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OSWALD WIRTH

DIE FREIMAUREREI
IHREN ANHÄNGERN VERSTÄNDLICH GEMACHT
.. '
Die Freimaurerei
ihren Anhängern verständlich gemacht

Band II: Der Geselle


OSWALD WIRTH

DIE FREIMAUREREI
IHREN ANHÄNGERN VERSTÄNDLICH GEMACHT

Philosophie, Gegenstand, Methode, Mittel

DER GESELLE

Übersetzt von Stefan Legat


Bearbeitet von Maria-Rebecca Legat

EDITION KÖNIGLICHE KUNST


© 2014 Edition Königliche Kunst
www.edition-koenigliche-kunst.de
ISBN 978-3-942051-60-6

Autor: Oswald Wirth (1860-1943)


Originaltitel: La franc-ma9onnerie rendue intelligible
a ses adeptes / sa philosophie, son objet, sa methode,
ses moyens / II „LE COMPAGNON" (1931)
Übersetztung: Stefan Legat (1942 - 2005)
Bearbeitung: Maria-Rebecca Legat
Titelbild: Jens Rusch
Satz & Layout: Evert Kommayer
Lektorat: Angelika Radloff
Druck: Leibi, Neu-Ulm

Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme.


Ein Titelsatz dieser Publikation ist bei der
Deutschen Bibliothek (Frankfurt) erhältlich.

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rech­


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Das Bild des Buchtitels stammt vom Künstler Jens


Rusch. Es ist erhältlich unter: www.jens-rusch.de
La franc-ma9onnerie rendue intelligible a ses adeptes
sa philosophie, son objet, sa methode, ses moyens

LE COMPAGNON
Vorwort

Wer Oswald Wirth war und was er für die Freimaurerei bedeutet,
ist aus deutscher Sicht bislang schwer zu ermessen gewesen.

Der am 5. August 1860 als vierter von fünf Geschwistern in


Brienz in der Schweiz geborene Joseph Paul Oswald Wirth, so
sein vollständiger Name, war Magnetiseur (,,Heilende Hände",
1893), Freimaurer, Tarotforscher, Hermetiker und Okkultist.
Nachdem er aufgrund unterschiedlicher religiöser Auffassungen
von den leitenden Patres des Kollegiums St. Michael in Freiburg
verwiesen wurde, verließ Wirth die Schweiz. Nach drei Jahren
in England zog er nach Frankreich, wo er seinen Militärdienst in
Chälons-sur-Marne ableistete. Schließlich wurde er Ministerial­
archivar in Paris. Dort war er in den Jahren 1885 bis 1897 auch
Sekretär von Stanislas de Guaita, einem französischen Dichter
und Okkultisten, Erneuerer der Rosenkreuzer-Bewegung sowie
Gründer des modernen Martinistenordens in Frankreich und
prangerte in dieser Funktion den niederen Okkultismus an. Glü­
hender Spiritualist, diente Wirth als Vorlage für Jules Romains
Figur Lengnau im 5. Band von dessen 28-bändigen Romanzy­
klus „Menschen guten Willens". Aufgrund seiner Sekretärstätig­
keit und der auch in Deutschland bekannten, von Guaita und ihm
gemeinsam entwickelten Tarot-Karten sowie den hauptsächlich
auf diesem Themengebiet erschienenen Übersetzungen wird Os­
wald Wirth in deutschen Darstellungen oftmals ausschließlich
mit okkulten Themen in Verbindung gebracht.

In Frankreich hingegen wird Oswald Wirth vorwiegend als Frei­


maurer wahrgenommen. Dort finden sich auch die Ursprünge
seines freimaurerischen Lebens: Am 26. Januar 1884 wurde er
in der Loge „La Bienfaisance Chälonnaise" i.Or. Chälons-sur­
Marne aufgenommen; 1886 tritt er der Pariser Loge „Les Amis
Triomphants" bei, schließt sich dann der schottischen Loge „Tra­
vail et Vrais Amis fideles" n° 137 i.Or. Paris an, die der Grande
Loge de France angehört und deren Meister vom Stuhl er 1890
wird. Er schrieb in zahlreichen maurerischen Zeitschriften wie

6 Der Geselle
,,L'acacia" und „La Lumiere", bevor er 1912 die Monatszeit­
schrift „Le Symbolisme" gründete. Diese Zeitschrift trug zu
Beginn den Untertitel: ,,Organ der universellen Bewegung der
initiatischen Regeneration" und später „Organ der Einweihung
in die Philosophie der hohen Kunst der universellen Konstruk­
tion". Es wurden zwischen 1912 und Juni 1940 insgesamt 244
Ausgaben veröffentlicht. 1935 rief ihn der Oberste Rat in seine
Mitte. Wir verdanken Wirth zahlreiche Veröffentlichungen über
die maurerische Symbolik, u. a. die Übersetzung und Kommen­
tierung von Goethes „Märchen" unter dem Titel „Le serpent Vert
- Conte symbolique de Goethe traduit et commente par Oswald
Wirth" - Die grüne Schlange - Symbolische Erzählung von Goe­
the (1922), ,,L'ideal initiatique" - Das initiatische Ideal, wie es
sich aus Riten und Symbolen erschließen lässt (1923, vervoll­
ständigte Fassung 1927), ,,Le symbolisme hermetique dans ses
rapports avec l'Alchimie et la Franc-ma�onnerie" - Die herme­
tische Symbolik in ihren Beziehungen zu Alchemie und Frei­
maurerei (1930), ,,Les Mysteres de l' Art Royal" - Die Mysterien
der königlichen Kunst (1932) oder „Notions elementaires de
Ma�onnisme" - Grundbegriffe der Maurerei (1934). In seinem
letzten Werk „Qui est regulier? Le pur ma�onnisme sous le Re­
gime des Grandes Loges inaugure en 1717" - Wer ist regulär?
- Die echte Maurerei unter dem Regime der 1717 gegründeten
Großlogen (1938), griff Oswald Wirth 26 seiner sehr zahlreichen
in ,,Le Symbolisme" veröffentlichten Artikel wieder auf. Er starb
am 9. März 1943 in Mouterre-sur-Blourde bei Poitiers im fran­
zösischen Departement Vienne.

Mit der Veröffentlichung seiner Instruktionswerke in den Jah­


ren 1894, 1911 und 1931, die den hellsichtigen, wenn nicht gar
ironischen Untertitel tragen „Die Freimaurerei ihren Anhängern
verständlich gemacht", führte Wirth eine völlig neue Gattung
ein. Bis dahin waren die Kenntnisse über die Freimaurerei und
ihre Lehren nur durch mündliche Überlieferung verbreitet wor­
den, allenfalls durch Katechismen zum internen Gebrauch. Die
Idee, die Quellen der Einführungstradition zu untersuchen, die
Riten und Symbole zu erklären und zu kommentieren, war das
große Verdienst von Oswald Wirth. Es wurde sein Lebenswerk.

Vorwort 7
Die vorliegenden Bücher des Lehrlings, des Gesellen und des
Meisters, die regelmäßig in der Originalfassung neu aufgelegt
werden und hier erstmals in deutscher Übersetzung des franzö­
sischen Originals zum Abdruck kommen, sind keine Lehrbücher,
anhand derer Schüler Lektionen lernen und diese im Anschluss
fehlerfrei vortragen müssen. Die Initiation als solche und die
Einführung in jeden neuen Erkenntnisgrad lehrt zu denken, also
sich persönlich in Richtung der Wahrheit zu bemühen. Jene wird
den Eingeweihten niemals offenbart; ihre Pflicht ist es, die sie
interessierenden Geheimnisse durch eigene Arbeit zu erfor­
schen. Die Kunst, der sie sich dabei widmen, verlangt von ihnen,
dass sie lernen, das Gebäude ihres eigenen Glaubens nach ih­
rem persönlichen Belieben zu errichten. Sie verfügen dabei über
die ganze Freiheit, mit sorgfältig ausgesuchten Materialien ein
stabiles Bauwerk zu errichten. Genauso wenig, wie hierzu jeder
Stein annehmbar ist, soll auch nicht jeder Begriff ohne Über­
prüfung angenommen werden und so das Zusammenhalten des
Ganzen garantieren. Die Trilogie, die Oswald Wirth den drei
Graden widmete, ist dementsprechend vielmehr als Nachschla­
gewerk zu sehen, das Lehrlinge, Gesellen und Meister in ihre
jeweils neue Welt einführt.

Wenngleich der Ansatzpunkt derjenige des in Frankreich weit


verbreiteten Alten und Angenommenen Schottischen Ritus ist
und neben der Esoterik durchaus Strömungen zum Ausdruck
kommen, wie etwa Aspekte des Tarot und der Alchimie, die
insbesondere im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts
eine große Bedeutung hatten, so findet man in den Instruktions­
werken von Oswald Wirth auch aus deutschsprachiger Sicht ein
bisher nicht ausgeschöpftes Gut freimaurerischen Denkens und
Strebens, das Bewahrung, Weitergabe und Nutzung verdient.

Der vorliegenden Übersetzung hat sich mein Vater Stefan Legat,


der in den l 980er Jahren in der Aschaffenburger Loge „Post Nu­
bila Phoebus" aufgenommen wurde, seit 1998 in seiner Zeit als
Alt- und Ehrenstuhlmeister der Loge ,,Zum Hohen Licht" i.Or.
Kempten gewidmet. Dabei habe ich ihn zunächst vorwiegend als
Muttersprachlerin und später nach seinem Tod im Jahr 2005 und

8 Der Geselle
eigener Initiation in die jeweiligen Grade durch Bearbeitung und
Fertigstellung des Manuskriptes unterstützt.

Kürzungen wurden, ebenso wie in dem in Frankreich erschei­


nenden Originalnachdruck, nicht vorgenommen. Nur bezüglich
des seit 1962 im Buch des Lehrlings eingefügten Vorworts des
französischen Schriftstellers und Freimaurers Marius Lepage
war eine Auslassung aus urheberrechtlichen Gründen nötig. An­
ders als in der französischen Original- und Nachdruckfassung
wurde auf die von Oswald Wirth vorgenommenen Hervorhe­
bungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit weitestgehend ver­
zichtet; notwendige Zusatzerläuterungen wurden eingefügt und
als solche gekennzeichnet.

Die europäische Freimaurerei verdankt dem Schweizer, in Paris


ansässig gewordenen Oswald Wirth sehr viel - vor allem, im
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den initiatischen Inhalt dieser
Bewegung hoch gehalten zu haben. Seine Bücher spiegeln da­
rüber hinaus die Freimaurerei in all ihrem Widerspruch wider,
so, wie wir sie noch heute in den verschiedenen Logen - unab­
hängig von der jeweiligen Lehrart - erleben. Ich wünsche mir,
dass sich bei der Lektüre ein aus Hochachtung, historischem In­
teresse und gelegentlicher Verwunderung gut gemischtes Lese­
vergnügen einstellt, das zum Weiterdenken anregt.

Maria-Rebecca Legat
Berlin, 2013

Vorwort 9
DAS BUCH DES GESELLEN
DEN EINGEWEIHTEN DES 2. GRADES ZUGEEIGNET

Vorwort der Ausgabe von 1931

Würdige und geliebte Brüder Gesellen,

nach Abschluss Ihrer Lehrzeit hält man Sie für fähig, sinnvoll
am Großen Werk des Weltenbaus mitzuarbeiten. So wurden Sie
in die Reihen der Arbeiter aufgenommen, die etwas von ihrem
Beruf verstehen: Nun kann man Ihnen eine Aufgabe übertragen,
und Sie werden sie bestimmt nach allen Regeln unserer Kunst
getreulich ausführen.

Aber damit Sie sich auch des in Sie gesetzten Vertrauens wür­
dig erweisen können, müssen Sie unbedingt zu wahren Gesellen
werden.

Um einen bestimmten Maurergrad wirklich zu besitzen, reicht


es nicht aus, dass man ihn ritualgerecht empfangen hat. Unsere
Zeremonien haben keinerlei sakramentalen Charakter, und keine
Weihehandlung hat die Kraft, einen Maurer zu erschaffen, denn
bei jeder erfolgreichen Initiation macht sich der Suchende selbst
zum Eingeweihten. Die Initiationsriten haben nur die Aufgabe,
ihm ein bestimmtes Vorgehen vorzuzeichnen.

In diesem Sinne sollten die Prüfungen des Lehrlingsgrades Sie


dazu gebracht haben, sich innerlich so zu verändern, dass Sie
in die Lage versetzt wurden, sich dem Idealbild der Initiation
des ersten Grades anzunähern. Wenn Sie die volle Bedeutung
der Förmlichkeiten begriffen haben, die man Sie hat durchlau­
fen lassen, bevor Ihnen das Licht gegeben wurde, so haben Sie
sich dasselbe in der Tat errungen und sind dadurch - wenn auch
nur implizit - in alle Geheimnisse der Freimaurerei eingeweiht
worden.

10 Der Geselle
Da unsere im Wesentlichen philosophische Vereinigung immer
gern den Weg der Synthese beschreitet, liebt sie es, das Ganze
in seinen Teilen einzuschließen. Der erste Grad ist unter die­
sem Gesichtspunkt so gut aufgebaut, dass er der einzige bleiben
könnte, wenn unser Geist nur in der Lage wäre, wirklich alles zu
erfassen, was in ihm enthalten ist.

Aber die verstandesmäßige Durchdringung gelingt uns eben


keineswegs immer großartig. Die Anforderungen des modernen
Lebens lassen so wenig Muße für Meditation, dass wir uns daran
gewöhnt haben, uns mit der Oberfläche der Dinge zu begnügen.
Um initiatische Wahrheiten zu erfahren, muss man jedoch in die
Tiefe gehen und sich fortgesetzten Anstrengungen unterziehen,
die man allerdings wird abstufen müssen, um der menschlichen
Schwäche Rechnung zu tragen. Folgerichtig vermittelt die Mau­
rerei die ganze Initiation in drei Graden, die dazu bestimmt sind,
Schritt für Schritt zur Wissensschau des Eingeweihten hinzufüh­
ren.

Dieses Wissen muss so mühevoll errungen werden, dass der An­


eignungsprozess nicht in einem Schritt, ja nicht einmal in drei
Schritten gelingen kann. Daraus rechtfertigt sich die Einfügung
zusätzlicher Grade. Das Ziel ist jedoch in allen Gradsystemen
dasselbe. Wie groß die Anzahl der zwischengeschalteten Ebenen
auch sein mag - die zu überwindende Strecke ist immer diesel­
be. Es geht immer darum, vom Stand des Lehrlings ausgehend
zum wahren Meistertum vorzudringen. Zwischen jenem Beginn
(Geburt oder initiatische Wiedergeburt) und diesem Ende (Tod,
Verwandlung, Erneuerung) erstreckt sich das gesamte maure­
rische Leben, das im Stand des Gesellen symbolisch dargestellt
ist.

Von nun an sind Sie dazu aufgerufen, maurerisch zu leben,


d. h. Ihr ganzes Tun dem Ideal (Flammender Stern) anzupassen,
das Sie in sich tragen sollten. Das vorliegende Handbuch hat
keine andere Aufgabe, als Sie über dieses Ziel vollumfänglich
zu unterrichten.

Vorwort der Ausgabe von 1931 11


Lesen Sie es aufmerksam, haben Sie keine Angst, die Lektüre
von Seite zu Seite immer wieder neu aufzunehmen und über das
nachzusinnen, was Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse er­
weckt hat. Es wurde durchaus so abgefasst, dass Sie eine ganze
Menge zu denken bekommen; es ist außerdem ein Führer, der Ih­
nen Geheimnisse von höchster Bedeutung enthüllen kann, wenn
Sie sich selbst nur der initiatischen Wahrheit aufschließen.

Vergessen Sie vor allem nicht, dass der Lehrlingsgrad die Basis
der gesamten Maurerei bildet. Alle weiteren Fortschritte gründen
sich auf ein vertieftes Studium dieses Grades. Man muss ständig
zu diesem Ausgangspunkt zurückkehren, wenn man weiterkom­
men will. Der erste Grad ist der Schlüssel zu allen anderen. Da
mag ein Maurer so viele Hochgrade erreicht haben, wie er will -
wenn er die Esoterik des Lehrlingsgrades nicht kennt, verfügt er
nicht über ausreichendes maurerisches Wissen, und alle bunten
Bänder, mit denen er sich schmückt, sind nichts als eitler Tand!
Der zweite Grad ist im Übrigen die abschließende Weihe des
ersten Grades in dem Sinne, dass der Lehrling nur deshalb in die
Klasse der Werkleute oder Gesellen aufgenommen wird, weil er
als Lehrling entsprechende Fortschritte gemacht hat. Der erfolg­
reiche Abschluss seiner Lehrzeit macht ihn einer Lohnerhöhung
wert.

Wie weit wir letztlich auch kommen, stets sollten wir uns die
Fähigkeit erhalten, Lehrling zu bleiben, denn wir dürfen nie auf­
hören zu lernen. Als er schon das hundertste Lebensjahr über­
schritten hatte, bezeichnete sich der berühmte Chevreul immer
noch als Student, denn er war der Überzeugung, ein wirklicher
Gelehrter dürfe niemals aufhören zu studieren. Behalten wir
diese Lehre im Gedächtnis, werden wir nie müde, an unserer
eigenen moralischen und geistigen Vervollkommnung zu arbei­
ten! Diese immerwährende Lehrlingsausbildung müssen wir mit
aller Standfestigkeit weiter verfolgen, denn nur sie vermittelt das
wahre Gesellentum, anders ausgedrückt die Fähigkeit zu frucht­
barem Handeln und praktischer Welt- und Lebensgestaltung.

12 Der Geselle
Gehen Sie also noch einmal all das sorgfältig durch, würdige und
geliebte Brüder Gesellen, was Ihnen früher beigebracht wurde;
wenden Sie sich dann den Rätseln zu, die Ihnen Ihr derzeitiger
Grad aufgibt. Mit Hilfe Ihrer inneren Erleuchtung werden Sie
alle Schwierigkeiten überwinden, wie groß sie auch sein mögen.
Schon der Maurerlehrling ist ein Weiser, wie er nur selten unter
den Menschen anzutreffen ist. Was wird dann erst der Geselle
sein, dieser aufgeklärte Denker, dem die uneingeschränkte Gabe
des Handelns zugewachsen ist!

Vor allem aber lassen Sie sich nicht entmutigen! Haben Sie den
Heldenmut jener Gefährten des Jason [ 1 ], die es wagten, sich mit
ihm einzuschiffen, um das Goldene V ließ zu erobern. Zählen Sie
auf Ihren Scharfsinn und greifen Sie zugleich zurück auf die ver­
borgensten Energien Ihres Willens! Sie werden nichts erreichen,
wenn Sie sich nicht genug Mühe geben; aber Sie können alles
erwarten, wenn Sie Ihr Ziel ohne Schwäche weiter verfolgen
und dazu Ihr ganzes Herz einbringen!
***

Das vorliegende Handbuch will nichts aufdrängen; es ist kein


Schulbuch, aus dem der Schüler seine Lektion lernen könnte,
um sie dann korrekt aufzusagen. Die Initiation lehrt zu denken,
sie lehrt die persönliche Anstrengung, die zur Herausarbeitung
der Wahrheit führt. Diese Wahrheit wird dem Initiierten nicht
enthüllt - sein Auftrag besteht ja gerade darin, selbst hinter die
Geheimnisse zu kommen, die für ihn von Bedeutung sind. Die
Kunst, der er sich widmet, verlangt, dass er den Bau seiner ei­
genen Überzeugungen nach seinen ganz persönlichen Bedürf­
nissen aufrichtet. Diesbezüglich ist ihm jede Freiheit gelassen,
vorausgesetzt nur, er arbeitet mit solidem und sorgsam ausge­
wähltem Material, weil eben nicht jeder Stein für den Baumei­
ster annehmbar ist; schließlich muss er jeden Stein, den er in sein
Bauwerk einfügen will, einzeln im Hinblick auf Festigkeit und
Struktur sorgsam überprüfen. Auf dem Gebiete der Ideen verhält
es sich genauso: Kein Konzept darf ohne Prüfung übernommen
werden.

Vorwort der Ausgabe von 1931 13


Dieser Grundsatz gilt auch für die nachfolgenden Ausführungen.
Der Verfasser hat die Frucht seiner Studien so gut wie möglich
zum Wohl seiner Brüder eingebracht, aber er verlangt nicht, dass
man ihm blindlings glaube. Um seinen Gedankengang recht zu
verstehen, muss man die behandelten Themen jeweils noch ein­
mal selbstständig überdenken. Dabei können sich natürlich vor
dem geistigen Auge des Lesers, der sich, wie es jedem wahrhaft
Initiierten eigen ist, aufmeditatives Lesen versteht, abweichende
Schlussfolgerungen einstellen.

Oswald Wirth

14 Der Geselle
Inhaltsverzeichnis

Vorwort 6
Vorwort der Ausgabe von 1931 10

Teil I

HISTORISCHE BEMERKUNGEN ÜBER


DEN GESELLENGRAD 20
Die Kunst und Ihre vollkommene Beherrschung 20

Teil II

RITUALISTIK DES GESELLENGRADES 30


Prüfung des Kandidaten für den Gesellgrad 30
Die Beförderung des Gesellen 34
Die Reisen 39
Der wahre Weg zur Erleuchtung 47
Der Geselle, Arbeiter am großen Werk 57

Teil III

DER GESELLENGRAD UND SEIN GEISTIGES UMFELD 66


„ERKENNE DICH SELBST" 66
Das Leben 68
Die Vernunft 72
Der Verstand 74
Der Eingeweihte und seine überpersönliche Schöpfung 76

16 Der Geselle
Teil IV

PFLICHTEN DES GESELLEN 80


Pflichten des Gesellen 80

Teil V

LEHRGESPRÄCH IM GESELLENGRAD 87
Lehrgespräch im Gesellengrad 87

Teil VI

INITIATISCHE PHILOSOPHIE IM GESELLENGRAD l 03


Das Rätsel 103
Die Meditation 105
Das Zahlenwissen 106
Die heilige Tetrade 107
Das hebräische Tetragramm l 09
Die Quintessenz 110
Die mystische Rose 112
Das Hexagramm 113
Die Siebenheit 115

Teil VII

DER TEMPEL DES GESELLEN 119


Die Farbe der Wandbehänge 119
Die zwei Säulen 120
Die Aufseher 122
Die Arbeitstafel 123
Die sieben Stufen 125
Die drei Fenster 126
Schwert und Kelle 127

Inhaltsverzeichnis 17
Das Zeichenbrett 129
Winkelmaß und Zirkel 131
Der Kubische Stein mit Spitze 133
Die Knotenschnur 134

Teil VIII

RITUALUNTERSCHIEDE 137
Sprachverwirrung 137
Die heiligen Worte 138
Aktivität und Passivität 140
Die fünf Sinne 142
Die fünf Stilrichtungen der Architektur 143
Die Künste 143
Englische Bräuche 144
Plan einer angelsächsischen Loge 147

Teil IX

DIE ABBILDUNGEN IM BUCH DES GESELLEN 149


Summarische Hinweise auf ihren Ursprung und ihre
symbolische Bedeutung 149

ANMERKUNGEN 156

18 Der Geselle
Inhaltsverzeichnis 19
Teil I

HISTORISCHE
BEMERKUNGEN ÜBER
DEN GESELLENGRAD

Die Kunst und Ihre


vollkommene Beherrschung

Initiation und Beruf

Jede Art von Kunst im weitesten Sinne des Wortes ist dadurch
gekennzeichnet, dass sie nicht einfach von jedem Erstbesten
ausgeübt werden kann. Um Künstler zu werden, muss man eine
besondere Fertigkeit erwerben und Fähigkeiten entwickeln, über
die nicht jeder verfügt.

Wer sich dergestalt durch sein Talent über den Durchschnitt der
übrigen Sterblichen erhebt, kann mit Recht stolz sein; im Ver­
gleich zur ungeschickten und unwissenden Masse kann er sich
als Teil einer Elite betrachten. Jene verkörpert in seinen Augen
die profane Welt, von der er sich auf Grund seiner Überlegenheit
unterscheidet.

Der Künstler, und mag sein Talent auch noch so bescheiden


sein, ist kein Mensch mehr wie die anderen. Er ist zum Künst­
ler geworden, indem er sich verwandelt, den Anforderungen der
Kunst angepasst hat.

Durch die Tatsache, dass er sich von der Allgemeinheit unter­


scheidet, hat sich der Künstler zugleich von ihr abgesondert

20 Der Geselle
und sich einer eigenen Gemeinschaft angeschlossen, deren Mit­
glieder durch ganz besondere Bande der Solidarität miteinander
vereint sind. Diese Bande haben mit praktischer Organisation
nichts zu tun; sie entwickeln sich zwangsläufig, allenfalls getra­
gen von dem allen Künstlern unabweisbaren Drang der Liebe
zur Kunst. Um in einer Kunstart erfolgreich zu sein, ist es in
der Tat unumgänglich, sich ihr mit Liebe zu widmen. Niemand
darf die Vorrechte des wahren Künstlers genießen, der nicht die
notwendigen Opfer gebracht, sondern sich stattdessen damit be­
gnügt hat, die Kunst bloß als Liebhaber ohne innere Beteiligung
auszuüben, ohne also sein ganzes Herz hineinzulegen und sich
ihr wie einem Kult bis zur völligen Aufgabe seiner selbst hin­
zugeben.

Wir empfangen nur in dem Maße, wie wir zu geben wissen.


Nichts ist - esoterisch betrachtet - wahrer als jene scheinbar
naiven Legenden, die uns den Künstler zeigen, wie er im Interes­
se des begonnenen Werks einen Pakt abschließt. Wenn wir uns
der Laufbahn des Künstlers verschreiben, binden wir uns, gehen
wir schwerwiegende Verpflichtungen ein und erfahren zugleich,
dass viel von uns verlangt werden wird. Im Austausch gewinnen
wir die Aussicht, selbst zu Geschöpfen der Kunst zu werden,
sofern wir nur allem anderen ohne Vorbehalt abschwören und
uns ganz ausliefern - und dies wird uns in weitem Ausmaß voll
befriedigen.

Sobald wir in die große Familie aufgenommen sind, deren Mit­


glieder durch das gemeinsame Gefühl brennender Liebe zur
Kunst und die vollkommene Hingabe an die Kunst miteinander
verbunden sind, erfahren wir zugleich die Wohltaten einer wirk­
kräftigen Brüderlichkeit.

Wir stehen nicht mehr allein: Eine geheimnisvolle Art von Un­
terstützung ermutigt unsere Anstrengungen, leitet unser Han­
deln, befruchtet unsere Versuche; die Gemeinschaft übt ihren
seelischen Einfluss auf jeden Einzelnen aus, der ihr angehört.

Die Kunst und ihre vollkommene Beherrschung 21


Der Stufenbau der Dreiheit

Man wird nicht einfach dadurch zum Künstler, dass man es will.
Dazu braucht es vielmehr eine oftmals lange und immer undank­
bare Vorbereitung, die der Lehrlingszeit entspricht, deren Ziel
es ist, den Lernenden schrittweise mit der Praxis seiner Kunst
vertraut zu machen.

Bei den Steinmetzen des Mittelalters unterwarf sich der Lehrling


der väterlichen Autorität eines Meisters, dem er sich auf sieben
Jahre zu dienen verpflichtet hatte. Bis zum Ende dieser Zeit­
spanne wurde der Lehrling für seine Arbeit nicht entlohnt, aber
sein Meister sorgte für seinen Unterhalt und hatte alles Interesse
daran, seine Ausbildung so schnell wie möglich abzuschließen,
um den größtmöglichen Nutzen aus den ihm von dem Anfänger
geleisteten Diensten zu ziehen. Dieser wurde zwar zu den Zunft­
versammlungen zugelassen, aber nur als stummer Zuhörer; er
war da, um sich schweigend weiterzubilden, und durfte keines­
falls an den Diskussionen oder Abstimmungen teilnehmen.

Je mehr Wissen sich der Lehrling erwarb, desto mehr kam er in


die Lage, sich über die anstehenden Fragen eine eigene Meinung
zu bilden, wurde aber, da es ihm an hinreichender Kompetenz
fehlte, nach dieser Meinung nicht gefragt. Immer aufmerksam,
aber dennoch in sich eingeschlossen, musste er seine Ansichten
reifen lassen bis zu dem Tag, an dem es ihm erlaubt sein würde,
sie offen auszusprechen. Die dazu erforderliche Erlaubnis wurde
ihm erst nach seiner endgültigen Aufnahme in die Zunft gewährt.
Zu dieser Zeit musste die reguläre Wartezeit von sieben Jahren
abgelaufen sein. Dann stellte der Meister seinen Lehrling der
Versammlung der übrigen Meister und Gesellen vor, berichtete
über seine gute Führung und erklärte, dass er mit seiner Arbeit
zufrieden sei. Mehr brauchte es nicht, damit der Arbeiter, der
seine Prüfungen bestanden hatte, zum Gesellen befördert wer­
den konnte. Von nun an hat er Anspruch auf einen Lohn, der
seiner Arbeit wert ist. Befreit von den seinem Meister gegen­
über eingegangenen Verpflichtungen kann er sich nach freiem
Belieben Arbeit suchen und darf zu diesem Zweck auch reisen.

22 Der Geselle
Diese Reisen wird er aber vor allem auch deshalb unternehmen,
um sich in der praktischen Ausübung seiner Handwerkskunst zu
vervollkommnen: Er wird Arbeitstechniken miteinander verglei­
chen und sich bemühen, unter der Leitung der erfahrensten Mei­
ster verschiedener Länder zu arbeiten. Überall nehmen ihn die
Mitglieder der Zunft brüderlich auf; sie haben vor ihm keinerlei
technische Geheimnisse und sind glücklich, ihm das beibringen
zu können, was er vielleicht noch nicht weiß. Sie behandeln ihn
wie einen der ihren ohne Rücksicht auf seine Begabung oder
seinen beruflichen Wert, denn bei allen unterschiedlichen Mög­
lichkeiten und Fähigkeiten ist doch ausgemacht, dass alle sich
der Arbeit mit demselben Eifer und derselben Hingabe widmen.
Im Übrigen verfügen alle, die sich durch das heilige Band der
Kunst vereint fühlen, über die gleichen Rechte.

Weil er die Welt in allen Himmelsrichtungen durchstreifen muss,


um sich über sämtliche Geheimnisse seiner Kunst zu unterrich­
ten, eignet sich der Geselle zwangsläufig ein breites Erfahrungs­
wissen an, an dem er nur allzu bereitwillig seine Brüder teilhaben
lässt. Diese nehmen seine Ratschläge gerne an, denn sie sehen
in ihm den erfahrenen Helfer, der in der Lage ist, sie bei der
Lösung ihrer Aufgaben durch nützliche Anleitung zu unterstüt­
zen. Indem er sich durch sein berufliches Geschick eine Sonder­
stellung verschafft, erhebt sich der einfache Arbeiter nach und
nach zur Meisterschaft. Auf Grund seiner Fähigkeit, Gelerntes
weiterzugeben, zeigt er sich zunächst den Lehrlingen gegenüber
als Meister. Sobald sich in der Folgezeit seine Autorität mehr
und mehr sogar gegenüber den anderen Gesellen verfestigt, zieht
man ihn schließlich in Streitfällen als Schlichter bei und über­
trägt ihm die Leitung der gemeinsamen Arbeit. Um zur vollstän­
digen Meisterschaft zu gelangen, muss er jetzt nur noch seine
künstlerische Ausbildung vervollständigen. Es geht jetzt nicht
mehr nur darum, Handwerkskunst mit Geschick und Erfahrung
auszuüben und im Stande zu sein, alle technischen Schwierig­
keiten zu meistem, nun gilt es vielmehr, auch die Theorie zu
verstehen. Der wahre Meister ist nicht Sklave der überlieferten
Regeln der Kunst: Er wendet sie an, weil er klar erkannt hat,
warum sie so sein müssen, wie sie sind. Er hat es verstanden, zu

Die Kunst und ihre vollkommene Beherrschung 23


den Grundprinzipien der Schönheit vorzudringen und die Philo­
sophie des Schönen in ihrer höchsten Form zu erfassen, aus der
alle Gesetze universaler Baukunst fließen.

Nun ist er zum Weisen geworden und hat das Alter erreicht, in
dem die physischen Kräfte langsam nachlassen, während gleich­
zeitig der Verstand in der Lage ist, den Gipfel der Luzidität zu er­
klimmen. Er wird Meister vom Stuhl, auch wenn die Werkzeuge
in seinen schwach gewordenen Händen zittern. Was macht das
schon aus! Er muss den Stein nicht mehr behauen, er zeichnet
Pläne, und es sind sein Gehirn und vor allem seine Phantasie,
die arbeiten. Er tritt in enge Verbindung ein mit allen, die sich
bis hinab in die fernste Vergangenheit bebend und zitternd ganz
und gar in die Kontemplation des nämlichen Ideals versenkt
haben. So verkörpert der Meister jene unzerstörbare Tradition,
die notwendigerweise in allen wahren Adepten wieder auf- und
weiterlebt.

Das zünftische Zeremonial

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich hinreichend deutlich, dass


der Aufstieg in den dritten Grad der Natur der Dinge entspricht.
Die Mitglieder jeder beliebigen Gemeinschaft von Künstlern
und Handwerkern gliedert sich notwendigerweise in Lehrlinge,
Gesellen und Meister.

Ist damit auch gesagt, dass mit den drei Graden auch stets ze­
remonielle Initiationsriten verbunden waren? Bis in die jüngste
Zeit hätte niemand gezögert, diese Frage zu bejahen und sich da­
bei darauf berufen, was in der Freimaurerei seit ihren Anfängen
praktiziert wurde. Aber intensive historische Forschung hat in
den letzten dreißig Jahren dazu geführt, dass alle diese Vorstel­
lungen umgestoßen wurden. Wir wissen nun, dass die moderne
Maurerei vor 1730 nur in zwei Graden arbeitete und die eng­
lischen Logen des 17. Jahrhunderts nur eine einzige Zeremonie
gekannt zu haben scheinen, um jemanden zum Freimaurer zu
machen. Die Einzelheiten dieser Zeremonie sind uns bei wei-

24 Der Geselle
tem noch nicht genau bekannt. Folgende Punkte dürften jedoch
zweifelsfrei feststehen:

1. Vor allen anderen Förmlichkeiten wurde der Aufzunehmende


von allen Metallen befreit, die er auf oder bei sich trug. Die­
sem Ritualbestandteil, der sich wahrscheinlich in einem un­
möblierten Raum mit kahlen Wänden abspielte, wurde sehr
große Bedeutung beigemessen.
2. Der Aufzunehmende wurde teilweise entkleidet, und zwar
so, dass die linke Brust und das rechte Knie unbedeckt zu
sehen waren. Er blieb außerdem nur am rechten Fuß be­
schuht, während er am linken Fuß einen Pantoffel trug.
3. Der Aufzunehmende wurde mit verbundenen Augen in die
Loge geführt. Nachdem man ihn in verschiedene Richtungen
geleitet hatte, ließ man ihn in drei geheimnisvollen Schritten
in Richtung Osten gehen. Dann musste er niederknien und
sich dabei so auf das nackte rechte Knie niederlassen, dass
sich ein Winkel bildete. Gleichzeitig legte man ihm einen
Zirkel in die linke Hand, dessen eine Spitze er gegen die
linke Brust drücken musste, während seine rechte Hand auf
der Bibel ruhte. In dieser Haltung wurde der Eid des Schwei­
gens abgelegt; im Anschluss daran wurde ihm das Licht ge­
geben.

Zu diesem sehr schlichten Zeremonial gehörte des Weiteren die


Mitteilung der Geheimnisse, die sich auf die Erkennungszeichen
unter Maurern beschränkten.

In Wirklichkeit haben wir es hier nur mit Rudimenten der zu­


tiefst initiatischen Ritualistik der heutigen Freimaurerei zu tun.
Aber was brauchte es mehr für eine Korporation von praktisch
arbeitenden Bauleuten, deren Ziele über ihren Beruf nicht wei­
ter hinausreichten? Man konnte es gut dabei bewenden lassen,
solange es nur darum ging, alte Bräuche weiterzugeben, die als
äußere Zeichen einer ruhmreichen Vergangenheit Verehrung ge­
nossen.

