Kunst stirbt. Das allzu eingeschränkter Kunstbegriff,
Sterben geht so langsam vor sich, daß der sich an den drei ins Feld geführten
es einige Jahrhunderte braucht.“86 Beispielen zu erschöpfen scheint.
Was er durch seine theoretische Ab-
Vereint mit der Kritik an dem Kunst- handlung in jedem Fall erreicht hat,
betrieb, in dem das Kunstwerk nie- ist eine kontroverse Auseinanderset-
mals bei sich selbst sein kann, kon- zung mit eben diesem Bild Van Goghs,
statiert Heidegger eine eben solche was ihm u.a. in einem Artikel der Zeit
82
Hiller, Marion (2012): Heidegger und die Literatur, oder: Der Ursprung des Kunstwerkes in
seins-geschichtlicher Dimension. In: Figal, Günter/Raulff, Urlich (Hg.): Heidegger und die
Literatur, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 55-72, hier: S. 57.
83
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M 2012 [1935], S. 26.
84
Vgl.: Ebd., S. 69/70.
85
Vgl.: Ebd., S. 57.
86
Ebd.
87
Assheuer, Thomas: Die Schuhe der Philosophen, http://www.zeit.de/2009/40/Schuhe-van-Gogh
(12.12.2017).
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch
den Titel „Die Schuhe der Philoso- 1928 übernimmt Martin Heidegger
phen“ einbrachte.88 Husserls Lehrstuhl in Freiburg. Sei-
Konträr kann argumentiert werden, ne Antrittsvorlesung trägt den Titel
dass Heideggers Ansatz auch jenseits Was ist Metaphysik?
einer Beispielfi xierung durchaus Heidegger erlangt schnell große Be-
fruchtbar gemacht wurde und wird, kanntheit. Der Philosoph Hans-Ge-
wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit org Gadamer etwa schreibt vom „re-
zu zeigen ist. volutionären Genie“ des jungen Hei- 41
degger. Sein und Zeit beeinflusst nach-
kommende Denker in Philosophie,
Theologie, Psychoanalyse, wie auch
in der Literatur- und Medienwissen-
Kontextualisierung schaft. Beispielsweise Jean-Paul Sartre,
Martin Heidegger und seine Methode Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan,
im Kontext ihrer Zeit Jacques Derridas, Hans-Georg Ga-
damer und Jürgen Habermas.90
Martin Heidegger wird am 26. Sep- Günter Figal bringt es in seinem Ein-
tember 1889 in Meßkirch geboren. führungsbuch zu Heidegger folgen-
Er entstammt einer katholischen Fa- dermaßen auf den Punkt:
milientradition und wird nach dem
Abitur Mitglied des Jesuitenordens, Heideggers Denken91 wurde
aus dem er jedoch bald wieder aus- für das tiefste und weitreichendste der
tritt. In Freiburg studiert Heidegger Moderne gehalten, und ebenso hat man
Theologie, Naturwissenschaften und sich an seinen sprachlichen Manieris-
Philosophie und wird 1919 Schüler men gestoßen und angenommen, was
und Assistent von Edmund Husserl, als Tiefsinn erscheine, sei nichts als die
dem Begründer der Phänomenolo- Beschwörung leerer Worte.92
gie als philosophischer Methode.89
Zuvor lehrt Heidegger bereits in Mar- Auf den ersten Seiten von Sein und Zeit
burg, wo unter anderem Hannah stellt Heidegger die Frage nach dem
Arendt zu seinen Schülerinnen ge- Sinn von Sein als konstitutiv für
hört. 1927 veröffentlicht Heidegger seine Philosophie vor.
Sein und Zeit. Es bleibt unvollendet, gilt Heidegger nennt seinen Untersu-
aber trotzdem als sein Hauptwerk. chungsgegenstand, der zugleich seine
88
Zu den bekanntesten Kritikern Heideggers Auslegung gehören wohl Meyer Schapiro (1968) und
Jacques Derrida (1978).
89
Die Phänomenologie nach Edmund Husserl ist Teildisziplin der Erkenntnistheorie und beschäftigt
sich mit dem, was erscheint – dem Phänomen. Dabei unterläuft sie das, seit Kant virulent
gewordene, philosophische Problem der Unterscheidung von Ding-an-sich und Erscheinung.
Der Leitspruch der Phänomenologie lautete: „Zu den Sachen selbst!“.
90
Trawny, Peter (2016): Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M.: Vittorio
Klostermann, S. 43 f.
Martin Heidegger
Methode ist, „[…] die Fundamenta- Ontologie werden soll. Ontologie ist nur
lontologie, aus der alle anderen erst als Phänomenologie möglich.99
entspringen können […].“93
Heidegger betritt mit seinem zentra- Einen grundlegenden Denkanstoß
len Werk die philosophische Welt- findet Heidegger außerdem bei Aris-
bühne in einer Zeit, da die Vormacht- toteles, der in seinem philosophi-
stellung der Strömung des Deutschen schen Nachdenken zwischen Physik
42 Idealismus94 und des daraus hervor- und Metaphysik unterscheidet.
gegangenen Neukantianismus95, in- Die Physik bezeichnet darin die phy-
nerhalb der europäischen Philoso- sische Welt, wie sie sinnlich erscheint
phie, zutiefst erschüttert ist. Eine Phi- – in Heideggers Terminologie das
losophie erschüttert von Friedrich Seiende – während die Metaphysik
Nietzsches und Sören Kierkegaards dasjenige bezeichnet, was über die
Metaphysik- und Religionskritik, so- sinnlich erscheinenden Dinge hin-
wie der Erfahrung des ersten Welt- ausgeht – das Sein (des Seienden).
kriegs.96 Heideggers Freiburger Leh- Die aristotelisch geprägte Metaphy-
rer Edmund Husserl versuchte auf sik steht also in einem engen Verhält-
diese philosophisch Krise zu reagie- nis mit der physischen Welt, wobei
ren, indem seine Phänomenologie die ihre Gegenstände eben nicht sinn-
Philosophie wieder stärker an Fragen lich erfahrbar sind.
der Existenz rückbinden sollte. Phi- Sie sind vielmehr Grundlage oder
losophie sollte wieder mehr sein, als Ursache alles sinnlich Erfahrbaren.
die bloße neukantianische Begrün- Den Ansatz, den Heidegger bei Aris-
dung wissenschaftlicher Erkenntnis.97 toteles entlehnt und der so entschei-
Heidegger ist von der hermeneuti- dend für seine gesamte Philosophie
schen Phänomenologie seines Leh- wird, ist derjenige, über das Wesen
rers Husserl inspiriert, will diese aber des Seins grundlegend nachdenken
weiterdenken und sie zu seiner Fun- zu wollen. Heidegger liest im vierten
damentalontologie98 umbauen. aristotelischen Buch zur Metaphysik
Heidegger schreibt: von einer „Wissenschaft, die das ‚Sei-
ende als Seiendes‘ […] betrachtet.“100
Phänomenologie ist Zugangs-
ort zu dem und die ausweisende Be- Über eine durch Aristoteles geprägte
stimmungsart dessen was Thema der Platon-Lesart und weitere zentrale
91
An dieser Stelle könnte man ebenso gut von Heideggers Schreiben sprechen. In Heideggers Texten
vollzieht sich das Denken im Schreibprozess und das umgekehrt das Schreiben im Denkprozess.
92
Figal, Günter (1992): Martin Heidegger. Zur Einführung, Hamburg: Junius, S. 8.
93
Heidegger, Martin (1984 [1927]): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer, S. 13.
94
Der Zeitraum in dem der Deutsche Idealismus vorherrschende philosophische Strömung der
europäischen Philosophie war, wird meist zwischen dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen
Vernunft 1781 und Hegels Tod 1831 abgesteckt. Protagonisten der Strömung sind folglich
Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Friedrich Wilhelm Hegel.
95
Programmatische Rückbesinnung auf Kant in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Versuch
wissenschaftliche Erkenntnis philosophisch zu begründen.
Marc-Julien Heinsch
Lektüren von Husserl, Dilthey, He- sich auf die Spur der Frage nach dem
gel, Kierkegaard und Nietzsche ge- Sinn von Sein begeben. Heidegger phi-
langt Heidegger schließlich zu dem losophiert mit „existenziellem Ernst“
Schluss, dass alle europäische Philo- und offensiv gegen klassisch gewor-
sophie seit der griechischen Antike dene Lehren, steht aber im Zentrum
nichts Anderes getan habe, als diese des akademischen Betriebes und nicht
Frage nach dem Sinn von Sein zu um- außerhalb davon, wie etwa Nietz-
kreisen, ohne sie explizit zum The- sche seinerzeit.103 43
ma zu machen. Platon und Aristote-
les mochten den Sinn von Sein noch Heideggers Denken und Schreiben
gekannt haben, hielten ihn aber für versucht die Axiome des Denkens
zu selbstverständlich, als dass man und Schreibens, im Akt des Den-
ihn thematisieren hätte müssen. kens und Schreibens, zur Dispositi-
Und so sei der Sinn von Sein eine on zu stellen. Man könnte auch sa-
Art blinder Fleck in der europäi- gen: Heideggers Philosophie macht
schen Philosophie geblieben.101 den Versuch über das zu sprechen,
das uns im Alltag so nah ist, dass es
Heidegger fasst in Sein und Zeit jenes nicht mehr wahrnehm- und schon
Sein nun in seiner grundsätzlichen gar nicht explizit thematisierbar ist.
Zeitlichkeit als Anwesenheit auf. Er Erschwerend kommt hinzu, dass die
bestimmt das Sein ontologisch, das Heideggerschen Untersuchungsge-
heißt von seinem Seinscharakter her genstände in der Sprache keinen Platz
und in seiner zeitlichen Dimension, haben, um über sie zu sprechen.
indem er ein bestimmtes Seiendes, Wer vom Sein in seiner Zeitlichkeit
das Dasein (des Menschen), betrach- sprechen möchte, wird immer wieder
tet. In Sein und Zeit schreibt Heidegger, darüber stolpern es sowohl als Prädi-
dass die von ihm angestrebte Funda- kat wie auch als Subjekt seiner Sätze
mentalontologie in der „existenziel- verwenden zu wollen. Für Heidegger
len Analytik des Daseins“ zu suchen kommt aber gerade im Gesprochenen,
sei. Jenes Dasein habe sich „als das im sprachlichen Denken oder dem
vor allem anderen Seienden ontolo- denkenden Sprechen, das Sein zur
gisch primär zu Befragende erwie- Sprache. Er befragt die Sprache, in-
sen.“102 Anders ausgedrückt: Nur wer dem sich seine Texte von Frage zu
das Dasein ontologisch befragt, kann Frage bewegen, wobei jede Antwort
96
Vgl.: Gadamer, Hans Georg (1992 [1960]): Zur Einführung in: Heidegger, Martin (1992 [1960]):
Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 93 f.
97
Vgl.: Ebd., S. 95 f.
98
Ontologie bezeichnet grundsätzlich die philosophische Disziplin, die sich mit dem Sein als solchem
beschäftigt.
99
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984 [1927], S. 35.
100
Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 35.
101
Vgl.: Ebd., S. 38 f.
102
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984 [1927], S. 13.
Martin Heidegger
weiteres und noch kleinteiligeres Fra- Heidegger schreibt in Sein und Zeit:
gen erforderlich macht. In diesem
Prozess bedeutet jeder Schritt mit Auf dem Boden der griechi-
Heidegger nach vorn, mindestens schen Ansätze zur Interpretation des
drei Schritte zurück. Seins hat sich ein Dogma ausgebildet,
Hat er einen Begriff beispielsweise das die Frage nach dem Sinn von Sein
auf eine etymologische Bedeutungs- nicht nur für überflüssig erklärt, son-
44 ebene hin befragt, so nutzt er die dern das Versäumnis der Frage überdies
Erkenntnis, um denselben Begriff sanktioniert. Man sagt: ‚Sein‘ ist der
noch kleinteiliger zu hinterfragen. allgemeinste und leerste Begriff. Als
So entspinnt sich beim Lesen eine solcher widersteht er jedem Defi nitions-
zweifache, hermeneutische Spiralfi- versuch. Dieser allgemeinste und daher
gur. Zum einen in der Struktur des undefi nierbare Begriff bedarf auch
Textes, der fragt, um die Antwort keiner Defi nition. Jeder gebraucht ihn
auf jene Frage erneut zu hinterfra- ständig und versteht auch schon, was
gen und am Ende wieder an seinem er je damit meint. Damit ist das, was als
Anfang zu stehen. In Heideggers Verborgenes das antike Philosophieren
Sprache soll sich Verstehen perfor- in die Unruhe trieb und in ihr erhielt, zu
mativ ereignen – doch eben als Spi- einer sonnenklaren Selbstverständlich-
rale und nicht als Zirkel. Dazu kommt keit geworden, so zwar, daß, wer danach
die inhaltliche Dimension der Texte: auch noch fragt einer methodischen
nur nach dem, was schon gewusst wird, Verfehlung bezichtigt wird.105
kann angemessen gefragt und so tie-
fer darin vorgedrungen werden. In der Er formuliert es als die Aufgabe sei-
Sprache ereignet sich Wahrheit oder ner Philosophie, die Frage nach dem
passiert Erkenntnis. Vor allem über die Sinn von Sein wieder explizit zu stel-
Dinge, die sonst höchstens zur Kennt- len.106 Heidegger erhebt dadurch die
nis genommen aber nicht befragt existenzielle Ontologie über alle an-
werden. Gadamer schreibt treffend, deren philosophischen Disziplinen
dass Sein und Zeit von manchen Lesern und räumt sich selbst eine Sonderstel-
als „hermeneutische Phänomenolo- lung in der Philosophie- geschichte
gie“ betitelt wurde, weil darin „das ein. Peter Trawny schreibt in seiner
Sichverstehen das eigentliche Fun- kritischen Einführung zu Heideg-
dament dieses Fragens“ darstelle.104 gers Werk: „Heideggers Denken ist
103
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 95.
104
Vgl.: Ebd., S. 97.
Marc-Julien Heinsch
alles, nur nicht ‚moderat‘. Der Philo- übernehmen könnte. So sollte sich die
soph kennt die Extreme und nimmt Wissenschaft unter Führung von Mar-
kein Blatt vor den Mund, indem er tin Heidegger gegen die politische
das Äußerste zum Maßstab für die Einflussnahme selbst behaupten kön-
Norm erklärt und andersherum nicht nen. Dabei blieb die Rede vage genug,
denken möchte.“107 um sowohl von den Nationalsozialis-
Hans-Georg Gadamer beschreibt es ten propagandistisch instrumenta-
folgendermaßen: lisiert zu werden, als auch Heidegger 45
bei ihnen in Ungnade fallen zu lassen.
Heideggers Auftreten als jun-
ger Freiburger Universitätslehrer machte Wie zahlreiche andere Intellektuelle
in den ersten Nachkriegsjahren [des ersten war Heidegger der NSDAP nur Mittel
Weltkrieges] wahrhaft Epoche. Daß hier zum Zweck – ein Instrument, um die
eine originäre Kraft des Philosophierens propagandistisch erzeugte, deutsche
im Aufbrechen war, verriet schon die un- Volksidentität zu schärfen. Sie hatten
gewöhnliche, kraftvolle und wuchtige kein Interesse daran, einen Philoso-
Sprache, die von dem Freiburger Katheder phen die Hochschulpolitik des Rei-
ertönte.108 ches bestimmen zu lassen.109
Ein gewisser totalitärer Impetus in
Der Aspekt, der Martin Heidegger Heideggers Schreiben ließ sich den-
und seine Philosophie für viele Leser noch in die nationalistische Propagan-
von vorneherein disqualifiziert, ist da eingliedern. Zu nennen wäre hier
die Verstrickung des Philosophen das radikalisierte Denken des Verhält-
in den Nationalsozialismus. Im Jahr nisses von Sein und Zeit in den Dreißi-
1933 wird Heidegger nicht nur zum gerjahren hin zu einem Denken des
Rektor der Universität Freiburg er- Ereignisses. Zeitgeschehen und Ge-
nannt, er tritt auch in die NSDAP schichte stehen für Heidegger nun
ein. Die Selbstbehauptung der deut- in einem Zusammenhang mit dem
schen Universität ist seine Rektorats- Sein, das ebenfalls geschichtlich wird.
rede, in welcher Heidegger deutlich
macht, dass die Fundamentalontolo- Außerdem wird für Heidegger die In-
gie, als grundlegendste aller wissen- terpretation des Dichters Friedrich
schaftlichen Disziplinen, so etwas wie Hölderlin immer bedeutsamer. Aus
die hochschulpolitische Führerschaft dessen Texten heraus beschäftigt sich
104
Vgl.: Ebd., S. 97.
105
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 2.
106
Vgl.: Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 39 ff.
107
Ebd., S. 9.
108
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 94.
Martin Heidegger
Heidegger verstärkt mit der Nation, droht, verliert sich Heideggers Denken
ihrem Ursprung und ihrer Bestim- in Angriffe auf alles, was dieses Scheitern
mung.110 Diese Melange vermengt sich befördert. Neben die militärischen Fein-
mit der politischen Lage seiner Zeit de des Deutschen Reichs sowie die ‚das
und gipfelt darin, dass Heidegger „den Deutsche‘ missinterpretierenden Natio-
Deutschen“ neben „den Griechen“ nalsozialisten tritt das ‚Weltjudentum‘.
ein „epochales Geschick“ zuschreibt, Die Passagen, die Heidegger ihm widmet,
46 das sich, so eine Lesart, im National- gehören zum Schrecklichsten, aber auch
sozialismus Hitlers verwirklichen zum Dümmsten, was der Denker je ge-
könnte.111 Es kann nicht oft genug schrieben hat.112
betont werden, wie hochgradig pro-
blematisch diese Verstrickung von Heidegger distanziert sich Zeit sei-
Heideggers philosophischen Schrif- nes Lebens nie öffentlich von seiner
ten mit seinem historischen Kontext, Zeit in der NSDAP und tritt auch nie
seine Lektüre bis heute macht. offiziell aus der Partei aus. Bereits
Bis zu den Schwarzen Heften, die, 1934 legt Heidegger aber das Rekto-
herausgegeben von Peter Trawny, ramt in Freiburg nieder.
zwischen Februar 2014 und März Heidegger hält sich bis Kriegsende
2015 erschienen und zwischen 1931 mit Engagement für die Partei zurück,
und 1948 von Heidegger geschrieben leistet aber auch keinen Widerstand.
wurden, konnte man behaupten, dass 1944 wird Heidegger im Volkssturm
es im geschriebenen Werk Heideg- eingezogen, ist aber nicht an Kampf-
gers keinen Raum für offen faschis- handlungen beteiligt. Nach Kriegs-
tisches oder antisemitisches Gedan- ende erhält Heidegger von 1945 bis
kengut gibt. Das hat sich seither je- 1949 in Frankreich und Deutschland
doch fundamental geändert. Lehrverbot. Das wirft den Philoso-
Trawny schreibt dazu: phen in eine tiefe Krise und er befindet
sich zeitweilig in psychiatrischer Be-
Mit dem Ausstieg aus einer handlung. 1950 erscheint Der Ursprung
das ‚Sein‘ vergessenden Welt werden ‚die des Kunstwerkes in der Textsammlung
Deutschen‘ beauftragt, noch einmal ganz Holzwege. 1952 wird Heidegger end-
anders mit der Geschichte selbst anzu- gültig emeritiert und hält seine letzte
fangen. Als dieser Auftrag durch die ver- große Vorlesung mit dem Titel Was
heerende Politik Hitlers zu scheitern heißt Denken? In den folgenden Jahren
109
Vgl.: Martin, Bernd (1986 [1972]): Heidegger und die Reform der deutschen Universität 1933,
https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:1972/datastreams/FILE1/content
(Stand: 12.11.2017), S. 51 f.
110
Vgl.: Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 12.
111
Vgl.: Ebd., S. 13.
112
Vgl.: Peter Trawny: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 13.
Marc-Julien Heinsch
schreibt Heidegger weiter und hält 1960 erscheint Der Ursprung des Kunst-
regelmäßig Vorträge. Seine Philoso- werkes außerdem mit einem Zusatz
phie wendet sich zunehmend der Heideggers und einer Einführung von
Technikkritik zu. Vor allem von fran- Hans-Georg Gadamer als einzelner
zösischen Philosophen wird Hei- Text bei Reclam.115
degger in den Sechzigerjahren stark Dort spricht Gadamer vom Kunst-
rezipiert und diskutiert. Über diesen werkaufsatz als einer „Überraschung“,
Weg findet Heideggers Denken auch da Heidegger in seinem bisherigen 47
wieder stärkeren Eingang in die deut- Schreiben Gebiete wie Kunst oder
schen Geisteswissenschaften. 1975 Natur fast gänzlich ausgespart
wird der erste Band der Heidegger- habe.116 Gadamer schreibt weiter,
Gesamtausgabe veröffentlicht. Im da- dass Heideggers Vorträge zum Ur-
rauffolgenden Jahr stirbt Martin Hei- sprung des Kunstwerkes ihrerzeit
degger in Freiburg-Zähringen.113 eine „philosophische Sensation“ ge-
wesen seien. Zum einen, weil die
Kunst nun doch zum hermeneuti-
Der Kunstwerkaufsatz im Kontext schen Selbstverständnis des Men-
seiner Zeit und Heideggers Werk schen und als Begründerin von Ge-
schichte verstanden werde; zum an-
Als Premiere in Martin Heideggers deren, wegen der „überraschend [neu-
schriftlichem Werk wendet sich der en] Begriffl ichkeit“ die Heidegger
Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes dafür wähle.117
explizit der Kunst als Untersuchungs-
gegenstand zu.114 Zwischen 1931 und An dieser Stelle muss in Anlehnung
1935 arbeitet Heidegger an Der Urs- an Gadamers Einführung erwähnt
prung des Kunstwerkes. Zunächst hält werden, dass mit dem Kunstwerk-
er verschiedene Vorträge zu diesem aufsatz in die relativ junge philoso-
Thema in Freiburg, Zürich und Frank- phische Disziplin der Ästhetik ein-
furt am Main. 1935 entsteht eine als schreibt. Erst im 18. Jahrhundert wird
Raubdruck veröffentlichte Fassung diese mit Alexander Baumgarten zur
des Textes und die dritte Fassung wird „Wissenschaft sinnlichen Erkennens“
schließlich erst 1950 in der Heideg- in den Rang eine Philosophiedisziplin
ger-Textsammlung Holzwege publi- – der sogenannten „klassischen Äs-
ziert und auf 1935/36 datiert. thetik“, erhoben.118
113
Vgl.: Ebd., S. 172 – 176.
114
Eine ausführliche Beschreibung aller möglichen Inspirationsquellen Heideggers, die ihn dazu
brachten sich vom Sein her mit der Kunst auseinanderzusetzen, kann und soll an dieser Stelle nicht
geleistet werden. Sehr spannende Beiträge zu diesem Thema finden sich aber in David Espinet,
Günter Figal und Tobias Keiling (Hg.) (2011): Heideggers Ursprung des Kunstwerks.
Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, auf den Seiten 210 bis 233.
115
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 16.
.
Martin Heidegger
Mit Kant wird die ästhetische Emp- das Denken des Neukantianismus über
fi ndung im Anschluss an Baumgar- die ästhetischen Probleme mit eigen-
ten zur ästhetischen Urteilskraft pro- tümlichen Vorurteilen belastet.120
blematisiert, die gleichwertig neben
Urteilen des Verstandes und der Mo- Heidegger problematisiert die neu-
ral bestehen kann. Diese Gleichwer- kantianischen Positionen zur klassi-
tigkeit rührt für Kant in der Subjek- schen Ästhetik in seinem Kunstwerk-
48 tivität des ästhetischen Empfindens, aufsatz und gliedert diese Problema-
die wiederum durch ihren Ursprung tisierung in seine Fundamentalonto-
in der göttlichen Schöpfung legi- logie ein. Innerhalb von Heideggers
timiert und keineswegs beliebig ist. Werk zeigen sich im Kunstwerkauf-
Schiller und Hegel idealisieren diesen satz deutliche Spuren des seinsge-
Subjektivismus im Genie des Künst- schichtlichen Denkens oder die An-
lers, der ontologische Wahrheit im deutung der Kehre, welche einen
Kunstwerk auszudrücken in der Lage zweiten Weg zur Beschäftigung mit
ist.119 Gadamer schreibt zum Zeit- der Frage nach dem Sinn von Sein, in
punkt des Einstiegs Heideggers in Heideggers Schaffen, aufzeigt. Frie-
das Problemfeld der philosophischen drich-Wilhelm von Hermann fasst in
Ästhetik: seinem Buch Heideggers Philosophie der
Kunst, diesen zweiten Denkweg fol-
[…] die idealistische Ästhetik, gendermaßen zusammen:
die dem Kunstwerk als dem Organon ei-
nes unbegriffl ichen Verständnisses der Die zweite Ausarbeitung [der
absoluten Wahrheit eine ausgezeichnete Seinsfrage] ist die erste Durchgestaltung
Bedeutung zugewiesen hatte, [war] längst der Seinsfrage als seinsgeschichtliches
durch die Philosophie des Neukantia- oder Ereignis-Denken. Während die erste,
nismus überdeckt. Diese herrschende fundamentontologische Ansetzung der
philosophische Bewegung hatte die kan- Seinsfrage ihre systematische Durch-
tische Begründung der wissenschaftli- führung in ‚Sein und Zeit‘ und in der
chen Erkenntnis erneuert, ohne den me- Marburger Vorlesung vom Sommerse-
taphysischen Horizont einer teleologi- mester 1927 ‚Die Grundprobleme der
schen Seinsordnung wiederzugewinnen, Phänomenologie‘ erfahren hat, liegt die
wie er Kants Beschreibung der ästheti- zweite, die seinsgeschichtliche Ausar-
schen Urteilskraft zugrunde lag. So war beitung der Seinsfrage in den ‚Beiträgen
116
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960], S. 97 f.
117
Vgl.: Ebd., S. 98.
118
Vgl.: Spree, Axel: Philosophie-Woerterbuch: Ästhetik, http://www.philosophie-woerterbuch.
de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=145&tx_
gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontrol
ler%5D=Lexicon&cHash=372e2021980ef6ccd5b641d591200ad4 (Stand: 29.11.2017).
119
Vgl.: Hans Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des
Kunstwerkes, Stuttgart 1992 [1960],, S. 100 ff.
120
Ebd., S. 102 f.
Marc-Julien Heinsch
zur Philosophie‘ vor, deren Plan in den Ek-Sistenz als in der Lichtung des
Grundzügen schon seit dem Frühjahr Seins innenstehendes Wesen fasst.
1932 feststand, deren manuskriptmä- Das heißt, das Wesen des Seins wird
ßige Abfassung zwischen 1936 und 38 nun radikal zum Geschehen verzeit-
erfolgte und die erst im Jahre 1989 aus licht, das Seinsdenken wird zum Er-
dem Nachlaß veröffentlicht wurden.121 eignis-Denken. Nun soll vom Sein
her gedacht werden, was wiederum
In diesen Beiträgen zur Philosophie schrei- bedeutet, dass die Wahrheit des Seins 49
be Heidegger grundlegendes zum Da- fluide gedacht wird und das Dasein
sein und dem Wesen der Wahrheit und nur vom Sein her gedacht werden
weise explizit darauf hin, dass zu die- kann. Die Wahrheit des Seins zeigt
sen Abhandlungen und ihrer seins- sich dem Dasein in der entbergend-
geschichtlichen Denkweise auch der verbergen- den Lichtungsfigur zu
Kunstwerkaufsatz zu zählen sei. Von unterschiedlichen Zeitpunkten der
Hermann stellt fest, dass man durch Seinsgeschichte, auf unterschiedliche
Heideggers Hinweise in den Beiträgen Weise. Die Wahrheit des Seins ist für
zur Philosophie den Kunstwerkauf- Heidegger nicht länger überzeitliche
satz also im „Gesamtgefüge des Er- Konstante, sondern ebenfalls im
eignis-Denkens“ betrachten müsse.122 Fluss und muss prozessual begriffen
werden.
Über die zwei zentralen Denkwege In seinem Spätwerk variiert er daher
Heideggers, vor und nach der Kehre, seinen Leitspruch zur Frage nach
lässt sich das Folgende sagen: Im fun- dem Sinn von Sein zu Zeit und Sein.123
damentalontologischen Denken vor Der Kunstwerkaufsatz deutet das
der Kehre, das in Sein und Zeit skiz- seinsgeschichtliche Denken (nach der
ziert wird, geht Heidegger von der Kehre) an und so lässt sich darüber
Existenz als Sein des Seienden aus, streiten, welcher Werkphase man den
welchem eine überzeitliche Wahr- Text nun zuordnen möchte.
heit zukommt, die sich in der Lich- Ebenso gut lassen sich in Der Ursprung
tung zeigt. Heidegger will den Sinn des Kunstwerkes fundamentalontolo-
von Sein durch Beschäftigung mit gische Denkwege von vor der Kehre
dem Dasein besser verstehen. Nach lesen. In Heideggers Marburger Vor-
der Kehre wird Heideggers Denken lesung Die Grundprobleme der Phänome-
seinsgeschichtlich, woraufhin er die nologie von 1927 weist Heidegger die
121
Von Hermann, Friedrich-Wilhelm (1994 [1980]): Heideggers Philosophie der Kunst,
Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 2.
122
Vgl.: Ebd., S. XIV.
.
Martin Heidegger
Kunst noch nicht einem sich entwi- es auch andere zeitgenössische Hei-
ckelnden seinsgeschichtlichen Den- degger-Forscher wie Peter Trawny
ken zu. Dort erläutert er das Problem und Günter Figal.126 Heideggers Den-
der „regionalen Mannigfaltigkeit des ken weist vielmehr in Gänze die
Seins“ und skizziert die Kunst als Struktur der Kehre auf, da es sich in
eine dieser „regionalen Seinsweisen“, einer stetigen Bewegung von der
welche dann Teilgebiet von Sein und Fundamentalontologie zur Seinsge-
50 Zeit und damit fundamentalonto- schichte befi ndet. Außerdem muss
logisch zu untersuchen wäre.124 Der man bemerken, dass Martin Hei-
Kunstwerkaufsatz zeigt damit deut- degger nur selten etwas geschrieben
lich, wie problematisch eine Zwei- und dann sofort veröffentlicht hat.
teilung des Heideggerschen Werkes Zwischen 1930 und 1940 hat er kaum
ist, gerade wenn man bedenkt, dass publiziert aber wohl vieles gedacht,
Heideggers Denken und Schreiben geschrieben und skizziert. So ist Der
stark prozessual angelegt ist. Dieses Ursprung des Kunstwerkes nur in Raub-
Denken ist in derart großem Maßstab druckform eine der wenigen Veröf-
angelegt, dass verständlicherweise fentlichungen Heideggers aus jener
versucht wurde es in Phasen aufzu- Zeit, während viele andere Texte, die
teilen und so in eine nachvollzieh- er in dieser Zeit konzipiert hat, offi-
bare Ordnung zu bringen. Damit ziell auch der Kunstwerkaufsatz, erst
wird aber der Grundoperation des 15 oder 30 Jahre später in Buchform
Heideggerschen Denkens zuwider- vorlagen.127
gehandelt. Wer Heideggers Denkbe- Zusammenfassend lässt sich sagen,
wegung in ihrer radikalen Prozess- dass in der Heideggerrezeption um-
haftigkeit ernst nimmt, der kann aus stritten ist, welcher Werkphase Der
ihr weder feststehende Begriffe und Ursprung des Kunstwerkes zuzuordnen
Defi nitionen, noch Werkphasen ab- und, ob in Bezug auf Heideggers Phi-
leiten. Friedrich-Wilhelm von Her- losophie überhaupt von Werkphasen
mann vertritt die These, dass es eine gesprochen werden sollte.
„äußerliche und unsachgemäße Re-
deweise“ sei, beim Übergang von Unabhängig davon, ob nun von einem
Heideggers Fundamentalontolgie Denken Heideggers vor und nach der
zum Ereignis-Denken von der Kehre Kehre ausgegangen oder diese Be-
zu sprechen.125 Ähnlich formulieren grifflichkeit ausklammert wird, gilt es
123
Es ist klar, dass ohne tiefergehende Lektüre von Heideggers Texten aber auch Sekundärliteratur
dieser Abschnitt nur wenig erhellend wirkt. Er soll vielmehr ein Schlaglicht auf die Wichtigkeit der
Kehre in der Rezeption von Heideggers Werk werfen und sie grob umreißen. Wer sich tiefergehend
mit der Kehre und dem seinsgeschichtlichen Denken Heideggers auseinandersetzen möchte, kann
in Heideggers Brief über den Humanismus von 1946 weiterlesen. Begleitend ist Sang-Hie Shins
Wahrheitsfrage und Kehre bei Martin Heidegger, Würzburg 1993, S. 67 – 138, sowie Tobias
Keiling: Kunst, Werk, Wahrheit. Heideggers Wahrheitstheorie in Der Ursprung des Kunstwerkes,
in: David Espinet, Günter Figal und Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks.
Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 47 – 66 zu empfehlen.
Marc-Julien Heinsch
124
Vgl.: Friedrich-Wilhelm von Hermann: Heideggers Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1994
[1980], S. 4.
125
Vgl.: Ebd., S. XIV.
126
Vgl.: Günter Figal: Martin Heidegger, Hamburg 1992, S. 94 f. und Peter Trawny: Martin Heidegger.
Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 12.
127
Vgl.: Franzen, Winfried (1976): Martin Heidegger, Stuttgart: Metzler, S. 59.
Martin Heidegger
neu, er ändert aber den Blickwinkel des Geistes, sie gehört in das Ereignis,
weg von einer kunstgeschichtlichen aus dem sich erst der ‚Sinn vom Sein‘
Analyse der Produktionsumstände, (vgl. ‚Sein und Zeit‘) bestimmt.129
hin zu einer phänomenologischen
Untersuchung der Werke. Die Kunst vom Sein her gedacht, be-
Die Kunst, das Kunstwerk und der sitzt die Fähigkeit das Wesen eines
Künstler stehen bei Heidegger als Daseins zur Erscheinung zu bringen,
52 Gleichberechtigte nebeneinander, die indem es ins Werk gesetzt wird.
gegenseitig nur durch sich sein kön- Entscheidend und neu dabei ist, dass
nen. Im Kunstwerkaufsatz beschäf- das Kunstwerk in Heideggers Sinn
tigt er sich mit einem Werk von Vin- nicht nur das Wesen eines Dings zur
cent van Gogh, interessiert sich aber Darstellung bringen kann, sondern
nicht weiter für die Lebensumstände auch die Verborgenheit dieses Wesens
des Künstlers oder den Entstehungs- in der alltäglichen Anschauung und
zusammenhang des Bildes. Er betrach- damit das sich entbergend-verbergen-
tet Kunst auf eine Weise, die in der de Wesen der Wahrheit erscheinen
Konstanzer Kunstwissenschaft selbst- lässt. Bei Espinet und Keiling heißt
verständlich anmutet, 1936 aber re- es gar, dass die „Wahrheit der Kunst“
volutionär genannt werden kann. für Heidegger „in der radikalen In-
Er macht sie zum zentralen Zugang fragestellung der menschlichen Exis-
(die Dichtung erhält dabei innerhalb tenz, des menschlichen Erkennens und
der Künste eine Vorrangstellung) zum Handelns“ liege.130
Wesen der Wahrheit des Seins. Eine viel gewichtigere Rolle kann
Heidegger schreibt damit der Kunst eine Kunstwissenschaft ihrem Unter-
innerhalb seiner Philosophie eine suchungsgegenstand wohl nicht zu-
entscheidende Rolle zu. Im Zusatz schreiben. Wobei Heidegger als Phi-
zum Kunstwerkaufsatz in den Holz- losoph und nicht als Kunstwissen-
wegen schreibt Heidegger: schaftler agierte. Der Kunsthisto-
riker Kurt Bauch hat sich in der 1949
Die Besinnung darauf, was die erschienen Anthologie Martin Heideg-
Kunst sei, ist ganz und entschieden nur gers Einfl uss auf die Wissenschaften mit
aus der Frage nach dem Sein bestimmt. dem Gewicht von Heideggers Kunst-
Die Kunst gilt weder als Leistungsbezirk denken für die Kunstwissenschaft
der Kultur, noch als eine Erscheinung auseinandergesetzt. Er schreibt von
128
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 11 f.
Marc-Julien Heinsch
der Rolle, die ein Denker wie Heideg- und dem Wesen der Schönheit erhe-
ger der Kunstwissenschaft drängend ben, wenn schon nicht als Aufgabe der
ins Gedächtnis rufe: kunstgeschichtlichen Wissenschaft sel-
ber, so doch als ihre Frage an die Phi-
Die kunsthistorische Wissen- losophie.131
schaft spricht selten darüber, was das
ist, dessen Geschichte sie aufzeichnet. Bauch stellt fest, dass die Kunstge-
Obgleich doch diese Disziplin metho- schichte stattdessen eine tiefe Skep- 53
disch besonders durchgebildet zu sein sis gegen eine am Wesen der Kunst
scheint, erörtert sie kaum je, was ‚Kunst‘ rührenden Theorie besitze. Diesen
eigentlich ist, und wie sie sich zu dem Umstand begründet er mit dem für
Hohen verhält, das Schönheit heisst. ihn grundlegenden Unterschied von
[…] So wenig die Naturwissenschaft Wissenschaft und Philosophie.
das Wesen der Natur oder die Philolo- Während erstere „Lehren und Aus-
gie, das was Sprache ist oder sein kann, künfte […] Bestimmungen und For-
so wenig fragt die Kunstgeschichtswis- meln“ liefere, würde sich die Philo-
senschaft unmittelbar nach dem Wesen sophie damit beschäftigen „Fragen
der Kunst. Sie ist Forschung. […] von Ahnungen und Vermutun-
gen zu befreien und als das, was sie
Sie erkennt die Kunst als geschichtlich sind, ihrem Sinn nach zu durch-
und innerhalb ihrer ikonographischen schauen und zu erhellen.“132
und soziologischen, technischen und Die Kunstgeschichte, so Bauch wei-
antiquarischen, dokumentarischen und ter, dürfe sich nicht darin erschöpfen
biographischen, geistes- und formge- Kunst bloß zu vergegenwärtigen.
schichtlichen, eben aller ihrer histori- Es sei spürbar, dass der Kunst wie-
schen Zusammenhänge. […] Unausge- der philosophische Fragen gestellt
sprochen liegt aller Forschung davon werden müssten. Heidegger habe
etwas zugrunde, auch wenn dies selten diese Notwendigkeit des philoso-
anerkannt wird: sie vergegenwärtigt die phischen Fragens an die Kunst wie-
Kunst. Je unmittelbarer die Vergegen- der aufgeworfen.133
wärtigung der Kunst als eigentlicher
Sinn der Forschung betrachtet wird, Es gilt als gesichert, dass der Kunst-
desto zwingender müsste sich also doch werkaufsatz Theodor W. Adornos
die Frage nach dem Wesen der Kunst Ästhetische Theorie von 1970 stark
129
Heidegger, Martin (1980 [1950]): Holzwege, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 71.
130
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 12.
Martin Heidegger
geprägt hat. Adorno war bekannter- „[…] immer noch innerhalb einer
maßen ein Vertreter der Dialektik134 metaphysischen Auslegung des Sei-
und kritisierte Heidegger mehrfach enden – einer Verstellung der Wahr-
in seinen Vorlesungen und seinem heit des Seins – bewegt.“138
Werk. Beispielsweise in Jargon der Ei- Aus Adornos Sicht wiederum war
gentlichkeit. Zur deutschen Ideologie von Heideggers Ontologie nicht dazu im-
1964. Dennoch ergab sich aus Ador- stande dem dialektischen Charakter
54 nos Beschäftigung mit Heidegger ein der geschichtlichen Welt gerecht zu
„dissonanter Dialog“, der sich als werden und blieb daher hinter der
fruchtbar erwies.135 Komplexität der realen Umstände
Adorno nimmt die Skepsis Heideg- zurück. Adorno widerspricht Hei-
gers gegen die Kunstbetrachtungs- degger darin, dass im Kunstwerk
weise der kunstgeschichtlichen Kunst- Wahrheit in der Lichtung zum Er-
wissenschaft auf und stellt „philoso- scheinen komme, von der aus die
phische Reflexion“ und die Rolle des Geschichte möglicherweise neu ge-
„Undarstellbaren“ ins Zentrum sei- dacht werden könne. Adorno plä-
ner Ästhetischen Theorie. diert vielmehr für eine Akzeptanz
Die Kunstwissenschaft sei bei der Aus- der absoluten Unauflösbarkeit der
deutung von Kunstwerken zum Schei- Kunstwerke in übertragbaren Sinn
tern verurteilt, weil nur die Philoso- und damit zwar für ihren beliebig
phie „von der Differenz der Kunst anmutenden, aber auch universell
Zeugnis ablegen“ könne.136 spürbaren Rätselcharakter.139 Wie be-
Adorno und Heidegger sprechen der reits erwähnt entfaltet Der Ursprung
Kunst beide einen singulären und un- des Kunstwerkes auch unmittelbare
hintergehbaren Charakter zu. Wäh- Wirkung bei Hans-Georg Gadamer.
rend aber bei Heidegger die Kunst in Er schreibt in Wahrheit und Me-
ihrer Schönheit einen „ekstatischen thode. Grundzüge einer philosophi-
Überschuss“, der auf die Wahrheit schen Hermeneutik ausgehend von
des Seins hinweist, produziert, ist bei Heideggers Ansatz über das Verstehen
Adorno die Kunst eher Ausdruck ei- als Grundmodus der hermeneutische
ner tief in der Natur liegenden Rätsel- Methode in den Geisteswissenschaf-
haftigkeit.137 Adrián Navigante zu- ten: „[…] Verstehen [ist] die Seinsart
folge, sei dies ein Zeichen, dass sich des Daseins, sofern es ‚Sein-können‘
Adorno von Heidegger aus gesehen und Möglichkeit ist.“140
130
Vgl.: David Espinet und Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Günter Figal und Tobias
Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.
2011, S. 12.
131
Bauch, Kurt: Die Kunstgeschichte und die heutige Philosophie, in: Carlos Astrada, u. a. (Hg.)
(1949): Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften, Bern: A, Francke, S. 88 f.
