- --
Gilles Deleuze
Felix Guattari
Tausend Plateaus
Merve Verlag
,-, .. -
Inhalt
Titel der Originalausgabe:
Mille plateaux
© Les Editions de Minuit, Paris 1980
Veröffentlicht
mit Unterstützung des Ministere
franr;ais chargc de Ia culture
Vorbemerkung
Vorwort zur italienischen Ausgabe I-III
I. Einleitung: Rhizom II
2. 1914- Ein Wolf oder mehrere? 43
3. 10000 v. Chr.- Die Geologie der Moral 59
4. 20. November 1923 -Postulate der Linguistik 105
5. 587 v. Chr. - 70 n. Chr.- Über einige Zeichenregime !55
6. 28. November 1947-
Wie schafft man sich einen organlosen Körper? 205
7. Das Jahr Null- Die Erschaffung des Gesichts 229
8. 1874- Drei Novellen oder "Was ist passiert?" 263
9. 1933- Mikropolitik und Segmentarität 283
I0. 1730- Intensiv-Werden, Tier-Werden,
Unwahrnehmbar-Werden ... 317
11. 1837 -Zum Ritornell 423
12. 1227- Abhandlung über Nomadologie:
Die Kriegsmaschine 481
13. 7000 v. Chr.- Vereinnahmungsapparat 587
©der deutschen Ausgabe
14. 1440- Das Glatte und das Gekerbte 657
Merve Verlag Berlin 1992
Alle Hechte vorhehalle~.
15. Schluß: Konkrete Regeln und
I 'd ['ans abstrakte Maschinen 695
Umschlag: Ade I 1 e 1 k' Köln
J h ·n Stankows I.
nuchgestallung: oc c .
'I
, • raphisehe betriebe, Frc1 mrg Abbildungsverzeichnis 712
Druck und Bindung: fgb . frclburgcr g Ausführliches Inhaltsverzeichnis 713
ISBN 971!-3-1!8396-094-4
Printed in Gennany
Vorbemerkung
1. Einleitung
Rhizom
SYLVANO BUSSOll
~'
\._:___
Wir haben den Anti-Ödipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns Organismus machen, also entweder ein signifikantes Ganzes oder eine
mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge. Wir haben alles Bestimmung, die einem Subjekt zugeordnet werden kann. Es ist aber
verwendet, was uns begegnet ist, das Nächstliegende und das Ent- auch einem organlosen Körper zugewandt, der unaufuörlich den
fernteste. Wir haben raffinierte Pseudonyme verteilt, um Unkenntlich- Organismus auflöst, der asignifikante Teilchen, reine Intensitäten, ein-
keit zu erzeugen. Warum wir unsere Namen beibehalten haben? Aus dringen und zirkulieren läßt und der sich die Subjekte zuordnet, denen
Gewohnheit, aus bloßer Gewohnheit. Um auch uns selbst unkenntlich er einen Namen nur als Spur einer Intensität läßt. Was ist der organ-
zu machen. Nicht um uns selber zu verbergen, sondem das, was uns lose Körper eines Buches? Es gibt mehrere, je nach der Art der be-
~and~ln: fühlen oder denken Hißt. Und außerdem, weil es angenehm trachteten Linien, ihrem Gehalt und ihrem spezifischen Gewicht, je
~st, Wie J:dermann zu reden und zu sagen, die Sonne geht auf, wo doch nach ihrer möglichen Konvergenz auf einer "Konsistenzebene", die
Jeder weiß, daß das nur eine Redensart ist. Nicht, um dabei an einen ihre Selektion sichert. Wie überall, sind auch hier die Maßeinheiten
Punkt zu kommen, an dem man nicht mehr Ich sagt, sondem dahin, das Wesentliche: die Schrift quantifizieren. Es gibt keinen Unterschied
W? es belanglos wird, ob man Ich sagt oder nicht. Wir sind nicht mehr zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es ge-
Wir selbst. Jeder wird das Seine erkennen. Wir sind unterstützt, ange- macht ist. Deshalb hat ein Buch auch kein Objekt. Als Gefüge besteht
regt und mehr geworden. es selber nur in Verbindung mit anderen Gefügen, durch die Be-
E_in Buch hat weder ein Objekt noch ein Subjekt, es besteht aus ver- ziehung zu anderen organlosen Körpern. Man frage nie, was ein Buch
seiHeden geformten Materien, aus den unterschiedlichsten Daten und sagen will, ob es nun Signifikat oder Signifikant ist; man soll in einem
<?.eschwindigkeiten. Wenn man das Buch einem Subjekt zuschreibt, Buch nicht etwas verstehen, sondern sich vielmehr fragen, womit es
laßt man diese Arbeit der Materien und die Äußerlichkeit ihrer Bezie- funktioniert, in Verbindung mit was es Intensitäten eindringen läßt
hungen außer acht. Man bastelt sich einen lieben Gott zurecht, um oder nicht, in welche Mannigfaltigkeilen es seine eigene einführt und
geologisc~e V~rgiinge zu erklären. Wie bei allen anderen Dingen gibt verwandelt, mit welchen organlosen Körpern es seinen eigenen kon-
es :weh m emem Buch gliedemde oder segmentierende Linien, vergieren läßt. Ein Buch existiert nur durch das und in dem, was ihm
S~hicht~n ~n~ !erritorien; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen, die äußerlich ist. Wenn das Buch selber also eine kleine Maschine ist, in
die Terntonahsierung und Schichtung auflösen. Die auf diesen Linien welchem meßbaren Verhältnis steht dann diese literarische Maschine
zune_hmenden Fließgeschwindigkeiten führen zu Phänomenen einer zu einer Kriegsmaschine, einer Liebesmaschine, einer Revoluti-
relativen Verl~~ngsamung, zu einer Zähigkeit oder aber auch zu Phä- onsmaschine etc.- und zu einer abstrakten Maschine, die sie alle er-
nome~len der Uberstürzung oder Unterbrechung. Das alles, die Linien faßt? Uns ist vorgeworfen worden, daß wir uns zu oft auf Literaten be-
u~d die meßbaren Geschwindigkeiten, bildet ein Gefiigei. Ein Buch ist rufen. Aber beim Schreiben braucht man nur zu wissen, an welche an-
e~n solches. Gef~ge ~nd kann daher nicht zugeordnet werden. Es ist dere Maschine die literarische Maschine angeschlossen werden kann
eme Manmgfaltigkeit - aber man weiß noch nicht wohin dieses und muß, um zu funktionieren. Kleist und eine verrückte Kriegs-
~annigfaltige führt, wenn es kein Attribut mehr ist, da; heißt, wenn es maschine, Kafka und eine unerhört bürokratische Maschine ... (Und
~n den Status. eines Substantivs erhoben wird. Ein maschinelles Gefüge wenn man durch Literatur zu einem Tier oder einer Pflanze würde?
Ist den Schichten zugewandt, die daraus wahrscheinlich eine Art Was natürlich nicht buchstäblich gemeint ist. Wird man nicht vor
allem durch die Stimme zum Tier?). Die Literatur ist ein Gefüge, sie
1: Die Herausgeber haben sich entschieden, den französischen Begriff "agencement" in
hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine Ideologie und es hat nie
dtesem Buch durchgängig mit "Gefüge" zu übersetzen. "Agencement" bedeutet im All- eine gegeben.
tagsfranzösisch
. soviel wi e E'tnllC
·· 11tun~, A non1nun~. Aufstelluno oder Arrannement un d Wir sprechen nur noch von Mannigfaltigkeiten, Linien, Schichten
wtrd h·aup ts,tc
,. hl'tc h ·tm handwerkhchen
· Bereich verwendet. In" anderen Übersetzungen
·' und Segmentaritäten, von Fluchtlinien und Intensitäten, von maschi-
~on Deleuze/Guattari wurde "agencement" zum Beispiel mit "Verkettung" und nellen Gefügen und ihren verschiedenen Typen, von organlosen Kör-
.Anordn ung " u"b ersetzt. " Verkettung" erscheint sachlich falsch da "agencement" deut- pern und ihrem Aufbau, ihrer Selektion, von der Konsistenzebene und
lich "S' 'fk '
.. ~on tgnt 1 anten-Ketten oder -Verkettungen" unterschieden wird; "Anordnung" den jeweiligen Maßeinheiten. Die Stratometer, die Deleometer, die
laßt tm Deutschen zu sehr '·tn "B e.e ' II" d k ·
1 en en. Was die Autoren unter emem oK-Einheiten2 des spezifischen Gewichts und der Konvergenz quantifi-
Agencement/Gefüge verstehen, wird am besten in Kapitel II deutlich wo es im
Spannungsfel_d vo~ Verhaltensforschung und Musiktheorie eingesetzt wird.~
zieren die Schrift nicht nur, sondern definieren sie jeweils als das Maß
D~utsche Wort.~r tm französischen Original werden mit einem Sternchen (") gekenn-
zetchnet. [A.d.U.]
2. "oK" steht hier für den" organlosen Körper". [A.d.Ü.]
12
13
von etwas anderem. Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern Das Nebenwurzel-System oder das Wurzelbüschel ist die zweite Ge-
damit, Land - und auch Neuland - zu vermessen und zu stalt des Buches, auf die unsere Moderne sich gern beruft. In diesem
kartographieren.
Fall ist die Hauptwurzel verkümmert, ihr Ende ist abgestorben; und
Ein erster Buchtyp ist das Wurzel-Buch. Der Baum ist bereits das schon beginnt das wilde Wuchern einer Mannigfaltigkeit von Neben-
Bild der Welt, oder vielmehr, die Wurzel ist das Bild des Welt-Baums. wurzeln. Hier kommt die natürliche Realität in der Verkümmerung der
Es ist das klassische Buch als schöne Innerlichkeit, organisch, signifi- Hauptwurzel zum Vorschein, aber dennoch bleibt ihre Einheit als
kant und subjektiv (die Schichten des Buches). Das Buch ahmt die vergangene, künftige oder zumindest mögliche bestehen. Und man
Welt nach wie die Kunst die Natur: mit seinen eigenen Verfahrens- muß sich fragen, ob die geistige und reflektierte Realität diese Tat-
weisen, die das zu einem guten Ende führen, was die Natur nicht oder sache nicht dadurch kompensiert, daß sie ihrerseits auf einer verborge-
nicht mehr vollenden kann. Das Gesetz des Buches ist das Gesetz der nen, aber noch umfassenderen Einheit, einer noch extensiveren Tota-
Reflexion: das Eine, das zwei wird. Warum sollte das Gesetz des lit1it beharrt. Man könnte an die Methode des cut-up bei Burroughs
Buches in der Natur liegen, wenn es doch gerade die Teilung zwischen denken: wenn ein Text mit einem anderen zusammengeschnitten wird,
Welt und Buch, Natur und Kunst vornimmt? Aus eins wird zwei: je- entstehen zahlreiche Wurzeln, sogar wild wachsende (man könnte von
desrnal wenn wir dieser Formel begegnen, ob sie nun von Mao strate- Ablegern sprechen), wodurch den jeweiligen Texten eine Dimension
gisch ausgesprochen oder ob sie so "dialektisch" wie möglich verstan- hinzugefügt wird. In dieser zusätzlichen Dimension des Zusammen-
den wird, haben wir es mit dem reflektiertesteil und klassischsten, mit schnitts setzt die Einheit ihre geistige Arbeit fort. So gesehen kann
dem ältesten und am meisten ausgelaugten Denken zu tun. Die Natur auch ein äußerst zerstückeltes Werk noch als Gesamtwerk oder Opus
verhält sich nicht so: die Wurzeln sind dort Pfahlwurzeln mit zahlrei- Magnum angesehen werden. Die meisten modernen Methoden zur
chen seitlichen und kreisförmigen, aber keinesfalls dichotomischen Produktion von Serien oder zur Vergrößerung einer Mannigfaltigkeit
Verzweigungen. Der Geist bleibt hinter der Natur zurück. Selbst das sind durchaus geeignet, in eine zum Beispiel lineare Richtung zu
Buch als natürliche Realität gleicht mit seiner Achse und den sich weisen, während sich die totalisierende Einheit in einer anderen
darum herumrankenden Blättern einer Pfahlwurzel. Das Buch als Dimension, nämlich in einem Kreis oder einem Zyklus, um so stärker
geistige Realität dagegen, der Baum oder die Wurzel als Bild, bringt durchsetzt. Immer wenn eine Mannigfaltigkeit von einer Struktur er-
unaufhörlich dieses Gesetz hervor: aus eins wird zwei, aus zwei wird faßt wird, wird ihr Wachstum durch eine Verringerung der Kombinati-
vier... Die binäre Logik ist die geistige Realität des Wurzel-Baumes. onsgesetze kompensiert. Die Verhinderer der Einheit sind wahre
Selbst eine so "fortgeschrittene" Disziplin wie die Linguistik behält Engelmacher, doctores angelici, denn sie bestätigen eine engelhafte,
das grundlegende Bild des Wurzel-Baumes bei und bleibt damit dem höhere Einheit. Die Wörter von Joyce, von denen zu Recht gesagt
klassischen Denken verhaftet (Chomskys syntagmatischer Baum geht wird, sie hätten "viele Wurzeln", können die lineare Einheit des Wor-
von einem Punkt S aus und wird durch Dichtoroien erweitert). Mit tes oder gar der Sprache nur insofern durchbrechen, als sie dabei eine
anderen Worten, dieses Denken hat die Mannigfaltigkeit nie begriffen: zyklische Einheit des Satzes, des Textes oder des Wissens vorausset-
um auf geistigem Wege zu zwei zu kommen, muß es von einer zen. Nietzsches Aphorismen können die lineare Einheit des Wissens
starken, grundlegenden Einheit ausgehen. Und vorn Objekt aus ge- nur durchbrechen, indem sie auf die zyklische Einheit der Ewigen
sehen kann man auf natürlichem Wege zwar direkt von dem Einen zu Wiederkehr verweisen, die dem Denken als etwas Nichtgewußtes ge-
drei, vier oder fünf gelangen, jedoch immer unter der Voraussetzung genwärtig ist. Mit anderen Worten, ein System von Wurzelbüsehein
einer starken, ursprünglichen Einheit, jener Hauptwurzel, die die bricht in Wirklichkeit nicht mit dem Dualismus, mit der Kom-
Nebenwurzeln trägt. Das bringt uns aber auch nicht weiter. Die binäre plementarität von Subjekt und Objekt, von natürlicher und geistiger
Logik der Dichotomie ist nur durch bi-univoke Beziehungen zwischen Realität: im Objekt wird die Einheit fortwährend hintertrieben und
aufeinanderfolgenden Kreisen ersetzt worden. Auch die Hauptwurzel vereitelt, während sich im Subjekt ein neuer Typus von Einheit durch-
kann die Mannigfaltigkeit nicht besser erfassen als die dichotornische setzt. Die Welt hat ihre Hauptwurzel verloren, das Subjekt kann nicht
Wurzel. Die eine wirkt im Objekt, während die andere im Subjekt einmal mehr Dichotomien konstruieren, sondern gelangt zu einer
wirkt. Die binäre Logik und die bi-univoken Beziehungen beherrschen höheren Einheit, einer Einheit der Ambivalenz oder Überdeterminie-
selbst noch die Psychoanalyse (der Baum der Wahnvorstellungen in rung in einer Dimension, die zu der des Objektes immer als Ergänzung
Freuds Interpretation des Falles Schreber), die Linguistik und den hinzukommt. Die Welt ist zwar ein Chaos geworden, doch das Buch
Strukturalismus, sogar die Informatik. bleibt Bild der Welt, Nebenwurzel-Chaosmus statt Wurzel-Kosmos.