Die Kunst und ihre vollkommene Beherrschung 25


Im Rahmen der Zunftordnung wurde man im übrigen Maurer­
Lehrling erst nach Abschluss eines besonderen Vertrages zwi­
schen dem Betroffenen, seinen Eltern oder Vormündern und
dem Lehrherrn oder Lehrmeister. Dieser war keineswegs bereit,
jeden Erstbesten zur Ausbildung anzunehmen. Er nahm den Be­
werber zunächst nur zur Probe zu sich, und erst nachdem er sich
von seinen Anlagen und Fähigkeiten überzeugt hatte, nahm er
ihn endgültig in die siebenjährige Lehrzeit auf. Danach ließ der
Meister den Lehrling in das Zunftregister eintragen, womit er
in Schottland die Bezeichnung Entered Apprentice ( eingetre­
tener, d. h. eingeschriebener oder registrierter Lehrling) erhielt.
Aber nichts weist darauf hin, dass mit dieser Einschreibung ir­
gendeine Art von Initiationsfeier verbunden gewesen wäre. Eine
vergleichbare Festlichkeit verband sich vielmehr mit dem für das
Zunftleben wirklich wichtigen Vorgang der Aufnahme des aus­
gebildeten Arbeiters in die Reihen der Gesellen. Was sich noch
heute in den sogenannten Compagnonnages von Handwerkern
abspielt, erlaubt die Annahme, dass das alte Zeremonial bei ei­
ner Berufung zum Maurer eher unserem zweiten als dem ersten
Grad entsprochen hat.

Die symbolischen Grade

Es ist darüber hinaus offenkundig, dass die Initiation, wie sie in


der sogenannten operativen Maurerei überliefert wurde, nur ein
Schatten ihrer selbst ist. Eine Menge von Traditionen mussten
sich im Laufe langer Jahrhunderte zwangsläufig verlieren. Ein­
zelheiten wurden vergessen, und gelegentlich trat die Phantasie
auf den Plan, um Ausschmückungen beizusteuern, die dem Geist
des ursprünglichen Ritus zuwiderliefen.

Als die Maurerei ganz offen spekulativ geworden war, empfand


man die Notwendigkeit, das traditionelle Zeremonial einer Re­
vision zu unterziehen. In diesem Sinne wetteiferten die meisten
englischen Logen geradezu darin, ihre Initiationen interessant zu
machen, um die Neophyten, die vom hehren Geist der Maurerei
angezogen waren, möglichst wenig zu enttäuschen.

26 Der Geselle
Als eine erste Konsequenz dieser Strömung wurde eine Zere­
monie wieder eingeführt, die man längst aufgegeben hatte und
an die sich nur noch einige ältere Maurer erinnerten. Man be­
hauptete, sie bezöge sich auf jene tiefsten Geheimnisse, die man
nur den Meistem enthüllen dürfe. Damals wurden zwei Grade
bearbeitet, aber es ist schwierig, ihre Wertigkeit im Vergleich zu
den heutigen symbolischen Graden zu bestimmen. Unter ritua­
listischen Gesichtspunkten darf man jedoch annehmen, dass der
erste Grad einem um später den Gesellen vorbehaltene Instrukti­
onen erweiterten Lehrlingsgrad entsprach [2]. Was den höheren
Grad betrifft, so drängte sich seine Zugehörigkeit zum Meister­
grad auf. Diese Fragen werden dadurch weiter kompliziert, dass
man sich nicht sogleich darüber verständigte, wie man die bei­
den hier in Rede stehenden Grade nennen sollte. Einigen Texten
zufolge sind die Maurer des ersten Grades schlichte Lehrlinge,
die des zweiten Grades aber Meister und Gesellen. Wir finden
allerdings auch Lehrlinge und Gesellen im ersten und Meister
im zweiten Grad.

Die rechte Logik verlangte drei Grade. So beschloss man um


1730, den ersten Grad zu teilen und die Grade des Lehrlings
und des Gesellen gesondert zu verleihen. Bei dieser Trennung
wurde das gesamte traditionelle Zeremonial der Aufnahme der
Lehrlinge zugewiesen, die dann in der Folgezeit nahezu ohne
irgendwelche symbolischen Formalien zu Gesellen gemacht
wurden. Dabei beschränkte sich alles im Wesentlichen darauf,
die zu Befördernden von einer Kolonne zur anderen zu geleiten,
nachdem man sie die Schritte des neuen Grades hatte ausführen
lassen. Später bemühte man sich, dem Grad des Gesellen eine
größere rituelle Bedeutung zu verleihen. Im vorliegenden Hand­
buch soll aufgezeigt werden, wie dies in Frankreich im Verlaufe
des 18. Jahrhunderts erreicht wurde.

Ritualangleichung

Das englische Ritual, wie es auf dem Kontinent eingeführt wur­


de, konnte den Geist unseres Volkes bei weitem nicht befriedi-

Die Kunst und ihre vollkommene Beherrschung 27


gen, der ja Wert darauf legt, dass alle Dinge logisch ineinander­
greifen. Von Anfang an empfanden deshalb die französischen
Maurer das Bedürfnis nach Verbesserungen dessen, was ihnen
ziemlich missglückt erschien.

Unter dem Eindruck der Bedeutung, die traditionsgemäß der


Zahl Drei beigelegt wurde, sahen sie sofort die Notwendig­
keit einer hierarchisch gedachten Dreistufigkeit. Jeder der drei
Grade sollte ihrer Auffassung nach darüber hinaus auf einer für
ihn charakteristischen Zahl aufgebaut sein. Sie sahen die drei
Lichter, die die Loge des ersten Grades erleuchten, während es
neun Lichter für den Meistertempel brauchte. Wollte man also
einen Zwischengrad bilden, musste man vor allem eine hierfür
typische Zahl suchen. Die Wahl fiel vernünftigerweise auf die
Fünf, daher dann die fünf Gesellenreisen und der fünfzackige
Stern, die den drei Reisen der Aufnahme und dem leuchtenden
Dreieck entsprechen. Logische Schlussfolgerungen haben im
weiteren Verlauf die Einzelheiten des Rituals weiter ausgestaltet,
vor allem die Zuordnung der Werkzeuge zu den verschiedenen
Reisen bestimmt.

Hatten die Ritualisten des 18. Jahrhunderts von ihrem profun­


den Wissen Zeugnis abgelegt, so gilt dies leider nicht für ihre
Nachfolger im vergangenen Jahrhundert. Diese haben sich in
fruchtlose Diskussionen über die fünf Stilrichtungen der Archi­
tektur oder die fünf Sinne verloren, über die sie nur physiolo­
gische Banalitäten zu sagen wussten, was alles ohne jede initia­
tische Bedeutung war. Mehr und mehr wurden die wesentlichen
Dinge zugunsten der Entwicklung der profanen Organisation
vernachlässigt. So wurde etwa die so wichtige Bedeutung der
Werkzeuge kaum angesprochen, während gleichzeitig nach
jeder Reise Reden gehalten wurden, deren Thematik sich nur
am Rande mit ihnen befasste. Die Sinne, die Künste und ihr
gesellschaftlicher Nutzen, Mathematik, Physik, Soziologie und
Naturwissenschaften überhaupt, die Wohltäter der Menschheit
(Erfinder, Künstler, Wissenschaftler, Philosophen und Politiker)
bilden so der Reihe nach die Themen der Instruktionen, die in
einer Grundschule durchaus am Platze wären, es aber bei der

28 Der Geselle
Zusammenkunft eines Mysterienbundes keineswegs sind, von
der schließlich alle Profanen und sogar die Freimaurerlehrlinge
ausgeschlossen sind.

Eine Rückkehr zu den Traditionen des 18. Jahrhunderts drängt


sich auf. Gestalten wir die Zukunft, indem wir uns von der Ver­
gangenheit leiten lassen!

Die Kunst und ihre vollkommene Beherrschung 29


Teil II

RITUALISTIK DES
GESELLEN GRADES

Prüfung des Kandidaten


für den Gesellgrad

Maurerische Eindrücke

Nachdem man dem Neophyten Zeit gelassen hat, sich summa­


rische Kenntnisse der Maurerei zu verschaffen, fragt man ihn
üblicherweise nach seinen maurerischen Eindrücken. Dadurch
bekommt er Gelegenheit, in aller Offenheit und Ehrlichkeit dar­
zulegen, wie er über seine Aufnahme denkt und über die unge­
wöhnlichen äußeren Förmlichkeiten, die dabei eingehalten wur­
den, sowie überhaupt von allem zu sprechen, was ihm besonders
aufgefallen ist, seit er Freimaurer wurde.

Es kommt vor, dass ein junger Lehrling aus seinem unverbil­


deten, natürlichen Verständnis heraus Kritikpunkte anspricht, die
durchaus eine ernsthafte Prüfung durch diejenigen verdienen,
die die Aufgabe haben, die Bauhütte zu leiten und sie auf dem
Weg gesunder Tradition zu halten. Aber meistens zeigt sich der
Neuling von einer ganzen Reihe von Dingen betroffen, die ihm
nur deshalb sinnlos vorkommen, weil er sie noch nicht gleich in
ihrer vollen Bedeutung erfassen konnte. Es ist wünschenswert,
dass sich der reine Neophyt zu diesem Thema ohne die geringste
Zurückhaltung äußert und dabei jene schöne gedankliche Klar­
heit an den Tag legt, die sich ohne jede Furcht vor ihrer eigenen
Frische und Ursprünglichkeit verströmt. Die Eindrücke sind nur

30 Der Geselle
dann interessant, wenn sie ungeschminkt den Seelenzustand des
Anfängers wiedergeben, der noch ganz gepackt ist von dem, was
ihm nach dem Abnehmen der symbolischen Binde vor Augen
gekommen ist. Es ist gut, wenn er mutig alles in Frage stellt, was
er nicht verstanden hat, denn dadurch bezeichnet er selbst die
Schwerpunkte, an denen sich seine weitere Ausbildung wird ori­
entieren müssen. Diese Ausbildung kann in der Loge geschehen,
etwa in der Form, dass der Stuhlmeister, der Redner oder ein an­
derer kompetenter Bruder die im Rahmen jener Eindrücke auf­
geworfenen kritischen Fragen sogleich beantwortet, aber auch
in Form von späteren Konferenzlogen, in denen die notwen­
dige weitere Aufklärung vermittelt wird. Die in Gemeinschaft
erfolgte Instruktion genügt jedoch nicht. Kein Lehrling darf in
seiner Loge sich selbst überlassen werden; alle Mitglieder haben
die Pflicht, ihn weiterhin zu belehren. Was dergestalt die Aufga­
be eines jeden Einzelnen sein sollte, wird aber nur allzu leicht
von allen vergessen, weil sich jeder auf den anderen verlässt.
Deshalb sieht die Tradition klugerweise vor, dass jeder Neophyt
während seiner Lehrzeit einem eigens dafür bestimmten Meister
zugesellt wird, der persönlich für die Ausbildung seines Lehr­
lings verantwortlich ist. Die Auswahl dieses Meisters soll sich
nach den maurerischen Eindrücken des Neuinitiierten richten,
dessen erstes Werkstück ja dem ihm bestellten Ausbilder vorzu­
legen ist, der dann die Aufgabe hat, seinen Schüler im Rahmen
mehrerer Einzelgespräche über alles aufzuklären, was er wissen
muss, bevor er für die Beförderung in den Gesellengrad vorge­
schlagen werden kann.

Di� Lehrzeit

Auch der begabteste Neophyt hat eine harte Aufgabe vor sich,
wenn er sich ernsthaft auf die Gesellenzeit vorbereiten will.

Für die Aufnahme als Lehrling genügt es, wenn gewisse Fähig­
keiten, guter Wille und die nötige Entschlossenheit, diesen guten
Willen in die Tat umzusetzen, vorhanden sind. Um die Gesellen­
prüfung zu bestehen, wird indessen mehr verlangt als nur Ver-

Ritualistik des Gesellengrades 31


sprechungen. Man muss arbeiten können und sich als Mitarbeiter
am universalen Aufbau des Großen Werkes praktisch brauchbar
erwiesen haben. Das ist keine leichte Sache. Gute Arbeit für
den Fortschritt kommt nicht von selbst, sondern muss metho­
disch herangebildet werden, und bei dieser Art von Erziehung
darf nichts übersehen werden. Eine schlechte Ausbildung stellt
eine Gefahr dar, denn schlechte Arbeit bringt die ganze Zunft
in Misskredit. Es ist deshalb von größter Wichtigkeit, die Lehr­
lingsausbildung sorgfältig durchzuführen und vor allem darauf
zu achten, dass alle Vorschriften des Rituals auch wirklich in die
Praxis umgesetzt werden.

Der für die Instruktion verantwortliche Meister muss sich bei­


spielsweise in erster Linie darüber vergewissern, dass sein Schü­
ler sich wirklich von seinen Metallen befreit hat. Der künftige
Denker kann sich doch nicht ernsthaft in sich selbst versenken
und in die Nacht des Mysteriums hinabtauchen, um die wesent­
lichen Grundlagen des Seins vertieft zu erfassen, wenn er in
breiten Bereichen seines Wissensspektrums reiner Oberfläch­
lichkeit verhaftet bleibt! Man muss sich wirklich in die dunkle
Kammer einschließen und sich von der äußeren Welt lösen,
wenn man in den Brunnen hinabsteigen will, in dem sich die
Wahrheit verbirgt. Es handelt sich hier um Symbole, die ernst
genommen werden müssen; andernfalls bleibt der Neophyt, was
er war: Er stirbt nicht seines profanen Daseins und wird niemals
wiedergeboren zum Leben der Eingeweihten, obwohl es offen
vor ihm liegt.

Entsprechendes gilt für alle initiatischen Prüfungen. Es handelt


sich dabei nicht um leere Formalitäten, die nur noch aus einer
fast kindlichen Liebe zur Archäologie aufrecht erhalten wer­
den. Sie sind vielmehr unerlässlicher Bestandteil der Initiation.
Man muss sie vollständig durchlaufen, und zwar in allem nur
denkbaren Realismus, damit schließlich das Licht nicht nur in
seiner symbolischen Bedeutung vor unseren Augen aufscheint,
sondern uns wie eine Flamme oder wie Hexenkraut gegen alles
Übel gefeit macht.

32 Der Geselle
Die Prüfung des Kandidaten

Wenn ein Lehrling die Theorie so weit beherrscht, dass er zu­


mindest den zu bewältigenden Stoff erfasst hat, der ihm mit sei­
ner Aufnahme vorgegeben wurde, darf er die zweite Stufe der
Initiation in Angriff nehmen. Es ist Sache seines Meisters, ihn
der Loge zur Beförderung vorzuschlagen, sobald er eine solche
verdient zu haben scheint. Die Bauhütte entscheidet darüber
nach Anhörung des Kandidaten, der in Gegenwart der übrigen
Lehrlinge auf alle den ersten Grad betreffenden Fragen zu ant­
worten hat, die man für nötig hält.

Diese Prüfung erstreckt sich zwangsläufig auf alles, was zur


Prüfung der Sicherheit gehört, sowie auf Fragen des Katechis­
mus. Diese vertraulichen Dinge, die man schließlich in jedem
Handbuch nachlesen kann, dürfen jedoch nicht darüber hin­
wegtäuschen, dass es noch weit tiefere Geheimnisse gibt, de­
ren Enthüllung nicht auf Grund jeder erstbesten Indiskretion
möglich ist. Auch die alten Steinmetzen, lange vertraut mit den
Arkana initiatischer Philosophie, hätten kaum von einem Anfän­
ger erwartet, dass er in wenigen Monaten herausfinden konnte,
was sich ihnen erst im Verfolgen jahrzehntelanger beharrlicher
Meditation erschlossen hat. Aber sie könnten den Kandidaten
durchaus fragen, was er seit seiner Aufnahme tatsächlich gelernt
hat. Dabei würden sie sich wohl darauf konzentrieren festzustel­
len, inwieweit sich seine Einstellung verändert hat. Sie würden
schließlich den Lehrling dahin bringen, eine Antwort auf die
Frage zu versuchen, worin denn sein tiefstes und privatestes Ich
eigentlich bestehe. So würden sie ihn darauf vorbereiten, sich im
Kern seiner Persönlichkeit selbst kennen zu lernen. Denn wenn
der Lehrling sich zu fragen hatte: Woher kommen wir?, so muss
der Geselle die Antwort wissen auf die Frage: Was sind wir?

Ritualistik des Gesellengrades 33


Die Beförderung des Gesellen

Vorbereitung des Aufzunehmenden

Wohl nur aus einem Gefühl für Symmetrie heraus hat es die
angelsächsische Maurerei für nötig gehalten, dem Kandidaten
für den 2. Grad eine Vorbereitungshandlung aufzuerlegen, die
analog zu derjenigen verläuft, der sich der Profane zu stellen
hat, der sich erstmals in der Loge vorstellt. Das 1813 von der
Großloge von England verabschiedete Ritual sieht vor, dass der
in den 1. Grad Aufzunehmende allen Metalls beraubt, mit ver­
bundenen Augen, entblößter linker Brust und entblößtem linken
Knie erscheint und dabei am rechten Fuß einen Pantoffel und um
den Hals einen Strick trägt. Für den 2. Grad ist die umgekehrte
Vorgehensweise vorgeschrieben. Dieses Mal sind der linke Arm
sowie die rechte Brust und das rechte Knie nackt; der Pantoffel
bekleidet nicht mehr den rechten, sondern den linken Fuß. Die
Augen sind in den britischen Logen nicht mehr verbunden, weil
der Maurer das Licht ja bereits gesehen hat. Anders in Amerika,
wo die Binde bei der Aufnahme in die drei ersten Grade jeweils

34 Der Geselle
zwingend vorgeschrieben ist; im Gesellengrad beschränkt man
sich jedoch darauf, sie lediglich über das rechte Auge zu legen.
Auch die amerikanischen Maurer lieben den Strick, den sie dem
in den Gesellengrad zu Befördernden zweimal auf Höhe des Bi­
zepses um den rechten Arm schlingen. Im Meistergrad dient der­
selbe Strick dem zu Erhebenden als dreifach geschlungener Gür­
tel, während der Oberkörper und beide Arme nackt sind ebenso
wie beide Beine unterhalb des Knies.

All diese Feinheiten haben nichts Initiatisches an sich und zeu­


gen bloß von Phantasiewillkür. Überdies handelt es sich um
Erfindungen, die deutlich nach der Einführung der „reinen und
altehrwürdigen Johannismaurerei" auf dem europäischen Kon­
tinent gemacht wurden. Diese kennt nur eine einzige Art der
physischen Vorbereitung, wenn sich nämlich der Kandidat bei
seiner ersten Aufnahme „weder nackt noch bekleidet, aber an­
ständig gewandet, und allen Metalls beraubt" der Loge vorzu­
stellen hat.

Für den Gesellengrad muss die Vorbereitung im Wesentlichen


ethisch-moralischer Art sein, ebenso wie diejenige für den Mei­
stergrad verstandesmäßig geprägt sein muss. Der Geselle muss
antworten können, dass er in.seinem Herzen darauf vorbereitet
wurde, den zweiten Grad zu empfangen. Am Ende seiner Lehr­
zeit kennt er die Maurerei genug, um sich im vollen Bewusstsein
dessen, worum es geht, für sie einzusetzen. Nur seine Hingabe
kann ihn mit denen verbinden, deren Geselle, das heißt solida­
risch Verbündeter, er erfolgreich sein soll, der eifrige Mitarbeiter,
der bereit ist, im Interesse des gemeinsamen Werkes vor keinem
Opfer zurückzuscheuen.

Zusammenfassend gesagt reicht es für den Lehrlingsgrad aus,


gewisse Fertigkeiten aufzuweisen. Um Geselle werden zu kön­
nen, muss man außerdem Ausdauer, Eifer und Arbeitswillen be­
wiesen haben. Der Meister schließlich erweist sich im Nachweis
seiner Fähigkeiten, durch seine Begabung und durch das voll­
kommene Begreifen der Königlichen Kunst.

Ritualistik des Gesellengrades 35


Einführung in die Gesellenloge

Im 1. Grad muss der Aufzunehmende, der die Schwelle des Tem­


pels überschreiten will, die Erklärung abgeben, dass er „freige­
boren und von gutem Ruf' ist. Zu demselben Zweck muss man
im 2. Grad feststellen können, dass „der Lehrling seine Lehrzeit
abgeschlossen hat und sein Meister mit ihm zufrieden ist".

Ansonsten ist keine Rede mehr davon, in Demutshaltung, bis


zum Boden gebückt oder auch nur durch Herabrutschen auf
einer straff gespannten Plane einzutreten, als wenn es darum
ginge, die Geburt des Neuaufgenommenen zu simulieren. Der
Lehrling betritt die Loge mit erhobenem Haupt, in Ordnung und
mit den drei symbolischen Schritten und stellt sich stolz aufge­
richtet zwischen die beiden Aufseher [3]. Diese sitzen bei den
zwei Säulen, die der Stärke und Schönheit, d. h. der männlichen
Kraft und dem weiblichen Instinkt (dorisch-ionisch) geweiht
sind. Denken wir nun daran, was dem jungen Herkules wider­
fuhr, als er sich nach Beendi gung seiner Ausbildungszeit an­
schickte darüber nachzudenken, welchen Gebrauch er von sei­
ner Kraft und seinen zahlreichen sonstigen Begabungen machen
solle. Nachdem er sich zu ungestörter Meditation zurückgezo­
gen hatte, sah er sich plötzlich zwei Frauen von hoher Gestalt
gegenüber, beide von beträchtlicher Schönheit. Die erste war
schlicht in ein weißes Gewand gekleidet und hatte majestätische
Züge voller Würde; Schamhaftigkeit sprach aus ihrem Blick -
dies war die Tugend. Die andere, behängt mit Schmuck und in
prachtvolle Gewänder gehüllt, hatte einen freien Blick und ein
herausforderndes Lächeln - dies war die Wolllust. Jede von ih­
nen versuchte nun auf ihre Art, den Sohn der Alkmene für sich
zu gewinnen, wobei die eine ihm versprach, alle Prüfungen des
Lebens siegreich zu meistern, die· andere dagegen, ihm jeden
Kampf und jede Mühe zu ersparen. Herkules zögerte nicht. Er
weigerte sich, sich an die Süße eines Lebens ohne Ruhm zu ver­
lieren, und beschloss, nützlich zu sein und sich zu diesem Zweck
unermüdlicher mühevoller Arbeit zu widmen, die stets anderen
zugutekommen sollte.

36 Der Geselle
Zwischen den beiden Säulen
stehend, darf der Bewerber
um den Gesellengrad in mo­
ralischer Hinsicht nicht hinter
jenem Helden der Mythologie
zurückstehen. Aufgefordert,
sich ohne Einschränkung für
das Wohl aller einzusetzen,
ist es seine Aufgabe, nach der
theoretischen Vorbereitung in
der Lehrlingszeit nunmehr eine
Laufbahn praktischer Tätigkeit
einzuschlagen und dabei die
Versuchungen eines auf Ge­
nuss und sybaritische Hingabe
an die Freuden des Daseins be­
ruhenden leichten Glücks zu­
rückzuweisen.

Im Tarot [4] wird der Einge­


weihte, der dazu berufen ist,
sich der höchsten sittlichen Prüfung zu unterziehen, die über
sein ganzes künftiges Leben als Initiierter entscheidet, im Bild
des „Verliebten" dargestellt, dessen Herz sich zwei Frauen strei­
tig machen.

Die Teilnahme am Großen Werk

Welche Vorstellungen soll sich nun der Bewerber von dem Grad
machen, den er anstrebt? ,,Die Prüfungen des 1. Grades", so er­
klärt man ihm, ,,bestanden in einer Reihe von Reinigungsakten,
die Sie in die Lage versetzen sollten, das Licht zu sehen. Sie
wurden von allem befreit, was Ihrem spirituellen Weg hinder­
lich sein konnte; dieser Vorgang ist indessen im Wesentlichen
negativ. Durch die Loslösung von profanen Vorurteilen haben
Sie sich zugleich bemüht, alles Falsche zu vergessen, das man
Ihnen beigebracht hat. Sie haben, wie Descartes sagte, reinen

Ritualistik des Gesellengrades 37


Tisch gemacht in Ihrem Geist, und dadurch haben Sie den Grund
ausgehoben, auf dem Sie werden aufbauen müssen. Nun ist der
Augenblick gekommen, um vom Negativen zum Positiven vor­
anzuschreiten. Bisher haben Sie nur zerstört, jetzt werden Sie
zum Baumeister! Sie vereinigen sich mit uns zum Bau des Tem­
pels, der das Große Werk der Freimaurerei bildet."

Was ist dieses Werk? Der Aufzunehmende sollte es wissen, denn


er muss seine feste Entschlossenheit bekunden, sich ihm zu wei­
hen, damit es ihm gelingt, eifrig und mit all seinen Kräften und
ohne schwach zu werden auf die Verwirklichung des Fortschritts
der Menschheit hinzuarbeiten. Er darf das Ziel nicht aus den Au­
gen lassen, das sich die Maurer gesetzt haben, wenn sie sagen,
sie wollten eine bessere Welt errichten, indem sie die Menschen
geistig und sittlich auf ihren Bauauftrag vorbereiten. Durch sei­
nen Entschluss, sich an dieser ihrer Aufgabe zu beteiligen, wird
der zu Befördernde erst wirklich zum Gesellen und kann nun die
fünf Reisen antreten, die dazu bestimmt sind, ihn in die Geheim­
nisse des Grades einzuführen.

38 Der Geselle
Die Reisen

Erste Reise

Zuerst wendet sich der Lehrling mit Hilfe einer Art Spitzhacke
oder Spitzhammer, der in den englischen Ritualen als „common
gavel" bezeichnet wird, dem Rauen Stein zu. Das Werkzeug er­
laubt nur eine oberflächliche Glättung. So muss man weiterhin
auf Hammer und Meißel zurückgreifen, um Stück für Stück die
Unregelmäßigkeiten des Steinblocks abzuschlagen, den man zu
einem vollkommen Kubischen Stein zu formen hat.

So behauen, dass er genau an seinen Platz passt, ist dieser fer­


tige Stein das getreue Ebenbild des Gesellen, der dazu bestimmt
ist, dem lebendigen Tempel eingefügt zu werden, dessen Einge­
weihte zugleich Bauleute und Bausteine sind. Um diese Einglie­
derung möglich zu machen, muss sich unser lebendiges Material
verwandeln, indem es sich selbst einem dauernden Prozess der
Vervollkommnung aussetzt.

Zwei Werkzeuge sind dafür unerlässlich. Das eine verkörpert


die in unserem Kopf getroffenen Entscheidungen: Es ist der
stählerne Meißel, der in der linken Hand, also auf der passiven
Körperseite getragen wird, die dem spekulativen Denkvermögen
entspricht (Säule B. ·.,Norden) und von daher auf den Stein ein­
wirkt. Das andere stellt den ausführenden Willen dar: Es ist der
Hammer, das Zeichen der Befehlsgewalt, den die Rechte auf der
aktiven Körperseite führt, womit auf die Handlungsenergie und
die moralische Entschlossenheit verwiesen wird, aus denen die
praktische Ausführung erwächst (Säule J. · ., Süden).

Ohne Hilfe dieser beiden Werkzeuge ließe sich nichts erreichen.


Der nur mit dem Meißel bewaffnete Intellektuelle weiß zwar ganz

Ritua/istik des Gesel/engrades 39


genau, was zu tun ist, und kennt alle Mittel der Verwirklichung,
aber das ist auch schon alles: Mangels einer auf das Tätigwerden
gerichteten Energie und des entsprechenden Muts zum Handeln
geschieht eben nichts, alles bleibt im Stadium der Planung oder
der sterilen Überlegung. Umgekehrt verursacht der Hammer für
sich allein nur Lärm, darin ganz ein Abbild der sittlichen Kräfte,
die sich, wenn ihnen die Möglichkeit praktischer Anwendung
fehlt, in fruchtlosen demonstrativen Gesten verschleißen. Der
geschickte Arbeiter gebraucht beide Hände und nutzt die Fer­
tigkeiten beider. Von der linken Hand verlangt er, den Meißel
ruhig an der ausgesuchten Stelle und in der gewollten Richtung
festzuhalten, während die Rechte kraftvolle, wohlgezielte Ham­
merschläge zu vollführen hat. Damit soll gesagt sein, dass die
Schönheit sich nur verwirklicht, wenn sich die planende Weis­
heit mit der Stärke der Ausführung verbindet. Der brillante, aber
skeptische Theoretiker verträgt sich genauso wenig mit dem
Werk der Freimaurerei wie der ehrlich überzeugte und zur Tat
drängende Mann, der mangels ruhiger Überlegung und kluger
Erkenntnisfähigkeit dazu verdammt ist, sich in fruchtlosem Ak­
tionismus zu verlieren.

Die Initiation begnügt sich zunächst damit, Klarsicht und rich­


tiges Denken zu lehren; dies ist der erste Teil des Lernpro­
gramms, der vor allem mit dem Lehrlingsgrad verbunden ist,
insofern dieser den Neophyten in Stand setzen soll, das Licht
zu sehen. Aber die Theorie bleibt leer, wenn sie nicht zur Pra­
xis führt. Handeln drängt sich dem Initiierten im Übrigen schon
dadurch auf, dass er klar sieht und nicht wie ein Blinder jeder
Pflicht zum Tätigwerden enthoben ist. Deshalb ist der Geselle
ganz besonders dazu aufgerufen, sich durch rational gesteuerte
Förderung seiner Willenskraft zur Tat anzuleiten. Er muss den
Prozess der Selbsterkenntnis und des Lernenwollens abschlie­
ßen. In dieser Beziehung sind Meißel und Hammer zutiefst be­
deutungsvolle Werkzeuge.

40 Der Geselle
Zweite Reise

Kraft zum Handeln erwirbt man nur, wenn man sie zunächst an
sich selbst übt. Unser Verstand und unser Wille müssen sich auf
unsere eigene Vervollkommnung richten, bevor es uns gestat­
tet ist, ein weitreichenderes Betätigungsfeld ins Auge zu fassen.
Der Geselle ist indessen keineswegs darauf beschränkt, sich nur
mit dem Gebrauch von Meißel und Hammer zu beschäftigen.
Zwar sind diese Werkzeuge für ihn von wesentlicher Bedeutung,
da er mit ihnen an das Urgestein herangeht, um es in Form zu
bringen. Aber andere Werkzeuge sind gleichfalls unerlässlich;
sie dienen der Überprüfung und Kontrolle der mit ersteren her­
gestellten Werkstücke. Besonders wertvoll sind dabei Lineal und
Zirkel, denn nur sie ermöglichen die Entwicklung ausnahmslos
aller geometrischen Figuren.

Unter symbolischem Gesichtspunkt sind sie vor allem zu be­


trachten als Erzeuger von gerader Linie und Kreis, wobei jene in
beiden Richtungen bis ins Unendliche verlängert werden kann,
dieser dagegen einen begrenzten Raum umschreibt.

Im Bereich der Ethik zeichnet uns die Strenge der Geraden eine
Verhaltensweise vor, von der wir niemals abweichen sollten.
Wir müssen - einem hohen Ideal verpflichtet - ohne Unterlass
versuchen, sie in die Tat umzusetzen. Aber selbst wenn wir die
angestrebte Vollkommenheit nie aus dem Auge verlieren, dürfen
wir es uns dennoch nicht gestatten, die realen Bedingungen au­
ßer Betracht zu lassen, unter denen wir leben, denn ein abstraktes
Ideal lässt sich nur in dem Maße verwirklichen, indem es sich
den jeweils konkreten Notwendigkeiten anpasst. Diese können

Ritua/istik des Gese/lengrades 41


uns nicht besser verdeutlicht werden als durch den Zirkel, des­
sen Schenkel in ihrer beliebig willkürlichen Öffnung es ermög­
lichen, alle Beziehungen zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich,
zwischen dem Kern unserer Persönlichkeit und dem gesamten
Umfeld dessen, was wir zu beachten haben, auszumessen.

Lineal und Zirkel lehren so, das Absolute mit dem Relativen zu
versöhnen. Niemals können wir unser Ideal zu hoch ansetzen,
aber wir verlangen nicht, dass eine Chimäre Wirklichkeit wird.
Vermeiden wir doktrinäre Intransigenz, die im wirklichen Le­
ben zu nichts führen kann! Bei der Entwicklung von Ideen ist
der Geist durch nichts behindert, aber die Hindernisse, die uns
aus der Materie erwachsen, müssen erkannt und mit Erfindungs­
reichtum und Geduld überwunden werden.

Dritte Reise

Um ihre intellektuelle und in gewissem Sinne passive Rolle an­


zudeuten, werden Lineal und Zirkel in der linken Hand getragen.
Anders ist es mit der Krampe, einem Aktivwerkzeug erster Güte,
dessen sich nur die rechte Hand bedienen kann, obwohl man sie
mit beiden Händen ergreifen muss, wenn es gilt, schweres Ge­
wicht anzuheben.

Der Kraft, die die Krampe oder Hebezange im Rahmen der Initi­
ation symbolisiert, kann nichts widerstehen. Archimedes scheint
wie ein Eingeweihter zu sprechen, wenn er ausruft, er könne mit
jenem Werkzeug, dessen Anwendungsgebiet er soeben entdeckt
hatte, die ganze Welt aus den Angeln heben.

Aber was ist nun diese geheimnisvolle und in gewissem Sinne


grenzenlose Kraft, die auf den Gesellen übertragen werden soll?
Durch welche Art von Zauberei gelingt es ihm, in seinem Le­
bensumkreis sogar die festgefügtesten Felsbrocken zu bewegen?
Wie kommt er zu derartig selbstbewusster, ebenso tief reichender
wie weit gefächerter und letztlich unwiderstehlicher Handlungs­
fähigkeit?

42 Der Geselle
Diese Fragen rühren an das bemerkenswerteste Geheimnis der
Freimaurerei. Ohne es hier preiszugeben, dürfen wir doch darauf
hinweisen, dass es ein unerschütterlicher, klug eingesetzter und
selbstloser Wille ist, der letztlich über alles triumphiert. Natür­
lich ist ein wetterwendischer Wille machtlos, denn er kann kaum
irgendwelche Energien erzeugen. Fest aber auf Sinnloses gerich­
tet, findet sich seine erstaunliche Kraft im Abseits wieder, ein­
gesetzt für nichts und wieder nichts. Wenn Egoismus den Willen
leitet, erschaffi er sich ein Szenario, das zuletzt unvermeidlich in
der Katastrophe endet. Ein beständiger, gelassener, aber dennoch
kraftvoller und vor allem klarsichtiger Wille dagegen wird sich
als unüberwindbar erweisen, sofern er seinen Ausgangspunkt in
der absoluten Hingabe an eine erhabene, edle und großherzige
Sache genommen hat.

Ein Werkzeug von der Bedeutung des Hebels darf dem Gesellen
nur mit Bedacht anvertraut werden. Er erhält es erst, nachdem
er die Prüfungen mit Lineal und Zirkel bestanden hat. Je fürch­
terlicher eine Kraft ist, desto mehr ist darauf zu achten, dass sie
in keiner Weise missbraucht wird. Die Kraft des Eingeweihten
würde sich im Übrigen gegen ihn selbst richten, wenn bei ihrem
Einsatz seine Absichten nicht vollkommen rein und nur an je­
nem unwandelbaren Maßstab in Form eines Lineals ausgerichtet
wären, das er an sein Herz drückt, bevor er die Erlaubnis erhält,
die Krampe zur Hand zu nehmen.

Vierte Reise

Im Verhalten eines Freimaurers darf es nichts schildkrötenartig


Verhaltenes geben. Nur, wenn er seinen geraden Weg mit Ent­
schlossenheit, Freimut und Loyalität beibehält, kann er alle Irr­
und Umwege vermeiden und wird durch diese Geradlinigkeit
den Sieg davontragen. Das Lineal erinnert ihn ständig an das
Verhalten, das er bei allem, was er unternimmt, zu beobachten
hat. Dieses Leitwerkzeug behält der Geselle bei sich, während
er die Hebezange beiseite legt und sie durch das Winkelmaß er­
setzt.

