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PH I LOSOPH ISCH E BI LDUNG I N SCHULE UN D HO CHSCHULE

Markus Tiedemann (Hg.)

Außerschulische Lernorte,
Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung
Philosophische Bildung in Schule und
Hochschule

Reihe herausgegeben von


Bettina Bussmann, Philosophie (KGW Fakultät), Universität Salzburg,
Salzburg, Österreich
Markus Tiedemann, Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden,
Dresden, Deutschland
Philosophische Bildung hat seit den 2000er Jahren an gesellschaftlicher Relevanz
gewonnen. Dies zeigt sich in der Zunahme institutioneller Verankerung sowie
in der stärkeren wissenschaftlichen Durchdringung und Ausdifferenzierung
ihrer Teilbereiche. Vom Philosophieren mit Kindern bis zum Philosophicum
elementare, vom Leistungskurs in der Schule bis zum Oberseminar in der Hoch-
schule, vom Philosophischen Café bis zum Ethikrat: Der Bedarf an philosophie-
didaktischer Expertise in all diesen Bereichen steigt. Philosophiedidaktik ist heute
eine theoretisch-konzeptionelle, eine methodisch-praktische und eine empirisch-
kritische Wissenschaft. Sie diskutiert die Bedeutung und die Inhalte philo-
sophischer Bildungsangebote, entwickelt Methoden zu deren Realisierung und
evaluiert ihre Akzeptanz und Effizienz. Längst ist international ein breites Netz an
Theorien, Lehrkonzepten und Forschungsansätzen für Schule und Universitäten
entstanden. Die vorliegende Reihe informiert über aktuelle Forschungsprojekte,
diskutiert unterschiedliche theoretische Modelle und erschließt neue Methoden für
die sich verändernden schulischen und universitären Lehr- und Lernbedingungen.
Sie möchte all denjenigen Orientierung und Diskussionsgrundlagen bieten, die der
wachsenden Bedeutung philosophischer Bildung in Schule und Hochschule gerecht
werden wollen.

The social relevance of philosophical literacy has become most important in recent
years. This is clearly visible given its increasing penetration into various academic
institutions and organizations. International collaborative networks have been
established to develop theories, methods, materials, teaching concepts and research
approaches around philosophical education. From ‘philosophy for children’ to
philosophical cafés, from adult continuing education courses to ethics councils, the
need for didactical and educational expertise outside of the ivory tower has grown.
Philosophy Education today is a theoretical, practical and empirical discipline.
This series provides a venue for research projects that unlock new methods
and ideas for those engaged in philosophy education wanting to understand the
challenges of its ever greater societal importance.

Weitere Bände in der Reihe https://link.springer.com/bookseries/16633


Markus Tiedemann
(Hrsg.)

Außerschulische Lernorte,
Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung
Hrsg.
Markus Tiedemann
Institut für Philosophie
Technische Universität Dresden
Dresden, Deutschland

ISSN 2730-6585 ISSN 2730-6593  (electronic)


Philosophische Bildung in Schule und Hochschule
ISBN 978-3-476-05769-3 ISBN 978-3-476-05770-9  (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9

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Umschlagabbildung: © Lina Sophie Tiedemann

Planung/Lektorat: Franziska Remeika


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Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort

Der vorliegende Band versteht sich als Eröffnung eines neuen Forschungsfeldes.
Untersucht wird das Verhältnis von philosophischer Bildung, Erlebnispädagogik
und außerschulischen Lernorten, welches in der Philosophiedidaktik bisher kaum
Berücksichtigung gefunden hat.
Dies ist in mehrfacher Hinsicht sowohl erstaunlich als auch bedauerlich.
Erstens sind Exkursionen und erlebnispädagogische Formate Teil der Schul-
wirklichkeit. Dies gilt für sozialpädagogische Interventionen ebenso wie für
die Intensivierung fachspezifischen Lernens. Zweitens besteht im Vergleich
zu anderen Fachdidaktiken ein Nachholbedarf. Beispielsweise gehört die
Thematisierung außerschulischer Lernorte für die Geschichtsdidaktik längst zum
Standard. Und drittens erheben zahlreiche nicht-schulische Bildungsangebote den
Anspruch, einen Beitrag zum Erwerb philosophischer Tugenden und Bildungs-
inhalte zu leisten. Es liegt also nahe, Selbstverständnisse zu vergleichen sowie die
Möglichkeiten und Grenzen von Kooperationen und Synergieeffekten genauer zu
betrachten.
In den theoretisch-konzeptionellen Teilen des Bandes (I und II) werden philo-
sophiedidaktische und erlebnispädagogische Perspektiven einander gegenüber-
gestellt. Zunächst geht es um die Essenz philosophischer Bildung und deren
Kompatibilität mit Bildungsformaten, die die sich weniger streng am Prinzip
argumentativer Rechtfertigung orientieren. Schwerpunkte sind unter anderem
traditionelle und aktuelle Formen des Peripatetischen Philosophierens sowie
die Fragen nach einer Philosophie des Ortes und der Aktualität von Schillers
Forderung nach einer ästhetischen Erziehung des Menschen. Anschließend geht
es um das Selbstverständnis der Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum
sowie um das Konzept der Outdoor-Education in Kanada, welche beide philo-
sophische Traditionen und Bildungsaspekte für sich in Anspruch nehmen.
In den Teilen III bis IV kommen potenzielle Kooperationspartner zu Wort. Es
geht darum, die Konzeption unterschiedlicher Bildungsangebote, Institutionen
und Initiativen zu verdeutlichen und bereits bestehende bzw. potenzielle
Kooperationen mit der philosophischen Bildung aufzuzeigen. Den Anfang macht
ein eigenes Unterkapitel zur Genese und Essenz der Erlebnispädagogik sowie
verschiedener Ausprägungen. Um anschließend die Vielfalt außerschulischer
Lernorte abzubilden, werden unterschiedliche Beispiele folgenden Bereichen vor-
gestellt: Museen, kulturelle Einrichtungen und Gedenkstätten (1), gesellschaftliche

V
VI Vorwort

Institutionen (2), sakrale und meditative Orte (3) und Erlebnispädagogik und Out-
door Education.
Im Teil VII des Bandes stehen methodisch-praktische Fragen im Mittelpunkt.
Anhand von vier exemplarischen Unterrichtseinheiten wird die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und erlebnispädagogischer Interventionen in die philo-
sophische Bildung demonstriert und zur Diskussion gestellt.
In Teil VIII wird schließlich auf die noch bescheidene, empirische Forschungs-
lage eingegangen. Zum einen werden bisherige Erfahrungen und Projekte quanti-
fiziert, zum anderen ein aktuelles Forschungsprojekt samt qualitativer und
quantitativer Evaluation vorgestellt.
Die Heterogenität des Bandes ist so vielfältig wie das Forschungsfeld selbst.
Die einzelnen Beiträge präsentieren durchaus verschiedene Auffassungen von
philosophischer Bildung, Pädagogik oder Wissenschaftlichkeit. Ziel ist es, eine
Grundlage für kontroverse Diskussionen und die Entwicklung weiterführender
Fragestellungen zu legen.

Markus Tiedemann
Inhaltsverzeichnis

Theoretisch konzeptionelle Ebene 1: Die philosophische


Perspektive
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und philosophische
Bildung: Selbstverständnisse und Kompatibilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Markus Tiedemann
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie . . . . . . . . . . . . 29
Annika Schlitte
Peripatetisches Philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Katrin Seele
Bildung im Medium der Ästhetik. Die Aktualität von Schillers
Theorie der ästhetischen Bildung im Zeitalter der Digitalisierung. . . . . . 75
Birgitta Fuchs
 heoretisch konzeptionelle Ebene 2: Die erlebnispädagogische
T
Perspektive
Erlebnispädagogik und schulische Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Werner Michl
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning . . . . . . . . . . 115
Hartley Banack
 xemplarische Lernorte 1: Museen, kulturelle
E
Einrichtungen und Gedenkstätten
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein
Migrationsmuseum als außerschulischer Lernort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Simone Blaschka
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden . . . . . . . . . . 163
Cindy Düring

VII
VIII Inhaltsverzeichnis

Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175


Bettina Seiler und Marie Hahn
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes
Lernen im Museum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Alke Vierck
Der Zoo als Lernort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Ulrike Barnett und Tobias Rahde
Exemplarische Lernorte 2: Gesellschaftliche Institutionen
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention und
konstruktiven Konfliktbearbeitung in der Jugendstrafanstalt Berlin. . . . 233
Birgit Lang
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Angela Hörschelmann
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung . . . . . . . . 267
Ralf Müller und Bettina Niederleitner
Das Förderzentrum „Clemens Winkler“ und die Einbeziehung
von Projektarbeit und außerschulischen Lernorten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Ute Schnabel
Exemplarische Lernorte 3: Sakrale und meditative Orte
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle
Erfahrung – Tag der offenen Moschee als
religionspädagogische Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Tarek Badawia und Sezai Cakan
Moschee als außerschulischer Lernort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Tuba Nur Tekin
„Warum hat Ihre Moschee kein Kreuz?“ Die Neue Synagoge
Dresden als außerschulischer Lernort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Gunda Ulbricht
Zen und Kontemplation. Raum für spirituelle Wege Berlin. . . . . . . . . . . . 339
Liliane Ortwein
 xemplarische Lernorte 4: Erlebnispädagogik
E
und Outdoor Education
Alpine Erlebnispädagogik: Die Berge als Lernort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Bernhard Streicher
OUTWARD BOUND – Lernen mit Kopf, Herz und Hand. . . . . . . . . . . . . 377
Johannes Krüger
Inhaltsverzeichnis IX

Wildnispädagogik in der Naturschule Wildniswandern. . . . . . . . . . . . . . . 391


Matthias Blaß
Wald macht Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Peter Rabe
DKV-Sound-Karate im Schulsport aus Schülerperspektive. . . . . . . . . . . . 437
Michael Adam und Matthias Lindel
Methodisch-praktische Unterrichtsbeispiele
Draußen lernen. Mit Grundschulkindern vom Naturerlebnis zur
philosophischen Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Helena Graf
Ich werde nicht hassen. Eine theaterpädagogische Auseinandersetzung
mit dem Phänomen Hass und Fromms Theorie einer produktiven
Charakterorientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
Marie Hahn
Über das Sterben nachdenken. Das Hospiz als außerschulischer
Lernort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
Stefanie Pagel und Enrico Sperfeld
Ethische Konzepte im Belastungstest. Mit Angehenden
Erzieher*innen am Lernort Gedenkstätte Buchenwald. . . . . . . . . . . . . . . 531
Pia Krüger und Markus Tiedemann
Empirisch-kritische Ebene
Erste Erhebungen und Forschungsperspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Markus Tiedemann
Exploration. Erlebnispädagogik und das Philosophieren mit Kindern. . . 553
Helena Graf
Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über den Herausgeber

Tiedemann, Markus,  Prof. Dr., lehrt seit 2015 Ethik und Philosophiedidaktik an
der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er Professor an der Freien Uni-
versität Berlin und der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz sowie 12 Jahre
Lehrer und Fachseminarleiter in Hamburger. Zu seinen Arbeits- und Interessens-
schwerpunkten zählen Philosophiedidaktik, ethische Orientierung in der Moderne,
normative Aspekte der Migration und De-Radikalisierungsprozesse.

Autorenverzeichnis

Adam, Michael  ist Konrektor der Herzog-Philipp-Verbandsschule Altshausen und


lehrt in den Fächern Deutsch, Geschichte, Politik und Ethik. Er forscht zu DKV-
Sound-Karate an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.

Badawia, Tarek, Prof. Dr., ist Professor für Islamisch-Religiöse Studien mit


Schwerpunkt Religionspädagogik/Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Uni-
versität Erlangen-Nürnberg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Grundlagen
einer Bildungstheorie und Religionsethik, interreligiöse Bildung, Islamunterricht in
der säkularen Gesellschaft.

Banack, Hartley,  Dr., is an Assistant Professor with the School of Education in the
College of Arts, Social and Health Sciences at the University of Northern British
Columbia (UNBC). He works with pre- and in-service teachers in the areas of
Physical/Health Education, Outdoor Education, and Science Education, with both
undergraduates and graduates. His research considers the role of where in learning.

Barnett, Ulrike  studierte Diplom-Biologie an der FU Berlin und arbeite bereits


während des Studiums im Berliner Zoo als Guide. Nach ihrem Studium war sie
mehrere Male in verschiedenen Teilen Afrikas, um dort freilebende folgende

XI
XII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Paviane zu erforschen. Zudem erhielt sie dort eine Ausbildung als Nature Guide.
Seit 2014 ist sie im administrativen Teil der Zooschule des Berliner Zoos tätig.
2015 übernahm sie die Leitung der Tierparkschule im Tierpark Berlin und richtete
dort das Bildungsprogramm neu aus. 2016 übernahm sie zusätzlich die Leitung der
Zooschule des Zoo Berlin und ist seither für beide Einrichtungen als Leitung tätig.

Blaschka, Simone,  Dr., ist seit 2005 Direktorin des Deutschen Auswandererhauses
in Bremerhaven. Unter ihrer Leitung gewann das Museum den „European Museum
of the Year Award 2007“ und zeigte über 30 Sonderausstellung zu Migrations-
themen. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Leiterin beim Generalplaner des
Museums, bei Studio Andreas Heller Arcitects & Designers in Hamburg. Schon mit
ihrem Promotionsthema widmete sie sich der deutschen Überseeauswanderung im
19. und 20. Jahrhundert. Seitdem hat sie ihre Interessenschwerpunkte vor allem um
die Biographie- und Mentalitätsgeschichte der Migration seit dem 18. Jahrhundert
erweitert.

Blaß, Matthias studierte Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und Politik-


wissenschaft. Sein Naturwissen erlangte er bei Lehrern mit indigenem Erfahrungs-
hintergrund oder unmittelbar bei Naturvölkern. Im Jahre 2000 gründete er die
‚Naturschule Wildniswandern‘, die er bis heute leitet.

Cakan, Sezai ist Religionslehrer an einer Grundschule in Berlin. Er studiert


berufsbegleitend auf „Master of Education“ die Fächer Geschichte, Arbeitslehre
und Religion. Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Jugendarbeit und ist
ehrenamtlich für interreligiöse Bildungsaktivitäten in der Islamischen Föderation
Berlin aktiv.

Düring, Cindy trat 2008 in die Offiziersausbildung der Bundeswehr ein. Von


2010 bis 2013 studierte sie Geschichtswissenschaften an der Helmut-Schmidt-
Universität der Bundeswehr in Hamburg. Im Zuge des Studiums absolvierte sie ein
Auslandssemester in Helsinki. Nach der Ausbildung zum Feldjägeroffizier wurde
sie als Lehroffizier Militärgeschichte an der Offiziersschule des Heeres in Dresden
eingesetzt. Danach wechselte sie an das Militärhistorische Museum der Bundes-
wehr. Hier nahm sie nach der Verwendung als Pressesprecherin den Dienstposten
Lehroffizier/ Historikerin Bundeswehr im Bereich Ausbildung, Schwerpunkt
Historisch-Politische Bildung, wahr. Frau Major Düring ist aktuell als Lehrstabs-
offizier/ Historikerin die Leiterin der Ansprechstelle des Museums- und Sammlungs-
verbundes der Bundeswehr im Militärhistorischen Museum in Dresden und arbeitet
zusätzlich an ihrem Dissertationsprojekt. Zu ihren Arbeits- und Interessenschwer-
punkten zählen die Militärgeschichte sowie die Geschichtsdidaktik.

Fuchs, Birgitta, PD Dr. phil., studierte die Fächer Katholische Theologie und
Anglistik für das Höhere Lehramt an der Universität Würzburg – Erstes Staats-
examen 1987 an der Universität Würzburg. Sie promovierte im Fach Allgemeine
Pädagogik an der Universität Wien (1995) und habilitierte an der Kulturwissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth (2006). Lehrstuhlvertretungen und
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XIII

Gastprofessuren führten sie an die Universitäten Würzburg, Bonn, Eichstätt, Köln,


Bayreuth und Wien.

Graf, Helena  studierte in Dresden Ethik, Philosophie und Geschichte im Studien-


gang Staatsexamen und war als Referendarin in Rheine und Freiberg tätig. Auf
das zweite Staatsexamen folgten acht Jahre Arbeit im Schuldienst in den Fächern
Ethik, Philosophie, Geschichte und Politik. Sie ist seit 2017 wissenschaftliche Mit-
arbeiterin an der Professur für Didaktik der Philosophie und Ethik in Dresden.
Der derzeitige Forschungsschwerpunkt liegt in der konzeptionellen, unterrichts-
praktischen und empirischen Untersuchung des Potenzials einer Koppelung von
außerschulischem Lernort, Erlebnispädagogik und philosophischer Bildung.

Hahn, Marie  absolvierte ihr Lehramtsstudium für die Fächer Ethik/Philosophie


und Deutsch an der Technischen Universität Dresden. Dort hat sie außerdem das
Begleitstudium „Theater – sehen, denken, spielen“ abgeschlossen und ist an dem
Theater DIE BÜHNE aktiv. Aktuell promoviert sie zu dem Thema Theaterspielen
im Philosophieunterricht mit dem Schwerpunkt Vorstellungskraft und Urteils-
bildung bei Professor Markus Tiedemann.

Hörschelmann, Angela hat nach der Tätigkeit als Krankenschwester Kultur-


wissenschaft mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte des Körpers und Disability
Studies studiert. Als freie Fachjournalistin hat sie u. a. in Zusammenarbeit mit der
Aktion Mensch und dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft zur medialen
Präsentation von Krankheit, Behinderung, Tod und Sterben gearbeitet. Seit 2013
verantwortet sie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für den Deutschen Hospiz-
und PalliativVerband (DHPV).

Krüger, Johannes  ist Erlebnispädagoge (ZAB Outward Bound) und systemischer


Berater (ISB Wiesloch) und arbeitet seit 2003 mit verschiedensten Zielgruppen
im erlebnispädagogischen Kontext. Weitere Arbeitsschwerpunkt sind die Aus-
und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften (u. a. Referent der OUTWARD
BOUND Academy), sowie Teamentwicklung und -beratung.

Krüger, Pia  studiert an der TU Dresden Lehramt für berufsbildende Schulen in


den Fachgebieten Ethik/Philosophie und Sozialpädagogik. Als Erzieherin hat Sie
Berufserfahrung in der Jugendhilfe gesammelt. In ihrer Arbeit sind ihr bedürf-
nisorientierte Erziehung, positive Beziehungsgestaltung und eine wertschätzende
Grundhaltung besonders wichtig.

Lang, Birgit  ist Sozialwissenschaftlerin und Mediatorin. Seit 2002 arbeitet sie in
der Jugendstrafanstalt Berlin. Dort hat sie u. a. das Projekt „PeerMediation hinter
Gittern“ entwickelt und im Gefängnisalltag verankert. Mittlerweile leitet sie die
Helmuth-Hübener-Schule der Jugendstrafanstalt Berlin.
XIV Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Lindel, Matthias,  Dr., lehrt Deutsch, Geschichte und Politik an der Otto Lilien-
thal Realschule Wilhelmsdorf und ist als Lehrbeauftragter an der Pädagogischen
Hochschule Weingarten tätig. Zuvor arbeitete er dort nach seinem Lehramtsstudium
als akademischer Mitarbeiter und promovierte im Fach Sportwissenschaft über
statistische Auswertungsverfahren am Beispiel von DKV-Sound-Karate. Darüber
hinaus war er von 2010–2018 Schulsportreferent und von 2010–2017 Leistungs-
sportkoordinator des Karateverbands Baden-Württemberg.

Michl, Werner,  Prof. Dr., ist emeritierter Professor für Soziale Arbeit an der Georg-
Simon-Ohm Fachhochschule Nürnberg und von 1996 bis 2002 Leiter des „Zentrum
für Hochschuldidaktik der bayerischen Fachhochschulen – DiZ“ in Kempten. 2009
wurde er zum Professeur associé an der Universität Luxembourg ernannt. Zu seinen
Arbeitsschwerpunkten zähen Erlebnispädagogik, Handlungsorientiertes Lernen
und Outdoor-Training.

Müller, Ralf,  Dr. phil., ist Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Nürnberg. Zu
seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Sexualpädagogik, Gewaltprävention sowie
das Themenfeld Bildung und Religion. Im sexualpädagogischen Team der pro
familia München war er von 2016–2019 tätig.

Niederleitner, Bettina,  Dipl. Soz.päd. (FH), als Sexualpädagogin seit 2003 bei pro
familia München e. V. tätig. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Fortbildungen
für pädagogische Fachkräfte, Kinder-/Jugend- und Elternarbeit rund um den Fach-
bereich Sexualpädagogik/Sexuelle Bildung.

Ortwein, Liliane ist Dipl.-Kommunikationswirtin, arbeitet als Personalent-


wicklerin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Mitbegründerin des Raum für
spirituelle Wege. Sie gibt Achtsamkeitskurse für Kinder, Jugendliche, Auszu-
bildende und Erwachsene – vor Ort und online.

Pagel, Stefanie  ist Lehrerin im Hochschuldienst und Mitarbeiterin am Lehrstuhl


für Didaktik der Philosophie und für Ethik an der Technischen Universität Dresden.
Einer ihr Arbeitsschwerpunkte ist die Bedeutung der Diskurstheorie für die philo-
sophische Bildung.

Rabe, Peter ist gelernter Waldarbeiter und Diplomforstingenieur. Seit 1995 ist


er Mitarbeiter der Landesforst Mecklenburg-Vorpommern und leitet seit 2002 des
Forstamt Grevesmühlen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören forstbehörd-
liche und forstbetriebliche Inhalte sowie die Stärkung der vielfältigen Gemein-
wohlleistungen des Waldes für die breite Gesellschaft. Hier engangiert er sich ver-
stärkt im Gebiet der Waldpädagogik und ist als Leiter des Arbeitskreises Forstliche
Umweltbildung des Bundes Deutscher Forstleute aktiv. Sein besonderes Interesse
gilt dem Themenfeld „Wald und Gesundheit“.
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XV

Rahde, Tobias,  Dr., studierte Biologie und Politikwissenschaft in Düsseldorf


und Berlin. Während des Studiums arbeitete er als Zooguide im Duisburger Zoo
und später im Berliner Zoo. Er war vier Jahre lang Mitglied des Leitungsteams der
Zooschule des Berliner Zoos. Seit 2010 war er als Kurator für Vögel und Säugetiere
im Berliner Zoo tätig.

Schlitte, Annika,  Prof. Dr., ist seit 2020 Professorin für Ästhetik und Kultur-
philosophie an der Universität Greifswald. Davor war sie Juniorprofessorin für
Sozial- und Kulturphilosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und
als Postdoc Sprecherin des Graduiertenkollegs „Philosophie des Ortes“ an der
Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Wichtigste Veröffentlichungen: Die
Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur (2012), als Mitherausgeberin: Philo-
sophie des Ortes (2014), Situatedness and Place (2018).

Schnabel, Ute,  Schulleiterin des Förderzentrums „Clemens Winkler“, Schule mit


dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung – Landesvorsitzende des
Verbandes Sonderpädagogik e. V. in Sachsen – Fortbildnerin für Lehrer*innen
und pädagogische Fachkräfte in den Bereichen „Herausforderndes Verhalten“ und
„Demokratieerziehung an Schulen“.

Seele, Katrin, Dr., lehrt und forscht seit 2011 am Institut Sekundarstufe I der
Pädagogischen Hochschule Bern. Zuvor unterrichtete sie an der Berner Fachhoch-
schule und als Gastdozentin im Zertifikatskurs „Praktische Philosophie“ der Be-
zirksregierung Düsseldorf in Mönchengladbach, nach einer Zweiten Staatsprüfung
für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen (Philosophie/Deutsch) in
Düsseldorf und einer Promotion an der Universität Oldenburg. Zu ihren Arbeits-
und Interessensschwerpunkten zählen Philosophie- und Literaturdidaktik, Peri-
patetisches Philosophieren, Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE),
literarische Texterschließungsprozesse und südasiatische Philosophie.

Seiler, Bettina ist seit 2012 Theaterpädagogin am Staatsschauspiel Dresden und


leitet die Abteilung Theaterpädagogik. Zuvor war sie am tjg. theater junge generation
Dresden und an den Freien Kammerspielen Magdeburg sowie dem Theater der Landes-
hauptstadt Magdeburg tätig. Als Sprecherin der Theaterpädagog*innen an Sächsischen
Theatern und als stellvertretende Beiratsvorsitzende der Fachstelle „KOST-Ko-
operation Schule und Theater in Sachsen“ unterstützt sie die kulturelle Teilhabe von
Kindern und Jugendlichen, initiiert Projekte zur kulturellen Bildung und – Schulent-
wicklung und setzt sich für die qualitative Weiterentwicklung des Schultheaters ein.
Sie ist Gastdozentin am Theater Projekt Zentrum Dresden e. V. im Rahmen der Grund-
lagenweiterbildung und Aufbaufortbildung Theaterpädagogik (BuT).

Sperfeld, Enrico  lebt in Dresden. Der Gymnasiallehrer für Musik und Ethik ist
als Theatermusiker und Philosophiepädagoge in diversen Kunst- und Bildungs-
projekten engagiert. In seiner Dissertation „Arbeit als Gespräch“ untersuchte er die
Philosophie der Solidarność.
XVI Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Streicher, Bernhard,  Univ.-Prof. Dr., Dipl.-Psych., lehrt Sozial- und Persönlich-


keitspsychologie an der Universität für Gesundheitswissenschaften (UMIT) in
Hall i.T. und leitet dort das Risikolabor. Er ist Mitglied der Sicherheitskommission
des Deutschen Alpenvereins und war lange Zeit als Ausbilder im Lehrteam Alpin
der Zusatzqualifikation Erlebnispädagogik (ZQ) und als freiberuflicher Erlebnis-
pädagoge tätig.

Tekin, Tuba Nur lehrt seit 2016 Islamischen Religionsunterricht an Berliner


Grundschulen. Zuvor studierte sie Islamische Studien mit Auszeichnung an der
Goethe-Universität, Frankfurt am Main und ist Alumna des Begabtenförderwerks
Avicenna. Frau Tekin engagiert sich bundesweit in verschiedenen Projekten zu
Gemeinde-, Kinder- und Jugendarbeit sowie Moscheeführung und wirkt bei
studentischen Vereinen mit. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin leitet sie derzeit die
muslimischen Kulturtage in Berlin.

Tiedemann, Markus,  Prof. Dr., lehrt seit 2015 Ethik und Philosophiedidaktik an
der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er Professor an der Freien Uni-
versität Berlin und der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz sowie 12 Jahre
Lehrer und Fachseminarleiter in Hamburger. Zu seinen Arbeits- und Interessens-
schwerpunkten zählen Philosophiedidaktik, ethische Orientierung in der Moderne,
normative Aspekte der Migration und De-Radikalisierungsprozesse.

Ulbricht, Gunda, Dresden, geb. 1966, Bildungsreferentin bei HATiKVA –


Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e. V.,
Forschungsschwerpunkte Geschichte der Juden, Kommunalgeschichte, Redakteurin
bei MEDAON -Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, Lehrauf-
trag an der Archivschule Marburg

Vierck, Alke  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Schule, Weiterbildung und


Methoden an der Hamburger Kunsthalle. Seit 2014 gestaltet sie gemeinsam mit
einem freiberuflichen Team die dialogische Vermittlungsarbeit auf der Grundlage
des Philosophierens mit Kindern. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind Kunst und
Sprache, Performanz und Bildkompetenz. Alke Vierck studierte Kunstgeschichte
und war freiberuflich u. a. für die Staatlichen Museen zu Berlin und den Martin
Gropius Bau sowie an verschiedenen Kinder- und Jugendtheatern tätig.
Teil I
Theoretisch konzeptionelle Ebene 1:
Die philosophische Perspektive
Außerschulische Lernorte,
Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung:
Selbstverständnisse und
Kompatibilität
Markus Tiedemann

„Für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen,


Religionen und Weltanschauungen initiiert die Lehrkraft
Begegnungen mit Menschen anderer Generationen, Kulturen
und Religionen aus der regionalen Umgebung und ermöglicht
den Besuch außerschulischer Lernorte, wie Kirchen,
Synagogen und anderer religiöser Stätten, Seniorenheime,
soziale Initiativen und Institutionen, soweit dies im Rahmen
der schulischen Struktur möglich ist.“ (Rahmenplan Berlin
Jahrgangsstufe 7–10, Teil C, 2015, S. 4)

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag versucht die Kompatibilität von Erlebnispädagogischen


Interventionen, außerschulischen Lernorten und philosophischer Bildung
auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene zu umreißen. Neben Begriffs-
klärung und historischer Genese geht es darum, Möglichkeiten und Grenzen
gemeinsamer Bildungsformate zu explizieren. Von zentraler Bedeutung sind
Synergieeffekte zwischen Erlebnis, Ort und Reflexion. Urteilskraft, so wird
argumentiert, erschöpft sich nicht in formal-logischen Schlussfolgerungen.
Gleichzeitig bleiben Abstraktion und wissenschaftliche Reflexion für die
Essenz philosophischer Bildung unverzichtbar.

Schlüsselwörter

Philosophische Bildung · Erlebnispädagogik · Außerschulische
Lernorte · Reflexion · Abstraktion · Urteilskraft

M. Tiedemann (*) 
Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
E-Mail: markus.tiedemann@tu-dresden.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 3
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_1
4 M. Tiedemann

Vorgaben wie diese finden sich in zahlreichen Rahmenplänen der Fächergruppe


Philosophie, Ethik, Praktische-Philosophie, Lebenskunde-Ethik-Religion und
Werte und Normen. Gleichzeitig existieren nur wenige fachdidaktische Beiträge,
die sich explizit mit diesem Themenkomplex beschäftigen.1 Die theoretische
Kompatibilität der verschiedenen Bildungsangebote ist ebenso wenig erforscht wie
die Akzeptanz oder Effizienz praktischer Kooperationen. In diesem Beitrag soll
es darum gehen, eine Systematisierung aus philosophiedidaktischer Perspektive
zur Diskussion zu stellen. Im ersten Schritt werden Arbeitsdefinitionen von
außerschulischen Lernorten, Erlebnispädagogik und philosophischer Bildung
angeboten und in der allgemeindidaktischen Tradition verortet. Im zweiten Schritt
geht es um die Frage der Kompatibilität. Hierbei soll sowohl die prinzipielle
Ebene des theoretischen-konzeptionellen Selbstverständnisses philosophischer
Bildung als aus auch die methodisch-praktische Ebene der konkreten Kooperation
berücksichtigt werden.

1 Begriffliche Bestimmungen

Was genau soll unter außerschulischen Lernorten, bzw. unter Erlebnispädagogik


verstanden werden und auf welche Genese können beide zurückblicken?
Die erste Schwierigkeit besteht in der großen Anzahl chronisch unter-
bestimmter Begriffe, deren Bedeutungsebenen große Überschneidungen auf-
weisen. Anschauungsunterricht, Outdoor-Education, Ausflug, Exkursion und
Erlebnispädagogik, Originalbegegnung, Primärerfahrung, Projektunterricht,
peripatetischer Unterricht, Lebenswelt, außerschulische Bildungsstätten oder
Wandertag: Die Liste der Begriffe ist lang. Außerschulische Lernorte und Erleb-
nispädagogik über Alleinstellungsmerkmale zu definieren erweist sich als undank-
bares Geschäft. Gleichwohl lassen sich aus der Literatur Familienähnlichkeiten
entnehmen, die ein Kernverständnis beider Phänomene ermöglichen.

2 Außerschulische Lernorte

Einen ersten Zugriff auf den Begriff „außerschulischer Lernort“ bietet dessen
Verwendung in der allgemeinen Didaktik. Die Bezeichnung entstammt ursprüng-
lich der Grundschulpädagogik und der dortigen Sachkundedidaktik.2 Von dort

1 Bisher ist allein in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik ein Heft zu diesem
Thema erschienen. Vgl.: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 1/2013.
2 
Vgl. Dühlmeier, Bernd (Hrsg.): Außerschulische Lernorte in der Grundschule. Baltmanns-
weiler: Schneider Verlag Hohengehren 2008.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 5

etablierte sich der Begriff in der allgemeindidaktischen Literatur3. Mindestens vier


Merkmale werden genannt:

1. Lokalität: Außerschulische Lernorte befinden sich außerhalb der Schule, in


jedem Fall außerhalb des Klassenraums.
2. Primärerfahrung: Im Zentrum außerschulischer Lernorte steht die Original-
begegnung, die ungefilterte Konfrontation mit Orten, Dingen und Personen.
3. Fächerübergreifendes Potenzial: Außerschulische Lernorte können ausschließlich
aus der Perspektive eines Faches genutzt werden. Ihre Beschaffenheit legt jedoch
das Zusammenwirken verschiedener Schulfächer in Vor- und Nachbereitung nahe.
4. Primat des Fachlernens: Während Exkursionen und Klassenreisen sowohl
fachlichen als auch pädagogischen Zielen verpflichtet sein können, werden
im Zusammenhang mit außerschulischen Lernorten vor allem fachliche oder
fächerübergreifende Lernziele betont.

Ungenauigkeiten bleiben bestehen: Kann das Schulbiotop als außerschulischer


Lernort gelten? Unter welchen Fragestellungen sind Kino- oder Theaterbesuche
Orte der Primärerfahrung? Die Begegnung mit einem Zeitzeugen in dessen
Wohnung oder einem Café macht den Treffpunkt zu einem außerschulischen Lern-
ort. Worin aber besteht der didaktische Qualitätsunterschied zu einer Zeitzeugen-
befragung innerhalb des Klassenraums?
Aus philosophiedidaktischer Sicht kann zur weiteren Präzision beigetragen
werden. Zum einen existiert eine systematische Philosophie des Ortes. Zum
anderen lässt sich fragen, was einen philosophieaffinen Ort auszeichnet.

„Die Grundidee dieser ‚Philosophie des Ortes‘ besteht […] darin, dass unser Weltzugang
eben nicht mit einer abstrakten Raumvorstellung beginnt, sondern mit konkreten Orten,
die dem Raum in der Erfahrung stets vorausgehen, und die qualitativ bestimmt sind.
Während Punkte in einem Koordinatensystem austauschbar sind, sind die Orte unseres
Erlebens stets bestimmte Orte mit einem spezifischen Charakter.“4

Da dieses Forschungsfeld im vorliegenden Band in einem eigenen Beitrag aus-


geführt wird, sei an dieser Stelle nur betont, dass Orte stets mehr sind als durch
Koordinaten bestimmte Punkte oder Stellen. Eine Ansammlung räumlicher
Gegebenheiten als Ort zu erleben oder zu bezeichnen bedeutet, diese in einem
identitätsstiftenden Bedeutungszusammenhang zu erfassen, bzw. zu konstruieren.
Zwei Beispiele mögen zur Verdeutlichung dienen:

3 
Vgl. Sauerborn, Petra/Brühne, Thomas: Didaktik des außerschulischen Lernens. 2. Auflage.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2009.
4 Schlitte, Angelika: Verortungsprobleme. Eine philosophische Topographie der Heimat. In Zeit-

schrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 2/2020, S. 8.
6 M. Tiedemann

Als Brighan Young am 24. Juli 1847 die Ansiedlung der Mormonen im späteren
Salt Lake City bestimmte, soll er ausgerufen haben: „This is the place!“ Es sagte
nicht „There is some space for us“ oder „That is a good spot“. Die Formulierung
„the place” integrierte bereits den Anspruch auf eine finale metaphysische
Bestimmung.
Der Ettersberg bei Weimar in Thüringen ist zunächst ein geographischer Punkt
mit genauen Koordinaten. Für Johann Wolfgang von Goethe war der Ettersberg
ein Ort der persönlichen Verbundenheit mit der Natur. Ab 1937 ist auf einem
Großteil des Geländes das Konzentrationslager Buchenwald eingerichtet worden
und der Ettersberg wandelte sich für mindestens 266.000 Häftlinge zu einem
Ort des Grauens. Heute befindet sich auf dem Lagergelände eine Gedenkstätte,
deren pädagogische Arbeit dazu beiträgt, dass immer neue Generationen den geo-
graphischen Punkt als bedeutungsvollen Ort der Erinnerungskultur erleben.
Das Verständnis von Orten als dynamische „Sinneinheiten“5 unterstützt nicht
nur die Formulierung LERNorte, sondern führt auch zu der Frage nach dem Spezi-
fikum philosophieaffiner Orte. Ein wichtiges Kriterium ist Intersubjektivität.
Philosophieaffine Orte erschöpfen sich nicht in rein individueller Bedeutsamkeit.
Der Ort der ersten großen Liebe mag für viele von uns von großer persönlicher
Bedeutung sein. Philosophische Relevanz besitzt dieser aber erst dann, wenn aus
ihm Frage mit intersubjektiver Bedeutsamkeit generiert werden können.
Philosophische Lernorte sind somit Orte, die durch bloße Betrachtung oder
in Kombination mit einer Narration intersubjektive Sinn- und Fragedimensionen
eröffnen, veranschaulichen oder repräsentieren. Gleichzeitig gilt, dass sich philo-
sophische Nachdenklichkeit primär durch ihre Arbeitsweise und nicht durch ihre
Gegenstände definiert. Daher kann durch eine entsprechende Herangehensweise
an fast jeder und über fast jede Lokalität philosophiert werden.
Gleichwohl sprechen didaktische Überlegungen dafür, einigen Orten eine
höhere philosophische Affinität zuzuschreiben als anderen. In Anlehnung an
Patrick Baum und Volker Steenblock6 schlage ich vor, sechs sich zum Teil über-
schneidende Typen philosophieaffiner Orte zu unterscheiden.7
Die erste Gruppe besteht aus Orten mit philosophiehistorischer Bedeutsam-
keit. Die antike Agora in Athen, Montaignes Schreibtisch, das University College

5 Schlitte,Angelika: Verortungsprobleme. Eine philosophische Topographie der Heimat. In Zeit-


schrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 2/2020, S. 9.
6 Baum, Patrick: Genius loci. Philosophieaffine Orte als Ausgangspunkt philosophischer
Reflexion. Vorschlag für einen Einführungskurs 10.1 In Zeitschrift für Didaktik der Philosophie
und Ethik, 1/2013, sowie Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/
Spiegel, Irina/Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik
und Methodik. 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, S. 30–36.
7 Zu betonen ist, dass zahlreiche philosophische Lernorte gleich mehreren Gruppen zugeordnet

werden können.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 7

in London mit der Auto-Ikone von Jeremy Bentham oder Nietzsches Sterbehaus
mögen hier als Beispiele dienen. Ziele wie diese lassen sich auch als Höhepunkte
eines philosophisch interessierten Tourismusprogramms verstehen.
Die zweite Gruppe besteht aus Orten, die als metaphorische Repräsentanten
philosophischer Ideen oder Fragestellungen angesehen werden können. Patrik
Baum nennt in diesem Zusammenhang Höhlen, Gebirge oder Städte. Das Motiv
der Höhle zieht sich wie ein roter Faden durch die Philosophiegeschichte.8 Berge
dienen als Veranschaulichung von Erhabenheit oder als Bühne für den Auftritt von
Propheten wie Nietzsches Zarathustra. Städte veranschaulichen in ihren Plätzen
und Bauwerken Grundideen des gelungenen Lebens oder der politischen Ordnung.

„Every great city has a specific, centralized space in which this essential urban dynamic
is played out. […] Contemporary examples would be Beijing’s Tiananmen Square, New
York’s Central Park, Paris’ Place de la Concorde and London’s Trafalgar Square.“9

Das Kapitol in Washington, der Place de la Republik in Paris, die Domplatte in


Köln oder Kreml in Moskau: All diese Orte präsentieren unterschiedliche und z. T.
konkurrierende Ideen von Gesellschaft, Herrschaft oder Transzendenz.
Die dritte Gruppe philosophieaffiner Orte, birgt eine potenzielle Heraus-
forderung für Selbstverständnis, Haltung und Rechtfertigung. Beispielsweise
können Kirchen bei ihren Besuchern sehr unterschiedliche Gefühlslagen hervor-
rufen. Die Bandbreite reicht von Ehrfurcht oder Besinnlichkeit bis zu Unverständ-
nis oder Zorn. Sogleich stellt sich die Frage, welche Gefühle und Überzeugungen
Ausdruck verdienen oder verschoben werden sollten. Eine Frage steht im Raum:
wer willst du sein? Der Rechtfertigungsdiskurs sollte über den konkreten Ort
hinausweisen und allgemeine Prinzipien wie etwa Gerechtigkeit, Pietät oder
Glaubensfreiheit erwägen. Gleichwohl wird die Notwendigkeit entsprechender
Diskurse oft erst an vor Ort begreifbar.
Die vierte Gruppe philosophischer Lernorte wird durch ihre aktuelle oder
historische Funktion geprägt. Gefängnisse, Schlachthäuser, Gerichte oder Hospize
sind Orte, an denen die existenzielle Relevanz grundsätzlicher Fragestellungen des
menschlichen Daseins begreifbar wird.
Als fünfte Gruppe lassen sich Orte benennen, die zwar keine philosophische
Thematik präsentieren, aber explizit oder implizit die philosophische Nachdenk-
lichkeit befördern. Das Philosophische Café ist ein expliziter Ort philosophischer
Nachdenklichkeit, das Kanu ein impliziter. Besucher des Cafés streben gezielt den
philosophischen Dialog an. Eine lange gemeinsame Kanufahrt erzeugt hingegen

8 Vgl.:Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 415.


9 Conlon, J. (1999). Cities and the Place of Philosophy. In Philosophy in the Contemporary World
6, S. 46–48.
8 M. Tiedemann

implizit eine intensive Dialogsituation, die sich auch für philosophische Bildung
nutzen lässt.
Ob virtuelle Räume eine eigene, sechste Gruppe darstellen, ist schwer zu ent-
scheiden. Auf der einen Seite können kontrafaktische Annahmen und Rahmen-
bedingungen als Eröffnung eines eigenen philosophischen Raums angesehen
werden. Auf der anderen Seite lassen sich virtuelle Formate als bloßes Medium
verstehen, in dem die oben genannten Raumtypen simuliert werden.

2.1 Erlebnispädagogik

Der Begriff der Erlebnispädagogik ist nicht weniger schwer zu fassen als die
Bezeichnung außerschulischer Lernort. Es handelt sich um eine pädagogische
Konzeption, die zwar oftmals mit dem Aufsuchen außerschulischer Orte ein-
hergeht, aber nicht an eine bestimmte Lokalität oder Institutionen gebunden ist.
Auch deshalb gestaltet sich die Abgrenzung zu angrenzenden Konzeptionen und
Praktiken schwierig. Ist jede physische Ertüchtigung, bei der auch Tugenden
wie Fairness oder Ehrlichkeit erworben werden können, Erlebnispädagogik? Ein
Orientierungslauf im Rahmen einer schulischen Veranstaltung findet an einem
außerschulischen Lernort statt und kann je nach Perspektive als Sportunterricht
und/oder als erlebnispädagogische Intervention verstanden werden.
Nach Bauer gehört es zu den Charakteristika der Erlebnispädagogik
unbestimmt zu sein. Eine verbindliche Definition über die theoretische Grundlage
oder die praktische Form der Erlebnispädagogik könne es nicht geben.10
Erlebnispädagogen betonen, dass sich ihre Arbeit nicht in der Organisation
singulärer sinnlicher Stimulationen erschöpft. Vielmehr besteht das erklärte Ziel
darin, Erfahrungen zu generieren, die als nachhaltiges Erlebnis in die Persönlich-
keitsstruktur der Teilnehmenden zu integrieren sind.
Allerdings lassen sich nachhaltige Erlebnisse durch zahlreiche Methoden mit
und ohne abenteuerliche Aktivität generieren. Platon gebrauchte den Begriff
Anamnesis, um das euphorische Wesen der Erinnerung oder Entdeckung echten
Wissens zu beschreiben.11 Aristoteles Katharsislehre sprach Theaterbesuchen
das Potenzial zu, Jammer und Schauder hervorzurufen und anschließend eine
Reinigung von diesen Erregungszuständen zu bewirken.12 Beide Phänomene sind
mit Herausforderungen und starken Gefühlen verbunden, werden gezielt herbei-
geführt und haben nachhaltige Auswirkungen auf die Persönlichkeit.

10 
Vgl. Bauer, Hans G.: Erlebnispädagogik und Abenteuerpädagogik. Eine Literaturstudie. 4.
überarbeitete Auflage. München: Rainer Hampp Verlag 1993, S. 7.
11 Vgl.: Platon: Siebter Brief 341c–d.

12 Vgl.: Aristoteles: Poetik (1449 b24–27).


Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 9

Im Folgenden wird auf die Arbeitsdefinition von Werner Michl und Bernd
Heckmair zurückgegriffen. Demnach ist Erlebnispädagogik eine

„handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen […]


Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, die
diese […] Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen,
ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.“13

2.2 Historische Bestimmung

Organisation und Wertschätzung außerschulischer Lernorte und erlebnis-


pädagogischer Formate war über die Jahrtausende starken Schwankungen unter-
worfen.

„Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht
behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“ (Konfuzius zugeschriebene Weis-
heit)
„Da gehen die Menschen hin und bewundern die Bergesgipfel, die Meeresfluten ohne
Grenzen, den breiten Strom gewaltiger Flüsse, die Weiten des Ozeans und den Lauf der
Sterne. Sich selber aber sehen sie nicht und finden in sich nichts zum Staunen.“ (Aurelius
Augustinus Bekenntnisse)

Die zugespitzte Gegenüberstellung dieser beiden Zitate wird der eigent-


lichen Lehre der beiden Autoren nicht gerecht. Dennoch verdeutlichen sie, wie
kontrovers der Bildungswert von Erfahrung und Anschaulichkeit beurteilt wurde,
lange bevor die Institution Schule ihre heutige Gestalt annahm.
Das konfuzianische Prinzip erklärt konkretes Erleben und Handeln zur Voraus-
setzung nachhaltigen Lernens, während das augustinische Prinzip in der „inneren
Einkehr“ den Zugang zu tieferen Wahrheiten sieht.
Für die griechisch-römische Antike kann ein Gleichgewicht der Kräfte
diagnostiziert werden. Bekanntlich vertrat Platon eine große Skepsis gegen-
über den Sinneserfahrungen. Gleichzeitig wird der Aufstieg zur Weisheit etwa
im Symposion oder im Höhlengleichnis als Stufenfolge dargestellt, auf der auch
die Sinnlichkeit ihre Berechtigung hat. Platonische Deduktion und aristotelische
Induktion ergänzten sich ebenso wie naturwissenschaftliche Beobachtungen und
geisteswissenschaftliche Abstraktion. Ebenfalls scheint in den antiken Schulen ein
Bewusstsein für die didaktischen Potenziale von Lokalitäten bestanden zu haben.
Während die Stoiker es bevorzugten durch Säulenhallen zu schreiten, philo-
sophierten die Epikureer in einem bescheidenen Garten. Auch in den platonischen

13 Heckmair,
Bernd/Michl, Werner: Erleben und Lernen, Einführung in die Erlebnispädagogik.
München: Reinhardt Verlag 2008, S. 115.
10 M. Tiedemann

Dialogen sind die beschriebenen Örtlichkeiten nicht ohne Funktion. Der Biss
der sokratischen Ironie tritt angesichts der Tatsache, dass viele Befragungen an
öffentlichen Orten wie der Agora erfolgen, besonders hervor. Auch thematisch
formen Diskursgegenstand und Örtlichkeiten vieler Dialoge eine didaktische Ein-
heit. Sokrates’ Überlegungen zur Unsterblichkeit (Phaidon) oder Rechtstreue
(Apologie/Kriton) sind umso eindringlicher, weil hier ein Verurteilter vor Gericht,
bzw. in der Todeszelle um das gute Leben und das rechte Sterben ringt.14 Liebe
und Erotik hingegen werden an einem mediterranen Sommerabend im Rahmen
eines sinnlichen Symposions thematisiert.
Während des Mittelalters wurde das antike Gleichgewicht von sinnlicher
Erfahrung und begrifflicher Abstraktion zu Gunsten kontemplativer Verinner-
lichung verdrängt. Die scholastischen Schulen des Mittelalters waren durch eine
Verhärtung des augustinischen Prinzips geprägt. Konkrete Beobachtungen oder
Experimente galten aufgrund der Unfehlbarkeit der aristotelischen Physik und
der christlichen Dogmen als überflüssig oder gar ketzerisch. Die Sinnesfeindlich-
keit des Christentums und die mönchischen Lebensformen taten ein Übriges. Der
Historiker Yuval Noah Harari hat dieses Verständnis von Wissen und Wissens-
erwerb treffend zusammengefasst:

„Vormoderne Wissenstraditionen im Islam, Christentum, Buddhismus oder Konfuzianis-


mus erklärten, dass alles, was es über die Welt zu wissen gab, bereits bekannt war. […]
Wissenserwerb bedeutete, diese alten Weisheiten gründlich zu studieren. Es war unvor-
stellbar, dass die Bibel, der Koran oder die Vedas ein entscheidendes Geheimnis des Uni-
versums übersehen haben könnten, und dass es an gewöhnlichen Sterblichen sein könnte,
diese Geheimnisse zu lüften.“15

Selbiges galt für die Methodik. Beispielsweise wurde kaum oder gar nicht bezüg-
lich des Alters der Edukanden differenziert. Kinder und Erwachsene durchliefen
an vergleichbaren Orten ähnliche oder identische Kurrikula. Charakteristisch war
die Reduktion von Sinnlichkeit.
Erst in der frühen Neuzeit ist wieder eine deutliche Aufwertung von sinn-
licher Wahrnehmung und Erfahrung zu beobachten. Comenius vertrat in seiner
Didactica magna von 1657 die Forderung, dass Menschen möglichst wenig
aus Lehrwerken lernen sollen, „sondern aus Himmel und Erde, aus Eichen und
Buchen, d. h. sie müssen die Dinge selbst erkennen und erforschen und nicht nur
fremde Beobachtungen und Zeugnisse darüber.“ Wie revolutionär diese Forderung
damals war, zeigt sich in der Tatsache, dass Comenius Lehrwerk Orbis sensualium
pictus („Die sichtbare Welt“) aus dem Jahre 1658 schon deshalb Aufsehen erregte,

14 Vgl.: Martens, Ekkehard: Sokrates’ engagiertes Philosophieren für ein gutes Leben. In Zeit-
schrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 1/2020. S. 79–85.
15 Harari, Yuval Noah: Eine kleine Geschichte der Menschheit. 17. Auflage 2015. München:

Pantheon 2013, S. 306–307.


Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 11

weil es Abbildungen enthielt. Zwar verfolgte Comenius noch das Ziel, durch die
Kraft von Realerfahrungen eine Einsicht in den göttlichen Schöpfungsplan zu ver-
mitteln, aber seine Lerntheorie trug neben einer Aufwertung des konfuzianischen
Prinzips auch zu einer Wiederbelegung des naturwissenschaftlichen Forschens bei.
Den vielleicht entscheidenden Durchbruch bewirkten die anglikanische
Erkenntnistheorie und die Wissensexplosion der Naturwissenschaften. Unter
ihrem Einfluss wurde die Einbeziehung der Erfahrung zum didaktischen Grund-
prinzip der Aufklärung. Das Spektrum reicht von Rousseaus romanisch geprägtem
Emil von 1762, über Henry David Thoreaus Walden; or, Life in the Woods
von 1854, bis zu durchaus völkischen Werken wie Friedrich August Fingers
Anweisung zum Unterricht in der Heimatkunde von 1844.
Die Praxis der staatlichen und kirchlichen Bildungsanstalten dürfte von diesen
Idealen allerdings weit entfernt gewesen sein. Nach Aussagen von Augenzeugen,
zu denen auch Immanuel Kant gehörte, handelte es sich primär um Zuchtanstalten,
die sich nicht an Erfahrungswelten, sondern an einem „Gängelwagen der Regeln“
orientierten, um jungen Menschen „alle Kühnheit, selbst zu denken“16 auszu-
treiben. Pestalozzis Diktum von einem Lernen mit Kopf, Herz und Hand kam für
Kant zu spät. Tragisch, denn der ganzheitliche Ansatz Pestalozzis darf mit guten
Gründen als „Aufklärungspädagogik“ bezeichnet werden.17 Auch die Anfänge
des Sportunterrichts sind eng mit der Elementargymnastik Pestalozzis verbunden.
Allerdings vernachlässigten spätere Konzeptionen die ganzheitliche Förderung
des Individuums zu Gunsten einer militärisch geprägten Leibesertüchtigung.18
Dennoch wurde auch die erfahrungsorientierte Persönlichkeitserziehung voran-
getrieben. Robert Baden-Powell gründete 1907 in England die erste Pfadfinder-
gruppe die als Prototyp der modernen Erlebnispädagogik gelten kann.
Nicht zuletzt unter dem Schock des Ersten Weltkrieges versuchte die Reform-
pädagogik der zwanziger Jahre vielen Defiziten einer konformistischen und
autoritären Bildung entgegenzuwirken. Bereits 1916 war Deweys Democracy and
Education erschienen, in dem der Autor die tätige Erfahrung zum entscheidenden
Lernprinzip erhob. 1918 folgte The project method. The use of the purposeful
act in the educative process von W.H. Kilpatrick.19 Das „Learning by doing“,

16 Kant, Immanunel: Vorlesung (Anthropologie) im Wintersemester 1788/1789. AA XXV. 2.


1788, S. 1496.
17 Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neu-

zeitlichen Entwicklung. 4. erweiterte Auflage. Weinheim: Juventa 2008, S. 94.


18 Vgl. Krüger, Arnd: Sport und Politik, Vom Turnvater Jahn zum Staatsamateur. Hannover:

Fackelträger 1975.
19 Vgl. Kilpatrick, William Heard: The project method. The use of the purposeful act in the
educative process. New York City: Teachers College – Columbia University 1918.
12 M. Tiedemann

welches bereits aus den englischen Übersetzungen der Nikomachischen Ethik


und der Didactica magna herausgelesen werden konnte20, wurde nun zum Leit-
motiv. Das Prinzip der Projektarbeit war in aller Munde. In Deutschland wurden
neue Lernmethoden und Schulformen von Persönlichkeiten wie Fritz Karsen oder
Gustav Wyneken vorangetrieben.21 Als Leiter des 1920 durch den ehemaligen
Reichskanzler Max von Baden gegründeten Internats Schloss Salem begann Kurt
Hahn damit, seine erlebnisorientierte Pädagogik zu etablieren. Nach Hahn litt
die Gesellschaft im Ganzen an einem Mangel an menschlicher Anteilnahme, an
Sorgsamkeit, Initiative und Spontaneität, sowie dem Verfall körperlicher Taug-
lichkeit. Dennoch oder gerade deshalb konnten totalitäre Tendenzen nicht gebannt
werden. Auch das nationalsozialistische Bildungssystem oder die stalinistische
Jugenderziehung waren außerschulischen Lernorten und erlebnispädagogischen
Maßnahmen nicht abgeneigt. Allerdings dürfte die massive Ausdehnung von
Wandertagen, Geländespielen und Wehrsportübungen weniger auf individuelle
Selbst- und Welterfahrung als auf kollektive Ertüchtigung und ideologischen
Indoktrination ausgerichtet gewesen sein.22
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die erlebnisorientierte Erziehungsarbeit
in den freien Gesellschaften ungebrochen fortgesetzt werden. In Deutschland
hingegen bedurfte es neben der Aufarbeitung der totalitären NS-Erziehung einer
Rückbesinnung auf die Reformpädagogik der zwanziger Jahre. Während des Exils
in Großbritannien hatte Kurt Hahn 1934 die British Salem School in Gordonstoun
(Schottland), sowie 1941 die erste Outward Bound School in Aberdovey (Wales)
gegründet. 1953 kehrte er nach Deutschland zurück und beteiligte sich an der
Gründung zahlreicher pädagogischer Institute. In der westdeutschen Nachkriegs-
zeit waren Exkursionen, Wandertage und Klassenreisen akzeptierte Bestandteile
der Bildungsarbeit, deren Realisierung weniger durch theoretische Widerstände,
als durch ökonomische Engpässe beschränkt wurde. In der DDR lebten viele
Strukturen der staatlich gelenkten Erlebnispädagogik, beispielsweise in den
Pionierlagern, fort.
Ab den siebziger Jahren wirkte unter anderem die Projektpädagogik prägend
auf den Schulalltag und integrierte das Aufsuchen außerschulischer Lernorte in
zahlreiche ihrer Konzepte.23 Aus Sicht der Lernpsychologie hat unter anderem

20 Vgl. Knoll, Michael: Nicht Dewey, sondern Comenius. Zum Ursprung der Maxime „learning
by doing“. In: Knoll, Michael: Dewey, Kilpatrick und „progressive“ Erziehung. Kritische
Studien zur Projektpädagogik. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2011, S. 287–298.
21 Vgl. Heckmair, Bernd/Michl, Werner: Erleben und Lernen, Einführung in die Erlebnis-
pädagogik. München: Reinhardt Verlag 2008, S. 16.
22 Vgl. Böckenstette, Claudia: Die aus der Reformpädagogik hervorgegangene Erlebnis-
pädagogik als erzieherischer Leitfaden für die Hitler-Jugend. München: GRIN Verlag 2009,
https://www.grin.com/document/159422. (24. März 2020).
23 Vgl. Warwitz, Siegbert/Rudolf, Anita: Projektunterricht. Didaktische Grundlagen und Modelle.

Schorndorf: Verlag Hofmann 1977.


Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 13

Hans Aebli, in Nachfolge seines Lehrers Piaget, die Notwendigkeit eines hand-
lungsorientierten und durch Originalerfahrung geprägten Unterrichts vertreten.24
Aktuell setzen sich Lernpsychologie und Hirnforschung unter anderem mit den
veränderten Lebenswelten von Jugendlichen auseinander.25 Hier wird unter
anderem eine mediale Reizüberflutung beklagt. Erstaunlicherweise führt dies
jedoch nicht zu einer Renaissance des augustinischen Prinzips. Angesichts der
massiven Zunahme virtueller Welten, betonen aktuelle Studien und Veröffent-
lichungen den Wert von Original-, bzw. Realbegegnungen für einen nachhaltigen
Lernprozess.26 Nicht zuletzt weisen internationale Studien auf den dramatischen
Bewegungsmangel von Kindern und Jugendlichen hin und fordern sämtliche
Erziehungseinrichtungen dazu auf, diesem entgegenzuwirken.27 Der Jugend
Naturreport aus dem Jahr 2016 dokumentiert, dass 22 % der Befragten mindestens
fünf Stunden am Tag mit digitalen Medien verbringen. 35 % verbrachten 2bis 3 h
vor den Bildschirmen. Gleichzeitig sank die gemessene Wertschätzung etwa für
einen Gang durch den Wald oder eine Übernachtung im Freien im Vergleich zum
Referenzjahr 1997 signifikant um 20 bzw. 24 %.28
Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht besteht daher durchaus Interesse an
der Einbeziehung von Bewegung und Realerfahrungen. Angesichts verkürzter
Schulzeiten und einer dramatischen Umgestaltung der Schule von der Bildungs-
zur Ausbildungsinstanz, dürfte lediglich die zeitliche Realisierung vielerorts
umstritten sein. Allerdings könnte die Rückkehr zahlreicher Bundesländer zum
Abitur nach neun Jahren Freiräume eröffnen, die auch für die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und erlebnispädagogischer Ansätze in die philo-
sophische Bildung genutzt werden könnten.

24 Vgl. Aebli, Hans: Psychologische Didaktik. Didaktische Auswertung der Psychologie von Jean
Piaget. Stuttgart: Klett Verlag 1963.
25 Vgl. Zielke, Björn: Nicht nur Klettern oder Urlaub! Erlebnispädagogik im Lichte der Hirn-

forschung. Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag. Reihe: Pädagogik. Bd. 14.
Marburg: Tectum-Verlag 2010.
26 Vgl. Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg:
Spektrum Akademischer Verlag 2002.
27 Vgl. Guthold, Regina/Stevens, Gretchen A./Riley, Leanne M./Bull, Fiona C.: Lancet Child
Adolescent Health: Global trends in insufficient physical activity among adolescents: a pooled
analysis of 298 population-based surveys with 1·6 million participants 2019, https://doi.
org/10.1016/S2352-4642(19)30323-2. (24. März 2020).
28 Vgl. Brämer, Rainer/Knoll, Hubert/Schild, Hans-Joachim: 7. Jugendreport Natur. Erste Ergeb-
nisse. Natur Nebensache. Universität Köln 2016, S. 4 und 11. https://www.wanderforschung.de/
files/jugendreport2016-web-final-160914-v3_1903161842.pdf; (31.03.2020).
14 M. Tiedemann

2.3 Philosophische Bildung

Alle Diskurse um das Selbstverständnis philosophischer Bildung darzustellen,


würde den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem sprengen. Dies ist vor allem der
Ambivalenz der Philosophie geschuldet, deren Identität durch Spannungsfelder
wie Tätigkeit und Traditionsbestand, Esoterik und Exoterik, sowie Wissenschaft
und Aufklärung geprägt wird. Philosophie bezeichnet sowohl die Tätigkeit des
Philosophierens als auch einen ideengeschichtlichen Traditionsbestand. „Ohne
Kenntnisse wird man nie ein Philosoph werden, aber nie werden auch Kenntnisse
allein den Philosophen ausmachen.“29
Zudem besteht seit der griechischen Antike die Parallelität der elitären
Akademie und des populären Diskurses auf der Agora. Ähnlich verhält es sich
mit der Zugehörigkeit zu Wissenschaft und Aufklärungen. Nach Jürgen Habermas
sollte Philosophie weder auf ein rein szientistisches Wissenschaftsverständnis ver-
kürzt, noch von der disziplinierenden Kraft rationaler Rechtfertigung entbunden
werden. Vielmehr ginge es immer auch darum, zur rationalen Klärung unseres
Selbst- und Weltverständnisses beizutragen:

„Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist keine Wissen-
schaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer ‚weniger‘, das heißt enger und genauer
definierter Gegenstandsbereiche zu lernen; sie unterscheidet nämlich zwischen Wissen-
schaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaft-
lichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne
Zeitgenossen und als individuelle Personen.“30

Nach Ekkehard Martens und Herbert Schnädelbach lässt sich Philosophie als
Wissenschaft durch Objekt- und Ergebnisorientierung charakterisieren, während
sie als Aufklärung von Subjekt-und Prozessorientierung geprägt wird:

„Als ‚reiner‘ Typus genommen ist die ‚Philosophie als Wissenschaft‘ die Philosophie, die
ganz beim Gegenstand ist und in selbstvergessener Faszination sein Wesen, seine Struktur
und die ihn bestimmenden Gesetze zu ermitteln sucht. [...] ‚Philosophie als Aufklärung‘
hingegen meint die analysierende, interpretierende und erkennende Beschäftigung des
Philosophierenden mit sich selbst. Was Aufklärung von Wissenschaft unterscheidet,
ist genau dieser Selbstbezug des Subjekts. […] Nicht der ist aufgeklärt, der alles weiß,
sondern der das Gewusste in Bezug zu setzen vermag zu sich selbst.“31

29 Kant,
Immanuel: Logik – Ein Handbuch zu Vorlesungen. AA IX 1800, S. 25.
30 Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 12.
31 
Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert: Zur gegenwärtigen Lage der Philosophie.
In: Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert (Hrsg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 1.
Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 12–35, 32.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 15

Bindeglied zwischen allen historischen und methodischen Schulen der Philosophie


ist eine spezifische Art der Rationalität. Hannah Arendt verstand diesen Prozess als
Auspressen von Sinnlichkeit:

„Das [philosophische] Denken verallgemeinert stets, es presst aus den vielen Einzel-
dingen – die es dank der Entsinnlichung handlich zusammenpressen kann – allen Sinn
heraus, der in ihm stecken könnte.“32

Ekkehard Martens hat die Bandbreite philosophischer Arbeitsweisen in einem


eigenen Methodenmodel beschrieben. Demnach lassen sich im philosophischen
Akt mindestens eine phänomenologische, eine hermeneutische, eine analytische,
eine dialektische und eine spekulative Komponente unterscheiden.33
Nach Ansgar Beckmann geht es darum

„Standards der Rationalität [einzuhalten], die für alle in gleicher Weise gelten […] und
die verwendeten Begriffe in all ihren möglichen Lesarten so klar und argumentative
Zusammenhänge so transparent wie möglich zu machen […].“34

Von zentraler Bedeutung ist das Ringen um Objektivität, verstanden als maximal
intersubjektive Rechtfertigung. Die Genese dieser kulturellen Leistung ist stark
europäisch geprägt. Ihr Anspruch ist hingegen universell. Zentrale Prämisse ist die
Annahme einer zur Abstraktion fähigen Vernunft als anthropologische Konstante.
Philosophische Bildung ist darum bemüht diese Arbeit am Logos35 zu
systematisieren und im Leben möglichst vieler Individuen wirksam zu machen.
Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Schulung der Urteilskraft. In Deutsch-
land einigten sich der Fachverband für Philosophie e. V., der Fachverband Ethik
e. V. und das Forum für Didaktik der Philosophie und Ethik, sowie die Sektions-
leitung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie auf ein gemeinsames Grund-
verständnis dessen, was „für die Praxis des Philosophie- und Ethikunterrichts
gelten soll.“36 Als Vorrangiges Ziel der Fächergruppe wird in diesem Dokument,
wie in nahezu allen europäischen Rahmenplänen, die Stärkung der Urteilskraft
genannt. Ähnlich, aber mit internationaler Bedeutung, argumentiert die UNESCO

32 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München: Piper Verlag
1979, S. 196.
33 Vgl. Martens, Ekkehard: Philosophie als Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung. In: Nida-

Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik.


Band I: Didaktik und Methodik. 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, S. 41–47.
34 Beckermann, Ansgar: Muss die Philosophie noch analytischer werden? (Ist die Analytische

Philosophie am Ende?), https://sammelpunkt.philo.at/636/1/anaphil_V1.pdf. (24. März 2020).


35 Vgl. Steenblock, Volker: Philosophische Bildung als Arbeit am Logos. In: Nida-Rümelin,
Julian/Spiegel, Irina/Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I:
Didaktik und Methodik. 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, S. 57–69.
36 https://philosophiedidaktik.files.wordpress.com/2017/03/dresdner_konsens.pdf (29.09.2020).
16 M. Tiedemann

in ihrem Programm Philosophy, a school of freedom. Mayor Zaragoza, der ehe-


malige Generaldirektor der UNESCO fand hierfür folgende Formulierung:

„Philosophy and Democracy urge each of us to exercise our capacity for judgement, to
choose for ourselves the best form of political and social organisation, to find our own
values, in short, to become fully what each of us is, a free being.“37

Vor diesem Hintergrund möchte ich in Anlehnung an Ekkehard Martens philo-


sophische Bildung definieren als: Pflege, Weitergabe und Entfaltung einer durch
ideengeschichtliche Theoriebestände und methodische Rationalität geprägte
Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung.38

3 Kompatibilität

Die Frage nach der Kompatibilität von außerschulischen Lernorten, Erlebnis-


pädagogik und philosophischer Bildung kann auf einer pragmatischen und einer
prinzipiellen Ebene betrachtet werden. Auf der prinzipiellen Ebene geht es
darum, die theoretisch-konzeptionelle Vereinbarkeit der drei Formate hinsicht-
lich ihrer Beschaffenheit und ihres Selbstverständnisses zu beurteilen. Auf der
methodisch-praktischen Ebene geht es vor allem um die Frage, ob sich eine solche
Kooperation erfolgreich organisieren lässt.

3.1 Sinnlichkeit, Bewegung, Lokalität und


Nachdenklichkeit

Sinnlichkeit, Lokalität und Nachdenklichkeit sind grundverschiedene Kategorien.


Daraus folgt jedoch nicht, dass diese nicht didaktisch kompatibel wären. Intensive
Sinnlichkeit wird zwar selten von gleichzeitiger Reflexion begleitet, allerdings
folgt daraus nicht, dass sie nicht wechselseitig voneinander profitieren könnten.
Vielmehr wird die Nähe beider Ebenen durch verschiedene Begriffe belegt. Das
Wort „Sinn“ bezeichnet sowohl sensorische Wahrnehmung als auch kognitive
Bedeutung. Das deutsche Verb „Begreifen“ steht sowohl für taktile Berührung als
auch für rationales Verstehen.

37 
Mayor Zaragoza, Frederico: A school of freedom. In: Droit, Roger-Pol: Philosophy and
democracy in the world. Paris: UNESCO Publishing 1995, S. 12.
38 Vgl. Martens, Ekkehard: Philosophie als Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung. In: Nida-

Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik.


Band I: Didaktik und Methodik. 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, S. 41–47.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 17

Traditionell wird Philosophieren eher mit körperlicher Passivität ver-


bunden. Notwendig ist diese Zuschreibung jedoch nicht. Bekanntlich bevorzugte
Aristoteles das Wandeln unter Säulen. Seine Schule wurde in Athen auch die
Schule der „Peripatetiker“ genannt (Anm.: „Peripatos“ = Wandelhalle). Katrin
Seele hat sogar eine eigne Methodik des peripatetischen Philosophierens vor-
gelegt.39 Populärwissenschaftliche Philosophiemagazine widmen ganze Ausgaben
dem Wandern40 oder drucken Interviews in denen weltbekannte Bergsteiger die
These vertreten, dass Aktion und Meditation dasselbe seien.41 Philosophie ist also
nicht notwendig bewegungsfeindlich.
Gleichzeitig ist philosophische Nachdenklichkeit an keine Lokalität gebunden.
Zahlreiche, sehr verschiedene Orte sind in die Philosophiegeschichte eingegangen.
Die Vielfalt der Lokalitäten reicht vom Marktplatz in Athen, Säulengängen und
Gärten über Gefängniszellen und Militärfeldlager zu königlichen Tafelrunden,
Volksschulklassen, Skihütten, universitären Arbeitskreisen und schlichten Studier-
zimmern bis hin zu Salons und Cafés. Der Verbleib im Klassenraum ist für den
Philosophieunterricht also keinesfalls existenziell. Zudem kommt das fächerüber-
greifende Potenzial außerschulischer Lernorte dem Wesen der Philosophie ent-
gegen. Philosophie ist nicht über spezifische Gegenstände oder Anwendungsgebiete,
sondern über den methodischen Akt des Philosophierens definiert. Aus diesem
Grund richtet sich die philosophische Nachdenklichkeit sehr oft auf Probleme und
Gegenstände, die auch von anderen Fächern und Disziplinen bearbeitet werden.

3.2 Das Prinzip der Ganzheitlichkeit und die Essenz


philosophischer Bildung

Ist das Selbstverständnis philosophischer Bildung kompatibel mit dem Aufsuchen


außerschulischen Lernorten und erlebnispädagogischen Interventionen?
Das Prinzip der Ganzheitlichkeit mahnt jede Disziplin dazu, nach Ver-
knüpfungen und Kooperationen jenseits des eigenen Kerngeschäfts zu suchen, um
übergeordnete Lernziele zu verfolgen.
In diesem Sinne argumentiert auch der oben erwähnte Dresdner Konsens und
betont, dass die Stärkung der Urteilskraft auf einem

„ganzheitlichen Konzept der Urteilsbildung [beruht und] nicht auf die Beförderung der
emotionalen Intelligenz oder das Einüben kognitiver Strategien philosophischen und
ethischen Argumentierens verkürzt werden [darf].“42

39 Vgl. Seele, Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichts-
methode. Münster: Lit Verlag 2012.
40 Vgl. Sonderheft Wandern – Die Wege der Gedanken. Philosophie Magazin. 06/2018.

41 Vgl. Messner, Reinhold: „Aktion und Meditation sind dasselbe“ Ein Interview mit Wolfram

Ellenberger. In Philosophie Magazin. 03/2018, S. 34–39.


42 https://philosophiedidaktik.files.wordpress.com/2017/03/dresdner_konsens.pdf (29.09.2020).
18 M. Tiedemann

In einem lesenswerten Beitrag hat Klaus Goergen die Vielschichtigkeit


moralischen Urteilens dargelegt und darauf verwiesen, dass in diesem Prozess
zahlreiche Motive ineinandergreifen. Kern des Phänomens seien nicht nur
rationale Überlegungen wie argumentative Kohärenz. Vielmehr seien moralische
Gefühle wie Scham und Empörung oder das Bedürfnis, dem eigenen Selbst-
bild gerecht zu werden, ebenso ausschlaggebend, wie das rationale Prinzip der
Nutzenkalkulation oder das Ideal der unparteilichen Prüfung auf Widerspruchs-
freiheit.43 Demnach erschöpft sich Urteilskraft nicht in formal-logischer Ana-
lysefähigkeit. Sie bedarf darüber hinaus der Vorstellungskraft und der Empathie,
um das Wesen und die Dimension der zu beurteilenden Sachlage angemessen zu
erfassen. Goergen ist in Gänze zuzustimmen. Wenn wir einer Person Urteilskraft
zusprechen, meinen wir damit weit mehr als logische Argumentations- und Ana-
lysekompetenz. Wenige Autoren haben dies besser verdeutlicht als Hannah Arendt.
Eichmann war für Arendt unter anderem deshalb ein „Hanswurst“44, weil ihm
die Vorstellungskraft, ja die Fantasie fehlte, um die Essenz seiner Taten und die
Dimensionen seiner Schuld wirklich erfassen zu können.45
Es sprechen also zahlreiche Argumente dafür, philosophische Reflexion nicht
zu isolieren. Vielmehr geht es darum, zu einer ganzheitlichen Entwicklung von
Urteilskraft beizutragen, zu der auch psychomotorische Erfahrungen, Empathie
und die Entfaltung von Einbildungskraft gehören.
Streiten lässt sich indes um die Frage, was der spezifisch philosophische Anteil
an Urteilskraft und Persönlichkeitsbildung sein soll und kann. Ist Philosophie der
rational reflektierende Kern der Urteilskraft oder gehören auch die nicht-rationalen
Bestandteile zur Philosophie selbst? In den letzten Jahren war eine intensive fach-
didaktische Diskussion um den philosophischen Stellenwert von Anschaulich-
keit, präsentativen Symbolen und Erfahrung zu verzeichnen. Vor allem Christian
Gefert hat im Anschluss an Susanne Langer überzeugend dargelegt, dass sich
das menschliche Denken und Verstehen nicht auf Sprechakte reduzieren lässt.46
Gleichwohl möchte ich nach wie vor die Position vertreten, dass s­innliche

43 Vgl. Goergen, Klaus: Das moralische Urteil, ein egalitäres Modell. Zeitschrift für Didaktik der
Philosophie und Ethik, 3/2009, S. 170–181.
44 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen. 3. Auflage

2011. München: Piper Verlag 1963, S. 81.


45 Dass die Person Eichmann, wie wir heute wissen, das falsche Beispiel für Arendts Theorie

war, tut der richtigen Analyse von ethischer Urteilskraft keinen Abbruch. Eichmann war mit
hoher Wahrscheinlichkeit kein banaler Verwaltungsbeamter, sondern ein Fanatiker mit Gefallen
an Grausamkeiten. Gleichwohl gab es Tausende, die ganz im Sinne Arendts, durch ihren
moralischen Stumpfsinn und erschreckend banale Tätigkeiten das unvorstellbar Böse erst ermög-
lichten.
46 Vgl. Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Dresden: Beltz 2002, S. 45, 68.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 19

Erfahrungen und präsentative Ausdrucksformen zwar ein wichtiger Teil der


Persönlichkeitsbildung sind, aber keine philosophische Essenz besitzen. Anschau-
lichkeit ist ein wünschenswerter, Abstraktion hingegen ein notwendiger Bestand-
teil philosophischer Bildung.47

„Der gesamte philosophische Bildungsprozess findet […] im eigenen argumentativ


begründeten Urteil des Schülers seinen Abschluss, womit er schließlich in sich selbst
terminiert: als kritische oder dialektische Anstrengung des Begriffs“.48

Begriffsarbeit ist ohne Abstraktion nicht zu leisten. Abstraktion (lat. Abstractus:


„abgezogen“ oder als Partizip Perfekt Passiv abs-trahere: „abziehen, entfernen,
trennen“) beschreibt ein Zurücktreten, ein „Sich-entfernen“ vom Konkreten. Es
handelt sich um eine induktive Bewegung von der Akzidenz zur Essenz, die letzt-
lich in Begriffs-, Kategorien- und Theoriebildung mündet.
Mit Blick auf die von Goergen angeführten Argumente erscheint eine Entsinn-
lichung von Bildung auch aus philosophischer Perspektive als nicht wünschens-
wert. Allerdings besteht der spezifisch philosophische Beitrag zu diesem
Bildungsprozess nicht in Anschaulichkeit, sondern in Abstraktion. Mündigkeit
bedeutet, sich selbständig, kritisch und kategoriengeleitet zu X ins Verhältnis
setzen zu können. Um die Dimensionen von X zu erfassen, bedarf es zahlreicher
Erfahrungstugenden, wie Empathie, Fantasie und Vorstellungskraft. Aber um
ein Urteil rechtfertigen zu können, bedarf es kategorialer Abstraktionen. Nur sie
ermöglichen es, das Besondere X als enthalten im Allgemeinen zu denken bzw.
über die Regel dieser Subsumierung zu streiten.49

„Aus dem Anspruch auf Allgemeinheit ergibt sich aber eine Bindung des Philosophierens
an den diskursiv-propositionalen Sprachgebrauch.“50

Auf die begrifflich abstrakte Essenz des Philosophierens zu bestehen bedeutet


nicht, sich einer Kooperation mit erlebnisorientierten Lernformaten zu
verschließen. Im Gegenteil: Ottfried Höffe bezeichnet die Praktische Philosophie
als eine Disziplin,

47 Vgl. Tiedemann, Markus: Außerschulische Lernorte im Philosophie- und Ethikunterricht. Zeit-

schrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 1/2013, S. 3–11.


48 Henke, Roland W.: Ende der Kunst oder Ende der Philosophie? Ein Beitrag zur Diskussion um

den Stellenwert präsentativer Materialien im Philosophie- und Ethikunterricht. In Zeitschrift für


Didaktik der Philosophie und Ethik, 1/2012.
49 Vgl. K Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. AA V 1790, S. 176 ff.

50 Tichy, Matthias: Bilderdenken. Zu Tiedemanns Kritik an der Verselbständigung präsentativer

Formen im Philosophieunterricht. In Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 3/2011,
S. 244–251.
20 M. Tiedemann

„die zur Praxis offen ist, und zwar in beiden Richtungen. Einerseits hat sie von der Praxis
zu lernen, andererseits sucht sie die Praxis über sich selbst aufzuklären und aufgrund einer
solchen Aufklärung auch zu verbessern.“51

Wer von der Praxis lernen und die Praxis verbessern will, der muss der Praxis
begegnen, um in ihr Erfahrungen zu sammeln. Realbegegnungen, Beobachtungen
und Selbsterfahrungen sind demnach wichtige Bestandteile eines problem- und
schülerorientierten Unterrichts. Sie können dazu dienen, neue Fragestellungen
zu entwickeln, Probleme zu veranschaulichen oder Position nachzuvollziehen.
Darüber hinaus wirken sie der Gefahr einer rein selbstreferenziellen Philosophie
entgegen. Gleichzeitig darf der Unterricht sich nicht im Exemplarischen verlieren.
Vielmehr sind kategoriale Bestimmungen und begrifflich-argumentative Recht-
fertigung als philosophische Essenz unverzichtbar.

3.3 Philosophische Reflexion als Dienst an der


Erlebnispädagogik und Gewinn für außerschulische
Lernorte

Wie beschrieben kann philosophische Bildung also auf mannigfaltige Weise


durch Veranschaulichung, Motivation, Identifikation und Lebensweltbezug von
der Kooperation mit außerschulischen Lernorten und erlebnispädagogischen
Angeboten bereichert werden. Nun stellt sich die Frage, ob dieser Gewinn auch
wechselseitig ist. Können außerschulische Lernorte und Erlebnispädagogik
von einer Kooperation mit der philosophischen Bildung profitieren? Aus meiner
Sicht gibt es dafür zahlreiche Argumente. Außerschulische Lernorte und erleb-
nispädagogische Bildungsangebote erfahren durch Kooperationen mit philo-
sophischer Bildung eine externe Reflexion und die Möglichkeit, ein vertieftes
Selbstverständnis zu generieren. Beispielsweise hat die Kooperation des
Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven mit dem Institut für Philosophie
an der Technischen Universität Dresden zu einer gemeinsamen Überarbeitung der
preisgekrönten Dauerausstellung geführt. Mit Blick auf die Erlebnispädagogik
kann die Philosophie gerade dann als attraktive Dienstleistung agieren, wenn sie
sich auf ihr Kerngeschäft, die argumentative Begriffsarbeit besinnt.

„Wir sprechen erst dann von Erlebnispädagogik, wenn nachhaltig versucht wird, die
Erlebnisse durch Reflexion und Transfer pädagogisch nutzbar zu machen. Klettern,
Schlauchbootfahren oder Segeln sind Natursportarten, die viel Freude und Sinn

51 
Höffe, Otfried: Naturrecht ohne Naturalistischen Fehlschluss. Ein rechtsphilosophisches
Programm. In Klagenfurter Beiträge zur Philosophie. Wien: Verlag des Verbandes der wissen-
schaftlichen Gesellschaften Österreichs 1980, S. 37 f.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 21

v­ ermitteln. Sie bleiben aber lediglich eine Freizeitbeschäftigung, wenn sie um ihrer selbst
willen durchgeführt werden.“52

Ein Erlebnis ist eine nachhaltig auf das Bewusstsein wirkende, situativ einmalige
und nicht beliebig reproduzierbare Erfahrung. Die nachhaltige Wirkung auf das
individuelle Gedächtnis ist zum einen auf die emotional beglückende, erregende
oder traumatisierende Intensität zurückzuführen. Zum anderen beruht sie auf
begrifflich-kategoriale Deutung, Archivierung und Konstruktion. Im zweiten Teil
der Anforderung diagnostizieren namhafte Erlebnispädagogen eine beklagens-
werte „Sprachlosigkeit“ ihres Metiers.

„Erlebnispädagogik leidet unter einer mehrfachen Sprachlosigkeit; Erlebnisse sind oft


so prägend, so beeindruckend, dass die Sprache versagt. Und oft erscheint, zweitens,
die Reflexion eines Erlebnisses als etwas Künstliches, Aufgedrängtes, etwas, durch das
Erlebtes zerredet und zerstört wird. So drängt sich die Frage auf: War das Erlebnis nur
dazu da, um vorgefertigten pädagogischen Zielen zu dienen?“53

Vor diesem Hintergrund scheint Philosophie, verstanden als Kulturtechnik der


begrifflichen Orientierung, ein attraktives Angebot zu sein. Erlebnisse werden
begrifflich benannt, kategorial identifiziert und somit Deutungsangeboten
zugeführt. Der Akt wird durch den Sprechakt ergänzt. Ganz im Sinne Hegels, wird
die reine phänomenale Erfahrung durch die Sprache in dreifacher Hinsicht „auf-
gehoben“. Sie wird als emotionale Fixierung aufgelöst, als Erinnerung geborgen
und als Bedeutung auf eine kategoriale Ebene transformiert.
Dies bedeutet keinesfalls, dass fortan alle Eindrücke innerhalb eines erlebnis-
pädagogischen Kurrikulums minuziös analysiert werden müssen. „The Mountains
Speak for Themselves!“ lautet das Schlagwort einer erlebnispädagogischen
Konzeption. Das ist gelegentlich richtig. Allerdings spricht der Berg – um kurz
in dieser Metaphorik zu verweilen – nur zu unserer flüchtigen Gefühlswelt. Eine
reflektierte Verwendung von Begriffen wie „Erhabenheit“, „Mängelwesen“ oder
„Dasein“ kann indes helfen, die Bedeutungsebene zu konservieren und in die
individuelle Weltdeutung zu integrieren.
Zudem können philosophische Reflexionen dazu beitragen, erlebnis-
pädagogische Interventionen vom Verdacht der Überwältigung zu entlasten.
„Allein die Sprache schützt uns vor dem Schrecken der namenlosen Dinge.“54 Wer

52 Michl,Werner: Erlebnispädagogik. München: Reinhardt Verlag 2015, S. 10.


53 Michl,Werner: Erlebnispädagogik. München: Reinhardt Verlag 2015, S. 9.
54 Morrison, Toni: Nobelpreisrede 1993, https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1993/

morrison/lecture. (24. März 2020).


22 M. Tiedemann

seine Klientel in die Lage versetzt, die gemeinsamen Erfahrungen begrifflich zu


durchdringen und wertend zu artikulieren, ermöglicht ein emanzipiertes Verhält-
nis des Subjekts zum Erlebnis. Philosophische Reflexion kann also ein Gewinn für
Erlebnispädagogische Interventionen und außerschulische Lernorte sein. Gleich-
wohl muss eingestanden werden, dass die philosophische Herangehensweise auch
als Zumutung erfahren werden kann. Dies gilt v. a. dort, wo Orte und Programme
mit einer etablierten Weltanschauung verbunden sind. Philosophische Bildung
bedeutet immer auch Geltungsansprüche zu hinterfragen und zu kritisieren.
Sofern aber die Entfaltung mündiger Persönlichkeiten als gemeinsames Ziel
aller Kooperationspartner bezeichnet werden darf, ergibt sich eine Win–Win-
Situation. Urteilskraft erschöpft sich nicht in begrifflicher Analyse und folge-
richtigem Schließen. Sie bedarf der Vorstellungskraft, der Fantasie und des
Erfahrungsreichtums. Gleichzeitig formen Eindrücke und Aktion allein keine
Persönlichkeiten. Mündige Persönlichkeiten wissen oft aus Erfahrung, wovon
sie reden, aber sie können auch artikulieren und reflektieren, was sie zu wissen
glauben.

3.4 Methodisch-praktische Ebene

Ist diese prinzipielle Ebene der wechselseitigen Wertschätzung erreicht, stellt sich
die Frage nach der methodisch-praktischen Ausgestaltung.
In einem ersten Schritt kann darauf verwiesen werden, dass die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und erlebnispädagogischer Formate konkrete Vor- und
Nachteile für die Gestaltung aller Schulfächer mit sich bringt. Petra Sauerborn und
Thomas Brühne haben diese in der folgenden Tabelle einander gegenübergestellt.

Pro Kontra
Handlungsorientierter Umgang mit mehr- Logistischer und organisatorischer Mehrauf-
perspektivischen Bildungsinhalten wand
Freies und selbst gesteuertes Lernen Erschwerte Leistungsbewertung
Alltags- und Lebensweltorientierung Generelle Gefahren (z. B Verletzungen,
Regelverstöße)
Neue Inhalte, Medien und Methoden werden Veränderte Lernzielkontrolle
erschlossen
Freiräume der Schüler Missbrauch der Freiräume
Erfahrung von komplexen Zusammenhängen, Skepsis bei Eltern und Kollegium
erfahrbare Ausschnitte der Realität
Eigenverantwortliches Handeln ggf. Lehrplanvorgaben
Mehrdimensionale Sinneswahrnehmung ggf. erhöhter finanzieller Aufwand
Gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe Disziplin und Klassengröße
Das Bild der Schule in der Öffentlichkeit wird Die Öffentlichkeit wertet außerschulisches
verbessert Lernen als reine „Spaßveranstaltung“ ab
(Sauerborn und Brühne 2009, S. 80)
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 23

Aus Sicht der Fachdidaktik Philosophie sei zudem auf eine weitere Heraus-
forderung hingewiesen: Es geht um die Balance zwischen Respekt und Reflexion.
Kritische Analyse von Argumentationen und Rechtfertigungen sind notwendiger
Bestandteile philosophischer Bildung. Von Kooperationspartnern kann dies aber
als quälender Szientismus erlebt werden. Einen außerschulischen Lernort auf-
zusuchen um die dort vertretenen Aussagen und Wertvorstellungen unreflektiert
zu übernehmen führt philosophische Bildung ad absurdum. Gleichwohl bleiben
auch Ethik-und Philosophiekurse Höflichkeit und Pietät verpflichtet. Fachphilo-
sophisch folgt dies aus dem Wissen um die Endlichkeit der eigenen Vernunft,
fachdidaktisch durch die Einbettung in die allgemeine Erziehung. Beispielsweise
gehört harsche Religionskritik zu den legitimen Angeboten des Philosophie-
unterrichts. Daraus folgt jedoch nicht, dass der sakrale Raum einer einladenden
Religionsgemeinschaft keine Pietät verdienen würde.
Sodann ist dem Irrtum zu begegnen, dass der Besuch eines außerschulischen
Lernorts oder die Einbeziehung von erlebnispädagogischen Formaten die Lehr-
kraft von didaktischen Planungsaufgaben entbindet.55 Außerschulische Lernorte
oder erlebnispädagogische Interventionen sind weder ein Zaubertrick zur Ver-
mittlung beliebiger Lerngegenstände, noch ist ihre Einbeziehung in den Unterricht
in jedem Fall die didaktisch bessere Wahl.56
Museumspädagogen oder Erlebnispädagogen erleben nicht selten, dass Lern-
gruppen gänzlich unvorbereitet bei ihnen abgegeben werden und auch für die
Nachbereitung des Besuches keinerlei Konzeptionen bestehen.
Fachlehrer*innen sind aber keinesfalls vom didaktischen Dreischritt aus
Planung, Durchführung und Auswertung entbunden. Die Vorbereitung reicht
von der Organisation der Anreise über Verhaltenstraining bis zur Erarbeitung
von Vorkenntnissen und Präsentationen. Während der Durchführung gilt es, die
Beschaffenheit des Lernortes und die Eigenschaften der Lerngruppe bei Arbeits-
phasen, Sozialformen und Ergebnissicherungen in ein angemessenes Verhältnis zu
bringen. Zudem muss über Ort, Sozialform, Arbeitsanleitung und ggf. Produkte
der Auswertungsphase entscheiden werden.
Sodann gilt es, zu berücksichtigen, dass nicht jede Intervention und jeder
außerschulische Lernort für jede Unterrichtsphase geeignet ist. Zudem können Sie
sehr unterschiedliche didaktische Funktionen erfüllen. Sie ermöglichen das Ent-
decken von Problemräumen bzw. das Entwickeln von Leitfragen. Sie illustrieren
Positionen, Problemzusammenhänge sowie intellektuelle und emotionale Heraus-
forderungen. Sie tragen als Dialogpartner einschlägige Wahrnehmungen oder

55 
Erhorn, Jan/Schwier, Jürgen: Außerschulische Lernorte. Eine Einleitung. In: Erhorn, Jan/
Schwier, Jürgen (Hrsg.), Pädagogik außerschulischer Lernorte. Eine interdisziplinäre
Annäherung. Bielefeld: Transcript Verlag 2016, S. 8.
56 
Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian: Außerschulische Lernorte –
Theoretische Grundlagen und praktische Beispiele. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/
Adam, Bastian (Hrsg.): Außerschulische Lernorte. Theorie, Praxis und Erforschung
außerschulischer Lerngelegenheiten. Immenhausen: Prolog Verlag 2015, S. 11.
24 M. Tiedemann

Positionen in die Debatte. Und sie verdichten oder destruieren Überzeugungen


durch die Konfrontation von theoretischer Argumentation und sinnlich-sozialem
Erleben.
In groben Zügen lässt sich der Philosophie- und Ethikunterricht in die Phasen
der Problemerfassung, Problembearbeitung und Problemverortung unterteilen.
Problembearbeitung und Problemverortung sind mit Erörterung und Beurteilung
verbunden, und setzen somit bereits erworbene Sachkenntnisse und Kompetenzen
voraus. Die Problemerfassung oder Problemeröffnung steht hingegen ganz
am Anfang einer Unterrichtseinheit. Inhaltliche Kenntnisse der Materie sind
hier keine notwendige Voraussetzung. Viele außerschulische Lernorte oder
erlebnispädagogische Interventionen sind geeignet, einen Gedankenraum zu
eröffnen und Fragestellungen zu provozieren. Der unvorbereitete Besuch einiger
außerschulischer Lernorte verbietet sich jedoch schon aus Gründen der Pietät. Es
erscheint unbedenklich, Schüler*innen ohne weitere Vorkenntnisse mit einem Zoo
oder Planetarium zu konfrontieren. Für den Besuch in einem Hospiz oder einer
Holocaustgedenkstätte gilt dies sicher nicht.

4 Zusammenfassung
„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“57

Diese Formel der kantischen Erkenntnistheorie birgt eine tiefe didaktische Wahr-
heit. Sie warnt nicht nur vor rein abstrakten Begriffskonstruktionen, sondern auch
davor, Erfahrung und Anschaulichkeit als Wert an sich zu verstehen. So wie der
Film Schindlers Liste allein noch lange keinen guten Geschichtsunterricht aus-
macht, so macht ein Besuch im Hospiz allein noch keinen guten Ethikunter-
richt. Der Besuch in einer Jugendstrafanstalt oder Selbsterfahrungsübungen am
Kletterfelsen bergen großes Potenzial zur Entwicklung philosophischer Frage-
stellungen oder zum Hinterfragen anthropologischer Theorien, die Exkursion an
sich ist jedoch noch keine Philosophie. Ohne eine möglichst kontroverse Reflexion
handelt es sich schlicht um philosophisch unredliche Überwältigung oder
Aktionismus. Ja, sie laufen dem Prinzip der Philosophie als Aufklärung zuwider.
„Blinde“ Bilder- oder Erlebniswelten haben etwas Entmündigendes, weil es dem
Individuum an sprachlichen Kategorien mangelt, um das Erfahrene mit sich in
Beziehung zu setzen. Gleichzeitig sind Verstandesbegriffe allein nicht in der Lage
die Komplexität unseres Daseins zu erfassen. Urteilskraft bedarf der genauen Ana-
lyse und der konsistenten Argumentation, aber auch der erfahrungsgesättigten Vor-
stellungskraft, um die Dimensionen von Handlungen und Entscheidungen erfassen
zu können.

57 Kant,Immanuel: Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., AA


III 1900, S. 75–B75.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 25

Rein analytische Begriffsarbeit und reiner Erlebnisaktionismus haben ein


ähnliches Verhältnis zur Philosophie wie Schattenboxen und Prügelei zum Box-
sport. Philosophie aus dem Elfenbeinturm ohne jeden Bezug zur Realität wird
schnell zum Schattenboxen. Erfahrungen ohne kategoriengeleitete Reflexion ist
intellektuelle Prügelei. Die philosophische Bildung ist daher gut beraten, sich für
Kooperationen mit erlebnispädagogischen Formaten und außerschulischen Lern-
orten zu öffnen und gleichzeitig ihr begrifflich-argumentatives Kerngeschäft zu
pflegen.

Literatur
Aebli, Hans: Psychologische Didaktik. Didaktische Auswertung der Psychologie von Jean
Piaget. Stuttgart: Klett Verlag 1963.
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen. 3. Auflage
2011. München: Piper Verlag 1963.
Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München: Piper Verlag 1979.
Baum, Patrick: Genius loci. Philosophieaffine Orte als Ausgangspunkt philosophischer
Reflexion. Vorschlag für einen Einführungskurs 10.1 In: Zeitschrift für Didaktik der Philo-
sophie und Ethik, 1/2013.
Bauer, Hans G.: Erlebnispädagogik und Abenteuerpädagogik. Eine Literaturstudie. 4. über-
arbeitete Auflage. München: Rainer Hampp Verlag 1993.
Beckermann, Ansgar: Muss die Philosophie noch analytischer werden? (Ist die Analytische
Philosophie am Ende?), https://sammelpunkt.philo.at/636/1/anaphil_V1.pdf. (24. März 2020).
Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.
Böckenstette, Claudia: Die aus der Reformpädagogik hervorgegangene Erlebnispädagogik als
erzieherischer Leitfaden für die Hitler-Jugend. München: GRIN Verlag 2009, https://www.
grin.com/document/159422. (24. März 2020).
Brämer, Rainer/Knoll, Hubert/Schild, Hans-Joachim: 7. Jugendreport Natur. Erste Ergebnisse. Natur
Nebensache. Universität Köln 2016. https://www.wanderforschung.de/files/jugendreport2016-
web-final-160914-v3_1903161842.pdf; (31.03.2020).
Conlon, James: Cities and the Place of Philosophy. In: Philosophy in the Contemporary World 6
1999.
Dühlmeier, Bernd (Hrsg.): Außerschulische Lernorte in der Grundschule. Baltmannsweiler:
Schneider Verlag Hohengehren 2008.
Erhorn, Jan/Schwier, Jürgen: Außerschulische Lernorte. Eine Einleitung. In: Erhorn, Jan/
Schwier, Jürgen (Hrsg.), Pädagogik außerschulischer Lernorte. Eine interdisziplinäre
Annäherung. Bielefeld: Transcript Verlag 2016.
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Philosophie der Verortung und
Verortung der Philosophie
Annika Schlitte

Zusammenfassung

Der Text gibt einen Überblick über eine Strömung in der zeitgenössischen
Phänomenologie und Hermeneutik, die den Ort ins Zentrum ihres Denkens
stellt und diesen von einem naturwissenschaftlich geprägten Raumverständ-
nis abzugrenzen sucht. Nach einem philosophiegeschichtlichen Abriss des
Verhältnisses von Ort und Raum und der Vorstellung einiger Kerngedanken
dieser Strömung wird mit dem Konzept der Triangulation, das Jeff Malpas von
Donald Davidson übernimmt, ein Argument für die fundamentale Bedeutung
des Ortes für unseren Weltzugang vorgestellt. Weil auch das Denken in diesem
Verständnis immer schon verortet ist und die Verortung dem Denken nicht
zufällig zukommt, sondern für es wesentlich ist, gewinnt die Frage, wo wir
sind, wenn wir denken, eine große Bedeutung, die daher auch in Bildungs-
prozessen Berücksichtigung finden sollte.

Schlüsselwörter

Ort · Raum · Phänomenologie · Topologie · Verortung

In diesem Text greife ich auf Überlegungen zurück, die ich bereits andernorts dargelegt habe;
Vgl. insbesondere Schlitte, Annika/Hünefeldt, Thomas/Romic, Daniel/van Loon, Joost (Hrsg.):
Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften.
Bielefeld: transcript 2014. S. 7–23.

A. Schlitte (*) 
Institut für Philosophie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland
E-Mail: annika.schlitte@uni-greifswald.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 29
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_2
30 A. Schlitte

1 Wo sind wir, wenn wir denken?

Wo, sind wir, wenn wir denken? Auf den ersten Blick scheint dies keine besonders
philosophisch relevante Frage zu sein. Wo einem Philosophen oder einer Philo-
sophin eine entscheidende Idee gekommen ist – ob am Schreibtisch, im Lehnstuhl
oder im Wald, interessiert uns normalerweise herzlich wenig und hat auch für die
Bewertung dieses Gedankens keinerlei Bedeutung.
Die Auskunft, ob dieser Lehnstuhl im Schwarzwald, in Königsberg oder in
Neuburg an der Donau gestanden hat, dient höchstens der Befriedigung bio-
graphischer Neugier oder touristischen Interessen, fügt aber dem Gehalt der
Gedanken, die an diesem Ort gedacht wurden, offenbar nichts hinzu. Wo wir
sind, wenn wir denken, scheint also zunächst einmal egal zu sein. Wir sind eben
in Gedanken, und das ist vielleicht ein ganz eigener Ort, der aus der konkreten
Lebenswelt herausgehoben ist. Ich bin mit den Gedanken ganz woanders, sagen
wir schließlich auch, und meinen damit einen Zustand, der uns von dem konkreten
Ort, an dem unser Denkprozess stattfindet, entfernt und abtrennt.
Dies gilt in verschärfter Weise für das philosophische Denken, das sich nicht
auf die Einzeldinge richtet, sondern das Wesen, das Allgemeine zu erkennen sucht.
Hannah Arendt, aus deren Text Vom Leben des Geistes diese Frage stammt, stellt
das Denken im Sinne dieser Tradition dar als eine Form des „Rückzug[s], der allen
Geistestätigkeiten eigen ist; das Denken beschäftigt sich immer mit Abwesendem
und entfernt sich vom Gegenständlichen und Zuhandenen“1. In dem Maße wie
das Allgemeine keinen Ort hat, so ist auch das Denken des Allgemeinen gleich-
sam überall und nirgends: „Das denkende Ich, das sich unter Universalien, unter
unsichtbaren Essentien bewegt, ist, streng genommen, nirgends; es ist heimatlos in
einem ganz nachdrücklichen Sinne“2.
Anders als das alltägliche Leben, das von einem räumlichen Setting bestimmt
ist, könne man den Ort des Denkens also nicht räumlich bestimmen. Das Denken
findet nirgendwo statt, allerdings hat es laut Arendt in der Zeit sehr wohl einen
„Platz“ – es findet statt im Augenblick, in der „Lücke zwischen Vergangenheit und
Zukunft“3.
Hannah Arendt schließt hier an eine philosophische Tradition an, die den Raum
als Merkmal der äußerlichen und die Zeit als Merkmal der inneren Welt ver-
steht. Kant hatte die Zeit in seiner Transzendentalphilosophie als inneren Sinn
bestimmt, dem auch die Abfolge der Gedanken noch unterworfen ist, während
der Raum über diese gleichsam keine Macht hat. Doch schon wenn man bedenkt,
dass die Unterscheidung von außen und innen selbst eine räumliche ist, können
sich Zweifel an dieser Differenz melden, die denn auch in jüngerer Zeit von

1Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979, S. 195.
2Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979, S. 195.
3Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979, S. 205.
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 31

­ hilosophen aufgegriffen worden sind, die eine enge Verbindung zwischen dem
P
Denken und der Räumlichkeit bzw. Örtlichkeit sehen.4
Diese Philosophie des Ortes, von der nun die Rede sein wird, wendet sich explizit
gegen die Vorstellung, philosophisches Denken nehme idealerweise einen View from
Nowhere ein, der jeglicher standortgebundenen Perspektivierung enthoben ist.
Um zu erkunden, wie es zu dieser Aufwertung des konkreten Ortes kommt
und wie die eingangs gestellte Frage, wo wir sind, wenn wir denken, aus dieser
Perspektive zu beantworten sein wird, muss ich etwas ausholen. Im Folgenden soll
daher kurz die geistesgeschichtliche Ausgangssituation skizziert werden, in der sich
eine verstärkte Aufmerksamkeit für den Ort und seine Bedeutung für das Denken
entwickelt hat (2), bevor einige Kerngedanken der Philosophie des Ortes vorgestellt
werden (3). Dabei gehe ich zunächst auf den Raum ein, bevor ich auf den Ort zu
sprechen komme, da die Ortsthematik häufig im Zusammenhang mit einer all-
gemeineren Hinwendung zum Raum betrachtet wird, wie nun zu zeigen ist.

2 Der philosophiegeschichtliche Kontext

Kulturwissenschaftliche Texte, die sich mit dem Raum befassen, beginnen häufig
mit einem Verweis auf Michel Foucaults Vortrag über Andere Räume von 1967,
in dem er feststellt, „[d]ie große Obsession des 19. Jahrhunderts“ sei „bekannt-
lich die Geschichte“ gewesen, und diese Diagnose mit der These verbindet, die
Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts lasse sich „dagegen eher als Zeitalter des
Raumes begreifen“5. Spätestens seit den 1990er-Jahren hat sich dieses Diktum
insofern bewahrheitet, als unter dem Eindruck gesellschaftlicher Tendenzen wie
der Globalisierung, der zunehmenden Migration, dem Zerfall der bisherigen Auf-
teilung der Welt in zwei konkurrierende Machtblöcke Raumfragen eine so große
Bedeutung gewannen, dass der Geograph Edward Soja von einem „Spatial Turn“
in den Sozial- und Kulturwissenschaften sprechen konnte.6

4 
Im deutschsprachigen Raum sind hier in jüngster Zeit Günter Figals Raumphänomeno-
logie zu nennen sowie Bernhard Waldenfels’ Studien zu Ort, Zeit und Raum: Figal, Günter:
Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie. Tübingen: Mohr Siebeck 2015; Waldenfels,
Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2009. Im englischsprachigen Raum sind einschlägig: Casey, Edward S.: Getting
Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World. Bloomington: Indiana
University Press 2009; Malpas, Jeff: Self, Other, Thing. Triangulation and Topography in Post-
Kantian Philosophy. Philosophy Today, Volume 59, Issue 1 (Winter 2015), S. 103–126. Als
Überblick vgl. ferner: Janz, Bruce (Hrsg.): Place, Space, and Hermeneutics [Contributions to
Hermeneutics 5], New York u.a.: Springer 2017.
5Foucault, Michel: Von anderen Räumen In: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band 4:

1980–1988. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 931.


6Vgl. Soja, Edward W.: Vom ‚Zeitgeist‘ zum ‚Raumgeist‘. New Twists on the Spatial Turn In:

Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hrsg. Jörg Döring und
Tristan Thielmann. Bielefeld: transcript 2008, S. 241–259. Zentrale Texte der raumtheoretischen
Diskussion sind zusammengetragen in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.) Raumtheorie: Grund-
lagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.
32 A. Schlitte

Neben einem wachsenden Interesse am Raum als Gegenstand rückten im Zuge


des Spatial turn in der Philosophie auch räumliche Strukturen im Denken selbst
in den Blick – schließlich meint die Rede von einem derartigen Forschungstrend
als eines „Turns“ nicht nur die Entdeckung eines neuen Gegenstandsbereichs,
sondern auch eine Veränderung in der Art und Weise, wie über die Gegenstände
nachgedacht wird. Dabei musste das Raumthema nicht erst neu in die Philosophie
eingeführt werden, da hier schon längst über den Raum nachgedacht wurde.7 Am
besten ließ sich die Beobachtung einer inneren Nähe des Denkens zur Raum-
problematik im Poststrukturalismus machen, der sich verschiedentlich räum-
licher Denkfiguren bediente. Begreift man den Raum mit Leibniz als Ordnung
des Nebeneinander, lässt sich hier eine Verbindung zum Selbstverständnis der
Postmoderne herstellen, die an die Stelle einer linearen Abfolge von Theorien das
Zugleichsein konkurrierender Konzepte gesetzt hat.8
Die philosophische Aufmerksamkeit für den Ort hat ihre eigene Geschichte,
die zwar oft mit der Bewegung des Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissen-
schaften in Verbindung gebracht wird, mit dieser aber nicht zusammenfällt.
Während im Poststrukturalismus das Interesse für den Raum mit einer Abkehr
von der Dominanz der Zeit und der Historie verbunden wurde, knüpft die philo-
sophische Auseinandersetzung mit dem Ort explizit an phänomenologische
Theorien der Raum- und Zeiterfahrung an.
Das interdisziplinäre Feld der Place Studies wurde dabei wesentlich von der
Rezeption philosophischer Autoren innerhalb der Geographie geprägt, mithilfe
derer die sogenannte humanistische Geographie auf einen Paradigmenwechsel
innerhalb ihrer Wissenschaft reagierte.9 Nachdem die Geographie einst als idio-
graphische Wissenschaft begonnen hatte, die sich der Beschreibung besonderer
Orte widmete, war der Begriff des Ortes mit der quantitativen Revolution der Geo-
graphie zu einer mathematisch-exakten Wissenschaft aus dem Blickfeld geraten.
In den 1970er-Jahren kam es zunächst in der humanistischen, später auch in der
marxistischen Geographie zu einem neuen Erstarken des Ortes als Konzept, das
durch die Lektüre philosophischer Autoren wie Heidegger angeregt wurde. Durch
Edward Casey, Jeff Malpas und andere erfolgte dann seit den 1990er-Jahren
gewissermaßen ein Re-Import des Ortsbegriffs in die philosophische Diskussion.
Dabei wird nun vor allem Wert daraufgelegt, Ort („place“) und Raum („space“)
begrifflich voneinander zu unterscheiden, während in der allgemeinen raum-
wissenschaftlichen Diskussion eine solche systematische Differenzierung meistens
nicht erfolgt.
Edward Casey entwickelt die philosophiehistorische These, dass der Ort im
modernen Denken durch den Begriff des Raumes verdrängt worden sei, nachdem

7Vgl. Alpsancar, Suzana/Petra Gehring/Marc Rölli (Hrsg.): Raumprobleme. Philosophische


Perspektiven. München: Fink 2011.
8Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 170–172.

9Vgl. Cresswell, Tim: Place. An Introduction, Malden, MA/Oxford: Wiley-Blackwell 2015.


Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 33

die antike Philosophie noch Ort und Raum thematisiert habe.10 Auch wenn eine
solche „große Erzählung“ im Einzelnen sicherlich einen differenzierteren Blick
erfordert, werde ich Caseys Darstellung nun folgen und die wichtigsten Stationen
der philosophischen Auseinandersetzung kurz skizzieren.

2.1 Antike: topos und chōra

Den Anfang einer jeden philosophischen Beschäftigung mit Raum und Ort stellt
das antike Begriffspaar chōra vs. topos dar. Bei der platonischen chōra und dem
aristotelischen topos haben wir es gleich mit zwei unterschiedlichen Begriffen zu
tun, die zwar meistens mit „Raum“ und „Ort“ übersetzt werden, deren Verhältnis
aber alles andere als klar ist und die nicht mit einem heutigen Verständnis dieser
Termini gleichzusetzen sind.11 Insbesondere das aristotelische topos-Denken
fungiert jedoch für Edward Casey wie für Bernhard Waldenfels als Beispiel dafür,
wie eine Philosophie, die vom Ort ausgeht, zu einer ganz anderen Sicht der Welt
und der Dinge geführt hat als eine, die den Raum im modernen naturwissenschaft-
lichen Sinne zum Ausgangspunkt nimmt.
Platon unterscheidet im Weltentstehungsmythos des Timaios zunächst zwei
grundlegende Arten von Seiendem: die Ideen auf der einen und die Einzeldinge
auf der anderen Seite. Dazwischen aber siedelt er dasjenige an, in dem die Einzel-
dinge werden, nämlich die chōra als „dritte Art“12. Es gibt also die Urbilder (das,
dem die Einzeldinge nachgebildet werden), die Einzeldinge (das, was wird) und
die chōra als das, worin das Werdende wird. Diese chōra hat aufnehmenden
Charakter und ist in gewisser Weise räumlich zu denken. Sie ist aber kein leerer
Raum, sondern hat, wie Aristoteles später bemerkt, eher Ähnlichkeit mit einer
Art Urstoff, denn es wird von ihr gesagt, sie „liege als Prägemasse bereit“13. Mit
einem rätselhaften Ausdruck bezeichnet Platon die chōra auch als „Amme“, „da
sie allen Werdens bergender Hort sei“14. An diesen Passagen fällt auf, wie wichtig
es Platon offenbar ist, dass es ein Worin gibt, das im weitesten Sinne als räumlich

10Vgl. Casey, Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley/Los Angeles/
London: University of California Press 2013; Casey, Edward S.: Getting Back into Place.
Towards a Renewed Understanding of the Place World, Bloomington: Indiana University Press
2009, S. 352; Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger
Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 16–19.
11Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York:

Routledge 2018, S. 27.