14
15
Eine seltsame Mystifikation: das Buch wird immer umfassender, je Diskurses, der bestimmte Arten von Gefügen und bestimmte Typen
fragmentarischer es ist. Das Buch als Bild der Welt ist jedenfalls gesellschaftlicher Macht voraussetzt. Die Grammatikalitüt bei
völlig langweilig. Es genügt aber nicht zu rufen Es /ehe das Mannig- Chomsky, das kategoriale Symbol S, das alle Sätze beherrscht, ist vor
faltige!, so schwer dieser Ausruf auch fallen mag. Keine typo- allem die Markierung einer Macht und erst dann die Markierung einer
graphische, lexikalische oder syntaktische Geschicklichkeit kann ihm Syntax: du bildest grammatikalisch korrekte Sätze, du teilst jede Aus-
Gehör verschaffen. Das Mannigfaltige muß gemacht werden, aber sage in ein nominales und ein verbales Syntagma auf (eine erste
nicht dadurch, daß man immer wieder eine höhere Dimension hinzu- Dichotomie ... ). Man kann solchen linguistischen Modellen nicht vor-
fügt, sondern vielmehr schlicht und einfach in allen Dimensionen, werfen, daß sie zu abstrakt wären, sondern im Gegenteil, daß sie nicht
über die man verfügt, immer n-1 (das Eine ist nur dann ein Teil des abstrakt genug sind, daß sie die abstrakte Maschine nicht erfassen, die
Mannigfaltigen, wenn es davon abgezogen wird). Wenn eine Mannig- die Verbindung (Konnexion) einer Sprache mit semantischen und
faltigkeit gebildet werden soll, muß man das Einzelne abziehen, l?.ragmatischen Inhalten von Aussagen bewerkstelligt, mit kollektiven
immer in n-1 Dimensionen schreiben. Man könnte ein solches System Außerungsgefiigen, mit einer ganzen Mikropolitik des gesellschaft-
Rhizom nennen. Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätz- lichen Bereiches. Ein Rhizom dagegen verbindet unaufhörlich semio-
lich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und tische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst,
Knollengewächse sind Rhizome. Pflanzen mit großen und kleinen Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches
Wurzeln können in ganz anderer Hinsicht rhizomorph sein, und man Kettenglied gleicht einer Wurzelknolle, in der ganz unterschiedliche
könnte sich fragen, ob das Spezifische der Botanik nicht gerade das sprachliche, aber auch perzeptive, mimische, gestische und kognitive
Rhizomorphe ist. Sogar Tiere sind es, wenn sie eine Meute bilden, wie Akte zusammengeschlossen sind: es gibt weder eine Sprache an sich
etwa Ratten. Auch der Bau der Tiere ist in all seinen Funktionen noch eine Universalitüt der Sprache, sondern einen Wettstreit von
rhizomorph: als Wohnung, Vorratslager, Bewegungsraum, Versteck Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen. Es gibt keinen
und Ausgangspunkt. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten idealen Sprecher-Hörer, ebensowenig wie eine homogene
Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen Sprachgemeinschaft Die gesprochene Sprache ist, nach einer Formu-
an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen. lierung von Weinreich, "eine wesentlich heterogene Wirklichkeit". Es
Wenn Ratten übereinander hinweghuschen. Im Rhizom gibt es Gutes gibt keine Muttersprache, sondern die Machtergreifung einer vorherr-
und Schlechtes: die Kartoffel und die Quecke, dieses Unkraut. Die schenden Sprache in einer politischen Mannigfaltigkeit. Die Sprache
Quecke ist Tier und Pflanze zugleich, daher heißt sie auch crab-grass. stabilisiert sich im Umkreis einer Pfarrei, eines Bistums, einer Haupt-
Uns ist schon klar, daß wir niemanden überzeugen können, wenn wir stadt. Sie bildet Knollen. Sie entwickelt sich durch unterirdische
nicht wenigstens einige ungeführe Merkmale des Rhizoms aufzählen. Verästelungen und Strömungen, sie folgt Flußtülern oder Eisen-
I. und 2. Das Prinzip der Konnexion und der Heterogenität. Jeder bahnlinien, sie breitet sich wie eine Öllache aus. 3 Man kann eine
Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden Sprache immer in interne strukturale Elemente zerlegen: das unter-
werden. Das ist ganz anders als beim Baum oder bei der Wurzel, bei scheidet sich nicht grundsätzlich von einer Suche nach Wurzeln. Ein
denen ein Punkt, eine Ordnung, festgelegt ist. Chomskys linguistischer Baum hat immer etwas Genealogisches, das ist keine volkstümliche
Baum beginnt an einem Punkt S und wird durch Dichotomien erwei- Methode. Eine Methode vom Typus Rhizom dagegen kann die
tert. In einem Rhizom dagegen verweist nicht jeder Strang notwendi- Sprache nur dadurch untersuchen, daß sie diese auf andere Dimensio-
gerweise auf einen linguistischen Strang: semiotische Kettenglieder nen und Register hin dezentriert. Eine Sprache zieht sich nur als Folge
aller Art sind hier in unterschiedlicher Codierungsweise mit biologi- ihrer Machtlosigkeit auf sich selber zurück.
schen, politischen, ökonomischen etc. Kettengliedern verknüpft, 3. Das Prinzip der Mannigfaltigkeit: nur wenn die Vielheit tatsäch-
wodurch nicht nur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht lich als Substantiv, als Mannigfaltigkeit, behandelt wird, hat es zum
werden, sondern auch unterschiedliche Sachverhalte. Kollektive Einen als Subjekt oder Objekt, als natürliche oder geistige Realität, als
Äußerungsgefüge funktionieren tatsächlich unmittelbar in maschi- Bild und Welt keine. Beziehung mehr. Mannigfaltigkeilen sind rhizo-
nellen Gefügen, und man kann keinen radikalen Einschnitt zwischen
Zeichenregimen und ihren Objekten machen. Auch wenn die Lingui-
stik den Anspruch erhebt, sich ans Explizite zu halten und bei der 3. Vgl. Bertil Malmberg, Nya l'iigar inom sprakforskningen, Stockholm 1964, eng!.
Übers. New Trends in Linguistics, Stockholm 1964, S. 65-67 (das Beispiel des kasti-
Sprache nichts vorauszusetzen, bleibt sie doch in der Sphäre eines
lianischen Dialekts).
16
17
·---------- -.
matisch und entlarven die Pseudo-Mannigfaltigkeit der Bäume. Es gibt Di~ension, die zur Anzahl seiner Linien hinzukommen könnte, das
keine Einheit, die dem Objekt als Pfahlwurzel dient oder sich im Sub- heißt zur Mannigfaltigkeit der Zahlen, die mit diesen Linien verbun-
jekt teilt. Noch nicht einmal eine Einheit, die im Objekt verkümmert d.en sind. Alle Mannigfaltigkeilen sind flach, da sie alle ihre Dimen-
oder im Subjekt "wiederkehrt". Eine Mannigfaltigkeit hat weder Sub- sionen ausfüllen und besetzen: man kann daher von einer Konsistenz-
jekt noch Objekt, sondern nur Bestimmungen, Größen, Dimensionen, ebene der Mannigfaltigkeiteil sprechen, obwohl die Dimensionen die-
die nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei veriindert (die Kombina- ser "Ebene" mit der Anzahl der Verbindungen (Konnexionen) wach-
tionsgesetze wachsen also mit der Mannigfaltigkeit). Als Rhizom oder sen können, die auf ihr angesiedelt werden. Mannigfaltigkeilen werden
Mannigfaltigkeit betrachtet sind die Fäden der Marionette nicht an den durch ~las Außen definiert: durch die abstrakte Linie, die Flucht- oder
angeblichen Willen eines Künstlers oder Marionettenspielers ge- Deterntorialisierungslinie, mit deren Verlauf sie sich verändern indem
bunden, sondern an die Mannigfaltigkeit von Nervenfasern, die in sie sich mit anderen verbinden. Die Konsistenzebene (Raster)' ist das
anderen, mit den Fäden der ersten verbundenen Dimensionen eine ~ußen a.ll.~r ~annigfaltigkeiten. Die Fluchtlinie markiert gleichzeitig:
zweite Marionette bilden: "Die Fäden oder auch die Driihte, mit denen d1e .Rea~Itat emer Anzahl von endlichen Dimensionen, die die Mannig-
die Figuren bewegt werden. Wir wollen sie Gespinst nennen. ( ... ) Ein- faltig~eit t.atsächlich ausfüllt; die Unmöglichkeit, irgendeine Di-
gewandt könnte werden, daß seine Mannipfaltif{keit im Schauspieler m.e~swn lunzuzufügen, ohne daß sich die Mannigfaltigkeit dieser
wohne und von ihm projiziert werde. Gut, aber dessen Nervenfasern L.m1e entsp~eche~d v~rändert; die Möglichkeit und Notwendigkeit, all
sind auch Gespinst. Und das führt über die graue Masse, den Raster, diese .~anmgfaltigkeiten auf ein und derselben Ebene der Konsistenz
ins Ungesonderte zurück ( ... ) Das Spiel ( ... ) nähert sich dem bloßen oder Äußerlichkeit flachzudrücken, welche Dimensionen sie auch ha-
Weben, wie es die Mythen den Parzen und Nornen zuschreiben." 4 Ein l;.en mögen. Ideal für ein Buch wäre, alles auf einer solchen Ebene der
Gefüge ist genau diese Zunahme von Dimensionen in einer Mannig- Äußerlichkeit, auf einer einzigen Seite, auf ein und derselben Fliiche
faltigkeit, deren Natur sich zwangsläufig in dem Maße verändert, in auszubreiten: wahre Ereignisse, historische Bedingungen, Ideenent-
dem ihre Konnexionen sich vermehren. Anders als bei einer Struktur, wür.fe, Individuen, gesellschaftliche Gruppen und Konstellationen.
