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Gesundsein und Gesund-

bleiben im Schulalltag
Wissenswertes und Praktisches
zur Lehrer*innengesundheit
Handreichung für gute,
­gesundheitsfördernde Schulen
Inhalt

Vorwort 4

Eine kleine Leseanleitung … 5

I Wissenswertes zur Gesundheit von Lehrer*innen und


zur schulischen Gesundheitsförderung 6

1 Andrea Fraundorfer:
Gesund unterrichten: Warum die (psychosoziale)
Gesundheit von Lehrkräften an Bedeutung gewonnen hat 6

2 Christian Scharinger & Lisa Gugglberger:


Gesundheits­förderung im Setting Schule: Ein Weg, der
sich entwickelt, indem man ihn geht 26

3 Rosemarie Felder-Puig & Robert Griebler:


Studienergebnisse zur Gesundheit von Lehrkräften aus
Österreich und Deutschland 36

4 Thomas Kapitany, Thomas Niederkrotenthaler &


Laurin Koblicha-Rathausky:
Krise und Burnout im Kontext der Schule 47

II Die Gesundheit von Lehrer*innen durch salutogene


Führung und Schulqualitätsmanagement stärken 62

5 Julia Gerick:
Gesundheitsförderlich führen in Zeiten des Wandels 62

6 Andrea Fraundorfer:
Gesundbleiben durch QMS: Wie Qualitätsmanagement zur
Gesundheit aller an der Schule Beteiligten beitragen kann 74

2 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


7 Sonja Schuch:
Stärkung der psychosozialen Gesundheit von Lehrer*innen –
Gesund bleiben durch positive Beziehungsgestaltung 93

III Erfahrungen mit der Stärkung der Lehrer*innen-


gesundheit aus der Praxis 106

8 Florian Wallner & Elisabeth Muik:


Wohlfühlzone Schule – Psychosoziale Gesundheits-
förderung und (Cyber-)Mobbingprävention an Schulen 106

9 Marlies Kranebitter & Doris Schiestl:


Projekt „Lehrer*innen-Gesundheit im Fokus: Gestärkt
für den Schulalltag“ 119

10 Victoria Gönitzer, Laurenz Stain, Siquia Santos Santiago,


Julia Felix, Christina Fürst & Sabine Fischer:
Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz Schule 137

IV Tipps und Werkzeuge, um gesund zu bleiben 152

11 Elke Poterpin:
So stärken Sie Ihre Resilienz als Lehrer*in 152

12 Karlheinz Valtl:
Achtsamkeits- und mitgefühlsbasierte Methoden zur
Förderung von Lehrer*innengesundheit 175

13 Werner Heinz Kalláy:


Die Bedeutung der Psychosomatik für Ihre Gesundheit 195

14 Nadeshda Stürzebecher:
Entspannen lernen! Hilfreiche Tipps und Übungen
für den Alltag 203

Impressum 216

3 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Vorwort

Die Herausforderung psychosozialer Gesundheitsförderung


an Schulen – eine Gratwanderung
Als Lehrer*in befindet man sich in einem Arbeitsfeld, in dem der Bildung,
Erziehung und Gesundheitsförderung von Schüler*innen verständlicherweise viel
Beachtung zukommt. Es ist angebracht, sich als Lehrer*in in hohem Maße an den
Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen der Schüler*innen zu orientieren.
Auf der anderen Seite haben wir Lehrer*innen eigene Bedürfnisse, Wünsche und
Vorstellungen, die im Sinne der psychosozialen Gesundheit ebenso Beachtung
finden sollen. Die Arbeit als Lehrer*in ist demgemäß ein dauerhafter „(Ent-)
Scheideweg“, der einen fordernden Balanceakt in der Hingabe an andere sowie sich
selbst gegenüber darstellt.

Diesbezüglich stellt sich die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein sollen, um
diesen Balanceakt zu meistern. Einerseits gibt es strukturelle V
­ oraussetzungen,
die den Arbeitsplatz, die Führung etc. betreffen. Andererseits bietet auch der
persönliche Umgang der Lehrerin bzw. des Lehrers mit den Anforderungen
und Belastungen gewisse Möglichkeiten. Das bedeutet auch, dass im Falle einer
Erschwerung der strukturellen Bedingungen die eigene Herausforderung größer
wird.

Keine festgesetzten Normen regeln den persönlichen Umgang mit der jeweiligen
Situation. Es ist die individuelle Auseinandersetzung mit sich und der Welt, die
einen umgibt, die es ermöglicht, die Gratwanderung so zu absolvieren, dass sich
psychosoziale Gesundheit und Erfüllung einstellen können.

Wir von hepi haben als Lehrkräfte Einblick in die psychosozialen Bedingungen
sowie strukturellen Herausforderungen an verschiedenen Schulstandorten. Es ist
uns ein Anliegen als NCoC (National Center of Competence) für Psychosoziale
­Gesundheitsförderung, Angebote (in Form von Fortbildung, Vernetzung,
Information, Beratung etc.) zu konzipieren und auch umzusetzen, die Lehrer*innen
im persönlichen Umgang mit ihrer jeweiligen Situation zu stärken und somit zu
ihrer psychosozialen Gesundheit beitragen.

So freut es uns, dass wir mit dieser Publikation einen Diskussionsbeitrag zur
Realisierung dieses Anliegens leisten können.

Unser Dank geht an Frau Dr.in Andrea Fraundorfer, Abteilung Schulpsychologie,


Gesundheitsförderung und psychosoziale Unterstützung, Bildungsberatung des
BMBWF, sowie an alle Autor*innen für die Bereitstellung ihrer Expertise.

MMag.a Claudia Lengauer-Baumkirchner und das hepi-Team

4 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Eine kleine Leseanleitung …

Die vorliegende Handreichung zum Thema Lehrer*innengesundheit soll Lehrkräfte,


Schulleiter*innen sowie Expert*innen im Bereich der schulischen Gesundheits-
förderung dabei unterstützen, dass alle an der Schule Beteiligten ihre Gesundheit
reflektieren, verbessern und nachhaltig stärken können. Die Handreichung möchte
auch Impulse für die Umsetzung von gesundheitsfördernden Maßnahmen im
Rahmen des neuen Schulqualitätsmanagements geben.

Die Herausgeberinnen haben die Handreichung in vier Abschnitte gegliedert. Der


erste Abschnitt präsentiert Wissenswertes zur Gesundheit von Lehrer*innen und
generell zu Zielsetzungen sowie Maßnahmen der schulischen Gesundheitsförde-
rung. Dazu gehören die Beiträge zur Bedeutung von psychosozialer Gesundheit, zur
Gesundheitsförderung im Setting Schule, ebenso der Artikel zu Studienergebnissen
zur Gesundheit von Lehrkräften sowie ein Beitrag, der sich insbesondere mit Krise
und Burnout im Kontext Schule auseinandersetzt.

Im zweiten Abschnitt geht es einerseits um die salutogene, also gesundheitsför-


dernde Führung, andererseits auch um den Beitrag des Schulqualitäts­managements
(SQM) zur Erhaltung der Gesundheit von Lehrkräften. Ein eigens entworfener
Schulentwicklungsplan gibt Impulse, wie das Thema Lehrer*innen­gesundheit
konkret innerhalb des SQMs aufgegriffen werden kann. Der dritte Artikel in diesem
Abschnitt widmet sich der Stärkung der psychosozialen Gesundheit durch positive
Beziehungsgestaltung am Schulstandort.

Praxiserfahrungen zur Stärkung der Lehrer*innengesundheit werden im dritten


Abschnitt dieser Handreichung dokumentiert. Drei erfolgreiche Projekte – die
„Wohlfühlzone Schule“, das „Tiroler Lehrer*innengesund­heitsprojekt“ sowie das
Projekt „Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz Schule“ werden vorgestellt. Die
Projekte zeigen auf, wie ­Gesundheitsförderung an der Schule gelingen kann und
was es dafür braucht.

Tipps und Werkzeuge, wie man als Lehrer*in gesund bleiben kann, werden im
vierten Abschnitt präsentiert. Dazu finden Sie einen Beitrag zur Resilienzstärkung,
einen Beitrag zu achtsamkeits- und mitgefühlsbasierten Methoden zur Förderung
von Lehrer*innengesundheit sowie einen Beitrag mit Tipps und Übungen, um sich
zu entspannen und die eigene Gesundheit zu stärken.

Wir möchten Sie ermutigen, dass Sie sich aus den für Sie interessanten Kapiteln
jeweils jene Informationen, Werkzeuge sowie Tipps holen, die Sie gerade als
Schulleiter*in, Lehrer*in oder Schulentwickler*in im Bereich der Gesundheitsför-
derung brauchen können. Wir wünschen Ihnen beim Lesen dieser Handreichung
spannende Erkenntnisse und vor allem viele Impulse zur Stärkung der Gesundheit
aller Lehrkräfte an Ihrem Schulstandort!

Die Herausgeberinnen

5 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


I. Wissenswertes zur Gesundheit von Lehrer*innen und
zur schulischen Gesundheitsförderung

1 Gesund unterrichten: Warum die (psychosoziale) Gesundheit von Lehrkräften an


Bedeutung gewonnen hat

D
Andrea Fraundorfer er (bio-)psychosozialen Gesundheit von Lehrer*innen und Schulleiter*innen
wird aufgrund zunehmender Herausforderungen – zuletzt auch durch die
Digitalisierung des Lehrens und Lernens (Stichwort „Distance Learning/
Teaching“) – derzeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt. So mussten Lehrkräfte ab dem
Schuljahr 2020/21 innerhalb von kurzer Zeit ihre Unterrichtstätigkeit in den digita-
len Raum verlagern, was nicht bei wenigen Lehrer*innen zu erhöhten Belastungen
und damit Stressreaktionen führte. Gesellschaftliche und technologische Entwick-
lungen wirken sich mitunter rasch auf die Bedingungen von Lehren und Lernen aus
und diese zeigen entsprechende Auswirkungen auf Wohlbefinden, Arbeitszufrie-
denheit und Gesundheit von Lehrkräften. Internationale Studien und Expertisen
beschäftigen sich mit dem Wohlbefinden und den berufsbedingten Belastungen im
Lehrberuf und deren Folgewirkungen.1

Der Lehrberuf ist – wie andere Berufe, die eine intensive soziale Interaktion verlangen – ein
äußerst herausfordernder. Belastungen und Beanspruchungen von Lehrkräften werden
seit vielen Jahren intensiv erforscht. Aus arbeitspsychologischer Sicht wird zwischen be-
lastenden Gegebenheiten am Arbeitsplatz (Belastung) und deren nachteiligen Wirkungen
auf die Person (Beanspruchung) unterschieden. Der Begriff Beanspruchung trägt dem
individuellen Erleben von Belastungen Rechnung.2 Potenziell belastende Arbeitsplatz-
bedingungen können zu mehr oder weniger Stresserleben führen, je nachdem wie sie
subjektiv von der Lehrkraft bewertet werden. Stressauslösend wirken demnach Ereig-
nisse oder Anforderungen, die die Anpassungsfähigkeit eines Menschen übersteigen.

Forschungsergebnisse zeigen, dass tatsächlich hohe Belastungen vorliegen, die von


Lehrkräften unterschiedlich psychisch verarbeitet und bewertet werden.3 So werden
als zentrale Belastungsfaktoren aus Lehrer*innensicht z. B. „schwierige Schüler*innen“
bzw. ungünstige Klassenzusammensetzungen genannt.4 Mit Beginn der Pandemie

1  TALIS 2018; Europäische Kommission/Eurydice 2021, S. 141f


2  Das Konzept der Arbeitsbeanspruchung steht für das Ausmaß emotionaler und körperlicher Reaktionen,
die aus den Bewältigungsversuchen beruflicher Anforderungen hervorgehen. Es repräsentiert das Stress-
empfinden der Arbeitenden und resultiert aus der (Nicht-)Übereinstimmung berufsbezogener Anforderun-
gen mit den zur Bewältigung zur Verfügung stehenden Ressourcen (personale, soziale und organisationale
Ressourcen).

3  Zur Situation der Sekundarstufenlehrer*innen: siehe Griebler 2017


4  Ksienzyk/Schaarschmidt 2005

6 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


sind das Unterrichten im Distance Learning/Teaching bzw. die damit verbundenen
Gegebenheiten und Einschränkungen ein zentraler Stressor geworden.5

Gleich vorweggenommen sei hier die gute Nachricht: Viele berufliche Belastungen lassen
sich über konstruktive Beziehungen zwischen den Lehrkräften, einem wertschätzenden
Führungsstil seitens der Schulleitung und einem insgesamt guten Schulklima abfedern. Kol-
legiale Unterstützung, Anerkennung und Wertschätzung seitens der Schulleitung können
wesentlich dazu beitragen, dass Herausforderungen, die Lehrer*innen im Unterricht erleben,
individuell gut bzw. besser bewältigt werden können. Ähnliches gilt auch für Schüler*innen:
Qualitätsvolle Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen wirken positiv auf
Wohlbefinden und psychosoziale Gesundheit ein.

Die vorliegende Publikation beschreibt die Belastungen und Beanspruchungen im


Lehrberuf und vor allem Methoden und Instrumente, wie individuell und im Kolle-
gium mit diesen umgegangen werden kann. Die Beiträge zur Lehrer*innengesundheit
stellen fundierte Informationen bereit, um sich entweder im Rahmen des schulischen
Qualitätsmanagements oder auch individuell vertieft mit Gesundheit und den Mög-
lichkeiten, diese zu stärken, auseinanderzusetzen.

Zur Förderung der Gesundheit von Lehrkräften gibt es eine Reihe von gesundheits-
fördernden Initiativen und Fortbildungsangeboten seitens mehrerer Institutionen.6
Diese Publikation richtet sich im Rahmen dieser Bemühungen an Lehrkräfte, Schullei-
ter*innen sowie an beratende Personen an Schulstandorten, die mit der psychosozialen
Gesundheit aller an der Schule Beteiligten zu tun haben. Die vorliegende Publikation
versteht sich als eine Art Werkzeugkasten und damit als ein Impulsgeber, um sich mit
dem Thema Lehrer*innengesundheit sowohl auf systemischer Ebene („Setting Schule“,
„Wir als Schulstandort bzw. als Kollegium“) als auch auf individueller Ebene („Ich in
meiner Rolle als Lehrkraft“, „Ich als Person“) auseinanderzusetzen.

Wünschenswert ist, dass sich Schulen im Sinne der Gesundheitsförderung aller mit
den Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens an ihrem Schulstandort kritisch-
konstruktiv auseinandersetzen und gemeinsam reflektieren, was zu einer gesünderen
Schule beitragen kann, in der sowohl Sie als Lehrkraft gerne unterrichten als auch die
Schüler*innen gerne lernen.

5  Steiner 2020
6  Siehe u. a. die Dokumentation der Veranstaltung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und
Forschung in Kooperation mit dem Fonds Gesundes Österreich (FGÖ) und der Versicherungsanstalt öffentlich
Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) im November 2020 zum Thema „Gestärkt und resilient am
Arbeitsplatz Schule - Förderung der psychosozialen Gesundheit von Lehrer*innen in Zeiten von Umbrüchen “
unter https://wohlfuehlzone-schule.at/konferenz2020 (letzter Zugriff 10.05.2021)

7 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Gesundheit – nicht nur ein Zustand, sondern ein komplexer
Balanceakt

In dieser Publikation wird der Schwerpunkt auf die psychosoziale Gesundheit gelegt.
Diese wird jedoch nicht als Gegenstück zur physischen Gesundheit, sondern als eng
mit dieser verwoben gesehen.

Wir gehen von einem Gesundheitsbild aus, das den ganzen Menschen in den Blick nimmt.
Auch wenn Lehrkräfte in ihrer professionellen Rolle als Wissensvermittler*innen, Erzie-
her*innen und Lehrende agieren, stehen diese als „ganze“ Person vor einer Klasse und
bringen damit ihre Persönlichkeit, ihr Denken, ihre Haltungen und ihre Emotionen ein. Belas-
tungen, die sich aus der beruflichen Tätigkeit ergeben, wirken also immer auch auf die ganze
Person einer Lehrkraft ein und beeinflussen ihr Denken, Fühlen und Handeln. Umgekehrt
spüren Schüler*innen intuitiv, wer als Person hinter der Rolle als Lehrkraft vor ihnen steht
und wie authentisch die Lehrkraft im Unterricht agiert.

Die WHO verfolgt bereits lange ein Konzept von Gesundheit, das dem neueren Para-
digma einer „biopsychosozialen Medizin“ entspricht.7 Dieser Ansatz sieht den Menschen
als eine seelisch-körperliche Ganzheit innerhalb eines sozialen Lebensraums, der sich
maßgeblich auf Gesundheit sowie Gesundheitseinstellungen und -verhalten auswirkt.
Psychische und physische Vorgänge werden als gleichwertig und gleichzeitig ablaufend
angesehen; unsere Emotionen gehen zum Beispiel immer mit hormonellen und neuro-
logischen Prozessen einher. Daher wird auch die Unterscheidung in psychosomatische
und rein somatische/körperliche Krankheiten obsolet, da immer beide – also unser
psychisches System und unser Körper als die Gesamtheit aller miteinander interagie-
renden Organsysteme – eng verwoben sind. Unsere Gesundheit und unser Befinden
werden stets von unseren sozialen Beziehungen beeinflusst und stehen in enger Ver-
bindung mit den ökonomischen und soziokulturellen Gegebenheiten, die unser Leben
mitbestimmen. Wer Zugang zu fundiertem Gesundheitswissen und zu Gesundheits-
ressourcen und -einrichtungen hat, kann damit auch seine Gesundheit besser steuern.

Gesundheit stellt in dieser Perspektive sowohl das Phänomen als auch die Kompetenz dar,
mit Anforderungen von außen (z. B. beruflichen oder familiären Belastungen) und von innen
(z. B. Krankheitsdispositionen) weitgehend selbstregulierend umzugehen. Daher wird Ge-
sundheit als ein dynamischer Prozess gesehen, der eine stets aufrecht zu erhaltene Balance
zwischen äußeren Anforderungen und inneren Anpassungs- sowie Regulationsprozessen
darstellt und damit auch beeinflussbar ist.

7  Egger 2017

8 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Wenn man sich mit Gesundheit im Setting Schule auseinandersetzt, ist es zielführend,
den Blick einerseits auf unterrichts-, schul- und interaktionsbezogene Belastungssi-
tuationen zu richten. Andererseits sind auch die individuellen Bewältigungsmuster
und -strategien von Lehrkräften von Bedeutung. Diese können reflektiert und gestärkt
werden. Gesundheitsförderung setzt also einerseits am Individuum und andererseits
am Arbeitsplatz und den dort herrschenden Arbeitsbedingungen an. In der Gesund-
heitsförderung spricht man von gesundheitsfördernden Settings und bezeichnet den
jeweiligen sozialen Raum – wie hier den Schulstandort – als „Setting“. Der Beitrag
von Scharinger/Gugglberger in dieser Publikation wird diesen Ansatz näher erläutern.

Lehrer*innengesundheit wirkt auf Schüler*innengesundheit ein und


vice versa

Auch wenn in dieser Handreichung der Fokus auf die Lehrer*innengesundheit gelegt
wird, ist auch die Schüler*innengesundheit impliziert mitgedacht. Die Autor*innen
gehen davon aus (und das bestätigt die Forschung), dass sich psychosozial gesunde
Lehrer*innen durch eine bessere, motivierende und respektvolle Lehrer*innen-Schü-
ler*innen-Interaktion und durch mehr Engagement und Gerechtigkeit auszeichnen.8

So haben Lehrer*innen, die Humor und Spontaneität im Unterricht sowie eine selbstsiche-
re Körpersprache zeigen, bessere Beziehungen zu ihren Schüler*innen. Umgekehrt fühlen
sich Lehrkräfte, die positive Rückmeldungen von Schüler*innen bekommen, gesundheitlich
wohler und können damit auch anstrengende und belastende Situationen insgesamt besser
verarbeiten. Zur Schüler*innengesundheit liegen einige aufschlussreiche Studien vor, wie
die MHAT-Studie zu „Mental health in Austrian adolescents“9 oder die HBSC-Studie (Health
Behaviour in School-aged Children-Studie).10 Während der Pandemie verschlechterte sich die
psychosoziale Gesundheit der Jugendlichen wesentlich.11

Über die Gesundheit von Schüler*innen Bescheid zu wissen, ist insofern wichtig,
als psychosoziale Beeinträchtigungen und Erkrankungen von Heranwachsenden in
die Unterrichtssituation hineinwirken und diese erschweren können. Vor allem die

8  Bauer o. J.
9  Wagner/Zeiler et al. 2017
10  https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Kinder--und-Jugendgesundheit/HBSC.html
(letzter Zugriff Mai 2021). Diese europäische Kinder- und Jugendgesundheitsstudie erfasst den Gesundheits-
zustand, das Gesundheitsverhalten und auch Belastungen der österreichischen Schüler*innen jeweils im Alter
von 11, 13, 15 und 17 Jahren. 
11  https://www.donau-uni.ac.at/de/aktuelles/news/2021/psychische-gesundheit-verschlechtert-sich-­
weiter0.html (letzter Zugriff Februar 2021); vgl. Schlack et al. 2020

9 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


s­ ogenannten „externalisierenden Störungen“ wie aggressives, sozial stark abweichendes
Verhalten sind für Lehrer*innen im Unterricht belastend. Dies kann sich wiederum
auf Arbeitszufriedenheit, Wohlbefinden und Gesundheitszustand der Lehrer*innen
auswirken. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, die Probleme der Kinder und
Jugendlichen ernst zu nehmen und ihnen Hilfestellungen zukommen zu lassen. Hier
kommen die psychosozialen Unterstützungssysteme wie Schüler- und Bildungsberatung,
Schulpsychologie, Schulsozialarbeit, schulärztlicher Dienst und (bei Perspektivenlosig-
keit) das Jugendcoaching ins Spiel, um Schüler*innen zu beraten, zu unterstützen und
gegebenenfalls an Expert*innen (Mediziner*innen, Psychotherapeut*innen, Kinder- und
Jugendhilfe etc.) weiter zu verweisen.12

Was verstehen wir heute unter (psychosozialer) Gesundheit?

Die WHO definiert Gesundheit “as a state of well-being in which every individual realizes
his or her own potential, can cope with the normal stresses of life, can work productively and
fruitfully, and is able to make a contribution to her or his community“13 . Als zentrale Akteurin
im Gesundheitsbereich beschreibt die WHO die psychische/psychosoziale Gesund-
heit als wesentliche Voraussetzung von Gesundheit: „Without mental health there can
be no true physical health.“14 „Mental Health“ wird im deutsch-sprachigen Bereich meist
mit psychischer oder psychosozialer Gesundheit übersetzt, letztere betont die soziale
Verortung von Gesundheit. Individuelle Gesundheit ist also immer auch geknüpft an
Erfahrungen innerhalb sozialer Räume, die das psychosoziale und physische Wohl-
befinden fördern bzw. auch beeinträchtigen können.

Unter „psychosozialer Gesundheit“ wird ein dynamischer Zustand verstanden, der es ermög-
licht, sich konstruktiv mit den gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen auseinan-
dersetzen zu können und gleichzeitig auch individuelle Bedürfnisse, Ideen und Wünsche im
eigenen Leben zu verwirklichen.

Psychische bzw. psychosoziale Gesundheit stellt demnach eine Balance zwischen einer
produktiven Anpassung an gesellschaftliche Herausforderungen und einer mehr oder
minder gelingenden Selbstverwirklichung dar. Wie sehr das gelingt, ist häufig von
den sozioökonomischen Voraussetzungen und vom Bildungsgrad abhängig. Höhere
Bildungsabschlüsse korrelieren mit einem höheren Lebensstandard, einem besseren
Zugang zu Gesundheitsleistungen und damit über die Lebensspanne hinweg mit
besseren Gesundheitsdaten.

12  Siehe www.schulpsychologie.at (letzter Zugriff Juni 2021)


13  WHO 2018
14  Koloppa et al. 2013

10 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Fokus auf das, was uns gesund erhält

Gerade in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Lehrer*innengesundheit ist das soge-
nannte salutogenetische Paradigma von Bedeutung. Es geht bei diesem Ansatz vorrangig
um die Frage, was uns gesund erhält und daher weniger darum, was uns krankmacht.
Dieses Paradigma richtet den Fokus darauf, wodurch Gesundheitskompetenzen und
damit gesundheitsbezogene Einstellungen sowie Verhaltensweisen gestärkt werden
können, aber auch, wie das jeweilige Setting so verändert werden kann, dass dieses
Menschen gesund erhält (und nicht krankmacht). Damit einher geht ein Gesundheits-
verständnis, das Gesundheit als dynamisches Gleichgewicht denkt, das sich zwischen
auftretenden Belastungssituationen und wirksamen Bewältigungsstrategien auf
körperlicher, psychisch-mentaler und sozialer Ebene bewegt. Um die Gesundheit von
Lehrkräften zu stärken, ist es also wichtig, gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen
(wieder-)herzustellen und Belastungen durch konstruktive und tragfähige Beziehungen
und Kooperationen zu reduzieren.

Häufig wird dieses Gesundheitsverständnis auch mit dem Kohärenzsinn, der vom
Medizinsoziologen Aaron Antonovsky definiert wurde, in Verbindung gebracht.
Dieser „Sense of Coherence“ betont die Wichtigkeit von Verstehbarkeit, Handhabbar-
keit und des Sinnerlebens, wenn wir mit Problemen, Herausforderungen und Krisen
konfrontiert sind.15 Sind die genannten drei Aspekte vorhanden, führen Belastungen
zu weniger Stressempfinden. Gerade in Krisenzeiten besteht die Gefahr, dass die ge-
nannten Aspekte, dass wir Anforderungen an uns verstehen, handhaben und ihnen
einen Sinn verleihen können, nicht mehr ausreichend gegeben sind.

Gesundheit ist eine zentrale Voraussetzung für die Lern-, Bildungs- und Arbeitsfähig-
keit eines Menschen. Gelingende Lern- und Bildungsprozesse sowie zufriedenstellende
Arbeitsbedingungen und -verhältnisse wirken sich wiederum positiv auf die Gesundheit
aus. Wir können das Eine ohne das Andere nicht haben.

Wenn wir also wollen, dass Menschen im Setting Schule gesund bleiben, müssen wir die Ver-
hältnisse, unter denen sie lernen und arbeiten, auch daraufhin überprüfen, ob Menschen dort
Anerkennung, Wertschätzung und Sinnhaftigkeit sowie tragfähige Beziehungen erleben.
Dazu kann grundsätzlich jeder etwas beitragen. Der Schulleitung kommt jedoch eine beson-
dere Aufgabe zu; die Rolle der Schulleitung in Bezug auf „salutogene (gesundheitsfördernde)
Führung“ wird im Beitrag von Julia Gerick in dieser Publikation gesondert thematisiert.

15  Antonovsky 1997

11 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Hohe Professionsanforderungen an Lehrer*innen

Psychosozial gesund zu bleiben ist vor allem für soziale Berufe, die mit heranwachsenden,
unterstützungs- und beratungsbedürftigen Menschen zu tun haben, eine kontinuierli-
che Herausforderung. Lehrer*innen müssen nicht nur Lernprozesse anleiten, begleiten
und unterstützen, sie erziehen auch, beraten, beurteilen und beeinflussen schließlich
durch Notengebung und Schullaufbahnempfehlungen die konkreten Lebenschancen.

Pädagogisches Handeln an sich ist ein letztlich nur schwer zu planendes Geschehen, da
die konkrete Situation häufig sehr viele rasch zu treffende Entscheidungen erfordert,
was auch zu Überforderung (z. B. im Bereich der Unterrichtsdisziplin) führen kann.
Unterrichten geht mit einer Vielzahl von Handlungsungewissheiten und Unabwäg-
barkeiten in der konkreten Unterrichtssituation einher, die aufgrund von in der Aus-
bildung und im Berufsalltag erworbenen Fähigkeiten täglich neu bewältigt und auch
immer wieder reflektiert werden müssen.

Berufliche Belastungen führen jedoch nicht bei allen Lehrenden zu den gleichen Emp-
findungen und Symptomen von Überforderung, Stress oder Erschöpfungsanzeichen.16
Auf den Umgang mit schulischen bzw. unterrichtlichen Belastungen wirken vor allem
die eigenen Denk- und Handlungsmuster bzw. die Verarbeitungs- und Bewertungs-
prozesse ein. Aus der Praxis weiß man, dass manche Lehrkräfte mit als „schwierig“
eingeschätzten Klassen und Einzelschüler*innen gut zurechtkommen und andere
wiederum weniger gut. Disziplinäre Herausforderungen sowie reale Gegebenheiten
(wie Klassengröße, Zusammensetzung der Klasse etc.) werden von Lehrkräften also
recht unterschiedlich eingeschätzt. Auch die sozialen und inneren Ressourcen, die
jeweils in einem Menschen aktivierbar sind, unterscheiden sich stark. Als Menschen
reagieren wir in Belastungs- und Stresssituationen mit unterschiedlichen Emotionen
und Bewertungen der erlebten Situationen. Emotionen, die durch Herausforderun-
gen im Beruf entstehen, stehen auch in enger Verbindung mit dem Erfolgserleben
im beruflichen Alltag, der Lebenszufriedenheit an sich sowie dem Erleben sozialer
Unterstützung.17 Erfolgserlebnisse im Unterricht oder positive Rückmeldungen von
Seiten der Schüler*innen oder auch der Schulführung stärken die eigene Belastungs-
fähigkeit. Ziel im Sinne der Gesundheitsförderung muss es daher auch immer sein,
die Beziehungen in unserem beruflichen Alltag so zu gestalten, dass sie als Ressource
und nicht als Gefährdung unserer Gesundheit wirksam werden. Hier zeigt sich einer
der Hebel, an dem man ansetzen kann.

16  Vgl. Schneider 2014, S. 50f


17  Vgl. Schaarschmidt 2005, S. 22

12 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Die Potsdamer Lehrerstudie von Uwe Schaarschmidt hat bereits vor vielen Jahren
gezeigt18 , welche Bedeutung individuelle arbeits- und lebensbezogene Bewältigungs-
muster für das Engagement, die Widerstandskraft und den konkreten Arbeitseinsatz
von Lehrkräften haben. Nach dem dort entwickelten Analyseschema zeigen sich
Muster in der Verarbeitung von Belastungen u. a. in der Bedeutungszuschreibung
der Arbeit, in der Verausgabungsbereitschaft und im Perfektionsstreben als auch in
der Distanzierfähigkeit (von der beruflichen Rolle), der Resignationstendenz, der
offenen Problembewältigung sowie der inneren Ausgeglichenheit. Die Studie zeigt,
dass Lehrkräfte die arbeitsbezogenen Belastungen unterschiedlich einordnen und
verarbeiten. Es wurde eine inzwischen vielfach verwendete Typologie erstellt, die die
arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM) von Lehrkräften in vier
Grundtypen unterteilt: Bewältigungsmuster G (für gesund, leistungsbereit und wider-
standsfähig), Muster S (sich schonend und eher geringes Engagement bei vorhandener
Widerstandsfähigkeit), Risikomuster A (überhöhtes Engagement bei Einschränkung der
Widerstands- und Erholungsfähigkeit) und Risikomuster B (verringertes Engagement
mit eingeschränkter Widerstandsfähigkeit bis hin zur Resignation und Erschöpfung).
Mit diesem Verfahren kann die psychische Beanspruchung bei der Bewältigung von
beruflichen Herausforderungen deutlich gemacht und an deren Veränderung gearbei-
tet werden.19 Die Autor*innen der Typologie haben ein Training entwickelt, um das
eigene Bewältigungsverhalten zu reflektieren, die beruflichen Probleme strukturiert
anzugehen, das Selbstmanagement zu klären und zu verändern sowie Entspannung
zu lernen und die Kommunikation zu verbessern.

Stress- und Belastungsempfinden können als ein relationales Phänomen verstanden


werden: Externe (und interne) Anforderungen stehen jeweils internen (und externen)
Ressourcen zur Bewältigung gegenüber. Auffällig ist jedoch, dass das Belastungs- und
Stressempfinden insgesamt bei Lehrer*innen zuzunehmen scheint und sich in ent-
sprechenden Krankenstandstagen und Frühpensionierungen zeigt.20

Um auf die Gesundheit von Lehrkräften positiv einzuwirken, reicht es jedoch nicht, an den
individuellen Bewältigungsmustern und deren Veränderung anzusetzen. Es braucht einen
Setting-Ansatz, der die konkreten Arbeitsbedingungen unter die Lupe nimmt und somit
nicht nur das Verhalten einzelner Lehrkräfte, sondern die gegebenen Verhältnisse, unter
denen sie ihre herausfordernde Tätigkeit ausüben, zu verändern versucht. Hier muss Schul-
entwicklung ansetzen. Zahlreiche Publikationen, wie z. B. das Handbuch Lehrergesundheit 21

18  Schaarschmidt 2005; Schaarschmidt/Fischer 2013


19  Vgl. Schaarschmidt 2005, S. 23f; Schaarschmidt/Fischer 2008, S. 12f
20  Vgl. Bauer 2009; Wesselborg 2017
21  DAK-Gesundheit & Unfallkasse NRW 2012

13 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


liefern konkrete Methoden und Werkzeuge, wie das Thema Lehrer*innengesundheit inner-
halb der Schulentwicklung aufgegriffen werden kann. Uwe Schaarschmidt und Kollegen
haben eigene Programme zur Unterstützung von Schulen entwickelt (Programme Denkan-
stöße und Stärkung für die Schule).22

Auseinandersetzung mit Anforderungen im schulischen/unterricht-


lichen Kontext

Belastungen bestehen im Lehrberuf einerseits aufgrund der hohen sozialen Interak-


tionsdichte, die Unterrichten mit sich bringt. Als Lehrkraft müssen Sie ständig in Inter-
aktion mit den Schüler*innen sein und brauchen eine starke Präsenz, um einen guten
Unterricht zu machen. Wissensvermittlung und Erziehung bedürfen des Aufbaus und
des ständigen Pflegens der Beziehungsqualität zwischen Lehrenden und Schüler*innen.
Die Belastungen und Beanspruchungen von Lehrkräften hängen andererseits auch
zusammen mit institutionellen Gegebenheiten (Klassengröße, soziale Zusammenset-
zung der Klassen, Ressourcen am Schulstandort) und Umsetzungsvorgaben (z. B. zu
Neuerungen im Schulsystem). Zudem schlagen viele gesellschaftliche Entwicklungen in
der Schule auf, sei es durch verändertes, pluralisiertes Erziehungsverhalten von Eltern,
sich verändernde Bedingungen des Aufwachsens von Kindern in einer digitalisierten,
konsumorientierten Welt oder durch die heterogene sprachliche und kulturelle Her-
kunft der Schüler*innen. Fachlehrkräfte sehen sich zudem damit konfrontiert, ihr
eigenes Fachwissen ständig am Stand der wissenschaftlichen Forschung auszurichten,
was – je nach Unterrichtsfach – auch stete Fortbildung erfordert.

Lehrer*innen sehen ebenso darin Belastungen, dass sich ein Teil der Elternschaft
wenig für den Lernerfolg ihrer Kinder einsetzt und andere Teile der Elternschaft
überprotektiv bis hin zu einmischend in didaktische Fragen agieren. Zudem ist die
gesellschaftliche Anerkennung der geleisteten Arbeit nicht immer gegeben, und
Lehrkräfte sind nicht selten zweifelhaften Projektionen von Erwachsenen aus deren
eigenen Schulzeit ausgesetzt. Ein weiterer Faktor ist, dass Lehrkräfte häufig beengte
Arbeitsplätze im Konferenzzimmer und eine verbesserungswürdige technische Aus-
stattung am Schulstandort vorfinden. Lehrer*innen sind – wie andere Berufsgruppen
mit einem gesellschaftlichen Auftrag – also gefordert, sich immer wieder neuen Pro-
fessionsanforderungen anzupassen.

22  Vgl. Schaarschmidt/Fischer 2008

14 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Die wichtigsten Belastungssituationen und -faktoren für Lehrkräfte im
Überblick sind23
• ungünstige Klassengröße und -zusammensetzung sowie disziplinäre Herausforder­
ungen,
• störungsvolles und problembelastetes Arbeits- und/oder Unterrichtsklima; hoher
­Lärmpegel in Klassen,
• Zeitdruck und Häufung von Anforderungen zu bestimmten Zeitabschnitten (Schul-
arbeitszeit, Matura) im Schuljahr,
• (schwelende oder offene) Konflikte und wenig ausgebildete Team- und Kommunikations-
kultur (Einzelkämpfertum),
• wenig respektvoller, anerkennender und kooperationsfördernder Führungsstil seitens
der Schulleitung,
• Anordnungs- statt Kooperations- und Partizipationskultur,
• als unzureichend wahrgenommene Unterstützung und Begleitung durch beratend tätige
Professionen in schwierigen sozialen/unterrichtlichen Situationen,
• vermehrte Erziehungsaufgaben und wenig Unterstützung seitens mancher Eltern (oder
zu viel Einmischung von Seiten der Eltern),
• Zunahme administrativer Tätigkeiten wie Dokumentationsarbeiten oder Testdurchfüh-
rungen,
• Abarbeitung zentraler Vorgaben zur Durchführung von Unterricht und Prüfungen sowie
zum Erreichen von Schüler*innenleistungen,
• das Verantwortlich-Gemacht-Werden für die Leistungen der Schüler*innen (siehe TALIS-
Studie),
• hoher Innovations- und Veränderungsdruck von außen bzw. durch die Notwendigkeit
eines evidenzbasierten Schulqualitätsmanagements,
• Umgang mit zunehmender sprachlicher, sozialer und kultureller Diversität,
• Arbeitsintensivierung durch Digitalisierung des Unterrichts; Vermischung von Beruf und
Privatleben durch entgrenzte Arbeitszeiten im Home Teaching/Schooling; Veränderungs-
druck in Bezug auf den raschen Aufbau von digitalen Kompetenzen für Online-Unterricht.

Die geschilderten (nicht erschöpfend aufgezählten) Professionsanforderungen lassen


vermuten, dass Belastungen und Beanspruchungen an Lehrende tendenziell steigen.
Empirische Evidenz für die oben genannten, in der Literatur ausführlich beschriebenen
Anforderungen an Lehrkräfte findet sich u. a. in der TALIS-Studie. So heißt es darin,
dass die Aufrechterhaltung der Unterrichtsdisziplin von Österreichs Lehrer*innen 2018
im Vergleich zu 2008 als viel schwieriger beschrieben wird: „2018 geben signifikant mehr
Lehrpersonen an, am Beginn der Stunde lang warten zu müssen, bis sich die Schüler*innen

23  Vgl. dazu die Analysen und Vergleiche im europäischen Kontext im Eurydice-Bericht (European
­Commission/Eurydice 2021) und TALIS 2018 sowie Ksienzyk/Schaarschmidt 2005; Bauer 2009; Heyse 2011

15 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


beruhigen bzw. dass sie viel Zeit wegen Unterbrechungen verlieren.“24 Die Studie hat u. a. die
Selbstwirksamkeit von Lehrkräften hinsichtlich der Bewältigung von unterrichtlichen
Situationen anhand von zwölf abgefragten Items untersucht.

Selbstwirksamkeit (der Begriff geht auf den kanadischen Psychologen Albert Bandura
zurück) beschreibt die Überzeugung einer Person, herausfordernde oder schwierige
Situationen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können.25 Dahinter steht die
Annahme, dass Persönlichkeitsanteile, Denken und Verhalten in steter Wechselwirkung
mit dem sozialen Kontext stehen. Die inneren Überzeugungen, ob und wie Aufgaben
bewältigt werden, ändern sich mit dem fachlichen Wissen und den Berufserfahrungen.
Dazu gehört auch, dass positive Erfahrungen im Kollegium, z. B. über Kooperation und
Austausch, auf die Ausbildung von Selbstwirksamkeit einwirken. Die TALIS-Studie zeigt
vor allem die Selbstwirksamkeit von Lehrkräften im Bereich Classroom-Management,
Unterricht und Schüler*innenmotivation auf. Es finden sich in der Studie Verweise auf
Untersuchungen, die zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen der Selbstwirksamkeit
von Lehrkräften und Schüler*innenleistungen bestehen. Lehrkräfte in Klassen mit
hohen Leistungen können demnach eine ausgeprägtere Selbstwirksamkeit vorweisen.26

Gesteigerte Professionsanforderungen zeigen – wie in jedem anderen Beruf auch – Aus-


wirkungen auf die Gesundheit von Lehrer*innen. Umso wichtiger ist es, die Gesundheit
von Lehrer*innen im Rahmen der Schulentwicklung zu thematisieren. Für die Schul-
leitung stellen sich daher Fragen zum Umgang mit den gegebenen Anforderungen und
Belastungen. Dazu gehören Fragen der Gestaltung der Arbeitsbedingungen an Schulen,
nach dem Ausmaß von Mitsprache, Mitgestaltung und (unbezahltem) Engagement,
nach der Bewältigbarkeit an erlebtem Zuviel an Aufgaben und nach Möglichkeiten der
Verbesserung kollegialer Zusammenarbeit. Was es vor allem auch braucht, ist die Offen-
heit, über eigene Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und -erfahrungen zu reflektieren,
sowie die Bereitschaft, sich selbst mit den Herausforderungen weiterzuentwickeln. In
diesem Zusammenhang wird auch von „professional learning communities“, in denen
an der Weiterentwicklung der eigenen Professionalität gearbeitet wird, gesprochen.27

Joachim Bauer, psychosomatischer Arzt und Professor für Psychoneuroimmunologie28 ,

24  BIFIE 2019, S. 66


25  Vgl. Bandura 1982
26  BIFIE 2019, S. 63f
27  Vgl. Schratz/Paseka/Schrittesser 2011
28  Die Psychoneuroimmunologie ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet und beschäftigt sich mit den
Wechselwirkungen zwischen psychischem Erleben und physiologischen Vorgängen, vor allem zwischen
Nerven-, Hormon- und Immunsystem. Forschungen zeigen, wie z. B. Stress über komplexe physiologische
Interaktionen verschiedener Organsysteme zur Entstehung von Krankheiten beiträgt. Vgl. Schubert 2014.

16 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


hat sich über viele Jahre mit dem Thema Lehrer*innengesundheit auseinandergesetzt
und Programme zur Lehrer*innengesundheit entwickelt. Bauer konzipiert das magi-
sche Dreieck der Lehrer*innengesundheit aus beruflicher Identität (Fachkompetenz,
Rolle, Authentizität, …), Beziehungsarbeit (Beachtung des Beziehungsgeschehens inkl.
Erkennen von psychischen Störbildern) und sozialer (kollegialer) Unterstützung.29

Befindet sich der Mensch ständig in Belastungs- und Überforderungssituationen (und damit
in Alarmbereitschaft), werden die neurobiologischen Stresssysteme überbeansprucht und
aktiviert. Die Selbstregulationssysteme im Menschen werden beeinträchtigt, und die fragile
Balance zwischen Anspannung und Entspannung gerät zunehmend aus dem Lot. Lang-
anhaltender, als belastend empfundener Stress wirkt sich massiv auf die psychophysische
Verfasstheit des Menschen und damit auf sein Wohlbefinden und seine Gesundheit aus.

Häufig zeigen sich dann psychosomatische Symptome wie Konzentrations- und


Schlafstörungen, Herz-Kreislaufsymptome, Magen-Darmstörungen, Schmerzsym-
ptome, chronische Verspannungen, Neigung zu Entzündungen, Bluthochdruck etc.
Neuere Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie belegen die enge Verzahnung
von Stresserleben und den Reaktionen auf physiologischer Ebene. Demnach sind das
vegetative Nervensystem (Zusammenspiel Sympathikus/Parasympathikus) eng mit dem
Hormonsystem (z. B. mit der Produktion des Stresshormons Cortisol) und veränderten
Aktivitäten des Immunsystems (Immunschwäche, Allergien, Entzündungsneigung)
verknüpft.30 Dauerhaftes Stresserleben macht krank und zeichnet verantwortlich für
chronische Erschöpfungszustände bzw. Erkrankungen. Es fördert zudem auch den
sukzessiven inneren Rückzug vom beruflichen Engagement.

Als Menschen sind wir in jedem Alter auf tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen an-
gewiesen. In beruflichen Settings, so auch in der Schule, reagieren unsere neurobiologischen
Belohnungssysteme, die mit Wohlfühlen einhergehen, auf zwischenmenschliche Zuwen-
dung, Anerkennung und Resonanz. Motivation und Leistungsbereitschaft entstehen nicht
ohne Beziehung zueinander.

Wie eine Lehrkraft eine Unterrichtsstunde beginnt oder eine Schulleiterin eine Konfe-
renz einleitet, bestimmt häufig den weiteren Verlauf der sozialen Begegnung zwischen
den Beteiligten. Annedore Prengel hat in einer umfassenden Studie untersucht und
beschrieben, wie wichtig die Art und Weise, wie Pädagog*innen Lernende ansprechen,
für deren Wohlbefinden und Leistungen ist. Anerkennende, verletzende oder ambi-
valente Handlungsmuster und Sprechweisen zeigen entsprechende Wirkungen auf

29  Vgl. Bauer 2005, S. 20


30  Vgl. Schubert 2014

17 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


die Entwicklung und das Lernen von Kindern. Die Anerkennung der Person und der
respektvolle Umgang miteinander sind Voraussetzung für gelingendes Lernen, solide
Persönlichkeitsentwicklung und demokratisches Grundverständnis.31

Da sich die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung auf beide Seiten auswirkt, ist das


Herstellen einer konstruktiven Arbeitsbeziehung seitens der Lehrkräfte etwas, das
sich über zahlreiche Rückkoppelungsprozesse auf das eigene Wohlbefinden und die
Arbeitszufriedenheit auswirkt. Hier zeigt sich ein zentraler Hebel in der schulischen
Gesundheitsförderung, die zuerst das Beziehungsgefüge am Schulstandort reflektiert,
um daran anschließend Impulse zu setzen, dieses auf allen Ebenen zu verbessern.

Professionalität und psychosoziale Gesundheit

Viel ist in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften von Professionalität die Rede. An
Lehrkräfte werden hohe Professionsanforderungen gestellt. Was ist damit gemeint?

Mit Professionalität sind eine bestimmte Handlungsausrichtung, ein bestimmtes berufsbe-


zogenes Wertesystem sowie Standards der Berufsausübung und der Ausbildung angespro-
chen. Damit verbunden sind die Selbstthematisierung des Aufgabenprofils und des Berufs-
ethos sowie die ständige Reflexion der eigenen Arbeit.

Kennzeichnend für die Profession der Lehrerin/des Lehrers ist, dass diese Tätigkeit
in ein historisch gewachsenes Bildungssystem eingebettet ist, das gesellschaftlichen
Notwendigkeiten verpflichtet ist und dem Selbstverständnis als (kindorientierte*r)
Pädagoge/Pädagogin teilweise zuwiderläuft. Lehrer*innen müssen nicht nur Wissen
vermitteln und Lernprozesse in Gang setzen sowie erziehen, sondern auch die entspre-
chenden Lernergebnisse und Leistungen beurteilen – und bedienen dadurch auch die
institutionellen Selektionsmechanismen. Somit fungieren Lehrkräfte schließlich als
Weichensteller für Schullaufbahnen (z. B. durch die Vergabe von Berechtigungen und
Schullaufbahnempfehlungen). Dies bringt Widersprüche in der eigenen Berufsrolle
mit sich, die viele Lehrer*innen auch als Belastung erleben (z. B. Volksschullehrer*in-
nen, die AHS-Reife bescheinigen bzw. nicht bescheinigen und damit über die weitere
Bildungslaufbahn entscheiden).

Pädagogisches Handeln an sich ist letztlich ein nur schwer planbares Geschehen, da
es in der konkreten Situation immer wieder zu unerwarteten Situationen und damit
zu rasch zu treffenden Entscheidungen kommt (z. B. hinsichtlich „Störungen“ des

31  Vgl. Prengel 2013

18 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


­ nterrichts oder zu verändernder zeitlicher Abläufe). Manche dieser Situationen können
U
zu einer Überforderung (z. B. in Bezug auf Klassenmanagement und Herstellung von
Disziplin) führen, was vor allem auch für dienstjüngere Lehrkräfte gilt, die sukzessive
ein professionelles Verhaltens- und Führungsrepertoire aufbauen.

Professionalität zeigt sich im kompetenten Umgang mit berufsspezifischen Herausforde-


rungen, sie ist aber nicht alleine von der einzelnen Lehrkraft abhängig, sondern auch von
den Rahmenbedingungen, die professionelles Denken und Handeln als Lehrkraft fördern.

So braucht es, um das eigene pädagogische und didaktische Handeln zu reflektieren,


entsprechende Zeitfenster, soziale Räume und Unterstützung seitens der Schulleitung
und des Kollegiums. Kollegiale Hospitationen sowie enge Kooperationen im Team sind
Möglichkeiten, um sich selbst über sein eigenes Tun zu vergewissern und im Austausch
mit anderen das eigene Handlungsrepertoire weiterzuentwickeln. Ein weiterer Bei-
trag der Autorin in dieser Publikation zeigt Möglichkeiten auf, wie Gesundheit und
Wohlbefinden im Rahmen des schulischen Qualitätsmanagements thematisiert und
entsprechende Maßnahmen gesetzt werden können.

Stärkung der Gesundheitskompetenzen als Führungsaufgabe

Schulleiter*innen sind aufgefordert, für die Entlastung einzelner Lehrer*innen, die


bereits Erschöpfungssymptome oder chronische Krankheiten zeigen, zu sorgen. Schul-
leiter*innen stehen jedoch häufig selbst am Rande ihrer Belastungsgrenzen. Schulärz-
tinnen und Schulärzte – vor allem in Bundesschulen – könnten hier die Schulleitungen
stärker dahingehend beraten, welche gesundheitsfördernden Maßnahmen inklusive der
Verbesserung von Kommunikation und Kooperation die Balance zwischen Belastung
und Bewältigung herstellen könnten.

Damit verbunden ist die Intention, Lehrer*innen (und auch Schüler*innen) ihre eigenen
Denkmuster und Bewältigungsstrategien in Bezug auf Gesundheit reflexiv zugäng-
lich – und damit veränderbar – zu machen. Zahlreiche Programme von Krankenkassen
und Unterstützungsstrukturen für gesundheitsfördernde Schulen helfen Schulstand-
orten in der konkreten Umsetzung von „Health Literacy“. Schulleiter*innen, deren
Sensibilität und Bewusstsein bezüglich der gesundheitsbezogenen Führungsaufgabe
ausgebildet ist, achten darauf, dass die Arbeitszufriedenheit, die Leistungsbereitschaft,
das Sinnerleben und die Anerkennung geleisteter Arbeit in einem entsprechenden
Ausmaß gegeben sind.

Sinnerleben im Lehrberuf hängt auch damit zusammen, dass Lehrer*innen erfahren, dass
ihre unterrichtliche und erzieherische Tätigkeit bei den Heranwachsenden ankommt, dass

19 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


die pädagogischen Beziehungen gelingen und Leistungsbereitschaft bei den Lernenden
vorhanden ist. Das Erleben von Anerkennung der geleisteten Arbeit durch die Schulführung
trägt ebenfalls stark zum Erleben von Sinn im beruflichen Kontext bei.

Die Unterstützung im Kollegium und durch die Schulleitung ist vor allem in kri-
senhaften Zeiten wichtig. Dem salutogenetischen Ansatz entsprechend brauchen
Menschen das Gefühl der Durchschaubarkeit, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit ihres
Tuns. Damit hängt eine hohe Selbstwirksamkeit zusammen, diese ist aber nicht nur
bei Lehrer*innen wichtig, sondern auch bei Schüler*innen, die diese im Laufe ihrer
Persönlichkeitsentwicklung erst aufbauen müssen.

Gesichertes Wissen ist heute, dass ein positives Schul- und damit Beziehungsklima
einen günstigen Einfluss auf die Gesundheit von Lehrer*innen und Schüler*innen
ausübt. Zu einem gesundheitsfördernden Schulklima gehören neben konstruktiven
pädagogischen Beziehungen, die sich durch gegenseitigen Respekt und Anerkennung
ausdrücken, die Partizipation aller, ein Vertrauensverhältnis zwischen den Schulpart-
nern, keine Ausgrenzung und Diskriminierung einzelner Personen oder Gruppen, eine
transparente Kommunikations- bzw. Konfliktkultur sowie eine hohe Leistungserwar-
tung bei Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen der einzelnen Schüler*innen.

Partizipation und (Selbst-)Empowerment

Aus Sicht der schulischen Gesundheitsförderung ist es wichtig, dass Sie als Lehrkraft
ihre Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen als mitgestaltbar und konstruktiv
erleben. Ein gemeinsames Vorgehen am Schulstandort, um die jeweiligen strukturellen,
pädagogischen und didaktischen Herausforderungen zu erörtern und gemeinsam Lö-
sungsansätze dafür zu finden, kann zu einer veränderten Wahrnehmung der beruflichen
Belastungen beitragen. Eine veränderte Wahrnehmung wiederum bewirkt veränderte
(konstruktive) Verhaltensweisen, diese wiederum spiegeln sich in (verbesserten) Bezie-
hungen wider. Programme wie die von Joachim Bauer zur Gesundheitsprophylaxe für
Lehrkräfte können hier wertvolle Hilfestellungen bieten. Solche Programme themati-
sieren nach Vorbild professionell begleiteter Balint-Gruppen persönliche Einstellungen
im Hinblick auf die berufliche Identität und Identifikation, die Beziehungsgestaltung
zu Schüler*innen und Eltern sowie Spaltungstendenzen versus kollegialen Zusammen-
halt.32 Gesundheitsstärkung wird dort vorwiegend als Beziehungsstärkung gedacht. Auf
Basis neurobiologischer Erkenntnisse, dass schwierige Beziehungskonstellationen die
psychophysischen Stresssysteme im Menschen aktivieren, wird versucht, genau diese

32  Vgl. Bauer 2007

20 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


schwierigen Beziehungskonstellationen durch begleitete Intervision und intensiver
Reflexion zu verändern.

Hier sind Empowerment-Ansätze, die Menschen dazu verhelfen, selbst Reflexivität und
Kontrolle in Bezug auf eigene Einstellungen und eigenes Gesundheitsverhalten auszuüben,
zentral. Das Konzept der Health Literacy verweist auf diese notwendige Lebenskompetenz,
die eng mit Bildung und dem Wissen sowie der Motivation des Einzelnen verknüpft ist. Es
geht dabei darum, auf Gesundheitsinformationen und -einrichtungen adäquat zugreifen
zu können, in Zeiten sich rasch verändernder Gesundheits- und Wissenschaftserkennt-
nisse selbständig Urteile fällen und einen gesundheitsfördernden Lebensstil entwickeln zu
können.

Mit dem Ansatz von Empowerment sollen die Ressourcen von Einzelnen oder Grup-
pen gestärkt werden. Empowerment schließt mit ein, dass Menschen die Räume, in
denen sie arbeiten, leben und lernen, mitgestalten können (und sich nicht bloß als
Empfänger*innen von Anweisungen erleben). Schulisches Qualitätsmanagement mit
dem Fokus auf (psychosoziale) Gesundheit kann diesen Ansatz aufgreifen, indem sie
eine breite Beteiligung an der Gestaltung von schulischen (Entwicklungs-)Prozessen
ermöglicht und die Ressourcen der Einzelnen über soziales Eingebunden-Sein stärkt.

Empowerment zielt darauf ab, dass Menschen die Fähigkeit entwickeln und verbessern,
ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht gestalten zu lassen.
Fachkräfte der Gesundheitsförderung sollen durch ihre Arbeit dazu beitragen, alle Bedin-
gungen zu schaffen, die eine ‚Ermächtigung’ der Betroffenen fördern und es ihnen ermög-
lichen, ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies gilt für Men-
schen mit und ohne eingeschränkte(n) Möglichkeiten, für Erwachsene ebenso wie für Kinder.
Empowerment beschreibt Prozesse von Einzelnen, Gruppen und Strukturen, die zu größerer
gemeinschaftlicher Stärke und Handlungsfähigkeit führen.

Durch den Empowermentansatz sollen Personen(-gruppen) dazu ermutigt werden, ihre


eigenen (vielfach verschütteten) personalen und sozialen Ressourcen sowie ihre Fähigkeiten
zur Beteiligung zu nutzen, um Kontrolle über die Gestaltung der eigenen sozialen Lebenswelt
(wieder) zu erobern. […] Die Förderung von Partizipation/Teilhabe und Gemeinschaftsbildung
sind wesentliche Strategien des Empowermentprozesses.“33

Empowerment in der schulischen Gesundheitsförderung bedeutet vor allem, dass Lehr-


kräfte, Schulleiter*innen, aber auch Schüler*innen darin gestärkt werden, verstärkt
Kontrolle über ihren Gesundheitsstatus zu gewinnen. Eine gute Voraussetzung dafür

33  Brandes/Stark 2021

21 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


ist, dass Räume geschaffen werden, in denen gemeinsam darüber reflektiert wird, wie
mit beruflichen Anforderungen und Belastungen umgegangen wird, sodass sie nicht
gesundheitsbeeinträchtigend wirken. Durch das Miteinander-ins-Gespräch-Kommen
werden am Schulstandort Änderungsbedürfnisse oder Änderungsbedarfe aufgezeigt.
Das offene Ansprechen von Schwierigkeiten und Problemen schafft ein vertrauens-
volles und entlastendes Klima im Kollegium.

Im Sinne einer salutogenetisch ausgerichteten Gesundheitsförderung kann die Schule


nicht umhin, einen entsprechenden Beitrag zur (bio-)psychosozialen Gesundheit zu
leisten, indem sie die einzelne Lehrkraft sowohl als Person als auch in ihrer Professio-
nalität stärkt und Arbeits- und Lernbedingungen so adaptiert, dass diese der Gesund-
heit zuträglich sind.

Psychosozial gesunde Lehrer*innen haben eine hohe Wirksamkeit als Lehrkraft, sie fördern
ein lernförderliches, soziales Klima und zeigen mehr Empathie, Humor und Gerechtigkeit.
Eine gute Schule wäre demnach eine, in der Lern- und Arbeitsleistungen hoch sind und die
Menschen sich gleichzeitig wohl und gesund fühlen. Tragfähige Beziehungen und gemeinsa-
me Werte, gegenseitige Anerkennung, Unterstützung und Kooperation sowie eine kompe-
tente Schulführung und die Ermöglichung von sinntragenden Bildungserfahrungen sind die
wichtigsten Schlüssel dazu.

Der wohl protektivste Faktor scheint nach heutigem Wissensstand die Stärkung der Be-
ziehungen zwischen allen an der Schule Beteiligten zu sein. Gelingende, vertrauensvolle
und wertschätzende Beziehungen sind wiederum die Basis für ein gutes Klassen- und
Schulklima. Sinnerleben, Anerkennung der geleisteten Arbeit und kollegialer Zusam-
menhalt sowie gegenseitige Unterstützung sind für die Gesundheit von Lehrkräften
zentral. Das Bewusstsein, wie eng Wohlbefinden, Gesundheit sowie Leistungs- und
Lernfähigkeit zusammenhängen, muss noch stärker in das Bewusstsein aller mit Bildung
befassten Personen verankert werden. Auf die in diesem Beitrag ausgeführten Aspekte,
sollte sich Schul- und Unterrichtsentwicklung beziehen, wenn sie die (psychosoziale)
Gesundheit der Lehrer*innen und Schüler*innen nachhaltig fördern will.

