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Zelle system
5 Nervensystem 13 Fortpflan-
zung,
Entwicklung
und Geburt
6 Endokrines 14 Sinnes-
System (Hor- organe
monsystem)
Adolf Faller †
Neu bearbeitet von
Michael Schünke
5
Inhaltsverzeichnis
1 Biologie der Zelle .................. 18
6
Inhaltsverzeichnis
3 Gewebe ............................ 78
7
Inhaltsverzeichnis
8
Inhaltsverzeichnis
6 Endokrines System
(Hormonsystem) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
7 Bewegungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
9
Inhaltsverzeichnis
10
Inhaltsverzeichnis
9 Atmungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
10 Verdauungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
11
Inhaltsverzeichnis
12
Inhaltsverzeichnis
12 Geschlechtsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
13
Inhaltsverzeichnis
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
Messgrößen und Maßeinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
SI-Basiseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
Vielfache und Bruchteile von Maßeinheiten (Zehnerpotenzen) . . . . . . . 643
Konzentration und Umrechnungsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
Eigennamen in der Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
15
© Jose Luis Calvo, shutterstock.com
1.5 Zellteilung 35
●
prismatisch.
Definition
L Unterschiedliche Größen und Formen ste-
hen häufig in engem Zusammenhang mit
Die Zelle ist der Grundbaustein des den jeweiligen Eigenschaften und Auf-
menschlichen Körpers sowie aller Tiere gaben von Zellen. So können z. B. Nerven-
und Pflanzen. Sie ist die kleinste selbst- zellen, die vom Gehirn zum Rückenmark
ständig lebende Einheit. Man unterschei- ziehen, inklusive ihres Fortsatzes bis zu
det zwei Kategorien von Zellen: 1 m lang sein.
● prokaryote Zellen: unter dem Mikro-
18
1.2 Eigenschaften von Zellen
(Melanosom)
19
Biologie der Zelle
1 Zusatzinfo
Zellteilungsrate
●V 1.3 Grundbauplan einer
eukaryoten Zelle
Das menschliche Knochenmark bildet Für alle Zellen des menschlichen Körpers
etwa 160 Millionen rote Blutkörperchen (eukaryote Zellen) gibt es einen Grundbau-
pro Minute, die Keimdrüsen (Hoden) des plan. Unter dem Lichtmikroskop erkennt
Mannes etwa 85 Millionen Spermien pro man von außen nach innen (▶ Abb. 1.1):
Tag. Eine hohe Zellteilungsrate charakte- ● Zellmembran (Plasmalemm)
●
nach lebenslang erhalten, z. B. Nerven-
L
zellen und Muskelzellen.
Definition
● Reizaufnahme und Reizbeantwortung:
Die Zellmembran (sog. Einheitsmem-
Fast alle Zellen stehen mit ihrer unmit-
bran) hält den flüssigen Zellleib zusam-
telbaren Umgebung durch spezifische
men und bildet eine Barriere zwischen
Zelloberflächenstrukturen (z. B. Rezepto-
Extra- und Intrazellularraum. Sie umgibt
ren) in Verbindung und können unter-
außerdem die Zellorganellen.
schiedliche Reize aufnehmen, auswerten
und beantworten.
20
1.3 Grundbauplan einer eukaryoten Zelle
Extrazellularraum 1
Außenseite der Zellmembran zuckerhaltige Glykocalyx
wasserlösliche
Komponente
fettlösliche Lipid-
Komponente doppel-
schicht
wasserlösliche
Komponente
Innenseite Trans-
der Zellmembran membranprotein Kanalprotein
Intrazellularraum peripheres Membranprotein
Abb. 1.2 Zellmembran. Im schematischen Querschnitt ist der 3-schichtige Aufbau der
Lipiddoppelschicht gut zu sehen. Zum Zellinneren und zur Zellaußenseite hin liegen die
wasserlöslichen Komponenten. Dazwischen befindet sich die fettlösliche Komponente.
●
toskelett). Je nach Zelltyp und Zellfunktion
Definition
L sind die Organellen in unterschiedlicher
Anzahl vorhanden.