12Platon: Timaios In: Werke in acht Bänden, Platon. Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther

Eigler. Bd. 7. Darmstadt: WBG 2005, 48b.


13Platon: Timaios In: Werke in acht Bänden, Platon. Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther

Eigler. Bd. 7. Darmstadt: WBG 2005, 50c.


14Platon: Timaios In: Werke in acht Bänden, Platon. Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther

Eigler. Bd. 7. Darmstadt: WBG 2005, 49a.


34 A. Schlitte

verstanden werden kann, auch wenn die Einzelheiten dieses Raumverständnisses


dunkel bleiben.
Hatte Platon im Timaios das Raumproblem im Kontext der Frage nach dem
Ursprung der Welt behandelt und die chōra als dasjenige, worin alles ist, und dabei
als ein Drittes zwischen dem Seienden und dem Werden verstanden, steht bei
Aristoteles der Begriff topos im Zentrum. Am ausführlichsten behandelt wird dieser
im Kontext von Überlegungen zur Bewegungslehre in der Physik, aber auch in der
Kategorienschrift kommt die Ortsangabe als eine der fundamentalsten Aussageweisen
über das Seiende vor.15 Der gemeine Menschenverstand nimmt laut Aristoteles
an, dass etwas dann und nur dann existiert, wenn es irgendwo ist. Hier zeigt sich
in der griechischen Sprache eine enge Verbindung von existenzialer und lokativer
Bedeutung, ähnlich wie bei dem englischen Ausdruck „there is“ = „es gibt“16.
In der Physik geht es aber zunächst einmal um beobachtbare Vorgänge in
der Natur und ihre begrifflichen Grundlagen, zu denen auch der Ort gehört. Die
aristotelische Bewegungslehre basiert nämlich auf dem Ortswechsel: Wenn
ein Körper sich bewegt, verlässt er seinen ursprünglichen Ort und nimmt einen
anderen ein, im Sinne einer „Wechselumstellung“. Das bedeutet aber, dass der
Ort etwas vom Körper Abtrennbares sein muss und keineswegs ein Teil von ihm
ist. Während sich der Körper bewegt, bleibt er fixiert. Aristoteles definiert den
Ort darum nicht als die Grenze des Körpers selbst, jedoch als „die Grenze des
umfassenden Körpers, insofern sie mit dem Umfassten in Berührung steht“17.
Dahinter steht die Idee, dass jeder physische Körper von etwas umgeben ist, z. B.
von einem anderen Körper wie das Wasser, das sich in einem Krug befindet, oder
von der Luft. Der Ort begrenzt den Körper, als Oberfläche des den ersten Körper
umgebenden zweiten Körpers oder Elements. So ergibt sich eine Welt, die voll von
Dingen und ihren Orten ist, einen leeren Zwischenraum gibt es nicht.
Im Zuge seiner Theorie der Elemente entwickelt Aristoteles zudem noch die
Vorstellung, dass jedes Element einen „natürlichen Ort“ als Ziel habe, zu dem es
hinstrebt. So steigen etwa das Feuer und die Luft nach oben, während die Erde
nach unten strebt. Der Ort zieht dabei nicht die Elemente an, sondern er verleiht
ihnen ihren spezifischen Charakter, er bestimmt und differenziert sie als solche:
„Aristotle means simply that places make a difference to the world – they enter
into an account of why the world is as it is, for the elements are actually (in part)
individuated by where they go.“18. Als Endstation der Bewegung hat der Ort also

15Vgl. Aristoteles: Organon I: Kategorien In: Philosophische Schriften in sechs Bänden,


Aristoteles, Bd. 1, Übers. Eugen Rolfes, Darmstadt: WBG 1995, Kap. 4.
16Morrison, Benjamin: On Location. Aristotle’s Concept of Place. Oxford: Oxford University

Press 2002, S. 16.


17Aristoteles: Physik In: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Aristoteles, Bd. 6, Übers.

Hans Günter Zekl, Darmstadt: WBG 1995, 212a.


18Morrison, Benjamin: On Location. Aristotle’s Concept of Place. Oxford: Oxford University

Press 2002, S. 50.


Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 35

eine „gewisse Kraft“19 in Bezug auf den Körper, denn er bestimmt und definiert
ihn als solchen.
Um derart alle Elemente auf ihre natürlichen Orte zu verteilen, muss Aristoteles
ferner so etwas annehmen wie ein absolutes „Oben“ und ein absolutes „Unten“.
Dies führt zu der Vorstellung eines geordneten Kosmos, innerhalb dessen die
Gesetzmäßigkeiten, die für eine jeweilige Entität gelten, von ihrem jeweiligen
Platz im Ganzen abhängen. Die Lehre vom natürlichen Ort hat daher eine wichtige
Funktion nicht nur für die Lehre der Bewegung natürlicher Körper, sondern auch
für die Kosmologie.
Wo ein Körper sich befindet, ist aus dieser Sicht also nicht einfach nur eine
zufällige Position, sondern mit dem Wesen dieses Körpers selbst verbunden. Orte
sind keine ausdehnungslosen Punkte, sondern qualitativ ausgezeichnete Plätze in
einem geordneten Ganzen. Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang auch von
einer „Onto-Topologie“20, die jedem Wesen seinen Platz im Ganzen zuspricht.

2.2 Neuzeit: Verlust des Ortes

Casey betont nun, dass sich spätestens mit dem Aufstieg der neuzeitlichen Wissen-
schaften auch das Verständnis von Ort und Raum verändert, und zwar in dem
Sinne, dass der Ort gegenüber der Idee eines als unendlich und leer gedachten
Raumes an Bedeutung verliert und schließlich gar nicht mehr als zentrales
Konzept in Erscheinung tritt. Diese Veränderung beginnt nach Casey schon sehr
früh, auch wenn es lange dauert, bis sie sich durchsetzt. Im Denken des Mittel-
alters und der Renaissance wird die Zentralstellung des Ortes im Kosmos all-
mählich aufgegeben zugunsten der Annahme eines unendlichen leeren Raumes,
die schon früh von Aristoteles’ Gegnern, den Atomisten, vertreten wurde. Dem
aristotelischen geschlossenen Modell wird nun die Unbegrenztheit der Atome und
des Raumes entgegengesetzt.
Die mathematisch ausgerichteten Naturwissenschaften des 17. und 18. Jahr-
hunderts verstehen den Raum schließlich als unendlich, abstrakt, homogen, iso-
trop (d. h. richtungsunabhängig) sowie als mess- und teilbare Größe. Der so
definierte Raum enthält unendlich viele, nur durch ihre quantitativ bestimmbare
Position voneinander unterscheidbare Stellen, die sich nicht mehr qualitativ aus-
zeichnen, weshalb der Ort seine zentrale Bedeutung verliert. Gemeinsam ist den
verschiedenen Ansätzen die Annahme, die Casey mit einem Begriff Whiteheads
als „einfache Lokalisierung“21 bezeichnet und die davon ausgeht, dass jedes Stück

19Aristoteles:Physik In: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Aristoteles, Bd. 6, Übers.


Hans Günter Zekl, Darmstadt: WBG 1995, 208b.
20Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 16.


21Casey, Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley/Los Angeles/London:

University of California Press 2013, S. 138.


36 A. Schlitte

Materie exakt einem Raumpunkt zugeordnet werden kann. Einfache Lokalisierung


impliziert die Reduktion des Ortes auf die Position und die Expansion des Raumes
ins Unendliche. Zwar gibt es auch jetzt noch konkurrierende Raumauffassungen,
wie die Kontroverse zwischen Newton bzw. Clarke und Leibniz zeigt22, doch lässt
sich insgesamt feststellen, dass der Ort bei diesen Streitigkeiten kein tragendes
Konzept mehr ist. Ob der Raum als absolute Substanz verstanden wird wie bei
Newton oder als relatives Ordnungsprinzip wie bei Leibniz – der Ort taucht in
diesen Konzeptionen nur noch als Stelle im Raum oder Teil des Raumes auf und
wird so jedenfalls zu einem sekundären Phänomen. Auch in der kritischen Philo-
sophie Kants, die den Raum als subjektive Form der Anschauung begreift, spielt
der Ort keine tragende Rolle mehr.
Wenn der Ort derart im umfassenderen Begriff des Raumes aufgeht, dient
er nur noch dazu, einzelne Punkte im Koordinatensystem des leeren Raumes
hervorzuheben: „Henceforth, place is nothing more than pure position, or bare
point, simply located on one of the XYZ axes that delineate the dimensionality
of space as construed in Cartesian geometry.“23. Was in der Neuzeit jenseits
aller Kontroversen in der philosophischen Reflexion vernachlässigt wird, ist die
konkrete Erfahrungseinheit, die mit dem Begriff „Ort“ gefasst wird, ebenso wenig
wird dem Ort noch eine bestimmende Kraft zugesprochen. Bernhard Waldenfels
stellt daher in Übereinstimmung mit Casey fest:

„Man kann sagen, daß in der Neuzeit der Ort durch den Raum absorbiert wird, und dies
unabhängig davon, ob der Raum im Gefolge Newtons als absolut oder im Gefolge von
Leibniz als relativ gedacht wird. Eine konsequente Philosophie des Raumes reduziert Orte
auf bloße Stellen und Lagen im Raum.“24

Der Ort wird damit jedoch nicht nur seiner Kraft hinsichtlich der Gegenstände
beraubt, sondern er verliert selbst seinen Platz in dem Universum, das den antiken
Kosmos als Geflecht von Orten begrifflich ablöst.25
Gegenüber dieser Entwicklung betont Casey, dass der Ort keineswegs auf den
Raum reduziert werden könne, sondern dass die Differenz von Ort und Raum
für das Verständnis von Räumlichkeit geradezu wesentlich sei. Die Philosophie

22Vgl. Schüller, Volkmar (Hrsg.): Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel. Berlin: Akademie 1991.


23Casey, Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley/Los Angeles/London:
University of California Press 2013, S. 199.
24Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 31.


25„Not only has place been deprived of its inherent force or power, it has lost any standing of

its own in the cosmos. The cosmos itself, formerly a matrix of places, has yielded to the spatial
(and temporal) imperialism of the universum (literally the whole ‚turned into one‘)“, In: Casey,
Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley/Los Angeles/London: Uni-
versity of California Press 2013, S. 199.
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 37

des Ortes wendet darum ihr Interesse den Autoren zu, die insbesondere aus
phänomenologischer und hermeneutischer Perspektive im 20. Jahrhundert zu einer
Ausdifferenzierung des Raumbegriffs beigetragen haben, die auch den Ort wieder
berücksichtigt.

2.3 Wiederaufstieg des Ortes in der Phänomenologie

Zu Beginn des 20. Jahrhundert gibt es ausgehend von Husserls Phänomenologie


schließlich eine Rückkehr zur Raum- und Zeiterfahrung und eine Abwendung von
der bloßen Raum- und Zeitkonstruktion, die Casey auch mit einer Wiederkehr
des Ortes in Beziehung setzt.26 So bringe Husserls Analyse der Lebenswelt den
Ort auf die Bühne der Philosophie zurück, ohne dass damit eine Rückkehr zum
antiken Kosmosdenken verbunden wäre.
Die Phänomenologie zeichnet sich durch den Rückgang auf die Raum-
erfahrung aus. Seit der späte Husserl die Lebenswelt gegenüber einer dominanten
wissenschaftlichen Weltsicht in Stellung brachte, haben sich verschiedenste
Autoren mit der Räumlichkeit des alltäglichen Lebens beschäftigt und diese von
einem abstrakten, geometrischen Raumverständnis abgegrenzt. Auf diese Weise
stehen sich – ähnlich wie bei der Zeit – zwei Raumauffassungen gegenüber, wobei
der lebensweltlichen Erfahrung der Primat gegenüber dem abstrakten Raumver-
ständnis in den Naturwissenschaften eingeräumt wird.
Husserl beschäftigte sich intensiv mit dem Verhältnis von Ding, Leib und Raum.
Dabei dient das leibliche Ich mit seiner Orientierungsfunktion als Ausgangspunkt.
Dieser Zugang wird für eine Reihe von Autoren des 20. Jahrhunderts bestimmend.
Maurice Merleau-Ponty betrachtet die Räumlichkeit ausgehend von der Wahr-
nehmung des eigenen Leibes, die anders funktioniert als ein wissenschaftlich-geo-
metrisches Raumverständnis uns die Lage von Körpern im Raum erklärt. Unser
Leib ist nicht etwa als materielle Gestalt des immateriellen Bewusstseins in einem
abstrakten Koordinatensystem verortet, sondern selbst erst die Voraussetzung dafür,
dass wir uns die Vorstellung eines solchen machen können.

„Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ‚hier‘ nicht eine im Verhältnis zu
anderen Positionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr
die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt, die Verankerung des aktiven Leibes in
einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegenüber.“27

26Vgl. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger


Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 19.
27Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. Rudolf Boehm. Berlin:

De Gruyter 1966, S. 125 f.


38 A. Schlitte

Diese Räumlichkeit des Leibes ist aber das Fundament für Räumlichkeit über-
haupt. „Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes,
daß überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.“28.
Auch der frühe Heidegger, der zwar nicht von der leiblichen Erschließung
des Raumes ausgeht, bemüht sich darum, die „existenziale Räumlichkeit des
Daseins“29 von dem Raum, in dem Vorhandenes sich befindet, abzugrenzen.
Heidegger schreibt in seiner Analyse des In-der-Welt-Seins gegen die cartesische
Vorstellung der Welt als res extensa an und versucht, die Welt als Moment der
Struktur des In-der-Welt-Seins des Daseins zu fassen und somit als „Charakter
des Daseins selbst“30 aufzuweisen. In späteren Texten ist bei Heidegger dann auch
explizit vom Ort die Rede, wobei sich das Verhältnis von Raum und Ort umkehrt.
Wir haben nämlich nicht zuerst die Vorstellung eines leeren Raumes als einer Art
Behälter, der verschiedene Orte beinhaltet, sondern von den Orten her spannt sich
dieser Raum erst auf. Der Ort befindet sich nicht im Raum und ist kein Teil des
Raumes, sondern der Raum leitet sich aus dem Ort ab: „Der Ort befindet sich nicht
im vorgegebenen Raum nach der Art des physikalisch-technischen Raumes. Dieser
entfaltet sich erst aus dem Walten von Orten einer Gegend“31, heißt es in Die
Kunst und der Raum von 1969.
Das Nachdenken über den Raum darf daher, so fordern Casey, Malpas und
andere, bei einem von den modernen Naturwissenschaften geprägten Raumver-
ständnis nicht stehenbleiben – wobei man freilich konstatieren muss, dass es „das“
naturwissenschaftliche Raumverständnis ohnehin nicht gibt und es spätestens seit
der Relativitätstheorie zu ganz neuen Raumvorstellungen gekommen ist, die ja
auch innerhalb der Philosophie rezipiert wurden.

3 Einige Kerngedanken einer Philosophie des Ortes

3.1 Ort und Raum

Die englischsprachige Philosophie des Ortes geht von einer Unterscheidung


zwischen Raum („space“) und Ort („place“) aus, wobei diese Differenz
sich in vielerlei Hinsicht mit derjenigen zwischen dem geometrischen oder
mathematischen Raum auf der einen Seite und dem erlebten bzw. gelebten Raum
auf der anderen Seite überschneidet, welche Phänomenologie und Hermeneutik
bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Dabei steht der
Begriff „place“ sowohl für eine begrenzte Einheit innerhalb des gelebten Raumes

28Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. Rudolf Boehm. Berlin:


De Gruyter 1966, S. 127.
29Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2006, S. 56.

30Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2006, S. 64.

31Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum. Frankfurt a. M.: Klostermann 2007, S. 11.
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 39

als auch stellvertretend für diesen als Ganzen, im Unterschied zum Raum als einer
abstrakten wissenschaftlichen Größe, die teilbar und messbar ist.
Während der mathematische Raum unendlich viele Stellen umfasst, die sich nur
durch ihre quantitativ bestimmbare Position voneinander unterscheiden (etwa im
Sinne einer Koordinate), unterscheiden sich die Orte der Lebenswelt in ihrer spezi-
fischen Erfahrungsqualität. Orte als begrenzte Einheiten haben zudem die Funktion,
Dinge und Lebewesen zu beherbergen. Jeff Malpas bestimmt den Ort daher wie folgt:

„Fundamental to the idea of place would seem to be the idea of an open and yet bounded
realm within which the things of the world can appear and within which events can ‚take
place‘.“32

Orte sind demnach immer Orte für etwas oder jemanden, das oder der an ihnen
verortet ist. Dabei ist die Grenze eines Ortes variabel, je nachdem, wer oder was
verortet wird. Mein Lieblingsplatz im Garten, das Viertel oder die Stadt, in der
ich wohne, können als Ort betrachtet werden, und gewinnen ihre Identität dabei
eher aus einer Einheit des Sinns als aus rein physischen Gegebenheiten – so wie
auch die Landschaft nicht einfach ein materielles Substrat ist, sondern als Einheit
erfahrbare und damit sinnhafte Natur.
Orte sind leiblich zugänglich, aber vom Leib getrennt. Ich kann einen Ort ver-
lassen und wieder zurückkehren und ich kann einen Ort mit anderen teilen, so dass
mit dem Ort mehr gemeint sein kann als der individuelle Standpunkt meiner Füße,
auch wenn die Ortserfahrung von diesem leiblichen Standpunkt ausgeht. Orte sind
selbst erfahrbar, ihr Charakter, ihre Atmosphäre, ihre Geschichte wirken auf mich
ein. Edward Casey spricht mit Rekurs auf Heidegger auch davon, dass Orte die
Kraft haben, Lebewesen, Dinge und Erinnerungen zu „versammeln“, auf die man
sich dann gemeinsam beziehen kann.33
In der Erfahrung haben wir es also weniger mit dem Raum als mit konkreten,
individuell verschiedenen Orten zu tun, doch bleibt die Philosophie des Ortes
bei dieser Beobachtung nicht stehen. Vielmehr betonen die betreffenden Autoren,
dass Ort bzw. Örtlichkeit eine fundamentale Bedingung jeder Erfahrung darstellt.
Damit gehen die philosophischen Autoren weit über eine bloße Neuentdeckung
des Ortes als Gegenstand hinaus, was sie auch fundamental von den place studies
in anderen Wissenschaften unterscheidet. Der Geograph Tim Cresswell schreibt
daher in seiner Einführung: „One confusing aspect of the genealogy of place is
that place stands for both an object (a thing that we can look at, research, and write
about) and a way of looking.“34. Der Ort ist nicht einfach ein Gegenstand, sondern
er hat selbst teil an der Art und Weise, wie wir die Welt sehen.

32Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York: Routledge
2018, S. 33.
33Vgl. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the

Place World, Bloomington: Indiana University Press 2009, S. 327.


34Cresswell, Tim: Place. An Introduction, Malden, MA/Oxford: Wiley-Blackwell 2015, S. 23.
40 A. Schlitte

Das Verständnis dieses Gedankens wird nach Malpas häufig durch die
Annahme erschwert, der Ort sei etwas bloß Subjektives im Gegensatz zum Raum
als einem objektiven Bezugssystem.
Dass die Formel Ort  = subjektiv, Raum =  objektiv letztlich nicht aufgeht,
begründet er wie folgt: Einerseits kann die Idee eines objektiven Raumes nicht
durch bloße Abstraktion aus dem subjektiven Raum abgeleitet werden, da ein
grundlegendes Raumverständnis schon Voraussetzung jeder Abstraktion sei.
Zudem bleibt, wenn man aus dem subjektiven Raum die Perspektive abzieht,
nicht der objektive, sondern gar kein Raum übrig.35 Doch auch umgekehrt kann
der objektive Raum nicht den subjektiven fundieren, weil er nicht so etwas wie
einen Standpunkt, eine Perspektive kennt.36 Doch das heißt nicht, dass beide
Raumaspekte völlig unabhängig voneinander sind, vielmehr bedingen sie einander
wechselseitig: „although the concept of objective space is indeed conceptually
distinct from that of subjective space, the grasp of the concepts of subjective
and objective space are nevertheless mutually interdependent – each requires the
other.“37.
Wenn Malpas dann vom Ort als einer grundlegenden Bedingung der Erfahrung
spricht, meint er daher nicht eine dieser beiden Seiten, sondern eine Struktur,
die der Differenz von Subjektivität und Objektivität noch vorausliegt und die im
Folgenden etwas genauer untersucht werden soll.

3.2 Topographie und Triangulation

Malpas benutzt zur Veranschaulichung dieser Struktur den Begriff der „Tri-
angulation“, der aus dem Bereich der Landvermessung stammt und ein Verfahren
bezeichnet, das sich der Gesetze der Trigonometrie bedient. Wenn man die Länge
einer Seite eines Dreiecks und die Winkel kennt, kann man die übrigen Seiten
mittels trigonometrischer Formeln berechnen, daher ermöglicht das Aufteilen
einer Fläche in Dreiecke die Messung großer Distanzen in der Landschaft.
In einem Essay von 1982 verwendet Donald Davidson den Begriff im Rahmen
seines Versuchs, die Entstehung von Objektivität zu erklären, als Analogie. Unter
Triangulation versteht Davidson die „in drei Richtungen gehende Beziehung
zwischen zwei Sprechern und einer gemeinsamen Welt“38, die in späteren Texten

35Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York:
Routledge 2018, S. 68.
36Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York:

Routledge 2018, S. 63.


37Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York: Routledge

2018, S. 71.
38Davidson, Donald: Einleitung. In: Davidson, Donald: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 12.


Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 41

eine fundamentale Bedeutung für seine Sprachphilosophie gewinnt. Ein Verständ-


nis von objektiver Wahrheit sowie die Annahme eines „empirische[n] Inhalt[s] der
Gedanken über die Außenwelt“39 setzen nämlich laut Davidson immer zwei Lebe-
wesen und ihren gemeinsamen Bezug auf einen Gegenstand voraus – ein Drei-
eck zwischen Ich, dem Anderen und dem Gegenstand. Diese „Dreiecksbeziehung
zwischen den Akteuren und einer Umwelt, auf die sie reagieren“, ist für Davidson
gar „eine notwendige Bedingung des Denkens“40, denn nur, wenn ein Wesen
seine Sicht auf den Gegenstand mit den Sichtweisen anderer in Beziehung setzt,
kann es eine Idee des Unterschieds von wahren und falschen Vorstellungen über
die Welt entwickeln. Ergänzt wird diese Bedingung dann noch um die Sprache.
Denn nur wenn die beiden Wesen sich sprachlich verständigen können, können sie
ihre Urteile über die Welt miteinander vergleichen und den Begriff der objektiven
Wahrheit ausbilden. Aus dieser Überlegung ergibt sich dann nach Davidson, „daß
Vernunft ein soziales Merkmal ist“41 und mit der Sprache untrennbar verbunden:
„Jedes der beiden Wesen interagiert mit einem Gegenstand, doch was jedem von
ihnen den Begriff von einem objektiven Sosein der Dinge vermittelt, ist die durch
Sprache geformte Grundlinie zwischen diesen Wesen.“42.
Es ergibt sich eine Dreiecksbeziehung zwischen dem Subjekt, dem Anderen
und dem Gegenstand, die man auch mit den „drei Spielarten des Wissens“
Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität in Verbindung bringen kann. Für
Davidson sind diese drei Spielarten irreduzibel und wechselseitig voneinander
abhängig.
Jeff Malpas greift diesen Gedanken Davidsons im Rahmen seiner philo-
sophischen Topologie auf. Was zunächst wie eine bloß zufällige Analogie
zwischen den Bedingungen des Denkens und einer Technik der Landvermessung
erscheint, wird von ihm nun explizit als orthafte Struktur aufgefasst und onto-
logisch interpretiert. Er bringt dabei Davidson mit der hermeneutischen Tradition
in Verbindung, wo sich ähnliche Überlegungen bei Gadamer und Heidegger auf-
zeigen lassen. Bei Heidegger findet sich die dreifache Struktur von „Selbst“,
„Anderem“ und „Ding“ ebenfalls, etwa wenn im ersten Teil von Sein und Zeit das
Dasein in seinem Selbstverhältnis, seinem Verhältnis zu anderen (Mitsein) und zu
den Dingen (dem Zeug) charakterisiert wird. Gadamer hingegen betont explizit die
Bedeutung des gemeinsamen Bezugs auf die Sache für das Verstehen.

39Davidson, Donald: Die Entstehung des Denkens In: Davidson, Donald: Subjektiv, Inter-

subjektiv, Objektiv. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 220.


40Davidson, Donald: Die Entstehung des Denkens In: Davidson, Donald: Subjektiv, Inter-

subjektiv, Objektiv. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 222.


41Davidson, Donald: Vernünftige Tiere In: Davidson, Donald: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 185.


42Davidson, Donald: Vernünftige Tiere In: Davidson, Donald: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 184.


42 A. Schlitte

Dieses Setting kann nun auch als Verortung der Beteiligten betrachtet werden,
denn nicht nur muss der Gegenstand, auf den die beiden Wesen sich beziehen,
irgendwo sein, auch die beiden Lebewesen blicken von je spezifischen Stand-
orten auf den Gegenstand, und nur so kann sich das Problem der Wahrheit hier
für Davidson stellen. Dass es verschiedene Standpunkte im wahrsten Sinne
des Wortes geben kann, ist eine Voraussetzung für das Denken überhaupt. Ver-
schiedene Standpunkte setzen aber Orte voraus, an denen etwas oder jemand
sich aufhält. Für Malpas gewinnt diese Struktur eine zentrale Bedeutung für die
menschliche Existenz als solche:

„So, to be a creature that is capable of worldly experience and of thought is not merely to
be a creature located in a physically extended space. It is to be a creature that finds itself
always already situated within a complex but unitary place – a place that encompasses the
creature itself, other creatures, and a multiplicity of objects and environmental features.“43

Sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer und Davidson ist diese triangulatorische
Struktur aber keine einschränkende Bedingung, sondern die Ermöglichung des
Denkens. Die genannten Autoren teilen nämlich die Idee, „that understanding is
not undermined by the placed character of our engagement with things and with
the world, but is rather made possible by it“44. Malpas deutet es als Ausdruck eines
fundamentalen Verortetseins, das aller Erfahrung vorausgeht: „In topographic terms,
this idea has an exact correlate: we gain access to a region only through being at
a certain place within it.“45. Unser In-der-Welt-Sein, so lässt sich dieser Gedanke
reformulieren, bedeutet wesentlich Verortetsein, und die Welt, in der wir uns
bewegen, ist letztlich eine Ortswelt.

4 Verortung als Bedingung der menschlichen


Existenz – ein Fazit

Wo sind wir also, wenn wir denken? Vielfach hat die Philosophie diese Frage mit
dem Verweis auf ein Nirgendwo beantwortet, einen Nicht-Ort, der nicht durch
einen partikularen Standpunkt, durch eine Geschichte, durch kulturelle Besonder-
heiten geprägt ist. Wir haben gesehen, dass eine Philosophie des Ortes dieses Ideal
des Denkens nicht teilen kann. „Heißt sehen nicht immer, irgendwoher sehen?“,
hatte Merleau-Ponty gefragt, und auf die Verbindung des Denkens mit dem Leib
hingewiesen, der uns die Verortung in der Welt ermöglicht.

43Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York: Routledge
2018, S. 161.
44Malpas, Jeff: Self, Other, Thing, Triangulation and Topography in Post-Kantian Philosophy.

Philosophy Today, Volume 59, Issue 1 (Winter 2015), S. 114.


45Malpas, Jeff: Self, Other, Thing, Triangulation and Topography in Post-Kantian Philosophy.

Philosophy Today, Volume 59, Issue 1 (Winter 2015), S. 114.


Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 43

Damit stellt sich aber die Frage nach dem Übergang von einem grundsätz-
lichen philosophischen Nachdenken über den Ort als Bedingung der Erfahrung
zu einer Beschäftigung mit den konkreten Orten des Denkens und Lebens als
Gegenständen der Erfahrung. Diesen Übergang könnte man wie folgt beschreiben:
Weil Denken immer schon verortet ist und weil die Verortung dem Denken nicht
zufällig zukommt, sondern für es wesentlich ist, kommt der Frage, wo wir sind,
wenn wir denken, eine große Bedeutung zu.
Dies ist im Übrigen auch aus einer ganz anderen Tradition heraus erkannt
worden. So wird etwa in der Kognitionswissenschaft seit einiger Zeit unter dem
Stichwort „situatedness“ oder „embodiment“ oder „embeddedness“ die Ein-
bindung der Kognition in Kontexte und Umwelten betont. Auch hier ist die
Forschung abgekommen von der Vorstellung, das Denken sei etwas, das sich
ausschließlich im Innern abspielt, und umso wichtiger wird die Umgebung, der
Ort, an dem wir denken, was sich in den 1980er- und 1990er-Jahren auch in der
Idee des „situated learning“ niedergeschlagen hat.46 Die „Kraft des Ortes“, von
der Aristoteles gesprochen hatte, zeigt sich in unterschiedlichsten kulturellen
Bereichen und ist auch und gerade für Bildungsprozesse von zentraler Bedeutung.
Dass Orte Dinge „versammeln“, das sich an ihnen Erinnerungen und Bedeutungen
festsetzen, wird im Konzept der Erinnerungsorte in der Geschichtswissen-
schaft beispielsweise längst theoretisch reflektiert und findet sich in Gedenk-
stätten praktisch umgesetzt. Die Interaktion zwischen einer Skulptur und ihrer
Umgebung wird im Gedanken der „Ortsspezifik“ in der Kunst thematisiert und
kann in Skulpturenparks und -projekten besichtigt werden. Spaziergänge zu den
wichtigsten Schauplätzen von Filmen und Büchern gehören heute selbstver-
ständlich zum touristischen Angebot und Führungen mit ortskundigen „Rangern“
eröffnen einen Zugang zu Nationalparks und Naturschutzgebieten.
Dass Orte wichtig für uns sind und einen Einfluss auf uns ausüben, heißt aber
nicht, dass sie etwas fertig Gegebenes sind, das wir einfach so hinnehmen müssen.
Vielmehr bilden sich die konkreten Orte erst durch Prozesse und Praktiken der
Verortung. Tim Cresswell gibt das banale Beispiel des Einzugs in ein neues Wohn-
heimzimmer, das durch persönliche Gegenstände in Besitz genommen und damit
erst zu einem eigenen Ort gemacht wird. Der scheinbar neutrale Raum, die weiße
Wand, füllt sich mit Erinnerungsstücken, die dem Ort einen spezifischen Charakter
verleihen: „Thus space is turned into place. Your place.“47. Zu den konkreten
Orten, mit denen wir es zu tun haben, bauen wir ebenso wie zu unseren Mit-
menschen und zu den Dingen, die sich an ihnen befinden, eine Beziehung auf,
auch wenn der Ort selbst uns eher wie eine Hintergrundstruktur erscheint, deren
Komponenten sich nicht immer leicht benennen lassen. Doch wenn wir die Tri-
angulation ernst nehmen, die ja die Gesamtstruktur aus Ding, mir selbst und

46Vgl. Clancey, William J.: Scientific Antecedents of Situated Cognition In: Robbins, Philip/
Aydede, Murat (Hrsg.): Cambridge Handbook of Situated Cognition. New York: Cambridge Uni-
versity Press 2009, S. 11–34.
47Cresswell, Tim: Place. An Introduction, Malden, MA/Oxford: Wiley-Blackwell 2015, S. 7.
44 A. Schlitte

den Anderen bezeichnete, sind wir an einem Ort dann auch nicht allein, sondern
können diesen mit anderen Lebewesen und Dingen teilen und ihn gemeinsam auch
verändern, so dass er bewohn- und erlebbar wird. Auch eine Beziehung zu Orten
aufzubauen kann man lernen. Man kann sich von ihnen erzählen lassen, man kann
sie erlesen, aber man kann sie auch erwandern, erspüren und ihre Atmosphäre,
den genius loci auf sich wirken lassen. Folgt man der Ortsphilosophie, so verwirk-
lichen wir mit diesen Praktiken einen wesentlichen Zug unserer menschlichen
Existenz. Auf diese Weise schweben wir weder im luftleeren Raum noch sind
wir an ein bestimmtes Fleckchen Erde ein für alle Mal gebunden. Auch wenn wir
immer schon irgendwo verortet sind, verorten wir uns doch immer wieder neu.

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Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.
Peripatetisches Philosophieren
Katrin Seele

Zusammenfassung

Peripatetisches Philosophieren stellt ein Lern- und Lehrformat dar, bei dem
Lernende im Gehen in einem thematisch affinen Umfeld unter Einbeziehung
philosophiedidaktischer Lern-/Unterrichtsmethoden philosophische Themen
und Inhalte erarbeiten. Lernende können je nach Lehr-/Lernkontext Einzelne
oder Gruppen im Präsenz- oder Fernunterricht sein. Der Beitrag beschreibt
zunächst das Peripatetische Philosophieren als aktuelle Lern- und Lehrform,
um dann die vier Begründungszusammenhänge, aus denen sich das Peri-
patetische Philosophieren speist, als die „vier Säulen peripatetischen Philo-
sophierens“ zu erläutern: Tradition, Kognition, Lokomotion und Situation.
Abschließend bietet der Beitrag einen Ausblick auf aktuelle Entwicklungen
Peripatetischen Philosophierens und betont dessen Eignung für Lernsettings im
Kontext von Pandemieprävention und Distance Learning.

Schlüsselwörter

Philosophiedidaktik · Embodied Cognition · Bewegtes Lernen · Situierung · 


Gesundheitsförderung

K. Seele (*) 
Institut Sekundarstufe I, Pädagogische Hochschule Bern, Bern, Schweiz
E-Mail: katrin.seele@phbern.ch

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 47
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_3
48 K. Seele

1 Einleitung

Lernen, studieren, forschen, lehren – sobald Wissens- und Erkenntnisgewinn


institutionalisiert wird, findet er in aller Regel in bestuhlten Räumen statt.
Lernende und Lehrende arbeiten meist „drinnen“ im Sitzen, sei es in den Räumen
der Schule oder Hochschule, sei es im Homeoffice beim Erarbeiten von Inhalten
aus dem Fernunterricht/Fernstudium. Lerninhalte und -gegenstände werden dabei
in aller Regel medial vermittelt und damit dekontextualisiert betrachtet, bei-
spielsweise in Form von Texten, Bildern, Tabellen, Filmen oder Präparaten. Die
Dekontextualisierung betrifft dabei sowohl die Lerninhalte und –gegenstände als
auch die Lernenden und Lehrenden selbst. Bei der Behandlung eines Lerngegen-
stands sind Lerngegenstand, Lernende und Lehrende aber nicht nur de-, sondern
auch rekontextualisiert. Sie verbindet gleichzeitig ein neuer Kontext: der der Lern-
gelegenheit, in der sie zusammentreffen (in der Regel sitzend in einem Raum).
Rupp et al. kritisieren aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive das gängige
Lehrformat als „Stillsitzlehre“1, das ein kulturell gewachsenes „sedentäres Ver-
halten“2 beim Lernen mehr oder weniger unhinterfragt perpetuiere.
Während in anderen Fächern außerschulische Lernorte eine Möglich-
keit bieten können, Lerninhalte in ihren angestammten, typischen Kontexten
außerhalb der Schule zu erleben (z. B. einen Dramentext als Theaterinszenierung,
ein Kunstwerk im Museum), stellt sich für philosophische Lerninhalte, für
Gedankengebäude und Theorien von Philosoph*innen, die Frage nach der Kon-
textualisierung in eher abstrakter aber gleichwohl dringlicher Weise: Welches
wäre ein passender Kontext, wo das angestammte außerschulische Umfeld für
die oftmals eher abstrakt formulierten philosophischen Gedanken? Man könnte
meinen, das Philosophieren sei eigentlich prädestiniert dafür, „im stillen Kämmer-
lein“ oder im „Elfenbeinturm“ betrieben zu werden. Gleichwohl wird gerade für
die Philosophiedidaktik eine „lebensweltliche Rückgebundenheit“3 eingefordert:
„Es leuchtet nicht ein, das Bedürfnis denkender Subjekte, sich über die sie
interessierenden Fragen zu orientieren, abtrennen zu wollen von den Gehalten, mit
denen das Denken operiert.“4. Peripatetisches Philosophieren ist eine Antwort auf
die Frage, wie diese „lebensweltliche Rückgebundenheit“ in ganzheitlicher Art
und Weise praktisch ausgestaltet werden kann.

1 Rupp, Robert/Dold, Chiara/Bucksch, Jens: Bewegte Hochschullehre. Einführung in das Heidel-


berger Modell der bewegten Lehre. Wiesbaden, Springer 2020, S. 2.
2 Rupp, Robert/Dold, Chiara/Bucksch, Jens: Bewegte Hochschullehre. Einführung in das Heidel-

berger Modell der bewegten Lehre. Wiesbaden, Springer 2020, S. 1.


3 Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/
Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik.
Paderborn: Ferdinand Schöningh 22017, S. 33.
4 Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/ Spiegel, Irina/
Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik.
Paderborn: Ferdinand Schöningh 22017, S. 33.
Peripatetisches Philosophieren 49

2 Was ist Peripatetisches Philosophieren?

„Beim Denken gehen, beim Gehen denken“5, lautet eine sehr kurze Beschreibung
der peripatetischen Methode. Peripatetisches Philosophieren bedeutet, das Philo-
sophieren im Gehen zu praktizieren, vorzugsweise draußen, und dabei Eindrücke
der Umgebung, aber auch der eigenen Körperwahrnehmung während des Gangs
in die philosophische Reflexion einfließen zu lassen. Das Peripatetische Philo-
sophieren als Lern- und Unterrichtsform greift dabei eine sehr alte philosophische
Praxis auf, wie unten in den Ausführungen über die Tradition der Methode gezeigt
wird. Neben der philosophischen Tradition sind aber auch kognitions- und neuro-
wissenschaftliche Erkenntnisse über das Denken und Lernen, über körperliche
Bewegung und die Relevanz von Orten und Umgebungen für Denk- und Lern-
prozesse wichtige Säulen, die die Methode des Peripatetischen Philosophierens
tragen. Dieser Aufsatz zeichnet daher anhand der vier Säulen Tradition, Kognition,
Lokomotion und Situation (s. Abb. 1) das theoretische Fundament des Peri-
patetischen Philosophierens nach.
Warum „peripatetisch“? Der Name der Methode leitet sich vom altgriechischen
Verb peripatein (περιπατεῖν) ab, das so etwas wie „umherwandeln“ bedeutet.
Das Substantiv peripatos (περίπατος) bezeichnet einen „Rundweg“6. Aristoteles’
philosophische Schule trägt ebenfalls den Namen Peripatos, abgeleitet von ihrem
Unterrichtsort in Athen. Peripatetisches Philosophieren als Methode bzw. Lern-
und Unterrichtsform knüpft jedoch weniger inhaltlich an die aristotelische philo-
sophische Schule und Tradition an, als vielmehr an die altgriechische Praxis des

Abb. 1  Säulen des Peripatetischen Philosophierens

5 Seele,
Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichtsmethode.
Münster/ Zürich: LIT 2012.
6 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische

Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 12.


50 K. Seele

Philosophierens auf einem Peripatos, die auch, aber nicht nur eine aristotelische
Praxis war. Diese Praxis kann als früheste schriftlich überlieferte Form des Philo-
sophierens im Gehen gelten.7

3 Peripatetisches Philosophieren als Lern- und


Unterrichtsform der Gegenwart

Peripatetisches Philosophieren bedeutet, das Philosophieren im Gehen zu


praktizieren, vorzugsweise draußen, und dabei Eindrücke der Umgebung,
aber auch der eigenen Körperwahrnehmung während des Gangs in die philo-
sophische Reflexion einfließen zu lassen.

Ausgangspunkt des konkreten didaktisch-methodischen Settings ist zunächst


jeweils die Auswahl eines Lerngegenstands/Themas, der/das sich unterwegs gehend
erarbeiten lässt, sowie eines dazu passenden, thematisch inspirierenden Umfelds (s.
Abschn. 2.4). Das Lernformat – das Unterwegssein und Umhergehen – gibt vor, dass
sich auditive Inputs (z. B. Hörtexte) oder aber kurze „Laufzettel“ oder „Laufkärtchen“
mit wenig Text oder auch einer Grafik besonders gut eignen, da das Lesen längerer
Texte wie auch das Lesen auf dem Smartphone unterwegs ungünstig und störend
sind. Was die vier sprachlichen Kompetenzbereiche (Sprechen, Schreiben, Lesen,
Hören) angeht, so kann für das Peripatetische Philosophieren festgehalten werden,
dass sich bei den rezeptiven Kompetenzen vor allem das Hören und – mit Ein-
schränkungen (Textlänge) – das Lesen für das Peripatetische Philosophieren anbieten;
was die produktiven Sprachkompetenzen angeht, bietet sich beim Peripatetischen
Philosophieren vor allem das Sprechen an; Schreibaufträge können unterwegs zwar
konzeptionell vorbereitet, jedoch nur sehr eingeschränkt umgesetzt werden.
Peripatetisches Philosophieren kann sowohl in einer Lerngruppe als auch
allein, z. B. in Formaten des Fernunterrichts praktiziert werden (s. Kap. 5). Bei der
Durchführung in einer Großgruppe (z. B. Schulklasse, Seminar) kommt es nahezu
notwendigerweise nach kurzer Zeit zur Bildung von Kleingruppen, da das peri-
patetische Gespräch erfahrungsgemäß mit maximal 3–4 Personen gleichzeitig gut
funktioniert (oft gibt die Wegbreite vor, wie viele Personen de facto nebeneinander
gehen können). Die Zusammensetzung der Kleingruppen ist dabei dynamisch und
fluide: durch Variationen des Gehtempos können Personen sich zurückfallenlassen
(und dort z. B. zu einer anderen Gruppe hinzustoßen) oder vorwärts aufschließen.
Auch kommt es vor, dass Personen sich separieren, um allein zu gehen. All dies ist
im Rahmen des Peripatetischen Philosophierens willkommen. Bewährt haben sich
folgende rahmengebende Regeln:

7 
Vgl. Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Alt-
historische Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 11.
Peripatetisches Philosophieren 51

Peripatetische Regeln
1. Gehe! Bitte möglichst nicht stehenbleiben, nicht hinsetzen. Du darfst
selbstverständlich kurz anhalten, um themenbezogen auf deinem Spazier-
weg etwas genauer anzusehen oder anzufassen. Gehe jedoch danach rasch
weiter und führe deine Gespräche im Gehen. Versuche, auch Notizen im
Gehen anzufertigen (ggf. Audionotizen via Smartphone).
2. Diskutiere! Mit verschiedenen Mitgliedern deiner Lerngruppe, aber gern
auch mit anderen Personen, die du unterwegs triffst. Die Idee ist, dass du
deine Arbeitsaufträge im dialogischen Austausch bearbeitest.
3. Bleibe „bei der Sache“!
4. Bleibe im vorgesehenen Spazierareal! So besteht die Möglichkeit,
dass du unterwegs Mitschüler*innen bzw. Studierenden anderer Arbeits-
gruppen und deiner Lehrperson begegnest und dich mit ihnen austauschen
kannst.
5. Behalte die Zeit im Auge! Teile dir die vorgegebene Zeit gut ein und sei
bitte pünktlich an den vorgegebenen Treffpunkten.

Innerhalb dieses Rahmens können die meisten prominenten philosophie-


didaktischen Methoden (z. B. Gesprächs- und Diskussionsmethoden, Gedanken-
experimente, Dilemmadiskussionen, theatrales Philosophieren) auch peripatetisch
durchgeführt werden.

4 Die vier Säulen peripatetischen Philosophierens

Bereits im Kap. 2 („Was ist Peripatetisches Philosophieren?“) wurde dargelegt,


dass Peripatetisches Philosophieren im Wesentlichen von vier „Säulen“ getragen
wird (vgl. auch Abb. 1). Jede dieser Säulen bildet einen Begründungszusammen-
hang, aus dem heraus das Peripatetische Philosophieren sinnvoll abgeleitet werden
kann. Und alle vier Begründungszusammenhänge tragen als theoretisches wie
auch inhaltliches Fundament zur Konzeptentwicklung des Peripatetischen Philo-
sophierens bei.
Das folgende Kapitel zur Tradition (1. Säule) peripatetischen Philosophierens
zeigt verschiedene Meilensteine aus der Geschichte der Philosophie auf – die Aus-
wahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und könnte sicherlich ergänzt
werden. Der Abschnitt zur Kognition (2. Säule) behandelt ausgewählte philo-
sophische, kognitions- und neurowissenschaftliche Theorien über menschliche
Denk- und Wahrnehmungsvorgänge und liefert damit ein Argument für Peri-
patetisches Philosophieren als „kognitionsfreundliche“ und lernförderliche Unter-
richtsform. Abgeleitet aus der peripatetischen Praxis des Gehens fundiert der
Absatz zur Lokomotion (3. Säule) den dem Peripatetischen Philosophieren inne-
wohnenden Aspekt der Bewegung theoretisch-konzeptionell. Die Überlegungen
zur Situation (4. Säule) tragen schließlich dem Umstand Rechnung, dass das
52 K. Seele

konkrete Umfeld, in dem das bewegte Denken stattfindet, für die intendierte
kreative Synthese von Thema, Bewegung und Umfeld in einem Gedankengang
von Bedeutung ist. Den Abschluss des Beitrags bildet ein Ausblick auf aktuell
in der Erprobung befindliche Variationen des Peripatetischen Philosophierens als
schulische und universitäre Praxis.

4.1 Tradition

Auch wenn der Schulname gewordene Begriff „Peripatos“ häufig Aristoteles


zugeschrieben wird, gab es offenbar im antiken Griechenland eine verbreitete
Praxis des Philosophierens im Gehen: Hoepfner8 berichtet über „das seltsame
Phänomen, dass Philosophen während der Lehre auf und ab zu schreiten pflegten,
sich täglich mit Schülern auf einem Peripatos (Rundweg) bewegten“. Der Nach-
welt sei diese philosophische Praxis durch die zehn Bücher des Historiographen
Diogenes Laertius (3. Jh. n. Chr.) überliefert. Hoepfner zufolge pflegten „alle
Philosophen, auch die der Akademie [Platons], die ambulatorische Lehre“9,
Theophrast z. B. draußen im eigenen Garten. Sokrates, von Steenblock als „wege-
lagernd fragender Philosoph“10 bezeichnet, lehrte Überlieferungen zufolge haupt-
sächlich auf dem Athener Marktplatz.
Hoepfner wendet sich gegen die u. a. vom Altphilologen Adolf Busse ver-
tretene Argumentation, dass der Peripatos von Aristoteles ein Bauwerk gewesen
sein müsse: vielmehr sei der aristotelische Peripatos ein Rundweg am Hang der
Akropolis gewesen, der „von der Polis als besondere Wertschätzung für Aristoteles
und seine Schüler angelegt“11 worden sei. Gleichwohl sieht Steenblock12 in der
Tatsache der aristotelischen Schulgründung auch eine Abkehr vom sokratischen
Prinzip des offenen Philosophierens auf dem Marktplatz.
Das Wort Peripatos wurde möglicherweise erst von Platon eingeführt, aus-
gehend vom Verb peripatein, das – wie bereits oben dargelegt – allgemein die
Bewegung des Hin- und Hergehens bzw. Umhergehens beschreibt. Hoepfner ist
bei der Übersetzung vom Altgriechischen ins Deutsche die Bedeutungsabgrenzung

8 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische


Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 11.
9 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische

Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 11.


10 Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/ Spiegel, Irina/
Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik.
Paderborn: Ferdinand Schöningh 22017, S. 30.
11 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische

Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 12.


12 Vgl. Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/ Spiegel, Irina/

Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik.
Paderborn: Ferdinand Schöningh 22017, S. 30 f.
Peripatetisches Philosophieren 53

des peripatein von dem, was gegenwärtig mit „Spazierengehen“ bezeichnet


würde, wichtig:

„Es ist mir ein Anliegen, im Zusammenhang mit Peripatos das oft in deutschen Über-
setzungen benutzte Wort Spaziergang zu tilgen. Noch anstößiger ist die Formulierung,
dass Aristoteles bei der Lehre lustwandelte. Die Lehre auf einem Peripatos war
konzentrierte Arbeit. […] Auch bei Xenophon, Oikonomikos 14.15 ist mit dem Wort
περίπατος ein ruhiger, im Freien liegender, von Philosophen benutzter Weg gemeint
(kein Spaziergang!)“13

Von der verbreiteten Praxis, gezielt im Gehen nachzudenken, zu philosophieren,


berichtet auch die Hellenistin Montiglio, und zwar nicht nur für die griechische,
sondern auch die römische Antike:

„During the Roman empire, many sages wandered all over the Mediterranean world.
They went about for the sake of intellectual and spiritual enrichment, but essentially to
spread their teaching and to intervene in local quarrels as religious consultants. Wandering
connoted their ambiguous status in society – both in and out – and thereby enhanced their
charisma and endowed them with an aura of superior power.“14

In früheren Zeiten sei das Umherwandern, der Status „Wanderer“, hingegen eher
unheimlich und verdächtig gewesen – so bei Homer.15 Der erste überlieferte
wandernde Philosoph (in der positiven Konnotation eines weisen Mannes) war
Montiglio zufolge Solon (7. Jh. v. Chr.), von dem Herodot berichtet. Der Unter-
schied zwischen dem philosophierenden Wandern Solons und der hier als peri-
patetisch bezeichneten philosophischen Praxis von Platon oder Aristoteles lag
jedoch vermutlich im Zweck, der mit dem Wandern bzw. Umhergehen verknüpft
war: Solons Reisen dienten vor allem dem eigenen Erkenntnisgewinn, wohingegen
die platonische Akademie oder der aristotelische Peripatos Bildungsinstitutionen
waren. Montiglio charakterisiert die unterschiedlichen Motive wie folgt:

„Love of knowledge is the motive that drove several other Presocratics to travel
extensively. Although these sages were also called upon to share their wisdom, as Solon’s
example alone shows, they primarily went about to learn for themselves rather than to
teach others. Their wanderings are a ‚Bildungsreise‘.“16

13 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische


Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 12.
14 Montiglio, Silvia: Wandering Philosophers in Classical Greece. In: The Journal of Hellenic

Studies, 120. 2000, S. 86–105. https://doi.org/10.2307/632482, S. 86.


15 Vgl. Montiglio, Silvia: Wandering Philosophers in Classical Greece. In: The Journal of
Hellenic Studies, 120. 2000, S. 86–105. https://doi.org/10.2307/632482, S. 86.
16 Montiglio, Silvia: Wandering Philosophers in Classical Greece. In: The Journal of Hellenic

Studies, 120. 2000, S. 86–105. https://doi.org/10.2307/632482, S. 88.


54 K. Seele

An dieser Stelle wird bereits deutlich, welches Bedeutungsspektrum sich


inspirierender- wie auch irreführender Weise bei der Übertragung der historischen
Praktiken (ambulatorische Lehre auf einem Peripatos/ in einem Garten/ einer
Wandelhalle vs. Wanderlehrende/ Wanderweise vs. Wandernde/ Heimatlose vs.
Bildungsreisende usw.) und der dafür verwendeten Übersetzungen (umhergehen
vs. spazierengehen vs. lustwandeln vs. wandern vs. reisen usw.) öffnet.
Für die Konzeptentwicklung des Peripatetischen Philosophierens ist diese Unter-
scheidung und Nuancierung wichtig, die sich auch in der deutschen Sprache in der
Bedeutungsdifferenz der für die Übersetzung von peripatein verwendeten Verben
zeigt: Peripatetisches Philosophieren – so wie es hier verstanden und definiert
werden soll – ist weder Sport noch Bildungsreise eines Individuums, und der Weg
ist nicht bloßes Mittel zum Zweck, einen bestimmten Zielort zu erreichen. „Gehen“
ist vielmehr eine eher niederschwellige, wenngleich kontinuierliche körperliche
Aktivität auf einem möglicherweise sogar heimatlichen, vertrauten Weg (vgl.
Hoepfners Beschreibung des Athener Peripatos als quasi ritualisiertem Spazier-
weg oben, wie auch Kempermanns neurowissenschaftliche Einordnung des Gehens
im Abschn. 4.2), wobei gerade die Vertrautheit Raum geben kann für die geistig
konzentrierte Arbeit, die Hoepfner17 zufolge während der „Lehre“ auf dem Peri-
patos stattfindet. Montiglio18 vertritt gar die These, dass Platon, gerade weil er das
Umhergehen für konzentrationsfördernd gehalten habe, die Gesprächspartner in
seinen Dialogen oftmals als umhergehend beschreibt.
Auch wenn also in der Antike offenbar nicht selten im Gehen philosophiert
wurde, so war in dieser Zeit die Tätigkeit des Gehens weniger als die Tatsache des
aufrechten menschlichen Gangs Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung:
Bayertz sieht eine konzeptuelle Verbindung in der jahrtausendealten Beobachtung,
dass der Mensch im Gegensatz zu anderen Tieren zum aufrechten Gang befähigt
ist und seiner philosophisch-anthropologischen Bestimmung als intelligentes
Lebewesen mit einer daraus abgeleiteten besonderen Stellung im Kosmos.19
Im Mittelalter lässt sich die Traditionslinie des „Denkens unterwegs“ weiter-
zeichnen bei jenen an die Praxis des Diogenes anknüpfenden christlichen Asketen,
die bewusst ein Leben in der Fremde (peregrinatio) wählen. Für diese Asketen
bedeutet die Wanderschaft Montiglio20 zufolge die Fokussierung auf die flüchtige
Beschaffenheit des menschlichen Erdenlebens. Der menschliche aufrechte Gang

17 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische


Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 12.
18 Vgl. Montiglio, Silvia: Wandering Philosophers in Classical Greece. In: The Journal of
Hellenic Studies, 120. 2000, S. 86–105. https://doi.org/10.2307/632482, S. 93.
19 Vgl. Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang: Ursprung der Kultur und des Denkens? Eine anthropo-

logische Debatte im Anschluss an Helvétius‘ De l’Esprit. In: Garber, Jörn/ Thoma, Heinz (Hrsg.):
Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen:
Max Niemeyer Verlag 2004. (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24), S. 59.
20 Vgl. Montiglio, Silvia: Wandering Philosophers in Classical Greece. In: The Journal of
Hellenic Studies, 120. 2000, S. 86–105. https://doi.org/10.2307/632482, S. 100.
Peripatetisches Philosophieren 55

wird im Mittelalter mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen verbunden „und


mit der speziellen Beziehung, die der Mensch zu Gott hat – im Unterschied zu den
Tieren“21. In der klösterlichen Praxis des Mittelalters spielte ferner die Bauform
des Kreuzgangs eine Rolle: Ein Kreuzgang ist ein offener Bogengang,

„welcher um die innere Seite der meist nach Norden, oft auch nach Süden von der Kirche
liegenden Hauptgebäude des Klosters geht, im Viereck einen Garten od. Begräbnißplatz
umschließt, meist gewölbt, aber auch flach gedeckt, oft reich architektonisch u. malerisch
ausgeschmückt ist u. bei ungünstiger Witterung zu Bet- u. Bittgängen unter Vortragung
des Kreuzes, od. auch zu Spaziergängen der Klosterbewohner diente. […] In den
Benedictinerklöstern wurden in der einen Seite des Kreuzgangs täglich die bestimmten Capitel
aus den Kirchenvätern etc. u. jährlich wenigstens viermal die Regel des St. Benedict vor den
versammelten Brüdern verlesen, weshalb dieser Gang auch oft Lehrgang (Lectio) heißt.“22

Das Gehen als Tätigkeit und reflektierenswerte Art und Weise der Fortbewegung
wird Bayertz zufolge hingegen erst in der Neuzeit als philosophisches Thema
entdeckt23, interessanterweise gerade mit dem Fokus auf das Fragile, Sturz-
anfällige, motorisch Unsichere dieser Fortbewegungsart. Bayertz sieht in dieser
Fokussierung die veränderte Stellung des Menschen in der Welt gespiegelt, die
„ambivalent und unsicher geworden“24 sei. Gleichzeitig spiele das Gehen als
Kennzeichen gesellschaftlicher Stellung im 18. Jahrhundert eine Rolle: „Das
Bürgertum will sich vom Adel abgrenzen, der zwar auch zu Fuß ging, aber nur
in seinen Gärten, die durch hohe Mauern abgeschottet waren. […] In expliziter
Abgrenzung dazu wurde im Bürgertum das Gehen im öffentlichen Raum und
zumal in der Natur zur Tugend erhoben.“25
Auch mit Blick auf die Neuzeit können unterschiedliche Praktiken des Philo-
sophierens im Gehen differenziert werden von

• Denker*innen, die zwischendurch oder regelmäßig spazieren gingen, weil sie


annahmen, dass dies ihre Arbeit (die sie aber hauptsächlich am Schreibtisch
verrichteten) in irgendeiner Weise beflügeln würde,
• und solchen, die die philosophische Arbeit an sich ins Gehen verlegten und somit
den Gang nicht zur Rekreation nutzten, sondern zur philosophischen Kreation.26

21 Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark mit
Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 13.
22 Pierer‘s Universal-Lexikon: Kreuzgang. 4. Auflage. Band 9. Altenburg 1860, S. 802.

23 Vgl. Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark

mit Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 13.


24 Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark mit

Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 13.


25 Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark mit

Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 14.


26 Seele, Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichts-
methode. Münster/ Zürich: LIT 2012, S. 14 f.
56 K. Seele

Zur erstgenannten Gruppe gehören beispielsweise Immanuel Kant, der für seine
täglichen Spaziergänge durch Königsberg bekannt ist, oder Friedrich Nietzsche,
der Gehen und Denken in Sils-Maria eng verknüpfte und wohl die Auffassung
vertrat, „dass ‚ungeheure Märsche‘ und ‚beständige Strapazen‘ gut für das Genie
seien. Bekanntlich war er allem Sitzen abgeneigt.“27 Auch der dänische Philo-
soph Sören Kierkegaard betonte in seinen Briefen die Relevanz des Gehens für
sein Wohlbefinden allgemein, aber auch für das Denken. Es ist stark anzunehmen,
dass diese Philosophen auf ihren Spaziergängen über ihre Gedanken, Texte und
Lektüre nachdachten, philosophierten. Eine explizite und bewusste Verknüpfung
von Gehen, Denken und Umfeld fand jedoch in aller Regel nicht statt bzw. ist
nicht überliefert. Auch waren diese Denker wohl vor allem allein unterwegs, es
fand also keine dialogische oder didaktisch kontextualisierte Reflexion statt, wie
es wohl in der Schule des Aristoteles der Fall gewesen ist.
Im Kontext des hier vorgestellten Peripatetischen Philosophierens ist aber ins-
besondere diejenige philosophisch-praktische Tradition von Interesse, bei der das
Gehen nicht vordergründig zur Erholung des denkenden Individuums praktiziert
wird, sondern Gehen, Denken und Lehren/Lernen auf einem bewusst dafür aus-
gewählten Weg gezielt verknüpft werden und das Umfeld wie auch der sich
bewegende Körper ein „Mitspracherecht“ bei der philosophischen Reflexion
bekommen. In dieser Traditionslinie sind vor allem Jean-Jacques Rousseau und
Henry Thoreau zu nennen.
Im Werk Jean-Jacques Rousseaus gehen Pädagogik, das persönliche Umfeld
und die Praxis des Gehens eine enge und bewusste Verknüpfung ein.

„Irren, allein, ohne Ziel und ohne Unterlass, zwischen Bäumen und Felsen, die meine
Bleibe umgeben, träumen oder genauer extravagabundieren […], wie es mir gefällt und
Maulaffen feilhalten, wenn sich mein Gehirn allzu sehr erhitzt, und zur Abkühlung ein
paar Binsen analysieren, kurz: mich ohne Unterwerfung und Hemmnis meinen Phantasien
hingeben, die, dem Himmel sei Dank, ganz in meiner Macht stehen […]“,28

das sind von Rousseau hochgeschätzte Aktivitäten. In seinem pädagogischen


Hauptwerk, dem Roman Émile oder Über die Erziehung (1762), findet die fiktive
Ausbildung Émiles, der pädagogischen Überzeugung des Autors folgend, teilweise
draußen im Freien im Gehen statt, damit Émile sich mit und an den Erfahrungen
mit der Lebenswelt und Natur bildet. Indirekt kritisiert Rousseau die gängigen
Lehrmethoden seiner Zeit, wenn er Heranwachsende als „umherwandelnde
Puppen“ beschreibt, „die keinen größeren Marsch als von einem Zimmer in das
andere kennen, die in Blumentöpfen Ackerbau treiben und papierne Lasten mit

27 Schmidt,Aurel: Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden. Frauenfeld/ Stuttgart/ Wien: Ver-
lag Huber 2007, S. 22.
28 Rousseau, Jean-Jacques (o. J.): Emil oder Über die Erziehung. Band 1. Leipzig: Holzinger,

S. 343.
Peripatetisches Philosophieren 57

sich umherschleppen.“29 Mit Émile hingegen geht der fiktive Erzieher Jean-
Jacques in die Natur, wie beispielsweise im Dritten Buch beschrieben wird: Hier
verirren sich Émile und Jean-Jacques bei einem Spaziergang im Wald und können
den Heimweg nicht finden. Jean-Jacques führt in diesem Umfeld mit dem kindlich
verzweifelten Émile einen Dialog, fast schon ein sokratisches Gespräch, in dem
er das Vorwissen und die Kombinationsgabe Émiles über Orientierungsmöglich-
keiten aktiviert und Émile daraufhin eine Lösung entwickelt, wie der Heimweg
gefunden werden kann. Jean-Jacques kommentiert die Episode folgendermaßen:

„Ihr könnt versichert sein, daß er die Lektion dieses Tages sein Leben lang nicht ver-
gessen wird, während meine Rede, sobald ich ihm über dies alles nur in seinem Zimmer
einen Vortrag gehalten hätte, schon am nächsten Tage wieder vergessen wäre.“30

Die lebensweltlichen Erfahrungen –draußen in der Natur auf einem Spaziergang –


werden somit von Rousseau ins Zentrum des Lernens gerückt, Lebenswelt,
Erfahrung und Erkenntnisgewinn werden miteinander verknüpft. Die Rolle des
Erziehers besteht darin, „bestimmte Erfahrungen“ zu ermöglichen und „das Kind
mit ausgewählten Ausschnitten der Natur in Berührung“ zu bringen.31
Auch der US-amerikanische Philosoph (und auch Pädagoge) Henry David
Thoreau verknüpft Natur und Gehen in seinem philosophischen Werk. Seinen
vielleicht populärsten Text, Walden; or, Life in the Woods, verfasst er 1854
während einer zweijährigen Phase, in der er abgeschieden in einer Hütte in den
Wäldern von Massachusetts lebt und wandert, um über Lebensstil und Gesell-
schaft zu reflektieren. Thoreaus Ratschläge für die geistige Betätigung im Gehen
und die bewusste Verknüpfung von Gehen und Denken lauten:

„Aber das Wandern, das ich meine, hat nichts zu tun mit den sogenannten gymnastischen
Übungen, bei denen man Hanteln oder Stühle schwingt, planmäßig, wie ein Kranker seine
Medizin zu vorgeschriebener Zeit einnimmt. Man betrachte den Spaziergang vielmehr als
die Unternehmung, ja, als das Abenteuer des Tages. […] Außerdem sollte man gehen wie
ein Kamel, dem man ja nachsagt, es sei das einzige Tier, das im Laufen wiederkäut.“32

Die Abgrenzung zum Sport („gymnastische Übungen“) reiht die hier von Thoreau
vorgeschlagene Praxis des Gehens in die Traditionslinie des peripatein ein. Aber
auch die innere Einstellung, mit der gegangen wird, ist Thoreau zufolge für den
sich potenziell entwickelnden Gedankengang konstituierend. Abschließend

29 Rousseau, Jean-Jacques (o. J.): Emil oder Über die Erziehung. Band 1. Leipzig: Holzinger,
S. 285.
30 Rousseau, Jean-Jacques (o. J.): Emil oder Über die Erziehung. Band 1. Leipzig: Holzinger,

S. 322.
31 Korrenz, Ralf/ Kenklies, Karsten/ Kauhaus, Hanna/ Schwarzkopf, Matthias: Geschichte der

Pädagogik. Paderborn: Brill/ Ferdinand Schöningh 2017, S. 158.


32 Thoreau, Henry David: Vom Wandern. Stuttgart: Reclam 2017 (zuerst 1851), S. 15.
58 K. Seele

sei hier eine Beobachtung Thoreaus aus seiner Zeit in den Wäldern mitgeteilt,
die ebenfalls einen wichtigen Baustein für die Konzeptentwicklung des Peri-
patetischen Philosophierens darstellt. Thoreau beobachtet: „Leute, die selten
in den Wald kommen, nehmen gern ein Stückchen Wald in die Hände, um beim
Wandern damit zu spielen; nachher werfen sie es irgendwo fort – absichtlich
oder zufällig.“33 Dies mag – ähnlich wie auch von Rousseau beschrieben – eine
Integration weiterer Sinneseindrücke und Erfahrungen in den Erkenntnisprozess
ermöglichen. Solche haptischen Erfahrungen können, wie Seele34 ausführt, auch
Bestandteil des Peripatetischen Philosophierens (als Unterrichtsmethode) sein.
Inwiefern diese Verknüpfung von Sinneseindrücken, Bewegungen, Umwelt und
Denken philosophisch von Belang sein mögen, sei im folgenden Abschnitt näher
betrachtet.

4.2 Kognition

Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Dieser 1784
von Immanuel Kant formulierte „Wahlspruch der Aufklärung“ ist auch ein philo-
sophiedidaktisches Leitmotiv.35 Aber: Wie kann ich mich meines eigenen Ver-
standes bedienen?
Nach den chronologisch und exemplarisch organisierten Ausführungen über
wichtige Traditionslinien des Philosophierens im Gehen wird deutlich, dass das,
was die Lernform des Peripatetischen Philosophierens auszeichnet, eine bewusste
und gezielte Integration von Denken, Körperbewegung und Umwelt ist. Speziell die
oben zitierten Überlegungen von Rousseau und Thoreau machen deutlich, dass das
Philosophieren draußen im Gehen eine beachtenswerte physische Komponente hat:
Die menschliche Physis ist offensichtlich draußen im Gehen anderen Reizen und
Herausforderungen ausgesetzt als im Studierzimmer. Eine für das Peripatetische
Philosophieren konstitutive Annahme lautet daher: Das, was wir physisch fühlen,
wahrnehmen, erleiden, hat einen Einfluss darauf, was und wie wir denken. Philo-
sophisch steht diese Annahme einem traditionellen Leib-Seele-Dualismus, wie ihn
etwa René Descartes prominent behauptet und begründet hat, entgegen.

33 Thoreau, Henry David: Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Englischen von Wilhelm
Nobbe. 3. Auflage. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2017, S. 188.
34 Vgl. Seele, Katrin: „Klima“ und „Umwelt“: Potenziale der Peripatetischen Methode – inspiriert

von Henry David Thoreau. In: ZDPE 4/2018, S. 62.


35 Vgl. Albus, Vanessa/ Jost, Leif Marvin: Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen
Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen. In: Albus,
Vanessa/ Frank, Magnus/ Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht.
Münster: Lit 2017; Seelhorst, Bernhard: Herausforderungen der Philosophie- und Ethikdidaktik.
Hinweise aus Sicht der Unterrichtspraxis. In: Information Philosophie 1. 2015, S. 44–53;
Tiedemann, Markus: Problemorientierung. In: Nida-Rümelin, Julian/ Spiegel, Irina/ Tiedemann,
Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn:
Ferdinand Schöningh 22017, S. 70–78.
Peripatetisches Philosophieren 59

Auf der Suche nach einer Antwort auf die oben formulierte Frage: „Wie kann
ich mich meines eigenen Verstandes bedienen?“ scheint – gerade wegen der
Bedeutsamkeit von individueller Physis, Wahrnehmungen und Empfindungen
unterwegs – ein Erklärungsansatz weiterführend zu sein, der eine integrative
Sichtweise auf kognitive und physische Vorgänge bietet. Einen möglichen der-
artigen Erklärungsansatz liefert der philosophisch-kognitionswissenschaftliche
Diskurs um Embodied Cognition. Aufbauend auf den in phänomenologischer
Tradition stehenden Ideen Maurice Merlau-Pontys zur Rolle des Leibes
thematisieren George Lakoff und Mark Johnson unter dem bildlich-sprechenden
Titel „Philosophy in the Flesh“ die Körperlichkeit des Geistes:

„Rather, the mind is inherently embodied, reason is shaped by the body, and since most
thought is unconscious, the mind cannot be known by self-reflection.“36

Der Körper ist in diesem Verständnis nicht von den kognitiven Prozessen separier-
bar, sondern Kognition und Physis bilden eine Einheit. Mehr noch: Lakoff und
Johnson zufolge formen physische Gegebenheiten den Geist, da die individuelle
menschliche Vorstellungswelt sich weitgehend auf das Zusammenspiel von
Körper und der Umwelt stützt.37 Wichtig sei aber nicht nur, dass Menschen
Körper haben und dass das Denken irgendwie verkörpert sei. Zentral sei vielmehr,
dass die spezifische Wesensart des Körpers die Möglichkeiten kognitiver Kon-
zeptualisierung und Kategorisierung38, der „Vernunft“ (reason), präge:

„From a biological perspective, it is eminently plausible that reason has grown out of the
sensory and motor systems and that it still uses those systems or structures to develop
from them.“39

Ähnliches gelte für das Umfeld und die Erfahrungen, die ein Individuum mache:
sie prägen die für die Person relevanten gedanklichen und begrifflichen Kate-
gorien. Mit anderen Worten: Kategorien als sinnvolle gedankliche Organisation
und Zuschreibungen werden nicht beliebig gebildet, auch nicht aufgrund einer
vorgegebenen geistigen Struktur oder objektiver Merkmale der Umwelt, sondern
aufgrund der individuellen Relevanz ebendieser spezifischen Organisation – den
Unterschieden, die wahrgenommene Unterschiede für das Individuum machen.40

36 
Lakoff, George/ Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its
Challenge to Western Thought. New York: Basic Books 1999, S: 5.
37 Vgl. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its

Challenge to Western Thought. New York: Basic Books 1999, S. 6.


38 Vgl. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its

Challenge to Western Thought. New York: Basic Books 1999, S. 19.


39 Lakoff, George/ Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its
Challenge to Western Thought. New York: Basic Books 1999. S. 34.
40 Vgl. Bateson, Gregory: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt: Suhrkamp 1987,

S. 123.
60 K. Seele

Der Neurologe Gerd Kempermann formuliert es so: „Jeder Mensch hat sein
eigenes Gehirn. (…) Wir haben in unserem Schädel kein Einheitsmodell.“41
Kempermann führt aus, dass „alles, was wir erleben und erfahren“, „Spuren“
im Gehirn hinterlässt42. „Spuren“ ist die metaphorische Übersetzung neuro-
plastischer Vorgänge und Veränderungen, die im zentralen Nervensystem durch
Umwelteinflüsse ausgelöst werden und die gemeinhin mit „Lernen“ beschrieben
werden. Lernen zeichnet sich demnach aus neurowissenschaftlicher Perspektive
durch Neuroplastizität aus, also durch die Möglichkeit des Gehirns, sich umzu-
bauen, anzupassen, neue Vernetzungen auszubilden oder gar neue Nervenzellen
hinzuzufügen43 („adulte Neurogenese“): „Alle Hirnfunktionen, die im Ent-
ferntesten als Lernen bezeichnet werden können, (…) bedürfen der Plastizität.“44
Kempermann zufolge haben sowohl „reizreiche Umgebungen“45 als auch
körperliche Bewegung46 einen positiven Einfluss auf Neuroplastizität, die adulte
Neurogenese und damit die kognitive Aktivität und das Lernen:

„Wer viel herumkommt, erlebt auch viel und muss deshalb viel denken. (…) Viel
Bewegung bedeutet eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass viele Entscheidungen getroffen
werden müssen. Viel Bewegung in einer komplexen Welt ist gleichbedeutend mit einer
erhöhten ‚cognitive load‘.“47

Wie kann ich mich also aus dieser kognitions- und neurowissenschaftlichen
Perspektive meines eigenen Verstandes bedienen? Erfahrungsgemäß bieten
unterschiedliche Lebensformen und -entwürfe auch unterschiedliche Arten von
Zugriff auf geistige Aktivitäten. Allerdings haben die Lebensformen, der Grad an
physischer Aktivität, sensorischer Reizexposition und kognitiver Herausforderung
einen Einfluss auf Lernen und Denken. Offenbar macht es für das Gehirn – die
Neuroplastizität – einen Unterschied, ob ich „als Philosoph, im Sessel sitzend, die

41 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben
lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 18.
42 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben

lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 19.


43 Kempermann zufolge ist die Nervenzellentwicklung des Menschen „bis zum Schulalter
weitestgehend abgeschlossen“. Das Kleinhirn entwickelt sich noch bis zum Alter von ca. zehn
bis zwölf Jahren weiter. Danach spricht man von „adulter Neurogenese“ – sie ist nur noch im
Hippocampus („jener kleinen Hirnregion, die zentral in Lern- und Gedächtnisvorgänge involviert
ist“) und im Riechkolben statt. (Kempermann 2016, S. 23).
44 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben

lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 110–113.


45 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben

lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 51.


46 Vgl. Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein

Leben lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 213 f.


47 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben

lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 215.


Peripatetisches Philosophieren 61

Welt vollständig im Inneren entstehen lasse. Oder aber im Fitnessstudio, wenn wir
die Bewegung von der realen Erfahrung der Welt entkoppeln“48. In beiden Fällen
finden Aktivitäten statt (rege Vorstellungsarbeit im ersten Fall, eifrige sportliche
Betätigung im zweiten Fall), eine sinnvolle Verknüpfung von Bewegung, Wahr-
nehmungen und Vorstellungs- und Begriffsbildung jedoch nicht. Ist das Umfeld
passend gewählt, ermöglicht das Peripatetische Philosophieren hingegen geistige
Arbeit, die „Bedienung des eigenen Verstandes“, in einer reizreichen Umgebung,
einer komplexen Welt: Passend ist die Umgebung im Hinblick auf das Reflexions-
potenzial dann, wenn sie reich an thematisch fruchtbar verknüpfbaren Umwelt-
reizen für die Reflexion des Gegenstands der philosophischen Reflexion ist (affine
Impulsreize), dagegen aber reizarm an ablenkenden Störreizen. Ob also das
Hintergrundrauschen einer Autobahn ein affiner Impulsreiz oder ein ablenkender
Störreiz ist, hängt von der inhaltlich-thematischen Bedeutung des Reizes für den
Gegenstand der philosophischen Reflexion ab. Bei einer Umgebungswahl mit
vielen affinen Impulsreizen und wenig ablenkenden Störreizen ist Peripatetisches
Philosophieren also ein Philosophieren unter denk- und lernfreundlichen
Bedingungen.

4.3 Lokomotion

Lokomotion, die aktive Fortbewegung von Lebewesen, scheint ebenfalls eng


mit der Art und Weise, wie Lebewesen ihre Umwelt wahrnehmen und kon-
zeptualisieren, verbunden zu sein. Und sie ist für die Neuroplastizität und die
adulte Neurogenese, also für das Lernen von Menschen mit ausgereiften Gehirnen,
relevant: „Gehirne sind für Bewegung da“49. Nicht nur bei älteren Menschen50,
sondern auch bei Schulkindern lässt sich Kubesch und Walk zufolge ein positiver
Effekt von Bewegungsaktivität nachweisen, und zwar auf den schulischen Lern-
erfolg.51 In einer von Reed et al. durchgeführten Studie wurden dreimal pro
Woche für dreißig Minuten körperliche Aktivitäten außerhalb des Fachs Sport in
den Grundschul-Kernunterricht einer dritten Klasse integriert.52 Die Studie zeigt,

48 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben
lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 215.
49 Vgl. Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein

Leben lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 213.


50 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben

lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 220 ff.


51 Vgl. Kubesch, Sabine/ Walk, Laura: Körperliches und kognitives Training exekutiver
Funktionen in Kindergarten und Schule. In: Sportwissenschaft 39. 2009, S. 309–317. https://doi.
org/10.1007/s12662-009-0079-2.
52 Vgl. Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./
Kravitz, Jen: Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and
Academic Performance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal
of Physical Activity and Health 7. 2010, S. 343–351.
62 K. Seele

dass diese Intervention bei der Studiengruppe sowohl zu verbesserten Ergebnissen


im Bereich der fluiden Intelligenz53 als auch bei den Fachkompetenzen führt.54
Die Autor*innen empfehlen daher, dass die Integrationsmöglichkeiten von körper-
licher Aktivität in den Grundschulunterricht Gegenstand der Lehrpersonenaus-
und -weiterbildung sein sollten.55 Auf ein solches Desiderat antworten
beispielsweise Konzepte der „Bewegten Schule“, die auf eine Initiative von Urs
Illi und Lukas Zahner zurückgehen, sich aber seit den 1980er Jahren in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz weiterentwickelt und ausdifferenziert haben.
Für eine umfassende, die verschiedenen Entwicklungslinien der Konzepte
„Bewegter Schule“ nachzeichnende Übersicht sei auf die Monographie von Laging
verwiesen.56 Für den Bereich des Peripatetischen Philosophierens ist die Idee
der Bewegten Schule vor allem insofern anschlussfähig, als das Peripatetische
Philosophieren eine konkrete bewegte Unterrichtsform ist. Positive Effekte, die
Konzepte Bewegter Schule für sich reklamieren, wie z. B. Krankheitsprävention,
Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit57, sind somit voraussichtlich auch für
das Peripatetische Philosophieren zutreffend. Es gibt jedoch entscheidende Unter-
schiede zwischen den Konzepten Bewegter Schule und dem Peripatetischen Philo-
sophieren, die letzteres gerade für die Fächergruppe Philosophie/Ethik empfehlen:

• Der methodische Ursprung der Peripatetischen Unterrichtsmethode ist die Philo-


sophie(-didaktik), der methodische Ursprung der Bewegten Schule ist die Sport-
wissenschaft bzw. Sportpädagogik.
• Daraus ergeben sich unterschiedliche Zielsetzungen: Die Peripatetische Unterrichts-
methode verfolgt das Ziel des Philosophierens und strebt damit in erster Linie einen

53 
„Fluid Intelligence measures the ability to reason quickly and abstractly. It is generally
regarded as an important component of intelligence, and it assesses one’s ability to solve
problems in situations that are not heavily dependent on previously learned knowledge.”. Vgl.
Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./ Kravitz, Jen:
Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and Academic Per-
formance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal of Physical
Activity and Health 7. 2010, S. 345.
54 Vgl. Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./
Kravitz, Jen: Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and
Academic Performance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal
of Physical Activity and Health 7. 2010, S. 350.
55 Vgl. Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./
Kravitz, Jen: Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and
Academic Performance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal
of Physical Activity and Health 7. 2010, S. 343–351.
56 Vgl. Laging, Ralf: Bewegung in Schule und Unterricht. Anregungen für eine bewegungs-
orientierte Schulentwicklung. Stuttgart: Kohlhammer 2017.
57 Vgl. Balz, Eckart: Die bewegte Schule: Konzept und Kritik. In: Sportunterricht 48–10. 1999,

S. 405–424.
Peripatetisches Philosophieren 63

geistigen Progress an, die Bewegte Schule dagegen zielt primär auf die Verbesserung
der menschlichen Physis (körperliches Training), Psychophysis (Entspannung) und
des sozialen Miteinanders.
• In der Bewegten Schule bedeutet Bewegung (meist) Unterbrechung der kognitiven
Aktivität, bei der Peripatetischen Unterrichtsbewegung sind physisches und geistiges
Voranschreiten notwendig miteinander verknüpft.
• Im Gegensatz zu fachdidaktischen Vorschlägen zur Gestaltung des Fachunterrichts in
der Bewegten Schule, bei denen der Bewegung evozierende Unterricht oft ins Unernste,
Spielerische oder auch Unsinnige abgleitet und somit Schülerinnen und Schüler
der Oberstufe nur noch schwer zu überzeugen vermag, sind bei der Peripatetischen
Unterrichtsmethode die Art der physischen und geistigen Bewegung im langsamen
Voranschreiten eng verwandt und somit nicht erzwungen, sondern authentisch. Das
Umherwandeln oder auch -kreisen in der Studierstube ist nicht umsonst ein Sinnbild
für den grübelnden Gelehrten – Denken und Gehen sind eine authentische Einheit im
­Vollzug.58

Offenbar ist gerade das Gehen als archaischste und authentischste Form mensch-
licher Lokomotion eine für die menschliche adulte Neurogenese im Hippocampus,
dem auch als „Tor zum Gedächtnis“59 beschriebenen Hirnareal, ideale Art der
Fortbewegung. Für diese Hirnregion ist weniger die sportliche Intensität von
Bewegung relevant. Vielmehr spricht sie auf bestimmte Rhythmen an: „Es scheint
so zu sein, dass bestimmte Formen der Bewegung, auch bestimmte Geschwindig-
keiten, und vor allem die Regelmäßigkeit dieser Bewegungen, also der Rhythmus,
sich auf die Hirnaktivität auswirken.“60 Dies seien „regelmäßige“ Rhythmen von
„mäßiger Geschwindigkeit“: Kempermann zufolge haben Menschen, die beim
Gehen lernen, oftmals ein verhältnismäßig zügiges Grundtempo. Das Gehen
ist geeignet, das Denken im Fluss zu halten und sogar Denkblockaden oder
auch Schreibblockaden zu lösen. Gleichzeitig falle aber auch auf, dass gehende
Denkende manchmal plötzlich stehenbleiben, „um einen besonders schwierigen
Gedanken richtig zu fassen“. Ursache seien „Ressourcenkonflikte“61 des Gehirns.
Das Peripatetische Philosophieren umfasst alle Schrittgeschwindigkeiten, auch
das unvermittelte Stehenbleiben – das Gehtempo ergibt sich aus der Ganzheit von
Denkaufgabe, Gehumfeld und gehender Person.

58 
Seele,Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichts-
methode. Münster/ Zürich: LIT 2012, S. 13 f.
59 Kempermann, Gerd: Gehirne sind zum Gehen da. Gespräch von Catherine Newmark mit Gerd

Kempermann. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 23.


60 Kempermann, Gerd: Gehirne sind zum Gehen da. Gespräch von Catherine Newmark mit Gerd

Kempermann. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 23.


61 Kempermann, Gerd: Gehirne sind zum Gehen da. Gespräch von Catherine Newmark mit Gerd

Kempermann. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 23.


64 K. Seele

4.4 Situation

Dass philosophische Texte explizite Ortsbeschreibungen enthalten, ist eher


selten. In Abschn. 4.1 wurden zwar einige Philosophen genannt, deren Texte
durchaus Orte beschreiben, thematisieren und reflektieren (so enthalten Platons
Dialoge Ortsbeschreibungen, auch Rousseaus Émile, Thoreaus Walden oder
Nietzsches Zarathustra62). Gleichwohl ist die teilweise zentrale Stellung, die
Orte, Plätze, Naturräume in diesen Texten enthalten, in philosophischen Texten
die Ausnahme. Es ist auch nur eine von vielen Varianten Peripatetischen Philo-
sophierens, ein in einem Text genanntes Umfeld aufzusuchen, um dort den Text
zu rezipieren, reflektieren und diskutieren (z. B. die oben genannte Textpassage
der Orientierungslosigkeit und -findung aus Rousseaus Émile, rezipiert in einem
unübersichtlichen Waldstück). Vielmehr geht es beim Peripatetischen Philo-
sophieren darum, das Philosophieren in ein Umfeld, eine Situation, einzubetten,
die „thematisch affin, jedoch unaufdringlich“ ist: „Ideal ist ein Umfeld, das die
Schüler inspiriert, weil sich dann ein Bezug zwischen Umfeld und Thema des
Unterrichts herstellen lässt, ohne dass dieser Zusammenhang zwingend, vorder-
gründig und somit lenkend ist.“63 Abb. 2 zeigt exemplarisch mögliche Umfelder
für Peripatetisches Philosophieren zu den Themen „Klima“ und „Umwelt“.

Abb. 2  „Klima“ und „Umwelt“: Beispiele für affine Umfelder (Seele 2018, S. 61)

62 
Vgl. Seele, Katrin: Die Orte im „Zarathustra“. In: Tanz als Form des Denkens. Friedrich
Nietzsche: Denken jenseits von Schluß und Dialektik. Hrsg. v. Rudolf zur Lippe und Gisela
Röller. Lüneburg: Jansen Verlag 2001, S. 39–65.
63 Seele, Katrin: „Klima“ und „Umwelt“: Potenziale der Peripatetischen Methode – inspiriert von

Henry David Thoreau. In: ZDPE 4/2018, S. 64.


Peripatetisches Philosophieren 65

Während in der linken Spalte – exemplarisch für Schulen im städtischen und


ländlichen Umfeld – typische Umfelder, die sich oft in der näheren Umgebung der
Schulen finden, aufgelistet sind, zeigt die rechte Spalte Beispiele von möglichen
„Eindrücken, Inspirationsquellen, Reflexionspotenziale“. Dabei sind nicht nur
die Orte als solche von Bedeutung, sondern die Gesamtheit der Situation, in der
das Peripatetische Philosophieren stattfindet und sinnlich wahrgenommen werden
kann. Situation wird hier somit verstanden als gesamthafter Kontext des Philo-
sophierens in einem bestimmten Umfeld oder Lebensraum.
Die Relevanz der Situation und der Eindrücke, die sie beim in der Situation
befindlichen Individuum hervorrufen, sind ein wichtiges konzeptionelles
Element des Peripatetischen Philosophierens. Denn: Wenn es zutreffend ist (vgl.
Abschn. 4.2), dass menschliches Denken, gedankliches Organisieren und Kon-
zeptualisieren maßgeblich durch die gegebenen physischen Voraussetzungen
(inklusive der motorischen und sensuellen menschlichen „Ausstattung“) bestimmt
werden, dann müsste auch das Umfeld, in der der Mensch sich physisch aufhält,
wahrnimmt und bewegt, einen Einfluss auf sein Denken haben. Zur Lippe zeichnet
diesen Zusammenhang wie folgt nach:

„Leben, Erleben, Erfahren sind Dimensionen unserer Existenz, die jede auf andere
Weise Gleichzeitigkeit zu leisten haben. Leben steht in diesem Zusammenhang für
die biologischen Funktionen, obwohl der Begriff auch als Oberbegriff für alle benutzt
wird. Erleben entspricht etwa dem, was man emotionale Verarbeitung nennen könnte.
Erfahren meint die Verarbeitung im Bewusstsein, und zwar der verschiedenen Formen
und Schichten des Bewusstseins vom nicht verstandesmäßigen ‚Körperbewusstsein‘ durch
die begrifflichen Umsetzungen bis hin zu den Bewusstseinsformen lebensgeschichtlicher
und gattungsgeschichtlicher Praxis. Dies sind drei große Dimensionen der Verarbeitung.
Mit dem Grad zunehmender Reflektionen ist gemeint, dass im Erleben immer auch die
physiologischen Lebensfunktionen der Organe mit reflektiert werden.“64

Zur Lippe erläutert an einem Beispiel, was in dem Zusammenhang unter einer
„Situation“ zu verstehen ist: Ein Kleinkind krabbelt am Strand im Sand umher und
wird dabei am Fuß von einer Distel gestochen. Sofern der erfahrene Schmerz nicht
so stark sei, dass das Kind sich sofort und endgültig abwende, werde es durch vor-
sichtiges und aufmerksames „prüfendes Wiederholen“ die Distel erkunden, um aus
der Begegnung zu lernen. Zur Lippe zufolge braucht es jedoch mehr als das Kind
und die Distel dafür, dass die (in diesem Fall schmerzhafte) Begegnung Interesse
weckt, „prüfendes Wiederholen“ auslöst und schließlich zu einer bleibenden
Erfahrung und einem Urteil über die Pflanze Distel führt.

64 
Zur Lippe, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Band I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren 2000, S. 287 f.
66 K. Seele

„Im Beispiel (…) spielen der Sand und der Geruch des Meeres in der Luft, die nahen oder
fernen Menschen mit, die das Kind schützen oder allein lassen, es gegen Begegnungen
isolieren oder ermutigend in der Koinzidenz mitspielen. Andere Pflanzen, Vorbilder sich
zwischen ihnen bewegender Hunde oder Eidechsen, das Plätschern von Wellen gegen
einen Bootssteg oder das Brechen von Wogen am Strand sind im Spiel. Die Stimmung
ist von Hunger oder Fülle, Koliken oder einem schmerzenden Finger beeinträchtigt. Sie
ist beschwingt oder verspielt im Miteinander von mehreren Kindern. Spitze oder schöne
Steine lenken ab. Sonnenlicht und Wärme geben allem fühlbarere Anwesenheit, weil die
Poren sich öffnen, oder beeinträchtigen sengend heiß alle Tätigkeit. Dies alles erinnert uns
an die Fülle von Momenten, die wir eine Situation genannt haben.“65

Eine Situation, so wie Sie hier von Zur Lippe verstanden und beschrieben wird,
ist demnach der Ausgangspunkt für Lernen in genau der Weise, wie es auch aus
neurowissenschaftlicher Perspektive verstanden wird. Denn laut Kempermann
bedeutet Lernen gerade das „Sammeln von Erfahrungen und damit die Fähigkeit,
Vorhersagen machen zu können. (…) Wir müssen unaufhörlich aus Erfahrung klug
werden.“66 Um am Beispiel der Distel zu bleiben: Die Erfahrung der Pflanze, die
Impression, die sie hinterlässt, ist eine andere, je nachdem, ob das Kind am Strand
mit dem Fuß hineintritt oder im heimischen Garten, oder ob die Begegnung mit
der Pflanze etwa in einem bewusst herbeigeführten Setting, z. B. im schulischen
Biologieunterricht stattfindet. Auch wenn das hier beschriebene Kind nicht „philo-
sophiert“, so kann das Beispiel zeigen: Bewusstsein und Aufmerksamkeit sind
situiert – und dies trifft auch auf das Philosophieren zu.
Neben den Impressionen, die sich durch das Peripatetische Philosophieren in
einem bestimmten Umfeld ergeben, finden sich aber auch Vorannahmen und „mit-
gebrachte“ Überzeugungen im sich entwickelnden Gedankengang wieder. Dies
beschreibt Burckhardt in seinen Ausführungen über die „Spaziergangswissen-
schaft“. Burckhardt beschäftigt sich als Soziologe vor allem mit der Landschaft
als sozialem Raum aus städte- und regionalplanerischer Perspektive. Landschaft
ist für ihn „ein Konstrukt“: Sie sei nicht „in den Erscheinungen der Umwelt zu
suchen“, sondern „in den Köpfen der Betrachter“67. Dafür, welches Bild bei den
Betrachtenden entstehe, sei nicht nur ein bestimmtes natürliches Erscheinungs-
bild (die Landschaft) relevant, sondern auch der Weg, auf dem diese sich ihr
nähern und sie durchschreiten.68 Auch würden Spaziergänger*innen stets mit

65 Zur Lippe, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Band I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren


2000, S. 292.
66 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben

lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 224.


67 Burckhardt, Lucius: Warum ist die Landschaft schön? [1979] In: Ritter, Markus/ Schmitz,

Martin (Hrsg.): Lucius Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissen-
schaft. 4. Auflage. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015a, S. 33.
68 Vgl. Burckhardt, Lucius: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der
Umwelt und die Aufgaben unserer Generation. [1996] In: Ritter, Markus/ Schmitz, Martin
(Hrsg.): Lucius Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. 4.
Auflage. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015b, S. 251.
Peripatetisches Philosophieren 67

einer bestimmten Erwartung an eine Landschaft herantreten, die sie bestimmte


Phänomene ausblenden und andere betont wahrnehmen lässt: „Vieles von dem,
was der heimgekehrte Spaziergänger erzählt, hatte er nicht gesehen, und vieles
von dem was er gesehen hatte, wird in seiner Erzählung weggeblendet. Das Bild,
das er beschreibt, ist montiert aus Vorkenntnissen und Teilaspekten, die er auf dem
Wege zusammengelesen hat.“69

5 Fazit

Für das Peripatetische Philosophieren als Lehr-, Lern- und Unterrichtsform


bedeutet dies, dass für die Gestaltung des konkreten didaktischen Settings
folgende Fragen zu klären und Entscheidungen hinsichtlich der Situierung des
geplanten philosophischen Themas oder Textes zu klären wären – neben der Ent-
scheidung, mit welchen Methoden unterwegs am Thema bzw. Text gearbeitet
werden soll:

• Über welche Themen, Inhalte, Fragstellungen soll anhand welcher Inputs (z. B.
Texte) philosophiert werden?
• Welche Umfelder wären für diese Inputs affin, sinnvoll, bereichernd?
• Welche Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse, die sich an bestimmten Umfeldern
einstellen könnten, könnten das gewählte Thema bereichern?
• Welche Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse, die sich an bestimmten Umfeldern
einstellen könnten, könnten beispielhaft und anschaulich sein für Zusammen-
hänge, die ein gewählter philosophischer Text eher abstrakt beschreibt?
• Welche weiteren situationsbestimmenden Erfahrungen (z. B. Wetter, Gerüche
usw.) oder Umstände (z. B. Tätigkeiten der Lernenden unmittelbar vor dem
Gehen) könnten das Peripatetische Philosophieren an einem konkreten Tag
bereichern?
• Welche Erwartungen haben die Lernenden an den gewählten Ort, die gewählte
Landschaft?
• Wie passen die Erwartungen der Lernenden an den Ort zum gewählten Thema
bzw. Text?
• Welche ablenkenden Störreize könnten die philosophische Reflexion
erschweren oder gar verhindern?

Durch die peripatetische Situierung philosophischer Themen und Texte werden


diese anschaulich und subjektiv erlebbar. Gerade abstrakte, schwierige Texte
und Inhalte können so sinnlich eingebettet und anschlussfähig an ganz konkrete

69 Burckhardt,Lucius: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der Umwelt


und die Aufgaben unserer Generation. [1996] In: Ritter, Markus/ Schmitz, Martin (Hrsg.): Lucius
Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. 4. Auflage. Berlin:
Martin Schmitz Verlag 2015b, S. 253.
68 K. Seele

Erfahrungen gemacht werden. Auch bietet das Peripatetische Philosophieren


in Gruppen die Möglichkeit, dass Lernende sich über ihre Erlebnisse, Wahr-
nehmungen und Textdeutungen, die sie unterwegs vornehmen, austauschen und
so die von Burckhardt beschriebenen subjektiven Konstruktionsprozesse offenbar
werden.
In den vorangegangenen Kapiteln wurden die vier tragenden und prägenden
Säulen des Konzepts des Peripatetischen Philosophierens als Lern- und Unter-
richtsform beschrieben. Auch wurde bereits betont, dass Peripatetisches Philo-
sophieren eine Lern- und Unterrichtsform darstellt, in der die verschiedensten
philosophie- und ethikdidaktischen Unterrichtsmethoden durchgeführt werden
können, sofern diese mit dem peripatetischen, d. h. bewegten Format kompatibel
sind. Die Sprachkompetenzen Hören und Sprechen lassen sich bestens im peri-
patetischen Format realisieren, ebenso das Lesen kürzerer Textausschnitte.

6 Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Abschließend sei zudem auf zweierlei hingewiesen: das präventive Potenzial


des peripatetischen Formats und seine Möglichkeiten unter den Bedingungen
von „Distance Learning“ und Fernunterricht. Präventives Potenzial hat das Peri-
patetische Philosophieren in dreierlei Hinsicht:

Erkrankungen aufgrund körperlicher Inaktivität:

Herz-Kreislauferkrankungen, Rückenbeschwerden und Übergewicht sind mög-


liche Folgen von „Bewegungsmangel und körperliche Inaktivität“70. Und
aus diesen Beschwerden können sich weitere physische und auch psychische
Erkrankungen entwickeln. Bewegungsmangel scheint dabei ein globaler Trend
zu sein. Laut einer aktuellen Studie ist die Mehrheit der Heranwachsenden welt-
weit nicht genügend körperlich aktiv.71 Als genügende körperliche Aktivität gelten
laut WHO für Kinder und Jugendliche (5–17 Jahre) 60 Minuten mäßige bis starke
körperliche Aktivität pro Tag, wobei der Großteil dieser Aktivität im aeroben
Bereich liegen sollte.72 Guthold et al. untersuchen in ihrer Studie Umfragen aus
146 Ländern über das Bewegungsverhalten 11- bis 17-jähriger Schüler*innen und
kommen zu dem Ergebnis, dass mehr als 80 % der im Jahr 2016 untersuchten

70 
Robert-Koch-Institut (RKI): Körperliche Aktivität. 2020. URL: https://www.rki.de/DE/
Content.
71 Vgl. Guthold, Regina/ Stevens, Gretchen A./ Riley, Leanne M./ Bull, Fiona C.: Global trends

in insufficient physical activity among adolescents: a pooled analysis of 298 population-based


surveys with 1·6 million participants. In: The Lancet Child & Adolescent Health 4. 2019,
S. 23–35. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(19)30323-2.
72 Vgl. World Health Organization (WHO): Physical activity and young people. 2020. URL:
https://www.who.int/dietphysicalactivity/factsheet_young_people/en/ (28.05.2020).
Peripatetisches Philosophieren 69

Abb. 3  Kinder und Jugendliche, die täglich mindestens 60 min körperlich aktiv sind – Anteile
an der gleichaltrigen Bevölkerung, differenziert nach Geschlecht (RKI 2015)

Heranwachsenden die o.g. Empfehlung der WHO hinsichtlich körperlicher Aktivi-


tät nicht erfüllen.73 In Deutschland erhebt das Robert-Koch-Institut ebenfalls
das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der wieder-
kehrenden KiGGS-Studien. Hier zeigt sich, dass die Aktivität mit zunehmendem
Alter der Kinder und Jugendlichen abnimmt (Abb. 3).
Gerade bei den Schüler*innen der Sekundarstufen I und II, den 11- bis
17-Jährigen, stellt sich demzufolge der Bewegungs- und Aktivitätsmangel als ein
verbreitetes Problem dar – weniger als zehn Prozent der Mädchen und weniger
als zwanzig Prozent der Jungen sind im Alter von 14–17 Jahren genügend aktiv.
Ketelhut fordert angesichts dieses langanhaltenden Trends Modifikationen des
Schulsportunterrichts hin zu „freudbetontere[n] Bewegungsangebote[n]“74. Da
das Peripatetische Philosophieren gerade in der Altersgruppe der Jugendlichen
gut durchführbar ist, bietet es Möglichkeiten eines gesundheitsorientierten Unter-
richtsformats außerhalb des Schulsportunterrichts und kann „unterstützen helfen,

73 
Vgl. Guthold, Regina/Stevens, Gretchen A./Riley, Leanne M./Bull, Fiona C.: Global trends
in insufficient physical activity among adolescents: a pooled analysis of 298 population-based
surveys with 1·6 million participants. In: The Lancet Child & Adolescent Health 4. 2019,
S. 23–35. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(19)30323-2.
74 Ketelhut, Kerstin: Bewegungsmangel im Kindesalter. Gesundheit und Fitness heutiger Kinder

besorgn iserregend? In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 51/ 10, 2000, S. 350.
70 K. Seele

unverkrampft und ohne physischen Leistungsdruck Bewegung über den Sport-


unterricht hinaus in den Alltag auszudehnen“75.

Demenzielle Erkrankungen
Aktuelle Studien belegen, dass regelmäßige körperliche Bewegung – eben wegen
der bereits oben beschriebenen Auswirkungen auf die adulte Neurogenese – eine
präventive Wirkung hinsichtlich Demenzerkrankungen hat, insbesondere dann,
wenn Bewegung und Kognition sinnvoll verknüpft sind.76 Da beim Peripatetischen
Philosophieren eine solche sinnvolle, bedeutungsreiche Integration von Denken,
Wahrnehmen, Fühlen, Verbalisieren und sich Bewegen vollzogen wird, ist anzu-
nehmen, dass diese Praxis ebenfalls der adulten Neurogenese zuträglich sein könnte.

Corona-Pandemie und Covid-19-Prävention


Im Kontext der Corona-Pandemie, die grassiert, während dieser Beitrag entsteht,
wird deutlich, dass Unterrichtsformate, die ein Lernen außerhalb geschlossener
Räume ermöglichen, auch aus epidemiologisch-virologischer Perspektive präventiv
sinnvoll sind77, da das Sars-CoV-2-Virus hauptsächlich über Tröpfchen und Aero-
sole übertragen wird und eine Ansteckung in Innenräumen ohne Luftzirkulation
wahrscheinlicher ist als draußen. Drosten berichtet, dass aus diesem Grund in den
skandinavischen Ländern bereits „bestimmte Klassenzüge“ aktuell „nur draußen
unterrichtet werden. (…) Alle machen das mit, finden das super und es funktioniert.
(…) Ich kenne mich damit nicht aus, ich kann aber nur sagen, aufgrund solcher
Studiendaten muss man das einfach empfehlen.“78 Das Peripatetische Philosophieren
böte also gerade auch in Pandemiesituationen die Möglichkeit eines sinn- und gehalt-
vollen, in der philosophischen Fachtradition verankerten Lern- und Lehrformats bei
gegenüber Innenräumen wie Schulzimmern reduzierter Ansteckungsgefahr.

Möglichkeiten unter den Bedingungen von „Distance Learning“ und Fern-


unterricht.

Peripatetisches Philosophieren muss nicht im Präsenzunterricht und in Gruppen


stattfinden, sondern eignet sich auch für den Fernunterricht. So kann ein

75 
Seele, Katrin: Gesund sein – Lernen – Denken – Gehen. In: Reichert, Klaus/Hoffstadt,
Christian (Hrsg.): Was bewegt uns? Menschen im Spannungsfeld zwischen Mobilität und
Beschleunigung. Plädoyer für die Peripatetische Methode im Schulunterricht. Bochum: Projekt-
Verlag 2010, S. 153.
76 Vgl. Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein

Leben lang jung halten. München: Droemer 2016.


77 Vgl. Drosten, Christian: Coronavirus-Update, Folge 21 (16.04.2020). Christian Drosten im
Gespräch mit Korinna Henning. Offizielles Transkript des Podcasts. 2020a. URL: https://www.
ndr.de/nachrichten/info/coronaskript178.pdf (20.5.2020), S. 2 f.
78 Drosten, Christian: Coronavirus-Update, Folge 43 (26.05.2020). Christian Drosten im
Gespräch mit Korinna Henning. Offizielles Transkript des Podcasts. 2020b. URL: https://www.
ndr.de/nachrichten/info/coronaskript200.pdf (28.05.2020), S. 6.
Peripatetisches Philosophieren 71

didaktisches Arrangement (z. B. Audio-Inputs/ Hör-Texte, Lernaufgaben, Leit-


fragen zur Reflexion unterwegs) für das Peripatetische Philosophieren auf einer
Lernplattform bereitgestellt werden, auf die die Lernenden unterwegs via Smart-
phone zugreifen. Auch der von Rupp et al. vorgeschlagene „Podcast Walk“79
könnte peripatetisch variiert werden (durch Einbettung in eine thematisch affine,
gedanklich inspirierende Umgebung). Aber nicht nur die Rezeption von Inputs,
sondern auch die mediale Produktion unterwegs ist im Rahmen Peripatetischen
Philosophierens möglich. So können Lernende unterwegs Impressionen festhalten
(z. B. als Foto, Video, Audiodatei) – Peripatetisches Philosophieren bietet viele
Potenziale für einen medienintegrativen Unterricht außerhalb des Schulzimmers.80
Derartige Produkte und Gedanken-Mitschnitte können dann im Anschluss als
Nachbereitung des Peripatetischen Philosophierens von den Lernenden beispiels-
weise auf eine Lernplattform hochgeladen, in der Lerngruppe diskutiert und aus-
gewertet werden. Das Peripatetische Philosophieren kann sich also aktuell als
Lernform mit geringem Infektionsrisiko in Zeiten des Fernunterrichts in Zeiten der
Digitalisierung bewähren.

Literatur
Albus, Vanessa/Jost, Leif Marvin: Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philo-
sophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen. In: Albus,
Vanessa/Frank, Magnus/Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunter-
richt. Münster: Lit 2017.
Balz, Eckart: Die bewegte Schule: Konzept und Kritik. In: Sportunterricht 48–10. 1999, S. 405–424.
Bateson, Gregory: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt: Suhrkamp 1987.
Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark mit
Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 12–15.
Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang: Ursprung der Kultur und des Denkens? Eine anthropo-
logische Debatte im Anschluss an Helvétius’ De l’Esprit. In: Garber, Jörn/Thoma, Heinz
(Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahr-
hundert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2004. (= Hallesche Beiträge zur Europäischen
Aufklärung 24), S. 59–76.
Burckhardt, Lucius: Warum ist die Landschaft schön? [1979] In: Ritter, Markus/Schmitz, Martin
(Hrsg.): Lucius Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft.
4. Auflage. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015a, S. 33–41.
Burckhardt, Lucius: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der Umwelt und
die Aufgaben unserer Generation. [1996] In: Ritter, Markus/Schmitz, Martin (Hrsg.): Lucius
Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. 4. Auflage.
Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015b, S. 251–256.