22 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


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Zur Autorin

Andrea Fraundorfer, Dr.in phil., war 10 Jahre lang Pflichtschullehrerin, studierte E


­ rziehungswissenschaft
und arbeitet seit 2008 im BMBWF. Publikationen in Sammelbänden und Zeitschriften u. a. zu den
­Themen Innovationen an Schulen, Schulabbruch, Professionalisierung von Lehrer*innen sowie zur
psychosozialen Gesundheit

25 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


2 Gesundheitsförderung im Setting Schule: Ein Weg, der sich entwickelt,
indem man ihn geht

M
Christian Scharinger und oderne Gesundheitsförderung versteht Gesundheit als einen Austausch-
Lisa Gugglberger prozess zwischen Person und unmittelbarer Lebenswelt und bezieht sich
daher auch immer auf die relevanten Settings einer Gesellschaft. Das Set-
ting Schule ist unter diesem Aspekt nicht nur ein Ort des Lernens und Lehrens, son-
dern in erster Linie eine zentrale Lebenswelt für Schüler*innen, deren Eltern und vor
allem für Lehrer*innen. Wie eng die Verknüpfungen dieser Lebenswelt zu relevanten
anderen Settings wie Betriebe, Familien oder Gemeinden sind, veranschaulichen die
radikalen Praxiserfahrungen durch die coronabedingten Schließungen bzw. Verlage-
rungen des Schulsettings.

Gleichzeitig begann die enge Verbindung der Lebenswelt Schule mit dem Thema
Gesundheit an ihre Wurzeln zurückzukehren. Seit Jahrhunderten war und ist die
Schule ein Ort der Gesundheitserziehung und Prävention, nicht zuletzt unter den Ge-
sichtspunkten von Hygiene und der Vermeidung von ansteckenden Krankheiten. Das
Konzept der Gesundheitsförderung versuchte vor diesem Hintergrund den Blick von
einer krankheitsbezogenen Betrachtungsweise in eine visionäre Richtung zu lenken,
in welcher Gesundheit dort entstehen und gefördert werden kann, „wo Menschen
spielen, lernen, arbeiten und lieben“34 .

Mag diese Vision angesichts der aktuellen Situation im Frühjahr 2021 einfältig erschei-
nen, so lohnt dennoch ein Rück- und Ausblick, da er zur Standortbestimmung beiträgt.

Rückblick

Über Jahrhunderte hinweg war die Schule des Präventionisten liebstes Kind. Viele
gesundheitlich relevante Themen wurden – meist in Form von Gesundheitserziehung
– am Standort Schule be- und verhandelt. Lange Zeit standen dabei ausschließlich
krankheitsorientierte Themen und die Zielgruppe der Schülerinnen und Schüler im
Mittelpunkt. Als Ende der 1960er Jahre die Infektionskrankheiten in Europa besiegt
schienen, konzentrierte sich die Gesundheitserziehung stark auf Themen des Lebens-
stils und der Prävention nicht übertragbarer Krankheiten. Die Klassiker der Präven-
tion – Bewegung, Ernährung, Tabakprävention – prägten längere Zeit das Bild der

34  WHO Europe 1986

26 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


­ esundheitserziehung und wurden in verschiedensten Unterrichtsfächern v­ erankert.
G
Eine Erweiterung fand dieses Themenfeld durch die HIV/AIDS-Problematik der
1980er Jahre, welche in weiterer Folge die Sexualerziehung und Drogenprävention in
den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses rückte.

Vor diesem Hintergrund entstand die Gesundheitsförderung als eine neue Erzählung
von Gesundheit, welche die Lebens- und Lernwelt Schule selbst in den Mittelpunkt
rückte und vor allem auf die gesundheitsrelevanten Effekte dieser Lebenswelt hinwies.
Dabei wurde der Doppelcharakter des Settings Schule herausgearbeitet: Schule kann
„krank machen“, kann aber auch einen zentralen Faktor zum Erhalt und zur Förderung
der Gesundheit aller an Schule Beteiligten darstellen.

Bei aller organisationsbezogenen Perspektive hält das Grundsatzdokument der Ge-


sundheits-förderung aber auch fest, dass alle Settings – so auch die Schule – einen
wesentlichen Beitrag zur Gesundheit leisten können, indem sie „durch Information,
gesundheitsbezogene Bildung sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebensprak-
tischer Fertigkeiten [...] den Menschen helfen, mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheit und
ihre Lebenswelt auszuüben“35 .

Gleichzeitig mit der theoretischen Konzeption begann die Weltgesundheitsorganisation/


Europe Initiativen zu starten, welche anhand von Modellprojekten diesen Ansatz von
Gesundheitsförderung an Schulen umsetzen und erproben sollten. Der angestrebte
Paradigmenwechsel lässt sich dabei anhand folgender Punkte skizzieren:

35  WHO Europe 1986

27 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Traditionelle Gesundheitserziehung „Gesundheitsfördernde Schule“

sieht nur eine begrenzte Einfluss-


betrachtet die Gestaltung der Schule und ihres Umfeldes als
nahme der Schule und ihrer Umwelt
einen wesentlichen Einflussfaktor auf den Gesundheitszu-
auf den Gesundheitszustand der
stand der Schüler*innen und Lehrer*innen
Schüler*innen

betrachtet Gesundheitserziehung versucht alle Aspekte des Schullebens und der Beziehungen
unter der verengten Perspektive der schulischen Umwelt mit einzubeziehen und begreift die
des Klassenzimmers und einzelner Gesundheitsförderung ausdrücklich als fächerübergreifen-
Unterrichtseinheiten de Aufgabe

legt den Fokus auf die Bereiche der


basiert auf einem salutogenetischen Gesundheitsbegriff,
Hygiene und der physischen Ge-
der körperliche, seelische, soziale und ökologische Aspekte
sundheit und schließt psychosoziale
zueinander in Beziehung setzt
Aspekte weitgehend aus

berücksichtigt nur begrenzt den


betrachtet die Entwicklung eines positiven Selbstwertge-
Zusammenhang zwischen psycho-
fühls als Grundvoraussetzung erfolgreicher Gesundheits-
sozialen Faktoren und Gesundheits-
förderung
verhalten

betrachtet kaum das gesundheitli- wertet die Gesundheit der Lehrer*innen als wichtige Vor-
che Wohlbefinden der Lehrkräfte im aussetzung für eine erfolgreiche Gesundheitsförderung der
schulischen Alltag Schüler*innen

sieht die Hauptfunktion der schu- versucht die schulischen Gesundheitsdienste stärker in den
lischen Gesundheitsdienste in der Schulalltag zu integrieren und deren Aufgabenbereich zu
Früherkennung durch Reihenunter- erweitern
suchungen

Tabelle 1: WHO 1993

Als Anfang der 1990er Jahre ein Europäisches Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen
entstand, welches in weiterer Folge den Begriff der „Health Promoting Schools“ prägte,
trat Österreich diesem im September 1993 mit 12 Projektschulen offiziell bei. Nicht
zuletzt durch diese erfolgreiche Pionierphase gelang es, das Verständnis von Gesund-
heit im Setting Schule auch in Österreich nachhaltig zu verändern und u. a. eine enge
Verbindung zu Aspekten der Schulentwicklung herzustellen. Einen wichtigen Mei-
lenstein stellt der „Grundsatzerlass Gesundheitserziehung“ dar, welcher 1997 in Kraft
trat und einerseits ein erweitertes Verständnis von Gesundheit vermittelt. Gleichzeitig
wird Gesundheitsförderung dadurch „ein zentraler Bestandteil jeglichen pädagogischen
Handelns und sie ist in allen Schularten und Unterrichtsgegenständen zu verwirklichen.“36

36  Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung 1997

28 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Die folgenden Jahre waren durch eine starke Resonanz dieses Ansatzes an den Schu-
len selbst und in der Landschaft der Gesundheitsförderung gekennzeichnet. „Service
Stellen Schule“ der Sozialversicherungsträger trugen zur regionalen Stärkung und
Verankerung des Themas in der österreichischen Schullandschaft bei, und auch der
Fonds Gesundes Österreich unterstützte durch vielfältige Initiativen den Ausbau der
schulischen Gesundheitsförderung. Wesentlich war auch das Engagement Pädagogischer
Hochschulen sowie regionaler Gesundheitsförderungs- und Public Health Institutio-
nen, welche sich in einigen Bundesländern zu starken Promotoren der schulischen
Gesundheitsförderung entwickelten.

Beginnend etwa in den 1990er Jahre und fortlaufend entstanden international ver-
schiedene Initiativen und Studien, die das Konzept der Gesundheitsfördernden Schule
weiterentwickelten. Ihnen ist gemeinsam, dass sie schulische Gesundheitsförderung
als komplexes Unterfangen betrachten, das auf verschiedenen Ebenen ansetzen sollte
– einerseits Ebenen innerhalb der Schule, die von der Schulleitung über das Lehrer-
team bis ins einzelne Klassenzimmer reicht, andererseits Ebenen des Schulsystems
von national, über regional zur einzelnen Schule. Schulische Gesundheitsförderung
als „whole school approach“ (d. h. als Aufgabe der ganzen Schule) sollte möglichst breit-
flächig implementiert werden und dabei möglichst verschiedene Akteur*innen mit-
einbeziehen. Dadurch soll nicht Gefahr gelaufen werden, dass Gesundheitsförderung
in der Schule zu einer Zusatzaufgabe von einzelnen Lehrpersonen wird, sondern sie
vielmehr automatisch in allen Prozessen und Entscheidungen des Schulalltags mitge-
dacht wird. Gesundheitsförderung in die Schule zu integrieren, soll am besten als ein
Prozess der Organisationsentwicklung gesehen werden – ähnlich wie das Einführen
von Qualitätsstandards.

Verschiedene Evaluationen von Gesundheitsfördernden Schulen haben gezeigt, dass


es für die Schulen hilfreich ist, möglichst vernetzt zu sein und die Umsetzung mit zu-
sätzlicher politischer sowie finanzieller Unterstützung voranzutreiben. Weiters ist es
notwendig, dass das Lehrer*innenteam inklusive der Schulleitung am selben Strang
zieht und dass regelmäßige Reflexion und externe Begleitung die Schule unterstützen.

Thematisch rückte das Handlungsfeld der „psychosozialen Gesundheit“ immer stär-


ker in den Mittelpunkt. Bereits der „Grundsatzerlass Gesundheitserziehung“ wies
richtungsweisend auf die Bedeutung der „sozialen Gesundheit“ und den Einfluss, den
soziale Organisationen, wie das Setting Schule auf diese haben, hin. Neben klassischen
Handlungsfeldern, wie dem der Suchtprävention, erlangten dadurch u. a. Themen der
Gewalt- und Mobbingprävention verstärkt an Bedeutung. Im Kern sollte dadurch
das Setting Schule nicht „nur“ zu einem sicheren Ort werden, sondern auch zu einem
Setting des Wohlbefindens und der Förderung der psychosozialen Gesundheit. Diese
wiederum ist eine Grundvoraussetzung für den Lernerfolg und das Erbringen von

29 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Leistung sowohl bei Schülerinnen und Schülern als auch der pädagogischen Teams
am Schulstandort.

Gemeinsame Initiativen des Gesundheits- und Bildungssektors – wie u. a. die Initiative


„Wohlfühlzone Schule“ – greifen diese enge Verbindung in den letzten Jahren verstärkt
auf und verweisen damit darauf, dass Gesundheit und Bildung zentrale Schlüsselres-
sourcen unserer Gesellschaft darstellen.

Trotz der Erweiterung des thematischen Handlungsspektrums bildeten Schülerinnen


und Schüler lange Zeit die Hauptzielgruppe im Feld der schulischen Gesundheits-
förderung. Dies nicht zuletzt dadurch, dass viele Studien darauf hinwiesen, dass sich
das Bild einer unbeschwerten und gesunden Jugendphase immer weniger aufrecht
erhalten ließ. So deutete u. a. die größte europäische Kinder- und Jugendstudie, die
Health Behaviour in School-aged Children Study (HBSC-Studie), darauf hin, dass
einerseits gezielte Interventionen z. B. im Bereich der Sucht- und Gewaltprävention
auch positive Wirkungen zeigten, andererseits aber die Belastungen durch schulische
Anforderungen weiter stiegen.37

Wissenschaftliche Studien waren es auch, welche die Gesundheit von Lehrerinnen und
Lehrern verstärkt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Einen Meilenstein
bildet in diesem Zusammenhang die im Jahr 2000 gestartete „Potsdamer Lehrerstudie“,
welche einerseits auf die problematische Gesundheitssituation der Berufsgruppe hin-
wies und andererseits eine differenzierte Typologie an Bewältigungsmustern heraus-
arbeitete.38

Gleichzeitig wurde das Erleben sozialer Unterstützung im Kollegium und durch die
Schulleitung als die wichtigsten entlastenden Bedingungen bestätigt. Die Forschung
belegte damit die zwei Gesichter eines gesundheitsorientierten Zugangs: Ein krank-
heitsorientierter Blickwinkel betrachtet den Lehrberuf als einen hoch belasteten
Berufsstand, was sich nicht zuletzt in überdurchschnittlich häufig psychische Belas-
tungssituationen und einen hohen Anteil an Pensionierungen aufgrund von Dienstunfähigkeit
niederschlägt. Aus gesundheitsfördernder Perspektive gibt es hingegen kaum ein Berufsbild,
das so viele persönliche Entfaltungsmöglichkeiten und Ressourcen, z. B. eigenverantwort-
liche, vielfältige und sinnerfüllte Tätigkeit, aufweist.

Nicht zuletzt trug die erfolgreiche Etablierung des Konzepts der Betrieblichen Gesund-
heitsförderung dazu bei, „die Schule“ als Arbeitsplatz verstärkt in den Mittelpunkt zu

37  Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz 2018, S. 73ff
38  Schaarschmidt 2009

30 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


rücken und als Setting programmatisch zu verankern. Zentraler Ansatzpunkt ist dabei
der Befund, dass Lehrerinnen und Lehrer ein gesundes Arbeitsumfeld brauchen, um
über längere Zeit ihren Beruf gut und gesund ausüben zu können – umgekehrt sind
gute Schulen massiv auf die Gesundheit ihrer Lehrkräfte angewiesen.

Das im Umfeld der Sozialversicherungsträger und deren Service Stellen Schule (die
mittlerweile Service Stellen gesunde Schule heißen) entstandene Praxishandbuch
„Gesundheitsförderung für Lehrerinnen und Lehrer“ stellt einen ersten konzeptio-
nellen Rahmen für die Umsetzung an österreichischen Schulen dar. Seitdem wird das
Handlungsfeld vor allem seitens der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter,
Eisenbahnen und Bergbau unter der Marke „Gesunder Arbeitsplatz Schule“ struk-
turiert weiterentwickelt. Ein österreichweites Netzwerk „Gesunder Arbeitsplatz
Schule“ unterstützt Schulen dabei, die Gesundheit von Schulleitungen, Lehrerinnen
und Lehrern sowie des nicht-unterrichtenden Personals zu fördern.

Als neues Thema ist in den vergangenen Jahren die Gesundheitskompetenz bzw. die
„gesundheitskompetente Schule“ hinzugekommen. Das Konzept gibt es zwar etwa
so lange wie das der Gesundheitsförderung, Schulen sind aber erst relativ spät in
seinen Fokus geraten. Gesundheitskompetenz bezeichnet die Fähigkeit von Perso-
nen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwen-
den39 ; eine gesundheitskompetente Schule unterstützt Schüler*innen, Lehrer*innen
und andere Zielgruppen dabei, möglichst einfach an Gesundheitsinformationen
zu gelangen und diese zu verstehen. Gesundheitskompetenz soll dabei nicht als
Konkurrenz zur Gesundheitsförderung verstanden werden, sondern als Ergänzung
des Konzepts. Genauso wie schulische Gesundheitsförderung setzt auch schulische
Gesundheitskompetenz in der Organisation an und schließt Lehrer*innen als eine
zentrale Zielgruppe mit ein.

Und dann kam …

Diese dynamische und positive Entwicklung wurde im März 2020 abrupt unterbrochen.
Die durch Corona bedingten Schulschließungen führten zu dramatischen Gleichzeitig-
keiten im Setting Schule: Einerseits setzte durch die Digitalisierung des Unterrichts
ein Modernisierungs- und Beschleunigungsschub ein, andererseits schien sich im
Home-Schooling die Zeit zu verlangsamen. Betrachtet man die rein technologischen
Aspekte, so erlebte das Setting Schule in den letzten Monaten eine „Disruption“,
welche eine OECD Studie wie folgt zusammenfasst: „Diese Krise hat, was soziale und

39  Sörensen et al. 2012

31 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


technologische Innovation betrifft, wahrscheinlich mehr gebracht als zehn, 15 Jahre, seitdem
wir Schulsysteme beobachten.“40

Gleichzeitig wurde die zentrale Bedeutung des sozialen Lebens- und Begegnungs-
raumes Schule radikal erlebbar. Zwar konnten viele Sprünge in Richtung Distance-
Learning gut bewältigt werden, die sozialen Funktionen des Setting Schule konnten
aber nicht ersetzt werden. Schule ist eben nicht „nur“ ein Ort des Lernens, sondern
vor allem auch ein Platz der Begegnung, dessen Kraft virtueller Unterricht nicht
ersetzen kann.

Vor einem völlig anderen Erfahrungshintergrund plädierte der „Grundsatzerlass


Gesundheitserziehung“ dafür, Schule als Lebens- und Erfahrungsraum zu betrachten
und demnach zu berücksichtigen: „Ganzheitliche Gesundheitsförderung bezieht sich auf
die gegebene Realsituation vor Ort mit ihren Entwicklungschancen, Schwierigkeiten und
Grenzen und nicht auf eine erwünschte Idealsituation.“41

Hier wirkt die Corona-Krise gleichsam wie ein Verstärker, der Stärken und Schwächen
am jeweiligen Schulstandort offenlegt: Wo eine starke Gemeinschaft am Schulstand-
ort besteht, können die Herausforderungen gut bewältigt werden. Wo Schule eher
fragmentiert gelebt wird, führt Corona dazu, dass Kontakte brüchig werden und zer-
fallen. Schulen, die bereits Schritte in Richtung Gesundheitsförderung unternommen
haben und gute Lernerfahrungen im Umsetzen von neuen Programmen mitbringen,
könnten einen Vorsprung gegenüber Schulen haben, die sich mit den Themen noch
nicht auseinandergesetzt haben. Auch der Spalt zwischen digital kompetenten und
gut betreuten Gruppen und „bildungs- und schulferneren Zielgruppen“ hat sich noch
weiter aufgetan.

Aktuelle Studien weisen in die Richtung, dass viele radikale Umstellungen im Setting
Schule von den betroffenen Lehrerinnen und Lehrern großteils gut bewältigt werden
konnten. Als zentrale Gesundheitsfaktoren zeigen sich das Ausmaß an sozialer Ver-
bundenheit und erlebter Selbstwirksamkeit. In Krisenzeiten belegt sich daher „die hohe
Relevanz von sozialer Verbundenheit (mit wichtigen Personen und mit Schüler*innen) sowohl
für das eigene Wohlbefinden als auch für das Erzielen von Lernerfolgen bei den Schüler*in-
nen.“42 Das Handlungsfeld der psychosozialen Gesundheit und Widerstandsfähigkeit
hat in Zeiten von Corona massiv an Bedeutung gewonnen und wird auch zukünftig
von höchster Relevanz sein. Zusätzlich werden die Ansätze der Gesundheitskompetenz

40  Schleicher 2020


41  Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 1997
42  Universität Wien 2020

32 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


und des Krisenmanagements an Schulen in die Praxis der Gesundheitsförderung im
Setting stärker zu integrieren sein.

Eine wesentliche Erfahrung für die zukünftige Entwicklung der Gesundheitsför-


derung ist das faktische Erleben der letzten Monate, wie eng das Setting Schule mit
anderen Lebenswelten (Schule, Gemeinde, Familie) verknüpft ist (und welche enorme
Bedeutung das Thema Gesundheit für unser Leben hat). Viele Settings sind auf einen
gesunden und sicheren Arbeits- und Lernort Schule angewiesen. Dies ist ein Argument
mehr, um den Weg der „Gesundheitsförderung im Setting Schule“ weiterzugehen und
gangbar zu machen.

33 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Literatur

Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung (1997): Grundsatzerlass zum Unterrichts­


prinzip Gesundheitserziehung, Rundschreiben Nr. 7/1997 https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/
schulrecht/rs/1997-2017/1997_07.html (letzter Zugriff 15.3.2021)

Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (2019): Gesundheit und
Gesundheitsverhalten von österreichischen Schülerinnen und Schülern. Ergebnisse des WHO-HBSC-
Survey 2018, Wien.

Schaarschmidt, Uwe (2009): Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer erhalten und stärken – Ergebnisse
und Schlussfolgerungen aus der Potsdamer Studie, COPING OG · Psychologische Diagnostik & Personal-
entwicklung (Hrsg.), Wien.

Sörensen, Kristine et al (2012): Health Literacy and public health: A systematic review and integration of
definitions and models. In: BMC Public Health 12/80, Spycher, Stefan (2006): Ökonomische Aspekte der
Gesundheitskompetenzen. Konzeptpapier. Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien im Auftrag des
Bundesamtes für Gesundheit, Bern.

Universität Wien (2020): Unterrichten unter Covid19 Bedingungen. Erste Ergebnisse einer Studie mit
Lehrer*innen. Factsheet. Online unter: https://lernencovid19.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/
p_­lernencovid19/Erstergebnisse_Lehrpersonen.pdf (letzter Zugriff 28.12.2020)

Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (2011): Gesundheitsförderung für Lehrerinnen und Lehrer.


Praxishandbuch, Wien.

WHO/Regionalbüro Europa (1993): Ressource Manual “The European Network of Health Promoting
School”, Kopenhagen.

WHO Europe (1986): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Weltgesundheitsorganisation, Genf.

34 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Zu den Autor*innen

Christian Scharinger, Dr., MSc, CAS, Gesundheitssoziologe und Historiker, Organisationsberater und
Coach, langjährige Praxis- und Leitungserfahrung in Profit- und Non-Profit-Bereichen, Management
und Projektleitung in nationalen und internationalen Gesundheitsförderungs-Projekten. National und
international tätiger Referent und Berater.

Lisa Gugglberger, Dr.in, Studium der Soziologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.
Expertin für Gesundheitsförderung an der Gesundheit Österreich GmbH, seit Jänner 2021 stellvertre-
tende Abteilungsleiterin der Abteilung Gesundheitskompetenz und Gesundheitsförderung, Lektorin am
Institut für Soziologie der Universität Wien.

35 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


3 Studienergebnisse zur Gesundheit von Lehrkräften aus Österreich und
Deutschland

Rosemarie Felder-Puig und Einleitung und Fragestellung


Robert Griebler

V
or ungefähr 15 Jahren erregte die Potsdamer Studie zur psychischen Gesund-
heit von Lehrerinnen und Lehrern im deutschsprachigen Raum große Auf-
merksamkeit.43 Sie beinhaltete Daten von ca. 16.000 deutschen Lehrkräften
und 2.500 Lehramtsstudentinnen und -studenten. Ziel der Studie war, die Belastungs-
situation von Lehrkräften und den dafür verantwortlichen Bedingungen zu analysie-
ren. Berühmt wurde die Studie u. a. wegen der aus den Daten abgeleiteten Typisierung
arbeitsbezogener Erlebens- und Verhaltensmuster bei Lehrerinnen und Lehrern:

• Muster G (für Gesundheit): Lehrkräfte mit diesem Muster zeichnen sich durch ein starkes,
jedoch nicht exzessives Engagement im Beruf aus, zeigen sich widerstandsfähig gegen-
über Belastungen und verfügen über ein generell positives Lebensgefühl.
• Muster S (für Schonung): Diese Lehrkräfte zeigen eine ausgeprägte Schonungstendenz
gegenüber beruflichen Belastungen. Charakteristisch ist ein geringes berufliches Enga-
gement bei wenig Auffälligkeiten in den übrigen Bereichen.
• Risikomuster A (für Anstrengung): Hier mündet eine hohe berufliche Anstrengung bei
teilweiser Selbstüberforderung nicht in ein positives Lebensgefühl. Diese Lehrkräfte sind
auch nicht sehr widerstandsfähig gegenüber Belastungen und zeigen vermehrt negative
Emotionen.
• Risikomuster B (für Burnout): Bei Lehrkräften mit diesem Muster sind permanentes Über-
forderungserleben, Erschöpfung und Resignation vorherrschend. Sie zeigen ein reduzier-
tes Arbeitsengagement und stark negative Emotionen.

Im Jahr 2005 ließen sich 30 % der untersuchten Lehrkräfte dem Risikomuster A zuordnen.
Das Risikomuster B war mit 29 % ebenso deutlich vertreten, während das erwünschte
Muster G eher selten zu beobachten war. Das von Schaarschmidt & Co entwickelte
Messverfahren AVEM44 wurde in der Folge zur Frühdiagnostik von gesundheitlichen
Risiken und zur Planung von Interventionen für Lehrkräfte verwendet.

Seitdem ist die Gesundheit von Lehrkräften immer wieder Thema in der bildungs-
politischen Diskussion. Es wurden im deutschsprachigen Raum in der Folge einige,

43  Schaarschmidt 2005


44  Schaarschmidt/Fischer 2003

36 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


allerdings meist nicht repräsentative Studien zur Gesundheit und berufsspezifischen
Belastung von Lehrerinnen und Lehrern durchgeführt.

Dieser Beitrag soll die Ergebnisse von neueren Studien zur Gesundheit von Lehrkräften aus
dem deutschsprachigen Raum in kompakter Kürze vorstellen und diskutieren.

Datenquellen

Es gibt bis dato keine neuere, für Österreich repräsentative Studie, in der die Gesund-
heit von Lehrkräften aus allen Bundesländern und allen Schultypen untersucht wurde.
Deshalb müssen wir uns hier auf eine Zusammenschau der Daten aus verschiedenen
kleineren, lokal begrenzten oder schultypspezifischen Erhebungen aus Österreich und
Deutschland beschränken.

Eine österreichweite Befragung von 3.753 Lehrkräften, die an Hauptschulen, all-


gemeinbildenden höheren Schulen, Polytechnischen Schulen, Berufsschulen oder
berufsbildenden mittleren und höheren Schulen unterrichteten, fand im Jahr 2010
statt.45 Dabei wurde den Lehrkräften ein Fragebogen vorgegeben, der Fragen zu ihrer
Gesundheit, ihrem gesundheitsrelevanten Verhalten und möglichen individuellen und
schulischen Gesundheitsdeterminanten enthielt.

Scheuch und Kolleginnen fassten die Ergebnisse verschiedener deutscher Studien aus
den Jahren 2007 bis 2013 zur Gesundheit von Lehrkräften zusammen und werteten im
Jahr 2015 Daten der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung zu Arbeitsfähigkeit,
Langzeiterkrankungen und Dienstunfähigkeit aus.46

Im Zuge der Evaluation des Wiener Netzwerks Gesundheitsfördernder Schulen


(WieNGS) wurde wiederholt eine Gesundheitsbefragung der Lehrkräfte durchgeführt,
zuletzt im Jahr 2017.47 Damals nahmen 730 Lehrkräfte aus 68 Wiener Schulen teil,
89 % davon waren weiblich, 54 % unterrichteten in Volksschulen und der Rest in allen
anderen Schultypen. Diese Ergebnisse konnten zum Teil mit den Daten einer 2012
stattfindenden Erhebung in WieNGS-Schulen48 verglichen werden.

Weitere Studien, die für diesen Artikel herangezogen wurden, sind der österreichische

45  Hofmann et al. 2011; Griebler 2017


46  Scheuch et al. 2015
47  Felder-Puig et al. 2017
48  Ramelow et al. 2012

37 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Fehlzeitenreport 201949 sowie eine deutsche50 und österreichische51 Befragung zum
Unterrichten in Zeiten von Covid-19.

Die Datenlage zur Gesundheit von österreichischen Lehrerinnen und Lehrern ist mangelhaft,
da keine regelmäßigen Erhebungen durchgeführt werden und aktuell nur schultypenspezi-
fische oder lokal begrenzte Ergebnisse vorliegen.

Ergebnisse
Körperliche Gesundheit

Eine negative Bewertung des eigenen Gesundheitszustands ist Studien zu Folge ein
sehr guter Indikator für das Vorliegen einer medizinisch diagnostizierten Erkrankung.
91 % der österreichischen Lehrkräfte aus der Befragung im Jahr 2010 gaben an, über
einen guten, sehr guten oder ausgezeichneten Gesundheitszustand zu verfügen. In
der österreichischen gleichaltrigen Gesamtbevölkerung betrug dieser Wert 84 %. Der
subjektive Gesundheitszustand verschlechtert sich bei Lehrkräften wie auch in der
Gesamtbevölkerung mit zunehmendem Alter.

In Bezug auf die Anzahl diagnostizierter Erkrankungen unterschieden sich österrei-


chische Lehrkräfte im Jahr 2010 nicht von der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung. Am
häufigsten, und zwar zu etwas mehr als einem Drittel, wurden muskuloskelettale Er-
krankungen angegeben, gefolgt von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und neurologischen
bzw. sensorischen Erkrankungen (z. B. Tinnitus, Migräne). Auch bei den deutschen
Lehrkräften gehörten muskuloskelettale und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – wie in
anderen Berufsgruppen – zu den häufigsten Diagnosen.

In der Befragung von Wiener Lehrkräften im Jahr 2017 zeigte sich ein sehr ähnliches
Ergebnis wie in der österreichischen Studie aus 2010: 90 % der Lehrerinnen und Lehrer
gaben an, über eine gute, sehr gute oder ausgezeichnete Gesundheit zu verfügen. Das
Ergebnis war unabhängig davon, in welchem Schultyp unterrichtet wurde, sondern
korrelierte stark mit dem Alter der Lehrkräfte.

In Bezug auf den körperlichen Gesundheitszustand und der Prävalenz von diagnostizierten
Erkrankungen unterscheiden sich Lehrerinnen und Lehrer kaum von der vergleichbaren
­Allgemeinbevölkerung.

49  Leoni 2019


50  Hansen et al. 2020
51  Spiel et al. 2021

38 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Krankenstand und Frühpensionierung

Gemäß aktuellem österreichischen Fehlzeitenreport betrug die Krankenstandsquote52


im Jahr 2019 bei Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer aus Erziehung und Kunst
2,7 % (2,9 % bei Frauen, 2,4 % bei Männern), während sie insgesamt 3,6 % ausmachte. Es
gibt allerdings Branchen, die noch höhere Quoten aufwiesen, wie z. B. das Gesundheits-
und Sozialwesen mit 4,2 % oder der Bereich der öffentlichen Verwaltung, Verteidigung
und Sozialversicherung mit 4,0 %.

Auch in Deutschland sind Lehrkräfte weniger oft im Krankenstand als die arbeitende
Allgemeinbevölkerung. Auch ist deren Anteil krankheitsbedingter Frühpensionie-
rungen kontinuierlich rückläufig, was natürlich auch durch gesetzliche Änderungen
mitbedingt ist. Hauptgründe für Frühpensionierungen sind bei deutschen Lehrerinnen
und Lehrern psychische und psychosomatische Erkrankungen.

In der österreichischen Studie aus dem Jahr 2010 berichteten 30–40 % der jungen
Lehrkräfte (bis 30 Jahre, mehr Frauen als Männer) und 43 % der Lehrkräfte ab 40
Jahren (ähnlich viele Frauen wie Männer), dass sie sich nicht sicher wären oder dass
es sogar unwahrscheinlich sei, dass sie bis zum gesetzlichen Pensionsantrittsalter den
Lehrberuf ausüben können.

In der Wiener Befragung aus dem Jahr 2017 waren sich 46 % der Volksschullehrkräfte
und 35 % der Lehrerinnen und Lehrer aus anderen Schultypen nicht sicher, ob sie es
im Lehrberuf bis zum Pensionsantrittsalter schaffen würden.

Entgegen anderslautender Befunde aus der Vergangenheit sind Lehrerinnen und Lehrer
nicht öfter im Krankenstand als andere Berufsgruppen und gehen auch nicht mehr früher in
die Pension. Allerdings hegen relativ viele Zweifel, ob sie bis zum gesetzlichen Pensionsan-
trittsalter arbeiten können.

Gesundheitsförderliches Verhalten

Unter den österreichischen Sekundarschullehrkräften befanden sich 2010 mehr Per-


sonen als in der vergleichbaren Allgemeinbevölkerung, die sich ausreichend bewegen,
nicht rauchen und normalgewichtig sind.

52  wird wie folgt berechnet: Anzahl Krankenstandstage dividiert durch Sollarbeitszeit mal 100

39 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Deutsche Lehrkräfte zeichneten sich im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung durch
ein gesundheitsförderlicheres Verhalten und geringer ausgeprägte kardiovaskuläre
Risikofaktoren, mit Ausnahme von Hypertonie, aus.

Auch die Wiener Lehrkräfte pflegten 2017 in Bezug auf Bewegung, Ernährung und
Rauchen mehrheitlich einen gesunden Lebensstil.

Im Vergleich zur berufstätigen Allgemeinbevölkerung zeichnen sich Lehrerinnen und Lehrer


durch einen gesünderen Lebensstil aus. Dies hängt mit ihrer höheren formalen Bildung und
einer vermutlich stärker ausgeprägten Gesundheitskompetenz zusammen.

Psychische Gesundheit

In Bezug auf ihre Lebenszufriedenheit befanden sich österreichische Lehrkräfte im


Jahr 2010 mit einem Durchschnittswert von 7,26 bei einer möglichen Spannweite von
0 (gar nicht zufrieden) bis 10 (sehr zufrieden) auf ungefähr demselben Niveau wie die
österreichische Gesamtbevölkerung.

Wiener Lehrkräfte stuften im Jahr 2017 ihre Lebenszufriedenheit im Schnitt mit 6,56
ein, was deutlich schlechter ist, als in der vorangegangenen Wiener Befragung im Jahr
2012 und der Befragung der Sekundarschullehrkräfte im Jahr 2010 (siehe Tabelle 1).
Weder Geschlecht, Alter noch der Schultyp, in dem unterrichtet wird, hingen im Jahr
2017 mit der Lebenszufriedenheit der Wiener Lehrkräfte zusammen.

durchschnittliche
Gruppe Schultypen Erhebungsjahr
Lebenszufriedenheit

Sekundarschulen
Österreichische Lehrkräfte 2010 7,26
ohne ­Sonderschulen

Wiener Lehrkräfte Alle 2012 7,36

Wiener Lehrkräfte Alle 2017 6,56

Österreichische Gesamt- 7,10 – 8,10


2010-2017
bevölkerung (je nach Erhebungsjahr)

Tabelle 1: Wie zufrieden verschiedene Gruppen mit ihrem Leben waren; dargestellt sind Mittelwerte mit einer möglichen Spannbreite von 0 (gar
nicht zufrieden) bis 10 (sehr zufrieden)

33 % der österreichischen Lehrkräfte klagten im Jahr 2010 über regelmäßige Er-


schöpfungszustände. Bei jeweils knapp über 10 % traten regelmäßig Schlafprobleme,
Nervosität, Antriebslosigkeit oder Gereiztheit auf.

40 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Bei deutschen Lehrkräften kamen in verschiedenen Studien psychische und psycho-
somatische Erkrankungen häufiger vor als in anderen Berufen, ebenso unspezifische
Beschwerden wie Erschöpfung, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Angespanntheit, Schlaf-
und Konzentrationsprobleme, innere Unruhe oder erhöhte Reizbarkeit. Ebenso zeigte
sich bei Lehrerinnen und Lehrern im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt eine
erhöhte Befundhäufigkeit psychischer Erkrankungen.

In der Wiener Studie aus 2017 berichteten 49 % der Lehrkräfte über regelmäßige Er-
schöpfungszustände, 27 % über Angespanntheit und 22 % über Schlafprobleme.

Hohe emotionale Erschöpfung, gemessen mit dem etablierten „Maslach Burnout


Inventory“, stellt (noch) keine klinische Diagnose dar, weist aber auf eine Burnout-
Gefährdung hin. Im Jahr 2010 zeigte sich ein Viertel der österreichischen Sekundar-
schullehrkräfte hoch emotional erschöpft. Eine österreichweite Erhebung aus dem
Jahr 2008 mit Menschen in Sozial- und Gesundheitsberufen ergab einen ähnlich hohen
Anteil an hoch emotional Erschöpften, nämlich 29 %.53

Deutsche Ergebnisse zur Burnout-Gefährdung von Lehrkräften schwankten zwischen


einem Viertel und einem Drittel an hoch emotional Erschöpften. Dem deutschen
Stressreport zu Folge lag in der Branche „Unterricht und Erziehung“ die relative An-
zahl an körperlich und emotional Erschöpften bei 22 % (was im Branchenvergleich
dem zweithöchsten Wert entsprach), während sie in der Allgemeinbevölkerung 13 %
für Männer und 20 % für Frauen betrug.

Fast die Hälfte der Wiener Lehrkräfte wies im Jahr 2017 einen hohen Grad an emotio-
naler Erschöpfung auf. Das ist ein wesentlich schlechteres Ergebnis als bei der Wiener
Befragung im Jahr 2012, in der sich 28 % der Lehrkräfte als hoch emotional erschöpft
zeigten. Es konnte jedoch – nicht so wie bei der Erhebung mit Sekundarschulkräften
im Jahr 2010, wo ältere Lehrerinnen und Lehrer emotional erschöpfter waren als
jüngere – kein Zusammenhang mit dem Alter der Lehrkräfte und auch nicht mit dem
Schultyp, an dem unterrichtet wird, festgestellt werden.

Die an sich relativ guten Werte zur körperlichen Gesundheit und zum Gesundheitsverhalten
werden durch schlechtere Werte bei der psychischen Gesundheit der Lehrkräfte relativiert.
Dies ist auf die besondere Rollen- und Beziehungsvielfalt des Lehrberufs, die hohe kommu-
nikative und soziale Fähigkeiten erforderlich macht, zurückzuführen.

53  Scherz/Laburda 2008

41 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Berufsassoziierte Ressourcen und Belastungen

In der österreichischen Studie aus dem Jahr 2010 zeigten sich folgende Faktoren als
besonders günstig für die psychosoziale Gesundheit der Sekundarschullehrkräfte:

• eine hohe Selbstwirksamkeit und Distanzierungsfähigkeit;


• eine „transformative“ Schulleitung (innovativ, fürsorglich, strukturiert, ermutigend, …);
• gute persönliche Beziehungen im Kollegium;
• Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht konzentriert und aufmerksam sind, sich aktiv
beteiligen und sich diszipliniert verhalten;
• eine gute Work-Life-Balance.

Als berufsassoziierte Belastungsfaktoren deutscher Lehrkräfte wurden in verschiede-


nen Studien genannt:

• Zeitdruck,
• Schullärm,
• zu große Klassen,
• Probleme mit den Schulbehörden und mangelnde Autonomie,
• Leistungsschwächen, Verhaltensauffälligkeiten und mangelnde Motivation von Schüle-
rinnen und Schülern,
• Problemverhalten von Eltern und
• geringes gesellschaftliches Ansehen des Lehrberufs.

In der Wiener Studie aus 2017 zeigten folgende Faktoren die höchsten Zusammen-
hänge mit einer eingeschränkten psychischen Gesundheit:

• Überforderung im Lehrberuf,
• sehr hohes Arbeitsengagement,
• undiszipliniertes Verhalten der Schülerinnen und Schüler,
• Unzufriedenheit mit der Reputation des Lehrberufs in Österreich.

Die in Studien erhobenen Ressourcen und Belastungsfaktoren legen nahe, warum


gerade die psychische Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer durch ihre berufliche
Tätigkeit beeinträchtigt werden kann. Das Verhalten von Schülerinnen und Schülern
als auch die Beziehungen zur Schulleitung und zu den Kolleginnen und Kollegen sind
zugleich Ressource als auch Belastung im Lehrberuf.

42 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Psychische Gesundheit der Lehrkräfte in Zeiten von Covid-19

Eine im Oktober 2020 erfolgte Online-Befragung von 2.300 deutschen Lehrkräften


verschiedener Schultypen zeigte eine massive Belastung der Lehrerinnen und Lehrer
durch die anhaltende Corona-Krise. 90 % gaben an, dass der Schulunterricht im Ver-
gleich zum Vorjahr deutlich anstrengender geworden sei. Um die eigene Gesundheit
machten sich 65 % große Sorgen. Acht von 10 Lehrkräften belastete die Unsicherheit
der kommenden Monate. 84 % hatten das Gefühl, im Schuljahr 2020/21 mehr zu arbei-
ten als in den Jahren zuvor.

Laut einer nicht-repräsentativen Befragung von 1.759 Lehrerinnen und Lehrern aller
Schultypen aus ganz Österreich zu den Bedingungen des Unterrichts während der
Covid-19-Pandemie im Mai 2020, also am Ende des 1. Schul-Lockdowns, fühlten sich
die meisten Lehrkräfte wohl dabei, von zu Hause aus zu unterrichten. Es zeigte sich
jedoch ein deutlicher Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und Arbeitsüberforde-
rung: Je eher sich die Lehrkräfte unter Zeitdruck fühlten und sie ihre Verantwortung
belastete, desto niedriger war auch ihr allgemeines Wohlbefinden.

Die Covid-19-Pandemie hat neue, zusätzliche Herausforderungen für Lehrerinnen und


­Lehrer gebracht, die die Belastung verändert, aber nicht unbedingt reduziert hat.

Fazit

Wie aus vielen anderen Befunden und Berichten zur Gesundheit von Lehrerinnen
und Lehrern bekannt, zeigen auch die hier präsentierten Daten, dass der Lehrberuf ein
psychosozial überdurchschnittlich anstrengender Beruf ist. Zudem stehen Lehrkräfte
heute mit ihrer Tätigkeit und der damit verbundenen Verantwortung für die Entwick-
lung und den Erfolg ihrer Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt zahlreicher, oft
auch öffentlich ausgetragener Diskussionen.

Was die Lehrerinnen und Lehrer selbst für sich sowie die Schulleitungen für sie tun
können, ist beispielhaft in Tabelle 2 dargestellt oder kann in ausführlicheren Broschü-
ren und Leitfäden nachgelesen werden.54

54  Schuch 2016

43 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


auf individueller Ebene durch Schulleitung

Korrektur unrealistischer/ Aufarbeitung enttäuschter Normen, Regeln, Rituale


überhöhter Ansprüche Erwartungen ­miteinander durchsetzen

Nein-Sagen lernen Trennung von Freizeit und Wertschätzung und Rückhalt


Beruf geben

individuelle Arbeits­ Stressmanagement-­ Kommunikation und Ko-


organisation verändern Training absolvieren operation auf allen Ebenen
fördern

Entspannungsmethoden Fortbildungen Konflikt­ Materialienaustausch ermög-


lernen bewältigung lichen

Fortbildungen Fortbildungen Fortbildungen ermöglichen


­Kommunikation ­Problemlösung

sich mit Kolleg*innen an Supervision teilnehmen Unterstützung in der


­austauschen ­Elternarbeit

Tabelle 2: Mögliche Maßnahmen zur Stärkung der psychosozialen Gesundheit von Lehrkräften

Dazu gehören auch Maßnahmen, die nicht in der alleinigen Entscheidungsmacht der
Schulleitungen stehen, sondern vom Schulerhalter oder einer anderen Schulbehörde
organisiert bzw. finanziert werden müssten: mehr administratives und/oder psycho-
soziales Unterstützungspersonal, Ruhezonen für Lehrkräfte, bessere Schallisolierung
oder weniger Vorschriften und Bürokratie.

Unterstützung können auch die Sozialversicherungen bieten55 , allerdings ist darauf


zu achten, dass es dabei nicht nur hauptsächlich um ein „Wie setzt man ein Projekt
um?“ oder um Ernährung und Bewegung geht, sondern das angeboten wird, wofür die
Lehrkräfte am meisten Hilfe und Begleitung benötigen.

55  Scharinger et al. 2020; BVAEB 2020

44 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Literatur

BVAEB (2020): Gesunder Arbeitsplatz Schule. Das BVAEB-Netzwerk. www.bvaeb.at (letzter Zugriff Juni
2021)

Felder-Puig, Rosemarie et al. (2017): Ergebnisse der WieNGS Lehrer*innen-Befragung 2017. IfGP. Wien.

Griebler, Robert (2017): Schule und Gesundheit: Eine Studie zu den schulischen Determinanten der
Lehrergesundheit. Dissertation an der Universität Wien.

Hansen, Julia et al. (2020): Stimmungsbild: Lehrergesundheit in der Corona-Pandemie. IFT-Nord. Kiel.

Hofmann, Felix et al. (2012): Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Österreichs Lehrer*innen.
­Ergebnisse der Lehrer*innenbefragung 2010. Ludwig Boltzmann Institut - HPR, Wien.

Leoni, Thomas (2019): Fehlzeitenreport 2019. Krankheits- und unfallsbedingte Fehlzeiten in Österreich.
WIFO, Wien.

Ramelow, Daniela et al. (2017): Ergebnisse der WieNGS-Lehrer*innen-Befragung 2012. Ludwig


­Boltzmann Institut - HPR, Wien.

Schaarschmidt, Uwe/ Fischer, Andreas W. (2003): AVEM – Arbeitsbezogenes Verhaltens- und


­Erlebensmuster. Handanweisung. Swets & Zeitlinger, Frankfurt. 2. Auflage.

Schaarschmidt, Uwe – Hrsg. (2005): Halbtagsjobber? Psychische Gesundheit im Lehrerberuf –


Analyse eines veränderungsbedürftigen Zustands. Beltz, Weinheim/Basel.

Scharinger, Christian (2020): Gesundheitsförderung für Lehrerinnen und Lehrer. DV-SV, Wien.

Scherz, Eva/ Laburda, Angelika S. (2008): Burnout im Gesundheits- und Sozialbereich. GPA, Wien.

Schuch, Sonja (2018): Lehrer*innen-Gesundheit. GIVE-Servicestelle, Wien.

Spiel, Christiane. et al. (2021): Unterrichten unter Covid19-Bedingungen. Erste Ergebnisse einer Studie
mit Lehrer*innen. Erstergebnisse_Lehrpersonen.pdf (univie.ac.at) (letzter Zugriff 4.2.2021)

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. – Hrsg. (2014): Psychische Belastungen und Burnout beim
Bildungspersonal. Waxmann Verlag, Münster.

45 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Zu den Autor*innen

Rosemarie Felder-Puig, Dr.in, MSc ist Psychologin und seit den 1990er Jahren als Gesundheitswissen-
schaftlerin tätig. Ihre Spezialgebiete sind die Erhebung von gesundheitsrelevanten Daten spezifischer
Bevölkerungsgruppen und die Bewertung von Maßnahmen auf Basis von Primär- und Sekundärdaten im
Gesundheits- und Bildungsbereich.

Robert Griebler, Dr., ist Gesundheitssoziologe und seit 2012 in der Gesundheit Österreich GmbH be-
schäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Public Health und Strategie Monitoring, Soziale Determinan-
ten der Gesundheit, Messung von Gesundheitskompetenz, Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und
Lehrpersonen.

46 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


4 Krise und Burnout im Kontext der Schule

D
Thomas Kapitany, as Leben hält so manche Herausforderung bereit. Ob Berufswechsel, Mob-
Thomas ­Niederkrotenthaler bing, das Ende einer Beziehung, der plötzliche Verlust von Angehörigen
und Laurin Koblicha-Rathausky oder für viele Menschen auch Gewalterfahrungen oder Naturkatastrophen.
Und auch wenn man selbst noch keine einzige dieser Situationen durchleben musste,
so hatte man sicher mit anderen schwierigen Situationen zu kämpfen, war mit dem
Gefühl konfrontiert, nicht mit allem fertig werden zu können.

Aktuell stellt die Covid-19-Pandemie eine besondere Situation dar, die uns in vielerlei
Hinsicht einiges abverlangt und unsere Kapazitäten auf eine harte Probe stellt. Rea-
ler und potenzieller Verlust von Angehörigen durch die Erkrankung, Einschränkung
sozialer Kontakte, Furcht um die Existenz, Sorgen um die eigene Gesundheit und um
jene von anderen, Ausgangsbeschränkungen, Isolation, Einsamkeit und konstanter
Stress, hervorgerufen durch eine Flut an Informationen über einen andauernden
Ausnahmezustand verbinden sich zu mehrfacher Belastung und machen uns allen das
Leben um ein Vielfaches schwerer.

Coping – das Bewältigen von Belastungen

Wenn es darum geht, mit der derzeitigen Pandemie oder anderen belastenden Situa-
tionen zurechtzukommen, sind Coping-Strategien wichtige Werkzeuge unserer Psy-
che. Coping bedeutet so viel wie „bewältigen“ und beschreibt im Grunde genommen
Strategien und Handlungen, die zum Ziel haben, psychologische, physiologische oder
emotionale Last zu reduzieren. Es geht also darum, einen Belastungszustand aufzulösen
oder bei einem bestehenden Problem Abhilfe zu schaffen und in jedem Fall Handlungs-
fähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen. Die Psychologie sieht Coping als jene
Prozesse, die es uns ermöglichen, mit den alltäglichen und den nicht so alltäglichen
Herausforderungen des Lebens fertig zu werden, ganz unabhängig davon, ob diese
intern oder extern ablaufen.56 Wenn die eine Person sich eine sich eine To-Do-Liste
schreibt, um mit dem Start in ein neues Schuljahr gut zurechtzukommen, so wird die
andere stattdessen versuchen, Kraft bei ihren Freunden zu tanken, während wieder
eine andere sich für eine Weiterbildung anmeldet, bei der sie hofft, neue Fertigkeiten
zu lernen, die ihr helfen sollen, den Schulalltag besser zu meistern.

56  Snyder 1999

47 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Coping-Strategien sind so vielseitig wie die Personen, die sie anwenden. Trotzdem
können sie grob in zwei Kategorien unterteilt werden. Emotionsorientiertes Coping
beschreibt jene Formen, bei denen Personen versuchen, anstrengende Emotionen zu
regulieren und problemorientiertes Coping, welches darin besteht, das dem Stress
zugrundeliegende Problem zu lösen. Dem emotionsorientierten Coping gehören zum
Beispiel Wunschvorstellungen (sich zu wünschen, die Situation wäre anders), Soziale
Unterstützung suchen oder Um Rat fragen an. Während es sich bei problemorientiertem
Coping eben um jede Art von Reaktion handelt, deren Ziel es ist, den Stressor aus der
Welt zu schaffen.

Doch was geschieht, wenn die Last einfach zu groß ist? Wenn die eigenen Ressourcen
nicht mehr ausreichen? Wenn plötzlich jene Struktur zusammenbricht, die einem
zuvor Stabilität gegeben hat? Wenn wir so großem Stress ausgesetzt sind, dass auch
bewährte Coping-Strategien versagen? In diesem Fall sprechen wir vom Anfang einer
psychischen Krise.

Psychosoziale Krisen

Krisen werden beschrieben als das Resultat eines stressreichen Lebensereignisses,


das die Fähigkeit, dieses zu bewältigen, im Moment übersteigt. Als Krise gilt genauer
gesagt also eine Reaktion auf ein Ereignis, bei der die Psyche aus dem Gleichgewicht
gerät, die normalerweise funktionstüchtigen Coping-Strategien nicht greifen und der
resultierende Stress in einer gewissen Beeinträchtigung mündet 57, oder, wie Sonneck
es definiert, es sich um den Verlust des psychischen Gleichgewichts aufgrund einer
Überforderung der momentan zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien und
Ressourcen durch eine äußere Belastung handelt58 .

57  Flannery & Everly 2000


58  Sonneck et al. 2000, S. 32

48 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Abb. 1: Krise

Die gängigen Kategorien an kritischen Ereignissen, welche Auslöser einer Krise sein
können, sollen im Folgenden dargelegt werden. Der Verlust körperlicher Integrität,
wichtiger Beziehungen oder persönlicher Integrität gehört zu den am häufigsten
beschriebenen Ursachen für Krisen. Zu dieser Kategorie zählen Ereignisse wie Ge-
walttaten, sexueller Missbrauch, schwere Krankheitsdiagnosen, Verlust von engen
Bekannten und Familienmitgliedern, aber auch Scheidung, Mobbing etc.

Eine weitere Kategorie ist jene der Veränderungen des sozialen Status. Ein klassisches
Beispiel hierfür ist natürlich der Jobverlust, aber z. B. auch unverhoffte Schwanger-
schaften können unter diesem Banner zusammengefasst werden. Abschließend sind
noch Naturkatastrophen und, vielleicht nicht so intuitiv wie die bisher genannten
Kategorien, normale Reifungs- und Alterungsprozesse (z. B. Pubertät) zu nennen.59

Da normale Reifungsprozesse oder Lebensveränderungen nicht den gleichen Charakter


wie die anderen beschriebenen Krisenauslöser haben, ist die Unterscheidung zweierlei
Arten von Krisen wichtig. Die sogenannte „Traumatische Krise“ oder auch Verlust-
krise hat als Auslöser meist ein, dem Namen entsprechendes, plötzliches, unvorher-
gesehenes Ereignis. Wohingegen „Veränderungskrisen“ dadurch entstehen, dass eine
bevorstehende oder bereits erlebte Veränderung trotz längeren Bemühens nicht in das
Leben integriert werden kann. Die beiden Arten unterscheiden sich sowohl in ihren

59  Coleman et al. 2004

49 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


möglichen Auslösern als auch in ihrem Verlauf. Bei der traumatischen Krise folgt die
krisenhafte Reaktionsphase direkt nach dem akuten Schock während Veränderungs-
krisen sich langsamer entwickeln.60

Bricht das Coping-System im Angesicht eines krisenhaften Ereignisses zusammen,


kommt es zum Entstehen von Beeinträchtigung und von Symptomen. Darunter fin-
den sich Nervosität und Ängstlichkeit, Gefühle der Trauer, der Niedergeschlagenheit,
aber auch Ärger und Wut, Schlafstörungen, wiederkehrende unangenehme Gedanken,
Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und den Alltag zu bewältigen sowie die Tendenz,
sich aus dem alltäglichen Leben zurückzuziehen.61

Die Gefahren in einer Krise bestehen darin, dass es zum Gefühl der Ausweglosigkeit
kommen kann, wenn Probleme nicht lösbar erscheinen, und dass sich Gefühle der
Sinnlosigkeit und des Lebensüberdrusses entwickeln. Wenn aufgrund des steigenden
Drucks in einer psychosozialen Krisensituation die Verzweiflung und Hoffnungslosig-
keit immer weiter zunimmt, so kann es auch dazu kommen, dass Suizid als einziger
Ausweg angesehen wird.

Ebenso kann es aber auch zur Aggression gegen andere kommen. Gerade in Beziehungs-
konflikten und bei Trennungen kann das zum Entstehen von Gewalthandlungen füh-
ren. Femizide als Resultat davon sind hier als besonders tragisches Beispiel zu nennen.

Hier wird also deutlich, welch ernsthafte Gefahr in einer Krise entstehen kann und
wie entscheidend es dann ist, dass eine betroffene Person rechtzeitig Hilfe sucht und
Unterstützung und Krisenintervention erhält. Auch als Angehörige*r, Freund*in oder
Kolleg*in ist es wichtig, sich nicht zu scheuen, auf ein Gespräch über bedrohliche Ge-
danken, wie z. B. an Suizid, einzugehen. Oft wird dadurch erst die Chance eröffnet, dass
jemand dann auch professionelle Hilfe sucht. Und das Gespräch über die bedrohlichen
Gedanken kann schon eine erste Entlastung bringen.

Gefahr birgt auch eine potenzielle Chronifizierung des Krisenzustandes. Diese kann
dann eintreten, wenn für die Bewältigung von Krisen schädigende Strategien, wie
Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder Rückzug aus sozialen Beziehungen, eingesetzt
werden. Die Folge können die Entstehung von chronischer Erkrankung, psychischer
Krankheit und Abhängigkeitsentwicklungen sein. Ebenso kommt es zu Chronifizie-
rungen, wenn soziale Notlagen nicht aufgelöst werden können.62

60  Sonneck et al. 2000, S. 33f


61  Flannery & Everly
62  Sonneck et al. 2000, S. 38

50 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Traumatische Erlebnisse und Lebensveränderung müssen nicht zwingend zu manifesten
Krisen führen. Daher ist es wichtig zu verstehen, warum und wie sich eine Krise ent-
wickelt. Bewältigungsstrategien, wie schon ausgeführt, wie die Erfahrung im Umgang
mit Stress, guter sozialer Rückhalt, die Fähigkeit, um Rat zu fragen oder zu wissen,
wie man am besten die eigenen emotionalen Ressourcen aufladen kann, tragen dazu
bei mit Krisen gut umgehen zu können.

Umgekehrt führen ein hoher Stresslevel im Berufs- und Privatleben, Krankheiten und
fehlende Bewältigungsstrategien dazu, anfälliger für eine psychische Krise zu werden.
Um das Phänomen der Krise zu verstehen, ist es von zentraler Wichtigkeit, dass die
subjektive Bedeutung eines potenziellen Krisenanlasses für die*den Einzelnen ein ent-
scheidender Faktor ist. Darunter versteht man die innere Bedeutung und Bewertung
des Ereignisses.63 Sonneck bringt hier zum besseren Verständnis ein Fallbespiel, bei
dem das Kennenlernen eines jungen Mannes für eine 23-jährige Frau einen Krisen-
anlass darstellt. Sie nimmt ihre neue Verliebtheit als Versagen wahr, weil sie meint,
sie würde ihren derzeitigen Freund verraten. Ein solches Beispiel illustriert sehr gut
die Subjektivität von Krisenanlässen und dass auch Ereignisse, die viele als positiv
einschätzen würden (bspw. sich verlieben), zu einer psychosozialen Krise führen
können.64 Abgesehen von dem Aspekt der Subjektivität bei der Entstehung und dem
Verlauf von Krisen spielen auch die Reaktionen der Umwelt eine erhebliche Rolle.65
Als Risikofaktor nicht zu vernachlässigen sind zudem frühere unbewältigte Krisen,
die die Bewältigung eines ähnlichen Krisenanlasses besonders erschweren können,
weil alte Verletzungen und Kränkungen reaktiviert werden.66

Burnout

Im Gegensatz zu der relativ plötzlichen Überwältigung unserer Ressourcen, die beim


Eintritt einer Verlustkrise stattfindet, stellen Burnout-Entwicklungen eine andere
Gefahr für unser Wohlbefinden dar. Burnout ist von besonderem Interesse für eine
Auseinandersetzung mit den psychischen Risiken und Problemen im Zusammenhang
mit Arbeit und Beruf. Es soll daher erörtert werden, wie Burnout spezifisch im Kontext
der Schule und des Lehrberufes wirkt. Der Begriff Burnout kann übersetzt werden
als „Ausbrennen“ oder „Ausgebrannt-sein“ und wurde in der Psychologie erstmals von
Herbert J. Freudenberger verwendet. Er beschreibt Burnout in seinem Artikel von

63  Sonneck et al. 2000, S. 18


64  Sonneck et al. 2000, S. 37f
65  Ebd., S. 18
66  Stein 2020, S. 31

51 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


1974 getitelt „Staff Burn-Out“ („Mitarbeiter-Burnout“) als ein Berufsrisiko. Seine Be-
obachtungen stammen zu einem großen Teil aus dem Kontext von sogenannten „Free
Clinics“. Das sind Gesundheitszentren in den USA, die medizinische und psychologische
Versorgung für sozial benachteiligte Menschen anbieten, mit einem großen Anteil an
ehrenamtlichen Mitarbeitern.