Marc-Julien Heinsch
In diesem Zusammenhang ist für Günter Figal, der sich in seinem phi-
Gadamer zentral, das mit Heidegger, losophischen Werk, in dem er sich
Kunstbetrachtung einen hermeneu- immer wieder mit „der Frage der Ge-
tischen Charakter erhält und Er- genständlichkeit“ auseinandersetzt,
kenntnisse der Kunstbetrachtung wiederholt auf Heideggers Text be-
gleichwertig mit Erkenntnissen der zieht.144 Auch der Kunsthistoriker
Wissenschaft gesetzt werden.141 Hans Sedlmayr bezieht sich in Ver-
lust der Mitte von 1948 und einem spä- 55
Lorenz Dittmann schreibt: „Das ist teren Aufsatz auf Heidegger. Sedl-
ein für die Kunstgeschichtswissen- mayr geht Heideggers ontologische
schaft bedeutsames Ergebnis. Voraus- Bestimmungen indirekt, wobei er
setzung dafür ist Heideggers Ernst- auf den Kunstwerkaufsatz verweist.
nehmen der Kunst als Sich-ins-Werk- Dabei muss aber bemerkt werden,
setzen der Wahrheit.“142 Morten Tha- dass sich Hans Sedlmayr in seiner
ning fasst es folgendermaßen: Heideggerkritik weitestgehend der
Lesart des philosophischen Anthro-
Mit Kenntnis seines Werks pologen Otto Friedrich Bollnow in
lässt sich deshalb schildern, wie Gadamer dessen Buch Das Wesen der Stimmungen
in seiner philosophischen Hermeneutik von 1941 anschließt. Sedlmayrs Hei-
gerade diejenigen Gedanken aufgreift, deggerrezeption ist also eine durch
ausarbeitet und berichtigt, die er in sei- Bollnow vermittelte Lesart.145 Neben
ner Einführung zu Der Ursprung des dieser unmittelbaren, deutschspra-
Kunstwerkes als die grundlegenden chigen Lesart des Kunstwerkaufsat-
kennzeichnet.143 zes durch Adorno, Gadamer, Sedl-
mayr und Figal, sticht die französi-
Gadamer exemplifiziert so letztlich, sche Rezeption oder eher Nicht-Re-
was Heidegger im Kunstwerkaufsatz zeption hervor.
nur andeutete: Den engen Zusam-
menhang von Hermeneutik und Phä- Während Heideggers übriges Werk
nomenologie in der Kunstbetrach- in Frankreich extrem stark rezipiert
tung und ihr Verhältnis zu Wahrheit- und aufgegriffen wird, bleibt die
und Sinnstiftung durch die Kunst. Beschäftigung mit dem Kunstwerk-
Ähnlich bedeutend wie für Gadamer aufsatz sehr vage. Emmanuel Alloa
ist der Kunstwerkaufsatz auch für bezeichnet die „Vernachlässigung“
132
Vgl.: Ebd., S. 90 ff.
133
Vgl.: Ebd., S. 93.
134
Dialektik bezeichnet eine Form kritischen Philosophierens mit zahlreichen Ausprägungen.
Grundsätzlich folgt dialektisches Denken der Struktur von These, Antithese und Synthese.
135
Vgl.: Navigante, Adrián: Adorno über Heideggers Ontologie des Kunstwerkes, in: David Espinet,
Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks.
Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M. 2011, S. 241 ff.
136
Vgl.: Ebd., S. 243 f.
137
Vgl.: Ebd.
138
Ebd., S. 244.
Martin Heidegger
139
Vgl.: Adrián Navigante: Adorno über Heideggers Ontologie des Kunstwerkes, in: David Espinet,
Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.) Frankfurt a. M. 2011, S. 244 ff.
140
Gadamer, Hans Georg (1975 [1965]): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen: J.C.B. Mohr, zit. nach: Dittmann, Lorenz (1975): Kunstgeschichte im
interdisziplinären Zusammenhang, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Dittmann_
Kunstgeschichte_im_interdisziplinaeren_Zusammenhang_1975.pdf (Stand: 30.11.2017), S. 158.
141
Vgl.: Ditmann, Lorenz (1975): Kunstgeschichte im interdisziplinären Zusammenhang,
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Dittmann_Kunstgeschichte_im_
interdisziplinaeren_Zusammenhang_1975.pdf (Stand: 30.11.2017), S. 159 f.
142
Ebd., S. 160.
Marc-Julien Heinsch
143
Thaning, Morten: Rezeption in der philosophischen Hermeneutik, in: David Espinet, Günter Figal,
Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar,
Franfurt a. M. 2011, S. 266.
144
Vgl.: Ebd., S. 277 ff.
145
Vgl.: Morgenthaler, Simon: Textpraktiken in Hans Sedlmayrs kunstwissenschaftlicher
Theoriebildung, in: Endres, Martin; Pichler, Alex und Zittel, Claus (Hg.) (2017): Textologie: Theorie
und Praxis interdisziplinärer Textforschung, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 335.
146
Vgl.: Alloa, Emmanuel: Restitutionen. Wiedergaben des Ursprung des Kunstwerkes in der
französischen Philosophie, in: David Espinet, Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers
Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 251 f.
Martin Heidegger
147
Vgl.: Ebd., S. 251 f.
148
Vgl.: Emmanuel Alloa: Restitutionen. Wiedergaben des Ursprung des Kunstwerkes in der
französischen Philosophie, in: David Espinet, Günter Figal, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers
Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 2011, S. 253 ff.
149
Ebd., S. 258.
150
Vgl.: Ebd., S. 259 ff.
151
Vgl.: Ebd., S. 263 ff.
152
Vgl.: Shin, Syng-Hwan (1996): Metaphysik-Kunst-Postmoderne. Martin Heideggers
Rationalitätskritik und das Problem der Wahrheit, Regensburg: S. Roderer, S. 144 ff.
153
Vgl.: Ebd., S. 149 f.
Marc-Julien Heinsch
Diesen Kriterien, werden sie streng Es bleibt also ein zwiespältiges Un-
angelegt, entspricht Martin Heideg- terfangen von Heideggers Kunst-
gers Der Ursprung des Kunstwerkes im werkaufsatz als Schlüsseltext für die
Hinblick auf die zeitgenössische Kunstwissenschaft zu sprechen. Als
Kunstwissenschaft nur indirekt. direkt benannten Einflussfaktor fi n-
det sich Heidegger in der kunstwis-
In der Kunstwissenschaft der Sech- senschaftlichen Literatur sehr selten.
zigerjahre bis ins heutige Jahr 2017 Michael Brötje und Jürgen Stöhr sind 59
wird Heideggers Kunstwerkaufsatz zwei zeitgenössische Kunstwissen-
kaum zitiert bzw. seine Gedanken di- schaftler, die konkret an Heideggers
rekt weitergeführt. Eine Bildbetracht- Gedanken im Kunstwerkaufsatz ar-
ungsweise wie die Ikonik der späten beiten, diese weiterdenken und aus
Siebzigerjahre nach Max Imdahl, wo ihnen eine kunstwissenschaftliche
das, was sich im Werk zeigt, nicht Methodik erarbeiten wollen. Ers-
bloßes Aufscheinen vergangener Ge- terer in Der Spiegel der Kunst: Zur
danken, Gefühle und Umstände, son- Grundlegung einer existenzial-hermeneu-
dern für sich selbst stehender wirk- tischen Kunstwissenschaft von 1990 und
mächtiger Ausdruck ist, wirkt den Ge- letzterer in Die Sorge um die Theorie.
danken in Heideggers Kunstwerkauf- Bildanschauungen und Blickoperatio-
satz sehr nah und scheint auf die eben nen mit Martin Heidegger und Michael
beschriebene Problematik reagieren Brötje von 2016. Es sollte im Verlauf
zu wollen. Bei Jürgen Stöhr heißt es dieser Arbeit deutlich geworden sein,
aber, dass sich Max Imdahl trotz einer dass Heideggers Denkbewegungen
gewissen Gedankenverwandtschaft im Kunstwerkaufsatz Anstoß für
und eines prominent platzierten, di- die großen geisteswissenschaftlichen
rekten Zitats, wohl nicht ausführlich Strömungen nach Mitte des 20. Jahr-
mit Heidegger auseinandergesetzt hunderts waren und bis heute nach-
habe.157 Und weiter: „Auf die Curricu- wirken. So hat sich der Text darum
la des Faches Kunstgeschichte hatten bemüht, den Bezug des von der
die Schriften Heideggers [nach An- Kunstwissenschaft aus der philoso-
knüpfungspunkten bei Kurt Bauch, phischen Ästhetik entlehnten Be-
Theodor Hetzer, Hans Jantzen oder griffs des Stoff-Form-Gefüges, zur
Georg Picht] keinen Einfluss mehr. Sie Kunst näher zu beleuchten und
wurden schon bald fallengelassen.“158 Kunstbetrachtung als wesentlichen
154
Lorenz Dittmann: Kunstgeschichte im interdisziplinären Zusammenhang, http://archiv.
ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Dittmann_Kunstgeschichte_im_interdisziplinaeren_
Zusammenhang_1975.pdf (Stand: 30.11.2017), 1975, S. 160.
155
Vgl.: Ebd., S. 162 ff.
156
Stöhr, Jürgen (2016): Die Sorge um die Theorie. Bildanschauungen und Blickoperationen mit
Martin Heidegger und Michael Brötje, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 27.
Martin Heidegger
Zugang zu geschichtlicher Wahrheit Allein die Frage bleibt offen, wie stark
charakterisiert. bei Heidegger tatsächlich ein nach-
In Heideggers eigener, kritischer Ma- ästhetisches Kunstverständnis ange-
nier überholt er die bis dato vorrang- legt ist, das sich als Grundstein für eine
ige, ästhetische Methodik und ver- wissenschaftliche Kunstbetrachtung
leiht dem Kunstwerk als dem Ins- jenseits der Kunstgeschichte, aber im
Werk-Setzen der Wahrheit einen on- fruchtbaren Dialog mit dieser, eignen
60 tologischen Status. Er betreibt zudem würde. Als solches müsste sich Hei-
eine philosophische Herangehens- deggers Kunstdenken auf abstrakte
weise an das Kunstwerk jenseits ei- nicht-gegenständliche Kunst ebenso
ner vorangehenden Künstlerfixierung wie auf Untersuchungsgegenstände
und damit auch, was wiederum ange- der Medien- und Kulturwissenschaf-
zweifelt werden kann, ohne die Ein- ten, exemplarisch etwa Filme oder Vi-
beziehung der genuinen künstleri- deospiele, ausweiten lassen.
schen Technik. Der Ursprung des Kunst- Zumindest ist nicht von der Hand zu
werkes regt dazu an, die Kunst als Un- weisen, dass Heideggers Denkfigur,
tersuchungsgegenstand der Kunst- aus der Betrachtung von Kunst in ih-
wissenschaft grundlegend zu befra- rer Beziehung zu Dasein und Welt,
gen und sich nicht nur an ihren Re- Erkenntnisse zu gewinnen, in den
zeptionsformen im (kunst-)geschicht- heutigen Geisteswisseschaften stär-
lichen Kontext abzuarbeiten: ker ist denn je.
Heidegger weist dem Kunstwerk viel- So scheint Der Ursprung des Kunstwerkes
mehr selbst eine prägende, historische auf den ersten Blick kein Schlüssel-
Funktion zu. text der zeitgenössischen Kunstwis-
Im Kontext seines Ansatzes lässt senschaft mehr zu sein - von einem
sich argumentieren, dass Heidegger Schlüsseltext für die heutigen Geistes-
einerseits sehr eingeschränkt auf die wissenschaften lässt sich aufgrund der
genannten Beispiele, insbesondere erzeugten Anschlusskommunikation
das Werk Van Goghs, bleibt, ander- bei etwa Gadamer, Derrida, Nancy
erseits aber den Grundstein für eine und Tholen aber gewiss sprechen.
medientheoretisch-interdisziplinär Die Spur Heideggers in die Geistes-
geprägte Kunstwissenschaft, wie sie wissenschaften des Jahres 2017 nach-
u.a. in Konstanz betrieben wird, legt. zuzeichnen, muss jedoch an anderer
Stelle geleistet werden.
157
Vgl.: Jürgen Stöhr: Die Sorge um die Theorie. Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin
Heidegger und Michael Brötje, Paderborn 2016, S. 28.
158
Ebd.
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch
61
Martin Heidegger
Quellenverzeichnis
Astrada, Carlos u. a. (Hg.) (1949): Martin Heideggers Einfluss auf die Wissen-
schaften, Bern: A. Francke.
Bauch, Kurt: Die Kunstgeschichte und die heutige Philosophie, in: Carlos Astrada,
u. a. (Hg.) (1949): Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften, Bern: A,
Francke.
Espinet, David; Figal, Günter und Keiling, Tobias (Hg.) (2011): Heideggers
Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.: Vitto-
rio Klostermann.
Julia Kohushölter & Marc-Julien Heinsch
Espinet, David und Keiling, Tobias: Vorwort, in: Espinet, David; Figal,
Günter und Keiling, Tobias (Hg.) (2011): Heideggers Ursprung des Kunst-
werks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann.
Gadamer, Hans Georg (1992 [1960]): Zur Einführung in: Heidegger, Martin
(1992 [1960]): Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 63
Gadamer, Hans Georg (1975 [1965]): Wahrheit und Methode. Grund-
züge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: J.C.B. Mohr, zit.
nach: Dittmann, Lorenz (1975): Kunstgeschichte im interdisziplinären
Zusammenhang, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3924/1/Ditt-
mann_Kunstgeschichte_im_interdisziplinaeren_Zusammenhang_1975.
pdf (Stand: 30.11.2017).
Heidegger, Martin (1992 [1960]): Der Ursprung des Kunstwerkes. Mit einer
Einführung von Hans-Georg Gadamer, Stuttgart: Philipp Reclam jun.
Heidegger, Martin (1984 [1927]): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer
Hiller, Marion (2012): Heidegger und die Literatur, oder: Der Ursprung des
Kunstwerkes in seins-geschichtlicher Dimension. In: Figal, Günter/Raulff,
Urlich (Hg.): Heidegger und die Literatur, Frankfurt a. M.: Vittorio Kloster-
mann.
Martin Heidegger
Martin, Bernd (1986 [1972]): Heidegger und die Reform der deutschen Uni-
versität 1933, https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:1972/
datastreams/FILE1/content (Stand: 12.11.2017).
Philosophie-Woerterbuch, http://www.philosophie-woerterbuch.de/on-
line-woerterbuch/ (Stand: 29.11.2017).
Stöhr, Jürgen (2016): Die Sorge um die Theorie. Bildanschauungen und Blickope-
rationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje, Paderborn: Wilhelm Fink.
Bildnachweis
1
Männing, Maria (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 28.
2
Sedlmayr, Hans (1948): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg.
3
Beyer, Andreas (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte. Eine Einführung, Köln, S. 26.
67
Hans Sedlmayr
4
Vgl.: Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 28.
5
Vgl.: Ebd.
6
Kerschbaumer, Gert (1992): „Hans Sedlmayr“, in: Gert Kerschbaumer, Karl Müller (Hrsg.),
Begnadet für das Schöne. Der rot-weiß-rote Kulturkampf gegen die Moderne, S. 176.
7
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 11.
Dorothee Fischer
8
Vgl.: Ebd.
9
Kieser, Emil (1950): „Review Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr“, in: Zeitschrift für
Kunstgeschichte, 13. Band, 1. Halbjahr, S. 158.
10
Ebd.
11
Vgl.: Emil Kieser, Review Verlust der Mitte, 1950, S. 158.
12
Ebd.
13
Vgl.: Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, 1948, S. 9.
14
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 9.
Hans Sedlmayr
15
Vgl.: Ebd., Kapitel „Das Chaos des totalen Abfalls“, 1948, S. 133 ff.
16
Emil Kieser, Review Verlust der Mitte, 1950, S. 160.
17
Vgl.: Zwischenüberschriften in Kapitel 5, wie z.B.: „Der entstellte Mensch (Die Karikatur)“ oder
„Das schreiende Bild (Problem des Plakats)“ in Sedlmayr, Verlust der Mitte, 1948, S. 117 und
S. 126.
18
Vgl.: Ebd., S. 161.
19
Vgl.: Ebd., S. 162.
20
Ebd., S. 109.
21
Alle Zitate dieses Abschnittes sind entnommen von: Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende
Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 109.
Dorothee Fischer
22
Ebd.
20
Ebd., S. 109.
21
Alle Zitate dieses Abschnittes sind entnommen von: Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende
Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 109.
22
Ebd.
Hans Sedlmayr
Sedlmayr sieht in den Serien Goyas Untermauert wird dies durch das
keine Metaphern oder Allegorien, die den Untertitel begleitende Zitat Erns
entschlüsselt werden müssen, sondern Jüngers aus Blätter und Steine: „Die
deutet diese als Traumdarstellung, verfallenen Altäre sind von Dämo-
die das Innerste des Künstlers verbild- nen bewohnt.“29
lichen. Damit verweist er auf die psy- Sedlmayr sieht des Weiteren einen Zu-
choanalytische Traumdeutung: sammenhang zwischen den neuarti-
72 gen eigentümlichen Motiven und in-
Sie können ebenso nur psy- novativen „eigentümlichen Bildmit-
chologisch gedeutet werden wie die tel[n]“30: So gewinne das Malerische
Träume selbst.25 gegenüber dem Plastischen an Wich-
tigkeit, „[o]ft wird der Hintergrund so
[Die] ‚Ikonographie’ [solcher] flach und wesenslos, daß man zwei-
Werke [wurzelt] nicht im allgemein Ver- feln kann, ob man nicht eine bloße
bindlichen […], sondern im Individuellen Kulisse sieht[.]“31
des träumenden Bewusstseins[.]26 Auch spricht Sedlmayr kritisch von
einer „wütenden Wildheit des Strichs,
In dieser Aussage steckt die Beob- die alle Form auflöst“32 Avantgardis-
achtung, dass eine Verschiebung der tische Methoden des Farbauftrages
sakralen hin zur primär profanen entgehen ihm nicht. Doch stellt er die
Kunst aus dem Individuum heraus Behauptung einer Verbindung zwi-
geschehe. Denn die moderne Kunst schen der Französischen Revolution
sei gekennzeichnet durch den „Ein- und den „Ausartungen“ in der Kunst
bruch des Höllischen in [die] Welt“ auf: nach ihm seien dies „Jahrzehnte
und auch in den Menschen selbst. [gewesen], in denen viele Künstler
Sedlmayrs These ist, dass mit dem von dämonischen Mächten besessen
Darstellen des Höllischen in der [waren.]“33 Nachdem er nun zunächst
Kunst auch „eine neue Auffassung die Gesellschaft für die Darstellungs-
vom Menschen überhaupt“27 erschei- weise in Goyas Werken verantwort-
ne. Die Ungeheuer und Gestalten lich gemacht hat, folgt ein Umschlag
Goyas seien „keine ‚Phantasie’ des in seiner Argumentation.
Künstlers, sondern eine erfahrene Er schreibt:
‚blutige’ Realität“28 , einhergehend
mit der Abkehr von der Religion. „Daß Goya dem Wahnsinn
23
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 110.
24
Vgl.: Ebd.
25
Ebd., S. 111.
26
Ebd.
27
Ebd., S. 112.
28
Ebd.
29
Ebd., S. 110.
30
Ebd., S. 113.
31
Ebd.
Dorothee Fischer
entgangen ist, hat seinen Grund darin, dieser anblickbaren Welt gleichartig
daß er inmitten dieses Bedrücktseins von aufgefaßt.“37
furchtbaren Visionen das Bild des Men- Während diese traditionellen Verfah-
schen festhalten konnte […] ren also der „Darstellung des Sicht-
Jenes Blatt […], das den Menschen ver- baren“38 dienten, beobachtet Sedl-
zweifelt kniend vor dem Dunkel des mayr einen Ausbruch aus diesem
Nichts zeigt, ist zweifellos eine Säkula- „nur gesehen“ hin zu einem „sehend
risation des Christus am Ölberg“34 hinzugewußt[en], vorgestellt[en], mit- 73
gedacht[en]“39; eine Malweise, die der
Hier spricht Sedlmayr von einem „natürlichen“ Darstellung entgegen-
der Werke Goyas, welches nicht das gesetzt sei und in Cézanne kulminiere.
Ungeheure zeigt. Gerade diese Aus- Cézannes Kunst stehe zwischen Im-
nahme sei nun sakral aufgeladen und pressionismus und Expressionismus40
zeige, dass der Künstler seine Mitte und sei:
wohl doch noch nicht verloren habe.
In den darauffolgenden Abschnitten […] die Darstellung dessen,
widmet sich Sedlmayr Caspar David was das von allen intellektuellen und ge-
Friedrich, dem „entstellten Menschen- fühlshaften Beimischungen gesäuberte
bild“35 in der Karikatur und Grand- „reine“ Sehen in der sichtbaren Welt vor-
ville bevor er im Abschnitt „Das reine fi ndet. Dieser Kampf um das pure Sehen
Sehen (Cézanne)“ über eine durch die ist selbst im hohen Grade Symptom.41
Andersartigkeit der Kunst bedingte
neue Art zu sehen schreibt.36 Dieses reine Sehen gebe es auch in
Sedlmayr fasst bisherige Verfahren der menschlichen Erfahrung, Sedl-
der Malerei mit den Linearkonstruk- mayr defi niert wie folgt:
tiven in Italien oder „dem empirisch-
malerisch[en]“ Konstruktionen bei Es ist jener seltene Zustand
den Niederländern zusammen. zwischen Erwachen und vollem Wach-
Beides seien Verfahren, die die Auf- sein, in dem sozusagen nur das Auge
gabe der Malerei als „die Darstellung wach ist, während der Intellekt noch
der im Sehen vorfi ndbaren Welt“ fest- ruht. Dann erscheint die gewohnte Welt
legen. Diese Konstruktionsverfah- als Gefüge von Flecken und Formen
ren gelten auch für fi ktive Motive verschiedener Gestalt, Farbe, Größe
– „auch jede Phantasiewelt wird als und ‚Konsistenz’; die gewohnten Dinge
32
Ebd.
33
Ebd.
34
Ebd., S. 114. Der Autor bezieht sich hier auf das erste Blatt aus Francisco de Goyas Desastres
de la guerra, Abbildung: siehe Prometheus Bildarchiv, Stichwort: Goya und Die Schrecken des
Krieges, URL: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dadaweb-6680989fc819d
5c14521a32377ec61240cbd6e42, zuletzt aufgerufen am 01. November 2017.
35
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 117.
36
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 122 bis S. 126.
Hans Sedlmayr
warten gleichsam hinter diesem farbi- […] Alles baut sich aus Farben
gen Gewebe, um aus ihm zu entstehen. auf [und] kommt zum Alleinherrschen
Dieses Gewebe […] enthält Raum, […] und ergreift das Bild.45
chaotischen Raum, von den Farben ge-
schaffen, untrennbar vermengt mit den Das Fehlen einer Komposition ma-
farbigen Elementen der Fläche.42 che die Bilder noch natürlicher –
„[s]o versteht man aber auch, daß die
74 In diesem Zustand läßt sich Bilder Cézannes viel natürlicher
von einer in dem farbigen Fleckengefüge sind, viel mehr der Wirklichkeit zu-
hervortretenden Linie nicht sagen, was gewandt, als man auf den ersten Blick
sie in der ‚Wirklichkeit’ bedeutet. Es läßt glauben möchte[.]“46 Diese Wirkung
sich auch nicht von der Beleuchtung grenzt er ab vom Impressionismus
sprechen, denn die ‚Beleuchtung’ kann (auch „Kunst des Nur-Sichtbaren“47 )
man von der Lokalfarbe nur dort ab- und der abstrakten Malerei (die kei-
heben, wo es ein Wissen um die Dinge ne vorgefundene, sondern eine er-
und ihre Farben gibt. Der Zauber die- fundene Welt darstellt).
ses Verhaltens besteht darin, daß alles An Cézanne sei das Einzigartige,
neu aussieht, daß das Alltäglichste eine dass seine Kunst
sonderbare ursprüngliche Frische, et-
was „Elementares“ gewinnt. Vor allem das Reich des Künstlerischen
gewinnt die Farbe, befreit von ihrer Auf- nicht durch ein Hinausgehen über die
gabe, die Dinge zu kennzeichnen, eine alltägliche Welt erreicht, nicht durch de-
nie gekannte Intensität. In dem Augen- ren Übersteigerung oder Überhöhung,
blick, wo unser helles Wissen sich ein- aber auch nicht durch die Verklärung
mengt, löst sich diese Erscheinung auf des Alltags, sondern durch ein Zurück-
und der Zauber ist zu Ende.43 gehen vor sie, gewissermaßen an die Ur-
Somit halten Cézannes Bilder einen sprünge, und daß sie hier das Reich der
„Zustand des Sehens fest[.]“44 Farbe ‚an sich’ entdeckt.48
Dies hat zur Konsequenz,
Dieses Ursprüngliche fi nde sie durch
[dass] bei dieser Einschrän- ein Verhalten, nicht durch einen „ge-
kung auf das pure Sehen […] in der Fläche genständlichen Bezirk“49.
die Farbe ein nie gekanntes Eigenleben
[erlangt.]
37
Ebd., S. 122.
38
Ebd., S. 123.
39
Ebd.
40
Ebd., S. 122.
41
Ebd., S. 123.
42
Ebd., S. 123 f.
43
Ebd., S. 124.
44
Ebd.
45
Ebd.
46
Vgl.: Ebd., S. 125.
Dorothee Fischer
Diese Kunst fordert somit: „einen Einfühlung bestehen. Alles ist in diesen
Zustand äußerster Teilnahmslosig- Zuständen tot und fremd, die Menschen
keit des Geistes und der Seele an sehen nur noch äußerlich, aber sie werden
den Erlebnissen des Auges [sic].“50 sich des seelischen Lebens der anderen
nicht mehr bewußt.52
Eine Forderung, die Sedlmayr nun
– nach vermeintlichem Schwärmen Sein Fazit im Abschnitt zu Cézan-
für den Künstler – als Menschenun- nes Kunst ist: 75
möglich bezeichnet, als außermensch-
lich und den „Ausbruch des Außer- [hier] beginnt die Welt labil zu werden.
menschlichen vor[bereitend.]“ Denn sobald Phänomene ohne Bedeu-
Denn: diese Kunst versagt „Einfüh- tung gesehen werden, werden sie als
lung“ und stelle den „Mensch[en] im schwankende, flüchtige, unbestimmte,
Widerspruch zur natürlichen Erfah- nicht solide Phänomene erlebt[.]53
rung mit [..] anderen Dingen auf eine
Stufe“, wie Holzpuppen, Automaten Nachdem Sedlmayr daraufhin in
und Mustern einer Tapete.51 Sedlmayrs „Das schreiende Bild (Problem des
Angst vor der Auflösung des Men- Plakats)“ problematisiert, was durch
schen wird hier in einer längeren Pas- das relativ junge Medium des Plakates
sage seines Wortlauts deutlich: passiert, schließt er mit den letzten
beiden Abschnitten sein Kapitel ab.
Cézannes Kunst ist ein In „Die entfesselte Malerei und das
‚Grenzfall’. Sie ist wie ein schmaler Grat Chaos“ zeigt sich, dass für Sedlmayr
zwischen dem Impressionismus und die Malerei nach 1900 und die mo-
dem Expressionismus, sie bereitet in derne technisierte Architektur zu-
ihrer unnatürlichen Stille den Ausbruch sammen gehören, „obwohl die neue
des Außermenschlichen vor. Denn sie Architektur so kühl und ‚sachlich’,
führt dazu, daß der Mensch im Wi- die neue Malerei so wild und irrsinnig
derspruch zur natürlichen Erfahrung erscheint“54, denn sie haben die „ge-
mit den anderen Dingen auf eine Stufe meinsame Neigung zum Auflösen
kommt. […] Hier grenzt das Verhalten der alten Ordnungen.“55 So sei bei
dieser vermeintlich ‚reinen’ Maler an das Architektur wie moderner Malerei
Pathologische, an jene krankhafte Er- unklar was oben und unten sei, beides
scheinungen, die in einem Versagen der sei derartig innovativ, dass es mit
47
Ebd.
48
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 125.
49
Ebd.
50
Ebd.
51
Ebd, S. 125 f.
52
Ebd., S. 126.
53
Ebd.
Hans Sedlmayr
nichts zuvor Gewesenem vergleich- Für Sedlmayr sind „[a]lle drei [Chaos,
bar sei. Dies sei „ein Anzeichen für Tod, Hölle] Gegenbilder des Men-
das Außermenschliche, Un-Mensch- schlichen“ und „[d]ie Darstellung der
liche dieser Kunst“.56 Als Beispiel für durch diese Mächte entstellten Welt
diese These nennt er die Montage- ist der Stoff der ‚neuen’ Malerei.“61
technik als Ergebnis der Suche eines Sedlmayr zur Folge könne sich nichts
Gestaltungsmittels, um das Außer- dem Einbruch der Unterwelt entzie-
76 menschliche darzustellen.57 hen, die Menschen werden zu Ge-
Das Bild ist zum eigenständigen Phä- spenstern, Insekten, Automaten usw.,
nomen geworden und kann keine was in und durch die Malerei gezeigt
Dekoration an der Wand mehr sein, werde.62
sondern müsse wie ein Buch für sich
betrachtet werden.58 Mit dieser Begründung erklärt Sed-
Auch gewohnte Motive werden wie in lmayr alle –Ismen
Rauschzuständen gezeigt, die Kunst
sei „von einem unbezähmbaren Drang als nur oberflächlich verschie-
ergriffen, in ihrer Anschauung die dene Äußerungen der gleichen erzeu-
Grenzen des ‚nur’ Menschlichen zu genden Grundkräfte […] – denn das
überschreiten.“59 Menschliche ist in allen seinen Erschei-
Gleichwohl Sedlmayr in der griechi- nungen eines, seine Verneinungen aber
schen Kunst Analogien fi ndet – so sind viele – 63
ringen beide ‚Künste’ immer mit den
Urmächten von Chaos und Tod – Er fährt fort seine Theorie zu
grenzt er die „neue Malerei“ negativ verteidigen:
von der antiken Kunst ab:
[Diese Theorie] läßt auch
Die neue Malerei hat in ih- schon ihre Unterschiede bis hinein in die
rem wütenden Drang, die Fesseln des Einzelheiten der Technik durchschauen,
Nur-Menschlichen abzustreifen, diese die großartige Mittel zur Darstellung
beiden Mächte in die Kunst eingelassen dieser Unwirklichkeiten entwickelt hat.
und mit ihnen eine dritte, die das Grie- Sie erklärt aber auch auf die direkteste
chentum noch nicht gekannt, die erst Weise den instinktiven Widerwillen des
das Mittelalter hervorgebracht hat: die ‚natürlichen’ Menschen gegen diese Bil-
Hölle.60 der, der einen tiefen Grund hat und nicht
54
Ebd., S. 128.
55
Ebd.
56
Ebd., S. 129.
57
Vgl.: Ebd.
58
Vgl.: Ebd., S. 128.
59
Ebd., S. 129.
60
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 129.
61
Ebd.
62
Vgl.: Ebd., S. 130 f.
Dorothee Fischer
als der Hohn der ihre Beschränktheit ver- alle nach 1880 Geborenen hätten dies
teidigenden Banausen gegen alles Neue zum Schicksal.71
und Außerordentliche abgetan werden Sedlmayr markiert die Nachkriegszeit
kann.64 als „Verfall [ – ] geistesgeschichtlich
erscheinen jetzt die extremsten Aus-
Sedlmayr postuliert, dass die nord- artungen“72 und die neue Sachlichkeit
alpine Kunst das Bild des entstell- als „,letzte’ Kunst“73, eine These die
ten Christus sowie das der Hölle er- er abschließend in „Das Chaos des 77
schaffen habe. totalen Abfalls“ untermauert. Beglei-
Doch habe es immer als Gegenbild tet wird der Titel mit einem Zitat von
zum Himmel gedient und sei nun Fjodor Michailowitsch Dostojewksij:
aus diesem Kontext entnommen.65 „Warum liebt der Mensch bis zur Lei-
In diesem Zuge bespricht Sedlmayr denschaft gleichfalls die Zerstörung
Künstler wie Munch und Schiele, wel- und das Chaos?“74
chen der sakrale Bezug abhanden ge-
kommen sei. Durch ihr Betreiben von Dieser letzte Abschnitt handelt vom
„Höllenkunst“ an dessen Schwelle, Surrealismus, der nach Sedlmayr ein-
zeigten sie allerdings trotz der Auflö-
deutigsten Form des Verfalls.
sung von Welt und Körper noch for- In ihm hätten sich mehrere Grund
male Ordnung und Schönheit.66 störungen vereint: „die Schätzung
Dennoch bezeichnet Sedlmayr einen des Alogischen, das Sich-Öffnen dem
großen Teil dieser Kunst als „tatsäch-
Chaos, der Verismus der Darstellung
lich nicht mehr Kunst“67 und die Eiseskälte der Faktur“75, dies
Die neue Malerei „erscheine unter ei-seien Elemente von „schlechter“-
ner Vielzahl ideologischer Masken“68,Kunst, ihre Quelle ist das „Vorfeld
des Wahnsinns“76, denn „Leitthema
welche sie erst in ihrer „letzten zyni-
schen Phase, im Surrealismus“69 ab- der surrealistischen Produktion ist
geworfen habe; dies habe auch dafür das absolute Chaos.“77
gesorgt die Grenzen dessen, was Kunst„Ihr Gegenstand ist, alles in allem, das
sei, zu verwischen.70 ‚Chaos des totalen Abfalls’“,78 der
Surrealismus will Sonderbarkeiten
All dies sei ein Symptom dafür, dass in ihrer Sonderbarkeit festhalten und
„[d]ie Abwendung vom Menschen Motive werden, „auch wenn sie dem
[…] unmerklich eingesetzt“ habe, Unbewußten entnommen [sind], so
63
Ebd., S. 131.
64
Ebd.
65
Vgl.: Ebd.
66
Vgl.: Ebd. S. 131 f.
67
Ebd., S. 132.
68
Ebd.
69
Ebd.
70
Vgl.: Ebd.
71
Ebd., S. 133.
72
Ebd.
Hans Sedlmayr
73
Ebd.
74
F. M. Dostojewksij, zitiert nach Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und
20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 133.
75
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom
und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 133 f.
76
Ebd., S. 134.
77
Ebd.
78
Ebd., S. 134.
79
Ebd.
80
Ebd., S. 135.
Dorothee Fischer
81
Ebd.
82
Ebd., S. 136.
83
Maria Männing, Wiener Schule, 2016, S. 32.
84
Gert Kerschbaumer, Hans Sedlmayr, 1992, S. 176.
85
Vgl.: Sorensen, Lee (2017), „Hans Sedlmayr”, in: Dictionary of Arthistorians, Online-Beitrag, URL:
https://dictionaryofarthistorians.org/sedlmayrh.htm , zuletzt aufgerufen am 25. Oktober 2017.
Hans Sedlmayr
86
Feist, Peter (2007): „Hans Sedlmayr“, in: Peter Betthausen; Peter H. Feist; Christiane Fork (Hrsg.),
Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten,
Stuttgart, S. 402.
87
Zaloscer, Hilde (2004): „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte, Münster, S. 283.
88
Einen ausführlichen Abriss zu Strzygowski gibt Zalascer in ihrem Text „Kunstgeschichte und
Nationalsozialismus“ (2014), primär auf den Seiten 284-294.
89
Vgl.: Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und…
Dorothee Fischer
gut wie unangreifbar und alles an- der Nationalsozialismus auf primiti-
dere als karriereschädigend“109, be- vere, grobschlächtigere Weise gestem-
merkt Kerschbaumer. Doch hatte pelt hatte: als ‚entartete’ Kunst.“112
Sedlmayr in den Münchener Jahren
zunehmend an Polemik verloren und
in Salzburg schließlich konnte er neue Verlust der Mitte und seine
Thesen aus den Vorjahren in die Pra- zeitgenössische Relevanz
xis umsetzen und so z.B. das Altstadt- 83
erhaltungsgesetz voran bringen, wo- Nach dem Zweiten Weltkrieg herr-
durch ihm nach der Zeit akademi- schte eine allgemeine Ratlosigkeit
scher Exklusion bis in die 1970er über die Kunst, die auf ihre Art ver-
Jahre ein glanzvoller neuer Status suchte das Geschehene zu verarbei-
zukam.110 ten. Die Alliierten forderten gemein-
Schließlich wurde ihm 1972 in Salz- sam mit der deutschen Kulturpolitik
burg sogar die Ehrendoktorwürde eine ästhetische Bildung. Die Folge
verliehen.111 dessen war eine Avantgarde-Program-
Auch wenn Sedlmayr u.a. dadurch matik, die mit dem zweiten Deut-
letztlich (wieder) Teil des kunstge- schen Kunsthistorikertag 1949 und
schichtlichen Kanons wurde, ist eine unterstützt durch die Darmstädter
Nähe zum Nationalsozialismus in sei- Gespräche im Folgejahr sowie dem
nen Texten bis heute ablesbar und Beginn der Documenta ab 1955 ih-
kritisch zu beurteilen. ren Anfang nahm.113 So ist Sedlmayrs
Beschreibt Sedlmayr die „neue Kunst“ Buch auch insofern ein provokati-
als „höllisch“ und „chaotisch“, so sind ver Text, als dass – bevor es zu einer
dies – aus heutiger Zeit – Denun- wissenschaftlichen Auseinanderset-
zierungen, die nicht weit entfernt zung mit moderner Kunst nach dem
scheinen zu den wenige Jahre zuvor Nazi-Regime kommen konnte –
durch die Nationalsozialisten propa- Sedlmayr seine Modernismuskritik
gierten „entarteten“ Kunst und somit in der Tradition der NS-Propaganda
Adjektive, die mit dieser Phase kon- veröffentlichte. Doch muss man mit
notiert sind. So wird sein Buch zu ei- Blick auf die damalige Zeit eingeste-
nem „einzige[n] Plädoyer gegen die hen, dass „Hans Sedlmayrs Werk […]
moderne Kunst, die sich in langen [inhaltlich vorrangig] im Kontext
Analysen als das erweist, zu dem sie der deutschsprachigen Kulturkritik
107
Ebd., S. 178.
108
Vgl.: Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 294.
109
Ebd., S. 175.
110
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 31
111
Vgl.: Beyer, Andreas (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont, S. 24.
112
Hilde Zaloscer: „Kunstgeschichte und Nationalsozialismus“, in: Friedrich Stadler (Hg.),
Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und…
Dorothee Fischer
demselben Arsenal gegriffen. Sedlmayr Position, die moderne Kunst und Re-
befreite die Kunstgeschichte nicht von ligion zusammendachte:
den in der NS-Ära aufgetürmten Feind-
bildern, im Gegenteil.118 Die moderne Kunst ist aber
Zugleich sind Beschreibungen wie auch positiv zu sehen [...] [und] hat uns
die folgenden eigentlich nicht zu re- das Relative unseres Weltbildes zum
lativieren. Bewusstsein gebracht, die Wirklichkeit
von Gefallenheit und Sünde. [...] Fragen 85
[...]Tod des Gesamtkunstwerks’, wir nun: Was ist unsere Aufgabe? Auf
‚Das entfesselte Chaos’, ‚Der entstellte keinen Fall ein Zurück. Katholisch sein
Mensch’, ,Das Chaos des totalen Abfalls’, heißt ja sagen. Kirche und Kunst müs-
Hinab zum Anorganischen’ und der- sen sich unausgesetzt konfrontieren,
gleichen mehr. Das sind schlagwortartig zum Schluß gibt es ein Gespräch.121
formulierte Überschriften im Buch Sedl-
mayrs, die ebenso den NS-Vernichtungs- Nicht nur innerhalb des deutschspra-
apparat und seine Handlager charakteri- chigen Raumes gab es Einsprüche
sieren könnten. Sedlmayrs Attacken rich- gegen Sedlmayrs Position, auch
ten sich aber nicht gegen die Täter, son-
dern gegen die Opfer, denen der ‚Verlust [i]m Ausland verstanden Kri-
der Mitte’ angelastet wird.119 tiker Sedlmayrs Schrift als eine Legiti-
mierung der Vertreibung und Vernichtung
Doch andere Kollegen Sedlmayrs der ‚entarteten’ Kunst und als einen An-
gingen soweit, die modernen Künst- griff auf die im Exil und in Ghettos der be-
ler mit Ausrufen „,Man müsste diese freiten Staaten wirkenden Avantgarde.122
Kerle alle vergasen!’“120 (im Jahr 1951!)
zu beschimpfen – dies beweist, die Ein weiterführender Punkt bei der
Ignoranz gegenüber der wenige Jahre Betrachtung des zeitgenössischen
zuvor stattgefundenen nationalsozia- Kontexts ist, dass „[d]ie Forschung
listischen Verbrechen. Vergessen wir zur Hysterie in der zweiten Hälfte
aber nicht die Gegenstimmen Kunst- des 19. Jahrhunderts […] einen folgen-
mäzen und Priester Otto Mauer bei- reichen Paradigmenwechsel ein [lei-
spielsweise argumentierte auf den tete]. Damit wurde neben dem Körper
Salzburger Hochschulwochen 1950 endlich auch die Seele krankheits-
gegen Sedlmayr und präsentierte eine würdig.“123 Ohne die aufkommenden
121
Mauer, Otto (1950), zitiert nach Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 176.
122
Gert Kerschbaumer (1992): Hans Seldmayr, S. 177.
123
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 32.
124
Vgl.: Ebd.
125
Peter H. Feist (2007): "Hans Seldlmayr", in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Portraits
deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 402.
Dorothee Fischer
Verlust der Mitte […] nicht nur So liefert er eine moderne Cézanne-
besorgten Kulturbürger_innen sondern Interpretation, die seines Gleichen
auch Kunsthistoriker_innen Argu- sucht und beschreibt treffend das Au-
mente [lieferte], sich nicht mit neuerer tonomwerden der einzelnen Mittel.
Kunst befassen zu müssen. Dank des
Verlustes der Mitte konnte die Kunstge- Seine strukturell exakten Bildanaly-
schichte bis in die 1980er Jahre hinein sen sind beeindruckend genau und
gegenüber der zeitgenössischen Kunst auch heute noch aktuell, so z.B. in 87
weitestgehend immun bleiben.130 Diskursen der phänomenologischen
Kunstwissenschaft.