79 
Rupp, Robert/Dold, Chiara/Bucksch, Jens: Bewegte Hochschullehre. Einführung in das
Heidelberger Modell der bewegten Lehre. Wiesbaden: Springer 2020, S. 25.
80 
Vgl. Seele, Katrin: „Click and Go“ – Integrierte Medienbildung an außerschulischen Lern-
orten mit mobilen Endgeräten. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian (Hrsg.):
Außerschulische Lernorte: Theorie, Praxis und Erforschung außer-schulischer Lerngelegen-
heiten. Immenhausen: Prolog-Verlag (= Reihe Theorie und Praxis der Schulpädagogik, Band 31)
2015, S. 206–219.
72 K. Seele

Drosten, Christian: Coronavirus-Update, Folge 21 (16.04.2020). Christian Drosten im Gespräch


mit Korinna Henning. Offizielles Transkript des Podcasts. 2020a. URL: https://www.ndr.de/
nachrichten/info/coronaskript178.pdf (20.5.2020).
Drosten, Christian: Coronavirus-Update, Folge 43 (26.05.2020). Christian Drosten im Gespräch
mit Korinna Henning. Offizielles Transkript des Podcasts. 2020b. URL: https://www.ndr.de/
nachrichten/info/coronaskript200.pdf (28.05.2020).
Guthold, Regina/Stevens, Gretchen A./Riley, Leanne M./Bull, Fiona C.: Global trends in
insufficient physical activity among adolescents: a pooled analysis of 298 population-based
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Rupp, Robert/Dold, Chiara/Bucksch, Jens: Bewegte Hochschullehre. Einführung in das Heidel-
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Schmidt, Aurel: Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden. Frauenfeld/Stuttgart/Wien: Verlag
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Peripatetisches Philosophieren 73

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Seele, Katrin: „Click and Go“ – Integrierte Medienbildung an außerschulischen Lernorten mit
mobilen Endgeräten. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian (Hrsg.):
Außerschulische Lernorte: Theorie, Praxis und Erforschung außer-schulischer Lerngelegen-
heiten. Immenhausen: Prolog-Verlag (= Reihe Theorie und Praxis der Schulpädagogik, Band
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Seele, Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichtsmethode.
Münster/Zürich: LIT 2012.
Seele, Katrin: Gesund sein – Lernen – Denken – Gehen. In: Reichert, Klaus/Hoffstadt,
Christian (Hrsg.): Was bewegt uns? Menschen im Spannungsfeld zwischen Mobilität und
Beschleunigung. Plädoyer für die Peripatetische Methode im Schulunterricht. Bochum:
Projekt-Verlag 2010, S. 135–154.
Seele, Katrin: Die Orte im „Zarathustra“. In: Tanz als Form des Denkens. Friedrich Nietzsche:
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Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/
Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und
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Thoreau, Henry David: Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Englischen von Wilhelm
Nobbe. 3. Auflage. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2017.
Tiedemann, Markus: Problemorientierung. In: Nida-Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/Tiedemann,
Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Pader-
born: Ferdinand Schöningh 22017, S. 70–78.
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www.who.int/dietphysicalactivity/factsheet_young_people/en/ (28.05.2020).
Zur Lippe, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Band I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
2000.
Bildung im Medium der Ästhetik.
Die Aktualität von Schillers Theorie
der ästhetischen Bildung im
Zeitalter der Digitalisierung
Birgitta Fuchs

Zusammenfassung

Im Jahre 1791 hatte Schiller ein großzügiges Stipendium durch den Prinzen
Friedrich Christian von Schleswig–Holstein Augustenburg erhalten und
seinem Dank in einer Reihe von Briefen „Über die Philosophie des Schönen“
an den Prinzen Ausdruck verliehen. 1794 gingen diese Briefe beim Brand
des Schlosses Christiansborg in Kopenhagen verloren. Lediglich sechs
Briefe blieben in Abschriften erhalten und bildeten zusammen mit den sog.
Kalliasbriefen an Gottfried Körner (1793) die wichtigsten Grundlagen für
die 27 von Schiller neu verfassten Briefe, die 1795 unter dem Titel Über die
ästhetische Erziehung, in einer Reihe von Briefen in der von Schiller und
Goethe gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift, den Horen, erschienen
sind. In diesen Briefen entwickelt Schiller seinen ästhetischen Humanismus
und seine daraus hervorgehende Erziehungs- und Bildungstheorie, die auf
die „ästhetische Freiheit“ des Menschen hinausläuft, eine innere Freiheit, die
dadurch zustande kommt, dass der Mensch von der Nötigung sowohl durch
seine sinnlichen Begierden als auch durch die Vernunft soweit emanzipiert ist,
dass sich dadurch ein Raum der freien Selbstbestimmung eröffnet. Mit seiner
These, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, d. h. wo er sich
ästhetisch verhält, hat sich Schiller einen festen Platz in der Geschichte und
Systematik der Bildungstheorie des Neuhumanismus gesichert. (Vgl. Koch,
Lutz: Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in
einer Reihe von Briefen. In: Böhm, Winfried/Fuchs, Birgitta/Seichter, Sabine

B. Fuchs (*) 
Institut f. Allg. EW, TU Dortmund, Dortmund, Deutschland
E-Mail: birgitta.fuchs@tu-dortmund.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 75
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_4
76 B. Fuchs

(Hrsg.): Hauptwerke der Pädagogik. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011,


S. 408.) Der vorliegende Beitrag, der zumindest in Ansätzen die Aktualität von
Schillers Theorie ästhetischer Erziehung und Bildung herausarbeiten möchte,
wird von der These geleitet, dass die Erinnerung an den neuhumanistischen
Bildungsdiskurs im Allgemeinen und an Schillers Theorie ästhetischer
Bildung im Besonderen die Verengung des momentanen Bildungsdiskurses
aufzubrechen vermag. Zu diesem Ergebnis kommen unter anderen Jürgen
Stolzenberg und Lars-Thade Ulrichs in ihrem Vorwort zu dem von ihnen 2010
herausgegebenen Band Bildung als Kunst. Im Blick auf die aktuelle Gegenwart,
die sich bekanntlich als „Wissens- und Informationsgesellschaft“ versteht, ist
nach dem Urteil der beiden benannten Autoren insofern eine Verlustrechnung
aufzumachen, als die „bloße Akkumulation von Wissen und dessen möglichst
rasche und erfolgsorientierte Anwendung“ wichtige Einsichten und Gewinne
der Tradition der Bildungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts verspielt,
die sich um einen „emphatischen Begriff“ der ästhetischen Bildung zentrieren.
(Vgl. Stolzenberg, Jürgen/Ulrichs, Lars-Thade (Hrsg.): Bildung als Kunst.
Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S.
VI.) Dieser Begriff gehört nicht zu den Bildungsgütern, die auch und gerade
im digitalen Zeitalter schadlos zu entsorgen sind, zumal Schillers Konzept
einer ästhetischen Erziehung auf ein Bildungsproblem aufmerksam macht,
dass sich, so die These dieses Beitrages, unter dem Dispositiv des Digitalen
noch erheblich verschärft. (Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um
die überarbeitete Version eines Vortrages, der im Januar 2020 in der Akademie
der Bildenden Künste in München gehalten wurde. Der Titel des Symposions
lautete: „Menschen_Bildung im Dispositiv des Digitalen“.) Bereits in seinem
Brief an den Augustenburger vom 9. Februar 1793 spricht Schiller von dem
„kühnen Unternehmen“, sich auf der Basis Kantischer Grundsätze mit den
Prinzipien der Kunst auseinanderzusetzen. Ausgangspunkt für Schillers
theoretische Untersuchungen ist also Kants Kritik der Urteilskraft, genauer die
Analytik des Schönen, in der Kant sein kritisches Programm nach der Prüfung
der theoretischen und der praktischen Vernunft auf die Untersuchung der
ästhetischen Beurteilung ausgedehnt und eine Schiller überzeugende Theorie
der ästhetischen Hauptphänomene des Schönen und des Erhabenen begründet
hatte. Etwas konkreter im Hinblick auf das Bildungsthema formuliert Schiller
sein Vorhaben im Augustenburger Brief vom 13. Juli 1793. Hier geht es um die
Beantwortung der Frage, wie sich die Schönheit einerseits gegen „den mensch-
lichen Geist überhaupt“ und andererseits „gegen die Zeit“ verhält. (Brief
an den Augustenburger vom 13. Juli 1793, S. 134.) Damit sind die Momente
benannt, um die es in Schillers ästhetischer Bildungstheorie geht: Erstens um
die Bedeutung der Ästhetik für die Bildung des Menschen sowie zweitens
um die Wirkung einer als autonom gedachten Kunst in der modernen, durch
Fragmentarisierung und Entfremdung charakterisierten Gesellschaft. Das große
Thema der Ästhetischen Briefe ist die von Schiller konstatierte integrative
Leistung der Ästhetik: Im einzelnen Individuum wird durch die ästhetische
Erziehung und Bildung der innere Widerspruch zwischen Sinnlichkeit und
Bildung im Medium der Ästhetik 77

­ ernunft, Neigung und Pflicht soweit aufgehoben, dass die ästhetisch gestiftete
V
innere Freiheit (die „ästhetische Freiheit“) den Weg zur moralischen Auto-
nomie erleichtert. Von einer ästhetisch kultivierten Urteilskraft („Geschmack“)
erwartet Schiller nicht nur eine Humanisierung gesellschaftlicher Umgangs-
und Kommunikationsformen, sondern auch die Überwindung der Widersprüche
einer mit sich selbst entfremdeten Moderne.

Schlüsselwörter

Ästhetische Bildung · Gesellschaft- und Kulturkritik · Kompensatorische


Wirkung der Kunst · Geschmacksbildung · Digitales Zeitalter

1 Schillers Gesellschafts- und Kulturkritik als Motiv


seiner ästhetischen Theorie

Schiller war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sein Versuch einer
Rehabilitierung des Ästhetischen gegen die rationalistischen Verkürzungen der
Aufklärung in anthropologischer und bildungstheoretischer Hinsicht nur dann
auf offene Ohren stößt, wenn es ihm gelingt, die Wahl des ästhetischen Themas
gegen einen durch Nützlichkeitskalkül bestimmten Zeitgeist zu verteidigen und
das allgemeine Interesse von den Wirren der Französischen Revolution auf das
Schöne und die schöne Kunst zu lenken. Vor allem das politische Großthema
der Ausbildung eines republikanischen Staatswesens in Frankreich läßt das
ästhetischen Thema als völlig marginal erscheinen. Von daher erklärt sich auch
der enorme Begründungsaufwand, den Schiller in den ersten neun seiner Briefe
von 1795 betreibt und der ihn zu folgendem Ergebnis führt. Das offensichtliche
Scheitern der Französischen Revolution, das auch das große Projekt der Auf-
klärung in einem ambivalenten Licht erscheinen lässt, sowie eine radikale Kritik
einer mit sich selbst entfremdeten Moderne legitimieren nicht nur das ästhetische
Thema, sondern fordern mit innerer Notwendigkeit eine erneute Reflexion über
die Wirkung des Schönen und der schönen Kunst, so dass seine dreifache Kritik
an der Gegenwart (Französische Revolution, Aufklärung, gesellschaftliche Ent-
fremdung) die Motive seiner ästhetischen Theorie hervorbringt.1
Das politische Jahrhundertereignis der Französischen Revolution, das mit
dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 in Paris seinen Anfang nahm, ver-
setzt mit der Forderung nach politischer Freiheit in einem republikanischen
Staatswesen nicht nur die deutschen Territorialstaaten, sondern ganz Europa in
Aufruhr. Man diskutierte nicht nur grundsätzlich über das Recht eines Volkes,
sich selbst eine Verfassung zu geben, sondern man erahnte auch, dass mit diesem

1Vgl. Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/

Weimar: Metzler 2011, S. 411.


78 B. Fuchs

Ereignis eine europaweite Entwicklung in Richtung politischer Liberalisierung


und Demokratisierung nicht mehr aufzuhalten war. Dabei wurde das Ringen
des französischen Volkes um politische Freiheit in den intellektuellen Kreisen
in Deutschland durchweg begrüßt und positiv bewertet. Auch Schiller bringt im
fünften Brief seiner Ästhetischen Briefe emphatisch seine Hochschätzung für
das mutige Unternehmen des französischen Volkes zum Ausdruck, „die heiligen
Menschenrechte“ und die politische Freiheit zu realisieren, das „Gesetz auf
den Thron“ zu stellen und den Menschen als Selbstzweck zu respektieren.2 Mit
Entsetzen und Abscheu wurde jedoch der postrevolutionäre Terror und die
anarchistische Auflösung bestehender Strukturen zur Kenntnis genommen. Die
Septembermorde des Jahres 1792, die Verurteilung König Ludwigs XVI. und
seine Hinrichtung am 21. Januar 1793 sowie die Schrecken der Jakobinerherr-
schaft warfen einen Schatten auf die politischen Errungenschaften in Frankreich.
Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Schiller in seinem Brief an den
Augustenburger Prinzen vom 13. Juli 1793 seinem Entsetzen über die Ereignisse
in Frankreich unverhohlen Ausdruck verleiht:

„Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen,
und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdig-
keit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit
ihm auch einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey
und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand
eine verderbte Generation, die ihn nicht werth war, und weder zu würdigen noch zu
benutzen wußte. Der Gebrauch, den sie von diesem großen Geschenk des Zufalls macht
und gemacht hat, beweißt unwidersprechlich, daß das Menschengeschlecht der vormund-
schaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen ist, daß das liberale Regiment der Vernunft
da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der brutalen Gewalt der
Thierheit zu erwehren, und daß derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit,
dem noch so vieles zur menschlichen fehlt. (…) In den niedern Klassen sehen wir nichts
als rohe gesetzlose Triebe, die sich nach aufgehobenem Band der bürgerlichen Ordnung
entfeßeln, und mit unlencksamer Wuth ihrer thierischen Befriedigung zueilen.“3

Der Hinweis auf eine zutiefst „verderbte Generation“, die sowohl in dem „Unver-
mögen“ der niederen Klassen als auch in der „Unwürdigkeit“ der vermeintlich
kultivierten Oberschicht ihren Ausdruck findet, lässt erkennen, dass für Schiller
das Projekt politischer Liberalisierung weniger politisch als anthropologisch
gescheitert ist und sich bei genauem Hinsehen als ein Bildungsproblem zu
erkennen gibt. Der Übergang von dem vorrevolutionären ancien régime zu einer
freiheitlichen Republik erweist sich als problematisch, da die Menschen offen-
sichtlich „noch nicht reif“ sind für die politische Freiheit, da ihnen die Fähigkeit
zur moralischen Selbstbestimmung als notwendige Voraussetzung des Vernunfts-
staates fehlt.

25. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 259.


3Brief an den Augustenburger vom 13. Juli 1793, S. 137.
Bildung im Medium der Ästhetik 79

Seine politische Analyse verbindet Schiller mit einer ebenso schonungslosen


Aufklärungskritik, die sich eng an Rousseau anlehnt. In zwei berühmten Dis-
kursen hatte Rousseau eine ausgesprochen kritische Stellung zur Aufklärung
eingenommen, indem er ihre Errungenschaften im Hinblick auf die moralische
Entwicklung des Menschen prüfte und den optimistischen Glauben an eine
kontinuierliche Vervollkommnung der Menschheit in Zweifel zog. Im ersten
Discours aus dem Jahre 1750, seiner Antwort auf die Preisfrage der Akademie von
Dijon, ob denn der Fortschritt der Wissenschaften und Künste auch zur Veredelung
der Sitten beigetragen habe, gibt Rousseau eine damals unerwartet abschlägige
Antwort: Wissen und Tugend gehen nicht zusammen. Das Wissen schreitet zwar
unaufhörlich fort, aber die moralische Vervollkommnung des Menschen stagniert
oder wird durch die Moderne geradezu depraviert.
Zu einem nahezu identischen Ergebnis kommt auch Schiller. Auch er nimmt
Formen inhumaner Entartung wahr, die belegen, dass die rein theoretische Auf-
klärung keinen veredelnden Einfluss auf die Gesinnung ausüben konnte. Die
„niederen Klassen“ sind kaum in der Lage, ihre rohen Affekte und den Trieb nach
ungehemmter Bedürfnisbefriedigung zu kontrollieren, so dass sie weit mehr auf
Zerstörung als auf Erhalt der Gesellschaft aus sind. Der moralische Verfall zeigt
sich noch deutlicher in der „Unwürdigkeit“ der zivilisierten Klassen, welche die
Depravation eines selbstbezüglichen und egoistischen Charakters hinter der Maske
„raffinierter Geselligkeit“ zu verbergen wissen. Ihr freies Urteil unterwerfen sie
aus Bequemlichkeit oder pragmatischen Überlegungen der despotischen Meinung
der Gesellschaft, ihre Gefühle bizarren Gebräuchen. Von Selbständigkeit des
Charakters d. h. von Selbstdenken und politischer Urteilskraft keine Spur. „Ver-
wilderung“ und „Erschlaffung“ führen als typische Entartungsformen der ver-
meintlich aufgeklärten Gesellschaft in aller Deutlichkeit vor Augen, dass auch das
ambitionierte Projekt der Aufklärung, das Schiller als „bloß theoretische Kultur“
kritisiert, zu scheitern droht.4
Die Lösung kann nach Schiller nur darin bestehen, dass die ästhetische
Erziehung ihre „bildende Hand“ an den Menschen legt, und ihren „veredelnden
Einfluß“ unter Beweis stellt.5 Nicht rationale Bildung, sondern Ausbildung des
Empfindungsvermögens, d. h. ästhetische Erziehung ist nach Schiller das ver-
nachlässigte, aber dringendere Bedürfnis der Zeit, weil es den Übergang von
der theoretischen Aufklärung zur praktischen erleichtert. Schiller begründet
seine These durch eine zweifache Argumentation: Erstens beruft er sich auf
den popularphilosophischen Diskurs, wenn er darauf hinweist, dass der weit-
aus größere Teil der Menschen weniger durch Vernunfteinsichten als durch
Emotionen und Affekte zum Handeln motiviert wird,6 so dass sich, gerade auch
im Hinblick auf die Ereignisse in Frankreich, zwangsläufig die Frage nach der

4Brief an den Augustenburger vom 13. Juli 1793, S. 139.


5Brief an den Augustenburger vom 13. Juli 1793, S. 142.
6Brief an den Augustenburger vom 13. Juli 1793, S. 141.
80 B. Fuchs

­ andlungswirksamkeit vernünftiger Erkenntnis stellt.7 „Die Vernunft hat geleistet,


H
was sie leisten kann“, so Schiller im achten Brief, zur Ausführung bringen muss
es nun „der mutige Wille“ und das „lebendige Gefühl“.8 Nicht der Mangel an
theoretischer Aufklärung, so die These Schillers, sondern das Fehlen eines ent-
schiedenen Willens und eines kultivierten Gefühls sind dafür verantwortlich, dass
die Menschen „bei allen Riesenschritten der Wissenschaften und der Künste, bei
allem Bemühen denkender Köpfe, das vorhandene Wissen allen in verständlicher
Form zugänglich zu machen, immer noch Barbaren sind?“9 Vor diesem Hinter-
grund erscheint die Bildung des Geschmacks bzw. die ästhetische Erziehung nicht
nur als Komplementierung der theoretischen und moralischen Bildung, sondern
als das Bildungsmedium für den Übergang vom Erkennen zum Handeln, von der
Theorie zur Praxis. Offensichtlich sind es nach Schiller nicht objektive Gründe,
welche die Aufklärung in Frage stellen, sondern subjektive Momente, die er in
Anlehnung an Kants Aufklärungsschrift mit der „Trägheit des Geistes“ und der
„Feigheit des Herzens“ benennt, subjektive Momente also, die der Wirksamkeit
der Vernunft im Wege stehen.10
Zweitens parallelisiert Schiller das politische Problem des Übergangs vom
absolutistischen Staat in den „Vernunftstaat“ durch ein analoges Verhältnis im
Menschen selbst, wenn von einem menschlichen „Elementarstreit“ zwischen Sinn-
lichkeit und Vernunft die Rede ist, der zu einem Zustand innerer Unfreiheit führt.11
Das politische Problem ist nach Schiller nur dann zu lösen, wenn der „Konflikt
blinder Triebe“ im Menschen selbst beruhigt, die „grobe Entgegensetzung“ auf-
gehoben und dadurch der problematische Übergang von der Sinnlichkeit zur Ver-
nunft ermöglicht wird. „Der sinnliche Mensch kann nicht genug aufgelöst, der
rationale nicht genug angespannt werden und alles, was zur Kultur der Mensch-
heit gethan werden kann, läuft auf diese Regel hinaus, die sinnliche Energie durch
die geistige zu beschränken.“12 In diesem Zitat wird durch die Zusammenführung
der beiden Argumentationsstränge bereits das Programm ästhetischer Erziehung
und Bildung benannt. Einerseits soll durch die sowohl abspannende als auch
anspannende bzw. energetische Wirkung der ästhetischen Phänomene des Schönen
und Erhabenen der „Trägheit des Geistes“ sowie der „Feigheit des Herzens“
entgegengewirkt werden. Andererseits erwartet Schiller von der ästhetischen
Erziehung eine „Beschränkung“ der Sinnlichkeit zugunsten vernünftiger Selbst-
bestimmung. Das große pädagogische Thema ist also die Gestaltung des Über-
gangs von der sinnlichen Abhängigkeit zur rationalen Freiheit, wobei es

7Vgl. Nieser, Bruno: Aufklärung und Bildung. Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen
Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der Auf-
klärung. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992, S. 151.
88. Brief der Ästhetischer Brief, S. 270.

9Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793, S. 148.

10Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793, S. 148.

117. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 269.

12Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793, S. 156.


Bildung im Medium der Ästhetik 81

Schiller ausdrücklich nicht um eine Unterdrückung, sondern lediglich um eine


„Beschränkung“ der Sinnlichkeit geht, um die Einflussnahme vernünftiger Über-
legung auf unsere Handlungsmotivationen zu erleichtern.
Als ein erstes Fazit können wir an dieser Stelle festhalten, dass nach Schiller
eine ästhetische Emanzipation der politischen notwendig vorausgehen muss,
da es allein die Schönheit ist, die „den rohen Sohn der Natur verfeinert, und den
bloß sensualen Menschen zu einem rationalen erziehen hilft“.13 Bevor diese
Argumentation weiter verfolgt wird, soll zunächst ein Blick auf Schillers Zeit- und
Kulturkritik geworfen werden, welche der Wirkung des Schönen und der schönen
Kunst sowie der Bedeutung ästhetischer Erziehung und Bildung noch eine weitere
Akzentuierung verleiht.

2 Die Antinomien der Moderne und die


kompensatorische Wirkung der Kunst

Zu den wohl am häufigsten rezipierten Passagen der Ästhetischen Briefen gehört


Schillers „Gemälde“ der modernen Welt, das er in kritischer Absicht und wort-
gewaltig im sechsten Brief zeichnet. Seine radikale Zeit- und Kulturkritik deckt
nicht nur die Zerrissenheit einer mit sich selbst entfremdeten Moderne auf,
sondern sie antizipiert bereits den jungen Marx und nimmt in ihren grundsätz-
lichen Zügen die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno) vorweg.14
Seine Zeit sieht Schiller durch Momente der Spezialisierung, Fragmentarisierung
und Selbstentfremdung charakterisiert. Die zunehmende Ausdifferenzierung sowohl
der Wissenschaften als auch der Berufswelt erfordern ein hohes Maß an früher
Spezialisierung, die eine ganzheitliche Bildung behindert, so dass nicht nur einzelne
Menschen, sondern „ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen“
entfalten können.15 Die Konsequenzen, die sich daraus für den Einzelnen ergeben,
werden aus dem folgenden Zitat deutlich:

„Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die
Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von
der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen
gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als ein Bruchstück aus, ewig nur das eintönige
Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines
Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem
Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“16

13Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793, S. 157.


14Vgl. Pott, Hans-Georg: Kultur als Spiel, Geselligkeit und Lebenskunst. Schillers Ästhetische
Briefe und das humanistische Bildungsprogramm der Aufklärung. In: Stolzenberg, Jürgen/
Ulrichs, Lars-Thade (Hrsg.): Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche. Berlin:
De Gruyter 2010, S. 4.
156. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 262.

166. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 264.


82 B. Fuchs

Die arbeitsteiligen Produktionsmechanismen in der modernen Berufswelt sowie die


veränderten Anforderungen des modernen Verwaltungsstaates an seine Bediensteten
reduzieren den Menschen auf seine fachlichen Qualifikationen („Kompetenzen“)
und gesellschaftlich verwertbaren Leistungen, ohne seine charakterlichen Vorzüge
(oder Mängel) zu berücksichtigen. So ist der „Geschäftsmann“ in dem „einförmigen
Kreis seines Berufes“ und in „pedantischer Beschränktheit“ gefangen, über der
Bewältigung des Berufsalltags und der Fokussierung auf Gewinnmaximierung
das Ganze mehr und mehr aus dem Blick verlierend. Nicht besser verhält es sich
mit dem Gelehrten, der sich leicht durch die zunehmend abstrakte Rationalität des
Wissenschaftsbetriebes in eine „leere Subtilität“ verliert. Diese innere Zerrissen-
heit des Menschen wird durch das „mechanische Uhrwerk“ eines Staates noch ver-
stärkt, der seinen Bürgern lediglich „durch Repräsentation aus zweiter Hand“, d. h.
durch Gesetze, Steuern, Bürokratie und Polizei entgegentritt und dadurch einer
wachsenden Entfremdung der Bürger von den politischen Organisationen Vorschub
leistet.17
Schiller führt uns in seinem sechsten Brief Formen politischer und
gesellschaftlicher Entfremdung vor Augen, die mit erstaunlicher Weitsicht die
Arbeits- und Produktionsbedingungen der modernen Gesellschaft vorweg-
nehmen, wie sie durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts entstehen
wird. In seinem Film Modern Times aus dem Jahr 1936 stellt Charlie Chaplin
anschaulich dar, worum es Schiller in seiner Analyse geht: Die zunehmende
Rationalisierung nahezu aller Arbeits- und Produktionsabläufe trennt den Genuss
von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung.
Eine fragmentarisierte und hoch spezialisierte Tätigkeit, wie sie etwa der
Fließbandarbeiter verrichtet, führt zu einer lähmenden Monotonie, die nur durch
physische und intellektuelle Abstumpfung zu ertragen ist.18
Mit dem „Wilden“ und dem „Barbaren“ benennt Schiller die beiden Formen
humaner Vereinseitigung, mit denen wir es in der Moderne zu tun haben. Der
Wilde ist in Schillers Augen der einseitig sinnliche Mensch, der den jeweiligen
Antrieben durch seine Bedürfnisse, Interessen und Neigungen uneingeschränkt
folgt. Der Barbar hingegen ist der rationale Mensch, der leicht dazu neigt,
leistungsorientiert seine Emotionen und Bedürfnisse zugunsten des Karriere-
strebens zu unterdrücken. Der Wilde und der Barbar sind für Schiller nur Siglen,
um anzudeuten, wovon die Rede ist: Von zwei Menschentypen der Moderne,
deren Gemeinsamkeit in der einseitigen Beanspruchung und Ausbildung einer
der beiden kognitiven Fähigkeiten besteht: Entweder der empfindungsabhängigen
Phantasie oder des von Empfindungen abstrahierenden Denkens. Die Ver-
nachlässigung des intellektuellen bzw. rationalen Moments bei den Wilden führt
zu einer Entgrenzung der Gefühle, die neben der Einbildungskraft „luxurieren“,
das Bewusstsein und das Handeln bestimmen und, wie es bei Schiller heißt, über

17Vgl. Alt, Peter-André.: Friedrich Schiller. München: C.H. Beck 2004, S. 77.
18Vgl. Reinhardt, Hartmut: Schillers Konzept einer ästhetischen Kultur. In: Feger, Hans Detlef
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Die Realität des Idealisten. Heidelberg: 2006, S. 369 f.
Bildung im Medium der Ästhetik 83

die Grundsätze herrschen. Die Vernachlässigung der sinnlichen Erscheinungswelt,


der subjektiven Gefühle zugunsten einer sich über das Spezielle und Individuelle
hinwegsetzenden Rationalität, mündet in einen Mangel an Empathie bzw. in eine
herzlose Gefühlsarmut, die sich im radikalen Falle auch für das Ästhetische in
Natur und Kunst verschließt.
Interessant ist an Schillers Kulturkritik seine dialektische Argumentations-
struktur. Frühe Spezialisierung sowie der in der Charakterisierung des Wilden und
des Barbaren zum Ausdruck kommende Antagonismus der Kräfte sind einerseits
das „große Instrument der Kultur“, ohne das die rasanten Fortschritte in Wissen-
schaft und Technik nicht möglich gewesen wären. Andererseits spricht Schiller
vom „Fluch des Weltzwecks“,19 der das Individuum mit den benannten negativen
Konsequenzen konfrontiert (ungehemmte Sinnlichkeit und Affektbestimmtheit
auf der einen, gefühlsarme Rationalität und herzlose Kälte auf der anderen Seite).
So stellt das Ende des 6. Briefes eine seltsam anmutende „Buchführung von
individueller Verlust- und menschheitlicher Fortschrittsrechnung“20 auf, die so nicht
stehen bleiben kann. Es gilt einerseits den inneren Antagonismus im Menschen
zu versöhnen, einer sensualistischen oder rationalistischen Vereinseitigung ent-
gegenzuwirken, um selbst „unter den antinomischen Bedingungen der Moderne“
zumindest temporär die „Totalität menschlicher Selbst- und Welterfahrung“ zu
ermöglichen.21 Andererseits muss mit derselben Dringlichkeit eine enthumanisierte
Gesellschaft durch die Kultivierung der Umgangs- und Kommunikationsformen
einer ästhetischen Therapie unterzogen werden. Während sich der einzelne
Mensch im Glücksfall der ästhetischen Erfahrung als ein „in sich selbst vollendetes
Ganzes“22 erlebt, stellt der Geschmack mit seinem Interesse am schönen Schein
seine gemeinschaftsbildende und kulturschaffende Wirkung unter Beweis. Die von
Schiller ambitioniert in Angriff genommene Vermittlung zwischen den anthropo-
logischen, politischen und gesellschaftlichen Antinomien im Medium der Kunst
ist deshalb möglich, „weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit
wandert“.23
Betrachten wir zunächst die Wirkung des Schönen und seiner Darstellung im
Kunstwerk auf das einzelne Individuum. Wie bereits mehrfach erwähnt, geht
Schiller von einem Grundantagonismus im Menschen aus, den er im Anschluss an
Fichtes Subjektivitätstheorie als sinnlichen Stofftrieb und vernünftigen Formtrieb
bezeichnet. Während der Stofftrieb auf der Suche nach immer neuen Eindrücken
und Erlebnissen unablässig nach Veränderung strebt, versucht der Formtrieb die

196. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 267 f.


20Vgl. Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/
Weimar: Metzler 2011, S. 421.
21Vgl. Berghahn, Klaus L.: Nachwort zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung. In:

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam 2000,
S. 258.
2217. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 302.

232. Brief der Ästhetische Brief, S. 253; vgl. auch Berghan 2000, S. 254.
84 B. Fuchs

Fülle an Impressionen und Empfindungen gedanklich in bleibende Formen zu


bringen. Diese gegenläufigen Wirkungsweisen nach den beiden „Fundamental-
gesetze(n) der sinnlich-vernünftigen Natur“24 erzeugen eine Kluft im Inneren des
Menschen zwischen Empfindung, Gefühl und Leben auf der einen, Denken, Ver-
nunft und Form auf der anderen der beiden Seiten, die ihn jeweils in einen eigen-
tümlichen Zustand innerer Unfreiheit versetzen.
Allein die kontemplative Hinwendung zum Schönen und seinen Darstellungs-
formen, d. h. das ästhetische Verhältnis zur Natur und – für Schiller vorrangig –
zur Kunst, lässt einen dritten Trieb entstehen, der nach dem Prinzip der Wechsel-
wirkung die beiden anderen „Legislaturen“, Stofftrieb und Vernunfttrieb, in ein
freies Spiel zu versetzen vermag. Frei ist dieses innere Spiel, weil einerseits der
rezeptiven (hinnehmend-empfänglichen) Seite des Stofftriebes die vom Bedürf-
nis ausgehende Nötigung und andererseits dem spontanen (selbsttätigen) Formtrieb
der imperativische Charakter genommen ist. So befindet sich der Betrachter im
Kunstgenuss in einer „glücklichen Mitte“ zwischen Vernunftgesetz und Bedürfnis-
befriedigung, vom „Zwang sowohl des einen als des anderen entzogen.“25 In diesem
Zustand eines gleichgewichtigen Verhältnisses von Sinnlichkeit und Vernunft, Ein-
bildungskraft und Verstand, Anschauung und Denken ist es dem Formtrieb möglich,
der gestaltlosen Impression des sinnlichen Stofftriebes eine Form zu geben, während
umgekehrt der Stofftrieb die abstrakte Vernunft mit Bildern und Gefühlen bereichert.
Da jede der beiden Seiten der anderen wie in einem gemeinsamen Spiele dient, wird
keine von der anderen beherrscht; es ist ein „freies Spiel“ und die in diesem Aus-
druck angesprochene Freiheit ist die „ästhetische Freiheit“. Vor diesem Hintergrund
ist nun auch das berühmte Zitat aus dem 15 Brief verständlich: „Denn, um es end-
lich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung
des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.26 Das aber,
was solches Spiel im Menschen anregt, trägt den Namen der Schönheit bzw. des
Schönen, das Schiller als „lebende Gestalt“ definiert. Das Schöne, kann man nun
sagen, ist eben das, was den Menschen „ganz“ macht, nämlich dem Lebendigen an
ihm Gestalt verleiht und seiner Gestalt die Lebendigkeit.
Kehren wir zu Schillers Gesellschafts- und Kulturkritik zurück, denn das
zuletzt erreichte Resultat ist ohne Zweifel auch in diesem größeren Zusammen-
hang von Bedeutung; vieles spricht sogar dafür, dass es Schiller überhaupt um die
Sanierung des gesellschaftlichen Daseins zu tun war. Offenbar hat er den Spiel-
trieb auch als Heilmittel der inneren Zerrissenheit des modernen Menschen ein-
geschätzt, vermutlich auch als Entlastung von den Sorgen und der Geschäftigkeit
des alltäglichen Lebens. Man kann diesen Zustand als einen Zustand innerer
Gelassenheit ansehen, der den Menschen freisetzt, mit seinen Möglichkeiten zu
spielen und sie spielend zu entfalten.

2411. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 283.


2515. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 295.
2615. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 297.
Bildung im Medium der Ästhetik 85

Schon die Tatsache, dass Schiller bereits im Titel von ästhetischer Erziehung
spricht, weist auf die Bedeutung dieser ästhetischen Erziehung speziell unter
erziehungs- und bildungstheoretischen Aspekten hin. In der Erziehung dient
die Schönheit als pädagogisches Mittel, um von Empfindungen zum Denken
und umgekehrt von der Abstraktion zur Anschauung zu führen, wenn man nicht
annehmen müßte, dass Schönheit als Mittel, als Werkzeug und Instrument auf-
hört, Schönheit zu sein,– die unvermeidliche Paradoxie jeder Kunsterziehung. Für
Schiller ist aber kein anderer Weg als der ästhetische denkbar, um Vernunftfreiheit
zu ermöglichen:

„Der Übergang von dem leidenden Zustand des Empfindens zu dem tätigen des Denkens
und Wollens geschieht also nicht anders, als durch einen mittleren Zustand ästhetischer
Freiheit, und obgleich dieser Zustand an sich selbst weder für unsere Einsichten, noch
Gesinnungen etwas entscheidet, mithin unsern intellektuellen und moralischen Wert ganz
und gar problematisch läßt, so ist er doch die notwendige Bedingung, unter welcher allein
wir zu einer Einsicht und zu einer Gesinnung gelangen können. Mit einem Wort: es gibt
keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man den-
selben zuvor ästhetisch macht.“27

Von bildungstheoretischer Relevanz ist diese ästhetisch gestiftete „freie Stimmung“28


deshalb, da der Mensch allein durch die wechselseitige Aufhebung einer zweifachen
Determination die Möglichkeit der „realen und aktiven Bestimmbarkeit“, d. h. seine
Bildsamkeit zurückgewinnt.29 Nur durch diese doppelte Negativität im ästhetischen
Zustand wird Bildung im Sinne von Selbstbestimmung möglich. Nun erst ist dem
Menschen die Freiheit gegeben, das „aus sich zu machen, was er will“, zu sein, „was
er sein soll“.30

3 Schillers Theorie der Geschmacksbildung

Nicht nur im Rahmen der Ästhetisierung der Person, sondern auch im Hinblick
auf eine humane Gestaltung gesellschaftlicher Interaktionsprozesse, spielt das,
was man zu Schillers Zeiten als Geschmacksbildung bezeichnet hat, eine ent-
scheidende Rolle. Unter dem Begriff des Geschmacks kann man zunächst
zweierlei verstehen: Erstens den Gaumengeschmack für das Wohlschmeckende,
Appetitliche und Erlesene, zweitens die reflektierte Beurteilung der Darstellung
durch ein Gefühl – wenn es ein Kunstwerk ist, durch ein spezifisches Wohl-
gefallen, welches die Darstellung in uns auslöst. Es ist die ästhetische Urteilskraft,
welche hier am Werk ist, indem sie auf der Grundlage eines subjektiven Gefühls
ihre Urteile fällt. Kant hatte in § 5 seiner Kritik der Urteilskraft den Geschmack

2723. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 320.


2820. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 312.
2920. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 312.

3021. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 314.


86 B. Fuchs

als das „Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungs-


art durch ein Wohlgefallen ohne allen Interesses“ bezeichnet.31 Diese ästhetische
Interesselosigkeit, bei Kant das erste von vier elementaren Merkmalen des
Schönen, erlaubt es dem Betrachter, sich lediglich an der Darstellung zu erfreuen,
ohne das Dargestellte zu begehren. Diese Form der Kontemplation versetzt ihn
insofern in einen freien inneren Zustand, als keine Nötigung durch eine Begierde
nach dem dargestellten Gegenstand oder nach der Darstellung selbst (dem Bild,
der Statue etc.) sein Wohlgefallen bestimmt. Das ist folgenreich, denn wenn uns
etwas ohne individuelle Vorbedingungen wie es Neigungen und Begierden sind,
gefällt, so kann es allgemein in Jedermann ein solch interesseloses Wohlgefallen
erregen. Entscheidend ist jetzt nicht mehr die reine Impression, sondern eine
Reflexion, eine Überlegung, die sich zwanglos bei der Betrachtung des Schönen
zusammen mit dem Gefühl, das es auslöst, einstellt.
Die Bildung bzw. Verfeinerung des Geschmacks thematisiert Schiller im
10. Brief als pädagogische Aufgabe dort, wo er von der „stillen Arbeit des
Geschmacks an dem äußern und innern Menschen“ spricht und sich dabei auf die
„alltägliche Erfahrung“ beruft, welche mit dem gebildeten Geschmack „Klarheit
des Verstandes, Regsamkeit des Gefühls, Liberalität und Würde des Betragens“
verbindet.32 Während sich die beiden ersten Momente auf die ästhetische Ver-
feinerung des „innern“ Menschen beziehen, wird mit der „Liberalität und Würde
des Betragens“ die gesellschaftliche Wirkung des Geschmacks thematisiert. Es
ist leicht einzusehen, dass im Rahmen der Geschmackserziehung beide Momente
ineinanderspielen. Das Ziel der ästhetischen Erziehung besteht zunächst darin,
schon im kleinen Kind einen Sinn für Form und Schönheit zu kultivieren und die
ästhetische Urteilskraft zu entwickeln. Da man den Geschmack nicht nach Regeln
lernen kann, wird es vorrangig darum gehen, die Kinder mit schönen Gegen-
ständen zu umgeben, die bereits zu einer freien Betrachtung einladen. Sobald das
Kind anfängt, nur mit „dem Auge zu genießen“ lassen sich nach Schiller daran
bereits erste zaghafte Spuren des Spieltriebs erkennen.33 Es geht also darum,
die Sinnlichkeit so weit zu verfeinern, dass sich „aus rohen und ungebildeten
Anfängen der Sinn für die Schönheit des Betragens und die Schönheit der Kunst
entwickeln.“34
In der ästhetischen Erziehung rückt neben die mimetische Aneignung
ästhetischer Momente die „Schönheit des Betragens“, mit der wir in der Regel
kultivierte Umgangsformen, ein taktvolles Miteinander sowie das Bemühen um
praktische Klugheit im Umgang mit anderen Menschen verbinden. Von diesem
taktilen Sinn und Formen taktiler Bildung erhofft sich Schiller, dass auch der

31Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.):


Werke in sechs Bänden, Band VI. Darmstadt: Suhrkamp 1983, S. 288.
3210. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 276.

3326. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 336.

34Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793, S. 165.


Bildung im Medium der Ästhetik 87

gesellschaftliche Umgang „ein ganz anderes Ansehen gewinnt“.35 Gelingt die


ästhetische Erziehung, so dient der „gute Ton“ dem so Gebildeten als „ästhetisches
Gesetz“, das mit der Mäßigung, dem Anstand und der Höflichkeit eine innere
Selbstdisziplin fordert, die auch im Ansturm der Affekte die Stimme der Ver-
nunft hört und den affektgeladenen und impulsiven Ausbrüchen Grenzen setzt.
Es ist nach Schiller allein der Geschmack, der nun auch als Beurteilungsinstanz
für gesellschaftliches Verhalten auftritt, der die „blinde Gewalt der Affekte“ bricht
und von „dem Joch des Instinkts“ befreit.36 Seine gemeinschaftsbildende Wirkung
zeigt sich unter anderem in Momenten veredelter Triebbefriedigung: Zwar fordert
die Natur unablässig ihr Recht, aber sie lässt dem Menschen die Freiheit der
ästhetischen Gestaltung, so dass sich die Nahrungsaufnahme durch entsprechende
Tischsitten, gesellige Gespräche und Musik im Hintergrund in eine festliche
Geselligkeit verwandelt. Auch hier zeigt die Erfahrung, dass unsere Achtung eines
Menschen in dem Maße steigt, indem er „da Geschmack beweist, wo ein anderer
bloß ein Bedürfnis befriedigt“.37
Auch Kant war von der zivilisierenden Wirkung des Geschmacks überzeugt. In
§ 12 seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht heißt es:

„Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den
Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit
an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, dass es hiemit eben
nicht herzlich gemeint sei, damit einverständig ist, und es ist auch sehr gut, dass es so in
der Welt zugeht.“38

Denn selbst wenn es sich überall um bloßen Schein handelt, so beweist dieser
doch eine verborgene Anerkennung und Achtung dessen, was er vorspielt. Im
26. Brief greift Schiller diesen Gedanken auf und spricht von dem „wohltätigen
Schein“, der in der Lage ist, eine „gemeine Wirklichkeit zu veredeln“.39
Nach Schiller kommen dem ästhetischen Bildungsprogramm natürliche
Evolutionsprozesse insofern zur Hilfe, als sich sowohl im kleinen Kind als auch
zu Zeiten der Urmenschen bereits zaghafte Ansätze eines ästhetischen Bildungs-
triebes zeigen. Sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht
beginnt die Entwicklung mit dem „trotzigen Egoisten“,40 der lediglich seine
eigenen Interessen vor Augen hat und nach unmittelbarer Befriedigung seiner
Bedürfnisse strebt. Zaghafte Anfänge einer Humanisierung zeigen sich nach
Schiller sowohl menschheitsgeschichtlich als auch in der Individualgenese in einer

35Brief an den Augustenburger vom 21. November 1793, S. 171.


36Brief an den Augustenburger vom 3. Dezember 1793, S. 181.
37Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793, S. 163.

38Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in sechs

Bänden, Band V. Darmstadt: Suhrkamp 1998, S. 442.


3926. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 339.

40Brief an den Augustenburger vom 21. November 1793, S. 167.


88 B. Fuchs

Veränderung des Urteilens.41 Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs werden


nicht mehr ausschließlich unter Nützlichkeitskalkül gesehen, sondern im Hinblick
auf ihre schöne Gestaltung beurteilt. Phylogenetisch betrachtet zeigen sich nach
Schiller Spuren einer solchen Freisetzung von der bloßen Bedürfnisbefriedigung
in den ersten und noch ungelenken, teilweise grotesken Versuchen der Menschen,
ihr Dasein durch eine „ästhetische Zugabe“ zu bereichern, wie es etwa in den
urzeitlichen Höhlenmalereien zum Ausdruck kommt.42 Jetzt genügt es den
Menschen nicht mehr, dass das, was sie besitzen und herstellen „bloß die Spuren
der Dienstbarkeit“, die „ängstliche Form seines Zwecks“ an sich tragen. Selbst die
Waffen sollen bei ihrem Anblick nicht mehr nur Angst und Schrecken, sondern
auch Wohlgefallen an ihrer künstlerischen Gestaltung hervorrufen.
Nach Schiller gehört es zu den wichtigsten pädagogischen Aufgaben, diese
Entwicklungsprozesse erzieherisch zu unterstützen, und den Menschen bereits
in seinem „bloß physischen Leben“ der Form zu unterwerfen, und ihn „so weit
als nur möglich ästhetisch zu machen“, da sich nach Schiller „nur aus dem
ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustande der moralische ent-
wickeln kann.“43 Zwar bekennt sich Schiller explizit zur Moralphilosophie Kants
und stimmt mit ihm darin überein, dass der Geschmack allein Moralität nicht
begründen kann. Als moralisch gelten auch nach Schiller nur jene Handlungen,
„zu denen uns bloß die Achtung für das Gesetz der Vernunft und nicht Antriebe
bestimmen“.44 Dennoch ist der Geschmack in der Lage, durch die Veredelung
des sinnlichen Triebs den Widerstand gegen die Gebote der praktischen Vernunft
zu brechen und eine für die Tugend zweckmäßige Stimmung zu erzeugen. Der
Mensch wird dadurch in die Lage versetzt, das mit Neigung zu tun, was er sonst
gegen die Neigung hätte durchsetzen müssen.

4 Die Aktualität Schillers

Rückgriffe auf Schillers politisch-ästhetisches Programm finden sich immer


dann, wenn es darum geht, den nach politischer Freiheit strebenden Menschen
durch ästhetische Bildung zu republiktauglichen Bürgern zu bilden. In diesem
Zusammenhang wird auch die Aktualität der Schillerschen Zeit- und Kultur-
kritik anerkannt. Jürgen Habermas hat in der zweiten seiner Vorlesungen über
den Philosophischen Diskurs der Moderne (1985) Schillers Ästhetischen Briefen
einen eigenen Exkurs gewidmet. Er findet in den Ästhetischen Briefen „die erste
programmatische Schrift zu einer ästhetischen Kritik der Moderne“, die sich

41Augustenburger Brief vom 21. November 1793, S. 169.


42Augustenburger Brief vom 21. November 1793 S. 341.
4323. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 292.

44Augustenburger Brief vom 3. Dezember 1793, S. 177.


Bildung im Medium der Ästhetik 89

als Welt des Fortschritts und des entfremdeten Geistes zugleich versteht.45 Dass
Schillers Theorie einer ästhetischen Erziehung und Bildung sowie ihre Begründung
auch heute noch auf großes Interesse stößt, lässt sich nach Habermas damit
erklären, dass Schiller eine „ästhetische Utopie“ entwirft, die der Kunst eine
geradezu „sozial-revolutionäre Rolle“ zuschreibt.46 In seinem Versuch, die mit sich
selbst zerfallene Moderne zu versöhnen, setze Schiller auf die „kommunikative,
gemeinschaftsstiftende, solidarisierende Kraft, auf den öffentlichen Charakter der
Kunst“,47 in der Habermas die Verkörperung einer kommunikativen Vernunft sieht.
Nach dieser, seinem eigenen Kommunikationskonzept folgend, intendiert Schillers
„ästhetische Utopie“ keine „Ästhetisierung der Lebensverhältnisse“, sondern eine
„Revolution der Verständigungsverhältnisse“.48 Schiller habe in dieser Utopie,
„die für Hegel und Marx wie überhaupt für die hegelmarxistische Tradition bis zu
Lukács und Marcuse ein Punkt der Orientierung geblieben ist, die Kunst als die
genuine Verkörperung einer kommunikativen Vernunft begriffen.“49.
In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation von Wilfried Noetzel,
der die „prinzipielle Modernität“ von Schillers theoretischem Ansatz für eine
parlamentarische Demokratie unterstreicht.50 Hervorzuheben sei in diesem
Zusammenhang vor allem auch die Aktualität seiner Geschmackspädagogik
für ein demokratisches Staatswesen, dessen „Humanität“ nicht allein durch das
Grundgesetz verbürgt werden kann, sondern erst durch die „moralisch-politische
Kompetenz und sittlich-kommunikative Performanz seiner Bürger“ auf eine
sicheren Grundlage gestellt wird.51 Eine Ästhetisierung der Umgangsformen könne
nach Schiller zumindest bewirken, dass die „interessenverhaftete und konfliktäre
Aggressivität“ eines „naturwüchsigen Konkurrenzverhaltens“ soweit gemildert
und die Vernunftfreiheit gesichert wird, dass der moralische Staat, so wie er sich
vor dem Horizont der Französischen Revolution abzeichnet, die Möglichkeit
auf Realisierung erhält.52 Mit seiner „kommunikativen Geschmackspädagogik“

45Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,

S. 59.
46Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,

S. 59.
47Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,

S. 59/60.
48Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,

S. 63.
49Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,

S. 62.
50Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetischen Erziehung. Friedrich Schillers moderne

Umgangs- und Geschmackspädagogik. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992, S. 16 f.


51Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetischen Erziehung. Friedrich Schillers moderne

Umgangs- und Geschmackspädagogik. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992, S. 16 f.


52Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetischen Erziehung. Friedrich Schillers moderne

Umgangs- und Geschmackspädagogik. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992, S. 18.


90 B. Fuchs

sei es Schiller tatsächlich gelungen, den Weg „über die Versittlichung der
Gesellungsformen zur Demokratisierung der Gesellschaft“ aufzuzeigen, der mit
einer Verhaltensänderung seinen Anfang nimmt.53 Dass diese Änderung in ihrem
Kern auf einer „totalen Revolution“ des Menschen „in seiner ganzen Empfindungs-
weise“54 beruht, ist beiden Autoren zwar vertraut, wird aber nur schwer in das
Kommunikationsschema integrierbar sein.
Die Frage, wie es vor dem Hintergrund der kommunikativen Schillerdeutung
um die Kommunikation im digitalen Zeitalter bestellt ist, wird nur durch eine
erneute Kulturkritik zu beantworten sein, für die Schiller mögliche Urteilskriterien
bereitstellt. Erinnern wir uns zunächst an das freie Spiel zwischen Sensuali-
tät und Rationalität, so dass die Empfindungs- und Gefühlseite des Menschen
in ihrer leidenschaftlichen Energie durch den rationalen Einfluss gemildert,
vielleicht sogar in eine Form gebracht wird, sowie umgekehrt die Rationali-
tät von ihrer Erstarrung in gefühlsarme Kälte durch den belebenden Einfluss
des Gefühls bewahrt wird. Bezieht man diese Überlegungen auf unsere digitale
Informations- und Unterhaltungsindustrie, so zeigt sich leicht, dass Formen
der Selbstbeherrschung und Affektregulierung nicht hoch im Kurs stehen.
Andreas Reckwitz, der in seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten.
Zum Strukturwandel der Moderne (2017) die Entwicklung von der „Technik
der Industrialisierung“ zur neuen „Technologie des digitalen Computernetzes“
in der Spätmoderne nachzeichnet, zeigt, wie die digitalen Medien nicht nur
eine „Singularisierung des Sozialen“ evozieren, sondern auch den Affekten und
der Affekterregung eine erhebliche Relevanz zukommen lassen.55 Die Gesell-
schaft der Spätmoderne, so das Resultat von Reckwitz, ist eine „Affektgesell-
schaft“, in der auch die User digitaler Medien permanent darum bemüht sind,
nicht nur andere zu beeindrucken, sondern auch selber affiziert zu werden, eine
Situation, die zwangsläufig zu einer „kontinuierlichen Affektintensivierung“
führt.56 Anlass zur Besorgnis gibt auch der Befund, dass sich in den digitalen
Medien selbst der Journalismus als eine „Narrationsmaschine“ generiert, die
weniger auf sachliche Informationen als auf „affektive Wirkungen“ aus ist.57 Dass
sich die digitale Kultur vorrangig als eine „Kultur der Visualität“ versteht, wird

53Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetischen Erziehung. Friedrich Schillers moderne


Umgangs- und Geschmackspädagogik. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992, S. 16.
5427. Brief der Ästhetischen Erziehung, S. 340.

55Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der

Moderne. Berlin: Surhkamp 2017, S. 226.


56Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der

Moderne. Berlin: Surhkamp 2017, S. 235.


57Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der

Moderne. Berlin: Surhkamp 2017, S. 236.


Bildung im Medium der Ästhetik 91

schon daran ersichtlich, dass mittlerweile eine Flut an Bildern die N­ achrichten
aus Politik, Sport und Unterhaltung dominieren.58 Selbst im Hinblick auf Texte
konstatiert Reckwitz eine „Entinformationalisierung“, die mit einer „starken
Emotionalisierung“ Hand in Hand geht.59
Dass Formen der kommunikativen Interaktion auch das gesellschaftliche Klima
beeinflussen können, zeigt der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten
Walter Lübcke am 2. Juni 2019. Wolfgang Janisch, Korrespondent der Süd-
deutschen Zeitung, deutet diese Untat als ein „bedrückendes Indiz“ dafür, dass aus
einem aggressiven Vokabular durchaus brutale Gewalttaten resultieren können.60
Obszöne Beleidigungen von Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu unver-
hohlenen Morddrohungen gegen Politiker haben, so Janisch, einen traurigen und
zugleich alarmierenden Höhepunkt erreicht.
Auch Kurt Kister, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, hat in seinem
Jahresrückblick 2019 unter dem Titel Gar nicht so gemeint mit deutlichen
Worten auf die Verrohung der Kommunikation in unserer digitalen „Erregungs-
gesellschaft“ hingewiesen.61 Eine brutale Sprache und ungehemmte Aggressivi-
tät oft unter dem Schutz der Anonymität führen zunehmend zu einer „Erosion
einer gewalt- und beleidigungsfreien Kommunikation“ im Netz, wie es durch
das „Führen ungebührlich scharfer Verbalattacken“ oder durch „bildunterstützte
Häme“ deutlich wird.62
Dieser zugegebenermaßen stichpunktartige und keineswegs ausgewogene
Blick auf das digitale Zeitalter lässt zumindest ein diskussionswürdiges Fazit
unserer Überlegungen zu: Vor dem Hintergrund der Schillerschen Gesellschafts-
und Kulturkritik mit ihrer Warnung vor einer Enthumanisierung der Gesell-
schaft, kann man aktuelle Formen der „Verwilderung“ und damit einer erneuten
Fragmentarisierung des Menschen erkennen, die ihn auch der Möglichkeit des
Selbstdenkens und der moralischen Selbstbestimmung berauben. Um dieser
bedenklichen Entwicklung entgegenzuwirken, bedarf es neben den Bemühungen
um politische Bildung und kritische Medienpädagogik einer erneuten und
intensivierten Reflexion auf die Bedeutung ästhetischer Erziehung und Bildung.

58Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der
Moderne. Berlin: Surhkamp 2017, S. 236.
59Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der

Moderne. Berlin: Surhkamp 2017, S. 236.


60Vgl. Janisch, Wolfgang: Volle Härte. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/hass-im-netz-

volle-haerte-1.4697171 (29.09.2020).
61Vgl. Kister, Kurt: Gar nicht so gemeint. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/meinungs-

freiheit-erregungsgesellschaft-debattenkultur-1.4697182?reduced=true (29.09.2020).
62Vgl. Kister, Kurt: Gar nicht so gemeint. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/meinungs-

freiheit-erregungsgesellschaft-debattenkultur-1.4697182?reduced=true (29.09.2020).
92 B. Fuchs

Literatur
Alt, Peter-André.: Friedrich Schiller. München: C.H. Beck 2004.
Berghahn, Klaus L.: Nachwort zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung. In: Schiller,
Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam 2000.
Fuchs, Briggitta/Koch, Lutz (Hrsg.): Schillers ästhetisch-politischer Humanismus. Die
ästhetische Erziehung des Menschen. Würzburg: Reclam 2006.
Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.
Hauskeller, Michael: Was ist Kunst. Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. 9. Auflage.
München: Becksche Reihe 2008.
Janisch, Wolfgang: Volle Härte. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/hass-im-netz-volle-
haerte-1.4697171 (29.09.2020)
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in sechs
Bänden, Band V. Darmstadt: Suhrkamp 1998.
Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.):
Werke in sechs Bänden, Band VI. Darmstadt: Suhrkamp 1983.
Kister, Kurt: Gar nicht so gemeint. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/meinungsfreiheit-
erregungsgesellschaft-debattenkultur-1.4697182?reduced=true (29.09.2020)
Koch, Lutz: Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe
von Briefen. In: Böhm, Winfried/Fuchs, Birgitta/Seichter, Sabine (Hrsg.): Hauptwerke der
Pädagogik. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, S. 408–411.
Luserke-Jaqui, Matthias (Hrsg.): Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/Weimar:
Metzler 2011.
Nieser, Bruno: Aufklärung und Bildung. Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen
Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der
Aufklärung. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992.
Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetischen Erziehung. Friedrich Schillers moderne
Umgangs- und Geschmackspädagogik. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992.
Pott, Hans-Georg: Kultur als Spiel, Geselligkeit und Lebenskunst. Schillers Ästhetische Briefe
und das humanistische Bildungsprogramm der Aufklärung. In: Stolzenberg, Jürgen/Ulrichs,
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Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne.
Berlin: Surhkamp 2017.
Reinhardt, Hartmut: Schillers Konzept einer ästhetischen Kultur. In: Feger, Hans Detlef (Hrsg.):
Friedrich Schiller: Die Realität des Idealisten. Heidelberg: 2006, S. 367–393.
Rittelmeyer, Chr. (2005): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Eine Einführung in
Friedrich Schillers pädagogische Anthropologie. Weinheim
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In:
Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, hrsg. v. Rolf Toman. Köln 1999
Schiller, Friedrich: Briefe an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-
Sonderburg-Augustenburg. In: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des
Menschen. Stuttgart: Universitätsverlag Winter 2000.
Stolzenberg, Jürgen/Ulrichs, Lars-Thade (Hrsg.): Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt,
Nietzsche. Berlin/New York: De Gruyter 2010.
Teil II
Theoretisch konzeptionelle Ebene 2:
Die erlebnispädagogische Perspektive
Erlebnispädagogik und schulische
Bildung
Werner Michl

Zusammenfassung

Die Erlebnispädagogik begann im schulischen Kontext. Im Anschluss an


die Jugendbewegung hat die Reformpädagogik die schulische Bildung
durch zahllose Innovationen, Ideen, Experimente und erlebnisreichen Unter-
richt bereichert. Kurt Hahn, der designierte Vater der Erlebnispädagogik, hat
diese Ideen gebündelt und zunächst in der Schule Schloss Salem umgesetzt.
Später hat er die außerschulische Bildung bereichert und damit eine die Welt
umspannende Erziehungsrepublik geschaffen. Um 1980 hat die moderne
Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum erste Schritte getan, zunächst
in der Jugendarbeit, dann in der Heimerziehung, schließlich mit allen
außerschulischen Zielgruppen. Erlebnispädagogische Klassenfahrten fanden
zunächst nur sporadisch statt, heute haben sich viele erlebnispädagogische
Träger auf Schulklassen konzentriert. Erlebnis- und handlungsorientiertes
Lernen, Innovationen und aktivierende Methoden im Schulunterricht konnten
sich bislang nur bedingt durchsetzen.

Schlüsselwörter

Erlebnispädagogik · Erlebnis-und handlungsorientiertes Lernen · Kurt Hahn · 


Lernen mit allen Sinnen

W. Michl (*) 
TH Nürnberg GSO und Universität Luxemburg - im Ruhestand, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: michl@hostmail.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 95
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_5
96 W. Michl

1 Rückblicke: Zwischen Raffael und Rousseau

Vor 500 Jahren ist Raffael gestorben, der mit der „Schule von Athen“, seine Vor-
stellung vom bewegten Lernen gemalt hat: interaktiv, interdisziplinär, inter-
national. Zwischen dem halb nackten Diogenes und dem Blick ins Offene bleibt
der Blick des Betrachters hängen an den zwei größten Philosophen der Antike,
Platon und Aristoteles. Sie gehen und diskutieren in der Mitte des Bildes, scheren
sich nicht um ihre Schüler, die links und rechts ein Spalier bilden. Platon zeigt in
Richtung Himmel und verweist so auf die Welt der Ideen. Aristoteles deutet zum
Boden, als wolle er seinen Gesprächspartner auffordern, am Boden zu bleiben, den
Ball flach zu halten. Dies ist einer der wenigen Dialoge in diesem Gemälde. Die
Lehre ist sozusagen das Abfallprodukt der wissenschaftlichen Diskussion, oder
etwas freundlicher formuliert, die Schüler*innen und Student*innen sind selbst
für ihren Lernprozess verantwortlich. Sie müssen um ihr Wissen kämpfen, es sich
aktiv aneignen.
Die Philosophen der Aufklärung – und im Falle von Montaigne deutlich früher –
haben sich intensiv den Fragen der Erziehung gewidmet und den wichtigen Beitrag
von Natur, Gemeinschaft, Körper und Bewegung gewürdigt. Montaigne (1533 bis
1592) fasst in seinen „Essais“ (2005, S. 97) als Ergebnis seiner Erörterungen zur
Erziehung zusammen: „ …das Wichtigste ist, Lust und Liebe zur Sache zu wecken;
sonst erzieht man nur gelehrte Esel, und man erreicht nur, daß sie einen Sack voll
totes Wissens, das ihnen eingeprügelt ist, mit sich herumtragen …“ John Locke
(1632 bis 1704) folgert in seinen „Gedanken über Erziehung“ (2007, S. 33):

„[…]; es läuft alles auf diese wenigen und leicht zu befolgenden Regeln hinaus: viel
frische Luft, körperliche Bewegung und Schlaf, einfaches Essen, kein Wein oder starke
alkoholische Getränke und sehr wenig oder gar keine Medizin, nicht zu warme und enge
Kleidung, besonders Kopf und Füße kühl halten und die Füße an kaltes Wasser gewöhnen
[…]“

Auch Immanuel Kant (1724 bis 1804) will Bewegung und Begeisterung: „Über-
haupt sind diejenigen Spiele die besten, bei welchen, neben den Exerzitien der
Geschicklichkeit, auch Übungen der Sinne hinzukommen..“ (1997, S. 57). Und an
anderer Stelle (1997, 65) – Csíkszentmihályi (1990) hat das 200 Jahre später als
Flow bezeichnet: „Der Mensch muß auf eine solche Weise okuppieret sein, daß
er mit dem Zweck, den er vor Augen hat, in der Art erfüllt ist, daß er sich gar
nicht fühlt…“ Jean Jacques Rousseau (1712 bis 1778) gilt mit seinem Erziehungs-
roman „Émile“ als Vordenker der Erlebnispädagogik (Heckmair und Michl 2018,
S. 12 ff.): Dort findet sich sein Credo (2018, S. 16): „Nicht wer am ältesten wird,
hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat. Mancher wird mit
hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war. Es wäre ein
Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigsten bis dahin
gelebt hätte.“ Rousseaus Philosophie der Erziehung hat Europa geprägt und vor
allem das Denken und Handeln eines der größten Pädagogen beeinflusst: Johann
Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827). Friedrich Nietzsche war in mehrfachem
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 97

Sinne ein Freidenker. Viele seiner Werke sind im Freien, bei mehrstündigen Berg-
wanderungen, entstanden. Er schlug vor, eine Gebirgsschule zu gründen (Setz-
wein 2016, S. 71) und empfahl: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken
Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in
dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern!“ (Nietzsche 2013, S. 18 f.) Unter
„Wege zu Gleichheit“ hat er folgenden Vorschlag geäußert: „Einige Stunden Berg-
steigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei gleiche Geschöpfe.
Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit – die Frei-
heit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.“ (Nietzsche 1962, S. 302).
Pestalozzis Motto vom Lernen mit Kopf, Herz und Hand hat Kurt Hahn über-
nommen. Die Schule Schloss Salem, von ihm 1920 gegründet, feierte 2020 das
100-jährige Jubiläum (Schule Schloss Salem 2020).

2 Rundblicke: Kurt Hahn – von Aberdovey bis


Zimbabwe

Kurt Hahn gilt als der Begründer der Erlebnispädagogik. Der Romantiker Hahn
sah die Gesellschaft im Verfall, der Pragmatiker Hahn entwarf ein kurzes, klares,
einfaches Konzept. Folgende vier Verfallserscheinungen der Gesellschaft, sowie
erlebnispädagogische Maßnahmen dagegen, formulierte Hahn (1998, S. 301 ff.):

1. Den „Verfall der körperlichen Tauglichkeit“ will er durch das „körperliche


Training“ aufhalten.
2. Der „Mangel an Initiative und Spontaneität“ soll durch die „Expedition“
kompensiert werden.
3. Das „Projekt“ soll den „Mangel an Sorgsamkeit“ ausgleichen.
4. Dem „Mangel an menschlicher Anteilnahme“ setzt er den „Dienst am
Nächsten“ entgegen.

„Es gibt nicht nur ansteckende Krankheiten, sondern auch ansteckende Gesund-
heiten“ (Hahn 1998, S. 283). Kurt Hahn hat mit seiner schmalen Theorie eine
Erziehungsrepublik geschaffen, die ihresgleichen sucht. Seine Ideen umrundeten
die Welt und haben dabei nichts von ihrer Zauberkraft verloren.
Zum einen hat er die schulische Bildung bereichert. Durch die Gründung
von Schule Schloss Salem 1920 und Gordonstoun 1934 hat er, inspiriert von der
„Emlohstobba“ von Hermann Lietz (veröffentlicht 1897), die Landerziehungs-
heimbewegung in Deutschland und Großbritannien geprägt. Die Trevelyan-
Stipendien, eingeführt 1958, sollten Schüler*innen in Gordonstoun fördern, die
sich neben schulischen Leistungen und intellektueller Begabung durch besondere
soziale Kompetenz und charakterliche Stärken auszeichnen. Zwölf führende
Unternehmen gewährten 34 Stipendien zum Studium in Oxford und Cambridge
(Meiggs 1966, S. 255 ff.). 1967 wurde der Schulverbund Round Square gegründet,
benannt nach dem Round-Square-Gebäude in Gordonstoun, der mittlerweile
über 200 Schulen aus 50 Nationen vereinigt. Fünf Werte zeichnen den Bund
98 W. Michl

aus: ­Internationalität, Demokratie, Umweltbewusstsein, Abenteuer, Dienst am


Nächsten (https://www.roundsquare.org). 1962 nahm St. Donat’s Castle, das
erste Atlantic College, den Schulbetrieb auf. Begabte Schüler*innen aus allen
Kontinenten sollten die letzten beiden Jahre vor dem International Baccalaureate
gemeinsam lernen und leben. Wenig später wurden diese Colleges umbenannt in
United World Colleges (UWC). Diesem Schulverbund gehören heute 18 Schulen
in 18 Ländern an, verteilt über vier Kontinente (Michl 2018, S. 161 ff.). Kurt Hahn
war beteiligt an den ersten Entwürfen zum International Baccalaureate, einem
international anerkannten Schulabschluss, der seit 1968 angeboten wird.
Zum anderen hat er die außerschulische Bildung durch zwei besondere Ideen
geprägt. Der „Duke of Edinburgh’s Award“, begründet 1956 von Kurt Hahn und
Prinz Philipp, wird in mehr als 100 Ländern der Erde verliehen und ist eines
der „… weltweit größten Bildungsprogramme für junge Menschen im Alter von
14–24 Jahren.“ (Vogel 2018, S. 146). Dieser Preis kann durch Leistungen in
den vier Programmteilen Dienst am Nächsten, Expedition, Talente und Fitness
in Bronze oder Silber, für das Abzeichen in Gold zusätzlich mit einem Projekt,
erworben werden. Outward Bound: Dieser Begriff entstammt der englischen
Seemannsprache und bezeichnet das zum Ablegen bereite Schiff. Kurt Hahn
hat diesen Begriff zusammen mit dem Reeder Laurence Holt als Metapher in
die Pädagogik eingeführt. 1941 wurde die erste Outward-Bound-Bildungsstätte
Aberdovey begründet. Daraus entwickelte sich eine mächtige pädagogische
Bewegung, die sich über die ganze Welt ausbreitete – von Aberdovey bis nach
Zimbabwe! In mehr als vierzig Ländern der Erde gibt es Outward-Bound-
Bildungshäuser (Dettweiler 2018, S. 142 ff.).

3 Einblick: Erlebnispädagogik – Annäherungen


an einen schwierigen Begriff

Hans-Peter Heekerens (2019) hat in seinem Buch „100 Jahre Erlebnispädagogik –


Rück-, Rund- und Ausblicke“ den 100. Geburtstag der Erlebnispädagogik fest-
gestellt. Den Startpunkt der Erlebnispädagogik auf 1919 zu legen, weil Kurt
Hahn mitten in der Planung zur Eröffnung von Salem stand, ist möglich, aber
nicht zwingend. Man könnte natürlich auch die Eröffnung von Schule Schloss
Salem 1920 als Fixpunkt wählen oder vielleicht sogar die Eröffnung der ersten
Short Term School, der Outward Bound Sea School in Aberdovey, im Jahr
1941. Ähnliches gilt für das Geburtsjahr der modernen Erlebnispädagogik, das
Heekerens auf „Mitte der 1980er“ (2019, S. 141) festlegt. Das kann man machen,
denn damals nahmen mehrere Träger außerhalb von Outward Bound ihre Arbeit
auf, z. B. GFE | erlebnistage, die Zahl der Veröffentlichungen nahm deutlich zu,
und durch Weiterbildungen und Kongresse bildete sich eine wissenschaftliche
Community heraus.
Es wäre ein Leichtes gewesen, vor 30 Jahren Erlebnispädagogik zu definieren:
Erlebnispädagogik will durch Natursport etwas zur Persönlichkeitsbildung, zur
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 99

Team- und Organisationsentwicklung beitragen. Heute kann diese Definition die


Bandbreite der Praxis nicht mehr abdecken. Heckmair und Michl haben folgende
Definition vorgeschlagen (2018, S. 108):
Das Konzept der Erlebnispädagogik will als Teildisziplin der Pädagogik
junge Menschen durch exemplarische Lernprozesse und durch bewegtes Lernen
vor physische, psychische und soziale Herausforderungen – vornehmlich in der
Natur – stellen, um sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und sie zu
befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.
Natürlich kann man Erlebnispädagogik auch beschreiben (Michl 2020, S.
14): Sie findet in der Regel unter freiem Himmel statt, hat eine hohe physische
Handlungskomponente und verwendet häufig die Natur als Lernfeld. Sie setzt auf
direkte Handlungskonsequenzen, arbeitet mit Herausforderungen und subjektiven
Grenzerfahrungen. Die Methoden sind klassische Natursportarten, spezielle künst-
liche Anlagen sowie eine Palette von Vertrauensübungen und Lernprojekten. Die
Gruppe bzw. das Team ist ein wichtiger Katalysator der Veränderung. Immer
geht es um Reflexion und Transfer: Was wurde gelernt, wie wirkt es sich auf den
persönlichen und beruflichen Alltag aus?

4 Überblick: Erlebnispädagogik und schulische Bildung

Die Erlebnispädagogik nahm ihren Anfang in der Schule Schloss Salem, wurde
inspiriert durch die englische Internatserziehung und verbreitete sich durch das
Netzwerk der Landerziehungsheime. Danach konnte sie lange Zeit nicht mehr
an Schulen Fuß fassen, sondern etablierte sich in sozialpädagogischen Hand-
lungsfeldern von der Jugendarbeit bis zur intensiven sozialpädagogischen Einzel-
betreuung (§ 11 bis § 35 Sozialgesetzbuch VIII). Das scheint sich zu ändern.
Erstens ist Project Adventure ein speziell für Schulen entwickeltes erlebnis-
orientiertes Programm. Zweitens bieten zahlreiche Träger, auch Jugendherbergen,
erlebnispädagogische Klassenfahrten an. Drittens führen engagierte Schulen und
bestens ausgebildete Lehrer*innen unter dem Titel „Herausforderungen“ Berg-
touren, Alpenüberquerungen, längere Radtouren, Pilgerwanderungen und Wild-
nisexpeditionen durch. Viertens gibt es zahlreiche Ideen von Abenteuerspielen,
Warming-ups, bewegten Unterbrechungen oder Lernprojekten (Heckmair 2008),
die den Unterricht unterbrechen und durch Bewegung, Sport und Spiel die
Motivation und Konzentration der Schüler*innen verbessern und sie im Falle
von Lernprojekten aus einer wilden Horde (vgl. Zulliger 1961) zu einem Team
formen können. Fünftens stellt „Outoor Education“ ein Unterrichtskonzept dar,
das den Unterricht nach draußen verlegt und neue Wege des erlebnis- und hand-
lungsorientierten Lernens eröffnet (Au und Gade 2016). Sechstens ersetzen zahl-
reiche aktivierende Methoden wenigstens teilweise den Frontalunterricht, und sie
verlagern die Lernverantwortung auf die Schüler*innen. Siebtens ergänzen erleb-
nisorientierte Programme den Fachunterricht an der Schule. Und als letzter Punkt
folgen noch einige Hinweise zu Weiterbildungsmöglichkeiten.
100 W. Michl

5 Project Adventure

Um 1970 entwickelte sich in den USA aus der Outward Bound-Bewegung die
Idee, dass es möglich sein müsse, Erlebnisse und Abenteuer enger mit dem Schul-
alltag zu verknüpfen („Bring the adventure at home“). Project Adventure findet an
Schulen und pädagogischen Einrichtungen statt, dauert sieben bis zehn Wochen
(ein Halbtagesangebot pro Woche) und baut auf erlebnispädagogischen Methoden
auf.
Einige wenige Träger und Experten in Deutschland haben dieses Konzept in
ihre erlebnispädagogische Praxis implementiert, aber noch längst sind nicht alle
Potenziale ausgeschöpft. Annette Boeger und Thomas Schut (2006) haben mehr-
mals Projekt Adventure-Programme untersucht und Ergebnisse in der Fachzeit-
schrift „e&l. erleben und lernen“ veröffentlicht. Dan Fandrey (2013) hat 2011
eine empirisch fundierte Dissertation an der Technischen Universität Dresden ein-
gereicht. Unabhängig von Geschlecht und Alter und Methode sind in nahezu allen
Facetten des Selbstkonzepts positive Veränderungen nachweisbar. Es beruhigt
auch, dass die Veränderungen auch nach acht Monaten nachweisbar waren. Daher
empfiehlt Fandrey (2013, 258) aufgrund seiner Forschungsergebnisse allen Haupt-
und Realschulklassen Project Adventure-Programme. Auch bestätigt diese Studie,
dass es neben kausalen Wirkungen, die empirisch gut beweisbar sind, auch sehr
komplexe Wirkungszusammenhänge gibt, die indirekt wirken.
Böger (2018) betont, dass Project Adventure für einen begrenzten Zeit-
raum auch anstelle des Sportunterrichts stattfinden könne oder als zusätzliches
Wahlfach. Über mehrere Wochen hinweg wird eine Dramaturgie sogenannter
Abenteuerwellen entworfen. Jeder abenteuerlichen Aktivität, im Idealfall sind
es sieben Aktionen, folgt eine Reflexion oder eine schöpferische Pause oder eine
ruhige, besinnliche Aktivität wie z. B. Solo Experience, also für eine gewisse
Zeit allein sein in der Natur. In vielen Studien, so Böger (2018, S. 252), wurde
nachgewiesen, dass das Selbstwertgefühl der Schüler*innen signifikant und lang-
fristig steigt. Auch konnten „kooperatives Verhalten gesteigert und körperliche
Beschwerden (z. B: aggressives Verhalten, Depression) messbar reduziert werden“
(Böger 2018, S. 252). Auch in der viel beachteten Hattie-Studie wurde festgestellt,
dass sich erlebnispädagogische Maßnahmen in der Schule bewähren und Lang-
zeiteffekte haben (Böger 2018, S. 253): „Dass project adventure nachweisbar die
Leistungen in allen kognitiven Bereichen fördert, ist ein bahnbrechender Befund,
der alle bisherigen Evaluationsstudien zur Erlebnispädagogik bzw. zum project
adventure in den Schatten stellt.“

5.1 Erlebnispädagogische Klassenfahrten

Am Beispiel von GFE | erlebnistage (www.erlebnistage.de) soll ein Einblick in


das Konzept der erlebnispädagogischen Klassenfahrten gegeben werden. GFE
| erlebnistage ist seit 1986, also 35 Jahre, als gemeinnütziger Verein tätig und
anerkannter Träger der freien Jugendhilfe. Neben den erlebnispädagogischen
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 101

Programmen für Schulklassen aller Altersstufen und Schulformen sind Auszu-


bildende, Jugendliche aus der Jugendarbeit und den Hilfen zur Erziehung und
Studierende weitere Zielgruppen.
80 % der Schüler*innen, die an Kursen teilnehmen, sind in der 5. bis 9. Klasse,
aber auch Klassenfahrten in der 10. bis 13. Klasse werden gebucht, manchmal ist
es die letzte gemeinsame Kursfahrt vor dem Schulabschluss. Bei den Klassen-
fahrten geht es vor allem um das gemeinsame Teamerlebnis, um gemeinsame Ein-
drücke, aber auch um informative und berufs-, bzw. bildungsorientierte Inhalte
für die älteren Schüler*innen. Grundlage der Programmauswahl und -gestaltung
ist dabei die jeweilige Zielsetzung für die Klassenfahrt, die im Vorfeld durch
Email und Telefonate besprochen wird. Das Prinzip dieser Klassenfahrten, die
meistens fünf Tage dauern, lautet „alles aus einer Hand“ mit Unterkunft in eigenen
Häusern, Vollverpflegung, individuellem Programm und eine Rund-um-die-Uhr-
Begleitung durch zwei Teamer pro Klasse.
Die Programme der jüngeren Schüler*innen unterscheiden sich von denen der
älteren Schüler*innen durch z. B. kürzere Aktivitäts- und häufigere Spielphasen,
stärkere und aktive Hilfe durch die erlebnistage-Mitarbeiter bei allen Diensten und
kürzere Abendprogramme mit früheren Bettgehzeiten. Alle erlebnistage-Standorte
verfügen über verschiedene Häuser, Hütten, Waldzeltplätze oder Hüttencamps und
können einzeln oder mit mehreren Klassen belegt und ganzjährig gebucht werden.
Dabei wird kein Standard-Programm entwickelt, sondern ein individuelles
Programm, zugeschnitten auf Ziele und Bedürfnisse des Kunden. Die Angebote
und Inhalte gliedern sich in Basics, Klassiker und Ausflüge.
Basics sind im Programmdesign nahezu unverzichtbar, um erlebnispädagogische
Ziele zu erreichen: z. B. Spiel und Bewegung bevorzugt in der Natur; in Ruhe-
phasen und in der Freizeit; Unterwegssein bei Tag und Nacht, einen oder mehrere
Tage; Einführungen, Ausstiege, Reflexion und Transfer, erlebnisreiche Spiele und
Übungen drinnen und draußen; das gemeinsame Zusammenleben auf engem Raum
sowie Dienste für Mahlzeiten, Küche, Zimmer, Material und Haus.
Klassiker richten sich nach den Wünschen der Lehrer*innen und ihrer Klasse,
sowie den Möglichkeiten des jeweiligen erlebnistage-Standortes sowie der Jahres-
zeit: z. B. Seilaktivitäten wie Klettern oder Abseilen oder Schluchtüberquerung;
Nachtwanderung, Pizza backen und ein festliches Gala-Dinner zubereiten; Kanu
fahren, Kutter fahren, Stollen begehen oder Schneeschuhwandern.
Ausflüge sind integrierbare mögliche Unternehmungen; z. B. Exkursionen
in nahe gelegene Städte und Besichtigung ihrer Sehenswürdigkeiten; geführte
Wanderungen mit Nationalpark-Rangern oder Förstern, Führungen und Museums-
besuche; Schwimmbad, Eishalle, Skilift und v. a.m.
Das pädagogische Konzept und die Methoden basieren auf den Ideen der
Reform- und Erlebnispädagogik und berücksichtigen die neuen Erkenntnisse der
Lernpsychologie und der Hirnforschung. Dieser handlungs- und erlebnisorientierte
Ansatz wurde gewählt, weil er eine wirksame Form des Lernens darstellt. Das
Motto von GFE | erlebnistage lautet: „Wir bewegen Menschen, damit sich bei
ihnen etwas bewegt.“ Es soll eine werteorientierte Persönlichkeits- und Team-
bildung in Gang gesetzt werden. Insbesondere sollen Teilnehmer dazu bewegt
102 W. Michl

werden, sich für ein lebenslanges, erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen


zu öffnen. Sie sollen auch erfahren, wie freudvoll und effektiv Lernen in und
durch Gruppen sein kann. „Wir gehen nach draußen, um drinnen anzukommen“;
lautet ein weiteres Motto, also spielerisch und mit allen Sinnen lernen; verbunden
mit einem pädagogischen Dreischritt: Erlebnis – Erfahrung – Erkenntnis.

5.2 Die „Herausforderung“

In Anlehnung an Kurt Hahn hat sich ein neuer Trend entwickelt, dem mehr und
mehr Schulen und Schüler*innen folgen: die Herausforderung. Welf Jagenlauf
(2016, S. 11 ff.) beschreibt diesen Trend. Schüler*innen sollen so selbstständig
wie möglich eine Unternehmung planen und durchführen. Wenn notwendig,
begleiten Lehrer*innen und/oder Sozialpädagogen*innen die abenteuerliche
Reise der Schüler*innen. Sie sind in der Regel nur beratend tätig und sorgen
für die Sicherheit. Ähnliche Gedanken hatte auch Hartmut von Hentig mit der
Entschulung der Schule (2006). Er schlägt für 13–15 jährige einen längeren Auf-
enthalt ohne Unterricht in ländlicher Gegend vor. Bewährung statt Belehrung
lautet das Prinzip. Ähnliche Bewährungsproben beschreibt Anke M. Leitzgen
(2015) in ihrem Buch „Bäng! 60 gefährliche Dinge, die mutig machen“. Es
sind kleine Mutproben für Kinder ab 9 Jahren, die alleine oder im Team mit
Lehrer*innen oder den Eltern bestanden werden können. Träger der Heim-
erziehung und auch Schulen, z. B. das Internat Ettal/Obb., waren und sind unter-
wegs auf dem berühmten Jakobs-Pilgerweg nach Santiago de Compostela.
Welf Jagenlauf (2016), Lehrer an der Stadtteilschule Winterhude/Hamburg,
hat im Sommer 2011 mit 17 Schüler*innen eine Alpenüberquerung von Bad
Tölz nach Bozen gewagt. Geplant wurde die Tour fast ausschließlich von den
Schüler*innen, die Lehrer*innen wurden beratend hinzugezogen oder mischten
sich bei besonderen Frage- und Problemstellungen in den Gruppenprozess
ein. 250 km und 8500 Höhenmeter wurden bewältigt. Jagenlauf beschreibt die
Höhepunkte, die Krisen, die Ermutigungen und die Erfolge. Er wertet die Tour als
vollen Erfolg: ein neues Klassen- und Gruppengefühl, Persönlichkeitsentwicklung,
ein neues gestärktes Selbstkonzept und eine neue Beziehungsqualität zwischen
Schüler*innen und Lehrer*innen. Dabei hat die Gesamtschule Winterhude schon
viele solcher Herausforderungen bestanden: z. B. „mit dem Rad von Hamburg zur
Zugspitze“, „auf Inlineskates von Hamburg zur Nordspitze Dänemarks“, „mit dem
Kanu von Berlin nach Hamburg“ (2016, S. 13).
Auch die Schule Schloss Salem hat seit langer Zeit ein umfangreiches Out-
door-Programm zu bieten. Es ist ein anspruchsvolles „Outdoor Education
Curriculum“ für alle Jahrgangsstufen (Balzer und Michl 2020, S. 144 ff.), das
fast ausschließlich von Lehrer*innen der Schule Schloss Salem durchgeführt
wird. Die Jahrgangsstufen 5 und 6 erleben Herausforderungen in Schule Schloss
Salem und in der näheren Umgebung. Die Jahrgangsstufe 7 verbringt fünf Tage
in den Schweizer Alpen. In Jahrgangsstufe 8 sind nur zwei Tage in den Bergen
vorgesehen, aber es wird grundlegend eingeführt in den „International Duke
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 103

of Edinburgh’s Award“. Jährlich nehmen bis zu 90 Schüler*innen an diesem


Preis für junge Menschen Teil, etwa die Hälfte der Teilnehmer erwirbt das
Abzeichen auf dem Gold-Level. Ein neuntägiges Trekking durch den National-
park Rondane in Norwegen ist für die Jahrgangsstufe 9 vorgesehen. Neben dem
Duke of Edinburgh’s Award und der Teilnahme an der Kutterregatta im Rahmen
der Kieler Woche wird für die Schüler*innen der Oberstufe ein ein- bis dreitägiger
„Induction Day“ durchgeführt, der neuen Schüler*innen die Integration in die
Schule Schloss Salem erleichtern soll.
Eine wirklich große Herausforderung ist das sechsmonatige Segelschul-
projekt „Klassenzimmer unter Segeln (KUS)“. Aktuell betreut und wissenschaft-
lich untersucht wird dieses Projekt von Prof. Dr. Thomas Eberle von der FAU
Erlangen-Nürnberg. Zwei Dissertationen haben sich mit diesen Projekt aus-
einandergesetzt (Merk 2006; Sand 2015); empirische Forschungsergebnisse
wurden 2019 veröffentlicht (Jacob et al.). Das Segelschiff Thor Heyerdahl, das seit
langer Zeit unter dem Titel „High Seas High School“ schulpädagogische Segel-
törns angeboten hat, wurde durch ein Konzept von Ruth Merk (2006) zu „Klassen-
zimmer unter Segeln (KUS)“ (Sand 2015, S. 90). Auf der Thor Heyerdahl sind
bis zu 34 Gymnasiasten mit Lehrer*innen und Begleitpersonal von Oktober bis
April im Atlantik unterwegs. Neben den seemännischen Aufgaben wird nach
dem bayerischen Lehrplan unterrichtet. Die Leistungsnachweise fließen in die
Notengebung ein. Die Studie von Jacobs et al. (2019, S. 116 ff.) zeigt, dass viele
Wirkungen erst nach der langen Schiffsreise einsetzen. Zum Vergleich dient eine
Kontrollgruppe, die normalen Unterricht zuhause genießt. Sechs Entwicklungsauf-
gaben wurden untersucht. Die Kontakte zu Peers (1) steigen stark an und sinken
erst fünf Monate nach dem Törn leicht ab. Die Intensität der Berufsfindung (2)
ist deutlich erhöht, was mit den zahlreichen, kontinuierlichen und handwerk-
lichen Aufgaben an Bord erklärt werden kann. Der Wunsch nach Ablösung vom
Elternhaus (3) wird stärker, was die durch den Segeltörn erfahrene erhöhte Selbst-
kompetenz, Selbstbestimmung und den Rechten und Pflichten wie Erwachsene zu
erklären ist. Das Interesse an Politik (4) und an politischer Bildung ist deutlich
erhöht, was auf Einblicke in fremde Länder und Orte und durch die demokratische
Meinungsbildung auf dem Schiff zurückzuführen ist. Die Bewältigung von
Leistungsanforderungen (5) steigt deutlich an: Die Schüler*innen mussten sich
von Beginn an einem Auswahlverfahren stellen, an Bord war die Mitarbeit not-
wendig, Leistungen – schulische wie außerschulische – waren stets präsent und zu
erfüllen. Auch die Wertefindung (6) ist signifikant deutlicher als in der Kontroll-
gruppe. Werteerziehung ist ein explizites Ziel des Segeltörns. Die Studie zeigt,
„dass sich Entwicklungsaufgaben durch eine erlebnispädagogische Langzeitinter-
vention beeinflussen lassen“ (Jacobs et al. 2019, S. 119).

5.3 Spiele und Lernprojekte

Die Erlebnispädagogik hat vor allem durch zwei Spielebücher die Spielpädagogik
und das Methodenspektrum stark erweitert: die „Praktische Erlebnispädagogik“
104 W. Michl

von Annette Reiners (2013 und 2005) und die „Kooperative(n) Abenteuerspiele“
von Rüdiger Gilsdorf und Kistner (2011 und 2012). Die hohe Auflagenzahl zeigt
die Beliebtheit dieser Spielebücher. Diese Spiele sind überall einsetzbar, in der
Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung und natürlich auch in der schulischen
Bildung. Rüdiger Gilsdorf und Kathi Volkert haben erstmals mit „Abenteuer
Schule“ (1999) ein Kompendium für Kurzzeitprojekte, Klassenfahrten, Abenteuer-
aktivitäten und längere Projekte zusammengestellt. 2014 hat Klaus Minkner ein
Buch zur „Erlebnispädagogik im Klassenzimmer. Praktische Übungen zur Wissens-
vermittlung“ veröffentlicht, allerdings sind diese Übungen zur Wissensvermittlung
in einem eher kürzeren Kapitel beschrieben. Der größere Teil des Buches bringt
„Eisbrecherübungen“, „Konzentrationsübungen“ und „Übungen zur Stärkung
von Sozialkompetenz“. Auch wenn der Untertitel nicht ganz zutreffend ist, bietet
das Buch trotzdem eine Fülle von Einsatzmöglichkeiten für Pausen, Wandertage,
Unterbrechungen und Unterricht. Das Gleiche gilt für das sehr gelungene Buch von
Marcus Weber (2019), in dem sich einige der „89 Aktionen und Spiele“ auch als
Einstieg, Ergänzung oder Vertiefung des Fachunterrichts eignen.
Prinzipiell aber muss man deutlich unterscheiden zwischen Spielen, die als Ein-
oder Ausstieg dienen, als Auflockerung oder Pausenfüller (vgl. Mauch und Scholz
2018) und Problemlösungsaufgaben oder besser Lernprojekte, die in der Regel sehr
komplex sind, viele zentrale Themen zu Kommunikation, Kooperation, Krisen-
management, Teamentwicklung u. v. a. m enthalten und immer eine Reflexionsein-
heit benötigen. Der zeitliche Aufwand ist also wesentlich höher. Sie sollten gezielt
eingesetzt werden, z. B. um die Klasse als Gruppe weiter zu entwickeln, sie zu
Lösungen zu führen und sie damit zu ermutigen, Außenseiter zu integrieren und tat-
sächliche und latente Problem offen zu legen. Mehr als bei Spielen setzt der Ein-
satz von Lernprojekten Erfahrung, Fachwissen und Sozialkompetenz voraus beim
Lehrer voraus. Die Unterschiede zwischen Spiel und Lernprojekt haben Heckmair
und Michl folgendermaßen beschrieben (2013, S. 79 ff.):

Spiele Lernprojekte
Maßstab ist Spaß Maßstab ist Entwicklung
Ernst- und Spielsituation werden klar Mischung von Ernst und Spiel, von Lust und
­voneinander getrennt Unlust ist beabsichtigt
Teilnehmer sind Spieler Teilnehmer sind Auftragnehmer eines Projekts
Trainer hält sich raus oder spielt mit Trainer ist nach Anmoderation Kunde,
­Teilnehmer sind Auftragnehmer
Trainer orientiert sich am schwächsten Trainer nimmt in Kauf, dass nicht alle im Bilde
­Teilnehmer sind
Erklärungen sind einfach und präzise Erklärungen sind – wie im „richtigen Leben“ –
oft vage und manchmal unverständlich
Diskussion nach Spiel, z. B. über Regeln soll Diskussion nach Lernprojekt wird bewusst
vermieden werden gesucht
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 105

In den oben erwähnten Spielebüchern sind zahlreiche Reflexionsmethoden


beschrieben. Jörge Friebe (2012) hat eine hervorragende Sammlung von
Reflexionsmethoden vorgelegt, die sich für fast alle Zielgruppen eignet, auf jeden
Fall auch für Schulklassen.

5.4 Outdoor Education bzw. Draußenschule

Jakob von Au und Uta Gade (2016) haben sich für die Bezeichnung Outdoor
Education entschieden, zum einen vermutlich deswegen, um sich von der Erleb-
nispädagogik abzusetzen, zum anderen, weil sich viele Beiträge in diesem
Buch auf das europäische und englischsprachige Ausland beziehen. Ob dies der
passende Begriff ist, für die Tatsache, dass Schulen mindestens einen Tag pro
Woche nicht in der Schule verbringen? Dazu kann man natürlich auch eine andere
Meinung vertreten, Draußenschule wäre treffender gewesen. Die Definition von
Outdoor Education (2016, S. 16) ähnelt eher einer Beschreibung. „Beim Outdoor-
Unterricht lernen Schüler*innen über die Natur in der Natur, über die Gesellschaft
in der Gesellschaft und über die lokale Umgebung in der lokalen Umgebung.“
Gemeint ist damit die gezielte und geplante Exkursion wie z. B. die Vermessung
des Schulhofs im Rahmen des Mathematikunterrichts, die literarische Spuren-
suche, die Suche nach physikalischen Gesetzen im Hochseilgarten, die geo-
logische Wanderung, der Besuch von Handwerksbetrieben, Biologieunterricht in
Wald und Wiese und am Bach, der Besuch des Heimatmuseums im Geschichts-
unterricht.
Ohne Zweifel sind die skandinavischen Länder im Bereich der Outdoor
Education weiter entwickelt als Deutschland, allerdings wird das Potenzial
im deutschsprachigen Raum ziemlich unterschätzt. In der Zeitschrift „e&l.
erleben und lernen“ finden sich zahlreiche Hinweise zu erlebnis- und handlungs-
orientierten Methoden zum Deutsch-, Biologie-, Religions-, Mathematik-, Physik-
und Sprachenunterricht, zur Schulerlebnispädagogik und zu Project Adventure.
Natürlich hat das Outdoor Learning in Schottland, Dänemark, teilweise in den
USA, eine tiefere und längere Tradition und kann das Fachwissen im deutsch-
sprachigen Raum nachhaltig bereichern. An der Universität Edinburgh führt
ein engagiertes Forscherteam, das der schulischen Praxis sehr nahe steht, nicht
nur regelmäßige Studien durch, sondern unterstützt vor allem Vor- und Grund-
schulen dabei, Teile ihres Curriculums nach draußen zu verlegen (2016, S. 42 ff.).
Im skandinavischen Konzept der „Udeskole“ findet der Unterricht draußen statt.
Das kann in Wald und Wiese sein, oder auch in der „Gemeinde, in Fabriken, land-
wirtschaftlichen Betrieben, Galerien und Theatern.“ (2016, S. 51) Natürlich gibt
es Vergleichbares in Deutschland, allerdings ist das Konzept in Dänemark am
weitesten verbreitet und fest verankert (2016, S. S. 50 ff.). Das Modell der Out-
door Education in Iowa (USA) ähnelt weitgehend dem Konzept der erlebnis-
pädagogischen Klassenfahrten, das in Deutschland eine lange Tradition hat. Dazu
gehören vor allem Vertiefungen im Bereich der Naturerfahrungen, der Ökologie,
der Ornithologie. (2016, S. 64 ff.)
106 W. Michl

Natürlich geht es auch darum, das dänische Modell in Deutschland zu ver-


ankern. Erste Forschungsergebnisse zur Draußenschule stellen Ulrich Dettweiler
und Christoph Becker (2016, S. 101 ff.) vor. Dabei geht es um „Das Heidelberger
Projekt ‚Ein Jahr im Wald‘“ und um die „ELPINMINT-Forscherwochen“. Die
Ergebnisse bestätigen diesen erlebnisorientierten Ansatz des Lernens. Es bietet
sich an, moderne Technologien wie GPS und das daraus entwickelte Geocaching
pädagogisch zu nutzen. Überall in Deutschland gibt dazu punktuelle Ansätze.
Bei „Expeditionary Learning Alpine (ELPINMINT)“ (2016, S. 130 ff.) sollen
Schüler*innen „Naturwissenschaften dort lernen, wo uns die Natur umgibt.“ Das
Konzept und die Umsetzung überzeugen und stellen eine hohe und bedeutsame
Chance dar für die Zukunft des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Selbstver-
ständlich ist auch der Bauernhof, vor allem der biologisch betriebene, ein ganz-
heitlicher Lernort.

5.5 Aktivierende Methoden

In der Erwachsenenbildung (Siebert 2008) und in der Hochschuldidaktik (Wald-


herr und Walter 2014) haben aktivierende Methoden einen festen Platz ein-
genommen. Die Lerntheorie des Konstruktivismus bringt die theoretische
Begründung dieses methodischen Ansatzes. Sie betont den Perspektiven-
wechsel vom Lehren zum Lernen, der Lehrende – Lehrer*innen, Erwachsenen-
bildner, Hochschullehrer*innen – wird vom Lehrenden zum Lernbegleiter, zum
Lerncoach (englisch: „Facilitator“). Aus Instruktion durch Frontalunterricht
wird Konstruktion; die Lernenden steuern ihren Lernprozess weitgehend selbst,
bestimmen den Lernrhythmus, lernen in gut funktionierenden Teams und eignen
sich so Wissen selbstständig und nachhaltiger an (Waldherr und Walter 2014, S.
108 ff.).
Auch die Hirnforschung und die daraus abgeleitete Neurodidaktik bestätigt
und ergänzt diesen Lernansatz. Gerhard Roth (2011) und andere Hirnforscher
betonen die hohe außergewöhnliche Bedeutung von Emotionen für den Lern-
prozess (Heckmair und Michl 2013, S. 13 ff.), die lange Zeit vernachlässigt bzw.
als störend empfunden wurden. Das stärkt die Bedeutung des Präsenzunterrichts,
und zudem das Lernen in der Gemeinschaft: „Menschliches Lernen vollzieht
sich immer schon in der Gemeinschaft, und gemeinschaftliche Aktivitäten bzw.
gemeinschaftliches Handeln ist wahrscheinlich der bedeutsamste ‚Verstärker‘.“
(Spitzer 2007, S. 181) Mehrere Studien betonen die Bedeutung von Bewegung
und Sport, die sich nachweislich und nachhaltig auf die Lernleistung auswirken
(Heckmair und Michl 2013, S. 25 f.). Diese Hinweise aus Konstruktivismus und
Hirnforschung stellen ein Plädoyer für aktivierende Methoden dar. Eine dieser
Methoden sollen kurz als Beispiel dargestellt werden, weitere Methoden sind
unter anderem zu finden in: Heckmair (2008), Siebert (2008), Waldherr und
Walter (2014).
[…] Eins-zwei-viele
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 107

Manchmal gehören die ganz einfach erscheinenden Methoden zu den wirk-


samsten. Sie sind leicht zu erklären, man braucht wenig Material, und schon geht
es los! Diese Übung, manche sagen auch „Think – Pair – Share“ dazu, verläuft in
drei Phasen. Zuerst ist Einzelarbeit angesagt, dann folgt der Austausch mit einem
Gesprächspartner und drittens schließlich werden die Ergebnisse im Plenum oder
einfach in einer Kleingruppe mitgeteilt und zur Diskussion gestellt, denn es muss
nicht immer alles im Plenum gesagt werden.
Man kann die Methode nach einer Präsentation zu einem komplexen Thema
einsetzen, damit Fragen generieren, Themen vertiefen und erweitern. Natürlich
kann man auch verschiedene kurze Texte zu einem Thema austeilen und sie ca. 10
bis 20 min lang allein bearbeiten lassen, dann Zweiergruppen bilden und weitere
20 bis 30 Min. vorgeben zum gegenseitigen Austausch der erarbeiteten Inhalte.
Anschließend werden die Ergebnisse im Plenum zur Diskussion vorgestellt.
Wenn man sich Zeit nimmt, dann führt diese Methode auch bei schwierigeren
Fragen, Themen und Projekten zu spannenden Ergebnissen. Studierende im
sechsten Semester, zum Beispiel, suchen mehr oder weniger verzweifelt nach
einem geeigneten Thema für ihre Bachelorarbeit. Man gebe ihnen im Rahmen
einer Klausur dafür eine Stunde Zeit für wirkliche Einzelarbeit, um einige mög-
liche Themen zu finden oder ein bereits geplantes zu präzisieren. In der zweiten
Phase wird ein engagierter Gesprächspartner abwägen und die Themen bewerten,
auf Fachliteratur und praktische Anwendung hinweisen, und in der dritten Phase
gibt es weitere Hinweise, Tipps, Erfahrungen, und es bilden sich Netzwerke durch
die weiteren Gesprächspartner. (Heckmair und Michl 2013, S. 72).

5.6 Bewegter Unterricht

An vier Beispielen – Sportunterricht, Sprachen lernen, Rechnen/Mathematik und


Religion – soll aufgezeigt werden, wie erlebnisorientierte Konzepte zu einem
bewegten Unterricht führen können.
Fangen wir mit Bewegung an, dem Sportunterricht, der eine lange Geschichte
hat. Sie beginnt im 18. Jahrhundert mit der „Gymnastik für die Jugend von
Guthsmuths“ (Lukas 1893), dem ersten deutschen Turnbuch, das eine erstaun-
liche Bewegungsvielfalt beschreibt und begründet, vom Springen zum Laufen,
vom Werfen zum Ringen, vom Klettern zum Balancieren. Wolfram Schleske
(1977) hat fast Jahrhundert später mit „Abenteuer-Wagnis-Risiko im Sport“ einen
Klassiker veröffentlicht, der Sport und Erlebnispädagogik miteinander verbindet.
Drei Leitzordner, herausgegeben von der Sportjugend NW (1994), –„Praxismappe
Abenteuer/Erlebnis“, „Praxismappe Spiele/Spielen“ und die „Praxismappe Ball-
spiele“ – sind eine immer noch aktuelle Grundlage erlebnisreichen Sportunter-
richts. Bei der „Praxismappe Abenteuer/Erlebnis“ wird das Bodenturnen zur
Akrobatik, mit Weichbodenmatten wird ein Ausbruchsversuch simuliert, in der
Turnhalle werden über eine Toprope-Sicherung Kisten gestapelt. Viele spannende
und bewegungsreiche Spiele beschreibt die „Praxismappe Spiele/Spielen“ und die
„Praxismappe Ballspiele“ ist eine Schatztruhe von unzähligen aktuellen, längst
108 W. Michl

vergessenen und wiederentdeckten Ballspielen, die ein ganzes Sportlehrerleben


ausfüllen würden. Eine breite Palette von Theorie und Praxis des Sports bietet
das Buch von Martin Scholz und Axel Horn (2011). Eine wichtige Lücke füllt die
gerade erschienene Veröffentlichung von Löwenstein et al. (2020). Sie betont die
Bedeutung von Bewegung und Sport für die Soziale Arbeit, ein bislang stark ver-
nachlässigtes Thema.
Das Sprachenlernprogramm „Montanalingua“ (2007) mit 24 erlebnis-
orientierten Lektionen, um deutsch, englisch, französisch oder schwedisch zu
lernen, ergänzt das übliche schulische Lernsetting beim Sprachenlernen mit
bewegten Übungen und linguistisch bearbeiteten Lernprojekten. Es ist entstanden
durch die Zusammenarbeit von Fremdsprachen- und Erlebnispädagogen und
wendet sich an Schüler*innen und junge Erwachsene. Bewegtes Sprachenlernen
hat eine lange Tradition, wie das Zitat von Montaigne (2005, S. 93 f.) zeigt:
„Griechisch kann ich fast gar nicht. Mein Vater hatte die Idee, es mir durch
Unterricht beibringen zu lassen, aber mit einer neuen Methode: in der Form eines
Lehrspiels. Wir spielten Ball und sagten dabei die Deklinationen auf; etwa so, wie
man manchmal die Schüler*innen mit Hilfe eines Spielbretts in Arithmetik und
Geometrie einzuführen sucht.“
Das Lernen findet innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers statt. Nicht
alle Übungen passen in das in Schulen übliche Zeitschema und könnten daher
im Rahmen von Wandertagen, Klassenfahrten oder Projekten stattfinden. Durch
ungewohnte Herausforderungen entdecken Lernende die Fremdsprache als ein
Kommunikationsmittel, das sinnvoll und unverzichtbar ist, um die gestellten
Aufgaben zu lösen. Neben den kognitiven Anforderungen spielen Bewegung,
Team und Emotion eine wichtige Rolle. Mit jeder der 24 Übungen, die im
Übrigen nach Bedarf ausgewählt werden können, wird ein Wortfeld mit gewissen
grammatikalischen Strukturen verbunden. Jeder Übung ist das Sprachniveau nach
dem „Gemeinsame(n) Europäische(n) Referenzrahmen für Sprachen“ zugeordnet.
Silvia Luger-Linke (2013) bietet eine große Fülle praktischer Beispiele, wie
im Wald Kindern die Grundrechenarten erlebnisreich beigebracht werden können.
Sie hat Recht: „Im Wald kann man mit allem RECHNEN“. Mit ihren Übungsvor-
schlägen kann ein sehr kreativer und freudvoller Einstieg in die Grundrechenarten
gelingen. Im „Mengensack“ befinden sich Steine oder Kastanien etc. Eine Hand-
voll kann nun auf eine Decke gelegt werden, und die Kinder sollen zählen. Oder
die Kinder fassen in den Mengensack und sollen eine vorgegebene Anzahl heraus-
holen (2013, S. 110). Mit Naturgegenständen können Zahlen oder auch Additionen
bzw. Subtraktionen gelegt werden (2013, S. 117). „Wir haben 40 Eicheln gefunden,
wenn jedes Kind gleich viele Eicheln bekommen soll, wie müssen wir die Menge
auf 10 Kinder verteilen?“ Oder ein letztes Beispiel: „Ich hab drei Käfer gesehen, die
insgesamt 18 Beine hatten. Wie viele Beine hat dann ein Käfer?“ (2013, S. 50). Das
Schwerpunktthema „Natur + Wissenschaft = Erlebnis?“ von Heft 6–2009 der Zeit-
schrift „e&l. erleben und lernen.“ bringt weitere Inspirationen und Ideen. Verena
Scharmacher und Daniel Gersmeier zeigen darin auf, wie „Mathematics meets
Snowsports“, Andrea Ernst will Mathematik erlebbar machen und Wolf Altemüller
verbindet „Feldmessen“ mit mathematischem Lernstoff.
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 109

Zahlreiche Anregungen gibt es für einen bewegten Religionsunterricht. Als Ein-


stiegslektüre muss man das beeindruckende Buch von Bischof Reinhold Stecher
(1996) „Die Botschaft der Berge“ empfehlen, voller mächtiger Metaphern zu
allem, was Berge und Bergsteigen uns bedeuten können. Albin Muff und Horst
Engelhardt (2013) haben hervorragende Vorschläge zur Gestaltung von kurzen
Lerneinheiten zu biblischen Themen und Texten, die sich in der Natur anbieten,
am Fluss, im Fels, am Meer, am Berg, im Wald, in der Wüste. Bei der Berg-
wanderung wird eine Besinnungsübung zu den Bergen mit Texten aus der Bibel
angeboten: der Mosesberg, der Berg Nebo, der Tempelberg der Ölberg (2013,
S. 90 ff.). Im Wald kann man sich bei markanten Bäumen niederlassen, lesen
und nachdenken über biblische Texte zum „Baum des Lebens“, dem „Baum der
Erkenntnis“ und dem starken Baum und dem starken Mensch (2013, S. 104). Von
„Sinn gesucht – Gott erfahren“ liegen inzwischen drei Bände vor. Band 3 von
„Sinn gesucht – Gott erfahren“ konzentriert sich auf „Erlebnispädagogik in zeit-
begrenzten Räumen mit christlichem Kontext“ (Schwaderer et al. 2018). Nahezu
alle Übungen, die zwischen 45 bis 90 min dauern, passen vom Design her meist
in den Unterrichtsraum und auch vom zeitlichen Umfang in eine Unterrichts-
stunde. Sabine Lang und Gregor Rehm (2010) bringen aus der Perspektive von
Gemeindepädagogen, Bildungsreferenten und Dozenten einen Einstieg in Theorie
und Praxis der christlichen Erlebnispädagogik. Das Labyrinth ist ein uraltes
Symbol der Menschheit, das zunehmend für die kirchliche Arbeit entdeckt wird,
für Konfirmanden und Firmlinge, für Feste und Feiern, zur Besinnung und Ein-
kehr. Wer sich hier kundig machen will, dem sei das Buch von Gernot Candolini
(2008) empfohlen. „Zwischen Tradition und Transzendenz Erlebnispädagogik im
christlichen Kontext“ lautet das Schwerpunktthema in Heft 6–2018 der Zeitschrift
„e&l. erleben und lernen.“

5.7 Weiterbildung Erlebnispädagogik

Es gibt auf dem Markt eine Vielzahl von Weiterbildungsangeboten, die sich für
alle pädagogischen Zielgruppen eignen, selbstverständlich auch für Lehrer*innen.
Kriterium für ein solventes Weiterbildungsangebot ist die Dauer, der Inhalt, die
Erfahrung und der Ruf des Trägers oder Trägerverbundes; zusätzlich ist das Güte-
siegel vom Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik (www.bundesverband-
erlebnispaedagogik.de) „beQ“-zertifizierte Ausbildung ein Qualitätsmaßstab. Ein
Beispiel für eine solche Ausbildung ist die „Zusatzqualifikation Erlebnispädagogik“
(ZQ), die seit 1993 von einem Trägerverbund aus Fachsportverbänden (Deutscher
Alpenverein – DAV, Bayerischer Kanu-Verband – BKV und Verband der deutschen
Höhlen- und Karstforscher e. V. – VdHK), Jugendbildungsstätten (Bad Hindelang,
Königsdorf, Burg Schwaneck und Babenhausen) und dem Institut für Jugendarbeit
des Bayerischen Jugendrings angeboten wird. Die Ausbildungsdauer beträgt 1,5 Jahre
bei 26 Ausbildungstagen. Die ZQ startet jedes Jahr mit den Handlungsfeldern Berg-
wandern, Klettern, Höhlen, Wasser, Mountainbike und Kooperationsübungen. Die
Anforderungen für das Zertifikat sind eine fachsportliche Prüfung, die von den
110 W. Michl

Fachsportverbänden exklusiv abgenommen wird, sowie die Durchführung eines


Praxisprojektes inkl. eines Kolloquiums. Insofern berechtigt das Zertifikat zur selbst-
ständigen Leitung von erlebnispädagogischen Maßnahmen im jeweiligen Handlungs-
feld. Die ZQ kann mit weiteren Handlungsfeldern durch den Besuch der Praxiskurse
erweitert werden. Genauere Informationen unter www.zq-ep.de
Eine erlebnispädagogische Weiterbildung sollte man noch erwähnen, die sich
gezielt an Lehrer*innen wendet, die Zusatzqualifikation Erlebnispädagogik für
Lehr- und Erziehungskräfte am Pädagogischen Institut – Zentrum für kommunales
Bildungsmanagement der Landeshauptstadt München Diese Weiterbildung
orientiert sich an dem speziellen Bedarf, den Schulen, Kindertageseinrichtungen
und Horte haben. Teilnehmende sind Lehr- und Erziehungskräfte sowie Mit-
arbeiter*innen in der Schulsozialarbeit. Es werden einerseits Methoden trainiert,
die sich eignen, in die regelmäßigen Abläufe vor Ort integriert zu werden,
andererseits werden die besonderen strukturellen Bedingungen berücksichtigt,
um so zu ermöglichen, dass Erlebnispädagogik zu einem festen Bestandteil in
den jeweiligen Einrichtungen werden kann. Es werden ausschließlich niedrig-
schwellige Methoden vermittelt, die mit einem sehr geringen Materialeinsatz
und ohne fachsportliche Qualifikation umgesetzt werden können. Ein besonderer
Fokus liegt auf dem Erkennen und Begleiten von individuellen und gruppen-
dynamischen Prozessen sowie der Reflexion. Schulen in Deutschland haben
gemäß der jeweiligen Länderverfassungen einen übergeordneten Bildungsauftrag,
die Vermittlung von Lebenskompetenzen. Mit dieser Weiterbildung soll ermög-
licht werden, dass Lehr- und Erziehungskräfte diesen übergeordneten Bildungs-
auftrag erfüllen können, um junge Menschen in ihrem Prozess zu begleiten,
Selbst- und Sozialkompetenzen zu entwickeln. Die Weiterbildung gliedert sich in
neun halbe Tage, in denen grundlegendes Handwerkszeug vermittelt wird, wobei
die Umsetzungs- und Implementierungsprozesse an den jeweiligen Einrichtungen
begleitet werden, sowie zwei Wochenblöcke (https://bildungsprogramm.pi-
muenchen.de/50216317-id/).