21
Biologie der Zelle
sind. Bei der eukaryoten Zelle werden fol- säuren verketten. Ribosomen sind nicht
1 gende wesentliche Zellorganellen unter- von einer Zellmembran umgeben. Man un-
schieden (▶ Abb. 1.1): terscheidet
● endoplasmatisches Retikulum, ● freie Ribosomen (kommen frei im Zyto-
● Ribosomen (keine Zellorganellen im en- plasma vor) und
geren Sinne, da sie nicht von einer Ein- ● membrangebundene Ribosomen, die auf
22
1.3 Grundbauplan einer eukaryoten Zelle
membran ist daher eine wichtige Aufgabe Enzyme zur Gewebsautolyse (= Selbstauf-
des Golgi-Apparates. Nur den Erythrozyten lösung/Selbstverdauung von Gewebe, z. B. 1
fehlt der Golgi-Apparat. bei eitrigen Geschwüren) beitragen.
Abfallprodukte
CO2, H2O
ADP + P
23
Biologie der Zelle
Zusatzinfo
Adenosintriphosphat
●V Zelleinschlüsse (Paraplasma)
Zelleinschlüsse enthalten Stoffe, die die
Zelle selbst hergestellt oder von außen auf-
genommen hat. Sie befinden sich im Zyto-
Mitochondrien sind die „Kraftwerke“ der plasma (S. 21). Zu den Zelleinschlüssen ge-
Zellen, da sie die für alle Stoffwechselpro- hören u. a. (▶ Abb. 1.1):
zesse notwendige Energie in Form eines ● Lipidtropfen: Sie speichern in erster Li-
universellen biologischen Brennstoffs, nie Energie in Form von Neutralfetten
Adenosintriphosphat (ATP), liefern. (Triglyceride) und kommen daher beson-
ders zahlreich z. B. in Fettzellen vor.
● Pigmentgranula bzw. Melanosomen: Sie
In den Mitchondrien (und mehr oder we- enthalten ein braun-schwarzes Pigment
niger ausschließlich dort) findet die Her- (Melanin), das vor allem Licht ein-
stellung von ATP aus den drei Grundnah- schließlich der schädigenden UV-Strah-
rungsstoffen, Proteine, Fette und Kohlen- lung absorbiert (Vorkommen: Melanozy-
hydrate, statt (▶ Abb. 1.3). Dabei wird im ten der Haut sowie in den pigmentierten
Rahmen eines Verbrennungsprozesses mit- Zellen des Auges).
hilfe von Sauerstoff (mitochondriale At- ● Glykogenkörnchen: Glykogen ist die
mungskette) die frei werdende Energie Speicherform der Glucose. Glykogen-
nicht in Form von Hitze, sondern in Form körnchen sind daher vor allem in Mus-
energiereicher Verbindungen (ATP) gespei- kel- und Leberzellen enthalten.
chert. ATP besteht aus drei chemischen ● Proteosomen: bestimmte, mit Spezial-
Substanzen: methoden elektronenmikroskopisch
● einem stickstoffhaltigen Adenin,
sichtbare Granula, die gezielt Proteine
● dem Zucker Ribose sowie
des Zellzyklus eliminieren.
● drei Molekülen Phosphat, die unter-
24
1.4 Chromosomen und Gene
●
untereinheiten im sog. Kernkörperchen 1
Definition
L (Nucleolus). Stoffwechselaktive Zellen, die
besonders viel Eiweiß benötigen und her-
stellen, haben daher einen besonders gut
Der Zellkern enthält die komplette Erb- sichtbaren Nucleolus oder sogar mehrere
information des Organismus. Sie liegt Nucleoli.
dort in Form der Chromosomen (S. 25)
vor.
1.4 Chromosomen und
Gene
●
Die Chromosomen bestehen in erster Linie
aus DNA-Doppelsträngen (DNS oder
DNA = Desoxyribonukleinsäure, wobei das
‚A‘ für den engl. Ausdruck „acid“ für „Säu- Definition
L
re“ steht). Als fadenförmige Strukturen Chromosomen sind die Träger der Erb-
sichtbar sind sie nur, wenn sich die Zelle anlagen = Gene (S. 54). Sie liegen im Zell-
gerade teilt. Zwischen zwei Teilungspha- kern (S. 25). Menschliche Zellkerne ent-
sen (S. 35), in der sog. Interphase, sind die halten 46 Chromosomen (diploider
Chromosomen unsichtbar. Mit Ausnahme Chromosomensatz) in Form von 23
der roten Blutkörperchen hat jede eukaryo- Chromosomenpaaren (23 väterliche und
te Zelle mindestens einen Zellkern, manche 23 mütterliche Chromosomen).
