HAUSARBEIT
-Meiner Tochter Piroschka gewidmet-
Fantasie
VertiefungsseminarVS/Epochen,
VS/Kontexte]
Masterseminar [MS/Kontext-G]
Prof. Dr. Andreas Ballstaedt
1. Einleitung 3
2. Hauptteil:
3. Fazit 32
4. Quellenverzeichnis 34
4.3 Eigenständigkeitserklärung 40
2
EINLEITUNG
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich vorrangig mit dem Phänomen des „Stylus
phantasticus“1, der sich besonders im 17. Jahrhundert in der Vokalmusik, namentlich durch
das Rezitativ, in eigenwilliger Weise ausprägte, sich allmähliche von der Oper löste und
sodann auch auf die Instrumentalmusik übertragen wurde. Hierzu werden zwei Fantasien
von J.S. Bach und C.P.E. Bach herangezogen, nämlich die Chromatische Fantasie BWV
903 von J.S. Bach und die Fantasie in c-Moll aus den Probestücken von C.P.E. Bach.
Die Form des freien Fantasierens, das Ausdrücken von Freude, Trauer oder Leidenschaft
ohne das Einbeziehen der menschlichen Stimme, hatte sich unter anderen, besonders aber
durch C.P.E. Bach in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Gattung
herausgebildet. Die präzise Zuordnung des Stylus phantasicus 2 ist gattungsgeschichtlich
jedoch nicht eindeutig, da sich auch in anderen musikalischen Formen, wie beispielsweise
dem Capriccio, dem Präludium, der Toccata, um nur einige zu nennen, gattungstypische
Fantasiemerkmale nachweisen lassen.
Der Tatsache, dass J.S. Bach seiner Chromatischen Fantasie und Fuge, BWV 903, in der
zweiten Hälfte der Fantasie ein notiertes Rezitativ zuweist, hat die Forschung in besonderer
Weise Beachtung geschenkt. Es existieren darüber hinaus unzählige Abhandlungen über die
Freie Fantasie im Allgemeinen und im Besonderen, wie in dieser Arbeit noch dargelegt
werden soll.
Befürworter und Gegner, Freunde und Feinde finden sich zu jener Zeit des ausgehenden 17.
und beginnenden 18. Jahrhunderts in zahlreichen Aufsätzen, Briefen, Kommentaren und
Kritiken von Zeitgenossen. Besondere Auskunft und Kenntnisse hinsichtlich ihrer langen
Entstehungsgeschichte mit all ihren Vorstufen, ihrem Nutzen und ihrem Nachteil für ein
ganzes Jahrhundert, erhalten wir durch Peter Schleunings 393 Seiten umfassende Dissertation
1
Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Kapitel 10 §93
Athanasius Kircher 7. Buch „Musurgia Universalis, 5. Kapitel S. 585
2
Stilrichtung des Barocks, deren Anfänge auf Claudio Merulo (1533-1604) zurückgehen
3
“ Die Freie Fantasie”.3 „Das Musizieren im Stylus phantasticus ist „ohne Vorschrift…“ […
und] „halten aber so wenig Schranken und Ordnung, dass man sie schwerlich mit einem
anderen allgemeinen Namen, als guter Einfälle belegen kann. Daher auch ihr Abzeichen die
Einbildung ist.4
Des Weiteren definiert Johann Mattheson den Stylus Phantasticus wie folgt:
„Der Stylus Phantasticus ist die allerfreieste und ungebundenste Setz-Sing-und Spiel-Art, die man nur erdencken
kann, da man bald auf jene Einfälle geräth, da allerhand ungewöhnliche Gänge, versteckten Zierraten, sinnreiche
Drehungen und Verbrämungen des Tacts und Tons; bald hurtig zögernd, bald ein-bald vielstimmig; bald auch auf
eine Zeit nach dem tact; ohne Klang Maasse; doch nicht ohne Absicht zu gefallen, zu übereilen und in
Verwunderung zu setzen.“5
Angeregt durch die vielfältigen Definitionen der Freien Fantasie und der vergleichsweisen
geringen Beachtung, die heutzutage insbesondere den Fantasien von C.P.E. Bach
entgegengebracht wird, möchte ich den Versuch anregen, eine Antwort auf die Frage zu
finden, warum C. P. E. Bachs Clavierwerke (sic!) von den heutigen Konzertpodien fast völlig
verschwunden sind und warum ausgerechnet seine Fantasie in c-Moll, die zu seiner Zeit einen
unvergleichlichen Ruhm erreichte, zu jenen Sternen gehört, die offenbar im Sinken begriffen
sind.
3
Peter Schleuning „Die freie Fantasie“, Ein Beitrag zur klassischen Klaviermusik, Verlag Alfred Kümmerle,
Göppingen 1973
4
Matthesons, Johann, Beschreibung eines Hauskonzerts 1666, II, 13, § 132
5
Mattheson, Johann, „Der vollkommene Capellmeister“, Kapitel 10, §93
6
Abkürzung für: Musik in Geschichte und Gegenwart, online
7
MGG, Dagmar Teepe 1995
8
Schleuning, Peter, „Die freie Fantasie“, 1973, S.162
4
Obgleich C.P.E. Bach zu Lebzeiten berühmter gewesen sein soll als sein “ seliger Vater”9 J.S.
Bach, führt er doch in unserer heutigen Zeit ein rechtes Schattendasein, wenn man bedenkt,
wie selten, wenn überhaupt, seine Fantasien, besonders aber diejenige in c-Moll aus den
„Probestücken“10 zur Aufführung gelangen.
Hingegen gehört J.S. Bachs “Chromatische Fantasie und Fuge” weiterhin zum beliebten
Standardrepertoire professioneller Cembalist*innen und Pianist*innen, aber auch zu den
gefürchteten Pflichtstücken bei internationalen Bach Wettbewerben. (Bsp. Leipzig und
Berlin)
Auch wenn C.P.E. Bach seine Fantasie aus der 6.Sonate der 18 Probestücke 11 für das
Clavichord komponiert hat, so ist sie ohne weiteres, wie auch J.S. Bachs „Chromatische
Fantasie“ sowohl auf das Cembalo als auch auf den modernen Konzertflügel übertragbar.
Verblüffend gering ist jedoch die Zahl der tatsächlichen Aufführungen der c-Moll Fantasie im
Vergleich zur Chromatischen Fantasie, wirft man einmal einen flüchtigen Blick auf
einschlägige Musikkanäle (YouTube, Spotify etc.) Vater Bach belegt hier mit seiner Fantasie
schon einmal unbestritten den ersten Platz.
Die meisten Aufrufe beschert ihr der gealterte, gleichwohl geadelte „Sir“ András Schiff durch
730.112 Klicks.
Friedriech Gulda erreicht immerhin 444.774 Aufrufe, und eine Bronzebeachtung geht an den
Cembalisten Menno van Delft, der im antiästetischem Kontrast zur „Historischen
Aufführungspraxis alter Musik12“ die Fantasie aus kopierten Noten auf einem historischen
Instrument von Paul Kraemer, 1803, in famoser Fantasielosigkeit herunterschmettert und
dafür 104.208 Aufrufe ergattert. Auch auf sogenannten Selbstoptimierungsplattformen, wie
Instagram13 ist J.S. Bachs Chromatische Fantasie noch zahlreich vorhanden, hingegen C.P.E.
Bach nur ein einziges Mal und auch mit nur einem Werk in trostlose Erscheinung tritt. Auf
YouTube erreicht die Fantasie durch die Interpretation von Robert Hill auf dem Clavichord
mit durchfließendem Notentext allerdings 96.640 Aufrufe, die Wiedergabe auf dem Piano des
Schweizer Pianisten Tomas Bächli hingegen weist nur kümmerliche 1708 Aufrufe auf.
So viel zu den ungefähren statistischen Daten. Einspielungen sind nicht berücksichtigt.
9
Ausspruch C.P.E. Bach in Berichten über den Vater
10
Siehe auch C.Ph.E.Bach „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“, 2.Teil, S.325ff
11
ebenda
12
Bemühen um eine authentische Aufführung alter Musik durch historische Spieltechnik und historischen
Instrumenten
13
Siehe Bildquelle
5
Woran liegt diese Bevorzugung und Beliebtheit des Leipziger Thomaskantors und welche
Gründe drängen den Wegbereiter der Wiener Klassik so ins Abseits? Selbst Mozart äußert
sich über C.P.E. Bach voller Bewunderung: “ Er ist der Vater; wir sind die Bubn. Wer von
uns was Rechts kann, hats von ihm gelernt.14“
Hatte J.S. Bach mit seiner Chromatischen Fantasie das „gebundene Spiel“ nicht beinahe
gänzlich verlassen und auch das vokale Rezitativ eindeutig und erstmalig auf das Instrument
übertragen? War es nicht er selbst, der den Sohn mit unbewusster Absicht “zu neuen Ufern15
[gelockt)]“ hat und dessen Entwicklung zu einem neuen Stil nachhaltig beeinflusste?