6 Ausblicke

Die Erlebnispädagogik hat auch die praktische Pädagogik mit neuen Themen
versorgt und deren Alltag verändert bzw. zur Wiederentdeckung wichtiger Leit-
fragen beigetragen, zum Beispiel: Prinzipien des handlungsorientierten Lernens,
Leitung, Führung und Verantwortung, kooperative Abenteuerspiele (Gilsdorf
und Kistner 2011, 2012) und Lernprojekte (Heckmair 2008), Lernen mit allen
Sinnen, durch Anschaulichkeit, mit und über den Körper, Reflexion und Transfer.
Nirgendwo in der Bildungsarbeit hat man so viele Strategien für den Transfer des
Gelernten in den Alltag entwickelt (Friebe 2012). Es gibt eine Reihe von Impulsen
und Innovationen für den schulischen Unterricht, für die Hochschulen, für den
therapeutischen Bereich, für die Behindertenarbeit, für die Erwachsenenbildung.
Immer dort, wo erlebnis- und handlungsorientierte Methoden in institutionalisierte
Lernfelder eindringen, bereichern sie einerseits zum Beispiel das Sprachenlernen,
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 111

das Verständnis für Mathematik, Physik und Chemie. Andererseits braucht die
Erlebnispädagogik auch Kritik und Impulse aus anderen Lernbereichen, um sich
weiterzuentwickeln.

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A Place-Binding Knot Map.
Phronêsis as Outdoor Learning
Hartley Banack

Abstract

This personal philosophical reflection on outdoor learning invites considera-


tion of wider horizons of possibility around the constructs of when and where
we learn in relation to phronêsis, practical wisdom, and notions of kairós and
tópos. The work aspires to re-infuse the three back into broader educational
aims through practices of local learning outdoors. The treatise applies a prag-
matic methodology, formed by tracing bearings based on field data gathered
from life experiences, and uses triangulation techniques to bind the tracings,
via the method of story-mapping, into a woven place-binding knot map. The
work imagines phronêsis as leadership that may be developed at school through
time spent adventuring and learning in local outdoor contexts. Local outdoors
is positioned as a pragmatic means of engaging in useful learning, defined as
learning for health and wellbeing, relationships with more-than-humans, and
experiences. The resultant place-binding knot map, while messy, may offer
insights for learners, educators, and scholars around phronêsis, kairós, and
tópos in learning, leadership, and local outdoors.

Keywords

Environmental education · Leadership · Outdoor education · Outdoor learning · 


Outdoor pedagogy · Place-based education · Practical wisdom

H. Banack (*) 
School of Education, University of Northern British Columbia, Prince George, BC, Kanada
E-Mail: hart.banack@unbc.ca

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 115
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_6
116 H. Banack

1 Bearing: Unfurling

I share a personal philosophical reflection on outdoor education, though I prefer


outdoor learning, as this latter term encompasses a wider horizon of possibility.
As this is personal, I offer various stories, my stories, similar to how one traveler
might set up a cairn on the land for a future traveler, maybe even myself, or chart
a map to make sense of a voyage, or converse in passing. Perhaps philophronêsis
would be a more apropos term than philosophy for this reflection, as I stress when
and where we learn in relation to phronêsis, practical judgment and wisdom on
how we act, not how we think. I will form this treatise of story by tracing lines, a
cartographic aim1 akin to how a geodesist might plot a topographic map2 based on
field data gathered from individual points. I chart stories from my experiences on
the seas of knowledge using triangulation techniques (Jick 1979; Mathison 1988)
to bind the tracings into a woven map, which you are reading. This map, however,
shall not resemble distilled maps we commonly see on our GPS monitors, but
rather I aim towards a place-binding knot map (Ingold 2009), where “coordinates
are determined not by theoretical analyses implying universals but by a pragmat-
ics composing multiplicities or aggregates of intensities” (Deleuze and Guatarri
1980, p. 15). Thus, map is always messy, and perhaps not easily decipherable.
But, as Leigh Star (2010) noted, “the map did not need to be accurate to be use-
ful” (p. 608, italics in original). Particularly, I chose the method of story-mapping
(Banack and Berger 2019) as a means to triangulate connections plotted between
phronêsis, kairós, and tópos to re-infuse the three back into broader educational
aims through the practice of local outdoor learning. In applying a pragmatic meth-
odology to this reflection, I invite practical wisdom, phronêsis, to captain the
journey, and exact time, critical time, season, and opportunity (Rämö 1999), as
kairós, as sail to guide the winds that will carry this floating bottle/vessel from
place to place (tópos), allowing my place-binding knot map to take shape (ethos).
The notion of captain is intentional, as a leader of a ship is an active participant
in ship’s journey and reminds that mind is, in the Deweyian sense, a verb (Greene
1994), action occurring in time and place. For leadership is phronêsis learned
through time spent adventuring in life, perhaps at sea learning the ropes (Grint
2007). I am attentive in mapping, how leadership, learning, and phronêsis instan-
tiate in time spent in local outdoors, not in chronological (chrónos) ways, but
rather understandings of time as aión and kairós (Kennedy and Kohan 2008; Rämö
1999). I invite considerations of phronêsis, kairós, and tópos, as local outdoor
learning, to the practices of school (skholé) reproduced in dominant narratives
of the day (Biesta 2007; Kennedy 2017). I sense that my resultant place-binding
knot map, while messy, may offer insight for learners, educators, and scholars

1See Deleuze and Guattari (1980, p. 12)—“What distinguishes the map from the tracing is that
[the map] is entirely oriented toward an experimentation in contact with the real.”
2Figure 1—Triangulation by J.J. Heimstra (2020).
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 117

c­ onsidering why and how phronêsis, kairós, and tópos are valuable and how they
might be learned outdoors, as sailors learn the ropes at sea, eventually becoming
captains. This work is especially relevant considering our hyper-epistemological/
technical society (Lyotard 2002; Gadamer 2004) that seems to be moving further
and further away from active living in an outdoor world (Chawla 2015). By link-
ing phronêsis, kairós, and tópos to movement through action, and movement to
outdoor life, friluftsliv as Norwegians might say (Faarlund 2007), this place-bind-
ing knot map aspires to remind of how post-modern, OECD-influenced-schooling
perpetuates marginalization of action and movement in schooling (Osberg and
Biesta 2008; Quay and Seaman 2013). The notion of risk, in relation to school and
learning, will be charted, particularly illustrating examples of marginalization of
outdoor learning. In recollection of phronêsis, kairós, and tópos, a plausible sug-
gestion to weigh anchor for education’s dis-position (education ecstasy), by tether-
ing learning and local outdoors, is offered.
Aspects of this work connect to a prior contemplation around the ontology
of the where in learning (Banack 2018). Flowing from that work, this reflection
includes observations of how bearings and movement (including stance and bal-
ance) learned outdoors, as practical wisdom (phronêsis), where (tópos), and when
(kairós) qualities of learning, shift rhetorical insistencies made of mainstream
school aims principled by economy and high quality, achieved through epistemic
and poesis as techne teaching foci (Vardoulakis 2020), to permit infusion of use-
ful learning (concerned with health and wellbeing, relationships with more-than-
humans, and densely experiential learning) that aims to develop bearings and
movement in learners as legitmate and essential educational/school aims (Banack
2018). While I am influenced by ancient Greek notions of phronêsis, kairós, and
tópos, I am not attempting to suggest a reproduction of ancient texts, but rather
to inspire schools and teachers, in our present context, to include learning experi-
ences that develop and hone ways of knowing that are not currently mainstream
school aims3, yet are important in leading a good life4. I come to story-map
through my lived experiences guiding people on backcountry wilderness canoe
trips, over land and water. I offer story-mapping and triangulation as practices
familiar through canoe trip guiding. I use an analogy of paddling over lakes and
sailing at sea to tell this shanty, as the feeling of being in a boat on water immedi-
ately accentuates relationships between phronêsis, kairós, and tópos, and I would
like us to feel a sense of “bobbing” on water in wind. Perhaps, be conscious of
how your body moves as you read this. For example, knowing when to paddle
(read) harder or steer the canoe (concepts) into waves, or tie the appropriate knots
(tools), in the appropriate ways, at the right moments so that appropriate re/actions
occur for ship to be safe and on course. Decisions leading to action, through

3Many have discussed the aims of education and schooling. See Banack (2018) for a discussion

of present-day school aim emphases, and Biesta (2007).


4An ancient and present aim of democracies, illustrated through the life and liberty claims.
118 H. Banack

movement, are what distinguish a phronêsis quality of knowing from poiesis or


epistemic knowings (Vardoulakis 2020). Through the afloat analogy, I introduce
my concept of states of matter. To begin unfurling the tale’s sails, I shall unwind a
couple of threads from my own ball of yarn, knowing that later their fibres, woven
into the emergent place-binding knot map, shall, triangulated with other bearings,
guide this vessel’s (paper’s) navigation as it sails us to places and times unknown,
yet familiar.

2 Bearing/Charting: Yarn Explained/Unspooled


“Hesiod, the 8th century BC contemporary poet to Homer, says in his hexa-metrical rules
of practical conduct The Works and Days (line 694):
‘Observe due measure: and proportion is best in all things.’” (Rämö 1999. p. 312)

In discussing the role of philosophy in relation to childhood and aión, Kennedy


and Kohan (2008) wrote, “[w]hatever the case, we need to open educational insti-
tutions where we work—schools, universities, etc.—to transformative experience
without anticipating the point of arrival of this experience” (p. 13). Life, in consid-
eration of phronêsis, kairós, and tópos, invites learning as stories of experiences,
not destinations; it prepares for active life, heuristic in movement. As I story-map
phronêsis, kairós, and tópos in relation to outdoor learning, I begin by contem-
plating myself as a phronimos of outdoor learning, that is one who is practiced
at phronêsis, and I ask myself if I have legitimate authority to reflect on outdoor
learning, phronêsis, kairós, or tópos. McGee (1998), in deliberating why phronêsis
is only intelligible in relation to a phronimos, wrote that

“phronêsis is not just something the phronimos knows, but also and primarily what he or
she is. We cannot put you in a classroom and teach you the recipe for courage; all we can
do is put you in a situation where if you have courage, you will display it, make it mani-
fest. This does not mean that you cannot learn courage, but that there is no set recipe for
it—you may never know how you got that way, and when it becomes part of your Being,
you will know it only in the same way, and insofar as, you know yourself…phronimos
extends…Being into all situations and relationships.” (p. 19)

What I know of outdoor learning has been informed by my lived-experiences,


an accumulation of knowledge acquired over time, understood through stories
of aión and kairós, from concrete moments and spots, and that my experiences,
cumulatively, result in phronêsis. In describing phronêsis, Tabachnick (2004)
wrote, “phronêsis requires experience rather than just intelligence” (p. 999), and
I share my outdoor yarns to illustrate I am phronimos, through my experiences, to
story-map phronêsis as an intelligence (Curry 2020). Again, I offer this reflection
as consideration for schools, learners, and scholars to find learning useful beyond
economy and quality.
Phronêsis is distinguished from poiesis-as-techne and epistemic knowledge by
McGee (1998) insofar as “the object of the phronimos is a process rather than a
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 119

product” (p. 19). Vardoulakis (at press) wrote of Spinoza’s conception of phronê-


sis that, “[p]hronesis is a judgement that arises by assessing—or, calculating—one’s
given circumstances” (p. 14), indicating the inherent nature of fallibility found in
phronêsis, as well how “[t]he seeming deficiency of phronesis—the fact that it has
no steadfast rules to prove its validity or that it has to think ‘without banisters’—is
turned into a positive heuristic principle by Spinoza” (p. 15). The practical nature of
phronêsis signifies that phronêsis is linked with time, which I shall map in relation
to notions chrónos, aión and kairós, and place explored through chora and tópos,
and how the assemblage of time and place connects movement in situated context
(Δ = change of place/time), whereby phronimos need to calibrate and re-calibrate
action, constantly, as reality emerges and shifts. The accumulation of practical wis-
dom towards leadership is where my place-binding knot map is aimed. My experi-
ence suggests that being outdoors inherently fosters phronêsis through time/place
movements that allow formation of essential life leadership dispositions of stance,
balance and bearings, yet time spent outdoors for learning and phronêsis remain
limited in schools. Kennedy and Kohan (2008) described aión, an ancient Greek
concept of time linked to kairós, as most strongly experienced during childhood.
Thus school, particularly elementary school when aión is active, offers good pos-
sibility for children to nurture phronêsis through local outdoor learning on school
grounds and in the surrounding neighbourhood (Beames et al. 2012). Tabachnick
(2004) argued that phronêsis may not be possible to teach in our technological soci-
ety, dominated by school emphases on skill/concept (poiesis-as-techne/episteme)
which marginalize phronêsis. Tabachnick (2004) suggested that revivalist efforts to
re-infuse phronêsis into school learning have been unsuccessful due to an inability
to locate a process by which to teach and learn phronêsis, ergo schools are not set-
up for phronêsis. I propose that time (as aión and kairós) spent learning in local out-
doors (as tópos) offers both necessary and sufficient means to foster phronêsis, and
that teachers and schools are able to accomplish outdoor learning locally for little
cost, with minimal preparation, low risk, and limited chronological time impacts on
curricular goals (benefits outweigh costs).
Outdoor Adventure practitioners, researchers and theorists have long advo-
cated for Outdoor Adventure Education (OAE) as an approach to teach phronêsis
(Stonehouse et al. 2011). Thorburn and Allison (2017) remarked in their analysis
of outdoor learning that, “[p]hronesis is evident in the choices we make, e.g. when
learning outdoors by whether our approaches to decision-making are coherent
and considered when reviewing if it is acceptable or not to: light fires when wild
camping; make quick scree run descents of hills; mountain bike on particular types
of terrain; and travel very long distances to experience adventurous activities”
(p. 107–108). Thorburn and Allison (2017) offered an argument for Outdoor Edu-
cation as a means to develop phronêsis to “coherently inform curriculum planning
and pedagogical practices” (p. 1). While Tabachnick (2004) and Thorburn and
Allison (2017) made valuable observations around phronêsis in learning, including
learning outdoors specifically, both papers parted from the premise and acceptance
that school’s legitimate aims for knowledge are guided by episteme and techne.
Thus, both works attempted to infuse phronêsis into established (and accepted)
120 H. Banack

school paradigms, goal-posted by economy and quality. So, while the arguments
are instructive, they are limited, as they do not question assumptions of dominant
school frameworks that limit and marginalize both outdoor learning and phronê-
sis. Tabachnick (2004) stated that phronêsis was impossible in our era dominated
by episteme and techne, not even considering local outdoor learning as a practical
option for schools to engage in phronêsis, while Thorburn and Allison (2017) tried
to reconcile (fit) phronêsis within episteme and techne school worldviews through
alignments with dominant curriculum and pedagogy. Neither argument explored
that the where (tópos) and when (kairós ) of learning present unique ontological
(and thus epistemological) imperatives, distinguishing and establishing phronêsis
as exceptional from episteme and poiesis-as-techne (McGee 1998). By situating
phronêsis as an imperative of education qua schooling, through where learning
occurs—the where of learning—on equal footing with episteme and techne, this
place-binding knot map offers reconceptions of school that include cultivating
phronêsis via local outdoor learning, thus shifting hegemonic global educational
goals blindly driven by economy and quality5.
Having situated this reflection as an aquatic adventure, I would like to overtly
caution you, dear reader, around progressing further. As you may have gleaned by
this point, through my style of mapping, that this work is…

I sense my ontology as loosely woven, perpetually entwined, in what is commonly


described as the three states of matter: solid (i.e. my bones), liquid (i.e. my blood)
and gaseous (i.e. my breath), or solid (boat), liquid (water), gaseous (winds). This
sensual way of knowing myself extends to my epistemology, forming a dense knot
in my understanding of myself. While many of us are comfortable and familiar with
solid knowing, learned in school through epistemic and techne approaches, phronê-
sis is otherwise, allowing liquid and gaseous states, life’s movement, into learning. I
shall construct my place-binding knot map with care and intentionality, towards doing
a solid job; however, aporia, a concept perhaps approached through consideration of
stance, balance and bearing in relation to movements within life’s climate and weather
and between states (phase shifts) of matter and learning, is always present in navigat-
ing waterways and confusion’s (aporia’s) precipitates influence travel and mapping.
Thus, the resultant map may only ever offer fleeting, ephemeral glances of a scape

5See OECD /About Us/What we do: shape #BetterLives: “This is a glimpse of how we help
countries forge a path towards better lives while saving billions of dollars for taxpayers and
boosting prospects for stronger, fairer and cleaner economies and societies.” Retrieved on July 5,
2020 from: https://www.oecd.org/about/
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 121

incomplete, as my skiff as/descends, cresting and troughing, through waves on the


seas of knowledge. Heidegger (1993), in What is Metaphysics?, wrote of anxiety not
as fearfulness, but rather as pervasive ontos of humanness.

“We ‘hover’ in anxiety. More precisely, anxiety leaves us hanging


because it induces the slipping away of beings as a whole. This
implies that we ourselves—we humans who are in being—in the
midst of beings slip away from ourselves. At bottom therefore it is
not as though ‘you’ or “I” feel ill at ease; rather, it is this way for
some ‘one.’ In the altogether unsettling experience of this hovering
where there is nothing to hold onto…” (p. 101)

We know, from experience, that if we travel too fast into high seas or high skies,
even with something to hold on to, the motion of the sea’s rocking and the air’s
pressure confluences may bring on motion sickness. This writing may have a simi-
lar effect on you, dear reader, as the reflection sways and bobs in/through water
and wind. I do take anxiety’s aporia-as-motion-sickness seriously, as I move at my
own pace through this mapping exercise, attempting to traverse bearings in ways
you might expect, or feel comfortable with, so as not to exacerbate nausea, while
acknowledging that there is movement, and nausea may onset. I mention this now
to draw attention to your stance and balance as you bear through this map woven
of unspooling yarn. If during the read you feel squeamish, perhaps this is why…
and, you might consider stopping, laying down, turning towards a stable point, or
lowering and softening your gaze. Don’t let the yarn get away on you and never
stand astride a spinning spool!

3 Bearing: Outdoor Guiding

Maybe you are unfamiliar with the construct of outdoor guiding? I will share a
bit about how I understand outdoor guide practices. As a guide, I led children and
youth (from as young as four years old), up to adults, on backcountry (over two
hours away from emergency services) wilderness trips into “nature” (before cell
phones and GPS trackers), ranging in length from two days to various months.
Now you may ask, “what is this nature?” I really do not know, but this reflection
is not interested in arche, however nature is not people-dominated. I wish to direct
my reflection towards practice, understood as phronêsis, and the present learning
context (kairós and tópos) of school and leadership in relation to outdoor learning
in relating this tale.
Commonly, the teachers I study with report growing up having had solid
schooling experiences (i.e. indoor classrooms with desks, books, a gym, comput-
ers and a lab), committed to epistemic and techne aims of education related to the
goals of economy and quality, and that as students, they were rarely outdoors for
learning. Cochran-Smith (2003) described how teachers reproduce in their teach-
ing the ways in which they were taught as students, and that unlearning habits
and practices acquired over eons can be very difficult, perhaps more difficult than
122 H. Banack

learning. I have noticed, in the courses that I teach, that by slowly moving learning
into local outdoors, on a regular basis in relation to diverse learning aims, that the
teachers I study with report development of their own stance, balance, and ability
to take and follow bearings, their overall phronêsis, as part of their outdoor teach-
ing identity (Banack and Tembrevilla 2020).

4 Bearing: Adventure

I experienced the flow of my life on trip as remarkably different from my urban


life. In recollecting interfaces of backcountry and urban life, I felt the trip expe-
rience as analogous to how Simmel (2002) described an adventure, a feeling of
being ripped from the quotidian. However, in teaching methods for outdoor learn-
ing to teachers over the past five years, I have realized that adventures do not
require remote travel. Rather, I have experienced phronêsis developed in myriad
of local outdoor contexts, including school-yard learning. Local outdoor learning
adventures are significant to education qua schooling, as they offer necessary exis-
tential lessons on how to live/approach daily life. To me, adventure, deriving from
the Latin what is to come, seems other wise from education, derived from Latin
to lead out. Adventure is an aim of learning. Presently, education as schooling
has two main aims: economy and quality (Banack 2018), learned through epis-
teme and poiesis as techne. In some sense, this map aims to reconcile bearings of
adventure-full learning with education as schooling, to confront educational prac-
tices that exclude outdoor learning and shun phronêsis, at the expense of economy
and quality, the “real” bottom lines. Clearly, schools have opportunities to support
students to develop phronêsis through outdoor learning.

5 Bearing: Getting Lost and Maps


“When I was a child my family would travel
Down to Western Kentucky where my parents were born
And there’s a backwards old town that’s often remembered
So many times that my memories are worn” John Prine, Paradise

“I don’t know what day it is, what time it is, what year it is. I have no markers to hold me
in place”

Personal Communication from a high school Home Economics teacher discussing feelings
around the COVID-19 pandemic, Zoom meeting, May 29, 2020

Getting lost is part of lived experience, whether it is getting lost on land or water,
or in time or in translation, or in one’s own mind…. There are many ways to get
lost and every human I have communicated with shares stories of being lost at
points. Being lost is important to consider, for being lost demands re/action….
what do you do!?! The ancient Greeks referred to confusion, or being lost, as
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 123

a­ poria. In discussing the essential role of aporia in learning and knowing, Fahy
(2006) wrote, “aporia is a state of puzzlement or confusion that is critical to under-
stand the goals and purposes of a philosophical education” (p. 310). Aporia is not
only part of learning and philosophy, but essential and constitutive to learning
across knowledge virtues. Response to the confusion brought on by losing a wallet
was described by Varela (1992) as a coordinated reaction our body takes based on
prior experiences. Such responses, as re/actions, are examples of phronêsis guid-
ing through aporia, and responses can be learned and improved upon, just as sail-
ors learn the ropes and I to be an outdoor guide.
In his conclusion to the role of aporia in learning, Burbules (2000) conveyed a
similar sentiment to Fahy, “Aporia in this sense is not a brief interstitial moment,
but an ongoing condition that generates the questions and problems that move to
seek new understandings” (p. 184). Burbules’ (2000) exploration of aporia con-
cluded that teachers might aim to overcome aporia, however he stated that the
possibility of overcoming aporia may be impossible, as aporia is pervasive and
ubiquitous in life. So, we might ask, “how might educators include aporia in the
learning contexts they develop to enhance learning for learners and prepare them
for the insistent aporia of life?”. In considering phronêsis’s role, along with the
inescapable nature of aporia, Green (2009) conjured that aporia was necessary
in deliberation for educators, “[a]ll decision-making—even that which is, prop-
erly speaking, mundane, or ‘practical’—is ‘haunted’ by the aporia, by aporias….
In professional practice there are always moments of undecidability and decision,
moments when one must act, even if the way forward is not clear, or—more radi-
cally—is uncertain”. (p. 11–12). If confusion is part of learning, then learning how
to approach confusion is a necessary aim of schooling. The most striking exam-
ple is weather. Weather keeps changing, and outdoor educators need to respond to
the changes, as weather is uncontrollable. In the impossibility of control, we can
only, as Friere wrote (1985), learn to “read the world”. Friere (1985) described
reading the world as a means to develop phronêsis, stating, “reading the word is
not only preceded by reading the world, but also by a certain form of writing it
or rewriting it. In other words, of transforming it by means of conscious practical
action. For me, this dynamic movement is central to literacy” (p. 18). Here, liter-
acy extends beyond the confines of epistemic and techne applications, to illustrate
phronêsis’ role in school. A significant way in which I have learned to respond to
life’s aporia, and read the world, has been cultivated through outdoor adventur-
ing. However, precisely how this fluency happens is unclear (more aporia), and so
many educators avoid the process or denounce its possibility6. I have found that
local outdoor learning responds well to the educational challenge of inculcating
­phronêsis and situating learning.
In reflecting on the Meno, the ancient Platonic text considering the nature of
education, Fahy (2006) wrote that one of assumptions made was that, “all the

6See argument above.


124 H. Banack

characters accept the metaphor of education as a kind of search” (308). He went


on to suggest that,

“This implies that the paradigm of pedagogy is a process of learning that focuses on the
student, not primarily a process of teaching that focuses on the teacher. Pedagogy is nei-
ther a transmission of knowledge from teacher to student nor a process of deductive rea-
soning whereby premises are simply rearranged to form a conclusion. Instead, pedagogy
is an open-ended and imaginative process that primarily occurs in the experience of stu-
dents” (p. 308).

Fahy (2006) followed Dewey’s work on aporia closely, reminding that thinking
always involves “uncertain, doubtful and problematic” knowledge (p. 312). Fahy
illustrated aporia through Dewey’s discernment between two criteria that might be
used to distinguish a “genuine problem from a mock problem” (p. 313), whereby
a genuine problem: a) occurs within a natural context and b) is the student’s prob-
lem, not the teacher’s problem. Genuine learning problems can be invited through
local outdoor natural contexts on the school-yard, where learners are required to
navigate aporia and make decisions in their lived contexts.
Aporia is not only always a part of learning, but a necessary and important
aspect, and aporia’s confusion produces strong emotions which, in turn, impulse
learning further. Fahy (2006) wrote, “[a]poria, confusion, and emotion are only
the beginning of good pedagogy” (p. 314), situating the roles of context and feel-
ings in knowing and acting (gut decisions), and how emotions are critical to peda-
gogical aims. Eventually, Fahy (2006) sided with Dewey’s view that the key role
for school was to teach learners to think, where thinking is understood to include
responding to real decisions, in real moments, to develop phronêsis (Greene’s
(1994) reminder that mind is, in the Deweyian sense, a verb). Fahy (2006) sug-
gested Experiential Education as a means to foster aporia in learning, but did not
specify outdoor learning or detail how Experiential Education might function in
practice, or in relation to phronêsis. Two limitations to Fahy’s informative explo-
ration of aporia reside in 1) the recreation of a binary between curriculum and
pedagogy and 2) conflation of pedagogy as phronêsis. In distinguishing between
phronêsis and pedagogy, pedagogy’s role in phronêsis sharpens. Phronêsis
includes aspects of pedagogy, but in and of itself, in my experience, phronêsis and
aporia can be fostered in local outdoor learning contexts in ways that evoke feel-
ings that connect learners to useful learning, that are not pedagogy. For example,
considerations of nature (wind, rocks, trees, birds, etc.) as teacher (Jickling et al.
2018).
While feeling lost and confused are natural, expected, and very necessary in
learning and life, and prevent knowing the future before it happens with much
predictive certainty, there remains value in charting experiences, here as an act
of place-binding knot mapping, to aid in traversing new and emerging contexts.
Place-binding knot maps are not like topographical maps, as one can never return
to the same place in the same moment. Deleuze and Guatarri (1980), in consider-
ing maps and traces, suggested that the two are distinct insofar as “[a] map has
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 125

multiple entryways, as opposed to the tracing, which always comes back ‘to the
same.’ The map has to do with performance, whereas the tracing always involves
an alleged ‘competence’” (p. 12–13). Through a range of mapping approaches and
practices, including story-mapping, charting experiences of cultivated phronêsis
(as performance) assists to produce maps useful to our individual journeys.
Place-binding knot mapping, as story-mapping, is not an epistemic or techne
task, but rather illustrative of phronêsis. Consider Davis’ (2009) story reporting on
Micronesian maritime practices to develop essential navigation skills in children,
a process that begins with the infant being placed in tide pools to build a relation-
ship with water (p. 53). These early learning experiences were essential to navi-
gate at sea successfully as an adult. Gell (1985) described how the etak, through
their navigation system,  were renown for “extraordinary feats [of navigation, that]
are achieved by a combination of techniques involving dead reckoning, following
the stars at night, and making use of a detailed knowledge of conditions encoun-
tered at sea (wave patterns, bird movements, cloud formations, winds, etc.)”
(p. 283), learned over years of practice. The art of navigation, which eventually is
practiced at high sea with limited margins of error, is begun on land and in shel-
tered water, in aión and kairos.
So, while maps are signposts, in the spirit of Hermes (derived from Greek
“hermaión (έπμα(ξ),έπμαιον), indicating a pile of stones” (Kovacheva 2015,
p. 636)), and collaborative map-making and overlaying of various map iterations
help to situate one’s self in valuable ways, responding to feeling lost and confused,
a situatedness aiding in making practical decisions, maps are fallible, particularly
place-binding knot maps. Maps and mapping are commonly approached through
episteme and techne, however it is with phronêsis (in use) that map reading and
mapping “make sense”. Mcgee (1998) critically commented on how experts from
epistemic and techne backgrounds commonly lack phronêsis, and so their maps
may feign knowledge, however they are but simulacra, decoupled from phronê-
sis and thus useless- “Wherever in society we once would have looked to find an
example of the phronimos, we find instead an expert whose ethos consists of cre-
dentialed mastery of the techne of his or her field” (p. 22). Maps must be used
regularly to be useful, just as practising the ropes is crucial for knowing the ropes;
over time one develops map fluency. Local outdoor learning, on school grounds
and in the surrounding community, offers much possibility for mapping fluency
to form. MacDonald (2018), in conducting doctoral work on why teachers do not
engage in outdoor learning, noted a motif of radar. In reporting teacher responses,
MacDonald  wrote:

Faye said, “It’s not on the radar. It should be, but it’s not.” During the interviews, all of the
teachers started to imagine practical ways they could get their students outside and indi-
cated that this was the first time they had given it much thought. For example, Kyle said:
...it’s not really on my radar. Now that I think about it, it would be so easy just to go out-
side for 20 minutes for silent reading. There’s no reason I couldn’t have done that until
now and it never occurred to me even to think of that, so it just wasn’t on my radar. (p. 46)
126 H. Banack

Radar has interesting connections to maps, however, familiarity with local outdoor
learning and/or phronêsis is required to read radar. Mapping our stories of out-
door learning is an important way to explore learning phronêsis, similar to how
stone cairns act as markers upon the land, aiding in bearings, but we first need
to get outdoors! Story-mapping of experiences with local outdoor learning is an
approach educators and learners might engage in to help develop a sense of loca-
tion. We (Banack and Berger 2019) described story-mapping as a means to inform
action through mapping diverse stories: “Story mapping is not a tool (a map) that
we may unfold and follow to reach a final destination (telos). Story-mapping is
a way to describe our process of considering these various tales together, layer-
ing the stories by shifting scale” (p. 2). Re-situating phronêsis in educational sto-
ries, through local outdoor learning, invites possibility to reconceive of learning
as useful, beyond economy and quality, yet charting, and sharing of charted maps,
require educators to take learning onto the land and to notice, in order to chart.

6 Bearing: Kairós—Tópos—Phronêsis
The water seems suspended
above the rounded gray and blue-gray stones.
I have seen it over and over, the same sea, the same,
slightly, indifferently swinging above the stones,
icily free above the stones,
above the stones and then the world.
If you should dip your hand in,
your wrist would ache immediately,
your bones would begin to ache and your hand would burn
as if the water were a transmutation of fire
that feeds on stones and burns with a dark gray flame.
If you tasted it, it would first taste bitter,
then briny, then surely burn your tongue.
It is like what we imagine knowledge to be:
dark, salt, clear, moving, utterly free,
drawn from the cold hard mouth
of the world, derived from the rocky breasts
forever, flowing and drawn, and since
our knowledge is historical, flowing, and flown.
At the Fishhouses, Elizabeth Bishop

What are relationships between kairós, tópos and phronêsis? This section turns
attention to this question, triangulating the three concepts by mapping their trajec-
tories in relation with outdoors, through stories. In order to be good at something,
and good is the aim as we navigate from place to place (not great or perfect), we
need to practice. Practice includes aspects of time and place, and I shall begin with
time considerations. Think of the proposition of 10,000 h, most recently shared
by Gladwell (2006), that quantifies knowing through practice as measured over a
set number of hours. Biesta (2007) wrote about how hourly breakdowns of time
into budgets perpetuate post-positivistic, evidence-based practices and mindsets
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 127

that permeate educational discourse and reproduce (colonize) episteme and techne
learning in the steed of economy and quality. This work, in surveying phronêsis
through local outdoor learning, asks if schooling might be practiced in non-chron-
ological ways, via aión and kairós explored in local outdoor places. In considering
aión and kairós, phronêsis is developed across time, not in hours.
Ericsson et al. (1993) investigated relationships between practice and perfor-
mance, finding that the time required to reach mastery (to become a phronimos)
aligned with the “10-year rule” developed by Simon and Chase (1973), and that
a decade seemed to be a valid eon across a range of disciplines (chess, musical
composition, typing, etc.); and for many fields (i.e. scientists, writers, etc.), mas-
tery often required two decades to reach (p. 366). The research of Ericsson et al.
(1993) was on deliberate practice in relation to performance, with performance
understood as phronêsis, the ability to perform in the moment. Of interest here
is that, unlike Gladwell’s quantified 10,000 h (2006), Ericsson et al. (1993) reaf-
firmed that chronological time is not a valid metric of time to measure achieve-
ment of proficiency. If competency, as phronêsis, is developed through aión (i.e.
in childhood, in adulthood) and kairós (i.e. a decade, practice), then it appears that
phronêsis might be nurtured through local outdoor learning at school, particularly
elementary school, when aión is experienced most strongly (Kennedy and Kohan
2008). The school’s locality, its real estate, as tópos in relation with kairós, makes
this possible. Charting local outdoor learning stories that occurred at school, in
moments (kairós), may result in story-maps that illustrate the ubiquitous learning
present in the school-yard and surrounding neighbourhood and how practice of
phronêsis, over time, impacts learners in their life’s trajectory and in leadership.
As repetitively noted in this map, current indoor school classroom learning
experiences operate mainly in the realms of episteme and techne that annex (ex-
habit, to use Ingold’s 2007 terminology) school learning from kairós and tópos.
Indoor school learning has been disciplined (Foucault 1995), however, outdoors
remains wild7, even local outdoors retains wild, teeming with learning. Mar-
ris (2016) gave a compelling TedTalk called, “Nature is Everywhere”, where she
forged a cohesive argument for why humans benefit from a paradigm shift to con-
sider nature as being everywhere, from the cracks in sidewalks to abandoned and
contaminated earth, and mouldy classrooms, as opposed to some pristine remote
utopic wilderness “out there”. Indoor school attempts to keep nature out, except
in colonized senses of collections and displays (i.e. insects in aquariums, potted
plants). For learning focused on episteme and techne goals of economy and qual-
ity, the built and highly regulated enveloped school environment seems workable,
for the most part. However, the indoor school does not serve phronêsis learning
well. Manufactured educational learnscapes have been largely divorced, intention-
ally, from complex and indeterministic aspects, desired and required in phronêsis
learning, that occur outdoors.

7See Michelson, E. (1999) Carnival, paranoia and experiential learning, Studies in the Education

of Adults, 31(2)140–154.
128 H. Banack

Rämö (1999, 2004) wrote explicitly about relationships between kairós, tópos
and phronêsis. His first consideration of their relationship (1999) asserted that “[t]
he abstract chrónos and chora have to do with science and theoretical knowledge
(episteme and techne), whereas kairós and tópos characterize practical wisdom
and judgment (phronêsis)” (p. 316). Rämö (2004) went on to state that an over-
dependence on regarding time as chrónos in social settings is unhealthy, declaring
“analysis of time in social settings remains crippled if there is a partisan focus on
chronological time alone, regardless of whether it is depicted as clock, linear, cir-
cular or spiral time” (p. 850). Rämö (1999) reaffirmed time as kairós as the right
time:

“Aristotle has several references to kairós, including a general distinction that chrónos is
dating time and kairós is the time that gives value. In De Categoriae (107a 8–10, 119a
26–37), Aristotle states that: ‘What happens at the right time [Kairós—season] is good’”
(p. 312). In considering the role of kairós, Lenhart (2011) wrote, “[i]t is not enough to
have the technical skills (techne) or theoretical skills (episteme) to solve a problem. The
kairós moment is not just a special moment where you can do something well, but the
“right” moment where a wise action makes all the difference.” (p. 4)

Nature, experienced through outdoor learning, perennially offers moments of


kairós. Rämö (1999) situated kairós through Smith’s work, “According to Smith
(1969, p. 6), three distinct but related concepts are involved in the notion of kairós.
First, timing (the right time). Second, a time of tension which calls for a decision.
Third, an opportunity to accomplish some purpose” (p. 312). Local outdoor learn-
ing affords an abundance of kairotic moments that permit phronêsis.
Along with considering time as kairós, phronêsis learning must also include
reconsiderations of place as tópos. Rämö (2004) made a similar division between
chora and tópos as notions of place, as he did between chrónos and kairós as
notions of time. “The simplistic difference between the two ancient Greek spatial
notions of chora (space) and tópos (place) is that, when the former is an abstract
geometric or cartographic extension, the latter (tópos) is a concrete contextual
localization, without sharp demarcations” (p. 855). It is curious how, even with the
school building structure, the Greek notion of tópos, as physical place does not
really exist within school. School learning, as a process, is more akin to chora, an
abstract sense of space. Teachers and learners are often randomly assigned class
rooms, in which they begin to dwell and inhabit as if owned, but people may be
moved at any moment, to any room, and school learning is, in Ingold’s (2007)
observation, an ex-habiting exercise, as really, the learning could be done atopi-
cally, any where8. School nesting behaviours are a result of how school attempts to
ameliorate between tópos and chora, inventing and re-inventing itself as an educa-
tional attractor for where learning happens, while acknowledging that the ­learning

8Clearly this is discernible in the moment of COVID-19, where much learning has seamlessly
shifted to online wheres.
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 129

could occur else where9. In unhitching kairós and tópos from school, through
epistemic and techne aims, phronêsis is forgotten as a learning aim, or at best
pandered to, while place as chora and time as chrónos continue, unchecked, to col-
onize learning. Local outdoor learning, across subject disciplines and grade levels,
invites kairós and tópos through learning on the school grounds and the surround-
ing neighbourhood. Spending time in local outdoors not only develops phronêsis,
but also responds to the hegemony of abstract epistemic and techne knowledge,
devoid of context situated perceptions of time and place.
Discernment between abstract and concrete conceptualizations of when (time)
and where (place/space) by ancient Greeks sheds light on present day school prac-
tices through the domination of episteme and techne. School timetables and indoor
classrooms have long subjugated planning of educational programs, particularly
to demands of economy and quality. It is important to recognize how time spent
outdoors for learning permits phronêsis through when and where enacted as kairós
and tópos. Again, turning to Rämö (1999),

“In a strict Aristotelian sense, kairós is always an idea closely connected to phronêsis. For
instance, a skillful thief could have an excellent feeling for the right moment to act, but
nonetheless lack the genuine meaning of Kairós in terms of the wisdom and judgment of
phronêsis. Still, this connection of phronêsis and kairós is not solely a question of moral
sentiment, since a farmer’s ‘kairic’ feeling for the right moment to sow and harvest is not
bound to be a moral action in itself.” (p. 313)

Seasonality at school has historically been tethered to economy (farm harvest),


spirituality (holiday observation), and culture (spring break), however time spent
outdoors learning brings perpetual opportunities to develop phronêsis through the
seasons (kairós) around the school grounds (tópos). Dewey (1916) wrote, “It is as
absurd for the [educator] to set up his [sic] “own” aims as the proper objects of the
growth of the children as it would be for the farmer to set up an ideal of farming
irrespective of conditions” (p. 73). Situated learning involves significant consider-
ation of learning whens and wheres, and local outdoor learning innately offers this
possibility to school.
In an attempt to reconcile connections between kairós, tópos, and phronêsis,
Rämö (1999) developed the concept of kairotópos, converging context (place
and time) and phronêsis (see Table 1 below). Rämö (1999) described kairotópos
as being “about the ability to act judiciously and wisely at a concrete and oppor-
tune occasion” (p. 322). Decisions taken outdoors, even just to leave the school
building, involve taking and acting in judicious and wise ways that acknowledge
the primacy of time and place. Going out into the rain without adequate provi-
sions could prove hazardous, while taking steps to prepare for rain are possible to
address the hazards and develop phronêsis. Phronêsis comes to act in kairós and
tópos. Local outdoor learning, in and around schools, cultivates phronêsis.

9See: What’s the Value of Harvard Without a Campus? The New York Times, Retrieved on July

11 from: https://www.nytimes.com/2020/07/11/style/harvard-students-coronavirus.html
130 H. Banack

Table 1  Time and space manifold applied to School (Adapted from: Rämö 1999, p. 317)
Abstract Space Meaningful Place
Abstract Time Chronochora Chronotópos
(Episteme) (Techne as Poiesis)
e.g. academic school subject dis- e.g. applied school subject disciplines
ciplines (Mathematics, Science) (Home Economics, Woodworking)
Meaningful Time Kairochora Kairotópos
(Techne as Poiesis) (Phronêsis)
e.g. online learning acting wisely and judiciously
e.g. outdoor learning, outdoor trekking,
student exchanges, co-op learning

7 Bearing: Practical Wisdom and Learning in the Open


“it is the meaning of our experiences and not the ontological structure of the objects
which constitutes reality” Schutz 1967, p. 230

In his paper titled “Legitimating Lived Curriculum”, Aoki (1993) wrote, “[a]cknowl-
edging the lived curriculum as Miss O has done offers us a retextured landscape,
populated by a multiplicity of curricula, disturbing the traditional landscape, with its
single privileged curriculum-as-plan awaiting implementation” (pp. 258–259). The
well-respected Canadian Philosopher of Education metaphorically applied landscape
to his consideration of curriculum (and instruction) as episteme, and proposed an
alternative version of curriculum as “lived” or sofia (p. 267), suggesting sofia offered
deeper knowing. Curiously, Aoki’s reflection did not consider the physicality of land
as where (tópos) and when (kairós), nor deliberations of educational possibilities for
learning and knowledge, beyond episteme, techne, or the atopic sofia10. Aoki (1993)
did discuss how landscapes can merge, resulting in novel knowing, yet the unspoken
de facto place for learning in Aoki’s writing remained the indoor school classroom. As
noted, while the classroom landscape, in its intentionality, offers options to episteme
and techne knowing, it is limited with respect to phronêsis, as so many factors are
controlled for: light, temperature, didactics, time, seating, etc. Phronêsis, or practical
decision taking, is restricted as when and where considerations become increasingly
prescribed and controlled, eventually severely hampering choices and actions by limit-
ing degrees of freedom and involvement by learners in learning. Naturally, outdoor
landscapes, without walls and hanging clocks, lessen limits and control, while increas-
ing complexity, and therefore contributing to phronêsis learning.
Unlike Aoki’s (1993) tale, landscape flows, changing and unfolding, as hori-
zon shifts. Horizon is an important concept in considering  phronêsis, for shifting
and merging horizons offer unique possibilities for learning. Vessey (2009), in his

10SeeArendt’s concept of no-where in Arendt, H. (1981). The life of the mind. Houghton Mifflin
Harcourt.
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 131

paper entitled “Gadamer and the Fusion of Horizons”, reviewed the history of the
notion of horizon from Husserl and Merleau-Ponty to Heidegger and Gadamer. In
summarizing the sentiment of horizon, Vessey (2009) wrote, “the horizon is not
the limit of meaning, but that which extends meaning from what is directly given
to the whole context in which it is given, including a sense of a world” (p. 536).
He went on state that “[a]lthough the term [horizon] is now more metaphorical
than literal, we can still think of horizons as providing perspective and as marking
the limits of what can be seen from a particular point of view” (p. 536), indicat-
ing that the concept horizon is primarily meaningful (a key aim for the horizon
concept from Husserl to Gadamer) due primarily to the physicality of horizon, and
only subsequently as a metaphorical extension. This story-mapping of local out-
door learning returns horizon to the physical in learning and recognizes that move-
ment shifts horizons and invites phronêsis. In considering horizons in relation to
limits, Heidegger (1993) wrote that

“A boundary is not that at which something stops but, as the Greeks recognized, the
boundary is that from which something begins its presencing. That is why the concept
is that of horismos, that is, the horizon, the boundary. Space is in essence that for which
room has been made, that which is let into its bounds. That for which room is made is
always granted and hence is joined, that is, gathered, by virtue of a location, that is, by
such a thing as the bridge. Accordingly, spaces receive their being from locations and not
from ‘space.’” (p. 356, italics in original)

From Heidegger’s assertion, school, as chora, comes into existence insofar as it


is the space that is created as movement extends horizon over landscape, and not
from the chora of learning11. That is to say, school locations are determined by
planners in a spatial way that emerges from the physicality of tópos, but only to
obliterate tópos for chora. The walls that contain the envelope of school’s chora
exist as bastions against the omniscience of tópos, and epistemic and techne aims
of school reinforce the battle schools wage against kairotópos. Thus, teachers are
placed into an irreconcilable schism between school demands for chronotópos
and chronochora and kairotópos, to the point that commonly I am told stories of
school -seasoned educators denouncing time spent outdoors for learning as being
illegitimate learning. Ericsson et al. (1993) suggested that the trope of pitting
school as chronotópos and chronochora versus kairotópos resulted in removing
active learner participation and decision making from learning: “Most contempo-
rary domains of expertise have evolved over centuries from activities originally
centered around playful interaction with learning through active participation”
(p. 368). However, with phronêsis learning, there is a perceived loss of control
over the learning felt by schools and teachers, and this aporia results in anxiety
(motion-sickness), and decisions not to practice.
Kinsella and Pitman (2012), in their paper Phronêsis as Professional Knowl-
edge, raised concerns about phronêsis’ possibility of even being taught at all,

11Consider Arendt’s discussion of nowhere in the Life of Mind.


132 H. Banack

­ riting, “If phronêsis is considered as a disposition, the question arises as to


w
whether phronêsis can be taught. Even if it cannot be taught, it does not imply that
the disposition cannot be nurtured, and the nascent and practising professionals
cannot be provided with conditions under which phronetic action is both encour-
aged and rewarded. (p. 168). The lack of control in phronêsis’ development, in
comparison with highly controlled episteme and techne approaches, leaves teach-
ers with flanks exposed in a society dominated by accountability of economy and
performance (Biesta 2007). The nature of phronêsis is so distinct from episteme
and techne that it cannot be reconciled, and particularly, cannot be operationalized,
as most school learning has become through standardized curricular learning out-
comes. Kinsella and Pitman (2012) offered a similar assessment when they wrote,
“[w]hile there appears to be no clear consensus in pinning it down, it does appear
that phronêsis cannot be reduced to propositions; it cannot be instrumentalised”
(p. 163). Ergo the paradox: what makes phronêsis unique and foreign to teachers
is also what makes phronêsis important to learners and learning. Use of knowl-
edge devoid of consideration of action has resulted in actions that have not been
good for many (i.e. bombings, inequity, and pollution) (Orr 1994). Yet, develop-
ing decision-making, bound to ethical practices, in learners is an aim for teach-
ing and learning, and phronêsis offers this possibility. Birmingham (2004) wrote,
“[p]hronêsis is needed for a teacher to understand the consequences of beliefs and
follow through with appropriate actions without unnecessarily restricting the free-
dom of self and others” (p. 320). A Gordian knot seems to appear as ropes get
tangled. Phronêsis is essential for life success, yet phronêsis cannot be instrumen-
talised and summatively assessed, as episteme and techne are able to be, and thus,
phronêsis is regularly argued for in educational literature, yet remains unclear how
to implement and evaluate. Again, local outdoor learning offers possibility. Kin-
sella and Pitman (2012), in relating Kemmis’ belief for phronêsis, wrote “‘we ask
for phronêsis because we want an ally with which to confront the unimaginable,
unspeakable void of uncertainty we face in this fragile world’ (Kemmis, Chap. 11,
p. 152)” (p. 163–164). This sentiment seems to resonate with many in our age of
confusion.
Practical wisdom as phronêsis is the most important knowledge for outdoor
educators who need to continually assess learning as conditions shift, for phronê-
sis brings together all Aristotelian knowledge virtues in action, therefore it is
invaluably useful for outdoor movement, where useful is defined as contributing
to health and wellness (individual, personal, social, emotional, spiritual, etc.), rela-
tionships with more-than-humans, and experiential learning that sticks with learn-
ers over time. Outdoor learning enduringly invites a fostering of phronêsis, and
phronêsis invites learners to take local actions as they traverse horizons. Kinsella
and Pitman (2012) affirmed, “When we have phronēsis, we are thus prepared... to
take moral responsibility for our actions and the consequences that follow from
them. The virtue of phronēsis is thus a willingness to stand behind our actions”
(p. 156). How might phronêsis be developed in learners if their teachers are under-
experienced with and resistant to phronêsis? Ericsson, Krampe and Tesch-Römer
(1993) addressed relationships between practice and performance, stating “[o]ur
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 133

review has also shown that the maximal level of performance for individuals in a
given domain is not attained automatically as function of extended experience, but
the level of performance can be increased even by highly experienced individuals
as a result of deliberate efforts to improve” (p. 366). Learning needs to first shift
outdoors, deliberately, over time, for phronêsis to take hold in schools. This is a
shift that is fraught with anxiety and aporia for teachers, so particular attention
around how teachers may develop their stance and balance, and gain their bear-
ings, with respect to heading outdoors is required.

8 Bearing: Stance, Balance and Bearings and Outdoor


Movement
“Where will I find the primary reason for action, the justification for it? Where am I to
look for it? I exercise my power of reason in, and in my case, every time I think I have
found a primary cause I see another cause that seems to be truly primary, and so on and so
forth, indefinitely.”
—Dostojevski- Notes from the Underground

Dewey (1997), in considering wonder in his 1910 text How We Think, cited
Wordsworth’s poem Expostulation and Reply: “The eye it cannot choose but
see; We cannot bid the ear be still; Our bodies feel, where’er they be, Against or
with our will” (p. 31), before stating, “[t]he curious mind is constantly alert and
exploring, seeking material for thought, as a vigorous and healthy body is on the
qui vive for nutriment. Eagerness for experience, for new and varied contacts,
is found where wonder is found” (p. 31-italics in original). Dewey was a strong
advocate for experiential learning, including learning outdoors (Quay and Seaman
2013). Dewey suggested that looking (observing) needs to be developed in con-
texts where change is naturally occurring. In considering weather and learning, for
example, Dewey (1997) wrote:

“The turning of the head, the lifting of the eyes, and of the scanning of the heavens, are
activities adapted to bring to recognition facts that will answer the question presented by
the sudden coolness. The facts as they first presented themselves were perplexing; they
suggested, however, clouds. The act of looking was an act to discover if this suggested
explanation held good. It may again seem forced to speak of this looking, almost auto-
matic, as an act of research or inquiry. But once more, if we are willing to generalize
our conceptions of our mental operations to include the trivial and ordinary as well as
the technical and recondite, there is no good reason for refusing to give such a title to
the act of looking. The purport of this act of inquiry is to confirm or to refute the sug-
gested belief. New facts are brought to perception, which either corroborate the idea that a
change of weather is imminent, or negate it.” (p. 10)

The chora of school learning severs the possibility of looking at sky and engaging
in unbridled wonder, yet wonder-full learning (and all the feelings that come of
wonder) is required for phronêsis. Carson (1998), in discussing the role of wonder
in learning, wrote similarly to Dewey:
134 H. Banack

“If you are a parent who feels he [sic] has little nature lore at his disposal there is still
much you can do for your child. With him, wherever you are and whatever your resources,
you can still look up at the sky—its dawn and twilight beauties, its moving clouds, its
stars by night. You can listen to the wind, whether it blows with majestic voice through
a forest or sings a many-voiced chorus around the eaves of your house or the corners
of your apartment building, and in the listening, you can gain magical release for your
thoughts. You can still feel the rain on your face and think of its long journey, its many
transmutations, from sea to air to earth. Even if you are a city dweller, you can find some
place, perhaps a park or a golf course, where you can observe the mysterious migrations
of the birds and the changing seasons. And with your child you can ponder the mystery
of a growing seed, even if it be only one planted in a pot of earth in the kitchen window.”

Based on my experiences working in teacher education at a post-secondary fac-


ulty of education over the past six years, teacher training remains focused on
conceptual and skill knowledge acquisition as illustrative of learning, and not prac-
tical wisdom as phronêsis. Thus, I have noticed in the teacher candidates I work
with that they have been trained for episteme and techne, over 15 plus years of
schooling as students, and feel aporia (unbalance, confusion, stultification, dis-
equilibrium, disorientation) when asked to implement phronêsis via local outdoor
learning. Regularly, I hear concerns from both novice and master teachers about
how outdoor learning seems daunting to incorporate in an already full school pro-
gram. School is organized around subject disciplines, and so too is teacher train-
ing. School disciplines have become fixed and therefore, dialectically, fix learners,
learning, teachers and teaching, over time (in minutes and decades). Outdoor learn-
ing is a case in point. Outdoor Education, Outdoor Learning, and Environmental
Education (all considered iterations of one another, with respect to including nature
and land) are not recognized as subject disciplines in Canadian school jurisdic-
tions, and therefore remain ancillary to school’s main aims of episteme and techne.
The marginalization of outdoor learning and phronêsis seem connected to schooled
education’s beholden calls of economy of quality, through under-contested inter-
generational reproduction that has, and continues to, colonized learning.
I have been teaching outdoor learning to teachers, both pre and in-service,
since 2014. When I began teaching, the course goals listed in the course outlines
I inherited focused on Outdoor Adventure Education (OAE), taking people on
backcountry wilderness trips to nature-rich settings. At that time, Outdoor Educa-
tion fell within the subject discipline of Physical Education (PE), as an optional
unit a PE teacher may decide to offer. In 2016, the B.C. Ministry of Education
revised the K-12 curriculum and PE was expanded to Physical and Health Edu-
cation (PHE), and Outdoor Education was established as a course for grades 11
and 12. In my Faculty of Education, our area of PE Teacher Education (PETE)
decided to change our area name to Health, Outdoor, Physical Education (HOPE),
to reflect the shift in PE. This change became official in 2018, and now Outdoor
Education has a home in the Faculty of Education at UBC. Secondary Science
Education also underwent a shift in the B.C. Ministry of Education’s revisions,
but limited language to place-based, and not outdoors. I also teach elementary Sci-
ence Education methods course, where outdoor learning is an accepted pedagogi-
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 135

cal option (i.e. field studies). When I began coordinating Outdoor Environmental
Education (OEE), I started shifting outdoor learning experiences from a focus
on OAE, to local outdoor learning, as a means to make time spent outdoors more
accessible for any teacher, in any school. Through the courses I teach, diverse and
relevant outdoor learning topics, spanning a range of curricular and pedagogical
considerations, are explored in relation to our locality, our physical location on the
land; some courses I teacher are never indoors. The shift to local outdoor learn-
ing has reduced barriers associated with outdoor education such as cost, liability,
and training, while increasing the amount of time spent outdoors. However, mov-
ing teaching and learning into local outdoors, while simplistic conceptually (“just
teach outdoors at your school”), poses challenges for both novice and experienced
teachers in terms of their educational balance, stance and bearings. I have found
that teachers need to re-immerse themselves into explorations of stance, balance
and bearings, and trust to learn with and from their students.

“…for these moments to be genuinely ‘kairotopical’, an element that is beyond the


mechanically learned is required (i.e. beyond techne with its elements of skillfulness and
proficiency in making [something]).” Rämö (1999, p. 232)

For phronêsis to develop, in my experience working in outdoor contexts, time


spent moving in and through place is required. In contrast with school learn-
ing that celebrates how goals of economy and quality are successfully achieved
through episteme and techne in-class learning, focus on time spent outdoors seems
to permit phronêsis. Moving in place, taking stances at moments, aiming in direc-
tions, setting courses and following bearings, orienting through aporia, these are
essential considerations for phronêsis to flourish through experiences, as well as
means to re-inhabit learning (Ingold 2007). However, many teachers are unfamil-
iar with phronêsis learning, as this was not their lived experience; as they grew,
school learning, harnessed by episteme and techne, directed them towards getting
a great job and performing exceptionally. Subsequently, post-secondary studies
and professional teacher training reproduced the goals of school as preparation for
work (with hopes of greatness). So, when a teacher begins their teaching career
they have lived almost two decades of learning with aims distinct from phronê-
sis. I talk to teachers about how adopting phronêsis through local outdoor learning
practices is not like flipping a switch and, presto, they are able to teach outdoors.
From my observations, having worked with hundreds of pre-service teachers, first
they need to acknowledge and confront their feelings (as aporia; Fahey 2006) and
unlearn two decades of being schooled (Cochran-Smith 2003), simultaneous with
exploring the un(der)familiar approach of outdoor learning.
Commonly, I sense resistance from teachers. I am regularly confronted with
feelings of anxiety, as I request teachers to teach outdoors, while concurrently
their other university instructors and their mentor teachers assessing their school
practica may be advising them to develop as teachers in other ways, contradictory
ways, particularly around perceived risk. Hearing two incongruent stories about
teaching seems to lead to what Bateson described as a double bind, and linked to
136 H. Banack

schizophrenia (Bateson 1972). Schizophrenia is an appropriate term to consider a


bit further, as it derives “from Greek skhizein “to split” (from PIE root *skei- “to
cut, split”) + phrēn (genitive phrenos) “heart, mind” (hence phrenes “wits, sanity”);
see phreno- (Online Etymological Dictionary 2020). Phrenos links to phronêsis,
through the concept of mind, as related to wits and sense, as practical judgement
or wisdom. Thus, schizophrenia is an inability to implement phronêsis. I re-expe-
rience this schism regularly as I introduce teachers to phronêsis as outdoor learn-
ing through their resistance, shared with me through their journal assignments. I
have noticed teacher resistance stemming from a lack of familiarity with outdoor-
phronêsis learning in their formative contexts, as well as the enculturation into
what they believe school to be and do. I have coded this heighten aporia I notice in
educators unfamiliar with outdoor-phronêsis learning as a consideration of stance,
balance and bearings that permit shifting learning from the classroom to the land.
For this shift to occur and take hold in teachers’ imaginations, there must be a leap
by the teacher, a committed, directional (bearing) movement, grounded in stance
and balance, towards phronêsis through outdoor learning. Teachers report feeling
inspired when they finish an outdoor learning course with me, however I know
(as graduates report back to me) that it is not easy to transition that inspired feel-
ing into sustained practice (Banack and Trembrevilla at press). This leap requires
time and perpetually produces aporia, but the change will not come to pass if the
teacher does not actively engage in their own process, considering their feelings
and resistances, along with those of the learners they study with. But similar to
phronêsis as outdoor learning, I have perceived that with practice, finding one’s
balance, in consideration of, and perhaps with an eternal return to, bearing and
stance can be achieved through small recurrent forays that shift learning from the
classroom confines to the school campus and surrounding neighbourhood. Over
time, this shift develops stance, balance and bearings.

“We always live at the time we live and not at some other time, and only by extracting at
each present time the full meaning of each present experience are we prepared for doing
the same thing in the future.”
—John Dewey, Experience and Education

9 Bearing: States of Matter Matter


“There is no universal flow of time, as in the Newtonian model…. All measurements
involving space and time thus lose their absolute significance. In relativity theory, the
Newtonian concept of an absolute space as the stage of physical phenomena is abandoned,
and so is the concept of an absolute time. Both space and time become merely elements of
the language a particular observer uses for describing the observed phenomenon.” Capra
(1975, p. 50–51)

What might the roles of states of matter in learning in connection to phronêsis?


States, and their shifts, come to be known through examples from real events, and
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 137

Table 2  States of matter applied to Learning and School: examples


Realm/State Solid← →Liquid← ←Gaseous
Learning Quantitative: facts, statis- Qualitative: fluid, emer- Unexpected: chaotic,
tics, quantities, measures, gent, responsive, fleeting, ephemeral,
eruptive
School Physical: classroom, Pedagogical discussions, Emotional/spiritual:
desks, walls, vents, collaborations, seasonal- classroom climate, or
books, worksheets, times, ity/climate, inquiry vibe; emergency (power
grades, route outage, pandemic),
weather, eureka

not as a prioi categories; that is, the state categories emerge and are continually
reinforced through outdoor experiences (i.e. the rain is heavy or light and how that
impacts learning). However, also true to this story is that states shift, even in a
singular experience. So again, movement that is attempted to be eliminated from
school learning dominates outdoor learning. Consider how impervious to cold my
body feels as I run from a sauna and plunge into a glacial lake, but only for a
while, and then cold seeps in. As states shift, balance, bearings and stance emerge
as necessary concerns. I need a balanced stance as I move through/in/with the
world, to even attempt to take a bearing (Table 2).
Outdoor learning is always infused with liquid and gaseous learning, while
including solid as well. Learning outdoors requires particular attention to how
learning may be different in distinct states, and how one might have to shift stance
and balance, while holding a learning bearing, when state phases change. I briefly
introduce the concept of states of matter in relation to learning to invite consid-
eration of how phronêsis, as kairóstópos bound to balance, bearings and stance, is
affected when learning shifts to the local outdoors.

10 Bearing: Wherewithal and Risking Phronêsis


as Outdoor Learning
“We only need to bear in mind that, with respect to the aims of education, no separation
can be made between impersonal, abstract principles of logic and moral qualities of char-
acter. What is needed is to weave them into unity.” Dewey (1933, How We Think. p. 34)

Keep Ithaka always in your mind.


Arriving there is what you’re destined for.
But don’t hurry the journey at all.
Better if it lasts for years,
so you’re old by the time you reach the island,
wealthy with all you’ve gained on the way,
not expecting Ithaka to make you rich.
—Ithaka by Cavafy

I have been attempting to create a map for you, for us, for me, a story-map, by
charting tales of my learning whilst navigating seas of knowledge, paddling
lakes of wisdom, and what I notice is that sofia is not linked with just episteme
138 H. Banack

and nous, or poiesis with techne, but also sofia is imbued with phronêsis; reclaim-
ing philo-sophia as bearing to/from philo- phronêsis. The stories plotted herein
are triangulated, with care and intentionality, and present this place-binding knot
map, however the stories’ trajectories have not been overly analyzed, thus knots
acquired through my life’s travels learning outdoors, on the land, in the water,
through the sky, are present and integral. This place-binding knot map is a map of
sorts, but not how maps are commonly understood. Story-mapping reaches back
to an ancient sense of map, from mapah (Hebrew) meaning bandage or flag. Prior
to being a representation of Earth, maps were active signifiers of meaning through
utility, and very connected with the user, thus accentuating aspects of phronêsis.
When I realized that the Online Etymological Dictionary (2020) cited ancient
Hebrew as the derivation of the modern English word map, I wrote to my fam-
ily Rabbi to inquire. His response directed me to the Hebrew expression moreh
(guide) derech (path), a Hebrew idiom having diverse meanings, including out-
door tour guide, teacher, and spiritual leader. The moreh derech and map are one
and the same, my Rabbi told me, as stories told by the guide are the paths maps
attempt to illustrate. However, without the guide, the map in unintelligible. They
are inseparable. The stories charted to guide this place-binding knot map align
with Ingold’s (2009) description of a place-binding knot, “Places, then, are like
knots, and the threads from which they are tied are lines of wayfaring” (p. 149).
So, the ropes of stories cannot be untangled from place-binding knots, they are
perpetually enmeshed. Of place-binding knots and learning, Ingold (2009) wrote,
“knowledge is integrated not through fitting local particulars into global abstrac-
tions, but in the movement from place to place, in wayfaring” (p. 154). Thus, I
offer this tract as a place-binding knot map, concretely/abstractly illustrating local
outdoor learning, as a feasible instantiation of wayfaring that allows learners to
develop their own densely knotted knowledge that integrates essential abstractions
of epistemic and poiesis/techne learning through phronêsis learned in local out-
door adventures.
While you may be familiar with being introduced to maps by having them
unfurled before you, this place-binding knot map is not that act of mapping. A
truth that might be shared about this map is that it necessarily always (all ways)
remains unfinished and thus fallible, an inherent condition of phronêsis accord-
ing to Epicurus (Vardoulakis 2020). This fallibility illuminates how maps may
show direction without necessarily indicating the way. How you incorporate this
place-binding knot map and weave it into your own story shall also be inescap-
ably unique and imperfect. A story-map is not artifact (stasis or solid, even though
this work may be approached as solid) and is not concerned with fidelity. Story-
mapping is an act of movement, connecting leadership, as guide (moreh derech),
with practical wisdom (phronêsis), towards en-able-ing learners to captain their
own craft and chart their own maps, by emphasizing useful learning, over their
life’s journeys, and in relation to all others sailing. In the spirit of reflecting on
outdoor learning, it is curious that captain and precipitation share the same root,
PIE root *kaput- “head″ (OED 2020). The Online Etymological Dictionary (2020)
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 139

traced an early use of precipitation “in alchemy ‘separation of a solid substance


from a solution,’ from Middle French precipitation (15c.)” (webpage). It seems,
regardless of life’s aporia, we make decisions and act upon them as bearings, tak-
ing and adjusting our stances, through balance, setting and recalibrating bearings,
over decades, as we navigate aporia’s precipitates towards mastery, through water
and weather unknown and uncharted, guided by our own infallible maps of truth.
This truly describes heading12. Infallibility conjures risk, and risk is a necessary
condition for outdoor learning as phronêsis. Grint (2007), in considering phronê-
sis and leadership, wrote, “leadership is always a complex process of translation
from theory to practice and never simply a unilinear act of transmission” (p. 233),
reminding that leadership journeys involve risk in relation to emergent hazards,
yet guided by our fallible experience. Through risks on adventures is how it seems
we move through time and place, developing phronêsis as leadership. But, does
school have an obligation to prepare students for being leaders in their own lives,
and the lives of those in their communities?
Gamarnikow and Green (1999) discussed school leadership as social capital
required by citizens. The British Columbia Ministry of Education (2020), the edu-
cation authority where I live and my children study, has a stated an aim of their
educational program as developing “educated citizens”. An educated citizen is
defined as follows:

“To that end, British Columbia’s schools assist in developing citizens who:
Are thoughtful and able to learn and to think critically, and can communicate
Are informed from a broad knowledge base
Are creative, flexible, and self-motivated and have a positive self-image
Are capable of making independent decisions
Are skilled and able to contribute to society generally, including the world of work
Are productive, gain satisfaction through achievement, and strive for physical well-being
Are co-operative, principled, and respectful of others regardless of differences
Are aware of the rights of the individual and are prepared to exercise the responsibilities
of the individual within the family, the community, Canada, and the world”
(British Columbia Ministry of Education 2020)

I suggest that the above list could be summarized as indicating educated citizens
have phronêsis. This place-binding knot map sufficiently presents how aims of
educated citizens are addressed through local outdoor learning as phronêsis, how-
ever, on the ground/in practice, it seems difficult to implement and assess if a high
school graduate is an educated citizen. Local outdoor-phronêsis learning offers a
potential way that educated citizens might be assessed, through their experiences
learning on the land where they dwell, and by considering how dwelling fosters
phronêsis by story-mapping their practices of local outdoor learning. This is not
a novel suggestion for school, similar stories have been told by many, in various

12Thanks to Chris Ladner for his connecting of bearing, precipitation and heading.
140 H. Banack

ways; it is more of a reminder. Itin (1999) wrote in Reasserting the philosophy of


experiential education as a vehicle for change in the 21st century:

“It becomes increasingly clear that we must develop citizens who can actively participate
in a democratic process and, in doing so, work toward creating a just and compassionate
world. The philosophy of experiential education is what is needed to help develop a com-
munity, which actively involves all in cooperatively solving problems and contributing to
the greater good of society.” (p. 98)

Carroll et al. (2008) showed, in their paper, Leadership as practice: Challenging


the competency paradigm, how leadership is tied to phronêsis through the con-
struct of where:

“The connection between practice and control would appear a critical one for leader-
ship. Such talk of control was not reminiscent of power and authority as one might pos-
sibly expect from those engaged in leadership development, but one where participants
explored their subjectivity, inner voice and autonomy. While centred on the issue of
‘where I’m going’, participants depicted this not as a question of outcome or destination
but as one of confidence, composure and self-belief. Thus, being a ‘yacht’ and not a ‘raft’
is about the journey (dwelling mode) rather than its endpoint (building mode).” (p. 371)

If we keep moving between and within places, our stance and balance, in relation
to shifts (from movement, for learning, as bearing), require unique and sustained
attention/practice, particularly for teacher education, where decades of school-
ing have formed teacher habits of school in particular ways. What does it mean
to take a stance or have balance? Consider the story of “*stā, Proto-Indo-Euro-
pean root meaning ‘to stand, set down, make or be firm,’ with derivatives mean-
ing ‘place or thing that is standing.’” You will be familiar with the root in words
like circumstance, distance, institute, and understand, but *stā- also has a shared
root with various other common words that may be less noticeable, like: obstacle,
solstice, and system. According to the OED (2020), *stā- knots with words from
many languages, with “the hypothetical source of/evidence for its existence… pro-
vided by: Sanskrit tisthati “stands;” Persian -stan “country,” literally “where one
stands;” and Greek histēmi “put, place, cause to stand; weigh,” stasis “a standing
still,” (website). One word I introduced as this paper began was ectasy. According
to the OED (2020), ecstasy derives from “14c., extasie ‘elation,’ from Old French
estaise ‘ecstasy, rapture,’ from Late Latin extasis, from Greek ekstasis ‘entrance-
ment, astonishment, insanity; any displacement or removal from the proper place,’
in New Testament “a trance,” from existanai ‘displace, put out of place,’ also ‘drive
out of one’s mind’ (existanai phrenon), from ek “out” (see ex-) + histanai “to place,
cause to stand,” from PIE root *stā- “to stand” (see stet) (webpage). Existanai
phrenon, out of one’s mind or out of place, draws together phrenon with phronêsis.
Through phronêsis we seem able to take stances, have balance, and follow bear-
ings, we are grounded in place; while in absence of phronêsis, we seem to be lost,
confused, misguided- in ectasy, out of place and without our wits. This two-tailed
assertion tells phronêsis’ tale.
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 141

If school is focused on epistemic and techne-as-poiesis knowing, where does


one learn phronêsis? Well, common parlance offers a response- street-smarts.
Street-smarts is defined as: “[h]aving practical rather than theoretical knowledge,
such as what is learned on the streets rather than in the classroom” (Wikonary
2020). School learning overtly excludes phronêsis, along with learning in local
outdoor nature, from the learning menu, as phronêsis cannot be learned (repro-
duced) with high fidelity, such as epistemic and techne knowledge can. Much like
Hesse’s (2000) Glass Bead Game, school avoids perspicacity as it represents risky
knowledge, and school does not encourage risk, as play or learning (Wyver et al.
2010). Vardoulakis (2020), in writing on new materialism in relation to neo-epi-
cureanism, stated, “The primacy of the practical, however, comes at a cost. Phro-
nesis is a response to the circumstances one finds oneself in, and it lacks external,
secure criteria to be safely applied. Such a practical judgment arising out of spe-
cific circumstances can thus never attain to deductive validity or to certainty. Prac-
tical knowledge is fallible” (p. 1016). However, without practical knowledge one
becomes ecstatic, out of place, so understanding is precipitously confused. Book/
school smarts are not equivalent with street smarts, and book smarts are not uni-
versally valued as the highest form of knowledge. Curry (2020), in researching
different conceptions of intelligence, wrote about a study involving Usgengean
from Kenya, that aids to illustrate: “In interpreting this result, Sternberg and Grig-
orenko note that scholastic achievement does not do much, practically speaking,
for Usengean children. Dropping out of school is not seen as a failure, much less
an indicator of stupidity; on the contrary, ‘many families in the village do not par-
ticularly value formal western schooling.’ They value survival and healing skills
‘that will lead to successful adaptation to the environments in which they will
really live’ (Sternberg and Grigorenko 2004, p. 1429)” (p. 5). What has come to be
understood as the most prized knowledge, de facto, by schools does not necessar-
ily reflect values many have for knowledge. Perhaps this returns us to Ranciere’s
(1991) fundamental premise that, “man [sic] is a will served by an intelligence”
(p. 51–52), not that people are intelligences served by wills, which is what school
smarts have one believe and reproduce. Phronêsis as local outdoor learning helps
to develop wills through wits, as practical wisdom, reducing ecstasy and ground-
ing learners and learning in experiences which offer possibility to learn the ropes.
Stance and balance, as aids to following bearings and direction, seem valua-
ble aims for education as schooling as we sail into the aporia of the 21st Century.
Clearly, the world is transitioning in large-scaled ways that will require perspi-
cuity, a flucency with reading an ever-changing/emerging world in which we all
dwell together. Extensive changes include climate change, but others too (eco-
nomic change-where we work, and health change- where food/medicines come
from), are producing patterns that diverge from what was known prior, offering
novel precipitation and clouding headings. People need to learn epistemic and
poesis knowledge, but also, as Bateson (1972) put it, they need to learn to learn,
to be active and critical participants in life’s dance. The English word where-
withal, out of fashion now, perhaps offers relevance to this place-binding knot
142 H. Banack

map. Wherewithal is defined as “[t]he ability and means required to accomplish


some task” by Wiktionary (2020), and as, “the money, things, or skills that you
need in order to be able to do something” by the OED (2020). Wherewithal dates
to “Chaucer’s ‘Canterbury Tales’: ‘c1386 CHAUCER Wife’s T. Prol. 131 Wher
with sholde he make his paiement If he ne vsed his sely Instrument?’”, as cited
by juggler-ga (2003), owing tether to land by making sense of life lived in place.
This place-binding knot map offers educational disposition (educational ecstasy),
unplaced educational discourse and practice, a triangulated map that grounds
phronêsis, kairós, and tópos, as practices of local outdoor learning that guide how
leadership, learning, and phronêsis might instantiate in time spent in local out-
doors, adventuring. Wherewithal is an expression of familiarity, bringing to bear
knowing as street (stream)-smarts with book smarts of epistemic and techne-as-
poiesis. The school aim of fostering educated citizens might include helping learn-
ers explore their wherewithal to become their own tour guides.

11 Wrapping Up Yarn/Plotting Bearings: On the Spool


and Bearing Down

Through my guiding experiences, my worldviews have taken shape. I know my


ontology as experiential, existential/phenomenological, and hermeneutical. My
axiology navigates between adventure and safety. My epistemology is constructiv-
ist, empirical, and pragmatic. The legend of my place-binding knot map is shared
here, terminologically, to draw connections between my experience as an outdoor
guide and how my phronêsis entwines and guides my worldviews and practices
as a teacher and person. In a sense, my practices and worldviews do not merely
mutually inform, through their emergence, but only “make sense” through their
inter-relationships (Bai and Banack 2006). Thus, I recognise that I constantly
change as I calibrate and re-calibrate bearings and headings through living. I am
not suggesting that I know my positionality at every (any) second (chrónos), but
rather that stories of my positionality and my confusion qua aporia triangulate
possible roles for local outdoor learning, as phronêsis, in education as school-
ing. I have learned a key part of success is kairós, good timing. As an outdoor
guide, kairós was demonstrated and evidenced to me through the decisions taken,
by myself or others, that resulted in holistic wellness for the journey. Phronêsis in
schooling and learning offers much to the success of learners’ journeys, adven-
tures that include career and economics, but are not limited to those two trajec-
tories. Journeys develop stance, balance, and bearing as readiness for life’s wild
and unknown adventures, and thus learning should also be useful. Through this
story-mapping task, I sense I have been able to show how leadership, learning, and
phronêsis instantiate in time spent in local outdoors (tópos) as understandings of
time as aión and kairós (Kennedy and Kohan 2008; Rämö 1999). School learning,
explored as phronêsis, kairós, and tópos through local outdoor learning, may offer
relevant and responsive learning opportunities to learners that bring usefulness to
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 143

their lives. Perhaps my messy place-binding knot map compels insight for learn-
ers, educators, and scholars as they contemplate why and how phronêsis, kairós,
and tópos are valuable, and how leadership might be learned in local outdoors, just
as sailors learn the ropes out at sea, eventually becoming captains.

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Teil III
Exemplarische Lernorte 1:
Museen, kulturelle Einrichtungen und
­Gedenkstätten
Das Deutsche Auswandererhaus
Bremerhaven.
Ein Migrationsmuseum als
außerschulischer Lernort
Simone Blaschka

Zusammenfassung

In seiner Bildungsarbeit konzentriert sich das Deutsche Auswandererhaus


thematisch auf die Vermittlung der deutschen Migrationsgeschichte. Dabei
werden mit einem komparativen Ansatz Unterschiede und Gemeinsam-
keiten zwischen der Auswanderung nach Übersee und der Einwanderung
nach Deutschland aufgezeigt. Einen leichten Einstieg in die oft komplexen
Ursachen, Gründe und Folgen von Migration ermöglichen dabei biographische
Geschichten von Aus- und Einwandererfamilien. Für die Erschließung der
Migrationsgeschichte durch die Schüler*innen bietet das Museum ein umfang-
reiches Programm an, das neben der Vermittlung von Sach- und Methoden-
kompetenzen auch auf ein beeindruckendes Museumserlebnis setzt. Neben
historischen und aktuell-politischen Aspekten eröffnen sich auch zahlreiche
philosophische Fragestellungen, deren Aufbereitung durch eine etablierte
Kooperation vorangetrieben wird.

Schlüsselwörter

Migration · Museumspädagogik · Willkommenskultur

S. Blaschka (*) 
Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven, Deutschland
E-Mail: s.blaschka@dah-bremerhaven.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 149
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_7
150 S. Blaschka

1 Überblick

„Angst in Neugierde verwandeln.“ – so lautet der selbstgesetzte Bildungsauftrag


am Deutschen Auswandererhaus.1 Im Mittelpunkt steht dabei die Angst vor dem
Unbekannten. Dieses Gefühl kennen alle Migranten – seien sie Auswanderer,
Arbeitsmigranten, Flüchtlinge oder Vertriebene. Die Angst vor dem Unbekannten
kennen aber auch alle, die in einer Einwanderungsgesellschaft leben und sich im
Alltag immer wieder aufs Neue Fragen über die Art und Weise des Zusammen-
lebens stellen müssen und wollen.
Als Erlebnismuseum zeigt das Deutsche Auswandererhaus mehrere große
inszenierte Räume. So werden Besucher beispielsweise an eine Kaianlage aus dem
Jahr 1890 versetzt, in der sich eine 35 m lange und acht Meter hohe Schiffswand,
ein Hafenbeckens mit Wasser, Original-Duckdalben sowie über 30 lebensgroße
Auswandererfigurinen befinden. Die Inszenierungen dienen vor allem der Ver-
mittlung der immateriellen Aspekte von Migration: den Gedanken und Gefühlen.
Die Kaianlage stellt seit Eröffnung des Museums seinen beliebtesten Raum dar,
simuliert sie doch den Besuchern das bittersüße Gefühl eines Abschiedes für
immer gepaart mit der Hoffnung auf ein neues Leben eindringlich (Abb. 1).2
Mit der neuen Dauerausstellung, die im Sommer 2021 eröffnet werden wird,
erweitert das Museum sein didaktisches Konzept: Die Vermittlung der Migrations-
geschichte wird auf mehrere Perspektiven erweitert: die deutsche wird durch
mehrere europäische ergänzt, sowohl in Bezug auf Ein- als auch Auswanderung.
An den „Critical Thinking Stations“ können Museumsbesuchern ihre Meinung
zu Fragen über Migration und Inklusion zunächst äußern und am Ende des Rund-
ganges reflektieren. Die kritischen Fragen, die den Besuchern gestellt werden, sind
solche, die vor allem politische Antworten erfordern.

2 Die Vermittlung von Migrationsgeschichte

Das Deutsche Auswandererhaus befindet sich in Bremerhaven an einem


historischen Standort: Mehr als 7,2 Mio. Auswanderer und Flüchtlinge traten
zwischen 1830 und 1974 von der Stadt an der Wesermündung aus die Schiffs-
passage in die USA, nach Kanada, Brasilien, Argentinien oder Australien an.
Von ihnen stammten 3,8 Mio. aus Deutschland und 3,4 Mio. aus osteuropäischen
Ländern; darunter viele jüdische Familien. Der historische Standort verleiht jedem
Museumsbesuch eine authentische Aura. Die Authentizität wird im Museum
von den zahlreichen Erinnerungsobjekten und -geschichten aufgegriffen, die

1Siehe beispielsweise „Angst in Neugierde verwandeln. Das Forum Migration am Deutschen


Auswandererhaus Bremerhaven: Evaluation, Oral History und Vermittlung von Interkultur”,
herausgegeben vom Deutschen Auswandererhaus. Bremerhaven (2015).
2Auswertungen der anonymen quantitativen Besucherumfragen des Deutschen Auswanderer-

hauses 2005 bis 2018; Teilnehmer 25.623 von 2, 55 Mio. Besuchern im genannten Zeitraum.
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 151

Abb. 1  Ausstellungsraum „An der Kaje“

Familien dem Museum geschenkt haben und die bestimmte Momente, Gedanken
oder Gefühle im familiären Migrationsgeschehen symbolisieren. Darunter findet
sich beispielsweise ein Teddybär, den ein sechsjähriges Mädchen auf der Flucht
von Schlesien nach Westdeutschland mitnahm und später als 17jährige erneut
bei sich hatte, als sie zunächst nach Großbritannien und später in die USA aus-
wanderte. Darunter finden sich auch das Flugticket, mit dem eine Spätaussiedlerin
von Russland in die Bundesrepublik flog und ein muslimischer Gebetskalender
für Bremerhaven einer türkischen Frau.3 Eingebettet sind die biographischen
Erinnerungsobjekte in die Dauerausstellung des Museums zu 300  Jahren
Migrationsgeschichte.
Das Deutsche Auswandererhaus eröffnete 2005 mit einer Dauerausstellung
zur Geschichte der deutschen Überseeauswanderung zwischen 1830 und 1974.
Die Dauerausstellung zeigt die Akkulturation deutscher Auswanderer, mit einem
Schwerpunkt auf die Zeit der Sozialisation, der Überfahrt und Ankunft. Der Fokus
liegt mit den USA auf dem Hauptzielland der deutschen Überseeauswanderer.
Im April 2012 eröffnete das Haus den Erweiterungsbau zu 300 Jahren Ein-
wanderungsgeschichte nach Deutschland. Es stellt dabei 15 Einwanderergruppen

3Die umfangreiche Sammlung des Deutschen Auswandererhauses zur Migrationsgeschichte wird

ausführlicher beschrieben in: Deutsches Auswandererhaus, Das Buch zum Museum der Aus- und
Einwanderung. Bremerhaven (2017; 3., überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 118–124.
152 S. Blaschka

vor, die seit 1683 nach Deutschland gekommen sind, u. a. Hugenotten, Ruhr-
polen, deutschstämmige Vertriebene, Italiener, Türken, Spätaussiedler und Syrer.
Vorgestellt werden dabei weniger die politischen, sozialen oder ökonomischen
Ursachen für die Migration aus den Herkunftsländern, als vielmehr die persön-
lichen Geschichten von Einwandererfamilien in Deutschland, die exemplarisch
für bestimmte Aspekte von Inklusion und Ausgrenzung stehen. Das Deutsche Aus-
wandererhaus ist das einzige Museum Deutschlands, das sowohl die Aus- als auch
die Einwanderungsgeschichte erzählt und vermittelt.
Die Gründung des Deutschen Auswandererhauses fiel in die gleiche Zeit, in
der Deutschland sich erstmals selbst offiziell als Einwanderungsland anerkannte.
Das Museum ist mit der gesellschaftlichen Debatte der letzten 15 Jahre rund um
die Themen „Integration“, „Leitkultur“ und „Willkommenskultur“ mitgewachsen:
Vor allem seit der Erweiterung um das Thema Einwanderungsgeschichte ist das
Deutsche Auswandererhaus politischer geworden. Darin liegt der Vorteil, dass man
programmatische Konzepte entwickeln muss, wie man als Museum auf tages- und
gesellschaftspolitische Ereignisse oder Debatten reagieren kann – etwas, das einer
Institution wie einem Museum, das auf die Langlebigkeit seiner Dauerausstellung
und seiner Sammlung ausgerichtet ist, sehr viel schwerer fällt, als einer Zeitung
oder den Social Medias.
Zugleich sieht es das Museum als wesentlich an, auf die bestehenden Defizite
beim Wissen von der Migrationsgeschichte durch seine Vermittlungsarbeit auf-
merksam zu machen und Bildungsangebote zu unterbreiten. Weder in der DDR
noch in der BRD wurde Migration als Teil der eigenen Geschichte geschweige
denn als existenzieller Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens betrachtet.
Bis Ende der 1990er Jahre führte die Migrationsgeschichte eine Nischenexistenz
an Universitäten, in Museen und in Schulen. Die Auswanderungsgeschichte nach
Übersee wurde oft als Teil der Bevölkerungsgeschichte unter rein statistischen
Gesichtspunkten der Zu- und Abgänge abgehandelt. Einwanderungsgeschichte
nach Deutschland begann oft erst 1945 und auch hier überwogen statistische Dar-
stellungen; hinzu kamen wirtschaftspolitische Analysen. Der Zuzug und die Auf-
nahme von Millionen deutscher Flüchtlinge und deutschstämmiger Vertriebenen
wurden in der Regel nicht als Migration verstanden. Die gesamtgesellschaftliche
Bedeutung der Migration fand kaum Beachtung.4
In deutschen Schulbüchern tauchte in den 1970er Jahren der „Gastarbeiter“, in
den 1980er Jahren der „Ausländer“ und in den 1990er Jahren der „Asylbewerber“

4Siehe beispielsweise Marschalck, Peter: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und


20. Jahrhundert. Frankfurt (1984); Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte.
München (2008), Bd. 2, S. 17 f., 549, Bd. 3, 10 f.; Bd. 5, S. 34–43. In diesem Band, der die
Geschichte der Bundesrepublik darstellt, findet sich beispielsweise weder der Begriff ›Islam‹
im Sachregister (S. 528), noch wird in dem Kapitel»Die klassenspezifische Wahrnehmung der
Bildungschancen« auf die besondere Situation von Migrantenkindern eingegangen (S. 193–197).
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 153

auf. Vom „Einwanderer“ war erst seit den 2000er Jahren die Rede.5 Heute
wächst also eine Schülergeneration heran, die etwas selbstverständlicher über die
Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland unterrichtet wird, alle vor-
herigen Schülergenerationen lernten darüber wenig bis gar nichts. Die Kenntnisse
vom „Normalfall Migration“ – so der Buchtitel eines von den beiden Migrations-
forschern Klaus J. Bade und Jochen Oltmer (2004) herausgegebenen Buches – ist
im Großen und Ganzen trotzdem noch recht klein; meistens ist das Wissen auf
einzelne Migrationsbewegungen, wie beispielsweise diejenige der sogenannten
„Gastarbeiter“ begrenzt.6
Der positive Nutzen größerer Kenntnisse liegt allerdings auf der Hand: Ver-
gleiche mit historischen Migrationsgeschehen, ermöglichen es in aktuellen
Situationen, potenzielle Handlungsmöglichkeiten anhand historischer Handlungen
abzuwägen oder sogar zu beurteilen. Ein aktuelleres Beispiel hierfür ist ein Ver-
gleich zwischen der Obergrenzen-Debatte in der Bundesrepublik 2016/2017 mit
der Debatte um die sogenannten „Quota Acts“ von 1921 und 1924 in den USA,
die die Einwanderung nach prozentualen Obergrenzen für jede Nation unter-
schiedlich regulierten.7
Auch lassen sich bestimmte bekannte Prozesse, die im Migrationsgeschehen
beinahe schematisch abzulaufen scheinen, gut nutzen, um mögliche neue Wege zu
denken und damit die Schemata zu durchbrechen. Ein Beispiel für solche Prozesse
ist das historisch wiederholt vorgekommene Umkippen einer ausgeprägten
Willkommenskultur für Migranten in eine Atmosphäre der Ablehnung, der
verbalen und körperlichen Gewalt. Um solche Effekte zu verdeutlichen, arbeitet
das Deutsche Auswandererhaus immer wieder mit komparativen Darstellungen.
So zeigte es 2015 in der Sonderausstellung „Plötzlich da. Deutsche Bittsteller
1709, türkische Nachbarn 1961“ zwei Arten, wie Migranten in ihrem Zielland
aufgenommen wurden: Einerseits anhand der türkischen Arbeitsmigranten in der
Bundesrepublik Deutschland. Und andererseits anhand einer Gruppe deutscher
Einwanderer, die als sogenannten „Palatines“ 1709 nach London kamen und
von den Briten erwarteten, Land in den nordamerikanischen Kolonien geschenkt
zu bekommen. Während die Türken in Deutschland als „Gastarbeiter“ nur auf

5Zur Einwanderungsthematik in Schulbüchern vgl. beispielsweise Thomas Höhne/Thomas Kunz/


Frank-Olaf Radtke: Bilder von Fremden. Was unsere Kinder aus Schulbüchern über Migranten
lernen sollen. Frankfurt a. M. (2005); Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration (Hrsg.): Schulbuchstudie Migration und Integration. Berlin (2015).
6Bade, Klaus/Oltmer, Jochen: Normalfall Migration: Deutschland im 20. und frühen 21. Jahr-

hundert. Bonn (2004).


7Zu der Obergrenzen-Debatte vgl. beispielsweise „Wie sich Seehofer mit seiner Obergrenzen-

Forderung isoliert“, von Bauchmüller/Braun auf sueddeutsche.de, 03.01.2016 oder „Mein


Deutschland: Die Obergrenze – eine typisch deutsche Debatte“, Zhang Danhong auf dw.com,
12.10.2017 und „SPD kommt Union bei Flüchtlingsobergrenze entgegen“, Specht, Frank
auf Handelsblatt.com,12.01.2018. Zu den Quota Acts vgl. beispielsweise Benton-Cohen,
Katherine,”Inventing the Immigration Problem: The Dillingham Commission and its Legacy“.
Cambridge, (2018).
154 S. Blaschka

Zeit willkommen sein sollten, erlebten die Palatines für etwa drei Monate eine
großzügige Willkommenskultur mit Lebensmittel-, Kleider- und Geldspenden
und mit Ehrenamtlichen, die sich um sie kümmerten. Nach diesen drei Monate
kippte die Stimmung in London und Politik und die Londoner Gesellschaft dachte
darüber nach, wie man die Palatines wieder loswerden konnte. Es kam zu gewalt-
tätigen Übergriffen. Der Zufall wollte es, dass die Sonderausstellung lief, während
die überwältigende Willkommenskultur für die syrischen und afghanischen
Bürgerkriegsflüchtlinge in zähe gesellschaftliche und politische Auseinander-
setzungen und rechte Gewalt mündete.8

2.1 Immersive Vermittlung: Inszenierungen und Virtual


Reality

Die Inszenierungen am Deutschen Auswandererhaus zeigen Rekonstruktionen


bestimmter Orte, die im Migrationsprozess Schlüsselorte oder -momente dar-
stellen. Neben der bereits beschriebenen Kaje gibt es verschiedene Schiffsräume
von Auswandererschiffen. Die Registry Hall der Einwandererstation Ellis Island in
New York ist in Teilen ebenso rekonstruiert wie der New Yorker Bahnhof Grand
Central Terminal, von dem aus viele europäische Einwanderer ins Landesinnere
reisten. Für die Einwanderergeschichte wurde eine bundesrepublikanische Laden-
passage aus dem Jahr 1973 – in diesem Jahr wurde der sogenannte Anwerbestopp
für Arbeitsmigranten erlassen – nachgebaut. Dort finden die Museumsbesucher
in fünf verschiedenen Geschäften Spuren von Einwanderern, die in den letzten
300 Jahren nach Deutschland gekommen sind. Den Geschäften sind Thematiken
zugeordnet: Beim Frisör geht es beispielsweise um das Aussehen – wenn ich
anders aussehe als die Mehrheit, welche Folgen hat das für mein Leben in
Deutschland? Im Kaufhaus geht es beispielswiese darum, wie man als Einwanderer
in Deutschland seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Alle Inszenierungen sind
auf der Grundlage von historischen Vorbildern detailgetreu errichtet.
So wurde beispielsweise die Bordwand in dem Ausstellungsraum „An der
Kaje“, der eine Abschiedsszene aus dem Jahr 1890 im Auswandererhafen Bremer-
haven zeigt, nach den Bauplänen des Schiffes „Lahn“ der Werft Fairfield SB &
Eng. Co. Ltd. in Glasgow gebaut. Genauso gibt es historische Vorlagen für die
Kleidung der über 30 lebensgroßen Figurinen, der Fässer, die Kisten etc. Der
inszenatorische Charakter wird für den Besucher u. a. dadurch deutlich, dass das
Schiff sozusagen in der Schuppenwand verschwindet sowie durch die Decken-
scheinwerfer, die mitten im Bild hängen.
Der gesamte Raum wurde dem Moment des Abschiedes gewidmet, weil der
Abschied eine Zeremonie ist, die jeder Migrant begeht. Öffentlich, oder privat.

8Siehehierzu auch den umfangreichen Katalog zur Sonderausstellung: Blaschka-Eick, Simone/


Bongert, Christoph (Hrsg.): Plötzlich da. Deutsche Bittsteller (1709), Türkische Nachbarn 1961.
Bremerhaven 2016.
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 155

Abb. 2  Lithographie „Der Abschied“

Der Abschied ist aber auch eine Zeremonie, die jeder kennt, ob Migrant oder
Nicht-Migrant. Die Trauer des Abschiedes vom alten Leben, die Angst vor dem
unbekannten neuen Leben kennen hingegen nicht alle Menschen. Abschied ist
aber natürlich auch immer die Hoffnung auf die Chancen die im Unbekannten
liegen (Abb. 2).9

9Der Moment des Abschiedes von Auswanderern im Hafen wurde immer wieder in Litho-

graphien des 19. Jahrhunderts und in Fotografien des 20. Jahrhunderts bildlich dargestellt. Die
Beschreibung des Abschiedes findet sich in vielen Briefen, die Auswanderer an ihre Familie und
Freunde schrieben. Zahlreiche dieser Lithographien, Fotografien und Briefe befinden sich in der
Sammlung des Deutschen Auswandererhauses. Siehe auch: Helbich, Wolfgang/Kamphoefner,
Walter/Sommer, Ulrike: Deutsche Briefe aus Amerika: Auswanderer schreiben aus der Neuen
Welt 1830–1930. München (1988).
156 S. Blaschka

Der Ausstellungsraum ist eine Collage historischer Wirklichkeiten, es handelt


sich um die Reproduktion eines Stereotypen. Der inszenierte Museumsraum
ermöglicht hier ein Eintauchen in die Geschichte und ein Eintauchen in einen
Moment: Erstens können die Besucher die Abfahrt eines transatlantischen Aus-
wandererschiffes, die es so heute nicht mehr gibt, nacherleben. Zweitens können
die Besucher den Moment des Abschiedes, wie ein Migrant ihn erlebt, nach-
empfinden. Besucher können so Empathie für ein Gefühl entwickeln, das sie selbst
eventuell noch nicht erlebt haben. Hier funktioniert immersiv also im Sinne des
lateinischen Wortes immergere (eintauchen). Das Eintauchen geschieht, obwohl
mitten in der Inszenierung grüne Notausgangsschilder leuchten, gelbe LED
Lichter auf Stufen hinweisen, Texttafeln überall in der Inszenierung zu finden
sind, Deckenscheinwerfer ins Bild ragen und ein Schiff in einer Schuppenwand
verschwindet. Die statische Inszenierung ist stark genug, um beim Besucher ein
„Kopfkino“ auszulösen (Abb. 3).
Als Partner in dem von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien geförderten Verbundprojekt „museum4punkt0“ hat das Deutsche Aus-
wandererhaus eine weitere Form der immersiven Vermittlung, den Einsatz von
Virtual Reality im Museum, in einer Studie erforscht. Mit über 700 Teilnehmern
wurde dabei u. a. untersucht, inwieweit Virtual Reality das Museumserlebnis steigert
und das Lernverhalten beeinflusst. Dafür wurden Museumserlebnis und Lernver-
halten einmal in einer klassischen Ausstellung mit Objekten, Hörstationen und Text-
tafeln und einmal in einer reinen Virtual Reality Anwendung getestet. Ausstellung
und Virtual Reality Anwendung zeigten den gleichen Inhalt – ­Kriegsgefangenschaft

Abb. 3  Abfahrt „Bremen“
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 157

als Zwangsmigration -und haben dabei mit den gleichen Objekten und Texten
gearbeitet. Im Ergebnis zeigt sich, dass sowohl junge als auch ältere Besucher die
Virtual Reality Anwendung unterhaltsamer fanden als die klassische Ausstellung.
Die Inhalte der Ausstellung – es ging um die Gefühle Ohnmacht und Sehnsucht in
einer Kriegsgefangenschaft – wurden sowohl kognitiv als auch emotional stärker in
der klassischen Ausstellung wahrgenommen und behalten.10 Die Studienergebnisse,
die hohen Anschaffungskosten und das aufwendige Handling der VR-Brillen machen
weitere Virtual Reality Anwendungen im normalen Museumsbetrieb unwahrschein-
lich. Hingegen hat sich das Museum entschieden, in seiner neuen Dauerausstellung
Augmented Reality einzusetzen. (s. Abschnitt „Ausblick“).

3 Perspektivwechsel: Biographische und familiäre


Narrative

Migration ist nicht nur etwas, das andere tun oder anderen geschieht. Sehr viele
Deutsche haben schon selbst über die Frage nachgedacht, ob eine Auswanderung
ihr Leben verbessern würde. Der Anteil der Deutschen, die auf Zeit oder für
immer auswandern würden, lag einer Umfrage im Jahr 2018 zufolge bei 55 %.11
Neben diesem sehr persönlichen Interesse, das viele Besucher mit sich bringen,
berührt Migration oft die eigene Familiengeschichte: Viele deutsche Familien wissen
um die eigenen ausgewanderten Vorfahren und finden diesen Teil der Familien-
geschichte äußerst spannend. Viele Besucher aus Deutschland verfügen auch über
eine Familiengeschichte, in der die Großeltern oder Urgroßeltern eingewandert
sind. So wie diejenigen, die nach 1949 einwanderten sind und nun in offiziellen
Statistiken als „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ statistisch erfasst werden:
Das waren 2018 insgesamt 25,5 % der deutschen Gesamtbevölkerung; 20,8 Mio.
von 81,6 Mio.12 Hinzu kommen jene, die in dieser Statistik nicht alle erfasst sind:
Die Nachfahren der 12 Mio. deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, die zwischen
1945 und 1949 kamen. Oder auch diejenigen, in deren Familien die Migration schon
mehrere Generationen zurückliegt, die diesen Teil der Familiengeschichte aber noch
erinnern, dazu zählen vor allem die Nachfahren der Hugenotten und der Ruhrpolen.13

10Siehe die Studie „Berührt es mich? Virtual Reality und ihre Wirkung auf das Besuchserlebnis
im Museum – eine Untersuchung am Deutschen Auswandererhaus“, hrsg. vom Deutschen Aus-
wandererhaus. Bremerhaven 2019.
11Siehe repräsentative Yougov-Umfrage, veröffentlicht u. a. in dpa-newskanal vom 10. Oktober

2018. Teilgenommen haben 2109 Erwachsene. Von den 55 % Auswanderungswilligen möchten
23 % für immer gehen, 22 % auf Zeit. Auswandern wollen vor allem Ältere, die jüngeren
zwischen 18–24 Jahre sehr viel weniger.
12Statistisches Bundesamt: Mikrozensus, hier zitiert nach www.bpb.de vom 19.09.2019.

13Vgl. in Bade, Klaus J., Emmer, Pieter C., u. a.: Enzyklopädie Migration in Europa. München

2007: Bauerkämper, Arnd: Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus Ost-, Ostmittel- und Süd-
osteuropa in Deutschland und Österreich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (S. 477–485);
Asche, Matthias, „Hugenotten in Europa seit dem 16. Jahrhundert” (S. 635–643); McCock,
Brian, Polnische industrielle Arbeitswanderer im Ruhrgebiet (Ruhrpolen) seit dem Ende des
19. Jahrhunderts (S. 870–879).
158 S. Blaschka

Das Interesse an persönlichen Migrationsgeschichten ist also hoch. Aus


didaktischen Gründen ist der Einstieg in Migrationsgeschichte über eine familiäre
Erzählung besonders geeignet, weil man hieran gut den Zusammenhang zwischen
persönlichen Gründen und gesellschaftlichen und politischen Ursachen bei
Migrationsentscheidungen erläutern kann.
Jeder Besucher erhält beim Einlass in das Museum einen „Boarding Pass“. Er ist
der Schlüssel zu zwei Lebenswegen, die der Besucher auf seinem Rundgang durch
die Dauerausstellung begleitet. Den von einer Auswanderin oder einem Auswanderer
und den von einer Einwanderin oder einem Einwanderer; emi- oder immigriert
in den letzten dreihundert Jahren von oder nach Deutschland. Sie selbst oder ihre
Nachfahren leben heute in den USA, Argentinien, Brasilien, Australien oder in der
Bundesrepublik – zum Teil seit sieben oder acht Generationen. Ausgewählt danach,
ob Kriterien wie ihr Alter, ihre Herkunft, ihr Familienstand oder ihr Beruf, denjenigen
der meisten Emigranten einer gewissen Epoche entsprechen. Ausgewählt aber auch
danach, wie individuell und einzigartig trotzdem ihre Biographie zu erzählen ist. Nur
durch Dokumente, Fotos, Erinnerungsobjekte sowie Oral History gut dokumentierte
Familiengeschichten sind dafür geeignet, in der Dauerausstellung eines Museums
eindringlich ihre Geschichte zu erzählen. Insgesamt gibt es 18 solcher Biographie-
paare aus Aus- und Einwanderern. Die Paare werden danach zusammengestellt, ob
sie einen Migrationsaspekt multiperspektivisch erzählen können: Ein Paar bilden
beispielsweise der Deutsche, der in den 1950er Jahren beginnt, sich vom Stahl-
arbeiter zum Firmenbesitzer in den USA hochzuarbeiten und der Türke, der in den
1970er Jahren als Hotelfachmann ein Stipendium in der Bundesrepublik Deutschland
erhält und danach hier studiert. Ein weiteres Paar bilden beispielsweise das deutsche
Dienstmädchen, das 1923 mit 17 Jahren ihr Zuhause verlässt, um in New York Geld
zu verdienen, und die vietnamesische Schülerin, die 1981 mit 18 Jahren in die DDR
als Vertragsarbeiterin geht.
Durch den Abgleich der eigenen Lebensentwürfe mit denjenigen der Migranten
erleben Museumsbesucher nicht nur einen Perspektivwechsel, sondern ihnen wird
auch die Möglichkeit geboten, eine Bestandsaufnahme der eigenen Chancen in
der Welt vorzunehmen. Zugleich bieten die Vergleiche zwischen deutschen Aus-
wandererbiographien und Einwanderungsgeschichten nach Deutschland neue
transnationale Perspektiven an. Die biographischen und familiären Migrations-
narrative werden auch in den Programmen der Bildungsarbeit stark eingesetzt.

4 Bildungsprogramme

Neben den klassischen Angeboten wie Führungen und Rallys bietet das Deutsche
Auswandererhaus auch verschiedene Workshops in seinem Bildungsprogramm
an.14 Es gibt zwei Podcast-Workshops zu den Themen „Einwanderung nach

14Eine ausführliche Beschreibung des gesamten Angebotes findet sich unter www.dah-
bremerhaven.de/Bildung.
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 159

Deutschland“ und „Flucht und Vertreibung“, wobei der Letztere deutlich mehr
nachgefragt wird. In beiden Workshops, die jeweils zwischen 120 bis 180 min
dauern, gibt es verschiedene Elemente: Recherchen in der Dauerausstellung des
Museums zu Einwanderer- bzw. Flüchtlingsbiographien, Konzepterstellung für
einen eigenen Podcast sowie Produktion eines Podcasts im museumseigenen Ton-
studio mit Interview- und Featureelementen. Gefördert werden sollen Sach- und
Methodenkompetenzen; auch geht es um Selbstorganisation, denn die Zuständig-
keiten müssen von den Schüler*innen selbst festgelegt werden: wer ist verantwort-
lich für die Recherche? Wer für das Podcastkonzept? Und wer für die Aufnahmen?
Die Selbstorganisation ist für Mittelstufenschüler*innen eine große Heraus-
forderung und bedarf letztendlich doch oft der Unterstützung durch die Museums-
mitarbeiter. Am Ende erhalten die Schüler*innen einen fertig geschnittenen
Podcast, den sie frei Nutzen können.
Mit den Workshopformaten „Schreibwerkstatt Poetry Slam“ und „Filmwerk-
statt YouTube“ werden zwei Schwerpunkte auf Poesie und Fiktion gelegt. Diese
Workshops dauern anders als der Podcast-Workshop drei Tage und werden nicht
regelmäßig angeboten.
In den Schreibwerkstätten zu Poetry Slam lernen die Teilnehmer von
professionellen Slammern, wie man einen Poetry Slam bestreitet, vor allem auch
wie man seine Gefühle sprachlich ausdrücken kann. Dabei wurden bestimmte
Themen wie beispielsweise „Heimat“ oder „Ankommen“ festgelegt, über die
Gedichte verfasst werden sollten.
Bei den YouTube-Workshops geht es um die Erzählformen „Märchen“ und
„Fantasy“: Dabei sollte in der Dauerausstellung des Museums ein Märchen bzw.
eine Fantasy-Geschichte mit Migrationsbezug mit dem eigenen Smartphone
gedreht werden. Dafür muss u. a. ein Drehbuch geschrieben und die Kostümierung
besorgt werden. Zum Workshop gehörte auch die professionelle Betreuung beim
Filmschnitt.
Bei diesen beiden Workshops findet am Ende der drei Tage stets eine
öffentliche Veranstaltung mit der Präsentation der eigenen Gedichte bzw. Filme
statt. Die Workshops konnten bisher kostenfrei angeboten werden, weil sie von der
Dieckell-Stiftung aus Bremerhaven gefördert wurden.

5 Kooperation mit der philosophischen Bildung

Das Deutsche Auswandererhaus bleibt primär der historischen Bildung sowie


den aktuellen, gesellschaftlichen Diskursen verpflichtet. Allerdings berühren
zahlreiche Schwerpunkte auch sehr grundsätzliche Fragestellungen: Was genau
bedeutet es „fremd“ zu sein? Was bedeutet Heimat? Welche moralische Pflichten
bestehen für Neuankömmlinge und welche für Einwanderungsgesellschaften?
Existiert ein Recht auf kulturelle Identität? Nach welche ethischen Kriterien lassen
sich Konflikte zwischen Kulturen oder zwischen Säkularismus und religiöser
Prägung bewerten? Zur Bearbeitung dieser Themenkomplexe erscheint die
160 S. Blaschka

­ hilosophie mit ihrem begriffsanalytischen Instrumentarium und ihrem Angebot


P
an anthropologischen und ethischen Theorie als idealer Kooperationspartner.
Seit 2015 existiert eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen
Auswanderer Haus und dem Philosophischen Institut der Technischen Uni-
versität Dresden. Während zahlreicher Exkursionsseminare haben Studierende das
Museum besucht, und Unterrichtseinheiten für verschiedene Klassenstufen und
Altersgruppen erarbeitet. Einige Ergebnisse wurden bereits veröffentlicht.15 Die
Zusammenarbeit wird fortgesetzt.

6 Ausblick

Im Frühsommer 2021 eröffnet das Deutsche Auswandererhaus seine neue Dauer-


ausstellung. Mit der neuen Dauerausstellung verfolgt das Museum vor allem ein
Vermittlungsziel: Es möchte zeigen, dass Konflikte in Einwanderungsgesell-
schaften normal sind. Die Frage ist nur: Wie können Konflikte so ausgehandelt
werden, dass die Rechte aller bewahrt werden? Dafür konzipiert das Museum
u. a. einen neuen Ausstellungsraum: Darin werden unterschiedliche Migrations-
konflikte in Geschichte und Gegenwart vorgestellt, die sich immer wieder an
Themen wie Wohnungsnot, Lohngleichheit, sozialer und kultureller Gleich-
berechtigung entzündet haben und die oft in Fremdenfeindlichkeit und Anti-
semitismus mündeten. Dargestellt werden diese Konflikte multiperspektivisch:
Alle, die daran beteiligt sind, kommen zu Wort. Ebenso werden verschiedenen
Experten rückblickend Konflikte analysieren, aber auch in die Zukunft schauend
neue Ideen zum Zusammenleben vorstellen. Museumsbesucher können sich ein
Konfliktthema durch die Zeit anschauen: Wie wurde vor 70, wie vor 50, wie vor
5 Jahren mit ähnlichen Konflikten umgegangen? Was waren gute, was waren
schlechte Lösungen?
Neu wird auch die Besucherführung des Museums sein: Zukünftig begleiten
Besucher nicht nur Lebensgeschichten von Aus- und Einwanderern durch
die Dauerausstellung, sondern auch die Critical Thinking Stations (Arbeits-
titel). Die Critical Thinking Stations wurden im Rahmen des Verbundprojektes
„museum4punkt0“ am Deutschen Auswandererhaus entwickelt, das digitale
Strategien für die Zukunft der Museen testet.16 Ziel ist es, für die Besucher
ihre Meinungsbildungsprozesse während des Museumsrundganges digital zu
dokumentieren, um sie am Ende im neuen Recherchezentrum des Museum
statistisch aufbereitet zu bekommen und in einem reflexiven Momentum ggf.

15Vgl.: Vogt, Lucy/Bach, Maria: Akim rennt; Baumgart, Tim/Goldhahn, Anika: Unser Ein-
wanderungsgesetz. In: Markus Tiedemann (Hrsg.): Migration, Menschenrechte und Rassismus.
Herausforderungen für ethische Bildung. Schöningh/Paderborn (2020). S. 141–168 bzw. S. 169–
192.
16Weitere Informationen zu dem Verbundprojekt „museum4punkt0“ finden sich unter www.

museum4punkt0
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 161

zu überdenken und zu ändern. Konkret werden dazu an fünf Stationen in fünf


Ausstellungsräumen durch Augmented Reality insgesamt 27 Fragen in die
Inszenierung sporadisch eingefügt und können digital beantwortet werden. Es
handelt sich vor allem um politische Migrationsfragen, die Einwanderungsländer
in Bezug auf ihre Grundsätze und Gesetze für sich beantworten müssen.
Die wissenschaftliche Betreuung der Critical Thinking Stations wird eine der
Aufgaben sein, die die „Academy of Comparative Migration Studies“ (ACOMIS)
zukünftig übernehmen wird. Die Gründung und Eröffnung dieser Akademie am
Deutschen Auswandererhaus wird ebenfalls 2021 stattfinden. In der Akademie
wird ein Bildungsinstitut für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung sowie
ein museales Forschungsinstitut für Migrationsforschung etabliert. Forschungs-
projekte werden zukünftig gemeinsam mit Universitäten im Bereich der
historischen und vergleichenden Migrationsforschung durchgeführt. Genauso soll
die Akademie aber auch jungen Wissenschaftlern und angehenden Lehrkräften
die Möglichkeit geben, praktische Anwendungen auszuprobieren. (vgl. hierzu
beispielsweise die Kooperation mit der TU Dresden unter Federführung von
Professor Tiedemann im Kapitel Bildungsprogramm).
Das Deutsche Auswandererhaus ist als Migrationsmuseum ein außerschulischer
Lernort mit einer hohen politischen Aktualität und gesellschaftlichen Relevanz.
In seiner Bildungsarbeit vermittelt es nicht nur ein breit aufgestelltes Wissen,
sondern auch Kompetenzen, um mit den komplexen Fragestellungen von
Migration umgehen zu können. Zugleich möchte es neugierig darauf machen, das
Unbekannte zu entdecken und eine eigene Meinung zu bilden, um resilient zu sein
gegen Populismus und Demokratiefeindlichkeit.