einem Baum oder einer Wurzel gibt es in einem Rhizom keine Punkte Kleist hat eine Schreibweise dieser Art erfunden, ein von Affekten
oder Positionen. Es gibt nur Linien. Wenn Glenn Gould die Tempi ~_urchbrochenes Gefüge mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten,
eines Stücks schneller spielt, ist das nicht nur virtuos; er verwandelt Uberstürzungen und Transformationen, immer in Beziehung zum
dabei die musikalischen Punkte in Linien, er läßt das Ganze wuchern. Außen. Offene Ringe. Seine Texte stehen daher in jeder Hinsicht im
Die Zahl ist kein universeller Begriff mehr, der die Elemente nach Gegensatz zum klassischen und romantischen Buch, das auf der Inner-
ihrem Platz in einer beliebigen Dimension mißt, sondern ist selber zu lichkeit einer Substanz oder eines Subjekts beruht. Das Buch als
einer Mannigfaltigkeit geworden, die je nach den entsprechenden Kri~gs~aschi~e gegen das Buch als Staatsapparat. Flache Mannig-
Dimensionen veränderlich ist (Primat des Funktionsbereichs gegen- faltLgkel(en nut n Dimensionen sind asignifikant und asubjektiv. Sie
über einem Zahlenkomplex, der mit ihm verbunden ist). Wir haben we.rden mit unbestimmten Artikeln, oder besser gesagt, mit Teilungs-
keine Maßeinheiten, sondern nur Mannigfaltigkeiten oder Variationen artikeln benannt (etwas Quecke, etwas Rhizom ... ).
von Maßen. Der Begriff der Einheit taucht immer nur dann auf, wenn 4. Das Prinzip des asignifikanten Bruchs: gegen die übersignifikan-
in einer Mannigfaltigkeit der Signifikant die Macht übernimmt oder ten Einschnitte, die die Strukturen voneinander trennen oder durchzie-
ein entsprechender Subjektivierungsprozeß stattfindet: zum Beispiel hen. Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen
die Pfahlwurzel-Einheit, die einen Komplex von bi-univoken Bezie- werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien weiter
hungen zwischen objektiven Elementen oder Punkten begründet, oder fort. Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein Tier-
auch das Eine, das sich, dem Gesetz einer binären Logik der Rh.izom bilden, das sich auch dann wieder bildet, wenn sein größter
Differenzierung folgend, im Subjekt teilt. Die Einheit operiert immer Teil zerstört ist. Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, die es
in einer leeren Dimension, die zu der des jeweiligen Systems hinzu- stratifizieren, territorialisieren, organisieren, bezeichnen, zuordnen
kommt (Übercodierung). Ein Rhizom oder eine Mannigfaltigkeit da- etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, die jederzeit eine Flucht
gegen läßt sich nicht übercodieren, es verfügt über keine zusiitzliche ermöglichen. Jedesmal wenn segmentäre Linien auf einer Fluchtlinie
explodieren, gibt es eine Unterbrechung im Rhizom, aber die Flucht-
4. Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch, Stuttgart 1970, § 218 linie bildet einen Teil des Rhizoms. Diese Linien verweisen ununter-
(Hervorhcbung von D./G.). brochen aufeinander. Deshalb kann man niemals einen Dualismus
18
19
- --". \
------------------ ·-··
oder eine Dichotomie konstruieren, auch nicht in der rudiment~ren kann ein Virus sich mit Keimzellen verbinden und dann als Gen in den
Form von Gut und Böse. Man vollzieht einen Bruch, man folgt e1~er Zellen einer komplexen Spezies weitergegeben werden; mehr noch, es
Fluchtlinie, aber es besteht immer die Gefahr, daß man auf Ihr könnte auch fliehen, in die Zellen einer ganz anderen Spezies eindrin-
Organisationen begegnet, die das Ganze neu schich~en, also Gebild~, gen und "genetische Informationen" mitbringen, die vom ersten Wirt
die einem Signifikanten die Macht zurückgeben u~d Zuordnu~gen, d1e stammen (das zeigen beispielsweise neuere Untersuchungen von
ein Subjekt wiederherstellen - alles was man will, vom Wiederauf- Benveniste und Todaro über einen Virus vom Typus C, der eine dop-
leben ödipaler Konflikte bis zu faschistisc~Jen Ver.steinerungen. pelte Verbindung zur DNS des Pavians und bestimmter Arten von
Gruppen und Individuen enthalten Mikrofasch1sn~en,. die ~ur darauf Hauskatzen hat). Die Evolutionsschemata würden dann nicht mehr nur
warten, Gestalt anzunehmen. Ja, auch die Quecke 1st em Rhizom. Gut dem Modell des Stammbaums entsprechen, bei dem sich differenzier-
und Böse sind nur das Ergebnis einer aktiven und vorläufigen Selek- tere Formen aus weniger differenzierten entwickeln, sondern einem
tion, die immer wieder vorgenommen werden muß. . Rhizom, das unmittelbar im Heterogenen wirkt und von einer schon
Wie sollten die Deterritorialisierungsbewegunge~ und .die ~e differenzierten Linie zu einer anderen überspringt. 6 Auch bei Pavian
territorialisierungsprozesse sich nicht aufe~nander b~ziChen •. sich mcht und Katze also eine aparallele Evolution, bei der weder der eine das
ständig verzweigen und einander durchdnngen? Die. Orc~1dee deter- Modell der anderen ist, noch die andere die Kopie des einen (ein
ritorialisiert sich, indem sie ein Bild formt, das Abbild emer Wespe; Pavian-Werden der Katze würde nicht bedeuten, daß die Katze den
aber die Wespe reterritorialisiert sich auf diesem ~ild. Die .Wespe da- Pavian "nachahmt"). Wir bilden ein Rhizom mit unseren Viren, oder
gegen deterritorialisiert sich, indem sie selber zu emem. Te.II ~~s For~ vielmehr, unsere Viren veranlassen uns, ein Rhizom mit anderen Tie-
pflanzungsapparates der Orchidee wird; .aber sie reterntonah~Iert d.1e ren zu bilden. Wie Fran<;ois Jacob feststellte, führen Übertragungen
Orchidee, weil sie deren Pollen transportiert. Wespe und Orchidee bil- von genetischem Material und Verschmelzungen von Zellen
den ein Rhizom, insofern sie heterogen sind. Man könnte sagen, ~aß unterschiedlicher Spezies zu ähnlichen Ergebnissen wie die
die Orchidee die Wespe imitiert, deren Bild sie auf signifikante Weise "schändlichen Liebschaften, die dem Altertum und dem Mittelalter so
reproduziert (Mimesis, Mimikry, Köder etc.). Aber das t~ifft nur au~ sehr am Herzen lagen."7 Querverbindungen zwischen differenzierten
der Ebene der Schichten zu - eine Entsprechung zwischen zwei Linien bringen die Stammbäume durcheinander. Man muß immer das
Schichten bei der eine pflanzliche Organisation auf der einen eine tie- Molekulare oder sogar das submolekulare Teilchen suchen, mit dem
rische Organisation auf der anderen imitiert. G.Iei~hzeitig geht es wir ein Bündnis eingehen. Wir entwickeln uns eher durch polymorphe
jedoch um etwas anderes: nicht mehr nur um lmitati?n, sondern um und rhizomatische Grippen und sterben eher an ihnen als an unseren
das Einfangen von Code, des Code-Mehrwertes, um die Zunahme der Erbkrankheiten oder solchen, die eine eigene Abstammungslinie
Wertigkeit; es geht um wirkliches Werden, Wespe-We~den d~r haben. Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie.
Orchidee Orchidee-Werden der Wespe, und jedes Werden sichert d1e
Deterrito;ialisierung des einen und die Reterritorialisierung d~s
6. Zu den Arbeiten von R. E. Benveniste und G. J. Todaro, vgl. Yves Christen, "Le rölc
anderen Terms, das eine und das andere Werden verbinden sich mit-
des virus dans l'evolution", La Recherche, Nr. 54, März 1975: "Wenn bei der Ab-
einander und wechseln sich in einem Kreislauf von lntensitäten ab, der trennung ein Irrtum vorliegt, können die Viren nach der Integration-Extraktion Frag-
die Deterritorialisierung immer weiter vorantreibt. Dabei gibt es weder mente der DNS ihres Wirtes mitreißen und sie auf neue Zellen übertragen: das ist übri-
Imitation noch Ähnlichkeit, sondern eine Explosion zweier heteroge- gens die Grundlage des sogenannten genetic engineering. Daher kann auch durch Viren
ner Serien auf der Fluchtlinie, die aus einem gemeinsamen Rhizom genetische Information von einem Organismus auf einen anderen übertragen werden. Im
zusammengesetzt ist, das keinem Signifikanten mehr zugeordnet"o~er Extremfall könnte man sich sogar vorstellen, daß diese Informationsübertragung von
unterworfen werden kann. Remy Chauvin sagt treffend: Eme einer entwickelteren Spezies auf eine weniger entwickelte oder genetisch vorhergehende
aparallele Evolution zweier Wesen, die absolut nichts miteinand~r zu stattfindet. Dieser Mechanismus würde also gegenläufig zu dem funktionieren, dem die
tun haben."5 Allgemeiner gesagt: es ist möglich, daß die EvolutiOns- klassische Evolution folgt. Wenn solchen Informationsübertragungen eine große
schemata mehr und mehr dahin tendieren, das alte Modell des Baumes Bedeutung zukommen sollte, könnte man in bestimmten Fällen die Busch- und Baum-
schemata, die heute benutzt H-'erden, um die El'olution zu l'eranschaulichen, durch net:-
und der Abstammung aufzugeben. Unter bestimmten Bedingungen
förmige Schemata ersetzen (mit Verbindungen :wischen den Zweigen nach ihren Diffe-
remierungen)." (S. 271)
5. Remy Chauvin, in Entreliens sur Ia sexualite, hrsg. von Max Aron, Robert Courricr 7. Fran~ois Jacob, Die Logik des Lebenden, übers. von Jutta und Klaus Scherrer, Frank-
und Etienne Wolff, Paris 1969, S. 205. furt 1972, S. 33 I.