Wie kommt es zu einem allmählichen Absterben der Fantasien von C.P.E. Bach und dem
unsterblichen Überleben der Chromatischen Fantasie des Vaters J.S. Bach?
Die vorliegende Arbeit soll nach angemessener Untersuchung wesentlicher Sinneinheiten
beider Werke einer Antwort, auf die hier zur Diskussion stehende Frage näherkommen und
im Idealfall neue Anreize schaffen, dem Clavierwerk, namentlich den Fantasien von C. Ph. E.
Bach aufgrund gewonnener Erkenntnisse oder Sichtweisen in der heutigen Zeit eine größere
Bedeutung zukommen zu lassen.
2. Hauptteil
Bevor eine Untersuchung der beiden vorliegenden Fantasien dargelegt wird, ist ein kurzer
Überblick über die verschiedenen Begriffserklärungen des Terminus “ Fantasie” lohnenswert,
denn die Geschichte der Fantasie für Tasteninstrumente hat eine lange historische Reise
ablegen müssen, bevor sie im 18.Jh ihren Gipfelpunkt erreichte
14
Wolfgang Amadeus Mozart über C.Ph.E.Bach (überliefert durch Fredrich Rochlitz, deutscher Dramatiker und
Musikschriftsteller (1769-1842)
15
Goethe, Johann Wolfgang von: Faust, Der Tragödie erster Teil
6
Der Begriff “Fantasie” ist im 14.Jh dem lateinischen phantasia und dem altgriechischen
entlehnt und wird mit “Einbildung", „Erscheinung” und auch mit “Vorstellungskraft”
übersetzt.
Im Deutschen Duden Wörterbuch ist die Definition im allgemeinen Sinne die “ Fähigkeit,
Gedächtnisinhalte zu neuen Vorstellungen zu verknüpfen, sich etwas „in Gedanken
auszumalen.16” Innerhalb musikalischer Bedeutung wird “die Fantasie” als ein “Tonstück in
17
freier Form” postuliert. Nicht der Titel steht im Vordergrund, sondern das imaginäre
Denken, das wiederum ein geistiges Bild oder eine Idee voraussetzt.
Der Begriff Fantasie wird sodann im 16.Jh sehr stark an die Improvisation gebunden,
allerdings werden ihre Inhalte aufgrund austauschbarer Termini (Ricercar und sogar Fuge)
nicht eindeutig definiert.
Es folgten Capriccios, Choralfantasien und andere Termini, die dann von Athanasius
Kircher18 in seinem Traktat (Musurgia universalis19) von 1650 mit einer neuen Begrifflichkeit
unterlegt wurden, dem “Stylus phantasticus”.
Im 18.Jh. wurde der Begriff “Fantasie” sehr eng mit dem “Extempore Spiel 20 “, dem
“Improvisieren21“ aus dem Stegreif verbunden.
Weil die damaligen Komponisten jedoch ihre Fantasien und Improvisationen zum großen Teil
zu pädagogischen Zwecken noch schriftlich fixierten und dadurch das tatsächlich
stattgefundene Extempore Spiel gerade nicht notiert wurde, können wir auf keinerlei
verlässliche Quellen, die das freie Fantasieren im gemeinten Sinne belegen, zurückgreifen.
Es existieren lediglich wenige Beschreibungen von derlei Ausführungen. So berichtet
beispielsweise Charles Burney22 über C.P.E. Bachs Fantasieren wie folgt:
“...und er spielte, ohne dass er lange aufhörte, fast bis Eilff Uhr des Abends. Während dieser Zeit gerieth er
dergestalt in Feuer und wahre Begeisterung, dass er nicht nur spielte, sondern die Miene eines außer sich
Entzückten bekam.”23
16
Siehe auch MGG, 1995, Schipperges & Teepe, Art. Fantasie
17
ebenda
18
Siehe S.3
19
Abhandlung katholischer Musikanschauung und Musikpraxis in lateinischer Sprache, Rom, 1650
20
Lat. Ex tempore „sogleich“, aus dem Stegreif, Wikipedia
21
erfinden
22
Burney, Charles, englischer Musikhistoriker (1726 – 1814)
23
Bericht von Charles Burney anlässlich eines Besuches bei C.Ph.E.Bach, 1772
7
Man kann sich also eine gewisse Vorstellung davon machen, wie diese Freiheit des
Fantasierens jener Komponisten auch im physischen Bereich ihren Ausdruck fanden.
Der Begriff Fantasie teilt sich im 16.und 17. Jh. interessanterweise im musikalischen Bereich
auch in drei Ebenen auf, diese sind:
1. Voraussetzung = produktive Einbildungskraft
2. Prozess = Vorgang der Improvisation
3. Ergebnis = Werktitel
In frühen Traktaten setzt der Musiktheoretiker Hermann Finck24 (lat. Hermannus Finckius)
der “bona fantasia” eine musikalische Vorstellungskraft voraus, die eine schöpferische
Tätigkeit erst möglich mache.
In der Renaissance ist die fantasia mit Freiheit und Spiel verbunden und setzt nach Masilio
Ficino25 (Theologica platonica XIII/3 1483) eine geistige Konzeption voraus.
Zwar liegen Anfänge der deutschen Fantasie für das “Clavier” schon um etwa 1520 vor,
allerdings lässt sich eine richtungsweisende Tendenz zu dieser Gattung erst zu Beginn des 17.
Jh. festmachen. Zu nennen wären hier unter anderen, Jakob Hassler26, Christian Erbach27 oder
Paul Hainlein28 .
Als Nachfolger der „Norddeutschen Schule“ 29 und maßgeblich verantwortlich für die
Weiterentwicklung der Fantasieform J.P. Sweelincks 30 ist Samuel Scheidt 31 mit seiner
“Fantasia super”.
Weiterhin wird die Gattung „Fantasie“ von J. J. Froberger32 bestimmt, dessen “Fantasia sopra
Ut re mi fa sol la dem Musiktheoretiker Athanasius A. Kircher augenscheinlich als Muster
diente. (Musurgia universalis,1615, S.465ff)
Johann Pachelbels sechs Fantasien wiederum vermischen den italienischen, virtuos-
gesanglichen Stil mit mitteldeutscher Kontrapunktik und begünstigen insofern das
“Weiterwirken der Gattung als imitative Fuge” oder “ Freie Fantasie”. (Thomas
Schipperges33)
24
Finck, Hermann, deutscher Musiktheoretiker, Organist und Komponist (1527 – 1558)
25
Ficino, Marsilio, italienischer Philosoph (1433 – 1499)
26
Haßler, Jakob, deutscher Komponist (1569-1621)
27
Erbach, Christian, deutscher Komponist des Frühbarocks, (1568-1635)
28
Hainlein, deutscher Komponist, (1626-1686
29
Beckmann, Klaus, Die Norddeutsche Schule, Schott Verlag Mainz 2005-2009
30
Sweelinck, Jan Pieterszoon, niederländischer Organist, (1562-1621)
31
Scheidt, Samuel, deutscher Organist und Komponist, (1587-1654)
32
Froberger, Johann Jakob, deutscher Komponist und Cembalist, 1616-1667)
33
Siehe auch Seite 8
8
Dieser grobe Abriss von einigen der vielen Komponisten und Musiktheoretikern und deren
Beschäftigung mit der noch im Werden befindlichen Gattung „Fantasie“, verdeutlicht die
große Faszination, die diese musikalische Form auf Zeitgenossen und ihre Nachwelt
offensichtlich ausgeübt hat.
Hatte J.S. Bach die Vorstellung, sich einer festen Form zu entziehen und jenseits von
Auftragsdruck und pädagogischen Pflichten einmal die Fülle seines improvisatorischen
Vermögens ins Schrankenlose zu überführen, dann war die erste Voraussetzung der
„produktiven Einbildungskraft“ erfüllt. Wie er indes den eigentlichen Prozess ausgeführt
haben mag, muss im Verborgenen bleiben, es gibt lediglich Spekulationen, die sich auf keine
stichhaltigen Beweise stützen. Auch das Ergebnis, der Werktitel also, „Chromatische
Fantasie“ entstammt ebenfalls aus keiner sicheren Quelle.
Wie ganz anders C.P.E. Bach uns in seine Fantasie c-Moll einweist, wird noch genauer
erörtert werden. Ist J.S. Bachs Chromatische Fantasie die Krone aller Fantasien und diejenige
C.P.E. Bachs nur ein bunter Zauberhut, unter dem sich seine harmonischen Schwindeleien
verstecken?
Schüttet C.P.E. Bach in seine Fantasie gar zu viele Überraschungen, überdosiert er die Zahl
zulässiger der Affekte, strapaziert er die heutigen Zuhörer mit seinen rasch aufeinander
folgenden „Betruegereyen34“?
Wird sein letztes Probestück von allzu artifizieller Konstruktion überlagert und verhindert
gerade jene „Konstruktion“ den Zweck, von dem Joachim Quantz fordert: [sich] „… der
Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in
diesen, bald in jenen Affect zu versetzen.35“?