Literatur
Bade, K./Oltmer, J.: Normalfall Migration: Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert.
Bonn: bpb 2004.
Bade, K. J., u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. München: Wilhelm Fink Verlag
2007.
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Schulbuch-
studie Migration und Integration. Berlin 2015.
Benton-Cohen, K.: Inventing the Immigration Problem: The Dillingham Commission and its
Legacy. Cambridge: Harvard University Press 2018.
Blaschka-Eick, S./Bongert, C. (Hrsg.): Plötzlich da. Deutsche Bittsteller 1709, Türkische Nach-
barn 1961. Bremerhaven: edition DAH 2016.
Deutsches Auswandererhaus (Hrsg.): Angst in Neugierde verwandeln. Das Forum Migration am
Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven: Evaluation, Oral History und Vermittlung von
Interkultur. Bremerhaven: edition DAH 2015.
Deutsches Auswandererhaus (Hrsg.): Das Buch zum Museum der Aus- und Einwanderung, 3.,
überarbeitete und erweiterte Auflage. Bremerhaven: edition DAH 2017.
Heidsiek, K.: Berührt es mich? Virtual Reality und ihre Wirkung auf das Besuchserlebnis im
Museum – eine Untersuchung am Deutschen Auswandererhaus. Bremerhaven: edition DAH
2019.
Helbich, W. J., u. a.: Briefe aus Amerika: Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt
1830–1930. München: C.H. Beck 1988.
162 S. Blaschka

Höhne, T., u. a.: Bilder von Fremden. Was unsere Kinder aus Schulbüchern über Migranten
lernen sollen. Frankfurt a. M.: Universität Frankfurt 2005.
Marschalck, P.: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt:
Suhrkamp 1984.
Tiedemann, M. (Hrsg.): Migration, Menschenrechte und Rassismus. Herausforderungen für
ethische Bildung. Paderborn: Schöningh 2020.
Wehler, H-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2. München: C.H. Beck 2008.
Das Militärhistorische Museum
der Bundeswehr in Dresden
Cindy Düring

Zusammenfassung

Nach zehnjähriger Neukonzeption eröffnete im Oktober 2011 das Militär-


historische Museum der Bundeswehr (MHM) in Dresden seine neue Dauer-
ausstellung. Bei der Überarbeitung der bis dato existierenden Sammlung löste
man sich vom klassischen Muster eines Militärmuseums und stellte von nun
an Militärgeschichte in seiner facettenreichen Bandbreite bis zur heutigen
Zeit mit zahlreichen Verästelungen in die politik-, sozial-, mentalitäts- und
kulturgeschichtliche Forschung dar. Die Attraktivität des Museums basiert auf
mehreren Säulen und ermöglicht auf eine ganz besondere Art den Besuchern
den Zugang zur historischen, politischen sowie kulturellen und wohl auch
philosophischen Bildung.

Schlüsselwörter

Multiperspektivität · Historisch-Politische Bildung · Außerschulischer Lernort · 


Museumspädagogik · Kontroversität · Militärgeschichte · Ambivalenz

C. Düring (*) 
Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden, Deutschland
E-Mail: cindyduering@bundeswehr.org

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 163
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_8
164 C. Düring

1 Die architektonische Wirkung in der Dauerstellung

Das Haus bietet mit dem spektakulären Neubau von Daniel Libeskind ein in
Dresden einmaliges Architekturerlebnis. Gleichsam als Bildnis für die vielen
Brüche in der deutschen Geschichte wurde der keilförmige Neubau durch das
sächsische Arsenalgebäude aus dem späten 19.  Jahrhundert getrieben. Der
amerikanische Stararchitekt Daniel Libeskind wurde 2002 mit der Grundsanierung
und dem Erweiterungsbau beauftragt, wofür er sich intensiv mit der Stadt-
geschichte Dresdens befasste. Aus diesem Grund gibt es eine symbolische Ver-
bindung mit der Stadt und deren Zerstörung am 13. und 15. Februar 1945.

„Der spitze Winkel des Neubau-Keils hat mit 40,1 Grad die gleiche Öffnung wie das Drei-
eck der zerstörten Stadtfläche, in der bis zu 25 000 Menschen ihr Leben verloren. Die
Spitze des Neubaus weist zudem auf die andere Elb-Seite, wo die von alliierten Piloten
gesetzten Leuchtmarkierungen Zeitpunkt und Ort für den Bombenabwurf anzeigten.“1

Im Inneren setzen schräge Wände und hohe Schächte den Eindruck fort und
zeugen von zahlreichen Verwerfungen, die die Vergangenheit hervorgerufen hat.
Kein rechter Winkel gibt das Maß vor. Einschnitte und neue Sichtachsen laden den
Museumsbesucher zur Veränderung seines Standorts, zum Perspektivwechsel mit
neuen Erkenntnissen ein.

„Mit der Formsprache der Architektur wird so die Leitidee des Militärhistorischen
Museums für alle sichtbar übersetzt: die traditionellen und überlieferten Sichtweisen einer
gewaltverdichteten Geschichte zu erkennen, durch neue Perspektiven zu hinterfragen und
wo nötig zu brechen.“2

Neben einer klassischen Chronologie, gegliedert in drei Epochen (I: 1300–1914,


II: 1914–1945, III: 1945 – heute), werden Themen, die man eher weniger mit
Militär in Verbindung bringt, wie zum Beispiel Sprache, Mode und Tiere, in den
Mittelpunkt der Ausstellung gerückt. Über 10.000 Exponate erzählen bewegende
Geschichten von ca. 1300 bis heute. Mit Hilfe vertikaler Durchbrüche ist es
dem Museum gelungen, geschossübergreifende Räume von bis zu 28 m Höhe
zu schaffen, in denen Großexponate wirkungsvoll in Szene gesetzt werden. So
können Verbindungen zwischen Militär und Gesellschaft sowie zwischen Politik
und Gesellschaft dargestellt werden.
Im Erdgeschoss des Keils befindet sich eine 14 m hohe „Rakete“ aus dem
Zweiten Weltkrieg. Diese wurde im Sprachgebrauch des Dritten Reiches als
„V2“ bezeichnet. Das „V“ steht dabei für „Vergeltungswaffe“. Die Spitze dieser
ragt in den Ausstellungsbereich „Krieg und Spiel“ im zweiten Obergeschoss, wo
sich die Puppenstube eines kleinen Mädchens aus London befindet. Das Kind

1Pieken, Gorch: 40,1°. Architektur. Dresden: Sandstein Kommunkation 2013.


2Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Militärhistorisches Museum der Bundeswehr: Aus-
stellung und Architektur. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011, S. 15.
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden 165

v­eränderte das klassische Spielzeug zusammen mit seinem Vater. Die beiden
bauten Gasbettchen für die Puppenkinder, bastelten Verdunklungen für die Fenster
und einen Schutzraum neben das Puppenhaus, einen sogenannten Anderson-
Shelter, wie er im Vorgarten vieler Häuser in Großbritannien stand. Das Spielzeug
wurde kriegstauglich gemacht und spätestens hier wird erkennbar, dass aus Spiel
Ernst geworden ist und der reale Krieg selbst im Kinderzimmer wahrgenommen
wurde.3

„Die Präsentation macht die »V2«-Rakete in ihrer ganzen Ambivalenz erfahrbar. Einer-
seits gilt sie als technisches Wunderwerk und Ausgangspunkt der zivilen Raumfahrt,
andererseits wurde sie im Zweiten Weltkrieg als Waffe gegen die Zivilbevölkerung in
London und Antwerpen entwickelt und eingesetzt.“4

Bei ihrem Bau in dem unterirdischen Werk und Konzentrationslager Mittelbau –


Dora, nördlich von Nordhausen in Thüringen gelegen, starben Tausende Häft-
linge. Um die Ambivalenz vollständig auszustellen, zeigt das Militärhistorische
Museum der Bundeswehr in Dresden nicht nur die V2 - Rakete in ihrer Gesamt-
heit, sondern auch private Gebrauchsgegenstände von Häftlingen. Als Leihgabe
der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora stellt das Museum einen Essnapf mit zwei
Häftlingsnummern und einem eingeritzten Namen aus, deren Träger nacheinander
Besitzer dieses Utensils waren. Verstarb ein Häftling, übernahm ein anderer den
fürs Überleben wichtigen Essnapf und kennzeichnete diesen als seinen Besitz.5
Weiterhin wird eine selbstgebaute Säge ausgestellt.

„In einem Spiel mit der ständigen Suche nach wechselnden Perspektiven drückt sich
physisch aus, was die Konzeption vorgibt und die Gestaltung des Museums kongenial
aufgreift: Es gibt keine klare, keine verbindliche und erst recht keine vorgeschriebene
Linie historischer Erkenntnis oder Deutung. Vielmehr sind wir aufgerufen, unseren
eigenen Standort als Ausgangspunkt für die Bewertung historischer Zusammenhänge zu
begreifen.“6

Die Ambivalenz stellt einen zentralen Schlüsselbegriff für die gesamte Dauer-
ausstellung dar. Zahlreiche Exponate werden aus unterschiedlichen Perspektiven
beleuchtet, so dass Multiperspektivität im Militärhistorischen Museum der
Bundeswehr gegeben ist. So sehen die Besucherinnen und Besucher ein

3Vgl. Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr.

Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011, S. 24 -25.


4Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Aus-

stellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011, S. 25.


5Vgl. Grün, Simone: Militär und Technologie, In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-

historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011,


S. 106.
6Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Militärhistorisches Museum der Bundeswehr: Aus-

stellung und Architektur. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011, S. 18.


166 C. Düring

Gemäldepaar des französischen Künstlers Nicholas Edward Gabé. Darauf ist


ein und dieselbe Barrikade der Revolution in Paris 1848 zu sehen, jedoch ein-
mal aus der Sicht der Soldaten und einmal aus der Perspektive der aufständischen
Bevölkerung.7 Diese Widersprüchlichkeit aber auch die Vielfalt der Wirklichkeit,
ausgehend von der Position in der Historie, wird immer wieder in der Dauer-
stellung des Museums gezeigt. Es wird für die Besucherinnen und Besucher
erkennbar, dass es immer mehrere Perspektiven auf ein historisches Ereignis oder
Geschehen gibt.

2 Veranstaltungen

Mit Hilfe von Abendveranstaltungen unter dem Leitspruch „Forum Museum“


schafft das Haus eine Plattform für öffentliche Diskussionen zu aktuell politischen
Themen oder es wird der gegenwärtige Bezug zu historischen Ereignissen auf-
gegriffen und debattiert. Die Besucher und Besucherinnen haben bei freiem Ein-
tritt die Möglichkeit, hochkarätige Gäste zu erleben und mit diesen Experten in
Diskussion zu treten. Die Liste der bisherigen Abendveranstaltungen ist lang und
von den inhaltlichen Themen sehr unterschiedlich.
Unter anderem lud das Militärhistorische Museum zum Vortrag des renommierten
Historikers Professor Bernd Wegner ein. Dieser setzte sich mit der Frage aus-
einander, wann denn eigentlich der Zweite Weltkrieg begann. Hierbei zeigte der
Spezialist für Militärgeschichte eine noch kaum bekannte globale Perspektive auf das
Geschehen.
In Zusammenarbeit mit dem Kulturhauptstadtbüro Dresden 2025 kam es zum
Vortrag: "Was Gesellschaften zusammenhält", wobei der amerikanische Soziobio-
loge Mark Moffett seine Ergebnisse aus Psychologie, Soziologie und Anthropo-
logie zur Klärung der Frage vorstellte. Moderiert wurde die Veranstaltung im
MHM vom Kurator der Dresdner Kulturhauptstadtbewerbung, Michael Schind-
helm.
Neben Vorträgen kam es beispielsweise zur Buchvorstellung vom Autor und
Historiker Ronny Heidenreich. Dieser präsentierte gemeinsam mit seinem Verleger
Christoph Links das Buch: Die DDR-Spionage des BND – Von den Anfängen
bis zum Mauerbau. Seine Arbeit ist eine der neusten Veröffentlichungen der
Unabhängigen Historikerkommission zur Untersuchung der Geschichte des BND
nach 1945 bis 1968.
Das MHM orientiert sich bei der Konzeption seiner Veranstaltungen an
aktuellen Debatten, Forschungsergebnissen sowie Jahrestagen und Jubiläen.

7Vgl.Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr.


Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011, S. 24.
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden 167

3 Geschichte der Bundeswehr/Historische Bildung

Das Haus möchte den Besucherinnen und Besuchern das Soldatenleben sowie die
Bundeswehr an sich und ihre Einsätze näherbringen. Da es sich bei der Bundes-
wehr um eine Parlamentsarmee handelt, werden beispielsweise die Abstimmungs-
karten von Angela Merkel und Gerhard Schröder für die Entscheidungsverfahren
im Bundestag ausgestellt. Die Beteiligung der Bundeswehr in Afghanistan wurde
vom Deutschen Bundestag in zwei Abstimmungen im November und Dezember
2001 auf Antrag des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder durchgeführt.
Am 22. Dezember 2001 entschied der Bundestag mit großer Mehrheit, dass die
Bundeswehr sich an der ISAF-Friedensmission der Vereinten Nationen (UN)
in Afghanistan beteiligen wird. Die Aufgabe der deutschen Soldatinnen und
Soldaten sollte es sein, die afghanische Regierung beim Wiederaufbau des Landes,
aber auch bei der Stabilisierung der Sicherheit zu unterstützen. Damals wurden
581 Stimmen abgegeben, von denen 538 der Abgeordneten mit Ja votierten und
35 mit Nein. Acht der Abgeordneten enthielten sich der Abstimmung. Für die
Mission sprachen sich neben der SPD, das Bündnis 90/Die Grünen, die FDP und
die Union aus. Die meisten Gegenstimmen kamen aus den Reihen der PDS.
In diesem Kontext wird ein bei einem Anschlag in Kunduz angesprengtes
Kraftfahrzeug vom Typ Wolf aus dem Jahr 2004 ausgestellt. Am 27. November
2004 explodierte ein ferngezündeter Sprengsatz neben einer Bundeswehr-
Patrouille in der Nähe des Flughafens von Kunduz (Afghanistan).8

„Nach weiteren Anschlägen auf die Bundeswehr in Afghanistan wies der damalige Bundes-
verteidigungsminister Franz Josef Jung im Jahr 2006 an, Patrouillenfahrten ausschließlich
mit geschützten Fahrzeugen durchzuführen. Seitdem waren in Afghanistan fast nur noch
die besser gepanzerten Modelle Wolf MSS9 und Wolf MSA10, neben anderen gepanzerten
Radfahrzeugen wie Dingo und Fennek, eingesetzt. Aber auch in den Folgejahren wurden
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bei Anschlägen verletzt oder getötet.“11

Den Besucherinnen und Besuchern wird mittels dieser Vitrine nicht nur gezeigt,
dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee  ist, sondern dass auch ihre Einsätze
für die Soldatinnen und Soldaten lebensgefährlich sind.
Das MHM setzt sich durch die Darstellung der aktuellen Einsätze der Bundes-
wehr gleichzeitig mit der gegenwärtigen Geschichte des deutschen Militärs aus-
einander. Unter anderem wird der Einsatz in Mali und das Karfreitagsgefecht von

8Vgl. Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): 60  Jahre Bundeswehr. Ausstellungskatalog.


Dresden: Sandstein Kommunikation 2015, S. Jahr 2004.
9MSS: modularer Splitterschutz, d. h. die Fahrzeuge werden mit Stahlplatten gegen Splitter oder

Schützenabwehrminen geschützt.
10MSA: modulare Schutzausstattung, d. h. die Fahrzeuge wurden mit angepassten Schutzplatten

sowie Panzerglas versehen.


11Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): 60 Jahre Bundeswehr. Ausstellungskatalog. Dresden:

Sandstein Kommunikation 2015, S. Jahr 2004.


168 C. Düring

2010 in Afghanistan thematisiert. Des Weiteren zeigt das Museum die Uniform
eines Soldaten, der als einer der letzten seinen Wehrdienst leistete, nachdem
diese zum 01. Juli 2011 nach 55 Jahren ausgesetzt worden war. Die Vielfalt der
Bundeswehr, ihre Tradition und Geschichte bilden den Schwerpunkt der dritten
Chronologie. Aber auch die internationale Sicht auf die Einsätze und deren Folgen
werden durch eine Fotocollage des amerikanischen Fotojournalisten und Kriegs-
berichterstatter James Nachtwey, aus amerikanischen Kriegslazaretten im Irak,
gezeigt. Diese kurze Vorstellung der Ausstellung macht ersichtlich, dass das MHM
Dresden als Lehreinrichtung von der Offizierschule des Heeres aber auch von
zivilen Schulen genutzt werden kann, um ein umfangreiches Bild von der Bundes-
wehr, aber auch der deutschen Militärgeschichte zu erlangen.

4 Pädagogische Vitrinen

Museen haben den Anspruch, Geschichte erfahrbar und damit auch leichter verständ-
lich sowie greifbarer für die Besucher zu machen. Häufig beschränken sie sich dabei
auf optische und auditive Hilfsmittel. In der Dauerausstellung wurden mit Hilfe von
25 Stationen spezielle Lernstationen geschaffen, die zur Interaktion einladen.

„Das Angebot richtet sich insbesondere an Besucherinnen und Besucher, die die Aus-
stellung gemeinsam mit Kindern erkunden wollen, denn hier dürfen und sollen sie sogar
die Dinge anfassen und selbst tätig werden.“12

Aber auch die Erwachsenen dürfen sich gern selbst probieren. So beschäftigt
sich eine Vitrine mit dem Schuhwerk von Soldaten der Napoleonischen Kriege
und vermittelt so einen Einblick in ihren Alltag. Auf einer Europakarte können
die Besucher deren Marschstrecke über mehrere Tausend Kilometer nachvoll-
ziehen. Diese körperlichen Strapazen mussten die damaligen Soldaten in Schuhen
bestehen, die nicht an die Fußform angepasst waren. Aus Kostengründen waren
rechter und linker Schuh gleich geformt, was zahlreiche Fußleiden bewirkte.
Der außerschulische Lernort Museum hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass
Geschichte erfahrbar und somit für die Besucherinnen und Besucher verständ-
licher wird.

„Eine von der Geruchsforscherin Sissel Tolaas entwickelte Station zum Geruch des
Krieges und des Todes für das Kabinett zum Grabenkrieg im Chronologieteil »1914–
1945« erinnert daran, dass Krieg eine Erfahrung ist, die sich dem Menschen in alle Sinne
brennt. Er hört, schmeckt, riecht, sieht und spürt die Gewalt. Gerüche verbinden sich im
Gedächtnis des Menschen mit angenehmen, aber auch traumatischen Erfahrungen.“13

12Stilidis, Avgi: Museumspädagogik. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-

historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation


2011, S. 39.
13Stilidis, Avgi: Museumspädagogik. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-

historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation


2011, S. 40–41.
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden 169

Da sich der Erste Weltkrieg vom Bewegungs- zum Stellungskrieg entwickelte,


lagen die Soldaten tagelang im Schützengraben oder Bombentrichtern. Dort
konnten sie dem Verwesungsgestank von toten Soldaten und Tieren nicht ent-
kommen. Die Besucherinnen und Besucher erfahren diesen Geruch und können
sich ein Stück in die Situation der Soldaten hineinversetzen.
Die Exponate sowohl in den Vitrinen als auch in den pädagogischen Stationen
stehen in einem historischen, kulturellen und politischen Kontext. Dieser wird den
Besucherinnen und Besuchern beim selbstständigen Experimentieren immer wieder
nähergebracht. Das Militärhistorische Museum bietet des Weiteren die Möglich-
keit, sich die Ausstellung in Form von Führungen zu erschließen. Hierzu können
öffentliche Rundgänge zu unterschiedlichen Themen oder Gruppenführungen nach
Anmeldungen und Absprachen wahrgenommen werden. Außerdem kann sich der
Besucher mittels eines Multimedia-Guides, welcher ständig erweitert wird, die
Ausstellung in verschiedenen Sprachen selbst erschließen.

5 Bedeutung für Soldaten

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr bildet die Geschichte der


Soldatinnen und Soldaten ab. Da die Bundeswehr seit dem 12. November 1955
existiert, ist es nicht verwunderlich, dass sie auf eine lange Traditions- und Ein-
satzgeschichte sowie Katastrophenhilfe zurückblicken kann. In Erinnerung bleibt
die Hilfe bei der schweren Sturmflut in Norddeutschland 1962. Helmut Schmidt,
zum Zeitpunkt Polizeisenator und ab Juni 1962 Innensenator, bat zahlreiche
militärische Oberbefehlshaber um Unterstützung. Die Beteiligung der Bundeswehr
war jedoch zum damaligen Zeitpunkt verfassungswidrig, da laut dem Grundgesetz
keine Aufgaben im Inneren übernommen werden durften. Helmut Schmidt erklärt
später, dass es sich um einen übergesetzlichen Notstand handelte und jede Minute
zählte, da mehr als zehntausend Menschen sich in höchster Gefahr befanden.
Nachdem die Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 vom Deutschen Bundestag
beschlossen wurden, stellt der Einsatz der Bundeswehr beim Inneren Notstand
und bei der Katastrophenhilfe kein Problem mehr dar. Aus diesem Grund war
die Hilfe bei der Oderflut (1997) nicht mehr verfassungswidrig. Auch beim Elbe-
Hochwasser in den Jahren 2002 und 2013 half die Bundeswehr. Diese Hilfsein-
sätze werden in der jüngeren Geschichte der Bundeswehr in der Dauerausstellung
mit abgebildet. Daneben gibt es die Uniformvielfalt oder aber Erinnerungsstücke
aus den Auslandseinsätzen. Mit dieser Zeitepoche können sich die Soldatinnen
und Soldaten identifizieren, da sie sie teilweise auch selbst an diesen Einsätzen
beteiligt waren. Aus diesem Grund schenken die Kameradinnen und Kameraden
dem Museum Exponate mit der Bitte, diese den Besucherinnen und Besuchern zu
zeigen. Es sind teilweise private Objekte, wie Postkarten, die aus dem Einsatzort
nach Hause geschickt worden sind oder die man beispielsweise in Afghanistan
oder Kosovo erhielt. Des Weiteren werden dienstliche aber auch private Gegen-
stände dem Haus übergeben, die im Einsatz beziehungsweise im Dienst nützlich
waren oder eine ganz bestimmte Geschichte der Bundeswehr erzählen. So zum
170 C. Düring

Beispiel die Pilotenkombination von Frau Leutnant Ulrike Flender, die die erste
Kampfjetpilotin der Bundeswehr war. Das Grundgesetz erlaubte zunächst keinen
Dienst von Frauen. 1975 öffnete man zunächst die Laufbahn der Offiziere im
Sanitätsdienst für die Damen, die bereits Ärztinnen oder Apothekerinnen waren.
1991 konnten sie alle Laufbahnen im Sanitäts- aber auch im Militärmusikdienst
einschlagen und 1992 förderte man auch Spitzensportlerinnen. Seit 2001 können
Frauen alle Laufbahnen der Streitkräfte einschlagen.
Es wird ersichtlich, dass das Militärhistorische Museum der Bundeswehr
nicht nur die facettenreiche Militärgeschichte an sich abbildet, sondern auch die
der Soldatinnen und Soldaten. Das Leben als Soldat und den damit verbundenen
Gefahren im Einsatz sollen den Besucherinnen und Besuchern neben der Historie
der Bundeswehr nähergebracht werden.

6 Vielfalt im Museum und pädagogische Angebote

Zu allen Sonderausstellungen sowie zur Dauerausstellung gibt es Vermittlungs-


angebote speziell für Schulen und Familien. Darüber hinaus werden an aus-
gewählten Terminen besondere Programmangebote im Rahmen der Schulferien, am
Internationalen Museumstag oder auch in der Dresdner Museumsnacht angeboten.
Die Museumspädagogik, als Teilbereich des Bereichs Ausbildung, bietet
darüber hinaus zahlreiche Führungen für unterschiedliche Altersstufen und Schul-
typen zu verschiedensten Schwerpunkten an. Bereits die Kleinen im Hort- und
Grundschulalter können das Militärhistorische Museum der Bundeswehr  in
Dresden besuchen. Unter dem Motto „Das möchte ich dir vom Museum zeigen“
werden in einer dialogorientierten Führung die Kinder durch das Haus begleitet
und erhalten einen Überblick über die zahlreichen Ausstellungsstücke. Dabei
wird den Fragen und Gedanken der Kinder viel Raum gegeben. Zum Abschluss
fassen sie ihre Eindrücke zusammen, indem sie diese auf einem Bild sammeln.
Das gezeichnete Werk nehmen sie mit nach Hause. Dadurch kann ihre Familie
sehen, was sie ihnen aus dem Museum zeigen möchten. Des Weiteren wäre ein
individueller Projekttag mit den Kleinen im Haus möglich. Das geschulte Personal
der Museumspädagogik geht auf die Wünsche der Verantwortlichen ein.
Für die Schülerinnen und Schüler ab der fünften Klasse gibt es ein umfang-
reicheres Angebot an Möglichkeiten. Zu der aktuellen Sonderausstellung wird
immer eine Führung für die jeweilige Alterstufe angeboten.
Ab der Klassenstufe sieben bis dreizehn bietet sich die Überblicksführung
„Love & Hate“ an. Hier werden bei einem Rundgang, der im Schwerpunkt durch
den keilförmigen Neubau führt, bestimmte Themen wie Militär und Technologie
oder Tiere beim Militär besprochen. Für die Jugendlichen sind die Sichtweisen
verblüffend, da sie diese eher weniger mit dem Militär in Verbindung setzen.
Gerade der Tier-Catwalk im ersten Obergeschoss des Museums regt die Jugend-
lichen zum Nachdenken, gerade auf einer sehr emotionalen Ebene, an (Abb. 1).
Zu sehen sind unter anderem ein Elefant, ein Löwe, eine Brieftaube, ein
Schaf, ein Dromedar, ein Pferd und vieles mehr. Auf den ersten Blick sind die
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden 171

Abb. 1  Tier – Catwalk im MHM. (© David Brandt)

Besucherinnen und Besucher der Meinung, dass hier die biblische Geschichte der
„Arche Noah“ nachgestellt wird. Erst bei der detaillierten Beschäftigung mit den
Tieren fällt auf, dass diese dem Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen
dienten.

„Viele der hier ausgestellten Tiere sind vom Kriegseinsatz gezeichnet, einige wurden ver-
wundet, andere fanden den Tod. Schon in der Antike werden Tiere vom Menschen auf
unterschiedlichste Weise als Hilfsmittel im Krieg eingesetzt. Als Lastentier transportieren
sie Waffen, Soldaten und Verpflegung an abgelegene Orte, die nur zu Fuß zu erreichen
sind.“14

Hunde übernahmen beim Militär sehr vielfältige Aufgaben, so gab es Sani-


tätshunde, Meldehunde oder Fallschirmhunde. Am auffälligsten ist jedoch der
Panzersprenghund, wie er auf dem sogenannten Catwalk ausgestellt ist. Erstmals
wurden die Tiere von der Roten Armee 1942 als solche genutzt, um die Fahrzeuge
der Wehrmacht zu zerstören. Dafür wurde den Tieren die Futtersuche unter dem
Panzer antrainiert. Die Hunde waren mit einer Sprengladung auf dem Rücken aus-
gestattet. Nun krochen sie unter die Fahrzeugbodenwanne, wodurch mittels eines
Kipphebels die Sprengladung ausgelöst wurde. Der Panzer war zerstört, jedoch

14Geißler, Andreas: Tiere beim Militär. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-

historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation


2011, S. 90 – 91.
172 C. Düring

kam dabei auch der Hund ums Leben. Die  Schülerinnen und Schüler können
diese Nutzung kaum fassen und diskutieren an dieser Station sehr lebhaft über
einen solchen Einsatz von Tieren. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Minenräum-
Schaf. Auf dem Catwalk befindet sich ein Schaf mit drei Beinen. Tiere werden
seit der Nutzung von Personenminen zum Räumen eingesetzt. Bei der Landung
der Alliierten Kräfte in der Normandie im Juni 1944 wurden Schafe vor den
Soldaten hergetrieben, um die Minenfelder zu räumen. Das britische Militär nutzte
auch im Falkland-Krieg 1982 diese Tiere. Damals kamen Minen mit Plastik-
ummantelung, SB-33, zum Einsatz, welche mit herkömmlichen Räumgerät des
Militärs nicht beseitigt werden konnten. Aus diesem Grund wurden die Schafe als
Notmaßnahme über vermintes Feld getrieben, um somit den Weg für das britische
Militär frei zu räumen. Noch heute gibt es auf den Falklandinseln 117 verminte
Felder. Man geht davon aus, dass bis zu 20 000 Landminen noch versteckt sind,
die es heute mit Robotern zu entschärfen gilt.
Neben dieser Überblickführung gibt es die Möglichkeit, dass geführte
Erkundungen und Workshops im Museum durchgeführt werden. Themenkomplexe
wie „Geschichte entdecken“, „Erster Weltkrieg“, „Biografien im Nationalsozialis-
mus“, „Bundeswehr im Einsatz“ oder „Militär und Gesellschaft“ werden dabei
bearbeitet. Die Angebote sind meist ab der siebten Klasse umsetzbar. Bei den
Workshops arbeiten die Schülerinnen und Schüler selbstständig in Arbeitsgruppen,
nachdem es eine Kurzführung im Themenparcours gab. So beispielsweise bei
„Bundeswehr im Einsatz“.

„Nach einer Einführung in den Ausstellungsbereich „Bundeswehr seit 1990“ arbeiten die
Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen an Exponaten, die aus Einsätzen im In-
oder Ausland stammen. Im gemeinsamen Rundgang werden die Ergebnisse präsentiert.“15

Die Jugendlichen lernen bei diesem Workshop nicht nur die Hintergründe der
Bundeswehr und ihre Einsätze kennen, sondern diskutieren auch über das Für und
Wider dieser Missionen.
Da das Militärhistorische Museum als außerschulischer Lernort genutzt werden
kann, bietet es neben diesen Workshops auch die klassischen Epochenführungen
an, bei denen sich die Inhalte an den Lehrplänen orientieren. Hier können die
Lehrerinnen und Lehrer zwischen folgenden Angeboten wählen: Das lange
19. Jahrhundert, Erste Weltkrieg, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg,
Zeitalter der Weltkriege 1914 – 1945, Kalter Krieg in Deutschland – Bundeswehr
und NVA bis 1990, Von der „Armee der Einheit“ zur „Armee im Einsatz“ – Die
Bundeswehr seit 1990. Es wird erkennbar, dass es eine Vielzahl an Varianten gibt,
dass Haus für den Geschichts- oder Politikunterricht zu nutzen. Sollte keines der
Angebote die Pädagoginnen und Pädagogen ansprechen, so können individuelle
Absprachen getroffen werden.

15Militärhistorisches
Museum Dresden: Bildungsangebote für Schulen. www.mhmbw.de/media/
documents/Schulklassen/Angebote_fuer_Schulklassen.pdf (09.06.2020).
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden 173

Das Militärhistorische Museum als Dienststelle der Bundeswehr ist aber


nicht nur für Öffentlichkeit da. Im Rahmen der gesetzlichen vorgegebenen
„Historischen-politischen Bildung“ für Soldatinnen und Soldaten leistet das
Museum einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung dieser Aufgaben für viele
Dienststellen der Bundeswehr. Zusätzlich ist das Museum elementarer Bestand-
teil in der Ausbildung von Feldwebel- und Offizieranwärtern in der Vorbereitung
auf ihre spätere Führungsaufgabe. In Workshops oder Führungen werden die
Soldatinnen und Soldaten unter anderem im Bereich „Tradition der Bundes-
wehr“ geschult. Aber auch die Geschichte der Armee oder die Militärgeschichte
an sich, können umfangreich im Haus beleuchtet werden. Der Bereich Ausbildung
konzipiert auch nach den thematischen Vorstellungen der anderen Dienststellen
ein- oder mehrtägige Seminare für die historisch-politische Bildung, welche dann
im Museum durchgeführt werden.
Die Bundeswehr selbst unterhält aber nicht nur das MHM Dresden und dessen
auf die Geschichte der militärischen Luftfahrt in Deutschland konzentrierte
Außenstelle in Berlin-Gatow. Das Museum bespielt auch das Alte und Neue Zeug-
haus auf der Festung Königstein in der Sächsischen Schweiz. In mehr als um die
100 Standorte in der Bundesrepublik werden mehr oder weniger umfangreiche
Lehrsammlungen, Militärgeschichtliche Sammlungen und regionale Ausstellungen
für die „Historisch-politische Bildung“ der Angehörigen der Streitkräfte sowie
für die Öffentlichkeit betrieben. Das MHM betreut und berät diese Ausstellungen
und Sammlungen, und bildet das Personal dieser Einrichtungen weiter. Mit einer
museumsfachlichen Jahrestagung bietet das MHM auch eine Plattform für den
Erfahrungsaustausch zwischen den Ausstellungen und Sammlungen der Bundes-
wehr.

7 Kooperationen mit der philosophischen Bildung

Es existiert kein ausgearbeitetes Angebot, dass speziell auf Ethik- oder Philo-
sophieklassen zugeschnitten wurde. Allerdings dürften die bisherigen Aus-
führungen zahlreiche thematische Überschneidungen verdeutlicht haben.
Anthropologisch handelt es sich um die Frage ob Gewalt, Aggression und Krieg
in der Natur des Menschen liegen. Der Streit um die Möglichkeit eines gerechten
Krieges und einer legitimen Kriegsführung zählt seit Cicero zum Kanon der
Praktischen Philosophie. Die Utopiekritik fragt ob ein globaler, dauerhafter
Frieden als naive Träumerei oder als realpolitische Möglichkeit angesehen werden
sollte. Zudem hilft philosophische Analyse und Begriffsarbeit dabei, Diskussionen
zu fokussieren und Missverständnisse zu vermeiden. Beispielsweise wäre zu
klären, ob unter einem „Ewigen Frieden“ eine konfliktfreie Welt oder eine gewalt-
freie Weltpolitik im Sinne Kants verstanden werden soll. In den letzten Jahren
haben wiederholt Studierende der Philosophie im Militärhistorischen Museum
gearbeitet und unter Anleitung von Professor Tiedemann Unterrichtseinheiten für
unterschiedliche Klassenstufen der Fächer Philosophie und Ethik erstellt. Eine
Fortführung der Kooperation wäre wünschenswert.
174 C. Düring

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden bietet eine Viel-


zahl an Möglichkeiten, um als außerschulischer Lernort genutzt zu werden. Man
möchte den Besucherinnen und Besuchern den multiperspektivischen Blick auf
historische Ereignisse vermitteln und an Hand wechselnder Sonderausstellungen
die neuen Erkenntnisse der Forschung abbilden. Ein Besuch lohnt sich.

Literatur
Geißler, Andreas: Tiere beim Militär. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation
2011.
Grün, Simone: Militär und Technologie, In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation
2011.
Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Aus-
stellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011.
Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Militärhistorisches Museum der Bundeswehr: Ausstellung
und Architektur. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011.
Pieken, Gorch: 40,1°. Architektur. Dresden: Sandstein Kommunkation 2013.
Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): 60 Jahre Bundeswehr. Ausstellungskatalog. Dresden:
Sandstein Kommunikation 2015.
Stilidis, Avgi: Museumspädagogik. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation
2011, S.
Von Prittwitz und Gaffron, Christian-Wilhelm: 100 Jahre Museum im Dresdner Arsenal (1897–
1997). Eine Schrift zum Jubiläum. Manuskriptdruck. Dresden: Selbstverlag München 1997.

Internet

Militärhistorisches Museum Dresden. www.mhmbw.de (09.06.2020).


Militärhistorisches Museum Dresden: Bildungsangebote für Schulen. www.mhmbw.de/media/
documents/Schulklassen/Angebote_fuer_Schulklassen.pdf (09.06.2020).
Theaterpädagogik am
Staatsschauspiel Dresden
Bettina Seiler und Marie Hahn

Zusammenfassung

Wie kann eine Verknüpfung von Theaterpädagogik und Philosophiedidaktik


gewinnbringend realisiert werden? Die Potenziale der Künste – hier im
Besonderen das Theaterschauen und -spielen – scheinen für den Ethik- und
Philosophieunterricht immer noch nicht umfassend untersucht und aus-
geschöpft. Am Beispiel des außerschulischen Lernorts Staatsschauspiel
Dresden erkundet dieser Beitrag Möglichkeiten und Grenzen eines theatral
gestalteten Philosophierens. Vorgestellt werden theaterpädagogische Übungen
und philosophische Anschlüsse zum Stückbeispiel HOOL.

Schlüsselwörter

Theater · Theaterpädagogik · Staatsschauspiel · Hool

B. Seiler (*) 
Staatsschauspiel Dresden, Dresden, Deutschland
E-Mail: bettina.seiler@staatsschauspiel-dresden.de
M. Hahn 
TU Dresden, Dresden, Deutschland

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 175
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_9
176 B. Seiler und M. Hahn

1 Das Staatsschauspiel Dresden als außerschulischer


Lernort

26 Schüler*innen einer siebten Klasse aus einem Dresdner Gymnasium stehen


dicht gedrängt auf der Bühne des Schauspielhauses. Sie tuscheln und kichern.
Plötzlich ertönt ein kurzes, schrilles Klingelzeichen und das erste der drei
Bühnenpodien – genau das, auf dem die Jugendlichen stehen – beginnt sich zu
bewegen. Es geht abwärts. Knapp elf Meter. Die Schüler*innen stehen ganz still
und genießen stumm und staunend diese ungewöhnliche Fahrt sowie die über-
raschenden Einblicke in die Unterbühne. Doch auch ein Blick nach oben lohnt
sich. Der Schnürboden des Theaters scheint unerreichbar weit weg zu sein. Der
bühnentechnische Leiter ruft dem Maschinisten zu, dass er das Podium wieder
auf Bühnenniveau fahren möge. Vorbei geht es an Regalfächern, in denen Zargen
sowie Teile der Drehscheibe gelagert werden, und an Türen in der Portalwand,
die scheinbar ins Nichts führen. Die Jugendlichen sind begeistert und ihre Neu-
gierde ist geweckt. Geduldig beantwortet der Bühnentechnikexperte die Fragen
der Schüler*innen, bevor er sie – freundlich, aber bestimmt – wieder von der
Bühne schickt. Die Probe muss vorbereitet und Teile der Dekoration hinter den
Absperrungen müssen noch zusammengebaut werden.
Die Klasse wird in den verbleibenden siebzig Minuten der Führung durch das
Schauspielhaus das Gebäude, seine Geschichte, die architektonischen Besonder-
heiten sowie Theaterberufe und Arbeitsabläufe in einem Repertoiretheater kennen-
lernen. Wie die denkmalgeschützten bühnentechnischen Anlagen funktionieren,
haben die Schüler*innen gerade live erfahren, im Deutschunterricht am
außerschulischen Lernort.

„Kurze Zeit später stehen wir mit vielen neuen Eindrücken wieder vor dem Bühnen-
eingang des Schauspielhauses. Die Sonne scheint und das Eis schmilzt langsam. Die
Schüler sehen das Gebäude auf einmal wie aus anderen Augen. Jetzt sieht es nicht mehr
nur wie ein riesiger weißer Betonklotz aus, sondern es wirkt einladend, lebhaft und
voller Geschichte. Die ganze Klasse hofft, dass sie es bald mal wieder besucht und die
Menschen und Dinge, über die sie heute so viel gelernt haben, im Einsatz sehen kann.“1

Die Theaterpädagog*innen des Staatsschauspiels Dresden laden mit einem breiten


Spektrum an Vermittlungsangeboten Lehrkräfte und Kulturvermittelnde dazu ein,
das Theater für sich und Schüler*innen als außerschulischen Lernort zu entdecken
und die Institutionen Schule und Theater miteinander zu vernetzen.

„Bildung, soziale Kompetenz und Kultur sind die Ressourcen zukunftsfähiger Gesell-
schaften. Kulturelle Bildung ist eine Grundvoraussetzung, um Gemeinschaftsfähigkeit –
entgegen der wachsenden Skepsis am Gemeinwesen – neu zu entwickeln. Deshalb

1Hinter den Kulissen: Mehr als eine Führung. Auszug aus der Reportage einer Deutschklasse
über den Besuch im Schauspielhaus von Hannah Geyer, Klasse 7/3, Januar 2020.
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 177

wollen wir uns in Zukunft noch intensiver an Schülerinnen und Schüler wenden und die
Angebote des Staatsschauspiels ausbauen. Gemeinsam mit [Lehrer*innen und Kultur-
vermittelnden] möchten wir allen Kindern und Jugendlichen einen offenen Zugang zum
Theater und damit zu Kunst und Kultur ermöglichen. Denn darauf haben sie ein Recht.“2

Das Praxisfeld der Theatervermittlung bietet Anknüpfungspunkte dafür, Themen


und Schwerpunkte der Sächsischen Lehrpläne und Curricula verschiedener Unter-
richtsfächer außerhalb des Schulgebäudes zu untersuchen. Dabei können Kinder
und Jugendliche Erfahrungsräume betreten und erkunden, Forschungsfragen auf-
werfen und herausfinden, was das Theater mit ihnen und ihrer Lebenswelt zu tun
hat. Dabei gilt für das Theater wie für alle außerschulischen Lernorte,

„dass man davon ausgeht, dass die Schüler*innen hier sogenannte ‘Primärerfahrungen‘
machen können: Sie erleben das Theater und die Schauspieler live, sie sind dabei,
wenn eine Zeitung konzipiert und/oder gedruckt wird, sie stehen einem authentischen
Objekt gegenüber, wandeln bei literarischen Spaziergängen auf den Spuren von Schrift-
steller*innen etc. Solche Primärerfahrungen lassen sich jedoch nicht einfach herunter-
brechen auf die Lernziele und Kompetenzbereiche, wie sie – vor allem in kognitiver
Hinsicht – für die Schule formuliert werden. Bezieht man den ‘kulturellen Wert‘ folg-
lich mit ein, dann liegt das Forschungsinteresse nicht mehr allein auf der Erhebung bei-
spielsweise von Vor- und Nachteilen für das Lernen, wie es im fachdidaktischen Kontext
definiert wird. Vielmehr werden dann v.a. in Hinblick auf die Wirkungsforschung
Momente relevant, die in der Schule, zumindest aber in der (fach)didaktischen Forschung,
bislang eine deutlich nebengeordnete Rolle gespielt haben.“3

Wenn Lehrende das Theater als außerschulischen Lernort in die Unterrichts-


planung integrieren wollen, müssen sie den Ort kennen. Deshalb bitten Intendant
Joachim Klement, die Dramaturg*innen und Theaterpädagog*innen des Staats-
schauspiels Dresden Lehrkräfte und Kulturvermittelnde am Ende des aktuellen
Schuljahres ins Theater zur Veranstaltung „Theater trifft Schule“. Im Format des
Speeddatings erhalten Lehrkräfte einen Überblick über Neuproduktionen der
nächsten Saison, immanente Themen und Altersempfehlungen sowie alle ver-
mittelnden Angebote der Theaterpädagogik, die sie dazu einladen, das Theater als
außerschulischen Lernort immer wieder oder ganz neu zu entdecken. Auf diese
Art werden Hemmschwellen abgebaut, die Lehrpersonen haben die Möglich-
keit, Fragen zu formulieren, Kontakte zu knüpfen und konkrete Absprachen im
Hinblick  auf die Zusammenarbeit mit den Theaterschaffenden zu treffen. Zum
Beispiel dafür, als Premierenklasse oder -kurs den Entstehungsprozess einer

2Klement, Joachim: Theater und Schule. Staatsschauspiel Dresden, Spielzeit 2017/2018. https://

www.staatsschauspiel-dresden.de/download/9962/broschuere_theater_und_schule_web.pdf
(Stand: 17.05.2020), S. 1.
3Hoffmann, Anna Rebecca: Außerschulische Lernorte. Unter besonderer Berücksichtigung von

Museen als außerschulische Lernorte. In: Ballmann, Jan (Hrsg.): Empirische Forschung in der
Deutschdidaktik. Bd. 3, Forschungsfelder. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
(2018), S. 130.
178 B. Seiler und M. Hahn

Inszenierung zu begleiten. Hier werden die Jugendlichen zu Partner*innen einer


Produktion, besuchen Proben, treffen Schauspieler*innen und das Regieteam und
reflektieren das Gesehene am außerschulischen Lernort. Die Dramaturg*innen und
Theaterpädagog*innen vertiefen diese Begegnungen im Rahmen von thematischen
Workshops und regen den Gedankenaustausch mit den Schüler*innen an.
Höhepunkt ist der Besuch der Premiere.
Im Format „Vorschau“ können Lehrende und Kulturvermittelnde alle Neu-
produktionen „testen“, um zu entscheiden, ob ein Besuch der Aufführung mit
Schüler*innen den Fachunterricht Impulse und vertiefende Momente bietet.
Konzeptionelle Ansätze, Spielweisen oder ästhetische Besonderheiten der
Inszenierungen fokussieren die Theaterpädagog*innen und Dramaturg*innen mit
interessierten Lehrer*innen in ergänzenden Fortbildungseinheiten im Theater.
Ein wichtiges Anliegen des Staatsschauspiels Dresden ist es, Lehramts-
studierenden sowie Referendar*innen bereits im Rahmen der Ausbildung das
Theater als außerschulischen Lernort nahezubringen. In Zusammenarbeit mit
Fachausbildungsleiter*innen verschiedener Fächer werden entsprechende Fach-
tage geplant. In Anlehnung an den Besuch einer Inszenierung des Theaters
fokussieren die Theaterpädagog*innen mit den angehenden Lehrer*innen
Möglichkeiten der spielpraktischen Auseinandersetzung mit immanenten Themen
oder Schwerpunkten der jeweiligen Produktion und erproben theaterpädagogische
Methoden, die die Lehrer*innen auf ihren Fachunterricht übertragen können.
Dabei reicht das fachliche Spektrum weit über die Deutschdidaktik hinaus bis hin
zu Physik und Mathematik. Seit der Spielzeit 2018/2019 bietet das Staatsschau-
spiel Dresden in Kooperation mit der TU Dresden ein Seminar zum theatralen
Philosophieren an. Lehramtsstudierende der Fächer Ethik und Philosophie gehen
in diesem Seminar mit Theaterschaffenden auf eine fachorientierte ästhetische
Forschungsreise. Sie erkunden am außerschulischen Lernort, welche philo-
sophischen Fragen ausgewählte Inszenierungen aufwerfen und welche Methoden
sich eignen, diese mit Schüler*innen im Fachunterricht zu generieren und spiel-
praktisch zu vertiefen. Die Erkenntnisse werden sowohl auf wissenschaftlich-
didaktische Diskurse als auch auf die Planung konkreter Unterrichtseinheiten
übertragen. Das Seminar bietet somit nicht nur Inspiration für neue Perspektiven
in der Unterrichtsgestaltung – die Studierenden erhalten hier die Chance, das
gewinnbringende Moment einer Verknüpfung von Theaterpädagogik und Philo-
sophiedidaktik kritisch zu hinterfragen und praktisch zu überprüfen. Diese
Debatte, die der Frage nach dem Mehrwert des Theaters für das Philosophieren
nachgeht, soll im Folgenden kurz aufgezeigt werden.

2 Theatrales Philosophieren – ein Überblick


„Die Schönheit, als Consummation seiner Menschheit, kann also weder ausschließend
bloßes Leben seyn, wie von scharfsinnigen Beobachtern, die sich zu genau an die
Zeugnisse der Erfahrung hielten, behauptet worden ist, […] noch kann sie ausschließend
bloße Gestalt seyn, wie von spekulativen Weltweisen, die sich zu weit von der Erfahrung
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 179

entfernten, […] geurtheilt worden ist: sie ist das gemeinschaftliche Objekt beyder Triebe,
das heißt, des Spieltriebs.“4

Im Vorwort zu Hubertus Stelzers Studie Philosophieren im Theater? hält Markus


Tiedemann fest, wie Theater(-spielen), das stark mit Sinnlichkeit und emotionaler
Überrumpelung verknüpft ist, und Philosophie, die sich wiederum durch Distanz
und Abstraktion auszeichnet, in ihrem Bildungsziel der Aufklärung aufeinander-
treffen.5 Die Aufklärung als Prozess hin zu einer „mündigen Orientierung [des
konkreten Menschen] in seiner Lebenswelt“6 umfasst mehr als nur abstrakte
Begriffe und Kategorien: „Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich
zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine
Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).“7
Theatrale Elemente können die intellektuelle Arbeit des Philosophierens um
sinnliche Erfahrung, d. h. um Emotions-, Körper- und Subjektbezug ergänzen.8
Darüber hinaus weist Volker Steenblock auf das allgemeine „gedankliche und
reflexive Potential der Künste“ hin, die in ein „Interaktionsverhältnis“9 mit der
Philosophie treten können. Im Hinblick auf diesen unbestrittenen Berührungs-
punkt ist es grundsätzlich sinnvoll, den Chancen des Theaters bzw. der Theater-
pädagogik für den Philosophie- und Ethikunterricht nachzugehen.
Christian Gefert hat mit seiner Didaktik des theatralen Philosophierens
theatrale Formen in den schulischen Philosophie- und Ethikunterricht hinein-
getragen.10 Das theatrale Philosophieren versteht sich als ein Texteröffnungsver-
fahren, „bei dem Philosophierende die Bedeutung eines philosophischen Textes
sowohl im Gespräch argumentierend erörtern als auch theatral verkörpern.“11 Ziel
ist es, an die Stelle einer passiven Wiedergabe bzw. Nachahmung eine embodied
activity zu setzen, in der die Schüler*innen ihre eigenen Lesarten des Textes aktiv

4Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen.

Mit den Augustenburger Briefen. Hg. v. Klaus L. Berghahn. Ditzingen: Reclam (2000), S. 60
(Fünfzehnter Brief).
5Vgl. Tiedemann, Markus: „Vorwort“. In: Stelzer u. Opitz 2017, S. 7–8, hier S. 7.

6Tiedemann 2017, S. 7.

7Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1. Werkausgabe, Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Weischedel.

Frankfurt am Main: Suhrkamp (1974) (=stw; 55), S. 98, KrV B75.


8Vgl. Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Ästhetische und psychosoziale

Erfahrung durch Rollenarbeit. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri Verlag 20084, S. 442–443.
9Steenblock, Volker: Kunst gibt uns zu denken. Philosophieren mit Bildern und Literatur, Oper

und Theater. Bochum, Freiburg: Projektverlag (2015), S. 13.


10Vgl. Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammen-

spiel argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in


philosophischen Bildungsprozessen. Dresden: Thelem (2002) u. vgl. Stelzer u. Opitz (2017),
S. 19.
11Gefert 2002, S. 14–15.
180 B. Seiler und M. Hahn

körperlich umsetzen können.12 Auf diese Weise erhält die sonst im Philosophie-
unterricht stark vernachlässigte Leiblichkeit größere Aufmerksamkeit.13 Gefert
schließt hier an die Symboltheorie Ernst Cassirers und Susanne Langers sowie
an die dekonstruktivistische Theorie Derridas zur Bedeutungsvielfalt von Texten
an und begreift Philosophieren so als „unabschließbare[n] Prozess des Deutens
von Deutungen“14. Die Bedeutungen des philosophischen Textes werden immer
weitreichender artikuliert, wobei die präsentativen Formen das Philosophieren um
solche Aspekte ergänzen können, die nicht allein diskursiv zu erfassen sind.15
Durch das theatrale Philosophieren soll die Subjektseite stärker in den Vorder-
grund treten, d. h. der Unterricht richtet sich nicht nur nach der am fachphilo-
sophischen Diskurs orientierten, von der Lehrperson vorgeschriebenen Deutung,
sondern vielmehr auch nach den besonderen Vorstellungen der Schüler*innen zu
der Bedeutung des philosophischen Textes aus. Geferts didaktisches Konzept basiert
auf vier Arbeitsschritten: einer Argumentationsphase, in der die Bedeutungen der
Begriffe und Argumente des Textes diskursiv eröffnet werden,16 einer Vorbereitungs-
phase, die die Schüler*innen für die Arbeit mit theatralen Ausdrucksformen
sensibilisieren soll, einer Erprobungsphase, in der die theatralen Deutungsmodi aus-
probiert und erarbeitet werden sowie einer Reflexionsphase, die einen Außenblick
auf den gesamten Arbeitsprozess sowie auf die mögliche Verknüpfung und Weiter-
entwicklung der verschiedenen Formen schaffen und auf diese Weise synthetisierend
wirken soll.17 Der philosophische Text wird hier als Ausgangspunkt gewählt. In der
Argumentationsphase werden die Schüler*innen

„vom Lehrer aufgefordert, die im Textabschnitt formulierten Begriffe und Argumente dis-
kursiv zu klären, d.h. ihre Vorstellungen von der jeweiligen Bedeutung mit ‚ihren‘ Worten
wiederzugeben. Der Lehrer fordert die Schüler dabei immer wieder dazu auf, konkrete
Beispiele für die abstrakte Bedeutung zu geben, die die verwendeten Begriffe und Argu-
mente veranschaulichen können.“18

Nach diesem Modell wird ein konkreter Zugang zu dem abstrakten Text bereits
vor dem Theaterspiel vorausgesetzt – kommen bei den Schüler*innen keine Vor-
stellungen zu dem Text auf, muss dieser gegebenenfalls verworfen werden.19

12Vgl. Gefert, Christian: „Philosophie als Performance – theatrales Philosophieren in Bildungs-


prozessen.“ In: ZDPE 2 (2019), S. 23–30, hier S. 25.
13Vgl. Gefert 2002, S. 15.

14Gefert 2002, S. 43.

15Vgl. Gefert 2002, S. 89.

16Vgl. Gefert 2002, S. 200.

17Vgl. Gefert 2002, S. 272 u. vgl. ders.: „Theatrales Philosophieren – performatives Denken

in philosophischen Bildungsprozessen“. In: Nida-Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/Tiedemann,


Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Bd. 1, Didaktik und Methodik.Paderborn:
UTB 2015, S. 240–244, hier S. 241–243.
18Gefert 2002, S. 167–168.

19Vgl. Gefert 2002, S. 203.


Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 181

Das Theaterspielen könnte allerdings ebenso Impulsgeber für konkrete Vor-


stellungen sowie für das Generieren philosophischer Fragestellungen über-
haupt sein. Ein solcher Ansatz ist in dem Projekt Wir sind jung. Wir sind stark.
von Stelzer (Philosophiedidaktiker) und Opitz (Regieassistentin) wiederzufinden.
Hier wurde eine professionelle Probenarbeit mit jungen Laiendarsteller*innen
am Münchner Residenz-Theater durch Phasen pragmatisch-dialogischen Philo-
sophierens nach Martens begleitet.20 Parallel zu den Proben haben sich die jugend-
lichen Spieler*innen mit den philosophischen Problemstellungen befasst, die
aus der Stückgrundlage (Textbuch, Film), der Inszenierung und den spezifischen
Rollenprofilen hervorgegangen sind.21 Dieser intensive Prozess, zu dem auch
Zuschauer*innengespräche und Workshops für Schüler*innen und Lehrer*innen
zählten,22 hat die Jugendlichen dazu veranlasst, ihre Positionen ständig zu über-
prüfen und so zu einer begründeten Stellungnahme zu gelangen.23 Das Theater-
spiel ist dabei allerdings nicht nur als einmaliger Denkanstoß zu verstehen:

„Pragmatisch-dialogisches Philosophieren, das von den Künsten ausgeht, dem die Künste
also das zu sehen, sprich zu denken geben, worüber begrifflich-argumentativ erkennend
nachgedacht wird, kann modellhaft im Bild einer hin- und herschwingenden Bewegung
beschrieben werden, die nicht linear von einem sinnlich-intuitiven Ausgangspunkt aus-
gehend sich philosophisch erhebt in den Bereich begrifflicher Abstraktion, sondern
wägend-abwägend sich einlässt in eine gegenseitige Bereicherung der jeweiligen künst-
lerischen bzw. philosophischen Tätigkeit suchender und fragender Vertiefung und Aus-
leuchtung bzw. Erhellung menschlicher Grundfragen.“24

Was fehlt, ist ein Ansatz, der Theaterspielen ebenso wie Stelzer (in Anlehnung an
Steenblock) als Anlass und Entfaltungsraum für philosophische Denkprozesse ver-
steht und dies für den Schulalltag fruchtbar macht. So könnten zuerst (kleinere)
theatrale Übungen stattfinden, die besondere Wahrnehmungen evozieren und Vor-
stellungen anregen, welche die eigenen Denk- und Handlungsmuster überschreiten
können.25 Den sich daraus entwickelnden Unsicherheiten und Fragestellungen
kann dann – nach dem Prinzip eines problemorientierten Unterrichts – wiederum
mit Orientierungsangeboten aus der Fachphilosophie begegnet werden. So weist
auch Marion Hühnerfeld in ihrer Dissertation zu Theaterstücken im Philosophie-
unterricht darauf hin, wie die konkreten Dilemmata der Protagonist*innen

20Vgl. Stelzer, Hubertus: „Auf der Suche nach einem Menschen. Theatrales Philosophieren – ein
Praxisbericht.“ In: ZDPE 2 (2019), S. 71–81, hier S. 71.
21Vgl. Stelzer u. Opitz 2017, S. 16.

22Vgl. Stelzer u. Opitz 2017, S. 16–17.

23Vgl. Stelzer u. Opitz 2017, S. 17–18.

24Stelzer u. Opitz 2017, S. 9.

25Vgl. Weintz 2008, S. 444.


182 B. Seiler und M. Hahn

literarischer Tragödien wichtige Impulse für die Arbeit mit bzw. die Erschließung
von abstrakten philosophischen Texten und Fragestellungen liefern können.26
Als Reaktion auf die allgemeine Verschiebung in den Geisteswissenschaften
hin zu einem performative turn hat sich auch der Begriff des performativen Philo-
sophierens entwickelt.27 Im Zuge dieser Wende werden herkömmliche Formen
des Philosophierens wie z.B. Diskussionen im akademischen Rahmen hinterfragt.
Durch die Erprobung neuer Formate philosophischer Praxis wie Café/Club der
toten Philosophen, Philosophie-Slams oder eben auch theatrales Philosophieren
sollen die situativen und sozialen Voraussetzungen des Philosophierens transparent
gemacht werden.28 Ob eine sprachlich-diskursive Auseinandersetzung bestimmend
ist, um von Philosophieren zu sprechen, oder ob auch rein präsentative Formen
philosophisch sein können, steht zur Debatte. Zentral ist hier Matthias Tichys
Einwand, dass die Philosophie durch diese Öffnung ihre fachspezifischen
Charakteristika und Ziele einbüße.29 Heidi Salaverría, die diese Frage aus der
Perspektive einer pragmatischen Philosophie heraus betrachtet, sieht in dem per-
formativen Philosophieren gerade die Chance, neu zu verhandeln, „was über-
haupt [alles] als Philosophie gelten kann.“30 Die Institution Philosophie bleibe auf
diese Weise lebendig und ihre Grenzen dynamisch. Diese Entwicklungen wirken
sich zunehmend auf das Selbstverständnis philosophischer Bildungsprozesse aus.
Gefert und Stelzer vertreten beide den Standpunkt eines erweiterten Rationali-
tätsparadigmas, nach dem auch präsentative Formen rationale Akte seien.31
Tiedemann nimmt hierzu eine entscheidende Gegenposition ein, indem er fest-
hält, dass künstlerische Beiträge, die sich philosophieimmanenten Kriterien wie
wahr oder falsch entziehen, zwar wünschenswerte Methoden, allerdings keinen
essenziellen Teil des Philosophieunterrichts darstellen können.32
Für den Philosophie- und Ethikunterricht ist Theaterspielen sicherlich kein
notwendiges Element. Es besitzt allerdings – auch ohne die Annahme, Philo-
sophieren selbst sei auch durch ausschließlich präsentative Formen möglich –
großes Potenzial, Lücken des herkömmlichen Unterrichts zu schließen. Zu den

26Vgl. Hühnerfeld, Marion: Theaterstücke im Philosophieunterricht. Moralische Urteilsbildung


durch Auseinandersetzung mit Dramen in schulischen Bildungsprozessen. Dissertation, Düssel-
dorf, (2006), S. 259.
27Vgl. Salaverría, Heidi/Schierbaum, Sonja: „Theoretische und philosophiedidaktische Über-

legungen zur performativen Philosophie: Blick aus zwei Richtungen.“ In: ZDPE 2 (2019),
S. 13–22, hier S. 13.
28Vgl. Totzke, Rainer: „Performative Philosophie und Philosophie-Didaktik. Bestimmungen und

Beispiele.“ In: ZDPE 2 (2019), S. 4–12, hier S. 5–9.


29Vgl. Tichy, Matthias: „Bilderdenken. Zu Tiedemanns Kritik an der Verselbstständigung

präsentativer Formen im Philosophieunterricht.“ In: ZDPE 4 (2011), S. 244–251, hier S. 244–245.


30Schierbaum u. Salaverría 2019, S. 13–14.

31Vgl. Gefert 2015, S. 240 u. vgl. Stelzer u. Opitz 2017, S. 13.

32Vgl. Tiedemann, Tiedemann: „‘Mal mir was!‘ – Ein Zwischenruf.“ In: ZDPE 1 (2011),

S. 78–80, hier S. 80.


Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 183

Kriterien für ein ­wünschenswertes Philosophieren zählt eine allseitig entwickelte


Urteilskraft (Dresdner Konsens 2016).33 Der klassische Philosophieunterricht
weist hier eine markante Leerstelle auf: Das sinnliche und emotionale Erfassen
sowie die Vorstellungskraft als notwendige Begleiter der Urteilskraft erhalten
durch die einseitig intellektuelle Ausrichtung des Unterrichts nicht ausreichend
Beachtung. Klaus Goergen plädiert in seinem Aufsatz Das moralische Urteil für
ein „Kontinuum zwischen Kognition und Emotion“34. Demnach gebe es nicht eine
bestimmende kognitive oder affektive Fähigkeit, auf der das moralische Urteil
aufbaut, sondern vielmehr verschiedene mentale Prozesse, die zusammenwirken.
Neben kognitiven Aktivitäten wie der reinen Vernunftstätigkeit oder der Nutzen-
kalkulation rechnet er deswegen auch Aspekten wie der Selbstbildgenerierung und
moralischen Gefühlen eine große Bedeutung zu.35 Im Rahmen einer „ganzheit-
liche[n] Konzeption von Ethikdidaktik“36 könnte theatrales Lernen die Arbeit am
Selbstbild sowie die Einfühlung in das Andere durch die besondere Wahrnehmung
des Gegenwärtigen (Körper, Raum und Zeit, Gegenstände/Requisiten, andere Mit-
spieler*innen etc.) und die Erfahrung fremder Haltungen fordern und fördern.37
„Die Vorstellung befreit sich aus den Beschränkungen von Lokalisierung und
Wirklichkeit.“38 Theater lässt sich als Raum der Möglichkeiten begreifen, in dem
spielerisch-ästhetisch reale Bedingungen und Verhältnisse negiert, Alternativen
ausprobiert und auf diese Weise Grenzen des Denkens geöffnet werden können.39
Theaterpädagogische Elemente können so innerhalb der Philosophiedidaktik ein-
gesetzt werden, um ein Erspüren und Vorstellen des Lebensweltlichen sowie des
Möglichen zu schulen, das den Reflexionsprozess hinsichtlich des fokussierten
Problems vorantreibt – das Theater als Versuchslabor.40

33Vgl. Dresdner Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht, Dresden 2016. https://philo-
sophiedidaktik.files.wordpress.com/2017/03/dresdner_konsens.pdf (Stand: 21.04.2020).
34Goergen, Klaus: „Das moralische Urteil. Ein egalitäres Modell.“ In: ZDPE 3 (2009), S. 170–

181, hier S. 170.


35Vgl. Goergen 2009, S. 173.

36Goergen 2009, S. 173.

37Vgl. Wiese, Hans-Joachim/Günther, Michaela/Ruping, Bernd: Theatrales Lernen als philo-

sophische Praxis in Schule und Freizeit. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag 2006, S. 73 u. 75.
38McGinn, Colin: Das geistige Auge. Von der Macht der Vorstellungskraft. Aus dem Engl. v.
Klaus Laermann. Darmstadt: Primus Verlag (2007), S. 155.
39Vgl. Brook, Peter: Das offene Geheimnis. Gedanken über Schauspielerei und Theater. Aus dem

Engl. v. Frank Heibert. Mit einem Nachwort v. Hans-Thies Lehmann. Berlin, Köln: Alexander
(2012), S. 11 u. 28 u. vgl. Annemarie Pieper: „Schön ist, was gefällt. Ästhetische Orientierung.“
In: Rolf, Bernd/Draken, Klaus/Münnix, Gabriele (hrsg.): Orientierung durch Philosophieren.
Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Fachverbandes Philosophie e. V. Münster u. a.: LIT
(2007) (= Philosophie und Bildung; 6), S. 27–41, hier S. 40.
40Eine ähnliche Bezeichnung findet sich in einem Beitrag zu Theaterpraxis in der Schule von

der Bundeszentrale für politische Bildung wieder: „Theater wird zu einem ‚Laboratorium
sozialer Fantasie‘.“ Aus: Hruschka, Ole/Vaßen, Florian: Theaterpraxis in der kulturellen Bildung.
Bundeszentrale für politische Bildung, 18.07.2011. https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/
kulturelle-bildung/60244/theaterpraxis (Stand: 24.05.2020).
184 B. Seiler und M. Hahn

3 Projektbeispiel HOOL

Für das philosophiedidaktische Seminar zum theatralen Philosophieren wurde im


Sommersemester 2019 die Inszenierung HOOL am Staatsschauspiel Dresden aus-
gewählt. Die hier vorgestellte theaterpädagogische Aufbereitung des Stücks, die
bereits mit Schüler*innen in einem nicht-philosophiedidaktischen Rahmen durch-
geführt wurde, sollte von den Lehramtsstudierenden der Fächer Ethik/Philosophie
nun im Hinblick auf die Eignung für den Fachunterricht untersucht und weiter-
entwickelt werden. Geleitet wurde das Seminar von Markus Tiedemann (TU
Dresden), Bettina Seiler und Lisa Jäger (Staatsschauspiel Dresden).

3.1 Informationen zur Inszenierung

HOOL
nach dem Roman von Philipp Winkler
in einer Bühnenfassung von Florian Hertweck
Premiere: 22.03.2019
Mit: Tillmann Eckardt, Jannik Hinsch, Daniel Sejourné, Oliver Simon, Steven Sowah
Regie: Florian Hertweck
Bühne: Mascha Deneke
Kostüme: Kathrin Krumbein
Musik: Moritz Bossmann, Oli Friedrich, Jan Preißler
Dramaturgie: Kerstin Behrens
Theaterpädagogik: Lisa Jäger, Bettina Seiler
Altersempfehlung: ab Klassenstufe 8

Florian Hertweck inszenierte in der Spielzeit 2018/2019 am Staatsschauspiel


Dresden HOOL nach dem Roman von Philipp Winkler, ein Stück, das sich mit
dem sozialen bzw. subkulturellen Phänomen der exzessiven Gewalt von oft
jugendlichen, rivalisierenden Gruppierungen auseinandersetzt, die sich meist zu
größeren Ereignissen – insbesondere Fußballspielen – treffen und mit den ent-
sprechenden Vereinen identifizieren.41 Protagonist ist Heiko Kolbe, gespielt von
Jannik Hinsch, ein Anhänger des Fußballvereins Hannover 96:

„Heiko ist Hool, mit Leib und Seele. Nichts geht ihm über seinen Verein. Warum, die
Frage hat er sich nie gestellt. Ins Stadion geht er nur noch selten, das Eigentliche passiert
eh nach dem Spiel. Weitab von singender Fankurve und Stadionkontrollen trifft man sich
für den Kampf Mann gegen Mann – hart, aber fair. Bis einer liegen bleibt, so verlangt
es der Ehrenkodex. Unter der Führung von Onkel Axel ist für Heiko die Radikalität, mit
der er und seine Freunde kämpfen, das einzige Lebenselixier. Zu dieser Familie gehört er,
kann Teil einer kraftvollen Gemeinschaft sein, an die sich glauben lässt. Angst kennt er
nicht, nur Adrenalin. Verletzungen heilen.“

41Vgl. Weigelt, Ina: Die Subkultur der Hooligans. Merkmale, Probleme, Präventionsansätze.

Marburg: Tectum Verlag (2004), S. 11–14.


Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 185

Abb. 1  Hool. Foto: Sebastian Hoppe

Doch dann wird ein Freund schwer verletzt, andere steigen aus. Für sie gibt es inzwischen
Wichtigeres als den Adrenalinrausch bei den Matches. Als sich die Spielregeln plötzlich
ändern, muss Heiko zusehen, wie seine harte Männerwelt, das Gefüge, mit dem er sein
Leben zusammenhält, langsam, aber sicher, auseinanderfällt.42

Die hannoverschen Hooligans bilden Heikos erwählte Gemeinschaft, während


zwischen Kämpfen und Drogenrausch immer wieder die vergangenen und gegen-
wärtigen Probleme seiner leiblichen Familie zum Vorschein kommen. Als die ver-
meintlich bedingungslose Loyalität gegenüber der Gruppe plötzlich aufgebrochen
wird, gerät Heiko in eine Existenzkrise:

„Du hast deine Familie, dein Haus, deinen verfickten weißen Gartenzaun. Ihr alle habt
irgendwas, worauf ihr euch am Ende des Tages freuen könnt. Jojo zieht sein Trainerding
durch und wenn Kai wieder gesund is', dann studiert er fertig und kriegt irgendwo 'nen
gutbezahlten Job. Ich habe Null, Nichts. Das hier habe ich. Mehr nicht.“43

Neben Hooliganismus und Gewalt verarbeitet die Inszenierung so auch Themen


wie Familie, Gruppenzugehörigkeit und Außenseitertum (Abb. 1).

42HOOL, Staatsschauspiel Dresden. https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/hool/


(Stand: 05.05.2020).
43Winkler, Philipp: HOOL. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Theater Verlag. Bühnenbearbeitung

v. Florian Hertweck für das Staatsschauspiel Dresden (2018), S. 45.


186 B. Seiler und M. Hahn

3.2 Los geht’s! – Vor- und nachbereitende Übungen für das


theatrale Arbeiten

Das theatrale Arbeiten soll für alle TN44 voraussetzungslos, d. h. auch ohne Vor-
erfahrungen mit Theaterrezeption und -spielen möglich sein. Deswegen ist es
notwendig, die TN zuerst für theatrale Formen zu sensibilisieren und einen
Raum zu schaffen, in dem sie sich ohne Hemmungen verbal und non-verbal aus-
drücken können. Die vor- und nachbereitenden Übungen haben darüber hinaus die
Funktion, zu aktivieren, das Wissen um Körpersprache, soziale Interaktion und
Emotionen zu schulen sowie das Erproben von Haltungen zu ermöglichen. Im
Folgenden sollen einige Beispiele erläutert werden.

Name – Attribut – Geste


Stehkreis. Jede/r TN überlegt sich ein Adjektiv, das mit dem Buchstaben des eigenen
Vornamens beginnt (z. B. artiger Alex, belebende Bettina, mutige Marie) sowie eine
passende Geste oder Bewegung. Jede/r TN stellt sich den anderen vor, indem sie/er
Adjektiv, Vornamen und Geste zu einer kleinen Bewegungschoreographie verbindet,
die alle anderen TN gemeinsam wiederholen. Mehrere Runden laufen lassen.
Ziele: Ankommen und Aufwärmen, Kennenlernen, Beobachten und Reproduzieren,
Hemmungen abbauen, offene und positive Spiel- und Gesprächsatmosphäre schaffen

Platzwechsel
Stehkreis. Die/der Spielleiter*in nimmt Blickkontakt mit einer Person im Kreis
auf und läuft auf sie zu, um deren Platz einzunehmen. Die betreffende Person
sucht sich einen neuen Platz im Kreis, indem sie einer anderen Person dies per
Blick andeutet. Wichtig dabei ist, vorher zu wissen, wessen Platz man einnehmen
möchte – zielgerichtet laufen, nicht reden, konzentriert bleiben, Tempo steigern!
Ziele: Gruppendynamik entwickeln, Hemmungen abbauen, Körpersprache und
soziale Interaktion

Haltung variieren
Stehkreis. Die/der Spielleiter*in legt eine Haltung (z. B. wütend) fest und wählt
eine Person im Kreis aus, der sie einen Ball in der entsprechenden Haltung über-
bringt. Die betreffende Person nimmt den Ball an und sucht wiederum eine/n
andere/n TN aus, der/dem sie den Ball in einer neuen Haltung – wieder vorgegeben
von der Spielleitung (z. B. traurig) – übergibt. Dabei können/sollen Haltungen
bzw. Emotionen ausgewählt werden, die im Stück eine Rolle spielen – für HOOL
kommen dafür z. B. die folgenden in Frage: aggressiv, entschlossen, verliebt,
mächtig, verzweifelt, arrogant, besessen, berauscht. Nachdem die/der Spielleiter*in
die Haltung einige Runden vorgegeben hat, kann anschließend auch eine freie
Runde eröffnet werden, in der die TN die Haltungen selbst auswählen.

44TN steht für Teilnehmer*in bzw. Teilnehmer*innen.


Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 187

Ziele: Nachbereitung des Theaterbesuchs, Haltungen erproben, Körpersprache,


soziale Interaktion und Emotionen

Geschenke aus der Inszenierung


Stehkreis. Alle TN schließen zunächst für zwei Minuten die Augen und erinnern
sich an die Aufführung – an bestimmte Situationen, an die Bühne, Figuren,
Farben, Klänge, Bilder, Requisiten oder Kostüme, an die Musik, die Stimmung
im Zuschauerraum. Augen öffnen. Eine Person läuft mit einem kleinen Ball durch
den Kreis und übergibt ihn einer Person mit dem Satz: „Ich schenke dir…“. Der
Ball steht dabei stellvertretend für ein „Geschenk“ aus der Inszenierung HOOL.
Es kann alles verschenkt werden, an das man sich erinnert (Bühnenbildelemente,
Wörter und Sätze, Gefühle, Themen …).
Folgende Spielregeln gelten dabei:

1. Jedes Geschenk darf nur einmal verschenkt werden. Es muss also immer nach
etwas Neuem gesucht werden.
2. Der/die Beschenkte muss sich über das Geschenk freuen und dieser Freude
kurz Ausdruck verleihen.

Ziele: Nachbereitung des Theaterbesuchs, Erinnerung und Vergegenwärtigung,


offene und positive Spiel- und Gesprächsatmosphäre, Körpersprache, soziale
Interaktion und Emotionen

3.3 Vom Eindruck zur philosophischen Fragestellung

Für den philosophischen Anschluss ist es sinnvoll, die verschiedenen Fragen


und Probleme, die die Inszenierung aufwirft, zu sammeln und zu strukturieren.
Dem Prinzip der Problemorientierung folgend richtet sich die thematische Ver-
tiefung somit nach den konkreten Fragen, die sich die TN nach der Aufführung
stellen.45 Wichtig dabei ist, dass bei der Sammlung der Ideen und Fragen zunächst
ein offenes Assoziieren stattfinden kann, ohne dass von vornherein bewertet wird.

Assoziationskreis
Stehkreis. Die TN werfen sich einen Ball zu und benennen jeweils schnell nach-
einander einen bestimmten Begriff oder ein Thema, um die Eindrücke aus der
Inszenierung zu verarbeiten und zu vertiefen. Assoziieren – noch nicht bewerten!

Hundert Fragen in drei Minuten


Die TN bekommen drei Minuten Zeit, um möglichst viele Fragen an die
Inszenierung HOOL zu formulieren. Die Zahl hundert soll hierbei die Redelust der

45Vgl.hierzu Tiedemann, Markus: „Problemorientierung.“ In: Nida-Rümelin, Spiegel u.


Tiedemann 2015, S. 70–78.
188 B. Seiler und M. Hahn

TN aktivieren. Die Spielleitung zeichnet diese Fragerunde auf. Fragen der Seminar-
teilnehmer*innen waren z.B.: Welche Rolle spielen Rituale? Was hatte der Geier da
zu suchen? Was ist echte Freundschaft? Ist jede Gewalt lustvoll? Warum fährt man
zum Prügeln nach Hannover? Was ist Identität? Was ist strukturelle Gewalt? Welche
Werte/Normen haben solche gewalttätigen Gruppen? Ist der Mensch frei?
Anschließend hören sich alle den Mitschnitt noch einmal an und jede/r schreibt
die für sie/ihn wichtigsten drei Fragen auf einen Zettel. Die TN lesen ihre notierten
Fragen nacheinander laut vor. Die Spielleitung dokumentiert diese Runde, um aus
der Schnittmenge aller Fragen diejenigen zu ermitteln, die die TN am häufigsten
aufgeworfen/notiert haben. Diese sollen im Anschluss gemeinsam bewegt werden.
Aus diesen Fragen ergeben sich verschiedene philosophische Anknüpfungs-
punkte, z. B.:

Was ist echte Freundschaft?


Die Inszenierung HOOL wirft die Frage auf, ob es sich bei den Beziehungen in
Heikos Gruppe um wahre Freundschaft handelt. Als die gemeinsame Leidenschaft
der Matches wegfällt, zweifelt Heiko die Freundschaft an und bleibt verständnis-
los für die Lebensziele der anderen:
ULF Heiko, es ist 'ne klipp und klare Sache. Mach ich weiter, dann verlässt
sie mich. Mit dem Kleinen. Ich bin raus.
HEIKO  Ich fass das nicht.
ULF Ich komm trotzdem noch ab und zu mit und wir können ja wieder öfters
ins Stadion gehen. Als Ausgleich sozusagen. Nur bei den Matches bin
ich nicht mehr dabei. Komm schon, Heiko. Wir bleiben doch nach wie
vor Kumpels. Da ändert sich doch nichts.
HEIKO  Alles ändert sich, Ulf. Andauernd!46
In diesem Zusammenhang könnten die Verhältnisse der Rollen anhand der drei
Arten der Freundschaft nach Aristoteles überprüft werden: Nutzen-, Lust- und
vollkommene Freundschaft.47

Ist der Mensch frei?/Gibt es den freien Willen?


SIEGFRIED  W
 ie gewohnt sitzt der alte Siegfried auf der Sessellehne. Er hat
sich ganz klein gemacht. Seine Federn stehen in Büscheln ab.
Seine Brust ist kahlgerupft. Heiko geht zum Fenster und reißt es
sperrangelweit auf. Frische, kühle Luft strömt herein.
HEIKO Das war's, alter Junge. Du bist frei. Hey! Wach auf! Du kannst
endlich hier raus. Jetzt flieg schon weg, du alter Sack! Mach hinne,
bevor ich's mir anders überlege! Was guckst du mich so an?48

46Winkler 2018, S. 28.


47Vgl.hierzu Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. u. hg. v. Ursula Wolf. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag (2008)2, Achtes Buch.
48Winkler 2018, S. 56.
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 189

In dieser Szene möchte Heiko einen alten Bartgeier nach dem Tod seines Besitzers
freilassen. Dieser nimmt allerdings seine Chance, aus dem Fenster zu fliegen,
nicht wahr und verkriecht sich auf seiner Sessellehne. Obwohl er die äußere
Möglichkeit zur Freiheit erhält, bleibt er – freiwillig oder auch unfreiwillig – ein-
gesperrt. Hier lässt sich eine Symbolik erkennen, die Rückschlüsse auf Heikos
Leben zulässt: Handelt Heiko selbstbestimmt? Welchen sozialen/psychischen/…
Zwängen unterliegt Heiko? Aufbauend auf Heikos Beispiel ergeben sich all-
gemeine Fragen zum Thema Freiheit: Ist der Mensch determiniert (und wenn ja,
wodurch?) oder vielmehr zur Freiheit verurteilt?

Wie hängen Gewalt und Lust zusammen?


HEIKO  […] Blutverkleistertes, kehliges Würgen und rotwurzelige Zähne, die
ausgehustet werden. Endlos viele warme Hände, die nach mir greifen
und mich wegziehen. Und unter allem flimmert diese Wut. Aber auch
eine Zufriedenheit, die da eigentlich nicht hingehört, aber trotz der
Stimmen, die auf mich einprasseln, mich aber nicht erreichen, ist sie da,
die Zufriedenheit, und lässt mich wissen, dass alles andere egal ist.49
Heiko spürt tiefe Befriedigung bis hin zu einer „Zufriedenheit“ bei seinen
Matches – Gewalt wird von ihm als lustvoll empfunden. Hooligans berichten
bei dieser Überschreitung gesellschaftlicher Tabus von positiven Affekten.50 An
dieser Stelle bietet sich eine Auseinandersetzung mit dem Destruktionstrieb nach
Freuds Psychoanalyse an.51

3.4 Philosophieren im Theater – Theaterspielen im


Philosophieunterricht

Im Folgenden sollen zwei Beispielübungen vorgestellt werden, bei denen die TN


selbst spielerisch aktiv werden können. Hier wird nicht nur die Vorstellungskraft
der TN angeregt – sie erhalten zudem die Möglichkeit, verschiedene Handlungs-
möglichkeiten auszuprobieren und im Nachhinein reflektierend zu beurteilen.

Clique – Du gehörst dazu


In Kleingruppen werden Szenen erarbeitet, die das Erkunden von Gruppen-
prozessen ermöglichen. Dazu arbeiten die TN in Teams aus ca. vier bis fünf

49Winkler 2018, S. 57.


50Vgl. Elbert, Thomas/James K. Moran/Maggie Schauer: „Lust an der Gewalt: appetitive
Aggression als Teil der menschlichen Natur.“ In: Neuroforum 23 (2017), H. 2, S. 96–104, hier
S. 96–97.
51Vgl. hierzu Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur (1930).“ In: Ders.: Das Unbehagen

in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung v. Alfred Lorenzer u. Bernard
Görlich. Frankfurt am Main: Fischer 20185, S. 29–108, hier S. 80–86.
190 B. Seiler und M. Hahn

Personen zusammen. Es wechselt sich dabei die szenische Erarbeitung mit der
Präsentation der Ergebnisse ab. Nacheinander werden folgende drei Aufträge in
die Gruppen gegeben:

a) Eine Clique werden


Überlegt euch, was euch verbindet und zu einer Clique macht. Gebt eurer Clique
einen Namen. Formuliert eine Aussage, die euch als Gruppe kennzeichnet, z. B.:
„Wir tanzen nächtelang durch.“ Erfindet und probt einen Schlachtruf mit einer
Haltung. Präsentiert eure Ergebnisse und ein Standbild eurer Clique. Performt
abschließend euren Schlachtruf dreimal hintereinander!

b) Regeln aushandeln
Welche Regeln gelten für eure Gruppe? Welche Strafen gibt es bei Regelverstößen?
Erfindet ein konkretes Begrüßungs- und ein Verabschiedungsritual! Welche äußeren
Kennzeichen machen euch als Clique erkennbar (Kleidung/Maske/Requisiten)?
Stellt den anderen eure Ergebnisse vor.

c) Aussteiger: Ich will raus!


Entwickelt eine Szene, in der ein Mitglied die Clique verlassen will. Findet eine
Idee dafür, wo die Szene spielt, welche Gründe sie/ihn dazu bewegen, herauszu-
wollen und wie die anderen reagieren. Achtet auf möglichst vielfältige Reaktionen,
die von Unverständnis bis Verständnis reichen. (Erinnert euch an die Regeln eurer
Clique!) Findet eine Lösung und einen Abschluss der Szene! Präsentation!

In dieser Übung können die TN die Bildung, Prozesse und (Konformitäts-)Zwänge


von Gruppen erfahren und reflektieren. Dabei kann auch die Identifikation mit der
positiv bewerteten Eigengruppe durch die Abgrenzung von der Fremdgruppe spür-
bar werden.52

Fishbowl-Improvisation
Ähnlich einer Fishbowl-Diskussion sitzen die TN in einem größeren Außenkreis und
beobachten das Geschehen bzw. Spiel in einem kleineren Innenkreis – hier bestehend
aus zwei TN. Diese zwei TN steigen in eine ausgewählte Szene des Stücks ein und
finden anschließend improvisierend verschiedene Verläufe und Ausgänge. Möchte
ein/e TN des äußeren Kreises an der Szene im Innenkreis mitwirken, klatscht sie/er
in die Hände – die Spielenden gehen dann ins Freeze und die/der TN kann eine der
spielenden Personen antippen, deren Position sie/er einnehmen möchte.
Zu der Frage „Was ist Freundschaft?“ eignet sich beispielsweise der folgende
Dialog zwischen Heiko und Kai im Krankenhaus:

52Girnth, Heiko: Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die
linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation. Berlin: De Gruyter (2002)
(=Germanistische Arbeitshefte; 39), S. 33.
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 191

KAI Ich überlege ein Auslandspraktikum zu machen. Für ein Semester. Oder
vielleicht auch zwei.
HEIKO  Und wo?
KAI London. Mein Masterprüfer hat da ’n Kumpel bei der Deutschen Bank.
HEIKO  London in England?
KAI Nee. London in Rheinland-Pfalz. Natürlich in England, du Vogel.
HEIKO  Und wann?
[…]
KAI Na ja, das hier muss erstmal wieder weg sein. Sonst steig ich noch in
den falschen Flieger und lande in Kasachstan oder so. Könnt ziemlich
peinlich werden, wenn ich da wen nach’m Trafalgar Square frag.
HEIKO  Ha ha, nicht lustig, Kai.
KAI Mann, Heiko. Keine Ahnung, irgendwann nächstes Jahr halt. Bevor ich
meine Masterarbeit anfange.
HEIKO  Ach cool. Super. Und ich sitz mir hier ’n Jahr lang den Arsch platt.
Total dumm von mir anzunehmen, dass wir so richtig durchstarten. Wir
beide!
KAI Vielleicht is’ dir ja entgangen, dass ich fucking blind bin!
HEIKO  Aber das wirst du doch nicht bleiben, Mann! Axel wird sich irgend-
wann zurückziehen und dann können wir die Sachen auf unsere Art
machen. Dann kommt bestimmt auch Ulf wieder mit ins Boot.
KAI Raffst du’s? Ulf ist raus und daran wird sich auch nichts ändern. Kann
man ihm auch nich’ verdenken. Und Axel. Der macht weiter, bis er
irgendwann tot auf'm Acker umkippt.
HEIKO  Wart erstmal ab. Nach dem Match gegen Braunschweig –
KAI Heiko, raff es halt mal! Ich hab genug. Auf wie viele verschiedene
Arten soll ich’s dir denn noch erklären?! Das wa’s für mich. Und du
solltest endlich mit dem Scheiß aufhören. Komm mit mir mit.
HEIKO  Wohin?
KAI Nach London. Hast doch genug auf der hohen Kante. Was hält dich hier
noch? Ein feuchter Dreck, Mann. Lass uns weggehen. Nur für 'ne Zeit
...53
Neben der Einfühlung in fremde Haltungen können die TN hier verschiedene
Alternativen des Gesprächsverlaufs erproben und so die Frage nach dem Wesen
der Freundschaft erkunden. Wie reagiert Heiko auf Kais Vorhaben und sein
Angebot, mit ihm nach London zu kommen? Heiko könnte an dieser Stelle
uneigennützig die Pläne seines Freundes unterstützen und in dem Auslands-
praktikum eine Chance sehen, wie sich Kai weiterentwickeln kann. Auch in einem
Szenario, in dem Heiko ein solches Praktikum nicht direkt befürwortet, könnte
er Kais Entscheidung dennoch respektieren und ihn als selbstbestimmtes Subjekt

53Winkler 2018, S. 50–51.


192 B. Seiler und M. Hahn

ansehen. Kais Angebot, mit ihm nach London zu gehen, könnte Heiko mit dem
Gedanken annehmen, so einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Genauso könnte
er Kai aber auch zu sehr bewundern und mit ihm weggehen, ohne dabei eigene
Ziele zu verfolgen. In einem anderen möglichen Gesprächsausgang zeigt Heiko
kein Verständnis – wenn sich Kai von der Hooligangruppe abwendet, sei damit die
Freundschaft beendet, die nur unter dieser Bedingung des gegenseitigen Beistands
und der gemeinsamen Ekstase in den Matches besteht.
Diese Übungen zeigen nur beispielhaft das vielfältige Spektrum einer Ver-
knüpfung von Theaterpädagogik und Philosophiedidaktik auf. Das Theater bietet
mit seinem Angebot ästhetisch-kulturellen Lernens einen produktiven Ort für
philosophische Bildungsprozesse. Diese Brücke zwischen Theater als Raum der
Möglichkeiten und Philosophieren als „lehr- und lernbarer Kulturtechnik“54 könnte
damit neue Bildungschancen bereithalten, indem hier sinnliche, emotionale und
imaginative Zugänge für heterogene Lerngruppen geschaffen und zugleich kritische
Distanzierungen ermöglicht werden. Gleichzeitig bleiben die Fokussierung und
Vertiefung von Themen mittels theaterpädagogischer Methoden ein besonderes
Angebot zur Weiterentwicklung des Philosophieunterrichts, für dessen Ein-
beziehung sich Lehrkräfte der Fächer Ethik und Philosophie entscheiden können,
aber nicht müssen.

Literatur
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. u. hg. v. Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-
Taschenbuch-Verlag 20082.
Brook, Peter: Das offene Geheimnis. Gedanken über Schauspielerei und Theater. Aus dem Engl.
v. Frank Heibert. Mit einem Nachwort v. Hans-Thies Lehmann. Berlin/Köln: Alexander 2012.
Dresdner Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht, Dresden 2016. https://philosophie-
didaktik.files.wordpress.com/2017/03/dresdner_konsens.pdf (Stand: 21.04.2020).
Elbert, Thomas, James K. Moran u. Maggie Schauer: „Lust an der Gewalt: appetitive Aggression
als Teil der menschlichen Natur.“ In: Neuroforum 23 (2017), H. 2, S. 96–104.
Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur (1930).“ In: Ders.: Das Unbehagen in der Kultur
und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung v. Alfred Lorenzer u. Bernard Görlich.
Frankfurt am Main: Fischer 20185, S. 29–108.
Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammenspiel
argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philo-
sophischen Bildungsprozessen. Dresden: Thelem 2002.
Gefert, Christian: „Theatrales Philosophieren – performatives Denken in philosophischen
Bildungsprozessen“. In: Handbuch Philosophie und Ethik. Bd. 1, Didaktik und Methodik. Hg.
v. Julian Nida-Rümelin, Irina Spiegel u. Markus Tiedemann. Paderborn: UTB 2015, S. 240–
244.
Gefert, Christian: „Philosophie als Performance – theatrales Philosophieren in Bildungsprozessen.“
In: ZDPE 2 (2019), S. 23–30.

54Ekkehard Martens: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als


elementare Kulturtechnik. Hannover: Siebert Verlag (2012)6, S. 28.
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 193

Girnth, Heiko: Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die
linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation. Berlin: De Gruyter 2002
(=Germanistische Arbeitshefte; 39), S. 33.
Goergen, Klaus: „Das moralische Urteil. Ein egalitäres Modell.“ In: ZDPE 3 (2009), S. 170–181.
Hoffmann, Anna Rebecca: „Außerschulische Lernorte. Unter besonderer Berücksichtigung von
Museen als außerschulische Lernorte.“ In: Empirische Forschung in der Deutschdidaktik.
Bd. 3, Forschungsfelder. Hg. v. Jan M. Ballmann. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren 2018.
HOOL, Staatsschauspiel Dresden. https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/hool/
(Stand: 05.05.2020).
Hruschka, Ole u. Florian Vaßen: Theaterpraxis in der kulturellen Bildung. Bundeszentrale für
politische Bildung, 18.07.2011. https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/kulturelle-bildung/60244/
theaterpraxis (Stand: 24.05.2020).
Hühnerfeld, Marion: Theaterstücke im Philosophieunterricht. Moralische Urteilsbildung durch
Auseinandersetzung mit Dramen in schulischen Bildungsprozessen. Dissertation. Düsseldorf,
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Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1. Werkausgabe, Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Weischedel.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (=stw; 55).
Martens, Ekkehard: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als
elementare Kulturtechnik. Hannover: Siebert Verlag 20126.
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Philosophieren. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Fachverbandes Philosophie e.V. Hg.
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Bildung; 6), S. 27–41.
Salaverría, Heidi u. Sonja Schierbaum: „Theoretische und philosophiedidaktische Überlegungen
zur performativen Philosophie: Blick aus zwei Richtungen.“ In: ZDPE 2 (2019), S. 13–22.
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen.
Mit den Augustenburger Briefen. Hg. v. Klaus L. Berghahn. Ditzingen: Reclam 2000.
Steenblock, Volker: Kunst gibt uns zu denken. Philosophieren mit Bildern und Literatur, Oper
und Theater. Bochum/Freiburg: Projektverlag 2015.
Stelzer, Hubertus u. Opitz, Julia: Philosophieren im Theater? Eine Studie zur Effizienzmessung
pragmatisch-dialogischen Philosophierens in theatralen Prozessen. Bochum, Freiburg:
Projektverlag 2017.
Stelzer, Hubertus: „Auf der Suche nach einem Menschen. Theatrales Philosophieren – ein
Praxisbericht.“ In: ZDPE 2 (2019), S. 71–81.
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Weigelt, Ina: Die Subkultur der Hooligans. Merkmale, Probleme, Präventionsansätze. Marburg:
Tectum Verlag 2004.
Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Ästhetische und psychosoziale
Erfahrung durch Rollenarbeit. Berlin/Milow/Strasburg: Schibri Verlag 20084.
Wiese, Hans-Joachim, Michaela Günther u. Bernd Ruping: Theatrales Lernen als philosophische
Praxis in Schule und Freizeit. Berlin/Milow/Strasburg: Schibri-Verlag 2006.
Winkler, Philipp: HOOL. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Theater Verlag. Bühnenbearbeitung v.
Florian Hertweck für das Staatsschauspiel Dresden 2018.
ERSTMAL AUFREGEN.
Kunst, Philosophie und selbst­
motiviertes Lernen im Museum
Alke Vierck

Zusammenfassung

Das fächerübergreifende Schulprogramm der Hamburger Kunsthalle ent-


steht auf der Grundlage des kreativen Philosophierens. Wie entwickelt sich
eine dialogische Kunstvermittlung und welchen Anteil nimmt sie an der
philosophischen Bildung in Schulen? Der vorliegende Text schlüsselt fünf
Stufen der interaktiven Werkbetrachtung auf. An konkreten Projekten mit
verschiedenen Altersstufen und an Kunstwerken unterschiedlicher Epochen
wird verdeutlicht, wie die ästhetische Erfahrung am Original zu einem
interessegeleiteten Lernen beitragen kann.

Schlüsselwörter

Wissen · Denken · Kunst · Körper · Philosophieren · Museum · Ästhetische
Erfahrung · Mehrperspektivität · Dialog

1 Aufregen

Wie sieht Denken aus?


Dem Philosophen von Jean-Honoré Fragonard stehen die Haare zu Berge.
Er beugt sich über einen Stapel Papier und etwas passiert mit ihm: Voller
Anspannung hat er die Stuhllehne ergriffen, die Brauen hochgezogen und die

A. Vierck (*) 
Hamburger Kunsthalle, Hamburger, Deutschland
E-Mail: alke.vierck@hamburger-kunsthalle.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 195
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_10
196 A. Vierck

Abb. 1  Jean-Honoré Fragonard: Der Philosoph, 1764, Öl auf Leinwand, oval, 59 × 72,2 cm. (©


Hamburger Kunsthalle, bpk, Foto: Elke Walford)

Augen aufgerissen. Was er in diesem Moment sieht, wissen wir nicht. Aber die
Aufregung, in die es ihn versetzt, erfüllt das ganze Gemälde mit Spannung
(Abb. 1).
Fragonard ist ein erstaunliches Kunstwerk gelungen, er hat einen Augenblick
kognitiver Erregung ins Bild gebannt. Vor dem Original im Museum erlebt man
diesen Prozess körperlich. Auf mehreren Ebenen macht das Kunstwerk Denken
sicht- und spürbar.
Es gibt ein fundamentales Missverständnis, das sich regelmäßig zwischen
Menschen und Kunstwerken aufbaut wie eine vierte Wand. Im Museum hören
wir Aussagen wie diese häufig: „Ich weiß nichts darüber und habe keine Ahnung
von Kunst.“ Ist Wissen der ultimative Zugangscode zur Kunst? Fordert der Philo-
soph uns auf, die vor ihm liegenden Traktate zu lesen, um zu verstehen, was vor
sich geht? Müssen wir die Biographie des Künstlers studieren, um die im Bild
manifestierte Spannung wahrnehmen zu können?
Wir betrachten Kunst zuallererst mit dem Körper. Am Beginn jeder
Betrachtung steht eine sensitive Wahrnehmung und sie bildet die Grundlage für
jede weitere Handlung. Dennoch werden nicht der Körper, sondern das Wissen
und die Bildende Kunst als unverrückbare Einheit gehandelt. Das ist ein Problem.
Während es selbstverständlich ist, dass wir – wie der dargestellte Philosoph –
unser Wissen beim Lesen kontinuierlich ausbauen und im Prozess zunehmend
Kenntnis gewinnen, wird bei Kunstwerken allzu schnell davon ausgegangen, dass
es neben dem Bild unbedingt noch weiterer Informationen bedarf, um wirklich
verstehen zu können.
Museen (und Schulen) tragen einen großen Teil zu diesem Missverständ-
nis bei. Mit Erklärungen an der Wand, parallelen Texten aus dem Kopfhörer und
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 197

„Führungen“1 von Fachpersonen wird suggeriert, dass erst im offerierten Hinter-


grundwissen der Schlüssel zum Kunstwerk liegt. Information ist das Zauberwort,
mit dem die Kunst im Museum umhüllt wird.
Nehmen wir diesen Schleier einen Moment zur Seite, bleiben zwei Körper
übrig, die sich im Raum begegnen: ein gestaltetes Objekt und ein wahrnehmendes
Subjekt.2 Die Frage ist also noch lange nicht, was wir wissen müssen, sondern
zunächst einmal, was wahrgenommen wird…
Durch das ovale Format blicken wir bereits wie durch eine Linse auf das
Gemälde. Die Form schmeichelt dem Auge, indem sie es nachahmt. In diesem
Ausschnitt erscheint der Denker fast bildfüllend und drängt damit besonders dicht
an uns heran. Er kommt uns nahe. Sein rechter Arm hilft zudem beim Einstieg ins
Bild, er holt den Blick ab, so dass er am Ärmel entlang direkt zur hell erleuchteten
Schulter und zum Kopf gleiten kann – dem Zentrum des Bildes. Ihm gegenüber
stehen aufgeschlagen die Papiere, in denen er liest. Auch sie sind erleuchtet. Text
und Haar bilden eine farbliche Parallele und nun wird deutlich, warum die wirren
Locken wie eine Reaktion auf das Gelesene wirken. In der Farblogik sind beide
eine spiegelbildliche Einheit.
Gehen wir näher an das Bild heran, wird auch nachvollziehbar, woher die Bild-
spannung rührt. Sie liegt nämlich nicht allein in der Darstellung des gespannten
Körpers begründet. Auch Ärmel und Kragen sind in Wallungen geraten und ragen
senkrecht auf. Mehr noch, der gesamte Farbauftrag besteht aus einem schnellen
Wechsel verschieden heller Pinselstriche, die die Leinwand in eine flirrende
Bewegung versetzen. Es gibt keine ebenen Oberflächen, nur eine graduelle Folge
von Hell- und Dunkelbeige, aus der Räumlichkeit modelliert wird.
Dieser Farbauftrag ist ein Ereignis. Fragonard hat sich entschieden, die
groben Spuren des Pinsels sichtbar zu belassen, um dem im Bild dargestellten
momentanen Erkenntnisgewinn Ausdruck zu verleihen. So manifestiert sich auf
mehrfache Weise physische Präsenz im Kunstwerk. Der betrachtende Körper steht
einem Bildkörper gegenüber, der einen aufgewühlten Körper zeigt. Als mensch-
liche Spur ist ihm aber auch der Körper des Malers eingeschrieben, dessen künst-
lerische Aktion sich mit abbildet. Der Pinsel hat nicht nur primär figürliche
Elemente hinterlassen, der Farbauftrag enthält zugleich Zeichen menschlichen
Einwirkens.
Jörg Fingerhut hat gezeigt, dass die Wahrnehmung der Spuren des künst-
lerischen Handelns auf der Leinwand auch den Motorcortex des Bildbetrachters

1Der Begriff wird hier eingeschränkt, da das klassische Vermittlungsmodell angesichts lern-

wissenschaftlicher Erkenntnisse als überholt eingestuft werden muss. Im Schulprogramm der


Hamburger Kunsthalle wurden Führungen gänzlich durch Bildgespräche und Workshops ersetzt.
2Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Verkörperungstheorien für die

Kunstvermittlung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Enaktivismus und Performanz
spielen für das Schulprogramm der Hamburger Kunsthalle eine zentrale Rolle und werden hier
methodisch praktisch erforscht. Die theoretische Basis bietet nach wie vor der Sammelband:
Fingerhut, Jörg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hrsg.): Philosophie der Verkörperung.
Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin: Suhrkamp (2013).
198 A. Vierck

aktiviert.3 Die Betrachtung der Bewegungsspuren bildet sich im Gehirn als


Bewegung ab. Eine affektiv emphatische und im Körper fundierte Reaktion auf
die im Original sich vermittelnde Geste des Farbauftrags ist darum unbedingt
mitzudenken. Auch in seiner Darstellungsweise wirkt sich das Bild auf die
Betrachtenden aus. Es hat ein aktivierendes Potenzial.
Fragonards Philosoph ist nicht nur aufgeregt, er kann auch aufregen. In dieser
Auffassung der Figur steckt eine Aussage über eine besondere Form des Denkens:
Philosophie, so kann man schließen, ist ein Zustand der Erregung des Geistes und
des Körpers. Bei Fragonard offenbart sie sich zugleich in der scheinbaren Wild-
heit des Pinsels. Er stellt damit nicht nur einen Mann dar, der denkt. Das Denken
ist ein Modus des Malens. Dieses Denken zeigt sich in der Kunst auf zeichenhafte
und sinnliche Art und Weise.
Im Unterricht tun es Schüler*innen dem dargestellten Philosophen gleich und
suchen in der Lektüre nach Wissen und Erkenntnis. Als Schulfach findet Philosophie
Anregung im Text. Im Museum schließt sich die Frage an, ob auch Bilder Aus-
sagen über philosophische Zusammenhänge treffen können und wie sie sich dabei
vom Text unterscheiden.4 Auch der Philosoph in diesem Gemälde ist ein lesender
Denker. Doch er ist zugleich ein wahrnehmender Körper in Bewegung. Aus der
Bildbetrachtung leitet sich darum eine weitere für die Kunstvermittlung wesentliche
Frage ab: Welchen Anteil hat der sinnlich physische Körper am Denken?
In ihrer Andersartigkeit wirkt die Begegnung mit einem Kunstwerk wie eine
Erschütterung der alltäglichen Wahrnehmung. Haben sich Augen und Synapsen
an Straßen, Häuser, Menschen, Bildschirme und Plakate gewöhnt, so bricht die
unmittelbar sinnliche Originalität des Kunstwerks in die gewohnte Normalität
ein wie eine Störung, zu der wir uns ins Benehmen setzen müssen. Kunstwerke
können sich dem Auge und der Wahrnehmung auf eine so vehemente Weise auf-
drängen, dass sie wie eine Aufforderung wirken.
Gerade im Kontext eines Museumsbesuchs wird Aufregung als ein Zustand
gesehen, den es möglichst zu vermeiden gilt. Aufgeregte Besucher*innen sind im
schlimmsten Fall laut, unkonzentriert und nicht zu bändigen. Für die Begegnung
mit der Kunst ist Aufregung ein spontaner, relevanter und unbedingt wünschens-
werter Zustand, der Anspruch darauf hat, ernstgenommen zu werden. Aufregung
braucht Raum, Wahrnehmung auch. Beide bedingen sich gegenseitig. Sie sind die
Grundlage für ein Lernen aus Interesse.5

3Fingerhut, Jörg: Das Bild dein Freund. Der fühlende und der sehende Körprer in der enaktiven
Bildwahrnehmung. In: Feist, Ulrike/Rath, Markus (Hrsg.): Et in imagine ego. Facetten von Bild-
akt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp. Berlin: de Gruyter (2012), S. 117–198.
4Zu Bedeutung und Einsatz von Bildern im Philosophieunterricht vgl.: Maeger, Stefan: Umgang

mit Bildern. Bilddidaktik in der Philosophie. Paderborn: Schöningh (2019).


5Der vorgeschlagene emotionalisierte Begriff der „Aufregung“ ist angelehnt an den Zustand der

„Krise“ in der transformatorischen Bildungstheorie und geht zurück auf: Koller, Hans-Christoph:
Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse.
Stuttgart: Kohlhammer (2012).
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 199

Ohne Beachtung des Körpers ist eine aktivierte Wahrnehmung nicht mög-
lich. Ihr gilt die methodische Aufmerksamkeit. Die Wand des Wissens kann
diesen, zunächst ganz in der Betrachtung liegenden, sensitiven Raum empfindlich
beschneiden und damit selbstmotivierte Zugänge frühzeitig verweigern.
Eine enervierte Bildbetrachtung ist eng verbunden mit der philosophischen
Grundhaltung des Staunens.6 Als „staunendes Verweilen“ beinhaltet sie eine
schöpferische Offenheit.7 Sie ermöglicht ein bildungsrelevantes Wechselspiel
zwischen einer sich öffnenden und einer sich dem vollständigen Begreifen immer
wieder entziehenden Wirklichkeit.8 Im Moment des Staunens werden Denk-
gewohnheiten aufgebrochen und Selbstverständlichkeiten überdacht. Jede Ana-
lyse benötigt darum zuallererst eine Bremse für die genaue, sinnlich motivierte
Betrachtung. Emotionale Betroffenheit, geistige Anregung, körperliche Agitation
und sensitive Erregung können dabei methodisch freigelegt werden und bilden ein
notwendiges Bedingungsfeld für ein Lernen aus Interesse.
Auf direktem Weg kommen wir also nicht vom Wissen zum Denken. Der auf-
gebrachte Körper ist ein notwendiger Bestandteil gruppendynamischer Denk-
prozesse zu Bildern. Fragonards Gemälde ist ein Plädoyer für die Nervosität des
Geistes, die sich im bewegten Körper zeigt. Der Körper denkt mit!

2 Aufräumen

Jetzt aber mal schön der Reihe nach! So kann sich ja niemand konzentrieren.
Gefühlstaumel sind doch der Feind analytischen Denkens! Gegensätze müssen
her: Also alles auf einen Haufen packen und dann fein säuberlich sortieren. Unser
Kopf ist ein Setzkasten und wir bestimmen, was wohin gehört…
Eine fünfte Klasse ist im Museum. Im Fächerverbund von Kunst und
Geschichte wollen sie sich mit dem Sammeln beschäftigen. Die Hamburger
Kunsthalle bietet dafür die besten Bedingungen. Sie beherbergt ein seltenes Still-
leben, das Objekte nicht auf einem Tisch versammelt, sondern über die gesamte
Fläche in einem Kunstkammerregal sortiert.
Kunst- oder Wunderkammern sind Orte des Staunens, aber auch des Denkens
in Ordnungen. Sie entstanden in der Frühen Neuzeit an europäischen Höfen und
versammelten Gegenstände unterschiedlicher Herkunft. Kunstkammern sollten

6Sebastian Knell unterscheidet das Staunen in der Philosophie in ein impulsgebendes,

erklärungssuchendes Staunen, das motivational wirksam ist, und in ein finales Staunen, das
den Endpunkt kognitiver Bemühungen erfasst. Beide sind in der Kunstvermittlung aktiv. Knell,
Sebastian: Thaumazein. Über das Staunen als philosophische Grundhaltung. In: Information
Philosophie. 4/(2015), S. 28–37.
7Uphoff, Ina: Die Bildungsaufgabe des Museums. In: Zeitschrift für Museum und Bildung. 64/

(2005), S. 22–29.
8Pohl, Karl: Lobpreis des Staunens. Über die Ursprünglichkeit des kindlichen Philosophierens.

