Außerschulische Lernorte,
Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung
Philosophische Bildung in Schule und
Hochschule
The social relevance of philosophical literacy has become most important in recent
years. This is clearly visible given its increasing penetration into various academic
institutions and organizations. International collaborative networks have been
established to develop theories, methods, materials, teaching concepts and research
approaches around philosophical education. From ‘philosophy for children’ to
philosophical cafés, from adult continuing education courses to ethics councils, the
need for didactical and educational expertise outside of the ivory tower has grown.
Philosophy Education today is a theoretical, practical and empirical discipline.
This series provides a venue for research projects that unlock new methods
and ideas for those engaged in philosophy education wanting to understand the
challenges of its ever greater societal importance.
Außerschulische Lernorte,
Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung
Hrsg.
Markus Tiedemann
Institut für Philosophie
Technische Universität Dresden
Dresden, Deutschland
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE,
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Der vorliegende Band versteht sich als Eröffnung eines neuen Forschungsfeldes.
Untersucht wird das Verhältnis von philosophischer Bildung, Erlebnispädagogik
und außerschulischen Lernorten, welches in der Philosophiedidaktik bisher kaum
Berücksichtigung gefunden hat.
Dies ist in mehrfacher Hinsicht sowohl erstaunlich als auch bedauerlich.
Erstens sind Exkursionen und erlebnispädagogische Formate Teil der Schul-
wirklichkeit. Dies gilt für sozialpädagogische Interventionen ebenso wie für
die Intensivierung fachspezifischen Lernens. Zweitens besteht im Vergleich
zu anderen Fachdidaktiken ein Nachholbedarf. Beispielsweise gehört die
Thematisierung außerschulischer Lernorte für die Geschichtsdidaktik längst zum
Standard. Und drittens erheben zahlreiche nicht-schulische Bildungsangebote den
Anspruch, einen Beitrag zum Erwerb philosophischer Tugenden und Bildungs-
inhalte zu leisten. Es liegt also nahe, Selbstverständnisse zu vergleichen sowie die
Möglichkeiten und Grenzen von Kooperationen und Synergieeffekten genauer zu
betrachten.
In den theoretisch-konzeptionellen Teilen des Bandes (I und II) werden philo-
sophiedidaktische und erlebnispädagogische Perspektiven einander gegenüber-
gestellt. Zunächst geht es um die Essenz philosophischer Bildung und deren
Kompatibilität mit Bildungsformaten, die die sich weniger streng am Prinzip
argumentativer Rechtfertigung orientieren. Schwerpunkte sind unter anderem
traditionelle und aktuelle Formen des Peripatetischen Philosophierens sowie
die Fragen nach einer Philosophie des Ortes und der Aktualität von Schillers
Forderung nach einer ästhetischen Erziehung des Menschen. Anschließend geht
es um das Selbstverständnis der Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum
sowie um das Konzept der Outdoor-Education in Kanada, welche beide philo-
sophische Traditionen und Bildungsaspekte für sich in Anspruch nehmen.
In den Teilen III bis IV kommen potenzielle Kooperationspartner zu Wort. Es
geht darum, die Konzeption unterschiedlicher Bildungsangebote, Institutionen
und Initiativen zu verdeutlichen und bereits bestehende bzw. potenzielle
Kooperationen mit der philosophischen Bildung aufzuzeigen. Den Anfang macht
ein eigenes Unterkapitel zur Genese und Essenz der Erlebnispädagogik sowie
verschiedener Ausprägungen. Um anschließend die Vielfalt außerschulischer
Lernorte abzubilden, werden unterschiedliche Beispiele folgenden Bereichen vor-
gestellt: Museen, kulturelle Einrichtungen und Gedenkstätten (1), gesellschaftliche
V
VI Vorwort
Institutionen (2), sakrale und meditative Orte (3) und Erlebnispädagogik und Out-
door Education.
Im Teil VII des Bandes stehen methodisch-praktische Fragen im Mittelpunkt.
Anhand von vier exemplarischen Unterrichtseinheiten wird die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und erlebnispädagogischer Interventionen in die philo-
sophische Bildung demonstriert und zur Diskussion gestellt.
In Teil VIII wird schließlich auf die noch bescheidene, empirische Forschungs-
lage eingegangen. Zum einen werden bisherige Erfahrungen und Projekte quanti-
fiziert, zum anderen ein aktuelles Forschungsprojekt samt qualitativer und
quantitativer Evaluation vorgestellt.
Die Heterogenität des Bandes ist so vielfältig wie das Forschungsfeld selbst.
Die einzelnen Beiträge präsentieren durchaus verschiedene Auffassungen von
philosophischer Bildung, Pädagogik oder Wissenschaftlichkeit. Ziel ist es, eine
Grundlage für kontroverse Diskussionen und die Entwicklung weiterführender
Fragestellungen zu legen.
Markus Tiedemann
Inhaltsverzeichnis
VII
VIII Inhaltsverzeichnis
Tiedemann, Markus, Prof. Dr., lehrt seit 2015 Ethik und Philosophiedidaktik an
der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er Professor an der Freien Uni-
versität Berlin und der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz sowie 12 Jahre
Lehrer und Fachseminarleiter in Hamburger. Zu seinen Arbeits- und Interessens-
schwerpunkten zählen Philosophiedidaktik, ethische Orientierung in der Moderne,
normative Aspekte der Migration und De-Radikalisierungsprozesse.
Autorenverzeichnis
Banack, Hartley, Dr., is an Assistant Professor with the School of Education in the
College of Arts, Social and Health Sciences at the University of Northern British
Columbia (UNBC). He works with pre- and in-service teachers in the areas of
Physical/Health Education, Outdoor Education, and Science Education, with both
undergraduates and graduates. His research considers the role of where in learning.
XI
XII Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Paviane zu erforschen. Zudem erhielt sie dort eine Ausbildung als Nature Guide.
Seit 2014 ist sie im administrativen Teil der Zooschule des Berliner Zoos tätig.
2015 übernahm sie die Leitung der Tierparkschule im Tierpark Berlin und richtete
dort das Bildungsprogramm neu aus. 2016 übernahm sie zusätzlich die Leitung der
Zooschule des Zoo Berlin und ist seither für beide Einrichtungen als Leitung tätig.
Blaschka, Simone, Dr., ist seit 2005 Direktorin des Deutschen Auswandererhauses
in Bremerhaven. Unter ihrer Leitung gewann das Museum den „European Museum
of the Year Award 2007“ und zeigte über 30 Sonderausstellung zu Migrations-
themen. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Leiterin beim Generalplaner des
Museums, bei Studio Andreas Heller Arcitects & Designers in Hamburg. Schon mit
ihrem Promotionsthema widmete sie sich der deutschen Überseeauswanderung im
19. und 20. Jahrhundert. Seitdem hat sie ihre Interessenschwerpunkte vor allem um
die Biographie- und Mentalitätsgeschichte der Migration seit dem 18. Jahrhundert
erweitert.
Fuchs, Birgitta, PD Dr. phil., studierte die Fächer Katholische Theologie und
Anglistik für das Höhere Lehramt an der Universität Würzburg – Erstes Staats-
examen 1987 an der Universität Würzburg. Sie promovierte im Fach Allgemeine
Pädagogik an der Universität Wien (1995) und habilitierte an der Kulturwissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth (2006). Lehrstuhlvertretungen und
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XIII
Lang, Birgit ist Sozialwissenschaftlerin und Mediatorin. Seit 2002 arbeitet sie in
der Jugendstrafanstalt Berlin. Dort hat sie u. a. das Projekt „PeerMediation hinter
Gittern“ entwickelt und im Gefängnisalltag verankert. Mittlerweile leitet sie die
Helmuth-Hübener-Schule der Jugendstrafanstalt Berlin.
XIV Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Lindel, Matthias, Dr., lehrt Deutsch, Geschichte und Politik an der Otto Lilien-
thal Realschule Wilhelmsdorf und ist als Lehrbeauftragter an der Pädagogischen
Hochschule Weingarten tätig. Zuvor arbeitete er dort nach seinem Lehramtsstudium
als akademischer Mitarbeiter und promovierte im Fach Sportwissenschaft über
statistische Auswertungsverfahren am Beispiel von DKV-Sound-Karate. Darüber
hinaus war er von 2010–2018 Schulsportreferent und von 2010–2017 Leistungs-
sportkoordinator des Karateverbands Baden-Württemberg.
Michl, Werner, Prof. Dr., ist emeritierter Professor für Soziale Arbeit an der Georg-
Simon-Ohm Fachhochschule Nürnberg und von 1996 bis 2002 Leiter des „Zentrum
für Hochschuldidaktik der bayerischen Fachhochschulen – DiZ“ in Kempten. 2009
wurde er zum Professeur associé an der Universität Luxembourg ernannt. Zu seinen
Arbeitsschwerpunkten zähen Erlebnispädagogik, Handlungsorientiertes Lernen
und Outdoor-Training.
Müller, Ralf, Dr. phil., ist Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Nürnberg. Zu
seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Sexualpädagogik, Gewaltprävention sowie
das Themenfeld Bildung und Religion. Im sexualpädagogischen Team der pro
familia München war er von 2016–2019 tätig.
Niederleitner, Bettina, Dipl. Soz.päd. (FH), als Sexualpädagogin seit 2003 bei pro
familia München e. V. tätig. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Fortbildungen
für pädagogische Fachkräfte, Kinder-/Jugend- und Elternarbeit rund um den Fach-
bereich Sexualpädagogik/Sexuelle Bildung.
Schlitte, Annika, Prof. Dr., ist seit 2020 Professorin für Ästhetik und Kultur-
philosophie an der Universität Greifswald. Davor war sie Juniorprofessorin für
Sozial- und Kulturphilosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und
als Postdoc Sprecherin des Graduiertenkollegs „Philosophie des Ortes“ an der
Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Wichtigste Veröffentlichungen: Die
Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur (2012), als Mitherausgeberin: Philo-
sophie des Ortes (2014), Situatedness and Place (2018).
Seele, Katrin, Dr., lehrt und forscht seit 2011 am Institut Sekundarstufe I der
Pädagogischen Hochschule Bern. Zuvor unterrichtete sie an der Berner Fachhoch-
schule und als Gastdozentin im Zertifikatskurs „Praktische Philosophie“ der Be-
zirksregierung Düsseldorf in Mönchengladbach, nach einer Zweiten Staatsprüfung
für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen (Philosophie/Deutsch) in
Düsseldorf und einer Promotion an der Universität Oldenburg. Zu ihren Arbeits-
und Interessensschwerpunkten zählen Philosophie- und Literaturdidaktik, Peri-
patetisches Philosophieren, Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE),
literarische Texterschließungsprozesse und südasiatische Philosophie.
Sperfeld, Enrico lebt in Dresden. Der Gymnasiallehrer für Musik und Ethik ist
als Theatermusiker und Philosophiepädagoge in diversen Kunst- und Bildungs-
projekten engagiert. In seiner Dissertation „Arbeit als Gespräch“ untersuchte er die
Philosophie der Solidarność.
XVI Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Tiedemann, Markus, Prof. Dr., lehrt seit 2015 Ethik und Philosophiedidaktik an
der Technischen Universität Dresden. Zuvor war er Professor an der Freien Uni-
versität Berlin und der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz sowie 12 Jahre
Lehrer und Fachseminarleiter in Hamburger. Zu seinen Arbeits- und Interessens-
schwerpunkten zählen Philosophiedidaktik, ethische Orientierung in der Moderne,
normative Aspekte der Migration und De-Radikalisierungsprozesse.
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Philosophische Bildung · Erlebnispädagogik · Außerschulische
Lernorte · Reflexion · Abstraktion · Urteilskraft
M. Tiedemann (*)
Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
E-Mail: markus.tiedemann@tu-dresden.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 3
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_1
4 M. Tiedemann
1 Begriffliche Bestimmungen
2 Außerschulische Lernorte
Einen ersten Zugriff auf den Begriff „außerschulischer Lernort“ bietet dessen
Verwendung in der allgemeinen Didaktik. Die Bezeichnung entstammt ursprüng-
lich der Grundschulpädagogik und der dortigen Sachkundedidaktik.2 Von dort
1 Bisher ist allein in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik ein Heft zu diesem
Thema erschienen. Vgl.: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 1/2013.
2
Vgl. Dühlmeier, Bernd (Hrsg.): Außerschulische Lernorte in der Grundschule. Baltmanns-
weiler: Schneider Verlag Hohengehren 2008.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 5
„Die Grundidee dieser ‚Philosophie des Ortes‘ besteht […] darin, dass unser Weltzugang
eben nicht mit einer abstrakten Raumvorstellung beginnt, sondern mit konkreten Orten,
die dem Raum in der Erfahrung stets vorausgehen, und die qualitativ bestimmt sind.
Während Punkte in einem Koordinatensystem austauschbar sind, sind die Orte unseres
Erlebens stets bestimmte Orte mit einem spezifischen Charakter.“4
3
Vgl. Sauerborn, Petra/Brühne, Thomas: Didaktik des außerschulischen Lernens. 2. Auflage.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2009.
4 Schlitte, Angelika: Verortungsprobleme. Eine philosophische Topographie der Heimat. In Zeit-
schrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 2/2020, S. 8.
6 M. Tiedemann
Als Brighan Young am 24. Juli 1847 die Ansiedlung der Mormonen im späteren
Salt Lake City bestimmte, soll er ausgerufen haben: „This is the place!“ Es sagte
nicht „There is some space for us“ oder „That is a good spot“. Die Formulierung
„the place” integrierte bereits den Anspruch auf eine finale metaphysische
Bestimmung.
Der Ettersberg bei Weimar in Thüringen ist zunächst ein geographischer Punkt
mit genauen Koordinaten. Für Johann Wolfgang von Goethe war der Ettersberg
ein Ort der persönlichen Verbundenheit mit der Natur. Ab 1937 ist auf einem
Großteil des Geländes das Konzentrationslager Buchenwald eingerichtet worden
und der Ettersberg wandelte sich für mindestens 266.000 Häftlinge zu einem
Ort des Grauens. Heute befindet sich auf dem Lagergelände eine Gedenkstätte,
deren pädagogische Arbeit dazu beiträgt, dass immer neue Generationen den geo-
graphischen Punkt als bedeutungsvollen Ort der Erinnerungskultur erleben.
Das Verständnis von Orten als dynamische „Sinneinheiten“5 unterstützt nicht
nur die Formulierung LERNorte, sondern führt auch zu der Frage nach dem Spezi-
fikum philosophieaffiner Orte. Ein wichtiges Kriterium ist Intersubjektivität.
Philosophieaffine Orte erschöpfen sich nicht in rein individueller Bedeutsamkeit.
Der Ort der ersten großen Liebe mag für viele von uns von großer persönlicher
Bedeutung sein. Philosophische Relevanz besitzt dieser aber erst dann, wenn aus
ihm Frage mit intersubjektiver Bedeutsamkeit generiert werden können.
Philosophische Lernorte sind somit Orte, die durch bloße Betrachtung oder
in Kombination mit einer Narration intersubjektive Sinn- und Fragedimensionen
eröffnen, veranschaulichen oder repräsentieren. Gleichzeitig gilt, dass sich philo-
sophische Nachdenklichkeit primär durch ihre Arbeitsweise und nicht durch ihre
Gegenstände definiert. Daher kann durch eine entsprechende Herangehensweise
an fast jeder und über fast jede Lokalität philosophiert werden.
Gleichwohl sprechen didaktische Überlegungen dafür, einigen Orten eine
höhere philosophische Affinität zuzuschreiben als anderen. In Anlehnung an
Patrick Baum und Volker Steenblock6 schlage ich vor, sechs sich zum Teil über-
schneidende Typen philosophieaffiner Orte zu unterscheiden.7
Die erste Gruppe besteht aus Orten mit philosophiehistorischer Bedeutsam-
keit. Die antike Agora in Athen, Montaignes Schreibtisch, das University College
werden können.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 7
in London mit der Auto-Ikone von Jeremy Bentham oder Nietzsches Sterbehaus
mögen hier als Beispiele dienen. Ziele wie diese lassen sich auch als Höhepunkte
eines philosophisch interessierten Tourismusprogramms verstehen.
Die zweite Gruppe besteht aus Orten, die als metaphorische Repräsentanten
philosophischer Ideen oder Fragestellungen angesehen werden können. Patrik
Baum nennt in diesem Zusammenhang Höhlen, Gebirge oder Städte. Das Motiv
der Höhle zieht sich wie ein roter Faden durch die Philosophiegeschichte.8 Berge
dienen als Veranschaulichung von Erhabenheit oder als Bühne für den Auftritt von
Propheten wie Nietzsches Zarathustra. Städte veranschaulichen in ihren Plätzen
und Bauwerken Grundideen des gelungenen Lebens oder der politischen Ordnung.
„Every great city has a specific, centralized space in which this essential urban dynamic
is played out. […] Contemporary examples would be Beijing’s Tiananmen Square, New
York’s Central Park, Paris’ Place de la Concorde and London’s Trafalgar Square.“9
implizit eine intensive Dialogsituation, die sich auch für philosophische Bildung
nutzen lässt.
Ob virtuelle Räume eine eigene, sechste Gruppe darstellen, ist schwer zu ent-
scheiden. Auf der einen Seite können kontrafaktische Annahmen und Rahmen-
bedingungen als Eröffnung eines eigenen philosophischen Raums angesehen
werden. Auf der anderen Seite lassen sich virtuelle Formate als bloßes Medium
verstehen, in dem die oben genannten Raumtypen simuliert werden.
2.1 Erlebnispädagogik
Der Begriff der Erlebnispädagogik ist nicht weniger schwer zu fassen als die
Bezeichnung außerschulischer Lernort. Es handelt sich um eine pädagogische
Konzeption, die zwar oftmals mit dem Aufsuchen außerschulischer Orte ein-
hergeht, aber nicht an eine bestimmte Lokalität oder Institutionen gebunden ist.
Auch deshalb gestaltet sich die Abgrenzung zu angrenzenden Konzeptionen und
Praktiken schwierig. Ist jede physische Ertüchtigung, bei der auch Tugenden
wie Fairness oder Ehrlichkeit erworben werden können, Erlebnispädagogik? Ein
Orientierungslauf im Rahmen einer schulischen Veranstaltung findet an einem
außerschulischen Lernort statt und kann je nach Perspektive als Sportunterricht
und/oder als erlebnispädagogische Intervention verstanden werden.
Nach Bauer gehört es zu den Charakteristika der Erlebnispädagogik
unbestimmt zu sein. Eine verbindliche Definition über die theoretische Grundlage
oder die praktische Form der Erlebnispädagogik könne es nicht geben.10
Erlebnispädagogen betonen, dass sich ihre Arbeit nicht in der Organisation
singulärer sinnlicher Stimulationen erschöpft. Vielmehr besteht das erklärte Ziel
darin, Erfahrungen zu generieren, die als nachhaltiges Erlebnis in die Persönlich-
keitsstruktur der Teilnehmenden zu integrieren sind.
Allerdings lassen sich nachhaltige Erlebnisse durch zahlreiche Methoden mit
und ohne abenteuerliche Aktivität generieren. Platon gebrauchte den Begriff
Anamnesis, um das euphorische Wesen der Erinnerung oder Entdeckung echten
Wissens zu beschreiben.11 Aristoteles Katharsislehre sprach Theaterbesuchen
das Potenzial zu, Jammer und Schauder hervorzurufen und anschließend eine
Reinigung von diesen Erregungszuständen zu bewirken.12 Beide Phänomene sind
mit Herausforderungen und starken Gefühlen verbunden, werden gezielt herbei-
geführt und haben nachhaltige Auswirkungen auf die Persönlichkeit.
10
Vgl. Bauer, Hans G.: Erlebnispädagogik und Abenteuerpädagogik. Eine Literaturstudie. 4.
überarbeitete Auflage. München: Rainer Hampp Verlag 1993, S. 7.
11 Vgl.: Platon: Siebter Brief 341c–d.
Im Folgenden wird auf die Arbeitsdefinition von Werner Michl und Bernd
Heckmair zurückgegriffen. Demnach ist Erlebnispädagogik eine
„Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht
behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“ (Konfuzius zugeschriebene Weis-
heit)
„Da gehen die Menschen hin und bewundern die Bergesgipfel, die Meeresfluten ohne
Grenzen, den breiten Strom gewaltiger Flüsse, die Weiten des Ozeans und den Lauf der
Sterne. Sich selber aber sehen sie nicht und finden in sich nichts zum Staunen.“ (Aurelius
Augustinus Bekenntnisse)
13 Heckmair,
Bernd/Michl, Werner: Erleben und Lernen, Einführung in die Erlebnispädagogik.
München: Reinhardt Verlag 2008, S. 115.
10 M. Tiedemann
Dialogen sind die beschriebenen Örtlichkeiten nicht ohne Funktion. Der Biss
der sokratischen Ironie tritt angesichts der Tatsache, dass viele Befragungen an
öffentlichen Orten wie der Agora erfolgen, besonders hervor. Auch thematisch
formen Diskursgegenstand und Örtlichkeiten vieler Dialoge eine didaktische Ein-
heit. Sokrates’ Überlegungen zur Unsterblichkeit (Phaidon) oder Rechtstreue
(Apologie/Kriton) sind umso eindringlicher, weil hier ein Verurteilter vor Gericht,
bzw. in der Todeszelle um das gute Leben und das rechte Sterben ringt.14 Liebe
und Erotik hingegen werden an einem mediterranen Sommerabend im Rahmen
eines sinnlichen Symposions thematisiert.
Während des Mittelalters wurde das antike Gleichgewicht von sinnlicher
Erfahrung und begrifflicher Abstraktion zu Gunsten kontemplativer Verinner-
lichung verdrängt. Die scholastischen Schulen des Mittelalters waren durch eine
Verhärtung des augustinischen Prinzips geprägt. Konkrete Beobachtungen oder
Experimente galten aufgrund der Unfehlbarkeit der aristotelischen Physik und
der christlichen Dogmen als überflüssig oder gar ketzerisch. Die Sinnesfeindlich-
keit des Christentums und die mönchischen Lebensformen taten ein Übriges. Der
Historiker Yuval Noah Harari hat dieses Verständnis von Wissen und Wissens-
erwerb treffend zusammengefasst:
Selbiges galt für die Methodik. Beispielsweise wurde kaum oder gar nicht bezüg-
lich des Alters der Edukanden differenziert. Kinder und Erwachsene durchliefen
an vergleichbaren Orten ähnliche oder identische Kurrikula. Charakteristisch war
die Reduktion von Sinnlichkeit.
Erst in der frühen Neuzeit ist wieder eine deutliche Aufwertung von sinn-
licher Wahrnehmung und Erfahrung zu beobachten. Comenius vertrat in seiner
Didactica magna von 1657 die Forderung, dass Menschen möglichst wenig
aus Lehrwerken lernen sollen, „sondern aus Himmel und Erde, aus Eichen und
Buchen, d. h. sie müssen die Dinge selbst erkennen und erforschen und nicht nur
fremde Beobachtungen und Zeugnisse darüber.“ Wie revolutionär diese Forderung
damals war, zeigt sich in der Tatsache, dass Comenius Lehrwerk Orbis sensualium
pictus („Die sichtbare Welt“) aus dem Jahre 1658 schon deshalb Aufsehen erregte,
14 Vgl.: Martens, Ekkehard: Sokrates’ engagiertes Philosophieren für ein gutes Leben. In Zeit-
schrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 1/2020. S. 79–85.
15 Harari, Yuval Noah: Eine kleine Geschichte der Menschheit. 17. Auflage 2015. München:
weil es Abbildungen enthielt. Zwar verfolgte Comenius noch das Ziel, durch die
Kraft von Realerfahrungen eine Einsicht in den göttlichen Schöpfungsplan zu ver-
mitteln, aber seine Lerntheorie trug neben einer Aufwertung des konfuzianischen
Prinzips auch zu einer Wiederbelegung des naturwissenschaftlichen Forschens bei.
Den vielleicht entscheidenden Durchbruch bewirkten die anglikanische
Erkenntnistheorie und die Wissensexplosion der Naturwissenschaften. Unter
ihrem Einfluss wurde die Einbeziehung der Erfahrung zum didaktischen Grund-
prinzip der Aufklärung. Das Spektrum reicht von Rousseaus romanisch geprägtem
Emil von 1762, über Henry David Thoreaus Walden; or, Life in the Woods
von 1854, bis zu durchaus völkischen Werken wie Friedrich August Fingers
Anweisung zum Unterricht in der Heimatkunde von 1844.
Die Praxis der staatlichen und kirchlichen Bildungsanstalten dürfte von diesen
Idealen allerdings weit entfernt gewesen sein. Nach Aussagen von Augenzeugen,
zu denen auch Immanuel Kant gehörte, handelte es sich primär um Zuchtanstalten,
die sich nicht an Erfahrungswelten, sondern an einem „Gängelwagen der Regeln“
orientierten, um jungen Menschen „alle Kühnheit, selbst zu denken“16 auszu-
treiben. Pestalozzis Diktum von einem Lernen mit Kopf, Herz und Hand kam für
Kant zu spät. Tragisch, denn der ganzheitliche Ansatz Pestalozzis darf mit guten
Gründen als „Aufklärungspädagogik“ bezeichnet werden.17 Auch die Anfänge
des Sportunterrichts sind eng mit der Elementargymnastik Pestalozzis verbunden.
Allerdings vernachlässigten spätere Konzeptionen die ganzheitliche Förderung
des Individuums zu Gunsten einer militärisch geprägten Leibesertüchtigung.18
Dennoch wurde auch die erfahrungsorientierte Persönlichkeitserziehung voran-
getrieben. Robert Baden-Powell gründete 1907 in England die erste Pfadfinder-
gruppe die als Prototyp der modernen Erlebnispädagogik gelten kann.
Nicht zuletzt unter dem Schock des Ersten Weltkrieges versuchte die Reform-
pädagogik der zwanziger Jahre vielen Defiziten einer konformistischen und
autoritären Bildung entgegenzuwirken. Bereits 1916 war Deweys Democracy and
Education erschienen, in dem der Autor die tätige Erfahrung zum entscheidenden
Lernprinzip erhob. 1918 folgte The project method. The use of the purposeful
act in the educative process von W.H. Kilpatrick.19 Das „Learning by doing“,
Fackelträger 1975.
19 Vgl. Kilpatrick, William Heard: The project method. The use of the purposeful act in the
educative process. New York City: Teachers College – Columbia University 1918.
12 M. Tiedemann
20 Vgl. Knoll, Michael: Nicht Dewey, sondern Comenius. Zum Ursprung der Maxime „learning
by doing“. In: Knoll, Michael: Dewey, Kilpatrick und „progressive“ Erziehung. Kritische
Studien zur Projektpädagogik. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2011, S. 287–298.
21 Vgl. Heckmair, Bernd/Michl, Werner: Erleben und Lernen, Einführung in die Erlebnis-
pädagogik. München: Reinhardt Verlag 2008, S. 16.
22 Vgl. Böckenstette, Claudia: Die aus der Reformpädagogik hervorgegangene Erlebnis-
pädagogik als erzieherischer Leitfaden für die Hitler-Jugend. München: GRIN Verlag 2009,
https://www.grin.com/document/159422. (24. März 2020).
23 Vgl. Warwitz, Siegbert/Rudolf, Anita: Projektunterricht. Didaktische Grundlagen und Modelle.
Hans Aebli, in Nachfolge seines Lehrers Piaget, die Notwendigkeit eines hand-
lungsorientierten und durch Originalerfahrung geprägten Unterrichts vertreten.24
Aktuell setzen sich Lernpsychologie und Hirnforschung unter anderem mit den
veränderten Lebenswelten von Jugendlichen auseinander.25 Hier wird unter
anderem eine mediale Reizüberflutung beklagt. Erstaunlicherweise führt dies
jedoch nicht zu einer Renaissance des augustinischen Prinzips. Angesichts der
massiven Zunahme virtueller Welten, betonen aktuelle Studien und Veröffent-
lichungen den Wert von Original-, bzw. Realbegegnungen für einen nachhaltigen
Lernprozess.26 Nicht zuletzt weisen internationale Studien auf den dramatischen
Bewegungsmangel von Kindern und Jugendlichen hin und fordern sämtliche
Erziehungseinrichtungen dazu auf, diesem entgegenzuwirken.27 Der Jugend
Naturreport aus dem Jahr 2016 dokumentiert, dass 22 % der Befragten mindestens
fünf Stunden am Tag mit digitalen Medien verbringen. 35 % verbrachten 2bis 3 h
vor den Bildschirmen. Gleichzeitig sank die gemessene Wertschätzung etwa für
einen Gang durch den Wald oder eine Übernachtung im Freien im Vergleich zum
Referenzjahr 1997 signifikant um 20 bzw. 24 %.28
Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht besteht daher durchaus Interesse an
der Einbeziehung von Bewegung und Realerfahrungen. Angesichts verkürzter
Schulzeiten und einer dramatischen Umgestaltung der Schule von der Bildungs-
zur Ausbildungsinstanz, dürfte lediglich die zeitliche Realisierung vielerorts
umstritten sein. Allerdings könnte die Rückkehr zahlreicher Bundesländer zum
Abitur nach neun Jahren Freiräume eröffnen, die auch für die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und erlebnispädagogischer Ansätze in die philo-
sophische Bildung genutzt werden könnten.
24 Vgl. Aebli, Hans: Psychologische Didaktik. Didaktische Auswertung der Psychologie von Jean
Piaget. Stuttgart: Klett Verlag 1963.
25 Vgl. Zielke, Björn: Nicht nur Klettern oder Urlaub! Erlebnispädagogik im Lichte der Hirn-
forschung. Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag. Reihe: Pädagogik. Bd. 14.
Marburg: Tectum-Verlag 2010.
26 Vgl. Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg:
Spektrum Akademischer Verlag 2002.
27 Vgl. Guthold, Regina/Stevens, Gretchen A./Riley, Leanne M./Bull, Fiona C.: Lancet Child
Adolescent Health: Global trends in insufficient physical activity among adolescents: a pooled
analysis of 298 population-based surveys with 1·6 million participants 2019, https://doi.
org/10.1016/S2352-4642(19)30323-2. (24. März 2020).
28 Vgl. Brämer, Rainer/Knoll, Hubert/Schild, Hans-Joachim: 7. Jugendreport Natur. Erste Ergeb-
nisse. Natur Nebensache. Universität Köln 2016, S. 4 und 11. https://www.wanderforschung.de/
files/jugendreport2016-web-final-160914-v3_1903161842.pdf; (31.03.2020).
14 M. Tiedemann
„Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist keine Wissen-
schaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer ‚weniger‘, das heißt enger und genauer
definierter Gegenstandsbereiche zu lernen; sie unterscheidet nämlich zwischen Wissen-
schaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaft-
lichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne
Zeitgenossen und als individuelle Personen.“30
Nach Ekkehard Martens und Herbert Schnädelbach lässt sich Philosophie als
Wissenschaft durch Objekt- und Ergebnisorientierung charakterisieren, während
sie als Aufklärung von Subjekt-und Prozessorientierung geprägt wird:
„Als ‚reiner‘ Typus genommen ist die ‚Philosophie als Wissenschaft‘ die Philosophie, die
ganz beim Gegenstand ist und in selbstvergessener Faszination sein Wesen, seine Struktur
und die ihn bestimmenden Gesetze zu ermitteln sucht. [...] ‚Philosophie als Aufklärung‘
hingegen meint die analysierende, interpretierende und erkennende Beschäftigung des
Philosophierenden mit sich selbst. Was Aufklärung von Wissenschaft unterscheidet,
ist genau dieser Selbstbezug des Subjekts. […] Nicht der ist aufgeklärt, der alles weiß,
sondern der das Gewusste in Bezug zu setzen vermag zu sich selbst.“31
29 Kant,
Immanuel: Logik – Ein Handbuch zu Vorlesungen. AA IX 1800, S. 25.
30 Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 12.
31
Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert: Zur gegenwärtigen Lage der Philosophie.
In: Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert (Hrsg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 1.
Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 12–35, 32.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 15
„Das [philosophische] Denken verallgemeinert stets, es presst aus den vielen Einzel-
dingen – die es dank der Entsinnlichung handlich zusammenpressen kann – allen Sinn
heraus, der in ihm stecken könnte.“32
„Standards der Rationalität [einzuhalten], die für alle in gleicher Weise gelten […] und
die verwendeten Begriffe in all ihren möglichen Lesarten so klar und argumentative
Zusammenhänge so transparent wie möglich zu machen […].“34
Von zentraler Bedeutung ist das Ringen um Objektivität, verstanden als maximal
intersubjektive Rechtfertigung. Die Genese dieser kulturellen Leistung ist stark
europäisch geprägt. Ihr Anspruch ist hingegen universell. Zentrale Prämisse ist die
Annahme einer zur Abstraktion fähigen Vernunft als anthropologische Konstante.
Philosophische Bildung ist darum bemüht diese Arbeit am Logos35 zu
systematisieren und im Leben möglichst vieler Individuen wirksam zu machen.
Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Schulung der Urteilskraft. In Deutsch-
land einigten sich der Fachverband für Philosophie e. V., der Fachverband Ethik
e. V. und das Forum für Didaktik der Philosophie und Ethik, sowie die Sektions-
leitung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie auf ein gemeinsames Grund-
verständnis dessen, was „für die Praxis des Philosophie- und Ethikunterrichts
gelten soll.“36 Als Vorrangiges Ziel der Fächergruppe wird in diesem Dokument,
wie in nahezu allen europäischen Rahmenplänen, die Stärkung der Urteilskraft
genannt. Ähnlich, aber mit internationaler Bedeutung, argumentiert die UNESCO
32 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München: Piper Verlag
1979, S. 196.
33 Vgl. Martens, Ekkehard: Philosophie als Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung. In: Nida-
„Philosophy and Democracy urge each of us to exercise our capacity for judgement, to
choose for ourselves the best form of political and social organisation, to find our own
values, in short, to become fully what each of us is, a free being.“37
3 Kompatibilität
37
Mayor Zaragoza, Frederico: A school of freedom. In: Droit, Roger-Pol: Philosophy and
democracy in the world. Paris: UNESCO Publishing 1995, S. 12.
38 Vgl. Martens, Ekkehard: Philosophie als Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung. In: Nida-
„ganzheitlichen Konzept der Urteilsbildung [beruht und] nicht auf die Beförderung der
emotionalen Intelligenz oder das Einüben kognitiver Strategien philosophischen und
ethischen Argumentierens verkürzt werden [darf].“42
39 Vgl. Seele, Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichts-
methode. Münster: Lit Verlag 2012.
40 Vgl. Sonderheft Wandern – Die Wege der Gedanken. Philosophie Magazin. 06/2018.
41 Vgl. Messner, Reinhold: „Aktion und Meditation sind dasselbe“ Ein Interview mit Wolfram
43 Vgl. Goergen, Klaus: Das moralische Urteil, ein egalitäres Modell. Zeitschrift für Didaktik der
Philosophie und Ethik, 3/2009, S. 170–181.
44 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen. 3. Auflage
war, tut der richtigen Analyse von ethischer Urteilskraft keinen Abbruch. Eichmann war mit
hoher Wahrscheinlichkeit kein banaler Verwaltungsbeamter, sondern ein Fanatiker mit Gefallen
an Grausamkeiten. Gleichwohl gab es Tausende, die ganz im Sinne Arendts, durch ihren
moralischen Stumpfsinn und erschreckend banale Tätigkeiten das unvorstellbar Böse erst ermög-
lichten.
46 Vgl. Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Dresden: Beltz 2002, S. 45, 68.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 19
„Aus dem Anspruch auf Allgemeinheit ergibt sich aber eine Bindung des Philosophierens
an den diskursiv-propositionalen Sprachgebrauch.“50
Formen im Philosophieunterricht. In Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 3/2011,
S. 244–251.
20 M. Tiedemann
„die zur Praxis offen ist, und zwar in beiden Richtungen. Einerseits hat sie von der Praxis
zu lernen, andererseits sucht sie die Praxis über sich selbst aufzuklären und aufgrund einer
solchen Aufklärung auch zu verbessern.“51
Wer von der Praxis lernen und die Praxis verbessern will, der muss der Praxis
begegnen, um in ihr Erfahrungen zu sammeln. Realbegegnungen, Beobachtungen
und Selbsterfahrungen sind demnach wichtige Bestandteile eines problem- und
schülerorientierten Unterrichts. Sie können dazu dienen, neue Fragestellungen
zu entwickeln, Probleme zu veranschaulichen oder Position nachzuvollziehen.
Darüber hinaus wirken sie der Gefahr einer rein selbstreferenziellen Philosophie
entgegen. Gleichzeitig darf der Unterricht sich nicht im Exemplarischen verlieren.
Vielmehr sind kategoriale Bestimmungen und begrifflich-argumentative Recht-
fertigung als philosophische Essenz unverzichtbar.
„Wir sprechen erst dann von Erlebnispädagogik, wenn nachhaltig versucht wird, die
Erlebnisse durch Reflexion und Transfer pädagogisch nutzbar zu machen. Klettern,
Schlauchbootfahren oder Segeln sind Natursportarten, die viel Freude und Sinn
51
Höffe, Otfried: Naturrecht ohne Naturalistischen Fehlschluss. Ein rechtsphilosophisches
Programm. In Klagenfurter Beiträge zur Philosophie. Wien: Verlag des Verbandes der wissen-
schaftlichen Gesellschaften Österreichs 1980, S. 37 f.
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 21
v ermitteln. Sie bleiben aber lediglich eine Freizeitbeschäftigung, wenn sie um ihrer selbst
willen durchgeführt werden.“52
Ein Erlebnis ist eine nachhaltig auf das Bewusstsein wirkende, situativ einmalige
und nicht beliebig reproduzierbare Erfahrung. Die nachhaltige Wirkung auf das
individuelle Gedächtnis ist zum einen auf die emotional beglückende, erregende
oder traumatisierende Intensität zurückzuführen. Zum anderen beruht sie auf
begrifflich-kategoriale Deutung, Archivierung und Konstruktion. Im zweiten Teil
der Anforderung diagnostizieren namhafte Erlebnispädagogen eine beklagens-
werte „Sprachlosigkeit“ ihres Metiers.
Ist diese prinzipielle Ebene der wechselseitigen Wertschätzung erreicht, stellt sich
die Frage nach der methodisch-praktischen Ausgestaltung.
In einem ersten Schritt kann darauf verwiesen werden, dass die Einbeziehung
außerschulischer Lernorte und erlebnispädagogischer Formate konkrete Vor- und
Nachteile für die Gestaltung aller Schulfächer mit sich bringt. Petra Sauerborn und
Thomas Brühne haben diese in der folgenden Tabelle einander gegenübergestellt.
Pro Kontra
Handlungsorientierter Umgang mit mehr- Logistischer und organisatorischer Mehrauf-
perspektivischen Bildungsinhalten wand
Freies und selbst gesteuertes Lernen Erschwerte Leistungsbewertung
Alltags- und Lebensweltorientierung Generelle Gefahren (z. B Verletzungen,
Regelverstöße)
Neue Inhalte, Medien und Methoden werden Veränderte Lernzielkontrolle
erschlossen
Freiräume der Schüler Missbrauch der Freiräume
Erfahrung von komplexen Zusammenhängen, Skepsis bei Eltern und Kollegium
erfahrbare Ausschnitte der Realität
Eigenverantwortliches Handeln ggf. Lehrplanvorgaben
Mehrdimensionale Sinneswahrnehmung ggf. erhöhter finanzieller Aufwand
Gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe Disziplin und Klassengröße
Das Bild der Schule in der Öffentlichkeit wird Die Öffentlichkeit wertet außerschulisches
verbessert Lernen als reine „Spaßveranstaltung“ ab
(Sauerborn und Brühne 2009, S. 80)
Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 23
Aus Sicht der Fachdidaktik Philosophie sei zudem auf eine weitere Heraus-
forderung hingewiesen: Es geht um die Balance zwischen Respekt und Reflexion.
Kritische Analyse von Argumentationen und Rechtfertigungen sind notwendiger
Bestandteile philosophischer Bildung. Von Kooperationspartnern kann dies aber
als quälender Szientismus erlebt werden. Einen außerschulischen Lernort auf-
zusuchen um die dort vertretenen Aussagen und Wertvorstellungen unreflektiert
zu übernehmen führt philosophische Bildung ad absurdum. Gleichwohl bleiben
auch Ethik-und Philosophiekurse Höflichkeit und Pietät verpflichtet. Fachphilo-
sophisch folgt dies aus dem Wissen um die Endlichkeit der eigenen Vernunft,
fachdidaktisch durch die Einbettung in die allgemeine Erziehung. Beispielsweise
gehört harsche Religionskritik zu den legitimen Angeboten des Philosophie-
unterrichts. Daraus folgt jedoch nicht, dass der sakrale Raum einer einladenden
Religionsgemeinschaft keine Pietät verdienen würde.
Sodann ist dem Irrtum zu begegnen, dass der Besuch eines außerschulischen
Lernorts oder die Einbeziehung von erlebnispädagogischen Formaten die Lehr-
kraft von didaktischen Planungsaufgaben entbindet.55 Außerschulische Lernorte
oder erlebnispädagogische Interventionen sind weder ein Zaubertrick zur Ver-
mittlung beliebiger Lerngegenstände, noch ist ihre Einbeziehung in den Unterricht
in jedem Fall die didaktisch bessere Wahl.56
Museumspädagogen oder Erlebnispädagogen erleben nicht selten, dass Lern-
gruppen gänzlich unvorbereitet bei ihnen abgegeben werden und auch für die
Nachbereitung des Besuches keinerlei Konzeptionen bestehen.
Fachlehrer*innen sind aber keinesfalls vom didaktischen Dreischritt aus
Planung, Durchführung und Auswertung entbunden. Die Vorbereitung reicht
von der Organisation der Anreise über Verhaltenstraining bis zur Erarbeitung
von Vorkenntnissen und Präsentationen. Während der Durchführung gilt es, die
Beschaffenheit des Lernortes und die Eigenschaften der Lerngruppe bei Arbeits-
phasen, Sozialformen und Ergebnissicherungen in ein angemessenes Verhältnis zu
bringen. Zudem muss über Ort, Sozialform, Arbeitsanleitung und ggf. Produkte
der Auswertungsphase entscheiden werden.
Sodann gilt es, zu berücksichtigen, dass nicht jede Intervention und jeder
außerschulische Lernort für jede Unterrichtsphase geeignet ist. Zudem können Sie
sehr unterschiedliche didaktische Funktionen erfüllen. Sie ermöglichen das Ent-
decken von Problemräumen bzw. das Entwickeln von Leitfragen. Sie illustrieren
Positionen, Problemzusammenhänge sowie intellektuelle und emotionale Heraus-
forderungen. Sie tragen als Dialogpartner einschlägige Wahrnehmungen oder
55
Erhorn, Jan/Schwier, Jürgen: Außerschulische Lernorte. Eine Einleitung. In: Erhorn, Jan/
Schwier, Jürgen (Hrsg.), Pädagogik außerschulischer Lernorte. Eine interdisziplinäre
Annäherung. Bielefeld: Transcript Verlag 2016, S. 8.
56
Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian: Außerschulische Lernorte –
Theoretische Grundlagen und praktische Beispiele. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/
Adam, Bastian (Hrsg.): Außerschulische Lernorte. Theorie, Praxis und Erforschung
außerschulischer Lerngelegenheiten. Immenhausen: Prolog Verlag 2015, S. 11.
24 M. Tiedemann
4 Zusammenfassung
„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“57
Diese Formel der kantischen Erkenntnistheorie birgt eine tiefe didaktische Wahr-
heit. Sie warnt nicht nur vor rein abstrakten Begriffskonstruktionen, sondern auch
davor, Erfahrung und Anschaulichkeit als Wert an sich zu verstehen. So wie der
Film Schindlers Liste allein noch lange keinen guten Geschichtsunterricht aus-
macht, so macht ein Besuch im Hospiz allein noch keinen guten Ethikunter-
richt. Der Besuch in einer Jugendstrafanstalt oder Selbsterfahrungsübungen am
Kletterfelsen bergen großes Potenzial zur Entwicklung philosophischer Frage-
stellungen oder zum Hinterfragen anthropologischer Theorien, die Exkursion an
sich ist jedoch noch keine Philosophie. Ohne eine möglichst kontroverse Reflexion
handelt es sich schlicht um philosophisch unredliche Überwältigung oder
Aktionismus. Ja, sie laufen dem Prinzip der Philosophie als Aufklärung zuwider.
„Blinde“ Bilder- oder Erlebniswelten haben etwas Entmündigendes, weil es dem
Individuum an sprachlichen Kategorien mangelt, um das Erfahrene mit sich in
Beziehung zu setzen. Gleichzeitig sind Verstandesbegriffe allein nicht in der Lage
die Komplexität unseres Daseins zu erfassen. Urteilskraft bedarf der genauen Ana-
lyse und der konsistenten Argumentation, aber auch der erfahrungsgesättigten Vor-
stellungskraft, um die Dimensionen von Handlungen und Entscheidungen erfassen
zu können.
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Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik … 27
Zusammenfassung
Der Text gibt einen Überblick über eine Strömung in der zeitgenössischen
Phänomenologie und Hermeneutik, die den Ort ins Zentrum ihres Denkens
stellt und diesen von einem naturwissenschaftlich geprägten Raumverständ-
nis abzugrenzen sucht. Nach einem philosophiegeschichtlichen Abriss des
Verhältnisses von Ort und Raum und der Vorstellung einiger Kerngedanken
dieser Strömung wird mit dem Konzept der Triangulation, das Jeff Malpas von
Donald Davidson übernimmt, ein Argument für die fundamentale Bedeutung
des Ortes für unseren Weltzugang vorgestellt. Weil auch das Denken in diesem
Verständnis immer schon verortet ist und die Verortung dem Denken nicht
zufällig zukommt, sondern für es wesentlich ist, gewinnt die Frage, wo wir
sind, wenn wir denken, eine große Bedeutung, die daher auch in Bildungs-
prozessen Berücksichtigung finden sollte.
Schlüsselwörter
Ort · Raum · Phänomenologie · Topologie · Verortung
In diesem Text greife ich auf Überlegungen zurück, die ich bereits andernorts dargelegt habe;
Vgl. insbesondere Schlitte, Annika/Hünefeldt, Thomas/Romic, Daniel/van Loon, Joost (Hrsg.):
Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften.
Bielefeld: transcript 2014. S. 7–23.
A. Schlitte (*)
Institut für Philosophie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland
E-Mail: annika.schlitte@uni-greifswald.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 29
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_2
30 A. Schlitte
Wo, sind wir, wenn wir denken? Auf den ersten Blick scheint dies keine besonders
philosophisch relevante Frage zu sein. Wo einem Philosophen oder einer Philo-
sophin eine entscheidende Idee gekommen ist – ob am Schreibtisch, im Lehnstuhl
oder im Wald, interessiert uns normalerweise herzlich wenig und hat auch für die
Bewertung dieses Gedankens keinerlei Bedeutung.
Die Auskunft, ob dieser Lehnstuhl im Schwarzwald, in Königsberg oder in
Neuburg an der Donau gestanden hat, dient höchstens der Befriedigung bio-
graphischer Neugier oder touristischen Interessen, fügt aber dem Gehalt der
Gedanken, die an diesem Ort gedacht wurden, offenbar nichts hinzu. Wo wir
sind, wenn wir denken, scheint also zunächst einmal egal zu sein. Wir sind eben
in Gedanken, und das ist vielleicht ein ganz eigener Ort, der aus der konkreten
Lebenswelt herausgehoben ist. Ich bin mit den Gedanken ganz woanders, sagen
wir schließlich auch, und meinen damit einen Zustand, der uns von dem konkreten
Ort, an dem unser Denkprozess stattfindet, entfernt und abtrennt.
Dies gilt in verschärfter Weise für das philosophische Denken, das sich nicht
auf die Einzeldinge richtet, sondern das Wesen, das Allgemeine zu erkennen sucht.
Hannah Arendt, aus deren Text Vom Leben des Geistes diese Frage stammt, stellt
das Denken im Sinne dieser Tradition dar als eine Form des „Rückzug[s], der allen
Geistestätigkeiten eigen ist; das Denken beschäftigt sich immer mit Abwesendem
und entfernt sich vom Gegenständlichen und Zuhandenen“1. In dem Maße wie
das Allgemeine keinen Ort hat, so ist auch das Denken des Allgemeinen gleich-
sam überall und nirgends: „Das denkende Ich, das sich unter Universalien, unter
unsichtbaren Essentien bewegt, ist, streng genommen, nirgends; es ist heimatlos in
einem ganz nachdrücklichen Sinne“2.
Anders als das alltägliche Leben, das von einem räumlichen Setting bestimmt
ist, könne man den Ort des Denkens also nicht räumlich bestimmen. Das Denken
findet nirgendwo statt, allerdings hat es laut Arendt in der Zeit sehr wohl einen
„Platz“ – es findet statt im Augenblick, in der „Lücke zwischen Vergangenheit und
Zukunft“3.
Hannah Arendt schließt hier an eine philosophische Tradition an, die den Raum
als Merkmal der äußerlichen und die Zeit als Merkmal der inneren Welt ver-
steht. Kant hatte die Zeit in seiner Transzendentalphilosophie als inneren Sinn
bestimmt, dem auch die Abfolge der Gedanken noch unterworfen ist, während
der Raum über diese gleichsam keine Macht hat. Doch schon wenn man bedenkt,
dass die Unterscheidung von außen und innen selbst eine räumliche ist, können
sich Zweifel an dieser Differenz melden, die denn auch in jüngerer Zeit von
1Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979, S. 195.
2Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979, S. 195.
3Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979, S. 205.
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 31
hilosophen aufgegriffen worden sind, die eine enge Verbindung zwischen dem
P
Denken und der Räumlichkeit bzw. Örtlichkeit sehen.4
Diese Philosophie des Ortes, von der nun die Rede sein wird, wendet sich explizit
gegen die Vorstellung, philosophisches Denken nehme idealerweise einen View from
Nowhere ein, der jeglicher standortgebundenen Perspektivierung enthoben ist.
Um zu erkunden, wie es zu dieser Aufwertung des konkreten Ortes kommt
und wie die eingangs gestellte Frage, wo wir sind, wenn wir denken, aus dieser
Perspektive zu beantworten sein wird, muss ich etwas ausholen. Im Folgenden soll
daher kurz die geistesgeschichtliche Ausgangssituation skizziert werden, in der sich
eine verstärkte Aufmerksamkeit für den Ort und seine Bedeutung für das Denken
entwickelt hat (2), bevor einige Kerngedanken der Philosophie des Ortes vorgestellt
werden (3). Dabei gehe ich zunächst auf den Raum ein, bevor ich auf den Ort zu
sprechen komme, da die Ortsthematik häufig im Zusammenhang mit einer all-
gemeineren Hinwendung zum Raum betrachtet wird, wie nun zu zeigen ist.
Kulturwissenschaftliche Texte, die sich mit dem Raum befassen, beginnen häufig
mit einem Verweis auf Michel Foucaults Vortrag über Andere Räume von 1967,
in dem er feststellt, „[d]ie große Obsession des 19. Jahrhunderts“ sei „bekannt-
lich die Geschichte“ gewesen, und diese Diagnose mit der These verbindet, die
Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts lasse sich „dagegen eher als Zeitalter des
Raumes begreifen“5. Spätestens seit den 1990er-Jahren hat sich dieses Diktum
insofern bewahrheitet, als unter dem Eindruck gesellschaftlicher Tendenzen wie
der Globalisierung, der zunehmenden Migration, dem Zerfall der bisherigen Auf-
teilung der Welt in zwei konkurrierende Machtblöcke Raumfragen eine so große
Bedeutung gewannen, dass der Geograph Edward Soja von einem „Spatial Turn“
in den Sozial- und Kulturwissenschaften sprechen konnte.6
4
Im deutschsprachigen Raum sind hier in jüngster Zeit Günter Figals Raumphänomeno-
logie zu nennen sowie Bernhard Waldenfels’ Studien zu Ort, Zeit und Raum: Figal, Günter:
Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie. Tübingen: Mohr Siebeck 2015; Waldenfels,
Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2009. Im englischsprachigen Raum sind einschlägig: Casey, Edward S.: Getting
Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World. Bloomington: Indiana
University Press 2009; Malpas, Jeff: Self, Other, Thing. Triangulation and Topography in Post-
Kantian Philosophy. Philosophy Today, Volume 59, Issue 1 (Winter 2015), S. 103–126. Als
Überblick vgl. ferner: Janz, Bruce (Hrsg.): Place, Space, and Hermeneutics [Contributions to
Hermeneutics 5], New York u.a.: Springer 2017.
5Foucault, Michel: Von anderen Räumen In: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band 4:
Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hrsg. Jörg Döring und
Tristan Thielmann. Bielefeld: transcript 2008, S. 241–259. Zentrale Texte der raumtheoretischen
Diskussion sind zusammengetragen in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.) Raumtheorie: Grund-
lagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.
32 A. Schlitte
die antike Philosophie noch Ort und Raum thematisiert habe.10 Auch wenn eine
solche „große Erzählung“ im Einzelnen sicherlich einen differenzierteren Blick
erfordert, werde ich Caseys Darstellung nun folgen und die wichtigsten Stationen
der philosophischen Auseinandersetzung kurz skizzieren.
Den Anfang einer jeden philosophischen Beschäftigung mit Raum und Ort stellt
das antike Begriffspaar chōra vs. topos dar. Bei der platonischen chōra und dem
aristotelischen topos haben wir es gleich mit zwei unterschiedlichen Begriffen zu
tun, die zwar meistens mit „Raum“ und „Ort“ übersetzt werden, deren Verhältnis
aber alles andere als klar ist und die nicht mit einem heutigen Verständnis dieser
Termini gleichzusetzen sind.11 Insbesondere das aristotelische topos-Denken
fungiert jedoch für Edward Casey wie für Bernhard Waldenfels als Beispiel dafür,
wie eine Philosophie, die vom Ort ausgeht, zu einer ganz anderen Sicht der Welt
und der Dinge geführt hat als eine, die den Raum im modernen naturwissenschaft-
lichen Sinne zum Ausgangspunkt nimmt.
Platon unterscheidet im Weltentstehungsmythos des Timaios zunächst zwei
grundlegende Arten von Seiendem: die Ideen auf der einen und die Einzeldinge
auf der anderen Seite. Dazwischen aber siedelt er dasjenige an, in dem die Einzel-
dinge werden, nämlich die chōra als „dritte Art“12. Es gibt also die Urbilder (das,
dem die Einzeldinge nachgebildet werden), die Einzeldinge (das, was wird) und
die chōra als das, worin das Werdende wird. Diese chōra hat aufnehmenden
Charakter und ist in gewisser Weise räumlich zu denken. Sie ist aber kein leerer
Raum, sondern hat, wie Aristoteles später bemerkt, eher Ähnlichkeit mit einer
Art Urstoff, denn es wird von ihr gesagt, sie „liege als Prägemasse bereit“13. Mit
einem rätselhaften Ausdruck bezeichnet Platon die chōra auch als „Amme“, „da
sie allen Werdens bergender Hort sei“14. An diesen Passagen fällt auf, wie wichtig
es Platon offenbar ist, dass es ein Worin gibt, das im weitesten Sinne als räumlich
10Vgl. Casey, Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley/Los Angeles/
London: University of California Press 2013; Casey, Edward S.: Getting Back into Place.
Towards a Renewed Understanding of the Place World, Bloomington: Indiana University Press
2009, S. 352; Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger
Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 16–19.
11Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York:
eine „gewisse Kraft“19 in Bezug auf den Körper, denn er bestimmt und definiert
ihn als solchen.
Um derart alle Elemente auf ihre natürlichen Orte zu verteilen, muss Aristoteles
ferner so etwas annehmen wie ein absolutes „Oben“ und ein absolutes „Unten“.
Dies führt zu der Vorstellung eines geordneten Kosmos, innerhalb dessen die
Gesetzmäßigkeiten, die für eine jeweilige Entität gelten, von ihrem jeweiligen
Platz im Ganzen abhängen. Die Lehre vom natürlichen Ort hat daher eine wichtige
Funktion nicht nur für die Lehre der Bewegung natürlicher Körper, sondern auch
für die Kosmologie.
Wo ein Körper sich befindet, ist aus dieser Sicht also nicht einfach nur eine
zufällige Position, sondern mit dem Wesen dieses Körpers selbst verbunden. Orte
sind keine ausdehnungslosen Punkte, sondern qualitativ ausgezeichnete Plätze in
einem geordneten Ganzen. Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang auch von
einer „Onto-Topologie“20, die jedem Wesen seinen Platz im Ganzen zuspricht.
