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Laufener Seminarbeitr. 1/01, S. 11 - 16 • Bayer. Akad. f. Naturschutz u.

Landschaftspflege - Laufen / Salzach 2001

Störungsökologie:
Ursache und Wirkungen von Störungen
Josef H. REICHHOLF

1. Einleitung: Störenfried Mensch – anderen Tieren (Feinde/unbekannte Großtiere


Der Mensch stört in der Natur. Diese Tatsache er- – Vorgängen in der Umwelt (Hochwasser/Stür-
scheint uns so selbstverständlich, dass man sie als me u.a.)
Gegebenheit hinnimmt. Draußen in der Natur sind – Menschen
Menschen „Eindringlinge“ und mancher Naturschüt- Störungen sind relevant im Hinblick auf ihre
zer ist sicherlich zutiefst davon überzeugt, es wäre – Dauer
am besten, wenn die Menschen überhaupt von den – Intensität
sensiblen Naturgebieten ferngehalten werden könn- – Frequenz <Häufigkeit des Auftretens>
ten. Denn ohne Mensch funktioniert Natur am bes- – zeitliche Verteilung
ten. – Tageszeit
Die Verordnungen zu Naturschutzgebieten enthalten – Jahreszeit
daher auch umfangreiche Bestimmungen, wie denn Die Auswirkungen von Störungen hängen von den
der Mensch sich in diesen Gebieten mit Vorrang für Vorerfahrungen der betroffenen Arten ab.
die Natur zu verhalten hat, was er (noch) tun darf und
was verboten ist oder welche Bereiche für das Betre-
ten, Befahren oder für sonstige Betätigungen von 3. Störökologie
Menschen tabu sind. behandelt die ökologischen Auswirkungen von (von
Menschen verursachten) Störungen auf Individuen,
Die grundsätzliche Frage, warum eigentlich der
ihre Fortpflanzung, Populationen und Artengemein-
Mensch so sehr stört und ganz anders behandelt wer-
schaften (ökologische Auswirkungen).
den soll als andere Großtiere, wird in aller Regel gar
nicht (mehr) gestellt. Auch das tatsächliche, nach- Die Physiologie von Störungen behandelt die inne-
prüfbare Ausmaß von Störungen, die von Menschen ren Auswirkungen von Störungen, wie Stress und
verursacht werden, wird nur in Ausnahmefällen ein- energetische Kosten (hervorgerufen von Flucht- oder
mal nachgefragt und so gut wie nie wirklich über- Vermeidereaktionen und verminderter Nahrungsauf-
prüft, wo es zu entsprechenden Einschränkungen nahme).
nach dem deutschen Naturschutzrecht kommt. Meis-
Ihre naturwissenschaftlich einwandfreie Ermittlung
tens wird auch die Wirksamkeit der einschränkenden
erfordert aufwendige Freilandmessungen, denen zu-
Bestimmungen nicht weiter überprüft. Betretungsver-
meist vorab bereits (erhebliche) Störwirkungen
bote, vor allem partielle, werden als Besucherlenkung
(durch Fang der Tiere und Applikation der Mess-
deklariert und damit vom unangenehmen Beige-
instrumente) zugeschrieben werden müssen. Verhal-
schmack eines Verbots etwas abgerückt. Denn es ist
tensbezogene Beobachtungen können physiologische
klar: Die Natur braucht Ruhe! Wieviel, wann und wo,
Auswirkungen bestenfalls plausibel machen, aber
ist allerdings weit weniger klar. Dies unter den unter-
nicht nachweisen.
schiedlichen Gegebenheiten und Rahmenbedingun-
gen festzustellen, wäre die zentrale Aufgabe der Reaktionen auf Störungen zeigen sich
Störungsökologie. - physiologisch z.B. durch Steigerung der Herzfre-
quenz oder erhöhte Energieausgaben (Messun-
2. Erläuterungen zum Begriff „Störung“ gen!)
Störung unterbricht oder verändert andere (lebens- - verhaltensbiologisch durch Verhaltensänderun-
wichtige) Aktivitäten, wie Nahrungsaufnahme, Nah- gen (aufmerksam werden, sichern, flüchten u.a.)
rungssuche, Sich-Putzen, Brüten, Füttern oder an- - ökologisch z.B. durch das Verschwinden oder
dere Aktivitäten im Zusammenhang mit der Fort- Fehlen empfindlicher Arten an stark gestörten
pflanzung sowie Abläufe in der Entwicklung von Plätzen, die als Lebensstätte <Biotop/Habitat>
Tieren oder ihr Ruhen. geeignet wären (Nachweis mitunter schwierig zu
Störungen sind äußere Einwirkungen. erbringen, da die empfindlichen Arten meist auch
Störungen kosten das Tier Energie und/oder Zeit. selten sind und daher nicht jeden geeignet er-
Störungen können verursacht werden von scheinenden Platz besiedeln können!).

