ENZYKLOPÄDIE

PHILOSOPHIE UND
WISSENSCHAFTS­
THEORIE
Band 1: A -G

U nter ständiger Mitwirkung von Siegfried Blasche,

Gottfried Gabriel, H erbert R. Ganslandt,
M atthias Gatzemeier, Carl F. Gethmann, Peter Janich,
Friedrich Kambartel, Kuno Lorenz,
Klaus Mainzer, Peter Schroeder,
Oswald Schwemmer, Christian Thiel, Reiner W immer

in Verbindung m it Gereon Wolters

herausgegeben von
Jürgen Mittelstraß

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\/ A
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart • Weimar
B ibliographische Inform ation D er D eutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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die Einspeicherung un d V erarbeitung in elektronischen
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© 1995 J. B. M etziersche Verlagsbuchhandlung
und C arl E m st Poeschel Verlag G m bH in Stuttgart,
korrigierter N achdruck 1995; vorm als Bibliographisches
Institut AG, M annheim 1984
U nveränderte Sonderausgabe
© 2004 J. B. M etziersche Verlagsbuchhandlung
und C arl E m st Poeschel Verlag Gm bH
Satz: U niversitätsdruckerei H. S türtz AG, W ürzbuig
D ruck un d Bindung: Ebner & Spiegel G m bH , Ulm
Typographie: H ans Peter Wiilberg, Vockenhausen
Printed in Germ any
ISB N 3-476-02012-6
F ebruar 2004
V orw ort
I Konzeption
1. W issenschaftlich e W örterbücher sind In stru ­
m en te w issenschaftlich er A rb eit, ih re r D ik tio n u n d
ih rer system atisch en O rg a n isa tio n n a c h d a z u ten ­
d ieren d , sich gegen ü b er d e r A rb eit, d e r sie dienen
sollen, im Schein d es sch o n G eleisteten zu verselb­
stän d ig en . W issen sch aftlich e E nzyklopädien sind
die F o rm , in d e r sich d ie W ö rte rb ü c h e r schrei­
b en d e w issenschaftliche W e lt m it diesem Schein
abgefunden h a t. Sie fü h re n im U n tersch ied z u r
rein ad d itiv en u n d d efin ito risch eu F o rm v o n W ö r­
te rb ü c h e rn das, w as d ie W issen sch aften wissen,
in ein er so a u f begriffliche u n d sachliche V o llstän ­
d ig k eit bed ach ten W eise a u f, d a ß d ie w issenschaft­
liche A rb e it fa st w ie ein U m w eg ersch ein t, d u rc h ­
m essen, u m d a s zu w issen, w as d ie w issen sch aft­
liche E n zy k lo p äd ie weiß.
D ie » E n z y k lo p ä d ie P h ilo so p h ie und W issen-
schaftstheoräe« w ird hin sich tlich d ieser d u rc h eine
lange enzyklopäd isch e T ra d itio n g ep räg ten E in ­
sch ätzu n g a u f d e n ersten B lick keine A u sn ah m e
bilden. G eg en ü b e r en tw ed er rein h isto risch en o d er
system atischen, d a n n in d e r R egel a u f T eilgebiete
d e r P h ilo so p h ie b esch rä n k te n N ach sch lag ew erk en
d ie n t sie d em Z iel, d as, w as d ie P h ilo so p h ie, v or
allem au ch w issenschaftsbezogen, w eiß, u m fassend
u n d , so w eit wie m ög lich , im erfo rd erlich en D etail
w iederzugeben. D en n o ch so llte sie n ic h t a n jen em
e n z y k lo p ä d is c h e n Schein< gem essen w erd en , d e r
E nzy k lo p äd ien g eg en ü b er d e r w issenschaftlichen
A rb eit z u verselb stän d ig en d ro h t. So ist diese E n ­
zyk lo p äd ie im stren g en S in n e als ein In stru m e n t
w issenschaftlicher A rb eit, n ic h t als ein M o n u m e n t
des w issenschaftlich sch o n G eleisteten k o n z ip ie rt;
u n d sie ist in ih rem A u fb au d o ch eh er w ieder ein
W ö rte rb u c h , ein L ex ik o n m it h o h e r S tich w ö rte r­
za h l u n d überw ieg en d k u rzen E in träg en . W en n
fü r dieses W erk d en n o ch d ie B ezeichnung >Enzy-
klopädie< gew äh lt w u rd e, d a n n d esh alb , w eil hier
in einem lexikalischen A u fb a u ein sy stem atisches
In teresse m itg efü h rt w ird, d a s (wie in d e r u r­
sprü n g lich en Id ee d e r t E n zy k lo p äd ie begriffen)
a u f eine m eth o d isch reflek tierte O rd n u n g d es d a r ­
gestellten W issens a b h e b t. B ezw eckt ist n ic h t n ur
ein R e ferat v o n M ein u n g en u n d h isto risch e n E n t­
w icklu n g en , im U n tersch ied z u ü b lich en D a rste l­
lungen d e r G esch ich te d e r P h ilo so p h ie ü b e r den
L eisten des A lp h ab ets g eschlagen, a b e r au ch n ich t
ein e S am m lu n g sy stem atisch er T ra k ta te o d e r g ar
ein L eh rb u ch . B ezw eckt ist v ielm eh r die D a rste l­
lu n g d es p h ilo so p h isch en W issens, h isto risch und
system atisch b earb eitet. In d e r in ten d ierte n b e­
grifflichen K o n sisten z dieser D a rste llu n g liegt die
E rin n eru n g a n ein e system atisch e E in h e it p h ilo ­
so p h isch er en zy k lo p äd isch er V ielfalt begriffen.
D en n o ch soll hier keine philosophische E n zyklo p ä ­
die, d .h . ein e >Einleitung< in ein ph ilo so p h isch es
System , v orgelegt w erd en , so n d e rn ein e E n zy k lo ­
p ä d ie d er P hilosophie u n d - so fern a u c h n ach d e r
in stitu tio n ellen T re n n u n g d e r W issen sch aften von
d e r P h ilo so p h ie d ie A nalyse w issenschaftlichen
W issens im M ed iu m von T h eo rie u n d B e g rü n d u n g
ein e p h ilo so p h isch e A u fg ab e b le ib t - d e r W issen­
schaftstheorie.