Casey betont nun, dass sich spätestens mit dem Aufstieg der neuzeitlichen Wissen-
schaften auch das Verständnis von Ort und Raum verändert, und zwar in dem
Sinne, dass der Ort gegenüber der Idee eines als unendlich und leer gedachten
Raumes an Bedeutung verliert und schließlich gar nicht mehr als zentrales
Konzept in Erscheinung tritt. Diese Veränderung beginnt nach Casey schon sehr
früh, auch wenn es lange dauert, bis sie sich durchsetzt. Im Denken des Mittel-
alters und der Renaissance wird die Zentralstellung des Ortes im Kosmos all-
mählich aufgegeben zugunsten der Annahme eines unendlichen leeren Raumes,
die schon früh von Aristoteles’ Gegnern, den Atomisten, vertreten wurde. Dem
aristotelischen geschlossenen Modell wird nun die Unbegrenztheit der Atome und
des Raumes entgegengesetzt.
Die mathematisch ausgerichteten Naturwissenschaften des 17. und 18. Jahr-
hunderts verstehen den Raum schließlich als unendlich, abstrakt, homogen, iso-
trop (d. h. richtungsunabhängig) sowie als mess- und teilbare Größe. Der so
definierte Raum enthält unendlich viele, nur durch ihre quantitativ bestimmbare
Position voneinander unterscheidbare Stellen, die sich nicht mehr qualitativ aus-
zeichnen, weshalb der Ort seine zentrale Bedeutung verliert. Gemeinsam ist den
verschiedenen Ansätzen die Annahme, die Casey mit einem Begriff Whiteheads
als „einfache Lokalisierung“21 bezeichnet und die davon ausgeht, dass jedes Stück
„Man kann sagen, daß in der Neuzeit der Ort durch den Raum absorbiert wird, und dies
unabhängig davon, ob der Raum im Gefolge Newtons als absolut oder im Gefolge von
Leibniz als relativ gedacht wird. Eine konsequente Philosophie des Raumes reduziert Orte
auf bloße Stellen und Lagen im Raum.“24
Der Ort wird damit jedoch nicht nur seiner Kraft hinsichtlich der Gegenstände
beraubt, sondern er verliert selbst seinen Platz in dem Universum, das den antiken
Kosmos als Geflecht von Orten begrifflich ablöst.25
Gegenüber dieser Entwicklung betont Casey, dass der Ort keineswegs auf den
Raum reduziert werden könne, sondern dass die Differenz von Ort und Raum
für das Verständnis von Räumlichkeit geradezu wesentlich sei. Die Philosophie
its own in the cosmos. The cosmos itself, formerly a matrix of places, has yielded to the spatial
(and temporal) imperialism of the universum (literally the whole ‚turned into one‘)“, In: Casey,
Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley/Los Angeles/London: Uni-
versity of California Press 2013, S. 199.
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 37
des Ortes wendet darum ihr Interesse den Autoren zu, die insbesondere aus
phänomenologischer und hermeneutischer Perspektive im 20. Jahrhundert zu einer
Ausdifferenzierung des Raumbegriffs beigetragen haben, die auch den Ort wieder
berücksichtigt.
„Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ‚hier‘ nicht eine im Verhältnis zu
anderen Positionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr
die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt, die Verankerung des aktiven Leibes in
einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegenüber.“27
Diese Räumlichkeit des Leibes ist aber das Fundament für Räumlichkeit über-
haupt. „Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes,
daß überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.“28.
Auch der frühe Heidegger, der zwar nicht von der leiblichen Erschließung
des Raumes ausgeht, bemüht sich darum, die „existenziale Räumlichkeit des
Daseins“29 von dem Raum, in dem Vorhandenes sich befindet, abzugrenzen.
Heidegger schreibt in seiner Analyse des In-der-Welt-Seins gegen die cartesische
Vorstellung der Welt als res extensa an und versucht, die Welt als Moment der
Struktur des In-der-Welt-Seins des Daseins zu fassen und somit als „Charakter
des Daseins selbst“30 aufzuweisen. In späteren Texten ist bei Heidegger dann auch
explizit vom Ort die Rede, wobei sich das Verhältnis von Raum und Ort umkehrt.
Wir haben nämlich nicht zuerst die Vorstellung eines leeren Raumes als einer Art
Behälter, der verschiedene Orte beinhaltet, sondern von den Orten her spannt sich
dieser Raum erst auf. Der Ort befindet sich nicht im Raum und ist kein Teil des
Raumes, sondern der Raum leitet sich aus dem Ort ab: „Der Ort befindet sich nicht
im vorgegebenen Raum nach der Art des physikalisch-technischen Raumes. Dieser
entfaltet sich erst aus dem Walten von Orten einer Gegend“31, heißt es in Die
Kunst und der Raum von 1969.
Das Nachdenken über den Raum darf daher, so fordern Casey, Malpas und
andere, bei einem von den modernen Naturwissenschaften geprägten Raumver-
ständnis nicht stehenbleiben – wobei man freilich konstatieren muss, dass es „das“
naturwissenschaftliche Raumverständnis ohnehin nicht gibt und es spätestens seit
der Relativitätstheorie zu ganz neuen Raumvorstellungen gekommen ist, die ja
auch innerhalb der Philosophie rezipiert wurden.
31Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum. Frankfurt a. M.: Klostermann 2007, S. 11.
Philosophie der Verortung und Verortung der Philosophie 39
als auch stellvertretend für diesen als Ganzen, im Unterschied zum Raum als einer
abstrakten wissenschaftlichen Größe, die teilbar und messbar ist.
Während der mathematische Raum unendlich viele Stellen umfasst, die sich nur
durch ihre quantitativ bestimmbare Position voneinander unterscheiden (etwa im
Sinne einer Koordinate), unterscheiden sich die Orte der Lebenswelt in ihrer spezi-
fischen Erfahrungsqualität. Orte als begrenzte Einheiten haben zudem die Funktion,
Dinge und Lebewesen zu beherbergen. Jeff Malpas bestimmt den Ort daher wie folgt:
„Fundamental to the idea of place would seem to be the idea of an open and yet bounded
realm within which the things of the world can appear and within which events can ‚take
place‘.“32
Orte sind demnach immer Orte für etwas oder jemanden, das oder der an ihnen
verortet ist. Dabei ist die Grenze eines Ortes variabel, je nachdem, wer oder was
verortet wird. Mein Lieblingsplatz im Garten, das Viertel oder die Stadt, in der
ich wohne, können als Ort betrachtet werden, und gewinnen ihre Identität dabei
eher aus einer Einheit des Sinns als aus rein physischen Gegebenheiten – so wie
auch die Landschaft nicht einfach ein materielles Substrat ist, sondern als Einheit
erfahrbare und damit sinnhafte Natur.
Orte sind leiblich zugänglich, aber vom Leib getrennt. Ich kann einen Ort ver-
lassen und wieder zurückkehren und ich kann einen Ort mit anderen teilen, so dass
mit dem Ort mehr gemeint sein kann als der individuelle Standpunkt meiner Füße,
auch wenn die Ortserfahrung von diesem leiblichen Standpunkt ausgeht. Orte sind
selbst erfahrbar, ihr Charakter, ihre Atmosphäre, ihre Geschichte wirken auf mich
ein. Edward Casey spricht mit Rekurs auf Heidegger auch davon, dass Orte die
Kraft haben, Lebewesen, Dinge und Erinnerungen zu „versammeln“, auf die man
sich dann gemeinsam beziehen kann.33
In der Erfahrung haben wir es also weniger mit dem Raum als mit konkreten,
individuell verschiedenen Orten zu tun, doch bleibt die Philosophie des Ortes
bei dieser Beobachtung nicht stehen. Vielmehr betonen die betreffenden Autoren,
dass Ort bzw. Örtlichkeit eine fundamentale Bedingung jeder Erfahrung darstellt.
Damit gehen die philosophischen Autoren weit über eine bloße Neuentdeckung
des Ortes als Gegenstand hinaus, was sie auch fundamental von den place studies
in anderen Wissenschaften unterscheidet. Der Geograph Tim Cresswell schreibt
daher in seiner Einführung: „One confusing aspect of the genealogy of place is
that place stands for both an object (a thing that we can look at, research, and write
about) and a way of looking.“34. Der Ort ist nicht einfach ein Gegenstand, sondern
er hat selbst teil an der Art und Weise, wie wir die Welt sehen.
32Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York: Routledge
2018, S. 33.
33Vgl. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the
Das Verständnis dieses Gedankens wird nach Malpas häufig durch die
Annahme erschwert, der Ort sei etwas bloß Subjektives im Gegensatz zum Raum
als einem objektiven Bezugssystem.
Dass die Formel Ort = subjektiv, Raum = objektiv letztlich nicht aufgeht,
begründet er wie folgt: Einerseits kann die Idee eines objektiven Raumes nicht
durch bloße Abstraktion aus dem subjektiven Raum abgeleitet werden, da ein
grundlegendes Raumverständnis schon Voraussetzung jeder Abstraktion sei.
Zudem bleibt, wenn man aus dem subjektiven Raum die Perspektive abzieht,
nicht der objektive, sondern gar kein Raum übrig.35 Doch auch umgekehrt kann
der objektive Raum nicht den subjektiven fundieren, weil er nicht so etwas wie
einen Standpunkt, eine Perspektive kennt.36 Doch das heißt nicht, dass beide
Raumaspekte völlig unabhängig voneinander sind, vielmehr bedingen sie einander
wechselseitig: „although the concept of objective space is indeed conceptually
distinct from that of subjective space, the grasp of the concepts of subjective
and objective space are nevertheless mutually interdependent – each requires the
other.“37.
Wenn Malpas dann vom Ort als einer grundlegenden Bedingung der Erfahrung
spricht, meint er daher nicht eine dieser beiden Seiten, sondern eine Struktur,
die der Differenz von Subjektivität und Objektivität noch vorausliegt und die im
Folgenden etwas genauer untersucht werden soll.
Malpas benutzt zur Veranschaulichung dieser Struktur den Begriff der „Tri-
angulation“, der aus dem Bereich der Landvermessung stammt und ein Verfahren
bezeichnet, das sich der Gesetze der Trigonometrie bedient. Wenn man die Länge
einer Seite eines Dreiecks und die Winkel kennt, kann man die übrigen Seiten
mittels trigonometrischer Formeln berechnen, daher ermöglicht das Aufteilen
einer Fläche in Dreiecke die Messung großer Distanzen in der Landschaft.
In einem Essay von 1982 verwendet Donald Davidson den Begriff im Rahmen
seines Versuchs, die Entstehung von Objektivität zu erklären, als Analogie. Unter
Triangulation versteht Davidson die „in drei Richtungen gehende Beziehung
zwischen zwei Sprechern und einer gemeinsamen Welt“38, die in späteren Texten
35Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York:
Routledge 2018, S. 68.
36Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York:
2018, S. 71.
38Davidson, Donald: Einleitung. In: Davidson, Donald: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv.
39Davidson, Donald: Die Entstehung des Denkens In: Davidson, Donald: Subjektiv, Inter-
Dieses Setting kann nun auch als Verortung der Beteiligten betrachtet werden,
denn nicht nur muss der Gegenstand, auf den die beiden Wesen sich beziehen,
irgendwo sein, auch die beiden Lebewesen blicken von je spezifischen Stand-
orten auf den Gegenstand, und nur so kann sich das Problem der Wahrheit hier
für Davidson stellen. Dass es verschiedene Standpunkte im wahrsten Sinne
des Wortes geben kann, ist eine Voraussetzung für das Denken überhaupt. Ver-
schiedene Standpunkte setzen aber Orte voraus, an denen etwas oder jemand
sich aufhält. Für Malpas gewinnt diese Struktur eine zentrale Bedeutung für die
menschliche Existenz als solche:
„So, to be a creature that is capable of worldly experience and of thought is not merely to
be a creature located in a physically extended space. It is to be a creature that finds itself
always already situated within a complex but unitary place – a place that encompasses the
creature itself, other creatures, and a multiplicity of objects and environmental features.“43
Sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer und Davidson ist diese triangulatorische
Struktur aber keine einschränkende Bedingung, sondern die Ermöglichung des
Denkens. Die genannten Autoren teilen nämlich die Idee, „that understanding is
not undermined by the placed character of our engagement with things and with
the world, but is rather made possible by it“44. Malpas deutet es als Ausdruck eines
fundamentalen Verortetseins, das aller Erfahrung vorausgeht: „In topographic terms,
this idea has an exact correlate: we gain access to a region only through being at
a certain place within it.“45. Unser In-der-Welt-Sein, so lässt sich dieser Gedanke
reformulieren, bedeutet wesentlich Verortetsein, und die Welt, in der wir uns
bewegen, ist letztlich eine Ortswelt.
Wo sind wir also, wenn wir denken? Vielfach hat die Philosophie diese Frage mit
dem Verweis auf ein Nirgendwo beantwortet, einen Nicht-Ort, der nicht durch
einen partikularen Standpunkt, durch eine Geschichte, durch kulturelle Besonder-
heiten geprägt ist. Wir haben gesehen, dass eine Philosophie des Ortes dieses Ideal
des Denkens nicht teilen kann. „Heißt sehen nicht immer, irgendwoher sehen?“,
hatte Merleau-Ponty gefragt, und auf die Verbindung des Denkens mit dem Leib
hingewiesen, der uns die Verortung in der Welt ermöglicht.
43Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Oxon/New York: Routledge
2018, S. 161.
44Malpas, Jeff: Self, Other, Thing, Triangulation and Topography in Post-Kantian Philosophy.
Damit stellt sich aber die Frage nach dem Übergang von einem grundsätz-
lichen philosophischen Nachdenken über den Ort als Bedingung der Erfahrung
zu einer Beschäftigung mit den konkreten Orten des Denkens und Lebens als
Gegenständen der Erfahrung. Diesen Übergang könnte man wie folgt beschreiben:
Weil Denken immer schon verortet ist und weil die Verortung dem Denken nicht
zufällig zukommt, sondern für es wesentlich ist, kommt der Frage, wo wir sind,
wenn wir denken, eine große Bedeutung zu.
Dies ist im Übrigen auch aus einer ganz anderen Tradition heraus erkannt
worden. So wird etwa in der Kognitionswissenschaft seit einiger Zeit unter dem
Stichwort „situatedness“ oder „embodiment“ oder „embeddedness“ die Ein-
bindung der Kognition in Kontexte und Umwelten betont. Auch hier ist die
Forschung abgekommen von der Vorstellung, das Denken sei etwas, das sich
ausschließlich im Innern abspielt, und umso wichtiger wird die Umgebung, der
Ort, an dem wir denken, was sich in den 1980er- und 1990er-Jahren auch in der
Idee des „situated learning“ niedergeschlagen hat.46 Die „Kraft des Ortes“, von
der Aristoteles gesprochen hatte, zeigt sich in unterschiedlichsten kulturellen
Bereichen und ist auch und gerade für Bildungsprozesse von zentraler Bedeutung.
Dass Orte Dinge „versammeln“, das sich an ihnen Erinnerungen und Bedeutungen
festsetzen, wird im Konzept der Erinnerungsorte in der Geschichtswissen-
schaft beispielsweise längst theoretisch reflektiert und findet sich in Gedenk-
stätten praktisch umgesetzt. Die Interaktion zwischen einer Skulptur und ihrer
Umgebung wird im Gedanken der „Ortsspezifik“ in der Kunst thematisiert und
kann in Skulpturenparks und -projekten besichtigt werden. Spaziergänge zu den
wichtigsten Schauplätzen von Filmen und Büchern gehören heute selbstver-
ständlich zum touristischen Angebot und Führungen mit ortskundigen „Rangern“
eröffnen einen Zugang zu Nationalparks und Naturschutzgebieten.
Dass Orte wichtig für uns sind und einen Einfluss auf uns ausüben, heißt aber
nicht, dass sie etwas fertig Gegebenes sind, das wir einfach so hinnehmen müssen.
Vielmehr bilden sich die konkreten Orte erst durch Prozesse und Praktiken der
Verortung. Tim Cresswell gibt das banale Beispiel des Einzugs in ein neues Wohn-
heimzimmer, das durch persönliche Gegenstände in Besitz genommen und damit
erst zu einem eigenen Ort gemacht wird. Der scheinbar neutrale Raum, die weiße
Wand, füllt sich mit Erinnerungsstücken, die dem Ort einen spezifischen Charakter
verleihen: „Thus space is turned into place. Your place.“47. Zu den konkreten
Orten, mit denen wir es zu tun haben, bauen wir ebenso wie zu unseren Mit-
menschen und zu den Dingen, die sich an ihnen befinden, eine Beziehung auf,
auch wenn der Ort selbst uns eher wie eine Hintergrundstruktur erscheint, deren
Komponenten sich nicht immer leicht benennen lassen. Doch wenn wir die Tri-
angulation ernst nehmen, die ja die Gesamtstruktur aus Ding, mir selbst und
46Vgl. Clancey, William J.: Scientific Antecedents of Situated Cognition In: Robbins, Philip/
Aydede, Murat (Hrsg.): Cambridge Handbook of Situated Cognition. New York: Cambridge Uni-
versity Press 2009, S. 11–34.
47Cresswell, Tim: Place. An Introduction, Malden, MA/Oxford: Wiley-Blackwell 2015, S. 7.
44 A. Schlitte
den Anderen bezeichnete, sind wir an einem Ort dann auch nicht allein, sondern
können diesen mit anderen Lebewesen und Dingen teilen und ihn gemeinsam auch
verändern, so dass er bewohn- und erlebbar wird. Auch eine Beziehung zu Orten
aufzubauen kann man lernen. Man kann sich von ihnen erzählen lassen, man kann
sie erlesen, aber man kann sie auch erwandern, erspüren und ihre Atmosphäre,
den genius loci auf sich wirken lassen. Folgt man der Ortsphilosophie, so verwirk-
lichen wir mit diesen Praktiken einen wesentlichen Zug unserer menschlichen
Existenz. Auf diese Weise schweben wir weder im luftleeren Raum noch sind
wir an ein bestimmtes Fleckchen Erde ein für alle Mal gebunden. Auch wenn wir
immer schon irgendwo verortet sind, verorten wir uns doch immer wieder neu.
Literatur
Alpsancar, Suzana/Petra Gehring/Marc Rölli (Hrsg.): Raumprobleme. Philosophische Perspektiven.
München: Fink 2011.
Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München: Pieper 1979.
Aristoteles: Organon I: Kategorien In: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 1, Übers.
Eugen Rolfes. Darmstadt: WBG 1995.
Aristoteles: Physik In: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6, Übers. Hans Günter
Zekl. Darmstadt: WBG 1995.
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University of California Press 2013.
Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place
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Davidson, Donald: Vernünftige Tiere In: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 2004, S. 167–185.
Davidson, Donald: Die Entstehung des Denkens In: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2004, S. 221–229.
Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.) Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und
Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.
Figal, Günter: Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie. Tübingen: Mohr Siebeck 2015.
Foucault, Michel: Von anderen Räumen In: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band 4:
1980–1988. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 931–942.
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Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.
Peripatetisches Philosophieren
Katrin Seele
Zusammenfassung
Peripatetisches Philosophieren stellt ein Lern- und Lehrformat dar, bei dem
Lernende im Gehen in einem thematisch affinen Umfeld unter Einbeziehung
philosophiedidaktischer Lern-/Unterrichtsmethoden philosophische Themen
und Inhalte erarbeiten. Lernende können je nach Lehr-/Lernkontext Einzelne
oder Gruppen im Präsenz- oder Fernunterricht sein. Der Beitrag beschreibt
zunächst das Peripatetische Philosophieren als aktuelle Lern- und Lehrform,
um dann die vier Begründungszusammenhänge, aus denen sich das Peri-
patetische Philosophieren speist, als die „vier Säulen peripatetischen Philo-
sophierens“ zu erläutern: Tradition, Kognition, Lokomotion und Situation.
Abschließend bietet der Beitrag einen Ausblick auf aktuelle Entwicklungen
Peripatetischen Philosophierens und betont dessen Eignung für Lernsettings im
Kontext von Pandemieprävention und Distance Learning.
Schlüsselwörter
K. Seele (*)
Institut Sekundarstufe I, Pädagogische Hochschule Bern, Bern, Schweiz
E-Mail: katrin.seele@phbern.ch
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 47
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_3
48 K. Seele
1 Einleitung
„Beim Denken gehen, beim Gehen denken“5, lautet eine sehr kurze Beschreibung
der peripatetischen Methode. Peripatetisches Philosophieren bedeutet, das Philo-
sophieren im Gehen zu praktizieren, vorzugsweise draußen, und dabei Eindrücke
der Umgebung, aber auch der eigenen Körperwahrnehmung während des Gangs
in die philosophische Reflexion einfließen zu lassen. Das Peripatetische Philo-
sophieren als Lern- und Unterrichtsform greift dabei eine sehr alte philosophische
Praxis auf, wie unten in den Ausführungen über die Tradition der Methode gezeigt
wird. Neben der philosophischen Tradition sind aber auch kognitions- und neuro-
wissenschaftliche Erkenntnisse über das Denken und Lernen, über körperliche
Bewegung und die Relevanz von Orten und Umgebungen für Denk- und Lern-
prozesse wichtige Säulen, die die Methode des Peripatetischen Philosophierens
tragen. Dieser Aufsatz zeichnet daher anhand der vier Säulen Tradition, Kognition,
Lokomotion und Situation (s. Abb. 1) das theoretische Fundament des Peri-
patetischen Philosophierens nach.
Warum „peripatetisch“? Der Name der Methode leitet sich vom altgriechischen
Verb peripatein (περιπατεῖν) ab, das so etwas wie „umherwandeln“ bedeutet.
Das Substantiv peripatos (περίπατος) bezeichnet einen „Rundweg“6. Aristoteles’
philosophische Schule trägt ebenfalls den Namen Peripatos, abgeleitet von ihrem
Unterrichtsort in Athen. Peripatetisches Philosophieren als Methode bzw. Lern-
und Unterrichtsform knüpft jedoch weniger inhaltlich an die aristotelische philo-
sophische Schule und Tradition an, als vielmehr an die altgriechische Praxis des
5 Seele,
Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichtsmethode.
Münster/ Zürich: LIT 2012.
6 Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Althistorische
Philosophierens auf einem Peripatos, die auch, aber nicht nur eine aristotelische
Praxis war. Diese Praxis kann als früheste schriftlich überlieferte Form des Philo-
sophierens im Gehen gelten.7
7
Vgl. Hoepfner, Wolfram: Philosophenwege. Konstanz: UVK (= Xenia – Konstanzer Alt-
historische Vorträge und Forschungen 52) 2018, S. 11.
Peripatetisches Philosophieren 51
Peripatetische Regeln
1. Gehe! Bitte möglichst nicht stehenbleiben, nicht hinsetzen. Du darfst
selbstverständlich kurz anhalten, um themenbezogen auf deinem Spazier-
weg etwas genauer anzusehen oder anzufassen. Gehe jedoch danach rasch
weiter und führe deine Gespräche im Gehen. Versuche, auch Notizen im
Gehen anzufertigen (ggf. Audionotizen via Smartphone).
2. Diskutiere! Mit verschiedenen Mitgliedern deiner Lerngruppe, aber gern
auch mit anderen Personen, die du unterwegs triffst. Die Idee ist, dass du
deine Arbeitsaufträge im dialogischen Austausch bearbeitest.
3. Bleibe „bei der Sache“!
4. Bleibe im vorgesehenen Spazierareal! So besteht die Möglichkeit,
dass du unterwegs Mitschüler*innen bzw. Studierenden anderer Arbeits-
gruppen und deiner Lehrperson begegnest und dich mit ihnen austauschen
kannst.
5. Behalte die Zeit im Auge! Teile dir die vorgegebene Zeit gut ein und sei
bitte pünktlich an den vorgegebenen Treffpunkten.
konkrete Umfeld, in dem das bewegte Denken stattfindet, für die intendierte
kreative Synthese von Thema, Bewegung und Umfeld in einem Gedankengang
von Bedeutung ist. Den Abschluss des Beitrags bildet ein Ausblick auf aktuell
in der Erprobung befindliche Variationen des Peripatetischen Philosophierens als
schulische und universitäre Praxis.
4.1 Tradition
Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik.
Paderborn: Ferdinand Schöningh 22017, S. 30 f.
Peripatetisches Philosophieren 53
„Es ist mir ein Anliegen, im Zusammenhang mit Peripatos das oft in deutschen Über-
setzungen benutzte Wort Spaziergang zu tilgen. Noch anstößiger ist die Formulierung,
dass Aristoteles bei der Lehre lustwandelte. Die Lehre auf einem Peripatos war
konzentrierte Arbeit. […] Auch bei Xenophon, Oikonomikos 14.15 ist mit dem Wort
περίπατος ein ruhiger, im Freien liegender, von Philosophen benutzter Weg gemeint
(kein Spaziergang!)“13
„During the Roman empire, many sages wandered all over the Mediterranean world.
They went about for the sake of intellectual and spiritual enrichment, but essentially to
spread their teaching and to intervene in local quarrels as religious consultants. Wandering
connoted their ambiguous status in society – both in and out – and thereby enhanced their
charisma and endowed them with an aura of superior power.“14
In früheren Zeiten sei das Umherwandern, der Status „Wanderer“, hingegen eher
unheimlich und verdächtig gewesen – so bei Homer.15 Der erste überlieferte
wandernde Philosoph (in der positiven Konnotation eines weisen Mannes) war
Montiglio zufolge Solon (7. Jh. v. Chr.), von dem Herodot berichtet. Der Unter-
schied zwischen dem philosophierenden Wandern Solons und der hier als peri-
patetisch bezeichneten philosophischen Praxis von Platon oder Aristoteles lag
jedoch vermutlich im Zweck, der mit dem Wandern bzw. Umhergehen verknüpft
war: Solons Reisen dienten vor allem dem eigenen Erkenntnisgewinn, wohingegen
die platonische Akademie oder der aristotelische Peripatos Bildungsinstitutionen
waren. Montiglio charakterisiert die unterschiedlichen Motive wie folgt:
„Love of knowledge is the motive that drove several other Presocratics to travel
extensively. Although these sages were also called upon to share their wisdom, as Solon’s
example alone shows, they primarily went about to learn for themselves rather than to
teach others. Their wanderings are a ‚Bildungsreise‘.“16
logische Debatte im Anschluss an Helvétius‘ De l’Esprit. In: Garber, Jörn/ Thoma, Heinz (Hrsg.):
Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen:
Max Niemeyer Verlag 2004. (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24), S. 59.
20 Vgl. Montiglio, Silvia: Wandering Philosophers in Classical Greece. In: The Journal of
Hellenic Studies, 120. 2000, S. 86–105. https://doi.org/10.2307/632482, S. 100.
Peripatetisches Philosophieren 55
„welcher um die innere Seite der meist nach Norden, oft auch nach Süden von der Kirche
liegenden Hauptgebäude des Klosters geht, im Viereck einen Garten od. Begräbnißplatz
umschließt, meist gewölbt, aber auch flach gedeckt, oft reich architektonisch u. malerisch
ausgeschmückt ist u. bei ungünstiger Witterung zu Bet- u. Bittgängen unter Vortragung
des Kreuzes, od. auch zu Spaziergängen der Klosterbewohner diente. […] In den
Benedictinerklöstern wurden in der einen Seite des Kreuzgangs täglich die bestimmten Capitel
aus den Kirchenvätern etc. u. jährlich wenigstens viermal die Regel des St. Benedict vor den
versammelten Brüdern verlesen, weshalb dieser Gang auch oft Lehrgang (Lectio) heißt.“22
Das Gehen als Tätigkeit und reflektierenswerte Art und Weise der Fortbewegung
wird Bayertz zufolge hingegen erst in der Neuzeit als philosophisches Thema
entdeckt23, interessanterweise gerade mit dem Fokus auf das Fragile, Sturz-
anfällige, motorisch Unsichere dieser Fortbewegungsart. Bayertz sieht in dieser
Fokussierung die veränderte Stellung des Menschen in der Welt gespiegelt, die
„ambivalent und unsicher geworden“24 sei. Gleichzeitig spiele das Gehen als
Kennzeichen gesellschaftlicher Stellung im 18. Jahrhundert eine Rolle: „Das
Bürgertum will sich vom Adel abgrenzen, der zwar auch zu Fuß ging, aber nur
in seinen Gärten, die durch hohe Mauern abgeschottet waren. […] In expliziter
Abgrenzung dazu wurde im Bürgertum das Gehen im öffentlichen Raum und
zumal in der Natur zur Tugend erhoben.“25
Auch mit Blick auf die Neuzeit können unterschiedliche Praktiken des Philo-
sophierens im Gehen differenziert werden von
21 Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark mit
Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 13.
22 Pierer‘s Universal-Lexikon: Kreuzgang. 4. Auflage. Band 9. Altenburg 1860, S. 802.
23 Vgl. Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark
Zur erstgenannten Gruppe gehören beispielsweise Immanuel Kant, der für seine
täglichen Spaziergänge durch Königsberg bekannt ist, oder Friedrich Nietzsche,
der Gehen und Denken in Sils-Maria eng verknüpfte und wohl die Auffassung
vertrat, „dass ‚ungeheure Märsche‘ und ‚beständige Strapazen‘ gut für das Genie
seien. Bekanntlich war er allem Sitzen abgeneigt.“27 Auch der dänische Philo-
soph Sören Kierkegaard betonte in seinen Briefen die Relevanz des Gehens für
sein Wohlbefinden allgemein, aber auch für das Denken. Es ist stark anzunehmen,
dass diese Philosophen auf ihren Spaziergängen über ihre Gedanken, Texte und
Lektüre nachdachten, philosophierten. Eine explizite und bewusste Verknüpfung
von Gehen, Denken und Umfeld fand jedoch in aller Regel nicht statt bzw. ist
nicht überliefert. Auch waren diese Denker wohl vor allem allein unterwegs, es
fand also keine dialogische oder didaktisch kontextualisierte Reflexion statt, wie
es wohl in der Schule des Aristoteles der Fall gewesen ist.
Im Kontext des hier vorgestellten Peripatetischen Philosophierens ist aber ins-
besondere diejenige philosophisch-praktische Tradition von Interesse, bei der das
Gehen nicht vordergründig zur Erholung des denkenden Individuums praktiziert
wird, sondern Gehen, Denken und Lehren/Lernen auf einem bewusst dafür aus-
gewählten Weg gezielt verknüpft werden und das Umfeld wie auch der sich
bewegende Körper ein „Mitspracherecht“ bei der philosophischen Reflexion
bekommen. In dieser Traditionslinie sind vor allem Jean-Jacques Rousseau und
Henry Thoreau zu nennen.
Im Werk Jean-Jacques Rousseaus gehen Pädagogik, das persönliche Umfeld
und die Praxis des Gehens eine enge und bewusste Verknüpfung ein.
„Irren, allein, ohne Ziel und ohne Unterlass, zwischen Bäumen und Felsen, die meine
Bleibe umgeben, träumen oder genauer extravagabundieren […], wie es mir gefällt und
Maulaffen feilhalten, wenn sich mein Gehirn allzu sehr erhitzt, und zur Abkühlung ein
paar Binsen analysieren, kurz: mich ohne Unterwerfung und Hemmnis meinen Phantasien
hingeben, die, dem Himmel sei Dank, ganz in meiner Macht stehen […]“,28
27 Schmidt,Aurel: Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden. Frauenfeld/ Stuttgart/ Wien: Ver-
lag Huber 2007, S. 22.
28 Rousseau, Jean-Jacques (o. J.): Emil oder Über die Erziehung. Band 1. Leipzig: Holzinger,
S. 343.
Peripatetisches Philosophieren 57
sich umherschleppen.“29 Mit Émile hingegen geht der fiktive Erzieher Jean-
Jacques in die Natur, wie beispielsweise im Dritten Buch beschrieben wird: Hier
verirren sich Émile und Jean-Jacques bei einem Spaziergang im Wald und können
den Heimweg nicht finden. Jean-Jacques führt in diesem Umfeld mit dem kindlich
verzweifelten Émile einen Dialog, fast schon ein sokratisches Gespräch, in dem
er das Vorwissen und die Kombinationsgabe Émiles über Orientierungsmöglich-
keiten aktiviert und Émile daraufhin eine Lösung entwickelt, wie der Heimweg
gefunden werden kann. Jean-Jacques kommentiert die Episode folgendermaßen:
„Ihr könnt versichert sein, daß er die Lektion dieses Tages sein Leben lang nicht ver-
gessen wird, während meine Rede, sobald ich ihm über dies alles nur in seinem Zimmer
einen Vortrag gehalten hätte, schon am nächsten Tage wieder vergessen wäre.“30
„Aber das Wandern, das ich meine, hat nichts zu tun mit den sogenannten gymnastischen
Übungen, bei denen man Hanteln oder Stühle schwingt, planmäßig, wie ein Kranker seine
Medizin zu vorgeschriebener Zeit einnimmt. Man betrachte den Spaziergang vielmehr als
die Unternehmung, ja, als das Abenteuer des Tages. […] Außerdem sollte man gehen wie
ein Kamel, dem man ja nachsagt, es sei das einzige Tier, das im Laufen wiederkäut.“32
Die Abgrenzung zum Sport („gymnastische Übungen“) reiht die hier von Thoreau
vorgeschlagene Praxis des Gehens in die Traditionslinie des peripatein ein. Aber
auch die innere Einstellung, mit der gegangen wird, ist Thoreau zufolge für den
sich potenziell entwickelnden Gedankengang konstituierend. Abschließend
29 Rousseau, Jean-Jacques (o. J.): Emil oder Über die Erziehung. Band 1. Leipzig: Holzinger,
S. 285.
30 Rousseau, Jean-Jacques (o. J.): Emil oder Über die Erziehung. Band 1. Leipzig: Holzinger,
S. 322.
31 Korrenz, Ralf/ Kenklies, Karsten/ Kauhaus, Hanna/ Schwarzkopf, Matthias: Geschichte der
sei hier eine Beobachtung Thoreaus aus seiner Zeit in den Wäldern mitgeteilt,
die ebenfalls einen wichtigen Baustein für die Konzeptentwicklung des Peri-
patetischen Philosophierens darstellt. Thoreau beobachtet: „Leute, die selten
in den Wald kommen, nehmen gern ein Stückchen Wald in die Hände, um beim
Wandern damit zu spielen; nachher werfen sie es irgendwo fort – absichtlich
oder zufällig.“33 Dies mag – ähnlich wie auch von Rousseau beschrieben – eine
Integration weiterer Sinneseindrücke und Erfahrungen in den Erkenntnisprozess
ermöglichen. Solche haptischen Erfahrungen können, wie Seele34 ausführt, auch
Bestandteil des Peripatetischen Philosophierens (als Unterrichtsmethode) sein.
Inwiefern diese Verknüpfung von Sinneseindrücken, Bewegungen, Umwelt und
Denken philosophisch von Belang sein mögen, sei im folgenden Abschnitt näher
betrachtet.
4.2 Kognition
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Dieser 1784
von Immanuel Kant formulierte „Wahlspruch der Aufklärung“ ist auch ein philo-
sophiedidaktisches Leitmotiv.35 Aber: Wie kann ich mich meines eigenen Ver-
standes bedienen?
Nach den chronologisch und exemplarisch organisierten Ausführungen über
wichtige Traditionslinien des Philosophierens im Gehen wird deutlich, dass das,
was die Lernform des Peripatetischen Philosophierens auszeichnet, eine bewusste
und gezielte Integration von Denken, Körperbewegung und Umwelt ist. Speziell die
oben zitierten Überlegungen von Rousseau und Thoreau machen deutlich, dass das
Philosophieren draußen im Gehen eine beachtenswerte physische Komponente hat:
Die menschliche Physis ist offensichtlich draußen im Gehen anderen Reizen und
Herausforderungen ausgesetzt als im Studierzimmer. Eine für das Peripatetische
Philosophieren konstitutive Annahme lautet daher: Das, was wir physisch fühlen,
wahrnehmen, erleiden, hat einen Einfluss darauf, was und wie wir denken. Philo-
sophisch steht diese Annahme einem traditionellen Leib-Seele-Dualismus, wie ihn
etwa René Descartes prominent behauptet und begründet hat, entgegen.
33 Thoreau, Henry David: Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Englischen von Wilhelm
Nobbe. 3. Auflage. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2017, S. 188.
34 Vgl. Seele, Katrin: „Klima“ und „Umwelt“: Potenziale der Peripatetischen Methode – inspiriert
Auf der Suche nach einer Antwort auf die oben formulierte Frage: „Wie kann
ich mich meines eigenen Verstandes bedienen?“ scheint – gerade wegen der
Bedeutsamkeit von individueller Physis, Wahrnehmungen und Empfindungen
unterwegs – ein Erklärungsansatz weiterführend zu sein, der eine integrative
Sichtweise auf kognitive und physische Vorgänge bietet. Einen möglichen der-
artigen Erklärungsansatz liefert der philosophisch-kognitionswissenschaftliche
Diskurs um Embodied Cognition. Aufbauend auf den in phänomenologischer
Tradition stehenden Ideen Maurice Merlau-Pontys zur Rolle des Leibes
thematisieren George Lakoff und Mark Johnson unter dem bildlich-sprechenden
Titel „Philosophy in the Flesh“ die Körperlichkeit des Geistes:
„Rather, the mind is inherently embodied, reason is shaped by the body, and since most
thought is unconscious, the mind cannot be known by self-reflection.“36
Der Körper ist in diesem Verständnis nicht von den kognitiven Prozessen separier-
bar, sondern Kognition und Physis bilden eine Einheit. Mehr noch: Lakoff und
Johnson zufolge formen physische Gegebenheiten den Geist, da die individuelle
menschliche Vorstellungswelt sich weitgehend auf das Zusammenspiel von
Körper und der Umwelt stützt.37 Wichtig sei aber nicht nur, dass Menschen
Körper haben und dass das Denken irgendwie verkörpert sei. Zentral sei vielmehr,
dass die spezifische Wesensart des Körpers die Möglichkeiten kognitiver Kon-
zeptualisierung und Kategorisierung38, der „Vernunft“ (reason), präge:
„From a biological perspective, it is eminently plausible that reason has grown out of the
sensory and motor systems and that it still uses those systems or structures to develop
from them.“39
Ähnliches gelte für das Umfeld und die Erfahrungen, die ein Individuum mache:
sie prägen die für die Person relevanten gedanklichen und begrifflichen Kate-
gorien. Mit anderen Worten: Kategorien als sinnvolle gedankliche Organisation
und Zuschreibungen werden nicht beliebig gebildet, auch nicht aufgrund einer
vorgegebenen geistigen Struktur oder objektiver Merkmale der Umwelt, sondern
aufgrund der individuellen Relevanz ebendieser spezifischen Organisation – den
Unterschieden, die wahrgenommene Unterschiede für das Individuum machen.40
36
Lakoff, George/ Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its
Challenge to Western Thought. New York: Basic Books 1999, S: 5.
37 Vgl. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its
S. 123.
60 K. Seele
Der Neurologe Gerd Kempermann formuliert es so: „Jeder Mensch hat sein
eigenes Gehirn. (…) Wir haben in unserem Schädel kein Einheitsmodell.“41
Kempermann führt aus, dass „alles, was wir erleben und erfahren“, „Spuren“
im Gehirn hinterlässt42. „Spuren“ ist die metaphorische Übersetzung neuro-
plastischer Vorgänge und Veränderungen, die im zentralen Nervensystem durch
Umwelteinflüsse ausgelöst werden und die gemeinhin mit „Lernen“ beschrieben
werden. Lernen zeichnet sich demnach aus neurowissenschaftlicher Perspektive
durch Neuroplastizität aus, also durch die Möglichkeit des Gehirns, sich umzu-
bauen, anzupassen, neue Vernetzungen auszubilden oder gar neue Nervenzellen
hinzuzufügen43 („adulte Neurogenese“): „Alle Hirnfunktionen, die im Ent-
ferntesten als Lernen bezeichnet werden können, (…) bedürfen der Plastizität.“44
Kempermann zufolge haben sowohl „reizreiche Umgebungen“45 als auch
körperliche Bewegung46 einen positiven Einfluss auf Neuroplastizität, die adulte
Neurogenese und damit die kognitive Aktivität und das Lernen:
„Wer viel herumkommt, erlebt auch viel und muss deshalb viel denken. (…) Viel
Bewegung bedeutet eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass viele Entscheidungen getroffen
werden müssen. Viel Bewegung in einer komplexen Welt ist gleichbedeutend mit einer
erhöhten ‚cognitive load‘.“47
Wie kann ich mich also aus dieser kognitions- und neurowissenschaftlichen
Perspektive meines eigenen Verstandes bedienen? Erfahrungsgemäß bieten
unterschiedliche Lebensformen und -entwürfe auch unterschiedliche Arten von
Zugriff auf geistige Aktivitäten. Allerdings haben die Lebensformen, der Grad an
physischer Aktivität, sensorischer Reizexposition und kognitiver Herausforderung
einen Einfluss auf Lernen und Denken. Offenbar macht es für das Gehirn – die
Neuroplastizität – einen Unterschied, ob ich „als Philosoph, im Sessel sitzend, die
41 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben
lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 18.
42 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben
Welt vollständig im Inneren entstehen lasse. Oder aber im Fitnessstudio, wenn wir
die Bewegung von der realen Erfahrung der Welt entkoppeln“48. In beiden Fällen
finden Aktivitäten statt (rege Vorstellungsarbeit im ersten Fall, eifrige sportliche
Betätigung im zweiten Fall), eine sinnvolle Verknüpfung von Bewegung, Wahr-
nehmungen und Vorstellungs- und Begriffsbildung jedoch nicht. Ist das Umfeld
passend gewählt, ermöglicht das Peripatetische Philosophieren hingegen geistige
Arbeit, die „Bedienung des eigenen Verstandes“, in einer reizreichen Umgebung,
einer komplexen Welt: Passend ist die Umgebung im Hinblick auf das Reflexions-
potenzial dann, wenn sie reich an thematisch fruchtbar verknüpfbaren Umwelt-
reizen für die Reflexion des Gegenstands der philosophischen Reflexion ist (affine
Impulsreize), dagegen aber reizarm an ablenkenden Störreizen. Ob also das
Hintergrundrauschen einer Autobahn ein affiner Impulsreiz oder ein ablenkender
Störreiz ist, hängt von der inhaltlich-thematischen Bedeutung des Reizes für den
Gegenstand der philosophischen Reflexion ab. Bei einer Umgebungswahl mit
vielen affinen Impulsreizen und wenig ablenkenden Störreizen ist Peripatetisches
Philosophieren also ein Philosophieren unter denk- und lernfreundlichen
Bedingungen.
4.3 Lokomotion
48 Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben
lang jung halten. München: Droemer 2016, S. 215.
49 Vgl. Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein
53
„Fluid Intelligence measures the ability to reason quickly and abstractly. It is generally
regarded as an important component of intelligence, and it assesses one’s ability to solve
problems in situations that are not heavily dependent on previously learned knowledge.”. Vgl.
Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./ Kravitz, Jen:
Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and Academic Per-
formance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal of Physical
Activity and Health 7. 2010, S. 345.
54 Vgl. Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./
Kravitz, Jen: Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and
Academic Performance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal
of Physical Activity and Health 7. 2010, S. 350.
55 Vgl. Reed, Julian A./ Einstein, Gilles/ Hahn, Erin/ Hooker, Steven P./ Gross, Virginia P./
Kravitz, Jen: Examining the Impact of Integrating Physical Activity on Fluid Intelligence and
Academic Performance in an Elementary School Setting: A Preliminary Investigation. In: Journal
of Physical Activity and Health 7. 2010, S. 343–351.
56 Vgl. Laging, Ralf: Bewegung in Schule und Unterricht. Anregungen für eine bewegungs-
orientierte Schulentwicklung. Stuttgart: Kohlhammer 2017.
57 Vgl. Balz, Eckart: Die bewegte Schule: Konzept und Kritik. In: Sportunterricht 48–10. 1999,
S. 405–424.
Peripatetisches Philosophieren 63
geistigen Progress an, die Bewegte Schule dagegen zielt primär auf die Verbesserung
der menschlichen Physis (körperliches Training), Psychophysis (Entspannung) und
des sozialen Miteinanders.
• In der Bewegten Schule bedeutet Bewegung (meist) Unterbrechung der kognitiven
Aktivität, bei der Peripatetischen Unterrichtsbewegung sind physisches und geistiges
Voranschreiten notwendig miteinander verknüpft.
• Im Gegensatz zu fachdidaktischen Vorschlägen zur Gestaltung des Fachunterrichts in
der Bewegten Schule, bei denen der Bewegung evozierende Unterricht oft ins Unernste,
Spielerische oder auch Unsinnige abgleitet und somit Schülerinnen und Schüler
der Oberstufe nur noch schwer zu überzeugen vermag, sind bei der Peripatetischen
Unterrichtsmethode die Art der physischen und geistigen Bewegung im langsamen
Voranschreiten eng verwandt und somit nicht erzwungen, sondern authentisch. Das
Umherwandeln oder auch -kreisen in der Studierstube ist nicht umsonst ein Sinnbild
für den grübelnden Gelehrten – Denken und Gehen sind eine authentische Einheit im
Vollzug.58
Offenbar ist gerade das Gehen als archaischste und authentischste Form mensch-
licher Lokomotion eine für die menschliche adulte Neurogenese im Hippocampus,
dem auch als „Tor zum Gedächtnis“59 beschriebenen Hirnareal, ideale Art der
Fortbewegung. Für diese Hirnregion ist weniger die sportliche Intensität von
Bewegung relevant. Vielmehr spricht sie auf bestimmte Rhythmen an: „Es scheint
so zu sein, dass bestimmte Formen der Bewegung, auch bestimmte Geschwindig-
keiten, und vor allem die Regelmäßigkeit dieser Bewegungen, also der Rhythmus,
sich auf die Hirnaktivität auswirken.“60 Dies seien „regelmäßige“ Rhythmen von
„mäßiger Geschwindigkeit“: Kempermann zufolge haben Menschen, die beim
Gehen lernen, oftmals ein verhältnismäßig zügiges Grundtempo. Das Gehen
ist geeignet, das Denken im Fluss zu halten und sogar Denkblockaden oder
auch Schreibblockaden zu lösen. Gleichzeitig falle aber auch auf, dass gehende
Denkende manchmal plötzlich stehenbleiben, „um einen besonders schwierigen
Gedanken richtig zu fassen“. Ursache seien „Ressourcenkonflikte“61 des Gehirns.
Das Peripatetische Philosophieren umfasst alle Schrittgeschwindigkeiten, auch
das unvermittelte Stehenbleiben – das Gehtempo ergibt sich aus der Ganzheit von
Denkaufgabe, Gehumfeld und gehender Person.
58
Seele,Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichts-
methode. Münster/ Zürich: LIT 2012, S. 13 f.
59 Kempermann, Gerd: Gehirne sind zum Gehen da. Gespräch von Catherine Newmark mit Gerd
4.4 Situation
Abb. 2 „Klima“ und „Umwelt“: Beispiele für affine Umfelder (Seele 2018, S. 61)
62
Vgl. Seele, Katrin: Die Orte im „Zarathustra“. In: Tanz als Form des Denkens. Friedrich
Nietzsche: Denken jenseits von Schluß und Dialektik. Hrsg. v. Rudolf zur Lippe und Gisela
Röller. Lüneburg: Jansen Verlag 2001, S. 39–65.
63 Seele, Katrin: „Klima“ und „Umwelt“: Potenziale der Peripatetischen Methode – inspiriert von
„Leben, Erleben, Erfahren sind Dimensionen unserer Existenz, die jede auf andere
Weise Gleichzeitigkeit zu leisten haben. Leben steht in diesem Zusammenhang für
die biologischen Funktionen, obwohl der Begriff auch als Oberbegriff für alle benutzt
wird. Erleben entspricht etwa dem, was man emotionale Verarbeitung nennen könnte.
Erfahren meint die Verarbeitung im Bewusstsein, und zwar der verschiedenen Formen
und Schichten des Bewusstseins vom nicht verstandesmäßigen ‚Körperbewusstsein‘ durch
die begrifflichen Umsetzungen bis hin zu den Bewusstseinsformen lebensgeschichtlicher
und gattungsgeschichtlicher Praxis. Dies sind drei große Dimensionen der Verarbeitung.
Mit dem Grad zunehmender Reflektionen ist gemeint, dass im Erleben immer auch die
physiologischen Lebensfunktionen der Organe mit reflektiert werden.“64
Zur Lippe erläutert an einem Beispiel, was in dem Zusammenhang unter einer
„Situation“ zu verstehen ist: Ein Kleinkind krabbelt am Strand im Sand umher und
wird dabei am Fuß von einer Distel gestochen. Sofern der erfahrene Schmerz nicht
so stark sei, dass das Kind sich sofort und endgültig abwende, werde es durch vor-
sichtiges und aufmerksames „prüfendes Wiederholen“ die Distel erkunden, um aus
der Begegnung zu lernen. Zur Lippe zufolge braucht es jedoch mehr als das Kind
und die Distel dafür, dass die (in diesem Fall schmerzhafte) Begegnung Interesse
weckt, „prüfendes Wiederholen“ auslöst und schließlich zu einer bleibenden
Erfahrung und einem Urteil über die Pflanze Distel führt.
64
Zur Lippe, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Band I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren 2000, S. 287 f.
66 K. Seele
„Im Beispiel (…) spielen der Sand und der Geruch des Meeres in der Luft, die nahen oder
fernen Menschen mit, die das Kind schützen oder allein lassen, es gegen Begegnungen
isolieren oder ermutigend in der Koinzidenz mitspielen. Andere Pflanzen, Vorbilder sich
zwischen ihnen bewegender Hunde oder Eidechsen, das Plätschern von Wellen gegen
einen Bootssteg oder das Brechen von Wogen am Strand sind im Spiel. Die Stimmung
ist von Hunger oder Fülle, Koliken oder einem schmerzenden Finger beeinträchtigt. Sie
ist beschwingt oder verspielt im Miteinander von mehreren Kindern. Spitze oder schöne
Steine lenken ab. Sonnenlicht und Wärme geben allem fühlbarere Anwesenheit, weil die
Poren sich öffnen, oder beeinträchtigen sengend heiß alle Tätigkeit. Dies alles erinnert uns
an die Fülle von Momenten, die wir eine Situation genannt haben.“65
Eine Situation, so wie Sie hier von Zur Lippe verstanden und beschrieben wird,
ist demnach der Ausgangspunkt für Lernen in genau der Weise, wie es auch aus
neurowissenschaftlicher Perspektive verstanden wird. Denn laut Kempermann
bedeutet Lernen gerade das „Sammeln von Erfahrungen und damit die Fähigkeit,
Vorhersagen machen zu können. (…) Wir müssen unaufhörlich aus Erfahrung klug
werden.“66 Um am Beispiel der Distel zu bleiben: Die Erfahrung der Pflanze, die
Impression, die sie hinterlässt, ist eine andere, je nachdem, ob das Kind am Strand
mit dem Fuß hineintritt oder im heimischen Garten, oder ob die Begegnung mit
der Pflanze etwa in einem bewusst herbeigeführten Setting, z. B. im schulischen
Biologieunterricht stattfindet. Auch wenn das hier beschriebene Kind nicht „philo-
sophiert“, so kann das Beispiel zeigen: Bewusstsein und Aufmerksamkeit sind
situiert – und dies trifft auch auf das Philosophieren zu.
Neben den Impressionen, die sich durch das Peripatetische Philosophieren in
einem bestimmten Umfeld ergeben, finden sich aber auch Vorannahmen und „mit-
gebrachte“ Überzeugungen im sich entwickelnden Gedankengang wieder. Dies
beschreibt Burckhardt in seinen Ausführungen über die „Spaziergangswissen-
schaft“. Burckhardt beschäftigt sich als Soziologe vor allem mit der Landschaft
als sozialem Raum aus städte- und regionalplanerischer Perspektive. Landschaft
ist für ihn „ein Konstrukt“: Sie sei nicht „in den Erscheinungen der Umwelt zu
suchen“, sondern „in den Köpfen der Betrachter“67. Dafür, welches Bild bei den
Betrachtenden entstehe, sei nicht nur ein bestimmtes natürliches Erscheinungs-
bild (die Landschaft) relevant, sondern auch der Weg, auf dem diese sich ihr
nähern und sie durchschreiten.68 Auch würden Spaziergänger*innen stets mit
Martin (Hrsg.): Lucius Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissen-
schaft. 4. Auflage. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015a, S. 33.
68 Vgl. Burckhardt, Lucius: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der
Umwelt und die Aufgaben unserer Generation. [1996] In: Ritter, Markus/ Schmitz, Martin
(Hrsg.): Lucius Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. 4.
Auflage. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015b, S. 251.
Peripatetisches Philosophieren 67
5 Fazit
• Über welche Themen, Inhalte, Fragstellungen soll anhand welcher Inputs (z. B.
Texte) philosophiert werden?
• Welche Umfelder wären für diese Inputs affin, sinnvoll, bereichernd?
• Welche Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse, die sich an bestimmten Umfeldern
einstellen könnten, könnten das gewählte Thema bereichern?
• Welche Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse, die sich an bestimmten Umfeldern
einstellen könnten, könnten beispielhaft und anschaulich sein für Zusammen-
hänge, die ein gewählter philosophischer Text eher abstrakt beschreibt?
• Welche weiteren situationsbestimmenden Erfahrungen (z. B. Wetter, Gerüche
usw.) oder Umstände (z. B. Tätigkeiten der Lernenden unmittelbar vor dem
Gehen) könnten das Peripatetische Philosophieren an einem konkreten Tag
bereichern?
• Welche Erwartungen haben die Lernenden an den gewählten Ort, die gewählte
Landschaft?
• Wie passen die Erwartungen der Lernenden an den Ort zum gewählten Thema
bzw. Text?
• Welche ablenkenden Störreize könnten die philosophische Reflexion
erschweren oder gar verhindern?
70
Robert-Koch-Institut (RKI): Körperliche Aktivität. 2020. URL: https://www.rki.de/DE/
Content.
71 Vgl. Guthold, Regina/ Stevens, Gretchen A./ Riley, Leanne M./ Bull, Fiona C.: Global trends
Abb. 3 Kinder und Jugendliche, die täglich mindestens 60 min körperlich aktiv sind – Anteile
an der gleichaltrigen Bevölkerung, differenziert nach Geschlecht (RKI 2015)
73
Vgl. Guthold, Regina/Stevens, Gretchen A./Riley, Leanne M./Bull, Fiona C.: Global trends
in insufficient physical activity among adolescents: a pooled analysis of 298 population-based
surveys with 1·6 million participants. In: The Lancet Child & Adolescent Health 4. 2019,
S. 23–35. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(19)30323-2.
74 Ketelhut, Kerstin: Bewegungsmangel im Kindesalter. Gesundheit und Fitness heutiger Kinder
besorgn iserregend? In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 51/ 10, 2000, S. 350.
70 K. Seele
Demenzielle Erkrankungen
Aktuelle Studien belegen, dass regelmäßige körperliche Bewegung – eben wegen
der bereits oben beschriebenen Auswirkungen auf die adulte Neurogenese – eine
präventive Wirkung hinsichtlich Demenzerkrankungen hat, insbesondere dann,
wenn Bewegung und Kognition sinnvoll verknüpft sind.76 Da beim Peripatetischen
Philosophieren eine solche sinnvolle, bedeutungsreiche Integration von Denken,
Wahrnehmen, Fühlen, Verbalisieren und sich Bewegen vollzogen wird, ist anzu-
nehmen, dass diese Praxis ebenfalls der adulten Neurogenese zuträglich sein könnte.
75
Seele, Katrin: Gesund sein – Lernen – Denken – Gehen. In: Reichert, Klaus/Hoffstadt,
Christian (Hrsg.): Was bewegt uns? Menschen im Spannungsfeld zwischen Mobilität und
Beschleunigung. Plädoyer für die Peripatetische Methode im Schulunterricht. Bochum: Projekt-
Verlag 2010, S. 153.
76 Vgl. Kempermann, Gerd: Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein
Literatur
Albus, Vanessa/Jost, Leif Marvin: Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philo-
sophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen. In: Albus,
Vanessa/Frank, Magnus/Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunter-
richt. Münster: Lit 2017.
Balz, Eckart: Die bewegte Schule: Konzept und Kritik. In: Sportunterricht 48–10. 1999, S. 405–424.
Bateson, Gregory: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt: Suhrkamp 1987.
