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Die Polyuagal- Theorie

und die Suche nach Sicherheit


Eine ausführliche Präsentation sämtlicher lieferbaren und geplanten Titel unseres Verlages
fin den Sie im Internet unter www.gp-probst.de

TITELAUSWAHL
Band 2 - Emerson & Hopper: Trauma-Yoga (3. Auf!.)
Band 3 - Williams & Poijula: Das PTBS-Arbeitsbuch (2. Auf!.)
Band 10 - Hyman & Pedrick: Arbeitsbuch Zwangsstörungen
Band 12 - Putnam: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung
Band 13 - Scaer: Das Trauma-Spektrum
Band 14 - Kluft: Pacing in der Traumatherapie
Band 17 - Paulsen: Trauma und Dissoziation mit neuen Augen sehen
Band 18 - NurrieStearns: Trauma-Heilung durch Yoga und Meditation
Band 19 - Foa, Hembree & Rothbaum: Handbuch der Prolongierten Exposition
Band 20 - Rothbaum, Foa & Hembree: Arbeitsbuch Prolongierte Exposition
Band 21 - Powell, Cooper, Hoffman & Marvin: Der Kreis der Sicherheit
Band 22 - Wallin: Bindung und Veränderung in der psychotherapeutischen Beziehung
Band 23 - van der Kolk: Verkörperter Schrecken (s. Auf!.)
Band 24 - Emerson: Trauma- Yoga in der Therapie
Band 26 - McBride: Werde ich jemals gut genug sein (2. Auf!.)
Band 27 - Bentzen & Hart: Neuroaffektive Therapie mit Kindern & fugendliehen
Band 28- Shapiro: Ego-State-Interventionen- leichtgemacht (2. Auf!.)
Band 30 - Burns: Feeling Good in zehn Schritten
Band 31 - Scaer: Acht Schlüssel zur Gehirn-Körper-Balance
Band 32 - Steele, Boon & van der Hart: Die Behandlung traumabasierter Dissoziation
Band 33 - Manning: Ich liebe einen Borderliner
Band 34 - Schwartz: Arbeitsbuch Komplexe PTBS
Band 35 - Najavits: Trauma, Sucht und die Suche nach Sicherheit
Band 36- Dana: Die Polyvagal-Theorie in der Therapie (2. Auf!.)
Band 37 - Anderson, Sweezy & Schwartz: Therapeutische Arbeit im System der Inneren Familie
Band 39 - Rahm & Meggyesy (Hrsg.): Somatische Erfahrungen in der psychotherapeutischen
und körpertherapeutischen Traumabehandlung
Stephen W. Porges

Die Pol))oagal-Theorie
und die Suche nach Sicherheit
Gespräche und Reflexionen
Traumabehandlung} soziales
Engagement und Bindung

Aus dem amerikanischen Englisch von


Theo l<ierdorf & Hildegard Höhr

G.P. PROBSTVERLAG
Lichtenau/Westfalen
Dieses Buch dient der akkuraten und zuverlässigen Information über das beschriebene Thema. Es
wird mit dem ausdrücklichen Hinweis zum Verkauf angeboten, daß der Verlag keine psychologischen,
finanziellen, juristischen und anderweitigen Dienstleistungen anbietet. Falls Sie konkreten Rat oder
eine allgemeine Beratung benötigen, wenden Sie sich bitte an entsprechende Experten.
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haltlicher Prüfung keinerlei Haftung. Für die Inhalte dieser Seiten sind ausschließlich deren Betreiber
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Der Verlag dankt Theo Kierdorf für sein herausragendes Engagement am Zustandekommen dieses
Buches. Ferner bedankt sich der Verlag für die freundlich erteilten Abdruckgenehmigungen- bei dem
National Institute for the Clinical Application of Behavioral Medicine (NICABM) & Dr. Ruth Buczyn-
ski, bei der Global Association for Interpersonal Neurobiology Studies (GAINS) & Lauren Culp, bei
Somatic Perspectives on Psychotherapy & Serge Prengel sowie bei der American Psychological Asso-
ciation für die Abdruckgenehmigung des Aufsatzes »Therapeutische Präsenz«, den Stephen W. Porges
gemeinsam mit Shari M. Geiler geschrieben hat.

Copyright© der deutschen Ausgabe: G. P. Probst Verlag GmbH, Lichtenau/Westf. 2017

3. Auflage 2019
Copyright© 2017 by Stephen W. Porges - siehe ergänzend die jeweiligen Kapitelseiten (Fußnote)

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Theo Kierdorf & Hildegard Höhr, Köln
Umschlaggestaltung: Mareile Gropengießer (Paderborn)
Coverfoto: © famveldman - Fotolia.com
Satz: SpaceType, Köln
Druck & Bindung: mediaprint solutions GmbH, Paderborn
Printed in Germany

ISBN 978-3-944476-19-3

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reprodu-
ziert bzw. unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt

Vorwort .. .. .... . .... .......... ......... . ............ . ..... .. ..... . ............. 9

1 I Die neurobiologischen Grundlagen des


Gefühls der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Gedanken und Gefühle: Spiegelungen des Gehirns und Körpers . . . 13


Die Legitimität der wissenschaftlichen Auseinandersetzung
mit Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Die Herzratenvariabilität (HRV) in der psychophysiologischen
Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Die HRV vermittelnde neuronale Mechanismen. . ..... ............. 16
Die Entwicklung einer sensiblen Technik zur Messung der
vagusgesteuerten Regulation des Herzens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Die Integration von Messungen des physiologischen Zustandes
in S-R-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Die Suche nach einer vermittelnden Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Sicherheit und physiologischer Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Die Bedeutung von Sicherheit und von Signalen zur Sicherung


des Überlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Soziales Engagement und Sicherheit..... ............. ..... ............ 25

2 I Grundlagen der Polyvagal-Theorie und ihre Bedeutung für


die Traumabehandlung
{Dr. Stephen W. Porges im Gespräch mit Dr. Ruth Buczynski) . . . . . . . 29

Was Therapeuten über Traumata und das Nervensystem


wissen sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Wie die Polyvagal-Theorie unser Traumaverständnis
differenziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Das Autonome Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
6 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Neurozeption- Etwas spüren, ohne dessen gewahr zu sein . . . . . . . . 40


PTBS triggern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Soziales Engagement und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Was haben Autismus und Traumata gemeinsam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Über die Behandlung autistischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . so
Das Listening Project - Theorie und Behandlung s6

3 I Selbstregulation und soziales Engagement


(Dr. Stephen W Porges im Gespräch mit Dr. Ruth Buczynski) . . . . . . . 65

Herzratenvariabilität, Selbstregulation und ihre


Beziehung zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Die organisierenden Prinzipien der Polyvagal-Theorie . . . . . . . . . . . . . . 66
Wie wir die Gegenwart anderer nutzen, um uns
sicher zu fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Das hierarchische System der drei Arten, auf die
Welt zu reagieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Die paradoxe Funktion des Vagusnervs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Die motorischen und sensorischen Nervenfasern
des Vaguskanals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Die Beziehung zwischen Traumata und sozialem
Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Wie Musik die Vagusregulation aktivieren kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Signale sozialen Engagements: Selbstregulation oder
Nichts-Mitbekommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Die Nutzung der neuronalen Regulation . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Bindung und adaptive Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Weshalb in Krankenhäusern eine Atmosphäre der
Sicherheit gefördert werden sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

4 I Körper, Gehirn und Verhalten - Die Polyvagal-Theorie


und die Geheimnisse der Traumaheilung
(Dr. Stephen W Porges im Gespräch mit Dr. Ruth Buczynski) . . . . . . . 89

Die Ursprünge der Polyvagal-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89


Der »vegetative Vagus« und der »kluge Vagus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Inhalt • 7

Vom Vagusnerv zur Familie der Vaguspfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Der Vagus und die kardiapulmonale Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Der sechste Sinn und die Interozeption ... . ...... . .. . ...... . .......... 100

Die Beziehung zwischen vagalem Tonus und Emotionen . . . . . . . . . . . 101

Die Vagusbremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Neurozeption: Sich bedroht oder sicher fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Das Streben nach neuartigen Erlebnissen: Unterschiede


zwischen mammafischen und reptilischen Reaktionen . . . . . . . . . . . . . 109

Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Der Vagus und dissoziative Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Single-Trial-Learning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

s I Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit


(Dr. Stephen W Porges im Gespräch mit Dr. Ruth Buczynski) . . . . . . . 121

Der Vagus und die Polyvagal-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Wie sich die Geist-Körper-Verbindung auf physische


Krankheiten auswirkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Traumata und Vertrauensbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Das Wesen der Neurezeption ...... .. .. .. .............................. 128

Was die Polyvagal-Theorie zur Beziehung zwischen


Traumata und Bindung zu sagen hat .. . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 132

Singen und Hören fördern langsames Ausatmen und


damit die Selbstberuhigung ........ ..... ...... ............... ... ..... . . 135

Akustische Stimulation kann das System für soziales


Engagement aktivieren . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. 139

Was ist die Zukunft der Traumabehandlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

6 I Die Zukunft der Traumatherapie aus Sicht der


interpersonalen Neurobiologie
(Dr. Stephen W Porges im Gespräch mit Lauren Culp).. . .... ......... 147

7 I Somatische Perspektiven zur Psychotherapie


(Dr. Stephen W Porges im Gespräch mit Serge Prengel)........ ... .. . 161
8 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

8 I Therapeutische Präsenz- Neurophysiologische


Mechanismen, die in therapeutischen Beziehungen ein
Gefühl der Sicherheit vermitteln
(Dr. Stephen W Porges und Shari M. GelZer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Was ist therapeutische Präsenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Untersuchungen über therapeutische Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Was ist die Polyvagal-Theorie? . ..... ... .... ... ....... .. ... ..... . .... ... 194

Neurozeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Therapeutische Präsenz und die Neurozeption der


Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Gesicht und Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Eine Theorie therapeutischer Präsenz in der Beziehung . . . . . . . . . . . . 204

Klinische Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Nicht-Präsenz: Ein Beispiel zur Veranschaulichung von


Barrieren, die Präsenz verhindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Therapeutische Präsenz: Rückkehr in den gegenwärtigen


Augenblick.. ............................................................ 210

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Personen- und Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Über Stephen W Porges ........................................... . .. .. .. ..... 235


Vorwort
Warum ein Buch mit Interviews?

Als ich kürzlich nach einem Online-Interview, an dem ich teilnahm, die
Zuhörerkommentare las, wurde mir klar, daß die Interviewform eine gute
Möglichkeit bietet, Klinikern die Bedeutung der Polyvagal-Theorie für ih-
re Arbeit verständlich zu machen. Als Wissenschaftler hatte ich zeitlebens
wissenschaftliche Aufsätze in einer bestimmten, pragmatischen Erwägun-
gen entsprechenden Form geschrieben. Nun merkte ich, daß ich die Essenz
der Polyvagal-Theorie auch in einem Webinar plausibel vermitteln konnte.
Im Laufe des einstündigen informellen Gesprächs, das mich auf diese Idee
brachte, schälte sich eine leicht verständliche, relevante Botschaft heraus: Im
Zentrum dieses Austauschs stand die Suche nach »Sicherheit«. Die sponta-
nen Äußerungen im Rahmen des Interviews vermochten die Möglichkeiten
der klinischen Nutzung der Polyvagal-Theorie offensichtlich besser zu erläu-
tern als wissenschaftliche Aufsätze. So entstand schließlich die Idee, ein Buch
aus Interviews über die Polyvagal-Theorie zusammenzustellen. Das Resultat
liegt vor Ihnen.
Gespräche mit Klinikern haben mich dazu motiviert, die neuartigen Sicht-
weisen der Polyvagal-Theorie Angehörigen dieser Gruppe verständlich zu
machen. Bei meinen Vorträgen für Kliniker ging es immer wieder darum, in-
wiefern die Regulation des Autonomen Nervensystems als neuronale Platt-
form für den effizienten Ausdruck verschiedener Arten adaptiven Verhaltens
fungiert. Die Polyvagal-Theorie beschreibt eine im Laufe der Evolution ent-
standene Organisationsstruktur, die uns ermöglicht, neuronale Schaltkreise
zu identifizieren, die soziales Verhalten und zwei Arten von Defensivstrate-
gien fördern, nämlich die Mobilisierung, die mit Kampf oder Flucht asso-
ziiert wird, und die Immobilisierung (das Erstarren), die als Sich-Verbergen
oder Sich-Totstellen zum Ausdruck kommt. Der entwicklungsgeschichtlich
neueste, nur bei Säugetieren vorhandene neuronale Schaltkreis, der Gesicht
und Herz miteinander verbindet, fördert soziales Verhalten. Der Polyvagal-
lQ • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Theorie zufolge erschließt uns diese Verbindung ein integriertes System für
soziales Engagement, das mit Hilfe der Mimik und des stimmlichen Aus-
drucks Anzeichen für die »Sicherheit« einer Situation zu erkennen vermag,
Co-Varianten des autonomen Zustandes, und selbst entsprechende Signale
an Artgenossen übermittelt. Diesem Verständnismodell zufolge informie-
ren unser Anblick, unser Zuhören und unsere stimmlichen Äußerungen die
Menschen in unserer Umgebung darüber, ob sie sich uns gefahrlos nähern
können.
Die Idee, ein Buch aus den Transkripten von Interviews mit Klinikern
zusammenzustellen, stammt von Theo Kierdorf, der diese Texte nicht nur
übersetzt hat, sondern auch selbst aktiv an der Auswahl, an den Kürzungen
sowie an der organisatorischen Zusammenstellung des Materials mitgearbei-
tet hat. Ich weiß seine Fähigkeit, meine Äußerungen und Texte thematisch
zu organisieren, sehr zu schätzen. Theo und ich haben schon bei der ersten
Publikation meiner Schriften in Buchform, die ebenfalls zunächst in deut-
scher Sprache erschien (Die Polyvagal-Theorie - Neurophysiologische Grund-
lagen der Therapie, Paderborn: Junfermann), zusammengearbeitet. Ähnlich
wie damals half er mir auch bei diesem Projekt, den Unterschied zwischen
dokumentierendem und kommunizierendem Schreiben zu verstehen. Meine
Zusammenarbeit mit ihm hat mir zu verstehen geholfen, wie man die kom-
munikative Wirkung wissenschaftlicher Schriften optimieren kann. Ich bin
Theo dankbar für seine Beiträge zur Entstehung dieses Buches und seine en-
gagierten Bemühungen um die Vermittlung der Polyvagal-Theorie.
Die Interviews, die dem einführenden Kapitel folgen, wurden redigiert, um
die beschriebenen Sachverhalte möglichst klar darzustellen. Die Interview-
form ermöglicht, eine Fülle klinisch relevanter Details in die Beschreibung
einzubeziehen. Ihre Auswahl und Zusammenstellung dient dem Ziel, ein
möglichst umfassendes Verständnis dessen zu vermitteln, wie das mensch-
liche Nervensystem mit Herausforderungen umgeht, und die Entwicklung
von Strategien zur Wiederherstellung der biobehavioralen Regulation durch
soziale Interaktionen zu ermöglichen. Die Transkripte wurden leicht gekürzt,
um unnötige Wiederholungen zu vermeiden und den Fluß des Gesprächs
herauszuarbeiten. Allerdings wurden nicht alle thematischen Wiederholun-
gen getilgt, weil einige der behandelten Themen in verschiedenen Interviews
jeweils in einem anderen Licht erscheinen. Solche Wiederholungen in un-
terschiedlichen Zusammenhängen bereichern und erweitern den Blick auf
Vorwort • 11

Implikationen und Relevanz der behandelten Themen und dienen so der In-
tegration des Vermittelten in die klinische Praxis.
Den Abschluß des Textes bildet ein Aufsatz, den ich zusammen mit Shari
Geiler geschrieben habe. In ihm geht es um die zentrale Bedeutung des Ge-
fühls der Sicherheit in der therapeutischen Beziehung, und es wird skizziert,
wie ein Therapeut unter Berücksichtigung der Polyvagal-Theorie mit einem
Klienten interagieren kann.
Am Ende des Buches befindet sich ein Glossar, das einige wichtige Kon-
strukte und Konzepte der Polyvagal-Theorie erläutert.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, in diesem Buch die besondere Bedeutung
des Gefühls der Sicherheit für den Heilungsprozeß zu veranschaulichen. Aus
Sicht der Polyvagal-Theorie ist ein Mangel an diesem Gefühl der Sicherheit
der entscheidende biobehaviorale Aspekt bei der Entstehung psychischer
und physischer Krankheiten. Ich hoffe sehr, daß ein besseres Verständnis un-
seres Bedürfnisses nach Sicherheit zur Entwicklung neuer sozialer, edukati-
ver und klinischer Strategien führen wird, die es uns erleichtern werden, uns
für die Entwicklung der Co-Regulation zu engagieren.
KAPITEL 1

Die neurobiologischen Grundlagen


des Gefühls der Sicherheit

Gedanken und Gefühle:


Spiegelungen des Gehirns und Körpers
Wie wichtig »Sicherheit« in unserem Leben ist, liegt so klar auf der Hand, daß
es im Grunde verwunderlich ist, in welchem Maße unsere Institutionen dies
ignorieren. Vielleicht ist uns die Bedeutung der Sicherheit eben deshalb nicht
in ihrem ganzen Ausmaß klar, weil wir meinen, wir wüßten, was sie beinhaltet.
Wir müssen diese Annahme jedoch hinterfragen, weil es zwischen unseren
verbalen Beschreibungen von Sicherheit und unserem körperlichen Emp-
finden von Sicherheit eine Diskrepanz geben könnte. In der westlichen Welt
messen wir Gedanken oft einen höheren Wert bei als Gefühlen. Die Erziehung
im Elternhaus und in den Schulen zielt heutzutage primär auf die Förderung
und Verstärkung kognitiver Prozesse, wohingegen Körperempfindungen und
Bewegungsimpulse eher gehemmt oder unterdrückt werden. Dies entspricht
einer kortexzentrierten Orientierung, einer Top-down-Tendenz, die mentale
Prozesse präferiert und die Körperempfindungen in den Hintergrund drängt.
Unsere Kultur - unter Einschluß edukativer und religiöser Institutionen -
hat Körperempfindungen in vielerlei Hinsicht den vom Gehirn ausgehen-
den Denkprozessen untergeordnet. Dies kam erstmals sehr klar in Descartes'
berühmtem Diktum »Ich denke, also bin ich« zum Ausdruck. Descartes hat
ausdrücklich nicht gesagt: »Ich spüre mich, also bin ich.« Der entsprechende
englische Ausdruck, »1 feel« ist übrigens deutlich ambivalenter als das Origi-
nal {»Je me sens«), insofern er sich sowohl auf das eigene physische Berühren
eines Objekts als auch auf das mit einer emotionalen Reaktion verbundene
subjektive Erleben bezieht.
14 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Über den jeweiligen Anteil von Kognitionen und Gefühlen an Bemühun-


gen, menschliches Verhalten und emotionales Erleben zu verstehen, zu mo-
difizieren und zu optimieren, ist immer wieder debattiert worden. Erst in den
letzten so Jahren sind Emotionen und die Erforschung subjektiver Zustände
in der Psychologie zu einem anerkannten Forschungsgegenstand geworden.
Vorher standen die Kognitionen und ihre Förderung im Zentrum aller Be-
mühungen, und man versuchte, die Bedeutung subjektiver Empfindungen
herunterzuspielen. Objektiv meßbare Indikatoren für Verhaltensweisen und
kognitive Funktionen gewannen an Bedeutung, während subjektive Berichte
über Gefühle in den Hintergrund verbannt wurden.

Die Legitimität der wissenschaftlichen


Auseinandersetzung mit Empfindungen
In der wissenschaftlichen Welt, in die ich mich im Jahre 1966 als Graduate-
Student hineinversetzt sah, wurde die Auseinandersetzung mit Körperemp-
findungen nicht als legitimer Forschungsgegenstand anerkannt. In jener Zeit
galt es nur in Zusammenhang mit Motivation als legitim, sich mit »Emo-
tionen« zu beschäftigen. Untersuchungen über Emotionen wurden haupt-
sächlich mit Laborratten durchgeführt, deren Motivation man beeinflußte,
indem man ihnen Nahrung zuführte oder vorenthielt, und ihre emotionalen
Reaktionen maß man anhand der Kotmenge, die sie ausschieden (siehe z. B.
Hall1934).
Damals stand die Renaissance des Behaviorismus unmittelbar bevor, und
die kognitive Revolution befeuerte das Interesse an mentalen Prozessen. Das
Erstarken des Behaviorismus fand seinen Ausdruck in der Entwicklung be-
havioraler Techniken, die in der Sonderschulpädagogik und in der klinischen
Psychologie genutzt wurden. Aufgrund der starken Zunahme der Bedeutung
der Kognitionswissenschaft entwickelte man neue Verständnismodelle des
Gedächtnisses, des Lernens, der Entscheidungsfindung und der Computer-
wissenschaft, was in Modellen künstlicher Intelligenz und des Maschinen-
lernens seinen Niederschlag fand. Man entwickelte bessere Möglichkeiten
der Messung von Gehirnfunktionen (z. B. Brain-Imaging-Techniken und
elektrophysiologische Meßverfahren), und die Kognitionswissenschaft ver-
band sich mit der Neurowissenschaft zur kognitiven Neurowissenschaft. Nun
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Sicherheit • 15

basieren zwar Verhalten und Kognition auf dem Nervensystem, aber weder
der angewandte Behaviorismus noch die Kognitionswissenschaft verstand
den neurophysiologischen Zustand als Vermittler der Verhaltensweisen und
psychologischen Prozesse, die diese Disziplinen erforschen. Der Behavioris-
mus ignorierte das Nervensystem weiterhin, und die kognitive Neurowissen-
schaft konzentrierte sich auf die Suche nach meßbaren gehirnbasierten Kor-
relaten kognitiver Prozesse.
Vom Zeitpunkt meines Eintritts in die Graduate School an fühlte ich
mich von einem damals neuen interdisziplinären Bereich, dem der Psycho-
physiologie, angesprochen. Die erste Zeitschrift, die sich mit dieser neuen
Disziplin beschäftigte, war erst wenige Jahre vorher gegründet worden, und
es gab auch nur zwei oder drei Bücher, die mir als Quellen für dieses neue
Spezialgebiet zur Verfügung standen. Die psychophysiologische Forschung
konzentrierte sich auf die Messung physiologischer Reaktionen auf psycho-
logische Manipulationen (Stern 1964) . Mich interessierten die Methoden
der Psychophysiologie damals, weil sie eine objektive und quantifizierbare
Vorgehensweise ermöglichten, indem sie physiologische Reaktionen nutzten
(z. B. die elektrodermale Aktivität, die Atemfrequenz, die Herzfrequenz und
vasomotorische Reaktionen), um subjektives Erleben zu untersuchen, ohne
daß willentliche Reaktionen der Versuchsperson erforderlich waren. Dieser
Ansatz, der eine Verbindung zwischen mentalen Prozessen und neurophy-
siologischen Ereignissen herstellte, ist im Bereich der Psychophysiologie und
der kognitiven Neurowissenschaft auch heute noch tonangebend. An diesem
Paradigma hat sich in den letzten so Jahren wenig geändert, trotz wichtiger
Fortschritte in der Entwicklung von Sensoren zur Überwachung physiolo-
gischer und neurophysiologischer Prozesse sowie hinsichtlich der quantita-
tiven Methoden zur Extraktion von Variablen, mit deren Hilfe sich mentale
Prozesse verfolgen lassen.

Die Herzratenvariabilität (H RV) in der


psychophysiologischen Forschung
In meiner Zeit in der Graduate School entstanden im Rahmen meiner For-
schungsprojekte die ersten Studien, in denen die Herzratenvariabilität (HRV)
sowohl als abhängige Variable als auch später als vermittelnde Variable quan-
16 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

tifiziert wurde. Der Unterschied zwischen der Nutzung der HRV als abhängi-
ger Variabler und der als vermittelnder Variabler ist für das Verständnis eines
Paradigmenwechsels sehr wichtig. Er beinhaltete, daß physiologische Reak-
tionen auf eine gut kontrollierte psychologische Manipulation überwacht
wurden. Dieses Paradigma entspricht dem traditionellen Reiz- Reaktions-
Modell (SR), in dem »S« für die psychologische Manipulation und »R« für
die physiologische Reaktion steht. Im Rahmen dieses Paradigmas berichtete
mein Forschungsprojekt über Veränderungen der Herzfrequenz, der HRV
und der Atmung.
Meine Arbeit dokumentierte, daß eine Verringerung der HRV ein robu-
ster Indikator für anhaltende Aufmerksamkeit und mentale Anstrengung
war. Im Laufe dieser Untersuchungen fiel mir auf, daß in Zeiten, in denen
die Probanden nicht mit einer Aufmerksamkeit erfordernden Aufgabe befaßt
waren, individuelle Unterschiede hinsichtlich ihrer HRV zu erkennen waren.
Diese Grundlinienmessungen der HRV standen in einer Beziehung zur Ma-
gnitude der reizabhängigen Veränderungen der Herzfrequenz und der HRV.
Aufgrund dieser Beobachtungen teilte ich die Probanden zwei Untergruppen
zu, je nachdem, ob für sie eine hohe oder eine niedrige HRV charakteristisch
war. Meine Studien erwiesen sich als sehr vorausschauend, und sie zogen ei-
ne regelrechte Explosion von Publikationen nach sich, in denen individuel-
le Unterschiede hinsichtlich der HRV zur kognitiven Leistungsfähigkeit, zur
Sensibilität für Umweltreize, zu psychiatrischen Diagnosen, zu mentaler und
körperlicher Fitness und zu Resilienz in Verbindung gebracht wurden. Nach-
dem sich die HRV in der wissenschaftlichen Literatur einen festen Platz er-
obert hatte, arbeiteten andere an der Entwicklung von Techniken, mit deren
Hilfe sie sich durch Biofeedback, Atemübungen, körperliche Fitneß und Me-
ditation verbessern ließ.

Die HRV vermittelnde neuronale Mechanismen

Nachdem ich die Beziehung zwischen individuellen Unterschieden hinsicht-


lich der HRV und einerseits aufmerksamkeitsbezogenen Messungen wie
solchen der Reaktionszeit sowie andererseits Messungen der autonomen
Reaktivität (z. B. in Form von Veränderungen der Herzfrequenz) beobachtet
hatte, schlug ich mit meiner Forschungsarbeit eine andere Richtung ein. Ich
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Sicherheit • 17

konzentrierte mich fortan auf die Frage, warum zwischen individuellen Un-
terschieden hinsichtlich der HRV in Verbindung mit anhaltender Aufmerk-
samkeit und der Regulation von Verhaltenszuständen eine Beziehung be-
steht. Dies veranlaßte mich zur Untersuchung der neuronalen Regulation
des Herzens an Tieren. Ich wollte die Beschaffenheit der neuronalen Pfade
verstehen, die für die Entstehung der Zeitdifferenzen zwischen den einzelnen
Herzschlägen, auf denen die HRV basiert, verantwortlich sind.
Im Laufe meines Studiums der Neurophysiologie und Neuroanatomie
stellte ich fest, daß die Literatur genügend Informationen enthielt, die mir er-
möglichten, aus der HRV eine neuronale Signatur der Vagusregulation zu ex-
trahieren. In einer Publikation des deutschen Physiologen H. E. Hering (1910)
vom Anfang des 20. Jahrhunderts heißt es, die Atmung ermögliche einen
Funktionstest der Vaguskontrolle des Herzens. Hering erklärte: »Hinsichtlich
der Atmung ist bekannt, daß ein demonstrierbares Absinken der HR ... für
die Funktion der Vagi charakteristisch ist.«

Die Entwicklung einer sensiblen Technik zur Messung


der vagusgesteuerten Regulation des Herzens
Nachdem mir klar geworden war, daß die kardioinhibitorischen Fasern des
Vagus in Verbindung mit einem bestimmten Atemmuster feuerten, verfüg-
te ich über die erforderliche neurophysiologische Rechtfertigung für den
Wechsel von einer allgemeinen Messung der HRV zur Messung einer exak-
teren Komponente der HRV, nämlich der Regulation des Herzens durch den
Vagus. Dies führte zur Entwicklung einer Methode, welche die respiratori-
sche Sinusarrhythmie (RSA) als treffsichere Anzeige für den kardialen To-
nus des Vagus quantifizierte. Die RSA war nach Herings Beschreibung die
funktionale Manifestation der Vaguseinflüsse auf die Herzfrequenz. Die
mit der Atmung zusammenhängenden Veränderungen der Beeinflussung
des Herzens durch den Vagus kommen als rhythmische Vergrößerung und
Verkleinerung der Abstände zwischen den einzelnen Herzschlägen zum
Ausdruck, wobei stärkere Vaguseinflüsse die Unterschiede vergrößern. Die
respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) war ein funktionaler Index für eine
neuronale Feedback-Schleife, welche die inhibitorischen Einflüsse des Vagus
auf den Schrittmacher des Herzens (den Sinusknoten) dynamisch veränderte.
18 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

Das Feedback-System erhielt Input von der Lunge und vom Herzen, der zum
Hirnstamm weitergeleitet wurde, und es erfolgten Projektionen (Weiterlei-
tungen) aus höheren Gehirnbereichen in den Hirnstamm. Die Output-Para-
meter des Feedback-Systems ermöglichen Amplituden- und Frequenzmes-
sungen. Die Amplitude erwies sich als Manifestation des Vaguseinflusses und
der Periodizität der reflektierten Atemfrequenz.
Mit Hilfe dieses neuen Werkzeugs entwickelte sich meine Forschungs-
arbeit, die ursprünglich einen korrelativen Ansatz verfolgt hatte, zu einem
neurophysiologisch orientierten Modell, das die neuronale Regulation des
autonomen Zustandes über den Vagus kontinuierlich überwachen konnte.
Mitte der 198oer Jahre wandte sich meine Arbeit klinischen Populationen zu,
die unter Störungen der Regulation des physiologischen Zustandes litten, so
wie es oft bei frühgeborenen Kindern der Fall ist. Da ich mich nun auf die
Beobachtung des physiologischen Zustandes konzentrierte, wollte ich meine
Untersuchungen in klinischen Umgehungen durchführen können und ent-
wickelte deshalb einen tragbaren Monitor für die Messung des vagalen Tonus
(Porges 1985), der die Regulation des Herzens durch den Vagus in klinischen
Situationen permanent überwachen konnte. Etwa hundert dieser Geräte
wurden gebaut und über eine kleine Gesellschaft, Delta-Biometrics, die mitt-
lerweile schon nicht mehr existiert, vertrieben.

Die Integration uon Messungen des


physiologischen Zustandes in S-R-Modelle
Nach meinen Beobachtungen spielt die Biologie im Bereich der angewandten
behavioralen Techniken (z. B. in Form der Verhaltensmodifikation) und in
den Kognitionswissenschaften entweder nur eine sehr untergeordnete oder
gar keine Rolle. Die Integration der Kognitionswissenschaften und Neuro-
wissenschaften führte nicht zur Veränderung des kognitionswissenschaftli-
chen Modells; nur die abhängigen Variablen veränderten sich, insofern Mes-
sungen der Funktionsweise des zentralen Nervensystems einbezogen wurden.
Trotz zahlreicher Untersuchungen von Funktion und Elektrophysiologie des
Gehirns fand kein echter Paradigmenwechsel statt. Die Studien orientierten
sich weiterhin am historischen S-R-Modell und bezogen Informationen über
die Physiologie und Neurophysiologie nur marginal ein.
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Sicherheit • 19

Die angewandte Verhaltenswissenschaft, so wie sie von den Mitgliedern


und Zeitschriften der Association of Behavioral Analysis International
(ABAI) vertreten wird, hält den grundlegenden physiologischen Zustand ei-
nes Menschen nicht für eine wichtige Determinante jener S-R-Beziehungen,
welche die Methoden der gesamten Gruppe zu etablieren und zu stärken
versuchen. Vor einigen Jahren wurde mir die Ehre zuteil, anläßtich einer Jah-
resversammlung der ABAI eine B.-F.-Skinner-Vorlesung zu halten. Der Titel
meines Vortrags lautete: »Verhaltensmodifikation aus Sicht der Polyvagal-
Theorie«. Ich beschrieb darin meine persönliche Suche nach Variablen, mit
deren Hilfe sich der physiologische Zustand als vermittelnde Variable zwi-
schen Reiz (S) und Reaktion (R) messen ließ, welche die Grundlagen aller be-
havioralen Methoden bilden. In meinem Vortrag wies ich auf ein wesentlich
älteres Lernmodell hin, das der großen Bedeutung von Varianten im Orga-
nismus als einem Vermittler von S-R-Beziehungen Rechnung trug. Im Rah-
men des S-0-R-Modells (siehe u. a. Woodworth 1929) repräsentiert »0« den
Organismus und in S-R-Paradigmen fungiert es als vermittelnde Variable.
Ursprünglich hatte das »0« in S-0-R-Modellen jedoch keine neurophysio-
logische Basis und nutzte den physiologischen Zustand nicht als Definitions-
merkmal.
In meinem Vortrag erklärte ich, daß die Erforschung der neuronalen Regu-
lation des ANS mit Hilfe von Verfahren wie dem der HRV-Messung ermögli-
che, das »0« zu beobachten, das in zur Verhaltensmodifikation entwickelten
Paradigmen und Protokollen als vermittelnde Variable fungiere. Außerdem
erklärte ich, daß der Kontext und andere Interventionsmerkmale das »0 «
aufgrund der Beeinflußbarkeit des physiologischen Zustandes veranlassen
könnten, Resultate zu verstärken. Deshalb könne man die RSA im Rahmen
von Verhaltensmodifikationsparadigmen als Index für die Regulation des
Herzens durch den Vagus als vermittelnde Variable nutzen.
Auch warf ich die Frage auf, ob der physiologische Zustand für individu-
elle Unterschiede und situative Variationen der Wirksamkeit von Verhal-
tensmodifikationsverfahren verantwortlich sein könnte. Und ich erklärte,
innerhalb des S-0-R-Rahmens könnten neue behaviorale Paradigmen ent-
wickelt werden, die eine optimale Regulation durch den Vagus als Vermitt-
ler der Effektivität von Paradigmen der Verhaltensmodifikation zu fördern
vermöchten. Mein Vortrag wurde sehr positiv aufgenommen, und er ermög-
lichte vielen Zuhörern mit einer stark behavioral geprägten Perspektive, eine
2Q • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

neurophysiologische Sicht in ihr Denken einzubeziehen, ohne mit den eige-


nen Methoden und Paradigmen in Konflikt zu geraten.

Die Suche nach einer vermittelnden Variablen

Meine Reise als Wissenschaftler war eine persönliche Suche nach einer ver-
mittelnden Variablen, die individuelle Verhaltensunterschiede erklärte. Im
Laufe dieser Reise lernte ich, die Bedeutung des autonomen Zustandes als
neuronaler Plattform für Verhalten und psychologisches Erleben unter Ein-
schluß von Gefühlen der Sicherheit zu verstehen. Der Einfluß des autono-
men Zustandes auf das Verhalten ist nicht unmittelbar kausaler Art. Aber das
Spektrum emergenten Verhaltens und psychischen Erlebens wird durch den
autonomen Zustand begrenzt. Eine andere Sicht dieser Beziehung besteht in
der Vorstellung, der autonome Zustand sei eine Instanz, die die Wahrschein-
lichkeit (und Möglichkeit) der Manifestation bestimmter Verhaltensweisen
und psychologischer Empfindungen verändern könne.
Meine Reise, die mich zur Entwicklung der Polyvagal-Theorie führte, verlief
im Einklang mit den Erfordernissen der akademischen Institutionen, denen
ich angehörte. Universitäten vermitteln den Mitgliedern ihrer Fakultäten nicht
unbedingt ein Gefühl der Sicherheit. Sie erfüllen ihre Aufgaben im Rahmen
eines klaren und objektiven evaluativen Modells, in dessen Wirkungsbereich
Ideen und wissenschaftliche Aufsätze permanent überprüft und hinterfragt
werden. Und wenn evaluative Modelle sich dauerhaft etablieren, verwandeln
sie den physiologischen Zustand im Sinne einer generellen Defensivhaltung.
Und physiologische Zustände, die Defensivhaltungen unterstützen, sind für
die Entfaltung von Kreativität und die Entwicklung umfassender Theorien
kontraproduktiv. In der akademischen Welt gibt es implizite Regeln, die zu
verstehen es mir ermöglicht hat, kreativ zu sein und neue Perspektiven zu
entwickeln.
Rückblickend erkenne ich in meiner akademischen Laufbahn drei Phasen.
Die erste war der deskriptiven Forschung gewidmet, und sie hat mir zu einer
Anstellung als außerordentlicher Professor verholfen. In dieser Phase erkann-
te ich die HRV als wichtiges Phänomen und führte eine Anzahl empirischer
Untersuchungen durch. Die zweite Phase war von Forschungsprojekten be-
stimmt, die jene neurophysiologischen Mechanismen erklärten, welche die
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Siche rheit • 21

HRV vermitteln. In ihr gelangen mir wissenschaftliche Erfolge, die mir zu ei-
ner ordentlichen Professur verhalfen. Und diese Professur schließlich ermög-
lichte mir, die Wissensbasis, die ich in meiner vorangegangenen Forschungs-
arbeit aufgebaut hatte, auf klinische Fragen anzuwenden. In dieser dritten
Phase entwickelte ich die Polyvagal-Theorie und schuf damit eine Grundlage
für eine Gehirn-Körper- oder Geist-Körper-Wissenschaft, die neurophy-
siologisch, neuroanatomisch und evolutionsbiologisch orientiert ist. Eine
Theorie zu präsentieren, die bestehende Paradigmen in Frage stellt, ist ein
riskantes Unternehmen, das eine Karriere vorzeitig beenden kann, wenn
man sich ihm zu früh widmet. Es ist mir jedoch gelungen, mir durch meine
akademischen Errungenschaften die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu
sichern, die ich benötigte, um die Polyvagal-Theorie präsentieren zu können.
Die dritte Phase begann für mich über zehn Jahre nach meiner Beförderung
in eine »ordentliche« Professur, in einer Situation, in der ich als Präsident der
Society for Psychophysiological Research (Porges 1995) meine Präsidialrede
hielt. Glücklicherweise war diese dritte Phase für mich sowohl in der akade-
mischen Welt als auch in der Welt der klinischen Praxis sehr bereichernd.
Die Polyvagal-Theorie ermöglichte mir, die Bedeutung des physiologi-
schen Zustandes als vermittelnder Variabler zu erklären, die das Verhalten
und unsere Fähigkeit, mit anderen Menschen zu interagieren, beeinflußt. Sie
half mir auch zu verstehen, wie Gefahr und Bedrohung den physiologischen
Zustand eines Menschen so verändern können, daß er Defensivverhalten un-
terstützt. Außerdem - und das ist vielleicht sogar noch wichtiger - erklärt
die Polyvagal-Theorie, inwiefern Sicherheit nicht beinhaltet, daß Gefahr völ-
lig ausgeschaltet wird und daß das Gefühl der Sicherheit von bestimmten
Signalen aus der Umgebung und von unseren Beziehungen abhängt, die De-
fensivschaltkreise aktiv hemmen und Gesundheit sowie Gefühle der Liebe
und des Vertrauens fördern (Porges 1998).

Sicherheit und physiologischer Zustand

Sicherheit wird mit jeweils anderen Umgebungsmerkmalen assoziiert, je


nachdem, ob sie durch körperliche Reaktionen oder kognitive Evaluationen
definiert wird. Bei der Beschreibung von Sicherheit können wir aus einer ad-
aptiven, überlebensorientierten Perspektive feststellen, daß die »Weisheit« in
22 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

unserem Körper und in Strukturen unseres Nervensystems zu Hause ist, die


außerhalb unseres Gewahrseins aktiv sind. Somit spielen unsere kognitiven
Evaluationen von Gefahr in der Umgebung einschließlich der Identifikati-
on potentiell gefährlicher Beziehungen für unsere viszeralen Reaktionen auf
andere Menschen und auf Orte nur eine sekundäre Rolle. Im Rahmen der
Polyvagal-Theorie wird der neuronale Prozeß, der unabhängig von unserem
Gewahrsein Gefahren in der Umgebung einschätzt, Neurozeption (Porges
2004) genannt. Im Einklang mit dieser Thematik sind die Auswirkungen von
Herausforderungen für unsere psychische und physische Gesundheit, die oft
als belastend für unsere kognitiven Fertigkeiten und durch diese kalibriert be-
zeichnet werden, oft weniger stark von den physischen Begleiterscheinungen
des Ereignisses als von unseren körperlichen Reaktionen abhängig.
Mit Herausforderungen konfrontiert, fungiert unser Körper wie ein Lü-
gendetektor. Umgebungsmerkmale, die einige als angenehm und erfreulich
empfinden, wirken auf andere beunruhigend und beängstigend. Als verant-
wortungsbewußte Menschen, sensible Eltern, gute Freunde, Mentoren und
Kliniker müssen wir die Reaktionen unseres eigenen Körpers wachsam verfol-
gen und die Reaktionen anderer Menschen respektieren, wenn wir uns selbst
und ihnen helfen wollen, in einer wesensmäßig gefährlichen Welt zurechtzu-
kommen, sichere Umgehungen zu erkennen und vertrauensvolle Beziehun-
gen aufzubauen.
Die Aspekte unseres Nervensystems, die uns in der Welt schützen, liefern
uns auch Informationen über den Zustand und die Bedürfnisse unserer Klien-
ten. Wir verfügen über die unschätzbar wertvolle Möglichkeit, ihren Zustand
und ihre Absichten aus dem Klang ihrer Stimme, aus ihrer Mimik und Gestik
und aus ihrer Haltung abzuleiten. Diese Informationen sind uns nicht immer
in verbaler Form zugänglich, aber wenn wir dem Gefühl, das sie in uns her-
vorrufen, genau zuhören, wirkt sich dies auf unsere Praxis aus.
Die Polyvagal-Theorie hinterfragt die Parameter, die unsere edukativen,
rechtlichen, politischen, religiösen und medizinischen Institutionen zur De-
finition von Sicherheit nutzen. Indem wir »Sicherheit« nicht mehr im Sinne
eines strukturellen Modells einer äußeren Situation, die durch Zäune, Me-
talldetektoren und Überwachungskameras geprägt ist, sondern im Sinne
eines Modells viszeraler Sensibilität verstehen, das Veränderungen der neu-
ronalen Regulation des autonomen Zustandes verfolgt, hinterfragen wir auf
der Grundlage der Polyvagal-Theorie unsere gesellschaftlichen Wertvorstel-
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Sicherheit • 23

Iungen hinsichtlich der Behandlung von Menschen. Sie zwingt uns, uns zu
fragen, ob unsere Gesellschaft uns genügend Gelegenheiten bietet, sichere
Umgehungen und Vertrauen erweckende Beziehungen zu erleben. Sobald
uns klar wird, daß für unsere Erlebnisse in gesellschaftlichen Institutionen -
etwa in Schulen, Krankenhäusern und Kirchen - ständiges Evaluieren cha-
rakteristisch ist, das Empfindungen von Gefahr und Bedrohung hervorruft,
erkennen wir, daß diese Institutionen für die Gesundheit ebenso schädlich
sein können wie politische Unruhen, Finanzkrisen und Kriege.
Die Polyvagal-Theorie stellt ein neurobiologisches Narrativ zur Verfügung,
das die Bedeutung von »Sicherheit« und die adaptiven Konsequenzen der
Entdeckung von Gefahr für den physiologischen Zustand, das soziale Ver-
halten, das psychische Erleben und die Gesundheit erläutert. Sie versteht
klinische Störungen als Probleme der neuronalen Regulation von Schaltkrei-
sen, die Defensivstrategien neutralisieren und die spontane Manifestation
von sozialem Engagement ermöglichen. Diese Sicht unterscheidet sich von
derjenigen traditioneller Lernmodelle, die annehmen, atypisches Verhalten
sei erlernt und könne folglich durch an der Lerntheorie orientierte Behand-
lungsmethoden modifiziert werden, die auf Assoziation, Extinktion und
Habituation beruhen. Dies schließt pharmakologische Interventionen zwar
nicht aus, unterscheidet sich aber in einigen Punkten von der Sicht der heu-
tigen biologisch orientierten Psychiatrie, die den Einsatz von Pharmazeutika
zu ihren wichtigsten Behandlungsmethoden zählt.
Die Polyvagal-Theorie fungiert als Basis eines komplementären Modells,
das auf dem Verständnis des physiologischen Zustandes als einer »neuro-
nalen« Plattform beruht, auf der verschiedene Arten adaptiven Verhaltens
effizient zum Ausdruck gelangen können. Beispielsweise werden bestimmte
physiologische Zustände mit optimalem sozialem Verhalten und effizienten
Defensivstrategien assoziiert. Die Polyvagal-Theorie zu verstehen hilft Klini-
kern, sich des physiologischen Zustandes ihrer Klienten bewußter zu wer-
den und ihn als eine wichtige Determinante des Spektrums ausdrückbarer
Verhaltensweisen zu verstehen. Außerdem kann die Polyvagal-Theorie helfen,
neue Behandlungsformen zu entwickeln, die auf bestimmten »neuronalen
Übungen« basieren, durch welche die Regulation des autonomen Zustandes
verbessert werden kann.
24 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Die Bedeutung uon Sicherheit und uon Signalen


zur Sicherung des Überlebens
Im Laufe der Evolutionsgeschichte führte die Entwicklung von den Reptili-
en zu den Säugetieren zur Entstehung eines Nervensystems, das feststellen
konnte, ob Situationen sicher waren, insbesondere im Hinblick darauf, ob es
gefahrlos möglich war, sich Artgenossen zu nähern und sie zu berühren. Dies
erforderte neuronale Mechanismen, die in der Lage waren, die für Reptilien
und andere »primitivere« Wirbeltiere charakteristischen Defensivstrategien
abzuschalten. Dem Bedürfnis von Säugetieren, die Sicherheit einer Situation
einzuschätzen, lagen verschiedene biologische Notwendigkeiten zugrunde.
Erstens benötigen alle Säugetiere im Gegensatz zu ihren Reptilienvorfahren
nach der Geburt die Pflege ihrer Mutter. Zweitens können viele Säugetier-
arten, und so auch der Mensch, nur überleben, wenn sie langfristige soziale
Beziehungen aufbauen. Ein Leben in Isolation ist für sie »traumatisch« und
wirkt sich sehr schädlich auf die Gesundheit aus. Die Fähigkeit, die Sicherheit
einer Umgebung und eines Artgenossen zu erkennen, ist für Säugetiere zwin-
gend erforderlich, weil sie nur unter dieser Voraussetzung ihre Defensivsyste-
me abschalten können, um elterliche Funktionen zu erfüllen und adäquates
soziales Verhalten auszudrücken. Drittens erfordert das Nervensystem von
Säugetieren eine Umgebung, in der sie sich verschiedenen biologischen und
behavioralen Funktionen wie der Fortpflanzung, der Aufzucht ihres Nach-
wuchses, dem Schlaf und der Verdauung widmen können. Dies ist in Zeiten
besonderer Verletzbarkeit, etwa während einer Schwangerschaft und auch
früh im Leben, sehr wichtig. Mit diesem Bedürfnis nach Sicherheit, das es er-
möglicht, bestimmte biologische Funktionen zu erfüllen, sind der Ausdruck
sozialen Verhaltens und die Emotionsregulation eng verbunden.
Einige der neurophysiologischen Veränderungen, die sich im Laufe der
Weiterentwicklung von den primitiven Reptilien zu den Säugetieren her-
ausgebildet haben, wirken sich auf das soziale Verhalten und die Emotions-
regulation aus. Wichtig für die psychische und physische Gesundheit ist die
Beobachtung, daß diese Schaltkreise in gefährlichen und lebensbedrohlichen
Umgehungen nicht erreichbar sind und daß sie bei Vorliegen einiger psychi-
scher und physischer Störungen ihre Funktion nicht einwandfrei erfüllen.
Sicherheit ist wichtig, wenn man Menschen ermöglichen will, ihr Poten-
tial besser zu nutzen. Zustände der Sicherheit sind eine Voraussetzung nicht
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Sicherheit • 25

nur für soziales Verhalten, sondern auch für die Nutzung jener höheren Ge-
hirnstrukturen, die es Menschen ermöglichen, kreativ und produktiv zu sein.
Doch wie verhalten sich unsere Institutionen - beispielsweise Schulen und
Universitäten, Regierungsbehörden und medizinische Behandlungszentren-
hinsichtlich der Förderung von Zuständen der Sicherheit? Welche Prioritä-
ten setzen Kultur und Gesellschaft, wenn es darum geht, die Bedürfnisse des
Einzelnen nach Sicherheit zu respektieren? Wir müssen uns Klarheit darüber
verschaffen, was unser Gefühl der Sicherheit beeinträchtigt, und wir müssen
uns vergegenwärtigen, wie es sich auf das menschliche Potential auswirkt, in
einer von Unsicherheit geprägten Welt zu leben. Wenn uns klar ist, wie anfäl-
lig wir für Gefahren und lebensbedrohliche Situationen sind, sollten wir uns
bemühen, die Bedeutung sozialen Verhaltens und des Systems für soziales
Engagement (Porges 2007) für die Neutralisierung der Defensivsysteme und
die Entwicklung sozialer Bindungen zu erkennen, wodurch gleichzeitig Ge-
sundheit, Wachstum und Genesung gefördert werden.
Verschiedene Behandlungsmodelle nutzen mittlerweile die Sicht der Poly-
vagal-Theorie, um Körperreaktionen und physiologische Zustände als neu-
rophysiologische Basis zu verstehen, von der ausgehend sie verschiedene
Interventionstechniken zu einem effizienten Modell therapeutischer Arbeit
verbinden können. Die Polyvagal-Theorie respektiert die Abhängigkeit un-
serer psychischen, physischen und behavioralen Reaktionen von unserem
physiologischen Zustand. Sie verweist auf die Bedeutung der bidirektionalen
Kommunikation zwischen den Körperorganen und dem Gehirn mit Hilfe des
Vagus und anderer für die Regulation des ANS wichtiger neuronaler Verbin-
dungen.

Soziales Engagement und Sicherheit

Aus Sicht der Polyvagal-Theorie veranschaulichen die klinischen Interaktio-


nen, bei denen das Schauen, das Hören und das Bezeugen eine Rolle spielen,
wichtige Aspekte der Theorie, nämlich das System für soziales Engagement
und das Feedback der zu den subjektiven Empfindungen beitragenden Kör-
perorgane. Das System für soziales Engagement umfaßt die neuronalen Pfade,
welche die gestreiften Muskeln des Gesichts und des Kopfes steuern. Es ruft
körperliche Empfindungen hervor und ermöglicht es, Körperempfindungen
26 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

in einem Spektrum zu verändern, das von einem sehr ruhigen Zustand der
Sicherheit, der Vertrauen und Liebe fördert, bis hin zu einem verletzlichen
Zustand, der Defensivreaktionen hervorruft, reicht. Das Schauen und Zu-
hören beinhaltet einen wichtigen Aspekt des Systems für soziales Engage-
ment, insofern das Anschauen eines anderen Menschen einerseits ein Akt
des Engagements ist und sich andererseits auf den körperlichen Zustand des
Beobachters auswirkt. Aufgrund dieser Projektion spürt die »angeschaute«
Person, ob der »Anschauende« ihr offen und interessiert begegnet oder nicht
an ihr interessiert ist. Der Klient spürt seine eigene körperliche Reaktion auf
das Engagement-Verhalten und die Auswirkungen der damit verbundenen
körperlichen Empfindungen.
Den anderen in der therapeutischen Situation anzuschauen, ihm zuzuhö-
ren und ihn zu spüren, ist ein Ausdruck der dynamischen bidirektionalen
Kommunikation zwischen körperlichem Zustand und emotionalem Prozeß
während einer sozialen Interaktion. Damit die soziale Interaktion auf beide
Beteiligte unterstützend wirkt und damit eine Co- Regulation des physiologi-
schen Zustandes ermöglicht wird, müssen die vom System für soziales Enga-
gement der Dyade ausgehenden Signale Sicherheit und Vertrauen vermitteln.
Ist dies der Fall, können sich die aktiv Beteiligten, ganz gleich, ob es sich um
ein Kind und einen Elternteil oder um ein erwachsenes Paar handelt, in den
Armen des anderen sicher fühlen. Man könnte die Ermöglichung eines ge-
meinsamen intersubjektiven Erlebnisses mit der Eingabe des Codes für ein
Kombinationsschloß vergleichen: Sobald sich die Arretierungen in der richti-
gen Position befinden, öffnet sich das Schloß.
Modifikationen der Neurophysiologie, die erst bei den Säugetieren zu fin-
den sind, ermöglichen diesen, eigene affektive Zustände zu signalisieren und
die von Artgenossen zu erkennen. Aufgrund dessen konnten sie signalisieren,
ob es gefahrlos möglich war, sich ihnen zu nähern, physischen Kontakt zu
ihnen herzustellen und eine soziale Beziehung zu ihnen anzuknüpfen. Ließen
ihre Signale Aggression oder eine aktive Defensivhaltung erkennen, konnten
Kommunikationspartner ihr soziales Engagement augenblicklich beenden,
ohne daß ein Konflikt entstand oder eine Verletzung hervorgerufen wurde.
Im Laufe der Evolution wurden die neuronalen Verbindungen und Struk-
turen des Systems für soziales Engagement in einen neuronalen Pfad des
ANS integriert, der beruhigend auf das Herz wirkt und die Aktivität der De-
fensivmechanismen abschwächt.
Die neurobiologischen Grundlagen des Gefühls der Sicherheit • 27

Die Verbindung zwischen körperlichem Zustand, Mimik und stimmli-


chem Ausdruck ermöglichte es Artgenossen, zu Mitgliedern der eigenen
Spezies in Kontakt zu treten, sofern diese Signale für die Sicherheit einer Si-
tuation zum Ausdruck brachten, und zu kämpfen oder die Flucht zu ergrei-
fen, wenn sie Anzeichen für eine Gefahr entdeckten, oder, wenn sie weder
kämpfen noch fliehen konnten, in einen Zustand der Erstarrung zu verfallen,
in dem sie wie tot wirkten. Dieses bidirektionale System, das Körperzustände
ebenso wie mimische und stimmliche Äußerungen umfaßt, ermöglicht so-
ziale Kommunikation, was das Bemühen um Co-Regulation sowie Mecha-
nismen zur Beruhigung und zur Wiederherstellung der Co-Regulation nach
Beziehungsbrüchen einschließt.
Mit dem System für soziales Engagement eng verbunden ist unser biolo-
gisch basiertes Streben nach Sicherheit und die ebenfalls biologisch basier-
te Notwendigkeit, zu anderen Menschen in Verbindung zu treten und mit
ihnen gemeinsam unseren physiologischen Zustand zu regulieren. Wie wir
einander anschauen, ist ein wichtiger Ausdruck unserer Fähigkeit, zu ande-
ren Menschen in Beziehung zu treten. Subtile Signale des Verstehens und
übereinstimmender Gefühle oder Absichten, die häufig mit dem Charakter
der Prosodie co-variieren, kommunizieren auch den physiologischen Zu-
stand. Nur in einem ruhigen physiologischen Zustand können wir anderen
signalisieren, daß die aktuelle Situation für sie sicher ist. Diese Möglichkeiten,
eine Verbindung herzustellen und Co-Regulation zu initiieren, entscheiden
über das Gelingen von Beziehungen, nicht nur von Eltern-Kind-Beziehungen,
sondern von Beziehungen ganz generell. Das System für soziales Engagement
bringt nicht nur den physiologischen Zustand eines Menschen zum Aus-
druck, sondern ermöglicht uns auch, bei anderen Menschen Zustä~de des
Leidens oder der Sicherheit zu erkennen. Sobald wir uns der Sicherheit einer
Situation vergewissert haben, beruhigt sich unsere Physiologie. Erkennen wir
eine Gefahr, bereitet sich unsere Physiologie auf Defensivverhalten vor.

Zum Abschluß

Die Polyvagal-Theorie erklärt, daß das Empfinden von Sicherheit vom auto-
nomen Zustand abhängt und daß Signale für Sicherheit helfen, das ANS zu
beruhigen. Die Beruhigung des physiologischen Zustandes erschließt Mög-
28 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

lichkeiten, von Sicherheit und Vertrauen geprägte Beziehungen aufzubauen,


die schon an und für sich der Co-Regulation behavioraler und physiologischer
Zustände zugute kommen. Diese »Zirkuläre« Regulation ist charakteristisch
für gesunde Beziehungen, die sowohl die psychische als auch die physische
Gesundheit fördern. In diesem Rahmen betrachtet, fungieren unsere körper-
lichen Empfindungen (d. h., unser autonomer Zustand) als vermittelnde Va-
riable, die unsere Reaktionen auf andere Menschen beeinflußt. In einem Zu-
stand der Mobilisierung, für den sympathische Aktivierung charakteristisch
ist, sind wir auf Verteidigung eingestellt, nicht auf die Förderung von Signa-
len für die Sicherheit der aktuellen Situation oder darauf, positiv auf Signale
für Sicherheit zu reagieren. Wird der autonome Zustand jedoch durch die
ventral-vagalen Pfade reguliert, koordiniert unser System für soziales Enga-
gement Signale für Sicherheit durch mimischen und stimmlichen Ausdruck,
um unsere eigenen und fremde Defensivreaktionen zu deaktivieren. Die Ko-
ordination der Systeme für soziales Engagement beider Beteiligter fördert die
Verbundenheit. Die Polyvagal-Theorie erklärt, weshalb Behandlungsmodelle
nicht nur Körperempfindungen respektieren, sondern auch physiologische
Zustände unterstützen müssen, die die »positiven« Attribute menschlichen
Erlebens optimieren.
Die Polyvagal-Theorie hilft uns zu verstehen, daß es für uns alle eine bio-
logische Notwendigkeit ist, mit anderen Menschen verbunden zu sein und
gemeinsam mit ihnen die Fähigkeit zur Co-Regulation zu entwickeln. Wir
erleben diese Notwendigkeit als eine uns inhärente Suche nach Sicherheit,
die nur durch soziale Beziehungen, in denen wir Verhalten und Physiologie
gemeinsam regulieren, zum Erfolg führen kann. Wollen wir uns die Bedeu-
tung des Gefühls der Sicherheit in unserem Leben vergegenwärtigen, wird
uns klar, daß das Verständnis der physiologischen Signaturen von Gefühlen
und die Signale, die Gefühle und Empfindungen auslösen, uns helfen können,
unsere Beziehungen zu verbessern und unsere Klienten, Familienangehöri-
gen und Freunde zu unterstützen. Wenn wir der biologischen Notwendigkeit,
das Gefühl der Verbundenheit zu pflegen, gerecht werden, müssen wir dem
Bemühen, anderen Menschen zu vermitteln, daß sie in Sicherheit sind, abso-
lute Priorität einräumen.
I<APITE L 2

Grundlagen der Polyvagal-Theorie


und ihre Bedeutungfür
die Traumabehandlung
Stephen W. Porges & Ruth Buczynski

DR. BuoczYNSKI: Ich bin Dr. Ruth Buczynski, staatlich geprüfte Psychologin
in Connecticut und Präsidentin des National Institute for the Clinical Appli-
cation of Behavioral Medicine (NICABM).
Wir haben heute Dr. Stephen Porges zu Gast. Er ist Professor für Psychia-
trie und Bioengineering, Direktor des Brain-Body-Centers an der University
of Illinois in Chicago und Autor des Buches Die Polyvagal- Theorie. Sicher
haben viele von Ihnen schon von der Polyvagal-Theorie gehört. Deshalb freu-
en wir uns, Stephen endlich persönlich hier zu haben, mit ihm reden und
so noch mehr darüber herausfinden zu können, was es mit der Polyvagal-
Theorie auf sich hat.
Sie werden feststellen, daß diese Theorie für das Verständnis zahlreicher
Störungen und bestimmter Aspekte des menschlichen Erlebens sehr wichtig
ist.

Dieses Interview wurde von Stephen W. Porges für diese Buchausgabe überarbeitet. Das Orginal ent-
stand im April 2011.
© by Stephen W. Porges & NICABM (National Institute for the Clinical Application of Behavioral
Medicine - Storrs, CT, USA). Website: www.nicabm.com
30 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Was Therapeuten über Traumata und


das Nervensystem wissen sollten
DR. BuczYNSKI: Ich möchte als erstes die Frage aufwerfen, was Therapeuten
über Traumata und das Nervensystem wissen müssen. Ich glaube, es ist ge-
rechtfertigt zu sagen, daß Stephen Porges' Ansatz unser Verständnis dessen,
was im Laufe eines traumatischen Erlebnisses sowie bei anderen Störungen
innerlich geschieht, grundlegend verändern wird. Was geschieht in einem
Menschen, der sich in einer traumatischen Situation befindet? Können Sie
das für uns skizzieren?

DR. PoRGES: Eines der größten Probleme bei der Behandlung von Trauma-
ta besteht darin, daß sie den streßbasierten Störungen zugerechnet werden.
Das ist unserem Verständnis der Reaktionsweise des menschlichen Körpers
wie auch des Körpers von Säugetieren generell auf lebensbedrohliche Situa-
tionen nicht zugute gekommen.
Die meisten Menschen glauben, wir verfügten nur über ein Defensiv-
system, das uns Kampf oder Flucht ermöglicht. Dieses System wird in jedem
Buch zum Thema beschrieben und steht bei der Auseinandersetzung mit
Streß und Angst gewöhnlich im Mittelpunkt. In solchen Darstellungen wird
meist versäumt, die Reaktion des Körpers auf Lebensgefahr in Form von Er-
starren (Immobilisierung) zu erwähnen.
Das Erstarren versetzt den Körper in einen ungewöhnlichen physiologi-
schen Zustand, der bei Säugetieren zum Tod führen kann. Viele von uns ha-
ben diese Reaktion schon einmal bei einem sehr kleinen Säugetier, das wir
alle kennen, der Hausmaus, beobachtet. Eine Maus im Maul einer Katze, die
so wirkt, als sei sie schon tot, ist das in der Regel (noch) nicht. Wir bezeich-
nen diese adaptive Reaktion der Maus als »Totstellen«. Allerdings handelt es
sich nicht um eine bewußte oder willensgesteuerte Reaktion, sondern um
eine adaptive biologische Reaktion auf die Unfähigkeit, zu kämpfen oder zu
fliehen.
Teilweise beruhen die Schwierigkeiten, mit denen Therapeuten bei der
Behandlung von Traumata konfrontiert werden, auf mangelnder Kenntnis
dieser adaptiven biologischen Reaktion. Bedauerlicherweise haben viele en-
gagierte Kliniker, die Traumastörungen mit den verschiedensten Therapie-
ansätzen behandeln, in ihren Ausbildungen nie etwas von der Existenz eines
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 31

Defensivsystems gehört, das ein Erstarren (die Immobilisierung) des ganzen


Körpers bewirkt. Eine Recherche in der Fachliteratur legt die Vermutung na-
he, daß die neuronalen Mechanismen, welche die Immobilisierungsreaktion
vermitteln, unter anderem deshalb praktisch nie erwähnt und offensichtlich
auch nicht verstanden werden, weil sich dieses Defensivsystem nicht mit den
dominierenden Theorien über Streß vereinbaren läßt, die auf die mobilisie-
renden Defensivstrategien der Nebennieren und des Sympathischen Nerven-
systems (SNS) fokussieren.
Die Polyvagal-Theorie hingegen verweist ausdrücklich darauf, daß unser
Nervensystem über mehrere Defensivstrategien verfügt und daß die Ent-
scheidung darüber, ob wir in einer Situation eine mobilisierende Kampf-/
Flucht-Strategie oder die Strategie des Erstarrens (der Immobilisierung) nut-
zen, nicht unserem Willen unterliegt. Ohne daß wir es bewußt wahrnehmen,
untersucht unser Nervensystem ständig die Sicherheit in der Umgebung und
legt aufgrund dieser Einschätzung Prioritäten bezüglich adaptiven Verhal-
tens fest, die nicht kognitiver Art sind.
Bestimmte physische Charakteristika einer in der Umgebung auftauchen-
den Herausforderung lösen bei einigen Menschen Kampf-/Flucht-Verhalten
aus, während andere unter genau den gleichen Bedingungen mit Erstarren
reagieren. Um ein Trauma erfolgreich behandeln zu können, müssen wir die-
se Reaktion, nicht das traumatische Ereignis als solches, verstehen. Während
sogenannte traumatische Ereignisse für einige Menschen normale Ereignisse
sind, erleben andere die gleichen Geschehnisse als lebensbedrohlich, und ihr
Körper reagiert darauf, als würden sie tatsächlich sterben - ähnlich der Maus
im Maul der Katze.

DR. BuczYNSKI: Das würde wohl auch erklären, daß manche Soldaten in
Kämpfen entsetzliche Dinge erleben und trotzdem keine Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, wohingegen andere daran erkranken.
Vielleicht sollte ich besser sagen, daß Ihre Theorie die unterschiedlichen Re-
aktionen auf das gleiche Geschehen zumindest teilweise erklärt.

DR. PoRGES: Um es noch einmal zu wiederholen: Wenn wir von einer psychi-
schen Störung sprechen, beschreiben wir jeweils viele verschiedene Sympto-
me, die sich nicht immer sinnvoll zu einem stimmigen Störungsbild verbinden
lassen. Zur Veranschaulichung bietet sich der Vergleich mit der Speisekarte
32 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

in einem Restaurant an, auf der man verschiedene Gerichte für eine Mahlzeit
auswählen kann. Einigen Restaurantbesuchern schmeckt, was sie ausgewählt
haben, andere empfinden es als ekelhaft und geben es schlimmstenfalls sogar
wieder von sich. Entwickelt ein Therapeut aufgrund eines Konglomerats von
Anzeichen eine bestimmte Diagnose, müssen trotzdem nicht bei jedem, der
diese Diagnose erhält, die gleichen neuronalen Probleme vorliegen und die
gleichen klinischen Störungen auftreten.
Den meisten Psychotherapeuten ist dies klar. Sie wissen, daß eine Diagno-
se nicht garantiert, daß die Situation jedes so diagnostizierten Patienten der
aller anderen mit der gleichen Diagnose ähnelt oder daß eine Behandlung,
die sich bei einem dieser Patienten als wirksam erwiesen hat, bei einem ande-
ren mit gleicher Diagnose ebenfalls wirken muß.

Wie die Polyuagal-Theorie unser


Traumaverständnis differenziert

DR. BuczYNSKI: Wir sollten uns jetzt etwas eingehender mit der Polyvagal-
Theorie befassen und verdeutlichen, wie sie unserem Bemühen, Entstehung
und Beschaffenheit von Traumata zu begreifen, zugute kommt.

DR. PoRGES: Vor einer ausführlicheren Erläuterung der Polyvagal-Theorie


würde ich gern ein wenig in die Vergangenheit schauen, etwas über meinen
akademischen Werdegang und meine persönliche Geschichte berichten.

DR. BuczYNSKI: Sehr gute Idee!