Freudenberger beschreibt Burnout als das Resultat von exzessiver Beanspruchung


von Energie und Ressourcen. Was folgt sind psychosomatische Beschwerden wie
Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen, Anfälligkeit für Krankheiten und so weiter.
Außerdem beobachtete er eine reduzierte Leistungsfähigkeit der Betroffenen, bis hin
zu totaler Erschöpfung.67 So konnten drei zentrale Bestandteile identifiziert werden,
die das Krankheitsbild kennzeichnen. Erschöpfung beschreibt das Gefühl emotional
ausgelaugt zu sein. Depersonalisierung spielt besonders bei Personen in Sozialberufen
eine besondere Rolle, denn hierbei handelt es sich um eine Tendenz zur Gleichgültig-
keit und Unempfindlichkeit gegenüber anderen Menschen. Der letzte Bestandteil ist
jener von reduzierter persönlicher Leistung.68

Um sich einen Überblick über den Verlauf von Burnout zu machen, haben Freuden-
berger und North (1992) ein 12-Phasen Modell beschrieben (siehe Abbildung 2). Es teilt
Burnout in 12 Stadien ein, die jeweils von bestimmten Symptomen oder Tendenzen
gekennzeichnet sind:

Stadium 1: Zwang sich zu beweisen – Dieses erste Stadium ist geprägt von erhöhtem
Ehrgeiz einerseits und starkem Perfektionismus, der es Betroffenen fast unmöglich
macht, sich eine Pause zu gönnen, andererseits.

Stadium 2: Verstärker Einsatz – Besteht als Fortsetzung der ersten Phase darin, Auf-
gaben hauptsächlich selbst erledigen zu wollen und Schwierigkeiten damit zu haben,
Arbeit an Kollegen und Kolleginnen abzugeben.

Stadium 3: Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse – Die große, mitunter selbst-


auferlegte Arbeitslast oder auch schlechte Arbeitsverhältnisse werden als normal be-
wertet. Einige Betroffene beschreiben den Zustand sogar als angenehm. Bedürfnisse
nach sozialem Kontakt und Beziehungen werden vernachlässigt.

Stadium 4: Verdrängung von Konflikten und Bedürfnissen – Konflikte mit Arbeits-


kolleginnen und Kollegen werden nicht wahrgenommen. Auch Spannungen und Streit

67  Freudenberger 1974


68  Maslach 1993

52 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


mit Partner*innen und Freund*innen werden verdrängt. In dieser Phase stellen sich
oftmals auch erste physiologische Beschwerden wie Schlafmangel, Kopfschmerzen
oder Ähnliches ein.

Stadium 5: Umdeutung von Werten – Abstumpfung und Veränderung der Wahr-


nehmung treten ein und Beziehungen oder anderes, was einem zuvor wichtig war,
verschwinden hinter der Arbeit, die im Vordergrund steht.

Stadium 6: Problemverleugnung – Betroffene verfallen immer mehr dem Zynismus


und der Verbitterung. Auch nach außen hin zeigen sich nun Verhaltensweisen wie
Ungeduld oder auch erhöhte Aggressivität.

Stadium 7: Rückzug – Das soziale Leben wird als Belastung erlebt und der eigene Zu-
stand als hoffnungslos angesehen. Die Leistung an der Arbeitsstelle ist in dieser Phase
schon sehr stark abgesunken.

Stadium 8: Verhaltensänderung – Personen in dieser Phase empfinden jegliche Arbeits-


anforderung als Belastung. Ihr Verhalten ist zunehmend von Apathie geprägt und auch
paranoide Verarbeitung und Erleben können auftreten.

Stadium 9: Depersonalisation – Dieses Stadium wird am besten beschrieben durch


das Gefühl eine Maschine zu sein, die funktionieren muss. Das Leben wird als sinnlos
angesehen und eigene Bedürfnisse können kaum noch erkannt und wahrgenommen
werden.

Stadium 10: Innere Leere – Mutlosigkeit, Leere, Nutzlosigkeit, Angst und Panik prä-
gen die Gefühlslandschaft von Betroffenen in dieser Phase. Oft wird jetzt auch auf
ungesunde Verhaltensweisen wie Alkohol oder Drogenkonsum zurückgegriffen, um
die Leere zu füllen.

Stadium 11: Depression – Es stellen sich Symptome von schwerer Depression ein.
Darunter fallen das Gefühl von Aussichtslosigkeit und Erschöpfung bis hin zu Selbst-
hass und Suizidgedanken.

Stadium 12: Völlige Erschöpfung – Der Eintritt dieser Phase bedeutet den körper-
lichen, psychischen und emotionalen Zusammenbruch der Betroffenen.

53 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Abb. 2: 12-Phasen-Modell des Burnout-Syndroms nach Freudenberger, H. & North, G. (1992)

Mithilfe eines solchen Modells ist es um einiges leichter, Burnout-Erkrankungen in


früheren Stadien zu erkennen und schnell zu handeln. Um es allerdings gar nicht so
weit kommen zu lassen, ist es wichtig zu verstehen, wie Burnout entsteht.

Erste Trends zeigten sich schon zu Beginn der Forschung auf diesem Gebiet bei Freu-
denberger selbst in seinem ersten Artikel zu Burnout, in dem er sich hauptsächlich
auf seine Erfahrungen und Beobachtungen in einer „Free Clinic“ mit den Heraus-
forderungen eines Sozialberufs bezieht. Bis heute finden sich besonders Berufe mit
starkem sozialem Kontakt im Fokus der Burnout Forschung. Von Krankenpflege über
Sozialarbeit und dem psychosozialen Tätigkeitsbereich bis hin zum Lehrberuf finden
sich immer wieder Anzeichen dafür, dass Personen, die in einem solchen Feld tätig sind,
besonderen Stressoren ausgesetzt sind, die zur Entstehung von Burnout beitragen.69

Bei den Untersuchungen, welche Faktoren zu Burnout führen, wird klar, dass es sich
immer um eine Konstellation aus verschiedenen Aspekten handelt. Zu diesen gehö-
ren meist ein hohes Arbeitspensum, häufig schlechte Arbeitsbedingungen und unter

69  Freudenberger 1974

54 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


­ mständen schlechte Beziehungen zu Kolleg*innen. Aber auch Persönlichkeitsfaktoren
U
spielen eine Rolle. So kann es sein, dass – während eine Person an einer beruflichen
Aufgabe zerbricht – die andere genau die gleiche Aufgabe als Herausforderung und
Möglichkeit sieht und meistern kann. Dies zeigt sich auch darin, dass allein ein größeres
Ausmaß an Arbeitszeit nicht direkt mit höheren Burnout-Raten zusammenhängt. Wäre
dies der Fall, so müsste man erwarten, dass Vollzeitangestellte ein höheres Risiko hätten
als Teilzeitarbeitnehmer*innen. Untersuchungen indizieren hingegen für zweitere
eine höhere Burnout-Prävalenz. Im Lehrberuf ist eine emotionale Erschöpfung oft
das Resultat von emotional anstrengenden Interaktionen mit Schüler*innen, die bei
vielen Lehrer*innen zum Berufsalltag gehören. Die vielseitigen Herausforderungen
im Lehrberuf tragen dazu bei, dass es zu einer hohen Prävalenz von Burnout (ca. 30
%) in der Lehrer*innenschaft kommt.

Burnout und Krisen im Lehrberuf

Die mentale Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern ist nicht nur für diese selbst
von höchster Bedeutung. Sie beeinflusst sowohl die Leistungsfähigkeit des Bildungs-
systems auf einer Makroebene als auch die Lernerfolge bei den Schüler*innen und hat
sogar Auswirkungen auf deren psychische Gesundheit.

Herausforderungen des Lehrberufs

Lehrer*innen beschreiben ihren Beruf oft als erfüllend. Viele haben es sich schon vor langer
Zeit zum Ziel gesetzt Lehrer*in zu werden. Zugleich zeigt sich jedoch, dass der Lehrberuf
besonders vulnerabel für Burnout und andere psychische Belastung zu sein scheint.

Zunehmende Bürokratisierung und standardisierte Tests, die in der Umsetzung oft


nicht einfach sind, steigende Klassengrößen, Probleme mit Vorgesetzten, wenn deren
Führungsstil wenig respektvoll und anerkennend ist, Mobbing am Arbeitsplatz sowie
fehlende Teamkultur sind nur einige der vielen möglichen Risikofaktoren, denen
Lehrer*innen ausgesetzt sind.

Von besonderem Interesse sind auch steigende Anforderungen, wenn es um die emotio-
nale und psychische Unterstützung von Schüler*innen geht. Kinder und Jugendliche,
die als Flüchtlinge oder Einwanderer nach Europa kommen und oft aus Kriegsgebie-
ten oder wirtschaftlicher Aussichtlosigkeit flüchten, bedürfen zum Beispiel erhöhter
Aufmerksamkeit aufgrund von auftretenden Sprachbarrieren. Aber auch auf der emo-
tionalen und psychologischen Ebene können die oft traumatischen Erlebnisse dieser
Schüler*innen Herausforderungen für die Lehrerschaft darstellen und auch Sekundär-

55 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


traumatisierungen bei den Lehrer*innen sind möglich.70 71 Sekundäre oder indirekte
Traumata bezeichnen jene Belastungen, die bei Betreuer*innen durch traumatisierte
Personen und die Auseinandersetzung mit ihrem Trauma entstehen können. Diese Art
von Trauma kann sich ähnlich wie das klassische Trauma mit Albträumen, intrusiven
Gedanken oder Depression bemerkbar machen und besitzt ein hohes Chronifizie-
rungsrisiko. Hier zeigt sich wieder, wie wichtig es für Angehörige sozialer Berufe ist,
selbst die Möglichkeit zu haben, über das, womit sie im Beruf konfrontiert sind, zu
reflektieren und Unterstützung bei der Verarbeitung dabei zu bekommen. Genannt
seien hier Supervision, Balint-Arbeit und Coaching.

Mobbing unter Schüler*innen ist ein bereits vielfach diskutiertes Problem. Viel zu
wenig untersucht sind allerdings Formen von Mobbing, die Lehrer*innen betreffen.
Wie an jedem Arbeitsplatz kann es auch in der Schule dazu kommen, dass es unter
Arbeitskolleg*innen zu Mobbing kommt. Allerdings gibt es jüngst auch Studien zum
Thema Schüler*innen-zu-Lehrer*innen Mobbing.72 Unter Mobbing versteht man jeg-
liches Verhalten, welches das Ziel oder den Effekt hat, die betroffene Person in ihrem
Selbstbewusstsein zu unterminieren, persönliches Wachstum einzuschränken oder
ihre Würde zu nehmen. Darunter fallen unangenehme Wortmeldungen oder Beleidi-
gungen genauso wie Provokationen und letztendlich auch Gewalt. Lehrer*innen, die
Opfer von Mobbing durch ihre Schüler*innen geworden sind, erfahren oft ein Gefühl
von Isolation und Scham, welches es für sie schwer machen kann, Unterstützung zu
suchen und mit jemandem über ihre Erfahrungen zu sprechen. Das genaue Ausmaß ist
schwer zu schätzen, Angaben dazu schwanken in einem Bereich von 15-62 %.73

Nicht zu vernachlässigen sind auch die Effekte der SARS-Cov2-Pandemie, die nun
schon seit mehr als einem Jahr den Alltag an Schulen verändert hat. Neben den Aus-
wirkungen von Lockdowns und Sorgen um die eigene Gesundheit sowie um die von
Freund*innen und Familie, hat sich für Lehrer*innen beruflich mehr verändert als
für viele andere Berufsgruppen. Obwohl mit dem Lehrberuf zwar die Existenzgrund-
lage nicht gefährdet ist, finden sich trotzdem einige gravierende Auswirkungen der
Pandemie auf die psychische Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern. Studien aus
verschiedenen Ländern zeigen erhöhte Werte bei Messungen von Stress, Ängstlichkeit
und Depression im Vergleich zu ähnlichen Untersuchungen, die vor 2020 ­durchgeführt
wurden.74 Besonders interessant ist außerdem die Beziehung von Burnout und der

70  Brouwers & Tomic 2000


71  Sendera & Sendera 2013
72  Garrett 2014; Woudstra et al. 2018
73  Woudstra et al. 2018
74  Matiz et al. 2020; Ozamiz-Etxebarria et al. 2021

56 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Selbstwirksamkeitseinschätzung von Lehrer*innen. So hat sich gezeigt, dass eine
niedrige Selbstwirksamkeit mit höherem Risiko für Burnout einhergeht. Der Glaube
an die eigene Wirksamkeit hängt mit Burnout aber auch mit dem Lernerfolg bei Schü-
ler*innen, Absenzen und professionellem Engagement zusammen.75

Junge Lehrer*innen nennen oft die psychische Belastung als Grund für ihren Berufs-
wechsel. Fast 50 % aller Lehrer*innen verlassen den Beruf innerhalb von fünf Jahren nach
ihrem Berufseinstieg. Dies ist nicht nur ein Problem für die überlasteten Lehrer*innen,
sondern trägt auch zu schlechteren Bildungsergebnissen bei Schülerinnen und Schülern
bei. Erklären lässt sich dieser Effekt durch die dadurch resultierende Diskontinuität in
der Belegschaft und die Qualität von Lehrer*innen. Der Lehrberuf ist auch mit guter
Ausbildung einer jener Berufe, in denen man erst nach einiger praktischer Erfahrung
sein volles Potenzial ausschöpfen kann. Wenn also Lehrer*innen so großen Stressoren
ausgesetzt sind, dass es schwer für sie ist längere Zeit im Beruf zu bleiben, so stellt dies
ein Problem auf individueller wie auch auf struktureller Ebene dar.76

Auf der Schulebene führt Burnout zu Problemen in der Teamarbeit, Unzufriedenheit


und schlechteren Lernerfolgen bei Schüler*innen und erhöhtem Konfliktrisiko in der
Belegschaft.

Krisenintervention

Um eine Krise zu bewältigen, besonders wenn die eigenen Ressourcen nicht ausrei-
chen, braucht es Unterstützung. Woher diese Unterstützung kommt, hängt von der
betroffenen Person, der aktuellen Krisensituation und auch besonders vom sozialen
Umfeld ab. Viele Krisen werden mithilfe des bestehenden sozialen Netzes überwunden.
Verwandte, Freund*innen, Partner*innen oder Arbeitskolleg*innen stellen in vielen
Fällen das Rettungsboot dar, das man braucht, um die Krise zu „wettern“. Wichtig ist
also, auf keinen Fall allein mit seinen Sorgen und Problemen zu bleiben, sondern sich
an Vertrauenspersonen zu wenden.

Krisen können aber ein Ausmaß annehmen, bei dem es professionelle Unterstützung
braucht. Solch eine professionelle Unterstützung sollte rasch und vor allem leicht
erreichbar zur Verfügung stehen. Krisenintervention ist nicht als etwas zu verstehen,
das die Krise und die Probleme für die Betroffenen einfach löst. So unterschiedlich
die Krisenauslöser, Verläufe und Auswirkungen sein können, genauso vielseitig sind

75  Brouwers/Tomic 2000


76  Hong 2012

57 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


auch Ansätze bei der Krisenintervention. Im Grunde geht es allerdings immer darum,
Hilfe bei der Selbsthilfe zu leisten und die betroffene Person dabei zu unterstützen,
(wieder) handlungsfähig zu werden, um die Krise bewältigen zu können.77 Wichtiger
Teil davon ist bei der Schaffung von Ressourcen zu unterstützen. Oftmals braucht es
auch eine Auszeit, damit Betroffene wieder mehr Zeit für sich haben. Häufig braucht
es noch dazu einen Krankenstand, weil die Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben ist.

Verlorenes wieder zurückzubringen oder den verspürten Schmerz zu unterdrücken,


sind nicht Teil einer erfolgreichen Intervention. Ziel sollte stattdessen sein, den Raum
zu geben, Gefühle offen ans Tageslicht kommen zu lassen, Empathie und Verständnis
zu zeigen und Zuspruch zu bieten.78

Eine besonders prekäre Phase stellt in traumatischen Krisen die Schockphase dar. Diese
tritt in unmittelbarer Folge des traumatisierenden Ereignisses auf und dauert meist
wenige Stunden bis maximal zwei Wochen. In dieser Phase setzen Mechanismen ein,
die zum Ziel haben, das Ereignis möglichst fernzuhalten. Betroffene wirken oft unver-
hältnismäßig ruhig und gelassen. Es kann aber auch zu Gefühlsausbrüchen kommen.
Wichtig ist in dieser Phase, Betroffene nicht allein zu lassen und als Unterstützer*in,
ob professionell oder als Laie, als „stellvertretende Hoffnung“ einzutreten.79

Wenn Gefühle der Ausweglosigkeit und der Verzweiflung in einer Krise sehr stark
werden, dann geht es auch darum, ausreichend für die Sicherheit betroffener Personen
zu sorgen. Wenn es zu Suizidgedanken kommt, dann ist es entscheidend, dass diese an-
gesprochen werden. Betroffene machen oft direkte, manchmal aber auch nur indirekte
Ankündigungen/Andeutungen ihre Suizidgedanken oder -absichten betreffend. Dann
ist es wichtig nachzufragen und ein Gespräch darüber zu beginnen. Es kann dann not-
wendig sein, jemanden rasch zu einer Notfalleinrichtung in der Krisenintervention oder
Krankenhausambulanz zu bringen, oder – abhängig von der Gefährdung –zumindest
eine andere psychosoziale Anlaufstelle zu vermitteln.

Wer sich an eine Kriseninterventionsstelle wendet, erfährt dort Unterstützung von


einem interdisziplinären Team, zusammengesetzt aus Psychotherapeut*innen, Psych-
iater*innen, Klinischen Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen. Diese Zusammen-
setzung ist hilfreich, um die verschiedenen Problematiken, die in einer psychosozialen
Krise auftreten können, abzudecken.80

77  Stein 2020, S. 156


78  Sonneck 2000, S. 62
79  Ebd., S. 63
80  Stein 2020, S. 160f

58 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Es gibt mittlerweile glücklicherweise schon einige Angebote zur Krisenintervention.
Krisentelefone, wie jenes des Kriseninterventionszentrums Wien, oder auch Online-
angebote stellen besonders leicht zu erreichende Hilfe dar, eine Voraussetzung, die in
Krisensituationen von großer Bedeutung ist. Hausärzt*innen, Psycholog*innen sowie
Psychotherapeut*innen können ebenso aufgesucht werden. Auch Angehörige und
Freund*innen stellen eine äußerst wertvolle Unterstützung für Menschen in Krisen
dar, jedoch sollten eigene Grenzen von eventueller Überforderung bei der Hilfestellung
unbedingt beachtet werden.81

81  Kapitany 2019

59 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Literatur

Brouwers, André, & Tomic, Welko (2000): A longitudinal study of teacher burnout and perceived self-­
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Zu den Autoren

Thomas Kapitany, Dr. med., Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer, Facharzt für Psychiatrie und
­Psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeut im Kriseninterventionszentrum Wien
www.kriseninterventionszentrum.at

Thomas Niederkrotenthaler, Assoc.-Prof., PhD, MMSc an der Medizinischen Universität Wien, Zentrum
für Public Health, Unit Suizidforschung & Mental Health Promotion
www.meduniwien.ac.at/sozialmedizin

Laurin Koblicha-Rathausky, Student der Psychologie und Philosophie an der Universität Wien,
­Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kriseninterventionszentrum Wien

61 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


II Die Gesundheit von Lehrer*innen durch salutogene
Führung und Schulqualitätsmanagement stärken

5 Gesundheitsförderlich Führen in Zeiten des Wandels

G
Julia Gerick esundheitsförderung stellt eine wichtige Aufgabe von Schulleiter*innen dar.
Im Rahmen dieses Beitrags werden Konzepte und Befunde gesundheitsför-
derlichen Führungshandelns – insbesondere die transformationale Führung
und die salutogene Führung – vorgestellt und Anregungen für die schulische Praxis
gegeben. Abschließend wird ein aktueller Blick auf gesundheitsförderliche Führung
im Kontext der Digitalisierung geworfen.

5.1 Die Relevanz und Verantwortung von Schulleiter*innen für die


Gesundheit von Lehrer*innen

Im Zuge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse sehen sich Schulen mit neuen Her-


ausforderungen und vielfältigen Anforderungen konfrontiert, die zu einem hohen
Entwicklungs- und Veränderungsbedarf der Einzelschule führen. Damit einher geht
eine Veränderung der Berufsrolle aller an Schule Beteiligten. Zentral ist dabei vor
allem der Bedeutungszuwachs der Funktion der Schulleiter*innen. Schulleiter*innen
wird in konzeptioneller Hinsicht eine Schlüsselrolle zugewiesen, die sich nicht nur in
rechtlicher Hinsicht manifestiert, sondern auch in den letzten Jahren immer häufiger
zum Gegenstand empirischer Forschung wurde. Sowohl auf internationaler als auch
auf nationaler Ebene herrscht Konsens, dass Schulleiter*innen einen bedeutsamen
Faktor für die schulische Qualitätsentwicklung darstellen. Martin Bonsen formuliert:
„Das Handeln und die Rolle des Schulleiters ist zu einem einflussreichen Faktor für die Quali-
tätsentwicklung der Einzelschule geworden.“82

Eine der vielen aktuellen Herausforderungen an Schulen stellt die Förderung der
Gesundheit von Lehrpersonen dar, die als neue Aufgabe von Schulleiter*innen so-
wie als Qualitätskriterium von Schule stärker in den Fokus rückt83 . Dies geschieht
vor allem vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der hohen Früh-
pensionierungs- und Dienstunfähigkeitszahlen von Lehrpersonen sowie der Frage,
wie Lehrpersonen möglichst langfristig leistungsfähig erhalten werden können, um
schulische Innovationen und Entwicklungsprozesse aktiv mitgestalten zu können. Für
die Gesundheitsförderung in der Schule wird Schulleiter*innen eine zentrale Rolle
zugeschrieben84 , vor allem hinsichtlich der Förderung und Sicherung der psychischen

82  Bonsen 2003, S. 22


83  u.a. Gerick, 2014
84  Bonsen 2005

62 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Gesundheit der Lehrpersonen.85 Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement
– als gezielte, systematische und nachhaltig wirkungsvolle Steuerung von Gesundheits-
förderung – stellen dabei eine originäre Führungsaufgabe dar,86 die alle Bereiche des
Leitungshandelns betrifft.87 Hans-Günter Rolff konstatiert: „Wer Qualität will, muss
also die Gesundheit fördern [...].“88

Gesundheitsförderliches Führungshandeln – Konzepte und Befunde

Wie sieht gesundheitsförderliches Schulleitungshandeln aus? Hierzu finden sich in der


Forschung unterschiedliche Ansätze, von denen im Folgenden drei betrachtet werden.

(a) Zusammenstellungen von Charakteristika gesundheitsförder-


licher Führung

In der Literatur finden sich diverse Zusammenstellungen von Charakteristika gesund-


heitsförderlicher Führung, die sich aus unterschiedlichen Untersuchungen zusammen-
tragen lassen.89 Im Rahmen von empirischen Untersuchungen konnten unter anderem
die folgenden Faktoren als gesundheitsförderlich ausgemacht werden:90

• Integration in den Kolleg*innenkreis und Förderung des Zusammenhalts,


• Feedback und Anerkennung erbrachter Leistung,
• Beteiligung an Entscheidungs- und Planungsprozessen,
• Angebot von individuellen Weiterbildungsmöglichkeiten,
• Vermittlung von Wertschätzung und Schaffen eines Vertrauensklimas,
• Übertragung von Verantwortung auf Einzelne oder Teams,
• Förderung des organisationalen Commitments, d. h. der Identifikation mit der
­Organisation,
• Schaffung von Kommunikationsmöglichkeiten,
• Integration von Gesundheitsförderung in die Leitlinien der Organisation,
• wertschätzende Kommunikation und konstruktive Fehlerkultur.

85  Paulus 2010


86  Rudow 2004
87  Hundeloh 2010
88  Rolff 2005
89  Vgl. Gerick 2018a, b
90  Vgl. Badura/Münch/Ritter 1998; Schraub/Büch 2010; Stadler/Spieß 2002; Richter/Wegge 2011

63 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Je nachdem, wie Führung ausgefüllt wird, kann sie für die Geführten aber auch ein poten-
zieller Stressfaktor sein.91 In unterschiedlichen Studien haben sich unter anderem folgende
belastungs- und fehlzeitenfördernde Faktoren des Führungsverhaltens herausgestellt:92

• Konzentration auf die Sachaufgaben und Vernachlässigung der Personalaufgabe,


• autoritäres Führungsverhalten,
• zu geringe Anerkennung der Leistung,
• zu häufige und zu unsachliche Kritik,
• Vorenthalten von Informationen,
• ungerechte Arbeitsverteilung und fehlende Gleichbehandlung der Mitarbeiter*innen,
• unklare und ständig wechselnde Zielvorgaben und Führungsrichtlinien,
• häufiges Einmischen in Delegationsbereiche.

(b) Transformationale Führung

Neben solchen Auflistungen von gesundheits- und belastungsförderlichen Führungs-


merkmalen werden auch bewährte Konzepte der allgemeinen Führungsforschung auf
ihre gesundheitsförderliche Wirkung hin betrachtet. Am häufigsten wurde dabei das
Konzept der transformationalen Führung untersucht.93 Die transformationale Führung
stellt ein Führungskonzept dar, das in Zeiten des Wandels auch im Schulkontext an
Bedeutung gewonnen hat, da es explizit auf die Umsetzung von Veränderungen in
Organisationen ausgelegt ist.94 So wird davon ausgegangen, dass eine transformationale
Führungsperson „Geführte durch die Entwicklung von Visionen, Zielen und Werten dazu
[motiviert], Leistungen zu erbringen, die über die Erwartungen hinausgehen.“95 Das Konzept
der transformationalen Führung besteht aus fünf Dimensionen: 96

• Idealisierter Einfluss (attributed; zugeschrieben) umfasst die vorbildhaften Verhaltens-


weisen von Schulleiter*innen, mit denen sie implizit auf die Wert- und Zielvorstellungen
des Kollegiums Einfluss nehmen
• Idealisierter Einfluss (behavior; verhaltensbezogen) umfasst die hohen Erwartungen von
Schulleiter*innen an das Kollegium, die sie auch an sich selbst richten und mit denen sie in
einer direkten Kommunikation explizit die Wert- und Zielvorstellungen der Lehrpersonen
beeinflussen.

91  Vgl. Gerick 2018a, b


92  Stadler/Spieß 2005
93  Vincent 2011
94  Bass/Avolio 1994
95  Neuberger 2002
96  Vgl. Furtner/Baldegger 2013; Gerick, 2018b; Harazd/van Ophuysen 2011

64 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


• Inspirierende Motivation meint die Vermittlung einer attraktiven Zukunftsvision, mit
denen sich die Kolleg*innen identifizieren können und die von Schulleiter*innen mit Be-
geisterung und Optimismus vertreten wird. Dabei stellt diese Komponente den emotio-
nalen Aspekt transformationaler Führung dar.97
• Intellektuelle Stimulierung ist charakterisiert durch die Anregung der Lehrpersonen zu inno-
vativem Denken, Bestehendes kritisch zu hinterfragen und neue Lösungswege zu entwickeln
sowie auszuprobieren und nimmt damit eine rationale Ebene transformationaler Führung ein.
• Individuelle Wertschätzung wird als emotional-erzieherische Ebene transformationaler
Führung betrachtet und meint die systematische individuelle Förderung der Lehrperso-
nen ausgehend von ihren persönlichen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Wünschen.
Schulleiter*innen verstehen sich dabei als Mentor*innen, die neue Lern- und Erfahrungs-
möglichkeiten anbieten.

Das Konzept der transformationalen Führung erscheint dabei gesundheitsförderliche


Potenziale zu beinhalten, da es Merkmale wie individuelle Unterstützung, Wert-
schätzung und Anerkennung umfasst – alles Faktoren, die sich als wichtige Ressour-
cen herausgestellt haben. Darüber hinaus ist bekannt, dass Führungspersonen, die
transformational führen, das Selbstkonzept von Mitarbeitenden durch die Stärkung
von Selbstwirksamkeitserwartung, Vertrauen und Selbstwert beeinflussen können –
ebenfalls wichtige Aspekte für die Erklärung von Wohlbefinden. 98

Die Dimensionen transformationaler Führung können in gesundheitsförderliche und


beanspruchende Komponenten differenziert werden:99 Auf der einen Seite stehen
die Dimensionen Idealisierter Einfluss (zugeschrieben) und Individuelle Wertschätzung,
die als Komponenten des emotionalen Supports bezeichnet werden können und die
u. a. Vertrauen und Respekt enthalten. Von diesen beiden Dimensionen lassen sich
gesundheitsförderliche Effekte erwarten. Die drei Dimensionen Idealisierter Einfluss
(verhaltensbezogen), Inspirierende Motivation sowie Intellektuelle Stimulierung dagegen ad-
ressieren vor allem den Leistungsaspekt und erscheinen eher fordernd als unterstützend.
Daher wird vermutet, dass diese durchaus als beanspruchend erlebt werden können.100

In einer Untersuchung für den Schulkontext wurde diese differenzierte Betrachtung der
Dimensionen und der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung transformationalen
Führungshandelns und der subjektiven Gesundheit der Lehrpersonen betrachtet.101

97  Furtner/Baldegger 2013


98  Franke/Felfe 2011
99  Franke/Felfe 2011
100  Gerick 2018b
101  Gerick 2014

65 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Die Ergebnisse machen auf der einen Seite deutlich, dass einige Dimensionen transfor-
mationaler Führung tatsächlich als gesundheitsförderliche Faktoren betrachtet werden
können. Vor allem die Wahrnehmung der Dimension Individuelle Wertschätzung, die
Aspekte wie Anerkennung, individuelle Unterstützung und Förderung umfasst, steht
in einem positiven Zusammenhang mit dem Wohlbefinden und in einem negativen
Zusammenhang mit emotionaler Erschöpfung von Lehrpersonen. Das bedeutet, je
stärker Individuelle Wertschätzung wahrgenommen wird, desto geringer fühlen sich
Lehrpersonen emotional erschöpft.102 Eine weitere gesundheitsförderliche Führungs-
dimension, allerdings weniger stark, stellt die Wahrnehmung der Dimension Inspi-
rierende Motivation dar, die Vertrauen, Optimismus, Begeisterung, eine überzeugende
Zukunftsvision sowie eine positive Grundstimmung umfasst. Vermutlich ist diese
Führungsdimension aus dem Grund so bedeutsam, da sie Anforderungen, die an die
Schule gerichtet werden, weniger bedrohlich erscheinen lassen, da Schulleiter*innen
das Gefühl vermitteln, dass diese Herausforderungen gemeistert werden können.103 Auf
der anderen Seite zeigen sich wie erwartet Hinweise darauf, dass die eher leistungsbezo-
gene Dimension Idealisierter Einfluss (verhaltensbezogen), die u. a. die Bedeutsamkeit von
Teamgeist und gemeinsamem Aufgabenverständnis und die Betonung der Bedeutung
eines Wir-Verständnisses umfasst, eher als beanspruchend wahrgenommen wird.104

(c) Salutogene Führung

Anders als bei der transformationalen Führung handelt es sich bei der salutogenen
Führung um ein Führungskonzept, in dem der Gesundheitsaspekt explizit integriert ist.
Dies wird in der Definition des Konzepts deutlich: „Unter salutogenem Leitungshandeln
werden die systematische Steuerung der schulischen Prozesse und die systematische Gestaltung
der schulischen Strukturen sowie das Führen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter ex-
plizitem Einbezug gesundheitsrelevanter Erkenntnisse verstanden. Es umfasst alle Maßnahmen,
die die Gesundheit und das Wohlbefinden sowie die Leistungsfähigkeit der schulischen Akteure
und die Gesundheit und die Qualität des Systems Schule insgesamt erhalten und fördern.“ 105

Direktes salutogenes Leitungsverhalten ist dadurch gekennzeichnet, dass drei


Dimensionen gefördert werden: die Verstehbarkeit, die Bewältigbarkeit und die
Bedeutsamkeit. Die nachfolgende Übersicht zeigt, inwiefern gesundheitsförder-
liches Leitungshandeln in diesen drei Dimensionen unterstützt werden kann:106

102  Gerick 2018a, b


103  Gerick 2014; 2018a, b
104  Gerick 2014; 2018a,b
105  Harazd/Gieske/Gerick 2010, S. 22
106  Harazd/Gieske/Gerick 2010

66 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Dimensionen Handlungsmöglichkeiten

·  Transparenz in Entscheidungen
Verstehbarkeit ·  möglichst gute Informations- und Kommunikationswege
·  klare Aufgaben mit verständlichen Erklärungen

·  Passung von Aufgabe und Person


Bewältigbarkeit ·  individuelle Stärken und Schwächen berücksichtigen
·  Selbstwert fördern durch Anerkennung und Feedback

·  zielorientiertes Handeln
·  Vermitteln von Visionen
Bedeutsamkeit
·  gemeinsame Zielsetzung
·  Handlungen erläutern/Zielklarheit

Dimensionen der Salutogenese und Handlungsmöglichkeiten für Führung

5.2 Praxisbezogene Hinweise für ein gesundheitsförderliches


­Führungshandeln

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Führungshandeln mit dem Ziel der
Gesundheitsförderung von Lehrerinnen und Lehrern in die schulische Praxis über-
tragen werden kann.

Mit Fokus auf transformationale Führung lassen sich einige Anregungen für die ­schulische
Praxis ableiten: 107

• Schulleiter*innen für das eigene Führungshandeln sensibilisieren. Denn gesundheits-


förderliche Führung kann nicht nur auf das eigene Führungshandeln bezogen werden,
sondern muss sich auch daran messen lassen, was von Seiten der Lehrpersonen wahr-
genommen wird, das heißt, was bei ihnen von diesem intendierten Führungshandeln an-
kommt. Es ist zu vermuten, dass die Wahrnehmung des eigenen Führungshandelns und
die Wahrnehmung dessen durch die Lehrpersonen nicht per se übereinstimmen. Viel-
mehr ist von Wahrnehmungsunterschieden auszugehen, die sich u. a. aufgrund unter-
schiedlicher Perspektiven ergeben können. Insbesondere im Hinblick auf den Befund,
dass sich die in der Dimension Idealisierter Einfluss (verhaltensbezogen) enthaltenen
Verhaltensweisen wie die Betonung des Einsatzes für eine Sache sowie von Teamgeist
und einem gemeinsamen Aufgabenverständnis als beanspruchend herausgestellt haben,
erscheint auch in dieser Hinsicht eine Sensibilisierung notwendig, damit diese Aspekte
mit dem nötigen Feingefühl angegangen werden.

107  Gerick 2018b

67 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


• Sichtbarkeit von Schulleiter*innen erhöhen, um eine stärkere Wahrnehmung transforma-
tionaler Führung zu ermöglichen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es primär um infor-
melle Kontakte geht und nicht unbedingt um formale Situationen, wie z. B. Konferenzen.
Vor dem Hintergrund der umfangreichen Aufgaben und Verantwortungsbereiche von
Schulleiter*innen ist es allerdings kaum zu erwarten, dass es Schulleiter*innen umfassend
gelingen kann, neben der Bewältigung der gestiegenen Anforderungen auch regelmäßig
für alle Lehrpersonen sicht- und ansprechbar zu sein. Die Etablierung eines Leitungs-
teams, in dem es z. B. eine*n Verwaltungschef*in und eine pädagogische Führungsperson
gibt108, verteilt die Führungsaufgaben auf mehrere Schultern und würde es Schulleiter*in-
nen ermöglichen, im Sinne eines „Management by walking around“109 stärker für die Lehr-
personen präsent zu sein.
• Mit der Delegation von Aufgaben lassen sich gleich mehrere Ziele verknüpfen. Zum einen
erhöht sie die Transparenz, da Lehrpersonen unmittelbarer an schulischen Prozessen
beteiligt sind und stärker mitbekommen, woran auf Schulebene gearbeitet wird. Damit
verbunden ist ebenso die Hoffnung einer stärkeren Akzeptanz von Entscheidungen auf-
grund der aktiven Mitwirkung sowie eine höhere Arbeitszufriedenheit und Motivation.
Zum anderen wird den Lehrpersonen durch die Übertragung von Führungsaufgaben und
Verantwortung eine Wertschätzung ihrer Person und ihrer Fähigkeiten sowie Vertrauen
entgegengebracht; Aspekte, die sich als gesundheitsförderlich herausgestellt haben.
Der durch gelingende Delegationsprozesse entstehende zeitliche Freiraum kann für
­Schulleiter*innen wiederum für „entwicklungsbezogene Tätigkeiten“110 genutzt werden.
• Aufgrund der spezifischen Situation der Organisation Schule, in der kaum materielle
oder finanzielle Anreize möglich sind, sind Anerkennung, Wertschätzung und individuelle
Unterstützung mit das Einzige, was Schulleiter*innen als Anreizsystem für Lehrpersonen
zur Verfügung steht. Diese Führungsmittel sollten Schulleiter*innen in ihrem Handeln
stärker, aber immer angemessen, einsetzen und sich zudem darüber im Klaren sein,
welche Wirkung sie damit erzielen können. Denn die vorliegenden Befunde weisen darauf
hin, dass die Dimension der Individuellen Wertschätzung gesundheitsförderliche Effekte
aufweist. In diesem Kontext lassen sich neben der Delegation auch Mitarbeitergesprä-
che und Feedback, u. a. zur Identifizierung individueller Stärken und Bedürfnisse sowie
Unterstützungsbedarfe, nennen. Auch ein Mentoring von Schulleiter*innen für Lehrper-
sonen u. a. zur individuellen Förderung ließe sich anführen. Bonsen et al.111 kommen zu der
Einschätzung, dass „die persönliche Begleitung, Beratung und gegebenenfalls Unter-
stützung der Lehrkräfte durch die Schulleiterin und den Schulleiter zentrale Kennzeichen
erfolgreichen pädagogischen Führungshandelns […]“112 darstellen.

108  Weber et al. 2005


109  Bonsen 2003, S. 277
110  Bonsen et al. 2002, S. 171
111  Bonsen et al. 2002
112  ebd., S. 173

68 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Aus Perspektive der salutogenen Führung können die nachfolgenden Fragen dabei
unterstützen, salutogenes Leistungshandeln zu fördern:113

Dimensionen Kommunikation Struktur

Drücke ich mich verständlich und Verfügt die Schule über gute
Verstehbarkeit strukturiert aus? Kommunikationsstrukturen und
ist Transparenz gegeben?‘

Wissen die Lehrkräfte, dass sie Sind die Arbeitsabläufe öko-


Bewältigbarkeit meine Unterstützung haben? nomisch gestaltet und werden
Ressourcen optimal eingesetzt?

Habe ich eine Begründung ge- Haben wir ein gemeinsames Ziel
geben bzw. die Bedeutsamkeit bzw. eine Vision, au die wir ziel-
Bedeutsamkeit aufgezeigt? strebig hinarbeiten?

Beispielfragen für salutogenes Leitungshandeln

5.3 Gesundheitsförderliches Führen digital

Die Pandemiesituation seit Beginn des Jahres 2020 bringt gesamtgesellschaftliche He-
rausforderungen mit sich, die sich auch stark im Bildungsbereich manifestieren. Die
Schulschließungen und die damit verbundene Notwendigkeit, Schule und Unterricht
viel stärker als bisher digital unterstützt zu organisieren, bringt auch neue Heraus-
forderungen für das Führungshandeln in Schulen mit sich. Denn nicht alle Schulen
konnten bereits an abgeschlossene oder laufende digitalisierungsbezogene Schulent-
wicklungsprozesse anknüpfen.

Dexter entwickelte im Jahr 2018 ein Modell, in dem sie Führungspraktiken, die die
Richtung für die IT-Integration vorgeben, beschreibt (Leadership practices that set
directions for IT integration).114

Es finden sich verschiedene Parallelen zum Konzept der transformationalen Führung.


Nicht nur unter Pandemiebedingungen stellt die Identifikation einer gemeinsamen
Vision zur Nutzung von Technologien für das Lehren und Lernen, die Entwicklung
eines gemeinsamen Verständnisses für digital gestütztes Lernen im Kollegium, die
Identifikation von Erwartungen sowie die Kommunikation der Ziele und der Ge-
samtvision innerhalb der Schule zentrale Elemente des Schulleitungshandelns in

113  Harazd/Gieske/Gerick 2010, S. 25


114  Dexter 2018, S.487

69 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


einer digitalisierten Welt dar.115 Damit finden sich unmittelbar Bezüge zu den sich als
gesundheitsförderlich herausgestellten Dimensionen der Inspirierenden Motivation
und der Individuellen Wertschätzung. Es zeigt sich somit: Aktuelle Herausforderungen
im Kontext der Digitalisierung und der Umgang damit stehen im engen Bezug zu
Herausforderungen der gesundheitsförderlichen Führung. Es erscheint angebracht,
diese zukünftig stärker gemeinsam zudenken.

Insbesondere die Pandemiezeit hat deutlich gemacht, dass Führung nicht immer vor Ort
und in Person stattfinden kann, sondern auch in Schulen das Arbeiten in ‚virtuellen‘
Teams zunimmt. In diesem Zusammenhang kann auf eine Studie von Purvanova und
Bono116 Bezug genommen werden, in der die Bedeutung transformationaler Führung
in Teams vor Ort (face-to-face) und virtuellen Teams, die also auf Distanz zusammen-
arbeiten, untersucht wurde. Die zentralen Ergebnisse: Transformationale Führung
wirkte sich in virtuellen Teams stärker auf die Teamleistung aus als in Teams vor Ort.
Zudem liegen Hinweise darauf vor, dass transformationale Führung besonders unter
den uneindeutigeren Kommunikationsbedingungen, die durch die elektronischen
Kommunikationsmedien geschaffen werden, für die Teamleistung von entscheiden-
der Bedeutung sind. Transformationale Führung scheint somit unter den aktuellen
Herausforderungen im Kontext der Digitalisierung und der Pandemie umso bedeut-
samer zu sein.

5.4 Abschluss

Gerade in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels und der damit für Schule verbundenen
Herausforderungen spielen Schulleiter*innen eine bedeutsame Rolle für die Erhaltung
und die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens ihres Kollegiums. Diese
Erkenntnis sollte auch Eingang in Schulleitungsaus- und -fortbildung finden, um die
oben beschriebene Sensibilisierung für die Potenziale schulischer Führung in diesem
Bereich zu unterstützen.117 Es wurde deutlich, dass Schulleitungshandeln unmittelbar
gesundheitsförderliche Wirkung bei Lehrpersonen entfalten kann, ohne, dass es direkt
großer struktureller Veränderungen bedarf, nämlich beispielsweise durch Anerkennung
von Geleistetem und Wertschätzung von Engagement im Kollegium – Verhaltenswei-
sen, die selbst im herausfordernden Schulalltag umsetzbar erscheinen118 – ob in Person
vor Ort oder virtuell auf Distanz.

115  Dexter 2018; Eickelmann 2020


116  Vgl. Purvanova/Bono 2009
117  Gerick 2018b
118  ebd.

70 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


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72 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Zur Autorin
Julia Gerick, Dr.in phil., Erziehungswissenschaftlerin, Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwer-
punkt Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Braunschweig, Promotion zum
­Thema Schulleitung und Lehrer*innengesundheit, Forschungsschwerpunkte: Schulentwicklungs­
forschung, Schulqualität, Digitale Medien in Schule und Unterricht, Lehrer*innengesundheit, Schul­
leitung, Schulleistungsstudien.

73 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


6 Gesundbleiben durch QMS: Wie Qualitäts­management zur Gesundheit aller an
der Schule ­Beteiligten beitragen kann

D
Andrea Fraundorfer er folgende Beitrag widmet sich der Frage, in welcher Weise das Thema
(Lehrer*innen-)Gesundheit im Rahmen der Weiterentwicklung von Schul-
qualität aufgegriffen werden kann. Ausgangspunkt der nachfolgenden Aus-
führungen ist, dass eine qualitätsvolle Schule, in der Lehrer*innen gerne arbeiten und
die Schüler*innen gerne besuchen, untrennbar mit der psychosozialen Gesundheit
und damit dem Wohlbefinden aller verknüpft ist.

Die OECD war einer der ersten internationalen Akteure, die gleichwertig mit Perfor-
mance (Leistungsergebnissen) und Equity (Chancengerechtigkeit) das Thema Well-being
(Wohlbefinden) als zentrale Prämissen guter Schulen darstellte und das Wohlbefinden
der Schüler*innen untersuchte.119 Das Thema Wohlbefinden, das eng mit mentaler (also
psychosozialer) und auch physischer Gesundheit assoziiert wird, wird damit auch zu
einem wichtigen Aspekt von Schulqualität – und das schließt natürlich die Arbeits-
zufriedenheit der Lehrkräfte mit ein.120

Wie bereits im Einleitungsbeitrag dargestellt, gewinnt ein Konzept von Gesundheit an


Bedeutung, das dem neueren Paradigma einer biopsychosozialen Medizin bzw. Psychologie
entspricht.121 Dieses Gesundheitsverständnis sieht den Menschen als eine seelisch-körper-
liche Ganzheit, die in für sie wichtige soziale Lebensräume (Familie, Beruf, Freundschafts-
beziehungen, …) eingebettet ist. Diese Lebensräume wirken sich stark auf Wohlbefinden
und auf Gesundheitseinstellungen sowie -verhalten aus. Gesundheit wird dabei als ein
dynamischer Prozess betrachtet, der beeinflussbar ist und eine stete Balance zwischen
äußeren Anforderungen und inneren Anpassungs- und Regulationsprozessen darstellt.

Wie Gesundheitsförderung und die Arbeit an einer „guten“ Schule


zusammenhängen

Das mit Jänner 2021 schrittweise eingeführte Qualitätsmanagement für Schulen


(QMS) führt die bisherigen Instrumente SQA und QIBB zusammen und versteht

119  Vgl. OECD 2017


120  Siehe dazu auch die Beiträge im dritten Abschnitt dieser Handreichung, vor allem der Beitrag von
­Kranebitter/Schiestl sowie von Gönitzer et al. zur Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz Schule

121  Vgl. Egger 2017

74 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


sich als ­Weiterentwicklung dieser Qualitätsinitiativen. QMS bietet unter anderem
Methoden und Instrumente, um mit dem Thema (Lehrer*innen-)Gesundheit in der
Schulentwicklung zu arbeiten. Viele Schulen setzen bereits Projekte mit Gesundheits-
kassen, Pädagogischen Hochschulen und anderen Institutionen zur Förderung der
schulischen Gesundheit um.122 Neben der Gesundheit von Schüler*innen ist es wichtig,
auch die Gesundheit der Lehrer*innen, die zahlreichen Belastungen ausgesetzt sind,
zu thematisieren.123 Belege für die Wechselwirkung von Gesundheit und Bildung gibt
es zahlreiche;124 Gesundheitsförderung an Schulen ist daher kein Selbstzweck, sondern
Voraussetzung, dass Lehr- und Lernprozesse gelingen und Leistungsbereitschaft ge-
geben ist.

Eine Zielsetzung des QMS ist, das Lernen und die Schüler*innen in den Mittelpunkt der
Qualitätsarbeit zu stellen. Es unterstützt dabei, dass schulische Entwicklungsprozesse
zielgerichtet, systematisch und evidenzorientiert stattfinden und ein qualitätsvoller
Unterricht sichergestellt wird. QMS will dafür die Kooperation zwischen Lehrkräften
stärken, um durch mehr Teamarbeit die professionelle Unterrichtsentwicklung zu
fördern und Entlastung durch kollegiale Unterstützung zu ermöglichen. 

Das QMS bietet einen zeitgemäßen Qualitätsrahmen, der in die Bereiche (1) Qualitäts-
management, (2) Führen und Leiten, (3) Lernen und Lehren, (4) Schulpartnerschaft und
Außenbeziehungen sowie (5) Ergebnisse und Wirkungen unterteilt ist. Alle Bereiche
bieten Ansatzpunkte für die Thematisierung der Gesundheit der Lehrkräfte als auch
der Schüler*innen. So ist im Bereich Führen und Leiten die Auseinandersetzung mit
der so genannten salutogenen (also gesundheitsfördernden) Führung (siehe Beitrag von
Julia Gerick in diesem Band) zentral. Hier steht die Frage im Vordergrund, welche Rolle
die Schulleitung spielt, sodass Lehrkräfte keine krankmachenden Arbeitsbedingungen
und -beziehungen, sondern kollegiale Unterstützung und gut kooperierende Teams
vorfinden. Anerkennung, Wertschätzung, Kommunikation und Zusammenarbeit,
aber auch klare Führung, gemeinsame Ziele und Vorgehensweisen sind hier zentral.

Für die Umsetzung nachhaltiger Konzepte zur Stärkung der Lehrer*innengesundheit


im Rahmen der Schulentwicklung sollten zunächst einige grundlegende Aspekte be-
rücksichtigt werden. Diese gelten auch, wenn die Gesundheit von Schüler*innen zu
einem Schwerpunktthema in der Schulentwicklung wird:

122  Siehe Projekt Wohlfühlzone Schule https://wohlfuehlzone-schule.at/ (letzter Zugriff Juni 2021) oder
Netzwerke zur Gesunden Schule in Niederösterreich und Wien

123  Belastungen von Lehrkräften werden u. a. in der TALIS-Studie beschrieben. Vgl. BIFIE 2019; https://www.
iqs.gv.at/themen/internationale-studien/talis/talis-2018 (letzter Zugriff Mai 2021)

124  Vgl. Dadaczynski/Paulus 2011, S. 164f

75 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


»  Schulen müssen für ihre Standortbedingungen und Verhältnisse passende Maß-
nahmen entwickeln: Schulen finden oft sehr unterschiedliche Ausgangs- und Rah-
menbedingungen vor, unter denen sie Arbeits- und Lernprozesse gestalten müssen.
So können das soziale Einzugsgebiet und die sozioökonomischen Hintergründe der
Schüler*innen, die Altersstruktur des Lehrkörpers oder die Größe einer Schule eine
zentrale Rolle spielen. Der Gesundheitsstatus der Lehrkräfte hängt meist eng mit der
gegebenen Altersstruktur im Konferenzzimmer zusammen. Daher braucht es eine
differenzierte Bestandsaufnahme der gesundheitlichen Belastungen am Schulstandort
und dementsprechende Interventionen.

»  Gesundheitsförderung an Schulen stellt eine gemeinsame Aufgabe von Lehrkräften


und Schulleiter*innen dar. Unterstützungssysteme wie der schulärztliche Dienst oder
die Schulpsychologie können im Sinne der Gesundheitsförderung beratend wirksam
werden. Nicht wenige gesundheitliche Belastungen lassen sich durch gemeinsame An-
strengung, z. B. durch eine verbesserte Kommunikation und Kooperation abfedern. Vor
allem Zusammenarbeit, das Teilen und Erleben von gemeinsam Werten und Zielen,
gegenseitige Unterstützung und das Erfahren von Gemeinsamkeit und Solidarität
stärken die individuelle Belastbarkeit und die Selbstwirksamkeit als Lehrkraft.

»  Es braucht ein starkes Commitment und eine breite Partizipation der an der Schule
tätigen Personen. Gegen den Widerstand der Mehrheit der Lehrkräfte lassen sich keine
Veränderungen oder Neuerungen einführen. Es bedarf der Einsicht in die Sinnhaftig-
keit der Maßnahmen und die erwartbaren Wirkungen müssen nachvollziehbar sein.
Hier ist die Schulleitung gefordert: Zur erfolgreichen Umsetzung von Maßnahmen im
Bereich der Lehrer*innen (und auch Schüler*innengesundheit) braucht es eine breite
Zustimmung und die Mitwirkung möglichst vieler Lehrkräfte.

»  Nur gesunde Lehrer*innen können die zahlreichen Herausforderungen, die mit


dem Unterrichten und Erziehen einhergehen, langfristig gut bewältigen. Ein quali-
tätsvoller Unterricht korrespondiert mit (psychosozial) gesunden Lehrkräften, die
nicht nur einen guten Unterricht, sondern vor allem tragfähige pädagogische Bezie-
hungen anbieten. Zur Bedeutsamkeit von konstruktiven Arbeitsbeziehungen für die
eigene Gesundheit wurde viel geforscht. Mehrere eigens entwickelte Programme zur
Stärkung der Kommunikations-, Problemlösungs- und Kooperationskultur an Schulen
sind durch Forschung in ihrer Wirksamkeit bestätigt worden.125

125  Vgl. Schaarschmidt 2013 und o.J; Bauer o.J.

76 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Anerkennung, gegenseitiger Respekt und Wertschätzung sind wichtige Bedingungen, damit
sich Lehrkräfte am Schulstandort wohlfühlen und eine hohe Leistungsbereitschaft zeigen.
Die Kunst einer guten Schulleitung ist es unter anderem, die Lehrkräfte auf der Beziehungs-
ebene so zu motivieren, dass sie sich entsprechend der Notwendigkeit der Weiterentwick-
lung von Schule und Unterrichtsqualität engagieren, ohne aber auszubrennen.

Dies ist ein Balanceakt, denn gerade engagierte Lehrkräfte neigen dazu, sich selbst zu
verausgaben und langfristig zu erschöpfen. Auch hier gilt es eine Balance zu halten
zwischen Anforderungen, die sich im schulischen Alltag ergeben, und der Ausschöp-
fung eigener Ressourcen zu deren Bewältigung. Ein Aspekt von Qualitätssicherung
ist daher auch, dass Schulleitungen darauf achten, dass die zu leistende Arbeit nicht
auf einigen wenigen Engagierten lastet, sondern sich so weit wie möglich alle Lehr-
kräfte engagieren.

SQM – das Qualitätsmanagement für Schulen als Chance zur


Thematisierung von Lehrer*innengesundheit und Wohlbefinden
am Schulstandort

Das neue Qualitätsmanagement stellt Instrumente zur Verfügung, die die Planung von
konkreten Maßnahmen zur Erreichung gesetzter Ziele zur Stärkung von Lehrkräften
unterstützen können. Qualitätsdimensionen und -kriterien wurden bereits zuvor von
Gesundheitsexpert*innen für den Bildungsbereich entwickelt.126

Das QMS mit seinen Qualitätsdimensionen, Qualitätsbereichen und -kriterien bietet eine
Grundlage für die Entwicklung eines Schulentwicklungsplanes (SEP). Sie finden einen
solchen modellhaften Schulentwicklungsplan zur Lehrer*innengesundheit am Ende dieses
Beitrags.

Der Schulqualitätsrahmen ist in das QMS-Modell eingebettet. Es fokussiert auf drei


Akteure, die Schulleitung (sie steht für die Schule als Organisation), die Lehrenden-Teams
(z. B. Jahrgangsteams, Fachteams, Qualitätsteams) und einzelne Lehrende. Jede Schule
kann den Qualitätsrahmen auch dafür nutzen, um die aktuelle Situation in Bezug auf
die Gesundheit der Lehrer*innen (aber auch Schüler*innen) zu analysieren, gezielte
Qualitätsentwicklungsprozesse in Gang zu setzen und kontinuierlich voranzubringen.

Im schulischen Qualitätsmanagement geht es häufig um Daten und messbare Outcomes,


diese lassen sich leicht quantifizieren, z. B. die Anzahl der Schulabschlüsse.

126  Vgl. Dadaczynski/Paulus 2011, S. 167f

77 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Woran jedoch erkennt man als Schulleitung bzw. als Lehrkraft, dass die gesundheits-
fördernden Maßnahmen im Rahmen des Qualitätsmanagements greifen? Mittels der
Einschätzung des eigenen Erlebens der Arbeitsbedingungen bzw. an der subjektiven
Befindlichkeit („Wohlbefinden“) kann man die Zielerreichung von gesundheitsför-
dernden Maßnahmen ebenfalls gut ablesen:

• Zufriedenheit mit Arbeitsprozessen, -bedingungen und -strukturen


• angstfreie, offene und transparente Kommunikation über divergierende Ansichten und
Herangehensweisen
• allgemeine Zufriedenheit mit Kommunikationsprozessen und der herrschenden Konflikt-
kultur im Lehrer*innenteam
• Erleben von insgesamt weniger Anstrengung, Anspannung und Stress
• subjektives Wohlbefinden, positive Gefühle gegenüber der Arbeit in der Schule und
gegenüber Schüler*innen
• Sinnerleben und Teilen von gemeinsamen Werten und Zielen im Team
• Erfolgsrückmeldungen von Schüler*innen und/oder Eltern
• konstruktive Arbeitsbeziehungen zwischen den Kolleg*innen
• entspannter, weitgehend störungsfreier Unterricht
• gute Arbeitsbeziehung zwischen Schulleitung und Kollegium; Sicherheit, bei Bedarf (an)
gehört und unterstützt zu werden
• weniger psychosomatische Beschwerden und weniger Krankenstandstage

Vieler dieser Einschätzungen sind auch quantitativ durch standardisierte Erhebungs-


bögen und Instrumentarien messbar.127

127  Siehe auch: https://www.iqesonline.net/schulentwicklung/iqes-modell/iqes-handbuch-der-guten-­


gesunden-schule/ (letzter Zugriff Mai 2021)

78 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Der Schulqualitätsrahmen des schulischen Qualitätsmanagements

Wer sich im Rahmen der Schulentwicklung ausführlicher mit konkreten Werkzeugen


und Tipps zur Stärkung der Lehrer*innengesundheit auseinandersetzen möchte, sei
auf das umfangreiche Handbuch zur Lehrergesundheit128 deutscher Gesundheitskassen
hingewiesen. Darin finden sich konkrete Anleitungen, wie Gesundheitsförderung im
Kontext von Qualitätsentwicklung und -sicherung umgesetzt werden kann.

Um die oben genannten Ziele zu erreichen, kann es auch hilfreich sein, mit bewährten
Instrumentarien zu arbeiten, um Belastungen, die zu gesundheitlichen Beeinträchti-
gungen führen können, am Schulstandort zu erheben. Am bekanntesten ist das Ver-
fahren AVEM von Uwe Schaarschmidt und seinem Team zur interventionsbezogenen

128  Herausgegeben von DAK-Gesundheit & Unfallkasse NRW 2012 (siehe Literaturverzeichnis)

79 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Diagnostik beruflichen Bewältigungsverhaltens.129 Damit können gesundheitsrelevante
Auswirkungen beruflicher Tätig-keiten erfasst werden. Die fundierte Erfassung der
Effekte von berufsbezogenen Belastungen und Stresserleben erweist sich als zentral
für die schulstandortbezogene Maßnahmenplanung.

Was belastet Lehrkräfte am konkreten Schulstandort und wie kann diesen Belastungen
konstruktiv begegnet werden? An welchen Hebeln kann im Team und individuell angesetzt
werden, aber auch welche Rahmenbedingungen sind schwieriger oder vielleicht gar nicht zu
ändern? Auch mit letzteren ist ein Umgang zu finden, sodass gegebene (und manchmal nicht
abänderbare) Arbeitsbedingungen nicht krankmachend wirken.