Bayertz, Kurt: Symbol für die Freiheit des Menschen. Gespräch von Catherine Newmark mit
Kurt Bayertz. In: Philosophie Magazin, Sonderausgabe 10 v. 10.6.2018, S. 12–15.
Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang: Ursprung der Kultur und des Denkens? Eine anthropo-
logische Debatte im Anschluss an Helvétius’ De l’Esprit. In: Garber, Jörn/Thoma, Heinz
(Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahr-
hundert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2004. (= Hallesche Beiträge zur Europäischen
Aufklärung 24), S. 59–76.
Burckhardt, Lucius: Warum ist die Landschaft schön? [1979] In: Ritter, Markus/Schmitz, Martin
(Hrsg.): Lucius Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft.
4. Auflage. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015a, S. 33–41.
Burckhardt, Lucius: Promenadologische Betrachtungen über die Wahrnehmung der Umwelt und
die Aufgaben unserer Generation. [1996] In: Ritter, Markus/Schmitz, Martin (Hrsg.): Lucius
Burckhardt: Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. 4. Auflage.
Berlin: Martin Schmitz Verlag 2015b, S. 251–256.
79
Rupp, Robert/Dold, Chiara/Bucksch, Jens: Bewegte Hochschullehre. Einführung in das
Heidelberger Modell der bewegten Lehre. Wiesbaden: Springer 2020, S. 25.
80
Vgl. Seele, Katrin: „Click and Go“ – Integrierte Medienbildung an außerschulischen Lern-
orten mit mobilen Endgeräten. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian (Hrsg.):
Außerschulische Lernorte: Theorie, Praxis und Erforschung außer-schulischer Lerngelegen-
heiten. Immenhausen: Prolog-Verlag (= Reihe Theorie und Praxis der Schulpädagogik, Band 31)
2015, S. 206–219.
72 K. Seele
Seelhorst, Bernhard: Herausforderungen der Philosophie- und Ethikdidaktik. Hinweise aus Sicht
der Unterrichtspraxis. In: Information Philosophie 1. 2015, S. 44–53.
Seele, Katrin: „Klima“ und „Umwelt“: Potenziale der Peripatetischen Methode – inspiriert von
Henry David Thoreau. In: ZDPE 4/2018, S. 57-64.
Seele, Katrin: „Click and Go“ – Integrierte Medienbildung an außerschulischen Lernorten mit
mobilen Endgeräten. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian (Hrsg.):
Außerschulische Lernorte: Theorie, Praxis und Erforschung außer-schulischer Lerngelegen-
heiten. Immenhausen: Prolog-Verlag (= Reihe Theorie und Praxis der Schulpädagogik, Band
31) 2015, S. 206–219.
Seele, Katrin: Beim Denken gehen, beim Gehen denken. Die Peripatetische Unterrichtsmethode.
Münster/Zürich: LIT 2012.
Seele, Katrin: Gesund sein – Lernen – Denken – Gehen. In: Reichert, Klaus/Hoffstadt,
Christian (Hrsg.): Was bewegt uns? Menschen im Spannungsfeld zwischen Mobilität und
Beschleunigung. Plädoyer für die Peripatetische Methode im Schulunterricht. Bochum:
Projekt-Verlag 2010, S. 135–154.
Seele, Katrin: Die Orte im „Zarathustra“. In: Tanz als Form des Denkens. Friedrich Nietzsche:
Denken jenseits von Schluß und Dialektik. Hrsg. v. Rudolf zur Lippe und Gisela Röller.
Lüneburg: Jansen Verlag 2001, S. 39–65.
Steenblock, Volker: Orte des Philosophierens. In: Nida-Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/
Tiedemann, Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und
Methodik. Paderborn: Ferdinand Schöningh 22017, S. 30–36.
Thoreau, Henry David: Vom Wandern. Stuttgart: Reclam 2017 (zuerst 1851).
Thoreau, Henry David: Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Englischen von Wilhelm
Nobbe. 3. Auflage. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2017.
Tiedemann, Markus: Problemorientierung. In: Nida-Rümelin, Julian/Spiegel, Irina/Tiedemann,
Markus (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Pader-
born: Ferdinand Schöningh 22017, S. 70–78.
World Health Organization (WHO): Physical activity and young people. 2020. URL: https://
www.who.int/dietphysicalactivity/factsheet_young_people/en/ (28.05.2020).
Zur Lippe, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Band I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
2000.
Bildung im Medium der Ästhetik.
Die Aktualität von Schillers Theorie
der ästhetischen Bildung im
Zeitalter der Digitalisierung
Birgitta Fuchs
Zusammenfassung
Im Jahre 1791 hatte Schiller ein großzügiges Stipendium durch den Prinzen
Friedrich Christian von Schleswig–Holstein Augustenburg erhalten und
seinem Dank in einer Reihe von Briefen „Über die Philosophie des Schönen“
an den Prinzen Ausdruck verliehen. 1794 gingen diese Briefe beim Brand
des Schlosses Christiansborg in Kopenhagen verloren. Lediglich sechs
Briefe blieben in Abschriften erhalten und bildeten zusammen mit den sog.
Kalliasbriefen an Gottfried Körner (1793) die wichtigsten Grundlagen für
die 27 von Schiller neu verfassten Briefe, die 1795 unter dem Titel Über die
ästhetische Erziehung, in einer Reihe von Briefen in der von Schiller und
Goethe gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift, den Horen, erschienen
sind. In diesen Briefen entwickelt Schiller seinen ästhetischen Humanismus
und seine daraus hervorgehende Erziehungs- und Bildungstheorie, die auf
die „ästhetische Freiheit“ des Menschen hinausläuft, eine innere Freiheit, die
dadurch zustande kommt, dass der Mensch von der Nötigung sowohl durch
seine sinnlichen Begierden als auch durch die Vernunft soweit emanzipiert ist,
dass sich dadurch ein Raum der freien Selbstbestimmung eröffnet. Mit seiner
These, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, d. h. wo er sich
ästhetisch verhält, hat sich Schiller einen festen Platz in der Geschichte und
Systematik der Bildungstheorie des Neuhumanismus gesichert. (Vgl. Koch,
Lutz: Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in
einer Reihe von Briefen. In: Böhm, Winfried/Fuchs, Birgitta/Seichter, Sabine
B. Fuchs (*)
Institut f. Allg. EW, TU Dortmund, Dortmund, Deutschland
E-Mail: birgitta.fuchs@tu-dortmund.de
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M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_4
76 B. Fuchs
ernunft, Neigung und Pflicht soweit aufgehoben, dass die ästhetisch gestiftete
V
innere Freiheit (die „ästhetische Freiheit“) den Weg zur moralischen Auto-
nomie erleichtert. Von einer ästhetisch kultivierten Urteilskraft („Geschmack“)
erwartet Schiller nicht nur eine Humanisierung gesellschaftlicher Umgangs-
und Kommunikationsformen, sondern auch die Überwindung der Widersprüche
einer mit sich selbst entfremdeten Moderne.
Schlüsselwörter
Schiller war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sein Versuch einer
Rehabilitierung des Ästhetischen gegen die rationalistischen Verkürzungen der
Aufklärung in anthropologischer und bildungstheoretischer Hinsicht nur dann
auf offene Ohren stößt, wenn es ihm gelingt, die Wahl des ästhetischen Themas
gegen einen durch Nützlichkeitskalkül bestimmten Zeitgeist zu verteidigen und
das allgemeine Interesse von den Wirren der Französischen Revolution auf das
Schöne und die schöne Kunst zu lenken. Vor allem das politische Großthema
der Ausbildung eines republikanischen Staatswesens in Frankreich läßt das
ästhetischen Thema als völlig marginal erscheinen. Von daher erklärt sich auch
der enorme Begründungsaufwand, den Schiller in den ersten neun seiner Briefe
von 1795 betreibt und der ihn zu folgendem Ergebnis führt. Das offensichtliche
Scheitern der Französischen Revolution, das auch das große Projekt der Auf-
klärung in einem ambivalenten Licht erscheinen lässt, sowie eine radikale Kritik
einer mit sich selbst entfremdeten Moderne legitimieren nicht nur das ästhetische
Thema, sondern fordern mit innerer Notwendigkeit eine erneute Reflexion über
die Wirkung des Schönen und der schönen Kunst, so dass seine dreifache Kritik
an der Gegenwart (Französische Revolution, Aufklärung, gesellschaftliche Ent-
fremdung) die Motive seiner ästhetischen Theorie hervorbringt.1
Das politische Jahrhundertereignis der Französischen Revolution, das mit
dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 in Paris seinen Anfang nahm, ver-
setzt mit der Forderung nach politischer Freiheit in einem republikanischen
Staatswesen nicht nur die deutschen Territorialstaaten, sondern ganz Europa in
Aufruhr. Man diskutierte nicht nur grundsätzlich über das Recht eines Volkes,
sich selbst eine Verfassung zu geben, sondern man erahnte auch, dass mit diesem
„Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen,
und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdig-
keit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit
ihm auch einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey
und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand
eine verderbte Generation, die ihn nicht werth war, und weder zu würdigen noch zu
benutzen wußte. Der Gebrauch, den sie von diesem großen Geschenk des Zufalls macht
und gemacht hat, beweißt unwidersprechlich, daß das Menschengeschlecht der vormund-
schaftlichen Gewalt noch nicht entwachsen ist, daß das liberale Regiment der Vernunft
da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der brutalen Gewalt der
Thierheit zu erwehren, und daß derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit,
dem noch so vieles zur menschlichen fehlt. (…) In den niedern Klassen sehen wir nichts
als rohe gesetzlose Triebe, die sich nach aufgehobenem Band der bürgerlichen Ordnung
entfeßeln, und mit unlencksamer Wuth ihrer thierischen Befriedigung zueilen.“3
Der Hinweis auf eine zutiefst „verderbte Generation“, die sowohl in dem „Unver-
mögen“ der niederen Klassen als auch in der „Unwürdigkeit“ der vermeintlich
kultivierten Oberschicht ihren Ausdruck findet, lässt erkennen, dass für Schiller
das Projekt politischer Liberalisierung weniger politisch als anthropologisch
gescheitert ist und sich bei genauem Hinsehen als ein Bildungsproblem zu
erkennen gibt. Der Übergang von dem vorrevolutionären ancien régime zu einer
freiheitlichen Republik erweist sich als problematisch, da die Menschen offen-
sichtlich „noch nicht reif“ sind für die politische Freiheit, da ihnen die Fähigkeit
zur moralischen Selbstbestimmung als notwendige Voraussetzung des Vernunfts-
staates fehlt.
7Vgl. Nieser, Bruno: Aufklärung und Bildung. Studien zur Entstehung und gesellschaftlichen
Bedeutung von Bildungskonzeptionen in Frankreich und Deutschland im Jahrhundert der Auf-
klärung. Weinheim: Deutscher Studienverlag 1992, S. 151.
88. Brief der Ästhetischer Brief, S. 270.
„Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die
Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von
der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen
gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als ein Bruchstück aus, ewig nur das eintönige
Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines
Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem
Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“16
17Vgl. Alt, Peter-André.: Friedrich Schiller. München: C.H. Beck 2004, S. 77.
18Vgl. Reinhardt, Hartmut: Schillers Konzept einer ästhetischen Kultur. In: Feger, Hans Detlef
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Die Realität des Idealisten. Heidelberg: 2006, S. 369 f.
Bildung im Medium der Ästhetik 83
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam 2000,
S. 258.
2217. Brief der Ästhetischen Briefe, S. 302.
232. Brief der Ästhetische Brief, S. 253; vgl. auch Berghan 2000, S. 254.
84 B. Fuchs
Schon die Tatsache, dass Schiller bereits im Titel von ästhetischer Erziehung
spricht, weist auf die Bedeutung dieser ästhetischen Erziehung speziell unter
erziehungs- und bildungstheoretischen Aspekten hin. In der Erziehung dient
die Schönheit als pädagogisches Mittel, um von Empfindungen zum Denken
und umgekehrt von der Abstraktion zur Anschauung zu führen, wenn man nicht
annehmen müßte, dass Schönheit als Mittel, als Werkzeug und Instrument auf-
hört, Schönheit zu sein,– die unvermeidliche Paradoxie jeder Kunsterziehung. Für
Schiller ist aber kein anderer Weg als der ästhetische denkbar, um Vernunftfreiheit
zu ermöglichen:
„Der Übergang von dem leidenden Zustand des Empfindens zu dem tätigen des Denkens
und Wollens geschieht also nicht anders, als durch einen mittleren Zustand ästhetischer
Freiheit, und obgleich dieser Zustand an sich selbst weder für unsere Einsichten, noch
Gesinnungen etwas entscheidet, mithin unsern intellektuellen und moralischen Wert ganz
und gar problematisch läßt, so ist er doch die notwendige Bedingung, unter welcher allein
wir zu einer Einsicht und zu einer Gesinnung gelangen können. Mit einem Wort: es gibt
keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man den-
selben zuvor ästhetisch macht.“27
Nicht nur im Rahmen der Ästhetisierung der Person, sondern auch im Hinblick
auf eine humane Gestaltung gesellschaftlicher Interaktionsprozesse, spielt das,
was man zu Schillers Zeiten als Geschmacksbildung bezeichnet hat, eine ent-
scheidende Rolle. Unter dem Begriff des Geschmacks kann man zunächst
zweierlei verstehen: Erstens den Gaumengeschmack für das Wohlschmeckende,
Appetitliche und Erlesene, zweitens die reflektierte Beurteilung der Darstellung
durch ein Gefühl – wenn es ein Kunstwerk ist, durch ein spezifisches Wohl-
gefallen, welches die Darstellung in uns auslöst. Es ist die ästhetische Urteilskraft,
welche hier am Werk ist, indem sie auf der Grundlage eines subjektiven Gefühls
ihre Urteile fällt. Kant hatte in § 5 seiner Kritik der Urteilskraft den Geschmack
„Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den
Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit
an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, dass es hiemit eben
nicht herzlich gemeint sei, damit einverständig ist, und es ist auch sehr gut, dass es so in
der Welt zugeht.“38
Denn selbst wenn es sich überall um bloßen Schein handelt, so beweist dieser
doch eine verborgene Anerkennung und Achtung dessen, was er vorspielt. Im
26. Brief greift Schiller diesen Gedanken auf und spricht von dem „wohltätigen
Schein“, der in der Lage ist, eine „gemeine Wirklichkeit zu veredeln“.39
Nach Schiller kommen dem ästhetischen Bildungsprogramm natürliche
Evolutionsprozesse insofern zur Hilfe, als sich sowohl im kleinen Kind als auch
zu Zeiten der Urmenschen bereits zaghafte Ansätze eines ästhetischen Bildungs-
triebes zeigen. Sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht
beginnt die Entwicklung mit dem „trotzigen Egoisten“,40 der lediglich seine
eigenen Interessen vor Augen hat und nach unmittelbarer Befriedigung seiner
Bedürfnisse strebt. Zaghafte Anfänge einer Humanisierung zeigen sich nach
Schiller sowohl menschheitsgeschichtlich als auch in der Individualgenese in einer
38Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in sechs
als Welt des Fortschritts und des entfremdeten Geistes zugleich versteht.45 Dass
Schillers Theorie einer ästhetischen Erziehung und Bildung sowie ihre Begründung
auch heute noch auf großes Interesse stößt, lässt sich nach Habermas damit
erklären, dass Schiller eine „ästhetische Utopie“ entwirft, die der Kunst eine
geradezu „sozial-revolutionäre Rolle“ zuschreibt.46 In seinem Versuch, die mit sich
selbst zerfallene Moderne zu versöhnen, setze Schiller auf die „kommunikative,
gemeinschaftsstiftende, solidarisierende Kraft, auf den öffentlichen Charakter der
Kunst“,47 in der Habermas die Verkörperung einer kommunikativen Vernunft sieht.
Nach dieser, seinem eigenen Kommunikationskonzept folgend, intendiert Schillers
„ästhetische Utopie“ keine „Ästhetisierung der Lebensverhältnisse“, sondern eine
„Revolution der Verständigungsverhältnisse“.48 Schiller habe in dieser Utopie,
„die für Hegel und Marx wie überhaupt für die hegelmarxistische Tradition bis zu
Lukács und Marcuse ein Punkt der Orientierung geblieben ist, die Kunst als die
genuine Verkörperung einer kommunikativen Vernunft begriffen.“49.
In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation von Wilfried Noetzel,
der die „prinzipielle Modernität“ von Schillers theoretischem Ansatz für eine
parlamentarische Demokratie unterstreicht.50 Hervorzuheben sei in diesem
Zusammenhang vor allem auch die Aktualität seiner Geschmackspädagogik
für ein demokratisches Staatswesen, dessen „Humanität“ nicht allein durch das
Grundgesetz verbürgt werden kann, sondern erst durch die „moralisch-politische
Kompetenz und sittlich-kommunikative Performanz seiner Bürger“ auf eine
sicheren Grundlage gestellt wird.51 Eine Ästhetisierung der Umgangsformen könne
nach Schiller zumindest bewirken, dass die „interessenverhaftete und konfliktäre
Aggressivität“ eines „naturwüchsigen Konkurrenzverhaltens“ soweit gemildert
und die Vernunftfreiheit gesichert wird, dass der moralische Staat, so wie er sich
vor dem Horizont der Französischen Revolution abzeichnet, die Möglichkeit
auf Realisierung erhält.52 Mit seiner „kommunikativen Geschmackspädagogik“
45Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,
S. 59.
46Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,
S. 59.
47Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,
S. 59/60.
48Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,
S. 63.
49Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985,
S. 62.
50Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetischen Erziehung. Friedrich Schillers moderne
sei es Schiller tatsächlich gelungen, den Weg „über die Versittlichung der
Gesellungsformen zur Demokratisierung der Gesellschaft“ aufzuzeigen, der mit
einer Verhaltensänderung seinen Anfang nimmt.53 Dass diese Änderung in ihrem
Kern auf einer „totalen Revolution“ des Menschen „in seiner ganzen Empfindungs-
weise“54 beruht, ist beiden Autoren zwar vertraut, wird aber nur schwer in das
Kommunikationsschema integrierbar sein.
Die Frage, wie es vor dem Hintergrund der kommunikativen Schillerdeutung
um die Kommunikation im digitalen Zeitalter bestellt ist, wird nur durch eine
erneute Kulturkritik zu beantworten sein, für die Schiller mögliche Urteilskriterien
bereitstellt. Erinnern wir uns zunächst an das freie Spiel zwischen Sensuali-
tät und Rationalität, so dass die Empfindungs- und Gefühlseite des Menschen
in ihrer leidenschaftlichen Energie durch den rationalen Einfluss gemildert,
vielleicht sogar in eine Form gebracht wird, sowie umgekehrt die Rationali-
tät von ihrer Erstarrung in gefühlsarme Kälte durch den belebenden Einfluss
des Gefühls bewahrt wird. Bezieht man diese Überlegungen auf unsere digitale
Informations- und Unterhaltungsindustrie, so zeigt sich leicht, dass Formen
der Selbstbeherrschung und Affektregulierung nicht hoch im Kurs stehen.
Andreas Reckwitz, der in seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten.
Zum Strukturwandel der Moderne (2017) die Entwicklung von der „Technik
der Industrialisierung“ zur neuen „Technologie des digitalen Computernetzes“
in der Spätmoderne nachzeichnet, zeigt, wie die digitalen Medien nicht nur
eine „Singularisierung des Sozialen“ evozieren, sondern auch den Affekten und
der Affekterregung eine erhebliche Relevanz zukommen lassen.55 Die Gesell-
schaft der Spätmoderne, so das Resultat von Reckwitz, ist eine „Affektgesell-
schaft“, in der auch die User digitaler Medien permanent darum bemüht sind,
nicht nur andere zu beeindrucken, sondern auch selber affiziert zu werden, eine
Situation, die zwangsläufig zu einer „kontinuierlichen Affektintensivierung“
führt.56 Anlass zur Besorgnis gibt auch der Befund, dass sich in den digitalen
Medien selbst der Journalismus als eine „Narrationsmaschine“ generiert, die
weniger auf sachliche Informationen als auf „affektive Wirkungen“ aus ist.57 Dass
sich die digitale Kultur vorrangig als eine „Kultur der Visualität“ versteht, wird
55Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der
schon daran ersichtlich, dass mittlerweile eine Flut an Bildern die N achrichten
aus Politik, Sport und Unterhaltung dominieren.58 Selbst im Hinblick auf Texte
konstatiert Reckwitz eine „Entinformationalisierung“, die mit einer „starken
Emotionalisierung“ Hand in Hand geht.59
Dass Formen der kommunikativen Interaktion auch das gesellschaftliche Klima
beeinflussen können, zeigt der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten
Walter Lübcke am 2. Juni 2019. Wolfgang Janisch, Korrespondent der Süd-
deutschen Zeitung, deutet diese Untat als ein „bedrückendes Indiz“ dafür, dass aus
einem aggressiven Vokabular durchaus brutale Gewalttaten resultieren können.60
Obszöne Beleidigungen von Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu unver-
hohlenen Morddrohungen gegen Politiker haben, so Janisch, einen traurigen und
zugleich alarmierenden Höhepunkt erreicht.
Auch Kurt Kister, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, hat in seinem
Jahresrückblick 2019 unter dem Titel Gar nicht so gemeint mit deutlichen
Worten auf die Verrohung der Kommunikation in unserer digitalen „Erregungs-
gesellschaft“ hingewiesen.61 Eine brutale Sprache und ungehemmte Aggressivi-
tät oft unter dem Schutz der Anonymität führen zunehmend zu einer „Erosion
einer gewalt- und beleidigungsfreien Kommunikation“ im Netz, wie es durch
das „Führen ungebührlich scharfer Verbalattacken“ oder durch „bildunterstützte
Häme“ deutlich wird.62
Dieser zugegebenermaßen stichpunktartige und keineswegs ausgewogene
Blick auf das digitale Zeitalter lässt zumindest ein diskussionswürdiges Fazit
unserer Überlegungen zu: Vor dem Hintergrund der Schillerschen Gesellschafts-
und Kulturkritik mit ihrer Warnung vor einer Enthumanisierung der Gesell-
schaft, kann man aktuelle Formen der „Verwilderung“ und damit einer erneuten
Fragmentarisierung des Menschen erkennen, die ihn auch der Möglichkeit des
Selbstdenkens und der moralischen Selbstbestimmung berauben. Um dieser
bedenklichen Entwicklung entgegenzuwirken, bedarf es neben den Bemühungen
um politische Bildung und kritische Medienpädagogik einer erneuten und
intensivierten Reflexion auf die Bedeutung ästhetischer Erziehung und Bildung.
58Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der
Moderne. Berlin: Surhkamp 2017, S. 236.
59Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der
volle-haerte-1.4697171 (29.09.2020).
61Vgl. Kister, Kurt: Gar nicht so gemeint. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/meinungs-
freiheit-erregungsgesellschaft-debattenkultur-1.4697182?reduced=true (29.09.2020).
62Vgl. Kister, Kurt: Gar nicht so gemeint. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/meinungs-
freiheit-erregungsgesellschaft-debattenkultur-1.4697182?reduced=true (29.09.2020).
92 B. Fuchs
Literatur
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Hauskeller, Michael: Was ist Kunst. Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. 9. Auflage.
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Janisch, Wolfgang: Volle Härte. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/hass-im-netz-volle-
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Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in sechs
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Kister, Kurt: Gar nicht so gemeint. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/meinungsfreiheit-
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Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, hrsg. v. Rolf Toman. Köln 1999
Schiller, Friedrich: Briefe an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-
Sonderburg-Augustenburg. In: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des
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Stolzenberg, Jürgen/Ulrichs, Lars-Thade (Hrsg.): Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt,
Nietzsche. Berlin/New York: De Gruyter 2010.
Teil II
Theoretisch konzeptionelle Ebene 2:
Die erlebnispädagogische Perspektive
Erlebnispädagogik und schulische
Bildung
Werner Michl
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
W. Michl (*)
TH Nürnberg GSO und Universität Luxemburg - im Ruhestand, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: michl@hostmail.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 95
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_5
96 W. Michl
Vor 500 Jahren ist Raffael gestorben, der mit der „Schule von Athen“, seine Vor-
stellung vom bewegten Lernen gemalt hat: interaktiv, interdisziplinär, inter-
national. Zwischen dem halb nackten Diogenes und dem Blick ins Offene bleibt
der Blick des Betrachters hängen an den zwei größten Philosophen der Antike,
Platon und Aristoteles. Sie gehen und diskutieren in der Mitte des Bildes, scheren
sich nicht um ihre Schüler, die links und rechts ein Spalier bilden. Platon zeigt in
Richtung Himmel und verweist so auf die Welt der Ideen. Aristoteles deutet zum
Boden, als wolle er seinen Gesprächspartner auffordern, am Boden zu bleiben, den
Ball flach zu halten. Dies ist einer der wenigen Dialoge in diesem Gemälde. Die
Lehre ist sozusagen das Abfallprodukt der wissenschaftlichen Diskussion, oder
etwas freundlicher formuliert, die Schüler*innen und Student*innen sind selbst
für ihren Lernprozess verantwortlich. Sie müssen um ihr Wissen kämpfen, es sich
aktiv aneignen.
Die Philosophen der Aufklärung – und im Falle von Montaigne deutlich früher –
haben sich intensiv den Fragen der Erziehung gewidmet und den wichtigen Beitrag
von Natur, Gemeinschaft, Körper und Bewegung gewürdigt. Montaigne (1533 bis
1592) fasst in seinen „Essais“ (2005, S. 97) als Ergebnis seiner Erörterungen zur
Erziehung zusammen: „ …das Wichtigste ist, Lust und Liebe zur Sache zu wecken;
sonst erzieht man nur gelehrte Esel, und man erreicht nur, daß sie einen Sack voll
totes Wissens, das ihnen eingeprügelt ist, mit sich herumtragen …“ John Locke
(1632 bis 1704) folgert in seinen „Gedanken über Erziehung“ (2007, S. 33):
„[…]; es läuft alles auf diese wenigen und leicht zu befolgenden Regeln hinaus: viel
frische Luft, körperliche Bewegung und Schlaf, einfaches Essen, kein Wein oder starke
alkoholische Getränke und sehr wenig oder gar keine Medizin, nicht zu warme und enge
Kleidung, besonders Kopf und Füße kühl halten und die Füße an kaltes Wasser gewöhnen
[…]“
Auch Immanuel Kant (1724 bis 1804) will Bewegung und Begeisterung: „Über-
haupt sind diejenigen Spiele die besten, bei welchen, neben den Exerzitien der
Geschicklichkeit, auch Übungen der Sinne hinzukommen..“ (1997, S. 57). Und an
anderer Stelle (1997, 65) – Csíkszentmihályi (1990) hat das 200 Jahre später als
Flow bezeichnet: „Der Mensch muß auf eine solche Weise okuppieret sein, daß
er mit dem Zweck, den er vor Augen hat, in der Art erfüllt ist, daß er sich gar
nicht fühlt…“ Jean Jacques Rousseau (1712 bis 1778) gilt mit seinem Erziehungs-
roman „Émile“ als Vordenker der Erlebnispädagogik (Heckmair und Michl 2018,
S. 12 ff.): Dort findet sich sein Credo (2018, S. 16): „Nicht wer am ältesten wird,
hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat. Mancher wird mit
hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war. Es wäre ein
Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigsten bis dahin
gelebt hätte.“ Rousseaus Philosophie der Erziehung hat Europa geprägt und vor
allem das Denken und Handeln eines der größten Pädagogen beeinflusst: Johann
Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827). Friedrich Nietzsche war in mehrfachem
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 97
Sinne ein Freidenker. Viele seiner Werke sind im Freien, bei mehrstündigen Berg-
wanderungen, entstanden. Er schlug vor, eine Gebirgsschule zu gründen (Setz-
wein 2016, S. 71) und empfahl: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken
Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in
dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern!“ (Nietzsche 2013, S. 18 f.) Unter
„Wege zu Gleichheit“ hat er folgenden Vorschlag geäußert: „Einige Stunden Berg-
steigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei gleiche Geschöpfe.
Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit – die Frei-
heit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.“ (Nietzsche 1962, S. 302).
Pestalozzis Motto vom Lernen mit Kopf, Herz und Hand hat Kurt Hahn über-
nommen. Die Schule Schloss Salem, von ihm 1920 gegründet, feierte 2020 das
100-jährige Jubiläum (Schule Schloss Salem 2020).
Kurt Hahn gilt als der Begründer der Erlebnispädagogik. Der Romantiker Hahn
sah die Gesellschaft im Verfall, der Pragmatiker Hahn entwarf ein kurzes, klares,
einfaches Konzept. Folgende vier Verfallserscheinungen der Gesellschaft, sowie
erlebnispädagogische Maßnahmen dagegen, formulierte Hahn (1998, S. 301 ff.):
„Es gibt nicht nur ansteckende Krankheiten, sondern auch ansteckende Gesund-
heiten“ (Hahn 1998, S. 283). Kurt Hahn hat mit seiner schmalen Theorie eine
Erziehungsrepublik geschaffen, die ihresgleichen sucht. Seine Ideen umrundeten
die Welt und haben dabei nichts von ihrer Zauberkraft verloren.
Zum einen hat er die schulische Bildung bereichert. Durch die Gründung
von Schule Schloss Salem 1920 und Gordonstoun 1934 hat er, inspiriert von der
„Emlohstobba“ von Hermann Lietz (veröffentlicht 1897), die Landerziehungs-
heimbewegung in Deutschland und Großbritannien geprägt. Die Trevelyan-
Stipendien, eingeführt 1958, sollten Schüler*innen in Gordonstoun fördern, die
sich neben schulischen Leistungen und intellektueller Begabung durch besondere
soziale Kompetenz und charakterliche Stärken auszeichnen. Zwölf führende
Unternehmen gewährten 34 Stipendien zum Studium in Oxford und Cambridge
(Meiggs 1966, S. 255 ff.). 1967 wurde der Schulverbund Round Square gegründet,
benannt nach dem Round-Square-Gebäude in Gordonstoun, der mittlerweile
über 200 Schulen aus 50 Nationen vereinigt. Fünf Werte zeichnen den Bund
98 W. Michl
Die Erlebnispädagogik nahm ihren Anfang in der Schule Schloss Salem, wurde
inspiriert durch die englische Internatserziehung und verbreitete sich durch das
Netzwerk der Landerziehungsheime. Danach konnte sie lange Zeit nicht mehr
an Schulen Fuß fassen, sondern etablierte sich in sozialpädagogischen Hand-
lungsfeldern von der Jugendarbeit bis zur intensiven sozialpädagogischen Einzel-
betreuung (§ 11 bis § 35 Sozialgesetzbuch VIII). Das scheint sich zu ändern.
Erstens ist Project Adventure ein speziell für Schulen entwickeltes erlebnis-
orientiertes Programm. Zweitens bieten zahlreiche Träger, auch Jugendherbergen,
erlebnispädagogische Klassenfahrten an. Drittens führen engagierte Schulen und
bestens ausgebildete Lehrer*innen unter dem Titel „Herausforderungen“ Berg-
touren, Alpenüberquerungen, längere Radtouren, Pilgerwanderungen und Wild-
nisexpeditionen durch. Viertens gibt es zahlreiche Ideen von Abenteuerspielen,
Warming-ups, bewegten Unterbrechungen oder Lernprojekten (Heckmair 2008),
die den Unterricht unterbrechen und durch Bewegung, Sport und Spiel die
Motivation und Konzentration der Schüler*innen verbessern und sie im Falle
von Lernprojekten aus einer wilden Horde (vgl. Zulliger 1961) zu einem Team
formen können. Fünftens stellt „Outoor Education“ ein Unterrichtskonzept dar,
das den Unterricht nach draußen verlegt und neue Wege des erlebnis- und hand-
lungsorientierten Lernens eröffnet (Au und Gade 2016). Sechstens ersetzen zahl-
reiche aktivierende Methoden wenigstens teilweise den Frontalunterricht, und sie
verlagern die Lernverantwortung auf die Schüler*innen. Siebtens ergänzen erleb-
nisorientierte Programme den Fachunterricht an der Schule. Und als letzter Punkt
folgen noch einige Hinweise zu Weiterbildungsmöglichkeiten.
100 W. Michl
5 Project Adventure
Um 1970 entwickelte sich in den USA aus der Outward Bound-Bewegung die
Idee, dass es möglich sein müsse, Erlebnisse und Abenteuer enger mit dem Schul-
alltag zu verknüpfen („Bring the adventure at home“). Project Adventure findet an
Schulen und pädagogischen Einrichtungen statt, dauert sieben bis zehn Wochen
(ein Halbtagesangebot pro Woche) und baut auf erlebnispädagogischen Methoden
auf.
Einige wenige Träger und Experten in Deutschland haben dieses Konzept in
ihre erlebnispädagogische Praxis implementiert, aber noch längst sind nicht alle
Potenziale ausgeschöpft. Annette Boeger und Thomas Schut (2006) haben mehr-
mals Projekt Adventure-Programme untersucht und Ergebnisse in der Fachzeit-
schrift „e&l. erleben und lernen“ veröffentlicht. Dan Fandrey (2013) hat 2011
eine empirisch fundierte Dissertation an der Technischen Universität Dresden ein-
gereicht. Unabhängig von Geschlecht und Alter und Methode sind in nahezu allen
Facetten des Selbstkonzepts positive Veränderungen nachweisbar. Es beruhigt
auch, dass die Veränderungen auch nach acht Monaten nachweisbar waren. Daher
empfiehlt Fandrey (2013, 258) aufgrund seiner Forschungsergebnisse allen Haupt-
und Realschulklassen Project Adventure-Programme. Auch bestätigt diese Studie,
dass es neben kausalen Wirkungen, die empirisch gut beweisbar sind, auch sehr
komplexe Wirkungszusammenhänge gibt, die indirekt wirken.
Böger (2018) betont, dass Project Adventure für einen begrenzten Zeit-
raum auch anstelle des Sportunterrichts stattfinden könne oder als zusätzliches
Wahlfach. Über mehrere Wochen hinweg wird eine Dramaturgie sogenannter
Abenteuerwellen entworfen. Jeder abenteuerlichen Aktivität, im Idealfall sind
es sieben Aktionen, folgt eine Reflexion oder eine schöpferische Pause oder eine
ruhige, besinnliche Aktivität wie z. B. Solo Experience, also für eine gewisse
Zeit allein sein in der Natur. In vielen Studien, so Böger (2018, S. 252), wurde
nachgewiesen, dass das Selbstwertgefühl der Schüler*innen signifikant und lang-
fristig steigt. Auch konnten „kooperatives Verhalten gesteigert und körperliche
Beschwerden (z. B: aggressives Verhalten, Depression) messbar reduziert werden“
(Böger 2018, S. 252). Auch in der viel beachteten Hattie-Studie wurde festgestellt,
dass sich erlebnispädagogische Maßnahmen in der Schule bewähren und Lang-
zeiteffekte haben (Böger 2018, S. 253): „Dass project adventure nachweisbar die
Leistungen in allen kognitiven Bereichen fördert, ist ein bahnbrechender Befund,
der alle bisherigen Evaluationsstudien zur Erlebnispädagogik bzw. zum project
adventure in den Schatten stellt.“
In Anlehnung an Kurt Hahn hat sich ein neuer Trend entwickelt, dem mehr und
mehr Schulen und Schüler*innen folgen: die Herausforderung. Welf Jagenlauf
(2016, S. 11 ff.) beschreibt diesen Trend. Schüler*innen sollen so selbstständig
wie möglich eine Unternehmung planen und durchführen. Wenn notwendig,
begleiten Lehrer*innen und/oder Sozialpädagogen*innen die abenteuerliche
Reise der Schüler*innen. Sie sind in der Regel nur beratend tätig und sorgen
für die Sicherheit. Ähnliche Gedanken hatte auch Hartmut von Hentig mit der
Entschulung der Schule (2006). Er schlägt für 13–15 jährige einen längeren Auf-
enthalt ohne Unterricht in ländlicher Gegend vor. Bewährung statt Belehrung
lautet das Prinzip. Ähnliche Bewährungsproben beschreibt Anke M. Leitzgen
(2015) in ihrem Buch „Bäng! 60 gefährliche Dinge, die mutig machen“. Es
sind kleine Mutproben für Kinder ab 9 Jahren, die alleine oder im Team mit
Lehrer*innen oder den Eltern bestanden werden können. Träger der Heim-
erziehung und auch Schulen, z. B. das Internat Ettal/Obb., waren und sind unter-
wegs auf dem berühmten Jakobs-Pilgerweg nach Santiago de Compostela.
Welf Jagenlauf (2016), Lehrer an der Stadtteilschule Winterhude/Hamburg,
hat im Sommer 2011 mit 17 Schüler*innen eine Alpenüberquerung von Bad
Tölz nach Bozen gewagt. Geplant wurde die Tour fast ausschließlich von den
Schüler*innen, die Lehrer*innen wurden beratend hinzugezogen oder mischten
sich bei besonderen Frage- und Problemstellungen in den Gruppenprozess
ein. 250 km und 8500 Höhenmeter wurden bewältigt. Jagenlauf beschreibt die
Höhepunkte, die Krisen, die Ermutigungen und die Erfolge. Er wertet die Tour als
vollen Erfolg: ein neues Klassen- und Gruppengefühl, Persönlichkeitsentwicklung,
ein neues gestärktes Selbstkonzept und eine neue Beziehungsqualität zwischen
Schüler*innen und Lehrer*innen. Dabei hat die Gesamtschule Winterhude schon
viele solcher Herausforderungen bestanden: z. B. „mit dem Rad von Hamburg zur
Zugspitze“, „auf Inlineskates von Hamburg zur Nordspitze Dänemarks“, „mit dem
Kanu von Berlin nach Hamburg“ (2016, S. 13).
Auch die Schule Schloss Salem hat seit langer Zeit ein umfangreiches Out-
door-Programm zu bieten. Es ist ein anspruchsvolles „Outdoor Education
Curriculum“ für alle Jahrgangsstufen (Balzer und Michl 2020, S. 144 ff.), das
fast ausschließlich von Lehrer*innen der Schule Schloss Salem durchgeführt
wird. Die Jahrgangsstufen 5 und 6 erleben Herausforderungen in Schule Schloss
Salem und in der näheren Umgebung. Die Jahrgangsstufe 7 verbringt fünf Tage
in den Schweizer Alpen. In Jahrgangsstufe 8 sind nur zwei Tage in den Bergen
vorgesehen, aber es wird grundlegend eingeführt in den „International Duke
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 103
Die Erlebnispädagogik hat vor allem durch zwei Spielebücher die Spielpädagogik
und das Methodenspektrum stark erweitert: die „Praktische Erlebnispädagogik“
104 W. Michl
von Annette Reiners (2013 und 2005) und die „Kooperative(n) Abenteuerspiele“
von Rüdiger Gilsdorf und Kistner (2011 und 2012). Die hohe Auflagenzahl zeigt
die Beliebtheit dieser Spielebücher. Diese Spiele sind überall einsetzbar, in der
Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung und natürlich auch in der schulischen
Bildung. Rüdiger Gilsdorf und Kathi Volkert haben erstmals mit „Abenteuer
Schule“ (1999) ein Kompendium für Kurzzeitprojekte, Klassenfahrten, Abenteuer-
aktivitäten und längere Projekte zusammengestellt. 2014 hat Klaus Minkner ein
Buch zur „Erlebnispädagogik im Klassenzimmer. Praktische Übungen zur Wissens-
vermittlung“ veröffentlicht, allerdings sind diese Übungen zur Wissensvermittlung
in einem eher kürzeren Kapitel beschrieben. Der größere Teil des Buches bringt
„Eisbrecherübungen“, „Konzentrationsübungen“ und „Übungen zur Stärkung
von Sozialkompetenz“. Auch wenn der Untertitel nicht ganz zutreffend ist, bietet
das Buch trotzdem eine Fülle von Einsatzmöglichkeiten für Pausen, Wandertage,
Unterbrechungen und Unterricht. Das Gleiche gilt für das sehr gelungene Buch von
Marcus Weber (2019), in dem sich einige der „89 Aktionen und Spiele“ auch als
Einstieg, Ergänzung oder Vertiefung des Fachunterrichts eignen.
Prinzipiell aber muss man deutlich unterscheiden zwischen Spielen, die als Ein-
oder Ausstieg dienen, als Auflockerung oder Pausenfüller (vgl. Mauch und Scholz
2018) und Problemlösungsaufgaben oder besser Lernprojekte, die in der Regel sehr
komplex sind, viele zentrale Themen zu Kommunikation, Kooperation, Krisen-
management, Teamentwicklung u. v. a. m enthalten und immer eine Reflexionsein-
heit benötigen. Der zeitliche Aufwand ist also wesentlich höher. Sie sollten gezielt
eingesetzt werden, z. B. um die Klasse als Gruppe weiter zu entwickeln, sie zu
Lösungen zu führen und sie damit zu ermutigen, Außenseiter zu integrieren und tat-
sächliche und latente Problem offen zu legen. Mehr als bei Spielen setzt der Ein-
satz von Lernprojekten Erfahrung, Fachwissen und Sozialkompetenz voraus beim
Lehrer voraus. Die Unterschiede zwischen Spiel und Lernprojekt haben Heckmair
und Michl folgendermaßen beschrieben (2013, S. 79 ff.):
Spiele Lernprojekte
Maßstab ist Spaß Maßstab ist Entwicklung
Ernst- und Spielsituation werden klar Mischung von Ernst und Spiel, von Lust und
voneinander getrennt Unlust ist beabsichtigt
Teilnehmer sind Spieler Teilnehmer sind Auftragnehmer eines Projekts
Trainer hält sich raus oder spielt mit Trainer ist nach Anmoderation Kunde,
Teilnehmer sind Auftragnehmer
Trainer orientiert sich am schwächsten Trainer nimmt in Kauf, dass nicht alle im Bilde
Teilnehmer sind
Erklärungen sind einfach und präzise Erklärungen sind – wie im „richtigen Leben“ –
oft vage und manchmal unverständlich
Diskussion nach Spiel, z. B. über Regeln soll Diskussion nach Lernprojekt wird bewusst
vermieden werden gesucht
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 105
Jakob von Au und Uta Gade (2016) haben sich für die Bezeichnung Outdoor
Education entschieden, zum einen vermutlich deswegen, um sich von der Erleb-
nispädagogik abzusetzen, zum anderen, weil sich viele Beiträge in diesem
Buch auf das europäische und englischsprachige Ausland beziehen. Ob dies der
passende Begriff ist, für die Tatsache, dass Schulen mindestens einen Tag pro
Woche nicht in der Schule verbringen? Dazu kann man natürlich auch eine andere
Meinung vertreten, Draußenschule wäre treffender gewesen. Die Definition von
Outdoor Education (2016, S. 16) ähnelt eher einer Beschreibung. „Beim Outdoor-
Unterricht lernen Schüler*innen über die Natur in der Natur, über die Gesellschaft
in der Gesellschaft und über die lokale Umgebung in der lokalen Umgebung.“
Gemeint ist damit die gezielte und geplante Exkursion wie z. B. die Vermessung
des Schulhofs im Rahmen des Mathematikunterrichts, die literarische Spuren-
suche, die Suche nach physikalischen Gesetzen im Hochseilgarten, die geo-
logische Wanderung, der Besuch von Handwerksbetrieben, Biologieunterricht in
Wald und Wiese und am Bach, der Besuch des Heimatmuseums im Geschichts-
unterricht.
Ohne Zweifel sind die skandinavischen Länder im Bereich der Outdoor
Education weiter entwickelt als Deutschland, allerdings wird das Potenzial
im deutschsprachigen Raum ziemlich unterschätzt. In der Zeitschrift „e&l.
erleben und lernen“ finden sich zahlreiche Hinweise zu erlebnis- und handlungs-
orientierten Methoden zum Deutsch-, Biologie-, Religions-, Mathematik-, Physik-
und Sprachenunterricht, zur Schulerlebnispädagogik und zu Project Adventure.
Natürlich hat das Outdoor Learning in Schottland, Dänemark, teilweise in den
USA, eine tiefere und längere Tradition und kann das Fachwissen im deutsch-
sprachigen Raum nachhaltig bereichern. An der Universität Edinburgh führt
ein engagiertes Forscherteam, das der schulischen Praxis sehr nahe steht, nicht
nur regelmäßige Studien durch, sondern unterstützt vor allem Vor- und Grund-
schulen dabei, Teile ihres Curriculums nach draußen zu verlegen (2016, S. 42 ff.).
Im skandinavischen Konzept der „Udeskole“ findet der Unterricht draußen statt.
Das kann in Wald und Wiese sein, oder auch in der „Gemeinde, in Fabriken, land-
wirtschaftlichen Betrieben, Galerien und Theatern.“ (2016, S. 51) Natürlich gibt
es Vergleichbares in Deutschland, allerdings ist das Konzept in Dänemark am
weitesten verbreitet und fest verankert (2016, S. S. 50 ff.). Das Modell der Out-
door Education in Iowa (USA) ähnelt weitgehend dem Konzept der erlebnis-
pädagogischen Klassenfahrten, das in Deutschland eine lange Tradition hat. Dazu
gehören vor allem Vertiefungen im Bereich der Naturerfahrungen, der Ökologie,
der Ornithologie. (2016, S. 64 ff.)
106 W. Michl
Es gibt auf dem Markt eine Vielzahl von Weiterbildungsangeboten, die sich für
alle pädagogischen Zielgruppen eignen, selbstverständlich auch für Lehrer*innen.
Kriterium für ein solventes Weiterbildungsangebot ist die Dauer, der Inhalt, die
Erfahrung und der Ruf des Trägers oder Trägerverbundes; zusätzlich ist das Güte-
siegel vom Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik (www.bundesverband-
erlebnispaedagogik.de) „beQ“-zertifizierte Ausbildung ein Qualitätsmaßstab. Ein
Beispiel für eine solche Ausbildung ist die „Zusatzqualifikation Erlebnispädagogik“
(ZQ), die seit 1993 von einem Trägerverbund aus Fachsportverbänden (Deutscher
Alpenverein – DAV, Bayerischer Kanu-Verband – BKV und Verband der deutschen
Höhlen- und Karstforscher e. V. – VdHK), Jugendbildungsstätten (Bad Hindelang,
Königsdorf, Burg Schwaneck und Babenhausen) und dem Institut für Jugendarbeit
des Bayerischen Jugendrings angeboten wird. Die Ausbildungsdauer beträgt 1,5 Jahre
bei 26 Ausbildungstagen. Die ZQ startet jedes Jahr mit den Handlungsfeldern Berg-
wandern, Klettern, Höhlen, Wasser, Mountainbike und Kooperationsübungen. Die
Anforderungen für das Zertifikat sind eine fachsportliche Prüfung, die von den
110 W. Michl
6 Ausblicke
Die Erlebnispädagogik hat auch die praktische Pädagogik mit neuen Themen
versorgt und deren Alltag verändert bzw. zur Wiederentdeckung wichtiger Leit-
fragen beigetragen, zum Beispiel: Prinzipien des handlungsorientierten Lernens,
Leitung, Führung und Verantwortung, kooperative Abenteuerspiele (Gilsdorf
und Kistner 2011, 2012) und Lernprojekte (Heckmair 2008), Lernen mit allen
Sinnen, durch Anschaulichkeit, mit und über den Körper, Reflexion und Transfer.
Nirgendwo in der Bildungsarbeit hat man so viele Strategien für den Transfer des
Gelernten in den Alltag entwickelt (Friebe 2012). Es gibt eine Reihe von Impulsen
und Innovationen für den schulischen Unterricht, für die Hochschulen, für den
therapeutischen Bereich, für die Behindertenarbeit, für die Erwachsenenbildung.
Immer dort, wo erlebnis- und handlungsorientierte Methoden in institutionalisierte
Lernfelder eindringen, bereichern sie einerseits zum Beispiel das Sprachenlernen,
Erlebnispädagogik und schulische Bildung 111
das Verständnis für Mathematik, Physik und Chemie. Andererseits braucht die
Erlebnispädagogik auch Kritik und Impulse aus anderen Lernbereichen, um sich
weiterzuentwickeln.
Literatur
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richtskonzept. Weinheim: Beltz, Juventa 2016.
Balzer, E./Michl, W.: Erlebnispädagogik gestern und heute – fest verwurzelt, noch beflügelt? In
Schule Schloss Salem (Hrsg.): Schule Schloss Salem 1920–2020 (139–152). Stuttgart: Kohl-
hammer 2020.
Böger, A.: Project Adventure – wie die Outward-Bound-Idee das schulische Lernen bereichert.
In Michl, W./Seidel, H. (Hrsg.): Handbuch Erlebnispädagogik. (251–253). München/Basel:
Ernst Reinhardt 2018.
Böger, A./Schut, T.: Erlebnispädagogik in der Schule. Veränderungen im Selbstkonzept nach
project adventure. e&l. erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungs-
orientiertes Lernen. Heft 1, 2006, 17–26.
Candolini, G.: Das geheimnisvolle Labyrinth. Mythos und Geschichte eines Menschheitssymbols.
Augsburg: Pattloch 2008.
Csíkszentmihályi, M.: Flow: The Psychology of Optimal Experience. New York City: Harper &
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Dettweiler, U.: Outward Bound International. In Michl, W./Seidel, H. (Hrsg.): Handbuch Erleb-
nispädagogik. (142–145). München/Basel: Ernst Reinhardt 2018.
Dettweiler, U./Becker, C: Aspekte der Lernmotivation und Bewegungsaktivität bei Kindern im
Draußenunterricht. Ein Überblick über erste Forschungsergebnisse. In Au, J. von/Gade, U.
(Hrsg.): „Raus aus dem Klassenzimmer“. Outdoor Education als Unterrichtskonzept. (101–
110) Weinheim: Beltz, Juventa 2016.
Drosten, C.: www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html. (32) update vom 14.04.2020
Fandrey, D.: Erlebnispädagogische Settings und Selbstkonzept. Ein Vergleich von Programmen
nach dem Ansatz von Project Adventure und erlebnispädagogischen Kurzzeit-Projekten im
Hinblick auf die Veränderung des Selbstkonzeptes der Teilnehmenden. Hamburg: Dr. Kovač
2013.
Friebe, J.: Reflexion im Training. Aspekte und Methoden der modernen Reflexionsarbeit. Bonn:
managerSeminare 22012.
Gilsdorf, R./Kistner, G.: Kooperative Abenteuerspiele. Bd. 2 Seelze-Velber: Klett/Kallmeyer
92011.
Abstract
Keywords
H. Banack (*)
School of Education, University of Northern British Columbia, Prince George, BC, Kanada
E-Mail: hart.banack@unbc.ca
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 115
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_6
116 H. Banack
1 Bearing: Unfurling
1See Deleuze and Guattari (1980, p. 12)—“What distinguishes the map from the tracing is that
[the map] is entirely oriented toward an experimentation in contact with the real.”
2Figure 1—Triangulation by J.J. Heimstra (2020).
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 117
c onsidering why and how phronêsis, kairós, and tópos are valuable and how they
might be learned outdoors, as sailors learn the ropes at sea, eventually becoming
captains. This work is especially relevant considering our hyper-epistemological/
technical society (Lyotard 2002; Gadamer 2004) that seems to be moving further
and further away from active living in an outdoor world (Chawla 2015). By link-
ing phronêsis, kairós, and tópos to movement through action, and movement to
outdoor life, friluftsliv as Norwegians might say (Faarlund 2007), this place-bind-
ing knot map aspires to remind of how post-modern, OECD-influenced-schooling
perpetuates marginalization of action and movement in schooling (Osberg and
Biesta 2008; Quay and Seaman 2013). The notion of risk, in relation to school and
learning, will be charted, particularly illustrating examples of marginalization of
outdoor learning. In recollection of phronêsis, kairós, and tópos, a plausible sug-
gestion to weigh anchor for education’s dis-position (education ecstasy), by tether-
ing learning and local outdoors, is offered.
Aspects of this work connect to a prior contemplation around the ontology
of the where in learning (Banack 2018). Flowing from that work, this reflection
includes observations of how bearings and movement (including stance and bal-
ance) learned outdoors, as practical wisdom (phronêsis), where (tópos), and when
(kairós) qualities of learning, shift rhetorical insistencies made of mainstream
school aims principled by economy and high quality, achieved through epistemic
and poesis as techne teaching foci (Vardoulakis 2020), to permit infusion of use-
ful learning (concerned with health and wellbeing, relationships with more-than-
humans, and densely experiential learning) that aims to develop bearings and
movement in learners as legitmate and essential educational/school aims (Banack
2018). While I am influenced by ancient Greek notions of phronêsis, kairós, and
tópos, I am not attempting to suggest a reproduction of ancient texts, but rather
to inspire schools and teachers, in our present context, to include learning experi-
ences that develop and hone ways of knowing that are not currently mainstream
school aims3, yet are important in leading a good life4. I come to story-map
through my lived experiences guiding people on backcountry wilderness canoe
trips, over land and water. I offer story-mapping and triangulation as practices
familiar through canoe trip guiding. I use an analogy of paddling over lakes and
sailing at sea to tell this shanty, as the feeling of being in a boat on water immedi-
ately accentuates relationships between phronêsis, kairós, and tópos, and I would
like us to feel a sense of “bobbing” on water in wind. Perhaps, be conscious of
how your body moves as you read this. For example, knowing when to paddle
(read) harder or steer the canoe (concepts) into waves, or tie the appropriate knots
(tools), in the appropriate ways, at the right moments so that appropriate re/actions
occur for ship to be safe and on course. Decisions leading to action, through
3Many have discussed the aims of education and schooling. See Banack (2018) for a discussion
“phronêsis is not just something the phronimos knows, but also and primarily what he or
she is. We cannot put you in a classroom and teach you the recipe for courage; all we can
do is put you in a situation where if you have courage, you will display it, make it mani-
fest. This does not mean that you cannot learn courage, but that there is no set recipe for
it—you may never know how you got that way, and when it becomes part of your Being,
you will know it only in the same way, and insofar as, you know yourself…phronimos
extends…Being into all situations and relationships.” (p. 19)
school paradigms, goal-posted by economy and quality. So, while the arguments
are instructive, they are limited, as they do not question assumptions of dominant
school frameworks that limit and marginalize both outdoor learning and phronê-
sis. Tabachnick (2004) stated that phronêsis was impossible in our era dominated
by episteme and techne, not even considering local outdoor learning as a practical
option for schools to engage in phronêsis, while Thorburn and Allison (2017) tried
to reconcile (fit) phronêsis within episteme and techne school worldviews through
alignments with dominant curriculum and pedagogy. Neither argument explored
that the where (tópos) and when (kairós ) of learning present unique ontological
(and thus epistemological) imperatives, distinguishing and establishing phronêsis
as exceptional from episteme and poiesis-as-techne (McGee 1998). By situating
phronêsis as an imperative of education qua schooling, through where learning
occurs—the where of learning—on equal footing with episteme and techne, this
place-binding knot map offers reconceptions of school that include cultivating
phronêsis via local outdoor learning, thus shifting hegemonic global educational
goals blindly driven by economy and quality5.
Having situated this reflection as an aquatic adventure, I would like to overtly
caution you, dear reader, around progressing further. As you may have gleaned by
this point, through my style of mapping, that this work is…
5See OECD /About Us/What we do: shape #BetterLives: “This is a glimpse of how we help
countries forge a path towards better lives while saving billions of dollars for taxpayers and
boosting prospects for stronger, fairer and cleaner economies and societies.” Retrieved on July 5,
2020 from: https://www.oecd.org/about/
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 121
We know, from experience, that if we travel too fast into high seas or high skies,
even with something to hold on to, the motion of the sea’s rocking and the air’s
pressure confluences may bring on motion sickness. This writing may have a simi-
lar effect on you, dear reader, as the reflection sways and bobs in/through water
and wind. I do take anxiety’s aporia-as-motion-sickness seriously, as I move at my
own pace through this mapping exercise, attempting to traverse bearings in ways
you might expect, or feel comfortable with, so as not to exacerbate nausea, while
acknowledging that there is movement, and nausea may onset. I mention this now
to draw attention to your stance and balance as you bear through this map woven
of unspooling yarn. If during the read you feel squeamish, perhaps this is why…
and, you might consider stopping, laying down, turning towards a stable point, or
lowering and softening your gaze. Don’t let the yarn get away on you and never
stand astride a spinning spool!
Maybe you are unfamiliar with the construct of outdoor guiding? I will share a
bit about how I understand outdoor guide practices. As a guide, I led children and
youth (from as young as four years old), up to adults, on backcountry (over two
hours away from emergency services) wilderness trips into “nature” (before cell
phones and GPS trackers), ranging in length from two days to various months.