2. Z w ischen d e r P h ilo so p h ie u n d d e n W issenschaf­
ten h errsch en seit g erau m er Z eit g e stö rte V erh ält­
nisse; d ie W issen sch aftsth eo rie ist d e r m o d ern e
V ersuch, sie w ieder ins R e in e z u b rin g en . D a s fin ­
d e t in d e r R egel w ed er d en Beifall d e r W issen­
sch aften , die ih ren A b sch ied v o n d e r P h ilo so p h ie
als A bschied von e in e r sp ek u lativ en V erg an g en h eit
z u stilisieren pflegen, n o ch d en Beifall d e r P h ilo so ­
phie, so fern diese an gesichts ihres reich en k las­
sischen E rbes d azu neigt, d e r w issen sch aftsth eo re­
tischen A skese p h ilo so p h isch e A rm u t z u beschei­
nigen. B eide R e ak tio n e n zeugen v o n einem h isto ­
rischen M iß v e rstän d n is. So tr a t P h ilo so p h ie u r­
sprü n g lich , etw a im P lato n isch en o d e r A risto te­
lischen V erstän d n is, n ich t als eine T ä tig k e it auf,
die neben den W issen sch aften G e ltu n g be-
F eyerabend
K rim in alisten , d ie bei d e r B ew ertung von R e ch ts­
fällen p sy chologische K rite rie n in R e c h n u n g stel­
len.
W e r k e : R ev isio n d e r G ru n d s ä tz e u n d G ru n d b e g riffe des
p o sitiv en pein lich en R ec h ts, I—I I, E rfu rt 1799/1800 (repr.
F r a n k fu rt 1966); Ü b e r d ie S tra fe als S ich e ru n g sm ittel v o r
k ü n ftig e n B eleidigungen des V erb rech e rs. N e b s t e in e r n ä ­
h e re n P rü fu n g d e r K leinischen S tra fre c h ts th e o rie , C h em ­
n itz 1800 (re p r. D a rm s ta d t 1970); L e h rb u c h des g em einen
in D e u ts c h la n d g ü ltig en p e in lic h en R ec h ts, G iessen 1801,
l * 1 8 4 7 (rep r. A ale n 1973); C iv ilistisc h e V ersuche, G iessen
1803; U e b e r P h ilo s o p h ie u n d E m p irie in ih re m V e rh ä lt­
nisse z u r p o s itiv e n R ec h tsw issen sch aft, L a n d s h u t 1804
(rep r. D a rm s ta d t 1969); M e rk w ü rd ig e C rim in a l-R e c h ts-
fatle, 1—II, G iessen 1808/1811; T h e m is , o d e r B eiträg e z u r
G esetzg e b u n g , L a n d s h u t 1812; B etra c h tu n g e n ü b e r d a s
G esch w o ren en g erich t, L a n d s h u t 1813; B etrach tu n g e n
ü b e r d ie Ö ffen tlich k eit u n d M ü n d lic h k e it d e r G e re c h tig ­
k eitspflege, I—II, G iessen 1821/1825; A k le n m ä ssig e D a r ­
stellu n g m e rk w ü rd ig e r V erb rech e n , I—II, G iessen 1828/
1829, (A u sw ah l) M e rk w ü rd ig e V e rb rech e n in a k te n m ä ß i­
ger D a rs te llu n g , I—I I, ed . W . v. S cholz, M ü n c h e n 1913,
ed. R . A . S tem m le, M ü n c h e n 1963; K a s p a r H a u s e r. B ei­
spiel ein es V e rb rech e n s am S eelenleben d es M en sch en ,
A n sb a c h 1832; K lein e S ch riften v erm isc h te n In h a lts ,
N ü rn b e rg 1833; P . J. A . F . u n d C . J. A . M itte rm a ie r, T h e o ­
rie d e r E rfa h ru n g in d e r R e c h tsw issen sch aft des 19. J a h r ­
h u n d e rts. Zw ei m e th o d is c h e S ch riften , ed . K . L ü d e rse n ,
F r a n k f u r t 1960.
L ite ra tu r: A . B a u m g a rte n , P .J .A .v .F . an lä ß lic h seines
100. T o d e sta g e s, Schw eiz. Z . f. S tra fre c h t 47 (1933), 2 9 3 -
309; M . A.- C a tta n e o , A .F ,, filo so fo e g iu rista liberale,
M ila n o 1970; L . F e u e rb a c h (e d .), A n se lm R itte r von F .s
L eb en u n d W irk en . A u s seinen u n g e d ru c k te n B riefen u n d
T a g e b ü c h e rn , V o rträ g e n u n d D e n k s c h rifte n , I-1 I, Leipzig
1852; W . G a lla s , P .J .A .F .s » K r iti k d es n a tü rlic h e n
R e c h ts « , H eid e lb erg 1964; R . H a rtm a n n , P . J .A .F .s p o li­
tisch e u n d stra fre c h tlic h e G ru n d a n s c h a u u n g e n , B erlin
1961; E . K ip p e r, P .J .A .F .. S ein L e b en als D e n k e r, G e­
setzg eb er u n d R ic h te r, K ö ln /B e rlin /B o n n /M ü n c h e n 1969;
W. N a u c k e , K a n t u n d d ie p sy ch o lo g isc h e Z w an g sth e o rie
F .s, H a m b u rg 1962; G . R a d b ru c h , P .J .A .F .. E in J u ri­
sten leb en , W ien 1934, G ü ttin g e n 31969; F . S eife rt, F .
a ls K rim in a lp sy c h o lo g e , D iss. F re ib u rg 1976; E . W olf,
G ro ß e R e c h ts d e n k e r d e r d e u tsc h e n G eiste sg e sch ich te ,
T ü b in g e n 3!951, 5 3 6 -583. S.B.
Feyerabend, P a u l K a rl, * W ie n 13. Ja n . 1924,
öste rr.-a m e rik . W issen sch aftsth eo retik er. S tu d iu m
d e r G esch ich te, P h y sik , A stro n o m ie, P h ilo so p h ie
in W ien (1946-1951), 1951 P ro m o tio n ; 1951-1956
L e k to r a m W ien er In stitu t fü r W issenschaft u n d
S ch ö n e K ü n s te ; 1959 A ssoc. P ro f., 1962 F u ll.
P ro f. a n d e r U n iv ersity o f C a lifo rn ia (B erkeley);
G a stp ro fe ssu re n a n zah lreich en U n iv ersitäten (d a ­
ru n te r F U B erlin, E T H Z ü ric h , G esam th o ch sch u le
K assel). - F . h a t sich in seinen ersten A rb eiten
zu r W issenschafts- u n d E rk e n n tn isth e o rie K . R.