DR. PoRGES: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß ich nie die Absicht
hatte, eine Polyvagal-Theorie zu entwickeln. Ich wollte keineswegs unbedingt
eine solche Theorie entwickeln. Mein Leben als Akademiker war wesentlich
unkomplizierter, bevor ich die Polyvagal-Theorie formulierte. Ich habe da-
mals viel geforscht und publiziert, und es machte mir Freude, die Möglich-
keiten der Messung von Vagusaktivität zu verbessern, weil ich annahm, da-
durch ließe sich die Schutzfunktion des Nervensystems besser belegen.
Für alle, die mit der Neurophysiologie nicht so vertraut sind, ein paar Hin-
tergrundinformationen: Der Vagus ist ein Cranialnerv, der aus dem Hirn-
Grundlagen der Polyvagal-Theorie • 33

stamm austritt und dann durch einen großen Teil unseres Körpers »schweift«.
Es handelt sich um einen primär sensorischen Nerv, dessen Nervenfasern zu
etwa achtzig Prozent Informationen über die inneren Organe zum Gehirn
senden; die restlichen zwanzig Prozent der Fasern sind motorischer Art, und
ihre dynamische Regulation durch das Gehirn kann unsere Physiologie dra-
matisch verändern, manchmal innerhalb weniger Sekunden. Beispielsweise
können die motorischen Pfade des Vagusnervs das Herz schneller oder lang-
samer schlagen lassen.
Im tonischen Zustand wirkt der Vagus auf den Sinusknoten, den Schritt-
macher des Herzens, wie eine Bremse. Wird diese gelöst, bewirkt der niedri-
ge vagale Tonus, daß das Herz schneller schlägt. Funktional ist der Vagus ein
inhibitorischer Nerv, der das Herz langsamer schlagen läßt und es uns da-
durch unter anderem ermöglicht, uns zu beruhigen. Deshalb haben viele den
Vagus wie eine Art »Anti-Streß«-Mechanismus verstanden und dargestellt.
Allerdings enthält die Fachliteratur auch Belege für eine Sicht, die der
meist positiven Sicht des Vagus entgegengerichtet ist und den vagalen Me-
chanismus mit dem lebensgefährlichen Phänomen der Bradykardie (einer ex-
tremen Verlangsamung des Herzschlags) und der Möglichkeit eines plötzlich
und völlig unerwartet eintretenden Todes in Verbindung bringt. Demnach
kann ausgerechnet der Nerv, der gemeinhin als Anti-Streß-System bezeich-
net wird, das Herz auch bis zum völligen Stillstand verlangsamen und in Re-
aktion auf lebensgefährdende Erlebnisse die Defäkation initiieren.
Viele, die diese Zeilen lesen, haben einiges von dem, was ich gerade über
das Autonome Nervensystem gesagt habe, in der Graduate School gehört.
Man hat uns allen insbesondere beigebracht, der Vagus sei der wichtigste
Bestandteil des Parasympathischen Nervensystems (PNS), des Gegenspielers
des Sympathischen Nervensystems (SNS), und der sympathische Zweig des
Autonomen Nervensystems (ANS) mobilisiere den Körper, setze uns also in
Bewegung.
In praktisch jedem Anatomie- und Physiologielehrbuch und auch in den
meisten psychologischen Fachbüchern wird das ANS als ein System mit zwei
antagonistischen Zweigen beschrieben. Man hat uns beigebracht, das SNS als
unseren »Todfeind« anzusehen und das PNS als fähig, die belastenden Ein-
flüsse dieses Feindes von uns fernzuhalten. Das Endergebnis der gegenläufi-
gen Aktivität der beiden Zweige des ANS sollte ein Gleichgewicht zwischen
den antagonistischen Systemen sein.
34 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Im klinischen Sprachgebrauch werden Begriffe wie »autonomes Gleichge-


wicht« mit der Erwartung verbunden, daß wir uns um die Verstärkung der
parasympathischen bzw. vagalen Aktivität bemühen sollten, um ruhiger zu
werden. Denn die Verringerung der vagalen Aktivität und damit auch des va-
galen Tonus bewirke, daß wir angespannt und reaktiv würden. Diese schöne
Theorie trifft leider nur teilweise zu. Das hängt damit zusammen, daß unsere
inneren Organe neuronale Verbindungen sowohl zum PNS als auch zum SNS
haben, wobei die meisten parasympathischen Nervenfasern durch den Vagus
verlaufen.
Die Nützlichkeit des soeben beschriebenen und bis zu diesem Zeitpunkt
allgemein anerkannten Modells wurde aufgrund von Untersuchungen, die
ich an menschlichen Neugeborenen durchführte, fraglich. Ich arbeitete da-
mals an der Entwicklung neuer Meßmethoden, die es ermöglichen sollten,
aus den Abständen der einzelnen Herzschläge zueinander die Vagusaktivität
abzuleiten, von der ich annahm, sie habe bei Säuglingen eine Schutzfunktion.
Meine Untersuchungen zeigten, daß Neugeborene eine gute klinische Pro-
gnose haben, wenn die Aktivität des Vagus (sein Tonus) bei ihnen stark ist.
Ich maß als Ausdruck der Vagusaktivität eine rhythmische Modulation der
Herzfrequenz, die Respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) genannt wird. Die
RSA läßt sich als rhythmische Beschleunigung und Verlangsamung der Herz-
frequenz im Einklang mit der Atmung beobachten. Ließ die Herzfrequenz
eines Babys diese Oszillation nicht erkennen, war das ein ernstzunehmendes
Indiz für die Möglichkeit des späteren Auftretens schwerwiegender Kompli-
kationen.
Aufgrund dieser Erkenntnisse verfaßte ich einen Aufsatz, der in der Fach-
zeitschrift Pediatrics veröffentlicht wurde. Diese Publikation sollte Neonato-
togen darüber aufklären, warum es wichtig ist, bei Neugeborenen in stationä-
rer Behandlung die Herzratenvariabilität (HRV) zu messen.
Nach dem Erscheinen dieses Artikels erhielt ich einen Brief von einem
Neonatologen. Er schrieb, er halte meinen Aufsatz zwar für sehr interessant,
er habe aber in seiner medizinischen Ausbildung gelernt, daß der Vagus ei-
nen Menschen töten könne. Er vermute, die Erklärung sei, daß zuviel von
etwas, das an und für sich gut sei, schlecht sein könne. Die Äußerung dieses
Mannes ließ mich stutzen und motivierte mich dazu, mich gründlicher mit
den Ungereimtheiten in unserem Verständnis des ANS auseinanderzusetzen.
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 35

Mir war augenblicklich klar, was der Neonatologe meinte. Aus seiner Sicht
konnte der Vagus töten, weil er die lebensgefährlichen Reaktionen der Bra-
dykardie (einer Verlangsamung der Herzfrequenz bis zum Stillstand) und
der Apnoe (des Atemstillstandes) begünstigen konnte. Für verfrüht geborene
Säuglinge sind Bradykardie und Apnoe lebensgefährlich.
Ich nahm die Äußerungen jenes Arztes sehr ernst und dachte noch ein-
mal gründlich darüber nach, was ich bei meinen Untersuchungen wohl tat-
sächlich beobachtete. So wurde mir klar, daß ich Bradykardie und Apnoe nie
in Zusammenhang mit dem beobachtet hatte, was ich vagale Aktivität zu
nennen pflegte, ein Phänomen, das mittels Quantifizierung der respiratori-
schen Sinusarrhythmie (RSA) gemessen wird. Daraufhin entwickelte ich das
Konstrukt Vagusparadox. Wie konnte der Vagus einerseits schützend wirken,
wenn er in Form der RSA zum Ausdruck kam, und andererseits tödlich, wenn
er sich in Form einer Bradykardie oder Apnoe äußerte?
Monatelang trug ich den Brief des Neonatologen mit mir herum. Und ich
suchte weiterhin nach einer schlüssigen Erklärung für das beobachtete Pa-
radox. Aber ich wußte einfach noch zu wenig über dieses Phänomen. Des-
halb entschloß ich mich, die Neuroanatomie des Vagus zu untersuchen. Ich
wollte herausfinden, ob die kontradiktorischen Reaktionsmuster durch un-
terschiedliche vagale Schaltkreise verursacht wurden.
Das Vagusparadox motivierte mich zur Entwicklung der Polyvagal-Theo-
rie. Allmählich wurde mir klar, daß es zwei Vagussysteme gibt, und es gelang
mir, deren Anatomie und Funktion zu identifizieren. Das eine kann Brady-
kardie und Apnoe hervorrufen, das andere vermittelt die RSA; das erste kann
tödlich wirken, das zweite schützt.
Die beiden Vaguspfade treten an verschiedenen Stellen aus dem Hirn-
stamm aus. Durch vergleichende Studien fand ich heraus, daß sich die beiden
Vagusschaltkreise nacheinander entwickelt haben. Aufgrund der Phylogene-
se verfügen wir von Geburt an über eine Hierarchie autonomer Reaktionen,
die das Zentrum der Polyvagal-Theorie bildet.
Erstarren (Shutdown, Immobilisierung), Bradykardie und Apnoe sind
einem sehr alten Defensivsystem zuzuordnen, das aus der entwicklungsge-
schichtlichen Phase der Reptilien stammt. Was sehen Sie, wenn Sie sich in
einer Tierhandlung Reptilien anschauen? Da bewegt sich nicht viel. Das ist
deshalb so, weil das wichtigste Defensivsystem von Reptilien die Erstarrungs-
36 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

reaktion ist. Schaut man sich hingegen kleine Säugetiere wie Hamster und
Mäuse an, so sieht man sie umherrennen - sie sind ständig in Bewegung.
Sie suchen Gesellschaft und kommen zusammen, um gemeinsam in den Zu-
stand der Immobilisierung zu wechseln.
Indem ich in der Evolution das entscheidende organisierende Prinzip er-
kannte, wurde mir plötzlich klar, daß in verschiedenen Entwicklungsphasen
des Lebens bei den jeweiligen adaptiven Verhaltensweisen unterschiedliche
neuronale Schaltkreise eine Rolle spielen. Am wichtigsten jedoch war die
Entdeckung eines primitiven Defensivsystems, das in das Nervensystem aller
Säugetiere und somit auch von uns Menschen eingebettet ist, ein Defensiv-
system der Immobilisierung - und daß die durch dieses verursachte Erstar-
rungsreaktion, die Reptilien zweifellos sehr nützlich ist, Säugetieren den Tod
bringen kann. Löst eine lebensgefährliche Situation eine biologische Verhal-
tensreaktion aus, die einen Menschen in diesen Zustand versetzt, hat der
Betroffene anschließend manchmal große Schwierigkeiten, sich aus diesem
Zustand zu befreien und wieder in den »Normalzustand« zurückzukehren.

Das Autonome Nervensystem

Diese Theorie führte zur Formulierung eines neuen Modells des ANS. Im Sin-
ne der Polyvagal-Theorie umfaßt das ANS nicht mehr nur parasympathische
und sympathische Komponenten, sondern auch drei Subsysteme, die man
evolutionsbiologisch verstehen kann. Es handelt sich dabei um: 1) die nicht
myelinisierten Vaguspfade, die für die primäre Regulation der Organe unter-
halb des Zwerchfells zuständig sind; 2) die myelinisierten Vaguspfade, welche
die Organe oberhalb des Zwerchfells regulieren; und 3) das Sympathische
Nervensystem. Die zuerst entstandenen, nicht myelinisierten Vaguspfade
sind bei den meisten Wirbeltieren zu finden. Dieses alte System unterstützt
die Homöostase, sofern sich der Organismus in einer sicheren Situation be-
findet. Wird es jedoch im Falle eines Angriffs aktiviert, unterstützt es die
Immobilisierung und die Erhaltung metabolischer Ressourcen, und auf der
Verhaltensebene kommt es in Form eines Shutdown oder eines Zusammen-
bruchs zum Ausdruck. Das Shutdown-System leistet Reptilien gute Dienste,
weil sie nicht viel Sauerstoff benötigen und kein großes Gehirn funktionsfä-
hig erhalten müssen. Aufgrund von Modifikationen des Shutdown-Systems
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 37

können einigen Reptilien mehrere Stunden lang unter Wasser bleiben, ohne
sich zu schädigen.
Säugetiere sind zu so etwas nicht in der Lage. Das für Reptilien charakte-
ristische Vagussystem repräsentiert den phylogenetisch ältesten Vagus, des-
sen Nervenfasern nicht von einer Myelinschicht umgeben sind. Säugetiere
hingegen verfügen über zwei Vagusschaltkreise, einen, dessen Nervenfasern
wie bei den Reptilien keine Myelinschicht aufweisen, und einen einzigarti-
gen, nur bei Säugetieren vorhandenen Schaltkreis, dessen Nervenfasern von
einer Myelinschicht umgeben sind. Die Fasern der beiden Vagusschaltkreise
entspringen verschiedenen Bereichen des Hirnstamms. Die myelinisierten
Vagusfasern ermöglichen die schnelle Ausführung komplexerer Prozesse. Die
Entwicklung des Autonomen Nervensystems bei Wirbeltieren begann mit
der Herausbildung von Vaguspfaden mit Nervenfasern ohne Myelinschicht,
die das Erstarrungsverhalten ermöglichen. Sogar primitive Fische wie Knor-
pelfische, zu denen die Arten der Haie und der Rochen zählen, haben diesen
ursprünglichen Vagus.
Aus phylogenetischer Perspektive ist das Sympathische Nervensystem seit
dem Auftreten der Knochenfische funktionsfähig - es ermöglicht, die nicht
myelinisierten Vagusfasern mit einem antagonistischen Input zu konfrontie-
ren. In den meisten Fällen verstärken die sympathischen Pfade die Aktivität
der viszeralen Organe und die nicht myelinisierten Vaguspfade verringern
sie.
Zunächst erfüllen die beiden Vaguspfade, welche die Körperorgane regu-
lieren, unterschiedliche Aufgaben, wobei der nicht myelinisierte Vagus pri-
mär für die Organe unterhalb des Zwerchfells und der myelinisierte Vagus
primär für die Organe oberhalb des Zwerchfells zuständig ist. Darüber hin-
aus ist der neue Vagus im Hirnstamm mit Bereichen verbunden, welche die
Gesichts- und Kopfmuskeln steuern.
Intuitive Kliniker wissen, daß sie den psychischen Zustand eines Klienten
erraten können, wenn sie sich sein Gesicht anschauen und sich die Stim-
me anhören, denn beide unterliegen dem Einfluß der Gesichts- und Kopf-
muskeln. Sie wissen, daß den Stimmen traumatisierter Klienten die Prosodie
fehlt und daß ihre obere Gesichtshälfte kaum Emotionen erkennen läßt.
Meist fällt es solchen Patienten auch schwer, ihr Verhalten zu regulieren,
weshalb sie häufig rasch sehr schnell von einem ruhigen Zustand zu einer
sehr starken Reaktion überwechseln. Wir können uns nun anschauen, was
38 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

diese physiologischen Voraussetzungen in unterschiedlichen Kontexten be-


wirken.
Die Polyvagal-Theorie vertritt die Auffassung, daß das ANS nicht nur zwei
antagonistische Zweige umfaßt, sondern außerdem hierarchisch organisiert
ist und aus drei Subsystemen besteht, die wir bereits kennen, wobei jeweils
neuere Subsysteme ältere hemmen können. Entscheidend ist jedoch die
Frage, wie und warum wir von einem dieser Schaltkreise in einen anderen
wechseln.
In einer schwierigen Situation greifen die Systeme jeweils auf einen älteren
Schaltkreis zurück, und durch diese Adaptation sichern sie unser Überleben.
Wie wird dieser Prozeß initiiert? Wir leben heute in einer sehr stark kogni-
tiv orientierten Welt. Wir wollen wissen, welche Motivation einem Vorgang
zugrunde liegt, wie das Kosten-Nutzen-Risiken-Verhältnis aussieht und »was
ich von etwas habe«. Unser Wille hat keinen Einfluß darauf, ob und wann
wir in diese Zustände eintreten und sie wieder verlassen. Kliniker berichten,
daß einige Menschen bei einer Konfrontation mit bestimmten Situationen
vielfältige autonome Reaktionen erleben, darunter den Anstieg der Herzfre-
quenz, Herzklopfen und Schwitzen der Hände. Diese Reaktionen treten un-
willkürlich auf- also nicht, weil die Betroffenen dies wollen.
Wie verhält es sich mit realen Reaktionen auf Ängste, beispielsweise auf die
Angst davor, in der Öffentlichkeit zu reden, unter der einige leiden? Wenn sie
vor einer Menschengruppe stehen, fürchten sie, in Ohnmacht zu fallen! Un-
terliegt diese Reaktion dem Einfluß des Willens? Irgendein Umgebungsfaktor
veranlaßt das Nervensystem, den Schaltkreis des nicht myelinisierten Vagus
zu aktivieren.

DR. BuczYNSKI: Wie finden unsere Schaltkreise denn heraus, welche Situa-
tionen sie als sicher einstufen können?

DR. PoRGES: Die exakten neuronalen Verbindungen, die dies ermöglichen,


kennen wir nicht. Wir wissen aber, daß akustische Stimulation dabei eine
wichtige Rolle spielt, beispielsweise in Form der melodiösen Stimme einer
Mutter, die ihr Kind beruhigt. (Wesentlich mehr wissen wir über die Schalt-
kreise, die darüber entscheiden, welche Situationen als bedrohlich markiert
werden.) Aber wahrscheinlich wird man im Laufe der Zeit herausfinden,
daß frühe Erlebnisse starken Einfluß darauf haben, daß sich die Schwelle für
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 39

die Aktivierung dieser offensichtlich dysfunktionalen Reaktionen verändert.


Wenn der neuere Vagusschaltkreis uns schützt, können wir uns freuen. Doch
wenn die Regulation des neueren Schaltkreises nicht richtig funktioniert,
werden wir zu defensiven Kampf-Flucht-Maschinen.
Allerdings können Menschen und andere Säuger nur als Kampf-Flucht-
Maschinen fungieren, wenn sie sich bewegen und wenn sie aktiv sein kön-
nen. Werden wir in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, isoliert oder
gar festgebunden, nimmt unser Nervensystem dies zur Kenntnis und zieht es
vor, zu erstarren.
Ich kann dazu zwei interessante Beispiele anführen: Das eine ist ein Nach-
richten-Clip, den ich bei CNN gesehen habe, und das zweite habe ich persön-
lich erlebt.
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz teil, wo ich eine Nach-
richtensendungvon CNN sah, bevor ich den Konferenzsaal betrat, um mei-
nen Vortrag zu halten. In der CNN-Sendung wurde ein kurzes Video von
einem Flugzeug gezeigt, das beim Anflug auf einen Flughafen Probleme hatte.
Die Flügel schwankten dramatisch auf und ab, weil das Flugzeug vom Wind
hin und hergeschleudert wurde. Trotz des Eindrucks der Instabilität gelang
dem Flugkapitän eine sichere Landung. Im Anschluß an die Vorführung die-
ses dramatischen Videos interviewte der Reporter einige Passagiere, die in
diesem Flugzeug gesessen hatten. Er hatte angenommen, sie würden etwas
sagen wie: »Ich hatte so entsetzliche Angst und hätte losbrüllen können. Und
ich hatte das Gefühl, ich müßte aus meiner Haut fahren.« Doch als er eine
Frau nach ihren Empfindungen und Gefühlen angesichts der Gefahr einer
Bruchlandung fragte, erhielt er eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hat-
te und die ihm die Sprache verschlug. Die Frau sagte: »Wie ich mich gefühlt
habe? Ich bin ohnmächtig geworden!«
Bei dieser Frau hatten die Anzeichen einer drohenden Gefahr den älte-
ren Vagusschaltkreis aktiviert, dessen Aktivität wir nicht beeinflussen kön-
nen. Ohnmächtig zu werden hat gewisse Vorteile, weil es unser Erleben eines
traumatischen Ereignisses verändert, unter anderem indem die Schwelle des
Schmerzempfindens erhöht wird.
Therapeuten wissen, daß viele Menschen, die über Mißbrauchs- und Miß-
handlungserlebnisse und insbesondere über sexuellen Mißbrauch berichten,
in solchen Situationen festgehalten oder körperlich mißhandelt worden sind.
Solche Patienten schildern oft, sie hätten das Gefühl gehabt, »nicht wirklich
40 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEI T

da« zu sein. Sie haben in der traumatischen Situation dissoziiert oder sind
ohnmächtig geworden.
Das Mißbrauchs-/Mißhandlungserlebnis hatte bei den Betroffenen eine
adaptive Reaktion hervorgerufen, deren Sinn und Zweck zumindest teilweise
war, ihnen die Möglichkeit zu geben, das traumatische Ereignis durchzuste-
hen. Problematisch ist in solchen Fällen natürlich, wie man die Betroffenen
später wieder aus diesem Zustand befreit.

Neurozeption- Etwas spüren, ohne dessen gewahr zu sein

Ich nenne den Mechanismus, der die neuronalen Schaltkreise aktiviert, die
das ANS regulieren, Neurozeption. Ich muß bei der Benutzung dieses Begriffs
sehr vorsichtig sein, denn meine Vorstellung von Neurozeption ist nicht
identisch mit der Bedeutung des Begriffs Perzeption (Wahrnehmung) . An-
ders als die Perzeption erfordert die Neurozeption kein Gewahrsein dessen,
was vor sich geht.

DR. BuczYNSKI: Vielleicht sollten wir versuchen, eine Definition zu formu-


lieren. Wäre es zutreffend zu sagen: »Neurozeption ist die neurologische Per-
zeption (Wahrnehmung) dessen, was geschieht«?

DR. PoRGES: Nein, auf keinen Fall! Wir müssen das Wort »Perzeption« völlig
vermeiden.

DR. BuczYNSKI: Also gut, dann: Neurologische ...

DR. PoRGES: Erfassung {detection). Es handelt sich um eine Form des Erfas-
sens, bei der weder Gewahrsein noch Bewußtsein eine Rolle spielt. Es handelt
sich um einen neuronalen Schaltkreis, der anhand verschiedener Anzeichen
Gefahren in der Umgebung beurteilt. Wir werden noch über die konkreten
Hinweise sprechen, deren Erfassung durch unser Nervensystem bewirkt, daß
wir in andere Zustände wechseln. Es war notwendig, die Neurozeption als ei-
nen Mechanismus zu postulieren, der das Nervensystem in die drei grundle-
genden Arten von autonomen Zuständen (Sicherheit, Gefahr, Lebensgefahr)
versetzt und der die Rolle des Systems für soziales Engagement, des Gesichts,
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 41

des Herzens und des myelinisierten Vagus von Säugetieren bei der Deaktivie-
rung des Kampf-/Flucht-Systems und des Erstarrungssystems würdigt.
Tritt das System für soziales Engagement (SSE) in Funktion und schwächt
das Defensivverhalten ab, fühlen wir uns ruhig, wir umarmen andere Men-
schen, schauen sie an und fühlen uns gut. Im Falle einer größeren Gefahr
jedoch werden die beiden Defensivsysteme wichtiger. In Reaktion auf Gefahr
übernimmt das SNS die Kontrolle und unterstützt die metabolische Vorbe-
reitung auf die motorische Aktivität bei der Kampf-/Flucht- Reaktion. Und
wenn das nicht dazu führt, daß wir uns wieder sicher fühlen, aktivieren wir
den alten Schaltkreis des nicht myelinisierten Vagus und erstarren.
Das Wunderbare an diesem Modell ist, daß wir wissen, welche Aspekte
der Neurozeption das System für soziales Engagement aktivieren, den nur
bei Säugetieren vorhandenen Teil des ANS, der soziale Interaktionen ermög-
licht, die unsere Physiologie beruhigen und Gesundheit, Wachstum und Ge-
nesung fördern.
Ich will aber noch ein weiteres Beispiel anführen. Ich halte mich für einen
relativ ausgeglichenen Menschen, den so leicht nichts in Panik versetzt. Und
ich halte mich für einen in der Regel angenehmen Zeitgenossen. Natürlich
wissen wir alle, daß andere unsere Selbstsicht nicht immer bestätigen.
Nun mußte ich einmal einen MRI-Scan über mich ergehen lassen. Die Un-
tersuchung interessierte mich sehr, weil einige meiner Kollegen dieses Ver-
fahren für ihre wissenschaftlichen Forschungen nutzten. Ich dachte: »Das
wird sicher ein sehr interessantes Erlebnis.«
Also begab ich mich in das MRI-Zentrum. Bei einem MRI-Scan muß man
sich auf eine Plattform legen, die in einen großen Magneten gefahren wird.
Ich legte mich begeistert auf die Liege und sah dem, was kommen würde,
mit Neugier entgegen. Ich fühlte mich wirklich gut und spürte nicht die ge-
ringste Angst. Allmählich bewegte sich die Plattform in eine sehr kleine Öff-
nung des MRI-Magneten. Als dieser sich über meiner Stirn befand, sagte ich:
»Würden Sie bitte noch einen Moment warten? Könnte ich ein Glas Wasser
bekommen?« Daraufhin wurde ich wieder aus dem Magnettunnel herausge-
fahren und erhielt mein Glas Wasser. Nachdem ich getrunken hatte, legte ich
mich wieder auf die Liege, und das Gerät beförderte mich abermals in den
Magneten, bis nur noch meine Nase herausragte. Dann sagte ich: »Ich kann
das nicht.« Ich konnte die räumliche Enge einfach nicht ertragen. Das Gerät
versetzte mich in einen Zustand, der einer Panikattacke sehr nahe kam.
42 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Ich schildere dieses Beispiel gern, weil meine Wahrnehmungen und Ko-
gnitionen nicht mit der Reaktion meines Körpers in Einklang standen. Ich
war fest entschlossen gewesen, den MRI-Scan durchführen zu lassen. Ich hat-
te keine Angst davor. Die Untersuchung war nicht gefährlich. Aber als ich in
die Röhre geschoben wurde, passierte irgend etwas in meinem Körper. Mein
Nervensystem hatte bestimmte Signale aufgefangen, die bei mir eine Defen-
sivreaktion ausgelöst hatten, und diese wiederum führte dazu, daß ich akti-
viert wurde und nur noch weg wollte.

DR. BuczYNSKI: Dann fand also unabhängig von dem, was Sie wollten, der
Prozeß der Neurozeption statt.

DR. PoRGES: Ja! Und ich konnte nicht das Geringste dagegen tun.

DR. BuczYNSKI: Sie konnten sich den Weg aus der Röhre heraus nicht vor-
stellen.

DR. PoRGES: Nein, ganz und gar nicht! Ich hätte nicht einmal die Augen
schließen und mir den Weg nach draußen vorstellen können. Ich mußte auf
der Stelle aus diesem Ding heraus! Wenn ich noch einmal einen MRI-Scan
über mich ergehen lassen muß, nehme ich ein Medikament. Ich bin wirklich
froh, daß es Medikamente gibt, die uns panische Reaktionen wie die geschil-
derte ersparen. Ich bin wirklich kein besonderer Freund von Medikamenten,
aber in bestimmten Situationen sind sie sehr nützlich.
In beiden beschriebenen Situationen - im Fall der Frau im Flugzeug und in
dem meines Erlebnisses beim MRI-Scan - waren die Reaktionen unwillkür-
lich. Der instabile Flug rief bei der Frau im Flugzeug eine Shutdown-Reaktion
hervor, und beim MRI-Scan löste die Funktionsweise des Geräts bei mir ei-
ne Mobilisierungsreaktion aus. Wären nach der stürmischen Landung mehr
Passagiere befragt worden, hätten einige wahrscheinlich erklärt, sie hätten
laut geschrien und gebrüllt und den Drang verspürt, aktiv zu werden, um
das Flugzeug zu verlassen. Andere hätten vielleicht die Hand eines Nachbarn
gehalten und das Ereignis ruhig erlebt und geschehen lassen.
Das gleiche Ereignis kann sehr unterschiedliche neurozeptive Reaktionen
hervorrufen, die sich in unterschiedlichen physiologischen Zuständen nie-
derschlagen.
Grundlagen der Polyvagal-Theorie • 43

DR. BuczYNSKI: Wenn während Ihres Aufenthalts im MRI-Scanner niemand


auf Ihr »Holt mich hier raus! « reagiert hätte, wäre dann ein primitiverer De-
fensivmechanismus aktiviert worden?

DR. PoRGES: Aha, jetzt kommen wir allmählich auf den Punkt! Möglich wäre
das. Nehmen wir einmal an, ich liege in der Röhre und komme nicht heraus;
ich fühle mich sehr beengt. Wie könnte es mir in dieser Situation ergehen? Es
wäre genau so, als würde ich physisch mißhandelt, als würde ich festgehalten
und würde all diese Dinge in diesem Zustand erleben.
Wir vergessen oft, daß medizinische Untersuchungen und Behandlungen
körperlichen Mißhandlungen erstaunlich ähnlich sind. Wir müssen sehr vor-
sichtig mit anderen Menschen umgehen, weil medizinische Prozeduren eini-
ge Eigenschaften einer PTBS hervorrufen können.

PTBS triggern

DR. BuczYNSKI: Könnten Sie uns Beispiele dafür nennen, wie medizinische
Untersuchungs- und Behandlungsverfahren eine PTBS auslösen?

DR . PORGES: Ich denke, das Festgehalten-Werden ist ein gutes Beispiel da-
für. Und wenn wir einen Blick zurück in die Geschichte der Medizin und der
Behandlung psychisch Kranker werfen, stellen wir fest, daß Menschen, die
»ausagierten«, festgehalten wurden. Als die Anästhesie noch nicht so entwik-
kelt war, wie sie es heute ist, hielt man Patienten bei bestimmten chirurgi-
schen Eingriffen einfach fest. Ich halte die Möglichkeiten der Anästhesie für
sehr positiv, weil sie es Menschen ersparen, einige der beschriebenen unan-
genehmen Eigenarten der Neurozeption zu erleben.
Man sollte nie vergessen, daß einige Aspekte der medizinischen Behand-
lungssituation eine defensive Neurozeption aktivieren. Beispielsweise macht
die Situation in medizinischen Behandlungseinrichtungen es oft unmöglich,
die mäßigenden Aspekte sozialer Unterstützung, die wir im Alltagsleben ha-
ben, zu nutzen. Häufig nimmt man uns in solchen Situationen die Kleidung
ab. Wir werden in eine Situation der Deprivatisierung versetzt, deren weite-
rer Verlauf für uns völlig unvorhersehbar ist.
44 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

DR. BuczYNSKI: Die Patienten müssen ihre Kontaktlinsen ablegen, und man
nimmt ihnen auch noch die Brille ab, so daß sie nicht mehr gut sehen können.

DR. PoRGES: Genau. Es gibt aber noch eine weitere Art von Eigenschaften,
die ich noch nicht erwähnt habe. Sie umfaßt die akustischen Charakteristika
der Welt, in der wir leben. Einer der wirksamsten Trigger der Neurozeption,
jedenfalls der Neurozeption der Sicherheit, sind akustische Charakteristika.
In den Wiegenliedern, die Mütter singen, in der Volksmusik und in Liebes-
liedern kommen keine tiefen Frequenzen vor, und die höheren Frequenzen
werden aktiv moduliert. Die so produzierten Klänge ähneln dem Klang der
weiblichen Stimme. Wenn bei einem Wiegenlied die niedrigen Frequenzen
der Stimme eines Mannes ertönen, erfüllt das Lied seinen Zweck nicht. Der
Charakter eines solchen Liedes paßt eher zur Stimme einer Frau. Unser Ner-
vensystem reagiert sowohl auf das Frequenzband der weiblichen Stimme als
auch auf die Modulation akustischer Frequenzen in diesem Bereich.
Ich erwähne in meinen Vorträgen oft das Musikstück Peter und der Wolf
von Sergej Prokofjew, weil diesem Komponisten offenbar intuitiv klar war,
wie wirksam akustische Stimulation den Prozeß der Neurozeption beeinflus-
sen kann. In Peter und der Wolf werden die freundlichen und gutmütigen
Charaktere grundsätzlich von den Geigen sowie von Klarinette, Flöte und
Oboe repräsentiert. Und das Auftauchen des Raubtiers wird generell durch
tiefe Töne angekündigt.
Ein MRI-Scanner erzeugt Geräusche mit sehr niedrigen Frequenzen im
Überfluß. Die akustische Situation in Krankenhäusern wird im allgemeinen
von Geräuschen und insbesondere von den niedrigen Frequenzen von Venti-
latoren und medizintechnischen Geräten geprägt. Unser Nervensystem rea-
giert auf diese akustischen Eigenarten, ohne sich darüber im klaren zu sein,
und verändert aufgrund dessen unseren physiologischen Zustand.

Soziales Engagement und Bindung


DR. BuczYNSKI: Es gibt noch viele Themen, über die wir unbedingt sprechen
müssen. Vielleicht sollten wir ein wenig über Bindung reden. Heute heißt es
ja oft, frühe Bindungserlebnisse hätten starken Einfluß auf alle diese Dinge.
Könnten Sie dazu aus Ihrer Sicht etwas sagen?
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 45

DR. PORGES: Bei der Durchsicht der Fachliteratur über die Bindungstheorie
gewinne ich den Eindruck, daß etwas Wichtiges fehlt. Ich meine eine Art
Präambel der Bindung, das, was ich soziales Engagement nenne. Nach meiner
Auffassung sollte man die Entwicklung einer guten sozialen Bindung in zwei
aufeinanderfolgende Prozesse gliedern: das soziale Engagement und das Eta-
blieren von sozialen Bindungen.
Beginnen wir mit dem sozialen Engagement. Es handelt sich um einen
Prozeß, bei dem wir den stimmlichen Ausdruck nutzen und außerdem die
Prosodie sowie Mimik und Gestik einbeziehen. Weiterhin nutzen wir Ver-
haltensweisen der Nahrungsaufnahme - das Baby wird gestillt. Doch als
Erwachsene nutzen wir die gleichen Systeme, wenn auch auf andere Weise.
Wir gehen zum Lunch aus oder treffen uns in Bars, um sozialen Kontakt zu
anderen Menschen zu pflegen. Bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
kommen die gleichen neuronalen Mechanismen zur Anwendung, die auch
beim sozialen Verhalten genutzt werden.
Man könnte sogar sagen, wir nutzen Verhaltensweisen der Nahrungs- und
Flüssigkeitsaufnahme, um uns selbst und andere Menschen zu beruhigen
und um soziales Engagement entfalten zu können. Und wenn das geschieht,
kann es die physische Distanz zwischen Menschen beeinflussen, so daß wir
einander näher kommen können.
Wenn wir die Entwicklung von Kindern verfolgen, können wir feststellen,
daß Säuglinge zunächst noch nicht besonders daran interessiert sind, mit
wem sie interagieren. Deshalb lassen Babys sich von vielen verschiedenen
Menschen halten. Wenn sie älter werden, wird der Prozeß der Neurozeption,
der Anhaltspunkte für die Sicherheit einer Situation liefert, bei der Suche
nach Vertrautheit und bei der Definition von Sicherheit immer selektiver, be-
vor das Baby zuläßt, daß und von wem es gehalten wird.
Eltern autistischer Kinder, mit denen ich arbeite, berichten immer wieder,
ihr Kind fürchte sich vor seinem Vater. Was ist damit gemeint? Das Kind hat
Angst vor der Stimme des Vaters. Warum? Weil für diese Stimme niedrige
Frequenzen charakteristisch sind, also Geräusche, die Säugetiere im Laufe
ihrer Entwicklungsgeschichte mit Raubtieren zu assoziieren gelernt haben.
Viele Verhaltensweisen, die wir bei verschiedenen Störungen klinischer
Stärke beobachten, sind in Wahrheit adaptiv und infolge fehlerhafter Neuro-
zeption entstanden oder weil der Körper bestimmte Signale als Hinweise auf
eine akute Gefahr deutet.
46 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Um nun auf Ihre Frage über die Bindung zurückzukommen: Nach meiner
Auffassung wirkt sich neurophysiologisch fundierte Sicherheit auf die Fähig-
keit, sichere Bindungen zu entwickeln, positiv aus. Ob ein Mensch sich in
seinen frühen Entwicklungsphasen in Gegenwart anderer Menschen sicher
fühlt, kann in Form der individuellen Anfälligkeit für Traumatisierungen
zum Ausdruck kommen.

Was haben Autismus und Traumata gemeinsam?

DR. BuczYNSKI: Als ich mich auf unser Gespräch vorbereitete und Ihr ein-
gangs erwähntes Buch las, kam mir der Gedanke, hinsichtlich des Hörver-
mögens müsse es aus Ihrer Sicht viele Ähnlichkeiten zwischen Autismus und
Traumata geben.

DR. PoRGES: Ja, nach meiner Auffassung haben einige wichtige diagnostische
Kategorien vieles gemeinsam. Es gibt sogar eine Art dialektischer Beziehung
zwischen Wissenschaft und klinischer Praxis. Die Wissenschaft interessiert
sich für die Prozesse, die klinische Praxis in der Regel mehr für die Diagnose.
Das hat nicht zuletzt auch pragmatische Gründe, denn die Diagnose ermög-
licht, bestimmte Abrechnungspositionen zu beanspruchen, und abgesehen
davon spielt unterschwellig die Überzeugung eine Rolle, wenn man einem
Phänomen einen Namen geben könne, lasse sich die bestehende Störung bes-
ser erfassen.
Wissenschaftler hingegen sind weniger an der klinischen Diagnose als an
den zugrundeliegenden Prozessen interessiert. Und viele Prozesse spielen bei
völlig verschiedenen klinischen Störungen eine Rolle. Leider werden sie oft
nicht auf der Ebene untersucht, auf der dies eigentlich geschehen müßte, weil
sie nicht mit einer bestimmten klinischen Störung verbunden sind. Ich kon-
zentriere mich im folgenden auf einen dieser Prozesse, den der auditarischen
Hypersensibilität.
Wenn man sich mit dem Phänomen Trauma auseinandersetzt, wird ei-
nem sehr bald klar, daß Traumatisierte oft die Öffentlichkeit meiden, weil
Geräusche ihnen zu schaffen machen und weil es ihnen sehr schwerfällt, die
menschliche Stimme aus Hintergrundgeräuschen herauszufiltern. Und viele
Menschen, die unter Autismus leiden, berichten über die gleichen Probleme.
Grundlagen der Polyvagal-Theorie • 47

Mehr als sechzig Prozent aller von Autismus betroffenen Menschen leiden
unter auditarischer Hypersensibilität. Das, worunter sie leiden, wird oft als
Paradox angesehen: Sie sind hypersensibel gegenüber Geräuschen, haben
aber auch große Schwierigkeiten, die menschliche Stimme aus den Geräu-
schen, die sie hören, herauszufiltern und sie zu verstehen.
Wenn wir vom Autismus und von Traumata auf andere psychiatrische
Diagnosen verallgemeinern, finden wir bei Depression und Schizophrenie
ähnliche Charakteristika. Allen diesen Störungen liegt eine »Zustandsregu-
lationsstörung« (state regulation disorder) zugrunde, außerdem ein generell
geringer affektiver Tonus, der im Gesicht der Betroffenen zum Ausdruck
kommt, ihrer Stimme fehlt die Prosodie, und sie befinden sich häufig in ei-
nem autonomen Zustand, der Defensivverhalten unterstützt, was bedeutet,
daß ihre Herzfrequenz oft erhöht und ihre vagale Regulation verringert ist.
Diese zentralen Prozesse, die mit dem Emotionsausdruck zusammenhän-
gen, werden in das von mir so genannte »System für soziales Engagement«
(social engagement system - SSE) integriert, das von einem Teil des Hirn-
stamms aus gesteuert wird, der das nur bei Säugetieren existierende neue
Vagussystem vermittelt.
Ein Mensch mit expressiver Mimik und melodiöser Stimme ist auch zur
Kontraktion der Mittelohrmuskeln fähig, die uns ermöglichen, die mensch-
liche Stimme aus Hintergrundgeräuschen herauszufiltern. Wenn Menschen
lächeln und die Person, mit der sie reden, anschauen, können sie die mensch-
liche Stimme besser aus Hintergrundgeräuschen herausfiltern, aber diese Fä-
higkeit hat für sie auch ihren Preis.
Der »adaptive« Preis, den wir für soziales Verhalten bezahlen, ist ent-
scheidend für die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie sich die Po-
lyvagal-Theorie auf psychische Störungen anwenden läßt. Wir zahlen für die
Fähigkeit zu sozialem Verhalten mit einer Einschränkung unserer Fähigkeit,
Geräusche im niedrigen Frequenzbereich zu hören- Geräusche, die wir auf-
grund der Phylogenese mit Raubtieren assoziieren. Bei Menschen, die un-
ter Autismus, PTBS und verschiedenen anderen klinischen Störungen leiden,
sind das System für soziales Engagement und die Fähigkeit, die Aktivierung
ihrer Defensivsysteme rückgängig zu machen, beeinträchtigt. Allerdings ha-
ben Menschen mit dieser Beeinträchtigung einen funktionalen Vorteil beim
Erkennen der Nähe von Raubtieren (bzw. Gefahren). Sie spüren besser, ob
jemand mit zweifelhaften Absichten hinter ihnen her geht, und sie hören
48 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Geräusche mit tiefen Frequenzen gut, verstehen allerdings weniger gut, was
man zu ihnen sagt.

DR. BuczYNSKI: Und das ist so, weil in ihrem Mittelohr etwas anders ist als
bei anderen Menschen?

DR. PoRGES: Das spielt zumindest auch eine Rolle. Wir gehen aber nicht
grundsätzlich davon aus, daß solche Unterschiede von Dauer sind. Das möch-
te ich an einem Beispiel veranschaulichen. Wo leben Sie? In welcher Stadt?

DR. BuczYNSKI: In Storrs in Connecticut.

DR. PoRGES: Okay. Wenn Sie früher, als es in New Haven noch gefährlich war,
dort unterwegs waren, und ein Begleiter sprach mit Ihnen, haben Sie dann
verstanden, was Ihr Begleiter zu Ihnen sagte? Oder haben Sie eher darauf
geachtet, ob Sie Schritte hinter sich hörten?

DR. BuczYNSKI: In solchen Situationen war ich im Vorsichtsmodus.

DR. PoRGES: Und im Vorsichtsmodus hörten Sie nicht richtig, was Ihr Be-
gleiter sagte, aber Sie hörten die Schritte hinter sich.

DR. BuczYNSKI: Genau.

DR. PoRGES: Wenn wir in eine neue Umgebung kommen, in der eine Gefahr
lauern könnte, wechseln wir aus dem System für soziales Engagement, das
auf dem Gefühl der Sicherheit basiert, in einen Zustand der Wachsamkeit.
Aus kognitiver Perspektive sprechen wir in solchen Fällen von Aufmerk-
samkeitszuteilung (allocation of attention). Aus neurophysiologischer Sicht
jedoch geht es nicht nur um die Zuweisung von Aufmerksamkeit, sondern
um die Veränderung unseres physiologischen Zustandes. Wir haben den
neuronalen Tonus auf die Mittelohrstrukturen fokussiert, um tiefe Raubtier-
geräusche besser erkennen zu können. Aber der Preis dafür sind Schwierig-
keiten beim Hören und Verstehen der menschlichen Stimme.

DR. BuczYNSKI: Und das soll ich unwillkürlich getan haben?


Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 49

DR. PoRGES: Ja! Das hoffe ich doch! Denn wenn Sie auf die menschliche
Stimme fokussieren, können Ihnen Dinge entgehen, die wirklich lebensbe-
drohlich sind.

DR. BuczYNSKI: Nehmen wir einmal an, Menschen bemerken eine akute
Gefahr nicht. Was geschieht in solch einem Fall strukturell, physiologisch?

DR. PoRGES: Wenn sie eine akute Gefahr nicht erkennen, aber auf die
menschliche Stimme fokussieren können, mißt ihr Nervensystem den so-
zialen Aspekten des stimmlichen Ausdrucks größere Bedeutung bei als den
Gefahren, die mit der Gegenwart eines Raubtiers verbunden sind.
Und wenn Sie mit anderen Menschen zusammen in eine neuartige Um-
gebung kommen, werden einige reflexhaft hypervigilant und scheren aus der
Kommunikation innerhalb der Gruppe aus, während andere ununterbrochen
weiter miteinander reden, bis hinter ihrem Rücken ein Unheil auftaucht und
etwas passiert, das sich keiner der Anwesenden gewünscht hat.
Ein weiterer Aspekt der Anpassungsfähigkeit unserer neuronalen Steue-
rung im Mittelohr ist deren Bedeutung für die Verzögerung der Sprachent-
wicklung in verschiedenen Subpopulationen. Wenn ein Kind in einer ge-
fährlichen Wohngegend oder in einer Unsicherheit verbreitenden Familie
aufwächst, muß man dann bei ihm mit einer Verzögerung der Sprachent-
wicklung rechnen? Kinder in solchen Verhältnissen sind gewöhnlich darauf
eingestellt, Gefahrensignale zu erkennen, und ihr Nervensystem wird auf die
Fähigkeit, Gefahren schnell zu orten, nicht so leicht verzichten. Basiert die
verzögerte Sprachentwicklung bei solchen Kindern auf deren Unfähigkeit,
menschliche Stimmen klar zu hören? Möglicherweise hören sie andere Men-
schen zwar sprechen, verstehen aber die Enden der Wörter nicht besonders
gut, weil sie die am Wortende höher werdenden Frequenzen nicht aufneh-
men.

DR. BuczYNSKI: Heißt das, sie hören zwar das Geplapper, nehmen die Be-
deutung aber nicht auf?

DR. PoRGES: Ja. Denn die Charakteristika der menschlichen Stimme, die die
Bedeutung der Worte übermitteln, basieren auf Frequenzen, die über der
Grundfrequenz der Stimme liegen. Ich möchte das an einem weiteren Bei-
50 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

spiel erläutern. Eine normale Begleiterscheinung des Alterungsprozesses ist


der Verlust der Fähigkeit, hohe Frequenzen richtig zu hören, und dies er-
schwert es uns zu verstehen, was andere Menschen zu uns sagen, insbeson-
dere wenn es auch starke Hintergrundgeräusche gibt.
Wenn wir als reife Erwachsene Bars oder lärmige Restaurants aufsuchen
und dort andere Menschen mit uns reden, hören wir dann die Enden ihrer
Worte? Wir wissen, daß sie reden, und wir hören die Geräusche, die sie dabei
hervorbringen, aber verstehen wir auch, was sie sagen? Denken wir hinge-
gen an unsere Teenager- oder Collegezeit zurück und erinnern uns an unse-
re damaligen Konzert- und Barbesuche, stellen wir fest, daß wir damals bei
solchen Anlässen durchaus neue Bekanntschaften machen und mit diesen
Menschen reden und ihnen zuhören konnten, und wir empfanden solche
Umgehungen auch nicht als besonders »lärmig«. Als wir noch jünger waren,
entging uns praktisch kein Wort; wir härten alles.
Wir verstanden, was andere Menschen in unserer Umgebung sagten, weil
das neuronale System, das die Mittelohrstrukturen reguliert, noch gut funk-
tionierte - was sich mit zunehmendem Alter änderte. Wie wäre es wohl um
unsere Sprache und unsere sozialen Fertigkeiten bestellt, wenn wir uns in
unserer Jugend mit dem Hörvermögen hätten begnügen müssen, über das
wir im vorgerückten Alter verfügen. Wäre die neuronale Regulation unseres
Mittelohrs schon in unserer Kindheit so beeinträchtigt, wie sie es bei älteren
Menschen ist, und müßten wir unter diesen Voraussetzungen eine Sprache
so erlernen wie ein Kleinkind, würde uns dies wahrscheinlich sehr schwer-
fallen, weil wir die Worte nur mühsam aus den Hintergrundgeräuschen her-
ausfiltern könnten. Ich nehme an, daß die sensorische Welt vieler autistischer
Kinder in etwa so beschaffen ist.

Über die Behandlung autistischer Störungen

DR. BuczYNSKI: Im letzten Teil unseres Gesprächs würde ich mich gern der
Frage zuwenden, was dies alles für psychotherapeutische Behandlungen be-
deutet. Da Sie gerade autistische Kinder erwähnt haben, schlage ich vor, daß
wir mit ihnen beginnen. Danach könnten wir uns mit der Behandlung von
PTBS und ähnlichen Problemen beschäftigen. Zunächst also die autistischen
Kinder.
Grundlagen der Polyuagai-Tneorie • 51

DR. PoRGES: Wir können über PTBS und Autismus im Grunde gleichzeitig
sprechen, denn in beiden Fällen geht es vorrangig darum, den Betroffenen
ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Sicherheit ist ein sehr wirkmächtiges
Konstrukt, das verschiedene Dimensionen impliziert, darunter den Kontext,
das Verhalten, mentale Prozesse und den physiologischen Zustand. Wenn
wir uns sicher fühlen, können wir die neuronale Regulation der Gesichtsmus-
keln und den Schaltkreis des myelinisierten Vagus beeinflussen, der die älte-
ren Kampf-/Flucht- und StreBreaktionen reguliert und abschwächt, und wir
sind in der Lage zu spielen.
Auf das Konzept Spiel wollte ich in diesem Zusammenhang ohnehin zu
sprechen kommen. Die Unfähigkeit zu spielen ist typisch für viele Menschen
mit psychiatrischen Diagnosen.
Und wenn ich von Spiel rede, meine ich nicht das Spielen mit einem Game
Boy oder Computer, sondern ein Spiel, das soziale Interaktion erfordert. Die-
se Art von Spiel setzt voraus, daß man sich mit Hilfe des SNS mobilisieren
kann und daß man anschließend in der Lage ist, die sympathische Erregung
durch soziale Interaktion (Face-to-Face) und mit Hilfe des Systems für sozi-
ales Engagement zu verringern.

DR. BuczYNSKI: Bitte, wiederholen Sie das noch einmal. Mir ist wichtig, daß
alle es mitbekommen haben. Was ist beim Spiel erforderlich?

DR. PoRGES: Vielleicht sollte ich an dieser Stelle mein Lieblingsbeispiel dazu
anführen. Ich habe zwei kleine Hunde, japanische Chins, die jeweils etwa sie-
ben Pfund wiegen. Sie laufen durch das Haus, wie Hunde es zu tun pflegen,
um Jagen zu spielen. Wenn der eine ein hinteres Bein des anderen zu beißen
versucht, schaut dieser den ersten an, und durch den Austausch von Blicken
stellt er fest, ob das Beißen spielerisch gemeint, also keine Aggression war. In
diesem Fall grenzt das System für soziales Engagement durch Nutzung der
Face-to-Face-Interaktion funktional das Mobilisierungsverhalten ein und de-
eskaliert es, um sicherzustellen, daß es nicht zu aggressivem Kampf-/Flucht-
Verhalten wird.
In meinen Vorträgen benutze ich gelegentlich Video-Clips von Dr. J. und
Larry Bird, zwei berühmten Basketball-Spielern. Zuerst zeige ich sie in einem
Clip, in dem sie wie Freunde interagieren. Es handelt sich um eine Werbung
für Sneakers. Anschließend zeige ich einen Clip, in dem sie Basketball spielen
52 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

und einander dabei anrempeln und sogar schlagen. Dr. ]. schlägt Larry Bird
ins Gesicht, schlägt ihn zu Boden und geht weg. Weil er weggeht, zerstreut
er die Anzeichen für das Mobilisierungsverhalten nicht, wodurch aus dem
Kampf-/Flucht-Verhalten Spiel geworden wäre. Larry Bird nimmt daraufhin
die Verfolgung auf, und es kommt zwischen ihnen zu einem Kampf.
Wir können dieses Verhalten als Beispiel dafür verstehen, wie Menschen
Face-ta-Face-Kommunikation nutzen, um eine unerwartete Handlung rich-
tig einzuordnen. Wenn wir spielen, mobilisieren wir uns durch Veränderun-
gen unseres physiologischen Zustandes, die auch bei defensivem Kampf-/
Flucht-Verhalten eine Rolle spielen, doch mildern wir die Defensivreaktionen
anschließend ab, indem wir einander anschauen. Und wenn wir unser Ge-
genüber ungewollt schlagen, sagen wir: »Tut mir leid.« Wir verringern also
mit Hilfe unserer Stimme und des Gesichtsausdrucks die Gefahr, daß das
Verhalten unseres Nervensystems als aggressiv gedeutet wird.
Spiel erfordert oft Mobilisierung. Damit es nicht in Aggressivität um-
schlägt, muß Face-ta-Face-Interaktion stattfinden. Beim Spiel erkennen wir
eine behaviorale Reziprozität, die dem Kampf-/Flucht-Verhalten ähnliche
Bewegungen nutzt, denen Face-ta-Face-Interaktionen folgen. Dies ist bei
praktisch allen Säugetieren zu beobachten, wenn sie spielen.
Andere Formen des Spiels unter Erwachsenen weisen ähnliche Merkmale
auf, so beispielsweise das Tanzen. Bei den meisten Teamsportarten spielen
Face-ta-Face-Interaktionen eine Rolle, was die Kommunikation durch Blick-
kontakt einschließt. Somit dient Spiel nicht nur dem Einüben aggressiven
Verhaltens.
Spiel ist im Grunde ein neuronales Sich-Üben in der Nutzung des Systems
für soziales Engagement, über das nur Säugetiere verfügen und das der Re-
gulierung unseres Kampf-/Flucht-Verhaltens dient, der Beeinflussung des
älteren Defensivsystems. Wir modifizieren also ein älteres System (das der
Mobilisierung infolge einer Reizung des SNS) mit Hilfe eines neueren Sy-
stems (des Systems für soziales Engagement in Verbindung mit den myelini-
sierten Vaguspfaden). Allerdings ist zu bedenken, daß es Menschen mit den
verschiedensten klinischen Störungen oft schwerfäll zu spielen.
Spiel hat nichts mit dem Training auf einem Laufband zu tun; dies ist kei-
ne Aktivität, der man sich allein widmet. Spiel ist interaktiv, und es kommt
dabei zur Face-ta-Face-Kommunikation.
Grundlagen der Polyvagal-Theorie • 53

DR. BuczYNSKI: Ich würde jetzt gern auf die Behandlung zurückkommen
und das, was Sie über das Spiel gesagt haben, mit der Behandlungssituation
in Verbindung bringen.

DR. PoRGES: Bei der Behandlung geht es im Wesentlichen darum, durch Er-
reichen eines Zustandes der Sicherheit die Transformation zu fördern. Die
neuronalen Übungen, die den sicheren Zustand nutzen, ermöglichen dem
System für soziales Engagement, in Aktion zu treten. Die neuronale Übung
besteht in diesem Fall darin, mit Hilfe der myelinisierten Vaguspfade die
sympathische Aktivität zu mildern. Spiel wird buchstäblich zu einem hin-
sichtlich seiner Funktion therapeutischen Modell, insofern es beispielsweise
durch Singen, Zuhören, Musizieren und reziproke soziale Interaktionen die
neuronale Regulation des Gesichts fördert. In diesem Sinne kann man auch
verbale Therapie als neuronale Übung verstehen.
Aus meiner Sicht besteht die effektivste Möglichkeit, die Situation von
Menschen mit den verschiedensten Störungen positiv zu beeinflussen, dar-
in, ihren physischen Kontext zu verändern, indem man sehr tiefe Frequen-
zen von ihnen fernhält und mit Hilfe von Musik und Melodien ihre Prosodie
und Intonation verbessert. Achten Sie auch darauf, daß Sie Ihre Klienten mit
wohlklingender Stimme ansprechen, statt sie anzublaffen. Wichtig ist weiter-
hin, Menschen nicht so zu behandeln, als basiere ihre Störung auf einer frei-
willigen Entscheidung. Erkennen Sie an, daß es sich dabei um den Ausdruck
des physiologischen Zustandes, in dem sie sich befinden, handelt.
Ich rede hier nicht von Heilung, sondern nur von der Beseitigung oder Lin-
derung einiger Symptome, wodurch Menschen mit bestimmten Störungen
ein angenehmeres Leben ermöglicht wird. Ich nehme an, wir sind uns dar-
über einig, daß der physiologische Zustand eines Menschen als Grundlage
für verschiedene Arten von Verhaltensweisen fungiert. Wenn wir uns bei-
spielsweise in einem physiologischen Zustand befinden, der Kampf-/Flucht-
Verhalten unterstützt, ist das für unser soziales Verhalten nicht besonders
günstig. Im physiologischen Zustand des Shutdown sind wir gegen soziale In-
teraktion immun: Wir sind grundsätzlich nicht bereit, uns daran zu beteiligen.
Wir wünschen uns also einen physiologischen Zustand, der uns soziales
Engagement ermöglicht. Aber diesen reserviert unsere Neurozeption für si-
chere Umgehungen.
54 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

Im Bewußtsein dieser Zusammenhänge sollten wir tiefe Geräusche aus


klinischen Settings fernhalten und außerdem die Komplexität der physischen
Umgebung verringern.

DR. BuczYNSKI: Dann sollten Krankenhäuser ihre Räume isolieren?

DR. PoRGES: Ja, sie sollten »sichere Zonen« schaffen, keine »öffentlichen Zo-
nen«. In einem Krankenhaus kann man sich gewöhnlich nur an wenigen Or-
ten »sicher« fühlen. In solchen Einrichtungen wird ständig die Privatsphäre
verletzt. Das ist Ihnen wohl bekannt.

DR. BuczYNSKI: Ja. Aber was bedeutet es?

DR. PoRGES: Wenn Menschen sich nicht sicher fühlen, werden sie hypervi-
gilant, und unser System für soziales Engagement verabschiedet sich in den
Urlaub, weil es uns in Situationen, in denen andere Menschen uns bedrängen,
nicht zur Verfügung steht.

DR. BuczYNSKI: Man könnte den Patienten den Untersuchungs- und Be-
handlungsplan geben, damit sie sich einigermaßen darauf einstellen können,
was auf sie zukommt.

DR. PoRGES: Ja, Vorhersehbarkeit ist wichtig. Unser Nervensystem hält viel
von Vorhersehbarkeit.

DR. BuczYNSKI: Wie schätzen Sie die Situation bei Patienten ein, die Trau-
mata erlebt haben und unter PTBS leiden?

DR. PoRGES: Ich habe mir angewöhnt, Klinikern in meinen Vorträgen zu


empfehlen: »Probieren Sie mit Ihren Klienten etwas Neues aus. Erklären Sie
Traumatisierten, sie sollten sich über die Reaktionen ihres Körpers freuen,
auch wenn die erschütternden physiologischen und behavioralen Zustände,
die sie erlebt haben, momentan ihre Fähigkeit, in der Welt sozialer Bezüge
ungehindert zu agieren, einschränken. Sie sollten sich über die Reaktionen
ihres Körpers freuen, denn sie haben ihnen ermöglicht zu überleben. Sie ha-
ben ihnen das Leben gerettet und ihnen zumindest einige Verletzungen, die
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 55

sie hätten erleiden können, erspart. Hätten sie sich während eines aggressi-
ven traumatischen Ereignisses wie einer Vergewaltigung zur Wehr gesetzt,
wären sie vielleicht umgebracht worden. Sagen Sie Ihren Klienten, sie sollten
stolz darauf sein, wie sie auf das Erlebte reagiert haben, statt sich schuldig
zu fühlen, weil ihr Körper sie im Stich lasse, wenn sie gern sozialen Kontakt
hätten, und schauen Sie dann, was sich daraus entwickelt.«
Ist Ihnen klar, was in den meisten Therapien tatsächlich geschieht? Häufig
vermitteln sie den Klienten, ihr Körper verhalte sich nicht, wie er es eigent-
lich sollte, und sie sollten anders sein, als sie sind. Sie müßten sich verändern.
Eine Therapie wirkt also schon an und für sich sehr wertend auf Klienten.
Und durch Wertungen und Urteile werden wir in einen defensiven Zustand
versetzt und somit aus dem Zustand, in dem wir uns sicher fühlen, herausge-
rissen.

DR. BuczYNSKI: Beim Unterricht ist es genauso.

DR. PoRGES: Richtig. Ich habe gerade ein paar Vorträge über Achtsamkeit
gehalten, und ich habe darin jeweils wie folgt begonnen: »Achtsamkeit erfor-
dert, daß Menschen sich sicher fühlen, denn wenn wir uns nicht sicher füh-
len, evaluieren wir die Situation, in der wir uns befinden, neurophysiologisch,
und das bedeutet, daß wir uns nicht sicher fühlen und folglich auch zu so-
zialem Engagement nicht in der Lage sind. In dieser Verfassung können wir
nicht die wundervollen neuronalen Schaltkreise nutzen, die uns ermöglichen,
die besten Aspekte des Menschseins zum Ausdruck zu bringen.«

Wenn es uns gelingt, eine sichere Umgebung zu kreieren, erschließen wir uns
den Zugang zu neuronalen Schaltkreisen, die uns helfen, uns sozial zu enga-
gieren, zu lernen und uns gut zu fühlen. Wenn Kliniker, die dies in meinen
Vorträgen gehört hatten, diese einfache Botschaft an ihre Klienten weiterga-
ben, erhielt ich in der Folgezeit wunderschöne eMails, in denen mir berichtet
wurde, wie erstaunlich sich die Situation der Klienten spontan gebessert habe.
Ich vermute, daß diese spontanen Besserungen darauf beruhten, daß die Kli-
enten zu begreifen anfingen, daß sie nichts Böses oder Schlechtes getan hatten.
Darauf weise ich übrigens auch immer wieder hin: Es gibt keine schlech-
ten, sondern nur adaptive Reaktionen. Unser Nervensystem versucht stets,
das Richtige zu tun; und wir müssen dem, was es getan hat, mit Respekt be-
56 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

gegnen. Wenn wir seine Reaktionen respektieren, wechseln wir von einer
urteilenden Grundhaltung zu einer respektvollen, und das kommt unseren
Bemühungen um Selbstheilung sehr zugute.

Das Listening Project- Theorie und Behandlung

DR. BuczYNSKI: Sie haben mir gegenüber bereits erwähnt, daß Sie ein
Interventionsprojekt entwickelt haben, über das wir alle sehr gern mehr er-
fahren möchten.

DR. PoRGES: Tatsächlich arbeite ich schon seit zehn Jahren daran. Irgend-
wann entschloß ich mich, eine Technologie auszuprobieren, die es ermög-
licht, bestimmte für die Polyvagal-Theorie wichtige Aspekte der menschli-
chen Physiologie zu stimulieren. Die Polyvagal-Theorie, und insbesondere
der Teil davon, der sich mit dem System für soziales Engagement beschäftigt,
beinhaltet die Annahme, die Beanspruchung der Mittelohrmuskeln - jener
Muskeln, die uns helfen, menschliche Stimmen aus Hintergrundgeräuschen
herauszufiltern-wirke auf unseren physiologischen Zustand ein und verän-
dere ihn, und dies habe zur Folge, daß wir uns spontaner auf soziale Situatio-
nen einlassen könnten. Wir nahmen an, dieses System werde aktiviert, wenn
Menschen sehr melodischen Stimmen mit starken Tonhöhenschwankungen
zuhörten. Als wir diese raffinierte These zu überprüfen begannen, erzielten
wir erstaunliche Resultate.
Im Laufe der letzten zehn Jahre haben wir dieses Verfahren bei annähernd
zweihundert Probanden eingesetzt. Bei 6o Prozent von ihnen wurde die au-
ditorische Hypersensibilität deutlich verringert, verbunden mit einer Zunah-
me spontanen sozialen Verhaltens und des Ausdrucks von Affekt durch die
Mimik. Wir maßen sogar die vagale Regulation des Herzens (die RSA), und
die Intervention führte zu einer Stärkung des vagalen Tonus.

DR. BuczYNSKI: Litten diese zweihundert Personen unter Autismus?

DR. PoRGES: Den meisten war diese Diagnose gestellt worden. Allerdings
rückt durch Ihre Frage eine ganze Kette weiterer Fragen in den Fokus. Als
ich anfing, mich mit Autismus zu beschäftigen, wurde mir rasch klar, daß
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 57

diese diagnostische Kategorie sehr unscharf ist und daß es hinsichtlich der
Symptome von Autismus und der Funktion dieser Störung viele Varianten
gibt. Ich beschloß, mich auf auditarische Hypersensibilität zu konzentrieren,
weil ich dies für einen Bereich hielt, an dem zu arbeiten wahrscheinlich kei-
ne erbitterten Kontroversen hervorrufen würde, was bei der ausdrücklichen
Intention, Symptome des Autismus aufzulösen, sicher der Fall gewesen wäre.
Therapeutisch an autistischen Störungen zu arbeiten ist sehr schwierig,
und Autisten sind eine Klientengruppe mit sehr drängender Bedürftigkeit.
Zudem ist die Antwort auf die Frage, ob bei Autismus eine Heilung möglich
ist, sehr umstritten und wird äußerst kontrovers diskutiert. Deshalb revidier-
te ich mein Modell so, daß die auditarische Hypersensibilität in den Fokus
rückte.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben wir eine Möglichkeit entwickelt,
die Transferfunktion der Mittelohrmuskeln zu messen; somit können wir
nun feststellen, ob die Listening Project genannte Therapie Einfluß darauf
hat, welche Arten von Geräuschen ins Gehirn übermittelt werden und wel-
che vom Trommelfell abprallen. Sind die Mittelohrmuskeln angespannt,
durchdringen die höheren Frequenzen der menschlichen Stimme die Mittel-
ohrstrukturen und erreichen über den Gehörnerv das Gehirn, während die
tieferen Frequenzen abgehalten werden. Das Trommelfell hat eine gewisse
Ähnlichkeit mit einer Kesselpauke: Spannt man das Fell der Pauke, erzeugt
ein Schlag darauf höhere Töne; verringert man die Anspannung, entstehen
bei einem Schlag niedrigere Töne.
Wenn Menschen niedrige Frequenzen hören, sind sie gegen Gefahren ge-
wappnet, haben aber andererseits Schwierigkeiten, aus dem, was sie hören,
die menschliche Stimme herauszufiltern. Wir können die Anspannung der
Mittelohrmuskeln mittlerweile mit Hilfe eines neuen Geräts messen, das wir
patentieren lassen wollen. Ich habe dieses Gerät mit einem früheren gradu-
ierten Studenten, Greg Lewis, entwickelt, der einen Doktortitel in Bioengi-
neering hat.
Man kann mit diesem Gerät selbst bei völlig normalen Menschen indivi-
duelle Unterschiede messen und Schwächen feststellen, die Probleme beim
Herausfiltern menschlicher Stimmen aus Hintergrundgeräuschen betreffen.
Selbst bei ansonsten völlig unauffälligen Menschen läßt sich dieser Effekt
beobachten. Das Gerät mißt Veränderungen der Funktionsweise der Mittel-
ohrmuskein in Reaktion auf die von uns durchgeführte Behandlung objek-
58 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

tiv. Das ist ein wichtiger Durchbruch, denn bevor wir über diese Möglichkeit
verfügten, konnten wir Hypersensibilitäten nur anhand von subjektiven Ein-
drücken evaluieren. Wenn man es dann mit Kindern zu tun hat, die sprach-
liche Ausdrucksprobleme haben, muß man deren Eltern über das subjektive
Erleben der Kinder befragen, und Eltern können solche Fragen nur sinnvoll
beantworten, wenn sie sehr aufmerksam beobachten können.
Ich werde Ihnen nun berichten, wie es einem der Kinder, die an dem Lis-
tening Project teilnahmen, ergangen ist. Dieses Kind ist autistisch. Vor der
Intervention steckte es sich die Finger in die Ohren, wenn es Geräusche nicht
ertragen konnte. Sich die Finger in die Ohren zu stecken ist eine häufige Re-
aktion autistischer Kinder auf Lärm. Voriges Jahr nahm dieser Junge an den
Special Olympics teil. Sein Vater berichtete mir, wenn der Startschuß ertöne,
steckten sich alle anderen Teilnehmer die Finger in die Ohren. Sein Sohn
jedoch laufe einfach los und gewänne.
Leider läßt sich bei vielen der Kinder, mit denen wir arbeiten, die auditari-
sche Hypersensibilität mit Hilfe unserer Methode nicht beheben. Es gibt aber
noch ein anderes wichtiges Phänomen, das gewöhnlich mit der Reduzierung
auditarischer Hypersensibilität verbunden ist, nämlich die Verbesserung der
Fähigkeit, die menschliche Stimme aus Hintergrundgeräuschen herauszufil-
tern. So gelang es uns, durch Reduzierung der auditarischen Hypersensibili-
tät die Sprachentwicklung zu verbessern.
Ich habe diese Methode bei PTBS noch nicht ausprobiert, aber ich könnte
mir vorstellen, daß sich einige Aspekte einer PTBS damit ebenfalls lindern
lassen.

DR. BucZYNSKI: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, verfügen Sie über ei-
ne Möglichkeit, dies bei einem Kind zu messen. Aber was tun Sie, wenn Sie
den Eindruck gewinnen, daß Ihre Annahme zutrifft? Oder ganz konkret: Wie
haben Sie das Kind, über das Sie gerade berichtet haben, behandelt?

DR. PoRGES: Oh je, ich habe das Listening Project noch gar nicht erklärt. Vie-
len Dank, daß Sie mir geholfen haben, den Faden wiederzufinden! Im Grunde
ist das Listening Project sehr simpel. Es geht dabei um akustische Stimulati-
on, also um Zuhören. Wir benutzen dazu Vokalmusik, weil wir die prosodi-
schen Merkmale der menschlichen Stimme hervorheben wollen. Vielleicht
erinnern Sie sich noch daran, was ich über prosodische Merkmale gesagt
Grundlagen der Polyvagal-Theorie • 59

habe. Wenn wir einer Stimme zuhören, die sehr stark moduliert, aktiviert
unser Nervensystem einen Zustand, der mit Sicherheit assoziiert wird.
In Kenntnis dieses Zusammenhangs verstärken wir beim Listening Project
die prosodischen Eigenschaften von Vokalmusik mit Hilfe komplexer Com-
puteralgorithmen. Wenn Sie sich das Resultat anhören, haben Sie manch-
mal das Gefühl, daß die Musik völlig verschwindet. Sie klingt zeitweise sehr
»dünn«, dann voller und schließlich wieder dünner. Der Zuhörer versucht,
den verschwindenden Klang festzuhalten, und wenn dieser dann zurück-
kehrt, fühlt sich der Proband besser.
Durch die Modulation der Frequenzbänder werden wir in die akustische
Umgebung hinein und wieder aus ihr heraus gezogen. Die Intervention hat
zum Ziel, mit Hilfe der prosodischen Stimme die neuronalen Schaltkreise zu
aktivieren, die normalerweise eine Neurozeption der Sicherheit fördern. Die
Intervention verstärkt die Prosodie, aber nicht im Sinne größerer Lautstärke,
sondern durch Elimination der tiefen Frequenzen. Die akustischen Stimuli
werden in einem Raum präsentiert, in dem Stille herrscht, womit der Tatsa-
che Rechnung getragen wird, daß das Kind Schwierigkeiten im Umgang mit
anderen Menschen haben könnte.
Bei der gesamten Intervention wird für die Sicherheit des Kindes gesorgt,
und es wird in diesem Zustand modulierter akustischer Information ausge-
setzt. Nur wenn das Nervensystem nicht hypervigilant und defensiv zu rea-
gieren braucht, kann es die Mittelohrmuskeln so beeinflussen, daß das Kind
die modulierten Klänge und Geräusche erlebt.
Man erlebt die Aktivierung des neuronalen Schaltkreises, der das gesamte
System für soziales Engagement steuert. Bei vielen so behandelten Kindern
werden die Gesichtsmuskeln lebhafter, und beim stimmlichen Ausdruck wird
die Prosodie stärker, weil das Kind seine eigenen stimmlichen Äußerungen
besser hört.
Die Kinder hören nach der Intervention ihre eigene Stimme besser. Diese
verändert sich, und sie schreien weniger. Viele autistische Kinder sprechen
sehr laut und ohne Prosodie, und diese Eigenarten verändern sich durch die
Behandlung.
Aus meiner Sicht ist die Listening Project genannte Intervention eine
neuronale Übung des passiven Anhörens von Klängen und Geräuschen, die
moduliert werden, um das Bedürfnis unseres Nervensystems nach Prosodie -
oder vielleicht besser das Interesse daran - zu aktivieren.
60 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind? Mir ist klar, daß es sich nicht unbe-
dingt schickt, so etwas zu fragen.

DR. BuczYNSKI: Das geht schon in Ordnung. Ich bin 61 Jahre alt.

DR. PoRGES: Dann erinnern Sie sich wohl noch an Johnny Mathis.

DR. BuczYNSKI: Aber ja!

DR. PoRGES: Ich habe da jetzt einen leicht wehmütigen Unterton gehört.
Würden Sie mir bitte verraten, was Sie über die Stimme von Johnny Mathis
denken?

DR. BuczYNSKI: Oh, sie war sehr angenehm und melodiös.

DR. PoRGES: Genau. Und was haben Sie beim Anhören dieser Musik physio-
logisch empfunden?

DR. BuczYNSKI: Ruhe, und ich hatte das Bedürfnis mitzusingen.

DR. PoRGES: Okay. Wurde diese Musik in Ihrer Jugend manchmal in be-
stimmten sozialen Situationen benutzt?

DR. BuczYNSKI: Das könnte so gewesen sein!

DR. PoRGES: Gut, aber Sie müssen unseren Zuhörern erklären, worum es
geht. Es ging doch darum, daß Jugendliche versuchten, einander näher zu
kommen, nicht wahr?

DR. BuczYNSKI: Ganz genau!

DR. PoRGES: Okay. Aber was wir zu jener Zeit nicht wußten, war, daß die
prosodischen Charakteristika von Johnny Mathis' Stimme den neurozepti-
ven Schaltkreis aktivierten, der uns das Gefühl vermittelt, in Sicherheit zu
sein. Und weil wir uns sicher fühlten, konnten wir zu jemand anderem in
physischen Kontakt treten. Man könnte auch sagen, daß Johnny Mathis es
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 61

geschafft hat, uns die Defensivität gründlich auszutreiben. Erinnern Sie sich
daran?

DR. BUCZYNSKI: Ja.

DR. PORGES: Und wie Sie sich daran erinnern!

DR. BuczYNSKI: Ja!