In: Ullrich, Heiner/Hamburger, Franz (Hrsg.): Kinder am Ende ihres Jahrhunderts. Pädagogische
Perspektiven. Langenau-Ulm: Armin Vaas Verlag (1991), S. 85.
200 A. Vierck

ein universales Bild der Welt im Kleinen abbilden.9 In ihnen wurde präsentiert
und systematisiert. Zwar sind ihre Ordnungssysteme nicht unbedingt mit unseren
heutigen identisch, aber Kunstkammern sind damit direkte Vorfahren moderner
Museen. Mit ihnen erhielten das Sammeln, Ordnen und Erforschen der Dinge
einen neuen Stellenwert. Sie demonstrierten dabei zugleich Macht, Wohlstand und
Wissen.10
„Wer von euch hat schon einmal einen Zahn verloren?“ Alle Fünftkläss-
ler heben ihre Arme und jedes Kind kann berichten, wo und wie es Milchzähne
aufbewahrt. Sie haben einen besonderen Sinn für das Bewahren und auch für
das Präsentieren ihrer Hinterlassenschaft. Auch die Zahnfee kommt schnell ins
Spiel und es wird deutlich, dass die Kinder mit dieser mythischen Figur sehr
beschäftigt sind. Langsam sickert durch, dass keines von ihnen mehr „wirk-
lich“ an die Zahnfee glaubt, aber alle genießen die Idee ihrer Existenz. Sie sind
in einem Schwellenalter, in dem magisches und empirisches Denken sich nicht
ausschließen. Ihre Annäherung an Welt findet mindestens aus diesen beiden
Richtungen gleichzeitig statt.
Warum ist das relevant? Die Welt steht uns nicht unmittelbar, sondern nur ver-
mittelt durch Zeichen- und Bedeutungssysteme zur Verfügung. Ernst Cassirer
spricht von diesen Grundformen der Weltauffassung als symbolische Formen,
unter denen alle gleichwertig sind. Die Sicht auf einen Gegenstand hängt
fundamental davon ab, aus welcher symbolischen Form heraus wir uns ihm
nähern. Jede für sich ist ein eigenständiges Deutungssystem mit eigenständigen,
für sich jeweils gültigen Binnenstrukturen.11
Wird die Moderation eines Bildgesprächs auf einer Philosophie der
symbolischen Formen aufgebaut, bedeutet dies, die Alltagsvorstellungen der
Lernenden kennenzulernen, sich ihnen zuzuwenden und sie zu verstehen.12
Zugeneigt und mit wohlwollender Offenheit gehen wir auf alle vorhandenen
Denkweisen zu und nehmen sie ohne Wertung mit in das gemeinsame Gespräch.

9Zur Geschichte dieser Orte vgl. zum Beispiel: Beßler, Gabriele: Wunderkammern – Welt-

modelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart. Berlin: Reimer Verlag (2012). Mit
der besonderen Bedeutung der Wunderkammern für die neueren Bildwissenschaften hat sich
Horst Bredekamp beschäftigt. Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die
Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin: Wagenbach (2000).
10Solche Räume höfischer Zurschaustellung können nicht unabhängig von postkolonialen

Fragestellungen betrachtet werden. Auch in der Hamburger Darstellung eines wahrschein-


lich dänischen Kunstkammerregals sind Aspekte kolonialer Herrschaftsansprüche zu sehen. Zu
diesem Diskurs vgl. auch: Collet, Dominik: Kunst- und Wunderkammern. In: den Boer, Pim/
Durchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europa und die Welt. Europäische
Erinnerungsorte. Band 3. München: Oldenbourg Verlag (2012), S. 157–171.
11Cassirer, Ernst: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt: WBG (1983).

12Die Übertragung der Philosophie Cassirers auf das Kunsterleben und die dabei aktive

Dimension des Fühlens geht bereits auf Susanne Langer zurück. Lachmann, Rolf: Susanne K.
Langer. Die lebendige Form menschlichen Fühlens und Verstehens. München: Wilhelm Fink Ver-
lag (2000).
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 201

Auf dieser Basis kann sich eine Unterhaltung entwickeln, bei der alle Beteiligten
aus ihren individuellen Voraussetzungen heraus die künstlerische Position
betrachten und ihr Denken integrieren können.
Das Schulprogramm der Hamburger Kunsthalle entwickelt sich in Zusammen-
arbeit mit Kristina Calvert auf Grundlage des kreativen Philosophierens mit
Kindern.13 Gemeinsam mit der Kinderphilosophin gestaltet das Schulteam auf der
Basis dieser Haltung demokratische Vermittlungsformen und sucht nach Über-
tragungen des Philosophierens in eine kreative und dialogische Begegnung mit
Kunstwerken im Museum. Das hat Auswirkungen auf die Dialogkultur.14
„Warum bewahrt ihr eure Milchzähne eigentlich auf?“ Die Antworten, die nun
kommen, benennen beinahe umfassend die Grundordnung der Kunst- und Wunder-
kammern, mit der wir uns später beschäftigen wollen. „Weil sie ein Teil von
meinem Körper sind.“ (Naturalia). „Weil sie mich daran erinnern, dass ich mal
klein war.“ (Memorabilia). „Weil sie ganz besonders weiß aussehen.“ (Artificialia).
„Weil sie zeigen, dass alles mal stirbt.“ (memento mori). „Weil spätere Menschen
sie untersuchen und dabei rausfinden können, dass es uns gab.“ (Scientifica)…15
Anhand der zwei Fragen haben die Kinder erklärt, warum die Menschheit
ihr Denken mit Dingen verknüpft, was die Kernaufgaben eines Museums sind
und wie Forschung entsteht.16 Vor dem Kunstkammerregal können sie nun Ver-
gleiche ziehen. Wir kippen einen Sack voller Objekte aus, die viele Kinder gerne
sammeln, und stellen uns im Kreis darum. Nach und nach nimmt jedes Kind ein
Objekt und legt es zu einem anderen. Dabei begründet es, warum diese Objekte
zusammengehören. So entsteht Ordnung und es entwickeln sich immer mehr Kate-
gorien: alles was funkelt, Dinge, die Geschichten erzählen, Sachen, die Leon mag,
Objekte, mit denen man bezahlen kann, Gefäße zum Aufbewahren…
Immer wieder schauen wir auf das Gemälde und überprüfen, ob es die neue
Kategorie dort auch schon gibt. Pokémonkarten, Strasssteine und Handyver-
packungen treten in einen nachvollziehbaren Dialog mit Medaillons, Perlen und

13Zum kreativen Philosophieren mit Kindern (nach Calvert) vgl.: Calvert, Kristina: Respekt vor
den Gedanken der Kinder. Philosophieren mit Kindern im öffentlichen Kultur-Raum. In: Stand-
bein Spielbein. Museumspädagogik aktuell. Heft 99/(2014), S. 19–22. Eine aktuelle Darlegung
ihres philosophischen Paradigmas ist zudem hier aufgeführt: Calvert, Kristina: 52 Bildkarten
zum Philosophieren mit Kindern. Booklet. Weinheim: Beltz (2020).
14Der Einsatz des Philosophierens als rezeptionsästhetische Methode im Kunstmuseum ist nicht

umfänglich erforscht. Siehe: Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell. Heft 99/(2014).


Zum fächerübergreifenden Einsatz des Philosophierens im Kunstunterricht vgl.: Duncker,
Ludwig/Müller, Hans J./Uhlig, Bettina (Hrsg.): Betrachten – Staunen – Denken. Philosophieren
mit Kindern zwischen Kunst und Sprache. München: Kopaed (2012).
15Die Begriffe sind der ordnungsbildenden Grundstruktur der Kunst- und Wunderkammern ent-

nommen. Die hier genannten Beispiele lassen sich in etwa als Naturobjekte, Erinnerungsstücke,
Objekte von schöner Gestalt, Vergänglichkeitssymbole und wissenschaftliche Instrumente über-
setzen.
16Als Kernaufgaben der modernen Museen werden festgelegt: Sammeln, Bewahren, Forschen,

Ausstellen und Vermitteln: vgl. Deutscher Museumsbund: Museumsaufgaben. https://www.


museumsbund.de/museumsaufgaben/ (24. Juni 2020).
202 A. Vierck

Elfenbeinkrügen. Das Kunstwerk erschließt sich in nahtloser Verknüpfung mit


der Lebensrealität. Auf dem Fußboden entspinnt sich eine Mindmap aus Dingen.
Sie spiegelt das frühneuzeitliche Gemälde an der Museumswand wie seine Ver-
längerung im realen Raum. Nach dem Einstieg und dem Bildgespräch nähern wir
uns nun der dritten Phase des Museumsbesuchs: der Planung einer persönlichen
Wunderkammer, die alles enthält, was das Kind ins Staunen versetzt. Sie wird
später im Kinderzimmerregal mit eigenen Dingen umgesetzt und fotografiert.
Um uns in der Gruppe philosophischen Fragen zu widmen, räumen wir
zunächst gemeinsam unsere Köpfe auf. Die Objekte machen unser Denken im
Raum sicht- und vergleichbar. Gemeinsam schaffen die Kinder so für ihr Weiter-
denken eine „gut aufgeräumte Situation einer möglichen Welt“.17 In diesem Punkt
ähnelt das beschriebene Vorgehen dem Grundgedanken der Kunstkammern.18 Im
modellhaften Denken können die Kinder ihre Wirklichkeit rekonstruieren und
gemeinsam analysieren.
Die Gruppe hat sich an diesem Vormittag nicht nur intensiv mit einem Kunst-
werk beschäftigt. Sie hat sich in einem metakognitiven Dialog mit den Grund-
voraussetzungen des wissenschaftlichen Arbeitens auseinandergesetzt. Der
Großteil des hier verhandelten Wissens wurde von den Kindern selbst generiert
und in der Gruppe entwickelt. Durch die Bezugnahme ihrer individuellen
Gedankengänge aufeinander und auf das Kunstwerk konnten sie in einen Diskurs
eintreten, der das Sammeln, Ordnen und Staunen nicht nur als abstrakten Entwurf
der Geschichte oder als Legitimation einer fremden Institution erfasst, sondern als
elementare Grundbedingung eines lernenden Umgangs mit Welt.

3 Betrachten

Welches Wissen hilft uns beim Denken?


Fragonards Philosoph verdeutlicht, dass es ein Wissen gibt, das nicht dem
grübelnden Geist, sondern dem sinnlich wahrnehmenden und durch das Kunst-
werk bewegten Körper entspringt. Der Umgang der Kinder mit dem Kunst-
kammerregal legt zwei weitere Formen des Wissens offen, die allzu leicht
übersehen werden: das Alltagswissen, das die Kinder mitbringen, und das Wissen,
das der Anschauung, der Beschreibung und dem Vergleich der Dinge selbst ent-
springt.

17Zürcher, Tobias: Gedankenexperimente. In: Pfister, Jonas/Zimmermann, Peter (Hrsg.): Neues


Handbuch des Philosophieunterrichts. Bern: UTB (2016), S. 313–331.
18Zum modellhaft universalen Anspruch der Kunst- und Wunderkammern vgl.: Collet, Dominik:

Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (2007).
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 203

Das im Zeichenverstehen aktivierte Wissen nennt Ernst Cassirer


„Repräsentation“.19 Mit ihm kommen wir auf die symbolbildende Aktivität
zurück. Durch sie orientieren sich Menschen in ihrer Welt und entwickeln ihr
Wissen. Kunstbetrachtung ist auch in diesem Sinne keine rein rezeptive Tätig-
keit, sie ist von Anfang an produktiv. Sie bringt Wissen und Handlung hervor. Um
diesen Prozess zu unterstützen, ist es absolut notwendig, die Konzepte kennenzu-
lernen, in denen die Kinder operieren. Sie, und nicht das Fachwissen, bilden das
Netz, das das gemeinsam entwickelte Kunstwissen trägt.
Neben diesem unschätzbaren intrinsischen Wissen gibt es selbstverständ-
lich auch externe und fachliche Faktoren, die den Dialog stützen und lenken.
Sie stellen zwar einen deutlich kleineren, aber nicht weniger wichtigen Teil des
Museumsgespräches dar. Um die vier ausgemachten Wissenswege nicht gegen-
einander auszuspielen, ist es für die kunstvermittelnde Moderation vielmehr
wichtig, Dosis und Zeitpunkt externer Informationen genau zu bestimmen und sie
in dem Moment zu platzieren, in dem sie das Weiterdenken unterstützen.
Ein Philosophiekurs der Oberstufe kommt im Rahmen des Prüfungsthemas
Ästhetik ins Museum. Diese Schüler*innen bringen bereits eine enorme Kennt-
nis philosophischer Texte zur Ästhetik mit und haben sich dem Thema Schönheit
bereits mit Kant und Baumgarten genähert. Danach gefragt, wann sie zuletzt eine
ästhetische Erfahrung an sich gespürt haben, kommen einige ins Stocken. Für sie
ging es im Ästhetikunterricht um das Erfassen komplexer Denksysteme und noch
nicht so sehr um sie selbst.
Ausgestattet mit einer Liste möglicher körperlicher Symptome und mit
Markierungspunkten bewegen sie sich langsam vom Mittelalter bis ins 19. Jahr-
hundert. Vor einem Kunstwerk des Künstlers Jean-Léon Gerôme treffen sie sich
wieder. Auf ihren Zetteln wimmelt es von Punkten. Genau können sie schildern, in
welchem Raum sie feuchte Hände oder einen schnelleren Herzschlag bekommen
haben. Sie sind in der Lage zu beschreiben, was in ihrem Körper beim Durch-
schreiten und Erblicken der Kunst vorgegangen ist. Es gibt sogar ein Kunstwerk,
das von mehreren Personen als besonders agitierend wahrgenommen wurde.20
Wir betrachten gemeinsam Gerômes Gemälde „Phryne vor den Richtern“ aus
dem Jahr 1861. Die Gruppe ist aufgefordert, für die im Halbkreis sitzenden, auf-
gebrachten Richter möglichst präzise Begriffe zu finden, die den Ausdruck ihrer
Gesten und ihrer Mimik beschreiben. Wir sammeln die Begriffe auf Moderations-
karten und legen sie im Halbkreis vor dem Bild in der Reihenfolge der dar-
gestellten Figuren ab. Die rot gekleideten Männer werden genau betrachtet und
auf den Begriff gebracht (Abb. 2).

19Plümacher, Martina: Menschliches Wissen in Repräsentationen. In: Recki, Birgit (Hrsg.):


Philosophie der Kultur, Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert.
Hamburg: Meiner (2012), S. 181–201.
20Das Kunstwerk, dessen Wirkung auf ihr ästhetisches Erleben die Schüler*innen als besonders

stark empfunden haben, war „Meeresufer im Mondschein“ von Caspar David Friedrich.
204 A. Vierck

Abb. 2  Jean-Léon Gerôme: Phryne vor den Richtern, 1861, Öl auf Leinwand, 80 × 128 cm. (©
Hamburger Kunsthalle/bpk, Foto: Elke Walford)

Die antike Erzählung ist den Jugendlichen nicht bekannt. Aber dass es sich um
eine Begutachtung der entkleideten Frau im Vordergrund handelt, wird schnell
deutlich. Die Athenerin Phryne, die sich der Gotteslästerung schuldig gemacht hat,
indem sie sagte, sie sei so schön wie Aphrodite, wird vor dem Obersten Gericht
zur Schau gestellt. Die Richter sind aufgefordert, ein Urteil zu fällen. Der Ver-
teidiger der Angeklagten zieht ihr den Umhang vom Leib und setzt ihren nackten
Körper als Beweismittel ein. Dieses Hintergrundwissen zur Bildhandlung fließt in
die Unterhaltung ein, während die Gruppe die Darstellung für sich erschließt.
Wir ergänzen den Namen „Phryne“ vor dem Halbkreis der Emotionen auf dem
Boden. Ihre Ausgeliefertheit ist Thema der Diskussion, ebenso wie die merk-
würdige gestische Reaktion, mit der sie nicht ihre Scham, sondern ihre Augen
verbirgt. Um den Körperbewegungen im Bild näher zu kommen, nehmen die
Jugendlichen immer wieder Haltungen ein und befragen die mögliche innere
Motivation dahinter.
Die Gruppe beginnt dabei automatisch, das Dargestellte mit ihrer Kant-Lektüre
in Verbindung zu bringen. Wir ersetzen darum nach einer Weile den Namen
„Phryne“ durch den Begriff „Schönheit“. Was, wenn nicht über die Person,
sondern über das Schöne selbst ein Urteil gefällt werden muss?
Die Gruppe stößt auf ein Problem, denn die ausliegenden Begriffe sind
nicht vereinbar mit einem interesselosen ästhetischen und auch nicht mit einem
moralischen Urteil. Unter welchen Erkenntnisbedingungen steht die dargestellte
Situation, welche Urteilskraft ist diesen Männern noch zuzutrauen? Die Mehrheit
der Richter, so sagen sie, sind kompromittiert durch einen emotionalen Taumel.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 205

Angesichts der nackten Frau sind sie offensichtlich nicht in der Lage, ihres Amtes
zu walten. In den Augen der Schüler*innen machen sie sich geradezu lächerlich.
Aber wie steht es um uns? Auch wir sind im Bild, denn ein kleines Detail
erweitert den Kreis der Richter organisch aus dem Gemälde in den realen Raum.
Auf die Auslassung in den steinernen Sitzreihen folgt ganz in der rechten Bild-
ecke ein gerade eben noch sichtbares, angeschnittenes weiteres Fußpaar unter
einem roten Umhangsaum. Der Sitzkreis setzt sich fort. Durch unsere Perspektive
sind wir gar nicht in der Lage, alle anwesenden Figuren zu sehen. Wir gehören
vielmehr dazu, denn unsere Betrachterkörper sind die logische Verlängerung der
Richter im Bild. Sind wir als Kunstbetrachtende damit Teil einer angesichts des
nackten Frauenkörpers lustvoll geifernden Meute?
In der Kunstbetrachtung geht es niemals nur um die Anderen, es geht immer
auch um uns selbst. Unser Erleben, aber auch unsere Rekonstruktion von
Welt steht im Mittelpunkt der Vermittlung. Sie bewegt sich im Spannungs-
feld von Objektbetrachtung und subjektiver Inbezugnahme. Das Bild ist von der
betrachtenden Person nicht zu trennen. Damit setzt sich auch der Halbkreis der
auf dem Boden liegenden Begriffe in unserer Stuhlreihe vor dem Bild fort. Die
Jugendlichen sind betroffen von dieser Erkenntnis und fühlen sich umso mehr in
ihrem eigenen Urteilen herausgefordert.
Ist diese Frau also so schön wie Aphrodite? Ist es das, was hier durch
Anschauung zu beweisen ist? Neben der zugrundeliegenden Erzählung und dem
mitgebrachten Unterrichtswissen erweitert nun ein einziger weiterer Baustein der
Moderation den Kontext der Überlegungen zum Bild. Er verändert den Blick auf
das Kunstwerk noch einmal radikal.
Im antiken Verständnis spielt ein weiterer Begriff in die Ästhetik hinein, den
wir heute nicht unbedingt mitdenken: Das Schöne steht in direkter Verbindung
mit dem Wahren. Wir ersetzen darum den Begriff erneut und die Bildhandlung
erscheint wieder in einem anderen Licht. Angesichts des Begriffes „Wahrheit“
scheinen die Richter (wie Fragonards Philosoph) nun in einem aufgewühlten
Moment der Erkenntnis zu stecken. Es geht hier nicht allein um die Anschauung
des Ausmaßes von Schönheit. Es geht um ein juristisches Argument: In ihrer
realen Schönheit berührt Phryne auch das göttliche Wahre und Gute.
Ist also die Erkenntnis selbst, das Erkennen einer Wahrheit, das eigentlich
Schöne? Geht es hier um physische Anschauung oder um ein metaphysisches
Erschaudern? Und befreit diese neue Sichtweise die Männer von dem ersten Ein-
druck der lüsternen Blicke auf einen nackten Körper? Ganz sicher verschwindet
das voyeuristische Moment nicht aus dem Gemälde, aber eine neue Dimension
kommt hinzu.
Das Kunstwerk wirft in der ausgeführten Betrachtungsweise Fragen auf, gibt
aber keine finalen Antworten. Die verschiedenen Deutungsschichten lösen sich
nicht gegenseitig auf. Es gilt, das Unabgeschlossene auszuhalten und das aktuelle
Gespräch als Teil eines fortwährenden Deutungsvorgangs zu begreifen. Die Unter-
haltung vor dem Bild aber ist schon lange in einem komplexen Metadiskurs
angekommen. Dieser hat sich zum größten Teil aus einer sukzessiven und genauen
Wahrnehmung ergeben.
206 A. Vierck

Im Kunstmuseum ist Ästhetik für diese Jugendlichen etwas physisch Erlebtes


geworden, das sie mit sich selbst und ihrem Körper in Verbindung gebracht haben.
Aus der Bildwahrnehmung, der zugrundeliegenden Geschichte und aus einem
einzigen Kontextbaustein haben sie zunächst ein Denkgerüst entwickelt und
dann gemeinsam ein Umdenken erlebt. Sie haben Thesen aufgestellt, die sie im
Raum sichtbar auf ihre Tragfähigkeit hin befragt haben. Sie haben erfahren, dass
Deutungsprozesse im Rahmen der Künste niemals abgeschlossen sind und nicht,
einem geknackten Code gleich, bei einer erreichten Erkenntnis enden.
Das Erschließen einer vollkommenen Bedeutung ist nicht Ziel eines
Gespräches zur Kunst. Ein umfassender Deutungsversuch wäre ohnehin
frustrierend und zum Scheitern verurteilt. Im Kontext des Philosophierens setzt
das Bildgespräch vielmehr Form und Inhalt der Kunstwerke in Verbindung zu den
Bezugspunkten der betrachtenden Individuen.21 Die außerschulische Kunstbe-
trachtung im Rahmen des Philosophieunterrichts endet nicht mit einem Wissens-
mehrwert, der curricular abgehakt werden kann. Sie gibt den Schüler*innen
multiple Denkrichtungen. Vor allen Dingen rüttelt sie nachhaltig an ihrem
Interesse und damit an ihrer basalen Lernmotivation.

4 Reden

Was bedeutet das für die außerschulische Vermittlung im Museum?


Werke aller Epochen setzen sich mit der Welt in ihrer gesamten Komplexität
auseinander, sie tun das auf speziell künstlerische und damit mehrdeutige Weise.
Ihre Inhalte, aber auch ihre originären Zugangsweisen zum Weltwissen sind für
jeden Fachbereich von Bedeutung. Ein Umgang mit Bildlogik, Bildwirkung und
künstlerischen Handlungsweisen erschließt Lernenden neue Zugänge zu Fach-
inhalten und vermittelt Schlüsselqualifikationen, die sich in einer mit Bildern
überfluteten Welt niemals auf den kulturellen Bereich beschränken.22
Ein Besuch des Kunstmuseums bedeutet nicht, dass Unterrichtsinhalte auf
den außerschulischen Lernort ausgelagert werden. In keinem Moment geht es bei
einem solchen Bildgespräch um die Vermittlung von Kants Theorie der Ästhetik.
Das gesamte philosophische Wissen bringen die Lernenden selbst mit – oder
eben nicht. Wie groß ihr vorheriger Wissensschatz ist, ist für die Bildbetrachtung

21Uhlig, Bettina: 7777777 „details“ eines Lebens. Zum Philosophieren mit Kindern zu Kunst-
werken. In: Müller, Hans-Joachim/Pfeiffer, Silke (Hrsg.): Denken als didaktische Zielkompetenz.
Philosophieren mit Kindern in der Grundschule. Baltmannsweiler: Hohengehren (2004), S. 89.
22Seit einigen Jahren wird im Bereich der Kunstdidaktik ein neuer Fokus auf Aspekte der Bild-

kompetenz gelegt. Vgl. dazu zum Beispiel: Behring, Kunibert/Niehoff, Rolf: Bildkompetenz.
Eine kunstdidaktische Perspektive. Oberhausen: Athena (2013). Auch der Ansatz des Schul-
programms der Hamburger Kunsthalle folgt einer bildwissenschaftlichen Ausrichtung, sieht
aber Bildkompetenz als ein unbedingt interdisziplinär anzugehendes Kompetenzfeld aller Fach-
bereiche.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 207

insofern unerheblich, als es in jedem Fall um die Verknüpfung ihres Wissens mit
der Anschauung einer spezifischen künstlerischen Position geht. Eine Kunst-
vermittlung, die den Präkonzepten der Lernenden Raum gibt, wird immer aus
dem vorhandenen und dem sich im Moment entwickelnden Wissen der Gruppe
schöpfen.
Im Museum setzen Schüler*innen ihre Kenntnisse ins Verhältnis zur Kunst.
Sie liefern sie damit einer Erschütterung aus. Angesichts einer fachfremden
symbolischen Form sind sie aufgefordert, sich selbst herauszufordern. Das
ermöglicht ihnen die Einnahme neuer Perspektiven auf sich selbst als Lernende.
Wie sehe ich auf die Welt, welches Wissen bringe ich mit, welche Assoziationen
spielen in mein Denken hinein, welche Handlungen sind möglich und: Kann ich
auch anders sehen, denken und handeln? Gibt es alternative Zugänge zur Welt, die
ich noch ausprobieren kann?23
Um eine solche Ebene kultureller Bildung zu erreichen, setzt das Schul-
programm der Hamburger Kunsthalle auf drei feste Säulen, die stetig im Team
weiterentwickelt werden: Themenzentrierung, Dialog und kreative Interaktion
bilden die festen Pfeiler eines fächerübergreifenden Angebotes für Schulen, das
zunehmend partizipativ ausgerichtet werden soll. Das beginnt in der Auswahl der
mit Schulklassen verhandelten Themen.
Was ist ein Thema? Diese Frage erhält angesichts von 700 Jahren Kunst-
geschichte besondere Dramatik. Um nicht wahllos mögliche Inhalte der Kunst-
geschichte zu reproduzieren, werden verschiedene Schlüssel angelegt, die bei der
Themenfindung helfen. Koordinaten dafür sind zu gleichen Teilen in den Kunst-
werken und in den betrachtenden Individuen verankert.24
Eine Installation von Bogomir Ecker durchzieht die gesamte Galerie der
Gegenwart. Sie transportiert auf dem Dach aufgefangenes Regenwasser bis
ins Erdgeschoss, wo es einem großen Pflanzkübel zugeführt wird, um dadurch
angereichert in kleinen Mengen im Sockelgeschoss in der „Tropfsteinmaschine“
anzukommen. Langsam aber beharrlich tröpfelt das kalkreiche Wasser hier auf eine
Steinplatte und lagert sich mit den Jahren ab. Diesem Kunstwerk wurde durch den
Künstler vorab ein Ende gesetzt. Im Jahr 2496, 500 Jahre nach seinem Aufbau, soll
ein etwa fünf Zentimeter großer Stalagmit entstanden sein. Dann ist Schluss.
Dann ist Schluss? Unüberschaubare geologische Dimensionen packt Ecker in
die kleine Kammer, die seinen künstlichen Tropfstein produziert. Das Museum
ist aufgefordert, sie zu bewahren und somit mindestens 500 Jahre zu existieren.
Bogomir Ecker entwickelt damit ein Gedankenspiel. Was passiert, außer der

23Ästhetische Erfahrung wird hier nicht als reine sinnliche Wahrnehmung erfasst, sondern als
Reflexion des Selbst als wahrnehmendes. Vgl. Brandstätter, Ursula: Ästhetische Erfahrung.
In: Kulturelle Bildung online. https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung
(04.06.2019).
24Ein weiterer Faktor sind die aktuellen Debatten und Diskussionsfelder der politischen Gesell-

schaft, in der die Schüler*innen leben.


208 A. Vierck

Entstehung des Stalagmiten, noch in der anvisierten Zeitspanne? Wird das


Gebäude überhaupt so lange überleben? Wir werden es sicher nicht!
Die Fragestellungen, die hier aufgeworfen werden, berühren uns alle. Als
Bild- und Gesprächsthema hat Zeit einen geradezu weltumspannenden Anspruch.
Niemand kann sich ihm entziehen. Auch wir sind der Endlichkeit, der Ver-
änderung und der Einwirkung der Zeit unterworfen. Ihr Vergehen wird beinahe
messbar, wenn Betrachtende auf den selten aber regelmäßig sich sammelnden
Tropfen warten, um ihn beim Herabfallen zu erwischen. Die Zeit wird gezählt.
Eine Auseinandersetzung mit Zeit und Vergänglichkeit beginnt in der Kunst-
halle mit dem ältesten Kunstwerk, begleitet uns über alle Epochen und lässt uns
auch in der Gegenwart nicht los. Zeit ist nicht nur ein Sammlungsschwerpunkt,
Zeit ist eine anthropologische Konstante und darum ist Zeit ein angemessenes
Thema für das Schulprogramm eines Museums.25 Wie gehen wir mit ihr um?
Können wir sie gestalten? Können wir sie sogar fixieren? Helfen künstlerische
Verfahren dabei?
Vor und mit der Kunst entstehen nicht nur Reflexionsmöglichkeiten, sondern
Handlungsräume für den experimentellen Umgang mit solchen wesentlichen
Themen. Wir nähern uns ihnen mit philosophischen Fragestellungen, die einer
höheren Ordnung zugeordnet werden können. Sie erheben einen Anspruch an
selbstständig denkende Besuchende und machen kreative Lösungswege nötig.26
Über Zeit kann man reden. Themen wie dieses sind nicht Vermittlungsgegen-
stände, sondern allgemeingültige Problemfelder, die gemeinsam in der Gruppe
angegangen werden. Aus der sinnlichen Begegnung mit der Kunst, im moderierten
Gespräch und im kreativen Transfer entwickeln Schüler*innen ihre Gedanken zu
einem gemeinsamen Gedankengerüst weiter, das sie modellhaft und selbstreflexiv
zu neuen Sichtweisen und Einsichten führen kann.
Dabei geht es selbstverständlich nicht um ein Frage- und Antwortspiel, dessen
Bildungsinhalt vorab festgelegt ist. Den oben angesprochenen Haltungen ent-
sprechend geht es vielmehr darum, Mehrperspektivität nachvollziehbar zu
machen. Die vielen unterschiedlichen Blicke auf ein Kunstwerk und auf ein als
wesentlich empfundenes Thema werden zum eigentlichen Gegenstand der Unter-
suchung. Dadurch entsteht für die Einzelnen ein neues Gesamtbild, das von ihrem
eigenen abweicht. Der Dialog entwickelt sich als permanentes Vergleichen von

25Hartung, Gerald (Hrsg.): Mensch und Zeit. Studien zur interdisziplinären Anthropologie. Wies-
baden: Springer (2015).
26Diese Art der Themenbestimmung geht außerdem zurück auf die in der Hattie-Studie für den

Lernerfolg ausgemachten „higher order questions“. Für eine Auseinandersetzung mit diesem
Wirkungselement in der bildungsempirischen Metastudie vgl.: Lotz, Miriam/Lipowsky, Frank:
Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht. Ein Blick auf ausgewählte Aspekte
der Lehrer-Schüler-Interaktion. In: Mehlhorn, Gerlinde/Schulz, Frank/Schöppe, Karola (Hrsg.):
Begabungen entwickeln und Kreativität fördern. München: Krea Plus Verlag (2015), S. 97–136.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 209

und Verständigen über Sichtweisen, bis sich durch die Bezugnahme innovative
Erkenntnisse und Handlungen einstellen können.27
Nun aber genug geredet. Gibt es nicht auch andere Formen der
Kommunikation? Dialoge zur Kunst finden nicht allein in der verbalen Reflexion
statt, sondern wechseln unbedingt zwischen den symbolischen Formen. Aus der
verändernden Wechselbewegung zwischen kognitivem Dialog und kreativer Hand-
lung entsteht eine Form der ästhetischen Forschung.

5 Gestalten

In der Kunstbetrachtung bilden Sinnlichkeit und Sinn eine unverrückbare Ein-


heit. Der nicht anschauliche Sinn ist in der sinnlichen Anschauung mit gefasst.
Bilder sind nicht Abbildungen einer objektiven Wirklichkeit, sondern Medien der
Erkenntnis über die eigene Wirklichkeitskonstruktion. Ein Dialog zur Kunst, der
dies ernst nimmt, muss sich darum von der sendenden Wissensvermittlung lösen
und sie zur selbstständig entwickelten Wissensproduktion öffnen. Die Kunst-
vermittlung ist herausgefordert, hierfür kreative Methoden zu entwickeln. In
der Hamburger Kunsthalle geht auch die Praxis vom Philosophieren aus. Kunst-
gespräch und künstlerische Forschung gehen netzwerkartig ineinander über und
durchdringen sich gegenseitig.
Eine Gruppe Lehrer*innen beschäftigt sich im Museum mit dem Verhältnis
von Kunst und Zeit. Ausgestattet mit Materialien haben sich die Teilnehmenden
in Kleingruppen diskursiv und kreativ mit künstlerischen Positionen unterschied-
licher Epochen auseinandergesetzt. Unter diesen Materialien befand sich neben
Stiften und Papieren auch ein verpacktes Kaugummi. Zum Abschluss findet sich
die Gruppe in der Galerie der Gegenwart zusammen. Alle Beteiligten werden auf-
gefordert, nun auch das Kaugummi wieder auszuhändigen. Quadratische Papiere
liegen für die Abgabe aus.
Nach anfänglichem Zögern und irritierten Blicken werden drei Stunden nach
Veranstaltungsbeginn die ausgeteilten Kaugummis wie Skulpturen platziert. Keins
von ihnen sieht aus wie das andere. Zerbrochene, gekaute, verpackte und zer-
knickte Kaugummis stehen neben Papierresten und leeren schwarzen Quadraten
und bilden das Zentrum der Abschlussüberlegungen.
Gestaltung ist nicht zwangsläufig ein von der Betrachtung losgelöstes Projekt.
Das Thema Zeit hat sich auch ohne Gestaltungsauftrag, ja in den meisten Fällen
sogar ohne expliziten Gestaltungswillen und ganz sicher ohne bildnerische Vor-
kenntnisse in der Süßigkeit manifestiert. Gewirkt hat hier der eben theoretisch ver-
handelte Faktor Zeit selbst. Ein paar Kaugummis wurden aber auch im Moment
der Übergabe schnell noch geformt und stehen nun als skulpturale Zeichen auf
einem Sockel aus Tonpapier (Abb. 3).

27Auch ablehnende Haltungen und Desinteresse gehören übrigens in diesem Sinne zur Mehr-

perspektivität dazu.
210 A. Vierck

Abb. 3  Abschlusspräsentation im Rahmen einer Fortbildung. (Foto: Alke Vierck)

Gestaltung beginnt mit dem Darstellen eines Inhalts in einem anderen. Von
diesem kleinsten Nenner aus, können nicht nur Techniken und Mittel bildender
Handlungen vermittelt werden. Gestaltung wird in diesem Fall als Prinzip
reflektiert. Welchen Anteil hat Zeit an der Veränderung eines Gegenstands? Warum
gestalten wir? Und vor allem, in welcher Form drücken wir uns aus? Welche
Elemente unseres Denkens können wir künstlerisch präziser, emotionaler oder
treffender formulieren?
Für Ernst Cassirer ist Erkennen ein Prozess der Nachbildung vorhandener
Ordnungen. Damit sieht er auch Prozesse der Umformung verbunden.28 Erkennt-
nis ist eine Form der Gestaltung und damit weit weniger passive Aufnahme von
Vorhandenem, sondern aktives Hervorbringen von Neuem. Die Ordnungen
unseres Wissens bestimmen die Wahrnehmung des Gegenstandes mit. Aber auch
unser Handeln drückt Wissen im Zeichen aus.
Diese Prozesse angesichts der Kunst transparent zu machen, ist eine wesent-
liche Aufgabe der philosophischen Kunstvermittlung. Das kann und wird immer
auch im Modus der Sprache geschehen. In Anbetracht der Vielfalt künstlerischer
Methoden und der Talente in einer Gruppe greift aber die rein verbale Interaktion
zu kurz. Sie wird verbunden mit etappenweisen kreativen Einheiten, die nicht das
Gespräch unterbrechen, sondern es auf andere Weise weiterführen. Sie kann von
dort auch übergehen in ein längeres ästhetisch forschendes Projekt.29

28Cassirer,Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit.
Erster Band. Hamburg: Meiner (1999).
29Praxisbezogene Methoden entwickeln sich hier auf künstlerisch forschenden Ansätzen.

Wichtigste Basis dafür sind nach wie vor die Texte von Helga Kämpf-Jansen. Kämpf-Jansen,
Helga: Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Aspekts ästhetischer Bildung. In:
Blohm, Manfred (Hrsg.): Leerstellen. Perspektiven für ästhetisches Lernen in Schule und Hoch-
schule. Köln: Salon-Verlag (2000), S. 83–114.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 211

Kunstbetrachtung ist nicht nur unmittelbare Welterfahrung. Ein Kunstwerk


ist uns nicht allein als materielles Ding verfügbar, es offenbart sich zugleich als
Zeichen und präsentiert eine eigene Form symbolischer Kommunikation. Im
kreativen Kunstgespräch geht es weder um ein Nachahmen der beobachteten
künstlerischen Praktiken noch um eine Übersetzung von etwas Zeichenhaftem
in eine eindeutige Sprache. Auch andersherum müssen gestaltende Verfahren
nicht nachträglich auf den Begriff gebracht werden. Sie müssen in ihrer Zeichen-
haftigkeit und damit in ihrer Mehrdeutigkeit anerkannt und diskutiert werden.
Immer wieder neu, immer wieder anders, bis uns die Haare zu Berge stehen.

Literatur
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Schule und Hochschule. Köln: Salon-Verlag 2000, S. 83–114.
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212 A. Vierck

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Handbuch des Philosophieunterrichts. Bern: UTB 2016, S. 313–331.
Der Zoo als Lernort
Ulrike Barnett und Tobias Rahde

Zusammenfassung

Moderne, wissenschaftlich geleitete Zoologische Gärten und Aquarien grenzen


sich deutlich von den historischen Ansätzen ab und haben sich vier Hauptauf-
gaben verpflichtet – Arten- und Naturschutz, Forschung, Bildung und Erholung.
Als außerschulischer Lernort eignen sich zoologische Einrichtungen für ver-
schiedenste naturwissenschaftliche Themen, aber auch die Vielfalt fächer-
übergreifender Themen ist groß. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit
der modernen Zoopädagogik und beschreibt den Bildungsauftrag zoologischer
Gärten mit seinen formellen und informellen Angeboten sowie dem Anspruch
des nachhaltigen Lernens und gibt Anreize zu der Einbindung von Zoos und
Tierparks in den Schulunterricht in Fächern wie Biologie, Mathematik, Philo-
sophie und Ethik.

Schlüsselwörter

Zoologische Gärten · Zoos · Außerschulischer Lernort · Ethik · Tierpark

U. Barnett (*) · T. Rahde 
Leitung Zooschule und Tierparkschule, Zoologischer Garten Berlin und Tierpark Berlin-
Friedrichsfelde, Berlin, Deutschland
E-Mail: U.Barnett@zoo-berlin.de
T. Rahde 
Kurator, Zoologischer Garten Berlin, Berlin, Deutschland

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 213
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_11
214 U. Barnett und T. Rahde

1 Aufgaben moderner Zoologischer Gärten und


Aquarien

Zoologische Gärten und Aquarien haben in den letzten 150 Jahren einen deut-
lichen Wandel erlebt. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren die
Menagerien reine Schaubetriebe und dienten dem Vergnügen der gehobenen und
gebildeten Bevölkerung. Moderne, wissenschaftlich geleitete Zoologische Gärten
und Aquarien grenzen sich deutlich von diesen historischen Ansätzen ab und
haben sich vier Hauptaufgaben verpflichtet – Arten- und Naturschutz, Forschung,
Bildung und Erholung.1
Zoologische Einrichtungen sehen es als ihre Aufgabe sich aktiv am Arten-
schutz zu beteiligen. Hierfür existieren für die bedrohten Arten spezielle
Zuchtprogramme (z. B. EAZA Ex-situ Programme, EEP) und teilweise Aus-
wilderungsprojekte. Viele Einrichtungen verfügen außerdem über eigene Schutz-
projekte, welche direkt vor Ort (in situ) zum Schutz der Lebensräume oder der
speziellen Tierart betrieben werden.
Neben den wissenschaftlichen Mitarbeitern*innen zoologischer Gärten, die
regelmäßig in Fachzeitschriften über die hauseigene Forschung berichten, gibt
es dynamische Kooperationen mit Universitäten und anderen Forschungsein-
richtungen, um neben der Erforschung des Tierverhaltens (z. B. Sozial- und
Reproduktionsverhalten) auch tiermedizinische Erkenntnisse zu sammeln.
Vor allem in urbanen Ballungsgebieten sind Zoos mit ihrem botanischen und
zoologischen Bestand wichtige Naherholungsgebiete, in denen die Bevölkerung
Ruhe, Erholung und Entschleunigung erfahren kann.
Eine der zentralen Aufgaben ist die Bildungsarbeit in wissenschaftlich
geführten modernen Einrichtungen. Diese findet im Zoo auf vielfältige Weise
statt. Größere Zoologische Gärten verfügen über eine eigene Zooschule, welche
den Bildungsauftrag wahrnimmt und Räumlichkeiten für den außerschulischen
Unterricht bereitstellt. Die Zoopädagogen*innen sind im Verband der Deutsch-
sprachigen Zoopädagogen (VZP)2 vernetzt. Das Bildungsangebot richtet sich
vorwiegend an Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene steigen die
Angebote stetig. Der Trend geht mittlerweile dazu, jede Zooanlage nicht nur nach
tiergärtnerischen Aspekten zu gestalten, sondern auch den pädagogischen Auftrag
in Form einer ansprechenden Beschilderung oder einer Erfahrungs- und Erlebnis-
welt bereits in die Planung mit einzubeziehen.

1www.vdz.de (20.03.2020).
2Weitere Informationen auf www.vzp.de (20.03.2020).
Der Zoo als Lernort 215

2 Was ist Zoopädagogik?

Der gesetzlich verankerte Bildungsauftrag zoologischer Gärten umfasst die


Förderung des öffentlichen Bewusstseins zum Erhalt der biologischen Vielfalt3,
sowie die Vermittlung von tiergärtnerischen und biologischen Inhalten und deren
ökologischen Zusammenhänge an die Besucher*innen4. Eine grundlegende Säule
der Zoopädagogik sind die Richtlinien des UNESCO-Weltaktionsprogramms
Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE)5. Durch diese sollen zukünftige
Generationen befähigt werden, die Konsequenzen ihres eigenen Handelns auf
globaler Ebene zu verstehen, um verantwortungsvolle Entscheidungen im Sinne
einer nachhaltigen Lebensweise zu treffen.
Zudem sind Zoos national und international stark vernetzt (vgl. Verband
der Zoologischen Gärten e.  V., VDZ3; European Association of Zoos and
Aquaria, EAZA ; World Association of Zoos and Aquaria, WAZA7) und die
6

Zoopädagogen*innen tauschen sich auch in edukativen Belangen intensiv aus.


Auch die Naturschutzstrategie der WAZA sieht vor, dass die Zoopädagogik
„Staunen und Respekt für das Netz des Lebens und unserer Rolle darin“8 erzeugen
soll.
In diesem Wortlaut ist bereits inkludiert, dass Zoopädagogik Emotionen bei
den Besuchern*innen schaffen möchte, auf deren Grundlage eine tiefe Ver-
bindung zum lebenden Tier geschaffen werden kann und die Besucher*innen
dazu animieren soll, sich im Sinne einer daraus resultierenden Naturschutz-
ethik entsprechend zu verhalten. Dies kann nur erfolgreich sein, wenn komplexe
Zusammenhänge verschiedener Bereiche so vermittelt werden, dass eine Situation
oder Problematik als globales Thema verstanden wird und Lernende den Einfluss
des eigenen Handels auch nachvollziehen können.
Die Ziele der Zoopädagogik müssen über die bloße Vermittlung von Wissen
über eine Tierart und ihren Lebensraum hinausreichen. Da viele Tierarten, welche
sich in Zoologischen Gärten befinden, in ihrem Bestand gefährdet oder gar vom
Aussterben bedroht sind, sollte die zoopädagogische Arbeit im besten Falle dazu
führen, dass das Wissen und die emotionale Bindung zu einer Art oder zu einer
generellen Problematik zu aktivem Handeln führt. Ein solches Handeln kann
durch den Zoobesuch und die dort erhaltenen Informationen und emotionalen
Bindungen ausgelöst werden. Hierbei übernimmt die Zoopädagogik nicht nur die
Motivationsphase, in der die Werthaltung geändert werden kann, sondern sie sollte
im besten Fall auch konkrete und für die Besucher*innen relevante M
­ öglichkeiten

3www.vdz-zoos.org (20.03.2020).
4Pies-Schulz-Hofen 1996.
5Weitere Informationen unter www.bne-portal.de (24.03.2020).

6www.eaza.net (24.03.2020).

7www.waza.org (24.03.2020).

8WAZA 2009 S. 59.
216 U. Barnett und T. Rahde

zum Handeln aufzeigen (z. B. schonender Umgang mit Ressourcen, Verzicht


auf Tropenhölzer und Plastik, Kauf FSC-zertifizierter Produkte etc.). Auch bei
der sogenannten Volitionsphase9, also der konkreten Planung einer Handlung
(z. B. dem Vorhaben, zukünftig Palmöl zu vermeiden), kann der Zoo und die
pädagogische Abteilung behilflich sein und somit den Besuch eines Zoos zu einem
nachhaltigen Erlebnis werden lassen aus dem weitere Handlungen zu Umwelt-
und Artenschutz entstehen. Dieses ist ein neues und großes Aufgabenfeld für Zoos
und ihre pädagogischen Abteilungen und kann dazu beitragen Zoologische Gärten
noch stärker als bisher zu wichtigen Naturschutzzentren zu machen. Die Arbeit der
Zoopädagogen*innen ist nicht nur auf die Vermittlung rein biologischer Themen
reduziert. Die Präsentation der Tierwelt geschieht zusätzlich unter ökonomischen,
kulturellen und politischen Aspekten.10
Zoos fungieren in der Vielfalt ihrer Bildungsangebote als außerschulischer
Lernort. Der Begriff des außerschulischen Lernortes wurde vom Deutschen
Bildungsrat geprägt.11 An diesen informellen Lernorten steht das erlebnis-
orientierte Lernen im Mittelpunkt.12 Um dieses auf verschiedenen Ebenen zu
fördern, werden hier sinnlich-emotionale Erlebnisse geschaffen, die kognitive
Lernprozesse fördern. Das gelingt in zoologischen Gärten vor allem durch die
Präsentation lebender Tiere. Dies allein führt jedoch noch zu keinem Erkenntnis-
gewinn. Daher „[…] verfolgen die Institutionen das Konzept, naturwissenschaft-
liche Erkenntnisse durch sinnhafte Vermittlungsmethoden zu ergänzen, so dass
es zu einem Ineinandergreifen von kognitiven und emotionalen Aspekten kommen
soll.“13
Laut der Bildungsstudie des Verbands der Zoologischen Gärten e. V. wurden
2018 in den 71 VDZ-Zoos über 170.000 spezielle Bildungsangebote durchgeführt,
die mehr als 1,2 Mio. Besucher*innen erreichten.14 Die Bildung in zoologischen
Gärten passiert dabei sowohl auf informellen als auch auf formellen Weg und ist
an verschiedenste Alters- und Zielgruppen adressiert.

2.1 Formelle und Informelle Lernangebote

Unter formellen Lernangeboten versteht man den Unterricht, welcher an die


jeweiligen Rahmenlehrpläne der Bundesländer gebunden, in den Zoologischen
Einrichtungen durchgeführt werden. Diese finden für die 1.–13. Jahrgangsstufen

9Schlüter2007.
10WAZA 2009.
11Deutscher Bildungsrat 1974.

12Nahrstedt et al. 2002.

13Groß 2007 S. 36.

14Verband der Zoologischen Gärten 2019.


Der Zoo als Lernort 217

Abb. 1  Schulführung im Berliner Zoo. (© Zoo Berlin)

entsprechend der zu behandelnden Themen in Form von speziell konzipierten


Schulführungen oder Projekttagen statt (Abb. 1).
In den Zoologischen Gärten Berlin (Zoo und Aquarium Berlin, sowie der
Tierpark Berlin) gibt es die Angebote für Schulklassen nicht ausschließlich
zu biologischen Themen, auch wenn diese das Hauptthemenfeld füllen (Vgl.
Abschn. 2.2.). Viele Lehrkräfte nutzen den außerschulischen Lernort Zoo als
Ergänzung zu ihrem Unterricht in der Schule. Hierbei gibt es verschiedene
Ansätze, wie ein Ausflug in den Zoo sinnvoll integriert werden kann:

• Zur Einführung in ein neues Thema: auch wenn ein Thema gerade neu
begonnen wird, kann ein Zoobesuch bereits als Auftaktveranstaltung sinn-
voll sein. Allerdings ist auch hierbei eine gewisse Vorbereitung notwendig.
Die Lehrkraft muss sich im Vorfeld des Besuchs die angestrebten Ziele
bewusstmachen, um nicht zu viel von den Schülern*innen und der Lehrein-
heit zu verlangen. Mithilfe der geschulten Pädagogen*innen der Zooschule
können Begriffe des Themenbereichs eingeführt werden. Möglich wäre auch
eine Fragesammlung zum Thema anhand der Führung oder der Gehege-
beschilderung zu erstellen. Auch Verhaltensbeobachtungen können zu gezielten
Fragen führen, welche dann im Unterricht in der Schule theoretisch unterfüttert
werden.
• Zur Vertiefung eines behandelten Themas: als besonders sinnvoll in der Praxis
hat sich erwiesen, dass die Kinder mit einem gewissen Vorwissen in den Zoo
kommen. Die Schüler*innen können dann mit einem Grundverständnis der
218 U. Barnett und T. Rahde

Thematik vertiefende Schwerpunkte besser erfassen und daraus sinnvolle


eigene Fragestellungen entwickeln. Auch ein Blick in die Breite des Themas
ist häufig anhand der Artenfülle im Zoo möglich. Hier kann das erlernte Wissen
auf andere Tierarten transferiert werden.
• Zum Abschluss eines Themas: Hier kann der Zoobesuch einerseits als
Belohnung für die Lernanstrengung zur Erschließung des Themas aufgefasst
werden, andererseits aber auch das Erlernte angewandt werden. Anhand von
Beobachtungen von Tieren, Gehegen oder speziellen Verhaltensformen können
die erlernten Begriffe und Zusammenhänge angewandt und in neue Zusammen-
hänge gestellt werden.

Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass ein Besuch im Zoo zu jeder Zeit eine
gewisse Vorbereitung im Unterricht benötigt. Kommen die Schüler*innen völlig
unvorbereitet und ohne einen Arbeitsauftrag in den Zoo, wird der Lerneffekt
gering und völlig zufällig sein.
Der Zoobesuch kann aber auch als sinnvoller Wandertag gestaltet werden. Viele
Schulklassen nutzen diesen Ausflug, um sich mit einem Thema zu beschäftigen,
welches sonst in der zeitlichen Enge eines Schuljahres wenig Platz im Unterricht
findet.
Informelle Lernangebote sind weitaus weniger klar definiert, als die formellen.
Livingstone (1999) definiert informelles Lernen als

„[…] jede mit dem Streben nach Erkenntnissen, Wissen oder Fähigkeiten verbundene
Aktivität außerhalb der Lehrangebote von Einrichtungen, die Bildungsmaßnahmen, Lehr-
gänge oder Workshops organisieren. Informelles Lernen kann außerhalb institutioneller
Lehrinhalte in jedem denkbaren Umfeld stattfinden.“15

Hierunter fallen neben der klassischen Gehegebeschilderung auch Forscherpfade,


Labore, Erlebniswerkstätten und Ähnliches. Durch diese informellen Lernan-
gebote können selbstgesteuerte und eigenmotivierte Lernprozesse in Bewegung
gebracht werden. Die Besucher*innen erfahren hier bekannte und neue Aspekte
der gezeigten Tiere und Lebensräume und werden bestenfalls behutsam geführt
und zum erwünschten nachhaltigen Lernziel geleitet. Der Vorteil der informellen
Lernangebote liegt in der großen Anzahl von Personen, die tagtäglich damit
erreicht werden können. In modernen Zoos werden die Pädagogen*innen bereits
in die Gestaltung neuer Gehege mit einbezogen und können so bereits in der Ent-
stehung auf didaktische Vermittelbarkeit achten.
In den Zoologischen Gärten Berlin findet ein Großteil der Bildung über
informelle Lernangebote statt. Hierzu gehören neben den oben genannten Bei-
spielen auch die beliebten Kindergeburtstagsführungen, Kitaführungen und
diverse Angebote für Erwachsene. Dabei gibt es für alle Altersstufen und nahezu
jeden Anlass eine Möglichkeit, einen Zoobesuch mit einem informativen, jedoch
ebenso erlebnisreichen Programm zu ergänzen.

15Livingstone 1999, S. 68.


Der Zoo als Lernort 219

Bereits bei den ganz kleinen Kindern im Kitaalter kann der Grundstein für eine
lebenslange Bildung gelegt werden. Hier wird der Zugang zuerst vor allem durch
die große Neugier der Kleinen und durch Emotionen geebnet. Aufgrund dieser
Emotionen können erste Wissensbausteine vermittelt werden, die dann mit weiter-
führendem Alter bei anderen Angeboten wie den Kindergeburtstagen, themen-
bezogenen Ferienprogrammen oder dem Jugendclub als Freizeitgestaltung für
interessierte Schulkinder vertieft werden können.
Auch hierbei spielen die Emotionen, die die Tiere bei den Kindern auslösen
eine wichtige Rolle, da sie zu einem intrinsisch-motivierten Interesse führen.
Ein darauf basierendes Lernen hat eine hohe Beständigkeit. Vogt (2007) schreibt
in seinem Artikel, dass Lernen mit Interesse nachhaltiger sei, als Lernen ohne
Interesse.16
Besonders in diesem Bereich können Zoologische Gärten mit ihren Informations-
tafeln und natürlich den lebenden Tieren ansetzen. Durch eine intensive Mensch-Tier-
Beziehung kann es gelingen ein Objekt mit positiven Gefühlen und Erlebnisqualitäten
zu assoziieren, was zu einem Interesse führen kann.
Das Ziel des Zoos kann es nicht sein, ein Thema in seiner vollen Breite zu
behandeln und komplettes Wissen zu vermitteln. Vielmehr sollte es seine Auf-
gabe sein, die von Mitchell (1993) benannte catch-Komponente für Lernende zu
erfüllen. Als catch-Komponente bezeichnet Mitchell den ersten situationellen
Interessezustand. Auf diesen kann dann im Unterricht aufgebaut werden und somit
die hold-Komponente, also das Aufrechterhalten des situationellen Interesses,
erreicht werden.17 Auch im informellen Lernbereich wirkt die catch-Komponente
als Zugpferd für die weitere Beschäftigung mit einem speziellen Thema im
­Nachgang.
Alle Führungen in den Zoologischen Gärten Berlin werden mittels einer
Vielzahl von Exponaten bereichert. Dadurch wird die frontale Vortragsweise
gebrochen und die Besucher*innen werden aktiv in die Thematik mit einbezogen.
Bei den Exponaten handelt es sich um verschiedenste Teile der Tiere, wie Felle,
Krallen, Hörner oder Geweihe (Abb. 2). Ebenso finden aber auch Modelle Ein-
satz auf den Führungen, wie zum Beispiel ein in realer Größe nachgebildeter
Elefantenzahn. Auch Bilder finden zur Erläuterung von Sachverhalten Ver-
wendung, ebenso wie Futterproben. Die Exponate führen dazu, dass etwas neu
Gelerntes nicht nur auf dem akustischen Weg wahrgenommen wird, sondern über
möglichst viele Sinneskanäle erfahrbar ist, mit der Intention, dass das Erlernte
durch die Vielschichtigkeit des Erlebten eine tiefere Verankerung findet. Die
Besucher*innen haben demnach nicht nur eine neue Information gehört und ver-
standen, sondern konnten diese Information auch visuell und ggfs. taktil oder
olfaktorisch untermauern. Zudem führt der Erlebnischarakter dazu, das Erlernte
besser aufzunehmen und durch wiederholtes Erzählen im Nachgang zu ver-
festigen. Dies ist auch der Grund, weshalb informelle Führungsangebote in Berlins

16Vogt 2007.
17Mitchell 1993.
220 U. Barnett und T. Rahde

Abb. 2  Die Führungsinhalte werden in den Zoologischen Gärten Berlin anhand einer Vielzahl
von Exponaten vermittelt. (© Tierpark Berlin)

zoologischen Einrichtungen mit einer Fütterung begleitet sind. Hier kommt


auch ein Belohnungseffekt zum Tragen, dessen Aussicht die Motivation auf die
Führung und somit auch auf die Wissensaufnahme steigert.
Zudem fällt es vielen Besuchern*innen leichter, sich für den Artenschutz von
Tierarten einzusetzen, die sie emotional bewegt haben. Auch deshalb sind Zoo-
logische Gärten wichtig, denn erst die reale Begegnung zwischen Mensch und
Tier, die Beobachtung artspezifischer Verhaltensweisen und Eigenschaften und
eventuell eintretende Interaktionen können zu einer Verbundenheit führen, die das
eigene Handeln überdenken lässt und dazu führen kann, zukünftig nachhaltigere
Entscheidungen zu treffen.

2.2 Lerninhalte

Naturgemäß konzentrieren sich die Lerninhalte in Zoologischen Gärten


schwerpunktmäßig auf naturwissenschaftliche, und hier vor allem biologische
Themen.
Angelehnt an die zu beobachtende Tierwelt, können verschiedenste zoologische
Themen behandelt werden. Ganz allgemein werden die Merkmale verschiedener
Tierarten und –gruppen genauer beobachtet. Die Kinder und Erwachsene erhalten
Der Zoo als Lernort 221

hierdurch einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Besonderheiten und lernen,


Tiere anhand dieser zu Gruppen zu klassifizieren oder entsprechende Verhaltens-
weisen zuzuordnen. Oft kommt es hierbei bereits zu überraschenden neuen
Erkenntnissen, wenn die Besucher*innen zum Beispiel erfahren, dass Nashörner,
Flusspferde und Elefanten trotz ihrer äußerlichen Gemeinsamkeiten der grauen
und großen Gestalt nicht näher miteinander verwandt sind.
Die Lernenden erfahren Wissenswertes zu anatomischen und physiologischen
Besonderheiten der Tiere. So können beispielsweise verschiedene Fortbewegungs-
muster untersucht und verstanden werden. Dadurch erhalten die Schüler*innen
z. B. Einblicke darin, welche vielfältigen Funktionen die Schwänze verschiedener
Tierarten haben oder welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Tiere
fliegend den Luftraum erobern können.
Die verschiedenen Themenbereiche greifen unerlässlich ineinander, so dass
aufgrund der ähnlichen Anatomie wiederum Rückschlüsse auf Verwandtschafts-
verhältnisse gezogen werden können oder aber eine konvergente Entwicklung
aufgrund analoger Eigenschaften zugrunde gelegt werden kann. Anatomie und
Physiologie bilden ebenso die Grundlage, um die verschiedenen Sinnesleistungen
von Tieren zu untersuchen und somit ein Verständnis der Sicht entsprechender
Tierarten auf ihr Umfeld zu entwickeln. Häufig gleichen diese aufgrund ver-
schiedener physiologischer Voraussetzungen nicht der menschlichen Wahr-
nehmung der Welt.
Bezugnehmend auf die Sinnesphysiologie ist auch die Kommunikation im
Tierreich ein beliebtes Thema in der Zoopädagogik, welches verschiedene
Kommunikationswege, aber auch Informationsinhalte intraspezifisch (innerartlich)
und interspezifisch (zwischenartlich) untersucht.
Auch hier ist besonders interessant, dass der Mensch meistens von seiner
eigenen Wahrnehmung und Kommunikation ausgeht und die gleichen bevorzugten
Kommunikationskanäle in der restlichen Tierwelt vermutet. Das Gegenteil ist
jedoch der Fall. Der Mensch ist in der Ausprägung seiner sinnesphysiologischen
Leistungen ein Mittelmaß. Er nutzt die verschiedenen Sinneskanäle (optisch,
akustisch, olfaktorisch und taktil) in einer sehr generalisierten Art und Weise und
zeigt hier keine im Vergleich zu anderen Tieren besonders ausgeprägten Fähig-
keiten. Dennoch neigt der Mensch in der Betrachtung anderer Lebewesen dazu,
eine zentrale Stellung einzunehmen und von dieser heraus die Leistungen anderer
zu bewerten (vgl. Abschn. 2.3).
Auch bei evolutionären Themen, die in zoologischen Gärten sehr gut unter-
richtet werden können, sehen die Besucher*innen den Menschen häufig als Spitze
der evolutionären Entwicklung. Um die Evolution als Prozess zu verstehen, der
niemals endet, können hier Zoopädagogen*innen hilfreich unterstützen.
Insbesondere durch die Vielfalt der exotischen Tiere können verschiedene
Evolutionstendenzen veranschaulicht werden und spezielle Tiergruppen besser
verstanden werden (wie zum Beispiel die Reduktion der Zehenstrahlen bei
den Unpaarhufern). Ebenso wird der Mensch als Primat erkannt und die ver-
wandtschaftlichen Beziehungen zu den heute lebenden nichtmenschlichen
Primaten besprochen. Die Evolution des Menschen ist für viele Besucher*innen
222 U. Barnett und T. Rahde

im Zoo anschaulicher und verständlicher, als alleine theoriebasierend zu Hause


oder im Klassenzimmer. Vor allem, wenn bestimmte Merkmale auch an den nicht-
menschlichen Primaten beobachtet werden können und Unterschiede zwischen
den Menschenaffen und den Tieraffen selbstständig erarbeitet werden können, ist
der Lerneffekt deutlich nachhaltiger als ohne diese direkten Beobachtungen.
Ein weiteres großes Themenfeld ist die Ökologie. Verschiedene Lebens-
räume, deren Merkmale und die in ihnen vorkommenden Lebewesen sind ein
häufig behandeltes Themengebiet. Besonders eindrücklich können im Zoo die
Anpassungen der Natur an spezielle Lebensräume und Temperaturen erkannt
werden und das Verständnis über die Besetzung einzelner ökologischer Nischen,
sowie über die Wechselwirkungen verschiedener Arten untereinander und mit
ihrer Umwelt kann gefördert werden. Sowohl Räuber-Beute-Beziehungen, als
auch Symbiosen oder spezielle Überlebensstrategien sind ein beliebtes Thema bei
Schulklassen.
Auch die Konsequenzen ökologischer Bedingungen wie die Bergmannsche
Regel18 oder die Allensche Regel19 können anhand verschiedener Tierarten direkt
beobachtet werden (Abb. 3) und ökologische Kreisläufe und deren Einflüsse
werden bei den Schülern*innen aufgrund der praktischen Anwendungsbeispiele
meist besser verstanden.
Hier spielen die mit den Beobachtungen der Protagonisten verbundenen
Emotionen wieder eine wichtige Rolle, da das Interesse am Themengebiet durch
die Erfahrung und Beobachtung der lebenden Tiere gesteigert wird und somit das
Wissen auf einer anderen Grundlage vermittelt werden kann, als wenn dies nur auf
rein theoretischer Grundlage passieren würde.
Der Bogen zu sehr aktuellen Themen, wie dem Klimawandel kann hier gut
geschlagen werden, da die Anpassungsleistungen der Tierwelt, ebenso wie die
Geschwindigkeit evolutionärer Anpassungen besprochen werden können. Es kann
ebenso diskutiert werden, inwiefern der Mensch als hauptverantwortlich für den
Klimawandel gilt und welche Handlungsoptionen bestehen, um dem Klimawandel
entgegen zu treten.
Verhaltensbiologische Untersuchungen können häufig als forschender Ansatz
in den Unterricht integriert werden. Über die Vermittlung verhaltensbiologischer
Methoden und deren Anwendung können eigene Verhaltensbeobachtungen zu
Sozialsystemen und sozialen Interaktionen durchgeführt werden. Auch ver-
schiedene kognitive Leistungen der Tiere sind meist ein spannendes Thema bei
vielen Besuchern*innen.
Häufig wird hier wieder eine menschenzentralisierte Position beim Betrachten
der Intelligenzleistungen anderer Tiere eingenommen. Zoopädagogen*innen

18Die Bergmannsche Regel besagt, dass Tierarten in kälteren Regionen größer sind als verwandte
Tierarten in wärmeren Regionen und somit ein für die kalten Temperaturen besseres Körper-
Volumen-Verhältnis aufweisen.
19Die Allensche Regel besagt, dass die relative Länge der Körperanhänge von Tierarten in kalten

Regionen kürzer ist als bei verwandten Tierarten in warmen Regionen.


Der Zoo als Lernort 223

Abb. 3  Beim Vergleich von Kaiserpinguin und Brillenpinguin lässt sich die Bergmannsche
Regel für Schüler und Schülerinnen sehr gut verdeutlichen.

müssen hier häufig gegen Vorurteile angehen. Allzu oft verfallen die
Besucher*innen hier in pauschale Aussagen über die angebliche Dummheit von
Ziegen und Eseln und die kognitiven Leistungen der Tiere werden meist unter-
schätzt. Auch andere häufig negative Eigenschaften werden einigen Tierarten
pauschal zugesprochen, so werden Affen meist als bananenfressende, freche
Tiere bezeichnet, Hyänen als hinterhältig charakterisiert und die Harpyie als bös-
artig eingestuft. Gezielte Beobachtungsaufgaben und nachfolgende Auswertungs-
gespräche und Diskussionen können dann helfen, die Resultate in einen fachlichen
Kontext zu bringen und Verhaltensweisen von den Vorurteilen zu lösen.
Generell ist das Thema Verhältnis Tier-Mensch ein sehr spannendes Thema,
was in verschiedenen Altersgruppen durch unterschiedliche Ansätze besprochen
werden kann. Bei den Kindern im Kitaalter oder den unteren Grundschulklassen
ist der Zugang über eine ihnen vertraute Geschichte eine Möglichkeit dazu. Zum
Beispiel können hier Märchen wie Rotkäppchen und der böse Wolf oder auch
Disney-Filme Anwendung finden. Die dort dargestellten Tiere können mit der
Realität verglichen werden -ist der Wolf wirklich so böse, wie er im Märchen dar-
gestellt wird? Frisst er tatsächlich Menschen? Ebenso kann aber auch diskutiert
werden, weshalb einige Filmcharaktere sich Menschen gegenüber nicht wohl-
gesinnt verhalten. Zum Beispiel hat der Tiger Shir Khan im Dschungelbuch einen
224 U. Barnett und T. Rahde

guten Grund, die Menschen nicht zu leiden, da sie ihn umbringen wollten und als
er ein Kind war, sein Vater von einer Gewehrkugel getötet wurde.
Bei älteren Lernenden ist der Zugang zu dem Thema weniger verspielt und
führt meistens darüber, die Bedrohungssituation einer Tierart zu erklären und dann
zu diskutieren, welche menschlichen Einflüsse zu dieser Situation geführt haben
können und welche Maßnahmen zu einer Verbesserung führen könnten. Zum Bei-
spiel kann die Nutzung von Palmölprodukten im Alltag der Kinder beim Konsum
von bestimmten Keksen, Schokolade, Kosmetika, Butter usw. einen direkten Ein-
fluss auf die Palmölproduktion in Indonesien haben, wofür riesige Monokulturen
angelegt werden und Regenwaldbewohner wie Orang-Utans ihren Lebensraum
verlieren. Gleichzeitig kann besprochen werden, weshalb einige Menschen Orang-
Utans als Haustiere haben wollen, um sie dann zu missbrauchen.
Die Domestikation von Tieren in der Vergangenheit, sowie der Unterschied von
Wildtierhaltung zur Haustier-/Nutztierhaltung findet ebenfalls edukativen Platz
im Lernraum Zoo. Das Verhältnis Tier-Mensch ist meist eng an das Thema Arten-
schutz als zentrales Themenfeld in zoologischen Einrichtungen gekoppelt. Gleich-
zeitig kann die Natur aber auch dem Menschen als Vorbild dienen, was sich vor
allem in der Bionik widerspiegelt.
Natürlich können im Zoo auch tiergärtnerische Kenntnisse vermittelt werden
und Spezialwissen zur Tierhaltung und Tierpflege, aber auch zum Tiermanagement
und Reproduktionsmanagement vermittelt werden. Diese Angebote werden bevor-
zugt von Studierenden oder Berufsschülern*innen genutzt.
Da viele Zoos und Tierparks heutzutage nicht nur darauf abzielen, zoologische
Raritäten zu zeigen, sind sie häufig in Parks oder Parklandschaften integriert. Die
Tiere im Berliner Zoo sind auf einem 34 ha großen Gebiet untergebracht, in dem
auch viele botanische Besonderheiten angelegt sind. Der Berliner Tierpark ist auf
einer Fläche von insgesamt 160 ha angelegt und besitzt neben kleinen Waldarealen
auch gepflegte Parkareale. Botanische Kenntnisse können hier ebenso vermittelt
werden wie zoologische, vor allem auch im Frühjahr, wenn die Frühblüher den
Park besiedeln.
Die bislang vorgestellten Themengebiete umfassen vor allem naturwissen-
schaftlich-biologische Themenfelder, die allerdings viel Spielraum lassen, um
diese auf anderen Ebenen weiter zu führen.

2.3 Fächerübergreifende Lerninhalte

Zoologische Einrichtungen können auch außerhalb des Biologie- oder Natur-


kundeunterrichts für Schulen sinnvoll genutzt werden, bzw. kann die Biologie gut
mit anderen Fachbereichen kombiniert werden, so dass fachübergreifendes Lernen
stattfinden kann.

2.3.1 Verflechtungen von Biologie, Kunst, Mathematik und


Sprachen
Eine eingehende Beobachtung ausgewählter Tierarten kann darin übergehen, die
Tiere vor Ort zu zeichnen. So werden die Schüler*innen angehalten, genauer zu
Der Zoo als Lernort 225

beobachten und durch das Zeichnen selber verfestigen sich die anatomischen
Merkmale. Ebenso können die Tiere in der Bewegung gezeichnet werden, was als
Grundlage zur Besprechung des Bewegungsapparates genutzt werden kann. Die
Beschreibung der Zeichnungen oder beobachteter Verhaltensweisen fördert zudem
die Sprachkompetenz.
Auch Mathematik kann im Zoo, Tierpark oder Aquarium mit der Erfahrung
der lebenden Tierwelt kombiniert werden. So kann Prozentrechnung lebhaft
werden, indem der Anteil von Tiergruppen wie Säugetiere, Reptilien, Vögel und
Amphibien am Gesamtbestand von den Schülern berechnet wird. Ebenso können
anhand direkt vor Ort gegebener Aufgabenstellung zum Beispiel der Prozent-
satz von Jungtieren einer Gruppe bestimmt werden oder die Prozentwerte ver-
schiedener Geschlechter. Die Aufgabenstellungen sind vielfältig. Durch den
praktischen Bezug festigen sich theoretische Konzepte und auch hier kann der Zoo
als Ausflugsziel und die Aussicht darauf, die Tiere real erleben zu können zu einer
erhöhten Motivation für die Beschäftigung mit dem Fachgebiet führen.
Fremdsprachen können ebenfalls gut mit biologisch-inhaltlichen Themen
kombiniert werden. So sind alle Führungen in Berlin zumindest auch in Englisch
buchbar und viele zusätzlich in Französisch, Spanisch oder Italienisch. Sprach-
kurse oder bilinguale Schulen nehmen dieses Angebot häufig in einer Fremd-
sprache an, wodurch das Vokabular um naturwissenschaftliche Termini erweitert
wird. Der Dialogcharakter der Führungen, sowie die Verwendung der Exponate
erhöhen die Sprachkompetenz in der entsprechenden Sprache.

2.3.2 Ethik und Philosophie im Zoo


Viele Möglichkeiten zur Gestaltung eines fächerübergreifenden Unterrichts gibt
es auch im Bereich Ethik und Philosophie. Ethische Fragen werden in Bereich
außerschulischen Lernens in zoologischen Gärten regelmäßig mitbesprochen, da
sie oft als spontanes Nebenthema erscheinen. Konkrete Führungsthemen zur Ethik
gibt es bislang in Berlins Zoos nicht, allerdings wurden die Themen bisher in
einer individuell gestalteten Führung auf Anfrage behandelt, wenn Lehrkräfte dies
speziell für ihren Ethikunterricht gewünscht haben.
Hierbei wurden häufig die Fragen diskutiert, ob in einer modernen Zeit zoo-
logische Gärten eine Daseinsberechtigung haben und ob die Haltung von Wild-
tieren in menschlicher Obhut generell ethisch vertretbar ist.
Dieses Thema ist ein sehr vielschichtiges Thema, das sicherlich nicht
pauschal zu debattieren ist. Zoologische Gärten weltweit unterscheiden sich
in ihren Standards zur Tierhaltung, Forschung, Bildung und als Freizeitstätte.
Die meisten modernen Zoos und Aquarien sind aber, wie unter 2. beschrieben,
in Zooverbänden organisiert, deren Mitgliedschaft an hohe Standardvorgaben
gebunden sind und regelmäßige Überprüfungen zur Einhaltung dieser stattfinden.
Auch die Erfüllung der vier Hauptaufgaben von Zoos (vgl. 1.) sind an diese Richt-
linien gebunden.
Ein Zoo ist heute also nicht mehr nur ein Schaubetrieb, sondern ein komplexes
Unternehmen mit Artenschutz- und Bildungszielen. Ein Zoo ist zudem ein
Wirtschaftsbetrieb und ein Arbeitgeber, der eine Vielzahl unterschiedlicher
226 U. Barnett und T. Rahde

­ erufsgruppen beschäftigt und muss die Einnahmen zum Großteil oder sogar
B
vollständig selber erwirtschaften, um die Ausgaben zu decken. Ein Zoo kann also
nicht nur unter tierethischen Aspekten betrachtet werden, sondern muss in seiner
Komplexität erkannt und diskutiert werden, um hier die besten Kompromisse für
Tiere, Angestellte und die Öffentlichkeit zu finden.
In der Auseinandersetzung mit diesem Thema können die Lehrenden den
Schülern*innen auch Hintergrundinformationen über Auswilderungsprogramme,
Zuchtbücher und auch zur Personalsituation des Zoos als Diskussionsgrundlage
zur Verfügung stellen. Der aktuelle Geschäftsbericht des Betriebs ist eine gute
Quelle hierfür, ebenso wie tierschutzrelevante Dokumente wie z. B. das Säugetier-
gutachten des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft20.
Die Schüler*innen können im weiteren Zuge auch verschiedene Ansätze
besprechen, woran Tierwohl gemessen werden kann, um die rein subjektive Ebene
der Interpretation von Gesichtsausdrücken der Tiere durch fundierte Methoden
zu ersetzen. Die Mimik von Tieren kann nicht als Grundlage zur Einschätzung
darüber dienen, ob es einem Tier wohlergeht oder nicht, da die Möglichkeiten
zu verschiedenen Gesichtsausdrücken bei den meisten Tieren nicht mit der des
Menschen vergleichbar sind.
Woran lässt sich erkennen, ob es einem Tier in menschlicher Obhut gut geht
oder nicht? Daran, dass es sich regelmäßig reproduziert und gesunden Nachwuchs
aufzieht? Oder daran, dass das Gehege des Tieres dem Lebensraum in der Natur
nachempfunden ist? Das Animal Welfare Committee der AZA (Association of
Zoos and Aquaria) definiert Tierwohl als ein Kollektiv des physischen, mentalen
und emotionalen Status eines Tieres über einen gewissen Zeitraum, das durch ein
Kontinuum von ‚gut‘ zu ‚schlecht‘ gemessen werden kann. Verschiedene Inputs
und Outputs können Faktoren bestimmen, die das Tierwohl negativ oder positiv
beeinflussen.21
Das Beurteilen des Wohlergehens eines Tieres ist demnach auch komplexer als
anfangs von vielen Besuchern*innen vermutet. Aber auch hier bieten sich viele
Möglichkeiten zu weiterführenden Diskussionen, zum Beispiel, welches Level
an Tierwohl mindestens erreicht werden sollte und was die Konsequenzen sein
könnten, wenn ein bestimmter Status über lange Zeit nicht erreichbar ist?

2.3.2.1 Philosophie trifft Kognitionsforschung


Tierarten unterscheiden sich, nicht nur in ihren biologischen Voraussetzungen
und Eigenschaften, sondern auch in ihren kognitiven Fähigkeiten. Viele
Besucher*innen würden intuitiv einen Primaten als intelligenter bezeichnen als
eine Oryxantilope. Aber auch hier muss das Thema genauer betrachtet werden um
zu entscheiden, was Intelligenz ausmacht. Intelligenz ist ein anthropozentrischer
Begriff, der sich in diesem Sinne nicht oder nur schwer auf die Tierwelt über-
tragen lässt. Das, was beim Menschen als intelligent bezeichnet wird, ist ggfs. bei

20Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2014.


21Weitere Informationen auf www.aza.org/animal_welfare_committee (06.04.2020).
Der Zoo als Lernort 227

einer anderen Tierart nicht vorhanden, weil diese Eigenschaft schlichtweg über-
flüssig für diese Tierart ist.
Daher müssen die kognitiven Fähigkeiten von Tieren anders untersucht werden.
Unter dem Begriff Kognition sind verschiedenste Leistungen inkludiert, vom ein-
fachen Lernen durch Versuch und Irrtum bis zur mentalen Repräsentation von
Gedanken.22 Vor allem bei der Untersuchung der mentalen Repräsentation werden
häufig philosophische Fragestellungen zu Grunde gelegt.23 Rahde (2014) ver-
folgte in seiner Dissertation über die Stufen der mentalen Repräsentation bei Keas
(Nestor notabilis) einen interdisziplinären Ansatz zwischen Kognitionsforschung
und Philosophie, in dem er das philosophische Stufenmodell von Proust (2003)24
naturwissenschaftlich empirisch anhand von Untersuchungen an Keas in zoo-
logischen Gärten bearbeitet hat. Eine einfache mentale Repräsentation kann als
Vorhandensein von Gedanken interpretiert werden.25 Rahde merkt in seiner Arbeit
an:

„Eine wichtige Aufgabe für die Kognitionsforschung in Verbindung mit der Tierphilo-
sophie besteht darin herauszufinden, wie solche Gedanken aussehen könnten und
welche Inhaltsebene sie erreichen können. Tiere besitzen keine Worte, um die Welt zu
beschreiben und ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Die Tatsache, dass manche
Tiere die Welt zudem noch mit anderen Sinnen oder Sinnfertigkeiten wahrnehmen, legt
den Gedanken nah, dass der Mensch nie wirklich verstehen wird, wie es sich anfühlt ein
bestimmtes Tier zu sein. Da sich Tiere nicht in ausreichendem Maße über eine Sprache
verständlich machen können, kann Verhalten ein Schlüssel sein, mit dem Rückschlüsse
auf Gedanken geschlossen werden können.“26

Das Erreichen der vollständigen mentalen Repräsentation ist mit einer Bewusst-
seinsbildung gleichzusetzen. Dadurch sind wir Menschen beispielsweise in
der Lage, ein Ich-Bewusstsein zu entwickeln und unsere eigenen Gedanken zu
reflektieren.26 Auch, ob einige Tierarten eine „Theory of mind“ haben, wird immer
wieder diskutiert und untersucht.27
Mit den Schülern*innen können hier nicht nur die philosophischen und
kognitiven Grundlagen besprochen und debattiert werden, sondern es können auch
ethische Diskussionen folgen. Was würde ein unterschiedlicher Bewusstseins-
grad bei verschiedenen Tierarten für die Haltung von Tieren bedeuten können?
Sollten Tierarten mit einer höheren kognitiven Stufe anders gehalten werden, als
die Tierarten, die lediglich die Stufe der Kategorienbildung erreichen? Auch die
immer wieder kehrende Frage, welche Grundrechte Tieren zugesprochen werden

22Rahde 2014.
23Metzinger 2010.
24Proust 2003.

25Rahde 2014, 17.

26Keenan 2005.

27z. B. Call und Tomasello 2008.


228 U. Barnett und T. Rahde

sollte und ob Menschenrechte auf Tiere übertragen werden sollten, können hier im
Zusammenhang mit dem Grad des Bewusstseins diskutiert werden.

2.3.2.2 Das Verhältnis vom Mensch zum Tier


Im Abschn. 2.2. wurde bereits mehrfach kurz die anthropozentrische Sichtweise
des Menschen bei vielen zoologischen Themen angesprochen. Paradoxerweise
nimmt der Mensch hier eine Doppelrolle im Mensch-Tier-Verhältnis ein: einer-
seits tendiert er dahin, sich selbst als außenstehend zum Rest der Tierwelt zu
betrachten. So spricht er häufig über die Tiere im Vergleich zum Menschen und
vergisst dabei anscheinend, dass auch der Mensch dem Tierreich zugeordnet wird
und Teil der Natur ist. Auch im Zusammenhang mit der Gruppe der Primaten
sprechen die Besucher*innen häufig von den Primaten und den Menschen separat,
anstatt den Menschen als Art innerhalb der Primaten zu sehen und bei den anderen
von nichtmenschlichen Primaten zu sprechen. Zu oft wird der Mensch als Gegner
der Natur wahrgenommen, statt ihr zugehörig.28
Andererseits setzen Besucher*innen beim Betrachten der Zootiere häufig die
Fähigkeiten des Menschen als Standard an und vergleichen auf dessen Grund-
lage die Eigenschaften anderer Tiere. So gehen die Besucher*innen häufig
von ihrer eigenen Sicht auf die Umwelt aus, wenn sie die einer speziellen Tier-
art betrachtet. Initial vermuten die Besucher*innen, dass das Tier, welches ihnen
gegenüber ist, eine ähnliche Wahrnehmung hat wie sie selbst. Dass die Eule
besser sehen kann als der Mensch ist noch weit bekannt, aber dass ein Erdferkel
sich nicht auf den Sehsinn verlässt, sondern seine Umwelt vor allem aus der Ver-
arbeitung von olfaktorischen und akustischen Reizen erkennt, ist für das Publikum
schon abstrakter. Befremdlich finden es die Besucher*innen oft, dass einige Tiere
im Infraschall- oder Ultraschallbereich kommunizieren, oder Farbspektren wahr-
nehmen, die für uns Menschen nicht wahrnehmbar sind. Da uns Menschen diese
Reize fremd sind, fällt es uns schwer, eine Vorstellung der Wahrnehmung jener
Tierarten zu bilden. Unsere anthropozentrische Herangehensweise setzt Eigen-
schaften des Menschen aber allzu oft als Normalmaß voraus, an dem die Fähig-
keiten der anderen Tiere gemessen und bewertet werden. Interessant zu betrachten
ist aber dennoch die Fragstellung, welche Art von Kommunikation ist dem
Menschen mit anderen Tierarten möglich? Zu welchem Grad werden die Inhalte
gleich verstanden und wie unterscheidet sich die Information auf beiden Seiten
aufgrund verschiedener Bewusstseinsstände und unterschiedlicher Wahrnehmung?
Interspezifische Interaktionen sind ein spannendes Themengebiet, welches
in verschiedener Weise auch philosophisch betrachtet werden kann. Tiere stehen
natürlicherweise nicht immer nur im Austausch mit Individuen der eigenen Art,
sondern auch mit diversen Individuen anderer Arten in ihrem Lebensraum. Bio-
logisch unterscheidet man Symbiosen, Kommensalismus, Parasitismus oder
Mutualismus als verschiedene Arten des Zusammenlebens. Auf philosophischer
Ebene könnte man hier das Thema Freundschaft im Tierreich als Sonderform der

28Groß 2007.
Der Zoo als Lernort 229

Symbiose aufgreifen, welches intraspezifisch, also innerartlich und interspezifisch,


also zwischenartlich, besprochen werden kann. Es kann diskutiert werden, ob und
in welcher Form es Freundschaften gibt, und auch das Thema Freundschaften
zwischen dem Menschen und einer anderen Tierart kann hier von verschiedensten
Seiten ethisch-philosophisch und auch biologisch beleuchtet werden.
Das Verhältnis von Mensch zu nichtmenschlichem Tier ist ein hochkomplexes
Thema mit vielen Möglichkeiten zur Diskussion mit dem Publikum. Artenschutz-
aspekte können hier ebenso eingeflochten werden wie auch die Fürsorgepflicht
des Menschen gegenüber der restlichen Tierwelt und dem Einfluss des Menschen
auf die heutige Natur. Auch die Domestikation von Tieren kann in Gespräche
darüber ausgeweitet werden, wie es sei, wenn andere Tiere ebenso andere Tiere
domestizieren könnten. Wäre ein Menschenaffe in der Lage, sich ein Schwein
zu halten? Was wäre wenn? Eine solche Art der Fragestellung kann bei den
Schülern*innen zu der grundsätzlichen Frage der anthropologischen Differenz
führen. Was ist also der grundsätzliche Unterschied zwischen Menschen und
Tieren? Hierfür werden unterschiedliche Möglichkeiten innerhalb der Tierphilo-
sophie diskutiert. Neben der Theory of mind und dem generellen Bewusstsein ist
ebenso die Fähigkeit der mentalen Zeitreisen, also vorausschauende Planung und
lang zurückreichende Erinnerungen denkbar29.

3 Fazit

Zoologische Gärten und Aquarien sind Lernorte für die verschiedensten Fach-
bereiche. Allen voran können naturwissenschaftliche Phänomene besprochen und
untersucht werden, aber die Beispiele in diesem Kapitel zeigen, wie der Lern-
ort Zoo auch für andere Lernbereiche genutzt werden kann. Die Möglichkeiten
hierzu sind vielfältig und gut miteinander kombinierbar, so dass die Lernenden
fächerübergreifend Themen bearbeiten und verstehen können und ihre eigenen
Gedanken und Interpretationen einfließen lassen können. Zudem sind zoologische
Einrichtungen aufgrund des Erlebnisfaktors ein Lernort mit hochmotivierenden
Charakter. Dies ist eine gute Voraussetzung für nachhaltiges Lernen.

Literatur
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29Wild 2006.
230 U. Barnett und T. Rahde

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Teil IV
Exemplarische Lernorte 2:
Gesellschaftliche Institutionen
PeerMediation hinter Gittern. Ein
Projekt zur Gewaltprävention und
konstruktiven Konfliktbearbeitung
in der Jugendstrafanstalt Berlin
Birgit Lang

Man hört sehr viel zu bei der Mediation und denkt: ‚Sehe
ich auch so aus, wenn ich mit Leuten streite? Bin ich auch so
extrem?‘ Ich kann mich besser in die Lage von Leuten, denen
ich das Handy weggenommen habe, hineinversetzen, wie sie sich
damals gegen einen Stärkeren gefühlt haben. Da frage ich mich
auch, was habe ich diesen Menschen angetan? Wieso habe ich
das überhaupt gemacht? (Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation
hinter Gittern - Evaluation eines Projektes, Berlin 2015, S. 18.)

Zusammenfassung

„PeerMediator hinter Gittern“ ist eine vier bis fünf Monate umfassende Aus-
bildung für inhaftierte Jugendliche und Heranwachsende mit dem Ziel, Konflikt-
moderation in den Gefängnisalltag zu implementieren und Sozialkompetenzen
zu stärken. Im Kontext der Ausbildung werden prinzipielle Aspekte von Gewalt,
Aggression oder Gerechtigkeit ebenso reflektiert wie konkrete Konflikt-
situationen in Gesellschaft und Gefängnis.

Schlüsselwörter

PeerMediation · Aggression · Konflikt

B. Lang (*) 
Jugendstrafanstalt Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: Birgit.Lang@jsa.berlin.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 233
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_12
234 B. Lang

Es ist Montagmorgen, die Sonnenstrahlen dringen durch die Oberlichter in


den großen Saal der Jugendstrafanstalt Berlin. Zehn junge Männer in Jeans und
bordeauxroten T-Shirts sitzen im Kreis und machen nachdenkliche Gesichter.
Sie überlegen sich die Antworten auf die wöchentliche Abfragerunde, mit der
jedes Treffen während der PeerMediationsausbildung beginnt. „Wie lauten die
Regeln der Mediation?“, fragt einer der Trainer. Der Gefragte kramt in seinem
Gedächtnis und antwortet stockend: „Zuhören, ausreden lassen und… und keine
Beleidigungen, keine Gewalt.“ Der Trainer wendet sich dem nächsten Teil-
nehmer zu und schaut ihn erwartungsvoll an: „Was sind die Kennzeichen eines
Konfliktes?“
Die beschriebene Szenerie findet hinter Gittern statt, in einer Schule der
besonderen Art, in der Helmuth-Hübener-Schule der Jugendstrafanstalt Berlin.
Hier lernen junge Männer, die mehrere Monate bis Jahre inhaftiert sind. Ihre
Schule ist von der Außenwelt getrennt und befindet sich hinter hohen Mauern, die
mit Stacheldraht gesichert sind.
Seit 2007 werden hier inhaftierte Jugendliche und Heranwachsende in einem
Zeitraum von vier bis fünf Monaten zu PeerMediatoren ausgebildet. Erprobt
wurde diese Variante des sozialen Kompetenztrainings zunächst im Rahmen
eines von der EU finanzierten Projektes. Die überwiegend positiven Erfahrungen
führten im Herbst 2008 dann dazu, dass die PeerMediation ein fester Bestandteil
der gewaltpräventiven Arbeit der Jugendstrafanstalt und schließlich ab 04.04.2016
auch im Berliner Jugendstrafvollzugsgesetz unter dem Paragraphen zur „Einver-
nehmlichen Konfliktregelung, erzieherische Maßnahmen“ verankert wurde.

„Zur Konfliktregelung kommen insbesondere die Wiedergutmachung des Schadens, die


Entschuldigung bei Geschädigten, die Erbringung von Leistungen für die Gemeinschaft,
die Teilnahme an einer Mediation und der vorübergehende Verbleib auf dem Haftraum in
Betracht.“1

Die ursprüngliche Idee zum Projekt PeerMediation hinter Gittern entstand auf-
grund von zwei Beobachtungen oder auch Grundannahmen, die generell für das
menschliche Zusammenleben gelten, im Vollzug aber eine besondere Bedeutung
erhalten:

• Konflikte sind überall


Konflikte sind ein allgegenwärtiges Phänomen des menschlichen Zusammen-
lebens und treten gehäuft in Zwangskontexten auf.
• Konfliktfähigkeit will gelernt sein
Die Fähigkeit, konstruktiv mit Konflikten umzugehen, ist ein vielschichtiger
Lernprozess und keineswegs selbstverständlich.

1Jugendstrafvollzugsgesetz Berlin 2016, §96, Abs. 2.


PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 235

1 Konflikte sind überall

In der Jugendstrafanstalt Berlin verbüßen (Stand Januar 2020) ungefähr


300 männliche Gefangene im Alter zwischen 14 und 27 Jahren eine Haftstrafe.
Die meisten Jugendlichen und Jungerwachsenen sind in zweistöckigen Back-
steingebäuden aus den 80er Jahren untergebracht. Jeder der sechs baugleichen
Pavillons hat vier Wohngruppen, einen begrünten Innenhof sowie diverse Gemein-
schafts- und Essensräume. Drei weitere Hafthäuser sind älteren Datums. Trotz
der veralteten Gefängnisarchitektur wird den jungen Inhaftierten auch hier das
Leben in kleinen Gruppen ermöglicht. Jede Wohngruppe wird von einer/m Sozial-
arbeiter*in oder einer/m Psychologen*in geleitet und von Mitarbeiter*innen des
Allgemeinen Vollzugsdienstes betreut.
Tagsüber besuchen die Inhaftierten eine schulische oder berufsvorbereitende
Maßnahme, absolvieren ein Arbeitstraining oder eine Ausbildung in einer der
zahlreichen Werkstätten des Vollzugs. Nachmittags nehmen sie an Freizeit-
und Sportangeboten teil, erhalten Besuch von ihren Verwandten oder kochen
zusammen in ihren WGs. In diesen Wohn-, Schul- und Arbeitszusammenhängen
kommt es täglich zu kleineren oder größeren Auseinandersetzungen zwischen
einzelnen oder Gruppen von Inhaftierten. Die Konflikte reichen von verbalen
Schlagabtäuschen, Beleidigungen, Bedrohungen, Unterdrückungen, Rempeleien
bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen. Insbesondere die Kommunikation
über die Fenster der Hafträume birgt viel Raum für Missverständnisse und lässt
Streitigkeiten schnell eskalieren. Häufig fühlt sich der Falsche angesprochen,
werden zweifelhafte Geschichten über Dritte erzählt oder glaubt ein Jugend-
licher, das Gesicht wahren zu müssen, in dem er Beleidigungen oder Drohungen
verteilt bzw. zurückgibt. Konflikte gehören also – wie auch außerhalb der hohen
Mauern – zum Alltag der Inhaftierten. Die extremen Lebensbedingungen in der
Haft tragen aber sicherlich zu einer Häufung und Verschärfung von Konflikten bei.
Der ständige Wettbewerb um knappe Ressourcen (z. B. Tabak oder Zeit für das
Telefonat mit den Angehörigen), das tägliche Taktieren im hierarchischen System,
die Gruppenbildung und das stete Klima des Misstrauens untereinander und
gegenüber dem Gefängnissystem fördern Verhaltensweisen bei den Inhaftierten,
die schon bei kleinen Missverständnissen zur Eskalation führen können. Diese
Konflikte bergen jedoch nicht nur das Risiko der seelischen und körperlichen Ver-
letzung, sondern machen auch auf Strukturen und interpersonelle Beziehungen
aufmerksam, die nicht funktionieren. Konflikte bieten hier also auch die Chance,
das Zusammenleben mittels konstruktiver Bearbeitungsstrategien neu zu gestalten.

2 Konfliktfähigkeit will gelernt sein

Rund 60 % der jungen Männer in der Jugendstrafanstalt Berlin sind auf-
grund von Gewaltdelikten inhaftiert. Dazu zählen Körperverletzung, Raub,
Erpressung und auch Sexual- oder Tötungsdelikte. Die Vermutung liegt also
nahe, dass die Inhaftierten häufig über eine geringe Konfliktfähigkeit verfügen.
236 B. Lang

Ihre F­ rustrationstoleranz scheint oft ebenso schwach ausgebildet zu sein, wie die
Fähigkeit, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und konfliktträchtigen
Situationen aus dem Weg zu gehen. Es fällt vielen offensichtlich schwer, die unter-
schiedlichen Ebenen eines Konfliktes wahrzunehmen und zu differenzieren, einen
vorhandenen Konflikt zu schlichten, zu deeskalieren, zu klären oder angemessen zu
lösen bzw. zu einer angemessenen Lösung beizutragen. In der Kindheit und Jugend
haben sie selten gelernt, Probleme und Konflikte anzusprechen und sachlich zu
diskutieren. Die Bereitschaft, sich auf Konflikte einzulassen, ohne dass Gewalt
ausgeübt wird, ist daher gering. Darüber hinaus zementieren die subkulturellen
Strukturen der entsprechenden Peergruppen häufig Gewalt als ultimatives Mittel
der Problemlösung. Dies gilt insbesondere auch für Konflikte, die entstehen, wenn
unterschiedliche Kulturen, religiöse Bekenntnisse und Wertevorstellungen auf-
einander treffen. Die Unsicherheit und das Gefühl der Bedrohung, die in solchen
interkulturellen Überschneidungssituationen entstehen, beantworten diese Jugend-
lichen oft mit Aggression und Gewalt. Reden wird als Schwäche ausgelegt. Mit-
hilfe vermeintlich einfacher Lösungsstrategien versuchen sie „klare“ Strukturen
und Machtverhältnisse in ihrem Sinne herzustellen. „Klar“ bedeutet in diesem
Zusammenhang, dass es einen eindeutigen Gewinner und Verlierer gibt. Der Raum
für Lösungen, die zu einer Win-Win-Situation im Sinne des Harvard-Konzeptes2
führen, also für beide Konfliktparteien einen Gewinn oder positiven Ausgang dar-
stellen, muss erst eröffnet und das passende Handwerkszeug erworben werden.

3 Konstruktive Konfliktlösung

Von diesen Grundannahmen ausgehend nutzt die Jugendstrafanstalt Berlin die


Methode der PeerMediation dazu, um ein konstruktives Konfliktmanagement
im Vollzug zu etablieren. Die Auseinandersetzung mit der Entstehung von
Konflikten, dem eigenen Konfliktverhalten und den Folgen von Konflikten haben
für das Leben hinter den Gefängnismauern eine wichtige moralische Dimension.
Die Mediation im Vollzug betont nämlich den Aspekt der Übernahme von Ver-
antwortung für das eigene Handeln. Die jungen Männer kennen bisher vor allem
den Begriff der Schuld, der durch Gerichtsverhandlung und Urteil einseitig in
den Vordergrund gerät. Das Berliner Jugendstrafvollzugsgesetz fordert im Para-
graphen 8 aber eine sogenannten „verletztenbezogen Vollzugsgestaltung“, also die
Fokussierung auf den Gedanken der Verantwortung:

„Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass die Jugendstrafgefangenen sich mit den Folgen
der Straftat für die Verletzten und insbesondere auch deren Angehörige auseinandersetzen
und Verantwortung für ihre Straftat übernehmen.“3

2Vgl. Fisher, Roger/Ury, William: Getting to yes. Negotiating an agreement without giving in.
London: Random House Business 2012.
3Jugendstrafvollzugsgesetz Berlin 2016, §8, Abs. 2.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 237

Dieser Forderung kommt die Methode der Mediation entgegen, da sie sich nicht
ausschließlich auf die Vergangenheit bezieht, also nicht die Schuldfrage in den
Mittelpunkt stellt. Vielmehr ist die Mediation ein auf die Zukunft gerichtetes
Verfahren, das gemeinsam mit den Beteiligten Antworten auf ein konflikthaftes
Geschehen sucht und überlegt, wie das Zusammenleben in gegenseitiger Ver-
antwortung friedlich gestaltet werden kann.
Gerade im Jugendvollzug, der vom Erziehungsauftrag getragen wird, ist die
Abwendung vom Schuldbegriff hin zum Gedanken der Verantwortung zentral. Mit
dieser Veränderung des Blickwinkels erhält der vermeintliche Täter einerseits die
Möglichkeit, korrigierend einzugreifen und andererseits steht aber auch der oder die
Verletzte und die eigentliche Tat im Mittelpunkt der Betrachtung4. Die Mediation
gibt den Konfliktparteien die Verantwortung für ihren Konflikt und dessen Auf-
lösung zurück, der Mediator moderiert diesen Prozess, trifft aber keine Ent-
scheidungen. Damit wird die Selbstwirksamkeit der jungen Männer gestärkt, weil
sie das Gefühl haben, selbst Einfluss nehmen zu können. Diese Übernahme von
Verantwortung fordert von den Inhaftierten aber auch die Fähigkeit zur Reflexion
und Empathie, die trainiert werden muss. Hier bietet die PeerMediationsausbildung
ein großes Experimentierfeld an und auch die spätere Erfahrung als PeerMediator
eröffnet Einsichten in die Entstehung von Konflikten und die Verantwortung aller
Beteiligten. So ergänzen sich das Konzept der Verantwortung und das Werkzeug der
Mediation gegenseitig im Sinne der Weiterentwicklung der sozialen Kompetenzen
und damit der Resozialisierung der jungen Männer.

4 Die PeerMediationsausbildung

In der PeerMediationsausbildung erörtern Trainer*innen und Teilnehmer gemeinsam


ausführlich den Zusammenhang zwischen Bedürfnissen, Gefühlen und Verhaltens-
weisen. Dabei gehen sie von der Idee aus, dass Konflikte entstehen, weil Bedürfnisse
nicht erfüllt sind. In einem weiteren Schritt entwickeln sie konstruktive Reaktions-
möglichkeiten – alternativ zur Gewalt – die dazu geeignet sind, nicht erfüllte Bedürf-
nisse zu befriedigen und trotzdem das Gesicht zu wahren.
Die Teilnehmer der PeerMediationsausbildung lernen auch, dass Konflikte ein
immanenter Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens sind und häufig not-
wendige Veränderungen ankündigen oder in Gang setzen. Danach geht es darum,
die Entstehung von Konflikten und das eigene Verhalten in Konfliktsituationen
zu reflektieren, zu verstehen und Handlungsalternativen zu entwickeln. In einem
nächsten Schritt werden

4Vgl. Harnack, Klaus: Scham und Verantwortung statt Schuld. In Die Mediation IV/2018,

S. 28 ff.
238 B. Lang

• das Verfahren der Mediation,


• die zugehörigen Theoriemodelle der Kommunikation und Konfliktentstehung
z. B. das Vier-Ohren-Modell5, das Eisbergmodell6 oder die Eskalationsstufen
eines Konfliktes7 sowie
• die zentralen Methoden und Werkzeuge (z. B. aktives Zuhören, Spiegeln, positives
Umformulieren von Kritik, Fragetechniken, Brainstorming) der Mediation

im Rahmen von Vorträgen, Gruppendiskussionen, Übungen und insbesondere auch


praktischen Rollenspielen vorgestellt und eingeübt.
Die Jugendlichen schlüpfen in bekannte oder ungewohnte Rollen und nehmen
neue Perspektiven im und zum Konflikt ein. Idealerweise entwickeln sie Empathie
für die Konfliktparteien und reflektieren darüber ihre eigenen Konflikte. Wenn
eigene Konflikte der Inhaftierten zum Gegenstand von Rollenspielen werden, geht
es darum, zu überlegen, welche Auseinandersetzungen typisch für das Leben in
Gefangenschaft sind und welche Auswirkungen das Leben hinter Gittern auf das
eigene Konfliktverhalten hat. Um eine konstruktive Haltung zu etablieren, werden
hier Männlichkeitsbilder hinterfragt, das Gefühl von Diskriminierung thematisiert
und über Vorurteile und Klischees gesprochen. Diese Diskussionen können
Impulse setzen, die die jungen Männer dazu anregen, neue Perspektiven einzu-
nehmen, festgefahrene Meinungen aufzubrechen und ihren Horizont zu erweitern.
Dabei entdecken sie zu ihrem eigenen Erstaunen, dass ihnen die kommunikativen
Methoden der Mediation einen größeren Handlungsspielraum eröffnen, ihnen
Kontrolle über verzwickte Situationen und positive Einflussnahme auf ihr Gegen-
über ermöglichen. „Statt ein unüberwindlich scheinendes Problem zu sein, wird
ihr Konflikt für die Konfliktparteien zu einer gemeinsam zu lösenden Aufgabe.“8
Dies ist der Beginn eines komplexen Lernprozesses, der in den Lebens- und
Arbeitszusammenhängen im Vollzug täglich weiterentwickelt wird und durch
die regelmäßige Tätigkeit als PeerMediator gefestigt werden kann. Für die
beschriebene Zielgruppe stellt die Entwicklung von Konfliktfähigkeit im Rahmen
einer PeerMediationsausbildung also einen entscheidenden Schlüssel für die
dauerhafte gesellschaftliche und berufliche Reintegration während und nach der
Haftentlassung dar.

5Vgl. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1981,
S. 25 ff.
6Vgl. Besemer, Christoph: Mediation. Die Kunst der Vermittlung in Konflikten. Karlsruhe:

WfGA-Buchversand 2010, S. 33.


7Vgl. Glasl, Friedrich: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und

Berater. Bern: Freies Geistesleben 2009.


8Haumersen, Petra/Liebe, Frank: Wenn Multikulti schief läuft? – Trainingshandbuch Mediation

in der interkulturellen Arbeit. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2005, S. 13.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 239

5 PeerMediation hinter Gittern

Im Jugendvollzug gibt es eine große Anzahl an Beobachtungen z. B. von


angespannten Beziehungen zwischen einzelnen Inhaftierten, von verbalen Ent-
gleisungen gegenüber Bediensteten, Rempeleien oder Pöbeleien untereinander, die
nicht ignoriert werden dürfen. Ordnungsgemäß werden diese Beobachtungen von
einer/m Mitarbeiter*in in Form einer sogenannten Dienstlichen Meldung notiert
und weitergeleitet. Die sachlich verfassten Berichte lösen dann einen Prozess der
Konfliktbearbeitung aus, der den Konfliktparteien die Kontrolle über den Verlauf
des Verfahrens und die Verantwortung, selbst eine Lösung zu finden, abnimmt.
Beide Konfliktparteien werden unabhängig voneinander zum Vorfall befragt und
danach werden Konsequenzen wie z. B. Ausschluss von Freizeitveranstaltungen
ausgesprochen. Die Akzeptanz dieser Entscheidungen, die von Dritten – ohne
direkte Einbeziehung der Konfliktparteien – verfügt werden, ist erfahrungsgemäß
gering und wird zumeist als ungerecht empfunden. Das Projekt PeerMediation
hinter Gittern geht davon aus, dass eine ganzheitliche Gewaltprävention im Straf-
vollzug nur dann funktioniert, wenn die Jugendlichen die Möglichkeit haben,
in Konflikten, die keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen, die
Kommunikations- und Konfliktkultur aktiv mit zu gestalten und selbstbestimmte
Lösungsszenarien zu entwickeln. Dies gilt nicht für Konflikte, bei denen eine
Konfliktpartei angezeigt wird, weil ein anderer Inhaftierter massiv zu Schaden
gekommen ist. Hier ist die strafrechtliche Verfolgung durch die Polizei der erste
Schritt, eine Mediation kann erst im Anschluss und in Absprache mit dem/r
ermittelnden Richter*in erfolgen.
Prinzipiell könnten auch die Mitarbeiter*innen der Jugendstrafanstalt als
Mediator*innen in Konflikten auftreten und tun dies natürlich auch. Welche Vor-
teile bringt es, die Inhaftierten zusätzlich selbst als sogenannte PeerMediatoren
einzusetzen? Der Begriff „Peer“ beschreibt in diesem Fall Personen, die gleich-
altrig sind, ähnliche Sozialisationserfahrungen teilen, einen vergleichbaren
Status haben und sich aktuell in einer ähnlichen Lebenssituation befinden.
PeerMediation beruht in der Tradition der PeerEducation9 auf dem Konzept des
Lernens am Modell nach Albert Bandura10. Modellpersonen sind in der Jugend-
strafanstalt gleichaltrige Jugendliche oder Heranwachsende, die in der PeerGruppe
anerkannt sind und über soziale Kompetenzen und eine besondere Qualifikation,
in diesem Fall eine 40stündige Mediationsausbildung, verfügen. Diese Modelle
sind motiviert, sprechen die gleiche Sprache und bewegen sich auf gleicher
Ebene mit der Zielgruppe, sie sind glaubwürdig und eine verlässliche Quelle für

9Vgl. Heyer, Robert: Peer-Education – Ziele, Möglichkeiten und Grenzen. In Harring, Marius/
Böhm-Kasper, Oliver/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian (Hrsg.): Freundschaften, Cliquen und
Jugendkulturen – Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2010, S. 407 ff.
10Vgl. Bandura, Albert: Lernen am Modell – Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie.

Stuttgart: Klett 1976.


240 B. Lang

Informationen. Dadurch gewinnen sie im Rahmen einer Mediation eher das Ver-
trauen der Konfliktparteien und ihre Rolle als unparteiischer Dritter wird schneller
akzeptiert als wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Vollzugs diese Auf-
gabe alleine übernehmen würden.
Die Methode der PeerMediation setzt außerdem auf einen doppelten Lern-
effekt, d. h. nicht nur die Konfliktparteien erleben eine alternative Möglichkeit,
Konflikte eigenständig zu regeln, auch die PeerMediatoren selbst können etwas
über die Entstehung von Konflikten lernen. Indem sie in die Rolle des Vermittlers
schlüpfen, erhalten die PeerMediatoren nämlich die Gelegenheit, Konflikte, die sie
selbst auch schon erlebt haben oder erleben, distanziert zu betrachten und darüber
auch ihr eigenes Konfliktverhalten zu reflektieren. Eine zentrale Rolle spielt hier
das Auswertungsgespräch, das die Trainer*innen nach jeder Mediation mit den
beiden PeerMediatoren führen. Ein/e Mediator*in aus dem Team der Jugendstraf-
anstalt ist während der Mediation anwesend.
Diese partizipativen Arbeitsformen ergänzen einseitig emotional oder kognitiv
orientierte Präventionsstrategien um eine soziale Ebene und sorgen für eine
größere Identifikation mit den Zielen der friedlichen Konfliktlösung.

6 Verankerung und Nachhaltigkeit

Übergreifendes Ziel ist es, die PeerMediation als regelhaftes Instrument der
konstruktiven Konfliktschlichtung im Alltag eines Gefängnisses strukturell
zu verankern. Damit kommt das Projekt PeerMediation hinter Gittern dem im
Jugendstrafvollzugsgesetz formulierten Auftrag nach, Verstöße der Gefangenen
gegen Pflichten, die ihnen durch oder auf Grund dieses Gesetzes auferlegt sind,
erzieherisch aufzuarbeiten.
Die Verankerung in den Vollzugsalltag findet auf verschiedenen Ebenen statt.
Die zentralen Säulen sind

• die Ausbildung von Inhaftierten zu PeerMediatoren,


• die Fortbildung der ausgebildeten PeerMediatoren,
• die Durchführung von PeerMediationen zwischen Inhaftierten und
• die Bildung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Mitarbeiter*innen des
Gefängnisses sowie
• die strukturelle Verankerung des Gedankens der PeerMediation im Vollzugsall-
tag.