Das Wesen der Freien Fantasie ist ihr unmittelbar theatralisches Wirken auf die Zuhörer, sie
hat die Aufgabe, des “ hurtig Überraschenden, von einem Affeckte zum andern” und muss “
aus guter musikalischer Seele”36 herkommen.
Allen, der Fantasie innewohnenden Gattungen, seien es nun Toccaten, Capriccios oder
Präludien, sollten stellvertretend das Extempore-Spiel repräsentieren, wiewohl sie dennoch
aufgeschrieben wurden: “……das Ansehen haben […] als spielte man sie aus den Stegreifen
daher, so werden sie doch mehrentheils ordentlich zu Papier gebracht…“.37
34
C.Ph.E.Bach, Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen, Leipzig 1787 S.92ff
35
Quantz, Johann Joachim, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752
36
C.Ph.E.Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Leipzig 1787, S.92ff
37
Mattheson, Johann Jakob, „Der vollkommene Capellmeister, Teil 2, Kapitel 13, Seite 35-41
9
Die Freie Fantasie teilt ihr Schicksal nicht nur, aber auch dem Rezitativ, beide Gattungen
unterliegen keiner tonartlichen Ordnung und ebenso wenig einer formal festgelegten Struktur.
Sie, die Fantasie, zeichnet sich durch einen aperiodischen Ablauf, raschen Affektwechsel und
ungewöhnliche harmonischen Wendungen aus. Peter Schleuning38 bezeichnet die Fantasie in
seiner Dissertation idealiter als “ unreflektierte Extempore –Haltung39”, gleichwohl bekräftigt
er, dass “ In fast allen Fantasien […] Züge normativer Gestaltung nachweisbar und zwar z.B.
straffe Führung der Tonartfolge und enge Bindung an sonatenartige Muster …40" zu finden
seien. Die kompositorische Aufgabenstellung liegt laut Schleuning nun darin, die dem
41
Schriftzwang geschuldete Ordnung durch “ individuell geplante Künstlichkeit ” zu
verschleiern und auf diese Weise dem Problem der “ kompositorischen Gestaltung absoluter
musikalischer Norm-Freiheit" 42 auszuweichen.
Gustav Schilling 43 beispielsweise unterscheidet noch deutlich zwischen der freien und der
gebundenen Fantasie.
Demnach unterliegt die freie Fantasie dem “gleichsam hingeworfenen Spiel” und der […] “
Einbildungs-und Empfindungskraft des Tonkünstlers 44 ” der sich weder an die Haupttonart
noch an Form oder Tonart zu binden hat. Diese “ improvisierte musikalische Rede” soll der
Gunst des Augenblicks geschuldet sein, allerdings setzt sie den Besitz harmonischer
Rechtschaffenheit und den Augenblick voraus, “ durch diese dargebotenen Mittel
augenblicklich und zu rechtestem Zwecke Gebrauch zu machen wissen...45”.
Damit wird auch die Forderung J. Matthesons bekräftigt, wenn er schreibt: [Das Musizieren].
46
im „Stylus phantasticus“ ist “ ohne Vorschrift ”. [Er ist] “ die allerfreieste und
ungebundendste Setz-Sing-und Spielart, die man nur erdencken kann, da man bald auf jene
Einfälle geräth, da man sich weder an Worte noch Melodie, obwohl an Harmonie bindet...”.
Des Weiteren konstatiert Mattheson im Sinne Schillings: „Weil das Fantasiren mit Fug der
höchste practische Gipffel in der Music genannt werden mag, so ist leicht zu erachten, dass es
einen tüchtigen Mann erfordere.47”
38
Schleuning, Peter „Die Freie Fantasie“
39
Schleuning, Peter, Die freie Fantasie, S.162
40
ebenda
41
ebenda
42
Schleunig, Peter, Die freie Fantasie, ebenda
43
Schilling, Gustav, Lehrbuch der allgemeinen Musikwissenschaft, Artikel „Fantasie“, Karlsruhe 1840
44
ebenda
45
ebenda
46
Mattheson, Johann Jakob, „Der vollkommene Capellmeister“, 1739
47
ebenda
10
Sinngemäß fügt Mattheson hinzu, dass Ordnung und Struktur für die Form einer Fantasie
nicht angemessen sei und der englische Musiktheoretiker Christopher Kollmann48 erachtet die
idealtypische Fantasie sogar als vollständig improvisiert. Die zu pädagogischen Zwecken
niedergeschriebenen Arbeiten büßen demnach immer auch etwas von ihrem natürlichen
fantastischen Feuer ein.
Die Freie Fantasie lebt vor allem auch durch Virtuosität des Vortrags in Verbindung mit
harmonischen Experimenten, wie Trugschlusswendungen, exorbitanter Enharmonik,
chromatischem Abschweifen in entlegene Tonarten, Modulationsdichte, Akkordbrechungen,
Vorhaltsharmonik, dissonante Wendungen, verminderte Septimenakkorde 49 und allerlei
anderen “ Betruegereyen”50, von denen wir in C.P.E. Bachs „Versuch über die wahre Art das
Clavier zu spielen“ im “Ein und vierzigstes Capitel ,Von der freyen Fantasie.” ausführliche
Anweisungen erhalten.
Das Original der Chromatischen Fantasie und Fuge BWV 903 ging verloren. Es gibt jedoch
Manuskripte verschiedener Stadien der Komposition, und die letzte Fassung scheint nach
bisheriger Forschungslage diejenige aus dem Jahre 1730 gewesen zu sein. Man nimmt an,
dass J.S. Bach diese letzte Fassung an seinen Sohn W. F. Bach weitergab, mit Gewissheit
kann aber nicht gesagt werden, dass es sich hier um die Originalfassung handelt. J.N. Forkel
51
verwendet die genannten Manuskripte von W. F. Bach im Jahr 1774 für seine Bach
Biografie, 52 die sich zu diesem Zeitpunkt in Vorbereitung befindet. Aus diesen Quellen
verwendet Forkel 1802 zahlreiche Beispiele. Eine letzte Sicherheit darf man ihnen jedoch
nicht zuschreiben, da auch diese primäre Quelle verloren ging. 1819 soll Forkels Schüler,
Friedrich Conrad Griepenkerl53 in seiner Veröffentlichung Forkels Quelle verwendet haben.
48
Kollmann, Augustus Frederick Christopher, englischer Musiktheoretiker und Komponist (1756-1829)
49
C.Ph.E.Bach, „Versuch“, § 11, S.335 „Auf eine noch kürzere, und dabey angenehm überraschende Art in die
entferntesten Tonarten zu kommen, ist kein Accord so bequem und fruchtbar, als der Septimenaccord mit der
verminderten Septime und falschen Quinte…“
50
C.Ph.E.Bach „Von der freyen Fantasie“, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, S. 325ff
51
Forkel, Johann Nikolaus, Deutscher Organist und Musikforscher (1749 – 1818)
52
Forkel, Johann Nikolaus, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Bärenreiter Verlag,
2002
53
Griepenkerl, Friedrich Konrad, deutscher Musikwissenschaftler (1782-1849)
11
Diese Ausgabe ist erhalten und gibt zahlreiche Hinweise der Aufführungspraxis im Sinne J.S.
Bachs. Die zahlreichen Abschriften dieses Werkes von Bach Schülern und seinen Söhnen legt
die Vermutung nahe, dass wir es hier nicht mit einem Auftragswerk zu tun haben, sondern mit
einer Komposition, die Bach für sich selbst zum Vergnügen niederschrieb, um sie dann seinen
Schülern und Söhnen als eine Art praktisches Beispiel für den Fantastischen Stil 54 mit
auskomponierter, textfreier Rezitativik an die Hand zu geben. Auch kommt eine weitere,
zuverlässige Abschrift von J. F. Agricola,55 einem Schüler und Bewunderer J.S. Bachs, der
eine Kopie aus dem Besitz von C. Ph. E. Bach besaß, in Betracht. Als unabhängig
voneinander verfasste Abschriften der offenbar zahlreich verfertigten Handschriften im Hause
Bach wären zu nennen: J. G. Müthel 56 , einer der letzten Schüler J.S. Bachs. Dieser
konzentrierte sich jedoch lediglich auf die Fantasie des Werkes, ebenso wie J. Chr. Kittel57,
dem späteren Nachfolger von Johann Pachelbel58 in der Predigerkirche, Erfurt.
Das fortgesetzte Forschungsinteresse an einer konstatierten, wenn auch noch aus
Konventionen bestehenden “Freien Fantasie” wird durch diese vielen Bemühungen um das
Einfangen des verschollenen Werkes bestätigt. Es existieren etwa dreißig unterschiedliche
Fassungen, auch in unterschiedlichen Tonarten – beispielsweise dorisch D, (G.B.Stauffer59 ) .