Ritualistik des Gesellengrades 43


Das Winkelmaß erlaubt eine minutiöse Kontrolle des letzten
Zuschliffs der Steine, die sich nur nach Maßgabe strikter Recht­
winkligkeit an- und ineinander fügen lassen. Ist das Material
allseits winkelrecht passgenau, baut sich die Mauer mit Hilfe
von Wasserwaage und Senkblei sozusagen von selbst, aber alles
muss, wie gesagt, in sorgsamster Weise winkelgenau sein. An­
sonsten verdient das Mauerwerk seinen Namen nicht.

Der Stein muss außerdem in allen seinen drei Dimensionen


die rechten Proportionen aufweisen, deren Maße sich nach den
Angaben auf dem speziell für diesen Zweck gradierten Lineal
richten. Unter diesem Aspekt ist der Kubische Stein kein geo­
metrischer Kubus, denn ein in jeder Richtung gleich bemessener
Stein fügt sich nur schlecht in eine Gesamtkonstruktion ein. Wir
stünden in einem solchen Fall wie vor einem Menschen, der so
vollkommen und in jeder Hinsicht im Gleichgewicht ist, dass er,
weil er sonst niemanden braucht, isoliert bleibt, ohne das Be­
dürfnis zu empfinden, sich mit einem anderen, und sei es mit
einem solchen, der ihm gleich kommt, zu verbinden. Der Maurer
nun vervollkommnet sich nur im Hinblick darauf, wie nützlich
er zu sein vermag. Bei der Verfolgung dieses Ziels darf er keine
Angst davor haben, sich zu spezialisieren, d. h. sich in einer
Richtung weiter fortzuentwickeln als in einer anderen. Dabei
wird er darauf achten, seinem Nächsten stets im rechten Winkel
zu begegnen.

Fünfte Reise

Lineal und Winkelmaß haben die Feststellung ermöglicht, ob


der Stein fertig, in Form und Umfang fehlerlos ist. Der Geselle
wird durch die Initiation nunmehr zu einer Arbeit hingeführt, die
ohne Hilfe eines Werkzeugs auskommt, wobei sogar das Lineal
überflüssig wird.

Praktisch von allen profanen Lasten befreit, von denen nicht


einmal ein Keim mehr in ihm vorhanden ist, ist der Eingeweih­
te, der den Anforderungen eines höheren Lebens genügen soll,

44 Der Geselle
keinerlei Zwang mehr unterworfen. Er ist vollkommen frei und
unabhängig geworden dank seines positiven Willens, der auf das
Gute gerichtet ist und ihn nur zu solchen Handlungen veranlasst,
die mit seiner Aufgabe als Arbeiter am Großen Werk des Fort­
schritts übereinstimmen.

Nachdem er seine gesamte Aktivität entfaltet hat, muss sich der


Geselle nunmehr der Kontemplation widmen, d. h. der inner­
lichen Aufarbeitung der im Laufe seiner Reisen gesammelten
Beobachtungen. Diese waren gleichsam Entdeckungsfahrten,
die zur Sammlung eines reichhaltigen Materials geführt haben,
das man sich nicht auf einmal aneignen kann. Erst eine Art von
geistigem Verdauungsprozess erlaubt es, sich die Eindrücke
ganz zu Eigen zu machen, die wir unserer Aufmerksamkeit ver­
danken. Daraus erklärt sich der meditative Charakter der letzten
Reise unseres Bauwerkers, der ja dazu aufgerufen ist, sein eige­
nes Gedankengebäude zu errichten.

Jede Reise innerhalb des Tempels vollzieht sich als Nachahmung


des täglichen Sonnenlaufs. Vom Westen ausgehend, tritt der Rei­
sende in die Nacht des Nordens, um den Osten zu gewinnen und
über Süden zurückzukehren. Der Westen ist der Bereich des Ge­
fühls, der unmittelbaren Beobachtung der Erscheinungen, deren
Gesamtheit sich als äußerliche Fassade vor dem Geist aufbaut,
hinter der sich aber eine rätselhafte Wirklichkeit verbirgt. Um
sie zu erfassen, versuchen wir uns in Hypothesen, indem wir
in den Nebel von Spekulation und Theorie eintauchen (Norden,
Mond, Vorstellungskraft). Aus dem Osten trifft uns dann das
desillusionierende Licht kritischer Klarheit, die eine Rückkehr
auf einem Weg verlangt, der unbarmherzig von der Mittagshelle
des Südens erfasst wird (konsequentes Denken, Geist der Wis­
senschaft). Ohne Halt setzt sich der Umgang fort, denn um das
Licht wirklich zu erringen, muss man von den Fakten (Westen)
über ihre hypothetische Interpretation (Norden) und den frucht­
losen Versuch einer Synthese (Osten) in den Bereich streng rati­
onaler Betrachtung (Süden) vordringen.

Ritualistik des Gesel/engrades 45


Initiatisches Wissen lässt sich sammeln wie jener Honig, der in
den Mysterien des Mithras eine Rolle spielte. Wie der Arbeiter
jedoch zu seinem Wissen kommt, ist letzten Endes Sache seiner
eigenen Geschicklichkeit, je nachdem wie er sich bemüht, die
Theorie genauso wie die Praxis zu beherrschen.

Im Laufe seiner Reisen vervollkommnet er sein Können in viel­


facher Hinsicht. Die geschicktesten Werkleute lassen ihn an ih­
ren Erfahrungen teilhaben. Ihm bleibt nur die Aufgabe, die so ge­
ernteten Begriffe zusammenzubündeln, um auf die natürlichste
Art und Weise den Weg zur Meisterschaft zu beschreiten. Indem
er es versteht, sein Tun vernünftig zu durchdenken, indem er das
Warum der Dinge im Licht einer verfeinerten Ästhetik aufzu­
hellen versteht, ist er dann der vollendete Künstler und hat das
Recht, seinem eigenen Genius zu folgen und sich von den allzu
starren Regeln bloßer Berufsausübung frei zu machen.

46 Der Geselle
Der wahre Weg zur Erleuchtung

Der flammende Stern

Zum Ende seiner fünften Reise musste sich der Geselle mit nun­
mehr gänzlich freien Händen in einen besonderen Zustand der
Aufnahmefähigkeit versetzen hinsichtlich eines ungreifbaren,
im Raum schwebenden und nicht näher zu fixierenden Lichtes.
In dieser Fähigkeit, die dunkel gefühlte Klarheit an sich zu zie­
hen und sich nach und nach gänzlich mit ihr zu sättigen, liegt das
hauptsächliche Geheimnis des zweiten Grades der Initiation, der
den Weg zur Erleuchtung verkörpert.
Um zur Erkenntnis dieses geheimnisvollen Lichtes zu gelangen,
muss man nacheinander fünf [5] Stufen unterschiedlicher Farbe
emporsteigen, deren jede mit einem Planetenzeichen markiert ist.

Die erste ist schwarz und trägt das Zeichen des Saturn fi. Sie
deutet auf die Reinigung durch die Erde hin und auf die Not­
wendigkeit, die Dinge zu vertiefen, ohne sich von ihrem äußeren
Anschein einfangen zu lassen.

Die folgende ist blau und dem Jupiter � gewidmet. Sie erinnert
an die Reinigung durch die Luft und an die Verpflichtung des In­
itiierten, das Flüchtige vom Gebundenen, die Bezeichnung vom
Bezeichneten und den lebendigen Geist vom toten Buchstaben
zu befreien.

Die dritte ist grün und trägt damit die Farbe der Venus 9. Sie
nimmt Bezug auf die Reinigung durch das Wasser, die eine Säu­
berung des geistigen Spiegels bewirkt, in dem sich für einen in­
tuitiv begabten Menschen die Begriffe so klar spiegeln, dass er
fähig wird, selbst richtige Vorstellungen zu entwickeln.

Die vierte ist rot zu Ehren des Mars cf. Sie entspricht der Rei­
nigung durch das Feuer, anders gesagt dem Aufflammen eines
inneren Brennens bis zur lodernden Erfüllung des ganzen Men­
schen.

Ritualistik des Gesellengrades 47


Was die fünfte Stufe betrifft, so ist sie durchsichtig und dement­
sprechend farblos, weil sie in Beziehung steht zu Merkur �- Sie
kann erst nach der vollkommenen Reinigung durch die Elemente
erklommen werden, die damit auf ihre gemeinsame Quintessenz
zurückgeführt werden.

Obwohl er so hoch aufgestiegen ist, muss der Eingeweihte nicht


befürchten, von der gleißenden Helligkeit der Sonne geblendet
oder von den sanften Strahlen des Mondes verzaubert zu wer­
den, denn vor ihm liegt nichts als eine unendliche Tiefe absolu­
ter Schwärze. Während er sich bemüht, die Finsternis zu durch­
dringen, erscheint mit einem Mal ein kaum wahrnehmbarer
Lichtpunkt. Zunächst nur ein unmerkliches Blinken, zeigt sich
alsbald ein Stern, der rasch größer wird, um schließlich in solche
Leuchtkraft auszubrechen, dass alles Dunkel vertrieben ist. Dann
nimmt das geheimnisvolle Gestirn die Form eines flammenden
Pentagramms an, in dessen Mittelpunkt sich ein Bildzeichen
auftut, das man mit dem Buchstaben G umschrieben hat.

Das Pentagramm

Der Stern, der sich dem Gesellen als der endgültige Überwinder
der Anziehungskraft der Elemente offenbart, ist der Stern des
menschlichen Genius. Er hat fünf Zacken, die dem Kopf und den
Extremitäten des Menschen entsprechen. Diese wiederum ha­
ben auszuführen, was das Gehirn befiehlt. Deshalb ist das Pen-

48 Der Geselle
tagramm, auch Stern des Mikrokosmos genannt, in der Magie
das Zeichen des souveränen Willens, der das unüberwindliche
Werkzeug des Initiierten ist.

Damit die Figur diese Wertigkeit haben kann, muss sie so gezeich­
net werden, dass man ihr eine menschliche Gestalt in aufrechter
Haltung mit dem Kopf nach oben einfügen kann. Umgekehrt er­
langt der fünfzackige Stern eine diametral entgegengesetzte Be­
deutung. Dann ist er nicht mehr das leuchtende Pentalpha oder
der Stern der Weisen, das Emblem jener Freiheit, die es dem
Geist erlaubt, über die Materie zu herrschen, sondern das dunkle
Gestirn der niederen Instinkte und der Glut der lüsternen Hitze,
unter deren Joch die Tiere stehen. In der Folgezeit hat man darin
dann die schematische Darstellung eines Geißbocks gesehen. So
wird ein und dieselbe Abbildung, je nachdem, ob sie nach oben
oder nach unten ausgerichtet
ist, zum Symbol sowohl dessen,
was immer es an Edlem in der
menschlichen Natur gibt, als
auch für die brutale Triebhaf­
tigkeit des Animalischen. Eine
entsprechend universale Kraft
wirkt im Übrigen in beiden Fäl­
len; sie passt sich lediglich an
und ändert ihre Richtung - das
ist alles.

Ritualistik des Gesellengrades 49


Der Buchstabe G

Man kann sich fragen, aufgrund welcher Besonderheit der siebte


Buchstabe des lateinischen Alphabets in eine Symbolik hinein­
geraten ist, die ganz und gar übernational anwendbar sein soll.
Wahrscheinlich ist es so, dass das Zentrum des großen Lichts der
Initiation ursprünglich durch ein Zeichen von allgemeiner Be­
deutung hervorgehoben wurde. Das alchemistische Ideogramm
für Salz 9 könnte, wenn man es nach Art der 6 geöffnet hat,
im Wege der Abschleifung zu dem uns vertrauten G geworden
sein. Aber liegt es nicht näher, diesen Bestandteil des Alphabets
dem Symbol der lebendigen Fruchtbarkeit EB zuzuordnen, aus
dem das Hakenkreuz des Altertums, Swastika genannt, hervor­
gegangen ist lfi? Dieses Rad der universalen Bewegung oder des
lebensspendenden Feuers würde durchaus zu Recht das Herz des
flammenden Sterns beanspruchen dürfen.

Von diesem wiederum ist in den Ritualen der Jahre vor 1737
nirgendwo die Rede. Erst von da an wurde das Emblem von den
französischen Logen verwendet, die seinerzeit stark vom Her­
metismus beeinflusst waren. Die Maurer des 18. Jahrhunderts
bekundeten jedenfalls sehr bald eine Art kultischer Verehrung
für den Buchstaben G; den Worten des ältesten französischen
Katechismus zufolge hatten sie sich unter Bezugnahme auf ihn
zum Gesellen aufnehmen lassen. Die Bedeutung des Buchsta­
bens hatte man in den Worten Glorifizierung, Größe, Geometrie
(Gloire, Grandeur, Geometrie) zu suchen, wobei sich „Glorifi­
zierung" (Verherrlichung) auf Gott, ,,Größe" auf den Meister der
Loge und „Geometrie" auf die Brüder bezogen.

„Hat er nicht noch eine andere Bedeutung?", fragte der Meister


vom Stuhl bei der Beförderung und erhielt die Antwort:

,,Etwas Größeres als Sie, Ehrwürdiger Meister!"

,,Was denn kann größer sein als ich, der Meister einer vollkom­
menen und gerechten Loge?"

50 Der Geselle
,,Das ist Gott selbst, dessen Name durch diesen Buchstaben aus­
gedrückt wird, der das aus dem Englischen stammende Wort
, God' bezeichnet."

Seit dieser Zeit hat es nicht an vielfältigen Erklärungen gefehlt


für jenes geheimnisvolle Monogramm, das dem griechischen
Gamma r und dem phönizischen Gimmel '\ entspricht, die ein
Winkelmaß bilden und die jeweils dritte Stelle ihres Ursprungs­
alphabets einnehmen.

Geometrie

Wenn sich die Bearbeitung der Steine nur um ein Weniges ver­
kompliziert, muss der einzelne Arbeiter in der Lage sein, be­
stimmte geometrische Probleme zu lösen. Diese Wissenschaft,
die fünfte nach der antiken Einteilung, stand dementsprechend
von Urzeiten her in hohem Ansehen bei den Maurern, die in ihr
die Lehre der Vernunft schlechthin und in gewisser Weise die
philosophische Grundlage ihrer Kunst sahen. Ihr Studium be­
schränkte sich im Übrigen nicht auf die Vermessung verschie­
dener Oberflächen und Festkörper. Nachdem die Geometrie
ihnen Führerin bei ihrer praktischen Konstruktionstätigkeit ge­
wesen war, sollte sie ihnen darüber hinaus Klarheit verschaffen
über die Geheimnisse des Weltenbaus. Dank des auf Zahlen
und Formen gestützten spekulativen Denkens wurden die geo­
metrischen Figuren zu Symbolen der Enthüllung. Es gibt in der
Tat eine rein initiatorische Geometrie, deren Lehrsätze sich auf
die schwierigsten Fragen von Metaphysik und Ontologie an­
wenden lassen. Pythagoras war darin ein Meister, und Platon
war überzeugt davon, dass allein die Eingeweihten des zweiten
Grades die Tragweite seiner Lehren begreifen könnten, worauf
die berühmte Inschrift hinweist, die über dem Eingang zu seiner
Schule angebracht war: ,,Niemand möge hier eintreten, der die
Geometrie nicht kennt!"

Dieselbe Transzendentalgeometrie, die die antiken Ideogramme


heraufbeschwören, liefert in der Freimaurerei den Schlüssel zu

Ritualistik des Gesellengrades 51


den Höhen der Esoterik. Dementsprechend muss sie auch der
Geselle, der nach Meisterschaft strebt, gründlich beherrschen.
Als universelle Wissenschaft vom Bauen ist die maurerische Ge­
ometrie darüber hinaus in moralischer Hinsicht von besonderer
Bedeutung. Sie lehrt die Bildung des Einzelnen im Hinblick auf
seine Bestimmung, aber auch, wie sich Einzelne zu ihrer aller
gegenseitigem Glück harmonisch miteinander verbinden kön­
nen. Sie ist Sozialwissenschaft im höchsten Sinne des Wortes,
die es verdient, die erste Stelle unter den Beschäftigungen eines
jeden echten Maurers einzunehmen.

In dem Zyklus von fünfzig florenti­


nischen Stichen, die als „Baldini-Kar­
ten" bekannt und, wenn nicht von
Mantegna selbst, so doch von einem
seiner Schüler entworfen wurden, wird
die philosophische Geometrie im Bild
eines jungen Mädchens dargestellt, das
über die Wolken entrückt ganz in die
I \ Betrachtung der Symbole von Kreis,
, �
"-�,:•• c i:;';1111':'
:-.. Dreieck und Quadrat, also die für die
alchemistische Ideographie fundamen­
�� talen Embleme, versenkt ist [6].

Zeugung und Genese

Wenn es die Freimaurerei wie in ihren Anfängen nur mit un­


belebter Materie zu tun hätte, könnten sich die theoretischen
Kenntnisse des einzelnen Maurers auf die Geometrie beschrän­
ken. Aber der Tempel wird erbaut mit Hilfe lebendiger Steine,
und seine Errichtung folgt physiologischen Gesetzen. Sie lehren
uns, wie beseelte Wesen sich aus einem Keim heraus entwickeln.
Der Initiierte muss deshalb tief in die Geheimnisse von Zeugung
und Genese eindringen, wenn er sich an der weit umspannenden
Konstruktionsleistung beteiligen will.

52 Der Geselle
Insbesondere ist es seine Aufgabe, die beiden Faktoren, die sich
bei der Zeugung eines Wesens verbinden, genau zu unterschei­
den. Dabei handelt es sich einerseits um eine aktive, konzen­
trierte Energie, die danach strebt sich zu entfalten, um einen
Organismus zu bilden, der in der Lage ist, die Funktionen zu
erfüllen, die seinen Lebensgrund darstellen. Dieser Geist der Ini­
tiative, des Ehrgeizes, der Eroberung und der maßlosen Ausdeh­
nung hat die Säule J. ·. zum Symbol, deren Pendant und oft auch
Gegengewicht die Säule B. ·. darstellt. Diese verkörpert nun die
begrenzende Zurückhaltung, ohne die die schöpferische Energie
sich verschleudern und verlieren würde. Sie kann doch nur dann
bewahrt, in die rechte Bahn gelenkt und sinnvoll angewendet
werden, wenn ihre geballte Wucht exakt auf einen Punkt hin dis­
zipliniert und klug koordiniert wird.

So ruht jedes bleibende Tun auf den beiden symbolischen Säu­


len, die völlig zu Recht vor dem Tempel des Großen Baumeisters
aller Welten aufgerichtet sind. Sie stellen die ewig schöpferische
Zweiheit dar, nach welcher sich alles verschwägert, entwickelt
und erhält, was geboren werden, leben, dauern und seine Be­
stimmung erfüllen soll. Da nun der Geselle dazu aufgerufen ist,
an dem Großen Werk mitzuarbeiten, muss er, um nützliche Hilfe
beim Aufbau des menschlichen Fortschritts leisten zu können,
in der Lage sein, bei der Schaffung jeden einzelnen Dinges sei­
nen Verstand sinnvoll einzusetzen. Die Zukunft wird von klugen
Werkleuten gestaltet, die die Gegenwart und ihre flüchtigen Be­
friedigungen verachten, aber wohl in der Lage sind, künftig sich
abzeichnende neue Lebensformen bereits in ihrem Keim zu be­
einflussen. Man muss zu den Quellen von Zeugung und Genese
zurückgehen, wenn sich die ehrgeizigen Transmutationen des
Adepten bewerkstelligen lassen sollen. Darin liegt die Bedeu­
tung der zweiten dem Buchstaben G zugeschriebenen Bedeu­
tung.

Unsere beiden Säulen beziehen sich im Übrigen auf den anti­


ken Zeugungskult, der der universalste religiöse Ausdruck der
urtümlichen Menschheit war, denn das Geheimnis des Lebens
und seiner Weitergabe hat die Menschen beschäftigt, seit sie fä-

Ritualistik des Gesellengrades 53


hig wurden zu denken. Zu dieser Zeit erschien ihnen die Zeu­
gungskraft als göttlich, und so ric;hteten sich ihre ersten Gebete
an Steine von phallischer Form, die auf Hügeln errichtet waren.
Die Menhire hatten einen entsprechenden Sinn, ebenso die Obe­
liske, die an die von Hiram aufgerichteten Säulen denken las­
sen, deren Form, wie sie nach biblischen Aussagen rekonstruiert
wurde, insoweit charakteristisch ist [7].

Alles, was sich auf die Zeugung bezog, blieb geheiligt, solan­
ge die Religionen des Lebens vorherrschten, deren Ideal ganz
irdisch ist, die aber durch die Religionen des Todes abgelöst
wurden, die Glückseligkeiten jenseits des Grabes versprechen.
Die Freimaurerei kommt von den Kulten des Lebens her, deren
Symbolik sie bewahrt hat. Sie lehrt die Menschen, sich auf Er­
den ihr gemeinsames Glück zu bauen, ohne ihnen jedoch zu ver­
bieten, an künftiges Leben zu glauben,
wenn dies ihrem Empfinden entspricht.
Aber die Sorgen um die Zukunft dürfen
den Maurer nicht von seiner aktuellen
Aufgabe des Bauens ablenken. Das vo­
rübergehende Leben hier unten gut zu
leben, das ist die unmittelbare Pflicht
vor allem des Gesellen, dessen Religion
die der Arbeit und der Tat ist.

Gravitation

Damit ein Bauwerk festen Stand hat, muss die Konstruktion auf
die Gesetze der Schwerkraft Rücksicht nehmen. Das Universum
selbst verdankt seine harmonische Durchbildung und seinen Zu­
sammenhalt der Anziehungskraft, die alle Körper jeweils auf­
einander ausüben. Die Gravitation, die dergestalt die physische
Welt beherrscht, wird im Bereich des Sittlichen zum Bild jener
Kraft des Zusammenhalts, ohne die die lebendige Materie des
maurerischen Bauwerks auseinanderfallen würde. Beschränkte
sich die Initiation auf die Schulung des Verstandes, könnte sie
zwar die individuelle Persönlichkeit bilden, wäre aber unfähig,

54 Der Geselle
Individuen zu kollektivem Handeln zu bewegen. Damit bliebe
ihr Werk ohne praktische Auswirkungen, denn der Mensch als
Einzelner kann nichts Großes schaffen; er wird mächtig nur in
der Verbindung. Aber die dauerhafte Vereinigung, die für jede
fruchtbare Gemeinschaftsaktion unerlässlich ist, ruht auf der
Basis der Gefühle, die die Mitglieder einer Verbindung gemein­
sam bewegen. Zu allen Zeiten hat es höchst interessante Philo­
sophenschulen und mehr oder weniger glanzvolle Zirkel von In­
tellektuellen gegeben. Aber alle diese Denker kamen erst an dem
Tag zu entscheidender Wirkung, als sie über eine Organisation,
wie sie etwa die Freimaurerei darstellt, verfügen konnten. Die­
se versammelt in sich nämlich nicht nur ähnliche Meinungen,
sondern auch übereinstimmende Gefühle. Sie verlangt von ihren
Anhängern, dass sie sich bis zur Preisgabe ihrer persönlichen
Interessen lieben und zugleich in einer tiefen Liebe zur Mensch­
heit vereint sind. Der Lehrling wird erst zum Gesellen befördert,
wenn er fähig ist, an der gemeinsamen Arbeit teilzunehmen,
indem er sich ihr mit dem Herzen nicht weniger als mit dem
Verstand verschreibt. Die Kraft des Denkens bleibt steril, wenn
sie sich nicht auf die Kraft der Liebe stützen kann. Der Mau­
rer muss also seine affektiven Fähigkeiten entwickeln, um dem
obersten Gesetz besser entsprechen zu können, das die Seelen
einander annähert und sie nach Art einer mystischen Gravitation
lenkt, deren Wirkungen sich unvermeidlich in allen Facetten der
menschlichen Persönlichkeit niederschlagen. Wie bei den bei­
den erstgenannten Bedeutungen verdient der Buchstabe G also
durchaus tiefere Überlegung auch in seiner dritten Bedeutung.

Geist

Dem Gesellen, dem es gelingt, den Lernauftrag seines Grades


psychisch zu bewältigen, arbeitet nicht mehr isoliert. Er geht in
dem, was er unternimmt, über sich selbst hinaus - wie von ei­
ner Eingebung begnadet, welche man einstens den Göttern, den
Musen, Engeln, Dämonen oder Geistern zugeschrieben hätte.
Wirklich stehen ihm geheimnisvolle Einflüsse zur Seite, aber sie
erklären sich auf natürliche Weise durch die psychologische

Ritualistik des Gesellengrades 55


Einwirkung, die die Gemeinschaft auf jeden Einzelnen ausübt,
der es verstanden hat, mit ihr wirksam zu einem Leib zu ver­
schmelzen. Es genügt nicht, der Freimaurerei einfach nur kör­
perlich anzugehören, indem man Mitglied einer Loge ist und den
materiellen Pflichten nachkommt, die man bei der Aufnahme
eingegangen ist. Man wird echter Maurer nur im Herzen, indem
man sich von den Vibrationen durchdringen lässt, die unsere pro­
fane Individualität verwandlungsmächtig umgestalten. Wir wer­
den erst dann zum wirklichen Arbeiter am Großen Werk, wenn
unsere geistige und sittliche Gesamtheit mit der großen Seele
aller Freimaurerei im Einklang schwingt. Dabei sollte jeder von
uns jenen besonderen Geist anstreben, an dem in der einen oder
anderen Ausprägung jeder Geselle Anteil hat.

Gnosis

Geselle ist ein Synonym für Genosse. Man kann nicht Geselle
sein, ohne Arbeitskollegen zu haben und mit ihnen ein einheit­
liches Kollektiv psychologischer Natur zu bilden. Dieses Kol­
lektiv wirkt auf den Einzelnen ein, und so verbreitet sich das
allgemeine Licht in jedem Einzelnen, soweit seine Geistigkeit
nur in der Lage war, sich dafür aufnahmefähig zu machen.

Jeder wahrhaft Initiierte genießt so eine Erleuchtung, die es ihm


erlaubt, sich Wissensschau, Gnosis, zu erringen, d. h. das für
jeden Geist, der in die Geheimnisse der Initiation einzudringen
verstanden hat, charakteristische Wissen. Diese Geheimnisse
zeichnen sich dadurch aus, dass sie schlechthin nicht mitteilbar
sind: Man muss sie aus sich heraus entdecken, um sie zu besit­
zen. Es sind Geheimnisse, die sich jeder Enthüllung entziehen,
denn sie führen zu solch erhabenen Wahrheiten philosophischer
Natur, dass das Wort unfähig ist, sie zu übersetzen. So wurde
auch die initiatische Philosophie noch nie in einer Sprache aus­
gedrückt, die sich an das Ohr wendet. Man braucht sie nicht
in einem geschriebenen Text zu suchen, nicht einmal in einem
mit solcher Ehrlichkeit erarbeiteten wie dem vorliegenden, der
zum Nutzen derer dienen, soll, die den Flammenden Stern sehen

56 Der Geselle
durften. Gnosis, Wissensschau, erwirbt man nur durch persön­
liche Meditation, die zahlreiche Symbole einbezieht, die den
Geist auffordern, ihren verborgenen Sinn zu enträtseln. Auf die­
sem Punkt wollen wir jedoch nicht allzu lange verweilen: Für
einen denkenden Menschen ergibt sich aus der Gesamtheit un­
serer Symbolik ein ganzes Lernprogramm der höchsten Stufe.
Verstehen wir es, die tiefste Bedeutung zu erfassen, wird unser
Verständnis sich in der strahlendsten Klarheit des Begreifens
erhellen. Dann dürfen wir - nunmehr im Besitz der Gnosis -
behaupten, dass wir den Buchstaben G wirklich kennen.

Der Geselle, Arbeiter


am großen Werk

Der Eid des Gesellen

Der Lehrling hatte die Verpflichtung eingehen müssen, Profanen


gegenüber zu schweigen, sich den Gesetzen der Freimaurerei zu
unterwerfen und seine Brüder zu lieben.

Der Geselle gibt sich nicht damit zufrieden, seine diesbezügliche


Verpflichtungserklärung lediglich zu erneuern, denn von einem
ausgebildeten Maurer kann man zu Recht verlangen, was man
von einem Anfänger nicht fordern kann.

Der Geselle muss seine Diskretion verdoppeln; er muss sich ins­


besondere davor hüten, den Lehrlingen Dinge erklären zu wol­
len, die sie noch nicht verstehen können. Man muss jeden Geist
sich entwickeln lassen, ohne den Versuch zu machen, dem Ver­
stand jene Etappenhindernisse aus dem Weg zu räumen, deren
er bedarf. Drängen wir niemals unsere Sicht der Dinge auf und
halten uns stets für die bereit, die weniger weit fortgeschritten
sind als wir.

Ritualistik des Gesellengrades 57


Die Disziplin des Schweigens gilt für den Lehrling vor allem
deshalb, damit er seine geistigen Kräfte nicht in verfrühtem Ge­
schwätz verschwendet. Man wird zum Denker nur, wenn man
in sich selbst zurückkehrt und sich darin übt, seine intellektuelle
Energie zu bündeln. Dadurch, dass man ein Geheimnis sorgsam
hütet, gewinnt man überdies das Vertrauen derer, die es einem
anvertraut haben, und kann in weiterer Zukunft darauf bauen.
Der Maurer, der es an der versprochenen Diskretion fehlen lässt,
entfernt sich dadurch automatisch vom Orden und verzichtet auf
alle geistigen und moralischen Vorteile der initiatischen Bruder­
schaft. Die ganze Kraft des Gesellen liegt also in seiner Teilhabe
an der Seele der Freimaurerei. Dem Schweigen kommt damit
vorrangige Bedeutung zu, und zwar schon deshalb, weil er dazu
aufgerufen ist, als Eingeweihter zu handeln, d. h. als wahrhaft
Verschworener im Denken und Wollen.

Bezüglich der treulichen Befolgung der Gesetze verspricht der


Geselle, sich in allen Dingen so zu verhalten, dass er es stets ver­
dient, den Lehrlingen als Beispiel vor Augen geführt zu werden.
Die Hingabe an seine Brüder betrifft ihn nunmehr unmittelbar
selbst, denn er empfängt immer nur so viel, wie er gibt. Wenn
er sich in einen dümmlichen Egoismus einschließt, wird er nie­
mals rechten Gewinn aus der Freimaurerei ziehen; das steht ge­
radezu mit mathematischer Sicherheit fest. Für denjenigen aber,
der wirkliches Verständnis entwickelt, stehen wohlverstandener
Egoismus und Altruismus vollkommen im Einklang miteinan­
der.

Alles fließt im Übrigen für den Gesellen in dem einzigen Ent­


schluss zusammen: ein wahrhaft Eingeweihter zu werden und
sich dementsprechend weiterzubilden, um sich mit ganzem Her­
zen dem Werk der Freimaurerei widmen zu können.

Das Tragen des Schurzes

Nachdem er den Eid seines Grades abgelegt hat [8], wird der
neue Geselle durch fünf Schläge mit dem Hammer geweiht.

58 Der Geselle
Dann wird seine maurerische Bekleidung leicht verändert, denn
ein Geselle unterscheidet sich äußerlich nur wenig von einem
Lehrling. Wenn er, genauer gesagt, im Bereich des Oberbauches
weniger bekleidet ist, so beruht dies darauf, dass er nicht mehr
gegen eine allzu große Beeinflussbarkeit anzukämpfen hat. Als
Geselle ist er seiner selbst inzwischen so sicher, dass er auf eine
übertrieben massierte Abschottung nach außen verzichten kann.
Um neue Fortschritte zu machen, muss der Initiierte in Bezie­
hung zur Außenwelt treten: Er zieht das diffuse Licht auf sich,
um sich ganz mit ihm zu durchtränken, damit er, wie es seine
Aufgabe ist, selbst zum Flammenden Stern wird. Dieses Em­
blem, oder vielmehr das in einfachen Linien gezogene Penta­
gramm, kann auf dem heruntergeklappten Oberteil des Schurzes
angebracht werden. Das umgekehrte Dreieck V versinnbildlicht
das Wasser, die Seele die Gefühlsstärke im Gegensatz zum Del­
ta!'!,., dem Symbol des Feuers, des Verstandes oder des aktiven
Tuns. Der Lehrling musste gegen die Elemente kämpfen, die
sich gegen ihn verschworen hatten, und dabei ständig Aktivi­
tät entwickeln. Nachdem er die gegen ihn anstürmenden Kräfte
gezähmt hat, kann er sie nun lenken und sich zu Nutze machen.
Das ist die Aufgabe des Gesellen, der, um wirksam handeln zu
können, auch fähig sein muss, sich in Klugheit passiv und auf­
nahmebereit zu verhalten. Denn wer nur immer großzügig geben
wollte, ohne je etwas zu empfangen, wäre rasch erschöpft und
ausgelaugt. Gerade weil der Gesellengrad der Grad des frucht­
baren Handelns ist, sieht er vor, dass der Einzelne seine Kräfte
einteilt und die außer ihm selbst vorhandene Energie aufgreift.

Ritualistik des Gesellengrades 59


Die Arbeit

Nachdem dem Lehrling die traditionellen Geheimnisse mitgeteilt


wurden, die es ihm erlauben, sich zu erkennen zu geben, wird er
zu den Brr. ·. Aufsehern geführt, die ihn prüfen. Erst nach dieser
Prüfung wird er zum Gesellen ernannt. Die „Geheimnisse", um
die es sich handelt, sind jedoch nicht nur symbolischer Natur.
Um wirklich als Eingeweihter des zweiten Grades erkannt zu
werden, muss man einen ganz anders gearteten Beweis erbrin­
gen. Am Fundament erkennt man den Maurer, und es ist seine
Art zu arbeiten, die sein Gesellentum nachweist.

Aber was versteht man nun in der Maurerei unter Arbeit? Allzu
oft verwechseln die Maurer das Symbol mit der Realität: Sie
glauben, sie hätten recht ordentlich maurerisch gearbeitet, wenn
sie nur fleißig an den ,,Arbeiten" ihrer Loge teilgenommen und
bei dieser Gelegenheit auch die Kauwerkzeuge kräftig haben zu
Ehren kommen lassen! Wer auf diesem Standpunkt steht, kennt
von der Maurerei leider nur den toten Buchstaben, von wirklich
initiatischer Arbeit weiß er nichts.

Diese Arbeit im eigentlichen Sinn, der sich die Weisen aller


Zeiten gewidmet haben, beschränkt sich bei Weitem nicht auf
die Abwicklung symbolischer Zeremonien, so bedeutsam sie
auch sein mögen. Das Große Werk, zu dem uns die Freimaurerei
zusammenführt, umfasst auch die effektive Beteiligung an einem
Unternehmen, das nicht sublimer sein könnte, denn es handelt
sich um nichts weniger als um die Erschaffung der Welt oder
ihre Vollendung, was auf dasselbe hinausläuft. Wir sind aufge­
rufen, den Gang des Fortschritts zu erkennen, die Zielrichtung
dessen zu erfassen, was sich vorbereitet, mit anderen Worten:
den Bau des Universums zu entschlüsseln, um in nützlicher Art
und Weise allüberall an der Freisetzung des Besseren mitwirken
zu können.

Da wir an der allgemeinen Vervollkommnung arbeiten, müs­


sen wir auch in der Lage sein, mit unserem Verstand, unserem
Herzen und unserem Willen ein sittliches Bauwerk zu errichten.