Now you may ask, “what is this nature?” I really do not know, but this reflection
is not interested in arche, however nature is not people-dominated. I wish to direct
my reflection towards practice, understood as phronêsis, and the present learning
context (kairós and tópos) of school and leadership in relation to outdoor learning
in relating this tale.
Commonly, the teachers I study with report growing up having had solid
schooling experiences (i.e. indoor classrooms with desks, books, a gym, comput-
ers and a lab), committed to epistemic and techne aims of education related to the
goals of economy and quality, and that as students, they were rarely outdoors for
learning. Cochran-Smith (2003) described how teachers reproduce in their teach-
ing the ways in which they were taught as students, and that unlearning habits
and practices acquired over eons can be very difficult, perhaps more difficult than
122 H. Banack
learning. I have noticed, in the courses that I teach, that by slowly moving learning
into local outdoors, on a regular basis in relation to diverse learning aims, that the
teachers I study with report development of their own stance, balance, and ability
to take and follow bearings, their overall phronêsis, as part of their outdoor teach-
ing identity (Banack and Tembrevilla 2020).
4 Bearing: Adventure
“I don’t know what day it is, what time it is, what year it is. I have no markers to hold me
in place”
Personal Communication from a high school Home Economics teacher discussing feelings
around the COVID-19 pandemic, Zoom meeting, May 29, 2020
Getting lost is part of lived experience, whether it is getting lost on land or water,
or in time or in translation, or in one’s own mind…. There are many ways to get
lost and every human I have communicated with shares stories of being lost at
points. Being lost is important to consider, for being lost demands re/action….
what do you do!?! The ancient Greeks referred to confusion, or being lost, as
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 123
a poria. In discussing the essential role of aporia in learning and knowing, Fahy
(2006) wrote, “aporia is a state of puzzlement or confusion that is critical to under-
stand the goals and purposes of a philosophical education” (p. 310). Aporia is not
only part of learning and philosophy, but essential and constitutive to learning
across knowledge virtues. Response to the confusion brought on by losing a wallet
was described by Varela (1992) as a coordinated reaction our body takes based on
prior experiences. Such responses, as re/actions, are examples of phronêsis guid-
ing through aporia, and responses can be learned and improved upon, just as sail-
ors learn the ropes and I to be an outdoor guide.
In his conclusion to the role of aporia in learning, Burbules (2000) conveyed a
similar sentiment to Fahy, “Aporia in this sense is not a brief interstitial moment,
but an ongoing condition that generates the questions and problems that move to
seek new understandings” (p. 184). Burbules’ (2000) exploration of aporia con-
cluded that teachers might aim to overcome aporia, however he stated that the
possibility of overcoming aporia may be impossible, as aporia is pervasive and
ubiquitous in life. So, we might ask, “how might educators include aporia in the
learning contexts they develop to enhance learning for learners and prepare them
for the insistent aporia of life?”. In considering phronêsis’s role, along with the
inescapable nature of aporia, Green (2009) conjured that aporia was necessary
in deliberation for educators, “[a]ll decision-making—even that which is, prop-
erly speaking, mundane, or ‘practical’—is ‘haunted’ by the aporia, by aporias….
In professional practice there are always moments of undecidability and decision,
moments when one must act, even if the way forward is not clear, or—more radi-
cally—is uncertain”. (p. 11–12). If confusion is part of learning, then learning how
to approach confusion is a necessary aim of schooling. The most striking exam-
ple is weather. Weather keeps changing, and outdoor educators need to respond to
the changes, as weather is uncontrollable. In the impossibility of control, we can
only, as Friere wrote (1985), learn to “read the world”. Friere (1985) described
reading the world as a means to develop phronêsis, stating, “reading the word is
not only preceded by reading the world, but also by a certain form of writing it
or rewriting it. In other words, of transforming it by means of conscious practical
action. For me, this dynamic movement is central to literacy” (p. 18). Here, liter-
acy extends beyond the confines of epistemic and techne applications, to illustrate
phronêsis’ role in school. A significant way in which I have learned to respond to
life’s aporia, and read the world, has been cultivated through outdoor adventur-
ing. However, precisely how this fluency happens is unclear (more aporia), and so
many educators avoid the process or denounce its possibility6. I have found that
local outdoor learning responds well to the educational challenge of inculcating
phronêsis and situating learning.
In reflecting on the Meno, the ancient Platonic text considering the nature of
education, Fahy (2006) wrote that one of assumptions made was that, “all the
“This implies that the paradigm of pedagogy is a process of learning that focuses on the
student, not primarily a process of teaching that focuses on the teacher. Pedagogy is nei-
ther a transmission of knowledge from teacher to student nor a process of deductive rea-
soning whereby premises are simply rearranged to form a conclusion. Instead, pedagogy
is an open-ended and imaginative process that primarily occurs in the experience of stu-
dents” (p. 308).
Fahy (2006) followed Dewey’s work on aporia closely, reminding that thinking
always involves “uncertain, doubtful and problematic” knowledge (p. 312). Fahy
illustrated aporia through Dewey’s discernment between two criteria that might be
used to distinguish a “genuine problem from a mock problem” (p. 313), whereby
a genuine problem: a) occurs within a natural context and b) is the student’s prob-
lem, not the teacher’s problem. Genuine learning problems can be invited through
local outdoor natural contexts on the school-yard, where learners are required to
navigate aporia and make decisions in their lived contexts.
Aporia is not only always a part of learning, but a necessary and important
aspect, and aporia’s confusion produces strong emotions which, in turn, impulse
learning further. Fahy (2006) wrote, “[a]poria, confusion, and emotion are only
the beginning of good pedagogy” (p. 314), situating the roles of context and feel-
ings in knowing and acting (gut decisions), and how emotions are critical to peda-
gogical aims. Eventually, Fahy (2006) sided with Dewey’s view that the key role
for school was to teach learners to think, where thinking is understood to include
responding to real decisions, in real moments, to develop phronêsis (Greene’s
(1994) reminder that mind is, in the Deweyian sense, a verb). Fahy (2006) sug-
gested Experiential Education as a means to foster aporia in learning, but did not
specify outdoor learning or detail how Experiential Education might function in
practice, or in relation to phronêsis. Two limitations to Fahy’s informative explo-
ration of aporia reside in 1) the recreation of a binary between curriculum and
pedagogy and 2) conflation of pedagogy as phronêsis. In distinguishing between
phronêsis and pedagogy, pedagogy’s role in phronêsis sharpens. Phronêsis
includes aspects of pedagogy, but in and of itself, in my experience, phronêsis and
aporia can be fostered in local outdoor learning contexts in ways that evoke feel-
ings that connect learners to useful learning, that are not pedagogy. For example,
considerations of nature (wind, rocks, trees, birds, etc.) as teacher (Jickling et al.
2018).
While feeling lost and confused are natural, expected, and very necessary in
learning and life, and prevent knowing the future before it happens with much
predictive certainty, there remains value in charting experiences, here as an act
of place-binding knot mapping, to aid in traversing new and emerging contexts.
Place-binding knot maps are not like topographical maps, as one can never return
to the same place in the same moment. Deleuze and Guatarri (1980), in consider-
ing maps and traces, suggested that the two are distinct insofar as “[a] map has
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 125
multiple entryways, as opposed to the tracing, which always comes back ‘to the
same.’ The map has to do with performance, whereas the tracing always involves
an alleged ‘competence’” (p. 12–13). Through a range of mapping approaches and
practices, including story-mapping, charting experiences of cultivated phronêsis
(as performance) assists to produce maps useful to our individual journeys.
Place-binding knot mapping, as story-mapping, is not an epistemic or techne
task, but rather illustrative of phronêsis. Consider Davis’ (2009) story reporting on
Micronesian maritime practices to develop essential navigation skills in children,
a process that begins with the infant being placed in tide pools to build a relation-
ship with water (p. 53). These early learning experiences were essential to navi-
gate at sea successfully as an adult. Gell (1985) described how the etak, through
their navigation system, were renown for “extraordinary feats [of navigation, that]
are achieved by a combination of techniques involving dead reckoning, following
the stars at night, and making use of a detailed knowledge of conditions encoun-
tered at sea (wave patterns, bird movements, cloud formations, winds, etc.)”
(p. 283), learned over years of practice. The art of navigation, which eventually is
practiced at high sea with limited margins of error, is begun on land and in shel-
tered water, in aión and kairos.
So, while maps are signposts, in the spirit of Hermes (derived from Greek
“hermaión (έπμα(ξ),έπμαιον), indicating a pile of stones” (Kovacheva 2015,
p. 636)), and collaborative map-making and overlaying of various map iterations
help to situate one’s self in valuable ways, responding to feeling lost and confused,
a situatedness aiding in making practical decisions, maps are fallible, particularly
place-binding knot maps. Maps and mapping are commonly approached through
episteme and techne, however it is with phronêsis (in use) that map reading and
mapping “make sense”. Mcgee (1998) critically commented on how experts from
epistemic and techne backgrounds commonly lack phronêsis, and so their maps
may feign knowledge, however they are but simulacra, decoupled from phronê-
sis and thus useless- “Wherever in society we once would have looked to find an
example of the phronimos, we find instead an expert whose ethos consists of cre-
dentialed mastery of the techne of his or her field” (p. 22). Maps must be used
regularly to be useful, just as practising the ropes is crucial for knowing the ropes;
over time one develops map fluency. Local outdoor learning, on school grounds
and in the surrounding community, offers much possibility for mapping fluency
to form. MacDonald (2018), in conducting doctoral work on why teachers do not
engage in outdoor learning, noted a motif of radar. In reporting teacher responses,
MacDonald wrote:
Faye said, “It’s not on the radar. It should be, but it’s not.” During the interviews, all of the
teachers started to imagine practical ways they could get their students outside and indi-
cated that this was the first time they had given it much thought. For example, Kyle said:
...it’s not really on my radar. Now that I think about it, it would be so easy just to go out-
side for 20 minutes for silent reading. There’s no reason I couldn’t have done that until
now and it never occurred to me even to think of that, so it just wasn’t on my radar. (p. 46)
126 H. Banack
Radar has interesting connections to maps, however, familiarity with local outdoor
learning and/or phronêsis is required to read radar. Mapping our stories of out-
door learning is an important way to explore learning phronêsis, similar to how
stone cairns act as markers upon the land, aiding in bearings, but we first need
to get outdoors! Story-mapping of experiences with local outdoor learning is an
approach educators and learners might engage in to help develop a sense of loca-
tion. We (Banack and Berger 2019) described story-mapping as a means to inform
action through mapping diverse stories: “Story mapping is not a tool (a map) that
we may unfold and follow to reach a final destination (telos). Story-mapping is
a way to describe our process of considering these various tales together, layer-
ing the stories by shifting scale” (p. 2). Re-situating phronêsis in educational sto-
ries, through local outdoor learning, invites possibility to reconceive of learning
as useful, beyond economy and quality, yet charting, and sharing of charted maps,
require educators to take learning onto the land and to notice, in order to chart.
6 Bearing: Kairós—Tópos—Phronêsis
The water seems suspended
above the rounded gray and blue-gray stones.
I have seen it over and over, the same sea, the same,
slightly, indifferently swinging above the stones,
icily free above the stones,
above the stones and then the world.
If you should dip your hand in,
your wrist would ache immediately,
your bones would begin to ache and your hand would burn
as if the water were a transmutation of fire
that feeds on stones and burns with a dark gray flame.
If you tasted it, it would first taste bitter,
then briny, then surely burn your tongue.
It is like what we imagine knowledge to be:
dark, salt, clear, moving, utterly free,
drawn from the cold hard mouth
of the world, derived from the rocky breasts
forever, flowing and drawn, and since
our knowledge is historical, flowing, and flown.
At the Fishhouses, Elizabeth Bishop
What are relationships between kairós, tópos and phronêsis? This section turns
attention to this question, triangulating the three concepts by mapping their trajec-
tories in relation with outdoors, through stories. In order to be good at something,
and good is the aim as we navigate from place to place (not great or perfect), we
need to practice. Practice includes aspects of time and place, and I shall begin with
time considerations. Think of the proposition of 10,000 h, most recently shared
by Gladwell (2006), that quantifies knowing through practice as measured over a
set number of hours. Biesta (2007) wrote about how hourly breakdowns of time
into budgets perpetuate post-positivistic, evidence-based practices and mindsets
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 127
that permeate educational discourse and reproduce (colonize) episteme and techne
learning in the steed of economy and quality. This work, in surveying phronêsis
through local outdoor learning, asks if schooling might be practiced in non-chron-
ological ways, via aión and kairós explored in local outdoor places. In considering
aión and kairós, phronêsis is developed across time, not in hours.
Ericsson et al. (1993) investigated relationships between practice and perfor-
mance, finding that the time required to reach mastery (to become a phronimos)
aligned with the “10-year rule” developed by Simon and Chase (1973), and that
a decade seemed to be a valid eon across a range of disciplines (chess, musical
composition, typing, etc.); and for many fields (i.e. scientists, writers, etc.), mas-
tery often required two decades to reach (p. 366). The research of Ericsson et al.
(1993) was on deliberate practice in relation to performance, with performance
understood as phronêsis, the ability to perform in the moment. Of interest here
is that, unlike Gladwell’s quantified 10,000 h (2006), Ericsson et al. (1993) reaf-
firmed that chronological time is not a valid metric of time to measure achieve-
ment of proficiency. If competency, as phronêsis, is developed through aión (i.e.
in childhood, in adulthood) and kairós (i.e. a decade, practice), then it appears that
phronêsis might be nurtured through local outdoor learning at school, particularly
elementary school, when aión is experienced most strongly (Kennedy and Kohan
2008). The school’s locality, its real estate, as tópos in relation with kairós, makes
this possible. Charting local outdoor learning stories that occurred at school, in
moments (kairós), may result in story-maps that illustrate the ubiquitous learning
present in the school-yard and surrounding neighbourhood and how practice of
phronêsis, over time, impacts learners in their life’s trajectory and in leadership.
As repetitively noted in this map, current indoor school classroom learning
experiences operate mainly in the realms of episteme and techne that annex (ex-
habit, to use Ingold’s 2007 terminology) school learning from kairós and tópos.
Indoor school learning has been disciplined (Foucault 1995), however, outdoors
remains wild7, even local outdoors retains wild, teeming with learning. Mar-
ris (2016) gave a compelling TedTalk called, “Nature is Everywhere”, where she
forged a cohesive argument for why humans benefit from a paradigm shift to con-
sider nature as being everywhere, from the cracks in sidewalks to abandoned and
contaminated earth, and mouldy classrooms, as opposed to some pristine remote
utopic wilderness “out there”. Indoor school attempts to keep nature out, except
in colonized senses of collections and displays (i.e. insects in aquariums, potted
plants). For learning focused on episteme and techne goals of economy and qual-
ity, the built and highly regulated enveloped school environment seems workable,
for the most part. However, the indoor school does not serve phronêsis learning
well. Manufactured educational learnscapes have been largely divorced, intention-
ally, from complex and indeterministic aspects, desired and required in phronêsis
learning, that occur outdoors.
7See Michelson, E. (1999) Carnival, paranoia and experiential learning, Studies in the Education
of Adults, 31(2)140–154.
128 H. Banack
Rämö (1999, 2004) wrote explicitly about relationships between kairós, tópos
and phronêsis. His first consideration of their relationship (1999) asserted that “[t]
he abstract chrónos and chora have to do with science and theoretical knowledge
(episteme and techne), whereas kairós and tópos characterize practical wisdom
and judgment (phronêsis)” (p. 316). Rämö (2004) went on to state that an over-
dependence on regarding time as chrónos in social settings is unhealthy, declaring
“analysis of time in social settings remains crippled if there is a partisan focus on
chronological time alone, regardless of whether it is depicted as clock, linear, cir-
cular or spiral time” (p. 850). Rämö (1999) reaffirmed time as kairós as the right
time:
“Aristotle has several references to kairós, including a general distinction that chrónos is
dating time and kairós is the time that gives value. In De Categoriae (107a 8–10, 119a
26–37), Aristotle states that: ‘What happens at the right time [Kairós—season] is good’”
(p. 312). In considering the role of kairós, Lenhart (2011) wrote, “[i]t is not enough to
have the technical skills (techne) or theoretical skills (episteme) to solve a problem. The
kairós moment is not just a special moment where you can do something well, but the
“right” moment where a wise action makes all the difference.” (p. 4)
8Clearly this is discernible in the moment of COVID-19, where much learning has seamlessly
shifted to online wheres.
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 129
could occur else where9. In unhitching kairós and tópos from school, through
epistemic and techne aims, phronêsis is forgotten as a learning aim, or at best
pandered to, while place as chora and time as chrónos continue, unchecked, to col-
onize learning. Local outdoor learning, across subject disciplines and grade levels,
invites kairós and tópos through learning on the school grounds and the surround-
ing neighbourhood. Spending time in local outdoors not only develops phronêsis,
but also responds to the hegemony of abstract epistemic and techne knowledge,
devoid of context situated perceptions of time and place.
Discernment between abstract and concrete conceptualizations of when (time)
and where (place/space) by ancient Greeks sheds light on present day school prac-
tices through the domination of episteme and techne. School timetables and indoor
classrooms have long subjugated planning of educational programs, particularly
to demands of economy and quality. It is important to recognize how time spent
outdoors for learning permits phronêsis through when and where enacted as kairós
and tópos. Again, turning to Rämö (1999),
“In a strict Aristotelian sense, kairós is always an idea closely connected to phronêsis. For
instance, a skillful thief could have an excellent feeling for the right moment to act, but
nonetheless lack the genuine meaning of Kairós in terms of the wisdom and judgment of
phronêsis. Still, this connection of phronêsis and kairós is not solely a question of moral
sentiment, since a farmer’s ‘kairic’ feeling for the right moment to sow and harvest is not
bound to be a moral action in itself.” (p. 313)
9See: What’s the Value of Harvard Without a Campus? The New York Times, Retrieved on July
11 from: https://www.nytimes.com/2020/07/11/style/harvard-students-coronavirus.html
130 H. Banack
Table 1 Time and space manifold applied to School (Adapted from: Rämö 1999, p. 317)
Abstract Space Meaningful Place
Abstract Time Chronochora Chronotópos
(Episteme) (Techne as Poiesis)
e.g. academic school subject dis- e.g. applied school subject disciplines
ciplines (Mathematics, Science) (Home Economics, Woodworking)
Meaningful Time Kairochora Kairotópos
(Techne as Poiesis) (Phronêsis)
e.g. online learning acting wisely and judiciously
e.g. outdoor learning, outdoor trekking,
student exchanges, co-op learning
In his paper titled “Legitimating Lived Curriculum”, Aoki (1993) wrote, “[a]cknowl-
edging the lived curriculum as Miss O has done offers us a retextured landscape,
populated by a multiplicity of curricula, disturbing the traditional landscape, with its
single privileged curriculum-as-plan awaiting implementation” (pp. 258–259). The
well-respected Canadian Philosopher of Education metaphorically applied landscape
to his consideration of curriculum (and instruction) as episteme, and proposed an
alternative version of curriculum as “lived” or sofia (p. 267), suggesting sofia offered
deeper knowing. Curiously, Aoki’s reflection did not consider the physicality of land
as where (tópos) and when (kairós), nor deliberations of educational possibilities for
learning and knowledge, beyond episteme, techne, or the atopic sofia10. Aoki (1993)
did discuss how landscapes can merge, resulting in novel knowing, yet the unspoken
de facto place for learning in Aoki’s writing remained the indoor school classroom. As
noted, while the classroom landscape, in its intentionality, offers options to episteme
and techne knowing, it is limited with respect to phronêsis, as so many factors are
controlled for: light, temperature, didactics, time, seating, etc. Phronêsis, or practical
decision taking, is restricted as when and where considerations become increasingly
prescribed and controlled, eventually severely hampering choices and actions by limit-
ing degrees of freedom and involvement by learners in learning. Naturally, outdoor
landscapes, without walls and hanging clocks, lessen limits and control, while increas-
ing complexity, and therefore contributing to phronêsis learning.
Unlike Aoki’s (1993) tale, landscape flows, changing and unfolding, as hori-
zon shifts. Horizon is an important concept in considering phronêsis, for shifting
and merging horizons offer unique possibilities for learning. Vessey (2009), in his
10SeeArendt’s concept of no-where in Arendt, H. (1981). The life of the mind. Houghton Mifflin
Harcourt.
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 131
paper entitled “Gadamer and the Fusion of Horizons”, reviewed the history of the
notion of horizon from Husserl and Merleau-Ponty to Heidegger and Gadamer. In
summarizing the sentiment of horizon, Vessey (2009) wrote, “the horizon is not
the limit of meaning, but that which extends meaning from what is directly given
to the whole context in which it is given, including a sense of a world” (p. 536).
He went on state that “[a]lthough the term [horizon] is now more metaphorical
than literal, we can still think of horizons as providing perspective and as marking
the limits of what can be seen from a particular point of view” (p. 536), indicat-
ing that the concept horizon is primarily meaningful (a key aim for the horizon
concept from Husserl to Gadamer) due primarily to the physicality of horizon, and
only subsequently as a metaphorical extension. This story-mapping of local out-
door learning returns horizon to the physical in learning and recognizes that move-
ment shifts horizons and invites phronêsis. In considering horizons in relation to
limits, Heidegger (1993) wrote that
“A boundary is not that at which something stops but, as the Greeks recognized, the
boundary is that from which something begins its presencing. That is why the concept
is that of horismos, that is, the horizon, the boundary. Space is in essence that for which
room has been made, that which is let into its bounds. That for which room is made is
always granted and hence is joined, that is, gathered, by virtue of a location, that is, by
such a thing as the bridge. Accordingly, spaces receive their being from locations and not
from ‘space.’” (p. 356, italics in original)
review has also shown that the maximal level of performance for individuals in a
given domain is not attained automatically as function of extended experience, but
the level of performance can be increased even by highly experienced individuals
as a result of deliberate efforts to improve” (p. 366). Learning needs to first shift
outdoors, deliberately, over time, for phronêsis to take hold in schools. This is a
shift that is fraught with anxiety and aporia for teachers, so particular attention
around how teachers may develop their stance and balance, and gain their bear-
ings, with respect to heading outdoors is required.
Dewey (1997), in considering wonder in his 1910 text How We Think, cited
Wordsworth’s poem Expostulation and Reply: “The eye it cannot choose but
see; We cannot bid the ear be still; Our bodies feel, where’er they be, Against or
with our will” (p. 31), before stating, “[t]he curious mind is constantly alert and
exploring, seeking material for thought, as a vigorous and healthy body is on the
qui vive for nutriment. Eagerness for experience, for new and varied contacts,
is found where wonder is found” (p. 31-italics in original). Dewey was a strong
advocate for experiential learning, including learning outdoors (Quay and Seaman
2013). Dewey suggested that looking (observing) needs to be developed in con-
texts where change is naturally occurring. In considering weather and learning, for
example, Dewey (1997) wrote:
“The turning of the head, the lifting of the eyes, and of the scanning of the heavens, are
activities adapted to bring to recognition facts that will answer the question presented by
the sudden coolness. The facts as they first presented themselves were perplexing; they
suggested, however, clouds. The act of looking was an act to discover if this suggested
explanation held good. It may again seem forced to speak of this looking, almost auto-
matic, as an act of research or inquiry. But once more, if we are willing to generalize
our conceptions of our mental operations to include the trivial and ordinary as well as
the technical and recondite, there is no good reason for refusing to give such a title to
the act of looking. The purport of this act of inquiry is to confirm or to refute the sug-
gested belief. New facts are brought to perception, which either corroborate the idea that a
change of weather is imminent, or negate it.” (p. 10)
The chora of school learning severs the possibility of looking at sky and engaging
in unbridled wonder, yet wonder-full learning (and all the feelings that come of
wonder) is required for phronêsis. Carson (1998), in discussing the role of wonder
in learning, wrote similarly to Dewey:
134 H. Banack
“If you are a parent who feels he [sic] has little nature lore at his disposal there is still
much you can do for your child. With him, wherever you are and whatever your resources,
you can still look up at the sky—its dawn and twilight beauties, its moving clouds, its
stars by night. You can listen to the wind, whether it blows with majestic voice through
a forest or sings a many-voiced chorus around the eaves of your house or the corners
of your apartment building, and in the listening, you can gain magical release for your
thoughts. You can still feel the rain on your face and think of its long journey, its many
transmutations, from sea to air to earth. Even if you are a city dweller, you can find some
place, perhaps a park or a golf course, where you can observe the mysterious migrations
of the birds and the changing seasons. And with your child you can ponder the mystery
of a growing seed, even if it be only one planted in a pot of earth in the kitchen window.”
cal option (i.e. field studies). When I began coordinating Outdoor Environmental
Education (OEE), I started shifting outdoor learning experiences from a focus
on OAE, to local outdoor learning, as a means to make time spent outdoors more
accessible for any teacher, in any school. Through the courses I teach, diverse and
relevant outdoor learning topics, spanning a range of curricular and pedagogical
considerations, are explored in relation to our locality, our physical location on the
land; some courses I teacher are never indoors. The shift to local outdoor learn-
ing has reduced barriers associated with outdoor education such as cost, liability,
and training, while increasing the amount of time spent outdoors. However, mov-
ing teaching and learning into local outdoors, while simplistic conceptually (“just
teach outdoors at your school”), poses challenges for both novice and experienced
teachers in terms of their educational balance, stance and bearings. I have found
that teachers need to re-immerse themselves into explorations of stance, balance
and bearings, and trust to learn with and from their students.
“We always live at the time we live and not at some other time, and only by extracting at
each present time the full meaning of each present experience are we prepared for doing
the same thing in the future.”
—John Dewey, Experience and Education
not as a prioi categories; that is, the state categories emerge and are continually
reinforced through outdoor experiences (i.e. the rain is heavy or light and how that
impacts learning). However, also true to this story is that states shift, even in a
singular experience. So again, movement that is attempted to be eliminated from
school learning dominates outdoor learning. Consider how impervious to cold my
body feels as I run from a sauna and plunge into a glacial lake, but only for a
while, and then cold seeps in. As states shift, balance, bearings and stance emerge
as necessary concerns. I need a balanced stance as I move through/in/with the
world, to even attempt to take a bearing (Table 2).
Outdoor learning is always infused with liquid and gaseous learning, while
including solid as well. Learning outdoors requires particular attention to how
learning may be different in distinct states, and how one might have to shift stance
and balance, while holding a learning bearing, when state phases change. I briefly
introduce the concept of states of matter in relation to learning to invite consid-
eration of how phronêsis, as kairóstópos bound to balance, bearings and stance, is
affected when learning shifts to the local outdoors.
I have been attempting to create a map for you, for us, for me, a story-map, by
charting tales of my learning whilst navigating seas of knowledge, paddling
lakes of wisdom, and what I notice is that sofia is not linked with just episteme
138 H. Banack
and nous, or poiesis with techne, but also sofia is imbued with phronêsis; reclaim-
ing philo-sophia as bearing to/from philo- phronêsis. The stories plotted herein
are triangulated, with care and intentionality, and present this place-binding knot
map, however the stories’ trajectories have not been overly analyzed, thus knots
acquired through my life’s travels learning outdoors, on the land, in the water,
through the sky, are present and integral. This place-binding knot map is a map of
sorts, but not how maps are commonly understood. Story-mapping reaches back
to an ancient sense of map, from mapah (Hebrew) meaning bandage or flag. Prior
to being a representation of Earth, maps were active signifiers of meaning through
utility, and very connected with the user, thus accentuating aspects of phronêsis.
When I realized that the Online Etymological Dictionary (2020) cited ancient
Hebrew as the derivation of the modern English word map, I wrote to my fam-
ily Rabbi to inquire. His response directed me to the Hebrew expression moreh
(guide) derech (path), a Hebrew idiom having diverse meanings, including out-
door tour guide, teacher, and spiritual leader. The moreh derech and map are one
and the same, my Rabbi told me, as stories told by the guide are the paths maps
attempt to illustrate. However, without the guide, the map in unintelligible. They
are inseparable. The stories charted to guide this place-binding knot map align
with Ingold’s (2009) description of a place-binding knot, “Places, then, are like
knots, and the threads from which they are tied are lines of wayfaring” (p. 149).
So, the ropes of stories cannot be untangled from place-binding knots, they are
perpetually enmeshed. Of place-binding knots and learning, Ingold (2009) wrote,
“knowledge is integrated not through fitting local particulars into global abstrac-
tions, but in the movement from place to place, in wayfaring” (p. 154). Thus, I
offer this tract as a place-binding knot map, concretely/abstractly illustrating local
outdoor learning, as a feasible instantiation of wayfaring that allows learners to
develop their own densely knotted knowledge that integrates essential abstractions
of epistemic and poiesis/techne learning through phronêsis learned in local out-
door adventures.
While you may be familiar with being introduced to maps by having them
unfurled before you, this place-binding knot map is not that act of mapping. A
truth that might be shared about this map is that it necessarily always (all ways)
remains unfinished and thus fallible, an inherent condition of phronêsis accord-
ing to Epicurus (Vardoulakis 2020). This fallibility illuminates how maps may
show direction without necessarily indicating the way. How you incorporate this
place-binding knot map and weave it into your own story shall also be inescap-
ably unique and imperfect. A story-map is not artifact (stasis or solid, even though
this work may be approached as solid) and is not concerned with fidelity. Story-
mapping is an act of movement, connecting leadership, as guide (moreh derech),
with practical wisdom (phronêsis), towards en-able-ing learners to captain their
own craft and chart their own maps, by emphasizing useful learning, over their
life’s journeys, and in relation to all others sailing. In the spirit of reflecting on
outdoor learning, it is curious that captain and precipitation share the same root,
PIE root *kaput- “head″ (OED 2020). The Online Etymological Dictionary (2020)
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 139
“To that end, British Columbia’s schools assist in developing citizens who:
Are thoughtful and able to learn and to think critically, and can communicate
Are informed from a broad knowledge base
Are creative, flexible, and self-motivated and have a positive self-image
Are capable of making independent decisions
Are skilled and able to contribute to society generally, including the world of work
Are productive, gain satisfaction through achievement, and strive for physical well-being
Are co-operative, principled, and respectful of others regardless of differences
Are aware of the rights of the individual and are prepared to exercise the responsibilities
of the individual within the family, the community, Canada, and the world”
(British Columbia Ministry of Education 2020)
I suggest that the above list could be summarized as indicating educated citizens
have phronêsis. This place-binding knot map sufficiently presents how aims of
educated citizens are addressed through local outdoor learning as phronêsis, how-
ever, on the ground/in practice, it seems difficult to implement and assess if a high
school graduate is an educated citizen. Local outdoor-phronêsis learning offers a
potential way that educated citizens might be assessed, through their experiences
learning on the land where they dwell, and by considering how dwelling fosters
phronêsis by story-mapping their practices of local outdoor learning. This is not
a novel suggestion for school, similar stories have been told by many, in various
12Thanks to Chris Ladner for his connecting of bearing, precipitation and heading.
140 H. Banack
“It becomes increasingly clear that we must develop citizens who can actively participate
in a democratic process and, in doing so, work toward creating a just and compassionate
world. The philosophy of experiential education is what is needed to help develop a com-
munity, which actively involves all in cooperatively solving problems and contributing to
the greater good of society.” (p. 98)
“The connection between practice and control would appear a critical one for leader-
ship. Such talk of control was not reminiscent of power and authority as one might pos-
sibly expect from those engaged in leadership development, but one where participants
explored their subjectivity, inner voice and autonomy. While centred on the issue of
‘where I’m going’, participants depicted this not as a question of outcome or destination
but as one of confidence, composure and self-belief. Thus, being a ‘yacht’ and not a ‘raft’
is about the journey (dwelling mode) rather than its endpoint (building mode).” (p. 371)
If we keep moving between and within places, our stance and balance, in relation
to shifts (from movement, for learning, as bearing), require unique and sustained
attention/practice, particularly for teacher education, where decades of school-
ing have formed teacher habits of school in particular ways. What does it mean
to take a stance or have balance? Consider the story of “*stā, Proto-Indo-Euro-
pean root meaning ‘to stand, set down, make or be firm,’ with derivatives mean-
ing ‘place or thing that is standing.’” You will be familiar with the root in words
like circumstance, distance, institute, and understand, but *stā- also has a shared
root with various other common words that may be less noticeable, like: obstacle,
solstice, and system. According to the OED (2020), *stā- knots with words from
many languages, with “the hypothetical source of/evidence for its existence… pro-
vided by: Sanskrit tisthati “stands;” Persian -stan “country,” literally “where one
stands;” and Greek histēmi “put, place, cause to stand; weigh,” stasis “a standing
still,” (website). One word I introduced as this paper began was ectasy. According
to the OED (2020), ecstasy derives from “14c., extasie ‘elation,’ from Old French
estaise ‘ecstasy, rapture,’ from Late Latin extasis, from Greek ekstasis ‘entrance-
ment, astonishment, insanity; any displacement or removal from the proper place,’
in New Testament “a trance,” from existanai ‘displace, put out of place,’ also ‘drive
out of one’s mind’ (existanai phrenon), from ek “out” (see ex-) + histanai “to place,
cause to stand,” from PIE root *stā- “to stand” (see stet) (webpage). Existanai
phrenon, out of one’s mind or out of place, draws together phrenon with phronêsis.
Through phronêsis we seem able to take stances, have balance, and follow bear-
ings, we are grounded in place; while in absence of phronêsis, we seem to be lost,
confused, misguided- in ectasy, out of place and without our wits. This two-tailed
assertion tells phronêsis’ tale.
A Place-Binding Knot Map. Phronêsis as Outdoor Learning 141
their lives. Perhaps my messy place-binding knot map compels insight for learn-
ers, educators, and scholars as they contemplate why and how phronêsis, kairós,
and tópos are valuable, and how leadership might be learned in local outdoors, just
as sailors learn the ropes out at sea, eventually becoming captains.
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Teil III
Exemplarische Lernorte 1:
Museen, kulturelle Einrichtungen und
Gedenkstätten
Das Deutsche Auswandererhaus
Bremerhaven.
Ein Migrationsmuseum als
außerschulischer Lernort
Simone Blaschka
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Migration · Museumspädagogik · Willkommenskultur
S. Blaschka (*)
Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven, Deutschland
E-Mail: s.blaschka@dah-bremerhaven.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 149
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_7
150 S. Blaschka
1 Überblick
hauses 2005 bis 2018; Teilnehmer 25.623 von 2, 55 Mio. Besuchern im genannten Zeitraum.
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 151
Familien dem Museum geschenkt haben und die bestimmte Momente, Gedanken
oder Gefühle im familiären Migrationsgeschehen symbolisieren. Darunter findet
sich beispielsweise ein Teddybär, den ein sechsjähriges Mädchen auf der Flucht
von Schlesien nach Westdeutschland mitnahm und später als 17jährige erneut
bei sich hatte, als sie zunächst nach Großbritannien und später in die USA aus-
wanderte. Darunter finden sich auch das Flugticket, mit dem eine Spätaussiedlerin
von Russland in die Bundesrepublik flog und ein muslimischer Gebetskalender
für Bremerhaven einer türkischen Frau.3 Eingebettet sind die biographischen
Erinnerungsobjekte in die Dauerausstellung des Museums zu 300 Jahren
Migrationsgeschichte.
Das Deutsche Auswandererhaus eröffnete 2005 mit einer Dauerausstellung
zur Geschichte der deutschen Überseeauswanderung zwischen 1830 und 1974.
Die Dauerausstellung zeigt die Akkulturation deutscher Auswanderer, mit einem
Schwerpunkt auf die Zeit der Sozialisation, der Überfahrt und Ankunft. Der Fokus
liegt mit den USA auf dem Hauptzielland der deutschen Überseeauswanderer.
Im April 2012 eröffnete das Haus den Erweiterungsbau zu 300 Jahren Ein-
wanderungsgeschichte nach Deutschland. Es stellt dabei 15 Einwanderergruppen
ausführlicher beschrieben in: Deutsches Auswandererhaus, Das Buch zum Museum der Aus- und
Einwanderung. Bremerhaven (2017; 3., überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 118–124.
152 S. Blaschka
vor, die seit 1683 nach Deutschland gekommen sind, u. a. Hugenotten, Ruhr-
polen, deutschstämmige Vertriebene, Italiener, Türken, Spätaussiedler und Syrer.
Vorgestellt werden dabei weniger die politischen, sozialen oder ökonomischen
Ursachen für die Migration aus den Herkunftsländern, als vielmehr die persön-
lichen Geschichten von Einwandererfamilien in Deutschland, die exemplarisch
für bestimmte Aspekte von Inklusion und Ausgrenzung stehen. Das Deutsche Aus-
wandererhaus ist das einzige Museum Deutschlands, das sowohl die Aus- als auch
die Einwanderungsgeschichte erzählt und vermittelt.
Die Gründung des Deutschen Auswandererhauses fiel in die gleiche Zeit, in
der Deutschland sich erstmals selbst offiziell als Einwanderungsland anerkannte.
Das Museum ist mit der gesellschaftlichen Debatte der letzten 15 Jahre rund um
die Themen „Integration“, „Leitkultur“ und „Willkommenskultur“ mitgewachsen:
Vor allem seit der Erweiterung um das Thema Einwanderungsgeschichte ist das
Deutsche Auswandererhaus politischer geworden. Darin liegt der Vorteil, dass man
programmatische Konzepte entwickeln muss, wie man als Museum auf tages- und
gesellschaftspolitische Ereignisse oder Debatten reagieren kann – etwas, das einer
Institution wie einem Museum, das auf die Langlebigkeit seiner Dauerausstellung
und seiner Sammlung ausgerichtet ist, sehr viel schwerer fällt, als einer Zeitung
oder den Social Medias.
Zugleich sieht es das Museum als wesentlich an, auf die bestehenden Defizite
beim Wissen von der Migrationsgeschichte durch seine Vermittlungsarbeit auf-
merksam zu machen und Bildungsangebote zu unterbreiten. Weder in der DDR
noch in der BRD wurde Migration als Teil der eigenen Geschichte geschweige
denn als existenzieller Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens betrachtet.
Bis Ende der 1990er Jahre führte die Migrationsgeschichte eine Nischenexistenz
an Universitäten, in Museen und in Schulen. Die Auswanderungsgeschichte nach
Übersee wurde oft als Teil der Bevölkerungsgeschichte unter rein statistischen
Gesichtspunkten der Zu- und Abgänge abgehandelt. Einwanderungsgeschichte
nach Deutschland begann oft erst 1945 und auch hier überwogen statistische Dar-
stellungen; hinzu kamen wirtschaftspolitische Analysen. Der Zuzug und die Auf-
nahme von Millionen deutscher Flüchtlinge und deutschstämmiger Vertriebenen
wurden in der Regel nicht als Migration verstanden. Die gesamtgesellschaftliche
Bedeutung der Migration fand kaum Beachtung.4
In deutschen Schulbüchern tauchte in den 1970er Jahren der „Gastarbeiter“, in
den 1980er Jahren der „Ausländer“ und in den 1990er Jahren der „Asylbewerber“
auf. Vom „Einwanderer“ war erst seit den 2000er Jahren die Rede.5 Heute
wächst also eine Schülergeneration heran, die etwas selbstverständlicher über die
Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland unterrichtet wird, alle vor-
herigen Schülergenerationen lernten darüber wenig bis gar nichts. Die Kenntnisse
vom „Normalfall Migration“ – so der Buchtitel eines von den beiden Migrations-
forschern Klaus J. Bade und Jochen Oltmer (2004) herausgegebenen Buches – ist
im Großen und Ganzen trotzdem noch recht klein; meistens ist das Wissen auf
einzelne Migrationsbewegungen, wie beispielsweise diejenige der sogenannten
„Gastarbeiter“ begrenzt.6
Der positive Nutzen größerer Kenntnisse liegt allerdings auf der Hand: Ver-
gleiche mit historischen Migrationsgeschehen, ermöglichen es in aktuellen
Situationen, potenzielle Handlungsmöglichkeiten anhand historischer Handlungen
abzuwägen oder sogar zu beurteilen. Ein aktuelleres Beispiel hierfür ist ein Ver-
gleich zwischen der Obergrenzen-Debatte in der Bundesrepublik 2016/2017 mit
der Debatte um die sogenannten „Quota Acts“ von 1921 und 1924 in den USA,
die die Einwanderung nach prozentualen Obergrenzen für jede Nation unter-
schiedlich regulierten.7
Auch lassen sich bestimmte bekannte Prozesse, die im Migrationsgeschehen
beinahe schematisch abzulaufen scheinen, gut nutzen, um mögliche neue Wege zu
denken und damit die Schemata zu durchbrechen. Ein Beispiel für solche Prozesse
ist das historisch wiederholt vorgekommene Umkippen einer ausgeprägten
Willkommenskultur für Migranten in eine Atmosphäre der Ablehnung, der
verbalen und körperlichen Gewalt. Um solche Effekte zu verdeutlichen, arbeitet
das Deutsche Auswandererhaus immer wieder mit komparativen Darstellungen.
So zeigte es 2015 in der Sonderausstellung „Plötzlich da. Deutsche Bittsteller
1709, türkische Nachbarn 1961“ zwei Arten, wie Migranten in ihrem Zielland
aufgenommen wurden: Einerseits anhand der türkischen Arbeitsmigranten in der
Bundesrepublik Deutschland. Und andererseits anhand einer Gruppe deutscher
Einwanderer, die als sogenannten „Palatines“ 1709 nach London kamen und
von den Briten erwarteten, Land in den nordamerikanischen Kolonien geschenkt
zu bekommen. Während die Türken in Deutschland als „Gastarbeiter“ nur auf
Zeit willkommen sein sollten, erlebten die Palatines für etwa drei Monate eine
großzügige Willkommenskultur mit Lebensmittel-, Kleider- und Geldspenden
und mit Ehrenamtlichen, die sich um sie kümmerten. Nach diesen drei Monate
kippte die Stimmung in London und Politik und die Londoner Gesellschaft dachte
darüber nach, wie man die Palatines wieder loswerden konnte. Es kam zu gewalt-
tätigen Übergriffen. Der Zufall wollte es, dass die Sonderausstellung lief, während
die überwältigende Willkommenskultur für die syrischen und afghanischen
Bürgerkriegsflüchtlinge in zähe gesellschaftliche und politische Auseinander-
setzungen und rechte Gewalt mündete.8
Der Abschied ist aber auch eine Zeremonie, die jeder kennt, ob Migrant oder
Nicht-Migrant. Die Trauer des Abschiedes vom alten Leben, die Angst vor dem
unbekannten neuen Leben kennen hingegen nicht alle Menschen. Abschied ist
aber natürlich auch immer die Hoffnung auf die Chancen die im Unbekannten
liegen (Abb. 2).9
9Der Moment des Abschiedes von Auswanderern im Hafen wurde immer wieder in Litho-
graphien des 19. Jahrhunderts und in Fotografien des 20. Jahrhunderts bildlich dargestellt. Die
Beschreibung des Abschiedes findet sich in vielen Briefen, die Auswanderer an ihre Familie und
Freunde schrieben. Zahlreiche dieser Lithographien, Fotografien und Briefe befinden sich in der
Sammlung des Deutschen Auswandererhauses. Siehe auch: Helbich, Wolfgang/Kamphoefner,
Walter/Sommer, Ulrike: Deutsche Briefe aus Amerika: Auswanderer schreiben aus der Neuen
Welt 1830–1930. München (1988).
156 S. Blaschka
Abb. 3 Abfahrt „Bremen“
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 157
als Zwangsmigration -und haben dabei mit den gleichen Objekten und Texten
gearbeitet. Im Ergebnis zeigt sich, dass sowohl junge als auch ältere Besucher die
Virtual Reality Anwendung unterhaltsamer fanden als die klassische Ausstellung.
Die Inhalte der Ausstellung – es ging um die Gefühle Ohnmacht und Sehnsucht in
einer Kriegsgefangenschaft – wurden sowohl kognitiv als auch emotional stärker in
der klassischen Ausstellung wahrgenommen und behalten.10 Die Studienergebnisse,
die hohen Anschaffungskosten und das aufwendige Handling der VR-Brillen machen
weitere Virtual Reality Anwendungen im normalen Museumsbetrieb unwahrschein-
lich. Hingegen hat sich das Museum entschieden, in seiner neuen Dauerausstellung
Augmented Reality einzusetzen. (s. Abschnitt „Ausblick“).
Migration ist nicht nur etwas, das andere tun oder anderen geschieht. Sehr viele
Deutsche haben schon selbst über die Frage nachgedacht, ob eine Auswanderung
ihr Leben verbessern würde. Der Anteil der Deutschen, die auf Zeit oder für
immer auswandern würden, lag einer Umfrage im Jahr 2018 zufolge bei 55 %.11
Neben diesem sehr persönlichen Interesse, das viele Besucher mit sich bringen,
berührt Migration oft die eigene Familiengeschichte: Viele deutsche Familien wissen
um die eigenen ausgewanderten Vorfahren und finden diesen Teil der Familien-
geschichte äußerst spannend. Viele Besucher aus Deutschland verfügen auch über
eine Familiengeschichte, in der die Großeltern oder Urgroßeltern eingewandert
sind. So wie diejenigen, die nach 1949 einwanderten sind und nun in offiziellen
Statistiken als „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ statistisch erfasst werden:
Das waren 2018 insgesamt 25,5 % der deutschen Gesamtbevölkerung; 20,8 Mio.
von 81,6 Mio.12 Hinzu kommen jene, die in dieser Statistik nicht alle erfasst sind:
Die Nachfahren der 12 Mio. deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, die zwischen
1945 und 1949 kamen. Oder auch diejenigen, in deren Familien die Migration schon
mehrere Generationen zurückliegt, die diesen Teil der Familiengeschichte aber noch
erinnern, dazu zählen vor allem die Nachfahren der Hugenotten und der Ruhrpolen.13
10Siehe die Studie „Berührt es mich? Virtual Reality und ihre Wirkung auf das Besuchserlebnis
im Museum – eine Untersuchung am Deutschen Auswandererhaus“, hrsg. vom Deutschen Aus-
wandererhaus. Bremerhaven 2019.
11Siehe repräsentative Yougov-Umfrage, veröffentlicht u. a. in dpa-newskanal vom 10. Oktober
2018. Teilgenommen haben 2109 Erwachsene. Von den 55 % Auswanderungswilligen möchten
23 % für immer gehen, 22 % auf Zeit. Auswandern wollen vor allem Ältere, die jüngeren
zwischen 18–24 Jahre sehr viel weniger.
12Statistisches Bundesamt: Mikrozensus, hier zitiert nach www.bpb.de vom 19.09.2019.
13Vgl. in Bade, Klaus J., Emmer, Pieter C., u. a.: Enzyklopädie Migration in Europa. München
2007: Bauerkämper, Arnd: Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus Ost-, Ostmittel- und Süd-
osteuropa in Deutschland und Österreich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (S. 477–485);
Asche, Matthias, „Hugenotten in Europa seit dem 16. Jahrhundert” (S. 635–643); McCock,
Brian, Polnische industrielle Arbeitswanderer im Ruhrgebiet (Ruhrpolen) seit dem Ende des
19. Jahrhunderts (S. 870–879).
158 S. Blaschka
4 Bildungsprogramme
Neben den klassischen Angeboten wie Führungen und Rallys bietet das Deutsche
Auswandererhaus auch verschiedene Workshops in seinem Bildungsprogramm
an.14 Es gibt zwei Podcast-Workshops zu den Themen „Einwanderung nach
14Eine ausführliche Beschreibung des gesamten Angebotes findet sich unter www.dah-
bremerhaven.de/Bildung.
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 159
Deutschland“ und „Flucht und Vertreibung“, wobei der Letztere deutlich mehr
nachgefragt wird. In beiden Workshops, die jeweils zwischen 120 bis 180 min
dauern, gibt es verschiedene Elemente: Recherchen in der Dauerausstellung des
Museums zu Einwanderer- bzw. Flüchtlingsbiographien, Konzepterstellung für
einen eigenen Podcast sowie Produktion eines Podcasts im museumseigenen Ton-
studio mit Interview- und Featureelementen. Gefördert werden sollen Sach- und
Methodenkompetenzen; auch geht es um Selbstorganisation, denn die Zuständig-
keiten müssen von den Schüler*innen selbst festgelegt werden: wer ist verantwort-
lich für die Recherche? Wer für das Podcastkonzept? Und wer für die Aufnahmen?
Die Selbstorganisation ist für Mittelstufenschüler*innen eine große Heraus-
forderung und bedarf letztendlich doch oft der Unterstützung durch die Museums-
mitarbeiter. Am Ende erhalten die Schüler*innen einen fertig geschnittenen
Podcast, den sie frei Nutzen können.
Mit den Workshopformaten „Schreibwerkstatt Poetry Slam“ und „Filmwerk-
statt YouTube“ werden zwei Schwerpunkte auf Poesie und Fiktion gelegt. Diese
Workshops dauern anders als der Podcast-Workshop drei Tage und werden nicht
regelmäßig angeboten.
In den Schreibwerkstätten zu Poetry Slam lernen die Teilnehmer von
professionellen Slammern, wie man einen Poetry Slam bestreitet, vor allem auch
wie man seine Gefühle sprachlich ausdrücken kann. Dabei wurden bestimmte
Themen wie beispielsweise „Heimat“ oder „Ankommen“ festgelegt, über die
Gedichte verfasst werden sollten.
Bei den YouTube-Workshops geht es um die Erzählformen „Märchen“ und
„Fantasy“: Dabei sollte in der Dauerausstellung des Museums ein Märchen bzw.
eine Fantasy-Geschichte mit Migrationsbezug mit dem eigenen Smartphone
gedreht werden. Dafür muss u. a. ein Drehbuch geschrieben und die Kostümierung
besorgt werden. Zum Workshop gehörte auch die professionelle Betreuung beim
Filmschnitt.
Bei diesen beiden Workshops findet am Ende der drei Tage stets eine
öffentliche Veranstaltung mit der Präsentation der eigenen Gedichte bzw. Filme
statt. Die Workshops konnten bisher kostenfrei angeboten werden, weil sie von der
Dieckell-Stiftung aus Bremerhaven gefördert wurden.
6 Ausblick
15Vgl.: Vogt, Lucy/Bach, Maria: Akim rennt; Baumgart, Tim/Goldhahn, Anika: Unser Ein-
wanderungsgesetz. In: Markus Tiedemann (Hrsg.): Migration, Menschenrechte und Rassismus.
Herausforderungen für ethische Bildung. Schöningh/Paderborn (2020). S. 141–168 bzw. S. 169–
192.
16Weitere Informationen zu dem Verbundprojekt „museum4punkt0“ finden sich unter www.
museum4punkt0
Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven. Ein Migrationsmuseum 161
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Deutsches Auswandererhaus (Hrsg.): Das Buch zum Museum der Aus- und Einwanderung, 3.,
überarbeitete und erweiterte Auflage. Bremerhaven: edition DAH 2017.
Heidsiek, K.: Berührt es mich? Virtual Reality und ihre Wirkung auf das Besuchserlebnis im
Museum – eine Untersuchung am Deutschen Auswandererhaus. Bremerhaven: edition DAH
2019.
Helbich, W. J., u. a.: Briefe aus Amerika: Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt
1830–1930. München: C.H. Beck 1988.
162 S. Blaschka
Höhne, T., u. a.: Bilder von Fremden. Was unsere Kinder aus Schulbüchern über Migranten
lernen sollen. Frankfurt a. M.: Universität Frankfurt 2005.
Marschalck, P.: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt:
Suhrkamp 1984.
Tiedemann, M. (Hrsg.): Migration, Menschenrechte und Rassismus. Herausforderungen für
ethische Bildung. Paderborn: Schöningh 2020.
Wehler, H-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2. München: C.H. Beck 2008.
Das Militärhistorische Museum
der Bundeswehr in Dresden
Cindy Düring
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
C. Düring (*)
Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden, Deutschland
E-Mail: cindyduering@bundeswehr.org
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 163
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_8
164 C. Düring
Das Haus bietet mit dem spektakulären Neubau von Daniel Libeskind ein in
Dresden einmaliges Architekturerlebnis. Gleichsam als Bildnis für die vielen
Brüche in der deutschen Geschichte wurde der keilförmige Neubau durch das
sächsische Arsenalgebäude aus dem späten 19. Jahrhundert getrieben. Der
amerikanische Stararchitekt Daniel Libeskind wurde 2002 mit der Grundsanierung
und dem Erweiterungsbau beauftragt, wofür er sich intensiv mit der Stadt-
geschichte Dresdens befasste. Aus diesem Grund gibt es eine symbolische Ver-
bindung mit der Stadt und deren Zerstörung am 13. und 15. Februar 1945.
„Der spitze Winkel des Neubau-Keils hat mit 40,1 Grad die gleiche Öffnung wie das Drei-
eck der zerstörten Stadtfläche, in der bis zu 25 000 Menschen ihr Leben verloren. Die
Spitze des Neubaus weist zudem auf die andere Elb-Seite, wo die von alliierten Piloten
gesetzten Leuchtmarkierungen Zeitpunkt und Ort für den Bombenabwurf anzeigten.“1
Im Inneren setzen schräge Wände und hohe Schächte den Eindruck fort und
zeugen von zahlreichen Verwerfungen, die die Vergangenheit hervorgerufen hat.
Kein rechter Winkel gibt das Maß vor. Einschnitte und neue Sichtachsen laden den
Museumsbesucher zur Veränderung seines Standorts, zum Perspektivwechsel mit
neuen Erkenntnissen ein.
„Mit der Formsprache der Architektur wird so die Leitidee des Militärhistorischen
Museums für alle sichtbar übersetzt: die traditionellen und überlieferten Sichtweisen einer
gewaltverdichteten Geschichte zu erkennen, durch neue Perspektiven zu hinterfragen und
wo nötig zu brechen.“2
veränderte das klassische Spielzeug zusammen mit seinem Vater. Die beiden
bauten Gasbettchen für die Puppenkinder, bastelten Verdunklungen für die Fenster
und einen Schutzraum neben das Puppenhaus, einen sogenannten Anderson-
Shelter, wie er im Vorgarten vieler Häuser in Großbritannien stand. Das Spielzeug
wurde kriegstauglich gemacht und spätestens hier wird erkennbar, dass aus Spiel
Ernst geworden ist und der reale Krieg selbst im Kinderzimmer wahrgenommen
wurde.3
„Die Präsentation macht die »V2«-Rakete in ihrer ganzen Ambivalenz erfahrbar. Einer-
seits gilt sie als technisches Wunderwerk und Ausgangspunkt der zivilen Raumfahrt,
andererseits wurde sie im Zweiten Weltkrieg als Waffe gegen die Zivilbevölkerung in
London und Antwerpen entwickelt und eingesetzt.“4
„In einem Spiel mit der ständigen Suche nach wechselnden Perspektiven drückt sich
physisch aus, was die Konzeption vorgibt und die Gestaltung des Museums kongenial
aufgreift: Es gibt keine klare, keine verbindliche und erst recht keine vorgeschriebene
Linie historischer Erkenntnis oder Deutung. Vielmehr sind wir aufgerufen, unseren
eigenen Standort als Ausgangspunkt für die Bewertung historischer Zusammenhänge zu
begreifen.“6
Die Ambivalenz stellt einen zentralen Schlüsselbegriff für die gesamte Dauer-
ausstellung dar. Zahlreiche Exponate werden aus unterschiedlichen Perspektiven
beleuchtet, so dass Multiperspektivität im Militärhistorischen Museum der
Bundeswehr gegeben ist. So sehen die Besucherinnen und Besucher ein
3Vgl. Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr.
2 Veranstaltungen
Das Haus möchte den Besucherinnen und Besuchern das Soldatenleben sowie die
Bundeswehr an sich und ihre Einsätze näherbringen. Da es sich bei der Bundes-
wehr um eine Parlamentsarmee handelt, werden beispielsweise die Abstimmungs-
karten von Angela Merkel und Gerhard Schröder für die Entscheidungsverfahren
im Bundestag ausgestellt. Die Beteiligung der Bundeswehr in Afghanistan wurde
vom Deutschen Bundestag in zwei Abstimmungen im November und Dezember
2001 auf Antrag des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder durchgeführt.
Am 22. Dezember 2001 entschied der Bundestag mit großer Mehrheit, dass die
Bundeswehr sich an der ISAF-Friedensmission der Vereinten Nationen (UN)
in Afghanistan beteiligen wird. Die Aufgabe der deutschen Soldatinnen und
Soldaten sollte es sein, die afghanische Regierung beim Wiederaufbau des Landes,
aber auch bei der Stabilisierung der Sicherheit zu unterstützen. Damals wurden
581 Stimmen abgegeben, von denen 538 der Abgeordneten mit Ja votierten und
35 mit Nein. Acht der Abgeordneten enthielten sich der Abstimmung. Für die
Mission sprachen sich neben der SPD, das Bündnis 90/Die Grünen, die FDP und
die Union aus. Die meisten Gegenstimmen kamen aus den Reihen der PDS.