DR . PoRGES: Wenn Sie dies vor Augen haben, haben Sie genau das, worum
es bei der Hörtherapie im Grunde geht: zu verstehen, daß die Frequenzbän-
der der Prosodie einen neuronalen Schaltkreis aktivieren, der es Menschen
ermöglich, sich sicherer zu fühlen. Selbst wenn Sie sich Johnny Mathis nur
vorstellten und wenn Sie nur daran dachten , wie er sang, veränderte sich die
Intonation Ihrer Stimme.
Das Listening Project ist keine langfristige intensive Intervention. Sie
umfaßt nur fünf einstündige Sitzungen. Ihre Auswirkungen werden norma-
lerweise nach dem dritten Tag erkennbar - wenn sie auftreten. Die ersten
beiden Tage dienen hauptsächlich dazu, das Kind an die Umgebung zu ge-
wöhnen, in der die Intervention durchgeführt wird.
Unser Nervensystem wartet auf Johnny Mathis; wir warten auf die Intona-
tion seiner Stimme. Wir wollen sie hören! Und wenn wir bekommen, was wir
wollen, verändert sich unser physiologischer Zustand.
Als Gegenbeispiel führe ich in diesem Zusammenhang gewöhnlich den
College- Professor an, dessen Prosodie seine Zuhörer auf der Stelle in tiefen
Schlaf versetzt!
Warum spricht jemand wie ein langweiliger College-Professor? Weil von
dem, was er sagt, sowieso niemand etwas versteht. Die Zuhörer werden nicht
in das Gespräch einbezogen, und die Stimme verführt uns nicht dazu, uns die
Information zu erschließen. Das Wissen darum, wie die Stimme Aufmerk-
samkeit weckt, ist in unserer weitgehend kognitiv orientierten Welt verloren
gegangen. Heutzutage konzentriert man sich auf den Inhalt der Worte, nicht
auf die Intonation, die der Übermittlung der Worte dient.
Nun sind wir wieder am Ausgangspunkt angekommen. Therapeuten müs-
sen sich darüber im klaren sein, daß die Signale, die von einem therapeuti-
schen Setting ausgehen, für den Therapieprozeß extrem wichtig sind. Wenn
62 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Menschen miteinander reden, geht es nicht nur um die Worte. Einsicht ver-
mag einen Menschen mit Autismus nicht zu heilen und ihm auch nicht zu
helfen. Einsicht richtet auch bei PTBS nicht viel aus. Aber durch die Intonati-
on läßt sich in beiden Fällen sehr viel erreichen.

DR. BuczYNSKI: Ich habe noch eine letzte Frage. Haben Sie dieses Training
für die Mittelohrmuskeln, das Sie mit autistischen Kindern durchführen,
schon einmal bei älteren Menschen ausprobiert? Vielleicht läßt sich damit ja
auch deren Fähigkeit, Stimmen aus den Hintergrundgeräuschen herauszufil-
tern, verbessern, so daß sie wieder besser hören können.

DR. PoRGES: Ich habe darüber nachgedacht, denn Sie haben völlig recht: Mit
zunehmendem Alter nimmt die Funktionsfähigkeit dieses Systems allmäh-
lich ab. Ich habe die Behandlung schon einmal bei mir selbst ausprobiert und
mich sogar einer Überdosis ausgesetzt. Ich wollte herausfinden, ob nicht nur
eine Stunde, sondern auch zwei Stunden etwas bringen. Und warum nicht
gleich acht Stunden? Ich habe auch das ausprobiert. Man muß bedenken,
daß es um die kleinsten Muskeln im ganzen Körper geht, die sehr schnell
ermüden.

DR. BuczYNSKI: Was haben Sie gemacht? Wie haben Sie sich trainiert?

DR. PoRGES: Wie es mir damit ergangen ist? Ich habe mir die akustische Sti-
mulation, die beim Listening Project benutzt wird, sechs bis acht Stunden pro
Tag angehört. Ich wurde dadurch so empfindlich für höhere Frequenzen, daß
ich nicht einmal mehr an meinem Computer arbeiten konnte, weil mir der
Ventilator darin zu laut war. Ich konnte die hochfrequenten Geräusche hö-
ren, die normalerweise schon in geringer Entfernung verblassen. Ich konnte
meine Kinder selbst dann reden hören, wenn sie sich in Räumen am anderen
Ende unseres Hauses aufhielten. Ich wurde so intensiv auf die menschliche
Stimme und ihren Frequenzbereich eingestimmt, daß ich sie nicht ignorie-
ren konnte. Erst nach zwei Wochen normalisierte sich dieser Zustand wieder.
Nach dieser Erfahrung bin ich sehr vorsichtig geworden und respektiere die
menschliche Sensibilität und Verletzlichkeit.
Die Listening Project genannte Intervention wird der Tatsache gerecht,
daß kleine Muskeln sehr schnell ermüden. Und wenn sie ermüden, geben
Grundlagen der Polyuagai-Theorie • 63

sie dem restlichen Körper Feedback. Deshalb werden viele, die an unserem
Projekt teilnehmen, sehr müde, nachdem sie nur eine Stunde zugehört haben.
Sie schlafen danach die ganze Nacht durch. Sie sind erschöpft, weil das Feed-
back ihres Körpers eine ähnliche Wirkung hat, als wären sie ein paar Kilome-
ter gelaufen.

DR. BuczYNSKI: Und wenn sie diese Muskeln häufiger benutzen? Entwickeln
sie dann eine gewisse Ausdauer?

DR. PoRGES: Wenn der Schaltkreis aktiviert wird und man sich in der erfor-
derlichen sicheren Umgebung befindet, wird das System sozial belohnt und
aufgrund dessen weiterhin benutzt. Es handelt sich also um wechselseitige
Belohnung im sozialen Setting. Wenn ein Kind mit seinen Eltern redet und
die Eltern das Kind anschauen, definiert die Familie damit eine interaktive
Feedbackschleife, was zur Folge hat, daß das Kind mehr redet.
Ich kann noch ein anderes Beispiel anführen. Häufig kommen Kinder von
Kollegen in mein Labor, um die Intervention durchführen zu lassen. Einmal
handelte es sich um den Sohn eines Kollegen von einer anderen Universität.
Ich traf den Vater später anläßlich einer Konferenz und fragte ihn: »Wie geht
es Ihrem Sohn?« Daraufhin wendete der Mann sich im Winkel von 90 Grad
von mir ab und sagte: »Es geht ihm gut.« Bei diesem Vater waren alle bekann-
ten Symptome für einen Mangel an sozialem Engagement zu erkennen! Ich
sagte zu ihm: »Wenn Sie mit Ihrem Sohn so reden, wird er bald wieder die
gleichen Probleme haben. Sie können sich nicht von Ihrem Sohn abwenden.
Selbst wenn das für Sie nur eine normale Strategie ist, die Sie unwillkürlich
anwenden, müssen Sie diese Ihrem Sohn gegenüber unbedingt vermeiden.«
Denn indem sich der Vater immer wieder abwendet, deaktiviert er das Sy-
stem für soziales Engagement des Kindes.
Wir alle sind sehr, sehr anpassungsfähig. Und wenn wir aus einer Familie
stammen, in der die Eltern depressiv oder chaotisch waren, haben wir uns
an diese Situation durch Nicht-Engagement angepaßt, und das bedeutet,
daß wir unser System für soziales Engagement buchstäblich herunterregeln.
Doch wenn wir das tun, entwickeln wir Symptome anderer klinischer Stö-
rungen. Das bedeutet nicht, daß wir lebenslang an diese Störungen gebunden
sind. Es bedeutet nur, daß das System heruntergeregelt ist. Mit Hilfe entspre-
chender Stimuli kann man es jedoch wieder aktivieren.
64 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Das Listening Project wurde entwickelt, um das System für soziales En-
gagement bei Menschen wieder möglichst funktionsfähig zu machen, selbst
wenn es schon beeinträchtigt ist.

DR. BuczYNSKI: Es tut mir wirklich leid, aber unsere Zeit ist abgelaufen. Die
Hälfte von dem, was ich vorbereitet hatte und wovon ich gehofft hatte, wir
könnten darüber reden, hatte heute keine Chance. Aber alles, was wir behan-
delt haben, war wirklich faszinierend.
Stephen, vielen, vielen Dank dafür, daß Sie sich die Zeit genommen ha-
ben, und darüber hinaus danke ich Ihnen für Ihre tiefgründige Arbeit. Sie
wird das Leben vieler Menschen verändern. Man kann wirklich von einem
Paradigmenwechsel sprechen, und ich benutze diesen Begriff wahrlich nicht
oft, denn ich finde, daß er überstrapaziert wird. Aber in diesem Fall sehe ich
tatsächlich einen Paradigmenwechsel stattfinden. Ich danke Ihnen von gan-
zem Herzen und möchte meine Hochachtung für Ihre Arbeit zum Ausdruck
bringen.

DR. PoRGES: Vielen Dank, Ruth. Es war mir eine Freude, an Ihrem Gespräch
teilzunehmen.
KAPITEL 3

Selbstregulation und
soziales Engagement
Stephen W. Porges & Ruth Buczynski

DR. BuczYNSKI: Wir haben von Stephen Porges bereits gehört, daß unsere
nicht vom Bewußtsein gesteuerten Körperfunktionen - z. B. Herzfrequenz
und Atmung- in einer gewissen, wenn auch nicht völlig klaren Verbindung
zu Qualitäten unserer sozialen Beziehungen wie Vertrauen und Intimität ste-
hen. Sollte das zutreffen, müßte es starke Auswirkungen auf die Behandlung
von Problemen wie Angst, Depression, Traumata und sogar Autismus haben.
Aber wenn ich von nicht dem Bewußtsein zugänglichen Funktionen rede
und davon, daß die Herzrate das Vertrauen und das Erleben von Nähe beein-
flußt, geht es nicht nur um die Wirkung des Nervensystems auf die Interakti-
on mit anderen Menschen, sondern auch um den Einfluß der Interaktion auf
das Nervensystem.
Herausgefunden und in einer Theorie erfaßt hat dies alles Dr. Stephen
Porges, der uns nun die Hintergründe dieser Sichtweise erklären wird.

DR. PoRGES: Es ist mir eine Freude, im folgenden einige komplexe Ideen so
zu erläutern, daß Kliniker Nutzen daraus ziehen können.

Dieses Interview wurde von Stephen W. Porges für diese Buchausgabe überarbeitet. Das Orginal ent-
stand im April 2012.
© by Stephen W. Porges & NICABM (National Institute for the Clinical Application of Behavioral
Medicine - Storrs, CT, USA). Website: www.nicabm.com
66 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Herzratenuariabilität, Selbstregulation
und ihre Beziehung zueinander
DR. BuczYNSKI: Stephen, Sie haben beobachtet, daß Menschen mit stabile-
rer Herzfrequenz und besserer Selbstregulationsfähigkeit anders auf Trau-
mata und schwierige Erlebnisse reagieren als Menschen mit instabiler Herz-
frequenz und weniger ausgeprägter Selbstregulationsfähigkeit. Darf ich es
Ihnen überlassen, diese Zusammenhänge zu beschreiben?

DR. PoRGES: Natürlich. Die Beobachtung der Muster der Herzfrequenz gibt
tatsächlich Aufschluß darüber, wie unser Nervensystem den Körper reguliert.
Weist das Muster der Herzfrequenz schöne gleichmäßige Oszillationen auf,
sind wir in guter Verfassung; es spiegelt dann, daß unser inneres homöostati-
sches System seine regulierende Funktion gut erfüllt.
Wird dieses System gestört, verändert sich das neuronale Feedback, das
von der Peripherie, von unseren inneren Organen einschließlich des Herzens,
zum Gehirn übermittelt wird, und die Pforte, die Regulation des Herzens
durch den Vagus, spiegelt dies in Form einer Dämpfung der periodischen
Aktivität, die oft Herzratenvariabilität genannt wird.
Im Grunde würde ich am liebsten den Reflexionsgegenstand wechseln:
Statt über Korrelate zu sprechen, sollten wir uns eher eine Art Pforte vor-
stellen- es geht um die Möglichkeit zu messen, wie unser Nervensystem mit
verschiedenartigen Herausforderungen umgeht und wie diese Anpassungen
in unserem Körper zum Ausdruck kommen.

Die organisierenden Prinzipien der Polyuagal-Theorie

DR. BuczYNSKI: Ihre Theorie erläutert die organisierenden Prinzipien, die


der soeben geschilderten Beobachtung zugrunde liegen, und wie mir scheint,
fassen Sie zwei recht unterschiedliche Bereiche zusammen. Könnten Sie zu
dieser Einschätzung etwas sagen?

DR. PoRGES: Für mich ist dies eine Reise, die einen großen Teil meines Le-
bens ausmacht und durch die ich viel über das Leben gelernt habe. Einerseits
ist es in einem gewissen Sinne paradox, aber andererseits eine wunderbare
Selbstregulation und soziales Engagement • 67

Erfahrung, die eigene Forschung, den Beruf und die eigenen Interessen nut-
zen zu können, um sich mit der Funktionsweise des eigenen Nervensystems
auseinanderzusetzen- im Grunde mit unserem Verhalten in einer komple-
xen Umgebung.
Die Konzepte, die der Polyvagal-Theorie zugrunde liegen, sind relativ sim-
pel, aber trotzdem schwer faßbar. Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte
lang ist es nicht gelungen, sie klar zu formulieren. Im Wesentlichen geht es
darum zu verstehen, daß unser Nervensystem auf Herausforderungen sehr
adaptiv reagiert.
Diese Adaptivität steht im Einklang mit unserer Phylogenese. Sie ent-
spricht der Veränderung des Nervensystems im Laufe der Entwicklung von
den Reptilien zu den Säugetieren - zumindest was die neuronale Regulation
des Autonomen Nervensystems angeht.

DR. BuczYNSKI: Dabei geht es wohl nicht nur um die biologische, sondern
auch um die genetische Evolution.

DR. PoRGES: Ja, die Systeme veränderten sich und erschlossen den Säuge-
tieren, zu denen auch wir Menschen zählen, verschiedene neue adaptive
Funktionen. Im Mittelpunkt der Polyvagal-Theorie steht also im Grunde, daß
Menschen als Säugetiere andere Säugetiere bzw. Menschen brauchen, weil
die Interaktion mit diesen ihr Überleben sichert.
Entscheidend ist dabei die Fähigkeit zu reziproker Interaktion, zu gemein-
samer Regulation des physiologischen Zustandes, und die Fähigkeit, Bezie-
hungen aufzubauen, in denen die Beteiligten sich sicher fühlen können.
Wenn uns klar ist, daß diese Thematik in der gesamten Entwicklung eine
Rolle spielt, erschließt sich plötzlich auch die Bedeutung von Konzepten
wie Bindung, Intimität, Liebe und Freundschaft. Das gleiche gilt für Phäno-
mene wie Mobbing, Probleme mit anderen Menschen, Konflikte zwischen
Ehepartnern und oppositionelles Verhalten von Schülern im Klassenraum.
Grundsätzlich sehnt sich unser Nervensystem nach reziproker Interaktion,
weil diese ihm ermöglicht, sich sicher zu fühlen.
Die meisten Menschen haben bisher angenommen, bei diesen Dingen ge-
he es um Probleme auf der Verhaltensebene, nicht um physiologische Phä-
nomene. Die Polyvagal-Theorie erklärt nun, daß es tatsächlich um physiolo-
gische Phänomene geht und daß die für soziale Unterstützung und soziales
68 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

Verhalten zuständigen neuronalen Pfade denjenigen entsprechen, die Ge-


sundheit, Wachstum und Genesung fördern.

DR. BuczYNSKI: Es wäre schön, wenn Sie noch einmal erklären könnten, in-
wiefern es sich um die gleichen neuronalen Pfade handelt. Würden Sie uns
das bitte noch einmal erläutern?

DR. PoRGES: Bestimmte neuronale Pfade sind für soziale Unterstützung


zuständig. Sozialpsychologie und Verhaltensmedizin sind sehr daran inter-
essiert herauszufinden, wie sich Freundschaften und die Nähe zu anderen
Menschen auf die Genesung bei Verletzungen, Krankheiten und vielen ande-
ren Problemen auswirken. Bisher wurde dies meist mehr oder weniger abge-
tan, indem man es auf die Selbstverständlichkeit reduzierte, daß Menschen
natürlich soziale Unterstützung bräuchten. Aber darum geht es hier eigent-
lich nicht. Es geht darum, daß adäquate soziale Interaktionen die gleichen
neuronalen Verbindungen nutzen, die auch Gesundheit, Entwicklung und
Genesung fördern. Bringt man einen kranken Menschen in eine Umgebung,
in der er sich nicht sicher fühlt, schadet man ihm damit, statt ihm zu helfen.
Letztlich müssen wir uns also vergegenwärtigen, daß sich das menschliche
Nervensystem ebenso wie die Nervensysteme vieler anderer Säugetierarten
ständig auf der Suche nach Sicherheit in Gegenwart von Artgenossen befin-
det, weil die Gegenwart anderer unser Sicherheitsgefühl stärkt.

Wie wir die Gegenwart anderer nutzen,


um uns sicher zu fühlen
DR. BuczYNSKI: Das erinnert mich an Untersuchungen über die Qualität der
Behandlung von Ärzten, die vor einigen Jahren durchgeführt wurden. Man
verteilte damals eine Gruppe von Kranken nach dem Zufallsprinzip auf eine
Gruppe von Ärzten. Die Hälfte der Probanden erlebte eine herzliche Verbin-
dung zu einem Arzt, der sich ihren Bericht über Ihre Beschwerden empa-
thisch anhörte; die andere Hälfte erhielt eine normale medizinische Routine-
betreuung ohne jeden Ausdruck von Herzlichkeit und Güte von seiten des
Arztes. Diejenigen, die von ihren Ärzten warmherzig und gütig aufgenom-
men worden waren, genasen schneller von ihrer Grippe.
Selbstregulation und soziales Engagement • 69

DR. PoRGES: Im physiologischen Verständnisrahmen erscheint dies alles als


plausibel, doch in manchen Fällen fehlt es offenbar an jedem Wissen um die-
se Zusammenhänge.

DR. BuczYNSKI: Weshalb erscheint es im physiologischen Rahmen als plau-


sibel? Offenbar haben Sie etwas darüber herausgefunden. Warum erscheint
es Ihnen als plausibel?

DR. PoRGES: Wegen der Bedeutung des sozialen Verhaltens dabei. Die Signa-
le eines Menschen, der sich sicher fühlt, ermöglichen es einem kranken oder
anderweitig leidenden Mitmenschen, auf den Rückzug in defensive Zustände
zu verzichten. Wenn wir uns in einem defensiven Zustand befinden, nutzen
wir unsere metabolischen Ressourcen zur Verteidigung. Wenn wir veräng-
stigt sind, können wir nicht nur nicht kreativ oder liebevoll sein, sondern die-
ser Zustand verhindert auch unsere Heilung.
Es handelt sich um den gleichen neuronalen Pfad - um es noch deutlicher
zu sagen: um einen Vaguspfad. Das Interesse am Vagusnerv gilt im Grunde
der Information, die er übermittelt. Er leitet Informationen vom Gehirn in
die Peripherie und signalisiert Sicherheit - daß der betreffende Mensch sich
beruhigen kann.
Wenn die übergeordneten Bestandteile des Nervensystems ein Risiko oder
eine Gefahr entdecken, wird die beruhigende Vagusaktivität eingestellt, und
wir werden auf Kampf-/Flucht-Verhalten vorbereitet. Dies vermittelt ein
phylogenetisch älterer Schaltkreis, der die Verteidigung durch Mobilisierung
ermöglicht.
Die Polyvagal-Theorie weist auf die Existenz dieses wundervollen Schalt-
kreises hin, den wir in sicheren Umgehungen nutzen können. Er ermöglicht
die Aktivität der Gesichtsmuskeln, den Ausdruck von Emotionen durch die
Mimik und den beruhigenden prosodischen Einfluß der Stimme - Signale,
die andere Menschen uns übermitteln. Wir empfangen Signale aus der obe-
ren Gesichtshälfte, nehmen den stimmlichen Ausdruck wahr und registrie-
ren die Mimik und Gestik des Kopfes und der Hände.
Der Cortex verarbeitet diese Informationen. Er liest sie und erkennt die
Intentionalität der biologischen Bewegung. Wenn Sie den Hinterkopf eines
Ihnen unbekannten Hundes mit einer Hand berühren, kann es passieren, daß
der Hund Sie beißt. Halten Sie ihm die Hand hingegen frontal hin, schnüffelt
70 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

er daran, versteht den Vorgang als normales Explorationsverhalten und fühlt


sich nicht bedroht.
Der Cortex verarbeitet also den Gesichtsausdruck, den stimmlichen Aus-
druck und die Gestik und Mimik und trifft aufgrund dieser Informationen
eine Entscheidung, die nicht kognitiv ist, sondern lediglich klärt, ob die Si-
tuation im Hinblick auf soziales Engagement als sicher oder gefährlich einzu-
stufen ist.

DR. BuczYNSKI: Was ist, wenn Menschen solche Signale nicht lesen können?

DR. PoRGES: Bevor ich Ihre Frage beantworte, werde ich noch etwas anderes
erklären. Ich möchte nämlich erläutern, warum die Polyvagal-Theorie über-
haupt entstanden ist.
Daß es die Kampf-/Flucht-Systeme gibt und daß es beruhigende Systeme
gibt, war schon länger allgemein bekannt. Weniger bekannt war, daß das be-
ruhigende System, der erst bei den Säugetieren auftauchende Teil des Vagus,
mit dem Gesicht verbunden ist. Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Beitrag der
Polyvagal-Theorie, und ist auch wichtig im Sinne einer hierarchischen Vor-
stellung von der Organisation des ANS, der zufolge das Vagussystem das SNS
besänftigen kann.
Was in der Fachliteratur völlig übersehen - man könnte auch meinen ver-
schwiegen - wurde, war das alte Defensivsystem des Shutdowns, für den das
Totstellen der Maus im Maul der Katze ein bekanntes Beispiel ist.
Man hat uns beigebracht zu glauben, daß es nur eine Form von Verteidi-
gung gibt, nämlich Kampf oder Flucht. Man hat uns über eine einzige Mög-
lichkeit der Überlebenssicherung informiert: die Mobilisierung oder das, was
allgemein Streßreaktion genannt wird. Man könnte also nach einem Trauma
in »posttraumatischen Streß« verfallen.
Wie sehen Menschen, die vom Streßmodell ausgehen, all dies? Streß wird
mit einer hohen Herzfrequenz und mit starker Anspannung assoziiert. Doch
bei Menschen, die ein Trauma oder Mißbrauch/Mißhandlungen erlebt ha-
ben, kann man typische Shutdown-Phänomene beobachten: Verlust des
Muskeltonus, Ohnmachtsanfälle und Dissoziation.
Versuchen Klienten dies ihren Therapeuten zu erklären, und die Thera-
peuten haben das alte Streßmodell im Kopf, hören sie den Klienten nicht
richtig zu. Deshalb geraten Menschen, die schwere Traumata wie körperliche
Selbstregulation und soziales Engagement • 71

Mißhandlungen erlebt haben, oft in Panik: Sie wissen nicht, wie sie erklären
sollen, was sie erlebt haben. Und das hat einen simplen Grund: Es ist nicht
allgemein bekannt, daß die Immobilisierung als Defensivsystem genutzt wer-
den kann und genutzt wird. Diese bedauerliche Tatsache ist der Grund für
die heutige Ausrichtung der Wissenschaft und der klinischen Praxis.
Wenn über psychobiologische Behandlungsmodelle oder fundamentale
Streß- und Furchtmodelle gesprochen wird, werde ich immer wieder gefragt:
»Geht es bei Ihrer Forschung um Furcht?« Dann stelle ich in der Regel fol-
gende Gegenfrage: »Meinen Sie die Furcht, die Menschen haben, wenn sie
weglaufen? Oder meinen Sie die Furcht, die wir Menschen haben, wenn wir
ohnmächtig werden?«
Wir benutzen psychologische Konstrukte, die nicht besonders gut zu kon-
kreten adaptiven biologischen Reaktionen passen. Unser heutiges Gespräch
ist dem Umstand zu verdanken, daß die Polyvagal-Theorie nach Ansicht eini-
ger Experten der Traumatherapie viele wichtige Phänomene, die sie bei ihren
Klienten beobachten, erklärt und daß sie diese Dinge vorher nicht erklären
konnten.
Ich war zunächst ziemlich verwundert, als man mir sagte, daß sich meine
Erkenntnisse über biologische Tatsachen - die aus meiner damaligen Sicht
insbesondere Babys mit Bradykardie und Apnoe betrafen - auch auf trauma-
tische Mißbrauchs- und Mißhandlungserlebnisse von Menschen übertragen
ließen.
Natürlich war ich hocherfreut darüber, daß meine Erkenntnisse diesen
Traumatherapeuten ganz konkret von Nutzen waren. Sie fungieren sozusagen
als bestätigende interpersonale Erzählung darüber, inwiefern der menschli-
che Körper in traumatischen Situation heroisch, also keineswegs »verrückt«
reagiert. Seine adaptive Reaktion sichert Traumatisierten das Überleben.

Das hierarchische System der drei Arten,


auf die Welt zu reagieren
Der wichtigste Beitrag der Polyvagal-Theorie zur klinischen Praxis ist nach
meiner Auffassung die Beschreibung eines dreistufigen hierarchischen Sy-
stems unserer Arten, auf Geschehnisse in der Welt zu reagieren. Wenn wir
uns in einer sicheren Umgebung befinden - so wie wir beide momentan in
72 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

einem von vier Wänden umschlossenen Raum mit einer Tür sitzen -, wir
Signale auffangen und die Mimik und Gestik unserer Kommunikationspart-
ner wahrnehmen und verarbeiten, schauen wir wohl nicht hinter uns. Fände
dieses Gespräch hingegen im Freien statt, würde unser Nervensystem stän-
dig überprüfen, was hinter uns vor sich geht, um Gefahren rechtzeitig zu er-
kennen.
In der Situation, in der wir uns momentan befinden, gibt es keine Gefahr.
In unserer Gesellschaft gibt es Umgehungen, die aufgrundihrer Struktur als
sicher gelten. Unser Nervensystem wünscht dies, und uns ist klar, daß wir
Fehldeutungen von Ereignissen oft vermeiden können, wenn wir die Vorteile
der Face-to-Face-Kommunikation nutzen. Sie leistet bei der Abschwächung
und Auflösung von Konflikten oft sehr nützliche Dienste.
Klar ist auch, daß unser Sympathisches Nervensystem uns sehr nützlich
sein kann - daß es gut ist, daß es uns die Mobilisation ermöglicht. Benutzen
wir es jedoch ausschließlich als Defensivsystem, befinden wir uns ständig im
Zustand der Mobilisierung, und das kann Menschen sehr launisch machen.
In diesem Zustand kann es passieren, daß wir um uns schlagen und daß wir
die Signale anderer Menschen mißverstehen. Die Polyvagal-Theorie besagt,
daß wir uns darüber im klaren sind, daß es sich um ein sympathisch gepräg-
tes Defensivsystem handelt.
Außerdem gibt es noch ein anderes Defensivsystem, das Shutdown-Sy-
stem, das viele adaptive Funktionen hat. Es erhöht die Schmerzempfindungs-
schwelle und ermöglicht Menschen dadurch, entsetzliche Mißbrauchs- und
Mißhandlungserlebnisse durchzustehen, ohne zu spüren, was geschieht, und
so zu überleben.
Allerdings können Säugetiere, die diese Überlebensstrategie nutzen, zwar
schnell aus dem sicheren Zustand sozialen Engagements in den der Mobili-
sierung des SNS wechseln, doch der Wechsel vom Shutdown zurück in den
Zustand der Mobilisierung gestaltet sich schwieriger.
Beispielsweise können Menschen, wenn sie mißhandelt werden, besten-
falls die Defensivstrategie massiver körperlicher Gegenwehr nutzen und ver-
suchen, der Situation, in der sie sich befinden, zu entkommen. Es gibt eine
Hierarchie der Defensivhandlungen, deren verschiedene Stufen jeweils be-
stimmte adaptive Funktionen erfüllen - jeder dieser Schaltkreise eignet sich
besonders für einen ganz bestimmten Zweck.
Leider verfügt unser Nervensystem im Falle des Immobilisierungsschalt-
Selbstregulation und soziales Engagement • 73

kreises nicht über gute bzw. leicht erschließbare Zugangsmöglichkeiten. Vie-


le Menschen benötigen eine Therapie, weil es ihnen ohne Hilfe nicht gelingt,
sich vom Einfluß dieses Schaltkreises wieder zu befreien.

Die paradoxe Funktion des Vagusnervs

DR. BuczYNSKI: Welche Rolle spielt der Vagusnerv bei alldem? Wie haben
Sie herausgefunden, welche Funktion er in diesem Zusammenhang erfüllt?

DR. PoRGES: Der Vagusnerv spielt bei der Shutdown-Reaktion eine Rolle, ist
aber auch für soziales Engagement und Beruhigung wichtig. Im Grunde hat
der Vagus eine paradoxe Funktion.
Die Polyvagal-Theorie ist aus einem Versuch heraus entstanden, dieses Pa-
radox aufzulösen. Wir haben einen Vagus, der uns schützt, und einen Vagus,
der uns umbringen kann, indem er unsere Herzfrequenz massiv absenkt und
dadurch eine Apnoe oder Bradykardie verursacht.
Wie lassen sich diese beiden konträren Wirkungsarten des Vagus auf einen
Nenner bringen? Wir könnten annehmen, daß »zuviel des Guten schlecht
ist«. Ich war von dieser Möglichkeit nicht überzeugt, weil ich bei meinen Un-
tersuchungen an Babys Bradykardien nur im Falle zu geringer Herzratenva-
riabilität beobachtet hatte, wobei mir klar war, daß die HRV das Auftreten
von Bradykardien verhindern mußte.
Daß bei Wegfall der schützenden HRV-Muster Bradykardien auftraten,
konfrontierte mich mit einer Art von intellektuellem schwarzem Loch. Das
Wunderbare an der Wissenschaft ist nicht, was wir Menschen durch sie her-
ausfinden, sondern daß wir mit ihrer Hilfe erkennen, was wir nicht wissen.
Man formuliert eine Frage, und wenn diese sich aufgrund der vorliegenden
Erkenntnisse nicht sinnvoll beantworten läßt, muß es dafür eine Erklärung
geben. Diese zu finden gelang mir durch die Auseinandersetzung mit den
Veränderungen der neuronalen Steuerung und des Wandels der Vagusfunkti-
on bei den Wirbeltieren im Laufe der Evolutionsgeschichte.
Meine Untersuchungen führten zu sehr interessanten Resultaten, die noch
längst nicht abgeschlossen sind. Man könnte das Studium neuronaler Syste-
me für eine ziemlich trockene und geradezu einschläfernde Angelegenheit
halten, doch die Veränderungen, die bei der Weiterentwicklung von den
74 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Reptilien zu den Säugetieren eingetreten sind, sind alles andere als eine lang-
weilige Fußnote der Entwicklungsgeschichte. Die große Landschildkröte, der
gemeinsame Vorfahr der heutigen Reptilien und der Säugetiere, erstarrte an-
gesichts einer Gefahr und zog seinen Kopf in den Panzer zurück.
Über diese Reaktionsmöglichkeit verfügen auch wir. Sie ist Bestandteil un-
seres genetischen Erbes. Wir nutzen sie allerdings nicht oft, und das ist auch
besser so, denn damit wären für uns viele Gefahren verbunden. Weil wir als
Säugetiere viel Sauerstoff brauchen, ist es für uns nicht ratsam, die Herzfre-
quenz zu verlangsamen oder das Atmen ganz einzustellen. Aber wenn es uns
nicht gelingt, einer Gefahr durch Mobilisierung zu entkommen, löst unser
Nervensystem manchmal automatisch die Shutdown-Reaktion aus.
Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang, daß wir die physiolo-
gischen Schaltkreise oder Zustände nicht durch einen Willensakt auswäh-
len. Unser Nervensystem entscheidet dies außerhalb unseres Bewußtseins.
Ich bezeichne diesen Vorgang als Neurozeption, womit die Evaluierung be-
stimmter Signale aus der Umgebung durch das Nervensystem gemeint ist.
Wenn Sie sich in meiner Gegenwart wohlfühlen und ich positive nonver-
bale und verbale Signale aussende- wenn meine Mimik und Gestik vertrau-
enerweckend ist, ich Sie nicht anbrülle, mit meiner Stimme keine tiefen Töne
erzeuge und Sie nicht mit Informationen bedränge -, hören Sie mich besser
und beruhigen sich. Spreche ich hingegen wie die meisten Universitätspro-
fessoren, rollen Sie wahrscheinlich die Augen nach oben, verlieren das In-
teresse und sagen sich: »Ein Glück, daß ich klinischer Psychologe geworden
bin.«
Natürlich verhalten wir uns Ideen und Objekten gegenüber anders als in
unseren Beziehungen zu Menschen, und ich werde auf diesen Unterschied
in Kürze zu sprechen kommen. Die Polyvagal-Theorie nutzt die im Laufe der
Evolution entstandene Struktur jedenfalls, um die genannten neurophysiolo-
gischen Schaltkreise und ihre Funktionen zu entschlüsseln.
Zunächst gab es nur den alten, weniger effizienten Vagus ohne Myelin-
schicht. Dann entstand bei den alten Wirbeltieren ein System, das ihnen er-
möglichte, sich durch Erstarren zu schützen, wodurch der Sauerstoff- und
Nahrungsbedarf verringert und die Wahrscheinlichkeit des Überlebens ver-
größert wurde.
Im weiteren Verlauf der Evolution entstand bei den Wirbeltieren (erstmals
bei den Knochenfischen) das spinale SNS. Es ermöglichte den frühen Wirbel-
Selbstregulation und soziales Engagement • 75

tieren, Bewegungen zu koordinieren und sich in Gruppen zu bewegen. Im


stark aktivierten Zustand wird diese Mobilisierung zu einem Defensivsystem,
das den Immobilisierungsschaltkreis hemmen kann.
Bei den Säugetieren bildete sich ein neuer Vagus heraus, der die Schalt-
kreise des SNS und die Aktivität der Nebennieren hemmt, was uns soziales
Engagement und die optimale Nutzung unserer Ressourcen ermöglicht. Man
könnte auch sagen: Im Zustand sozialen Engagements verringern wir unse-
ren Ressourcenverbrauch, und das kommt unserer Gesundheit, Entwicklung
und Genesung zugute.
Ein wichtiges Charakteristikum des neuen Vagus ist seine Verbindung zu
Gehirnarealen, welche die Gesichtsnerven und damit unsere Fähigkeit, zu
hören (Mittelohrmuskeln), zu sprechen (Kehlkopf- und Rachenmuskeln) und
uns mimisch zu äußern (Gesichtsmuskeln), vermitteln.
Wenn Sie als klinische Psychologin das Gesicht Ihres Klienten beobach-
ten und ihn sprechen hören, schätzen Sie im Grunde seinen physiologischen
Zustand ein, denn Gesicht und Herz sind mit dem Hirnstamm verbunden.
Dabei geht es, insbesondere wenn es sich um Traumatisierte handelt, um die
Ausdruckslosigkeit der oberen Gesichtshälfte und des Stimmklangs, um Pro-
bleme beim Herausfiltern der menschlichen Stimme aus Hintergrundgeräu-
schen und um hypersensible Reaktionen auf Hintergrundgeräusche.
Wenn wir auf die prosodischen Eigenschaften der Stimme eines anderen
Menschen hören, lesen wir den physiologischen Zustand des Betreffenden.
Befindet er sich physiologisch in einem Zustand der Ruhe, wirkt das auch auf
uns selbst beruhigend. Auch als es noch keine Sprache und keine sprechen-
den Wesen gab, existierte schon stimmlicher Ausdruck und war ein wichtiger
Bestandteil sozialer Interaktion. Solche Äußerungen ermöglichten Artgenos-
sen zu erkennen, ob sie sich gefahrlos nähern konnten.

Die motorischen und sensorischen


Nervenfasern des Vaguskanals
DR. BuczYNSKI: Ich möchte jetzt gern noch einmal auf einige Grundlagen zu
sprechen kommen, mit denen wohl nicht alle vertraut sind. Handelt es sich
beim Vagusnerv nicht eher um eine ganze Familie von Nerven oder neurona-
len Pfaden, die verschiedenen Bereichen des Hirnstamms entspringen?
76 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

DR. PoRGES: Man kann sich mit dieser Frage auf zwei Arten auseinander-
setzen. Man kann fragen: Woher kommt der Nerv? Und man kann fragen:
Wohin führt der Nerv?
Es ist sicher sinnvoll, sich den Vagus wie eine Art Kabel vorzustellen, das
viele Nervenfasern enthält, und zwar nicht nur motorische, die Informatio-
nen vom Hirnstamm zu den inneren Organen leiten, sondern auch sensori-
sche, die Informationen von den inneren Organen ins Gehirn übermitteln.
Es gibt also sowohl eine Geist-Körper- als auch eine Körper-Geist-Bezie-
hung oder eine Gehirn-Körper- und eine Körper-Gehirn-Beziehung. 8o Pro-
zent der Nervenfasern des Vagus sind sensorischer Art. Die Zahl der myeli-
nisierten motorischen Fasern, die für die Regulation der Bereiche oberhalb
des Zwerchfells eine wichtige Rolle spielen, ist relativ klein. Die meisten nicht
myelinisierten Vagusfasern regulieren Bereiche unterhalb des Zwerchfells.
Ich möchte Sie nun bitten, sich einmal kurz zu vergegenwärtigen, welche
klinischen Symptome oder Probleme bei Ihren Klienten vorkommen. Oft ha-
ben sie Probleme im Magen-Darm-Bereich, weil in Situationen, in denen der
nicht myelinisierte Vagus als immobilisierendes Defensivsystem aktiv wird
oder in denen sich der Klient in einem stark mobilisierten Zustand befindet,
der alte Vagus seine homöostatische Funktion nicht erfüllen kann.
Wie schon erwähnt, gibt es im Hirnstamm unterschiedliche Bereiche, von
denen aus motorische Vagusfasern in den Körper führen und zu denen sen-
sorische Vagusfasern verlaufen. Und bei den motorischen Vagusfasern lassen
sich zwei Arten unterscheiden, nämlich die des alten Vagus, die keine Mye-
linschicht aufweisen und hauptsächlich in den Bereich unterhalb des Zwerch-
fells verlaufen, und die zum Herzen führenden, die eine Myelinschicht haben.
Es gibt also zwei Arten motorischer und eine Art sensorischer Vagusfasern,
wobei die sensorischen in allen Bereichen im Körperinneren zu finden sind.

DR. BuczYNSKI: Im Sinne der von der Polyvagal-Theorie beschriebenen


Hierarchie der Defensivreaktionen werden von traumatischen Erlebnissen
verschiedene Arousalzonen betroffen. Kann man das so sagen?

DR. PoRGES: Mit einer Herausforderung konfrontiert, versuchen wir nach


der Polyvagal-Theorie zunächst, den neuesten Teil unseres Nervensystems
zu nutzen, um mit Hilfe von Mimik, stimmlichem Ausdruck und Sprache
einen Zustand der Sicherheit zu erreichen. Bleibt das erfolglos, stellt dieses
Selbstregulation und soziales Engagement • 77

System seine Bemühungen ein, und es folgt die Mobilisierung zur Vorberei-
tung auf die Verteidigung durch Kampf oder Flucht. Bewirkt auch dies nichts,
schalten wir völlig auf das SNS um und leiten eine Kampf-/Flucht-Reaktion
ein.
Wenn Menschen weder fliehen noch kämpfen können, entsteht häufig ein
Trauma, insbesondere wenn es sich um kleine Kinder handelt, wenn der Tä-
ter größer als das Opfer ist oder wenn er eine Waffe hat. In solchen Fällen
führt die Mobilisierung des SNS zu nichts, und wenn das Opfer dies merkt,
tritt der Shutdown ein. Wie das Nervensystem eine Gefahr einschätzt, ist
nicht vorhersehbar. Ein und dieselbe Gefahr kann von den Nervensystemen
verschiedener Menschen völlig unterschiedlich beurteilt werden. Eines der
großen Probleme bei der Behandlung Traumatisierter ist, daß sie von dem,
was sie erlebt haben, meist so besessen sind, daß man ihnen kaum klar ma-
chen kann, daß ihre individuelle Reaktion auf das Erlebnis für die Behand-
lung entscheidend ist.

Die Beziehung zwischen Traumata


und sozialem Engagement
DR. BuczYNSKI: Könnten wir uns nun der Beziehung zwischen sozialem En-
gagement und Traumata zuwenden? Was ist dabei wichtig?

DR. PoRGES: Wenn Menschen in den Zustand der Immobilisierung aus


Furcht eintreten - wenn sie diesen uralten neuronalen Schaltkreis aktivie-
ren-, bietet das Nervensystem ihnen nicht die Möglichkeit, sich problemlos
wieder aus diesem Zustand zu befreien. Sie können nicht so leicht in einen
neurophysiologischen Normalzustand zurück, in dem es ihnen wieder mög-
lich ist, sich auf die Prozesse sozialen Engagements einzulassen.

Sind Menschen in diesem Zustand gefangen, der sozialer Interaktion und


dem Gefühl der Sicherheit nicht förderlich ist, entwickeln sie sehr kompli-
zierte Narrative darüber, warum sie nicht sozial interagieren wollen und
weshalb sie anderen Menschen nicht vertrauen ... was nichts anderes heißt,
als daß sie ihre viszeralen, physiologischen Empfindungen deuten. Ihr Ner-
vensystem erkennt Gefahren, wo keine sind, und sie versuchen, mit dieser
78 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

komplizierten Situation zurechtzukommen. Mit Hilfe des Narrativs, das sie


entwickeln, versuchen sie, ihre Sicht zu untermauern.
Wie kann man einem Menschen aus dieser Lage heraushelfen? Wie kann
man sein wundervolles System für soziales Engagement wieder aktivieren
und gleichzeitig seine sympathische Mobilisierung hemmen und ihn aus dem
gefährlichen Immobilisierungszustand befreien? Das ist einer der Gründe,
aus denen einige aus der Polyvagal-Theorie hergeleitete Ideen allmählich in
der klinischen Psychologie Fuß fassen.
Das erste, was der Klient in jedem Fall erreichen und erleben muß, ist
Sicherheit. Oft spielt dabei die Nähe zum Therapeuten eine wichtige Rolle.
Der Therapeut ist für einen Traumatisierten zunächst eine Gefahrenquelle.
Er muß dem Klienten die Möglichkeit geben, so lange zu navigieren und zu
verhandeln, bis dieser sich sicher fühlt.
Sobald der Klient sich in der Situation sicher fühlt, verändert sich sein
physiologischer Zustand, und der Klang seiner Stimme und sein mimischer
Affektausdruck verändern sich. Dies ist eine der Möglichkeiten, mit deren
Hilfe ein Therapeut das System für soziales Engagement des Klienten aktivie-
ren kann.
Ich empfehle immer wieder, bei solchen Behandlungen erstens Wert auf
eine Atmosphäre der Sicherheit zu legen und zweitens der Tatsache Rech-
nung zu tragen, daß unser Nervensystem in einer sicheren Umgebung auf
bestimmte Signale anders reagiert als in einer gefährlichen Situation oder an
einem lärmigen Ort.
Weil tiefe Geräusche unsere Furcht vor Raubtieren wecken, sollten wir zu-
nächst einmal für ein gewisses Maß an Ruhe und Stille sorgen. Viele Trau-
matisierte meiden Restaurants, Kinos und Einkaufspassagen, letztere weil
sie Rolltreppen hassen, deren Betrieb Vibrationen, Zittern und niedrige Fre-
quenzen erzeugt. Da uns all dies wohlbekannt ist, haben wir Anlaß genug, die
äußere Situation so zu gestalten, daß sich diese Menschen darin sicher fühlen
können.
Und sobald sich dieses Gefühl der Sicherheit einstellt, kann die therapeu-
tische Strategie verfolgt werden. Wie aber können wir das System für soziales
Engagement aktivieren, um zu erreichen, daß sich der Klient sicher fühlt?
Beispielsweise durch das Anhören von Vokalmusik. Die prosodischen Eigen-
arten der menschlichen Stimme können selbst dann unser Sicherheitsgefühl
verstärken, wenn keine andere Person anwesend ist.
Selbstregulation und soziales Engagement • 79

Wie Musik die Vagusregulation aktivieren kann


DR. BuczYNSKI: Könnten Sie in diesem Zusammenhang ein wenig über Ihr
Musikprojekt berichten?

DR. PoRGES: Wir verändern mit Hilfe eines Computerprogramms Vokalmu-


sik. Insbesondere Frauenstimmen produzieren beim Gesang keine tiefen Fre-
quenzen. Mit einem Computer lassen sich Frequenzmodulationen so opti-
mieren, daß der angesprochene neuronale Schaltkreis noch gezielter aktiviert
wird.
Wir hoffen, das Gehirn dazu bringen zu können, die Informationen -
Prosodie, Intonation und Feedback - aufzunehmen und dadurch den Tonus
der Ohrmuskeln zu verstärken, so daß die Hintergrundgeräusche gedämpft
werden. Dies verbessert die Regulation des Herzens durch den Vagus und
beruhigt dadurch den Klienten.
Nachdem wir uns fünfzehn Jahre lang mit dieser plausiblen Theorie aus-
einandergesetzt hatten, haben wir im Dezember 2011 ein Patent für ein Gerät
angemeldet, das die Transferfunktion des Mittelohrs mißt. Diese Möglich-
keit war in den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich der Erforschung der
Hör- und Sprechfähigkeit widmen, bisher nicht bekannt. Wir können jetzt
demonstrieren, ob Menschen die menschliche Stimme über das Trommel-
fell aufnehmen oder ob diese Geräusche durch tiefe Frequenzen überdeckt
werden, wie sie für Raubtiere charakteristisch sind. Man kann sich das wie
bei einer Kesselpauke vorstellen, deren Ton höher wird, wenn man ihr Fell
spannt - was bedeutet, daß wir höhere Frequenzen aufnehmen, während
niedrige Frequenzen unterdrückt werden.
Wir benutzen dieses Gerät, um die Hörfähigkeit von Menschen mit au-
ditorischer Hypersensibilität zu untersuchen. Das sind hauptsächlich Men-
schen mit autistischen Störungen, aber auch einige mit einer Traumavorge-
schichte, die ebenfalls oft über Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis)
berichten.
In unserem Patentantrag konnten wir dokumentieren, daß bei dieser
Gruppe die Aufnahme des Frequenzbandes der menschlichen Stimme (im
Bereich des zweiten und dritten Obertons) eingeschränkt war. Menschen mit
Hyperakusis nahmen die Formanten nicht richtig auf und registrierten tiefe
Frequenzen stärker. Die Behandlung im Rahmen des Listening Projects reak-
80 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

tivierte bei ihnen die neuronale Regulation und veränderte die Absorptions-
kurve, so daß sie einen höheren Anteil jener Frequenzen aufnehmen konnten,
die mit der menschlichen Stimme assoziiert werden. Vor unseren Beobach-
tungen hatte man angenommen, Geräuschüberempfindlichkeit werde im
Gehirn verursacht, weil man sich über den Zusammenhang mit dem System
für soziales Engagement nicht im klaren war.
Etwa fünfzig Prozent der Probanden litten nach der Intervention nicht
mehr unter auditarischer Hypersensibilität, und bei den meisten war auch
eine Verbesserung hinsichtlich des sozialen Engagements eingetreten. Letz-
tere war also mit einer verbesserten Regulation des autonomen Zustandes
durch den Vagus verbunden. Wenn sich durch die Intervention der Zustand
verändert, wird auch die neuronale Plattform verändert, deren Defensivität
abnimmt und die spontanes Engagement besser fördert.

DR. BuczYNSKI: Könnte Musiktherapie in irgendeiner Hinsicht von Nutzen


sein?

DR. PORGES: Tatsächlich kann eine Therapie mit Musik vielen Menschen aus
zwei Gründen sehr zugute kommen. Leider gibt es bisher keine besonders
plausible Erklärung für die Wirkung von Musiktherapie. Die Polyvagal-Theo-
rie könnte aufgrundihres Verständnisses der Funktion der Mittelohr-, Kehl-
kopf- und Rachenmuskeln eine Erklärung ihrer Wirkung liefern.
Beim Singen kontrollieren Menschen ihre Atmung, indem sie die Zeit-
spanne des Ausatmens verlängern. Dadurch werden neurophysiologisch die
efferenten Aktivitäten des myelinisierten Vagus verstärkt, was wiederum be-
wirkt, daß der Vagus des Systems für soziales Engagement während des Aus-
atmens stärker auf das Herz einwirkt, indem es dessen Frequenz verringert.
Was tun wir, wenn wir singen? Wir atmen aus. Und was noch? Wir hören,
was die Mittelohrmuskeln übermitteln. Und außerdem? Wir nutzen die neu-
ronale Regulation der Kehlkopf- und Rachenmuskeln. Noch etwas? Indem
wir die Muskeln in der Mundhöhle benutzen, entwickeln wir eine bessere
Kontrolle über die Gesichtsmuskulatur und den Trigeminus.
Beim Singen in einer Gruppe spielt auch der Kontakt zu anderen Men-
schen eine wichtige Rolle. Deshalb ist insbesondere das Gruppensingen ein
sehr gutes Training für das System für soziales Engagement. Das Spielen ei-
nes Holzblasinstruments hat eine ganz ähnliche Wirkung: Es geht dabei um
Selbstregulation und soziales Engagement • 81

das Ausatmen, das Zuhören und den Kontakt zu den Ensemblemitgliedern


und zum Dirigenten. Übrigens gibt es eine spezielle Yoga-Disziplin, Prana-
yama-Yoga, die man »Yoga des Systems für soziales Engagement« nennen
könnte. Pranayama spricht die Atmung und die gestreiften Muskeln des Ge-
sichts und des Kopfes an.

Signale sozialen Engagements:


Selbstregulation oder Nichts-Mitbekommen

DR. BuczYNSKI: Damit sind wir wieder beim System für soziales Engagement
und seiner Bedeutung. Ich habe mit Ihnen schon einmal darüber gesprochen,
daß einige Menschen die Signale des sozialen Engagements erkennen und
nutzen, andere hingegen nicht die geringste Ahnung haben, was sie besagen.
Für letztere gleichen solche Signale einer Fremdsprache, die sie nicht verste-
hen, als wären sie gerade in einem fremden Land angekommen.

DR. PoRGES: Deshalb sind Sie wahrscheinlich klinische Psychologin und ich
bin Laborwissenschaftler geworden. Im Laufe der Zeit ist mir klar geworden,
daß Menschen, die es brauchen, mit anderen Menschen zu interagieren, sich
einen Beruf suchen, in dem sie täglich Blickkontakt zu Kollegen haben. Ich
werde aber versuchen, Ihnen eine einleuchtendere Erklärung zu geben. Zu-
nächst sollten wir uns von all den komplizierten diagnostischen Kategorien
und den vielen Begriffen verabschieden.

DR. BuczYNSKI: Das tue ich gern.

DR. PoRGES: Wenn wir uns auf die diagnostischen Kategorien einlassen, re-
den wir plötzlich von Komorbiditäten und benutzen alle möglichen Begriffe,
die uns nicht weiterbringen, weil sie nichts über grundlegende Funktionen
und Prozesse aussagen.
Versuchen wir einmal, ein sehr simples Modell menschlichen Verhaltens
zu entwickeln. Wenn wir Menschenaufgrund ihrer Fähigkeit zur Co-Regula-
tion mit anderen Menschen auf einem Spektrum einordnen, ist das im Grun-
de eine andere Art, das darzustellen, was Sie gesagt haben: Einige Menschen
haben nicht die geringste Ahnung von den Eigenarten anderer. Und daran
82 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

erkennen Sie, daß ihre Fähigkeit, ihren physiologischen Zustand in Gegen-


wart anderer zu regulieren, sehr unausgereift ist.
Ein anderer Aspekt dieser Problematik ist die Selbstregulation mit Hilfe
von Objekten. Wir leben heute in einer Welt, in der wir von anderen Men-
schen ständig gezwungen werden, über »soziale Medien« zu kommunizieren
und mit Hilfe dieser Objekte, die uns Kontakte ermöglichen, eine gewisse
Form von Co-Regulation zu praktizieren. Das nennen wir social networking.
Wir benutzen dazu Computer, wir »Simsen« über unser Smartphone, und im
Grunde isolieren wir so die Essenz der menschlichen Interaktion, die Inter-
aktion von Angesichts zu Angesicht, von oberflächlichen menschlichen In-
teraktionen.
Wir ersetzen die synchron-interaktive Kommunikation durch asynchrone
Kommunikation, bei der wir Botschaften übermitteln und uns mit den Men-
schen, an die diese Botschaften gerichtet sind, später treffen können. Wir las-
sen es heutzutage zu, daß die Welt aufgrund der Vorgaben von Menschen
organisiert wird, denen die Regulation in Gegenwart anderer schwerfällt,
wohingegen sie keine Probleme damit haben, sich in Gegenwart und mit Hil-
fe von Objekten zu regulieren.
Im Grunde könnte man annehmen, daß viele klinische Störungen Men-
schen betreffen, denen es schwerfällt, im Beisein anderer ihren Zustand zu
regulieren, und die deshalb die Regulation mit Hilfe von Objekten vorziehen.
Ob wir diese Menschen als autistisch bezeichnen oder als Menschen mit
sozialen Ängsten, ist im Grunde unwichtig. Klar ist, daß die Nervensysteme
den Betroffenen reziproke soziale Interaktion unmöglich machen. Sie fühlen
sich nur selten sicher in Gegenwart anderer und befinden sich folglich auch
nur selten in jenen förderlichen physiologischen Zuständen, die nicht nur
Gesundheit, Entwicklung und Genesung, sondern auch soziales Verhalten
fördern. Soziales Verhalten ist für diese Menschen nichts Unterstützendes,
sondern etwas Störendes.
Wir werden heutzutage gedrängt, uns für die Zugehörigkeit zu einer von
zwei völlig unterschiedlichen Gruppen zu entscheiden - zur Gruppe derer,
die die Regulation mittels direkter sozialer Interaktion bevorzugen, oder zur
Gruppe derer, die es vorziehen, zur Selbstregulation Objekte zu nutzen. Ein
anderes Problem, mit dem wir konfrontiert werden, sind die Auswirkungen
dieser beiden Strategien auf die Erziehung und Sozialisation von Kindern.
Die Erziehung verabschiedet sich allmählich von der Face-to- Face-Inter-
Selbstregulation und soziales Engagement • 83

aktion. In Schulen gibt man Kindern heute schon im Vorschul- und Grund-
schulalter iPads in die Hand. Ich habe mir kürzlich eine Fernsehsendung
über eine Schule angeschaut, deren Lehrkörper sehr stolz darauf war, daß
alle Schüler der ersten Klasse iPads zur Verfügung hatten. Während die Ka-
mera durch den Klassenraum schweifte, schauten die Kinder auf ihre iPads;
einander schauten sie kaum noch an.
Was bedeutet dies für unsere Thematik? Daß das Nervensystem dieser
Kinder die für soziales Verhalten zuständigen neuronalen Schaltkreise nicht
trainieren kann. Und ohne ein solches Training erlangen diese neuronalen
Schaltkreise nicht die Stärke und Resilienz, die sie für die Regulation im Bei-
sein anderer brauchen.
Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die aktuellen Entwicklungen
im Schulsystem. Aufgrund des Drucks, dem wir in unserer kognitionslasti-
gen, cortexzentrierten Welt ausgesetzt sind, versuchen wir, alle Menschen
in unserer Umgebung mit immer mehr Informationen zu füttern und so
gleichsam »zwangszuernähren«. Dabei übersehen wir, daß unser Nerven-
system nur dann kühne Ideen, Kreativität und positives soziales Verhalten
entwickeln kann, wenn es sich in einem vom myelinisierten Vagus regulier-
ten physiologischen Zustand befindet. Statt in Schulen das Musizieren, Spiel
und Teamsportarten zu fördern und Pausen Raum zu geben, um das System
für soziales Engagement anzuregen, lassen wir die Schüler immer länger im
Klassenraum sitzen und begründen die Einschränkung der »weichen Fächer«
und entsprechender anderer Aspekte des Schullebens mit dem Einwand, alle
diese Dinge würden vom eigentlich wichtigen Lehrstoff ablenken.

DR. BuczYNSKI: Die Schüler werden heute gezwungen, sich immer mehr In-
formationen einzuverleiben.

DR. PoRGES: Informationen, die natürlich wegen unzureichender Verarbei-


tung nicht problemlos aufgenommen werden können und deshalb opposi-
tionelles Verhalten hervorrufen. Die heute vorherrschende Sicht des Erzie-
hungsprozesses und der menschlichen Entwicklung ist ziemlich naiv.
Ich entnehme der Art Ihrer Fragen, daß Sie etwas über frühe Erlebnisse,
deren Folgen und damit verbundene weitere Risikofaktoren herausfinden
wollen. Wir versuchen, die Dinge hier aus neuronaler, entwicklungsorientier-
ter Perspektive und sogar aus der eines Übungsmodells zu verstehen. Wird
84 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

die neuronale Regulation bestimmter Systeme nicht genutzt, entwickeln


diese sich nicht gut. Wir sind keineswegs so pessimistisch anzunehmen, daß
wir sie deshalb auch später nicht nutzen können werden. Ihre frühe unzurei-
chende Nutzung wird aber Folgen haben.

Die Nutzung der neuronalen Regulation

DR. BuczYNSKI: Wie würden Sie jemandem, der seine neuronale Regulation
bisher nicht genutzt hat, helfen, sie zu nutzen?

DR. PORGES: Zunächst muß man natürlich für einen sicheren Kontext sorgen.
Und es muß klargestellt werden, daß das Kind oder der Erwachsene nichts
falsch gemacht hat. Wenn wir im Rahmen einer Therapie etwas verändern
wollen, vermitteln wir den Klienten oft auf vielerlei Arten, daß sie etwas
falsch gemacht haben, und dadurch verändert sich ihr physiologischer Zu-
stand, und der entscheidende neuronale Schaltkreis wird unerreichbar. Wir
zementieren so eine starke Diskrepanz zwischen der Art, wie wir unsere Kin-
der erziehen und unsere Schüler und Studenten unterrichten, und unserer
eigenen Funktionsweise.
Wenn wir Menschen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln wollen, sollten
wir ihnen nicht vorwerfen, daß sie etwas falsch gemacht haben. Vielmehr
sollten wir ihnen erklären, wie ihr Körper reagiert hat, daß diese Reaktions -
weise adaptiv war, daß wir diesen adaptiven Aspekt ihres Verhaltens schät-
zen und daß die Adaptivität des damaligen Verhaltens natürlich vom Kontext
abhing und sich verändern kann. So können wir unser wundervolles großes
Gehirn zur Entwicklung einer Darstellung nutzen, die atypische Verhaltens-
weisen nicht als schlecht, sondern als im Sinne ihrer adaptiven Funktion ver-
ständlich und oft sogar als heldenhaft erscheinen läßt.

Bindung und adaptiue Funktion


DR. BuczYNSKI: Ich finde, daß dies ein guter Punkt ist, um sich der Bin-
dungstheorie und der Frage der Beziehung zwischen Bindungstheorie und
Polyvagal-Theorie zuzuwenden.
Selbstregulation und soziales Engagement • 85

DR. PoRGES: Ich höre diese Frage oft, und das hängt wohl nicht zuletzt damit
zusammen, daß meine Frau, Sue Carter, im Rahmen ihrer Forschungsarbeit
die Beziehung zwischen Oxytocin und sozialen Bindungen entdeckt hat. Ich
habe viele Jahre lang den Standpunkt vertreten, die Beziehung zwischen so-
zialen Bezügen und Bindung sei ihr Forschungsbereich und nicht meiner. Sie
hat ihre Ideen über soziale Bindungen durch Beobachtungen und Untersu-
chungen an der Präriewühlmaus entwickelt, einem kleinen Nagetier mit sehr
interessantem Sozialver halten, unter anderem lebenslangen Paarbeziehun-
gen, Monogamie und gemeinsamer Aufzucht der Jungen durch beide Eltern.
Die Präriewühlmaus ist wirklich ein sehr interessantes Tierchen.
Die Maus hat einen sehr hohen Oxytocinspiegel, und in den letzten Jahren
haben wir gemeinsam die Regulation ihres Herzens durch den Vagus unter-
sucht. Sie ähnelt sehr der Vagusregulation beim Menschen und unterschei-
det sich stark von der Regulation bei anderen Nagetieren und kleinen Säuge-
tieren.
Seit ich angefangen habe, mit Sue an dieser Thematik zusammenzuarbei-
ten, fühle ich mich bei der Auseinandersetzung mit sozialem Verhalten ein-
schließlich der Bindung wesentlich wohler. Durch unsere Zusammenarbeit
wurde mir klar, daß in der Literatur über die Bindungstheorie ein wichtiger
Aspekt nicht erwähnt wird. Nach meiner Auffassung fehlt darin eine Art Prä-
ambel der Bindung, womit ich die Bedeutung von Signalen der Sicherheit für
die Entstehung einer Bindungsbeziehung meine. Ich hatte das Gefühl, man
könnte über Bindung nicht reden, ohne sich dabei mit Sicherheit und Aspek-
ten des sozialen Engagements auseinanderzusetzen: Aus meiner Sicht liefert
das soziale Engagement die neuronale Grundlage für die Entfaltung der Bin-
dungsprozesse, bei denen es sich um eine Hierarchie handelt.
Sue und ich haben zusammen ein Konzept entwickelt, das wir den Lie-
bescode nennen. Dieser umfaßt zwei Phasen, nämlich die des sozialen En-
gagements, des Sich-Einlassens auf Nähe bzw. des Oszillierens zwischen
Nähe und Distanz, und die des physischen Kontakts und der Intimität. Wir
bezeichneten dies als einen Code, weil es sich katastrophal auswirken kann,
wenn die beiden Phasen nicht in der richtigen Reihenfolge zum Ausdruck
gelangen.
Daß Menschen Verbindungen eingehen, ohne sich bei ihren Partnern si-
cher zu fühlen, ist wohl einer der Gründe dafür, daß so viele Paare einen The-
rapeuten aufsuchen. Deshalb halte ich es für wichtig, sich weder theoretisch
86 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

noch praktisch mit dem Thema Bindung zu beschäftigen, bevor man ein ge-
wisses Verständnis der Bedeutung von Sicherheit und sozialem Engagement
für die Entstehung einer guten Bindungsbeziehung entwickelt hat.

Weshalb in Krankenhäusern eine Atmosphäre


der Sicherheit gefördert werden sollte
DR. BuczYNSKI: Wir haben nun nicht mehr viel Zeit für dieses Gespräch,
aber ich habe hier noch eine Notiz liegen. Ich möchte Sie fragen, wie man
Kliniken im psychologischen Sinne sicherer machen kann. Wir sollten heut-
zutage hoffen können, daß unsere Krankenanstalten Menschen bestmöglich
betreuen und ihre Ressourcen nutzen, um das Immunsystem der Kranken
zu stärken ... Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die aktuelle Situation im
Gesundheitsbereich in dieser Hinsicht so gut ist, denn man konzentriert sich
offensichtlich stärker auf andere Dinge.

DR. PoRGES: Ich halte diese Frage für sehr wichtig, und natürlich trifft es zu,
daß man bisher in dieser Hinsicht sehr wenig Mühe aufgewendet hat. Wer
schon einmal stationär in einem Krankenhaus behandelt wurde, weiß, was
es bedeutet, jede Stunde aufgeweckt zu werden, nur mit einem OP-Kittel be-
kleidet im Bett zu liegen und den Geräuschen anderer Patienten ausgesetzt
zu sein. In der Regel wollen Patienten aus einem Krankenhaus möglichst
schnell entlassen werden, weil sie sich dort nicht sicher fühlen.
Das Problem hängt eng mit dem Sinn und Zweck, der »Logik« der Orga-
nisation zusammen - damit, wozu diese Einrichtungen da sind: Sie sollen
Kranken Dienstleistungen anbieten und das Personal vor Prozessen wegen
Behandlungsfehlern schützen. Deshalb ist die Überwachung sämtlicher Vor-
gänge dort so wichtig, und höchste Sauberkeit hat Priorität. Andere Dinge
wie soziale Unterstützung fallen unter den Tisch, und das ist sehr bedauer-
lich.
Menschen, die sich in einem Krankenhaus behandeln lassen müssen, sa-
gen sich: »Ich begebe mich in eine physische Situation, in der ich mich nicht
selbst schützen kann. Ich will sicher sein können, daß ich dort in vertrauens-
würdigen, liebevollen Händen bin.« Aber genau das ist leider oft nicht der
Fall, und ich halte es für bedauerlich, weil es so viele sehr gut ausgebildete,
Selbstregulation und soziales Engagement • 87

liebevolle Kliniker und Helfer gibt, die in einem Krankenhaus durchaus eine
andere, heilendere Atmosphäre schaffen könnten.
Statt die Patienten mit Bergen von Dokumenten zu überhäufen, deren
Hauptzweck darin besteht, das Krankenhaus von seiner Verantwortung für
den Patienten zu befreien - denn ohne seine Unterschrift wird keine Be-
handlung durchgeführt * -, könnte man dem Patienten auch eine Art per-
sönlichen Assistenten zur Seite stellen, der ihm nicht nur bei den Aufnah-
meformalitäten hilft, sondern ihn auch aus dem Zustand der Hypervigilanz
befreit, so daß sein Körper die erforderlichen medizinischen Maßnahmen
bereitwillig unterstützt, statt sich verängstigt in einer Defensivhaltung zu
verschanzen.
Ich habe schon ganz am Anfang dieses Gesprächs darauf hingewiesen, daß
Angst die Heilung verhindert. Wenn uns das wirklich klar ist, warum tun wir
dann nicht alles, was in unserer Macht steht, um Menschen ein Gefühl der
Sicherheit zu vermitteln?

DR. BuczYNSKI: Bevor wir dieses Gespräch beenden, hier noch die Frage
nach Ihren nächsten Projekten und Vorhaben ...

DR. PoRGES: Ich sehe mich als einen gereiften Wissenschaftler, der einige
interessante Dinge erforscht hat, und ich habe vor, noch viele weitere inter-
essante Dinge zu tun. Ich will weiter an der Übertragung meiner grundle-
genden Forschungsergebnisse in die klinische Praxis arbeiten. Beispielsweise
werden wir versuchen, statt der bisher vorherrschenden Sicht, nach der me-
dizinische Behandlungen nur chirurgischer oder pharmazeutischer Art sein
können, Interventionen zu entwickeln, welche die neuronalen Schaltkreise,
die Gesundheit, Entwicklung und Genesung fördern, stärken.

DR. BuczYNSKI: Ich empfinde unser ganzes Gespräch als äußerst faszinie-
rend und bedauere sehr, daß wir es jetzt beenden müssen. Leider haben wir
nur einen sehr kleinen Teil all der spannenden Dinge besprochen, mit de-
nen Sie sich beschäftigen. Ich danke Ihnen ganz herzlich, nicht nur für die
Zeit, die Sie uns hier gewidmet haben, sondern auch für Ihr Lebenswerk und

* Eine Vorgehensweise, die in den USA noch stärker ausgeprägt ist als im deutschsprachi-
gen Raum. Anm. d. Übers.
88 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Ihre Pionierarbeit sowie dafür, daß Sie uns so viel Neues darüber erschlossen
haben, was es bedeutet, ein menschliches Wesen zu sein.

DR. PoRGES: Ich danke auch Ihnen, Ruth. Sie haben mir die Möglichkeit ge-
ben, zur klinischen Welt in Kontakt zu treten. Meine Leidenschaft gilt nicht
allein der Entdeckung neuer Fakten, sondern auch ihrer Übersetzung in die
Sprachen der Fachbereiche, für die sie wichtig sind.
I<APITE L 4

l<örper, Gehirn und Verhalten


Die Polyuagal-Theorie und die
Geheimnisse der Traumaheilung
Stephen W. Porges & Ruth Buczynski

DR. BuczYNSKI: Es ist mir eine Freude, erneut Stephen Porges begrüßen zu
können. Er hat die Polyvagal-Theorie entwickelt, die unsere Sicht vieler As-
pekte der klinischen Arbeit und vieler Störungen stark verändert hat.
Wir werden uns heute unter anderem mit den Konsequenzen der Poly-
vagal-Theorie für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen
und vielen damit verwandten Themen beschäftigen. Die Grundlage dafür lie-
fert das Wissen über den Vagusnerv, seinen Ursprung im Gehirn und seine
Präsenz und Funktion im gesamten Körper.

Die Ursprünge der Polyuagal-Theorie


DR. PoRGES: Ich skizziere zunächst noch einmal, was die Polyvagal-Theorie
beinhaltet. Sie basiert auf der Entwicklungsgeschichte des Autonomen Ner-
vensystems. Wir müssen uns zunächst vergegenwärtigen, daß zwischen un-
seren Vorfahren auf der Entwicklungsstufe der Reptilien und unseren nähe-
ren Verwandten, den Säugetieren, große Unterschiede bestehen. Säugetiere
brauchen soziale Beziehungen, sie brauchen eine Mutter, die sie zu Beginn

Dieses Interview wurde von Stephen W. Porges für diese Buchausgabe überarbeitet. Das Orginal ent-
stand im Februar/März 2013 .
© by Stephen W. Porges & NICABM (National Institute for the Clinical Application of Behavioral
Medicine- Storrs, CT, USA) . Website: www.nicabm.com
90 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

ihres Lebens stillt, und sie müssen einander beschützen. Reptilien hingegen
sind eher Einzelgänger. Wenn wir über soziales Verhalten reden, geht es im
Grunde um den Unterschied zwischen der Entwicklungsstufe der Reptilien
und unserer heutigen Existenz auf der Stufe der Säugetiere.
Mit dem Übergang von der Stufe der Reptilien zu jener der Säugetiere war
eine wichtige Veränderung des Autonomen Nervensystems verbunden. Das
Reptilien-ANS hatte nur die Möglichkeiten der Mobilisierung und des Shut-
down (Erstarrens). Um sich zu verteidigen, konnte es nur kämpfen, fliehen
oder erstarren, was viele Reptilien tun.
Bei den Säugetieren entstand ein neuer ANS-Zweig, eine Art »Cheerlead-
er«, man könnte auch von einem »Dirigenten« der beiden anderen, primitive-
ren Systeme sprechen. Diese Neuentwicklung ermöglichte es den primitiven
Systemen der sympathisch geprägten Kampf-/Flucht-Reaktion und des alten
Shutdown-Systems, zugunsten von Gesundheit, Wachstum und Genesung
zusammenzuarbeiten - allerdings nur in als sicher erkannten Situationen.

DR. BuczYNSKI: Darf ich Sie an dieser Stelle kurz unterbrechen? Sie haben
von einem »Cheerleader« und »Dirigenten« gesprochen. Würden Sie bitte
ein wenig erläutern, was Sie damit meinen?