60 Der Geselle
Das wird der einzige Tempel einer immer weiter aufgeklärten
Menschheit sein, die allseits harmonische Tätigkeit entfaltet al­
lein auf Grund der Tatsache, dass sie von allen Übeln befreit ist,
die mit der Unwissenheit, dem Mangel an Intelligenz und Ver­
ständnis einhergehen oder, anders gesagt, von jenem Feind des
Fortschritts herrühren, der nur einen Namen trägt: die mensch­
liche Dummheit. Diese Dummheit, dieser Mangel an Intelligenz,
die für alle Leiden verantwortlich sind, die die Menschen einan­
der zufügen, verkörpert für den Initiierten den großen Gegner,
den Feind schlechthin [9]. Er ist ohne Unterlass zu bekämpfen,
und zwar zunächst in uns selbst, dann in unserer Umgebung.
Sich selbst aufzuklären, um danach anderen Aufklärung zu ver­
schaffen, das ist der wahre Inhalt der maurerischen Arbeit. Wir
arbeiten, wir kämpfen, um das Licht zu gewinnen und es dann
auszubreiten. Wir sind Arbeiter des Lichts, und als solche arbei­
ten wir am Großen Werk des Großen Baumeisters aller Welten
mit.

Das Ideal des Bauens

Als es darum ging, Bauleute in bestimmte transzendentale Vor­


stellungen einzuweihen, musste man auf Bilder zurückgreifen,
die ihnen vertraut waren. Sie hatten überhaupt keine Mühe, sich
das Universum als eine gewaltige Baustelle vorzustellen und
sich das Leben insgesamt als beständigen Arbeitsprozess zu er­
klären, der von einem höchsten Geistwesen gewollt und gelenkt
wird. Auch wenn wir sorgsam alle Klippen des Anthropomor­
phismus vermeiden wollen, so dürfen wir doch als denkende
Freimaurer altehrwürdige philosophische Überlieferungen nicht
leichthin zurückweisen. Das Leben aller Wesen ist mit höchster
Sicherheit mit konstruktiver Arbeit verbunden, der wir drei
Abschnitte zuordnen, die den drei Graden der Einweihung ent­
sprechen. Die Lehrlingszeit, in der der raue Stein abgeschlagen
wird, entspricht so der Jugend, in der das überströmende Leben,
das aus dem Keim emporschießt, das Individuum aufbaut und
es Schritt für Schritt mit allen funktionswesentlichen Organen
bewaffnet. Das Erwachsenenleben oder die Reifezeit schließt

Ritualistik des Gesellengrades 61


sich an und dauert fort, solange die Organe ihre Funktion gut er­
füllen können. Jetzt befinden wir uns mitten in der Gesellenzeit:
Der Aufbau des Menschen ist vollendet; er kann sich sinnvoll
und konstruktiv dem Wohl des Kollektivwesens widmen, von
dem er selbst nur eine winzige Zelle ist. Das ist die eigentliche
Arbeit des Gesellen: Er muss sich selbst für die Gattung, für
das gesamte Menschengeschlecht vergessen, so wie ein guter
Staatsbürger sich gegebenenfalls für das Vaterland vergisst. Und
wenn das Alter kommt mit seiner schicksalhaften Abnutzung der
Organe, arbeitet der Eingeweihte nicht weniger, aber die Arbeit
vollzieht sich weder auf derselben Ebene noch mit denselben
Mitteln: Zum Meister geworden, verfügt er über Erfahrung und
weiß zu führen.

In welchem Grad ein Maurer auch arbeitet, immer steht er im


Dienst einer universalen Intelligenz, die die Entwicklung der
Wesen lenkt. Er macht sich zum Agenten, zum Diener dieser
Intelligenz, zum Vollstrecker ihrer Absichten. Er ist ausführen­
des Organ, der Baumeister, der nicht seiner Laune folgt, sondern
sich dem allgemeinen Plan einfügt, nach dem alles sich aufbaut.
So jedenfalls verstanden es die Eingeweihten früherer Zeiten,
die sich als Adepten der Großen Kunst bezeichneten, die zu­
gleich priesterlich und königlich sein sollte. Da sie vorgaben,
den göttlichen Willen (den Plan des Großen Architekten) zu ken­
nen und sich seiner Vollendung zu widmen, stellten sie sich als
Priester dar und betrachteten diejenigen, die die Gutgläubigkeit
des Volkes ausbeuteten, als dieses Titels unwürdig. Andererseits
nannten sie sich Könige, da die Überlegenheit ihres Wissens ih­
nen erlaubte, die Köpfe der Menschen wahrhaft zu beherrschen.

Die Religion der Arbeit

Für den Maurer nimmt jede Arbeit einen heiligen Charakter an,
denn unter welcher Form auch immer sie sich vollzieht, immer
ist sie eingebunden in das große Tun, das alles, was ist, bestän­
dig verändert. Arbeiten heißt Nützliches tun, Gutes tun und ist
ein Werk wahrer Frömmigkeit. Weit davon entfernt sich zu er-

62 Der Geselle
niedrigen, erhebt sich der arbeitende Mensch zur Würde, denn
er wird dem Großen Handwerker und Baumeister gleich! Wieso
haben diejenigen, die an einen Schöpfergott glauben, dies nicht
bemerkt? Wie konnten sie die Arbeit als Übel auffassen, als Stra­
fe für einen von unseren Stammeltern begangenen Fehler? Wie
konnten sie zugleich das Idealbild des Glücks in ein so ewiges
wie absolutes Nichtstun verlegen?

Dieser Lehre der Faulheit, des Todes und der Auslöschung setzt
die Freimaurerei eine Philosophie entgegen, die die Tätigkeit,
das Leben und die ständige Bemühung preist, die nur unter­
brochen wird, um nach kurzer Erholungspause mit verstärkter
Kraft wieder aufgenommen zu werden. Wir können nichts an­
fangen mit einem Paradies aus Extase und Passivität, das uns
des edelsten aller Genüsse beraubt, der darin liegt, ein nützliches
und schönes Werk hervorzubringen. Ein Walhalla, in dem die
Krieger fortfahren, sich zu bekämpfen, hätte wenigstens das
Verdienst, nicht die Schreckensvision eines sogenannten ewigen
Lebens heraufzubeschwören, das aller wesentlichen Merkmale
des Lebens beraubt ist. Leben heißt in der Tat kämpfen, handeln,
arbeiten mit dem Ziel, ein Ergebnis zu erreichen; Aktionslosig­
keit dagegen heißt Tod.

Wie sollten wir unter diesen Umständen nicht unsere Aufgabe


als Arbeiter voller Begeisterung annehmen? Je besser wir ar­
beiten, desto mehr gelangen wir auf der Stufenleiter der Wesen
nach oben. Durch die initiatorische Arbeit nehmen wir schließ­
lich an der Schöpferkraft teil und vergöttlichen uns selbst! Die
Eingeweihten werden es verstehen. Vergessen wir dabei jedoch
nicht, dass das praktische Leben des Einzelnen mit dem großen
einen und universalen Leben verbunden ist, dessen Ziel der Auf­
bau der Welt, ihre harmonische Gestaltung und ihre Verbesse­
rung ist. Je mehr wir an diesem höheren Leben teilnehmen, desto
mehr leben wir wirklich. Nur darin gründen der Besitz ewigen
Lebens und jene wahre Unsterblichkeit, die wir anstreben sollen.
Jedes Organ existiert nur im Hinblick auf die Funktion, die es zu
erfüllen hat. Wenn wir also bleiben wollen, müssen wir uns auf
der Höhe der Funktion der Ewigkeit bewegen können. Um uns

Ritualistik des Gesellengrades 63


unsterblich zu machen, müssen wir uns rückhaltlos in den Dienst
des Großen Werkes stellen. Der gute Arbeiter wird immer seine
Beschäftigung finden; er verkörpert eine Kraft, die nicht verlo­
ren gehen kann. Indem wir uns zur Arbeit fähig machen, sichern
wir unsere Zukunft auf ewig.

64 Der Geselle
65
Ritualistik des Gesellengrades
Teil III

DER GESELLENGRAD UND


SEIN GEISTIGES UMFELD

,,ERKENNE DICH SELBST"

Das dreifache Rätsel

Wie Br.·. Ragon in seinem Werk Orthodoxie Ma9onnique sehr


richtig bemerkt hat, entsprechen die drei Einweihungsgrade den
Fragen, die der menschliche Geist sich stellt, seit er denken ge­
lernt hat:

Wo kommen wir her?


Wer sind wir?
Wo gehen wir hin?

Jede Philosophie zielt wie jede Religion darauf ab, diese drei­
fache Problematik zu lösen. Auf ihrer Entschlüsselung beruhen,
metaphysisch betrachtet, alle menschlichen Gesellschaften, da
unsere Art zu handeln im letzten Verständnis determiniert ist von
unseren Vorstellungen über den Ursprung der Dinge, das We­
sen unserer Persönlichkeit und unsere letzte Bestimmung. Unser
Verhalten sucht sich stets logisch zu rechtfertigen. Die Ideen,
die wir über den Grund unserer Existenz entwickeln, und über
die Beziehungen, die uns mit der Gesamtheit aller Dinge ver­
knüpfen, sind demnach von größter Bedeutung. Alle Zivilisa­
tionen sind auf ähnlichen Ideen aufgebaut. Um die Welt neu zu
gestalten, muss man damit beginnen, alte Überzeugungen neu zu
beleben, andernfalls kann man nur umstürzen und nichts Neues
machen. Als Maurer sind wir zum Bauen verpflichtet, und wenn

66 Der Geselle
wir im Zuge dieser Arbeit gezwungen sind einzureißen, dann
nur, um sogleich wieder aufzubauen.

Was sind wir?

Dem Lehrling wurde die Frage gestellt, woher er kommt, und


er musste eine Antwort aus sich selbst heraus finden können,
indem er über die verborgenen Eigenschaften der vier ersten
Ziffern meditierte [10]. Auch der Geselle muss sich auf die Su­
che machen, dieses Mal jedoch, um herauszufinden, was er ist.
Er muss sich an das sokratische Prinzip halten, das da lautet:
fNQ0I :EEAYTON, erkenne dich selbst.

Damit ist der Mensch der Hauptgegenstand der Studien des Ein­
geweihten des zweiten Grades, wobei seine Überlegungen sich
zweckmäßigerweise zunächst mit den beiden klassischen Defi­
nitionen beschäftigen sollten, deren eine den Menschen als ver­
nunftbegabtes Tier, die andere als eine vom Körper unterstützte
Intelligenz darstellt.

Diese Formeln regen uns dazu an, als Erstes zu erforschen, was
denn das Tier ausmacht, das heißt das lebende Wesen. So wird
die entscheidende Frage des Gesellengrades aufgeworfen: Was
ist das Leben? Dann muss man sich fragen, was ist die Vernunft,
dieses Licht, das den Menschen, indem es ihn erleuchtet, von
einem reinen Instinktwesen abgrenzt? Worin besteht nun ande­
rerseits die Intelligenz, wie bringt sie die Organe dazu, ihr zu
gehorchen, und wie kann sie dazu kommen, die Materie zu zäh­
men, um sie zu beherrschen und als Souverän zu regieren?

Wir wollen hier die Neugier des Lesers nicht durch eigene Aus­
führungen befriedigen. Unsere Rolle besteht nur darin, ihn dazu
zu verpflichten, selbst zu denken, wobei wir es tunlichst ver­
meiden, ihm eine Lehre vorzugeben, die er sich dann nur noch
anzueignen hätte. Wir dürfen also nur in Symbolen antworten,
wenn wir den initiatischen Traditionen treu bleiben wollen.

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 67


Das Leben

Leben

Leben ist ein Synonym für Handeln. Alle Wesen leben nur, um
eine Funktion zu erfüllen, eine Aufgabe, die ihnen durch die Tat­
sache ihrer bloßen Existenz gestellt ist. Wir leben nur, um zu
arbeiten. Die Arbeit beginnt für uns eigentlich schon mit unserer
Empfängnis. Zunächst müssen wir unseren Organismus aufbau­
en, d. h. das Instrument, das es uns erlaubt, außerhalb unseres
Selbst tätig zu werden.

Die Vollendung und anschließende Inbesitznahme des Werk­


zeugs namens Körper stehen in Beziehung zur Lehrzeit. Der
Einzelne wird Geselle, sobald er, der sich jetzt vollkommen
selbst besitzt, sich bereit fühlt für eine neue Aufgabe, d. h. für
die eigentliche Arbeit, zu der er berufen ist. Als Geselle arbeiten
heißt, ein Werk von allgemeinem Nutzen in Angriff zu nehmen,
heißt, sich als Einzelner in den Dienst der Gemeinschaft zu stel­
len, der man sich verschreibt.

Der Lehrling bleibt Egoist in dem Sinne, dass er an sich selbst


arbeitet und seine eigene Vollendung verfolgt. Er geht nach dem
Prinzip vor: Gut organisierte Wohltätigkeit beginnt bei sich selbst.
Um geben zu können, muss man erwerben; man muss Dinge an
sich ziehen, sie ergreifen und sich aneignen. Dieser Egoismus ist
zwingend notwendig: Er ist die Basis jeder Zukunft. Jedes Ein­
zelwesen konstituiert sich auf Kosten seiner Umgebung. Es ist
gezwungen, sich gleichsam zum zentralen Sammelpunkt zu ma­
chen, sich gewissermaßen aufzulehnen gegen alles andere, auch
gegen das Leben im Allgemeinen, dessen kollektivem Strom er
seinen ganz eigenen Strom entgegensetzt.

Solcher Widerstand ist jedoch nicht auf Dauer angelegt. Es


kommt eine Zeit, in der das Individuum den Gipfel seines
Wachstums erreicht hat, die Mitte des Lebens [11). Das Kollek­
tiv, dessen integraler Bestandteil er ist, verlangt sein Recht. Es

68 Der Geselle
verlangt, dass der Einzelne, ohne sich selbst zu vergessen und
die Bewahrung seines Ich zu vernachlässigen, sich mehr und
mehr der allgemeinen Interessen bewusst wird und die eigenen
Interessen den seinigen unterordnet.

Um den Lohn an der Säule J. ·. zu empfangen, muss man von ei­


ner starken inneren Energie Zeugnis abgelegt haben, die aus sich
selbst geschöpft ist. Sobald man jedoch diese Kraft erworben
hat, muss man sie großzügig verteilt haben, wenn man sich der
Säule B. ·. nähern will, wo nur diejenigen belohnt werden, die
sich durch ihr eigenes Opfer selbst geschwächt haben.

Was geschieht im Organismus mit einer Zelle, die sich zum


Wohle des Ganzen abgearbeitet hat? Sie liegt vorübergehend
danieder, aber unverzüglich kommt ihr der restliche Gesamtor­
ganismus zu Hilfe; sie wird gestärkt, damit sie wieder neue Kraft
entfalten kann. Statt schwach zu bleiben, stählt sie sich für neue
Tätigkeiten, und zwar gerade dadurch, dass sie wieder aktiv
wird. Vergleichbares vollzieht sich bei Menschen, die nicht nur
für sich selbst leben. Sie haben alles Interesse daran, ein volles
Leben zu leben - und dies schließt das Leben ihrer Ahnen, ihrer
Rasse, ihrer Nation und schließlich der Gattung selbst mit ein,
die als Kollektivwesen, deren Bestandteil sie sind, betrachtet
wird.

Ebenso wie der Lehrling danach strebt, das Licht zu sehen, so


soll der Geselle sich darum bemühen, ein höheres Leben zu le­
ben.

Altruismus

In Kapitel V eines kleinen Traktats aus dem Jahre 1775 mit dem
Titel Le Grand ffiuvre devoile en faveur des Enfants de la Lu­
miere [12] lesen wir Folgendes:

„Das Leben ist zu kurz für Menschen, die denken; es ist zu lang
für diejenigen, die nicht denken. Die Zeit vergeht schnell, wenn

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 69


man sich beschäftigt, langsam, wenn man nichts tut. Das Le­
ben besteht ausschließlich im Tätigsein. Ohne Tätigkeit unter­
scheidet sich das Leben in nichts vom Tode. Müßig zu leben,
heißt nicht leben, sondern vegetieren. Sich nur für sich selbst zu
beschäftigen, heißt nur halb zu leben. Sich um das allgemeine
Glück der Menschen zu kümmern und dementsprechend zu han­
deln, das heißt wahrhaft leben und spüren, dass man lebt. Wie
wenig Menschen gibt es doch auf der Welt, die leben, und wie
viele gibt es nicht, die, statt zu leben, nur dahinvegetieren!

Die Reichen, allzu stolz in ihrem Überfluss und zu betäubt von


dem Weihrauch, den die Schmeichler nicht müde werden, über
sie auszugießen, fühlen nicht, was leben heißt; die Armen, nie­
dergedrückt von ihrem Elend und gedemütigt von der Verach­
tung, die man ihnen entgegenbringt, fühlen es auch nicht. Und
diejenigen, die sich zwischen den Großen und den Kleinen be­
finden, zwischen den Reichen und den Armen, die sich oft genug
nur mit dem befassen, was sie selbst betrifft, fühlen es auch nicht
mehr.

Wer also lebt statt zu vegetieren? Die Philosophen. Ja, nur die
Philosophen sind es, die spüren, was Leben ist, die alle Vorzüge
des Lebens kennen und daraus Nutzen zu ziehen verstehen. Nicht
zufrieden damit, für sich zu leben, leben sie außerdem noch für
die anderen, und nach dem Beispiel des großen Hermes, dessen
Schüler sie sich nennen und es voller Stolz auch sind, leben sie
nur, um der menschlichen Gesellschaft Gutes zu tun."

Der Verfasser dieser zutiefst initiatischen Zeilen lässt überdies


deutlich werden, dass der Durchschnittsmensch arbeitet, um zu
leben, während es Sache aller wahrhaft Weisen ist, zu leben, um
arbeiten.

70 Der Geselle
Die Schlange der Eingeweihten

Die niederen Lebewesen werden in ihrem Verhalten von den Ge­


setzen ihrer Gattung determiniert. Es sind Automaten, die unver­
änderlich auf empfangene Impulse reagieren. Ihr Einzelleben ist
damit einem allgemeinen Leben untergeordnet, innerhalb des­
sen sich das Dasein dieser Einzelnen abspielt. Dieser von jeder
persönlichen Verantwortung freie Automatismus entspricht dem
Zustand naiver Unschuld, dessen Glückseligkeit die Dichter be­
schworen, als sie ein der Herrschaft des Jupiter vorausgehendes
goldenes Zeitalter besangen.

Nun verkörpert der Herr der Götter und Menschen das Prinzip
der Bewusstheit. Aus diesem Anspruch heraus zeugt er Miner­
va, die Weisheit, die in voller Rüstung seinem Kopf entspringt.
Ihre Herrschaft beginnt, sobald die Einzelnen sich ihrer selbst
bewusst werden. Dann treten sie aus dem Stadium des Unbe­
wussten oder der reinen Instinkthaftigkeit heraus, das sie Saturn
unterwarf, dem Gott des Schicksals oder des blinden Fatums.

In der Genesis sind diese Vorstellungen in den Mythos vom ir­


dischen Paradies umgesetzt [13], jenen Ort des Glücks, wo die
primitive Menschheit nichts anderes zu tun hat, als sich leben
zu lassen nach Art der Tiere oder des noch nicht in das Alter des
Begreifens eingetretenen Kindes.

Die verführerische Schlange, die dazu anleitet, in die Frucht vom


Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu beißen, verkörpert
einen ganz besonderen Instinkt, und zwar nicht mehr jenen des
Bewahrens, sondern den zugleich edleren wie subtileren Impuls,
der im Wesentlichen darauf gerichtet ist, dem Einzelnen die Not­
wendigkeit klar vor Augen zu führen, auf der Stufenleiter der
Wesen emporzusteigen. Dieser geheime Stachel ist es, der jeden
Fortschritt antreibt und alle Eroberungen, die den Handlungs­
spielraum der Individuen und der Gesellschaften erweitern.

Das erklärt, warum die Schlange, Anstifterin zu Ungehorsam,


Auflehnung und Umsturz, von den Theokratien der Antike

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 71


verflucht wurde, während sie bei den Eingeweihten in hohem
Ansehen stand. Diese waren nämlich der Auffassung, dass es
nichts Heiligeres gebe als die Bestrebungen, die uns dazu brin­
gen, uns nach und nach den Göttern zu nähern, die als personale
Mächte angesehen wurden, deren Auftrag es war, das Chaos zu
bereinigen und die Welt zu regieren. Sich der Gottheit gleich zu
machen, das war das Ziel der antiken Mysten. Der Myste ver­
göttlichte sich, indem er sich reinigte und geistig-sittlich über
die vulgäre Ebene der Menschen erhob. Das Programm der
Initiation hat sich bis in unsere Tage nicht geändert; auch der
heutige Maurer vergöttlicht sich, aber er ist sich bewusst, dass
er dies nur kann, wenn er in göttergleicher Weise arbeitet, das
heißt sich daran gibt, die unvollkommen gebliebene Schöpfung
zu vervollkommnen. Über die Triebhaftigkeit des Menschseins
erhoben, macht sich der Baumeister als ausführendes Organ des
göttlichen Plans zum Gott im antiken Sinne des Wortes.

Die Vernunft

Das Lebewesen, das bis dahin rein instinktiv gewesen war, hat
sich nun von seiner schützenden Vormundschaft befreit, indem
es sich seiner selbst bewusst wurde. Von jetzt an auf sich selbst
gestellt, auf sein noch unsicheres Denkvermögen und sein eige­
nes noch ungewisses Urteil, genießt der Mensch nicht mehr die
unfehlbare Klarheit, die sich mit dem Instinkt verbindet. Er steht
also außerhalb des Paradieses, aus dem er sich selbst vertrieben
hat und wohin er nicht mehr zurückkehren kann.

Er hat nicht blind gehorchen wollen - jetzt muss er verstehen


lernen, wissen lernen, warum sein Tun in diese oder jene Rich­
tung zielt. Anders ausgedrückt: Jetzt ist die Vernunft zu seiner
Führerin geworden.
Anfangs ist sie nichts als ein flackernder Schein, ein leichter
Funken, wie er beim Aneinanderreihen von Hölzern entsteht,

72 Der Geselle
wenn man Feuer macht. Aber das armselige Kind der Mythen
und Legenden wird größer. Es wird der Verfolgung durch die
Mächtigen der Erde entgehen, die sich vergeblich gegen den
künftigen Meister zusammenschließen. Die Vernunft wird näm­
lich schlussendlich die Herrschaft antreten, aber das geht nicht
ohne Kampf. Ein Mensch wird nicht mit einem Schlage voll­
kommen vernünftig. Er kann sich nur auf eigene Kosten wei­
terbilden und wird die Erfahrung, die er nur ganz allein erwer­
ben kann, sehr teuer erkaufen müssen. Uns ist nur gegeben, die
Wahrheit unter Mühen zu entwirren, nachdem wir von Irrtum zu
Irrtum getaumelt sind. Wir erkennen das Gute erst, wenn wir das
Böse erlitten haben, und es fällt uns sehr schwer, unsere wahren
Interessen zu begreifen. Warum? Weil unsere Vernunft verdun­
kelt ist. Wir haben noch nicht gelernt, uns ihrer zu bedienen. Es
geht um Klarheit, die allzu oft mehr blendet als erhellt. Soweit
wir dem Instinkt unterworfen sind, sind auch unsere Handlungen
den ihnen entsprechenden Bedürfnissen unterworfen. Werden
wir von einer Art Halb-Vernunft geleitet, machen wir uns nur
allzu leicht willkürliche Vorstellungen, die dann unser Vorgehen
entsprechend beeinflussen. Dann kommt der Mensch dazu, we­
niger vernünftig zu handeln als das Tier. Er tut unsinnige Dinge,
die, würde er sich dessen nicht früher oder später bewusst, zu
seiner Erniedrigung führen müssten. Das Gefühl seiner Würde
lässt ihn sich schämen, und deshalb bemüht er sich, vernünftig
zu werden. Denn die Vernunft macht den ganzen Adel des Men­
schen aus. Weist er sie zurück, fällt er unter das Niveau der Tiere.
Steht ein Trinker nicht tiefer als sein Pferd oder sein Hund?

Pflegen wir also unsere Vernunft, werden wir im Vollsinne ver­


nünftig, wenn wir uns zum wahren Menschentum erheben wol­
len! Sich als Mensch im initiatischen Verständnis des Wortes
bezeichnen zu dürfen, muss darüber hinaus das höchste Bestre­
ben des wirklich Weisen sein. Wir sind göttlich, wenn man dem
Begründer des Christentums Glauben schenken will, der, von
der Steinigung bedroht, weil er sich zu Gott gemacht habe, die
Juden besänftigte, indem er ihnen den 82. Psalm, Vers 6 vorhielt,
in dem geschrieben steht: ,,Ich habe gesagt: Ihr seid Götter."
(Evangelium nach Johannes, Kapitel 10, Vers 34)

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 73


Der Verstand

Der Mensch

Alles, was in seiner Gesamtheit ein lebendes Wesen ist, hält


sich im Universum. Jedenfalls war dies die Vorstellung, die sich
die Eingeweihten der Antike machten. Deren Überlieferungen
sollten wir nicht deshalb sammeln, um sie blindlings als wahr zu
übernehmen, sondern weil sie uns dazu zwingen, überzeugende
Grundlagen für fruchtbare weitere Meditationen zu entwickeln.

Stellen wir uns also das Universum als einen Organismus vor, der
in seiner eigenen organischen Einheit alle anderen Organismen
umfasst. Im Herzen dieses großen Organismus wird uns jener
Sternennebel, dem unser Sonnensystem angehört, als ein Organ
erscheinen, dessen wesensbestimmende Elemente die Himmels­
körper sind. Da haben wir dann unseren Erdball, diese „Welt",
die uns so groß erscheint, auf nichts als ein Atom zurückgeführt
oder, genauer gesagt, auf eine Zelle des wahren kosmischen Or­
ganismus. Aber wir, die wir auf der Oberfläche dieses winzigen
kugelförmigen Sterns herumwimmeln, was können wir in Bezug
auf ihn eigentlich sein?

Wie jedes Individuum besitzt auch dieser Himmelskörper seine


eigene Lebenskraft in Form innerer Wärme; aber er unterliegt
äußeren Einflüssen, vor allem jenen der Sonne und des Mondes,
die die physikalischen Erscheinungen bestimmen, mit denen
sich die Meteorologie befasst. Die innere planetarische Wärme
beherrscht wesentlich das, was man das mineralische Leben
nennen könnte, denn in ihren tiefsten Schichten ist die Erdsub­
stanz durchaus lebendig. Nur an der Oberfläche bietet sie den
Anschein unbeweglicher Starre und ähnelt darin den abgestor­
benen Zellen unserer Epidermis.

Die Struktur unseres Haares entspricht - immer derselben Ge­


dankenwelt folgend - dem pflanzlichen Bereich. Was die Tiere
angeht, so liefern sie eine Analogie zu den Teilchen, die im Blut

74 Der Geselle
und der Lymphdrüse zirkulieren. Derartige Verbindungen füh­
ren im Übrigen keineswegs zu einem starren Parallelismus, denn
wenn auch zwingende und notwendigerweise einheitliche Ge­
setze für jede Baustruktur gelten, so berücksichtigt doch jede
einzelne lebendige Konstruktion die Bedürfnisse, denen sie sich
anzupassen hat.

Eine Kugel, die sich mechanisch durch den Weltraum bewegt,


die sich weder um ihren Antrieb noch um ihre Nahrung küm­
mern muss usw., wüsste nicht, was sie mit einem Denkorgan
anfangen sollte, das, wie das unsere, in seiner Schädelhülle fi­
xiert und durch die Nerven mit Organen verbunden ist, die teils
der Empfindung, teils der Bewegung dienen. Wenn die Erde
,,denkt", genießt sie den unschätzbaren Vorteil, sich selbst ver­
gessen zu können. Darf man aber überhaupt annehmen, dass ein
Himmelskörper denkt? Man kann zugeben, dass er mineralisch
lebt; aber womit sollte die Erde denken? Ganz einfach mit dem
Gehirn des Menschen, antwortet darauf die Überlieferung oder,
wenn man so will, die Paläosophie. Jedes denkende Individuum
wäre dann in gewisser Weise nichts anderes als eine Gehirnzelle
der Erde.

Diese Konzeption wurde bisher noch nie so formuliert, sie ergibt


sich aber logischerweise aus den Vorgaben uralten initiatischen
Denkens, denen zufolge die Menschheit in ihrer Gesamtheit als
denkendes Organ des Planeten erscheint. Isis, Ceres und die Di­
ana von Ephesus verkörperten die Erde, deren Mysterien sich
einem Denken enthüllen, das begriffen hat, was ist, und sich der
ihm zukommenden Rolle bewusst, aber zugleich selbstvergessen
genug ist, um getreu seiner Bestimmung dem Gesetz zu folgen.

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 75


Der Eingeweihte und seine
überpersönliche Schöpfung

Der Eingeweihte

Als denkendes Wesen hat der Mensch an der Göttlichkeit Anteil,


er ist göttlich, denn er ist das Organ, dank dessen sich das Den­
ken unseres planetarischen Gottes objektiviert. Dieser Mensch­
heits-Gott ist für jeden von uns das, was unsere Persönlichkeit
für die Zellen der grauen Substanz unseres Gehirns ist. Er ist ein
Ergebnis, ein synthetisches Ganzes, das mit seinen elementaren
Komponenten reagiert. Ebenso wie wir als Einzelne jeweils
über Intelligenz, Gedächtnis, Willen, Phantasie usw. verfügen,
so besitzt auch die Menschheit insgesamt das, was man sich an­
gewöhnt hat, Seele zu nennen. Diese psychische Kollektivein­
heit war immer schon unter vielen Namen die große Göttin der
Eingeweihten des Altertums, die Braut des Licht-Gottes, dessen
Strahlen das ganze Universum erleuchten. Der Initiierte unter­
schied sich von den gewöhnlichen Menschen durch die Kennt­
nis der Mysterien, die ihm das Gefühl seiner W ürde verliehen.
Er empfand sich als privilegiertes Wesen, das an der Herrschaft
über die Welt beteiligt sein durfte; denn die höchste Gottheit,
jene, die der Entwicklung und Gestaltung aller Dinge vorsteht,
sollte es ja gewesen sein, die ihm diesen Glauben eingeflößt hat­
te, indem sie ihm die Geheimnisse offenbarte, die dem gemeinen
Mann verborgen blieben.

Diese Geheimnisse hatten einen bedrohlichen und heiligen Cha­


rakter. Ihre Enthüllung, einmal unterstellt, sie wäre machbar
gewesen, hätte dem schlimmsten Sakrileg entsprochen. Aber
das initiatische Geheimnis bleibt seiner Natur nach unverletz­
lich. Worte können es nicht ausdrücken, kein Verstand kann es
erfassen, ohne eben dadurch eine tiefgreifende Veränderung
zu erfahren. Der Initiierte denkt nicht mehr so, wie er früher
zu begreifen gemeint hat; sein Wille prägt sich nicht mehr un­
kontrolliert aus wie ehemals. Er ist zu einem Wesen geworden,
das als Individuum nicht mehr sich selbst gehört. Ohne seine

76 Der Geselle
persönlichen Interessen zu missachten oder zu vernachlässigen,
soweit sie ihre Berechtigung haben, ordnet der Eingeweihte sie
dennoch anderen, allgemeineren und edleren Interessen unter. Er
steht im Dienste dessen, was geschieht und geschehen soll, wo­
bei er in allem als kluger Arbeiter an der universalen Verwand­
lung des Bösen in das Gute mitwirkt, anders ausgedrückt, als
aufgeklärter Bauwerker des Fortschritts oder, maurerisch gesagt,
als geschickter Steinmetz bei der Verwirklichung des Plans des
Großen Baumeisters aller Welten.

Das Große Werk

Weil sie in die verbotene Frucht gebissen hatten, wurden unsere


Stammeltern zur Arbeit verurteilt. Sklaven ihrer physischen Be­
dürfnisse mussten sie sich abmühen, um zu leben, und hart um
ihren Lebensunterhalt kämpfen. Wenn sie schon mit äußerster
Strenge bestraft wurden, sie, die sich mit ihrer ungehorsamen
Neugier nur furchtsam an der lockenden Frucht versucht hatten -
was soll dann die Strafe für die Initiierten sein, die gottlos genug
sind, sich systematisch von der verbotenen Speise zu nähren?
Auch sie können ihr Verbrechen nur durch Arbeit sühnen; aber
ihnen ist nicht mehr einfach nur auferlegt, im Schweiße ihres
Angesichtes ihr Brot zu verdienen mit der Aussicht, Ruhe erst
im Grabe zu finden. Zu dieser rein menschlichen Arbeit kommt
beim Eingeweihten eine Arbeit anderer Art hinzu, die sich durch
einen wahrhaft übermenschlichen Charakter auszeichnet.

Das ist die Arbeit der Elohim, jener Er-die-Götter, die die Gene­
sis als den Ursprungsort des Lichtes bezeichnet, das das Chaos
ordnet. Es ist eine Tätigkeit, die weder Anfang hat noch Ende:
Sie ist ewig und von keiner Ruhepause unterbrochen. Das We­
sen, das sich ihr verdingt, verurteilt sich zu ständigem Tun,
welches nie ein Ende findet, selbst nicht mit dem Verbrauch des
Werkzeugs Körper.

Eine solche Arbeit wird uns von keiner äußeren Notdurft aufge­
zwungen: Wir bleiben frei, sich ihr zu entziehen; aber wenn wir
dies tun, laufen wir Gefahr, eines Tages schlicht und einfach nur

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 77


unsere Ruhe zu finden, indem wir aufhören zu existieren. Wenn
das unser Ehrgeiz nicht ist, müssen wir arbeiten lernen, denn Ar­
beit ist Leben, und allein das Große Werk kann uns unsterblich
machen. Die ewige Ruhe entspräche einer Auslöschung, wenn
so etwas vorstellbar wäre. Es gibt aber nichts, was im Zustand
absoluter Bewegungslosigkeit wäre: Selbst die Mineralien ver­
danken ihre scheinbare Festigkeit dem wahnwitzigen Wirbel ih­
rer Atome.

Die Persönlichkeit

Das Bewusstsein seiner selbst führt zum Empfinden des Ich. Je­
der von uns fühlt sich als Meister auf einem bestimmten Gebiet,
das nur ihm gehört. Das Ich herrscht also wie ein Gott über alles,
was sein ist. Aber ist unser Ich ein wirkliches Wesen, eine objek­
tiv fassbare Einheit? Entgegen der herrschenden Meinung ist es
nichts aus sich selbst; es ist nur eine Interferenzerscheinung, eine
geistige optische Täuschung. Man muss deshalb dahin kommen,
sich zu sagen: ,,Ich weiß, dass ich nichts bin", so wie Sokrates
gesagt hat: ,,Ich weiß, dass ich nichts weiß."

Wenn aber das individuelle Ich eine Illusion ist, soweit es um


seine objektiv fassbare spirituelle Existenz geht, so existiert es
nichtsdestoweniger nach Art eines Konzentrationszentrums, in
dem sich die geistigen Strahlungen brechen, die in unseren psy­
chischen Bereich eindringen. So wird das Ich zum Mittelpunkt
der Seele, die aus unseren Eindrücken, unserem Gedächtnis, der
Gesamtheit der von unserer Vorstellungskraft aufbewahrten oder
von ihr zusammengesetzten Bilder, unseren Strebungen, unseren
Wünschen, den von uns gefassten Entschlüssen, unserem über­
kommenen Ahnenerbe usw. besteht. Unsere Seele verändert sich
aber nun ständig infolge der Einflüsse, denen sie ausgesetzt ist.
Dadurch zeigt sich unser Ich, auch wenn es in seiner Abstrakt­
heit fest bleibt, nach außen hin den Umständen entsprechend un­
terschiedlich. Sobald wir aus unserem Normalzustand heraustre­
ten, etwa im Zorn, in der Trunkenheit oder im Wahnsinn, scheint
unser Ich sich verändert zu haben.