In diesem Kontext wird ein bei einem Anschlag in Kunduz angesprengtes
Kraftfahrzeug vom Typ Wolf aus dem Jahr 2004 ausgestellt. Am 27. November
2004 explodierte ein ferngezündeter Sprengsatz neben einer Bundeswehr-
Patrouille in der Nähe des Flughafens von Kunduz (Afghanistan).8
„Nach weiteren Anschlägen auf die Bundeswehr in Afghanistan wies der damalige Bundes-
verteidigungsminister Franz Josef Jung im Jahr 2006 an, Patrouillenfahrten ausschließlich
mit geschützten Fahrzeugen durchzuführen. Seitdem waren in Afghanistan fast nur noch
die besser gepanzerten Modelle Wolf MSS9 und Wolf MSA10, neben anderen gepanzerten
Radfahrzeugen wie Dingo und Fennek, eingesetzt. Aber auch in den Folgejahren wurden
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bei Anschlägen verletzt oder getötet.“11
Den Besucherinnen und Besuchern wird mittels dieser Vitrine nicht nur gezeigt,
dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, sondern dass auch ihre Einsätze
für die Soldatinnen und Soldaten lebensgefährlich sind.
Das MHM setzt sich durch die Darstellung der aktuellen Einsätze der Bundes-
wehr gleichzeitig mit der gegenwärtigen Geschichte des deutschen Militärs aus-
einander. Unter anderem wird der Einsatz in Mali und das Karfreitagsgefecht von
Schützenabwehrminen geschützt.
10MSA: modulare Schutzausstattung, d. h. die Fahrzeuge wurden mit angepassten Schutzplatten
2010 in Afghanistan thematisiert. Des Weiteren zeigt das Museum die Uniform
eines Soldaten, der als einer der letzten seinen Wehrdienst leistete, nachdem
diese zum 01. Juli 2011 nach 55 Jahren ausgesetzt worden war. Die Vielfalt der
Bundeswehr, ihre Tradition und Geschichte bilden den Schwerpunkt der dritten
Chronologie. Aber auch die internationale Sicht auf die Einsätze und deren Folgen
werden durch eine Fotocollage des amerikanischen Fotojournalisten und Kriegs-
berichterstatter James Nachtwey, aus amerikanischen Kriegslazaretten im Irak,
gezeigt. Diese kurze Vorstellung der Ausstellung macht ersichtlich, dass das MHM
Dresden als Lehreinrichtung von der Offizierschule des Heeres aber auch von
zivilen Schulen genutzt werden kann, um ein umfangreiches Bild von der Bundes-
wehr, aber auch der deutschen Militärgeschichte zu erlangen.
4 Pädagogische Vitrinen
Museen haben den Anspruch, Geschichte erfahrbar und damit auch leichter verständ-
lich sowie greifbarer für die Besucher zu machen. Häufig beschränken sie sich dabei
auf optische und auditive Hilfsmittel. In der Dauerausstellung wurden mit Hilfe von
25 Stationen spezielle Lernstationen geschaffen, die zur Interaktion einladen.
„Das Angebot richtet sich insbesondere an Besucherinnen und Besucher, die die Aus-
stellung gemeinsam mit Kindern erkunden wollen, denn hier dürfen und sollen sie sogar
die Dinge anfassen und selbst tätig werden.“12
Aber auch die Erwachsenen dürfen sich gern selbst probieren. So beschäftigt
sich eine Vitrine mit dem Schuhwerk von Soldaten der Napoleonischen Kriege
und vermittelt so einen Einblick in ihren Alltag. Auf einer Europakarte können
die Besucher deren Marschstrecke über mehrere Tausend Kilometer nachvoll-
ziehen. Diese körperlichen Strapazen mussten die damaligen Soldaten in Schuhen
bestehen, die nicht an die Fußform angepasst waren. Aus Kostengründen waren
rechter und linker Schuh gleich geformt, was zahlreiche Fußleiden bewirkte.
Der außerschulische Lernort Museum hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass
Geschichte erfahrbar und somit für die Besucherinnen und Besucher verständ-
licher wird.
„Eine von der Geruchsforscherin Sissel Tolaas entwickelte Station zum Geruch des
Krieges und des Todes für das Kabinett zum Grabenkrieg im Chronologieteil »1914–
1945« erinnert daran, dass Krieg eine Erfahrung ist, die sich dem Menschen in alle Sinne
brennt. Er hört, schmeckt, riecht, sieht und spürt die Gewalt. Gerüche verbinden sich im
Gedächtnis des Menschen mit angenehmen, aber auch traumatischen Erfahrungen.“13
12Stilidis, Avgi: Museumspädagogik. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
Beispiel die Pilotenkombination von Frau Leutnant Ulrike Flender, die die erste
Kampfjetpilotin der Bundeswehr war. Das Grundgesetz erlaubte zunächst keinen
Dienst von Frauen. 1975 öffnete man zunächst die Laufbahn der Offiziere im
Sanitätsdienst für die Damen, die bereits Ärztinnen oder Apothekerinnen waren.
1991 konnten sie alle Laufbahnen im Sanitäts- aber auch im Militärmusikdienst
einschlagen und 1992 förderte man auch Spitzensportlerinnen. Seit 2001 können
Frauen alle Laufbahnen der Streitkräfte einschlagen.
Es wird ersichtlich, dass das Militärhistorische Museum der Bundeswehr
nicht nur die facettenreiche Militärgeschichte an sich abbildet, sondern auch die
der Soldatinnen und Soldaten. Das Leben als Soldat und den damit verbundenen
Gefahren im Einsatz sollen den Besucherinnen und Besuchern neben der Historie
der Bundeswehr nähergebracht werden.
Besucherinnen und Besucher der Meinung, dass hier die biblische Geschichte der
„Arche Noah“ nachgestellt wird. Erst bei der detaillierten Beschäftigung mit den
Tieren fällt auf, dass diese dem Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen
dienten.
„Viele der hier ausgestellten Tiere sind vom Kriegseinsatz gezeichnet, einige wurden ver-
wundet, andere fanden den Tod. Schon in der Antike werden Tiere vom Menschen auf
unterschiedlichste Weise als Hilfsmittel im Krieg eingesetzt. Als Lastentier transportieren
sie Waffen, Soldaten und Verpflegung an abgelegene Orte, die nur zu Fuß zu erreichen
sind.“14
14Geißler, Andreas: Tiere beim Militär. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
kam dabei auch der Hund ums Leben. Die Schülerinnen und Schüler können
diese Nutzung kaum fassen und diskutieren an dieser Station sehr lebhaft über
einen solchen Einsatz von Tieren. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Minenräum-
Schaf. Auf dem Catwalk befindet sich ein Schaf mit drei Beinen. Tiere werden
seit der Nutzung von Personenminen zum Räumen eingesetzt. Bei der Landung
der Alliierten Kräfte in der Normandie im Juni 1944 wurden Schafe vor den
Soldaten hergetrieben, um die Minenfelder zu räumen. Das britische Militär nutzte
auch im Falkland-Krieg 1982 diese Tiere. Damals kamen Minen mit Plastik-
ummantelung, SB-33, zum Einsatz, welche mit herkömmlichen Räumgerät des
Militärs nicht beseitigt werden konnten. Aus diesem Grund wurden die Schafe als
Notmaßnahme über vermintes Feld getrieben, um somit den Weg für das britische
Militär frei zu räumen. Noch heute gibt es auf den Falklandinseln 117 verminte
Felder. Man geht davon aus, dass bis zu 20 000 Landminen noch versteckt sind,
die es heute mit Robotern zu entschärfen gilt.
Neben dieser Überblickführung gibt es die Möglichkeit, dass geführte
Erkundungen und Workshops im Museum durchgeführt werden. Themenkomplexe
wie „Geschichte entdecken“, „Erster Weltkrieg“, „Biografien im Nationalsozialis-
mus“, „Bundeswehr im Einsatz“ oder „Militär und Gesellschaft“ werden dabei
bearbeitet. Die Angebote sind meist ab der siebten Klasse umsetzbar. Bei den
Workshops arbeiten die Schülerinnen und Schüler selbstständig in Arbeitsgruppen,
nachdem es eine Kurzführung im Themenparcours gab. So beispielsweise bei
„Bundeswehr im Einsatz“.
„Nach einer Einführung in den Ausstellungsbereich „Bundeswehr seit 1990“ arbeiten die
Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen an Exponaten, die aus Einsätzen im In-
oder Ausland stammen. Im gemeinsamen Rundgang werden die Ergebnisse präsentiert.“15
Die Jugendlichen lernen bei diesem Workshop nicht nur die Hintergründe der
Bundeswehr und ihre Einsätze kennen, sondern diskutieren auch über das Für und
Wider dieser Missionen.
Da das Militärhistorische Museum als außerschulischer Lernort genutzt werden
kann, bietet es neben diesen Workshops auch die klassischen Epochenführungen
an, bei denen sich die Inhalte an den Lehrplänen orientieren. Hier können die
Lehrerinnen und Lehrer zwischen folgenden Angeboten wählen: Das lange
19. Jahrhundert, Erste Weltkrieg, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg,
Zeitalter der Weltkriege 1914 – 1945, Kalter Krieg in Deutschland – Bundeswehr
und NVA bis 1990, Von der „Armee der Einheit“ zur „Armee im Einsatz“ – Die
Bundeswehr seit 1990. Es wird erkennbar, dass es eine Vielzahl an Varianten gibt,
dass Haus für den Geschichts- oder Politikunterricht zu nutzen. Sollte keines der
Angebote die Pädagoginnen und Pädagogen ansprechen, so können individuelle
Absprachen getroffen werden.
15Militärhistorisches
Museum Dresden: Bildungsangebote für Schulen. www.mhmbw.de/media/
documents/Schulklassen/Angebote_fuer_Schulklassen.pdf (09.06.2020).
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden 173
Es existiert kein ausgearbeitetes Angebot, dass speziell auf Ethik- oder Philo-
sophieklassen zugeschnitten wurde. Allerdings dürften die bisherigen Aus-
führungen zahlreiche thematische Überschneidungen verdeutlicht haben.
Anthropologisch handelt es sich um die Frage ob Gewalt, Aggression und Krieg
in der Natur des Menschen liegen. Der Streit um die Möglichkeit eines gerechten
Krieges und einer legitimen Kriegsführung zählt seit Cicero zum Kanon der
Praktischen Philosophie. Die Utopiekritik fragt ob ein globaler, dauerhafter
Frieden als naive Träumerei oder als realpolitische Möglichkeit angesehen werden
sollte. Zudem hilft philosophische Analyse und Begriffsarbeit dabei, Diskussionen
zu fokussieren und Missverständnisse zu vermeiden. Beispielsweise wäre zu
klären, ob unter einem „Ewigen Frieden“ eine konfliktfreie Welt oder eine gewalt-
freie Weltpolitik im Sinne Kants verstanden werden soll. In den letzten Jahren
haben wiederholt Studierende der Philosophie im Militärhistorischen Museum
gearbeitet und unter Anleitung von Professor Tiedemann Unterrichtseinheiten für
unterschiedliche Klassenstufen der Fächer Philosophie und Ethik erstellt. Eine
Fortführung der Kooperation wäre wünschenswert.
174 C. Düring
Literatur
Geißler, Andreas: Tiere beim Militär. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation
2011.
Grün, Simone: Militär und Technologie, In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation
2011.
Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Aus-
stellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011.
Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Militärhistorisches Museum der Bundeswehr: Ausstellung
und Architektur. Dresden: Sandstein Kommunikation 2011.
Pieken, Gorch: 40,1°. Architektur. Dresden: Sandstein Kommunkation 2013.
Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): 60 Jahre Bundeswehr. Ausstellungskatalog. Dresden:
Sandstein Kommunikation 2015.
Stilidis, Avgi: Museumspädagogik. In: Pieken, Gorch/Rogg, Matthias (Hrsg.): Das Militär-
historische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer. Dresden: Sandstein Kommunikation
2011, S.
Von Prittwitz und Gaffron, Christian-Wilhelm: 100 Jahre Museum im Dresdner Arsenal (1897–
1997). Eine Schrift zum Jubiläum. Manuskriptdruck. Dresden: Selbstverlag München 1997.
Internet
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Theater · Theaterpädagogik · Staatsschauspiel · Hool
B. Seiler (*)
Staatsschauspiel Dresden, Dresden, Deutschland
E-Mail: bettina.seiler@staatsschauspiel-dresden.de
M. Hahn
TU Dresden, Dresden, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 175
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_9
176 B. Seiler und M. Hahn
„Kurze Zeit später stehen wir mit vielen neuen Eindrücken wieder vor dem Bühnen-
eingang des Schauspielhauses. Die Sonne scheint und das Eis schmilzt langsam. Die
Schüler sehen das Gebäude auf einmal wie aus anderen Augen. Jetzt sieht es nicht mehr
nur wie ein riesiger weißer Betonklotz aus, sondern es wirkt einladend, lebhaft und
voller Geschichte. Die ganze Klasse hofft, dass sie es bald mal wieder besucht und die
Menschen und Dinge, über die sie heute so viel gelernt haben, im Einsatz sehen kann.“1
„Bildung, soziale Kompetenz und Kultur sind die Ressourcen zukunftsfähiger Gesell-
schaften. Kulturelle Bildung ist eine Grundvoraussetzung, um Gemeinschaftsfähigkeit –
entgegen der wachsenden Skepsis am Gemeinwesen – neu zu entwickeln. Deshalb
1Hinter den Kulissen: Mehr als eine Führung. Auszug aus der Reportage einer Deutschklasse
über den Besuch im Schauspielhaus von Hannah Geyer, Klasse 7/3, Januar 2020.
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 177
wollen wir uns in Zukunft noch intensiver an Schülerinnen und Schüler wenden und die
Angebote des Staatsschauspiels ausbauen. Gemeinsam mit [Lehrer*innen und Kultur-
vermittelnden] möchten wir allen Kindern und Jugendlichen einen offenen Zugang zum
Theater und damit zu Kunst und Kultur ermöglichen. Denn darauf haben sie ein Recht.“2
„dass man davon ausgeht, dass die Schüler*innen hier sogenannte ‘Primärerfahrungen‘
machen können: Sie erleben das Theater und die Schauspieler live, sie sind dabei,
wenn eine Zeitung konzipiert und/oder gedruckt wird, sie stehen einem authentischen
Objekt gegenüber, wandeln bei literarischen Spaziergängen auf den Spuren von Schrift-
steller*innen etc. Solche Primärerfahrungen lassen sich jedoch nicht einfach herunter-
brechen auf die Lernziele und Kompetenzbereiche, wie sie – vor allem in kognitiver
Hinsicht – für die Schule formuliert werden. Bezieht man den ‘kulturellen Wert‘ folg-
lich mit ein, dann liegt das Forschungsinteresse nicht mehr allein auf der Erhebung bei-
spielsweise von Vor- und Nachteilen für das Lernen, wie es im fachdidaktischen Kontext
definiert wird. Vielmehr werden dann v.a. in Hinblick auf die Wirkungsforschung
Momente relevant, die in der Schule, zumindest aber in der (fach)didaktischen Forschung,
bislang eine deutlich nebengeordnete Rolle gespielt haben.“3
2Klement, Joachim: Theater und Schule. Staatsschauspiel Dresden, Spielzeit 2017/2018. https://
www.staatsschauspiel-dresden.de/download/9962/broschuere_theater_und_schule_web.pdf
(Stand: 17.05.2020), S. 1.
3Hoffmann, Anna Rebecca: Außerschulische Lernorte. Unter besonderer Berücksichtigung von
Museen als außerschulische Lernorte. In: Ballmann, Jan (Hrsg.): Empirische Forschung in der
Deutschdidaktik. Bd. 3, Forschungsfelder. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
(2018), S. 130.
178 B. Seiler und M. Hahn
entfernten, […] geurtheilt worden ist: sie ist das gemeinschaftliche Objekt beyder Triebe,
das heißt, des Spieltriebs.“4
4Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen.
Mit den Augustenburger Briefen. Hg. v. Klaus L. Berghahn. Ditzingen: Reclam (2000), S. 60
(Fünfzehnter Brief).
5Vgl. Tiedemann, Markus: „Vorwort“. In: Stelzer u. Opitz 2017, S. 7–8, hier S. 7.
7Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1. Werkausgabe, Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Weischedel.
Erfahrung durch Rollenarbeit. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri Verlag 20084, S. 442–443.
9Steenblock, Volker: Kunst gibt uns zu denken. Philosophieren mit Bildern und Literatur, Oper
körperlich umsetzen können.12 Auf diese Weise erhält die sonst im Philosophie-
unterricht stark vernachlässigte Leiblichkeit größere Aufmerksamkeit.13 Gefert
schließt hier an die Symboltheorie Ernst Cassirers und Susanne Langers sowie
an die dekonstruktivistische Theorie Derridas zur Bedeutungsvielfalt von Texten
an und begreift Philosophieren so als „unabschließbare[n] Prozess des Deutens
von Deutungen“14. Die Bedeutungen des philosophischen Textes werden immer
weitreichender artikuliert, wobei die präsentativen Formen das Philosophieren um
solche Aspekte ergänzen können, die nicht allein diskursiv zu erfassen sind.15
Durch das theatrale Philosophieren soll die Subjektseite stärker in den Vorder-
grund treten, d. h. der Unterricht richtet sich nicht nur nach der am fachphilo-
sophischen Diskurs orientierten, von der Lehrperson vorgeschriebenen Deutung,
sondern vielmehr auch nach den besonderen Vorstellungen der Schüler*innen zu
der Bedeutung des philosophischen Textes aus. Geferts didaktisches Konzept basiert
auf vier Arbeitsschritten: einer Argumentationsphase, in der die Bedeutungen der
Begriffe und Argumente des Textes diskursiv eröffnet werden,16 einer Vorbereitungs-
phase, die die Schüler*innen für die Arbeit mit theatralen Ausdrucksformen
sensibilisieren soll, einer Erprobungsphase, in der die theatralen Deutungsmodi aus-
probiert und erarbeitet werden sowie einer Reflexionsphase, die einen Außenblick
auf den gesamten Arbeitsprozess sowie auf die mögliche Verknüpfung und Weiter-
entwicklung der verschiedenen Formen schaffen und auf diese Weise synthetisierend
wirken soll.17 Der philosophische Text wird hier als Ausgangspunkt gewählt. In der
Argumentationsphase werden die Schüler*innen
„vom Lehrer aufgefordert, die im Textabschnitt formulierten Begriffe und Argumente dis-
kursiv zu klären, d.h. ihre Vorstellungen von der jeweiligen Bedeutung mit ‚ihren‘ Worten
wiederzugeben. Der Lehrer fordert die Schüler dabei immer wieder dazu auf, konkrete
Beispiele für die abstrakte Bedeutung zu geben, die die verwendeten Begriffe und Argu-
mente veranschaulichen können.“18
Nach diesem Modell wird ein konkreter Zugang zu dem abstrakten Text bereits
vor dem Theaterspiel vorausgesetzt – kommen bei den Schüler*innen keine Vor-
stellungen zu dem Text auf, muss dieser gegebenenfalls verworfen werden.19
17Vgl. Gefert 2002, S. 272 u. vgl. ders.: „Theatrales Philosophieren – performatives Denken
„Pragmatisch-dialogisches Philosophieren, das von den Künsten ausgeht, dem die Künste
also das zu sehen, sprich zu denken geben, worüber begrifflich-argumentativ erkennend
nachgedacht wird, kann modellhaft im Bild einer hin- und herschwingenden Bewegung
beschrieben werden, die nicht linear von einem sinnlich-intuitiven Ausgangspunkt aus-
gehend sich philosophisch erhebt in den Bereich begrifflicher Abstraktion, sondern
wägend-abwägend sich einlässt in eine gegenseitige Bereicherung der jeweiligen künst-
lerischen bzw. philosophischen Tätigkeit suchender und fragender Vertiefung und Aus-
leuchtung bzw. Erhellung menschlicher Grundfragen.“24
Was fehlt, ist ein Ansatz, der Theaterspielen ebenso wie Stelzer (in Anlehnung an
Steenblock) als Anlass und Entfaltungsraum für philosophische Denkprozesse ver-
steht und dies für den Schulalltag fruchtbar macht. So könnten zuerst (kleinere)
theatrale Übungen stattfinden, die besondere Wahrnehmungen evozieren und Vor-
stellungen anregen, welche die eigenen Denk- und Handlungsmuster überschreiten
können.25 Den sich daraus entwickelnden Unsicherheiten und Fragestellungen
kann dann – nach dem Prinzip eines problemorientierten Unterrichts – wiederum
mit Orientierungsangeboten aus der Fachphilosophie begegnet werden. So weist
auch Marion Hühnerfeld in ihrer Dissertation zu Theaterstücken im Philosophie-
unterricht darauf hin, wie die konkreten Dilemmata der Protagonist*innen
20Vgl. Stelzer, Hubertus: „Auf der Suche nach einem Menschen. Theatrales Philosophieren – ein
Praxisbericht.“ In: ZDPE 2 (2019), S. 71–81, hier S. 71.
21Vgl. Stelzer u. Opitz 2017, S. 16.
literarischer Tragödien wichtige Impulse für die Arbeit mit bzw. die Erschließung
von abstrakten philosophischen Texten und Fragestellungen liefern können.26
Als Reaktion auf die allgemeine Verschiebung in den Geisteswissenschaften
hin zu einem performative turn hat sich auch der Begriff des performativen Philo-
sophierens entwickelt.27 Im Zuge dieser Wende werden herkömmliche Formen
des Philosophierens wie z.B. Diskussionen im akademischen Rahmen hinterfragt.
Durch die Erprobung neuer Formate philosophischer Praxis wie Café/Club der
toten Philosophen, Philosophie-Slams oder eben auch theatrales Philosophieren
sollen die situativen und sozialen Voraussetzungen des Philosophierens transparent
gemacht werden.28 Ob eine sprachlich-diskursive Auseinandersetzung bestimmend
ist, um von Philosophieren zu sprechen, oder ob auch rein präsentative Formen
philosophisch sein können, steht zur Debatte. Zentral ist hier Matthias Tichys
Einwand, dass die Philosophie durch diese Öffnung ihre fachspezifischen
Charakteristika und Ziele einbüße.29 Heidi Salaverría, die diese Frage aus der
Perspektive einer pragmatischen Philosophie heraus betrachtet, sieht in dem per-
formativen Philosophieren gerade die Chance, neu zu verhandeln, „was über-
haupt [alles] als Philosophie gelten kann.“30 Die Institution Philosophie bleibe auf
diese Weise lebendig und ihre Grenzen dynamisch. Diese Entwicklungen wirken
sich zunehmend auf das Selbstverständnis philosophischer Bildungsprozesse aus.
Gefert und Stelzer vertreten beide den Standpunkt eines erweiterten Rationali-
tätsparadigmas, nach dem auch präsentative Formen rationale Akte seien.31
Tiedemann nimmt hierzu eine entscheidende Gegenposition ein, indem er fest-
hält, dass künstlerische Beiträge, die sich philosophieimmanenten Kriterien wie
wahr oder falsch entziehen, zwar wünschenswerte Methoden, allerdings keinen
essenziellen Teil des Philosophieunterrichts darstellen können.32
Für den Philosophie- und Ethikunterricht ist Theaterspielen sicherlich kein
notwendiges Element. Es besitzt allerdings – auch ohne die Annahme, Philo-
sophieren selbst sei auch durch ausschließlich präsentative Formen möglich –
großes Potenzial, Lücken des herkömmlichen Unterrichts zu schließen. Zu den
legungen zur performativen Philosophie: Blick aus zwei Richtungen.“ In: ZDPE 2 (2019),
S. 13–22, hier S. 13.
28Vgl. Totzke, Rainer: „Performative Philosophie und Philosophie-Didaktik. Bestimmungen und
32Vgl. Tiedemann, Tiedemann: „‘Mal mir was!‘ – Ein Zwischenruf.“ In: ZDPE 1 (2011),
33Vgl. Dresdner Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht, Dresden 2016. https://philo-
sophiedidaktik.files.wordpress.com/2017/03/dresdner_konsens.pdf (Stand: 21.04.2020).
34Goergen, Klaus: „Das moralische Urteil. Ein egalitäres Modell.“ In: ZDPE 3 (2009), S. 170–
sophische Praxis in Schule und Freizeit. Berlin, Milow, Strasburg: Schibri-Verlag 2006, S. 73 u. 75.
38McGinn, Colin: Das geistige Auge. Von der Macht der Vorstellungskraft. Aus dem Engl. v.
Klaus Laermann. Darmstadt: Primus Verlag (2007), S. 155.
39Vgl. Brook, Peter: Das offene Geheimnis. Gedanken über Schauspielerei und Theater. Aus dem
Engl. v. Frank Heibert. Mit einem Nachwort v. Hans-Thies Lehmann. Berlin, Köln: Alexander
(2012), S. 11 u. 28 u. vgl. Annemarie Pieper: „Schön ist, was gefällt. Ästhetische Orientierung.“
In: Rolf, Bernd/Draken, Klaus/Münnix, Gabriele (hrsg.): Orientierung durch Philosophieren.
Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Fachverbandes Philosophie e. V. Münster u. a.: LIT
(2007) (= Philosophie und Bildung; 6), S. 27–41, hier S. 40.
40Eine ähnliche Bezeichnung findet sich in einem Beitrag zu Theaterpraxis in der Schule von
der Bundeszentrale für politische Bildung wieder: „Theater wird zu einem ‚Laboratorium
sozialer Fantasie‘.“ Aus: Hruschka, Ole/Vaßen, Florian: Theaterpraxis in der kulturellen Bildung.
Bundeszentrale für politische Bildung, 18.07.2011. https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/
kulturelle-bildung/60244/theaterpraxis (Stand: 24.05.2020).
184 B. Seiler und M. Hahn
3 Projektbeispiel HOOL
HOOL
nach dem Roman von Philipp Winkler
in einer Bühnenfassung von Florian Hertweck
Premiere: 22.03.2019
Mit: Tillmann Eckardt, Jannik Hinsch, Daniel Sejourné, Oliver Simon, Steven Sowah
Regie: Florian Hertweck
Bühne: Mascha Deneke
Kostüme: Kathrin Krumbein
Musik: Moritz Bossmann, Oli Friedrich, Jan Preißler
Dramaturgie: Kerstin Behrens
Theaterpädagogik: Lisa Jäger, Bettina Seiler
Altersempfehlung: ab Klassenstufe 8
„Heiko ist Hool, mit Leib und Seele. Nichts geht ihm über seinen Verein. Warum, die
Frage hat er sich nie gestellt. Ins Stadion geht er nur noch selten, das Eigentliche passiert
eh nach dem Spiel. Weitab von singender Fankurve und Stadionkontrollen trifft man sich
für den Kampf Mann gegen Mann – hart, aber fair. Bis einer liegen bleibt, so verlangt
es der Ehrenkodex. Unter der Führung von Onkel Axel ist für Heiko die Radikalität, mit
der er und seine Freunde kämpfen, das einzige Lebenselixier. Zu dieser Familie gehört er,
kann Teil einer kraftvollen Gemeinschaft sein, an die sich glauben lässt. Angst kennt er
nicht, nur Adrenalin. Verletzungen heilen.“
41Vgl. Weigelt, Ina: Die Subkultur der Hooligans. Merkmale, Probleme, Präventionsansätze.
Doch dann wird ein Freund schwer verletzt, andere steigen aus. Für sie gibt es inzwischen
Wichtigeres als den Adrenalinrausch bei den Matches. Als sich die Spielregeln plötzlich
ändern, muss Heiko zusehen, wie seine harte Männerwelt, das Gefüge, mit dem er sein
Leben zusammenhält, langsam, aber sicher, auseinanderfällt.42
„Du hast deine Familie, dein Haus, deinen verfickten weißen Gartenzaun. Ihr alle habt
irgendwas, worauf ihr euch am Ende des Tages freuen könnt. Jojo zieht sein Trainerding
durch und wenn Kai wieder gesund is', dann studiert er fertig und kriegt irgendwo 'nen
gutbezahlten Job. Ich habe Null, Nichts. Das hier habe ich. Mehr nicht.“43
Das theatrale Arbeiten soll für alle TN44 voraussetzungslos, d. h. auch ohne Vor-
erfahrungen mit Theaterrezeption und -spielen möglich sein. Deswegen ist es
notwendig, die TN zuerst für theatrale Formen zu sensibilisieren und einen
Raum zu schaffen, in dem sie sich ohne Hemmungen verbal und non-verbal aus-
drücken können. Die vor- und nachbereitenden Übungen haben darüber hinaus die
Funktion, zu aktivieren, das Wissen um Körpersprache, soziale Interaktion und
Emotionen zu schulen sowie das Erproben von Haltungen zu ermöglichen. Im
Folgenden sollen einige Beispiele erläutert werden.
Platzwechsel
Stehkreis. Die/der Spielleiter*in nimmt Blickkontakt mit einer Person im Kreis
auf und läuft auf sie zu, um deren Platz einzunehmen. Die betreffende Person
sucht sich einen neuen Platz im Kreis, indem sie einer anderen Person dies per
Blick andeutet. Wichtig dabei ist, vorher zu wissen, wessen Platz man einnehmen
möchte – zielgerichtet laufen, nicht reden, konzentriert bleiben, Tempo steigern!
Ziele: Gruppendynamik entwickeln, Hemmungen abbauen, Körpersprache und
soziale Interaktion
Haltung variieren
Stehkreis. Die/der Spielleiter*in legt eine Haltung (z. B. wütend) fest und wählt
eine Person im Kreis aus, der sie einen Ball in der entsprechenden Haltung über-
bringt. Die betreffende Person nimmt den Ball an und sucht wiederum eine/n
andere/n TN aus, der/dem sie den Ball in einer neuen Haltung – wieder vorgegeben
von der Spielleitung (z. B. traurig) – übergibt. Dabei können/sollen Haltungen
bzw. Emotionen ausgewählt werden, die im Stück eine Rolle spielen – für HOOL
kommen dafür z. B. die folgenden in Frage: aggressiv, entschlossen, verliebt,
mächtig, verzweifelt, arrogant, besessen, berauscht. Nachdem die/der Spielleiter*in
die Haltung einige Runden vorgegeben hat, kann anschließend auch eine freie
Runde eröffnet werden, in der die TN die Haltungen selbst auswählen.
1. Jedes Geschenk darf nur einmal verschenkt werden. Es muss also immer nach
etwas Neuem gesucht werden.
2. Der/die Beschenkte muss sich über das Geschenk freuen und dieser Freude
kurz Ausdruck verleihen.
Assoziationskreis
Stehkreis. Die TN werfen sich einen Ball zu und benennen jeweils schnell nach-
einander einen bestimmten Begriff oder ein Thema, um die Eindrücke aus der
Inszenierung zu verarbeiten und zu vertiefen. Assoziieren – noch nicht bewerten!
TN aktivieren. Die Spielleitung zeichnet diese Fragerunde auf. Fragen der Seminar-
teilnehmer*innen waren z.B.: Welche Rolle spielen Rituale? Was hatte der Geier da
zu suchen? Was ist echte Freundschaft? Ist jede Gewalt lustvoll? Warum fährt man
zum Prügeln nach Hannover? Was ist Identität? Was ist strukturelle Gewalt? Welche
Werte/Normen haben solche gewalttätigen Gruppen? Ist der Mensch frei?
Anschließend hören sich alle den Mitschnitt noch einmal an und jede/r schreibt
die für sie/ihn wichtigsten drei Fragen auf einen Zettel. Die TN lesen ihre notierten
Fragen nacheinander laut vor. Die Spielleitung dokumentiert diese Runde, um aus
der Schnittmenge aller Fragen diejenigen zu ermitteln, die die TN am häufigsten
aufgeworfen/notiert haben. Diese sollen im Anschluss gemeinsam bewegt werden.
Aus diesen Fragen ergeben sich verschiedene philosophische Anknüpfungs-
punkte, z. B.:
In dieser Szene möchte Heiko einen alten Bartgeier nach dem Tod seines Besitzers
freilassen. Dieser nimmt allerdings seine Chance, aus dem Fenster zu fliegen,
nicht wahr und verkriecht sich auf seiner Sessellehne. Obwohl er die äußere
Möglichkeit zur Freiheit erhält, bleibt er – freiwillig oder auch unfreiwillig – ein-
gesperrt. Hier lässt sich eine Symbolik erkennen, die Rückschlüsse auf Heikos
Leben zulässt: Handelt Heiko selbstbestimmt? Welchen sozialen/psychischen/…
Zwängen unterliegt Heiko? Aufbauend auf Heikos Beispiel ergeben sich all-
gemeine Fragen zum Thema Freiheit: Ist der Mensch determiniert (und wenn ja,
wodurch?) oder vielmehr zur Freiheit verurteilt?
in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung v. Alfred Lorenzer u. Bernard
Görlich. Frankfurt am Main: Fischer 20185, S. 29–108, hier S. 80–86.
190 B. Seiler und M. Hahn
Personen zusammen. Es wechselt sich dabei die szenische Erarbeitung mit der
Präsentation der Ergebnisse ab. Nacheinander werden folgende drei Aufträge in
die Gruppen gegeben:
b) Regeln aushandeln
Welche Regeln gelten für eure Gruppe? Welche Strafen gibt es bei Regelverstößen?
Erfindet ein konkretes Begrüßungs- und ein Verabschiedungsritual! Welche äußeren
Kennzeichen machen euch als Clique erkennbar (Kleidung/Maske/Requisiten)?
Stellt den anderen eure Ergebnisse vor.
Fishbowl-Improvisation
Ähnlich einer Fishbowl-Diskussion sitzen die TN in einem größeren Außenkreis und
beobachten das Geschehen bzw. Spiel in einem kleineren Innenkreis – hier bestehend
aus zwei TN. Diese zwei TN steigen in eine ausgewählte Szene des Stücks ein und
finden anschließend improvisierend verschiedene Verläufe und Ausgänge. Möchte
ein/e TN des äußeren Kreises an der Szene im Innenkreis mitwirken, klatscht sie/er
in die Hände – die Spielenden gehen dann ins Freeze und die/der TN kann eine der
spielenden Personen antippen, deren Position sie/er einnehmen möchte.
Zu der Frage „Was ist Freundschaft?“ eignet sich beispielsweise der folgende
Dialog zwischen Heiko und Kai im Krankenhaus:
52Girnth, Heiko: Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die
linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation. Berlin: De Gruyter (2002)
(=Germanistische Arbeitshefte; 39), S. 33.
Theaterpädagogik am Staatsschauspiel Dresden 191
KAI Ich überlege ein Auslandspraktikum zu machen. Für ein Semester. Oder
vielleicht auch zwei.
HEIKO Und wo?
KAI London. Mein Masterprüfer hat da ’n Kumpel bei der Deutschen Bank.
HEIKO London in England?
KAI Nee. London in Rheinland-Pfalz. Natürlich in England, du Vogel.
HEIKO Und wann?
[…]
KAI Na ja, das hier muss erstmal wieder weg sein. Sonst steig ich noch in
den falschen Flieger und lande in Kasachstan oder so. Könnt ziemlich
peinlich werden, wenn ich da wen nach’m Trafalgar Square frag.
HEIKO Ha ha, nicht lustig, Kai.
KAI Mann, Heiko. Keine Ahnung, irgendwann nächstes Jahr halt. Bevor ich
meine Masterarbeit anfange.
HEIKO Ach cool. Super. Und ich sitz mir hier ’n Jahr lang den Arsch platt.
Total dumm von mir anzunehmen, dass wir so richtig durchstarten. Wir
beide!
KAI Vielleicht is’ dir ja entgangen, dass ich fucking blind bin!
HEIKO Aber das wirst du doch nicht bleiben, Mann! Axel wird sich irgend-
wann zurückziehen und dann können wir die Sachen auf unsere Art
machen. Dann kommt bestimmt auch Ulf wieder mit ins Boot.
KAI Raffst du’s? Ulf ist raus und daran wird sich auch nichts ändern. Kann
man ihm auch nich’ verdenken. Und Axel. Der macht weiter, bis er
irgendwann tot auf'm Acker umkippt.
HEIKO Wart erstmal ab. Nach dem Match gegen Braunschweig –
KAI Heiko, raff es halt mal! Ich hab genug. Auf wie viele verschiedene
Arten soll ich’s dir denn noch erklären?! Das wa’s für mich. Und du
solltest endlich mit dem Scheiß aufhören. Komm mit mir mit.
HEIKO Wohin?
KAI Nach London. Hast doch genug auf der hohen Kante. Was hält dich hier
noch? Ein feuchter Dreck, Mann. Lass uns weggehen. Nur für 'ne Zeit
...53
Neben der Einfühlung in fremde Haltungen können die TN hier verschiedene
Alternativen des Gesprächsverlaufs erproben und so die Frage nach dem Wesen
der Freundschaft erkunden. Wie reagiert Heiko auf Kais Vorhaben und sein
Angebot, mit ihm nach London zu kommen? Heiko könnte an dieser Stelle
uneigennützig die Pläne seines Freundes unterstützen und in dem Auslands-
praktikum eine Chance sehen, wie sich Kai weiterentwickeln kann. Auch in einem
Szenario, in dem Heiko ein solches Praktikum nicht direkt befürwortet, könnte
er Kais Entscheidung dennoch respektieren und ihn als selbstbestimmtes Subjekt
ansehen. Kais Angebot, mit ihm nach London zu gehen, könnte Heiko mit dem
Gedanken annehmen, so einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Genauso könnte
er Kai aber auch zu sehr bewundern und mit ihm weggehen, ohne dabei eigene
Ziele zu verfolgen. In einem anderen möglichen Gesprächsausgang zeigt Heiko
kein Verständnis – wenn sich Kai von der Hooligangruppe abwendet, sei damit die
Freundschaft beendet, die nur unter dieser Bedingung des gegenseitigen Beistands
und der gemeinsamen Ekstase in den Matches besteht.
Diese Übungen zeigen nur beispielhaft das vielfältige Spektrum einer Ver-
knüpfung von Theaterpädagogik und Philosophiedidaktik auf. Das Theater bietet
mit seinem Angebot ästhetisch-kulturellen Lernens einen produktiven Ort für
philosophische Bildungsprozesse. Diese Brücke zwischen Theater als Raum der
Möglichkeiten und Philosophieren als „lehr- und lernbarer Kulturtechnik“54 könnte
damit neue Bildungschancen bereithalten, indem hier sinnliche, emotionale und
imaginative Zugänge für heterogene Lerngruppen geschaffen und zugleich kritische
Distanzierungen ermöglicht werden. Gleichzeitig bleiben die Fokussierung und
Vertiefung von Themen mittels theaterpädagogischer Methoden ein besonderes
Angebot zur Weiterentwicklung des Philosophieunterrichts, für dessen Ein-
beziehung sich Lehrkräfte der Fächer Ethik und Philosophie entscheiden können,
aber nicht müssen.
Literatur
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Taschenbuch-Verlag 20082.
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als Teil der menschlichen Natur.“ In: Neuroforum 23 (2017), H. 2, S. 96–104.
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und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung v. Alfred Lorenzer u. Bernard Görlich.
Frankfurt am Main: Fischer 20185, S. 29–108.
Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammenspiel
argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philo-
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Gefert, Christian: „Theatrales Philosophieren – performatives Denken in philosophischen
Bildungsprozessen“. In: Handbuch Philosophie und Ethik. Bd. 1, Didaktik und Methodik. Hg.
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244.
Gefert, Christian: „Philosophie als Performance – theatrales Philosophieren in Bildungsprozessen.“
In: ZDPE 2 (2019), S. 23–30.
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linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation. Berlin: De Gruyter 2002
(=Germanistische Arbeitshefte; 39), S. 33.
Goergen, Klaus: „Das moralische Urteil. Ein egalitäres Modell.“ In: ZDPE 3 (2009), S. 170–181.
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Wiese, Hans-Joachim, Michaela Günther u. Bernd Ruping: Theatrales Lernen als philosophische
Praxis in Schule und Freizeit. Berlin/Milow/Strasburg: Schibri-Verlag 2006.
Winkler, Philipp: HOOL. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Theater Verlag. Bühnenbearbeitung v.
Florian Hertweck für das Staatsschauspiel Dresden 2018.
ERSTMAL AUFREGEN.
Kunst, Philosophie und selbst
motiviertes Lernen im Museum
Alke Vierck
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Wissen · Denken · Kunst · Körper · Philosophieren · Museum · Ästhetische
Erfahrung · Mehrperspektivität · Dialog
1 Aufregen
A. Vierck (*)
Hamburger Kunsthalle, Hamburger, Deutschland
E-Mail: alke.vierck@hamburger-kunsthalle.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 195
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_10
196 A. Vierck
Augen aufgerissen. Was er in diesem Moment sieht, wissen wir nicht. Aber die
Aufregung, in die es ihn versetzt, erfüllt das ganze Gemälde mit Spannung
(Abb. 1).
Fragonard ist ein erstaunliches Kunstwerk gelungen, er hat einen Augenblick
kognitiver Erregung ins Bild gebannt. Vor dem Original im Museum erlebt man
diesen Prozess körperlich. Auf mehreren Ebenen macht das Kunstwerk Denken
sicht- und spürbar.
Es gibt ein fundamentales Missverständnis, das sich regelmäßig zwischen
Menschen und Kunstwerken aufbaut wie eine vierte Wand. Im Museum hören
wir Aussagen wie diese häufig: „Ich weiß nichts darüber und habe keine Ahnung
von Kunst.“ Ist Wissen der ultimative Zugangscode zur Kunst? Fordert der Philo-
soph uns auf, die vor ihm liegenden Traktate zu lesen, um zu verstehen, was vor
sich geht? Müssen wir die Biographie des Künstlers studieren, um die im Bild
manifestierte Spannung wahrnehmen zu können?
Wir betrachten Kunst zuallererst mit dem Körper. Am Beginn jeder
Betrachtung steht eine sensitive Wahrnehmung und sie bildet die Grundlage für
jede weitere Handlung. Dennoch werden nicht der Körper, sondern das Wissen
und die Bildende Kunst als unverrückbare Einheit gehandelt. Das ist ein Problem.
Während es selbstverständlich ist, dass wir – wie der dargestellte Philosoph –
unser Wissen beim Lesen kontinuierlich ausbauen und im Prozess zunehmend
Kenntnis gewinnen, wird bei Kunstwerken allzu schnell davon ausgegangen, dass
es neben dem Bild unbedingt noch weiterer Informationen bedarf, um wirklich
verstehen zu können.
Museen (und Schulen) tragen einen großen Teil zu diesem Missverständ-
nis bei. Mit Erklärungen an der Wand, parallelen Texten aus dem Kopfhörer und
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 197
1Der Begriff wird hier eingeschränkt, da das klassische Vermittlungsmodell angesichts lern-
Kunstvermittlung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Enaktivismus und Performanz
spielen für das Schulprogramm der Hamburger Kunsthalle eine zentrale Rolle und werden hier
methodisch praktisch erforscht. Die theoretische Basis bietet nach wie vor der Sammelband:
Fingerhut, Jörg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hrsg.): Philosophie der Verkörperung.
Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin: Suhrkamp (2013).
198 A. Vierck
3Fingerhut, Jörg: Das Bild dein Freund. Der fühlende und der sehende Körprer in der enaktiven
Bildwahrnehmung. In: Feist, Ulrike/Rath, Markus (Hrsg.): Et in imagine ego. Facetten von Bild-
akt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp. Berlin: de Gruyter (2012), S. 117–198.
4Zu Bedeutung und Einsatz von Bildern im Philosophieunterricht vgl.: Maeger, Stefan: Umgang
„Krise“ in der transformatorischen Bildungstheorie und geht zurück auf: Koller, Hans-Christoph:
Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse.
Stuttgart: Kohlhammer (2012).
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 199
Ohne Beachtung des Körpers ist eine aktivierte Wahrnehmung nicht mög-
lich. Ihr gilt die methodische Aufmerksamkeit. Die Wand des Wissens kann
diesen, zunächst ganz in der Betrachtung liegenden, sensitiven Raum empfindlich
beschneiden und damit selbstmotivierte Zugänge frühzeitig verweigern.
Eine enervierte Bildbetrachtung ist eng verbunden mit der philosophischen
Grundhaltung des Staunens.6 Als „staunendes Verweilen“ beinhaltet sie eine
schöpferische Offenheit.7 Sie ermöglicht ein bildungsrelevantes Wechselspiel
zwischen einer sich öffnenden und einer sich dem vollständigen Begreifen immer
wieder entziehenden Wirklichkeit.8 Im Moment des Staunens werden Denk-
gewohnheiten aufgebrochen und Selbstverständlichkeiten überdacht. Jede Ana-
lyse benötigt darum zuallererst eine Bremse für die genaue, sinnlich motivierte
Betrachtung. Emotionale Betroffenheit, geistige Anregung, körperliche Agitation
und sensitive Erregung können dabei methodisch freigelegt werden und bilden ein
notwendiges Bedingungsfeld für ein Lernen aus Interesse.
Auf direktem Weg kommen wir also nicht vom Wissen zum Denken. Der auf-
gebrachte Körper ist ein notwendiger Bestandteil gruppendynamischer Denk-
prozesse zu Bildern. Fragonards Gemälde ist ein Plädoyer für die Nervosität des
Geistes, die sich im bewegten Körper zeigt. Der Körper denkt mit!
2 Aufräumen
Jetzt aber mal schön der Reihe nach! So kann sich ja niemand konzentrieren.
Gefühlstaumel sind doch der Feind analytischen Denkens! Gegensätze müssen
her: Also alles auf einen Haufen packen und dann fein säuberlich sortieren. Unser
Kopf ist ein Setzkasten und wir bestimmen, was wohin gehört…
Eine fünfte Klasse ist im Museum. Im Fächerverbund von Kunst und
Geschichte wollen sie sich mit dem Sammeln beschäftigen. Die Hamburger
Kunsthalle bietet dafür die besten Bedingungen. Sie beherbergt ein seltenes Still-
leben, das Objekte nicht auf einem Tisch versammelt, sondern über die gesamte
Fläche in einem Kunstkammerregal sortiert.
Kunst- oder Wunderkammern sind Orte des Staunens, aber auch des Denkens
in Ordnungen. Sie entstanden in der Frühen Neuzeit an europäischen Höfen und
versammelten Gegenstände unterschiedlicher Herkunft. Kunstkammern sollten
erklärungssuchendes Staunen, das motivational wirksam ist, und in ein finales Staunen, das
den Endpunkt kognitiver Bemühungen erfasst. Beide sind in der Kunstvermittlung aktiv. Knell,
Sebastian: Thaumazein. Über das Staunen als philosophische Grundhaltung. In: Information
Philosophie. 4/(2015), S. 28–37.
7Uphoff, Ina: Die Bildungsaufgabe des Museums. In: Zeitschrift für Museum und Bildung. 64/
(2005), S. 22–29.
8Pohl, Karl: Lobpreis des Staunens. Über die Ursprünglichkeit des kindlichen Philosophierens.
In: Ullrich, Heiner/Hamburger, Franz (Hrsg.): Kinder am Ende ihres Jahrhunderts. Pädagogische
Perspektiven. Langenau-Ulm: Armin Vaas Verlag (1991), S. 85.
200 A. Vierck
ein universales Bild der Welt im Kleinen abbilden.9 In ihnen wurde präsentiert
und systematisiert. Zwar sind ihre Ordnungssysteme nicht unbedingt mit unseren
heutigen identisch, aber Kunstkammern sind damit direkte Vorfahren moderner
Museen. Mit ihnen erhielten das Sammeln, Ordnen und Erforschen der Dinge
einen neuen Stellenwert. Sie demonstrierten dabei zugleich Macht, Wohlstand und
Wissen.10
„Wer von euch hat schon einmal einen Zahn verloren?“ Alle Fünftkläss-
ler heben ihre Arme und jedes Kind kann berichten, wo und wie es Milchzähne
aufbewahrt. Sie haben einen besonderen Sinn für das Bewahren und auch für
das Präsentieren ihrer Hinterlassenschaft. Auch die Zahnfee kommt schnell ins
Spiel und es wird deutlich, dass die Kinder mit dieser mythischen Figur sehr
beschäftigt sind. Langsam sickert durch, dass keines von ihnen mehr „wirk-
lich“ an die Zahnfee glaubt, aber alle genießen die Idee ihrer Existenz. Sie sind
in einem Schwellenalter, in dem magisches und empirisches Denken sich nicht
ausschließen. Ihre Annäherung an Welt findet mindestens aus diesen beiden
Richtungen gleichzeitig statt.
Warum ist das relevant? Die Welt steht uns nicht unmittelbar, sondern nur ver-
mittelt durch Zeichen- und Bedeutungssysteme zur Verfügung. Ernst Cassirer
spricht von diesen Grundformen der Weltauffassung als symbolische Formen,
unter denen alle gleichwertig sind. Die Sicht auf einen Gegenstand hängt
fundamental davon ab, aus welcher symbolischen Form heraus wir uns ihm
nähern. Jede für sich ist ein eigenständiges Deutungssystem mit eigenständigen,
für sich jeweils gültigen Binnenstrukturen.11
Wird die Moderation eines Bildgesprächs auf einer Philosophie der
symbolischen Formen aufgebaut, bedeutet dies, die Alltagsvorstellungen der
Lernenden kennenzulernen, sich ihnen zuzuwenden und sie zu verstehen.12
Zugeneigt und mit wohlwollender Offenheit gehen wir auf alle vorhandenen
Denkweisen zu und nehmen sie ohne Wertung mit in das gemeinsame Gespräch.
9Zur Geschichte dieser Orte vgl. zum Beispiel: Beßler, Gabriele: Wunderkammern – Welt-
modelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart. Berlin: Reimer Verlag (2012). Mit
der besonderen Bedeutung der Wunderkammern für die neueren Bildwissenschaften hat sich
Horst Bredekamp beschäftigt. Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die
Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin: Wagenbach (2000).
10Solche Räume höfischer Zurschaustellung können nicht unabhängig von postkolonialen
12Die Übertragung der Philosophie Cassirers auf das Kunsterleben und die dabei aktive
Dimension des Fühlens geht bereits auf Susanne Langer zurück. Lachmann, Rolf: Susanne K.
Langer. Die lebendige Form menschlichen Fühlens und Verstehens. München: Wilhelm Fink Ver-
lag (2000).
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 201
Auf dieser Basis kann sich eine Unterhaltung entwickeln, bei der alle Beteiligten
aus ihren individuellen Voraussetzungen heraus die künstlerische Position
betrachten und ihr Denken integrieren können.
Das Schulprogramm der Hamburger Kunsthalle entwickelt sich in Zusammen-
arbeit mit Kristina Calvert auf Grundlage des kreativen Philosophierens mit
Kindern.13 Gemeinsam mit der Kinderphilosophin gestaltet das Schulteam auf der
Basis dieser Haltung demokratische Vermittlungsformen und sucht nach Über-
tragungen des Philosophierens in eine kreative und dialogische Begegnung mit
Kunstwerken im Museum. Das hat Auswirkungen auf die Dialogkultur.14
„Warum bewahrt ihr eure Milchzähne eigentlich auf?“ Die Antworten, die nun
kommen, benennen beinahe umfassend die Grundordnung der Kunst- und Wunder-
kammern, mit der wir uns später beschäftigen wollen. „Weil sie ein Teil von
meinem Körper sind.“ (Naturalia). „Weil sie mich daran erinnern, dass ich mal
klein war.“ (Memorabilia). „Weil sie ganz besonders weiß aussehen.“ (Artificialia).
„Weil sie zeigen, dass alles mal stirbt.“ (memento mori). „Weil spätere Menschen
sie untersuchen und dabei rausfinden können, dass es uns gab.“ (Scientifica)…15
Anhand der zwei Fragen haben die Kinder erklärt, warum die Menschheit
ihr Denken mit Dingen verknüpft, was die Kernaufgaben eines Museums sind
und wie Forschung entsteht.16 Vor dem Kunstkammerregal können sie nun Ver-
gleiche ziehen. Wir kippen einen Sack voller Objekte aus, die viele Kinder gerne
sammeln, und stellen uns im Kreis darum. Nach und nach nimmt jedes Kind ein
Objekt und legt es zu einem anderen. Dabei begründet es, warum diese Objekte
zusammengehören. So entsteht Ordnung und es entwickeln sich immer mehr Kate-
gorien: alles was funkelt, Dinge, die Geschichten erzählen, Sachen, die Leon mag,
Objekte, mit denen man bezahlen kann, Gefäße zum Aufbewahren…
Immer wieder schauen wir auf das Gemälde und überprüfen, ob es die neue
Kategorie dort auch schon gibt. Pokémonkarten, Strasssteine und Handyver-
packungen treten in einen nachvollziehbaren Dialog mit Medaillons, Perlen und
13Zum kreativen Philosophieren mit Kindern (nach Calvert) vgl.: Calvert, Kristina: Respekt vor
den Gedanken der Kinder. Philosophieren mit Kindern im öffentlichen Kultur-Raum. In: Stand-
bein Spielbein. Museumspädagogik aktuell. Heft 99/(2014), S. 19–22. Eine aktuelle Darlegung
ihres philosophischen Paradigmas ist zudem hier aufgeführt: Calvert, Kristina: 52 Bildkarten
zum Philosophieren mit Kindern. Booklet. Weinheim: Beltz (2020).
14Der Einsatz des Philosophierens als rezeptionsästhetische Methode im Kunstmuseum ist nicht
nommen. Die hier genannten Beispiele lassen sich in etwa als Naturobjekte, Erinnerungsstücke,
Objekte von schöner Gestalt, Vergänglichkeitssymbole und wissenschaftliche Instrumente über-
setzen.
16Als Kernaufgaben der modernen Museen werden festgelegt: Sammeln, Bewahren, Forschen,
3 Betrachten
Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (2007).
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 203
stark empfunden haben, war „Meeresufer im Mondschein“ von Caspar David Friedrich.
204 A. Vierck
Abb. 2 Jean-Léon Gerôme: Phryne vor den Richtern, 1861, Öl auf Leinwand, 80 × 128 cm. (©
Hamburger Kunsthalle/bpk, Foto: Elke Walford)
Die antike Erzählung ist den Jugendlichen nicht bekannt. Aber dass es sich um
eine Begutachtung der entkleideten Frau im Vordergrund handelt, wird schnell
deutlich. Die Athenerin Phryne, die sich der Gotteslästerung schuldig gemacht hat,
indem sie sagte, sie sei so schön wie Aphrodite, wird vor dem Obersten Gericht
zur Schau gestellt. Die Richter sind aufgefordert, ein Urteil zu fällen. Der Ver-
teidiger der Angeklagten zieht ihr den Umhang vom Leib und setzt ihren nackten
Körper als Beweismittel ein. Dieses Hintergrundwissen zur Bildhandlung fließt in
die Unterhaltung ein, während die Gruppe die Darstellung für sich erschließt.
Wir ergänzen den Namen „Phryne“ vor dem Halbkreis der Emotionen auf dem
Boden. Ihre Ausgeliefertheit ist Thema der Diskussion, ebenso wie die merk-
würdige gestische Reaktion, mit der sie nicht ihre Scham, sondern ihre Augen
verbirgt. Um den Körperbewegungen im Bild näher zu kommen, nehmen die
Jugendlichen immer wieder Haltungen ein und befragen die mögliche innere
Motivation dahinter.
Die Gruppe beginnt dabei automatisch, das Dargestellte mit ihrer Kant-Lektüre
in Verbindung zu bringen. Wir ersetzen darum nach einer Weile den Namen
„Phryne“ durch den Begriff „Schönheit“. Was, wenn nicht über die Person,
sondern über das Schöne selbst ein Urteil gefällt werden muss?
Die Gruppe stößt auf ein Problem, denn die ausliegenden Begriffe sind
nicht vereinbar mit einem interesselosen ästhetischen und auch nicht mit einem
moralischen Urteil. Unter welchen Erkenntnisbedingungen steht die dargestellte
Situation, welche Urteilskraft ist diesen Männern noch zuzutrauen? Die Mehrheit
der Richter, so sagen sie, sind kompromittiert durch einen emotionalen Taumel.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 205
Angesichts der nackten Frau sind sie offensichtlich nicht in der Lage, ihres Amtes
zu walten. In den Augen der Schüler*innen machen sie sich geradezu lächerlich.