DR. PoRGES: Den Begriff »Cheerleader« habe ich in diesem Moment zum
ersten Mal verwendet. Ich muß jetzt erst selbst einmal ein wenig darüber
nachdenken, was genau ich damit meine.
Ich beginne mit dem »Dirigenten«; das ist leichter. Die neue Komponen-
te des ANS wird durch neuronale Strukturen vermittelt, die einen sozialen
Kontext kreieren. Sie nutzen höher entwickelte Gehirnareale, um Strukturen
des Hirnstamms, die ältere Teile des ANS regulieren, zu signalisieren, daß
sie nicht in eine Defensivreaktion zu verfallen brauchen, sondern sich statt
dessen der Förderung von Gesundheit, Entwicklung und Genesung widmen
können.
Wir nutzen unsere höher entwickelten Gehirnstrukturen, um Gefahren zu
erkennen, und wenn wir keine Gefahr entdecken, hemmen wir die älteren
Defensivsysteme.
Der »Dirigent« organisiert im Einklang mit der phylogenetischen Orga-
nisation des Gehirns die Anwendung einer Hierarchie, welche die älteren
Schaltkreise reguliert und kontrolliert.
Körper, Gehirn und Verhalten • 91

Wenn wir vom Autonomen Nervensystem sprechen, geht es nicht nur um


das, was vom Hals abwärts geschieht. Um das ANS wirklich zu verstehen,
müssen wir den Bereich im Hirnstamm einbeziehen, aus dem die Nerven, die
das ANS regulieren, austreten, und wir müssen uns auch vergegenwärtigen,
wie die höheren Gehirnstrukturen einschließlich des Cortex die autonome
Funktion regulieren.
Wir haben also einen »Dirigenten«, der sagt: »Alles okay. Die Defensivsy-
steme brauchen nicht zur Gefahrenabwehr in Aktion zu treten; sie können
genutzt werden, um Gesundheit, Entwicklung und sogar Freude zu fördern.«
Nun zum »Cheerleader«, dessen Funktion tatsächlich der seines Namens-
vetters beim Footballspiel ähnelt. Er befindet sich im mobilisierten Zustand,
nutzt diesen aber nicht zu Verteidigungszwecken. Dies gelingt ihm mit Hilfe
von Mimik und Prosodie, die dem System für soziales Engagement zuzurech-
nen sind. Durch die Integration der Mobilisierung in das System für soziales
Engagement wird das ursprüngliche Defensivsystem für prosoziales Ver-
halten genutzt, das wir »Spiel« nennen können. Der Unterschied zwischen
Kampf-/Flucht-Verhalten und Spiel besteht darin, daß wir beim Spiel im Zu-
stand der Mobilisation Blickkontakt aufnehmen und mit anderen Menschen
kommunizieren. Indem wir die Gefahrensignale durch soziale Signale neu-
tralisieren, können wir das SNS zur Förderung von Bewegung nutzen, ohne
in Kampf-/Flucht-Verhalten zu verfallen. Sogar das älteste Defensivsystem,
das der Immobilisierung, läßt sich auf diese Weise »umnutzen«, wenn wir
uns den Armen eines Menschen, bei dem wir uns sicher fühlen, anvertrauen.

DR. BuczYNSKI: Könnten Sie dies mit der Polyvagal-Theorie in Verbindung


bringen?

DR. PORGES: Dies ist die Polyvagal-Theorie. Sie beinhaltet ja, daß es »mehre-
re Vagusse« (poly-vagus) bzw. »Vaguspfade« gibt und daß sich im Laufe der
Evolution die neuronale Regulation des ANS verändert hat.

Der >>uegetatiue Vagus<< und der >>kluge Vagus<<

DR. BuczYNSKI: In Ihrem Buch Die Polyvagal-Theorie sprechen Sie von


»zwei motorischen Vagussystemen« - dem vegetativen Vagus, der mit einer
92 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

eher passiven Regulation der viszeralen Funktionen verbunden ist, und dem
klugen Vagus (smart vagus). Ich würde mich freuen, wenn Sie diese beiden
Begriffe ein wenig erläutern könnten.

DR. PoRGES: Wenn man sich mit dem Parasympathischen Nervensystem


(PNS) beschäftigt, stößt man auf ein Paradox. Der Vagus ist der wichtigste
neuronale Pfad des PNS, und oft werden die Begriffe Vagus und PNS aus-
tauschbar benutzt. Aber genau genommen sind die Vaguspfade nur eine Teil-
menge der neuronalen Verbindungen im PNS. Dem PNS wird gewöhnlich die
Förderung von Gesundheit, Entwicklung und Heilung zugute gehalten - es
ist der »gute Kerl« des ANS.
Das Sympathische Nervensystem (SNS) hingegen wird generell als unser
»Todfeind« hingestellt, den wir ständig im Auge behalten müssen. Diese Dar-
stellung ist zwar teilweise zutreffend, sie hilft uns aber im Grunde nicht, kli-
nische Störungen zu verstehen.
Was passiert, wenn wir aus Furcht erstarren, wenn unser Herz durch den
Einfluß des Vagus zum Stillstand kommt, wenn wir aufgrund seines Einflus-
ses defäkieren oder nicht mehr atmen können, weil sich unsere Bronchien zu
stark zusammenziehen-alldas kann man kaum als »gut« bezeichnen.
Ein angemessenes Verständnis der Funktionsweise des PNS wurde er-
schwert, indem in der wissenschaftlichen Literatur so gut wie alle Informa-
tionen über die Funktion des PNS als Defensivsystem unterschlagen wurden.
Bei Reptilien ist das Erstarren die wichtigste Verteidigungsfunktion: Er-
starren, Hemmung der Atmung, Verlangsamung der Herzfrequenz- »Sich-
Totstellen« (den Eindruck erwecken, man sei tot).
Eine Maus zwischen den Zähnen einer Katze atmet nicht, und ihre Herz-
frequenz sinkt stark ab - sie wird im Grunde ohnmächtig und sieht dann so
aus, als sei sie tot.
All dies geschieht willensunabhängig. Somit liegen wir falsch, wenn wir
den Einfluß des PNS auf den Vagus als ausschließlich positiv einschätzen.
Das Paradox der ambivalenten Wirkung des Vagus weckte mein Interesse so
nachhaltig, daß ich mehr als zwanzig Jahre lang versuchte, dem Sinn dieser
Diskrepanz auf die Spur zu kommen. Dies gelang mir, als mir klar wurde, daß
sich im Laufe der Phylogenese die neuronale Steuerung des ANS veränderte.
Wenn wir nach dem Grund für diese Veränderungen suchen, stellen wir fest,
daß der zweite Vaguspfad beim Auftauchen der Säugetiere entstand. Die glei-
Körper, Gehirn und Verhalten • 93

chen Veränderungen können wir im Laufe der Entwicklung von Säugetier-


föten beobachten.
Weil der neue, »kluge« oder »mammalische« Vagus bei verfrüht gebore-
nen Kindern noch nicht vorhanden ist, können Vagusreaktionen für sie töd-
lich sein. Sie können dann zu atmen aufhören, und ihre Herzfrequenz kann
zu stark absinken - Phänomene, die heute in der Intensivpflege als Apnoe
und Bradykardie bezeichnet werden.
Obwohl viele von uns gelernt haben, Vagusreaktionen seien grundsätzlich
»gut« und förderten die Gesundheit, trifft dies zumindest bei Frühgeburten
ganz sicher nicht zu. Sie verfügen noch nicht über den neueren, mit einer
Myelinschicht umgebenen Vagus, der erst später im Entwicklungsverlauf
funktionsfähig wird. Das ANS eines vor Erreichen der 32. Schwangerschafts-
woche geborenen Kindes entspricht funktional dem eines Reptils, und die
Anfälligkeit solcher Kinder fü r Apnoe und Bradykardie sind ein Ausdruck der
für Reptilien charakteristischen Defensivreaktionen. Erst nach vollständigem
Abschluß der Entwicklung eines Säuglings kann der neue myelinisierte Vagus
die Aktivitäten der übrigen Vagusschaltkreise und des SNS koordinieren und
so den Zustand der Homöostase und die Gesundheit unterstützen.

DR. BuczYNSKI: Das wäre also der »kluge Vagus«.

DR. PoRGES: Das ist der »kluge Vagus«, den wir auch »Säugetier-Vagus«,
»mammalischen Vagus « oder »myelinisierter Vagus« nennen können. Dem
steht ein eher vegetativer, nicht mit einer Myelinschicht umgebener Vagus
gegenüber. Wir können die beiden Vaguspfade aber auch noch anders un-
terscheiden, nämlich indem wir von einem sub-diaphragmatischen (unter
dem Zwerchfell lokalisierten) und nicht myelinisierten Vagus, der die Bauch-
organe innerviert, und einem mit einer Myelinschicht umgebenen supra-dia-
phragmatischen Vagus sprechen. Letzterer ist mit den Organen oberhalb des
Zwerchfells, in erster Linie mit dem Herzen und den Bronchien, verbunden.

DR. BuczYNSKI: Ich habe mir ein paar Notizen gemacht und mir aufge-
schrieben, daß »mammalisch«, »klug«, »myelinisiert« und »supra-diaphrag-
matisch« ein und denselben Vaguspfad bezeichnen. Aber wie sieht es mit
dem Gegenteil aus? Könnten Sie die Äquivalente der anderen Seite noch ein-
mal nennen?
94 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

DR. PoRGES: Gerne. Der sub-diaphragmatische Vagus ist der zuerst entstan-
dene, nicht myelinisierte Vagus. Er existiert schon bei Reptilien, Fischen und
Amphibien - und er innerviert den Bereich unterhalb des Zwerchfells und
beeinflußt hauptsächlich das Geschehen im Bauch. Wenn wir über klinische
Störungen sprechen, benutzen wir im Englischen manchmal Ausdrücke wie
»getting to our gut« (deutsch ungefähr: »an die Nieren gehen«).
Über dem Zwerchfell befinden sich Herz, Lunge und Bronchien - dies ist
der Bereich des myelinisierten Vagus. Gerät er außer Kontrolle, bekommen
wir Herzklopfen oder Herzrasen (bewirkt durch das SNS), oder die Herzfre-
quenz sinkt (unter dem Einfluß des nicht myelinisierten Vagus) massiv ab.
Hierbei ist zu beachten, daß der nicht myelinisierte Vagus zwar hauptsäch-
lich die Organe unter dem Zwerchfell reguliert, es aber auch nicht myelini-
sierte Vagusfasern gibt, die zum Herzen verlaufen und Bradykardien verursa-
chen können.
Die Signale unseres Körpers sagen viel über dieses System. Doch sollten
wir in unsere Betrachtung auch das Gehirn einbeziehen, weil die beiden Va-
guspfade aus verschiedenen Bereichen im Gehirn austreten- denn die Poly-
vagal-Theorie ist mehr als nur eine Theorie über einen peripheren Nerv. Zwar
ist der Vagus ein peripherer Nerv, weil er vom Gehirn zu peripheren Organen
verläuft, doch der »kluge«, myelinisierte Vagus entspringt einem Bereich im
Hirnstamm, der auch die Muskeln des Gesichts und des Kopfes reguliert.
Viele Leser dieses Buches sind Therapeuten, die ja ständig andere Men-
schen anschauen - zumindest sollten sie das -, und aufgrund dessen oft sa-
gen können, wie sich die Betreffenden fühlen. Dies können wir herausfinden,
weil die Nerven, welche die gestreiften Muskeln des Gesichts und des Kopfes
steuern, im Hirnstamm mit dem myelinisierten »klugen« Vagus verbunden
sind. Was in unserem »Herzen« vor sich geht, läßt sich tatsächlich von un-
serem Gesicht ablesen. Einfühlsame Therapeuten und auch andere einfühl-
same Menschen wissen das. Und nicht nur die Gesichtsmuskeln verraten,
was in unserem »Herzen« vor sich geht, sondern auch die Muskeln, die den
stimmlichen Ausdruck beeinflussen. Deshalb fragen wir beim Telefonieren
einen Gesprächspartner, dessen Stimme »flach« klingt: »Was ist los mit dir?«
Die neurophysiologische Steuerung der Kehlkopf- und Rachenmuskeln, wel-
che die Prosodie erzeugen, erfolgt im Hirnstamm im gleichen Bereich wie die
neurophysiologische Regulation des »klugen« myelinisierten Vagus.
Körper, Gehirn und Verhalten • 95

Vom Vagusnerv zur Familie der Vaguspfade

DR. BuczYNSKI: Ich würde gern noch ein paar grundsätzliche Fragen auf-
werfen, bevor wir uns anderen Dingen zuwenden.
Ich weiß, daß der Vagus biologisch nicht nur ein Nerv ist, sondern eine
Familie neuronaler Pfade, die aus verschiedenen Bereichen des Hirnstamms
austreten und sich später verzweigen. Aber vielleicht könnten Sie dies noch
ein weniger genauer beschreiben.

DR. PoRGES: Der Vagus ist ein Kranialnerv. Das bedeutet, daß er aus dem
Gehirn austritt. Wir haben mehrere Kranialnerven, und einige steuern die
gestreiften Gesichtsmuskeln.
Die Nerven, über die am meisten gesprochen wird, sind die motorischen
Nerven der Skelettmuskulatur, die entlang der Wirbelsäule verlaufen und
Gliedmaßen und Rumpf steuern.
Die Kranialnerven hingegen sind für die Muskeln des Gesichts und des
Kopfes zuständig. Der Gesichtsausdruck wird nicht vom gleichen neurona-
len System gesteuert wie die Bewegungen der Hände oder der Gliedmaßen.
Zu den Kranialnerven zählt auch der Vagusnerv, ein motorischer Nerv, der
glatte und kardiale Muskeln steuert und aus dem Hirnstamm austritt. Dieser
befindet sich an der nach unten deutenden Spitze jenes invertierten Dreiecks,
das wir Gehirn nennen. Da wir heutzutage meist über den Cortex sprechen,
gerät der Hirnstamm oft in Vergessenheit. Doch im Hirnstamm werden
praktisch alle Informationen aus dem Körper gesammelt und alle Signale aus
dem Gehirn gelangen von hier aus in den Körper. Der Hirnstamm ist also
von fundamentaler Bedeutung für alle anderen Prozesse.
Wenn wir unseren physiologischen Zustand nicht regulieren können- was
eine der Aufgaben des Hirnstamms ist -, können wir einige höhere kognitive
Funktionen nicht erreichen, und diesen ist es nicht möglich, Informationen
zu verarbeiten.
Zu den wichtigsten Aufgaben eines Therapeuten zählt die Beeinflussung
physiologischer und behavioraler Zustände. Ganz gleich, ob es um eine Bor-
derline-Störung, um Autismus oder um ein anderes Problem geht, zu den
wichtigsten Fragen zählt stets, ob der betreffende Mensch seinen Zustand
selbst regulieren kann. Wie ergeht es dem Betreffenden in einem bestimmten
Kontext, und weshalb ist es überhaupt erforderlich, etwas zu verändern?
96 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Nun zurück zu Ihrer Frage: Der Vagus tritt aus dem Hirnstamm aus, doch
im Grunde geht es nicht darum, den Vagus als jenen »herumschweifenden«,
im viszeralen Meer dahintreibenden Nerv zu verstehen, sondern sich ihn als
das vorzustellen, was er tatsächlich ist, nämlich eine Art Kabelkanal, durch
den zahlreiche Nervenfasern verlaufen.
Einige dieser Fasern entstammen einem bestimmten Gehirnbereich, an-
dere einem anderen, und sie alle haben je nach Ursprung unterschiedliche
Aufgaben. Einige geben Signale nach unten (in den Körper), doch die über-
wiegende Zahl der Signale fließt nach oben, ins Gehirn.
Ungefähr achtzig Prozent der Vagusfasern sind sensorisch und haben gro-
ßen Einfluß darauf, ob bestimmte Gehirnstrukturen zugänglich sind.
Die Polyvagal-Theorie verweist darauf, daß sich die Vagusfunktion im Lau-
fe der Evolution von der bloßen Regulation der inneren Organe zur Einbezie-
hung der Regulation der Gesichtsmuskeln hin verlagert hat. Im Zuge dieser
Veränderung der Vagusaktivität entwickelte das Nervensystem bestimmte
adaptive Funktionen. Als Säugetiere meiden wir den Kontakt zu einem Art-
genossen, der sich im physiologischen Zustand der Wut befindet.
Nähern wir uns einem anderen Menschen, wenn wir uns im physiologi-
schen Zustand der Wut befinden, reagiert der Betreffende mit Sicherheit de-
fensiv, und es kann sein, daß er uns dann verletzt. Wir Menschen wollen uns
sicher sein, daß ein anderer Mensch nichts dagegen einzuwenden hat, daß
wir uns ihm nähern.
Säugetiere übermitteln die entsprechenden Informationen durch ihren
Gesichtsausdruck und durch ihre stimmlichen Äußerungen - und die für
diese Funktionen zuständigen Muskeln sind mit dem myelinisierten Vagus
verbunden.
Nun kommen wir zur Beschreibung der verschiedenen Vaguspfade zurück,
und ich möchte noch eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit erwähnen:
Der eine Teil des Vagus ist für den Bereich oberhalb des Zwerchfells wichti-
ger, der andere für den Bereich unter dem Zwerchfell - und dem für den Be-
reich oberhalb des Zwerchfells zuständigen obliegt außerdem die neuronale
Kontrolle der Gesichtsmuskeln.
Erfüllt die neuronale Kontrolle der Gesichtsmuskeln ihre Funktion nicht -
oft wird dies »flacher Affekt« genannt und ist bei Menschen mit einer kli-
nischen Diagnose häufig zu beobachten -, sind meist auch die Muskeln im
Mittelohr betroffen, weshalb die Betroffenen auf Geräusche überempfindlich
Körper, Gehirn und Verhalten • 97

reagieren und was dazu führt, daß sie in den ersten Lebensjahren Schwierig-
keiten haben, ihre sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln - all dies hängt
mit dem myelinisierten Vagus zusammen.
Statt uns an den Kategorien des DSM-IV oder des DSM-s zu orientieren,
sollten wir uns fragen, welche Gemeinsamkeiten zwischen den unterschied-
lichsten klinischen Störungen bestehen. Offenbar ist in vielen Fällen die Zu-
standsregulation ein zentrales Problem - die Fähigkeit, den eigenen beha-
vioralen Zustand zu regulieren. Und mit dem Aspekt der Zustandsregulation
scheinen bestimmte Aspekte der neuromuskulären Steuerung der Gesichts-
muskeln verbunden zu sein. Die obere Gesichtshälfte ist dann ausdruckslos
und reaktionsunfähig, als hätte man das Gesicht mit Botox »verschönert«.
Erfüllen die Gesichtsmuskeln ihre Funktion nicht, leidet die betreffende Per-
son oft auch unter auditarischer Hypersensibilität und kann Stimmen nur
schwer von Hintergrundgeräuschen unterscheiden.
Die neuronale Regulation des Augenringmuskels (Musculus orbicularis
oculi) steht in enger Beziehung zu jener der Mittelohrmuskeln. Letztere sind
mit den kleinsten Knochen des menschlichen Körpers verbunden, und sie
entscheiden darüber, was mit der akustischen Energie der Geräusche und
Klänge geschieht, die das Trommelfell erreichen und durch das Innenohr
zum Gehirn übermittelt werden. Sind die Muskeln im Mittelohr nicht voll
funktionsfähig oder werden mit Hintergrundgeräuschen im niedrigen Fre-
quenzbereich bombardiert, können wir die menschliche Stimme nicht her-
ausfiltern. Aufgrund der Probleme, die dies für uns nach sich zieht, entfernen
wir uns oft aus der Situation, in der wir dies erleben.
Entscheidend ist jedoch, daß die Signale, die wir über unser Gesicht aus-
senden, ein authentischer Ausdruck unserer Physiologie sind - dessen, was
in unserem Körper vor sich geht. Auf diese Weise signalisieren wir unseren
Artgenossen, ob sie sich uns gefahrlos nähern können. Dazu sind selbst die
primitivsten Säugetiere in der Lage, weil Säugetiere diese Möglichkeit immer
gebraucht haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich über ein kleines Experiment be-
richten. Meine Frau, Sue Carter, ist die Wissenschaftlerin, die entdeckt hat,
wie wichtig das Hormon Oxytocin für die Entstehung sozialer Bindungen ist.
Sue und ich beschlossen, der Präriewühlmaus, die bei vielen ihrer Untersu-
chungen eine wichtige Rolle gespielt hat, ein Telemetrie-Gerät zu implantie-
ren, mit dessen Hilfe sich die Herzfrequenz des Tiers und seine stimmlichen
98 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Äußerungen messen ließen. So fanden wir heraus, daß die stimmlichen Äu-
ßerungen der Maus die Regulation ihres Herzens durch den Vagus spiegel-
te - im Grunde teilten die Tiere ihren Artgenossen mit, ob diese sich ihnen
gefahrlos nähern könnten.
Menschen tun im Grunde das gleiche: Sie nutzen den stimmlichen Aus-
druck, um anderen Menschen ihren aktuellen biologischen Zustand mitzu-
teilen, nicht ihre Kognitionen, sondern ihre Biologie - ob andere sich ihnen
nähern können, ohne sich in Gefahr zu begeben.
Nehmen wir an, es ist die Rede von sozialen Beziehungen, und wir sagen
über einen anderen Menschen beispielsweise: »Das ist ein ganz netter Kerl,
er hat gute Referenzen, und intelligent ist er auch - aber, wissen Sie, ich mag
ihn einfach nicht.« Offenbar gibt es Signale, an denen wir erkennen, daß es
nicht ungefährlich ist, sich in der Nähe eines Menschen, den wir neu ken-
nenlernen, aufzuhalten. Und eine der Möglichkeiten, dies festzustellen, mit
denen die Evolution unser Nervensystem ausgestattet hat, besteht darin, von
der Prosodie abzuleiten, ob wir die Aktivität unserer Defensivsysteme verrin-
gern können, ohne uns zu gefährden. Dies ermöglicht der neue myelinisierte
Vagus.

DR. BuczYNSKI: Vielen Dank, diese Ausführungen sind sehr nützlich.

Der Vagus und die kardiapulmonale Funktion

Sie haben auch viel über die kardiapulmonale Funktion und ihre Beziehung
zum Vagus gesagt bzw. geschrieben. Ich möchte Sie deshalb bitten, die hier-
für wichtigen Aspekte für uns zusammenfassen.

DR. PoRGES: Das Einfachste, was man darüber sagen kann, ist, daß Sauerstoff
für Säugetiere im allgemeinen und damit natürlich auch speziell für Men-
schen wichtig ist. Aber wie gelangt der Sauerstoff ins Blut? Das ist eine der
wichtigen Aufgaben, die der Vagus innerhalb des kardiavaskulären Systems
erfüllt. Er fördert die Verteilung des Sauerstoffs im Blut, indem er das Blut
durch die Lunge treibt, wodurch dessen Sauerstoffsättigung erhöht wird.
Wenn wir uns mit Clustern von Störungen beschäftigen - mit Bluthoch-
druck, obstruktiver und nicht-obstruktiver Apnoe, Diabetes und vielen ande-
Körper, Gehirn und Verhalten • 99

ren Problemen -, bestehen fast immer Komorbiditäten - was bedeutet, daß


der myelinisierte Vagus seine Funktion nicht erfüllt.
Nun findet man aus klinischer Sicht praktisch immer Korrelate - und
damit meine ich psychiatrische oder psychologische Korrelate - zu vielen
Störungen dieser Art, weil das System, das den myelinisierten Vagus regu-
liert- oder genauer gesagt, den myelinisierten Vagus im Nervensystem eines
Menschen-, auch stark auf soziale Signale aus der Umgebung reagiert.
Dies bringt uns zu einem Punkt, der wegen seiner großen Bedeutung be-
sonders hervorgehoben werden sollte: Der neuronale Schaltkreis der sozialen
Interaktion und des sozialen Engagements ist auch für die Förderung von
Gesundheit, Entwicklung und Genesung zuständig. Es geht nicht um zwei
verschiedene Arten von Störungen, zwei Arten von Krankheiten oder zwei
Disziplinen. Es geht nicht einerseits um innere Medizin und andererseits um
Psychologie und Psychiatrie, sondern um eine all dies umfassende Physiolo-
gie, die nicht nur Gesundheit, Entwicklung und Genesung, sondern auch die
soziale Interaktion fördert, um dem Individuum das Erleben von Sicherheit
zu ermöglichen.
Wir sind auf dieses Thema hier bisher nicht zu sprechen gekommen, aber
Sicherheit ist ein sehr wichtiger Aspekt. Brauchen die Defensivstrukturen ih-
re ursprüngliche Funktion nicht mehr zu erfüllen, können sie die dafür zu-
ständigen Schaltkreise Gesundheit, Entwicklung und Genesung unterstützen.
Für unser Nervensystem ist das Gefühl der Sicherheit das Allerwichtigste.
Wenn wir uns sicher fühlen, sind erstaunliche Dinge möglich. Dies gilt
nicht nur für soziale Beziehungen, sondern auch für den Zugang zu bestimm-
ten Gehirnbereichen und für Areale, die das Erleben angenehmer Gefühle
ermöglichen - Offenheit, Kreativität und ganz generell eine positive Haltung.

DR. BuczYNSKI: Welche Implikationen hat dies denn für Ihre Definition von
Streß?

DR. PORGES: »Streß« ist eines dieser merkwürdigen Wörter, die zu festen
Bestandteilen unseres Vokabulars geworden sind. Besonders verwirrend er-
scheint mir, daß wir mittlerweile von »gutem« und »schlechtem Streß« re-
den. Mir gefällt es gar nicht, dieses Wort zu benutzen.
Wenn wir von »Streß« reden, meinen wir im Grunde nichts anderes als
Mobilisierung, und Mobilisierung ist nicht immer »schlecht«, sondern ein
100 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

fester Bestandteil der Existenz von Säugetieren und damit auch von Men-
schen. Führt Mobilisierung nicht zu einem funktionalen Resultat, könnte
man von »maladaptiver Mobilisierung« sprechen, und vielleicht ist das mit
dem Begriff »Streß« gemeint. Nehmen wir einmal an, Sie lassen sich nicht
gern interviewen. In solchen Situationen verändert sich Ihre Physiologie, Ihr
Herz pocht schneller, und Sie wollen so schnell wie möglich aus der Situation
heraus, schaffen es aber nicht. Ihre Physiologie würde die Mobilisation un-
terstützen, doch Sie können diesen Impuls nicht umsetzen - und das wäre
maladaptiv.

Der sechste Sinn und die lnterozeption

DR. BuczYNSKI: Sie haben eine spezielle Vorstellung vom sechsten Sinn und
von der Interozeption .. .

DR. PoRGES: In der modernen westlichen Gesellschaft wird die Würdigung


körperlicher Empfindungen generell vernachlässigt, und körperliches Feed-
back wird oft nicht respektiert. Bezüglich der Entwicklung von Menschen in
einer stark strukturierten Gesellschaft wird immer wieder empfohlen: »Geh
nicht auf deine körperlichen Bedürfnisse ein. Bleib noch länger sitzen. Geh
jetzt nicht zur Toilette. Werde nicht hungrig.« Wir schalten die afferenten
Feedbackschleifen einfach ab.
Interozeption ist Respekt gegenüber dem Feedback, das unsere inneren
Organen unserem Gehirn übermitteln. Wenn wir Sinn und Zweck der In-
terozeption verstehen, wird uns auch klar, daß wir dieses Verständnis nutzen
können, um den Zugang zu verschiedenen Gehirnbereichen zu verbessern
und mehr Effizienz zu entwickeln.

DR. BuczYNSKI: Steht das in Beziehung zu den höheren zerebralen Prozes-


sen?

DR. PoRGES: Im Grunde ja. Können Sie mit starken Magenschmerzen kom-
plizierte kognitive Aufgaben gut erledigen?
Das Feedback unserer inneren Organe schränkt unsere Reaktionsfähigkeit
ein. Und unsere Kultur läßt uns dafür eigentlich keinen Raum. Sie versucht,
Körper, Gehirn und Verhalten • 101

mit diesem Feedback fertig zu werden, indem sie beispielsweise sagt: »Wenn
du Schmerzen hast, nimm eine Tablette, damit du die Schmerzen nicht mehr
spürst.«
Aber was ist, wenn unser Körper uns durch den Schmerz etwas mitzu-
teilen versucht? Wenn er uns etwas sagen will, uns helfen will oder uns über
etwas informieren will?
Interozeption ist ein sehr interessantes Konzept. Ich sehe eine enge Ver-
bindung zwischen Interozeption und dem von mir bevorzugten Konstrukt
Neurozeption - wobei ich erklären sollte, daß letztere die Beurteilung von
Gefahren in der Umgebung durch das Nervensystem bezeichnet.
Bei der Interozeption wie bei der Neurozeption spielt die Kognition keine
Rolle. Beide gelangen zum Ausdruck, und anschließend versuchen wir, eine
Erzählung zu entwickeln, die erklärt, warum etwas Bestimmtes geschehen ist.
Neurozeption funktioniert so: Sie lernen jemanden kennen, der intelligent
wirkt und attraktiv ist, aber aus irgendeinem Grund mögen Sie die Art, wie
dieser Mensch redet, nicht- seiner Stimme fehlt jede Prosodie, und sein Ge-
sicht ist völlig ausdruckslos.
Sie wissen zwar nicht warum, aber die Neurozeption Ihres Körpers hat so-
eben erklärt: »Das ist ein Raubtier oder ein Mensch, bei dem ich mich nicht
sicher fühle.« Anschließend entwickeln Sie eine persönliche Erzählung, die
dem, was Sie physisch empfunden haben, entspricht.

Die Beziehung zwischen uagalem Tonus und Emotionen

DR. BuczYNSKI: Ich möchte als nächstes gern über die Emotionsregulation
mit Ihnen sprechen. In welcher Beziehung steht der vagale Tonus zum Aus-
druck und zur Regulation von Emotionen?

DR. PoRGES: Das Wort »Emotion« bezieht sich auf viele verschiedene Arten
von Ausdruck und Gefühlen, für die unterschiedliche Systeme zuständig sind.
Zunächst einmal sind Emotionen grundsätzlich kompliziert, wie wir im-
mer wieder gern feststellen. Abgesehen davon sind Emotionen ein Konglo-
merat psychologischer Konstrukte.
Nicht alle Emotionen werden von der gleichen Art physiologischer Pfade
repräsentiert. Der stimmliche Ausdruck, der bei vielen Emotionen eine wich-
102 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

tige Rolle spielt, ist eng mit dem myelinisierten Vagus verbunden, insofern
der Gesichtsausdruck von den gestreiften Gesichts- und Kopfmuskeln regu-
liert wird, die vom gleichen Bereich im Gehirn aus gesteuert werden wie der
Vagus.
Verlieren wir die Kontrolle über den myelinisierten Vagus, verändert sich
das Spektrum der Emotionen, die auszudrücken wir in der Lage sind. Insbe-
sondere die obere Gesichtshälfte wird dann ausdrucksärmer, wohingegen der
Ausdruck der unteren Gesichtshälfte zu Übertreibungen neigt. Der Grund
hierfür ist, daß die untere Gesichtshälfte Bestandteil des alten Defensiv-
systems, des Kampf-/Flucht-Systems, ist und beim Beißen benutzt wird.
Neben der Beziehung zwischen der Vagusaktivität und den Emotionen
gibt es noch eine zweite Emotionen betreffende wichtige Dimension.
Die erste Dimension ist, wie bereits erwähnt, die Beziehung zwischen der
Regulation der gestreiften Gesichts- und Kopfmuskeln, dem stimmlichen
Ausdruck und der Vaguskontrolle.
Die zweite Dimension ist die Wechselwirkung zwischen Emotionen und
physiologischem Zustand. In Mobilisierungszuständen ist das Spektrum von
Emotionen, die Menschen ausdrücken können, stark eingeschränkt, denn in
einen Zustand der Mobilisierung können sie nur eintreten, indem sie die Ak-
tivität des myelinisierten Vagus verringern.
Ein Beispiel hierfür sind zwei Menschen, die interagieren, während sie sich
sehr schnell auf einem Laufband bewegen. Ihr physiologischer Zustand ver-
ändert sich dabei in Richtung einer stärkeren Aktivität des SNS, ihr emotiona-
les Ausdrucksspektrum wird eingeschränkt, und ihre Reaktionsschwelle sinkt.
Intuitiv dürfte Ihnen klar sein, daß das Ausdrucksspektrum deshalb einge-
schränkt wird, weil der aktuelle physiologische Zustand der beiden Personen
die Regulation des Gesichtsausdrucks und der Prosodie nicht unterstützt.
Wenn Sie mit Ihrem Partner oder einem Freund einen Streit beginnen
wollen, brauchen Sie nur jeden Gesichtsausdruck zu unterbinden - auf
nichts, was der andere sagt, zu reagieren. Wenn Sie einfach nur ausdruckslos
dreinschauen oder sich abwenden, ruft das im Körper des Kommunikations-
partners mit Sicherheit eine Reaktion hervor.

DR. BuczYNSKI: Wenn die Regulation durch den Vagus für die Emotionsre-
gulation tatsächlich so wichtig ist, müßte es bei einer Störung dieses Prozes-
ses zu affektiven Störungen kommen.
Körper, Gehirn und Verhalten • 103

DR. PoRGES: Oder zu Fehldeutungen von Absichten.


Wir können den Ausdruck des Gesichts unterbinden. Botox beispielsweise
schaltet insbesondere den Augenringmuskel aus und blockiert dessen Aus-
drucksfähigkeit.
Affekt kommt in der oberen Gesichtshälfte von Menschen zum Ausdruck.
Blockieren wir die Ausdrucksfähigkeit dieses Bereichs, kann es leicht zu
Fehldeutungen von Affekt kommen. Und wenn wir die Kontrolle des Her-
zens durch den Vagus blockieren, so führt das ebenfalls zu Problemen, denn
auch dadurch wird die Ausdrucksfähigkeit der oberen Gesichtshälfte beein-
trächtigt.
Die Einnahme von Medikamenten ruft ein anderes Problem hervor, weil
viele Medikamente cholinerge Pfade blockieren - und der Vagus ist ein wich-
tiger peripherer cholinerger Pfad. Somit können Medikamente den physiolo-
gischen Zustand und das emotionale Ausdrucksspektrum verändern.

Die Vagusbremse

DR. BuczYNSKI: Lassen Sie uns über die »Vagusbremse« sprechen: Was ist
sie, und was tut sie?

DR. PoRGES: Die Vagusbremse ist der Grund dafür, daß Sie und ich hier sit-
zen können, ohne das Gefühl zu haben, wir müßten im nächsten Moment
aus der Haut fahren.
Die Vagusbremse ist der myelinisierte Vagus, ein neuronaler Pfad, der
vom Hirnstamm zum Sinusknoten im Herzen verläuft und die Herzfrequenz
hemmt.
Wir vergessen oft, daß unser Herz ohne den Vagus zwanzig bis vierzig
Schläge pro Minute schneller schlagen würde. Unsere Herzfrequenz läge
dann bei über hundert Schlägen pro Minute. Der Sinusknoten fungiert für
das Herz als natürlicher Schrittmacher.
Der Vagus verlangsamt den Herzschlag und eröffnet uns dadurch sehr in-
teressante Möglichkeiten. Die Frequenz, die der Sinusknoten vorgibt, liegt
deutlich über unserer normalen Herzfrequenz. Wenn wir möchten, daß
unser Herz zehn- bis zwanzigmal pro Minute schneller schlägt, können wir
diese Vagusbremse einfach lösen. Dazu braucht das Sympathische Nerven-
104 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

system nicht stimuliert zu werden. Das SNS ist ein weniger effizientes System,
weil seine Reaktionsweise weniger konzentriert ist; indem wir es stimulie-
ren, können wir unter seinem Einfluß in einen Zustand starker Mobilisierung
oder sogar der Rage eintreten.
Alle Säugetiere verfügen über diese wunderbare Fähigkeit, die Herzlei-
stung zu erhöhen, um ihren Mobilisierungszustand zu optimieren, ohne daß
es dabei zur Aktivierung des SNS kommt. Um kleine Anpassungen dieser Art
vorzunehmen, brauchen wir nur die »Bremse« zu lösen.

DR. BuczYNSKI: Sie haben gesagt, daß Patienten mit einer Borderline-Per-
sönlichkeitsstörung Schwierigkeiten haben können, die Vagusbremse funk-
tionsfähig zu erhalten.

DR. PoRGES: Ja, das hängt mit der Neurozeption zusammen und damit, was
unser Körper entdeckt, wenn er Gefahren in der Umgebung einzuschätzen
versucht.

Neurozeption: Sich bedroht oder sicher fühlen

Aufgabe des Nervensystems ist es, bestimmte Umgebungsmerkmale zu er-


kennen. Das können beispielsweise akustische Merkmale oder auch gestische
und mimische Informationen sein, die das Nervensystem zu deuten versucht.
Da aber ein großer Teil dieser Deutung nicht auf der kognitiven Ebene statt-
findet, ist es nicht sinnvoll, bei diesem Vorgang von Perzeption zu sprechen.
Deshalb habe ich den Begriff Neurozeption eingeführt, der im Grunde be-
inhaltet, daß das Nervensystem ohne Mitwirkung des Bewußtseins Gefahren
einschätzt und dann versucht, ein neuronales System zu aktivieren, das dem
Kontext und der wahrgenommenen Gefahr entspricht.
Wenn wir eine Stimme mit ausgeprägter Prosodie hören oder wenn wir
uns in der Nähe eines Menschen aufhalten, der offen wirkt, lächelt und beim
Sprechen gut artikuliert, fühlen wir uns plötzlich sehr wohl und wollen dem
Betreffenden nahe sein. Die Hintergrundgeräusche verschwinden aus unse-
rem Gewahrsein, unser Interesse wird geweckt, und wir werden ruhig. Dies
alles bewirkt das System für soziales Engagement, das einen Zustand der Si-
cherheit signalisiert.
Körper, Gehirn und Verhalten • 10 5

Sehen wir uns hingegen einem Menschen gegenüber, der »abgehackt«


spricht, nur kurze Sätze formuliert und dessen Stimme nicht angenehm
klingt, reagiert unser Nervensystem darauf, indem unser Körper Distanz
sucht, weil er keine Anzeichen für Sicherheit entdeckt. Dies sind Beispiele für
die Wirkung der N eurozeption.
Viele Männer sprechen laut und mit tiefer Stimme, weshalb die meisten
anderen Menschen und sogar ihre Kinder nicht gern in ihrer Nähe sind. Die-
se Einschätzung entwickelt das Nervensystem unabhängig von der Kognition
mit Hilfe der Neurozeption.

DR. BuczYNSKI: Könnte man die Neurozeption als den physiologischen As-
pekt der Intuition bezeichnen?

DR. PoRGES: Das geht in die richtige Richtung. Neurozeption ist die physio-
logische Reaktion, die unser Nervensystem evaluiert. Und aufgrund dieser
Einschätzung entwickeln wir unsere persönliche Erzählung. Sie muß zu dem,
was wir erleben, passen, und manchmal ist sie völlig irrational: »Ich mag die-
sen Menschen (nicht).«, »Diese Person behandelt mich ziemlich schlecht.«,
»Ich besuche nicht gerne Einkaufszentren.«
Wir versuchen, unsere Erzählung als rational erscheinen zu lassen - eine
Reaktion, deren Sinn nicht gerade einleuchtet, als plausibel oder logisch dar-
zustellen.

DR. BuczYNSKI: So etwas erleben wir ziemlich oft, wenn wir Traumata be-
handeln. Es kommt aber auch bei allen möglichen anderen Problemen vor
und sogar in unseren eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen. Immer
geht es darum, »die Geschichte so zu erzählen, daß sie paßt.«

DR. PoRGES: Genau. Menschen, bei denen entweder eine defensive Mobili-
sierung oder ein Shutdown ausgelöst wird, entwickeln eine ausführliche Er-
zählung, die das Verhalten ihres Körpers in einem sinnvollen Licht erschei-
nen lassen soll.
Ebenso hat es Auswirkungen auf das Narrativ von Menschen, wenn sie
sich darüber im klaren sind, daß die Reaktion ihres Körpers ihre Sicht der
Welt einfärbt - daß ihr Wissen um diesen Zusammenhang ihnen hilft, ihr
Narrativ zu revidieren- daß sich dies also letztlich auf ihr Narrativ auswirkt.
106 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Nehmen wir einmal an, Sie haben sehr starke Bauchschmerzen. Würde
Ihnen in diesem Zustand die Gesellschaft anderer Menschen gefallen? Könn-
ten Sie trotz der Schmerzen andere unterstützen, für andere sorgen? Oder
würden Sie anderen aufgrund Ihrer Schmerzen als zermürbt und unleidlich
erscheinen? Mit Bauchschmerzen können Sie im Grunde nicht am sozialen
Austausch teilnehmen. Wird Ihr Nervensystem jedoch durch einen aktuellen
Kontext aktiviert, ohne daß Ihnen dies klar ist, geht es nicht um Bauchkrämp-
fe, sondern um etwas anderes. Sie fühlen sich plötzlich sehr gereizt. Würden
Sie in diesem Zustand die Schuld bei anderen suchen? Oder wären Sie bereit,
in Ihrer eigenen komplexen Welt nach dem Zusammenhang zu suchen?
Ich sage oft: Wenn unser Nervensystem uns im Stich läßt, suchen wir Zu-
flucht im Verhalten.
Wenn unser Nervensystem eine Gefahr oder Furcht erkennt, sind wir hof-
fentlich so klug, uns möglichst rasch aus der Situation zu entfernen, statt uns
Vorwürfe zu machen und uns zu zwingen, in dieser Umgebung zu bleiben.
Wenn wir klug sind und unser Wissen richtig nutzen, hören wir unserem
Körper zu. Wenn nicht, versagt unser Nervensystem uns den Dienst, und
wir flüchten ins Ausagieren. Ein Kind, das einen Wutanfall bekommt, »agiert
aus«. Ein reiferer Mensch hingegen versteht diese Systeme hoffentlich und
verfügt somit über Möglichkeiten, sich körperlich in einen angenehmeren
Zustand zu versetzen.
Während die meisten Menschen sich in Gegenwart eines anderen Men-
schen, den sie kennen, sicherer fühlen, kann das Auftauchen eines Unbe-
kannten ihr Nervensystem in einen Zustand der Unruhe versetzen und ihnen
das Gefühl vermitteln: »>ch muß hier raus. Ich traue diesem Kerl nicht. Ich
fühle mich nicht sicher.«
Ich komme nun zur Borderline-Problematik zurück. Die Neurozeption
von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung reagiert sehr ri-
goros. Ich möchte das anhand einer Metapher erklären.
Wenn wir eine Flugreise antreten wollen, müssen wir auf dem Flughafen
durch einen Metalldetektor gehen und werden von einem Mitarbeiter des
Sicherheitsdienstes befragt. Das Nervensystem von Menschen mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung arbeitet, als hätte es einen eigenen Sicher-
heitsdienst. Es evaluiert jeden persönlichen Kontakt und trifft aufgrund des-
sen eine Entscheidung, die letztlich auf »Komm an Bord« oder »Du darfst
nicht an Bord« hinausläuft.
Körper, Gehirn und Verhalten • 107

Wollen wir hundertprozentig sicher sein, daß sich in einem Flugzeug kein
Terrorist befindet, muß der Sicherheitsdienst praktisch allen Passagieren die
Mitreise verweigern. Sitzt jemand im Flugzeug, ist ein Terrorangriff auf das
Flugzeug grundsätzlich nicht ausgeschlossen - um das aber auszuschließen,
könnte dann auch niemand fliegen. Einige Menschen schätzen die Gefahren,
die ihnen drohen könnten, als so gravierend ein, daß sie niemanden in ihre
Nähe lassen.
Nehmen wir nun einmal an, die Neurozeption eines Menschen mit Bor-
derline- Persönlichkeitsstörung ist auf einen sehr niedrigen Schwellenwert
eingestellt. Das bedeutet: »Wenn jemand auch nur irgendein verdächtiges
Merkmal aufweist, darf er nicht an Bord; in diesem Fall reagiere ich auf den
Betreffenden und entferne mich von ihm.«
Bei Menschen mit einer Borderline-Störung aktivieren Umgebungssigna-
le, die von den meisten anderen Menschen als harmlos eingeschätzt werden,
Defensivreaktionen.

DR. BuczYNSKI: Wohin würde es uns führen, diese Idee weiterzuverfolgen?

DR. PoRGES: Nehmen wir zunächst einmal an, wir würden das soeben Be-
schriebene nur verstehen - also keine Intervention entwickeln.
Würden wir Patienten und Therapeuten über die beschriebenen Zusam-
menhänge informieren, könnte schon allein das die Reaktionsweise der Be-
troffenen verändern. Sobald ihnen klar wird, was sie tun, ist schon eine wich-
tige Veränderung eingetreten - die Top-down-Regulation gewinnt dann an
Bedeutung.
Ich werde nun ein wenig über Traumata sprechen, bevor wir zur Border-
Hne-Störung zurückkehren.
Ich halte oft Vorträge für Therapeuten, die mit Traumatisierten arbeiten.
Meist versuche ich ihnen zu vermitteln, daß sich der Körper von Traumati-
sierten, indem er auf bestimmte Arten reagiert, im Grunde geradezu hero-
isch verhält. Er hilft ihnen, rettet uns, läßt sie also nicht im Stich- und damit
tut er etwas Besonderes.
Das Problem ist, daß wir, wenn unser Körper etwas Besonderes tut - in-
dem er beispielsweise eine Shutdown-Reaktion initiiert-, über das betreffen-
de Ereignis nicht so leicht hinwegkommen. Meist gelingt das zwar, aber nicht
aufgrund einer Willensentscheidung, sondern eher aufgrund eines Reflexes .
108 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

Ich empfehle den Traumatherapeuten, zu denen ich spreche, mit ihren Kli-
enten über all die wunderbaren Dinge zu reden, die ihr Körper getan hat, um
ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.
Sie müssen sich darüber klar werden, wie wichtig es für sie war, sich sicher
zu fühlen - schließlich hatten sie Entsetzliches überlebt. Sie mußten nun ler-
nen, sich selbst wie Heldinnen oder Helden zu behandeln.
Nachdem die Therapeuten später zu Hause mit ihren Klienten geredet ha-
ben, erhalte ich oft eMails von ihren Klienten. Sie schreiben mir Dinge wie:
»Nachdem ich dies verstanden hatte, beschuldigte meine persönliche Erzäh-
lung meinen Körper nicht mehr, mir soziale Kontakte zu erschweren. Ich
war nun stolz darauf, was er für mich getan hatte, und plötzlich ging es mir
besser.«
Verschiedene therapeutische Ansätze nutzen Elemente der Exposition, um
Patienten gegenüber Reizen, die Traumareinszenierungen auslösen können,
zu desensibilisieren. Diese behavioral orientierte Sicht mißversteht die Rol-
le des physiologischen Zustandes und des Defensivzustandes von Klienten.
Aufgrund des physiologischen Zustandes des Klienten vermögen Desensibi-
lisierungsverfahren die Reaktivität nicht zu dämpfen, sondern sie verstärken
die Sensibilität gegenüber den mit dem traumatischen Ereignis assoziierten
Reizen sogar. Statt die Defensivsysteme mit Traumareizen zu konfrontieren,
müssen wir sie durch Top-down-Einflüsse dämpfen. Statt Defensivreaktio-
nen heraufzubeschwören, müssen wir uns vergegenwärtigen, daß unser Kör-
per sehr gut für uns gesorgt hat, weshalb wir stolz auf ihn sein sollten, statt
uns seiner zu schämen. Aufgrund der in eine neue persönliche Erzählung
eingebetteten Top-down-Einflüsse kann es zur Transformation kommen.
Wenn man eine niedrige Schwelle für Defensivreaktionen als für Border-
Hne-Störungen charakteristisch ansieht, könnte man bei ihnen ähnlich ver-
fahren.
Den Krankengeschichten von Borderline-Patienten ist zu entnehmen, daß
das Zusammentreffen traumatischer Erlebnisse mit der Borderline-Störung
und mit anderen Unannehmlichkeiten das Nervensystem der Betroffenen in
einen Zustand versetzt, in dem es ihnen als sinnvoll erscheinen muß, sich wie
der Sicherheitsdienst im Flughafenbetrieb zu verhalten und zu sagen: »Nie-
mand setzt einen Fuß in dieses Flugzeug.«
Dieses Verhalten ist im Grunde eine adaptive Reaktion. Die Betroffenen
können auf die Tatsache, daß sie überlebt haben, stolz sein, und sie können
Körper, Gehirn und Verhalten • 109

ihre Schwierigkeiten sehen, ohne auf sich wütend oder über sich enttäuscht
zu sein.

DR. BuczYNSKI: Das erinnert mich ein wenig an die aktuellen wissenschaft-
lichen Untersuchungen über Mitgefühl, die zeigen, daß Mitgefühl und
Selbstmitgefühl einen starken Einfluß auf Verhaltensänderungen sowie auf
Depression und Angst haben. Ich könnte mir vorstellen, daß die von Ihnen
empfohlene Art des Erklärens das Selbstmitgefühl von Patienten stärkt und
ihr Gehirn in einen völlig anderen Zustand versetzt.

DR. PoRGES: Im Grunde geht es darum, das Gehirn in einen Zustand der Si-
cherheit zu versetzen. Wir können noch einen Schritt weitergehen und die
Achtsamkeit in unsere Überlegungen einbeziehen. Und wenn es um Acht-
samkeit geht, ist oft vom Urteilen und Nicht-Urteilen die Rede. Im Zustand
des Nicht-Urteilens brauchen wir keine Defensivsysteme. Das Urteilen ent-
springt immer einer Defensivhaltung, und indem wir urteilen und insbeson-
dere über uns selbst urteilen, aktivieren wir die biologischen Äquivalente ei-
ner Defensivhaltung.

DR. BuczYNSKI: Wenn Sie es so formulieren, wird klar, worum es geht.

Das Streben nach neuartigen Erlebnissen: Unterschiede


zwischen mammalischen und reptilischen Reaktionen
Ich würde gern noch ein wenig über neuartige Ereignisse mit Ihnen reden.
Sie haben gesagt, zwischen den Reaktionen von Säugetieren und Reptilien
auf neuartige Ereignisse gebe es einen wichtigen Unterschied. Säugetiere
richteten ihre Aufmerksamkeit auf solche Ereignisse und kommunizierten
darüber, während Reptilien weniger stark darauf reagierten.

DR. PoRGES: Säugetiere mögen Neues, aber nur, wenn sie diesem Neuen in
einer sicheren Umgebung begegnen.
Denken Sie an Hundewelpen oder Kätzchen oder auch an Rattenjunge:
Wenn man sie beobachtet, sieht man, daß sie spielen; Neues zu entdecken
und sich von der Mutter zu entfernen sind dabei wichtige Aspekte. Taucht
11 Ü • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

aber eine potentielle Gefahr auf oder bekommen die Tierkinder Angst, keh-
ren sie sofort zur Mutter zurück und treten in sozialen Kontakt zu ihr. Das ist
paradox und dialektisch.
Denn diejenigen, die kühn genug sind, Neues zu erkunden, sind gleichzei-
tig besonders gut in der Lage, in die Sicherheit zurückzukehren.
Ich bin nicht der Meinung, daß Menschen, die ständig auf der Suche nach
Neuern sind, dies nur um seiner selbst willen tun. Kühne Denker sind meist
bereit, Risiken einzugehen. Sie begegnen neuartigen Situationen nicht unsi-
cher. Außerdem haben sie meist starke soziale Unterstützungsnetzwerke und
halten die Risiken, die sie eingehen, nicht für lebensbedrohlich.
Die Umgebung und die sozialen Strukturen, die wir schaffen, können ein
idealisiertes mammalisches Modell oder ein reptilisches Modell nachah-
men. Ein reptilisches Modell führt zu Isolation und ist der Kühnheit eher
hinderlich. Ein mammalisches Modell hingegen wirkt befähigend auf andere
Menschen, kreiert eine auf Gemeinsamkeit hin orientierte Umgebung, bringt
mehr Empathie auf und sorgt stärker für andere.

DR. BuczYNSKI: Das leuchtet mir zwar ein, aber nach meiner Auffassung gibt
es einen Menschentyp, der zu stark auf die Suche nach immer Neuern fixiert
ist und der einer Art Zwang unterliegt, sich ständig in Gefahr zu begeben.

DR. PoRGES: Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Vielen Menschen
kann man helfen, ein Modell optimaleren Verhaltens zu entwickeln, aber eini-
ge Aspekte des Strebens nach Neuern sind auch kennzeichnend für soziapa-
thisches Verhalten und für andere störungsspezifische Verhaltensformen. Der
Unterschied zwischen dem einen und dem anderen kann zumindest darin be-
stehen, daß gesünderes Verhalten es zuläßt, andere Menschen einzubeziehen.
Wenn man auf der Suche nach neuartigen Erlebnissen einen Bungee-
Sprung wagt, besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Sprung mit
einem Freund, bei dem beide einander anschauen, während sie in die Tiefe
sausen, oder einem Tandemsprung mit dem Fallschirm und dem isolierten
Streben eines Einzelnen nach immer Neuern mit dem Ziel, immer wieder die
Immobilisierungsreaktion des eigenen Nervensystems zu aktivieren.

DR. BuczYNSKI: Ihre Beobachtung, daß Menschen, die kühn und ständig auf
der Suche nach neuartigen Erlebnissen sind, gleichzeitig auch am effiziente-
Körper, Gehirn und Verhalten • 111

sten zurück in die Sicherheit zu gelangen verstehen, erinnert ein wenig an


das, was wir über Traumata und den Weg aus dem traumatisierten Zustand
wissen.

DR. PoRGES: Traumatisierte suchen gerade nicht ständig nach neuartigen Er-
lebnissen, und sie sehen keinen Weg zurück in die Sicherheit. Ich schlage vor,
daß wir uns an diesem Punkt ein wenig mit dem Spiel beschäftigen, weil ich
glaube, daß uns das hier weiterhilft.

Spiel

Spiel verbindet bestimmte Aspekte unserer Defensivsysteme mit dem System


für soziales Engagement: Wir befinden uns beim Spiel im Zustand der Mobi-
lisierung, ohne einander zu verletzen.
Entscheidend beim Spiel ist der Blickkontakt. Die Beteiligten geben einan-
der Signale, und wenn Blickkontakt nicht möglich ist, benutzen sie ihre Stim-
men, um zu kommunizieren. Sie signalisieren einander, daß es nicht gefähr-
lich ist, mit ihnen zusammen zu sein. Dies ist bei sehr vielen Säugetierarten
zu beobachten.
Wenn wir nicht spielen und keinen Blickkontakt halten, können wir ein-
ander leicht verletzen. Das kann man auf Spielplätzen beobachten, wo es im-
mer Kinder gibt, mit denen niemand spielen will - häufig Kinder mit einer
Zustandsregulationsstörung (state regulation disorder). Sie treten in den Zu-
stand der Mobilisierung ein, wenn andere in sozialen Kontakt treten, und sie
verletzen andere Kinder. Sie wollen das zwar nicht, nehmen andere aber nicht
wahr und deuten deren soziale Signale nicht richtig. Aus diesem Zustand
könnten sie sich mit Hilfe bestimmter Aspekte des Spiels befreien, die die
Mobilisierung nutzen. Infolge der Regulation der Mobilisierung kann dann
das System für soziales Engagement in Aktion treten.
Lange herrschte die Auffassung vor, Spiel diene dem Einüben der Fähigkeit
zu kämpfen und zu fliehen, und tatsächlich können wir ein solches Training
bei kleinen Tieren beobachten. Man könnte aber auch der Auffassung sein,
bei diesem Spiel gehe es gar nicht um das Jagen oder Kämpfen, sondern um
die Entwicklung der Zustandregulationsfähigkeit: Die Jungtiere widmen sich
einer neuronalen Übung, die es ihnen später ermöglicht, in Anwesenheit von
112 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Artgenossen in den Zustand der Immobilisierung ohne Furcht einzutreten.


Die neuronale Übung schult die Fähigkeit, zwischen verschiedenen physiolo-
gischen Zuständen (sozialem Engagement, Mobilisierung und Immobilisie-
rung) zu wechseln und so die Resilienz zu fördern.
Kätzchen und Hundewelpen suchen beim Spiel ständig Blickkontakt und
fühlen sich aufgrund dessen sicher genug, sich im Schlaf an ihre Wurfge-
schwister zu kuscheln. Sie spüren, daß das nicht gefährlich ist, und sie benut-
zen die mimische Kommunikation zur Eingrenzung der Mobilisierung.
In unserer Kultur wird Spiel oft mit Computerspielen gleichgesetzt, die
keine Mobilisierung erfordern, und isoliertes Training wird mit Spiel ver-
wechselt. Beim Training spielt Blickkontakt kaum eine Rolle; es gleicht eher
jenem physiologischen Zustand, der Kampf-/Flucht-Verhalten fördert, an
dem das System für soziales Engagement nicht beteiligt ist.

DR. BuczYNSKI: Wenn der vagale Tonus die Regulation des Körpers bei star-
kem Streß ermöglicht, könnte der Vagus den Körper dann sogar schädigen,
insbesondere während eines traumatischen oder beunruhigenden Erlebnis-
ses?

DR. PoRGES: Bei der Formulierung der Polyvagal-Theorie ist es mir ein be-
sonderes Anliegen, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß es keine guten
oder schlechten, sondern nur adaptive Reaktionen gibt. Wir müssen heraus-
finden, ob bestimmte adaptive Reaktionen dem Kontext gerecht werden oder
nicht - wodurch diese Reaktionen einen Großteil dessen verlieren, was ich
»Moralfassade« nenne.
Viele Menschen glauben, ihr Nervensystem sei nach einem traumatischen
Erlebnis nicht mehr zu sozialem Austausch in der Lage, und mit ihnen sei et-
was nicht in Ordnung, statt daß sie sich um ein Verständnis der wunderbaren
adaptiven Strategien bemühen, die ihr Körper entwickelt hat, um mit dem
traumatischen Erlebnis fertig zu werden.
Allerdings ist Ihre Frage, ob der Vagus »schädigen« kann, aus einem ande-
ren Grund interessant. Tatsächlich kann der (ältere) Vagusteil unterhalb des
Zwerchfells die Verdauungsprozesse stören. Er kann viele klinische Sympto-
me hervorrufen und die Betroffenen zwingen, einen Internisten aufzusuchen.
Wenn wir uns die klinischen Symptome von Menschen mit einer Trauma-
vorgeschichte anschauen, finden wir viele Probleme, die den Bereich unter-
Körper, Gehirn und Verhalten • 113

halb des Zwerchfells betreffen, darunter Fettleibigkeit, Verdauungsstörungen


und neurophysiologische Probleme.

DR. BuczYNSKI: Bitte erläutern Sie das noch einmal. Wie genau könnte der
Vagus daran beteiligt sein?

DR. PoRGES: Unseren bisherigen Erklärungsmodellen fehlte der Hinweis,


daß der alte, nicht myelinisierte Vagus als Defensivsystem fungieren kann.
Das kann man im Sinne von Immobilisierungsverhalten verstehen - das sich
in Form von Ohnmacht oder Dissoziation niederschlägt -, doch diese Sicht
vernachlässigt, daß im Falle einer Immobilisierungs- oder Shutdown-Reakti-
on der Vagusnerv sehr aktiv bleibt und beispielsweise Verdauungsprobleme
und andere Störungen im Bereich der Bauchorgane verursachen kann. Viele
neurophysiologische Probleme, die den allgemeinen Gesundheitszustand be-
einträchtigen, können auf diese Weise hervorgerufen werden.
Die neuronale Regulation des alten Vagus könnte bei der Entstehung vieler
physischer Symptome wie Reizdarm und Fettleibigkeit eine Rolle spielen.
In den 1950er Jahren unterbrach man bei bestimmten Arten von gastri-
schen Problemen operativ die Vagusleitung zum Magen. Das war damals
gängige medizinische Praxis: Reagierte der Vagus zu stark, trennte man ihn
ab. Das macht man heute nicht mehr.

DR. BuczYNSKI: Was bewirkte das Durchtrennen des Vagus? Welche unbe-
absichtigten Nebenwirkungen verursachte diese Operation?

DR. PoRGES: Sie erwies sich als keineswegs so wirksam, wie man es sich er-
hofft hatte, und soweit mir bekannt ist, hat nie jemand untersucht, wie sich
das Durchtrennen desNervsauf die Persönlichkeit der Operierten oder auf
ihre Fähigkeit zur psychischen Regulation auswirkte. Durchtrennt wurden ja
nicht nur die motorischen Komponenten des Nervs, sondern auch die senso-
rischen Komponenten des älteren Vaguszweigs.
Ein medizinisches Modell beinhaltet immer: »Ich habe ein Zielorgan, das
dysfunktional reagiert. Also bringe ich dieses Organ in Ordnung. Wenn es
übertrieben stark reagiert, muß ich seinen neuronalen Einfluß blockieren.«
Das macht man heute mit Medikamenten, früher versuchte man es mit Hilfe
von Operationen.
114 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Eine intelligentere Strategie bestünde darin, das neuronale Feedback die-


ser Systeme zu erforschen und so herauszufinden, daß die Reaktionen eine
adaptive Funktion haben.

DR. BuczYNSKI: Das entspricht natürlich Ihrer Art, über Gesundheit und
Krankheit nachzudenken- den funktionalen Aspekt in den Vordergrund zu
stellen. Medikamente einzusetzen ist sicher etwas intelligenter, als den Va-
gusnerv zu durchtrennen, aber ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie die Auffas-
sung vertreten, daß die beste Möglichkeit in jedem Fall darin besteht, sich
mit der Funktion eines Vorgangs auseinanderzusetzen.

DR. PoRGES: Nach meinem persönlichen Erlebnis mit dem MRI-Scanner,


meiner Panikreaktion, ist mir klar, daß der temporäre Einsatz von Medika-
menten in akuten Fällen sehr nützlich sein kann, weil er Menschen ermög-
licht, in einem bestimmten Kontext funktionsfähig zu bleiben, obwohl eine
Komponente des Nervensystems nicht richtig oder nur eingeschränkt ihre
Funktion erfüllt.

DR. BuczYNSKI: Aber das ist doch nur in Fällen wie dem möglich, daß je-
mand ausnahmsweise einmal einen MRI-Scan durchführen lassen muß.
Wenn Sie im 25. Stock eines Gebäudes arbeiten und jeden Tag den Aufzug
dorthin benutzen müssen und das nur können, wenn Sie Medikamente ein-
nehmen .. .

DR. PoRGES: Sie beschreiben einen Teil unserer Gesellschaft. Es gibt Men-
schen, die Beta-Blocker einnehmen, um mit Ängsten fertig zu werden, um
in der Öffentlichkeit sprechen oder einen Aufzug benutzen zu können. Sie
greifen zu solchen Hilfsmitteln, ohne sich darüber klar zu sein, daß sie da-
durch einen Teil ihres Nervensystems lahm legen, den wir für die Adaptation
brauchen.
Beta-Blocker lähmen einen Teil des SNS. Wie kompensieren wir das? Oft
durch Verringerung des vagalen Einflusses. Die Kompensation besteht also
darin, etwas wegzunehmen.
Körper, Gehirn und Verhalten • 115

Der Vagus und dissoziatiue Zustände


DR. BuczYNSKI: Sie hatten angekündigt, etwas über dissoziative Zustände zu
sagen- über den Vagus und über seine Beziehung zu dissoziativen Zustän-
den. Vielleicht können wir uns jetzt diesem Thema zuwenden.

DR. PoRGES: Das ist für miCh noch ziemliches Neuland, aber im Grunde ler-
nen wir ja ständig dazu und versuchen, neue Bereiche zu erforschen und zu
verstehen.
Mir war lange nicht klar, wie verbreitet dissoziative Zustände bei Men-
schen sind und was dabei vor sich geht, insbesondere bei Traumatisierten.
Ich fange nun an, mich in verschiedener Hinsicht damit zu beschäftigen.
Zunächst geht es um den Auslöser der Dissoziation und um deren Verbin-
dung zu älteren adaptiven Reaktionen - letztlich wird da ein sehr alter repti-
lischer Vagusschaltkreis eingeschaltet.
Dieses Einschalten führt zur Verlangsamung des Herzschlags. Was ge-
schieht bei Säugetieren, wenn sie dies tun? Der Blutkreislauf wird verlang-
samt, die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn verringert, und auch die kognitive
Funktion verändert sich. Weiterhin müssen wir uns mit dem Zustand des
Nervensystems nach dem auslösenden traumatischen Ereignis beschäftigen.
In welchem Zustand befindet es sich? Und was tut es? Nutzt es den dissozia-
tiven Zustand fortan häufiger - verändert sich die Schwelle, bei deren Über-
schreiten dieser Zustand eintritt?
Die wichtigste Frage lautet natürlich: Wie kommen wir aus dem dissoziati-
ven Zustand wieder heraus? Diese Frage zu beantworten ist sehr wichtig.
Ich halte die bisherigen Verständnismodelle für sehr beschränkt. Alle älte-
ren Modelle der Traumabehandlung sind behavioral orientiert - es handelt
sich um Desensibilisierungsmodelle, Visualisationstechniken und kognitiv-
behaviorale Therapiemodelle. Nicht benutzt wurde bisher ein Modell, das
dem des Hervorrufens einer Geschmacksaversion sehr stark ähnelt: ein One-
Trial-Konditionierungsmodell, bei dem etwas assoziiert wird und anschlie-
ßend als Trigger fungiert, der uns in einen bestimmten physiologischen Zu-
stand versetzt.
Auch bei der Geschmacksaversion spielt der sub-diaphragmatische Va-
gus - der alte Reptilienvagus - eine entscheidende Rolle.
116 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Die Geschmacksaversion ist insofern eine adaptive Reaktion, als sie bei-
spielsweise vor Vergiftungen schützen kann, ebenso wie Immobilisierung
und Dissoziation adaptiv wirken, wenn Menschen mißbraucht, mißhandelt
oder verletzt werden.
Ich beschäftige mich im Moment mit dem möglichen Nutzen von Strate-
gien, die in den 1930er und 1940er Jahren diskutiert wurden und die auf dem
Konzept des One-Trial-Learning basieren. Allerdings interessiert mich das
One-Trial-Learning nur im Hinblick auf Prozesse, die den Subdiaphragmati-
schen Vagus betreffen.
Ich suche in der Literatur nach Berichten über Tierexperimente, bei denen
man Resultate von One-Trial- Learning und Geschmacksaversion rückgängig
zu machen versuchte. Das interessiert mich wirklich brennend, aber meine
Bemühungen haben noch nicht zu konkreten Ergebnissen geführt.
Ich bin aber davon überzeugt, daß in der Literatur über solche Experimente
einige Hinweise darauf zu finden sind, wie man bei Menschen traumabeding-
te Defizite abschwächen und ihnen zu einem adaptiveren sozialen Verhalten
verhelfen kann. Entsprechende Anhaltspunkte sind aller Wahrscheinlichkeit
nach mit der Erkenntnis verbunden, daß viele Merkmale von Traumata auf
der adaptiven Reaktion des sub-diaphragmatischen Vagus beruhen.

DR. BuczYNSKI: Stephen, wie sind Sie auf diesen Gedanken gekommen?
Was hat Sie dazu veranlaßt, diese Richtung einzuschlagen?

DR. PoRGES: Bei alldem geht es um Immobilisierung, und nach meiner Mei-
nung verhält es sich damit genauso wie mit dem Vagusparadox. Ganz gleich,
ob wir vom »Vagus« oder von »Verhalten« sprechen, wenn wir solche Worte
nicht hinterfragen, schränken wir dadurch unsere Handlungsfähigkeit sehr
stark ein. Dekonstruieren wir die Prozesse hingegen, erkennen wir allmäh-
lich, daß sich unter der Oberfläche verschiedene Dinge verbergen.
Schauen wir uns also bestimmte Arten des Lernens einmal genauer an:
Wer in den späten 196oern die Graduate School besucht hat, wurde dort mit
der Erwartung konfrontiert, daß theoretische Modelle für den Bereich der
Psychologie behavioral orientiert sein müßten und daß man mit Modellen,
die für das operative Verhalten von Fingern, Händen und Gliedmaßen ent-
wickelt wurden, auch die Vorgänge im Körper und in den inneren Organe
darstellen und beeinflussen kann.
Körper, Gehirn und Verhalten • 117

Heute müssen wir die damalige Auffassung revidieren und uns eingeste-
hen, daß die Forscher in jener Zeit einen schweren Fehler machten, indem
sie die neuronale Regulation der inneren Organe so verstanden, als unterlä-
gen sie den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie das bewußte operative Verhal-
ten. Als den Wissenschaftlern klar wurde, daß es zwischen beiden Bereichen
erhebliche Unterschiede gab, verloren sie das Interesse an der Kontrolle der
inneren Organe, und damit flohen sie praktisch vor dem Problem.
Eine Disziplin mit Namen Biofeedback versucht, durch Anwendung von
Prinzipien des Lernens und der Konditionierung die neuronale Regulation
des Herzens und anderer Organe zu verbessern. Mittlerweile erheben die
Vertreter dieses Ansatzes nicht mehr den Anspruch, die neuronalen Pfade
unmittelbar zu beeinflussen. Sie sprechen nicht einmal mehr darüber. Es geht
ihnen nur noch sehr global um die Verbesserung der Gesundheit und der
allgemeinen Funktionsfähigkeit.
Zu Beginn der Entwicklung von Biofeedback und operanter Konditio-
nierung physiologischer Aktivität versuchte man zu erklären, wie sich die
inneren Organe, die aus glatten und kardialen Muskeln bestehen, ohne
Mitwirkung der Skelettmuskulatur beeinflussen lassen. Benutzt man Skelett-
muskeln, wirken sie indirekt auf den autonomen Zustand ein. In den frühen
1970ern diskutierte man auch die Frage, ob Prinzipien operanten Lernens das
Herz beeinflussen könnten, ohne daß die Skelettmuskeln daran beteiligt wä-
ren. War das Gehirn in der Lage, mit Hilfe eines Lernparadigmas direkt das
Herz zu beeinflussen? Dies nachzuweisen gelang den Wissenschaftlern da-
mals nicht- ihre Untersuchungsergebnisse konnten nicht repliziert werden.
Man hatte sich nicht gründlich genug mit den Gesetzen des Lernens unserer
inneren Organe beschäftigt.
Ich halte dies für sehr wichtig, insbesondere wenn es um die Auseinan-
dersetzung mit Traumata und um jede Art von physiologischen Konsequen-
zen eines einmaligen Ereignisses geht. Traumata lehren uns etwas Wichtiges
über adaptive Reaktionen, das undeutlich wird, wenn wir über PTBS zu re-
den beginnen und wenn wir klinische Diagnosen benutzen, die mit einem
festen Kanon von Merkmalen in Verbindung gebracht werden. Denn eini-
ge der Menschen, denen solche Diagnosen gestellt wurden, haben nie eine
Shutdown-Reaktion erlebt, andere hingegen schon. Beobachtungen dieser
Art legen nahe, daß einige Reaktionen auf traumatische Ereignisse stark mo-
bilisierte, defensive und angstgetriebene reaktive Verhaltensweisen sind -
118 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

wohingegen andere die Form eines Zustandes völliger Immobilisierung an-


nehmen.
Nach meiner Auffassung müssen wir uns bemühen, die Reaktionen zu ver-
stehen - um Diagnosen nicht aufgrund der Ereignisse, sondern aufgrund der
ursprünglichen Reaktionen auf sie st~llen zu können.