78 Der Geselle
Nichts zwingt uns also zu glauben, dass es in uns so etwas wie
einen besonderen göttlichen Funken gebe, der das Überdauern
unseres Ich über die Grenzen der irdischen Existenz hinaus si­
cherstellte. Und dennoch hat der Mensch immer den ahnungs­
vollen Eindruck gehabt, dass das Leben unzerstörbar ist, dass es
sich verwandelt, dass es zwar Erscheinungsform und Seinsweise
ändert, aber niemals verlöscht. Zweifellos geht nichts verloren,
weder im geistigen oder sittlichen Bereich noch im Bereich der
Kräfte oder der Materie. Aber, wie man bei Menschen unter
Hypnose hat beobachten können, die Zustände des Bewusstseins
sind bei ein und derselben Person vielfältig. Das Ich kann nach
Maßgabe der festgestellten Beeinflussung jeweils variieren.

Unter solchen Bedingungen wird unsere Persönlichkeit zu einer


Drahtpuppe. Wir sind nur, was wir sein müssen, um unsere Rolle
als Marionetten im Welttheater zu spielen. Aber wir sind leben­
dige Marionetten, denn das Leben ist ein Ganzes. Diese Einheit
des Lebens allein kann uns unsterblich machen, indem sie uns
teilnehmen lässt an der Unsterblichkeit des All-Großen, das al­
lein Wirkkraft besitzt. Denn eine zwergenhafte, engbrüstige Un­
sterblichkeit des Individuums oder der Person widerspricht jeder
gesunden Vernunft.

Individuen sind ephemere Ausprägungen einer Gattung, die al­


lein ein längerfristiges Leben besitzt, das mit dem universellen
Leben verbunden ist. Lösen wir uns von der Enge unserer Per­
sönlichkeit, um uns zur Menschheit zu erheben! Indem wir uns
humanisieren im Sinne der Eingeweihten, werden wir mit dem
identisch, was auf Dauer bleibt. Um ein höheres und dauer­
hafteres Leben zu leben, müssen wir fähig sein, von den Armse­
ligkeiten unseres Ich Abstand zu nehmen, indem wir uns ange­
wöhnen, in menschheitsbezogener Weise zu denken, zu fühlen
und zu wollen.

Der Gesellengrad und sein geistiges Umfeld 79


Teil IV

PFLICHTEN DES GESELLEN

Pflichten des Gesellen

Beharrlichkeit

Der Geselle muss arbeiten und insoweit den Lehrlingen ein gutes
Beispiel geben können. Er zeigt sich ihnen gegenüber außerdem
diskret, wie sie gehalten sind, gegenüber Profanen zu schwei­
gen. Wenn er lehren will, begnügt sich der Initiierte damit, zu
denken zu geben, und enthält sich stets jeder dogmatischen Aus­
sage. Seine Methode heißt Predigt durch Beispiel.

Der Geselle hat als solcher mit besonderer Beharrlichkeit an den


Arbeiten seiner Bauhütte teilzunehmen. Jede Gleichgültigkeit
gegenüber dem Kollektiv, dem er sich freiwillig angeschlossen
hat, lockert das Band, das ihn mit jenem verknüpft. Den Lohn
des zweiten Grades und damit den Gewinn aus der Lebenskraft
der Maurerei kann er nur erlangen, indem er mit der in seiner
Loge verkörperten organischen Einheit einen Leib bildet.

Nicht jeder Maurer kann den Anspruch erheben, ein genialer


Denker zu sein; aber es sind nicht immer die brillantesten Köpfe,
die der Sache des Fortschritts am besten dienen. So unreflektiert
sie auch sein mag, ist doch jede ehrliche Hingabe eine gewaltige
Kraft, und wir alle, wie bescheiden wir auch dastehen, haben die
Möglichkeit, als wahrhafte Gesellen zu arbeiten. In diesem Grad
müssen wir vor allem unser Herz in Aktion treten lassen, woran
ja auch das Ordnungszeichen erinnert.

80 Der Geselle
Aber unsere Begeisterung als Maurer, unsere Hingabe an die
Maurerei lassen sich letztlich nur an dem Eifer ablesen, mit dem
wir alle Arbeiten unserer Loge besuchen. Auch wenn sie nicht
immer sehr interessant sind, sollen wir doch keine Angst davor
haben, ihnen profane Annehmlichkeiten oder Vorteile zu opfern.
Der wahre Maurer, den eine unwandelbare Entschlossenheit
davor zurückhält, außer in Fällen höherer Gewalt eine Zusam­
menkunft seiner Loge zu versäumen, bringt seinen Brüdern je­
des Mal ein unschätzbares Stück psychischer Energie mit. Er
trägt dazu bei, jene menschliche Batterie dynamisch aufzuladen,
deren eigentliche Bestandteile die wirklich aktiven Mitglieder
einer Loge sind.

Aber der Geselle kann von der Gemeinschaft nur in dem Maß
empfangen, in dem er selbst gibt. Kalt, gleichgültig, skeptisch,
nichts beitragend - so kann er aus der Maurerei weder geistigen
noch moralischen Nutzen ziehen. Er erschließt sich jedoch eine
ungeheure Kraftquelle, wenn er sich die Maurerei zu Herzen
nimmt, wenn er sich von ihrem Ideal inspirieren und für ihr Werk
begeistern lässt. Gewissheit über unsere Gefühle und Absichten
erlangen wir indessen nur durch Taten, daher die Notwendigkeit
der Praxis, einer Art von maurerischem Gottesdienst. Jede Reli­
gion stirbt, wenn ihre Kirchen sich leeren. Genauso ist es mit der
Maurerei: Unsere Organisation wird umso lebendiger, stärker
und aktiver, mit je größerer Glut und Beharrlichkeit die Maurer
ihre Loge besuchen.

Aus gutem Grund muss es sich deshalb der Geselle zur Pflicht
machen, sich niemals der gemeinsamen Arbeit zu entziehen. Er
begeht einen schweren Fehler, wenn er sich nachlässig zeigt.
In einer initiatischen Gemeinschaft erhält nur derjenige seinen
Lohn, der ihn verdient hat. Ganz besonders trifft das zu für die
Vorteile, die aus der Säule B. ·. erfließen.

Pflichten des Gesellen 81


Pünktlichkeit

Es genügt nicht, nur zu einem Teil der Arbeiten oder verspätet


zu erscheinen, obwohl man genau zur vorgeschriebenen Stun­
de hätte beginnen sollen. Der Geselle arbeitet, wie schon sein
Name sagt, nicht isoliert: Er wirkt an einem Gemeinschaftswerk
mit als Angehöriger einer aktiven Vereinigung. Aber jede Grup­
pe, die etwas tun will, erreicht ein Ergebnis nur, wenn die sie
bildenden Elemente es verstanden haben, eine gewisse Disziplin
zu akzeptieren. Wenn sie nicht damit einverstanden sind, sich
im Hinblick auf Koordination und Geschlossenheit ihres Han­
delns einem gewissen Zwang zu unterwerfen, bleibt all ihr Tun
unfruchtbar.

Da die maurerische Arbeit eine methodisch geregelte Zusam­


menarbeit einschließt, muss jeder gute Geselle stets seine Ehre
dareinsetzen, zu gegebener Zeit verlässlich auf seinem Posten
zu sein. Er soll keine Angst davor haben, die notwendigen Opfer
zu bringen, um nie die Öffnung der Arbeiten seiner Bauhütte zu
versäumen. Wenn er sich als nachlässiger Arbeiter erweist, wird
sich dies unfehlbar in seinem Lohn niederschlagen.

Man kann gar nicht genug die Wirkung betonen, die die Loge in
ihrer Eigenschaft als psychische Gemeinschaft ganz real auf die­
jenigen ihrer Mitglieder ausübt, die sich für sie hingeben. Eine
Belohnung fließt zwangsläufigjedem Maurer zu, der seine Loge
wirklich liebt und ihr seine Zuneigung dadurch zeigt, dass er
sich bei allen Arbeiten der Bauhütte fleißig und pünktlich sehen
lässt. Diese Disziplin ist von äußerster Wichtigkeit. Sie allein
gibt der Loge ihre Kraft und erlaubt ihr ein erfolgreiches Wirken
sowohl in Bezug auf ihre eigenen Mitglieder als auch in Bezug
auf die Außenwelt. Eine kleine, aber geschlossene und höchst
disziplinierte Gruppe wird zum Brenn- und Sammelpunkt äu­
ßerster Dynamik. Nichts kann ihr widerstehen, wenn jedes ihrer
Elemente das gibt, was es geben kann. Besteht die Loge aus Ge­
sellen im wahrsten Sinne des Wortes, ist sie eine Macht, die alles
erreichen kann, was recht ist, vorausgesetzt, sie versteht es auch,
mit Energie und Standfestigkeit zu wollen.

82 Der Geselle
Aktivität

Müsste ein Maurer niemals an den Arbeiten teilnehmen, würde


er sich missbräuchlich als „aktiv" bezeichnen, wenn er lediglich
seine Beiträge ordnungsgemäß und rechtzeitig entrichtet. Mate­
riell gesehen kann auch eine so unbedeutende „Aktivität" ihren
Wert haben, aber unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Teil­
nahme am Werk der Freimaurerei unterscheidet sie sich kaum
vom Tiefschlaf.

Für den Gesellen, der entschlossen ist, sich ernsthaft mit dem
Großen Werk zu verbinden, bedeutet aktiv sein etwas ganz an­
deres als eine rein finanzielle Beteiligung. Ein Maurer, der sich
beispielhaft beharrlich und pünktlich zeigt, hat dadurch jedoch
noch nicht notwendigerweise seine volle Pflicht zum Tätigwer­
den erfüllt. Regelmäßig an der Gemeinschaftsarbeit teilzuneh­
men, die sich in der Loge vollzieht, ist sehr gut, aber es ist nicht
alles. Die symbolische Arbeit hat sicher große Bedeutung, aber
sie bliebe toter Buchstabe, wenn sie nicht bewirkte, dass der
Geist des Maurers über die regelmäßigen Zusammenkünfte hi­
naus Aktivität entfaltete.

Der echte Geselle schöpft in seiner Loge Anregungen zum Den­


ken. Er kehrt von ihr jedes Mal meditationsgeneigt zurück und
beschäftigt sich in der Zeit zwischen den Tempelarbeiten mit
den behandelten Themen, mit der Vorbereitung auf die näch­
ste Arbeit und vor allem damit, seiner speziellen Loge oder der
Freimaurerei im Allgemeinen alle Zeit einzuräumen, die er er­
übrigen kann. Nur ein Maurer, der so arbeitet, ohne jemals das
Große Werk aus den Augen zu verlieren, hat das Recht, sich in
vollem Wortsinn als aktiv zu bezeichnen. Nur er kann sich mit
Nutzen der Säule B. ·. nähern.

Pflichten des Gesellen 83


Bemühen um Erleuchtung

Die Tätigkeit, die wir entfalten, muss vernünftig sein, soll sie
nicht zu sterilem Aktionismus herabsinken. Deshalb ist es für
uns so wichtig, klar zu sehen.

Die Lehrlingszeit sollte uns gelehrt haben, den Irrtum zu er­


kennen und uns von ihm abzuwenden. Die Gesellenzeit muss
uns die Wahrheit anziehend machen und uns ihr näher bringen.
Nachdem die Binde von unseren Augen gefallen ist, ist es nun­
mehr unsere Sache, uns dem Licht zuzuwenden und in seine
Richtung zu gehen.

Unser Weg zur Klarheit hat nichts Gefährliches oder Mühsames,


da die Straße gerade und sicher verläuft. Aber die Reise ist so
lang, dass man über eine seltene Ausdauer verfügen muss, um
sie vollständig zurückzulegen. Enttäuschungen entmutigen von
Anfang an jene schlecht gerüsteten Seelen, die sich von einer
täuschend-verwirrenden Abfolge von Bildern blenden lassen.
Sogar der Denker kann insoweit in die Irre gehen, aber wenn er
näher hinsieht, erkennt er den Grund seiner Illusionen und geht
über sie hinweg. Wer dergestalt seinen Weg geht, ohne schwach
zu werden, dessen Geist wird durch ständige Beobachtung, stän­
diges Nachdenken und Vergleichen und durch das Bemühen,
stets den Sinn zu enträtseln, nach und nach erleuchtet, je nach­
dem, wie es in seinem Verständnis Licht wird.

Das ist die Erleuchtung, die derjenige suchen soll, der den Flam­
menden Stern hat strahlen sehen. Im Laufe seiner Lebenswan­
derung ist dem Menschen alles dazu berufen, ihm zur Lehre zu
dienen, wenn er es nur versteht, das Licht zu bündeln, das sich
in allen Dingen bricht. Wesentlich für ihn ist jedoch nicht, viel
zu wissen, sondern das, was er weiß, richtig zu wissen. Die Er­
kenntnis ist Sache persönlichen Verstehens und intimer Durch­
dringung, nicht Sache des Gedächtnisses oder oberflächlicher
Aneignung.

84 Der Geselle
Selbstbeherrschung

Der aufgeklärte Mensch wird würdig, das Feuer des Himmels an


sich zu reißen und so jene höchste Macht auszuüben, die im Wil­
len liegt. Aber bevor man im Außen befehlen kann, muss man im
Innen herrschen, man muss in der Tat über sich selbst in seinem
Inneren Herrschaft ausüben. Das ist es, was der Geselle zum
Ausdruck bringt, wenn er in Ordnung tritt. Sein Zeichen lädt ihn
ein, das eigene Herz zu zähmen, jede Aufwallung persönlichen
Ehrgeizes zurückzuhalten und jedes Gefühl zu ersticken, das
nicht vollkommen edel und großherzig ist. Er muss schließlich
dahin kommen, nur noch das zu ersehnen, was recht und billig
ist. Nur unter dieser Bedingung kann er seinen Willen äußern
mit dem Anspruch, dass er auch in die Tat umgesetzt wird.

Unser Wille stellt ja nur eine sehr eingeschränkte Aktivität dar,


soweit er nur einer persönlichen Laune entspringt. Aber wenn
der Einzelne sich vergisst, um seine Willenskraft in den Dienst
einer großen Sache zu stellen, erwirbt er eine ungeheure Macht,
derer er sich niemals willkürlich bedienen darf. Der Wille gibt
uns den unwiderstehlichen Hebel an die Hand, der es uns ermög­
licht, die Welt aus den Angeln zu heben. Aber wie das Ritual uns
lehrt, darf dieses Werkzeug niemals ohne Maßstab gehandhabt
werden.

Im Tarot wird der Geselle, der seinen Willen zu gebrauchen


weiß, mit einem Kaiser verglichen, der auf einem goldenen Ku­
bus thront, anders gesagt auf dem Kubischen Stein. Denn um
Herr und Meister über alle Dinge zu werden, muss man damit
beginnen, sich selbst vollkommen zu beherrschen. Nichts für
sich selbst zu wollen, erlaubt es uns, herrisch das zu fordern,
was zur universalen Ordnung der Dinge gehört und nur dem all­
gemeinen Wohl nützt.

Pflichten des Gesellen 85


Die Kraft der Initiation

Der Wille wurde nicht zu Unrecht mit dem Blitz verglichen,


denn im Bereich der psychischen Kräfte verkörpert er mehr als
nur eine Analogie zur Elektrizität. So ist es durchaus erlaubt, von
Willensspannung zu sprechen, von Seelenströmen unbewusster
oder bewusster Art und von einer Arbeit, die getragen wird von
den Wellen, die von unserem Hirnstrom in Bewegung gesetzt
werden.

Bei dem Bemühen, sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen,


gelang es den Eingeweihten des Altertums, in eine ganze Fülle
von Geheimnissen der menschlichen Psychologie einzudringen.
Sie glaubten insbesondere, dass der schwache und unbeständige
Wille des Einzelnen nur der bruchstückhafte Ausdruck eines
mächtigen und unwandelbaren allgemeinen Willens sei. Diese
Vorstellung führte zwangsläu­
fig zur Praxis der Theurgie,
d. h. zur Aneignung und Nut­
zung der Macht der Götter, die
man sich als psychische We­
senseinheiten vorstellen muss.
Um von dieser Macht zu pro­
fitieren, um sie zu domestizie­
ren, wenn man diesen Begriff
gebrauchen darf, genügt es im
Großen und Ganzen, das Ideal
des Kubischen Steins verwirk­
licht zu haben. Seid vollkom­
men als Mitglieder der mensch­
lichen Gesellschaft, und diese
wird ihre verfügbaren Kräfte
auf euch konzentrieren. Dann
wird es euch gegeben sein, die
ganze fruchtbare Tätigkeit der
antiken Helden zu entfalten,
die initiierte oder auch wahr­
hafte Gesellen waren.

86 Der Geselle
Teil V

LEHRGESPRÄCH
IM GESELLENGRAD

Lehrgespräch im Gesellengrad
Die in Form von Fragen und Antworten ablaufenden initia­
tischen Unterweisungen sind zu wiederholter Lektüre bestimmt.
Sie wollen den einzelnen Leser zum Weiterdenken anregen. Man
darf sich deshalb nicht damit zufrieden geben, die folgenden Sei­
ten einfach zu überfliegen. Ein bedächtiger Geselle wird deshalb
wirklich jeweils die Stellen nachlesen, auf die in Klammern ver­
wiesen wird. Mit Sicherheit wird er dadurch aus dem Studium
des vorliegenden Katechismus ernsthaft Nutzen ziehen.

Frage: Sind Sie Geselle?


Antwort: Ich bin es.

Frage: Wie beweisen Sie diese Behauptung?


Antwort: Der Lehrling ist noch nicht so weit ge­
kommen, sich selbst zu kennen (siehe Kapitel
„Erkenne dich selbst"); was die Einschätzung
seiner Fortschritte in der Initiation betrifft,
muss er sich auf die Kompetenz anderer
verlassen. Durch die Beförderung zum Ge­
sellen bin ich mir meiner selbst bewusst
geworden. Ich weiß nun, was ich bin, und
kann mich deshalb ohne Scheu zu dem Ein­
weihungsgrad äußern, den ich erreicht habe.

Lehrgespräch im Gesel/engrad 87
Frage: Was ist ein Geselle?
Antwort: Ein Mann, dessen Arbeit anerkannt wird, der
fähig ist, seine Kunst auszuüben, und der
über seine volle Arbeitskraft verfügt. Seine
Aufgabe ist es, den von den Meistem vorge­
legten theoretischen Plan in die Praxis umzu­
setzen.

Frage: Sind mit dem Gesellengrad auch mehr Rechte


verbunden?
Antwort: Der Lehrling kann sich auf Grund seiner
mangelnden Erfahrung nicht sinnvoll an den
Entscheidungen einer Bauhütte beteiligen.
Logischerweise hat er nur das Recht auf Aus­
bildung, wobei seine Pflicht darin besteht
zuzuhören, solange er die im Gesellengrad
beschlossene initiatische Volljährigkeit noch
nicht erlangt hat, die als wichtigstes das Recht
verleiht, an Beratungen und Abstimmungen
teilzunehmen.

Frage: Warum haben Sie sich zum Gesellen beför­


dern lassen?
Antwort: Um den Buchstaben G kennen zu lernen.
(siehe Kapitel „Der Buchstabe G")

Frage: Was bedeutet diese Abkürzung?


Antwort: Geometrie, Genese, Gravitation, Geist und
Gnosis.

Frage: Um welche Art von Geometrie handelt es sich


dabei?
Antwort: Um eine solche, die auf jede Art von Bauplan
Anwendung findet, die lehrt, wie man die
Persönlichkeit des Einzelnen formt, um es
ihm zu ermöglichen, seinen Platz im Gefüge
der Gesellschaft einzunehmen.

88 Der Geselle
Frage: Was hat Genese mit dem Gesellengrad zu
tun?
Antwort: Der Geselle ist aufgerufen, das Werk des
Lebens zu schaffen. Er muss seine Lebens­
energie in die Tat umsetzen können, und
darum ist es für ihn von Bedeutung, tiefer in
die Geheimnisse des Lebens einzudringen.
Das Leben wiederum findet seinen Urgrund
in der Zeugung, deren Gesetzmäßigkeiten die
bemerkenswertesten Lehren der Antike inspi­
riert haben.

Frage: Inwieweit ist Zeugung für die Freimaurerei


von Interesse?
Antwort: In physischer Hinsicht bewirkt das univer­
sale Gesetz der Anziehungskraft, dass sich
Körper einander annähern; dem entspricht im
Bereich des Sittlichen eine vergleichbare ge­
heimnisvolle Kraft, die auf eine Annähe­
rung, ja Verschmelzung der Seelen abzielt.
Diese Kraft, die die Herzen vereint, begründet
die Standfestigkeit des maurerischen Tem­
pelbaus, dessen Bausteine lebende Wesen
sind, die allein durch die tiefen Empfin­
dungen, die sie für einander hegen, zusam­
mengehalten werden. Die brüderliche Liebe
wirkt daher wie ein Lebensprinzip in die
Maurerei hinein und ist ganz wie die Schwer­
kraft, die die Bewegungen der Himmelskör­
per beherrscht, Schöpferin von Ordnung,
Harmonie und Stabilität.

Frage: Worin besteht der schöpferische Geist?


Antwort: In einer fruchtbaren Überhöhung der Fähig­
keiten unseres Verstandes und unserer Phan­
tasie. Solange der Geist des Einzelnen kalt
und selbstbeherrscht bleibt, tritt er nicht
so, wie es ihm an sich gegeben wäre, aus den

Lehrgespräch im Gesellengrad 89
Grenzen seiner Begabung heraus. Um sich
selbst zu übertreffen und zu schöpferischer
Geistigkeit vorzudringen, muss man sich
äußeren Einflüssen hingeben, Begeisterung
entwickeln und im Einklang mit den
Schwingungen einer höheren Harmonie
leben.

Frage: Was bedeutet das Wort Gnosis?


Antwort: Wissensschau (griech. rv&mi;). Es handelt
sich um die Gesamtheit der Begriffe, die allen
Eingeweihten gemeinsam sind, die sich dank
ihres Eindringens in tiefere Schichten schließ­
lich in ein und demselben Verständnis des
Geheimnisses der Dinge getroffen haben.

Frage: Wie wurden Sie zum Gesellen befördert?


Antwort: Indem ich von der Säule J.·. zur Säule B.·.
wanderte, nachdem ich fünf Reisen vollzogen
hatte.

Frage: Was bedeutet der Weg von einer Säule zur


anderen?
Antwort: Darin liegt eine Veränderung des initiatischen
Lehrprogramms. Um seinen Lohn an der
Säule J.·. zu erhalten, die rot, männlich-aktiv,
ist und der Sonne entspricht, musste der
Lehrling sich ausschließlich auf die Vernunft
stützen, deren Klarheit das Dunkel zerstreut
und den Irrtum erkennen lässt. Im Anschluss
an die siegreich bestandenen Reinigungen
wird der in den ersten Grad Initiierte nunmehr
zur Säule B.·. geleitet, die weiß, weiblich­
passiv, ist und dem Mond entspricht. Ohne
seine Gewohnheiten vernünftiger Disziplin
aufzugeben, soll er jetzt seine Phantasie
spielen lassen und seine Sensibilität ent­
wickeln, um ein rundum vollkommener Den-

90 Der Geselle
ker zu werden. Nachdem er gelernt hat,
seine Vernunft richtig einzusetzen, übt er sich
nun darin, durch sorgsame Schulung seiner
intuitiven Fähigkeiten auch seine Vorstel­
lungskraft recht zu entfalten.

Frage: Was hat man Sie während Ihrer Gesellenrei­


sen gelehrt?
Antwort: Mich der Werkzeuge zu bedienen, die dazu
bestimmt sind, den Rauen Stein in einen nach
den Regeln der Kunst behauenen Kubischen
Stein zu verwandeln.

Frage: Was sind diese Werkzeuge?


Antwort: In erster Linie Meißel und Hammer, dann das
Lineal, der Zirkel, die Krampe und schließ­
lich das Winkelmaß.

Frage: Was bedeuten Meißel und Hammer?


Antwort: Diese Hilfsmittel dienen dazu, den Rauen
Stein zu glätten; sie zeigen uns an, wie wir
unsere Fehler korrigieren können, indem wir
Entscheidungen mit Klugheit treffen (Meißel)
und sie sodann mit energischer Entschlos­
senheit (Hammer) in die Tat umsetzen. (siehe
„Teilnahme am Großen Werk"und „Die Erste
Reise")

Frage: Welche Beziehung besteht zwischen Lineal


und Zirkel?
Antwort: Das Lineal, das es ermöglicht, gerade Linien
zu ziehen, die sich ins Unendliche verlängern
lassen, ist das Bild des unwandelbaren
Rechts, des moralischen Gesetzes in all seiner
Strenge und Unabänderlichkeit. Diesem
Absoluten stellt sich der Kreis des Relativen
entgegen, dessen Umfang durch die Öffnung
der beiden Schenkel des Zirkels abgemessen

Lehrgespräch im Gesellengrad 91
wird. Da nun unsere Möglichkeiten begrenzt
sind, müssen wir unser Arbeitsprogramm so
einrichten, dass wir zugleich dem abstrakten
Ideal, dem wir zu folgen haben (Lineal), und
der konkreten Wirklichkeit, die uns fest im
Griff hält (Zirkel), gerecht werden können.
(siehe „Zweite Reise")

Frage: Worauf spielt die Krampe an?


Antwort: Auf die unwiderstehliche Kraft eines klug
eingesetzten unbeugsamen Willens.
(siehe „Dritte Reise")

Frage: Warum gehören Maßstab und Hebezange


zusammen?
Antwort: Weil der Wille nur dann unbesiegbar ist,
wenn er in den Dienst des absoluten Rechts
gestellt wird. (siehe „Vierte Reise")

Frage: Was bedeutet das Winkelmaß?


Antwort: Es ermöglicht die Überprüfung der Steine,
die, um sich einander exakt anpassen zu kön­
nen, ganz genau rechtwinklig sein müssen.
Symbolisch gesehen bestimmt das Win­
kelmaß die Voraussetzungen jeder Vergesell­
schaftung. Als Emblem der Klugheit lehrt es,
dass sich für den Einzelnen die Vollkommen­
heit danach bestimmt, wie er seinen Platz in
der Gesellschaft ausfüllt.
(siehe „Vierte Reise")

Frage: Warum tritt der Geselle seine letzte Reise mit


leeren Händen an?
Antwort: Weil er sich, nachdem die Verwandlung in
den Kubischen Stein vollzogen ist, nur noch
um seine eigene Vervollkommnung zu küm­
mern hat. Jetzt obliegt es ihm, sich zu sam­
meln, sich selbst zu beobachten und sich für

92 Der Geselle
geistige Aufklärung bereit zu machen, die
sein Begriffsvermögen Schritt für Schritt
erleuchten soll. (siehe „Fünfte Reise")

Frage: Wie gibt sich ein Geselle zu erkennen?


Antwort: Durch Zeichen, Wort und Griff.

Frage: Wie erklären Sie das Zeichen des Gesellen?


Antwort: Indem ich die rechte Hand zum Herzen führe,
verpflichte ich mich, meine Brr. ·. glühend
und hingebungsvoll zu lieben. Indem ich die
linke Hand erhebe, betone ich die Ehrlichkeit
meines Versprechens. Und indem ich mit
der rechten Hand ein Winkelmaß bilde, zeige
ich an, dass alle meine Handlungen vom Stre­
ben nach Recht und Billigkeit getragen sind.

Frage: Spielt die Haltung, die die Gesellen einneh­


men, wenn sie in Ordnung treten, nicht auch
auf besondere Geheimnisse dieses Grades an?
Antwort: Die erhobene rechte Hand scheint äußere
Kräfte, Energiequellen, zu Hilfe zu rufen,
während die zusammengeballte Rechte sich
sodann bemüht, diese im Herzen festzuhalten,
wo sie zusammenfließen. Der Initiierte ist
bereit, sich das Herz herausreißen zu lassen;
er betont darüber hinaus, dass er gelernt hat,
seine Gefühle zu zügeln, und dass er sich
niemals zu einem unüberlegten Ausbruch
hinreißen lassen wird.

Frage: Was sind die Worte des Gesellen?


Antwort: Es sind zwei: das Passwort und das Heilige
Wort.

Frage: Was bedeutet das Passwort?


Antwort: „Ähre" oder ausführlicher: ,,Zahlreich wie
die Kornähren". Es ist der Bibel entnommen,

Lehrgespräch im Gesellengrad 93
die uns im 12. Kapitel des Buchs der Richter
erzählt, dass dieses Wort von den Gileaditern
ausgewählt wurde, um die Männer von
Ephraim zu erkennen. Diese sprachen das
Wort in ihrem Dialekt nicht korrekt Schibb. ·.
aus, sondern Sibb. · .. Die fehlerhafte Ausspra­
che wurde für 42 000 Ephraimiten verhäng­
nisvoll, die Jeftah umbringen ließ, als sie sich
daran machten, einzeln den Jordan zu über­
queren.

Frage: Hat das Wort nicht auch eine initiatische


Bedeutung für uns?
Antwort: In der Übersetzung könnte es auf die Myste­
rien der Ceres hindeuten, deren Symbolik so
stark bäuerlich geprägt war, dass der Initi­
ierte in Eleusis das Los des Saatkorns erleiden
musste, das im Winter in der Erde stirbt, um
im Frühling in Form einer neuen Pflanze
wiedergeboren zu werden.

Frage: Geben Sie mir das Heilige Wort des Gesellen.


Antwort: Ich kann es nicht aussprechen, sondern nur
buchstabieren.

Frage: So geben Sie mir den ersten Buchstaben,


dann werde ich Ihnen weiterhelfen.
Antwort: B.

Frage: Wie unterscheidet sich die Art, das Heilige


Wort zu buchstabieren, vom ersten zum
zweiten Grad?
Antwort: Der Anfänger ist nicht in der Lage, die
Grundbestandteile initiatischen Wissens allein
zu entdecken; er muss deshalb auf den
rechten Weg gebracht werden. So wird dem
Lehrling der erste Buchstabe des Heiligen
Wortes vorgegeben, damit er den zweiten

94 Der Geselle
durch eigene Denkanstrengung finden kann.
Sobald er ihn geben kann, erfährt er den
dritten und so fort. Der Geselle ist nicht mehr
unwissend. Er musste seine geistige Beweg­
lichkeit bereits unter Beweis stellen; außer­
dem kann man von ihm verlangen, etwas zu
geben, bevor er etwas erhält.

Frage: Was bedeutet das Heilige Wort des Gesellen?


Antwort: Wörtlich kann man es übersetzen mit „In Ihm
die Kraft", woraus man „Meine Stärke liegt
in Gott" gemacht hat. Auch „Beharrlichkeit
im Guten" hat man daraus entnommen. Es ist
der Name der Säule des salomonischen Tem­
pels, an dem die Gesellen ihren Lohn empfin­
gen.

Frage: In welcher Beziehung stehen die Säulen J. ·.


und B. ·. zum Lohn der Lehrlinge und Gesel­
len?
Antwort: Vor dem Hauptportal des Tempels beidseits
aufgerichtet, entsprachen die Säulen den
Obelisken der ägyptischen Heiligtümer. Wie
diese waren sie mit Hieroglyphen oder Ideo­
grammen bedeckt, deren Sinn herauszufinden
die Eingeweihten zu lernen hatten. Es ist also
die in ihnen enthaltene initiatische Lehre und
nicht die materielle Entlohnung, die Lehrlinge
und Gesellen bei jenen zwei Säulen empfan­
gen.

Frage: Aus welchem Material bestehen diese Säu­


len?
Antwort: Aus Erz, um zu verkünden, dass die in der
Initiation vermittelten Prinzipien unwandelbar
sind und von einem Kulturkreis zum andern
überdauern.

Lehrgespräch im Gesel/engrad 95
Frage: Welches Maß schreibt die Bibel den beiden
von dem Erzgießer Hiram aus Tyros geschaf­
fenen Säulen zu?
Antwort: Das erste Buch der Könige (Kapitel 7, Vers
13 ff.) gibt ihnen 18 Ellen Höhe ohne Kapi­
tell, das seinerseits fünf Ellen misst. Es ist
außerdem die Rede von einer Schnur von
zwölf Ellen, die jede Säule umschlingt. Das
Kapitell geht in eine halbkugelförmige Haube
über, die von einer doppelten Reihe von Gra­
natäpfeln umgeben ist. Diese Art der Ge­
staltung gibt den Säulen des salomonischen
Tempels einen phallischen Aspekt und bringt
sie damit in die Nähe zahlreicher phönizi­
scher Denkmäler, die der männlichen Zeu­
gungskraft geweiht sind.

Frage: Wie dick ist nach maurerischer Überlieferung


das Erz dieser Säulen?
Antwort: Vier Zoll, denn man nahm an, dass sie hohl
seien, um den Schatz der Lehrlinge und Ge­
sellen aufzunehmen.

Frage: Was verkörpert dieser notwendigerweise


verborgene Schatz im Inneren der Säulen?
Antwort: Die initiatische Lehre, deren Kenntnis denen
vorbehalten ist, die nicht an der Oberfläche
bleiben und es verstehen, die Dinge zu ver­
tiefen.

Frage: Warum enthält der Gesellenschritt einen Aus­


fallschritt zur Seite?
Antwort: Um deutlich zu machen, dass ein Geselle
nicht verpflichtet ist, immer nur ein und
derselben Richtung zu folgen. Er darf den
vorgezeichneten normalen Weg verlassen, um
die Wahrheit aufzusuchen, wo sie sich auch
verbirgt. Aber die Suche nach dem Geheimnis

96 Der Geselle
kann ihn nicht in die Irre führen, denn auf
jeden Sprung der Phantasie folgt sogleich die
Rückkehr zu vernünftiger Geradheit.

Frage: Ist ihre Loge ausgeschmückt?


Antwort: Ja, und zwar dreifach: mit dem Musivischen
Pflaster, dem Flammenden Stern und der
Quastenschnur.

Frage: Wozu dienen sie?


Antwort: Das Musivische Pflaster schmückt den Boden
des großen Säulenvorhofs; der Flammen-
de Stern strahlt in der Mitte, um die Loge zu
erhellen; die Quastenschnur ihrerseits um­
rahmt und schmückt die Außenwände.

Frage: Wofür steht das Musivische Pflaster?


Antwort: Seine gleich großen, aber abwechselnd
weißen und schwarzen Platten versinnbild­
lichen die strenge Gesetzmäßigkeit, mit der
sich alles im Bereich unserer in verhängnis­
voller Weise dem Prinzip der Gegensätzlich­
keit unterworfenen Gefühle ausgleicht.

Frage: Welche Beziehung besteht zwischen dem


Gesellen und dem Musivischen Pflaster?
Antwort: Der Eingeweihte des zweiten Grades, der mit
Geschick an der Verwirklichung des Großen
Werkes arbeitet, muss sich zutiefst bewusst
sein, dass jede Suche, die nur auf eine dau­
ernde, von allen Schatten freie Glückseligkeit
abzielt, nichts ist als eitel. Ein Glück, das
ewig währt und durch nichts gestört wird,
empfindet man nicht mehr als solches. Es
wird zur Qual, denn es macht klein und führt
zu Vernichtung und Tod. Ein vorgeblich ewi­
ges Leben endloser Ruhe und unaufhörlicher
Genüsse ist bloße Schimäre. Mag das Leben

Leh rgespräch im Gese/lengrad 97


ewig sein oder nicht - immer liegt es nur
in der Tat, im Kampf gegen Hindernisse, in
der mühevollen, aber beharrlichen Arbeit im
Blick auf ein zu verwirklichendes Ideal. An­
strengung und Leid - darin liegt der Preis des
Lebens, dessen Freuden sich danach bemes­
sen, was wir für sie bezahlt haben.

Frage: Warum ist der Flammende Stern das eigent­


liche Symbol des Gesellengrades? [14]
Antwort: Weil der Eingeweihte des zweiten Grades
dazu berufen ist, selbst ganz Glut zu werden,
Quelle von Wärme und Licht zugleich. Die
Großherzigkeit seiner Gefühle soll ihn dazu
führen, sich zwar rückhaltlos, aber auch mit
der ganzen Schärfe eines aufgeklärten Geistes
hinzugeben, weil er für alles offen ist, was
menschlichem Fassungsvermögen überhaupt
offen steht.

Frage: Warum hat dieser Stern fünf Zacken?