20 21
\
Das gleiche gilt für das Buch und die Welt: ein Buch i~t, ent~egen Lauf gelassen, als lauter "transformierenden Mannigfaltigkeiten",
einem fest verwurzelten Glauben, kein Bild der Welt. Es bildet mit der wobei sie sogar ihre eigenen Codes, die sie zur Struktur oder zum
Welt ein Rhizom. Es gibt eine aparallele Evolution von Buch und Baum machen, umwarf; deshalb ist die musikalische Form, bis in ihre
Welt wobei das Buch die Deterritorialisierung der Welt sichert, die Brüche und Wucherungen hinein, dem Unkraut vergleichbar, ein
Wett' aber eine Reterritorialisierung des Buches bewirkt, das sich RhizomY
seinerseits selber in der Welt deterritorialisiert (wenn es dazu in der 5. und 6. Das Prinzip der Kartographie und des Abziehbildes: ein
Lage ist). Um Phänomene ganz anderer Art zu beschrei?en, i~t der Rhizom Hißt sich keinem strukturalen oder generativen Modell zuord-
Begriff "Mimikry", der zu einer binären Logik gehört, wemg geeignet. nen. Jede Vorstellung einer genetischen Achse oder Tiefenstruktur ist
Das Krokodil reproduziert ebensowenig die Form eines Bam~stamms, ihm fremd. Eine genetische Achse gleicht einer objektiven Mittel-
wie das Chamäleon die Farben seiner Umgebung reproduziert. Der achse, auf der aufeinanderfolgende Stufen angeordnet sind; eine
rosarote Panther imitiert nichts, er reproduziert nichts, er malt die Welt Tiefenstruktur gleicht eher einer Basissequenz, die in ihre unmittelba-
in seiner Farbe an rosarot auf rosarot, das ist seine Art, zur Welt zu ren Bestandteile zerlegt werden kann, während die Einheit des
werden, so daß e'r selber unsichtbar und asignifikant wird, seinen Produkts in eine andere, transformative und subjektive Dimension
Bruch und seine Fluchtlinie selber erzeugen und seine "aparallele übergeht. Das bedeutet keinen Bruch mit dem repräsentativen Modell
Evolution" vollenden kann. Weisheit der Pflanzen: selbst wenn sie des Baumes oder der Wurzel -ob Pfahlwurzel oder Wurzelbüschel
Wurzeln haben, gibt es immer noch ein Außen, in dem ~ie .mit et~as (wie zum Beispiel der "Baum" bei Chomsky, der mit der Basissequenz
anderem ein Rhizom bilden können - mit dem Wind, mit emem Tier, verbunden ist und seinen Entstehungsprozeß, einer binären Logik ent-
mit dem Menschen (und in dieser Hinsicht können auch die Tiere sprechend, repräsentiert). Eine Spielart des ältesten Denkens. Wir
selber ein Rhizom bilden, ebenso wie Menschen etc.). "Die Trunken- meinen, daß genetische Achsen oder Tiefenstrukturen in erster Linie
heit als triumphaler Einbruch der Pflanze in uns." Man muß dem Prinzipien der Kopie und deshalb unendlich reproduzierbar sind. Die
Rhizom durch Brüche hindurch folgen, die Fluchtlinie verlängern, gesamte Logik des Baumes ist eine Logik der Kopie und der Repro-
fortsetzen, wechseln und ändern, bis die abstrakteste und ver- duktion. Ihr Gegenstand ist in der Linguistik wie in der Psychoanalyse
schlungensie Linie mit n Dimensionen und gebrochenen Richtungen ein Unbewußtes, das selber nur Repräsentant ist, das sich in codifi-
entsteht. Man muß deterritorialisierte Strömungen konjugieren, ver- zierten Komplexen kristallisiert und auf einer genetischen Achse oder
einigen. Den Pflanzen folgen: man beginnt damit, die Grenzen einer in einer syntagmatischen Struktur verteilt ist. Das Ziel dieser Logik ist
ersten Linie festzulegen, die Konvergenzkreisen um aufeinan- die Beschreibung eines bestehenden Zustandes, der Ausgleich inter-
derfolgende Singularitäten herum folgt; man sieht dann, wie innerhalb subjektiver Beziehungen oder die Erforschung eines bereits vorhan-
dieser Linie neue Konvergenzkreise entstehen, mit neuen Punkten, die denen Unbewußten, das in den dunklen Winkeln von Gedächtnis und
außerhalb dieser Grenzen und in anderen Richtungen liegen. Sprache verborgen ist. Sie beschränkt sich darauf, ausgehend von
Schreiben, ein Rhizom bilden, sein Gebiet durch Deterritorialisierung einer übercodierenden Struktur oder stützenden Achse, etwas abzu-
vergrößern, die Fluchtlinie ausdehnen, bis sie als abstrakte Maschine pausen oder zu kopieren, das schon vollständig vorhanden ist. Der
die gesamte Konsistenzebene abdeckt. "Geh zuerst zu deiner alten Baum verbindet die Kopien und ordnet sie hierarchisch, die Kopien
Pflanze und sieh dir genau die Wasserrinnen des Regens an. sind sozusagen die Blätter des Baumes.
Inzwischen muß der Regen die Samen weit fortgetragen haben. Beob- Ganz anders das Rhizom, das eine Karte und keine Kopie ist.
achte die Rinnen des Abflusses, und von da an mußt du die Richtung Karten, nicht Kopien machen. Die Orchidee produziert keine Kopie
des Laufs erkennen. Dann suche die Pflanze, die am weitesten entfernt der Wespe, sondern stellt mit ihr eine Karte innerhalb eines Rhizoms
von deiner Pflanze wächst. Alle Teufelskrautpflanzen, die zwischen her. Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf
ihnen wachsen, gehören dir. Wenn sie später Samen tragen, kannst du
dein Gebiet vergrößern, indem du auf dem Weg dem Wasserlauf jeder
Pflanze folgst."8 Die Musik hat ihren Fluchtlinien schon immer freien 9. Pien·e Boulez, Wille und Zufall. Gespräche mit Ce/estin Delil'ge und Hans Mayer,
übers. von Josef Häusler und Hans Mayer, Stuttgart und Stuttgart-Zürich 1977. "Man
pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie Unkraut." (S. 15)
Und an anderer Stelle über das Wuchern der Musik: "... eine sozusagen schwimmende
8. Carlos Castaneda, Die Lehren des Don .Juan, übers. von Celine und Heiner ßastian, Musik, in der es die Schreibweise sogar dem Instrumentalisten unmöglich macht, die
Frankfurt 1986, S. 100. Übereinstimmung mit einem >>pulsierenden<< Tempo aufrecht zu erhalten." (S. 78)
22 23
ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die ~inem Rhizom, daß es sich mit Wurzeln kreuzt und manchmal mit
Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewußtes, sie thnen verwächst? Enthält nicht auch eine Karte redundante Phäno-
konstruiert es. Sie unterstützt die Verbindung von Feldern, die Freiset- me~e, ~ie ~chon als .ihre eigene Kopie erscheinen? Hat eine Mannig-
zung organloser Körper und ihre maximale Ausbreitung auf einer falttg~~lt mcht auch thre Schichten, in denen Vereinheitlichungen und
Konsistenzebene. Sie ist selber ein Teil des Rhizoms. Die Karte ist Totahsterungen, Häufungen, mimetische Mechanismen, signifikante
offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und um- ~.achter~reifungen und subjektive Zuordnungen verwurzelt sind?
gekehrt werden, sie kann stiindig neue Veränderungen aufnehmen. Fuhren mcht sogar die Fluchtlinien mit ihren möglichen Divergenzen
Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller zur Reproduktion der Formationen, die sie hätten auflösen oder um-
Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer wälzen sollen? Aber auch das Gegenteil stimmt, das ist eine Frage der
gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf Metho?e: Man muß die Kopie immer auf die Karte zuriickiihertragen.
eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Und dtese Vergehensweise verhält sich durchaus nicht symmetrisch
Aktion oder Meditationsübung begreifen. Es ist vielleicht eine der zur vorhergehenden. Denn strenggenommen stimmt es nicht, daß die
wichtigsten Eigenschaften des Rhizoms, immer vielfültige Zu- Karte von einer Kopie reproduziert wird. Sie ist eher so etwas wie eine
gangsmöglichkeiten zu bieten. In diesem Sinn ist der Bau ein Tier- Photo- oder Radioaufnahme, bei der das, was man aufnehmen will
Rhizom, in dem manchmal ein deutlicher Unterschied zwischen der au.sgewählt oder isoliert wird, und zwar mit Hilfe künstlicher Mittel:
Fluchtlinie als Verbindungsgang und den Ebenen für Vorratshaltung mtt Farbstoffen oder anderen restriktiven Verfahren. Es ist immer die
oder Wohnen besteht (vergleiche die Moschusratte). Eine Karte hat Imita.tion, die sich ihr Modell verschafft und es heranzieht. Die Kopie
viele Zugangsmöglichkeiten, im Gegensatz zur Kopie, die immer nur hat dte Karte schon in ein Bild übersetzt, sie hat das Rhizom schon in
"auf das Gleiche" hinausläuft. Bei einer Karte geht es um Performanz, große und kleine Wurzeln zerlegt. Ihren eigenen Achsen der Si-
während die Kopie immer auf eine angebliche "Kompetenz" verweist. gnifik.a~z und Subjektivierung folgend, hat sie die Mannigfaltigkeilen
Psychoanalyse und psychoanalytische Kompetenz beschränken jedes orgamstert, stabilisiert und neutralisiert. Sie hat das Rhizom generiert
Begehren und jede Aussage auf eine genetische Achse oder eine und strukturalisiert. Die Kopie reproduziert immer nur sich selber,
übercodierende Struktur, sie stellen immer wieder eintönige Kopien wenn sie meint, etwas anderes zu reproduzieren. Deshalb ist sie auch
von Stadien auf dieser Achse oder von Bestandteilen dieser Struktur so gefährlich. Sie injiziert und verbreitet Redundanzen. Von einer
her. Die Schizoanalyse dagegen lehnt jede Vorstellung einer kopierten Karte ode~ einem Rhizom reproduziert die Kopie nur die Sackgassen
Zwangsläufigkeit entschieden ab, wie auch immer man sie benennt, ob und Blockierungen, die Keime für Pfahlwurzeln oder Strukturierungs.~
göttlich, anagogisch, historisch, ökonomisch, struktural, hereditär oder punk~e. ~ehen wir uns einmal die Psychoanalyse und die Linguistik
syntagmatisch. (Man merkt, daß Melanie Klein das Problem der an: dte eme hat immer nur Kopien oder Photos vom Unbewußten, die
Kartographie eines ihrer Kinderpatienten, des kleinen Richard, nicht ande.re .von der Sprache hergestellt, mit allen Verfälschungen, die
verstanden hat. Sie begnügt sich damit, vorgefertigte Kopien wieder d~mtt emhergehen (kein Wunder, daß die Psychoanalyse ihr Schicksal
abzuziehen - Ödipus, der gute und der böse Papa, die gute und die mit dem der Linguistik verbunden hat). Man kann sehen was schon
böse Mama - während das Kind verzweifelt versucht, eine Perfor- mit dem kleinen Hans geschehen ist, ein typischer Fall der Kinder-
manz zu erreichen, die von der Psychoanalyse völlig verkannt wird.) 10 analyse: man hat immer wieder sein Rhizom zerstört, seine Karte
Triebe und Partialobjekte sind weder Stadien auf der genetischen ii?erma~t, man hat sie eingegrenzt und ihm alle Ausgänge versperrt,
Achse noch Positionen in einer Tiefenstruktur, sie sind politische bts er stch schließlich selber seine Scham und Schuld wünschte, bis
Optionen für Probleme, Eingänge und Ausgänge, Sackgassen, die das ~cham und Schuld fest in ihm verwurzelt waren, die Phobie (man hat
Kind politisch erlebt, das heißt mit der ganzen Kraft seines Begehrens. thm das Rhizom von Haus und Straße versperrt, man hat ihn im Bett
Stellen wir nun doch einen einfachen Dualismus wieder her, wenn seiner Eltern verwurzelt, man hat ihn mit seinem eigenen Körper
~ir Karten und Kopien als gut und böse gegenüberstellen? Gehört es verwurzelt, man hat ihn durch Professor Freud abgeblockt). Freud geht
mcht zu einer Karte, daß sie kopiert werden kann? Gehört es nicht zu ausdrücklich auf die Kartographie des kleinen Hans ein, aber immer
nur, um sie auf ein Familienphoto zurückzuprojizieren. Und was
macht Melanie Klein mit den geopolitischen Karten des kleinen
10. Vgl. Melanie Klein, Der Fall Richard. Das vollständige Protokoll einer Kinderana- ~ichard? Sie macht Photoabzüge davon, Kopien; nehmt Haltung an,
lyse, durchgeführt von Melanie Klein, München 1975: Die Rolle der Kriegskarten bei nchtet euch nach der Achse aus. Ob Entwicklungsstadium oder
Richards Aktivitäten.
24 25
\
strukturales Schicksal, euer Rhizom wird zerstört. Man läßt euch leben daß die Psychoanalyse unfreiwillig als Stützpunkt dient. In anderen
und sprechen, vorausgesetzt, daß alle Ausgänge verstopft sind. Wenn Fällen dagegen wird man sich direkt auf eine Fluchtlinie stützen, um
ein Rhizom verstopft ist, wenn man einen Baum daraus gemacht hat, Schichten aufzusprengen, Wurzeln zu zerstören und neue Konnexio-
dann ist es vorbei, dann kann das Begehren nicht mehr strömen, denn nen herzustellen. Es gibt also ganz unterschiedliche Gefüge von
das Begehren wird nur durch das Rhizom bewegt und erzeugt. Jedes- Karten und Kopien, von Rhizomen und Wurzeln mit variablen Deter-
mal wenn das Begehren einem Baum folgt, kommt es zu inneren ritorialisierungskoeffizienten. In Rhizomen gibt es Baum- und
Rückschlägen, durch die es zusammenbricht und in den Tod getrieben Wurzelstrukturen, aber umgekehrt kann auch der Zweig eines Baumes
wird. Das Rhizom dagegen wirkt auf das Begehren durch produktive oder der Teil einer Wurzel beginnen, rhizomartig Knospen zu treiben.