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Scheuheit ist keine naturgegebene Eigenschaft von – Weidevieh und andere größere Tiere verursachen
Tieren, sondern das Ergebnis von Erfahrungen, wel- Störungen oder tragen bei regelmäßigem Auftre-
che entweder Vertrautheit mit dem Lebewesen ten zur Verminderung der Fluchtdistanzen bei
Mensch oder Furcht davor erzeugen. (natürlicherweise harmlose Arten).
Störungsempfindlichkeit ist folglich örtlich und – natürliche Feinde, wie Raubtiere (Fuchs, Hund
zeitlich verschieden ausgebildet und nicht von vorn- <als Abkömmling des Wolfes im natürlichen
herein für alle Gebiete und Situationen als gleichar- Feindspektrum vieler Arten enthalten> oder raub-
tig anzusetzen. Sie ist nicht einfach „angeboren“, tierähnliche Bewegungen am Ufer) und Greifvö-
sondern beruht in aller Regel in ihrem tatsächlichen gel (Habicht, Rohrweihe, Großfalken u.a.) lösen
Ausmaß auf Lernen und Erfahrung. Fluchtreaktionen aus und verursachen somit in-
Die Lernfähigkeit von Tieren nimmt mit der relati- tensive Störungen, die von anderen Arten, wie Ra-
ven Gehirnentwicklung (Encephalisation) zu. Sie ist benkrähen, Elstern oder Großmöwen, ausgenutzt
daher bei Säugetieren generell größer als bei Vögeln werden können.
und bei diesen wiederum (viel) größer als bei
Kriechtieren, Lurchen oder Fischen. Ganz allgemein
spielt die Lernfähigkeit bei Tieren mit großen Gehir- 5. Intensitäten von Störungen
nen (insbesondere im Verhältnis zu ihrer Körpermas- lassen sich anhand der Reaktionen gliedern in
se!) und differenziertem Sozialverhalten eine größe-
– erhöhte Aufmerksamkeit (= Ablenkung von an-
re Rolle als bei Arten mit relativ kleinen Gehirnen
deren Aktivitäten oder Störung der Ruhe)
und wenig flexibler Lebensweise.
– Ausweichreaktionen (sofern räumlich möglich
Gewöhnung <Habituation> setzt ein entsprechend
und störungsfreie Stellen zu erreichen sind)
ausgebildetes Lernvermögen sowie ein entsprechend
langes Leben (um „lernen“ zu können) voraus. Um- – Fluchtreaktionen bedeuten das Verlassen der
stände, welche die Lernfähigkeit und damit die Ge- Stelle (Brutplatz; Ort der Ruhe oder der Nah-
wöhnung begünstigen sind rungssuche mit der Folge mehr oder weniger lan-
ger Abwesenheit oder gänzlichem Verlassen des
– regelmäßige Wiederkehr eines (anfänglichen) Stör-
ereignisses Gebietes)
– an bestimmten Orten und/oder – Wegbleiben ist die stärkste Form der Auswirkung