P o p p ers K ritik am logischen E m p irism u s ( t E m p i­
rism us, logischer) ang esch lossen u n d d ab ei b eso n ­
ders d ie B ed eu tu n g th eo retisch er B egriffe ( tB e -
642
griffe, th eo retisch e) u n d m etap h y sisch er O rien tie­
ru n g e n in d en W issenschaften u n te rstric h e n . S p ä­
te r h a t F. (sich d a m it a u ch gegen P o p p e r w endend)
eine sinnvolle R o lle m eth o d isch e r S ta n d a rd s fü r
d e n W issen sch aftsfo rtsch ritt ü b e rh a u p t b estritten
u n d eine an arch istisch e bzw . d a d aistisch e E rk e n n t­
n isth eo rie g efo rd e rt, d e r e s n u r n o c h u m die K u lti­
vieru n g eines k reativ en , im m er n eu e T h e o rie n ü b e r
d ie W elt p ro d u ziere n d en D en k e n s u n d d e n A b b a u
aller d u rc h m eth o d isch e N o rm e n erzeu g ten D e n k ­
v e rb o te g e h t ( f A n arch ism u s, e rk e n n tn isth e o re ­
tisch er ; t P ro liferatio n sp rin zip ).
W e r k e : D a s P ro b le m d e r E x isten z th e o re tisc h e r E n titä ­
te n , in : E. T o p its c h (ed .), P ro b le m e d e r W issen sch afts­
th e o rie , W ien i9 6 0 , 3 5 -7 2 ; K n o w le d g e w ith o u t F o u n d a ­
tio n s, O b erlin (O h io ) 1961; H o w to Be a G o o d E m p iric ist
- A P lea f o r T o le ra n c e in M a tte r s E p istem o lo g ical, in :
B. B a u m rin (ed .), P h ilo s o p h y o f Science. T h e D ela w a re
S e m in a r II, N e w Y o rk 1963, 3 -3 9 (d t. W ie w ird m a n
ein b ra v e r E m p iris t? E in A u f r u f z u r T o le ra n z in d e r E r­
k e n n tn is th e o rie , in : L . K rü g e r [ed.], E rk e n n tn is p ro b le m e
d e r N a tu rw is s e n s c h a fte n . T e x te z u r E in fü h ru n g in die
P h ilo s o p h ie d e r W issen sch aft, K ö ln /B e rlin 1970, 3 0 2 -
3 3 5 ); Ü b e r k o n s e rv a tiv e Z ü g e in d e n W issen sch aften u n d
in sb e so n d e re in d e r Q u a n te n th e o rie , u n d ih re B eseitig u n g ,
in : G . S zczesny (ed .), C lu b V o lta ire. J a h r b u c h fü r k r iti­
sch e A u fk lä ru n g I, M ü n ch en - 1963, 2 8 0 -2 9 3 ; P ro b le m s
o f E m p iric ism , i n : R . G . C o lo d n y (ed .), B e y o n d th e E d g e
o f C e rta in ty . E ssay s in C o n te m p o ra ry S cien ce a n d P h ilo s ­
o p h y , E n g lew o o d C liffs N .J . 1965, 1 4 5 -2 6 0 ; A g a in st
M e th o d . O u tlin e o f a n A n a rc h is tic T h e o ry o f K n o w led g e,
in : M . R a d n e r/S . W in o k u r (ed s.), A n aiy ses o f T h e o rie s
a n d M e th o d s o f P h y sics a n d P sy c h o lo g y , M in n e a p o lis
1970 (M in n e s o ta S tu d ie s in th e P h ilo s o p h y o f S cience
IV ), 17-130 (e rw e ite rte F a s su n g : A g a in st M e th o d , L o n ­
d o n 1975; d t. n o c h m a ls e rw e ite rt: W id er d e n M e th o d e n ­
zw ang. S kizze e in e r an a rc h is tis c h e n E rk e n n tn is th e o rie ,
F r a n k f u r t 1976); V o n d e r b e s c h rä n k te n G ü ltig k e it m e th o ­
d o lo g isc h er R eg eln , N e u e H . P h ilo s. 2 - 3 (D ia lo g als M e­
th o d e ) (1972), 1 2 4 -1 7 1 ; S cien ce in a F re e S o cie ty , L o n d o n
1978 (d t. E rk e n n tn is f ü r freie M e n sc h e n , F r a n k f u r t 1979);
D e r w isse n sc h aftsth eo re tisch e R e a lism u s u n d d ie A u to r i­
tä t d e r W issen sch aften , B rau n sch w eig /W ie sb a d en 1978
(A u sg e w ä h lte S c h rifte n I). C. F, G.
Fichte, Im m a n u el H e rm a n n v., * Je n a 18. Ju li
1796, t S tu t tg a r t 8. A ug. 1879, d t. P h ilo so p h ,
S o h n J .G . F ich tes u n d H erau sg e b er v o n des­
sen S chriften, V e rtre te r eines (von ih m selbst
so g en an n ten ) »spekulativen T h eism u s« 1812-
1818 S tu d iu m d e r P h ilo so p h ie, P h ilo lo g ie u n d
T h eo lo g ie in B erlin, 1818 P ro m o tio n (» D e philo-
so p h ia e n o v ae P la to n ic a e o rig in e « ), an sch ließ en d
G y m n asialle h rer in S a a rb rü c k e n u n d D ü sseld o rf,
1836 a.o , P ro f., 1840 o. P ro f. d e r P h ilo so p h ie in
B o n n , a b -1842 in T ü b in g e n . A b 1863 lebt F . in
S tu ttg a rt als P riv a tg e le h rter u n d S chriftsteller.
1837 m it C. H . W eiße, C. G . C a ru s u n d d em k a th o ­
lischen T h eo lo g en A . G ü n th e r G rü n d u n g der
643
» Z e itsc h rift fü r P h ilo so p h ie u n d sp ek u lativ e T h eo ­
logie«, d ie (a b 1847 u n te r d em T ite l; Z eitsch rift
fü r P h ilo so p h ie u n d p h ilo so p h isch e K ritik ) bis
1918 besteht.
l n A n leh n u n g u n d gegen G . W . F . H egel en tw irft
F . eine E rk en n tn isth e o rie, a n d eren A n fa n g die
L eh re v o m B ew ußtsein als d em »allein schlechthin
G ew issen < u n d d em »N ich tab strah ierb aren < steht
(G ru n d zü g e zu m System d e r P h ilo so p h ie, A b t. 1:
D a s E rk en n en als S elb sterk en n en , V o rred e, IX ).