Anstöße von außen ein. Die Standortbestimmung lüingt dabei nicht von theoretischen Analy-
Deshalb ist es so wichtig, das andere, umgekehrte, aber nicht sen ab, die von Universalien ausgehen, sondern von einer Pragmatik,
symmetrische Verfahren zu erproben. Man muß die Kopien wieder mit die Mannigfaltigkeilen oder Intensitätskomplexe zusammensetzt.
der Karte verbinden, die Wurzeln und Bäume auf ein Rhizom Mitten in einem Baum, tief unten an einer Wurzel oder an einer Ast-
beziehen. Das Unbewußte zu studieren, würde bedeuten, im Falle des gabel kann sich ein neues Rhizom bilden. Oder es ist vielmehr das
kleinen Hans zu zeigen, wie er aus der elterlichen Wohnung, aber auch mikroskopisch kleine Element des Wurzelbaumes, eine Wurzelfaser,
aus der Fluchtlinie des Hauses, der Straße etc. ein Rhizom zu bilden die die Produktion eines Rhizoms in Gang setzt. Buchhaltung und
versucht; es wäre zu zeigen, daß diese Linien blockiert sind, daß das Bürokratie arbeiten mit Kopien. Dennoch können sie, wie in einem
Kind sich in seiner Familie verwurzeln, hinter dem Vater photogra- Roman von Kafka, zu sprießen beginnen und Rhizomsirlinge
phieren und auf das Bett der Mutter kopieren läßt; ferner, wie durch hervortreiben. Ein kräftiger Strang verselbständigt sich, eine
die Intervention von Professor Freud die Machtergreifung des Signifi- halluzinatorische Wahrnehmung, eine Synästhesie, eine perverse
kanten durch eine Subjektivierung von Affekten gesichert wird; wie Mutation, ein Zusammenspiel von Bildern reißt sich los, und schon ist
das Kind nur noch fliehen kann, indem es zum Tier wird, was es als die Vorherrschaft des Signifikanten in Frage gestellt. Die Semiotik der
beschämend und schuldhaftempfindet (das Pferd-Werden des kleinen Gesten, der Mimik, des Spiels etc. gewinnt bei Kindern ihre Freiheit
Hans als echte politische Option). Man müßte die Sackgassen auf der zurück und löst sich von der "Kopie", das heißt, von der beherr-
Karte erneut lokalisieren und sie dadurch für mögliche Fluchtlinien schenden Sprachkompetenz des Lehrers - ein mikroskopisch kleines
öffnen. Das gleiche würde für die Karte einer Gruppe gelten: hier wäre Ereignis stürzt das Gleichgewicht der lokalen Mächte um. Auch die
zu zeigen, an welchem Punkt des Rhizoms Plüinomene wie Ver- Stammbäume des syntagmatischen Modells von Chomsky können sich
massung, Bürokratie, leadership und Faschisierung etc. entstehen, und in alle Richtungen öffnen und ihrerseits Rhizome bilden. 12 Rhizo-
welche Linien dennoch unterirdisch fortbestehen und im Verborgenen morph sein bedeutet, Stränge und Fasern zu produzieren, die so aus-
weiterhin ein Rhizom bilden. Die Deligny-Methode: eine Karte der sehen wie Wurzeln oder sich vielmehr mit ihnen verbinden, indem sie,
Gesten und Bewegungen eines autistischen Kindes aufzeichnen, ver- selbst auf die Gefahr hin, daß ein neuer, ungewöhnlicher Gebrauch
schiedene Karten für dasselbe Kind oder mehrere Kinder miteinander von ihnen gemacht wird, in den Stamm eindringen. Wir sind des
kombinieren ... 11 Wenn es stimmt, daß Karten oder Rhizome prinzipiell Baumes überdrüssig geworden. Wir dürfen nicht mehr an Bliume, an
vielfältige Zugangsmöglichkeiten haben, dann kann man sogar daran große und kleine Wurzeln glauben, wir haben zu sehr darunter ge-
denken, auf dem Weg über eine Kopie oder einen Wurzelbaum hin- litten. Die ganze baumförmige Kultur beruht auf ihnen, von der Biolo-
einzukommen, wenn man die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen gie bis hin zur Linguistik. Schön, politisch und liebevoll sind nur un-
getroffen hat (auch in diesem Fall sollte ein manichäischer Dualismus terirdische Stränge und Luftwurzeln, der Wildwuchs und das Rhizom.
vermieden werden). Man wird wahrscheinlich oft gezwungen sein, in Amsterdam, eine Stadt ganz ohne Wurzeln, eine Rhizom-Stadt mit
Sackgassen umzukehren, durch signifikante Kräfte und subjektive Kanal-Strängen, in der sich Nützlichkeit und äußerster Wahnsinn zu
Regungen hindurchzugehen, sich auf ödipale, paranoide oder noch einer Handelskriegsmaschine verbinden.
schlimmere Formationen und auf verhärtete Territorien zu stützen, die
andere Transformationsverfahren ermöglichen. Es kann sogar sein,
12. Vgl. Dieter Wunderlich, "Pragmatik, Sprechsituation, Deixis", in Zeitschrift für Lite-
raturwissensclwft und Linguistik, Jg. I, 1-1. 1/2, Frankfurt 1971, S. 153-190: die Ver-
I I. Femand Deligny, Cahiers de /'immuab/e, ßd. I, Voix et I'Oir, Recherche.1·, Nr. 8 suche von MacCawley, Sadock und Wunderlich, "pragmatische Eigenschaften" in die
(April 1975), und Ein Floß in den Bergen, übers. von Clemens-Carl !-laerle, Berlin 1980. Biiume Chomskys zu integrieren.
26 27
Das Denken ist nicht baumförmig, und das Gehim ist weder eine ments. Ein solches Segment ist ein "Verbindungsdipol", im Unter-
verwurzelte noch eine verzweigte Materie. Die zu Unrecht so genann- schied zu "Einheitsdipolen", die strahlenförmig von einem einzigen
ten "Dendriten" stellen keine Verbindung von Neuronen in einem Zentrum ausgehen. 14 Aber auch wenn die Beziehungen sich wie in
zusammenhängenden Gewebe her. Die Diskontinuität der Zellen, die einem Wurzelsystem vermehren, man kommt doch niemals aus dem
Rolle der Axonen, die Funktion der Synapsen, die Existenz synapti- Eins-Zwei und den nur vorgetäuschten Mannigfaltigkeilen heraus.
scher Mikro-Fissuren, der Sprung jeder Botschaft über diese Fissuren Auch Regenerationen, Reproduktionen, Umkehrbewegungen, Hydren
hinweg, machen aus dem Gehim eine Mannigfaltigkeit, die auf ihrer und Medusen helfen uns nicht weiter. Baumsysteme sind hierarchisch
Konsistenzebene oder ihrer Glia in ein ungewisses System von Wahr- und haben Zentren der Signifikanz und Subjektivierung, zentrale
scheinlichkeilen eingebettet ist, uncertain nervaus system. Vielen Automaten, die als organisiertes Gedächtnis funktionieren. Daher
Menschen ist ein Baum in den Kopf gepflanzt, aber das Gehim selbst erhält in den entsprechenden Modellen jedes Element seine Informa-
ist eher ein Kraut oder Gras als ein Baum. "Axon und Dendrit sind tionen immer aus einer höheren Einheit, und subjektive Regungen
umeinander gewunden wie eine Ranke um einen Brombeerstrauch, mit gehen nur von bereits bestehenden Verbindungen aus. Das wird an den
einer Synapse an jedem Dom." 13 Das gilt auch für das Gedächtnis ... aktuellen Problemen der Informatik und der elektronischen Geräte
Die Neurologen und Psychophysiologen unterscheiden zwischen recht deutlich, die so sehr an den ältesten Denkformen festhalten, daß
einem Langzeit- und einem Kurzzeitgedächtnis (in der Größenordnung die Macht an ein Zentralorgan oder Gedächtnis delegiert wird. In
von einer Minute). Die Differenz ist allerdings nicht nur quantitativ: einem interessanten Artikel entlarven Pierre Rosenstiehl und Jean
das Kurzzeitgedächtnis gehört zum Typus Rhizom oder Diagramm, Petitot "die Bilderwelt der Befehlsbäume" (zentrierte Systeme oder
während das Langzeitgedächtnis baumartig und zentralisiert ist hierarchische Strukturen). Sie schreiben: "Wenn man hierarchischen
(Abdruck, Einprägung, Kopie oder Photo). Das Kurzzeitgedächtnis Strukturen das Primat zugesteht, läuft das auf eine Privilegierung von
hängt nicht von einem Gesetz der Kontiguität oder Unmittelbarkeit Baumstrukturen hinaus. ( ... ) Die Baumform Hißt eine topalogische Er-
seines Gegenstandes ab. Es kann sich entfernen und viel später klärung zu. ( ... ) In einem hierarchischen System duldet ein Individuum
kommen oder wiederkehren, aber immer unter der Voraussetzung der nur einen einzigen aktiven Nachbam, und zwar einen in der Hierarchie
Diskontinuität, des Bruchs oder der Mannigfaltigkeit. Mehr noch, übergeordneten. ( ... ) Die Übertragungskanäle sind von vomherein
beide Gedächtnisformen unterscheiden sich voneinander nicht nur als festgelegt: die Baumform geht dem Individuum voraus, das an einer
zwei zeitgebundene Wahrnehmungsweisen derselben Sache. Es ist bestimmten Stelle eingefügt wird" (Signifikanz und Subjektivierung).
nicht dieselbe Sache, es ist nicht dieselbe Erinnerung, und es ist auch Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß selbst
nicht dieselbe Idee, die sie beide auffassen. Der Glanz eines schnellen dann, wenn man eine Mannigfaltigkeit zu erreichen glaubt, diese
Einfalls: man schreibt mit dem Kurzzeitgedächtnis, also mit kurzen falsch sein kann (was wir als System von Nebenwurzeln bezeichnen),
Ideen, aber man liest lange Entwürfe immer mit dem Langzeitge-
dächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis schließt das Vergessen als Prozeß
14. Vgl. Julien Pacotte, Le reseau arborescent, schi'me primordial de Ia pensee, Paris
mit ein; es ist nicht mit dem Augenblick, sandem mit dem kollektiven, 1936. In diesem Buch werden die verschiedenen Schemata der Baumform analysiert und
zeitlichen und nervlichen Rhizom verbunden. Das Langzeitgedächtnis entwickelt, die nicht als blol.\er Formalismus dargestellt wird, sondern als "die reale
(Familie, Generation, Gesellschaft oder Zivilisation) kopiert oder Grundlage des formalen Denkens". Es treibt das klassische Denken auf die Spitze und
übersetzt, aber was es übersetzt, wirkt in ihm weiter, aus der Distanz, nimmt alle Formen des "Eins-Zwei", der Theorie des Dipols auf. Der Gesamtkomplex
zur Unzeit, "unzeitgemäß", indirekt. Stamm-Wurzel-Zweige ergibt das folgende Schema:
Der Baum oder die Wurzel rufen ein trauriges Bild des Denkens
hervor, das - von einer höheren Einheit, einem Zentrum oder Seg-
ment ausgehend - immer wieder das Mannigfaltige imitiert. Und ~ /" Segment Gegenteil \ /
tatsächlich spielt der Stamm, wenn man die Gesamtheit von Zweigen /·~ 1\
·~
und Wurzeln betrachtet, für eine dieser Unter-Einheiten, die von unten
nach oben durchlaufen werden, die Rolle eines gegen/iiufigen Seg-
In jüngerer Zeit hat Michel Serres Arten und Sequenzen von Bäumen in den ver-
schiedensten wissenschaftlichen Bereichen analysiert: wie der Baum von einem "Netz"
13. Steven Rose, The Conscious Brain, New York 1975, S. 76; über das Gedächtnis vgl. ausgehend entsteht (La Traduction, Paris 1974, S. 27ff. (demnächst deutsch); Feux et
s. 185-219. si!inaux de brume, Paris 1975, S. 35ff.).