Antwort: Weil er die vier Extremitäten des Menschen
und den sie lenkenden Kopf darstellen will.
Dieser beherrscht als Sitz der geistigen Fä­
higkeiten die Vierheit der Elemente, also die
Materie. Dadurch wird der fünfzackige Stern
ganz besonders zum Emblem der Willens­
kraft. (siehe „Der Flammende Stern")

Frage: Wie steht der Flammende Stern zu Sonne und


Mond?
Antwort: Er ist so zwischen beiden Gestirnen ange­
bracht, dass sie zusammen ein Dreieck bilden.

Frage: Warum?
Antwort: Weil der Flammende Stern seine Strahlung
aus der Verbindung von Sonnen- und Mond­
licht bezieht. Das will besagen: Intelligenz

98 Der Geselle
oder Begriffsvermögen entstammen ebenso
der Vernunft wie der Phantasie.

Frage: Was verstehen Sie unter einem Quastenfries?


Antwort: So bezeichnet man gewöhnlich die ausge­
zackte Stoffbahn, die die Deckenkante des
Tempels umrandet. Oberhalb der Ausza­
ckungen verläuft dabei eine Schnur, die eine
Reihe von Knoten bildet, die man Seen der
Liebe nennt. Das ist das Vereinigungsband,
dessen Enden in Quasten auslaufen und sich
bei den Säulen J. ·. und B.·. treffen. Das Gan­
ze versinnbildlicht das Band, das alle Maurer
vereint und aus ihnen eine weltweit einzige
Familie macht.

Frage: Gibt es Schmückendes in Ihrer Loge?


Antwort: Ja, und zwar sechs Schmuckstücke: drei
bewegliche und drei unbewegliche.

Frage: Welches sind die beweglichen Kleinode?


Antwort: Das Winkelmaß als Abzeichen des Meis­
ters vom Stuhl, die Wasserwaage, die den
Ersten Aufseher schmückt, und das Senkblei
oder Bleilot, das der Zweite Aufseher trägt.

Frage: Warum nennt man diese Zeichen beweglich?


Antwort: Weil die Inhaber der Ämter, für die sie stehen,
diese Abzeichen an ihre Nachfolger im Amt
übergeben, um damit den Übergang der Be­
fugnisse auf sie anzuzeigen.

Frage: Wozu dienen diese beweglichen Kleinode?


Antwort: Das Winkelmaß kontrolliert den Zuschnitt
der Steine, die Wasserwaage sichert ihre
waagrechte Lage, das Bleilot ermöglicht ihre
vertikale Stellung.

Lehrgespräch im Gesellengrad 99
Frage: Was bedeuten sie im ethischen Bereich?
Antwort: Das Winkelmaß fordert uns auf, unsere
Fehler auszumerzen, die uns daran hindern,
unseren Platz beim Bau des Tempels der
Humanität einzunehmen. Die Wasserwaage
verlangt, dass ein Maurer in jedem Menschen
Seinesgleichen erkennt. Das Bleilot lädt den
Initiierten, der gelernt hat, alle Fragen zu ver­
tiefen, und deshalb den wahren Wert der Din­
ge erkennt, dazu ein, erhaben zu sein über
alles Kleinliche und Schäbige.

Frage: Welches sind die unbeweglichen Schmuck­


stücke?
Antwort: Der Raue Stein, der Kubische Stein und die
Arbeitstafel.

Frage: Wie gebraucht man sie?


Antwort: Der Raue Stein ist das Material, an dem die
Lehrlinge üben; der Kubische Stein dient den
Gesellen dazu, ihre Werkzeuge zu schärfen;
die Arbeitstafel erlaubt es den Meistern, ihre
Baurisse zu entwerfen.

Frage: Welche Bedeutung vermitteln die unbeweg­


lichen Zeichen?
Antwort: Der Raue Stein ist das Bild des ungehobelten
und unwissenden Menschen, der indessen
fähig ist, erzogen und belehrt zu werden. Der
Kubische Stein verweist auf den Eingeweih­
ten, der es nach seiner Befreiung von pro­
fanen Irrtümern und Vorteilen verstanden
hat, sich die Kenntnisse und Fertigkeiten zu
erwerben, die man braucht, um in nützlicher
Weise am Großen Werk des Weltenbaus
mitzuwirken. Die Arbeitstafel schließlich be­
zieht sich auf die Meister, die ihre Autorität
einerseits aus ihren nachgewiesenen Fähig-

100 Der Geselle


keiten, andererseits aus dem von ihnen ausge­
henden guten Beispiel beziehen.

Frage: Wie viele Fenster erhellen die Gesellenloge?


Antwort: Drei Fenster, die sich nach Osten, Süden und
Westen öffnen.

Frage: Warum gibt es im Norden keine Fenster?


Antwort: Weil das Licht niemals aus dieser Richtung
kommt.

Frage: Wozu dienen die drei Fenster?


Antwort: Um die Arbeiter zu erleuchten, wenn sie zur
Arbeit kommen, während sie sich ihr widmen
und wenn sie sie wieder verlassen.
(siehe „Der Tempel des Gesellen")

Frage: Wo ist der Gesellen Platz?


Antwort: Im Süden.

Frage: Warum?
Antwort: Weil sie in ihrer Initiation so weit gekommen
sind, dass sie die volle Strahlkraft des Tages­
lichts ertragen können.

Frage: Wie arbeitet der Geselle mit seinem Meister?


Antwort: Mit Freuden und Feuereifer und in Freiheit.

Frage: Wie alt ist der Geselle als Freimaurer?


Antwort: Fünf Jahre.

Frage: Worauf bezieht sich diese Zahl?


Antwort: Auf den Begriff der Quintessenz, die zu
verstehen ist als der unsichtbare Geist der
Dinge oder als das fünfte Prinzip, das die
Vierheit der Elemente zur Einheit zusammen­
führt. Zugleich stellt sie den Bezug her zu den
fünf Sinnen, die die Außenwelt erfahrbar ma-

Leh rgespräch im Gese/lengrad 101


chen, jenen Studiengegenstand, der den Lehr­
ling dazu bringt, sich in sein Inneres zu ver­
tiefen.

Frage: Sind Sie für Ihre Arbeit bezahlt worden?


Antwort: Ich bin zufrieden.

Frage: Wo haben Sie Ihren Lohn erhalten?


Antwort: An der Säule B.·.

Frage: Was erwarten Sie künftig von Ihren Brr. ·.?


Antwort: Ich erwarte die Stunde, zu der ich zur Teil­
nahme an den Arbeiten der Meister zugelas­
sen werde, nachdem ich all das, was ein
Geselle wissen muss, zureichend gelernt
habe.

102 Der Geselle


Teil VI

INITIATISCHE PHILOSOPHIE
IM GESELLENGRAD

Das Rätsel

Der Mensch könnte sich nach dem Beispiel der Tiere damit be­
gnügen, das Leben so anzunehmen, wie es sich ihm stellt. Sich
ihm so zuzuwenden, dass man daraus in glücklicher Sorglosig­
keit die größtmögliche Lust bezieht - wäre das nicht klüger, als
sich den Kopf zu zermartern, um unauslotbare Geheimnisse zu
durchdringen? Für die breite Masse der Menschen stellt sich die­
se Frage sicherlich nicht, denn sie verlangen nichts anderes, als
dass man sie leben lässt, wobei sie die alltägliche Befriedigung
suchen, ohne sich dabei von überflüssiger Plackerei beirren zu
lassen. Aber es gibt auch Menschen, die vom Mysterium beses­
sen sind. Das Rätsel der Dinge macht sie unruhig: Sie wollen be­
greifen, ihr Gehirn arbeitet ungeduldig daran, sich die Existenz
der Welt und der sie bevölkernden Wesen zu erklären.

Vergleichbar den Kindern, die ihre Eltern mit manchmal un­


bequemen Fragen quälen, fragen diese Neugierigen die Natur
und wollen ihr ihre Geheimnisse entreißen. Sie versenken sich
in Meditation und entwickeln gewisse systematische Vorstel­
lungen, die ihnen helfen sollen, sich über das, was sie beobach­
tet haben, in vernünftiger Weise klar zu werden. So werden die
philosophischen und religiösen Lehrgebäude geboren, die sich
mit ihren als Wahrheiten ausgegebenen Doktrinen bemühen, das
der menschlichen Natur angeborene Bedürfnis nach Wissen zu
befriedigen.

Initiatische Philosophie im Gesellengrad 103


Auch wenn sie mit aller Aufrichtigkeit vorgetragen werden, sind
alle diese Systeme dennoch trügerisch, weil sie von vorschnell
gebildeten Überzeugungen ausgehen. Um sie in Worte fassen zu
können, muss man sich nämlich im Besitz einer Wahrheit glau­
ben, die sich in Wirklichkeit niemals erfassen lässt. Das Geheim­
nis bleibt bestehen, trotz aller Bemühungen, es zu durchdringen.
Je weiter wir auf unserem Weg zur Erkenntnis vorankommen,
desto mehr entzieht sich uns das Geheimnis in immer endlosere
Weiten.

Wer sich beim Thema Wahrheit irgendwelchen Illusionen hin­


gibt und sich zu dogmatischen Aussagen verführen lässt, weil er
überzeugt ist, Bescheid zu wissen und mit Sicherheit Fortschritte
zu machen, unterliegt einer Verirrung, wie sie für beschränkte
Köpfe typisch ist. Der wahrhaft Weise oder Eingeweihte bleibt
immer sehr bescheiden angesichts einer Wahrheit, die er in
höheren Regionen ansiedelt, als seine eigenen Fähigkeiten zu
verstehen. Auch versagt er es sich, sich zum Lehrer der breiten
Massen aufzuschwingen, deren berechtigte Neugier aufredliche
Weise nicht befriedigt werden kann. So überlässt er sie lieber den
vulgären Phantasmagorien, in die sie sich mit Vorliebe flüchten,
denn es ist ihm gänzlich unmöglich, sich ihrer Linie anzupassen,
wenn er ihnen initiatische Lehren vermitteln will.

Stattdessen hat der Eingeweihte die Pflicht, all jenen zu Hilfe


zu kommen, die wirklich initiierbar sind, d. h. die über einen
unabhängigen Geist verfügen und der Tyrannei und Willkür der
Systeme müde geworden sind. Diese Elite verdient es, die Su­
che nach der Wahrheit zu lernen, jene intensive Suche nach der
Wahrheit, die ohne die Hoffnung auskommen muss, am Ende
den Triumph befriedigten Wissensdurstes in Ruhe zu genießen.
Wissen werden wir niemals! Und dennoch wollen wir wissen
und mühen uns ab, das ewige Rätsel zu erschließen, weil wir
genau spüren, dass dies unsere edelste und höchste Bestimmung
ist.

104 Der Geselle


Die Meditation
Die Wahrheit, die uns mit unwiderstehlicher Kraft anzieht, ist zu
weitläufig, zu lebendig, zu ungebunden und zu subtil, als dass
sie in der Starrheit eines Systems eingesperrt, unbeweglich ge­
macht und versteinert werden könnte. Jedes Kleid, das man ihr
überwirft, um sie uns anschaulich zu machen, ist nur Verklei­
dung und macht sie allzu oft für uns erst recht unerkennbar. So
ist es mit den Bildern, Formeln und Dogmen, die die Wahrheit
übersetzen, darstellen, fixieren und in gewisser Weise anfassbar
machen wollen. Was mit Hilfe solcher Ausflüchte greifbar wird,
ist immer nur ein enttäuschender Reflex, ein bleiches, missge­
staltetes Phantom der großen einen Wahrheit, die der Initiierte,
wenn auch vergebens, ohne Schleier zu sehen erstrebt.

Die Initiation lehrt ihn demgegenüber, all das zu vergessen, was


er von anderen erfahren hat; er soll sich in sich selbst zurück­
ziehen und in die Tiefen des eigenen Denkens hinabsteigen, um
sich so der reinen Quelle der Wahrheit zu nähern. Er lernt dem­
nach nicht dadurch, dass er sich gelehrte Abhandlungen anhört,
sondern indem er sich in der Meditation übt. Zweifellos wird er
dadurch nicht all das lernen können, was man in der Schule und
aus Büchern lernen kann. Aber wozu sollte es gut sein, unser
Gedächtnis zu befrachten, wenn wir den illusionären Charakter
dessen nicht erkennen, was uns als wahr vorkommt? Der reine
und schlichte Ignorant ist der Wahrheit näher als der Pedant, der
sich eines enzyklopädischen Wissens brüstet, das in Wahrheit
aus lauter falschen Begriffen besteht.

In Sachen Wissen geht Qualität vor Quantität. Wissen Sie ru­


hig wenig, aber wissen Sie das Richtige. Lernen Sie vor allem,
Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden. Lassen Sie sich nicht
von Worten und schönen Formulierungen einfangen. Unterneh­
men Sie die geistige Anstrengung, die es ermöglicht, das Unaus­
gesprochene zu erkennen, die Grundidee, den immer nur unvoll­
kommen umschriebenen Urgrund. So und nicht anders werden
Sie sich aus den Finsternissen der profanen Welt befreien und an
der Hellsichtigkeit der Eingeweihten teilhaben.

lnitiatische Philosophie im Gesellengrad 105


Diese unterscheiden sich in der Tat durch ihren durchdringenden
Verstand und ihre Fähigkeit zu höherem Begreifen. Berühmte
Philosophen und erstrangige Wissenschaftler sind demgegenü­
ber trotzdem stets Profane geblieben, weil sie nicht begriffen ha­
ben, was namenlose Denker aus sich selbst heraus erkannt haben
kraft des Nachdenkens in der Stille und der Sammlung.

Wenn Sie die eigene Initiation vorantreiben wollen, lesen Sie


wenig, aber denken Sie viel, meditieren Sie oft und fürchten sich
nicht zu träumen!

Das Zahlenwissen
Was aber sollte Gegenstand Ihrer Meditation sein? Worüber soll
man meditieren, um den eigenen Geist zu bilden?

Da Sie Maurer sind, beginnen Sie damit, der Maurerei Ihre ganze
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Jede ihrer Besonderheiten muss
Sie beschäftigen, denn natürlich sind manche Details eher dazu
bestimmt, Sie zu verblüffen, als Ihr Denken anzuregen.

Die gesamte Symbolik muss unter diesem Blickwinkel geprüft


werden, aber dennoch ist die Maurerei durchaus auf abstrakten
oder ontologischen Gegebenheiten aufgebaut, die mit den we­
sentlichen Eigenschaften der Zahlen verbunden sind.

Schon der Lehrling musste sich mit der pythagoräischen Tetrade


vertraut machen, die uns in der Vierheit die Wurzel und den Ur­
grund der Dinge zeigt [ 15].

Der Geselle nimmt dieses Studium wieder auf, aber jetzt wird
er von der Vier ausgehend zur Fünf, zur Sechs und sogar zur
Sieben hingeführt.

Als Meister wird er später auf dem aufbauen, was er über die
Zahl Sieben herausgefunden hat, wenn er sich zur Acht, Neun
und Zehn erhebt.

106 Der Geselle


Lehrling: 1, 2, 3, 4.
Geselle: 4, 5, 6, 7.
Meister: 7, 8, 9, 10.

Die Dekade wird hierbei ins Auge gefasst in ihrer Fähigkeit,


zur Einheit eines relativen Ganzen zurückzuführen. Die Zehn
umschließt demnach ein vollständiges Gesamt, einen geschlos­
senen Zyklus, dem es nichts hinzuzufügen gibt.

Pythagoras lehrte im Übrigen, dass die Vier die Zehn hervor­


bringt, denn 1 + 2 + 3 + 4 = 10, was sich grafisch durch ein
Dreieck darstellen lässt, das zehn Punkte umschließt, die in einer
Formation von 1, 2, 3 und 4 angeordnet sind.

Ein einfacher Aufriss wie dieser führte dereinst zu einer Fülle


von logisch miteinander verknüpften Ideen. Der Eingeweihte
der Gegenwart muss in diese Kette treten, die ihm als Ariadnefa­
den durch das Labyrinth initiatischen Wissens dienen kann.

Die heilige Tetrade


Geometrisch gesehen wird die Eins durch den Punkt, die Zwei
durch die Gerade, die Drei in der Fläche (Dreieck) und die Vier
im Raumkörper, für den der Kubus das Maß abgibt, umgesetzt.
Nun erzeugt aber die Eins, der Punkt ohne sonstige Abmes­
sungen, in ihrer Abstraktheit alle anderen vorstellbaren Formen.
Sie ist das Nichts, das das Alles in seiner Kraft erhält, nennen
wir es Schöpfer oder auch das jeder Erscheinung vorausgehende
Prinzip, die Weltseele, den Arbeiter im eigentlichen Sinn.

Initiatische Philosophie im Gesellengrad 107


Zwei, die Gerade, ist nichts anderes als die Eins in Bewegung,
daher Tat, Ausstrahlung, Ausdehnung oder die schöpferische
Emanation, das Wort oder auch die Arbeit.

Drei, die Fläche, zeigt sich als Aufriss, dem sich alle Absichten
entnehmen lassen, in dem das Ideal seine Form findet und kon­
kret wird. Das ist der Bereich der zwingenden Gesetzmäßig­
keiten, die jede Handlung bestimmen und jeder Kunst ihre unab­
änderlichen Regeln vorschreiben.

Vier, der Festkörper oder, genauer gesagt, der Kubus, beschreibt


das in die Tat umgesetzte Werk, in dem sich uns Kunst und
Künstler, Arbeit und Arbeiter offenbaren.

Will man einen objektiven Standpunkt einnehmen, gilt es in al­


len Dingen zunächst die Vierheit herauszufinden; die Dreiheit
genügt nur, solange man sich in den Bereichen des Abstrakten
und Subjektiven bewegt. Der Geselle darf sich nicht mehr damit
begnügen, theoretische Konzepte zu erarbeiten. Er ist dazu auf­
gerufen, in die Tat umzusetzen und sich unablässig praktischen
Schwierigkeiten zu stellen. In ihrer Eigenschaft als Ordnungs­
kraft ist die Vier der Punkt, von dem er auszugehen hat, während
der Lehrling in der Drei die für seinen Grad charakteristische
Zahl gesehen hatte.

Vier Zeichen von grundlegender Bedeutung liegen auch der Bil­


dersprache der Alchimisten zu Grunde: der Kreis, das Kreuz, das
Dreieck und das Viereck.

O + !'!,. D

Diese Zeichen beziehen sich auf Einheit, Zweiheit, Dreiheit und


Vierheit. Sie verbinden sich miteinander und bilden eine Reihe
von Ideogrammen, deren Sinn sich aus der Analyse ihrer Einzel­
elemente erkennen lässt [16].

J 08 Der Geselle
Das hebräische Tetragramm
Das Wesen aller Wesen an sich oder das Sein an sich (das, was
zwingend, mit Notwendigkeit ist, weil es undenkbar ist, dass es
nicht vorhanden ist) wird in der Bibel durch vier Buchstaben
verkörpert, die das heilige Wort bilden, das man nicht ausspre­
chen darf:

Jod, der erste dieser Buchstaben (Hebräisch liest man von rechts
nach links), ist der kleinste der heiligen Buchstabenfolge. Es ist
nichts als ein Komma, in dem man das männliche Zeugungs­
organ oder besser noch den väterlichen Samen, der das Kind
erzeugt, hat sehen wollen. Damit kommen wir auf den mathe­
matischen Punkt zurück, der in seinem Nichts die ganze auf­
brechende Fülle konzentriert, die geboren werden und sich ent­
wickeln soll. Jod bezieht sich also auf das aktive Prinzip, auf
die handelnde Ursache und folglich auf das denkende, wollende,
befehlende Subjekt. Ebenso wie die Säule J. ·. spielt es an auf
das schöpferische Feuer� (Archeus, Schwefel oder Sulphur bei
den Alchimisten), das sich im Künstler, Arbeiter, Unternehmer,
Schöpfer, Erzeuger manifestiert.

He entspricht einem Atemhauch, der aus dem Inneren aufsteigt,


um sich ins Außen zu verbreiten. Dieser Buchstabe symbolisiert
den belebenden Atem, der von Jod ausgeht, um sich in Form
einer lebenswesentlichen Strahlung im Raum auszudehnen [17].
He verkörpert damit im Ergebnis das Leben oder die vom ak­
tiven Prinzip Jod ausgehende Tätigkeit. Ohne He wäre Jod nicht
aktiv. Genauso kann das Subjekt nur im Akt des Denkens, Wol­
lens und Befehlens denken, wollen und befehlen, und dieser Akt
ist mit He umschrieben, der die Arbeit, jede Unternehmung und
das Wort in seiner grammatikalischen Bedeutung symbolisiert.

Wav (Vau) erfüllt im Hebräischen die Aufgabe unseres Binde­


wortes „und". Man hat darin deshalb das Symbol dessen se­
hen wollen, was das Abstrakte mit dem Konkreten oder auch
das individuelle mit dem allgemeinen und universalen Kollek-

Initiatische Philosophie im Gesellengrad 109


tiv verbindet. Das Verbindende ist das Milieu, die Umwelt, die
beseelende Atmosphäre, auch der feststehende Bezug zwischen
Ursache und Wirkung, und zwar dergestalt, dass Wav schließlich
zu dem Gesetz hinführt, nach dem jede Aktivität sich entfaltet,
also zur Kunst und zu den Regeln und Bedingungen, die für jede
Arbeit unerlässlich sind.

He erscheint ein zweites Mal, um das Ergebnis der Aktivität aus­


zudrücken: getane Arbeit, das Werk in Ausführung, die Schöp­
fung auf dem Wege der Vollendung. Bezogen auf das denkende,
wollende, befehlende Prinzip verkörpert er den zum Begriff ge­
wordenen Gedanken, die ausformulierte Idee, das an einem Ziel
ausgerichtete Wollen, den erteilten Befehl oder die ausgespro­
chene Anordnung.

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass oberflächliche Geister im­


mer nur vom fertigen Werk beeindruckt sind, weil sie unfähig
sind, von der Wirkung auf die Ursache zurückzugehen und da­
bei die Vierheit zu bedenken, die in jeder Tätigkeit naturgemäß
beschlossen ist:
1. Das aktive Prinzip als solches (Subjekt);
2. die durch dieses Prinzip entfaltete Aktivität (Wort);
3. der Einsatz der Aktivität, die sich nach ihrer Bestim­
mung richtet und sich ihr anpasst;
4. das erzielte Ergebnis (Objekt).

Die Quintessenz
Das Sein zeigt sich nur im Tun; Nichtstun entspricht dem Nicht­
sein: auch das, was ist, ist in immerwährender Arbeit begriffen.
Nichts ist unbeweglich oder tot; alles lebt - die Mineralien und
die Himmelskörper nicht weniger als Pflanzen und Tiere.

Das Leben ist jedoch von einem Reich der Natur zum anderen
unterschiedlich; überall ist es in Graden abgestuft je nach den
Arten und selbst von Individuum zu Individuum. So leben etwa
bei den Menschen die einen ein höheres und erfüllteres Leben

110 Der Geselle


als die anderen. Dieses Leben höherer Ordnung gewinnt sein
Maß je nach Ausprägung des Prinzips der Persönlichkeit; das
niedere Sein ist nichts anderes als ein Automat, der lediglich auf
die Einwirkung der Kräfte, deren Spielball er ist, mechanisch
reagiert. Solches Leben bleibt dem Materiellen und Elementaren
verhaftet, weil es einzig aus dem Aufeinanderprallen der Ele­
mente resultiert, die sich paarweise widerstreben, wie sich aus
folgendem Schema ergibt:

LUFT

fi
feucht j warm
WASSER V+-- D --+ !J. FEUER
kalt ! trocken
J,Z

ERDE

Darunter ist zu verstehen, dass die Luft, leicht und flüchtig,


leicht macht, indem sie die Anziehungskraft der Erde ausgleicht,
die schwer und undurchlässig ist, schwer macht und in Materie
verwandelt. Feucht und kalt zieht das Wasser zusammen, was
andererseits das Feuer, trocken und warm, auszudehnen bestrebt
ist [18). Diese Elemente, die nichts gemein haben mit den vor­
geblich einfachen Körpern der modernen Chemie, müssen als
verbindende Agenzien der materiellen Welt betrachtet werden.
Durch ihr Wirken löst sich das Chaos auf; außerdem herrschen
sie über alles, was Materie ist.

Aber so mächtig die äußeren Kräfte auch sein mögen, sie müs­
sen im Zaum gehalten werden durch jene Energie, die ihre Quel­
le in der Persönlichkeit findet. Der Mensch ist dazu berufen, in
sich eine Urkraft zu entwickeln, die stärker ist als die Elemente,
und deshalb tritt er im Laufe der initiatischen Prüfungen in den

lnitiatische Philosophie im Gesellengrad 111


Kampf mit ihnen ein. Solange er kämpft, beweist er sich als le­
bendig; hat er den Kampf siegreich bestanden, wird er Geselle,
d. h. endgültig Eingeweihter. In diesem Augenblick triumphiert
das Prinzip des Menschseins: Der Mensch im eigentlichen Sinne
überwindet das Tier, Fünf hat die Vier ersetzt, die fünfte Essenz
oder Quintessenz hat die Oberhand gewonnen über die Vierheit
der Elemente. Von nun an wird der Mensch an sich am Kreuz
erhöht, um das Mysterium der Erlösung zu erfüllen. Die Ver­
nunft (Logos oder Wort) strahlt in ihm und heilt die durch den
Sündenfall hervorgerufene Verdunkelung der Empfindungen.
Der Zustand der Erleuchtung ist erreicht, die innere Finsternis ist
zerstreut, das Menschengestirn, mit anderen Worten Der Flam­
mende Stern kann in all seiner Herrlichkeit erstrahlen.

Die mystische Rose


Dieses Zentralgestirn verfügt indessen nicht über die Strahlkraft
der Sonne; sein Licht ist sanft, keineswegs blendend und immer
leicht zu ertragen. Es bündelt sich außerdem in einer Art Nim­
bus, der poetisch mit einer entfalteten Blume verglichen und in
Form einer Rose mit fünf Blütenblättern dargestellt wurde.

Als Symbol der Quintessenz, also alles dessen, was es an


Edelstem und Erhabenstem im Menschen gibt, ist die Rose mit
einem Kreuz zu einem Emblem verbunden, das die Vier und
die Fünf vereinigt, über welches Thema wir uns an dieser Stelle
nicht weiter aussprechen können.

112 Der Geselle


Vergänglich wie der Mensch in seiner Person ist auch die Rose;
sie bezaubert überdies durch ihren Duft nicht weniger als durch
ihre Gestalt und ihre Farbe. Wenn diese sich lebhaftem Rot nä­
hert, beschwört sie jene brennenden Gefühle herauf, die einen
Menschen beseelen, dem es gelungen ist, sich über alle niederen
Instinkte und egoistischen Leidenschaften zu erheben.

Dieses Sich hingeben ist jedoch nur auserwählten Seelen aufge­


geben. Sie haben ihre Größe durch die Hingabe erlangt, dadurch,
dass sie sich ins Weite begaben. Der Egoist, der sich nur auf sich
selbst konzentriert, macht sich klein: Er strebt dem Nichts entge­
gen. Großherzigkeit dagegen entfaltet unsere Persönlichkeit und
schafft ihr dadurch eine großartige Handlungsfreiheit. Denn die
Kräfte, die wir aus dem uns umgebenden Lebenskreis schöpfen,
sind umso größer, je mehr und je weiter wir uns gefühlsmäßig
nach außen wenden. Wer nicht lieben kann, erschöpft seine in­
dividuellen Energiereserven sehr schnell; leer geworden, bricht
er zusammen und stirbt. Ganz anders der Mensch, der vor Zu­
neigung überfließt, der keine Angst davor hat, sich rückhaltlos
hinzugeben. Wie der Pelikan opfert er sich für den anderen auf,
und dies führt dazu, dass er ein breiteres, höheres und vollkom­
meneres Leben zu führen vermag.

Das Hexagramm
Fünf ist aus der Mitte der Vier geboren. Sechs bildet sich als ein
gleichsam synthetisches Umfeld, das aus der Fünf erfließt.

Die psychische Atmosphäre, mit der sich die Persönlichkeit um­


gibt, besteht in hermetischer Betrachtungsweise aus Wasser, das
unter dem Einfluss des Feuers zu Nebeltropfen wurde, anders
gesagt aus feurigem Wasser, das heißt aus Vitalflüssigkeit, die
mit aktiven Energien aufgeladen ist [19]. Die fruchtbare Hoch­
zeit von Feuer !l und Wasser V ist graphisch dargestellt in der
unter dem Namen Siegel Salomos bekannten Figur. Von den bei­
den ineinander verschlungenen Dreiecken ist das eine männlich­
aktiv, das andere weiblich-passiv. Das erste bezieht sich auf die

Initiatische Philosophie im Gesel/engrad 113


individuelle Energie, auf das schweflige Feuer �. das aus der
Mitte der Persönlichkeit aufbricht. Das zweite, umgekehrte, äh­
nelt einer Schale V, die dazu bestimmt ist, den von der Feuchte
des Merkur � ausgehenden Tau zu sammeln, der im Raum ver­
streut ist.

Das Ganze bildet in den Augen der Okkultisten das Pentakel par
excellence, ein Zeichen der Macht, der nichts widerstehen kann,
denn beseelt durch den in ihm enthaltenen Schwefel individua­
lisiert sich der weltenweite Mercurius oder Azoth als Weisheits­
element in der Person des Weisen, einer Substanz, die als Träge­
rin des großen magischen Agens fungiert [20].

Was dieses geheimnisvolle


Agens betriffi:, so ist sein Bild
nach Basile Valentin eine Schlan­
ge (Strom des Lebens), die sich
wie um zwei Induktionsspulen
sowohl um die Sonne schlingt
(Vernunft, persönliche Initiative,
männliche Energie, Säule J. · .)
wie auch um den Mond (Phanta­
sie, · Empfänglichkeit, weibliche
Sensibilität, Säule B. ·.). Dieses
seltsam fluidische Wesen endet
in zwei Köpfen, die sich begeg-
nen und einander bedrohen, der

114 Der Geselle


eine ein Löwenkopf (positiver Pol, Glut, Festigkeit, Beständig­
keit), der andere ein Adlerkopf (negativer Pol, Grausamkeit, Be­
weglichkeit, Unbeständigkeit).

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Flammende Stern


dem menschlichen Mikrokosmos entspricht, d. h. dem als Welt
im Kleinen aufgefassten Menschen, während die zwei ineinan­
der verschlungenen Dreiecke den Stern des Makrokosmos oder
die Welt im Großen bezeichnen. Das Pentagramm erlaubt es
in der Magie dem Gesellen, innerhalb seiner Handlungssphäre
zu befehlen, weil er seinen Willen energisch und in der rechten
Weise einzusetzen weiß, so dass ihm seine Untergebenen willig
Gehorsam leisten. Diese Macht wird durch das Hexagramm ins
Unendliche ausgeweitet, weil das Vergessen seiner selbst be­
wirkt, dass das Individuum mit dem großen Ganzen eins wird
und zumindest in der Theorie seinen Anteil grenzenloser Macht­
fülle erhält.

Die Siebenheit
Sieben ist die Zahl der Harmonie, die aus einer gerechten Ausge­
wogenheit zwischen unterschiedlichen Elementen entsteht, wie
es die nachfolgende Abbildung zeigt:

Die Addition der zwei entgegengesetzten Ziffern 1 +6, 2+5, 3+4


ergibt immer die Summe der mittigen Ziffer 7.

/nitiatische Philosophie im Gesellengrad 115


Unter symbolischem Gesichtspunkt kommt der 3+4 besonderes
Interesse zu, denn diese Ziffern verweisen auf die Verbindung
des Dreiecks mit dem Kreuz � und �-
Die erste Verbindung haben wir in dem Zeichen für Schwefel,
das den schöpferischen Kernbereich des Feuers verkörpert [21],
das im Mittelpunkt eines jeden Wesens beschlossen ist. Diese
lebendige Glut übt ihre Aktivität von innen nach außen aus und
führt zu jenen Erscheinungen, die wir Entwicklung und Wachs­
tum nennen. Das ist das Bauprinzip eines jeden Organismus, an­
ders gesagt eines jeden arbeitenden Wesens auf der Welt, dessen
traditionelles Emblem das Leuchtende Dreieck ist.

Das Auge in der Mitte des Dreiecks wird dabei gelegentlich


durch die vier Buchstaben des heiligen Namens ersetzt.

Diese Buchstaben können in drei Kreisen untereinander ange­


ordnet werden, die der Dreiheit der alchimistischen Grundkräfte
entsprechen. Da jeder Buchstabe des Tetragramms sich in einem
der Elemente widerspiegelt, kann man Schwefel als aus Feuer
und Luft, Merkur aus Luft und Wasser und Salz aus Wasser und
Erde bestehend ansehen.

Derartige Verknüpfungen haben, so kindlich sie auch anmuten


können, dennoch eine reale Bedeutung für denjenigen, der sich

116 Der Geselle


darum bemüht, tiefer in die Begrifflichkeit einzudringen, die den
Schlüssel zu jeder initiatischen Symbolik liefert. Wie man leicht
feststellen kann, sind die Zeichen für die Elemente dem Hexa­
gramm entnommen. Die Luft ist unter diesem Gesichtspunkt
nichts anderes als das durch Wasser V besänftigte Feuer/'),, und
die Erde von Feuer/'),, getrocknetes Wasser V; die horizontalen
Balken, die die Dreiecke durchschneiden, sind für die Luft die
Basis für das Dreieck des Wassers und für die Erde die Basis für
das Dreieck des Feuers.

Feuer /1.
ft
� Schwefel
Luft
� Merkur
V
Wasser
Erde JjZ
e Salz

Die Siebenheit ist dem Meistergrad vorbehalten, deshalb können


wir hier nur ein paar allgemeine Hinweise geben zu dem Zei­
chen, das man erhält, wenn man das Zeichen für Schwefel um­
dreht. Es ist ein auf den Kopf gestelltes Dreieck V (Wasser), das
von einem Kreuz gekrönt ist, was in diesem Fall auf eine erfüllte
Aufgabe hindeutet, ein glorios bestandenes Werk der Reinigung
und Vervollkommnung�. Es handelt sich hier also um ein Wasser,
das die vollständige Reihe reinigender Destillationen durchlau­
fen hat, durch welche seine ureigensten Eigenschaften in vollster
Klarheit hervortreten konnten. Die auf diese Weise sublimierte
und zur Quintessenz gebrachte Substanz ist nichts anderes als
die gänzlich gereinigte, gestärkte und von den Prüfungen des
Lebens durchtränkte Persönlichkeit oder menschliche Seele, die
in einen Zustand versetzt wurde, der es ihr erlaubt, das zu täti­
gen, was gewöhnliche Sterbliche Wunder nennen.

Der Geselle darf nicht außer Acht lassen, dass es sich hierbei um
das Idealbild handelt, das ihm vor Augen geführt wird. Zweifel­
los ist die volle Verwirklichung des Großen Werks, das in dem
Ideogramm verkörpert ist, mit dem wir uns hier beschäftigen,
nur dem zur Gänze Eingeweihten, dem Meister, vorbehalten.

Initiatische Philosophie im Gesellengrad 117


Aber um sich diese Meisterschaft zu verdienen, muss man zuvor
die Tugenden erworben haben, die dafür würdig machen.

12 LE PENDU

118 Der Geselle


Teil VII

DER TEMPEL DES GESELLEN

Mystische Arbeitstafel des Gesellengrades

Die Farbe der Wandbehänge

Die Lehrlinge arbeiten in einer Bauhütte, die sowohl durch ihre


Ausrichtung und ihre symbolischen Abmessungen als auch durch
ihre Wandbehänge in blauer Farbe das sichtbare Universum ver­
körpert. Die Farbe Blau drängt sich mit Logik auf, denn Decke

Der Tempel der Gesellen 119


und Wände des Tempels entsprechen der azurblauen Kuppel, die
die Erde umgibt. Eine Lehrlingsloge ist also niemals in Rot ge­
halten.