Zellen haben zwei (z. B. einzelne Leberzel-
len), andere noch mehr Kerne z. B. Osteo-
klasten im Knochengewebe (5 – 20) oder
Die einzelnen Chromosomen lassen sich
Skelettmuskelzellen (über 1000). Je nach
unterscheiden anhand:
Zelle ist der Zellkern rund, gelappt oder ● der Gesamtlänge,
lang gestreckt. Außerdem hängen seine ● der Länge der Chromosomenarme sowie
Form und Struktur davon ab, in welcher ● der Lage von Einschnürungen.
Phase des Zellzyklus (S. 35) sich die Zelle
gerade befindet.
Auf diese Weise kann man die einzelnen
Gegenüber den anderen Zellbestandtei-
Chromosomenpaare bestimmten Gruppen
len ist der Zellkern durch eine doppelte
zuordnen (Aufstellung eines Karyo-
Einheitsmembran (innere und äußere
gramms) und sie nach abnehmender Grö-
Kernmembran) abgegrenzt. Sie enthält je-
ße von 1 – 22 durchnummerieren. Das 23.
doch sog. Kernporen, über die der Zellkern
Paar bestimmt das Geschlecht (▶ Abb. 1.4).
mit dem endoplasmatischen Retikulum so-
Mit Ausnahme der Geschlechtschromoso-
wie mit dem Zytoplasma in Verbindung
men (heterologe Chromosomen = Gonoso-
steht. Über diese Poren gelangen einerseits
men) entsprechen sich mütterliche und
Proteine aus dem Zytoplasma in den Kern
väterliche Chromosomen (homologe Chro-
und andererseits RNA (= ribonucleic
mosomen = Autosomen) in den Erbmerk-
acid = Ribonukleinsäure = einsträngige Ko-
malen. Während das weibliche Geschlecht
pie der DNA) in das Zytoplasma. Die RNA
zwei gleich große Geschlechtschromoso-
ist vor allem für die Produktion von Eiweiß
men (XX) aufweist, besitzt das männliche
in den Ribosomen zuständig, daher wird
Geschlecht ein großes und ein kleines Ge-
der Großteil der RNA als sog. ribosomale
schlechtschromosom (XY).
RNA, kurz rRNA, bezeichnet. Produziert
25
Biologie der Zelle
13 45
6 12
1315 1618
a b 1920 2122 XY
26
1.4 Chromosomen und Gene
Telomere 1
700 nm 2 nm
kurzer
Chromo-
Histon-
somenarm
moleküle
Zentromer DNA-
10 nm
Doppelhelix
langer
Chromo- Chromatiden Nucleosom
somenarm
30 nm
200 nm
a Telomere b
Abb. 1.5 Schema eines Chromosoms in der Metaphase. a Zwischen den beiden
unterschiedlich langen Chromosomenarmen, die aus jeweils zwei Chromatiden bestehen,
befindet sich das Zentromer (primäre Einschnürung). b Ausschnitt aus a: Die DNA bildet mit
den Histon-Proteinen stark aufgewickelte, perlenkettenartig angeordnete Komplexe, die
Nukleosomen.
Zusatzinfo
Länge der DNA
●V Die beiden DNA-Fäden verlaufen antiparal-
lel (entgegengesetzt) und verhalten sich
zueinander wie ein Negativ- zu seinem
Positivabzug. Sie winden sich um eine ge-
Würde man die DNA aller Chromosomen dachte Achse, sodass sie mit einer verdreh-
eines Zellkerns aneinanderreihen, ergäbe ten Strickleiter zu vergleichen sind (DNA-
sich bei einem Bakterium eine Länge von Doppelhelix, von griech. ‚helix‘ = Windung,
etwa 1 mm, beim Menschen hingegen Spirale). Unter dem Lichtmikroskop sicht-
eine Länge von über 2 m. bar sind diese Fäden nur während der Zell-
teilung, wenn das Chromatin zu Chromo-
27
Biologie der Zelle
1
somen spiralisiert (kondensiert = ver-
dichtet) ist. Zwischen den Zellteilungen, in
der Interphase (inter = lat. = zwischen),
ist es weitgehend entspiralisiert (auf-
Zusatzinfo
DNA-Molekül
●V
gelockert), damit die Transkription für die Verglichen mit einer Strickleiter, bilden
Eiweißbiosynthese bzw. Proteinsynthese die Zucker- und Phosphatsäureeinheiten
(S. 32) stattfinden kann. die Holme und die Basen die Sprossen
Nur wenige Bereiche des Chromatins der Leiter. Dabei verhalten sich je zwei
sind in der Interphase nicht entspiralisiert. gegenüberliegende Basen wie Nut und
Das sind die Bereiche, die sich nicht an der Feder zueinander.