Aber wie steht es um uns? Auch wir sind im Bild, denn ein kleines Detail
erweitert den Kreis der Richter organisch aus dem Gemälde in den realen Raum.
Auf die Auslassung in den steinernen Sitzreihen folgt ganz in der rechten Bild-
ecke ein gerade eben noch sichtbares, angeschnittenes weiteres Fußpaar unter
einem roten Umhangsaum. Der Sitzkreis setzt sich fort. Durch unsere Perspektive
sind wir gar nicht in der Lage, alle anwesenden Figuren zu sehen. Wir gehören
vielmehr dazu, denn unsere Betrachterkörper sind die logische Verlängerung der
Richter im Bild. Sind wir als Kunstbetrachtende damit Teil einer angesichts des
nackten Frauenkörpers lustvoll geifernden Meute?
In der Kunstbetrachtung geht es niemals nur um die Anderen, es geht immer
auch um uns selbst. Unser Erleben, aber auch unsere Rekonstruktion von
Welt steht im Mittelpunkt der Vermittlung. Sie bewegt sich im Spannungs-
feld von Objektbetrachtung und subjektiver Inbezugnahme. Das Bild ist von der
betrachtenden Person nicht zu trennen. Damit setzt sich auch der Halbkreis der
auf dem Boden liegenden Begriffe in unserer Stuhlreihe vor dem Bild fort. Die
Jugendlichen sind betroffen von dieser Erkenntnis und fühlen sich umso mehr in
ihrem eigenen Urteilen herausgefordert.
Ist diese Frau also so schön wie Aphrodite? Ist es das, was hier durch
Anschauung zu beweisen ist? Neben der zugrundeliegenden Erzählung und dem
mitgebrachten Unterrichtswissen erweitert nun ein einziger weiterer Baustein der
Moderation den Kontext der Überlegungen zum Bild. Er verändert den Blick auf
das Kunstwerk noch einmal radikal.
Im antiken Verständnis spielt ein weiterer Begriff in die Ästhetik hinein, den
wir heute nicht unbedingt mitdenken: Das Schöne steht in direkter Verbindung
mit dem Wahren. Wir ersetzen darum den Begriff erneut und die Bildhandlung
erscheint wieder in einem anderen Licht. Angesichts des Begriffes „Wahrheit“
scheinen die Richter (wie Fragonards Philosoph) nun in einem aufgewühlten
Moment der Erkenntnis zu stecken. Es geht hier nicht allein um die Anschauung
des Ausmaßes von Schönheit. Es geht um ein juristisches Argument: In ihrer
realen Schönheit berührt Phryne auch das göttliche Wahre und Gute.
Ist also die Erkenntnis selbst, das Erkennen einer Wahrheit, das eigentlich
Schöne? Geht es hier um physische Anschauung oder um ein metaphysisches
Erschaudern? Und befreit diese neue Sichtweise die Männer von dem ersten Ein-
druck der lüsternen Blicke auf einen nackten Körper? Ganz sicher verschwindet
das voyeuristische Moment nicht aus dem Gemälde, aber eine neue Dimension
kommt hinzu.
Das Kunstwerk wirft in der ausgeführten Betrachtungsweise Fragen auf, gibt
aber keine finalen Antworten. Die verschiedenen Deutungsschichten lösen sich
nicht gegenseitig auf. Es gilt, das Unabgeschlossene auszuhalten und das aktuelle
Gespräch als Teil eines fortwährenden Deutungsvorgangs zu begreifen. Die Unter-
haltung vor dem Bild aber ist schon lange in einem komplexen Metadiskurs
angekommen. Dieser hat sich zum größten Teil aus einer sukzessiven und genauen
Wahrnehmung ergeben.
206 A. Vierck
4 Reden
21Uhlig, Bettina: 7777777 „details“ eines Lebens. Zum Philosophieren mit Kindern zu Kunst-
werken. In: Müller, Hans-Joachim/Pfeiffer, Silke (Hrsg.): Denken als didaktische Zielkompetenz.
Philosophieren mit Kindern in der Grundschule. Baltmannsweiler: Hohengehren (2004), S. 89.
22Seit einigen Jahren wird im Bereich der Kunstdidaktik ein neuer Fokus auf Aspekte der Bild-
kompetenz gelegt. Vgl. dazu zum Beispiel: Behring, Kunibert/Niehoff, Rolf: Bildkompetenz.
Eine kunstdidaktische Perspektive. Oberhausen: Athena (2013). Auch der Ansatz des Schul-
programms der Hamburger Kunsthalle folgt einer bildwissenschaftlichen Ausrichtung, sieht
aber Bildkompetenz als ein unbedingt interdisziplinär anzugehendes Kompetenzfeld aller Fach-
bereiche.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 207
insofern unerheblich, als es in jedem Fall um die Verknüpfung ihres Wissens mit
der Anschauung einer spezifischen künstlerischen Position geht. Eine Kunst-
vermittlung, die den Präkonzepten der Lernenden Raum gibt, wird immer aus
dem vorhandenen und dem sich im Moment entwickelnden Wissen der Gruppe
schöpfen.
Im Museum setzen Schüler*innen ihre Kenntnisse ins Verhältnis zur Kunst.
Sie liefern sie damit einer Erschütterung aus. Angesichts einer fachfremden
symbolischen Form sind sie aufgefordert, sich selbst herauszufordern. Das
ermöglicht ihnen die Einnahme neuer Perspektiven auf sich selbst als Lernende.
Wie sehe ich auf die Welt, welches Wissen bringe ich mit, welche Assoziationen
spielen in mein Denken hinein, welche Handlungen sind möglich und: Kann ich
auch anders sehen, denken und handeln? Gibt es alternative Zugänge zur Welt, die
ich noch ausprobieren kann?23
Um eine solche Ebene kultureller Bildung zu erreichen, setzt das Schul-
programm der Hamburger Kunsthalle auf drei feste Säulen, die stetig im Team
weiterentwickelt werden: Themenzentrierung, Dialog und kreative Interaktion
bilden die festen Pfeiler eines fächerübergreifenden Angebotes für Schulen, das
zunehmend partizipativ ausgerichtet werden soll. Das beginnt in der Auswahl der
mit Schulklassen verhandelten Themen.
Was ist ein Thema? Diese Frage erhält angesichts von 700 Jahren Kunst-
geschichte besondere Dramatik. Um nicht wahllos mögliche Inhalte der Kunst-
geschichte zu reproduzieren, werden verschiedene Schlüssel angelegt, die bei der
Themenfindung helfen. Koordinaten dafür sind zu gleichen Teilen in den Kunst-
werken und in den betrachtenden Individuen verankert.24
Eine Installation von Bogomir Ecker durchzieht die gesamte Galerie der
Gegenwart. Sie transportiert auf dem Dach aufgefangenes Regenwasser bis
ins Erdgeschoss, wo es einem großen Pflanzkübel zugeführt wird, um dadurch
angereichert in kleinen Mengen im Sockelgeschoss in der „Tropfsteinmaschine“
anzukommen. Langsam aber beharrlich tröpfelt das kalkreiche Wasser hier auf eine
Steinplatte und lagert sich mit den Jahren ab. Diesem Kunstwerk wurde durch den
Künstler vorab ein Ende gesetzt. Im Jahr 2496, 500 Jahre nach seinem Aufbau, soll
ein etwa fünf Zentimeter großer Stalagmit entstanden sein. Dann ist Schluss.
Dann ist Schluss? Unüberschaubare geologische Dimensionen packt Ecker in
die kleine Kammer, die seinen künstlichen Tropfstein produziert. Das Museum
ist aufgefordert, sie zu bewahren und somit mindestens 500 Jahre zu existieren.
Bogomir Ecker entwickelt damit ein Gedankenspiel. Was passiert, außer der
23Ästhetische Erfahrung wird hier nicht als reine sinnliche Wahrnehmung erfasst, sondern als
Reflexion des Selbst als wahrnehmendes. Vgl. Brandstätter, Ursula: Ästhetische Erfahrung.
In: Kulturelle Bildung online. https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung
(04.06.2019).
24Ein weiterer Faktor sind die aktuellen Debatten und Diskussionsfelder der politischen Gesell-
25Hartung, Gerald (Hrsg.): Mensch und Zeit. Studien zur interdisziplinären Anthropologie. Wies-
baden: Springer (2015).
26Diese Art der Themenbestimmung geht außerdem zurück auf die in der Hattie-Studie für den
Lernerfolg ausgemachten „higher order questions“. Für eine Auseinandersetzung mit diesem
Wirkungselement in der bildungsempirischen Metastudie vgl.: Lotz, Miriam/Lipowsky, Frank:
Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht. Ein Blick auf ausgewählte Aspekte
der Lehrer-Schüler-Interaktion. In: Mehlhorn, Gerlinde/Schulz, Frank/Schöppe, Karola (Hrsg.):
Begabungen entwickeln und Kreativität fördern. München: Krea Plus Verlag (2015), S. 97–136.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 209
und Verständigen über Sichtweisen, bis sich durch die Bezugnahme innovative
Erkenntnisse und Handlungen einstellen können.27
Nun aber genug geredet. Gibt es nicht auch andere Formen der
Kommunikation? Dialoge zur Kunst finden nicht allein in der verbalen Reflexion
statt, sondern wechseln unbedingt zwischen den symbolischen Formen. Aus der
verändernden Wechselbewegung zwischen kognitivem Dialog und kreativer Hand-
lung entsteht eine Form der ästhetischen Forschung.
5 Gestalten
27Auch ablehnende Haltungen und Desinteresse gehören übrigens in diesem Sinne zur Mehr-
perspektivität dazu.
210 A. Vierck
Gestaltung beginnt mit dem Darstellen eines Inhalts in einem anderen. Von
diesem kleinsten Nenner aus, können nicht nur Techniken und Mittel bildender
Handlungen vermittelt werden. Gestaltung wird in diesem Fall als Prinzip
reflektiert. Welchen Anteil hat Zeit an der Veränderung eines Gegenstands? Warum
gestalten wir? Und vor allem, in welcher Form drücken wir uns aus? Welche
Elemente unseres Denkens können wir künstlerisch präziser, emotionaler oder
treffender formulieren?
Für Ernst Cassirer ist Erkennen ein Prozess der Nachbildung vorhandener
Ordnungen. Damit sieht er auch Prozesse der Umformung verbunden.28 Erkennt-
nis ist eine Form der Gestaltung und damit weit weniger passive Aufnahme von
Vorhandenem, sondern aktives Hervorbringen von Neuem. Die Ordnungen
unseres Wissens bestimmen die Wahrnehmung des Gegenstandes mit. Aber auch
unser Handeln drückt Wissen im Zeichen aus.
Diese Prozesse angesichts der Kunst transparent zu machen, ist eine wesent-
liche Aufgabe der philosophischen Kunstvermittlung. Das kann und wird immer
auch im Modus der Sprache geschehen. In Anbetracht der Vielfalt künstlerischer
Methoden und der Talente in einer Gruppe greift aber die rein verbale Interaktion
zu kurz. Sie wird verbunden mit etappenweisen kreativen Einheiten, die nicht das
Gespräch unterbrechen, sondern es auf andere Weise weiterführen. Sie kann von
dort auch übergehen in ein längeres ästhetisch forschendes Projekt.29
28Cassirer,Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit.
Erster Band. Hamburg: Meiner (1999).
29Praxisbezogene Methoden entwickeln sich hier auf künstlerisch forschenden Ansätzen.
Wichtigste Basis dafür sind nach wie vor die Texte von Helga Kämpf-Jansen. Kämpf-Jansen,
Helga: Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Aspekts ästhetischer Bildung. In:
Blohm, Manfred (Hrsg.): Leerstellen. Perspektiven für ästhetisches Lernen in Schule und Hoch-
schule. Köln: Salon-Verlag (2000), S. 83–114.
ERSTMAL AUFREGEN. Kunst, Philosophie und selbstmotiviertes … 211
Literatur
Behring, Kunibert/Niehoff, Rolf: Bildkompetenz. Eine kunstdidaktische Perspektive. Ober-
hausen: Athena 2013.
Beßler, Gabriele: Wunderkammern – Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegen-
wart. Berlin: Reimer Verlag 2012.
Brandstätter, Ursula: Ästhetische Erfahrung. In: Kulturelle Bildung online. https://www.kubi-
online.de/artikel/aesthetische-erfahrung (04.06.2019).
Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer
und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin: Wagenbach 2000.
Calvert, Kristina: 52 Bildkarten zum Philosophieren mit Kindern. Booklet. Weinheim: Beltz
2020.
Calvert, Kristina: Respekt vor den Gedanken der Kinder. Philosophieren mit Kindern im
öffentlichen Kultur-Raum. In: Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell. Heft
99/2014, S. 19–22.
Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit.
Erster Band. Hamburg: Meiner 1999.
Cassirer, Ernst: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt: WBG 1983.
Collet, Dominik: Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der
Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
Collet, Dominik: Kunst- und Wunderkammern. In: den Boer, Pim/Durchhardt, Heinz/Kreis,
Georg/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europa und die Welt. Europäische Erinnerungsorte. Band
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Deutscher Museumsbund: Museumsaufgaben. https://www.museumsbund.de/museumsaufgaben/
(24. Juni 2020).
Duncker, Ludwig/Müller, Hans J./Uhlig, Bettina (Hrsg.): Betrachten – Staunen – Denken. Philo-
sophieren mit Kindern zwischen Kunst und Sprache. München: Kopaed 2012.
Fingerhut, Jörg: Das Bild dein Freund. Der fühlende und der sehende Körprer in der enaktiven
Bildwahrnehmung. In: Feist, Ulrike/Rath, Markus (Hrsg.): Et in imagine ego. Facetten von
Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp. Berlin: de Gruyter 2012, S. 117–
198.
Fingerhut, Jörg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hrsg.): Philosophie der Verkörperung.
Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin: Suhrkamp 2013.
Hartung, Gerald (Hrsg.): Mensch und Zeit. Studien zur interdisziplinären Anthropologie. Wies-
baden: Springer 2015.
Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Aspekts ästhetischer
Bildung. In: Blohm, Manfred (Hrsg.): Leerstellen. Perspektiven für ästhetisches Lernen in
Schule und Hochschule. Köln: Salon-Verlag 2000, S. 83–114.
Knell, Sebastian: Thaumazein. Über das Staunen als philosophische Grundhaltung. In:
Information Philosophie. 4/2015, S. 28–37.
212 A. Vierck
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
U. Barnett (*) · T. Rahde
Leitung Zooschule und Tierparkschule, Zoologischer Garten Berlin und Tierpark Berlin-
Friedrichsfelde, Berlin, Deutschland
E-Mail: U.Barnett@zoo-berlin.de
T. Rahde
Kurator, Zoologischer Garten Berlin, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 213
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_11
214 U. Barnett und T. Rahde
Zoologische Gärten und Aquarien haben in den letzten 150 Jahren einen deut-
lichen Wandel erlebt. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren die
Menagerien reine Schaubetriebe und dienten dem Vergnügen der gehobenen und
gebildeten Bevölkerung. Moderne, wissenschaftlich geleitete Zoologische Gärten
und Aquarien grenzen sich deutlich von diesen historischen Ansätzen ab und
haben sich vier Hauptaufgaben verpflichtet – Arten- und Naturschutz, Forschung,
Bildung und Erholung.1
Zoologische Einrichtungen sehen es als ihre Aufgabe sich aktiv am Arten-
schutz zu beteiligen. Hierfür existieren für die bedrohten Arten spezielle
Zuchtprogramme (z. B. EAZA Ex-situ Programme, EEP) und teilweise Aus-
wilderungsprojekte. Viele Einrichtungen verfügen außerdem über eigene Schutz-
projekte, welche direkt vor Ort (in situ) zum Schutz der Lebensräume oder der
speziellen Tierart betrieben werden.
Neben den wissenschaftlichen Mitarbeitern*innen zoologischer Gärten, die
regelmäßig in Fachzeitschriften über die hauseigene Forschung berichten, gibt
es dynamische Kooperationen mit Universitäten und anderen Forschungsein-
richtungen, um neben der Erforschung des Tierverhaltens (z. B. Sozial- und
Reproduktionsverhalten) auch tiermedizinische Erkenntnisse zu sammeln.
Vor allem in urbanen Ballungsgebieten sind Zoos mit ihrem botanischen und
zoologischen Bestand wichtige Naherholungsgebiete, in denen die Bevölkerung
Ruhe, Erholung und Entschleunigung erfahren kann.
Eine der zentralen Aufgaben ist die Bildungsarbeit in wissenschaftlich
geführten modernen Einrichtungen. Diese findet im Zoo auf vielfältige Weise
statt. Größere Zoologische Gärten verfügen über eine eigene Zooschule, welche
den Bildungsauftrag wahrnimmt und Räumlichkeiten für den außerschulischen
Unterricht bereitstellt. Die Zoopädagogen*innen sind im Verband der Deutsch-
sprachigen Zoopädagogen (VZP)2 vernetzt. Das Bildungsangebot richtet sich
vorwiegend an Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene steigen die
Angebote stetig. Der Trend geht mittlerweile dazu, jede Zooanlage nicht nur nach
tiergärtnerischen Aspekten zu gestalten, sondern auch den pädagogischen Auftrag
in Form einer ansprechenden Beschilderung oder einer Erfahrungs- und Erlebnis-
welt bereits in die Planung mit einzubeziehen.
1www.vdz.de (20.03.2020).
2Weitere Informationen auf www.vzp.de (20.03.2020).
Der Zoo als Lernort 215
3www.vdz-zoos.org (20.03.2020).
4Pies-Schulz-Hofen 1996.
5Weitere Informationen unter www.bne-portal.de (24.03.2020).
6www.eaza.net (24.03.2020).
7www.waza.org (24.03.2020).
8WAZA 2009 S. 59.
216 U. Barnett und T. Rahde
9Schlüter2007.
10WAZA 2009.
11Deutscher Bildungsrat 1974.
13Groß 2007 S. 36.
• Zur Einführung in ein neues Thema: auch wenn ein Thema gerade neu
begonnen wird, kann ein Zoobesuch bereits als Auftaktveranstaltung sinn-
voll sein. Allerdings ist auch hierbei eine gewisse Vorbereitung notwendig.
Die Lehrkraft muss sich im Vorfeld des Besuchs die angestrebten Ziele
bewusstmachen, um nicht zu viel von den Schülern*innen und der Lehrein-
heit zu verlangen. Mithilfe der geschulten Pädagogen*innen der Zooschule
können Begriffe des Themenbereichs eingeführt werden. Möglich wäre auch
eine Fragesammlung zum Thema anhand der Führung oder der Gehege-
beschilderung zu erstellen. Auch Verhaltensbeobachtungen können zu gezielten
Fragen führen, welche dann im Unterricht in der Schule theoretisch unterfüttert
werden.
• Zur Vertiefung eines behandelten Themas: als besonders sinnvoll in der Praxis
hat sich erwiesen, dass die Kinder mit einem gewissen Vorwissen in den Zoo
kommen. Die Schüler*innen können dann mit einem Grundverständnis der
218 U. Barnett und T. Rahde
Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass ein Besuch im Zoo zu jeder Zeit eine
gewisse Vorbereitung im Unterricht benötigt. Kommen die Schüler*innen völlig
unvorbereitet und ohne einen Arbeitsauftrag in den Zoo, wird der Lerneffekt
gering und völlig zufällig sein.
Der Zoobesuch kann aber auch als sinnvoller Wandertag gestaltet werden. Viele
Schulklassen nutzen diesen Ausflug, um sich mit einem Thema zu beschäftigen,
welches sonst in der zeitlichen Enge eines Schuljahres wenig Platz im Unterricht
findet.
Informelle Lernangebote sind weitaus weniger klar definiert, als die formellen.
Livingstone (1999) definiert informelles Lernen als
„[…] jede mit dem Streben nach Erkenntnissen, Wissen oder Fähigkeiten verbundene
Aktivität außerhalb der Lehrangebote von Einrichtungen, die Bildungsmaßnahmen, Lehr-
gänge oder Workshops organisieren. Informelles Lernen kann außerhalb institutioneller
Lehrinhalte in jedem denkbaren Umfeld stattfinden.“15
Bereits bei den ganz kleinen Kindern im Kitaalter kann der Grundstein für eine
lebenslange Bildung gelegt werden. Hier wird der Zugang zuerst vor allem durch
die große Neugier der Kleinen und durch Emotionen geebnet. Aufgrund dieser
Emotionen können erste Wissensbausteine vermittelt werden, die dann mit weiter-
führendem Alter bei anderen Angeboten wie den Kindergeburtstagen, themen-
bezogenen Ferienprogrammen oder dem Jugendclub als Freizeitgestaltung für
interessierte Schulkinder vertieft werden können.
Auch hierbei spielen die Emotionen, die die Tiere bei den Kindern auslösen
eine wichtige Rolle, da sie zu einem intrinsisch-motivierten Interesse führen.
Ein darauf basierendes Lernen hat eine hohe Beständigkeit. Vogt (2007) schreibt
in seinem Artikel, dass Lernen mit Interesse nachhaltiger sei, als Lernen ohne
Interesse.16
Besonders in diesem Bereich können Zoologische Gärten mit ihren Informations-
tafeln und natürlich den lebenden Tieren ansetzen. Durch eine intensive Mensch-Tier-
Beziehung kann es gelingen ein Objekt mit positiven Gefühlen und Erlebnisqualitäten
zu assoziieren, was zu einem Interesse führen kann.
Das Ziel des Zoos kann es nicht sein, ein Thema in seiner vollen Breite zu
behandeln und komplettes Wissen zu vermitteln. Vielmehr sollte es seine Auf-
gabe sein, die von Mitchell (1993) benannte catch-Komponente für Lernende zu
erfüllen. Als catch-Komponente bezeichnet Mitchell den ersten situationellen
Interessezustand. Auf diesen kann dann im Unterricht aufgebaut werden und somit
die hold-Komponente, also das Aufrechterhalten des situationellen Interesses,
erreicht werden.17 Auch im informellen Lernbereich wirkt die catch-Komponente
als Zugpferd für die weitere Beschäftigung mit einem speziellen Thema im
Nachgang.
Alle Führungen in den Zoologischen Gärten Berlin werden mittels einer
Vielzahl von Exponaten bereichert. Dadurch wird die frontale Vortragsweise
gebrochen und die Besucher*innen werden aktiv in die Thematik mit einbezogen.
Bei den Exponaten handelt es sich um verschiedenste Teile der Tiere, wie Felle,
Krallen, Hörner oder Geweihe (Abb. 2). Ebenso finden aber auch Modelle Ein-
satz auf den Führungen, wie zum Beispiel ein in realer Größe nachgebildeter
Elefantenzahn. Auch Bilder finden zur Erläuterung von Sachverhalten Ver-
wendung, ebenso wie Futterproben. Die Exponate führen dazu, dass etwas neu
Gelerntes nicht nur auf dem akustischen Weg wahrgenommen wird, sondern über
möglichst viele Sinneskanäle erfahrbar ist, mit der Intention, dass das Erlernte
durch die Vielschichtigkeit des Erlebten eine tiefere Verankerung findet. Die
Besucher*innen haben demnach nicht nur eine neue Information gehört und ver-
standen, sondern konnten diese Information auch visuell und ggfs. taktil oder
olfaktorisch untermauern. Zudem führt der Erlebnischarakter dazu, das Erlernte
besser aufzunehmen und durch wiederholtes Erzählen im Nachgang zu ver-
festigen. Dies ist auch der Grund, weshalb informelle Führungsangebote in Berlins
16Vogt 2007.
17Mitchell 1993.
220 U. Barnett und T. Rahde
Abb. 2 Die Führungsinhalte werden in den Zoologischen Gärten Berlin anhand einer Vielzahl
von Exponaten vermittelt. (© Tierpark Berlin)
2.2 Lerninhalte
18Die Bergmannsche Regel besagt, dass Tierarten in kälteren Regionen größer sind als verwandte
Tierarten in wärmeren Regionen und somit ein für die kalten Temperaturen besseres Körper-
Volumen-Verhältnis aufweisen.
19Die Allensche Regel besagt, dass die relative Länge der Körperanhänge von Tierarten in kalten
Abb. 3 Beim Vergleich von Kaiserpinguin und Brillenpinguin lässt sich die Bergmannsche
Regel für Schüler und Schülerinnen sehr gut verdeutlichen.
müssen hier häufig gegen Vorurteile angehen. Allzu oft verfallen die
Besucher*innen hier in pauschale Aussagen über die angebliche Dummheit von
Ziegen und Eseln und die kognitiven Leistungen der Tiere werden meist unter-
schätzt. Auch andere häufig negative Eigenschaften werden einigen Tierarten
pauschal zugesprochen, so werden Affen meist als bananenfressende, freche
Tiere bezeichnet, Hyänen als hinterhältig charakterisiert und die Harpyie als bös-
artig eingestuft. Gezielte Beobachtungsaufgaben und nachfolgende Auswertungs-
gespräche und Diskussionen können dann helfen, die Resultate in einen fachlichen
Kontext zu bringen und Verhaltensweisen von den Vorurteilen zu lösen.
Generell ist das Thema Verhältnis Tier-Mensch ein sehr spannendes Thema,
was in verschiedenen Altersgruppen durch unterschiedliche Ansätze besprochen
werden kann. Bei den Kindern im Kitaalter oder den unteren Grundschulklassen
ist der Zugang über eine ihnen vertraute Geschichte eine Möglichkeit dazu. Zum
Beispiel können hier Märchen wie Rotkäppchen und der böse Wolf oder auch
Disney-Filme Anwendung finden. Die dort dargestellten Tiere können mit der
Realität verglichen werden -ist der Wolf wirklich so böse, wie er im Märchen dar-
gestellt wird? Frisst er tatsächlich Menschen? Ebenso kann aber auch diskutiert
werden, weshalb einige Filmcharaktere sich Menschen gegenüber nicht wohl-
gesinnt verhalten. Zum Beispiel hat der Tiger Shir Khan im Dschungelbuch einen
224 U. Barnett und T. Rahde
guten Grund, die Menschen nicht zu leiden, da sie ihn umbringen wollten und als
er ein Kind war, sein Vater von einer Gewehrkugel getötet wurde.
Bei älteren Lernenden ist der Zugang zu dem Thema weniger verspielt und
führt meistens darüber, die Bedrohungssituation einer Tierart zu erklären und dann
zu diskutieren, welche menschlichen Einflüsse zu dieser Situation geführt haben
können und welche Maßnahmen zu einer Verbesserung führen könnten. Zum Bei-
spiel kann die Nutzung von Palmölprodukten im Alltag der Kinder beim Konsum
von bestimmten Keksen, Schokolade, Kosmetika, Butter usw. einen direkten Ein-
fluss auf die Palmölproduktion in Indonesien haben, wofür riesige Monokulturen
angelegt werden und Regenwaldbewohner wie Orang-Utans ihren Lebensraum
verlieren. Gleichzeitig kann besprochen werden, weshalb einige Menschen Orang-
Utans als Haustiere haben wollen, um sie dann zu missbrauchen.
Die Domestikation von Tieren in der Vergangenheit, sowie der Unterschied von
Wildtierhaltung zur Haustier-/Nutztierhaltung findet ebenfalls edukativen Platz
im Lernraum Zoo. Das Verhältnis Tier-Mensch ist meist eng an das Thema Arten-
schutz als zentrales Themenfeld in zoologischen Einrichtungen gekoppelt. Gleich-
zeitig kann die Natur aber auch dem Menschen als Vorbild dienen, was sich vor
allem in der Bionik widerspiegelt.
Natürlich können im Zoo auch tiergärtnerische Kenntnisse vermittelt werden
und Spezialwissen zur Tierhaltung und Tierpflege, aber auch zum Tiermanagement
und Reproduktionsmanagement vermittelt werden. Diese Angebote werden bevor-
zugt von Studierenden oder Berufsschülern*innen genutzt.
Da viele Zoos und Tierparks heutzutage nicht nur darauf abzielen, zoologische
Raritäten zu zeigen, sind sie häufig in Parks oder Parklandschaften integriert. Die
Tiere im Berliner Zoo sind auf einem 34 ha großen Gebiet untergebracht, in dem
auch viele botanische Besonderheiten angelegt sind. Der Berliner Tierpark ist auf
einer Fläche von insgesamt 160 ha angelegt und besitzt neben kleinen Waldarealen
auch gepflegte Parkareale. Botanische Kenntnisse können hier ebenso vermittelt
werden wie zoologische, vor allem auch im Frühjahr, wenn die Frühblüher den
Park besiedeln.
Die bislang vorgestellten Themengebiete umfassen vor allem naturwissen-
schaftlich-biologische Themenfelder, die allerdings viel Spielraum lassen, um
diese auf anderen Ebenen weiter zu führen.
beobachten und durch das Zeichnen selber verfestigen sich die anatomischen
Merkmale. Ebenso können die Tiere in der Bewegung gezeichnet werden, was als
Grundlage zur Besprechung des Bewegungsapparates genutzt werden kann. Die
Beschreibung der Zeichnungen oder beobachteter Verhaltensweisen fördert zudem
die Sprachkompetenz.
Auch Mathematik kann im Zoo, Tierpark oder Aquarium mit der Erfahrung
der lebenden Tierwelt kombiniert werden. So kann Prozentrechnung lebhaft
werden, indem der Anteil von Tiergruppen wie Säugetiere, Reptilien, Vögel und
Amphibien am Gesamtbestand von den Schülern berechnet wird. Ebenso können
anhand direkt vor Ort gegebener Aufgabenstellung zum Beispiel der Prozent-
satz von Jungtieren einer Gruppe bestimmt werden oder die Prozentwerte ver-
schiedener Geschlechter. Die Aufgabenstellungen sind vielfältig. Durch den
praktischen Bezug festigen sich theoretische Konzepte und auch hier kann der Zoo
als Ausflugsziel und die Aussicht darauf, die Tiere real erleben zu können zu einer
erhöhten Motivation für die Beschäftigung mit dem Fachgebiet führen.
Fremdsprachen können ebenfalls gut mit biologisch-inhaltlichen Themen
kombiniert werden. So sind alle Führungen in Berlin zumindest auch in Englisch
buchbar und viele zusätzlich in Französisch, Spanisch oder Italienisch. Sprach-
kurse oder bilinguale Schulen nehmen dieses Angebot häufig in einer Fremd-
sprache an, wodurch das Vokabular um naturwissenschaftliche Termini erweitert
wird. Der Dialogcharakter der Führungen, sowie die Verwendung der Exponate
erhöhen die Sprachkompetenz in der entsprechenden Sprache.
erufsgruppen beschäftigt und muss die Einnahmen zum Großteil oder sogar
B
vollständig selber erwirtschaften, um die Ausgaben zu decken. Ein Zoo kann also
nicht nur unter tierethischen Aspekten betrachtet werden, sondern muss in seiner
Komplexität erkannt und diskutiert werden, um hier die besten Kompromisse für
Tiere, Angestellte und die Öffentlichkeit zu finden.
In der Auseinandersetzung mit diesem Thema können die Lehrenden den
Schülern*innen auch Hintergrundinformationen über Auswilderungsprogramme,
Zuchtbücher und auch zur Personalsituation des Zoos als Diskussionsgrundlage
zur Verfügung stellen. Der aktuelle Geschäftsbericht des Betriebs ist eine gute
Quelle hierfür, ebenso wie tierschutzrelevante Dokumente wie z. B. das Säugetier-
gutachten des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft20.
Die Schüler*innen können im weiteren Zuge auch verschiedene Ansätze
besprechen, woran Tierwohl gemessen werden kann, um die rein subjektive Ebene
der Interpretation von Gesichtsausdrücken der Tiere durch fundierte Methoden
zu ersetzen. Die Mimik von Tieren kann nicht als Grundlage zur Einschätzung
darüber dienen, ob es einem Tier wohlergeht oder nicht, da die Möglichkeiten
zu verschiedenen Gesichtsausdrücken bei den meisten Tieren nicht mit der des
Menschen vergleichbar sind.
Woran lässt sich erkennen, ob es einem Tier in menschlicher Obhut gut geht
oder nicht? Daran, dass es sich regelmäßig reproduziert und gesunden Nachwuchs
aufzieht? Oder daran, dass das Gehege des Tieres dem Lebensraum in der Natur
nachempfunden ist? Das Animal Welfare Committee der AZA (Association of
Zoos and Aquaria) definiert Tierwohl als ein Kollektiv des physischen, mentalen
und emotionalen Status eines Tieres über einen gewissen Zeitraum, das durch ein
Kontinuum von ‚gut‘ zu ‚schlecht‘ gemessen werden kann. Verschiedene Inputs
und Outputs können Faktoren bestimmen, die das Tierwohl negativ oder positiv
beeinflussen.21
Das Beurteilen des Wohlergehens eines Tieres ist demnach auch komplexer als
anfangs von vielen Besuchern*innen vermutet. Aber auch hier bieten sich viele
Möglichkeiten zu weiterführenden Diskussionen, zum Beispiel, welches Level
an Tierwohl mindestens erreicht werden sollte und was die Konsequenzen sein
könnten, wenn ein bestimmter Status über lange Zeit nicht erreichbar ist?
einer anderen Tierart nicht vorhanden, weil diese Eigenschaft schlichtweg über-
flüssig für diese Tierart ist.
Daher müssen die kognitiven Fähigkeiten von Tieren anders untersucht werden.
Unter dem Begriff Kognition sind verschiedenste Leistungen inkludiert, vom ein-
fachen Lernen durch Versuch und Irrtum bis zur mentalen Repräsentation von
Gedanken.22 Vor allem bei der Untersuchung der mentalen Repräsentation werden
häufig philosophische Fragestellungen zu Grunde gelegt.23 Rahde (2014) ver-
folgte in seiner Dissertation über die Stufen der mentalen Repräsentation bei Keas
(Nestor notabilis) einen interdisziplinären Ansatz zwischen Kognitionsforschung
und Philosophie, in dem er das philosophische Stufenmodell von Proust (2003)24
naturwissenschaftlich empirisch anhand von Untersuchungen an Keas in zoo-
logischen Gärten bearbeitet hat. Eine einfache mentale Repräsentation kann als
Vorhandensein von Gedanken interpretiert werden.25 Rahde merkt in seiner Arbeit
an:
„Eine wichtige Aufgabe für die Kognitionsforschung in Verbindung mit der Tierphilo-
sophie besteht darin herauszufinden, wie solche Gedanken aussehen könnten und
welche Inhaltsebene sie erreichen können. Tiere besitzen keine Worte, um die Welt zu
beschreiben und ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Die Tatsache, dass manche
Tiere die Welt zudem noch mit anderen Sinnen oder Sinnfertigkeiten wahrnehmen, legt
den Gedanken nah, dass der Mensch nie wirklich verstehen wird, wie es sich anfühlt ein
bestimmtes Tier zu sein. Da sich Tiere nicht in ausreichendem Maße über eine Sprache
verständlich machen können, kann Verhalten ein Schlüssel sein, mit dem Rückschlüsse
auf Gedanken geschlossen werden können.“26
Das Erreichen der vollständigen mentalen Repräsentation ist mit einer Bewusst-
seinsbildung gleichzusetzen. Dadurch sind wir Menschen beispielsweise in
der Lage, ein Ich-Bewusstsein zu entwickeln und unsere eigenen Gedanken zu
reflektieren.26 Auch, ob einige Tierarten eine „Theory of mind“ haben, wird immer
wieder diskutiert und untersucht.27
Mit den Schülern*innen können hier nicht nur die philosophischen und
kognitiven Grundlagen besprochen und debattiert werden, sondern es können auch
ethische Diskussionen folgen. Was würde ein unterschiedlicher Bewusstseins-
grad bei verschiedenen Tierarten für die Haltung von Tieren bedeuten können?
Sollten Tierarten mit einer höheren kognitiven Stufe anders gehalten werden, als
die Tierarten, die lediglich die Stufe der Kategorienbildung erreichen? Auch die
immer wieder kehrende Frage, welche Grundrechte Tieren zugesprochen werden
22Rahde 2014.
23Metzinger 2010.
24Proust 2003.
26Keenan 2005.
sollte und ob Menschenrechte auf Tiere übertragen werden sollten, können hier im
Zusammenhang mit dem Grad des Bewusstseins diskutiert werden.
28Groß 2007.
Der Zoo als Lernort 229
3 Fazit
Zoologische Gärten und Aquarien sind Lernorte für die verschiedensten Fach-
bereiche. Allen voran können naturwissenschaftliche Phänomene besprochen und
untersucht werden, aber die Beispiele in diesem Kapitel zeigen, wie der Lern-
ort Zoo auch für andere Lernbereiche genutzt werden kann. Die Möglichkeiten
hierzu sind vielfältig und gut miteinander kombinierbar, so dass die Lernenden
fächerübergreifend Themen bearbeiten und verstehen können und ihre eigenen
Gedanken und Interpretationen einfließen lassen können. Zudem sind zoologische
Einrichtungen aufgrund des Erlebnisfaktors ein Lernort mit hochmotivierenden
Charakter. Dies ist eine gute Voraussetzung für nachhaltiges Lernen.
Literatur
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft Tierschutzreferat (Hg.): Gutachten über
Mindestanforderungen an die Haltung von Säugetieren. Berlin 2014.
Call, Josep/Tomasello, Michael: Does chimpanzee have a theory of mind. 30 years later. In:
Trends in Cognitive Science 12/5 (2008), 187–192. https://doi.org/10.1016/j.tics.2008.02.010.
Deutscher Bildungsrat (Hg.): Empfehlungen der Bildungskommission: Zur Neuordnung der
Sekundarstufe II. Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen.
Bonn 1974, 68 ff.
29Wild 2006.
230 U. Barnett und T. Rahde
Man hört sehr viel zu bei der Mediation und denkt: ‚Sehe
ich auch so aus, wenn ich mit Leuten streite? Bin ich auch so
extrem?‘ Ich kann mich besser in die Lage von Leuten, denen
ich das Handy weggenommen habe, hineinversetzen, wie sie sich
damals gegen einen Stärkeren gefühlt haben. Da frage ich mich
auch, was habe ich diesen Menschen angetan? Wieso habe ich
das überhaupt gemacht? (Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation
hinter Gittern - Evaluation eines Projektes, Berlin 2015, S. 18.)
Zusammenfassung
„PeerMediator hinter Gittern“ ist eine vier bis fünf Monate umfassende Aus-
bildung für inhaftierte Jugendliche und Heranwachsende mit dem Ziel, Konflikt-
moderation in den Gefängnisalltag zu implementieren und Sozialkompetenzen
zu stärken. Im Kontext der Ausbildung werden prinzipielle Aspekte von Gewalt,
Aggression oder Gerechtigkeit ebenso reflektiert wie konkrete Konflikt-
situationen in Gesellschaft und Gefängnis.
Schlüsselwörter
PeerMediation · Aggression · Konflikt
B. Lang (*)
Jugendstrafanstalt Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: Birgit.Lang@jsa.berlin.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 233
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_12
234 B. Lang
Die ursprüngliche Idee zum Projekt PeerMediation hinter Gittern entstand auf-
grund von zwei Beobachtungen oder auch Grundannahmen, die generell für das
menschliche Zusammenleben gelten, im Vollzug aber eine besondere Bedeutung
erhalten:
Rund 60 % der jungen Männer in der Jugendstrafanstalt Berlin sind auf-
grund von Gewaltdelikten inhaftiert. Dazu zählen Körperverletzung, Raub,
Erpressung und auch Sexual- oder Tötungsdelikte. Die Vermutung liegt also
nahe, dass die Inhaftierten häufig über eine geringe Konfliktfähigkeit verfügen.
236 B. Lang
Ihre F rustrationstoleranz scheint oft ebenso schwach ausgebildet zu sein, wie die
Fähigkeit, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und konfliktträchtigen
Situationen aus dem Weg zu gehen. Es fällt vielen offensichtlich schwer, die unter-
schiedlichen Ebenen eines Konfliktes wahrzunehmen und zu differenzieren, einen
vorhandenen Konflikt zu schlichten, zu deeskalieren, zu klären oder angemessen zu
lösen bzw. zu einer angemessenen Lösung beizutragen. In der Kindheit und Jugend
haben sie selten gelernt, Probleme und Konflikte anzusprechen und sachlich zu
diskutieren. Die Bereitschaft, sich auf Konflikte einzulassen, ohne dass Gewalt
ausgeübt wird, ist daher gering. Darüber hinaus zementieren die subkulturellen
Strukturen der entsprechenden Peergruppen häufig Gewalt als ultimatives Mittel
der Problemlösung. Dies gilt insbesondere auch für Konflikte, die entstehen, wenn
unterschiedliche Kulturen, religiöse Bekenntnisse und Wertevorstellungen auf-
einander treffen. Die Unsicherheit und das Gefühl der Bedrohung, die in solchen
interkulturellen Überschneidungssituationen entstehen, beantworten diese Jugend-
lichen oft mit Aggression und Gewalt. Reden wird als Schwäche ausgelegt. Mit-
hilfe vermeintlich einfacher Lösungsstrategien versuchen sie „klare“ Strukturen
und Machtverhältnisse in ihrem Sinne herzustellen. „Klar“ bedeutet in diesem
Zusammenhang, dass es einen eindeutigen Gewinner und Verlierer gibt. Der Raum
für Lösungen, die zu einer Win-Win-Situation im Sinne des Harvard-Konzeptes2
führen, also für beide Konfliktparteien einen Gewinn oder positiven Ausgang dar-
stellen, muss erst eröffnet und das passende Handwerkszeug erworben werden.
3 Konstruktive Konfliktlösung
„Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass die Jugendstrafgefangenen sich mit den Folgen
der Straftat für die Verletzten und insbesondere auch deren Angehörige auseinandersetzen
und Verantwortung für ihre Straftat übernehmen.“3
2Vgl. Fisher, Roger/Ury, William: Getting to yes. Negotiating an agreement without giving in.
London: Random House Business 2012.
3Jugendstrafvollzugsgesetz Berlin 2016, §8, Abs. 2.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 237
Dieser Forderung kommt die Methode der Mediation entgegen, da sie sich nicht
ausschließlich auf die Vergangenheit bezieht, also nicht die Schuldfrage in den
Mittelpunkt stellt. Vielmehr ist die Mediation ein auf die Zukunft gerichtetes
Verfahren, das gemeinsam mit den Beteiligten Antworten auf ein konflikthaftes
Geschehen sucht und überlegt, wie das Zusammenleben in gegenseitiger Ver-
antwortung friedlich gestaltet werden kann.
Gerade im Jugendvollzug, der vom Erziehungsauftrag getragen wird, ist die
Abwendung vom Schuldbegriff hin zum Gedanken der Verantwortung zentral. Mit
dieser Veränderung des Blickwinkels erhält der vermeintliche Täter einerseits die
Möglichkeit, korrigierend einzugreifen und andererseits steht aber auch der oder die
Verletzte und die eigentliche Tat im Mittelpunkt der Betrachtung4. Die Mediation
gibt den Konfliktparteien die Verantwortung für ihren Konflikt und dessen Auf-
lösung zurück, der Mediator moderiert diesen Prozess, trifft aber keine Ent-
scheidungen. Damit wird die Selbstwirksamkeit der jungen Männer gestärkt, weil
sie das Gefühl haben, selbst Einfluss nehmen zu können. Diese Übernahme von
Verantwortung fordert von den Inhaftierten aber auch die Fähigkeit zur Reflexion
und Empathie, die trainiert werden muss. Hier bietet die PeerMediationsausbildung
ein großes Experimentierfeld an und auch die spätere Erfahrung als PeerMediator
eröffnet Einsichten in die Entstehung von Konflikten und die Verantwortung aller
Beteiligten. So ergänzen sich das Konzept der Verantwortung und das Werkzeug der
Mediation gegenseitig im Sinne der Weiterentwicklung der sozialen Kompetenzen
und damit der Resozialisierung der jungen Männer.
4 Die PeerMediationsausbildung
4Vgl. Harnack, Klaus: Scham und Verantwortung statt Schuld. In Die Mediation IV/2018,
S. 28 ff.
238 B. Lang
5Vgl. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1981,
S. 25 ff.
6Vgl. Besemer, Christoph: Mediation. Die Kunst der Vermittlung in Konflikten. Karlsruhe:
in der interkulturellen Arbeit. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2005, S. 13.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 239
9Vgl. Heyer, Robert: Peer-Education – Ziele, Möglichkeiten und Grenzen. In Harring, Marius/
Böhm-Kasper, Oliver/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian (Hrsg.): Freundschaften, Cliquen und
Jugendkulturen – Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2010, S. 407 ff.
10Vgl. Bandura, Albert: Lernen am Modell – Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie.
Informationen. Dadurch gewinnen sie im Rahmen einer Mediation eher das Ver-
trauen der Konfliktparteien und ihre Rolle als unparteiischer Dritter wird schneller
akzeptiert als wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Vollzugs diese Auf-
gabe alleine übernehmen würden.
Die Methode der PeerMediation setzt außerdem auf einen doppelten Lern-
effekt, d. h. nicht nur die Konfliktparteien erleben eine alternative Möglichkeit,
Konflikte eigenständig zu regeln, auch die PeerMediatoren selbst können etwas
über die Entstehung von Konflikten lernen. Indem sie in die Rolle des Vermittlers
schlüpfen, erhalten die PeerMediatoren nämlich die Gelegenheit, Konflikte, die sie
selbst auch schon erlebt haben oder erleben, distanziert zu betrachten und darüber
auch ihr eigenes Konfliktverhalten zu reflektieren. Eine zentrale Rolle spielt hier
das Auswertungsgespräch, das die Trainer*innen nach jeder Mediation mit den
beiden PeerMediatoren führen. Ein/e Mediator*in aus dem Team der Jugendstraf-
anstalt ist während der Mediation anwesend.
Diese partizipativen Arbeitsformen ergänzen einseitig emotional oder kognitiv
orientierte Präventionsstrategien um eine soziale Ebene und sorgen für eine
größere Identifikation mit den Zielen der friedlichen Konfliktlösung.
Übergreifendes Ziel ist es, die PeerMediation als regelhaftes Instrument der
konstruktiven Konfliktschlichtung im Alltag eines Gefängnisses strukturell
zu verankern. Damit kommt das Projekt PeerMediation hinter Gittern dem im
Jugendstrafvollzugsgesetz formulierten Auftrag nach, Verstöße der Gefangenen
gegen Pflichten, die ihnen durch oder auf Grund dieses Gesetzes auferlegt sind,
erzieherisch aufzuarbeiten.
Die Verankerung in den Vollzugsalltag findet auf verschiedenen Ebenen statt.
Die zentralen Säulen sind
Die Ausbildung findet einmal pro Woche für eineinhalb Stunden in den Räumen
der Schule, in den Werkstätten oder den Wohnbereichen der Jugendstrafanstalt
statt. Eine Ausbildungsgruppe besteht aus maximal 10 Teilnehmer und wird
stets von zwei Trainer*innen geleitet. Gelegentlich unterstützen bereits aus-
gebildete PeerMediatoren die Trainer*innen als Co-Trainer. Insgesamt umfasst
die Trainingsmaßnahme 40 h und orientiert sich damit im Umfang an der Aus-
bildung von Konfliktlots*innen oder Streitschlichter*innen an Berliner Schulen.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 241
Die Teilnahme an der Mediationsausbildung setzt voraus, dass die Inhaftierten die
deutsche Sprache verstehen und sich verständlich ausdrücken können. Inhaftierte,
die ihre eigenen Konflikte vorzugsweise gewalttätig lösen oder andere Inhaftierte
unterdrücken, können nur unter bestimmten Bedingungen an der Mediations-
ausbildung teilnehmen. Sie sind in jedem Fall zunächst von der Tätigkeit als
PeerMediator ausgeschlossen. Die Mediationsausbildung versteht sich für diese
Inhaftierte dann ausschließlich als eine Möglichkeit, sich intensiv mit ihrem
eigenen Konfliktverhalten auseinanderzusetzen.
Am Ende der Ausbildung absolvieren die Jugendlichen eine schriftliche und
eine praktische Prüfung. Die schriftliche Prüfung umfasst einen Katalog von
etwa 15 Fragen rund um die Mediation. Die mündliche Prüfung wird zu zweit
abgelegt und ist im Grunde genommen eine klassische Mediation, in der die
beiden Trainer*innen die Konfliktparteien spielen. Bewertet wird dabei nicht, ob
die angehenden PeerMediatoren eine Lösung im vorliegenden Konflikt erzielen,
sondern ob sie die einzelnen Phasen der Mediation sicher beherrschen und
im Team arbeiten können. Mediation im Team setzt voraus, dass man sich auf-
einander verlassen kann, etwa gleiche Sprechanteile hat und sich gegenseitig
ergänzt. Beide Teile der Prüfung sollen sicherstellen, dass die wichtigsten Grund-
lagen der Mediation verinnerlicht wurden. Anschließend erhalten die Teilnehmer
eine Bescheinigung, können ein Mediations-T-Shirt mit ihrem Namen erwerben
und werden regelmäßig als PeerMediatoren hinter Gittern eingesetzt. Voraus-
setzungen für eine Tätigkeit als PeerMediator sind einerseits das Interesse der
Inhaftierten, d. h. die freiwillige und motivierte Mitarbeit im Projekt und anderer-
seits ein vorbildlicher Vollzugsverlauf. Meldungspflichtige Vorfälle wie z. B.
Unterdrückung anderer Mitinhaftierter, körperliche Auseinandersetzung oder gar
eine laufende Strafanzeige schließen den Einsatz als PeerMediator aus.
Regelmäßig bietet das Mediationsteam der Jugendstrafanstalt auch Fort-
bildungen für bereits ausgebildete PeerMediatoren an. Sie beschäftigen sich aus-
führlicher mit bestimmten Methoden der Mediation, typischen Schwierigkeiten,
die bei den PeerMediationen auftauchen und Themen der Konfliktentstehung und
-bearbeitung.
Die Inhalte werden sowohl von den Trainer*innen als auch von den PeerMediatoren
selbst angeregt und ausgewählt. Die jungen Männer nehmen freiwillig an diesen Fort-
bildungen teil. Sie fühlen sich ernst genommen und wertgeschätzt.
Neben einem fachlichen Input dienen diese Treffen auch dem Austausch der
PeerMediatoren untereinander und der Bildung von Co-Mediatoren-Teams. Die
PeerMediationen werden stets von zwei Inhaftierten durchgeführt. Diese beiden
sollten sich gut verstehen, sich vertrauen und sich in ihren Fähigkeiten ergänzen.
Seit 2008 werden geeignete Konflikte in der Jugendstrafanstalt Berlin
punktuell und in den folgenden Jahren immer flächendeckender im Rahmen von
PeerMediationen einer konstruktiven Lösung zugeführt. Mittlerweile finden jähr-
lich über 50 Mediationen statt. Eine PeerMediation wird von zwei ausgebildeten,
inhaftierten PeerMediatoren und einer/m professionellen Mediator*in durch-
geführt, der/die die Mediation beobachtet, im Extremfall den Missbrauch des Ver-
fahrens verhindert und die PeerMediatoren auf Wunsch unterstützt. Am Ende der
242 B. Lang
„Die Insassen wissen genau: Was gesprochen wird, bleibt im Raum. Ich weiß, dass sie
mich als Mediator ernst nehmen. Ich sehe das in ihren Augen – muss nicht bei jedem so
sein, aber bei den meisten.“11
11Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation hinter Gittern - Evaluation eines Projektes, Berlin 2015,
S. 15.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 243
den Prozess der Lösungsfindung reflektiert. Dabei lernen die PeerMediatoren viel
über die Entstehung von Konflikten und die Vogelperspektive ermöglicht ihnen,
auch das eigene Konfliktverhalten aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten.
Um den Gedanken der PeerMediation nachhaltig im Verhaltensrepertoire der
Inhaftierten zu verankern, ist es zentral, dass alle Schlüsselakteure im Strafvollzug
daran mitwirken, dass eine konstruktive Konfliktkultur entsteht und ein bewusster
Umgang mit Konflikten im Vollzugsalltag zu einer Selbstverständlichkeit wird.
Um diesem Ziel näher zu kommen, ist es wichtig, dass neben der Aus- und Fort-
bildung von PeerMediatoren und der Durchführung von PeerMediationen auch
auf der kulturellen, strukturellen und praktischen Ebene Aktivitäten innerhalb der
Justizvollzugsanstalt initiiert werden.
Auf Ebene der Organisationskultur ist das klare und deutliche Votum der
Anstaltsleitung, die konstruktive Konfliktlösung als Leitbild in der Strafanstalt zu
implementieren und deren breite Etablierung zu fördern, eine Grundvoraussetzung
für eine erfolgreiche Umsetzung eines PeerMediation-Projektes.
Auf dieser Ebene kommt der internen und öffentlichen Darstellung des Themas
eine große Bedeutung zu. In Form von Infoflyern, Internet- und Intranetauftritten
oder im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
kann die PeerMediation immer wieder ins Bewusstsein aller Schlüsselakteure
gerückt werden.
Ergänzend müssen auf struktureller Ebene die grundlegenden Entscheidungen
und Weichenstellungen für die Umsetzung der PeerMediation im Vollzugsalltag
getroffen werden, um nicht an banalen Hindernissen zu scheitern. Hier gilt es die
organisatorischen, personellen und räumlichen Gegebenheiten zu schaffen.
Auf organisatorischer Ebene empfiehlt sich z. B. die fortlaufende Formulierung
von Zielvereinbarungen zur PeerMediation hinter Gittern. Die Ziele werden auf
Steuerungsebene festgelegt, regelmäßig überprüft, die Schwierigkeiten beim
Transfer in die Praxis diskutiert und gegebenenfalls alternative Ziele festgelegt
oder vorhandene Ziele neu definiert.
Um die entscheidenden Akteure mit in den Umsetzungsprozess einzubeziehen
gibt es in der Jugendstrafanstalt Berlin seit Herbst 2012 eine interdisziplinäre
Arbeitsgruppe PeerMediation. Die interessierten Kolleginnen und Kollegen treffen
sich einmal im Monat, um das Thema „konstruktive Konfliktbearbeitung“ durch
die kritische Alltagsbrille zu betrachten und Ideen zur adäquaten Etablierung im
Vollzugsalltag zu entwickeln. Die Tatsache, dass alle Berufsgruppen, also Sozial-
dienst, pädagogischer und psychologischer Dienst, Werkdienst und Vollzugsdienst
an einem Tisch sitzen und an einem Strang ziehen, hat grundlegend dazu bei-
getragen, einen Kulturwandel im Umgang mit Konflikten herbeizuführen und den
Bekanntheitsgrad der PeerMediation innerhalb der Gefängnismauern zu steigern.
Außerdem wird der Blick auf die Stärken, aber auch die Grenzen dieser Methode
der Konfliktlösung geschärft. Zielsetzung dieser Arbeitsgruppe ist es, in jedem
Unterbringungs- und Arbeitsbereich ein bis zwei Kollegen oder Kolleginnen
als Mitglieder zu gewinnen, die dann als Ansprechpartner*innen und Multi-
plikator*innen fungieren können. Zusätzlich werden diese Mitarbeiterinnen und
244 B. Lang
Mitarbeiter intern fortgebildet und für die Teilnahme an der Arbeitsgruppe frei-
gestellt.
Ein erster struktureller Erfolg dieser Arbeitsgruppe ist eine Dienstanweisung,
die PeerMediation als Methode beschreibt und die Einsatzfelder sowie die
Vorgehensweise für alle Mitarbeiter*innen der Jugendstrafanstalt regelt. Seit
Dezember 2013 verfügt die PeerMediation in der JSA Berlin auch über einen
eigenen Raum, in dem alle Mediationen und die Treffen der Arbeitsgruppe statt-
finden können. Diese räumliche Verankerung ist deshalb so wichtig, weil die
Mediation damit allgegenwärtig ist und die Mediationen auf neutralem Boden
stattfinden können.
In einem weiteren Schritt gilt es auf der praktischen Ebene, den Kultur-
wandel und die strukturellen Änderungen in alltägliche Routinen einzubinden.
Eine Möglichkeit besteht darin, die Mediation auf die Tagesordnung z. B. von
Konferenzen in den Unterbringungsbereichen und bei der Aufarbeitung von
disziplinarischen Auffälligkeiten zu setzen, so dass sie immer präsent ist und
als eine Möglichkeit der Konfliktlösung mitgedacht wird. Auch im Rahmen von
Insassenversammlungen kann die PeerMediation als ein Punkt stets angesprochen
werden.
Außerdem wurde in der JSA Berlin ein Formular entwickelt und ins Intranet
gestellt, mit dem jede Kollegin und jeder Kollege eine PeerMediation einfach und
schnell anregen bzw. beantragen kann.