Diese Praxis würde sich, auch wenn es in diesen Dingen keine


zwingenden Vorschriften gibt, eher für die Gesellenloge emp­
fehlen. Sie stellt nämlich nicht mehr die grenzenlose Unendlich­
keit dar, sondern das Betätigungsfeld des menschlichen Geistes,
einen eingeschränkten Bereich also, der durch die Reichweite
unserer geistigen und seelischen Ausstrahlung begrenzt ist. Die­
se Sphäre bildet sich beim Einzelnen wie in der Gemeinschaft
nach Maßgabe unseres zu Planung und Umsetzung drängenden
inneren Feuers. Das ist unser Lebensstoff Schwefel �. der bei
der Verbrennung in die Außenwelt austritt, um ein von Feuer
geprägtes Milieu zu schaffen, dem die Farbe Rot entspricht.

Das Zeichen für Schwefel � erinnert an die Winkelwaage, das


Zeichen des Ersten Aufsehers, der sinnvollerweise in der Nähe
der Säule J. ·. sitzen sollte, die man sich rot vorzustellen hat und
die im Westen, jedoch südlich der Eingangspforte, mit Blick­
richtung auf die Sonne aufgestellt ist.

Die zwei Säulen


Die maurerische Symbolik verlangt im Übrigen dringend nach
einer verbindlichen Festlegung der Inneneinrichtung des Tem­
pels.

Im ersten Buch der Könige, Kapitel 7, Vers 21, lehrt uns die
Bibel, dass die beiden ehernen Säulen, das Werk des Erzgießers
Hiram aus Tyros, am Eingang des salomonischen Tempels auf­
gerichtet waren, die eine mit dem Namen 'i:1 rechts und die
andere mit dem Namen :mn links.

Über das symbolische Geschlecht dieser beiden Säulen herrschte


nie Streit, weil die erste durch den ersten Buchstaben des Alpha­
bets, Jod, mit dem man sie allgemein benennt, ausreichend als

120 Der Geselle


männlich gekennzeichnet war. Denn dieser hebräische Buch­
stabe entspricht in geradezu klassischer Weise dem Begriff des
Männlichen [22]. Beth, der zweite Buchstabe des Alphabets,
wird andererseits als wesentlich weiblich angesehen, denn er be­
deutet Haus, Wohnung, womit sich die Vorstellung von Gefäß,
Höhle, Uterus usw. verbindet. Die Säule J.·. ist also durchaus
männlich-aktiv und die Säule B.·. weiblich-passiv. Die Farb­
symbolik verlangt demzufolge, dass die erste Säule rot ist und
die zweite weiß oder schwarz.

Hätte man die Säulen nicht ins Innere des Tempels verbracht,
wäre ihre Aufstellung nicht zweifelhaft, da die Bibel die Säule
J.·. rechts, also im Süden, und die Säule B.·. links, also im Nor­
den platziert. Diese Angaben hätten bei der Umsetzung der Säu­
len respektiert werden sollen, denn J.·. entspricht der Sonne und
B.·. dem Mond; nun leuchtet aber im Orient das erstere dieser
Gestirne im Süden, während das zweite im Norden erglänzt.

Man kann natürlich auch davon ausgehen, dass diese Bezie­


hungen sich überkreuzen. Beide Systeme sind also vertretbar,
aber nur unter der Bedingung, dass der Erste Aufseher immer
bei der Säule J.·. und der Zweite Aufseher stets bei der Säule
B.·. seinen Platz hat, denn Winkelwaage und Senkblei, die die­
se beiden Beamten schmücken, beziehen sich auf Schwefel �
(J.·., aktiv-männlich) und Merkur� (B.·., passiv-weiblich).

Der Tempel der Gesellen 121


Die Aufseher
Der Lehrling, der Geselle wird, geht von der Winkelwaage zum
Bleilot über. Deshalb hat der Zweite Aufseher entsprechend der
herkömmlichen Sprachregelung vor allem die Aufgabe, die Ar­
beiten der Lehrlinge zu leiten, während die Bemühungen um ver­
tiefte Instruktion der Gesellen dem Ersten Aufseher obliegen.

Seine Aufgabe liegt jedoch weniger in der theoretischen Instruk­


tion als vielmehr darin, die Initiative des Einzelnen anzuregen.
Kunst kann man nicht auswendig lernen. Der neue Geselle ist
in der Lage zu arbeiten - nun soll er sich in der Praxis vervoll­
kommnen.

Er kann schließlich nur zum Meister erhoben werden, wenn er


nachweist, dass er seine Kunst sowohl in der Theorie wie in der
Praxis bis auf den Grund beherrscht. Um seinen Lohn an der
Säule B. ·. zu erhalten, muss er in der Lage sein, alle Regeln
praktischer Anwendung auch im Verstand nachzuvollziehen,
weil in der Maurerei nichts getan werden darf ohne tragfähiges
und klar ausformuliertes Motiv. In einer Loge ist der Zweite
Aufseher der Lehrer, der Theoretiker, der den Hintergrund der
Dinge vertieft und den man sich als den Bewahrer des Senk­
bleis vorstellen muss. Dieses Werkzeug steht für die Rückkehr
in sich selbst, lehrt zunächst den Eintritt in die dunkle Kammer
und weist schließlich den Weg in die Mittlere Kammer der Meis­
terloge. Es ist damit Sache des Zweiten Aufsehers, die ersten
Schritte des Lehrlings zu lenken, ihn dadurch auf den rechten
Weg zu bringen und ihn auf diesem eingeschlagenen Weg zu
halten. Wie die Lehrlinge im Norden sitzen, so hat der Zwei­
te Aufseher seinen Platz zu Recht vor der Säule B. · ., und zwar
ohne Rücksicht darauf, wo diese Säule tatsächlich steht. Aber
selbst wenn das Podest für den Beamten sich im Süden befinden
sollte, muss er auch von dort aus die im Norden sitzenden Brr. ·.
beaufsichtigen.

122 Der Geselle


Obwohl der Zweite Aufseher eine ganz besondere Verantwor­
tung für die Instruktion der Lehrlinge hat, ist es doch nicht seine
Aufgabe, sie der Prüfung zu unterziehen, die ihnen die Beförde­
rung in den nächsthöheren Grad ermöglicht. Der Zweite Aufse­
her hat lediglich festzustellen, dass er mit dem Eifer, der guten
Führung und der Anstelligkeit des Lehrlings zufrieden ist. Wenn
auch sein Meister mit ihm zufrieden ist, darf er sich der Säule
J. ·. nähern und dort seinen Lohn aus den Händen des Ersten Auf­
sehers entgegennehmen, in dessen Schule er seine Gesellenzeit
verbringen wird. Die fünfte Reise führt den Gesellen zum Zwei­
ten Aufseher zurück, der ihm bei seinen Bemühungen um das
nur zu Ahnende helfen soll, um ihn schließlich zur Wissensschau
hinzuführen.

Die Arbeitstafel
Ursprünglich konnte jede beliebige geschlossene, rechtwinklig
zugeschnittene Räumlichkeit ganz einfach in ein maurerisches
Heiligtum verwandelt werden. Zu diesem Zweck wurde ein Ses­
sel an der der Tür gegenüberliegenden Wand aufgestellt, zwei
weitere Sitzgelegenheiten wurden links und rechts davon plat­
ziert; dann zeichnete man mit Kreide ein längliches Viereck auf
den Fußboden, innerhalb dessen die wesentlichen Symbole der
Freimaurerei grob markiert wurden.

Es fiel in den Aufgabenbereich des Zeremonienmeisters, diese


Tafel bei Öffnung der Arbeiten zu zeichnen und sie mit einem

Der Tempel der Gesellen. 123


feuchten Schwamm im Augenblick der Schließung sorgfältig
wieder auszuwischen.
In der Folgezeit fand man es zweckmäßiger, auf dem Boden der
Loge eine im Voraus ein für alle Mal fertig bemalte Leinwand
auszurollen. Traditionsgemäß mussten die Lehrlinge ihre Rei­
se um ein entsprechendes mystisches Rechteck ausführen, das
die ihrer Meditation empfohlenen Symbole umschloss. Dieser
Brauch hat sich in Frankreich nur bei der Beförderung in den
Gesellengrad erhalten.

Die Tafel oder der Teppich, der in der Mitte der Loge dergestalt
ausgebreitet wird, muss schon nach den Worten der ältesten Ri­
tuale die Aufmerksamkeit auf die folgenden Embleme hinlenken
[23]:

1. Die sieben Stufen des Tempels und das musivische Pflaster


in seinem Vorhof.
2. Die beiden Säulen J.·. und B.·. und zwischen ihnen auf Höhe
der Kapitelle einen geöffneten Zirkel, dessen zwei Spitzen
nach oben weisen.
3. Links von der Säule B.·. den Rauen Stein, den Meißel, die
Zange oder Krampe und das Lineal; rechts von der Säule J.·.
den Kubischen Stein und zwischen den beiden Säulenschäf­
ten das Tor zum Tempel.
4. Oberhalb des Kapitells der Säule J.·. die Setzwaage; ober­
halb der Säule B.·. die Winkelwaage.
5. In der Mitte oberhalb der Öffnung des Zirkels den Flammen
den Stern, der in seiner Mitte den Buchstaben G enthält.
6. Oberhalb des Flammenden Sterns ein Winkelmaß, zu seiner
Rechten die Sonne und zur Linken der Mond und über die­
sem das Zeichenbrett.
7. Der obere Abschnitt stellt einen Himmel dar, der mit Sternen
übersät ist, zwischen denen sich die Knotenschnur, Vereini­
gungsband genannt, hindurchschlängelt.
8. Drei Fenster, von denen sich das erste nach Osten, das zweite
nach Süden und das dritte gegen Westen öffnet.

Üblicherweise fügt man noch ein Schwert und eine Kelle hin­
zu.

124 Der Geselle


Die sieben Stufen
Die Lehrzeit dauerte einst sieben Jahre, daher die sieben Stufen,
die man emporsteigen muss, um sich zum Gesellengrad zu er­
heben.

In dieser Siebenzahl hat man des Weiteren eine Anspielung auf


die sieben freien Künste gesehen, die der Initiierte pflegen soll,
beginnend mit der Grammatik, die ihn lehrt, sich verständlich zu
machen und von Dritten geäußerte Gedanken korrekt zu erfassen.
Man darf also das Wort hier nicht im üblichen Sinn verstehen,
denn es ist davon auszugehen, dass ein Maurer nicht mehr lernen
muss, was man den Kindern in der Volksschule beibringt.

Die Rhetorik sodann bezieht sich auf die Kunst, die Aufmerk­
samkeit einer Zuhörerschaft zu gewinnen und sie durch die den
vorgetragenen Gedankengängen verliehene glückliche Form zu
beeindrucken.

Die Logik wiederum schützt vor falscher Argumentation und


wappnet den Denker gegen Irrtum und Illusion.

Die Arithmetik bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die


Zahlen in philosophischem Verständnis als Grundlagen jeder in­
itiatischen Wissenschaft.

Die Geometrie lehrt die universal gültigen Gesetze des Bauens.


Auf die Symbolik bezogen ermöglicht es ihre Methode, dem
menschlichen Geist den Bereich des Mysteriums auf sicherem
Boden zu erkunden.

Die Astronomie lässt den Menschen begreifen, was er im Ver­


hältnis zur Unendlichkeit ist.

Die Musik schließlich enthüllt die Gesetze der Harmonie, die


alle Dinge beherrschen und nach denen das Werk der Freimau­
rerei in die Tat umgesetzt werden soll.

Der Tempel der Gesellen 125


Die drei Fenster
Die Lehrlingsloge empfängt kein Licht von außen. Darin erinnert
sie an die unterirdischen oder aus Bergflanken ausgehobenen
Krypten, die Totenkammern Ägyptens oder Indiens, die Höhlen
der mithriatischen Initiationen, die Grotte des Trophonios usw.

Die Gesellenloge dagegen steht dank der drei symbolischen


Fenster, die nach Osten, Süden und gegen Westen geöffnet zu
denken sind, mit der Außenwelt in Verbindung.

Das erste erhellt sich durch die Strahlen der aufgehenden Sonne,
die die Finsternis zerstreut. Dieses kämpferische Licht entspricht
dem jugendlichen Sinn, der gegen alte Irrtümer und eingewur­
zelte Vorurteile angeht. Dahinter steht eine Logik, die zersetzend
und zerstörerisch auf alles wirkt, was nicht auf solide Funda­
mente gegründet ist.

Durch das Fenster des Südens dringt das volle Tageslicht herein,
das, indem es den Schattenwurf auf ein Mindestmaß verringert,
die Dinge in ihrer brutalen Wirklichkeit so zeigt, wie sie sind.
Dabei geht es um die von Gefühlen freie und positive Beobach­
tung naturwissenschaftlich bestimmter Tatsachen.

Das Feuer der untergehenden Sonne schließlich spiegelt sich im


westlichen Fenster. Reiche Farben machen offenbar, was von
der Vergangenheit zu überleben verdient. Die Vernunft gibt sich
nämlich nicht damit zufrieden, den Irrtum zurückzuweisen (Os­
ten) und die objektive Wahrheit festzustellen (Süden), sondern
sie lässt auch vorverstorbenen Denkern Gerechtigkeit widerfah­
ren, indem sie aus den alten Überlieferungen das herauslöst, was
sie an Wahrem einschließen.

126 Der Geselle


Schwert und Kelle
Es mag seltsam anmuten, unter den durch und durch friedlichen
Symbolen der Freimaurerei eine Kriegswaffe, eine Waffe zur
Selbstverteidigung zu finden. So hat man sich die Frage gestellt,
ob das Schwert in einer Freimaurerloge wirklich am Platz ist.

Ein sehr alter Brauch schreibt indessen vor, einen Br.·. vor der
Schwelle des Tempels zu postieren, der den Auftrag hat, Pro­
fane zu vertreiben, und zu diesem Zweck mit einem blanken De­
gen bewaffnet ist. Lässt nicht schon die Bibel den Eingang zum
Paradies von Cherubim bewachen, die ihre blanken Waffen in
feurigem Kreis herumwirbeln lassen [24]? Die alexandrinischen
Übersetzer des hebräischen Textes waren der Meinung, dass
es sich hierbei um wellenförmig geschliffene oder Flammen­
schwerter gehandelt habe; solche Waffen waren ihnen zweifellos
bekannt. Nun ist allerdings in der Antike kein Krieger bekannt,
der sich ein solches Flammenschwert hätte schmieden lassen,
eine aus militärischer Sicht sehr unpraktische Waffe. Wenn ein
solches Gerät existiert hat, dann nur, weil und soweit es einen
symbolischen Wert hatte. Die Wellenform nimmt nämlich Bezug
auf eine Bewegung, die das starre Schwert in eine lebende Waf­
fe verwandelt - das Symbol für die Ausstrahlung des Denkens
und des Wortes. In diesem Sinne lässt die Apokalypse (Kapitel
19, Vers 15 und 21) ein scharfes Schwert aus dem Mund eines
Ritters auf einem weißen Pferd hervorbrechen.

Initiatisches Denken, ob nun in Worte gefasst oder nicht, ver­


treibt in der Tat die Profanen, wenn es lebendig ist. Was sich
nicht mit ihrer Mentalität vereinbaren lässt, stößt sie ab; sie
flüchten instinktiv vor dem, was sie nicht würden verstehen kön­
nen. In der Maurerei ist alles darauf ausgelegt, von vornherein
solche Personen abzuschrecken, die des Bundes nicht würdig
sind. Oberflächliche Köpfe sind schockiert von Gebräuchen, die
ihnen lächerlich vorkommen, weil sie unfähig sind, das Ausmaß
ihrer Bedeutung auch nur annähernd zu erfassen. Selbst wenn
die Bruderschaft aus Versehen einen von ihnen in ihre Reihen
aufgenommen hat, wird er sich in kürzester Zeit aus eigenem

Der Tempel der Gesellen 12 7


Antrieb wieder zurückziehen, weil er sich dort nicht am rechten
Platz fühlt.

Diese anpassungsunfähigen Elemente werden, ohne dass sie


sich dessen bewusst werden, durch das geheimnisvolle Wirken
des symbolischen Schwertes entfernt, das das Bildzeichen ist für
das Maurerwort in seiner den besonderen Charakter der Frei­
maurerei schützenden und bewahrenden Rolle. In der Magie hält
die Spitze eines Schwertes die Nachtgeister auf Abstand und löst
die fluidal geronnenen Erscheinungen auf. Für jeden, der nicht
Sklave des toten Buchstabens ist, bedeutet dies, dass sich eine
wachsame Vernunft nicht von den Luftspiegelungen der Phan­
tasie täuschen lässt. Weil es Aufgabe des Maurers ist, den Irr­
tum zu bekämpfen, ist es auch gerechtfertigt, dass er mit dem
Schwert des Geistes bewaffnet ist, das die Vorurteile abwehrt,
das Gespinst der Lüge durchtrennt und ungesunde Phantasma­
gorien zum Verschwinden bringt. Der Maurer trägt jedoch das
zerstörerisch wirkende Schwert stets in der linken Hand, denn
es ist für ihn eine Verteidigungswaffe, zu der er nur im Notfall
greift, während er mit der rechten unermüdlich mit der Kelle
weiterarbeitet.

Dieses Werkzeug dient dazu, den vorbereiteten Mörtel beim Zu­


sammenfügen der Bausteine zu verstreichen, um die Geschlos­
senheit des Bauwerks sicherzustellen. Während das Schwert
zerteilt, trennt und unterscheidet, so verbindet die Kelle, ver­
schmilzt und einigt. Sie ist also wesentlich das Bildzeichen der
Gefühle aufgeklärten Wohlwollens, universaler Brüderlichkeit
und breitgefächerter Toleranz, die den Maurer auszeichnen. So
wird die Kelle zu dem für den modernen Freimaurer ganz beson­
ders geeigneten Emblem, zugleich aber auch zu dem Symbol, das
unsere weltweit verbreitete philosophisch und sittlich aufbauen­
de Institution am besten charakterisiert. In ihrer Darstellung auf

12 8 Der Geselle
der mystischen Arbeitstafel entspricht sie dem alchimistischen
Ideogramm �. das die Vollendung des Großen Werkes darstellt.
Der in der Kunst bewanderte Geselle, die Kelle zu handhaben,
darf wirklich nach der Meisterschaft streben, denn er ist gewiss
von maurerischem Geist ganz und gar durchtränkt.

Das Zeichenbrett
Es ist den Meistern vorbehalten, über die Baupläne zu bestim­
men; aber damit der Geselle sich bei der Ausführung seiner Ar­
beit ihnen anpassen kann, muss er die Zeichnung kennen, und
das Zeichenbrett darf ihm nicht fremd sein. Dieses Brett enthält
im Allgemeinen die Zeichen, aus denen sich die verschiedenen
maurerischen Alphabete bilden lassen und die dadurch charak­
terisiert sind, dass sie aus rechtwinkligen Elementen bestehen.
Es gibt zahlreiche Varianten, aber die Basis ist immer dieselbe.
Im 18. Jahrhundert war die folgende Form am meisten verbrei­
tet:

ab cd ef _J -=.J LJc 1.:..1D L L!..


B E F

h i I mn ::J==:IDEICE
op qr St 1-=inr-irr-
H 1 L M

*
N

> V < Az
R p s T0

u X y

Das aus mehreren Quadraten zusammengesetzte Viereck bietet


sich im Übrigen für das Studium der dreifachen Dreiheit an, de­
ren Angelpunkt die Quintessenz ist, wobei die 5 den Mittelpunkt
der neun Felder bildet, wie es die folgenden Abbildungen zeigen,
wobei die zweite ein magisches Quadrat darstellt. Diese Vier­
ecke ordnen die Zahlen so an, dass ihre Addition in jeder Rich­
tung und sogar in der Diagonale immer eine bestimmte Summe
ergibt. Ihr Studium hat vor Zeiten diejenigen stark beschäftigt,

Der Tempel der Gesellen 129


die sich um die mystischen Geheimnisse bemühten. Im Buch des
Meisters werden wir darauf zurückkommen.

1 2 3 8 1 6
4 5 6 3 5 7
7 8 9 4 9 2
Halten wir vorderhand einfach fest, dass die neun ersten Ziffern,
wenn man sie in drei Reihen in normaler Folge anordnet, eine
besondere Bedeutung gewinnen, von der sich die Kabbalisten
bei der Konstruktion des sephirotischen Baumes haben inspirie­
ren lassen. Dieser ist dazu bestimmt, den Himmel mit der Erde,
das Abstrakte mit dem Konkreten oder auch das Unendliche mit
dem Endlichen zu verbinden. In diesem Zusammenhang sind die
folgenden Zahlengruppen zu beachten:

1, 2, 3 - Geist (Verstand, Denken)


4, 5, 6 - Seele (Gefühl, Willen)
7, 8, 9 - Leib (Bewegung, Tätigkeit)

Dabei sind 1, 4, 7 männlich, 2, 5, 8 weiblich und 3, 6, 9 säch­


lich.

130 Der Geselle


Winkelmaß und Zirkel
Nachdem der Flammende Stern mit Winkelmaß und Zirkel in
Verbindung steht, umrahmen ihn diese Werkzeuge im Allgemei­
nen so, dass der Winkel sich von unten nach oben öffnet, wäh­
rend der Zirkel von oben nach unten offen ist. Das Winkelmaß
ist in diesem Fall passiv oder rezeptiv, der Zirkel aktiv. Er ist das
Bild für die von der Vernunft ausgehende Leuchtkraft, die es er­
möglicht, die Tatsachen in der rechten Weise einzuschätzen und
die Beziehungen auszuloten, die zwischen Ich und Nicht-Ich,
zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, zwischen dem
Abstrakten und dem Konkreten usw. bestehen. Er ist darüber hi­
naus dreifaltig, da er aus zwei beweglichen Schenkeln und dem
feststehenden Kopf besteht.

Das Winkelmaß dagegen ist mit seinen beiden Armen, die für
sämtliche Gegensätze, vor allem aber für den Gegensatz zwi­
schen Recht und Pflicht stehen, zwiefältig. Grafisch kann man
seine Bedeutung unter acht verschiedenen Aspekten darstellen,
die sich aus nachstehenden Abbildungen ersehen lassen:

Der Tempel der Gesellen 131


Die zweite bildet eine doppelte Swastika und bezeichnet das
Rad der Schöpfung, das Rad des Werdens oder auch der uni­
versalen Bewegung. Die Winkelmaße, deren Zweige vertikal
und horizontal verlaufen (1, 3, 5, 7), entsprechen den Elementen
(Luft, Wasser, Erde, Feuer), die diagonal angeordneten Winkel­
maße (2, 4, 6, 8) den Eigenschaften der Elemente (feucht, kalt,
trocken, heiß) [25].

Ohne uns hier mit diesen Beziehungen weiter aufzuhalten, die


in der Maurerei kaum Anwendung finden, beschränken wir uns
darauf, die ungewöhnliche Stellung näher zu erörtern, in der sich
Winkelmaß und Zirkel auf der Arbeitstafel des Gesellengrades
präsentieren.

Der mit beiden Spitzen nach oben geöffnete Zirkel impliziert ein
rationales Studium nicht der Erde oder objektiv zu ermittelnder
Fakten, sondern des Himmels, also die intensive und sorgfältige
Erforschung abstrakter Prinzipien. Dem Gesellen wird mit ande­
ren Worten die Erleuchtung nur für den Fall versprochen, dass er
es versteht, sie innerhalb der Fesseln der platonischen Geometrie
zu finden.

Das Winkelmaß, das nach oben hin die Strahlen des Flammen­
den Sterns aufhält, um sie nach unten und auf jenen selbst zu­
rückzulenken, spielt damit an auf die Geradlinigkeit im Urteil,
die gerade für den idealistisch gesinnten Menschen unerlässlich
ist. Dieser läuft ja allzu leicht Gefahr, sich im Irrealen zu verlie­
ren, wo es doch in Wahrheit immer darauf ankommt, alles auf
die praktische Umsetzung auszurichten.

132 Der Geselle


Der Kubische Stein mit Spitze
Der vollkommene Kubus ist kaum geeignet, den Anforderungen
einer Baukunst zu genügen, die längliche Blöcke aufeinander­
zuschichten pflegt. Der Kubische Stein nimmt demgegenüber
Bezug auf eine Baukonstruktion, die sich im Wege der Kristal­
lisation vollzieht.

Der Eingeweihte, der in sich selbst das in diesem Stein beschlos­


sene Ideal verwirklicht, wird innerhalb der menschlichen Ge­
sellschaft zum Agens der Verwandlung, denn allein durch seine
rechtwinklige Ausbildung veranlasst er seine Umgebung dazu,
sich ihm anzupassen. So erklärten die Alchimisten die Haupt­
eigenschaft ihres berühmten Steins der Weisen, den sie sich in
Gestalt eines Kubus vorstellten. In den maurerischen Urkunden
des 18. Jahrhunderts treffen wir dazu auf ein unerwartetes Sym­
bol. Das ist der mit einer Spitze versehene und mit einem Beil
angeschlagene Kubische Stein.

Dieses Werkzeug, das die Maurer von den Zimmerleuten über­


nommen haben müssen, deutet zweifellos darauf hin, dass man
den Stein bearbeiten, ihn spalten muss, um zu seinem Inhalt,
seiner Esoterik vorzudringen. Die pyramidenförmige Krone des
Kubus könnte dem Kreuz entsprechen, das im Ideogramm den
Stein der Weisen krönt Q. In diesem Fall bezieht sich der Ku­
bische Stein mit Spitze vor allem auf den Meistergrad und auf
jene Art von Verfeinerung der Persönlichkeit, die sich in ethischer
Hinsicht als Heiligkeit oder Heroismus und im geistigen Bereich
als verstandesmächtige Urteilsschärfe darstellt.

Der Tempel der Gesellen 133


Aber praktisch und in allen Dingen maßvoll, wie er ist, braucht
der Geselle nicht nach Übermenschlichem zu streben. Seine Auf­
gabe ist schlicht und einfach die Herstellung eines Kubus oder
rechtwinklig behauenen Steins, der geeignet ist, seinen Platz im
Bau der Gesellschaft einzunehmen. Uns genau der Funktion an­
zupassen, die wir im Interesse der Allgemeinheit auszuüben be­
rufen sind - das ist die durchaus erreichbare Vervollkommnung,
um die wir uns bemühen müssen.

Die Knotenschnur
Will man einem Freimaurer glauben, der vor allem das germa­
nische Altertum studiert hat [26], haben einige unserer Traditi­
onen ihre Wurzeln in weit zurückliegender Vergangenheit.

So soll die Schnur, die, beginnend an der einen Eingangssäule


und endend an der anderen, den Tempel an der Decke umran­
det, ganz genau dem Band entsprechen, das den Platz einsäum­
te, der für die politischen und rechtsprechenden Versammlungen
der Germanen bestimmt war. Diese Versammlungen wurden an
einem geweihten Ort unter freiem Himmel abgehalten, zumeist
auf einer natürlichen oder künstlichen Erhebung. Der erforder­
liche Raum wurde durch in den Boden gerammte Lanzen oder
Piken begrenzt, die durch ein fest mit ihnen verknüpftes Tau ver­
bunden waren. Der so geschaffene Raum wurde heiliger Raum.
Wem es eingefallen wäre, unter dem Tau hindurchzuschlüpfen,
um hinein- oder herauszugelangen, der hätte sich eines Frevels
schuldig gemacht und wäre wahrscheinlich den Gottheiten der
Sippe oder des Klans geopfert worden. Man musste zwischen
den beiden Pfosten, an denen die Enden des Taus ausliefen,
hindurchgehen, um an der Versammlung teilnehmen zu dürfen.
Dort stand ein Herold, dessen Aufgabe es war, für den Zutritt
ungeeignete Personen abzuweisen.

Nur die frei geborenen Männer waren zugelassen. Sie mussten


mit ihren Waffen bekleidet sein, die vorne an ihrem Gürtel wie

134 Der Geselle


ein Schurz aufgehängt waren. Denn bei V ölkern, die gewohnt
waren, zumeist nackt zu kämpfen, konnten die Kriegswerkzeuge
ohne Weiteres jedes andere Kleidungsstück ersetzen.

Die Versammlung wurde eröffnet nach einer Abfolge von Fragen


und Antworten, die sich auf die Tagesstunde bezogen. Es musste
festgestellt werden, dass die Sonne den Meridian erreicht hatte,
dass es also Hochmittag war, bevor der Häuptling die Umste­
henden auffordern konnte, ordentlich anzutreten, in Ordnung zu
treten. Es ist möglich, dass man darunter verstand, dass eine vor­
her vereinbarte bestimmte Haltung eingenommen wurde, indem
man sich gewissen Regeln entsprechend aufreihte. Im Verlauf
der Debatten sprach sich die Versammlung über alle Fragen von
allgemeinem Interesse oder über konkrete einzelne Rechtsfra­
gen aus, wie es gerade kam; sie entschied vor allem über Frieden
und Krieg und genehmigte die mit benachbarten V ölkerschaften
abgeschlossenen Verträge.

Durch sie wurden außerdem die jungen Leute, die volljährig ge­
worden waren und sich als würdig erwiesen hatten, in den Ge­
nuss der Rechte und Vorrechte freier Männer zu gelangen, in
ihre Reihen aufgenommen. Diese Aufzunehmenden mussten zu­
nächst ihre Waffen, Kopfbedeckungen und Handschuhe ablegen
und sie wurden allen Metalls befreit, um anschließend feierlich
erneut bewaffnet und vollständig ausgerüstet zu werden.

Die Schrift war damals unbekannt, das Gedächtnis musste alle


Entscheidungen von Gesetzeskraft aufbewahren. Eine Rechts­
unterweisung in Frage und Antwort beendete demzufolge die
Aussprache jeder solchen Versammlung.

Erst um Mitternacht ging man auseinander nach Einnahme ei­


ner Mahlzeit, die das Fleisch von Opfertieren kostete. Ein Ze­
remonial regelte den Ablauf dieser heiligen Agapen, die auch
Trinksprüche enthielten, deren letzter für jene unglücklichen
Gefährten gesprochen wurde, die in die Macht des Feindes ge­
fallen waren.

Der Tempel der Gesellen 135


Diese Parallelität zur Maurerei lässt vermuten, dass die Baubrü­
derschaften des Mittelalters unbewusst uralte heidnische Bräu­
che weitertrugen.

Die Bedeutung, die wir dem Hammer beilegen, kann sich durch­
aus auf den Gott Donar zurückführen lassen, eine Art Jupiter
Tonans, dessen Priester jedes Familienoberhaupt im Inneren des
Hauses war, wo die in der Familie gepflegten Riten sich nur mit
Hilfe des Hammers durchführen ließen (27).

136 Der Geselle


Teil VIII

RITUALUNTERSCHIEDE

Sprachverwirrung

Die Freimaurerei ist in keiner Weise in eine strenge äußere Form


eingezwängt, die überall gleich und unveränderlich wäre. Die
vergangenen Jahrhunderte haben ihr in Sachen Ritual und Sym­
bolik bei Weitem kein unbeschädigtes Erbe hinterlassen, ganz
im Gegenteil. Die moderne Maurerei hat nur ein dürftiges Erbe
angetreten, das aus einem Komplex ungesicherter, unverstan­
dener und demzufolge stark entstellter Überlieferungen besteht.

Auf solchen bescheidenen und manchmal unbefriedigenden Ge­


gebenheiten musste man aufbauen und zur Wiederherstellung
schreiten, wobei man sich eher von einem verschwommenen
Architekturbegriff als von wirklich klarem Wissen leiten ließ.
Unter diesen Bedingungen haben sich die maurerischen Formen
nach Rassen und Ländern unterschiedlich entwickelt. So stehen
wir schließlich derzeit vor einer Reihe von Maurereien, die ei­
nander kaum mehr ähnlich sehen.

Nach solcher Diversifizierung ist es jetzt geboten, dass die uni­


versale Maurerei, die sich ja in ihren Grundprinzipien völlig ei­
nig ist, Schritt für Schritt zur Einheitlichkeit einer vernünftigen
Arbeitsweise zurückgeführt wird. Es ist zu wünschen, dass die
Maurer der ganzen Welt es erreichen, sich dahingehend zu ver­
ständigen, überall zwar nicht unbedingt völlig gleiches, aber
dennoch zumindest ähnliches und konkordantes Brauchtum
anzuwenden. Eine derartige Vereinheitlichung sollte sich aus­
schließlich an einem vertieften Studium der Symbolik orien-

Ritualunterschiede 13 7
tieren. Alles, was in der Maurerei geschieht, muss sich logisch
begründen lassen. Riten, für die gute Gründe sprechen, müssen
erhalten bleiben; aber es ist angebracht, kategorisch alles zu re­
formieren, was nur auf Phantasie, um nicht zu sagen: auf Irrtum
beruht.

Die heiligen Worte


Insoweit ist keine Reform dringender als eine, die sich der hei­
ligen Worte des ersten und zweiten Grades annimmt. Es ist ab­
surd, dass ein und dasselbe Wort von einer Obödienz zur anderen
bald für die Lehrlinge, bald für die Gesellen gebraucht wird. Im
Interesse des Ansehens der Maurerei in den Augen ihrer eigenen
Anhänger muss man untersuchen, wer sich irrt und wer Recht
hat, und danach ein ärgerliches Indiz für Uneinigkeit und man­
gelnde Intelligenz beseitigen.

Historisch gesehen geht der Streit bis in die Mitte des 18. Jahr­
hunderts zurück, und zwar auf die Rivalität der zwei Großlogen,
die sich in England gegenseitig exkommunizierten [28]. Jede
von ihnen hatte ihr eigenes System, und je nachdem, von wel­
cher Lehrart die Logengründer jeweils herkamen, legten sie in
ihren verschiedenen Ländern einander widersprechende maure­
rische Riten fest.

In Frankreich kennt kein Ritual des 18. Jahrhunderts das, was


man später die schottische Umkehr genannt hat [29]. J. ·. war
damals unbestritten das Wort der Lehrlinge und B. ·. das der Ge­
sellen; außerdem wurde der Schritt beginnend mit dem rechten
und nicht dem linken Fuß ausgeführt.

Bis heute sind weder gute noch schlechte Gründe vorgebracht


worden, die für den linken Fuß sprächen. Der Schritt mit dem
rechten Fuß rechtfertigt sich aus der Tatsache, dass die rechte
Seite Aktivität verkörpert, Initiative und vernünftiges Denken,
während Passivität, Gehorsam und Gefühl sich auf die linke
Seite beziehen. Es ist daher logischerweise der rechte Fuß, der

138 Der Geselle


sich vorwärts bewegen muss, unterstützt vom linken Fuß, dessen
Rolle es ist, zu folgen.

Was J. ·. und B. ·. angeht, so ist die Frage vielschichtiger. Gewiss


stellt niemand die symbolische Bedeutung der beiden Worte in
Frage. Männlich-aktiv, entspricht J. ·. dem Feuer, dem Schwefel
der Alchimisten�. dem Prinzip der inneren oder individuellen
Aktivität. Nun sind es aber eben diese Energie, sein Feuer, sein
Schwefliges, die der Lehrling in die Tat umsetzen muss, um die
Elemente zu besiegen und dahin zu kommen, das Licht der Ein­
weihung zu sehen. J. ·. scheint demnach das zu ihm passende
heilige Wort zu sein.

Halten wir weiter fest, dass man vom Lehrling nicht verlangt,
dass er nach außen hin tätig, sondern dass er innerlich aktiv wird.
Er darf sich nicht wie ein braver Schüler verhalten, der nur zu­
hört und sich den Lehrstoff aneignet, den seine Lehrmeister ihm
einzupflanzen sich bemühen. Die Freimaurerei überlässt ein
derartiges Vorgehen den Kirchen und den weltlichen Schulen.
Da es nicht ihre Aufgabe ist, Gläubige oder Doktrinäre heranzu­
bilden, sondern gänzlich unabhängige Denker, kann sie dieses
Ziel nur dadurch erreichen, dass sie die Initiative des Einzel­
nen anregt (Schwefel ). So begegnet sie dem Aufzunehmenden
mit beharrlichem Schweigen. Sie befragt ihn, zwingt ihn zum
Nachdenken und zeigt ihm, wo sie lehren will, Symbole, deren
Bedeutung nur ganz unbestimmt angegeben wird, denn der Ein­
zelne initiiert sich nur, wenn er sich selbst bemüht, die Nacht des
Geheimnisses zu durchdringen. Alles in allem stimmt das Bil­
dungsprogramm des Lehrlingsgrades mit dem der männlichen
oder dorischen Initiation überein, die die Entwicklung der männ­
lichen Energie und des Willens betont. Der Lehrling nimmt sich
dadurch selbst in Besitz, dass er über alle gedankenlosen und
unüberlegten Versuchungen triumphiert. Der ist ein wohl ausge­
glichener Weiser, der nur das tut, was er will, und sich dabei von
einer hellsichtigen und gefassten Vernunft anleiten lässt.