28 29
weil ihre scheinbar nicht hierarchische Darstellung oder Aussage in eine maschinelle Gesellschaft, jeden zentralisierenden und vereinheit-
Wirklichkeit nur eine völlig hierarchische Lösung zu Hißt. So zum Bei- lichenden Automaten als "asozialen Eindringling" zurückweist.I6 Also
spiel bei dem berühmten Freundscha.fls-Theorem: "Wenn zwei belie- ist n _immer n-1: Rose~1stiehl und Petitot betonen, daß der Gegensatz
bige Individuen in einer Gesellschaft genau einen gemeinsamen zent~Isch-azentnsch mcht so sehr aufgrund der Dinge gilt, die er
Freund haben, dann gibt es ein Individuum, das mit allen anderen bezeichnet, sondern vielmehr gaufgrund der Zurechnungsweisen, mit
befreundet ist." (Rosenstiehl und Petitot fragen, wer nun dieser denen er an die Dinge herangeht. Biiume können an ein Rhizom ange-
gemeinsame Freund ist. "Ist der universelle Freund dieser Gesellschaft schlossen sein oder im Gegenteil ein Rhizom hervortreiben. Und im
von Paaren der Lehrer, der Beichtvater oder der Arzt? All diese Vor- allgemeinen trifft es zu, daß ein und dieselbe Sache beide Zurech-
stellungen sind vom Ausgangsaxiom erstaunlich weit entfernt." Ein nungsweisen oder Steuerungstypen zuliißt, wobei ihr Zustand sich aber
Freund des Menschengeschlechts oder vielleicht der Philo-soph des jeweils grundlegend ändert. Das gilt zum Beispiel sogar für die
klassischen Denkens, selbst wenn er nur eine verkümmerte Einheit ist, Psychoanalyse: nicht nur in ihrer Theorie, sondern auch in ihrer Praxis
wenn sein Wert nur in seiner Abwesenheit und Subjektivität liegt und der Zurechnung und Behandlung unterwirft sie das Unbewußte baum-
er daher sagt: Ich weiß nichts und ich bin nichts?) Die Autoren artigen Strukturen, hierarchischen Graphen, wiederholenden Erinne-
sprechen in diesem Zusammenhang von Theoremen der Diktatur. rungen, Zentralorganen, dem Phallus, Phallusbaum. In dieser Bezie-
Darauf läuft auch das Prinzip der Wurzeln und Bäume hinaus, oder der ~ung ~ann di~ Psyc!10analyse ihre Methode nicht ändern: sie gründet
Ausweg und die Lösungsmöglichkeit der Nebenwurzeln: auf die Ihre eigene diktatonsehe Macht auf einem diktatorischen Begriff des
Struktur der Macht.I 5 l!nbe~ußten. Die Manövrierfähigkeil der Psychoanalyse ist also
Diesen zentrierten Systemen setzen die Autoren Systeme ohne Zen- z~emhch beschränkt. In der Psychoanalyse wie in ihrem Gegenstand
trum entgegen, Netzwerke von endlichen Automaten, in denen die gibt es immer einen General, einen Chef (General Freud). Die Schizo-
Kommunikation von einem Nachbarn zum anderen hergestellt wird, in analyse dagegen, die das Unbewußte wie ein azentrisches System
denen Stränge oder Kanäle nicht schon vorgegeben sind, in denen alle behandelt, ~ie ein maschinelles Netz endlicher Automaten (Rhizom),
Individuen untereinander austauschbar und nur durch einen momenta- gelangt zu emem ganz anderen Status des Unbewußten. Das gilt auch
nen Zustand definierbar sind, so daß die lokalen Vorgänge koordiniert für die Linguistik. Rosenstiehl und Petitot erwägen zu Recht die
werden und das Endergebnis unabhängig von einer zentralen Instanz Möglichkeit einer "azentrischen Organisation einer Gesellschaft von
synchronisiert wird. Eine Transduktion intensiver Zustände löst die Wörtern". Für Aussagen und Begierden geht es nie darum, das Un-
Topologie ab, und "der Graph, der den Informationsfluß reguliert, ist ~ewußte einem Baumschema entsprechend zu reduzieren, zu interpre-
gewissermaßen das Gegenteil eines hierarchischen Graphen ... Es gibt tieren oder signifikant zu machen. Es geht darum, das Unhewußte 211
keinen Grund, warum der Graph ein Baum sein sollte" (wir würden produzieren, und mit ihm neue Aussagen, andere Begierden: das
einen solchen Graphen als Karte bezeichnen). Hier stellt sich das Rhizom ist diese Produktion des Unbewußten selbst.
Problem der Kriegsmaschine oder des Firing Squad: braucht man Es ist merkwürdig, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte
einen General, damit n Individuen gleichzeitig abfeuern können? Vom
Standpunkt eines Kriegsrhizoms oder einer Guerillalogik aus kann
16. Ebenda. Das wichtigste Merkmal eines azentrischen Systems: die lokalen Initiativen
man die Lösung ohne General für eine nicht zentrierte Mannigfaltig- werden .unabhängig von einer zentralen Instanz koordiniert, und die Berechnungen
keit finden, die eine begrenzte Anzahl von Zuständen und Signalen werden nn gesamten Netzwerk (Mannigfaltigkeit) vorgenommen. "Deshalb kann eine
mit entsprechender Geschwindigkeit enthält, ohne daß die Kopie eines Personendatei nur bei den Personen selber angelegt werden, denn nur sie sind in der
zentralen Befehls notwendig ist. Man kann sogar zeigen, daß eine Lage, sich zu beschreiben und die Angaben auf dem laufenden zu halten: die Gesell-
solche maschinelle Mannigfaltigkeit, ein maschinelles Gefüge oder schaft selber ist die einzig mögliche Datenbank für persönliche Daten. Eine von Natur
aus azentrischc Gesellschaft lehnt den zentralisierenden Automaten als asozialen Ein-
dringling ab." (S. 62) Zum "Firing Squad Theorem" vgl. S. 51-57. Es kommt sogar vor,
15. Pierre Rosenstiehl und Jean Petitot, "Automate asocial et systcmes accntrcs", in daß ~enerale, die davon träumen, sich die formalen Techniken des Guerillakampfes
Communicarions, Nr. 22, 1974, S. 45-62. Zum Freundschaftstheorem vgl. llerbert S. anzue1gnen, auf Manni~!_{altiRkeitcn "von synchronen Modulen" zurückgreifen, "die auf
Wilf, The Friendship Theorem in Combinatorial Mathematics, Welsh Academic Press; zahlreichen, voneinander unabhängigen leichten Einheiten beruhen", die theoretisch nur
über ein ähnliches Theorem, das sogenannte Theorem der kollektiven Unent- ein Minimum von zentralisierter Macht und "hierarchischen Schaltstellen" enthalten·
schlossenheit, vgl. Kenneth J. Arrow, Social Choice and /ndil'idual Values, New York siehe auc~1 Guy Brossollet, "Das Ende der Schlacht", übers. von W. Sczepan, in Emil
1963. Spanocclu, Guy Brossollet, Verteidigung oluze Schlacht, München 1976.
30 31
Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Bio- Das Unkraut ist die Nemesis des menschlichen Strebens. ( ... ) Von
logie und Anatomie aber auch die Erkenntnistheorie, die Theologie, allen imaginären Existenzen, die wir den Pflanzen, Tieren und Sternen
die Ontologie, die ~esamte Philosophie ... der Wurzelgrund, Grund*, zuschreiben, führt das Unkraut das weiseste Leben. Es stimmt, das
roots und foundations. Das Abendland hat eine besondere Beziehung Unkraut bringt keine Lilien, keine Schlachtschiffe, keine Bergpre-
zum Wald und zur Rodung; die Felder, die dem Wald abgerungen digten hervor. ( ... ) Aber schließlich behält das Unkraut die Oberhand.
werden, sind von samentragenden Pflanzen bewachsen, dem Ergebnis Schließlich nillt alles zurück in einen Zustand wie in China. Die Histo-
einer Abstammungskultur, die baumartig ist und sich auf die Spezies riker bezeichnen das im allgemeinen als das finstere Mittelalter. Das
bezieht; die Viehzucht, die sich auf dem Brachland entwickelt, selek- Gras ist der einzige Ausweg. ( ... ) Das Unkraut existiert nur, um die
tiert ebenfalls Abstammungslinien, die eine baumartige Verzweigung brachliegenden Flächen auszufüllen, die von den kultivierten Flächen
von Tieren bilden. Der Orient zeigt ein ganz anderes Muster: eher eine freigelassen werden. Es wächst dazwischen, zwischen anderen Dingen.
Beziehung zur Steppe und zum Garten (in anderen Füllen zur Wüste Die Lilie ist schön, der Kohl ist eßbar, der Mohn macht verrückt -
und Oase) als zu Feld und Wald; eine Knollenzucht, die auf der Tei- aber das Gras ist wucherndes Wachstum ( ... ): es ist eine moralische
lung von Einzelorganismen beruht; die Viehzucht bleibt abseits, wird Lektion." 18 - Von welchem China spricht Miller, vom alten, vom
auf geschlossene Räume begrenzt oder in die Steppe der Nomaden zu- heutigen, von einem imaginären, oder etwa von einem ganz anderen,
rückgedrängt. Im Okzident eine Landwirtschaft mit ausgewählten das zu einer sich bewegenden Karte gehört?
Abstammungslinien und vielen variablen Einzelorganismen; im Orient Man müßte Amerika einen besonderen Platz einräumen. Gewiß, es
eine Gartenbaukultur mit einer geringen Zahl von Einzelorganismen, ist nicht frei von der Herrschaft der Bäume und der Suche nach Wur-
die auf einer umfangreichen Skala von "Klonen" beruht. Gibt es nicht zeln. Das merkt man sogar in der Literatur, an der Suche nach einer
im Orient, ganz besonders in Ozeanien, so etwas wie ein rhizomati- nationalen Identität und sogar nach einer europäischen Abstammung
sches Modell, das sich in jeder Hinsicht vom abendländischen Modell und Genealogie (Kerouac auf der Suche nach seinen Vorfahren).
des Baumes unterscheidet? Haudricourt sieht darin sogar einen Grund Trotzdem geschieht alles, was wichtig war und ist, durch das amerika-
für den Gegensatz von Ethiken und Philosophien der Transzendenz, nische Rhizom: Beatnik, Underground, Banden und Gangs,
die dem Okzident so lieb und teuer sind, und denen der Immanenz des aufeinanderfolgende Seitentriebe, die unmittelbar mit einem Außen
Orients: der Gott der aussät und abmäht, gegen den Gott, der steckt verbunden sind. Der Unterschied zwischen dem amerikanischen und
und ausgräbt (Ste~kkultur gegen Saatkultur). 17 Die Transzendenz: eine dem europäischen Buch, selbst wenn das amerikanische auf der Suche
typisch europäische Krankheit. Und es ist auch nicht dieselbe Musik, nach Bäumen ist. Eine unterschiedliche Vorstellung vom Buch.
die Musik dieser Erde ist ganz anders. Und es ist auch nicht dieselbe "Grashalme". Und die Himmelsrichtungen in Amerika sind anders: im
Sexualität: samentragende Pflanzen, selbst wenn sie beide Ge- Osten findet die Suche nach dem Baum und die Rückkehr zur Alten
schlechter vereinigen, ordnen die Sexualität dem Modell der Fort- Welt statt. Aber der Westen ist rhizomatisch, mit seinen Indianern
pflanzung unter; das Rhizom dagegen bedeutet eine Befreiung der ohne Abstammungslinie, seinem immer fliehenden Horizont, seinen
Sexualität, nicht nur im Hinblick auf die Fortpflanzung, sondern auch beweglichen und verschiebbaren Grenzen. Im Westen, wo sogar die
im Hinblick auf die GenitaliUit. Bei uns ist der Baum in die Körper Bäume Rhizome bilden, gibt es eine typisch amerikanische "Karte". In
eingepflanzt, und er hat sogar die Geschlechter verhärtet und in Amerika sind die Richtungen vertauscht: sein Orient liegt im Westen,
Schichten aufgeteilt. Wir haben das Rhizom oder das Gras verloren. als ob die Welt sich gerade in Amerika gerundet hätte; sein Westen ist
Henry Miller: "China ist das Unkraut im menschlichen Kohlbeet ( ... ) der Rand des Ostens. 19 (Anders als Haudricourt glaubte, spielt nicht
17. Zur abendländischen Landwirtschaft mit samentragenden Pflanzen und zur ori- 18. Henry Miller, in HenryMillerund Michael Fraenkel, 1/am/et, New York 1939, S.
entalischen Gartenkultur der Knollenpllanzcn, zum Gegensatz von Saatkultur und 105f.