Eine hohe zeitgeschichtliche Rele- Jedoch interpretiert Sedlmayr dieses
vanz kommt Sedlmayrs Text auch in- Autonomwerden von Farbfeldern als
sofern zu, als dass sein „kulturkämp- negativ. Seine Diagnose ist somit pro-
ferische[r] Impetus, […] ihn zum meist- blematisch, nicht seine Anamnese.
gelesenen deutschsprachigen Kunst-
historiker seiner Generation machen Diese modernen Beschreibungsver-
sollte.“131 fahren sind allerdings nicht Sedlmayr
Dem Beispiel Sedlmayrs folgten Ex- allein zuzuschreiben. Er orientiert sich
perten wie Laien, die mit moderner zum Beispiel an Vorbildern wie Meyer
Kunst ‚nichts anzufangen wussten’ Schapiro, der bereits vor dem Zweiten
und sich so durch ein akademisches Weltkrieg vergleichbare Stilanalysen
Vorbild erlauben konnten, das Neue schrieb.132
als schlecht abzutun. Dennoch wurde durch Sedlmayrs
Die bis heute auch aktuelle Bedeut- Publikation Verlust der Mitte entschei-
samkeit des Textes wird anhand des dend dazu beigetragen, dass „Sedl-
Umstands offensichtlich, dass Laien mayrs Systematik die Kunsthistorio-
neuerer Kunst beispielsweise allzu grafie der Moderne bis heute subku-
oft mit einem „Das kann ich doch tan prägt. Sie hat sich im Unbewuss-
auch“-Habitus begegnen. ten der Fachkultur festgesetzt.“133
Gleichwohl provozierte die Publika-
Sedlmayrs Werk ist durch das Paradox tion eine brisante Kontroverse, da
einer pro-modernen Werkbeschrei- Sedlmayr mit ihr Gedankengut des
bung und einer contra-modernen NS-Regimes weiterführte. Es scheint
Wertung gekennzeichnet. als fiel die Rezeption Sedlmayrs in
126
Ebd.
127
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 32.
128
Ebd.
129
Vgl.: Ebd., S. 28-39.
130
Ebd. S. 28.
131
Andreas Beyer (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont, S. 26.
Hans Sedlmayr
der Nachkriegszeit kritischer aus, als in seinem Artikel Als die Moderne Gott
in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- vertrieb auf Hans Sedlmayr und ver-
hunderts.134 Dies legt nahe, dass wo- teidigt dessen Ruf.137 Dies weist dar-
möglich in den dazwischenliegenden auf hin, dass das rechtskonservative
Jahren verdrängt wurde, welche poli- Spektrum bis heute von der Figur
tische Ideologie Sedlmayr vertrat. Um Sedlmayrs angezogen wird.
die heutige Relevanz des Textes ein-
88 zuschätzen genügt jedoch ein Blick auf [Gauland] verharmlost Sedl-
die aktuelle Tagespolitik. Nach dem mayr, indem er ihn nicht nach seinem
Präsidentschafssieg Donald Trumps Parteiabzeichen beurteilen will, son-
in den USA zog bei der vergangenen dern statt dessen seine Argumentation
Bundestagswahl mit 12,6 Prozent die von der ‚alte[n] Reichsmystik’ abzulei-
rechtskonservative Partei AfD in den ten versucht. Was diese ‚alte Reichsmys-
deutschen Bundestag ein.135 tik’ sein soll, bleibt allenfalls vage.138
Männing untermauert, dass eine Be-
schäftigung mit Sedlmayr durch po- Auf diese alte und zugleich unkon-
litische Veränderungen der letzten krete Mystik vergangener Zeiten be-
fünf Jahre zunehmend an Brisanz zieht sich auch Sedlmayr in seinen
gewinnt: Schriften. So
Einer der AfD-Gründer und nach Alles war Sedlmayr auf deskriptiver
wie vor zentrale Figur der Partei, Ale- Ebene schreibt ist faktisch korrekt,
xander Gauland, bezieht sich 2008, doch seine Gesamtdeutung ist pro-
als Gastautor in der Zeitung Die Welt, blematisch.
132
Nach Veröffentlichungen von Artikeln publizierte Meyer Schapiro zwei Bücher die thematisch
stark an Sedlmayr erinnern. Vgl. Schapiro, Meyer (1952): Paul Cezanne, New York, oder Schapiro,
Meyer (1982): Moderne Kunst – 19. und 20. Jahrhundert, Köln.
133
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 38.
134
Vgl.: Ebd., S. 30.
135
Vgl.: o.V., Wahlergebnisse Bundestagswahl 2017, in: Homepage der Tagesschau, URL: https://
www.tagesschau.de/inland/btw17/index.html zuletzt aufgerufen am 31. Oktober 2017.
Dorothee Fischer
Daß Sedlmayr noch in der und Epochen ein und dasselbe ge-
Ablehnung […] in der Beschreibung wesen. Vergleicht er mehrere aufei-
treffsichere Beobachtungen gelingen nander folgende Jahrhunderte mitei-
als vielen Befürwortern, erhellt letztlich nander ist die Feststellung, das eine
das Dilemma, in das die ideologische Veränderung erst im Laufe der letzten
Fixierung den außerordentlich begab- Jahrzehnte stattfand inkonsequent.
ten Betrachter getrieben hat.140 Denn dies bedeute, dass die Mensch-
heit unveränderlich agierte, eben bis 89
Ein Vergleich zwischen Hans Sedl- zu dem Zeitpunkt an der es seiner
mayr und Max Imdahls Theorien These zuträglich ist. Zudem können
zeigt, dass die Bildbeschreibung Im- neue Wege der Verarbeitung der erleb-
dahls der von Sedlmayr ähnelt,141 ten menschlichen Krisen in der Kunst
doch diagnostiziert Imdahl der Kunst auch als positiv und progressiv gedeu-
keine Deformation, sondern beschreibt tet werden. Sedlmayrs Versteifung
sie innerhalb seiner Theorie der Iko- auf das Religiöse ist womöglich auch
nik positiv deutend als innovativ. als Nachhall der beiden Weltkriege,
der Suche nach Geborgenheit durch
Durch Imdahls Verteidigung der Altbekanntes zu verstehen.
gegenstandslosen Kunst gegen die
Polemik Sedlmayrs, wurden entschei- Das hier betrachtete Kapitel wirkt
dende Impulse in der Theoriebildung außerhalb des Gesamtkontexts zwar
gesetzt und Sedlmayr wurde zur bereits kritisch gegenüber der „neuen“
Schattenfigur Imdahls. Kunst der Moderne, teilweise be-
schreibt er diese für ihn eigentlich
Die langfristig geringe Rezeption „schlechte“ Kunst aber nahezu eu-
Sedlmayrs ab der zweiten Hälfte des phorisch. Dies erscheint etwas inkon-
20. Jahrhunderts kann somit auf des- sistent in der Argumentation und
sen Verbindung zu nationalsozialis- besonders bei dem Part zu Cézanne
tischen Gedankengut zurückgeführt scheint unklar, wie er die Wirkweise
werden. der Werke Cézannes so treffend schil-
dern kann um sie dann, beinahe argu-
Sedlmayr argumentiert zudem so, als mentationslos, als außermenschlich
seien das Wesen der Kunst und das zu deklassieren.
Wesen des Menschen in allen Zeiten
136
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 39. dann mit Verweis
auf Guido Westerwelle (2010), „An die deutsche Mittelschicht denkt niemand“, in: Die Welt,
11.02.2010, online abrufbar unter: URL: http://www.welt.de/634790.
137
Vgl.: Gauland, Alexander (2008): „Als die Moderne Gott vertrieb”, in: Die Welt, 23.03.2008, URL:
http://www.welt.de/1820147, zuletzt aufgerufen am 31. Oktober 2017.
138
Maria Männing (2016): „Wiener Schule. Kunstgeschichte mit Konsequenzen: Hans Sedlmayr“,
in: Nkf. NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Ausgabe 02/2016, S. 39.
139
Ebd.
140
Andreas Beyer (1996): Zehn Klassiker der Kunstgeschichte, Köln: DuMont, S. 26.
Hans Sedlmayr
Alles in allem ist es eine religiös be- Die Problematik des Textes auf po-
haftete Theorie, die stark hierarchisch litischer Ebene ist aus heutiger Per-
funktioniert und wertende Dichoto- spektive offensichtlich. Doch ist es
mien wie „gut“ und „schlecht“ benutzt wichtig, dass die Kunstanalysen au-
– und dies teilweise vorschnell. ßerhalb ihres politischen Kontextes
zu wertschätzen sind und für sich al-
Abschließend lässt sich sagen, dass leinstehend fruchtbar gemacht wer-
90 diese Schrift in Tradition der Na- den können. Die Lektüre des Textes
tionalsozialisten gegen „entartete“ wird zugleich mit der Betonung der
Kunst im Jahr 1948 keinen so großen inhaltlichen Nähe zum NS-Regime
Nährboden fi nden konnte, dass sie zu einem wertvollen Beitrag inner-
unumstritten in den kunstgeschicht- halb der deutschen Erinnerungs-
lichen Kanon eingehen konnte. kultur. Ferner zeigt der Text, in welche
Gleichwohl sind Sedlmayrs Beobach- Krise auch die Kunstwissenschaft
tungsgabe und Werkanalysen bril- durch den Nationalsozialismus sowie
lant. Denn „[o]bwohl Methode und die zwei Weltkriege gestürzt wurde.
Urteil anfechtbar sind, dringt Sedl-
mayrs kritischer, mit weitem Über- Zusammenfassend lässt sich sagen,
blick verbundener Scharfsinn, tief in dass Verlust der Mitte eine zwiespälti-
die kunst- und geistesgeschichtliche ge Nachwirkung hatte.
Struktur der Epoche ein.“142 Zum einen scheint Sedlmayrs Polemik
Seine abwertende Grundhattung ge- gegen moderne Kunst direkt nach dem
genüber der modernen Kunst hindert Zweiten Weltkrieg aus heutiger Sicht
ihn nicht daran neue Gestaltungs- undenkbar, zum anderen führt Sedl-
mittel dieser Kunst zu erkennen und mayr in diesem Text eine Verwissen-
zu beschreiben. So handelt es sich hier schaftlichung einer Modernismus-
um einen Schlüsseltext, weil der Text kritik vor, an der Kulturskeptiker
auch exemplarisch zeigt, dass man un- auch heute noch anknüpfungsfähige
abhängig von seiner politischen Ge- Argumentationsstränge finden.
sinnung um einen neutralen Stand-
punkt in seiner wissenschaftlichen Ar- Zum Abschluss ein letztes Zitat um
beit bemüht sein muss. den Beitrag zu Sedlmayrs Hauptwerk
Verlust der Mitte zu beenden:
141
Vgl.: Imdahl, Max (1987): „Bildbegriff und Epochenbewusstsein?“, in: Reinhart Herzog; Reinhart
Koselleck, Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München: W. Fink S. 221-241 sowie der
Beitrag zu Max Imdahl des vorliegenden Readers.
142
Kieser, Emil (1950): Review Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr, in: Zeitschrift
für Kunstgeschichte, 13. Bd., H. 1, S. 158-162.
Dorothee Fischer
143
Peter H. Feist (2007): "Hans Seldlmayr", in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Portraits
deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 401.
Hans Sedlmayr
Quellenverzeichnis
Feist, Peter H (2007): Hans Sedlmayr, in: Peter Betthausen; Peter H. Feist;
Christiane Fork (Hg.), Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210
Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart, S. 401-404.
Gauland, Alexander (2008): Als die Moderne Gott vertrieb, in: Die Welt,
23.03.2008, URL: http://www.welt.de/1820147, zuletzt aufgerufen am 31.
Oktober 2017.
Kieser, Emil (1950): Review Verlust der Mitte von Hans Sedlmayr, in: Zeitschrift
für Kunstgeschichte, 13. Bd., H. 1, S. 158-162.
Männing, Maria (2017): Hans Sedlmayr. Eine kritische Studie, Köln, Weimar,
Wien.
Prometheus Bildarchiv (2017), Stichwort: Goya und Die Schrecken des Krieges,
URL: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dada-
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am 01. November 2017.
Sedlmayer, Hans (1948): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20.
Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg.
93
Sedlmayr, Hans (1950): Die Entstehung der Kathedrale, Freiburg.
Sedlmayr, Hans (1964): Der Tod des Lichtes. Übergangene Perspektiven zur
modernen Kunst, Salzburg.
Schlosser, Julius von (1934): Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick
auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich, in: Mitteilungen des österrei-
chischen Instituts für Geschichtsforschung, Ergänzungsband XIII, Nr. 2,
S. 145-210.
Schwarz, Hans (1947): Die Säkularisation der Hölle, in: Wort und Wahrheit,
Band II, S. 663-676.
1
Vgl.: Gehlen, Arnold (2016 [1960/86]): Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen
Malerei. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 16.
95
Arnold Gehlen
2
Vgl.: Ebd.
3
Vgl.: Ebd.
Magdalena Meyer
4
Vgl.: Ebd., S. 17.
5
Vgl.: Ebd., S. 18.
6
Vgl.: Ebd., S. 236.
Arnold Gehlen
7
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 73.
8
Die optimale „peinture conceptuelle“ wird von Gehlen wie folgt beschrieben: „Nun plädieren
wir ja für eine „peinture conceptuelle“, die in die Konzeption des Bildes eine These über seinen
Daseinsgrund mit hineinnimmt und im Zusammenhang mit einer solchen These sich gedanklich
über die Darstellungsmittel und Formprinzipien Rechenschaft gibt. | Wenn eine peinture con
ceptuelle gegeben ist, dann sind völlig angemessene und deckende Kommentare möglich, wie der
von Kahnweiler über den Kubismus oder wie die Selbstkommentare Klees [sic].“ - Arnold Gehlen:
Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 230.
9
Ebd., S. 134 f.
Magdalena Meyer
Dadurch, dass Gehlen den Kommentar muß sie mit dem „Widerstand“ rechnen.
hier als wesentlichen Bestandteil zum Im übrigen bemerkt man am Beispiel des
Verständnis und Zugang eines Werkes Impressionismus, daß das Publikum sich
beschreibt, muss ein neues Konzept des an Gestaltungsgrundsätze gewöhnt, die
Werkbegriffs ins Leben gerufen werden. ihm zunächst rätselhaft waren. Die heute
Dies geschieht vor allem in Teil IX Kom- uferlose Kommentliteratur setzt, kurzge-
mentarbedürftigkeit.10 Der Gegenstand und sagt, die an die moderne Kunst gerich-
der Begriff wandern neben das Bild und tete Frage „was soll das überhaupt“ vo- 99
wandeln sich zum Begleittext. Fragen, die raus, und sie sollte jetzt sagen, warum „das
der Betrachter an das Werk der moder- da ist“ und warum „das so ist“, denn man
nen Malerei stellt sind nicht mehr allein kann diese Antworten aus dem Kunst-
durch die Betrachtung des Bildes zu be- werk selbst und unmittelbar selten über-
antworten. „Was soll das überhaupt?“, nehmen [sic].11
„Warum ist das da und warum ist das ge-
nau so?“ müssen jetzt durch den Kom- Die Aufgaben der Kommentare las-
mentar beantwortet werden, um das Werk sen sich in verschiedene Bereiche
verständlich zu machen. Somit wird die unterteilen. Zum einen rechtfertigen
Begleitliteratur zum substanziellen Be- sie den Souveränitätsanspruch der
standteil der Kunst und legt sich wie ein modernen Malerei, indem sie die
zweiter Rahmen um das Bild. Frage „Was soll das überhaupt?“ be-
antworten. Zum anderen sind Kom-
Im allgemeinen sind alle Rich- mentare in der Lage Verfahrensprin-
tungen der modernen Malerei kommen- zipien und Techniken zu erläutern,
tarbedürftig, die Abstraktion am meisten, um den Schaffensprozess des Bildes
der Surrealismus am wenigsten, weil des- zu beleuchten. Abgesehen davon er-
sen verdichtete Symbolik recht unmittel- füllt der Kommentar eine informa-
bar in affektive Schichten des Unterbe- torische und propagandistische Funk-
wusstseins hineinwirkt. tion. Das zögernde Publikum, wel-
Immerhin muß wenigstens erklärt wer- ches sich nach und nach an das Neue
den, weshalb diese Richtung trotz der ganz in der Kunst gewöhnen muss und sich
hervorragenden Qualität ihrer Haupt- einsehen muss, wird durch den ap-
vertreter Max Ernst und Masson im all- pellierenden, evozierenden und be-
gemeinen wenig Resonanz findet: Mit schwörenden Tons des Kommentars
psychoanalytischen Mitteln arbeitend, an die Thematik herangeführt.12
10
Vgl.: Ebd., S. 229-240.
11
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 231 f.
Arnold Gehlen
Außerdem kann der Kommentar die zweiter Rahmen um die Bilder herum,
tief verdeckte, innenoptische Bild- deren „Optizismus“ den Gedanken zu-
stimmigkeit ins Bewusstsein heben gleich anstachelt und abweist, aufruft und
und die Rolle und den Stellenwert der weiterschickt; in vielen Fällen liefern
zeitgenössischen Kunst im System sie | sogar etwas wie ein Surrogat des
der modernen Kultur beschreiben.13 verschwundenen Gegenstandes, wenn sie
Nicht nur die Aufgabe und Funktion z.B. den „kosmischen Jargon“ handhaben
100 des Kommentars kann sehr unter- und behaupten, daß der Künstler Meta-
schiedlich sein, auch seine Form des physik gemalt habe. Wenn aber diese Be-
Erscheinens ist sehr vielfältig. Ma- gleitliteratur zur Sache selbst gehört, wenn
nifeste, Kritiken, Bücher, Broschü- sie einen Bestandteil der Substanz der
ren, Ausstellungstexte Vorträge und neuen Kunst bildet, dann muß sie sich
alles Kunstgerede sind Teil der ufer- ebenso einer Kritik stellen, wie die mit
losen Kommentarliteratur. ihr verkoppelten Malerei [sic].14
12
Vgl.: Ebd., S. 236.
13
Vgl.: Ebd., S. 74.
14
Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 231.
Magdalena Meyer
„im Durchschnitt trauriges Niveau, Je näher nun das Bild der Ab-
ein lyrisches Parteichinesisch“15 zu- straktion, und innerhalb dieser wieder
schreibt.16 Ein Grund dafür ist der der sog. informellen steht, um so schwie-
Mangel an Fachsprache. Kommen- riger wird es, überhaupt noch optisch
tare versuchen die Unmittelbarkeit isolierbare Bildelemente herauszulösen,
des Bildes in die Unmittelbarkeit der denn jede Einzelheit „verschwimmt“ in
Sprache zu übersetzen, doch die op- der benachbarten. Weder das Wort noch
tische Materie lässt keine Transfor- die Analyse des Auges kommen dann 101
mation in Sprache zu. noch an klar Abgrenzbares heran, und
man kann sich vorstellen, in welche Not
Im gleichen Augenblick also, der Kommentator gerät, der jetzt etwas
da das Bild selbst uns zum Kommentar sagen soll, das nicht genau so gut oder
weiterschickt, wird er so gut wie un- schlecht auf beliebig viele andere Bilder
möglich. Die Worte fallen ihm aus.17 paßte.19
15
Ebd., S. 75.
16
In einem Brief an Kahnweiler schrieb Gehlen einst, es seien „zu viele junge Leute, die besser
Anstreicher oder Tankstellen-Warte geworden wären“, verführt worden durch die „immense und
trügerische Propaganda der Presse, durch die ‚modernen‘ Professoren der Akademien, die leer
wären, wenn diese Leute wegblieben, durch die hochgelogene Wichtigkeit schlechter Kunst (Gilles,
Baumeister, Chagall, Soulages…), durch die allgemeine öffentliche Suggestion des ‚leichten Lebens‘,
durch die weiche Nachsicht mit der Jugend.“ Dem entsprächen die Phrasen der Kunstbücher und
es gebe für diese Leute „nur zwei Wege: in den Gag, die Farce, die Spielerei, das, was auf der
Biennale erschien“, von der er nach einem Fernsehbericht notierte: „grausiger Eindruck“ Die
andere Alternative sei der Massenverkauf von „dekorativen, garnierten Sachen“, etwa von…
Arnold Gehlen
Ein Abflauen der Kommentare wirkt Daher kann das Werk als ein kompro-
laut Gehlen sogar tödlich für die missloser Versuch, Werke der Kunst-
Kunst, da dies Stillstand bedeuten geschichte und -gegenwart von ihrer
würde. Wenn der Kommentar jedoch Bildrationalität her zu deuten, gese-
in der Gesellschaft zirkuliert, wird das hen werden. Zusätzlich betrachtet er
Kunstwerk durch ihn erweiterbar und den Prozess der Kommentarentste-
ist stets in einer Prozesshaftigkeit be- hung und die Zirkulation der Kunst
102 griffen. Zudem gewöhnt der Kom- durch den Kommentar in der Ge-
mentar das Publikum an Neuerungen sellschaft. Sein Interesse an der Kunst
und Ungewohntes in der Kunst. ist nicht „ein individuell begrenztes“,
sondern eine menschliche Möglich-
Andererseits sind die Kom- keit einer „Reaktion auf die Welt.“23
mentare mindestens noch so lange Dadurch tritt die gesellschaftstheo-
unentbehrlich, bis sich das Publikum retische Dimension der Überlegun-
„eingesehen“ hat, wobei übrigens ein gen Arnold Gehlens deutlich zutage.
solches Abflauen der Kommentarlitera- Die Problematik der Kommentarbe-
tur kein gutes Zeichen wäre, denn man dürftigkeit ist der Mangel an Selek-
würde es am ehesten unter zwei Bedin- tionsregeln. Wenn stets der komplette
gungen erwarten: Diskurs und alles Kunstgerede über
Wenn die abstrakte Malerei sich zum ein Werk mitgedacht werden soll,
Dekorativen hin entleerte oder wenn dann entsteht eine Rezensionsge-
keine echten Neuansätze mehr erfolg- schichte, die historisch für das Werk
ten, die immer zuerst befremdlich wir- wertvoll sein kann, aber nicht unbe-
ken und nicht verstanden werden, also dingt zielführend für das Verständnis
kommentarbedürftig sind. 21 des Betrachters ist. Gehlen analy-
siert und kommentiert in seinem
Mit Zeit-Bilder und der These der Werk bewusst Künstler, die sich
prinzipiellen Kommentarbedürftig- selber und ihre Werke thematisierten.
keit ging es dem Autor um eine Er- So schreibt Gehlen intensiv über Paul
fassung der Kunst, die nicht bei den Klee, Wassily Kandinsky und Piet
äußeren Bedingungen und Bezie- Mondrian. Schon dadurch wird eine
hungen der künstlerischen Produk- Differenzierung sowie eine Rang-
tion und Rezeption stehen bleibt.22 ordnung zwischen den verschiede-
nen Kommentaren geschaffen.
20
Ebd., S. 230.
21
Ebd., S. 236.
22
Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86],
S. 577.
23
Gehlen: Rede über Hofmannsthal [zuerst 1925], in: Lothar Samson (Hg.): Arnold Gehlen
Gesamtausgabe, Philosophische Schriften I (1925-1933), Bd. 1., Frankfurt/Main 1978, S. 1-17.
Arnold Gehlen
24
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 562 f.
25
Vgl.: Johann Gottfried Herder (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin: Voß,
S. 49.
26
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 560 f.
27
Shelsky Nachlass ULB Münster, Handschriftenabteilung 30, 023 zit. nach Karl-Siegbert Rehberg:
Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 566.
Magdalena Meyer
28
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 573.
29
Sedlmayr, Hans (1985 [1948]): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt a. M.: Otto Müller.
30
Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86],
S. 568.
31
Vgl.: Lepenies, Wolf: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016, S. 23.
32
Vgl.: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016
[1960/86], S. 557.
Arnold Gehlen
33
Vgl.: Adorno, Theodor W.: Thesen zur Kunstsoziologie (1967) in: Adorno, Theodor W. (1977):
Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I., Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
34
Brief Theodor W. Adornos an Arnold Gehlen vom 02.12.1960, zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg:
Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 557.
35
Vgl.: Lepenies, Wolf: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016, S. 23.
36
Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86],
S. 588.
37
Grohmann, Will: Ungewöhnlicher Vorstoß in der Gegenwartskunst. Zu Arnold Gehlens
„Zeit-Bildern“, in: Tagesspiegel (01.01.1961).
38
Gehlen selber war der Ansicht, dass sein Werk die meiste Zeit negativ besprochen wurde und…
Magdalena Meyer
…schrieb in einem Brief an den langjährigen Leiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Karl
Korn, dass das „größte Vergnügen, welches darin besteht von klugen Leuten verstanden zu werden,
ist mir selten zuteilgeworden. Das nächstgrößte dagegen, von Dummköpfen mißverstanden zu
werden, in reichem Maß [sic].“ zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen:
Zeit-Bilder, Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 604.
39
Vgl.: Seubold, Günther (1997): Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der Ästhetik.
Freiburg/München: Alber.
40
Vgl: Boehm, Gottfried (Hg.) (1996): Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode,
Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7-41.
41
Ebd., S. 18.
Arnold Gehlen
Wie Gehlen thematisiert Imdahl das Er bewirbt Zeit-Bilder als eine Über-
Problem der Übersetzung von opti- setzungshilfe, um aus unverstandenen
scher Materie zu Sprache. Die visuelle verstehbare Bilder zu machen und
Welt des Kunstwerks lässt sich nicht preist die Deutungen einzelner Bil-
zureichend in Sprache übersetzen. der und Künstler.
Der Wendigkeit und der über- Auch nach seinem erstmaligen Er-
108 sichtsbegabten Schnelligkeit des Auges scheinen vor fast sechzig Jahren ist
hinkt die träge Endgültigkeit der Schrift Arnold Gehlens Zeit-Bilder als Schlüs-
unvermeidlich hinterher.45 seltext der Kunstgeschichte und -wis-
senschaft nicht nur präsent, sondern
Trotz oder gerade wegen den Kon- zudem relevant, da er sich nicht vor
troversen, die Gehlens Werk auslöste, kritischem Hinterfragen scheut. Der
war die zweite Auflage der Zeit-Bilder eigene Interpretationsrahmen wird re-
schon 1972 fast vergriffen und die flektiert und auch der aktuelle Dis-
dritte Auflage wurde in einem kleine- kurs in der Kunst wird untersucht.
ren Format und mit einer Umarbei- Dadurch, dass Gehlen nicht nur eine
tung der ersten Seiten des Buches so- Einzelwerk-Analyse durchführt oder
wie einer neuen Schlusspassage ange- eine epochenspezifische Thematik
kündigt.46 Diese erschien jedoch erst aufgreift, bleibt sein Werk in jeder
nach dem Tod des Autors 1986. Hinsicht aktuell. Durch sein neues
Die Gesamtausgabe Zeit-Bilder und wei- Konzept des Kommentars und des
tere kunst-soziologische Schriften erschien Bildes als Teil des Werkes wird die
schließlich 2016 und wurde von Karl- Zirkulation des Kunstwerks inner-
Siegbert Rehberg im Vittorio Kloster- halb der Gesellschaft beobachtbar
mann-Verlag herausgegeben.47 Durch und nachvollziehbar und die Pro-
die Neuauflage 2016 sorgte Zeit-Bilder zesshaftigkeit des Diskurses spürbar.
erneut für Aufmerksamkeit.
Wolf Lepenies schrieb im Feuilleton
der Zeitung Die Welt eine ausführliche
Rezension des Buches und betitelte
dieses als eine große Streitschrift
für die moderne Kunst.48
42
Ebd., S. 8 f.
43
Vgl.: Ebd., S. 10.
44
Ebd., S. 18.
45
Ebd., S. 13.
46
Vgl.: Brief Arnold Gehlens an Herrn Grundel (Mitarbeiter des Athenäum-Verlags) vom
28.12.1972, zit. nach: Karl-Siegbert Rehberg: Nachwort in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder,
Frankfurt a. M. 2016 [1960/86], S. 561.
Magdalena Meyer
109
47
Für eine ausführliche Rezeptionsgeschichte des Werkes Zeit-Bilder empfehle ich den Abschnitt 5.
Rezeption der „Zeit-Bilder“ des Nachwortes in: Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und
Ästhetik der modernen Malerei (1960/1986), 2016, herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg,
Matthes Blank und Hans Schilling, S. 600-606.
48
Vgl.: Wolf Lepenies: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016, S. 23.
Arnold Gehlen
Quellenverzeichnis
Adorno, Theodor W.: Thesen zur Kunstsoziologie [zuerst 1967] in: Adorno,
110 Theodor W. (1977): Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und
Gesellschaft I., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Boehm, Gottfried (Hg.) (1996): Max Imdahl. Refl exion, Theorie, Methode,
Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Herder, Johann Gottfried (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache,
Berlin: Voß.
Lepenies, Wolf: Der Geist im Klecks, in: Die Welt - Feuilleton, 29.12.2016.
Sedlmayr, Hans (1985 [1948]): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des
neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit,
Frankfurt a.M.: Otto Müller.
Seubold, Günter (1997): Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der
Ästhetik. Freiburg/München: Alber.
Magdalena Meyer
111
Theodor w. Adorno
Die Ästhetische Theorie (1969)
In der Ästhetischen Theorie geht es neben dem genannten Thema vor allem
um die Frage der Ästhetik von Kunst, also der Erfahrung des Schönen.
und dem Verhältnis von Kunst und Natur.2 Dabei spielen die Begriffe Rät-
selcharakter und das Nichtidentische eine wichtige Rolle. Adornos Fragen
nach dem Wahrheitsgehalt der Kunstwerke sowie dem genannten Nich-
tidentischen und dem Rätselcharakter soll in der folgenden Arbeit weiter
nachgegangen werden.
1
Borgards, Roland (2010): Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart: Reclam, S. 159.
2
Vgl.: Sonderegger, Ruth (2011): Ästhetische Theorie. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: Metzler Verlag,
S. 414.
113
Theodor w. Adorno
3
Vgl.: Adorno, Theodor W (1973)[1970]: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 179.
4
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 197.
Lisa Olschewski
5
Vgl.: Ruth Sonderegger: Ästhetische Theorie. In: Klein Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm,
Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 414.
Theodor w. Adorno
Immer wieder löst sich Adorno vom Väter der kritischen Theorie der
Blick auf die Beziehungsgeflechte der Frankfurter Schule.
drei Begriffe, indem er versucht, etwa Adornos anti-hierarchisches und di-
die Kunst isoliert zu betrachten. alektisches Denken spiegelt sich nicht
Laut Adorno kann die „Wahrheit“ der nur in der Schreibweise seiner Texte,
Kunst aber einzig durch die Philo- sondern auch in ihrer Gliederung
sophie aufgedeckt werden, weshalb oder vielmehr ihrer Nichtgliederung.
116 wieder die Verknüpfung mit diesem Ursprünglich war geplant, die Ästhe-
Thema entsteht. Dabei muss auch tische Theorie in Kapitel und Paragra-
bedacht werden, dass viele Begriffe phen einzuteilen. Davon rückte Ador-
zunächst als Gegensätze dargestellt no aber ab und so liegt der Text nur
werden aber letztendlich doch Inei- sporadisch gegliedert vor. Die un-
nandergreifen erkannt wird und sie konventionelle Schreibweise könnte
dergestalt in Beziehung zueinander daher rühren, dass Adorno den Text
gesetzt werden.6 Die Ästhetische The- weniger an eine Leserschaft richte-
orie beginnt mit einem Satz, der wie te, sondern vorrangig an sich selbst.9
ein Motto über dem gesamten Text Im Folgenden sollen nun, in Verbin-
schwebt. Mit der Aussage, dass das dung mit einigen Textausschnitten,
Einzige, was an Kunstwerken zu be- die Thesen des Textes wiedergegeben,
greifen wäre, deren Unbegreiflichkeit erläutert und problematisiert werden.
sei.7 In der Ästhetischen Theorie beschäf-
tigt sich Adorno mit der Kunst, die Kunstwerke sind nicht von der
seiner Meinung nach auch als Ergebnis Ästhetik als hermeneutische Objekte zu
eines Selbstkonstitutionsvorganges, begreifen; zu begreifen wäre, auf dem ge-
welcher den Künstler als Werkzeug genwärtigen Stand, ihre Unbegreifl ich-
benutzt, angesehen werden kann.8 keit. Was der Parole absurd so widerstands-
Dabei entsteht eine Art „zweite Na- los als Cliché sich verkaufen ließ, wäre erst
tur“, welche durch die Gesellschaft einzuholen von einer Theorie, die seine
selbst dargestellt wird. Durch seine Wahrheit dächte.
Kritik an Vorgängen und Verhältnis- Es ist von der Vergeistigung der Kunst-
sen, die die meisten Menschen einfach werke, als deren Kontrapunkt, nicht zu
akzeptierten, stach Adorno besonders sondern; er ist, nach Hegels Wort, ihr
hervor. Genau dieses Denken mach- Äther, Geist selbst in seiner Allgegen-
ten Adorno zu einem der geistigen wart, keine Intention des Rätsels.
6
Vgl.: Marcus Quent; Eckardt Lindner (2014): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu
Adornos ästhetischer Theorie. Wien: Turia und Kant Verlag, S. 10.
7
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 179.
8
Vgl.: Klein, Richard (2011): Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz. In: Klein
Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
Stuttgart: Metzler Verlag, S. 436.
9
Vgl.: Ruth Sonderegger: Ästhetische Theorie. In: Klein Richard; Kreuzer Johann; Müller-Doohm,
Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 414.
Lisa Olschewski
Denn als solche Negation des natur-be- Wahrheitsgehalt erhalte. Das Element
herrschenden tritt der Geist der Kunst- des Komischen und Clownshaften
werke nicht als Geist auf. Er zündet in erinnert Adorno dabei an eine tröst-
dem ihm Entgegengesetzten, in der liche und bessere „Vorwelt“.
Stoffl ichkeit.
Keineswegs ist der am gegenwärtigsten Törichte Sujets wie das der
in den geistigsten Kunstwerken. Ihr Ret-Zauberflöte und des Freischütz haben,
tendes hat Kunst an dem Akt, mit dem durchs Medium der Musik hindurch, 117
der Geist in ihr sich wegwirft. Dem mehr Wahrheitsgehalt als der Ring, der
Schauer hält sie die Treue nicht durch mit seriösem Bewusstsein aufs Ganze
Reversion. Vielmehr ist sie sein Erbe. geht. Im clownschen Element erinnert
Der Geist der Kunstwerke produziert Kunst tröstlich sich der Vorgeschichte
ihn durch seine Entäußerung an die Sa- in der tierischen Vorwelt. Das Einver-
chen hindurch.10 ständnis der Kinder mit den Clowns ist
eines mit der Kunst, das die Erwachse-
Bereits aus diesem Absatz lassen nen ihnen austreiben, nicht weniger als
sich einige der Hauptthesen des Tex- mit den Tieren. […] In der Tierähn-
tes herausarbeiten. Dabei bezieht sich lichkeit der Clowns zündet die Men-
Adorno unter anderem auch auf He- schenähnlichkeit der Affen; die Kons-
gel, indem er Kritik an dessen Dia- tellation Tier/Narr/Clown ist eine von
lektik übt, und gelangt über diese Kri- den Grundschichten der Kunst.11
tik auf jenes Rätsel zu sprechen, wel-
ches seine Ästhetische Theorie bestimmt. Kunst ist also durch das Element des
Komischen an die Natur und Tier-
Adorno geht zunächst auf den Geist welt angelehnt, welche den Wahr-
des Kunstwerkes ein, der ebenfalls heitsgehalt der Kunstwerke in gewis-
nicht erkenn- beziehungsweise greif- ser Weise spiegelt. Durch die Beg-
bar ist und erst durch die Unbegreif- riffe und deren Zwänge in der „Er-
lichkeit auftritt. wachsenenwelt“ kann der Geist die
Außerdem führt Adorno das Ele- Intention des Kunstwerkes, und so-
ment des Komischen ein. Er nennt mit auch dessen Wahrheitsgehalt,
als Beispiel die Zauberfl öte, und be- nicht erscheinen, beziehungsweise
zeichnet diese als törichtes Sujet, wel- nicht erkennbar werden lassen. Wo-
ches jedoch durch die Musik ihren mit der zweite zentrale Begriff des
10
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 179-180.
11
Ebd., S. 181 ff.
Theodor w. Adorno
12
Ebd., S. 193.
13
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 193.
14
Vgl.: Sauerland, Karol (1979): Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin: De Gruyter, S. 1.
15
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 135.
Lisa Olschewski
wahr oder falsch ist, und erst diese Wahr- Kunst zur wahren mimetischen Er-
heit des Werkes an sich, ist der philoso- kenntnis des Nichtidentischen Kunst
phischen Interpretation kommensurabel schaffe nach Adorno keine Freiheit
und koinzidiert, der Idee nach jedenfalls, mehr, sondern nur die Möglichkeit
mit der philosophischen Wahrheit. des Nichtidentischen.
Dem gegenwärtigen Bewusstsein, fi xiert
ans Handfeste und Unvermittelte, fällt es Dabei heißt es weiter, dass die Wahr-
offensichtlich am schwersten, dies Ver- heit des Nichtidentischen in der Auto- 119
hältnis zur Kunst zu gewinnen, während nomisierung zum Vorschein komme,
ohne es ihr Wahrheitsgehalt nicht sich wo das Kunstwerk immer Rätsel pro-
eröffnet; genuine ästhetische Erfahrung duziert, welches es dann aber nicht
muss Philosophie werden oder sie ist über- auflöst. Doch genau dort, wo sich das
haupt nicht. – Die Bedingung der Mög- Rätsel nicht lösen lässt, zeige sich der
lichkeit der Konvergenz von Philoso- Wahrheitsgehalt.17 Durch Mimesis ent-
phie und Kunst ist aufzusuchen in dem ziehe sich die Kunst der Realität.
Moment von Allgemeinheit, dass sie in Kunst nähere sich dem Nichtidentischen
ihrer Spezifi kation – als Sprache sui ge- an.18 Das Nichtidentische ist demnach
neris – besitzt.“16 das Vorübergehende und Augenblick-
hafte. Lediglich die Kunst kann diese
Ein Problem ergibt sich daraus je- Vermittlungszwänge durchbrechen
doch, denn die Philosophie ist und und somit das Nichtidentische vorstel-
bleibt an die Sprache gebunden und len. Das Prinzip von Identität und
die Wahrheit könnte hierdurch ver- begrifflicher Identifikation ist zentral
borgen sein. Adorno sieht aber diese für Adornos Denken in der Ästhetischen
„meinende“ Sprache und die Spra- Theorie und lehnt sich stark an die
che der Kunst als zugehörig, wes- Dialektik der Aufklärung von Adorno
halb beide zusammen erst die „wah- und Max Horkheimer an. Vor allem
re Sprache“ ergeben würden.18 beim beschriebenen Nichtidentischen
spielt dies eine entscheidende Rolle.
Neben dem Wahrheitsgehalt und dem Adorno versteht darunter das, was
Rätselcharakter spielt auch das Nicht- unter der Herrschaft des subjektiven
identische eine große Rolle im Text. Identitätsdenkens verloren zu gehen
Adorno nutzt die Ästhetische Theorie drohe: Durch begriffl iche Identifi-
als Beschreibung der Fähigkeit der kation des Subjekts stelle sich dieses
16
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 197.
17
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 193.
18
Vgl.: Zimmermann, Norbert (1989): Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos Theorie der
Zeitstruktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag, S. 118.
Theodor w. Adorno
in das Zentrum von Erkenntnis und Aufgrund dieser Herrschaft von Iden-
Wirklichkeit und herrsche somit tität durch Begriffe kann die Wahr-
durch das Prinzip der Identität. heit und ästhetische Erfahrung eines
Da Rationalität ihre Erkenntnis- Kunstwerks nicht erkannt werden.
kompetenz durch die Schieflage von
Subjekt und Objekt einbüße, führe Begriffl ich ist für Adorno jenes, das
dies im Umkehrschluss zu einem objektiv ist und womit sich eine Iden-
120 gesellschaftlichen Zustand der Ent- tität zwischen Begriff und Sache her-
fremdung.19 Um diese Kompetenz stellen lässt. Dadurch sieht Adorno
der Rationalität wiederherzustellen, Sprache als kunstfeindlich, denn „wah-
müsse das vorhin genannte Identi- re Sprache der Kunst ist sprachlos.“21
tätsprinzip folglich zum Versagen Kunstwerke gäben sich in ihrer Selbst-
gebracht werden, damit anschließend heit zu erkennen und nicht durch
ein neues Verhältnis von Subjekt und Sprache oder eben Begriffe. „Selbst-
Objekt entstehen könne. heit“ nach Adorno bedeutet, dass
Durch Selbstkritik solle ein Verhält- durch das Anschauen der Kunstwer-
nis mit dem vergessenen mimeti- ke deren Wesen zum Ausdruck ge-
schen Moment entstehen. bracht wird, der Betrachter entdecke
dann an ihm das Ausdrucksvolle.
Um sich selbst reflektieren zu können, Diesen Ausdruck hätten jedoch nur
müsse sich die Wahrheit selbst bezieh- Werke, die nicht von „reiner Form“
ungsweise ihre Fähigkeit zur Erkennt- sind und sich des mimetischen Mo-
nis im momentanen Zustand erfah- ments entziehen.
ren. Sie müsse sich von der sogenann- Aber auch Mimetisches dürfe nicht
ten Herrschaft, die durch begriffliche im Kunstwerk dominieren, denn der
Identifikation herrsche, lösen. Diese Ausdruck gebe Subjektives wieder,
Herrschaft entstehe durch die Iden- das sich aber erst aus der Überlage-
tifikation und daraus folgende Her- rung von mimetischen und expres-
stellung von Identität zwischen Sache siven Elementen ergebe. Durch den
und Begriff.20 Zusammengefasst be- Ausdruck gewännen Kunstwerke et-
deutet dies, das durch die Identität von was Menschliches.22
Begriffen eine Herrschaft entsteht, der Durch den Rätselcharakter und die Re-
die Gesellschaft unterliegen muss. flexion des Scheiterns der begriffl i-
chen Identität suche Ästhetik nach
19
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 7.
20
Ebd., S. 8.
21
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 77.
22
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 77.
Lisa Olschewski
dem, was sich eben nicht begriffl ich doch nicht der Fall ist und die Wirklich-
erfassen lasse und somit schon fast ta- keit verzerrt, gibt es keine Antwort, die
buisiert werde. Anschließend werde den, der so fragt überzeugte. Vollends
versucht, dies zu begreifen, durch die vor dem Wort das alles, dem Vorwurf ih-
Reflexion darüber, was diese begriff- rer realen Zwecklosigkeit, verstummen
liche Identifikation letztlich scheitern Kunstwerke. 23
lasse. Das Nichtidentische ist bei Ador-
no Gegenstand der Ästhetik und ver- Wie auch schon am Anfang des Tex- 121
sucht, über den Begriff hinaus zu ge- tes beschrieben, ist die Interpretation
langen. Ästhetik kann also als Ver- hinsichtlich des Rätselcharakters der
such angesehen werden, die Utopie Kunst lediglich der Grund, um seine
von Erkenntnis theoretisch zu rea- Unlösbarkeit zu umgehen. Kunst zu
lisieren, welche darin entsteht, das verstehen bedeutet demnach, ihre
Begriffslose mit Begriffen zu verbin- Unverständlichkeit zu verstehen.
den, ohne es ihm dabei aber gleich Durch den Versuch des Verstehens
zu tun. Folglich stellt die Ästhetik entziehe sich der Geist, beziehungs-
nach Adorno einen Versuch dar, das weise die Wahrheit des Kunstwerkes
zu sagen, was sich nicht sagen lässt. ständig. Ein Kunstwerk zu verstehen,
hieße es als Komplexion von Wahr-
Alle Kunstwerke, und Kunst heiten zu begreifen. Es gebe keine
insgesamt, sind Rätsel; das hat von alters- singuläre Wahrheit, da sich die Kunst
her die Theorie der Kunst irritiert. Das dieser entzieht. Für Adorno enden al-
Kunstwerke etwas sagen und mit dem le ästhetischen Fragen deshalb im
gleichen Atemzug es verbergen, nennt Wahrheitsgehalt, welcher sich jedoch
den Rätselcharakter unterm Aspekt der nicht genau bestimmen lässt.