– zu bestimmten Zeiten. von Störungen, da sie den Verlust von Lebens-
möglichkeit(en) bedeutet (Minderung der artspe-
zifischen Umweltkapazität!). Ausfälle dieser Art
4. Natürliche (nicht von Menschen verursachte)
sind nicht zu kompensieren!
Störungen
treten in vielfältiger Form in der Natur auf. Im Ge-
gensatz zu vielen (den meisten) von Menschen ver- 6. Beschränkungsmaßnahmen
ursachten Störungen sind sie weder vorhersehbar zur Minderung oder zum Ausschluss von (menschen-
noch zu vermeiden. bedingten) Störungen sind dann – und nur dann (!) –
Wesentliche natürliche Störungen mit hohem Wirk- notwendig und sinnvoll, wenn alle potentiellen, von
potential sind an Fließgewässern insbesondere die Menschen verursachten Störungen im betreffenden
Gebiet gleichermaßen eingeschränkt oder ausge-
– Hochwässer mit auf ein Mehrfaches der durch- schaltet werden („Gleiche Verpflichtungen für Al-
schnittlichen („normalen“) Strömungsgeschwin- le!“). Eine teilweise Einschränkung kann die Verbes-
digkeit gesteigerter Strömung. An wasserreichen serung der Lage durch Gewöhnung sogar beein-
und gefällestarken Fließgewässern kann bei
trächtigen (insbesondere wenn harmlose, regelmäßig
Hochwässern ein Anstieg von weniger als 1 m/s
wiederkehrende Störungen ausgeschaltet werden!).
auf 4 - 5 m/s und lokal noch mehr zustande kom-
Direkte Nachstellungen (Bejagung, Bekämpfung) bil-
men. Die Folge sind extrem starke „Ausräumwir-
den die mit weitem Abstand stärkste Form von
kungen“ und Geschiebedrift (bis hin zu Fels-
blockgröße) oder Auswaschungen von Sand- und Störungen und sind die Ursache der Scheuheit.
Kiesbänken sowie mehr oder weniger starke Drift
von Baumstämmen; im unregulierten Fluss (sel- 7. Störungsminderung
ten gewordener Fall) auch Verlagerungen von
Geeignete Gegenmaßnahmen sind (bei betroffenen
Flussarmen und ganzen Inseln durch Erosion und
Arten)
Sedimentation in der Hochwasserdynamik.
– Niedrigwasser mit stark zurückgegangener Was- – das Meiden von gestörten Bereichen/Zonen. Dies
serführung exponiert gewöhnlich überströmte bedeutet Minderung oder Verlust möglicher Le-
Sand- und Kiesbänke oder Flachwasserbereiche bens/Fortpflanzungsräume und damit Bestands-
und beeinträchtigt oder vernichtet, ähnlich wie oder Reproduktionseinbußen;
Hochwässer, die dort angesiedelten Pflanzen- und – die Gewöhnung an Störungen (sofern sie keine
Tierbestände. gefährdenden Auswirkungen haben).