Steckkultur und zu den Unterschieden auf dem Gebiet der Viehzucht, vgl. Andre 19. Vgl. Leslie A. Fiedler, Die Riickkehr des \"erschwundenenllmerikaners, übers. von
Haudricourt, "Domestication des animaux, culture des plantes et traitement d'autrui", Wolfgang Ignee und Michael Stone, Frankfurt 1970. Dieses Buch enthält eine aus-
L'llomme, Bd. 2, Nr. I, 1962, S. 40-50, und "Nature et culturc dans Ia civilisation de gezeichnete Analyse der Geographie und ihrer mythologischen und literarischen Rolle in
l'igname: l'origine des clonsetdes clans", L'/lomme, Bd. 4, 1964, S. 93-104. Mais und Amerika, sowie der Umkehrung der Richtungen. Im Osten gab es die Suche nach einem
Reis bilden keine Ausnahme: es sind Getreidesorten, die "erst spät von Knollenbauern spezifisch amerikanischen Code und nach einer Recodierung mit Europa (Henry James,
übernommen" und auf ähnliche Weise behandelt wurden; es ist wahrscheinlich, daß der Eliot, Pound etc.); im Süden fand sich die Übercodierung des Sklavensystems mit
Reis "zuerst als Unkraut in den Tarogräben aufgetreten ist." seinem eigenen Ruin und dem der Plantagen während des Sezessionskrieges (Faulkner,
32 33
Indien die Vermittlerrolle zwischen Okzident und Orient, sondern und Kanal, Wurzel und Rhizom gleichzeitig. Es gibt keinen univer-
Amerika ist der Dreh- und Angelpunkt.) Die amerikanische Sängerin sellen Kapitalismus, keinen Kapitalismus an sich, der Kapitalismus
Patti Smith singt das Evangelium des amerikanischen Zahnarztes: steht an der Kreuzung aller möglichen Formationen; noch schlimmer,
sucht keine Wurzel, folgt dem Kanal... er ist von Natur aus immer ein Neokapitalismus und er erfindet sein
Gibt es nicht auch zwei Bürokratien, oder sogar drei und mehr? Die orientalisches und sein abendländisches Gesicht, und die Umgestal-
abendländische Bürokratie: agrarischen Ursprungs, auf Grundblichern tung beider.
beruhend, die Wurzeln und Felder, die Biiume und ihre Rolle als Mit all diesen geographischen Zuweisungen sind wir auf einen
Grenzzeichen, die große Volksziihlung unter Wilhelm dem Eroberer, falschen Weg geraten. In eine Sackgasse. Um so besser. Wenn es um
das Lehnswesen, die Politik der französischen Könige, die den Beweis dafür geht, daß auch Rhizome ihren eigenen Despotismus,
Begründung des Staates auf dem Eigentum, die Ausdehnung der ihre eigene Hierarchie haben, die natürlich noch härter sind, auch gut,
Ländereien durch Kriege, Prozesse und Heirat. Die französischen denn es gibt keinen Dualismus, keinen ontologischen Dualismus von
Könige wählten die Lilie, weil sie eine Pflanze mit tiefreichenden hier und dort, keinen axiologischen Dualismus von Gut und Böse,
Wurzeln ist, die sich an den Abhang klammert. Ist es im Orient keine Vermischung oder amerikanische Synthese. Es gibt baumartige
ebenso? Es wäre sicher vereinfacht, den Orient als Rhizom und Imma- Verknotungen in Rhizomen und rhizomatische Triebe in Wurzeln. Es
nenz darzustellen; aber der Staat handelt dort nicht nach einem Baum- gibt sogar despotische Formationen der Immanenz und Kanalisierung,
schema, das alt eingesessenen, angestammten und verwurzelten die spezifisch für Rhizome sind. Im transzendenten System der Bäume
Klassen entspricht; es ist eine Bi.irokratie der Kanäle, wie zum Beispiel gibt es anarchische Deformationen, Luftwurzeln und unterirdische
die beri.ihmte hydraulische Kraft bei "schwachem Eigentum", wo der Stränge. Wichtig ist vor allem, daß der Wurzel-Baum und das Kanal-
Staat kanalisierende und kanalisierte Klassen hervorbringt (vgl. die Rhizom einander nicht wie zwei Modelle gegenüberstehen. Der eine
20
Aspekte von Wittfogels Thesen, die nie widerlegt worden sind) • Der wirkt transzendent, als Modell und Kopie, selbst wenn er seine eige-
Despot agiert dort als Fluß und nicht als Quelle, die immer noch ein nen Fluchtlinien erzeugt; das andere wirkt als immanenter Prozeß, der
Punkt, Baum-Punkt oder eine Wurzel wäre. Er schwimmt mit dem das Modell umstößt und eine Karte verwischt, selbst wenn es seine
Wasser, statt sich unter einen Baum zu setzen; und der Baum Buddhas eigenen Hierarchien aufbaut und einen despotischen Kanal erschafft.
wird selber zum Rhizom; Maos Fluß und Ludwigs Baum. Hat Ame- Es geht nicht um diesen oder jenen Ort auf der Erde, auch nicht um
rika nicht auch in dieser Hinsicht als Vermittler gewirkt? Es funktio- einen bestimmten Moment in der Geschichte, und noch weniger um
niert nämlich gleichzeitig durch Ausrottung und Liquidation im Inne- diese oder jene Kategorie des Geistes. Es geht um das Modell, das un-
ren (nicht nur der Indianer, sondern auch der Farmer etc.) und durch aufllörlich entsteht und einstürzt, und um den Prozeß, der unautlJörlich
aufeinanderfolgende EinwanderungsschUbe von außen. Der Ka- fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. Nein, kein
pitalstrom erzeugt einen riesigen Kanal, eine Quanti:ikatio~ d~r anderer oder neuer Dualismus. Ein Problem der Schrift: man braucht
Macht, mit unmittelbaren "Quanten", in denen jeder auf seme Wetse m dringend anexakte Ausdrücke, um etwas exakt zu bezeichnen. Und
den Genuß des vorbeifließenden Geldstroms kommt (daher der zwar keineswegs, weil man da hindurch müßte, weil man nur durch
Mythos und die Realität des Armen, der zum Milliardiir wird, um dann Annäherungen weiterkäme: die Anexaktheit ist eben keine Annähe-
wieder zu verarmen): in Amerika kommt also alles zusammen, Baum rung, sondern im Gegenteil genau die Durchgangsstelle dessen, was
im Werden ist. Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den
Caldwell); aus dem Norden kam die kapitalistische Dccodierung (Dos Passos, Dreiser); anderen zu verwerfen. Wir benutzen den Dualismus von Modellen
der Westen dagegen spielte eine Rolle als Fluchtlinie, in der sich Reise, Halluzination, nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen
Wahnsinn, Indianer, Experimente mit Wahrnehmung und Psyche, das Verschieben von wird. Wir brauchen immer wieder geistige Korrektoren, die die Dua-
Grenzen, das Rhizom (Ken Kesey und seine "Nebelmaschine", die "beat gencration" lismen auflösen, die wir im übrigen nicht festlegen wollten, durch die
etc.) miteinander vermischen. Jeder große amerikanische Autor erschafft eine Kartogra- wir nur hindurchgehen. Um zu der Zauberformel zu kommen, die wir
phie, allein schon durch den jeweils eigenen Stil. Im Gegensatz zu dem, was sich bei uns alle suchen: Pluralismus =Monismus, und dabei durch alle Dualismen
abspielt, legt sich jeder eine Karte an, die unmittelbar mit den realen gesellschaftlichen
hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger
Bewegungen verbunden ist, die Amerika durchziehen. Ein Beispiel dafür ist überall im
Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben.
Werk von Fitzgerald die Markierung geographischer Richtungen.
20. Kar! A. Wittfogel, Die orielllalisclre Despotie, übers. von Frits Kool, Frankfurt- Fassen wir die wesentlichen Merkmale eines Rhizoms zusammen:
Berlin-Wien 1977. im Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom
34 35
einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei und Pflanzlichen, zur Welt, zur Politik, zum Buch, zu natürlichen und
nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien ver- künstlichen Dingen, die sich völlig von der baumartigen Beziehung
weist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Ver- unterscheidet: um alle möglichen Arten des "Werdens".
hältnisse ohne Zeichen ins Spiel. Das Rhizom Hißt sich weder auf das Ein Plateau ist immer Mitte, hat weder Anfang noch Ende. Ein
Eine noch auf das Mannigfaltige zurückführen. Es ist nicht das Eine, Rhizom besteht aus Plateaus. Gregory Bateson benutzt das Wort
das zu zwei wird, oder etwa direkt zu drei, vier oder fünf, etc. Es ist "Plateau", um etwas ganz Spezielles zu bezeichnen: eine zusammen-
kein Mannigfaltiges, das sich aus der Eins herleitet und dem man die hängende, in sich selbst vibrierende Intensitätszone, die sich ohne jede
Eins hinzuaddieren kann (n+ I). Es besteht nicht aus Einheiten, Ausrichtung auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreitet.
sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Batcson zitiert als Beispiel die balinesische Kultur, in der sexuelle
Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus Spiele zwischen Mutter und Kind oder auch Streitereien zwischen
es wächst und sich ausbreitet. Es bildet lineare Mannigfaltigkeilen mit Männern zu dieser bizarren Intensitäts-Stabilisierung gelangen. Eine
n Dimensionen, die weder Subjekt noch Objekt haben, die auf einer Art von gleichmäßigem !lltensitäts-Plateau hat den Höhepunkt ersetzt,
Konsistenzebene verteilt werden können und von denen das Eine im- ob im Krieg oder beim Orgasmus. Es ist eine bedauerliche Eigenheit
mer abgezogen wird (n-1 ). Eine solche Mannigfaltigkeit kann in ihren des westlichen Denkens, Gefühlsäußerungen und Handlungen auf
Dimensionen nicht variieren, ohne ihre Beschaffenheit zu verändern äußere oder transzendente Ziele zu beziehen, anstatt sie auf einer
und sich völlig zu verwandeln. Im Gegensatz zu einer Struktur, die Immanenzebene nach ihrem eigenen Wert einzuschätzen. 21 Ein Buch
durch eine Menge von Punkten und Positionen definiert wird, sowie zum Beispiel, das aus Kapiteln besteht, hat seine Höhe- und Schluß-
durch binäre Beziehungen zwischen diesen Punkten und durch bi-uni- punkte. Was geschieht dagegen in einem Buch, das aus Plateaus
voke Verhältnisse zwischen den Positionen, besteht das Rhizom nur besteht, die miteinander über Mikro-Fissuren kommunizieren, wie es
aus Linien: aus Dimensionen der Segmentierungs- und Stratifizie- im Gehirn geschieht? Wir bezeichnen jede Mannigfaltigkeit als
rungslinien, aber auch der Flucht- und Deterritorialisierungslinie, einer "Plateau", die mit anderen Mannigfaltigkeilen durch äußerst feine
äußersten Dimension, in der die Mannigfaltigkeit, der Fluchtlinie unterirdische Stränge verbunden werden kann, so daß ein Rhizom ent-
folgend, sich völlig verwandelt und dabei ihre Beschaffenheit stehen und sich ausbreiten kann. Wir schreiben dieses Buch wie ein
verändert. Man darf solche Linien und Umrißlinien nicht mit den Rhizom. Es ist aus Plateaus zusammengesetzt oder komponiert. Wir
Abstammungslinien des Baumtypus verwechseln, die nichts als haben ihm eine zirkuläre Fonn gegeben, aber nur zum Spaß. Jeden
lokalisierbare Verbindungen zwischen Punkten und Positionen sind. Morgen nach dem Aufstehen hat sich jeder von uns gefragt, welche
Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom kein Gegenstand der Plateaus er sich vornehmen würde, um hier fünf oder dort zehn Zeilen
Reproduktion: weder als äußere Reproduktion wie beim Bild-Baum, zu schreiben. Wir haben halluzinatorische Experimente gemacht, wir
noch als innere Reproduktion wie in der Baum-Struktur. Das Rhizom haben beobachtet, wie Linien ein Plateau verlassen haben, um wie
ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti- kleine Ameisenkolonnen zu einem anderen weiterzuziehen. Wir haben
Gedächtnis. Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Variation, Konvergenzkreise gezogen. Jedes Plateau kann von jeder beliebigen
Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen. Im Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt
Gegensatz zur Graphik, Zeichnung oder Photographie, und im werden. Für das Mannigfaltige braucht man eine Methode, mit der
Gegensatz zur Kopie bezieht sich das Rhizom auf eine Karte, die man es tatsächlich herstellen kann; sie kann weder durch typographi-
produziert und konstruiert werden muß, die man immer zerlegen, ver- sche Tricks, lexikalische Geschicklichkeit, Wortmischungen oder
binden, umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Ein- Wortschöpfungen noch durch kühne syntaktische Schritte ersetzt
und Ausgänge hat. Man muß die Kopien auf die Karten übertragen, werden. In Wirklichkeit sind das alles häufig nur mimetische Verfah-
und nicht umgekehrt. Anders als zentrierte (auch polyzentrische) ren, mit denen eine Einheit aufgelöst und zerstreut werden soll, die in
Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Be- einer anderen Dimension für ein Bild-Buch beibehalten wird. Techno-
ziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und
asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes
21. Grcgory Bateson, Ökologie des Geistes, übers. von H. G. Holl, Frankfurt 1985, S.
Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und 160-176. Wie man feststellen kann, wird das Wort "Plateau" in klassischen
allein durch eine Zirkulation von Zustünden definiert. Im Rhizom geht Untersuchungen über Zwiebeln, Knollen und Rhizome verwendet; vgl. den Artikel über
es um eine Beziehung zur Sexualität, aber auch zum Animalischen die "Knolle" in M. H. Baillon, Dictionnaire de botanique, Paris 1876-1892.