Um aber den Umfang dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird auf eine weitere, ausführliche
Forschung anderer Komponisten (durch J.L. Krebs, C. Czerny und viele mehr) verzichtet. Es
zeigt sich schon durch die bereits angeführten Beispiele, wie bestrebt man war, dem
Originalwerk Bachs nachzuspüren und man kann die große Wirkung und den immensen
Eindruck, den diese Komposition auf seine ältesten Söhne und seine Schüler wohl gemacht
haben muss, nur erahnen. Die abgebildete Liste verschollener Fassungen soll hier zur
Veranschaulichung dienen und den Beweis für die vielfältigen Auseinandersetzungen mit
diesem Werk liefern.60
54
Athanasius Kircher beschreibt den „Stylus Phantasticus 1950 auf S.585 im 5. Kapitel des 7.Buches „Musurgia
Universalis“ als eine: „freie Art der Instrumentalmusik, die der Phantasie der Komponisten keine strikten Regeln
auferlege/ die nicht an Worte oder einen Cantus firmus gebunden ist/ dem Komponisten weite
Entfaltungsmöglichkeiten gibt und Gelegenheit an die Grenzen seiner Kunst zu gehen …“
55
Agricola, Johann Friedrich, deutscher Komponist und Musikschriftsteller (1720 – 1774)
56
Müthel, Johann Gottfried, deutscher Cembalist und Komponist (1728 – 1788)
57
Kittel, Johann Christian, deutscher Organist und Komponist, (1732 – 1809)
58
Pachelbel, Johann, deutscher Komponist, (1653-1706)
59
Stauffer., G.B.: “This fantasia …never had its like”: on the enigma and chronology of Bach`s Chromatic
Fantasia and Fugue D-Minor, BWV 903. S.160ff, Edition NBA V/ 9.2, S.76 (Uwe Wolf,1999) – Kritischer Bericht
(2000), S.116
60
Bach digital, Werkgeschichte frühester Quellen und Revision BWV903a, BWV 903.2
12
Die neue Art der Klangrede61 , die insbesondere dem mit „recitat(ivo)“ übertitelten, zweiten
Teil der Fantasie geschuldet ist, mag die Rezeption stark begünstigt haben, zumal sich um die
Mitte des 18.Jahrhunderts eine allgemeine Affinität zur Ausdrucksform der Freien Fantasie
herausbildete. Diese Arbeit beschränkt sich der Thematik halber ausschließlich mit den
beiden Fantasien, vornehmlich derjenigen aus den Probestücken C.P.E. Bachs und lässt die
Fuge, die der Chromatischen Fantasie von J.S. Bach, ungeachtet ihrer hohen, kunstvollen
Kontrapunktik, folgt unberücksichtigt.
Es ist daher sinnvoll, einen allgemeinen Überblick wesentlicher formaler, struktureller und
harmonischer Elemente beider Fantasien zu veranschaulichen, um Gemeinsamkeiten und
Abweichungen einander gegenüberzusetzen. Dies insbesondere, um uns einer Antwort auf die
eingangs gestellte Frage nach der unterschiedlichen Popularität beider Werke zu nähern.
Zudem stellt sich die weitere Frage, ob wir es bei C.P.E. Bachs Fantasie c-Moll mit einen
progressiven “Versuch” zu tun haben, den Vater im besten Sinne zu übertreffen, oder wird die
Frage nur in ihrer Spiegelung beantwortet werden können, nämlich: Hat J.S. Bach die
kompositorische Konvention in seiner chromatischen Fantasie nur scheinbar durch
raffiniertes Experimentieren und kunstvolles Kombinieren tradierter tonaler
61
Mattheson, Johann, „Der vollkommene Capellmeister“; Nikolaus Harnoncourt, „Musik als Klangrede“,
Bärenreiter Verlag, Taschenbuchausgabe, 2001
13
Gesetzmäßigkeiten aufgebrochen und somit den „Stylus fantasticus“ in jene fremde Tonmasse
gelenkt, aus der „ … solche freye Ausbrüche der musikalischen Dichterwut62“ sich ihren
Weg bahnen sollte ? War es die durch „individuell geplante Künstlichkeit63 “ gebremste
Fantasie des Vaters, die sich erst durch den Sohn von ihren Fesseln befreien konnte, wenn
dieser nämlich in seinem „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen „fordert:
„Eine Fantasie nennet man frey, wenn sie keine abgemessene Tacteinteilung enthält, und in
mehreren Tonarten ausweichet, als bei anderen Stücken zu geschehen pfleget...64.“ Verhalf
so C.P.E. Bach dem „redenden Prinzip 65 “ und damit die instrumentale „Klangrede“ 66 zu
einer neuen Blüte, zu der auch seine befreundeten Dichter, keine geringeren als Friedrich
Gottlieb Klopstock, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg und Matthias Claudius das ihre
beitrugen, beitragen wollten? Versuchen wir, diesen Fragenschleier ein wenig anzuheben.
Die Chromatische Fantasie ist zwar als frei zu bezeichnen, weil ihr die Takteinteilung fehlt,
ebenso das Grundvorzeichen, dennoch kann man ihr auch ohne die von fremder Hand
nachgetragenen Taktgliederungen ein Schema entnehmen. Es zeigen sich fortlaufende,
schnelle Passagen, die auf wenigen Halbschlüssen und Trugwendungen kurzfristig innehalten,
um bis zu jenen Akkordblöcken vorzudringen, deren Ausführung durch groß angelegte
„Arpeggien“ - es sind beinahe dreißig – anleitungslos der Spielkunst des Musikers überlassen
wird.
Den bedeutungsschweren Schluss bildet das „Recitativo“ von ungemein expressiver Kraft,
ohne jedoch in sentimentale Larmoyanz abzugleiten. Schroffe Akkorde, zumeist verkürzte
Sept- Nonen- und Sekundakkorde mit anschließenden chromatisch figurierten Modulationen
bestimmen mit zahlreichen Quartvorhalten die nun sequenzartig geführte, wuchtig sich
steigernde Klage, bis sie sich über eine konsequent geführte Chromatik in den Ober-und
Mittelstimmen der Akkordfolge in die Durtonika67 auflöst.
62
Cramer, Carl Friedrich, Auszug aus einer Rezension zu Bach „Vierter Sammlung für Kenner und Liebhaber“,
1783, 1251
63
Schleuning, Peter, Die freie Fantasie, Göppingen 1973, S.162
64
C.Ph.E.Bach „Versuch…“ „Von der freyen Fantasie“, §1 S.325
65
Schering, Arnold, „Carl Philipp Emanuel Bach und das “ redende Prinzip” in der Musik, Verlag,
C.P.Peters,1939
66
Mattheson, Johann, „Der vollkommene Capellmeister“, Hamburg 1739, S. 235-244
67
Auflösung in die Durtonika nicht gesichert, ist jedoch eine von Bach bevorzugte Wendung am Ende von
Werken in Molltonarten. (Vergl. hierzu J.S.B. WTK BD I und II, BWV 846-893
14
2.3 C.Ph.E.Bach und seine Fantasie c-Moll als Vorbild reglementierter Regellosigkeit?
Gibt uns J.S. Bach keinerlei Anweisungen zur Ausführung seiner Chromatischen Fantasie, so
wird C. P. E. Bach in seinem Lehrwerk: “Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen”
seinen Schülern überaus klare und feste Regeln an die Hand geben und wie ein Paradoxon das
Regellose der “Freien Fantasie” in eine Form aus allerlei Regeln gießen.
Handelt es sich bei C. P. E Bach nur um eine launische Erweiterung der „willkürlichen
69
Manieren “ im Gegensatz zur väterlichen Komplexität der insgesamt wesentlich
geschlossener wirkenden Chromatischen Fantasie, oder begründet C.P.E. Bach aus den
kompositorischen Prämissen derselben die Regeln zum freien Extemporieren? Eine eindeutige
Antwort scheint schwierig, aber nicht unmöglich.
Mit dem Transfer vokaler Rezitativtechniken und Kriterien auf die Instrumentalmusik,
wurden neue harmonische und formale Freiheiten entworfen, die sich von der strengen,
kontrapunktischen Satzlehre zu lösen versuchen mit dem Zweck, den fehlenden Text durch
bewusst affektgeladenes Spiel zu ersetzen und damit die menschliche Stimme im wahrsten
Sinne des Wortes zu instrumentalisieren. Grundsätzlich ist der Stylus Phantasticus, wie auch
die Freie Fantasie in ihrer Ursprünglichkeit als Improvisation gedacht, mit der sowohl
Komponisten als auch Interpreten über ein eigenes Thema, oder aber über ein Tongerüst im
Bass “aus dem Stegreif” zu fantasieren hatten. Der Fantasie sind bis auf “ eine gewisse
Kenntnis [sic] der Harmonien und der Satztechnik 70 ” keine Grenzen gesetzt. Takt und
Metrum dürfen ihr keinen sklavischen Zwang auferlegen, ebenso dürfen harmonische
Wendungen nicht dem Schmeicheln des Ohrs gehorchen, sondern dieses ständig in
Verwirrung setzen. So legt sinngemäß C.P.E. Bach seine Vorstellung einer freien Fantasie
fest.