Mit dem Instrument AVEM können wesentliche Aspekte der Haltungen und Be-
findlichkeiten in Bezug auf die Tätigkeit als Lehrkraft in elf Dimensionen (z. B.
subjektive Bedeutsamkeit der Arbeit, Verausgabungsbereitschaft, Perfektionsstreben,
Distanzierfähigkeit etc.) ermittelt werden. Die Ergebnisse zeigen die Verteilung von
vier arbeitsbezogenen Mustern im Kollegium und damit (anonymisiert) das Ausmaß
an gesundheitlich gefährdeten Lehrkräften. Schaarschmidt und Kolleg*innen haben
im Rahmen des Programms Denkanstöße! weitere Analyseverfahren und darauf auf-
bauend Gestaltungs- und Fördermaßnahmen entwickelt.130 Diese Verfahren und die
dadurch generierten Ergebnisse stellen eine gute Basis im Sinne einer Ist-Analyse für
die Maßnahmenplanung im Rahmen der Schulentwicklung dar.

Auch Wolfgang Bauer hat aufgrund zahlreicher Studien und Projekte mit Schulen ein
Coaching-Modell für Lehrkräfte entwickelt, das unter dem Namen „Freiburger Modell“
bekannt wurde.131 Basierend auf der Annahme, dass schwierige Beziehungskonstellationen
zwischen Lehrkräften und Schüler*innen („schwierige Klassenkompositionen“, diszi-
plinäre Herausforderungen, …), aber auch zwischen Kolleg*innen oder zur Schulleitung
belastende und krankmachende Wirkungen auf Lehrkräfte haben können. Gesund-
heitsprävention im Lehrberuf muss also Maßnahmen einschließen, die den Umgang mit
schwierigen Beziehungssituationen und damit die Beziehungskompetenz verbessern.
Hier schließt sich wieder der Kreis: Auch das schulische Qualitätsmanagement zielt
auf die Stärkung der professionellen Zusammenarbeit, mit der Herausforderungen am
Schulstandort besser bewältigt werden können. Neben Schul- und Klassenklima ist
es also auch die soziale (im besten Fall kooperative und unterstützende) Atmosphäre

129  Vgl. Schaarschmidt 2013


130  Siehe auch: https://coping.at/index.php?arbeitsbezogenes-verhaltens-und-erlebensmuster (letzter
­ ugriff Juni 2021) https://www.ichundmeineschule.eu/index.php?ueberblick (letzter Zugriff Mai 2021)
Z

131  Vgl. Bauer o. J.; https://lehrer-coachinggruppen.de/freiburger-modell.html (letzter Zugriff Mai 2021)

80 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


im Konferenzzimmer, die die psychosoziale Gesundheit von Lehrkräften beeinflusst.
Soziale Eingebundenheit ist – das zeigen vielfältige Forschungsergebnisse – nicht nur
für den Lernerfolg von Schüler*innen zentral, sondern auch für das Engagement und
die Leistungsfähigkeit von Lehrkräften.132

In Österreich bieten die Pädagogischen Hochschulen Inter- und Supervisionsgruppen


an, die Lehrkräfte insofern in ihrer psychosozialen Gesundheit stärken, als sie dort
ihre beruflichen Belastungen reflektieren und neue Perspektiven im Umgang mit
schwierigen Situationen entwickeln können.

Einer ausführlichen Ist-Stand-Bestimmung folgt die gemeinsame Zielbestimmung


und eine Ressourcenüberprüfung, was realistischerweise am Schulstandort machbar
ist. Maßnahmen werden gesetzt und schließlich wird überprüft, ob die erwünschten
Veränderungen eingetreten sind.

Einige Publikationen zur Lehrer*innengesundheit beschäftigen sich ausgiebig mit


solchen individuellen und systemorientierten Veränderungsansätzen. Dort finden sich
auch zahlreiche Materialien und Arbeitshilfen, die für eine Analyse und Maßnahmen-
planung zur Stärkung der Lehrer*innengesundheit sinnvoll sind.133

Eine der großen Herausforderungen in einem solchen Entwicklungsprozess ist die


Auseinander-setzung mit eigenen und kollektiven Denk- und Verhaltensweisen in
Bezug auf gesundheitliche Belastungen und Anforderungen des Lehrberufs. Beruf-
liche Herausforderungen sind für die einen etwas Anspornendes und für die anderen
eine Belastung und führen zu vermehrtem Stressempfinden. Als Menschen sind wir
sehr verschiedenen, wie wir jeweils mit auftretenden Belastungen umgehen, da uns
unterschiedliche Ressourcen zu deren Bearbeitung zur Verfügung stehen. In welcher
Weise jedoch über Belastungen wie Zeitdruck, Disziplinstörungen, überbordende
Verwaltungsaufgaben oder als schwierig empfundene Schüler*innen bzw. Klassen in
einem Konferenzzimmer gesprochen wird, beeinflusst die eigene Einschätzung und
Bewertung und damit auch oft auch die Handlungsspielräume. Ob zum Beispiel res-
pektvoll und achtsam über Schüler*innen und Kolleg*innen (oder eben gegenteilig)
gesprochen wird, macht einen großen Unterschied und zeigt sich im Atmosphärischen
im Konferenzzimmer. Wer schon an unterschiedlichen Schulen gearbeitet hat, weiß,
wie unterschiedlich Kommunikationskulturen sein können und wie sehr sich auch die
Sicht der Lehrkräfte auf die Schüler*innen unterscheiden kann. In einer Negativspirale
können sich Lehrkräfte entweder gegenseitig in der Bestätigung schwieriger Arbeits-

132  Vgl. Hagenauer/Raufelder 2020


133  Heyse 2011; DAK-Gesundheit & Unfallkasse NRW 2012; Kretschmann 2012

81 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


bedingungen schwächen oder über Positivspiralen in der gemeinsamen Bewältigung
der anstehenden Herausforderungen stärken. Viel hängt dabei von der Schulleitung
ab, inwieweit diese eine konstruktive Kommunikation im Konferenzzimmer fördert.

Der im Einleitungsbeitrag beschriebene Empowerment-Ansatz („Ermächtigung“, Befä-


higungs-ansatz) zielt im Kontext von unter Veränderungsdruck stehenden Schulen auf
die Befähigung mit dem konstruktiven Umgang mit Anforderungen und Herausforde-
rungen ab. Schulinterne Lehrer*innenfortbildungen und Coaching für Schulleitungen
können hier unterstützen. Die Autoren Brandes und Stark bringen das Gelingen von
Empowermentprozessen mit der Entwicklung eines sozialen Klimas und einer „nicht
technizistischen“ professionellen Grundhaltung in Verbindung. Diese umfasst u. a.

• Ressourcen- und Stärken-/Fähigkeitenorientierung,


• Prozess- und Zielorientierung,
• Optimismus und Zuversicht,
• Bereitschaft zu gleichberechtigten Arbeitsbeziehungen,
• Bereitschaft, Vertrauen entgegenzubringen,
• Bereitschaft, Verantwortung und Kontrolle abzugeben.134

Schulleitungen können zum Empowerment der Lehrkräfte beitragen,


­indem sie
• entsprechende (Gestaltungs-)Räume bereitstellen sowie Fortbildungen und Super-/
Intervision ermöglichen,
• die gemeinsame Reflexion von Problemen, Bedürfnissen und Ressourcen anregen,
• gemeinsam ermöglichen, Handlungsspielräume zur Verbesserung der Situation
­auszuloten,
• zur Erarbeitung von gemeinsam getragenen Entscheidungen und Lösungen ermutigen,
• eine positive Sicht auch auf als „schwierig“ eingestufte Schüler*innen und Eltern
­ermöglichen,
• partizipative Prozesse und Transparenz von Entscheidungen forcieren,
• ein soziales Klima am Schulstandort fördern, das motivierend und unterstützend für
alle an der Schule Beteiligten wirkt.

Als soziale Wesen, die wir Menschen nun einmal sind, können wir Entwicklungen
und Maßnahmen nur mittragen, wenn wir uns sozial eingebettet sowie verstanden
fühlen und wir den gemeinsamen Bestrebungen um Veränderungen Sinn abgewinnen
können. Dies wiederum hält uns gesund und leistungsfähig. Und schließlich brauchen

134  Brandes/Stark 2021

82 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


wir gesellschaftlich dringend gesunde und engagierte Lehrkräfte, die ihrerseits Heran-
wachsende darin unterstützen, dass Lern- und Bildungsprozesse unter gesundheits-
fördernden Rahmenbedingungen stattfinden.

Im Folgenden finden Sie einen modellhaften Schulentwicklungsplan zum Thema


Lehrer*innengesundheit.135 Gerne können Sie sich davon leiten lassen, um Ideen für
die Erstellung eines eigenen SEP zum Thema Lehrer*innengesundheit zu entwickeln.

135  An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Kollegin im BMBWF, Dr.in Michaela Jonach, für die vielen
Hinweise und Impulse für die Erstellung des Schulentwicklungsplanes im Rahmen des neuen QMS herzlich
bedanken.

83 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Schulentwicklungsplan (=SEP) zwischen (der fiktiven) Hedy Lamarr-Schule und der
­Bildungsdirektion Wien (zuständiger SQM)
Planungsperiode: Schuljahr 2021/22 bis Schuljahr 2023/2024

Ziel: Stärkung der Lehrer*innengesundheit und des Wohlbefindens


LGERN
SS
FO
P am Schulstandort
U

LA
HL

NE
SC

Schulentwicklungsplan – Ziel für den Zeitraum von Schuljahr 2021/22 bis Schuljahr
ÜBE

2023/24
RP

Ü
RE
R

FE Ü
H

N HF
DURC

Qualitätsrückblick

Siehe letzten Schulentwicklungsplan. Reflexion der letzten Qualitätsentwicklungs-


periode als Teil des Bilanz- und Zielvereinbarungsgesprächs (BZG) mit der/dem SQM.
Der Qualitätsrückblick wird hier im Beispiel-SEP nicht ausgeführt, ist grundsätzlich
aber im SEP vorgesehen.

1. Ausgangslage

Unsere Lehrkräfte nehmen seit einigen Jahren eine Zunahme von beruflichen Be-
lastungen wahr. Zudem berichten Kolleg*innen, dass sie aufgrund dieser Belastungen
massiven Stress erleben und dadurch häufiger krank werden. Die Krankenstände haben
– auch aufgrund einer eher höheren Altersstruktur im Kollegium – in den letzten Jahren
zugenommen. Jüngere Kolleg*innen wollen teilweise keine ganze Lehrverpflichtung
mehr eingehen, um – wie sie sagen – eine optimalere Work-Life-Balance zu haben.
Einige Lehrer*innen wollen zukünftig weniger „Workload“ auf sich nehmen.

Insgesamt ist die Zusammenarbeit im Kollegium relativ gut und auch die Art der
Schulleitung erfährt eine hohe Zustimmung. Da wir uns in den letzten Jahren mit
dem Wohlbefinden der Schüler*innen und dessen Auswirkungen auf die Leistungs-
bereitschaft auseinandergesetzt haben, wollen wir uns ab dem Schuljahr 2021/22
stärker dem Thema Lehrer*innengesundheit widmen und die Lehrer*innen im kons-
truktiven Umgang mit beruflichen Belastungen stärken. Wir nehmen auch die empi-
rischen Befunde, dass (psychosozial) gesunde Lehrer*innen (schüler*innen-)gerechter,
engagierter und empathischer unterrichten, zum Anlass, um über die Stärkung der
­Lehrer*innengesundheit auch das Wohlbefinden der Schüler*innen zu erhöhen.

84 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


­ etzteres hängt ja eng mit förderlichen Lehrer*innen-Schüler*innenbeziehungen und
L
einer konstruktiven Klassen- und Schulkultur zusammen.

2. SMARTes Ziel

Bis zum Ende des Qualitätszyklus schätzen 2/3 Drittel der Lehrer*innen ihr Wohlbe-
finden am Schulstandort sowie ihre psychosoziale Gesundheit als sehr gut bzw. gut ein.

SMART steht für


S = spezifisch und konkret. Was soll genau erreicht werden?
M = messbar. Woran stellen Sie fest, dass das Ziel erreicht wurde?
A = attraktiv. Ist das Ziel motivierend formuliert?
R = realistisch. Ist das Ziel mit den gegebenen Ressourcen in der gegebenen Zeit erreichbar?
T = terminiert. Bis wann soll das Ziel genau erreicht sein?

Indikator/en:
• Erhebungen mittels eines normierten Erhebungsbogens zeigen am Ende des Qualitäts-
zyklus bei 2/3 der Lehrkräfte eine hohe Arbeitszufriedenheit, Kooperations- und Leis-
tungsbereitschaft und damit positive Veränderungen im Bereich des Wohlbefindens.
• Die eigene psychosoziale Gesundheit wird am Ende des Qualitätszyklus von 2/3 der Lehr-
kräfte als sehr gut oder gut eingeschätzt.
• Die Kooperation zwischen den Lehrkräften hat sich laut Erhebung um 40 % erhöht und
um die 65 % der Lehrkräfte erleben einen sozialen Rückhalt im Kollegium.
• Die Schule weist bis zum Ende des Qualitätszyklus um 1/4 weniger Krankenstandstage
und 1/5 weniger Frühpensionierungen auf.
• 85 % der Kolleg*innen unter 35 Jahren wollen bis zum Ende des Qualitätszyklus (wieder)
eine volle Lehrverpflichtung und kommen mit Doppelbelastungen (z. B. durch Familie und
Beruf) laut Erhebung gut zurecht.

85 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


3. Bezug zum Qualitätsrahmen (=QR)

QUALITÄTSDIMENSION/EN 2.0 Qualitätsmanagement

Qualitätsbereich/e: 2.3  Personal auswählen und entwickeln

Qualitätskriterien: Die Schulleitung …


… stellt sicher, dass Strukturen und Angebote für die systemati-
sche Einarbeitung neuer Lehrender vorhanden sind.
… plant und steuert, ausgehend von den Kompetenzen der
Lehrenden und dem Bildungsangebot der Schule, Personal­
entwicklungsmaßnahmen.

QUALITÄTSDIMENSION/EN 3.0  Lernen und Lehren

Qualitätsbereich/e: 3.4  Professionell zusammenarbeiten

Qualitätskriterien: Lehrende und das weitere pädagogische Personal …


… tauschen sich entsprechend der an der Schule geschaffenen
Organisations- und Arbeitsstrukturen regelmäßig aus.
… nutzen kollegiales Feedback, um von- und miteinander zu
lernen.
Die Schulleitung …
… gewährleistet Strukturen, die unterschiedliche Formen der
Kooperation unter Lehrenden ermöglichen und fördern.
… schafft Verbindlichkeit und Regelungen hinsichtlich der
Zusammenarbeit von Lehrenden und dem weiteren pädagogi-
schen Personal.

Qualitätsbereich/e: 2.5  Beratung und Unterstützung anbieten

Qualitätskriterien: Lehrende …
… nutzen im Bedarfsfall die Expertise von Personen entspre-
chender Beratungs- und Unterstützungssysteme.
Die Schulleitung …
… sorgt für ein funktionierendes Beratungs- und Unterstüt-
zungssystem und stimmt schulinterne und außerschulische
Beratungs- und Unterstützungsangebote aufeinander ab.

QUALITÄTSDIMENSION/EN 5.0  Ergebnisse und Wirkungen

Qualitätsbereich/e: 5.3  Akzeptanz der Schule nach innen und außen

Qualitätskriterien: Lehrende …
… fühlen sich wohl an der Schule und erleben Anerkennung und
Wertschätzung durch die Schulleitung, die Kolleg*innen, die
Lernenden, die Erziehungsberechtigten sowie die Koopera-
tions-partner*innen.
… schätzen den professionellen und respektvollen Umgang
miteinander.
… identifizieren sich mit den Zielen, Ergebnissen und Wirkungen
der Schule.

86 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


4. Maßnahmen

Maßnahmen sind Mittel und Wege, um die oben genannten Ziele zu erreichen.

Unsere Schule bestellt im ersten Jahr des Qualitätszyklus eine kompetente Vertrauensperson
bzw. ein Team, die/das sich um Gesundheitsfragen und Wohlbefinden kümmert und gesundheits-
fördernde Maßnahmen koordiniert („Schulgesundheitskoordinator*in“, „Schulgesundheitsteam“).
Die Bestellung erfolgt über die Schulleitung unter Einbindung der Kollegenschaft. Der*die Schü-
ler*innen-/ Bildungsberater*in sollte aufgrund seiner Beratungskompetenzen im Team sein, und
es erfolgt eine enge Abstimmung mit der Schulärztin.

Als Auftakt wird bis Ende des ersten Semesters des Qualitätszyklus ein pädagogischer Halbtag
zum Thema Resilienz und Lehrer*innengesundheit veranstaltet. Die Schulärztin und/oder eine
(Schul-) Psychologin begleiten den Prozess.

Schulinterne Lehrer*innenfortbildung zum Thema psychosoziale Gesundheit, Wohlbefinden


und Resilienzstärkung wird über den gesamten Qualitätszyklus abgehalten. Diese SCHILF wird
vom*von der Schulgesundheitskoordinator*in über die zuständige PH organisiert. Bei Bedarf
holen wir uns externe Begleitung, die uns in Gesundheitsfragen berät.

Die Schule nimmt Angebote von anderen Institutionen wahr, die die Gesundheit am Schulstand-
ort thematisieren und verbessern (z. B. Projekte des Fonds Gesundes Österreich, Programme der
BVAEB bzw. Gesundheitskassen, Angebote und Materialien der GIVE136, Fortbildungsangebote der
Pädagogischen Hochschulen, …). Welche Programme zur Umsetzung kommen, wird im ersten Jahr
des Qualitätszyklus entschieden.

Jüngere (bei Bedarf auch ältere) Kolleg*innen werden in besonderen Belastungssituationen von
erfahrenen Lehrkräften über den gesamten Qualitätszyklus hinweg beraten und unterstützt.
Wenn es die Situation erfordert, arbeiten wir hier eng mit der Schulärztin und der Schulpsycho-
login zusammen.

Die Schulleitung ermöglicht über den gesamten Qualitätszeitraum hinweg die (freiwillige) Teilnah-
me an Intervisions- und Supervisionsgruppen (buchbar über die Pädagogischen Hochschulen).

Wir tauschen uns bei Bedarf mit anderen, an Gesundheitsförderung interessierten Schulen aus
und spielen unsere Erfahrungen in diese Netzwerke ein (z. B. Netzwerke der Gesundheitskassen,
WIENGS137).

Wir verstärken die Kommunikation, den kollegialen Austausch und die Kooperation auf allen
Ebenen, um Belastungssituationen im Schulalltag weitgehend zu minimieren. Und wir sprechen
schwierige Situationen sowohl im Unterricht als auch im Kollegium zeitnah an und suchen dafür
gemeinsam nach Lösungen.

136  GIVE (Servicestelle für Gesundheitsförderung an Österreichs Schulen):


https://www.give.or.at/ (letzter Zugriff Juni 2021)

137  z. B. https://www.gesundheitskasse.at/cdscontent/?contentid=10007.825934&portal=oegknportal
­(letzter Zugriff Juni 2021); https://www.wiengs.at/startseite/ (letzter Zugriff Juni 2021)

87 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


5. Schulinterne Evaluation

< z. B. Fragebögen, Interviews, Feedbackmethoden, Fokusgruppen. Siehe www.iqesonline.net/at.


Schulinterne Evaluation überprüft die Wirkung von Maßnahmen, die teils mit hohem Aufwand ver-
bunden sind, und daher evaluiert und reflektiert werden sollen.>

Welche Maßnahmen Wer ist die Ziel- Was genau wollen Sie Welche Instrumente
werden evaluiert? gruppe der Evalua- von der Zielgruppe werden eingesetzt?
tion? wissen?
Auswahl und Be- (Ausgewählte) Welche Aktivitäten/ Akkordierte Abstim-
stellung eines*einer Lehrer*innen Maßnahmen wann ge- mung im Kollegium
Schulgesundheits-ko- unserer Schule plant und umgesetzt Protokolle über Aktivi-
ordinator*in oder eines wurden täten; Einsatz von
Teams standardisierten Erhe-
bungsbögen zur Leh-
rer*innengesundheit
bzw. zum Befinden138
Lehrer*innenfortbil- Alle Lehrer*innen Erkenntnisse aus und Austausch in kleinen
dung zum Thema (psy- unserer Schule Erfahrungen mit den Gruppen, Berichte in
chosoziale) Gesundheit Inhalten der Fortbildung; einer der pädagogi-
und Wohlbefinden Kompetenzzuwächse schen Konferenzen,
im Sinne des profes- Sammlung von wichti-
sionellen Umgangs mit gen Informationsma-
Belastungen terialien zum Thema
Unterstützung von Dienstjüngere / Erfahrung, inwieweit Kurzer Leitfaden und
jüngeren (oder auch dienstältere Kol- kollegiale Beratung Kurzprotokolle über
älteren) Kolleg*innen in leg*innen und Begleitung bei Zweiergespräche im
Belastungssituationen der Bewältigung von Tandem (dienstjün-
beruflichen Belastungen gere – dienstältere
hilfreich ist/war Kolleg*innen)
Teilnahme an Intervi- Interessierte Leh- Rückmeldung, inwieweit Selbstevaluation jeder
sions- oder Supervi- rer*innen Inter- und Supervision teilnehmenden Lehr-
sionsgruppen hilfreich waren, z. B. bei kraft, Austausch in
schwierigen Klassen- Tandems
kompositionseffekten
Umsetzung eines Möglichst viele Wie konnte die eigene Selbstevaluation
Resilienzprojekts Lehrer*innen am Resilienz/Belastbarkeit Online-Fragebogen
(oder eventuell eines Schulstandort gestärkt werden? Inwie- nach 2 Jahren zur Ver-
anderen Gesundheits- weit konnten Stress- besserung der eigenen
projekts, Entscheidung bewältigungskompe- (Stress-) Bewältigungs-
fällt im ersten Jahr) tenzen gestärkt werden? kompetenzen
Inwiefern konnten die
eigenen Gesundheits- Diskussion der Ergeb-
kompetenzen verbessert nisse in einer pädago-
werden? gischen Konferenz

Stärkung der Kommu- Alle Lehrende; Wie konnte die Verbes- Online-Fragebogen
nikation und Koopera- Schulleitung serung der Kommuni- nach 2 Jahren, Dis-
tion im Kollegium kation und Kooperation kussion der Ergebnisse
zur Verbesserung des in einer pädagogischen
eigenen Wohlfühlens Konferenz
am Schulstandort bei-
tragen?

138  Siehe Beitrag von Marlies Kranebitter/Doris Schiestl, dort werden konkrete Erhebungsbögen genannt.

88 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Projektplan zur Erreichung des genannten Zieles:
Folgende Tabelle soll als Teil des Projektmanagements die oben skizzierten Maßnahmen
gliedern und in einen zeitlichen Ablauf bringen. Benennen Sie Verantwortlichkeiten,
Termine sowie Produkte und Ergebnisse. Unterstützenden Materialien (Projektstruk-
turplan, Meilensteinplan, …) finden Sie unter www.link.qms.at.

Was? Wer? Welches Bis wann? Produkte/Ergeb- Erledigt


Maßnahme/Pro- Team? Ende der Maßnah- nisse
jekt Verantwortliche me/des Projekts

Bestellung Schulleitung in Bis spätestens Personen stehen


und Auswahl Absprache mit Jänner 2022 fest und der Auf-
eines*einer Schul- Kolleg*innen in gaben-bereich ist
gesundheits-ko- einer pädagogi- geklärt
ordinator*in oder schen Konferenz
eines Teams

Abhaltung einer Schulleitung Bis Ende des ers- Commitment von


pädagogischen & Schulentwi- ten Semesters des 4/5 der Lehrkräfte
Konferenz als cklungs- sowie ersten Jahres im ist hergestellt;
Auftakt zum SEP- Gesundheitsteam Qualitätszyklus Basis-informa-
Thema tion ist gegeben;
Zielsetzung ist für
alle klar.

Lehrer*innenfort- Koordinations- Gesamte Projekt- Kompetenzaufbau


bildung zum The- team und interes- laufzeit bei Lehrkräften
ma (psychosoziale) sierte Lehrer*in- hinsichtlich eige-
Gesundheit und nen ner Belastungs-
Wohlbefinden strategien sowie
zum Resilienzauf-
bau, Inhalte und
Erkenntnisse aus
der Fortbildung
(z. B. zu Resilienz)
fließen auch in die
Unterrichts- und
Teamarbeit ein

Unterstützung Schulleitung und Gesamte Projekt- Workload wird


von jüngeren Koordinations- laufzeit besser im Kol-
(oder auch älteren) team legium verteilt
Kolleg*innen in und gesundheit-
Belastungs-situ- liche Bedürfnisse
ationen werden besser
berücksichtigt
(Stundenplan etc.)
Belastungen wer-
den besser abge-
federt, Life-Work-
Balance und die
Berufszufrieden-
heit verbessern
sich laut jährlicher
Erhebung.

89 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Organisation bzw. Interessierte Nach Bedarf und Bewältigungs-
Teilnahme an Kolleg*innen Verfügbarkeit strategien/Co-
Intervisions- oder ping-Strategien
Supervisions- für schwierige
gruppen (Unterrichts-)
Situationen
verbessern sich.
Überprüfung
mittels Selbstein-
schätzung

Umsetzung eines Möglichst viele Bis Ende des Resilienz und


Resilienzprojekts Kolleg*innen, Schuljahrs Coping-Strate-
koordiniert durch 2022/2023 gien verbessern
das Schulgesund- sich nachhaltig;
heitsteam oder Kooperation und
den*die Schulge- Unterstützung im
sundheitskoordi- Team verbessern
nator*in sich; subjektives
Wohl-befinden
steigert sich;
Krankenstandsta-
ge werden weniger

Stärkung der Schulleitung; Gesamte Projekt- Verbesserte Zu-


Kommunikation Schulentwick- laufzeit sammenarbeit,
und Kooperation lungsteam bzw. funktionierender
am Schulstandort alle Lehrer*innen Schulalltag, we-
niger Reibungs-
verluste und
Konflikte, mehr
Berufszufrieden-
heit; Überprüfung
über jährliche
Evaluierung

Der vorgelegte SEP ist als Vorschlag für eigene Überlegungen im Rahmen der Quali-
tätsentwicklung an Schulen zu verstehen. Finden Sie heraus, was an Ihrem Schulstand-
ort gebraucht wird und welche Schwerpunktsetzungen vom Lehrer*innenkollegium
mitgetragen werden. Holen Sie sich Unterstützung durch eine*n Schulentwicklungs-
berater*in bzw. nutzen Sie die Angebote der in Österreich relevanten Institutionen
(Sozialversicherungsträger bzw. Gesundheitskassen, FGÖ, GIVE etc.). Weitere Infor-
mationen finden Sie zu SMQ unter https://www.qms.at/.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg mit den Instrumenten des QMS im Bereich der schu-
lischen Gesundheitsförderung!

90 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Literatur

Bauer, Joachim/ Unterbrink, Thomas/ Zimmermann, Linda: Gesundheitsprophylaxe für L


­ ehrkräfte
– ­Manual für Lehrer-Coachinggruppen nach dem Freiburger-Modell. Selbstverlag der technischen
­Universität Dresden, Freiburg/Dresden (ohne Jahresangabe).

Brägger, Gerold/ Posse, Norbert (2007): Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation in
Schulen (IQES). Wie Schulen durch eine integrierte Gesundheits- und Qualitätsförderung besser werden.
Hep Verlag, Bern. IQES-Handbuch der guten gesunden Schule – IQES (iqesonline.net) (letzter Zugriff
Mai 2021)

Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung (BIFIE) (2019): TALIS 2018 (Band 1).
Rahmenbedingungen des schulischen Lehrens und Lernens aus Sicht von Lehrkräften und Schulleitun-
gen im internationalen Vergleich. Hrsg.: Schmich, Juliane/ Itzlinger-Bruneforth, Ursula. Leykam, Graz.
https://www.iqs.gv.at/themen/internationale-studien/talis/talis-2018 (letzter Zugriff Februar 2021)

Brandes, Sven/ Stark Wolfgang: Empowerment.


https://www.leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/empowermentbefaehigung/ (letzter Zugriff
Februar 2021)

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung: Qualitätsmanagement für Schulen.


https://www.qms.at/ (letzter Zugriff Februar 2021)

Dadaczynski, Kevin/ Paulus, Peter (2011): Gesundheitsmanagement in der guten gesunden Schule:
­Handlungsfelder, Prinzipien und Rolle der Schulleitung. In: Dür, Wolfgang/ Felder-Puig, Rosemarie:
Lehrbuch Schulische Gesundheitsförderung. Hans Huber Verlag, Bern. S. 164 – 178.

DAK-Gesundheit & Unfallkasse NRW (Hrsg.) (2012): Handbuch Lehrergesundheit – Impulse für die
Entwicklung guter gesunder Schulen. Carl Link, Köln. http://www.handbuch-lehrergesundheit.de/­
downloads/Handbuch-Lehrergesundheit.pdf (letzter Zugriff 26.4.2021)

Dür, Wolfgang (2008): Gesundheitsförderung in der Schule. Empowerment als systemtheoretisches


­Konzept und seine empirische Umsetzung. Verlag Hans Huber, Bern.

Egger, Josef W. (2017): Theorie und Praxis der biopsychosozialen Medizin. Körper-Seele-Einheit und
sprechende Medizin. Facultas, Wien.

Felder-Puig, Rosemarie/ Kuso, Stefanie/ Flaschberger, Edith (2015): Argumente für die Gesunde Schule.
Ludwig Boltzmann Institute of Health Promotion Research, Wien.

91 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Hagenauer, Gerda/ Raufelder, Diana (Hrsg.) (2020): Soziale Eingebundenheit. Sozialbeziehungen im
Fokus von Schule und Lehrer*innenbildung. Waxmann, Münster.

Heyse, Helmut (2011): Herausforderung Lehrergesundheit. Handreichungen zur individuellen und


­schulischen Gesundheitsförderung. Kallmeyer/Klett Friedrich Verlag, Seelze.

Košinár, Julia/ Leineweber, Sabine (2010): Ganzheitliche Stressprävention in der Lehrerausbildung.


­Konzepte, Training und Begleitforschung. Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler.

Kretschmann, Rudolf (Hrsg.) (2012): Stressmanagement für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Trainingsbuch
mit Kopiervorlagen. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.

OECD (2017): PISA 2015 Results (Volume III). Students‘ Well-Being. OECD Publishing, Paris.

Schaarschmidt, Uwe/Fischer, Andreas W. (2013): Lehrergesundheit fördern – Schule stärken. Ein


­Unterstützungsprogramm für Kollegium und Leitung. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.

Schaarschmidt, Uwe (o.J.): AVEM: Ein Instrument zur interventionsbezogenen Diagnostik beruflichen
Bewältigungsverhaltens. https://www.psychotherapie.uni-wuerzburg.de/termine/dateien/Schaar-
schmidt180407_AVEM.pdf (letzter Zugriff Februar 2021)

Schneider, Stefan (2014): Salutogene Führung. Die Kunst der gesunden Schulleitung. Wolters Kluwer, Köln.

Service Stelle gesunde Schule/SV (2020): Gesundheitsförderung für Lehrerinnen und Lehrer. Wien.
https://www.bvaeb.at/cdscontent/load?contentid=10008.734788&version=1617897912 (letzter Zugriff
Mai 2021)

Sieland, Erhard/ Heyse, Helmut (2012): Schulentwicklung – vom Änderungsbedarf zum Handlungsplan.
In: DAK-Gesundheit & Unfallkasse NRW (Hrsg.) (2012): Handbuch Lehrergesundheit – Impulse für die
Entwicklung guter gesunder Schulen. Carl Link, Köln. S. 151 – 194.

Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (2013): Gesundheitsförderung für Lehrerinnen und L


­ ehrer.
Wien.

Zur Autorin

Andrea Fraundorfer, Dr.in phil., war 10 Jahre lang Pflichtschullehrerin, studierte E


­ rziehungswissenschaft
und arbeitet seit 2008 im BMBWF. Publikationen in Sammelbänden und Zeitschriften u. a. zu den
­Themen Innovationen an Schulen, Schulabbruch, Professionalisierung von Lehrer*innen sowie zur
psychosozialen Gesundheit.

92 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


7 Stärkung der psychosozialen Gesundheit von Lehrer*innen – gesund bleiben
durch positive Beziehungsgestaltung

Sonja Schuch 7.1 Einführung

G
ute Beziehungen sind eine wichtige Ressource von Schulen. Sie unterstützen
die psychosoziale Gesundheit ihrer Schüler*innen und Lehrer*innen und er-
möglichen dadurch gelingendes Lernen und Lehren. Schulgemeinschaften
können auf vielfältige Weise zu einer guten Beziehungsgestaltung beitragen. Bei die-
sem vielschichtigen Thema ist es sinnvoll, auf mehreren Handlungsebenen anzusetzen.
Je umfassender das Thema „Beziehungsgestaltung“ behandelt wird, umso eher können
Erfolge verbucht werden. Dabei spielt es eine Rolle, dass Maßnahmen langfristig ange-
legt werden und der Großteil der Kolleginnen und Kollegen dieses Thema unterstützt
bzw. daran mitarbeitet. Der folgende Beitrag fasst die wesentlichen Ansatzpunkte schu-
lischer Beziehungsgestaltung zusammen und gibt praktische Tipps für die Umsetzung.

In der Lebenswelt Schule sind ein Großteil der Beziehungen nicht freiwillig entstanden
und Probleme im Umgang miteinander daher nichts Ungewöhnliches. Umso wichtiger
ist es, dass am Schulstandort gemeinsam aktiv an der Beziehungsgestaltung gearbeitet
wird. Schulgemeinschaft kann auf vielfältige Weise dazu beitragen, dass an der Schu-
le ein respektvolles und tolerantes Klima herrscht und Wert auf gute Beziehungen
gelegt wird. Welche Wege eine Schule gehen will und wo sie ihre Prioritäten setzt,
hängt von den Herausforderungen und Erfahrungen ab, mit denen sie im Schulalltag
konfrontiert ist.

Wesentliche Merkmale guter Beziehungen an Schulen sind eine wertschätzende Grund-


haltung, Respekt, gegenseitige Akzeptanz, Vertrauen sowie Gerechtigkeit und Fairness.
Gute Beziehungen fördern die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern sowie
die Arbeitszufriedenheit von Lehrkräften. Sie sorgen dafür, dass sich alle am Lernort
und Arbeitsplatz Schule wohlfühlen. Stabile Beziehungen geben Sicherheit, bieten
Hilfe und Orientierung bei Problemen und wirken sich dadurch positiv auf das psy-
chische und soziale Wohlbefinden von Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen aus.

Gute Beziehungen sind also eine grundlegende Voraussetzung für


­erfolgreiches Arbeiten und Lernen in der Schule, indem sie zu
• Motivation,
• Lernerfolg,
• positivem Sozialverhalten,
• gutem Klassen- und Schulklima,

93 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


• Verringerung von Schulangst,
• positiver Einstellung zur und Identifikation mit der Schule,
• Verminderung von Konflikten und Disziplinproblemen,
• Arbeitszufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern und
• Reduzierung von Schulabbruch und -absentismus beitragen.

7.2 Ansatzpunkte und Überlegungen zu Beginn

In der Lebenswelt Schule stehen viele Menschen miteinander in Beziehung. Dazu


gehört in erster Linie die professionelle Beziehung zwischen Schüler*innen und Leh-
rer*innen, die Freundschafts-beziehungen zwischen Kindern und Jugendlichen und die
Beziehungen der Lehrer*innen im Kollegium. Ebenfalls von Bedeutung ist die Quali-
tät der Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schulleitungen sowie die Beziehung
beider Gruppen zu den Eltern und Erziehungsberechtigten. Darüber hinaus sind auch
gute Beziehungen zu nichtunterrichtenden Personen, wie z. B. Reinigungspersonal,
Schulwart, Schulärztin, wichtig.

Für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind verlässliche Bezie-
hungen zu Erwachsenen, die auf Sicherheit, Geborgenheit und emotionaler Wärme
basieren, lebensnotwendig. Sie brauchen jemanden, der ihnen mit Achtung begegnet
und sich für ihre Gefühle und ihr Tun interessiert. Erwachsene können Kindern und
Jugendlichen beim Umgang mit ihren Stärken und Schwächen helfen und Orientie-
rung geben. Positives und wertschätzendes Feedback, Ermutigung zu selbstständigem
Handeln, gemeinsam erarbeitete Regeln und die Möglichkeit zur Mitbestimmung
und sind beispielhafte Ansatzpunkte. Dazu gehören auch geeignete Methoden der
Partner- und Gruppenarbeit, die gemeinsames Lernen erleichtern.

Der Umgang mit und Freundschaften zu Gleichaltrigen sind für die soziale und morali-
sche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig. Es geht um Solidarität,
ähnliche Interessen, gegenseitiges Vertrauen, Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe.
Die Beziehung zu Gleichaltrigen ist insbesondere im Ablösungsprozess vom Elternhaus
von Bedeutung. Lehrer*innen können durch verschiedene Maßnahmen die Klassen-
gemeinschaft und den Gruppenzusammenhalt stärken und Außenseiter*innen dabei
unterstützen sich in der Klasse zu integrieren.

Nicht zu vergessen ist die Bedeutung guter Beziehungen im Kollegium – eine wich-
tige Ressource für die Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern. Kooperation und
gegenseitige Unterstützung im Kollegium fördern Motivation und Arbeitszufrieden-
heit und bieten Rückhalt in schwierigen, pädagogischen Situationen. Für ein gutes
Verhältnis zwischen Pädagog*innen und Eltern bzw. Erziehungsberechtigten ist ein

94 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


regelmäßiger Austausch hilfreich. Der sollte nicht nur passieren, wenn es Probleme
gibt, sondern auch dazu dienen, über Positives aus dem Schulleben zu berichten. Da
Eltern eine sehr heterogene Gruppe sind, braucht es verschiedene Zugänge und An-
gebote, um die Beziehungen zu stärken und Eltern das Gefühl zu geben, an der Schule
willkommen zu sein.

Beziehungsförderung – ein vielschichtiges Thema, das alle Ebenen des


Schullebens betrifft

Es liegt in der Natur des Themas, dass schnelle und einfache Lösungen nicht erfolg-
versprechend sind: Beziehungsarbeit braucht Zeit, Durchhaltevermögen und unter-
stützende Rahmenbedingungen. Zielführend und kräftesparend ist es, Zusammen-
hänge mit bereits bestehenden Aktivitäten herzustellen. Viele Bezugspunkte gibt es
zu folgenden Themen:

»  Förderung eines guten Schul- und Klassenklimas: Meinungsverschiedenheiten,


Beschimpfungen oder körperliche Attacken beeinträchtigen das Klassenklima und
verhindern konstruktives Lernen und Arbeiten. Kommunikationsfördernde, konflikt-
und gewaltmindernde Maßnahmen stärken respektvolle Beziehungen und ein positives
Schulklima. Die Wirkungen sind spürbar und tragen maßgeblich zur Reduktion von
Mobbing- und Gewaltvorfällen bei.139

»  Soziale Integration in der Klasse fördern: Für das Wohlbefinden der Schüler*innen
ist es wichtig, in der Klasse akzeptiert und gut integriert zu sein. Kennenlern-Tage, ge-
meinsame Feste und Feiern stärken das Zugehörigkeitsgefühl und den Zusammenhalt.

»  Soziales Lernen: Soziales Lernen ist an vielen Schulen bereits gut etabliert. Schü-
ler*innen erarbeiten gemeinsam Verhaltensregeln und lernen diese einzuhalten. Sie
trainieren faires Streiten, üben den konstruktiven Umgang mit Konflikten und unter-
stützen sich gegenseitig. Ihre Beziehungen zueinander werden gestärkt.140

»  Selbstwertstärkung, Lebenskompetenz- und Resilienzförderung: Diese Maßnahmen


zielen darauf ab, persönliche Ressourcen der Kinder und Jugendlichen zu stärken, z. B.
Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen, den Umgang mit Stress und Gefühlen
sowie die Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit. Lebenskompetenzprogramme

139  Mehr dazu https://wohlfuehlzone-schule.at/ (letzter Zugriff Juni 2021)


140  Weitere Informationen unter www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulpraxis/ba/soziales_lernen.html
(letzter Zugriff Juni 2021)

95 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


­ erden erfolgreich in der schulischen Suchtprävention eingesetzt. Dabei wird die Stärkung
w
persönlicher Ressourcen kombiniert mit Maßnahmen, die die Widerstandsfähigkeit von
Schülerinnen und Schülern fördern, sie bei der Bewältigung von Krisen unterstützen
und Alternativen zu Risikoverhalten wie Rauchen oder Alkoholkonsum bieten.141

»  Klassenführung: Lehrer*innen gehen auf eine Art und Weise mit ihrer Klasse um,
die es allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht, vom Unterricht zu profitieren. Es
geht dabei u. a. um eine konstruktive Arbeitsweise mit heterogenen Lerngruppen und
die Reduktion von unerwünschten Störungen. Der Aufbau tragfähiger Beziehungen
ist hier besonders relevant.

»  Bewältigung von Lernproblemen: Es ist der Schule ein Anliegen, Lernprobleme mög-
lichst früh zu erkennen und die betroffenen Schüler*innen zu unterstützen. Verlässliche
Beziehungen sind in diesem Prozess eine wichtige Ressource. Bei Bedarf können Bera-
tungssysteme wie die Schüler*innen- und Bildungsberater*innen hinzugezogen werden.142

Zeit für die Planung nehmen

Beziehungsarbeit betrifft die gesamte Schule. Es empfiehlt sich daher, Maßnahmen


auf mehreren Handlungsebenen zu setzen: auf Ebene der gesamten Schule, auf Unter-
richts- und Klassenebene, als fächer- oder klassenübergreifende Angebote in Form von
Projekten und Programmen. Je umfassender und vielschichtiger das Thema behandelt
wird, umso eher sind positive Veränderungen zu erwarten.

Ein zielgerichtetes Vorgehen, z. B. anhand des Projektmanagementzyklus, hat sich in


der schulischen Gesundheitsförderung bewährt. Methoden und Instrumente, die Sie
bereits aus der Schul- und Qualitätsentwicklung kennen, sollen auch hier zum Einsatz
kommen. Der Vorteil einer strukturierten Vorgehensweise ist, dass sich die Maßnah-
men besser nachvollziehen und bei Bedarf adaptieren lassen. Folgende Schritte sind
insbesondere zu Beginn relevant:

»  Im Kollegium eine Entscheidung für das Thema „Beziehungsgestaltung“ herbeiführen.


Das Thema kann Gegenstand einer gemeinsamen Konferenz sein. Machen Sie gemeinsam
mit den Kolleginnen und Kollegen ein erstes Brainstorming anhand folgender Leitfragen:

141  GIVE-Material „Lebenskompetenzen fördern“ und online unter www.give.or.at/angebote/themen/le-


benskompetenzen/ (letzter Zugriff Juni 2021)

142  Mehr dazu www.schulpsychologie.at/fileadmin/user_upload/EINLEITUNG_SteckbriefeBeratungsprofes-


sionen.pdf (letzter Zugriff Juni 2021)

96 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Was gab es dazu bereits, was gibt es noch immer?
Was ist gut so, wie es ist?
Wo möchten wir Änderungen herbeiführen?

»  Es braucht klare Verantwortlichkeiten. Klären Sie, wer für das Thema hauptver-
antwortlich ist und bei welchen Personen die Fäden zusammenlaufen (Teambildung).

»  Nehmen Sie sich nun Zeit für eine detaillierte Bestandsaufnahme. Diese Fragen
sind relevant:
Wo liegen die Erfahrungen im Kollegium?
Was ist bereits fest im Schulalltag verankert?
Wo gibt es immer wieder Klagen?
Was könnte den Prozess möglicherweise behindern?

»  Es ist zielführend, hier auch die Sichtweise der Schüler*innen, Eltern(-vertreter*in-


nen) und bei Bedarf des nichtunterrichtenden Personals miteinzubeziehen. Fragen Sie
auch nach der Einschätzung der zuständigen Kollegin bzw. des zuständigen Kollegen
der Schulsozialarbeit oder Schulpsychologie.

»  Legen Sie nun Schritt für Schritt fest, wie Sie vorgehen wollen. Wählen Sie jene
Bereiche aus, wo es einen hohen Handlungsbedarf gibt. Achten Sie bei der Erstellung
des Maßnahmenplans darauf, sich nicht zu viel vorzunehmen und schulische Fixter-
mine im Blick zu behalten.

»  Externe Unterstützung kann hilfreich sein, z. B. wenn es um komplexe und


verfahrende Situationen geht oder eine Fortbildung neue Inputs und Anregungen
liefern kann.

»  Es ist notwendig, von Zeit zu Zeit innezuhalten und die bisherige Arbeit zu re-
flektieren. Es trägt zur Motivation bei, selbst kleine Erfolge sichtbar zu machen und
zu feiern.

»  Gelangt man fürs Erste an ein erfolgreiches Projektende steht die Frage im Raum: Wie
geht es nun weiter? Wie kann es uns gelingen, vieles von dem, was in den v­ ergangenen
Wochen und Monaten ausprobiert wurde und gut funktioniert hat, beizubehalten?
Es ist wichtig, frühzeitig über die Zukunft nachzudenken.143

143  Eine Anleitung zum strukturieren Vorgehen und eine Vielzahl an Methoden finden Sie im GIVE-Material
„Unterwegs als gesunde Schule. Ein Reiseführer zur schulischen Gesundheitsförderung mit vielen praktischen
Tipps und Methoden“. www.give.or.at/material/unterwegs-als-gesunde-schule-ein-reisefuehrer/ (letzter Zu-
griff Juni 2021)

97 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


7.3 Praxistipp: dabei kann die Schulleitung unterstützen

Schulleitungen können die Basis schaffen für ein Schulklima, das Sicherheit gibt, Tole-
ranz und Respekt fördert. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass sich Schüler*innen, das
Lehrer*innen-Team und nicht unterrichtendes Personal der Schule zugehörig fühlen.
Ihre eigene Haltung und Vorbildwirkung sind ein wichtiger Einflussfaktor auf das
Schulklima, tragen zu einem höflichen und freundlichen Umgangston bei. Gleichzeitig
können sie eine Kultur der (spontanen) Hilfsbereitschaft befördern. Abgesehen von
dieser positiven Grundhaltung sind es vor allem folgende Aspekte und Ansatzpunkte,
die Sie als Schulleitung anregen oder bei denen Sie unterstützen können:

»  Geben Sie als Schulleitung dem Thema die notwendige Bedeutung und definieren
Sie Beziehungsförderung als wichtige Aufgabe der Schule. Stellen Sie dabei Bezüge
zum Schulleitbild und den pädagogischen Zielen Ihrer Schule her. Indem Sie bei Kon-
ferenzen dem Thema Beziehungsgestaltung regelmäßig Raum geben, unterstreichen
Sie die Wichtigkeit des Themas.

»  Sie können die Bereitschaft zu Veränderungen anstoßen, indem Sie folgende


Fragen mit dem Team diskutieren:
In welchem Bereich gibt es besonders viel Handlungsbedarf?
Was sind unsere Visionen guter Beziehungen?
Welche Veränderungen streben wir an?
Welchen Nutzen versprechen wir uns davon in unserer täglichen Arbeit?

Ein Impulsvortrag oder eine schulinterne Fortbildung kann hier zusätzliche Anre-
gungen liefern und mögliche Skeptiker*innen von der Sinnhaftigkeit Ihrer Vorhaben
überzeugen.

»  Bei einem langfristigen Prozess ist es nicht unüblich, dass irgendwann die Motiva-
tion und das Engagement der Beteiligten nachlässt. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Möglicherweise liegen Konflikte vor oder es wurden die Ziele aus den Augen verloren.
Vielleicht sind Dinge unklar oder es mangelt an transparenter Kommunikation? Als
Schulleitung spielen Sie eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, in solchen Durch-
hängephasen das Vertrauen in den Prozess und die Sinnhaftigkeit des Tuns zu stärken.
Sie können bisher Erreichtes sichtbar machen, rasch auf Konflikte im Team eingehen
und noch einmal Ihre gemeinsamen Ziele und Visionen in Erinnerung rufen.

»  Investieren Sie in ein stabiles Lehrer*innenkollegium und etablieren Sie eine


positive Fehler- und Feedbackkultur. Regelmäßige Mitarbeiter*innen-Gespräche sind
eine gute Möglichkeit dafür. Nutzen Sie auch digitale Formate z. B. Videotelefonie,
Chatfunktionen, digitale Teammeetings für kurze Nachfragen, Abstimmungsgespräche

98 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


oder kurzfristig notwendige Besprechungen. Maßnahmen wie kollegiales Feedback,
Unterrichtshospitation oder Fallbesprechungen können Zusammenarbeit und gegen-
seitige Unterstützung innerhalb des Kollegiums fördern. Schließlich geht es auch darum,
neue Lehrer*innen in der Zeit der Eingewöhnung gut zu unterstützen, beispielsweise
durch ein Mentoringsystem.

»  Achten Sie auf eine ausgewogene Aufgabenverteilung im Kollegium. Verteilen Sie


Aufgaben und Verantwortungsbereiche möglichst gerecht. Entlastend kann es sein,
Konferenzen und andere Besprechungen möglichst straff zu gestalten. Je größer das
Kollegium umso wichtiger wird ein gutes Sitzungsmanagement.

»  Schaffen Sie Partizipationsmöglichkeiten für Schüler*innen. Sie können abhängig


vom Alter verschiedene Aufgaben übernehmen oder aktiv mitgestalten. Das geht von
Einsammeln und Austeilen der Arbeitsmaterialen und Botendienste innerhalb der
Schule bis dahin, dass Schüler*innen die Schulhomepage betreuen, ältere Schüler*in-
nen jüngere unterstützen oder Schüler*innen Ersthelfer*innen-Dienste übernehmen.

» Ein sozialer und wertschätzender Umgang miteinander ist die Basis eines konflikt-
armen Schulalltags. Dazu gehören transparente Kommunikation, offene Diskussionen,
das Akzeptieren von kontroversen Meinungen und Toleranz gegenüber den anderen.
Bloßstellungen, Kränkungen und abwertende Kritik sind unerwünscht. Dennoch
kommt es immer wieder vor, dass sich Konflikte nicht so einfach lösen lassen. Schulische
Beratungs- und Unterstützungssysteme oder Beratungsstellen für Lehrer*innen-Ge-
sundheit können beispielsweise bei verhärteten Konflikten innerhalb des Kollegiums
oder der Schülerschaft helfen. Erstellen Sie eine Liste an Personen und Organisationen,
die bei Bedarf kontaktiert werden können.

»  Ihre Schule kann eine Willkommenskultur etablieren, die neue Lehrkräfte, Eltern/
Erziehungsberechtigte und neue Schüler*innen gleichermaßen anspricht. Das können
Willkommensfeste, Einführungsgespräche, eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten
Informationen und Ansprechpersonen oder eine Führung durch das Schulgebäude sein.
Dazu gehört auch eine gute Beschilderung bzw. Wegweiser im Schulgebäude.

»  Nicht zuletzt hat die Gestaltung der Schulräume einen wesentlichen Einfluss darauf,
ob Miteinander-Arbeiten und -Lernen unterstützt wird. Begegnungs- und Rückzugs-
bereiche, z. B. kleine Nischen oder Sitzgruppen, laden zum Austausch und Miteinander-
reden ein. Ein flexibles Mobiliar in den Klassenräumen und im Lehrer*innen-Zimmer
ermöglichen ein rasches Gruppieren und Umstellen. Angemessene Arbeitszonen für
Lehrer*innen und kleine Besprechungsbereiche oder -räume erleichtern Lehrer*innen
die Zusammenarbeit und den Austausch.

99 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


7.4 Praxistipp: positive Veränderungen auf Klassenebene erreichen

Wie Lehrer*innen ihren Unterricht gestalten und mit der Klasse umgehen, ist wesent-
lich dafür, ob Kinder und Jugendliche gerne in die Schule gehen oder eher Unbehagen
oder gar Angst empfinden. Gute, vertrauensvolle Beziehungen in der Klasse erleichtern
zielführendes Lehren und Lernen. Kooperative Lernformen, eine Unterrichtsstruktur
mit klaren Botschaften Ihrer Erwartungen und ein geeignetes Maß an Anforderungen
sind Beispiele beziehungs- und gesundheitsförderlicher Unterrichtsgestaltung. Weitere
Ansatzpunkte sind:

»  Professionelles Handeln der Lehrperson: Schüler*innen schätzen eine gute Struk-


turierung des Unterrichts sowie eine klare Kommunikation von Arbeitsaufträgen,
Bewertungsgrundlagen und Notengebung. Besonders wichtig ist für sie, gerecht be-
handelt zu werden.

»  Fehler- und Feedbackkultur: Es lohnt sich, die Angst vor Kritik zu überwinden und
Feedback als Chance für Weiterentwicklung zu betrachten. Gezielte Rückmeldungen
von Schülerinnen und Schülern sowie Eltern, Erziehungsberechtigten können Ihnen
helfen, eine andere Sichtweise zu bekommen und mögliches Verbesserungspotenzial
zu erkennen. Abgesehen von spontanem Feedback, das oft zwischen Tür und Angel
ausgesprochen wird, eignen sich Maßnahmen wie regelmäßige Halbjahresgespräche mit
Eltern und Erziehungsberechtigten oder Planungs- und Zielvereinbarungsgespräche
mit Schülerinnen und Schülern.

»  Fairness fördern: Erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihrer Klasse die wichtigsten
Punkte, die für Sie und Ihre Schüler*innen zu einem fairen und respektvollen Um-
gang miteinander gehören. Achten Sie darauf, dass dieses Verhalten von Ihnen und
Ihrer Klasse auch gelebt wird. Das braucht Zeit und es ist nicht ungewöhnlich,
dass trotz aller ­Bemühungen, Konflikte und Streit auftreten. Angebote, wie z. B.
­Streitschlichterprogramme, ­Peermediation oder Schulsozialarbeit, können unterstüt-
zen, wenn sich Konflikte nicht so einfach lösen lassen. Idealerweise werden derartige
Angebote präventiv etabliert, um im Bedarfsfall rasch reagieren zu können.

»  Lernen lernen: Selbstständiges Lernen oder das Erarbeiten von Inhalten in Gruppen
braucht Übung. Schülerinnen und Schüler brauchen Hinweise und praktische Tipps,
um herauszufinden, wie sie am besten lernen. Zielorientiertes Arbeiten kann beispiels-
weise durch Lernzielvereinbarungen unterstützt werden. Auch kooperatives Lernen in
heterogenen Lerngemeinschaften kann Schülerinnen und Schüler bei der Bewältigung
von Aufgaben unterstützen. Um gut miteinander lernen zu können, müssen solche
Gruppen gründlich vorbereitet werden. Die Auswahl der Gruppenzusammensetzung
ist dabei entscheidend, wobei ein heterogenes Leistungsniveau durchaus erwünscht

100 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


ist. Lassen Sie Ihre Schüler*innen beispielsweise in Tischgruppen arbeiten, deren Zu-
sammensetzung viertel- oder halbjährlich wechselt. Innerhalb dieser Gruppen können
Arbeitsaufträge einzeln, zu zweit oder eben als Gruppe erledigt werden.

»  Gesprächsanlässe schaffen: Miteinander reden, zuhören und eigene Argumente


vorbringen, braucht Übung. Die Schule bietet den idealen Rahmen dafür. Ein weit ver-
breitetes Konzept sind Gesprächskreise z. B. zu Wochenbeginn oder am letzten Schultag
in der Woche. Sie geben den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, über Persön-
liches, Erlebnisse und Gefühle zu sprechen. Solche ungezwungenen Gesprächsanlässe
können zum Ritual werden, wenn sie regelmäßig stattfinden. Auch Gremien wie ein
Klassenrat oder ein Schülerparlament, die der Mitwirkung- und Mitbestimmung von
Schülerinnen und Schülern dienen, gehören dazu. Sie lernen, eigene Anliegen und
Meinungen zu formulieren und andere Sichtweisen und Argumente zu akzeptieren.

»  Förderung der Klassengemeinschaft: Eine gute Klassengemeinschaft ist nicht nur


für die Schüler*innen von Bedeutung, sondern auch für ein gutes Unterrichtsklima
relevant. Ein respektvoller Umgang miteinander, gegenseitiger Respekt und gegenseitige
Unterstützung sind wesentliche Merkmale einer guten Klassengemeinschaft. Immer
dann, wenn neue Schüler*innen aufeinandertreffen oder sich die Klasse längere Zeit
nicht gesehen hat, ist es sinnvoll, in soziales Miteinander und positive Beziehungen
zu investieren. Maßnahmen wie vertrauensbildende Übungen, gemeinsam erstellte
Klassenregeln, ein wechselnder Sitzplan, die Ausbildung von Streitschlichter*innen
oder gemeinsame Aktivitäten, bieten gute Gelegenheiten, einander (wieder) näherzu-
kommen und sich besser kennenlernen.

»  Angebote zur Konflikt- und Mobbingprävention: Konflikte beeinträchtigen den


Unterrichtsalltag, rauben Zeit und Energie. Kommunikation braucht Übung, insbe-
sondere der Umgang mit Konfliktgesprächen. Sowohl Sie als auch Ihre Schüler*innen
profitieren davon, ein Streitgespräch in Form von Rollenspielen oder den Prozess einer
Mediation zu üben. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Programmen und Angeboten,
die Schulen auf diesem Weg unterstützen.

»  Lebenskompetenz fördern: Programme zur Lebenskompetenzförderung enthalten


viele Elemente, die der Entwicklung guter Beziehungen dienen. Sie tragen dazu bei,
dass junge Menschen einen angemessenen Umgang mit sich, ihren Mitmenschen und
Problemen im alltäglichen Leben lernen. In Österreich sind Programme zur Lebens-
kompetenzförderung gut etabliert und werden in allen Bundesländern angeboten.

101 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


7.5 Praxistipp: eine gute Zusammenarbeit mit Eltern/­
Erziehungsberechtigten etablieren

Eltern haben eine andere Sichtweise darauf, was in Schulen geschieht als Sie. Ihr
Eindruck ist von den Erzählungen ihrer Kinder geprägt. Es gehört zu den Aufgaben
von Schulen, sich um den Aufbau von guten Beziehungen zu Eltern und Erziehungs-
berechtigten zu bemühen. Oft ist die Beziehung zwischen Lehrer*innen und Eltern
beeinträchtigt, nicht zuletzt dadurch, dass Kontakt häufig erst dann stattfindet, wenn
es bereits Probleme gibt. Dieser negative Gesprächsanlass ist oft kein guter Start für
eine tragfähige Beziehung zum Wohle der Kinder. Es lohnt sich daher, aktiv in eine
funktionierende Eltern-Lehrer*innen-Beziehung zu investieren und eine gute Basis
zu schaffen. Mögliche Ansatzpunkte sind:

»  Regelmäßige Informationsweitergabe: Informieren Sie Eltern und Erziehungsbe-


rechtigte u. a. über positive Veränderungen, Erfolge der Schülerin bzw. des Schülers,
besondere pädagogische Vorhaben oder aktuelle Projekte der Klasse.