DR. BuczYNSKI: Sie haben von einem Ansatz gesprochen, der sich für die
Behandlung eines einmaligen traumatischen Erlebnisses eignet ...

DR. PoRGES: Die Behandlung eines einmaligen Ereignisses, das ein Trauma
verursacht hat, unterscheidet sich mit Sicherheit von der Behandlung eines
Traumas, das durch eine Folge von Ereignissen entstanden ist.
Bei der Auseinandersetzung mit einem einmaligen traumatischen Ereig-
nis müssen wir uns andere Fragen stellen, als wenn es um eine traumatische
Ereignisfolge geht. Wir sollten uns in jedem Fall bemühen, von Klienten sehr
detaillierte Berichte über ihre Reaktionen zu bekommen. Das ist in jedem
Fall wichtiger als eine akribische Schilderung des traumatischen Ereignisses.
Wir müssen mehr Informationen darüber erhalten, was tatsächlich mit
den Klienten geschehen ist, ob sie ohnmächtig geworden sind, oder ob sie dis-
soziiert oder Phantasien entwickelt haben - was zum betreffenden Zeitpunkt
und danach geschah.
Anschließend können wir ein Interventionsmodell entwickeln, das dem-
jenigen, worüber wir in Zusammenhang mit One-Trial-Learning und Ge-
schmacksaversion gesprochen haben, sehr stark ähnelt - ein Modell, das das
Nervensystem aus seinem Teufelskreis zu befreien vermag.
Die Strategie, auf die ich persönlich momentan setze - was nicht heißt,
daß sie in jedem Fall die richtige ist -, besagt, daß man einen Menschen aus
diesem Zustand befreien kann, sofern man auf das System für soziales Enga-
gement zurückgreifen kann, indem man die Prosodie oder eine sichere Um-
gebung nutzt.
Unser System für soziales Engagement in Verbindung mit dem myelini-
sierten Vagus - unser Gesicht, unsere Stimme, unsere Fähigkeit, Aspekte der
Prosodie zu nutzen - ermöglicht uns, den eigenen physiologischen Zustand
ebenso wie den physiologischen Zustand anderer zu verändern. Funktional
erschließt uns das System für soziales Engagement neue Möglichkeiten der
Intervention und Behandlung. Und wenn wir es schaffen, den physiologi-
Körper, Gehirn und Verhalten • 119

sehen Zustand so zu verändern, daß er sich mit der Shutdown-Reaktion nicht


mehr vereinbaren läßt, können wir den betroffenen Menschen aus diesem
Zustand befreien.
Die erfolgreichsten Traumatherapeuten versetzen ihre Klienten in die La-
ge, sich in einem Zustand der Sicherheit zu bewegen und darin zu navigieren.
Wenn wir einen Klienten dazu bringen können, sich mit seiner Sicherheit
zu beschäftigen, ist er von seinem Defensivsystem und dessen Fähigkeit zur
Erstarrung oder zur Mobilisierung nicht mehr abhängig.

Single-Triai-Learning

DR. BuczYNSKI: Sie haben mehrfach das Single-Trial-Lernen erwähnt, und


ich möchte Sie bitten zu erläutern, was genau es damit auf sich hat.

DR. PoRGES: Das am häufigsten erwähnte Beispiel für Single-Trial-Learning


ist das der Geschmacksaversion. Als dieses Modell getestet wurde, erhiel-
ten die Probanden Strahlenbehandlungen, anschließend aßen sie bestimmte
Speisen, und das Resultat war, daß sie diese Speisen nie mehr essen konnten,
weil ihnen infolge der Strahlenbehandlung schlecht wurde. Die Übelkeit wird
natürlich durch den nicht myelinisierten Vagus hervorgerufen.
Nun interessierte mich die Frage, wie es den Wissenschaftlern gelang, ihre
Probanden von dieser Reaktion wieder zu befreien.
Grundsätzlich verhält sich ein Mensch im Falle einer Shutdown-Reaktion,
die durch ein einmaliges traumatisches Erlebnis hervorgerufen wurde, vor
dem Ereignis normal oder typisch, und im Anschluß daran kann sich die be-
troffene Person nicht mehr in der Öffentlichkeit aufhalten, sie leidet unter
den verschiedensten Problemen im Bereich des Unterbauchs, sie kann mit
Nähe nicht umgehen, ist hypersensibel gegenüber Geräuschen im niedrigen
Frequenzbereich und leidet sogar unter so schwerwiegenden Störungen wie
Fibromyalgie und Bluthochdruck.
Diese Menschen ermöglichen uns einen wichtigen Einblick, weil wir ih-
re Symptome als Symptome des alten, nicht myelinisierten Vagus verstehen
können - dabei geht es eigentlich nicht um eine Dysregulation, sondern um
eine Überreaktion: Die Symptome spiegeln die Rolle des alten Vagus im Rah-
men des Defensivsystems.
120 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Denn wenn der alte Vagus in Reaktion auf traumatische Ereignisse als De-
fensivsystem fungiert, handelt es sich funktional um Single-Trial-Learning,
das die neuronale Regulation verändert. Insofern ähneln die Reaktionen auf
das Trauma stark dem GeschmacksaversionsmodelL
Ich hoffe, daß diese Überlegungen zu Erkenntnissen über die Mechanis-
men der Immobilisierungsreaktion bei Traumata führen werden.

DR. BuczYNSKI: Mir gefällt es sehr, wie bei unseren Gesprächen die Gedan-
ken einander folgen, wie einer in den nächsten übergeht, und ich verstehe
dies als eine nie endende Reise.

DR. PoRGES: Tatsächlich ähnelt es stark einer Reise- und darum geht es oh-
nehin im Leben. Ich habe den Begriff Kühnheit erwähnt und auf die Wichtig-
keit guter sozialer Beziehungen hingewiesen. Man begibt sich mit dem eige-
nen Geist nicht auf eine Reise, solange man keinen sicheren Aufenthaltsort
für den Körper gefunden hat. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit diesen
Dingen, und ich freue mich, daß Sie ein Ohr dafür haben.
Mich interessiert, warum die Welt, in der wir leben, das Kognitive so stark
in den Vordergrund stellt, statt sich um die Integration der Kognition und
des körperlichen Erlebens zu bemühen, und daß diese Dissoziation wahr-
scheinlich einen erheblichen Teil des Lebens von uns allen ausmacht.

DR. BuczYNSKI: Wir müssen es für heute dabei belassen.


I<APITE L 5

Vaguseinflüsse und
das Gefühl der Sicherheit
Stephen W. Porges & Ruth Buczynski

DR. BuczYNSKI: Ich heiße Sie herzlich willkommen zu meinem Gespräch


mit einem guten Freund, Dr. Stephen Porges. Wir versuchen, uns jedes Jahr
zu einem Gespräch zu treffen, insbesondere wenn es um das Thema Trauma
geht. Stephen, ich freue mich, Sie bei uns wiederzusehen.

Der Vagus und die Polyuagal-Theorie

DR. BuczYNSKI: Ich würde gern zunächst die wichtigsten Grundlagen Ihrer
Arbeit rekapitulieren, indem wir ein wenig über die Rolle des Vagus im Ge-
hirn und im Körper sprechen.

DR. PoRGES: Der Vagus ist der Hauptnerv des Parasympathischen Nerven-
systems (PNS) und verbindet das Gehirn mit dem Körper. Darwin nennt den
Vagus in seinem Buch über den »Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem
Menschen und den Tieren« den »herumschweifenden Nerv« (pneumogastric
nerve). Der Vagus verbindet die beiden wichtigsten Organe des Körpers, Ge-
hirn und Herz, miteinander.
Der Vagus tritt aus dem Gehirn aus. Er ist einer der sogenannten Kranial-
nerven, und er verläuft unmittelbar zum Herzen, aber auch zu vielen anderen

Dieses Interview wurde von Stephen W. Porges für diese Buchausgabe überarbeitet. Das Orginal ent-
stand im März 2014.
© by Stephen W. Porges & NICABM (National Institute for the Clinical Application of Behavioral
Medicine - Storrs, CT, USA). Website: www.nicabm.com
122 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

inneren Organen. Er steuert alle biologischen Prozesse, unter anderem den


der Verdauung. Aber seine wichtigste Eigenschaft ist, daß er nicht nur Signa-
le vom Gehirn in die inneren Organe {top down) übermittelt, sondern auch
Signale von diesen Organen ins Gehirn (bottom up).
Achtzig Prozent der Nervenfasern des Vagus sind sensorischer Art. Und
da wir heute ein immer stärkeres Interesse an der Verbindung zwischen Ge-
hirn und Körper und an der Beziehung zwischen Geist und Körper entwik-
keln, ist der Vagus unser wichtigster Ansatzpunkt.

DR. BuczYNSKI: Das sehe ich auch so, und deshalb sind wir ja hier zusam-
mengekommen. Nun nennt sich Ihre Theorie nicht Vagustheorie sondern
Polyvagal-Theorie. Vielleicht können Sie das noch erklären.

DR. PoRGES: Ich muß zunächst darauf hinweisen, daß es einerseits gut be-
legte neurobiologische Fakten und andererseits diese Theorie gibt. Daß es
mehr als einen Vagus gibt, nämlich zwei unterschiedliche, die zu verschie-
denen Zeitpunkten im Laufe der Evolution entstanden sind, ist eine neuro-
biologische Tatsache. Das ist wichtig, weil beide sehr unterschiedliche Rollen
spielen.
Die beiden Vaguspfade gehen von zwei Bereichen im Hirnstamm aus. Ei-
ner von diesen Bereichen steuert sämtliche Gesichtsmuskeln - die für die
Nahrungsaufnahme wichtigen Muskeln, die Muskeln des Gehörs und die für
den Kontakt mit anderen Menschen wichtigen Muskeln. Unser soziales Ner-
vensystem steht in enger Verbindung zu diesem neuen Vagus- und für die
Atmung gilt das gleiche.

DR. BuczYNSKI: Das alles betrifft also denneueren Vagus?

DR. PoRGES: Ja, es betrifft den neueren Vagus, der nur bei Säugetieren vor-
handen ist. Säugetiere brauchen im Gegensatz zu anderen Wirbeltieren
Artgenossen, um ihre Körperzustände regulieren und überleben zu können.
Dies ist Bestandteil einer Thematik, mit der wir uns im Weiteren noch be-
schäftigen werden.
Traumata beeinträchtigen unsere Fähigkeit, zu anderen Menschen in Kon-
takt zu treten und durch soziales Verhalten die Vagusfunktion zur Selbstbe-
ruhigung zu nutzen.
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 123

Den zweiten Vaguspfad, der in den Bereich unterhalb des Zwerchfells ver-
läuft, haben wir mit vielen heute lebenden Wirbeltieren gemeinsam, mit Rep-
tilien und sogar mit Fischen.
Die beiden Vagussysteme sorgen durch ihr harmonisches Zusammenwir-
ken für den reibungslosen Ablauf wichtiger biologischer Prozesse, sie reagie-
ren aber auch auf die Umgebung, und wir nutzen sie für Defensivreaktionen.
Ich werde nun ein wenig abschweifen und einige Hintergründe erläutern.
Die meisten von uns haben wahrscheinlich gelernt, daß wir ein Autonomes
Nervensystem (ANS) haben und daß ein Zweig davon das Sympathische
Nervensystem (SNS) ist, das uns ermöglicht, zu kämpfen oder zu fliehen. Au-
ßerdem hat man uns beigebracht, daß der andere Zweig des ANS, das Para-
sympathische Nervensystem (PNS), dem der Vagus zugerechnet wird, daß
dieser Zweig des ANS Gesundheit, Entwicklung und Genesung fördert und
daß sich die beiden Zweige des ANS permanent im Kampf befinden. Das ist
zwar nicht völlig falsch, beschreibt die tatsächliche Situation aber nicht ganz
korrekt.
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir die verschiedenen Teile
unseres ANS nutzen, um mit in der Umgebung auftauchenden Herausforde-
rungen fertig zu werden.
Während wir hier miteinander reden, befinden wir uns nicht in einer ge-
fährlichen Situation. Deshalb besteht kein Grund, in den Kampf-/Flucht-Mo-
dus zu wechseln und unser SNS zu stimulieren. Natürlich schalten wir den
Einfluß des SNS nicht völlig aus, denn es fördert die Durchblutung des Kör-
pers und macht uns wachsam und selbstsicher. Hingegen wollen wir nicht,
daß das SNS uns in Wutzustände versetzt, in denen wir andere Menschen
nicht mehr richtig wahrnehmen. Für unser normales soziales Verhalten wol-
len wir den neueren Vagus nutzen.
Und an diesem Punkt wird die Polyvagal-Theorie wichtig. Sie beinhaltet
eine Hierarchie der Reaktionen der gesamten neuronalen Schaltkreise auf
äußere Ereignisse. Weiterhin besagt sie, daß es ähnlich wie im Gehirn auch
im ANS ältere Strukturen gibt, die durch neuere, später entstandene Schalt-
kreise in ihrer Funktion gehemmt werden können.
Unserem Wissen über die Veränderungen des ANS im Laufe der Evolution
gemäß ist das Subdiaphragmatische Vagussystem das älteste. Es gibt uns die
Möglichkeit, wie ein Reptil auf Gefahren zu reagieren: indem wir erstarren -
also durch Shutdown. Reptilien erstarren und bewegen sich nicht, um die
124 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Aktivität ihres Stoffwechsels einzuschränken; sie können mehrere Stunden


unter Wasser bleiben, ohne zu atmen.
In der nächsten Phase der Evolution entstand das spinale Sympathische
Nervensystem, das uns Kampf- und Fluchtverhalten ermöglicht- d. h. Gefah-
ren durch Mobilisierung zu begegnen. Dieses wunderbare neue Vagussystem
entwickelte sich bei den Säugetieren, weil Säugetiere mit Artgenossen inter-
agieren müssen. Es ermöglichte dem sozialen Verhalten, die übrigen Kompo-
nenten des ANS in die Aufrechterhaltung der homöostatischen Funktionen
einzubeziehen. Erfüllt das neue Vagussystem seine Aufgaben gut, können die
sympathischen und parasympathischen Verbindungen unter dem Zwerchfell
in einem Zustand der Balance miteinander tanzen.
Viele Kliniker berichten über Verdauungsprobleme ihrer Klienten - Ma-
genbeschwerden und Verstopfung-, die auftreten, weil der Subdiaphragma-
tische Teil ihres ANS seine Funktion nicht erfüllt. Im Kampf-/Flucht-Modus
wird der gesamte Subdiaphragmatische Teil des ANS stillgelegt. Wollen wir
das alte Vagussystem dann als Defensivsystem nutzen, werden wir entweder
ohnmächtig oder defäkieren.
Nach der Theorie können wir erkennen, wie die verschiedenen neuronalen
Schaltkreise jeweils bestimmte Teile des Verhaltensspektrums von Säugetie-
ren - und natürlich auch von Menschen - unterstützen.

Wie sich die Geist-Körper-Verbindung


auf physische Krankheiten auswirkt
DR. BuczYNSKI: Das erklärt vielleicht ein wenig, warum bei bestimmten
physischen Krankheiten ein so starker Bezug zwischen Geist und Körper zu
erkennen ist.

DR. PoRGES: Richtig, und natürlich leben wir in einer Welt, in der die Medi-
zin Organe behandelt, als seien sie unabhängig von einem integrativen und
interaktiven ANS.
Wir können über diese Dinge entweder philosophieren oder uns pragma-
tisch damit befassen. Ich bin seit mittlerweile sechzehn Jahren in der medi-
zinischen Ausbildung tätig, und mir ist in dieser Rolle allmählich klar gewor-
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 12 5

den, daß Ärzte nicht viel über die Aufgaben des Nervensystems hinsichtlich
der Regulation der Organe, die sie behandeln sollen, lernen.
Sobald wir von einem »Nervensystem« sprechen, beschreiben wir damit
schon ein System, das Verbindungen zwischen Gehirn und Körper herstellt.
Es existiert kein separates Autonomes Nervensystem unterhalb des Halses
und kein separates Zentrales Nervensystem im Kopf. Wir haben nur ein ein-
ziges Nervensystem, das registriert, was in unserem Körper vor sich geht,
und das die Situation im Gehirn aufgrund des Feedbacks aus dem Körper
verändert- natürlich kann das Gehirn auch seinerseits auf Vorgänge im Kör-
per (sowohl auf beobachtbare Bewegungen als auch auf viszerale Funktio-
nen) einwirken.
Wir können von peripheren Symptomen sprechen - und natürlich kön-
nen wir bei den klinischen Symptomen zwischen super-diaphragmatischen
(über dem Zwerchfell auftretenden) und sub-diaphragmatischen (unter dem
Zwerchfell auftretenden) unterscheiden.
Sehr angespannte und sehr angstbesessene Menschen - sie leiden oft un-
ter Bluthochdruck, aber auch unter buchstäblich allen anderen Krankheiten,
die sich in der oberen Körperhälfte manifestieren - nutzen das alte Vagussy-
stem als Defensivsystem.
Traumatisierte und Menschen, die fortgesetzt Mißbrauch oder Mißhand-
lungen erlebt haben, nutzen das Subdiaphragmatische Vagussystem häufig
zur Verteidigung, was oft zu dissoziativen Zuständen führt und bei ihnen
Probleme wie Fibromyalgie, Verdauungsstörungen und Störungen des Sexu-
alverhaltens hervorruft - letztere sogar dann, wenn sie sich sexuelle Aktivität
wünschen. Dies kommt bei Frauen vor, die manchmal während des Sexu-
alakts defäkieren, weil das alte Vagussystem sich bei ihnen so starr auf seine
Defensivfunktion fixiert hat.
Tatsächlich ließen sich viele klinische Symptome, die die Schulm.edizin
einem bestimmten Endorgan zuschreibt, auf die neurologische Regulierung
dieser Organe zurückführen. Wir könnten sie deshalb als psychogen bezeich-
nen oder von dieser Sichtweise zumindest bei weiteren Überlegungen aus-
gehen.
Sobald Menschen sich solcher Zusammenhänge bewußt werden, fühlen
sie sich machtlos und fürchten einen Kontrollverlust. Übrigens war dies ei-
ner der Gründe für die Formulierung der Polyvagal-Theorie: Sie sollte Men-
126 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

sehen klarmachen, daß sie keine Opfer sind, sondern selbst Teil des Kontroll-
systems, das ihnen ermöglicht, sich anzupassen und zu überleben.

Traumata und Vertrauensbrüche

DR. BuczYNSKI: Ich möchte mich jetzt gern dem Zusammenhang zwischen
Traumata und Vertrauen zuwenden. Sie haben schon erwähnt, daß sich Trau-
mata häufig auf die Fähigkeit zu vertrauen und auf das Gefühl der eigenen
Sicherheit auswirken. Könnten Sie das noch ein wenig erläutern?

DR. PoRGES: Wenn jemand in einer Beziehung psychisch verletzt worden ist,
wie kann der Betreffende dann am zuverlässigsten verhindern, daß er erneut
verletzt wird? Indem er fortan niemandem mehr vertraut.
Sinn und Zweck des Systems für soziales Engagement ist, anderen Men-
schen zu signalisieren, daß keine Gefahr besteht und daß sie sich nähern kön-
nen. Das System für soziales Engagement aktiviert die Neurozeption, damit
der andere sich wohlfühlen kann.
Hat sich die andere Person früher einmal wohlgefühlt und wurde dann
verletzt, wird dieses System so stark gedämpft, daß niemand mehr »an Bord
kommen« kann.
Menschen, die in einer Beziehung stark verletzt wurden, fällt es schwer,
eine neue Beziehung aufzubauen, auch wenn sie dem auf kognitiver Ebene
eine hohe Priorität zuschreiben. Sie sehnen sich nach einer Beziehung, aber
ihr Körper läßt eine neue Beziehung nicht zu.
In solchen Fällen sollte man den Betroffenen zunächst erklären, was ihr
Körper für sie getan hat. Er hat ihnen nämlich nicht geschadet, sondern ih-
nen im Gegenteil oft das Leben gerettet. Durch Immobilisierung und Disso-
ziation hat er ihnen ermöglicht, ihr Leiden zu ertragen, ohne sich zu wehren,
und das ist oft sehr nützlich, weil es ein weiteres Zunehmen der Aggression
verhindert, das zum Tod dieser Menschen führen könnte. Erstarren und Dis-
soziation haben viele adaptive, das Überleben sichernde Funktionen.
Sehr wichtig ist, wie ein Mensch die Immobilisierungsreaktion in seiner
persönlichen Erzählung darstellt. Wie nutzt er diese Information für seine
Selbstsicht? Sieht er sich als Opfer oder als Held?
Vaguseinfiüsse und das Gefühl der Sicherheit • 12 7

Ich möchte nun eine kleine Geschichte erzählen. Eines Tages erhielt ich
eine eMail von einer Frau Ende Sechzig, die mir berichtete, sie sei als Teen-
ager gewürgt und vergewaltigt worden. Viele Jahre nach dem Erlebnis hatte
sie ihrer eigenen Tochter davon erzählt, und diese hatte sie gefragt: »Aber
warum hast du dich denn nicht gewehrt? Warum hast du nichts dagegen
getan?« Daraufhin hatte sich die Mutter sehr geschämt und sich entsetzlich
gefühlt.
Dann berichtete sie: »Irgendwann las ich etwas über die Polyvagal-
Theorie, und danach hatte ich plötzlich das Gefühl, ich hätte gar nicht anders
handeln können, und deshalb weine ich jetzt.«
Als ich diese eMail las, weinte auch ich. Der Frau war plötzlich klar gewor-
den, daß ihr Körper sie geschützt hatte - daß sie auf seine Reaktion stolz sein
konnte - und daß dies zeigte, daß sie kein Opfer war.
Unsere Gesellschaft behandelt Menschen, die nicht kämpfen - die nicht
in den Zustand der Mobilisierung wechseln -, als sei mit ihnen etwas nicht
in Ordnung, statt ihnen zu vermitteln: »Im neurobiologischen Sinne war das
die beste Art zu reagieren, die Ihnen möglich war, und es ist ein Glück, daß
Sie sich so verhalten haben. Hätten Sie gekämpft, wären Sie jetzt vielleicht
tot.«
Es ist also sehr wichtig, wie wir selbst unser Verhalten einschätzen - und
wie wir unsere persönliche Geschichte formulieren.

DR. BuczYNSKI: Ich möchte die Psychotherapeuten, die diesem Interview


folgen, darauf hinweisen, daß dies eine biologische Erklärung für etwas ist,
das wir unseren Patienten seit Jahren klarzumachen versuchen: »Sie haben
auf die bestmögliche Ihnen bekannte Art überlebt.« Vielleicht fühlen sie sich
dann wirklich verstanden und gerechtfertigt. Vielleicht können sie sich das
zugute halten oder Respekt gegenüber ihrem eigenen Mut entwickeln.

DR. PoRGES: Ja, es ist sehr wichtig, über die Fakten informiert zu sein. Wenn
wir uns dem Urteil der Gesellschaft über Gut und Schlecht nicht unterord-
nen und, statt uns einzureden: »Ich glaube, ich war schlecht«, uns eine Weile
nur auf das Bemühen beschränken, unsere adaptiven neurobiologischen Re-
aktionen zu verstehen, können wir allmählich die Vorteile unserer Reaktio-
nen erkennen.
128 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Das Wesen der Neurozeption


Die Vorstellung, daß es eine adaptive neurobiologische Reaktion gibt, ist sehr
wichtig. Unser Nervensystem untersucht außerhalb unseres Gewahrseins
ständig potentielle Gefahren und verändert aufgrund seiner Einschätzung
den physiologischen Zustand, indem es je nach Situation das System für so-
ziales Engagement, das Kampf-oder-Flucht-Verhalten oder die Immobilisie-
rung aktiviert. Das Nervensystem wechselt stets in einen Zustand, der das
im konkreten Fall adaptivste Verhalten fördert- das aus der Perspektive des
Nervensystems adaptivste Verhalten. Diesen Vorgang nenne ich Neurozepti-
on. Manchmal sind wir auf diese adaptiven Reaktionen nicht vorbereitet und
werden von ihnen überrascht. Beispielsweise überkommt uns dann in einem
MRI -Scanner oder einem anderen beengten Raum Panik, oder wir werden
während eines Vortrags, den wir selbst halten, ohnmächtig.
Allerdings besteht immer auch die Gefahr, daß die Neurozeption Fehler
macht, weil unser Nervensystem Gefahren wittert, wo es keine gibt, oder sich
in Sicherheit fühlt, obwohl eine Gefahr besteht.
Einige Menschen werden ohnmächtig, wenn sie in der Öffentlichkeit re-
den sollen; daß sie es mit der Angst zu tun bekommen, kann man eigentlich
nicht sagen - sie verlieren einfach das Bewußtsein.
Eine solche Ohnmacht heißt in der Fachsprache vasovagale Synkope, und
es handelt sich dabei um einen schnellen Abfall des Blutdrucks, der eine Un-
terversorgung des Gehirns mit Sauerstoff zur Folge hat. Diese Reaktion tritt
oft auf, weil das Nervensystem Anzeichen für eine akute Gefahr für Leib und
Leben entdeckt. Tritt diese neurophysiologische Reaktion ein, versucht das
Bewußtsein, die Sequenz zu verstehen, und entwickelt dementsprechend ein
persönliches Narrativ, in dem es oft um Selbstachtung geht, obwohl die Ursa-
che der Reaktion absolut nichts mit Selbstachtung zu tun hat, sondern auf ei-
ner anderen Eigenschaft der Umgebung wie räumlicher Einschränkung oder
Isolation basiert.
Mich persönlich hat meine Panikreaktion auf die Enge in einem MRI-
Scanner sehr schockiert. Ich fliege viel und mag Mittelsitze in Flugzeugen
nicht, aber das geht den meisten Menschen so.
Säugetiere mögen keine räumliche Einschränkung. Für sie sind die Iso-
lation von Artgenossen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit be-
sonders unangenehm. Wir sollten einmal über die Bedeutung der beiden ge-
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 12 9

nannten Stressoren in der Welt, in der wir leben, nachdenken und darüber,
wie wir mit Menschen, für die wir sorgen, umgehen.

DR. BuczYNSKI: Ich kann mir vorstellen, daß Sie das kürzlich persönlich be-
obachten konnten.

DR. PoRGES: Richtig, und ich möchte über dieses Erlebnis berichten. Vori-
ges Jahr im April wurde bei mir Prostatakrebs diagnostiziert, und ich hatte
leider nicht die Möglichkeit, einfach gar nichts zu tun - was ich gehofft hatte.
Die Ärzte rieten mir davon dringend ab. Bei der Biopsie wurde ein ziemlich
aggressiver Krebs diagnostiziert. Ich hatte nur die Wahl zwischen einer Be-
strahlungsbehandlung und einer Radikaloperation. Vorab möchte ich klar-
stellen, daß mit mir jetzt alles in Ordnung ist; mich braucht also niemand zu
bemitleiden. Gegen Empathie habe ich nichts, aber Mitleid brauche ich nicht.
Wenn man so eine Diagnose erhält, verschließt man sich leicht, selbst
wenn man über Behandlungsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten gut infor-
miert ist. Ich beobachtete natürlich, was infolge der Diagnose geschah: Ich
habe es in den Beinen gespürt - und viele, die hier zuhören, wissen wohl, was
ich damit meine. Ich war auf dem besten Weg zu erstarren, und das ist, wie
ich wußte, in solch einem Fall keine besonders günstige Reaktion.
Obwohl ich gut informiert war, gab es bestimmte Unwägbarkeiten bezüg-
lich der medizinischen Diagnose, und die Risiken, die mit einem größeren
chirurgischen Eingriff verbunden sind, können sehr verunsichernd wirken.
Wir wissen einfach nicht, wie unser Körper reagieren wird - unabhängig da-
von, wie gut wir informiert sind. Es bleibt immer eine gewisse Unsicherheit.
Dann entwickelte ich allmählich eine Strategie. Zunächst verschob ich den
Eingriff auf den August des Jahres. Leider können sich viele Menschen nicht
für einen solchen Aufschub entscheiden, weil sie sich zu sehr sorgen.
Ich verschob den Eingriff aus zwei Gründen: Erstens hätte ich sonst eini-
ge Reisen absagen müssen, und das wäre mir sehr schwer gefallen. So ver-
störend die Diagnose für mich war, diese Reisen abzusagen, hätte mir fast
ebensosehr zu schaffen gemacht. Ich mußte ohnehin alle Termine in einem
Zeitraum von drei Monaten absagen. So etwas hatte ich noch nie getan, kam
damit aber zurecht.
Nach Erhalt der Diagnose hielt ich weiter Vorträge und pflegte so mei-
ne Kontakte. Die Vorträge wurden für mich zu einer wichtigen Möglichkeit,
130 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Kontakte zu anderen Menschen zu pflegen. Im Grunde nutzte ich die Vorträ-


ge wie eine Selbsttherapie.
Nach Abschluß der Vortragsserie - ich hatte etwa acht bis zehn Vorträge
halten müssen und war mehrmals nach Europagereist-fühlte ich mich sehr
gut. Ich hatte das Gefühl, wenn mein Leben nun enden würde, wäre das für
mich völlig okay, denn ich hatte ein starkes Gefühl der Verbundenheit erlebt.
Ich fühlte mich gut hinsichtlich meiner Beziehung zu meiner Familie und
hinsichtlich meines Lebens insgesamt. Die Situation zu erleben war für mich
sehr interessant, und ich hatte keine Panik.
Ich begann auch mit einem Fitneßtraining, um vor dem Eingriff ein wenig
abzunehmen und mein Herz- Kreislaufsystem zu trainieren. Und in den letz-
ten Wochen vor der Operation hörte ich mir Aufnahmen mit Induktionen
für Imaginationsübungen an.
Operiert wurde ich in einer Klinik, die drei Kilometer von meinem Haus
entfernt lag, so daß ich das Gebäude vom Fenster meines Arbeitszimmers
aus sehen konnte. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, unter Freunden zu
sein. Deshalb entwickelte ich wunderschöne Visualisationen und kam auf
sehr positive Gedanken.
Als ich auf dem OP-Tisch lag, sagte ich zum Anästhesisten: »Sie haben
jetzt die Aufgabe, mich während der OP am Leben zu erhalten.«

DR. BuczYNSKI: Kein Druck!

DR. PoRGES: Genau. Absolut kein Druck. Die OP-Schwester antwortete:


»Nein, Sie am Leben zu erhalten ist die Aufgabe von uns allen.«
Mein Puls lag bei 65. Es war 7.30 Uhr, und ich würde nun bald unter das
Messer kommen. Ich war völlig entspannt und hatte nach der 0 P nur am er-
sten Tag Schmerzen, die auf die Anästhesie zurückzuführen waren. Mir ging
es wirklich gut.
Zwei Dinge hatten mir sehr geholfen: Erstens hatte ich die 0 P nicht als
verletzend, sondern als hilfreich empfunden, und zweitens hatte ich keinerlei
Panik oder Angst vor dem Tod entwickelt. Durch den gesamten Prozeß hatte
ich meine Rolle als menschliches Wesen in einem völlig neuen Licht zu sehen
gelernt.
Meine Vortragsreisen und meine Interaktion mit anderen Menschen hat-
ten mir klar gemacht, daß das wirklich Wichtige und Wertvolle im Leben die
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 131

Verbundenheit mit anderen Menschen ist. Weil mir dies klar geworden war,
hatte ich mich während der gesamten Vorbereitung und Behandlung gut ge-
fühlt. Nun habe ich Ihnen eine sehr persönliche Geschichte erzählt.

DR. BuczYNSKI: Ich freue mich, daß es Ihnen so gut geht. Ich hatte schon vor
einiger Zeit von Ihrer Operation gehört, und ich bin froh, daß Sie uns hier
schildern konnten, was Sie erlebt haben. Manchmal sind unsere Vorstellun-
gen davon, was ein Trauma sein kann, einfach zu beschränkt. Wir glauben,
Traumata entstünden durch Kriege, Autounfälle, Vergewaltigungen, sexuelle
Belästigung und körperliche Mißhandlungen, und vergessen darüber all die
anderen Situationen und Erlebnisse, die traumatisierend wirken können.
Die Ärzte und Krankenpfleger, die dieses Buch lesen, sollten vielleicht ein-
mal darüber nachdenken, wie sie etwas von dem, was sie hier erfahren, in
ihre Arbeit mit Patienten einfließen lassen können, beispielsweise wenn Pa-
tienten einen Herzinfarkt erlitten oder soeben gehört haben, daß sie unter
einer schweren Krankheit leiden, oder wenn sie vor einer OP oder einer an-
deren schweren Behandlung stehen und darüber nachdenken, was da auf sie
zukommt.

DR. PoRGES: Alles beruht auf der Ungewißheit, die Menschen dazu bringt,
den Kontakt zu anderen Menschen zu meiden oder abzubrechen. Ich benut-
ze jetzt häufig einen Begriff, der in der Biologie schon länger gebräuchlich
ist. Ich meine den biologischen Imperativ. Was ist der primäre biologische
Imperativ für Menschen? Mit anderen Menschen verbunden zu sein. Wenn
uns eine chirurgische Operation oder eine andere medizinische Behandlung
bevorsteht, vergessen wir leicht, daß die Menschen, die solche Behandlungen
durchführen, keine Automechaniker sind.
Wir sind kein Auto, in dem man etwas ersetzen oder reparieren kann.
Menschliche Organe sind mit Autoersatzteilen nicht zu vergleichen. Wir sind
keine Maschinen, sondern dynamisch interagierende biologische Systeme.
Wenn wir etwas berühren, berühren wir alles in uns, und außerdem berühren
wir die Menschen, mit denen wir interagieren.
Ärzte müssen ihrer Verbundenheit mit anderen Menschen wieder be-
wußter werden. Die Medizin und sogar die Psychiatrie ist heute zunehmend
von »manualisierten Verfahren« geprägt. Das fängt mit den digitalisierten
Krankenakten an. Wenn man in den Konsultationsraum eines Arztes kommt,
132 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

dreht sich der Arzt zur Seite und schaut den Computerbildschirm an, nicht
den Patienten, und dann tippt er Notizen in den Computer, statt den Patien-
ten durch Blickkontakt und seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu beruhigen
und so sein Bedürfnis nach Sicherheit zu erfüllen.
Ich war sehr dankbar für die Art der Behandlung, die ich im Universitäts-
klinikum der University of North Carolina erlebt habe. Die Mitarbeiter dort
haben sich vorbildlich verhalten. Ich hatte das Gefühl, in einer Gemeinschaft
gut aufgenommen zu werden. Als ich noch in Chicago lebte, gab es dort zwar
auch eine gute medizinische Versorgung, aber kein Gemeinschaftsgefühl,
sondern eher ein »rein und raus«-Gefühl. Einige meiner Freunde leben wei-
terhin in Chicago- Professoren, Ärzte und Geschäftsleute. Wenn sie sich in
medizinische Behandlung begeben müssen, sind sie völlig auf sich gestellt.
Manchmal haben sie mit den Ärzten, die sie behandeln, vor der Behandlung
nicht einmal geredet. Dies alles in einem kleineren Rahmen zu erleben, wo
sich ein Gemeinschaftsgefühl einstellte, war sehr schön, weil ich die Mög-
lichkeit hatte, vor der Behandlung mit den Menschen zu reden und mich mit
ihnen auszutauschen.

Was die Polyuagal-Theorie zur Beziehung


zwischen Traumata und Bindung zu sagen hat
DR. BuczYNSKI: Ich möchte gern noch ein wenig bei den Konzepten Enga-
gement und Verbundenheit bleiben, weil ich sie ebenso wichtig finde wie Sie
selbst. Kann man aus der Perspektive der Polyvagal-Theorie etwas über die
Beziehung zwischen Traumata und Bindung sagen?

DR. PoRGES: Ich denke schon. Wenn ein Trauma die Fähigkeit, sich in Ge-
genwart anderer Menschen sicher zu fühlen, zunichte macht, wird alles, was
mit Bindungen zusammenhängt und Bindungen ermöglicht, vernichtet. An-
dererseits trifft es wohl auch zu, daß ein Mensch, der in seiner Kindheit und
Jugend eine gute Grundlage für Bindungsbeziehungen entwickelt hat, da-
durch in einem gewissen Maße vor traumatischen Verletzungen geschützt ist.
Ich weiß nicht, inwieweit dies schon erforscht ist, aber man bekommt ja auch
durch das, was man im Laufe des Lebens beobachtet, einiges mit. Wir sehen,
wie sich Menschen entwickeln, die wir seit ihrer Kindheit kennen, und selbst
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 13 3

wenn einige von ihnen schon nicht mehr unter uns sind, sehen wir doch die
Muster, die sie in ihrem Leben entwickelt haben.
Wir sehen unsere Mitmenschen über eine Spanne von fünfzig bis sech-
zig Jahren, und erstaunlicherweise benutzen sie nach so vielen Jahren immer
noch Strategien aus ihrer Kindheit- was nicht heißt, daß ihnen diese Verhal-
tensweisen jemals bewußt geworden sein müssen, und unabhängig davon, ob
ihnen in ihrem Leben grundsätzliche Veränderungen oder Reorganisationen
gelungen sind.
Mir geht allmählich auf, daß das Allerwichtigste, was wir in unserem Le-
ben schaffen müssen, darin besteht, daß wir uns über die verstörenden Dinge,
die wir erlebt haben, klar werden - nicht um wegen dieser Vorfälle wütend
zu werden oder Schuldzuweisungen zu formulieren, sondern um die Strate-
gien zu verstehen, die unser Körper entwickelt hat, um durch Anpassung an
das Geschehen zu überleben. Nur dann können wir zuverlässig beurteilen,
ob diese Strategien wirklich gut waren.
Auf diese Weise entsteht unsere persönliche Erzählung, die wir nutzen
können, um uns mitfühlender und liebevoller zu verhalten und so menschli-
cher zu sein. Andernfalls bewirken diese Informationen, daß wir noch getrie-
bener, gepanzerter, aggressiver und ichbezogener werden. Wenn wir über die
erforderlichen Informationen verfügen, ist es irgendwann unsere persönliche
Entscheidung, Strategien zu entwickeln, die bewirken, daß wir uns sicherer
fühlen können.

DR. BuczYNSKI: Leider reicht es nicht immer aus, sich dafür zu entscheiden,
daß man sich sicherer fühlen will.

DR. PoRGES: Das ist ein sehr wichtiger Hinweis, denn es geht hier nicht um
die bewußte Entscheidung, sich zu ändern, sondern um die bewußte Ent-
scheidung für die Entwicklung der Werkzeuge oder der neuronalen Schalt-
kreise, die wir brauchen, um uns sicherer fühlen zu können.
Ich möchte diesen Gedanken noch ein wenig erläutern. Nehmen wir an,
ich fühle mich als Professor ständig getrieben - ich muß Fördermittel bean-
tragen und Artikel schreiben und habe keine Minute Zeit, um mit einem an-
deren Menschen einfach so zu reden. Der nächste Förderungsantrag steht an,
und plötzlich bekomme ich einen Herzinfarkt. Verwunderlich ist so etwas
eigentlich nicht.
134 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Dann wird mir klar, daß zwischen meinem Gehirn, den inneren Organen
und dem Autonomen Nervensystem eine Verbindung besteht und es mir bis-
her generell ein Anliegen war, die Deutung meiner viszeralen Empfindungen
und damit praktisch auch meinen Körper auszuschalten. Wenn wir darüber
nachdenken, wird uns schnell klar, daß diese Strategie unsere Erlebensfähig-
keit stark einschränkt. Können wir das ändern? Können wir einige der neu-
ronalen Schaltkreise, die es uns ermöglichen, ein reicheres, sozialeres Leben
zu führen, stärken? Diese Fragen stehen in enger Verbindung zu Fragen der
Traumatherapie, und die Antwort auf sie lautet, daß es solche Strategien gibt.
Aus neurobiologischer Sicht können wir zu dieser Problematik sagen: »Es
wäre schön, wenn wir das relativ neue System für soziales Engagement mit
dem myelinisierten Vagus für dieses Ziel gewinnen könnten, und wenn es
meine Neigung zu Defensivverhalten und zum Kämpfen oder zu Wutanfäl-
len verringern würde, denn zu einem früheren Zeitpunkt in meinem Leben
war dieses Defensivverhalten für mich adaptiv, und in anderen Fällen habe
ich mich in der Vergangenheit durchShutdown geschützt.«
Auf diese Weise kreieren wir eine ganze Hierarchie von Reaktionsweisen.
Nehmen wir an, ich habe mich früher einmal durchShutdown zu schützen
versucht: Ich wurde in meiner Kindheit oder Jugend in meiner Freiheit einge-
schränkt und mißhandelt/mißbraucht, und mein adaptives Verhalten besteht
darin, mich ständig zu bewegen, denn so lange ich mich bewege, kann ich
nicht indenShutdown-Zustand verfallen.
Andererseits kann ich, wenn ich mich ständig bewege, nicht zu anderen
Menschen in Kontakt treten. Ich kann keine Beziehungen aufbauen und ge-
nießen - und ich will eine Beziehung.
In solchen Fällen muß uns zunächst klar werden, daß die Abschaltung
oder Reduzierung der Aktivität des Defensivsystems der Mobilisierung ein
biologischer Vorgang ist und daß es dabei um die Aktivierung des Systems
für soziales Engagement und des myelinisierten Vagus geht.
Um dies zu erreichen, können wir einige sehr einfache, aber trotzdem sehr
tief wirkende Übungen ausführen. Dazu eignen sich unter anderem Atem-
übungen, weil wir die Schaltkreise, welche die sympathische Mobilisierung
verringern, über die Hemmung des SNS durch den Vagus aktivieren können.
Deshalb können wir uns durch langsames und tiefes Ausatmen beruhigen.
Doch wenn wir langsam ausatmen, können wir natürlich auch singen. Sin-
gen ist langsames Ausatmen. Auch das Spielen eines Holzblasinstruments
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 13 5

erfordert langsames Ausatmen. Und genauso verhält es sich beim langsamen


Sprechen langer Sätze. Auch dabei atmet man lange und langsam aus.
Wir können unsere Physiologie also buchstäblich durch soziales Verhal-
ten verändern - indem wir musizieren. Es hilft aber auch, Musik anzuhören,
denn auch das verändert die Funktionsweise der Mittelohrmuskeln.

Singen und Hören fördern langsames Ausatmen


und damit die Selbstberuhigung
DR. BuczYNSKI: Daß Singen- wenn ich es selbst tue- mit langsamem Aus-
atmen verbunden ist, leuchtet mir ein. Aber inwiefern gilt das auch für das
Zuhören?

DR. PoRGEs: Zuhören hat eine ganz besondere Wirkung, weil es das gesamte
System für soziales Engagement aktiviert. Um das zu erklären, müssen wir
noch einmal auf das Reden mit einem Hund, einem Kind oder einem Freund
zurückkommen: Die Prosodie von Stimmen - wenn der Ton nicht starr auf
einer Höhe bleibt - aktiviert im Nervensystem eine Neurozeption von Si-
cherheit. Folglich kann die Physiologie nicht nur durch die Atmung, sondern
auch durch Zuhören verändert werden.
Wir haben schon in früheren Gesprächen über bestimmte Arten von Mu-
sik gesprochen und darüber, daß diese ein Gefühl der Sicherheit hervorru-
fen können. Ich erinnere mich, daß wir bereits über Johnny Mathis gespro-
chen haben. Vor kurzem habe ich mir eine Dokumentarsendung über Harry
Nilsson angeschaut, der eine wunderschöne Tenorstimme hatte. Er war viel-
leicht nicht der vertrauenswürdigste Mensch, aber seine Stimme war wun-
derschön, und die Songs, die er schrieb, wirkten sehr entspannend. Diese
Wirkung basiert darauf, daß unser Nervensystem diese Art, die Stimme zu
benutzen, mit Sicherheit assoziiert.
Im Bewußtsein dieser Zusammenhänge können wir Kontexte kreieren, in
denen Menschen sich sicherer fühlen. Ein solches Gefühl der Sicherheit her-
vorzurufen ist die Behandlung - und außerdem ist es eine neuronale Übung.

DR. BuczYNSKI: Sie haben soeben etwas sehr Wichtiges formuliert: Sich si-
cher zu fühlen ist die Behandlung. Das könnten wir alle zu einer Grundlage
unseres Denkens und Handeins machen, ganz gleich, in welchem Beruf wir
136 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

arbeiten, ob im psychiatrisch-psychotherapeutischen oder im medizinischen


Bereich.

DR. PoRGES: Das ist eine wunderbare Idee. In einem meiner Vorträge habe
ich eine Projektionsfolie benutzt, auf der stand, daß unser Nervensystem Si-
cherheit völlig anders deutet oder definiert, als die gesetzlichen und kulturel-
len Standards es tun.
Wenn beispielsweise ein Schuldirektor in seiner Schule mit einer Schuß-
waffe herumläuft, mag dem das Bemühen zugrunde liegen, die Schule siche-
rer zu machen; andererseits trägt er durch dieses Verhalten zur Förderung
einer Kultur bei, die für unser Nervensystem nicht besonders gut ist. Unser
Körper identifiziert bestimmte Anhaltspunkte für Sicherheit, und wir müs-
sen das verstehen.
Außerdem müssen wir bedenken, daß wir in einer Kultur leben, in der
Menschen sagen: »Wichtig ist eigentlich, was ich sage, nicht wie ich es sage.«
Unser Nervensystem hingegen sagt uns: »Es geht eigentlich weniger darum,
was du sagst, als darum, wie du es sagst.«

DR. BuczYNSKI: Um noch einmal auf die Musik zurückzukommen: Wie


könnte ein Psychotherapeut in die Behandlung eines Traumatisierten Musik
einbeziehen?

DR. PoRGES: Bevor wir darüber nachdenken, welchen akustischen Reizen


wir jemanden aussetzen sollten, müssen wir überlegen, was wir aus seinem
akustischen Umfeld entfernen sollten.
Geräusche im niedrigen Frequenzbereich signalisieren massiv Gefahr oder
Lebensgefahr. Wir wollen nicht, daß unser Nervensystem ständig auf der Hut
vor Gefahren ist und aufgrund dessen hypervigilant wird. Deshalb sollten wir
zunächst für Ruhe in unserem Therapieraum sorgen. Geräusche im niedrigen
Frequenzbereich, wie Ventilatoren und der Straßenverkehr sie erzeugen, soll-
ten wir eliminieren. Therapieräume in der Nähe von Aufzügen sind ebenfalls
sehr ungünstig.
In den Räumen, in denen Menschen psychotherapeutisch behandelt wer-
den, sollte Ruhe herrschen, weil unser Nervensystem tiefe Geräusche als Si-
gnale für akute Gefahren auffaßt - als Anzeichen dafür, daß in nächster Zeit
etwas Schreckliches passieren wird.
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Siche rheit • 137

Die Meister der klassischen Symphonie wußten um diese Dinge. Im er-


sten Satz ihrer Werke beruhigten sie ihre Zuhörer mit Hilfe wiegenliedähn-
licher Melodien, wobei die Geigen die Rolle der mütterlichen Stimme über-
nahmen. Sobald eine Atmosphäre der Ruhe und Sicherheit entstanden war,
wechselte die Melodie zu Instrumenten mit einem tieferen Tonumfang, bis
die Zuhörer sich auch mit diesem Frequenzbereich vertraut gemacht hat-
ten. Im ersten Satz einer Symphonie wird eine positive, Sicherheit und Ruhe
fördernde Atmosphäre geschaffen. Im zweiten Satz klingt oft eine drohende
Gefahr an - repräsentiert durch einen monotonen Klang im unteren Fre-
quenzbereich.
Die Komponisten der Klassik verstanden die tiefe Wirkung akustischer
Stimulation auf den körperlichen Zustand und die Gefühle von Menschen.
Sie kreierten durch ihre Musik eigene Szenarien, eigene Narrative.
Auch ein Kliniker kann niederfrequente Geräusche entfernen und seinen
Klienten so ermöglichen, sich Vokalmusik und insbesondere von Frauen-
stimmen gesungene Vokalmusik anzuhören, damit sie sich entspannen und
um ihr System für soziales Engagement zu stimulieren. Akustische Stimula-
tion in bestimmten Frequenzbereichen kann sehr tröstlich und beruhigend
wirken.
Natürlich erleben wir Musik auch. Erinnern Sie sich noch an die Sechziger
des vorigen Jahrhunderts? Damals gab es die sehr prosodische Folk Music.
Der im Januar 2014 verstorbene Pete Seeger war einer der Vorreiter dieser
Bewegung, deren Songs sich mit sozialer Veränderung beschäftigten. Das
waren sehr gewichtige und ernste Songs, deren Texte von einer ausgelasse-
nen und fröhlichen Musik begleitet wurden und die Zuhörer leicht mitsingen
konnten. Charakteristisch für die Tradition der Folk Music ist es, Ideen zu
vermitteln, ohne die Zuhörer in Angst und Schrecken zu versetzen.
Musik kann durchaus in klinischen Zusammenhängen genutzt werden.
Aber als Therapeut sollte man zunächst dafür sorgen, daß im Therapieraum
keine Geräusche im niedrigen Frequenzbereich zu hören sind. Außerdem
sollte der Therapeut auf die Prosodie seiner Stimme achten, und wenn sein
Klient den Blick abwendet, sollte er niemals Blickkontakt zu erzwingen ver-
suchen, denn ein Klient, der den Blick abwendet, hat wahrscheinlich Angst.
Viele Menschen fühlen sich nicht wohl, wenn sie ihrem Gegenüber direkt in
die Augen schauen. Ist ihnen unsere Gegenwart jedoch angenehm, wenden
sie sich uns spontan zu.
138 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

DR. BuczYNSKI: Stephen, was würden Sie Klinikern empfehlen, deren Praxis
sich in einem Gebäude befindet, auf dessen Ventilation sie ebensowenig Ein-
fluß haben wie auf den Verkehrslärm vor ihrer Tür?

DR. PoRGES: Ich würde ihnen raten, sich möglichst schnell andere Praxisräu-
me zu suchen. Das wäre das Erste, was ich persönlich in solch einem Fall täte.

DR. BuczYNSKI: Aber jemand könnte für ein Krankenhaus arbeiten.

DR. PoRGES: Ich bin der Meinung, daß wir nicht genug Zeit darauf verwen-
den, über die physischen Eigenschaften der Umgebung, in der wir unseren
Beruf ausüben, nachzudenken. Die Räume selbst wirken sich auf eine Thera-
pie aus.
Wenn die akustische Stimulation in dem Raum, in dem wir unsere Pati-
enten behandeln, eine so tiefreichende und eindeutige Wirkung auf das Ner-
vensystem hat, muß sie sich auf unsere Fähigkeit, unsere Dienstleistungen
anzubieten, zwangsläufig negativ auswirken.
Viele Menschen schaffen sich Generatoren an, die das sogenannte »weiße
Rauschen« produzieren. Sie versuchen so, störende Hintergrundgeräusche
zu neutralisieren. Aber dadurch wird die Zahl der Signale, die ihr Nervensy-
stem verarbeiten muß, noch größer. In solch einer Umgebung können Men-
schen in einen Zustand der Übererregtheit geraten, wohingegen sie sich in
einer ruhigen Umgebung selbst beruhigen.
Ich habe mit Architekten sogar auf einigen Architekturkonferenzen dar-
über gesprochen, daß man für verletzte Soldaten therapeutisch wirkende
Räume schaffen sollte, statt Räume, die einfach nur hübsch aussehen.
Normalerweise geht es Architekten mehr um den äußeren Eindruck von
Gebäuden, und wenn es sich um Krankenanstalten handelt, gilt ihre Sorge in
erster Linie Möglichkeiten, die Patienten in solchen Institutionen zu überwa-
chen. Bei der Planung eines Krankenhauses sollte der Gesundheitszustand
der Patienten im Mittelpunkt stehen. Überwachungsmöglichkeiten und äs-
thetische Aspekte interessieren mich weniger als die Schallabsorption in den
Behandlungsräumen und der Einfluß der Architektur auf das Körperemp-
finden.
Um noch einmal darauf zurückzukommen, welche Möglichkeiten Kliniker
haben, ihre Praxisräume therapietauglicher zu machen: Die meisten Büro-
Vaguseinfiüsse und das Gefühl der Sicherheit • 13 9

räume haben glatte Wände, an denen man Wandbehänge und Bilder befe-
stigen kann, und die Böden kann man mit Teppichen dämpfen. Diese Maß-
nahmen schlucken viel Schall und bewirken, daß sich Besucher sicherer und
wohler fühlen. Solche Veränderungen wirken sich bei manchen Klienten sehr
positiv auf den Therapieverlauf aus.

Akustische Stimulation kann das System


für soziales Engagement aktivieren
DR. BuczYNSKI: Nun möchte ich Sie im Interesse aller, die traditionellen
Therapieansätzen folgen, fragen, ob es auch andere Möglichkeiten gibt, das
System für soziales Engagement zu nutzen? Ich meine hier Möglichkeiten,
die keinen Blickkontakt erfordern.

DR. PoRGES: Ja, und ich halte diese Frage für sehr gut und wichtig. Ich ha-
be viele Jahre über sie nachgedacht und aufgrunddessen die Idee entwickelt,
akustische Stimulation zu nutzen.
Gegen intrusive Therapien habe ich eine tiefe Abneigung. Einige schwören
auf sie. Ich hingegen verabscheue sie - das ist eine sehr persönliche Einstel-
lung.
Ich habe großen Respekt vor dem Individuum und möchte, daß es sich
spontan engagieren kann, und wenn es das tut, bin ich bereit, darauf einzu-
gehen. Reziprozität und reziproke Interaktion ist für mich ein wichtiger Wert,
und ich verstehe sie als neuronale Übung.
Wenn ein Mensch für Kommunikation nicht offen ist, kann man sein Sy-
stem für soziales Engagement mit Hilfe prosodischer vokaler Äußerungen
stimulieren. Weil prosodische Stimmen für Vokalmusik charakteristisch sind,
kann auch das Anhören von Vokalmusik von Nutzen sein.
Ich möchte in diesem Zusammenhang über ein Erlebnis berichten. Eine
Freundin von mir, eine Therapeutin, wollte mich auf einer Konferenz, zu der
sich mehrere Hundert Teilnehmer angemeldet hatten, vorstellen. Ich hatte
diese Frau immer für sehr temperamentvoll gehalten, und mir war nicht klar
gewesen, daß sie sich davor fürchtete, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Auf
einer Party am Vorabend der Veranstaltung gestand sie mir, sie habe große
Angst, mich so vielen Menschen vorzustellen. Es ist schon interessant, was
140 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

manche Leute sich nach einem oder zwei Drinks auf einer Party zu sagen
trauen. Ich sagte der Frau, sie solle sich keine Sorgen machen, »Ich krieg das
hin.«
Am nächsten Morgen um zehn Minuten vor Neun- mein Vortrag sollte
um neun Uhr stattfinden - sagte sie zu mir: »Okay, Stephen, jetzt tu' bitte,
was du mir versprochen hast.«
Ich schaute sie an und sah, wie sie sprach, nämlich in sehr kurzen Phrasen,
zwischen denen sie nach Luft schnappte. Wir alle kennen Menschen, die so
atmen: Sie japsen »wie auf dem letzten Loch«, was zeigt, daß sie starke Angst
haben. Doch der Schnappatem verstärkt die Angst noch.
Ich sagte zu ihr: »Dehne deine Sätze aus. Füge einfach Wörter ein, bevor
du das nächste Mal einatmest.« Das konnte sie nicht. Es gelang ihr nicht,
auch nur ein einziges Wort hinzuzufügen. Schließlich schaffte sie es doch,
ein Wort einzufügen, und dann noch eines, und irgendwann war sie in der
Lage, sehr lange Sätze auf einem einzigen Atemzug hervorzubringen. Außer-
dem sprach sie nun selbstbewußter. Und dann gelang es ihr wunderschön
und sehr lebendig, mich dem Publikum vorzustellen und dabei mit ihrer
Stimme ihre Verbundenheit mit den Zuhörern zum Ausdruck zu bringen.
Diese Frau, die Angst davor gehabt hatte, in der Öffentlichkeit zu sprechen,
nutzt heute das, was sie selbst geheilt hat, zur Behandlung von Menschen, die
unter sozialer Angst leiden.
Wenn wir die biologischen Zusammenhänge kennen, finden wir immer
Möglichkeiten - und im geschilderten Fall ging es darum, die Frau dazu zu
bringen, ihre Atemzüge beim Sprechen zu verlängern.
Aus neurophysiologischer Perspektive betrachtet wirkt der Vagus beim
Ausatmen beruhigender auf das Herz. Aber auch ein anderer Prozeß spielt
dabei eine Rolle: Wird die Regulation des Herzens durch den Vagus verstärkt,
gewinnt dieser auch stärkeren Einfluß auf die Kehlkopf- und Rachenmuskeln.
Dadurch wird die Stimme melodiöser und vermittelt anderen Menschen ein
Gefühl der Sicherheit. Diese Frau konnte nach unserer Übungssitzung mit
wohlklingender Stimme vor 900 Menschen sprechen.
All dies basiert darauf, daß selbst Menschen mit solchen Schwierigkeiten
spontan vielfältige soziale Verhaltensweisen entwickeln können, sofern uns
die Aktivierung des physiologischen Zustandes, der dies unterstützt, gelingt.
Dies können wir erreichen, ohne daß wir versuchen, das soziale Verhalten zu
trainieren oder zu kontrollieren. Mir geht es um eine völlig andere Strategie.
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 141

DR. BuczYNSKI: Wissen Sie mehr darüber, wie diese Frau mit Patienten, die
unter sozialer Angst leiden, arbeitet? Wie hat sie das, was sie selbst erlebt hat,
umgesetzt und angewendet?

DR. PoRGES: Sie nutzt die Verlängerung der Ausatemphase beim Sprechen.
Die Patienten wenden das Verhalten, das sie vorher in Angst versetzt hat, in
einem physiologischen Zustand an, in dem sie keine Angst mehr haben.
Noch einmal: Das Verlängern der Zeitspanne des Ausatmens oder des
Sprechens wirkt beruhigend auf die Physiologie, und das vorher ängstigende
Sprechen ruft nun keine Angst mehr hervor. Es stützt sich auf einen physio-
logischen Zustand der Ruhe. Außerdem verändert sich durch diese Arbeits-
weise auch die Stimme. Sie klingt nicht mehr quäkend, sondern voller - wes-
halb sie auch der Sprecherin selbst besser gefällt.

DR. BuczYNSKI: Die Übung, die Sie beschrieben haben, muß hörbar ausge-
führt werden. Gibt es auch Möglichkeiten, lautlos auf diese Weise zu arbei-
ten?

DR. PoRGES: Ich habe in meiner frühen Jugend einmal Klarinette gespielt. Ich
bin der Meinung, daß man viele Dinge durch Visualisation lernen kann, also
ohne ein Verhalten tatsächlich auszuführen. Ich konnte damals üben, ohne
tatsächlich das Instrument zu spielen. Wenn ich in einem Konzert ein Solo
zu spielen hatte, stellte ich mir die Stelle vor und spielte sie im Geiste. Man
kann vieles zunächst visualisieren und erst später mit dem realen Verhalten
verbinden.

DR. BuczYNSKI: Was die Sozialangst betrifft, frage ich mich, ob auch veräng-
stigte Menschen, deren Gehirn erstarrt ist und denen deshalb nicht einfällt,
was sie sagen könnten, in der Lage wären, ihre Sätze zu erweitern. Könnte
man die Betreffenden vielleicht einfach zählen lassen? Könnte man sagen:
»Sprich so viele Zahlen aus, wie du kannst, bevor du das nächste Mal einat-
mest?«

DR. PoRGES: Während Ihrer Demonstration haben Sie kurz nach Luft ge-
schnappt. Sie sind in einen physiologischen Zustand eingetreten, der demje-
nigen, den Sie zu beschreiben versuchten, sehr ähnlich war.
142 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Wenn Sie sich diese Sicht zu eigen machen, kann es passieren, daß Ihr Kli-
ent genau den physiologischen Zustand stärkt, der für das, was Sie eigentlich
erreichen wollen, kontraproduktiv ist.
Wenn man einen Klienten auffordert, langsam auszuatmen und dabei die
Sekunden des Ausatmens zu zählen, wirkt das eher aktivierend. Und wenn
man auf die Art, wie Sie es getan haben, »nach Luft schnappt«, führt das mit
ziemlicher Sicherheit zu einem Erstarren des Gehirns und zu einer Verände-
rung des physiologischen Zustandes.
Bei der von Ihnen vorgeschlagenen Art zu üben geschieht etwas, das sich
sehr einfach beschreiben läßt: Das Kontrollsystem des Vagus wird abgeschal-
tet, was zur Folge hat, daß es zur sympathischen Mobilisierung kommen
kann, weil der Körper sich nun auf Kampf oder Flucht vorbereitet, nicht auf
soziales Engagement.
Ich werde Ihnen noch ein Beispiel schildern. Ich sollte anläßlich einer
Konferenz über Mitgefühl einen Vortrag halten. Als ich vor den Teilnehmern
stand, schaltete plötzlich jemand das Licht im Saal aus.
Ich versuchte, mit meinem Vortrag zu beginnen. Zu Menschen zu spre-
chen, deren Gesichter man nicht sieht, ist, als fiele man aus einem Flugzeug.
Ich bekam keinerlei Feedback. Ich wußte nicht einmal, wo ich war, und das
war in einem gewissen Sinne schon paradox - schließlich ging es bei dieser
Konferenz um Mitgefühl.
Ich bat die Veranstalter, das Licht wieder einzuschalten, und erklärte: »Ich
selbst habe nichts von einem Vortrag, wenn ich die Gesichter meiner Zuhö-
rer nicht sehe.«
Im Grunde geht es hier darum, daß Menschen, die Angst haben, aus einer
Interaktion, an der sie beteiligt sind, nichts zurückbekommen - und sie könn-
ten viel zurückbekommen.
All dies können wir mit dem verbinden, was passiert, wenn Menschen ein
Trauma erlebt haben und damit fertig werden müssen, daß sie ihre Interak-
tionen mit anderen Menschen nicht mehr zur Regulation ihres physiologi-
schen Zustandes nutzen können.
Verängstigte Menschen können ihre Interaktionen mit anderen nicht nut-
zen, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Das ist kein kognitiver Prozeß.
Sie können sich nicht besser fühlen, weil bestimmte Strategien, die sie anwen-
den, dies verhindern: Ihre Art zu atmen und zu sprechen unterstützt Kampf-/
Flucht-Verhalten; sie sind zu reziproken Interaktionen nicht in der Lage.
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 143

Was ist die Zukunft der Traumabehandlung?


DR. BuczYNSKI: Stephen, wohin wird sich nach Ihrer Meinung die Trauma-
behandlung entwickeln? Was werden die interessantesten Aspekte dieser
Entwicklung sein- wo könnte sie in fünf Jahren stehen?

DR. PoRGES: Die Traumatherapie wird ganz sicher körperorientierter wer-


den. Ich befinde mich in diesem Prozeß in einer sehr interessanten Position,
weil ich selbst kein Kliniker bin. Das hat mir einen phantastischen Einblick
in diverse Modelle der Traumabehandlung ermöglicht, unter anderem in das
von Peter Levine entwickelte Somatic Experiencing, in die Sensumotorische
Therapie von Pat Ogden und in die Arbeit von Bessel van der Kolk . Diese
weitblickenden Kliniker haben gemerkt, daß die Polyvagal-Theorie ein nütz-
liches Erklärungsmodell ist, das ihnen hilft, ihrer eigenen Arbeit ein neuro-
biologisches Fundament zu geben.
Die Polyvagal-Theorie beschreibt die neurobiologische Verbindung zwi-
schen Körper und Gehirn sowie zwischen dem Körper und den psychischen
Prozessen.
Wir nähern uns heute einem Verständnis, das Traumata als adaptive Re-
aktionen sieht. Der adaptive Charakter mag sich nur auf die Reaktion zum
Zeitpunkt des traumatischen Erlebnisses beziehen, wohingegen die Charak-
teristika der Reaktion fixiert werden und später in anderen Zusammenhän-
gen auf inadäquate Weise erneut auftauchen.
Alle Modelle der Traumabehandlung, Somatic Experiencing ebenso wie
die Sensumotorische Therapie, versuchen, die Schwelle des Eintritts der
Shutdown-Reaktion zu verändern, und bemühen sich außerdem um die Stär-
kung des sozialen Engagements ihrer Klienten. Und alle diese Therapien ver-
ändern den physiologischen Zustand.
Die Grundlage von alldem - und das ist mein Ansatzpunkt für alle meine
weiterführenden Überlegungen und Aktivitäten - ist die Fähigkeit, die Ge-
genwart eines anderen Menschen zur Regulierung des eigenen physiologi-
schen Zustandes zu nutzen.
Deshalb ist mir das Konzept des biologischen Imperativs in den Sinn ge-
kommen: Es ist nicht gut für die Sicherung unseres Überlebens, wenn wir
nicht mit einem anderen hierfür geeigneten Säugetier interagieren. Man
könnte in die Behandlung von Traumata die Arbeit mit Hunden einbezie-
144 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

hen. - Ich bin in Projekte der Army involviert, bei denen Hunde therapeu-
tische Funktionen übernehmen. Es geht darum, das Nervensystem eines Pa-
tienten dazu zu bringen, sich spontan auf das Nervensystem eines anderen
Menschen einzulassen. Um gesund werden und bleiben zu können, brauchen
wir soziales Engagement.
Die Zukunft der Traumabehandlung wird nicht vom Einsatz pharmazeuti-
scher Präparate geprägt sein - und das ist für Ärzte, die gelernt haben, medi-
kamentösen Behandlungen immer den Vorzug zu geben, schwierig.
Psychiater werden im Grunde zu Psychopharmakalogen ausgebildet und
lernen zu glauben, Medikamente könnten die Störungen, die sie behandeln
wollen, erfolgreich bekämpfen. Ihnen ist nicht klar, daß diese Mittel gleich-
zeitig Feedbackschleifen und viele andere Körpersysteme außer dem Ziel des
Medikaments beeinträchtigen.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die Zukunft anderswo als in medika-
mentösen Langzeitbehandlungen zu suchen sein muß - wobei ich nicht ab-
streiten will, daß solche Mittel für eine akute Behandlung oder in Notfällen
sehr nützlich sein können. Wir müssen aber mehr Respekt gegenüber der
Gesamtheit der Feedbackschleifen unseres Nervensystems entwickeln und
sie besser zu verstehen lernen. Diese Feedbackschleifen betreffen nicht nur
die Beziehung zwischen Körper und Gehirn, sondern auch die Beziehungen
zwischen Menschen bei der Regulation von Körper und Gehirn.

DR. BuczYNSKI: Bei Traumabehandlungen spielt Vertrauen sicherlich eine


wichtige Rolle, und eines der wichtigsten Ziele der Polyvagal-Theorie ist die
Suche nach Möglichkeiten, Menschen zu einem stabileren Gefühl der eige-
nen Sicherheit zu verhelfen. Deshalb frage ich mich, ob auch Familien- und
Paartherapeuten Ihren Ansatz nutzen.

DR. PoRGES: Ich habe kürzlich auf der Paarkonferenz der Erickson Founda-
tion gesprochen. Die Einladung dorthin kam für mich sehr überraschend.
Demnächst werde ich für die American Group Psychotherapy Association
einen Vortrag halten. Diese Wirkungsfelder sind mir völlig neu.

DR. BuczYNSKI: Ich stelle mir vor, ein Partner ist aus irgendeinem Grund
sehr verletzt und reagiert auf belastende Situationen mit Rückzug, und der
Vaguseinflüsse und das Gefühl der Sicherheit • 145

andere Partner empfindet Angst - eine klassische Kombination, mit der wir
oft konfrontiert werden.
Wie könnten wir die zweite Person dazu bringen, sich so zu verhalten, daß
die erste sich beruhigt?

DR. PoRGES: So etwas ist sehr schwierig, und ich sage das, weil ich selbst
Ehemann, Vater und Mentor bin. Es ist sehr schwer, das eigene Verhalten zu
regulieren, wenn man auf irgendeinen Trigger oder ein Signal reagiert hat.
Als Beteiligter die Beobachterrolle zu übernehmen ist nun einmal ein beson-
deres Kunststück. Deshalb gestaltet sich die Interaktion von Paaren oft so
schwierig. Einer meiner Kollegen, Stanley Tatkin, beobachtet die physiolo-
gischen Reaktionen von Paaren mit Hilfe von Videoaufnahmen und wertet
diese Beobachtungen dann aus. Solche Untersuchungen der Physiologie zei-
gen, daß sich der physiologische Zustand eines Menschen ständig verändert.
Leider werden wir als Beteiligte durch unsere kognitiv-behaviorale Weltsicht
behindert, die nicht völlig respektiert, was geschieht, wenn unsere Physiolo-
gie aus dem Ruder läuft.
Wenn wir als Außenstehende ein Paar in einer Therapiesituation beobach-
ten, die das rasche Ansteigen der Herzfrequenz und die Erhöhung des Blut-
drucks fördert, und einer der Partner droht buchstäblich aus der Haut zu fah-
ren, sagen wir oft: »Nun beruhige dich doch. Setz' dich, und mach' dir keine
Sorgen.« Doch wenn jemand sich in diesem Zustand befindet, verarbeitet er
solche Aufforderungen nicht rational, weil seine Neurozeption mit anderen
Dingen beschäftigt ist.
Wir müssen lernen, mit den Einschränkungen, die ein bestimmter physio-
logischer Zustand unserem eigenen Verhalten oder dem Verhalten unseres
Partners auferlegt, respektvoller umzugehen.