N a c h H egelschem M u ster w ird d a s B ew ußtsein
in jew eils dreigeteilten E p o ch en d arg estellt, begin­
n en d m it d em »beseelten Leib«, d .h . d e r b loßen
E m p fin d u n g u n d reinen A n sch au u n g , ü b e r d as
W ollen, V orsteilen u n d D en k en b is h in zu d er
em pirischen, reflek tieren d en u n d sp ek u lativ en E r­
kenntnis. D iese h ö ch ste E rk en n tn isstu fe besteh t
im G lau b en , im E rk e n n e n d er en d lich en D inge,
» w ie sie in G o tt sin d « (a .a .O ., 299), u n d d e r u n ­
m ittelb are n E in sich t in d ie In d iv id u a litä t d er
W irk lich k eit u n d in sb e so n d ere G o ttes. N eb en der
E rk en n tn isth e o rie F .s ste h t eine O n to lo g ie (a p rio ­
rische K ateg o rien leh re) und eine sp ek u lativ e
T heologie, d a s V erh ältn is d e r n a tü rlic h e n W irk ­
lichkeit z u r gö ttlich en d arstellen d . A u c h in seiner
E th ik , A n th ro p o lo g ie u n d in sb eso n d ere seiner See­
lenlehre ist F . d u rc h seine T h eo lo g ie b estim m t:
» I m E insw erden des m en sch lich en d lich en W illens
m it dem gö ttlich en ist d er U rsp ru n g u n d die V oll­
en d u n g d e r S ittlich k eit g efu n d en « (System d er
E th ik II, V III); d ie A n th ro p o lo g ie ist d ie L eh re
» v o m W esen des M en sch en , n a c h seiner allgem ei­
n en W eltstellung w ie n ach seinem V erh ältn iss zu m
a b so lu te n W esen « (V erm isch te S ch riften z u r P h i­
losophie, T heolo g ie u n d E th ik , X V ), in d e r Seelen­
lehre soll d ie V erw u rzelu n g d es G eistig en im Je n ­
seits gezeigt w erden. I n d iese S ch riften n im m t F.
zw ar a u c h E rg eb n isse d er em p irisch en W issen­
schaften seiner Z eit (in sb eso n d ere d e r P hysiologie
u n d Psychologie) a u f, je d o c h n u r m it d em Ziel,
m it ihnen theo so p h isch e V o rstellu n g en a b z u s tü t­
zen.
W e r k e : Ü b e r G eg e n sa tz , W e n d e p u n k t u n d Z iel h eu tig er
P h ilo so p h ie , I—I I I , H eid e lb erg 1 832-1836; G ru n d z ü g e
z u m S ystem e d e r P h ilo so p h ie , I—III, H eid e lb e rg 1 8 3 3 -
1846 (rep r. A ale n 1969); B eiträg e z u r C h a ra k te ris tik d er
n e u e re n P h ilo so p h ie , o d e r k ritisc h e G e sc h ic h te d erselb en
v o n D e s C a rle s u n d L o c k e bis a u f H egel, S u iz b a c h J 1841
(rep r. A ale n 1968); S y stem d e r E th ik , I—I I , L eip zig 1850/
1853 (rep r. A a le n 1969); A n th ro p o lo g ie . D ie L e h re v o n
d e r m e n sc h lic h en Seele, n e u b e g rü n d e t a u f n a tu rw isse n ­
sch aftlich e m W ege f ü r N a tu rfo rs c h e r, S eelen ärzte u n d
w isse n sc h aftlich G e b ild e te ü b e r h a u p t, L eip zig 1856,
3 !8 7 6 ; P sy ch o lo g ie, d ie L eh re v o n d em b e w u ß te n G eiste
d es M en sch en , o d e r, E n lw ick elu n g sg esch ich te d e s B e­
41*
Fichte
w u ß tsein s, b eg rü n d et a u f A n th ro p o lo g ie u n d in n e re r E r­
fa h ru n g , I—II, Leipzig 1864/1873 (rep r. A ale n 1970); V er­
m isc h te S ch riften z u r P h ilo so p h ie , T h e o lo g ie u n d E th ik ,
1--1I, L eip zig 1869 (rep r. A alen 1969).
L ite ra tu r: H . B e c k e d o rf D ie E th ik I .H .F .s . E in B eitrag
z u r G esch ich te d e r n eu e re n M o ra lp h ilo s o p h ie , D iss. R o ­
s to c k 1912; P .D e V itiis, I . H . F . in te rp re te deH’id ealism o
te d esco , R iv . filos. n c o sc o la stic a 67 (19 7 5 ), 6 4 8 -6 6 4 ; J.
E b e rt, S ein u n d S o llen d es M en sch en b ei I . H . F . (V o n
sp ätid eaiistisch er S p e k u la tio n z u r E x isten z), W ü rz b u rg
1938; K . H a r tm a n n , F ., A D B X X X X V III (1904), 5 3 9 -
5 52; H . H e rrm a n n , D ie P h ilo s o p h ie 1. H . F .s. E in B eitrag
z u r G esch ich te d e r n ac h h eg elsch e n S p e k u la tio n , B erlin
1928; R . M eh lich , I . H . F . s S eelen leh re u n d ih re Bezie­
h u n g z u r G eg en w art, Z ü ric h 1935; D . N a jd a n o v ic , D ie
G esch ich tsp h ilo so p h ie I . H .F .s , B erlin 1940; A. Serw e,
D ie R a u m - u n d Z e itleh re I .H .F .s , S a a rb rü c k e n 1959.
O .S.
Fichte, Jo h a n n G o ttlie b , * R a m m e n a u (L au sitz)
19. M ai 1762, t Berlin 29. J a n . 1814, d t. P h ilo so p h ,
einer d er H a u p tv e rtre te r d es d e u tsc h e n Id ealism u s
( t Id ealism u s, d eu tsch er). S o h n eines B andw irkers,
1780 S tu d e n t d e r T h eo lo g ie in Je n a , a b 1784 H a u s ­
leh rer a n versch ied en en O rte n in S ach sen , 1788—
1790 H au sleh re r in Z ü rich , 1791 B ek an n tsch aft
m it d er P h ilo so p h ie I. K an ts. 1792 e rsc h e in t a n ­
o n y m F .s » V ersu ch einer K ritik aller O ffen b a­
ru n g « , d er zu n äch st fü r d ie allg em ein erw artete
(1793 u n te r d em T itel » D ie R elig io n in n erh alb
d e r G ren zen d er b lo ß en V e rn u n ft« erschienene)
R elig io n sk ritik K a n ts g eh alten w ird u n d F . seinen
ersten literarisch en R u h m b rin g t. 1794 w ird F.
als N ach fo lg er K . L . R e in h o ld s a n d ie U n iv ersität
Je n a b eru fen . N a c h S chw ierigkeiten z u n äch st m it
d en S tu d en ten o rd en , d a n n v o r allem im so g e n an n ­
ten t A th eism u sstreit m u ß e r 1799 Je n a verlassen.
I n B erlin, w o e r sich an fän g lich d em R o m a n tik e r­
kreis u m u m L. T ieck , F . Schlegel u n d F . D . E.