36 37
Narzißmus. Typographische, lexikalische oder syntaktische Schöpfun- Warum ist das so schwierig? Das ist bereits eine Frage nach der
gen sind nur dann notwendig, wenn sie nicht Hinger zur Aus- Semiotik der Wahrnehmung. Es ist nicht einfach, die Dinge von der
drucksform einer verborgenen Einheit gehören und selber eine der Mitte her zu sehen, statt von oben auf sie herabzusehen oder von unten
Dimensionen der jeweiligen Mannigfaltigkeit werden. Wir kennen auf zu ihnen hinauf, oder von links nach rechts oder umgekehrt. Versucht
diesem Gebiet nur wenige gelungene Versuchc. 22 Wir selbst waren es, und ihr werdet sehen, daß sich alles ändert. Es ist nicht einfach, das
dazu nicht in der Lage. Wir haben nur Wörter verwendet, die für uns Gras in den Dingen und Wö11ern zu sehen (so sprach Nietzsche davon,
wie Plateaus funktionieren. RIIIZOMATIK = SC!IIZOANALYSE = daß ein Aphorismus "wiedergekäut" werden müsse; ein Plateau ist
STRATOANALYSE =PRAGMATIK= MIKROPOLITIK. Diese Wörter sind niemals von den Kühen zu trennen, die es bevölkern und die auch die
Konzepte, aber Konzepte sind Linien, das heißt Zahlensysteme, die Wolken am Himmel sind). 24
mit dieser oder jener Dimension der Mannigfaltigkeilen verbunden Geschichte ist immer nur aus der Sicht der Seßhaften und im Namen
sind (Schichten, Molekularketten, Flucht- und Unterbrcchungslinien, eines einheitlichen, zumindest eines möglichen Staatsapparates
Konvergenzkreise etc.). Wir beanspruchen keinesfalls den Rang einer geschrieben worden, selbst wenn von Nomaden die Rede ist. Es fehlt
Wissenschaft. Wir kennen keine Wissenschaftlichkeit und keine eine Nomadologie, das Gegenteil von Geschichtsschreibung. Auch auf
Ideologie mehr, sondern nur noch Gefüge. Und es gibt nur .. noch diesem Gebiet gibt es nur selten große Erfolge, wie zum Beispiel beim
maschinelle Gefüge des Begehrens und kollektive Gefüge der Auße- Thema der Kinderkreuzzüge: das Buch von Marcel Schwob verviel-
rung. Keine Signifikanz und keine Subjektivierung: auf n hin schrei- fältigt die Berichte wie lauter Plateaus mit variablen Dimensionen.
ben (jede individuierte Äußerung bleibt in den herrschenden Signifika- Oder Die Pforten des Paradieses von Andrzejewski, das aus einem
tionen gefangen, jeder signifikante Wunsch verweist auf unterworfene einzigen, ununterbrochenen Satz besteht, ein Strom von Kindern, der
Subjekte). Ein Gefüge wirkt in seiner Mannigfaltigkeit notwendiger- Strom eines Marsches, der auf der Stelle tritt, sich in die Länge zieht
weise zugleich auf semiotische, materielle und gesellschaftliche Strö- und vorwärts stürmt, ein semiotischer Strom der Beichten aller Kinder,
mungen ein (unabhängig von ihrer möglichen Wiedereinbindung in die vor dem alten Mönch an der Spitze des Zuges ihr Sün-
einen theoretischen oder wissenschaftlichen Korpus). Es gibt keine denbekenntnis ablegen, ein Strom des Begehrens und der Sexualitiit,
Dreiteilung mehr zwischen einem Bereich der Realität (der Welt), ei- jedes Kind ist aus Liebe fortgezogen und wird mehr oder weniger
nem Bereich der Darstellung und Vorstellung (dem Buch) und einem direkt von dem dunklen, posthumen päderastischen Verlangen des
Bereich der Subjektivität (dem Autor). Vielmehr stellt ein Gefüge Comte de Yendome geleitet, und zwar in Konvergenzkreisen. Es ist
Verbindungen zwischen bestimmten Mannigfaltigkeilen aus alldiesen nicht wichtig, ob die Ströme "eins oder viele" sind, darüber sind wir
Ordnungen her, so daß ein Buch seine Fortsetzung nicht im folgenden hinaus: es gibt ein kollektives Gefüge der Äußerung, ein maschinelles
Buch findet und weder die Welt zum Objekt noch einen oder mehrere Gefüge des Begehrens, das eine im anderen und beide an ein unge-
Autoren zum Subjekt hat. Kurz gesagt, wir meinen, daß man gar nicht heueres Außen angeschlossen, das auf jeden Fall eine Mannigfaltigkeit
genug im Namen eines Außen schreiben kann. Das Außen hat kein ist. Ein neueres Beispiel ist Armand Farmchis Buch über den IV.
Bild, keine Signifikation und keine Subjektivität. Das Buch als Kreuzzug, La dislocation, in dem die Sätze auseinanderlaufen und sich
Zusammenfügung mit dem Außen gegen das Buch als Bild der Welt. auflösen oder sich zusammendrängen und berühren, und in dem die
Ein Rhizom-Buch, das nicht mehr dichotom, zentriert oder gebündelt Buchstaben und die Typographie in dem Maße zu tanzen beginnen,
ist. Niemals Wurzeln schlagen oder anpflanzen, wie schwierig es auch wie der Kreuzzug ins Delirium verfiillt. 25 Das sind Modelle für eine
sein mag, nicht auf diese alten Verfahrensweisen zurückzugreifen. nomadische und rhizomatische Schreibweise. Das Schreiben verbindet
"Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der sich mit einer Kriegsmaschine und mit Fluchtlinien, es verläßt die
Wurzel aus ein, sondern erst irgendwogegen ihre Mitte. Versuche sie
dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu
halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfüngt." 23 24. Vgl. Fricdrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede (8).
25. Marcel Schwob, Der Kinderkreuzzug, frz. 1896, dt. 1914; Jerzy Andrzejewski, Die
Pforten des Paradieses, poln. 1960, dt. München 1963; Armand Farrachi, La disloca·
22. So zum Beispiel Joclle dc Ia Casiniere, Absolument m:cessaire. The Emergency tilm, Paris 1974. Im Zusammenhang mit dem Buch von Schwob bemerkte Paul Alphan-
Book, Paris 1973, ein wirklich nomadisches Buch. In dieselbe Richtung weisen die dery, daß die Literatur in bestimmten Fällen die Geschichte wiederbeleben und "ganze
Forschungsarbeiten im "Montfaucon Research Center". Forschungsrichtungcn" erschließen kann (La chrhient1: et /'idee de croisade, Paris 1959,
23. Franz Kafka, Tagebücher 1910-1923, Frankfurt 1967, S. 9. Bd. 2, S. I 16).
38 39
\
Schichten, die Segmentierungen, die Seßhaftigkeit und den Staats- Auf n hin schreiben, n-1, in Slogans schreiben: Bildet Rhizome und
apparat. Aber wozu braucht man noch ein Modell? Sind diese Bücher keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Siit nichts aus, sondern nehmt Ab-
nicht immer noch ein "Bild" der Kreuzzüge? I-lallen sie nicht immer leger! Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten! Zieht
noch an einer Einheit fest, bei Schwob an einer Achseneinheit, bei Linien, setzt nie einen Punkt! Geschwindigkeit macht den Punkt zur
Farmchi an einer verkümmerten Einheit und im schönsten Beispiel, Linie! 26 Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, 27
den Pforten des Paradieses, an der Einheit des toten Grafen? Braucht Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Ihr braucht
man ein tiefergehendes Nomadenturn als das der Kreuzzüge, ein keine richtigen Ideen zu haben, nur habt eine Idee (Godard). Habt
Nomadenturn der echten Nomaden oder derjenigen, die sich nicht ein- kurzlebige Ideen. Macht keine Photos oder Zeichnungen, sondern
mal mehr bewegen und nichts mehr imitieren? Das Nomadenturn Karten. Seid der rosarote Panther und ihr werdet euch lieben wie
derjenigen, die nur noch Gefüge bilden. Wie kann das Buch ein Wespe und Orchidee, Katze und Pavian. Vom "Oid man river" sagt
adäquates Außen finden, mit dem es im Heterogenen ein Gefüge man:
bilden kann, anstatt eine Welt zu reproduzieren? Kulturell gesehen ist He don't plant tatos
das Buch zwangs!Uufig eine Kopie: die Kopie seiner selbst, die Kopie Don't plant cotton
eines vorherigen Buches desselben Autors, die Kopie anderer Bücher, Them that plants them is soon forRotten
wie unterschiedlich sie auch sein mögen, ein unendlicher Abklatsch Bllt old man ril•er he just keeps rollin' along.
feststehender Konzepte und Wörter, ein Abklatsch der gegenwiirtigen,
vergangenen oder zukünftigen Welt. Auch das antikulturelle Buch Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte,
kann mit einer schweren kulturellen Last beladen sein, doch wird es zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo. Der Baum ist
sie aktiv benutzen: Vergessen statt Erinnerung, Unterentwicklung statt Filiation, aber das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. Der
Fortschritt zur Entwicklung, Nomadenturn statt Seßhaftigkeit, Karte Baum braucht das Verb "sein", doch das Rhizom findet seinen Zu-
statt Kopie. RHIZOMATIK = POP-ANALYSE, selbst wenn das Volk sammenhalt in der Konjunktion "und ... und ... und ... ". In dieser Kon-
etwas anderes zu tun hat als es zu lesen, selbst wenn die Blöcke an junktion liegt genug Kraft, um das Verb "sein" zu erschüttern und zu
universitiirer Kultur oder Pseudowissenschaftlichkeit darin noch zu entwurzeln. Wohin geht ihr? Woher kommt ihr? Was wollt ihr errei-
genau oder schwerfällig sind. Denn die Wissenschaft würde völlig ver- chen? Das sind unnütze Fragen. Reinen Tisch machen, bei Null anfan-
rückt werden wenn man sie sich selbst überließe. Man braucht sich gen oder neu beginnen, einen Anfang oder eine Grundlage suchen -
nur die Math,ematik anzusehen: das ist keine Wissenschaft, sondern all das sind falsche Vorstellungen von Reise und Bewegung
ein phantastischer und nomadischer Jargon. Sogar und vor allem im (methodische, pädagogische, initiatorische oder symbolische Vorstel-
Bereich der Theorie ist ein prekäres und pragmatisches Gerüst mehr lungen). Kleis!, Lenz oder Büchner haben eine andere Art zu reisen
wert als ein Abklatsch von Begriffen, deren Einschnitte und Fort- und sich zu bewegen, von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hin-
schritte nichts ändern. Lieber ein unmerklicher Bruch als ein signifi- durch, eher gehen und kommen als aufbrechen und ankommen. 28
kanter Einschnitt. Die Nomaden haben eine Kriegsmaschine gegen Diese rhizomatische Tendenz findet sich noch ausgepriigter in der
den Staatsapparat erfunden. Die Geschichtsschreibung hat das amerikanischen und auch schon in der englischen Literatur; sie
Nomadenturn niemals begriffen, das Buch hat das Außen niemals wußten, wie man sich zwischen den Dingen bewegt, wie man eine
begriffen. Der Staat als Modell für das Buch und das Denken hat eine Logik des UND entwickelt, die Ontologie umkehrt, die Grundlagen
lange Geschichte: der Logos, der Philosoph als König, die Tran- außer Kraft setzt, Anfang und Ende annulliert. Sie wußten, wie eine
szendenz der Idee, die Innerlichkeit des Begriffs, die Gelehrten- Pragmatik aussehen muß. Die Mitte ist eben kein Mittelwert, sondern
republik, das Tribunal der Vernunft, die Sachwalter des Denkens, der
Mensch als Gesetzgeber und Subjekt. Die Anmaßung des Staates, das 26. Vgl. Paul Virilio, "Fahrzeug", in Fahren, fahren fahren ... , übers. von U. Raulff,
verinnerlichte Bild einer Weltordnung zu sein und den Menschen zu Berlin 1978, S. 22, über das Auftauchen der Linearität und die Umwälzung im Bereich
verwurzeln. Aber die Beziehung einer Kriegsmaschine zu einem der Wahrnehmung durch die Geschwindigkeit.
Außen ist kein anderes "Modell", es ist ein Gefüge, das das Denken 27. Französisch "Ligne dc chance, lignc de hanche ... ", Refrain eines Liedes, das Karina
und Belmondo in dem Film "Pierrot le Fou" von Godard singen. [A.d.Ü.]
selber nomadisch macht und das Buch zu einem Teil aller beweglichen
28. Vgl. Jcan-Christophe Baillys Beschreibung der Bewegung in der deutschen Ro-
Maschinen, zu einem Strang für ein Rhizom (Kieist und Kafka gegen mantik in seiner Einleitung zu La L<:gende dispasee. Anthologie du romantisme al/e-
Goethe). mand, Paris 1976, S. 18ff.
40 41
im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden.
Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, die
vom einen zum anderen geht und umgekehrt, sondern eine Pendel-
bewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und die andere
Richtung geht, ein Strom ohne Anfang oder Ende, der seine beiden
Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt.
42