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Geeignete Gegenmaßnahmen sind (bezogen auf den Tabelle 1
Menschen als Verursacher) Vergleich der Fluchtdistanzen von Gänsesägern,
– das Meiden von „sensiblen“ Bereichen/Zonen Fischadlern und Stockenten unter verschiedenen Be-
dingungen: Situationen mit vermeintlich starker Stö-
oder Zeiten;
rung (durch Anwesenheit von Menschen) bedingen
– das Einhalten von Sicherheitsabständen; keineswegs eine Vergrößerung der Fluchtdistanzen.
– störungsminderndes („naturgerechtes“) Verhalten Die wird nahezu ausschließlich von der Bejagung be-
– behördliche Einschränkungsmaßnahmen, die al- stimmt. Bejagte Arten sind störungsempfindlich!
lerdings nur dann sinnvoll und wirksam sind,
wenn sie für alle gelten
und überwacht werden! Fluchtdistanzen

1. Gänsesäger (Mergus merganser)


8. Beispiele Unterer Inn (1960-1965) 300 + Meter
8.1 Störungsempfindliche Arten NSG Unterer Inn (1975-1998)* 60–100 m
Anfällig für Störungen sind vor allem die lernfähigen NSG Isar (Brutzeit) 1996/97 5–8 m
Säugetiere und Vögel; zumal jene Arten, die gegen- * Winterhalbjahr (Zugvögel)
wärtig bejagt werden oder anderweitigen Verfolgun-
gen ausgesetzt sind. Zu ihnen gehören auch solche, 2. Fischadler (Pandion haliaetus)
die zwar örtlich (etwa im jagdlich befriedeten Sied- Unterer Inn (um 1970) 500 + Meter
lungsbereich, speziell in den Städten) nicht verfolgt, ehem. DDR (1986) 50–100 m
aber in den umliegenden Regionen oder in Teilberei- Florida (USA) 10–20 m
chen ihres Gesamtlebensraumes bejagt werden. Das
trifft vor allem die ziehenden Arten unter den Vö- 3. Stockenten (Anas platyrhynchos)
geln. Viele Säugetier- und Vogelarten waren jahrhun- Seen / Stauseen Bayern 200–300 + Meter
dertelangen Nachstellungen ausgesetzt, die aller NSG Unterer Inn* 80–130 m
Wahrscheinlichkeit nach auf besondere Vorsicht und Bharatpur/Indien 15–40 m
Scheuheit selektiv gewirkt haben. Wildtiere sind * nach fast 20 Jahren Jagdruhe im NSG
„wild“ gemacht worden und nicht von Natur aus
„wild“ (scheu, vor dem Menschen fliehend!).
Wie unterschiedlich sich diese äußeren Gegebenhei-
ten auf die Fluchtdistanzen auswirken, geht aus Ta-
belle 1 hervor. de, ein freilebendes Tier müsse „wild“ sein, sonst wä-
Angehörige derselben Vogelarten können sich je re es nicht natürlich!
nach Ausmaß und Nachwirkung der Verfolgung da- 8.2 Auswirkungen von Störungen auf Popu-
her gegenüber Menschen in sehr unterschiedlicher lationen
Weise verhalten. Wie vertraut auch früher und an-
dernorts intensiv bejagte Großtiere in kurzer Zeit Die in diesem Symposiumsband zusammengestellten
werden können, zeigt der sogenannte, weltweit zu Befunde belegen nachdrücklichst, wie stark sich
beobachtende „Nationalpark-Effekt“, zu dem es nur Störungen auf Vorkommen und Häufigkeit von
deshalb in Deutschland kaum kommt, weil hier sogar (störungsempfindlichen) Arten auswirken können.
in Nationalparken die Jagd weiter ausgeübt wird! Für das Europareservat „Unterer Inn“ war schon vor
20 Jahren nachgewiesen worden, dass die Anwesen-
Am deutlichsten wird das Fehlen von Scheuheit heit von Anglern in der Brutzeit nicht nur unmittel-
sichtbar in jenen Gebieten der Erde, in denen aus bar starke Verluste durch Störung der Wasservogel-
kulturellen Gründen, wie im hinduistischen Indien Brutstätten verursacht, sondern noch viel tiefer-
beispielsweise, oder aufgrund der Abgelegenheit und gehende Auswirkungen zeitigt: Vier Fünftel der
Unzugänglichkeit für Menschen, die bis in die jüng- vorhandenen Kapazitäten für das Brüten von Was-
ste Vergangenheit gegeben war (Galapagos und an- servögeln werden erst gar nicht genutzt, wenn in der
dere „weltferne“ ozeanische Inseln) keine Verfolgung kritischen Zeit zwei oder mehr Angler pro Kilometer
freilebender Tiere stattfand. Das Urvertrauen, das die Ufer regelmäßig vorhanden sind (REICHHOLF &
dortigen Tiere, auch große und höchst lernfähige, REICHHOLF-RIEHM 1982, REICHHOLF 1988).
dem Menschen gegenüber bringen, ist für die meis- Den direkten Zusammenhang zwischen Wasservo-
ten Besucher, die diesen Friedenszustand zwischen gel-Brutbeständen und Zugänglichkeit des Brutge-
Natur und Mensch erstmals erleben, ergreifend und bietes für Angler hat ERLINGER (1981) bewiesen.
tief bewegend! Das Sonderheft Störung von Wildtieren des Ornitho-
Daraus geht auch hervor, wie unfassbar tief die Jagd logischen Beobachters (Schweizerische Vogelwarte
die Kluft zwischen Menschen und „Wild“tieren ge- Sempach) enthält umfassende Auswertungen und
macht hat. Längst meinen viele Menschen hierzulan- Befunde hierzu.