S ch leierm ach er an sch ließ t, h ä lt F. P riv a tv o rlesu n ­
gen. 1805 ein S em ester V o rlesu n g en in (d em d a ­
m als p reu ß isch en ) E rlan g en , 1806/1807 im W in ter­
sem ester in K ö n ig sb erg . Im W in ter 1807/1808 h ält
F . s e in e » R e d e n a n die d eu tsch e N a tio n « , in d en en
e r - d ie K ra ft d es d eu tsch en W esens b esch w ö ren d
- die geistige E rn eu eru n g d u rc h ein e allgem eine
N a tio n alerzieh u n g fo rd ert. 1810 D e k a n d er p h ilo - \
so p h isch en F a k u ltä t a n d er n eu g eg rü n d eten U n i­
v e rsitä t B erlin, d eren erster g ew äh lter R e k o r F;
1811 - allerd in g s a u f G ru n d sein er rig id en A m ts­
fü h ru n g n u r bis 1812 - w ird.
D ie G ru n d lag en seiner P h ilo so p h ie h a t F . in sei­
nen T>»W issenschaftslehren«, v o n d en en e r zwi­
sch en 1794 u n d 1813 im m er n eu e F assu n g en v o r­
tru g , entw ickelt. In A u fn ah m e d e r K a n tisch en
F ra g estellu n g n a c h d em G ru n d fü r d ie M ö g ­
Fichte
lichkeit w ah rer E rk en n tn is v ersu ch t F ., die A n t­
w o rt K a n ts v o n d eren (in seinem V erständnis
n och b esteh en d en ) U n stim m ig k eiten zu befreien.
D ie en tsch eid en d e U m stim m ig k eit sieht F . darin,
d a ß bei K a n t d a s T D in g a n sich insofern eine
eigenständige (d .h . su b jek tu n a b h än g ig e) Q ueüe
u n serer E rk en n tisse d arstellt, als es als U rsach e
d er M a n n ig faltig k eit u n se rer W ah rn eh m u n g en ,
d es A n sch au u n g sm aterials, p o stu liert w erden
m u ß . Soll die V e rn u n ft a b e r a u s sich selber p r a k ­
tisch w erd en k ö n n en , d.i. frei u n d d a h e r selbst
die alleinige U rsach e ihres W irk en s sein k ö n n en ,
d a n n schein t dieses P o stu la t (eines D inges a n sich)
d e r M ö g lich k e it v o n F re ih eit zu w idersprechen.
F . stellt sich d a h e r d ie A u fgabe, einsichtig z u m a­
ch en , wie die F re ih eit d e r V ern u n ft u n d die >N o t­
w e n d ig k e it ih re r G eg en stän d e sich v erb in d en las­
sen bzw . wie die (freie) V ern u n ft sich ein O b jek t
erzeu g en k a n n , d a s sie selbst nich t ist. I n diesem
S inne lä ß t sich F .s P ro g ra m m als d e r V ersuch ver­
stehen, die E in h eit v o n th eo retisch er (o b jek tb e­
stim m ter) u n d p ra k tisc h e r (ih r W irk en selbst be­
stim m en d er) V ern u n ft u n te r dem P rim a t d e r p ra k ­
tisch en V ern u n ft zu begreifen. D ieser P rim a t der
p rak tisch en V e rn u n ft selbst ist fü r F . k ein G eg en ­
sta n d th eo retisch b eg rü n d en d er Ü berlegungen,
so n d e rn die p h ilo so p h isch e D a rste llu n g ein er sich
in d em ih r fo lg en d en D e n k e n u n d H a n d e ln bestäti­
gen d en G ru n d e n tsc h e id u n g : » W a s fü r eine P h ilo ­
so p h ie m a n w ähle, h ä n g t so n a c h d a v o n a b , was
m a n fü r ein M en sch is t« (E rste E in leitu n g in die
W issenschaftslehre, S äm m tl. W erk e [ed. I.H .
F ich te] I, 434). D ie sich au s dieser G ru n d e n tsc h e i­
d u n g , sein L eb en se lb st b estim m en u n d v eran tw o r­
te n zu w ollen erg eb en d e P h ilo so p h ie n e n n t F.
>Id ealism u s <im U n te rsc h ie d z u m >D o g m atism u s <,
d e r die p h ilo so p h isch e (d.i. e rk e n n tn isth e o re ti­
sche) In te rp re ta tio n d e r G eg e n h a ltu n g darstelle,
n äm lich d es S ich -bestim m en-lassens d u rc h die
U m stä n d e u n d des S ich -d ad u rch -au s-d er-V eran t-
w o rtu n g -zieh en s. B eso n d ers in seinen sp ä teren
S ch riften , sy stem atisch d u rc h g e a rb e ite t v o r allem
in d e r » W issen sch aftsleh re« von 1804, zieht F.
allerd in g s d ie B ezeichnung seiner W issenschafts­
lehre als >Realism us<, d e r d a s Sein b ew u ß t w erden
lasse, g eg en ü b er einem >Idealismus<, d e r allein die
B ew u ß th eit d es Seins k läre, vor.