DR. BuczYNSKI: Ich bin einmal wieder fasziniert. Ich wußte, daß wir im Lau-
fe unseres Gesprächs auf Ideen kommen würden, von denen ich im Traum
nicht gedacht hätte, daß wir darüber sprechen würden. Ich halte das, was
Sie gerade gesagt haben, und Ihre Gedanken über soziale Angst und deren
Behandlung für außerordentlich wichtig. Wir haben in diesem Gespräch un-
glaublich viele Dinge angesprochen. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Her-
zen, Stephen.
146 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Unsere Zeit ist leider um, und ich möchte mich bei Ihnen noch einmal
für Ihr gesamtes Wirken bedanken: für Ihre Ideen, Ihre Studien und Ihre
Forschungsarbeit. Obwohl Sie schon emeritiert sind, befinden Sie sich offen-
sichtlich immer noch in einer sehr produktiven Lebensphase.

DR. PORGES: Oft wird gesagt, es dauere etwa vierzig Jahre, bis man vollstän-
dig ausgebildet sei!
Auch ich habe Ihnen zu danken, Ruth. Mir gefällt unsere Interaktion und
daß Sie mir die Möglichkeit geben, über alle diese Dinge zu sprechen. Und
ich hoffe wirklich sehr, daß Therapeuten einige der Ideen, über die wir ge-
sprochen haben, für ihre Arbeit nutzen können. Vielen Dank!
KAPITEL 6

Die Zukunft der


Traumatherapie aus Sicht der
interpersonalen Neurobiologie
Stephen W. Porges & Lauren Culp

LAUREN CuLP: Welche Veränderungen im Bereich der Traumabehandlung


prognostizieren Sie für die nächsten Jahre?

STEPHEN PoRGES: Traumata bringen traditionelle Therapiemodelle in


Schwierigkeiten. Diese basieren auf der Annahme, daß die meisten psy-
chischen Störungen eine gemeinsame neurobiologische Grundlage ha-
ben, verbunden mit Mechanismen, die Streß, Kampf-/Flucht-Verhalten und
sympathische Aktivierung verstärken. Bei all diesen Konstrukten spielen Hy-
perarousal-Zustände eine Rolle, die eine atypische Verhaltensregulation zur
Folge haben. Allerdings wird Klinikern, die Traumatisierte evaluieren, oft klar,
daß der neurobiologische Ausdruck ihres Traumas nicht immer im Bereich
des Spektrums starker defensiver Mobilisierung liegt, also im Bereich der
Kampf-oder- Flucht-Reaktionen, sondern daß er häufig in einem Spektrum
von Immobilisierungsreaktionen seinen Ausdruck findet. Die betreffenden
Klienten erleben dann keinen Hyperarousal-Zustand mit verstärktem Mobi-
lisierungsverhalten, sondern eher eine Art von totalem behavioralem Shut-
down, verbunden mit subjektiven Empfindungen der Verzweiflung und so-
gar mit dissoziativen Elementen, in denen der Wunsch zu verschwinden zum
Ausdruck kommen kann.

Dieses Interview wurde von Stephen W. Porges für diese Buchausgabe überarbeitet. Das Original ent-
stand im Winter 2010 und wurde als GAINS-lnterview veröffentlicht.
© Global Association for Interpersonal Neurobiology Studies, 2010. Website: www.mindgains.org
148 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Die genannten behavioralen und psychischen Symptome lassen sich mit


klassischen Konstrukten wie Defensivität und Streß oder gar mit klinischen
Diagnosen wie Angst und Depression nicht zufriedenstellend erfassen. Diese
Diskrepanz zwischen der Situation Traumatisierter und den heutigen dia-
gnostischen und theoretischen Ansätzen verhalf den von mir im Rahmen
der Polyvagal-Theorie entwickelten Konzepten zu Aufmerksamkeit und
Gehör. Bei der Entwicklung dieser Theorie ging es mir um die Erklärung ei-
nes fundamentalen Defensivsystems, das Säugetiere in lebensbedrohlichen
Situationen benutzen, ein System, für das Erstarren, Immobilisierung oder
der Zustand des Shutdown charakteristisch sind. Das Tier, das sich in diesem
Zustand nicht bewegt, kann von Raubtieren nicht entdeckt werden. Neben-
wirkungen dieser Defensivstrategie konnten sein, daß die betroffenen Tiere
ohnmächtig wurden und daß Menschen in dissoziative Zustände eintraten.
Das alte Defensivsystem ermöglicht vielen Tierarten, in Situationen, in denen
sie in Lebensgefahr sind, zu überleben.
Ich hatte diese Defensivstrategie zunächst nicht als Reaktion auf ein Trau-
ma verstanden, sondern angenommen, es handle sich um eine primitivere
adaptive Reaktion, die Säugetiere mit Reptilien gemeinsam haben und die
Reptilien ständig benutzen. Doch als ich dieses Modell und die damit ver-
bundene Theorie in Vorträgen öffentlich vorzustellen begann, weckte die
soeben beschriebene Facette der Polyvagal-Theorie in starkem Maße das In-
teresse von Traumatherapeuten. Die Gruppe, die die Implikationen der Poly-
vagal-Theorie am besten verstanden hat, ist die der Kliniker, die Traumata
behandeln. Ihnen erschließt die Polyvagal-Theorie eine Möglichkeit, die bei
Traumatisierten auftretenden Symptome zu verstehen.
Ich habe mit Klinikern sowie schwer Traumatisierten sehr interessante Ge-
spräche geführt, die meine Forschungsarbeit stark beeinflußt haben. Durch
sie habe ich erfahren, daß schwer Traumatisierte oft Zustände erleben, die
andere theoretische Modelle nicht zu erklären vermögen. Viele Traumatisier-
te sagten sogar, sie fühlten sich als Opfer der therapeutischen Modelle, denen
gemäß sie behandelt wurden! Die persönlichen Erlebnisse dieser Menschen
haben mich inspiriert. Von ihnen habe ich erfahren, daß die Symptome, unter
denen sie litten, im Rahmen der klinischen Behandlungen, die sie erhielten,
nicht plausibel erklärt werden konnten. Viele hatten das Gefühl, verrückt zu
sein. Sie konnten ihre eigenen Gefühle angesichts ihrer Traumata und deren
Auswirkungen auf ihre Psyche nicht verstehen. Aufgrund der Informationen,
Die Zukunft der Traumatherapie • 149

die ich sowohl von Traumatherapeuten als auch von schwer Traumatisierten
erhielt, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Traumatisierte in meinen
Vorträgen und Workshops aufzufordern, es ihrem Körper hoch anzurechnen,
daß er in sehr gefährlichen Situationen so geschickt zu navigieren und zu ver-
handeln vermochte, daß sie der Gefahr entgangen seien. Im Grunde wollte
ich sie dazu anhalten, zu würdigen, daß ihr Körper und ihr Nervensystem sie
in einen Zustand versetzt hätten, in dem sie hätten überleben können.
Nun hat ihre Reaktion auf eine lebensgefährliche Situation sie zwar in die
Lage versetzt zu überleben, aber gleichzeitig entstand dadurch auch ein Pro-
blem, nämlich daß es nur schwer möglich ist, aus diesem Zustand wieder in
einen solchen größerer Verhaltensflexibilität zurückzukehren und insbeson-
dere die gleiche Fähigkeit zu sozialer Interaktion wie vor dem Trauma wie-
derzuerlangen. Doch wenn uns klar ist, daß der Zustand, der uns gerettet hat,
auch momentan noch unsere Fähigkeit zu sozialem Kontakt einschränkt und
dadurch verhindert, daß wir uns wohlfühlen, können wir die Erfolge, die wir
den autonomen Reaktionen unseres Körpers zu verdanken haben, trotzdem
würdigen.
Wenn ich mit Klinikern spreche, frage ich sie oft: »Was würde wohl ge-
schehen, wenn Sie Ihren Klienten, statt sie aufzufordern, sich stärker um
soziale Interaktion zu bemühen, vorschlagen würden: >Was halten Sie da-
von, wenn wir uns jetzt ein wenig Zeit nehmen, um zu würdigen, was Ihr
Körper für Sie getan hat?<« Nach solchen Äußerungen in meinen Vorträgen
erhielt ich immer wieder eMails von den Therapeuten, die mir bestätigten,
daß schon allein die Entmystifizierung von Reaktionen auf Traumata heilend
wirkte. Einige ihrer Klienten seien genesen oder zumindest seien ihre Sym-
ptome deutlich zurückgegangen, sobald sie die Angst davor verloren hätten,
daß ihr Körper etwas tue, das sie nicht verstünden.
Ich nehme an, daß die Traumatherapie davon abkommen wird, adaptives
Defensivverhalten generell in den Kategorien Kampf oder Flucht zusammen-
zufassen, und daß sie lernen wird, die primitiven Defensivsysteme zu würdi-
gen, denen es so unglaublich gut gelingt, uns zu ersparen, daß wir im Augen-
blick des traumatischen Geschehens Verletzungen und Schmerzen spüren.
Die wirklich wichtige Frage bezüglich der therapeutischen Behandlung von
Traumata lautet: Wie können wir einem Menschen aus dem Zustand des
Shutdown heraushelfen und ihn in einen Zustand befördern, in dem er mit
anderen Menschen interagieren und sich sicher fühlen kann?
150 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

LAUREN CuLP: Jemand aus dem engsten Kreis meiner Familie wurde von ei-
nem Einbrecher aus dem Schlaf gerissen und entwickelte aufgrund dieses Er-
lebnisses PTBS. Zusätzlich zu den Bemühungen von Therapeuten, der Trau-
matisierten bei der kognitiven Verarbeitung des Erlebten zu helfen, nutzte
ich meine Erfahrungen als Massagetherapeutin und versuchte, die Verwand-
te durch Berührung zu erden. Wie schätzen Sie den Nutzen therapeutischer
Berührung in solchen Fällen ein?

STEPHEN PoRGES: Wenn Menschen ein Trauma erlebt haben, sind sie in der
Regel anderen Menschen gegenüber nicht sehr offen und auch Berührungen
gegenüber eher reserviert. Als Therapeutin müssen Sie in solchen Fällen sehr
sensibel mit der Verletzlichkeit ihrer Klienten umgehen und das Zeitfenster
finden und nutzen, in dem eine Veränderung wirklich möglich ist. Dabei
müssen Sie auch die Reaktion des Klienten auf Ihre Bemühungen, aktiv ein-
zugreifen, sehr genau registrieren. Ich versuche, Therapeuten dazu anzuhal-
ten, auf Anzeichen dafür zu achten, daß Klienten ihre Resilienz verlieren, und
ihnen beizubringen, sich zurückzuhalten, statt sie mit möglichst viel Energie
in eine Extremposition hineinzutreiben, wie es in bestimmten therapeuti-
schen Modellen lange üblich war.

LAUREN CuLP: Das klingt sehr interessant. Sie sagen also, es sei wichtig, ge-
genüber den Signalen von traumatisierten Patienten sehr präsent zu bleiben
und ihre besondere Erlebensweise zu respektieren. Als Kliniker sollte ich
auch versuchen, Bereiche zu finden, in denen Klienten die Werkzeuge ent-
deckt haben, die sie brauchen, um sich selbst helfen zu können, ihr Erleben
neu zu organisieren.

STEPHEN PoRGES: Bei der Behandlung von Traumatisierten geht es nicht in


erster Linie um das Ereignis selbst, sondern entscheidend ist die Reaktion
des Betroffenen darauf. Es gibt einen Merksatz, den ich immer wieder gern
zitiere: »Jeder schafft sich seine Hölle selbst.« Ich verstehe das im folgenden
Sinne: Meine Urteile über ein traumatisches Ereignis sind für den Klienten
selbst irrelevant. Einzig und allein seine eigene Reaktion entscheidet über
den Verlauf der Genesung. Das Nervensystem eines Klienten kann auf Si-
tuationen, die wir selbst für relativ harmlos halten, reagieren, als gehe es für
ihn um Leben und Tod. Wird jemand in der Nacht von einem Einbrecher
Die Zukunft der Traumatherapie • 151

geweckt, könnten Freunde und Bekannte danach zu ihm sagen: »Was willst
du eigentlich? Du lebst noch und bist nicht verletzt worden. Worüber machst
du dir trotzdem Sorgen?« Äußert sich ein Therapeut in diesem Sinne einem
traumatisierten Klienten gegenüber, so mangelt es ihm an Respekt gegenüber
der körperlichen Reaktion des Traumatisierten auf eine massive Verletzung
der Privatsphäre. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, daß unser Nerven-
system manchmal im Einklang mit einer willentlichen Entscheidung von uns
tut, was wir von ihm erwarten, uns aber in anderen Situationen praktisch
verrät, obwohl es uns eigentlich retten will.
Ein Beispiel hierfür ist eine Überprüfung meines Herz- Kreislauf-Systems
durch einen Kardiologen vor einigen Jahren. Während der Untersuchung lö-
ste sich ein Infusionsschlauch und drohte herauszurutschen. Ich machte die
Arzthelferin darauf aufmerksam, die daraufhin das Katheter hin und herbe-
wegte, um festzustellen, ob es richtig eingesetzt war. Diese Bewegung akti-
vierte bei mir afferente neuronale Verbindungen, die den Blutdruck regulie-
ren. Die Folge war, daß ich ohnmächtig wurde. Das hatte nicht das Geringste
mit Furcht zu tun, sondern war ein Resultat der Aktivierung bestimmter sen-
sorischer Rezeptoren. Ähnlich wie die Symptome Traumatisierter deutet die
Schulmedizin auch behaviorale Folgen psychologisch, ohne in Erwägung zu
ziehen, ob Verhaltensweisen wie Ohnmächtigwerden physiologische Reflexe
sind.
Man sollte allerdings auch umgekehrt nicht annehmen, unser Körper
steuere alles, was geschieht, beeinflusse Gehirn und Bewußtsein im Sinne
eines Bottom-up-Modells. Natürlich haben wir auch Zugang zu Top-down-
Schaltkreisen, die uns die Möglichkeit geben, unsere kognitiven Funktionen
zur Restrukturierung und zur Verbesserung unserer Funktionsfähigkeit zu
nutzen, auch wenn wir Traumata erlebt haben, durch die unsere normale
Entwicklung gestört wurde.
Um zu erklären, wie wir Top-down-Modelle nutzen können, benutze ich
oft eine Metapher, die ich »Big-Brain«-Metapher nenne. Wir Menschen kön-
nen uns glücklich schätzen, daß wir ein so großes Gehirn haben, das wir nut-
zen können, um Informationen aufzunehmen und quasi zu unseren eigenen
Eltern zu werden, statt uns mit unseren frühkindlichen Defiziten aufzuhalten
und frühe Störungen unserer Entwicklung und Traumata als unabänderliche
Einflüsse zu verstehen, die unausweichlich zu Mißerfolgen und zum Schei-
tern führen. Da wir ein gutes - weil großes - Gehirn haben, können wir nun
152 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

anfangen, über Top-down-Mechanismen zu sprechen. Mit Bottom-up-Me-


chanismen, die beinhalten, daß der Körper das Gehirn buchstäblich unter-
jocht, habe ich mich schon befaßt.
Unser Gehirn vermag zu erkennen, wie sich unser Körper fühlt. Wir kön-
nen Dinge umdeuten, sie anders sehen, als wir es bisher gewohnt waren; wir
können Enttäuschung und Wut in ein Verständnis dessen umwandeln, daß
die Menschen, von denen wir uns enttäuscht fühlen, nur versucht haben, sich
unter sehr schwierigen Umständen an die Situation, mit der sie konfrontiert
wurden, anzupassen. Viele Menschen schaffen es nie, die Vergangenheit los-
zulassen; deshalb schreiben sie ihre aktuellen Probleme weitgehend frühen
Erlebnissen mit sehr unzulänglichen Eltern zu. Dabei vergessen sie, daß auch
ihre Eltern einmal Kinder waren, die von ihren eigenen Eltern wahrscheinlich
auch nicht optimal betreut worden sind, vielleicht sogar lebensgefährliche Si-
tuationen durchstehen mußten und wahrscheinlich noch relativ unreif oder
unsicher waren, als die Klienten geboren wurden. Oft vergessen Menschen,
die ihre Eltern für alle ihre Probleme verantwortlich machen, daß auch sie
selbst Eltern sind. Sie konstruieren eine generationenübergreifende Patho-
logie, die ihre eigene Elternschaft ebenfalls als unzureichend erscheinen läßt.
Weil wir ein »großes Gehirn« haben, sind wir in der Lage zu verstehen, daß
viele Dinge, die für uns in der Vergangenheit schmerzhaft waren, durch ein
im Grunde harmloses adaptives Verhalten stimuliert wurden.
Dafür möchte ich ein einfaches Beispiel anführen. Wir alle sind sehr sensi-
bel, wenn wir uns mit jemandem in einem Gespräch befinden, und diese an-
dere Person geht plötzlich einfach weg, ohne die soziale Interaktion förmlich
zu beenden. Wenn wir so etwas erleben, schreit unser Körper förmlich auf,
um uns mitzuteilen, daß etwas nicht in Ordnung ist. Wir können solch eine
Situation nicht dulden, weil sie gegen unsere Erwartungen bezüglich sozialer
Interaktion verstößt.
Wohl nur wenige Menschen würden in solch einem Fall sagen: »Das ist
zwar ziemlich merkwürdig, aber warum sollte ich deswegen aufgebracht
sein?« Nicht einmal die klügsten Wissenschaftler und Kliniker würden solch
ein Verhalten mit dem Hinweis erklären, die betreffende Person leide mögli-
cherweise unter einer Störung des autistischen Spektrums. Vielmehr würden
sie dem unsensiblen Verhalten eines Menschen, der sich ohne Vorwarnung
aus einem Gespräch entfernt, eine Motivation unterstellen. Beispielsweise
könnten wir denken, daß der Betreffende uns nicht mag, uns nicht schätzt
Die Zukunft der Traumatherapie • 153

oder wir ihm nicht wichtig genug sind. Wir denken uns eine plausible Er-
klärung aus, die dem Verhalten einen Sinn zuschreibt. Wir treten nicht vom
Geschehen zurück und sagen uns beispielsweise, die betreffende Person ver-
suche, sich an eine sehr komplexe soziale Umgebung anzupassen, sei aber
nicht im Besitz der dazu erforderlichen Ressourcen.
Ich halte die Tatsache für extrem wichtig, daß wir sowohl über Bottom-
up- als auch über Top-down-Strategien verfügen. Mit Hilfe von Bottom-up-
Strategien unterwirft unser Körper unser Gehirn und vermittelt Gefühle und
Empfindungen, die in Zusammenhang mit Anpassungen an Streß und Ge-
fahr auftreten und sich auf unsere Wahrnehmung der Welt auswirken. Wir
verfügen aber auch über Top-down-Strategien, die uns ermöglichen, uns in
eine sichere Umgebung zu versetzen, wo wir unseren Wissensfundus nutzen
können, um Dinge, die uns verletzt haben, zu entschlüsseln und zu entmysti-
fizieren.

LAUREN CuLP: Ich behandle in meiner klinischen Praxis erwachsene Kinder


von Eltern mit Spektrum-Störungen von ADHS bis Asperger-Syndrom, die
aufgrund dieser neuen Erkenntnis ihr aktuelles Erleben und Verstehen stark
verändern können.

STEPHEN PoRGES: Genau! Wenn wir die Geschichte unserer eigenen Vergan-
genheit erzählen, sind wir keine Kinder mehr, sondern Erwachsene. Das ist
eine sehr interessante und wichtige Perspektive. Sie ist sehr wichtig für Men-
schen meiner Generation, deren Eltern Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise
und andere Dinge miterlebt haben, an die wir in unserer heutigen Kultur
nicht einmal mehr denken. Wir sagen: »Nun ja, diese Leute habenalldies im-
merhin überlebt.« Natürlich hätten wir mehr Verständnis dafür aufbringen
sollen, daß mit ihrem Überleben kein Gefühl der Sicherheit verbunden war.

LAUREN CuLP: Sie haben das autistische Spektrum erwähnt, und ich frage
mich, was Ihre Arbeit in Schulen und im Bereich des Autismus beinhaltet.

STEPHEN PoRGES: Ich war an der Planung des Gebäudes einer Schule für
Autisten beteiligt, die in Chicago von der Easter Seals Foundation betrieben
wird. Dieses Gebäude mußte bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Eine da-
von war, daß Ruhe herrschen sollte. Also arbeiteten wir daran, Geräusche zu
154 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

reduzieren und außerdem möglichst viel Licht in die Räume zu lassen, das
aber nicht blenden oder ablenken sollte. Deshalb wurde nicht blendendes,
indirektes Licht bevorzugt. Die Räume in der Schule sind sehr gut schallge-
dämpft; sie absorbieren Geräusche. Dafür sorgten wir, weil bei vielen unter
Autismus Leidenden die Schwellen für Geräusch-, Klang- und Lichtempfind-
lichkeit deutlich niedriger liegen als bei anderen Menschen. Autisten sind
hypersensibel für Geräusche und Klänge. Bei manchen ist sogar der Pupillar-
reflex gedämpft, was zur Folge hat, daß sich ihre Pupillen nicht weiten. Im
Grunde befinden sich die meisten Kinder mit einer Störung des autistischen
Spektrums in einem physiologischen Mobilisierungszustand, in dem ihre Pu-
pillen stärker geweitet sind und ihre Mittelohrmuskeln ihre Funktion nicht
optimal erfüllen. Sind die Pupillen geweitet, besteht bei den Betroffenen auch
eine Lichthypersensibilität. Arbeiten die Muskeln des Mittelohrs nicht opti-
mal, reagieren die betroffenen Kinder übertrieben stark auf Geräusche und
Klänge. Diese Erkenntnisse haben wir bei der Planung der Schule berück-
sichtigt.
Außerdem haben wir versucht, die Schulkultur zu verändern. Das ist ein
sehr interessanter Ansatzpunkt. Innerhalb des Schulsystems werden Autisten
von Sonderpädagogen betreut, die dazu viele verschiedene unterstützende
Ansätze heranziehen, beispielsweise Sprech- und Sprachtherapie, Ergothera-
pie und Physiotherapie; aber letztlich handelt es sich um ein sonderpädago-
gisches Erziehungsmodell, und die üblichen sonderpädagogischen Strategien
wurden nicht speziell für Autisten, sondern für Schüler mit einer Lernschwä-
che entwickelt, die weder unter Hypersensibilitäten leiden noch Probleme
mit der Zustandsregulierung haben. Die Anwendung sonderpädagogischer
Behandlungsmodelle auf eine Population, die im Grunde behavioral reaktiv
ist, erzeugt ein gewaltiges Problem.
Für die Behandlung von Autismus habe ich das Listening Project entwik-
kelt, das wir nun in die Arbeit in Schulen zu integrieren versuchen. Dabei
verstehen wir die Lehrer-Schüler-Dyade, als handle es sich um einen Schü-
ler und einen Elternteil. Wir versuchen zu evaluieren, ob und wie sich beru-
higendes Einwirken auf den Schüler positiv auf dessen Interaktion mit dem
Lehrer auswirkt. Im Rahmen unserer Forschungsarbeit in Schulen versuchen
wir zum einen, die Regulation des Verhaltenszustandes zu verbessern, indem
wir die neurophysiologische Regulation fördern. Dabei benutzen wir sowohl
das Listening Project als auch in Zukunft ein Protokoll, das die Einbeziehung
Die Zukunft der Traumatherapie • 15 5

von Biofeedback-Verfahren zur Regulation der Herzfrequenz vorsieht. Dies


basiert auf der Auffassung, daß es möglich ist, die Dynamik der schulischen
Umgebung zu verändern, indem man daran arbeitet, daß die Kinder ruhiger
werden.
Ein zweiter Aspekt unserer Arbeit in Schulen ist die Linderung auditari-
scher Hypersensibilität, die für das Listening Project zentral ist. Bei minde-
stens 6o Prozent der Menschen mit Autismus besteht auditarische Hyper-
sensibilität. Fragt man Eltern autistischer Kinder und Erwachsener, ob sie bei
ihren Kindern auditarische Hypersensibilitäten beobachtet haben, antwor-
ten sie wahrscheinlich, dieses Problem habe bei ihren Kinder einmal bestan-
den- sofern es nicht noch besteht. Oft antworten sie etwas wie: »Wir haben
ihnen beigebracht, sich nicht die Finger in die Ohren zu stecken.« Sie haben
ihren Kindern also ausgerechnet das Verhalten abgewöhnt, das ihnen eine
adaptive Reaktion erschlossen hätte. Die Kinder bemühten sich aufgrund ih-
rer auditarischen Hypersensibilität, sich an die lauten auditarischen Reize
anzupassen, indem sie sich die Finger in die Ohren steckten; doch ihre Eltern
und Lehrer empfanden dieses Verhalten nur als störend. Sie hielten es für
eine Demonstration dessen, daß die Kinder ihnen nicht zuhören wollten. Es
kam ihnen also gar nicht in den Sinn, daß die Geräusche für die Kinder uner-
träglich sein könnten, einfach weil diese für sie selbst, die Eltern und Lehrer,
völlig harmlos waren. Auch hier geht es also wieder darum, daß die Welt der
Medizin und die Schulen offenbar nur sehr eingeschränkt bereit sind, den
physiologischen Zustand und das sensorische Erleben anderer Menschen zu
respektieren. Verändert man die Kultur dahingehend, daß sie die individuel-
len Unterschiede der Reaktion des Nervensystems verschiedener Menschen
respektiert, beginnt man mit der Veränderung von Entwicklungsverläufen,
und genau das ist das Ziel unserer Arbeit.
Das eigentliche Problem ist, daß Schulen Kinder mit einem besonderen
Betreuungsbedarf in einem gewissen Sinne »wegsperren« oder »aufbewah-
ren«. Die Schulverwaltungen geben zwar enorme Summen für die Behand-
lung und Ausbildung von Kindern mit Autismus aus, doch reichen die schu-
lischen Fortschritte der meisten dieser Kinder nicht aus für eine gelungene
Integration in die Gesellschaft. Natürlich gibt es autistische Kinder, denen
die Aufnahme in ein College gelingt und die dort erfolgreich sind; aber im
allgemeinen sind die Erfahrungen, die diese Kinder in Schulen machen, für
sie ebenso belastend wie für ihre Familien und Lehrer. Ich möchte eine Um-
156 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

gebung kreieren, in der nicht nur die Wissenschaft die Praxis beeinflußt, son-
dern die Praxis auch die Wissenschaft.
An unserer Autismus-Studie wirken Wissenschaftler und Kliniker mit sehr
interessanten theoretischen Ansichten über das Wesen von Autismus mit.
Weniger gut haben diese Experten im Blick, daß die für Autisten typischen
Symptome sich auf deren Leben sehr beeinträchtigend auswirken. Ein Bei-
spiel hierfür sind die auditarischen Hypersensibilitäten, die im Alltagsleben
vieler betroffener Familien sehr störend wirken. Doch mit diesem Aspekt
wollen sich die Autismusforscher nicht beschäftigen. Sie wollen nichts damit
zu tun haben, und die Institutionen, die Forschungsgelder vergeben, wollen
sich in diesem Bereich nicht engagieren. Ihnen geht es um die neurobiolo-
gische oder genetische Signatur des Autismus. Doch sie werden nichts Ent-
sprechendes finden, weil die behavioralen und neurophysiologischen Cha-
rakteristika von Menschen, die unter Autismus leiden, sehr unterschiedlich
sind.
Auditorische Hypersensibilität wurde auch bei Traumatisierten beobach-
tet. Es könnte zutreffen, daß verschiedene psychische Störungen einen ge-
meinsamen Kern klinischer Probleme aufweisen, weil es zu einem Rückzug
der Neuroregulation des Systems für soziales Engagement kommt, wenn sich
der physiologische Zustand in einem Defensivmodus befindet. Ein Rückzug
des Systems für soziales Engagement hat sowohl auditarische Hypersensibi-
lität als auch jene Ausdruckslosigkeit der Mimik zur Folge, die man bei vielen
klinischen Störungen beobachten kann.
Ein weiterer problematischer Aspekt der Autismusforschung ist, daß sie
praktisch ausschließlich in wissenschaftlichen Laboratorien durchgeführt
wird. Wo wird Autismus diagnostiziert? In einer Klinik. Und eine klinische
Umgebung aktiviert Defensivverhalten, das zu einer Einschränkung der
Funktionalität des Verhaltens führt. Weder in einer Klinik noch in einem
wissenschaftlichen Laboratorium läßt sich feststellen, ob die Unterschiede
zwischen Menschen mit und ohne Autismus auf Defensivreaktionen mit der
Umgebung zusammenhängen oder tatsächlich Charakteristika der betreffen-
den Personen sind. Das Beispiel, über das Sie berichtet haben, demonstriert
perfekt, daß Kliniker nur bestimmte Merkmale wahrnehmen. Die besten
Chancen, autistisches Verhalten wirklich zu verstehen, hat man, wenn man
ein Kind, das unter Autismus leidet, in einer ihm vertrauten Umgebung be-
obachten kann. Deshalb kam ich auf die Idee, meine Untersuchungen nicht
Die Zukunft der Traumatherapie • 157

im Labor, sondern in einer Schule durchzuführen, wo das Kind mit dem Kon-
text vertraut ist. Ich wollte auf diese Weise die starke Unsicherheit verringern,
mit der es konfrontiert wird, wenn es in einer ihm völlig neuen Umgebung
getestet wird.
Im Rahmen des Listening Projects erleben wir immer wieder wundervolle
Dinge. Nach Abschluß der Intervention umarmen viele der teilnehmenden
Kinder spontan die Mitarbeiter und äußern den Wunsch wiederzukommen.
Die Situation in der Schule, in der die Untersuchung stattfindet, ist unter-
stützend und freundlich und wirkt beruhigend: Sie erzeugt bei den Kindern
keinerlei Streß. Man vergleiche einmal die Situation eines wissenschaftlichen
Laboratoriums in einer Schule mit einem MRI-Scan eines solchen Kindes in
einem Krankenhaus. Ich habe ohnehin nie verstanden, wie man autistische
Kinder und Erwachsene dazu bringen kann, sich in einen MRI-Scanner zu
legen, weil viele von ihnen doch unter auditarischer Hypersensibilität leiden
und sie wohl auch nicht gerade begeistert sind, wenn man sie in ihrer Bewe-
gungsfreiheit einschränkt. Welche wichtigen Erkenntnisse könnte eine fMRI-
Untersuchung uns bringen, wenn man einen Menschen, bei dem Autismus
diagnostiziert wurde, dazu zwingt, sich in einen MRI-Scanner zu legen?

LAUREN CuLP: Einer meiner Patienten, ein Teenager, pflegte zu kreiseln, als
er noch klein war, und jetzt schnippt er mit den Fingern, wenn er gestreßt ist.
Was denken Sie darüber?

STEPHEN PoRGES: Wiegt er sich? Schaukelt er gern hin und her? Schwingen
in der Vertikalen stimuliert die Vagusrezeptoren, die bei der Regulation des
Blutdrucks eine wichtige Rolle spielen, und trägt zur Organisation des gesam-
ten Vagussystems bei. Es wirkt sehr beruhigend und verringert manchmal die
Neigung zum Fingerschnippen. Führt ein Kind Bewegungen mit den Händen
aus, bringt es im Grunde in einem sozialen Kontext eine Mobilisierungsre-
aktion zum Ausdruck. Es läuft nicht davon, sondern bewegt nur die Hände.
Viele Eltern regen sich auf, weil ihr Kind ständig mit den Fingern schnippt,
weshalb sie versuchen, dieses Verhalten zu unterbinden. Die Folge kann sein,
daß das Kind zwar nicht mehr die Hände bewegt, aber statt dessen auf und
ab geht. Ich habe ein Kind kennengelernt, das den Teppich in seinem Schlaf-
zimmer ruinierte, weil seine Mutter ihm das Fingerschnippen verboten hatte.
Ich verstehe das Bewegen der Hände als adaptive Mobilisierungsreaktion in
158 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

einem sozialen Kontext. Statt völlig die Kontrolle zu verlieren, bewegt der
Betreffende nur ständig seine Hände.
Eine der einfachsten Möglichkeiten, sich zu beruhigen und sich selbst zu
regulieren, besteht in der Ausführung von Schwingbewegungen. Das kann
man sogar auf einer Hollywood-Schaukel oder auf einem Schaukelstuhl. Frü-
her waren Schaukelstühle sehr verbreitet, und sie wurden im Rahmen einer
Strategie sozialen Engagements benutzt. Heute sind sie nicht mehr sehr be-
liebt, aber daß sie existieren, hat einen Grund. Sie ermöglichen die beha-
viorale Modifikation eines physiologischen Zustandes bzw. biobehaviorale
Interventionen. Das Schwingen des Schaukelstuhls wirkt beruhigend. Einem
autistischen Kind hilft diese Bewegung, sich selbst zu regulieren. Auch das
Schaukeln auf einem Gymnastikball kann die afferenten Nervenfasern des
Parasympathischen Nervensystems im Bereich des Steißbeins sehr wirk-
sam stimulieren, die Informationen zum Hirnstamm übermitteln und den
parasympathischen Tonus verstärken. Somit ist auch das Schaukeln auf ei-
nem Gymnastikball eine gute Möglichkeit, die zentrale Regulation des Vagus
anzuregen.

LAUREN CuLP: Könnten Sie etwas allgemein über die Entwicklung in den
letzten Jahren sagen sowie darüber, was sich nach Ihrer Auffassung in der
interpersonalen Neurobiologie in den kommenden Jahren tun wird?

STEPHEN PoRGES: Zunächst ist es für Wissenschaftler, die sich mit dem
Nervensystem befassen, sehr wichtig, über die aktuelle Diskussion unter
Klinikern im Bilde zu sein. Zwischen den in Laboratorien arbeitenden For-
schern und den klinischen Praktikern besteht leider eine tiefe Kluft. Den
Forschungsmodellen oder den neurologischen Modellen verschiedener Stö-
rungen fehlen häufig einige der wichtigsten Aspekte, mit denen sich Kliniker
beschäftigen. Diese Kluft zwischen Forschung und klinischer Arbeit ist sogar
in der klinischen Forschung zu spüren, die von lizensierten klinischen Prak-
tikern durchgeführt wird, die man in medizinischen Ausbildungsinstituten
und im universitären Bereich als Wissenschaftler bezeichnet. Häufig jedoch
unterscheiden sich die in Laboratorien beobachteten klinischen Merkmale
von dem, was in der klinischen Praxis beobachtet wird. Ich persönlich habe
es immer für nützlich gehalten, mit Klinikern zu reden, weil solche Gesprä-
che Aufschluß darüber geben, was die wahren Probleme sind. Hingegen ist
Die Zukunft der Traumatherapie • 159

die wissenschaftliche Forschung eine Plattform für die Darstellung einer be-
stimmten Art, die Welt zu sehen.
Wohin sich die Dinge in den nächsten Jahren entwickeln werden? Wahr-
scheinlich rechnen Sie nicht damit, was ich Ihnen jetzt antworten werde.
Nach meiner Auffassung leben wir in einer Welt, in der unsere Bemühungen,
psychische Störungen zu verstehen, sowohl stark gehirnzentriert als auch ak-
tuell genzentriert ist. Auf diese Weise wird versucht, psychische Probleme zu
verstehen und Menschen ein möglichst angenehmes Leben zu ermöglichen.
Durch das heute übliche Fokussieren auf Gehirnstrukturen und Gehirnfunk-
tionen gehen wir über einen der wichtigsten Aspekte hinweg, dessen Kliniker
sehr bewußt sind, nämlich über die Bedeutung körperlicher Empfindungen
und dessen, wie sie unsere Fähigkeit, jene höheren Gehirnprozesse zu er-
schließen, regulieren, die für unser Denken und Lieben und für unsere sozi-
alen Interaktionen eine Rolle spielen. Wenn wir uns von Produkten der Gen-
technik und von Brain-Imaging-Verfahren abhängig machen, minimieren
wir dadurch den wichtigen Aspekt des Krankheitsverhaltens, das den ganzen
Körper betrifft, und wir fokussieren auf nicht feuernde Gehirnbereiche oder
auf bestimmte genetische Polymorphismen.
Wenn ich meinen Blick auf Symptome richte- und zwar unabhängig da-
von, ob es um psychische Symptome, Verhaltenssymptome oder auch ganz
einfach um körperliche Symptome geht -, finden wir die meisten von ihnen
in der Peripherie. Das Nervensystem besteht nicht nur aus einem vom Kör-
per unabhängigen Gehirn, sondern es handelt sich dabei um ein System, das
Gehirn und Körper umfaßt. Ich sehe die Zukunft der interpersonalen Neuro-
biologie in der Einsicht, daß unser Nervensystem unseren gesamten Körper
umfaßt und daß es auf die Interaktionen mit anderen Menschen funktional
reagiert. Dementsprechend sehe ich eine positive Zukunftsperspektive der
interpersonalen Neurophysiologie darin, daß wir besser zu verstehen lernen,
wie soziale Interaktionen und soziale Unterstützung - ob von seiten eines
Therapeuten, eines Familienangehörigen oder eines Freundes - die körperli-
che und psychische Gesundheit fördern können - ein wahrhaft interaktives,
interpersonales Modell der Neurobiologie.

LAUREN CutP: Sie haben uns eine Menge Material zum Nachdenken gege-
ben. Herzlichen Dank dafür, daß Sie uns die Zeit für ein Gespräch geschenkt
haben.
KAPITEL 7

Somatische Perspektiven
zur Psychotherapie
Stephen W. Porges & Serge Prengel

SERGE PRENGEL: Aus Ihren Schriften geht hervor, daß Sie sich sehr intensiv
mit dem Nervensystem beschäftigt haben.

STEPHEN PoRGES: Ja, meine Forschungsarbeit hat sich darauf konzentriert,


wie die neuronale Regulation des physiologischen Zustandes das Verhalten
beeinflußt und in welcher Beziehung diese Mechanismen zu unserer sozialen
Interaktion stehen. Als ich noch jünger war, galt mein Interesse der Frage,
wie wir unser Verhalten in Gegenwart anderer regulieren. Und obwohl ich
mir diese Frage schon relativ früh gestellt habe, ist mir erst in den letzten
beiden Jahrzehnten klar geworden, daß diese Fähigkeit für viele Aspekte der
psychischen Gesundheit von zentraler Bedeutung ist und auch starken Ein-
fluß auf die Lebensqualität hat.

SERGE PRENGEL: Es ging Ihnen also nicht nur aus ganz persönlichen Motiven
heraus darum zu verstehen, wie die Selbstregulation funktioniert.

STEPHEN PoRGES: Vielleicht war es tatsächlich zunächst ein ganz persön-


liches Interesse, das später in meine Forschungsfragen eingeflossen ist und
sich auf die Weiterentwicklung meiner wissenschaftlichen Arbeit ausgewirkt

Dieses Interview wurde von Stephen W. Porges für diese Buchausgabe überarbeitet. Das Orginal ent-
stand im November 2011 im Rahmen der Serie Somatic Perspectives (www.SomaticPerspectives.com).
Das Gespräch zwischen Stephen W. Porges und Serge Prengel ist das Ergebnis eines spontanen Aus -
tauschs, eine Qualität, die im vorliegenden Transkript erhalten geblieben ist.
© 2011 by www.SomaticPerspectives.com
162 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

hat. In meiner Forschungsarbeit habe ich mich zunächst mit einer sehr spezi-
ellen Frage bezüglich der Parameter physiologischer Reaktionen beschäftigt,
die eine effiziente Informationsverarbeitung ermöglichen. Im weiteren Ver-
lauf dieser Arbeit begann ich, über die grundlegenden physiologischen Pro-
zesse nachzudenken, statt mich weiter nur mit physiologischen Indikatoren
und mit Korrelaten effizienter kognitiver Verarbeitung zu beschäftigen. Ich
entwickelte Fragen, die sich auf die Regulation von körperlichen Empfindun-
gen und Emotionen in Gegenwart anderer Menschen bezogen, und ich fing
an, die interessante Dialektik zwischen der Vermittlung viszeraler Empfin-
dungen durch das Nervensystem und der Vermittlung dieser Empfindungen
durch soziale Interaktionen zu untersuchen.

SERGE PRENGEL: Welche Wechselbeziehung besteht zwischen dem Nerven-


system und den viszeralen Empfindungen?

STEPHEN PoRGES: Die Rolle des Nervensystems bei der Regulation unseres
viszeralen Zustandes erscheint zwar allen, die sich für Körperpsychothera-
pie interessieren, als wichtig, sie spielt aber in den heute von der klinischen
Psychologie und Psychiatrie bevorzugten Modellen, Theorien und Therapien
keine nennenswerte Rolle. Klinische Psychologie und Psychiatrie orientie-
ren sich primär an Top-down-Modellen, die Emotionen und affektive Pro-
zesse als zentral darstellen und die Rolle des Körpers bei solchen Erlebnis-
sen herunterspielen. Im Einklang mit diesen Modellen wird sogar Angst als
»Gehirn«- Prozeß ohne viszerale Manifestationen verstanden. Glücklicher-
weise gibt es Kliniker, und dazu zählen auch viele Körperpsychotherapeuten,
die sich über die Bedeutung der bidirektionalen Kommunikation zwischen
Gehirn und Körper im klaren sind. So fließt sensorische Information aus
dem Körper ins Gehirn und beeinflußt unsere Reaktionen auf Vorgänge in
der Welt. Und Vorgänge im Gehirn können mittels der kognitiven und af-
fektiven Prozesse, die unsere Sicht der Welt und unsere Reaktionen auf ver-
schiedene Umgebungsmerkmale prägen, unsere inneren Organe beeinflus-
sen. Diese bidirektionale und interaktive Sicht dessen, wie das Nervensystem
in einer komplexen sozialen Umgebung - intuitiv - die inneren Organe re-
guliert, wird von der Schulmedizin einschließlich der Psychiatrie entweder
völlig vernachlässigt oder weitgehend ignoriert.
Somatische Perspektiven zur Psychotherapie • 163

SERGE PRENGEL: Gefühle manifestieren sich nicht in einer isolierten Sphäre,


sondern es besteht eine bidirektionale Beziehung zwischen Körperempfin-
dungen und Kognitionen.

STEPHEN PoRGES: Ganz richtig. Die Strategie, die darin besteht, Gefühle
zu unterwerfen, und die Vorrangstellung der kognitiven Prozesse stehen im
Einklang mit einer langen Tradition der westlichen Kultur, Gedanken ge-
genüber Gefühlen zu bevorzugen. Beispielsweise könnten wir untersuchen,
wie Descartes durch seine Philosophie den Geist-Körper-Dualismus zemen-
tiert hat. Von ihm stammt der berühmte Satz »>ch denke, also bin ich.« Ich
empfehle, einmal darüber nachzudenken, welche Folgen es wohl gehabt hät-
te, wenn Descartes statt dessen geschrieben hätte: »Ich spüre mich, also bin
ich« oder »Ich fühle, also bin ich«. Man beachte den reflexiven Gebrauch des
Verbs »fühlen«. Im Französischen heißt es: »Ich fühle mich, also bin ich«. Mit
dieser Formulierung hätte Descartes die körperlichen Empfindungen her-
vorgehoben, die sich parallel zu unseren Emotionen manifestieren und die
dazu beitragen, wie wir Emotionen erleben, statt in den Vordergrund zu stel-
len, wie es sich anfühlt, ein Objekt zu berühren. Im Englischen benutzen wir
zur Beschreibung der Empfindungen, die aus dem Körper resultieren, und
der Empfindungen, die wir beim Berühren eines Objekts erleben, das gleiche
Wort. Leider war das persönliche Erleben der Gefühle im eigenen Körper
nicht Bestandteil der Gleichung Descartes: Dennoch sollten wir einmal ver-
suchen, uns vorzustellen, wie es sich auf unseren Umgang mit anderen Men-
schen ausgewirkt hätte, wenn dies der wahre Sinn der Äußerung Descartes'
gewesen wäre. Wo stünden wir heute in der Entwicklung unserer Vorstel-
lung darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein? Statt dessen hat sich die
Philosophie unseres Kulturkreises aufgrund des Ausspruchs von Descartes
die Prämisse zu eigen gemacht, wir könnten nur dann gute Menschen sein,
wenn wir unsere viszeralen Empfindungen unterdrücken, zurückweisen oder
unterwerfen, weil wir unser gutes Gehirn, unser kluges Gehirn nur dann da-
zu bringen könnten, sein Potential zu entfalten. Körperliche und psychische
Krankheiten könnten eine Folge unseres Festhaltens am oben zitierten Aus-
spruch von Descartes sein. Wenn Menschen die körpereigenen Reaktionen
nicht respektieren und ihre viszeralen Empfindungen ausfiltern, kann dies
zur Entstehung von Krankheiten beitragen, weil das bidirektionale neurona-
le Feedback zwischen Gehirn und Körper dadurch verringert wird.
164 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

SERGE PRENGEL: Vielleicht würden viele es begrüßen, wenn wir uns mit dem
Erleben viszeraler Empfindungen und ihrer Beziehung zu Kognitionen be-
schäftigen würden sowie damit, was geschehen könnte, wenn Probleme hin-
sichtlich des Ausdrucks viszeraler Empfindungen auftreten oder wenn zwi-
schen unseren Kognitionen und dem Rest unseres Körpers eine Kluft besteht.

STEPHEN PoRGES: Das ist in der Tat interessant, und ich bin gerade dabei,
etwas darüber zu schreiben. Ich habe mich mit der Wirkung des Gefühls der
Sicherheit auf den Zugang zu verschiedenen Attributen des Nervensystems
beschäftigt. In der modernen Welt ist es sehr wichtig, zu verstehen, welche
Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit wir das Gefühl entwickeln kön-
nen, in Sicherheit zu sein. Unsere Kultur vertritt hinsichtlich der Definition
von Sicherheit eine paradoxe Auffassung. Wir konzentrieren uns dabei auf
Worte und kognitive Repräsentationen und messen den Reaktionen des Kör-
pers und den Gefühlen nur untergeordnete Bedeutung bei. Als Akademiker
und Wissenschaftler glauben wir, uns bei der Definition von Sicherheit aus-
schließlich auf unsere kognitiven Fähigkeiten verlassen zu können. »Sicher
zu sein« ist jedoch in Wahrheit eine Reaktion unseres Körpers auf die Umge-
bung, in der er sich befindet.
Erziehung und Sozialisation sind mit allen ihnen zur Verfügung stehenden
Mitteln bemüht, die Reaktionen des Körpers auf Aspekte der Umgebung als
unbedeutend abzutun. Bei der Beobachtung von Kindern in einem Klassen-
raum fallen uns Verhaltensmerkmale auf, die zeigen, daß einige unter ihnen
sich sicher fühlen und es sich gut gehen lassen, wohingendie gleiche Umge-
bung bei anderen Kindern hypervigilantes Verhalten hervorruft, verbunden
mit einem mangelnden SicherheitsgefühL Im übrigen haben Kinder, die im
Klassenraum ständig nach Gefahrensignalen Ausschau halten, auch Schwie-
rigkeiten mit dem Lernen, während diejenigen, die sich sicher fühlen, sich
auch besser auf den Lehrer konzentrieren und effizienter lernen können. Lei-
der wird von einer Schulklasse traditionell erwartet, daß alle Schüler in ihr
eine bestimmte Leistung erbringen können, sofern auch nur ein Schüler der
betreffenden Klasse diese Leistung zustande bringt. Somit schätzt unsere Ge-
sellschaft das Verhalten von Menschen, die behavioral oder viszeral auf leich-
te Veränderungen der Stimulation reagieren, als schlecht ein. Es wird einfach
angenommen, die betreffenden Kinder müßten solche Verhaltensweisen mit
Hilfe von Willenskraft unterlassen können.
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 16 5

Statt sich damit auseinanderzusetzen und zu verstehen, daß die beobach-


teten individuellen Unterschiede jeweils eine neuronale Grundlage haben,
vermitteln wir solchen Kindern, ihr Verhalten sei schlecht, auch wenn es um
unwillkürliche Verhaltensweisen geht. Eine andere Möglichkeit des Umgangs
mit individuellen Unterschieden wäre, einige individuelle Besonderheiten
von Schülern positiv hervorzuheben und zu loben. Leider geschieht dies nur
selten, und diese Tatsache führt uns unmittelbar in die Welt der Traumabe-
handlung, in der viele Kollegen arbeiten.
Auf Traumata reagiert der Körper. Manchmal verändern sich das Verhal-
ten und die neuronale Regulation der Betroffenen nach ihrem traumatischen
Erlebnis dramatisch. Die Veränderungen können so umfassend sein, daß man
eine völlig andere Person vor sich zu haben glaubt, die zu anderen Menschen
nicht mehr in Beziehung treten und nicht mehr mit ihnen interagieren kann.
Weil die Verhaltensweisen Traumatisierter nicht den mit typischen sozialen
Interaktionen verbundenen Erwartungen entsprechen, haben sie häufig das
Gefühl, unzulänglich zu sein und Dinge nicht korrekt tun zu können. Solche
Gefühle der Unzulänglichkeit können durch gesellschaftliche Erwartungen
und sogar durch während einer Therapiesitzung formulierte Urteile ver-
stärkt werden. Beispielsweise kann im Rahmen einer therapeutischen Stra-
tegie ein laufender evaluierender Dialog stattfinden, der oft Mängel hervor-
hebt - womit die Hoffnung verbunden ist, die Bereitschaft zur Entwicklung
prosozialerer Verhaltensweisen anzuregen. Die unablässige Beurteilung ihres
Verhaltens kann Klienten aber auch dazu bringen, sich immer stärker in De-
fensivstrategien zurückzuziehen.

SERGE PRENGEL: Ich möchte das Tempo dieses Gesprächs gern ein wenig
drosseln. Alles, was Sie sagen, enthält ziemlich viele Informationen. Beispiels-
weise werden Kinder in der Schule einem Modell gemäß behandelt, das man
fast als mechanistisch bezeichnen könnte - also wie Maschinen. Funktioniert
eine Maschine auf eine bestimmte Weise, erwartet man von ähnlichen Ma-
schinen, daß sie sich genauso verhalten, unabhängig von individuellen Un-
terschieden des physiologischen Erregungszustandes oder der Schwelle, bei
deren Überschreitung Reaktionen auf Umgebungsreize zu erwarten sind.

STEPHEN PoRGES: Um das, was Sie so prägnant beschrieben haben, ein we-
nig anders auszudrücken: Wir behandeln Kinder in der Schule wie Lern-
166 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

maschinen. Als schulischer Erfolg wird im Grunde definiert, welche Art von
Informationen und wie viele davon wir der Maschine eintrichtern können.
Wir ignorieren die Notwendigkeit, den viszeralen Zustand zu regulieren, ein-
fach weil das nicht Bestandteil des Lehrplans ist. Ein Training der neuronalen
Regulation des physiologischen Zustandes - was dem effizienteren Ausdruck
sozialer Verhaltensweisen zugute käme -, ist entweder gar nicht vorgese-
hen oder wird im Rahmen der dominierenden Erziehungsmodelle möglichst
weitgehend heruntergespielt.
Dies alles wird besonders deutlich, wenn es um Menschen mit speziellen
Problemen geht, beispielsweise um autistische Kinder. Interessanterweise ist
das tonangebende Modell für die Behandlung autistischer Kinder ein lern-
theoretisches Modell, das zur Entwicklung von Fertigkeiten Verstärkung und
Wiederholung nutzt. Leider berücksichtigt dieses »Lernmodell« ein wichti-
ges Merkmal des Autismus nicht, eine Gemeinsamkeit dieser Störung mit
anderen klinischen Störungen, nämlich daß Autisten unfähig sind, in Ge-
genwart anderer ihren eigenen viszeralen Zustand zu regulieren. Die domi-
nierenden Behandlungsmodelle zwingen diese Klienten, die Regulation in
einem Kontext zu üben, der ihre sämtlichen Bemühungen, etwas zu erlernen,
wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt.

SERGE PRENGEL: Sensible und kompetente Therapeuten wissen, daß Klien-


ten sich erst verändern können, wenn sie sich in einem regulierten Zustand
befinden. Leider zwingen einige allgemein anerkannte Behandlungsmodelle
Kinder, sich einem weniger umsichtigen Vorgehen zu fügen, und was sie in
einem solchen Rahmen tun, ähnelt einer Art Zwangsernährung, weil ihre Re-
gulationsfähigkeiten noch nicht ausreichend entwickelt sind.

STEPHEN PoRGES: Hinzu kann kommen, daß das Nervensystem des Kindes
noch nicht weit genug entwickelt ist, um zur Selbstregulation in einem kom-
plexen Setting in der Lage zu sein. Statt also ein tieferes Verständnis der Be-
mühungen des Nervensystems um die Regulation des Verhaltenszustandes
anzustreben und die so gewonnenen Erkenntnisse bei der Gestaltung der Er-
ziehung zu berücksichtigen, versuchen wir, die Motivation durch Bestrafung
und Belohnung zu verstärken, um das Verhalten zu verändern, obwohl die
neuronalen Mechanismen noch nicht ausreichend entwickelt oder atypisch
sind. Strategien dieser Art sind bestenfalls ineffizient.
Somatische Perspektiven zur Psychotherapie • 167

Ich würde dies gern anhand einer Metapher veranschaulichen, die ich in
meinen Vorträgen häufig benutze. Ich stelle den grundlegenden viszeralen
Zustand gern als eine bestimmte Färbung unserer Reaktion auf die Welt dar.
Um dies zu versinnbildlichen, projiziere ich ein Bild von einer Ampel mit
je einem grünen, gelben und roten Licht. Jedes dieser Lichter repräsentiert
einen anderen physiologischen Zustand. Das grüne Licht steht für einen mit
Sicherheit assoziierten physiologischen Zustand, das gelbe Licht für einen
mit Gefahr assoziierten und das rote Licht für einen Zustand der Lebens-
gefahr. Links von dieser Ampel zeichne ich ein »S« für einen Stimulus bzw.
Umgebungsreiz ein und rechts von ihr ein »R« für die Reaktion des Individu-
ums auf den Reiz. Die Reaktion auf einen häufig vorkommenden Reiz wird
also durch den dadurch hervorgerufenen physiologischen Zustand qualifi-
ziert. Der gleiche Umgebungsreiz kann eine qualitativ völlig andere Reaktion
hervorrufen, wenn sich das betreffende Individuum zum Zeitpunkt der Reiz-
präsentation in einem anderen physiologischen Zustand befindet.

SERGE PRENGEL: So wie Sie die Interaktion zwischen kognitiven Prozessen,


Reaktionen und der Fähigkeit, unsere Emotionen und unsere Reaktion auf
Furcht zu regulieren, beschreiben, erscheint es mir als ein wunderbares Bei-
spiel für das, was Sie vorher darüber gesagt haben, inwiefern es hier um eine
andere Vorstellung von Menschsein geht.

STEPHEN PoRGES: Im Grunde stelle ich die Zielsetzungen unserer Institutio-


nen in Frage. Geht es darum, Menschen immer mehr Informationen einzu-
trichtern? Oder wollen wir ihre Fähigkeiten, reziprok zu interagieren und ein-
ander zu regulieren, um sich gut zu fühlen, verbessern? Der Ausgangspunkt
für die heute gängige Praxis, immer mehr zu denken, unsere kognitiven Fä-
higkeiten zu erweitern und zu im kognitiven Sinne »klügeren Menschen« zu
werden, ist Descartes' Äußerung über das Denken. Trotz aller Bemühungen
um immer mehr Klugheit wissen wir heute kaum noch, was unser Körper
wirklich braucht, um sich gut zu fühlen.

SERGE PRENGEL: Vielleicht sollten wir einmal konkret darüber sprechen, was
unser Körper denn tatsächlich braucht, um sich gut fühlen zu können. Wir
könnten uns ein wenig mit der Funktionsweise viszeraler Reaktionen be-
fassen, damit, wie die neuronalen Schaltkreise die inneren Organe und das
168 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Nervensystem miteinander verbinden. Das erscheint mir als wichtig, weil


viele Menschen davon reden, daß man »im eigenen Körper sein« müsse, wo-
durch der Körper im Gegensatz zum Denken eine oft fast mystische oder
metaphysische Qualität annimmt. Ich glaube, Sie haben selbst schon etwas
über diesen Prozeß gesagt.

STEPHEN PORGES: Es erscheint mir als wichtig, an dieser Stelle darauf hin-
zuweisen, daß eines der Ziele jeder Gesellschaft darin besteht, ihren Mitglie-
dern den Eintritt in den Zustand der Immobilisierung ohne Furcht zu er-
möglichen. Diese Aussage mag im ersten Moment merkwürdig klingen. Aber
müssen Sie nicht, wenn Sie einmal ein wenig darüber nachdenken, bestätigen,
daß der Zustand der Immobilisierung ohne Furcht im Grunde eines der Ziele
jeder Therapie ist? Sicherlich wollen Sie es nicht dabei bewenden lassen, daß
Ihre Klienten »fest eingepackt«, voller Angst und im Zustand der Defensive
bleiben. Eher geht es darum, daß sie in der Lage sind, still zu sitzen, Umar-
mungen zuzulassen, ohne sich zu fürchten, selbst Umarmungen zu initiieren
und sich auf eine reziproke Beziehung einzulassen. Ein Klient, dessen gesam-
ter Körper sehr angespannt und dessen Sympathisches Nervensystem stark
aktiviert ist, vermittelt auch anderen, daß er sich in einem Zustand erhöhter
Defensivität befindet. Ein Zustand, für den angespannte Muskeln und sym-
pathische Erregung kennzeichnend sind, ist insofern adaptiv, als er den be-
treffenden Menschen darauf vorbereitet, sich zu bewegen oder zu kämpfen.
Dieser Zustand übermittelt anderen unmißverständlich die Botschaft, daß es
nicht gefahrlos möglich (also nicht »sicher«) ist, sich in unmittelbarer Nähe
des Betreffenden aufzuhalten.
Vielleicht ist dies ein guter Moment, um auf einige der neuronalen Schalt-
kreise einzugehen, die das Autonome Nervensystem regulieren. Zunächst
werde ich mich dabei mit den Informationen beschäftigen, die aus dem Kör-
per ins Gehirn übermittelt werden. Das Autonome Nervensystem spielt bei
der Übermittlung dieser Informationen eine sehr wichtige Rolle. Der Vagus,
der größte Nerv des ANS und der wichtigste des PNS, besteht überwiegend,
nämlich zu 8o Prozent, aus sensorischen Fasern. Der Vagus übermittelt stän-
dig eine riesige Menge an Informationen über den Zustand der peripheren
Organe in bestimmte Kerne im Hirnstamm. Sensorische Informationen aus
den inneren Organen zeichnet nicht die gleiche Spezifität aus wie die taktile
Stimulation anderer sensorischer Informationen, die von den Spinalnerven
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 169

ins Gehirn übermittelt werden. Weil viszerale Empfindungen in der Regel


eher diffus sind, ist es schwierig, sie genau zu bezeichnen, und die diffusen
Gefühle »färben« oft unsere Wahrnehmungen und unsere Reaktionen auf
soziale Interaktionen.
Der zweite Punkt, den ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte,
betrifft die motorische Kontrolle des ANS. Die traditionelle Definition des
ANS berücksichtigt ausschließlich die motorischen Komponenten: die neu-
ronalen Pfade in der Peripherie, die zu den Zielorganen verlaufen, sowie die
Zielorgane im Körperinneren selbst. Wichtige Eigenschaften des Vagus wer-
den durch diese Konzentration auf den motorischen Anteil des Vagus ver-
nachlässigt. Versäumt wurde, die Bereiche des Hirnstamms zu untersuchen,
aus denen die Vagusfasern austreten. Insbesondere die Tatsache, daß der Va-
gus zwei Zweige mit unterschiedlichen Funktionen umfaßt, wird oft vernach-
lässigt.
Die meisten Menschen haben gelernt, daß das ANS aus zwei Komponenten
besteht, nämlich aus einem Sympathischen Nervensystem, das mit Kampf-/
Flucht-Verhalten assoziiert wird, und ein Parasympathisches Nervensystem,
das hauptsächlich mit einem Vagus genannten Kranialnerv in Verbindung
gebracht wird, der Entwicklung, Gesundheit und Genesung fördern soll.
Diese Darstellung des ANS erweckt den Eindruck, die sympathische und die
parasympathische Komponente des ANS stünden in einem antagonistischen
Verhältnis zueinander. Nun mag die Darstellung des ANS als aus zwei antago-
nistischen Zweigen bestehend manchmal nützlich sein, aber völlig zutreffend
ist sie nicht. Denn obwohl wir oft vom autonomen Gleichgewicht reden, fun -
giert das ANS in Wahrheit nur selten als ausgleichendes System; vielmehr
reagiert es auf Herausforderungen aus der Umgebung eher abgestuft im Sin-
ne einer Hierarchie.
Der Widerspruch zwischen der Vorstellung, die Komponenten des ANS
würden einen Zustand des »Gleichgewichts« anstreben, und der Vorstellung
von einer hierarchischen Reaktionsweise war für mich der eigentliche An-
laß zur Entwicklung der Polyvagal-Theorie. Der traditionellen Sicht des ANS
gemäß spielt das SNS bei Kampf-oder-Flucht-Reaktionen eine Rolle, wohin-
gegen das PNS Gesundheit, Entwicklung und Genesung fördert. Die Polyva-
gal-Theorie hingegen beschreibt zwei Defensivsysteme. Neben dem Kampf-
Flucht-System, das wohl allgemein bekannt sein dürfte und das sympathische
und adrenale Reaktionen erfordert, beschreibt die Polyvagal-Theorie ein
170 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

zweites Defensivsystem, das nicht mit Kampf-/Flucht-Verhalten, sondern mit


Immobilisation, Shutdown, Erstarren, Ohnmacht und Dissoziation verbun-
den ist. Dieses zweite Defensivsystem wird bei Lebensgefahr aktiv, und man
kann es häufig bei kleinen Nagetieren wie Mäusen in Aktion beobachten.
Fängt eine Katze eine Maus, erstarrt die Maus und wirkt wie tot. Dies ist
keine willensgesteuerte Reaktion. Die Maus beschließt nicht, sich tot zu stel-
len. Die von der Katze ausgehende Lebensgefahr aktiviert bei der Maus einen
alten neuronalen Schaltkreis, den Reptilien häufig benutzen. Weil Reptilien
jedoch wegen ihres kleinen Gehirns nicht viel Sauerstoff brauchen, können
sie erstarren und sogar lange das Atmen einstellen. Dies ist Säugetieren nicht
möglich, weil ihre deutlich größeren Gehirne riesige Mengen Sauerstoff be-
nötigen. DieShutdown-oder Erstarrungsreaktion wird durch Mechanismen
des Vagusnervs vermittelt. Ohnmächtigwerden wird auch vasovagale Syn-
kope genannt, womit die Fähigkeit des Vagus, die normale kardiavaskuläre
Funktion zu unterbrechen, dokumentiert wird.
Es gibt also ein Reaktionsmuster des Vagus, das nicht Gesundheit, Ent-
wicklung und Genesung fördert, wie man es ihm und dem PNS jahrzehnte-
lang zugesprochen hat. Daß der Vagus auch ein Defensivsystem beinhaltet,
wurde in der Literatur über das ANS lange völlig ignoriert. Läßt man dieses
ältere Defensivsystem unbeachtet, entspricht die Beschreibung des ANS per-
fekt dem seit langem propagierten, antagonistischen Modell eines sympathi-
schen Zweigs, der Kampf-und-Flucht-Verhalten unterstützt, und seines Ge-
genstücks, des parasympathischen Zweigs, der Gesundheit, Entwicklung und
Genesung fördert.
Die Einbeziehung des Defensivsystems, dem der ältere Vagusteil zugrunde
liegt, stellt das soeben beschriebene simple Modell eines autonomen Gleich-
gewichts in Frage und zwingt uns, die adaptiven Reaktionen des ANS im Rah-
men eines dreistufigen hierarchischen Modells zu verstehen. Die funktionale
Hierarchie dieses neuen Modells spiegelt die Phylogenese der drei Kompo-
nenten des ANS bei Wirbeltieren. Das älteste Vagussystem wird durch einen
Vagus ohne Myelinschicht vermittelt, der bei praktisch allen Wirbeltieren
vorhanden ist. Er tritt aus einem Bereich im Hirnstamm aus, dem dorsalen
motorischen Nukleus des Vagus. Bei Säugetieren hemmt dieses System, wenn
es zu Defensivzwecken aktiviert wird, die Atmung, verlangsamt die Herzfre-
quenz und fördert die Defäkation. In sicheren Kontexten jedoch unterstützt
es die Organe in der Bauchhöhle in dem Bestreben, Gesundheit, Entwicklung
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 171

und Genesung zu fördern. Wird das SNS als Defensivsystem aktiviert, hemmt
es den älteren Vagus, es hemmt die Verdauung und verlagert Energieressour-
cen von der Unterstützung viszeraler Prozesse wie dem der Verdauung hin
zur Mobilisierung.
Das phylogenetisch neueste autonome System existiert nur bei Säugetie-
ren. Es handelt sich dabei um einen Vagus mit Myelinschicht, der aus einem
Bereich des Hirnstamms austritt, der mit den Muskeln des Gesichts und des
Kopfes verbunden ist. So wird verständlich, daß Menschen, die lächeln und
glücklich sind und deren Stimme angenehme prosodische Eigenschaften
aufweist, auf vokale Kommunikation fokussieren, sie hören und sie verste-
hen können. Funktional wirkt der myelinisierte Vagus beruhigend, er geht
auf unsere kardiavaskulären und metabolischen Bedürfnisse effizient ein und
hemmt aktiv die Zustände erhöhten Arousals, die mit dem SNS in Verbin-
dung gebracht werden.

SERGE PRENGEL: Die beiden Teile des Vagusnervs sind also der älteste und
der neueste Entwicklungsschritt.

STEPHEN PoRGES: Die beiden Komponenten des Vagus verkörpern die Ex-
trempunkte der Entwicklung des Nervensystems bei den Wirbeltieren.

SERGE PRENGEL: Und das Kampf-/Flucht-System liegt zwischen beiden.

STEPHEN PORGES: Ja. Indem ich das SNS als den Unterstützer des Kampf-/
Flucht-Verhaltens bezeichne, beschreibe ich leicht verständlich die einzigar-
tigen autonomen und behavioralen Eigenarten von Säugetieren. Als die Säu-
getiere in der Evolutionsgeschichte auftauchten, hing ihr Überleben von der
Erfüllung eines Interaktionsbedürfnisses ab. Dies ermöglichte ihnen das Stil-
len und andere Formen sozialer Interaktion und des Verhaltens in Gruppen,
die sie für die Nahrungssuche, die Fortpflanzung, das Spiel und die Erfüllung
allgemeiner Sicherheitsbedürfnisse brauchten. Der bei den Säugetieren neu
auftauchende Vagus war in der Lage, Defensivsysteme auszuschalten. Doch
um Bedürfnisse nach sozialer Interaktion und Sicherheitsbedürfnisse wirk-
lich in Einklang zu bringen, muß man wissen, wann man die Defensivsyste-
me abschalten und wann man sie besser wieder einschalten sollte. Das ist in
unserer Gesellschaft ein brandaktuelles Thema. Wann brauchen wir unsere
172 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Defensivsysteme nicht? Wann können wir uns in den Armen eines ande-
ren Menschen sicher fühlen? Wann können wir gefahrlos zur Arbeit gehen?
Wann ist es sicher, sich schlafen zu legen? Klienten berichten oft, sie fühlten
sich in Gegenwart anderer nicht sicher. Deshalb fällt es ihnen schwer, ihre
Defensivsysteme zu deaktivieren. Sie lassen sich nicht umarmen. Sie leiden
unter Schlafstörungen. Und sie haben Verdauungsprobleme. Alle diese Sym-
ptome hängen mit dem ANS zusammen, und sie können nur auftreten, wenn
der neuere, myelinisierte Vagus die sympathischen, nicht myelinisierten va-
galen Komponenten des ANS nicht adäquat regulieren kann.

SERGE PRENGEL: Demnach können wir unser evolutionäres Erbe nur effek-
tiv nutzen, wenn unser neuerer Vagusschaltkreis die älteren Schaltkreise ad-
äquat regulieren kann.

STEPHEN PoRGES: So ist es. Ich beginne, bestimmte Probleme in den Berei-
chen der physischen und mentalen Gesundheit mit bestimmten neuronalen
Strukturen in Verbindung zu bringen, die sich bei Reptilien und Säugetieren
unterscheiden. Beim Übergang von den Reptilien zu den Säugetieren ent-
wickelte sich der myelinisierte Vagus, zur dominierenden Defensivstrategie
wurde der Kampf, und die Erstarrungsreaktion, das ältere Defensivsystem,
trat in den Hintergrund, weil der Zustand des Erstarrens bei Säugetieren
aufgrund ihres hohen Sauerstoffbedarfs leicht zum Tode führen kann. Die
gemeinsamen Vorfahren der heutigen Reptilien und der Menschen ähnelten
der Schildkröte. Und das primäre Defensivsystem der großen Landschildkrö-
te ist die Erstarrungsreaktion.
Wenn wir uns die Berichte Traumatisierter anhören, stellen wir fest, daß
viele von ihnen eine sehr starke und vollkommen unerwartete Immobilisie-
rungsreaktion erlebt haben. Solchen Klienten zu erklären, wie das vagale
Defensivsystem funktioniert und wie der nicht myelinisierte Vagus ein altes
Defensivsystem für lebensgefährliche Situationen unterstützt, vermag die
Reaktionen Traumatisierter sehr wirksam zu entmystifizieren und hilft den
Betroffenen schon allein dadurch sehr. Erklärt man ihnen, daß die Lebens-
gefahr einen sehr alten Reaktionsschaltkreis aktiviert hat, der die Regulation
des physiologischen Zustandes durch das ANS völlig verändern kann, hilft
ihnen dies, die Veränderungen, die sie in ihrem Alltagsleben beobachtet ha-
ben, zu verstehen.
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 173

SERGE PRENGEL: Im Grunde reden wir hier doch darüber, daß wir um so
stärker zu sehr archaischen Formen der Überlebenssicherung neigen, je stär-
ker der Streß ist, dem wir ausgesetzt sind.