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8.3 Auswirkungen von Störungen auf Öko- schränkten die Faulschlammbildung stark ein und
systeme führten schließlich zu deren vollständigem Ver-
Störungen wirken in der Natur auf drei unterschied- schwinden. Die Stoffkreisläufe im Ökosystem hatten
lichen Ebenen: Auf das gestörte Tier, auf Populatio- sich hinreichend „geschlossen“ und die Wasservogel-
nen, ihre Beständigkeit und Vermehrungskapazitäten, Mengen entsprechen seither der ökologischen Kapa-
zität des Gebietes. Derartige Auswirkungen und
aber auch auf Systemebene durch Veränderung von
Nachwirkungen lassen sich erst durch umfangreiche
Beziehungen und Nutzungen, etwa der Primärpro-
Forschungsarbeiten belegen. Die Bejagung verur-
duktion, insbesondere aber in Stoffkreisläufen. Einen
sacht also nicht allein „Todesfälle“ (Mortalität) bei
ausführlich untersuchten Fall stellt die Bejagung der
der bejagten Art, sondern greift auch tief in ihr Ver-
Wasservögel auf den Stauseen am unteren Inn dar.
halten ein und ändert ihre Auswirkungen im Natur-
Die Abb. 1 u. 2 zeigen die höchst unterschiedliche
haushalt (Ökosystem).
Effizienz der Stoffkreisläufe im Zustand der (mäßi-
gen) Bejagung der Wasservögel und nach Einstellung
der Jagd (REICHHOLF 1996). Dieses Beispiel 9. Störungen, Scheuheit und Menschen:
drückt auch aus, wie groß die Nebeneffekte der Be- Eine Synopse
jagung sein können: Einigen Hundert abgeschosse- Viele freilebende Tierarten sind störungsempfind-
ner Enten standen Zehntausende Vertriebener, „Ver- lich. Sie sind es, weil sie verfolgt worden sind oder
jagter“, gegenüber. Ihr Fehlen führte zu so unvoll- werden. Hauptverursacher und Aufrechterhalter der
ständiger Nutzung der Massen in der Schlammfauna, Störungsempfindlichkeit ist die Jagd. Ihren Aus- und
dass sich Faulschlamm bildete. Die stark angestiege- Nachwirkungen ist es zuzuschreiben, dass die Nicht-
nen Nutzungsraten nach Einstellung der Bejagung Jäger, die große Mehrheit der Menschen, nur einen

Abbildung 1
Die Bejagung der Wasservögel im Naturschutzgebiet „Vogelfreistätte Unterer Inn“ verursachte trotz geringer An-
teile abgeschossener Enten durch Vertreibungseffekte massive Veränderungen in den Nährstoffkreisläufen mit
weitgehender Bildung von Faulschlamm.

Abbildung 2
Mit der Einstellung der Bejagung der Wasservögel im NSG „Europareservat Unterer Inn“ funktionierten die öko-
logischen Kreisläufe weitestgehend ungestört ohne Faulschlammbildung (REICHHOLF 1996).