D ie A u fg ab e, au ch d ie O b jek terk en n tn is d e r th e o ­
retisch en V ern u n ft, also d ie B ildung v o n E rfa h ­
rungsw issen, als freies H a n d e ln d e r V ern u n ft a u f­
zuzeigen, v ersu ch t F . g ru n d sätzlich d a d u rc h zu
lösen, d a ß e r P rin zip ien d e r W issensbildung a u f­
stellt, d u rc h die S u b jek t u n d O b jek t der E rk e n n t­
644
nis in ih rem V erh ältn is als G ru n d u n d U rsache
v o n E rk e n n tn is b estim m t w erden sollen. D iese B e­
stim m u n g a rb eitet F . >dialektisch< (er selbst ver­
w endet d en T erm in u s nicht) au s, d .h . im D re i­
sc h ritt vo n d e r T hese ü b e r d ie A n tith e se z u r S yn­
these. In d e r T hese w ird die A u sg an g sp o sitio n der
p ra k tisc h e n P h ilo so p h ie, n äm lich d ie G ru n d e n t­
scheidung z u r S elb stb estim m u n g als (erkenntnis-)
th e o re tisc h e r G ru n d s a tz fo rm u lie rt: » D a s Ich
setzt u rsp rü n g lich schlechthin sein eigenes S ein«
(a.a.O . I, 98). V ersteh t m an u n te r dem >Sein< des
t lc h d e s s e n > B estim m u n g en < -d .s. d ie E igenschaf­
ten , d ie dem E rk e n n tn issu b je k t zu k o m m en , inso­
fern es sich als E rk e n n tn issu b je k t v o m E rk e n n tn is­
o b je k t u n tersch eid et - , so w ird m it dieser T hese
b e h a u p te t, d a ß je d e >Bestim mung< des Ich , also
je d e E igenschaft, d u rc h die es d efin iert w erden
k a n n , E rgebnis seiner S elb stb estim m u n g , näm lich
der als G ru n d la g e des P h ilo so p h ieren s ein g efo r­
d e rte n E n tsch eid u n g zu m selbst b estim m ten u n d
v e ra n tw o rte te n H a n d e ln , sei. F ü r die erk en n tn is-
th eo retisch e F ra g estellu n g n ach d en G rü n d e n u n d
U rsa c h e n w ah rer E rk en n tn isse e rg ib t sich d a m it
die T h ese, d a ß alle E rk en n tn isse (die j a insgesam t
>B estim m u n g en < des Ic h bzw .; k an tisc h g esp ro ­
c h en , dessen V o rstellungen sind) d u rc h d ie das
Ic h sow ohl definierende als a u c h k o n stitu ieren d e
G ru n d e n tsc h e id u n g b e g rü n d e t und v e ru rsa c h t
sin d . D ieser T hese g egenüber w ird a ls die A n ti­
these aufgestellt: » D e m Ich w ird sc hlechthin ein
N ic h t-Ic h entg eg en g esetzt« (a .a .O . I, 298). D iese
A n tith e se fo rm u liert die A u sg an g sp o sitio n der
>th eo retisch en < P h ilo so p h ie, n äm lich d a s B estehen
der O bjekt-W elt, die v o n u n s w eder geschaffen
n o ch v erstan d en u n d d a h e r z u n ä c h s t n u r als
f> N icht-Ich< c h a ra k te risie rb a r ist. E s stellt sich
d a m it d a s P ro b le m : W ie k a n n u n se re E rk e n n tn is
v o n O b jek ten als E rgebnis d e r S elb stb estim m u n g
begriffen w erd en , w enn d o ch diese O b je k te n ich t
v on u n s selbst b estim m t sin d ? D a s P ro g ra m m der
P ro b le m lö su n g , d a s B egreifen d e r th eo retisch en
V ern u n ftleistu n g en u n te r d em P rim a t d e r p ra k ­
tischen V ern u n ft, bild et die S ynthese: » I c h setze
im Ic h d em teilb aren Ich ein teilb ares N ich t-Ich
e n tg e g e n « (a .a .O . I, 305). M it dieser S ynthese w er­
d en die E igenschaften d e r O b jek te, d eren >B estim ­
m u n g en <, zu d en G ren zen d e r S elb stb estim m u n g
d es S u b jek ts e rk lä rt. Je d e O b jek tb estim m u n g ist
d a n a c h aufzuw eisen als G ren ze u n d W id erstan d ,
die sich fü r ein b estim m tes (geistiges) H a n d e ln des
S u b jek ts ergeben. A u c h den G e h a lt d e r O b je k tb e ­
stim m u n g en , d ie >M an n ig faltig k eit d e r W ah rn eh -
m ungen<, e rk lä rt F . d a m it a ls v e ru rsa c h t d u rc h
645
das S ubjekt. D e n n n u r d a d u rc h , d a ß d a s S u b jek t,
d a s (ab so lu te) Ich , sich in freier S elb stb estim m u n g
d azu b rin g t, in d e r W elt, als teilb ares Ich , zu h a n ­
d eln, e ra rb e ite t es sich a u c h die G ren ze u n d den
W id erstan d seines jew eiligen H an d eln s. F ü r sich
ist die G ren ze u n d dieser W id erstan d b lo ß e >N e g a ­
tio n < u n d d a m it k ein e eigene B estim m th eit, au ch
n ich t a ls m an n ig faltig es M a terial u n se rer W a h r­
n ehm ung. Seine B estim m th eit e rh ä lt es allein als
G ren ze bzw. >Negation< eines b estim m ten H a n ­
d elns: a ls v o m (ab so lu ten ) Ich (d .h . d u rc h die freie
G ru n d en tsch e id u n g ) im Ic h (d .h . in d em d e r
S elbstreflexion zu g än g lich en B ew ußtsein) d em teil­
b a re n Ich (d.h . d em in b estim m ter W eise in d er
W elt h an d eln d en S u b jek t) en tgegengesetztes teil­
b ares N ic h t-Ic h (d .h . n u r als N e g a tio n dieses b e ­
stim m ten H an d eln s b estim m ter W ah rn eh m u n g s­
gehalt).
M it dieser S y n th ese g la u b t F. d en K an tisch en
D u alism u s vo n E rk en n tn isu rsach e u n d E rk e n n t­
n isgrund ü b erw u n d en z u h ab en . A u s ih r en tste h t
sow ohl d ie M ö g lich k eit als a u c h d ie A u fg ab e,
n ich t n u r (wie K a n t ü b e r die U rteilsfo rm en u n d
tK a te g o r ie n ) die >Form<, d .h . d ie begrifflichen
U ntersch eid u n g s- u n d G leich setzu n g sm ö g lich k ei­
ten , d e r m öglich en E rfa h ru n g , so n d e rn au ch deren
In h a lt, die M ö g lich k eiten z u r W ah rn e h m u n g v o n
m annigfaltigen E in d rü ck en , a p rio risc h zu b eg rü n ­
den. In so fern alle B estim m th eit d er E rfa h ru n g n u r
die N eg a tio n d er d u rc h d a s Ich, d a s S u b jek t, ge­
setzten jew eiligen (E rk e n n tn is-)H a n d lu n g ist, k a n n
diese B e g ründ u n g d u rc h ein e A nalyse d e r su b je k t­
v eru rsach ten E rk e n n tn ish a n d lu n g e n - v o n der
sinnlichen W ah rn e h m u n g b is h in z u r begrifflichen
S elbsterkenntn is - geleistet w erden. D a diese E r­
k e n n tn ish a n d lu n g e n in d e r (rich tig en ) B ild u n g v o n
B ew ußtsein b esteh en u n d dieses B ew ußtsein
w iederum n u r d a d u rc h a n aly sierb ar ist, d a ß es b e­
w u ß t gem acht, also zu m S elbstbew ußtsein w ird,
k a n n F . sein P ro g ra m m au ch d u rc h die F o rd e ru n g
ch arak terisieren , ein e » v o llstän d ig e D e d u k tio n d er
g anzen E rfa h ru n g au s d e r M ö g lich k eit des S elbst­
b ew u ß tsein s« v o rzu fü h ren (a.a.O . I, 4 62; äh n lich
I, 447 u n d II, 407). D iese >D e d u k tio n <, d ie F.