Sprache. Er äfft clownshaft; ist man in Die Kunstwerke warteten auf eine
den Kunstwerken, vollzieht man sie mit, Interpretation. Kunstwerke sagten
so macht er sich unsichtbar; tritt man he- zwar etwas aus, verbergen es jedoch
raus, bricht man den Vertrag mit ihrem gleichzeitig wieder durch ihren Rät-
Immanenzzusammenhang, so kehrt er selcharakter. Kunstwerke seien „rätsel-
wieder wie ein spirit.[…] Auf die Frage haft ihres Wahrheitsgehaltes nach“24,
wie: warum wird irgend etwas nachge- die Interpretation könne aber nur den
ahmt? Oder die, warum etwas erzählt Grund der Unlösbarkeit angeben.
werde, als ob es wirklich sei, während es
23
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 182 f.
24
Ebd., S. 193.
25
Vgl.: Norbert Zimmermann: Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos Theorie der Zeit
struktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main 1989, S. 200 f.
Theodor w. Adorno
26
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 185.
27
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 6.
Lisa Olschewski
28
Ebd., S. 14.
29
Vgl.: Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno.
Frankfurt/Main 1985, S. 11.
30
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 54.
31
Ebd., S. 53.
Theodor w. Adorno
Adorno nun Totalität nicht mehr als Der Rätselcharakter überlebt die Inter-
abschließende Kategorie. So müssen pretation, welche die Antwort erlangt.
sich Werke auch eher an Impulsen und Ist der Rätselcharakter der Kunstwerke
Details orientieren und sind somit an nicht lokalisiert in dem, was an ihnen er-
diese gebunden. Explizit auf diesen fahren wird, im ästhetischen Verständ-
Aspekt der Rekonstruktion zielt die nis; springt er erst in der Distanz auf,
Bezeichnung zum Verstehen des an- so rechnet dafür die Erfahrung, welche
124 sonsten unverständlichen, sprachlo- in die Kunstwerke sich versenkt und
gischen Charakters. Eine wichtige die mit Evidenz belohnt wird, ihrerseits
Rolle spielt für Adorno dabei dieje- zu dem Rätselhaften: dass ein vieldeutig
nige Schrift, zu der der Code fehle, Verschlungenes gleichwohl eindeutig und
weshalb sie gewissermaßen, damit ih- demgemäß verstanden werden kann.32
re Struktur gelesen und verstanden
werden kann, versprachlicht und so- Dies erläutert Adorno am Beispiel
mit sprechend gemacht werden müsse. des Musikers, der zwar den Noten-
text als solchen lesen, aber dennoch
Jene Kategorie der Moderne nicht allumfassend, verstehen kann.
wirft als Scheinwerfer Licht über Vergan- Der Musiker könne zwar die Noten
genes; alle Kunstwerke sind Schriften, lesen und spielen aber den wirklichen
nicht erst die, die als solche auftreten, Gehalt und die Bedeutung, also das
und zwar hieroglyphenhafte, zu denen was „hinter“ den Noten steckt, kön-
der Code verloren ward und zu deren Ge- ne er nicht verstehen.
halt nicht zuletzt beiträgt, dass er fehlt. Weil aber das Lesen der „Noten-
Sprache sind Kunstwerke nur als Schrift. Schrift“ diese zwar als sprachlich
Ist keines je Urteil, so birgt doch ein jeg- ausweise, aber der Code zum Verste-
liches Momente in sich, die vom Urteil hen des Gelesenen fehle, könne die
stammen, richtig und falsch, wahr und Bedeutung der Schrift nicht entzif-
unwahr. Aber die verschwiegene und be- fert werden. Im Kunstwerk erscheine
stimmte Antwort der Kunstwerke offen- die Wahrheit vielmehr auf sinnliche
bart sich nicht mit einem Schlag, als neue Art und Weise und ist damit in ästhe-
Unmittelbarkeit, der Interpretation, son- tischer Erfahrung verhüllt. Da nun
dern erst durch alle Vermittlungen hin- aber das Kunstwerk die zur Erschei-
durch, die der Disziplin der Werke wie nung bringende Wahrheit nicht aus-
des Gedankens, der Philosophie. sprechen könne, wisse die ästhetische
32
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 189.
Lisa Olschewski
33
Vgl.: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973[1970], S. 184.
34
Ebd., S. 184.
Theodor w. Adorno
Verstehen könne man an den Kunst- Seine behütete Kindheit, von unter-
werken lediglich ihre Struktur. Ver- schiedlichten künstlerischen, musika-
ständnis erlange der Betrachter somit lischen Einflüssen geprägt, bestimm-
nicht nur durch die Erfassung der In- te sein weiteres Leben und Denken
tention dahinter. So ist das Kunstwerk grundlegend. Neben der Schule nahm
für Adorno zwar einerseits durch eine er Musikunterricht und komponierte
mimetische Haltung in seiner Logik selbst, deshalb lassen sich von ihm
126 und Konstruktion „nachvollzieh- auch häufig Texte zur Musikästhetik
bar“, andererseits lässt sich aber aus fi nden. So auch in der Ästhetischen
diesem Nachvollzug kein Sinn im her- Theorie, die sich jedoch auch mit gänz-
kömmlichen Verständnis erzeugen. lich anderen Bereiche der Kunst be-
fasst.36 Die Ästhetische Theorie, ebenso
Durch diese Erfahrungslogik und wie die zuvor erschienene Negative
dem daraus sich ergebenden Rätsel- Dialektik, stellt ein Hauptwerk Ador-
charakter, der ihnen konstitutiv ist, sind nos dar.37 Schon im Alter von 16 Jah-
Kunstwerke nach Adorno nicht als ren liest er die Schriften von Georg
„hermeneutische Objekte“ aufzufas- Lukács, beginnt mit 17 Jahren sein
sen. Mit dieser Formulierung richtet Philosophiestudium und schließt
sich Adorno gegen hermeneutische dieses mit seiner Promotion über
Ansätze der Deutung von Kunst- die Phänomenologie nach Husserl
werken. herausragend ab.38
Später löst sich Adorno von Husser-
ls Phänomenologie und nähert sich
Hegel an. Im Anschluss an Hegel
fasst Adorno die Wirklichkeit in der
Kontextualisierung Folge als das Resultat eines Erfah-
Adorno und seine Methode im rungs-, Entwicklungs- und Bildungs-
Kontext ihrer Zeit prozesses auf. Dabei ist die Wahrheit
in ständiger Bewegung und Entwick-
Theodor W. Adorno wurde am 11. lung. Später wird Adorno klar, dass
September 1903 in Frankfurt am Main er mit bisherigen philosophischen
geboren und starb am 6. August 1969 Begriffen die Welt nicht in seinem
in Visp. Sinne deuten kann. Dies zeigt sich
auch in der Ästhetischen Theorie, in der
35
Vgl.: Müller-Doohm, Stefan (2011): Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: Metzler Verlag,
S. 1; S. 9.
36
Vgl.: Stiegler, Bernd (2015): Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn: Ferdinand
Schöningh Verlag, S. 40.
37
Vgl.: Peter Möller, Berlin. Frankfurter Schule. http://www.philolex.de/frankfur.htm.
38
Vgl.: Müller-Doohm, Stefan: Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 2.
Lisa Olschewski
er sich gegen Begriffe und begriffl i- Für Adorno besteht folglich ein enger
che Nennungen wendet. Jedoch be- Zusammenhang zwischen Kunst und
steht bei Adorno beispielsweise ein Gesellschaft. Dabei fl ießen alle Pro-
signifikanter Unterschied zur hegel- bleme der Zeit und der Gesellschaft
schen Ästhetik. Er untersucht eher in die Kunst ein.
die Möglichkeit, ob es eine Ästhetik
und eine damit verbundene Theorie
überhaupt geben kann. Die Ästhetische Theorie im Kontext 127
ihrer Zeit
Einen weiteren Einfluss auf Adorno
stellen die Werke von Walter Benja- Die ästhetische Theorie war die letzte
min dar, welche nach dem Zweiten große Arbeit Adornos, die zum Zeit-
Weltkrieg von Adorno und weiteren punkt seines Todes 1969 kurz vor der
jüdischen Gelehrten herausgebracht Fertigstellung stand. Durch ihre post-
und veröffentlicht wurden.39 hume Veröffentlichung weist die Äs-
Vor allem Adornos Verständnis von thetische Theorie einige Besonderhei-
Kunst und Gesellschaft wurde da- ten auf. So ist das Werk an einigen
durch geprägt. Gesellschaft unterliegt Passagen verhältnismäßig schwer zu
für ihn dem Zwang und der Verwal- lesen und durch seinen zunächst un-
tung. Kunst kann dagegen keine an- strukturiert wirkenden Aufbau selbst
dere Wirklichkeit darstellen, aber geübten Adorno-Lesern unzugäng-
sie kann der Gesellschaft laut Ador- lich. Des Weiteren lassen sich Ein-
no einen Spiegel vorhalten und ihr flüsse der Dialektik der Aufklärung in
den katastrophalen Zustand zeigen, der Ästhetischen Theorie fi nden.
in dem sie sich befindet.
Diese Vermittlung bestimmt er als das Die Kritische Theorie, welche sich im
Nichtidentische. Kunst stellt sich somit Kern an die Gesellschaftstheorien von
gegen die Gesellschaft unzeigt in- Marx, Hegel und Freud orientiert,
nere Wiedersprüche und Brüche auf. basiert auf dem Titel des Aufsatzes
Traditionelle und kritische Theorie von
Kunstwerke haben ihre Grö- Max Horkheimer von 1937. Die Di-
ße einzig daran, dass sie sprechen lassen, alektik der Aufklärung von Horkhei-
was die Ideologie verbirgt.40 mer und Adorno, welche 1947 veröf-
fentlicht wurde, gilt als Hauptwerk
39
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 32.
40
Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 45.
Theodor w. Adorno
41
Vgl.: Peter Möller, Berlin. Frankfurter Schule. http://www.philolex.de/frankfur.htm
42
Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 84.
43
Vgl.: Mun, Byeong-Ho (1992): Intentionslose Parteinahme. Zum Verhältnis der Kunst und Literatur
zur Gesellschaft im Bann der Naturbehrrschung und Rationalisierung bei Theodor W. Adorno.
Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag, S. 13.
44
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 41.
Lisa Olschewski
Die Ästhetische Theorie und ihre reimigrierte Adorno 1949 nach Deut-
zeitgenössische Relevanz schland.47 Dabei lassen sich schon die
Einflüsse durch die Vertreibung aus
Nachdem Adorno schon zu Beginn Deutschland in Adornos Arbeiten
des Naziregimes seine Privatdozen- finden. Die Vertreibung und Flucht
tur aufgrund seiner jüdischen Her- bestätigt seine Annahme des Verfalls
kunft entzogen und zudem ein Pu- der Gesellschaftsordnung. Die „Ra-
blikationsverbot gegen ihn verhängt dikalisierung seiner Sozialkritik“ 129
wurde, floh er nach weiterer Ein- verstärkt sich in den USA und in der
schüchterung und Bedrohung durch Dialektik der Aufklärung.48
die Nazis im Jahre 1941 nach Los Hierbei beschäftigen sich Horkhei-
Angeles. Dort entstand die, erst vier mer und Adorno mit der Krise der
Jahre nach Fertigstellung publizierte, europäischen Zivilisation und suchen
und gemeinsam mit Max Horkhei- eine Antwort auf die Frage, warum
mer verfasste Arbeit Die Dialektik der die Menschheit, anstatt in einem
Aufklärung.46 Anfangs sah Adorno das wahrhaft menschlichen Zustand zu
Naziregime noch als Übergangspha- leben, eine neue Art von „Unkultur“
se und blieb deshalb noch bis 1935 in hervorruft. Beide diagnostizieren ei-
Deutschland. Dabei hoffte er auf ein ne Selbstzerstörung der Aufklärung,
schnelles Ende der Diktatur. aber auch die Anlagen für den Fa-
schismus, Stalinismus und andere ex-
Zunächst zog er nach London und tremistische Herrschaftsgrundlagen
besuchte Deutschland noch einige dieser Zeit als Teil der dialektischen
Male um sich dort mit Walter Ben- Natur der Aufklärung.49 Und beide
jamin zu treffen. Weitere Repräsen- sind der Meinung, dass die Aufklä-
tanten des Frankfurter Instituts für rung das Leben und die Freiheit des
Sozialforschung, wie beispielsweise Menschen bedrohe und, anstatt ihn
Max Horkheimer, befanden sich zu aus seiner „Abhängigkeit“ zu befrei-
diesem Zeitpunkt schon in den USA. en, seine Unfreiheit noch verschlim-
Im Jahre 1938 musste Adorno letzt- mere. Das Werk Die Dialektik der Auf-
lich doch fl iehen und zog zunächst klärung entstand unter dem Eindruck
nach New York und 1941 weiter nach der Gräueltaten des Nationalsozialis-
Los Angeles. Erst einige Jahre nach mus und der Judenverfolgung. Unmit-
dem Ende des Zweiten Weltkriegs telbar die schreckliche Konsequenz
45
Ebd., S. 42.
46
Vgl.: Stefan Müller-Doohm: Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 3.
47
Ebd., S. 10.
48
Vgl.: Stefan Müller-Doohm: Versuch eines Portraits. In: Klein Richard; Kreuzer Johann;
Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2011, S. 3.
49
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 41.
49
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 41.
Theodor w. Adorno
50
Lorenz, Ansgar; Ruffing, Reiner (2012): Theodor W. Adorno. Philosophie für Einsteiger. München:
Wilhelm Fink Verlag, S. 23.
51
Vgl.: Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin 1979, S. 84.
52
Vgl.: Bernd Stiegler: Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015, S. 31.
Lisa Olschewski
53
Vgl.: Roland Borgards: Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart 2010, S. 159.
54
Vgl.: Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach
Adorno. Frankfurt/Main 1985, S. 15.
55
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 49.
Theodor w. Adorno
ihn stets aus dem Zustand der Ge- Beziehungen und Verbindung bes-
sellschaft. Ästhetisch ist für Ador- ser erkennen und deuten. So erlangt
no das, was rätselhaft wird und somit man ein tiefgehendes Verständnis.
nicht fassbar ist. Durch die Beschrei- Bei einer näheren Analyse der Ästhe-
bung einer ästhetischen Erfahrung, tischen Theorie lassen sich relevante und
anhand welcher der Begriff des ästhe- interessante Zusammenhänge zur Re-
tischen Objekts deutlich wird, kann zeption von Kunstwerken erschlie-
132 diese selbst reflektiert werden. Ästhe- ßen. Insbesondere die Überlegungen
tische Phänomene sind dabei Syn- zum Rätselcharakter, dem Nichtidentischen
thesen von Einzelmomenten, welche und dem Wahrheitsgehalt der Kunstwer-
jedoch nicht nach dem Prinzip von ke sind immer noch anschlussfähig
Identität, sondern schwer greifbar für die gegenwärtige Kunstwissen-
gebildet, und somit nicht verständ- schaft. Aus diesem Grund kann sie
lich sind. Ästhetik erscheint negativ auch als ein Schlüsseltext der Kunst-
gegenüber dem Identitätsdenken. wissenschaft angesehen werden.
Adorno sieht, wie schon in der Dia- Adornos polarisierende Art war an-
lektik der Aufklärung, das Absterben fangs der Grund für die geringe Be-
der Kultur, weshalb er versucht, mit achtung seiner Werke. Bis in die Acht-
der Ästhetischen Theorie die übrig ge- zigerjahre waren Adornos Texte und
bliebenen Möglichkeiten und Poten- Werke sehr umstritten und wurden
ziale der Kultur, in diesem Fall vor häufig kritisiert.56 Die Kritische Theorie
allem der Kunst, zu verdeutlichen. fand in einigen Punkten Anklang in-
Abschließend lässt sich festhalten, nerhalb der Studentenbewegung der
dass Adornos Werk zunächst unge- 1968er Jahre, jedoch wurde in diesem
wöhnlich und schwer zugänglich er- Zusammenhang auch die fehlende
scheint. Doch gerade diese assozia- Nähe zur Praxis kritisiert. Adorno
tive Struktur stellt eine der Beson- stand Teilen dieser Bewegung kritisch,
derheiten des Werkes dar. Um den jedoch nicht gänzlich abgeneigt ge-
Textausschnitt an sich zu verstehen, genüber, während Horkheimer diese
ist es jedoch ratsam, sowohl das ge- vollumfänglich ablehnte. Vor allem
samte Werk, als auch die genannten die zunehmende Gewaltbereitschaft
Werke, auf die sich Adorno selbst in- der Studenten wurde von Adorno
nerhalb seines Textes bezieht, eben- kritisiert.57
falls zu lesen. Dadurch lassen sich die
56
Vgl.: Academia: Der Rätselcharakter des Kunstwerks bei Adorno, http://www.academia.
edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_Kunstwerks_bei_Adorno_2009, S. 49.
57
Vgl.: Jens Benicke: Von Adorno zu Mao. Die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung.
Vortrag im Jour fixe der Initiative Sozialistisches Forum im Januar 2004, http://www.ca-ira.net/isf/
beitraege/pdf/benicke-adorno.mao.pdf, S. 2.
Lisa Olschewski
Die Ästhetische Theorie wurde zwar war für Adorno von zentraler Wich-
gerne als literarisches Kunstwerk ge- tigkeit. Das Besondere an Kunstwer-
handelt aber die theoretische Subs- ken ist die Unverständlichkeit. Hätten
tanz ihr eher abgesprochen. Adornos die Kunstwerke keinerlei rätselhafte
Texte waren im Allgemeinen nicht Bedeutung, wären sie nach Adorno
nur in der Soziologie bekannt, son- auch keine Kunstwerke. Dessen sollte
dern später auch in der Pädagogik man sich bei jedem Versuch ein Kunst-
und natürlich im Kunstbereich. werk zu verstehen, stets bewusst sein. 133
Vor allem seine unkonventionelle
Schreibweise gibt seinen Werken, ge-
rade auch der Ästhetischen Theorie, noch-
mals einen besonderen Stellenwert.
Quellenverzeichnis
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten-1/adornos-stil-
wenn-adorno-spricht-1712550.html (zuletzt aufgerufen: 01.02.2018).
http://judentum-projekt.de/persoenlichkeiten/wissen/adorno/index.
html (zuletzt aufgerufen: 01.02.2018).
http://www.academia.edu/7239029/Der_R%C3%A4tselcharakter_des_
Kunstwerks_bei_Adorno_2009 (zuletzt aufgerufen: 03.02.2018).
http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/pdf/benicke-adorno.mao.pdf (zu-
letzt aufgerufen: 08.04.2018).
beat wyss
TRAUER DER VOLLENDUNG (1985)
Trauer der Vollendung ist sowohl das erste Buch des schweizerischen Autors
136 Beat Wyss, als auch seine Habilitationsschrift. Hierbei sei angemerkt, dass
das Werk, eingereicht an der philosophischen Fakultät der Universität Zü-
rich, für einige Kontroversen sorgte. Trauer der Vollendung erschien 1985 im
DuMont Verlag. Wyss, geboren 1947 in Basel, studierte Kunstgeschichte,
Philosophie und deutsche Literatur in Zürich, Berlin und Rom. Er lehrte
vor allem in Deutschland – Bochum, Stuttgart und Karlsruhe – und hatte
Gastprofessuren in den USA, Dänemark und Estland inne.
Der emeritierte Professor ist ebenfalls als Gastautor für die NZZ, die Zeit
oder Cicero tätig. Sein Erstling „Trauer der Vollendung“ weißt einen anderen
Anspruch an die Kunstgeschichte auf.
1
Hegel beschäftigte sich in seiner „Vorlesung über die Aesthetik“ mit der Bedeutung der Kunst.
Dabei stellt er nicht nur die bedeutenden Eigenschaften der Kunst aus, sondern zeigt, inwiefern die
Kunst bedeutsam für den „Weltgeist“ war. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1835) [1835]:
Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin: von Dunder und
Humblot, S. 134 f.
sarah rieder
die erst durch die intensive Auseinan- Hegel hat dem Kunsthistori-
dersetzung mit einem Kunstwerk ihre ker abgeraten, über das Schöne zu the-
Relevanz und Vorgehensweisen offen- oretisieren. Nur die Gelehrsamkeit der
baren oder dies durch den Vergleich Kunstgeschichte habe ihren bleibenden
unterschiedlicher Kunstwerke mitei- Wert; das Geschäft dieser Hilfswissen-
nander erreichen. schaft sei es, zu Händen der philoso-
Bilder zu betrachten - und daraus phischen Ästhetik ‚anschauliche Belege
140 deren Immanenz und die Bedeutung und Bestätigungen‘ zu liefern. 2
des Werkes für die Kunstgeschichte
Wyss selbst ignoriert diesen Hinweis,
herzuleiten – ist Wyss gänzlich fremd.
Seine Einsichten gewinnt er somit er wird in seinem Buch die Schönheit
nicht aus den Werken selbst, sondern zur Genüge theoretisieren, jedoch
er scheint diese bereits zuvor erlangt
wird er Hegels Anspruch auf die ge-
zu haben und verwendet die Kunst- wünschten „anschaulichen Belege und
werke dementsprechend nur noch als Bestätigungen“3 genauso gerecht.
Belege. Die Werke sind niemals Es- Hervorzuheben ist, dass Wyss sein
senz seiner Thesen, sondern lediglichVorgehen bereits auf der allerersten
Beiwerk. Klar wird diese Vorgehens- Seite transparent macht. Er will he-
weise, wenn man sich deutlich macht, rausfi nden, ob Hegel schlussendlich
dass Wyss kein Interesse daran hat, Recht behält mit seiner Behauptung,
wie ein Erwin Panofsky oder ein Fe- dass die Kunst als Interessensfeld
lix Thürlemann vorzugehen. Sein An- für den Weltgeist ausgedient habe.
satz leitet sich nicht aus der Kunst ab,
Dieser Aspekt ist das Gerüst des Bu-
sondern entstammt der Philosophie. ches. Ohne Hegel und seine Theorie
Wyss möchte nicht anhand der Phi- vom Weltgeist gäbe es nichts, woran
losophie die Kunst entdecken, son- man sich abarbeiten könnte.
dern anhand der Kunst die Philoso- Entscheidend für diesen Text ist die
phie belegen. So ist Hegel nicht nur sprachliche Kunstfertigkeit des Au-
sein Begleiter, sondern ebenso sein tors. Schließlich ist sie es, die entschei-
Berater. dend zur Wirkmacht des Textes bei-
trägt. Nicht nur die weitläufigen Ver-
Die ersten Zeilen seines Buches ver- weise auf die unterschiedlichsten
weisen darauf: Epochen machen den Text so über-
zeugend, es ist vor allem die Eloquenz
2
Wyss, Beat (1997) [1985]: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln: Dumont
Verlag, S. 15.
3
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1997 [1985]: Grundlinien der Philosophie des
Rechts. Theorie-Werkausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 275. zit. nach Beat Wyss: Trauer
der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, S. 28.
sarah rieder
und die stringente Erzählstruktur des Narrativ. Ein Narrativ, welches, gleich
Textes, die den Leser für Trauer der Voll- einem Mosaik, aus vielen kleineren
endung einnehmen. Und hier findet sich Geschichten und Zusammenhängen
die Krux des Textes. Betrachtet man besteht.
sich diesen genauer, so stellt sich he-
raus, dass ein weniger begabter Es-
sayist nicht annähernd die gleiche Wir-
kung hätte aufbauen können, wie es 141
Wyss vermag. Argumentationsstruktur
Trauer der Vollendung steht und fällt mit
der Architektur seines Textes und der Die Argumentationsstruktur zeich-
Brillanz seiner Ausführung. Während net sich einerseits durch das Stilmit-
nun Techniken wie die Ikonologie tel der Analepse und anderseits durch
oder die Semiotik – in ihren Berei- ein Zusammenwirken aus Mikro- und
chen, beziehungweise bei bestimmten Makrostruktur aus. Letzteres wird
Kunstwerken – genaue Anleitungen bereits anhand des Layouts deutlich.
bieten können, ist dies bei Wyss nicht Während das Inhaltsverzeichnis noch
möglich. Da der Autor selbst keine thematisch angeordnet und unter
Techniken vermittelt, können diese bestimmten Gesichtspunkten zuge-
nicht angewendet werden. ordnet ist, fällt auf, dass der Erzähl-
Zudem kommt erschwerend hinzu, text selbst eine übergeordnete Struk-
dass kaum jemand über die gleiche turierung enthält. Dabei fi ndet sich
Vorbildung und das gleiche stilisti- auf jeder Seite eine Art Überschrift.
sche Können wie Wyss verfügt. Die linken Seiten kennzeichnen je-
Wyss lehrt also nicht, wie man Bilder weils das Kapitel, welches man auf-
liest. Stattdessen erzählt er dem Le- geschlagen hat. Die rechten Seiten
ser, wie Epochen und Entwicklun- heben sich davon jedoch ab, da auf
gen ineinandergriffen und sich ge- jeder Seite ein Satz gesetzt wurde,
genseitig beeinflussten. der genau bezeichnend für die aktu-
Seine Geschichte der Kunstgeschich- elle Seite ist. Dabei bezieht sich die
te ist damit nicht durch das Sehen von Überschrift nicht allein auf die rechte
Bildern, Skulpturen oder von archi- Seite, sondern ebenso auf die links da-
tektonischen Bauten erfahrbar, son- rauf Folgende. Anhand dessen wird
dern offenbart sich als ein einziges die Verschränkung aus Mikro- und
4
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 143.
.
beat Wyss
5
„Der Geist als wahrer Geist ist an und für sich, und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstrakt
jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens
aller Dinge; das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und
absolut. Die erste Form nun dieses Erfassens ist ein unmittelbares und eben darum sinnliches
Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das
Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt. Die zweite Form sodann ist das vorstellende
Bewusstsein, die dritte endlich das freie Denken des absoluten Geistes. Die Form der sinnlichen
Anschauung nun gehört der Kunst an, so da[ss] die Kunst es ist, welche die Wahrheit in Weise s
innlicher Gestaltung für das Bewusstsein hinstellt[.]“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung
über die Aesthetik, In: Philipp Konrad Marheineke et al. (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Georg…
sarah rieder
das Museum führt, wird vom Echo des die Mittagsstunde des Geistes, wo die
vorausgegangen begleitet. Der Autor Griechen wohnen. […] ‚Bei den Griechen
führt die Entwicklung vom Morgen- fühlen wir uns sogleich heimatlich, denn
land über die Antike hin zum Abend- wir sind auf dem Boden des Geistes’,
land kontinuierlich fort. rief Hegel jetzt aus, seine angeborene
Jedoch lässt er es aber nie aus, Binde- Bedächtigkeit beinahe vergessend.6
glieder zu schaffen. Damit ist es ihm
möglich, einen Bogen zu spannen, Wyss, der 177 Jahre nach Hegel zur 143
der alle Kulturräume des Museums Welt kam, kann schwerlich Zeugnis
umfasst. Zusammenfassend lässt sich über dessen Charakter ablegen. Je-
sagen, dass Wyss zwei Ebenen der doch scheint sich der Schweizer mit
Erzählung miteinander verdichtet. dem zu begnügen, was er aus Hegels
Die erste Erzählebene bildet die Fra- Schriften kennt. Wyss legt dem Phi-
ge nach dem „hegelschen“ Ende der losophen dabei keine fremden Wör-
Kunst. Um diesen legt sich ganz eng ter in den Mund. Er bleibt ganz bei
die zweite, welche sich mit den Ob- den Aussagen Hegels, indem er aus
jekten und Räumen des Museums, so- dessen Schriften zitiert.
wie ihrer Bedeutung befasst. Der in- Diese Zitate werden allerdings in ei-
nere Kern bleibt zumeist im Verbor- nem anderen Kontext eingefügt.
genen. Und doch lässt ihn Wyss im- Daran wird ersichtlich, wie stark Wyss
mer wieder aufleuchten. sich der Fiktionalisierung bedient.
Dies geschieht immer dann, wenn Interessanterweise wirkt die Darstel-
Wyss den Philosophen zu bestimm- lung Hegels, als kommentierender
ten Aspekten Stellung nehmen lässt Flaneur durch die Zeiten, an keiner
oder sich der Weltgeist einer Wand- Stelle unglaubwürdig. Dass nun das
lung vollzieht. imaginäre Museum nicht wie ein Kar-
In diesen Äußerungen offenbart sich tenhaus zusammenklappt, ist einer
allerdings eine weitere Besonderheit weiteren Komponente geschuldet.
des Textes. Denn Wyss lässt seinen Die Instanz, die diesen Text interes-
Museumsführer recht lebhaft durch sant, spannend und bis zu einem ge-
das Gebäude führen: wissen Grad glaubwürdig macht, ist
die außergewöhnlich hohe Sprach-
Nun aber müssen wir uns kunst des Autors. Im schlimmsten
sputen: Hegel war schon eingetreten in Falle hätte der imaginäre Rundgang
… Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835] S. 132. Anhand dieser Abstufung Georg
Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835] S. 132.
Anhand dieser Abstufung wird deutlich, dass die Kunst nur die erste Form des „Weltgeistes“ ist,
eine Grundform, die zugunsten der späteren aufgegeben wird.
6
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 28.
beat Wyss
überladen und überzogen wirken Der Text muss dabei aber unbedingt
können. Wyss umgeht dieses Risiko, auf seine eigene Machart und da-
Kraft seines Könnens. Nicht nur, dass mit auf seine eigene „Gemachtheit“
er über einen pointierten und gewitz- verweisen. Um es mit Beuys zu sagen:
ten Schreibstil verfügt. Weit wich- Zeige deine Wunde. Denn ohne Wun-
tiger ist, wie Wyss seine Texte konst- de wäre es ein makelloser und somit
ruiert. Darin fi ndet sich eine gewisse zu glatter Text. Erst durch das Ent-
144 Paradoxie: Der Inhalt ist durch und blößen und damit Zugeben der Kon-
durch konstruiert, genauso stark fik- struktion kann Wyss seine Form der
tionalisiert, und doch stößt sich der Kunstgeschichte entstehen lassen.
Leser keineswegs daran. Denn „(s)eine Kunstgeschichte weiß
auf der Ebene ihrer eigenen Schreib-
Die Baupläne für seine Texte weise sehr genau, dass Finden und
strickt Wyss selbst. Bei keinem anderen Erfi nden eins sind.“8 Damit lässt sich
Autor wird deutlicher, wie sehr die Fak- sagen, dass das Zusammenspiel zwi-
ten dem Diktat seines Schreibens folgen schen Mikro- und Makrostruktur,
sollen. Er gängelt seine Kunstgeschich- der Aufbau und das Zusammenwir-
te durch die Korridore seiner Rhetorik, ken der Narration, genau wie die
bis jede Seite ihre Pointe hat.7 Offenlegung der Machart des Tex-
tes entscheidend für die Argumen-
Der Schweizer weiß eines genau: tationsstruktur sind.
Das Pferd muss schwitzen, nicht der
Reiter. Wyss sitzt erhaben hoch zu
Ross, die Kunstgeschichte ächzt leise
unter ihm. Sowohl der Inhalt, als auch Inhaltlicher
die Form des Textes sind genau ged- Argumentationsverlauf
rillt. Die Vielzahl an Pointen, Rück-
schlüssen und sprachlichen Pirouet- Das primäre Anliegen von Beat Wyss
ten muss die Statik des Textes erst ist, die Aussage Hegels zu überprüfen.
aushalten können. Warum aber die Der Philosoph hatte das „Ende der
fast schon epischen Ausmaße? Weil Kunst“ prophezeit.
sich nur so epische Geschichten er- Dies begründet Hegel damit, dass
zählen lassen. die Kunst dem Weltgeist keinen An-
reiz mehr böte und sich dieser nun
7
Stöhr, Jürgen (2014) [2014]: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat
Wyss, Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: transcript verlag, S. 23.
8
Ebd., S. 22.
sarah rieder
auf einem anderen Feld – dem der Philosophen und sein Konstrukt
Philosophie – betätigen müsse.9 durch ein imaginäres Museum wan-
Dieser Weltgeist muss jedoch genauer dern. Das gesamte erste Kapitel dreht
untersucht werden. sich um dieses Unterfangen, wobei
dies sowohl eine zeitliche als auch
Wenn wir, was die absolute geographische Struktur aufweist.
Idee in ihrer wahrhaftigen Wirklichkeit Wyss hat sein - bzw. Hegels - Museum
sei, kurz bezeichnen wollen, so müssten in drei Räume unterteilt: den Morgen 145
wir sagen, sie sei Geist, und zwar nicht der / das Morgenland, den Mittag / die
Geist in seiner endlichen Befangenheit Antike und den Abend / das Abend-
und Beschränkung, sondern der allge- land. Diese Räume sind zu doppelten
meine unendliche und absolute Geist, Zeiträumen verdichtet. Nicht nur, dass
der aus sich selber bestimmt, was wahr- dadurch der Gang durch das Museum
haftig das Wahre ist.10 selbst zeitlich verordnet wird, parallel
geht Hegel – und somit der Leser –
Anhand dieser Worte wird deutlich, durch die unterschiedlichen Epochen
dass diese Form von Geist weder eine des Museums. Dem Morgen sind die
zeitliche, noch eine räumliche End- verschiedenen Frühformen der Kul-
lichkeit kennt. Grenzen gibt es für tur untergeordnet: dem Sanskrit der
ihn nicht. Dabei fungiert der Geist Upanischaden, die Opferformen der
wie ein Kompass, der jedoch bestän- Bahmanas, den indischen Götterkult,
dig auf sich selbst verweist. Die Über- sowie die Kultur der Ägypter.
zeitlichkeit des Weltgeistes wird in der Die Antike läutet dagegen den Mittag
Geschichte deutlich. Hegel sah dabei ein, während das Abendland letzt-
das Streben, bzw. das „Endziel“, des endlich durch das Christentum mar-
Geistes darin, dass durch diesen letzt- kiert wird. Diese Grundstruktur wird
endlich die „Vernunft in der (Welt-) durch die Mikrostruktur gestützt.
Geschichte“11 umgesetzt wird. Hierbei greift Wyss ein Phänomen
Anhand bestimmter Epochen wird einer bestimmten Epoche auf und
deutlich, wie der Weltgeist seine Form bindet dieses in einer anderen wie-
in Phänomenen der Geschichte sucht der ein. Dadurch schafft er nicht nur
und in diesen seinen Ausdruck fi n- eine Kontinuität, sondern ebenfalls
det.12 Um nun die Aussage Hegels auf eine Kausalität. Es wird deutlich,
die Probe zu stellen, lässt Wyss den dass ohne bestimmte Einflüsse aus
9
„In dieser Weise besteht das Nach der Kunst darin, da[ss] dem Geist das Bedürfnis ersucht, sich
nur in seinem eigenen Innerem als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen. Die Kunst in
ihren Anfängen, lä[ss]t als Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig, weil
ihre Gebilde nach ihrem vollem Gehalt nicht vollendet und für die bildliche Anschauung
herausgestellt haben. Ist aber der vollkommen Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten,
so wendet sich der weiter blickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt
sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige. Man kann wohl hoffen, da[ss] die Kunst immer
mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis der
Kunst zu sein.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm
Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 134 f.
beat Wyss
10
Ebd., S. 120.
11
Vgl.: Werner Jung: „Weltgeist“, in: Peter Prechtl / Franz-Peter Burkard (Hg.): Metzler Philosophie
Lexikon, Begriffe und Definitionen, Stuttgart, 1996, S. 568.
12
Hegel bezieht sich darauf, dass der „Weltgeist“ drei Stadien durchläuft und sich in dessen Phäno-
menen zeigt. Dabei ist das erste Stadium die Kunst, dem folgt die Religion und danach bezieht der
„Weltgeist“ das Feld der Philosophie mit ein. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung
über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 132 – 136.
13
„Der „Weltgeist“ überwand die kunstlose Starre der Frühzeit, indem er fortschritt über das Gebirge
von Balutschistan, hinunter an den Indus. Hier entfaltete der Geist seine erste künstlerische Gestalt.
[…] Die ersten Gehversuche des Geistes in der Fremde außerhalb seiner selbst fielen allerdings…
sarah rieder
die Trauer. Hegel verlegt den Schau- widersetzten sich vier Theoretiker
platz des Weltgeistes nun auf das Ge- der Kunst ihrer Zeit. Auf der einen
biet der Philosophie und lehnt die Seite stehen Max Nordau, Oswald
Kunst, als Interessensfeld des Welt- Spengler, Hans Sedlmayr und Ge-
geistes, zukünftig komplett ab. Das org Lukács, auf der anderen Seite die
imaginäre Museum endet somit bei Kunst der Avantgarde zu Beginn des
der Romantik. Damit schließt sie al- 21. Jahrhunderts. Gleich den vier
lerdings weitere Räumlichkeiten aus apokalyptischen Reitern ziehen sie 147
und versperrt allem, was nach der in den Kampf gegen die Moderne.
Romantik kommt, die Türe. Sie haben sich die Vorwürfe, welche sie
gegen diese Form der Kunst richten,
Hegels Geschichtsphilosophie auf ihre Fahnen geschrieben: „Ent-
wurde als imaginäres Museum rekonst- artung“, „Untergang“, „Verlust der
ruiert. Museal ist seine Ästhetik, da die Mitte“ und „Dekadenz“. Diese Vor-
Gegenwart von der Geschichte abge- würfe entlehnt Beat Wyss aus ihren
spalten wird. Aufnahme in das Museum Streitschriften, und benennt die Un-
fi ndet nur, was sich durch die Aura der terkapitel des zweiten Hauptkapitels
Vergangenheit und durch gesellschaftli- nach den Werken ihrer Autoren.
chen Konsens bestätigt hat. Das Uner- Die Argumentationsstruktur hat sich
wartete und noch nicht Gesichtete hat in diesem Kapitel jedoch zum voran-
keinen Platz in diesem Kunstbegriff. So gegangen stark verändert. In „Eine
staut sich am Museum das Abgewiesene; unheilige Allianz“ nutzt Wyss kaum
vor dem Hintergrund geschichtsphilo- noch die Analepsen, welche so kenn-
sophischer Borniertheit formiert sich zeichnend für seinen Spaziergang
im fortschreitenden 19. Jahrhundert durch das imaginäre Museum war.
der salon des réfusés.18 Stattdessen arbeitet sich Wyss direkt
an den Anklagen der Autoren ab.
Hier fi ndet sich der Übergang zum Wyss portraitiert dabei die jeweiligen
zweiten Hauptkapitel des Buches. Autoren und ihre Zeit, damit ihre
In „Eine unheilige Allianz“ wird Klagen gegen die Moderne verständ-
deutlich, dass nicht nur Hegel an den licher werden. Dabei beleuchtet er das
Abgesang der Kunst glaubt. Doch jeweilige Umfeld der Schriftsteller
während der Philosoph dies auf die und ihre Haltung zur Moderne. Aus
Zeit nach der Romantik bezieht, diesem ergibt sich wieder ein Narrativ,
…recht sonderbar aus. Er stürzte sich in das Meer der Sinnlichkeit und erprobte daran seine Kraft.
Die natürlichen Gebilde, in denen er sich anschaute, zeigten alle Maßlosigkeit der Erfindung.
Menschliche und tierische Formen wurden willkürlich gemischt. […] Kein Zweifel: Der „Weltgeist“
hatte, in seinem durchaus redlichen Bemühen, sich in der Natur zu entäußern, über das Ziel
hinausgeschossen.“ Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997
[1985], S. 19.
14
Wyss betont dabei, dass dieses Schicksal nicht nur die Kunst alleine trifft, sondern generell die
bildenden Künste. Dabei hebt er hervor, weshalb die Musik – ihre Botschaften seien zu unbestimmt
und dazu verdammt von der „stummen Unendlichkeit stets verschluckt“ zu werden – sowie die
Poesie – die nur aus Traum und Phantasie zu bestehen schien – ebenfalls für den „Weltgeist“…
beat Wyss
jedoch ist Wyss verstärkt an den The- verqueren Vernunft zum Opfer fiel.
sen der Ankläger interessiert. Wyss Bei allen vier Autoren macht Wyss
zeigt anhand dieser vier Autoren, dass allerdings die geschichtsphilosophi-
die Kunst der Avantgarde Feinde aus sche Ästhetik als Kern des Übels aus.19
unterschiedlichen Lagern hatte.
Während Nordau als ausgebildeter
Mediziner sowohl die Naturwissen-
148 schaft, als auch seinen Glauben an Transformation der
den Fortschritt ins Feld führte, sah narration
Spengler dagegen die Kunst mitsamt
der Zukunft unweigerlich untergehen. Hegel dachte, über seine Zeit
Sedlmayr, als gläubiger Katholik, wölbe sich die Abendröte. Der Mensch
kritisierte die Maßlosigkeit und das war mit seiner Geschichte alt geworden
Chaos der Kunst, hingegen nicht die und konnte jetzt auf ein langes Tagwerk
Taten der Nationalsozialisten, wäh- zurückblicken. In der Dämmerung lag
rend der Marxist Lukács den Künst- vor ihm, ausgebreitet in der Ferne von
lern Narzissmus und Selbstsucht Jahrtausenden, eine vollständige Samm-
vorwarf. lung der Weltkunst. Jedes Werk stellte
Wyss führt genau auf, wie die Moderne eine versteinerte Form des Bewu[sstseins
Kunst unter Beschuss geriet, wobei dar, welches die Menschheit zurückge-
er aber auch die Schwachstellen eben lassen hatte auf ihrer langen Wanderung
dieser Vorwürfe aufdeckt. zu sich selbst. Die Kunst aller Zeiten und
Im letzten Kapitel stellt Wyss noch- Völker war im Begriff sich abzurunden
mal die Ansichten und die Motivation zum Korollar des sich wissenden Geistes.
der Kritiker einander gegenüber. Er Dieser Geist war zuletzt wohnhaft gewe-
vergleicht die Aussage Hegels und sen in Am Kupfergraben 4 in Berlin; hier,
positioniert ihn und seine These im in Hegels Arbeitszimmer, endete die Pro-
Kontrast zu den Verweigerern der zession der Weltgeschichte.20
Moderne. Der Autor stellt dabei klar,
dass Hegels Entscheidung gegen die Bereits der Anfang von Trauer der Voll-
Kunst und für die Philosophie aus endung ist in Wahrheit ein Abschied.
der Vernunft geboren wurde. Wyss stellt in seinen ersten Zeilen
Im Gegensatz dazu wird bei den vier nicht nur Hegel, sondern ebenso
Autoren klar, dass die Kunst ihrer dessen Konstrukt, den Weltgeist vor.