Die Ausbildung findet einmal pro Woche für eineinhalb Stunden in den Räumen
der Schule, in den Werkstätten oder den Wohnbereichen der Jugendstrafanstalt
statt. Eine Ausbildungsgruppe besteht aus maximal 10 Teilnehmer und wird
stets von zwei Trainer*innen geleitet. Gelegentlich unterstützen bereits aus-
gebildete PeerMediatoren die Trainer*innen als Co-Trainer. Insgesamt umfasst
die Trainingsmaßnahme 40 h und orientiert sich damit im Umfang an der Aus-
bildung von Konfliktlots*innen oder Streitschlichter*innen an Berliner Schulen.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 241

Die Teilnahme an der Mediationsausbildung setzt voraus, dass die Inhaftierten die
deutsche Sprache verstehen und sich verständlich ausdrücken können. Inhaftierte,
die ihre eigenen Konflikte vorzugsweise gewalttätig lösen oder andere Inhaftierte
unterdrücken, können nur unter bestimmten Bedingungen an der Mediations-
ausbildung teilnehmen. Sie sind in jedem Fall zunächst von der Tätigkeit als
PeerMediator ausgeschlossen. Die Mediationsausbildung versteht sich für diese
Inhaftierte dann ausschließlich als eine Möglichkeit, sich intensiv mit ihrem
eigenen Konfliktverhalten auseinanderzusetzen.
Am Ende der Ausbildung absolvieren die Jugendlichen eine schriftliche und
eine praktische Prüfung. Die schriftliche Prüfung umfasst einen Katalog von
etwa 15 Fragen rund um die Mediation. Die mündliche Prüfung wird zu zweit
abgelegt und ist im Grunde genommen eine klassische Mediation, in der die
beiden Trainer*innen die Konfliktparteien spielen. Bewertet wird dabei nicht, ob
die angehenden PeerMediatoren eine Lösung im vorliegenden Konflikt erzielen,
sondern ob sie die einzelnen Phasen der Mediation sicher beherrschen und
im Team arbeiten können. Mediation im Team setzt voraus, dass man sich auf-
einander verlassen kann, etwa gleiche Sprechanteile hat und sich gegenseitig
ergänzt. Beide Teile der Prüfung sollen sicherstellen, dass die wichtigsten Grund-
lagen der Mediation verinnerlicht wurden. Anschließend erhalten die Teilnehmer
eine Bescheinigung, können ein Mediations-T-Shirt mit ihrem Namen erwerben
und werden regelmäßig als PeerMediatoren hinter Gittern eingesetzt. Voraus-
setzungen für eine Tätigkeit als PeerMediator sind einerseits das Interesse der
Inhaftierten, d. h. die freiwillige und motivierte Mitarbeit im Projekt und anderer-
seits ein vorbildlicher Vollzugsverlauf. Meldungspflichtige Vorfälle wie z. B.
Unterdrückung anderer Mitinhaftierter, körperliche Auseinandersetzung oder gar
eine laufende Strafanzeige schließen den Einsatz als PeerMediator aus.
Regelmäßig bietet das Mediationsteam der Jugendstrafanstalt auch Fort-
bildungen für bereits ausgebildete PeerMediatoren an. Sie beschäftigen sich aus-
führlicher mit bestimmten Methoden der Mediation, typischen Schwierigkeiten,
die bei den PeerMediationen auftauchen und Themen der Konfliktentstehung und
-bearbeitung.
Die Inhalte werden sowohl von den Trainer*innen als auch von den PeerMediatoren
selbst angeregt und ausgewählt. Die jungen Männer nehmen freiwillig an diesen Fort-
bildungen teil. Sie fühlen sich ernst genommen und wertgeschätzt.
Neben einem fachlichen Input dienen diese Treffen auch dem Austausch der
PeerMediatoren untereinander und der Bildung von Co-Mediatoren-Teams. Die
PeerMediationen werden stets von zwei Inhaftierten durchgeführt. Diese beiden
sollten sich gut verstehen, sich vertrauen und sich in ihren Fähigkeiten ergänzen.
Seit 2008 werden geeignete Konflikte in der Jugendstrafanstalt Berlin
punktuell und in den folgenden Jahren immer flächendeckender im Rahmen von
PeerMediationen einer konstruktiven Lösung zugeführt. Mittlerweile finden jähr-
lich über 50 Mediationen statt. Eine PeerMediation wird von zwei ausgebildeten,
inhaftierten PeerMediatoren und einer/m professionellen Mediator*in durch-
geführt, der/die die Mediation beobachtet, im Extremfall den Missbrauch des Ver-
fahrens verhindert und die PeerMediatoren auf Wunsch unterstützt. Am Ende der
242 B. Lang

PeerMediation steht eine schriftliche Vereinbarung, die die beiden Konfliktparteien


mit Hilfe der PeerMediatoren formulieren und dann unterschreiben. Diese Ver-
einbarung wird per E-Mail an die Verantwortlichen (z. B. Sozialarbeiter*innen,
Lehrer*innen, Werkmeister*innen) weitergeleitet und dient der Entscheidungs-
findung, ob z. B. zwei Inhaftierte wieder zusammen in einem Betrieb arbeiten
können oder eine Trennungsverfügung aufgehoben werden kann. Eine Trennungs-
verfügung bedeutet, dass zwei Inhaftierte nicht aufeinandertreffen dürfen und wird
zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit erlassen, wenn ein körper-
licher Konflikt zwischen zwei oder mehreren Inhaftierten droht oder bereits statt-
gefunden hat.
Die Teilnahme an einer Mediation ist in jedem Fall freiwillig und vertraulich.
Die Schweigepflicht der Mediatoren erlischt nur dann, wenn Straftatbestände
während des Mediationsverlaufs benannt werden. Ein Mediator beschreibt es
treffend:

„Die Insassen wissen genau: Was gesprochen wird, bleibt im Raum. Ich weiß, dass sie
mich als Mediator ernst nehmen. Ich sehe das in ihren Augen – muss nicht bei jedem so
sein, aber bei den meisten.“11

Eine PeerMediation kann entweder von den Konfliktparteien selbst initiiert


werden oder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Vollzugs empfohlen
werden, die den Konflikt festgestellt haben.
Generell ist eine PeerMediation immer dann sinnvoll, wenn sie im Vorfeld einer
körperlichen Eskalation stattfindet und gewaltpräventiv eingesetzt wird. Typische
Beobachtungen, Situationen oder Indikatoren für atmosphärische Spannungen
oder eine beginnende Eskalation sind unter anderem:

• auffällig aggressiver Umgangston zwischen Inhaftierten,


• verbale Beschimpfungen und Beleidigungen,
• sich häufende Fouls bzw. unfaire Aktionen im Sportbereich,
• Interessenskonflikte, die sich aus notwendigen Absprachen im Werkstattbetrieb
oder im Wohnumfeld ergeben (z. B. Verteilung von Aufgaben und Ressourcen),
• Wertekonflikte, die sich aus interkulturellen, religiösen oder sprachlichen Miss-
verständnissen ergeben,
• Mobbing im Sinne von wiederholtem und regelmäßigem Schikanieren von Mit-
inhaftierten, Verbreitung falscher Tatsachen über andere, die Zuweisung sinn-
loser Arbeitsaufgaben, Gewaltandrohung und soziales Isolieren.

Im Anschluss an eine durchgeführte PeerMediation wird mit den verantwortlichen


PeerMediatoren ein Intervisionsgespräch durchgeführt. Die Idee der Intervision
besteht darin, dass man auf Augenhöhe und unter (Peer)Mediatoren gemeinsam

11Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation hinter Gittern - Evaluation eines Projektes, Berlin 2015,
S. 15.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 243

den Prozess der Lösungsfindung reflektiert. Dabei lernen die PeerMediatoren viel
über die Entstehung von Konflikten und die Vogelperspektive ermöglicht ihnen,
auch das eigene Konfliktverhalten aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten.
Um den Gedanken der PeerMediation nachhaltig im Verhaltensrepertoire der
Inhaftierten zu verankern, ist es zentral, dass alle Schlüsselakteure im Strafvollzug
daran mitwirken, dass eine konstruktive Konfliktkultur entsteht und ein bewusster
Umgang mit Konflikten im Vollzugsalltag zu einer Selbstverständlichkeit wird.
Um diesem Ziel näher zu kommen, ist es wichtig, dass neben der Aus- und Fort-
bildung von PeerMediatoren und der Durchführung von PeerMediationen auch
auf der kulturellen, strukturellen und praktischen Ebene Aktivitäten innerhalb der
Justizvollzugsanstalt initiiert werden.
Auf Ebene der Organisationskultur ist das klare und deutliche Votum der
Anstaltsleitung, die konstruktive Konfliktlösung als Leitbild in der Strafanstalt zu
implementieren und deren breite Etablierung zu fördern, eine Grundvoraussetzung
für eine erfolgreiche Umsetzung eines PeerMediation-Projektes.
Auf dieser Ebene kommt der internen und öffentlichen Darstellung des Themas
eine große Bedeutung zu. In Form von Infoflyern, Internet- und Intranetauftritten
oder im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
kann die PeerMediation immer wieder ins Bewusstsein aller Schlüsselakteure
gerückt werden.
Ergänzend müssen auf struktureller Ebene die grundlegenden Entscheidungen
und Weichenstellungen für die Umsetzung der PeerMediation im Vollzugsalltag
getroffen werden, um nicht an banalen Hindernissen zu scheitern. Hier gilt es die
organisatorischen, personellen und räumlichen Gegebenheiten zu schaffen.
Auf organisatorischer Ebene empfiehlt sich z. B. die fortlaufende Formulierung
von Zielvereinbarungen zur PeerMediation hinter Gittern. Die Ziele werden auf
Steuerungsebene festgelegt, regelmäßig überprüft, die Schwierigkeiten beim
Transfer in die Praxis diskutiert und gegebenenfalls alternative Ziele festgelegt
oder vorhandene Ziele neu definiert.
Um die entscheidenden Akteure mit in den Umsetzungsprozess einzubeziehen
gibt es in der Jugendstrafanstalt Berlin seit Herbst 2012 eine interdisziplinäre
Arbeitsgruppe PeerMediation. Die interessierten Kolleginnen und Kollegen treffen
sich einmal im Monat, um das Thema „konstruktive Konfliktbearbeitung“ durch
die kritische Alltagsbrille zu betrachten und Ideen zur adäquaten Etablierung im
Vollzugsalltag zu entwickeln. Die Tatsache, dass alle Berufsgruppen, also Sozial-
dienst, pädagogischer und psychologischer Dienst, Werkdienst und Vollzugsdienst
an einem Tisch sitzen und an einem Strang ziehen, hat grundlegend dazu bei-
getragen, einen Kulturwandel im Umgang mit Konflikten herbeizuführen und den
Bekanntheitsgrad der PeerMediation innerhalb der Gefängnismauern zu steigern.
Außerdem wird der Blick auf die Stärken, aber auch die Grenzen dieser Methode
der Konfliktlösung geschärft. Zielsetzung dieser Arbeitsgruppe ist es, in jedem
Unterbringungs- und Arbeitsbereich ein bis zwei Kollegen oder Kolleginnen
als Mitglieder zu gewinnen, die dann als Ansprechpartner*innen und Multi-
plikator*innen fungieren können. Zusätzlich werden diese Mitarbeiterinnen und
244 B. Lang

Mitarbeiter intern fortgebildet und für die Teilnahme an der Arbeitsgruppe frei-
gestellt.
Ein erster struktureller Erfolg dieser Arbeitsgruppe ist eine Dienstanweisung,
die PeerMediation als Methode beschreibt und die Einsatzfelder sowie die
Vorgehensweise für alle Mitarbeiter*innen der Jugendstrafanstalt regelt. Seit
Dezember 2013 verfügt die PeerMediation in der JSA Berlin auch über einen
eigenen Raum, in dem alle Mediationen und die Treffen der Arbeitsgruppe statt-
finden können. Diese räumliche Verankerung ist deshalb so wichtig, weil die
Mediation damit allgegenwärtig ist und die Mediationen auf neutralem Boden
stattfinden können.
In einem weiteren Schritt gilt es auf der praktischen Ebene, den Kultur-
wandel und die strukturellen Änderungen in alltägliche Routinen einzubinden.
Eine Möglichkeit besteht darin, die Mediation auf die Tagesordnung z. B. von
Konferenzen in den Unterbringungsbereichen und bei der Aufarbeitung von
disziplinarischen Auffälligkeiten zu setzen, so dass sie immer präsent ist und
als eine Möglichkeit der Konfliktlösung mitgedacht wird. Auch im Rahmen von
Insassenversammlungen kann die PeerMediation als ein Punkt stets angesprochen
werden.
Außerdem wurde in der JSA Berlin ein Formular entwickelt und ins Intranet
gestellt, mit dem jede Kollegin und jeder Kollege eine PeerMediation einfach und
schnell anregen bzw. beantragen kann.
Eine aktualisierte Liste der ausgebildeten PeerMediatoren ist ebenfalls für alle
Mitarbeiter*innen online und ausgedruckt verfügbar, so dass diese Inhaftierten
unkompliziert und direkt angesprochen werden können.
Wie bereits erwähnt können sich die ausgebildeten PeerMediatoren zusätz-
lich zu ihrer einheitlichen Arbeits- und Freizeitkleidung ein T-Shirt mit dem –
von einem Mitinhaftierten entworfenen – Mediationslogo kaufen. Dieses T-Shirt
dient zur internen Öffentlichkeitsarbeit und kennzeichnet die PeerMediatoren als
Ansprechpartner für andere Inhaftierte und die Mitarbeiter*innen der Jugend-
strafanstalt. Die T-Shirts werden sehr gerne von den Inhaftierten getragen, weil
sie einerseits von der Einheitskleidung abweichen und andererseits eine Wert-
schätzung ihrer Arbeit als Mediatoren sind.

7 Herausforderungen

Zu Beginn des Projektes PeerMediation hinter Gittern reichte die Haltung sowohl
auf Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch bei den Inhaftierten von
Unwissenheit über Skepsis bis hin zur Ablehnung. So wurde z. B. angezweifelt,
dass die Konfliktparteien im Rahmen einer PeerMediation ihr wahres Gesicht
zeigen und ihr Verhalten tatsächlich ändern würden.
Die Inhaftierten interpretierten es anfangs als ein Zeichen von Schwäche, selbst
an einer PeerMediation teilzunehmen. Für sie schien es „unmännlich“ zu sein, ihre
Probleme nicht selbst lösen zu können und die Hilfe anderer anzunehmen.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 245

Außerdem sorgten sich Inhaftierte, in der Achtung der Mitinhaftierten zu


sinken, wenn sie um eine PeerMediation bitten würden. Sie hatten Angst als Ver-
räter oder Petze angesehen zu werden, weil sie Missverständnisse, atmosphärische
Spannungen oder Konflikte offen ansprechen. Aufgrund stetiger Informations-
und Aufklärungsarbeit in unterschiedlichsten, internen Gremien und Podien, der
kontinuierlichen Durchführung von PeerMediationsausbildungen und Konflikt-
trainingskursen sowie der Zusammenarbeit im Rahmen der AG PeerMediation ist
mittlerweile die Unwissenheit und Skepsis einem zufriedenstellenden Kenntnis-
stand und einer hohen Akzeptanz gewichen.
Relativ zügig war die Teilnahme an der Ausbildung zum PeerMediator und die
anschließende Arbeit als PeerMediator unter den jungen und heranwachsenden
Männer hoch angesehen, so dass mittlerweile zahlreiche Inhaftierte zu
PeerMediatoren ausgebildet wurden. Nur in seltenen Fällen kommt es nach einer
PeerMediation zu weiteren Auseinandersetzungen oder Auffälligkeiten zwischen
den beteiligten Inhaftierten. Außerdem fallen die ausgebildeten PeerMediatoren in
der Regel durch prosoziales Verhalten auf und sind verhältnismäßig selten selbst
in massive Auseinandersetzungen verwickelt. Die Ergebnisse der Evaluation von
201512 unterstreichen diese positiven Effekte. Eine gesunde Skepsis hilft aber
weiterhin dabei, immer in Bewegung zu bleiben und das Verfahren stets kritisch
zu beleuchten und aufgrund der Erfahrungen weiter zu entwickeln. Es gilt stetig
eine Atmosphäre zu schaffen bzw. zu erhalten, die den ehrlichen Umgang mit
Konflikten ermöglicht und zu einer Selbstverständlichkeit werden lässt.
Die Implementierung des Grundgedankens der PeerMediation hinter Gittern
ist nach den vielen Jahren keinesfalls abgeschlossen und erfordert auch in der
nächsten Zeit stetige Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit nach innen und
außen. Darüber hinaus gibt es aber auch weiterführende Ideen und Visionen,
die über die bisherigen Aktivitäten hinausgehen, z. B. die Intensivierung der
Zusammenarbeit mit externen Institutionen, die Einrichtung von regelmäßigen
Diskussionsrunden und der Austausch mit anderen Jugendstrafanstalten.

8 Kooperation mit externen Partnern

Schon in den letzten Jahren ist es uns vereinzelt gelungen, Kooperationen mit
Schulen oder Trägern der Jugendarbeit zu initiieren und damit den ausgebildeten
PeerMediatoren – sofern sie vollzugsgelockert waren – eine Möglichkeit zu
geben, ihre erlernten Fähigkeiten und erworbenen Kompetenzen im Rahmen von
Mediationsausbildungen, Sozialen Kompetenztrainings oder Anti-Gewalttrainings
einzubringen.

12Vgl. Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation hinter Gittern - Evaluation eines Projektes, Berlin
2015.
246 B. Lang

Perspektivisch wäre es wünschenswert, wenn es gelänge, langfristige Kooperationen


mit Schulen, Jugendeinrichtungen und externen Trägern zu etablieren. Über diese
Zusammenarbeit können die jungen Männer auch nach ihrer Inhaftierung erleben, dass
das Lösen von Konflikten mit Worten einen hohen Stellenwert besitzt und sie einen
Beitrag dazu leisten können, dass andere Jugendliche nicht straffällig werden. Die
Möglichkeit, in die Rolle des Trainers zu wechseln, ermöglicht den PeerMediatoren
einen Perspektivwechsel, der sich positiv auf die Resozialisierung auswirkt.
Eine weitere spannende Ergänzung dieser Aktivitäten vollzugsgelockerter
Inhaftierte in der Freiheit ist der diskursive Austausch zwischen jugendlichen
PeerMediatoren der Jugendstrafanstalt Berlin und Jugendlichen z. B. aus Berliner
Brennpunktschulen. Die zentrale Zielstellung ist es, einen Gedankenaustausch
zum Umgang mit Konflikten innerhalb der Peergruppe ohne pädagogischen Zeige-
finger zu ermöglichen. Außerdem werden alle Beteiligten für Konfliktsituationen
und deren Eskalationspotenziale sensibilisiert. Indem sie innerhalb der Diskussion
unterschiedliche Perspektiven einnehmen, erweitern alle Beteiligten ihren eigenen
Erfahrungshorizont und reflektieren die Entstehung von destruktiven Szenarien
aus einem neuen Blickwinkel.
In Berlin scheint der verbindliche Ethikunterricht ein besonders geeigneter
Anknüpfungspunkt für eine solche Kooperation zu sein. Zum einen werden alle
Kinder und Jugendlichen einer Jahrgangsstufe unabhängig von kultureller oder
religiöser Prägung in einer Diskursgemeinschaft versammelt13. Zum anderen
gehören Konflikte, Gewalt, Aggression oder Gerechtigkeit zu den klassischen
Themen dieses Unterrichts. Eine Win–Win-Situation erscheint möglich. Während
die PeerMediatoren ihre Wirksamkeit im gesellschaftlichen Raum erfahren,
profitiert der Ethikunterricht von einem unmittelbaren Lebensweltbezug.
Der Besuch einer Schulklasse im Gefängnis ist allerdings keine Selbstver-
ständlichkeit und muss auf beiden Seiten der Mauer gut vorbereitet werden. Um
zu vermeiden, dass die Inhaftieren nur auf ihre Straftat reduziert werden oder
die Sicherheitsvorkehrungen hinter Gittern zu einschüchternd oder abschreckend
auf die Gäste wirken, empfiehlt es sich, ein gemeinsames Thema zu wählen.
Ein Thema, das für alle Beteiligten von Interesse ist. Die Diskussion z. B. über
konfliktreiche Plätze in Berlin und die Erfahrungen der Schüler*innen und
PeerMediatoren in ihren Heimatkiezen ermöglicht einen Austausch auf Augen-
höhe. Es ist nicht mehr entscheidend, wer hier eine Freiheitsstrafe absitzt, schon
mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist oder noch gar keine Erfahrungen mit
Polizei und Justiz hat. Die verschiedenen Erfahrungen fügen sich wie Mosaik-
steine zu einem Bild, das für alle einen neuen Blick auf das eigene Konfliktver-
halten ermöglicht.

13Vgl.Tiedemann, Markus: Ethikunterricht für alle – das Gebot der Stunde. In: Tiedemann,
Markus (Hrsg.): Schule, Migration und ethische Bildung. Stuttgart: Kohlhammer 2018.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 247

Literatur
Bandura, Albert: Lernen am Modell – Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart:
Klett 1976.
Besemer, Christoph: Mediation. Die Kunst der Vermittlung in Konflikten. Karlsruhe: WfGA-
Buchversand 2010.
Fisher, Roger/Ury, William: Getting to yes. Negotiating an agreement without giving in. London:
Random House Business 2012.
Glasl, Friedrich: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und
Berater. Bern: Freies Geistesleben 2009.
Harnack, Klaus: Scham und Verantwortung statt Schuld. In Die Mediation IV/2018, S. 28ff.
Haumersen, Petra/Liebe, Frank: Wenn Multikulti schief läuft? – Trainingshandbuch Mediation in
der interkulturellen Arbeit. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2005.
Heyer, Robert: Peer-Education – Ziele, Möglichkeiten und Grenzen. In Harring, Marius/Böhm-
Kasper, Oliver/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian (Hrsg.): Freundschaften, Cliquen und
Jugendkulturen – Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2010, S. 407–421.
Jugendstrafvollzugsgesetz Berlin 2016.
Karliczek, Kari-Maria:  Peer-Mediation hinter Gittern – Evaluation eines Projektes. Berlin 2015.
Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1981.
Tiedemann, Markus: Schule, Migration und ethische Bildung. Stuttgart: Kohlhammer 2018.
Hospiz ist kein Ort, sondern eine
Haltung
Angela Hörschelmann

Zusammenfassung

Neben der umfassenden hospizlichen Begleitung und palliativen Versorgung


ist es seit ihren Anfängen ein zentrales Anliegen der Hospizarbeit, den
gesellschaftlichen Dialog und die Auseinandersetzung mit den existenziellen
Themen Krankheit, Sterben und Tod zu fördern – auch mit Kindern und
Jugendlichen. Der Text stellt Angebote für Kindergärten, Schulen und andere
Kinder- und Jugendeinrichtungen vor, deren Ziel es ist, die Unsicherheiten
im Umgang mit diesen Themen zuzulassen und zu teilen. Die beschriebenen
Projekte dienen nicht nur der Wissensvermittlung und der Orientierung, sie
eröffnen vielfältige Räume für Gefühls-, Denk- Ausdrucks- und Umgangs-
formen, die bei der Konfrontation mit Abschied, Verlust und Krankheit für alle
Beteiligten hilf- und lehrreich sein können.

Schlüsselwörter

Sterben · Tod · Trauer · Schule · Kindergarten · Hospiz

A. Hörschelmann (*) 
Berlin, Deutschland
E-Mail: a.hoerschelmann@dhpv.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 249
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_13
250 A. Hörschelmann

1 Die Hospizidee

Schwerstkranke und sterbende Menschen und die ihnen Nahestehenden benötigen


am Ende des Lebens Zuwendung und Unterstützung. Dass diese Erkenntnis sich
in Deutschland seit den 1980er Jahren gesamtgesellschaftlich immer mehr durch-
setzt, ist vor allem auch ein Verdienst der Hospiz- und Palliativarbeit. Ihre Wurzeln
hat sie im tiefen Unbehagen zunächst vor allem ehrenamtlich Engagierter, die das
einsame Sterben in Krankenhäusern, in denen Sterbende nicht selten ins Bade-
zimmer geschoben und sich dort selbst überlassen wurden, nicht länger hin-
nehmen wollten.
Neben der umfassenden hospizlichen Begleitung und palliativen Ver-
sorgung ist es seit ihren Anfängen ein zentrales Anliegen der Hospizarbeit, den
gesellschaftlichen Dialog und die Auseinandersetzung mit den existenziellen
Themen Krankheit, Sterben und Tod zu fördern. Dies gilt auch für Kinder und
Jugendliche. Denn gestorben wird auch heute, obgleich deutlich besser hospiz-
lich begleitet und palliativ versorgt als in den Anfängen der Hospizbewegung,
zumeist in Institutionen wie Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Daher
erleben Kinder und Jugendliche kaum noch unmittelbar das Sterben und den Tod
eines von Angehörigen und haben immer seltener die Möglichkeit, das Leben in
seiner Endlichkeit zu begreifen. Im Hinblick auf die großen Herausforderungen,
die mit diesen existenziellen Themen verbunden sind, werden die Anforderungen
an Kindertagesstätten und Schulen in besonderer Weise deutlich. So wirken sich
z. B. Verlust, schwere Erkrankung und/oder Sterben und Tod eines nahestehenden
Menschen, von (Mit-) Schüler*innen oder Lehrer*innen sowohl auf die Lebens-
situation einzelner als auch auf die gesamte Schulgemeinschaft aus und können in
eine Krise führen.

2 Das Projekt „Hospizlernen“

Bereits Kinder setzen sich entsprechend ihres Entwicklungsstandes mit Sterben


und Tot-Sein auseinander und stellen damit grundlegende Fragen an das Leben.
Schulkinder haben hohes Sachinteresse an Fragen zur Thematik; Jugendliche
im Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter stellen sich Fragen zum
Lebenssinn und damit auch zur Bedeutung des Sterben-Müssens.
Obwohl das Interesse der jungen Menschen, sich mit den Themen Sterben,
Tod und Trauer auseinander zu setzen, vorhanden ist, wird dem Thema im
pädagogischen Raum von Kindergarten und Schule von Seiten der Erwachsenen
oftmals mit Befürchtungen und Ängsten begegnet. Wenn Kinder oder Jugendliche
in Trauersituationen sind oder wenn sie selbst sogar lebensverkürzend erkrankt
sind, verstärkt sich die Unsicherheit und Ratlosigkeit der Erwachsenen. Aber
gerade in diesen Situationen brauchen Kinder und Jugendliche Erwachsene, die
ihnen angstfrei und sensibel begegnen.
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 251

Der Tod eines Kindes oder Jugendlichen stellt für alle im System Kinder-
garten oder Schule Tätigen, aber auch für die anderen Lebens- und Sozialräume
von Kindern und Jugendlichen, eine große Herausforderung dar, so zum Beispiel
für Vereine, Jugendtreffs, organisierte Jugendarbeit und Jugendhilfeeinrichtungen.
Von besonderer Wichtigkeit ist, dass mit dieser Situation angemessen umgegangen
wird und die Erwachsenen handlungsfähig sind. Ein Ansatz der Hospizbewegung
ist es daher, auch Erziehende, Lehrende und Eltern zu ermutigen und zu stärken,
zusammen mit den Kindern und Jugendlichen dem Lebensthema Tod zu
begegnen. Dabei brauchen sie Handlungskompetenzen und -strategien; denn ana-
log einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Haltung zu Tod und Trauer spiegeln
auch Kindertagesstätten und Schulen bis heute noch zu oft Tabuisierung und Ver-
meidungstendenzen wider.
Vor diesem Hintergrund zeigt das Projekt „Hospizlernen“ des Deutschen Hospiz-
und PalliativVerbands e. V. (DHPV1) Wege auf, wie Erwachsene – insbesondere
Eltern, Lehrkräfte und Erzieher*innen – ermutigt und in ihren Kompetenzen gestärkt
werden können, um sich gemeinsam mit den ihnen anvertrauten Kindern und
Jugendlichen mit den Lebensthemen Sterben, Tod und Trauer auseinanderzusetzen.
Zu „Hospizlernen“ gehören vier beispielgebende, bundesweite Projekte für
Kindertagesstätten, Grundschulen und weiterführende Schulen sowie für die
Fortbildung von Pädagoginnen und Pädagogen, die in den vergangenen Jahren
entwickelt und implementiert wurden und im Sinne eines präventiven Ansatzes
systematisch Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen vermitteln – in enger
Kooperation mit der Hospizbewegung. Diese eröffnet dazu vielfältige Impulse
und bietet sich als außerschulischer Kooperationspartnerin an, um theoretisches
Wissen und praktische Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.
Die vier Projekte, die sämtlich implementiert und evaluiert sind, adressieren
unterschiedliche Altersgruppen. Sie alle zeichnen sich durch hohe Qualität und
systematische Vorbereitung bzw. Schulung aus und sollen in Form konkreter
Praxisbeispiele Wege aufzeigen und Interessierten Mut machen, in der Aus-
einandersetzung mit den Lebensthemen Krankheit, Sterben, Tod und Trauer in
ihren Schulen und Bildungseinrichtungen und gemeinsam mit den ihnen anver-
trauten Kindern und Jugendlichen initiativ zu werden. Das kann in der Schule
selber stattfinden, aber auch – wie im Folgenden noch ausgeführt wird – an
anderen Erfahrungsorten von Kindern und Jugendlichen. Der Lernort ist dabei
die Hospizidee selber. Denn – um es mit den Worten Cicely Saunders, der
Begründerin der modernen Hospizbewegung, zu sagen: „Hospiz ist kein Ort, an
dem wir uns einrichten, sondern eine Haltung, mit der wir uns begegnen."

1 
Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband e. V. ist seit 1992 die bundesweite Interessen-
vertretung der Hospizbewegung sowie zahlreicher Hospiz- und Palliativeinrichtungen in
Deutschland. Als Dachverband der Landesverbände in den 16 Bundesländern sowie weiterer
überregionaler Organisationen der Hospiz- und Palliativarbeit und als selbstverständlicher
Partner im Gesundheitswesen und in der Politik steht er für über 1.250 Hospiz- und Palliativ-
dienste und -einrichtungen, in denen sich mehr als 120.000 Menschen ehrenamtlich, bürger-
schaftlich und hauptamtlich engagieren.
252 A. Hörschelmann

2.1 Hospizlernen I: Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit//


Hospizprojekte für Kinder und Jugendliche

Unter dem Dach „Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit“ (GmS) entwickeln die
Malteser seit 2011 deutschlandweit eine Vielfalt von Formaten im Zusammenspiel
zwischen örtlichen Hospizdiensten und Partnerinstitutionen aus den Sozialräumen
von Kindern und Jugendlichen. Die Projektidee möchte Kindern und Jugendlichen
geschützte Räume für Denkweisen, Gefühle, Ausdrucks- und Umgangsformen mit
Sterben, Tod und Trauer eröffnen. Die einzelnen Hospizprojekte, die seither ent-
standen sind, wollen Mut machen, Kindern und Jugendlichen in einer unsicheren
Zeit der Krankheit, des Abschieds und Verlustes ein kleines bisschen Sicherheit
geben und nicht zuletzt das Sterben und den Tod wieder zurück ins Leben holen.
In unserem Alltag werden Sterben, Tod und Trauer nach wie vor tabuisiert und
weitgehend ausgeklammert. Doch gerade Kinder und Jugendliche werden in den
Medien, von den Nachrichtensendungen über Krimis bis hin zu Computerspielen,
regelmäßig mit Sterben, Tod und Verlust konfrontiert. Beides erschwert Kindern
und Jugendlichen einen natürlichen Umgang mit dem Thema zunehmend und ver-
unsichert, dem eigenen Empfinden zu trauen. Das Projekt will dem Sterben und
dem Tod die Anonymität, die Fremdheit und einen Teil des Schreckens nehmen.
Es gibt jungen Menschen Antworten auf ihre („Wissens“-) Fragen und hilft ihnen,
Gefühle auszudrücken und auszuhalten. Und es gibt ihnen Rituale an die Hand
und hilft Symbole zu finden, die ihnen die Sicherheit geben, sich an diese Themen
zu wagen.
Sterben und Tod gehören zum Leben wie das Atmen und trotzdem ist der
Umgang mit ihnen alles andere als selbstverständlich. Sie belasten uns, verändern
den Alltag, stellen das eigene Leben in Frage. So wie Trauer eine natürliche
und gesunde Reaktion auf den Verlust eines Menschen ist, gehören Sterben und
die Erfahrung des Todes zum Leben. Dies bedarf einer Sorgekultur, die letztlich
in der Gesellschaft selbst verankert ist. Verkörpert wird diese Sorgekultur durch
die ehrenamtlich in der Hospizarbeit engagierten Menschen. Indem das Projekt
Kinder und Jugendliche mit dem Gedanken der Sorgekultur über ihr eigenes
Erleben und die Teilhabe am Erfahrungsschatz der Ehrenamtlichen vertraut
macht, knüpft die hospizliche Bewegung zum einen an ihre eigenen Wurzeln an
und erfährt über die interessierte Anteilnahme der Kinder und Jugendlichen zum
anderen eine neue Form von Lebendigkeit.
„Ich hätte ihn so gerne noch einmal gesehen…“ Mädchen, 15 Jahre.
Zum Teil aus der beschriebenen Hilflosigkeit im Umgang mit Verlust und
Trauer heraus, aber auch, weil Lehrende selber wissen, wie wichtig die Aus-
einandersetzung mit diesen Lebensthemen ist, werden immer wieder Hospiz-
dienste in Schulen eingeladen oder von Erzieherinnen und Erziehern aus dem
Kindergarten um Beratung angefragt. Hierauf haben die Malteser reagiert und
in den letzten Jahren eine Vielzahl von Projekten entwickelt, die sich speziell an
Kinder und Jugendliche wenden und deren Umfeld mit einbeziehen. Dazu sind
folgende drei Aspekte wichtig:
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 253

2.1.1 Erster Aspekt: Ehrenamtlichkeit


Das Projekt stellt die Ehrenamtlichkeit als zentrale Eigenschaft der Hospiz-
bewegung in den Fokus. Hospizprojekte mit Kindern und Jugendlichen werden in
der Regel von ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Hospizdienste durchgeführt. Als
authentische Zeugen der Hospizkultur werden sie mit ihren „Lebens“-Erfahrungen
in der Begleitung von Sterbenden und Trauernden für die jungen Menschen zu
greifbaren Ansprechpartner*innen, die bereit sind, die Unsicherheiten des Lebens
mit den Kindern und Jugendlichen auszuhalten und zu teilen.
„Die wollen wirklich wissen, was wir denken…“ Junge, 16 Jahre.

2.1.2 Zweiter Aspekt: Vielfältige Lebens- und Sozialräume


Während ein Teil der Anfragen noch im weiteren oder auch näherem Umfeld
konkreter Hospizarbeit anzusiedeln ist, war doch schon früh überraschend deut-
lich, welche vielfältigen Zugänge es zwischen Hospizdiensten und den Lebens-
welten von Kindern und Jugendlichen gibt.
Auch wenn der institutionalisierte Raum Schule gerade durch die Schulpflicht
Entwicklungsphasen von Kindern und Jugendlichen maßgeblich prägt, sind es eben
auch andere Sozialräume, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen. Wenn
man mit Kindern und Jugendlichen über Sterben, Tod und Trauer sprechen möchte,
muss man es an den Orten tun, wo sie sich bewegen. Und diese Orte sind nicht nur
im Rahmen von Schule. Das bestätigen die regelmäßigen Anfragen aus der verband-
lichen Jugendarbeit, aus Firm- und Konfirmandengruppen und von professionellen
Begleitern der Kinder und Jugendlichen. Menschen, die in diesen anderen Lebens-
welten mit Kindern und Jugendlichen im Kontakt sind, suchen beratende Unter-
stützung bei Hospizdiensten mit ihren Trauerangeboten. Inzwischen wird das
Projekt u. a. an Kindergärten, in Jugendgruppen und Schulen mit Kindern und
Jugendlichen im Alter zwischen drei und neunzehn Jahren durchgeführt.
Beispiele für Anfragen außerhalb von Schule:
| Themenbezogene Tagesseminare „Der Baum des Lebens“ | Kinder-, Jugend-,
Elterngruppen, | Familiennachmittage | Fortbildung für Mitarbeitende der Jugend-
hilfe | Veranstaltungen in Fachschulen für Erzieherinnen und Erzieher | Beratung
von Erzieherinnen und Erzieher und anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen |
Unterstützung der Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten bei trauernden
Kindern | Projekttag im Kindergarten | Fortbildungen von Tagesmüttern und
-väter in Zusammenarbeit mit dem Bildungswerk | Gesprächsabend mit Firm-
lingen | Weitervermittlung an Fachberatungen | Unterricht Krankenpflegeschulen |
Zusammenarbeit mit verwaisten Eltern.

2.1.3 Dritter Aspekt: Kein Projekt nach Schema F – dynamisch


und individuell
Es gehört zum Selbstverständnis der Hospizarbeit, dass jeder anders trauert und
nicht jede Form der Trauerarbeit jedem hilft. Der Umgang mit Verlust, Sterben
und Tod ist so unterschiedlich wie die Kinder und Jugendlichen, denen das
Malteser-Projekt zugutekommen soll. Deshalb gibt es auch kein starres Projekt-
254 A. Hörschelmann

Programm, das den jungen Teilnehmenden präsentiert wird. Jedes Angebot ist
anders. Es folgt seiner eigenen Dynamik und passt sich genau denen an, für die
es gedacht ist und von denen es gemacht wird. Es gibt erprobte Konzepte, die in
pädagogische Einheiten aufgeteilt und aufbereitet sind. Das heißt aber noch lange
nicht, dass diese Einheiten auch zum Einsatz kommen müssen.
Schon in der Vorbereitung werden bei Lehrenden und Eltern Besonder-
heiten abgefragt, der Rahmen abgesteckt und Schwerpunkte festgelegt. Vielleicht
gibt es bei einem der Kinder oder Jugendlichen gerade einen Sterbefall in der
Familie, eine ist schwer erkrankt oder eine Lehrer*innen oder eine Erzieher*in ist
gestorben. Gemeinsam mit den Bezugspersonen, den Lehrenden und Betreuenden
können die erfahrenen durchführenden Hospizmitarbeitenden auch mit Unvor-
hergesehenem angemessen umgehen und kurzfristig reagieren. Die Teams, die
in den Kindergärten, Schulen oder Gruppen tätig werden, bestehen auch des-
halb meistens aus mehreren Mitarbeitenden (mindestens zwei), die das Projekt
gemeinsam durchführen. Es hat sich bewährt, dass die Gruppen der Kinder und
Jugendlichen nicht zu groß sein dürfen, um eine vertrauensvolle und sichere
Atmosphäre zu schaffen.
„Hospizprojekte mit Kindern und Jugendlichen – Gib mir’n kleines bisschen
Sicherheit“ kann man in unterschiedlichen Formaten kennenlernen: | an einem
pädagogischen Tag | in Projekttagen (Projektwoche) | in Wochenendworkshops,
gemeinsam mit Lehrer*innen und Eltern „Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit“
kann man erfahren: | in Ergänzung zu Unterrichtsfächern wie Religion, Ethik
oder Philosophie u. a. | durch den Besuch unserer Hospizmitarbeitenden, mit
authentischen Erfahrungsberichten | Oder: in ganz individuell zusammengestellten
Programmen und Konzepten.

2.1.4 Herzens- und Haltungsbildung


Die langjährigen Erfahrungen der einzelnen Teilprojekte zeigen, dass die
Schüler*innen und selbst Kindergartenkinder fast ausnahmslos offen und
interessiert sind und dass das Lernen über Trauer und Tod präventiv bis in die
Familien hinein wirkt. Präventiv, weil es verhindert, dass Trauer überdeckt wird,
und weil es das Sprechen in den Familien fördert. So wird Trauer als Ausdruck
von psychischer und physischer Gesundheit wahrgenommen und eingeübt.
Dort allerdings, wo Absprachen fehlen, plötzlicher Lehrer*innenwechsel
(zum Vertretungslehrer*in), intransparente Vorereignisse u.Ä. einwirken, kann es
manchmal zäh sein bzw. an Beteiligung fehlen.
Die Erfahrung zeigt außerdem, dass es lohnt zu prüfen, mit wie viel Anteilen
die Ehrenamtlichen, die die Projekte durchführen, in der Rolle der Wissensver-
mittelnden oder als Erzählende und Hörende in die Begegnung mit Kindern und
Jugendlichen gehen. Auch hier gilt es, weder die vorhandenen Lehrmaterialien
noch die Lehrenden selbst zu unterschätzen. Den Unterschied macht: das Erzählen
aus dem eigenen Erleben, ohne auf alle Fragen eine Antwort zu haben. Es geht
also über Herzens- zur Haltungsbildung.
Aus dem nun schon knapp 10-jährigen Erfahrungsschatz rund um „Hospiz-
projekte mit Kindern und Jugendlichen – Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit“
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 255

ist eine Vielzahl methodischer Bausteine gewachsen, aus der in der Konzeption
eines Projektes geschöpft werden kann. In 2-tägigen Fortbildungsveranstaltungen
für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wird dieses Wissen von Best Practice
an neue Kolleginnen und Kollegen weitergegeben.
Mittlerweile ist diese Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein fester Baustein
des Angebotes der Hospizdienste und -einrichtungen der Malteser. In kleinen
Teams aus allen Feldern der Hospiz- und Trauerbegleitung finden sich vor Ort
Ehrenamtliche und Hauptamtliche, die mit Freude, Humor und Engagement in den
gemeinsamen Lernprozess mit Kindern und Jugendlichen gehen.2

2.2 Hospizlernen II: Hospiz macht Schule//Ein Konzept für


Schüler*innen der 3. und 4. Klasse

Das Projekt „Hospiz macht Schule“ wurde 2005 von der Hospizbewegung Düren-
Jülich e. V. im Rahmen des Bundesmodellprogramms „Generationsübergreifende
Freiwilligendienste“ mit dem DHPV initiiert und drei Jahre vom Bundesfamilien-
ministerium (BMFSFJ) finanziert. Auch hier fokussieren die Projektziele darauf,
Kinder in der Auseinandersetzung der Themen Sterben, Trauer und Tod zu
begleiten. Dabei sollen sie spielerisch eigene Erfahrungen umsetzen, verbalisieren
und mit qualifizierten Ehrenamtlichen sowie den Klassenlehrer*innen
thematisieren können. Die Einbeziehung des Lernortes Grundschule sowie der
Eltern ist hilfreich für die Vision, eine Veränderung der Gesellschaft herbeizu-
führen, die in Anerkennung und Begleitung der Endlichkeit mündet.
„Hospiz macht Schule“ richtet sich an Grundschulkinder der 3. oder 4. Klassen.
Die Umsetzung des Projektes erfolgt an fünf Projekttagen, die sich mit Werden
und Vergehen, Krankheit und Leid, Sterben und Tod, vom Traurig-Sein, sowie
Trost und trösten auseinandersetzen. Fünf qualifizierte Ehrenamtliche sowie
die Klassenleitung nutzen die Methoden der Kleingruppe, kreatives Gestalten,
Musizieren, dialogisches Miteinander, Stillarbeit und Bewegung.
Durch einen vorangehenden Elternabend werden familiäre Strukturen
berücksichtigt und in die Ausgestaltung der Projektwoche einbezogen. Die bis-
herigen Erfahrungen zeigen, wie natürlich Kinder den Umgang mit den oben
beschriebenen Themen wahrnehmen und innerhalb der Projektwoche im häus-
lichen Umfeld thematisieren. So können mutmachende Gespräche entstehen, die
zu einer emotionalen Stärkung führen und somit die Heranwachsenden auf ihrem
Lebensweg mitnehmen und befähigen.
Dies veranschaulicht das Zitat von Bela Bernards, heute ein junger
Erwachsener, der als Neunjähriger an der Projektwoche teilgenommen hat:

2 Wegleitner, Klaus/Blümke, Dirk/Heller, Andreas/Hofmacher, Patrick (Hrsg.): Tod- kein Thema

für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und Jugend-
lichen. Anregungen für die Praxis. Ludwigsburg: Hospizverlag 2014.
256 A. Hörschelmann

„Für jeden Menschen ist es schwer den Tod gedanklich zu erfassen, geschweige denn
ihn zu begreifen. Besonders für einen kindlichen Verstand. Ich würde nicht sagen, dass
ich verstanden habe, was der Tod ist, das kann man nicht. Aber dieses Projekt hat mir
geholfen zu verstehen, dass nichts ewig ist, dass die Trauer und das Trost spendende
Gefühl des Loslassens Teil eines natürlichen Prozesses sind.“

Ein weiterer Aspekt ist die kindliche Beschreibung im interkulturellen Austausch,


der besonders bei den Jenseitsvorstellungen aufgenommen wird. Eine Förderung
von Integration und mitfühlendem Miteinander ist ein besondere Aspekt des
Projektes „Hospiz macht Schule“. Ein Lerntagebuch für Kinder und die vor-
handene Evaluation der Projektwoche bietet allen Beteiligten eine Entwicklung
aus dem Erfahrenen. Das vorhandene Curriculum zu dieser Projektwoche bietet
Grundlage und Spielräume zugleich.3

2.2.1 Exkurs: Didaktik und Methoden von Hospiz macht Schule


Die Didaktik und Methodik im Projekt „Hospiz macht Schule“ basiert auf einem
handlungsorientierten Bildungsverständnis, welches sich als ein ganzheitliches,
lebenslanges, teilnehmer- und prozessorientiertes versteht. Die Auseinander-
setzung mit einem Thema in der Gruppe und in Bezug zur eigenen Person als
Individuum sowie lebendiges Lernen durch Erleben und Interaktion bilden dabei
den Rahmen.4 Bildung wird nicht als reine Wissensvermittlung verstanden und
geschieht nicht allein auf der Bewusstseinsebene. Es sollen „Kopf, Herz und
Hand“ (Johann Heinrich Pestalozzi, 1746–1827), also kognitives, affektives und
psychomotorisches Lernen der Schüler*innen in ein ausgewogenes Verhält-
nis zueinander gebracht werden. Außerdem soll eine lebendige Lernatmosphäre
geschaffen werden, die das individuelle Leistungspotenzial und die Stärken
der unterschiedlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer berücksichtigt. „Die
Orientierung an den Ressourcen der Teilnehmenden ist wichtig, damit diese eine
positive Bilanz aus dem Prozess ziehen können und gestärkt daraus hervorgehen,
vor allem, wenn belastende Themen behandelt wurden.“5 Es gibt keine Leistungs-
orientierung und der Umgang zwischen allen Beteiligten findet auf einer respekt-
vollen Augenhöhe statt.
Konkret bedeutet das in der Umsetzung, dass es einen Wechsel von unter-
schiedlichen Organisationsformen, wie z. B. Großgruppe, Kleingruppen oder
Einzelarbeit gibt. Die einzelnen Unterrichtsphasen sind abwechslungsreich
gestaltet, um verschiedene Lernebenen und damit -typen anzusprechen, aber auch
um Motivation und Konzentration zu erhalten.

3 Graf, Gerda (Hrsg.): Hospiz macht Schule. Ein Kurs-Curriculum zur Vorbereitung Ehrenamt-
licher im Umgang mit Tod und Trauer für Grundschulen. Esslingen: Hospizverlag 2010.
4 Vgl. Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn. Ruth Cohn Institute for TCI international:

Was ist TZI? Themenzentrierte Interaktion. https://www.ruth-cohn-institute.org/files/content/


zentraleinhalte/dokumente/TZI-Broschuere/WAS-IST-TZI.pdf (08.06.2020).
5 Haller, Susanne/Kasimirski, Kristina: Lehren in der Tradition von Elisabeth Kübler-Ross. In:

die hospiz zeitschrift 2/2019, S. 22.


Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 257

Um die Themen Sterben, Tod und Trauer entwicklungsfördernd zu vermitteln,


benötigen die Schüler*innen ausreichend Zeit, Raum und Sicherheit. Es bedarf
qualifizierter Ehrenamtlicher in der Hospizarbeit, die sich mit diesem Themen-
feld bereits auseinandergesetzt haben und wissen, welche Vorstellungen Kinder
in diesem Altersbereich haben. Die Schüler*innen sollten spüren, dass ihnen auf-
merksam zugehört wird, sie ihre Fragen stellen können und auch unterschiedliche
Emotionen zeigen dürfen. Neben der Prozessorientierung und der Orientierung
an den teilnehmenden Schüler*innen sind Struktur und Rituale wichtig für
einen sicheren und vertrauensvollen Rahmen. Gleiches gilt für eine natürliche
Offenheit der Ehrenamtlichen und das Einbringen der eigenen Erfahrungen
und auch Unsicherheiten. All das ist der Durchführung dienlich und kann eine
Brücke bilden. Partizipation, also Teilhabe der Schüler*innen, ist ebenfalls ein
bedeutendes Element, um die genannten Aspekte verwirklichen zu können. Über
Methoden und Haltung soll den Schüler*innen der Raum gegeben werden, sich
einzubringen, ihre Meinung zu äußern und mitzugestalten. Die Feedbackrunde am
Ende jeden Tages ist da nur eine Möglichkeit.
Bei Gesprächen mit den Kindern sollten folgende Aspekte unbedingt berück-
sichtigt werden:

• die Aussagen der Kinder annehmen und nicht negativ kommentieren


• keine fertigen Meinungen anbieten, sondern gemeinsam Lösungen entwickeln
• nicht auf alle Fragen Antworten haben
• nicht die eigene Sichtweise als verbindlich darstellen

Die vielen Berichte über „Hospiz macht Schule“, die sich in den Medien finden,
zeigen, wie gut es in der Umsetzung vor Ort gelingt, das Projekt immer wieder
aufs Neue mit Leben zu füllen.6

2.3 Hospizlernen III: Endlich. – Umgang mit Sterben,


Tod und Trauer. Ein Konzept für Schüler*innen der
Jahrgangsstufen 9 bis 13

Das Konzept für den Projektunterricht „Endlich. – Umgang mit Sterben, Tod
und Trauer“ wurde im Sommer 2009 im Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik
Köln entwickelt. Das vom DHPV, vom Bundesministerium für Familie. Senioren,

6 
Südkurier: Herdwangen-Schönach: Hospiz macht Schule: Grundschüler lernen Tod als Teil
des Lebens zu sehen. https://bit.ly/HmS_Ramsberggrundschule (08.06.2020); Wuppertaler
Rundschau: Hospiz macht Schule: Ist der Himmel voller Döner? https://bit.ly/HmS_Wupper-
tal (08.06.2020); Sauerlandkurier: „Trauer hat viele Farben“/„Hospiz macht Schule“: Sauer-
länder Grundschüler gehen unbefangen mit dem Thema Tod um https://bit.ly/HmS_Wehrstapel
(08.06.2020).
258 A. Hörschelmann

Frauen und Jugend (BMFSFJ) und vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und
Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) unterstützte Projekt
wurde in allen Schulformen durchgeführt und mit Expertinnen und Experten aus
Bund, Ländern und Gemeinden diskutiert, evaluiert und ständig weiterentwickelt.
Durch den entwickelten Projektunterricht für die Schulen erhalten Jugendliche
in einem geschützten Raum die Möglichkeit, unter ihresgleichen und mit Hilfe
unterschiedlichster Methoden, individuelle Handlungsstrategien bezogen auf die
Themen „Sterben, Tod und Trauer sowie Suizid“ zu erarbeiten. Die Flexibilität des
Projektunterrichts ermöglicht eine Durchführung in der Schule an mehreren Tagen
oder in einzelnen Modulen.
Anhand von Vorträgen, praxisnahen Berichten, Diskussionen, Selbsterfahrungs-
übungen, Kreativarbeit, Rollenspielen und Filmbesprechungen werden die jungen
Menschen darin bestärkt, ihren eigenen Schwierigkeiten und Bedürfnissen mit
guter Selbstfürsorge zu begegnen und sich gleichzeitig ohne Angst auf den
Umgang mit Betroffenen einzulassen. Sie lernen die professionellen und ehren-
amtlichen Hilfsangebote für schwerkranke Menschen kennen und können als
wesentlicher Multiplikator in unserer Gesellschaft helfen, Palliativmedizin und
Hospizarbeit weiter bekannt und somit einer breiten Bevölkerungsschicht zugäng-
lich zu machen.
Immer häufiger entwickeln sich daraus Schulpraktika und/oder ehrenamtliches
Engagement der jungen Menschen in palliativen und hospizlichen Einrichtungen.

Schüler*innenzitate
„Nichts hat bisher unsere Klassengemeinschaft so zusammengeschweißt,
wie dieses Seminar.“, „Zeit, um über vieles nachzudenken.“, „Hilft mir bei
meiner Oma, die krank ist.“, „Man schöpft persönlich viel Kraft daraus.“
und „Ich habe jetzt keine Angst mehr vor dem Tod.“ motivieren, dieses
Projekt weiter voranzutreiben.

Aufgrund der positiven Erfahrungen sind bereits einige Schulen dazu über-
gegangen, den Projektunterricht dauerhaft zu implementieren.
In bundesweit stattfindenden, zweitägigen Seminaren für die Multi-
plikator*innen erhalten Pädagog*innen aller Schulformen sowie Mitarbeitende
aus psychosozialen Teams, wie z. B. aus den Bereichen Schulsozialarbeit, Schul-
psychologie, Seelsorge sowie Mitarbeitende aus dem Hospiz- und Palliativ-
bereich eine Qualifizierung. Ziel ist es, den Projektunterricht gemeinsam an den
Schulen durchzuführen, ihre reichhaltigen Erfahrungen einzubringen und sich
gegenseitig zu vernetzen. Die Teilnehmenden werden am Ende der Schulung
und mit Hilfe der Curricula im begleitenden Handbuch „Palliativ und Schule.
Sterben, Tod und Trauer im Unterricht mit jugendlichen Schüler*innen“ in der
Lage sein, gemeinsam einen abwechslungsreichen und kreativen Projekttag an
weiterführenden Schulen durchzuführen. Durch die Zusatzmodule: „Kriseninter-
vention“, „Suizid“ und „Umgang mit trauernden Schüler*innen“ erhalten die
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 259

­ urchführenden vertiefendes Wissen und gewinnen Sicherheit im Umgang mit


D
den Bedürfnisse und Nöten der Jugendlichen. Bis heute wurden über 600 Personen
in Multiplikatorenseminaren qualifiziert.
Mit Hilfe einer eigens für die Multiplikator*innen entwickelten Online-Platt-
form, werden die Durchführenden durch die Möglichkeiten und Aufgaben geführt,
die sich aus der Umsetzung ihres Projektunterrichts ergeben. Durch den übersicht-
lichen Aufbau und die leichte Bedienbarkeit, werden sie auf anstehende Schritte
hingewiesen. Vorab- und Feedbackfragebögen können zum Beispiel von den
Jugendlichen anonym über einen Barcode oder einen Link beantwortet werden.
Anschließend erhalten die Multiplikator*innen eine übersichtliche Darstellung der
Befragungsergebnisse der Jugendlichen in aggregierter Form.
Die Erfahrungen der Lehrkräfte und Hospizmitarbeitenden in den Schulen
werden auf regelmäßig stattfindenden Qualitätssicherungsseminaren diskutiert, um
eine nachhaltige und hohe Qualität sicherzustellen.
Zitat einer Multiplikatorin: „Dass Tod und Sterben nicht nur traurige Momente
mit sich bringen – dass man auch lachen kann!“

2.4 Hospizlernen IV: Leben, Sterben, Tod und Trauer in der


Schule/Fortbildung für Pädagog*innen

Seit 2004 bietet auch der Deutsche Kinderhospizverein (DKHV) Seminare


für Lehrer*innen und andere Mitarbeitende von Schulen, wie Schulsozial-
arbeiter*innen, Schulpsycholog*innen und therapeutische Kräfte, an. Auch hier
versteht sich die Seminararbeit als Angebot und Unterstützung, Tod und Trauer als
Teil der Schulkultur zu verstehen und zu etablieren. Im Zentrum der Fortbildung
steht allerdings die Sensibilisierung und Stärkung der Schulmitarbeitenden, um
Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzender Erkrankung und/oder in Trauer-
situationen gut begleiten zu können.
Inhalte sind unter anderem:

• die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit lebensverkürzender


Erkrankung und ihrer Familien
• Trauer/Kindertrauer/Trauer von Kindern und Jugendlichen mit geistiger
Behinderung
• unterstützende Rituale und Symbole für Klassen und Schulgemeinschaften
• Gedenken und Erinnern in der Schule
• Elternarbeit

Die Seminare finden zum einen schulintern in enger Absprache mit der jeweiligen
Schule statt und ermöglichen so entweder einen Anstoß zur Entwicklung einer
Trauerkultur oder die Weiterentwicklung bestehender Strukturen und damit
Nachhaltigkeit und Lebendigkeit der Trauerkultur. Möglich ist hier ein weiter
Adressatenkreis. Je nach Vereinbarung mit der einzelnen Schule können neben den
Lehrenden alle Mitarbeitenden und auch Eltern an der Fortbildung teilnehmen.
260 A. Hörschelmann

Zum anderen werden die Seminare in Bildungshäusern für Schulmitarbeitende


unterschiedlicher Schulen und Schulformen durchgeführt und befördern durch den
Austausch der Teilnehmenden eine breite Auseinandersetzung und gegenseitige
Inspiration, um letztlich in der eigenen Schule eine Kultur der Trauer zu festigen.
Die bisher gemachten Erfahrungen zeigen, dass sich die Teilnehmenden nach
der Fortbildung deutlich sicherer im Umgang mit der Thematik einschätzen. Die
Teilnehmer*innen äußern, dass der Umgang mit Tod und Trauer weniger mit
Angst besetzt ist und sie sich zutrauen, lebensverkürzend erkrankte Kinder und
Jugendliche in ihrer Situation gut wahrzunehmen und zu begleiten. Weiter betonen
sie, dass die Erarbeitung und Festschreibung von Elementen einer Trauerkultur in
der eigenen Schule unverzichtbar ist.
Grundlegend ist zu beobachten, dass die Fortbildung der Lehrenden am
effektivsten ist, wenn sie in schulisch unbelasteten Zeiten durchgeführt wird und
nicht in einer krisenhaften Situation, z. B. nach dem Tod eines Schulmitglieds,
erfolgt. So kann sie die Schulmitarbeitenden präventiv stärken, um in schweren
Zeiten gewappnet zu sein.

2.5 Kindern und Jugendlichen neue Räume eröffnen

Krankheit, Sterben, Tod und Trauer gehören zum Leben. Und sie gehören mitten
ins Leben. Die vorgestellten Projekte und Ansätze haben es sich zum Ziel
gesetzt, diese hospizliche Prämisse vor allem für Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene sowie für die involvierten Pädagog*innen greifbar und praktisch
umsetzbar zu machen. Anders als noch zu Beginn der Hospizarbeit in den 1980er
Jahren gibt es mittlerweile flächendeckend Hospiz- und Palliativdienste und
stationäre Hospize, die für entsprechende Anfragen von Kindergärten, Schulen,
Berufsschulen und den dort tätigen Lehrenden offen sind.
Wie die vorgestellten Projekte unter dem Dach der DHPV-Initiative „Hospiz-
lernen“ zeigen, erreichen diese die Schüler*innen nicht nur in der Schule, sondern
auch in anderen Lebensbereichen wie Jugend-, Firm- und Konfirmandengruppen
u. a.m. Außerschulische, hospizliche Lernorte im engeren Sinne sind dabei
stationäre Hospize, in denen schwerstkranke und sterbende Menschen in ihrer
letzten Lebensphase begleitet und betreut werden. Auch diese Einrichtungen sind
für direkte Anfragen aus Schulen etc. offen und entwickeln mit viel Phantasie
immer neue Wege, um Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen mit den
Lebensthemen Krankheit, Sterben, Tod und Trauer vertraut zu machen.

2.5.1 Ein Tag im Hospiz


Ein Beispiel unter vielen ist das Hospiz in Esslingen, das 2017 im Rahmen des
Türöffner-Tags der Sendung mit der Maus seine Pforten für Kinder und ihre Eltern
geöffnet hat. Die Kinder wurden in verschiedenen Gruppen von ausgebildeten
Kinder- und Jugendtrauerbegleiter*innen durch das Haus geführt, während ihre
Eltern sich bei Mitarbeitenden des Hospizes über die ambulante und stationäre
Hospizarbeit informieren konnten.
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 261

Die Kinder lernten, dass im Hospiz schwer kranke Menschen unterkommen, die
wissen, dass sie in absehbarer Zeit sterben müssen und dass diese nicht Patienten,
sondern Gäste genannt werden. Sie lernten außerdem aus erster Hand, dass ein
stationäres Hospiz kein trauriger Ort ist, sondern es dort bis zuletzt darum geht,
das Leben zu gestalten. Sie erfuhren, dass Musik und Kunst helfen können, mit den
Gefühlen im Angesicht des eigenen Todes umzugehen und wie wichtig Zuwendung
ist. Auch die Bedeutung von Essen am Lebensende wurde erklärt, etwa wenn sich
die Gäste, die noch aufstehen können, in der Küche am großen runden Esstisch ver-
sammeln und gemeinsam mit Angehörigen und Mitarbeitenden essen.
Die Kinder wurden im Rahmen des Türöffner-Tags auch mit Trauer- und
Erinnerungsritualen bekannt gemacht, etwa dass in der Gedenk-Ecke immer dann
eine Kerze angezündet wird, wenn ein Mensch im Hospiz verstorben ist. Auch vor
der Zimmertür der Verstorbenen brennt dann eine Laterne und jeder Name eines
Verstorbenen wird in ein Buch eingetragen, damit er nicht vergessen wird. Die Mit-
arbeitenden erklärten, dass die Verstorbenen nicht sofort abgeholt werden, weil sich
Angehörige und Freunde oft noch Zeit wünschen, um Abschied zu nehmen. Nach dem
Rundgang gestalteten die Kinder ein Erinnerungskästchen, in das sie Dinge hinein-
legen können, die sie an jemanden oder etwas erinnern, den oder das sie verloren
haben. Ein Mädchen wollte darin eine Kette verwahren, die ihr ihr Opa vor dem Tod
schenkte, ein anderes Mädchen Erinnerungen an eine Schulfreundin, die weit wegzog.
Wichtig war an diesem Tag auch das Sprechen über eigene Verluste – den Tod
der Großeltern oder anderer Angehöriger, aber auch Tiere, die starben. Die Kinder
hatten Gelegenheit, ihre Fragen zu stellen, was sie wissbegierig taten, etwa ob
auch Kinder ins Esslinger Hospiz kommen, ob Leuten auch verschwiegen wird,
dass sie sterben müssen und ob auch nachts jemand für die Gäste des Hospizes
da sei. Ja, natürlich, so die Antwort einer Mitarbeiterin, es sei ganz wichtig, dass
immer jemand da ist, denn manche Menschen hätten auch Angst.

3 Hospiz – ein Thema für die Lehrpläne?

Der Phantasie in der Umsetzung sind in der Praxis keine Grenzen gesetzt und wert-
volle Impulse kommen dabei nicht selten von den Kindern und Jugendlichen selber.
Das bestätigen – so das Ergebnis von drei aufeinander aufbauenden Symposien
zum Thema „Bildungs-Gut Hospiz“, die vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) gefördert und vom DHPV organisiert in
den Jahren 2016 bis 2018 stattfanden – auch Lehrende, die sich im Rahmen ihrer
Unterrichtsfächer den Lebensthemen Trauer, Tod, Sterben, Endlichkeit nähern.
Die Symposien dienten dem Erfahrungsaustausch zu den bereits bestehenden
und in diesem Artikel vorgestellten Schulprojekten für Kinder und Jugendliche
sowie zu Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten für Erziehende und Lehrende.
Hier diskutierten nicht nur Teilnehmende aus der hospizlichen Praxis, Philo-
soph*innen, Wissenschaftler*, Vertreter*innen aus der Politik, sondern auch
Pädagog*innen darüber, wie es am besten gelingen kann, die jeweiligen Kita- und
Schulprojekte in der Zusammenarbeit mit den Bildungseinrichtungen aufzubauen
und umzusetzen.
262 A. Hörschelmann

Auf Seiten der Hospizdienste interessierte hier vor allem die Frage, nach
welchen Mindestkriterien die jeweiligen Projekte durchgeführt werden sollten
und wie eine flächendeckende Qualifizierung und Schulung der ehrenamtlich in
den Hospizdiensten Engagierten erreicht werden kann. Aber auch auf Seiten
der Bildungseinrichtungen gibt es fördernde und hemmende Faktoren bei der
Umsetzung der bestehenden Projekte. Eine wichtige Forderung des DHPV im
Rahmen der Veranstaltung war es daher, Kindern und Jugendlichen im Rahmen
der schulischen Ausbildung den Umgang mit Verlust, Trauer, Tod und Sterben zu
ermöglichen und ihnen Wissen über die Möglichkeiten der hospizlichen Betreuung
und Begleitung am Lebensende zu vermitteln.
Zwar finden sich die Themen Sterben und Tod in den Ethik- bzw. Philosophie-
rahmenplänen aller Bundesländer für Schüler*innen ab der 7. Klasse wieder. Hier
werden aus individueller, gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Perspektive
Fragen gestellt wie: Was kommt für mich nach dem Tod? Möchte ich unsterblich
sein? Wie gehen verschiedene Gesellschaften, wie gehen Philosophie, Religionen
und Weltanschauungen mit der Frage nach Sterben, Tod und dem Danach um?
Wichtig ist dabei die prinzipiell ergebnisoffene und kontroverse philosophische
Reflexion. Die philosophische Tradition kennt zahlreiche Stimmen, die dem Tod
nichts Versöhnliches abgewinnen und denselben als existenzielles Übel betrachten.
Diese Stimmen müssen in die Auseinandersetzung einbezogen werden, auch wenn
pädagogische Fürsorge und Pietät dem entgegenstehen können. Es bedarf hier
eines methodisch-didaktischen Fingerspitzengefühls um diese Aspekte im rechten
Maß am rechten Ort in den Lernprozess zu integrieren. Hier birgt – ergänzend
oder als Gegenstimme – die Aufnahme einer explizit hospizlichen Perspektive
großes Potenzial. Zum einen durch das hospizliche Verständnis, dass das Sterben
selbstverständlicher Teil des Lebens ist und mitten in die Gesellschaft gehört.
Zum anderen durch die ganz praktischen Hinweise im persönlichen Umgang mit
Sterbenden, mit Verlust und eigener Trauer. Somit kann der Einbezug von hospiz-
lichen Projekten die Brücke bilden von der Philosophie in die Lebenswirklichkeit
der Schüler*innen.

Auf Landesebene gibt es hier zum Teil schon gute Initiativen in Zusammenarbeit
von Hospizverbänden und den verantwortlichen Ministerien. So hat zum Beispiel
der Bayerische Hospiz- und Palliativverband (BHPV) in Zusammenarbeit mit
dem Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und
Kunst eine Arbeitsgruppe zum Themenbereich Abschied, Sterben, Tod und Trauer
initiiert und eine Handreichung entwickelt.7 Diese gibt Denkanstöße, um sich in
der Schule präventiv auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Graden
der Intensität mit dem Thema Abschied, Tod und Sterben a­useinanderzusetzen.

7 
Bayrisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft/Kunst und Bayerischer
Hospiz- und Palliativverband: Hospiz und Schule. Abschied, Sterben, Tod und Trauer als Thema
für Schule und Unterricht. https://www.isb.bayern.de/download/16998/hospiz_und_schule_inter-
net.pdf (08.06. 2020).
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 263

Sie macht Vorschläge zur Implementierung des Themas in der Schule, äußert
sich zu Fragen der Zusammenarbeit mit Eltern, mit den Kriseninterventions-
teams, den Schulpsychologen und Beratungslehrkräften und enthält Anregungen
und Materialien zur Gestaltung von Unterrichteinheiten, Projekttagen und einer
Projektwoche. Vor der konkreten Umsetzung im Unterricht bietet die Hand-
reichung eine erste Orientierung. So wird gezeigt, welche Vorarbeiten zu leisten
sind, um die gesamte Schulfamilie bei diesem sensiblen Themenkomplex mitein-
zubinden und einen gemeinsamen Konsens im Umgang mit Abschied, Sterben,
Tod und Trauer zu entwickeln. Ein sich daran anschließender Überblick über die
vielfältigen Anknüpfungspunkte des Themas zu den Lehrplänen unterschied-
licher Schularten, Fächer und Jahrgangsstufen unterstützt die Lehrkräfte in ihrem
Bemühen, diese sensible Thematik auch fächerübergreifend und mit anderen
Kollegen im Unterricht zu bearbeiten. Ausgehend von den Anregungen dieser
Handreichung entscheiden die Lehrkräfte vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen
professionellen Erfahrungen und pädagogischen Praxis dann jeweils aufs Neue,
mit welchen methodisch-didaktischen Instrumenten und mit welchem Grad
an Vertiefung sie den Umgang mit Abschied und Sterben in ihrem Unterricht
thematisieren möchten. Das Spektrum reicht hier von einstündigen Unterrichts-
einheiten bis hin zu Projekttagen und wird in der vorliegenden Handreichung mit
einigen ausgewählten Beispielen illustriert.
Der BHPV organisiert regelmäßig Fachtagungen zum Thema „Hospiz und
Schule“, bei denen die Erfahrungen mit den unterschiedlichen Projekten aus-
getauscht, aktuelle Herausforderungen zum Umgang mit diesen Themen diskutiert
und neue Ideen zur Unterrichtsgestaltung entwickelt werden.

3.1 Auch eine Möglichkeit: Sozial- und Berufspraktika

Für ältere Schüler*innen kommt auch ein Praktikum in einem stationären Hospiz
in Frage. Und nach der Schule bieten Hospize die Möglichkeit, das Freiwillige
Soziale Jahr (FSJ) zu absolvieren. Erfahrungsberichte sowohl über Schulpraktika
als auch über ein FSJ im stationären Hospiz findet man immer wieder in Blogs der
jungen Menschen selber. Aber auch in den Medien wird gerne darüber berichtet,
sicher auch, weil es nach wie vor als eher unüblich wahrgenommen wird, dass
junge Menschen sich „freiwillig“ mit den Themen Sterben, Tod und Trauer aus-
einandersetzen.8

8 Düsseldorfer Anzeiger: Gar nicht traurig: Lena (17) macht ein Praktikum im Hospiz. https://www.

duesseldorfer-anzeiger.de/duesseldorf/gar-nicht-traurig-lena-17-macht-ein-praktikum-im-hospiz_
aid-36019025 (02.10.2020); Hospiz Esslingen: FSJ im Hospiz: Von den Menschen im Hospiz
viel gelernt. https://www.hospiz-esslingen.de/news/06-06-2017-fsj-im-hospiz/ (02.10.2020); Süd-
westpresse: Hospiz: 18-Jährige erlebt die Endlichkeit. https://www.swp.de/suedwesten/staedte/
goeppingen/ein-alltag-mit-der-endlichkeit-24441072.html (02.10.2020).
264 A. Hörschelmann

Grundsätzlich sind in stationären Hospizen auch Berufspraktikant*innen aus


den Bereichen Pflege, Psychologie, Pflegewissenschaften und Soziale Arbeit
willkommen. Bei Interesse muss im Vorfeld Kontakt mit dem Hospiz aufgenommen
werden. Voraussetzung ist das grundsätzliche Interesse, sich engagiert, professionell
und persönlich auf die Themen Sterben, Tod und Trauer einzulassen. Die Mit-
arbeit der Praktikant*innen ist eingebunden in das multiprofessionelle haupt- und
ehrenamtliche Team, bestehend aus Hospizpflege- und Hauswirtschaftskräften,
Diplompsycholog*in, Sozialarbeiter*in und ehrenamtlichen Hospizbegleiter*innen.9

4 Die Hospizidee in das Leben hinaustragen

Sterben, Tod und Trauer können Unsicherheit und Hilflosigkeit erzeugen. Ziel der
Angebote für Kindergärten, Schulen und andere Kinder- und Jugendeinrichtungen
ist es, die Unsicherheiten, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Umgang
mit diesen Lebensthemen gemeinsam betreffen, zulassen und teilen und eine
gemeinsame Sicherheit zu gewinnen.
Neben Wissensvermittlung und dem Angebot von Orientierungsmöglichkeiten
sollen mit den beschriebenen Projekten Räume für die unterschiedlichsten Gefühls-,
Denk- Ausdrucks- und Umgangsformen eröffnet werden, die uns begegnen, wenn
wir mit Abschied, Verlust und Krankheit konfrontiert werden. Das hat nicht nur
einen positiven Effekt für die beteiligten Schüler*innen und Lehrenden. Es ist auch
ein Gewinn für die Hospizidee selber, stellen die Projekte in ihren unterschied-
lichen Ausprägungen doch sicher, dass die Hospizidee auch in Zukunft als Ausdruck
gelebter Solidarität und Mitmenschlichkeit, besonders in existenziellen Lebens-
krisen, bekannt ist und noch bekannter wird. Ob daraus auch einmal junger ehren-
amtlicher Nachwuchs für die Hospizdienste erwächst, ist dabei zwar wünschenswert,
aber nicht zwingend. Denn auch ohne zukünftiges ehrenamtliches Engagement
in der direkten Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen werden die
Heranwachsenden ihr Wissen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit Krankheit,
Sterben, Tod und Trauer in das Leben hinaus- und in die Gesellschaft hineintragen.

5 Weitere Informationen

5.1 Hospizlernen/Hospiz macht Schule

Ansprechpartner*innen beim DHPV für alle Fragen zum Thema „Hospiz-


lernen“/“Hospiz macht Schule“ sind Gerda Graf und Dirk Blümke. Gerda Graf

9 
Hospiz Luise: Erfahrungsbericht: 5 Wochen Praktikum einer Auszubildenden. https://www.
hospiz-luise.de/content/erfahrungsbericht-5-wochen-praktikum-einer-auszubildenden (08.06.2020);
Ricam Hospiz-Stiftung: Erst Angst, dann Dankbarkeit – Ein Pflegeschüler erzählt. https://www.
ricam-hospiz.de/2017/hospiz-diskurs/erst-angst-dann-dankbarkeit-ein-pflegeschueler-erzaehlt/
(08.06.2020).
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 265

ist Ehrenvorsitzende des DHPV sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied der


Hospizbewegung Düren. Gerda Graf hat maßgeblich an der Entwicklung und
Implementierung von „Hospiz macht Schule“ mitgewirkt. Sie ist u. a. Heraus-
geberin von „Hospiz macht Schule, Curriculum zur Vorbereitung Ehrenamtlicher
im Umgang mit Tod und Trauer für Grundschulen“10. Dirk Blümke ist seit 1996
Leiter der Fachstelle Malteser Hospizarbeit, Palliativmedizin und Trauerbegleitung
des Malteser Verbundes und verantwortet in dieser Funktion „Hospizprojekte mit
Kindern und Jugendlichen“ sowie das Projekt „Junge Menschen in der Sterbe- und
Trauerbegleitung“ (gefördert durch das BMFSFJ in Kooperation mit dem DHPV
und der Uni Graz). Er ist Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des DHPV
und Mitherausgeber des Buches „Tod – kein Thema für Kinder“11.

www.dhpv.de

Mail: info@dhpv.de

5.2 Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit//Hospizprojekte


für Kinder und Jugendliche

Ansprechpartner*innen: Dr. Bernadette Groebe und Dirk Blümke

www.malteser-hospizarbeit.de/gib-mirn-kleinesbisschen-sicherheit.html

Mail: dirk.bluemke@malteser.org, bernadette.Groebe@malteser.org

5.3 Endlich. – Umgang mit Sterben, Tod und Trauer//


Ein Projektunterricht für Schüler*innen der
Jahrgangsstufen 9 bis 13

Ansprechpartnerinnen: Kirsten Fay und Nicole Nolden

https://palliativzentrum.uk-koeln.de/forschung/weitere-projekte/oberstufenprojekt/

Mail: palliativzentrum-schulprojekt@uk-koeln.de

10 Graf, Gerda (Hrsg.): Hospiz macht Schule. Ein Kurs-Curriculum zur Vorbereitung Ehrenamt-
licher im Umgang mit Tod und Trauer für Grundschulen. Esslingen: Hospizverlag 2010.
11 Wegleitner, Klaus/Blümke, Dirk/Heller, Andreas/Hofmacher, Patrick (Hrsg.): Tod- kein Thema

für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und Jugend-
lichen. Anregungen für die Praxis. Ludwigsburg: Hospizverlag 2014.
266 A. Hörschelmann

5.4 Leben und Sterben, Krankheit und Tod in der


Schule/Seminarangebote der Deutschen
Kinderhospizakademie für Lehrer*innen und
pädagogische Fachkräfte

Ansprechpartnerin: Kornelia Weber

www.deutscher-kinderhospizverein.de

Mail: kornelia.weber@deutscher-kinderhospizverein.de

Literatur
Bayrisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft/Kunst und Bayerischer
Hospiz- und Palliativverband: Hospiz und Schule. Abschied, Sterben, Tod und Trauer als
Thema für Schule und Unterricht. https://www.isb.bayern.de/download/16998/hospiz_und_
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www.ricam-hospiz.de/2017/hospiz-diskurs/erst-angst-dann-dankbarkeit-ein-pflegeschueler-
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www.ruth-cohn-institute.org/files/content/zentraleinhalte/dokumente/TZI-Broschuere/WAS-
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Sauerlandkurier: „Trauer hat viele Farben“/"Hospiz macht Schule": Sauerländer Grundschüler
gehen unbefangen mit dem Thema Tod um https://bit.ly/HmS_Wehrstapel (08.06.2020).
Südkurier: Herdwangen-Schönach: Hospiz macht Schule: Grundschüler lernen Tod als Teil des
Lebens zu sehen. https://bit.ly/HmS_Ramsberggrundschule (08.06.2020).
Südwestpresse: Hospiz: 18-Jährige erlebt die Endlichkeit. https://www.swp.de/suedwesten/
staedte/goeppingen/ein-alltag-mit-der-endlichkeit-24441072.html (02.10.2020)
Wegleitner, Klaus/Blümke, Dirk/Heller, Andreas/Hofmacher, Patrick (Hrsg.): Tod- kein Thema
für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und
Jugendlichen. Anregungen für die Praxis. Ludwigsburg: Hospizverlag 2014.
Wuppertaler Rundschau: Hospiz macht Schule: Ist der Himmel voller Döner? https://bit.ly/HmS_
Wuppertal (08.06.2020)
pro familia. Ethisch-philosophische
Aspekte Sexueller Bildung
Ralf Müller und Bettina Niederleitner

Zusammenfassung

Der Beitrag stellt die sexualpädagogische Arbeit von pro familia vor. Vor
dem Hintergrund der Menschenrechte ist Sexuelle Bildung immer auch zu
einem hohen Maß ethisch-philosophische Bildung. Besprochen wird, mit
welchen Methoden und welcher Haltung ethische Fragestellungen in sexual-
pädagogischen (Jugend-)Gruppen behandelt werden und wie Schüler*innen,
Lehrkräfte und Fachkräfte für einen grenzwahrenden, selbstbestimmten
Umgang mit Sexualität sensibilisiert werden können.

Schlüsselwörter

Sexualität · Ethik · Selbstbestimmung · Menschenrecht · Methoden der
Sexualpädagogik ·  pro familia

R. Müller (*) 
IU Internationale Hochschule, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: ralf.mueller@iu.org
B. Niederleitner 
pro familia, München, Deutschland
E-Mail: bettina.niederleitner@profamilia.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 267
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_14
268 R. Müller und B. Niederleitner

1 Sexualität: Mehr als Sex


„Warum gibt es verschiedene Geschlechter?“
„Warum macht man Sex?“
„Wer hat Sex erfunden?“
„Wann ist man reif für ein Kind?“
„Warum hat man Angst, wenn man verliebt ist?“
„Warum werden Frauen vergewaltigt?“
„Warum lachen Jungen mehr als Mädchen beim Thema Sex?“
„Wenn die Tante ein Kind adoptiert, dann ist es doch keine echte Cousine?“

Wie diese Fragen aus Gruppenveranstaltungen mit Viertklässler*innen zeigen,


erkennen Kinder schon früh, dass Sexualität viele Aspekte des Menschseins
berührt. Kinder und Jugendliche stellen Fragen zu Körper, Gefühlen, Identi-
tät und Fruchtbarkeit, zu Kommunikation und Beziehung. Auch die kulturelle,
gesellschaftliche und politische Dimension von Sexualität ist Thema. Was
in sexueller Hinsicht als erstrebenswert, akzeptiert, normal, tolerierbar oder
unmoralisch gilt, oder gar in den Bereich des Strafbaren fällt, wird gesellschaftlich
ausgehandelt. Homosexualität ist in Deutschland erst seit 1994 nicht mehr straf-
bar, Transsexualität wird erst ab 2022 im neuen ICD-11 der WHO nicht mehr als
‚Störung‘ angesprochen und Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland erst seit
1997 Straftatbestand – um nur drei prominente Beispiele zu nennen.
Sexualität berührt also biologische, psychologische, soziale, kulturelle und
politische Aspekte – meist mehrere gleichzeitig. Dabei werden zahllose ethische
Fragestellungen aufgeworfen. Sie betreffen den Körper, die Psyche, die Identi-
tät, die Gestaltung von Beziehungen und reichen bis hin zu gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen und gesetzlichen Regelungen, die wiederum das Leben bis
in die intimsten Details hinein prägen können.
Sexuelle Bildung soll und muss diese umfassende Sicht auf Sexualität wider-
spiegeln. Das Themenspektrum ist entsprechend groß: Körperfunktionen, Puber-
tät, Selbstbefriedigung, Lust, Geschlechterrollen und Identität, Schwangerschaft
und Geburt, Schwangerschaftsabbruch, Verhütung und Kinderwunsch, Freund-
schaften und Liebesbeziehungen, Familie, sexuelle Vielfalt, Sprache, Botschaften
der Medien, Kultur und Religion (z. B. mit Blick auf Jungfräulichkeit oder
Beschneidung), Rechte und Gesetze, Abwertung, Diskriminierung, Beschämung
und sexuelle Gewalt.
Entsprechend weit sind auch die Ziele Sexueller Bildung gesteckt. Die WHO
sieht als Aufgabe von Sexualaufklärung unter anderem die Vorbereitung „auf das
Leben […], insbesondere im Hinblick auf die Anknüpfung und Aufrechterhaltung
befriedigender Beziehungen. Sie [die Sexualaufklärung] fördert die Selbst-
bestimmung und eine positive Entwicklung der Persönlichkeit.“ (WHO 2011,
S. 26). Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) – deren Gründungs-
mitglied pro familia ist – formuliert „Sexuelle Rechte“ auf der Grundlage der
Menschenrechte (IPPF 2009) und konstatiert in Bezug auf Sexualaufklärung:
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 269

„Ein rechtebasierter Zugang zur umfassenden Sexualaufklärung hat zum Ziel, Kinder
und Jugendliche mit dem Wissen, den Kompetenzen, den Einstellungen und den Werten
auszustatten, die sie für die Bestimmung und den Genuss ihrer Sexualität benötigen –
körperlich wie emotional, individuell und in Beziehungen. Dieser rechtebasierte Ansatz
betrachtet ‚Sexualität‘ ganzheitlich und im Kontext emotionaler und sozialer Ent-
wicklung. Er erkennt an, dass Informationen allein nicht ausreichend sind, denn Kinder
und Jugendliche benötigen die Möglichkeit, zentrale Lebenskompetenzen zu erwerben
und positive Einstellungen und Werte zu entwickeln.“ (IPPF / pro familia 2013, S. 7)

Auch die UNESCO sieht für Sexuelle Bildung unter anderem die Aufgabe

„to equip children and young people with knowledge, skills, attitudes and values that will
empower them to: realize their health, well-being and dignity; develop respectful social
and sexual relationships; consider how their choices affect their own well-being and that
of others; and, understand and ensure the protection of their rights throughout their lives.“
(UNESCO 2018, S. 16)

Ein philosophischer, rechtebasierter Zugang zum Thema Sexualität ist also


anerkanntermaßen unabdingbar.

2 pro familia: Selbstbestimmte Sexualität als


Menschenrecht

Für pro familia war diese Art Sexueller Bildung nicht von Beginn an zentrales
Anliegen. Die Gründung erfolgte 1952 als „pro familia – Deutsche Gesell-
schaft für Ehe und Familie“, zunächst mit dem zentralen Anliegen, den Zugang
zu Verhütungsmitteln zu ermöglichen und der Ausrichtung auf die Förderung
traditioneller Familienformen (vgl. pro familia 2012). Die Umbenennung in „pro
familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung“ im Jahr 1965 markiert die
seither gültige Ausrichtung des Vereins. „Nicht mehr die Verantwortung für Ehe
und Familie als Institutionen sollten im Mittelpunkt der Arbeit stehen, sondern die
Stärkung des einzelnen Menschen in seiner Verantwortung für sich selbst und seine
konkrete Partnerschaft und Familie.“ (Kleber 2009, S. 4). Die für alle Menschen
offene Beratung ist bis heute zentraler Bestandteil der Arbeit von pro familia. 1975
verfasst pro familia erstmals „Thesen zur Sexualpädagogik“ und erst 1993 kam die
bis heute beibehaltene Namensänderung in „pro familia – Deutsche Gesellschaft
für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V.“. Die Entwicklung
und die Schwerpunkte der Arbeit von pro familia durch die Jahrzehnte hindurch
sind eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen der
jeweiligen Zeit verknüpft: Zunächst der Einsatz für den Zugang zu Verhütungs-
mitteln, Aufklärung und Beratung in den 50er und 60er Jahren, dann der Einsatz für
die Rechte der Frau in den 70ern. Die 80er Jahre waren geprägt vom Kampf gegen
AIDS und für die Entstigmatisierung der Krankheit. In den 90er Jahren standen die
Wiedervereinigung und die „IPPF-Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte“
270 R. Müller und B. Niederleitner

im Mittelpunkt der Arbeit. Seit Beginn des neuen Jahrtausends wurden Themen
wie „Kinderwunsch – Wunschkinder“, die sexuellen Selbstbestimmungsrechte von
Menschen mit Behinderung oder die Prävention sexualisierter Gewalt zu Schwer-
punkten (vgl. die Übersicht bei Altmann 2012, S. 4 f.).
Die sexualpädagogischen Angebote von pro familia umfassen heute: Jugendbe-
ratung vor Ort und im gesichert anonymen online-Portal sextra.de, Beratung von
Eltern, Sorgeberechtigten, Lehrkräften und Fachkräften in allen pädagogischen
und sozialen Bereichen (Kitas, alle Schulformen, Wohngruppen, in der Beratungs-
arbeit, …) ebenso wie sexualpädagogische Gruppenveranstaltungen an Schulen
und anderen Jugendeinrichtungen und Fortbildungen zu sexualpädagogischen
Themen für Fach- und Lehrkräfte. Das jeweilige Setting ist je nach pro familia
Beratungsstelle und deren Kapazitäten unterschiedlich und wird in der Regel mit
den Auftraggeber*innen passgenau besprochen.1
pro familia ist häufig für Gruppenveranstaltungen an Schulen eingeladen oder
Schulklassen kommen für Projekttage in die Räume von pro familia. Für viele
(schambehaftete) Themen kann es sinnvoll sein, externe Fachkräfte einzuladen, die
das Sprechen über Sexualität geübt haben und ihre eigene Biographie reflektiert
zurücknehmen können. Denn das vorbehaltlose und souveräne Sprechen über
Sexualität ist nicht immer einfach. Schüler*innen empfinden es zudem als gute
Ergänzung, Fragen an eine Fachkraft stellen zu können, die über spezielles Wissen
verfügt und die sie nicht wiedersehen. Den Gesprächen zuträglich wirkt auch, dass
die externen Fachkräfte die Schüler*innen nicht bewerten müssen – auch nicht
in anderen Fächern oder im nächsten Schuljahr. Die Themen der Veranstaltungen
werden in Absprache mit den Lehrkräften gesetzt und altersgerecht aufbereitet.
Auch begleitende Elternabende werden häufig von den Schulen angefragt.
An der Geschichte von pro familia lassen sich mindestens zwei Dinge ablesen:

1. Wie in vielen Bereichen der Gesellschaft und der Rechtsprechung, lässt sich
auch für das Thema Sexualität eine kontinuierliche Entwicklung hin zur
Stärkung individueller Rechte und dem Ideal eines selbstbestimmten Lebens
hin beobachten. Entsprechend ist es ein (bisher nicht immer gut eingelöstes)
Gebot von (sexueller) Bildungsarbeit, zu reflektieren, was Selbstbestimmung
bedeutet, wie sie mit Verantwortung zusammenhängt und wo Grenzen,
Möglichkeiten und Überforderungen zu suchen sind.
2. Die Haltung zu Sexualität und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sind
Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. pro familia ist diesem Aus-
handlungsprozess einerseits unterworfen, andererseits gestaltet sie diesen Aus-
handlungsprozess aktiv mit, durch Bildung, Beratung und politisches Engagement.
Sie setzt sich ein für ein möglichst selbstbestimmtes Leben und versteht Sexualität
als Bildungsthema. Ein rechtebasierter, informierender, auf ethisch-philosophischer
Reflexion beruhender Ansatz ist in dieser Bildungsarbeit leitend.

1Für weitere Informationen: https://www.profamilia.de/themen/sexualpaedagogik.html.


pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 271

3 Ethische Fragestellungen in der


sexualpädagogischen Bildungsarbeit

Ausgehend von den Zielsetzungen und Themen Sexueller Bildung sowie in Bezug
auf die Geschichte von pro familia ist deutlich geworden, dass Sexuelle Bildung
im Kern sehr häufig ethisch-philosophische Bildungsarbeit ist. Unter anderem
soll die Urteilskraft der Schüler*innen gestärkt werden, was auch ein Kernziel
philosophischer Bildung ist.2 Es geht darum, begründete persönliche Haltungen
zu finden: zur eigenen Person, zu zwischenmenschlichen Bezügen und zu
kulturell-gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen. Diese drei Dimensionen
sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig im
Sozialisationsprozess. Im Folgenden soll auf die Themen Sexueller Bildung
in Bezug auf diese Dimensionen genauer eingegangen werden. Viele Themen
eignen sich, um sie im interreligiösen Dialog und im Zusammenhang mit den All-
gemeinen Menschenrechten zu thematisieren (vgl. auch BZgA 2016). Einigen
Themen, wie beispielsweise der Genderdebatte,3 hat sich die Philosophiedidaktik
bereits verstärkt zugewandt.

3.1 Ethisch-philosophische Fragestellungen in der


kulturell-gesellschaftlichen und politischen Dimension

Von mehreren Stellungnahmen und Diskussionen, die der Deutsche Ethikrat in


den letzten Jahren zu Themen der Sexualität angestrengt hat,4 sind zwei auch für
Kinder und Jugendliche und in ihrer rechtlichen Umsetzung besonders bedeut-
sam: Die Stellungnahme zu Intersexualität (Deutscher Ethikrat 2012), die zur Ein-
führung des dritten Geschlechts beitrug, und die Diskussion zu „Trans-Identität
bei Kindern und Jugendlichen: Therapeutische Kontroversen – Ethische Fragen“
(Deutscher Ethikrat 2020), der sich eine „Ad-Hoc-Stellungnahme“ anschloss.
Unter anderem wird konstatiert:

„Ein entstigmatisierender Umgang mit Trans-Identität bei Kindern sollte gefördert und
einer diskriminierenden Pathologisierung von Geschlechtsinkongruenz entgegengewirkt
werden. Entsprechende Angebote psycho-sozialer Beratung und deren Kooperation mit
medizinischen Einrichtungen sollen gestärkt werden.“ (Deutscher Ethikrat 2020b, S. 3)

2Vgl.: Dresdner Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht. In: Zeitschrift für Didaktik
der Philosophie und Ethik, Heft 3 2016, 106.
3Vgl.: Bettina Bussmann, Markus Tiedemann (Hrsg.): Genderfragen und philosophische Bildung.

Geschichte – Theorie – Praxis. Stuttgart: Metzler 2019.


4Stellungnahmen sind unter anderem zu folgenden Themen erschienen: Das Problem der

anonymen Kindesabgabe (Deutscher Ethikrat 2009); Präimplantationsdiagnostik (PID) (Deutscher


Ethikrat 2011); Inzestverbot (Deutscher Ethikrat 2014); Embryospende, Embryoadoption und
elterliche Verantwortung (2016). Alle Publikationen des Deutschen Ethikrates sind verfügbar unter:
https://www.ethikrat.org/publikationen/; zugegriffen: 27. Juli 2020.
272 R. Müller und B. Niederleitner

In der Frage nach dem Umgang mit Trans-Identität zeigt sich besonders deut-
lich, wie biologische, rechtliche, kulturelle, soziale und persönliche Aspekte von
Sexualität verwoben sind. Dass es sich häufig um Fragen handelt, bei denen es
nicht um richtig oder falsch geht und auch gesetzliche Regelungen keine ein-
deutige Orientierung geben können, zeigt sich z. B. in der Stellungnahme des
Deutschen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik (PID) 2011. 13 Mitglieder
des Rates votieren für eine begrenzte Zulassung, elf für ein Verbot und ein Mit-
glied gab ein Sondervotum ab (Deutscher Ethikrat 2011, S. 80–152). Die PID ist
ein Beispiel dafür, dass für kommende Herausforderungen und Fragestellungen
die Schärfung eines individuellen ethischen Urteilsvermögens unabdingbar ist.
In der kulturell-gesellschaftlich-politischen Dimension ließen sich aktuell noch
viele weitere öffentlich mit vielen Emotionen geführte Diskussionen der letzten
Jahre thematisieren: die Ehe für Alle, #metoo oder die Frage nach besserem
Schutz für Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt und Missbrauch.
Alle diese öffentlichen Diskussionen haben gemeinsam, dass sie das Leben vieler
Menschen auf ganz persönlicher Ebene beeinflussen.

3.2 Ethisch-philosophische Fragestellungen in der


personalen Dimension

Bei den Themen sexuelle Identität und sexuelle Orientierung fand in den letzten
Jahren sowohl gesellschaftlich als auch rechtlich eine deutlich wahrzunehmende
Öffnung statt. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht weiter viel Bildungsarbeit
für Toleranz und Anti-Diskriminierung nötig wäre, wie die Studien „Coming
out – und dann…?!“ (Krell/Oldemeier 2015) und „Queere Freizeit“ (Krell und
Oldemeier 2018) zeigen.
Ein weiteres Beispiel für ein in Jungengruppen häufiges Thema, das die
personale Dimension von Sexualität betrifft, ist der Konsum von Pornographie.
Während ein Jugendlicher in einer achten Klasse Gymnasium die Meinung ver-
tritt, es sei moralisch besser vertretbar, beim Masturbieren professionell gedrehte
Pornos zu schauen, als an seine Klassenkamerad*innen zu denken (die dem ‚Film‘
in seinem Kopf im Gegensatz zu den professionellen Pornodarsteller*innen ja
nicht zugestimmt hätten), verweisen andere auf die menschenverachtenden Dar-
stellungen von Frauen und Männern sowie die häufig ebenso menschenver-
achtenden Produktionsbedingungen kommerzieller Pornographie. Thematisiert
werden auch immer wieder Gefühle, die mit dem Pornographiekonsum verbunden
sind, wie Lust, Scham, Ekel und Ekellust, aber auch soziale Bezüge wie Gruppen-
zwang oder unfreiwillige Exposition. Durch Verbote lässt sich der Umgang mit
Pornographie jedenfalls nicht lösen. Daher ist es eine Aufgabe Sexueller Bildung
Jugendliche zu unterstützen, sich eine eigene Haltung zu erarbeiten. Dabei stellen
sich themenunabhängig immer wieder die grundsätzlichen Fragen:
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 273

• Was sind meine Gefühle, Bedürfnisse und Werthaltungen – und wie gehe ich
mit ihnen um? Welche Handlungen leite ich daraus ab?
• Woran orientiere ich mich, wenn ich selbst bestimmen kann und muss?
• Welche Art von Beziehungen und Sexualität möchte ich leben?
• Was bedeutet sexuelle Selbstbestimmung für mich und wie lassen sich
Beziehungen mit Respekt vor den Grenzen und mit Anerkennung für die
Bedürfnisse des anderen gestalten?

Um über solche Fragen nachdenken und sprechen zu können, brauchen Kinder


und Jugendliche vor allem Gelegenheiten, auch in der Schule. Für 43 % der
Jungen und für 37 % der Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren gehört die
Lehrer*in zu den „wichtigsten Personen bei der Aufklärung über sexuelle Dinge“
(Heßling und Bode 2015, S. 14). In der BZgA-Studie zur Jugendsexualität 2020
geben jeweils 69 % der 14- bis 17-jährigen Jungen und Mädchen den „Schulunter-
richt‟ als eine der bedeutsamsten Quellen für ihr Wissen über Sexualität an (BZgA
2020).

3.3 Ethisch-philosophische Fragestellungen in der


zwischenmenschlichen Dimension

In der zwischenmenschlichen Dimension ist der entscheidende Modus, nicht


immer, aber meist, die Sprache. Das Sprechen – und das Nicht-Sprechen – über
Sexualität vermittelt sowohl explizite als auch implizite Botschaften. Wenn Eltern
bei Fragen ihrer Kinder auf Märchen ausweichen oder schweigen, vermitteln
sie damit unter Umständen die Botschaft, dass mit Sexualität etwas Geheimnis-
volles, Gefährliches, Unangenehmes oder Abnormes verbunden ist. Das Sprechen
über Sexualität ist des Weiteren häufig für Jungen und Mädchen mit jeweils
unterschiedlichen (problematischen) Botschaften aufgeladen. So kann die ängst-
liche Thematisierung von Lust, ebenso wie die von Verhütung und Schwanger-
schaft, gegenüber Mädchen oft die Botschaft enthalten: Sexualität birgt Gefahren
– Ehrverlust, Stigmatisierung bei früher Schwangerschaft und Bedrohung durch
sexualisierte Gewalt. Jungen wiederum wird immer wieder suggeriert, dass zur
Männlichkeit gehöre, ‚stark‘ und sexuell aktiv zu sein. Männliche Sexualität
wird häufig als etwas dargestellt, das voraussetzungslos immer und überall zu
funktionieren hat. Arztbesuche oder das Sprechen über Ängste, Enttäuschungen
und Probleme kommt in solchen Narrativen nicht vor. In der pro familia Online-
beratung sextra.de wird deutlich, dass viele Menschen lange zögern, bevor sie
Hilfe suchen. Betroffene scheuen sich, das Thema Sexualität anzusprechen, ins-
besondere gegenüber Partner*innen. Gesellschaftliche Stereotype und mangelnde
Gelegenheiten in Kindheit und Jugend, klar und unaufgeregt über Sexualität zu
sprechen, bedingen die Unsicherheiten auch in Bezug darauf, eigene Wünsche und
Grenzen zu benennen.
274 R. Müller und B. Niederleitner

Auch unter Fachkräften gibt es nicht immer Konsens darüber, wie sich eine
angemessene Sprache, die der eigenen Rolle, dem Kontext sowie der Ziel- und
Altersgruppe gerecht wird, anhören soll. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass
die Sprachfähigkeit der Fachkräfte (und Eltern) Dreh- und Angelpunkt für jede
Aufklärungs- und Präventionsarbeit ist. Um hier Sicherheit zu gewinnen und
grenzwahrend zu arbeiten, ist viel Austausch und Übung sowie die Reflexion der
eigenen Biographie nötig.

4 Methodische Umsetzung Sexueller Bildung zu


philosophischen Fragestellungen

Im Folgenden werden beispielhaft drei Methoden der sexualpädagogischen


Bildungsarbeit von pro familia München beschrieben, die einen Schwerpunkt auf
philosophisch-ethische Reflexion legen. Denn sexuelle Selbstbestimmung stellt
sich nicht per Gesetz ein, sondern erfordert Kompetenzen, die erlernt und geübt
werden müssen.

4.1 Übung zur Sprachfähigkeit

Gruppenabend in einer Mutter-Kind-Einrichtung. Die eingeladene Sexual-


pädagogin fragt eingangs, ob es schwerfällt, über sexuelle Themen zu reden. Die
jungen Frauen verneinen das einhellig. Später taucht die konkrete Frage auf, ob
eine Frau sagen kann, wenn sie Schmerzen beim Sex hat. Betreten gucken alle zu
Boden, bis eine Teilnehmerin meint, dass das schwierig sei und man Angst davor
habe, wie der Partner reagiere. Um die eigenen Gefühle, Werte und Haltungen
zunächst denken und dann ausdrücken zu können, ist die Sprachfähigkeit ent-
scheidend – ohne sie lässt sich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung schwer
einlösen.
In der Pubertät und beim Übergang von peer-Beziehungen zu einer intimen
Zweierbeziehung werden viele Erfahrungen zum ersten Mal gemacht: ein
(Frauen-)Arztbesuch, der Umgang mit Intimität, erstes sexuelles Ausprobieren,
evtl. die Wahl, Beschaffung und Anwendung eines Verhütungsmittels, die Aus-
einandersetzung mit den sich sorgenden Eltern und vieles mehr. In dieser Phase
sind junge Menschen besonders verletzlich und angreifbar. Der Schutz der Privat-
sphäre gewinnt an Bedeutung. Sehr viele Alltagssituationen stellen sie vor die
Herausforderung, spontan ihre Grenzen zu spüren und deutlich zu machen.
Daher ist es methodisch sinnvoll, fiktive aber konkrete Erlebnisse aus dem All-
tag von Jugendlichen sprachlich zu üben und zur Diskussion zu stellen. Jugend-
liche sollen also möglichst konkrete Antworten auf herausfordernde Situationen
formulieren. Beispiele für solche Sprachaufgaben:
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 275

• Ein Freund vertraut dir an, dass er schwul ist. So kann man reagieren: …
• Ein Junge/ein Mädchen will das Thema Verhütung ansprechen. So kann sie/er
anfangen: …
• Die Tante fragt beim Familienfest: „Und, bist du verliebt?“ Das kann man
antworten: …
• Der Praktikumsanleiter legt den Arm um die Praktikantin. Sie reagiert so: …
• Ein Junge verliert die Erektion beim Sex. Sein Gegenüber sagt: …
• Im Internet fragt jemand: „Machst du eigentlich Selbstbefriedigung?“ Das kann
man antworten: …
• Die Mutter sagt: „Jetzt probier doch mal einen Tampon aus!“ Die Tochter
antwortet: …

Mehrere solcher Beispiele werden auf farbigen Zetteln ausgegeben. Jede/r Teil-
nehmende (TN) schreibt in Einzelarbeit eine Antwortidee auf farblich zur Aufgabe
passende Zettel, um die Zuordnung zur Frage zu ermöglichen und eine Zuordnung
zu einer Person zu vermeiden. Die Leitung liest im Anschluss die Reaktionsvor-
schläge der Jugendlichen auf die jeweilige Situation im Plenum vor, so dass auch
durch die Handschrift keine Rückschlüsse auf die Verfasser*innen möglich sind.
In der anschließenden Diskussion lassen sich beispielsweise folgende Fragen
aufwerfen: Was ist die Motivation der fragenden/handelnden Person? Welche
Gefühle löst die Situation aus? Traut man sich wirklich, darauf so zu antworten?
Vor welcher Gegenreaktion hat man Angst? Muss man höflich bleiben? Wem
könnte man von dem Problem erzählen, und wie? Welchen Vorschlag findet ihr am
gelungensten? Was bedeutet eigentlich ‚persönliche Integrität‘ und ‚Diskretion‘?
Die Übung zielt auf dreierlei: Erstens die Wahrnehmung der mit einer Situation
einhergehenden zum Teil widersprüchlichen Gefühle, die oft nicht selbstverständ-
lich wahrgenommen werden. Zweitens die Ermutigung, eigene Bedürfnisse auch
entgegen vermuteter Widerstände zu äußern und Schweigen, wo nötig, zu brechen.
Drittens geht es um eine Wortwahl, die der Situation und der eigenen Person
gerecht wird.

4.2 Übung zur Grenzwahrnehmung

Wo und wann genau ein Mensch eine Grenze zieht ist unterschiedlich, bezieht sich
aber nicht nur auf Körperkontakt, sondern betrifft auch persönliche Kränkungen
im Miteinander, Schamgrenzen und Privatsphäre. Um über persönliche Grenzen
ins Gespräch zu kommen, eignet sich eine Methode, bei der konkrete, alltagsnahe
Situationen auf einer Skala von 1 bis 10 eingeordnet werden. Die 1 steht dabei für
„harmlos, in Ordnung, kein Problem“, die 10 für „schlimm, geht gar nicht, Grenz-
verletzung“. Die Zahlen werden auf dem Boden ausgelegt. Nun erhält jede/r TN
verdeckt eine Situation auf einem Blatt Papier. Folgende Fälle könnten beispiels-
weise zur Diskussion gestellt werden:
276 R. Müller und B. Niederleitner

• Ein Mädchen checkt aus Eifersucht das Smartphone ihres Freundes.


• Ein Junge will kein Kondom benutzen.
• Religiöse Eltern verbieten ihrem Sohn die Liebesbeziehung zu einem anders-
gläubigen Mädchen.
• Ein Junge bittet ein Mädchen um ein Nacktfoto.
• Eine Lehrerin ruft: ‚Ich brauche mal drei starke Jungs, die mir helfen!‘
• Ein Junge verschickt ein Penisbild an ein Mädchen.
• Ein Mädchen beendet eine Beziehung per WhatsApp.
• Jemand wünscht sich Oralverkehr von seinem Partner/seiner Partnerin.
• Ein Lehrer benutzt die Jungentoilette.

Alle wenden gleichzeitig ihr Blatt, lesen es und entscheiden, jede/r für sich, bei
welcher Zahl sie ihre Situation ablegen. Im nächsten Schritt dürfen die TN alle
Situationen entlang der Skala in Ruhe lesen. Die Leitung fragt dann nach, wer
eine Situationen anders beurteilen oder einschätzen würde. Damit beginnt die
Diskussion um zugrundeliegende Haltungen, Normen und Werte. Ein Beispiel
mag dies verdeutlichen: Die Situation „Ein Junge bittet ein Mädchen um ein
Nacktfoto“ wird in einer achten Klasse von Jungen und Mädchen je unterschied-
lich bewertet. Während viele Jungen die Situation als „harmlos“ einstufen („Er
fragt doch nur, sie kann doch Nein sagen!“), empfinden manche Mädchen allein
die Frage als Grenzverletzung („Für was für ein Mädchen hält er sie?“). Sie ver-
binden die Frage mit dem Identitäts- und Statusaspekt. Gleichzeitig kann die Frage
auslösen, dass sich ein Mädchen geschmeichelt, begehrt und anerkannt fühlt,
diese positiven Gefühle jedoch mit Ängsten um ihren Ruf abwägen muss. Diese
Gedanken und Widersprüche können durch die Übung bewusst werden. Die Dis-
kussion hilft nicht nur Grenzen wahrzunehmen und zu formulieren, sondern auch,
Verständnis und Empathie zu entwickeln. Außerdem wird hier die unterschied-
liche gesellschaftliche Bewertung von männlicher und weiblicher Sexualität deut-
lich. Das heißt, es geht auch um die Frage, inwieweit ein Mädchen durch ein Ja an
Status verlieren und ein Junge durch ein Ja an Status gewinnen kann.

4.3 Übung zur Selbstreflexion

Die folgende Methode bietet sich an, um mit Schüler*innen über persönliche Ein-
stellungen und Werte ins Gespräch zu kommen. Die Leitung verteilt an jede/n TN
einen Einstellungsbogen mit etwa zehn plakativen Aussagen, daneben jeweils eine
Skala in fünf Stufen: „lehne völlig ab“, „lehne eher ab“, „weiß nicht“, „stimme
eher zu“ und „stimme voll zu“. Beispielsweise können folgende Aussagen auf dem
Einstellungsbogen stehen:

• Wer oft Pornos schaut, wird pervers.


• Eine frühe Schwangerschaft verbaut die Zukunft.
• Eifersucht ist wichtig in einer Liebesbeziehung.
• Pädophile sollten lebenslang ins Gefängnis.
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 277

• Leihmutterschaft ist moralisch höchst fragwürdig.


• Schwangerschaftsabbruch muss verboten sein.
• Homosexuelle Menschen sollten sich an Schule und Arbeitsplatz outen.
• Heiraten ist nur was für Romantiker.
• Behinderte Menschen sollten keine Kinder bekommen.
• Wenn ein Mädchen Nein sagt, meint sie vielleicht doch Ja.
• Ein Mädchen, das mit mehreren Jungen geschlafen hat, ist eine Schlampe.
• Wer sich heute mit HIV ansteckt, ist selber Schuld.

In Einzelarbeit kreuzt zunächst jede/r für sich an, wie er/sie zu der jeweiligen
Aussage steht. Danach wird der Bogen weggepackt – er bleibt eine persönliche
Sache. Im nächsten Schritt wird die Bewertungsskala auf dem Boden im Raum
ausgelegt. Nun werden einzelne Aussagen von der Gruppe und/oder der Leitung
ausgewählt und nacheinander zur Diskussion gestellt. Dazu stellen sich die TN zu
der von ihnen gewählten Position. Wichtig ist dabei der Hinweis, dass nicht not-
wendig die vorab angekreuzte Meinung vor den anderen vertreten werden muss.
Jede/r darf sich frei und neu positionieren, auch seine Position ändern, und es
gibt die Möglichkeit auszusetzen oder sich bei „weiß nicht“ zu positionieren. Die
Leitung moderiert und bittet um Wortmeldungen zu Pro und Contra. Falls die
gesamte Gruppe auf einer Seite steht, kann sie die Gegenposition einnehmen, um
die Debatte anzukurbeln. Grundsätzlich geht es bei diesem Gedankenspiel um den
Austausch von Wertvorstellungen und Argumenten für und wider eine Einstellung.
Daneben kann die Gesprächskultur zu teilweise sehr emotional besetzten Themen
geübt werden.