STEPHEN PORGES: Richtig. Unser physiologischer Zustand findet im Ein-


klang mit dem physischen Kontext, in dem wir uns befinden, heraus, wel-
che Möglichkeiten wir aktuell haben, mit Stressoren und Herausforderungen
umzugehen. Wir fliehen oder kämpfen, wenn wir fliehen oder kämpfen kön-
nen. Zur Unterstützung dieser adaptiven Mobilisierungsstrategien stimu-
lieren wir unser SNS. Sind wir jedoch in einem Raum eingeschlossen, oder
jemand hält uns physisch fest, bleiben uns weniger Möglichkeiten. Unter
schwierigen, extrem gefährlichen und oft lebensbedrohlichen Bedingungen
dieser Art werden wir reflexartig ohnmächtig oder erstarren im Zustand des
Entsetzens und verfallen in einen dissoziativen Zustand. Die letztgenannten
Arten von Defensivverhalten basieren auf einem phylogenetisch älteren neu-
ronalen Schaltkreis.
Auch eine durch Angst induzierte Immobilisierungsreaktion, bei welcher
der betroffene Mensch nicht mehr bewußt oder im »Hier und Jetzt« ist, hat
eine adaptive Funktion. Obwohl der Auslöser für die Ohnmacht ein leich-
ter Sauerstoffmangel infolge eines starken Blutdruckabfalls ist, hat diese De-
fensivstrategie adaptive Eigenschaften, denn sie erhöht die Schmerzschwelle
stark, mit der Folge, daß man bei physischen Verletzungen keinen Schmerz
spürt. Falls man die traumatische Situation überlebt, geht es einem anschlie-
ßend wieder gut - zumindest hat man überlebt. Der wichtigste Aspekt der
Sicht einer »Shutdown«-Reaktion als einer adaptiven Defensivreaktion ist,
daß wir die automatischen Reaktionen als Versuche unseres Körpers zu re-
spektieren lernen müssen, uns vor Schmerz zu schützen und unser Leben zu
retten. Dies ist sicher sinnvoller, als auf unseren Körper wütend zu sein.

SERGE PRENGEL: Wir kommen also wieder darauf zurück, daß Menschsein
bedeutet, ein körperbezogenes Erleben zu haben.

STEPHEN PoRGES: Körperbezogenes Erleben ist für uns Menschen wichtig,


weil die Interaktion mit Artgenossen uns das Überleben sichert. Menschen
sind ihr ganzes Leben lang auf andere Menschen angewiesen. Vom Zeitpunkt
ihrer Geburt an müssen Säuglinge gestillt und umsorgt werden. Mit zuneh-
174 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

mender Reife verlagern sich unsere Interaktionen mit anderen Menschen


vom Streben nach Sicherheit und Genährtwerden auf die Förderung unse-
res physiologischen Zustandes, die wir in Form von emotionaler und beha-
vioraler Regulation durch soziale Interaktion mit Freunden und Menschen,
die wir lieben, erleben. Vor allem aber müssen Menschen mit ihresgleichen
interagieren, um ihr Potential zu entwickeln und zu optimieren. Verschie-
dene biologische Disziplinen beschäftigen sich mit ähnlichen Prozessen im
Rahmen des Konstrukts der »symbiotischen Regulation«. Nach meiner Auf-
fassung bestehen mittlerweile gute Voraussetzungen dafür, dieses Konstrukt
aus biobehavioraler Perspektive zur Erklärung verschiedener Aspekte dessen
zu nutzen, wie soziale Interaktionen von Menschen neurobiologische Pro-
zesse fördern. Wenn wir dieses Konstrukt erweitern, können wir feststellen,
wie wir dem Nervensystem unserer Kommunikationspartner Signale über-
mitteln. Während sozialer Interaktion werden ständig Signale übermittelt,
die auf Sicherheit oder Gefahr hinweisen sowie darauf, ob wir dem Kommu-
nikationspartner das Vertrauen schenken können, von ihm im Arm gehal-
ten zu werden, oder ob wir uns besser zurückziehen und uns schützen. Um
diesen dynamischen interaktiven Prozeß zu erklären, habe ich den Begriff
Neurozeption eingeführt.

SERGE PRENGEL: Sie haben sich mit dieser Thematik auch im Hinblick darauf
beschäftigt, wie wir Liebe und Bindungen entwickeln.

STEPHEN PoRGES: Das ist richtig. HIV-Patienten scheinen mir ein interes-
santes Beispiel zu sein, anhand dessen ich auf diesen Punkt näher eingehen
möchte. Ich habe festgestellt, daß sich ihre Betreuer häufig ungeliebt füh-
len und daß sie leicht wütend werden, während sie sich um die Bedürfnisse
der Infizierten kümmern. Eltern autistischer Kinder berichten über ähnliche
Gefühle und Empfindungen. In beiden Fällen erklären die Betroffenen, sie
fühlten sich nicht geliebt. Tatsächlich besteht das Problem darin, daß HIV-
Infizierte und autistische Kinder nicht mit lebhafter Mimik, Blickkontakt
und variablem stimmlichem Ausdruck reagieren. Beide Gruppen betreuter
Menschen verhalten sich »maschinenartig«, und ihre Betreuer fühlen sich
kommunikativ und emotional ausgegrenzt und abgeschnitten. Die physio-
logischen Reaktionen der Betreuten entsprechen nicht ihrem tatsächlichen
Empfinden, und sie fühlen sich gekränkt. Ein wichtiger Aspekt der Thera-
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 17 5

pie ist in solchen Fällen, sich nicht nur mit dem Patienten selbst zu befassen,
sondern seinen sozialen Kontext in die Arbeit einzubeziehen, wobei man auf
die Eltern-Kind-Dyade oder die Betreuer-Betreuter-Dyade fokussieren sollte.
Dies hilft den Eltern oder Betreuern, ihre eigenen Reaktionen als normale
physiologische Reaktionen zu verstehen. Natürlich ruft das Probleme her-
vor. So wie Lehrer in Schulen wütend und aggressiv werden, wenn Schüler
sich innerlich vom Unterricht verabschieden und ihr Desinteresse zur Schau
stellen, indem sie sich abwenden, rechtfertigen Eltern und Betreuer ihre Wut
und ihre physischen Entgleisungen mit dem empörenden Verhalten des von
ihnen betreuten Kindes oder Erwachsenen.

SERGE PRENGEL: Können wir unsere reflexhaften Reaktionen außer Kraft


setzen?

STEPHEN PORGES: Zumindest können wir es versuchen. Allerdings ist das


sehr schwierig. In einigen meiner Workshops habe ich dies mit Hilfe ei-
ner simplen Erlebensübung zu veranschaulichen versucht. Ich nenne die-
se Übung »Der widerwillige Therapeut«. Um sie durchzuführen, werden
Übungsgruppen zu je drei Personen gebildet, die nacheinander drei Rollen
spielen: die des Therapeuten, die des Klienten und die des Beobachters. Zur
Durchführung der Übung wird der »Therapeut« instruiert, abwesend drein-
zuschauen und sich vom Klienten abzuwenden, während dieser redet. Inter-
essant ist, daß Teilnehmer in der Klientenrolle häufig auf den Therapeuten
wütend werden. Daran ändert auch das Wissen des Klienten darüber nichts,
daß der Therapeut nur eine Rolle spielt, in der er sich abwenden und teil-
nahmslos dreinschauen soll. Die Aufgabe des Beobachters während des gan-
zen Vorgangs besteht nur darin, objektiv zu bleiben und zu berichten, welche
markanten Änderungen des Verhaltens und des Zustandes die behavioralen
Signale verursachen. Nach dem Rollentausch wiederholen sich die beschrie-
benen Reaktionen. Es ist erstaunlich, wie leicht sich der Zustand unseres
Körpers verändert, wenn jemand uns den Kontakt verweigert bzw. zu uns in
Kontakt tritt.

SERGE PRENGEL: Das ist wirklich erstaunlich. Obwohl klar ist, daß es sich um
ein Rollenspiel handelt, hat das soziale Engagement eine so starke Wirkung
auf uns, daß wir uns nur schwer davon lösen können.
176 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

STEPHEN PORGES: Es ist wirklich erstaunlich. In Therapien müssen sich Kli-


niker manchmal mit Paaren beschäftigen, deren »Engagement«- Ressourcen
unterschiedlich stark sind. Beispielsweise kann es sein, daß ein Partner eine
Traumavorgeschichte hat, die sich in Form von Zustandsregulationsproble-
men, verbunden mit Abwenden des Blicks und des Gesichts bei Konfronta-
tionen und sogar während positiver sozialer Interaktionen äußert. Wie rea-
giert der Partner darauf? Oft indem er einfach wütend wird.

SERGE PRENGEL: Während ich Ihnen zuhöre, spüre ich etwas, das mir sehr
gefällt. Es geht darum, wie Sie dekonstruieren, was in einer Interaktion ge-
schieht, und darum, weshalb es wichtig ist, anderen zu helfen, diese Dinge
nicht persönlich zu nehmen, die Attribution von Scham zu verringern und
die Deutungsschichten zu reduzieren, die ihnen die Möglichkeit nehmen,
ungehindert Kontakt zu anderen Menschen zu pflegen.

STEPHEN PoRGES: Das sehe ich ganz genau so. Wir leben offenbar in einer
Welt, die jedes Verhalten mit einer Motivation zu verbinden versucht und
so allem, was wir tun, eine urteilende Dimension hinzufügt. Ich benutze oft
den Begriff »Moralfassade«, um die Tendenz unserer Gesellschaft zu kenn-
zeichnen, uns zu drängen, alles entweder als gut oder als schlecht zu beurtei-
len und darüber die adaptive Funktion eines Verhaltens als Regulation eines
physiologischen und behavioralen Zustandes zu übersehen. Unsere Kultur
zwingt uns zu einer Deutung des Verhaltens als Ausdruck eines Motivs und
als folglich entweder gut oder schlecht.
In meinen Vorträgen für Therapeuten habe ich eine Zeitlang eine Situation
als Beispiel benutzt, in der ein Unternehmenschef den Therapeuten nicht an-
schaute. Das sollte das viszerale Empfinden hervorrufen, in den Hintergrund
gedrängt zu werden. Ich hatte erwartet, dies werde dahingehend gedeutet,
daß der Chef die Betreffenden nicht möge oder sie ihm nicht wichtig genug
seien. Mir fiel auf, daß viele meiner Zuhörer völlig ausdruckslos dreinschau-
ten und offensichtlich mit dem, was ich beschrieb, nichts anfangen konnten.
Schließlich wurde mir klar, daß die meisten Therapeuten nicht für einen Chef
arbeiten. Sie arbeiten für niemanden, weil sie sich bei solchen auf Distanzie-
rung hinweisenden Verhaltensweisen, die sie oft als wertend deuten, nicht
besonders wohl fühlen. Ich selbst habe mein Leben großenteils in der aka-
demischen Welt verbracht, einer Umgebung, in der Verwaltungsangestellte
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 177

ebenso wie viele Kollegen nicht über besonders gute soziale Fertigkeiten ver-
fügen. Allerdings haben wir die meisten Verhaltensweisen, die wir als soziale
Fertigkeiten bezeichnen, nie erlernt. Sie scheinen großenteils eher eine emer-
gente Eigenschaft unseres biologischen Zustandes als unseres Erlernens von
»Fertigkeiten« zu sein.
Es gibt Menschen, die gut Blickkontakt herstellen können, die auf andere
Menschen neugierig sind und die über ein sehr großes Spektrum mimischer
Ausdrucksmöglichkeiten verfügen. Sie achten bei ihren sozialen Interaktio-
nen auf Reziprozität. Und um den Kontakt aufrechtzuerhalten, übermitteln
sie einander ständig deutliche und oft sehr subtile Signale, die dem Partner
das Gefühl vermitteln sollen, daß er sich in Sicherheit befindet. Erfüllen die
Signale ihren Zweck, erwidert der Kommunikationspartner sie durch seine
Mimik und seinen stimmlichen Ausdruck. Sein Gesicht wirkt dann leben-
diger und ausdrucksvoller, und die Stimme klingt melodiöser. Auch nimmt
die physische Distanz zwischen den beiden Beteiligten ab, während sich der
physische Raum der verringerten psychischen Distanz anzugleichen beginnt.
Sicherlich haben Sie so etwas in Ihrer klinischen Praxis schon beobachtet.

SERGE PRENGEL: Das ist tatsächlich der Fall. Wir achten sehr darauf und sind
uns dieser Zusammenhänge sehr bewußt. Aber wir sind natürlich Menschen
und reagieren dementsprechend. Wir haben genauso viele Schwierigkeiten
damit, darauf zu achten, wie jeder andere Mensch.

STEPHEN PoRGES: Ich habe diese Qualitäten in meinen Rollen als Vater und
als Mentor meiner Studenten unter Beweis stellen müssen. Wie reagieren
wir, wenn unsere Kinder oder unsere Studenten uns Signale übermitteln? Ich
habe gelernt, einen Schritt von der aktuellen Situation zurückzutreten und
über den physiologischen Zustand dieser jüngeren Menschen nachzudenken.
Was ist, wenn sie nichts gegessen haben? Wenn sie nicht geschlafen haben?
Was, wenn sie mit zu vielen Dingen gleichzeitig beschäftigt sind? Wenn Er-
eignisse und Kontexte ihre Fähigkeit verringern, den neuronalen Schaltkreis
zu aktivieren, der Sicherheit und soziale Interaktion unterstützt, kann es sehr
schwierig werden, mit ihnen zu interagieren. Ihre Fähigkeit zu sozialem En-
gagement, zu Verstehen und zum Ausdruck sind dann stark eingeschränkt.
Wir können dies in unserer gesamten Kultur beobachten und Merkmale
identifizieren, die den Zugang zu den für soziales Engagement zuständigen
178 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

neuronalen Schaltkreisen erschweren. In der westlichen Gesellschaft hat die


Förderung der persönlichen Sicherheit keine Priorität. Vielmehr propagiert
unsere Gesellschaft unmißverständlich, daß wir gar nicht hart genug arbeiten
können, gar nicht erfolgreich genug sein können und niemals genug Reich-
tum aufhäufen werden. Undall dies macht uns sehr verletzlich. Im Grunde
vermittelt uns die Gesellschaft das Gefühl, daß wir an einem gefährlichen Ort
und in einer gefährlichen Zeit leben. Ich frage mich immer wieder, wie die
Menschheit wohl aussähe, wenn wir das menschliche Bedürfnis nach Sicher-
heit stärker respektieren würden.

SERGE PRENGEL: Sie sind also der Meinung, es gehe weniger um eine Verän-
derung der intellektuellen oder emotionalen Orientierung, die zum Ziel hat,
dem Sicherheitsbedürfnis mehr Aufmerksamkeit zu schenken, sondern um
den Wechsel in ein völlig anderes System, um die willentliche Förderung der
Fähigkeit, das System für soziales Engagement zu nutzen.

STEPHEN PoRGES: Noch einmal: Wenn wir klug sind- und in dieser Hinsicht
kann uns die Wissenschaft sehr nützlich sein - , können wir zu lernen be-
ginnen, welche Aspekte in der Umgebung unser Nervensystem dazu bringen
können, in den Kampf-/Flucht-Modus zu wechseln oder uns in einen Zu-
stand der Sicherheit zu begeben und das System für soziales Engagement zu
aktivieren, und schließlich, welche Aspekte der Umgebung einen Shutdown,
die Immobilisierung aus Furcht und dissoziative Zustände hervorrufen kön-
nen. Oft führen Hintergrundgeräusche zu einem physiologischen Zustand
der Mobilisierung und beeinträchtigen soziale Interaktionen und Gefühle
der Sicherheit. Viele Therapieräume befinden sich in Gebäuden, in denen
permanente tiefe Geräusche, beispielsweise von Ventilationssystemen oder
anderen Betriebsanlagen großer Gebäude verursacht, störend wirken. Solche
Geräusche können verhindern, daß Klienten in ihrer Therapie Fortschritte
erzielen.

SERGE PRENGEL: Nun ja, wir sind hier nun einmal in New York City.

STEPHEN PoRGES: Vielleicht haben Sie während unseres Telefongesprächs


Zuggeräusche gehört. Solche Geräusche signalisieren unserem Nerven-
system, daß es Grund zu erhöhter Wachsamkeit gibt, die potentielle Gefah-
Somatische Perspektiven zur Psychotherapie • 179

ren rechtzeitig erkennt. Oft ist uns gar nicht klar, wie viele der Signale, die
unser Nervensystem empfängt, es zu Defensivreaktionen veranlassen. Wenn
bei der Organisation der Umgebung von Menschen neurobiologische Fakten
berücksichtigt würden, könnten wir leben, arbeiten und spielen, ohne stän-
dig der Wirkung solcher Signale ausgesetzt zu sein. Gelingt es, diese Art von
Stimulation zu verringern, reagiert unser Nervensystem nicht mehr ständig
hypervigilant auf mutmaßlich in nächster Nähe drohende Raubtiere und Ge-
fahren anderer Art. Ohne diese unerwünschte Stimulation könnten wir uns
leichter entspannen und engagieren und von den positiven Auswirkungen
sozialer Interaktion profitieren.

SERGE PRENGEL: Es wäre sicher gut, wenn wir uns von dem Zwang befreien
könnten, all die Dinge ständig im Blick zu behalten, die uns in den Zustand
der Hypervigilanz versetzen.

STEPHEN PoRGES: Eine sichere Umgebung ist für alles, was wir tun, wichtig,
und für Therapien gilt dies ganz besonders. Ich beschäftige mich seit einiger
Zeit mit der Achtsamkeitsmeditation, und mir ist klar geworden, daß auch
die Achtsamkeitsübung grundsätzlich in einer als sicher empfundenen Um-
gebung stattfinden sollte. Das geht einem auf, wenn man sich damit beschäf-
tigt, wie stark Atmung und Aufmerksamkeit durch Hintergrundgeräusche
beeinflußt werden, wie leicht wir uns ablenken lassen und wie rasch wir in
den Zustand der Hypervigilanz verfallen können. Außerdem ist mir aufgefal-
len, daß die Nutzung der Defensivsysteme, bei denen das SNS aktiviert wird,
mit der Achtsamkeitsübung nicht zu vereinbaren ist. Dies zu verstehen ist
vielleicht am einfachsten, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Achtsamkeit
einen nicht urteilenden Geisteszustand erfordert. Dieser ließe sich mit De-
fensivhaltungen nicht vereinbaren, weil in ihnen das Urteilen überlebensnot-
wendig ist. Im Sinne der Polyvagal-Theorie ausgedrückt, könnten wir sagen,
daß das Urteilen im Grunde starke Änlichkeiten mit dem Aufenthalt in einer
gefährlichen Umgebung hat - weshalb wir das soziale Engagement opfern
müssen, um einen hypervigilanten Zustand aufrechterhalten zu können, der
uns ermöglicht, jederzeit zu kämpfen oder zu fliehen.

SERGE PRENGEL: In diesem Zustand untersuchen wir unsere Umgebung


ständig auf potentielle Gefahren und Fluchtmöglichkeiten.
180 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

STEPHEN PoRGES: So ist es. Und wenn wir unsere Kinder dazu animieren, ein
Studium zu beginnen und dabei auf Computerbildschirme zu schauen, brin-
gen wir sie im Grunde dazu, einen Zustand der Hypervigilanz zu nutzen, der
durch eine leichte Modifikation zu einem Zustand anhaltender fokussierter
Aufmerksamkeit geworden ist. Allerdings kommt dieser Zustand nicht der
Gesundheit, Weiterentwicklung und Genesung zugute und unterstützt auch
nicht das soziale Engagement, das für soziale Interaktionen unerläßlich ist.

SERGE PRENGEL: Damit kommen wir auf das Gefühl der Sicherheit zurück,
das für Kinder wie auch für Erwachsene so wichtig ist - und darauf, daß es
nicht sinnvoll ist, sich isoliert mit Achtsamkeit zu beschäftigen, ohne im Blick
zu behalten, wie wir auf ein unzureichendes Gefühl der Sicherheit reagieren.
Das Gewahrsein dessen, was uns ein Gefühl der Sicherheit vermittelt - des-
sen, daß wir uns damit konfrontieren, uns damit befassen -, ist im Grunde
eine unverzichtbare Voraussetzung für das Streben nach Achtsamkeit.

STEPHEN PoRGES: Deshalb müssen wir uns darüber klar werden, was es uns
ermöglicht, uns sicher zu fühlen und auf Defensivreaktionen zu verzichten.
Dies könnte sich auf klinische Behandlungen sehr positiv auswirken. Wüß-
ten wir genauer, welche Merkmale eine Umgebung haben muß, die das Aus-
schalten der Defensivsysteme begünstigt, wären klinische Behandlungen
effizienter. Gäbe es in der Umgebung, in der wir leben, keine Trigger für De-
fensivreaktionen und würde statt dessen das Gefühl der Sicherheit gestärkt,
wäre unser Leben wesentlich gesünder und lebenswerter. Zu den Aspekten
in unserer Arbeits- und Lebenswelt, die sich relativ leicht verbessern ließen,
zählen die Verringerung von Geräuschen im niedrigen Frequenzbereich so-
wie die Verringerung von Faktoren, welche die Situation in unserer Umge-
bung unvorhersehbar machen, und schließlich auch einfach die Nähe von
Menschen, bei denen wir uns sicher fühlen.

SERGE PRENGEL: Es geht also darum, Ursachen zu behandeln, statt sich an


Symptomen abzuarbeiten.

STEPHEN PORGES: Richtig. Wir verfügen ja über verschiedene neuronale


Schaltkreise, die dazu dienen, unterschiedliche, aber in jedem Fall sehr wich-
tige adaptive Funktionen zu erfüllen. Diese neurophysiologischen Systeme
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 181

bildeten im Laufe ihrer Entwicklung neuronale Plattformen für emergente


Verhaltensweisen, die alle eine adaptive Funktion hatten. Es liegt mir fern,
Verhaltensweisen als gut oder schlecht zu bezeichnen; vielmehr verstehe ich
jedes Verhalten als Bestandteil einer neuronalen Plattform, die einen Versuch
des Gesamtorganismus verkörpert, durch adaptives Verhalten zu überleben.
Doch obwohl man Verhaltensweisen mit Hilfe dieses Modells als adaptiv ver-
stehen kann, können manche Verhaltensweisen adäquates soziales Verhal-
ten und soziale Interaktionen stören. Deshalb sollte ein Ziel jeder Therapie
sein, dem Klienten zu ermöglichen, seinen viszeralen Zustand zu regulieren,
sich in sozialen Situationen zu engagieren und die Interaktion mit anderen
Menschen zu genießen. Soziales Verhalten ist nur dann möglich, wenn der
neueste neuronale Schaltkreis das ANS reguliert. Diesen ausschließlich bei
Säugetieren existierenden Schaltkreis können wir nur nutzen, wenn wir uns
sicher fühlen. Das System für soziale Interaktion kommt nicht nur der so-
zialen Interaktion zugute und ermöglicht ihr, Entwicklung, Gesundheit und
Genesung zu fördern, sondern es kann auch unsere Reaktionen und die neu-
ronalen Schaltkreise, die entstanden sind, damit wir uns verteidigen können,
herunterregulieren.

SERGE PRENGEL: Es geht also nicht mehr um die traditionellen Pathologien,


sondern um gute Reaktionen auf potentiell negative Wahrnehmungen oder
darum, unsere persönliche Funktionsweise zu beeinflussen.

STEPHEN PoRGES: Ja, allerdings versuche ich, das Wort Wahrnehmung zu


vermeiden, weil die Begriffe Bewußtsein und Kognition darin mitschwin-
gen. Wir reagieren auf Signale aus unserer Umgebung, indem wir, ohne es
zu merken, unsere Physiologie verändern. Ich bezeichne diesen Prozeß als
Neurozeption, um darauf hinzuweisen, daß er auf neuronaler Ebene statt-
findet. Unser Körper reagiert ständig auf Menschen und Orte. Wir müssen
mehr über die Deutung der Körperreaktionen herausfinden. Wir müssen uns
vergegenwärtigen, daß es Gründe gibt, wenn unser Körper sich unwohl fühlt,
und daß wir uns auf diese neue Situation einstellen müssen.

SERGE PRENGEL: Jetzt werde ich einmal den Advocatus diaboli spielen: Ich
könnte sagen, wenn jemand diese Information liest, ist natürlich auch wieder
ein kognitiver Prozeß initiiert worden.
182 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

STEPHEN PoRGES: Da haben Sie völlig recht. Man bewegt sich in einem Teu-
felskreis.

SERGE PRENGEL: Das sehe ich auch so. Man kann kaum über Prozesse reden,
ohne auf solche Gedanken zu kommen.

STEPHEN PoRGES: Nach meiner Auffassung können wir uns diesem Problem
entziehen, indem wir nur sagen, daß wir die Reaktionen unseres Körpers re-
spektieren müssen, statt uns weiter zu bemühen, immer perfekter alles zu
ignorieren, was unser Körper uns mitteilt. Wenn wir die Reaktionen unse-
res Körpers respektieren, können wir unser Gewahrsein und unseren Willen
nutzen, um Orte aufzusuchen, wo wir uns wohler fühlen. Aus diesem neuen
Verständnis kann eine Partnerschaft zwischen unserem Respekt gegenüber
körperlichen Empfindungen und der Kontrolle über unseren eigenen Körper
mittels der kognitiven Funktionen erwachsen.

SERGE PRENGEL: Was ich höre, erzeugt bei mir einen visuellen Eindruck von
sanfter Bewegung im Gegensatz zu ruckartigen Bewegungen.

STEPHEN PoRGES: Als wir noch jünger waren, machte uns die Lautstärke in
Bars und an anderen Orten, wo sich viele Menschen aufhielten, nichts aus.
Mit zunehmendem Alter jedoch fällt es uns immer schwerer, in einer lauten
Umgebung Stimmen zu verstehen und zu anderen Menschen in Kontakt zu
treten. Unser Nervensystem läßt uns ein wenig im Stich. Wir neigen dann
dazu, uns von solchen Umgehungen, in denen wir uns nicht wohl fühlen,
fernzuhalten. Viele Menschen erleben ähnliches. Aber viele derjenigen, die
so etwas erleben, respektieren die damit verbundenen unangenehmen Kör-
perempfindungen erst, wenn es zu spät ist und sie ihr Verhalten nicht mehr
beeinflussen können.

SERGE PRENGEL: Demnach wären viele unserer Pathologien darauf zurück-


zuführen, daß wir uns zu gut über solche Signale hinwegsetzen können.

STEPHEN PoRGES: Wir registrieren die Signale, ignorieren sie aber. Ich glau-
be, daß die Strategie des Leugnens der Reaktionen unseres Körpers viel mit
unserer Kultur "zu tun hat. Und das führt uns wieder zu meiner Bemerkung
Somatische Perspektiven zur Psychotherapie • 183

über Descartes zu Beginn unseres Gesprächs zurück, in der es um die Un-


terordnung der Körperempfindungen unter die kognitiven Funktionen ging.
Die Abhängigkeit unserer Kultur von bestimmten religiösen Ansichten hat
erheblich zur Marginalisierung der Bedeutung körperlicher Empfindungen
beigetragen. Körperempfindungen wurden der »animalischen« Existenz zu-
geordnet und somit abgewertet, wohingegen man den Gedanken eine engere
Beziehung zum Geist bzw. zur Seele zuschrieb.

SERGE PRENGEL: So kommen wir dazu, unsere Existenz aus einer Bottom-
up- Perspektive zu sehen.

STEPHEN PoRGES: Richtig. Aber in Wahrheit handelt es sich um eine Kom-


bination aus einem Bottom-up- und einem Top-down-Modell. Wir versu-
chen, die Bidirektionalität von Geist/Gehirn und Körper/Viszera zu erhalten,
weil das Gehirn die inneren Organe steuert und diese dem Gehirn ständig
Informationen zuleiten. Einfache Bewegungen, wie sie durch Haltungsver-
änderungen entstehen, haben Veränderungen der Signale, die unser Gehirn
empfängt, zur Folge. Wenn wir uns vor- oder zurücklehnen, verändert sich
unser Blutdruck, und unsere Barorezeptoren, die den Blutdruck überwachen
und diese Informationen in bestimmte Bereiche im Gehirn weiterleiten, er-
halten veränderte Signale. Wenn wir uns zurücklehnen, entspannen wir uns
gewöhnlich, und wir nehmen die Vorgänge in der Umgebung nicht mehr so
scharf wahr. Beim Wechsel in eine aufrechte Haltung verändert sich der Blut-
druck, und wir fühlen uns wacher und fokussierter. Die einfachen Verhal-
tensänderungen, die sich auf die Barorezeptoren auswirken, können somit
unsere Interaktionen mit der Welt verändern.
Im Keller bei mir zu Hause gibt es einen Sessel, dessen Lehne sich zurück-
stellen läßt, so daß der Lendenwirbelbereich von jedem Druck befreit wird.
Wenn ich mich in diese zurückgelehnte Haltung versetzt habe, will ich nicht
mehr aufstehen. Ich fühle mich dann völlig entspannt und will weder arbeiten
noch auch nur denken, sondern einfach nur weiter so da liegen. In meinem
Arbeitszimmer hingegen sitze ich in aufrechter Position am Schreibtisch.
Meine Motivationen und meine Perspektive verändern sich dann. Wenn ich
am Schreibtisch sitze, erscheint mir meine Arbeit als interessant und erfreu-
lich. Die beiden Haltungen scheinen zwei verschiedene Arten der Interakti-
on mit der Umgebung zu ermöglichen, als spiegelten die beiden psychischen
184 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Erlebensweisen zwei unterschiedliche Persönlichkeiten: eine lethargische


und eine engagierte oder sogar enthusiastische. Etwas so Simples wie eine
leichte Haltungsveränderung kann demnach durch die mit ihr verbundene
Aktivierung neurophysiologischer Schaltkreise unsere Reaktion auf das Ge-
schehen in der Welt, die Art, wie wir unsere Gedanken organisieren, und die
Grundlagen unserer Selbstmotivation verändern.

SERGE PRENGEL: Interessant ist, daß dies durch eine Haltungsveränderung


verursacht wird, die auch die dyadische Beziehung zwischen mir und der
Umgebung verändert.

STEPHEN PoRGES: Sie sind da etwas Wichtigem auf der Spur. Eine andere
Möglichkeit, diesen Vorgang zu sehen, ist, daß es sich um einen Wechsel
von der Fokussierung auf die Regulation der glatten Muskeln der inneren
Organe im entspannten Zustand hin zur Aktivierung der gestreiften Mus-
keln des Rumpfes und der Gliedmaßen im Zustand erhöhter Wachsamkeit
handelt. Dazu kommt es, weil die aufrechte Sitzhaltung eine Erhöhung des
Muskeltonus erforderlich macht. Um diese zu erreichen, muß man andere
neuronale Schaltkreise aktivieren, als wenn man sich zurücklehnt und die
gestreiften Muskeln sich im entspannten Zustand befinden. In der zurück-
gelehnten Haltung wird man buchstäblich insgesamt zu einem Organismus
der glatten Muskulatur, der bestrebt ist, Energieressourcen zu konservieren.
In aufrechter Haltung hingegen müssen die Skelettmuskeln den Muskeltonus
aufrechterhalten, wodurch wir zu einem interaktiven, Kontakt suchenden
Organismus werden.

SERGE PRENGEL: Sie sehen das Individuum, das Selbst demnach als einen
Prozeß, der unter bestimmten Umständen auf die glatte Muskulatur fokus-
siert ist und einen Zustand der Entspannung fördert.

STEPHEN PoRGES: Richtig. Wenn wir einen entspannten Zustand der Immo-
bilisierung erleben, kommen bestimmte physiologische Prozesse zur Geltung,
die Gesundheit, Entwicklung und Genesung fördern. Dies ist ein sehr wichti-
ger und nützlicher Zustand, obwohl er soziale Interaktion und ausschweifen-
des Denken nicht unterstützt.
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 18 S

SERGE PRENGEL: Dann geht es hier im Grunde nur darum, wie wir verschie-
dene neuronale Schaltkreise nutzen können, die uns ermöglichen, auf Verän-
derungen in der Umgebung zu reagieren, und uns an sie anzupassen.

STEPHEN PORGES: Wenn wir die Existenz verschiedener neuronaler Plattfor-


men konstatieren, die unterschiedliche Bereiche des Verhaltens unterstützen,
können wir die Verhaltensweisen und die Einschränkungen des Verhaltens
auf den verschiedenen neuronalen Plattformen als emergentes Verhalten
deuten. Wenn ich mich beispielsweise auf meinem Sessel bequem zurück-
lehne, ist mein Defizit an sozialem Verhalten in dieser Situation nicht dys-
funktional, es würde aber so verstanden, wenn ich ein paar Freunde zu ei-
nem gemeinsamen Abend eingeladen hätte. Im Grunde entscheidet also der
Kontext, was in einer bestimmten Situation adaptiv ist. Die Verhaltensweisen
jedoch sind emergente Eigenschaften der neuronalen Plattform, und die ad-
aptiven Charakteristika hängen von der Angemessenheit der jeweiligen Ver-
haltensweisen in einem bestimmten Kontext ab. Wenn wir Verhalten so ver-
stehen, könnte sich das auch auf unser Verständnis behavioraler Pathologien
auswirken und es verändern. Wir könnten eine behaviorale Pathologie dann
als ein Verhalten deuten, das in einem bestimmten Zusammenhang adaptiv
war und nun in einem Zusammenhang aktiviert wird, in dem es dysfunktio-
nal ist. Beispielsweise könnten Traumatisierte, die dissoziieren oder sich in
einen Shutdown zurückziehen, damit eine Reaktion zum Ausdruck bringen,
die während des ursprünglichen traumatischen Erlebnisses adaptiv war, in
einem sozialen Zusammenhang jedoch dysfunktional ist.

SERGE PRENGEL: Sie verändern die Definition des Begriffs Pathologie da-
hingehend, daß es um die Adaptivität eines Verhaltens im aktuellen Kontext
oder um deren Fehlen geht.

STEPHEN PoRGES: So sehe ich es, und wenn wir das tun, ist Verhalten nach
meiner Auffassung weder gut noch schlecht. Es geht nur darum, ob ein Ver-
halten einem bestimmten Kontext gerecht wird oder nicht. Dadurch können
wir einige moralische Urteile neutralisieren, mit denen Menschen zu kämpfen
haben, denen es schwerfällt, ihren Zustand zu regulieren, um sich neuronale
Plattformen zu erschließen, die adäquatere Verhaltensweisen unterstützen.
186 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Wir berühren hier den Kern der Polyvagal-Theorie und wie sie sich in sehr
einfachen Konstrukten erfassen läßt, die mit unserem Streben nach einem
Gefühl der Sicherheit zusammenhängen. Wenn wir uns nicht sicher fühlen,
befinden wir uns permanent in einem Zustand der Defensivität, und wir ur-
teilen unablässig. Gelingt es uns jedoch, die Schaltkreise zu aktivieren, die
soziales Engagement unterstützen, können wir die neuronale Plattform so
beeinflussen, daß sich spontan Verhaltensweisen sozialen Engagements ma-
nifestieren. Aus Sicht der Polyvagal-Theorie ist dies das eigentliche Ziel jeder
Therapie.

SERGE PRENGEL: Im Grunde müssen wir verstehen, daß es sich hier um Pro-
zesse handelt, in denen ein Fließen zum Ausdruck kommt. Und wir müssen
diese Prozesse umlenken und an dem Potential arbeiten, das uns ermöglicht,
zu lernen und uns anzupassen.

STEPHEN PoRGES: Sie haben auf einen weiteren wichtigen Aspekt hingewie-
sen, auf den ich noch eingehen möchte: Wir haben die drei Schaltkreise, mit
deren Hilfe wir unseren physiologischen Zustand regulieren können, aber
wir können die beiden defensiven Schaltkreise modifizieren, indem wir das
neuere System für soziales Engagement nutzen, wenn wir uns sicher füh-
len. Ist das der Fall, können wir den Mobilisierungszustand nutzen, ohne in
Kampf- oder Fluchtverhalten zu verfallen. Statt zu kämpfen oder zu fliehen,
sind wir dann in der Lage, uns ganz neutral zu bewegen und zu spielen. Zwar
setzt sowohl Kampf-oder-Flucht-Verhalten als auch Spiel Mobilisierung vor-
aus, doch vermag Spiel die Defensivität durch Face-to-Face-Interaktion zu
neutralisieren. Spiel signalisiert mit Hilfe des Systems für soziales Engage-
ment, daß die Bewegungen keine gefährliche Absicht zum Ausdruck bringen
und nicht schädigen wollen. Man kann dies bei Hunden beobachten, die ein-
ander spielerisch jagen und beißen, und dann in Blickkontakt treten und die
Rollen tauschen. Und Menschen, die beim Sport einen Mitspieler versehent-
lich schlagen, nehmen solchen Situationen die Schärfe, indem sie Blickkon-
takt aufnehmen und mit dem Betreffenden kommunizieren. Würden sie über
das, was sie getan haben, einfach hinweggehen, könnte ein Kampf folgen. Der
Schaltkreis für soziales Engagement tritt auch bei der Liebe in Aktion: Die
Partner treten zunächst in Blickkontakt und später in einen Zustand der Im-
mobilisierung ohne Furcht ein. Im Laufe der Zeit wird es uns möglich, in
Somatische Perspektiuen zur Psychotherapie • 18 7

den Armen eines anderen Menschen in den Zustand der Immobilisierung zu


treten. Ich weise immer wieder auf die Bedeutung dieser Form der Immobi-
lisierung hin, weil Immobilisierung für Säugetiere tödlich sein kann. Deshalb
sind sie ständig in Bewegung, wenn sie sich im Beisein eines Artgenossen
nicht sicher fühlen.

SERGE PRENGEL: Gibt es demnach so etwas wie eine »gute Immobilisierung«?

STEPHEN PoRGES: Die »gute« Immobilisierungsreaktion, die furchtlose Im-


mobilisierung, erfordert die Aktivierung der neuronalen Pfade, die bei der
»Immobilisierung mit Furcht« angesprochen werden, in Verbindung mit der
Ausschüttung von Neuropeptiden wie Oxytocin. Im dorsalen motorischen
Kern des Vagus befinden sich Oxytocin-Rezeptoren, die den phylogenetisch
älteren, nicht myelinisierten Vagus regulieren. Die furchtlose Immobilisie-
rung ermöglicht es Frauen, Kinder zu gebären, ohne dabei in Ohnmacht zu
fallen oder gar zu sterben. Das entsprechende System »guter Immobilisie-
rung« ermöglicht es Menschen, einander zu liebkosen und zu umarmen,
und speziell Frauen, ihre Babys zu stillen, ohne sich bewegen zu müssen. So
werden phylogenetisch ältere Strukturen, die ursprünglich der Verteidigung
dienten, für das Spiel sowie für Sexualverhalten und Fortpflanzung genutzt.

SERGE PRENGEL: In diesem Kontext betrachtet bemühen wir uns in der The-
rapie um eine Weiterentwicklung der Fähigkeit der Anpassung an aktuelle
Strukturen.

STEPHEN PoRGES: Und das tun Sie als Therapeuten, um Klienten ein flexib-
leres Verhalten in der Welt zu ermöglichen, indem Sie ihnen den Zugang
zu neuronalen Schaltkreisen erschließen, die in entsprechenden geeigneten
Zusammenhängen Defensivtendenzen effektiv neutralisieren und die phylo-
genetisch älteren Defensivschaltkreise für sehr positive Zwecke nutzbar ma-
chen.

SERGE PRENGEL: Stephen, ich danke Ihnen!


KAPITEL 8

Therapeutische Präsenz
Neurophysiologische Mechanismen, die in
therapeutischen Beziehungen ein Gefühl
der Sicherheit vermitteln
Stephen W. Porges & Shari M. Geiler

Therapeutische Präsenz beinhaltet, daß Therapeuten sich mit ihrem ganzen


Sein in ihre Arbeit einbringen, dabei für den Klienten offen und mit ihm in
den gegenwärtigen Augenblick eingestimmt sind, was eine effektive Thera-
pie ermöglicht. Wir erklären in diesem Aufsatz, wie therapeutische Präsenz
beim Therapeuten wie beim Klienten ein Gefühl der Sicherheit fördern kann,
das sich positiv auf die therapeutische Beziehung und den Verlauf der The-
rapie auswirkt. Die Polyvagal-Theorie erklärt in diesem Zusammenhang, wie
bestimmte Aspekte therapeutischer Präsenz bei Klienten und Therapeuten
einen neurophysiologischen Zustand aktivieren, den beide als Gefühl der Si-
cherheit wahrnehmen und erleben. Dieser Auffassung gemäß wird ein Zu-
stand der Sicherheit durch Neurozeption vermittelt, einen neuronalen Pro-
zeß außerhalb des Bewußtseins, der permanent Gefahren einschätzt und
auf Anzeichen für Sicherheit, Gefahr oder Lebensgefahr hin adaptive phy-
siologische Reaktionen auslöst. Signalisieren physiologische Marker für so-
ziales Engagement (z. B. der Gesichtsausdruck, die Gestik und die Prosodie)

Das Original ist erschienen unter dem Titel »Therapeutic Presence: Neurophysiological Mechanisms
Mediating Feeling Safe in Therapeutic Relationships « in: Journal oj Psychotherapy Integration, 2014,
Vol. 24, No. 3, pp. 178-192.
© 2014 American Psychological Association.

Shari M. Geiler arbeitet als klinische Psychologin in privater Praxis in Toronto, Ont./Kanada; sie ist
Fakultätsmitglied des Department of Health Psychology der York University und der Faculty of Music
in Zusammenarbeit mit dem Music and Health Research Collaboratory der Universität Toronto. Shari
M. Geiler kann über die eMail- Adresse drsharigeller@gmail.com kontaktiert werden.
190 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Sicherheit, werden nach Auffassung der Polyvagal-Theorie Defensivtenden-


zen verringert. Folglich vermag das Entwickeln von Präsenz und die Pfle-
ge einer präsenzzentrierten Beziehung zwischen Klient und Therapeut die
Effektivität einer Therapie zu verbessern, da Klient und Therapeut in einen
physiologischen Zustand eintreten, der das Gefühl der Sicherheit, eine posi-
tive therapeutische Beziehung und optimale Voraussetzungen für Entwick-
lung und Veränderung fördert.

Wirksame therapeutische Arbeit ist nur möglich, wenn der Klient sich in der
Therapiesituation sicher fühlt. Untersuchungen haben ergeben, daß die the-
rapeutische Beziehung in einer Psychotherapie für gewünschte Veränderun-
gen von zentraler Bedeutung ist und daß konkrete Resultate therapeutischer
Arbeit nur in geringem Maße bestimmten Techniken zuzuschreiben sind
(Duncan & Moynihan 1994; Lambert & Ogles 2004; Lambert & Sirnon 2008;
Martin, Garske & Davis 2000; Norcross 2002, 2011; Orlinsky, Grawe & Parks
1994). Diese Beobachtungen veranlaßten Psychotherapieforscher zu untersu-

chen, welche gemeinsamen Faktoren unterschiedlicher Therapieansätze für


die Verbesserung des Zustandes von Klienten zentral sind (Norcross 2011) .
Dem aktuellen Forschungsstand gemäß könnte therapeutische Präsenz für
die Entstehung einer positiven therapeutischen Beziehung von zentraler Be-
deutung sein (Geller, Greenberg & Watson 2010; Geiler & Greenberg 2012;
Hayes & Vinca 2011; Pos, Geiler & Oghene 2011).
Ein Gefühl der Sicherheit entsteht beim Klienten häufig, weil sein The-
rapeut völlig präsent und engagiert ist, eine für die Entwicklung einer gu-
ten therapeutischen Beziehung zentrale Voraussetzung (Geller & Greenberg
2012; Lambert & Sirnon 2008; Mearns 1997; Rogers 1957, 1980; Siegel 2007,

2010). Während klinische Beobachtungen bestätigen, daß Präsenz aufgrund

ihres Einflusses auf die Entstehung einer positiven therapeutischen Bezie-


hung beim Klienten ein Gefühl der Sicherheit hervorruft, ist weniger klar,
wie oder warum die Präsenz des Therapeuten beim Klienten ein Gefühl der
Sicherheit erzeugt, das effektive therapeutische Arbeit ermöglicht. Der vor-
liegende Aufsatz untersucht diese Frage aus der Perspektive der Neurowis-
senschaft und biobehavioraler Mechanismen, wie die gut erforschte Polyva-
gal-Theorie es nahelegt (Porges 1995, 1998, 2007, 2011/2010).
Die zeitgenössische Neurowissenschaft bietet der Psychotherapiefor-
schung einen fundierten physiologischen Verständnisrahmen, der Aufschluß
Therapeutische Präsenz • 191

darüber gibt, wie die Präsenz eines Therapeuten aufgrund der Wirkung be-
stimmter neurophysiologischer Mechanismen beim Klienten ein Gefühl
der Sicherheit hervorruft (Porges 2011/2010; Schore 2003, 2012; Siegel 2007,
2010 ). Die Polyvagal-Theorie ist eine Perspektive, die Klinikern eine neuro-
physiologische Erklärung für zentrale autonome Mechanismen liefert, wel-
che Aufschluß darüber geben, wie Präsenz in Beziehungen das Gefühl der
Sicherheit fördert (Cozolino 2006/2007; Porges 1995, 1998, 2007, 2011/2010;
Siegel 2007; Schore 1994, 2003, 2012). Die Polyvagal-Theorie weist darauf
hin, daß zwischen dem Autonomen Nervensystem und dem Verhalten star-
ke Verbindungen bestehen, und sie erklärt, daß der physiologische Zustand
eines Klienten, der sich in Gegenwart eines Therapeuten sicher fühlt, sowohl
für den Klienten als auch für den Therapeuten optimale Voraussetzungen
für effektive therapeutische Arbeit schafft. Gemäß der Polyvagal-Theorie
(Porges 2003b, 2007, 2011/2010) tritt dieser optimale »therapeutische« Zu-
stand spontan ein, wenn das Nervensystem Anzeichen für Sicherheit erkennt.
Ist dies der Fall, wechselt der Klient in einen physiologischen Zustand, der
die Defensivhaltung verringert und spontanes soziales Engagement fördert.
Durch solche Perioden gemeinsamen Erlebens von Sicherheit wird die the-
rapeutische Beziehung gestärkt, was der Effizienz des Therapieprozesses zu-
gute kommt. Abgesehen vom sicherheitsfördernden optimalen Engagement
des Therapeuten und des Klienten lassen vorliegende Untersuchungen auch
den Schluß zu, daß eine von Sicherheit geprägte Therapiesituation beim
Klienten die Neuentwicklung neuronaler Pfade begünstigt. Dies wiederum
ist für die Heilung von Bindungsverletzungen wichtig und ermöglicht jene
positiven sozialen Interaktionen, die für Erhaltung und Wiederherstellung
der Gesundheit des Klienten und seine neuronale Weiterentwicklung unver-
zichtbar sind (Allison & Rossouw 2013; Rossouw 2013).
Wir werden in diesem Aufsatz (a) erläutern, welchen Wert die Präsenz des
Therapeuten für die Entstehung einer sicheren Situation und für die Vertie-
fung seiner Beziehung zum Klienten hat, und außerdem werden wir (b) die
Polyvagal-Theorie vorstellen, die zu erklären hilft, wie Präsenz neuronale
Prozesse unterstützt, die Gefühle der Sicherheit ermöglichen, was eine Vor-
aussetzung für die Heilung ist. Zunächst stellen wir zu diesem Zweck eine
Definition und Beschreibung therapeutischer Präsenz vor. Darauf folgt eine
Darstellung der Polyvagal-Theorie. Weiterhin setzen wir uns damit auseinan-
der, wie therapeutische Präsenz die Neurozeption der Sicherheit des Klienten
192 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

fördert. Zudem wird die Theorie der Veränderung durch therapeutische


Präsenz im Kontext der Polyvagal-Theorie beschrieben, was uns ermöglicht,
anschließend im neurophysiologischen Sinne zu beschreiben, wie therapeu-
tische Präsenz Veränderungen ermöglicht. Abschließend wird ein Training
in therapeutischer Präsenz empfohlen - ein Vorschlag, der von der neuro-
wissenschaftlichen Forschung gestützt wird, die vom besonderen Wert eines
Gefühls der Sicherheit für die Arbeit mit Klienten überzeugt ist.

Was ist therapeutische Präsenz?

Therapeutische Präsenz beinhaltet, daß sich Therapeuten während ihrer Ar-


beit völlig im gegenwärtigen Augenblick befinden. Dies kommt in mehreren
sich gleichzeitig manifestierenden Dimensionen zum Ausdruck, nämlich in
der physischen, emotionalen, kognitiven und relationalen (Dunn, Callahan,
Swift & Ivanovic 2013; Geiler 2009, 2013a, 2013b; Geiler & Greenberg 2002,
2012; Geiler et al. 2010; Geiler, Pos & Colosimo 2012; McCollum & Gehart
2010). Therapeutische Präsenz wird möglich, wenn der Therapeut vor Be-
ginn einer Therapiesitzung an der Entwicklung seiner Präsenz arbeitet und
dem Klienten dann aus dem Zustand der Präsenz heraus begegnet. Experten
erklären, das Erleben therapeutischer Präsenz umfasse gleichzeitig folgende
Aspekte: (a) daß man als Therapeut geerdet und mit dem eigenen integrierten
und gesunden Selbst in Kontakt ist; (b) daß man offen ist für das im Augen-
blick Schmerzliche; und (c) daß man im betreffenden Moment ein umfas-
senderes Gefühl des Raumes und der Erweiterung des Gewahrseins und der
Wahrnehmung erlebt. Der Zustand der Erdung, des Eingetauchtseins und der
Erweiterung des Gewahrseins ist mit (d) der Absicht verbunden, mit dem und
für den Klienten im Dienste seines Heilungsprozesses zusammen zu sein. Auf
dieser Grundlage lädt der Therapeut den Klienten ein, sich mit ihm in einen
tieferen Zustand relationaler therapeutischer Präsenz zu begeben. Ein em-
pirisch validiertes Modell therapeutischer Präsenz wird in anderen Publika-
tionen ausführlicher beschrieben (siehe Geller 2013a, b; Geller & Greenberg
2002, 2012). Nach unserer Auffassung bewirkt die Präsenz des Therapeuten,
daß sich der Klient »gesehen« und verstanden und so sicher fühlt, daß er in
seinem eigenen Erleben und seiner Beziehung zum Therapeuten selbst prä-
sent sein kann, was der Vertiefung der therapeutischen Arbeit zugute kommt.
Therapeutische Präsenz • 193

Nach unserer Auffassung ist der gegenwärtige Kontakt des Therapeuten


zu sich selbst die entscheidende Voraussetzung dafür, daß er dem Klienten
gegenüber einen Zustand der Eingestimmtheit und Responsivität entwickeln
kann (Geiler & Greenberg 2012). Um zu therapeutischer Präsenz fähig zu sein,
muß der Therapeut zunächst geerdet, zentriert, stabil und außerdem offen
und empfänglich für das gesamte Erleben des Klienten sein. In Augenblicken
präsenzzentrierten Engagements sind Therapeuten gleichzeitig in direktem
Kontakt zu sich selbst, zum Klienten und zur gemeinsamen Beziehung. Ihre
Fähigkeit zur Responsivität und zur Nutzung wirksamer Interventionen und
Techniken basiert auf dieser eingestimmten Verbundenheit und der Fähigkeit,
im gegenwärtigen Augenblick mit dem Erleben des Klienten zu resonieren
(Germer, Siegel & Fulton 2005/2009; Geiler & Greenberg 2012; Greenberg,
Rice & Elliott 1993/2003; Goldfried & Davila 2005; Lambert & Sirnon 2008).

Untersuchungen über therapeutische Präsenz

Die Zahl der Untersuchungen, die zum Verständnis der therapeutischen Prä-
senz beitragen, nimmt zu (Geiler 2001; Geiler & Greenberg 2002; Geiler et al.
2010; Hayes & Vinca 2011; Pos, Geiler & Oghene 2011). Eine Studie, in der
Therapeuten über ihr Erleben von Präsenz befragt wurden, führte zur Ent-
wicklung eines Modells therapeutischer Präsenz, das drei Kategorien umfaßt
(diese sind die Vorbereitung- die einleitende Intention und Praxis, mit deren
Hilfe Therapeuten ihre Präsenz fördern; der Prozeß - was Therapeuten tun,
wenn sie präsent sind; und das Erleben - wie sich das verkörperte Erleben von
Präsenz anfühlt; siehe hierzu Geller 2001; Geiler & Greenberg 2002, 2012).
Eine spätere Studie befaßte sich mit der Entwicklung einer Möglichkeit,
therapeutische Präsenz zu messen - dem Therapeutic Presence Inventory
(TPI), das auf dem weiter oben erwähnten Modell basierte (Geiler 2001;
Geiler et al. 2010). Von den beiden existierenden Versionen des TPI bezieht
sich die eine auf die Perspektive des Therapeuten (TPI-T), die andere auf die
Wahrnehmung des Klienten von der Präsenz des Therapeuten (TPI-C). Das
TPI-T können Therapeuten auch für die Selbsteinschätzung benutzen, wenn
sie sich über den Grad ihrer Präsenz in Gegenwart eines Klienten klar wer-
den wollen (Geiler 2013b). Untersuchungen, die Reliabilität und Validität der
beiden Versionen des TPI bestätigen, liegen vor (Geiler et al. 2010 ).
194 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHE IT

Noch nicht abgeschlossene Untersuchungen unter Verwendung des TPI


deuten darauf hin, daß Berichte von Klienten über die Präsenz ihrer Thera-
peuten zuverlässige Voraussagen über die therapeutische Beziehung (Geiler
et al. 2010) und die therapeutische Allianz (Pos et al. 2011) zulassen. Diese
Erkenntnisse stützen die Auffassung, daß Präsenz eine notwendige Grundla-
ge für die Entwicklung einer positiven therapeutischen Beziehung und eine
unabdingbare Voraussetzung für empathische Kommunikation ist (Geiler
et al. 2010; Hayes & Vinca 2011; Pos et al. 2011). Auch hinsichtlich der Prä-
diktion einer positiven therapeutischen Allianz in personzentrierten, prozeß-
experientiellen und kognitiv-behavioralen Therapien hat sich das TPI-C als
zuverlässig erwiesen (Geiler 2001; Geiler et al. 2010).
Überdies hat sich herausgestellt, daß die Art, auf die Klienten die Präsenz
ihres Therapeuten erleben, die Resultate von Therapiesitzungen (Geiler et al.
2010) und die Reduzierung von Symptomen (Hayes & Vinca 2011) entschei-
dend beeinflußt. Weiterhin legt eine neuere Studie nahe, daß die Vorberei-
tung von Therapeuten auf Präsenz in Therapiesitzungen in einer Relation
sowohl zu ihrer Präsenz in der Sitzung als auch zu positiven Resultaten der
Arbeit in der betreffenden Sitzung steht (Dunn et al. 2013).
Uns liegen zahlreiche Untersuchungen vor, nach denen eine funktionsfähi-
ge therapeutische Allianz zu einem positiven Therapieresultat führt (Duncan
& Moynihan 1994; Lambert & Ogles 2004; Lambert & Sirnon 2008; Martin,
Garske & Davis 2ooo; Norcross 2002, 2011; Orlinsky, Grawe & Parks 1994).
Und gemäß zur Zeit noch laufender Untersuchungen ist Präsenz eine Vor-
aussetzung für eine positive therapeutische Beziehung und Allianz. Die ge-
nannten Studien bestätigen unsere theoretische Annahme, Präsenz trage zur
Effektivität einer Therapie bei, indem sie eine positive therapeutische Allianz
vermittle und fördere (Geiler & Greenberg 2012; Geiler et al. 2012).

Was ist die Polyuagai-Theorie?

Die Polyvagal-Theorie präsentiert eine neue Sicht der Verbindung zwischen


autonomem Zustand und Verhalten. Sie postuliert eine hierarchische Bezie-
hung zwischen drei Subsystemen des Autonomen Nervensystems (ANS), die
in Reaktion auf bestimmte Hinweise auf Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr
in der Umgebung entstanden sind (Porges 2011!2010). Die Theorie hat bei
Therapeutische Präsenz • 19 5

Forschern und Klinikern, die mit Traumatisierten arbeiten, starkes Interesse


geweckt. Dieses Interesse basiert auf der Beschreibung zweier Defensivsyste-
me: (a) des allgemein bekannten Kampf-oder-Flucht-Systems, das mit der
Aktivierung des Sympathischen Nervensystems (SNS) verbunden ist, und (b)
des weniger bekannten Systems der Immobilisierung und Dissoziation, das
durch einen phylogenetisch älteren Vaguspfad aktiviert wird. Die Bezeich-
nung » polyvagal « weist darauf hin, daß es zwei Vagusschaltkreise gibt. Einer
von diesen ist der mit der Defensivreaktion assoziierte alte Vagusschaltkreis.
Der andere ist später entstanden, existiert nur bei Säugetieren und wird mit
physiologischen Zuständen assoziiert, die mit einem Gefühl der Sicherheit
und mit spontanem sozialem Verhalten verbunden sind (Porges 2012).
Die Polyvagal-Theorie hat verschiedene Fachbereiche zur Durchführung
von Studien angeregt (darunter Neonatologie, Geburtshilfe, Bioengineer-
ing, Kinderheilkunde, Psychiatrie, Psychologie, Trainingsphysiologie, An-
thropotechnik), und sie wird von vielen Forschergruppen als theoretische
Grundlage für die Entwicklung von Forschungsfragen und zur Erklärung von
Resultaten genutzt (z. B. Ardizzi et al. 2013; Beauchaine 2001; Beauchaine,
Gatzke-Kopp & Mead 2007; Egizio et al. 2008; Hastings et al. 2008; Perry,
Calkins, Nelson, Leerkes & Marcovitch 2012; Schwerdtfeger & Friedrich-Mai
2009; Travis & Wallace 1997; Weinberg, Klonsky & Hajcak 2009; Whitson &
El-Sheikh 2003). Beispielsweise fungiert sie als zentrale theoretische Erklä-
rung für den biobehavioralen Shutdown nach einem traumatischen Erleb-
nis (Bradshaw, Cook & McDonald 2011; Levine 201o/2ou; Ogden, Minton &
Pain 2006/2010; Quintana, Guastella, Outhred, Hickie & Kemp 2012), und
sie hat Streßforscher veranlaßt, sich mit der Rolle zu befassen, die das Para-
sympathische Nervensystem (PNS) und die ihm zugerechneten Vagusschalt-
kreise in Zusammenhang mit neurophysiologischen Mechanismen spielen,
welche Defensivstrategien beeinflussen, die für Reaktivität, Genesung und
Resilienz von Bedeutung sind (Brown & Gerbarg 2005; Evans et al. 2013; Kim
& Yosipovitch 2013; Kogan, Allen & Weihs 2012; McEwen 2002; Wolff, Wads-
worth, Wilhelm & Mauss 2012).
Die Polyvagal-Theorie beschreibt, mittels welcher neuronaler Mechanis-
men physiologische Zustände das Erleben von Sicherheit kommunizieren
und die Fähigkeit eines Menschen stärken, sich entweder sicher zu fühlen
und sich spontan auf andere einzulassen oder sich bedroht zu fühlen und
Defensivstrategien zu benutzen. Die Polyvagal-Theorie artikuliert, wie die
196 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

drei genannten Entwicklungsstufen des ANS von Wirbeltieren mit einem be-
stimmten meßbaren autonomen Subsystem verbunden sind, wobei alle drei
Systeme aktiv bleiben und bei Menschen unter bestimmten Bedingungen
zum Ausdruck gelangen (Porges 2009a). Die drei unwillkürlich agierenden
autonomen Subsysteme sind ihrem entwicklungsgeschichtlichen Auftauchen
entsprechend hierarchisch organisiert und mit drei generellen adaptiven
Verhaltensbereichen verbunden: (a) mit der sozialen Kommunikation (z. B. in
Form des Gesichtsausdrucks, der Vokalisierung und des Zuhörens), (b) mit
Defensivstrategien, die mit dem Zustand der Mobilisierung assoziiert wer-
den (z. B. Kampf-)Fiucht-Verhaiten), und \c) mit defensiver lmmobiiisierung
(z. B. mit Ohnmachtsanfällen, vasovagaler Synkope, Verhaltens-Shutdown
und Dissoziation). Im Einklang mit ihrem Auftauchen zu verschiedenen
Zeitpunkten im Laufe der Entwicklung des ANS von Säugetieren bilden diese
neuroanatomisch basierten Subsysteme insgesamt eine Reaktionshierarchie.
Die hierarchische Organisation des ANS, so wie die Polyvagal-Theorie sie
beschreibt, entspricht dem von John H. Jackson (1958) postulierten Konstrukt
Dissolution, demzufolge jüngere neuronale Schaltkreise die Funktion älterer
hemmen. Deshalb kann der neueste autonome Schaltkreis, der mit sozialer
Kommunikation assoziiert wird, die älteren, unwillkürlichen Schaltkreise, die
für die Defensivstrategien der Kampf-/Flucht-Reaktion und des Shutdown-
Verhaltens eine Rolle spielen, hemmen.
Der Polyvagal-Theorie gemäß ist effektive soziale Kommunikation nur
möglich, wenn wir uns sicher fühlen, weil nur dann die neurobiologischen
Defensivstrategien gehemmt sind. Folglich ist nach unserer Auffassung ein
wichtiger Schlüssel für einen erfolgreichen Therapieverlauf, daß der The-
rapeut präsent ist und die Sicherheit des Klienten fördert, wodurch dessen
unwillkürlich agierende defensive Subsysteme herunterreguliert werden und
die Aktivität seines neueren Systems für soziales Engagement verstärkt wird.
Funktional können wiederholte Begegnungen im gegenwärtigen Augenblick
als »neuronale« Übung des Systems für soziales Engagement verstanden
werden. Weil solche Übungen Effizienz und Reliabilität der neuronalen Pfade,
welche die Defensivsysteme hemmen, verstärken, wird der Klient für Gefühle
der Sicherheit aufgeschlossener und für Selbsterforschung offener.
Die Polyvagal-Theorie verweist auf die unterschiedlichen Funktionen der
beiden motorischen Pfade im ANS von Säugetieren. Der Vagus ist ein Kra-
nialnerv, der aus dem Hirnstamm austritt und bidirektionale Kommunika-
Therapeutische Präsenz • 197

tion zwischen dem Gehirn und den inneren Organen ermöglicht. Er über-
mittelt (und überwacht) den primären parasympathischen Einfluß auf die
inneren Organe. Die meisten Nervenfasern im Vagus sind sensorischer Art
(ca. 8o Prozent). Das Interesse hat sich aber auf diejenigen motorischen Fa-
sern konzentriert, die für die Steuerung der inneren Organe einschließlich
des Herzens und der Bauchorgane zuständig sind. Von den motorischen Fa-
sern des Vagus weisen nur etwa 15 Prozent eine Myelinschicht auf. Diese fett-
haltige Schicht, die bestimmte Nervenfasern umgibt, ist charakteristisch für
schnellere und besser gesteuerte neuronale Schaltkreise.
Im Gegensatz zu anderen Wirbeltieren verfügen Säugetiere über zwei Va-
gusschaltkreise, die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Der phylogene-
tisch ältere von beiden weist keine Myelinummantelung auf. Er entspringt
dem dorsalen Motonucleus des Vagus (DMNX). Die älteren, nicht myelini-
sierten motorischen Vaguspfade sind bei den meisten Wirbeltieren zu finden,
und wenn sie nicht als Defensivsystem genutzt werden, unterstützen sie bei
Säugetieren Gesundheit, Entwicklung und Genesung, indem sie die Organe
unterhalb des Zwerchfells regulieren. Die »neueren« myelinisierten motori-
schen Vaguspfade, die nur bei Säugetieren existieren, regulieren die Organe
oberhalb des Zwerchfells (Herz und Lunge). Dieserneuere Vagusschaltkreis
verlangsamt die Herzfrequenz und fördert Zustände der Ruhe.
Über bestimmte mit dem Hirnstamm zusammenhängende Mechanismen
ist der neuere Vagusschaltkreis auch neuroanatomisch und neurophysiolo-
gisch mit den Kranialnerven verbunden, welche die gestreiften Muskeln des
Gesichts und des Kopfes steuern, die für Verhaltensweisen sozialen Engage-
ments eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund dieser neuroanatomisch basier-
ten »Gesicht- Herz«-Verbindung verfügen Säugetiere über ein integriertes
»System für soziales Engagement«, mit dessen Hilfe Stimmqualität und Mi-
mik den gegenwärtigen physiologischen Zustand eines Menschen erkennen
lassen (Porges 2011/2010, 2012; Porges & Lewis 2009; Stewart et al. 2013). Er-
füllt der neuere Vagus in sozialen Interaktionen optimal seine Funktion (in-
dem er die sympathische Erregung hemmt, die Kampf- oder Fluchtverhalten
fördert), sind die Emotionen gut reguliert, der stimmliche Ausdruck ist facet-
tenreich, und der autonome Zustand unterstützt ruhiges spontanes soziales
Engagement. Das Gesicht-Herz-System kommuniziert bidirektional, wobei
der neuere, myelinisierte Vagusschaltkreis soziale Interaktionen beeinflußt
und positive soziale Interaktionen ihrerseits Einfluß auf die Vagusfunktion
198 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

ausüben, was der physischen Gesundheit zugute kommt, streßbedingte phy-


siologische Zustände abmildert und Entwicklung und Genesung fördert.
Im Sinne der Polyvagal-Theorie gelangen bei einem Menschen, der sich
sicher fühlt, zwei wichtige Aspekte zum Ausdruck. Erstens wird sein körper-
licher Zustand effizient reguliert, so daß Entwicklung und Genesung geför-
dert werden. Dies wird erreicht durch Vergrößerung des Einflusses der mye-
linisierten motorischen Vaguspfade auf den Sinusknoten, den natürlichen
Schrittmacher des Herzens, der die Herzfrequenz senkt, die Kampf-/Flucht-
Mechanismen des SNS hemmt, das Streßreaktionssystem der HPA-Achse
(die Kortisolausschüttung) dämpft und durch Modulation von Immunreak-
tionen Entzündungen (die Aktivität von Zytokin) verringert. Zweitens sind
im Hirnstamm die Kerne, die für die Regulation des myelinisierten Vagus
zuständig sind, mit den Kernen verbunden, welche die Muskeln des Gesichts
und des Kopfes steuern. Aufgrund dieser Integration neuroanatomischer
Strukturen im Hirnstamm existieren neuronale Pfade, die ein funktionales
System für soziales Engagement ermöglichen, das durch eine bidirektionale
Kopplung zwischen physiologischen Zuständen und den spontanen Verhal-
tensweisen sozialen Engagements charakterisiert ist, die in Form von Mimik
und Prosodie zum Ausdruck gelangen. Die behaviorale Manifestation dieses
integrierten Systems für soziales Engagement, das bei Säugetieren zu beob-
achten ist, bildete sich heraus, weil die neuronalen Pfade, welche (über den
myelinisierten Vagus) die viszeralen Zustände regulieren, neuroanatomisch
und neurophysiologisch (über spezielle viszerale efferente Pfade) mit den
neuronalen Pfaden verbunden sind, welche die den Blick, die Mimik, die Ge-
stik des Kopfes, das Zuhören und den stimmlichen Ausdruck regulierenden
Muskeln steuern (siehe Porges 2001, 2007, 2009a).