…ungeeignet waren. Vgl. Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln,
1997 [1985], S. 139, 140.
15
„So war bei den Griechen z.B. die Kunst die höchste Form, in welcher das Volk die Götter sich
vorstelle, und sich ein Bewusstsein von der Wahrheit gab.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel:
Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 132 – 136.
16
Dabei argumentiert er, dass zum einen die Romantik aufgrund ihres Fokus auf das Gefühl und
nicht auf den Verstand, dem „Weltgeist“ unwürdig sei. Zudem hätte der „Weltgeist“ bei seiner Reise
durch die Zeiten bereits seine ideale Behausung gefunden: Die Antike war für Hegel die Zeit der
vollendeten Kunst. Aber die Betonung liegt auf „war“. Die Kunst zur Zeit Hegels kann dem
„Weltgeist“ nichts mehr bieten. Der „Weltgeist“, welcher geformt, gebildet und geschärft werden…
sarah rieder
Jedoch tritt darin sowohl Hegels der Leser dem Architekten Beat Wyss
Weltbild, als auch seine Haltung zu zunächst durch dessen Bau und be-
Tage. Hegel war der Überzeugung, staunt dabei, wie scheinbar mühelos
dass sich die Zivilisation seiner Zeit es dem Autor gelingt, Zeit und Raum
auf dem absoluten Höhepunkt be- zu überwinden. Dazu muss der Leser
fand. Von dort aus konnte es nur noch noch nicht einmal das Museum be-
in eine einzige Richtung gehen: Ab- treten haben:
wärts. Dem Verfall der Kultur sah 149
Hegel ins Auge, denn er sah ihn schon „Wie die Eule erst bei einbre-
lange kommen. So ist sein Abgesang chender Dämmerung ihren Flug beginnt,
auf die Kunst ebenso unausweichlich so schwangen sich Hegels Gedanken vor
wie endgültig.21 der aufziehenden Nacht über die Dä-
Doch hatte Hegel Recht? Ist die cher von Dorotheenstadt. Unter ihm
Kunst tatsächlich verloren? sanken die Humboldt-Universität und
Wyss wird sich in den kommenden das Schlo[ss] an der Spree zurück in die
340 Seiten der Beantwortung dieser Überschau, welche immer weiter sich
Frage stellen. Dabei rechnet er ganz dehnte, im Westen über die Festung von
genau, legt Belege und Beweise vor Spandau hinaus, bis diese sich jetzt als
und baut sich aus diesen schlussend- unbedeutender, brauner Fleck in der mär-
lich ein Museum. Dieses soll der letzte kischen Ebene verlor. Die Prosa der Ge-
Prüfstein Hegels sein. Wird der Gang genwart schwand für Augenblicke, wäh-
durch das Museum sein hartes Urteil rend der Geist des Philosophen die Reise
gegen die Kunst rechtfertigen? zurück durchflog. Was den Gang der Ge-
Als weiteres Beweisstück kann der schichte nur blind und dringend vorange-
Weltgeist gesehen werden. Dieser re- trieben hatte, sollte als umfassende Rück-
agiert auf die unterschiedlichen Phä- schau im Wissen aufbewahrt werden.
nomene, nimmt deren Formen an, Unter den kräftigen Flügelschlägen von
stößt sie wieder ab und sucht sich ei- Minervas Wappentier zogen in der Tiefe
nen neuen Wirt. Und doch wird sich die Kulturlandschaften vorbei: das Abend-
ganz zum Schluss zeigen, dass die land, die Antike, der Orient. Der Flug
Kunst, obwohl sie mächtigen Gegen- führte nach Osten, denn dahin wiesen
wind ausgesetzt war, nicht zu Grabe die Spuren der Wanderung. Wo das Licht
getragen werden muss. aufging, hatte auch die Menschheit ihren
Bis dieses Urteil aber feststeht, folgt Anfang genommen. Dem Lauf der Son-
ne war sie schließlich gefolgt nach Wes- Der Geist entsagt dem hier und jetzt.
ten: Den Gang von Morgen nach Abend Er wendet sich der Vergangenheit zu
nannte Hölderlin die Reise des Weltgeistes und fl iegt von Berlin aus Richtung
durch die Geschichte.“22 Osten, wo Wyss den Ursprung der
Menschheit verortet. Doch die Reise
So markiert allein der Beginn der des Weltgeistes hat dort nicht ihr
Reise die Wandlungskunst, welche den Ende gefunden.
150 ganzen Text durchzieht. Anhand des Einem Zirkelschluss gleich, reist der
Textausschnittes wird eine doppelte Geist mit der Sonne zurück nach
Wandelbarkeit deutlich: Einerseits Westen, um dort wieder zu seinem
zeigt es den Transformationsvorgang, Ausgangspunkt zurückzukehren.
dem der Weltgeist unterworfen ist und Die umfassende Rückschau im Wissen ge-
anderseits zeigt es auf, wie innerhalb staltet sich als ein beständiges Rei-
der verschiedenen Zeiten und Räu- sen, von der Vergangenheit in die Ge-
me interagiert wird. Der Weltgeist genwart, von Europa über die Antike
zeigt sich in unterschiedlicher Form. in den Orient und wieder zurück.
Dabei wird zuerst auf die Eule, das Anhand dieses Abschnittes wird die
Sinnbild der Weisheit, zurückge- erste Narration sichtbar: Diese ver-
griffen. Diese wird mit Hegels Ge- folgt die Reise Hegels und dessen
danken gleichgesetzt, da beide erst Weltgeistes. Darum, was Letzteren aus-
zu Beginn der Nachtzeit ihren Flug macht und wie dieser sich transfor-
in die Vergangenheit antreten. Der miert. Es wird deutlich, dass sich nicht
Weltgeist ist allerdings ein Konstrukt nur der Weltgeist beständig neu aus-
Hegels, weshalb er automatisch mit richtet, ebenso passt sich der Text
dessen Gedanken gleichzusetzen ist. Wyss’ Rhetorik an. Rückbezügliches
Dies zeigt sich am Ende recht deut- wird aufgegriffen, nur um diesen As-
lich, wenn sich aus dem Gedanken- pekt wieder für den Sprung in das
flug der Weltgeist herausschält. „Jetzt“ zu verlassen. Diese Form der
Die dreifache Transformation des Verquickung des „Altem“ mit dem
Weltgeistes ist jedoch nur in der Inter- „Neuen“ tritt insofern zum Vorschein,
aktion mit anderen Zeiten und Räu- als Hegel, samt Weltgeist, das imaginäre
men möglich. So setzt sich der Geist Museum betreten und ihren Gang
in Bewegung, hinfort aus Berlin, über durch dieses vollziehen. Hier beginnt
das die Dämmerung hereinbricht. sich die zweite Ebene der Erzählung
21
„Mit den Ausbildungsarten der Komödie sind wir jetzt an das wirkliche Ende unserer
wissenschaftlichen Erörterung angelangt. Wir begannen mit der symbolischen Kunst, in welcher
die Subjektivität sich als Inhalt und Form zu finden und objektiv zu werden ringt; wir schritten zur
klassischen Plastik fort, die das für sich klar gewordene Substanzielle in lebendiger Individualität vor
sich hinstellt, und endeten in der romantischen Kunst des Gemüt[.]s und der Innigkeit mit der frei
in sich selbst sich geistig bewegenden absoluten Subjektivität, die, in sich befriedigt, sich nicht mehr
mit dem Objektiven und Besonderem einigt, und sich das Negative dieser Auflösung in dem Humor
der Komödie zum Bewu[ss]tsein bringt. Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur
Auflösung der Kunst überhaupt.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 579 f.
sarah rieder
zu entwickeln, indem Wyss die Werke punkt. Sie ist nicht allein das Binde-
aus der Kunstgeschichte zu Expo- glied zwischen morgenländischer und
naten stilisiert. Diese Exponate wer- antiker Kultur, sondern lauert auch
den untereinander in Verbindung ge- auf der Schwelle innerhalb des ima-
setzt. Ein sehr schönes Beispiel hier- ginären Museums. Dort überwacht
für ist die Sphinx. Ursprünglich dem sie den Übergang ebendieser Räu-
Reich der Ägypter zugehörig, greift me. Die Überkreuzung der Phäno-
Wyss sie im Zusammenhang mit der mene und das Einweben dieser in ver- 151
Sage des Ödipus wieder auf. schiedenen Epochen stärken Wyss
Narration. Sie haben überdies die
Die Begegnung des Helden mit dem Funktion als Vergleichsbeispiele zu
Ungeheuer beschreibt er anhand der dienen. Die Verklammerung aus die-
Gemälde von Gustave Moreau von sen unterschiedlichen Objekten ist
1864 und von Jean Auguste Domi- äußerst bedeutsam, bedeutsamer je-
nique Ingres aus dem Jahr 1808. denfalls als die einzelnen Objekte
selbst.
Die Bilder selbst werden nicht ein- Falls Wyss nun ein Objekt näher be-
gehend analysiert und beschrieben. schreibt, so geschieht dies nie aus
Stattdessen nutzt der Autor die Bilder einer „klassischen“ kunstgeschicht-
um seine Narration zu stärken. Die lichen Bildbetrachtung. Auch hier
Sphinx, welche zuvor bei den Ägyp- lässt sich die Sphinx heranziehen:
tern Erwähnung fand, ist für Wyss
ein Relikt. Sie wird wieder aktiviert, Gustave Moreau hat in einem
um die Verbindung zwischen der Gemälde den Moment festgehalten, wo
Epoche der Ägypter und der Griechen das Rätsel aufgebende Ungeheuer den
zu versinnbildlichen. Ihre Rolle als Wanderer angesprungen hat.
wegversperrendes Monstrum wird al- Als quälender Nachtmahr sitzt sie dem
lerdings nicht allein durch die Sage Menschen auf der Brust. ‚Wer ist es, der
des Ödipus aufgegriffen: Die Sphinx morgens auf vier Beinen geht, mittags
fungiert ebenfalls als Hüterin im ers- auf zweien und abends auf dreien?’
ten Raum des Morgens, welche den Noch während des Fragens wird die
Übergang hin zum nächsten Raum Sphinx von der Gewi[ss]heit ihrer magi-
überwacht.23 Damit wird die Sphinx schen Stärke verlassen; sie liest aus dem
zum doppelten Dreh- und Angel- forschen Blick des Ödipus, da[ss] dieser
22
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 15 f.
23
„Als letztes Standbild morgenländischen Dämmergeistes kauerte die Sphinx am Ausgang: An ihr
mu[ss]te vorbei, wer in den helleren Raum dahinter gelangen wollte. Die Sphinx versperrte mit ihren
Rätselfragen den Zutritt zur klassischen Antike.“ Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der
Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 24.
beat Wyss
das Rätsel lösen werde. Schon buckelt mächtigt sich ihrer. Nicht ihre kunst-
sie sich zum Sprung, um in der Fels- historische Bedeutung fließt in Wyss‘
schlucht zu zerschellen. […] Text ein, sie dienen ihm lediglich da-
Doch war nur Ohnmacht mythischer zu, seine Argumentation noch mehr
Vorwelt zu lesen im Gesicht der Sphinx? zum Scheinen zu bringen.
Lag in der Blässe nicht auch das Grauen Damit er die Kunstwerke entspre-
über die Zukunft von Ödipus? Buckelte chend für sich nutzen kann, muss er
152 sich ihr Katzenleib nicht zur Beschwö- sie zuerst sprachlich bändigen. Dies
rung? Halt inne, Wanderer! Löse das gelingt ihm durch seinen Schreib-
Rätsel nicht!24 stil, der sehr literarisch, stellenweise
fast schon blumig ist.
Kein Wort über die künstlerische
Strömung, den Duktus oder die Kom- Wyss [.] schneidert seine eige-
position. An dieser Textstelle wird nen quasi-literarischen Textkleider, die
deutlich, dass Wyss‘ Betrachtungen er über die Bilder hängt.25
nicht werkimmanent ausgerichtet
sind. Stattdessen: Verheißungen, Ver- Jedes Kunstwerk wird damit kunst-
mutungen, Vorhersehung. voll in Wyss‘ sprachlichen Maßanzug
Das Kunstwerk dient nur zur An- eingewoben, ganz im Stile des Meis-
regung und zur Anschauung. Es ist ters. Hervorzuheben ist, dass dieses
die Oberfläche unter der sich Wyss‘ Offenlegen der Sprache gewollt ist.
Text aufspannt. Schließlich legt er Nur dadurch wird die Konstruktion
einen ganz anderen Kontext in das des Textes offenbart und kenntlich
Bild hinein. Er nutzt die Elemente gemacht. Und nur dadurch wird dem
des Bildes lediglich, um daraus seine Leser die übergeordnete Wahrheit
eigene Erzählung zu konstruieren. des Textes zuteil: Alles ist nur eine
Dadurch wird eines deutlich, nämlich große Konstruktion. Aber ist dies da-
dass die Werke an sich für den Autor mit zugleich ein großer Schwindel?
nicht sonderlich relevant sind. Sitzt der Leser Wyss auf, blendet er
Er hätte genauso gut ein anderes diesen mit seinen sprachlichen Kunst-
Kunstwerk wählen können, um seine stücken? Die Antwort ist Nein.
Mentalitätsgeschichte entfalten zu Wyss entblößt nur eine Wahrheit, die
können. Dazu eignet sich Wyss die generell für alle Texte und darüber
Kunstwerke sprachlich an und be- hinaus ebenfalls für die Historie an
24
Ebd., S. 24, 27.
25
Jürgen Stöhr: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss,
Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: 2014, S. 20.
sarah rieder
sich gilt: Alles beruht auf Konstruk- Durch dieses schafft es Wyss einzelne
tion, auf der „Gemachtheit“ der Din- Werke und Epochen miteinander zu
ge. Wann immer Geschichte erzählt verknüpfen und damit ein Beweis-
wird, so wurde sie nicht universell mittel für die „Gemachtheit“ seines
festgelegt, nicht in Stein gemeißelt Textes sowie der Kultur darzustellen.
und nicht für die Ewigkeit beschwo- „Wyss Texte sind zu schön, um ganz
ren. Geschichte und Historie, und dies "ehrlich" zu sein.“26 Doch welche
gilt für die Kunstgeschichte, genauso Texte können dies schon für sich be- 153
wie für andere geisteswissenschaftli- anspruchen - ganz ehrlich zu sein?
che Disziplinen, sind Konstrukte, die Hier sei hervorzuheben, dass dies so-
in ihrem Ablauf logisch erscheinen. wohl für Texte als auch für die Kunst
Seine Sprache erweckt nicht nur den selbst gilt. So betonte Hegel, dass die
Text zum Leben, sondern lässt ebenso Täuschung, welche immer einen be-
Rückschlüsse auf dessen Machart zu. stimmten Anteil der Kunst ausmache,
Wyss macht deutlich, dass Kultur sich nicht von dieser trennen lässt:
nicht etwas Fixiertes und Unumstöß- „Denn das Schöne hat sein Leben in
liches ist. Er zeigt auf, dass Kultur, dem Scheine.“27
genauso wie Geschichte, ein Narrativ Auch das zweite Hauptkapitel von
in sich trägt. Ein Narrativ, welches Trauer der Vollendung zeigt, wie gut es
konstruiert ist. Dies ist insbesondere Wyss versteht, seine Texte auf Hoch-
bemerkenswert, da die Geschichte glanz zu polieren. In diesem Teil be-
selbst gerne einen Anspruch auf Fak- handelt er die Unheilige Allianz, wel-
tizität und vor allem auf Richtigkeit che sich dem Urteil Hegels anschließt,
erhebt. Trauer der Vollendung beweist dass nach der Zeit Goethes keine ver-
dagegen, dass Kultur sich nicht allein nünftige Kunst mehr entstanden sei.
durch historische Fakten bestimmen Stattdessen sei die Kunst des Abend-
lässt, sondern von jeher ein Produkt landes dem Untergang geweiht (so
der Imagination und Narration ist. Spengler), da sie zunehmend Pro-
Dies wird gerade im ersten Hauptka- dukte kranker Gehirnen sei (Nordau)
pitel „Hegels letzter Gang durch ein oder die Künstler entweder den Glau-
Museum“ veranschaulicht. ben an Gott (Sedlmayr) verloren ha-
Somit birgt das Konzept des Muse- ben, bzw. sich in ihrer Selbstsucht
ums ein zwar komplexes, allerdings und narzisstischen Neigungen (Lu-
ein äußerst wirkungsvolles Potenzial. kács) gänzlich verlieren.
26
Jürgen Stöhr: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss,
Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: 2014, S. 32.
beat Wyss
27
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s
Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 7.
sarah rieder
Reader fi nden. Bemerkenswert ist, sein, dass Hegels Absage an die Kunst
dass dieser Text sich nicht als „klas- eine rege Debatte unter Künstlern
sischer“ Text zur Kunstwissenschaft und Kunstwissenschaftlern auslöste.
versteht. Besonders deutlich wird dies Fest steht, dass das Ende der Kunst
daran, dass das Werk mit einem der nicht von Hegel „erfunden“ wurde.
elementarsten Grundzüge der Kunst- Schon die Römer sahen in der eigenen
wissenschaft bricht: Dem Fokus auf Kunst einen Rückschritt. Sie trauer-
das Kunstwerk. ten – genau wie Hegel später – dem 155
Stattdessen wird die Kunst in einem Können der Griechen hinterher.31
philosophischen Kontext behandelt. Obwohl die Kunst des Öfteren abge-
schrieben wurde, war kein Abschied
so wirkmächtig wie der Hegels.
Wyss war dabei nicht der Erste, der So hat seine „These [.] vor allem die
einen Philosophen ins Feld der Kunst Frage nach den Möglichkeiten der
schickte. ‚Kunst nach der Kunst’ provoziert.“32
Bereits 1925 unternahm Erwin Pa- Dass nun Wyss diese These aufgreift
nofsky in seinem Aufsatz: „Über das ist keine große Innovation, wie er dies
Verhältnis von Kunstgeschichte und aber tut, ist innovativ. Er nutzt Hegels
Kunsttheorie“ den Versuch, die The- Aussage als Kerngerüst, um darum
orien eines Philosophen für die Kunst seine Auslegung der Kunstwissen-
fruchtbar zu machen. Für dieses Un- schaft aufzubauen. Die bisherigen
ternehmen stand Kant, samt seiner Systeme greifen dem Schweizer alle
transzendentalen Erkenntnis, Pate.29 zu kurz. Weder will er, wie Kemp, den
Betrachter verordnen, was dieser zu
[Panofsky] versuchte damit eine sehen hat, noch will er die Phänme-
Brücke zu schlagen zwischen Forma- ne durch bestimmte Blickwinkel re-
nalyse und Ikonographie, die er später duzieren. Die Einschränkung auf eine
kaum noch benutzte und die, überwach- Sichtweise schließt ihm zu viele an-
sen vom Gestrüpp gegenseitiger Nicht- dere aus.33 Wyss will die „Kunstge-
beachtung, in Vergessenheit geriet.30 schichte als Mentalitätsgeschichte“34
aufgreifen, weshalb ihm ein möglichst
Im Gegensatz zu Panofsky hat Wyss breites Spektrum bedeutsam ist, um
mit seinem Protagonisten mehr Er- Entwicklungen und Veränderungen
folg. Dies könnte darin begründet entsprechend nachzuspüren.
28
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 259 f.
29
Vgl.: Wyss, Beat (1996): Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne.
Köln: DuMont, S. 80.
30
Ebd., S. 80. An dieser Stelle wird recht deutlich, wie Beat Wyss noch immer über die Verbindung
von Philosophie und Kunst in der Wissenschaft denkt. Auch elf Jahre nach „Trauer der
Vollendung“ wird diese Verbindung, wenn nicht schon abgelehnt, so doch stark vernachlässigt.
beat Wyss
31
Vgl.: Regine Prange: Ende der Kunst, S. 104, in Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon
Kunstwissenschaft, Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart, 2011.
32
Ebd., S. 105.
33
Vgl.: Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne. Köln, 1996 [1996]
S. 84 f.
34
Ebd., S. 86.
35
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 357.
sarah rieder
36
Wie sehr sich Wyss nun gegen die damalige Meinung behaupten musste und wie stark der
Gegenwind damals war, lässt sich nicht mehr durch Quellen belegen. Weder auf der Website des
Instituts für Philosophie noch auf der Website der Universität Zürich lässt sich etwas diesbezüglich
finden. Dies ist natürlich verständlich, da vermutlich niemand gerne einen internen Zwist öffentlich
machen möchte. Was jedoch auffallend ist, ist die Tatsache, dass „Trauer der Vollendung“ bei
DuMont erschienen ist. Der Verlag ist kein „typischer“ Ansprechpartner, wenn es um
wissenschaftliche Arbeiten geht, wollte sich aber in diesem Gebiet, u.a. mit Wyss‘ Erstling besser
behaupten.
37
Vgl.: Wyss, Beat (1996) [1996]: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne.
Köln: DuMont, S. 80.
beat Wyss
38
Beat Wyss: Das Museum des Weltgeistes, in: Grave, Johannes/Locher, Hubert/Wegner, Reinhard
(Hg.): Der Körper der Kunst, Göttingen, 2007, S. 163 f.
sarah rieder
Dennoch ist es ein Text, dem schein- Wyss distanziert sich somit von der
bar nur sehr wenig Aufmerksamkeit „Menge (an) kluge(n) Fachkommen-
zu Teil wurde. In der Forschung ist er tare(n)“, er will Kunstwerke nicht
weder stark rezipiert noch diskutiert. durch gesetzt geltende Maßstäbe be-
Es fi nden sich kaum Werke, die sich trachten. Stattdessen will er die Flüch-
an Trauer der Vollendung anlehnen oder tigkeit und Wandelbarkeit der Bilder
sich darauf beziehen. Hierbei wird das in einer ebenso beweglichen Sprache
hohe Potenzial des Textes übersehen. wiedergeben. Daran zeigt sich, dass 159
Nicht nur, dass er die Möglichkeit bie- sich der Autor weniger als Chronist
tet über das eigene Schreiben und die der Kunstwissenschaft, sondern als
Konstruktion von Texten, sowie von deren Interpret versteht.
Wirklichkeit nachzudenken. Trauer
der Vollendung weist ebenso auf einen Wyss weist damit auf, dass weder
Blick, fernab des gängigen Kunstge- Kunstwerke noch Historie schlicht
schichtskanons, hinaus. Dies führt so- starre, unveränderliche Gebilde sind,
weit, dass Wyss sich gänzlich von der sondern bewusst von Menschen in
reinen Bildbetrachtung entfernt. einen bestimmten Kontext gesetzt
Werkanalysen, Kompositionen oder werden. Diese Flexibilität und Wan-
die Einordnung in bestimmte Strö- delbarkeit der Kunst veranschaulicht
mungen und Stile interessieren den er durch die Flexibilität und Wandel-
Autor nicht. barkeit seiner Sprache.
Stattdessen bindet er die Kunstwerke
in seinen Schreibfluss mit ein, macht Mein Buch versteht sich als
sie zu Belegen seiner Theorie. Plädoyer für den skeptischen Schlen-
Wyss selbst beschreibt seine Technik dergang auf veränderlichen und verän-
wie folgt: derbaren Provisorien hin.40
Die listige Nachgiebigkeit der Die Kunstwerke sind an sich nur „ver-
Bilder mit Worten nachzuahmen, war änderliche und veränderbare Provi-
Motiv meines methodischen Verfah- sorien“, und somit in ihrer Quintes-
rens. Die unmittelbar nachvollziehende senz selbst schon bruchstückhaft.
Ausdrucksbewegung eines Gedanken-
systems erspart eine ganze Menge kluger Diese Bruchstücke sind dabei Verän-
Fachkommentare.39 derungen unterworfen und wandeln
39
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 12.
40
Ebd., S. 14.
41
Ebd.
42
Dies gilt nun nicht für naturwissenschaftliche Phänomene. Obwohl es auch hier wieder viel
Spielraum gibt, wie diese Erkenntnisse ausgelegt werden.
beat Wyss
ist wie gering die Reaktion zu Trauer sowie dessen Enttäuschung beim
der Vollendung ausfiel. Warum wurde Anblick der Berner Alpen“, „Der
ein Buch, dessen Inhalt so kontrovers Process des Käsemachens“, „Ro-
erschien, dass es von universitärer mantische Natursehnsucht als Al-
Seite abgelehnt wurde, nicht stärker ternative“ und „Ossian.
thematisiert? Einzig die Rezension Oder die Kolonisierung der Land-
mit dem Titel Trauergesten von Axel schaft mit menschlichem Gefühl“.45
Burkarth beschäftigt sich intensiver So aneinandergereiht wirkt die Aus- 161
mit dem Werk. Sein Urteil fällt jedoch wahl beliebig, wobei der Fokus auf
sehr negativ aus. Burkarth sieht in den verspielten Überschriften und
Trauer der Vollendung reines Spiegel- originellen Pointen zu liegen scheint.
fechten. Die Kritik der Modernitäts- „Fasziniert zeigt sich Wyss vor al-
gegner müsse von Wyss erst wieder er- lem von der eigenen Sprachgebärde.
hitzt werden, da diese Vorwürfe sich [...] Aber der lässige Gestus des Beg-
bereits als historisch veraltet zeigen. riffsjongleurs ersetzt nur die diskur-
sive Redlichkeit. Kein Sinnzusam-
Problematisch sei zudem, dass die ge- menhang scheint für Wyss bedeut-
schichtsphilosophische Ästhetik, die sam genug, als da[ss] man ihn nicht
Wyss als Hauptargument gegen die zugunsten sprachlicher Knallkörper
Kunst der Moderne ins Feld führt, sausen lassen könnte. Wyss zeigt da-
zu einseitig betrachtet wurde. Wyss bei das Talent zum Pyromanen.“46
scheint somit außer Acht zu lassen, Hier stellt sich die Frage, was nun
dass dieser Faktor nötig war, damit wirklich unter dem Strich von der
sich die Moderne an diesem Aspekt „Revision philosophischer Buchfüh-
stoßen und damit weiterentwickeln rung in Sachen Kunst“47 bleibt. Es ist
konnte.44 Zudem kritisiert Burkarth, nicht von der Hand zu weisen, dass
dass Wyss scheinbar mehr Wert auf Wyss mit seinem Ansatz keine er-
den Unterhaltungsfaktor legt, statt schütternden neuen Erkenntnisse zu
Erkenntnisse schürfen zu wollen. Tage fördern konnte. Dies fällt mit
Zur Veranschaulichung nennt Bur- einer Fragestellung, die sich mit He-
karth mehrere Kapitel: „Der idealis- gels Absage zur Kunst und die Ver-
tische Naturbegriff, dargestellt am teidigung dieser Grenzen zu Beginn
Eingedenken der geschwollenen Fü- des letzten Jahrtausends beschäftigt,
ße eines schwäbischen Hofmeisters, nicht leicht. Wyss bietet dagegen mit
43
Dies könnte daran liegen, dass sich ein Kanon immer erst durch eine gewisse zeitliche Distanz
ändert und formiert, wobei die Schriften Beat Wyss einfach noch zu aktuell dafür sind.
44
Vgl.: Burkarth, Axel: Trauergesten, Anmerkungen zu einem Versuch den Kulturpessimismus zu
widerlegen, in: kritische berichte, 1984, 4, S. 90 f.
beat Wyss
45
Ebd., S. 92.
46
Ebd.
47
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln, 1997 [1985], S. 15.
48
Jürgen Stöhr: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss,
Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne. Bielefeld: 2014 [2014], S. 12.
sarah rieder
49
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Aesthetik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s
Werke. Berlin, 1835 [1835], S. 8.
165
beat Wyss
Quellenverzeichnis
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesung über die Aesthik, in: Philipp Kon-
rad Marheineke, (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke, Band 10, 1 – 3,
Berlin, 1835, S. 7, 8, 120, 134 - 136, 579, 580.
Beat Wyss: Das Museum des Weltgeistes, in: Johannes Grave / Hubert Locher
/ Reinhard Wegner (Hg.): Der Körper der Kunst, Göttingen, 2007, S. 163 f.
Prange, Regina: Ende der Kunst, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft – Ide-
en, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2011, S. 104 f.
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl – Paul de Man
– Beat Wyss, Eine Einfühlung in die Kunstgeschichte der Moderne, Bielefeld 2014.
Wyss, Beat: Trauer der Vollendung, Zur Geburt der Kulturkritik, Köln 1997, 3.
Auflage.
Wyss, Beat: Der Wille zur Kunst, Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln
1996.
sarah rieder
167
georges Didi-Huberman
Die Frage des Details, die frage des pan
Der Text Die Frage des Details, die Frage des pan erschien erstmal 1986 im
168 la part de l'oeil, später wurde er in Didi-Hubermans Devant l'image: questions
posées aux fins d'une histoire de l'art abgedruckt. In der deutschsprachigen Aus-
gabe Vor einem Bild fehlt er. Die deutsche Übersetzung von Werner Rappl
ist zu fi nden in „Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und
Literatur“. Didi-Huberman führt in seinem Text den Begriff des pan ein,
grenzt diesen zum Terminus des Details ab. Während ein Detail identifi-
zierbar, mimetisch und deskriptiv ist, eine bestimmte Größe besitzt und
einem messbaren Raum entspringt, handelt es sich beim pan um ein nicht
identifizierbaren, nicht mimetischen, semiotisch labilen Bereich farbiger
Intensität. Pan ist „das Symptom der Malerei im Bild, wobei die Malerei
hier im Sinne einer Materialursache verstanden wird.“1
Georges Didi-Huberman (*1953) ist ein französischer Kunsthistoriker, Phi-
losoph und Hochschullehrer. Er studierte Kunstgeschichte und Philoso-
phie unter anderem bei Louis Marin, hatte Gastprofessuren an der Johns
Hopkins University, der Northwestern University, der University of Cali-
fornia, Berkeley, der University of Tokyo, der Freien Universität Berlin und
am Courtauld Institute in London inne. Georges Didi Huberman ist Ho-
norary Member des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Ber-
lin. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem 1997 mit dem
Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung, 2006 mit dem Gay-Lussac-
Humboldt-Preis, 2015 mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis und 2017 mit
der Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln.
Georges Didi-Huberman gilt als einer der einflussreichsten kunstwissen-
schaftlichen Theoretiker der Gegenwart. Seine Forschung bewegt sich an
der Schnittstelle zwischen Bildwissenschaft, Philosophie, Psychologie und
Kunstgeschichte. Sein Forschungsfeld erstreckt sich dabei von der Renais-
sance bis hin zur zeitgenössischen Kunst.
1
Didi-Huberman, Georges: Die Frage des Details, die Frage des pan Wiederabdruck in: Edith
Futscher, Stefan Neuner, Wolfram Pichler, Ralph Ubl (Hgg.): Was aus dem Bild fällt. Figuren
des Details in Kunst und Literatur, München, 2007, S. 49.
169
Georges didi-huberman
2
Ebd., S. 44.
3
Ebd., S. 46.
Christina Wigger
schen der genauen Beobachtung und völlig anders wirkt. Deutlich wird
der Klarheit der Interpretation be- dieser Unterschied am Beispiel der
schreibt. Aber was bedeutet Genau- Kunstkritik zu Tizians Œuvre, in der
igkeit der Beobachtung? Diese Frage immer wieder zu lesen ist, dass die
stellt und beantwortet der Autor dargestellten Figuren aus der Ferne
gleichsam: perfekt wirken, aus unmittelbarer
Nähe seien jedoch grobe Pinselstriche
Dieses Begriffsfeld ist das der zu erkennen.5 171
zurecht so genannten Beobachtungswis-
senschaften. Bachelard behandelte den Das Detail stellt vor allem die
Status des Details in einer berühmten Frage: von wo betrachten? Und hier han-
Arbeit aus dem Jahre 1927. Er zeigte, delt es sich nicht um Wahrnehmung, son-
dass der epistemologische Status des De- dern um den Ort des Subjekts: dort, von
tails – auch in den physischen Wissen- wo aus die Malerei gedacht wird.6
schaften, den Wissenschaften des Mes-
sens – der einer Teilung, einer Trennung Diese sehr gut nachvollziehbare Be-
des Gegenstands der Wissenschaft ist ein obachtung erweitert er um die The-
„innerer Konfl ikt, den sie nie ganz bei- orie, dass sich bei der Detailbe-
legen kann.“ Es ist ein Konfl ikt – be- trachtung aus der Nähe und dem
nennen wir ihn einmal in einer ersten eben beschriebenen ersten Schritt,
Annäherung – zwischen der Genauig- der Teilung, auch eine Teilung des
keit des beschreibenden Details und der Subjekts vollzieht.
Klarheit des Interpretationsansatzes.4
Das Beschreibende Subjekt
Bezogen auf die Malerei konstatiert trennt gleichsam – durch das Abtren-
George Didi-Huberman, dass ein fun- nen eines lokalen Bereichs aus dem
damentaler Unterschied zwischen der globalen - seinen Erkenntnisakt selbst,
Rezeption eines Kunstwerkes aus un- seine Beobachtung ab und sieht nie
mittelbarer Nähe und der aus der Fer- das gleiche ‚Lokale‘ im gleichen ‚Globa-
ne besteht. Er geht sogar so weit zu len‘, dass es zu erfassen meint.
sagen, dass bei diesen zwei verschie-
denen Möglichkeiten der Betrachtung Das beschreibende Subjekt trennt
auch vollkommen differente Dinge also eine Lokale aus der Globalen
gesehen werden und das Kunstwerk heraus. Dieser Prozess der Heraus-
4
Ebd., S. 46.
5
Vgl.: Ebd., S. 47.
6
Ebd.
Georges didi-huberman
7
Vgl.: Ebd., S. 48.
8
Vgl.: Ebd., S. 49.
9
Ebd., S. 49.
10
Ebd.
11
Ebd.
12
Vgl.: Ebd., S. 50.
13
Vgl.: Ebd., S. 52.
Christina Wigger
d.Ä. als das Paradebeispiel für den die auf narrativer Ebene aus dem
Begriff des Details an. Das 73,5 × eigentlich beliebigen Menschen im
112 cm große Ölgemälde entstand Meer, die Figur des Ikarus werden
ca. 1555-1560 und ist im königlichen lassen. Die Federn repräsentieren ein
Museum der Schönen Künste in Brüs- „notwendiges ikonografisches Attri-
sel zu sehen.14 Das Gemälde zeigt eine but für die bildliche Darstellung der
Szene aus den Metamorphosen des mythologischen Szene.“15
Ovid. Hauptperson ist ein Bauer der Selbst, wenn der Körper bereits voll- 173
einen Karrenpflug bedient der von ständig im Meer versunken wäre, so
einem Pferd gezogen wird, er befi n- wäre der Sturz des Ikarus dank der
det sich auf einem schmalen Weg Federn doch beschrieben. In diesem
am Ufer einer Bucht. Hinter dieser Sinne ist das Detail als ein Sachver-
Person im Vordergrund steht ein halt zu verstehen, der in einen iden-
Hirte mit seiner Schafherde, im rech- tifikationsstiftenden Prozess einge-
ten unteren Bildteil sitzt ein Angler. bunden ist. Festzuhalten ist ebenfalls
Den Großteil des Bildes nimmt die die mimetische Funktion des Details,
bis zum Horizont reichende Wasser- ohne die sich die ikonographische
oberfläche ein. Die Bucht wird von Bedeutungsebene nicht generieren
hellen Felsen und spitzen Bergen ge- lassen kann. Betrachtet man die ma-
rahmt, vor welchen im hinteren lin- lerische Beschaffenheit der Federn
ken Teil eine Hafenstadt zu sehen ist. weisen diese kein eindeutiges Unters-
Unten rechts liegt ein großes Segel- cheidungsmerkmal auf, welches sie
schiff im Wasser. Didi-Huberman vom Schaum der Wellen differen-
betrachtet den titelgebenden Bildaus- ziert. Didi-Hubermann stellt nun die
schnitt in der unteren rechten Ecke, Frage, warum der Rezipient dieser Tat-
auf welchem vor dem großen Segel- sache zum Trotze Federn sieht, und
schiff zwei menschliche Beine aus dem beantwortet diese zugleich.
schäumenden Meer herausragend.Um Der Unterschied liegt im Hinter-
die Extremitäten herum befinden sich grund: Befinden sich die weißen Farb-
kleine, weiße halbrunde Pinselstriche, akzente auf dem Meer fungieren sie
die vom Betrachter sofort als Federn als Schaum, mit dem Schiff als Hin-
identifiziert werden. Eben diese Fe- tergrund wandelt sich die Bedeutung
dern benennt Didi-Huberman als ein des Details, die Position legitimiert
Detail per exellence, denn sie sind es, die Lesbarkeit der weißen Farbe als
14
Ob das Gemälde tatsächlich von Pieter Bruegel d.Ä. angefertigt wurde ist heute fraglich, zudem
existieren zwei Versionen des Gemäldes. Eine marginal abweichende Version auf Holz, bei der
in der oberen linken Ecke die fliegende Figur des Dädalus platziert ist, befindet sich im Brüsseler
Museum Van Buuren. Für die hier untersuchten Bildelemente sind diese Informationen jedoch
nicht relevant.
15
Georges Didi-Huberman: Die Frage des Details, die Frage des pan, Wiederabdruck, München,
2007, S. 53.
Georges didi-hubermnn
Dass es sogar in den Bildern der alten Als zweites Bildbeispiel nennt Didi-
Meister mehr als das ikonische De- Huberman Jan Vermeers Die Ansicht
tail gibt will er mit einem weiteren von Delft.
Bildbeispiel beweisen. Dieses ist in Das 96,5 × 115,7 cm große Ölgemälde
eine Kritik an Svetlana Alpers’ Ver- entstand 1660/61 und hängt heute im
ständnis der holländischen Malerei Mauritshuis in Den Haag.
des 17. Jahrhunderts eingebettet. Das Gemälde zeigt eine Stadtansicht
von Delft aus einer leichten Aufsicht.
Was Alpers in Frage stellt, das Im Vordergrund fl ießt ein ruhiger
ist die Vorstellung eines semantischen Fluss vor den Mauern der Stadt. Die
und narrativen Abbilds, dessen univer- Hälfte der Bildfläche nimmt die Dar-
seller Träger die Malerei wäre: Es gibt stellung des mit großen Wolken be-
Tafelbilder, die nichts erzählen, erklärt deckten Himmels in Anspruch. Die-
sie – zu Recht.17 se für Vermeer untypische Außenan-
sicht seiner Heimatstadt Delft ist laut
Svetlana Alpers, amerikanische Pro- Didi-Hubermann „Ikonografie und
fessorin für Kunstgeschichte, ver- Emblem von nichts, sie bezieht sich
tritt den Standpunkt, dass nicht jede auf kein narratives Programm, kei-
Malerei Träger eines semantischen nen vorher bestehenden Text, dessen
Narratives ist. Ein Beispiel für ein vermeintlichen historischen oder my-
Bild ohne Narrativ ist Vermeers An- thologischen oder anekdotischen oder
sicht von Delft. Ihre Argumentation metaphorischen Wert, der das Bild
fußt dabei auf zwei Instrumenten der visuell aufbereiten soll“.18 Wie reprä-
16
Ebd., S. 54.
17
Ebd., S. 55.
18
Ebd., S. 55.
Christina Wigger
sentativ für die holländische Malerei Für jemanden der das Bild betrachte,
des 17 Jahrhunderts stellt das Ge- stellt das Bildelement einen verstö-
mälde lediglich eine einfache Ansicht renden Irritationsmoment dar, an
dar, die zeigt was in der Entsteh- dem das Auge haften bleibt, eine Bild-
ungszeit gesehen wurde. stelle, die farbige, stoffl iche Materie
Didi-Huberman zitiert hier Alpers, zeigt und die die Mimesis dadurch
die in ihrem Buch Kunst als Beschreibung zum Kollabieren bringt. Für diese Art
– Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts von Betrachter ist das Gelb des Bil- 175
die These vertritt, dass Tafelbilder des das pan. Dieses Bildbeispiel zeigt
existieren, die nichts erzählen. Über das pan als Materialursache, als das
das Werk Die Gefangene von Marcel Symptom der Malerei selbst im Bild.
Proust führt Didi-Huberman schließ- Symptom bedeutet in diesem Zusam-
lich erstmalig im Kapitel „Der Un- menhang ganz konkret die Spur, die
fall: Eklat des Materials“ den Be- der Pinsel hinterlässt, weil er da war.
griff des pan ein. Der Begriff des pan fi ndet dabei zu
In Proust siebenteiligen Hauptwerk einer ersten Formulierung: der pan,
wird das „kleine gelbe Mauernfeld“, das ist das Symptom der Malerei im
welches sich rechts vom Bildzentrum Bild, wobei die Malerei hier im Sinne
in Vermeeers Ansicht befindet, als ein einer Materialursache verstanden wird
außergewöhnlich packendes Bilde- und das Material in dem Sinn verstan-
lement beschrieben. den wird, den ihm Aristoteles gab –
Didi-Hubermann übernimmt die op- etwas, das nicht auf einer Logik der
tische Operation aus der Proust-Lek- Gegensätze beruht, sondern auf einer
türe und beschreibt genau diese Stelle Logik des Begehrens und der Proten-
im Bild als Beispiel für ein pan. tion.20 In einer Fußnote auf Seite 62
Er unterscheidet zur Veranschauli- wird der Begriff des pan weiterfüh-
chung zwei verschiedene Arten diese rend erklärt: Zunächst wird dabei
Bildstelle zu betrachten: Zum einen auf die Unübersetzbarkeit des Wortes
existiere ein sehender Rezipient, der hingewiesen. Bemerkenswert ist die
das Dargestellte „entsprechend einer mehrfache Bedeutung des Begriffs im
Phänomenologie der Erkenntnis und französischen, so bezeichnet pan so-
Identifikation“19 erfasst, für so jemand wohl eine Fläche, ein Gewebe, zum
beziehe sich das gelb schlicht und er- Beispiel im Sinne einer Mauerfläche,
greifend auf die Farbigkeit der Mauer. als auch eine Art fragmentarischen
19
Ebd., S. 61.
20
Ebd., S. 76.
Georges didi-huberman
21
Ebd., S. 68.
