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Sie haben sich noch nie Gedanken ü ber den Sinn des Lebens gemacht? Herzlichen
Glü ckwunsch, mö glicherweise sind Sie damit schon auf dem besten Weg. Weil die
Abwesenheit der quä lenden Frage bedeuten kö nnte, dass die Antwort darauf schon in
ihnen wohnt. Oder frei nach Ludwig Wittgenstein: „Die Lö sung des Problems merkt man
am Verschwinden des Problems.“ Wittgenstein war einer der spä teren in der Geschichte
der Philosophie, der versucht hat, den Menschen das Grü beln abzunehmen.
Herauszufinden, warum wir, in die Welt geworfen, uns nicht, wie alle anderen
Lebewesen, damit begnü gen, die Art zu erhalten, uns zu ernä hren, zu vermehren, den
Nachwuchs groß zu ziehen und gegebenenfalls das Revier zu verteidigen. Sondern
hoffen, unser Dasein kö nnte eine Bedeutung haben. Und unglü cklich werden, wenn uns
der Bezug dazu abhanden kommt. Als zoon logon echon, vernunftbegabtes Wesen, haben
die antiken Denker den Menschen definiert und sich als erste den Kopf darü ber
zerbrochen, wie man aus dem Dilemma herauskommt, selbst das Rä tsel und gleichzeitig
hoffentlich dessen Lö sung zu sein. Die Geistesgeschichte hat seither einige Schleifen
gedreht bei der Suche nach Sinnstiftung, hat wechselweise das Ich oder die
Gemeinschaft, weltliche Leere oder spirituelles Streben in den Mittelpunkt der
Betrachtung gestellt und oft genug ratlos daneben gestanden, wie Ludwig Marcuse, der
schrieb: „Der Sinn des Lebens ist ein sinnvolles Wort; aber es lä sst sich nichts Sinnvolles
aussagen.“ Noch Fragen?
Eine vielleicht: was geht mich das alles an? Hochtrabende Gedankengebä ude,
tiefgrü ndiger Existentialismus, kann ich nicht einfach mein Leben leben, so gut es eben
geht? Und dabei gar nicht wissen wollen, was sich hinter allem verbirgt? Klingt
oberflä chlich gut, ist aber wenig praxisorientiert. Weil uns alle beizeiten die Zweifel an
anfallen, zumeist nicht in den besten Momenten, die wir erleben. Es muss kein
dramatischer Augenblick, keine unvorhergesehene Katastrophe sein, der man
gegenü ber steht. Einfach nur einer dieser Tage. Seltsam fremde Kinder krakeelen durch
eine Wohnung, die noch nie so ausgesehen hat, wie man sich ein schö nes Zuhause
einstmals erträ umte. Die Kollegen kassieren mit lä ssiger Selbstverstä ndlichkeit Lob fü r
ein erfolgreiches Projekt, welches man selbst maßgeblich vorangebracht hat. Der Mann
bringt Blumen in der falschen Farbe. Man verabscheut zartes Rosa und denkt: Das hat
doch alles keinen Sinn.
Man beginnt ü ber das eigene Leben nachzudenken, wenn sich vieles falsch anfü hlt,
obwohl alles ganz gut aussieht. Dabei hoffte man doch, begriffen zu haben, wie viel Glü ck
man hat und was einem Euphorie beschert: neue Schuhe, guter Sex, Entspannung im
Yoga, erfü llte Reiseträ ume, die entzü ckende Brut. Ein paar Ziele sind abgehakt, man lebt
in sicheren Bahnen, aber irgendwas fehlt. Etwas, das einem das Gefü hl gibt, mit sich und
der Welt im Einklang zu sein, eine Aufgabe zu haben in einem grö ßeren Zusammenhang
(den man aber auch noch nicht richtig verstanden hat). Das grundsä tzliche
Missverstä ndnis geht genau an diesem Punkt los. Denn Glü ckssuche und Sinnstiftung
sind nicht dasselbe, es fü hlt sich zwar beides gut an, doch das Glü ck ist, wie man
manchmal ahnt, oder vielleicht auch schon schmerzhaft erfahren durfte, ein flü chtiger
Begleiter.
Ich kann mich gut erinnern, als ich, selbst im besten Familiengrü ndungsalter, einem
befreundeten Paar, das ich lä nger nicht gesehen hatte, auf der Straße begegnete, die
weibliche Hä lfte trug einen stolzen Babybauch. Auf meinen erstaunten Blick hin, sagte
sie lachend: „Das geht ganz einfach.“ Ich ahnte damals schon, dass es nicht immer so
einfach geht, hatte diverse erfolglose Arztbesuche hinter mir und dachte: „Ihr wisst gar
nicht, wie viel Glü ck ihr habt.“ Ich habe lange damit gehadert, dass das grö ßte Glü ck, wie
man es so gerne nennt, mir versagt geblieben ist, zumal nicht wenige der beseelt
stillenden Damen in meinem Umfeld gleichzeitig fest der Ü berzeugung waren, endlich
ihre Bestimmung gefunden zu haben. Ihren Sinn im Leben. Ich will nicht in Abrede
stellen, dass ein Kind aufzuziehen eine große, das Leben prä gende Erfahrung ist. Aber
jetzt, ein gutes Jahrzehnt spä ter, habe ich nicht mehr das Gefü hl vom Leben betrogen
worden zu sein. Genauso wenig wie meine Freundinnen mit Nachwuchs behaupten
wü rden, das große Los gezogen zu haben.