68
Sören Sönken, Journal of the German-Speaking Society of Music Theory
69
C.Ph.E.Bach, „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“
70
ebenda
15
Richten wir zunächst einmal einen Blick auf die Charakteristika der Freien Fantasie c-Moll
von C.Ph.E.Bach
Die Fantasia in c-Moll ist der letzte Satz der 6. Sonate der 18 “ Probestücke “ aus dem, “
Versuch...” und bildet schon mit der Übertitelung “Fantasia” einen Sonderfall. Sie widersetzt
sich ihrer eigenwilligen Form und ihrer tonalen Fremdheit wegen der geschlossenen
Dreisätzigkeit ihrer vorangehenden Sonaten. Und obwohl sie sprichwörtlich „aus der Form
springt“, stiftete sie unter den Zeitgenossen eine geradezu ehrfurchtsvolle Eintracht.
Bedeutende Dichter der damaligen Zeit wollten der Fantasie rezitativisch gesungene Texte
unterlegen. So hatte der Schriftsteller Heinrich Wilhelm von Gerstenberg71 jener “finsteren
Fantasie72” wie sie Bach in einem Briefwechsel an Johann Nikolaus Forkel selbst bezeichnet,
nachträglich eingefügte Melodien mit doppelt unterlegtem Text (Sokrates/Hamlet)
hinzugefügt.
Peter Schleuning will in jener Fantasie, aller fehlender Fakten zum Trotz, dennoch ein
Lamento auf den Tod des Vaters erkennen.
Wolfgang Wiemer 74stellt gleiche Vermutungen an und belegt diese sogar mit der B-A-C-H
Motivik, (Abb.1) die als „Sforzato-Aufschrei“ im doppelten Forte erscheint. Er bemängelt
allerdings, dass Peter Schleuning dieses, eindeutige Indiz für ein Tombeau auf den Vater
unberücksichtigt lässt.
Abb.1
71
Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von, deutscher Dichter und Kritiker, (1773-1823)
72
Brief vom 10.Februar 1775 an Johann Nikolaus Forkel
73
Schleuning, Peter, „Die freie Fantasie“
74
Wiemer, Wolfgang deutscher Musikwissenschaftler (1934-
16
Fraglos haben diese sich wiederholenden Tonnamen - auch an etlichen anderen Stellen des
Werkes zu finden -, einen gewissen Beweischarakter, sie sind aber meines Erachtens keine
wirklichen Hinweise auf eine absichtliche Namensverweisung, da sie jeweils voneinander
getrennt und in Form sequenzierter Seufzer Artikulation erscheinen. (s.Abb.1) Ungeachtet
dessen findet sich die B-A-C-H Folge auch in anderen Werken, ohne dass man sein
Augenmerk auf ein Tombeau des Urvaters richten muss, man denke hierbei besonders an Max
Reger75 (Abb.2), Franz Liszt76 (Abb.3) und sogar Richard Wagner77. S. Abb:2 und 3
Abb.2
Abb.3
Franz Liszt, Sonate h-Moll
75
Reger, Max, deutscher Komponist, (1873-1919)
76
Liszt, deutscher Komponist, (1811-1886)
77
Wagner, Richard, deutscher Komponist und Schöpfer des Musikdramas als „Gesamtkunstwerk“, (1813-1883)
17
2.4 Formaler Aufbau und harmonische Struktur in der Fantasie c-Moll der 18 „Probestücke“
Vorab sei erwähnt, dass eine instrumentale Interpretation dieses “ letzten Satzes “ nur durch
eine vorangehende Beschäftigung des “Versuchs” möglich ist, um die intellektuelle und
emotive Absicht der „Freyen Fantasie“ nachzuvollziehen zu können.
Zunächst einmal müssen wir erkennen, dass das detaillierte Ausnotieren der c-Moll Fantasie
einem “Spiel aus dem Stegreif” grundlegend widerspricht. Dies ist einerseits verwirrend,
andererseits aber auch höchst hilfreich. C.P.E. Bach will hier wohl eher ein Exempel
statuieren, das neben dem didaktischen Zeigefinger in der damaligen Epoche der
Empfindsamkeit große emotionale Wirkung und Nachahmung hervorrief.
Aus brieflichen und anderen schriftlichen Überlieferungen wissen wir, dass C.P.E. Bach sehr
wohl mehrere Stunden völlig frei zu improvisieren pflegte, diese Improvisationen „aus dem
Stegreif“ aber aufgrund fehlender medialer Hilfsmittel, wie sie etwa in der heutigen Zeit im
Übermaß zur Verfügung stehen, nicht festgehalten werden konnten und daher solche
improvisatorischen Sternschnuppen unwiderruflich verloren gingen.
Das Werk ist im Vergleich zum Vater winzig und zeigt sich auf den ersten Blick sogar
technisch wenig anspruchsvoll. Wohlgemerkt, auf den ersten Blick! Diese oberflächliche
Betrachtung scheint mir einer der Gründe zu sein, weshalb dieses „Probestück“ heutzutage
auf die anfangs erwähnte kümmerliche Resonanz schlägt.
Man wird uns aber nicht der Übertreibung bezichtigen, wenn wir behaupten, dass der erste
Blick gewaltig trügt. Vor uns liegt die Luxusfassung einer musikalischen Seelenqual von
erdrückender Einzigartigkeit. Was J.S. Bach in seiner groß angelegten „Chromatischen
Fantasie“ in einen logischen Zusammenhang und Zusammenhalt setzt, das scheint der Sohn
in seinem Werk auseinanderzusprengen. In keinem Takt sind Spieler und Hörer vor
„Überraschungen“ gefeit. Birgt der einleitende c-Moll Aufgang eine gewisse Ruhe, so wird
man sogleich herausgerissen durch aufsteigende Bewegungen, gebrochene, verminderte
78
Septimenakkorde in der linken Hand, während in der rechten Hand rezitativisch
sequenzierte Passagen von hauchdünner Dichte und Spannung auszuführen sind. Septsprünge,
78
Adorno, Theodor, Kap.25 „… Der verminderte Septimakkord, der in allen Salonpiècen falsch klingt, ist richtig
und allen Ausdrucks voll am Beginn von Beethovens Sonate op.111.“
18
Tritonus-Intervalle, Nonen-Sept-und Quartvorhalte, die sich auf jeweils kleinstem, rhythmisch
zergliedertem Raum gegen - und zueinander entfalten, münden in einem plötzlich schnell auf-
und abwärts gerichteten 32tel Lauf, der sich zu einem Unisono in der zweiten Hälfte
verschärft, um auf einem oktavierten C im Sopran und Bass einen vorläufigen Ruhepunkt zu
finden. (Siehe Abb.4)
Die Wahrscheinlichkeit, dass C.P.E. Bach sich hier an der Chromatischen Fantasie des Vaters
orientiert haben soll, ist nicht gering, denn auch er macht gerade von den Septimenakkorden
„mit der verminderten Septime und der falschen Quinte...“79 reichlich Gebrauch.
Dass man “ blos gründliche Einsichten in die Harmonie, und einige Regeln über die
Einrichtung derselben hinlänglich80“ seien, wie C.P.E. Bach in seinem „Versuch“ einige
Spieler ermutigt, scheint profan angesichts der Kompliziertheit, die folgt. Weiter heißt es:
[…]“ Im Anfange muss die Haupttonart eine ganze Weile herrschen, damit man gewiss höre,
woraus gespielet wird …81)
Die erste Prämisse, das Stabilisieren der Grundtonart wird in der vorliegenden Fantasie ganz
„vorschriftmäßig“ ausgeführt. (Abb. 4 und Abb.5)
Abb.4
79
C.Ph.E.Bach, Versuch, § 11, S.335
80
C.Ph.E.Bach, Versuch, „Die freye Fantasie“, Zweiter Teil, §1 S.325-326)
81
C.Ph.E.Bach „Versuch“ 2.Teil § 6 S.327
19
Abb.5
82
Hier: eingeschobene, ausgeschriebene Verzierung innerhalb einer melodischen Figur
83
C.Ph.E.Bach „Versuch“ 2.Teil § 9 S331
84
ebenda
85
ebenda
20
„geschleifften 86 “ Sekundvorhalten über dem Orgelpunkt As-Dur macht die Bewegung
unbiegsam, brüchig und wenig schmeichelhaft. C.P.E. Bach scheint den Fokus auf die
intellektuelle Aufmerksamkeit des Interpreten zu richten.
Abb.6
Wie bereits erwähnt, ist die musikalische Herausforderung an den Spieler eine erhebliche,
denn nur mit einem überzeugenden, den Anweisungen Bachs aus seinem „Versuch“
folgenden Vortrag, kann die Spannung des Hörers aufrecht erhalten bleiben.
Aus dieser leidgetränkten Passage, auf As-Dur endend, schnellt „hurtig“ auf 32teln eine Skala
empor, deren Kadenzierung durch Auflösung der Note Des zum D mit dominantischer
Funktion wieder eine andere Richtung erreicht.