»  Zusammenarbeit fördern: Dort wo es Sinn macht, können Eltern und Erziehungs-


berechtigte mit ihrer jeweiligen Expertise Arbeitsgruppen, projektorientierten Unter-
richt oder andere Aktivitäten der Schule unterstützen. Manche Lehrer*innen haben
gute Erfahrungen damit gemacht, Eltern in den Unterricht einzuladen, um ihnen einen
Einblick in den Schulalltag zu geben.

»  Unterstützung beim Lernen: Sie können Eltern und Erziehungsberechtigten Tipps


geben, wie sie ihre Kinder bei Lernschwierigkeiten, Hausaufgaben, Prüfungsangst oder
selbstständigen Arbeiten unterstützen können.

»  Flexible Gesprächsangebote: Berufstätige oder alleinerziehende Eltern können


manchmal angebotene Termine nicht wahrnehmen. Neben dem klassischen Telefon-
anruf haben gerade im vergangenen Jahr digitale Formate, wie z. B. Videotelefonie an
Bedeutung gewonnen.

102 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Literatur

Boynton, Mark / Boynton, Christine (2005): The Educator´s Guide to Preventing and Solving Discipline
Problems. www.ascd.org/publications/books/105124.aspx (letzter Zugriff 29.4.2021)

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www.oecd.org/pisa/PISA-2015-Results-Students-Well-being-Volume-III-Overview.pdf (letzter Zugriff
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103 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


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Sudeck, Gordon / Bucksch, Jens / Klocke, Andreas / Kolip, Petra / Melzer, Wolfgang / Ravens-Sieberer,
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Fischer, Natalie / Raufelder, Diana / Fetzer, Janina (2014): Beziehungen in Schule und Unterricht Teil 1:
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Schumacher, Lutz (2012): Gelingensbedingungen von Schulentwicklungsprojekten – Wann sollte ein


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Sieland, Bernhard / Heyse, Helmut (2012): Schulentwicklung – vom Änderungsbedarf zum Handlungs-
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die Entwicklung guter gesunder Schulen. Carl Link, Köln. S. 151- 196.

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104 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


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what does the evidence say? Health Promotion International, Vol. 26, Nl. S1, i29-i67.

Zinniker, Marion / Kunz Heim, Doris (2017): Bedarfsanalyse von Maßnahmen zur Förderung der
Psychischen Gesundheit im Bildungsbereich (BPGB) – Bericht Teilprojekt 1. Prävalenz, Prävention und
bestehende Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit in Schulen. bildung+gesundheit
Netzwerk Schweiz. Bundesamt für Gesundheit. Bern Liebefeld.

Kostenlose Materialien und weiterführende Informationen


GIVE-Servicestelle für Gesundheitsförderung an Österreichs Schulen:

www.give.or.at

Passend zum Thema Beziehungsgestaltung:

„Schulen gesund leiten“ https://www.give.or.at/angebote/themen/schulen-gesund-leiten/


„Lehrer*innen-Gesundheit“ https://www.give.or.at/angebote/themen/lehrerinnengesundheit/
„Psychische Gesundheit fördern“ https://www.give.or.at/angebote/themen/psychische-gesundheit/
„Lebenskompetenzen fördern“ https://www.give.or.at/angebote/themen/lebenskompetenzen/
„Schul(frei)räume gestalten“ https://www.give.or.at/angebote/themen/schulfreiraeume-gestalten/

Zur Autorin

Sonja Schuch, Dr.in rer. nat., Ernährungswissenschafterin, Gesundheitsmanagerin und pädagogische


­Mitarbeiterin bei GIVE-Servicestelle für Gesundheitsförderung an Österreichs Schulen. E
­ inschlägige
Publikationen im Bereich Gesundheitsförderung und Schule, Lehrbeauftrage an Pädagogischen
­Hochschulen, Vortragende im Bereich Aus- und Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer.

105 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


III Erfahrungen mit der Stärkung der Lehrer*innen­
gesundheit aus der Praxis

8 Wohlfühlzone Schule – Psychosoziale Gesundheitsförderung und


(Cyber-)Mobbingprävention an Schulen

Florian Wallner und Die Initiative und ihre Leitziele


Elisabeth Muik

D
ie Initiative „Wohlfühlzone Schule“ ist ein Kooperationsprojekt des Fonds
Gesundes Österreich mit der Schulpsychologie-Bildungsberatung des
BMBWF und basiert auf der Grundlage der Nationalen Strategie schuli-
scher Gewaltprävention. Die drei Leitziele der Initiative bewegen sich rund um das
Thema der psychosozialen Gesundheitsförderung und der Prävention von Gewalt
und Mobbing an Schulen:

1. Förderung der psychosozialen Gesundheit und des Wohlbefindens von Schülerinnen


und Schülern
2. Reduktion von (Cyber-)Mobbinghandlungen an Schulen
3. Förderung des Verbleibs von Jugendlichen in Bildungsprozessen (Reduktion der
­Drop-Out-Rate)144

Pädagogische Hochschulen und Organisationen aus dem Bereich der Gesundheits-


förderung haben die Möglichkeit, hierauf ausgerichtete Projekte einzureichen. Die
Initiative und die eingereichten Projekte fokussieren auf die Ermöglichung und
Förderung von Maßnahmen, die von Pädagog*innen in die tägliche Unterrichtsarbeit
eingebettet werden können. Umrahmt wird dies durch systemische Organisationsent-
wicklung im Sinne von kooperativen Schulentwicklungsprozessen. Einige Beispiele
dieser Maßnahmen sind die Sensibilisierung für die Bedeutung psychosozialer Gesund-
heit und Mobbingprävention, die Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen,
förderliche Beziehungsgestaltung, Persönlichkeitsbildung und Stärkung aller Personen.
Ebenso bedeutsam sind beispielsweise der Blick auf gruppendynamische Aspekte, die
Ausgestaltung klarer und verstandener Regeln und Vereinbarungen zur Vorbeugung
von Übergriffen und Gewalt und die Stärkung prosozialer Handlungen.145

144  Fonds Gesundes Österreich (a) (o.J.): Wohlfühlzone Schule. Vorgeschichte und Ziele.
https://wohlfuehlzone-schule.at/vision (letzter Zugriff 21.4.2021)

145  Fonds Gesundes Österreich (b) (o.J.): Wohlfühlzone Schule. Projektdetails.


https://wohlfuehlzone-schule.at/projektdetails (letzter Zugriff 21.4.2021)

106 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Standortspezifische Schulentwicklung als Mittel der Wahl

Die konkrete Umsetzung der Projekte an den derzeit sechs teilnehmenden Pädago-
gischen Hochschulen und den von ihnen betreuten Schulen bewegt sich in der Pla-
nung, Begleitung und Durchführung partizipativer Schulentwicklungsprozesse über
einen Zeitraum von zwei Jahren, die einem akkordierten Aufbau folgen. Durch die
pandemiebedingten Herausforderungen wurden die Zeiträume für die Umsetzung
allerdings verlängert. Besonderer Wert in der Projektumsetzung wird daraufgelegt,
dass theoriegeleitete und evidenzbasierte Maßnahmen an den Schulstandorten in
eine Umsetzung gebracht werden. Zugleich geht es darum, Bestehendes und bereits
Gelungenes in diese Entwicklungsprozesse zu integrieren – also basierend auf einer
Ist-Stand-Erhebung maßgeschneiderte Entwicklungsschritte für die jeweiligen Schulen
zu planen. Ziele der Schulentwicklungsprozesse sind die Sensibilisierung, die Ge-
staltung und Umsetzung konkreter präventiver Maßnahmen sowie der Aufbau von
Case-Management-Strukturen.146

Gerade wenn es um die Prävention von Gewalt und Mobbing an Schulen geht, die
im Sinne von Expert*innen-Organisationen spezifischen systemischen Wirkfaktoren
unterliegen, ist eine standortspezifische Schulentwicklung nahe an den Bedürfnissen
des Standortes. Zu bedenken ist aber, dass bei dieser Vorgehensweise zwei Kompetenzen
miteinander verbunden werden müssen: Die fachlich-inhaltliche Kompetenz und die
Prozessbegleitungskompetenz. Dies kann entweder durch Doppelbesetzungen in der
Beratung (Prozess- und Fachberater*in) oder durch die umfassende Kompetenz von
einzelnen Berater*innen sichergestellt werden.147

Im Zentrum der Schulentwicklungsprozesse steht der Blick auf die Beziehungen, das
(Schul-)Klima und die Schulkultur. In diesem größeren Wirkbereich gibt es bestimmte
Aspekte, denen im Rahmen der teilnehmenden Projekte größere Aufmerksamkeit
geschenkt werden soll. Dies sind beispielsweise „Rahmenbedingungen für ein ressourcen-
orientiertes und einander stärkendes Klima in der Klasse und Schule […], das Orientierung,
Halt und klare Rahmenbedingungen eines förderlichen Miteinanders setzt“148 .

146  Fonds Gesundes Österreich (c) (2021): Detailinformation Förderschwerpunkt Wohlfühlzone Schule 2021
Endversion. https://wohlfuehlzone-schule.at/sites/wohlfuehlzone-schule.at/files/Detailinformation_Förder-
schwerpunkt_Wohlfuehlzone%20Schule_2021_Endversion.pdf (letzter Zugriff 21.4.2021), S. 11ff

147  Wallner 2021


148  Fonds Gesundes Österreich (b) (o.J.): Wohlfühlzone Schule. Projektdetails. https://wohlfuehlzone-schule.
at/projektdetails (letzter Zugriff 21.4.2021)

107 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Hintergrund ist, dass sich die Gestaltung von Beziehungen und ein (lern-)förderliches
Schul- und Klassenklima auf das individuelle Wohlbefinden sowie auf die Ermöglichung
von Lernerfolg auswirken.149 Sowohl bei der Förderung der psychosozialen Gesund-
heit als auch in der Prävention von Gewalt und Mobbing nehmen die Ausgestaltung
von Beziehungen, die Art und Weise der wechselseitigen Interaktion, der Umgang
mit Konflikten und auch die Anerkennung des „Anders-Seins“ aller Beteiligten einen
zentralen Stellenwert ein. Kurz gefasst könnte man sagen, dass die Beziehungen eine
besondere Bedeutung für die Ermöglichung eines förderlichen Klimas – für alle Be-
teiligten – haben.

Direkter Bezug zu Belastungsfaktoren für Lehrer*innen-Gesundheit

Dass im Rahmen des Projekts ein zentraler Fokus auch auf die psychosoziale Gesund-
heitsförderung der Pädagog*innen gelegt wird, ergibt sich schon aus der thematischen
Verortung. Betrachtet man die berufsfeldbezogenen Belastungsfaktoren, so zeigen
in dieser Publikation Felder-Puig und Griebler150 , dass in verschiedenen Studien in
Deutschland Leistungsschwächen, Verhaltensauffälligkeiten und Motivationsprob-
leme von Schüler*innen als eine erhebliche Belastung wahrgenommen werden. Auch
in einer Wiener Erhebung werden die Aspekte der Überforderung und des undiszi-
plinierten Verhaltens als besonders bedeutsam für die psychosoziale Gesundheit der
Pädagog*innen eingeschätzt.151

Auch Luder beschreibt unter Bezugnahme auf eine Schweizer Studie von Keller et
al.152 , dass insbesondere auffälliges Verhalten der Schüler*innen, bei dem er zwischen
„alltäglichem auffälligem Verhalten, Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen“ 153
unterscheidet, ein wesentlicher Belastungsfaktor für Lehrer*innen ist.

In den einleitenden Worten zu dieser Publikation werden darüber hinaus von Fraun-
dorfer154 ebenfalls disziplinäre Herausforderungen, ein problembelastetes Unterrichts-
klima, Konfliktbearbeitung, Führungsstil, die Bedeutung von Partizipationskultur

149  OECD 2018, S. 9


150  Siehe Felder-Puig/Griebler (Studienergebnisse zur Gesundheit von Lehrkräften aus Österreich und
Deutschland), in diesem Band

151  Felder-Puig 2017


152  Keller et al. 2018
153  Luder 2019, S. 12
154  Siehe Fraundorfer (Gesund unterrichten: Warum die (psychosoziale) Gesundheit von Lehrkräften an
­Bedeutung gewonnen hat), in diesem Band

108 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


und der Wunsch nach multiprofessioneller Vernetzung bei herausfordernden sozialen
Situationen aufgezählt. All diese Aspekte und Belastungsfaktoren finden ihren Nie-
derschlag in den Beziehungen – wie sie aufgebaut und jeden Tag aufs Neue gestaltet
werden. Diese Beziehungen prägen das Klima an einem Schulstandort. Geht es also um
die Reduktion von Belastungsfaktoren, ist es wichtig, diesem Themenfeld besondere
Aufmerksamkeit zu schenken.

Soll in diesen Bereichen Entwicklungsarbeit im Sinne einer nachhaltigen Reduktion


von Belastungsfaktoren geleistet werden, braucht es standortspezifische Entwick-
lungsprozesse. Hierbei ist es sinnvoll, sämtliche Aspekte der Beziehungsgestaltung an
Schulen zu beleuchten und in die Entwicklung miteinzubinden. Daher bewegen sich
die Maßnahmen auch auf drei Ebenen: Person, Gruppe bzw. Klasse und Strukturen
bzw. Prozesse.

Ergänzend kann festgehalten werden, dass Maßnahmen, die hierauf ausgerichtet sind
(bspw. auf ein positives Klassenklima), auch auf die Ermöglichung schulischen Lern-
erfolgs Einfluss haben.155 Je eher die Rahmenbedingungen und die Beziehungen Sicher-
heit und Halt vermitteln – ohne Angst vor Übertretung persönlicher Grenzen haben
zu müssen – desto positiver wird von Schüler*innen das Klassenklima eingeschätzt,
was sich auf die Gesundheit und Lebenszufriedenheit auswirkt.156 Downes et al. be-
schreiben dies so: „Research shows that the well-being of schoolchildren plays a decisive role
in their scholastic success. Accordingly, a school has to provide an environment that nurtures
the well-being of its students.“157 

Somit ist davon auszugehen, dass gelingende Beziehungen dabei unterstützen, ein breites
Spektrum von Gewalthandlungen zu prävenieren und die psychosoziale Gesundheit
zu fördern. Auch in der Pisa-Auswertung zum Thema ‚Students Well-Being‘ finden
sich mit „School Environment“, „Teachers“ und „Peers“ drei hierfür zentrale Bereiche, die
im direkten Einflussbereich der Schule liegen.158 Es liegt auf der Hand, dass sich diese
Faktoren und ein Fokus auf gewaltpräventive und gesundheitsförderliche Beziehungen
auch direkt auf herausfordernde Klassensituationen, Überforderungswahrnehmungen
im sozialen Kontext und die Bereitschaft der Schüler*innen, Leistung zu erbringen
und gerne in die Schule zu gehen, auswirken.

155  OECD 2018, S. 9; Schröder/Wallner 2019


156  HBSC Factsheet Nr.11/2014
157  Downes et al. 2017, S. 16
158  OECD 2017, S. 62

109 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Mögliche Elemente in der Umsetzung

In der Umsetzung wird in den Projekten an nachhaltiger Primärprävention gearbei-


tet. Zentrale Elemente hierbei sind Beziehungsgestaltung, die Stärkung prosozialer
Handlungen und das fürsorgliche Zurückweisen von destruktiven Handlungsweisen,
das Ermöglichen von Selbstwirksamkeitserfahrungen, klare Regeln und Rahmen-
bedingungen in Klassen und der Schule selbst, nachvollziehbare, transparente und
angemessene Konsequenzen bei Übertreten der Regeln (insbesondere beim Verletzen
persönlicher Grenzen) sowie die Ermöglichung des Erlernens konstruktiver Formen
der Konfliktaustragung.159 In weiterer Folge werden nun einige Elemente in ihrer kon-
kreten theoretischen Verankerung und möglichen praktischen Umsetzung beschrieben.
Konkret wird auf die persönliche Beziehungsgestaltung der Lehrpersonen und deren
Bedeutung, Kommunikationsverhalten und die Förderung sozialer und emotionaler
Kompetenzen sowie gruppenbezogene und strukturelle Aspekte eingegangen.

Leadership und Führungsverhalten

Leadership kann als Querschnittsmaterie gesehen werden, die in allen Bereichen der
Schulentwicklung prozesshaft wirksam wird. Vor diesem Hintergrund ist es von großer
Bedeutung, sowohl die Wirkung der Schulleitung als auch das Führungshandeln von
Lehrpersonen in den Blick zu nehmen. Einschlägige Studien zeigen, dass Führungsper-
sonen innerhalb von Schulentwicklungsprozessen eine Schlüsselfunktion zukommt. Für
Huber sind Schulleiter*innen die zentralen „Change Agents“. Sie tragen Verantwortung
für die Qualitätsentwicklungsprozesse an den pädagogischen Einheiten.160 Wie auch
an einer anderen Stelle in diesem Text erwähnt bieten und schaffen Schulleiter*innen
Raum für prosoziales Verhalten, Empathie und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel,
Gefühle erkennen, benennen und ausdrücken zu können oder auch unterscheiden zu
können zwischen Wahrnehmung und Bewertung. 161

Um dies zu gewährleisten, kann beispielsweise das Konzept des Positive Leadership zur
Anwendung gebracht werden. Dieser Ansatz bzw. dieses Modell sind wirksam darin,
Führungskräfte unter anderem auch in ihren Ressourcen und in ihrer Resilienz zu
stärken. Der Begründer dieses Führungsansatzes, der seinen Ursprung in der Positiven
Psychologie hat, ist Martin Seligman.

159  Alsaker 2017; Juul 2009; Olweus 2006; Wachs et al. 2016; Wallner 2018
160  Huber 2013, S. 239
161  Alsaker 2017

110 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Führen mit Freude, Führen mit Sinn, stärkenorientiertes Führen – das sind für Ruth Seli-
ger, eine Vertreterin von Positive Leadership, die Prinzipien für gelingendes Leiten. Diese
gelten auch für pädagogische Einheiten. Darüber hinaus konkretisiert sie drei Bereiche:

Einerseits geht es darum, sich selbst zu führen, was eine professionelle Reflexion des
eigenen Führungshandelns erfordert. Andererseits bedeutet für Seliger das Führen von
Menschen, die Kommunikation so zu gestalten, dass die Verbindung miteinander und
mit der Organisation und ihren Aufgaben sichergestellt ist, indem Mitarbeiter*innen
Orientierung für ihr Handeln gewinnen und sich emotional als Mitglied der Organi-
sation fühlen.162 Der dritte Bereich bezieht sich auf die Führung der eigenen Organisa-
tion – in diesem Fall Schule. Eine Organisation im pädagogischen Feld zu führen, legt
für Seliger nahe, den eigenen „Verantwortungsbereich zu gestalten und Entscheidungen zu
treffen, um Komplexität zu bearbeiten. Diese Entscheidungen betreffen einerseits die Arbeit
selbst, andererseits aber auch die Organisation mit ihren Prozessen, Strukturen, Werten,
Strategien und Perspektiven“163 .

Führung im Schulsystem bestimmt das Schulklima maßgeblich mit und kann die damit
verbundene Verantwortung auch in Schulentwicklungsprozessen bewusst aufgreifen,
reflektieren und gestalten. Seliger sieht Führung als Top-Down-Strategie, welche auch
auf Ebene der Schüler*innen durch Lehrpersonen wirksam wird. Für die Entwick-
lungsprojekte sind daher auch die spezifischen Grundüberlegungen von Schäfer von
Bedeutung. Sie ist davon überzeugt, dass der Führungsstil der Lehrperson Einfluss auf
die Mobbing-Interaktionen und auf die soziale Struktur der Klasse hat. Ebenso hat die
soziale Kultur Effekte auf die Mobbing-Interaktionen. Sie formuliert 4 Kernelemente
dieses Führungsstils wie folgt:164

• Caring – das ernsthafte Interesse an den Schüler*innen


• Competence – didaktische und pädagogische Fähigkeiten
• Monitoring – das Achten auf lernrelevante und soziale Interaktionen/Aktivitäten
• Intervention – angemessenes und sorgsames Eingreifen bei inakzeptablen
­Verhaltensweisen

Der Aufbau eines gewalt- und mobbingpräventiven Klassenklimas ist also stark mit
dem Führungsstil der Pädagog*innen verbunden. Die dargestellten Ansätze bieten einen
möglichen Blick hierauf – unter starker Bezugnahme auf die Gestaltung ­förderlicher
Beziehungen.

162  Seliger 2014, S.63


163  Seliger 2014. S. 63
164  Schäfer 2012, S. 701

111 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Beziehungsgestaltung durch die Lehrpersonen

Beziehungsgestaltung in der Schule kann als eine Folge einzelner, aufeinander Bezug
nehmender Interaktionen verstanden werden. Prengel165 beschreibt, dass die Beziehun-
gen als förderlich und hilfreich oder auch als hinderlich und belastend wahrgenommen
werden können. Dahingehend verhelfen sie entweder (aus gesicherten Bindungen)
zur Entfaltung und zu bereichernden Selbstwirksamkeitserfahrungen oder engen im
umgekehrten Fall Entwicklungsmöglichkeiten ein. Wichtig hierfür ist die subjektive
Einschätzung der Beziehungen – insbesondere von Seiten der Schüler*innen.

Auch Bauer166 betont die Bedeutung von Resonanz zwischen Schüler*innen und Leh-
rer*innen im Sinne einer förderlichen sozialen und emotionalen Erziehung. Er geht
hierbei von zwei Seiten dieser Resonanz aus. Eine bezeichnet er als „verstehende Zu-
wendung“, die zweite als „Führung“. Beer und Eichhorn167 beschreiben in diesem Kontext,
dass eine gelingende Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen auf Per-
sönlichkeitsentwicklung, Lernbereitschaft und die Anzahl von Unterrichtsstörungen
einen positiven Einfluss hat. Dies kann in Zusammenhang mit Ausführungen von
Bauer gesetzt werden, der darlegt, dass Menschen „auf soziale Resonanz und Kooperation
angelegte Wesen“168 sind. Und er führt weiter aus, dass soziale Anerkennung, positive
Zuwendung, Wertschätzung und gesehen zu werden, von besonderer Bedeutung für
die Motivation zu bestimmten Handlungsweisen sind169 , und dass es bei aggressiven
oder übergriffigen Verhaltensweisen (sofern es sich dabei nicht um krankhafte Ver-
haltensmuster handelt) „immer um das Bemühen um eine gelingende Beziehung, um die
Verteidigung einer Beziehung oder um eine Reaktion auf ihr Scheitern“ 170 geht.

Kommunikationsverhalten und Förderung sozialer und emotionaler


Kompetenzen

Das wesentliche Werkzeug zur Gestaltung förderlicher Beziehungen ist Kommuni-


kation. Besonders für die Kommunikation in anspruchsvollen Situationen betont
Juul171 die Haltung der Gleichwürdigkeit in der Gestaltung von Beziehungen. Folgt

165  Prengel 2013, S. 9f


166  Bauer 2010, S. 8f
167  Beer/Eichhorn 2020, S. 774
168  Bauer 2009, S. 23
169  ebd., S. 37
170  Bauer 2009, S. 85f, Herv. i. O.
171  Juul 2009; Juul 2014

112 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


man seinen Ausführungen haben Erwachsene dafür eine besondere Verantwortung.
Juul 172 streicht heraus, dass der Prozess („das Wie“) der Interaktion bedeutsamer ist
als der Inhalt („das Was“). Dies gilt insbesondere für die implizite und inhärente Be-
ziehungsgestaltung – und damit auch für die Wahrung persönlicher Grenzen. Mit
einer persönlichen, authentischen und integren Kommunikation ermöglichen die
Erwachsenen, als Menschen mit Emotionen, Bedürfnissen und persönlichen Grenzen
wahrgenommen zu werden.173 Gelingt es bspw., das Überschreiten persönlicher (oder
sozialer) Grenzen auf eine fürsorgliche und nicht bewertende Weise anzusprechen und
die konkrete übergriffige Handlung (nicht die Person!) sorgsam zurückzuweisen, kann
damit vorgelebt werden, wie auf konstruktive Weise Beziehungen gestaltet werden
können – auch und gerade dann, wenn es „schwierig“ wird.

Neben dieser Vorbildwirkung der Erwachsenen geht es besonders darum, mit geeigneten
didaktischen und methodischen Settings und Mitteln, soziale und emotionale Kom-
petenzen zu fördern. Beispiele hierfür sind prosoziales Verhalten, Empathie und die
Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Gefühle erkennen, benennen und ausdrücken zu
können oder auch unterscheiden zu können zwischen Wahrnehmung und Bewertung. 174

Eine sich daraus ableitende Frage ist, wie Lehrer*innen ihre Schüler*innen unter-
stützen können, ein reflexives Selbstverständnis aufzubauen und Zutrauen in sich,
ihre Fähigkeiten und auch ihr Gegenüber zu entwickeln. Dafür müssen sie in ihrem
Entwicklungsprozess gehört werden und die Möglichkeit haben, Fehler machen zu
können, ohne sich ihrer zu schämen oder dafür beschämt zu werden.175

Gruppenbezogene Maßnahmen

In der Reflexion von Kommunikationsprozessen sind gruppendynamische Faktoren


und deren Einflüsse implizit mitzudenken. Betrachtet man diesen erweiterten perso-
nellen Rahmen – bspw. auf Ebene der Klassen und Peer-Groups – so werden im Rahmen
der Umsetzungsmaßnahmen der Projekte auch gruppenbezogene Prozesse und deren
professionelle Begleitung in den Mittelpunkt gerückt. Dies ist eine wichtige Basis für
ein Umfeld, das von allen Beteiligten als stärkend wahrgenommen werden kann und
das destruktive Gruppendynamiken verhindert oder zumindest erschwert. Hier kann
bei der Förderung prosozialer Verhaltensweisen, gemeinsamen Grundwerten, Regeln

172  ebd.
173  Juul 2009
174  Alsaker 2017
175  Schröder/Wallner 2019

113 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


und würdewahrenden Konsequenzen angesetzt werden. Auf Schulebene kann dies
um die gemeinsame Bemühung aller ergänzt werden, einen prosozialen Lern- und Er-
fahrungsraum zu gestalten.176 Eine Möglichkeit der umfassenden Betrachtung dieses
Aspekts bietet die Implementierung einer Vereinbarungskultur.177 Ein Leitbild, in dem
die Haltung ‚Gewalt und Mobbing haben bei uns keinen Platz‘ transparent gemacht
wird, ist hierfür ein wichtiges Element und ermöglicht Orientierung und klare Rah-
menbedingungen für alle Schulpartner.178

Betrachtet man diese Ebene aus der Perspektive der Prävention aggressiven, übergriffigen
Verhaltens und der Förderung prosozialer Handlungsweisen, kann dahingehend der
Leitsatz gelten: „In einem sozialen Kontext, in dem aggressives Verhalten nicht akzeptiert,
nicht verstärkt und auch nicht „vorgezeigt“ wird, kommt aggressives Verhalten seltener vor als
in einem Umfeld, das aggressivem Verhalten gegenüber gleichgültig ist oder es hinnimmt.“ 179

Strukturelle Maßnahmen – Case-Management

In Ergänzung hierzu baut die Initiative „Wohlfühlzone Schule“ bei den geförderten
Projekten darauf, dass es auf Schulebene klare und transparente Vorgehensweisen bei
Verdacht auf Mobbing gibt bzw. diese aufgebaut werden. Dies schafft einen klaren
Rahmen für Lehrer*innen, wie bei Verdachtssituationen vorzugehen ist und welche
Schritte in welcher Abfolge unternommen werden. Das stellt klar, wo die Verantwort-
lichkeiten liegen und welche konkreten Handlungen gesetzt werden (können), um die
Situation wieder zu verbessern. Dieser klare Rahmen und das begleitend aufzubauende
Unterstützungssystem soll somit auch einer Überforderung in diesen komplexen und
herausfordernden Situationen entgegenwirken und Belastungsfaktoren reduzieren.180

Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Initiative „Wohlfühlzone Schule“ das
Ziel hat, psychosoziale Gesundheit der Schüler*innen und Lehrer*innen zu fördern
sowie aktive und nachhaltige Prävention von Gewalt und Mobbing zu ermöglichen.
Die Vorgehensweise hierbei entspricht einem indirekten Präventionsmodell mit

176  Luder 2019; Olweus 2006; Schubarth 2019; Wallner 2018


177  Leimer 2011
178  Alsaker 2017
179  Strohmeier/Spiel 2009, S. 275
180  BMBWF 2018

114 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


besonderem Fokus auf die Begleitung von Entwicklungsprozessen. Diese werden
ausgehend von einer Ist-Stand-Analyse standortspezifisch gestaltet. Der Blick wird
auf die Beziehungsqualität, das Vorleben klarer Haltungen, das Treffen von Regeln
und Vereinbarungen und die Personen stärkende Rahmenbedingungen gelenkt.181 In
diesem Sinne stehen das Gestalten eines klaren und gewaltpräventiven Rahmens, das
Vorleben von prosozialem Verhalten, die Vorbildwirkung von Erwachsenen, deren
konkretes Führungshandeln und somit zentrale Wirkfaktoren auf das Klima und die
Schulkultur im Mittelpunkt. Die Ansätze der Förderung psychosozialer Gesundheit
und der Prävention von Gewalt und Mobbing weisen hierbei eine große Schnittmenge
auf – im Bereich der inhaltlichen Ausgestaltung und auch darin, dass diese Aspekte
für alle Beteiligten an einer Schule wirken.

181  Fonds Gesundes Österreich (d) (o.J.): Wohlfühlzone Schule. Hintergrundinformationen und Evidenz.
(Cyber)mobbingprävention als Schulentwicklungsaufgabe. https://wohlfuehlzone-schule.at/evidenz (letzter
Zugriff 21.4.2021); Wallner 2018, S.70

115 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Literatur

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2. unv. Auflage.

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­Beziehungen aufbauen. In: Erziehung und Unterricht. November/Dezember 9-10 I 2020, S. 774-782.

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117 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


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Wachs, Sebastian/ Hess, Markus/ Scheithauer, Herbert/ Schubarth, Wilfried (2016): Mobbing an S
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Wallner, Florian (2018): Mobbingprävention im Lebensraum Schule. Österreichisches Zentrum für


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Wallner, Florian (2021): Mobbingprävention. Eine Schulentwicklungsaufgabe. In: Schulverwaltung


aktuell 2021, Heft 2.

Zu den Autor*innen

Florian Wallner, MMag., Studium der Betriebswirtschaft und Wirtschaftspädagogik, eingetragener


Mediator, Lehr-Mediator, zertifizierter Konflikt- & Mobbingberater, Unternehmens- und Organisations-
berater, Mitarbeiter an der PH Burgenland, Lehrer an der BHAK und BHAS Wien 10, Lektor an der FH
der WKW, Schwerpunkte: Gewalt- und Mobbingprävention, Konflikttransformation, Persönlichkeits-
bildung und Peer-Learning-Programme.

Elisabeth Muik, Mag.a phil., Studium Erziehungswissenschaften und Psychologie, Vertragshoch-


schullehrerin PH Burgenland, Schulentwicklungsberaterin, Leadership in Schulen, Lehrende an der
FH ­Burgenland, Gesellschafterin Carecommunication OG mit den Arbeitsschwerpunkten: Teament­
wicklung, Führungskräftecoaching und Leadership.

118 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


9 Projekt „Lehrer*innen-Gesundheit im Fokus: Gestärkt für den Schulalltag“

D
Marlies Kranebitter as im Mai 2017 gestartete Projekt „Lehrer*innen-Gesundheit: Gestärkt für
& Doris Schiestl den Schulalltag“ für Tiroler Pflichtschulen hat die Verbesserung der Arbeits-
bedingungen von Kollegien und die Stärkung der persönlichen Ressourcen
im Umgang mit den täglichen Arbeitsbelastungen im Fokus. Das Projekt unterstützt
Schulleiter*innen und Lehrer*innen dabei, mit sich und den eigenen Ressourcen
achtsam umzugehen und dabei die eigene Gesundheit bzw. die Gesundheit der ge-
samten Schule selbst in die Hand zu nehmen, um das (berufliche und private) Leben
gut meistern zu können.

Integrierte Gesundheits- und Qualitätsentwicklung

Die Grundannahme des Unterstützungsangebotes für Schulen beruht darauf, dass im


Rahmen eines partizipativ gestalteten Prozesses mithilfe von Ergebnissen, die unter
Anwendung präziser Diagnostikinstrumente ermittelt werden, sinnvolle, maßgeschnei-
derte Maßnahmen für jede teilnehmende Schule erarbeitet werden können, welche
die Gesundheit der Lehrpersonen kurz- sowie langfristig fördern.

Präventionsmaßnahmen für psychosoziale Gesundheit von


Lehrpersonen und Schulleitungen

Ausgangspunkt bildet eine breit angelegte Bestandsaufnahme mit dem Inventar


zur Erfassung von Gesundheitsressourcen im Lehrerberuf (IEGL; Schaarschmidt &
Fischer, 2013). Sie umfasst neben dem Engagement, der Widerstandskraft und dem
Lebensgefühl auch das Erleben gesundheitlicher Beeinträchtigungen der Lehrer*innen
sowie die Arbeitsverhältnisse an der Schule. Die Ergebnisse werden im Anschluss von
Leitung und Kollegium diskutiert. Speziell ausgebildete Moderator*innen begleiten
diesen Prozess. Gemeinsam werden dann die Maßnahmen für die Unterstützung der
Lehrpersonen und die gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeitsverhältnisse ab-
geleitet und umgesetzt. Gesundheitsexpert*innen bringen zusätzliches Knowhow im
Rahmen von schulinternen Fortbildungen an die Schule.

119 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Das Projekt

Das Projekt „Lehrer*innen-Gesundheit: Gestärkt für den Schulalltag“ wurde von der
PH Tirol beim Fonds für Gesundes Österreich (FGÖ) beantragt, genehmigt und wird
seit 2017 von der PH umgesetzt. Das Projekt hat die Verbesserung der psychischen
Gesundheit der Tiroler Pflichtschullehrer*innen zum Ziel. Die Lehrenden sollen
nicht nur den Bildungsauftrag effektiv erfüllen, sondern dabei auch gesund bleiben,
motiviert und gern unterrichten. Dies bedeutet, dass die Qualität der Prozesse und
die Gesundheit der Lehrer*innen gleichzeitig, integriert und wechselseitig abhängig
gefördert werden.

Das Unterstützungsangebot identifiziert gesundheitsförderliche und krankmachende


Arbeitsmuster in der Schule und bietet unterstützende Angebote zur Überwindung
veränderbarer Rahmenbedingungen und auf persönlicher Ebene an.

Inzwischen nehmen bereits 71 Tiroler Schulen – davon 51 Volksschulen, 14 Mittel-


schulen, 3 Allg. Sonderschulen und 3 andere Schulformen (PTS, BAfEB, BSPA) – das
Unterstützungsangebot in Anspruch. Fast alle Pflichtschulen setzen das Unterstüt-
zungsangebot im Rahmen von SQA (jetzt QMS) um.

Nach der Interessenbekundung durch die Schulleitung klärt das Projektteam der
PH Tirol und der BVAEB in Erstgesprächen an den Schulen die Motivation für die
Teilnahme am Projekt, Rahmenbedingungen, Konzept und Ablauf. Ist die Resonanz
im Kollegium (anonyme Abstimmung mindestens 80 %) positiv, kann die Schule am
Projekt teilnehmen.

Die sehr positive Resonanz dieses Projektes in den Schulen, das hohe gesundheits-
förderliche Potenzial sowie die produktive Zusammenarbeit aller Partner belegen die
Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit dieses Unterstützungsangebots. Sie bestärken das
Projektteam der PH Tirol, mit einer dauerhaften Finanzierung das Unterstützungs-
angebot Lehrer*innen-Gesundheit für alle interessierten Tirol Schulen zu etablieren.

Ziel des Projektes sind verbesserte Arbeitsbedingungen an der Schule und gestärkte
persönliche Ressourcen im Umgang mit den täglichen Arbeitsbelastungen (Prävention)
der Lehrer*innen sowie die Reduktion der konkreten Belastungen und Beanspruchungen
der Beschäftigten an der Schule durch gemeinsame Schussfolgerungen von Kollegien
mit Hilfe von externen Moderator*innen sowie die Umsetzung von standortspezi-
fischen gesundheitsförderlichen Fortbildungen (SCHILF).

120 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Projektaufbau

Das Projekt besteht aus sechs Modulen:

Module des Projekts

Im Modul 1 wurde und wird fachliche Expertise aufgebaut und weiter vertieft, damit den
Schulen ein großer Pool an qualifizierten Moderator*innen und Prozessbegleiter*innen
mit vielfältigen Kompetenzen zur Umsetzung dieses Projektes zur Verfügung stehen.

Modul 2 konzentriert sich auf das Bewusstmachen von gesundheitsförderlicher Füh-


rung. Während die Entwicklung der Bildungsqualität von Schulen unumstritten als
wichtige Aufgabe gesehen wird, muss die Gesundheitsförderung auf ihre Bedeutung
immer wieder neu aufmerksam machen. Schulleitungen und Mitglieder aus den Steuer-
teams werden in vielfältiger Weise vor, während und nach Projektende informiert,
sensibilisiert und beraten.

Im zentralen Modul 3 steht die Frage im Zentrum, wie Schulleiter*innen und Kol-
legium aus eigener Kraft gesundheitsförderliche Arbeitsverhältnisse an ihrer Schule
entwickeln können. Die Ergebnisse des Diagnoseverfahrens IEGL (Inventar zur Er-
fassung der Ressourcen im Lehrberuf) helfen den Schulen zu erkennen, welche Stärken
und Ressourcen, welchen Veränderungsbedarf sie haben und welche Interventionen
notwendig sind. Geplant war, das Unterstützungsangebot an 50 Tiroler Allgemeinbil-
denden Pflichtschulen durchzuführen. Derzeit befinden sich 71 Schulen im Projekt.

121 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Im Modul 4 geht es um das Priorisieren, Entwickeln, Planen und Durchführen von
partizipativ erarbeiteten Maßnahmen zur Verhältnis- und Verhaltensprävention an
den Schulen mit externer Unterstützung durch die PH Tirol und weiteren für die
Lehrer*innen-Gesundheit zuständigen Partnern.

Die Aktivitäten im Modul 5 konzentrieren sich auf die Vernetzung der Projektschulen
und aller relevanten schulischen Systempartner, um die unterstützenden Maßnahmen
nach Projektende zu sichern, aber auch um das Thema der Lehrer*innen-Gesundheit
dauerhaft mit dem Konzept der Schulqualität zu verbinden.

Modul 6 beforscht begleitend die Wirkungen der Interventionen an den Schulen, um


valide Daten zu den Belastungen und Gesundheitsressourcen der Lehrkräfte in Tirol
zu erhalten und um verbesserte und neue Maßnahmen zu entwickeln.

Projektpartner und -struktur

Das Projekt wird von der PH Tirol und von einem Netzwerk (siehe Abb.) – dem
Projektträger FGÖ, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und
Bergbau (BVAEB), Landesstelle Tirol Landesstelle Tirol, der Bildungsdirektion und
Sanitätsdirektion des Landes Tirol – finanziell getragen. Im Jahr 2020 schloss sich die
Kranken- und Unfallfürsorge (KUF) der Partnerschaft an. Durch die anteilige Finan-
zierung der Partner wurde erreicht, dass nach Ablauf des Förderzeitraums (Mai 2021)
die Fortführung der unterstützenden Maßnahmen finanziell für die nächsten zwei
Jahre gesichert ist und das Thema der Lehrer*innen-Gesundheit nachhaltig in den
Schul- und Qualitätsentwicklungsprozessen verankert werden kann.

ECKDATEN ZUM PROJEKT

Geplante Projektdauer 30 Monate: 15. Mai 2017 bis 30. November 2019

Verlängerung FGÖ & Partner bis 31. Mai 2021

Weiterführung durch Einstieg bis Juli 2022


neuer Geldgeber gesichert

Geplante Anzahl Pilotschulen 50 Schulen, davon 20 MS, 30 andere Schulformen

Anzahl Schulen im Projekt 71 Tiroler APS mit

Projektträger Fonds für Gesundes Österreich/FGÖ

Antragsteller PH Tirol

Projektpartner Versicherungen:
BVAEB, Landesstelle Tirol und KUF (seit Juli 2020)
Land Tirol (Bildungs- und Landessanitätsdirektion)

Projektleitung PH Tirol

Eckdaten des Projekts

122 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Konzept und Umsetzung

Wissenschaftlicher Hintergrund

Grundlage bildet die Potsdamer Lehrerstudie zur Belastung und Beanspruchung von
Lehrerinnen und Lehrern, die von Prof. Dr. Uwe Schaarschmidt von 1995 bis 2006
durchgeführt wurde. Sie umfasste neben breit angelegten Erhebungen zur Arbeits- und
Gesundheitssituation auch die Erprobung verschiedener Interventionen. Aufbauend
auf diesen Erkenntnissen entwickelte das Institut COPING (Uwe Schaarschmidt und
Andreas W. Fischer) das Diagnoseinstrument IEGL sowie das Unterstützungsprogramm
Denkanstöße! für Schulen, das seit 2008 im gesamten deutschsprachigen Raum genutzt
wird. Sowohl die Potsdamer Lehrerstudie als auch das Programm Denkanstöße! sind in
der Literatur umfassend dokumentiert.182

Verständnis von psychischer Gesundheit

Nach Schaarschmidt & Fischer (2001) ist „Psychische Gesundheit … mehr als allgemei-
nes Wohlbefinden. Psychisch gesund ist … ein Mensch, dem es im Alltag gelingt, sich
engagiert und doch entspannt den Anforderungen zu stellen, der über eine positive
Einstellung zu sich selbst und zu den eigenen Wirkungsmöglichkeiten verfügt, der
Ziele verfolgt, in seinem Tun Sinn erfahren kann und sich sozial aufgehoben fühlt.“183
Das Ausmaß der psychischen Gesundheit eines Menschen hängt von dessen persön-
lichen Ressourcen wie auch Bedingungen seiner Umwelt ab und kann durch gezielte
Einflussnahme verbessert werden.

Rahmenbedingungen Schulische Verhältnisse Lehrperson selbst


Stundenverpflichtung und Führung des Kollegiums Pädagogische und
Arbeitszeitverteilung ­didaktische Fähigkeiten
Personalausstattung, Verteilung der Aufgaben Haltungen und Einstellung zu
­Rechtsform der Anstellung Arbeit und Beruf
Entlohnung Organisation der Arbeit Persönliche Arbeitsweise
Baulich-räumliche Unterricht und Psychische und physische
­Ausstattung ­außerunterrichtliche Arbeit Belastbarkeit
Finanzielle Mittel Klima im Kollegium Gesundheitszustand
Pensionsregelung & Möglich- Arbeit mit den Eltern Familie und soziales Umfeld
keiten zur Altersteilzeit
(teilweise) gesetzliche Von der Mitwirkung von Schulleitung und Kollegium abhängig
­Vorgaben

Quellen der Beanspruchung im Lehrberuf (Fischer, 2017)

182  Siehe Literaturverzeichnis am Ende des Artikels


183  Vgl. Schaarschmidt 2001, 2005

123 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Schulentwicklungsbegleitung durch das Projektteam der PH Tirol

Zur Sensibilisierung der Schulleitungen und ihrer Lehrer*innen für das Thema Ge-
sundheit am Arbeitsplatz Schule nutzt/e das PH-Team die vielfältigen Möglichkeiten
und Kontakte seiner Organisation und Systempartner (v. a. Bildungsdirektion, Abt.
Schulpsychologie, SQM). Konzept und Umsetzung überzeugten die Schulen schnell.

Den Schulleitungen und Kollegien werden ausführliche schriftliche Entscheidungs-


hilfen zur Verfügung gestellt, bspw. Informationen zum Projekt und Ablauf, FAQs
sowie verschiedene Checklisten, Kurzpräsentationen für Schulleitungen (für Erst-
informationen für ihre Kollegien), damit sie wissen, worauf sie sich einlassen, was sie
erwartet und um gute Entscheidungen zu treffen.

Konkrete Schritte am Schulstandort

Schritt 1 Interessenbekundung durch die Schulleitung beim PHT-Projektteam

Schritt 2 Erstgespräch an Schulen: Sind wir gut dafür gerüstet? In Form von
Workshops mit den Schulleiter*innen und den Mitgliedern der Steuer-
teams an den Schulen werden gemeinsam mit einer Mitarbeiterin des
Projektteams und einer Mitarbeiter*in der BVAEB geklärt:

• Motivation und Interesse für die Teilnahme am Projekt, Ziele


• Voraussetzungen und Rahmenbedingungen (SQA-Entwicklungsplan, Dokumentation,
Evaluation, Budgetrahmen)
• Informationen zum Ablauf (Projektvereinbarung, -abwicklung, Zeitraum)
• Beschreibung des Kollegiums (Stimmung …)
• Aufgaben für Schulleitungen und Steuergruppe
• Fokus Rolle der Schulleitung (Einzelgespräch)

Wenn sich Schulleitungen nach dem Erstgespräch für eine Umsetzung am Schulstand-
ort entscheiden (unterschriebene Checkliste durch Schulleitung) und das PHT-Team
und BVAEB-Team zum Schluss kommen, dass die Schule die erforderlichen Voraus-
setzungen mitbringt, wird ein*e passende*r IEGL-Moderator*in der Schule zugewiesen.

124 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Ablauf an Schulen – Übersicht

125 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Schritt 3 Sensibilisierung Kollegium durch Schulleitung und Steuerteam

Schritt 4 Pädagogische Konferenz: Ein*e IEGL-Moderator*in stellt das Projekt vor


und beantwortet Fragen. Im Anschluss daran findet eine anonyme Ab-
stimmung statt – vor Ort oder via Abstimmungslink (Microsoft Forms).

80 % Zustimmung des Kollegiums sind Bedingung für die Teilnahme


am Projekt. Werden die 80 % nicht erreicht, sind vielleicht noch an-
dere Maßnahmen im Vorfeld (z. B. Mediation bei tiefen Gräben im
Kollegium) zu ergreifen.

Schritt 5 Erhebung IST-Stand zur Analyse der Verhältnisse und der Beanspru-
chung

Die Erhebung an der Schule erfolgt durch die Firma COPING im Auftrag der PH Tirol.
Mit dem auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelten Inventar zur Erfassung von
Gesundheitsressourcen im Lehrerberuf (IEGL; Schaarschmidt & Fischer, 2013) wird eine
breit angelegte Erhebung der schulischen Verhältnisse unter dem Aspekt Gesundheit
vorgenommen. Gegenstand der Analyse sind zum einen die Lehrer*innen selbst, zum
anderen die schulischen Bedingungen sowie das Führungsverhalten der Leitung. Um
die aktuellen Herausforderungen im Lehrberuf durch Corona-Bedingungen erfassen
zu können, wurde der Fragebogen IEGL 2020 um die beiden Merkmale Distance Tea-
ching und Distance Learning erweitert.

Das eigene Ergebnis dieser Analyse erhält jede Lehrperson per Knopfdruck. Sie kann
damit – ohne sich anderen offenbaren zu müssen – ihre persönlichen Gesundheitsres-
sourcen erkunden sowie auf mögliche Risiken gesundheitsgefährdender Entwicklungen
schließen und entsprechende Schlussfolgerungen ziehen.

Mit dem Fragebogen schätzen die Lehrpersonen einer Schule darüber hinaus die
Stärken wie auch die Defizite in den konkreten Arbeitsverhältnissen ein. Diese Aus-
sagen beziehen sich auf die pädagogische Arbeit im engeren Sinne, die sachlichen und
organisatorischen Bedingungen und nicht zuletzt die sozialen Beziehungen.

126 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Aufbau des Fragebogens IEGL (Fischer, 2017)

Auswertung und Ergebnisse

Alle Einzelergebnisse werden in einem Bericht für die Schule zusammengefasst, der die
Grundlage für die Analyse, Interpretation, Diskussion und Ableitung von Schlussfolge-
rungen durch Leitung und Kollegium bildet. Neben Gesamtdarstellungen erfolgt eine
differenzierte Betrachtung nach jenen Merkmalen, die für die Ableitung von Schluss-
folgerungen und die Begründung von unterstützenden Maßnahmen bedeutsam sind.

In keinem Fall werden im Schulbericht die Ergebnisse von Einzelpersonen dargestellt,


und die Daten werden stets so zusammengefasst, dass sie nicht einer konkreten Per-
son zuordenbar sind. Aus diesen Gründen ist die Anonymität aller Teilnehmenden in
vollem Umfang gewährleistet.

Weiterarbeit mit den Fragebogenergebnissen im Schulbericht

• IEGL-Moderator*innen besprechen den Schulbericht gemeinsam mit der Schulleitung


und dem Steuerteam (vor Ort an der Schule oder virtuell).
• Sie geben Hinweise zur Analyse und Unterstützung für die Interpretation.
• Sie planen gemeinsam den Pädagogischen Tag.

127 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Schritt 6 Pädagogischer Tag Ableitung/Umsetzung von Gestaltungs- und
Förder-maßnahmen. Das gesamte Kollegium diskutiert die Befra-
gungsergebnisse und erarbeitet gemeinsam Maßnahmen. Ergebnisse
sind sowohl Maßnahmen, die selbständig intern umgesetzt werden,
als auch Maßnahmen, wofür es externe Unterstützung braucht. Die
Präsentation der Befragungsergebnisse, die Moderation und die Do-
kumentation übernehmen die IEGL-Moderator*innen.

Im Ergebnisbericht für die Schule werden die vorhandenen Bewältigungsressourcen


der Lehrer*innen gegenüber der Arbeit sichtbar gemacht.

AVEM: Musterverteilung im Altersvergleich

128 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Abb. re.: Arbeitsbezogenes Verhaltens- und
Erlebensmuster

Abb. re.: Mittlere Profile der Lehrerinnen und


Lehrer

129 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Auch die Einschätzungen zu den Arbeitsverhältnissen an der Schule werden detail-
liert dargestellt. Damit können Stärken ins Bewusstsein gerückt und Schwachpunkte
aufgezeigt werden. In gemeinsamer Beratung gilt es dann, Entscheidungen über er-
forderliche Maßnahmen zu treffen.

Beispiele aus der Ergebnisdarstellung eines Schulberichts

Schritt 7 Maßnahmenplanungs-Workshop mit Schulleitung, Steuerteam und


Mitarbeiter*innen der PH Tirol und BVAEB (wie beim Erstgespräch)

Gesprächsgrundlagen sind Leitfäden, Checklisten und Protokolle (Erstgespräch, Pä-


dagogischer Tag). Das Maßnahmenprotokoll beinhaltet Maßnahmen für interne Ver-
besserungsmaßnahmen (werden selbstorganisiert an der Schule umgesetzt) und externe
Maßnahmen zur Reduktion der Belastungen, zu gewünschten Themenbereichen sowie
zur Umsetzung (wer ist dafür verantwortlich und bis wann?). Bei mehrfach genannten
externen Unterstützungswünschen liegt eine Priorisierung durch das Kollegium vor.

Ziel ist die Beratung und Hilfestellung beim Konkretisieren des gewünschten Bedarfs
an gesundheitsförderlichen Fortbildungen.

130 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Die folgende Übersicht verknüpft Schul-, Unterrichts- und Qualitäts- und Personal-
entwicklung und bildet eine hilfreiche Checkliste.

Checkliste184

Schritt 8  CHILF – Umsetzung maßgeschneiderter gesundheitsförderlicher


S
Angebote amSchulstandort mit finanzieller Unterstützung durch
BVAEB, KUF und Land Tirol (keine Mindestteilnehmer*innenzahl,
freiwillige Teilnahme)

Im Sinne des Qualitätskreislaufs (plan-do-check-act) findet nach 1,5 bis 2 Jahren ein
Reflexionsgespräch (PHT und BVAEB) mit Schulleitung und Steuerteam statt. Neben
der Bilanzierung wird der Ablauf der Zweitbefragung vereinbart und bei Bedarf eine
Integrationsvereinbarung (PHT und BVAEB) mit den Schulen abgeschlossen.

184  Vereinfacht nach Brägger/Buch o. J., S. 29

131 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Fokus Schulführungskräfte und Unterstützungsangebote für
Steuerteams

Weil Schulleiter*innen Schlüsselfiguren gelingender und gesunder Schulen sind, haben


sie als Führungspersonen zu einer integrierten Gesundheits- und Qualitätsförderung
eine aktive Führungsaufgabe. Dabei hat die Qualität, Art und Weise der Führung einer
Schule einen wesentlichen Einfluss auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und die
Arbeitsfähigkeit ihrer Lehrer*innen.

Folgende konkrete Unterstützungsangebote erhalten die schulischen


­Führungskräfte im Rahmen des Projektes (Prinzip der Freiwilligkeit, keine Pflicht):
• Einzelcoachings: spezielles Schulleiter*innen-Coaching im Umfang von 6 Stunden pro
Jahr (Therapeut*in eigener Wahl) (kostenloses anonymes Einzelcoaching für Tiroler
Pflichtschullehrer*innen gibt es über mcb (https://mcb.tirol-kliniken.at/) aufgrund einer
Vereinbarung der Bildungsdirektion mit den Tirolkliniken)
• Beratungsansatz: Hilfe zur Selbsthilfe, bspw. Erstgespräche, Maßnahmenworkshop für
Fortbildungen (siehe Checklisten)
• Seminare und Webinare zu gesundheitsförderlichen Führen
• Vernetzung der Projektschulen untereinander: für Leitungspersonen und Mitglieder der
Steuerteams
• Hochschullehrgang „Werteorientiertes Führen – Schulentwicklung, die Gesundheit
­fördert“ (für die Lehrer*innen wurde der HLG „Werteorientiertes Unterrichten –
Stärkung des Selbstwertes durch existenzielle Pädagogik“, 12 ECTS, entwickelt)

Das Curriculum für den dreisemestrigen Hochschullehrgang „Werteorientiertes


Führen – Schulentwicklung, die Gesundheit fördert“ wurde in Zusammenarbeit mit
der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse Österreich entwickelt und
inzwischen zwei Mal erfolgreich durchgeführt (nächster Durchgang Start Oktober
2021). In diesem Hochschullehrgang geht es darum, dass Führungskräfte(-teams) lernen,
gesundheitsförderliche Voraussetzungen für Heraus-forderungen zu schaffen, die den
Schulalltag bestimmen. Es geht um Fragen, wie es gelingt, Veränderungsprozesse an
der Schule so zu gestalten, dass die Lernergebnisse stimmen und die Menschlichkeit
gleichwertig zum Zug kommt oder wie Schulteams so gestärkt werden, dass sie im
Spannungsfeld von Steuerung und Eigenverantwortung engagiert arbeiten.

132 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Burnout-Prävention und Gesundheitsförderung 185

Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse der Existenzanalyse (EA) werden für Schulen


(Schulleitungen und Steuerteams) zugänglich gemacht, damit diese Verfahren der EA
zur Burnout-Prävention und Gesundheitsförderung nutzen können. Entsprechend
den vier Grundbedingungen der Existenz (Vertrauen, Beziehung, Selbstwert und
Sinn) können diese als die vier Säulen der Prävention beschrieben werden, die die
Voraussetzungen (Individuum und Organisation) dafür schaffen. Ebenso bekommen
die schulischen Führungskräfte ein Wissen darüber, wie sie nachhaltig die eigene
Gesundheit und die ihrer Lehrerinnen und Lehrer fördern können (EA-Supervision),
um eine gesundheitsfördernde Schulkultur entfalten zu können.

Erfolgs- und Gelingensfaktoren – die 6 Kernelemente

Die externe Analyse der Strukturbedingungen offenbart eine sehr vorteilhafte Aus-
gangssituation für die Durchführung der Projektaktivitäten.

Die hohe Qualität der Kooperationsbeziehungen an sich stellt ein wichtiges Resultat
des Projekts „Lehrer*innen-Gesundheit im Fokus“ dar, ist allerdings gleichzeitig eine
Voraussetzung für die hohe Akzeptanz der Projektaktivitäten an den Schulen.

Nach Abschluss der gesamten Evaluationserhebungen lassen sich sechs K ­ ernelemente


des Projektkonzepts festhalten, die als besonders zielführend bewertet werden:

Sechs Kernelemente des Projektkonzepts

185  Vgl. Längle/Künz 2016

133 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


1.  Hoher Grad der Übereinstimmung der organisationalen Ziele der
verschiedenen beteiligten Institutionen untereinander und mit den
Projektzielen

Häufig kommt es vor, dass Modellvorhaben scheitern, weil sie nicht genügend in-
stitutionelle Unterstützung bekommen. Im Projekt „Lehrer*innen-Gesundheit im
Fokus“ gelingt es sehr gut, die relevanten Institutionen zu identifizieren und sie ins
Projektgeschehen einzubinden. Durch die Übereinstimmung von organisationalen
und Projektzielen ergibt sich ein dauerhaftes Engagement, das den teilnehmenden
Schulen und Lehrpersonen zugutekommt.

2.  Schulentwicklerischer Ansatz

Das Projekt führt keine isolierten Aktivitäten durch, sondern steuert einen schul-
entwicklerischen Prozess, der sich gut in die Abläufe des schulischen QMS in den
Schulen einfügt. Darüber hinaus ist es von Vorteil, dass die Mechanismen, die durch
das Projekt genutzt werden, den Schulen bekannt sind. Sie sind zudem als Qualitäts-
zyklen (Diagnostik-Maßnahmen-Diagnostik etc.) konzipiert, wodurch die zukünftige
selbstständige Nutzung durch die Schulen gefördert wird.

3.  Hohes Commitment der Kollegien, gewährleistet durch die für


die Teilnahme notwendigen Grenze von 80 % Zustimmung

Durch das Projekt „Lehrer*innen-Gesundheit im Fokus“ werden Prozesse ausgelöst,


die zum einen mit hoher Sensibilität verbunden sind (da sie die Gesundheit einzel-
ner sowie des gesamten Kollegiums betreffen) und zum anderen das Potenzial haben,
die Dynamik der Beziehungen an den Schulen massiv zu verändern. Deswegen sind
die Akzeptanz und Mitwirkung des Kollegiums von besonders hoher Bedeutung.
Bei den durchgeführten Erhebungen geht die Evaluation gezielt auf diese Frage ein.
Dass diese Mitwirkung durch eine so hoch gesetzte Grenze (Zustimmung von 80 %
des Kollegiums) zugesichert wird, erscheint nach Analyse des Datenmaterials und der
Befragungen berechtigt.

4.  Partizipativ erarbeitete Maßnahmen

Hierbei handelt es sich um eine der zentralen Wirkketten des Projekts „Lehrer*innen-
Gesundheit im Fokus“: Im Rahmen eines partizipativ gestalteten Prozesses auf Basis
von Ergebnissen, die unter Anwendung präziser Diagnostikinstrumente ermittelt

134 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


sind, werden durch das Kollegium unter Anleitung sinnvolle, maßgeschneiderte Maß-
nahmen für die jeweilige teilnehmende Schule erarbeitet. Durch die Einbindung der
Lehrpersonen werden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass den erarbeiteten Maß-
nahmen vom Kollegium Wohlwollen, Offenheit zur Veränderung und Commitment
entgegengebracht werden und sie somit zur besseren Zielerreichung führen können.
Es stellt sich in Bezug auf die Maßnahmenerarbeitung als wichtig heraus, dass die
Lehrpersonen moderierende Unterstützung bekommen, ohne dass ihnen Lösungen
vorgegeben werden.