Der jü dische Psychiater und Neurologe Viktor Frankl hat das grö ßte nur vorstellbare
Leid erfahren und daraus seine Lebensphilosophie destilliert. Er ü berlebte die
Gefangenschaft in den Konzentrationslagern der Nazis, seine Frau, seine Eltern und sein
Bruder wurden umgebracht. 1946 verö ffentlichte er das Buch: „...trotzdem Ja zum
Leben sagen“, ein weltweiter Bestseller, der Titel der englischen Fassung spricht das
Kernthema noch deutlicher an: „Man’s Search for Meaning“. Frankl hat in den Lagern mit
vielen verzweifelten Lebensmü den gesprochen, er hat sie ermutigt, ihr Dasein weiterhin
als Herausforderung zu begreifen. Zu realisieren, wer oder was in der Zukunft auf sie
wartet, seien es Menschen oder Aufgaben. Frankl schreibt: "Die geistige Freiheit des
Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lä sst ihn auch noch
bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten.“ „Sinn
kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“ Der Sinn des Lebens wird also
nicht in der Schicksalslotterie verteilt, wir haben es selber in der Hand, unserem Leben
Bedeutung zu verleihen.
Das klingt zunä chst ganz schö n schwergewichtig, kö nnte auch Beklemmungen auslö sen,
ä hnlich der Art, die sich bei mir einstellen, wenn ich ü ber Projekte nachdenke, die eine
Menge Arbeit und Organisation erfordern. Sowas wie: mein Bü rozimmer von Grund auf
ausmisten und endlich Ordnung in Buchhaltung und Bü cherregale bringen. Zu
monumental der Gedanke, da fange ich lieber gar nicht erst an.
Nach der gescheiterten Familiengrü ndung habe ich nach ä hnlich mä chtigen, neuen
Aufgaben gesucht, sah mich Mutter-Teresa-artig als freiwillige Wohltä terin, wollte
Hausaufgabenhilfe geben und Patenschaften ü bernehmen. Und ich muss es leider
zugeben: Medaillenverdä chtiges soziales Engagement steht immer noch auf meiner To-
do-Liste. Ich ü be mich derweil in flä chendeckender Freundlichkeit fü r meine Umwelt,
bekoche meine Liebsten, bespaße meine Neffen und Nichten, versuche loyale Kollegin zu
sein oder fü rsorgliche Tochter, liebende Ehefrau und zuverlä ssige Freundin, ganz nach
Viktor Frankls Maßgabe: "Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch –
entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person – , sondern auch von Stunde zu Stunde,
gemä ß der Einmaligkeit jeder Situation.“ Ich vollbringe dabei keine Großtaten, aber
ernte Lä cheln und warme Gefü hle, die tiefer gehen, als jedes Lob fü r eine gute Leistung
oder das Wellness-Wochenende, mit dem man sich selbst belohnt. Der neuere Stand der
Forschung sieht das ü brigens genauso.
Glü ck sucht man fü r sich allein, Sinn findet man mit den anderen, das ist die Quintessenz
dessen, was Psychologen und Soziologen bei der großflä chigen Betrachtung moderner
Gesellschaften beobachten. Nichts von dem, was in den letzten Jahrzehnten als
erstrebenswert erachtet wurde, die sichere Existenz, die erfolgreiche Karriere, Haus und
Hof, hü bsche Kinder und das selbstoptimierte Ich dazu, kann die letzte Leerstelle fü llen.
Die Mehrheit der Amerikaner bezeichnet sich in Umfragen als glü cklich und relativ
sorgenfrei, aber fast die Hä lfte empfindet ihr Leben als bedeutungsarm. Der Anteil derer,
die sich in Deutschland als zufrieden bezeichnen ist keinen Deut hö her als in der
beschwerlichen Nachkriegszeit. Und die Zahl der Depressiven steigt. Der
Wissenschaftsjournalist Stefan Klein hat sich vor zehn Jahren als Buchautor mit „Die
Glü cksformel“ sehr erfolgreich einen Namen gemacht, seine jü ngste Verö ffentlichung ist
dessen zeitgemä ße Fortsetzung. Es heißt: „Der Sinn des Gebens“, fordert die
Rehabilitierung des Gutmenschen und die Gesundung der Gesellschaft durch Altruismus.
Tilo Welsche, Professor fü r Philosophie, kommt bei der Frage nach dem Glü ck, gestellt
von der Wochenzeitung Die Zeit, auch auf den tieferen Sinn: „Sinn ist die
Erfahrung,...etwas zu tun, das nicht bloß fü r mich wichtig ist, sondern um eines anderen
willen gut ist, dessen Bedü rftigkeit gleich viel zä hlt.“
Zu guter Letzt sind die glaubhaftesten Fü rsprecher dieser Theorie vor allem jene, die
uns bei der Betrachtung des Lebens eine gute Zeit voraus sind. Menschen auf dem
Sterbebett. Das amerikanische Magazin Life hat in dem Buch „The Meaning of Life“
unterschiedlichste Menschen dazu zu Wort kommen lassen. Unter anderem Leah de
Roulet, eine Sozialarbeiterin, die tö dlich erkrankte Krebspatienten betreut: „Am Ende
reduziert sich das Leben auf eine einzige Frage: Habe ich genug geliebt?“