Transkription beteiligen, genetisch also
nicht aktiv sind. Dieser genetisch inaktive
Teil des Chromatins wird als Heterochro- Aufgrund chemischer Wechselwirkungen
matin bezeichnet, das genetisch aktive bilden stets Adenin und Thymin sowie
Chromatin dagegen als Euchromatin Guanin und Cytosin ein Basenpaar.
(▶ Abb. 1.7). An den Enden der Chromoso-
menarme sind Heterochromatinabschnitte
lokalisiert, die die Lebensdauer der Zelle 1.4.3 Funktionen der DNA
bestimmen, sog. Telomere oder Satelliten) Die DNA lässt sich in einzelne Abschnitte,
(▶ Abb. 1.5 a u. ▶ Abb. 1.7 a). Bei jeder Zell- Gene oder Erbfaktoren, unterteilen und
teilung wird ein kleines Stück des Chroma- hat drei wichtige Funktionen:
tins abgetrennt, so lange bis der Satellit ● Speicherung der genetischen Informati-
verbraucht ist. Danach stirbt die Zelle ab. on, d. h. genetischer Code und epigeneti-
scher Code (S. 31),
● Übertragung der Information für die Bio-
1.4.2 Aufbau der DNA synthese von Eiweißen (Proteinbiosyn-
Die Bausteine der DNA sind die Nukleotide these) und
(▶ Abb. 1.6). Sie bestehen jeweils aus: ● identische Verdopplung (Replikation)
● einer Base (Adenin, Thymin, Cytosin oder der genetischen Information bei der Zell-
Guanin), teilung.
● einem Zucker (Desoxyribose) und
● einem sauren Phosphatrest.
Speicherung der genetischen
Die Phosphatreste zweier aufeinanderfol- Information (genetischer
gender Nukleotide bilden Phosphatbrü- Code)
cken, über die sie verbunden sind. Zwei ge-
genüberliegende Nukleotide sind über ihre Die genetische Information für den Aufbau
Base durch Wasserstoffbrückenbindungen von Eiweißen folgt aus der Art und Anord-
verknüpft. nung von Aminosäuren. Die Verschlüsse-
lung dieser Erbinformation, der genetische
Code, ist durch die Anordnung der vier Ba-
sen (= 4 verschiedene Nukleotide) inner-
halb der DNA (S. 28) gekennzeichnet und
bei allen Lebewesen gleich.
28
1.4 Chromosomen und Gene
1
A Adenin
0,34 nm T Thymin
Basen
C Cytosin
G Guanin
Z Zucker Desoxy-
ribose
P Phosphatbrücke
3,4 nm H Wasserstoff-
brückenbindung
1,0 nm
ZGHC Z Z G H C Z
P P
Z A H T Z P P
P P
Z T H A Z Z A H T Z
P P
Z CH G Z
P P
Z T H A Z
P P
Z C H G Z
Abb. 1.6 Aufbau eines DNA-Moleküls. Die Doppelhelix besteht aus den vier Basen, dem
Zucker und aus Phosphatbrücken. Eine der Basen bildet jeweils mit dem Zucker und einem
Phosphatrest ein Nukleotid. Die Basen sind untereinander mit Wasserstoffbrückenbindun-
gen verbunden. Verglichen mit einer Strickleiter, bilden die Zucker- und Phosphatsäure-
einheiten die Holme und die Basen die Sprossen der Leiter. Die Abstände zwischen den
einzelnen Sprossen und der Radius der Doppelspirale sind in Nanometer (nm) angegeben
(1 nm = 1 milliardstel Meter = 10–9 m).