Christina Wigger
Verletzung auf einer weißen Haut zum anderen, weil in diesem Moment
dem darunter pulsierenden Blut, in- eine Bedeutung freigesetzt wird (zum
dem sie es auftauchen lässt, Sinn ver- Beispiel das Schicksal der erkrankten
leiht“22 Im Anschluss an dieses Haupt- Person betreffend), so ist auch das
beispiel nennt Didi-Huberman, um Symptom im Bild ein kritisches Er-
seine Beobachtung zu stützen, noch eignis, welches aber simultan Bedeu-
weitere Bildbeispiele, die aber jeweils tung konstituiert.24 Ebenso zeigt uns
nur sehr kurz angerissen und auf das Beispiel des hysterischen Symp- 177
die zentrale Aussage darüber, wie toms, bis zu welchem Punkt das, was
ein Detail zum pan werden kann, re- die Verbindung zwischen Ereignis
duziert werden. und Struktur, Funkeln/Eklat und
Diesem langen Kapitel folgt das vor- Verhüllung, Unfall und Bedeutsam-
letzte Kapitel „Das Symptom: Abla- keitssystem ausmacht, genau aus dem
gerung des Sinns“. Hier wird erneut Paradox der Sichtbarkeit besteht, das
die Nähe zur französischen Psy- eine solche „widerspruchsvolle, so
choanalyse nach Freud deutlich: Im plastisch dargestellte Gleichzeitig-
Begriff des Symptoms im Zusam- keit“ voraussetzt.
menhang mit pan, wohnt der Ver- So sind Bilder [image], wenn sie am
gleich zur Medizin inne. intensivsten widerspruchsvoll sind,
Als Anzeichen einer negativen Ent- vielleicht am wahrhaftigsten symp-
wicklung, im medizinischen Sinne tomatisch.“25
einer Krankheit und im konkreteren Zusammenfassend verallgemeinert
Sinne das wirre und chaotische Ver- Didi-Hubermann seinen Ansatz in-
drehen der Gliedmaßen eines Pa- dem er sagt, dass das Problem der
tienten der einen hysterische Krampf Kunsttheorie darin bestünde, dass die
erleidet. Mit diesem Beispiel will Di- Felder Phänomenologie und Semio-
di-Huberman die Bezeichnung des logie einzeln nicht wirksam sind und
Symptoms und den pans als souverä- unzureichend sind. Er plädiert für eine
nen Unfall erklären.23 stete Verschränkung der beiden Dis-
ziplinen. Um seinen Standpunkt zu
So wie die körperlichen Symptome verdeutlichen, bezieht er den Begriff
eines Anfalls souverän sind, zum ei- des pan schließlich noch auf einige
nen, weil der ganze Körper in dem andere, bereits existierende und art-
Moment davon tyrannisiert wird und verwandte Begriffe. Zum Beispiel auf
22
Ebd., S. 81.
23
Vgl.: Ebd., S. 74.
24
Vgl.: Ebd., S. 75.
25
Ebd., S. 77.
Georges didi-huberman
26
Ebd., S. 77.
Christina Wigger
und pan da der Duktus stets deutlich Auffassung steht im Kontrast zu der
sichtbar ist. Der Pinselstrich ist grob künstlerischen und handwerklichen
und die Materialität der Farbe ist ein Intention der Künstler aus dem 16.
intendierter und untrennbarer Teil des und 17. Jahrhunderts, was die Unter-
Bildes. Nach Didi-Hubermans Defi- suchung noch spannender macht.
nition von pan wären also sämtlich
Gemälde seit dem Impressionismus
ein einziges pan. Pan funktioniert je- 179
doch nur in Abgrenzung zum anders-
artiges Rest eines Gemäldes: das pan Rezeption/Kritik
ist ein Detail, über welches der Be-
trachter zufällig bei der Bildbetrach- Grundsätzlich richtet sich Didi-Hu-
tung stößt, welches ihn irritiert, ver- berman mit seiner kunsttheoretischen
stört, ja sogar angreift und tyranni- Position gegen die Vorstellung der
siert. Sicherlich existieren Bildbe- Bildbetrachtung nach Panosfsky und
reiche mit ähnlichen Eigenschaften einer bloßen Ikonographie und Iko-
auch im Impressionismus oder in der nologie des Kunstwerkes. Vielmehr
zeitgenössischen Malerei, dazu müss- konstruiert er eine Metapsychologie
te die Theorie von Didi-Huberman des Bildes in der die Beziehung zwi-
aktualisiert werden. schen Bild und Betrachter von großer
Relevanz ist. In dieser wechselseitigen
Didi-Hubermans Theorie könnte der Beziehung muss die simultane Präsenz
Beweis für das Vorhandensein einer und Unbegreiflichkeit des Kunstwerks
Selbstreferentialität, einem Verweisen akzeptiert werden. Didi-Huberman
des Bildes auf das Bild-Sein selbst setzte sich dabei mit den Werken von
sein, eine Ausstellung des Gemacht- Aby Warburg, Georges Bataille und
Seins, welches bereits in der Kunst Walter Benjamin auseinander.
des 16. Jahrhunderts zu fi nden ist. Die größte Besonderheit von Didi-
Grundsätzlich ist auch die Frage, ob Hubermans Theorie und Philosophie
man ein pan erst heute als solches des Bildes ist die Einbeziehung von
wahrnehmen kann. Die einzige Mög- psychologischen Fragen. Im Gegen-
lichkeit ein pan zu identifizieren ist, satz zur Defi nition des pan, ist sein
zu sagen, es handele sich dabei um Verständnis von Bildbetrachtung ein
Malerei als vollzogenen Akt. Diese immer noch sehr aktuelles, welches
Georges didi-hubermnn
27
Kemp, Wolfgang: Beschwingter Auftritt für eine alte Hausgöttin, Rezension zu Georges
Didi-Huberman Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg,
erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 11.10.2010.
In URL: https://www.buecher.de/shop/kunstgeschichte/das-nachleben-der-bilder/didi-huber
man-georges/products_products/detail/prod_id/29741458/ (07.11.2017).
28
Wieland, Magnus: Das Detail als Provokation der Kunstgeschichte, erschienen in Intermedialität,
Transmedialität. Hgg. von Alexandra Kleihues, Verlag Köln Weimar, 2007, S. 120.
Christina Wigger
181
Georges didi-huberman
Quellenverzeichnis
Didi-Huberman, Georges: Die Frage des Details, die Frage des pan Wieder-
182 abdruck in: Edith Futscher, Stefan Neuner, Wolfram Pichler, Ralph
Ubl (Hg.); Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur,
München, 2007.
183
Max imdahl
Bildbegriff und Epochenbewusstsein
Epochenkonstitution als Anschauungserkenntnis
1
Vgl.: Kohle, Hubertus: Max Imdahl, in Ulrich Pfisterer (Hg.): Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 2,
München 2008, S. 217-225.
185
Max Imdahl
die spezifische Art und Weise, wie der sukzessiven Abfolge von Stilpe-
und worauf sich die Perspektive rioden hinterfragt. Im Gegensatz zu
richtet: den genannten Kunstgelehrten geht
er nicht von einer zyklisch-fortschritt-
Von der gegenständlichen lichen Entwicklung der Kunst und
Malerei als dem Ausdruck einer Epoche ihrer epochalen Geschichte aus, son-
kann man erst sprechen, nachdem es die dern sucht nach einer Alternative zu
Epoche der sogenannten gegenstands- möglichen Epochenunterscheidun- 187
losen Malerei gibt, und von der Totali- gen. Kausale Zusammenhänge er-
tät eines komponierten Bildes als dem setzen sukzessive Abfolgen. Durch
Ausdruck einer Epoche kann man erst seine Abgrenzung zur Tradition stellt
sprechen, nachdem es Bilder gibt, die er sich dabei dennoch in eine Be-
auf diese Totalität thematisch verzich- ziehung zu den aufgeführten Auto-
ten. Dabei ist es ein erheblicher Unter- ren und misst demnach seiner The-
schied, ob man nun unter der Perspek- orie eine ebenbürtige Bedeutung zu,
tive der gegenstandslosen Malerei oder wenn auch unter einem methodisch
unter der Perspektive einer Malerei, die neuen Ansatz.
sich der Totalitätsstruktur des kompo-
nierten Bildes widersetzt, Epochen von-
einander unterscheidet.2
Epochendifferenzierungen
Imdahl beginnt seinen Artikel mit ei- innerhalb der „Relational Art“
nem Abriss über das historische Epo- Von Kalf über Chardin zu Cézanne:
chenbewusstsein bei kunstgeschicht- Entselbstverständlichung des Be-
lich interessanten Denkern. deutungsträgers und des Sehens.
Vor allem die unterschiedlichen nor- Max Imdahl strukturiert die Beispiele
mativen Bewertungen Lorenzo Ghi- seines Textes vor allem zu Beginn
bertis, Giorgio Vasaris und Giovanni stark chronologisch – beginnend mit
Pietro Belloris stellt Imdahl heraus. dem ältesten – umso die spezifischen
Vorangestellt sei hier der Hinweis, Eigenheiten seiner Beispielbilder
den Begriff der „Epoche“, wie Imdahl deutlich differenzieren, sowie auf-
ihn benutzt, mit Vorsicht zu genie- einander beziehen zu können.
ßen, da er die etablierte Bedeutung Anhand des Gemäldes Stillleben mit
2
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.):
Epochenschwellen und Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik, Bd. XII, München 1987,
S. 221.
Max Imdahl
chinesischer Terrine (Abb. 1) entstanden denn woraus deutlicher als aus der selbst-
1662 durch die Hand des Nieder- verständlichen Gewissheit und klaren
länders Willem Kalf, soll die emble- Erkenntnis des Bedeutungsträgers sollte
matische Bedeutung von Kunstwer- dessen signifizierende Kraft sprechen?3
ken thematisiert werden.
Das Gemälde zeigt neben der Chine- Um es prägnant zu formulieren, geht
sischen Terrine auch ein Glas, das im es bei Kalf darum, das dargestellte
188 folgenden Zitat thematisiert wird. Glas als ein Glas zu erkennen. Nicht
mehr und nicht weniger. Durch seine
perfektionierte Darstellung des Gla-
ses entsteht sinnbildliches Bedeuten,
wodurch nicht nur das Glas, sondern
auch das Wissen um die Charakte-
ristik des Glases implizit ist.
Folglich schwingt in der Darstellung
des Glases das kulminierte synästhe-
tische Wissen mit: seine glatte, kühle
Oberfläche, das Klingen von Glas an
Glas. Im Umkehrschluss würde dies
bedeuten, dass jede Entselbstverständ-
lichung des Bedeutungsträgers des-
sen emblematisches Bedeuten ein-
schränkt. Sobald der Betrachter sich
Abb.1: Willem Kalf: Stilleben mit chi- der Farbe als eigenständigem Medi-
nesischer Terrine, 1662, 64×53 cm, Öl um bewusst würde, verlöre sie ihre
auf Leinwand, Gemäldegalerie Berlin. vergegenwärtigende Kraft.
Das bildlich Gegebene ist die In Kalfs Bild ist nicht der Ge-
visuelle Repräsentation eines in seiner genstand als solcher unselbstverständ-
Faktizität keineswegs problematisierten lich, wohl aber die Prägnanz seiner bild-
Gegenstandes, es ist eine Funktion des- lichen Vergegenwärtigung. Niemand aber
sen, was jedermann von diesem Gegen- könnte (und sollte) die bildlichen Verge-
stande wissen kann. Es thematisiert somit genwärtigungsmittel, vorallem die Far-
auch dessen emblematisches Bedeuten, be, sozusagen wörtlich nehmen.4
3
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 223.
4
Ebd.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
Das Bild möchte demnach weder sein dem Bildmittelpunkt entrückt steht
Motiv in Frage gestellt sehen, noch ein schlichtes Wasserglas. Bei diesem
möchte es mit dem Objekt gleichge- Kunstwerk spielt, im Unterschied zum
setzt werden. Vielmehr besteht sein vorangegangenen Werk, der koloris-
Bestreben darin, als das perfekte Ab- tische Selbstwert der Farbe eine über-
bild des Gegenstandes wahrgenom- geordnete Rolle.
men zu werden. Deshalb bleibt in die-
sem Fall die Farbe reines Mittel zum 189
Zweck. Sie existiert nicht aus sich
heraus, sondern dient der reinen Ab-
bildung. Ohne selbstständigen Eigen-
wert obliegt sie lediglich der über-
pointierten Darstellung von Wissen.
Besonders deutlich wird dies am Bei-
spiel der Lichtreflexe des dargestellten
Glases, die als Manifestation des Wis-
sens um Optik und Licht mehr als
nur Abbildung ihrer selbst sind. Abb.2: Jean-Baptiste Siméon Chardin:
Mit Kalfs Stillleben mit chinesischer Ter- Korb mit Walderdbeeren, 1761, 37×45
rine hat sich Imdahl für ein Beispiel cm, Öl auf Leinwand, Privatsammlung,
entschieden, in dem Bild- und Ding- Paris.
kohärenz in höchstem Maße überein-
stimmen. Dabei wird der Kontrast Das einfache, schlichte Wasserglas, das
zum dann folgenden Bildbeispiel be- das Gemälde zeigt, lenkt das Augen-
sonders deutlich. merk weg vom Gegenstand an sich
und hin zur Farbvielfalt.
Denn nun schließt Imdahl den Ver- Der koloristische Mehrwert über-
gleich zu Jean Baptiste Simeon Char- bietet dabei das Wissen vom Gegen-
din an. Der Korb mit Walderdbee- stand, was bedeutet, dass die Erkennt-
ren (Abb. 2), ist etwa hundert Jahre nis auf einer unvoreingenommenen
später, 1761, gemalt worden. Präsent Anschauungsweise beruht, statt wie
türmen sich kegelförmig im Zentrum im Beispiel zuvor, auf bereits gene-
des Bildes leuchtend rotere Walderd- riertem und gesichertem Wissen, das
beeren. Unmittelbar daneben und in den dargestellten Gegenständen bei
4
Ebd.
Max Imdahl
Kalf mühelos wieder erkannt werd- die diese Malweise zur Folge haben
en kann. Hier wird Imdahls Gegen- kann, deutlich zu machen, zieht Im-
position zu einem kunstgeschicht- dahl zwei philosophische Autoritäten
lichelitären Ansatz deutlich. Denn heran, die jeweils zu völlig konträren
der Rezipient muss bei Imdahls Vor- Schlüssen kommen. Während Pierre-
gehen keinerlei Vorwissen besitzen, Jean Mariette scheinbar nicht gewillt
um dieses Faktum des Mehrwerts der ist, die zuvor durch Imdahl beschrie-
190 Farbezu erkennen und zu formu- bene Anschauungsleistung zu voll-
lieren. Das sehende Sehen, das reine bringen und lediglich eine vermeint-
Sehen bildimmanenter Phänomene, liche Unfähigkeit des Malers kritisiert,
leistet hier die Sinnkonstruktion bei nimmt Denis Diderot die Gegenpo-
der Bildbetrachtung. sition ein: Er zieht die positive Bilanz,
das Auge erfahre eine Belebung.
Nicht der Gegenstand in sei-
nen vorgewussten kategorialen Qualitä- Nicht die noch so vollkom-
ten, sondern der Gegenstand in seiner un- mene Visualisierung des apriorisch Ge-
voreingenommenen, vor allem die Far- wussten, sondern die Innovation des
ben gewahrenden Gesehenheit ist ge- aposteriorischen Gesehenen zählt.6
malt. Dem wiederum entspricht wohl-
möglich auch unsere Anschauungserfah- Das Kunstwerk selbst thematisiert
rung [...] – eine Anschauungserfahrung das auf Erfahrung basierende Sehen,
in der Art einer das Sehen selbst verinner- statt das auf Vernunft basierende Wis-
lichenden Aktbewusstheit.5 sen. Nach Imdahl manifestiere sich
damit in Chardins Werk ein aufklä-
Imdahl beschreibt hier das Phäno- rerischer Ansatz, der das Selbstver-
men, das weiter oben schon kurz an- ständliche entselbstverständlicht und
gerissen wurde: Eine subjektive An- so das Wissen um die Dingwelt neu
schauungsleistung des Rezipienten, hinterfragt.
der sich seines Sehens im Prozess des- Um seine systematischen Ausfüh-
selben bewusst wird. rungen noch zu erweitern, bezieht
Die unmittelbare Erfahrung in der sich Imdahl im nächsten Schritt auf
Betrachtung des Kunstwerkes domi- Paul Cézannes Aquarell Stilleben mit
niert dabei über die Vernunft. grüner Melone (Abb. 3) aus den Jahren
Um die unterschiedliche Bewertung, 1902 bis 1906.
5
Ebd., S. 224.
6
Ebd.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
7
Henle, Susanne: Claude Monet. Zur Entwicklung und geschichtlichen Bedeutung seiner Bildform,
Diss. Bochum, 1978, hier S. 95.
Max Imdahl
8
Ebd., S. 89.
9
Ebd., S. 90.
10
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 226.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
Jeder einzelne Bildausschnitt und bezieht sich Imdahl auf den Begriff
Blickwinkel bringt seine eigene äs- der „Wilden Ontologie“. Das Sehen
thetische Kohärenzstruktur hervor selbst ist nun Akt eines unmittelbares
und schafft somit eine ästhetisch Erlebnisses und als solches durch-
neue Realität unter Regeln, welche bricht es die Einstellung einer per-
nur für diesen Augenblick Wirksam- manenten, klassifi zierenden Denk-
keit beanspruchen. Im Beispiel Cé- ordnung. Das Sein der Dinge ist hier-
zannes vertritt somit nicht mehr die bei für die Erkenntnis Illusion und 193
Fläche die Projektionsebene, viel- Schein. Die Bildform ist nicht mehr
mehr entstehen Flächen, Raum und Ordnung sprachlich bezeichenbarer,
Objekt durch eine im Werden begrif- benennbarer Gegenständlichkeit,
fene Anschauung. sondern Organisation optischer Be-
Unter diesem Aspekt lässt Cézanne züge zwischen den Gegenständen.
sich der impressionistischen Sinnes- Ziel hierbei ist in erster Linie eine
wahrnehmung zuordnen. Allerdings Überwindung sprachlich fi xierter
strebt er darüber hinaus eine Ordnung und normativer Begriffl ichkeiten,
der Bilddaten an, welche in sich selbst wodurch sich die Dinge nicht mehr
schlüssig ist und den „Dingen der Ma- in ein Ordnungsgefüge eingliedern
lerei untersteht, die das Chaos der lassen.14 Im Fall des zu betrachtenden
reinen Wahrnehmung überfängt“12 . Stillebens15 von Cézanne ist das Glas
Es entsteht bei Cézanne so ein durch- im Bildraum kein Glas gemäß dem
organisierter, in sich abgeschlossener sprachlichen Begriff. Es entsteht ein
Bildorganismus. Betrachten, das sich von der alltäglich
gewussten Terminologie befreit.16
Cézannes Malerei versteht sich darin, Das Bild wird folglich Wiedergabe
die Dinge, welche Bewegung sugge- spezifisch neuer Erfahrungen und
rieren, in ihrer Bewegtheit zum Still- bleibt damit keine Projektion vorge-
stand zu bringen, um den Betrachter wusster Dinghaftigkeit.
darauf aufmerksam zu machen, die
Dinge selbst als in ihrer Bewegung Die Erscheinung des Dings
und Veränderung befi ndlich zu be- stimmt nicht mit seiner Existenz über-
trachten.13 In dieser neuen, durch den ein. Ziel der Kunst ist [...] allein die Er-
Akt des Sehens und Malens entstan- scheinung der Dinge, denn nur diese
denen Welt-Bildordnung Cézannes, Erscheinung ist sinnlich erfahrbar.17
11
Ebd., S. 227.
12
Henle, Susanne: Claude Monet. Zur Entwicklung und geschichtlichen Bedeutung seiner Bildform,
1978, S. 93.
13
Vgl.. Ebd., S. 95.
Max Imdahl
Fasst man die unterschiedlichen ma- Dabei liegt das Interesse im Gegen-
lerischen Positionen von Kalf bis Cé- satz zu den bisher behandelten Tafel-
zanne ins Auge, ergibt sich folgen- bildern auf makrostrukturalen Ge-
des Zwischenergebnis. meinsamkeiten. Um den Gegensatz
In der ästhetischen Erfahrung der von „Fragment“ und „Totalität“ zu
divergieren den Malereien werdenje verdeutlichen, beschreibt Imdahl zu-
unterschiedliche „Epochenbewusst- erst die Bedingungen des autonomen
194 seine“ ins Werk gesetzt. Tafelbildes als geometrische Grund-
form mit in sich enthaltenen ver-
schiedenartigen Einzelformen:
14
Vgl.: Ebd.
15
Die Autorinnen berufen sich auf Schreibweise „Stilleben“ nach Prof. Karin Leonhard.
16
Vgl.: Ebd., S. 51.
17
Ebd., S. 53.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
18
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 229.
19
Ebd., S. 230.
20
Ebd.
21
Ebd.
Max Imdahl
22
Ebd., S. 231.
23
Ebd., S. 234.
24
Ebd., S. 233.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
25
Vgl.: Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 233. Diese Passage Imdahls
ist explizit in Parallelität zu Panofskys Deutungen zu den Errungenschaften der Zentralperspektive zu
verstehen. Vgl. Panofsky, Erwin: Perspektive als symbolische Form (1927). Vgl. auch Stöhr, Jürgen:
Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite, in: Blümle, Claudia, Johannes Grave
(Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés, Vol. 7, 2017, 81-96, 90 f .: „Vor seinem zu frühen Tod 1988
war die Tendenz für den Bochumer schon deutlich absehbar. Alles lief [bei Frank Stella] auf eine
»vollends irrationale Formkombinatorik« hinaus. Und es ist so, als ob Imdahl doch noch ein letztes Mal
auf Erwin Panofsky habe zurückkommen wollen. In diesem Irrational-Wer den des Tafelbildes sah er
in Umkehrung zur Erfindung der Zentralperspektive wie bei Panofsky beschrieben – die »symbolische
Form«, »Welt auch als ein nicht zu Bewältigendes zur anschaulichen Erfahrung zu bringen«“.
Max Imdahl
26
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 286.
27
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 233.
28
Ebd.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
29
Ebd., S. 236.
Max Imdahl
Nach Imdahl stellt genau dieser As- Der Rezipient verliert die Gewissheit
pekt etwas Besonderes und grundle- seines eigenen Standortes.
gend Neues dar. Dies wird vor allem Das „Plus“ entzieht dem Rezipienten
im Unterschied zu Lorrains Land- seine Selbstgewissheit. Diese unfass-
schaftsbild deutlich, in dem das „Plus“ liche Erfahrung der Welt als einer
durch die Kopräsenz von Ausschnitt nicht zu bewältigenden, wird im Bild
und Ganzheit erfahrbar wird. Darin selbst zum Thema und somit vom Be-
200 liegt dessen spezifischer Charakter. trachter zwar erschließbar jedoch
Das Ziel dieses durch Imdahl an- nicht bewältigbar. Dieses Prinzip der
geführten Vergleichs zwischen der Erfahrbarmachung von Unfasslich-
Kunst Lorrains und Newmans ist keit wird auch bei Newmans Jericho
nicht die normative Ablehnung der zum „Bildsujet“: Die Totalität (das
Nonrelational Art als Nicht-Können, Dreieck) wird aufgebrochen (durch
sondern die Analyse von unterschied- die Linie), so zum Fragment eines
lichen Formen des Kunstwollens. „Plus“ und folglich in sich selbst ent-
In Jericho kann sich das Fragment im zweit.
Gegensatz zum Landschaftsbild Lor-
rains nicht in Totalität erfüllen. Dennoch ist in Newmans Bild
Demnach lässt sich die besondere die Spannung zwischen Totalität und Frag-
Leistung des Newmanschen Kunst- ment so sehr sie selbst, dass sich niemals
werks wie folgt beschreiben: ein nur illustratives Verhältnis zur Zerstö-
rung der Stadt31 herstellen kann. Die Leis-
[Das bildüberschreitende Plus tung des Bildes beruht vielmehr darin, das
wird als] unbeherrschbares repräsen- Fassbare und Messbare eines gleichschenk-
tiert in eben dem Maße, in welchem das ligen Dreiecks durchaus nicht zu verleug-
Bild ein unbeherrschbares, in sich selbst nen, aber doch die darin einbeschlossene
gestörtes geometrisches Gebilde ist: Gewissheit einer Totalität in Frage zu stel-
Das eigentlich unanschauliche und un- len und – letzter Konsequenz – Welt auch
fassliche bildüberschreitende Plus wird als ein nicht zu Bewältigendes zur an-
schaulichen Erfahrung zu bringen.32
als ein prinzipiell unfassliches erschließ-
bar, allerdings wird seine Unfasslichkeit
insofern fasslich, als fasslich wird, dass Nichtsdestotrotz lässt sich die Kunst
sie im Medium geometrischer Ordnung von Frank Stella und Barnett Newman
nicht fasslich werden kann.30 aus der Perspektive der Relational Art
30
Ebd., S. 237.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
31
Für den ikonografischen Bibelkontext siehe Jos 6, 20: „Und das Volk erhob ein Geschrei, und sie
stießen in die Posaunen. Und es geschah, als das Volk den Schall der Posaunen hörte, und als das
Volk ein großes Geschrei erhob, da stürzte die Mauer an ihrer Stelle ein, und das Volk stieg in die
Stadt hinein, jeder gerade vor sich hin, und sie nahmen die Stadt ein.“.
32
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 237.
33
Ebd., S. 238.
Max Imdahl
34
Ebd., S. 239.
35
Ebd., S. 240.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
36
Ebd.
37
Ebd.
38
Ebd., S. 241.
39
Ebd.
Max Imdahl
für Imdahl zeitlich gesehen eine un- Mit Beginn der Postmoderne ent-
glückliche Fügung. Denn der Groß- wickelten sich neue Diskurse, denen
teil der zeitgenössischen Diskussio- Imdahl jedoch keine Diskussionsan-
nen drehte sich mit François Lyotards gebote liefert. Die prekäre Frage, ob
La Condition postmoderne, erschienen beispielsweise die Nonrelational Art
1979, und Charles Jencks The Rise of mit der Postmoderne gleichzusetzen
Postmodern Architecture von 1975, um sei, hätte Imdahl noch deutlich ver-
204 die Konstituierung und Problemati- neint. Sein kritischer Postmoderne-
sierung der „Postmoderne“, als einer Begriff hinderte ihn folglich konse-
Epoche der Pluralität, mehrfachen quent an einer Annäherung an die neu-
Kodierung und Heterogenität. en Phänomene dieser jungen Epoche.
Durch die Ablehnung des Fortschritt- Sein Problem mit der Postmoderne
gedankens der Moderne und der da- lässt sich vor allem dadurch erklä-
mit verbundenen Überzeugung von ren, dass er den zugehörigen Künst-
der Erfassbarkeit und Gestaltbar- lern und deren Werken eine wahllose
keit der Welt, entfernt sich die „Post- Stil-Vielfalt unterstellte.
moderne“ rasant von den metho- Diese neuen Positionen konnte er
dischen Rahmenbedingungen und nicht anerkennen, weil sie aus seiner
Möglichkeiten der Ikonik.40 Sicht auf diese Weise keine kohären-
ten Fragestellungen entwickelten.
Die relativ späte Publikation des Für ihn galten Künstler, welche an
Imdahl-Textes hatte nun offenbar einem Tag abstrakt malten und sich
zur Folge, dass seine Thesen von dem am nächsten Tag dem Fotorealismus
damals brandaktuellen Diskurs über zuwendeten, als charakterlos und ko-
die aufkommende Postmoderne über- pistisch. So versäumte Imdahl den
holt wurden. Moment der Anbindung seines Voka-
Da die Ikonik zum Beispiel die Akku- bulars an das der Diskussion über die
mulation von Zitaten, wie sie in Wer- Postmoderne.
ken der Postmoderne häufig auf- Auch im heutigen kunstwissenschaft-
treten, nicht unmittelbar verstehen lichen Verständnis bleibt Imdahls Be-
kann, konnte Imdahl nachmoderne griff der Nonrelational Art zu allge-
Arbeiten nicht in seine kunstwissen- mein. Dadurch ist er im wissenschaft-
schaftlichen Analysen einbeziehen. lichen Diskurs schlecht verhandelbar.
40
Vgl.: Stöhr, Jürgen: Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite, in: Blümle,
Claudia, Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés, Vol. 7, 2017, S. 81-96, 90 f.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
41
Ebd.
Max Imdahl
versuchten. Doch auch sein Tod im Imdahl zufolge muss der Betrachter
Jahr 2011 schränkt die Rezeption und keinerlei Vorwissen von Epochen und
das Nachwirken ein. deren Umbrüchen besitzen, da sich
Neben Gerd Blum, der die Professur die gesamte Bewusstwerdung dieser
für Kunstgeschichte an der Kunst- werkimmanent abspielt.
akademie Münster innehat, ist es auch Gezeigt wird die Einstellung zur Welt
Anliegen des an der Universität Kon- alleine schon anhand des Werkes
206 stanz lehrenden Professors Jürgen selbst. Imdahl gelingt es, dieses Phä-
Stöhr, den Texten und Ansätzen Max nomen in seinem Text anhand der
Imdahls neues Gehör zu verschaffen. werkinhärenten Analyse künstleri-
Ein neuster Beitrag von 2017, der da- scher Arbeiten aufzuzeigen. Hierbei
zu dienen soll, die Rezeption Imdahls geht er weder philosophisch noch so-
auch in Frankreich erneut anzuregen, zial-ökonomisch vor, sondern betont,
befi ndet sich in dem deutsch-fran- wozu das Bild selbst und somit auch
zösischen Journal Regards croisés. Das die reine unvoreingenommene Werk-
Magazin wird von den Berliner und rezeption fähig sind.
Bielefelder Professor_Innen Claudia Eingehend auf die Liste der Kriterien
Blümle und Johannes Grave heraus- für einen Schlüsseltext, wie sie in der
gegeben. Die Dossierbeiträge zu Max Einleitung durch Jürgen Stöhr be-
Imdahl stammen von Mathias Blanc, reits charakterisiert wurden, lassen
Mira Fliescher, Angeli Jahnsen und sich besonders fünf Punkte in Bezug
Jürgen Stöhr. auf Imdahls Artikel herausarbeiten.
Vor allem bezüglich der aufgeführten Vorallem sein neuer Ansatz zur grund-
Schwierigkeiten lässt sich nun die sätzlichen Periodisierung von Kunst
Frage, warum Imdahls Text Bildbegriff unterstreicht die methodische Rele-
und Epochenbewusstsein trotzdem die vanz des Textes. Imdahl folgt nicht der
Relevanz besitzt als Schlüsseltext re- herkömmlich-chronologischen Vor-
zipiert und gelehrt zu werden, erneut gehensweise der Kunstgeschichte, die
stellen. Maßgeblich ist wohl die sich vom Allgemeinen ins Spezifische,
aus dem Text generierende Erkennt- Kunstwerke unterschiedlichen Epo-
nis des Lesers, dass Kunstwerke selbst chen zuschreibt. Stattdessen fußt sein
Epochenschwellen visualisieren kön- Interesse auf dem Spezifischen: dem
nen, sofern man dem Einzelwerk aus- Bild und dessen bildimmanenter
reichend Beachtung schenkt. Struktur. Denn „[f]ür Imdahl war das
Theresa Brauer & Sophie Reiser
Reden über ein Bild ein strenges Re- Imdahls finale Argumentation bezüg-
alisieren der Bildvorgaben.“42 Dem- lich „seiner“ zeitgenössischen Epo-
nach handelt es sich auch um eine bild- che – der Moderne –, wird bemerk-
immanente Vorgehensweise. Dabei bar, dass die Ikonik bei der Auseinan-
durchbricht auch Imdahls kunstphi- dersetzung mit Werken der Postmo-
losophischer Ansatz die anerkannte derne an ihre Grenzen stößt.
hierarchische Struktur der Kunstge- Imdahls polemischer Postmoderne-
schichte. Mit Hilfe einer neutralen Begriff begründet sich wohl haupt- 207
Bildbetrachtung nähert sich Imdahl sächlich darin, dass sie nicht rein phä-
den spezifischen Eigenheiten unter- nomenologisch interpretierbar ist.
schiedlicher Kunstwerke an. Im Sin- Viele künstlerische Arbeiten nach
ne, der sich eine Epochendifferenz 1960 wirken so unberechenbar und
erschließenden Ikonik, wird das anta- „gestört“, dass die Ikonik ihren Auf-
gonistische Begriffspaar der Relational bau nicht mehr nachvollziehen kann.
und Nonrelational Art als neue Diffe- „Hier operiert die ‚ästhetische Erfah-
renzcharakterisierung eingeführt. rung’ in der absoluten Inkohärenz.
Sie fi ndet in den Bildern keine An-
Die Begriffe – ursprünglich erdacht dockstelle mehr für ihre Sehmaß-
von Frank Stella – werden vor allem stäbe“43. Anhand der Werke von Frank
durch Imdahls Text geprägt und in Stella hatte die Ikonik gerade begon-
das kunstwissenschaftliche Vokabu- nen, ihre eigenen Grenzen und me-
lar integriert. Mithilfe dieser neuen thodischen Inkompetenzen unfrei-
Möglichkeiten der Differenzierung willig zu reflektieren.
gelingt es, die sich einem konventio- Die Ikonik ist auch nicht in der Lage,
nellen Zugang versperrende Nonre- postmoderne Zitate zu sehen, da sie
lational Art in Abgrenzung zur Rela- werkimmanent ausgerichtet, die nö-
tional Art ex negativo zu erschließen. tigen Kontext nicht mitsehen will.
Was Max Imdahls „Scheitern“ an Die Ikonik kann keine ironische visu-
der „eigenen“ Epoche angeht, ist es elle Kommunikation verstehen und
immer notwendig, einen Text in sei- folglich nicht zu einem der wesent-
nem historischen Standpunkt sowie lichen Kerne der Postmoderne vor-
in seiner im Nachhinein daraus resul- dringen.44
tierenden Beschränktheit oder Inno- „Irrationale“ Bildkonstruktionen der
vativität zu reflektieren. Liest man Nonrelational Art – wie die Arbeiten
42
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 159.
43
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 282.
44
Ders.: Max Imdahls Ikonik. Ausgangspunkte – Verfahren – Reichweite, in: Blümle, Claudia,
Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés, Vol. 7, 2017, S. 81-96, 90 f.
Max Imdahl
45
Ders.: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 292.
46
Ebd., S. 283.
47
Ebd., S. 285.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
48
Rosenberg, Raphael: Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Angemessenheit von Max
Imdahls Kunstbetrachtung, 1996, S. 1, aufgerufen unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/
volltexte/2006/193 (Zugriff: 27.11.2017).
49
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss. Eine
Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld 2010, S. 285.
50
Imdahl, Max: Bildbegriff und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 237.
Max Imdahl
Quellenverzeichnis
Blümle, Claudia: Johannes Grave (Hg.): Max Imdahl. In: Regards Croisés,
210 Vol. 7, 2017. (Mit Beiträgen von Mathias Blanc, Mira Fliescher, Angeli
Jahnsen und Jürgen Stöhr)
https://www.revue-regards-croises.org/français/numéros/no-7-2017/
(Zugriff: 12.7.2018).
Kohle, Hubertus: Max Imdahl, in Ulrich Pfisterer (Hg.): Klassiker der Kunst-
geschichte, Bd. 2, München 2008, S. 217–225.
Rosenberg, Raphael: Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Ange-
messenheit von Max Imdahls Kunstbetrachtung, 1996, online aufgerufen unter:
http://archiv.ub.uniheidelberg.de/artdok/volltexte/2006/193 (Zugriff:
27.11.2017).
Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die Kunst des 19. Und 20. Jahrhunderts als
Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1998.
Stöhr, Jürgen: Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man -
Beat Wyss. Eine Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne, Bielefeld
2010.
Theresa Brauer & Sophie Reiser
Bildnachweis 211
Abb.1: Willem Kalf: Stilleben mit chinesischer Terrine, 1662, 64×53 cm,
Öl auf Leinwand, Gemäldegalerie Berlin.
http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/heidicon_
kg-624ec06de69083ea715768cae1166b0f194c7639 (Zugriff: 27.11.2017).
Abb.4: Claude Lorrain: Der Mittag, 1651, Öl auf Leinwand, 116×160 cm,
Hermitage Museum.
https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/digital-col-
lection/01.+paintings/36651 (Zugriff: 27.11.2017).
Abb.5: Frank Stella: Quathlamba, 1964, Shaped Canvas, 139×666 cm, Me-
tallpulver in Polymer-Emulsion auf Leinwand, Museum of Contemporary
Art, Tokio.
http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/961/
friesen/Friese_t.html (Zugriff: 27.11.2017).
Max Imdahl
Abb.7: Piet Mondrian: Komposition mit gelben Linien, 1933, Öl auf Lein-
wand, 133×133 cm, Gemeentemuseum, Den Haag.
212 http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/eichstaett_ub-b7e-
1ba37a7894fa73d86a840b42373ee3b4ebfa6 (Zugriff: 27.11.2017).
Theresa Brauer & Sophie Reiser
213
werner busch
Caspar David Friedrichs Tetschener Altar, 1998
Diese exerziert er damit an einem Beispiel durch, bringt somit eine neue
Herangehensweise in den wissenschaftlichen Diskurs ein und sorgt für
einen Leitfaden bzw. eine Orientierungshilfe für diejenigen, die sich selbst
an einer Methode versuchen möchten, die eine historische mit einer struk-
turellen Betrachtungsweise kombiniert.
Außerdem greift Werner Busch den damals aufkommenden und bis heute
fortbestehenden Methodenpluralismus in der Kunstgeschichte auf und ver-
deutlicht damit neue Zugänge zur Kunstgeschichte.
215
Werner busch
1
Vgl.: Busch, Werner (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Simek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280.
2
Vgl.: Busch, Werner (1987): Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim: Quadriga Beltz, S. 3.
3
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 1.
4
Vgl.: o.A.: „Professor Dr. Werner Busch. Zur Person“. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/khi/
institut/ehemalige/emeriti/busch/index.html (Stand: 06.08.2017).
5
Vgl.: o.A.: Professor Dr. Werner Busch. Zur Person 2017.
6
Vgl.: Ebd.
7
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
8
Vgl.: Ebd.
9
Vgl.: o.A.: Werner Busch erhält den Richard-Hamann-Preis für Kunstgeschichte.
http://www.geschkult.fu-berlin.de/aktuelles/Werner-Busch.html (Stand: 06.08.2017).
10
Vgl. o.A.: Werner Busch erhält den Richard-Hamann-Preis für Kunstgeschichte 2016.
11
Vgl. Ebd.: „Werner Busch“. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Busch.html (Stand: 06.08.2017).
12
Vgl. o.A.: Professor Dr. Werner Busch. Zur Person 2017.
13
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280.
Werner busch
14
Vgl.: Marek J. Siemek (1998): Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus
gegenwärtiger Sicht. Fichte-Studien-Supplementa 10; Amsterdam: Rodopi.
15
Vgl.: Busch, Werner (2003): Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München: Beck.
16
Vgl.: Ebd.
17
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263–280.
18
Vgl.: Ebd.
19
Vgl.: Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 4.
20
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
21
Werner Busch (1997): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München: Piper, S. 25.
22
Ebd., S. 5.
23
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280.
24
Vgl.: Kepetzis, Ekaterini: „Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich“.
http://www.sehepunkte.de/2004/03/2319.html (Stand: 24.07.2017).
25
Vgl.: Ebd.
26
Ebd.
Werner busch
Busch präsentiert das Neben- und Mit- Neben dem Luthertum und dem Pie-
einander von Naturwahrheit und künst- tismus identifiziert er hierbei Schlei-
lerischen Ordnungsprinzipien32 und legt ermachers Texte als Basis und wich-
dar, dass dem Betrachter durch die tigste Beeinflussung von Friedrichs
jeweilige Komposition ein interpre- ästhetischer Religionsauffassung.37
tatorischer Leitfaden an die Hand Besonders im Vergleich gemalter Stim-
gegeben wird.33 mungen und religiöser Anschauungen
220 Im fünften Kapitel beschäftigt sich lasse sich diese Nähe konstatieren.38
Busch mit Werken, die von Fried-
rich als Pendants konzipiert wurden. Friedrich und Schleiermacher waren
Wie bereits anhand von Mönch am Meer beide im protestantischen Glauben
und Abtei im Eichenwald gezeigt – ob ihrer Zeit verwurzelt. Sie vertraten
hier der Pendantcharakter beider nicht nur einen im Wesen übereinstim-
Werke tatsächlich intendiert war oder menden Frömmigkeitsbegriff sondern
vom Interpreten nachträglich her- auch die Vorstellung von individua-
angetragen wurde ist nicht abschlie- lisierter Religion.39
ßend geklärt 34 – versucht Busch ne- In der Betrachtung der göttlichen
ben Überlegungen zur Tradition der Schöpfung erkennt Busch sowohl bei
Bildpaare darzulegen, welche Folgen Schleiermacher, als auch bei Fried-
die antithetische Präsentationsform rich, eine grundsätzlich passive Hal-
auf den Betrachter hat. tung des Gläubigen. Somit können
In der Lektüre und der Struktur, kurz Friedrichs Werke weder als religiöse
der Zusammenschau der oft gegen- noch als politische Handlungsauffor-
sätzlichen Werke, soll der Betrachter derung verstanden werden.40
zu einer Synthese, ergo zum Ver- Die direkte Überführung von Natur-
ständnis der Grundanschauung des studien in seine Werke zeigt die ma-
Malers gelangen.35 Der Frage, inwie- lerische Demut im Werkprozess an.
fern Friedrich Schleiermachers Phi-
losophie Caspar David Friedrich geis- Auf der Grundlage eines reli-
tig prägte, geht Busch in seinem letz- giösen Gefühls werden die Naturge-
ten Kapitel nach. Busch zufolge findet genstände in eine ästhetische Ordnung
die visionäre Grundfigur des Malers überführt und dadurch die Findung
in Schleiermachers Philosophie ihr in eine nachvollziehbare und ordentliche
theoretisches Fundament.36 Empfi ndung transformiert.“41
27
Ebd.
28
Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 76.
29
Vgl.: Hildebrand-Schat, Viola: „Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik
und Religion“, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/6498/torstensson.
pdf ?sequence=1 (Stand: 16.11.2017), S. 289.
30
Vgl.: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 76.
31
Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
32
Ebd.
33
Vgl.: Ebd.
34
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
35
Vgl.: Ebd.
36
Vgl.: Viola Hildebrand-Schat: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und
Religion 2004, S. 291.
37
Vgl.: Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
38
Vgl.: Schwarz, Manfred: „Der Kunsthistoriker Werner Busch sieht in Caspar David Friedrichs
strengem Bildaufbau eine religiöse Ästhetik: Gottes Geometer“. https://www.berliner-zeitung.de
/16006978 (Stand: 11.12.2017).