Auf den ersten Blick scheint es, als könne man über solche
Weisheit hinaus nichts verlangen, aber dennoch: Was wäre die

Ritualunterschiede 139
Welt, wenn sie nur aus Philosophen dieser Art bestünde? Eras­
mus hat uns ein „Lob der Dummheit" hinterlassen, das das Un­
genügende einer bloß männlichen oder vernunftbezogenen Initi­
ation wunderbar aufzeigt. DasBeste und Edelste in uns ist genau
das, was nicht vernunftbestimmt ist. Nur die Aufschwünge des
Herzens führen uns zur Selbstverleugnung,zum Heroismus. Al­
les wirklich Große ist Frucht eines Traums, der Phantasie, einer
sublimen Torheit und der Selbstvergessenheit. Alle diese Din­
ge verweisen auf die weibliche oder ionische Initiation, die die
lmaginativkräfte und das Gefühl pflegt,also aufB.·.,das heilige
Wort der Gesellen.

Diese dürfen sich nämlich nicht damit zufrieden geben,im Voll­


besitz ihrer selbst zu sein und eine egoistische, unzureichend
aktive Weisheit zu pflegen. Sie sind dazu aufgerufen, größere
Aktivität zu entfalten als die Lehrlinge,die nur innerlich,anders
gesagt in Richtung auf sich selbst aktiv waren,da sie an ihrer ei­
genen Verwandlung vom Rauen in den Kubischen Stein arbeiten
mussten.

Aber die nach außen gerichtete Aktivität des Gesellen würde


sich rasch erschöpfen, wenn er es nicht verstünde, seine Kräfte
zu erneuern, indem er sich rezeptiv oder passiv macht, um von
jener Stärkung zu profitieren, die denen versprochen wird, die
sich der Säule B.·. nähern, deren Name „In ihr liegt die Kraft"
bedeutet.

Aktivität und Passivität


Da sich der Geselle noch aktiver zeigt als der Lehrling,hat man
glauben können, J.·. sei dem zweiten Grad vorbehalten, und
zwar umso mehr, als dieses Wort fünf Buchstaben enthält, wäh­
rend B.·. üblicherweise mit vier Buchstaben transkribiert wird.
Dieses Zahlenargument ist umso schwächer, als der Name der
linken Säule des Tempels :1l7T sich richtiger Bohaz schriebe als
B ...s.

140 Der Geselle


Wer sich auf ein so schwaches Argument stützt, um die Säule
B.·. den Lehrlingen zuzuweisen, beweist unglücklicherweise
eine bedauerliche Unwissenheit in Fragen der Initiation. Er hat
nicht begriffen, dass man notwendigerweise bei J. ·. beginnen
muss, weil die ausschließlich schwefelhafte, also innerliche, in­
dividuelle und insoweit begrenzte Aktivität des Lehrlings sich
in eine Aktivität höheren Ranges verwandelt, sobald Schwefel
� (J. ·.) mit Merkur t;l (B.·.) kombiniert wird. Vom merkurisch­
passiven Element (feuchte Luft oder luftiges Wasser) genährt,
bricht das individuelle Feuer (Schwefel�) auf, strahlt nach au­
ßen und verlöscht nie mehr. Dies ist die Verwirklichung dessen,
wofür der Phönix steht, anders ausgedrückt die Ingangsetzung
einer schweflig-merkurialen Aktivität, die es dem Einzelnen er­
laubt, von allen dynamischen Ressourcen zu profitieren, über
die das Kollektiv verfügt.

Um wirklich etwas von jenen diffusen äußeren Kräften zu haben,


muss man sie einzufangen wissen, indem man sich mit ihnen in
Harmonie setzt. Dabei handelt es sich darum, sich zugänglich zu
machen, aber nicht unterschiedslos für alle Einflüsse von außen,
sondern einzig für die guten, die in Affinität stehen zur Rein­
heit der Seele, die man dank der Prüfungen des ersten Grades
erlangt hat. Bei diesen Prüfungen ist der Aufzunehmende unter
Ausschluss jeder Passivität aktiv; sie bringen ihm als Lohn die
Herrschaft über sich selbst sowie den Besitz vollbewusster, in­
dividueller Energie, anders gesagt den Lohn, den er an der Säule
J.·. empfängt.

Ritualunterschiede 141
Der Eingeweihte ist jetzt gereinigt und deshalb geschützt vor un­
erwünschten Ausbrüchen. Da er keinerlei niedrigen Neigungen
mehr nachgibt, kann er sich Schritt für Schritt dieser rezeptiven
Passivität hingeben, die eines Gesellen würdig ist, der es wert
ist, seinen Lohn an der Säule B. ·. zu empfangen, würdig ist.

Die fünf Sinne


Das Ritual des Gesellengrades wurde nicht selten durch profane
Abhandlungen ausgeschmückt, die aus irgendeinem physiolo­
gischen Lehrbuch entlehnt waren. Man hätte dabei jedoch erken­
nen müssen, wie lächerlich es ist, die Lehrlinge hinauszuschi­
cken und sich die Aura des Mystischen zu geben, um letztlich
nur ein paar Elementarweisheiten über die Funktion der Sinne
zu „enthüllen". In Konkurrenz zu treten zur Grundschule ist eher
demütigend für den zweiten Grad der Freimaurerei!

Wenn man schon von den fünf Sinnen sprechen will, was trotz
der Zahl Fünf für den Gesellengrad keineswegs erforderlich ist,
muss man sie wenigstens unter initiatischen Gesichtspunkten
betrachten. Die Fragen, die sich dann stellen, sind folgende:

Bis zu welchem Punkt enthüllen uns die Sinne die Wirklich­


keit?

Wo beginnt und wo endet die Sinnestäuschung?

Welche Rolle spielen die Sinne bei der Ausbildung unserer


gedanklichen Vorstellungen?

Wie viele Sinne haben wir genau?

Sind nicht manche Tiere mit Sinnen begabt, die uns fehlen?

Verfügen intuitiv begabte Personen wirklich über zusätz­


liche Sinne?

142 Der Geselle


Soll man sich bei der Suche nach bestimmten Wahrheiten
auf die Entwicklung einer unnormalen Hypersensibilität
stützen?

Entspringt gesunde Hellsichtigkeit nicht vielmehr aus einer


Praxis, in der solide Vernunft und fruchtbare Phantasie
gleichwertig eingesetzt werden, wobei die eine jeweils die
Kühnheiten der anderen kontrolliert?

Kann ein völlig isoliertes Wesen ohne jede Kommunikati­


on mit irgendwem und irgendetwas [30] einen Begriff von
seiner Existenz haben?

Die fünf Stilrichtungen der Architektur


Initiationsriten, die die Individualität entwickeln, indem sie
Vernunft und Willen stärken, nennt man männlich oder dorisch.
Diejenigen dagegen, die die Phantasie, das Gefühl und die Intu­
ition ansprechen, werden als weiblich oder ionisch aufgefasst.
Ersteren, also dem Lehrlingsgrad, entspricht der dorische Stil,
wie der ionische Stil den zweitgenannten, also dem Gesellen­
grad. Eine weitere Verbindung drängt sich sodann auf zwischen
dem Meistergrad und dem korinthischen Stil. Der florentinische
und der Kompositstil schlagen dagegen in initiatischer Hinsicht
keinerlei Ton an. Die philosophische Maurerei muss sich also
mit ihnen nicht befassen.

Die Künste
Da der Geselle seine Sensibilität verfeinern soll, ist es gut ihn an­
zuhalten, seine künstlerische Bildung zu vervollkommnen. Der
Sinn für das Schöne hilft beim Erfassen des Guten. Die Kunst
wendet sich an die Seele und bewegt sie, indem sie das Ich mit
der Außenwelt in eine harmonische Verbindung bringt. Das
künstlerische Fühlen knüpft ein starkes Band zwischen allen, die
es empfinden. Gemeinsame Bewunderung nähert die Menschen

Ritualunterschiede 143
einander noch stärker an als selbst die unmittelbarsten materi­
ellen Interessen. Die Kunst hat also eine religiöse Aufgabe im
höchsten Sinne des Wortes. Der Künstler ist der Interpret oder
Priester des Schönen. Er enthüllt uns das Ideal, das heißt die sub­
jektive Wirklichkeit, die in uns liegt und deren Objektivierung
wir erreichen wollen.

Es ist jedoch nicht angebracht, in dieser Hinsicht das Ritual des


Gesellengrades zu überfrachten und Entwicklungen vorwegzu­
nehmen, die sich nur indirekt mit ihm verbinden. Besser ist es,
sich auf die Auslegung der traditionellen Symbole zu beschrän­
ken. Die Werkzeuge, der Flammende Stern, der Buchstabe G und
die Verherrlichung der Arbeit sind Gegenstände, die die Redner,
die mit der Instruktion der Lehrlinge betraut sind, allemal in­
spirieren können. Man darf das Wesentliche nicht zu Gunsten
des Beiwerks oder gar des Überflüssigen vernachlässigen. Nur
allzu oft hat man unter dem Vorwand, es zu verbessern oder gar
zu vervollständigen, das Ritual mit nutzlosem oder zumindest
unangemessenem Wortschwall verdunkelt.

Wie viele Zeichnungen werden nicht in Gesellenlogen aufge­


legt, die sich ohne jede Schwierigkeit an Profane und hier ganz
besonders an Kinder richten könnten! Initiierte haben das Recht,
etwas anderes zu hören.

Englische Bräuche
In einer angelsächsischen Loge werden die Arbeiten erst für er­
öffnet erklärt, wenn die sieben notwendigen Beamten ihre Plätze
eingenommen haben.

Diese Sieben sind folgende:

1. Der Meister vom Stuhl, der im Osten sitzt, wo die Sonne auf­
geht, um den Tageslauf zu beginnen. Er leitet die Öffnung
der Arbeiten und lenkt sie dergestalt, dass alle Brüder be­
schäftigt sind und ihre Instruktion sichergestellt ist.

144 Der Geselle


2. Der Erste Aufseher, dessen Platz im Westen ist; seine Aufga­
be ist es anzugeben, wenn die Sonne ihren Untergang er­
reicht hat. Sodann schließt er auf Anordnung des Meisters
vom Stuhl die Arbeiten, nachdem er sich vergewissert hat,
dass alle Brr. ·. ihren Lohn erhalten haben.

3. Der Zweite Aufseher, der im Süden sitzt, um zu beobachten,


wann die Sonne ihren Höchststand erreicht. Er ist damit be­
traut, die Brr. ·. jeweils zu ihrem großen Nutzen und Vergnü­
gen zur Arbeit und zur Erholung und von der Erholung wie
der zur Arbeit zu rufen.

4. Der Erste Diakon, der sich rechts oder zumindest nicht weit
entfernt vom Stuhlmeister aufhält, um seine Anordnungen
und Mitteilungen an den Ersten Aufseher weiterzugeben und
bei ihm die Rückkehr des Zweiten Diakons abzuwarten.

5. Der Zweite Diakon, der rechts vom Ersten Aufseher plat­


ziert ist, um dem Zweiten Aufseher jede Botschaft und jeden
Hinweis seitens des Stuhlmeisters zu überbringen und über
die Ausführung der erteilten Befehle zu wachen.

6. Der Wachhabende, der im Inneren des Tempels postiert ist


mit der Aufgabe, die Maurer nach Überprüfung einzulassen,
die Suchenden in der gehörigen Form zu empfangen und den
Anweisungen des Zweiten Aufsehers zu gehorchen.

7. Der Äußere Wachhabende, der im Vorhof tätig wird, wo er


mit blanker Waffe jeden Eindringling oder Profanen zu
vertreiben, aber auch darauf zu achten hat, dass die Suchen­
den angemessen vorbereitet sind.

Das ursprüngliche englische Ritual kennt die Ämter des Red­


ners, Sekretärs, Schatzmeisters und Gabenpflegers nicht. Es
geht nämlich auf eine Zeit zurück, in der sieben Maurer aus ei­
gener Machtvollkommenheit in Anwendung des entsprechenden
maurerischen Brauchtums eine gerechte und vollkommene Loge
gründen konnten, ohne irgendwelche Sondervollmachten einer

Ritualunterschiede 145
noch nicht eingerichteten Zentralbehörde einholen zu müssen.
Eine völlig reguläre Loge konnte so zum Zweck einer Aufnahme
ins Leben treten und sich danach wieder für immer auflösen.
Unter diesen Bedingungen hatten Redner, Sekretär, Schatzmei­
ster und Gabenpfleger keine Daseinsberechtigung.

Als die moderne Maurerei sich schließlich endgültig etablierte,


traten zwei neue Beamte zu der alten operativen Siebenergruppe
hinzu: der Sekretär und der Schatzmeister, die in den angelsäch­
sischen Logen im Osten sitzen, ersterer links (Süden), der zweite
rechts (Norden) vom Stuhlmeister.

Der Sekretär ist nicht nur mit den Protokollen und der Korre­
spondenz betraut, sondern auch mit der Einbringung der Beiträ­
ge, über die er minutiös Buch zu führen hat.

Der Schatzmeister seinerseits beschränkt sich darauf, die vom


Br.·. Sekretär eingeforderten Metalle zu übernehmen und darü­
ber hinaus die vom Stuhlmeister mit Zustimmung der Loge an­
geordneten Auszahlungen vorzunehmen.

Die Brr. · ., die kein Amt haben, nehmen im Norden, Westen und
Süden Platz. Wie die Beamten erscheinen sie in der Loge nur in
Gesellschaftskleidung: dunkler Anzug und weiße Handschuhe.
Während der Arbeiten bewahren sie sorgsam absolutes Schwei­
gen und erlauben es sich nicht einmal, auch nur mit leiser Stim­
me miteinander zu sprechen. Diese rigorose Disziplin gibt den
englischen Ritualarbeiten eine imposante Feierlichkeit, die ei­
nen ausgesprochen günstigen Eindruck hinterlässt.

Auf dem Altar vor dem Meister vom Stuhl liegen in jeder angel­
sächsischen Loge die Bibel, das Winkelmaß und der Zirkel.

Drei große Leuchter sind des Weiteren um den länglichen Tep­


pich herum aufgestellt, der als musivisches Pflaster auf dem
Boden ausgebreitet ist. Sie entsprechen den drei Säulen, die die
Loge tragen, also der Weisheit (Osten), der Stärke (Westen) und
der Schönheit (Süden). Was die zwei Säulen J.·. und B.·. an-

146 Der Geselle


geht, so sind sie in den englischen Logen nur in Miniaturform
auf dem Tisch der beiden Aufseher vorhanden. In dem Augen­
blick, in dem die Arbeiten für eröffnet erklärt sind, richtet der
Erste Aufseher seine Säule auf. Der Zweite Aufseher lässt die
seinige vor sich liegen, um sie erst dann aufzurichten, wenn eine
Unterbrechung der Arbeiten verkündet wird. Der Erste Aufseher
legt seine Säule immer dann um, wenn der Zweite Aufseher die
seinige aufstellt und umgekehrt.

Die Arbeit vollzieht sich also in der Loge unter den Auspizi­
en der Säule J.·., die in dorischem Stil (tätiger Eifer) gehalten
ist, die Wiederherstellung der Kräfte dagegen vollzieht sich mit
Hilfe der Säule B.·., die in ionischem Stil (rezeptive Passivität)
ausgeführt ist.

Plan einer angelsächsischen Loge


1. Im Osten Sessel des M.·. v.·. St.·. auf einem dreistufig er­
höhten Podest.
2. Platz des Ersten Aufs.·., im Westen auf einem einstufigen
Podest, das mit einem Teppich bedeckt ist, der an das musi­
vische Pflaster erinnert. Auf dem Podest die Säule der Kraft,
die während der Arbeit steht und während der Unterbrechung
der Arb.·. liegt.

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3. Platz des Zweiten Aufs.·., im Süden auf einem zweistufigen


Podest; die Säule der Schönheit liegt während der Arbeit und
ist während der Zeit der Erholung aufgerichtet.

Ritualunterschiede 147
4. Platz des Schatzmeisters.
5. Platz des Sekretärs.
6. Platz des Senior Deacon oder Ersten Diakons.
7. Platz des Junior Deacon oder Zweiten Diakons.
8. Platz des Tyler oder Wachhabenden.
9. Altar, um den die Reisen durchgeführt werden. Dort liegen
auf einer geöffneten Bibel ein Zirkel und ein Winkelmaß.
10, 11, 12. Drei große Leuchter, die die Weisheit, Stärke und
Schönheit darstellen.
13. Plätze der Brr. ·. der Loge und der besuchenden Brr. ·.
14. Vorraum.
15. Vorbereitungsraum für den Aufzunehmenden.
16. Vestibül.

148 Der Geselle


Teil IX

DIE ABBILDUNGEN
IM BUCH DES GESELLEN

Summarische Hinweise auf ihren Ursprung


und ihre symbolische Bedeutung

S. 14:
Winkelwaage, in eins gesetzt mit dem Schwefelzeichen der Al­
chimisten�- Diese Abbildung ist dem Werk „L 'Etoile flambo­
yante ou la Societe des Francs-Mai;ons consideree sous tous ses
aspects" [31] entnommen, das 1766 erschien und von Baron von
Tschoudy verfasst wurde [32). Der Schwefel� entspricht dem
eingeborenen Feuer, das die Entwicklung des Individuums, das
Wachstum des Keims anregt; deshalb das Bleilot, das in eine
Pflanze verwandelt und dazu bestimmt ist, in den Boden einzu­
dringen und dort Wurzel zu schlagen. Deshalb auch das Sonnen­
zeichen 0 (Ausdehnung, Strahlung), das das oberhalb der Waa­
ge angebrachte feurige Dreieck 11 der Winkelwaage bekrönt.

s. 19:
„Das Skelett", ein bemerkenswertes Werk des lothringischen
Bildhauers Ligier Richier (16. Jh.), schmückt das Mausoleum
des Fürsten Rene de Chälons in der Kirche Saint-Etienne in Bar­
le-Duc. Es erinnert in erstaunlicher Weise an den Gesellengrad;
mit der Linken die kosmische Willensenergie ergreifend sam­
melt es diese in seinem Herzen, um sie zur Errichtung des Tem­
pels der Humanität zu gebrauchen. (Anm. d. Hrsg.)

Die Abbildungen im Buch der Gesellen 149


s. 29:
Mars d und Merkur 1;1, das tätige Feuer und die Luft, die es nährt,
J.·. und B.·. vereinigt in einer doppelköpfigen Janusmaske.Ab­
bildung entnommen dem Werk des Br.·.Guerrier de Dumast mit
dem Titel La Ma�onnerie, Gedicht in drei Gesängen, mit etymo­
logischen und kritischen Anmerkungen (Paris 1820, Bertrand).

s. 34:
Aufzunehmende, nach angelsächsischem Ritual zur Aufnahme
in die drei symbolischen Grade vorbereitet.

s. 37:
Der Verliebte, Arkanum VI des Tarot. Es ist der Lehrling, der
berufen ist, zum Gesellen befördert zu werden, dem Geschick­
lichkeit und Intelligenz nicht mehr genügen, denn man erlangt
die wahre Teilhabe am Großen Werk durch das Herz, durch die
Erhebung der Gefühle.

s. 39:
Tue common gavel, der Spitzhammer, der zur ersten Bearbei­
tung des Rauen Steins dient.

s. 41:
Lineal und Zirkel, Instrumente für jede Art von geometrischer
Konstruktion.

s. 48:
Der Flammende Stern, mit dem in das Pentagramm oder Pental­
pha eingeschriebenen Buchstaben G.

S.49:
Der Stern des Mikrokosmos, der Mensch bildet dabei ein Stern­
bild mit fünf Zacken.

s. 49:
Das umgekehrte oder teuflische Pentagramm, das den Kopf
eines Geißbocks zeigt.

150 Der Geselle


S. 52:
Die Geometrie nach Mantegna.

S. 54:
Das T'ai-kih, grundlegendes Symbol der Kosmogonie und
Philosophie der Chinesen. Diese Zweiheit, in die Einheit des
Kreises eingeschlossen, verkörpert das schöpferische Prinzip
des Universums und von allem, was existiert.

s. 59:
Schurz des Gesellen in Fünfeckform, geschmückt mit dem Pen­
tagramm.

S. 64:
Winkelmaß und Zirkel auf der bei Kapitel 1 des Johannesevan­
geliums aufgeschlagenen Bibel, entnommen dem Werk des Br.·.
Denier van der Groon über das Ritual des Gesellengrades (De
Gezelleninwijding en de Gezellengraad, Den Haag 1911 ).

S. 65:
Der mit dem Schurz bekleidete Geselle durchläuft, das Lineal in
der Hand, die Welt, sicher, dass er überall Arbeit finden wird.

S. 79:
Der Punkt in der Mitte eines Kreises, Symbol der Persönlich­
keit, deren Bereich von den Säulen J.·. und B.·. begrenzt ist (die
beiden seitlichen Tangenten des Kreises). Die alchimistischen
Zeichen entsprechen den beiden Säulen. Das linke Zeichen ent­
spricht J.·. (Schwefel � kombiniert mit Steinsalz Q, das rechte
entspricht B.·. (Merkur�' der das Zeichen des Wassers bekrönt
V).

s. 86:
Der Kaiser, Arkanum IV des Tarot. Es ist die vollziehende Ge­
walt, der Wille, der auf sicherem Rechtsgrund befiehlt. Es ist
zugleich die Festigkeit, die das Wollen verwirklichbar macht.
Der Kaiser entspricht dem l. Aufseher. Er ist nicht mit der Win­
kelwaage geschmückt, aber sein Oberkörper bildet ein Dreieck

Die Abbildungen im Buch der Gesellen 151


und seine Beine sind gekreuzt (die Art der Kreuzung erinnert
an �), so dass das Ganze das Zeichen des Schwefels heraufbe­
schwört. Der Thron dieses Herrschers ist kein anderer als der
Kubische Stein.

S. 102:
Das Leuchtende Dreieck inmitten des Flammenden Sterns, des­
sen Feuerstrahlen die Zacken verlängern. Dies ist das wesent­
liche Emblem des Grades des Schotten vom Heiligen Andreas,
dessen Ritual dem Baron Tschoudy zugeschrieben wird. Das
Symbol insgesamt verkörpert die universale Intelligenz (Leucht­
endes Dreieck), die sich jenseits des menschlichen Geistes ma­
nifestiert, um den Gott-Menschen zu gebären, der der vollkom­
mene Initiierte ist, der Große Auserwählte, vollkommener und
sublimer Maurer, 14° Grad der Schottischen Hochgrade. Die
Abbildung ist Baron von Tschoudys „Etoile Flamboyante" ent­
nommen.

S. 107:
Dreieck, das zehn Punkte einschließt, die so angeordnet sind,
dass sie den vier ersten Ziffern entsprechen. Die Schüler des Py­
thagoras brachten diese Abbildung zu den Lehren in Beziehung,
die ihr Meister über die Tetraktys oder die initiatische Vierheit
gegeben hatte.

S. 111:
Schema der auf das Individuum einwirkenden Elementarkräfte.

S. 112:
Der Pelikan lehrt das Opfer die Selbstvergessenheit, die zur Fer­
tigstellung des Großen Werkes unverzichtbar ist.

S. 114:
Das Hexagramm oder Siegel Salomos, gebildet aus zwei inei­
nander verflochtenen Dreiecken, die für Feuer !i und Wasser V
stehen.

152 Der Geselle


s. 114:
Das Große Magische Agens oder der universale Vitalstrom, dar­
gestellt durch eine Schlange mit einem Kopf an ihren beiden
Enden, die sich treffen, nachdem sie Sonne und Mond umrundet
haben. - Die Abbildung ist dem Werk „Douze clefs de philo­
sophie" [33] des Bruders Basile Valentin, eines Benediktiner­
mönchs, entnommen, das 1660 erschienen ist.

s. 115:
Schema der harmonisierenden Siebenheit.

s. 116:
Das Leuchtende Dreieck in einem Kreis von Wolken.

s. 116:
Das hebräische Tetragramm in einem Dreieck.

s. 117:
Schema, aus dem sich entnehmen lässt, wie die Dreiheit die
Vierheit erzeugt.

s. 118:
Der Gehängte, Arkanum XII des Tarot. Der Umriss dieser Per­
son gibt das Zeichen für die Fertigstellung des Großen Werkes
� wieder. Der Gehängte ist insoweit das Gegenstück des Kai­
sers (Arkanum IV), der dem Schwefel � entspricht. An einem
Fuß aufgehängt, den Kopf nach unten und die Hände gefesselt,
scheint dieser seltsame Verurteilte das klassische Bild der Ohn­
macht zu bieten. Dennoch ist es der Träumer, dem die Zukunft
gehört. Wenn er im Augenblick auch tatenlos ist, so sind seine
genialen Ideen trotzdem nicht weniger fruchtbar. Sie entfallen
ihm wie jene Geldstücke aus Gold und Silber, die der Gehängte
ausstreut.

S. 119:
Mystische Arbeitstafel des Gesellen.

Die Abbildungen im Buch der Gesellen 153


S. 121:
Die beiden Säulen J. ·. und B. ·. aus dem Würzburger Dom.

S. 123:
Doppeltes Schema, das die Beziehungen der Säulen J. ·. und B. ·.
zu Sonne und Mond bezeichnet.

s. 128:
Die Kelle, Emblem der Toleranz, die die für den Freimaurer cha­
rakteristische Tugend darstellt.

S. 129:
Das maurerische Alphabet.

s. 130:
Das magische Viereck des Saturn.

s. 131:
Winkelmaß, Zirkel und Flammender Stern.

S. 131:
Die acht Positionen des Winkelmaßes.

s. 133:
Der Kubische Stein mit Spitze nach dem „Catechisme des
Francs-Ma9ons dediee au beau sexe" [34] von Leonard Gaba­
non, Pseudonym für Louis Travenol (1740), und anderen zeitge­
nössischen Veröffentlichungen wie etwa „Le Ma9on demasque
ou le vrai secret des Francs-Ma9ons" von 1757 usw.

s. 141:
Der aus seiner Asche ständig wiedergeborene Phönix, anders
gesagt das Prinzip des Lebens, im Zeichen des Schwefels . Ab­
bildung entnommen dem Titelblatt der Douze clefs des Basile
Valentin, auf dem auch eine Reihe anderer Symbole zu sehen ist,
darunter ein Kubus, die Sonne und der Mond, sieben Blumen,
die die Planeten oder Metalle repräsentieren, ein flammendes
Kohlebecken, sieben Tränen und oberhalb des Phönix ein alter,

154 Der Geselle


gekrönter Mann, der in der Linken die Sense des Saturn und in
der Rechten den Zirkel des Meisters Hiram trägt.

s. 147:
Plan einer angelsächsischen Loge.

S. 148:
Säule des salomonischen Tempels, rekonstruiert nach den in der
Bibel angegebenen Proportionen und nach den Vorgaben des
ägyptischen Stils der Zeit durch Br. ·. R. Hawcridge, Architekt,
dessen Arbeit vom „New Zealand Craftsman" und dann vom
Londoner Freemason (Ausgabe vom 21. August 1909) publiziert
wurde.

s. 155:
Der Gaukler, Arkanum I des Tarot. Das ist der Initiierte, der die
elementaren Einflüsse besiegt hat, also durch und durch Mei­
ster seiner selbst (frei geboren) und nunmehr fähig ist, die initia­
tischen Kenntnisse zu erwerben (Wissensschau), die ihn bei der
Ausübung der Macht der Magie leiten werden.

s. 159:
Die Päpstin, Arkanum II des Tarot. Die Hohepriesterin der Isis
ist die Enthüllerin der Mysterien. Sie personifiziert die Wissens­
schau oder das geheime Wissen der Eingeweihten.

Die Abbildungen im Buch der Gesellen 155


ANMERKUNGEN

[ 1] Siehe Das Buch des Lehrlings (Kap. Der Verstand)

[2] Die frühesten Enthüllungsschriften, so etwa der 1740 er­


schienene „Katechismus der Freimaurer, dem schönen Ge­
schlecht gewidmet" («Catechisme des Francs-Ma9ons dedie au
beau sexe»), geben einen „Plan der Loge bei Aufnahme eines
Lehrlings-Gesellen".

[3] Im Schottischen Ritus präsentiert sich der Lehrling mit


einem Lineal, das er über der linken Schulter trägt, ganz wie ein
Arbeiter, der mit seinen Werkzeugen zur Arbeit geht. Die Sym­
bolik des Lineals, die weiter unten erklärt wird, rechtfertigt diese
Praxis.

[4] Das Tarot ist eine Sammlung von 22 symbolischen Darstel­


lungen, die auf die initiatische Philosophie des Mittelalters Be­
zug nimmt. Ein Werk Oswald Wirths mit dem Titel «Le Tarot
des lmagiers du Moyen-Age» ist dem vertieften Studium dieses
Alphabets der Eingeweihten gewidmet. (Anm. d. Hrsg.)

[5] Um in den Meistertempel zu gelangen, muss man sieben my­


stische Stufen emporsteigen; mit der fünften Stufe beginnt die
für den Gesellengrad kennzeichnende Erleuchtung.

[6] Siehe Hermetische Symbolik

[7] Siehe die Rekonstruktion dieses Zeugnisses der Baukunst,


wie es sich aus den Maßangaben des Bibeltextes ergibt auf Ka­
pitel „Plan einer angelsächsischen Loge"

[8] Das englische Ritual lässt die Verpflichtung im Angesicht


des Großen Geometers aller Welten ablegen.

156 Der Geselle


[9] Feind heißt auf Hebräisch Satan. Der wirkliche Satan, der
sich dem schöpferischen Licht entgegenstellt, ist der Obskuran­
tismus, auch wenn dies jenen nicht gefällt, die die Befreiung des
Geistes durch Verbote verhindern wollen.

[10) Siehe Band I, Das Buch des Lehrlings, Kapitel „Die Zah­
len"

[11] Wenn die Arbeiten im Hochmittag beginnen, ist dies eine


Anspielung auf die Zeit des Lebens, in der der Einzelne im Voll­
besitz seiner Kraft und in vollkommenster Bewusstseinsklarheit
sich mit Gewinn dem Großen Werk widmen kann.

[12) Das Große Werk zu Nutz und Frommen der Kinder des
Lichts enthüllt. (Anm.d. Übers.)

[13) Die Bibel hat diese Überlieferung wie viele andere zu ei­
ner Zeit aufgenommen, als der Sinn für das Allegorische bereits
verloren gegangen war. Man müsste die ursprüngliche Urkunde
wahrscheinlich chaldäischen Ursprungs wiederfinden, um den
Mythos in seiner ersten Reinheit wiederherzustellen.

[14] Im Schottischen Ritus beantwortet man üblicherweise die


Frage „Sind Sie Geselle?" mit den Worten: ,,Ich habe den Flam­
menden Stern gesehen."

[15) Siehe Band I, Das Buch des Lehrlings, Kapitel „Die Vier­
heit"

[16) Zu diesen Fragen siehe unsere Arbeit „Le symbolisme her­


metique dans ses rapports avec l'Alchimie et la Franc-Mayonne­
rie" (,,Die hermetische Symbolik in ihren Beziehungen zu Alchi­
mie und Freimaurerei").

[17] Einige Kabbalisten sind sogar der Auffassung, dass He da­


durch, dass es von Jod ausgeht, den Raum erst erschafft.

Anmerkungen 157
[ 18] Zur Theorie der Elemente wird der Leser auf Band I, Das
Buch des Lehrlings, Kapitel „Die Vierheit" und auf meine Her­
metische Symbolik verwiesen.

[19] Siehe Hermetische Symbolik.

[20] Siehe Hermetische Symbolik.

[21] Siehe Hermetische Symbolik.

[22] Siehe Das hebräische Tetragramm.

[23] Siehe Bild, Tempel des Gesellen.

[24] Genesis Kapitel 3, Vers 24.

[25] Siehe Hermetische Symbolik.

[26] Br.·. 0. Dreyer, Verfasser eines Aufsatzes mit dem Titel


,,Das Urbild der Loge, Altgermanisches in Ritual und Symbolik",
erschienen in „Hamburger Logenblatt", Nr. 476 (Juni 1909).

[27] Zu weiteren Einzelheiten siehe den Aufsatz „L 'Origine de


nos traditions ritueliques" in: ,,La Lumiere Mayonnique", Jg.
1910, Nr. 7/8, S. 99.

[28] Siehe Band I, Das Buch des Lehrlings.

[29] Die sogenannten „schottischen" Neuerungen richteten sich


ursprünglich nicht gegen die symbolischen Grade, da sich die
„Schotten" anfangs damit begnügten, dem Meistergrad höhere
Grade aufzupfropfen, die man „Schottengrade" nannte, obwohl
es sich dabei um eine rein französische Erfindung handelte.

[30] In dieser Lage befand sich der Schöpfer vor der Schöp­
fung.

158 Der Geselle


[31] Der Flammende Stern oder die Gesellschaft der Freimaurer
unter allen ihren Aspekten betrachtet. - Anm. d. Übers.

[32] Siehe Hermetische Symbolik.

[33] Siehe Hermetische Symbolik.

[34] Katechismus der Freimaurer, dem schönen Geschlecht zu­


geeignet. - Anm. d. Übers..

Anmerkungen 159
In der Fortsetzung zeigt Wirth im Buch des Gesellen neben dem Überblick über die
Ursprünge der Initiation in den zweiten Grad und deren esoterischer Bedeutung
zahlreiche alchimistische Bezüge auf und erforscht die Symbolik von Tarnt-Bildern
unter maurerischen Gesichtspunkten. Darüber hinaus nimmt der Autor eine voll­
ständige Deutung des Symbolgehalts der fünf Gesellenreisen, des fünfzackigen
Sterns, der Gnosis, des Tragen des Schurzes und zahlreicher anderer Themen vor.

Ausgangspunkt für Wirths Betrachtungen ist der im Frankreich des späten 19. Jahr­
hunderts praktizierte Schottische Ritus. Gleichwohl sind seine Instruktionen -
unabhängig von der jeweils praktizierten Lehrart� von großem Nutzen und stoßen
auf großes Interesse.

Oswald Wirth ( 1860-1943), geboren und aufgewachsen in der alemannischen


Schw_eiz, sesshaft geworden in Frankreich, betätigte sich dort aktiv in der Freimau­
rerei: insbesondere auch als leidenschaftlicher Forscher und Autor zahlreicher
Schriften. Sein Werk gilt in Frankreich als eines der wichtigsten in der symbolischen
Lesart der modernen Freimaurerei und spiegelt die maurerische Vielseitigkeit wider.

Für Oswald Wirth war die spekulative Freimaurerei nicht so sehr von äußeren
Gegnern als von zwei großen inneren Gefahren bedroht: dem Abgleiten in einen
bloßen Geselligkeitsbetrieb und dem Versinken in den Mystizismus. Vor diesen
Gefahren wollte er sie durch sorgsame Pflege des Rituals und der Symbolik sowie
ständige Besinnung auf ihre ursprünglichen Zielsetzungen bewahren, denen die
Freimaurerei ihre weltweite Verbreitung und ihren jahrhundertelangen Bestand
verdankt. Sein Lebenswerk „Die Freimaurerei, ihren Anhängern verständlich gemacht"
war und ist richtungweisend; seine Aktualität ist bis heute ungebrochen.

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Das Standardinstruktionswerk II liegt nun erstmals in deutscher Sprache vor.

EDITION KÖNIGLICHE KUNST 14.95 €

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19.95CHF

ISBN 978-3-942051-60-6

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