Zusatzinfo
Basenabfolge der Gene
●V Jeweils drei Basen bilden in unterschiedli-
cher Kombination eine definierte Informa-
tionseinheit, ein Wort – auch Triplett oder
Codon genannt –, das in eine der 20 in
In ähnlicher Weise wie die sinnvoll anei- Eiweißen vorkommenden Aminosäuren
nandergereihten Buchstaben des Alpha- übersetzt werden muss. So bildet bei-
bets den Informationsgehalt eines Textes spielsweise die Anordnung der Basen Gua-
ausmachen, bestimmt die wechselnde nin (G), Adenin (A) und Thymin (T) – kurz
Aufeinanderfolge der verschiedenen Ba- GAT – die Information für die Aminosäure
sen den spezifischen Informationsgehalt Asparaginsäure, AAG wiederum für die
der Gene für den Bauplan von Millionen Aminosäure Lysin. Auf diese Weise werden
unterschiedlicher Eiweißmoleküle.
29
Biologie der Zelle
Telomer Telomer
RNA-Polymerase
DNA
Nucleo-
somen
Abb. 1.7 Zellkern in der Interphase. Durch die Verdopplung des genetischen Materials in
der Interphase sind Chromosomen mit 2 Chromatiden entstanden. a Innerhalb der
weitgehend entspiralisierten Chromosomen wechseln aufgelockerte, transkriptionsaktive
DNA-Bereiche (Euchromatin) mit genetisch inaktiven, nicht entspiralisierten DNA-
Abschnitten (Heterochromatin). b Ausschnitt aus a: zu sehen ist eine transkriptionsaktive
DNA-Schleife, d. h., der genetische Code wird gerade abkopiert.
30
1.4 Chromosomen und Gene
31
Biologie der Zelle
1
potenziell reversibel. Vereinfacht lässt sich
sagen: Natürlich werden wir von den Ge-
nen gesteuert – die Gene aber zum Teil
auch von uns, z. B. durch unseren Lebens-
Zusatzinfo
Gene als Datenspeicher
●V
stil. So wird mehr als 200 Jahre später eine Betrachtet man die genetische Informa-
Theorie von Jean-Baptiste Lamarck, dem tion als biologischen Datenspeicher, so
einstigen Gegenspieler von Charles Dar- muss die Information jederzeit abrufbar
win, zumindest in Teilen bestätigt: La- sein und bei Bedarf durch einen bioche-
marck hatte im Jahr 1800 behauptet, dass mischen Mechanismus innerhalb der Zel-
sich Lebewesen zielgerichtet an ihre Um- le aus dem Zellkern an den Ort der Ei-
welt anpassen und diese erworbenen Ei- weißbiosynthese (Ribosomen) übertra-
genschaften an ihre Nachfahren vererben. gen werden.
32
1.4 Chromosomen und Gene
einsträngige DNA 1
mRNA
5‘
5‘
mRNA
tRNA
33
Biologie der Zelle
dung der mRNA an die Ribosomen erfolgt werden entsprechend der Abfolge der Tri-
1 durch Basenpaarung mit sog. tRNA-Mole- pletts auf der mRNA die verschiedenen
külen. Die relativ kurzen tRNA-Moleküle, Aminosäuren mithilfe von ribosomalen En-
die ebenfalls im Zellkern aus freien Bau- zymen zu einer Proteinkette verknüpft. Die
steinen synthetisiert werden, binden je- Information für die Bildung dieser Enzyme
weils eine der im Zytoplasma vorhandenen liefert die im Nucleolus produzierte rRNA.
Aminosäuren und transportieren diese zu Die frei werdenden tRNA-Moleküle kön-
den Ribosomen, auf denen die mRNA mit nen nun im Zytoplasma wieder mit der
den kopierten Basentripletts sitzt. Diese gleichen Aminosäure beladen werden.