39
Vgl.: Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
40
Vgl.: Ebd.
Werner busch
Am 5. September heiraten
die Thuns, bei der Ausstellung im De-
zember scheint längst klar gewesen zu
sein, daß das Bild nun doch nach Tet-
schen geht.57
41
Imorde, Joseph: „Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion
2003“, S. 2. https://arthist.net/reviews/45.html. (Stand: 12.11.2017).
42
Fraglich bleibt für einige Forscher an dieser Stelle jedoch, so beispielhaft für Imorde, ob sich
„allein durch den Nachvollzug dieser vom Künstler subjektiv verfügten Ordnung, […] im Betrachter
ein religiöses Gefühl einstellen kann, eine selbstbeobachtende Verwahrung einer höheren Realität,
die der Zielrichtung Schleiermachers folgt.“ Diesen Gedanken fortführend, fragt sich Imorde,
inwiefern das Strukturmodell Friedrichs tatsächlich in der Lage sei, „über das Verhältnis von
Wirklichem, gegenständlich Einzelnem und transzendentem Unendlichen anschaulich zu reflektieren
und die Reflektion dem Betrachter als einen vom Gefühl getragenen Denkraum zu eröffnen.“
(Joseph Imorde: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003, S. 2.)
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
Tisch gestellt und diesem mit schwar- überhaupt im Bilde erkennbar zu sein,
zem Tuch verhängt. [D]er Andrang bei die Naturwahrheit zerstören. Friedrichs
der Ausstellung sei groß gewesen“.58 durch den Rahmen von außen herange-
tragene Sinnfestlegung hebe zusätzlich
Im Januar 1809 wurde dann ein Zei- das gattungsmäßige Wesen der Land-
tungsartikel von Basilius von Ram- schaft auf, bringe sie in Kontexte, in de-
dohr in der Zeitung für die elegante Welt nen sie nichts zu suchen habe.62
veröffentlicht, der zum sogenannten 223
Ramdohrstreit führte.59
Beim Ramdohrstreit ging es haupt-
sächlich um unterschiedliche Vor-
stellungen von Gattungshierarchien,
Der Streit wurde durch den kritischen
Artikel von Ramdohr über das Bild
Kreuz im Gebirge losgetreten.
Nicht zuletzt, weil sich mehrere na-
mhafte Kritiker seiner Argumenta-
tion anschlossen.60
Das Werk entspricht laut Ramdohr
nicht der klassischen Gattungshie-
rarchie, da es als Altarbild nicht tra-
ditionellerweise eine Historienszene,
sondern eine Landschaft zeigt.61
43
Joseph Imorde: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003, S. 1.
44
Ebd.
45
Unbestritten ist, ob sich Schleiermacher und Friedrich gekannt haben. Sie sind sich
nachgewiesenermaßen zwei Mal begegnet. Bezüglich der Ableitung bestimmter Werke Friedrichs
aus dem Geiste Schleiermachers ist sich die Forschung jedoch höhst uneinig. Während sich Werner
Busch und Inken Mädler (Kirche und bildende Kunst der Moderne. Ein an F. D. E. Schleiermacher
orientierter Beitrag zur theologischen Urteilbildung. Tübingen 1997) für eine Beeinflussung des
Malers durch den Theologen stark machen, warnen Forscher wie Helmut Börsch-Supan (Caspar
David Friedrich und Berlin. Der Anfang einer Vorgeschichte. In: Berlin in Geschichte und Gegen
wart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1988, S. 51-80) oder Andreas Arndt…
Werner busch
[…] immer gleich und aus- 1800 verstärkt in den Fokus der künst-
schließlich von den Kritikpunkten des lerischen und kunsttheoretischen Inte-
Kammerherrn von Ramdohr ausgegan- ressen geriet. Damals bestand jedoch
gen ist. So genau dessen Beobachtungen auch die Möglichkeit einer gegenteiligen
sind, sie beschreiben Einzelphänomene, Lesart, welche in der Indienstnahme ei-
nicht die Gesamtstruktur des Werkes, fer- nes an sich autonomen Landschaftsge-
ner schließt Ramdohr von den Gegen- mäldes als Altarbild gerade keinen Akt
224 ständen und der Wirkung unmittelbar künstlerischer Emanzipation, sondern
auf die Bedeutung, zeigt nicht die Form im Gegenteil einen Rückfall in die he-
der künstlerischen Bedeutungsgenerie- teronome Einbindung von Kunst sah.
rung im einzelnen.63 Letzteres entspricht der Position von
Friedrichs schärfstem Kritiker Basilius
Im Anschluss an die Unsicherheiten von Ramdohr.66
bezüglich der Gattungsfestlegung
sowie der Hängung im Hause Thun Werner Buschs Herangehensweise
schreibt Busch: will rekonstruieren, wie kompliziert
es zu Friedrichs Lebzeiten war, in
Ihr Status [der Bilder] ist un- einem Kunstwerk Naturverehrung
klar, sie konnten noch religiöse Funk- und protestantisch-christliche The-
tion ausüben, Friedrich hatte sein Bild ologie zusammenzubringen.
zum Altarbild deklariert, doch der be- Der Tetschener Altar stellt laut Chris-
rühmte Vorbehalt des Freiherrn von tian Scholl aufgrund der ungewöhn-
Ramdohr, die Landschaft scheine auf lichen Integration des Traditionellen
die Altäre kriechen zu wollen, benennt und der Inszenierung eines Modus-
das Problem sehr präzise.64 bruches ein wichtiges Zeugnis für
die Gattungsumbrüche um 1800 dar
Die Gattungs- und Funktionsfest- und kann als Versuch verstanden wer-
schreibung ist folglich nicht klar, so- den, die Gattungshierarchie durch-
dass die ästhetische Nutzung vor- lässig zu machen.67
herrschend ist.65 Scholl schreibt dazu:
Für die Forschung ist dies ein
Man kann deren Rahmung in Glücksfall, dokumentiert der Streit doch
einem emanzipatorischen Sinne als Auf- einen einschneidenden Wandel im Ver-
wertung einer Gattung verstehen, die um ständnis von Kunst, der beim »Tetschener
…(Friedrich Schleiermacher als Philosoph. Berlin [u.a.] 2013) davor, Schleiermachers Wirkung auf
Friedrich zu überschätzen.
46
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 263.
47
Ebd.
48
Vgl.: Ebd., S. 263 ff.
49
Vgl.: Ebd., S. 265-66.
50
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam: …
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
[…] der für seine Rezeption geschaf- In Gustav Adolph IV., der, so schreibt
fene adäquate Ort sein“76. Den Über- Busch, auch „als Politiker ein Ro-
legungen zur Aufstellungsproblema- mantiker“82 war, sah der franzosen-
tik des Tetschener Altars aufgrund von feindliche Friedrich einen der viel-
Gattungs- und Funktionsüberschrei- leicht letzten erbitterten Gegner Na-
tungen fügt Busch ergänzend Über- poleons. Neben einer ähnlichen po-
legungen zu einem bereits zuvor ent- litischen Auffassung verband beide:
226 standenen Funktionswandel an.77
Ursprünglich nämlich, so führt Busch […] eine besondere pietisti-
aus, war das Gemälde Friedrichs als sche, dem Herrnhutertum nahestehende
Geschenk für seinen König Gustav Frömmigkeit, die Friedrich in Greifswald
Adolph IV. von Schweden geplant.78 bereits durch Kosegarten nahegeracht
Als schwedischer Untertan – Pom- worden war und mit der Gustav Adolph
mern, wo der Maler 1774 geboren offenbar gerade in Dresden um das Jahr
wurde, war bis 1815 schwedisch – 1804 in enge Berührung gekommen ist.83
beabsichtige Friedrich offenbar, den
Regenten zu verherrlichen und ihn Unklar bleibt aufgrund der schlech-
gleichzeitig auf den Kern der luthe- ten Quellenlage, weshalb das Gemäl-
rischen Rechtfertigungslehre, sowie de schlussendlich doch nicht nach
auf die Prädestination pochende Schweden ging, sondern für das böh-
Glaubensrichtung hinzuweisen.79 mische Schloss Tetschen erworben
Beide sind sich vermutlich während wurde.84 Die bereits angesprochene
der regelmäßigen Besuche des Königs Naturfrömmigkeit, die Friedrich und
in Dresden begegnet.80 Gustav verband, hat den Maler, Busch
zufolge, auch zu seinem Tetschener Al-
Friedrich stimmte mit seinem tar angeregt.85 Der Kunsthistoriker
König nicht nur politisch überein. Wich- verweist hier auf Pfarrer Ludwig
tiger noch dürfte das Faktum der gleichen Gotthard Kosegarten und einen von
religiösen Überzeugung sein. Erst die An- ihm angestoßenen Entwurf für eine
nahme einer Mischung aus politischen Kapelle mit vorgelagertem Rondell
und religiösen Gründen dürfte verständ- in Vitte auf Rügen. Der um 1805/06
lich machen können, warum Friedrich zu datierende Entwurf sollte Predig-
ein derartiges Bild für seinen König als ten unter freiem Himmel möglich
geeignet erachtet haben kann.81 machen, wodurch sich der Naturraum
58
Ebd., S. 267.
59
Vgl.: Ebd., S. 268.
60
Vgl.: Ebd.
61
Vgl.: Ebd., S. 273.
62
Ebd.
63
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 273.
64
Vgl.: Ebd., S. 269.
65
Vgl.: Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
66
Scholl, Christian (2015): Caspar David Friedrich: Der "Tetschener Altar". Wirkungsästhetik versus
Regelästhetik In: Marek, Kristin und Schulz, Martin (Hg.)Kanon Kunstgeschichte. Paderborn:
Fink, S. 12-33, S. 19.
67
Vgl.: Ebd., S. 25.
68
Ebd., S. 14.
69
Ebd.
70
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 267.
71
Ebd., S. 268.
Werner busch
72
Vgl.: Ebd.
73
Ebd., S. 269.
74
Vgl.: Ebd.
75
Vgl.: Ebd.
76
Ebd.
77
Vgl.: Ebd.
78
Vgl.: Busch, Werner (2015): Forschungsbericht zur nicht unproblematischen kunsthistorischen
Romantik-Forschung in Deutschland: Friedrich, Runge und Zeitgenossen In: Hühn, Helmut (Hg.):
Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin: De Gruyter, S. 37-50,
S. 42.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
Schleiermacher zufolge ist die Reli- erneut auf Ramdohrs Kritik ein.
gion weder dem Denken, noch dem Er versucht zu zeigen, dass Friedrichs
Handeln, sondern einzig und allein Bild nicht nur sehr wohl religiöse As-
dem Gefühl unterworfen. pekte enthält, sondern dass es nicht
Die Religion wird zur passiven, an- weniger als die gesamte Komposi-
dächtigen Kontemplation, die er als tion Gottes würdigt.
subjektives, autonomes Gefühlser-
lebnis beschreibt.99 Durch bloße An-Dem Bild fehle alles, was ein zeit- 229
schauung des Universums kann der genössisches Landschaftsbild aus-
Mensch das Sichtbare reflektieren, mache, konstatiert Ramdohr Buschs
sich in das übergreifende Ganze der Ansicht nach zu Recht: Friedrichs re-
Natur einordnen und dadurch ein ligiöse Landschaft widerspricht dem
Gottesbewusstsein entwickeln. zeitgenössischen Verständnis einer
Religion wird in diesem Zuge auf Landschaft, die „nur für sich Aus-
Innerlichkeit bezogen, auf die Ge- druck [habe], wenn sie naturwahr sein
fühle und Beziehungen eines Indi- wolle“101. Weder ist die Lichtführung
viduums, die auf eine höhere Entitätnatürlich, noch fi nden Zentral- oder
verweisen. Im übertragenen Sinne istLuftperspektive Anwendung im Tet-
Friedrichs Landschaftsmalerei damit schener Altar.102 Die „von außen heran-
als ästhetischer Erfahrungsraum zu getragene Sinnfestlegung hebe […] das
verstehen. gattungsmäßige Wesen der Land-
schaft auf, bringe sie in Kontexte, in
Nach dem Aufzeigen motivischer denen sie nichts zu suchen habe“103.
Anregungen widmet sich Busch dem
praktischen Malprozess, um die dar- Die rigide Auffassung eines Ram-
aus gewonnenen Erkenntnisse auf die dohrs begründet Busch mit seinem
Rezeption des Werkes, unter der Be- aufklärerisch geprägten Allegoriebe-
rücksichtigung seiner Komposition, griff, dem zufolge nur das auf mehr
anzuwenden. Buschs Ziel ist es, aus verweisen könne, was im Bild selbst
der ästhetischen Ordnung des Bildes verfremdet, daher nicht natürlich
seine Bedeutung zu generieren.100 dargestellt ist:
79
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263–280, S. 271.
80
Vgl.: Ebd., S. 269.
81
Ebd., S. 270.
82
Ebd., S. 269.
83
Ebd., S. 270.
84
Vgl.: Ebd., S. 265.
85
Vgl.: Ebd., S. 271.
86
Vgl.: Ebd.
Werner busch
Im Anschluss daran wendet sich Busch […] im Prozeß der Malerei mit
der Werkentstehung zu. Als Vorlage einem zusammenbindenden Ton […],
verwendet Friedrich eine querforma- der nicht nur die Vereinzelung der Ge-
tige Sepia (ähnlich der Sepia in Abb. 1). genstände und ihre äußerliche Markie-
Um das Ganze in ein Hochformat rung aufhebt, sondern sie zugleich der
umzuwandeln, studierte er abermals momentanen Gestimmtheit des Malers
zeichnerisch Fichten. „Trotz der of- unterwirft. […] Diese sonderbare Form
fensichtlichen Stilisierung des Tetsche- der durchscheinenden Übermalung des
ner Altars geht die Darstellung des Vorgegebenen markiert in der Tat einen
Einzelgegenstandes grundsätzlich auf Verwandlungsprozeß, bei dem das Natur-
unmittelbare Naturstudien zurück, vorbild nicht nur im Hegelschen Sinne
ja, sie sind Grundbedingung für die aufgehoben, sondern in der subjektiven
87
Ebd.
88
Ebd.
89
Ebd.
90
Ebd.
91
Vgl.: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 186.
92
Ebd.
93
Ebd., S. 272.
94
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.):
Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 272.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
95
Brandt, Reinhard (2009): Zur Metamorphose der Kantischen Philosophie in der Romantik.
Rhapsodische Anmerkungen In: Bauereisen, Astrid (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen
zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen
& Neumann, S. 85-101, S. 91-92.
96
Noll, Thomas (2006): Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich. Physikotheologie
Wirkungsästhetik und Emblematik; Voraussetzungen und Deutung. München, Berlin: Dt.
Kunstverl., S. 100.
97
Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003, S. 272.
98
Schleiermacher, Friedrich (2011) In: Meckenstock, Günter (Hg.): Über die Religion. Reden an die
Gebildeten unter ihren Verächtern In: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Berlin:…
Werner busch
Die untere Waagerechte des Golde- Dreieck um das allsehende Auge Gottes
nen Schnittes schneidet den Kreuz- auf dem Rahmen in Beziehung gesetzt,
fuß, wo sie gleichzeitig auf die rechte das Auge selbst zur verdeckten, für den
Senkrechte des Goldenen Schnittes, Menschen nicht unverstellt erfahrbaren
sowie auf die beiden, der Bergsilhou- göttlichen Sonne, die Strahlen zu den
ette folgenden Schenkel trifft. Strahlen, aber auch zur Fünfzahl der
Der erste davon folgt in einem 40°- krönenden Engel, die Abendstunde des
232 Winkel dem Berganstieg, der zweite Bildes zum Abendstern im Scheitel des
folgt dem Abstieg zur rechten unte- Bogens, die eucharistischen Zeichen zu
ren Bildecke in einem Winkel von 45°. Seiten des göttlichen Auges schließlich
Gemeinsam erwecken sie – Buschs zum Kreuz Christi als Erlösungszeichen,
Auffassung nach – den Eindruck „ei- die Fichten zu den Säulen, aus denen die
ner extremen, unverrückbaren Ver- sich vereinigenden Palmzweige als Trost
ankerung des Felsens“114. und Versöhnungszeichen wachsen.118
Friedrichs Naturerfahrung,
zuerst ortlos den Phänomenen hingege-
ben, angesichts der politischen Verhält-
nisse und seiner religiösen Überzeu-
gung per se ohne Hoffnung, da ohne
jede Gewißheit, wandelt sich im Werk-
prozeß bei demutsvoller Hingabe an
Abbildung 4: Caspar David Friedrich: die Erscheinung mit Hilfe ästhetischer
Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge), Ordnungsprinzipien zu einer Ahnung
1807/08, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 des universellen Zusammenhanges —
cm, Galerie Neue Meister im Alber- um mit Schlegel zu formulieren —, die
tinum, Staatliche Kunstsammlungen zwar auch keine Gewißheit verspricht,
Dresden – mit eingezeichneten Kom- aber doch punktuellen Trost bereithält,
positionslinien (Goldener Schnitt) weil sie ihn subjektiv erfahrbar macht.124
…Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 273.
103
Friedrich Schleiermacher (2011): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern In: Meckenstock, Günter (Hg.): Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Berlin:
De Gruyter, S. 273.
104
Ebd., S. 273 f.
105
Ebd., S. 274.
106
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 275 f.
Werner busch
Der gesteigerte Stellenwert, den die Es ist daher nicht überraschend, dass
Romantiker dem Religiösen beima- sich Friedrich-Forscher immer wie-
ßen, hat eine verändernde Auswir- der auf Busch beziehen, was im Fol-
kung auf die Beziehung zwischen genden anhand zweier aktueller Bei-
Subjekt und Natur. Indem sich in der spiele aufgezeigt werden soll.
Landschaft die Rekonstruktion gött-
licher Schöpfung vollzieht, sich in ihr Detlef Stapf wendet Buschs Überle-
Bedeutung visualisiert und sie gleich- gungen, dass sich Friedrich dem Na-
zeitig als Anregung für religiöse Re- turraum über ästhetisch-religiöse
flexionen konzipiert wird, entfaltet Erfahrungen nähert, auf eine bisher
sie ihr Potential als Protektions- und in der Geschichte des Tetschener Altars
Reflexionsebene.126 außer Acht gelassene Vermutung an.
Er geht davon aus, Friedrich habe
das Altarbild insgesamt dreimal ge-
malt.128 Stapf entnimmt dies einer
Bemerkung von Kurt Karl Eberlein
aus dem Jahr 1939, der neben der
Gräfi n Thunauch die Fürsten von
107
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 275 f.
108
Ebd.
109
Ebd., S. 280.
110
Vgl.: Ebd., S. 277.
111
Vgl.: Ebd.
112
Vgl.: Ebd., S. 278.
113
Ebd.
114
Ebd., S. 277.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
115
Vgl.: Ebd., S. 278.
116
Ebd., S. 278 f.
117
Ebd., S. 279 f.
118
Ebd., S. 276 f.
119
Viola Hildebrand-Schat: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und
Religion 2004, S. 287.
120
Vgl.: Ebd., S. 289.
121
Vgl.: Ebd., S. 290.
122
Neddens, Christian (2017): Ästhetik des Kreuzes. Theologie des Bildes bei Caspar David Friedrich
– auch im Blick auf Schleiermachers ‚Reden‘ In: Von Scheliha, Arnulf und Dierken, Jörg (Hg.):…
Werner busch
der Integration von Gemälden in die Die Stilgeschichte nimmt eine prinzi-
Hauptaltäre abgeraten.134 piell kunstimmanente Formentwick-
lung an, wohingegen die Ikonologie
Zudem verstärke der Umstand, dass die Gedankengänge einer bestimm-
Friedrich nur sporadisch Altarbilder ten Zeit auch anhand literarischer
entwarf und dabei stets ein Kreuz in Zeugnisse transparent werden lässt.138
das Zentrum der Darstellung rückte,
236 Grave zufolge die Zweifel an der Deu- Beide Herangehensweisen, so ver-
tung, er würde Landschaftsmalerei- zeichnet Busch 1997 werden „zwei-
en als Altarbilder schaffen.135 fellos noch mit beträchtlichem Er-
Er schließt daraus, dass Friedrich folg betrieben, aber es zeichnet sich
„dem Landschaftsgemälde zwar – immer mehr ab, daß auch die Ikono-
vielleicht erstmals in der deutschen logie, als vorherrschende Methode,
Malerei – den Rang eines Altarbilds an ihrem Ende angelangt ist“139.
zugewiesen, seine Haltung dieser Er spricht in diesem Zusammen-
Bildaufgabe gegenüber […] aber hang auch von einem „unaufhebba-
dennoch von einer starken Ambiva- ren Bruch mit der Vergangenheit“140.
lenz gekennzeichnet“136 ist.
Genährt wird seine Skepsis gegenü-
Buschs Text entstand in einer Zeit, ber einer ikonologischen Bildannähe-
in der die Kunstgeschichte bereits rung von einer Außenvorlassung des
zwei sich überschneidende Phasen Entstehungsprozesses und des Kon-
hinter sich hatte. Kunstwerke wur- textes künstlerischen Schaffens.141
den erfasst, kategorial geordnet und Die ständige Suche nach den Bedeu-
benannt. tungsträgern birgt die Gefahr, die
Die eine Phase war die Stilkritik und ästhetischen Dimensionen des Wer-
-geschichte. Die andere die Deutung kes zu vernachlässigen.142
der Bildgegenstände, die Ikonologie. Bei der Überwindung von bisherigen
In Deutschland kommt nach einer Herangehensweisen soll dem Einzel-
langen Phase rein stilkritischer Her- gegenstand wieder mehr Bedeutung
angehensweisen, nach 1910 und ver- zukommen.
stärkt nach 1950, der Inhaltsbedeu-
tung und -geschichte, der Ikonologie, Dabei reicht es nicht mehr
eine größere Aufmerksamkeit zu.137 aus, ihn [den Einzelgegenstand] bloß zu
… Der Mensch und seine Seele. Bildung Frömmigkeit Ästhetik : Akten des Internationalen
Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster September 2015. Berlin, Boston:
De Gruyter, S. 673-703, S. 676.
123
Gerade darin wurde Busch allerdings auch kritisiert. Als „ikonische Askese“ beschreibt Claudia
Schmölders seine neuartige Methode der Bedeutungserschließung. „Strenger als jeder Pietist
schweigt er [Busch] von Sinnlichkeiten wie Farbe, Licht und Stimmung, also von Atmosphären;
er reduziert sie auf Kegelschnitte und Sphären. Fast gehen Busch dabei die Bilder selber verloren,
beinahe auch die Geschichte.“ (Schmölders, Claudia: „Rezension von: Werner Busch. Casper
David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003“, http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_
id=6102.html (Stand: 17.11.2017).
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
benennen und etwa sein Thema heraus- Die Unternehmung des Au-
zubekommen, aber es erscheint auch tors aber, anhand einer ikonischen Ord-
nicht möglich, ihn allein aus sich heraus nung des Bildes eine höhere Realität für
zum Sprechen zu bringen. sich selbst dingfest zu machen, nötigt
Vielmehr erscheint es nötig, aus der Er- auch wegen des methodisch fundierten
klärung seines individuellen Produkti- Ein-Sehens Respekt ab und erinnert an
onsprozesses im gesellschaftlichen Kräf- das hermeneutische Vorgehen Max Im-
tefeld der Entstehungszeit seine Wirk- dahls, dem zu seiner Zeit die Ikonik auch 237
weise als historisch geworden und ge- das Mittel war, dem eigentlich Unsagba-
sellschaftlichem Wandel unterliegend zu ren sprachlich so nahe als möglich zu
begreifen. Nicht nur seine abziehbare kommen. Imdahl steht im Buch von Wer-
Mitteilung, sondern die individuelle ‚For- ner Busch – offenbar verborgen - auf er
mulierung‘ der Mitteilung und der Pro- rechten senkrechten Linie des Goldenen
zeß seiner Rezeption sind historisch zu Schnitts, auf dem Lieblingsplatz der
untersuchen.143 Bildhelden.145
Buschs Methodik, sich dem Werk Wie Imdahl, geht es auch Busch um
über bildimmanente Strukturen zu die Reflexion der Bildlichkeit.
nähern, erinnert an die hermeneuti- Denn Busch zufolge ist es der refle-
sche Vorgehensweise Max Imdahls. xive Charakter , der die romantische
Im weitesten Sinne tritt Busch in die Kunst ausmacht. Diesen haben sei-
Fußstapfen des Ikonik-Begründers. ner Ansicht nach zur damaligen Zeit
Im Anschauungsmodus der imdahl- nicht alle Kunsthistoriker gesehen.
schen Methode bedarf Sinn keiner So führt er in seinem Aufsatz Zu
außerbildlichen Maßstäbe, sondern Verständnis und Interpretation romantischer
erschließt sich alleine durch die in- Kunst Friedrich Theodor Vischer auf,
terne Struktur eines Kunstwerkes. 144 der nicht erkennen wollte:
Die ikonische Anschauung setzt Bild-
mit Sinnstrukturen gleich, es geht […], daß Reflexion das Kenn-
einzig um die Reflexion dessen, was zeichen aller Moderne seit dem 18. Jahr-
dem Bild durch bloße Anschauung hundert war. Indem er Reflexion als kunst-
entnommen werden kann. feindlich, als einen neuen Idealismus ver-
hindernd disqualifizierte, versuchte er
Imorde schreibt dazu: das entscheidende Charakteristikum der
124
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 280.
125
Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Marek J. Siemek (Hg.): Natur,
Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Amsterdam:
Rodopi, S. 263-280, S. 280.
126
Vgl.: Noll, Thomas; Stobbe, Urte und Scholl, Christian (2012): Landschaftswahrnehmung um 1800.
Imaginations- und mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche In: Noll, Thomas (Hg.):
Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst Literatur Musik und Naturwissenschaft.
Göttingen: Wallstein-Verl., S. 9-26, S. 13.
Werner busch
Moderne, das sie erst zur Moderne macht, monierte, macht gerade die besondere re-
zu eliminieren. Und da er nach wie vor al- flektive Qualität des ‚Tetschener Altares‘
lein auf den Gegenstand der Kunst, den aus, der uns die Diskrepanz von Natur
Inhalt fixiert war, die klassische Rangord- und Geschichte, von verfaßter Religion
nung mit der Historie an der Spitze weiter- und Naturmystik erfahren läßt und zwar
hin fraglos akzeptierte, entging ihm, wie in seiner an Spannung reichen Form.149
anderen, daß das reflexive Moment sich
238 in der Kunstpraxis der Moderne in der Friedrich steht, Busch zufolge mit
Spannung oder gar Diskrepanz von Form seiner religiösen Landschaftsmale-
und Inhalt niederschlug, und so war er rei, nicht bruchlos in akademischer
auch nicht in der Lage, die Qualität der Tradition, sondern reflektiert die
Moderne an ihrem historischen Ort auf- Romantik, deren reflexiven Charak-
zusuchen.146 ter in der „künstlerischen Praxis, in
der Struktur der Werke selbst“150, zu
Während sich im Klassizismus pri- finden ist. Es geht nicht mehr um die
mär die Kunst und ihre klassische Erzählung primär exemplarischer
Geschichte abzeichne, reflektiere die Geschichten:
Romantik „primär den Verlust des
universalen Zusammenhangs, bzw. […], die tagespolitischer Akti-
den Bruch zwischen Natur und Ge- vierung oder moralischer normativer
schichte“147. Entscheidend dabei sei, Nutzanwendung offenstehen, sondern
so führt Busch direkt daran anschlie- es wird ein vorherrschender, von der
ßend aus, „daß die Form der Refle- Formstruktur getragener Ton angeschla-
xion beide Male die stilisierende, ab- gen, der im Betrachter weiterklingt, ihm
strahierende, bewußt künstliche Li- nicht bloß Gegenstände benennt, sondern
nie ist“148. vielmehr die Gegenstände einer psy-
Demzufolge liegt gerade in den Vor- chisch erfahrbaren Grundgestimmtheit
würfen, die dem Tetschener Altar zur unterstellt.151
damaligen Zeit entgegengebracht
wurde, seine besondere Bedeutung Die zuvor eindeutige Verweiskraft
begründet. Busch hält fest: von Zeichen und tradierter Symbo-
lik wird stark gemindert und die se-
Was der Freiherr nun freilich mantische Verbindung zwischen Zei-
aus klassisch akademischem Blickwinkel chen und Bedeutung aufgehoben.
127
Vgl.: Busch, Werner (1997): Die englische Kunst des 18. Jahrhunderts In: Busch, Werner (Hg.): Funkkolleg
Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. Busch, Werner (Hg.): München: Piper,
S. 703-729.
128
Vgl.: Stapf, Detlef: „Caspar David Friedrichs verborgene Landschaften. Die Neubrandenburger
Kontexte“, http://www.caspar-david-friedrich-240.de/p_book.2.html#P-Book
(Stand: 17.11.2017), S. 180.
129
Vgl.: Ebd., S. 180-181.
130
Ebd., S. 181.
131
Ebd., S. 185.
132
Vgl.: Werner Busch (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Natur, Kunst, Freiheit…
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Hg. von Marek J. Siemek. Amsterdam:…
Rodopi, S. 263-280, S. 276.
133
Vgl.: Grave, Johannes (2013): Kreuzlandschaften. Caspar David Friedrich als Maler von Altar
bildern? In: Schneider, Matthias (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St. Nikolai.
Schwerin: Helms, S. 55-76, S. 56 f.
134
Ebd.
135
„Bekräftigt wird dieser Zweifel durch die Zurückhaltung und Skepsis, die Friedrich Altarbildern
gegenüber gezeigt hat, als er Vorschläge für die Neugestaltung der Marienkirchen in Greifswald
und Stralsund unterbreitete. Seine Empfehlungen und Entwürfe bestätigen, dass er kaum
beabsichtigt haben dürfte, die Landschaftsmalerei als neue Leitgattung der Altarbildkunst…
Werner busch
einzuführen.“ ( Johannes Grave (2013): Kreuzlandschaften. Caspar David Friedrich als Maler von
Altarbildern? In: Matthias Schneider (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St.
Nikolai. Schwerin: Helms, S. 55-76, S. 73.).
136
Johannes Grave (2013): Kreuzlandschaften. Caspar David Friedrich als Maler von Altarbildern? In:
Matthias Schneider (Hg.): Die Buchholz-Orgel im Greifswalder Dom St. Nikolai. Schwerin:
Helms, S. 55–76, S. 57.
137
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 3.
138
Vgl.: Ebd.
139
Ebd.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
140
Busch, Werner (1987): Romantik. Annweiler: Plöger, S. 10.
141
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 4.
142
Vgl.: Manfred Schwarz: Der Kunsthistoriker Werner Busch sieht in Caspar David Friedrichs
strengem Bildaufbau eine religiöse Ästhetik: Gottes Geometer.
143
Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 3 f.
144
„Thema der Ikonik ist das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu
ersetzen ist.“ Imdahl, Max (1994): Ikonik, Bilder und ihre Anschauung. In: Boehm, Gottfried (Hg.):
Was ist ein Bild? München 1994, S. 300.
Werner busch
145
Joseph Imorde: Rezension von: Werner Busch. Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion 2003, S. 3.
146
Werner Busch: Romantik. Annweiler 1987, S. 10.
147
Ebd.
148
Ebd.
149
Ebd., S. 14.
150
Ebd., S. 16.
151
Ebd., S. 19.
152
Busch, Werner (1985): Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der
deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Zugl.: Bonn, Univ., Habil.-Schr. Berlin: Mann, S. 37.
153
Gaßner, Hubertus (2006): Caspar David Friedrich, die Erfindung der Romantik. München: Hirmer, S. 32.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
Demzufolge versucht die kunstwis- in der Lage ist, das Verhältnis zu er-
senschaftliche Funktionsgeschichte: hellen, daß zwischen den jeweiligen
historischen Rahmenbedingungen
[…] Form und Inhalt auf Grund der Kunst und ihrer individuellen
einer Zweckrelation miteinander zu ver- Erscheinung besteht.“180
knüpfen. […] Werner Busch [sieht], in An-
lehnung an Horst W. Janson (1913–1982),
im funktionsgeschichtlichen und kontex- 243
tuellen Ansatz eine Synthese aus formge-
bundener Stilgeschichte und inhaltgeben-
der Ikonologie in Richtung einer allgemei-
nen, bildorientierten Kulturgeschichte.179
154
Ebd., S. 35.
155
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 25.
156
Vgl.: Börsch-Supan, Helmut (1960): Die Bildgestaltung bei Caspar David Friedrich. München.
157
Vgl.: Brötje, Michael: Die Gestaltung der Landschaft im Werk Caspar David Friedrichs und in
der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen
19 (1974), S. 43-88.
158
Vgl.: Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
159
Busch, Werner (1993): Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die
Geburt der Moderne. München: Beck, S. 294.
160
Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Werner Busch: Caspar David Friedrich 2004.
Werner busch
244 161
Vgl.: Wolfgang Brassat and Hubertus Kohle (2009): Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur
Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft, Kunst & Wissen; Köln: Deubner Verl. für
Kunst, Theorie & Praxis, S. 7.
162
Wolfgang Brassat and Hubertus Kohle: Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur Methodik
und Geschichte der Kunstwissenschaft. Köln 2009, S. 7.
163
Vgl.: Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 3.
164
Vgl.: Ebd., S. 6; Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer
Funktionen. München 1997, S. 23.
165
Ebd., S. 5.
166
Vgl.: Ebd., S. 24.
167
Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München
1997, S. 24.
168
Ebd., S. 25.
169
Vgl.: Ebd., S. 797.
170
Ebd., S. 797 f.
171
Vgl.: Ebd., S. 16.
172
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 7.
173
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997.
174
Ebd., S. 796 f.
175
Ebd.
176
Vgl.: Werner Busch: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen.
München 1997, S. 799.
177
Ebd., S. 799.
178
Vgl.: Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987; Werner Busch:
Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München 1997.
179
Weddigen, Tristan (2003): Zur Funktionsgeschichte In: Functions and decorations. Art and ritual
at the Vatican Palace in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. von Tristan Weddigen. Città del
Vaticano, Turnhout: Biblioteca Apostolica Vaticana; Brepols, S. 9-25, S. 11.
180
Werner Busch: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim 1987, S. 3.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
245
Werner busch
Quellenverzeichnis
Busch, Werner (1993): Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18.
Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München: Beck.
Busch, Werner (1997): Die englische Kunst des 18. Jahrhunderts In: Busch,
Werner (Hg.): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer
Funktionen. München: Piper, S. 703-729.
Sophie Lichtenstern & Theresa Tröndle
Busch, Werner (1997): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel
ihrer Funktionen. München: Piper.
Busch, Werner (1998): Caspar David Friedrichs »Tetschener Altar« In: Siemek,
Marek J. (Hg.): Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus
gegenwärtiger Sicht. Amsterdam: Rodopi, S. 263-280.
247
Busch, Werner (2003): Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. Mün-
chen: Beck.
Gaßner, Hubertus (2006): Caspar David Friedrich, die Erfindung der Roman-
tik. München: Hirmer.
Neddens, Christian (2017): Ästhetik des Kreuzes. Theologie des Bildes bei Caspar
David Friedrich – auch im Blick auf Schleiermachers ‚Reden‘ In: Von Scheliha,
Arnulf und Dierken, Jörg (Hg.): Der Mensch und seine Seele. Bildung Frömmig-
keit Ästhetik : Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft
248 in Münster September 2015. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 673-703.
Siemek, Marek J.(1998): Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Roman-
tik aus gegenwärtiger Sicht. Fichte-Studien-Supplementa 10. Amsterdam:
Rodopi.
Bildnachweis
251
felix thürlemann
Mehr als ein Bild.
Für eine Kunstgeschichte des hyperimage
1
Vgl.: Thürlemann, Felix (2013): Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage.
München: Wilhelm Fink Verlag, S. 8.
2
Vgl.: Ebd.
253
felix thürlemann
4
Vgl.: Ganz, David; Thürlemann, Felix (2010): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen
Mittelalter und Gegenwart. Berlin: Reimer, S. 390.
5
Vgl.: Exzellenzcluster – Kulturelle Grundlagen von Integration, Universität Konstanz: Prof. Dr.
Felix Thürlemann: https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/thuerlemann.html
(Stand: 04.10.17).
felix thürlemann
6
Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 21.
7
Ebd.
luisa döderlein
mit fotografischen Reproduktionen Zweitens hat sich mit dem Prinzip der
in einer „je besonderen Art“8 arbeiten: Interaktivität ein neues Verhältnis zu den
Heinrich Wölffl in, Aby Warburg und Bildern herausgebildet, das mit dem Be-
André Malraux. Die letzte Gruppe griff des hyperimage nicht mehr adäquat zu
widmet sich drei Künstlern des 20. fassen ist.12
Jahrhunderts und der Gegenwart:
Pablo Picasso, Pierre Bonnard und
Wolfgang Tillmans. Praktiken des hyperimage 257
Die Künstler werfen hier einen kriti- Definition und Eingrenzung
schen Blick auf ihr eigenes Schaffen,
wobei aus der ordnenden Tätigkeit eine Die vorliegende Arbeit widmet sich
eigene künstlerische Form entsteht. ausschließlich der Einleitung der Mo-
nografie zu den Praktiken des hyper-
Thürlemann ist sich in seiner Ab- image, die den programmatischen Teil
handlung bewusst, dass nur ein „Ein- des Buches darstellt.
druck von der Vielfalt“10 gegeben wer- Die neun sich im Buch anschließen-
den kann und er nicht alle Formen den Fallbeispiele dienen der Veran-
des pluralen Bildgebrauchs über alle schaulichung der These und könnten
Epochen hinweg behandeln kann. hier in der angemessenen Kürze nicht
Aspekte, die er entweder ganz aus- wiedergegeben werden, ohne an re-
blendet oder nur im Hintergrund be- levantem Inhalt und Detailtreue ein-
handelt, sind zum Beispiel Skulpturen, zubüßen. Eine Lektüre der Beispiele
Sammelbände, Übergangsphänomene ist jedoch sehr empfehlenswert, um
zwischen hyperimage und Collage oder den Umfang der Möglichkeiten, die
die Integration von Skulpturen in den hohe Bandbreite der Anwendungs-
architektonischen Kontext.11 formen der Theorie der hyperimage und
Auf die Behandlung des Internets die große Beobachtungsgabe des Au-
verzichtet Thürlemann ganz bewusst, tors zu begreifen.
da es erstens: Im Folgenden sollen als theoretische
Einführung nur die Seiten sieben bis
[...] heute für einen Einzelnen 24 der Einleitung behandelt und er-
unmöglich [ist], einen wirklichen Überblick läutert werden.
über alle Formen der Präsenz von digita- Bereits der erste Abschnitt der Mo-
lisierter Kunst im Internet zu gewinnen. nografie ist von hoher Relevanz und
8
Ebd.
9
Vgl.: Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage.
München 2013, S. 129.
10
Ebd., S. 21.
11
Vgl.: Ebd., S. 22.
12
Ebd., S. 22 f.
felix thürlemann
13
In einer Fußnote führt Thürlemann folgende zwei Werke an, die einen Überblick über die
mehrteiligen Bildformen in der europäischen Kunstgeschichte geben: David Ganz, Felix
Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart.
Berlin 2010 und Blum, Gerd; Bogen, Steffen; Ganz, David; Rimmele, Marius (2012): Pendant Plus.
Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin: Reier.
14
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 21.
15
Vgl.: David Ganz, Felix Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“. In: David
Ganz / Felix Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 14.
luisa döderlein
[...] nicht um ein Phänomen der nur bei besonderen Gelegenheiten vom
Bildproduktion im engeren Sinn, sondern Besitzer einzeln entrollt und betrachtet
um ein Phänomen der Montage, bei dem wurden, ist für die westliche Kultur der
ausgehend von existierenden, bereits be- Display, das permanente offene Zurschau-
deutungstragenden Einheiten (Bildern, stellen einer ganzen Sammlung von Bil-
bzw. ihren fotografischen doubles) in ei- dern, seit dem frühen siebzehnten Jahr-
nem Prozess von Arrangement und Re- hundert die Regel. 23
Arrangement übergreifende Einheiten 259
(„Bild-hypertexte“) mit jeweils neuer Be- Thürlemann widmet anschließend
deutung geschaffen werden […]18 der Vorgeschichte der hyperimages ein
ganzes Kapitel, wobei er insbeson-
Es handelt sich demgemäß nicht um dere auf den antiken Historismus
eine bloße Addition der autonomen und die christliche Kunst mit ihren
Bildobjekte, sondern sie werden in ih- Ikonen und Bildsystemen eingeht –
rem Zusammenspiel zu einem Bedeu- dies soll jedoch an dieser Stelle über-
tungsträger eigener Geltung, der – sprungen werden und kann im Buch
wie die einzelnen Bausteine – als nachgelesen werden.
Sinngefüge analysiert und auf die Re-
geln der Zusammenstellung hin be-
fragt werden kann.19 Rezeption:
Wie Thürlemann im darauffolgen- Einzelwerk und hyperimage
den Absatz des Buches schreibt, sind
hyperimages ein Charakteristikum west- Das Thema wirft natürlich die Frage
licher Bildkultur20 und eine bereits auf, welchen zusätzlichen Zugewinn
alte Praxis21. Das Phänomen der Bild- es birgt, anstatt einzelner Bilder auch
kombinatorik hat zwar antike und plurale Bildformen in ihrem Zusam-
mittelalterliche Wurzeln, kam aber menspiel zu betrachten und zu ana-
erst mit der Verbreitung des Sam- lysieren. Denn „auf einer generellen
melwesens zu Beginn des 17. Jahr- Ebene der Gestaltung“24 lassen sich
hunderts zur Ausprägung:22 Einzelbild und hyperimage nicht von-
einander unterscheiden. „[G]rund-
Während in den fernöstlichen sätzlich können die hyperimages wie die
Kulturen, in China und Japan, die zusam- einzelnen Bilder, aus denen sie beste-
mengerollt aufbewahrten Kunstbilder hen, mit den gleichen Instrumenten
16
Vgl.: Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44, Hier: S. 40.
17
Thürlemann wählt in der hier vorgestellten Einleitung des Buches ein Triptychon zur
Veranschaulichung zweier verschiedener Blickeinstellungen. Er etikettiert dies zwar nicht als
hyperimage, doch kann diese Wahl den Leser leicht auf eine falsche Spur führen. Denn ein
Triptychon zählt nicht als hyperimage, da es eine permanente Zusammenstellung dreier Bilder ist.
18
Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universität Konstanz. Prof. Dr.
Thürlemann: Theorie des hyperimage. Abstract,
https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 26.11.17).
felix thürlemann
19
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 8.
20
Vgl.: Ebd., S. 8.