Dieses D wird nach einer Fermate87 über einer Achtelpause als 64tel repetiert, und zwar mit
Nachdruck durch ein ausgeschriebenes Forte, so, als wolle der musikalische Redner sich hier
eine Dominanz ertrotzen, bevor er über dem Orgelpunkt A zur längsten virtuosen Koloratur
dieses Abschnitts (Abb.7 rot eingekästelt) ausholt, um auf A7 scheinbar zu enden. Doch wird
die Terz „Cis“ überraschend in ein „C“ versetzt und eben dieses „C“ ist nun Grundlage für
den darauffolgenden Sekundakkord88 über D-Dur, so dass nach einer „hurtig“ aufschnellenden
64tel Passage G-Dur erreicht wird. Eine solch rasche „Betruegerey“89 findet sich natürlich in
unzähligen anderen Takten mit den vielfältigsten harmonischen Kombinationen (Abb.8)
86
C.P.E. Bach „Versuch“ 1.Teil „Von den Schleiffern“ S.107
87
C.P.E. Bach „Versuch“ 1.Teil „Von den Verzierungen der Fermaten“ S112 ff
88
C.P.E. Bach „Versuch“ 1.Teil Neuntes Capitel „Vom Secundaccord“ S.97ff
89
C.P.E. Bach „Versuch“ 2.Teil § 8 S.330
21
Abb.7
Abb.8
Die Dramaturgie der sprachlosen Rezitativik ist hochgradig fragil, da Bach eingeworfene
„Argumente“ im Sinne einer antiken Rede ständig zu widerlegen sucht. Eingeschleusten,
virtuosen Passagen folgen stets unerwartete Antworten. In der breit angelegten Seufzergruppe
auf Achtelnoten wird immer wieder das repetierende „A“ angezielt und durch chromatische,
enharmonische Veränderungen im Bass insgesamt viermal klanglich „verzaubert“.
Dieser tonale Beleuchtungswechsel einer einzelnen gleichen Note offenbart sowohl eine
Charaktervielfalt als auch deren Zerbrechlichkeit. Mehrere Stationen werden gestreift, bis die
Passage über den verminderten Septakkord g-Moll endet. (Abb.9)
22
Abb.9
Der musikalische Redner scheint zunächst auf dem nun erreichten g-Moll zu verstummen,
hebt aber dann durch scharfe, vollstimmige Dissonanzen erneut an, hält inne auf f-Moll ,
zögert erneut durch abermaliges Einfügen der Fermate über einer Viertelpause , um dann
desto vehementer durch einen knappen unisono Lauf , im forte notiert, seine Klage über dem
Orgelpunkt d beinahe beschwichtigend und schließlich beinahe besänftigend über einem
Quartvorhalt As-G in den Mittelteil eines gegliederten Largo-Teils im ¾ Takt zu enden.
Die “erregten Leidenschaften“ kommen also kurzfristig zum Stillstand, wie es von C.P.E.
Bach sinngemäß auch gefordert wird.
Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Fantasie im weiteren Verlauf einer
genaueren Analyse zu unterziehen. Einige Abschnitte seien jedoch im Sinne der Fragestellung
noch erwähnt.
In seinem „Versuch“ betont C.P.E. Bach, dass man in langsamen Teilen die Tonarten nicht zu
häufig wechseln solle: „…So wenig man bey Stücken, welche strenge nach dem Tact
ausgeführet werden, fremde und viele weitläufige Ausweichungen nehmen darf.“ 90 Der
versöhnliche Largo Teil in der Paralleltonart Es-Dur zeigt genau dies. Die Harmonik pendelt
in bequemer Ausgewogenheit zwischen Tonika und Dominate hin und her, freilich mit
einigen Ausweichungen zur Doppeldominante (F-Dur), bis sie sich ab Takt 10 und 11 jeweils
sequenzierend über den Sekundakkord und der Oktavregel zu g-Moll aufschwingt. Diese
Ausweichungen nennt Bach „vernünftige Betruegereyen91“.
Im Largo lässt sich eine 2+2+4 Struktur aufweisen, wobei die beiden ersten zwei Takte auf
Es-Dur eine Einheit bilden, ebenso die darauffolgenden auf Es-Dur gleichermaßen.
90
C.Ph.E.Bach, „Versuch“, S§9, S.331
91
ebenda
23
Die nachfolgenden vier Takte bilden eine fast zusammenhängende Einheit auf B-Dur, sie
durchläuft eine taktweise geführte Sequenzierung, verdichtet durch scharfen Wechsel von
dynamischen Differenzierungen - ff-p - mit notierten Phrasierungsbögen.
Diese affektgeladenen Verdichtungen führen schließlich zu einer heftigen Steigerung, die
durch ein abwärtsgeführtes Arpeggio in der rechten Hand mit anschließendem Arpeggio
beider Hände auf B7 mit Fermate zu einer angespannten Frage anzuheben scheint. Die
anschließenden sequenzierten Vorhaltsketten, teilweise chromatisch geführt mit erneut
kontrastierender Dynamik (f-p-ff-f-p-ff …) finden eine gewisse Entsprechung im
rezitativischen Abschnitt der Chromatischen Fantasie des Vaters, und zwar durch die in
Achteln geführten Vorhaltsklagen.
Der 3. Teil, mit „Allegro moderato“ übertitelt, entspricht wieder der freien Form des Anfangs,
allerdings entgegen der pädagogischen Forderung, am Ende des Stückes die Rückkehr zur
Grundtonart alsbald erkennen zu lassen. Das genau geschieht nicht, der Abschluss wird
außerordentlich „künstlich“ hinausgezögert. Bach führt erneut durch chromatische und
enharmonische Modulationen in äußerst entlegene Tonarten (H-Dur, Cis >), bis er auf dem
Quartsextakkord über c-Moll zu Beginn der vorletzten Reihe landet.
Erst die gehetzten 64tel Passagen mit anschließenden arpeggierten Akkorden lassen eine
dominantische Stimmung aufkommen. Auf scharfen Punktierungen, im französischen
Ouvertüren-Stil läutet Bach das Ende ein, das mit kadenzierendem Quartsextakkord über den
arpeggierenden Dominantseptakkord (G7) zum vollgriffigen c-Moll Arpeggio überleitet und
die Fantasie mit majestätischer Wucht und Würde abschließt.
24
2.5 Formaler und harmonischer Aufbau Chromatische Fantasie J.S. Bach BWV 903
J.S. Bachs Chromatische Fantasie und Fuge, BWV 903, darf zu den berühmtesten Werken
seiner letzten Weimarer und früher Köthener Jahre gerechnet werden und kann durchaus im
Sinne des Musiktheoretikers Athanasius Kircher dem Stylus phantasticus zugeordnet werden.
Kircher definiert in seinem Buch: Musurgia Universalis aus dem Jahr 1650 diesen Stylus wie
folgt: “ Der Stylus phantasticus ist für Instrumente geeignet. Er ist die freieste und
uneingeschränkteste Kompositionsweise, die an nichts gebunden ist, weder an Worte noch an
ein harmonisches Thema.”
Dieses Konzept scheint J.S.Bach bei seiner Komposition bekannt gewesen zu sein und mag
ihm als persönliche Herausforderung gedient haben, in eben diesem Stylus phantasicus ein
Werk zu kreieren. Aber, handelt es sich hier tatsächlich um den „Stylus phantasticus“, oder
um eine hochkünstlerische, „dahingeworfene“ Improvisation, die Bach so sehr gefiel, dass er
sie im Nachherein niederschrieb, um lediglich das Konzept festzuhalten und an seine Söhne
und Schüler weiterzuleiten?
Betrachten wir das Werk einmal differenzierter, hierfür sei ein überschaubarer formaler und
harmonischer Überblick hilfreich.
Meiner Betrachtung der Chromatischen Fantasie liegt die Wiener Urtext Edition mit der
Frühfassung BWV 903 und der aus dem Umfeld Forkels überlieferten Fassung von 1802 vor,
wobei ich mich vornehmlich auf die moderne Druckfassung beziehe.
Die „Fantasia chromatica“ verweist allein schon durch ihre Übertitelung, (ältere Quellen
verwenden die französische Bezeichnung „Fantaisie chromatique“) auf eine höchst
komplizierte harmonische Ausgestaltung. Wenn auch das chromatische Element in fast allen
Freien Fantasien als ein unverzichtbares musikalisches Merkmal nachzuweisen ist, so handelt
es sich hier dennoch um einen Spezialfall, in dem die Chromatik als Grundmaterial der
Komposition gelten darf.
Die vorliegende Fassung verwendet - wie auch die zahlreichen Quellenangaben zu den
Abschriften belegen, - kein Generalvorzeichen (b für die Tonart d-Moll), allerdings sind, in
25
Abweichung von Bachs Vorstellung eines freien Metrums, wohl aber mit Rücksicht auf den
Spieler vom Herausgeber Taktstriche notiert, die einer leichteren Auffassung dienen mögen.