Eine aktualisierte Liste der ausgebildeten PeerMediatoren ist ebenfalls für alle
Mitarbeiter*innen online und ausgedruckt verfügbar, so dass diese Inhaftierten
unkompliziert und direkt angesprochen werden können.
Wie bereits erwähnt können sich die ausgebildeten PeerMediatoren zusätz-
lich zu ihrer einheitlichen Arbeits- und Freizeitkleidung ein T-Shirt mit dem –
von einem Mitinhaftierten entworfenen – Mediationslogo kaufen. Dieses T-Shirt
dient zur internen Öffentlichkeitsarbeit und kennzeichnet die PeerMediatoren als
Ansprechpartner für andere Inhaftierte und die Mitarbeiter*innen der Jugend-
strafanstalt. Die T-Shirts werden sehr gerne von den Inhaftierten getragen, weil
sie einerseits von der Einheitskleidung abweichen und andererseits eine Wert-
schätzung ihrer Arbeit als Mediatoren sind.
7 Herausforderungen
Zu Beginn des Projektes PeerMediation hinter Gittern reichte die Haltung sowohl
auf Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch bei den Inhaftierten von
Unwissenheit über Skepsis bis hin zur Ablehnung. So wurde z. B. angezweifelt,
dass die Konfliktparteien im Rahmen einer PeerMediation ihr wahres Gesicht
zeigen und ihr Verhalten tatsächlich ändern würden.
Die Inhaftierten interpretierten es anfangs als ein Zeichen von Schwäche, selbst
an einer PeerMediation teilzunehmen. Für sie schien es „unmännlich“ zu sein, ihre
Probleme nicht selbst lösen zu können und die Hilfe anderer anzunehmen.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 245
Schon in den letzten Jahren ist es uns vereinzelt gelungen, Kooperationen mit
Schulen oder Trägern der Jugendarbeit zu initiieren und damit den ausgebildeten
PeerMediatoren – sofern sie vollzugsgelockert waren – eine Möglichkeit zu
geben, ihre erlernten Fähigkeiten und erworbenen Kompetenzen im Rahmen von
Mediationsausbildungen, Sozialen Kompetenztrainings oder Anti-Gewalttrainings
einzubringen.
12Vgl. Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation hinter Gittern - Evaluation eines Projektes, Berlin
2015.
246 B. Lang
13Vgl.Tiedemann, Markus: Ethikunterricht für alle – das Gebot der Stunde. In: Tiedemann,
Markus (Hrsg.): Schule, Migration und ethische Bildung. Stuttgart: Kohlhammer 2018.
PeerMediation hinter Gittern. Ein Projekt zur Gewaltprävention ... 247
Literatur
Bandura, Albert: Lernen am Modell – Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart:
Klett 1976.
Besemer, Christoph: Mediation. Die Kunst der Vermittlung in Konflikten. Karlsruhe: WfGA-
Buchversand 2010.
Fisher, Roger/Ury, William: Getting to yes. Negotiating an agreement without giving in. London:
Random House Business 2012.
Glasl, Friedrich: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und
Berater. Bern: Freies Geistesleben 2009.
Harnack, Klaus: Scham und Verantwortung statt Schuld. In Die Mediation IV/2018, S. 28ff.
Haumersen, Petra/Liebe, Frank: Wenn Multikulti schief läuft? – Trainingshandbuch Mediation in
der interkulturellen Arbeit. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2005.
Heyer, Robert: Peer-Education – Ziele, Möglichkeiten und Grenzen. In Harring, Marius/Böhm-
Kasper, Oliver/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian (Hrsg.): Freundschaften, Cliquen und
Jugendkulturen – Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2010, S. 407–421.
Jugendstrafvollzugsgesetz Berlin 2016.
Karliczek, Kari-Maria: Peer-Mediation hinter Gittern – Evaluation eines Projektes. Berlin 2015.
Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1981.
Tiedemann, Markus: Schule, Migration und ethische Bildung. Stuttgart: Kohlhammer 2018.
Hospiz ist kein Ort, sondern eine
Haltung
Angela Hörschelmann
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Sterben · Tod · Trauer · Schule · Kindergarten · Hospiz
A. Hörschelmann (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: a.hoerschelmann@dhpv.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 249
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_13
250 A. Hörschelmann
1 Die Hospizidee
Der Tod eines Kindes oder Jugendlichen stellt für alle im System Kinder-
garten oder Schule Tätigen, aber auch für die anderen Lebens- und Sozialräume
von Kindern und Jugendlichen, eine große Herausforderung dar, so zum Beispiel
für Vereine, Jugendtreffs, organisierte Jugendarbeit und Jugendhilfeeinrichtungen.
Von besonderer Wichtigkeit ist, dass mit dieser Situation angemessen umgegangen
wird und die Erwachsenen handlungsfähig sind. Ein Ansatz der Hospizbewegung
ist es daher, auch Erziehende, Lehrende und Eltern zu ermutigen und zu stärken,
zusammen mit den Kindern und Jugendlichen dem Lebensthema Tod zu
begegnen. Dabei brauchen sie Handlungskompetenzen und -strategien; denn ana-
log einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Haltung zu Tod und Trauer spiegeln
auch Kindertagesstätten und Schulen bis heute noch zu oft Tabuisierung und Ver-
meidungstendenzen wider.
Vor diesem Hintergrund zeigt das Projekt „Hospizlernen“ des Deutschen Hospiz-
und PalliativVerbands e. V. (DHPV1) Wege auf, wie Erwachsene – insbesondere
Eltern, Lehrkräfte und Erzieher*innen – ermutigt und in ihren Kompetenzen gestärkt
werden können, um sich gemeinsam mit den ihnen anvertrauten Kindern und
Jugendlichen mit den Lebensthemen Sterben, Tod und Trauer auseinanderzusetzen.
Zu „Hospizlernen“ gehören vier beispielgebende, bundesweite Projekte für
Kindertagesstätten, Grundschulen und weiterführende Schulen sowie für die
Fortbildung von Pädagoginnen und Pädagogen, die in den vergangenen Jahren
entwickelt und implementiert wurden und im Sinne eines präventiven Ansatzes
systematisch Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen vermitteln – in enger
Kooperation mit der Hospizbewegung. Diese eröffnet dazu vielfältige Impulse
und bietet sich als außerschulischer Kooperationspartnerin an, um theoretisches
Wissen und praktische Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.
Die vier Projekte, die sämtlich implementiert und evaluiert sind, adressieren
unterschiedliche Altersgruppen. Sie alle zeichnen sich durch hohe Qualität und
systematische Vorbereitung bzw. Schulung aus und sollen in Form konkreter
Praxisbeispiele Wege aufzeigen und Interessierten Mut machen, in der Aus-
einandersetzung mit den Lebensthemen Krankheit, Sterben, Tod und Trauer in
ihren Schulen und Bildungseinrichtungen und gemeinsam mit den ihnen anver-
trauten Kindern und Jugendlichen initiativ zu werden. Das kann in der Schule
selber stattfinden, aber auch – wie im Folgenden noch ausgeführt wird – an
anderen Erfahrungsorten von Kindern und Jugendlichen. Der Lernort ist dabei
die Hospizidee selber. Denn – um es mit den Worten Cicely Saunders, der
Begründerin der modernen Hospizbewegung, zu sagen: „Hospiz ist kein Ort, an
dem wir uns einrichten, sondern eine Haltung, mit der wir uns begegnen."
1
Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband e. V. ist seit 1992 die bundesweite Interessen-
vertretung der Hospizbewegung sowie zahlreicher Hospiz- und Palliativeinrichtungen in
Deutschland. Als Dachverband der Landesverbände in den 16 Bundesländern sowie weiterer
überregionaler Organisationen der Hospiz- und Palliativarbeit und als selbstverständlicher
Partner im Gesundheitswesen und in der Politik steht er für über 1.250 Hospiz- und Palliativ-
dienste und -einrichtungen, in denen sich mehr als 120.000 Menschen ehrenamtlich, bürger-
schaftlich und hauptamtlich engagieren.
252 A. Hörschelmann
Unter dem Dach „Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit“ (GmS) entwickeln die
Malteser seit 2011 deutschlandweit eine Vielfalt von Formaten im Zusammenspiel
zwischen örtlichen Hospizdiensten und Partnerinstitutionen aus den Sozialräumen
von Kindern und Jugendlichen. Die Projektidee möchte Kindern und Jugendlichen
geschützte Räume für Denkweisen, Gefühle, Ausdrucks- und Umgangsformen mit
Sterben, Tod und Trauer eröffnen. Die einzelnen Hospizprojekte, die seither ent-
standen sind, wollen Mut machen, Kindern und Jugendlichen in einer unsicheren
Zeit der Krankheit, des Abschieds und Verlustes ein kleines bisschen Sicherheit
geben und nicht zuletzt das Sterben und den Tod wieder zurück ins Leben holen.
In unserem Alltag werden Sterben, Tod und Trauer nach wie vor tabuisiert und
weitgehend ausgeklammert. Doch gerade Kinder und Jugendliche werden in den
Medien, von den Nachrichtensendungen über Krimis bis hin zu Computerspielen,
regelmäßig mit Sterben, Tod und Verlust konfrontiert. Beides erschwert Kindern
und Jugendlichen einen natürlichen Umgang mit dem Thema zunehmend und ver-
unsichert, dem eigenen Empfinden zu trauen. Das Projekt will dem Sterben und
dem Tod die Anonymität, die Fremdheit und einen Teil des Schreckens nehmen.
Es gibt jungen Menschen Antworten auf ihre („Wissens“-) Fragen und hilft ihnen,
Gefühle auszudrücken und auszuhalten. Und es gibt ihnen Rituale an die Hand
und hilft Symbole zu finden, die ihnen die Sicherheit geben, sich an diese Themen
zu wagen.
Sterben und Tod gehören zum Leben wie das Atmen und trotzdem ist der
Umgang mit ihnen alles andere als selbstverständlich. Sie belasten uns, verändern
den Alltag, stellen das eigene Leben in Frage. So wie Trauer eine natürliche
und gesunde Reaktion auf den Verlust eines Menschen ist, gehören Sterben und
die Erfahrung des Todes zum Leben. Dies bedarf einer Sorgekultur, die letztlich
in der Gesellschaft selbst verankert ist. Verkörpert wird diese Sorgekultur durch
die ehrenamtlich in der Hospizarbeit engagierten Menschen. Indem das Projekt
Kinder und Jugendliche mit dem Gedanken der Sorgekultur über ihr eigenes
Erleben und die Teilhabe am Erfahrungsschatz der Ehrenamtlichen vertraut
macht, knüpft die hospizliche Bewegung zum einen an ihre eigenen Wurzeln an
und erfährt über die interessierte Anteilnahme der Kinder und Jugendlichen zum
anderen eine neue Form von Lebendigkeit.
„Ich hätte ihn so gerne noch einmal gesehen…“ Mädchen, 15 Jahre.
Zum Teil aus der beschriebenen Hilflosigkeit im Umgang mit Verlust und
Trauer heraus, aber auch, weil Lehrende selber wissen, wie wichtig die Aus-
einandersetzung mit diesen Lebensthemen ist, werden immer wieder Hospiz-
dienste in Schulen eingeladen oder von Erzieherinnen und Erziehern aus dem
Kindergarten um Beratung angefragt. Hierauf haben die Malteser reagiert und
in den letzten Jahren eine Vielzahl von Projekten entwickelt, die sich speziell an
Kinder und Jugendliche wenden und deren Umfeld mit einbeziehen. Dazu sind
folgende drei Aspekte wichtig:
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 253
Programm, das den jungen Teilnehmenden präsentiert wird. Jedes Angebot ist
anders. Es folgt seiner eigenen Dynamik und passt sich genau denen an, für die
es gedacht ist und von denen es gemacht wird. Es gibt erprobte Konzepte, die in
pädagogische Einheiten aufgeteilt und aufbereitet sind. Das heißt aber noch lange
nicht, dass diese Einheiten auch zum Einsatz kommen müssen.
Schon in der Vorbereitung werden bei Lehrenden und Eltern Besonder-
heiten abgefragt, der Rahmen abgesteckt und Schwerpunkte festgelegt. Vielleicht
gibt es bei einem der Kinder oder Jugendlichen gerade einen Sterbefall in der
Familie, eine ist schwer erkrankt oder eine Lehrer*innen oder eine Erzieher*in ist
gestorben. Gemeinsam mit den Bezugspersonen, den Lehrenden und Betreuenden
können die erfahrenen durchführenden Hospizmitarbeitenden auch mit Unvor-
hergesehenem angemessen umgehen und kurzfristig reagieren. Die Teams, die
in den Kindergärten, Schulen oder Gruppen tätig werden, bestehen auch des-
halb meistens aus mehreren Mitarbeitenden (mindestens zwei), die das Projekt
gemeinsam durchführen. Es hat sich bewährt, dass die Gruppen der Kinder und
Jugendlichen nicht zu groß sein dürfen, um eine vertrauensvolle und sichere
Atmosphäre zu schaffen.
„Hospizprojekte mit Kindern und Jugendlichen – Gib mir’n kleines bisschen
Sicherheit“ kann man in unterschiedlichen Formaten kennenlernen: | an einem
pädagogischen Tag | in Projekttagen (Projektwoche) | in Wochenendworkshops,
gemeinsam mit Lehrer*innen und Eltern „Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit“
kann man erfahren: | in Ergänzung zu Unterrichtsfächern wie Religion, Ethik
oder Philosophie u. a. | durch den Besuch unserer Hospizmitarbeitenden, mit
authentischen Erfahrungsberichten | Oder: in ganz individuell zusammengestellten
Programmen und Konzepten.
ist eine Vielzahl methodischer Bausteine gewachsen, aus der in der Konzeption
eines Projektes geschöpft werden kann. In 2-tägigen Fortbildungsveranstaltungen
für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wird dieses Wissen von Best Practice
an neue Kolleginnen und Kollegen weitergegeben.
Mittlerweile ist diese Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein fester Baustein
des Angebotes der Hospizdienste und -einrichtungen der Malteser. In kleinen
Teams aus allen Feldern der Hospiz- und Trauerbegleitung finden sich vor Ort
Ehrenamtliche und Hauptamtliche, die mit Freude, Humor und Engagement in den
gemeinsamen Lernprozess mit Kindern und Jugendlichen gehen.2
Das Projekt „Hospiz macht Schule“ wurde 2005 von der Hospizbewegung Düren-
Jülich e. V. im Rahmen des Bundesmodellprogramms „Generationsübergreifende
Freiwilligendienste“ mit dem DHPV initiiert und drei Jahre vom Bundesfamilien-
ministerium (BMFSFJ) finanziert. Auch hier fokussieren die Projektziele darauf,
Kinder in der Auseinandersetzung der Themen Sterben, Trauer und Tod zu
begleiten. Dabei sollen sie spielerisch eigene Erfahrungen umsetzen, verbalisieren
und mit qualifizierten Ehrenamtlichen sowie den Klassenlehrer*innen
thematisieren können. Die Einbeziehung des Lernortes Grundschule sowie der
Eltern ist hilfreich für die Vision, eine Veränderung der Gesellschaft herbeizu-
führen, die in Anerkennung und Begleitung der Endlichkeit mündet.
„Hospiz macht Schule“ richtet sich an Grundschulkinder der 3. oder 4. Klassen.
Die Umsetzung des Projektes erfolgt an fünf Projekttagen, die sich mit Werden
und Vergehen, Krankheit und Leid, Sterben und Tod, vom Traurig-Sein, sowie
Trost und trösten auseinandersetzen. Fünf qualifizierte Ehrenamtliche sowie
die Klassenleitung nutzen die Methoden der Kleingruppe, kreatives Gestalten,
Musizieren, dialogisches Miteinander, Stillarbeit und Bewegung.
Durch einen vorangehenden Elternabend werden familiäre Strukturen
berücksichtigt und in die Ausgestaltung der Projektwoche einbezogen. Die bis-
herigen Erfahrungen zeigen, wie natürlich Kinder den Umgang mit den oben
beschriebenen Themen wahrnehmen und innerhalb der Projektwoche im häus-
lichen Umfeld thematisieren. So können mutmachende Gespräche entstehen, die
zu einer emotionalen Stärkung führen und somit die Heranwachsenden auf ihrem
Lebensweg mitnehmen und befähigen.
Dies veranschaulicht das Zitat von Bela Bernards, heute ein junger
Erwachsener, der als Neunjähriger an der Projektwoche teilgenommen hat:
für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und Jugend-
lichen. Anregungen für die Praxis. Ludwigsburg: Hospizverlag 2014.
256 A. Hörschelmann
„Für jeden Menschen ist es schwer den Tod gedanklich zu erfassen, geschweige denn
ihn zu begreifen. Besonders für einen kindlichen Verstand. Ich würde nicht sagen, dass
ich verstanden habe, was der Tod ist, das kann man nicht. Aber dieses Projekt hat mir
geholfen zu verstehen, dass nichts ewig ist, dass die Trauer und das Trost spendende
Gefühl des Loslassens Teil eines natürlichen Prozesses sind.“
3 Graf, Gerda (Hrsg.): Hospiz macht Schule. Ein Kurs-Curriculum zur Vorbereitung Ehrenamt-
licher im Umgang mit Tod und Trauer für Grundschulen. Esslingen: Hospizverlag 2010.
4 Vgl. Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn. Ruth Cohn Institute for TCI international:
Die vielen Berichte über „Hospiz macht Schule“, die sich in den Medien finden,
zeigen, wie gut es in der Umsetzung vor Ort gelingt, das Projekt immer wieder
aufs Neue mit Leben zu füllen.6
Das Konzept für den Projektunterricht „Endlich. – Umgang mit Sterben, Tod
und Trauer“ wurde im Sommer 2009 im Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik
Köln entwickelt. Das vom DHPV, vom Bundesministerium für Familie. Senioren,
6
Südkurier: Herdwangen-Schönach: Hospiz macht Schule: Grundschüler lernen Tod als Teil
des Lebens zu sehen. https://bit.ly/HmS_Ramsberggrundschule (08.06.2020); Wuppertaler
Rundschau: Hospiz macht Schule: Ist der Himmel voller Döner? https://bit.ly/HmS_Wupper-
tal (08.06.2020); Sauerlandkurier: „Trauer hat viele Farben“/„Hospiz macht Schule“: Sauer-
länder Grundschüler gehen unbefangen mit dem Thema Tod um https://bit.ly/HmS_Wehrstapel
(08.06.2020).
258 A. Hörschelmann
Frauen und Jugend (BMFSFJ) und vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und
Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) unterstützte Projekt
wurde in allen Schulformen durchgeführt und mit Expertinnen und Experten aus
Bund, Ländern und Gemeinden diskutiert, evaluiert und ständig weiterentwickelt.
Durch den entwickelten Projektunterricht für die Schulen erhalten Jugendliche
in einem geschützten Raum die Möglichkeit, unter ihresgleichen und mit Hilfe
unterschiedlichster Methoden, individuelle Handlungsstrategien bezogen auf die
Themen „Sterben, Tod und Trauer sowie Suizid“ zu erarbeiten. Die Flexibilität des
Projektunterrichts ermöglicht eine Durchführung in der Schule an mehreren Tagen
oder in einzelnen Modulen.
Anhand von Vorträgen, praxisnahen Berichten, Diskussionen, Selbsterfahrungs-
übungen, Kreativarbeit, Rollenspielen und Filmbesprechungen werden die jungen
Menschen darin bestärkt, ihren eigenen Schwierigkeiten und Bedürfnissen mit
guter Selbstfürsorge zu begegnen und sich gleichzeitig ohne Angst auf den
Umgang mit Betroffenen einzulassen. Sie lernen die professionellen und ehren-
amtlichen Hilfsangebote für schwerkranke Menschen kennen und können als
wesentlicher Multiplikator in unserer Gesellschaft helfen, Palliativmedizin und
Hospizarbeit weiter bekannt und somit einer breiten Bevölkerungsschicht zugäng-
lich zu machen.
Immer häufiger entwickeln sich daraus Schulpraktika und/oder ehrenamtliches
Engagement der jungen Menschen in palliativen und hospizlichen Einrichtungen.
Schüler*innenzitate
„Nichts hat bisher unsere Klassengemeinschaft so zusammengeschweißt,
wie dieses Seminar.“, „Zeit, um über vieles nachzudenken.“, „Hilft mir bei
meiner Oma, die krank ist.“, „Man schöpft persönlich viel Kraft daraus.“
und „Ich habe jetzt keine Angst mehr vor dem Tod.“ motivieren, dieses
Projekt weiter voranzutreiben.
Aufgrund der positiven Erfahrungen sind bereits einige Schulen dazu über-
gegangen, den Projektunterricht dauerhaft zu implementieren.
In bundesweit stattfindenden, zweitägigen Seminaren für die Multi-
plikator*innen erhalten Pädagog*innen aller Schulformen sowie Mitarbeitende
aus psychosozialen Teams, wie z. B. aus den Bereichen Schulsozialarbeit, Schul-
psychologie, Seelsorge sowie Mitarbeitende aus dem Hospiz- und Palliativ-
bereich eine Qualifizierung. Ziel ist es, den Projektunterricht gemeinsam an den
Schulen durchzuführen, ihre reichhaltigen Erfahrungen einzubringen und sich
gegenseitig zu vernetzen. Die Teilnehmenden werden am Ende der Schulung
und mit Hilfe der Curricula im begleitenden Handbuch „Palliativ und Schule.
Sterben, Tod und Trauer im Unterricht mit jugendlichen Schüler*innen“ in der
Lage sein, gemeinsam einen abwechslungsreichen und kreativen Projekttag an
weiterführenden Schulen durchzuführen. Durch die Zusatzmodule: „Kriseninter-
vention“, „Suizid“ und „Umgang mit trauernden Schüler*innen“ erhalten die
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 259
Die Seminare finden zum einen schulintern in enger Absprache mit der jeweiligen
Schule statt und ermöglichen so entweder einen Anstoß zur Entwicklung einer
Trauerkultur oder die Weiterentwicklung bestehender Strukturen und damit
Nachhaltigkeit und Lebendigkeit der Trauerkultur. Möglich ist hier ein weiter
Adressatenkreis. Je nach Vereinbarung mit der einzelnen Schule können neben den
Lehrenden alle Mitarbeitenden und auch Eltern an der Fortbildung teilnehmen.
260 A. Hörschelmann
Krankheit, Sterben, Tod und Trauer gehören zum Leben. Und sie gehören mitten
ins Leben. Die vorgestellten Projekte und Ansätze haben es sich zum Ziel
gesetzt, diese hospizliche Prämisse vor allem für Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene sowie für die involvierten Pädagog*innen greifbar und praktisch
umsetzbar zu machen. Anders als noch zu Beginn der Hospizarbeit in den 1980er
Jahren gibt es mittlerweile flächendeckend Hospiz- und Palliativdienste und
stationäre Hospize, die für entsprechende Anfragen von Kindergärten, Schulen,
Berufsschulen und den dort tätigen Lehrenden offen sind.
Wie die vorgestellten Projekte unter dem Dach der DHPV-Initiative „Hospiz-
lernen“ zeigen, erreichen diese die Schüler*innen nicht nur in der Schule, sondern
auch in anderen Lebensbereichen wie Jugend-, Firm- und Konfirmandengruppen
u. a.m. Außerschulische, hospizliche Lernorte im engeren Sinne sind dabei
stationäre Hospize, in denen schwerstkranke und sterbende Menschen in ihrer
letzten Lebensphase begleitet und betreut werden. Auch diese Einrichtungen sind
für direkte Anfragen aus Schulen etc. offen und entwickeln mit viel Phantasie
immer neue Wege, um Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen mit den
Lebensthemen Krankheit, Sterben, Tod und Trauer vertraut zu machen.
Die Kinder lernten, dass im Hospiz schwer kranke Menschen unterkommen, die
wissen, dass sie in absehbarer Zeit sterben müssen und dass diese nicht Patienten,
sondern Gäste genannt werden. Sie lernten außerdem aus erster Hand, dass ein
stationäres Hospiz kein trauriger Ort ist, sondern es dort bis zuletzt darum geht,
das Leben zu gestalten. Sie erfuhren, dass Musik und Kunst helfen können, mit den
Gefühlen im Angesicht des eigenen Todes umzugehen und wie wichtig Zuwendung
ist. Auch die Bedeutung von Essen am Lebensende wurde erklärt, etwa wenn sich
die Gäste, die noch aufstehen können, in der Küche am großen runden Esstisch ver-
sammeln und gemeinsam mit Angehörigen und Mitarbeitenden essen.
Die Kinder wurden im Rahmen des Türöffner-Tags auch mit Trauer- und
Erinnerungsritualen bekannt gemacht, etwa dass in der Gedenk-Ecke immer dann
eine Kerze angezündet wird, wenn ein Mensch im Hospiz verstorben ist. Auch vor
der Zimmertür der Verstorbenen brennt dann eine Laterne und jeder Name eines
Verstorbenen wird in ein Buch eingetragen, damit er nicht vergessen wird. Die Mit-
arbeitenden erklärten, dass die Verstorbenen nicht sofort abgeholt werden, weil sich
Angehörige und Freunde oft noch Zeit wünschen, um Abschied zu nehmen. Nach dem
Rundgang gestalteten die Kinder ein Erinnerungskästchen, in das sie Dinge hinein-
legen können, die sie an jemanden oder etwas erinnern, den oder das sie verloren
haben. Ein Mädchen wollte darin eine Kette verwahren, die ihr ihr Opa vor dem Tod
schenkte, ein anderes Mädchen Erinnerungen an eine Schulfreundin, die weit wegzog.
Wichtig war an diesem Tag auch das Sprechen über eigene Verluste – den Tod
der Großeltern oder anderer Angehöriger, aber auch Tiere, die starben. Die Kinder
hatten Gelegenheit, ihre Fragen zu stellen, was sie wissbegierig taten, etwa ob
auch Kinder ins Esslinger Hospiz kommen, ob Leuten auch verschwiegen wird,
dass sie sterben müssen und ob auch nachts jemand für die Gäste des Hospizes
da sei. Ja, natürlich, so die Antwort einer Mitarbeiterin, es sei ganz wichtig, dass
immer jemand da ist, denn manche Menschen hätten auch Angst.
Der Phantasie in der Umsetzung sind in der Praxis keine Grenzen gesetzt und wert-
volle Impulse kommen dabei nicht selten von den Kindern und Jugendlichen selber.
Das bestätigen – so das Ergebnis von drei aufeinander aufbauenden Symposien
zum Thema „Bildungs-Gut Hospiz“, die vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) gefördert und vom DHPV organisiert in
den Jahren 2016 bis 2018 stattfanden – auch Lehrende, die sich im Rahmen ihrer
Unterrichtsfächer den Lebensthemen Trauer, Tod, Sterben, Endlichkeit nähern.
Die Symposien dienten dem Erfahrungsaustausch zu den bereits bestehenden
und in diesem Artikel vorgestellten Schulprojekten für Kinder und Jugendliche
sowie zu Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten für Erziehende und Lehrende.
Hier diskutierten nicht nur Teilnehmende aus der hospizlichen Praxis, Philo-
soph*innen, Wissenschaftler*, Vertreter*innen aus der Politik, sondern auch
Pädagog*innen darüber, wie es am besten gelingen kann, die jeweiligen Kita- und
Schulprojekte in der Zusammenarbeit mit den Bildungseinrichtungen aufzubauen
und umzusetzen.
262 A. Hörschelmann
Auf Seiten der Hospizdienste interessierte hier vor allem die Frage, nach
welchen Mindestkriterien die jeweiligen Projekte durchgeführt werden sollten
und wie eine flächendeckende Qualifizierung und Schulung der ehrenamtlich in
den Hospizdiensten Engagierten erreicht werden kann. Aber auch auf Seiten
der Bildungseinrichtungen gibt es fördernde und hemmende Faktoren bei der
Umsetzung der bestehenden Projekte. Eine wichtige Forderung des DHPV im
Rahmen der Veranstaltung war es daher, Kindern und Jugendlichen im Rahmen
der schulischen Ausbildung den Umgang mit Verlust, Trauer, Tod und Sterben zu
ermöglichen und ihnen Wissen über die Möglichkeiten der hospizlichen Betreuung
und Begleitung am Lebensende zu vermitteln.
Zwar finden sich die Themen Sterben und Tod in den Ethik- bzw. Philosophie-
rahmenplänen aller Bundesländer für Schüler*innen ab der 7. Klasse wieder. Hier
werden aus individueller, gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Perspektive
Fragen gestellt wie: Was kommt für mich nach dem Tod? Möchte ich unsterblich
sein? Wie gehen verschiedene Gesellschaften, wie gehen Philosophie, Religionen
und Weltanschauungen mit der Frage nach Sterben, Tod und dem Danach um?
Wichtig ist dabei die prinzipiell ergebnisoffene und kontroverse philosophische
Reflexion. Die philosophische Tradition kennt zahlreiche Stimmen, die dem Tod
nichts Versöhnliches abgewinnen und denselben als existenzielles Übel betrachten.
Diese Stimmen müssen in die Auseinandersetzung einbezogen werden, auch wenn
pädagogische Fürsorge und Pietät dem entgegenstehen können. Es bedarf hier
eines methodisch-didaktischen Fingerspitzengefühls um diese Aspekte im rechten
Maß am rechten Ort in den Lernprozess zu integrieren. Hier birgt – ergänzend
oder als Gegenstimme – die Aufnahme einer explizit hospizlichen Perspektive
großes Potenzial. Zum einen durch das hospizliche Verständnis, dass das Sterben
selbstverständlicher Teil des Lebens ist und mitten in die Gesellschaft gehört.
Zum anderen durch die ganz praktischen Hinweise im persönlichen Umgang mit
Sterbenden, mit Verlust und eigener Trauer. Somit kann der Einbezug von hospiz-
lichen Projekten die Brücke bilden von der Philosophie in die Lebenswirklichkeit
der Schüler*innen.
Auf Landesebene gibt es hier zum Teil schon gute Initiativen in Zusammenarbeit
von Hospizverbänden und den verantwortlichen Ministerien. So hat zum Beispiel
der Bayerische Hospiz- und Palliativverband (BHPV) in Zusammenarbeit mit
dem Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und
Kunst eine Arbeitsgruppe zum Themenbereich Abschied, Sterben, Tod und Trauer
initiiert und eine Handreichung entwickelt.7 Diese gibt Denkanstöße, um sich in
der Schule präventiv auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Graden
der Intensität mit dem Thema Abschied, Tod und Sterben auseinanderzusetzen.
7
Bayrisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft/Kunst und Bayerischer
Hospiz- und Palliativverband: Hospiz und Schule. Abschied, Sterben, Tod und Trauer als Thema
für Schule und Unterricht. https://www.isb.bayern.de/download/16998/hospiz_und_schule_inter-
net.pdf (08.06. 2020).
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 263
Sie macht Vorschläge zur Implementierung des Themas in der Schule, äußert
sich zu Fragen der Zusammenarbeit mit Eltern, mit den Kriseninterventions-
teams, den Schulpsychologen und Beratungslehrkräften und enthält Anregungen
und Materialien zur Gestaltung von Unterrichteinheiten, Projekttagen und einer
Projektwoche. Vor der konkreten Umsetzung im Unterricht bietet die Hand-
reichung eine erste Orientierung. So wird gezeigt, welche Vorarbeiten zu leisten
sind, um die gesamte Schulfamilie bei diesem sensiblen Themenkomplex mitein-
zubinden und einen gemeinsamen Konsens im Umgang mit Abschied, Sterben,
Tod und Trauer zu entwickeln. Ein sich daran anschließender Überblick über die
vielfältigen Anknüpfungspunkte des Themas zu den Lehrplänen unterschied-
licher Schularten, Fächer und Jahrgangsstufen unterstützt die Lehrkräfte in ihrem
Bemühen, diese sensible Thematik auch fächerübergreifend und mit anderen
Kollegen im Unterricht zu bearbeiten. Ausgehend von den Anregungen dieser
Handreichung entscheiden die Lehrkräfte vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen
professionellen Erfahrungen und pädagogischen Praxis dann jeweils aufs Neue,
mit welchen methodisch-didaktischen Instrumenten und mit welchem Grad
an Vertiefung sie den Umgang mit Abschied und Sterben in ihrem Unterricht
thematisieren möchten. Das Spektrum reicht hier von einstündigen Unterrichts-
einheiten bis hin zu Projekttagen und wird in der vorliegenden Handreichung mit
einigen ausgewählten Beispielen illustriert.
Der BHPV organisiert regelmäßig Fachtagungen zum Thema „Hospiz und
Schule“, bei denen die Erfahrungen mit den unterschiedlichen Projekten aus-
getauscht, aktuelle Herausforderungen zum Umgang mit diesen Themen diskutiert
und neue Ideen zur Unterrichtsgestaltung entwickelt werden.
Für ältere Schüler*innen kommt auch ein Praktikum in einem stationären Hospiz
in Frage. Und nach der Schule bieten Hospize die Möglichkeit, das Freiwillige
Soziale Jahr (FSJ) zu absolvieren. Erfahrungsberichte sowohl über Schulpraktika
als auch über ein FSJ im stationären Hospiz findet man immer wieder in Blogs der
jungen Menschen selber. Aber auch in den Medien wird gerne darüber berichtet,
sicher auch, weil es nach wie vor als eher unüblich wahrgenommen wird, dass
junge Menschen sich „freiwillig“ mit den Themen Sterben, Tod und Trauer aus-
einandersetzen.8
8 Düsseldorfer Anzeiger: Gar nicht traurig: Lena (17) macht ein Praktikum im Hospiz. https://www.
duesseldorfer-anzeiger.de/duesseldorf/gar-nicht-traurig-lena-17-macht-ein-praktikum-im-hospiz_
aid-36019025 (02.10.2020); Hospiz Esslingen: FSJ im Hospiz: Von den Menschen im Hospiz
viel gelernt. https://www.hospiz-esslingen.de/news/06-06-2017-fsj-im-hospiz/ (02.10.2020); Süd-
westpresse: Hospiz: 18-Jährige erlebt die Endlichkeit. https://www.swp.de/suedwesten/staedte/
goeppingen/ein-alltag-mit-der-endlichkeit-24441072.html (02.10.2020).
264 A. Hörschelmann
Sterben, Tod und Trauer können Unsicherheit und Hilflosigkeit erzeugen. Ziel der
Angebote für Kindergärten, Schulen und andere Kinder- und Jugendeinrichtungen
ist es, die Unsicherheiten, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Umgang
mit diesen Lebensthemen gemeinsam betreffen, zulassen und teilen und eine
gemeinsame Sicherheit zu gewinnen.
Neben Wissensvermittlung und dem Angebot von Orientierungsmöglichkeiten
sollen mit den beschriebenen Projekten Räume für die unterschiedlichsten Gefühls-,
Denk- Ausdrucks- und Umgangsformen eröffnet werden, die uns begegnen, wenn
wir mit Abschied, Verlust und Krankheit konfrontiert werden. Das hat nicht nur
einen positiven Effekt für die beteiligten Schüler*innen und Lehrenden. Es ist auch
ein Gewinn für die Hospizidee selber, stellen die Projekte in ihren unterschied-
lichen Ausprägungen doch sicher, dass die Hospizidee auch in Zukunft als Ausdruck
gelebter Solidarität und Mitmenschlichkeit, besonders in existenziellen Lebens-
krisen, bekannt ist und noch bekannter wird. Ob daraus auch einmal junger ehren-
amtlicher Nachwuchs für die Hospizdienste erwächst, ist dabei zwar wünschenswert,
aber nicht zwingend. Denn auch ohne zukünftiges ehrenamtliches Engagement
in der direkten Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen werden die
Heranwachsenden ihr Wissen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit Krankheit,
Sterben, Tod und Trauer in das Leben hinaus- und in die Gesellschaft hineintragen.
5 Weitere Informationen
9
Hospiz Luise: Erfahrungsbericht: 5 Wochen Praktikum einer Auszubildenden. https://www.
hospiz-luise.de/content/erfahrungsbericht-5-wochen-praktikum-einer-auszubildenden (08.06.2020);
Ricam Hospiz-Stiftung: Erst Angst, dann Dankbarkeit – Ein Pflegeschüler erzählt. https://www.
ricam-hospiz.de/2017/hospiz-diskurs/erst-angst-dann-dankbarkeit-ein-pflegeschueler-erzaehlt/
(08.06.2020).
Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung 265
www.dhpv.de
Mail: info@dhpv.de
www.malteser-hospizarbeit.de/gib-mirn-kleinesbisschen-sicherheit.html
https://palliativzentrum.uk-koeln.de/forschung/weitere-projekte/oberstufenprojekt/
Mail: palliativzentrum-schulprojekt@uk-koeln.de
10 Graf, Gerda (Hrsg.): Hospiz macht Schule. Ein Kurs-Curriculum zur Vorbereitung Ehrenamt-
licher im Umgang mit Tod und Trauer für Grundschulen. Esslingen: Hospizverlag 2010.
11 Wegleitner, Klaus/Blümke, Dirk/Heller, Andreas/Hofmacher, Patrick (Hrsg.): Tod- kein Thema
für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und Jugend-
lichen. Anregungen für die Praxis. Ludwigsburg: Hospizverlag 2014.
266 A. Hörschelmann
www.deutscher-kinderhospizverein.de
Mail: kornelia.weber@deutscher-kinderhospizverein.de
Literatur
Bayrisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft/Kunst und Bayerischer
Hospiz- und Palliativverband: Hospiz und Schule. Abschied, Sterben, Tod und Trauer als
Thema für Schule und Unterricht. https://www.isb.bayern.de/download/16998/hospiz_und_
schule_internet.pdf (08.06. 2020).
Düsseldorfer Anzeiger: Gar nicht traurig: Lena (17) macht ein Praktikum im Hospiz. https://
www.duesseldorfer-anzeiger.de/duesseldorf/gar-nicht-traurig-lena-17-macht-ein-praktikum-
im-hospiz_aid-36019025 (02.10.2020).
Graf, Gerda (Hrsg.): Hospiz macht Schule. Ein Kurs-Curriculum zur Vorbereitung Ehrenamt-
licher im Umgang mit Tod und Trauer für Grundschulen. Esslingen: hospiz verlag 2014.
Haller, Susanne/Kasimirski, Kristina: Lehren in der Tradition von Elisabeth Kübler-Ross. In: die
hospiz zeitschrift 2/2019, S. 18–23.
Hospiz Esslingen: FSJ im Hospiz: Von den Menschen im Hospiz viel gelernt. https://www.
hospiz-esslingen.de/news/06-06-2017-fsj-im-hospiz/ (02.10.2020).
Hospiz Luise: Erfahrungsbericht: 5 Wochen Praktikum einer Auszubildenden. https://www.
hospiz-luise.de/content/erfahrungsbericht-5-wochen-praktikum-einer-auszubildenden
(08.06.2020).
Ricam Hospiz-Stiftung: Erst Angst, dann Dankbarkeit – Ein Pflegeschüler erzählt. https://
www.ricam-hospiz.de/2017/hospiz-diskurs/erst-angst-dann-dankbarkeit-ein-pflegeschueler-
erzaehlt/ (08.06.2020).
Ruth Cohn Institute for TCI international: Was ist TZI? Themenzentrierte Interaktion. https://
www.ruth-cohn-institute.org/files/content/zentraleinhalte/dokumente/TZI-Broschuere/WAS-
IST-TZI.pdf (08.06.2020).
Sauerlandkurier: „Trauer hat viele Farben“/"Hospiz macht Schule": Sauerländer Grundschüler
gehen unbefangen mit dem Thema Tod um https://bit.ly/HmS_Wehrstapel (08.06.2020).
Südkurier: Herdwangen-Schönach: Hospiz macht Schule: Grundschüler lernen Tod als Teil des
Lebens zu sehen. https://bit.ly/HmS_Ramsberggrundschule (08.06.2020).
Südwestpresse: Hospiz: 18-Jährige erlebt die Endlichkeit. https://www.swp.de/suedwesten/
staedte/goeppingen/ein-alltag-mit-der-endlichkeit-24441072.html (02.10.2020)
Wegleitner, Klaus/Blümke, Dirk/Heller, Andreas/Hofmacher, Patrick (Hrsg.): Tod- kein Thema
für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und
Jugendlichen. Anregungen für die Praxis. Ludwigsburg: Hospizverlag 2014.
Wuppertaler Rundschau: Hospiz macht Schule: Ist der Himmel voller Döner? https://bit.ly/HmS_
Wuppertal (08.06.2020)
pro familia. Ethisch-philosophische
Aspekte Sexueller Bildung
Ralf Müller und Bettina Niederleitner
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die sexualpädagogische Arbeit von pro familia vor. Vor
dem Hintergrund der Menschenrechte ist Sexuelle Bildung immer auch zu
einem hohen Maß ethisch-philosophische Bildung. Besprochen wird, mit
welchen Methoden und welcher Haltung ethische Fragestellungen in sexual-
pädagogischen (Jugend-)Gruppen behandelt werden und wie Schüler*innen,
Lehrkräfte und Fachkräfte für einen grenzwahrenden, selbstbestimmten
Umgang mit Sexualität sensibilisiert werden können.
Schlüsselwörter
Sexualität · Ethik · Selbstbestimmung · Menschenrecht · Methoden der
Sexualpädagogik · pro familia
R. Müller (*)
IU Internationale Hochschule, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: ralf.mueller@iu.org
B. Niederleitner
pro familia, München, Deutschland
E-Mail: bettina.niederleitner@profamilia.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 267
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_14
268 R. Müller und B. Niederleitner
„Ein rechtebasierter Zugang zur umfassenden Sexualaufklärung hat zum Ziel, Kinder
und Jugendliche mit dem Wissen, den Kompetenzen, den Einstellungen und den Werten
auszustatten, die sie für die Bestimmung und den Genuss ihrer Sexualität benötigen –
körperlich wie emotional, individuell und in Beziehungen. Dieser rechtebasierte Ansatz
betrachtet ‚Sexualität‘ ganzheitlich und im Kontext emotionaler und sozialer Ent-
wicklung. Er erkennt an, dass Informationen allein nicht ausreichend sind, denn Kinder
und Jugendliche benötigen die Möglichkeit, zentrale Lebenskompetenzen zu erwerben
und positive Einstellungen und Werte zu entwickeln.“ (IPPF / pro familia 2013, S. 7)
Auch die UNESCO sieht für Sexuelle Bildung unter anderem die Aufgabe
„to equip children and young people with knowledge, skills, attitudes and values that will
empower them to: realize their health, well-being and dignity; develop respectful social
and sexual relationships; consider how their choices affect their own well-being and that
of others; and, understand and ensure the protection of their rights throughout their lives.“
(UNESCO 2018, S. 16)
Für pro familia war diese Art Sexueller Bildung nicht von Beginn an zentrales
Anliegen. Die Gründung erfolgte 1952 als „pro familia – Deutsche Gesell-
schaft für Ehe und Familie“, zunächst mit dem zentralen Anliegen, den Zugang
zu Verhütungsmitteln zu ermöglichen und der Ausrichtung auf die Förderung
traditioneller Familienformen (vgl. pro familia 2012). Die Umbenennung in „pro
familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung“ im Jahr 1965 markiert die
seither gültige Ausrichtung des Vereins. „Nicht mehr die Verantwortung für Ehe
und Familie als Institutionen sollten im Mittelpunkt der Arbeit stehen, sondern die
Stärkung des einzelnen Menschen in seiner Verantwortung für sich selbst und seine
konkrete Partnerschaft und Familie.“ (Kleber 2009, S. 4). Die für alle Menschen
offene Beratung ist bis heute zentraler Bestandteil der Arbeit von pro familia. 1975
verfasst pro familia erstmals „Thesen zur Sexualpädagogik“ und erst 1993 kam die
bis heute beibehaltene Namensänderung in „pro familia – Deutsche Gesellschaft
für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V.“. Die Entwicklung
und die Schwerpunkte der Arbeit von pro familia durch die Jahrzehnte hindurch
sind eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen der
jeweiligen Zeit verknüpft: Zunächst der Einsatz für den Zugang zu Verhütungs-
mitteln, Aufklärung und Beratung in den 50er und 60er Jahren, dann der Einsatz für
die Rechte der Frau in den 70ern. Die 80er Jahre waren geprägt vom Kampf gegen
AIDS und für die Entstigmatisierung der Krankheit. In den 90er Jahren standen die
Wiedervereinigung und die „IPPF-Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte“
270 R. Müller und B. Niederleitner
im Mittelpunkt der Arbeit. Seit Beginn des neuen Jahrtausends wurden Themen
wie „Kinderwunsch – Wunschkinder“, die sexuellen Selbstbestimmungsrechte von
Menschen mit Behinderung oder die Prävention sexualisierter Gewalt zu Schwer-
punkten (vgl. die Übersicht bei Altmann 2012, S. 4 f.).
Die sexualpädagogischen Angebote von pro familia umfassen heute: Jugendbe-
ratung vor Ort und im gesichert anonymen online-Portal sextra.de, Beratung von
Eltern, Sorgeberechtigten, Lehrkräften und Fachkräften in allen pädagogischen
und sozialen Bereichen (Kitas, alle Schulformen, Wohngruppen, in der Beratungs-
arbeit, …) ebenso wie sexualpädagogische Gruppenveranstaltungen an Schulen
und anderen Jugendeinrichtungen und Fortbildungen zu sexualpädagogischen
Themen für Fach- und Lehrkräfte. Das jeweilige Setting ist je nach pro familia
Beratungsstelle und deren Kapazitäten unterschiedlich und wird in der Regel mit
den Auftraggeber*innen passgenau besprochen.1
pro familia ist häufig für Gruppenveranstaltungen an Schulen eingeladen oder
Schulklassen kommen für Projekttage in die Räume von pro familia. Für viele
(schambehaftete) Themen kann es sinnvoll sein, externe Fachkräfte einzuladen, die
das Sprechen über Sexualität geübt haben und ihre eigene Biographie reflektiert
zurücknehmen können. Denn das vorbehaltlose und souveräne Sprechen über
Sexualität ist nicht immer einfach. Schüler*innen empfinden es zudem als gute
Ergänzung, Fragen an eine Fachkraft stellen zu können, die über spezielles Wissen
verfügt und die sie nicht wiedersehen. Den Gesprächen zuträglich wirkt auch, dass
die externen Fachkräfte die Schüler*innen nicht bewerten müssen – auch nicht
in anderen Fächern oder im nächsten Schuljahr. Die Themen der Veranstaltungen
werden in Absprache mit den Lehrkräften gesetzt und altersgerecht aufbereitet.
Auch begleitende Elternabende werden häufig von den Schulen angefragt.
An der Geschichte von pro familia lassen sich mindestens zwei Dinge ablesen:
1. Wie in vielen Bereichen der Gesellschaft und der Rechtsprechung, lässt sich
auch für das Thema Sexualität eine kontinuierliche Entwicklung hin zur
Stärkung individueller Rechte und dem Ideal eines selbstbestimmten Lebens
hin beobachten. Entsprechend ist es ein (bisher nicht immer gut eingelöstes)
Gebot von (sexueller) Bildungsarbeit, zu reflektieren, was Selbstbestimmung
bedeutet, wie sie mit Verantwortung zusammenhängt und wo Grenzen,
Möglichkeiten und Überforderungen zu suchen sind.
2. Die Haltung zu Sexualität und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sind
Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. pro familia ist diesem Aus-
handlungsprozess einerseits unterworfen, andererseits gestaltet sie diesen Aus-
handlungsprozess aktiv mit, durch Bildung, Beratung und politisches Engagement.
Sie setzt sich ein für ein möglichst selbstbestimmtes Leben und versteht Sexualität
als Bildungsthema. Ein rechtebasierter, informierender, auf ethisch-philosophischer
Reflexion beruhender Ansatz ist in dieser Bildungsarbeit leitend.
Ausgehend von den Zielsetzungen und Themen Sexueller Bildung sowie in Bezug
auf die Geschichte von pro familia ist deutlich geworden, dass Sexuelle Bildung
im Kern sehr häufig ethisch-philosophische Bildungsarbeit ist. Unter anderem
soll die Urteilskraft der Schüler*innen gestärkt werden, was auch ein Kernziel
philosophischer Bildung ist.2 Es geht darum, begründete persönliche Haltungen
zu finden: zur eigenen Person, zu zwischenmenschlichen Bezügen und zu
kulturell-gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen. Diese drei Dimensionen
sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig im
Sozialisationsprozess. Im Folgenden soll auf die Themen Sexueller Bildung
in Bezug auf diese Dimensionen genauer eingegangen werden. Viele Themen
eignen sich, um sie im interreligiösen Dialog und im Zusammenhang mit den All-
gemeinen Menschenrechten zu thematisieren (vgl. auch BZgA 2016). Einigen
Themen, wie beispielsweise der Genderdebatte,3 hat sich die Philosophiedidaktik
bereits verstärkt zugewandt.
„Ein entstigmatisierender Umgang mit Trans-Identität bei Kindern sollte gefördert und
einer diskriminierenden Pathologisierung von Geschlechtsinkongruenz entgegengewirkt
werden. Entsprechende Angebote psycho-sozialer Beratung und deren Kooperation mit
medizinischen Einrichtungen sollen gestärkt werden.“ (Deutscher Ethikrat 2020b, S. 3)
2Vgl.: Dresdner Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht. In: Zeitschrift für Didaktik
der Philosophie und Ethik, Heft 3 2016, 106.
3Vgl.: Bettina Bussmann, Markus Tiedemann (Hrsg.): Genderfragen und philosophische Bildung.
In der Frage nach dem Umgang mit Trans-Identität zeigt sich besonders deut-
lich, wie biologische, rechtliche, kulturelle, soziale und persönliche Aspekte von
Sexualität verwoben sind. Dass es sich häufig um Fragen handelt, bei denen es
nicht um richtig oder falsch geht und auch gesetzliche Regelungen keine ein-
deutige Orientierung geben können, zeigt sich z. B. in der Stellungnahme des
Deutschen Ethikrates zur Präimplantationsdiagnostik (PID) 2011. 13 Mitglieder
des Rates votieren für eine begrenzte Zulassung, elf für ein Verbot und ein Mit-
glied gab ein Sondervotum ab (Deutscher Ethikrat 2011, S. 80–152). Die PID ist
ein Beispiel dafür, dass für kommende Herausforderungen und Fragestellungen
die Schärfung eines individuellen ethischen Urteilsvermögens unabdingbar ist.
In der kulturell-gesellschaftlich-politischen Dimension ließen sich aktuell noch
viele weitere öffentlich mit vielen Emotionen geführte Diskussionen der letzten
Jahre thematisieren: die Ehe für Alle, #metoo oder die Frage nach besserem
Schutz für Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt und Missbrauch.
Alle diese öffentlichen Diskussionen haben gemeinsam, dass sie das Leben vieler
Menschen auf ganz persönlicher Ebene beeinflussen.
Bei den Themen sexuelle Identität und sexuelle Orientierung fand in den letzten
Jahren sowohl gesellschaftlich als auch rechtlich eine deutlich wahrzunehmende
Öffnung statt. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht weiter viel Bildungsarbeit
für Toleranz und Anti-Diskriminierung nötig wäre, wie die Studien „Coming
out – und dann…?!“ (Krell/Oldemeier 2015) und „Queere Freizeit“ (Krell und
Oldemeier 2018) zeigen.
Ein weiteres Beispiel für ein in Jungengruppen häufiges Thema, das die
personale Dimension von Sexualität betrifft, ist der Konsum von Pornographie.
Während ein Jugendlicher in einer achten Klasse Gymnasium die Meinung ver-
tritt, es sei moralisch besser vertretbar, beim Masturbieren professionell gedrehte
Pornos zu schauen, als an seine Klassenkamerad*innen zu denken (die dem ‚Film‘
in seinem Kopf im Gegensatz zu den professionellen Pornodarsteller*innen ja
nicht zugestimmt hätten), verweisen andere auf die menschenverachtenden Dar-
stellungen von Frauen und Männern sowie die häufig ebenso menschenver-
achtenden Produktionsbedingungen kommerzieller Pornographie. Thematisiert
werden auch immer wieder Gefühle, die mit dem Pornographiekonsum verbunden
sind, wie Lust, Scham, Ekel und Ekellust, aber auch soziale Bezüge wie Gruppen-
zwang oder unfreiwillige Exposition. Durch Verbote lässt sich der Umgang mit
Pornographie jedenfalls nicht lösen. Daher ist es eine Aufgabe Sexueller Bildung
Jugendliche zu unterstützen, sich eine eigene Haltung zu erarbeiten. Dabei stellen
sich themenunabhängig immer wieder die grundsätzlichen Fragen:
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 273
• Was sind meine Gefühle, Bedürfnisse und Werthaltungen – und wie gehe ich
mit ihnen um? Welche Handlungen leite ich daraus ab?
• Woran orientiere ich mich, wenn ich selbst bestimmen kann und muss?
• Welche Art von Beziehungen und Sexualität möchte ich leben?
• Was bedeutet sexuelle Selbstbestimmung für mich und wie lassen sich
Beziehungen mit Respekt vor den Grenzen und mit Anerkennung für die
Bedürfnisse des anderen gestalten?
Auch unter Fachkräften gibt es nicht immer Konsens darüber, wie sich eine
angemessene Sprache, die der eigenen Rolle, dem Kontext sowie der Ziel- und
Altersgruppe gerecht wird, anhören soll. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass
die Sprachfähigkeit der Fachkräfte (und Eltern) Dreh- und Angelpunkt für jede
Aufklärungs- und Präventionsarbeit ist. Um hier Sicherheit zu gewinnen und
grenzwahrend zu arbeiten, ist viel Austausch und Übung sowie die Reflexion der
eigenen Biographie nötig.
• Ein Freund vertraut dir an, dass er schwul ist. So kann man reagieren: …
• Ein Junge/ein Mädchen will das Thema Verhütung ansprechen. So kann sie/er
anfangen: …
• Die Tante fragt beim Familienfest: „Und, bist du verliebt?“ Das kann man
antworten: …
• Der Praktikumsanleiter legt den Arm um die Praktikantin. Sie reagiert so: …
• Ein Junge verliert die Erektion beim Sex. Sein Gegenüber sagt: …
• Im Internet fragt jemand: „Machst du eigentlich Selbstbefriedigung?“ Das kann
man antworten: …
• Die Mutter sagt: „Jetzt probier doch mal einen Tampon aus!“ Die Tochter
antwortet: …
Mehrere solcher Beispiele werden auf farbigen Zetteln ausgegeben. Jede/r Teil-
nehmende (TN) schreibt in Einzelarbeit eine Antwortidee auf farblich zur Aufgabe
passende Zettel, um die Zuordnung zur Frage zu ermöglichen und eine Zuordnung
zu einer Person zu vermeiden. Die Leitung liest im Anschluss die Reaktionsvor-
schläge der Jugendlichen auf die jeweilige Situation im Plenum vor, so dass auch
durch die Handschrift keine Rückschlüsse auf die Verfasser*innen möglich sind.
In der anschließenden Diskussion lassen sich beispielsweise folgende Fragen
aufwerfen: Was ist die Motivation der fragenden/handelnden Person? Welche
Gefühle löst die Situation aus? Traut man sich wirklich, darauf so zu antworten?
Vor welcher Gegenreaktion hat man Angst? Muss man höflich bleiben? Wem
könnte man von dem Problem erzählen, und wie? Welchen Vorschlag findet ihr am
gelungensten? Was bedeutet eigentlich ‚persönliche Integrität‘ und ‚Diskretion‘?
Die Übung zielt auf dreierlei: Erstens die Wahrnehmung der mit einer Situation
einhergehenden zum Teil widersprüchlichen Gefühle, die oft nicht selbstverständ-
lich wahrgenommen werden. Zweitens die Ermutigung, eigene Bedürfnisse auch
entgegen vermuteter Widerstände zu äußern und Schweigen, wo nötig, zu brechen.
Drittens geht es um eine Wortwahl, die der Situation und der eigenen Person
gerecht wird.