5.  Hilfe zur Selbsthilfe

Durch die Leistung von Hilfe zur Selbsthilfe versucht das Projekt Resultate her-
beizuführen, die nicht mit dem Projektende vom Standort verschwinden, sondern
dauerhaft in die Schulkultur und -führung integriert werden. Zum einen wird dies
durch die Anbahnung von Prozessen und konkret durch die Einführung des Zyklus
„Diagnostik-Maßnahmen-Diagnostik“ gewährleistet. Zum anderen wird durch das
Projekt auf die (Beziehungs-)Strukturen der Schulen eingewirkt und somit nachhaltig
der Schulalltag verändert.

6.  Hohe Transferfähigkeit

Eine Stärke des Projektkonzepts stellt auch seine hohe Transferfähigkeit dar. Es eignet
sich für den Einsatz in allen Schultypen und Einrichtungen von Kindergärten bis Hoch-
schulen (bei der Ausbildung von Lehramtsstudierenden) ohne oder mit nur minimalen
Veränderungen. Die Erfahrungen zeigen, dass es sowohl an kleinen wie auch an großen
Schulen zu positiven Resultaten führt. Vom gesamten Knowhow können nicht nur
die Letztzielgruppen, sondern auch andere Schulentwicklungsprojekte profitieren.

Resümee

Das Projekt gibt vielen Schulen Zuversicht, dass sie etwas Sinnvolles im Bereich der
Lehrer*innengesundheit tun und dies mit dem Schulqualitätsmanagement verknüpfen
können. Eine qualitätsvolle Schule ist eng mit der Gesundheit der Lehrenden und
auch der Schüler*innen verknüpft – beides sollte zukünftig noch mehr in den Blick
genommen werden.

135 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Literatur

Brägger, G./Bucher, B. (2008): Ressourcenorientierte Personalentwicklung. Integrierte G


­ esundheits- und
Qualitätsförderung als Führungsaufgabe der Schulleitung.

Fischer, A. (2017): Denkanstöße! Ein Unterstützungsangebot für Schulleitung und L


­ ehrerkollegium.
­Präsentation für IEGL-Moderatoren. Wampersdorf: COPING.

Längle, A./Künz, I. (2016): Leben in der Arbeit? Existentielle Zugänge zu Burnout-Prävention und
­Gesundheitsförderung. Wien, facultas.

Schaarschmidt, U./Fischer, A. W. (2001): Bewältigungsmuster im Beruf. Göttingen: Vandenhoeck &


­Ruprecht.

Schaarschmidt, U. (Hrsg.) (2005): Halbtagsjobber? Psychische Gesundheit im Lehrerberuf – Analyse eines


veränderungsbedürftigen Zustandes (2. Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz.

Schaarschmidt, U./Kieschke, U. (Hrsg.) (2007): Gerüstet für den Schulalltag. Psychologische Unter­
stützungs­angebote für Lehrer*innen. Weinheim und Basel: Beltz.

Schaarschmidt, U./Fischer, A. W. (2013): Lehrergesundheit fördern - Schulen stärken. Ein Unterstützungs­


programm für Kollegium und Leitung. Weinheim und Basel: Beltz.

Zu den Autorinnen

Marlies Kranebitter, Mag.a, ist Projektinitiatorin und Projektleiterin des beschriebenen Projekts.

Doris Schiestl, Mag.a, ist EBIS-Beraterin/Trainerin und IEGL-Moderatorin.

https://ph-tirol.ac.at/lehrerinnengesundheit

Eine ausführliche Darstellung zum Programm Denkanstöße! und zur Arbeit mit dem Inventar zur
­Erfassung von Gesundheitsressourcen im Lehrerberuf IEGL findet sich unter ichundmeineschule.eu.

136 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


10 Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz Schule

G
Victoria Gönitzer, Laurenz Stain, esundheit und Bildung hängen unweigerlich zusammen und sind auf mehre-
Siquia Santos Santiago, ren Ebenen miteinander verwoben. So hat nicht nur der Bildungsgrad einen
Julia Felix, Christina Fürst, starken Einfluss auf den Gesundheitszustand im Allgemeinen und die Le-
Sabine Fischer benserwartung, sondern auch das Schulleben und die Unterrichtsqualität wirken sich
entscheidend auf Lernende wie auch Lehrende aus – und guter, qualitätsvoller Unter-
richt kann wiederum nur von gesunden Pädagog*innen gestaltet werden186 .

Gesundheit wird nicht nur von genetischen Dispositionen oder anderen unveränder-
baren Faktoren, wie Alter oder Geschlecht, bestimmt, sondern neben unserem indivi-
duellen Lebensstil und Gesundheitsverhalten vor allem auch durch soziale Netzwerke,
Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie allgemeine sozioökonomische, kulturelle und
umweltbezogene Verhältnisse beeinflusst.187 Deshalb wirkt sich auch die Lern- und
Arbeitswelt Schule stark auf die Gesundheit von allen an Schulen beteiligten Personen
aus – das betrifft die Schulleitungen, die Pädagog*innen sowie das nicht-unterrichtende
Personal gleichermaßen wie die Schüler*innen.

Die Bedingungen am Arbeitsplatz können Lehrer*innen – genauso wie in anderen


Arbeitswelten – „krank machen“, sie können aber auch ein zentraler Faktor für Gesund-
heit sein. Genau dieser Ansatz bildet die Grundlage für die „Gesundheitsförderung am
Arbeitsplatz Schule“. Gemäß dem Grundgedanken „Stärken stärken und Schwächen
schwächen“ sollen das gesundheitsbewusste Verhalten des bzw. der Einzelnen geför-
dert und die Verhältnisse in der Schule, also die Rahmenbedingungen und Abläufe,
gesund gestaltet werden. Gesundheitsförderung setzt ihre Hebel sowohl am Lebensstil
einer Person als auch an der Umwelt an – also dort, wo Menschen spielen, lernen und
arbeiten – und „schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und
Lebensbedingungen“188 .

Die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, kurz


BVAEB, nimmt sich bereits seit mehr als einem Jahrzehnt der Gesundheitsförderung
am Arbeitsplatz Schule an und begleitet Schulen österreichweit auf ihrem Weg zu
einem gesunden Arbeitsplatz.

186  Siehe z. B. Achermann Fawcett/Keller/Gabola 2018; Dachverband der Sozialversicherungsträger (Hrsg.)


2020

187  Dahlgren/Whitehead 1991, S. 11


188  WHO 1986

137 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Im Rahmen eines strukturierten Prozesses werden Schulen bei der nachhaltigen Stär-
kung der Gesundheit ihrer Schulleitungen, ihrer Pädagog*innen sowie des nicht-unter-
richtenden Personals fachlich unterstützt. Ausgangsbasis dafür ist ein einheitliches,
biopsychosoziales und dynamisches Verständnis von Gesundheit, das die drei Säulen
Körper, Psyche und Soziales inkludiert189 und im Sinne des Determinantenmodells die
vielschichtigen Einflussfaktoren auf die Gesundheit berücksichtigt190 . Dabei geht es
sowohl um verhaltens- als auch um verhältnisorientierte Maßnahmen, die im Zuge
eines Gesundheitsförderungsprozesses geplant und umgesetzt werden. Gerade die
Kombination aus verhaltens- und verhältnisorientierten Maßnahmen bringt dabei
die größten Erfolge191 , wohingegen die Umsetzung von rein verhaltensorientierten
Maßnahmen meist scheitert: „Wenn Beschäftigte dafür sensibilisiert werden, wie sie
gesundheitsförderlich leben und arbeiten, die Lebens- und Arbeitsbedingungen jedoch
dieses gesundheitsförderliche Verhalten nicht zulassen, werden diese Maßnahmen
nicht die gewünschte Wirkung entfalten können.“192

Verhaltensorientierte Maßnahmen zielen in erster Linie auf die positive Beeinflussung des
Verhaltens der beteiligten Personen ab. Ein Beispiel wäre ein Stressmanagement-Workshop,
der die Teilnehmer*innen zu einem konstruktiven Umgang mit ihrem persönlichen Stress-
erleben befähigen soll. Im Gegensatz dazu verfolgen verhältnisorientierte ­Maßnahmen das
Ziel, Rahmenbedingungen und Arbeitsbedingungen positiv zu beeinflussen. Diese sollen
bestenfalls gesundheitsförderlich und nicht gesundheitsschädlich oder -belastend gestal-
tet werden193 – das kann beispielsweise von einer gesunden Verpflegung durch das Schul-
buffet über Rückzugsräume für Pädagog*innen bis hin zu einer guten Arbeits- und Unter-
richtsorganisation sehr viele verschiedene Bereiche betreffen.

Um zu veranschaulichen, wie der Prozess „Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz


Schule“ als Good-Practice-Beispiel erfolgreich umgesetzt werden kann, wird in weite-
rer Folge dargestellt, wie die BVAEB mit ihren vielfältigen Unterstützungsleistungen
Schulen dabei begleiten kann.

189  Siehe z. B. WHO 1948; Egger 2005; Antonovsky 1997


190  Dahlgren/Whitehead 1991
191  Siehe z. B. Prümper/Richenhagen 2011, S. 139
192  Blattner/Mayer 2018, S. 95
193  Blattner/Mayer 2018, S. 93

138 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


BVAEB-Netzwerk „Gesunder Arbeitsplatz Schule“

Die BVAEB unterstützt Schulen im Rahmen des 2019 gegründeten Netzwerks „Ge-
sunder Arbeitsplatz Schule“ auf 3 verschiedenen Ebenen:

Im Zuge einer Netzwerkpartnerschaft werden den Schulen aktuelle und regelmäßige


Informationen zu allen Themen der Gesundheitsförderung in Form von Newslettern
zur Verfügung gestellt. Außerdem werden regionale Fortbildungen sowie Vernet-
zungs- und Informationsveranstaltungen organisiert und die Schulen im Sinne eines
Informationsforums darüber am Laufenden gehalten.
Abb. 1: BVAEB-Netzwerk „Gesunder Arbeits-
platz Schule“

Eine Silberpartnerschaft ist die zweite Kooperationsmöglichkeit für Schulen. Ziel


ist die gemeinsame Planung, Umsetzung und Evaluierung eines ganzheitlichen Ge-
sundheitsförderungsprozesses für Schulleitungen, Pädagog*innen sowie das nicht-
unterrichtende Personal direkt am Schulstandort. Bei allen Prozessschritten stehen
Expert*innen der BVAEB beratend und unterstützend zur Verfügung.

Die Goldpartnerschaft zielt auf eine nachhaltige Verankerung von Gesundheitsförde-


rung im Schulalltag ab. Im Fokus steht die Weiterentwicklung – unter anderem durch
den Austausch mit anderen Netzwerkschulen. Den Höhepunkt bildet die Auszeichnung
mit dem österreichweiten BVAEB-Gütesiegel, wenn engagierte Schulen Gesundheits-
förderung langfristig etablieren und die vereinbarten Qualitätskriterien erfüllen.

Mit all diesen Unterstützungsangeboten will die BVAEB Gesundheitsförderung am


Arbeitsplatz Schule als fixen Bestandteil an Schulen verankern und im Zuge dessen
Rahmenbedingungen und Arbeitsabläufe in der jeweiligen Schule gesundheitsförder-
lich gestalten. Gleichzeitig soll das individuelle Gesundheitsverhalten aller an der
Schule Tätigen gestärkt werden, da gesunde, gerüstete und starke Lehrkräfte die täg-
lichen Herausforderungen besser bewältigen und so mit Freude und hoher Qualität
unterrichten können.

Prozessablauf im Detail

Im folgenden Abschnitt wird der Ablauf eines Gesundheitsförderungsprozesses am


Arbeitsplatz Schule anhand einer BVAEB-Silber- und Goldpartnerschaft näher be-
schrieben und durch die Darstellung eines Praxisbeispiels zu Themenbereichen der
psychosozialen Gesundheit verdeutlicht.

139 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Silberpartnerschaft

Entscheidet sich eine Schule dafür, einen längerfristigen Gesundheitsförderungspro-


zess mit Unterstützung der BVAEB zu initiieren, ist der erste Schritt die dreijährige
Silberpartnerschaft. Der strukturierte Ablauf der Silberpartnerschaft orientiert sich
dabei an den folgenden Schritten des Projektmanagementzyklus:

1. Projektstruktur
2. Diagnose
3. Planung
4. Umsetzung
5. Evaluierung

Abb. 2: Projektkreislauf der Silber- und Goldpartnerschaft

1. Projektstruktur – Vorprojektphase

Der Grundstein für die Silberpartnerschaft wird bereits in der Vorprojektphase gelegt
und beginnt mit einer detaillierten Beratung und Information der interessierten Schule,
im Rahmen derer abgestimmt wird, wie konkret ein Gesundheitsförderungsprozess direkt

140 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


am Schulstandort umgesetzt werden kann – dabei werden die individuellen Bedürfnisse
und Rahmenbedingungen der jeweiligen Schule mitberücksichtigt. Ganz im Sinne der
Partizipation, ein wichtiges Qualitätskriterium in der Gesundheitsförderung194 , erfolgt
im nächsten Schritt eine Entscheidungsfindung und Abstimmung mit dem gesamten
Kollegium. Für den Start einer Silberpartnerschaft ist eine 2/3-Mehrheit notwendig.

Zur Schaffung der Projektstrukturen wird im Anschluss ein Gesundheitsteam an der


Schule gebildet. Dieses besteht aus mehreren interessierten Personen und stellt das
Projektteam an der Schule dar. Je nach den Wünschen der Schule werden zusätzlich
zu Vertreter*innen der Lehrkräfte auch Personen des nicht-unterrichtenden Personals
miteingebunden. Auch Schulerhalter*in, Schularzt oder Schulärztin und Schulpsy-
cholog*innen etc. können miteinbezogen werden. Wichtig ist jedenfalls, dass sich das
gesamte Kollegium repräsentativ im Gesundheitsteam abbildet. Auch die Schulleitung
sollte im Gesundheitsteam vertreten sein, um Entscheidungen gut mittragen zu können.
Eine Person aus dem Gesundheitsteam wird als Projektleitung festgelegt, die das Team
intern koordiniert und auch als Ansprechperson für die BVAEB fungiert. In einem von
der BVAEB organisierten Basisworkshop werden die Projektleitung bzw. weitere Mit-
glieder des Gesundheitsteams für die Umsetzung des Gesundheitsförderungsprozesses
an der Schule vorbereitet und ausgebildet.

Eine Projektvereinbarung, die die wichtigsten Eckpunkte der Projektplanung wie Ziele
und Meilensteine festhält und den Rahmen vorgibt, wird entworfen und unterzeichnet.
Zusätzlich bekennt sich die Schule mit der Unterzeichnung einer Charta als Grund-
satzdokument zu den Qualitätskriterien und Prinzipien der Gesundheitsförderung.

Praxisbeispiel I: Eine Volksschule konnte im Zuge einer Fortbildungsveranstaltung an einer


Pädagogischen Hochschule, bei der die BVAEB als Kooperationspartnerin fungierte, für das
Thema Gesundheit und Gesundheitsförderung am Arbeitspatz Schule sensibilisiert werden.
Zudem erfuhren die Teilnehmer*innen von der Möglichkeit der Umsetzung eines Gesund-
heitsförderungsprozesses an ihrer Schule. Nach einer Erstberatung stimmten ca. 93 % des
Kollegiums (25 von 27 Lehrenden) bei der Entscheidungsfindung für einen Prozessstart. Das
Gesundheitsteam – bestehend aus der Direktorin, zwei Lehrerinnen, einem Lehrer sowie
dem Schulsekretär – hat sich schnell zusammengefunden. Insgesamt waren somit Ver-
treter*innen aus allen Personen- und Altersgruppen der Schule im Team vertreten. In der
Projektvereinbarung wurden die Steigerung der Arbeitszufriedenheit und die Verbesserung
der internen Kommunikation als Ziele für den Gesundheitsförderungsprozess festgelegt.

194  Siehe Fonds Gesundes Österreich o. J.: „Partizipation in Gesundheitsförderungsprojekten ermöglicht


es den Zielgruppen und anderen beteiligten Akteurinnen/Akteuren, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen,
indem sie z. B. ihre Themen, ihr Wissen einbringen, wesentliche Projektschritte mitentscheiden oder aktiv an
der Projektdurchführung beteiligt sind.“

141 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


2. Diagnose

Im Rahmen der Diagnosephase werden die Bedürfnisse und die gesundheitlichen


Ressourcen und Belastungen am Arbeitsplatz erhoben. Unter Gesundheitsressourcen
versteht man „sowohl individuelle als auch schulbezogene Verhaltensweisen und
Strukturen […], die Lehrerinnen und Lehrer dabei unterstützen, die vorhandenen
Belastungen gesund zu bewältigen“.195 Gemeinsam werden anschließend Lösungs-
vorschläge erarbeitet, um den Arbeitsplatz gesünder zu gestalten. Abhängig von der
Anzahl der Lehrer*innen bzw. dem nicht-unterrichtenden Personal kommen in der
Diagnosephase unterschiedliche Modelle und damit einhergehende quantitative wie
qualitative Erhebungsinstrumente (z. B. Fragebogenerhebung und Gesundheitszirkel)
und Abläufe zum Einsatz. Grundsätzlich wird anhand der Anzahl der Pädagog*innen
zwischen Klein- und Großschule unterschieden.

3. Planung

In der Planungsphase wird im Gesundheitsteam mit Unterstützung der BVAEB partizi-


pativ und bedürfnisorientiert an den Zielen und Handlungsfeldern gearbeitet und die
Maßnahmenumsetzung geplant. Die Basis dafür bilden die Ergebnisse und Lösungs-
vorschläge der Diagnosephase. In einem Maßnahmenplan wird der „rote Faden“ für
die folgenden drei Jahre des Prozesses erarbeitet und alle geplanten Maßnahmen sowie
die dafür zuständigen Personen und die zeitliche Planung schriftlich festgehalten.
Alle Maßnahmen sollen dabei helfen, die erhobenen Belastungen am Arbeitsplatz zu
reduzieren und Faktoren, die die Gesundheit stärken, weiter auszubauen.

Praxisbeispiel I: In der Diagnosephase fand an der Volksschule als erster Schritt ein Sensibi-
lisierungsworkshop mit der Schulleitung statt, um Ressourcen, Belastungen und Lösungs-
ansätze aus Sicht der Führungsebene zu beleuchten. Im Anschluss waren in einem Gesund-
heitsworkshop die Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schulsekretär gefragt. Im Bereich von
Belastungen der psychosozialen Gesundheit ergab sich schnell der Wunsch, die interne
Kommunikation zu thematisieren und zu verbessern. Auch der gesundheitsförderliche Um-
gang mit Schüler*innen sowie Eltern wurde in diesem Zusammenhang als Ziel im Kontext
von Kommunikation definiert. Weitere Belastungen wurden im Bereich des Gesundheitsver-
haltens identifiziert: Berufsbedingte Rückenbeschwerden und das fehlende Knowhow für
eine gesunde und einfach umsetzbare Ernährung im Arbeitsalltag wurden sowohl von der
Schulleitung als auch vom restlichen Team angesprochen.

195  Dachverband der Sozialversicherungsträger (Hrsg.) 2020, S. 8

142 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Mögliche Handlungsfelder

Abgesehen von der standardisierten, einheitlichen Vorgehensweise bei der Initiierung


und den bewährten Abläufen und Vorgehensweisen in der Abwicklung der Prozessvor-
gänge, gestaltet jede Schule selbst die eigentlichen Inhalte für den Gesundheitsförde-
rungsprozess. Dies geschieht in Form der Erhebung von Ressourcen und Belastungen
sowie der Entwicklung von Lösungsansätzen in der Diagnosephase und der Planung
entsprechender Maßnahmen. Diesem Prinzip liegt die Überzeugung zugrunde, dass
die Pädagog*innen dahingehend befähigt werden sollen, selbst die Expert*innen für
die eigene Gesundheit zu sein.196 Neben der bereits erwähnten Partizipation spielt hier
auch das „Empowerment“197 eine große Rolle. Dies hat logischerweise zur Folge, dass
die Beteiligung und die Motivation, mit welcher der Prozess betrieben wird, stark vom
Engagement der Pädagog*innen abhängig sind.

Die jeweiligen Inhalte der Maßnahmenumsetzung werden also bedürfnisorientiert


und partizipativ von der Schule selbst bestimmt. So können Maßnahmen, die an
einer Schule greifen, in anderen Schulen möglicherweise wenig gesundheitsfördernde
Wirkung zeigen.

Aus den bisherigen Erfahrungen der BVAEB in der Gesundheitsförderung am Arbeits-


platz Schule lassen sich die an Schulen vorherrschenden Themen und Handlungsfelder
in folgende Kategorien einteilen:

• Kooperation Schulleitung – Lehrkräfte – nicht-unterrichtendes Personal – Schüler*innen


– Eltern: z. B. Umgang mit (herausfordernden) Schüler*innen und/oder Eltern, Verhaltens-
vereinbarungen, Pausenkultur etc.
• Teamkultur: z. B. Führungsverhalten, gegenseitige Unterstützung, Kommunikation,
­Mentoring-System etc.
• Bauliche Ausstattung/Arbeitsumfeld/Lärm: z. B. Zustand der Möbel, technische Aus­
stattung, eigene Arbeitsplätze, ausreichend Platz etc.
• Organisatorische Arbeitsanforderungen im Schulalltag: z. B. Pausenstrukturen,
­Arbeitsabläufe, Zeiteinteilung, Optimierung von Konferenzabläufen, Umgang mit
­administrativen Tätigkeiten etc.
• Stärkung der psychischen Gesundheit/Work-Life-Balance: z. B. Umgang mit Stress,
­Entspannungsmethoden, „Ruhe-Zonen“ für das Kollegium etc.

196  Fonds Gesundes Österreich o. J.


197  Siehe Fonds Gesundes Österreich o. J.: „Empowerment bedeutet Befähigung bzw. ist ein Prozess, mit
dem die Fähigkeiten von Menschen gestärkt und aktiviert werden, Herausforderungen zu bewältigen, Be-
dürfnisse zu stillen, Probleme zu lösen und sich die notwendigen Ressourcen zu verschaffen, um die Kontrolle
über die Entscheidungen und Handlungen zu gewinnen, die ihre Gesundheit begünstigen.“

143 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


• Aspekte des Gesundheitsverhaltens von Schulleitungen – Lehrkräften – nicht-unter­
richtendem Personal: z. B. Ernährung, Bewegung, Tabakprävention, Stimmtraining etc.

Themen der psychosozialen Gesundheit spiegeln sich dabei in beinahe allen Themen-
feldern wider. Trotzdem ist es im Sinne der Ganzheitlichkeit und eines umfassenden
Gesundheitsbegriffs wichtig, alle Facetten und Bereiche im Zuge eines Gesundheits-
förderungsprozesses zu beleuchten.198

4. Umsetzung

In weiterer Folge werden die festgelegten Maßnahmen Schritt für Schritt umgesetzt.
Wie bereits erwähnt, ist dabei ein ausgewogenes Verhältnis bzw. eine Kombination
aus verhaltens- und verhältnisorientierten Maßnahmen wichtig – nicht nur das Ge-
sundheitsverhalten der Lehrkräfte und dessen Stärkung (z. B. durch Angebote im
Bewegungs- und Ernährungsbereich oder im Bereich des Stimmtrainings), sondern
auch Rahmenbedingungen, wie das Schulklima, die Teamkultur, die Ausstattung
der Schule sowie die Gestaltung des Arbeitsplatzes oder zeitliche Strukturen, spie-
len demnach eine wichtige Rolle. Anhand von Einzelmodulen, die von Schulen im
Rahmen des ganzheitlichen Gesundheitsförderungsprozesses der BVAEB kostenlos
in Anspruch genommen werden können, unterstützen Trainer*innen aus einem be-
währten Expert*innenpool je nach Bedarf mit Vorträgen, Seminaren oder Workshops
aus den Bereichen Ernährung, Bewegung, seelische Gesundheit, Stimmgesundheit
und Tabakentwöhnung. Außerdem erhalten die Schulen eine finanzielle Förderung,
die bei Erfüllung von festgelegten Qualitätskriterien ebenfalls für die Umsetzung von
gesundheitsfördernden Maßnahmen verwendet werden kann.

Praxisbeispiel I: Die Maßnahmenumsetzung an der Volksschule wurde auf Basis der Ergeb-
nisse aus der Diagnosephase mit mehreren Workshops zu verschiedenen Themenberei-
chen, wie „Gesunder Rücken“, „Entspannung“ oder auch diversen Workshops zur „Gesunden
Ernährung“ gestartet, um das Bewusstsein für diese Themen zu schärfen und das Hand-
lungs- und Effektwissen des Teams dazu zu erweitern. Im Kollegium stellte sich zusehends
auch Interesse an dem Themengebiet der „Neuen Autorität“ heraus. Es folgte ein Work-
shop, im Zuge dessen der Referent das gesamte Team für das Thema anhaltend begeistern
konnte. Nach und nach zeigte die Schule ein wachsendes Interesse an weiteren Workshops
zu Themen wie „Teambuilding“ und „Kommunikation“ oder auch „Stressmanagement“ mit
diesem Experten. Die Fortführung der Workshops mit dem Trainer wurde in regelmäßigen

198  Siehe dazu auch wieder die Grundprinzipien der Gesundheitsförderung, z. B. Fonds Gesundes Österreich
(o. J.)

144 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Abständen weitergeführt, da die persönliche Zusammenarbeit die Pädagog*innen derart
nachhaltig und wirkungsvoll motivieren konnte. Dabei wurde insbesondere positiv hervor-
gehoben, dass der Trainer auf aktuelle Ereignisse oder persönliche Erfahrungen einging
und die Pädagog*innen mit vielen praktischen Elementen zu weiteren Terminen motivieren
konnte, sodass die Kommunikation des Schulteams sorgfältig und kontinuierlich betrachtet,
weiterentwickelt und nachhaltig verbessert werden konnte.
Auch auf der Verhältnisebene wurden Maßnahmen umgesetzt. Dazu gehörte zum einen das
Fixieren einer wöchentlichen Kurzkonferenz, die zum verstärkten regelmäßigen Austausch
sowie zur Zusammenarbeit untereinander anregte. Weiters wurde ein Mentoring-System
etabliert, um den Wissenstransfer und die persönliche Beziehung von Kolleg*innen verschie-
dener Altersgruppen und unterschiedlicher Erfahrungsschätze zu verstärken.

Da das Thema Vernetzung ein wichtiges Grundprinzip in der Gesundheitsförderung


darstellt, 199 werden von der BVAEB regelmäßig Vernetzungstreffen für alle betreuten
Schulen veranstaltet. Während der Umsetzungsphase nehmen Schulen an diesen Treffen
teil, um sich mit anderen Schulen auszutauschen und aus den Erfahrungen anderer zu
lernen. Zusätzlich ist auch immer ein fachlicher Input Teil des Vernetzungstreffens,
wodurch sich Schulen auch laufend zum Thema Gesundheitsförderung fortbilden
können.

5. Evaluierung

Nach drei Jahren wird der Gesundheitsförderungsprozess gemeinsam mit Expert*innen


der BVAEB reflektiert. Der Fokus liegt hier auf den Fragen, ob die geplanten Maß-
nahmen umgesetzt und die definierten Ziele erreicht werden konnten. Die Ergebnisse
werden dem Gesundheitsteam im Rahmen einer Ergebnispräsentation vorgestellt und
der mögliche Übergang in die Goldpartnerschaft besprochen.

Praxisbeispiel I: Im Rahmen der Evaluierung des Gesundheitsförderungsprozesses an der


Volksschule zeigte sich, dass der Großteil der geplanten Maßnahmen umgesetzt werden
konnte. Einige Maßnahmen wurden aufgrund fehlender zeitlicher Ressourcen offen ge-
lassen und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, andere wurden aufgrund fehlenden
Handlungsspielraums als nicht umsetzbar eingestuft. Die Auswirkungen des Gesundheits-
förderungsprozesses wurden bewertet und mit Bezug auf die Veränderungen wurden
neue Themen und Handlungsfelder in den Prozess aufgenommen. Es zeigte sich, dass die
Arbeitszufriedenheit durch die umgesetzten Maßnahmen für alle an der Schule Tätigen
deutlich verbessert werden konnte. Zudem wurde der Teamzusammenhalt verstärkt als

199  Fonds Gesundes Österreich (o. .J.)

145 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Ressource angeführt und auch die Kommunikation im Team wurde als wesentliche Ver-
besserung bewertet.

Gesundheitsförderung an Schulen ist immer mit Schulentwicklung und Qualitäts-


management verbunden, wie der Beitrag „Gesundbleiben durch QMS: Wie Quali-
tätsmanagement zur Gesundheit aller an der Schule Beteiligten beitragen kann“
von Dr.in Andrea Fraundorfer in diesem Band gut veranschaulicht. Durch zahlreiche
Schnittpunkte (z. B. analoger Ablauf anhand des Projektmanagementzyklus, ähnliche
Qualitätskriterien wie Partizipation, Vernetzung etc.) zwischen dem QMS-Prozess
und einem von der BVAEB begleiteten Gesundheitsförderungsprozess bieten sich hier
gute Unterstützungsmöglichkeiten für Bildungsprozesse sowie für die Entwicklung
und Sicherung der Schulqualität.

Goldpartnerschaft

Wenn Schulen nach Abschluss der Silberpartnerschaft bestimmte Kriterien auf allen drei
Qualitätsebenen (Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität) erfüllen, kann eine 2-jährige
Goldpartnerschaft mit der BVAEB abgeschlossen werden. In der Goldpartnerschaft
geht es darum, Gesundheitsförderung langfristig an Schulen zu implementieren. Der
Projektzyklus wird analog zur Silberpartnerschaft weitergeführt (siehe Abb. 2). Solange
die Qualitätskriterien von einer Schule erfüllt werden, kann die Goldpartnerschaft in
2-Jahreszyklen immer wieder verlängert bzw. wiederholt werden.

Besonders engagierte Schulen können das BVAEB-Gütesiegel „Gesunder Arbeitsplatz


Schule“ beantragen. Damit werden Schulen für ihre Tätigkeiten und ihr Engagement
im Bereich der Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz ausgezeichnet. Auch hierzu
müssen bestimmte Qualitätskriterien von der Schule erfüllt werden, die erhoben und
bewertet werden.

Zudem besteht in der Goldpartnerschaft die Möglichkeit, die an Schulen tätigen Per-
sonen zu Gesundheitsmultiplikator*innen zu verschiedenen Themen der Gesundheit
und Gesundheitsförderung ausbilden zu lassen.

Multiplikator*innenschulungen
Interessierte Schulleitungen, Pädagog*innen sowie nicht-unterrichtende Mitarbeitende
können im Zuge der BVAEB-Goldpartnerschaft an Multiplikator*innenausbildungen teil-
nehmen. Das erlernte Wissen und dessen praktische Umsetzung kann mit Begeisterung in
den Schulalltag getragen werden, wo die Inhalte mit der Zeit einen selbstverständlichen und
festen Platz in der Schulkultur finden und so nachhaltig wirken können. Das Erlernte trägt
zur Gesundheitsförderung aller Schulbeteiligten bei, da sowohl ausgewählte Übungen für

146 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Erwachsene, als auch Übungen, die gemeinsam mit Schüler*innen durchgeführt werden
können, vorgestellt werden. Diese Praxisübungen sind auf die unterschiedlichen Bedürfnisse
der jeweiligen Altersgruppen abgestimmt und gemeinsam durchgeführt stärken sie zusätz-
lich die wichtige gesundheitsförderliche Ressource des sozialen Miteinanders.

Die Inhalte des Schulungskonzeptes im Bereich der seelischen Gesundheit sind vielfältig –
zur Stärkung der seelischen Gesundheit werden Themen wie Atemtechniken, Resilienz und
Achtsamkeit, Kognition und Bewältigung von Stress sowie das Thema Selbstwertstärkung
behandelt. So kann jede*r Teilnehmer*in etwas Passendes für sich finden, um die eigene Ge-
sundheit zu fördern, zu erhalten, zu stärken und immer wieder zu regulieren – ganz im Sinne
des dynamischen Verständnisses von Gesundheit, als ein sich ständiges mehr oder weniger
Hin- und Herbewegen auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, wie es der Medizin-
soziologe und Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovsky im Rahmen seines Salutoge-
nese-Ansatzes beschreibt. 200

Weitere Praxisbeispiele verschiedener Schultypen

Je nach schulspezifischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen können sich


die Prozessabläufe unterschiedlich gestalten. Da die Bedürfnisorientierung ein wich-
tiger Grundsatz der BVAEB ist, werden vorliegende Schulspezifika (wie personelle,
zeitliche, örtliche und organisatorische Rahmenbedingungen) mitberücksichtigt, um
so eine bestmögliche Betreuung und Begleitung der Schule durch den Gesundheits-
förderungsprozess sicherzustellen.

Die folgenden zwei Praxisbeispiele sollen diese Unterschiede im Ablauf verdeutlichen.


Sie zeigen zudem weitere Möglichkeiten auf, wie den Belastungen und Anforderungen
an die psychosoziale Gesundheit am Arbeitsplatz Schule erfolgreich begegnet werden
kann und welche Ideen und Maßnahmen hier beispielhaft umgesetzt werden können.
Wiederum sei erwähnt, dass diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Erfolgs-
garantie erheben, sondern lediglich versuchen einige Aspekte praxisnah aufzuzeigen.

Praxisbeispiel II: Am Beispiel einer im BVAEB-Prozess befindlichen Mittelschule zeigte sich,


dass die kontinuierliche Arbeit an Teamgefüge und sozialem Zusammenhalt weitreichende,
positive Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit der Pädagog*innen haben kann.
Da insgesamt 63 Lehrkräfte an der Schule tätig sind, wurde der Ist-Stand in der Diagnose-
phase mittels einer Fragebogenerhebung analysiert. Zusätzlich wurde mit interessierten
Lehrpersonen ein Gesundheitszirkel durchgeführt, um auch auf qualitativer Ebene Ressour-

200  Antonovsky 1997

147 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


cen und Belastungen an der Schule sowie mögliche Lösungsansätze zu identifizieren. Neben
zahlreichen vorhandenen gesundheitsfördernden Faktoren an der Schule zeigten sich auch
einige Belastungen in den Bereichen Teamkultur, Zusammenarbeit und Umgang miteinan-
der sowie in den organisatorischen Abläufen im Schulalltag. In der Maßnahmenumsetzung
wurde durch regelmäßige Teilnahmen an Workshops der BVAEB zu Themen wie „Stress-
management“, „Entspannung“ und „Resilienz“ zunächst das Bewusstsein der interessierten
Personen für die Wichtigkeit der psychosozialen Gesundheit am Arbeitsplatz Schule sensibi-
lisiert. Die Inhalte der Workshops wurden von den Teilnehmer*innen weiter verbreitet und im
Kollegium wurde angeregt darüber diskutiert. Auf diese Weise stiegen die Informiertheit und
das Interesse der bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht involvierten Personen. Dadurch konnte
ein Multiplikator*innen-Konzept angestoßen werden, welches in weiteren Follow-Up-Ter-
minen weiter gefestigt werden konnte. Auf diese Weise kamen auch beständig neue Ideen
und Wünsche nach weiteren Maßnahmen zu unterschiedlichen Themen auf. Nach und nach
etablierten sich Fixpunkte in der Teamkultur, beispielsweise eine Nordic-Walking-Gruppe,
welche nun auch Jahre später noch regelmäßig zusammentrifft, um gemeinsam Bewegung
zu machen. Die Schlüssel zum Erfolg waren im Falle dieser Schule die unmittelbare, klare
Kommunikation des Gesundheitsteams mit dem gesamten Kollegium sowie die Begeiste-
rung und der Enthusiasmus, mit welchem die ersten Workshops aufgenommen wurden,
wodurch sich der Wunsch nach Weiterführungen schnell verstärkte.

Praxisbeispiel III: Eine Allgemeine Sonderschule entschied sich für den Start eines BVAEB-
Gesundheitsförderungsprozesses, um die psychosoziale Gesundheit aller an der Schule Täti-
gen zu stärken und damit den Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen im Schulall-
tag einer Sonderschule zu verbessern. An dieser Schule sind nicht nur Pädagog*innen tätig,
sondern auch unterstützendes nicht-unterrichtendes Personal wie Schulbegleiter*innen
sowie Nachmittagsbetreuer*innen. Für die Beteiligten war klar, dass die gewünschten Ziele
nur gemeinsam behandelt und erreicht werden können, weshalb sich im Gesundheitsteam
neben interessierten Lehrkräften auch Vertretungen der weiteren Berufsgruppen an der
Schule wiederfanden und so das gesamte Team in den Gesundheitsförderungsprozess ein-
bezogen wurde. Auf Grundlage der Ergebnisse aus der Diagnosephase wurde unter anderem
ein Achtsamkeits-Workshop für interessierte Pädagog*innen, Kolleg*innen des nicht-unter-
richtenden Personals und die Schulleitung durchgeführt. Nach der Veranstaltung setzte die
Schulleitung daraufhin die Anregungen und das erworbene Wissen aus dem Workshop nicht
nur auf der individuellen Ebene, sondern auch auf der Verhältnisebene um. Sie kümmerte
sich um kurze Achtsamkeits-Sprüche für den Alltag, um dadurch immer wieder einen Impuls
zum Innehalten zu geben und das gesamte Team einzuladen, Achtsamkeit im Alltag zu prak-
tizieren. Dadurch ermöglichte sie allen an der Schule Tätigen mehr Bewusstheit für dieses
Thema und bot gleichsam einen Erfahrungsraum dafür. Ferner stärkte die Erfahrung, dass
sich die Schulleitung um das Wohlergehen im gelebten Schulalltag einsetzte, das soziale Ge-
füge und somit die psychosoziale Gesundheit des gesamten Teams. Zusätzlich wurde als ver-
hältnisorientierte Maßnahme gemeinsam ein Ruheraum für die Mitarbeitenden eingerichtet.

148 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Dieser bot allen an der Schule tätigen Personen die Möglichkeit für Kurzentspannungen und
Achtsamkeit im oftmals stressigen Schulalltag und wird nach wie vor gut angenommen. Ein
derartiger Raum kann als deutlicher, sichtbarer äußerer Anker fungieren, der einladen soll,
das Gelernte aus den Achtsamkeits- und Entspannungsworkshops im Alltag umzusetzen.

Besonderheiten in der schulischen Gesundheitsförderung


zu Zeiten von Corona

Wie bereits Mag.a Dr.in Rosemarie Felder-Puig, MSc und Mag. Dr. Robert Griebler in
ihrem Beitrag „Studienergebnisse zur Gesundheit von Lehrkräften aus Österreich und
Deutschland“ in diesem Band gezeigt haben, sind durch die COVID-19-Pandemie zu-
sätzliche Herausforderungen im Schulalltag und für alle an Schulen tätigen Personen
entstanden. Um die Schulleitungen, Pädagog*innen sowie das nicht-unterrichtende
Personal auch in diesen Zeiten mit gesundheitsfördernden Maßnahmen und Angebo-
ten zu unterstützen, hat die BVAEB die Prozessbetreuung „Gesundheitsförderung am
Arbeitsplatz Schule“ gänzlich auf eine digitale Form umgestellt. Zusätzlich wurden
österreichweit eine Reihe von Impulsvorträgen und Workshops zu Themen der psycho-
sozialen Gesundheit im Online-Format veranstaltet, um den Pädagog*innen Wissen
und Fähigkeiten für den Umgang in psychisch belastenden Situationen in die Hand
zu geben. Im Rahmen der Fortbildungen konnten Inhalte wie „Die 5 Stufen der Krise
– eine psychologische Betrachtung“, „Resilienz – Wege zu mehr psychischer Wider-
standskraft“, „Gesundes Führen für Schulleitungen in herausfordernden Situationen“
oder „Kraftquelle: Erholsam schlafen“ vermittelt werden und von Lehrer*innen in ganz
Österreich aufgenommen und umgesetzt werden. Die Teilnehmer*innen hatten die
Möglichkeit, sich ein Bild zu den Themenbereichen zu machen, um in weiterer Folge
an der eigenen Schule vertiefend und personalisiert weiter daran arbeiten zu können.
Ferner wurden Online-Symposien – in Kooperation mit den Bildungsdirektionen und
Pädagogischen Hochschulen der jeweiligen Bundesländer – und österreichweite PH-
Fortbildungsseminare, die großteils online stattgefunden haben, ins Leben gerufen,
um die Zielgruppe für die Themen Gesundheit, Gesundheitsförderung, psychosoziale
Gesundheit und die Stärkung der Gesundheitskompetenz zu sensibilisieren.

149 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Literatur

Achermann, Fawcett Emilie/ Keller, Roger/ Gabola, Piera (2018): Bedeutung der Gesundheit von Schul-
leitenden und Lehrpersonen für die Gesundheit und den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern.
Wissenschaftliche Grundlage für das Argumentarium «Gesundheit stärkt Bildung». Allianz BGF in Schu-
len. Zürich und Lausanne: Pädagogische Hochschule Zürich und Haute école pédagogique Vaud (Hrsg.)
https://www.radix.ch/media/ox2jfzqj/2018_09_10_allianz_bgf_grundlagen_argumentarium.pdf (letzter
Zugriff Mai 2021).

Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Hrsg. von Alexa Franke.
dgvt-Verlag, Tübingen.

Blattner, Andrea/ Mayer, Martin (2018): Handbuch Betriebliche Gesundheitsförderung. Hrsg.: Österrei-
chisches Netzwerk für BGF, Wien. 5. neu bearbeitete Auflage.

Dachverband der Sozialversicherungsträger (Hrsg.) (2020): Gesundheitsförderung für Lehrerinnen und


Lehrer. https://www.bvaeb.at/cdscontent/load?contentid=10008.734788&version=1617897912 (letzter
Zugriff Mai 2021).

Dahlgren, Göran/ Whitehead, Margaret (1991): Policies and strategies to promote social equity in health.
Stockholm, Institute for Future Studies.

Egger, Josef W. (2005): Das biopsychosoziale Krankheitsmodell: Grundzüge eines wissenschaftlich be-
gründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit. In: Psychologische Medizin 2005/2, S. 3-12.

Fonds Gesundes Österreich (o.J.): Grundprinzipien der Gesundheitsförderung. https://fgoe.org/Grund-


prinzipien_der_Gesundheitsfoerderung (letzter Zugriff Mai 2021).

Prümper, Jochen/ Richenhagen, Gottfried (2011): Von der Arbeitsunfähigkeit zum Haus der Arbeitsfähig-
keit: Der Work Ability Index und seine Anwendung. In: Seyfried, Brigitte (Hrsg.): Ältere Beschäftigte: Zu
jung, um alt zu sein. Konzepte – Forschungsergebnisse – Instrumente. Bertelsmann, Bielefeld. S. 135-146.

WHO (1948): Constitution of the World Health Organization. http://apps.who.int/gb/bd/PDF/bd47/EN/


constitution-en.pdf (letzter Zugriff Mai 2021).

WHO (1986): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_


file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf (letzter Zugriff Mai 2021).

150 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Zu den Autor*innen

Victoria Gönitzer, BA MA; Laurenz Stain, BSc MSc; Mag.a Siquia Santos Santiago; Julia Felix, BSc MPH;
Christina Fürst, MA; Sabine Fischer – alle Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und
Bergbau (BVAEB).

151 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


IV Tipps und Werkzeuge, um gesund zu bleiben

11 So stärken Sie Ihre Resilienz als Lehrer*in

Elke Poterpin Einführung

D
ie seelische Balance und Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern ist häufig
stürmischen Herausforderungen ausgesetzt. Bestimmte Gegebenheiten las-
sen sich oft nicht ändern. Wie wir jedoch darauf reagieren, kann einen Un-
terschied machen. Wenn wir Missgeschicken und Krisen als unvermeidbare mensch-
liche Erfahrungen begegnen, konstruktiv und flexibel damit umgehen, sie in unser
Leben integrieren und im besten Fall daran wachsen, steigern wir unsere Resilienz,
unsere Widerstandsfähigkeit weiteren Anforderungen gegenüber.

In diesem Beitrag sollen einfache Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie es gelin-


gen kann, äußeren und inneren Stressoren stärker und stimmiger zu begegnen, um
Gesundheit zu erhalten oder wiederzuerlangen. Zu inneren Risikofaktoren zählen
überhöhte Selbstkritik, Selbstzweifel, stark ausgeprägte Antreiber, unstimmige inne-
re Überzeugungen sowie körperliche und emotionale Dysbalancen. Was können wir
für unsere seelische Gesundheit über den Ansatz der Resilienz tun? Wie können wir
unsere Verletzlichkeit schützen, uns weniger gestresst fühlen? Wie können wir unsere
mentalen Ressourcen erweitern? Wie finden wir innere Ruhe und Sicherheit, innere
Freiheit und Zufriedenheit?

Die neuroplastische Fähigkeit unseres Gehirns ermöglicht, dass jederzeit neuronale


Strukturen verändert und neu aufgebaut werden können. Wir können bewusst alte,
ungesunde Überzeugungen loslassen und neue stimmige Gewohnheiten schaffen. Wir
können uns psychologische Ressourcen, wie z. B. persönliche Stärken, bewusst machen
und einsetzen201 , äußere Ressourcen, Unterstützung durch das Umfeld aktivieren und
Strategien zur Bewältigung von Stress, Belastungen und Herausforderungen lernen
und anwenden.

Dazu dienen uns nach Graham (2020) fünf Arten von Intelligenz, die uns Menschen
innewohnen. 202

1.  Mit körperbasierten Werkzeugen wie Atmung, Bewegung, Visualisierung können wir auf
die somatische Intelligenz, jene, die dem Körper innewohnt, zurückgreifen.

2. Die emotionale Intelligenz hilft, mit heftigen Momenten und schwierigen Gefühlen

201  Boudrias et al. 2011, S. 372ff


202  Graham et al. 2020, S. 37ff

152 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


besser umzugehen. Das Kultivieren positiver Emotionen unterstützt die Offenheit, die Er-
weiterung des Denk-, Erlebens- und Handlungsspielraums, wodurch flexibler, bewusster und
empathischer agiert werden kann, anstatt automatisiert nach alten und überholten Mustern
zu reagieren.

3.  Wenn wir die Beziehungsintelligenz zu uns selbst einsetzen, können wir unsere inneren
verschiedenen Anteile erkennen und annehmen und so z. B. inneren Kritikern Gegenspieler
zur Seite stellen, innere Erwartungen und Einstellungen wahrnehmen und auf Stimmigkeit
prüfen und so unser sicheres, bewusstes, werterkennendes Selbst als Grundlage unserer
Widerstandsfähigkeit erleben.

4. Die Beziehungsintelligenz zu anderen meint, Wechselbeziehungen mit Menschen herzu-


stellen, die gesund, resonant, produktiv, unterstützend und erfüllend sind.

5. Für reflexive Intelligenz braucht es achtsame Selbstwahrnehmung, um im Moment be-


obachten und wahrnehmen zu können, was in einem selbst und um einen herum vor sich
geht. So kann ruhig und entspannt und gleichzeitig aktiv und wachsam in einer stimmigen
Balance agiert werden.

Wie diese Fähigkeiten aktiviert werden können, sollen exemplarische Impulse in


Kapitel 11.3 verdeutlichen. Zunächst soll der Begriff Resilienz erklärt und für diesen
Beitrag definiert werden.

Was bedeutet Resilienz?

Die World Health Organization beschreibt Widerstandsfähigkeit oder Widerstands-


kraft (resilience) als einen dynamischen Prozess einer gelungenen Anpassung bzw.
einer individuellen oder kollektiven Reaktion auf widrige und belastende Umstände
und Erfahrungen. Resilienz meint die Fähigkeit, solchen Umständen zu widerstehen,
sie zu bewältigen oder sich von ihren Auswirkungen zu erholen sowie den Prozess der
Bestimmung von Aktivposten und befähigenden Faktoren.203

Mit befähigenden Faktoren sind in der psychologischen Fachliteratur Copingstrate-


gien und Ressourcen gemeint. Unter Resilienz wird auch hier die Widerstandskraft
von Individuen angesichts belastender Lebensereignisse verstanden. Allerdings gibt
es eine Vielzahl von Definitionen und Konzeptionen.204

203  World Health Organization 2013


204  Thun-Hohenstein et al. 2020, S. 7ff

153 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Die meisten Konzepte beziehen sich auf verschiedene Formen des Umgangs mit
­belastenden Situationen. Eine anschauliche Erklärung der drei Arten der Belastungs-
bewältigung bietet die Metapher eines Baumes. Dieser kann dem Stressor ‚Sturm‘ auf
drei Arten begegnen:

1. mit Resistenz, der Stamm könnte dem Sturm bewegungslos trotzen;

2.  mit rascher Regeneration, die Zweige könnten sich kurzfristig verbiegen und sich nach
dem Sturm wieder in die Ausgangslage zurückbewegen;

3. mit Rekonfiguration, der Baum nimmt da oder dort eine neue Form an, die künftigen
Stürmen weniger Angriffsfläche bietet. 205

Auf den Menschen übertragen würde die resistente Form der Resilienz eine psychische
Immunität bedeuten, das heißt, das Individuum bleibt hinsichtlich verschiedenster,
auch schwerwiegender Belastungen gegenüber stabil und gesund. Resiliente Menschen
können aber auch nach kurzfristigem Belastungserleben regenerieren, das heißt nach
einiger Zeit ohne größere Schwierigkeiten wieder zu ihrer Ausgangslage zurückfinden.
Das System funktioniert aus diesem Blickwinkel nach dem Prinzip der Homöostase,
wobei es mit selbstregulativen Fähigkeiten Stabilität erhalten kann. Nach besonderen
Belastungen wie traumatischen Erfahrungen kann es erforderlich sein, Verhaltenswei-
sen oder kognitive Prozesse (z. B. Einstellungen) zu verändern. Hier kann eine enorme
Anpassungsleistung notwendig sein.

Resilienz kann auch als inhaltliche Dimension verstanden werden, als nachhaltige und
generelle Resilienz. Diese sei unabhängig vom aktuellen Stressor. Trotz belastender
bzw. traumatischer Ereignisse würde die eigene Lebensenergie, Lebensfreude und die
Einschätzung der Sinnhaftigkeit des Lebens erhalten bleiben.206

Meist wird Resilienz jedenfalls als ein komplexes Zusammenwirken psychologischer


Elemente beschrieben, das die Bewältigung von Herausforderungen und einen konstruk-
tiven Umgang mit kritischen Situationen ermöglicht sowie die psychische Gesundheit
auch unter hohen Anforderungen schützt.207 Von Risiko- und Schutzfaktorenkonzepten
abgeleitete Resilienzfaktoren sollen im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

205  Bengel/Lyssenko 2012, S. 25


206  Zautra et al. 2008, S. 41ff
207  Pauls et al. 2016, S. 105ff

154 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Resilienz bedeutet trotz schwerwiegender Belastungen, psychisch gesund zu bleiben und ist
nach aktuellem Stand der Forschung208
• keine angeborene Eigenschaft,
• sondern ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess,
• eine situationsabhängige, variable Größe
• und setzt sich multidimensional aus schützenden Facetten zusammen.

Welche Schutzfaktoren erhöhen die Resilienz? Strategien und


Werkzeuge

Welche personalen und externalen Ressourcen können nun als schützend für den
Erhalt und den Aufbau von Widerstandskraft herangezogen werden? Im Folgenden
werden sechs ausgewählte Schlüsselfaktoren näher beleuchtet, die im gesundheits-
wissenschaftlichen und im pädagogischen Kontext relevant zu sein scheinen:

Ausgewählte Schlüsselfaktoren

208  Wustmann 2018, S. 28ff

155 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Nach einer inhaltlichen Einführung werden jeweils exemplarisch praktische Übun-
gen zur Stärkung dieser Faktoren vorgeschlagen. Weitere Werkzeuge, Übungen und
Strategien sind in angeführter Literatur nachzulesen.

Sorgen Sie gut für sich selbst!

„Die schwierigste Zeit in unserem Leben ist die beste Gelegenheit, innere Stärke zu
­entwickeln.“ „Verbringe jeden Tag einige Zeit mit dir selbst.“
Beide Zitate: Dalai Lama

Gerade Lehrpersonen, die sich aufgrund ihres sozialen Berufes häufig um andere
kümmern, vergessen manchmal auf sich selbst, die eigenen Bedürfnisse, Emotionen
und Zustände wahrzunehmen und selbstverantwortlich und achtsam mit dem eigenen
Selbst umzugehen.209 Wenn wir Selbstreflexion betreiben, kann ein erweitertes Selbst-
bewusst-sein entstehen. Dafür braucht es Selbstzuwendung. Das darf uns unser Selbst
wert sein. Weil es persönlicher und weniger sperrig ist, erlaube ich mir als Pädagogin,
dich, liebe Leserin, lieber Leser in den Übungen mit dem kollegialen Du anzusprechen.

Übung 1: Sich selbst die beste Freundin, der beste Freund sein 210

Stell dir vor, deiner besten Freundin, deinem besten Freund geht es nicht gut. Die
beruflichen Herausforderungen sind zurzeit enorm, sie*er leidet unter mangelnder
Wertschätzung und auch privat spitzt es sich zu. Dein*e Freund*in spürt immer stär-
keres Unwohlsein, fühlt sich überfordert und sieht keinen Ausweg. Wie gehst du mit
dieser Person um? Was sagst du zu ihr? Was tust du?

Notiere hier deine Strategien, wie du andere, dir nahestehende Menschen bestmög-
lich unterstützt:

209  Vgl. Holzrichter 2016


210  Dobos et al. 2021, S. 179f

156 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Welche Gedanken gehen dir dabei durch den Kopf? Was fühlst du?

Stell dir nun vor, du selbst wärst in einer ähnlichen Situation. Wie gehst du mit dir
selbst um? Was denkst du? Was fühlst du? Was tust du?

Wenn du nun feststellst, dass du dir selbst gegenüber genauso verständnis- und liebe-
voll wie besten Freundinnen und Freunden gegenüber agierst, darfst du dich über dein
Selbstmitgefühl freuen. Solltest du einen Unterschied bemerkt haben, dass du mit dir
selbst kritischer, strenger, ungeduldiger, härter und zweifelnder umgehst, dann fühle
dich eingeladen, achtsam und neugierig deine Erwartungshaltungen zu beobachten
und wahrzunehmen. Notiere hier deine Gedanken und Gefühle:

Hast du Erwartungen an dir selbst wahrgenommen, die mit einem sehr anspruchsvollen
Selbstbild, perfektionistischer oder idealisierter Vorstellungen verknüpft sind? Fühlst
du dich enttäuscht von dir, weil etwas derzeit nicht so großartig funktioniert, wie du
dir das vorgestellt, gewünscht, erwartet hättest? Spürst du dabei eventuell Scham,
Sorge, Trauer, Zweifel oder Angst, zum Beispiel nicht zu genügen? Je höher unsere Er-
wartungen sind, umso bedrohlicher kann sich eine solche Situation anfühlen. Hast du
den Eindruck, andere schaffen das besser? An dieser Stelle nimm bitte den Gedanken
auf, dass uns die emotionalen Sorgen und Probleme anderer oft in ihrer Tragweite
verborgen bleiben, während uns unsere eigenen Schwächen deutlich bewusst sind.
Ein wichtiger Schritt ist nun, entsprechende Glaubenssätze und Prägungen ans Licht
zu holen, Wahrnehmungsverzerrungen zu korrigieren und überhöhte Selbstkritik

157 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


und Erwartungen sowie übermäßige Antreiber durch Selbstmitgefühl und stimmige
Gedanken und Affirmationen zu ersetzen oder zu ergänzen.

Wenn du möchtest, setze dich aufrecht und entspannt hin, schließe deine Augen, atme
ruhig ein und aus, richte deinen Fokus nach innen. Zähle von fünf rückwärts bis eins
und lasse ein inneres Bild der entsprechenden Zahl aufsteigen, zentriere dich. Du übst
nun konzentrative Entspannung und bist ganz bei dir. Lasse nun vor deinem geistigen
Auge einen hellblauen Himmel erscheinen. Stelle nun deine Fragen: Welche Glaubens-
sätze sind hinderlich für mich? Welche sollen losgelassen oder abgeändert werden?

Und weiter: Wie lautet mein stimmiges, freundliches und wertschätzendes Selbst-
gespräch? Was sage ich als meine beste Freundin, mein bester Freund zu mir selbst?
Welche Strategien empfehle und verordne ich mir selbst? Lass alles zu, was kommen
mag. Lausche deiner inneren Stimme und halte für dich fest:

Da unser Gehirn Übung braucht, um Neuartiges in den Langzeitspeicher aufzuneh-


men, ist es empfehlenswert, die stimmigen Sätze immer wieder einige Wochen lang
zu wiederholen. Lies deine positiv verstärkenden Formulierungen regelmäßig durch,
platziere diese so, dass du immer wieder daran erinnert wirst. Beobachte offen und
neugierig, ob sich etwas in deinem Denken, Verhalten und/oder Gefühlszustand ver-
ändert. Mache dir jeden kleinen Fortschritt bewusst, und bedanke dich bei dir selbst
für deine Selbstfürsorge!

158 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Entspannung und Regeneration

Zu einem Leben, das Anstrengung und Leistung verlangt, gehören auch Pausen und
Phasen der Erholung, Ruhe, Entlastung und Entspannung.211 Belastungen, die die Kräfte
übersteigen und die Energiereserven leeren, können ebenso wie lange Phasen der Pas-
sivität gesundheitlichen Schaden anrichten. Auf die Balance kommt es an. Um diese
herzustellen, nutzen Menschen unterschiedliche Möglichkeiten, wie Ausruhen, Aus-
schlafen, Lesen, Musik hören, Spielen, in die Natur gehen, Sporteln, Tanzen, Singen usw.

Um systematisch und gezielt einen Zustand der Entspannung zu induzieren, gibt es


auch einige spezielle Methoden: von progressiver Muskelentspannung über autogenes
Training, Biofeedback, Hypnose und Imagination bis hin zur Meditation. Wenn auch
die Ursprünge der Richtungen unterschiedlichster Art sind, lassen sich, herausgelöst aus
gebundenen Denkweisen, gemeinsame Eigenschaften dieser Entspannungsverfahren
finden. Diese sind Wirkkomponenten wie Stärkung des Bewusstseins, Selbstwirksam-
keit, Selbstkontrolle und Selbstregulation.212 Weiters fördern all diese Möglichkeiten
die Fähigkeit, im Hier und Jetzt auf bestimmte Objekte oder das innere Erleben zu
fokussieren und sich zu konzentrieren. Dies ermöglicht, dass körperliche Zustände,
Gefühle und Bedürfnisse besser wahrgenommen und erfüllt werden können. Auch
die Beruhigung, das Herabsetzen des allgemeinen Erregungsniveaus an sich, lässt sich
bei allen Verfahren über physiologische Parameter erkennen und lässt das subjektive
körperliche und emotionale Wohlbefinden steigern.

All dies stellt keine außergewöhnlichen Phänomene dar, sondern das sind Fähigkeiten,
Zustände und Verhaltensweisen, die in jedem Menschen angelegt sind. Es handelt sich
um Ressourcen, die manchmal im Trubel des Alltags überlagert und vergessen wer-
den, die aber durch Bewusstmachung und/oder bestimmte Techniken und Methoden
aktiviert werden können. Um Regenerationseffekte zu erzielen, braucht es kontinu-
ierliches Training von Entspannung und ein Implementieren von Erholungsphasen
im Alltag.213 Es gilt herauszufinden, was die eigene Seele stärkt und jedem persönlich
guttut. Welche Wirkstoffe (Ressourcen und Strategien) beleben und stärken dein
seelisches Immunsystem nebenwirkungsfrei?