Grob lässt sich die Fantasie in zwei Teile gliedern, nämlich in einen stürmischen,
toccatenähnlichen virtuosen Part, der ab Takt 49 der vorliegenden Ausgabe in ein klagendes
Rezitativ mündet, welches nur durch weniges Reißwerk und kurze Ariosoeinschübe bis zum
Ende der Fantasie durchgehalten wird. Bach stimmt den Hörer nicht, wie zwanzig Jahre später
sein Sohn in seiner c-Moll Fantasie, auf ruhigen, aufwärtssteigenden Moll-Dreiklängen ein,
sondern startet unmittelbar auf d-Moll mit zweiunddreißigstel Skalen in gestochenen Auf- und
Abwärtsbewegungen ohne Vorbereitung durch. Somit wird die Dominanz des Virtuosen
gleich zu Beginn festgelegt.
Abb.1
Der erste Teil der Fantasie könnte bis zum einsetzenden Rezitativ wiederum in jeweils drei
Abschnitte untergegliedert werden, nämlich in einen freien kadenzierenden, präludierenden
Teil bis zum Halbschluss auf der Dominante A-Dur, (Takt 20) dem eine achttaktige, virtuose
Passage von weitreichendem Tonspektrum folgt, abgebremst durch fünf Arpeggien ( T.27-30)
die in der Reduktion mit zwei Ausnahmen verminderte Dreiklänge ergeben, die sich vom
hohen „B“ bis zum dominantischen „A“ im Bass abwärts entwickeln und in das zu
improvisierende Arpeggio stürzen. (Takt 32-48) Diese groß angelegten Arpeggien, von einem
kurzen 16tel Zwischenspiel eingerahmt, werden in der vorliegenden Ausgabe, wie vermutlich
auch von Bach entsprechend notiert, in nebeneinanderstehenden Akkordblöcken mit
verdoppelter Chromatisierung dargestellt. (Abb.2)
Abb.2
26
Der erste virtuose Abschnitt, in dem Bach nicht nur selbst geglänzt haben mag, sondern diese
Brillanz auch von seinen Schülern nachweislich eingefordert hat, stellt bereits enorme
technische Anforderungen an den Spieler.
Nach dieser anfänglich hereinstürzenden d-Moll Passage, (Abb.1) fetzen achtzehn Takte lang
pausenlose Triolenpassagen mit chromatischen Einflechtungen (Abb.3) über die
Abb.3
Tastatur, bis in Takt 20 (der vorliegenden Ausgabe) der Halbschluss A-Dur einen ersten
Ruhepunkt erreicht. (Abb.4) Das tonale Zentrum, d-Moll, wird auch in den anschließenden
32tel Passagen, welche das Cis der Dominante A-Dur umkreisen befestigt, um dann in
verminderten Figurationen, mit kurzem Trillerstop auf Gis (dominantisch zu A)
trugschhlüssig die Grundtonart d-Moll durch abwärts fallende Dreiklangs Figuren zu erreicht
wird.
Abb.4
Trotz aller verschlungenen chromatischen Harmonik und der hervorstechenden Skalen-und
Dreiklangs Girlanden, finden sich bei genauer Untersuchung typische Modelle historischer
Satztechniken.
27
Die barocke “ Regola dell `ottava" hier im Fauxboudon mit Sextketten (Abb.5),
Abb.5
der auch C.P.E. Bach in seinem „Versuch“ genaue Anweisungen erteilt92. Der Lamento Bass,
(Abb.6 und Abb.7)
Abb.6
Abb.7
92
C.Ph.E.Bach, „Versuch“, §7, S. 327-329
28
Dem Hörer wird durch die Rasanz der dahingeschleuderten virtuosen Figuren eine scheinbare
Unordnung vorgetäuscht. Tatsächlich durchläuft Bach bei genauer Betrachtung alle 24
Tonarten auf engstem Raum.
Die Anlage ist bis auf eine übergroße Zahl enharmonischer Verwechslungen und kunstreicher
chromatischer Wendungen dennoch ganz dem barocken Muster angepasst und verpflichtet
und erinnert in ihrer virtuosen Ausdehnung streckenweise auch an die Solokadenz des
1.Satzes aus dem 5.Brandenburgischen Konzert, BWV 1050.
Die Arpeggien ab Takt 27-29 und ab Takt 33- 42 sind fast durchgehend chromatisierend
angelegt. (Abb.8) So weisen die Spitzentöne und die Tenorstimmen des ersten Arpeggios
einen systematischen chromatischen Verlauf von E-F-Fis-G-Gis und A auf.
Ab.8
Im zweiten Arpeggio Ablauf finden sich chromatische Wendungen in der Oberstimme eher in
Gruppen mit unterbrechenden Modulationen Takt 34 -35, H-C-Cis D.
Das Rezitativ, von einem Quartvorhalt auf der Dominante A-Dur in Takt 40 eingeleitet, ist
von Bach selbst mit “ Recitativo” übertitelt. (Abb.9)
Abb.9
Der Hörer wird zur größtmöglichen Konzentration hinsichtlich des tonalen „Sprechaktes“
aufgefordert. Die melodische Führung wird immer wieder von schroffen, geradezu
29
„schreckhaften“ Akkorden, zumeist unvollständig aufgelösten Sekundakkorden oder
verminderten Septakkorden, abgebrochen. (Abb.10 und Abb.11)
Abb.10
Abb.11
Es folgen elf Figuren und nochmals acht weitere tonale „Ausrufe“, die sich in stetem
Wechsel von wilder und wehmütiger Weise zu einer aufgeladenen rhetorischen Deklamation
steigern und sich erst nach einem fünftaktigen Orgelpunkt über D zur Grundtonart auflösen.
Diese sprachlose, musikalische Rede ist in ihrer Expressivität künstlerisch kaum zu
überbieten. Das „redende Prinzip93„ ist unüberhörbar, durch eben diese exzessive Anhäufung
von raschen harmonischen Wechseln und durchbrochenen melodischen Passagen. Hier ersetzt
Bach die fehlende textliche Ebene durch klanglich hochgradige Trauereffekte. Wesentlich
werden die schmerz-und jammervollen Empfindungen zusätzlich durch sich überstürzende
16tel und 32stel Passagen förmlich “nachgeahmt” und durch ständig sequenzierende Seufzer -
Vorhalte einer verzweifelten Klage nachempfunden.
Einzige Beruhigung der aufgeheizten Trauerstimmung erwirken die kurzen, ariosen
Trillerpassagen auf den Sexten (Takt 52-53). (Abb.12)
93
Schering, Arnold, Carl Philipp Emanuel Bach und das “redende Prinzip“ in der Musik, C.F. Peters Verlag, 1939
30
Abb.12
Die wenigen dominantisch angelegten Arpeggien (Takt 53-54) brechen jedoch immer wieder
auf unerwarteten Wendungen zusammen. Eingeführte Kadenzformen enden zumeist
trugschlüssig (Takt 60) oder münden auf einem Sekundakkord, der ohne Auflösung in den
Sextakkord als Secco Accompagnato den Charakter von Unvermeidbarem annimmt. Der
“Stylus phantasticus” findet nicht nur hier seine glaubwürdige Entsprechung.
Den kunstvollsten Abschluss bildet über dem Orgelpunkt D im Bass die kaum erkennbare,
chromatische Abwärtsbewegung der Oberstimme, streckenweise sogar oktaviert, bis Bach
diese machtvolle Klage schließlich auf der Grundtonart abschließt. (Abb. 13 Reduktion)
Abb.13
31
3.Fazit:
Nachdem nun beide Fantasien auf ihre Besonderheiten hin untersucht wurden, komme ich zu
folgendem Ergebnis.
Wie es uns die Geschichte lehrt und wie man es aus zahlreichen Biografien weiß, sind
Vergleiche künstlerischer Arbeiten großer Meister mit deren Nachfahren immer
hochproblematisch. Man kennt dies aus der Historie der Familie Mozart bis hin zu berühmten
Dichtern, Malern und sogar Schauspielern. Hatte Goethe etwa keine Hoffnungen in seinen
einzigen Sohn gesetzt? Und war nicht umgekehrt Clara Wieck ein pianistisches Wunderkind,
hingegen der Vater sich nur als Pädagoge rühmen durfte? Ist aus der Tochter des
weltberühmten Pablo Picasso nicht nur eine Designerin geworden, wenngleich nicht die
schlechteste? Die Liste begrabener Hoffnungen und unerwarteter Wunderkinder lässt sich
beliebig verlängern.
Es ist also müßig, Begabungen unter Familienabkömmlingen vorauszusetzen, oder sie gerade
nicht zu vermuten. Das Weiterwirken des Künstlertums in der Nachkommenschaft ist eher die
Seltenheit. Und doch gibt es sie, wie im vorliegenden Fall von Vater Bach und dessen
ältestem Sohn C.P.E. Bach.