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Bruchteil der in Mitteleuropa tatsächlich vorhande- der wichtigste und der wirklich grundlegende Schritt,
nen Säugetiere und Vögel auf Vertrautheits-Distan- um zu einem Schutz zu kommen, der diese Bezeich-
zen zu sehen bekommt. Viele halten es für unnatür- nung verdient und den die Öffentlichkeit auch nach-
lich, dass in den Städten so viele Vögel und auch vollziehen kann. Wenn die Schutzgebiete hinrei-
manche Säuger den Menschen gegenüber vertraut chend „befriedet“ sind, können viel mehr Menschen
sind und kaum nennenswerte Fluchtdistanzen zeigen. als bisher viel mehr Natur in einer Art und Weise er-
Deshalb fällt es auch vielen schwer, einzusehen, dass leben, in der sich der Mensch eben nicht mehr als
die Artenvielfalt, an Brutvögeln etwa, nicht geringer Störenfried fühlen muss (und sich nicht selten sogar
wird, wenn die Siedlungsdichte der Menschen zu- gefallen lassen muss, für einen solchen gehalten zu
nimmt (Abb. 3). Das ist aber, wie die Abbildung werden!). Dann werden freilebende Tiere so erlebbar,
zeigt, tatsächlich der Fall. Mehr noch: Der Arten- wie sie wirklich sind und von Natur aus sein würden,
reichtum in den Ballungsräumen der Menschen liegt wenn sie nicht gute Gründe hätten, das „Feindbild
im Durchschnitt sogar höher als auf gleich großen Mensch“ weiter aufrecht zu erhalten.
Flächen „draußen auf dem Land“! Wenn in Berlin in-
Viele Konflikte die Naturfreunde mit „dem Natur-
nerhalb des Stadtgebietes zwei Drittel aller Brutvo-
schutz“ bekommen, würden gar nicht erst auftreten
gelarten Deutschlands vorkommen, so geht daraus,
und sich von selbst erledigen. Und es würden insbe-
wie auch aus den entsprechenden Befunden in ande-
sondere auch die Kinder und die Jugend nicht so sehr
ren (Groß)Städten oder bei anderen Tiergruppen, her-
von der Natur entfremdet werden, wie das gegen-
vor, wie gut viele Arten freilebender Tiere mit dem
wärtig der Fall ist.
Menschen auskommen könnten, wenn dieser sie
nicht verfolgt. Dann nimmt die Störungsempfind- Störungsökologie hat daher vor allem mit dem Men-
lichkeit sehr stark und oftmals auch recht rasch ab. schen zu tun; mit ganz bestimmten Menschen! Denn
die vom Menschen verursachte Störungsempfind-
Wegen der „draußen“ vorherrschenden Scheuheit der
lichkeit, die sich abbauen ließe, ist das eigentliche
meisten Arten werden aber die an sich gänzlich Un-
Problem.
beteiligten, wie Spaziergänger, Angler, Bootsfahrer
oder andere Menschen, die sich in die Natur hinaus- Ihr gegenüber stehen die zahlreichen und vielfältigen
begeben, zu „Störenfrieden“ und müssen sich Be- natürlichen Störungen, mit denen die Lebewesen zu-
schränkungen im Zugang zur Natur gefallen lassen, recht kommen müssen: Unvorhersehbare Ereignisse
obwohl sie gar nicht die eigentlichen Verursacher und Entwicklungen, wie Extreme der Witterung,
sind. Befahrensbeschränkungen und Betretungsver- oder auch andere Lebewesen. Wir wissen viel zu we-
bote werden von den Naturschutzbehörden – in der nig, über Art und Ausmaß der natürlichen Störungen.
guten Absicht, damit etwas für die empfindlichen Häufig sind sie Ursachen von Schwankungen, von
und bedrohten Arten zu tun – erlassen, aber sie tref- Fluktuationen, in den Beständen (Populationen) der
fen die „Stellvertreter“; die eigentlichen Verursacher betroffenen Arten. Sind die Störungen besonders auf-
der Scheuheit und Empfindlichkeit bleiben in den al- fällig und auch für den Menschen von Bedeutung,
lermeisten Fällen von den Ge- und Verboten ausge- pflegen wir sie als Katastrophen zu bezeichnen, wie
nommen – und diese werden dadurch auch weitge- Hochwasser oder Flächenbrände, Stürme, extreme
hend wirkungs- und bedeutungslos! Kälte oder Hitze(wellen).
Bei diesem höchst unbefriedigenden Zustand ist eine Vom Menschen verursachte Störungen, vor allem die
grundsätzliche Wende dringend geboten: Die Stö- unbeabsichtigten, weil sie nicht die Verfolgung von
rungsempfindlichkeit muss abgebaut werden! Das ist Tieren oder die gezielte Umwandlung von Lebens-

Abbildung 3
Der Artenreichtum an Brutvögeln nimmt
mit zunehmender Siedlungsdichte der
Menschen nicht ab. Vielmehr bleibt er
auch in Millionenstädten erheblich über
dem Landesdurchschnitt gleich großer
Flächen (x). Die Artendiversität vieler
Großstädte übertrifft sogar die meisten
Naturschutzgebiete.