Ich lade dich ein, folgende Übung in Mischform auszuprobieren. Diese umfasst Ele-
mente der Achtsamkeit, der Meditation und Imagination. Sämtliche Intelligenzen
nach Graham (siehe Kapitel ) werden dafür eingesetzt und geübt.

211  Petermann 2020, S. 19


212  Petermann 2020, S. 23
213  Eckert/Tarnowski 2017, S. 69ff

159 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Übung 2: Halte an und genieße von A (atme) bis Z (zentriere dich)

Setze dich stimmig, aufrecht und dennoch bequem hin. Der Kopf balanciert auf dem
obersten Wirbel. Wir können uns vorstellen, eine unsichtbare Schnur zieht uns am
Scheitel etwas nach oben. Es entsteht eine angenehme Dehnung im Nacken, die Ab-
stände zwischen den Wirbeln werden größer. Beide Beine stehen fest am Boden. Die
Hände liegen locker auf den Oberschenkeln. Wenn du magst, schließe deine Augen,
um nicht mehr abgelenkt zu sein, oder richte deinen Blick auf irgendeinen Punkt.

Beobachte nun deinen Atem – wie er einströmt und wieder ausströmt. Versinke in
deinem Atem, wir üben konzentrative Entspannung, lass deinen Atem geschehen und
sei voll präsent, ganz bei dir. Schenke deinem Atem die volle Aufmerksamkeit und
beobachte, wo und wie du ihn in den einzelnen Phasen wahrnimmst. Genieße deinen
Atemstrom.

Lenke nun deine Aufmerksamkeit auf deine Stirn – und entspanne die Muskulatur in
diesem Bereich, lass locker, wandere weiter zu deinen Augen, lass auch hier die kleinen
Muskeln locker, spüre deine Wangen, lass dein Kiefer fallen, alle Gesichtsmuskeln
werden weich, entspanne. Spüre in deinen Körper, ob noch irgendwo eine Spannung,
ein Druck ist. Wenn du einen Bewegungsimpuls bekommst, gib diesem nach.

Und nun stell dich auf deine Mitte ein. Zentriere dich. Du kannst ein Pendel visua-
lisieren. Beobachte, wie es in dir schwingt und lass es nun so lange auspendeln und
einschwingen, bis es in deiner Mitte zur Ruhe kommt. Fühl in dich hinein. Was nimmst
du wahr?

Nimm wahr, ob noch Reste von Stress in dir zu spüren sind. Wo und wie nimmst du
diesen wahr? Wenn du möchtest, konzentriere dich nun auf die Ausatmung, die Ein-
atmung passiert von selbst. Spür hin, was genau es ist, was du loszulassen möchtest,
das kann ein Gedanke, ein Gefühl, ein Wort, eine Situation sein. Nimm nun das, was
in dir aufsteigt ins Bewusstsein und lass es mit der nächsten Ausatmung los. Atme
bewusst aus. Wiederhole dies zwei, drei Mal für dich selbst.

Nun konzentriere dich auf die Einatmung, das Ausatmen geschieht von selbst. Spür
hin, ob es eine Qualität gibt, die du derzeit etwas vermisst, zum Beispiel Leichtigkeit
oder Lockerheit, Vertrauen, Hoffnung, Gelassenheit, Humor, inneren Frieden. Nimm
diese ins Bewusstsein, atme bewusst dabei ein und lass das entsprechende Wort in dir
klingen und wirken. Nimm noch weitere Qualitäten, die dir in den Sinn kommen, in
dir auf. So, wie es für dich stimmt.

160 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Wenn du das Gefühl hast, dass es für den Moment gut so ist, wie es ist, dann öffne
deine Augen und komm in deinem Tempo mit Recken und Strecken wieder zurück
aus deiner Innenwelt.

Wie fühlst du dich nun? Hast du dir selbst Gutes getan? Selbstverantwortung, Selbst-
fürsorge, Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Selbstwertschätzung und Selbstliebe
sind Voraussetzungen dafür, mit anderen und allem liebevoll umzugehen und der Welt
Gutes zu geben.

Akzeptieren von nicht änderbaren Situationen

„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“
Viktor Frankl

Wie können wir zu mehr Gelassenheit finden und nicht änderbare Situationen und
Gegebenheiten annehmen, um uns unnötigen Energieverbrauch durch Ärgern, Ängs-
tigen, Jammern und Grübeln zu ersparen? Wie kann es uns gelingen, Veränderung als
Teil des Lebens anzuerkennen?

Übung 3: AHA!

Stelle bitte drei Sessel auf. Der erste Sessel erhält die Beschriftung „negativ/unange-
nehm/schwierig“, der zweite ein Kärtchen mit dem Wort „neutral“ und der dritte die
Bezeichnung „(eher) positiv“. Denke nun an eine Situation aus deinem beruflichen
oder privaten Kontext, die großes Unbehagen erzeugt (hat). Setze dich nun auf den
„Schwierig-Stuhl“ und erzähle die Gründe deines Unwohlseins aus dieser Perspektive.
Lass deine Gedanken und Argumente noch nachwirken und spüre hin: Was fühlst du?
Was nimmst du körperlich wahr?

Nun setze dich auf den „neutralen“ Stuhl und lasse die Situation noch einmal vor
deinem geistigen Auge ablaufen. Beobachte diese wie eine neutrale außenstehende
Person und denke oder sprich das kleine Wörtchen: „Aha.“ „So ist das.“ Spüre nun
hin, was du jetzt fühlst und was dein Körper ausdrückt. Hat sich etwas zur ersten
Sesselposition verändert? Wenn ja, dann kannst du, wenn du willst, einen Schritt
weitergehen und den einen oder anderen positiven Aspekt, den die Situation mit sich
bringt oder bringen könnte, am entsprechenden Stuhl formulieren. Wie fühlt sich das
an? Wenn dies (noch) nicht möglich ist, ist es auch völlig in Ordnung, im Annehmen
der Situation zu bleiben.

161 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Unsere Emotionen umfassen neben der Gefühlskomponente auch einen kognitiven
Anteil. Das heißt, Gedanken begleiten die Empfindung, das Gefühl. Wenn wir also
unsere Gedanken neutral oder positiv formulieren, bekommt auch das Gefühl eine
jeweils andere Färbung.

Achtsamkeit

In manchen Umständen ist das Annehmen nicht änderbarer Gegebenheiten sehr


schwierig. Üben lässt sich das Akzeptieren von Ereignissen so wie sie sind, mittels
Achtsamkeitsübungen. Mit einer neugierigen, offenen und geduldigen Haltung wird
beobachtet, was im Moment ist – ohne zu werten. Mit einfachen Objekten und un-
aufgeregten Situationen lässt sich gut beginnen. Mit der Zeit kannst du deinen Level
steigern und auch dem Alltag und schließlich herausfordernderen Umständen, immer
achtsamer begegnen.

Achtsam zu sein bedeutet, mit Sinnen und Gedanken bei dem zu sein, was man tut bzw.
was im Moment um einen herum geschieht und ist. In unserem alltäglichen Leben ist
häufig unser Körper an einem Ort, unser Geist aber an einem anderen.

Übung 4: Umgebung unter der Lupe

Wende deine Sinne bewusst deiner Umgebung zu. Nimm etwas wahr, das du bisher
noch nicht wahrgenommen hast. Vielleicht siehst du etwas, das dir gerade erst auf-
fällt, vielleicht hörst du etwas, das du bisher nicht registriert hast? Vielleicht riechst
du etwas oder fühlst etwas auf der Haut? Nach einiger Zeit frage dich, ob sich etwas
verändert hat.

Übung 5: Mein Körper im Fokus

Nimm, wo auch immer du gerade bist, das wahr, was du gerade tust. In welcher Körper-
haltung tust du dies? Welche Bewegungen führst du aus? Wie nimmst du deine Mimik
wahr? Nimmst du das Geschehen rund um dich wahr? Nach einer Weile reflektiere
deine Wahrnehmung und dein Erleben.

Durch einfache Achtsamkeitsübungen, z. B. Konzentration auf den eigenen Atem,


können Menschen ihre Selbstwahrnehmung sensibilisieren. Uns achtsam auf unseren
Körper zu konzentrieren führt dazu, dass wir Körper und Geist zusammenführen, wir
präsent im Hier und Jetzt sind. Welche Bilder tauchen in dir auf, wenn du die Augen

162 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


schließt? Was passiert gerade in deinem Körper? Was fühlst du und wo genau? Durch
Üben ist lernbar, sich in seiner Haut wohlzufühlen, seinen eigenen Geist und Körper
zu beruhigen, emotionale Intelligenz, Selbstvertrauen und Resilienz zu entwickeln.214

„Wenn die Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit. Wenn sie
etwas Schmerzvolles berührt, wandelt sie es um und heilt es.“
Thich Nhat Hanh

Offen, lernbereit, kreativ und lösungsorientiert bleiben

„Probleme sind keine Stopp-Schilder, sondern Wegweiser.“


Robert H. Shuller

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Albert Einstein

Ein weiterer Resilienzfaktor ist das Betrachten von Krisen als überwindbare Probleme
und das Ersinnen kreativer Lösungen dafür. Es braucht Übung, um gewohnte Pfade
verlassen zu können. Eine gute Grundlage für kreatives Denken ist das Erleben positiver
Emotionen, weil es Denk- und Handlungsspielräume erweitert (siehe Broaden-and-
Build-Theorie, Abschnitt 3.5).

Übung 6: Innere Firma

Versetze dich in einen entspannten Zustand und stelle dich innerlich auf wohltuende
emotionale Qualitäten ein (siehe Übung 2). Blicke in Gedanken in einen blauen Him-
mel und frage nach der Lösung deines konkreten Problems. Lass nun kommen, was
kommen will. Lass alles zu, setze keine Grenzen und nimm wahr: Tauchen Wörter,
Sätze, Bilder, Szenen in deiner Vorstellung auf? Frage nach: Gibt es noch etwas, das für
dieses Problem eine Lösung sein könnte? Wenn nichts mehr hereinfällt, dann notiere
deine erhaltenen Lösungsansätze:

214  Rechtschaffen/ Kabat-Zinn 2016

163 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Frage nun der Reihe nach die Mitarbeiter*innen deiner "inneren Firma", deinen Ver-
stand, deinen Körper, deine Gefühle, deine Gesundheit, dein Ego, deine Persönlichkeit
um seine* ihre Meinung dazu. Stell dir vor, eine Position nach der anderen tritt vor
und nimmt Stellung dazu. Wenn alle Aspekte vorgetragen wurden, frag nun deine*n
innere*n Generaldirektor*in dazu. Wie lautet der nächste stimmige Schritt zur Lösung?

Übung 7: Bin schon da!

Versetze dich gedanklich ans Ziel und stell dir vor, dein Problem ist bereits gelöst.
Tauche in dieses Zielbild tief hinein. Was siehst du? Was tust du? Was fühlst du? Visu-
alisiere dieses Bild immer wieder, um dich mit deiner motivationalen Energie, deiner
selektiven Wahrnehmung und deine Handlungen dorthin zu bewegen.

Sich selbst fordern, Ziele verfolgen, Sinn und Selbst­wirksamkeit


erfahren

„Jeder Mensch hat die Chance, mindestens einen Teil der Welt zu verbessern, nämlich
sich selbst.“ (Paul de Lagarde)

„Was du heute denkst, wirst du morgen tun.“ (Tolstoi)

Aktivitäten, die unserem Bedürfnis nach Engagement entsprechen, lösen in unserem


Gehirn eine Flut von Neurotransmittern und Hormonen aus, die das Wohlbefinden
steigern.215 Dies hilft, aufmerksam und präsent zu bleiben und die Aufgaben mit Ruhe,
hoher Konzentration und Freude durchzuführen. So gelangen Menschen in den Flow,
in ein glückseliges Eintauchen in Tätigkeiten, das unsere kognitiven und sozial-emo-
tionalen Fähigkeiten erweitert.216 Für diesen Effekt können nicht nur interessante
und freudvolle Freizeitbeschäftigungen Quellen sein, sondern auch berufsbezogene
Tätigkeiten.

215  Esch et al. 2017, S. 118f


216  Csikszentmihalyi 2017, S. 73ff

164 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Alle Aktivitäten, die uns im positiven Sinn herausfordern, Lernmöglichkeiten bieten
und erstrebenswerte Ziele erreichen lassen, vermitteln Selbstwirksamkeit und för-
dern ein positives Selbstbild. Wir nähren damit folgende fünf zentrale Quellen für
Aufblühen, Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit auf Basis des PERMA-Modells217:

Positive Emotions: positive Emotionen wie Freude, Dankbarkeit, Hoffnung usw.


erleben, sich wohlfühlen

Engagement: erfüllende, interessante Tätigkeiten ausüben, Flow erleben

Relationships: stimmige, authentische Beziehungen leben

Meaning: Sinn und Bedeutung finden und leben, sinnvolle Herausforde-


rungen annehmen

Accomplishments: wichtige Aufgaben zielstrebig erfüllen, Erfolge bewusstmachen,


stolz und zufrieden sein, Selbstwirksamkeit erfahren

Übung 8: Aufblühen mit PERMA

Schätze auf einer imaginären Skala von 0–10 ein, wie sehr jede der fünf PERMA-Fa-
cetten derzeit in den ausgewählten Lebensbereichen (z. B. Freizeit, Beruf) erfüllt ist.
Die Blütenblätter der PERMA-Blüte 1 können auch intuitiv anteilsmäßig bemalt
werden. Wähle nun aus, welchen Bereich du erweitern möchtest und formuliere ein
klares konkretes Vorhaben, wie du darin in nächster Zeit wertvolle Ressourcen ent-
wickeln wirst.218 Die Satzanfänge in der PERMA-Blüte 2 können Impulse dafür geben,
Umstände, Situationen oder Aktivitäten zu identifizieren, in denen und durch die du
deine Motivation, dein Wohlbefinden, dein Aufblühen und deine Resilienz anregst.

217  Seligman 2014, S. 32ff


218  Poterpin 2020, S. 167-178

165 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


PERMA-Blüte 1 PERMA-Blüte 2

In folgendem Lebensreich möchte ich aktiv werden:

Diese Aktivität plane ich:

Charakterstärken:

Wenn wir unsere persönlichen Charakterstärken kennen und im Alltag vermehrt ein-
setzen, verstärken wir unmittelbar, relativ mühelos und energiegewinnend die fünf
PERMA-Bereiche und damit auch das Wohlbefinden, die Vitalität und die Resilienz.

166 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Das von Peterson und Seligman entwickelte Stärken-Inventar (VIA-IS)219 wurde 2010
in den deutschsprachigen Raum geholt. 220 Jeden Menschen machen demnach drei bis
sieben Stärken, die sogenannten Signaturstärken, besonders aus. Es lohnt sich, sich
mit diesen auseinanderzusetzen.

Übung 9: Meine Signaturstärken

Unter https://www.charakterstaerken.org/ kannst du einen Test durchführen und dich


über die Charakterstärken informieren.221

Denke nun an eine Situation, in der du eine deiner Signaturstärken verwendet hast.
Wie hast du diese Stärke eingesetzt? Wie verlief diese Geschichte? Wie hast du dich
dabei gefühlt? Setze dich mit deinen anderen besonderen Stärken ebenso auseinander.

Wie und wo kannst du eine oder mehrere deiner Signaturstärken demnächst wieder
in deinem beruflichen und privaten Alltag einsetzen?

Eigene Emotionen wahrnehmen und ausbalancieren, positive


Emotionen fokussieren, dankbar, hoffnungsvoll und optimistisch sein

„Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“
Marie von Ebner-Eschenbach

Positive Emotionen zu fokussieren bedeutet die Fähigkeit, Vergangenes, Gegenwärtiges


und Zukünftiges aus einer konstruktiven und optimistischen Perspektive zu ­betrachten.222

219  Peterson/Seligman 2004


220  Ruch et al. 2010
221  https://www.charakterstaerken.org/VIA_Interpretationshilfe.pdf (letzter Zugriff Mai 2021)
222  Seligman 2014, S. 144ff

167 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Die amerikanische Emotionsforscherin Fredrickson weist Freude, Hoffnung, Dank-
barkeit, Zufriedenheit, Interesse, Inspiration, Stolz, Vergnügen, Ehrfurcht und Liebe
als die zehn bedeutsamsten positiven Emotionen aus. Da Emotionen auch davon ab-
hängen, wie wir Ereignisse deuten und bewerten, kann der Blick auf das Positive das
Innenleben verändern.223 Mit der Broaden-and-Build-Theorie wird erklärt, dass positive
Emotionen den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsspielraum erweitern und da-
durch die Entwicklung von dauerhaften Ressourcen ermöglichen. Menschen können
ihr psychisches Wohlbefinden verbessern und Aufwärtsspiralen auslösen, indem sie
Erfahrungen mit positiven Emotionen zu geeigneten Zeitpunkten kultivieren.224 Dies
führt bei jenen Menschen zu einem offenen, flexiblen Bewältigungsstil, da sie positive
Emotionen bei chronischem Stress aufrechterhalten, zu ihren Problemen innerlich
Distanz einnehmen und diese aus mehreren Blickwinkeln betrachten können.225

Das Erleben positiver Emotionen hat sich in empirischen Studien als schützend darge-
stellt, wobei es weniger relevant sein dürfte, wie intensiv diese Emotionen empfunden
werden. Entscheidend scheint zu sein, dass positive Emotionen regelmäßig erlebt werden.
Resiliente Menschen sind in der Lage, angesichts schwerwiegender Lebensereignisse
unabhängig von den unangenehmen Gefühlen, die auftreten, angenehme Emotionen
zu empfinden. Dies trägt zu einem adäquaten Umgang mit Herausforderungen und
zur Erholung bzw. Prävention von Erkrankungen bei.226

Wie können positive Emotionen nun aktiviert werden? Mit folgender Übung kannst
du trainieren, dich über Alltägliches zu freuen und scheinbare Kleinigkeiten zu fo-
kussieren und wertzuschätzen. So stärkst du die „Positiv“-Waagschale und hältst die
automatisch aufkommenden schwierigen und oft hartnäckigen Gedanken und Gefühle
in guter Balance, ohne diese zu leugnen oder weg zu regulieren.

Übung 10: Drei gute Dinge 227

Ergänze dein Abendritual mit einer Pflege deines emotionalen Zustands. Halte an
einem angenehmen Ort inne und spüre in dich hinein, welche drei – gerne auch vier
oder fünf – gute Dinge du an diesem Tag erlebt hast. Gehe dabei verschiedene Lebens-
bereiche (Freizeit, Freunde, Familie, Beruf, Lebensumstände, in Bezug auf dich selbst)

223  Fredrickson 2011, S. 70


224  Fredrickson 2001, S. 218ff
225  Moskowitz et al. 2012, S. 502ff
226  Bengel/Lyssenko 2012, S. 48
227  Seligman/Brockert 2014, S. 131

168 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


durch. Notiere deine positiven Emotionen entweder in ein Tagebuch oder auf ein Blatt
Papier, das du in einem besonderen Behälter aufbewahrst:

Wofür bin ich heute dankbar? Was stimmt mich hoffnungsvoll? Wer oder was inspi-
riert mich? Worüber freue ich mich? Was stimmt mich heiter? Worauf bin ich stolz?
Was macht mich zufrieden? Wo und wie spüre ich Liebe?

Führe diese Übung mehrere Tage, idealerweise einige Wochen durch. Bemerkst du eine
Veränderung? Hast du Lust dies weiterzuführen oder hie und da alte Notizen wieder
zu lesen? Was fühlst du dabei?

Nährende und stützende Beziehungen, um Hilfe bitten,


Hilfe annehmen

„Einen sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache.“


Marcus Tullius Cicero

Beziehungen und soziale Eingebundenheit stellen ein zentrales psychologisches mensch-


liches Grundbedürfnis dar.228 Positive Beziehungen und soziale Unterstützung sind
entscheidend für ein gelingendes und zufriedenes Leben. Während Schmerzzentren
im Gehirn aktiviert werden, wenn Isolation droht, werden Freude, Sicherheit, Wert-
schätzung und Liebe erlebt, wenn positive Beziehungen gelebt werden.229

Starke Beziehungen können in herausfordernden und kritischen Zeiten einen schüt-


zenden Effekt auf die Gesundheit und das psychische Wohlbefinden haben. Soziale
Ressourcen können die Einschätzung von Stressoren als weniger bedrohlich gestalten,
wodurch weniger schwierige Emotionen wie Angst oder Hoffnungslosigkeit auftreten.
Auf der kognitiven Ebene scheint die stabile Erwartung, im Notfall entsprechende
Unterstützung zu erhalten, einen wertvollen Schutz darzustellen, auf der Handlungs-
ebene dürften vor allem nichtwertende Gespräche entlastend sein. 230

228  Deci/Ryan 2000, S. 227ff


229  Esch et al. 2017, S. 141
230  Bengel/Lyssenko 2012, S. 86ff

169 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Übung 11: Mindmap – Soziales Netz 231

Schließe deine Augen und führe dich in einen entspannten Modus. Visualisiere nun
dein soziales Netz und bringe dies zu Papier. In die Mitte des Blattes zeichne ein
Symbol für dich selbst. Nun füge alle Menschen, mit denen du privat oder beruflich
zu tun hast, in einem intuitiv gewählten Abstand dazu.

Betrachte anschließend dein Bild. Was fällt dir auf? Stimmen die Abstände? Sind dir
manche Menschen zu nah oder andere zu weit weg? Gibt es einseitige Beziehungen,
in denen eine der beiden Personen vorwiegend Energie gibt und die andere empfängt?

Schreibe auf, was dir bewusst geworden ist. Was möchtest du in naher Zukunft konkret
tun? Was willst du beibehalten? Wo ist Veränderung angesagt?

Conclusio

„Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest.“


Gandhi

In der Resilienzforschung wird davon ausgegangen, dass zur positiven Bewältigung


einer bestehenden Risikosituation vorhandene Fähigkeiten des Individuums dienen.
Dabei geht es nicht darum, Schwierigkeiten und negative Gefühle zu ignorieren. Viel-
mehr geht es darum, diesen achtsam zu begegnen und zu verstehen, dass Emotionen
wie Wellen kommen und gehen, wir Gefühle und Gedanken haben, diese aber nicht
sind. Sich selbst immer näher zu kommen, sich zu spüren, Unstimmiges loszulassen und
Stimmiges aufzunehmen bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes sich zu ent-wickeln.
Das Finden von Antworten in einem bewussten Selbst hat etwas sehr Befreiendes. Ein
resilienter Entwicklungsprozess kann kräftezehrend und emotional herausfordernd
sein. Auch wenn der Weg schwierig sein kann (aber nicht zwangsläufig muss), kann
die Bewältigung mit Hilfe verschiedenster Schutzfaktoren gelingen.232 Lehrpersonen,

231  Dobos et al. 2021, S. 238


232  Fröhlich-Gildhoff et al. 2019, S. 13

170 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


die gut für sich selbst sorgen und geduldig und liebevoll mit sich umgehen, schaffen
eine gute Basis, um leichter, entspannter und freudvoller zu leben und zu arbeiten. So
sind sie wertvolle Modelle für die anvertrauten Kinder und Jugendlichen.

Du hast nun einige Möglichkeiten kennengelernt oder dir wieder in Erinnerung ge-
rufen, wie Resilienz gestärkt werden kann und wie du zu einem gesunden und glück-
lichen Leben aktiv beitragen kannst. Wenn du Motivation spürst, schreibe dich in
dein privates Fitnessstudio für Resilienz ein, starte mit einer kleinen ausgewählten
Übung und führe diese häufig und regelmäßig durch. Bleib dran, bis diese zur Routi-
ne geworden ist und neue Nervenverbindungen etabliert sind. Erzähle auch anderen
davon, suche dir einen Trainingsbuddy bzw. trage deine Übungen in ein Tagebuch ein.
Probiere aus, was dir derzeit guttut!

Die vorgestellten Übungen sind einerseits als präventive und unterstützende Strategien
zu verstehen, um Zugänge zu sich selbst sowie adäquate Einstellungen und Haltungen
zu entwickeln. In manchen Lebenssituationen reichen diese allein allerdings nicht
aus. Dann ist es wichtig und notwendig, auch ärztliche oder therapeutische Hilfe
anzunehmen. Das Übernehmen von Selbstverantwortung des Individuums hat sicher
seine Berechtigung und auch Systeme, Organisationen, Gesellschaft und Politik sind
natürlich gefordert, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Doch auch diese werden
letztlich von Individuen gestaltet. Resilienter zu werden bedeutet jedenfalls nicht
Selbstoptimierung im Sinne von Selbstausbeutung, sondern authentischer und mit-
fühlender mit uns selbst und anderen zu sein. Jede einzelne Person, die ihre Balance
zwischen Anforderungen und Belastungen sowie Möglichkeiten und Chancen findet,
trägt zu einer Ausrichtung hin zu Glück und Gesundheit in der Gemeinschaft bei.

171 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


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Zur Autorin

Elke Poterpin, Dr.in, Dipl. Päd.in, Lehramt für Volksschulen, Diplomstudium Psychologie an der
­Universität Wien; Doktoratsstudium an der School of Education, Universität Salzburg; tätig an der
­Pädagogischen Hochschule Wien, Institut für bildungswissenschaftliche Grundlagen und reflektierte
Praxis; Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Psychologie, psychosoziale Gesundheit von Lehrer*innen,
Coaching.

174 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


12 Achtsamkeits- und mitgefühlsbasierte Methoden zur Förderung von
­Lehrer*innengesundheit

D
Karlheinz Valtl ass Lehrer*innen keinen idyllischen Halbtagsjob machen und dass das Un-
terrichten von Kindern und Jugendlichen Erwachsene erstaunlich schnell
an ihre Grenzen bringen kann – das konnte die Öffentlichkeit im Home
Schooling während der Corona-Pandemie wiederholt aus nächster Nähe erleben. Viele
haben erst dadurch erkannt, wie anstrengend der Lehrberuf ist. Dabei ist das konkre-
te Unterrichten nur die Schauseite des Berufs, der point of delivery, hinter der viele
weitere, oftmals kräftezehrende Tätigkeiten stehen.

Auch wenn die meisten Lehrer*innen ihre Arbeit lieben und als persönlich erfüllend
erleben, summiert sich diese Komplexität zu einer Belastung, die viele krank macht
– ein Problem, das sich zunächst in den Gesundheitsstatistiken niederschlägt, das
aber nicht allein auf der medizinischen Ebene gelöst werden kann. Es braucht dazu
langfristige Strategien, die neben einer Behandlung der Leiden auch deren Ursachen
angehen und die eine systemische Veränderung anstreben, in die alle Akteure mit ihren
jeweiligen Ressourcen aktiv eingebunden sind und die den Alltag von Lehrpersonen
umfassend transformieren.

Ein solcher Ansatz, der sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten international als
sehr erfolgreich herausgestellt hat, ist die Anwendung von Übungsformen und schul-
kulturellen Veränderungen auf der Basis von Achtsamkeit (mindfulness) und Mitgefühl
(compassion). Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, worum es dabei geht (Teil A),
welche Potenziale zur Förderung von Lehrer*innengesundheit dieser Ansatz im Spiegel
der aktuellen Forschung hat (Teil B) und welche konkreten Übungen und Programme
dafür zur Verfügung stehen (Teil C).

A. Achtsamkeit und Mitgefühl in der Schulpädagogik 233

Achtsamkeit und Mitgefühl sind für die Schulpädagogik in dreifacher Weise relevant:
1. als Bildungsziele für die Schüler*innen, damit diese ihre positiven Effekte sowohl
aktuell als auch in ihrem weiteren Leben nutzen können, 2. als didaktische Prinzipien,
die den Unterricht in allen Fächern bereichern können sowie 3. als Mittel zur Verbes-
serung von Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit von Lehrer*innen. In

233  Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Jennings 2017; Hawkins 2018; Valtl 2018

175 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


diesem Beitrag werden wir fast ausschließlich auf den letzten Punkt fokussieren, auch
wenn dadurch einige wichtige Querverbindungen zu den beiden anderen Bereichen
ausgeblendet werden.

Achtsamkeit bezeichnet die Fähigkeit von Menschen, ihre Aufmerksamkeit bewusst


steuern zu können und sie auf die gelebte Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks
zu richten, verbunden mit der Fähigkeit zu selbständiger Emotionsregulation und
einer „achtsamen Haltung“, die umschrieben wird mit Begriffen wie Präsenz, Vor-
urteilslosigkeit, Akzeptanz, Geduld und Mitgefühl. Achtsamkeit verbindet damit drei
sonst meist unabhängig voneinander betrachtete Dimensionen, und zwar mentale
Fähigkeiten (hier v. a. Aufmerksamkeitsregulation), emotionale Selbstregulation und
ethische Haltungen.

Mitgefühl ergänzt Achtsamkeit und kann in unserem Kontext als die Herzqualität von
Achtsamkeit betrachtet werden (im weiteren Text ist mit dem Begriff Achtsamkeit
jeweils auch Mitgefühl mitgemeint). Mitgefühl ist die Fähigkeit, sich tief einfühlen
zu können (sowohl in andere wie in sich selbst), dabei auch leidvolle Erfahrungen
(sowohl eigene wie die von anderen) ganz an sich heranzulassen und auf sie nicht mit
Abwehr und Härte, sondern mit Verständnis und Fürsorge zu antworten. Mitgefühl
ist in dieser entwickelten Form paradoxerweise kein vorübergehendes Gefühl, sondern
eine dauerhafte Lebenseinstellung, die einen radikalen Gegenentwurf zu dem in der
Konkurrenzgesellschaft vorherrschenden Egoismus darstellt.

Der Begriff Achtsamkeit hat eine lange Tradition, entstammt ursprünglich der buddhis-
tischen Lehre und ist heute ein wissenschaftlicher Fachbegriff von – wie oben bereits
angedeutet – relativ komplexer Struktur. Achtsamkeit wird als ein natürliches Poten-
zial von Menschen angesehen, das sich allerdings erst durch kontinuierliche Übung
voll entfaltet. Zu diesen Übungen zählen verschiedene Formen von Meditation sowie
Übungen zu Körpergewahrsein, sinnlicher Präsenz und bewusster Lebensführung im
Alltag. Diese werden zusammenfassend als Achtsamkeitspraxis bezeichnet und sind in
Teil C kurz beschrieben.

In den Fokus der Wissenschaft kam Achtsamkeit seit den 1990er Jahren, nachdem
festgestellt wurde, dass achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramme – wie z. B. das
Acht-Wochen-Programm Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) – überraschend
positive Effekte selbst bei schwierigen klinischen Zielgruppen zeigen. Dies führte zu
zahlreichen wissenschaftlichen Studien sowie zur Entwicklung darauf aufbauender
Trainings- und Therapieprogramme sowie schulbasierter Programme für Schüler*innen
und entsprechender Weiterbildungsangebote für Lehrer*innen, die heute weltweit
Anwendung finden.

176 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


B. Der Einfluss von Achtsamkeitspraxis auf die Gesundheit von
Lehrer*innen im Spiegel der Forschung

Im Zentrum der Erforschung von Achtsamkeit – sowohl im Bildungsbereich wie


generell – stehen seit zwei Jahrzehnten ihre vielfältigen Effekte. Im Folgenden ge-
ben wir eine Übersicht über die im weiteren Sinne gesundheitsrelevanten Effekte,
aufgeteilt nach Forschungen mit der Allgemeinbevölkerung (Kap.1) und speziell mit
Lehrer*innen (Kap. 2).

1. Nicht professionsbezogene Effekte

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Erforschung der gesundheitsbezogenen Effekte
von Achtsamkeitspraxis, die allgemein, d. h. unabhängig von Beruf und individueller
Lebenslage festgestellt werden können. Diese positiven Effekte sind überraschend
zahlreich und liegen v. a. auf den Ebenen von physischer Gesundheit, psychischer
Gesundheit und Selbstregulationsfähigkeit.

Effekte auf die physische Gesundheit

Achtsamkeitspraxis
·  verbessert die physische Gesundheit durch Harmonisierung von Puls, Blutdruck und
Muskelspannung234 sowie durch Erhöhung der Herzfrequenzvariabilität235 ; sie beugt damit
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie in geringerem Umfang Beeinträchtigungen des
Bewegungsapparats vor – den beiden häufigsten Krankheitsbildern bei Lehrpersonen,

·  verbessert breitbandig die Leistungsfähigkeit des Immunsystems (ein Thema, das in


der Corona-Pandemie enorm an Bedeutung gewonnen hat)236 und hebt das subjektiv
empfundene Wohlbefinden237,

234  Ditto et al. 2006


235  Krygier et al. 2013
236  Valtl 2020
237  Carmody/Baer 2008

177 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


·  verbessert die Aufmerksamkeitsleistung und andere Gehirnfunktionen (z. B. die
für jedes Handeln zentrale Exekutivfunktion)238 und

·  verlangsamt epigenetisch Alterungsprozesse in den Zellen239 und die Gehirnalterung240 .

Effekte auf die psychische Gesundheit

Achtsamkeitspraxis
·  reduziert psychische Symptome wie Angst, Depression, Selbstzweifel und Grübeln241 ,

·  reduziert Substanzabhängigkeit242 und Essstörungen243 und

·  verbessert die Schlafqualität.244

Gesundheitsrelevante Verbesserungen der Selbstregulation

Achtsamkeitspraxis
·  verbessert die Emotionsregulation und fördern die Fähigkeit, Emotionen w
­ ahrnehmen,
ertragen und ausdrücken zu können , 245

·  verbessert die kognitive Selbstregulation und das Körperbewusstsein246 und

·  verbessert die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen247.

Diese Verbesserungen der Selbstregulationsfähigkeit wirken sich mittelbar auf die


Gesundheit aus, indem Stresseffekte verringert, überschießende und situativ unange-
messene Reaktionen vermieden und schwierige Interaktionen besser navigiert werden

238  Goldin/Gross 2010


239  Chaix et al. 2017
240  Goleman/Davidson 2018
241  Hofmann et al. 2010
242  Brewer et al. 2015
243  Kristeller 2015
244  Shallcross et al. 2019
245  Kuyken et al. 2013
246  Schussler et al. 2016
247  Hölzel et al. 2011

178 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


können. Die markante Verbesserung der Beziehungskompetenz durch Meditation und
Achtsamkeitspraxis wirkt hierbei unterstützend.248

Insgesamt zeigt die Forschung also, dass Achtsamkeitspraxis die physische und psy-
chische Gesundheit der Allgemeinbevölkerung auf breiter Basis fördern kann. Neben
diesen vielfältigen positiven Effekten wurden zwar auch in geringem Umfang negative
Wirkungen festgestellt, v. a. bei Personen mit psychischen Vorerkrankungen.249 Aber
auch diese Personen können, wie die Forschung zeigt, Achtsamkeit gewinnbringend
praktizieren, wenn sie entsprechend umsichtig angeleitet werden und geeignete
Übungsformen praktizieren.250

Neben diesen allgemeinen Forschungen gibt es auch spezielle Untersuchungen, die sich
mit der Zielgruppe der Lehrer*innen befassen und die Effekte von Achtsamkeitspraxis
im Lehrberuf aufzeigen. Sehen wir uns die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten im
Folgenden an.

2. Professionsbezogene Effekte von Achtsamkeitspraxis bei


Lehrer*innen

Effekte auf die physische Gesundheit

Achtsamkeitspraxis
·  verbessert das Wohlbefinden von Lehrer*innen im Beruf,251

·  erhöht die Stressresilienz,252 verringert subjektives Stresserleben und reduziert so


die damit verbundenen gesundheitlichen Belastungen im Lehrberuf253 und

·  verringert Burn-out-Häufigkeit254 und Krankheitskosten bei Lehrer*innen.255

248  Sedlmeier 2016


249  Van Dam et al. 2018
250  Kuyken/Baer 2016
251  Schussler et al. 2016
252  Flook et al. 2013
253  Harris et al. 2016
254  Schussler et al. 2016
255  Altner/Sauer 2013

179 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Effekte auf psychische Gesundheit, Emotionsregulation und
Selbstbezug

Achtsamkeitspraxis
·  verbessert Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge von Lehrer*innen und stärkt damit
ihre Fähigkeit, sich in belastenden Situationen selbst zu stabilisieren,256

·  verbessert die Fähigkeit zur Desidentifizierung von negativen Gedankenspiralen


(die oft am Anfang einer depressiven Entwicklung stehen),257 die Fähigkeit zum Aus-
steigen aus negativen Reaktionsmustern258 sowie das Selbstwirksamkeitserleben259
und die Stimmungslage im Lehrberuf260 , Letzteres insbesondere vermittelt durch eine
Verbesserung der Schlafqualität261 ,

·  verbessert die Fähigkeit von Lehrer*innen, Gefühle und andere innere Zustände
wahrnehmen und mitteilen zu können (was ihre Regulation erleichtert)262 und

·  verringert Zustände von emotionaler Erschöpfung und burnout-bedingter Deperso-


nalisation,263 die ohne Gegenmaßnahmen langfristig zu der oft beobachteten Tendenz
zu Abwertung und Demütigung von Schüler*innen führen können264 – was sowohl
pädagogisch als auch juristisch äußerst bedenklich ist und keinesfalls hingenommen
werden darf.

256  Flook et al. 2013; Shapiro et al. 2016


257  Altner et al. 2018
258  Schussler et al. 2016
259  Taylor et al. 2015
260  Kemeny et al. 2012
261  Crain et al. 2016
262  Schussler et al. 2016
263  Anderson et al. 1999
264  Hafenegger 2013

180 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Effekte auf Belastungsfaktoren und Selbstmanagement im Schulalltag

·  Überforderung und Resignation sind bei 60 % aller Lehrer*innen feststellbar.265 Dem


wirkt Achtsamkeitspraxis durch eine Förderung der Selbstfürsorge entgegen. Lehrer*in-
nen lernen dadurch u. a., Erregungsspitzen in Stresssituationen besser w
­ ahrzunehmen
und sich dabei selbst zu regulieren und zu entspannen. 266

·  Achtsamkeitspraxis verbessert die Fähigkeit, mit Schüler*innen in Konflikten und


schwierigen Unterrichtssituationen konstruktiv umgehen zu können. Dadurch wird
ein zentraler Belastungsfaktor des Lehrberufs verringert.267

·  Achtsamkeitspraxis wirkt der v. a. bei jungen Lehrer*innen zu beobachtenden


Tendenz zur Selbstabwertung in Situationen des Scheiterns entgegen. Sie verbessert
ihre Fähigkeit, sich auch dann selbst annehmen zu können, ohne die eigenen Fehler
zu leugnen.268 Das erhöht die Rate an produktiver Bewältigung dieser Erfahrungen.

·  Insgesamt entsteht eine erhöhte Berufs- und Lebenszufriedenheit, die als Folge-
effekt die Gesundheit fördert.269

Effekte auf Kollegialität und Verantwortungsbereitschaft von


Lehrer*innen

Achtsamkeitspraxis
·  fördert eine selbstbewusstere und freiere Kommunikation sowie Metakommuni-
kation im Kollegium270 ,

·  verbessert Teamgeist und gegenseitige Anteilnahme an persönlichen Lebenslagen und


fördert einen fürsorglichen Umgang mit sich und anderen sowie eine anerkennende und
weniger konkurrenzorientierte Haltung gegenüber der Expertise von Kolleg*innen,271

·  fördert die Fähigkeit von Lehrer*innen, sich gegenüber unangemessenen Anforde-

265  Schaarschmidt/Fischer 2013


266  Altner et al. 2018
267  Flook et al. 2013; Vogel 2019
268  Zimmerman 2018
269  Soloway et al. 2011
270  Altner et al. 2018
271  Luger-Schreiner 2018; Altner et al. 2018

181 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


rungen abzugrenzen, bei gleichzeitig erhöhter Verantwortungsbereitschaft und ver-
ringerter Neigung, andere oder „das System“ zu beschuldigen; dies reduziert einerseits
die Belastung und erhöht andererseits das Engagement; 272

·  begünstigt die Fähigkeit, eigene Schwächen zu zeigen und damit bewusst umzuge-
hen; dies reduziert Überlastung aus Gründen der Selbstdarstellung und fördert einen
menschlicheren Umgangston im Kollegium,273 und sie

·  stärkt die Bereitschaft zu einer gesundheitsförderlichen Umgestaltung der Schul-


kultur in Richtung Entspannung, Entschleunigung, Achtsamkeit, Stille, Flexibilität,
Kollegialität und Begeisterung.274

Effekte auf Unterricht und pädagogische Beziehung

Achtsamkeitspraxis
·  fördert die Qualität der Beziehung zu den Schüler*innen; diese wird einfühlsamer,
freundlicher, fürsorglicher und weniger fordernd (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung
der Lernziele),275

·  fördert Gewahrsein im gegenwärtigen Augenblick und Toleranz von Ungewissheit;


diese helfen v. a. jungen Lehrer*innen, mit der Komplexität des Unterrichtsgeschehens
besser umgehen zu können,276

·  fördert Effizienz und Selbstwirksamkeitserleben; diese machen den Unterricht


flüssiger, pointierter und ertragreicher für alle Beteiligten277 und

·  fördert sowohl Aufmerksamkeit als auch mentale und körperliche Präsenz von
Lehrer*innen; beides sind Grundbedingungen für gelingenden Unterricht, und dieser
steigert wiederum Berufszufriedenheit und Gesundheit.278

272  Altner et al. 2018


273  Altner et al. 2018
274  Altner et al. 2018
275  Shapiro et al. 2016; Altner et al. 2018
276  Zimmerman 2018, S. 58
277  Flook et al. 2013; Soloway et al. 2011
278  Flook et al. 2013; Shapiro et al. 2016

182 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Insgesamt zeigen diese Befunde aus dem Berufsfeld von Lehrer*innen, dass viele der
professionsbezogenen Effekte von Achtsamkeitspraxis – anders als bei den berufsunab-
hängigen Effekten – die Gesundheit von Lehrer*innen eher mittelbar verbessern, indem
sie ihre Fähigkeit stärken, mit den Herausforderungen und Belastungen des Lehrbe-
rufs bewusster, zielführender und mit mehr Selbstfürsorge umzugehen. Lehrer*innen
steigern dadurch ihre Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, vorhandene Ressourcen zu
nutzen und Verbundenheit im Team aufzubauen, sich sowohl abzugrenzen als auch
stärker zu engagieren sowie einen verantwortungsvollen Selbstbezug zu kultivieren.

Diese Effekte können dann am besten genutzt werden, wenn Achtsamkeitspraxis in


der ganzen Schule angewendet wird (whole school approach).279 Die positiven Effekte
bei den Lehrer*innen führen auch zu Resonanzeffekten bei den Schüler*innen: Deren
Stressbelastung verringert sich messbar in dem Umfang, in dem die Stressbelastung der
Lehrer*innen abnimmt.280 Wir sehen also, dass wir mit Achtsamkeitspraxis ein Mittel
zur Verfügung haben, das Lehrer*innen und Schüler*innen in gleicher Weise nutzt –
eine Eigenschaft, die bei kaum einem anderen schulpädagogischen Thema so eindeutig
zu beobachten ist und die dazu beiträgt, dass das Thema Achtsamkeit in der Schulent-
wicklung von der überwiegenden Mehrzahl der Lehrer*innen gut angenommen wird.

C. Praktische Ansätze zur Förderung von Lehrer*innengesundheit auf


der Basis von Achtsamkeit und Mitgefühl

Den Lehrer*innen, die ihre Gesundheit durch Achtsamkeitspraxis fördern möchten,


stehen heute viele Angebote zur Verfügung. Das Problem ist weniger das Vorhanden-
sein von Ressourcen als vielmehr die Auswahl und individuelle Akzentsetzung. Der
Prozess des Wählens ist jedoch ein notwendiger Teil des Weges, denn die Entscheidung
kann nur anhand persönlicher Kriterien getroffen werden, die sich im Laufe der Be-
schäftigung mit dem Thema herausbilden.

Im Folgenden finden Sie einige Anregungen für Ihre persönliche Suche, aufgegliedert
nach 1. individuell zu nutzenden und 2. schulbasierten Angeboten.

1. Individuelle Wege für einzelne Lehrer*innen

Die in Teil B aufgeführten Effekte resultieren aus einer kontinuierlichen Achtsam-


keitspraxis. Sie ergeben sich also aus dem Üben und Tun und nicht primär aus dem

279  Schussler et al. 2016, S. 140


280  Oberle/Schonert-Reichl 2016

183 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Lesen und Nachdenken, auch wenn diese einen wichtigen Beitrag leisten. Der wich-
tigste Schritt ist daher das Ins-Üben-Kommen und der Aufbau einer kontinuierlichen,
idealerweise täglichen Achtsamkeitspraxis.

Wie sieht das konkret aus? Hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Achtsam-
keitsübungen:281

·  Atemmeditation: Sie sitzen still auf einem Sessel oder Kissen und fokussieren Ihre
Aufmerksamkeit auf die körperlichen Empfindungen des Atmens (z. B. das Heben
und Senken der Bauchdecke). Wann immer Sie feststellen, dass Ihre Aufmerksamkeit
abschweift, holen Sie sie zur Empfindung des Atems zurück. Gefördert werden damit
bewusste Aufmerksamkeitslenkung, Ruhe des Geistes und Präsenz sowie Gelassenheit
gegenüber Störungen.282

·  Body Scan: Sie machen einen mentalen Spaziergang durch den eigenen Körper (meist
im Liegen), bei dem die Aufmerksamkeit für einige Zeit in jeder Region des Körpers
verweilt und alles, was dort in diesem Augenblick zu spüren ist, unmittelbar und so
differenziert wie möglich erfasst. Gefördert werden damit Einfühlung in sich selbst und
(überraschenderweise) auch in andere, Körperbewusstsein, Entspannung und Präsenz.283

·  Gehmeditation: Sie gehen an einem ruhigen Ort bewusst und langsam auf und ab
oder im Kreis und fokussieren dabei Ihre Aufmerksamkeit auf die körperlichen Emp-
findungen des Gehens (v.a. das Aufsetzen, Abrollen und Heben des Fußes). Gefördert
werden damit Aufmerksamkeitslenkung, Zentrierung auf eine bewusst ausgeführte
Aufgabe, Körperbewusstsein und Entschleunigung.284

281  Im Folgenden verweisen wir auf einige leicht zugängliche Anleitungen im Internet (die allerdings nicht
immer Ihrem persönlichen Geschmack entsprechen werden). Daneben gibt es zahlreiche CDs mit Begleitbü-
chern im Buchhandel (siehe Literaturverzeichnis).

282  Anleitung auf Deutsch z. B. Dr. Nils Altner: www.achtsamkeit.com/audio.htm (letzter Zugriff Juni 2021)
oder Maren Schneider: www.youtube.com/watch?v=oHskQQLprVc (letzter Zugriff Juni 2021), auf Englisch Prof.
Dr. Mark Williams: https://soundcloud.com/hachetteaudiouk/meditation-four-breath-and-body (letzter Zu-
griff Juni 2021)
283  Anleitung auf Deutsch z. B. Dr. Jörg Mangold: https://achtsamkeitundselbstmitgefuehl.de/downloads/
(letzter Zugriff Juni 2021) oder Maren Schneider: https://www.youtube.com/watch?v=j0nMvbvNcog (letzter
Zugriff Juni 2021)

284  Anleitung auf Deutsch z. B. Doris Kirch: www.youtube.com/watch?time_continue=5&v=OWjtdK5Hl5w


(letzter Zugriff Juni 2021) oder Jon Kabat-Zinn: https://www.youtube.com/watch?v=ffeAqyptmJw (letzter Zu-
griff Juni 2021)

184 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


·  Metta-Meditation (Liebende-Güte-Meditation): Nach einer stillen Zentrierung (z.
B. durch die Atemmeditation) formulieren Sie innerlich gute Wünsche (wie Glück,
Freiheit von Leid, Gesundheit und Frieden) für sich selbst und für andere Personen (die
Ihnen unterschiedlich nahestehen). Dabei fühlen Sie diese Wünsche so intensiv wie
möglich. Gefördert werden damit positive Emotionen und Haltungen wie Wohlwol-
len, Fürsorge, Freundlichkeit und Mitgefühl sowie Verbundenheit mit allem Leben.285

·  Achtsames Yoga: Sie führen einfache Yoga-Übungen im Stehen oder Liegen aus,
eher ohne sportlichen Anspruch, dafür aber mit einer klaren Wahrnehmung der ein-
zelnen Haltungen und Bewegungen sowie von Anspannung (und ggf. Schmerz) und
Entspannung (und ggf. Wohlgefühl). Gefördert werden damit Körperbewusstsein,
Selbstwahrnehmung, Präsenz sowie Containment von angenehmen und unangeneh-
men Empfindungen.286

·  Achtsames Essen (als ein Beispiel für Übungen im Alltag): Sie essen langsam und
bewusst und nehmen alle sensorischen Erfahrungen möglichst differenziert und tief
wahr. Wenn Sie möchten, können Sie eine Kontemplation damit verbinden, die die
Herkunft der Speisen, die Rohstoffe, Transportwege, Arbeitsleistungen und das Leid,
das in ihnen enthalten ist, in Erinnerung ruft. Gefördert werden damit sinnliche Prä-
senz, Genussfähigkeit, bewusste Ernährung und globales Bewusstsein.287

Auch wenn die hier dargestellten Achtsamkeitsübungen relativ einfach klingen, so ist
es dennoch nicht leicht, eine solche Praxis im Alltag ohne äußere Hilfe aufzubauen
und über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Die meisten Praktizierenden suchen daher
Unterstützung durch Kurse, Handy-Apps, Meditationsgruppen oder Retreats:

·  Kurse, die auf eine zeitgemäße Weise in Achtsamkeit einführen, sind z. B. die
8-Wochen-Kurse in Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) oder, für pädagogische
Berufe besonders empfehlenswert, in Mindful Self-Compassion (MSC). Diese Kurse
eignen sich speziell für den Einstieg und ermöglichen ein Erlernen der Übungen unter
professioneller Anleitung.

285  Anleitung auf Deutsch z. B. Christine Brähler: https://www.youtube.com/watch?v=4SXimZa45bw


(letzter Zugriff Juni 2021), auf Englisch Margret Cullen: http://www.compassion-training.org/de/media/player.
php?id=a15 (letzter Zugriff Juni 2021)

286  Anleitung auf Deutsch z. B. Dr. Nils Altner: https://www.youtube.com/watch?v=Eq-udS8OMZc (letzter


Zugriff Juni 2021) oder auf Englisch Livia Walsh: https://soundcloud.com/ucsdmindfulness/40-min-mindful-
movement-standing-postures-by-livia-walsh?in=ucsdmindfulness/sets/mindful-movement (letzter Zugriff
Juni 2021)
287  Anleitung auf Deutsch z. B. Dr. Nils Altner: https://www.youtube.com/watch?v=rNVs1V5uvkg (letzter Zu-
griff Juni 2021)

185 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


·  Handy-Apps, die durch Anleitungen, Klänge und Logbuch die tägliche Praxis
unterstützen, sind z. B. Insight Meditation Timer288 , Headspace289 oder die speziell auf
die Förderung von Wohlbefinden ausgerichtete Healthy Minds App290 . Sie helfen, die
Motivation zu täglicher Praxis wach zu halten.

·  Meditationsgruppen, in denen Meditationen praktiziert und z. T. auch gelehrt


werden, gibt es praktisch in jeder Stadt sowie als Online-Angebote. Sie unterstützen
durch den Rückhalt in der Gruppe das „Dranbleiben“, also die langfristige Kontinuität.
Viele von ihnen sind kostenlos und weltanschaulich neutral.291

·  Retreats sind mehrtägige Gruppen- und Einzelangebote in Meditationszentren,


die ein tieferes Eintauchen in die Praxis unter Anleitung ermöglichen. Für viele Prak-
tizierende sind sie ein Ort der Vertiefung einer bereits bestehenden Praxis – manche
beginnen aber auch damit.

Eine speziell auf pädagogische Berufe ausgerichtete Übersicht über die Angebote im
deutschsprachigen Raum wird derzeit auf der Website des Instituts für Achtsamkeit,
Verbundenheit, Engagement (AVE-Institut) aufgebaut.292

In Österreich gibt es (neben anderen) eine Reihe von Angeboten, die vom Team des
Verfassers in den Projekten Achtsamkeit in Lehrer*innenbildung und Schule (ALBUS) und
Pädagogik mit Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl (PAS) am Zentrum für Lehrer*innen-
bildung der Universität Wien aufgebaut wurden.293 Dazu zählen:

·  Werkstattprojekt Das Herz der Schule neu entdecken: In dieser Veranstaltungsreihe,


die sich an Lehrer*innen im Schuldienst wendet, werden einmal pro Monat pädagogisch
relevante Themen im Kontext von Achtsamkeit und Mitgefühl praxisnah diskutiert
und achtsamkeitsbasierte Übungen und Unterrichtsmethoden praktiziert.294

288  https://insighttimer.com (letzter Zugriff Juni 2021)


289  https://www.headspace.com (letzter Zugriff Juni 2021)
290  https://hminnovations.org/meditation-app (letzter Zugriff Juni 2021)
291  Ein Beispiel eines Online-Angebots für Pädagog*innen ist: https://ave-institut.de/veranstaltung/acht-
samkeitspraxis-fuer-paedagogische-fachkraefte/2021-05-12/ (letzter Zugriff Juni 2021)

292  https://ave-institut.de/achtsamkeit-fuer-mich/ (letzter Zugriff Juni 2021)


293  Darüber hinaus verweisen wir auf den von uns mitentwickelten Masterlehrgang Achtsamkeit in Bildung,
Beratung und Gesundheitswesen an der KPH Wien, der nicht speziell für Lehrer*innen konzipiert ist, aber viele
pädagogische Themen anspricht; Informationen unter: https://www.kphvie.ac.at/testseite/hochschullehrgaen-
ge-im-ueberblickold/achtsamkeit-in-bildung-beratung-und-gesundheitswesen.html (letzter Zugriff Juni 2021)
294  https://achtsamkeit.univie.ac.at/werkstattprojekt/ (letzter Zugriff Juni 2021). Die Veranstaltung wird
derzeit online durchgeführt und nach Corona hybrid am Zentrum für Lehrer*innenbildung.

186 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


·  Seminarangebot Achtsamkeit und Mitgefühl in der Schule: In diesem einsemestrigen
Seminar für Lehramtsstudierende werden die Grundlagen der Pädagogik der Acht-
samkeit vermittelt. Das Schwergewicht liegt auf dem Aufbau einer kontinuierlichen
Achtsamkeitspraxis und der Erforschung der eigenen Erfahrung durch inquiry.295

·  Meditationsangebot Just now: In dieser offenen Meditationsgruppe kommen alle


zwei Wochen Lehrende aller Schularten, Studierende und andere Interessierte zu-
sammen, um gemeinsam angeleitete Meditationen zu praktizieren.296

·  Fortbildungsangebot PASo: In dieser Fortbildungsreihe werden die sonst schulge-


bundenen Themenangebote des Projekts PAS Pädagogik mit Achtsamkeit und Selbst-Mit-
gefühl (siehe den folgenden Punkt 2) für einzelne Lehrer*innen und Personen, die mit
Kindern und Jugendlichen arbeiten, geblockt an 3 Wochenenden zugänglich gemacht.297

2. Schulbasierte Wege für Teams und ganze Schulen

Ein derartiger individueller Zugang, wie er in Punkt 1 beschrieben wurde, ist für
das Ernten der Effekte von Achtsamkeitspraxis zwar unerlässlich, er ist aber für ihre
Implementierung an Schulen nicht immer ausreichend. Es braucht dazu, wie viele
Projekte mittlerweile gezeigt haben, in den meisten Fällen auch Veränderungen auf
der Ebene der ganzen Schule und des Schulsystems. International gibt es dafür einige
vielversprechende Ansätze.298 In Europa ist hier v. a. das enorm erfolgreiche britische
Mindfulness in Schools Project (MiSP) hervorzuheben299 , in Deutschland die Projekte
von Nils Altner von der Universität Duisburg-Essen.300

In Österreich hat Helga Luger-Schreiner von der Universität Wien mit ihrem Projekt
PAS Pädagogik mit Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl (ehemals Projekt Achtsame Schule)
ein bisher einzigartiges Angebot zur achtsamkeits- und mitgefühlsbasierten Schulent-
wicklung vorgelegt und implementiert.301 Das Projekt bietet eine Serie von schulinter-
nen Fortbildungen an, die das ganze Kollegium adressieren und aus dem sich jeweils

295  https://achtsamkeit.univie.ac.at/lehrangebot-uni-wien/ (letzter Zugriff Juni 2021)


296  https://achtsamkeit.univie.ac.at/just-now/ (letzter Zugriff Juni 2021). Die Veranstaltung wird derzeit
­online durchgeführt und nach Corona lokal (und ggf. hybrid) am Zentrum für Lehrer*innenbildung.

297  https://achtsamkeit.univie.ac.at/projektachtsameschule/fortbildungsformate/ (letzter Zugriff Juni 2021)


298  Vgl. Meiklejohn 2012
299  https://mindfulnessinschools.org (letzter Zugriff Juni 2021)
300  http://www.achtsamkeit.com/index.htm (letzter Zugriff Juni 2021)
301  https://achtsamkeit.univie.ac.at/projektachtsameschule/ (letzter Zugriff Juni 2021)

187 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


eine konstante Fortbildungsgruppe bildet. Der Ablauf gliedert sich in drei Phasen, die
insgesamt drei Semester umfassen:

·  Phase I dient der Entwicklung der Haltungen von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl
und unterstützt die Pädagog*innen im Aufbau einer individuellen Praxis.

·  Phase II fördert Kommunikation, Teambewusstsein und Verbundenheit im Kol-


legium. Durch Arbeit mit individueller und kollektiver Kreativität und achtsamer
Beziehungsgestaltung wird in dieser Phase eine Transformation der Schulkultur in
Richtung Achtsamkeit und Selbstmitgefühl angebahnt.

·  Phase III unterstützt die individuelle und systemische Integration von Achtsam-
keit und Mitgefühl und begleitet Lehrpersonen, Klassen, Eltern und Schulleitungen
durch maßgeschneiderte Angebote für die einzelnen Standorte (whole school approach).

Wie sich aus den Erfahrungen der ersten drei Jahre dieses Projekts gezeigt hat, ist dies
ein herausfordernder und Zeit in Anspruch nehmender Prozess, der neben den Themen
Achtsamkeit und Mitgefühl auch einige der latenten Themen der jeweiligen Schulen
bearbeitet und der nachhaltig Schulklima, Teamgeist, pädagogisches Engagement und
Gesundheit von Lehrer*innen und Schüler*innen fördert.

Falls Sie sich entscheiden sollten, einen dieser beiden Wege – den individuellen oder
den schulbasierten – zu gehen, sollten Sie in jedem Fall auf Nachhaltigkeit setzen. Nicht
der schnelle Erwerb einer oberflächlichen Technik oder eines aufgesetzten pädago-
gischen Stils sind das Ziel, sondern die langfristige Entwicklung Ihrer Persönlichkeit
und Ihrer Schule. Beides ist zugleich herausfordernd und lohnend.