Natürlich hat J.S. Bach als „einziger Lehrer“ des Sohnes nachhaltigen Einfluss auf diesen
ausgeübt und selbstverständlich hat C.P.E. Bach alle Gesetzmäßigkeiten der Harmonielehre in
höchster Vollkommenheit verinnerlicht und für sich nutzbar gemacht. In vielen Sonaten, auch
im ersten Satz der 6. Sonate des vorliegenden Beispiels stakt noch der Ranzen des Vaters
hervor, ist noch das Pulsieren des Generalsbasses spürbar, aber eine Abgrenzung, ob nun
willentlich, oder dem Wandel der Epoche geschuldet, ist unleugbar. Daher kommen wir nicht
umhin, in der behandelten Fantasie nicht nur die bereits erwähnten Abgrenzungen und
Unterschiede zu finden, sondern uns auch auf tonale Schnipsel stoßen lassen, die auf eine
merkwürdige Herkunftslosigkeit verweisen.
Die Neigung des Sohnes zur Kleingliedrigkeit, zum Bizarren und zur Willkür hat man ihm oft
vorgeworfen, und tatsächlich entfaltet sich die harmonische Pracht und hohe Kunst des
Kontrapunktes des Leipziger Thomaskantors nur sehr selten.
32
Und doch ist sie vorhanden, nur in ihrer Umkehrung, in all den kleinen, witzigen
musikalischen Einfällen, in der eigenwilligen Art, harmonische Gipfel zu erstürmen, um
„bebend“ auf spinnwebendünnen Melodielinien zu landen.
Auch wenn der rezitativische Strang und der Stylus phantasticus bei C.P.E. Bach nach allen
Regeln seiner künstlerischen Kompetenz einer rhetorischen Rede nachempfunden werden
kann, so wird diese gerade durch ihre Neigung zur nervösen Zersplitterung und den
aufeinandergeschichteten Kontrastkonstruktionen mithin in Frage gestellt. Bachs Bestreben
des ständig „Überraschen“ wollen, sein Dogma, den Hörer fortwährend emotionalen
Schwankungen auszusetzen, ihn, um die erwartete Harmonie zu betrügen, und all das sowohl
in rasantem Zeitraffertempo wie auch in zermürbendem Zeitlupentemperament. Er ist
anstrengend, dieser C.P.E. Bach, und kompliziert ist er auch, was durchaus nicht gegen ihn
spricht.
Abbruch und Aufbruch, barockes Jenseitsdenken und empfindsamer Überschwang können
und sollen sich wohl auch nicht einig werden. Und darin scheint mir die Problematik der
Komposition für die heutige Zeit zu liegen. C.P.E. Bach war mit einem großen Erbe beladen
und lebte doch in einer Zeit großer Umbrüche. Ist die Generationenfolge schon schwierig, wie
problematisch muss es erst recht für die Konzeption eines neuen Stils gewesen sein?
Genoss J.S. Bach mit seiner Genialität auch einen zeitgemäßen und überzeitlichen Rang, so
musste der Sohn die seine erst „erbeben“ lassen, ganz so, wie er einzelne Noten in seiner
Fantasie mit einem Bebungszeichen versehen hat. Diese „zwischen den Zeiten“ und mit
emotionalem Elan komponierten Fantasien, vornehmlich die letzte in c-Moll, sind wohl
deshalb nur schwer einem Publikum zugänglich zu machen.
Der Wechsel der Affekte, so wie C.P.E. Bach ihn für richtig hält, ist eben trotz aller
kunstvollen Verschachtelung harmonischer „Betruegereyen“ wohl eher eine gestrige Manier,
die sich von ihrer damaligen Beliebtheit gelöst hat und sich -leider- zum Unzeitgemäßen
gewandelt zu haben scheint. Von ihren artifiziellen Kuriositäten und der harmonischen
Sprunghaftigkeit ist man gleichermaßen beeindruckt, wie auch verstört. Eine überzeugende
Interpretation gestaltet sich aus diesen Gründen überaus kompliziert. Hingegen wirkt die wie
aus einem genialen Guss geschaffene Chromatische Fantasie wie ein Kunstwerk, das nichts
von seiner Aktualität eingebüßt hat.
Ihr „rhetorisches Konzept“, ihr „Stylus phantasticus“ ist bei aller musikalischen Freiheit
nachvollziehbar und folgt aller harmonischen Verfremdungen und rhythmischen Freiheiten
zum Trotz einem inneren, logischen Zusammenhang, dessen Fesselung man sich nicht
entziehen kann, noch will.
33
Dies soll C.P.E. Bachs Bemühen um die wahre Freiheit einer Fantasie nicht schmälern,
immerhin waren seine größten Bewunderer J. Haydn, W.A. Mozart und nicht zuletzt L.van
Beethoven. All jene waren inspiriert von der virtuosen Vielfalt und dem großen Reichtum an
motivischen Einfällen. Der „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ ist demnach
als sein wichtigstes Vermächtnis zu betrachten.
Vielleicht könnte man C.P.E. Bach doch noch Gerechtigkeit widerfahren lassen und die
Überlegung anstellen, die hier behandelte, ins musikalische Abseits geratene Fantasie neu zu
instrumentieren. Beispielsweise wäre eine Harfe als Begleitinstrument in Kombination mit
einer Oboe denkbar, die als klagende Stimme hervortritt. Ihre weiche, samtartige Klangfarbe
könnte manch spröde, eckige Passage überschmeicheln. Dem Largo könnten zwei Violinen
hinzugefügt werden.
Freilich, es ist ausdrücklich eine „Fantasia“ für Clavier, aber ihre Natur ist doch auch die
Improvisation, das Erfinden und Ausprobieren.
C.P.E. Bach hätte sicher keine Einwände …oder doch?
4. Quellenverzeichnis/Literaturverzeichnis
1. Johann Sebastian Bach, Chromatische Fantasie und Fuge, Wiener Urtext
Edition, Schott/ Universal Edition, 1999
2. Carl Philipp Emanuel Bach, Sonate f-Moll, Edition Schott, Fantasia c-
Moll
3. Carl Philipp Emanuel Bach, “Versuch über die wahre Art das Clavier zu
spielen“, Faksimile-Nachdruck der 1. Auflage, Berlin 1753 und 1762,
herausgegeben von Lothar Hoffmann-Erbrecht, Verlag Breitkopf &
Härtel, Leipzig 1981
4. Günther Wagner „Traditionsbezug im musikhistorischen Prozess am
Beispiel von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, Hänssler-
Verlag, Neuhausen-Stuttgart 1985
5. Stefan Drees „Vom Sprechen der Instrumente“, Zur Geschichte des
instrumentalen Rezitativs Verlag Peter Lang, Frankfurt 2007
6. Peter Schleuning „Die Freie Fantasie“, Ein Beitrag zur Erforschung der
klassischen Klaviermusik, Verlag Alfred Kümmerle, Göppingen 1973
34
7. Martin Geck, „Die Bach Söhne, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg
2003
8. Johann Mattheson, „Große Generalbass Schule“ 1731, Edition Schott
9. Johann Mattheson „Der vollkommene Capellmeister“, Bärenreiter-Verlag,
Kassel, 1999
10. Carl Dahlhaus, Die Musik des 18. Jahrhunderts, Band 5, Laaber Verlag
1985
11. Philipp Spitta Johann Sebastian Bach, Gekürzte Ausgabe mit
Anmerkungen und Zusätzen von Wolfgang Schmieder, Verlag Breitkopf
§ Härtel, Leipzig 1935
12. Wolfgang Wiemer, Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie in c-Moll - ein
Lamento auf den Tod des Vaters?
13. Jochen Schulte -Sasse, Art. Phantasie, Ästhetische Grundbegriffe, Band 4
2010, Medien-Populär, Studienausgabe, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart-
Weimar
14. Thomas Schipperges & Dagmar Teepe, Artikel Fantasie, MGG,1995
15. Johann Nikolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und
Kunstwerke, Henschel Verlag 2000
35
§ Notendrucke Faksimile Abbildungen J.S.Bach Chromatische Fantasie
BWV 903: Wikipedia
§ C.P.E. Bach, Faksimile Abbildung Seite aus „Versuch über die wahre Art
das Clavier zu spielen“
§ Max Reger, Humoresque, Abbildung Musiktheorie online
§ Franz Liszt, Sonate h-Moll, Abbildung Musiktheorie online
§ Abbildung Auflistung unterschiedlicher Ausgaben der „Chromatischen
Fantasie“, Bach-digital, online
§ Andras Schiff J.S. Bach Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903 2013
https://youtu.be/SNWOhm5iXxs
§ Friedrich Gulda, J.S.Bach Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903,
2009
https://youtu.be/mJ5IkHlKQrw
§ Menno van Delft Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, 2021
https://youtu.be/38hgCCoGxgE
§ Robert Hill, C.P.E. Bach Fantasia für Clavichord c-Moll, 2009
https://youtu.be/X53TvVY4_BY
§ Tomas Bächli, C.P.E. Bach Fantasie in c (aus den 18 Probestücken) 2015
https://youtu.be/RXtQzftBzQU
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EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG
Hiermit bestätige ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und
keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel verwendet habe.
Die Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken
(dazu zählen auch Internetquellen) entnommen sind, wurden unter Angabe der
Quelle kenntlich gemacht.
Kristin Wachenfeld
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