selbst v o n einer >D e m o n s tra tio n < bzw. ein em Be­
weis untersch eid et, ist eine genetische R e k o n stru k ­
tion unseres B ew ußtseins - u n d d a m it fü r F . u n se­
res W issens. F . g eh t v o n ein em b estim m ten W issen
a u s - z.B. von d em S atz » A ist A « (1794), vom
W issen u m die M ö g lich k eit d e r v ern ü n ftig en
S elbstbestim m u n g d u rc h den V ersuch dieser
S elbstbestim m u n g (1797), v o n einigen g eo m e­
trisch en S ätzen (1801), v o n d e r E x isten z v o n
Fichte
» W a h rh e it, die allein w a h r sei u n d alles an d ere
a u ß e r ih r u n b ed in g t falsch « (1804; a .a .O . X , 90)
- u n d su c h t d azu die H an d lu n g sw eisen d e s E r­
k en n tn issu b jek ts au f, die sich in ein em P ro g ram m
als die n o tw en d ig en B edingungen dieses W issens
ergeben. A u f diese W eise k o n stru ie rt er zu dem
fak tisch en W issen bzw . B ew ußtsein d essen G ru n d
u n d U rsach e h in z u ; m it d em d o p p e lte n E rgebnis,
d a ß d a m it sow ohl die S tu fen , a u f d en en sich d as
S elb stbew ußtsein (in F .s W issen sch aftsleh re) bil­
det, als au ch die S tru k tu r m ö g lich er O b je k te rfa h ­
ru n g im R a h m e n d e r F .sch e n S y n th ese k lä rt. D ie
u n ser m ögliches E rfah ru n g sw issen stru k tu rie re n d e
W issenschaftslehre ist d a m it zu g leich » e in e p ra g ­
m atisch e G esch ich te des m en sch lich en G eistes«
(a.a.O . I, 222).
N ach d e m F . in d en e rsten F assu n g en sin er »W is-
se n sch aftsleh ren « a u f die A u sa rb e itu n g d e r S tru k ­
tu re n m ö glicher E rfah ru n g d en m eisten R a u m v er­
w en d et h a t, legt e r in d e n sp ä te re n F a ssu n g e n (be­
so n d e rs in d e r F assu n g v o n 1804) im m er g rö ß ere n
W e rt a u f d ie B eg rü n d u n g seines e rk e n n tn isth e o re ­
tischen S ta n d p u n k ts, wie e r in d e r S y n th ese von
1794 erstm als fo rm u liert ist. E rk lä rlic h ist diese
B em ü h u n g sow ohl d u rc h d a s w eitg eh en d e U n v e r­
stä n d n is, d em sich F . (n ich t z u letzt a u f G ru n d
d e r h erm etisch en D arstellu n g sw eise, d eren e r sich
bed ien t) m it seinen » W issen sch aftsleh ren « gegen­
ü b ersieh t, als au ch d u rc h sein eigenes V erstän d n is
dieser » W issen sch aftsleh ren « als d e r >w issen­
sch aftlich em F u n d ie ru n g aller sein er a n d e re n A r­
b eiten , au ch seiner S ch riften z u r R ech ts-, M o ra l­
u n d R elig io n sp h ilo so p h ie. T a tsä c h lic h ab er h ab en
diese S ch riften au ch o h n e d ie V e rm ittlu n g d er
F .sch en E rk en n tn isth e o rie ih r P u b lik u m gefunden
u n d eh er d en Schlüssel zu m (allgem einen) V er­
stä n d n is d e r » W issen sch aftsleh ren « g eliefert als
u m g ek eh rt.
F .s S itten - u n d R e ch tsleh re läß t sich (w ie seine
th eo retisch e P h ilo so p h ie) v ersteh en als die p h ilo ­
so p h isch e D arstellu n g , B e g rü n d u n g u n d E rk lä ­
ru n g d e r V e rn u n fte n tsch eid u n g z u r S elb stb estim ­
m ung. D er M en sch , d a s >em p irisch e Icl\<, soll sich
im m er m eh r in diese se lb stän d ig e V ern ü n ftig k eit,
die >F re ih eit < des >a b so lu te n lch< ein ü b e n : » Ic h
soll frei h an d eln , d am it ich frei w e rd e « (a.a.O .
IV , 153); » W e r a u f A u to ritä t h in h a n d e lt, h a n d e lt
[...] n o tw en d ig gew issenlos« (a .a .O . IV , 175).
D u rc h m ein e eigene B ild u n g z u r v ern ü n ftig en
S elb stän d ig k eit sollen d ab ei a u c h d ie ü b rig en M it­
g lieder d e r G esellschaft zu g rö ß e re r F re ih e it ge­
b ra c h t w erden. U m eine G em ein sch aft freier W e­
sen zu erm öglichen, ist die F estleg u n g v o n R ech t
Fichte
n o tw en d ig : » jed es freie W esen [m uß] es sich zum
G esetze m achefn], seine F re ih eit d u rc h den B egriff
d e r F re ih e it aller ü b rig en e in zu sch rä n k en « (a.a.O .
III, 92). A u sg eh en d v o n den U rre c h te n d e r freien
P erso n , d em R e c h t a u f leibliche F re ih e it u n d Ei­
g en tu m , a rg u m e n tie rt F . d afü r, d a ß d iese U rrec h te
n u r d u rc h ein Z w an g srech t gegen U n re c h ttä te r ga­
ra n tie rt w erd en k ö n n en , w elches seinerseits z u sei­
n e r L eg itim atio n eines freien V ertrages d e r freien
B ürger b ed arf. D ieser V ertra g m u ß in einer b ü r­
gerlichen G esetzg eb u n g v erbindlich fo rm u liert
sein u n d d u rc h eine d azu b efäh ig te u n d befugte
S taatsg ew alt d u rch g esetzt w erden. In so fern aller­
dings d a s R e ch t n u r d ie A u fg ab e h a t, d ie gem ein­
sam e E x isten z freier W esen zu sichern u n d dam it
d ie E rzieh u n g z u r S ittlich k e it z u erm öglichen, m u ß
d e r S ta a t a u f seine eigene V e rn ic h tu n g a u s g e h e n ;
d en n in ein em Z u stan d e rre ic h te r S ittlich k e it w äre
d ie staatlich e Z w angsgew alt z u r S icherung d e r U r ­
rech te eb en n ic h t m eh r erfo rd erlich . - E ine eigene
K o n z e p tio n v o n ein em sozialistischen S taat legt
F . in seiner S chrift » D e r geschlossene H an d els­
s ta a t« v o r: D ieser S ta a t regelt sow ohl d ie V ertei­
lu n g d e r A rb e it a ls a u ch d es (vollen) A rb eitsertra g s
a n seine B ürger. A u ß erd em b estim m t e r alle H a n ­
delsb ezieh u n g en m it a n d e re n S taaten .