Die Herausforderung, im professionellen Umfeld die eigene Persönlichkeit zu entwi-


ckeln, kann als Fluch erscheinen, wenn wir ihr ausweichen möchten und uns nach
einer Arbeit sehnen, die mit weniger emotionalem Aufwand geleistet werden kann.
Sie wird aber zu einem Segen, wenn wir begreifen, dass es ein Teil des Lohns ist, dass
wir uns in diesem Beruf als Menschen weiterentwickeln und zu zufriedeneren und
gesundheitlich stabileren Lehrer*innen werden können.

Die Herausforderung, die Schule zu entwickeln, kann als übergroß und einschüchternd
empfunden werden, wenn wir nur auf die Trägheit der beharrenden Momente und auf
die zu ihrer Überwindung notwendigen Anstrengungen blicken. In der gegenwärtigen
historischen Situation kann aber Schule ohnehin nicht mehr lange so bleiben, wie sie

188 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


bisher war,302 und es liegt in der Hand aller Akteure, sie zu einem für alle lebenswerten,
gesundheits- und entwicklungsförderlichen Ort zu machen, der den drängenden Auf-
gaben des 21. Jahrhundert halbwegs gewachsen ist.

Für beides, sowohl Persönlichkeits- wie Schulentwicklung, können Achtsamkeit und


Mitgefühl einen wirksamen Beitrag leisten.

302  OECD 2020.

189 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


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192 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


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www.researchgate.net/publication/340226263_Achtsamkeitsmeditation_starkt_das_Immunsystem
(letzter Zugriff Mai 2021)

van Dam, Nicholas T. / van Vugt, Mareike K. / Vago David R. / Schmalzl L / Saron CD / Olendzki A
/ Meissner T / Lazar SW / Kerr CE / Gorchov J / Fox KCR / Field BY / Britton WB / Brefczynski-
Lewis JA / Meyer DE (2018): Mind the Hype: A Critical Evaluation and Prescriptive Agenda for
Research on Mindfulness and Meditation. In: Perspect Psychol Sci. 2018 Jan; 13(1).36-61. doi:
10.1177/1745691617709589 (letzter Zugriff Mai 2021)

Vogel, Detlev (2019): Achtsamkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung? Ein Überblick zum For-
schungsstand und Ergebnisse eigener Forschung. In: Vogel, Detlev / Frischknecht-Tobler, Ursula (Hrsg.).
Achtsamkeit in Schule und Bildung. Hep, Bern. S. 225-242.

Zimmerman, Aaron (2018): Considerating the Prospect of Cultivating Mindfulness in Teacher Education.
In: Issues in Teacher Education, 27/1/57-72.

Crain, Tori L./ Schonert-Reichl, Kimberly A./ Roeser, Robert W. (2017): Cultivating teacher mindfulness:
Effects of a randomized controlled trial on work, home, and sleep outcomes. In: Journal of Occupational
Health Psychology, 22(2), 138–152. https://doi.org/10.1037/ocp0000043 (letzter Zugriff Mai 2021)

CDs mit Meditationsanleitungen und Achtsamkeitsübungen

Germer, Christopher / Neff, Kristin / Hölzel, Britta (2012): Achtsames Selbstmitgefühl. Wie man sich von
destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit. Arbor, Freiburg (Büchlein mit 2 CDs).

Kabat-Zinn, Jon / Born, Heike (2016): Achtsamkeit und Meditation im täglichen Leben, Arbor, Freiburg
(Büchlein mit 2 CDs). 6. Auflage.

Kabat-Zinn, Jon / Valentin, Lienhard (2014): Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit. Arbor,
Freiburg (Büchlein mit 1 CD).

Kabat-Zinn, Jon / Kesper-Grossman, Ulrike (2009): Die heilende Kraft der Achtsamkeit. Arbor, Freiburg
(Büchlein mit 2 CDs).

Kabat-Zinn, Jon / Hölzel, Britta (2016): Schmerz. Meditationen zum Umgang mit chronischen Schmer-
zen, Arbor, Freiburg (Büchlein mit 1 CD). 2. Auflage.

Williams, Marc / Penman, Danny (2015): Das Achtsamkeitstraining. 20 Minuten täglich, die Ihr Leben
verändern. Goldmann, München (ausführliches Buch zu Achtsamkeit im Alltag mit CD). 5. Auflage.

193 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Zum Autor

Karlheinz Valtl, Dr.phil., ist Bildungswissenschaftler und lehrt am Zentrum für Lehrer*innenbildung
der Universität Wien. Er leitet dort das Projekt Achtsamkeit in Lehrer*innenbildung und Schule (ALBUS)
sowie zusammen mit Helga Luger-Schreiner das Projekt Pädagogik mit Achtsamkeit und Selbst-Mitgefühl
(PAS). Gemeinsam mit einer Gruppe von Kolleg*innen entwickelte und leitet er den Masterlehrgang
Achtsamkeit in Bildung, Beratung und Gesundheitswesen an der KPH Wien/Krems (der erste Masterlehrgang
zum Thema Achtsamkeit in deutscher Sprache). Darüber hinaus hat er mit Beginn 2021 die wissen-
schaftliche Leitung der Weiterbildung Achtsamkeitsbasierte Lehrer*innenbildung am AVE-Institut in Berlin
­übernommen.

194 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


13 Die Bedeutung der Psychosomatik für Ihre Gesundheit

M
Werner-Heinz Kállay it dem folgenden Artikel möchte ich Ihnen gerne die Psychosomatik als
Hilfe für Ihr Gesundbleiben näherbringen. Sie erlauben, dass ich mich
zuerst einmal vorstelle. Ich bin praktischer Arzt in Wien mit psychoso-
matischer Zusatzausbildung. Die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle, handelt von
der Begegnung mit einem Arzt, als ich noch ein Zivildiener war. Ich war auf eige-
nen Wunsch hin einem Sonderkrankenhaus zugeteilt worden, sah aber, dass mein Job
dort vor allem aus Kistenschleppen bestand. Ich freute mich eigentlich auf den Zivil-
dienst, um etwas Neues kennen zu lernen, ich wurde jedoch furchtbar enttäuscht von
den dort gemachten Erfahrungen. Nach ein paar Tagen wurde ich krank; mein Frust
und ein Virus waren gepaart zur Krankheit geworden. Als ich dem Arzt mein Innen-
leben offenbarte, fiel er aus allen Wolken: „Was, die Arbeit macht Sie krank? Seelische
Gründe? So jung? Schon nach drei Tagen?“ Was ich mir dachte, als ich seine Ordina-
tion verließ, war, dass der Arzt keine Ahnung von den Zusammenhängen hatte. Jetzt,
mit einer Arzt- und einer Psychosomatik-Ausbildung, sehe ich es nicht viel anders.

Die Psychosomatik

Jeder Mensch macht täglich psychosomatische Erfahrungen und hat auch entsprechen-
de Beschwerden. Der Begriff „Psychosomatik“ ist sehr akademisch und verkürzend.
Der Begriff zielt auf das Phänomen, dass die Psyche den Körper beeinflusst – und vice
versa. Ein Beispiel: Wir erinnern uns, wie wir unsere Füße in den warmen Sand eines
Strandes steckten und die Sonne uns zum Klang des Meeresrauschens wärmte. Schon
fühlen wir uns körperlich wohler, nur durch eine rein mentale Erinnerung.

Man hätte das Gebiet auch „Somatopsychologie“ nennen können, der Körper be-
einflusst ja auch die Psyche, körperliche Empfindungen verändern wiederum unser
Denken. Körper und Psyche wirken wechselseitig aufeinander ein. In dem Moment,
wo der Körper den Geist entspannt, entspannt der Geist wiederherum den Körper:
Sie liegen im warmen Strand, die Muskeln und auch Ihre Psyche gehen in einen Ent-
spannungsmodus.

Etwas philosophischer formuliert ist das menschliche Leben ein psychosomatisches


Mysterium, denn wir leben in einem niemals endenden Wirbel aus psychosomatischen
Reaktionen. Unser Verstand erzeugt ständig Gedanken und Motive, die Emotionen
und körperliche Empfindungen nach sich ziehen bzw. allgemeine körperliche Emp-
findungen beeinflussen.

195 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Leider gibt es nicht nur positive Rückkopplungsschleifen zwischen Körper und Ver-
stand, sondern ebenso viele negative.

Das beste Beispiel ist vielleicht der Schmerz. Sie glauben gar nicht, wie schwer es für
eine*n Wissenschaftler*in ist, etwas so Einfaches und Körperliches wie Schmerz zu
erklären. Vieles wirkt bei der Schmerzentstehung mit. Wir nutzen das in der Medizin
z. B. für die Therapie von chronischen Schmerzen: Biofeedback, Entspannungstherapie,
Psychotherapie, Spiegeltherapie usw. – lauter Ansätze, die im ersten Moment kaum
einen Einfluss auf „harten“ Schmerz zu haben scheinen. Doch sie zielen alle auf die
Veränderung des sogenannten Schmerzgedächtnisses. Durch unterschiedliche mentale
und psychologische Techniken können Schmerz und seine Wahrnehmung sehr wohl
verändert werden.

Die Gedanken in unserem alltäglichen Leben lassen sich kaum von den körperlichen
Reaktionen trennen. Genauso wenig können wir den Einfluss dieser körperlichen
Reaktionen auf unser Denken wiederum verhindern. Wir können aber lernen, das zu
verstehen und bewusster darauf Einfluss zu nehmen.

Man kann keine endgültige Definition der Psychosomatik vornehmen, sie umfasst
so viel, was noch Gegenstand der Forschung ist. Ich würde es vielleicht aus meiner
heutigen Sicht so beschreiben:

Die Psychosomatik ist die Erforschung und „Erfühlung“ unseres Innenlebens, etwas, was mit
der Welt herum über unseren Körper in untrennbarer, wechselseitiger Verbindung als Einheit
besteht.

Hier noch ein weiterer Ansatz:

Die Psychosomatik ist die Beobachtung dieser innigen Beziehung von Psyche, Verstand,
­Körper und Welt sowie die Lehre davon, wie man diese Beziehung positiv beeinflussen kann.
Wir nützen in der Psychosomatik vor allem unsere körperlichen Empfindungen, um uns
selbst und die Welt rundherum besser zu verstehen, um gesünder zu interagieren und zu
leben.

Um ja nicht als psychisch krank stigmatisiert zu werden, als ein „Psycho“, ein „Hypo-
chonder“ zu gelten, der sich alles einbildet und damit unglaubwürdig ist, haben viele
ein gespaltenes Verhältnis zur psychosomatischen Erklärung von Krankheiten. Das
Verständnis des subtilen Zusammenwirkens unseres Körpers, unserer Psyche und
unseres Geistes bzw. Verstandes sind aber wesentlich für unser Gesundsein und
Gesundbleiben.

196 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Wann immer wir uns z. B. krank fühlen, haben wir körperliche Beschwerden wie
Husten oder Fieber. Dann kommen unsere eigenen Reaktionen darauf hinzu: Wir
haben keine Energie, wir machen uns Sorgen, weil wir schon wieder krank sind, wir
verspannen uns, weil wir eigentlich gerade keine Zeit zum Kranksein haben, weil
so viel zu tun ist. Wir werden dann vielleicht gereizt oder frustriert und wollen die
Krankheit von uns wegschieben. Dann kommen aber die Reaktionen der Menschen
herum hinzu, wie die Sorgen der Angehörigen, die Empfehlung des Arztes, der uns
dieses Mal lieber länger in den Krankenstand schicken will, oder der Chef, der jeden
Tag anruft und fragt, wann wir wiederkommen. All das wiederum beeinflusst unser
Empfinden, unser Denken und unsere Krankheiten. Wir reagieren natürlich darauf,
wir machen uns vielleicht noch mehr Sorgen, unterschwellige Ängste verspannen uns
noch mehr und wir bekommen noch mehr Schmerzen.

Man könnte das als psychosoziale und psychosomatische Begleitkomponente all unseres
Seins bezeichnen. Das von Vornherein zu leugnen und abzulehnen, ist das eigentliche
Problem. Es verschwindet nicht, sondern es bleibt bestehen und beeinflusst uns, ohne
dass wir es bewusst bemerken.

Von unserem Innenleben, wo Ansprüche von außen, unsere Gedanken und Gefühle
sowie abgespeicherte Erfahrungen zusammenkommen, wissen wir meist wenig. Dieser
Weg, um sich selbst besser verstehen zu lernen, ist genau das, worum es geht. Erst damit
haben wir einen Norden für unseren „psychosomatischen Kompass“: Wie gelangen
wir zu mehr Zufriedenheit in unserem stressigen Alltag? Wie können wir mit den täg-
lichen Belastungen anders umgehen lernen? Indem wir uns besser verstehen lernen,
mit Hilfe unserer Gefühle und körperlichen Empfindungen. Das ist der erste Schritt
hin zu einer gesünderen Umgangsweise mit unseren eigenen Gewohnheitsmustern
und Problemlösungsstrategien, wenn diese nicht mehr greifen.

Burnout und Stresserkrankungen

Ein großes Problem der heutigen Zeit ist ja das Phänomen des Burnouts, also das
berufliche Arbeiten über die eigenen gesunden Grenzen hinaus, bis es zur Sucht und
Krankheit wird. Es bleibt meist lange unerkannt, bis es zu einer ausgewachsenen Krank-
heit geworden ist, die Tendenz ist steigend. Eine der großen Herausforderungen der
heutigen Zeit sind auch die ausufernden und sich wandelnden Arbeitsbeschreibungen.
Die Regeln und Konventionen ändern sich. Früher waren Berufe sehr genau definiert
und sie veränderten sich nur langsam. Das ist anders geworden. Dass wir uns ständig
ändern und anpassen müssen, macht uns allen Stress.

197 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Allem voran möchte ich die viel größeren Erwartungen an das Miteinander, an die
soziale Kompetenz, die Empathie, die Qualität der individuellen psychosozialen
Interaktion betonen. In manchen Berufen zeigt es sich besonders deutlich, nämlich
in allen helfenden, medizinischen, pädagogischen und sozialen Berufen. Gerade die
Empathie, das Mit- und Einfühlen in den anderen Menschen ist eine immense Auf-
gabe der Gegenwart. Diese hohe Qualität in den sozialen Interaktionen ist jedoch in
einer von Zeitnot geprägten Zeit nicht immer einlösbar – Sie kennen das vielleicht als
Lehrkraft, wenn Sie große Klassen unterrichten.

Burnout und Stresserkrankungen werden immer mehr auch zu einem Phänomen der
jungen Generation, nicht nur derjenigen, die schon lange im Berufsleben stehen, son-
dern auch bei denen, die sich im Aufbau ihres Lebens befinden. Wir brauchen immer
längere Ausbildungszeiten, müssen immer mehr Entscheidungen treffen, Familie, Job,
Freizeit, Angehörigenpflege unter einen Hut bringen in einer sich immer schneller
wandelnden Welt, wo alles verschwimmt. Die Pandemie hat die psychischen Belas-
tungen für viele Menschen erhöht.

Es gibt auch immer mehr Stimmen, ob nicht ein analoges Krankheitsbild auch schon
für Schüler*innen, also Kinder und Jugendliche entworfen werden muss, da auch sie
schon zunehmend Zeichen von Stress und Überforderung zeigen. Doch es ist plausibel,
dass sich diese Probleme auch auf Kinder auswirken müssen. Wenn so viele Menschen
im Modus von Stress und Überforderung leben und keinen gesunden Weg für sich
mehr finden, wie sollen es dann die Kinder? Wie können wir einen guten (Lebens-)
Weg vorzeichnen, wenn wir keinen guten Weg für uns selber finden?

Jeder Lebensabschnitt bringt seine eigenen Herausforderungen und Probleme mit


sich. Doch je länger man schon am Leben ist, desto mehr Gelegenheiten gab es und
gibt es, sich eine Krankheit oder ein Problem einzufangen, das man vielleicht nicht
mehr alleine lösen kann. Burnout kann alle Menschen in einem intensiven Arbeits-
leben betreffen.

Burnout bedeutet, dass die Arbeitsbelastung und/oder andere private Belastungen


(z. B. eine langandauernde Pflege von Angehörigen) zu groß, die eigenen Batterien
zu leer, das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben zu klein und die notwendige
Wertschätzung und soziale Anerkennung einen nicht mehr tragen können oder gar
verschwunden sind. Man wird von Leistungsdruck oder eben auch negativen Emotionen
dominiert. Die Hoffnung, dass es besser wird, ist dann oft nur noch ein illusorischer,
schmerzender oder verdrängter Albtraum.

Es fehlt oft der aktuelle Blick für das Ganze, für die Zeit, die wir für uns selbst brau-
chen würden und für die anstehenden Veränderungen. Burnout verursacht viele

198 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


psychosomatischen Begleitreaktionen, die es so früher nicht gab. Viele Menschen
werden infolge der Überlastung zynisch oder aggressiv, launisch oder gereizt. Man
schläft schlechter, erholt sich schlechter und nimmt ungesunde Gewohnheiten an.
Oder man zieht sich zurück, weist alles von sich, wird unnahbar. Zusätzlich können
Angststörungen, Panikattacken, (Kopf-)Schmerzen, Verspannungen, Verdauungs-,
Blutdruck- und Herzprobleme auftreten. Man kompensiert bis man dekompensiert,
also bis man keinen Weg mehr findet, die Probleme aus eigener Kraft zu bewältigen.
Oft sind es erst diese psychosomatischen Begleitreaktionen, weswegen Menschen Hilfe
zu suchen beginnen. Dann ist es aber oft noch ein langer Weg, diese Reaktionen als
Folge der Überlastung zu erkennen.

Als Hausarzt sehe ich oft den inneren Kampf der Menschen, die sich zusammenreißen,
um zu funktionieren. Ja, es ist oft fast unmöglich, zu Menschen durchzudringen, die
sich abkapseln, eben, um ihren ungesunden Lebensstil aufrechtzuerhalten. Oft erst
wenn die Menschen dekompensieren und nicht mehr können, dringt man zu ihnen
etwas durch. Es gibt Statistiken, die besagen, dass in etwa 50 % der Bevölkerung in
unseren Breiten an Depressionen, Angststörungen oder Burnout leiden oder gefährdet
sind, es zu erleiden. Ich weiß, wie schwer es für jede*n Einzelne*n ist, ein ungesundes
Verhalten bei sich zu entdecken, das die halbe Bevölkerung teilt und deshalb als gesund
fehlinterpretiert oder gar erwartet wird.

Der erste Schritt ist es, einen guten inneren Gesundheitskompass zu entwickeln, der
einem Orientierung gibt. Sie sollten die Ursachen dafür herausfinden, was Sie krank-
macht bzw. was Ihnen Energie raubt. Um das einschätzen zu können, benötigt man
Wissen und manchmal auch eine externe Begleitung. Es braucht zudem (Selbst-)Refle-
xion, gemeinsame Gespräche mit vertrauten Menschen über auftretende Belastungen
und vor allem ein Innehalten.

Zu leben bedeutet, sich in einem dynamischen Gleichgewicht zwischen äußeren An-


forderungen, inneren Prozessen und Ressourcen zu bewegen. Es braucht allem voran
eine Balance zwischen Anspannung und Entspannung. Dazu muss man sich immer
wieder auch selbstreflexive Fragen stellen.

Wo stehe ich im Leben? Was fordert und überfordert mich? Wie geht es mir? Stehe ich zu sehr
unter Spannung? Ist es zu viel? Wie sieht die Zukunft aus? Schaut die Zukunft gut aus?

Bin ich zu gereizt oder zu traurig? Was sagen die Menschen um mich? An wen kann ich mich
halten, der mir ehrlich sagt, wie er mich sieht, wenn ich mich nicht sehe?

Kenne ich meine Persönlichkeit? Meine Spleene? Meine typischen Fallgruben? Mein „Kopf­
kino“, also meine kreisenden Gedanken, worin ich mich verliere?

199 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Habe ich die Kontrolle? Oder habe ich nur noch das Gefühl, dass mir die „anderen“ und die
Arbeit mein Leben diktieren? Nach dem Motto: „Wie geht´s?“ – „So, wie die anderen wollen!“

Bin ich schon so geladen, dass jedes Wort, das mich auf mich selber zurückwirft, mich der
­Explosion oder der Implosion näherbringt?

Solche direkten Fragen helfen uns, unseren Kompass auszurichten, also zu sehen, wie
es uns geht, wie wir uns fühlen. Ich sage bewusst Kompass und nicht eine exakte Rich-
tung, da jeder Mensch seine einzigartige Biografie hat, seinen eigenen Weg finden und
gehen muss, den wohl nur jeder selber erkennen kann. Holen Sie sich professionelle
Unterstützung oder gönnen Sie sich ein Coaching. Man kann sich Orientierungen
geben lassen, sich helfen lassen, sich aufbauen und beizeiten auch herausfordern
lassen, über den Tellerrand hinauszublicken. Wir sind nicht allein damit und wir
sind gar nicht so verschieden voneinander. Jedes Problem, das wir haben, hatten und
haben Millionen andere. Diesen Erfahrungsschatz sollten wir nutzen. Ein typisches
Zeichen vieler psychischer Probleme ist das Unvermögen, sein Innerstes zu erkennen
und es anderen vertrauensvoll zu zeigen, damit sie einem helfen. Wir fühlen uns mit
unseren Problemen so „anders“, so getrennt und bauen Mauern und Minenfelder um
uns herum. Wir fühlen uns alleine inmitten des Stresses.

Wir brauchen Menschen, denen wir uns wirklich öffnen können, die sich nicht vor
uns fürchten, sondern zuhören und für uns da sind: Sie sind vielleicht das Wichtigste
im Leben. Sie fallen selten vom Himmel, sondern sie sind das Ergebnis vieler guter
Gespräche, an denen man gemeinsam gewachsen ist.

Ich kann es nicht genug betonen, dass es für all diese Probleme keine schnellen und
billigen Lösungen gibt. Es braucht Einsicht, Zeit, Verständnis, Ruhe und natürlich sinn-
volle, bewältigbare Herausforderungen. Ich möchte hier Ihr Basisverständnis weiter
ausbauen, Ihren inneren Kompass abstauben und Ihren Umgang damit schulen, damit
Sie als Kapitän*in Ihres Schiffes Ihre Häfen sicher erreichen.

Was Sie gegen drohendes Burnout vorbeugend tun können

Tun Sie sich zusammen und geben Sie diesen Themen einen gemeinsam Raum. Reden
Sie darüber, machen Sie es zum Thema, nämlich was es mit Ihnen macht, immer mehr
und anders die Arbeit machen zu müssen, immer mehr Aspekte und Aufgaben mitein-
beziehen zu müssen. Versuchen Sie kein*e Einzelkämpfer*in zu werden. Sie sind nicht
alleine. Und lassen Sie sich helfen! Führen Sie bitte keinen Krieg gegen das System!
Dieses Gefühl ankämpfen zu müssen, ist oft ein Zeichen der Überforderung und der
brennenden Sehnsucht nach Befreiung.

200 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Sehen Sie gerade das Schul- oder Bildungssystem, das Gesundheitssystem oder welchen
Bereich auch immer, wie es ist und was entsprechend des „neuen Zeitgeistes“ gut wäre
zu verändern. Artikulieren Sie es bitte, gründen Sie Gesprächsgruppen, lassen Sie sich
supervidieren und suchen Sie Gleichgesinnte. Machen Sie Therapie, lesen Sie Bücher
dazu oder schreiben Sie darüber.

Fazit

Stresserkrankungen wie Burnout sind Teil unserer Zeit, in der sich sehr viel verändert,
Arbeitsbelastungen und Verantwortungen in vielerlei Hinsicht ausufern können, die
Welt immer mehr zusammenschmilzt und doch auch auseinanderdriftet.

Zunehmender und langanhaltender Stress führt schließlich zur Erkrankung. Mit den
Stresserkrankungen gehen oft starke psychosomatische Beschwerden einher.

Wir brennen für eine Sache und können leider dabei auch ausbrennen. Das hat viele
Ursachen und so gibt es auch viele Möglichkeiten, es zu bemerken und einzugreifen. Es
liegt an Ihnen, das zu sehen, anzuerkennen und zu reagieren. Bleiben Sie aber bitte nicht
damit alleine. Sie sind nicht alleine. Wir sind nie alleine, auch wenn es oft so scheint.

Beschäftigen Sie sich mit Ihrem Innenleben, Ihren Einstellungen, Ihren Gefühlen,
Ihren körperlichen Beschwerden und dem Grad Ihrer An- und Verspannung!

Seien Sie gut zu sich! Lernen Sie Ihren Körper als „Bio-Feedback“ zu nutzen, um
wieder mehr eins mit ihm sein zu können. Denn starker psychischer Stress führt oft
dazu, dass wir uns von unserer Körperlichkeit abtrennen wollen, von seinen Bremsen
und Limitierungen, um weiterhin besser, schneller zu funktionieren, um noch mehr
zu helfen, um noch mehr voranzubringen. Wir wollen dann scheinbar den Körper zur
Supermaschine umbauen. So schnell lassen wir uns die Dinge über den Kopf wachsen
und sehen nicht, wie allmählich unsere Probleme zu Krankheiten heranreifen.

Ob Pandemie, Klimaerwärmung, Umweltzerstörung, Stress oder Armut: All das sind


Probleme, die sich unmittelbar auf unsere Gesundheit auswirken können. Wir können
diese Herausforderungen letztendlich nur gemeinsam lösen, doch die ersten Schritte
müssen wir stets selber machen.

In der Hoffnung, Sie motiviert zu haben, wünsche ich Ihnen, „es“ anzugehen, dass
Sie sich selbst Gutes und Heilsames tun – vor allem jetzt, wo Sie einige Startpunkte
dazu kennen und vielleicht einen Norden für Ihren psychosomatischen Gesundheits-
kompass gefunden haben.

201 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Literatur

Hansch, Dietmar (2021): Erfolgreich gegen Depression und Angst. Springer Verlag, Berlin.

Musalek, Michael/ Poltrum, Martin (2012): Glut und Asche – Burnout. Neue Aspekte der Diagnostik und
Behandlung. Parodos Verlag, Berlin.

Köhle, Karl/ Herzog, Wolfgang/ Joraschky, Peter/ Kruse, Johannes/ Langewitz, Wolf/ Söllner, Wolfgang
(2018): Uexküll. Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Urban & Fischer
Elsevier, Amsterdam.

Zum Autor

Werner-Heinz Kállay, Dr.med., ist praktischer Arzt in Wien mit Zusatzausbildung in Psychosomatik.

202 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


14 Entspannen lernen! Hilfreiche Tipps und Übungen für den Alltag

A
Nadeshda Stürzebecher ls Lehrer*innen fühlen wir uns nicht nur beruflich belastet, sondern manch-
mal auch überlastet. Die psychischen und physischen Auswirkungen von
langanhaltenden Belastungen, permanenter Anspannung und Stress sind in
dieser Handreichung bereits thematisiert worden. Kaum jemand kennt nicht die psy-
chischen und physiologischen Auswirkungen von Stress.

Doch Sie können viel für sich selbst tun, um eine gute Balance zwischen Anspannung
(die wir im Alltag brauchen, um unsere Tätigkeiten auszuüben) und Entspannung
(die Seele und Körper zur Regeneration brauchen) zu lernen. Täglich durchgeführte
Entspannungstechniken können Sie dabei unterstützen, den inneren Fokus auf Aus-
geglichenheit und Entspannung zu richten und aus dieser Quelle mit neuer Energie
in den Schultag zu gehen. Bei regelmäßiger Übung stellen sich nachweislich positive
Erfolge ein. Probieren Sie es einfach bzw. suchen Sie sich eine*n qualifizierte*n Leh-
rer*in, die*der Sie bei den Übungen unterstützt!

Die Techniken, die hier vorgestellt werden, sind außerordentlich effektiv. Sie wurden
einer ganzheitlichen Philosophie entnommen und von der Autorin, die selbst sowohl
als AHS- als auch als Yoga-Lehrerin tätig ist, speziell als Unterstützung von Lehrkräften
zusammengestellt. Die vorgestellten Übungen umfassen einfache Bewegungs- und
Atemtechniken sowie die hochwirksame Tiefenentspannungstechnik Yoga-nidra� und
sind im Alltag leicht anwendbare Mittel zur effektiven Stressbewältigung.

Ein erfolgreiches Mittel zum Erlernen von Entspannung ist, im Alltag ein stärkeres
Gewahrsein für das, was wir wahrnehmen, empfinden und denken, in Form von
Achtsamkeit zu entwickeln. Die drei Komponenten der Achtsamkeit, die sich auch
im Schulalltag als wirksam herausgestellt haben, sind: die Beobachterhaltung, Ent-
spannung und der innere Fokus.

• In der neutralen Beobachterhaltung versuchen wir zunächst wertfrei wahrzunehmen,


was gerade an Wahrnehmungen, Empfindungen oder Gedanken da ist. Der nächste
Schritt ist die Akzeptanz von dem, was sich zeigt. So können wir mit einiger Übung wieder-
holt auftretende Denk- und Verhaltensmuster erkennen und reflektieren, um uns selbst
ein Stück näher kennenzulernen. Das ist die Grundlage für unser zukünftiges Verhalten.

• Durch eine regelmäßige achtsame Entspannung können wir den alltäglichen Stress
und Anspannungen lösen sowie uns und unsere Umwelt gelassener wahrnehmen. Wir
alle wissen, dass wir im angespannten Zustand eher verschlossen sind. Wenn wir uns

203 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


­entspannt fühlen, ist der Geist gelöst und offen. Wir kommunizieren dann auch freier
und herzlicher. Das ist ein wichtiger Punkt, der auch im schulischen Kontext von großer
Bedeutung ist.

• Eine mögliche Wirkung der Entspannung ist die spontane und gelassene Fokussierung
des Geistes, mit dem tiefere kontemplative Zustände sowie Kreativität entstehen können.

Durch regelmäßige kurze Achtsamkeitsübungen im Alltag können wir diese Fähig-


keit des Gewahrseins kultivieren. Achtsamkeit kann in jeder Position, überall und zu
jeder Tageszeit geübt werden. Die Achtsamkeitspraxis verfeinert unser Gewahrsein
für das innere und äußere Geschehen und verankert uns im gegenwärtigen Moment.

Die eigene Praxis und Erfahrung auf den folgenden Ebenen bilden die ­
Basis für
• Körperhaltungen (Āsanas): Hier geht es um die Schulung der körperlichen Beweglichkeit
(Beweglichkeit der Wirbelsäule, Kräftigung und Dehnung der Muskulatur, Gleichgewicht,
Koordination, Aktivierung, Belebung und Entspannung). Entsprechend korrekt ausge-
führte Körperhaltungen können Haltungsschäden lindern und Stabilität, Vitalität sowie
die Gesundheit an sich fördern.

• Atemtechniken (Prānāyāma): Die bewusste und achtsame Atemregulierung erhöht die


Vitalität sowie das Gefühl der Ausgeglichenheit und beruhigt die ständig in uns kreisen-
den Gedanken.

• Entspannung und Regeneration: Die Verbindung von Bewegung, Atem und achtsamem
Geist fördert das Entstehen von körperlicher und mentaler Ruhe, Entspannung und
Gelassenheit. Tägliche Entspannungsübungen wirken unterstützend für das richtige
Funktionieren des Immunsystems. Regelmäßige Entspannungsübungen wirken schlaf-
fördernd. Unser Schlaf wiederum regeneriert unser gesamtes psychophysisches System.

• Selbstwirksamkeit und Resilienz durch Yoga: Den eigenen Körper zu spüren und zu erken-
nen, wie man in Stresssituationen reagiert sowie stresslindernde Methoden zu beherr-
schen, ist essenziell, um die eigene Selbstwirksamkeit und die psychische Widerstands-
kraft zu verbessern. Indem wir körperliche Bewegungen und Atemübungen bewusst
ausführen, entsteht mehr Lebendigkeit, Ausgeglichenheit und körperliche sowie innere
Kraft. Es ist wichtig, diese Fähigkeit beizeiten zu entwickeln, um einen ausgeglichenen Zu-
stand bei Belastungen rasch wiederherstellen zu können.

204 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


In Bewegung bleiben

Übung 1: Su
�rya Namaska
�ra – Der Gruß an die Sonne 303

Abb. 1: Darstellung des Bewegungsmusters des Sonnengrußes

Su�rya Namaska�ra, auch Sonnengruß genannt, ist eine sehr wirksame und abgerundete
Yoga-Übung, die für sich alleine steht und wichtig für die allgemeine Gesundheitser-
haltung ist. Sie fördert die Balance aller Organsysteme sowie Flexibilität und Vitalität
und wirkt vor allem ausgleichend auf das Nervensystem. Diese Übung besteht aus 12
Körperhaltungen (a �sanas), welche als eine dynamische oder langsame Übungsabfolge
mehrmals wiederholt werden können.

Mit dem Sonnengruß bringen wir den Kreislauf in Schwung, die Wirbelsäule wird
in den verschiedenen Richtungen bewegt und gelockert, alle Muskeln deines Körpers
werden gestärkt und gedehnt sowie die Funktion der inneren Organe aktiviert. Die Be-
wegungen „spiegeln“ sich in der Mitte und bringen uns wieder in die Ausgangsposition
für die nächste Wiederholung der Übungsreihe. Der Sonnengruß wird am besten am
Morgen vor dem Frühstück geübt und bewirkt ein ausgeglichener und aktivierender
Zustand zur Beginn des Tages.

Nachfolgend findet sich eine kurze Beschreibung der Übung. Bei gesundheitliche
Einschränkungen suchen Sie sich bitte eine*n erfahrenere*n Yogalehrer*in für das
Erlernen der Übung.

Ausgangshaltung304 : Im Stehen spüre den ganzen Körper und überprüfe, ob das Ge-
wicht zwischen beiden Fußsohlen gleich verteilt ist. Die Füße sind geschlossen, die
Arme neben dem Körper entspannt. Spüre, dass du ausgeglichen und stabil stehst. Be-

303  Vgl. Saraswati/Satyananda 2010, S. 161-173


304  Hier wird in die Du-Form gewechselt.

205 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


obachte für ein paar Augenblicke die spontane natürliche Atmung. Du Atmest durch
die Nase. Stimme dich gedanklich auf die Übung ein, indem du dir einen Sonnenauf-
oder -untergang vorstellst. Behalte diese Wahrnehmung während der ganzen Übung.

1. Gebetshaltung: Verfolge den natürlichen Atemfluss für ein paar Atemzüge. Der natür-
liche Atemfluss gibt den Rhythmus der Übung vor. Wenn du bereit bist, schließe während der
nächsten Ausatmung die Handflächen vor dem Brustbein.

2. Leichte Rückbeuge: Einatmend hebe die Arme über den Kopf, dehne die Wirbelsäule in
die Länge und komme in eine leichte Rückbeuge aus dem Brustraum, lasse dabei den Nacken,
die Schultern und Schulterblätter locker.

3. Vorbeuge: Ausatmend beuge die Knie, beuge den Rumpf von der Hüfte aus und komme
in die Vorbeuge – die Wirbelsäule bleibt gerade, führe die Bauchdecke zu den Oberschenkeln,
senke dabei die Arme seitlich und lege die Hände direkt neben die Außenseiten der Füße.
Hand- und Fußgelenke sind in einer Linie.

4. Reiterhaltung: Einatmend mache einen großen Schritt mit dem rechten Bein nach hinten
und lege das Knie ab, senke das Becken nach unten, öffne den Brustraum und bringe den
Nacken in die Länge.

5. Berghaltung/Herabschauender Hund: Ausatmend drücke die Handflächen in den Boden


und führe das linke Bein nach hinten, linken Fuß neben dem rechten und komme in die
Berghaltung (auch herabschauender Hund-Position). Bewege dabei das Becken in Richtung
Decke, die Bauchwand in Richtung Oberschenkel, die Knie sind leicht angewinkelt, sodass du
die Wirbelsäule in die Länge dehnen kannst. Die Ellbogen sind leicht nach außen gedreht, der
Brustraum offen, der Nacken in einer Linie mit der Wirbelsäule und der Kopf zwischen den
Armen.

6. Gruß mit acht Punkten: Halte den Atem an und lege die Knie, Brust und Stirn auf dem
Boden ab.

7. Kobrahaltung: Einatmend senke das Becken und hebe dabei Brustkorb und Kopf vom
Boden ab – die Ellbogen sind parallel zum Körper, die Schulterblätter zusammen, den Brust-
raum offen und den Nacken entspannt.

8. Berghaltung: Ausatmend drücke die Handflächen in den Boden, hebe das Becken in die
Höhe und komme in die Berghaltung, so wie in Position 5.

9. Reiterhaltung: Einatmend führe mit einem großen Schritt den linken Fuß nach vorne und
stelle den Fuß zwischen die Hände, so wie in Position 4.

206 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


10. Vorbeuge: Ausatmend komme mit dem linken Bein nach vorne und beuge die Knie, die
Bauchwand an die Oberschenkel drücken, so wie in Position 3.

11. Leichte Rückbeuge: Einatmend richte den Rumpf auf, indem du zuerst die Arme seitlich
auf Schulterhöhe hebst und dann den Kopf, Oberkörper und die Wirbelsäule in einer geraden
Linie aufrichtest und die Arme über den Kopf führst. Dehne dich in die Länge und komme in
die leichte Rückbeuge, so wie in Position 2.

12. Gebetshaltung: Ausatmend senke die Arme und lege die Handflächen aneinander vor
dem Brustbein, so wie in Position 1.

13. Ausgangshaltung: Einatmend senke die Arme locker neben dem Körper.

1.4 Ausatmend beginne von vorne, mit dem Unterschied, dass du in Position 4 das linke Bein
nach hinten führst und in Position 9 führst du den rechten Fuß als Erstes nach vorne.

Eine Runde ist vollständig, wenn du einmal mit dem rechten und einmal mit dem lin-
ken Bein nach hinten geübt hast. Wiederhole 3-mal und steigere die Wiederholungen
mit der Zeit. Schließe die Übungsserie in der Rückenlage (śava�sana) für 2-3 Minuten
ab und beobachte die Wirkung der Übung. Erlaube, dass Körper und Atem allmählich
zur Ruhe kommen.

Übung 2: Supta Udarakarshana


�sana (Wirbelsäulendrehung aus der
Rückenlage) 305

Lege dich auf den Rücken. Beine abwickeln. Arme seitlich auf Schulterhöhe ausstrecken oder
die Finger unter dem Nacken verschenken. Die Arme sind dabei gebogen und liegen auf dem
Boden. Während des Ausatmens den Kopf nach rechts drehen und gleichzeitig die Beine
nach Links. Verharre einige Sekunden in der Haltung. Dann während des Einatmens den Kopf
und die Beine in die Mitte zurückbringen. Wiederhole in die andere Richtung. Wiederhole fünf
bis zehn Runden.

Abb. 2: Wirbelsäulendrehung aus der Rücken-


lage

305  Vgl. Saraswati/Satyananda 2010, S. 161-173

207 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Atmen Sie sich frei! Die Wichtigkeit des Atmens

Länger anhaltende Belastungen führen zu einer oberflächlichen, flacheren Atmung.


Statt einer tiefen, entspannten Atmung atmen wir dann über die Brust- und Schulter-
atmung. Dadurch bleibt der Körper auf einem hohen Aktivierungsniveau, regeneriert
langfristig weniger und verlernt bei anhaltenden Anspannungen mit der Zeit, auf den
Ruhemodus umzuschalten.

Durch das autonome Nervensystem reagiert das Zwerchfell auf Stress mit Verspannung
und so können auch Spannungen im Wirbelsäulenbereich entstehen. Die Atemübungen
unterstützen und stärken das Zwerchfell und erhöhen die Kapazität der Lungen und
wirken sich beruhigend auf Nervensystem und Gehirnwellen aus.

Wesentliche Rolle beim Prozess des Atmens spielt das Zwerchfell. Das Zwerchfell
steuert rhythmisch den Atemprozess, indem es sich bei der Kontraktion in Richtung
Bauchorgane wölbt und dadurch Unterdruck in den Lungen erzeugt, wobei sich der
Brustkorb weitet und die Luft in die Lungen hineinströmt. Die Bauchorgane werden
sanft massiert und nach unten gedrückt; dabei bewegt sich die Bauchwand leicht und
spontan vorwärts. Wenn das Zwerchfell sich entspannt – sich also zurück in Richtung
Lungen wölbt – zieht sich der Brustkorb leicht zusammen und die Luft entweicht aus
den Lungen. Die Bauchorgane und Bauchwand kommen in ihre ursprüngliche Position
zurück. Dieser Prozess wird unbewusst 24 Stunden am Tag durch die Impulse vom
autonomen Nervensystem und dem dazu gehörenden Zwerchfellnerv (Nervus phre-
nicus) durchgeführt. Im Yoga werden die Anspannung und Entspannung des Zwerch-
fells bewusst genutzt und gesteuert. Das Atmen wird bewusst vertieft und verlängert.

Die Nasenatmung aktiviert das parasympathische, für Entspannung zuständige Ner-


vensystem, während die Mundatmung das sympathische, also für Aktivität stehende
Nervensystem anspricht, was zu erhöhter Herzschlagfrequenz und Aktivierung führt.
Langanhaltender Stress führt zu dauerhafter Überaktivierung des sympathischen Ner-
vensystems und kann schließlich zu Krankheiten führen. Während der Nasenatmung
wird die Luft angefeuchtet und von Unreinheiten gereinigt, bevor sie weiter in den
Körper eindringt. Die Luft verläuft in zwei Strömen, die jeweils mit der rechten oder
linken Gehirnhälfte verbunden sind. Die Durchblutung des Gehirns wird durch die
Nervenenden in den Nasenlöchern angeregt. Vor allem mit Hilfe von der Wechsel-
atmung (na�di-śod
˛hana) können diese Ströme ausgeglichen und damit beide Gehirn-
hälften und das Nervensystem harmonisiert werden.

Der Atem spielt die Hauptrolle in der Yoga-Praxis – er verbindet den Geist mit dem
Körper und zieht sich thematisch wie ein roter Faden durch die Übungen. Den Atem
in jedem Moment wahrzunehmen, ist eine Praxis der Achtsamkeit, die sich dann im

208 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Laufe der Übung – beginnend mit Körperhaltungen (a�sana), Atemübungen (pra�na�ya�ma)
bis hin zu meditativen Zuständen vertieft und verfeinert. Wir sollten die bewusste
Wahrnehmung des Atems auch im Alltag aufrechterhalten.

Die Atemübungen sollten eher nüchtern geübt werden. Am besten in der Früh, nach
dem du die Körperhaltungen geübt hast. Es geht aber genauso vor dem Mittagessen
oder zur Beruhigung vor dem Schlafengehen.

Übung 3: Atemübung – Zwerchfellatmung (Bauchatmung) 306

Stufe 1: Natürlicher Atem beobachten - Beobachten und Loslassen


Ausgangsposition: Du liegst bequem am Rücken (in śavāsana), den Körper in einer geraden
Linie ausgerichtet. Lege deine Hände auf die Bauchwand. Die Fingerspitzen vom Mittelfinger
können sich gegenseitig berühren. Der Körper ist entspannt.

Atme ruhig und spontan weiter, ohne den Atem zu beeinflussen. Die Augen sind geschlossen,
dennoch achte darauf, dass du nicht einschläfst! Beobachte die Bewegung der Bauchwand
und wie sich die Fingerkuppen der Mittelfinger während der Einatmung leicht auseinander
bewegen und während der Ausatmung wieder berühren. Schaue dieser Bewegung neutral
zu. Der Atem fließt frei und spontan. Die Übung dient als Entspannung und Bewusstwerdung
des Atems und kann z. B. vor dem Schlafengehen und während des Tages geübt werden.

Wichtig ist, dass der Atem spontan und natürlich bleibt, ohne jegliche Anstrengung. Übe die
Beobachterhaltung und dabei loszulassen, indem du den Atem nicht bewusst zu steuern
versuchst.

Stufe 2: Vertiefte Zwerchfellatmung (Bauchatmung) – zur Ruhe kommen


Ausgangsposition wie in Stufe 1. Die Hände können auf die Bauchwand liegen oder neben
dem Körper mit den Handflächen nach oben ausgerichtet. Der Körper ist entspannt.

Beobachte die natürliche Atmung für ein paar Atemzüge, ohne einzugreifen. Lasse ihn ganz
natürlich fließen. Spüre in die Bewegung des Zwerchfells unterhalb der Lungen hinein. Versu-
che seine ganze Fläche zu erspüren – nach vorne, zur Seite und auch nach hinten in Richtung
Wirbelsäule. Allmählich beginne die Bewegung des Zwerchfells bewusst und achtsam zu ver-
tiefen, jedoch ohne jegliche Anstrengung. Beobachte, wie während der Einatmung die Bauch-
wand sich spontan nach oben bewegt und während der Ausatmung wieder nach unten sinkt.

306  Vgl. Saraswati/Satyananda 2010, S. 377-379

209 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Beginne die Dauer der Atemzüge mitzuzählen. Für wie lange atmest du ein und für wie lange
atmest du aus? Zähle so die Dauer der Atemzüge für 2 bis 3 Minuten.

Vertiefung: Wenn es sich angenehm anfühlt, kannst du die Dauer der Ein- und Ausatmung
angleichen, in dem du die Dauer der Ausatmung an die Dauer der Einatmung angleichst, so
dass sie gleich lang werden. Das ist das Verhältnis 1:1.

Sobald dieser Atemrhythmus leichtfällt, könntest du versuchen, die Dauer der Ausatmung
zu verdoppeln also zum Verhältnis 1:2 übergehen, um dann eine optimale Entspannung des
Nervensystems zu erreichen.

Wichtig: Der Atem darf nicht mit Anstrengung ausgeführt werden, da sonst eher mentaler
Stress entsteht. Die Atmung soll durchgehend angenehm bleiben.

Übung 4: Die 4-6-Atmungtechnik

Übe nun bewusst die Bauch- und Zwerchfellatmung in einem bestimmten Rhythmus, die
sich als sehr beruhigend für unser (sympathisches) Nervensystem herausgestellt hat. Bei
dieser Atemübung wird die Spanne der Ausatmung verlängert.

Lege dich – wenn möglich – flach auf den Rücken. Du kannst die Beine anwinkeln, die Füße
sollten flach am Boden stehen. Lege deine Hände auf den Bauch. Erst wenn du dich sicher
fühlst, wie sich die Bauchatmung anspürt, kann auch im Sitzen oder Stehen geübt werden.
Vielleicht muss erst die Gewohnheit verabschiedet werden, den Bauch einzuziehen, denn
diese verhindert, dass wir tief atmen.

Atme 4 Sekunden langsam durch die Nase in den Bauch ein. Dabei wölbt sich die Bauchwand
durch das Einatmen spontan vor, Brust und Schultern bleiben ruhig. Du kannst die rechte
Hand am Bauch halten und die linke auf der Brust, um zu spüren, dass die Brust ruhig bleibt.
Dann atmest du 6 Sekunden langsam und hörbar mithilfe der Lippenbremse (also gegen
den Widerstand der gespitzten Lippen) aus dem Mund wieder aus. Das Zwerchfell geht dabei
wieder zurück, die Bauchwand senkt sich, Schultern und Brust bleiben ruhig.

Auf der nächsten Stufe verlängere die Ausatmung auf das Doppelte, d. h. 4 Sekunden ein-
atmen und 8 Sekunden ausatmen.

210 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Eine Variante ist, beim Einatmen in Tausenderschritten von eintausend bis viertausend
zu zählen und dabei den „Magic-Finger-Trick“ anzuwenden und zwar so:

• „Eintausend“ (Einatmen) – berühre den Daumen mit dem Zeigefinger


• „Zweitausend“ (Einatmen) – berühre den Daumen mit dem Mittelfinger
• „Dreitausend“ (Einatmen) – berühre den Daumen mit dem Ringfinger
• „Viertausend“ (Einatmen) – berühre den Daumen mit dem kleinen Finger
• Danach folgt die Ausatmung (entweder bis sechstausend oder bis achttausend):
• „Eintausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen mit dem Zeigefinger
• „Zweitausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen mit dem Mittelfinger
• „Dreitausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen mit dem Ringfinger
• „Viertausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen mit dem kleinen Finger
• „Fünftausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen nochmals mit dem Zeigefinger
• „Sechstausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen nochmals mit dem Mittelfinger
• „Siebentausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen nochmals mit dem Ringfinger
• „Achttausend“ (Ausatmen) – berühre den Daumen nochmals mit dem kleinen Finger307

Höre nun in dich hinein, wie sich Körper und Geist anfühlen. Bleibe noch entspannt
liegen und lächle sanft.

Übung 5: Atemübung – Wechselatmung (na


�di-śodhana) –
Balance herstellen 308

Ausgangsposition: Bequeme Sitzhaltung. Kann auch auf dem Sessel ausgeführt werden.
Wichtig ist, dass der Rücken aufgerichtet und der Brustraum offen ist, ohne den Rücken auf
die Rückenlehne abzustützen. Der Körper ist locker.

Beobachte den natürlichen Atem für ein paar Atemzüge und beginne den Atem leicht zu ver-
tiefen. Zähle die Dauer der Ein- und Dauer der Ausatmung mit. Allmählich beginne die Dauer
der Ein- und Ausatmung im Verhältnis 1:1 anzugleichen, in dem du die Dauer der Ausatmung
an die Dauer der Einatmung angleichst, sodass sie gleichlang werden.

Hebe die rechte Hand vor dem Gesicht. Lege die Kuppen der Zeige- und Mittelfinger direkt
Abb.3: Wechselatmung
auf das Augenbrauenzentrum. Daumen auf das rechte Nasenflügel und Ringfinger auf das
Linke. Die Finger liegen sanft auf die Nasenflügel und schließen sanft abwechselnd die

307  Siehe Atemtechniken von Gary Bruno Schmid 2019, S. 32f


308  Vgl. Saraswati/Satyananda 2010, S. 384-387

211 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


­Nasenflügel, so dass sie den Atemfluss führen, dennoch kein richtiger Druck auf die Nasen-
flügel entsteht. Achte darauf, dass der Kopf gerade ausgerichtet bleibt.

Wenn du bereit bist, schließe das rechte Nasenloch und atme durch das linke Nasenloch ein.
Zähle die Atemdauer mit.

Öffne das rechte und schließe das linke Nasenloch und atme durch das rechte Nasenloch
aus. Die Ausatmung ist so lang wie die Einatmung im Verhältnis 1:1.

Atme durch das rechte Nasenloch ein.

Öffne das linke und schließe das rechte Nasenloch und atme links aus.

Das ist eine Runde. Fahre fort für 6 weitere Runden. Wenn du Zeit hast, kannst du meh-
rere Runden üben. Je länger man diese Atemübung übt, desto ausgleichender wirkt sie.

Sollte der rechten Arm müde werden, kannst du den rechten Ellbogen mit der linken
Hand stützen.

Vertiefung: Sobald dieser Atemrhythmus nach einiger Zeit leichtfällt und du ohne
großes Bemühen bis zehn zählen kannst, kannst du versuchen, die Dauer der Aus-
atmung im Verhältnis 1:2 zu verdoppeln, um dann maximale Entspannung für das
Nervensystem zu erreichen.

Wichtig: Der Atem darf nicht mit Anstrengung ausgeführt werden, da sonst eher
mentaler Stress entsteht. Die Atmung soll durchgehend angenehm bleiben. Beide
Nasengänge sollen frei sein.

Wirkung: Der Atemfluss wird in beiden Nasenlöchern und beiden Gehirnhälften


ausgeglichener. Eine beruhigende und ausgleichende Wirkung tritt auf der mentalen
und energetischen Ebenen ein.

Übung 6: Atemübung – das Bienensummen (bhra �mari�) – Löse damit


Stress und mentale Anspannungen, verbessere deine Stimme 309

Ausgangsposition: Bequeme Sitzhaltung. Die Übung kann auch auf dem Sessel ausgeführt
werden. Wichtig ist, dass der Rücken aufgerichtet ist und der Brustraum offen, ohne den

309  Vgl. Saraswati/Satyananda 2010, S. 397-398

212 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Rücken auf die Rückenlehne abzustützen. Schließe die Augen. Der Körper ist locker. Die Lip-
pen sind sanft geschlossen, die Zähne bleiben während der ganzen Übung etwas getrennt
voneinander.

Beobachte den natürlichen Atem für ein paar Atemzüge und beginne den Atem leicht zu
vertiefen.

Hebe die Arme zur Seite an, beuge die Ellbogen und bringe die Hände zu den Ohren. Ver-
schließe mit Zeige- oder Mittelfingern die Ohren. Die vorderen Knorpel oder die Ohrläppchen
können angedrückt werden, ohne die Finger in die Ohren zu stecken.

Abb. 4: Position beim Bienensummen Richte die Achtsamkeit zur Kopfmitte. Atme durch die Nase ein. Atme langsam und kont-
rolliert aus, während du ein tiefen, gleichmäßigen Summton wie das Summen einer Biene
erzeugst. Das Summen ist sanft, gleichmäßig und hält während der ganzen Atmung aus. Das
ist eine Runde.

Wiederhole mindestens 7 Runden.

Wirkung: Löst Stress und mentale Anspannung, hilft Ärger, Ängste und Schlaflosigkeit
zu überwinden, regt die Selbstheilungskräfte des Körpers an. Die Stimme wird kraft-
voll, und Halserkrankungen werden gelindert. Die Wahrnehmung wird nach innen
gelenkt. Die Schwingung des Summtons besänftigt den Geist und das Nervensystem.

Grundlegende Entspannungshaltung: Śava�sana – die „Totenhaltung“

Śava�sana ist eine der wichtigsten Haltungen, die als kurze Entspannungsphase während
und nach Bewegungen (a�sanas) und zwischen Atemübungen Anwendung findet oder
auch als längere Entspannungsübung seine Wirksamkeit entfaltet.

Haltung: in Rückenlage. Der Körper liegt symmetrisch in einer geraden Linie mit
den hüftbreit auseinander platzierten Fersen, wobei die Fußspitzen locker zur Seite
fallen. Das Becken ist leicht nach oben gekippt, sodass sich der untere Rücken besser
entspannen kann. Die Arme ruhen entspannt und ausgestreckt neben dem Körper,
berühren ihn jedoch nicht; die Handflächen sind dabei in einer Auswärtsdrehung der
Arme nach oben gerichtet. Die Finger sind entspannt. Die Schultern sind locker, die
Schulterblätter liegen flach auf dem Boden, das Kinn ist in Richtung Brust gesenkt,
damit sich der Nacken dehnen und entspannen kann. Der Kopf ist mittig ausgerichtet.
Der Mund und die Augen sind sanft geschlossen.

213 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Obwohl Śava �sana sehr einfach aussieht, sollte das Ausführung der Übung bis ins
kleinste Detail untersucht werden, z. B. sollte sichergestellt werden, dass der Körper
wirklich symmetrisch liegt. Wenn Spannungen im Körper wahrnehmbar sind, sollte
in diese Stellen hineingespürt und die Spannungen sollten bewusst losgelassen wer-
den, damit der Körper vollständig in eine spannungslose Haltung finden kann und
die Atmung frei fließt.

Yoga-nidra
� („yogische Schlaf“) – die wirkungsvollste Tiefen­
entspannungstechnik

Diese wichtige Technik sollte unbedingt bei einem*einer qualifizierten Lehrer*in


erlernt werden310 . Das Charakteristische an der Übung ist das Kreisen der Wahrneh-
mung durch den Körper, und zwar in einer bestimmten, genau festgelegten Abfolge.
Die Übung wird in der Śava �sana-Haltung durchgeführt, der Atem wird beobachtet
bzw. zeitweilig gelenkt. Yoga-nidra� ist ein bewusster Zustand zwischen Wachen und
Schlafen, der eine sehr tiefe Entspannung herbeiführt.311

Yoga-nidra� löst Spannungszustände im Körper, indem sich der Geist durch die Bewusst-
werdung sinnlicher Wahrnehmungen sowie durch das Kreisen der Achtsamkeit bei
verschiedenen Körperteilen auf natürliche Weise sukzessiv von äußeren Sinnesreizen
abwendet. Die Achtsamkeit wird nach innen gelenkt. Durch die Übung kann sich das
sympathische Nervensystem allmählich entspannen und Schlafprobleme können so
mit der Zeit behoben werden.

Die vorgestellten Übungen entfalten nur dann ihre volle Wirkung, wenn diese regel-
mäßig durchgeführt werden. So können wir lernen, mit Belastungen und Stresssitu-
ationen besser umzugehen und die Balance zwischen Anspannung und Entspannung
gut zu halten.

310  https://bhavani.at/ (letzter Zugriff Juni 2021)


311  Vgl. Saraswati 2019. Eine qualitative Aufnahme von der Originaltechnik Yoga-Nidrā auf Deutsch finden
Sie hier: https://samatvam-yogaschule.bandcamp.com/album/tiefe-entspannung-satyananda-yoga-nidra
(letzter Zugriff Mai 2021)

214 hepi – National Center of Competence für Psychosoziale Gesundheitsförderung


Literatur

Saraswati, Satyananda Swami (2010): �asana, Pra�nya


�ma, Mudra, Bandha. Yoga Publication Trust, Munger,
Bihar, India, 4. Ausgabe.

Saraswati, Satyananda Swami (2019): Yoga-nidra�. Yoga Publication Trust, Munger, Bihar, India

Schmid, Gary Bruno (2019): Selbstheilung stärken. Wie Sie durch Vorstellungskraft Ihre Gesundheit
optimieren. Springer-Verlag, Berlin.

Walker, Matthew (2018): Das große Buch vom Schlaf. Die enorme Bedeutung des Schlafs. Goldmann
Verlag, München.

Zur Autorin

Nadeshda Stürzebecher, MMag.a art, ist diplomierte Pädagogin, AHS-Lehrerin in Wien und akkreditierte
Lehrerin für Satyananda Yoga®. Spezialisierung für Yoga im Bildungswesen bei RYE (Research on Yoga in
Education), London, UK. Mitglied des BYO /EYU (Berufsverband der Yogalehrenden in Österreich) sowie
des ESYF (European Satyananda Yoga Family). Sie unterrichtet Yoga und Entspannungstechniken im
schulischen Kontext seit 2013. 2016–2018 Mitarbeit im zweijährigen-Forschungsprojekt des BYO „Yoga
macht Schule“.

Abbildungen mit der freundlichen Erlaubnis von ©Christina Jagusiak - Satya Live Yoga, Australien

215 Gesundsein und Gesundbleiben im Schulalltag


Impressum

Herausgeber
NCoC (National Center of Competence) für Psychosoziale Gesundheits­
förderung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich
Linz 2021

ISBN
978-3-9504968-1-9

Bezugsadresse
NCoC für Psychosoziale Gesundheitsförderung
der Pädagogischen Hochschulen Österreichs
Kaplanhofstraße 40
4020 Linz
Tel.: 0732 7470 8000
E-Mail: ncoc@hepi.at

PDF-Version unter
https://hepi.at/materialien/publikationen

Inhaltliche Gestaltung und Redaktion


Dr.in Andrea Fraundorfer, BMBWF, Abt.I/2
MMag.ª Claudia Lengauer-Baumkirchner, PH OÖ

Lektorat
Prof.in Christa Hagler BEd MA, PH OÖ

Grafik/Layout
Sibylle Exel-Rauth – Grafische Gestaltung
Stuwerstraße 5b
1020 Wien
www.s-e-r.at

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