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räumen bezwecken wollen, müssen hinsichtlich ihrer großem Umfang auf und störungsempfindliche Arten
naturschutzfachlichen Bewertung auf das Ausmaß reagieren meistens deshalb mit Ausweichen oder
und die Häufigkeit natürlicherweise auftretender Flucht, wenn Menschen (zu) nahe kommen, weil sie
Störungen bezogen werden. Für die Menschen, die verfolgt werden oder worden sind. Scheuheit ist nicht
solche Störungen verursachen, sind dann Einschrän- natürlich oder naturnotwendig, sondern das Ergebnis
kungen oder Verbote weit eher nachzuvollziehen und der Nachstellungen, denen (lernfähige) Tiere ausge-
einzusehen. Andernfalls wird es schwer sein, Natur- setzt sind.
freunden klarzumachen, dass „Trampel“pfade, die Die Störungsökologie analysiert die Rahmenbedin-
sie mit ihrem Kommen und Gehen erzeugen, gungen, Ursachen und Wirkungen von natürlichen,
grundsätzlich anders und „schlimm“ sind, als von wie vom Menschen verursachten Störungen und er-
Kühen auf den Almen oder von Schalenwild im Wald möglicht sachliche Bewertungen und Schlussfolge-
ausgetretene Pfade. Eine Schafherde, die sich über rungen.
die Fläche „wälzt“, darf nicht als Pflegemaßnahme Um Beschränkungen oder Verbote nachvollziehbar
deklariert werden, wenn Menschen das Betreten der- und für die Allgemeinheit akzeptabel zu machen,
selben Fläche ganzjährig verboten ist! Das ist nicht sollten diese entsprechend sachlich begründet sein
einzusehen und sachlich auch falsch! Menschen dür- und in angemessener Zeit von unabhängiger Seite
fen nicht so ganz anders „gewertet“ und von vorn- auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Erfolgskon-
herein der Natur abträglich eingestuft werden; zumal trollen und sich daraus ableitenden Anpassungen/Än-
wenn es sich gar nicht um die direkten Naturnutzer, derungen der einschränkenden Bestimmungen fehlen
wie Jäger, Fischer, Land- oder Forstwirte handelt. weithin im Naturschutz (wie auch in vielen anderen
Wenn deren Tätigkeiten und Eingriffe in die Natur Bereichen staatlich-hoheitlicher Regelungen und Be-
„keinen Eingriff in den Naturhaushalt“ darstellen sol- stimmungen!). Unzufriedenheit bei den Betroffenen
len, dann darf das in noch viel geringerem Maße und ihre – nicht selten auch berechtigt – kritische
auch den übrigen Menschen unterstellt werden. Haltung sind die Folgen.
Deshalb führt kein Weg an einer vorurteilsfreien Er- Die Methoden und Analysen der Störungsökologie
mittlung der natürlichen und menschenverursachten könnten Abhilfe schaffen, zumindest aber die Ent-
Störungen vorbei, wenn Einschränkungen festgelegt, scheidung auf eine erheblich besser begründete Basis
oder Gebote und Verbote in Naturschutzverordnun- stellen. Für die Akzeptanz des Naturschutzes in der
gen erlassen werden sollen. Sie sind die Vorausset- Öffentlichkeit wären Verbesserungen in dieser Hin-
zung für den Konsens und auch für das Funktionie- sicht gewiss sehr hilfreich.
ren der einschränkenden Bestimmungen. Und schließ-
lich müssen die Naturschutzbehörden auch dazu
bereit sein, von unabhängiger Seite die Wirksamkeit Literatur
ihrer (Naturschutz)Maßnahmen nach angemessener ERLINGER, G. (1981):