5 Haltung und Arbeitsweise der Leitung

Sexualpädagogische Projekte anzuleiten bedeutet, angesichts der dem Thema


inhärenten persönlichen Betroffenheit von Anleiter*innen und Schüler*innen, eine
besondere Verantwortung. Für eigens ausgebildete Sexualpädagog*innen ist daher
Reflexion der eigenen Haltung und Biographie integraler Bestandteil ihrer Arbeit.
Darüber hinaus gilt es gesellschaftliche und kulturelle Strömungen zu kennen
und zu beachten sowie die verwendeten Methoden in Bezug auf die Zielgruppe zu
reflektieren und anzupassen.
Eine offene, wertschätzende und Grenzen achtende Haltung ist grundlegend,
muss jedoch in Bezug auf die verschiedenen Themen der Sexuellen Bildung
zuerst erarbeitet werden. Wie bei jedem Menschen liegen auch dem Handeln und
Sprechen der Lehr- und Fachkräfte in sexualpädagogischen Veranstaltungen die
aus der eigenen Biographie erworbenen und durch Reflexion gewonnenen Über-
zeugungen zu Grunde. Daher ist es ein zentraler Bestandteil der Ausbildung, diese
Überzeugungen und impliziten Annahmen über Sexualität bewusst zu machen und
immer wieder neu zu reflektieren. Die Leitung einer sexualpädagogischen Gruppe
muss sich darüber hinaus auch ihrer Machtstellung und den gruppendynamischen
Prozessen in einer Jugendgruppe gewahr sein, denn emanzipatorische Bildung
278 R. Müller und B. Niederleitner

muss diese Faktoren berücksichtigen. Hinzu kommt das Nachdenken über


die Gruppe, mit der Sexuelle Bildung stattfinden soll. Die Leitung muss sich
dabei bewusst werden über Alter, Zusammensetzung (Zwangsgemeinschaft)
und Besonderheiten der Gruppe (Kultur, soziales Umfeld, etc.). Zudem hat jede
Methode, die zur Auswahl steht, noch spezielle Anforderungen an die Umsetzung
(vgl. Müller/Niederleitner 2020). Folgende Fragen können als Reflexionsgrund-
lage dienen, um eine Methode sinnvoll auszuwählen und durchzuführen:

1. Welche (Lern-)Ziele will ich mit dieser Methode erreichen, welche Prozesse
anstoßen?
2. Für wen ist diese Methode einfach?
3. Für wen ist diese Methode schwierig?
4. Kann die Gruppendynamik dazu führen, dass schon vorhandene (oder
potenzielle) Ausschlüsse reproduziert werden?
5. Läuft die Methode Gefahr, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu
reproduzieren?
6. Kann die Methode Angst machen, ‚enttarnt‘ zu werden?
7. Besteht das Risiko von Beschämungen/Kränkungen/Verletzungen?
8. Ermöglicht die Methode, dass TN zurückhaltend oder wenig beteiligt sein
können?
9. Stehen bei der Methodenauswahl die Bedürfnisse der Leitung oder die der
Jugendlichen im Vordergrund?

Ziel jeder Bildungsveranstaltung ist es, dass durch die Wahl der Methoden, durch
die Sprache und durch die Haltung der Leiter*innen zuverlässige Informationen
vermittelt sowie Denkprozesse angestoßen werden und dabei die persönlichen
Grenzen aller Beteiligten jeder Zeit gewahrt bleiben. So soll erreicht werden,
dass Sexualität selbstbestimmt, in der Achtung der eigenen Grenzen und der
Grenzen anderer, verantwortungsbewusst, rechtebewusst und glückbringend gelebt
werden kann – immer in dem Bewusstsein, dass dazu für jeden Menschen auch
Unberechenbares, Fehler und Scheitern gehören.

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Das Förderzentrum „Clemens Winkler“
und die Einbeziehung von Projektarbeit
und außerschulischen Lernorten
Ute Schnabel

Zusammenfassung

Der Beitrag stellt die Arbeit am Förderzentrum „Clemens Winkler“ in Sachsen


vor. Dabei wird besonders auf die Methode der Projektarbeit eingegangen.
Eines dieser Projekte ist explizit an das Unterrichtsfach Ethik angebunden.

Schlüsselwörter

Förderzentrum · Projektarbeit · Außerschulisches Lernen · Ethik · 
Religionskunde

1 Das Förderzentrum „Clemens Winkler“

Das Förderzentrum „Clemens Winkler“ ist eine öffentliche Einrichtung zur


Beschulung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem
Förderbedarf im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung in Träger-
schaft des Landkreises Mittelsachsen. Es besteht aus der allgemein bildenden Förder-
schule mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung für Schülerinnen
und Schüler der Klassen 1 bis 6 und der Beratungsstelle.
An der Stammschule in Brand-Erbisdorf werden derzeit 80 Mädchen und
Jungen im Alter von 6 bis 13 Jahren von 15 Lehrerinnen und 6 pädagogischen

U. Schnabel (*) 
Brand-Erbisdorf, Deutschland
E-Mail: herausforderndes_verhalten@web.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 281
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_15
282 U. Schnabel

Fachkräften sowie einer Schulsozialarbeitern im Rahmen einer gebundenen Ganz-


tagsschule unterrichtet und betreut. Zusätzlich werden in der Region ca. 250
Schülerinnen und Schüler in der inklusiven Beschulung an Grund- und Ober-
schulen und Gymnasien beraten und begleitet.
Die Einrichtung hat sich zum Zentrum der Beschulung, Diagnostik und
Beratung entwickelt und ist einer der beiden Förderstandorte in der Region. Sie
verfügt über hohe Akzeptanz in der Schullandschaft, bei Eltern und Institutionen
und bei Trägern der Jugendhilfe.
Diese Akzeptanz ergibt sich unter anderem auch aus unserem pädagogischen
Konzept heraus, den Unterricht für die Kinder und Jugendlichen lebensnah zu
gestalten, in der Region zu vernetzen und viele außerunterrichtliche Angebote
zu nutzen, um Lehrplanangebote ganzheitlich und der Lebenswirklichkeit der
uns anvertrauten Jungen und Mädchen zu vermitteln. Dabei arbeiten wir in
jedem Schuljahr mit einem speziellen Jahresmotto, welches sich einerseits an
den Interessen der Schülerinnen und Schüler und andererseits an Jahrestagen,
historischen Ereignissen, herausragenden Persönlichkeiten oder sportlichen
Höhepunkten landes- und weltweit orientiert. Hier eine Auswahl dazu:

• 2005/06 „Der Fußball ist rund wie die Welt“


• „Vom Fernseher zum Flachbildschirm“
• 2011/12 „Mit Vollgas durch’s Schuljahr“
• 2016/17 „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt“
• 2018/19 „Vorhang auf! – Manege frei!“
• 2019/20 „Einmal zum Mond und zurück“

Dieses Jahresmotto ist rahmengebend für viele zusätzliche Schulveranstaltungen,


ob Vorlesewettbewerbe, Mathematik- und Englischolympiaden oder auch die
Schulhaus- und Homepagegestaltung.
Die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf im emotionalen
Erleben und sozialen Handeln ist von ständigen Konflikten zwischen gesellschaft-
lichen Zuständen und Anforderungen sowie der eigenen Persönlichkeitsent-
wicklung geprägt. Entwicklungsstörungen, Krankheiten, eine ungünstige
Lernerfolgstendenz in der Schule und ungünstige soziale Lebensbedingungen
wirken sich zusätzlich problemverstärkend aus. Eine möglichst allseitige und
konsequente Förderung im Lebens- und Erlebnisraum Schule stellt für die Kinder
und Jugendlichen eine reelle Chance dar, ihre – nicht nur schulischen – Problem-
lagen zu überwinden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Im Rahmen der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sehen wir
unsere Hauptaufgabe als Förderschule für den Förderschwerpunkt emotional-
soziale Entwicklung im Kompetenztransfer mit den umliegenden Kindertagesein-
richtungen, Grund- und Oberschulen, Gymnasien und berufsbildenden Schulen.
Frühzeitig eingeleitete präventive Maßnahmen können schwerwiegenden Ent-
wicklungsstörungen von Kindern entgegenwirken. Dazu bedarf es in aller erster
Linie einer umfassenden Information über eventuelle Störungsbilder und einer
Das Förderzentrum „Clemens Winkler“ und die Einbeziehung von ... 283

allseitigen Beratung aller am Erziehungsprozess Beteiligten und einer ganzheit-


lichen, frühzeitigen und professionellen pädagogischen und sonderpädagogischen
Diagnostik. Die Umgestaltung unseres Förderzentrums zu einem Kompetenz-
zentrum eröffnet Perspektiven der Netzwerkarbeit im Förderschwerpunkt
emotional-soziale Entwicklung im Interesse der betroffenen Kinder und Jugend-
lichen für die Region. Ausgehend von den individuellen Ressourcen der Kinder
und Jugendlichen und deren Eltern arbeiten wir gemeinsam an der erfolgreichen
und umfänglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Als Mitglied im Netz-
werk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ legen wir besonders viel
Wert auf die Bereiche Demokratieerziehung und politische Bildung, vor allem
in Hinblick sowohl auf eine wahrgenommene sozioökonomische Spaltung der
Gesellschaft als auch auf die zunehmende Radikalisierung in Sprache und sozialen
Netzwerken.
Die Demokratieerziehung und politische Bildung auf der Grundlage des
Beutelsbacher Konsens’ aus dem Jahr 1976 ist durchgängiges Unterrichtsprinzip,
vor allem natürlich in den Fächern Deutsch, Geographie und Ethik, aber auch
Kunst, Musik und Fremdsprachen.

2 Angebote und Programme

„Der Bildungs- und Erziehungsauftrag für die Grundschule leitet sich aus der
Verfassung des Freistaates Sachsen und aus dem Schulgesetz für den Freistaat
Sachsen ab. Er wird bestimmt durch das „Recht eines jeden jungen Menschen
auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Erziehung und
Bildung ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage“ (Schulgesetz
für den Freistaat Sachsen § 1 Abs. 1). Die Schule hat den Auftrag Bildung zu ver-
mitteln, die zur Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler in der Gemeinschaft
beiträgt (vgl. Schulgesetz für den Freistaat Sachsen § 1 Abs. 2). Diesen Auftrag
erfüllt die Grundschule, indem sich alle Kinder in einem gemeinsamen Bildungs-
gang grundlegendes Wissen aneignen, Methoden-, Lern- und Sozialkompetenz
erwerben sowie ein Bewusstsein für Werte entwickeln. In einer Atmosphäre des
Zutrauens und der gegenseitigen Achtung sollen selbstständiges Denken, Lernen
und Arbeiten entwickelt sowie Freude am Lernen erhalten und geweckt werden.
Grundschule schafft damit Voraussetzungen für den Übergang zu weiterführenden
Bildungsgängen.“1
Gleiches gilt auch für die Oberschule, in der es weiterhin um den Erwerb
intelligenten und anwendungsfähigen Wissens mit der Entwicklung von Lern-,
Methoden- und Sozialkompetenz und Werteorientierung geht. Schülerinnen und
Schüler sollen sich Wissen aneignen, mit denen sie am gesellschaftlichen Leben
angemessen teilhaben und den Anforderungen in Schule und ihrem künftigen

1Comenius-Institut: Leistungsbeschreibung der Grundschule. (2004, S. 3).


284 U. Schnabel

Erwachsenenleben gerecht werden können. Wesentliche Bereiche unserer Gesell-


schaft und Kultur werden erschlossen und entsprechendes Wissen vermittelt und
sich angeeignet, um dieses flexibel und gezielt anwenden zu können. Besonderes
Augenmerk richten wir auf die Vermittlung von Lern- und Arbeitstechniken, damit
die Kinder und Jugendlichen zunehmend selbstständiger in die Lage versetzt
werden, Informationen zu beschaffen, diese verantwortungsbewusst zu werten und
einzuordnen und sich kompetent mit verschiedenen Medien auseinandersetzen zu
können. Dabei erkennen sie sowohl für sich selbst als auch bei anderen, welche
Einflüsse verschiedene Medien auf Gefühle, Vorstellungen, Vorurteile, Klischees,
Stereotypen und somit auch Verhaltensweisen ausüben können. Die Schülerinnen
und Schüler erleben „im sozialen Miteinander Regeln und Normen, erkennen deren
Sinnhaftigkeit und streben deren Einhaltung an. Sie lernen dabei verlässlich zu
handeln, Verantwortung zu übernehmen, Kritik zu üben und konstruktiv mit Kritik
umzugehen. Durch das Erleben von Werten im schulischen Alltag, das Erfahren
von Wertschätzung und das Reflektieren verschiedener Weltanschauungen und
Wertesysteme entwickeln die Schüler individuelle Wert- und Normvorstellungen
auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Die Lehrpläne der Grund- und Oberschulen in Sachsen im Fach Ethik
beschreiben mit den überfachlichen Zielen „…darüber hinaus Intentionen, die
auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler gerichtet sind und in jedem
Fach konkretisiert und umgesetzt werden müssen. Eine besondere Bedeutung
kommt dabei der politischen Bildung als aktivem Beitrag zur Mündigkeit junger
Menschen und zur Stärkung der Zivilgesellschaft zu. Im Vordergrund stehen dabei
die Fähigkeit und Bereitschaft, sich vor dem Hintergrund demokratischer Hand-
lungsoptionen aktiv in die freiheitliche Demokratie einzubringen. Als ein über-
geordnetes Bildungs- und Erziehungsziel der Oberschule ist politische Bildung
im Sächsischen Schulgesetz verankert und muss in allen Fächern angemessen
Beachtung finden. Zudem ist sie integrativ insbesondere in den überfachlichen
Zielen Werteorientierung und Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Sozial-
kompetenz enthalten.“2
Um diese Aufgaben, die sich aus den Lehrplänen ergeben, umsetzen zu können,
haben wir in den vergangenen Schuljahren verschiedene Projekte in Zusammen-
arbeit mit unterschiedlichen Projektpartnern durchgeführt:

• Bewerbung um den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, 2015
• Juniorwahl zur Bundestagswahl 2017 und Sächsischen Landtagswahl 2019 in
Zusammenarbeit mit der Bundes- und Landeszentrale für politische Bildung
• Was geht mich die Geschichte an? – Ganztagsangebot für die Klassen 5 und 6
zum Holocaust und jüdischem Leben in und um Freiberg gestern und heute in
Zusammenarbeit mit Yad Vashem/Israel, dem Mittelsächsischen Theater Frei-
berg/Döbeln und dem Verein Freiberger Zeitzeugnis e. V.

2Sächsisches Staatsministerium für Kultus: Lehrplan Oberschule Ethik (2019, S. VII).


Das Förderzentrum „Clemens Winkler“ und die Einbeziehung von ... 285

• Jüdisches Leben in Sachsen – Ethikunterricht der Klasse 6 in Zusammenarbeit


mit dem Verein HATiKVA e. V., Dresden
• Anne-Frank-Gedenktag in Zusammenarbeit mit dem Anne-Frank-Zentrum
Berlin
Drei davon möchte ich näher erläutern.

2.1 „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“

Im Jahr 2015 kam es an unserer Einrichtung vermehrt zu Vorfällen mit einem


rechtsradikalen Hintergrund. So wurde schuleigenes Mobiliar und Wände
mit Hakenkreuzen beschmiert, vereinzelte Schüler äußerten antisemitische
Beschimpfungen und glaubten, dies sei durch die im Grundgesetz verankerte
Meinungsfreiheit gedeckt. In einem Elterngespräch wurden die Lehrpersonen mit
Äußerungen aus dem rechten Spektrum bedroht. Diese kamen zwar zur Anzeige,
aber damit konnte und sollte aus unserer Sicht die Auseinandersetzung mit dem
entstandenen Problem nicht beendet sein. Unser Kollegium setzte sich zusammen
und wir entschieden, noch offensiver an das Problem heran zu gehen. Gemeinsam
mit dem Schüler- und dem Elternrat beschlossen wir, den Titel „Schule ohne
Rassismus – Schule mit Courage“ für unsere Einrichtung zu erringen. Wir
wollten und wollen aktiv am Schulklima arbeiten und uns ganz bewusst und für
jeden sichtbar gegen jede Form der Diskriminierung, Ausgrenzung, Mobbing und
Gewalt stellen. Mit der Möglichkeit der bundesweiten Vernetzung im Courage-
Netzwerk können wir uns mit anderen über gelungene Projekte austauschen, Ideen
finden und Unterstützung suchen. Im März 2020 gehörten dem Netzwerk über
3300 Schulen in Deutschland an.
Schon die Auseinandersetzung mit den Zielen der Aktion zeigte uns, dass
unsere Schülerinnen und Schüler durchaus bereit sind, die demokratischen
Prinzipien des Zusammenlebens einzuhalten. Was sie zum damaligen Zeitpunkt
verstärkt brauchten, war Wissen, um Halbwahrheiten und Fake News kompetenter
begegnen zu können. Es stellte sich nämlich schnell heraus, dass der eine oder
Andere zum Beispiel Hakenkreuze auf Tische und Stühle geschmiert hatte, ohne
um den historischen Hintergrund zu wissen. Konfrontierte man den betroffenen
Schüler in einem Gespräch mit diesen Fakten, hörten wir oft, dass ältere Freunde
in der Clique oder gar Eltern das ja zu Hause machen würden, es wäre ja nicht
so schlimm gewesen und man solle doch endlich mit dem „Schuldkult“ aufhören.
Uns war schnell klar, dass wir hier nur mit Aufklärung und vor allem ohne Schuld-
zuweisungen an das Kind oder den Jugendlichen weiterkommen würden.
Wir als Schulleitung organisierten Fortbildungen zum Thema und stärkten
so die Kolleginnen und Kollegen im Erkennen und dem Umgang mit radikalen
Äußerungen, indizierter Musik, verfassungsfeindlichen Symbolen, Diskriminierung,
Ausgrenzung, Mobbing, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
286 U. Schnabel

2.2 „Was geht mich denn die Geschichte an?“ –


Ganztagsangebot für Schüler der Klassen 5 und 6

Im Ganztagsangebot sahen wir die Möglichkeit, für die Schülerinnen und Schüler
ein Angebot machen zu können, welches sich intensiv mit der Zeit des Zweiten
Weltkrieges und dem Holocaust auseinandersetzt. Die Auseinandersetzung mit
dieser Zeit erfolgt laut Geschichtslehrplan in der Klasse 8, unsere Schülerinnen
und Schüler hatten aber schon in den Klassen 5 und 6 viele Fragen. Wenn wir
diese nicht beantworten würden, wäre der Raum für demokratiefeindliche
Betrachtungen offen.
Ziel war es, Opfern ein Gesicht zu geben und sie so der Anonymität zu
entreißen. Indem wir uns dafür entschieden, jüdisches Leben und die jüdischen
Opfer in Freiberg besonders in den Fokus zu nehmen, stellten wir einen regionalen
Bezug her und damit auch eine persönliche Bedeutsamkeit, denn es waren plötz-
lich Familien, die „um die Ecke“ wohnten. Gleichzeitig stellten wir Freiberger
jüdische Kinder und Jugendliche heraus, dies ermöglichte einen altersgerechten
Zugang zu diesem sehr sensiblen Thema.
Im Vorfeld kamen bei einigen Eltern auch die Befürchtung, dass wir mit der
Beschäftigung mit diesem Thema die Kinder sowohl kognitiv als auch emotional
überfordern könnten. Um dies zu verhindern, nahm ich im Februar 2018 an einer
Lehrerfortbildung zum Thema in Yad Vashem/Jerusalem teil. Hier erfuhr ich aus-
gesprochen viel über methodisch-didaktisches Herangehen und erwarb viele
altersgerecht aufgearbeitete Materialien, mit denen wir dann auch ausgiebig
arbeiteten. Ein sehr überzeugendes Argument für die Notwendigkeit eines solchen
Angebotes gab uns ein Schüler der damaligen 6.Klasse, der meinte, wer alt genug
sei, rechtsradikale Parolen oder verfassungsfeindliche Schmierereien von sich zu
geben, der sei auch alt genug, die historische Wahrheit über diese Zeit zu erfahren.
Im Schuljahr 2018/2019 begannen die Schüler ihre virtuelle Suche nach
jüdischen Familien im sächsischen Freiberg in der Opferdatenbank in Yad Vashem.
Sie recherchierten die Lebensläufe der Personen, vor allem der Kinder und ver-
glichen diese mit ihrem bisherigen eigenen Leben. Mit Erschrecken stellten sie
fest, dass einige viel jünger als sie selbst waren, als sie starben. Natürlich wollten
die Schülerinnen und Schüler sehen, wo in Freiberg diese Familien gewohnt
hatten. Bei einem Stadtrundgang sahen wir uns die Orte und die inzwischen ver-
legten Stolpersteine an. Aus den Erfahrungen heraus entstanden neue Fragen, wie
beispielsweise diese:

• Warum unternahmen die Mitbewohner in den Häusern nichts?


• Wie sah das Schulleben damals für die Kinder an sich und für jüdische Kinder
im Besonderen aus?
• Warum ließen Juden das überhaupt zu?
• Wenn Juden Deutschland verließen, wo kamen sie dann unter?
• Gab es in und um Freiberg eigentlich auch Konzentrationslager?
Das Förderzentrum „Clemens Winkler“ und die Einbeziehung von ... 287

Um die damalige Zeit etwas nacherlebbarer und für Kinder verständlicher zu


machen, wurden viele historische Dokumente, Zeitungen, Fotografien und Stadt-
pläne, einbezogen. Eine große Unterstützung dabei war Dr. Michael Düsing, ein
Freiberger Heimatforscher und Autor. Er beschäftigte sich mit dem jüdischen
Leben auf dem Gebiet des Landkreises Mittelsachsen und forschte insbesondere
zum Holocaust.
Eine besondere Zäsur war die Echopreisverleihung im April 2018. Ein Schüler
der Klasse 5 sprach im Ethikunterricht an, dass es ja wohl nicht sein könne, dass
ein Titel mit einem solch menschenverachtenden Text über die Häftlinge aus Aus-
schwitz einen Preis in Deutschland und das auch noch um den weltweiten Holo-
caustgedenktag herum, bekommen soll. Natürlich thematisierten wir dies im
Unterricht, prüften im Grundgesetz genau, ob dies nicht durch die Meinungs-
freiheit oder die Freiheit der Kunst gedeckt sei und diskutierten viel darüber,
ob wir heute noch irgendeine Verbindung zu dem Geschehen von damals haben
oder haben müssen. Die Schülerinnen und Schüler fanden übereinstimmend,
dass wir oder sie nicht schuld sind an dem, was damals geschah, aber das wir alle
gemeinsam und jeder für sich die Verantwortung dafür übernehmen müssen/muss,
dass so etwas nie wieder geschehen darf.
Zum Ende des Schuljahres unternahmen wir eine Exkursion in die Gedenk-
stätte Konzentrationslager Sachsenburg, eines der ersten auf sächsischem Boden.
Die Schülerinnen und Schüler stellten eine Zeitleiste des KZs her und konnten
ihr bisher erarbeitetes Wissen zu Freiberger Opfern einbringen. Mit dem Besuch
der Gedenkstätte, so berichteten die Kinder und Jugendlichen anschließend, war
ein sehr nachhaltiges Erleben verbunden. In den ehemaligen Schlafsälen, in den
Arrestzellen oder auf dem Appellplatz zu stehen, sei etwas völlig anderes, als in
Büchern davon zu lesen, auch anders, als Fotografien zu betrachten.
Im Schuljahr 2019/2020 stellten wir besonders das Leben jüdischer Mädchen
und Jungen in den Konzentrationslagern in den Mittelpunkt, denn ein Schüler kam
mit der Frage, wie denn das Leben damals in den Lagern gewesen sei, denn zu
Hause habe er einen Film gesehen, der zeigte, wie die Kinder gelernt, gelacht und
gespielt haben und nun wisse er nicht, was er davon halten solle. Uns wurde klar,
dass er den Propagandafilm der Nazis aus dem KZ Theresienstadt gesehen hatte.
Dies brachte uns dazu, die Arbeit mit der Kinderoper „Brundibár“ zu nutzen, um
das Leben der Kinder im Ghetto zu erforschen. Zu Beginn des Schuljahres sahen
wir uns den Film „Wiedersehen mit Brundibár“, ein Kino-Dokumentarfilm des
deutschen Regisseurs Douglas Wolfsperger aus dem Jahr 2014, gemeinsam an.
Dieser thematisiert das Schaffen der Berliner Jugendtheatergruppe „Die Zwie-
fachen“, die mit Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Lebensverhält-
nissen arbeiten, um die Brüche in den Biographien zu verarbeiten. „Als sie die
Kinderoper Brundibár einstudieren sollen, hält sich die Begeisterung in Grenzen.
Brundibár, komponiert von Hans Krása, wurde im Ghetto Theresienstadt auf-
geführt und die Hintergründe um die Oper sind schwere Kost. Als sie aber
gemeinsam mit der Holocaust-Überlebenden Greta Klingsberg, die damals die
Hauptrolle gespielt und gesungen hat, nach Theresienstadt reisen, entwickelt sich
288 U. Schnabel

eine ungewöhnliche Freundschaft.“3 Daraus entstand gemeinsam mit den Kindern


die Idee, eine Szene der Oper gemeinsam mit einem Opernsänger des Mittel-
sächsischen Theaters zu erarbeiten. An zwei Tagen probten wir im Theater und
konnten dann die Siegesszene gemeinsam aufführen. Leider fiel eine öffentliche
Vorstellung der Folgen der Corona-Pandemie zum Opfer. Die Schülerinnen und
Schüler schlüpften in verschiedene Rollen und versuchten anhand historischer
Dokumente den Lebensweg „ihrer“ Rolle nachzuvollziehen. Die häufigen
Besetzungswechsel verdeutlichten, dass die Kinder oft entweder in andere Lager
verlegt worden sind oder in Vernichtungslagern starben. Wir versuchten, mit der
Hauptdarstellerin in Israel Kontakt aufzunehmen, dies gelang uns allerdings bisher
nicht.
Nun wäre es logisch, mit den Schülerinnen und Schülern nach Theresienstadt
zu fahren. Das war auch so geplant, kann aber aufgrund der Corona-Pandemie so
nicht stattfinden. Wenn Schulfahrten ins Ausland im neuen Schuljahr wieder mög-
lich sein werden, holen wir dies selbstverständlich nach.
Im Juni findet der Anne-Frank-Gedenktag statt. Eigentlich sollte das Gedenken
an Anne Frank im nächsten Schuljahr Inhalt der Geschichts-AG sein. Da das
Anne-Frank-Zentrum Berlin jedoch sehr viele Online-Materialien zur Verfügung
stellte, nutzen wir nun diese, um weiter, aber eben „kontaktlos“, an dem Thema
arbeiten zu können.

2.3 Jüdisches Leben in Sachsen – Ethikunterricht der


Klasse 6 in Zusammenarbeit mit dem Verein HATiKVA
e. V., Dresden

Der Lehrplan Ethik setzt für die Klasse 6 folgende Ziele: „Die Schüler erwerben
Kenntnisse über die Religion des Judentums und die Geschichte der Juden.
Die Schüler reflektieren ihre Begegnungen mit verschiedenen Menschen und
Personengruppen, insbesondere mit solchen, die ihnen fremd sind. Sie lernen, Vor-
urteile abzubauen und entwickeln angemessene Verhaltensweisen, mit Fremdheit
umzugehen.“4
Um den Schülerinnen und Schülern einen Einblick in die frühe Geschichte
des Judentums zu ermöglichen, erarbeiten wir im Ethikunterricht die Inhalte
(Mose und Exodus, Heiliges Land, König David, König Salomo, Tempel, Klage-
mauer) an Stationen. Die Jugendlichen halten ihre Erkenntnisse in einem selbst
zu gestaltenden Lapbook fest. Dort präsentieren sie auch ihre Erkenntnisse zu
zentralen Glaubensinhalten und ethischen Forderungen des Judentums, sammeln
aktuelle Zeitungsberichte, den Speisevorschriften entsprechende Rezepte und
gewinnen über Filme und Musik einen Einblick in jüdisches Leben. Über das

3https://de.wikipedia.org/wiki/Wiedersehen_mit_Brundibar, Zugegriffen: 06.06.2020.


4Sächsisches Staatsministerium für Kultus: Lehrplan Oberschule Ethik. (2019, S. 11).
Das Förderzentrum „Clemens Winkler“ und die Einbeziehung von ... 289

Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland „Meet a Jew“ sollten die
Schülerinnen und Schüler einen jüdischen Jugendlichen im Unterricht treffen
können, der aus eigenem Erleben über jüdisches Leben in Deutschland berichtet.
Auch dies konnte aufgrund der Corona-Pandemie noch nicht erfolgen. Persön-
liche Feste, Feste im Jahreskreis und eine Synagoge lernen die Schülerinnen und
Schüler an unserem Förderzentrum schon seit mehreren Jahren direkt vor Ort, in
der Dresdner Synagoge, kennen.
Die meisten unserer Schülerinnen und Schüler sind nicht religiös und hatten
aus ihren Familien heraus bisher auch keinen Zugang zu religiösen Stätten. Oft
wissen sie daher auch noch nicht, welches Verhalten an sakralen Orten üblich und
erwünscht ist, welches vermieden werden sollte.
Um die drei monotheistischen Weltreligionen nicht getrennt voneinander zu
behandeln und zu verdeutlichen, welche Gemeinsamkeiten diese haben, beginnt
unsere Exkursion traditionell in der Gemäldegalerie „Alte Meister“ mit einer
altersgerechten Führung zum Propheten Abraham. An bis zu 4 Gemälden wird
altersgerecht und mit Rücksicht auf den sonderpädagogischen Förderbedarf im
emotional-sozialen Erleben, welcher häufig mit Aufmerksamkeitsproblemen und
kognitiven Einschränkungen verbunden ist, erklärt, wie man Bilder „lesen“ kann,
welche Symbole verwendet werden, die man in der Tora und der Bibel wieder-
finden kann und welche Symbolkraft hinter dem berühmtesten Werk der Aus-
stellung, der „Sixtinischen Madonna“, steckt. Für viele Schülerinnen und Schüler
unserer Einrichtung, die oft prekären Lebensverhältnissen und bildungsfernen
Elternhäusern entstammen, ist dies die erste Begegnung mit den alten Meistern.
Im Anschluss an den Rundgang durch die Galerie folgt ein Rundgang durch die
Altstadt Dresdens zur Frauenkirche. Auf dem Weg zur Aussichtspattform hinauf
finden die Kinder und Jugendliche viele typischen Dinge einer Kirche und
sammeln diese in ihren Notizbüchern. Mit dem Blick über die Stadt zählen sie
christliche Symbole und bemerken, dass sie die Synagoge und die Moscheen, die
es in Dresden auch gibt, nicht ohne weiteres erkennen können.
Beim Besuch der Synagoge fiel bisher immer schon auf, dass vor der Synagoge
ein Polizeiauto zum Schutz stand und die Synagoge nicht einfach so betreten
werden darf wie eine Kirche. Hier erfahren die Jungs und Mädchen zum ersten
Mal, dass der im Unterricht thematisierte Antisemitismus eine reale Bedrohung in
Deutschland für jüdische Menschen darstellt.
Die Gemeindepädagogin stellt sich auf das manchmal herausfordernde
Schülerverhalten schon im Vorfeld ein, indem sie es ermöglicht, vieles anzu-
fassen und auszuprobieren und auch auf provokant formulierte Fragen kann sie
ruhig, kompetent und sachlich reagieren. Sie trägt auch der Tatsache Rechnung,
dass in den Klassen unserer Einrichtung nur wenige Mädchen lernen und stellt
daher jungenspezifische Themen in den Mittelpunkt. So zeigen unsere Schüler
erfahrungsgemäß großes Interesse daran, wie der Davidstern der alten Dresdner
Synagoge gerettet werden konnte.
Nach dem Besuch der Synagoge steht noch ein Besuch einer Moschee auf
dem Plan. Dies kann jedoch nur dann realisiert werden, wenn der entsprechende
Imam erlaubt, dass ich als betreuende Lehrerin auch die Räume betreten darf.
290 U. Schnabel

Bisher ist das gelungen und auch hier konnten die Schülerinnen und Schüler ihre
Fragen stellen, bekamen kompetente Antworten und zogen interessante Vergleiche
zwischen den 3 Weltreligionen.
Eine solche Exkursion führen wir seit nunmehr 5 Jahren durch und können
immer wieder feststellen, dass es zwar ein sehr langer und anstrengender aber
auch überaus erfolgreicher Unterrichtstag für die Schülerinnen und Schüler ist.

3 Anforderungen an einen Kooperationspartner

Grundlage einer Kooperation ist natürlich immer das Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland und die Akzeptanz des sächsischen Schulgesetztes, das muss
jedem klar sein.
Darüber hinaus ist es für uns besonders wichtig, dass sich unsere Kooperations-
partner einerseits auf das Alter der Schülerinnen und Schüler einstellen
können und sich andererseits den besonderen Herausforderungen des sonder-
pädagogischen Förderbedarfs unserer Schülerinnen und Schüler gewachsen
zeigen. Diese zeigen sich häufig in unangepasstem, oft als störend empfundenem,
Sozialverhalten. Vor allem unbekannten Situationen und fremden Menschen
gegenüber verhalten sich unsere Schüler provokant, manchmal beleidigend,
auch verbal-aggressiv. Den Jungen und Mädchen gelingt es häufig nicht lange
konzentriert zu zuhören und eigene Bedürfnisse zurück zu stellen. Lange Texte,
gespickt mit vielen Fremdwörtern schrecken diese ab, obwohl sie in der Lage
wären, diese zu verstehen.
Besser ist es, viele verschiedene Sinneskanäle zu bedienen, die Methoden
häufig zu wechseln und die Kinder und Jugendlichen selbst viel ausprobieren zu
lassen. Wenn Fragen gestellt werden, so ist es für die Jungs und Mädchen wichtig,
diese gleich beantwortet zu bekommen – auf später vertröstet zu werden, frustriert
schnell und dann schaltet das Kind bzw. der Jugendliche ab.

Literatur
Comenius-Institut: Leistungsbeschreibung der Grundschule 2004.
Sächsisches Staatsministerium für Kultus: Lehrplan Oberschule Ethik. 2019, S. VII.
Teil V
Exemplarische Lernorte 3:
Sakrale und meditative Orte
Interreligiöse Begegnung als
selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung –
Tag der offenen Moschee als
religionspädagogische Praxis
Tarek Badawia und Sezai Cakan

Zusammenfassung

Im Vergleich zu einem Austausch-, Streitgespräch oder zu einer Diskussion


weist die Begegnung einige wichtige Merkmale aus, die sie zu einem besonders
gut geeigneten Medium der Verständigung eignet. Ihre wichtige ethische
Voraussetzung ist die wechselseitige Angewiesenheit der beiden Partner auf-
einander. Aus dieser Angewiesenheit ergibt sich eine Haltung der Gleichwertig-
keit. Auf dieser Grundlage der gegenseitigen Anerkennung und der Begegnung
auf Augenhöhe findet der Tag der offenen Moschee (TOM) regelmäßig in
vielen Moscheen Deutschlands statt. Der TOM ermöglicht mittlerweile
Schüler*innen als Generation der Vielfalt auch eine Begegnung an einem
außerschulischen Ort, an dem sie dem Anderen, bisher Fremden begegnen
können. Sinn und Zweck einer solcher Begegnung kann nicht die gegen-
seitige Überzeugungsarbeit sein, sondern die Reflexion der eigenen ethischen
Haltung im Umgang mit Differenz und die gemeinsame Herausstellung von
Gemeinsamkeiten.

Schlüsselwörter

Interkulturelle Öffnung · Muslimische Organisationen · Moschee als


außerschulischer Lernort · Interreligiöse Begegnung

T. Badawia (*) 
FAU Erlangen-Nürnberg, Mainz, Deutschland
E-Mail: tarek.badawia@fau.de
S. Cakan 
Berlin, Deutschland

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 293
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_16
294 T. Badawia und S. Cakan

In seiner Ansprache an die Gäste am „Tag der offenen Moschee“ eröffnete der
Geistliche der Gemeinde (der Imam) seine Rede u. a. mit den folgenden Worten:

„Nach langer Zeit der Verlegenheit und Unsicherheit im Umgang mit der deutschen
Öffentlichkeit wollen wir mit dem Tag der offenen Moschee ein Zeichen dafür setzen,
dass unsere Moscheen jedem Menschen in unserer Gesellschaft offen sind. Unsere
Moscheen sind Orte der Vertrauensbildung. Wenn wir unsere Moscheen für alle öffnen,
öffnen wir auch unsere Herzen für sie und unsere Ohren für ihre Fragen! Wir laden alle
ein und folgen damit dem Vorbild des Propheten Muhammad. Seine Moschee war eine
Begegnungsstelle für alle Menschen und nicht nur für die Muslime […] Wir bitten den
Schöpfergott für unsere Gesellschaft um die Weisheit Moses, um die Liebe Jesus und um
die Barmherzigkeit Muhammads […]“1

Wir lassen die Worte unkommentiert für sich sprechen und greifen später auf sie
zurück. Ausgehend von diesen Worten wollen wir einleitend für unseren Bei-
trag folgende selbstreflexive Fragen stellen: Was geschieht in dem Moment der
Begegnung in der Moschee (als sakraler und sozialer Raum)? Was geschieht mit
Menschen, die eine solche Begegnung als Medium der öffentlichen Theologie
anbieten, und mit denjenigen, die dies in Anspruch nehmen?
In unserem Beitrag werden wir einleitend im ersten Abschnitt ansatzweise
die theologischen Hintergründe für die zentrale Bedeutung der Friedensstiftung
durch Dialog und Austausch erläutern. Die Erfahrungen aus dem Öffentlichkeits-
projekt „Tag der offenen Moschee“ (TOM), das der Koordinationsrat der Muslime
(KRM) sowie der Zentralrat der Muslime (ZMD) bundesweit verantworten und
veranstalten, werden im dritten Teil des Beitrages vor dem Hintergrund diskutiert
werden, welche Rolle die Öffnung der sakralen Räume (am Beispiel) der Moschee
zum Bewusstseinswandel unserer Gesellschaft beitragen können. Anschließend
soll die Bedeutung solcher Erfahrungen in der Schulpraxis anhand von einigen
Erfahrungswerten aus dem Bereich des interreligiösen Lernens reflektiert werden.
Die Ausführungen sind von  dem Kerngedanken eines  Bewusstseinswandels bzw.
Wandels des Selbstverständnisses der muslimischen Organisationen getragen. Die
ermöglichte Begegnung am Tag der offenen Moschee konkretisiert exemplarisch
dieses Wandels und eröffnet Optionen für ethische Bildung im Interesse des
friedlichen Miteinanders. Im zweiten Schritt gehen wir auf die Begegnung
als ein religionspädagogisches Medium ein. Wir schließen mit einer theo-
logischen Reflexion ab, die wir aus unserer Argumentationslinie zur Begründung
der folgenden These ziehen: Am Beispiel von TOM als Medium der religiös-
öffentlichen Bildung findet eine zweifache Bildungserfahrung statt: Die Erfahrung
der Gewissheit und die der Relativität. Beide Erfahrungshorizonte betreffen
den eigenen Standpunkt (im Glauben). Es wird im Austausch deutlich, welche
Gewissheit die Reflexion der eigenen Argumente auslösen kann. Es wird in der
Begegnung mit Menschen auch deutlich, wie relativ der eigene Standpunkt sein
kann, wenn man ihn unter der Maxime der Vielfalt von Weltanschauungen und
philosophischen Standpunkten betrachtet.

1Auszug aus dem Grußwort eines Imams der bosnischen Gemeinde in Mainz, 2018.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 295

1 „Tag der offenen Moschee“ (TOM) – eine Initiative


zur Begegnung

1.1 Moscheegemeinden (nicht mehr) als „Zuhause in der


Fremde“

Seit mehr als 20 Jahren organisieren Moscheen in Deutschland den Tag der
offenen Moschee (TOM). Einst initiiert vom Zentralrat der Muslime in Deutsch-
land (ZMD) im Jahre 1997 findet die Veranstaltung seit 2007 in der Verantwortung
des Koordinierungsrats der Muslime (KRM) statt.2 Nach Angaben des KRM
beteiligen sich deutschlandweit mehr als 1000 Moscheegemeinden jedes Jahr
zum 03. Oktober am Projekt „Tag der offenen Moschee“. Getragen wird die Ver-
anstaltung von Tausenden von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die in
den lokalen Gemeinden aktiv sind. Der TOM steht für eine gesellschaftliche
Beteiligung der Muslime in Deutschland und soll ein Zeichen der Offenheit sein.3
Diese Intention wird oftmals durch die Berichterstattung der lokalen Presse unter-
stützt, wodurch der Anspruch auf Partizipation zusätzlich betont wird. In diesem
Sinne verstehen die teilnehmenden muslimischen Verbände und Gemeinden den
TOM als Raum des Dialogs, Austauschs und Kennenlernens. Ziel ist es, durch
Desinformation bedingte Vorurteile und Missverständnisse zu überwinden,
Brücken zwischen Religionen und Kulturen zu bauen.4 Demzufolge übernehmen
die Moscheegemeinden eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und leisten so
ihren Beitrag im Interesse des Gemeinwohls.5 Der TOM gilt außerdem als Weg-
bereiter für viele andere Projekte wie Islamwochen oder Veranstaltungen zum
gemeinsamen Fastenbrechen. Da die Veranstaltung auf lokaler Ebene umgesetzt
wird, nehmen je nachdem auch lokale Vertreter aus Politik oder Gemeinden
anderer Konfessionen teil.
Durch die Planung und Koordinierung des KRM hat der TOM in den letzten
Jahren eine Struktur erhalten. Die Mitglieder des KRM bestimmen im Kollektiv
den Rahmen und Inhalt des Projekts. Jedes Jahr wird unter einem gemeinsam fest-
gelegten Motto ein bestimmtes Thema besonders intensiv behandelt. Während
der KRM als zentrale Leitstelle Infomaterialien wie beispielsweise Plakate oder
Broschüren zur Verfügung stellt, findet das Projekt selbst in den Moscheen vor

2Der Koordinierungsrat der Muslime besteht aus folgenden muslimischen Verbänden: Türkisch-

Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutsch-
land (IRD), Union der Islamisch-Albanischer Zentren in Deutschland (UIAZD), der Verband der
Islamischen Kulturzentren (VIKZ), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und der
Zentralrat der Marokkaner in Deutschland (ZRMD).
3Vgl. Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-

und-zwecke/, (06.06.2020), S. 5.


4Vgl. Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-

und-zwecke/, (06.06.2020), S. 7.


5Vgl. Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-

und-zwecke/, (06.06.2020).
296 T. Badawia und S. Cakan

Ort statt. Die Themen richten sich oft nach aktuellen Diskursen und Ereignissen
in Politik und Gesellschaft oder sind Themen, die die Gesamtgesellschaft betreffen
und beschäftigen. Im Jahre 2016 wurde beispielsweise im Zuge der Flüchtlings-
welle aus Syrien die Auswanderung des Propheten unter der Überschrift „Hidschra
– Migration als Herausforderung und Chance“ behandelt. In der Umsetzung wurde
neben der Thematisierung der Hidschra als historisches Ereignis aber gleichzeitig
ein Gegenwartsbezug hergestellt, bei dem Chancen und Risiken der zu dem Zeit-
punkt umstrittenen Aufnahme von Flüchtlingen ausdiskutiert wurden. Darüber
hinaus bezeichnete der KRM die Migration als gemeinsames Schicksal vieler
Propheten6 und leitete daraus eine Aufgabe für die muslimische Community ab.
Moscheen seien bereits als Ansprechpartner an der Lösung von Problemen und
Aufgaben beteiligt.7 An diesem Beispiel ist der gesamtgesellschaftliche Bezug des
TOM deutlich erkennbar. Denn während auf der einen Seite durch die Abhandlung
eines bestimmten Themas historische und aktuelle gesellschaftliche Bezugspunkte
hergestellt werden und sich Beteiligte mit der Problematik sachlich auseinander-
setzen, erfolgt auf der anderen Seite eine Erörterung mit Blick auf Chancen
und Risiken der Gegenwart wie am Beispiel des demographischen Wandels in
Deutschland. Zugleich wird die Bereitschaft muslimischer Gemeinden und Ver-
bände bekräftigt, bei der Lösung der Problematik Verantwortung übernehmen
zu wollen, da Moscheegemeinden eine Anlaufstelle für viele Flüchtlinge sind.
In diesem Zusammenhang verstehen sich die Moscheen als „Brückenbauer“8.
Außerdem werden Vorschläge wie die Organisation von Sprachkursen für die
erfolgreiche Integration geflüchteter Menschen gemacht. Zudem wird auf Risiken
und Gefahren wie Stigmatisierungen oder Übergriffe auf Flüchtlingsheime hin-
gewiesen.
Demnach versuchen die muslimischen Verbände und Gemeinden mit dem
TOM alltags- und gesellschaftsrelevante Themen zu behandeln. Sie nehmen
Stellung und machen auf positive und negative Aspekte aufmerksam, um letztlich
Lösungsansätze zur Behebung des Problems vorzuschlagen. Vorschläge, bei denen
die Moscheen als Akteure Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen sollen.

1.2 Der TOM und das Selbstbewusstsein der Muslime


in Deutschland

Nach der Darstellung der organisatorischen Rahmenbedingungen für die TOM-


Initiative, die aus der Notwendigkeit zum Dialog und zum Kennenlernen anderer

6Vgl. Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-


und-zwecke/, (06.06.2020), S. 10.
7Vgl. Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-

und-zwecke/, (06.06.2020), S. 15.


8Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-und-

zwecke/, (06.06.2020), S. 18.


Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 297

Standpunkte als ein religiös hoch angesehenes Gebot des Islam entsprang, soll
im folgenden Abschnitt in groben Zügen an die spezifische Migrationsgeschichte
der Muslime in Deutschland und folglich an den Entstehungszusammenhang der
muslimischen Organisationen bzw. Vereine in Deutschland mit dem Ziel erinnert
werden, klarzustellen, dass der empirisch beobachtbare Zustand der „Geschlossen-
heit muslimischer Lebenswelten“ bzw. „muslimischen Gemeindelebens“ – bis
hin zum populistischen Vorwurf der Parallelgesellschaft – eher dem migrations-
geschichtlichen Hintergrund geschuldet ist und keineswegs ein Gebot der
islamischen Theologie darstellt.
Zu aktuellen Lage der Muslime kann man inzwischen von folgender Sach-
lage ausgehen: Die „Muslime sind dabei, den lange vorherrschenden psycho-
logischen und tatsächlichen »Gastarbeiterstatus« abzulegen und eine religiöse
Infrastruktur zu errichten, die der dauerhaften Präsenz im Lande Rechnung trägt“9.
Die (kulturell und konfessionell vielfältige) muslimische Community macht nach
dieser Einschätzung zwei parallel laufende Wandlungsprozesse durch: 1) Ein
Bewusstseinswandel innerhalb des muslimischen Selbstverständnisses in Deutsch-
land, und zwar vom funktionalistischen Selbstverständnis als Gastarbeiter zum
notwendigen Umdenken in interkulturellen Strukturen als Bürger dieser Gesell-
schaft mit entsprechender interkultureller Geisteshaltung; 2) Ein Wandlungs-
prozess innerhalb der Organisationen, und zwar von den »Hinterhofmoscheen«
der Nachkriegszeit im Rahmen der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zum
Moscheebau als Demonstration von Präsenz und als Ausdruck einer öffentlichen
Repräsentation des neuen Selbstbewusstseins der muslimischen Immigration
in Europa: „Wir bauen, weil wir bleiben wollen“10. Die aktive Beteiligung am
gesellschaftlichen Leben gehörte – wie Schiffauer11 durch seine ethnologischen
Fallstudien klarstellt – nicht zum Selbstverständnis der im Kontext der Arbeiter-
migration gegründeten Gemeinden. Es ging, und es geht gegenwärtig immer
noch in fast 80 % der Gemeinden (schätzungsweise wegen fehlender empirischer
Studien) vielmehr um die Bewältigung der (Folge-)Probleme der Einwanderung
in praktischer Auseinandersetzung mit Fragen der alltäglichen Religiosität als um
Fragen der kulturellen Integration in die deutsche Gesellschaft.12

9Rohe, Mathias: Zur rechtlichen Integration von Muslimen in Deutschland. In: Bendel, Petra/

Hildebrand, Matthias (Hrsg.): Integration von Muslimen. Schriftenreihe des Zentralinstituts für
Regionalforschung. München (2006), S. 89.
10Beinhauer-Köhler, Bärbel/Leggewie, Claus: Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und

gesellschaftliche Herausforderung. Stuttgart: Beck’sche Reihe (2009), S. 118.


11Vgl. Schiffauer, Werner: Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesell-

schaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript (2008).
12Vgl. Chbib, Raida: Organisation des Islams in Deutschland: Diversität, Dynamiken und

Sozialformen im Religionsfeld der Muslime. Baden-Baden: Ergon (2017); Schiffauer, Werner:


Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge
Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript (2008), S. 49 f.; Klinke, Sebastian: Interkulturelle
Arbeit in Migrantenselbstorganisationen. Eine empirische Studie mit drei Jugendgruppen aus
Migrantenvereinen in Frankfurt am M., (2005), Online-Dokument unter: https://www.idaev.de/
publikationen/texte/interkulturelle-oeffnung/ (25.05.2020), S. 55 f.; Jagusch, Birgit: Praxis der
Anerkennung. „Das ist unser Geschenk an die Gesellschaft“ – Vereine von Jugendlichen mit
Migrationshintergrund zwischen Anerkennung und Exklusion. Schwallbach/Ts.: Wochenschau
Wissenschaft (2011), Abschn. 7.2.
298 T. Badawia und S. Cakan

Wie allgemein bekannt, verlief die erste Entstehungsphase der Hinterhof-


moscheen in Deutschland mehr oder weniger unauffällig und geräuschlos. Im
Laufe der Arbeitsmigration begannen die türkischen Muslime das Vakuum in der
sozialen und religiösen Dimension ihres Lebens selbständig zu füllen. Moscheen
waren Institutionen, die dabei halfen, sich in einer problematischen Umwelt zu
behaupten und in einem schwierigen Kontext die eigenen Normen, Werte und
Orientierungen an die Kinder weiterzugeben. Die Frage der kulturellen Integration
in die Mehrheitsgesellschaft  (und die damit zusammenhängenden Aspekte
von Abgrenzung und Selbstbehauptung) war nicht das Kernproblem, das die
islamischen Gemeinden in ihrer Stadtteilarbeit angehen, sondern die Bewältigung
des Alltags.13 Fazit: Migrantenorganisationen, die ursprünglich rein herkunftsland-
orientierte Politik betrieben haben, sind gegenwärtig aufgefordert, die Wahrung der
Interessen der Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu fördern, und dies
geschieht bekanntlich unter extrem hohen Erwartungsdruck der Öffentlichkeit.
Es ist sinnvoll und hilfreich, die Entstehungsgeschichte und genuinen Aufgaben
dieser ursprünglich völlig apolitischen Vereine bei der Gestaltung interkultureller
Prozesse mit bzw. in muslimischen Organisationen zu vergegenwärtigen. Denn
der „Tag der offenen Moschee“ (TOM) stellt einen Wandelprozess im Selbstver-
ständnis und Bewusstsein der Muslime in Deutschland dar. An diesem Tag bieten
mehr als tausend Moscheen Führungen, Vorträge, Ausstellungen, Informations-
materialien und Begegnungsmöglichkeiten an. Dass dieser Wandel innerhalb der
muslimischen Organisationen nicht in einem sozialen widerstandslosen Raum statt-
finden, ist ebenfalls eine ernst zu nehmende Dimension dieses Phänomens. Inter-
religiöse Öffnung der muslimischen Organisationen als Projekt und Prozess steht
im Schatten von Streitthemen der kulturellen Hegemonie, Moscheebaukonflikte
und Sicherheitspolitik. Positiv betrachtet, sind solche Diskurse eine gesunde
Begleiterscheinung, welche notwendigerweise im Rahmen von Öffnungsprozessen
muslimischer Organisationen mitgestaltet werden sollen. Dadurch kann verhindert
werden, dass solche gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse nicht in puren
Aktionismus, „Abstrakte Solidarität“14 oder Pseudo-Dialoge ausarten, in denen die
Muslime und deren Vereine nicht als Zweck betrachtet oder auf die Funktion der
Integration bzw. zur Klärung von sicherheitspolitischen Fragen reduziert werden.15

13Vgl. Jessen, Frank: Türkische religiöse und politische Organisationen in Deutschland III.
Herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Zukunftsforum Politik, Nr. 72, Köln (2006),
S. 13 ff.; Schiffauer, Werner: Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere
Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript (2008), S. 50.
14Bundschuh, Stephan: Abstrakte Solidarität – Konkrete Konkurrenz. Das Verhältnis der klassischen

deutschen Jugendverbände zu Jugendorganisationen von MigrantInnen. In: Badawia, Tarek/


Hamburger, Franz/Hummrich, Merle (Hrsg.): Wider die Ethnisierung einer Generation. Beiträge zur
qualitativen Migrationsforschung. Frankfurt am Main: Iko-Verlag (2003), S. 326–336.
15Badawia, Tarek: Pseudo-dialogische Diskriminierung. In: Mercheril, Paul/Melter, Claus

(Hrsg.): Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach i. Ts.: Wochen-


schau-Verlag (2009), S. 230.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 299

Im Hinblick auf die These der Bewusstseinsänderung in diesem Beitrag gehört


zum Prozess der interreligiösen Öffnung, den Muslimen das Gefühl zu vermitteln,
dass ihre Religion geachtet wird. Es gehört zu den Erfolgsvoraussetzungen solcher
interkulturellen Öffnungen, dass dabei den Migranten bzw. Muslimen als Partner
der interkulturellen Öffnungsprozesse Zweifel hinsichtlich des im Sinne des GG
garantierten Rechts auf Religionsfreiheit und folglich des Rechtes auf weltan-
schauliche und religions-kulturelle Unterschiedlichkeit genommen wird. Folglich
sind die Unterschiede „der Muslime“ genauso respektwürdig wie alle anderen.
Denn Konfliktthemen bergen prinzipiell in sich große Chancen für die Weiter-
entwicklung eines neuen Bewusstseins der Muslime in Deutschland. Die Kehr-
seite solcher Konflikte wäre das, wovor Hartmut Griese16 gewarnt hat, nämlich die
„Ethnisierung des Sozialen“. D. h.: „Die Beschreibung menschlichen Zusammen-
lebens in Kategorien wie Kultur, Religion, Volk, Ethnie schafft bzw. konstruiert
eine neue Wirklichkeit und produziert damit eine neue Problemsicht von
Konflikten und Spannungen – regional, gesellschaftlich und global. Kritisch zu
fragen ist dabei, welche Interessen und welche Folgen die Ethnisierung sozialer,
d. h. auch ökonomischer und politischer Konflikte begleiten“17; „Einmal geschieht
es in ausgrenzender Absicht […] das andere Mal in vereinnahmender Absicht […]
Beide Varianten haben eine Kehrseite, die Renaissance nationalen Denkens und
Wahrnehmens und die Erzeugung von ab- und ausgrenzenden „Wir-Gefühlen“ auf
Seiten der Mehrheit“18.

2 „Liebe Kinder! Heute besuchen wir die Moschee!“

2.1 Die Moschee als Erlebnisort

Auf dem flauschigen Teppich Karten sortieren, unterschiedliche Perlenketten


basteln oder mal den Mihrab hochklettern. Die Moschee als Erlebnisort? Das
geht. Immer öfters beteiligen sich Moscheegemeinden an Projekten und Ver-
anstaltungen und verschaffen einer großen Zielgruppe den Zugang in die Welt

16Vgl. Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./
Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main: Ika-
Verlag (2002), S. 99–117.
17Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./

Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main: Ika-
Verlag (2002), S. 106.
18Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./

Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main: Ika-
Verlag (2002), S. 118.
300 T. Badawia und S. Cakan

der Muslime. Eines dieser Projekte ist der „Tag der offenen Moschee“.19 Ins-
besondere für Schulklassen ist die Moschee als außerschulischer Lernort
besonders gut geeignet, da ein Moscheebesuch die theoretische Abhandlung des
Themas in der Schule ergänzt. Der Moscheebesuch eröffnet Erfahrungsräume,
die Schüler*innen20 im Prozess der Meinungsbildung unterstützen und zu einer
möglichst sachlichen und reflektierten Meinung verhelfen sollen. Das ist ein
Prozess, in dem sie anhand von Informationen das Themenfeld in Begleitung einer
Lehrkraft erkunden, die Moschee als Gemeinde und die Muslime als Ansprech-
partner erleben und sie befragen können, um im Idealfall eine fundierte Meinung
zu erlangen. Demzufolge sollen SuS nach einer theoretischen Einführung mit
dem Moscheebesuch einen Erfahrungsraum begehen, der ihnen Eindrücke und
Emotionen aus der Lebenswelt der Muslime vermitteln soll. Dieser Erfahrungs-
prozess soll am Ende den Teilnehmenden Antworten auf ihre Fragen geben und
Unklarheiten beheben. Doch vieles hängt von der Planung und Umsetzung in der
Moschee sowie der Vor- und Nachbereitung in der Schule ab. All dies erfordert
pädagogisches Verständnis und Flexibilität, damit Konzept und Inhalte auf die
Zielgruppe zugeschnitten werden können. Ob beim TOM ein durchdachtes
pädagogisches Konzept dahintersteckt oder nicht? Fakt ist, dass die Möglichkeit
für eine nachhaltige, reflektierte Meinungsbildung gegeben ist.
In der Regel beginnt ein Moscheebesuch nach einer kurzen Begrüßung und
Einführung mit der Vorstellung der unterschiedlichen Stationen in der Moschee.
Hierzu gehören beispielsweise die Gebetsnische und die Kanzel, aber auch
Gegenstände wie die Gebetskette oder die Kopfbedeckung, die Musliminnen
und Muslime beim Gebet nutzen. Schüler*innen (im Folgenden SuS) haben die
Gelegenheit, selbst eine Kopfbedeckung zu tragen oder eine eigene Gebetskette
zu basteln, mit der sie anschließend die Gebete sprechen können. Sie erhalten eine
Vorstellung von der Dauer, Anzahl und Intensität der individuell gesprochenen
Gebete. Die Bittgebete können aber auch gemeinsam gesprochen werden. Hier-
bei geht es hauptsächlich darum, das Gefühl der Spiritualität beim gemeinschaft-
lichen Beten zu erfahren. Die melodische Lesung der Gebete erinnert an einen
Chorgesang. Der melodische Einklang wird mit einer Koranrezitation fortgeführt.
Hierbei verschaffen sich die SuS einen Eindruck von der Phonetik der Heiligen
Schrift und der Kunst des Koranrezitierens. Anschließend wird die Übersetzung
des rezitierten Kapitels vorgelesen. Häufig werden Koranverse über Moses und
Jesus vorgetragen und ein gemeinsamer Bezugspunkt hergestellt, da den SuS
meistens einer von beiden bekannt ist. So können die Standpunkte der unter-
schiedlichen Religionen zum selben Thema ausgetauscht und reflektiert werden.
Mit dieser Phase erfolgt auch der Übergang in die Frage- und Diskussionsrunde,
womit der erste Teil der Moscheeführung abschließt. Dabei kommt es zum

19Für die Einfachheit der Sprache wird die Bezeichnung „Tag der offenen Moschee“ mit TOM
abgekürzt.
20Für die Einfachheit der Sprache wird die Bezeichnung Schüler*innen mit SuS abgekürzt.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 301

intensiven Austausch. Erfahrungsgemäß gibt es in Diskussionsrunden mit christ-


lichen oder jüdischen Schülergruppen mehr inhaltliche Übereinstimmungen, da
bereits der Glaube an einen Gott eine gemeinsame Gesprächsgrundlage bietet.
Oft werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten vorgetragen, während bei
anderen Besuchergruppen Werte wie Toleranz, Freiheit oder Nächstenliebe viel-
mehr im Vordergrund stehen. Mit dieser schrittweisen Herangehensweise werden
SuS zunächst mit Begrifflichkeiten vertraut gemacht. Durch die haptische Wahr-
nehmung am Beispiel der Gebetskette und der gemeinsamen Gebete wird ein Ein-
blick in die materielle und spirituelle Dimension gewährt. Schließlich wird mit
dem Vortrag von Koranauszügen und deren Bedeutung der Koran vorgestellt. Das
kann aus interreligiöser und interkultureller Sicht einen besonderen Nutzen haben,
wenn beispielsweise SuS jüdischen oder christlichen Glaubens einen Vergleich
zur eigenen heiligen Schrift vornehmen und Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten
erkennen können. Für nichtreligiöse Teilnehmende könnte es möglicherweise die
erste Begegnung mit einer religiösen Schrift sein. Da es sich demnach um einen
neuen Erfahrungswert handelt, ergibt sich auch für diese Besuchergruppe ein
Mehrwert aus religionspädagogischer Sicht. Somit werden SuS Schritt für Schritt
in die Thematik eingeführt und entwickeln zu Beginn eines Moscheebesuchs eine
Idee von der Moschee als Gotteshaus, dem Gebet als religiöse Handlung und dem
Koran als Heilige Schrift des Islam.
Im nächsten Schritt einer Moscheeführung erfolgt ein Rundgang in den Räum-
lichkeiten der Gemeinde, die oft in Themenbereiche aufgeteilt werden. Hier
finden die Besucher Lesetafeln oder Videos zu einem bestimmten Thema, die sie
selbständig einstudieren können. Dabei geht es um alltagsrelevante islamische
Themen wie der Glaube an Gott, das tägliche Gebet oder Halal-Ernährung. Der
eine oder andere wird sicherlich Parallelen zur eigenen Lebenswelt entdecken.
An dieser Stelle bietet sich den SuS die einmalige Chance, bekannte Dinge aus
dem eigenen Alltag in einer anderen Perspektive wahrzunehmen oder eine mög-
liche Problemstellung zwischen Religion, Alltag und Gesellschaft zu ermitteln.
Schließlich findet ein Perspektivenwechsel statt, es erfolgt ein kritisches Hinter-
fragen, bei dem die Rolle von Religion in Alltag und Gesellschaft erörtert wird.
Diese mentale konstruktive Auseinandersetzung mit der Thematik kann weiter-
hin unterstützt werden, indem Theorie und Praxis vor Ort miteinander kombiniert
werden. Das erfolgt, wenn beispielsweise nach einem Vortrag zum Thema Gebet
idealerweise die Gebetszeit einläutet und die Besuchergruppe die Gemeinde
beim gemeinschaftlichen Beten beobachtet. Das Gebet als Beobachtung unter-
stützt das Verfestigen des gelernten theoretischen Wissens. Im besten Fall stellen
die SuS auf Grundlage ihrer Beobachtungen Zusammenhänge zum Alltag her,
versuchen Themen wie das Gebet oder gottesdienstliche Verpflichtungen im All-
tag in die reale Lebenswelt zu übertragen, um schließlich mögliche Probleme im
Spannungsfeld von Religion und Gesellschaft zu erkennen. Diese Phase einer
Moscheeführung erfolgt größtenteils in Eigenverantwortung der Besucher. Im
letzten Teil eines Moscheebesuchs gibt es zumeist eine Podiumsdiskussion, oft mit
Gästen aus anderen Glaubensgemeinschaften, oder eine klassische Diskussions-
runde. Hier werden meistens Themen aus Vorträgen aufgegriffen, aber auch
302 T. Badawia und S. Cakan

gesellschaftsrelevante Themen und Fragen diskutiert. Nicht selten sind es aber


sehr kontroverse und anspruchsvolle Diskussionen zu Themen wie das Kopftuch
und die Rolle der muslimischen Frau im öffentlichen Leben. Solche komplexen
Themen könnten eine Schülergruppe überfordern. Mit einer Vorbereitung in der
Schule sind SuS aber in der Lage, auch komplexe Themen anzugehen, denn sie
gehören zum Alltag. Daher sollten derartige Themen den SuS nicht vorenthalten
werden. Diskussionsrunden bieten den Besuchern einen offenen Raum für Fragen
und Wortmeldung und können daher einen wichtigen Beitrag für das gegen-
seitige Kennenlernen leisten. Bei einer Schülergruppe bietet sich die Fokussierung
auf die Inhalte des Besuchs an. Eine spontane Diskussionsrunde im Rollenspiel
ermöglicht die Einnahme unterschiedlicher Rollen und verstärkt den Effekt des
Perspektivenwechsels. Eine solche Vorgehensweise deckt sich gleichzeitig mit
dem ursprünglichen Ziel des Moscheebesuchs, da sich die SuS in unterschied-
liche Positionen versetzen und sich somit mit verschiedenen Standpunkten zu
gewissen Themen auseinandersetzen. Die Lehrkraft wiederum kann anhand ihrer
Beobachtungen eine erste Bestandsaufnahme zum Stand des Lernprozesses in der
Moschee machen.
Schließlich kann der Besuch einer Moschee einen konstruktiven und
fördernden Beitrag im Prozess der Meinungsbildung leisten. Die Beobachtungen
und Erfahrungen in der Moscheegemeinde, die Gespräche mit Muslimen oder
aber auch die Verarbeitung all dieser Eindrücke direkt vor Ort unterstützt viele
Besucher bei der Bildung einer differenzierten Meinung zum Islam und Muslimen.
Jedoch kann sich ein solcher anspruchsvoller Lernprozess nur unter bestimmten
pädagogischen Bedingungen und Anforderungen entwickeln. Solange Ver-
anstaltungen dieser Art keinen pädagogischen Mehrwert erbringen, verfehlen sie
zumindest für Schülergruppen ihr Ziel. Deshalb sollte die Tauglichkeit altein-
gesessener Konzepte und Formate im pädagogischen Zusammenhang unbedingt
überprüft werden.

2.2 Möglichkeiten und Grenzen des TOM

Bei näherer Betrachtung offenbaren sich an manchen Punkten einige Schwach-


stellen. Allen voran fehlt den Moscheegemeinden oft das Fachpersonal. Die
Moscheeführungen werden häufig von ehrenamtlichen Mitarbeitern gemacht. Sie
sind zwar grundsätzlich gut vorbereitet, haben aber nicht immer eine Antwort
auf theologische Fragen. Trotzdem muss das aber keineswegs bedeuten, dass die
Qualität ihrer Arbeit nicht gut ist. Ganz im Gegenteil, sie sind erfahrungsgemäß
sehr motiviert und bereiten sich anhand von Fragenkatalogen intensiv vor. Sie
sind aber keine Theologen und das führt dazu, dass manch eine Frage nicht
angemessen beantwortet werden kann. Dieses Defizit ist oft dadurch bedingt, dass
Imame nicht immer über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Somit fällen
in vielen Gemeinden eine wichtige Bezugsperson und Informationsquelle aus.
Eine Alternative hierfür wären Infomaterialien für Besucher. Trotz großer Fort-
schritte der letzten Jahre in diesem Bereich fehlt es in den Gemeinden oftmals an
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 303

angemessenem Infomaterial und Publikationen für Außenstehende. Insbesondere


für nichtmuslimische Besucher sind Erklärungen und Informationsquellen in
schriftlicher Form wichtig, da sie auf diese immer wieder zurückgreifen können.
Allerdings beschränken sich Defizite nicht nur auf Seiten der
Moscheegemeinden. Bei Schülergruppen gibt es ebenso einige Auffälligkeiten.
Des Öfteren wird beobachtet, dass SuS auf den Moscheebesuch nicht gut genug
vorbereitet sind. Diese Schlussfolgerung kann anhand mancher Fragestellungen
abgeleitet werden. Eine angemessene Vorbereitung ist aber für den Erfolg des
Moscheebesuchs von großer Bedeutung. Dies kann beispielsweise durch das
Erstellen eines Fragenkatalogs erfolgen. Was macht aber einen Moscheebesuch
erfolgreich und wie kann der Erfolg gemessen werden? Reicht der Dank und
die Zufriedenheit der Lehrkraft, um von einer erfolgreichen Moscheeführung
sprechen zu können? In Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der Moschee
sollten Erwartungen und Anforderungen an der Veranstaltung klar und trans-
parent definiert und anschließend Lernziele formuliert werden. Je nachdem wie
viele dieser Lernziele letztlich erreicht werden, ist der Erfolg einer Veranstaltung
entsprechend einzustufen. In diesem Zusammenhang ist eine offene und trans-
parente Darlegung der Ziele des Besuchs für SuS empfehlenswert, damit sie nach-
vollziehen können, in welchem Rahmen die Veranstaltung stattfindet. Außerdem
ist der Erfolg oder Misserfolg einer Veranstaltung für die Veranstalter genauso
wichtig. Um sich eine Meinung über die Qualität ihrer Arbeit zu verschaffen,
sollten Moscheen ihre Veranstaltungen evaluieren. Nur eine sachliche und trans-
parente Evaluation kann wichtige Rückschlüsse auf positive und negative Seiten
geben. Fragen zum Format, Inhalt und der Umsetzung sollten daher unbedingt
darin enthalten sein, denn Moscheegemeinden sollten ihr Angebot auch an die
Erwartungen ihrer Zielgruppen ausrichten. Die Inhalte einer Moscheeführung
für eine Schülergruppe sollten zwischen Moscheegemeinde und der Lehrkraft
abgesprochen werden. Da aber der zeitliche Rahmen ziemlich begrenzt ist, ist
hier eine Reduktion und pädagogische Aufbereitung der Inhalte sinnvoll. So
erfolgt gleichzeitig eine thematische Eingrenzung. Das hat ebenso einen religions-
pädagogischen Sinn, da sich SuS in den ausgewählten Themenbereichen vertiefen
können. Die Thematisierung kann zum kritischen Hinterfragen und neuen Fragen-
stellungen führen, was wiederum eine lebendige kognitive Auseinandersetzung
beweisen würde. Allerdings kann je nach Lerngruppe das Vermeiden komplexer
Themen ebenso von Vorteil sein, da sie im schlimmsten Fall zu Verwirrungen
führen und sich gegebenenfalls kontraproduktiv auswirken könnten.
Im Allgemeinen ist eine Anpassung und Differenzierung für Schülergruppen
bei Moscheebesuchen unumgänglich, weil Format und Inhalte am „Tag der
offenen Moschee“ sehr oft viel zu stark auf Erwachsene ausgerichtet sind. Eine
Anpassung der Inhalte und des Niveaus könnte eventuell durch die Integration von
SuS in die Durchführung der Veranstaltung sichergestellt werden. Hierbei könnten
beispielsweise muslimische SuS in die Moscheeführung eingebunden werden,
indem sie Kurzvorträge halten. Jenseits der Veranstaltung wäre ein solcher Beitrag
besonders wertvoll, weil er SuS als eine Art Erfahrungsbericht Einblicke in die
Lebenswelt eines Mitschülers gewähren. Mit Blick auf all diese Aspekte ist daher
304 T. Badawia und S. Cakan

die Einbindung von pädagogischem Fachpersonal in Planung und Umsetzung


empfehlenswert, so wie es beispielsweise in Museen üblich ist. Letztlich soll die
Moschee SuS beim Eintreten in ein neues Themenfeld anleiten, Erfahrungs- und
Begegnungsräume schaffen. Zudem dient die Moschee als außerschulischer Lern-
ort als Ersatz für Schule und Unterricht. Daher müssen die Bedingungen für einen
Lernprozess gegeben sein.
Inwiefern nach dem Moscheebesuch eine Nachbereitung in der Schule erfolgt,
ist unbekannt. Allerdings ist es bei der Intensität und dem Umfang an Wissensver-
mittlung sinnvoll, wenn der Besuch im Unterricht noch einmal aufgegriffen wird
und die Kernpunkte zusammengetragen werden. Eine erneute Thematisierung
könnte genauso in Bezug auf andere Unterrichtsfächer weiterführend sein, da die
Möglichkeit für interdisziplinären Unterricht gegeben ist. Hierzu einige Ideen zu
Unterrichtsfächern und Themen21:

Fach Thema
Geschichte Ursprung des Islam, Geschichte der Muslime in Deutschland und Europa usw.
Philosophie Frage nach dem epistemischen oder normativen Anspruch religiöser Über-
lieferungen und Menschenbilder, z. B. in Bezug auf die Schöpfungsgeschichte,
das Menschenbild vom „Menschen als Krone der Schöpfung“ oder auf die
existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens usw.
Politik Aktuelle politische Diskurse wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ oder
Deutsche Islamkonferenz (DIK) usw.
Kunst Architektur im Islam, Verzierungen und Ornamente in der Moschee, Kalli-
graphie usw.
Musik Adhan – der Gebetsruf, Instrumente aus der islamischen Welt usw.
Ethik Freundschaft, Respekt, Anders sein usw.
Religion Interreligiöser Dialog, Gottesbild der Religionen, Prophetengeschichten usw.

Folglich kann der Moscheebesuch in bestimmten Zusammenhängen auch für


andere Unterrichtsfächern interessant sein.
Im Großen und Ganzen können der Besuch und die Besichtigung einer
Moschee einen konstruktiven Beitrag im Prozess der Meinungsbildung zum Islam
leisten. Die Moschee schafft Erfahrungen und Begegnungen, weckt Eindrücke und
Emotionen, die in diesem Prozess elementar sind. Zudem kann durch Interviews
oder einfachen Gesprächen mit Gemeindemitgliedern ein Raum für interreligiöses
Lernen und Austausch eröffnet und infolgedessen der Lerneffekt verstärkt werden.
SuS nehmen in solchen Phasen des Austauschs das „Anders sein“ des Gegenübers
intensiv wahr. Beim Übertragen in den gesamtgesellschaftlichen Kontext erleben
sie in der Moschee eine Erscheinungsform der Pluralität der hiesigen Gesellschaft.

21Eshandelt sich bei den Themen nur um Vorschläge, die thematisch mit einem Moscheebesuch
verknüpft werden könnten.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 305

Demnach ist abschließend zu resümieren, dass Moscheeführungen am TOM und


darüber hinaus ein großes pädagogisches Potenzial haben. Wichtig ist, dieses
Potenzial in Form eines gut durchdachten und in sich schlüssigen Konzepts auszu-
schöpfen. Die Moschee als Erlebnisort? Ja, das geht tatsächlich!

3 Begegnung und Bildung – eine theologische


Reflexion

Im Vergleich zu einem Austausch-, Streitgespräch oder zu einer Diskussion weist


die Begegnung einige wichtige Merkmals aus, die sie zu einem besonders gut
geeigneten Medium der Verständigung eignet. Ihre wichtige ethische Voraussetzung
ist – so der Lebensphilosoph und Bildungstheoretiker Otto Friedrich Bollnow22 –
die wechselseitige Angewiesenheit der beiden Partner aufeinander. Aus dieser Ange-
wiesenheit ergibt sich eine Haltung der Gleichwertigkeit. Auf dieser Grundlage der
gegenseitigen Anerkennung und der Begegnung auf Augenhöhe ist nach Bollnow
eine Entfaltung menschlicher Kräfte möglich. In einem derart arrangierten Moment
der Begegnung ist Bildung möglich. Wir nehmen an dieser Stelle Bezug auf das
Eingangszitat des Gemeindeleiters (Imam) und wollen seine Begrüßung als eine
Einladung dazu, die o. g. Voraussetzungen zu einer bewussten Begegnung in sich zu
erfüllen. Ist die Aussage des Imams eine integrationspolitische oder doch eine theo-
logisch verankerte Position?
Zu den Grundinformationen der islamischen Offenbarungsgeschichte gehört
die Tatsache, dass die muslimische Urgemeinde sich schrittweise der Öffentlich-
keit öffnete. Der Öffnungsprozess zu Beginn der Islamgeschichte gestaltete
sich über ca. 15 Jahre (von insgesamt 23 Offenbarungsjahren) dialogisch und
ausschließlich durch den Aufbau von sozialen und diskursiven Netzwerken. Der
durch die sukzessive Offenbarung begleitete Weg vom internen Aufbau einer
islamisch gebildeten Gemeinde bis zum öffentlichen Aufruf „[…] Ihr sollt zu
allen Leuten auf gütige Weise sprechen“23 war ein Weg der Bewusstwerdung des
Offenbarungs-Ethos. Begleitet durch die Offenbarung lernte die Urgemeinde
der Muslime unter anderem, dass die Öffnung der Gemeinde ein unstetiger und
progressiver Prozess ist, der mit gewissen Schwierigkeiten und Herausforderungen
verbunden ist. In der Offenbarung heißt das: „Ihr werdet Zustände durchmachen,
der eine schwerer als der andere“24. Der Wert, der hier vermittelt werden soll,
ist die Unstetigkeit (Um)Orientierungsprozessen. Übertragen auf den gegen-
wärtigen Sachverhalt der interkulturellen Öffnung besagt dies, dass der Offen-
barungsprozess genauso wie der Öffnungsprozess nicht nur struktureller bzw.
institutioneller Natur ist, sondern nur mit, in und für Menschen gestaltet werden

22Vgl. Bollnow, F. Otto: Begegnung und Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1. Jg. Heft 1,

(1955), 10–32.
23Koran 2:83.

24Koran 84:19.
306 T. Badawia und S. Cakan

können. Das sind die Menschen, die sich in der Verinnerlichung und Verarbeitung
von Ideen und Prinzipien verändern und unter Bedingungen der Anerkennung und
gegenseitiger Wertschätzung auch öffnen.
Die in dem o.g. Vers25 angesprochene Schwere (innerhalb des Wandel-
prozesses) deutet auf die zu entwickelnde Geisteshaltung hin. Die Urgemeinde der
Muslime musste lernen: „Allah verändert nichts an einem Volk, solange sie nicht
(ihrerseits) verändern, was sie an sich haben“26. Mit diesem Vers zieht die Offen-
barung den Einzelnen, das Subjekt in die volle Verantwortung ein. Die Offen-
barung fordert den Einzelnen auf, sich zu verändern und somit die Legitimation
für die Entwicklung einer neuen Geisteshaltung zu schaffen. Unter dem Motto
„Frieden schaffen durch aktive Präsenz in der Gesellschaft“ gibt der Prophet auf
folgende Frage der Urgemeinde: »O Gesandter Allahs! Wer lebt den Islam am
besten?« die Antwort: »Derjenige, vor dessen Zunge und Hand die Menschen
sicher sind«27. Die Antwort lässt sich wie folgt frei übersetzen: Als Muslim gilt
derjenige, der Frieden unter den Menschen durch Wort und Tat stiftet. Es war von
Beginn der Offenbarung wie selbstverständlich klar, dass die neue muslimische
Gemeinde nur in einer historischen Relation zu anderen Weltanschauungen und
Religionen steht. Die Offenbarung lehrte der Urgemeinde unmissverständlich die
folgenden Grundsätze:

„Wenn [der] Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde zusammen gläubig werden.
Willst du etwa die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?“28

„Und wenn [der] Herr wollte, hätte Er die Menschen wahrlich zu einer einzigen Gemein-
schaft gemacht. Aber sie bleiben doch unterschiedlich“29

Beiden allgemeinen Grundsätzen ist in aller Klarheit zu entnehmen, dass die


Vielfalt in der Art und Weise, wie die Menschen denken und handeln im Grunde
das allgemein gültige Prinzip und somit der Normalfall ist. „Die Menschen des
islamischen Kulturraums der klassischen Zeit wiesen eine hohe Ambiguitäts-
toleranz auf, die ihnen einen gelassenen Blick auf die Welt ermöglichte“30. Ins-
besondere im Hinblick auf die Ambiguität des Fremden generalisiert Bauer durch
die Analyse von zahlreichen historischen Dokumenten die These: „Dort, wo

25Koran 84:19.
26Koran 13:11.
27Buchari, Kap. 2, H. 4.

28Koran 10:99.

29Koran 11:118 f.

30Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag

der Welreligionen im Inselverlag (2011), 314.


Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 307

der Islam im Laufe der Zeit Fuß faßte, ging er eine enge Symbiose mit den vor-
handenen Kulturen ein“31.
Die Offenbarung spricht die Muslime auf eine denkbare starre Haltung an, die
unbedingt verhindert werden soll, damit die (inter)kulturelle Dynamik funktioniert.
Die Urgemeinde lebte sicherlich nicht in einem kulturellen Vakuum. Der kulturelle
Raum war durch Werte der Tapferkeit, Macht, Männlichkeit und kämpferische Über-
lebenskultur geprägt. Die neue Offenbarung trug dagegen den „Islam“ als Lebens-
form vor, die im Sinne von aslama (Befriedung) ein tiefergehendes Umdenken
im Selbstverständnis sowie im Alltag anstrebte. Sie suchte daher immer die
Gemeinsamkeiten mit den Anderen und bot kompatible Lösungsansätze an. Im
Hinblick auf die Entwicklung neuer moralischer Standards gegen Krieg und zum
Schutz des Menschen in Altarabien als Prozess des Umdenkens merkt der Orientalist
Khoury32 an: „Hier muss man nicht zaghaft und ängstlich sein, wenn man die
Moral im Islam betrachtet, denn diese Religion teilt alle wichtigen religiösen Werte
mit Judentum und Christentum: Betrachtet man den Koran und die Tradition, die
gemeinsam die gesetzliche Grundlage des Islam als Religion bilden, so sieht man,
wie diese Religion biblisch durchdrungen ist. […] [Der Islam] ist folglich voll-
kommen gegen jede Gewalt.“33. Was aus diesem historischen Hinweis exemplarisch
hervorgehoben werden soll, ist die folgende zentrale Idee: Die Muslime müssen
lernen, den Übergang von der Vorstellung, dass der Mensch ein Produkt der Kultur
sei, zum aktiven und dynamischen Prozess der Schaffung (neuer) Kultur (d. h.
Religion, Weltanschauung, Lebensform etc.) unter dem Leitmotiv der Befriedung
menschlichen Zusammenlebens zu gestalten.
Noch wichtiger erscheint in Bezug auf den dialogischen Charakter dieses
Gestaltungsprozesses der Hinweis auf die Grenze für die Einflussnahme auf
andere bzw. die absolute Unterbindung jeglicher repressiven Art und Weise zur
Durchsetzung religiöser Inhalte. Die grundsätzliche dialogische Haltung definiert
die Offenbarung wie folgt: „Lade zum Weg deines Herrn andächtig und mit
Weisheit ein; diskutiere mit ihnen auf beste Art und Weise“34. Die Grenze des
Dialogischen wird so markiert, dass die Inhalte in einer Atmosphäre der Frei-
heit mitgeteilt werden können, und „Wenn sie sich abkehren, so obliegt dir
[du Prophet, Ergänzung durch T.B.] nur die deutliche Übermittlung [der Bot-
schaft]“35. Denn „wenn dein Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde

31Bauer,Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag
der Welreligionen im Inselverlag (2011), 365.
32Vgl. Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/

Knoepffler, Nikolaus (Hrsg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog. Freiburg/München:


Alber Philosophie (2005), 91–122.
33Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/

Knoepffler, Nikolaus (Hrsg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog. Freiburg/München:


Alber Philosophie (2005), 102.
34Koran 16:125.
35Koran 16:82.
308 T. Badawia und S. Cakan

zusammen gläubig werden. Willst du [,O Mohammad, Ergänzung durch T.B.] etwa
die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?“36. Nach diesem und vielen ähn-
lichen Versen untersagt die Offenbarung Mohammad selbst, missionarisch, das
heißt, im Sinne einer Bekehrung der Andersgläubigen zum Islam, tätig zu sein.
Dies einfach, weil die Notwendigkeit und die Idee der Missionierung im Islam
fehlen. Das einzig Vorhandene in dieser Richtung besteht in der Darbietung und
Darlegung der Lehre.37
Die muslimische Urgemeinde lernte die Vielfalt der Wege zu respektieren
und nach dem Prinzip des „Wetteifers“ unter den Anhängern der verschiedenen
Kulturen und Religionen zu handeln. Die Offenbarung sprach sie im Klartext auf
darauf so an: „Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen
Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer ein-
zigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so,) damit Er euch in dem, was Er euch
gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Allah wird euer aller
Rückkehr sein […]“38. Was hier auf der Ebene der regulativen Ideen im Bewusst-
sein der muslimischen Urgemeinde verankert werden sollte, ist der Grundsatz der
Unumkehrbarkeit der Pluralität, von dem aus in der islamischen Kulturgeschichte
generell ausgegangen wurde. Die Pluralität – so Bauer 201139 – wurde in der
islamischen Kulturgeschichte immer als Geschenk betrachtet, und die Meinungs-
verschiedenheiten (ikhtilāfāt) sind nach der klassischen Theorie ein unabding-
barer Bestandteil des Rechts, das einerseits auf einer göttlichen Rechtsordnung
beruht und sich andererseits als menschengemachtes Gesetz entfaltet.40 Im Grunde
besteht keinerlei Begründung dafür, dass diese Meinungsverschiedenheiten nur auf
die islamische Kultur bzw. Rechtslehre (fiqh) eingeschränkt wird, wenn sie – im
Sinne Kants – als Gesetz für alle gelten könnte.
Die muslimische Urgemeinde lernte zwischen zweierlei zu unterscheiden:
die persönliche Gewissheit in Bezug auf den eigenen Standpunkt und zugleich
der notwendige Relativismus in Bezug auf die anderen weltanschaulichen und
ethischen Standpunkte, die – wie anfangs erwähnt – als Ausdruck des Willens
Gottes gelten. Diese Geisteshaltung kann auf den ersten Blick paradox wirken.
Es ist wahrscheinlich auch so. Allerdings legitimiert sie die mehrperspektivische
Achtung vor dem Eigenen und dem Anderen bzw. Fremden. Jede andere Geistes-
haltung wäre insofern ungerecht und kann sogar rassistisch sein, als sie eine
ideelle Grundlage für eine Überlegenheitskultur schaffen würde, die nur Intoleranz

36Koran 10:99.
37Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin:
Verlag der Welreligionen im Inselverlag (2011), 365; Falaturi, Abdoldjavad: Der Islam im
Dialog. Hamburg: Islamische Wissenschaftliche Akademie 5(1998), 91.
38Koran 5:48.

39Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin:
Verlag der Welreligionen im Inselverlag (2011).
40Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin:
Verlag der Welreligionen im Inselverlag (2011), S. 184.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 309

und hierarchisierende Werturteile zementiert. Dagegen übte sich die muslimische


Urgemeinde im Falle der Meinungsdifferenz und sogar im Extremfall der Feind-
schaft in Gerechtigkeit ein, als sie in der Offenbarung las: „Ihr Gläubigen! Steht
(wenn ihr Zeugnis ablegt) Allah gegenüber als Zeugen für die Gerechtigkeit ein!
Und die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht verleiten, anders denn als
gerecht zu handeln. Seid gerecht! Das entspricht eher dem Zustand des Gott-
bewusstseins. Seid gottesfürchtig! Gewiss, Allah ist kundig dessen, was ihr tut“41.
Was an dieser Stelle noch deutlicher hervorgehoben werden soll, ist die Gefahr der
Manipulation durch machtpolitische oder sonstige theologische oder ideologische
Differenzen. Ein solches Grundverständnis von Gerechtigkeit besagt eindeutig,
dass es keineswegs eine Legitimation für Ungerechtigkeiten im Namen Gottes
(muslimisch: Allahs) geben kann.
Was die muslimische Urgemeinde aus diesem Gebot noch lernte, war die
grenzenlose Assoziation von Gott und Gerechtigkeit als Basis für den sozialen
Frieden. Mit anderen Worten: Gott kann für soziale Ungleichheiten und Miss-
stände nicht verantwortlich gemacht werden, denn der Mensch als Stellver-
treter Gottes (khālifāt Allah) steht in der vollen Verantwortung für die Gestaltung
des Sozialen. In seiner Schrift über „Deutschland und seine Muslime“ kritisiert
Kermani42 eine Fehlentwicklung bei fatalistisch denkenden Gläubigen im
Umgang mit der Religion, die sich nur auf der Suche nach Urbegründungen in
den religiösen Quellen für alle Probleme, Phänomene und Lösungsansätze ihrer
Lebenswelt befinden und ignorieren dabei die Bedeutung der Verantwortung des
Einzelnen. In Anlehnung an Reinhard Schulze verwendet er den Ausdruck der
„fundamentalistischen Falle“, in die die muslimische Intelligenz getappt sei.43 Mit
einer solchen fundamentalistischen Falle geht ein Verzicht auf jede Entwicklungs-
chance durch die Pluralität und auf den Dialog mit dem sozialen Umfeld einher.
In seinem Beitrag über Ethik und Menschenwürde im Islam rekonstruiert der
Orientalist Raif G. Khoury44 unter anderem das gemeinsame Grundverständnis von
Kultur in der abendländische Tradition (lat. colerecultum) sowie in der islamischen
Tradition als „ʽumrān“ als gemeinsame Basis für Bedeutung von Bebauen,
Bewohnen, Pflegen, Ehren und somit im Sinne des Historikers Ibn Khaldūn von
Zivilisation im gesellschaftlichen Leben.45 Demzufolge sind Muslime sogar

41Koran 5:8.
42Vgl. Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck
(2010).
43Vgl. Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck

(2010), S. 119 f.
44Vgl. Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/

Knoepffler, Nikolaus (Hrsg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog. Freiburg/München:


Alber Philosophie (2005), S. 91–122.
45Vgl. Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/

Knoepffler, Nikolaus (Hrsg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog. Freiburg/München:


Alber Philosophie (2005), S. 93ff.
310 T. Badawia und S. Cakan

theologisch verpflichtet, sich auf ihre neue Rolle in einem egalitären Dialog zu
besinnen, damit sie ihre Erkenntnisse und die damit verbundenen ethischen Grund-
sätze in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen zu können.

Literatur
Badawia, Tarek: Pseudo-dialogische Diskriminierung. In: Mercheril, Paul/Melter, Claus (Hrsg.):
Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach i. Ts.: Wochenschau-
Verlag 2009, S. 220–238.
Bade, Klaus J./Oltmer, Jochen: Normalfall Migration. Schriftreihe Zeitbilder, Bd. 15 der Bundes-
zentrale für politische Bildung, Bonn: bpb 2004.
Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag
der Welreligionen im Inselverlag 2011.
Beinhauer-Köhler, Bärbel/Leggewie, Claus: Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und
gesellschaftliche Herausforderung. Stuttgart: Beck’sche Reihe 2009.
Bendel, Petra/Hildebrandt, Mathias (Hrsg.): Integration von Muslimen. München: Buch und
Media 2008.
Bundschuh, Stephan: Abstrakte Solidarität – Konkrete Konkurrenz. Das Verhältnis der klassischen
deutschen Jugendverbände zu Jugendorganisationen von Migrant*innen. In: Badawia, Tarek/
Hamburger, Franz/Hummrich, Merle (Hrsg.): Wider die Ethnisierung einer Generation. Bei-
träge zur qualitativen Migrationsforschung. Frankfurt am Main: Iko-Verlag 2003, S. 326–336.
Bollnow, F. Otto: Begegnung und Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1. Jg. 1955, Heft 1,
S. 10–32.
Chbib, Raida: Organisation des Islams in Deutschland: Diversität, Dynamiken und Sozialformen
im Religionsfeld der Muslime. Baden-Baden: Ergon 2017.
Falaturi, Abdoldjavad: Der Islam im Dialog. Hamburg: Islamische Wissenschaftliche Akademie
51998.

Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./
Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main:
Ika-Verlag 2002, S. 99–117.
Jagusch, Birgit: Praxis der Anerkennung. „Das ist unser Geschenk an die Gesellschaft“ – Ver-
eine von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zwischen Anerkennung und Exklusion.
Schwallbach/Ts.: Wochenschau Wissenschaft 2011.
Jessen, Frank: Türkische religiöse und politische Organisationen in Deutschland III. Heraus-
gegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Zukunftsforum Politik, Nr. 72, Köln 2006.
Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck 2010.
Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/Knoepffler,
Nikolaus (Hrsg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog. Freiburg/München: Alber
Philosophie 2005, S. 91–122.
Klinke, Sebastian: Interkulturelle Arbeit in Migrantenselbstorganisationen. Eine empirische Studie
mit drei Jugendgruppen aus Migrantenvereinen in Frankfurt am M., 2005, Online-Dokument
unter: https://www.idaev.de/publikationen/texte/interkulturelle-oeffnung/ (25.5.2020)
Schiffauer, Werner: Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft?
Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript 2008.
Rohe, Mathias: Zur rechtlichen Integration von Muslimen in Deutschland. In: Bendel, Petra/
Hildebrand, Matthias (Hrsg.): Integration von Muslimen. Schriftenreihe des Zentralinstituts
für Regionalforschung. München 2006, S. 89–116.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 311

Weitereführende Literatur

Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar. Düsseldorf: Patmos
2009.
Hinterhuber, Eva Maria: Abrahamischer Trialog und Zivilgesellschaft. Eine Untersuchung zum
sozialintegrativen Potenzial des Dialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen. Stuttgart:
De Gruyter 2009.
Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-und-
zwecke/, (06.06.2020).
Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in inter-
kultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial-
wissenschaften 2006.
Moschee als außerschulischer
Lernort
Tuba Nur Tekin

Zusammenfassung

This article attempts to look at the occupational field of mosques as an extra-


curricular place of learning. In addition to its traditional function as a place
of prayer, the mosque fulfils a variety of multifunctional tasks, especially for
Muslims living in Germany. This article will empirically outline the points of
contact such a place has with philosophical-ethical questions; which topics are
dealt with in the mosques; and why mosques are suitable as extracurricular
places of learning.

Schlüsselwörter

Mosques · German muslims · Education · Sense of belonging · Student · Pupil · 


Social work

1 Die Moschee als ein Lernort

Das arabische Wort für Moschee lautet Masǧid und Jāmi‘. Ersteres enthält die
Wurzelbedeutung des sich (im Gebet) Niederwerfens und heißt damit „der
Ort der Niederwerfung“, während Letzteres von dem Verb „sich versammeln“

T. N. Tekin (*) 
Berlin, Deutschland
E-Mail: tubanur.tekin@gmail.com

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 313
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_17
314 T. N. Tekin

abgeleitet wird und somit die Bedeutung als „Ort der Versammlung“ annimmt.1
Diese Begriffe charakterisieren die Funktion der Moschee für die Gemeinde als
Ort des Gottesdienstes und des sozialen Austausches aller Art (Seminare, Hoch-
zeiten, religiöse Feste, Nachhilfe, Konferenzen, Jugendtreffpunkt, offener Rück-
zugsort im Alltag etc.). Sie gilt als eine religiös-soziale Einrichtung, in der sich die
Muslime verschiedener Herkunft treffen und austauschen können und dient somit
dem Gemeinwohl. Größere Moscheen galten – und gelten immer noch – vor allem
als multifunktionale Gemeinschaftszentren, in denen verschiedene Einrichtungen
integriert waren.2 Dazu zählen Bibliotheken, Schulen und Forschungsein-
richtungen sowie die sogenannten Hamams, die um eine Moschee herum gebaut
wurden.
Geschichtlich betrachtet, lag die Moschee schon immer örtlich zentral, um die
Zugänglichkeit zu gewährleisten. Die erste Moschee der Welt war die Kaaba (in
Mekka) und wurde durch den Propheten Adam und später den Propheten Ibrahim
und seinen Sohn Ismail gebaut. Dazu heißt es auch im Koran Sure 3 Vers 96:
„Das erste Haus, das für die Menschen errichtet wurde, ist gewiss dasjenige
in Bakka (also Mekka); voller Segen ist es und Rechtleitung für die Welten-
bewohner.“ Diese Moschee galt auch später als Prototyp der Moscheen.3
Mit der Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert sind bereits die Anfänge
historischer Informationen über die religiöse Erziehung in Privaträumen in Mekka
und darauffolgend in der ersten Moschee der Muslime in Medina verzeichnet
worden. Im Laufe der islamischen Geschichte wurde diese Lerntradition aufrecht-
erhalten, ausgeweitet und institutionalisiert.4
In vielen Städten der Welt, wie z. B. in Köln ist man um diese räum-
liche Zentralität wie die von der Kaaba auch heute noch bemüht. Mit der Zeit
etablierten sich in Deutschland auch islamische Gotteshäuser, die ebenfalls für die
muslimische Bevölkerung den Mittelpunkt ihres alltäglichen Lebens darstellen.5
Ihre anfänglichen primären Aufgaben und Funktionen weiteten sich jedoch im
Laufe der Zeit entsprechend der Bedürfnisse und des veränderten Kontextes
in Deutschland um einige Arbeitsbereiche aus. Im Fokus stehen dennoch – ent-
sprechend des ursprünglichen Vorbilds – nach wie vor die Bereitstellung religiöser

1Vgl. Pedersen, Johannes: Masḏjid, Moschee. In: Houtsma, Martin Th./Arnold, T.W./Basset, R./
Hartmann, R. (Hrsg.): Enzyklopädie des Islām. Leiden: Brill 1936, S. 372.
2Vgl. Beinhauer-Köhler, Bärbel; Leggewie, Claus (Hrsg.): Moscheen in Deutschland. Religiöse

Heimat und gesellschaftliche Herausforderung, München: Beck 2009, S. 62 ff.


3Vgl. Mete, Ali: Moscheen sind Orte des Gebets, der Kultur und der Erziehung. https://www.

islamiq.de/2014/09/29/moscheen-sind-orte-des-ge%C2%ADbets-der-kul%C2%ADtur-und-der-
er%C2%ADzie%C2%ADhung/. (12.06.2020)
4Vgl. Ceylan, Rauf: Cultural Time Lag: Moscheekatechese und islamischer Religionsunterricht

im Kontext von Säkularisierung. Berlin: Springer 2014, S. 31.


5Vgl. Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen: ein sozialwissen-

schaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung
der Auswirkungen auf den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen in
Deutschland. Hamburg: Kovač 2008, S. 56.
Moschee als außerschulischer Lernort 315

und sozialer Dienstleistungen sowie gemeindlicher Angebote wie die Verrichtung


des Gebets, die Zusammenkünfte an religiösen Feiertagen, die religiöse Bildungs-
arbeit für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Beratungsangebote sowie Dis-
kussionsveranstaltungen.6 Daneben werden Aufgaben wie Eheschließungen/
Trauungen, Beerdigungen sowie Totengebete, rituelle Leichenwaschungen oder
Haĝĝ (Pilgerfahrt)-Vorbereitungskurse und Führungen übernommen.
Moscheen sind neben sakrale Einrichtungen auch Orte der gemeinschaft-
lichen und individuellen Hinwendung zu Gott und der kontemplativen Besinnung
und nehmen gleichzeitig eine profane Funktion wahr. Dies ist aus der bereits
erwähnten türkischen sowie arabischen Übersetzung für Moschee, nämlich Jāmi‘,
der „die Versammelnde“ bedeutet, zu entnehmen.7 So dient sie als Vortragsraum,
Übernachtungsgelegenheit oder sogar im Orient für eine kleine Verschnaufpause
beim Einkaufsbummel oder dafür, dass Kinder dort lautstark Fangen spielen.8

„Begründet ist dieses unkomplizierte Verhalten in bekannten Überlieferungen über den


Propheten. Dieser soll beispielweise ein Kind, das während seines Gebets auf ihm herum-
turnte, jeweils abgesetzt haben, wenn er sich niederbeugte, und wieder auf den Arm
genommen haben, wenn er sich aufsetzte. Eine Aura des ‚Sakralen‘, wie sie im Christen-
tum über das andächtige Verhalten der Kirchenbesucher entsteht, ist in Moscheen somit
weniger zu erschließen.“9

Für die in Deutschland lebenden Muslime geht die Moschee über ihre
traditionellen Funktionen der religiösen Dienstleistungen weit hinaus. Die
Gemeinden widmen sich flächendeckend und mehrdimensional den Bedürfnissen
der in Deutschland lebenden Muslime und der Gesellschaft. Ferner sind nun
Aufgaben im Bereich der Bildung und der psychosozialen Versorgung gefragt,
welche strukturell-organisatorisch etabliert werden. Die Moscheegemeinden ver-
suchen die Probleme der Menschen im nichtmuslimisch geprägten Alltag unter
dem Blickfeld des Islams zu lösen. Sie decken unterschiedliche Felder wie die
der Beratungsarbeit in Ehe- und Familienproblemen oder im Umgang mit Jugend-
lichen, bi-religiösen Ehen und zudem Seelsorge ab. Bei familiären Auseinander-
setzungen, Krankheit und Tod stellen sie zusätzlich zum Imam, der bereits eine
Vielzahl von Aufgaben innehat, Angestellte zur Verfügung, die den Familien zur
Hilfe eilen und Beistand leisten. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren ver-
mehrt Tätigkeiten im Bereich der Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen,

6Vgl. Mühe, Nina; Spielhaus, Riem: Religiöse Angebote der Gemeinden (2008). In: Islamisches

Gemeindeleben in Berlin. Berlin: Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und
Migration 2008, S. 44.
7Vgl. Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen: ein sozialwissen-

schaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung der
Auswirkungen auf den Integrationsprozess, S. 56.
8Vgl. Beinhauer-Köhler, Bärbel; Leggewie, Claus (Hrsg.): Moscheen in Deutschland. Religiöse

Heimat und gesellschaftliche Herausforderung, München: Beck 2009, S. 41.


9Beinhauer-Köhler, Bärbel; Leggewie, Claus (Hrsg.): Moscheen in Deutschland. Religiöse

Heimat und gesellschaftliche Herausforderung, München: Beck 2009, S. 41.


316 T. N. Tekin

Altenheimen und der Bundeswehr zu verzeichnen, die größtenteils in die Tätig-


keitsfelder der Religionsbeauftragten bzw. des Imams fallen.
Die Gemeinden setzen sich aber auch zudem vermehrt mit der Bildung,
Erziehung und Sozialisierung der jüngeren Generation der Muslime auseinander
und entwickeln neue Angebote. Neben der Unterstützung der schulischen
Leistungen in Form von Nachhilfekursen, werden Strukturen für die Jugendarbeit
(Freizeitangebote, Ausflüge in Kombination mit islamischer Wissensvermittlung,
AG’s, Sprachkurse) geschaffen und professionell umgesetzt (siehe Umsetzung der
IGMG Jugend/igmgstudents).10 Studienbegleitende akademische Veranstaltungen
für muslimische Studierende aus Deutschland und Europa fehlen dabei nicht.
So lässt sich zusammenfassen, dass die Moschee mindestens drei zentrale
Funktionen erfüllt. Zum einen fungiert sie als ein Ort, in der Muslime ihren
religiös-praktischen Pflichten nachgehen und mit ihren Glaubensgeschwistern
zusammenkommen. Zum anderen gestattet sie eine direkte Begegnung zwischen
Muslimen und Nichtmuslimen. Als Drittes rekurriert das mediale Bild vom Islam
vielfach auf die Moschee als Gebäude wie als soziale Institution.11

2 Moscheebesuche

Für die muslimischen Eltern stellt der Besuch einer Moschee mit entsprechender
Unterweisung in den Islam bis heute einen unverzichtbaren Bestandteil der
religiösen Erziehung dar. Nur die wenigsten Kinder erhalten im Elternhaus eine
adäquate Unterweisung, weil die meisten Eltern sich für die Aufgabe nicht als
kompetent genug ansehen.12 Ein zunehmendes Interesse für Moscheebesuche ver-
zeichnet auch die Mehrheit der befragten Gemeinden (90 %) in Berlin. Auf Anfrage
werden viele Führungen durch die Gemeinderäume angeboten, bei denen sich
Muslime und Nichtmuslime begegnen.13 Die Muslime interagieren in der Moschee
bewusst in ihrer Eigenschaft als Gläubige miteinander und können die Chance

10Vgl. Hamdan, Hussein; Schmid, Hansjörg: Junge Muslime als Partner: Ein empiriebasierter
Kompass für die praktische Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa 2014, S. 42.
11Vgl. Schmitt, Thomas: Moschee-Konflikte und deutsche Gesellschaft. In: Halm, Dirk/Meyer,

Hendrik (Hrsg.): Islam und die deutsche Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 165.
12Vgl. Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen: ein sozialwissen-

schaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung
der Auswirkungen auf den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen in
Deutschland. Hamburg: Kovač 2008, S. 60. Weitere wichtige Motive für den Besuch fast Ceylan
in seinem Buch auf S. 60 ff. zusammen.
13Vgl. Spielhaus, Riem/Mühe, Nina: Moscheebesuche und -führungen. In: Islamisches

Gemeindeleben in Berlin. Berlin: Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und
Migration 2008, S. 114.
Moschee als außerschulischer Lernort 317

wahrnehmen, mit Nichtmuslimen in interreligiösen Veranstaltungen zusammen-


zukommen. Jenseits medienvermittelter Bilder kann in solchen Runden ein
authentischer Austausch zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen stattfinden.14
Bei Moscheebesuchen sind die Erwartungen der Besucher sehr vielfältig.
Ali Özgür Özdil erklärt, dass die meisten Besucher weniger den Raum des
muslimischen Gebets besuchen wollen, sondern dies als Möglichkeit einer ersten
Begegnung mit der Religion und Religiosität des Islam ansehen.15 Für Schul-
kinder, die ebenso Mitschüler_innen anderer Konfessionen im Klassenverband
haben können, ist der Moscheebesuch vor allem räumlich und funktional von
Interesse. Für ein vielseitiges Lernerlebnis ist eine gute Vorbereitung im Unterricht
und eine gute Absprache mit dem Moscheepersonal unabdingbar.
Die Wahl der Moschee bei Moscheebesuchen spielt dabei eine zentrale Rolle.
Der Besuch im dekorierten Kuppelbau osmanischen Stils hebt beispielsweise
die Şehitlik Moschee in Berlin besonders hervor. Diese Moschee bietet sich für
Moscheebesuche besonders gut an und ist damit auch die erste Anlaufstelle für
viele Schulklassen. Darüber hinaus gibt es weitere Moscheen, die bestimmte
Realitäten abbilden und daher geschichtlich auch sehr prägend sein können. Dazu
kann die Mevlana Moschee in Berlin-Kreuzberg gezählt werden, an der am 12.
August 2014 ein im Bau befindlicher Teil der Moschee in Brand gesetzt wurde.
Da es in den letzten Jahren vermehrt zu Moscheebränden kam, ist es ratsam auch
dieses Thema (kurz) anzusprechen.
Grundsätzlich gilt aber, dass sich nahezu alle Moscheen für einen Besuch
gut eignen. Da es bei Schulklassen zudem auf die Entfernung zur Moschee
ankommt, ist es unverzichtbar, vorher telefonische Absprache zu halten und den
ersten Kontakt mit dem Moscheeführer oder der Moscheeführerin zu suchen.
Bei diesem Schritt ist es hilfreich, Eltern muslimischer SuS anzufragen und mit
einzubeziehen, so dass der Kontakt leichter hergestellt werden kann. Nicht jede
Moschee hat Erfahrung mit Schulklassen oder jemanden mit entsprechender
Expertise. Bei der Organisation eines Moscheebesuches ist dieser Schritt
womöglich der Schwierigste, weshalb es wichtig ist, viel Geduld mit sich zu
bringen.
Die Architektur einer Moschee kann sehr vielfältig und unterschiedlich sein.
Es ist ratsam, diese mit Bildmaterialien durchzugehen. In der Regel bieten sich
viele verschiedene Moscheebilder aus der ganzen Welt sehr gut an, um auf die ver-
schiedene Architektur der Moscheen einzugehen. Eine Moschee in Singapur, Mali
oder in China sieht ganz anders aus als in der Türkei.16

14Vgl. Schmitt, Thomas: Moschee-Konflikte und deutsche Gesellschaft. In: Halm, Dirk/Meyer,


Hendrik (Hrsg.): Islam und die deutsche Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 164.
15Vgl. Özdil, Ali Özgür: Wenn sich die Moscheen öffnen: Moscheepädagogik in Deutschland;

eine praktische Einführung in den Islam. Berlin: Waxmann 2002, S. 29 ff.


16Siehe dafür die Nuijie Moschee in China, Faisal Moschee in Pakistan, große Moschee von

Djenne in Mali, Jameasr Hassa al Bolkiah Moschee in Brunei und Sultan Ahmet Moschee in der
Türkei.
318 T. N. Tekin

3 Unterrichtsvorbereitung auf den Moscheebesuch

Nach grundlegenden Absprachen mit dem Moscheepersonal zur Klassenstufe und


Gruppengröße kann die Klasse allmählich an das Thema herangeführt werden. Es
bietet sich an, bestehendes Wissen über Moscheen sowohl von muslimischen als
auch von nichtmuslimischen SuS zu aktivieren und daran zu knüpfen. Vorwissen
kann anhand von Mind-Maps etc. festgehalten werden. Die Grundbausteine als
wichtige Elemente einer Moschee, wie z. B. die Gebetsnische (arab. Miḥrāb),
der Lehrstuhl (arab. Kursī), die Kanzel (arab. Minbar), der Platz des Gebetsrufers
(arab. Muezzin) und die Teppiche, der Koranständer (Raḥle) und die Gebets-
kette (tasbīḥ) sollten vorgestellt werden. Diese Elemente der Moschee lassen
sich auch als kurze Präsentationen, die Länge der Klassenstufe angepasst, an die
SuS aufteilen. Dafür eignen sich mehrere Handbücher oder Religionsbücher, die
dieses Thema didaktisch sehr gut aufarbeiten und leicht zugänglich sind.17 Eine
Aufklärung über Vorschriften, wie das Schuhe-Ausziehen, eine angemessene
Kleidungsform, kein Verzehr von Lebensmitteln, sollte vorab aufgeklärt werden,
um Irritationen zu vermeiden.18
Die Wirkung des Gebetsbereichs ist für SuS ganz besonders, da sie als begeh-
barer Raum konzipiert ist. Diese unübliche Form finden SuS sehr interessant. Die
Form lädt zur Einkehr und zur Konzentration ein, da bis auf die Kalligraphien und
Verzierungen an den Wänden keinerlei Beschmückungen oder Möbel vorhanden
sind. Diese „Leere“ soll für Ruhe und Vertrautheit sorgen, Gefühle von Schutz und
Geborgenheit entfachen.19
Mit Betreten des Gebetsbereichs sollte den Kindern die Möglichkeit gegeben
werden, sich frei zu bewegen. Genug Raum und Zeit ermöglichen die vielseitige
Erkundung und zahlreiche Beobachtungserfahrungen. Im Anschluss können in
einem Sitzkreis die unterschiedlichen Eindrücke gesammelt und einander ergänzt
werden. Leitfragen sind u. A.: Was seht ihr? Was fällt euch auf? Wie wirkt dieser
Raum auf euch? etc.
Im nächsten Schritt kann der Imam zum Sitzkreis eingeladen werden, um
inhaltliche Fragen zum Islam und zum Muslimsein in Deutschland behandeln
zu können. Gerade im Kleinkindalter kommen den SuS, auch aufgrund der
gesellsch