Wo und wann genau ein Mensch eine Grenze zieht ist unterschiedlich, bezieht sich
aber nicht nur auf Körperkontakt, sondern betrifft auch persönliche Kränkungen
im Miteinander, Schamgrenzen und Privatsphäre. Um über persönliche Grenzen
ins Gespräch zu kommen, eignet sich eine Methode, bei der konkrete, alltagsnahe
Situationen auf einer Skala von 1 bis 10 eingeordnet werden. Die 1 steht dabei für
„harmlos, in Ordnung, kein Problem“, die 10 für „schlimm, geht gar nicht, Grenz-
verletzung“. Die Zahlen werden auf dem Boden ausgelegt. Nun erhält jede/r TN
verdeckt eine Situation auf einem Blatt Papier. Folgende Fälle könnten beispiels-
weise zur Diskussion gestellt werden:
276 R. Müller und B. Niederleitner
Alle wenden gleichzeitig ihr Blatt, lesen es und entscheiden, jede/r für sich, bei
welcher Zahl sie ihre Situation ablegen. Im nächsten Schritt dürfen die TN alle
Situationen entlang der Skala in Ruhe lesen. Die Leitung fragt dann nach, wer
eine Situationen anders beurteilen oder einschätzen würde. Damit beginnt die
Diskussion um zugrundeliegende Haltungen, Normen und Werte. Ein Beispiel
mag dies verdeutlichen: Die Situation „Ein Junge bittet ein Mädchen um ein
Nacktfoto“ wird in einer achten Klasse von Jungen und Mädchen je unterschied-
lich bewertet. Während viele Jungen die Situation als „harmlos“ einstufen („Er
fragt doch nur, sie kann doch Nein sagen!“), empfinden manche Mädchen allein
die Frage als Grenzverletzung („Für was für ein Mädchen hält er sie?“). Sie ver-
binden die Frage mit dem Identitäts- und Statusaspekt. Gleichzeitig kann die Frage
auslösen, dass sich ein Mädchen geschmeichelt, begehrt und anerkannt fühlt,
diese positiven Gefühle jedoch mit Ängsten um ihren Ruf abwägen muss. Diese
Gedanken und Widersprüche können durch die Übung bewusst werden. Die Dis-
kussion hilft nicht nur Grenzen wahrzunehmen und zu formulieren, sondern auch,
Verständnis und Empathie zu entwickeln. Außerdem wird hier die unterschied-
liche gesellschaftliche Bewertung von männlicher und weiblicher Sexualität deut-
lich. Das heißt, es geht auch um die Frage, inwieweit ein Mädchen durch ein Ja an
Status verlieren und ein Junge durch ein Ja an Status gewinnen kann.
Die folgende Methode bietet sich an, um mit Schüler*innen über persönliche Ein-
stellungen und Werte ins Gespräch zu kommen. Die Leitung verteilt an jede/n TN
einen Einstellungsbogen mit etwa zehn plakativen Aussagen, daneben jeweils eine
Skala in fünf Stufen: „lehne völlig ab“, „lehne eher ab“, „weiß nicht“, „stimme
eher zu“ und „stimme voll zu“. Beispielsweise können folgende Aussagen auf dem
Einstellungsbogen stehen:
In Einzelarbeit kreuzt zunächst jede/r für sich an, wie er/sie zu der jeweiligen
Aussage steht. Danach wird der Bogen weggepackt – er bleibt eine persönliche
Sache. Im nächsten Schritt wird die Bewertungsskala auf dem Boden im Raum
ausgelegt. Nun werden einzelne Aussagen von der Gruppe und/oder der Leitung
ausgewählt und nacheinander zur Diskussion gestellt. Dazu stellen sich die TN zu
der von ihnen gewählten Position. Wichtig ist dabei der Hinweis, dass nicht not-
wendig die vorab angekreuzte Meinung vor den anderen vertreten werden muss.
Jede/r darf sich frei und neu positionieren, auch seine Position ändern, und es
gibt die Möglichkeit auszusetzen oder sich bei „weiß nicht“ zu positionieren. Die
Leitung moderiert und bittet um Wortmeldungen zu Pro und Contra. Falls die
gesamte Gruppe auf einer Seite steht, kann sie die Gegenposition einnehmen, um
die Debatte anzukurbeln. Grundsätzlich geht es bei diesem Gedankenspiel um den
Austausch von Wertvorstellungen und Argumenten für und wider eine Einstellung.
Daneben kann die Gesprächskultur zu teilweise sehr emotional besetzten Themen
geübt werden.
1. Welche (Lern-)Ziele will ich mit dieser Methode erreichen, welche Prozesse
anstoßen?
2. Für wen ist diese Methode einfach?
3. Für wen ist diese Methode schwierig?
4. Kann die Gruppendynamik dazu führen, dass schon vorhandene (oder
potenzielle) Ausschlüsse reproduziert werden?
5. Läuft die Methode Gefahr, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu
reproduzieren?
6. Kann die Methode Angst machen, ‚enttarnt‘ zu werden?
7. Besteht das Risiko von Beschämungen/Kränkungen/Verletzungen?
8. Ermöglicht die Methode, dass TN zurückhaltend oder wenig beteiligt sein
können?
9. Stehen bei der Methodenauswahl die Bedürfnisse der Leitung oder die der
Jugendlichen im Vordergrund?
Ziel jeder Bildungsveranstaltung ist es, dass durch die Wahl der Methoden, durch
die Sprache und durch die Haltung der Leiter*innen zuverlässige Informationen
vermittelt sowie Denkprozesse angestoßen werden und dabei die persönlichen
Grenzen aller Beteiligten jeder Zeit gewahrt bleiben. So soll erreicht werden,
dass Sexualität selbstbestimmt, in der Achtung der eigenen Grenzen und der
Grenzen anderer, verantwortungsbewusst, rechtebewusst und glückbringend gelebt
werden kann – immer in dem Bewusstsein, dass dazu für jeden Menschen auch
Unberechenbares, Fehler und Scheitern gehören.
Literatur
Altmann, M.: pro familia wird 60. 60 Jahre für selbstbestimmte Sexualität. pro familia magazin,
01/2012, S. 4–5. https://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Magazin/2012/magazin_
2012-1_web.pdf. Zugegriffen: 27. Juli 2020.
Heßling, A./Bode, H.: Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergeb-
nisse einer aktuellen Repräsentativen Wiederholungsbefragung. Köln: BZgA 2015. https://
www.bzga.de/infomaterialien/sexualaufklaerung/sexualaufklaerung/jugendsexualitaet-2015/.
Zugegriffen: 27. Juli 2020.
Bussmann, B./Tiedemann, M. (Hrsg.): Genderfragen und philosophische Bildung. Geschichte -
Theorie - Praxis. Stuttgart: Metzler 2019.
BZgA: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, Heft 2–2016. Sexualaufklärung im inter-
religiösen Dialog. Köln: BZgA 2016. https://www.bzga.de/infomaterialien/fachpublikationen/
forum-sexualaufklaerung/. Zugegriffen: 27. Juli 2020.
pro familia. Ethisch-philosophische Aspekte Sexueller Bildung 279
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Förderzentrum · Projektarbeit · Außerschulisches Lernen · Ethik ·
Religionskunde
U. Schnabel (*)
Brand-Erbisdorf, Deutschland
E-Mail: herausforderndes_verhalten@web.de
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 281
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_15
282 U. Schnabel
„Der Bildungs- und Erziehungsauftrag für die Grundschule leitet sich aus der
Verfassung des Freistaates Sachsen und aus dem Schulgesetz für den Freistaat
Sachsen ab. Er wird bestimmt durch das „Recht eines jeden jungen Menschen
auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Erziehung und
Bildung ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage“ (Schulgesetz
für den Freistaat Sachsen § 1 Abs. 1). Die Schule hat den Auftrag Bildung zu ver-
mitteln, die zur Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler in der Gemeinschaft
beiträgt (vgl. Schulgesetz für den Freistaat Sachsen § 1 Abs. 2). Diesen Auftrag
erfüllt die Grundschule, indem sich alle Kinder in einem gemeinsamen Bildungs-
gang grundlegendes Wissen aneignen, Methoden-, Lern- und Sozialkompetenz
erwerben sowie ein Bewusstsein für Werte entwickeln. In einer Atmosphäre des
Zutrauens und der gegenseitigen Achtung sollen selbstständiges Denken, Lernen
und Arbeiten entwickelt sowie Freude am Lernen erhalten und geweckt werden.
Grundschule schafft damit Voraussetzungen für den Übergang zu weiterführenden
Bildungsgängen.“1
Gleiches gilt auch für die Oberschule, in der es weiterhin um den Erwerb
intelligenten und anwendungsfähigen Wissens mit der Entwicklung von Lern-,
Methoden- und Sozialkompetenz und Werteorientierung geht. Schülerinnen und
Schüler sollen sich Wissen aneignen, mit denen sie am gesellschaftlichen Leben
angemessen teilhaben und den Anforderungen in Schule und ihrem künftigen
• Bewerbung um den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, 2015
• Juniorwahl zur Bundestagswahl 2017 und Sächsischen Landtagswahl 2019 in
Zusammenarbeit mit der Bundes- und Landeszentrale für politische Bildung
• Was geht mich die Geschichte an? – Ganztagsangebot für die Klassen 5 und 6
zum Holocaust und jüdischem Leben in und um Freiberg gestern und heute in
Zusammenarbeit mit Yad Vashem/Israel, dem Mittelsächsischen Theater Frei-
berg/Döbeln und dem Verein Freiberger Zeitzeugnis e. V.
Im Ganztagsangebot sahen wir die Möglichkeit, für die Schülerinnen und Schüler
ein Angebot machen zu können, welches sich intensiv mit der Zeit des Zweiten
Weltkrieges und dem Holocaust auseinandersetzt. Die Auseinandersetzung mit
dieser Zeit erfolgt laut Geschichtslehrplan in der Klasse 8, unsere Schülerinnen
und Schüler hatten aber schon in den Klassen 5 und 6 viele Fragen. Wenn wir
diese nicht beantworten würden, wäre der Raum für demokratiefeindliche
Betrachtungen offen.
Ziel war es, Opfern ein Gesicht zu geben und sie so der Anonymität zu
entreißen. Indem wir uns dafür entschieden, jüdisches Leben und die jüdischen
Opfer in Freiberg besonders in den Fokus zu nehmen, stellten wir einen regionalen
Bezug her und damit auch eine persönliche Bedeutsamkeit, denn es waren plötz-
lich Familien, die „um die Ecke“ wohnten. Gleichzeitig stellten wir Freiberger
jüdische Kinder und Jugendliche heraus, dies ermöglichte einen altersgerechten
Zugang zu diesem sehr sensiblen Thema.
Im Vorfeld kamen bei einigen Eltern auch die Befürchtung, dass wir mit der
Beschäftigung mit diesem Thema die Kinder sowohl kognitiv als auch emotional
überfordern könnten. Um dies zu verhindern, nahm ich im Februar 2018 an einer
Lehrerfortbildung zum Thema in Yad Vashem/Jerusalem teil. Hier erfuhr ich aus-
gesprochen viel über methodisch-didaktisches Herangehen und erwarb viele
altersgerecht aufgearbeitete Materialien, mit denen wir dann auch ausgiebig
arbeiteten. Ein sehr überzeugendes Argument für die Notwendigkeit eines solchen
Angebotes gab uns ein Schüler der damaligen 6.Klasse, der meinte, wer alt genug
sei, rechtsradikale Parolen oder verfassungsfeindliche Schmierereien von sich zu
geben, der sei auch alt genug, die historische Wahrheit über diese Zeit zu erfahren.
Im Schuljahr 2018/2019 begannen die Schüler ihre virtuelle Suche nach
jüdischen Familien im sächsischen Freiberg in der Opferdatenbank in Yad Vashem.
Sie recherchierten die Lebensläufe der Personen, vor allem der Kinder und ver-
glichen diese mit ihrem bisherigen eigenen Leben. Mit Erschrecken stellten sie
fest, dass einige viel jünger als sie selbst waren, als sie starben. Natürlich wollten
die Schülerinnen und Schüler sehen, wo in Freiberg diese Familien gewohnt
hatten. Bei einem Stadtrundgang sahen wir uns die Orte und die inzwischen ver-
legten Stolpersteine an. Aus den Erfahrungen heraus entstanden neue Fragen, wie
beispielsweise diese:
Der Lehrplan Ethik setzt für die Klasse 6 folgende Ziele: „Die Schüler erwerben
Kenntnisse über die Religion des Judentums und die Geschichte der Juden.
Die Schüler reflektieren ihre Begegnungen mit verschiedenen Menschen und
Personengruppen, insbesondere mit solchen, die ihnen fremd sind. Sie lernen, Vor-
urteile abzubauen und entwickeln angemessene Verhaltensweisen, mit Fremdheit
umzugehen.“4
Um den Schülerinnen und Schülern einen Einblick in die frühe Geschichte
des Judentums zu ermöglichen, erarbeiten wir im Ethikunterricht die Inhalte
(Mose und Exodus, Heiliges Land, König David, König Salomo, Tempel, Klage-
mauer) an Stationen. Die Jugendlichen halten ihre Erkenntnisse in einem selbst
zu gestaltenden Lapbook fest. Dort präsentieren sie auch ihre Erkenntnisse zu
zentralen Glaubensinhalten und ethischen Forderungen des Judentums, sammeln
aktuelle Zeitungsberichte, den Speisevorschriften entsprechende Rezepte und
gewinnen über Filme und Musik einen Einblick in jüdisches Leben. Über das
Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland „Meet a Jew“ sollten die
Schülerinnen und Schüler einen jüdischen Jugendlichen im Unterricht treffen
können, der aus eigenem Erleben über jüdisches Leben in Deutschland berichtet.
Auch dies konnte aufgrund der Corona-Pandemie noch nicht erfolgen. Persön-
liche Feste, Feste im Jahreskreis und eine Synagoge lernen die Schülerinnen und
Schüler an unserem Förderzentrum schon seit mehreren Jahren direkt vor Ort, in
der Dresdner Synagoge, kennen.
Die meisten unserer Schülerinnen und Schüler sind nicht religiös und hatten
aus ihren Familien heraus bisher auch keinen Zugang zu religiösen Stätten. Oft
wissen sie daher auch noch nicht, welches Verhalten an sakralen Orten üblich und
erwünscht ist, welches vermieden werden sollte.
Um die drei monotheistischen Weltreligionen nicht getrennt voneinander zu
behandeln und zu verdeutlichen, welche Gemeinsamkeiten diese haben, beginnt
unsere Exkursion traditionell in der Gemäldegalerie „Alte Meister“ mit einer
altersgerechten Führung zum Propheten Abraham. An bis zu 4 Gemälden wird
altersgerecht und mit Rücksicht auf den sonderpädagogischen Förderbedarf im
emotional-sozialen Erleben, welcher häufig mit Aufmerksamkeitsproblemen und
kognitiven Einschränkungen verbunden ist, erklärt, wie man Bilder „lesen“ kann,
welche Symbole verwendet werden, die man in der Tora und der Bibel wieder-
finden kann und welche Symbolkraft hinter dem berühmtesten Werk der Aus-
stellung, der „Sixtinischen Madonna“, steckt. Für viele Schülerinnen und Schüler
unserer Einrichtung, die oft prekären Lebensverhältnissen und bildungsfernen
Elternhäusern entstammen, ist dies die erste Begegnung mit den alten Meistern.
Im Anschluss an den Rundgang durch die Galerie folgt ein Rundgang durch die
Altstadt Dresdens zur Frauenkirche. Auf dem Weg zur Aussichtspattform hinauf
finden die Kinder und Jugendliche viele typischen Dinge einer Kirche und
sammeln diese in ihren Notizbüchern. Mit dem Blick über die Stadt zählen sie
christliche Symbole und bemerken, dass sie die Synagoge und die Moscheen, die
es in Dresden auch gibt, nicht ohne weiteres erkennen können.
Beim Besuch der Synagoge fiel bisher immer schon auf, dass vor der Synagoge
ein Polizeiauto zum Schutz stand und die Synagoge nicht einfach so betreten
werden darf wie eine Kirche. Hier erfahren die Jungs und Mädchen zum ersten
Mal, dass der im Unterricht thematisierte Antisemitismus eine reale Bedrohung in
Deutschland für jüdische Menschen darstellt.
Die Gemeindepädagogin stellt sich auf das manchmal herausfordernde
Schülerverhalten schon im Vorfeld ein, indem sie es ermöglicht, vieles anzu-
fassen und auszuprobieren und auch auf provokant formulierte Fragen kann sie
ruhig, kompetent und sachlich reagieren. Sie trägt auch der Tatsache Rechnung,
dass in den Klassen unserer Einrichtung nur wenige Mädchen lernen und stellt
daher jungenspezifische Themen in den Mittelpunkt. So zeigen unsere Schüler
erfahrungsgemäß großes Interesse daran, wie der Davidstern der alten Dresdner
Synagoge gerettet werden konnte.
Nach dem Besuch der Synagoge steht noch ein Besuch einer Moschee auf
dem Plan. Dies kann jedoch nur dann realisiert werden, wenn der entsprechende
Imam erlaubt, dass ich als betreuende Lehrerin auch die Räume betreten darf.
290 U. Schnabel
Bisher ist das gelungen und auch hier konnten die Schülerinnen und Schüler ihre
Fragen stellen, bekamen kompetente Antworten und zogen interessante Vergleiche
zwischen den 3 Weltreligionen.
Eine solche Exkursion führen wir seit nunmehr 5 Jahren durch und können
immer wieder feststellen, dass es zwar ein sehr langer und anstrengender aber
auch überaus erfolgreicher Unterrichtstag für die Schülerinnen und Schüler ist.
Grundlage einer Kooperation ist natürlich immer das Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland und die Akzeptanz des sächsischen Schulgesetztes, das muss
jedem klar sein.
Darüber hinaus ist es für uns besonders wichtig, dass sich unsere Kooperations-
partner einerseits auf das Alter der Schülerinnen und Schüler einstellen
können und sich andererseits den besonderen Herausforderungen des sonder-
pädagogischen Förderbedarfs unserer Schülerinnen und Schüler gewachsen
zeigen. Diese zeigen sich häufig in unangepasstem, oft als störend empfundenem,
Sozialverhalten. Vor allem unbekannten Situationen und fremden Menschen
gegenüber verhalten sich unsere Schüler provokant, manchmal beleidigend,
auch verbal-aggressiv. Den Jungen und Mädchen gelingt es häufig nicht lange
konzentriert zu zuhören und eigene Bedürfnisse zurück zu stellen. Lange Texte,
gespickt mit vielen Fremdwörtern schrecken diese ab, obwohl sie in der Lage
wären, diese zu verstehen.
Besser ist es, viele verschiedene Sinneskanäle zu bedienen, die Methoden
häufig zu wechseln und die Kinder und Jugendlichen selbst viel ausprobieren zu
lassen. Wenn Fragen gestellt werden, so ist es für die Jungs und Mädchen wichtig,
diese gleich beantwortet zu bekommen – auf später vertröstet zu werden, frustriert
schnell und dann schaltet das Kind bzw. der Jugendliche ab.
Literatur
Comenius-Institut: Leistungsbeschreibung der Grundschule 2004.
Sächsisches Staatsministerium für Kultus: Lehrplan Oberschule Ethik. 2019, S. VII.
Teil V
Exemplarische Lernorte 3:
Sakrale und meditative Orte
Interreligiöse Begegnung als
selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung –
Tag der offenen Moschee als
religionspädagogische Praxis
Tarek Badawia und Sezai Cakan
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
T. Badawia (*)
FAU Erlangen-Nürnberg, Mainz, Deutschland
E-Mail: tarek.badawia@fau.de
S. Cakan
Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 293
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_16
294 T. Badawia und S. Cakan
In seiner Ansprache an die Gäste am „Tag der offenen Moschee“ eröffnete der
Geistliche der Gemeinde (der Imam) seine Rede u. a. mit den folgenden Worten:
„Nach langer Zeit der Verlegenheit und Unsicherheit im Umgang mit der deutschen
Öffentlichkeit wollen wir mit dem Tag der offenen Moschee ein Zeichen dafür setzen,
dass unsere Moscheen jedem Menschen in unserer Gesellschaft offen sind. Unsere
Moscheen sind Orte der Vertrauensbildung. Wenn wir unsere Moscheen für alle öffnen,
öffnen wir auch unsere Herzen für sie und unsere Ohren für ihre Fragen! Wir laden alle
ein und folgen damit dem Vorbild des Propheten Muhammad. Seine Moschee war eine
Begegnungsstelle für alle Menschen und nicht nur für die Muslime […] Wir bitten den
Schöpfergott für unsere Gesellschaft um die Weisheit Moses, um die Liebe Jesus und um
die Barmherzigkeit Muhammads […]“1
Wir lassen die Worte unkommentiert für sich sprechen und greifen später auf sie
zurück. Ausgehend von diesen Worten wollen wir einleitend für unseren Bei-
trag folgende selbstreflexive Fragen stellen: Was geschieht in dem Moment der
Begegnung in der Moschee (als sakraler und sozialer Raum)? Was geschieht mit
Menschen, die eine solche Begegnung als Medium der öffentlichen Theologie
anbieten, und mit denjenigen, die dies in Anspruch nehmen?
In unserem Beitrag werden wir einleitend im ersten Abschnitt ansatzweise
die theologischen Hintergründe für die zentrale Bedeutung der Friedensstiftung
durch Dialog und Austausch erläutern. Die Erfahrungen aus dem Öffentlichkeits-
projekt „Tag der offenen Moschee“ (TOM), das der Koordinationsrat der Muslime
(KRM) sowie der Zentralrat der Muslime (ZMD) bundesweit verantworten und
veranstalten, werden im dritten Teil des Beitrages vor dem Hintergrund diskutiert
werden, welche Rolle die Öffnung der sakralen Räume (am Beispiel) der Moschee
zum Bewusstseinswandel unserer Gesellschaft beitragen können. Anschließend
soll die Bedeutung solcher Erfahrungen in der Schulpraxis anhand von einigen
Erfahrungswerten aus dem Bereich des interreligiösen Lernens reflektiert werden.
Die Ausführungen sind von dem Kerngedanken eines Bewusstseinswandels bzw.
Wandels des Selbstverständnisses der muslimischen Organisationen getragen. Die
ermöglichte Begegnung am Tag der offenen Moschee konkretisiert exemplarisch
dieses Wandels und eröffnet Optionen für ethische Bildung im Interesse des
friedlichen Miteinanders. Im zweiten Schritt gehen wir auf die Begegnung
als ein religionspädagogisches Medium ein. Wir schließen mit einer theo-
logischen Reflexion ab, die wir aus unserer Argumentationslinie zur Begründung
der folgenden These ziehen: Am Beispiel von TOM als Medium der religiös-
öffentlichen Bildung findet eine zweifache Bildungserfahrung statt: Die Erfahrung
der Gewissheit und die der Relativität. Beide Erfahrungshorizonte betreffen
den eigenen Standpunkt (im Glauben). Es wird im Austausch deutlich, welche
Gewissheit die Reflexion der eigenen Argumente auslösen kann. Es wird in der
Begegnung mit Menschen auch deutlich, wie relativ der eigene Standpunkt sein
kann, wenn man ihn unter der Maxime der Vielfalt von Weltanschauungen und
philosophischen Standpunkten betrachtet.
1Auszug aus dem Grußwort eines Imams der bosnischen Gemeinde in Mainz, 2018.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 295
Seit mehr als 20 Jahren organisieren Moscheen in Deutschland den Tag der
offenen Moschee (TOM). Einst initiiert vom Zentralrat der Muslime in Deutsch-
land (ZMD) im Jahre 1997 findet die Veranstaltung seit 2007 in der Verantwortung
des Koordinierungsrats der Muslime (KRM) statt.2 Nach Angaben des KRM
beteiligen sich deutschlandweit mehr als 1000 Moscheegemeinden jedes Jahr
zum 03. Oktober am Projekt „Tag der offenen Moschee“. Getragen wird die Ver-
anstaltung von Tausenden von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die in
den lokalen Gemeinden aktiv sind. Der TOM steht für eine gesellschaftliche
Beteiligung der Muslime in Deutschland und soll ein Zeichen der Offenheit sein.3
Diese Intention wird oftmals durch die Berichterstattung der lokalen Presse unter-
stützt, wodurch der Anspruch auf Partizipation zusätzlich betont wird. In diesem
Sinne verstehen die teilnehmenden muslimischen Verbände und Gemeinden den
TOM als Raum des Dialogs, Austauschs und Kennenlernens. Ziel ist es, durch
Desinformation bedingte Vorurteile und Missverständnisse zu überwinden,
Brücken zwischen Religionen und Kulturen zu bauen.4 Demzufolge übernehmen
die Moscheegemeinden eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und leisten so
ihren Beitrag im Interesse des Gemeinwohls.5 Der TOM gilt außerdem als Weg-
bereiter für viele andere Projekte wie Islamwochen oder Veranstaltungen zum
gemeinsamen Fastenbrechen. Da die Veranstaltung auf lokaler Ebene umgesetzt
wird, nehmen je nachdem auch lokale Vertreter aus Politik oder Gemeinden
anderer Konfessionen teil.
Durch die Planung und Koordinierung des KRM hat der TOM in den letzten
Jahren eine Struktur erhalten. Die Mitglieder des KRM bestimmen im Kollektiv
den Rahmen und Inhalt des Projekts. Jedes Jahr wird unter einem gemeinsam fest-
gelegten Motto ein bestimmtes Thema besonders intensiv behandelt. Während
der KRM als zentrale Leitstelle Infomaterialien wie beispielsweise Plakate oder
Broschüren zur Verfügung stellt, findet das Projekt selbst in den Moscheen vor
2Der Koordinierungsrat der Muslime besteht aus folgenden muslimischen Verbänden: Türkisch-
Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutsch-
land (IRD), Union der Islamisch-Albanischer Zentren in Deutschland (UIAZD), der Verband der
Islamischen Kulturzentren (VIKZ), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und der
Zentralrat der Marokkaner in Deutschland (ZRMD).
3Vgl. Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-
und-zwecke/, (06.06.2020).
296 T. Badawia und S. Cakan
Ort statt. Die Themen richten sich oft nach aktuellen Diskursen und Ereignissen
in Politik und Gesellschaft oder sind Themen, die die Gesamtgesellschaft betreffen
und beschäftigen. Im Jahre 2016 wurde beispielsweise im Zuge der Flüchtlings-
welle aus Syrien die Auswanderung des Propheten unter der Überschrift „Hidschra
– Migration als Herausforderung und Chance“ behandelt. In der Umsetzung wurde
neben der Thematisierung der Hidschra als historisches Ereignis aber gleichzeitig
ein Gegenwartsbezug hergestellt, bei dem Chancen und Risiken der zu dem Zeit-
punkt umstrittenen Aufnahme von Flüchtlingen ausdiskutiert wurden. Darüber
hinaus bezeichnete der KRM die Migration als gemeinsames Schicksal vieler
Propheten6 und leitete daraus eine Aufgabe für die muslimische Community ab.
Moscheen seien bereits als Ansprechpartner an der Lösung von Problemen und
Aufgaben beteiligt.7 An diesem Beispiel ist der gesamtgesellschaftliche Bezug des
TOM deutlich erkennbar. Denn während auf der einen Seite durch die Abhandlung
eines bestimmten Themas historische und aktuelle gesellschaftliche Bezugspunkte
hergestellt werden und sich Beteiligte mit der Problematik sachlich auseinander-
setzen, erfolgt auf der anderen Seite eine Erörterung mit Blick auf Chancen
und Risiken der Gegenwart wie am Beispiel des demographischen Wandels in
Deutschland. Zugleich wird die Bereitschaft muslimischer Gemeinden und Ver-
bände bekräftigt, bei der Lösung der Problematik Verantwortung übernehmen
zu wollen, da Moscheegemeinden eine Anlaufstelle für viele Flüchtlinge sind.
In diesem Zusammenhang verstehen sich die Moscheen als „Brückenbauer“8.
Außerdem werden Vorschläge wie die Organisation von Sprachkursen für die
erfolgreiche Integration geflüchteter Menschen gemacht. Zudem wird auf Risiken
und Gefahren wie Stigmatisierungen oder Übergriffe auf Flüchtlingsheime hin-
gewiesen.
Demnach versuchen die muslimischen Verbände und Gemeinden mit dem
TOM alltags- und gesellschaftsrelevante Themen zu behandeln. Sie nehmen
Stellung und machen auf positive und negative Aspekte aufmerksam, um letztlich
Lösungsansätze zur Behebung des Problems vorzuschlagen. Vorschläge, bei denen
die Moscheen als Akteure Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen sollen.
Standpunkte als ein religiös hoch angesehenes Gebot des Islam entsprang, soll
im folgenden Abschnitt in groben Zügen an die spezifische Migrationsgeschichte
der Muslime in Deutschland und folglich an den Entstehungszusammenhang der
muslimischen Organisationen bzw. Vereine in Deutschland mit dem Ziel erinnert
werden, klarzustellen, dass der empirisch beobachtbare Zustand der „Geschlossen-
heit muslimischer Lebenswelten“ bzw. „muslimischen Gemeindelebens“ – bis
hin zum populistischen Vorwurf der Parallelgesellschaft – eher dem migrations-
geschichtlichen Hintergrund geschuldet ist und keineswegs ein Gebot der
islamischen Theologie darstellt.
Zu aktuellen Lage der Muslime kann man inzwischen von folgender Sach-
lage ausgehen: Die „Muslime sind dabei, den lange vorherrschenden psycho-
logischen und tatsächlichen »Gastarbeiterstatus« abzulegen und eine religiöse
Infrastruktur zu errichten, die der dauerhaften Präsenz im Lande Rechnung trägt“9.
Die (kulturell und konfessionell vielfältige) muslimische Community macht nach
dieser Einschätzung zwei parallel laufende Wandlungsprozesse durch: 1) Ein
Bewusstseinswandel innerhalb des muslimischen Selbstverständnisses in Deutsch-
land, und zwar vom funktionalistischen Selbstverständnis als Gastarbeiter zum
notwendigen Umdenken in interkulturellen Strukturen als Bürger dieser Gesell-
schaft mit entsprechender interkultureller Geisteshaltung; 2) Ein Wandlungs-
prozess innerhalb der Organisationen, und zwar von den »Hinterhofmoscheen«
der Nachkriegszeit im Rahmen der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zum
Moscheebau als Demonstration von Präsenz und als Ausdruck einer öffentlichen
Repräsentation des neuen Selbstbewusstseins der muslimischen Immigration
in Europa: „Wir bauen, weil wir bleiben wollen“10. Die aktive Beteiligung am
gesellschaftlichen Leben gehörte – wie Schiffauer11 durch seine ethnologischen
Fallstudien klarstellt – nicht zum Selbstverständnis der im Kontext der Arbeiter-
migration gegründeten Gemeinden. Es ging, und es geht gegenwärtig immer
noch in fast 80 % der Gemeinden (schätzungsweise wegen fehlender empirischer
Studien) vielmehr um die Bewältigung der (Folge-)Probleme der Einwanderung
in praktischer Auseinandersetzung mit Fragen der alltäglichen Religiosität als um
Fragen der kulturellen Integration in die deutsche Gesellschaft.12
9Rohe, Mathias: Zur rechtlichen Integration von Muslimen in Deutschland. In: Bendel, Petra/
Hildebrand, Matthias (Hrsg.): Integration von Muslimen. Schriftenreihe des Zentralinstituts für
Regionalforschung. München (2006), S. 89.
10Beinhauer-Köhler, Bärbel/Leggewie, Claus: Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und
schaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript (2008).
12Vgl. Chbib, Raida: Organisation des Islams in Deutschland: Diversität, Dynamiken und
13Vgl. Jessen, Frank: Türkische religiöse und politische Organisationen in Deutschland III.
Herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Zukunftsforum Politik, Nr. 72, Köln (2006),
S. 13 ff.; Schiffauer, Werner: Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere
Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript (2008), S. 50.
14Bundschuh, Stephan: Abstrakte Solidarität – Konkrete Konkurrenz. Das Verhältnis der klassischen
16Vgl. Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./
Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main: Ika-
Verlag (2002), S. 99–117.
17Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./
Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main: Ika-
Verlag (2002), S. 106.
18Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./
Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main: Ika-
Verlag (2002), S. 118.
300 T. Badawia und S. Cakan
der Muslime. Eines dieser Projekte ist der „Tag der offenen Moschee“.19 Ins-
besondere für Schulklassen ist die Moschee als außerschulischer Lernort
besonders gut geeignet, da ein Moscheebesuch die theoretische Abhandlung des
Themas in der Schule ergänzt. Der Moscheebesuch eröffnet Erfahrungsräume,
die Schüler*innen20 im Prozess der Meinungsbildung unterstützen und zu einer
möglichst sachlichen und reflektierten Meinung verhelfen sollen. Das ist ein
Prozess, in dem sie anhand von Informationen das Themenfeld in Begleitung einer
Lehrkraft erkunden, die Moschee als Gemeinde und die Muslime als Ansprech-
partner erleben und sie befragen können, um im Idealfall eine fundierte Meinung
zu erlangen. Demzufolge sollen SuS nach einer theoretischen Einführung mit
dem Moscheebesuch einen Erfahrungsraum begehen, der ihnen Eindrücke und
Emotionen aus der Lebenswelt der Muslime vermitteln soll. Dieser Erfahrungs-
prozess soll am Ende den Teilnehmenden Antworten auf ihre Fragen geben und
Unklarheiten beheben. Doch vieles hängt von der Planung und Umsetzung in der
Moschee sowie der Vor- und Nachbereitung in der Schule ab. All dies erfordert
pädagogisches Verständnis und Flexibilität, damit Konzept und Inhalte auf die
Zielgruppe zugeschnitten werden können. Ob beim TOM ein durchdachtes
pädagogisches Konzept dahintersteckt oder nicht? Fakt ist, dass die Möglichkeit
für eine nachhaltige, reflektierte Meinungsbildung gegeben ist.
In der Regel beginnt ein Moscheebesuch nach einer kurzen Begrüßung und
Einführung mit der Vorstellung der unterschiedlichen Stationen in der Moschee.
Hierzu gehören beispielsweise die Gebetsnische und die Kanzel, aber auch
Gegenstände wie die Gebetskette oder die Kopfbedeckung, die Musliminnen
und Muslime beim Gebet nutzen. Schüler*innen (im Folgenden SuS) haben die
Gelegenheit, selbst eine Kopfbedeckung zu tragen oder eine eigene Gebetskette
zu basteln, mit der sie anschließend die Gebete sprechen können. Sie erhalten eine
Vorstellung von der Dauer, Anzahl und Intensität der individuell gesprochenen
Gebete. Die Bittgebete können aber auch gemeinsam gesprochen werden. Hier-
bei geht es hauptsächlich darum, das Gefühl der Spiritualität beim gemeinschaft-
lichen Beten zu erfahren. Die melodische Lesung der Gebete erinnert an einen
Chorgesang. Der melodische Einklang wird mit einer Koranrezitation fortgeführt.
Hierbei verschaffen sich die SuS einen Eindruck von der Phonetik der Heiligen
Schrift und der Kunst des Koranrezitierens. Anschließend wird die Übersetzung
des rezitierten Kapitels vorgelesen. Häufig werden Koranverse über Moses und
Jesus vorgetragen und ein gemeinsamer Bezugspunkt hergestellt, da den SuS
meistens einer von beiden bekannt ist. So können die Standpunkte der unter-
schiedlichen Religionen zum selben Thema ausgetauscht und reflektiert werden.
Mit dieser Phase erfolgt auch der Übergang in die Frage- und Diskussionsrunde,
womit der erste Teil der Moscheeführung abschließt. Dabei kommt es zum
19Für die Einfachheit der Sprache wird die Bezeichnung „Tag der offenen Moschee“ mit TOM
abgekürzt.
20Für die Einfachheit der Sprache wird die Bezeichnung Schüler*innen mit SuS abgekürzt.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 301
Fach Thema
Geschichte Ursprung des Islam, Geschichte der Muslime in Deutschland und Europa usw.
Philosophie Frage nach dem epistemischen oder normativen Anspruch religiöser Über-
lieferungen und Menschenbilder, z. B. in Bezug auf die Schöpfungsgeschichte,
das Menschenbild vom „Menschen als Krone der Schöpfung“ oder auf die
existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens usw.
Politik Aktuelle politische Diskurse wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ oder
Deutsche Islamkonferenz (DIK) usw.
Kunst Architektur im Islam, Verzierungen und Ornamente in der Moschee, Kalli-
graphie usw.
Musik Adhan – der Gebetsruf, Instrumente aus der islamischen Welt usw.
Ethik Freundschaft, Respekt, Anders sein usw.
Religion Interreligiöser Dialog, Gottesbild der Religionen, Prophetengeschichten usw.
21Eshandelt sich bei den Themen nur um Vorschläge, die thematisch mit einem Moscheebesuch
verknüpft werden könnten.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 305
22Vgl. Bollnow, F. Otto: Begegnung und Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1. Jg. Heft 1,
(1955), 10–32.
23Koran 2:83.
24Koran 84:19.
306 T. Badawia und S. Cakan
können. Das sind die Menschen, die sich in der Verinnerlichung und Verarbeitung
von Ideen und Prinzipien verändern und unter Bedingungen der Anerkennung und
gegenseitiger Wertschätzung auch öffnen.
Die in dem o.g. Vers25 angesprochene Schwere (innerhalb des Wandel-
prozesses) deutet auf die zu entwickelnde Geisteshaltung hin. Die Urgemeinde der
Muslime musste lernen: „Allah verändert nichts an einem Volk, solange sie nicht
(ihrerseits) verändern, was sie an sich haben“26. Mit diesem Vers zieht die Offen-
barung den Einzelnen, das Subjekt in die volle Verantwortung ein. Die Offen-
barung fordert den Einzelnen auf, sich zu verändern und somit die Legitimation
für die Entwicklung einer neuen Geisteshaltung zu schaffen. Unter dem Motto
„Frieden schaffen durch aktive Präsenz in der Gesellschaft“ gibt der Prophet auf
folgende Frage der Urgemeinde: »O Gesandter Allahs! Wer lebt den Islam am
besten?« die Antwort: »Derjenige, vor dessen Zunge und Hand die Menschen
sicher sind«27. Die Antwort lässt sich wie folgt frei übersetzen: Als Muslim gilt
derjenige, der Frieden unter den Menschen durch Wort und Tat stiftet. Es war von
Beginn der Offenbarung wie selbstverständlich klar, dass die neue muslimische
Gemeinde nur in einer historischen Relation zu anderen Weltanschauungen und
Religionen steht. Die Offenbarung lehrte der Urgemeinde unmissverständlich die
folgenden Grundsätze:
„Wenn [der] Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde zusammen gläubig werden.
Willst du etwa die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?“28
„Und wenn [der] Herr wollte, hätte Er die Menschen wahrlich zu einer einzigen Gemein-
schaft gemacht. Aber sie bleiben doch unterschiedlich“29
25Koran 84:19.
26Koran 13:11.
27Buchari, Kap. 2, H. 4.
28Koran 10:99.
29Koran 11:118 f.
30Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag
der Islam im Laufe der Zeit Fuß faßte, ging er eine enge Symbiose mit den vor-
handenen Kulturen ein“31.
Die Offenbarung spricht die Muslime auf eine denkbare starre Haltung an, die
unbedingt verhindert werden soll, damit die (inter)kulturelle Dynamik funktioniert.
Die Urgemeinde lebte sicherlich nicht in einem kulturellen Vakuum. Der kulturelle
Raum war durch Werte der Tapferkeit, Macht, Männlichkeit und kämpferische Über-
lebenskultur geprägt. Die neue Offenbarung trug dagegen den „Islam“ als Lebens-
form vor, die im Sinne von aslama (Befriedung) ein tiefergehendes Umdenken
im Selbstverständnis sowie im Alltag anstrebte. Sie suchte daher immer die
Gemeinsamkeiten mit den Anderen und bot kompatible Lösungsansätze an. Im
Hinblick auf die Entwicklung neuer moralischer Standards gegen Krieg und zum
Schutz des Menschen in Altarabien als Prozess des Umdenkens merkt der Orientalist
Khoury32 an: „Hier muss man nicht zaghaft und ängstlich sein, wenn man die
Moral im Islam betrachtet, denn diese Religion teilt alle wichtigen religiösen Werte
mit Judentum und Christentum: Betrachtet man den Koran und die Tradition, die
gemeinsam die gesetzliche Grundlage des Islam als Religion bilden, so sieht man,
wie diese Religion biblisch durchdrungen ist. […] [Der Islam] ist folglich voll-
kommen gegen jede Gewalt.“33. Was aus diesem historischen Hinweis exemplarisch
hervorgehoben werden soll, ist die folgende zentrale Idee: Die Muslime müssen
lernen, den Übergang von der Vorstellung, dass der Mensch ein Produkt der Kultur
sei, zum aktiven und dynamischen Prozess der Schaffung (neuer) Kultur (d. h.
Religion, Weltanschauung, Lebensform etc.) unter dem Leitmotiv der Befriedung
menschlichen Zusammenlebens zu gestalten.
Noch wichtiger erscheint in Bezug auf den dialogischen Charakter dieses
Gestaltungsprozesses der Hinweis auf die Grenze für die Einflussnahme auf
andere bzw. die absolute Unterbindung jeglicher repressiven Art und Weise zur
Durchsetzung religiöser Inhalte. Die grundsätzliche dialogische Haltung definiert
die Offenbarung wie folgt: „Lade zum Weg deines Herrn andächtig und mit
Weisheit ein; diskutiere mit ihnen auf beste Art und Weise“34. Die Grenze des
Dialogischen wird so markiert, dass die Inhalte in einer Atmosphäre der Frei-
heit mitgeteilt werden können, und „Wenn sie sich abkehren, so obliegt dir
[du Prophet, Ergänzung durch T.B.] nur die deutliche Übermittlung [der Bot-
schaft]“35. Denn „wenn dein Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde
31Bauer,Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag
der Welreligionen im Inselverlag (2011), 365.
32Vgl. Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/
zusammen gläubig werden. Willst du [,O Mohammad, Ergänzung durch T.B.] etwa
die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?“36. Nach diesem und vielen ähn-
lichen Versen untersagt die Offenbarung Mohammad selbst, missionarisch, das
heißt, im Sinne einer Bekehrung der Andersgläubigen zum Islam, tätig zu sein.
Dies einfach, weil die Notwendigkeit und die Idee der Missionierung im Islam
fehlen. Das einzig Vorhandene in dieser Richtung besteht in der Darbietung und
Darlegung der Lehre.37
Die muslimische Urgemeinde lernte die Vielfalt der Wege zu respektieren
und nach dem Prinzip des „Wetteifers“ unter den Anhängern der verschiedenen
Kulturen und Religionen zu handeln. Die Offenbarung sprach sie im Klartext auf
darauf so an: „Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen
Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer ein-
zigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so,) damit Er euch in dem, was Er euch
gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Allah wird euer aller
Rückkehr sein […]“38. Was hier auf der Ebene der regulativen Ideen im Bewusst-
sein der muslimischen Urgemeinde verankert werden sollte, ist der Grundsatz der
Unumkehrbarkeit der Pluralität, von dem aus in der islamischen Kulturgeschichte
generell ausgegangen wurde. Die Pluralität – so Bauer 201139 – wurde in der
islamischen Kulturgeschichte immer als Geschenk betrachtet, und die Meinungs-
verschiedenheiten (ikhtilāfāt) sind nach der klassischen Theorie ein unabding-
barer Bestandteil des Rechts, das einerseits auf einer göttlichen Rechtsordnung
beruht und sich andererseits als menschengemachtes Gesetz entfaltet.40 Im Grunde
besteht keinerlei Begründung dafür, dass diese Meinungsverschiedenheiten nur auf
die islamische Kultur bzw. Rechtslehre (fiqh) eingeschränkt wird, wenn sie – im
Sinne Kants – als Gesetz für alle gelten könnte.
Die muslimische Urgemeinde lernte zwischen zweierlei zu unterscheiden:
die persönliche Gewissheit in Bezug auf den eigenen Standpunkt und zugleich
der notwendige Relativismus in Bezug auf die anderen weltanschaulichen und
ethischen Standpunkte, die – wie anfangs erwähnt – als Ausdruck des Willens
Gottes gelten. Diese Geisteshaltung kann auf den ersten Blick paradox wirken.
Es ist wahrscheinlich auch so. Allerdings legitimiert sie die mehrperspektivische
Achtung vor dem Eigenen und dem Anderen bzw. Fremden. Jede andere Geistes-
haltung wäre insofern ungerecht und kann sogar rassistisch sein, als sie eine
ideelle Grundlage für eine Überlegenheitskultur schaffen würde, die nur Intoleranz
36Koran 10:99.
37Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin:
Verlag der Welreligionen im Inselverlag (2011), 365; Falaturi, Abdoldjavad: Der Islam im
Dialog. Hamburg: Islamische Wissenschaftliche Akademie 5(1998), 91.
38Koran 5:48.
39Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin:
Verlag der Welreligionen im Inselverlag (2011).
40Vgl. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin:
Verlag der Welreligionen im Inselverlag (2011), S. 184.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 309
41Koran 5:8.
42Vgl. Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck
(2010).
43Vgl. Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck
(2010), S. 119 f.
44Vgl. Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/
theologisch verpflichtet, sich auf ihre neue Rolle in einem egalitären Dialog zu
besinnen, damit sie ihre Erkenntnisse und die damit verbundenen ethischen Grund-
sätze in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen zu können.
Literatur
Badawia, Tarek: Pseudo-dialogische Diskriminierung. In: Mercheril, Paul/Melter, Claus (Hrsg.):
Rassismuskritik. Bd. 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach i. Ts.: Wochenschau-
Verlag 2009, S. 220–238.
Bade, Klaus J./Oltmer, Jochen: Normalfall Migration. Schriftreihe Zeitbilder, Bd. 15 der Bundes-
zentrale für politische Bildung, Bonn: bpb 2004.
Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag
der Welreligionen im Inselverlag 2011.
Beinhauer-Köhler, Bärbel/Leggewie, Claus: Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und
gesellschaftliche Herausforderung. Stuttgart: Beck’sche Reihe 2009.
Bendel, Petra/Hildebrandt, Mathias (Hrsg.): Integration von Muslimen. München: Buch und
Media 2008.
Bundschuh, Stephan: Abstrakte Solidarität – Konkrete Konkurrenz. Das Verhältnis der klassischen
deutschen Jugendverbände zu Jugendorganisationen von Migrant*innen. In: Badawia, Tarek/
Hamburger, Franz/Hummrich, Merle (Hrsg.): Wider die Ethnisierung einer Generation. Bei-
träge zur qualitativen Migrationsforschung. Frankfurt am Main: Iko-Verlag 2003, S. 326–336.
Bollnow, F. Otto: Begegnung und Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1. Jg. 1955, Heft 1,
S. 10–32.
Chbib, Raida: Organisation des Islams in Deutschland: Diversität, Dynamiken und Sozialformen
im Religionsfeld der Muslime. Baden-Baden: Ergon 2017.
Falaturi, Abdoldjavad: Der Islam im Dialog. Hamburg: Islamische Wissenschaftliche Akademie
51998.
Griese, Hartmut M.: Die Ethnisierung von (sozialen) Konflikten. In: Griese, Hartmut M./
Kürsat-Ahlers, Elcin/Schulte, Rainer (Hrsg.): Was ist eigentlich das Problem am „Ausländer-
problem“? Über die soziale Durchschlagkraft ideologischer Konstrukte. Frankfurt am Main:
Ika-Verlag 2002, S. 99–117.
Jagusch, Birgit: Praxis der Anerkennung. „Das ist unser Geschenk an die Gesellschaft“ – Ver-
eine von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zwischen Anerkennung und Exklusion.
Schwallbach/Ts.: Wochenschau Wissenschaft 2011.
Jessen, Frank: Türkische religiöse und politische Organisationen in Deutschland III. Heraus-
gegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Zukunftsforum Politik, Nr. 72, Köln 2006.
Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck 2010.
Khoury, Raif Georges: Ethik und Menschenwürde im Islam. In: Siegetsleitner, Anne/Knoepffler,
Nikolaus (Hrsg.): Menschenwürde im interkulturellen Dialog. Freiburg/München: Alber
Philosophie 2005, S. 91–122.
Klinke, Sebastian: Interkulturelle Arbeit in Migrantenselbstorganisationen. Eine empirische Studie
mit drei Jugendgruppen aus Migrantenvereinen in Frankfurt am M., 2005, Online-Dokument
unter: https://www.idaev.de/publikationen/texte/interkulturelle-oeffnung/ (25.5.2020)
Schiffauer, Werner: Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft?
Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript 2008.
Rohe, Mathias: Zur rechtlichen Integration von Muslimen in Deutschland. In: Bendel, Petra/
Hildebrand, Matthias (Hrsg.): Integration von Muslimen. Schriftenreihe des Zentralinstituts
für Regionalforschung. München 2006, S. 89–116.
Interreligiöse Begegnung als selbstreflexiv-spirituelle Erfahrung… 311
Weitereführende Literatur
Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar. Düsseldorf: Patmos
2009.
Hinterhuber, Eva Maria: Abrahamischer Trialog und Zivilgesellschaft. Eine Untersuchung zum
sozialintegrativen Potenzial des Dialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen. Stuttgart:
De Gruyter 2009.
Koordinierungsrat der Muslime: Ziele und Zwecke, https://tagderoffenenmoschee.de/ziele-und-
zwecke/, (06.06.2020).
Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in inter-
kultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial-
wissenschaften 2006.
Moschee als außerschulischer
Lernort
Tuba Nur Tekin
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
Das arabische Wort für Moschee lautet Masǧid und Jāmi‘. Ersteres enthält die
Wurzelbedeutung des sich (im Gebet) Niederwerfens und heißt damit „der
Ort der Niederwerfung“, während Letzteres von dem Verb „sich versammeln“
T. N. Tekin (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: tubanur.tekin@gmail.com
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 313
von Springer Nature 2021
M. Tiedemann (Hrsg.), Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und
philosophische Bildung, Philosophische Bildung in Schule und Hochschule,
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05770-9_17
314 T. N. Tekin
abgeleitet wird und somit die Bedeutung als „Ort der Versammlung“ annimmt.1
Diese Begriffe charakterisieren die Funktion der Moschee für die Gemeinde als
Ort des Gottesdienstes und des sozialen Austausches aller Art (Seminare, Hoch-
zeiten, religiöse Feste, Nachhilfe, Konferenzen, Jugendtreffpunkt, offener Rück-
zugsort im Alltag etc.). Sie gilt als eine religiös-soziale Einrichtung, in der sich die
Muslime verschiedener Herkunft treffen und austauschen können und dient somit
dem Gemeinwohl. Größere Moscheen galten – und gelten immer noch – vor allem
als multifunktionale Gemeinschaftszentren, in denen verschiedene Einrichtungen
integriert waren.2 Dazu zählen Bibliotheken, Schulen und Forschungsein-
richtungen sowie die sogenannten Hamams, die um eine Moschee herum gebaut
wurden.
Geschichtlich betrachtet, lag die Moschee schon immer örtlich zentral, um die
Zugänglichkeit zu gewährleisten. Die erste Moschee der Welt war die Kaaba (in
Mekka) und wurde durch den Propheten Adam und später den Propheten Ibrahim
und seinen Sohn Ismail gebaut. Dazu heißt es auch im Koran Sure 3 Vers 96:
„Das erste Haus, das für die Menschen errichtet wurde, ist gewiss dasjenige
in Bakka (also Mekka); voller Segen ist es und Rechtleitung für die Welten-
bewohner.“ Diese Moschee galt auch später als Prototyp der Moscheen.3
Mit der Ausbreitung des Islam im 7. Jahrhundert sind bereits die Anfänge
historischer Informationen über die religiöse Erziehung in Privaträumen in Mekka
und darauffolgend in der ersten Moschee der Muslime in Medina verzeichnet
worden. Im Laufe der islamischen Geschichte wurde diese Lerntradition aufrecht-
erhalten, ausgeweitet und institutionalisiert.4
In vielen Städten der Welt, wie z. B. in Köln ist man um diese räum-
liche Zentralität wie die von der Kaaba auch heute noch bemüht. Mit der Zeit
etablierten sich in Deutschland auch islamische Gotteshäuser, die ebenfalls für die
muslimische Bevölkerung den Mittelpunkt ihres alltäglichen Lebens darstellen.5
Ihre anfänglichen primären Aufgaben und Funktionen weiteten sich jedoch im
Laufe der Zeit entsprechend der Bedürfnisse und des veränderten Kontextes
in Deutschland um einige Arbeitsbereiche aus. Im Fokus stehen dennoch – ent-
sprechend des ursprünglichen Vorbilds – nach wie vor die Bereitstellung religiöser
1Vgl. Pedersen, Johannes: Masḏjid, Moschee. In: Houtsma, Martin Th./Arnold, T.W./Basset, R./
Hartmann, R. (Hrsg.): Enzyklopädie des Islām. Leiden: Brill 1936, S. 372.
2Vgl. Beinhauer-Köhler, Bärbel; Leggewie, Claus (Hrsg.): Moscheen in Deutschland. Religiöse
islamiq.de/2014/09/29/moscheen-sind-orte-des-ge%C2%ADbets-der-kul%C2%ADtur-und-der-
er%C2%ADzie%C2%ADhung/. (12.06.2020)
4Vgl. Ceylan, Rauf: Cultural Time Lag: Moscheekatechese und islamischer Religionsunterricht
schaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung
der Auswirkungen auf den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen in
Deutschland. Hamburg: Kovač 2008, S. 56.
Moschee als außerschulischer Lernort 315
Für die in Deutschland lebenden Muslime geht die Moschee über ihre
traditionellen Funktionen der religiösen Dienstleistungen weit hinaus. Die
Gemeinden widmen sich flächendeckend und mehrdimensional den Bedürfnissen
der in Deutschland lebenden Muslime und der Gesellschaft. Ferner sind nun
Aufgaben im Bereich der Bildung und der psychosozialen Versorgung gefragt,
welche strukturell-organisatorisch etabliert werden. Die Moscheegemeinden ver-
suchen die Probleme der Menschen im nichtmuslimisch geprägten Alltag unter
dem Blickfeld des Islams zu lösen. Sie decken unterschiedliche Felder wie die
der Beratungsarbeit in Ehe- und Familienproblemen oder im Umgang mit Jugend-
lichen, bi-religiösen Ehen und zudem Seelsorge ab. Bei familiären Auseinander-
setzungen, Krankheit und Tod stellen sie zusätzlich zum Imam, der bereits eine
Vielzahl von Aufgaben innehat, Angestellte zur Verfügung, die den Familien zur
Hilfe eilen und Beistand leisten. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren ver-
mehrt Tätigkeiten im Bereich der Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen,
6Vgl. Mühe, Nina; Spielhaus, Riem: Religiöse Angebote der Gemeinden (2008). In: Islamisches
Gemeindeleben in Berlin. Berlin: Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und
Migration 2008, S. 44.
7Vgl. Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen: ein sozialwissen-
schaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung der
Auswirkungen auf den Integrationsprozess, S. 56.
8Vgl. Beinhauer-Köhler, Bärbel; Leggewie, Claus (Hrsg.): Moscheen in Deutschland. Religiöse
2 Moscheebesuche
Für die muslimischen Eltern stellt der Besuch einer Moschee mit entsprechender
Unterweisung in den Islam bis heute einen unverzichtbaren Bestandteil der
religiösen Erziehung dar. Nur die wenigsten Kinder erhalten im Elternhaus eine
adäquate Unterweisung, weil die meisten Eltern sich für die Aufgabe nicht als
kompetent genug ansehen.12 Ein zunehmendes Interesse für Moscheebesuche ver-
zeichnet auch die Mehrheit der befragten Gemeinden (90 %) in Berlin. Auf Anfrage
werden viele Führungen durch die Gemeinderäume angeboten, bei denen sich
Muslime und Nichtmuslime begegnen.13 Die Muslime interagieren in der Moschee
bewusst in ihrer Eigenschaft als Gläubige miteinander und können die Chance
10Vgl. Hamdan, Hussein; Schmid, Hansjörg: Junge Muslime als Partner: Ein empiriebasierter
Kompass für die praktische Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa 2014, S. 42.
11Vgl. Schmitt, Thomas: Moschee-Konflikte und deutsche Gesellschaft. In: Halm, Dirk/Meyer,
Hendrik (Hrsg.): Islam und die deutsche Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 165.
12Vgl. Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen: ein sozialwissen-
schaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung
der Auswirkungen auf den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen in
Deutschland. Hamburg: Kovač 2008, S. 60. Weitere wichtige Motive für den Besuch fast Ceylan
in seinem Buch auf S. 60 ff. zusammen.
13Vgl. Spielhaus, Riem/Mühe, Nina: Moscheebesuche und -führungen. In: Islamisches
Gemeindeleben in Berlin. Berlin: Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und
Migration 2008, S. 114.
Moschee als außerschulischer Lernort 317
Djenne in Mali, Jameasr Hassa al Bolkiah Moschee in Brunei und Sultan Ahmet Moschee in der
Türkei.
318 T. N. Tekin