21
Vgl.: Ebd., S. 7.
22
Vgl.: Ebd., S. 8.
23
Ebd., S. 8.
24
Ebd., S. 16.
25
Ebd.
26
Ganz / Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“ In: David Ganz, Felix
Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart. …
luisa döderlein
Bewegtheit des Rezipienten bei der einer zirkulären Struktur werden im-
Betrachtung des Bildes hin, auf seine mer mehr Details der Bildobjekte ent-
affektive Reaktion. Bei der analytisch- deckt. Ein weiterer Effekt der Re-
refl ektierenden Blickeinstellung hin- zeption von hyperimages ist dem Autor
gegen verwendet Thürlemann sehr nach das Prinzip der Distanzierung, das
kühle, emotionslose Begriffe: Bilder er folgendermaßen kategorisiert:
könnten gegeneinander ausgespielt
werden, Elemente würden erfasst und Wenn der Betrachter ein ein- 261
kritisch eingeordnet. Der Wechsel zwi- zelnes Kunstwerk in ein Verhältnis zu
schen diesen beiden komplementä- anderen Werken setzt, hat jedes der be-
ren Formen des Sehens ist ein dyna- troffenen Werke einen doppelten Stellen-
mischer Prozess mit einem großen wert: Es steht nicht mehr für sich allein,
Potential für die Rezeption: es exemplifiziert gleichzeitig auch das äs-
thetische Regelwerk, das seine Aufnah-
Zum einen gilt: Wer von der me in das übergreifende System der Prä-
vergleichenden Wahrnehmung auf das sentation rechtfertigt. Im Falle der Pen-
Einzelbild zurückkehrt, macht die im danthängung ist es neben der Aufteilung
Vergleich erkannten Gemeinsamkeiten nach Schulen in erster Linie das Gattungs-
und Differenzen als neue Kategorien system, das Netz der ästheteschen Ka-
der Sinnstiftung fruchtbar; er sieht im tegorien, das die Produktion und Präsen-
Einzelwerk ‚Dinge‘ - formale Eigenhei- tation der Werke geregelt hat.33
ten, Gesten, Objekte, Bezüge zwischen
den dargestellten Objekten und Akteure Welche Blickeinstellung vom Be-
-, die er zuvor nicht gesehen hat. Dieses trachter eingenommen wird, ist da-
im Einzelbild Neu-Erkannte kann bei bei nicht zwingend individuell und
der Rückkehr zum großen Ganzen wie- willkürlich.
derum als Vorgabe für neue Verknüp- Die Blickeinstellung hängt stark von
fungen dienen.32 der Präsentation der Bildobjekte ab,
von ihrer Verteilung im Raum.
Diesen Effekt bezeichnet Thürle-
mann als Prinzip der wechselseitigen Schär- Felix Thürlemann betont:
fung. Die Art der Betrachtung chan-
giert zwischen einem erotischen und Die räumliche Anordnung
einem intellektuellen Blick und in der Bilder regelt die Rezeption und ist
An dieser Stelle kann eine kurze Er- Durch das Prinzip der Distanzierung
läuterung der im obigen Zitat aufge- und dem Prinzip der wechselseitigen Schär-
führten Pendanthängung aufschluss- fung kommt es zu einem wechselseitigen
262 reich sein. Die Pendanthängung bildet Kommentieren der Bildobjekte, was der
eine Unterkategorie der hyperimages und Autor als die „interessanteste und
hat ein ganz eigenes Regelsystem an produktivste Eigenschaft des hyper-
Anordnungen von Bildobjekten im image“35 ansieht. Plurale Bildformen
Raum. Während meist ein als beson- entwickeln eine „zirkuläre, metadis-
ders wichtig oder wertvoll erachtetes kursive Struktur“36:
image an prominenter Stelle auf der
Mittelachse angebracht ist, sind die Jedes Werk der bildenden
restlichen Bildobjekte fächerartig sym- Kunst wird von den übrigen Werken,
metrisch zueinander angeordnet. mit dem zusammen es ein hyperimage
Das mittige Bild steht für sich al- bildet, aufgrund der vergleichenden Ak-
lein, die anderen Bilder hingegen tivität des Rezipienten, gleichsam kom-
haben eine rahmende Funktion und mentiert und gedeutet. Im Vergleich mit
jeweils ein Pendant, das meist ein ähn- anderen erscheint das jeweils fokussier-
liches Format hat und der gleichen te Werk bezüglich gewisser formaler
Gattung und/oder Schule angehört. und inhaltlicher Eigenschaften ´so wie´
Dies führt dazu, dass das mittige Bild oder ´anders als´ das Partnerbild, was
identifizierend-personal angesehen einer kategorialen Erfassung der beiden
wird, während die übrigen Bilder Bilder gleichkommt. (…) Die Nachbar-
durch ihre Hängung eine analytisch- bilder zeigen dem Betrachter, wie er ein
refl ektierende Blickeinstellung provozie- bestimmtes Bild sehen soll.37
ren. Ihr meist ähnliches Format und
dieselbe Gattung oder Schule provo- Um mehrere Bilder miteinander zu
zieren beim Betrachter einen Ver- vergleichen, ist vom Betrachter im-
gleich. mer eine Abstraktionsleistung ge-
fordert; er benötigt die Fähigkeit zur
Kategorienbildung.
32
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013, S. 16.
33
Ebd.
34
David Ganz, Felix Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“ In: David Ganz
/ Felix Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart, Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 18.
35
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013, S. 20.
36
Ebd.
37
Ebd.
´
luisa döderlein
Der Betrachter geht auf die Suche nach Hyperimages können über
Gemeinsamkeiten und/oder Diffe- ihre spezifische Ausgestaltung den dif-
renzen – seien diese auf inhaltlich- ferenzierenden […] oder den syntheti-
ikonographischer oder kennerschaftlich- sierenden Modus […] in der Wahrneh-
stilgeschichtliche Ebene.38 mung favorisieren, oder aber beide zu-
Um mehrere Bildobjekte auf kenner- einander im Gleichgewicht halten. Wäh-
schaftlich-stilgeschichtlicher Ebene zu ver- rend in der kunstwissenschaftlichen
gleichen, wird eine differenzierende Arbeit die Extreme gesucht werden – 263
Grundhaltung eingenommen: Iko- die Kunsthistoriker praktizierten bis vor
nographische Gemeinsamkeiten gel- Kurzem meist entweder Kennerschaft
ten zwar als Basis, sollen jedoch oder Ikonographie – , zielt die klassische
nicht beachtet werden – stattdessen museale Präsentation von Kunstwerken
liegt der Akzent auf den Differen- in der Pendanthängung darauf ab, dass
zen der Gestaltung auf der Ebene beide Seheinstellungen, jene, die sich für
der Gattung, der Schule, der Epo- die dargestellten Themen und Gegen-
che, etc. Das Universum der Kunst stände, und jene, die sich für die stilisti-
wird hier folglich nach formalen Ka- schen Differenzen interessiert, einander
tegorien der Gestaltung geordnet. die Waage halten.40
Eine dazu komplementäre syntheti-
sierende Grundhaltung führt zu der
inhaltlich-ikonographischen Ebene: Für eine Kunstgeschichte des
Während von stilistischen Differen- hyperimage
zen abgesehen wird, geht der Betrach-
ter auf die Suche nach thematischen Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte
Gemeinsamkeiten zwischen den Wer- des hyperimage – der Titel der Monogra-
ken und Werkgruppen, nach den in- fie klingt vielversprechend und der
haltlichen Kategorien des dargestell- interessierte Leser wird folglich viel
ten Sachverhalts. Als Beispiel für die- erwarten. Bezeichnend ist hier jedoch,
se Ebene wählt Thürlemann ein Ap- dass Felix Thürlemann der Geschich-
fel-Stillleben, das seiner These nach te des hyperimage nicht einmal ein ei-
neben einem weiteren Apfel-Still- genes Kapitel widmet. Er macht zwar
leben anders wahrgenommen werde auf die Relevanz des Themas aufmerk-
als neben einem Stillleben, das Zi- sam und setzt durch seine Kategori-
tronen oder Quitten zeige.39 sierung und seine Fallbeispiele erste
38
Vgl.: Thürlemann: „Bild gegen Bild. Für eine Theorie des vergleichenden Sehens“. In: Gerd Blum,
Steffen Bogen, David Rimmele, Felix Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik,
Berlin 2012, S. 391-401, Hier: 394 f.
39
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 20.
40
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 20.
felix thürlemann
41
Ebd., S. 8 f.
42
Ebd., S. 9.
luisa döderlein
da das Sammelwesen erst zu jener Zeit (1) die Analyse einzelner Bei-
in Europa zur Ausprägung kam. spiele – etwa historischer Bilderhän-
Dies ist jedoch schon alles, was der Au- gungen – mit dem Ziel, die zugrunde-
tor hier an Hinweisen zur Geschichts- liegenden syntagmatischen Regeln zu
schreibung des hyperimage liefert. erfassen,
43
David Ganz, Felix Thürlemann: „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“ In: David Ganz /
Felix Thürlemann: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 15.
44
Vgl.: Ebd., S. 10.
45
Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik (2004)“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 7-39, Hier: S. 40.
felix thürlemann
nur eine Gruppe der hyperimage-Au- Auswirkung auf die Lektüre der da-
toren: Für das 17. Jahrhundert die rauffolgenden Fallbeispiele.
Sammler und Kuratoren, für das 20. Das Beispiel kann den Leser jedoch
Jahrhundert die Kunsthistoriker und leicht auf eine falsche Fährte locken
-theoretiker und für sowohl das oder aber – wenn er die fälschliche
20. Jahrhundert als auch für die Ge- Einordnung bemerkt – Misstrauen
genwart die Gruppe der Künstler. gegenüber der vorgeschlagenen Ord-
266 Nach welcher Systematik jedoch bei- nung erwecken, so dass die darauf-
spielsweise Künstler ihre Bildobjek- folgenden Beispiele nicht mehr un-
te im 18. Jahrhundert anordneten, befangen gelesen werden.
darüber fi ndet sich keinerlei Infor-
mation. Bis heute steht ein umfassen-
der Versuch aus, die vollständige his-
torische Entwicklung pluraler Bild-
formen zu untersuchen und zu sys-
tematisieren.
Kritik
46
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 29-45.
47
Ebd., S. 29.
48
Ebd.
49
Vgl.: Ebd., S. 30.
felix thürlemann
mit Sicherheit gesagt werden, dass es Hier erstellt folglich kein Sammler ein
sich je in Ortelius´ Besitz befand.49 hyperimage, sondern ein Künstler, der
Frans Franken gibt keine real beste- die Rekurrenz auf den Sammler nur
hende Sammlung wieder, sondern er nutzt, um einen kritischen Kommen-
nutzt die Referenz auf den Sammler tar über die alte Sammelpraxis male-
zu einem visuellen Kommentar, wie risch zu formulieren. Der Sammler
Thürlemann ausführlich darstellt: ist nicht selbst aktiv, sondern Gegen-
268 stand der Reflexion des Künstlers.
Im Kontext des Gemäldes Das von Thürlemann gewählte Bei-
wird der religiöse Diskurs, ins Allego- spiel hätte somit besser in Kapitel der
rische gewendet, auch zu einer kunst- „Hyperimages der Künstler“ gepasst
theoretischen Aussage: Die vom Maler als in das Kapitel der „Ordnungen
inszenierte Rede von der echten christ- der Sammler“. Durch seine ausführ-
lichen Gabe, bei welcher der Wert des liche Deutung des Beispiels deckt
Geschenkes nicht von der Kostbarkeit Thürlemann seine fälschliche Ein-
der Materialien abhängt, kann auch als ordnung in die „Ordnungen der
ein kritischer Kommentar über die alte Sammler“ selbst auf, bleibt dem Le-
Sammelpraxis der Wunderkammer ver- ser jedoch einer kritischen Reflexion
standen werden. dieses Umstandes schuldig.
Der Sammlung von Preziosen und Ra-
ritäten wird die neue Form der Samm-
lung, jene von Gemälden, gegenüber-
gestellt, bei der die Kunstfertigkeit des
Künstlers und seine Erfi ndungsgabe Kontextualisierung
den eigentlichen Wert des Sammelgutes
ausmachen. Das Gemälde von Frans Nach der inhaltlichen Einführung
Francken d.J. ist keine dokumentarische wird im folgenden Kapitel die Mono-
Darstellung der Sammlung des Ortelius grafie Mehr als ein Bild. Für eine Kunst-
und sie ist – als Ganzes betrachtet – auch geschichte des hyperimage umfassend kon-
nicht das Modell einer idealen Sammlung. textualisiert. Hierfür soll vorerst die
Das Gemälde zeigt die Geschichte einer Verbindung des Autors zu der These
Transformation.50 des hyperimage genauer beleuchtetwer-
den. Es stellt sich die Frage, inwie-
fern sich das hier vorgestellte Werk in
50
Ebd., S. 35.
luisa döderlein
die Schriften und die Theoriearchi- Den Begriff hyperimage führte Thür-
tektur Thürlemanns einfügt. lemann dann in einem Vortrag im
Jahre 2002 ein, allerdings – in seinen
Anschließend wird die methodolo- eigenen Worten - „in einem ganz un-
gische Vorgehensweise Thürlemanns terschiedlichen Wissenschafts- und
genauer untersucht und schließlich Medienkontext“.
folgt eine inhaltliche Einordnung sei- Der Vortrag wurde publiziert unter
nes Schaffens. dem Titel: „Vom Einzelbild zum 269
Im letzten Teil dieses Kapitels erfolgt hyperimage. Eine neue Herausforder-
eine historische Einordnung, die auf- ung für die kunstgeschichtliche Her-
zeigen soll, unter welchen historischen meneutik“ und kann in dem Sammel-
Bedingungen das Buch und allgemein band von Ada Neschke-Hentschke
Thürlemanns These zum hyperimage Les herméneutiques au seuil du XXIéme
entstanden. siècle (Löwen/Paris 2004, S. 223-247)
nachgelesen werden.
Es folgten viele weitere Publikatio-
Kontextualisierung innerhalb der nen zu dem Thema, so unter anderem
Schriften des Autors der Beitrag „Die Bilder im Kontext
ihrer Präsentation – Interview mit
Die hier vorgestellte Monografie aus Felix Thürlemann“ in Klaus Sachs-
dem Jahr 2013 ist eine der neusten Hombachs: Wege zur Bildwissenschaft:
Publikationen Thürlemanns. Interviews (Köln 2004) und das Buch:
Die Theorie zum hyperimage tritt hier Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildfor-
jedoch nicht erstmalig auf, sondern men zwischen Mittelalter und Gegenwart
stellt das Ergebnis langjähriger For- (Berlin 2010). An den Titeln der Pu-
schungen dar, was ein Blick auf die blikationen wird augenfällig, dass
Publikationen des Autors bestätigt. Thürlemann sich jahrzehntelang mit
So fi ndet sich das Thema der pluralen der Verbindung von Bild und Raum
Bildgefüge und der Verbindung von und den Verbindungen von einzel-
Bild und Raum immer wieder, oft nen Bildobjekten miteinander be-
bereits im Titel, wie beispielsweise schäftigte.
in einer Veröffentlichung von 1990: Des Weiteren fügt sich die Mono-
Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer grafie zu den hyperimages durch die se-
semiotischen Kunstwissenschaft (Köln). miotische Herangehensweise auch
felix thürlemann
51
Deutsche Gesellschaft für Semiotik: Semiotik: Interaktiv und transdisziplinär!,
http://www.semiotik.eu/ (Stand: 04.12.17).
52
Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universtität Konstanz.
Prof. Dr. Thürlemann: Theorie des Hyperimage. Abstract,
https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 04.12.17).
53
Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik 2004“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele,
Felix Thürlemann (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44,
Hier: S. 40.
luisa döderlein
54
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 16.
felix thürlemann
Thürlemann als die Rezeption von Die Kombination der beiden Modi in
Bildobjekten. Als langjähriger Do- einer gemeinsamen Matrix, so seine
zent der Universität Konstanz macht These, bringe eine höherstufige Organi-
sich die Methodik der Konstanzer Schule sationsform hervor, die erzählende und
hier bemerkbar, die sich der Rezep- thematische Bilder zu sinnträchtigen
tionsästhetik verschrieben hat. Die Figuren zusammenschließt.55
Rezeptionsästhetik fragt nach der ge-
272 danklichen und emotionalen Wahr- Der Ansatz von Thürlemann zielt
nehmung künstlerischer Werke und hingegen auf Phänomene bildlicher
inwieweit sie bereits im Gegenstand Bedeutungsproduktion, die grund-
angelegt ist bzw. erst im Prozess dersätzlich der „Möglichkeit des Neu-
Rezeption entsteht. Hier nimmt Thür- arrangements“56 unterliegen.
lemann abermals eine Weiterentwick- So betrachtet er im Gegensatz zu
lung bzw. Ausweitung der Methodik Kemp das Zusammenspiel von Bild-
vor: Er entwickelt die Rezeptionsäs- objekten, die jedoch vollkommen un-
thetik in der Kunstwissenschaft in- abhängig voneinander entstanden
sofern weiter, als dass er sie nicht und für neue Konstelltionen offen-
nur auf Einzelbilder, sondern auch bleiben.
auf plurale Bildformen anwendet. Daran erforscht Thürlemann dann,
Als einer der wenigen Forscher, die wie die Einzelbilder innerhalb der
neben Thürlemann eine ähnliche pluralen Konstellation rezipiert wer-
Vorgehensweise vorweisen, ist Wolf- den, wobei die Rezeption und die
gang Kemp zu nennen. Er befasst Blickeinstellung stark von der Prä-
sich in erster Linie jedoch mit den sentation abhängig sind, von der Ver-
festen Bildsystemen der Erzählbilder,teilung der Bildobjekte im Raum „Die
räumliche Anordnung der Bilder re-
die er in der frühchristlichen Fresken-
malerei fi ndet. gelt die Rezeption und ist ein konsti-
tutives Element im Prozess der Be-
Kemps Interesse galt der deutungsstiftung,“57 so Thürlemann.
Wechselwirkung zweier Modalitäten
des Bildes in pluralen Bildformen der Ausgehend davon plädiert der Autor
mittelalterlichen Sakralkunst – er nann- mit der von ihm vorgeschlagenen Ge-
te sie den »narrativen« und den »thema- schichte des hyperimage für eine his-
tischen« Modus. torische Rezeptionsforschung.
55
David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David Ganz,
Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S. 7-38, Hier: S. 12.
56
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 25.
57
Ebd., S.18.
luisa döderlein
Betrachte man die hyperimages ver- des Einzelbildes formuliert, jedoch die
schiedener Zeiten und Epochen, so Verbindung mehrerer Bilder in Zyklen
schreibt er, könne daran festgestellt oder Ensembles nicht zum Gegenstand
werden, welchen Künstlern, Gattun- der Reflexion gemacht.60
gen, Schulen etc. mehr Bedeutung zu-
gesprochen wurde und welchen we- Künstlerische Bildwerke so würden
niger. Es müsse also die Neuordnung hauptsächlich autonom betrachtet.
von hyperimages betrachtet werden, um 273
daraus eine Geschichte entwickeln Nur ein paar wenige Wissenschaftler
zu können. Thürlemanns Vorgehen und Forschergruppen beschäftigten
ist, so lässt sich zusammenfassen, eine sich bereits mit dem Thema.
„Verschränkung von theoretischer So unter anderem John Ruskin, der
und historischer Perspektive.“58 um die Mitte des 19. Jahrhunderts
einen Anlauf unternahm, „theore-
tische Zugänge zum Problem der
Inhaltliche Einordnung Mehrbildlichkeit zu ebnen,“61 in-
dem er die Zerteilung mehrgliedri-
Nach der methodologischen Kon- ger Ausstattungsprogramme in ein-
textualisierung soll im folgenden Un- zelne Bildfelder kritisierte.
terkapitel eine inhaltliche Einord- Diesem Sachverhalt wurde erst eini-
nung der Thematik erfolgen. In der ge Jahrzehnte später von den Vertre-
Einführung des Sammelbandes Das tern der ersten Wiener Schule der Kunst-
Bild im Plural, das Felix Thürlemann wissenschaft Beachtung geschenkt, al-
zusammen mit David Ganz im Jahre lerdings mit Fokus auf der Dimen-
2010 herausbrachte, werden bereits sion der Zeit.
einige Aspekte der Forschungsge-
schichte der pluralen Bildformen er- Besonders die Unterscheidung von
läutert. Vorerst betonen die beiden kontinuierendem, distinguierendem und kom-
Autoren, dass es eine kontinuierliche plettierendem Erzählstil, die von Franz
theoretische Auseinandersetzung mit Wickhoff Ende des 19. Jahrhunderts
diesem Thema nicht gebe.59 entwickelt wurde, habe großen Ein-
fluss gehabt.62 Sie habe jedoch dazu
Die Kunsttheorie der frühen beigetragen, so betonen Thürlemann
Neuzeit [habe] Konzepte der compositio und Ganz kritisch, „dass das Problem
58
Ebd., S. 8.
59
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 10.
60
Ebd., Fußnote 9: Vgl. Thomas Puttfarken, The Discovery of Pictorial Composition. Theories of
Visual Order in Painting 1400-1800, New Haven/London 2000.
61
Vgl.: David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David
Ganz, Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 11.
62
Vgl.: Ebd.
felix thürlemann
des einen und der vielen Bilder von und ein Zusammenwirken von Selektion
der Kunstgeschichte lange genug nur und Kombination.65
in der eingeschränkten Optik der
Narration entlang eines Zeitpfeils betrach- Mit der Einsicht in die Kons-
tet wurde“.63 Dies ist jedoch nur ein truiertheit des klassischen Meisterwerks
Aspekt unter vielen innerhalb des war in den 1980er Jahren eine Situation
Untersuchungsgebiets der pluralen entstanden, die nach neuen Epochenent-
274 Bildformen. würfen der Geschicht künstlerischer Bild-
„Eine neue Aufmerksamkeit für die produktion verlangte.“66
übergreifenden visuellen Kontexte,
innerhalb derer sich das einzelne Bild Hierbei bildeten sich zwei gegensätz-
manifestiert,“ fi nden die Autoren in liche Lager. Während das eine wei-
den „methodischen Strömungen […], terhin die Autonomie des Kunstwer-
die die Kunstgeschichte nach 1968 kes betonte und dieses mit „älteren,
geprägt haben.“64 religiösen Formen kultischer Allein-
Sie schreiben: stellung von Bildern konfrontierte“67,
erklärten die anderen das Zusammen-
Die Ansätze, auf die sie [die stellen einzelner Bildobjekte zum
Strömungen nach 1968] rekurrierten, Hauptmerkmal einzelner Epochen
wie Funktionsgeschichte, Kontextfor- der Kunstgeschichte. Hier wird noch
schung, Semiotik oder Systemtheorie, einmal beispielhaft auf Wolfgang
hatten auf ihre je spezifische Weise An- Kemp verwiesen, der das sogenannte
teil daran, dass das klassische Modell Bildsystem zum Spezifikum der westli-
des Einzelbildes nunmehr als Resultat chen Kunst des Mittelalters erklärte.
einer künstlerischen Herausprägung de-
konstruiert werden konnte. Ein weiterer Forscher, der hier erwäh-
In der Erschließung von Sinnpotentialen nenswert ist, ist Werner Hofmann
der Mehrteiligkeit fanden insbesondere mit seinem Werk: Die Moderne im Rück-
strukturalistische Ansätze, sei es eher se- spiegel.68 Ähnlich wie Kemp beschäf-
miotischer, sei es eher narratologischer tigt er sich mit der mittelalterlichen
Ausrichtung, ein reiches Betätigungfeld, Kunst, bringt diese jedoch in Ver-
das wie geschaffen war für die eigenen me- bindung mit der Kunst der Moderne.
thodischen Grundannahmen: eine Erzeu- Ganz und Thürlemann fassen den
gung von Sinn über binäre Oppositionen Ansatz zusammen:
63
Ebd.
64
Ebd., S. 12.
65
Ebd.
66
David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David Ganz,
Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 12.
67
Ebd.
68
Hofmann, Werner (1998): Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte,
München: Beck.
luisa döderlein
69
David Ganz, Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder. In: David Ganz,
Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und
Gegenwart. Berlin 2010, S.7-38. Hier: S. 13.
70
Vgl.: Ebd., S. 14.
felix thürlemann
71
„Die Entscheidung, unter dem Begriff des hyperimage über die Möglichkeiten der 'Verlinkung'
von Bildern nachzudenken, war damals als Provokation des Kunstwissenschaftlers an die
Literaturtheoretiker gedacht.“ (Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des
hyperimage. München 2013, S. 7.).
72
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 70. Der Begriff hypertext wurde von Ted Nelson geprägt, der nach 1967 das Modell der
Text- und Bildverarbeitung, das Vannevar Bush nach dem zweiten Weltkrieg mit seiner Memex-
Maschine ersonnen hatte, für die digitale Ära modifiziert und weiterentwickelt. (Vgl. Felix
Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik“. In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
luisa döderlein
nauer eingegangen, die Nennung hier der digitalen Medien besitzt eine mindes-
ist jedoch für den Nachvollzug einer tens zweitausendjährige Vorgeschichte. 77
historischen Entwicklung wichtig.
…Thürlemann (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44. Hier: S. 23.)
73
Ebd. S. 7.
74
Exzellenzcluster. Kulturelle Grundlagen von Integration – Universtität Konstanz. Prof. Dr.
Thürlemann: Theorie des Hyperimage. Abstract,
https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/1543.html (Stand: 29.11.17).
75
Ebd.
76
Ebd.
77
Felix Thürlemann: Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik (2004), In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix…
felix thürlemann
…Thürlemann (Hg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44, Hier: S. 25.
78
Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München 2013,
S. 8.
79
Ebd.
luisa döderlein
80
Felix Thürlemann: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die
kunstgeschichtliche Hermeneutik (2004) In: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Rimmele, Felix
Thürlemann: Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin 2012, S. 23-44, Hier. S. 40-41.
Als Beispiel für einen solchen Zufallsgenerator führt er den Image swirl an, „eine automatisierte,
interaktive Form der hierarchisierten Bildpräsentation“, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte
und inzwischen wiedereingestellt wurde.
81
Ebd.
82
Vgl.: Felix Thürlemann: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. München
2013, S. 22 f.
luisa döderlein
83
Ebd.
84
Brinkmann, Hanna und Commare, Laura: Blick_folgen. Zur Visualisierung von Augenbewegungen
bei der Kunstbetrachtung, http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2015_0389.pdf
(Stand: 29.11.17).
85
Vgl.: Brinkmann, Hanna und Commare, Laura: Blick_folgen. Zur Visualisierung von
Augenbewegungen bei der Kunstbetrachtung,
http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2015_0389.pdf (Stand: 29.11.17).
86
Ebd.
felix thürlemann
283
felix thürlemann
Quellenverzeichnis
Thürlemann, Felix: „Bild gegen Bild. Für eine Theorie des vergleichenden Sehens“.
In: Blum, Gerd; Bogen, Steffen; Ganz, David; Rimmele, Marius (2012):
Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik. Berlin: Reimer, S. 391-401.
Thürlemann, Felix (2013): Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperi-
mage, München: Wilhelm Fink Verlag.
luisa döderlein
Bildnachweis
Abb.1: Frans Francken d.J., Der Triumph der Malerei 1 (über Ortelius hin-
aus), um 1620. Wien, Kunsthistorisches Museum, Prometheus Bildarchiv:
Kunst- und Raritätenkammer, http://prometheus.uni-koeln.de/pando-
ra/image/show/dresden-f8c3ad622f1be8637f365bcc6083196ebcdf3e40
(Stand: 02.12.17).
Aby Warburg
der Bilderatlas Mnemosyne
Der Bilderatlas Mnemosyne war Aby Warburgs letztes, großes Werk nach sei-
286 ner Rückkehr aus dem Kreuzlinger Sanatorium.1 Der Idee nach existierte
der Bilderatlas seit etwa Oktober 1926.
Die Arbeit an ihm fand aber bereits drei Jahre später durch Warburgs Tod
im Oktober 1929 ein jähes Ende.2 Der Bilderatlas kann durchaus als Sum-
me und Ausdruck des Warburgschen Denkens zu diesem Zeitpunkt be-
trachtet werden, denn er vereint in sich Warburgs bisherige Forschungen
und stellt eine Synthese seiner theoretischen Überlegungen und konkreten
Einzelanalysen dar.
1
Vgl.: Rösch, Perdita (2010): Aby Warburg, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, S. 95.
2
Vgl.: Ebd., S. 95.
3
Vgl.: Ebd., S, 96.
4
Ebd., S. 97.
5
Ebd.
6
Vgl.: Bauerle, Dorothee (1988): Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu
Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster: Lit Verlag, S. 9.
287
Aby Warburg
7
Vgl.: Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: 2010, S. 96.
Lisa BRAUN
8
Vgl.: Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: 2010, S. 95.
9
Vgl.: Ebd., S. 97.
10
Vgl.: Ebd., S. 97.
11
Vgl.: Ebd., S. 97.
12
Vgl.: Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: 2010, S. 97 f.
Aby Warburg
13
Vgl.: Ebd., S. 98.
14
Vgl.: Ebd., S. 99.
15
Ebd., S. 98.
16
Ebd., S. 98.
17
Warburg, Aby Moritz: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Warnke, Martin; Brink, Claudia (Hg.)
(2000): Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin: De Gruyter Verlag, S. 3-6.
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 10.
18
Vgl.: Bauerle, Dorothee (1988): Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu
Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster, S. 10.
Lisa BRAUN
19
Vgl.: Ebd., S. 10.
20
Ebd., S. 10.
21
Vgl.: Ebd., S. 10.
22
Warburg, Aby Moritz, zit. nach: Hönes, Christian; Pfisterer, Ulrich (2015): Aby Warburg: Fragmente,
Berlin: De Gruyter Verlag, S. 162.
23
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 23.
24
Vgl.: Ebd., S. 23.
Aby Warburg
25
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink (Hg.): Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3-6.
26
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 23.
27
Ebd., S. 12.
28
Vgl.: Ebd., S. 22
29
Ebd., S. 23.
30
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink (Hg.): Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3.
Lisa BRAUN
Jahr 1887, der als Hintergrund von zerlegenden Ordnung des Gedankens
Warburgs Arbeiten durscheine. so sehr gelöst wird, dass sie sich in Be-
Vischer gliedert die Verknüpfung von griffe verflüchtigt.34
Bild und Bedeutung, also den Pro-
zess der Symbolbildung, in drei Stu-
fen: die dunkel-verwechselnde Stufe,
die Stufe der vorbehaltenden Ver-
knüpfung und die logisch-sondernde Zwischenräume 293
Stufe.
Die dunkel-verwechselnde Stufe, in In diesem Spannungsfeld, quasi „[…]
der Bild und Bedeutung verwechselt zwischen Greifen und Begriff, auf
werden und das Bild als Aushilfe für halbem Weg zwischen wissenschaft-
das Wort dient, beispielsweise bei re- licher Erkenntnis und magischem
ligiösen Praktiken, steht im schroffen Denken […]“35 hat das Bild als aus-
Gegensatz zur logisch-sondernden druckshaft Gestaltetes seinen Ort.
Stufe, in der das Bewusstsein vor- Durch das Gewahrwerden dieser
herrscht, „[…] das[s] Bild und Bedeu- Pendelbeziehung zwischen den zwei
tung nur durch ein tertium compa- Polen, „[…] der künstlerischen Ge-
rationis verknüpft […]“.33 staltung zwischen einschwingender
Für Warburg als Denker des Zwi- Phantasie und ausschwingender Ver-
schenraums war aber die zweite Stu- nunft […]“36, werden „[…] Bilder zu
fe, die Stufe der vorbehaltenden Ver- deutbaren Urkunden der Weltan-
knüpfung von großem Interesse. eignug“.37
Es handelt sich um die Stufe der Sym-
bolbildung und des Symbolverständ- Warburg erweitert Vischers Sym-
nisses, auf der: bolbegriff der vorbehaltenden Ver-
knüpfung zu einem Bindeglied zwi-
[…] das Symbol als Zeichen ver- schen Kulturwissenschaft und Psy-
standen wird und dennoch als Bild leben- chologie.38 Das Bild wird zum Zeugen
dig bleibt, wo die seelische Erregung, zwi- geistiger Prozesse und spiegelt den
schen diesen beiden Polen in Spannung tragischen, aber menschlichen Kampf
gehalten, weder durch die bindende Kraft zwischen Logik und Phantasie wider.
der Metapher so konzentriert wird, dass sie Nicht nur das Kunstschaffen, auch der
sich in Handlung entlädt, noch durch die Kunstgenuss ist von diesem Kampf
31
Kemp, Wolfgang: Fernbilder. Benjamin und die Kunstwissenschaft, in: Burkhardt Lindner (Hg.)
(1978): Links hatte noch alles sich zu enträtseln… Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt: Syndikat
Verlag, S. 248.
32
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 20.
33
Vischer, Friedrich Theodor (1887): Das Symbol, in: Philiosophische Aufsätze – Eduard Zeller zu
seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig: Fues Verlag, S. 190.
34
Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik,
S. 172, in: Dessoir, Max (Hg.) (1931): Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft,
Bd. 25, Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 163-179.
Aby Warburg
35
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 19.
36
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink: Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3.
37
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 19.
38
Vgl.: Ebd., S. 16.
39
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 20.
40
Vgl.: Ebd., S. 20.
Lisa BRAUN
dar, die aus der Masse der Gebärden in einer Art Gedächtnisfunktion des
des täglichen Lebens als gewisse, be- Körpers Spuren hinterlassen und re-
sonders ausdrucksvolle Bewegungen flexartig abgespielt werden können.51
des Körpers ins Bewusstsein treten.
Sie sind „[…] Ausdrucksformen zwei-
ter Potenz“.47 Sie überdauern die Zeit:
41
Vgl.: Ebd., 1988, S. 20.
42
Vgl.: Ebd., S. 21.
43
Ebd., S. 21.
44
Warburg, Aby Moritz (1929): Mnemosyne, Entwürfe zum Vortrag, gehalten am 19. Januar 1929,
Bibliotheca Hertziana, Rom, zit. nach: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz
Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 13.
45
Vgl.: Ebd., 1988, S. 14.
46
Ebd., S. 14.
47
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 19.
Aby Warburg
es ein wahrer Kraftanzeiger sein soll, Zulänglichkeit oder Versagen als orien-
statt, falls besonders eine Schmückung tierendes geistiges Instrument eben das
in Berechnung der äußeren Wirkung Schicksal der menschlichen Kultur be-
stattfand.55 deutet.58
48
Wind, Edgar (1931): Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die
Ästhetik, S. 176, in: Max Dessoir (Hg.): Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft,
Bd. 25, Stuttgart 1931, S. 163-179.
49
Vgl. Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 31.
50
Warburg, Aby Moritz, zit. nach Gombrich, Ernst (2012 [1981]): Aby Warburg. Eine intellektuelle
Biografie, Hamburg: Philo Fine Arts Verlag, S. 3.
51
Vgl. dazu: Hering, Ewald (1921): Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der
organisierten Materie, Leipzig: Wilhelm Engelmann Verlag.
Lisa BRAUN
52
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 27.
53
Vgl.: Ebd., S. 28.
54
Vgl.: Carlyle, Thomas (1903 [1888]): Sartor Resartus, London: Chapman & Hall Verlag, S. 43.
55
Aby Moritz Warburg, zit. nach: Ulrich Pfisterer; Christian Hönes: Aby Warburg: Fragmente,
Berlin 2015, S. 81.
56
Vgl. Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 30.
57
Ebd., S. 30.
58
Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg 2012, S. 288 f.
Aby Warburg
war sein Thema, Erinnerung seine zent- wiederhergestellt werde, dass es auf aktu-
rale Kategorie.“64 elle Bedürfnisse zu antworten vermag.67
[…] cette synthese a pour effet […] die sprachlichen und bild-
de dégager tout un monde de sentiments, förmigen Ausdrücke entstehen […] [und]
d’idees, d‘images qui, und fois nés, obé- nach welchem Gefühl oder Gesichtspunkt,
issent à des lois leur sont propres.66 bewusst oder unbewusst, werden sie im Ar-
chiv des Gedächtnisses aufbewahrt, und
Maurice Halbwachs als Durkheim- gibt es Gesetze, nach denen sie sich nie-
Schüler konkretisierte den Sitz des derschlagen und wieder herausdringen?69
kollektiven Bewusstseins auf das so-
ziale Gedächtnis. Das soziale Ge-
dächtnis besteht für ihn aus
59
Saxl, Ftitz (1932): Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst, in: Gustav Kafka (Hg.): Bericht
über den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena, S. 18.
60
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 31 f.
61
Fritz Saxl: Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst, in: Gustav Kafka (Hg.): Bericht über
den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena 1932, S. 23.
62
Vgl.: Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 31 f.
63
Aby Moritz Warburg: Mnemosyne – Einleitung, S. 3, in: Martin Warnke; Claudia Brink: Aby
Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3.
Lisa BRAUN
64
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 33 f.
65
Vgl.: Ebd., 1988, S. 35.
66
Durkheim, Emile (1960 [1912]): Les formes élémentaires de la vie religieuses. Le système totémique
en Australie, Paris: Les Presses universitaires de France, S. 605.
67
Maus, Heinz (1985): Das kollektive Gedächtnis. Geleitwort zu Maurice Halbwachs, Frankfurt:
Fischer Taschenbuch Verlag, S. 7.
68
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 36.
Aby Warburg
69
Warburg, Aby Moritz: Reiseerinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer. Materialien zur
Psychologie primitiver Religiosität als Quelle logischer Verknüpfung, Vortrag vom 21. April 1923
in Kreuzlingen, zit. nach: Gombrich, Ernst (2012 [1981]): Aby Warburg. Eine intellektuelle Biogra-
fie, Hamburg: Philo Fine Arts Verlag, S. 222.
70
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 6.
71
Vgl.: Van Huisstede, Peter: Der Mnemosyne-Atlas. Ein Laboratorium der Bildgeschichte, S.135,
in: Galitz, Robert; Reimers, Brita (Hg.) (1995): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe… trauernder
Flussgott“. Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, S. 130-171.
72
Vgl.: Ebd., 1995, S. 149.
Lisa BRAUN
301
73
Vgl.: Hoffmann, Werner: Der Mnemosyne-Atlas. Zu Warburgs Konstellationen, S. 179, in: Galitz,
Robert; Reimers, Brita (Hrsg.): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe… trauernder Flussgott“.
Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, S. 172-183.
74
Vgl.: Hoffmann, Werner: Der Mnemosyne-Atlas. Zu Warburgs Konstellationen, S. 179, in: Galitz,
Robert; Reimers, Brita (Hrsg.): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe… trauernder Flussgott“.
Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, S. 172-183.
75
Saxl, Fritz (1980): Warburgs Mnemosyne-Atlas, S.315, in: Wuttke, Dieter: Aby M. Warburg.
Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden: Verlag Valentin Körner, S. 313-316.
76
Vgl.: Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg: 2012, S. 363.
Aby Warburg
77
Vgl.: Warburg, Aby Moritz: Manets ‚Déjeuner sur l’herbe‘, Die vorprägende Funktion heidnischer
Elementargottheiten in der Entwicklung modernen Naturgefühls, S. 262- 263, zit. nach: Wuttke,
Dieter (1989): Kosmopolis der Wissenschaft: E.R. Curtis und das Warburg Institute;
Briefe 1928-1953 und andere Dokumente, Baden-Baden: Verlag Valentin Körner, S. 257-272.
78
Vgl.: Ebd., S. 263.
79
Vgl.: Ebd., S. 263 ff.
80
Vgl.: Ebd., S. 269 f.
81
Vgl.: Ebd., S. 270.
Lisa BRAUN
82
Vgl.: Aby Moritz Warburg: Manets ‚Déjeuner sur l’herbe‘, Die vorprägende Funktion heidnischer
303
Elementargottheiten in der Entwicklung modernen Naturgefühls, S. 271, zit. nach: Dieter Wuttke:
Kosmopolis der Wissenschaft: E.R. Curtis und das Warburg Institute; Briefe 1928-1953 und andere
Dokumente, Baden-Baden 1989, S. 257-272.
83
Dorothee Bauerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene – Ein Kommentar zu Aby
Warburgs Bildatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 42.
84
Ebd., S. 41.
85
Ebd., S. 40.
86
Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg 2012, S. 364
87
Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. Wilhelm Fink
Verlag, München 2013. S. 97-116. Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder.
Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Surkamp, Frankfurt am Main 2010.
88
Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage. Wilhelm Fink
Verlag, München 2013. S. 100 ff.
89
Ebd., 109.
Aby Warburg
Quellenverzeichnis
Carlyle, Thomas (1903 [1888]): Sartor Resartus, London: Chapman & Hall
Verlag.
Hering, Ewald (1921): Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der
organisierten Materie, Leipzig: Wilhelm Engelmann Verlag.
Naber, Claudia (1995): ‚Heuernte bei Gewitter‘. Aby Warburg 1924-1929, in:
Galitz, Robert; Reimers, Brita (Hg.): Aby Warburg. „Ekstatische Nymphe…
trauernder Flussgott“. Portrait eines Gelehrten, Hamburg: Dölling und Galitz
Verlag, S. 104-129.
305
Rösch, Perdita (2010): Aby Warburg, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.
Saxl, Fritz: Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst, in: Kafka, Gustav
(Hg.)(1932): Bericht über den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für
Psychologie, Jena: Gustav Fischer Verlag.
Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die
Ästhetik, in: Dessoir, Max (Hg.) (1931): Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
Kunstwissenschaft, Bd. 25, Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 163-179.
Aby Warburg
Wuttke, Dieter (1989): Kosmopolis der Wissenschaft: E.R. Curtis und das War-
burg Institute; Briefe 1928-1953 und andere Dokumente, Baden-Baden: Verlag
Valentin Körner.
306 Bildnachweis
Tafel 55, S. 10: Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 55, 1928,
London, Warburg Institute, © The Warburg Institute
https://www2.hu-berlin.de/census/ausstellung/dejeuner/bilder/5Wand/
Warburg_Tafel_55_bearb-gross.jpg (entnommen am 21.01.18, © The
Warburg Institute).
Lisa BRAUN
307
Schlüsseltexte
sind aber immer nur dann passgenaue Werkzeuge
und tatsächlich »Schlüssel«, wenn man vor der
»richtigen« Pforte, dem vorgesehenen Schloss,
der entsprechenden Sichtweise auf die Kunstwis-
senschaft steht. Bevor man den Schlüsseltext
nutzt muss man sich bewusst werden, mit welchem
Interesse man es tut. Welches fachliche und metho-
dische Türchen soll sich öffnen soll und wel-
cher diskursive Echoraum sich auftun? Immer
kommt es auf die jeweiligen Fragestellungen und
das erkenntnisleitende Interesse an.
Jürgen Stöhr