A u c h F .s religions- u n d g eschichtsphilosophische
S ch riften sin d A u sleg u n g en d e r K o n z e p tio n ver­
n ü n ftig e r S elbstän d ig k eit. F ü r d e n religiösen
M enschen gilt, d a ß e r m o ralisch ist, d .h . die ver­
n ü n ftig e F re ih eit zu erreichen su c h t u n d sich in
diesem seinem V ersu ch in ein er >m o ralisch en
W eltordnung< , fü r d ie m an d e n N a m e n >Gott<
setzen k a n n , g eb o rg en fühlt. I n sp ä te re n S chriften
v erw en d et F . allerd in g s bei d e r F o rm u lie ru n g sei­
n e r R elig io n sp h ilo so p h ie in im m er stärk erem
M a ß e ein e die In te rp re ta tio n erschw erende m ysti­
sche B ildw elt. D ie G esch ich te teilt F . in fü n f
>G ru n d ep o ch en < ein, in d en en die V e rn u n ft sich
im m er m eh r z u n ä c h st v o n d e m sie b eh errsch en d en
N a tu rin s tin k t lö st u n d d a n n v o n den verschiede­
n en F o rm e n d e r A u to ritä t befreit.
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sophäca q u a e d a m relig io < dien en Ü b ersetzu n g en
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F id e ism u s (von la t. fides, G lau b e), S am m elb e­
zeichnung fü r ( I) ein e a n tira tio n a listisc h e G la u ­
ben sp h ilo so p h ie, n a c h d e r die g ö ttlich e O ffen b a­
ru n g aussch ließ lich Q u elle d es G la u b e n s u n d die­
ser w egen d e r b e h a u p te te n E rk en n tn isu n fäh ig k eit
d e r m enschlichen V e rn u n ft d a s P rin zip d e r E r­
k e n n b a rk e it ist. In den erk en n tn isth eo retisch e n
G ru n d a n n a h m e n ist d e r F . id en tisch m it d em als
R e a k tio n gegen t R a tio n a lism u s u n d M a terialis­
F igu r (lo gisch )
m u s ( Î M a terialism u s (h isto risch )) d e r a n tim e ta ­
physisch en u n d an tith eo lo g isch e n A u fk lä ru n g s­
p h ilo so p h ie e n tsta n d en en ÎT ra d itio n a lism u s. E in
g em äß ig ter F . b e h a u p te t in W eiteren tw ick lu n g d er
L eh re v o n d er d o p p e lte n W ah rh eit (tW a h rh e it,
d o p p elte) die U n fäh ig k eit d e r V e rn u n ft z u r E r­
k en n tn is m etap h y sisch er W ah rh eit u n d b e tra c h te t
die d u rc h T ra d itio n u n d S ch rift ü b crlieferté u n d
d u rc h Ü b erein stim m u n g d er M e n sch en ( î co n sen ­
sus g en tiu m ) g esicherte g ö ttlich e O ffe n b a ru n g als
ausschließliche Q uelle fü r S ätze der f E th ik .
H äu fig bezieh t sich d e r F . a u f I. K a n t. D ab ei
w ird je d o c h ü b erseh en , d a ß dessen U n te rsc h e i­
d u n g >bloß sta tu ta ris c h e r< u n d >rein m o ra lis c h e r<
G esetze (D er P h ilo so p h isch en R elig io n sleh re D rit­
tes S tü ck , B 148/A 140) in d er A b sic h t erfo lg t,
die E rk e n n tn is n u r d e r v o lu n ta ristisc h e n g ö ttlich en
G esetze v o n d er O ffen b a ru n g a b h ä n g ig , d ie rein
m o ralisch e G esetzg eb u n g G o tte s a b e r d e r V er­
n u n fte rk e n n tn is zu g än g lich z u m ach en . In n e rh a lb
d er erk en n tisth eo retisch e n D isk u ssio n d es d ialek ­
tisch en M a terialism u s (tM a te ria lis m u s , d ialek ­
tischer) w ird d e r B egriff des F . h ä u fig v erw en d et,
u m n ich t-m aterialistisch e P o sitio n en als >Glau-
bensphi!osophie< zu d isk red itieren .
D er F. tritt (2) als B ezeichnung ein er v o n d e r refo r­
m ierten th eo lo g isch en F a k u ltä t in P a ris d u rc h A.
S a b a tie r (E sq u isse d ’u n e p h ilo so p h ie d e la relig io n ,
1897) u n d E. M énégoz (R éflex io n s s u r l’E v an g ile
d u sa lu t, 1879) z u r A n n ä h e ru n g o r th o d o x e r u n d
lib eraler T h eo lo g ie en tw ick elten relativistisch en
R elig io n sp h ilo so p h ie au f, n a c h d e r relig iö se Be­
griffe n ich t tran sz e n d e n te W a h rh e ite n fassen , so n ­
d e rn als b lo ß e S ym bole (S ym bolfideism us) h isto ri­
sche B em ü h u n g en u m eine d em jew eilig en W issen­
sch aftsb eg riff k o rresp o n d ieren d e F o rm d es relig iö ­
sen E m p fin d en s sind.
L ite ra tu r: W . B artiey , T h e R e tr e a t t o C o m m itm e n t, L o n ­
d o n Î9 6 4 ; H . D a h m , F ., H ist. W b . P h. II (1972), 9 4 6 -9 4 7 ;
J. H asen fu ss, F ., L T h K I V ( 2 1960), 1 1 7 -1 1 8 ; E . M én ég o z,
R éflex io n s s u r l’E vangile d u salu t, P a ris 1897; A . S ab a-
tier, E sq u isse d ’u n e p h ilo so p h ie d e la re lig io n d ’ap rès
la p sy ch o lo g ie e t l’h isto ire , P a ris 1897, 8 1 9 10, 101937 ;
G . S a n ta y a n a , S cep ticism a n d A n im a l F a ith , I n tr o d u c tio n
to a S y stem o f P h ilo so p h y , L o n d o n 1923. H. R. G.
/
F igu r (lo gisch ) (v o n lat. fig u ra), (1) P . L o ren ze n
bezeichnet t K a lk ü le als V erfah ren d e r H erstellu n g
v o n F .en . D ie F .en eines K a lk ü ls sin d so w o h l die
K a lk ü lan fän g e als au ch die d a ra u s n a c h d e n K a l­
k ülregeln g eb ild eten (>ab g e le ite te n <) K o n fig u ra tio ­
nen. (2) I n d e r trad itio n ellen L o g ik w erd en die
vier syllogistischen S ch lu ß sc h em ata >F.en< g e­
n a n n t (tS y llo g istik ).