Neurozeption

Im Kontext therapeutischer Präsenz bietet die Polyvagal-Theorie eine neu-


rophysiologische Perspektive, die zu erklären vermag, wie die Präsenz an-
derer Menschen körperliche Empfindungen und Emotionen beeinflussen
kann. Es gibt nicht nur eine bidirektionale Kommunikation zwischen dem
Gehirn (d. h., dem zentralen Nervensystem) und dem Körper, sondern auch
eine bidirektionale Kommunikation zwischen den Nervensystemen verschie-
Therapeutische Präsenz • 199

dener Menschen in unserem sozialen Umfeld (Cozolino 2oo6/2oo7; Porges


2011/2010; Siegel 2007, 2010). Oft findet diese bidirektionale Kommunikati-
on außerhalb des Gewahrseins statt, und wir haben nur ein »Bauchgefühl«,
eine viszerale Empfindung, die uns in einer sozialen Interaktion Unbehagen
signalisiert. Dieser von der bewußten Wahrnehmung unabhängige Prozeß
der automatischen Einschätzung von Gefahren in der Umgebung wird Neu-
rozeption genannt (Porges 2003b, 2007).
Neurozeption findet im Gehirn statt, und wahrscheinlich sind daran be-
stimmte Bereiche des präfrontalen und temporalen Kortex mit Projektionen
zur Amygdala und zum zentralen Höhlengrau beteiligt (Porges 2003b) . Als
Prozeß, der das ANS beeinflußt, wird die Neurozeption als adaptiver Mecha-
nismus verstanden, der Defensivsysteme entweder ausschalten kann, was
uns ermöglicht, zu anderen Menschen in Kontakt zu treten, oder uns auf die
Anwendung von Defensivstrategien vorbereitet, die entweder in Form von
Kampf-/Fluchtverhalten oder eines Shutdowns zum Ausdruck gelangen. Und
weil dieser Prozeß den autonomen Zustand verändert, kann er im Falle der
Begünstigung von Kampf- oder Fluchtverhalten die Wahrnehmung anderer
Menschen auch negativ beeinflussen und bei Unterstützung sozialen Engage-
ments einen positiven Einfluß ausüben. Wandelt sich unser physiologischer
Zustand (vermittelt durch die nicht myelinisierten Vaguspfade) in Richtung
von behavioralem Shutdown und Dissoziation, verlieren wir den Kontakt zu
unserer Umgebung und zu anderen Menschen.
Unser Nervensystem überwacht und evaluiert unablässig Gefahren in der
Umgebung. Sobald Hinweise auf Sicherheit, Gefahr oder Lebensgefahr auf-
tauchen, werden bestimmte Bereiche des Hirnstamms aktiviert, welche die
autonomen Strukturen regulieren. Werden Anzeichen für die Sicherheit der
Situation erkennbar, fördern autonome Reaktionen Offenheit und Empfäng-
lichkeit anderen Menschen gegenüber, bei Anzeichen für eine Gefahr hinge-
gen einen Zustand, der die Wahrnehmung anderer Menschen einschränkt
(Porges 2003b, 2007). So erlebt z. B. ein Mensch in Gegenwart eines anderen,
bei dem er sich sicher fühlt, die Auswirkungen positiver Verhaltensweisen
sozialen Engagements, die einer Neurozeption der Sicherheit entsprechen.
Unsere Physiologie beruhigt sich dann, und unsere Defensivsysteme werden
gehemmt. An die Stelle der Defensivstrategien treten Gesten, die mit dem
Gefühl und dem Zustand der Sicherheit verbunden sind, und die Wahrneh-
mung neigt generell zu einer positiven Sicht des Erlebten. Adäquat realisierte
200 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

prosoziale spontane Interaktionen verringern die psychische und physische


Distanz. Somit kann man durch Hervorrufen eines Gefühls der Sicherheit
mittels Präsenz beim Klienten und für diesen Defensivsysteme deaktivieren
sowie positive Entwicklungen und entsprechende Veränderungen fördern.
Die Polyvagal-Theorie (Porges 2011/2010) beschreibt die Mechanismen bi-
direktionaler Kommunikation zwischen Gehirn und Körperorganen, zu der
es bei Streßreaktionen kommt. Dieser bidirektionale Einfluß erklärt, inwie-
fern die sozialen und emotionalen Reaktionen des Therapeuten auf den Kli-
enten eine Erweiterung oder eine Einschränkung des Spektrums und der Va-
lenz sozioemotionaler Reaktionen des Klienten vermitteln können. Ebenso
können die sozioemotionalen Reaktionen des Klienten den physiologischen
Zustand des Therapeuten und eventuell sogar seine Deutungen der Klienten-
reaktionen dahingehend beeinflussen, daß aus einer unterstützenden Hal-
tung eine reaktive wird. Der aktuellen neurowissenschaftlichen Theorie zu-
folge fördert diese bidirektionale Kommunikation zwischen Bereichen in der
rechten Hemisphäre den adaptiven interpersonalen Austausch zwischen The-
rapeut und Klient (Allison & Rossouw 2013; Schore 2012; Siegel 2012). Die-
se rechtshemisphärisch lokalisierte Tendenz bezüglich der Regulierung von
Verhaltenszuständen steht im Einklang mit der tiefreichenden Wirkung des
»rechten« myelinisierten Vagus auf die Regulierung des physiologischen Zu-
standes (siehe Porges, Doussard-Roosevelt & Maiti 1994).
Die Literatur über die Bindungstheorie dokumentiert, daß Traumata und
mangelnde frühkindliche Einstimmung (wenn primäre Bezugspersonen nicht
auf die Bedürfnisse des Kindes, das sie betreuen, eingestimmt sind) zu emo-
tionaler Dysregulation führen (Schore 1994, 2003; van der Kolk 1994/2ooo,
2011/2010 ). Entwickelt ein Kind keine adäquate Bindung an seine primären
Bezugspersonen, kann bei ihm ein Gefühl permanenter Gefahr entstehen.
Das ANS eines Menschen, der ein schweres Trauma erlebt hat, erhält manch-
mal chronisch eine Reaktion auf Gefahr aufrecht, die es ihm unmöglich
macht, die eigenen Defensivstrategien zu mäßigen. Die Perpetuierung solcher
frühen Erlebnisse kann bei solchen Klienten massive Probleme im sozialen
Umgang hervorrufen, auf die sie auch dann defensiv reagieren, wenn gar kei-
ne reale Gefahr besteht. Dies hat starke Auswirkungen auf den sozialen Um-
gang der Klienten, weil ihnen die normalerweise in unterstützenden sozialen
Interaktionen implizit enthaltene wechselseitige positive Verstärkung vorent-
halten bleibt. Statt dessen entsteht eine Feedbackschleife, weil andere Men-
Therapeutische Präsenz • 201

sehen den Kontakt zu einem reaktiv operierenden Traumatisierten meiden,


was dessen Gefühl sozialer Isolation noch verstärkt. Solch ein Prozeß kann
sich in so subtilen Formen äußern wie dem Fehlen eines beiläufigen Gesichts-
ausdrucks oder im Sprechen mit ausdrucksloser Stimme, oder so massiv wie
durch eine dominierende Stimme oder durch offensichtliches Sich-Abwen-
den (z. B. indem man in einer Therapiesitzung wiederholt auf die Uhr schaut
oder einen Telefonanruf annimmt).
Im Einklang mit der Polyvagal-Theorie sind diese hoch wirksamen Regula-
toren unseres physiologischen Zustandes, die den emotionalen Ausdruck ver-
mitteln, in Beziehungen eingebettet (Cozolino 2oo6/2oo7; Siegel 2012). My-
ron Hofer (1994) erklärte mit Hilfe eines ähnlichen Konzepts die Bedeutung
der Mutter-Kind-Interaktionen für die Förderung der Gesundheit und Ent-
wicklung von Säuglingen. Das Wesen des Systems für soziales Engagement
spiegelt sich in der bidirektionalen neuronalen Kommunikation zwischen
Gesicht und Herz (Porges 2012). Reziproke Interaktion mittels Mimik, Ge-
stik und stimmlichem Ausdruck ermöglicht die Einstimmung der Systeme für
soziales Engagementzweier Menschen. Nach Hofers Erkenntnissen reguliert
diese Einstimmung Verhaltenszustände (d. h., es handelt sich um Emotionsre-
gulation) und fördert gleichzeitig Gesundheit, Entwicklung und Genesung.
Während mangelnde Einstimmung in frühen Beziehungen später emotio-
nale Dysregulation verursachen kann, wirken Einstimmung und Verbunden-
heit in späteren Beziehungen heilend oder trainieren zumindest die neurona-
len Schaltkreise, die Gefühle der Sicherheit unterstützen (Allison & Rossouw
2013; Grawe 2004; Porges 2011/2010; Siegel 2010). In diesem Sinne läßt sich
die physiologische Aktivierung und/ oder die emotionale Dysregulation
durch soziale Interaktionen stabilisieren, wobei letztere, wie anschließend
ausführlicher beschrieben wird, einen warmherzigen Gesichtsausdruck, ei-
ne Offenheit signalisierende Körperhaltung sowie einen entsprechenden
Klang der Stimme und stimmlichen Ausdruck (Intonation und Rhythmus der
stimmlichen Äußerungen) einschließt.

Therapeutische Präsenz und die Neurozeption der Sicherheit

Die Polyvagal-Theorie hilft uns zu verstehen, wie therapeutische Präsenz der


Effektivität einer Therapie durch Stärkung der therapeutischen Beziehung
202 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

und des Sicherheitsgefühls des Klienten zugute kommt. Die Polyvagal-Theo-


rie postuliert einen funktionalen »neuronalen Liebescode«, der das evolu-
tionsgetriebene biologische Streben nach Sicherheit in Beziehungen zu an-
deren Menschen zum Ziel hat (Porges 2012). Dieser Sicht gemäß gelangen
starke Signale für Sicherheit oder Gefahr, die von bestimmten Kortexberei-
chen entdeckt werden und die physiologische Zustände verändern, interper-
sonal durch Bewegungen der oberen Gesichtshälfte, Blickkontakt, Prosodie
und Körperhaltung zum Ausdruck. Solche tiefreichenden Veränderungen
des physiologischen Zustandes gelangen durch Aspekte der sozialen Inter-
aktion zum Ausdruck, die unserem bewußten Gewahrsein im allgemeinen
nicht zugänglich sind. Insofern kann die Interaktion mit anderen Menschen
(mit einem Klienten oder Therapeuten) ein großes Spektrum körperlicher
Veränderungen hervorrufen, die wir deuten können und auch tatsächlich
deuten. Beispielsweise spüren wir, wenn wir andere Menschen sehen oder
mit ihnen reden, ein »Gefühl in der Magengrube«, das Bedürfnis, möglichst
schnell davonzulaufen, oder den Wunsch, uns auf die andere Person einzu-
lassen.
Obgleich die Polyvagal-Theorie an die James-Lange-Theorie der Emotion
erinnert (Cannon 1927; James 1984), verweist sie mit ihren Konstrukten der
Neurozeption und des Systems für soziales Engagement darauf, daß an der
Regulierung unseres physiologischen Zustandes sowohl Top-down- (vom
Gehirn ausgehende und in den Körper führende) als auch (vom Körper aus-
gehende und in das Gehirn führende) Bottom-up-Signale beteiligt sind. Da
Top-down- und Bottom-up-Pfade jedoch ähnliche physiologische Zustände
und psychische Empfindungen hervorrufen können, liefert die Polyvagal-
Theorie plausible Erklärungsmodelle für physiologische Zustände, auf denen
eine Vielzahl von Emotionen und affektiven Zuständen basiert. Wichtig für
klinische Zusammenhänge ist, daß die Polyvagal-Theorie auch erklärt, wie
sich physiologische Zustände über zentrale Pfade, die für die Neurozeption
der Sicherheit eine Rolle spielen, oder über Verhaltensweisen, die Sicherheit
signalisieren, beeinflussen lassen. Das Vorliegen der Neurozeption der Si-
cherheit ist an bestimmten physiologischen Markern zu erkennen (z. B. an
einer Offenheit signalisierenden Haltung des Körpers, an sanften Gesichts-
zügen und an der Atmung). Wir sind der Auffassung, daß diese Marker für
sichere reziproke soziale Interaktion Therapeuten die Präsenz spiegeln, die
sie selbst verkörpern und die ihre Klienten empfangen.
Therapeutische Präsenz • 20 3

Das Verständnis der hierarchischen Regulierung automatisch eintretender


physiologischer Zustände setzt Kliniker außerdem darüber in Kenntnis, wie
therapeutische Präsenz einem Klienten zugute kommen kann: Sie aktiviert
bei ihm durch nicht-defensives soziales Engagement die myelinisierten Va-
gusschaltkreise. Zudem ermöglichen die Mechanismen des neueren Vagus-
systems, mit Hilfe der Präsenz des Therapeuten neuronale Schaltkreise des
Klienten zu trainieren. Durch Unterstützung der Fähigkeit des Klienten zu
nicht-defensivem sozialem Engagement läßt sich seine Reaktivität allmählich
transformieren. Nimmt ein Klient die Gegenwart eines anderen Menschen
als sicher wahr, werden in der betreffenden Situation einerseits seine Defen-
sivsysteme gehemmt, und andererseits bringt er durch nonverbale Marker
zum Ausdruck, daß er sich sicher fühlt. Dies kann im Laufe der Zeit zu eini-
gen für die klinische Arbeit wichtigen Veränderungen führen, beispielsweise
dazu, daß der Körper weicher und offener wird, was dem Selbstgewahrsein
des Klienten zugute kommt. Es ist also von Vorteil, wenn Therapeuten bei der
Kommunikation mit ihren Klienten die nonverbalen Marker ihrer eigenen
Offenheit und Weichheit nutzen, weil ihnen dies hilft, die Defensivsysteme
ihrer Klienten zu deaktivieren und ihre eigene Neurozeption der Sicherheit
zu kommunizieren. Spricht ein Therapeut mit warmer, melodiöser Stimme,
nimmt er sanft Blickkontakt auf, und begegnet er einem Klienten mit einer
Offenheit, Empfänglichkeit und Akzeptieren signalisierenden Haltung, erlebt
der Klient ihn als ruhig und sicher, was ihn dazu anregt, sich in der therapeu-
tischen Begegnung noch stärker zu öffnen. Dies kommt der Therapiesituati-
on und der Entwicklung des Klienten in der Therapie zugute.
Deshalb ist für die Entfaltung einer positiven therapeutischen Beziehung
beständige Präsenz entscheidend - offen, geerdet und raumgebend, verbun-
den mit der Absicht, mit dem Klienten gemeinsam und für ihn da zu sein.
Indem der Therapeut dem Klienten ermöglicht, allmählich ein Gefühl de r
Sicherheit zu entwickeln, und indem er ihm beständige Präsenz bietet, wirkt
er regulierend auf die Streßreaktionen des Nervensystems des Klienten ein.
Dies wiederum fördert die Selbsterforschung durch sozialen Kontakt und die
Heilung und vertieft das Selbstverständnis. Therapeutische Präsenz ermög-
licht dem Therapeuten außerdem, sich einzustimmen und (am Gesichtsaus-
druck des Klienten) zu erkennen, wann dieser sich nicht sicher fühlt, aber
auch, eigene Reaktivität zu erkennen und dem Klienten gegenüber authenti-
sche Beständigkeit zu zeigen.
204 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Gesicht und Stimme

Der Polyvagal-Theorie zufolge sind Gesicht und Stimme wichtige Medien,


mit deren Hilfe Menschen einander den Zustand der Sicherheit signalisieren
können. Dies entspricht der klinischen Beobachtung, daß Klienten die Prä-
senz von Therapeuten von deren Gesichtsausdruck ablesen können (Geiler &
Greenberg 2012). Levinas (1985) hält Gesichter für Informationszentren, die
direkte und tiefgründige Begegnungen mit anderen Menschen ermöglichen.
Das Gesicht eines anderen Menschen anzuschauen und seiner Stimme zuzu-
hören ist für die Beziehung, den Dialog und die Präsenz von zentraler Bedeu-
tung (Geiler & Greenberg 2012).
Die Polyvagal-Theorie bestätigt die besondere Bedeutung von Mimik und
Prosodie. In diesem Sinne erschließt uns die neuronale Verbindung zwischen
Gesicht (und Stimme) und Herz die Möglichkeit, die neuronale Regulation
physiologischer Zustände durch soziales Engagement zu trainieren. Der The-
rapeut bietet seine Präsenz an, und sein warmherziger Gesichtsausdruck, sei-
ne Offenheit signalisierende Haltung, sein offenes Herz und seine Präsenz
beim Zuhören stärken beim Klienten das Gefühl der Sicherheit und schla-
gen sich außerdem in der neuronalen Regulation seiner Physiologie nieder.
Über längere Zeit zuverlässig erfolgende präsenzzentrierte Begegnungen mit
einem Therapeuten stärken die Emotionsregulierung des Klienten. Dabei
schwingt sich die Physiologie des Klienten auf die Präsenz des Therapeuten
ein. Beständige Präsenz des Therapeuten bewirkt, daß der Klient in sozialen
Interaktionen häufiger das Gefühl der Sicherheit erlebt. Deshalb erfordert
eine wirksame Therapie stetige Präsenz des Therapeuten, was erforderlich
macht, daß er zur Selbstregulation in der Lage ist und daß er angesichts der
Defensivreaktionen und Schmerzen des Klienten offen und zugänglich bleibt.

Eine Theorie therapeutischer Präsenz in der Beziehung

Aus Sicht der Polyvagal-Theorie und der Präsenz-Theorie der Beziehung ak-
tiviert ein auf Präsenz fokussierender Therapeut beim Klienten durch den
Ausdruck von Warmherzigkeit und durch die Prosodie seiner Stimme das
Gefühl der Sicherheit (Porges 2007, 2009a, 2on/2o1o). Schätzt der Klient die
aktuelle Situation infolgedessen als sicher ein, verändert sich die physiologi-
Therapeutische Präsenz • 20 5

sehe Regulation, was Defensivmechanismen hemmt und Reaktionen unter-


stützt, die Ruhe, Offenheit und Vertrauen begünstigen. Ein Klient, der sich
von einem Therapeuten im Zustand der Präsenz gesehen und gehört fühlt,
gibt seine Defensivhaltung wahrscheinlich auf und entwickelt selbst Offen-
heit und Präsenz. Nach unserer Auffassung wirkt dieser gemeinsame bio-
behaviorale Zustand nicht nur an und für sich heilend, sondern ermöglicht
auch tiefer reichende therapeutische Arbeit unter dem Schutz der Sicherheit
vermittelnden therapeutischen Beziehung.
Gemäß der Theorie therapeutischer Präsenz in der Beziehung ist therapeu-
tische Präsenz ein wichtiger Aspekt jeder therapeutischen Beziehung, die ihre
Funktion erfüllt. Ungeachtet der spezifischen theoretischen Orientierung und
der Art des genutzten therapeutischen Ansatzes fördert Präsenz die Arbeit in
einer Therapiesitzung und deren Resultat und stärkt die therapeutische Alli-
anz (Geiler 2013a, 2013b; Geiler & Greenberg 2012; Geiler et al. 2012). Nach
der Theorie der Präsenz in der therapeutischen Beziehung verhilft die Prä-
senz des Therapeuten der therapeutischen Beziehung zu der Tiefe und Ver-
bundenheit, die es Klienten ermöglicht, sich so sicher zu fühlen, daß sie sich
ihren tiefsten Gefühlen, Deutungen, Sorgen und Bedürfnissen öffnen und
sich dem Therapeuten darüber mitteilen können. Therapeutische Präsenz
kreiert eine Umgebung, in der die Gefühle und Bedürfnisse der Klienten am
effektivsten wahrgenommen, erforscht, mitgeteilt und transformiert werden.
Aus dieser Perspektive betrachtet entsteht Präsenz beim Therapeuten
durch seinen präsenzzentrierten Umgang mit dem Klienten und aufgrund
seiner inneren Vorbereitung und seiner Intention, präsent zu sein. Die Vor-
bereitung schließt ein, daß der Therapeut sowohl in seinem privaten Alltag
als auch vor seiner Begegnung mit dem Klienten und im Hinblick auf sie die
Fähigkeit zur Präsenz kultiviert (Geiler & Greenberg 2002, 2012). Präsenz
des Therapeuten in seinem Privatleben und seine innere Einstimmung er-
zeugen bei ihm selbst ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit, während er sich
auf die Begegnung mit dem Klienten vorbereitet (Siegel 2010). Es gibt Anzei-
chen dafür, daß die Selbsteinstimmung eines Menschen und seine Einstim-
mung in das »ganzheitliche innere Empfinden« (den >ifelt sense« - Gendlin
1978/1981) eines anderen Menschen, was therapeutische Präsenz beinhaltet,
die Grundlage für die Einstimmung in den anderen und für das Verständnis
seiner Person ist (Siegel 2007, 2010) . Diese erlebte Einstimmung - daß sich
der Klient vom Therapeuten »gefühlt fühlt« (Siegel 2007) - wirkt sich nach
206 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

unserer Auffassung auf die Physiologie des Klienten aus, vermittelt durch die
beruhigenden Gefühle der Sicherheit, die auftreten, wenn sich ein Mensch
gesehen und verstanden fühlt.
Die Theorie des therapeutischen In-Beziehung-Tretens auf der Basis von
Präsenz beinhaltet auch, daß das Präsenzerleben des Therapeuten und des-
sen Übermittlung an den Klienten zwar wichtig sind, aber nur dann heilend
wirkt, wenn der Klient den Therapeuten als völlig im Augenblick präsent er-
lebt (Geiler & Greenberg 2012). Diese Auffassung basiert auf Untersuchungen,
nach denen entscheidend ist, wie der Klient die Präsenz seines Therapeuten
erlebt, also nicht, was der Therapeut selbst erlebt, und daß nur Ersteres einem
positiven Therapieverlauf, einer Veränderung im gewünschten Sinne und ei-
ner starken therapeutischen Allianz zugute kommt (Geiler et al. 2010; Pos
et al. 2011). Weiterhin besteht eine reziproke Beziehung zwischen der vom
Therapeuten selbst empfundenen und kommunizierten Präsenz, dem Erleben

Wie fördert therapeutische Präsenz


Sicherheit und die Wirkkraft der Therapie?

Selbsteinstimmung des Therapeuten

~
Einstimmung des Therapeuten in den Klienten

~
l<lient >>fühlt sich gefühlt<<, dies wirkt beruhigend,
Entwicklung innerer Präsenz (Sicherheit)

~
(a) und (b) und ( c)*

(a) Klient fühlt sich sicher genug, um sich öffnen und sich an der thera-
peutischen Arbeit beteiligen zu können.
(b) Stärkung der therapeutischen Beziehung
(c) Die Reaktionen und Interuentionen des Therapeuten zielen auf den
Moment, in dem der Klient optimal empfänglich ist.

Abbildung 1. ''Anmerkung: Wiederhohes Engagement des Therapeuten und wiederholtes


Erleben seiner Präsenz trainieren auch die neuronale Regulation der Muskeln, die für das
Erleben von Sicherheit in der eigenen Person und in der Beziehung wichtig sind.
Therapeutische Präsenz • 20 7

des Therapeuten als präsent seitens des Klienten und der gemeinsamen Ent-
wicklung einer stärkeren Präsenz beider Beteiligter hinsichtlich der eigenen
Person und in ihrer Beziehung zueinander. Die beim Therapeuten und beim
Klienten und zwischen ihnen entstehende Präsenz trägt zur Entwicklung re-
lationaler Präsenz bei, der Voraussetzung für eine »Ich-Du«-Begegnung und
letztlich auch für Tiefe, Sicherheit und therapeutische Veränderung in der
gemeinsamen Beziehung (Buher 1923; Cooper 2005; Geiler 2013a; Geiler &
Greenberg 2012).
In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einschließlich der Neu-
rowissenschaftenaktuell vorgetragene Theorien legen uns nahe, unsere inhä-
rent relationale Natur zu erkennen (Cozolino 2oo6/2oo7; Porges 2011/2010;
Siegel2007, 2010). Durch Einstimmung im Rahmen einer Beziehung kann ein
so genanntes »hrain-to-brain coupling« (»Kopplung von Gehirn zu Gehirn« -
Hasson, Ghazanfar, Galantucci, Garrod & Keysers 2012) entstehen: eine Re-
sonanz von Gehirn zu Gehirn. Ist der Therapeut auf sich selbst eingestimmt
und befindet sich im Zustand der Präsenz, wird nach unserer Auffassung ein
Entrainment- Prozeß initiiert, der dem Gehirn des Klienten die Möglichkeit
eröffnet, sich in einen sicheren präsenzzentrierten Zustand zu versetzen.
Nach unserer Auffassung fördert das Kultivieren von Sicherheit durch die
Entwicklung relationaler Präsenz die Effektivität therapeutischer Arbeit und
kommt der Veränderung des Klienten aufgrundvon drei Mechanismen zu-
gute. Relationale Präsenz fördert (a) die Offenheit des Klienten für die the-
rapeutische Arbeit; (b) sie stärkt die therapeutische Beziehung; und (c) der
Therapeut ist in die Bereitschaft des Klienten besser eingestimmt und zu wirk-
samen und eingestimmten Interventionen oder Reaktionen eher in der Lage
(siehe Abbildung 1). Darüber hinaus wird aus Sicht der Polyvagal-Theorie die
Fähigkeit des Klienten zur Neurozeption von Sicherheit durch wiederholte
Begegnungen mit einem Therapeuten im Zustand der Präsenz gefördert.
Zusammenfassend können wir feststellen, daß eine auf therapeutischer
Präsenz basierende Theorie der Beziehung darauf hindeutet, daß therapeuti-
sche Präsenz die Entstehung einer synergistischen Beziehung begünstigt, in
der die Präsenz des Klienten zunimmt und zwischen Therapeut und Klient
relationale Präsenz entsteht. Dies entspricht der Sicht der Polyvagal-Theorie.
Reagiert der Klient mittels Neurozeption (ohne kognitives Gewahrsein) auf
den präsenzzentrierten Therapeuten als sicher, wird die Physiologie reguliert
und beruhigt, was bei ihm Offenheit und Präsenz fördert. Insofern verstehen
208 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

wir Präsenz als eine relationale Haltung, die für die Erzeugung eines Gefühls
der Sicherheit beim Therapeuten, beim Klienten und in der relationalen the-
rapeutischen Situation grundlegend ist. Das Gefühl der Sicherheit wiederum
kann einer positiven therapeutischen Allianz und effektiver klinischer Arbeit
im Sinne verschiedener Therapieansätze zugute kommen.

Klinische Beispiele

Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks und Selbstregulation können


Therapeuten nicht nur helfen, während einer Therapiesitzung die Präsenz
aufrechtzuerhalten, sondern auch festzustellen, ob sie selbst oder ihre I<lien-
ten sich verschließen. Durch Gewahrsein im gegenwärtigen Augenblick kann
der Therapeut sowohl sein eigenes Engagement wie auch das des Klienten
verändern. Es folgen zwei Beispiele, die zwei Arten therapeutischer Inter-
aktion darstellen: (a) Nicht-Präsenz und (b) Rückkehr zur therapeutischen
Präsenz. Das Beispiel für Nicht-Präsenz spiegelt, wie der Klient sich unsi-
cher zu fühlen beginnt, wenn die Therapeutin sich in einem therapeutisch
wichtigen Augenblick verschließt, und wie sich der Klient deshalb aus der
Situation zurückzieht. Das Beispiel für die Wiederherstellung der Präsenz
zeigt, wie eine Therapeutin ihr Gewahrsein der eigenen inneren Behinderun-
gen ihrer Präsenz im gegenwärtigen Augenblick nutzt, um die Verbindung
sowohl zum Augenblick als auch zum Klienten zu rekonsolidieren und so die
Atmosphäre der Sicherheit in der therapeutischen Begegnung zu erneuern.
Eventuelle neurophysiologische Anzeichen für Verbundenheit und mangeln-
de Verbundenheit, auf die zu achten Therapeuten lernen können, werden je-
weils in Klammern wiedergegeben, um darauf hinzuweisen, was gleichzeitig
im Gehirn und im Körper vor sich geht, wenn ein Therapeut nicht präsent ist
oder aber wenn er voll und ganz beim Klienten und in diesen eingestimmt ist.

Nicht-Präsenz: Ein Beispiel zur Veranschaulichung


uon Barrieren, die Präsenz verhindern
Michael weinte, als er über die Schuldgefühle sprach, die ihn seit dem Tod
seiner Frau Sally verfolgten. Er beschrieb einen Streit, den er einige Wo-
chen vor ihrem Tod mit ihr gehabt hatte, einer Situation, in der er völlig
Therapeutische Präsenz • 209

verärgert das Haus verlassen hatte. Bei seiner Rückkehr am Abend hatte
sich ihr Gesundheitszustand deutlich verschlechtert, und ihre Sprech-
fähigkeit war infolge eines Schlaganfalls dauerhaft beeinträchtigt. Über-
wältigt von Reue weinte er und fragte sich, ob die Verschlechterung ihres
Gesundheitszustandes ihrer Auseinandersetzung mit ihm geschuldet sei.
Während ich ihm zuhörte, fühlte ich mich verängstigt und überwältigt. Ich
zweifelte, ob ich ihm in seinem Zustand offensichtlich komplexer Trau-
er würde helfen können (Beginn des Bruchs der Verbindung und Rückzug
der Therapeutin). Meine Angst wurde noch stärker, als ich meine eigene
innere Stimme sagen hörte: »Du kannst ihm nicht helfen ... Du hast selbst
mit deiner Mutter gestritten, bevor sie starb, und du fühlst dich deswe-
gen immer noch schuldig .... Was glaubst du eigentlich, wer du bist?« (Das
Sympathische Nervensystem der Therapeutin ist aktiviert, und es kommt
zu einem Bruch in ihrer Beziehung zum Klienten.) Meine Reaktionen auf
den Klienten waren konkret und ausdruckslos, und meine Mimik erstarrte,
während ich mit meinen eigenen kritisierenden inneren Stimmen kämpfte
(Verlust des Tonus des myelinisierten Vagus, was zum Verlust des neuro-
muskulären Tonus in der oberen Gesichtshälfte und zu einer dadurch her-
vorgerufenen Ausdruckslosigkeit des Gesichts führte. Außerdem verlor die
Stimme ihre Prosodie, und wahrscheinlich wurde auch der Muskeltonus in
der unteren Gesichtshälfte stärker, was mit einer Verhärteteren aggressiven
Haltung zusammenhing. Außerdem kommt es aufgrund der Reduzierung
des neuromuskulären Tonus in der oberen Gesichtshälfte zu einer paralle-
len Reduzierung des neuromuskulären Tonus der Mittelohrmuskeln und
die Therapeutin verliert allmählich den Kontakt zum syntaktischen und
affektiven Inhalt der stimmlichen Äußerungen des Klienten). Michael ver-
stummte, und seine Tränen versiegten (Neurozeption eines Verlusts von
Sicherheit, weil der Klient den Rückzug des Therapeuten automatisch wahr-
genommen hat), während er das Gespräch auf die Anforderungen seines
Berufs und auf all die Aufgaben, die er erledigen mußte, lenkte. Ich spürte
die mangelnde Verbundenheit zwischen uns und wußte nicht, wie ich wei-
ter vorgehen sollte (zutreffende Wahrnehmung des Verlustes von Sicherheit
und Verbundenheit von seiten der Therapeutin).

Der Abbruch der Verbindung und der Verlust von Sicherheit, von denen im
vorangegangenen Beispiel die Rede ist, sind ein Resultat des In-Erscheinung-
210 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Tretens der Barrieren der Therapeutin selbst (Selbstzweifel und ungelöste


Probleme in Zusammenhang mit den gesundheitlichen Problemen der Mutter).

Therapeutische Präsenz: Rückkehr


in den gegenwärtigen Augenblick
Therapeutische Präsenz beinhaltet nicht nur, daß sich ein Therapeut mit ei-
nem Klienten völlig im gegenwärtigen Augenblick befindet, sondern es muß
auch ein Gewahrsein der Präsenz verhindernden Barrieren vorhanden sein,
und man muß das eigene Gewahrsein völlig auf den Klienten refokussieren
können, falls sich die Barrieren manifestieren. Das folgende Beispiel spiegelt,
daß die Therapeutin sowohl ihres Selbstzweifels als auch des darauf folgenden
Verbindungsbruchs gewahr ist. Dieses Gewahrsein sowohl der eigenen Nicht-
Präsenz als auch derjenigen des Klienten half der Therapeutin, ihre Aufmerk-
samkeit wieder auf den Augenblick zu richten. Die Therapeutin schildert:

Als ich meiner Unverbundenheit und meiner Angst bewußt wurde, atmete
ich einige Male tief, um meine Emotionen zu regulieren und meine Auf-
merksamkeit auf den Raum zu refokussieren. (Das langsame Ausatmen po-
tenzierte die »Bremswirkung« des myelinisierten Vagus auf das Herz, was
zu einer Beruhigung führte.) Als ich mit Michael zu reden begann, spürte
ich, daß mein Gesichtsausdruck weicher wurde (der Ausdruck eines ruhige-
ren physiologischen Zustandes in der oberen Gesichtshälfte der Therapeutin
vermittelte dem Klienten ein Gefühl der Wärme), meine Stimme war reich
an Prosodie, und ich spürte unsere Verbundenheit, während der Klient
sich beruhigte und spontan einen Gesichtsausdruck erkennen ließ, den ich
als Anzeichen für Offenheit und das Gefühl, verstanden zu werden, deute-
te. Aufgrund meiner vorherigen Übung des Zustandes der Präsenz konnte
ich mir im Stillen vorstellen, daß ich meine Zweifel und meine ungelösten
Probleme mit meiner Mutter eine Weile zur Seite legen könnte. Mir fiel
auf, daß Michaels Distanz und sein Shutdown meine eigene innere Distan-
zierung spiegelte. Es gelang mir, meine Aufmerksamkeit auf den gegen-
wärtigen Augenblick zu refokussieren und mein Gewahrsein vollständig
auf meinen Klienten zu richten. Während ich in Michaels Augen schaute,
reflektierte ich mit sanfter und warmer Stimme: »Der Schmerz ist so tief ...
Schmerz und Kummer angesichts des Wunsches, daß es anders gewesen
Therapeutische Präsenz • 211

wäre ... « Michael kamen erneut die Tränen, während er mich anschaute
und sagte: »Ja, ich empfinde tiefe Traurigkeit ... Ich vermisse sie so.«
Ich empfand mit Michael gemeinsam Hilflosigkeit angesichts von Trauer,
und dieses offene und mitfühlende gemeinsame Empfinden ermöglichte
ihm nicht nur, sich zu öffnen und seine Trauer und Verzweiflung mit all ih-
ren Schichten auszudrücken, sondern es vertiefte auch unsere Verbunden-
heit. (Solange das System für soziales Engagement der Therapeutin »online«
war; war sie präsent und konnte Michael durch geeignete Signale unterstüt-
zen, um in seinem Nervensystem eine Neurozeption der Sicherheit zu akti-
vieren, die ihm die Verarbeitung seiner tiefen Trauer ermöglichen würde.)

Das Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks versetzte die Therapeutin


in die Lage zur Selbstregulation (durch tiefes Atmen und Gewahrsein) und
zerstreute Selbstzweifel und bisher nicht aufgelöste Probleme, so daß sie sich
dem Klienten wieder mit völlig offener Präsenz zuwenden konnte. In diesem
Beispielfall ermöglichte die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit und der
Kontakt zur Präsenz, der Bestandteil der Übung therapeutischer Präsenz ist,
der Therapeutin, ihre eigenen Barrieren und ihre Distanzierung vom I<lien-
ten zu erkennen. Anschließend konnte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf
den Klienten richten und sich seinen problematischen Empfindungen öffnen,
und beides wiederum führte zur Überwindung des Bruches in der therapeu-
tischen Beziehung. Die Wiederherstellung der Verbindung zur Therapeutin
erschloß dem Klienten die Möglichkeit, sich mit ihr zusammen an einen Ort
der Sicherheit zu begeben, wo er den Verlust seiner Frau umfassend betrau-
ern konnte.

Zum Abschluß

Aus Sicht der empirischen neurophysiologischen Erkenntnisse der Polyvagal-


Theorie ist ein Gefühl der Sicherheit offenbar eine unverzichtbare Voraus-
setzung für die Entwicklung starker sozialer Bindungen (d. h. für eine thera-
peutische Beziehung), die dem Klienten zu helfen oder ihn sogar zu heilen
vermag. Nach unserer Auffassung empfindet der Klientaufgrund von gegen-
wartszentrierter Bezogenheit Sicherheit, was Blickkontakt, einen warmen
und weichen Klang der Stimme, eine lebhafte Prosodie, emotionale Einstim-
212 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

mung und Engagement im gegenwärtigen Augenblick einschließt. Dieses Er-


leben der Neurozeption von Sicherheit führt schließlich zur Abschaltung der
Defensivreaktionen des Klienten, was schon an und für sich heilend wirkt
und Therapeuten und Klienten außerdem hilft, sich der therapeutischen Ar-
beit zu widmen. Außerdem fördert es die Fähigkeit des Gehirns, neue neuro-
nale Verbindungen zu entwickeln - was wiederum zur Entstehung ruhigerer
und gesünderer emotionaler Zustände führt -, wenn durch die Kultivierung
und den Ausdruck der Präsenz des Therapeuten eine sichere therapeutische
Situation entsteht (Allison & Rossouw 2013; Cozolino 2oo6/2007; Geiler &
Greenberg 2012; Porges 2ou/2o1o).
In diesem Sinne verstehen wir therapeutische Präsenz und die Schaffung
von Sicherheit, welche Präsenz unterstützt, als einen transtheoretisch wichti-
gen therapeutischen Prozeß (Geiler et al. 2012). Schon an und für sich macht-
voll, kann therapeutische Präsenz ihre stärkste Wirkung entfalten, wenn sie
in Verbindung mit modalitätsspezifischen Techniken genutzt wird (Geiler
2013b; Geiler & Greenberg 2012). Erleben Klienten statt dessen eine »manua-
lisierte«, nicht-reflektive Reaktion oder Intervention, ohne daß der Therapeut
in seinem aktuellen Erleben des Klienten gewahr ist, und ist der behandelnde
Therapeut nicht auf die Begegnung von Mensch zu Mensch eingestimmt, die
in einer Psychotherapie stattfindet, kann der Klient in seiner Defensivhaltung
verharren und die Wirkung der Intervention aufgrund dessen sehr begrenzt
bleiben. Werden die Interventionen hingegen auf eine vom Geist therapeu-
tischer Präsenz geprägte Weise dargeboten, die auf die Bereitschaft des Kli-
enten eingestimmt ist, so fördern sie das Sicherheitsgefühl des Klienten und
optimieren das Fenster, in dem effektive therapeutische Arbeit möglich ist.
Nach unserer Einschätzung sollte die Entwicklung von Präsenz und das
Verständnis der neurophysiologischen Grundlagen der Arbeit an einer At-
mosphäre der Sicherheit ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildungs-
programme für Therapeuten sein, unabhängig davon, welche spezielle
Behandlungsmethode in einer solchen Ausbildung gelehrt wird. Psychothe-
rapeutenausbildungen konzentrieren sich gewöhnlich auf die Vermittlung
bestimmter Interventionen und Techniken, ohne sich dafür zu interessieren,
wie angehende Therapeuten den Zustand der Präsenz entwickeln können,
der ihnen ermöglicht, die Neurozeption der Sicherheit ihrer Klienten zu för-
dern. Wir haben hier die Auffassung vertreten, daß therapeutische Präsenz
eine Grundlage für die Förderung der Sicherheit von Klienten ist, eine zen-
Therapeutische Präsenz • 213

trale Voraussetzung für therapeutische Arbeit, unabhängig vom jeweils kon-


kret genutzten therapeutischen Ansatz. Und aus dem gleichen Grund sind
wir auch der Meinung, daß das Verständnis der Bedeutung therapeutischer
Präsenz und ihre Entwicklung wichtige Grundlagen jeder Psychotherapieaus-
bildung sein sollten. Es ist wichtig, daß Therapeutenangesichts von Schmerz
und inneren Kämpfen eine ruhige Präsenz aufrechterhalten. Und eine Ausbil-
dung kann lehren, wie man diesen Zustand durch Fokussieren der Aufmerk-
samkeit auf die physiologische und emotionale Regulation und auf Faktoren,
die positive interpersonale Beziehungen verhindern, unterstützen kann. Er-
kenntnisse der Neurowissenschaften, welche neuronale Korrelate spiegeln,
die zwischen der Präsenz des Therapeuten und dem Erleben von Sicherheit
von seiten des Klienten erkennbar werden, können Therapeuten zu verstehen
helfen, wie man eine bessere therapeutische Einstimmung erreichen kann.
Die Kultivierung der Präsenz kann auch als unverzichtbarer Bestandteil
der ständigen Selbstfürsorge des Therapeuten verstanden werden. Klienten
können in den Sitzungen und in der Zeit zwischen Sitzungen von neurona-
len Übungen profitieren, die Erlebnisse innerer Sicherheit fördern. Solche
Übungen stärken die Neurozeption der Sicherheit sowohl beim Therapeuten
als auch beim Klienten, und sie können die Form von langsamem Ausatmen
gefolgt von tiefer Bauchatmung (d. h., der Einfluß des myelinisierten Vagus
auf das Herz wird während des Ausatmens optimiert), des Spiels in Grup-
pen (z. B. in Form von Teamsport oder Trommeln), improvisierter Musik,
des Aufenthalts in der Natur, Yoga, Meditation oder von Programmen für
therapeutische Rhythmikschulung und Achtsamkeit"' annehmen (Geiler &
Greenberg 2012), die speziell mit der Zielsetzung entwickelt wurden, thera-
peutische Präsenz zu fördern. Die Fähigkeit zur Präsenz in Therapiesitzun-
gen kann dem Therapeuten selbst, dem Klienten und ihrer gemeinsamen Be-
ziehung zugute kommen. Beginnt man beispielsweise eine Sitzung mit tiefem
Atmen oder mit einer Achtsamkeitsübung, so hilft dies beiden Beteiligten, im
Augenblick präsent zu bleiben, die eigenen Defensivsysteme zu neutralisie-
ren und ein tieferes Engagement zu entwickeln.
Zusammenfassend können wir festhalten, daß die Entwicklung therapeu-
tischer und relationaler Präsenz, die eine sichere therapeutische Begegnung
sowohl in Therapiesitzungen als auch außerhalb von ihnen ermöglicht, un-

*Siehe hierzu: www.rhythmandmindfulness.com


214 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

verzichtbar ist, wenn man eine Art des sozialen Engagements fördern will,
das zu echten und dauerhaften Veränderungen führt. Die Polyvagal-Theorie
erschließt uns ein tiefes Verständnis der bidirektionalen neuronalen Feed-
backschaltkreise im Gehirn und im Körper, die Menschen in Beziehungen
miteinander verbinden. Dies zu wissen kann uns helfen, mit therapeutischen
Begegnungen auf eine Weise umzugehen, welche die Präsenz des Therapeu-
ten in Gegenwart des Klienten und für diesen kultiviert und kommuniziert,
zum Nutzen seiner Gesundheit und seines Wohlbefindens.
Wir hoffen, daß dieser Aufsatz zu weiteren Untersuchungen über thera-
peutische Präsenz und jene neurophysiologischen Mechanismen und Struk-
turen inspiriert, die für das Erleben von Präsenz und Eingestimmtheit und
für die Schaffung einer sicheren Situation wichtig sind. Es gibt viele Möglich-
keiten, dies zu erforschen. Beispielsweise hilft die Beobachtung der oberen
Gesichtshälfte, des Stimmklangs, der Haltung und der Atemmuster sowohl
des Therapeuten als auch des Klienten, in Augenblicken der Präsenz und
der Nicht-Präsenz herauszufinden, wie Therapeuten Präsenz in der Psycho-
therapie im Optimalfall kommunizieren. Auch die Beobachtung dessen, wie
Klienten Sicherheit in Beziehung zum Erleben therapeutischer Präsenz aus-
drücken, kann wichtig sein. Und die Beobachtung von Veränderungen hin-
sichtlich viszeraler Komponenten des Systems für soziales Engagement wäh-
rend der Therapiesitzungen (die Regulierung des Herzens durch den Vagus
mittels Quantifizierung der RSA-Komponente der Herzfrequenz), während
Klienten die Präsenz ihres Therapeuten erleben, könnte helfen, die neuro-
physiologische Regulation und die Heilung verständlich zu machen, die prä-
senzzentrierte therapeutische Bezogenheit hervorrufen kann.
Glossar

Afferente Nervenfasern sind die neuronalen Pfade, die Informationen vom


Zielorgan zum zentralen Nervensystem (ZNS- das aus Gehirn und Rücken-
mark besteht) übermitteln. Diese Nervenfasern werden auch sensorische Fa-
sern genannt, weil sie Signale aus den Organen übermitteln, welche die regu-
lierenden Strukturen im Hirnstamm über den Status der Organe informieren
(siehe auch efferente Nervenfasern).

Autonomes Nervensystem, traditionelle Sichtweise: Das Autonome Ner-


vensystem (ANS) ist der Teil des Nervensystems, der ohne Beteiligung des
Bewußtseins die inneren Organe des Körpers steuert. »Autonom« beinhal-
tet, daß die Steuerung »automatisch« erfolgt. Traditionell wird das ANS in
zwei Subsysteme unterteilt, das Sympathische Nervensystem (SNS) und das
Parasympathische Nervensystem (PNS) . In der Regel wird dabei auf den ant-
agonistischen Einfluß der motorischen Nervenpfade hingewiesen, die vom
SNS und PNS zu den Zielorganen führen; den sensorischen Nervenpfaden
hingegen, die von den inneren Organen zum Gehirn führen oder die von
bestimmten Bereichen des Hirnstamms zu den Organen verlaufen und die
sowohl sensorische als auch motorische Pfade beinhalten, wird weniger Be-
deutung beigemessen.

Autonomes Nervensystem, Sicht der Polyvagal-Theorie: Die Polyvagal-


Theorie bezieht sich primär auf den Vagus, die wichtigste Komponente des
PNS. Sie weist darauf hin, daß es im Vaguskanal zwei Arten motorischer Pfa-
de gibt, die aus verschiedenen Bereichen im Hirnstamm hervorgehen (näm-
lich den dorsalen und den ventralen Vagus) und die in verschiedenen Kör-
perorganen enden (worauf auch die Bezeichnungen supradiaphragmatischer
und subdiaphragmatischer Vagus verweisen). Die Polyvagal-Theorie hat eine
umfassendere Definition des ANS entwickelt; diese bezieht die sensorischen
216 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Pfade ein und hebt die Bereiche im Hirnstamm hervor, welche die autonome
Funktion steuern. Außerdem postuliert die Polyvagal-Theorie eine phyloge-
netisch organisierte Hierarchie, in der autonome Subsysteme im Einklang
mit dem Prinzip der Dissolution (siehe dort) auf Probleme nach dem Prinzip
reagieren, daß die zuletzt entstandenen Subsysteme zuerst zum Einsatz kom-
men.

Biologische Imperative sind die Bedürfnisse lebender Organismen, deren


Erfüllung für ihre Erhaltung unverzichtbar ist. Zu den biologischen Impera-
tiven werden oft das Überleben, das Bedürfnis nach einem eigenen Territo-
rium, Fitneß und Fortpflanzung gezählt. Die Polyvagal-Theorie weist darauf
hin, daß das Bedürfnis nach einer Verbindung zu anderen Menschen ein pri-
märer biologischer Imperativ ist. Sie erklärt weiterhin, daß die Physiologie
durch Verbundenheit mit anderen so reguliert wird, daß es sich optimal auf
die mentale und physische Gesundheit auswirkt.

Dissolution ist ein Konstrukt, das der Philosoph Herbert Spencer (1820-
1903) entwickelte, um die Umkehrung von Evolution zu bezeichnen. John
Hughlings Jackson (1835-1911) übernahm den Begriff zur Bezeichnung des-
sen, wie Schädigungen und Erkrankungen des Gehirns eine dem Prozeß
der De-Evolution ähnliche Wirkung entfalten, insofern in der Evolutionsge-
schichte früher entstandene Schaltkreise durch sie »enthemmt« werden. Die
Polyvagal-Theorie hat das Konzept der Dissolution übernommen, um die
durch die Phylogenese vorgegebene strukturierte Reaktionshierarchie des
ANS zu erläutern.

Efferente Nervenfasern sind neuronale Pfade, die Informationen vom ZNS


(vom Gehirn und Rückenmark) in ein Zielorgan übermitteln. Sie werden
auch als motorische Fasern bezeichnet, weil die Signale, die sie an Organe
übermitteln, deren Funktionsweise beeinflussen.

Die Herzratenvariabilität (HRV} spiegelt die variierenden Zeitabstände


zwischen den einzelnen Schlägen des Herzens. Ein gesundes Herz schlägt
nicht konstant in immer gleichen zeitlichen Abständen. Nur ohne Innervati-
on würde ein Herz relativ konstant schlagen. Die Variabilität des Herzschlags
hängt großenteils von Vaguseinflüssen ab.
Glossar • 217

Die Homöostase spiegelt die neuronalen und neurochemischen Prozes-


se, mit deren Hilfe der Körper die inneren Organe auf eine für Gesundheit,
Entwicklung und Genesung optimale Weise fördert. Das Wort Homöosta-
se stammt aus dem Griechischen und hat in dieser Sprache die Bedeutung
»gleich« oder »stetig«; doch wird es dem Begriff eher gerecht, wenn man die
Homöostase als Produkt eines negativen Feedback-Systems versteht, das um
einen Sollwert oszilliert. In manchen Fällen ist die Amplitude der Oszillati-
on (d. h. die rhythmischen Abweichungen vom Sollwert) ein positiver Indi-
kator für Gesundheit (z. B. in Form der respiratorischen Sinusarrhythmie),
in anderen Fällen ein negativer Indikator (z. B. in Form der Variabilität des
Blutdrucks). Oszillationen in physiologischen Systemen spiegeln primär neu-
ronale und neurochemische Mechanismen.

Die Mittelohrmuskeln, die beiden kleinsten gestreiften Muskeln im mensch-


lichen Körper- der Musculus tensor timpani (Trommelfellspanner) und der
Musculus stapedius (Steigbügelmuskel) -, befinden sich im Mittelohr. Die-
ser Teil des auditarischen Systems liegt zwischen dem Trommelfell und der
Cochlea (der Ohrschnecke). Zu den Strukturen des Mittelohrs zählen die
Gehörknöchelchen sowie Muskeln, welche die Steifheit der Gehörknöchel-
chenkette beeinflussen. Sind diese Muskeln angespannt, verfestigt sich die
Gehörknöchelchenkette, und der Druck auf das Trommelfell nimmt zu. Die-
ser Prozeß verändert die Charakteristika des Klangs, der das Innenohr er-
reicht. Das Innenohr wandelt Klang in einen neuronalen Code um, der in
das Gehirn übermittelt wird. Durch Anspannen der Mittelohrmuskeln wird
der Einfluß von Geräuschen niedriger Frequenz verringert und die Fähigkeit,
Äußerungen menschlicher Stimmen zu verarbeiten, wird verbessert.

Neurozeption ist der Prozeß, mit dessen Hilfe das Nervensystem unabhän-
gig vom Bewußtsein Gefahren einschätzt. An diesem automatisch verlaufen-
den Prozeß sind Gehirnbereiche beteiligt, die Signale für Sicherheit, Gefahr
und Lebensgefahr evaluieren. Hat die Neurozeption solche Signale entdeckt,
verändert sich der physiologische Zustand automatisch so, daß die Überle-
benschancen optimiert werden. Zwar nehmen wir Signale, welche die Neu-
rozeption aktivieren, gewöhnlich nicht wahr, doch bemerken wir sehr wohl
physiologische Veränderungen. Manchmal registrieren wir diese als Empfin-
dungen im Bauch oder im Herzen oder in Form der intuitiven Einsicht, daß
218 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

ein bestimmter Kontext gefährlich ist. Das gleiche System kann aber auch
physiologische Zustände aktivieren, die Vertrauen, Verhaltensweisen sozi-
alen Engagements und den Aufbau starker Beziehungen fördern. Die Ein-
schätzungen der Neurozeption sind allerdings nicht immer zutreffend und
den tatsächlichen Gegebenheiten angemessen. Eine unzuverlässige Neuro-
zeption kann an Orten Gefahren wittern, wo diese nicht existieren, oder Si-
gnale für Sicherheit orten, wo tatsächlich eine Gefahr besteht.

Das Parasympathische Nervensystem (PNS} ist einer der beiden Hauptzwei-


ge des ANS. Seine primären neuronalen Pfade sind dem Vagus zuzurechnen
und unterstützen Gesundheit, Wachstum und Genesung. Die Polyvagal-
Theorie weist darauf hin, daß unter bestimmten Umständen, nämlich bei Le-
bensgefahr, Vaguspfade, die normalerweise der Homöostase und Gesundheit
förderlich sind, defensiv reagieren und wichtige Funktionen hemmen, um die
Gesundheit zu erhalten.

Phylogenetisch geordnete Reaktionshierarchie Nach Auffassung der Poly-


vagal-Theorie orientieren sich die Komponenten des ANS bei ihren Reaktio-
nen auf Herausforderungen an einer Hierarchie, in deren Wirkungsbereich
die phylogenetisch neuesten Schaltkreise zuerst in Aktion treten. Diese im
Verhältnis zu ihrer Entstehung umgekehrte Reihenfolge entspricht dem Jack-
sonschen Prinzip der Dissolution (siehe oben). Funktional entsprechen die
Reaktionen folgender Sequenz: der myelinisierte ventrale Vagus, das SNS, der
nicht myelinisierte dorsale Vagus.

Die Phylogenese beschreibt die Entwicklungsgeschichte einer Art. Die Wis-


senschaft von der Erforschung der Phylogenese entwickelt Methoden der
Zuordnung von Lebewesen zu bestimmten Verwandschaftsgruppen.

Die Prosodie ist der stimmliche Ausdruck von Emotionen. Die Polyvagal-
Theorie weist darauf hin, daß die Prosodie auf vagalen Mechanismen basiert
und daß sie ähnlich wie Messungen der HRV (bzw. der RSA) über den physio-
logischen Zustand Aufschluß gibt.

Für die Respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) sind rhythmische Verän-


derungen der Herzfrequenz charakteristisch, die der Frequenz spontanen
Glossar • 219

Atmens entsprechen. Die Amplitude dieser periodischen Veränderungen der


Herzfrequenz ist ein zuverlässiger Index für den Einfluß des Vagus auf das
Herz.

Das System für soziales Engagement besteht aus einer somatornotori-


schen und einer viszeramotorischen Komponente. Die somatornotorische
Komponente beinhaltet spezielle viszerale efferente Pfade, die die gestreif-
ten Muskeln des Gesichts und des Kopfes steuern. Die viszeramotorische
Komponente beinhaltet den myelinisierten Supradiaphragmatischen Vagus,
der Herz und Bronchien steuert. Funktional resultiert das System für soziales
Engagement aus ejner Verbindung zwischen Herz und Gesicht, die das Herz
mit den Muskeln des Gesichts und des Kopfes koordiniert. Dieses System
hat zunächst die Aufgabe, Saugen, Schlucken, Atmen und den stimmlichen
Ausdruck zu koordinieren. Eine atypische Koordination dieses Systems zu
Beginn des Lebens ist ein Indikator für spätere Probleme hinsichtlich des So-
zialverhaltens und der Emotionsregulation.

Spezielle viszerale efferente Pfade sind die somatornotorischen Kompo-


nenten des Systems für soziales Engagement. Die speziellen viszeralen effe-
renten Fasern entspringen den Motonuklei im Hirnstamm, die sich aus der
branchiomotorischen Säule des Embryos entwickeln und die jene gestreiften
Muskelfasern innervieren (Kaumuskeln, Gesichtsmuskeln, Rachenmuskeln
und Stimmbandmuskeln), die mit dem Rachengewölbe verbunden sind.

Der Subdiaphragmatische Vagus ist der Teil des Vagus, der bestimmte Be-
reiche des Hirnstamms mit den Organen unterhalb des Zwerchfells verbin-
det. Die motorischen Fasern in diesem Vaguszweig gehen hauptsächlich aus
dem dorsalen Nukleus des Vagus hervor, dem Quellkern des dorsalen Vagus,
der sich im Hirnstamm befindet. Die meisten dieser motorischen Fasern sind
nicht mit einer Myelinschicht umgeben.

Der Supradiaphragmatische Vagus ist der Teil des Vagus, der bestimmte
Bereiche des Hirnstamms mit Organen oberhalb des Zwerchfells verbindet.
Die motorischen Fasern dieses Vaguszweigs entspringen hauptsächlich dem
Nucleus ambiguus, dem im Hirnstamm liegenden Quellkern des ventralen
Vagus. Die meisten dieser motorischen Fasern sind myelinisiert.
220 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Das Sympathische Nervensystem (SNS) ist einer der beiden Hauptzweige


des ANS. Es verstärkt die Herzleistung, um Bewegung und Kampf-/Flucht-
verhalten zu unterstützen.

Vagusafferenten Ungefähr 8o Prozent der Nervenfasern des Vagus sind sen-


sorischer Art, und die meisten von ihnen verlaufen von den inneren Organen
zu einem Bereich im Hirnstamm mit Namen Nucleus tractus solitarii (NTS),
auch Geschmackskern genannt. Bekanntlich vermittelt eine medizinische
Ausbildung nur ein sehr begrenztes Verständnis der Vagusafferenten. Des-
halb werden bei medizinischen Behandlungen kaum jemals Einflüsse aner-
kannt, die auf dem Feedback der behandelten Organe an das Gehirn basieren.
Jede Veränderung sensorischen Feedbacks kann sich auf die psychische und
körperliche Gesundheit auswirken.

Vagusbremse Vaguseinflüsse auf das Herz wirken inhibitorisch und verlang-


samen die normale Geschwindigkeit der Aktivität des Sinusknotens, des bio-
logischen Schrittmachers im Herzen. Wenn der Vagus das Herz nicht mehr
beeinflußt, steigt die Herzfrequenz spontan, ohne daß sich an der sympa-
thischen Erregung irgend etwas verändert. Die normale Herzfrequenz eines
gesunden jungen Erwachsenen liegt bei ca. 90 Schlägen pro Minute. Die
Grundlinie seines Herzschlags liegt jedoch deutlich niedriger, weil der Vagus
wie eine »Bremse« wirkt. Diese Vagusbremse wirkt, indem sie die Vagusein-
flüsse auf den Sinusknoten neutralisiert oder aktiviert. Man hat angenom-
men, die Vagusbremse werde durch den myelinisierten Teil des ventralen
Vagus vermittelt. Doch obwohl die nicht myelinisierten Vagusfasern bei früh-
geborenen Babys klinische Bradykardie zu vermitteln scheinen, wird dieser
Prozeß nicht dem Konstrukt der Vagusbremse zugerechnet. Das Phänomen
der klinischen Bradykardie als Produkt einer Vagusbremse sollte vielmehr
erklärt werden, indem man hervorhebt, daß es auf einem Mechanismus des
Vagus beruht, der nicht mit dem schützenden Einfluß des ventralen Vagus
identisch ist.

Vagusparadox Vaguseinflüsse auf die viszeralen Organe werden als schüt-


zend angesehen. Vaguseinflüsse können aber auch tödlich wirken und das
Herz zum Stillstand bringen oder stören, indem sie die Defäkation in Gang
setzen. Solche häufig mit Furcht verbundenen Reaktionen werden durch den
Glossar • 221

Vagus vermittelt. Das Vagusparadox wurde erstmals im Rahmen von Unter-


suchungen an frühgeborenen Babys beobachtet, bei denen die respiratori-
sche Sinusarrhythmie (RSA) schützend wirkte und die Bradykardie potentiell
tödlich war. Dadurch entstand ein Paradox, denn sowohl die RSA als auch die
Bradykardie wird durch Vagusmechanismen vermittelt. Die Polyvagal-Theo-
rie löste diesen Widerspruch auf, indem sie diese Reaktionen verschiedenen
Vaguspfaden zuordnete.

Vagaler Tonus Das Konstrukt des vagalen Tonus wird gewöhnlich mit dem
stärkeren tonischen Einfluß der myelinisierten ventral-vagalen Pfade, die
zum Herz führen, in Verbindung gebracht. In frühen Untersuchungen habe
ich die symbolische Repräsentation VNA genutzt, um anzuzeigen, daß der
kardiale vagale Tonus, der durch Quantifizierung der RSA gemessen wird, für
die Vagusfasern, die dem Nucleus ambiguus entspringen, charakteristisch ist.
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230 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SiCHERHEIT

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Personen- und Stichwortverzeichnis

A Descartes, R. 13, 163, 167, 1S3


Achtsamkeit 55, 109, 179 f., 213 Dissolution 196, 216, 218
ADHS 153 Dissoziation 70, 113, 115 f., 120, 125 f.,
Aggressivität 52 147 f., 170, 173, 17S, 195 f., 199
Apnoe 35, 71, 73, 93, 9S
Asperger 153
Atmung 16 f., 34, 65, So f., 92, E,F
122, 13~ 170, 179, 202, 213 Emotionen 14, 26, 37, 47, 69, 101 ff., 162 f.,
aud itarische Hypersensibilität 167, 174, 17S, 192, 197 f., 200 ff., 210 ff., 21S
46f., 56ff., 79f., 97, 155ff. Emotionsregulation
Aufmerksamkeitszuteilung 4S 24, 101f., 201,204,213,219
Autismus
46 f., 51, 56 f., 62, 65, 95, 153 ff., 166 Fibromyalgie 119, 125
autonomes Gleichgewicht 34, 169 f.

G,H
B Geschmacksaversion 115 f., 11S ff.
Bindung 25, 44 ff., 67, S4 ff., Gesicht
97, 132, 174, 191, 200, 211 9, 25, 37, 40, 47, 51 ff., 59, 69 f., 75, Soff.,
biobehaviorale Regulation 10, 15S, 190 94 ff., 101 ff., 11S, 122, 142, 14S, 171, 176 f.,
Biofeedback 16, 117, 155 1S9, 196 ff., 201 ff., 209 f., 214, 219
Blickkontakt 52, S1, 91, 111 f., 132, Gesichtsausdruck
137, 139, 174, 177, 1S6, 202f., 211 52, 70, 95 f., 102, 189, 196, 201, 203 f., 210
Borderline Sg, 95, 104, 106 ff.
Bradykardie 33, 35, 71, 73, 93 f., 220 f. Heilungsprozeß/Genesung
11, 25, 41, 53, 56 f., 6S f., 75, S2, S7, S9 f.,
92, 99, 123, 150, 169 ff., 1SO f., 1S4,
C, D 191 f., 195, 197 f., 201, 203, 214, 217 f.
Carter, S. S5, 97 Herin~ H. E. 17
Co- Regulation 11, 26 ff., S1 f. Herzfrequenz
15 ff., 34 f., 38, 47, 65 f., 70, 73 f., 92 ff.,
Defensivstrategien 97, 103, 145, 155, 170, 197 f., 214, 218 ff.
9, 23 f., 31, 72, 14S, 165, 172 f., 195 f., 199 f. Herzratenvariabilität (HRV)
Depression 47, 65, 109, 14S 15 ff., 19 ff., 34, 66, 73, 216, 21S
232 • OIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Hirnstamm Mobilisierung
18, 35, 37, 47, 75 f., 90 f., 94 ff., 103, 9, 28, 42, 51 f., 69 ff., 74 f., 77 f., 90 f., 99 f.,
122, 158, 168 ff., 196 ff., 215 f., 219 f. 102, 104 f., 111 f., 119, 124, 127' 134, 142,
Hafer, M. 201 147, 154, 157, 171, 173, 178, 186, 196
Homöostase 36, 93, 217 Musik 44, 53, 58 ff., 78 ff., 135 ff., 139, 213
Hörvermögen 46, so Muskeltonus 70, 184, 209
Hypervigilanz 87, 179 f.

N
I, J Nervensystem, Autonomes 9, 19, 33, 36 ff.,
Immobilisierung/Erstarren 40 f., 67, 70, 89 ff., 123 f., 125, 134, 138,
9, 30 f., 35 f., 39, 41, 71 f., 74 f., 77 f., 168 ff., 172, 181, 191, 194, 196, 199 f., 215
90 ff., 110, 112 f., 116, 118, 120, 123, Nervensystem, Parasympathisches
125 f., 128 f., 142, 147 f., 168, 170 ff., 33 f., 36, 92, 121, 123 f., 158,
178, 184, 186 f., 195 f. 169 f., 195, 197, 215, 218
Interozeption 100 f. Nervensystem, Sympathisches
31, 33, 36 f., 72, 92, 103, 123 f.,
fackson, J H. 196, 216, 218 168 ff., 195, 209, 215, 220
Neurobiologie 147, 158 f.
Neurophysiologie 17 f., 26, 32, 159
K,L Neurozeption
Kampf- /Flucht- Modus 22, 40 ff., 45, 53, 59, 74, 101, 104 ff.,
9, 27, 30 f., 39, 41, 51 ff. , 69 f., 77, 90 f., 126, 128, 135, 145, 174, 181, 189, 191,
102, 111 f., 123 f., 128, 134, 142, 147, 149, 198 f. , 201 ff., 207, 209, 211 ff. , 217 f.
169 ff., 173, 178 f., 186, 195 ff., 220
Kehlkopf- und Rachenmuskeln
75, 80, 94, 140 O,P
Kontrollverlust 125 Ohnmachtsanfälle 38 ff., 70 f., 92, 113,
Krankheiten 118, 124, 128, 148, 151, 170, 173, 187, 196
11, 68, 99, 114, 124 f., 131, 159, 163 One-Trial-Konditionierungsmodell
115 f., 118
Levine, P. 143
Listening Project Perzeption 40, 104
56 ff., 61 f., 64, 79, 154 f., 157 Phylogenese 35, 47, 67, 92, 170, 216, 218
Physiologie 18, 27 f., 33, 41, 56, 97, 99 f. ,
135, 141, 145, 181, 199, 204, 206 f., 216
M Präsenz
Mathis, J 6o f, 135 89, 189 ff., 198, 200 ff., 206 ff., 212 ff.
Mißbrauch/ Mißhandlung Prosodie 27, 37, 45, 47, 53, 59, 61,
39 f., 43, 70 ff., 116, 125, 131, 134 79, 91, 94, 98, 101 f., 104, 118, 135,
Mittelohrmuskeln 47, 56 f., 59, 137, 189, 198, 202, 204, 209 f., 218
62,75,80,97,135,154,209,217 PTBS 31, 43, 47, so f., 54, 58, 62, 117, 150
Personen- und Stichwortuerzeichnis • 233

R T
Reaktionen, mammalische 93, 109 f. Tatkin, St. 145
Reaktionen, reptilische 109 f., 115 therapeutische Allianz 194, 205 f., 208
Reaktionshierarchie 196, 216, 218 Tonfrequenzen 44 f., 47 ff., so, 53, 57,
Reaktivität 16, 108, 195, 203 59, 61 f., 78 ff., 97, 119, 136 f., 180, 217
Reiz-Reaktions-Modell 16 Trauma
Resilienz 16, 83, 112, 150, 195 24, 29 ff., 37, 39 f., 46 f., 54 f., 6s f., 70 f.,
respiratorische Sinusarrhythmie 75 ff., 89 ff., 105, 107 ff., 111 f., 115 ff., 120 ff.,
17, 34 f., 217 f., 221 125 f., 131 f., 134, 136, 142 ff., 147 ff., 156,
165, 172f., 176, 185, 195, 200f.

s
Schizophrenie 47 U,V
Seeger, P 137 Überleben
Selbstberuhigung 122, 135 21, 24, 38, 54, 67, 70 ff., 122, 126, 133,
Selbstregulation 143, 148 f., 153, 171, 173, 179, 181, 216 f.
65 ff., 81 f., 161, 166, 204, 208, 211
Shutdown 35 f., 42, 53, 70, 72 ff., 77, 90, Vagus, kluger 91 ff.
105, 107, 113, 117, 119, 123, 134, 143, 147 ff., Vagus, myelinisierter 36 f. , 41, 51 f., 53,
170, 173, 178, 185, 195 f., 199, 210 76, 80, 83, 93 f., 96 ff., 102 f., 118, 134,
Sicherheit 9 ff., 13 ff., 20 ff., 26 ff., 31, 40, 171 f., 197 f., 200, 203, 209 f., 213, 218 ff.
44 ff., 48 f., 51, 53, 59 f., 68 f., 76 ff., 84 ff., Vagus, nicht myelinisierter 36 ff., 41, 76,
96, 99, 102, 104 f., 108 ff., 118 f., 121 ff., 93 f., 113, 119, 172, 187, 197, 199, 218, 220
126, 128, 132, 135 ff., 140, 142, 144, 153, Vagus, subdiaphragmatischer
157, 164, 167, 171, 174, 177 f., 180, 186, 116, 123 ff., 215, 219
189 ff., 195 f., 199 ff., 204 ff., 211 ff., 217 f. Vagus, supradiaphragmatischer
Sich-Totstellen 9, 92 215, 219
Single-Trial-Learning 119f. Vagus, vegetativer 91, 93
Sinusknoten 17,33,103,198,220 Vagusbremse 103 f., 220
Spiel 51 ff., 8o, 83, 91, 109, 111 f., Vagusparadox 35, 116, 220 f.
134, 141, 171, 175, 186 f., 213 van der Kolk, B. 143
Sprachentwicklung 49, ss Verdauung 24, 112 f., 122, 124 f., 171f.
Stimme Vertrauen 21 ff., 26, 28, 65, 74, 77,
22, 37 f., 44 ff., 52 f., s6 ff., 62, 69, 74 f., 86,91, 126,144,174,205,218
78 ff., 94, 97, 101, 104 f., 111, 118, 135, 137,
139 ff., 171, 177, 182, 201, 203 f., 209 ff., 217
Streßmodell 70 Y,Z
System für soziales Engagement 10, 25 ff., Yoga 81, 213
41, 44 f., 47 f., 51 ff., s6, 59, 63 ff., 70, 73,
75, 78, So f., 83, 91, 104, 111 f., 118, 126, Zustandsregulationsstörung 47, 111
128, 134 f., 137, 139, 142, 144, 156, 177 f., Zwerchfell
186, 189, 191, 196 ff., 201 ff., 211, 214, 219 36 f., 76, 93 f., 96, 112 f., 123 ff., 197, 219
Über Stephen W. Porges

Dr. Stephen W. Porges ist Distinguished University Scientist an der Indiana


University Bloomington, wo er die Traumatic Stress Research Initiative im
Kinsey Institute leitet. Er ist Professor der Psychiatrie an der University of
North Carolina, emeritierter Professor der University of Illinois in Chicago,
wo er im Department of Psychiatry das Brain-Body Center geleitet hat, und
emeritierter Professor der University of Maryland, wo er Leiter des Depart-
ment of Human Development sowie des Institute for Child Study war.
Stephen Porges ist ehemaliger Präsident der Society for Psychophysiologi-
cal Research sowie der Federation of Associations in Behavioral and Brain
Sciences. Er hat einen Research Scientist Development Award des National
Institute of Mental Health empfangen.
Zu seinen Publikationen zählen mehr als 250 im Peer-Review-Verfahren
begutachtete wissenschaftliche Aufsätze in den Bereichen Anästhesiologie,
Intensivmedizin, Ergonomie, Trainingsphysiologie, Gerontologie, Neurolo-
gie, Geburtshilfe, Kinderheilkunde, Psychiatrie, Psychologie, Raumfahrtme-
dizin und Substanzmißbrauch.

Im Jahre 1994 hat Stephen Porges die Polyvagal-Theorie vorgestellt, die den
Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Autonomen Nervensystems
bei Wirbeltieren und der Entstehung sozialen Verhaltens beschreibt. Die Po-
lyvagal-Theorie hat Erkenntnisse über die Vermittlung von Symptomen er-
möglicht, die bei verschiedenen behavioralen, psychischen und physischen
Störungen und Erkrankungen auftreten. Die Formulierung der Polyvagal-
Theorie hat die Entstehung von Forschungsprojekten und Behandlungsver-
fahren gefördert, die der Bedeutung des physiologischen Zustandes und der
Verhaltensregulation für den Ausdruck verschiedener psychischer Störungen
Rechnung tragen, und sie hat eine theoretische Grundlage für Untersuchun-
gen über die Behandlung von Streß und Traumata geschaffen.
236 • DIE POLYVAGAL-THEORIE UND DIE SUCHE NACH SICHERHEIT

Stephen W. Porges ist Autor des Buches The Polyvagal Theory: Neurophy-
siological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-
Regulation (dt.: Die Polyvagal-Theorie- Neurophysiologische Grundlagen der
Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung).
Rezension auf Amazon.de

11
'Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit' ist ein bahnbrechendes
Werk, in dem Stephen Porges brillant erklärt, wie unsere Umgebung, die Welt, in
11
der wir leben, unsere Natur beeinflußt und sogar zu deren Grundlage wird.
-Sessel van der KOLK

11
0ft ist uns gar nicht klar, wie viele der Signale, die unser Nervensystem
empfängt, es zu Defensivreaktionen veranlassen. Wenn bei der Organisation der
Umgebung von Menschen neurobiologische Fakten berücksichtigt würden,
könnten wir leben, arbeiten und spielen, ohne ständig der Wirkung solcher
Signale ausgesetzt zu sein. Gelingt es, diese Art von Stimulation zu verringern,
reagiert unser Nervensystem nicht mehr ständig hypervigilant auf mutmaßlich in
nächster Nähe drohende Raubtiere und Gefahren anderer Art .... Ich hoffe, es ist
mir gelungen, in diesem Buch die besondere Bedeutung des Gefühls der
Sicherheit für den Heilungsprozeß zu veranschaulichen. Aus Sicht der Polyvagal-
Theorie ist ein Mangel an diesem Gefühl der Sicherheit der entscheidende
biobehaviorale Aspekt bei der Entstehung psychischer und physischer
Krankheiten.~~

- Stephen PORGES

Im Jahre 1994 hat Stephen Porges die Polyvagal-Theorie erstmals vorgestellt, die
den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Autonomen Nervensystems
bei Wirbeltieren und der Entstehung sozialen Verhaltens beschreibt. Die
Polyvagal-Theorie hat Erkenntnisse über die Vermittlung von Symptomen
ermöglicht, die bei verschiedenen behavioralen, psychischen und physischen
Störungen und Erkrankungen auftreten. Die Formulierung der Polyvagal-Theorie
hat die Entstehung von Behandlungsverfahren gefördert, die der Bedeutung des
physiologischen Zustandes und der Verhaltensregulation für den Ausdruck
unterschiedlicher psychischer Störungen Rechnung tragen, und sie hat eine
theoretische Grundlage für Untersuchungen über die Behandlung von Streß und
Traumata geschaffen.

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