Zeit überprüfen zu lassen. Es sind die Erfolgskon- Der Einfluss kurz- bzw. langfristiger Störungen auf Was-
servogelbrutbestände. ÖKO-L 3/4: 16-19.
trollen, die am besten von der Wirksamkeit von (Na-
turschutz)Maßnahmen überzeugen oder diese auch MAITLAND, P. S. & A. K. TURNER (1987):
relativieren und auf das vernünftige Maß zurück- Angling and wildlife in fresh waters. Inst.Terr.Ecology,
Nat.Environm.Res.Council, Grange-over-sands, GB.
führen. Die Störungsökologie bietet hierzu das öko-
logisch-naturwissenschaftliche Instrumentarium für REICHHOLF, J. H. & H. REICHHOLF-RIEHM (1982):
Die Stauseen am unteren Inn - Ergebnisse einer Ökosys-
die Erfolgskontrolle wie auch für sachlich begründe- temstudie. Ber.ANL 6: 47-89.
te Schlussfolgerungen zum Ist-Zustand.
REICHHOLF, J. H. (1988):
Auswirkungen des Angelns auf die Brutbestände von Was-
Zusammenfassung servögeln im Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung
„Unterer Inn“. Vogelwelt 109: 206-221.
Der Mensch wird häufig als Störfaktor in der Natur
––––––– (1996):
angesehen, den es im Interesse des Schutzes der Na- Comeback der Biber. dtv, München.
tur auszuschließen oder in seiner Wirksamkeit abzu-
mildern gilt. Diese Annahme ist selten konkret hin- ––––––– (1999):
Gutachten zur Störkologie des Kanuwandersports. Schrif-
reichend begründet und die Wirksamkeit von Be- tenreihe des Deutschen Kanu-Verbandes e.V., Bd. 11. DKV
schränkungen bleibt entweder mangelhaft oder wird Verlag, Duisburg.
erst gar nicht nachgeprüft. Viele Menschen fühlen SUKOPP, H. (Hrsg.) (1990):
sich, da sie sich selbst als naturverbunden empfin- Stadtökologie. Das Beispiel Berlin. D. Reimer, Berlin.
den, ungerechtfertigterweise „ausgesperrt“ oder zu
sehr eingeschränkt. Das führt zu (massivem) Wider-
stand gegen den Naturschutz, vor allem gegen Na- Anschrift des Verfassers:
turschutzgebiete. Prof. Dr. J. H. Reichholf
Zoologische Staatssammlung (Wirbeltierabteilung)
Störungen der normalen, durchschnittlichen Abläufe Münchhausenstr. 21
treten jedoch von Natur aus in mehr oder weniger D-81247 München

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Zum Titelbild: Vielseitige Störfaktoren von Wasservögeln (Auswahl)
(vgl. insbesondere den Beitrag von Günter v. Lossow, S. 63 ff)
Fotos: H.-J. Fünftstück, Garmisch-Partenkirchen)

Laufener Seminarbeiträge 1/01


Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL)
ISSN 0175 - 0852
ISBN 3-931175-59-6

Die Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege ist eine dem Geschäftsbereich des Bayerischen
Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen angehörende Einrichtung.

Schriftleitung und Redaktion: Dr. Notker Mallach (ANL, Ref. 12)


Für die Einzelbeiträge zeichnen die jeweiligen Referenten verantwortlich.

Die Herstellung von Vervielfältigungen – auch auszugsweise – aus den Veröffentlichungen der Bayerischen Akademie
für Naturschutz und Landschaftspflege sowie deren Benutzung zur Herstellung anderer Veröffentlichungen bedürfen
der schriftlichen Genehmigung.

Satz: Christina Brüderl (ANL), Fa. Hans Bleicher, Laufen


Farbseiten: Fa. Hans Bleicher, Laufen
Druck und Bindung: Lippl Druckservice, Tittmoning
Druck auf Recyclingpapier (100% Altpapier)

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