kurzen RNA-Moleküle werden daher auch Dieser Vorgang, den man auch als Über-
als tRNA (Transport- oder Transfer-RNA) setzung oder Translation bezeichnet, setzt
bezeichnet und sind für jeweils eine Ami- sich so lange fort, bis das komplette Ei-
nosäure und das dazugehörende Triplett weißmolekül synthetisiert ist. Je nach Art
auf der mRNA spezifisch. Auf diese Weise des Proteins hat die Eiweißkette eine un-
T A
AT T Thymin
G A Adenin
GC G Guanin
altes Molekül G C C Cytosin
T A
freie Nukleo-
CG
altes Molekül tidbausteine
T
AT
G C
C G A A
AT
T C
T C
G G C
A T
T
T A
A C
C G
G
C G C G
G G neues Molekül
TA TA
A T A T
T A T A
TA TA
neues Molekül
AT AT
T A T A
T A T A
34
1.5 Zellteilung
terschiedliche Länge (wenige bis mehrere das die Telomerlänge in diesen Zellen im-
Hundert Aminosäuren) und kann sich im mer wieder ergänzt. Dadurch sind diese 1
weiteren Verlauf durch chemische Wech- Zellen potenziell unsterblich. Während
selwirkungen zu einem dreidimensional also die Telomerase im gesunden Organis-
funktionstüchtigen Eiweißmolekül auffal- mus die Teilungsfähigkeit bestimmter Zel-
ten. len aufrechterhält, kann sie auf der ande-
ren Seite auch das Wachstum eines Tumors
unterhalten, indem sich die Krebszellen
Verdoppelung des geneti- endlos teilen und vermehren.
schen Materials (Replikation)
Während bei der Transkription (S. 32) im-
1.5 Zellteilung
●
mer nur einer der beiden DNA-Stränge auf
einen RNA-Strang kopiert wird, führt die
Replikation zu zwei völlig identischen DNA-
Strängen. Hierbei trennen sich die Basen-
Definition
L
paare der Doppelhelix wie ein Reißver- Die Zellteilung stellt sicher, dass der
schluss in der Mitte und an jedem Einzel- menschliche Organismus wachsen und
strang wird ein exakt komplementärer sich fortpflanzen kann. Dazu gibt es zwei
Strang synthetisiert (▶ Abb. 1.9). Auf diese Möglichkeiten:
Weise entsteht eine Kopie der beiden Ein- ● Mitose: Das gesamte genetische Mate-
zelstränge des ursprünglichen Moleküls. rial, die Chromosomen, wird auf zwei
Diese Verdoppelung der DNA ist nötig, da- neu entstehende Tochterzellen ver-
mit bei der Zellteilung die komplette Erb- teilt, die dann beide den vollständigen
information der Zelle auf die neu entste- Chromosomensatz enthalten, und
hende Tochterzelle übertragen werden ● Meiose: findet nur in den männlichen
kann. Die Replikation der DNA und die da- und weiblichen Keimzellen statt; bei
mit verbundene Weitergabe der geneti- der Meiose wird der Chromosomen-
schen Information auf die beiden Tochter- satz halbiert, damit bei der Vereini-
zellen gehen daher jeder Zellteilung voraus gung von Ei- und Samenzelle wieder
und finden in der Interphase zwischen ein normaler doppelter (diploider)
zwei Zellteilungen statt. Chromosomensatz entsteht.
Die Teilungsfähigkeit menschlicher Zel-
len ist auf etwa 50 – 70 Teilungen be-
schränkt. Das liegt daran, dass die sog. Te-
lomere (▶ Abb. 1.5 und ▶ Abb. 1.7), die wie 1.5.1 Mitose
Schutzkappen auf den Enden der Chromo-
somen sitzen, bei der Replikation nicht Durch die Verdopplung des genetischen
vollständig mitverdoppelt werden können. Materials (S. 35) während der Interphase
Das heißt, die Chromosomen werden bei (Replikation) entstehen Chromosomen mit
jeder Zellteilung kürzer, bis schließlich kei- zwei Chromatiden. Damit sind die Voraus-
ne Zellteilung mehr möglich ist. Die Zellen, setzungen für eine mitotische Zellteilung
die sich nicht mehr teilen können, begin- geschaffen. Als Zeichen ihrer Verdopplung
nen zu altern und sterben schließlich ab. weisen die Chromosomen im mikroskopi-
Für bestimmte Zellen, wie z. B. Keimzellen, schen Bild einen Längsspalt auf. Durch zu-
embryonale Zellen, Stammzellen und Ab- nehmende Spiralisierung verkürzen und
wehrzellen, aber auch Tumorzellen hat die verdicken sie sich. Nach der Zellteilung
Natur das Enzym Telomerase erfunden, entspiralisieren sich die Chromosomen
35
Biologie der Zelle
und erfahren während der nun erneut fol- Mit Ausnahme weniger Zellen (Nervenzel-
1 genden Interphase eine erneute Replika- len, Herz- und Skelettmuskelzellen) geht
tion. die Teilungsfähigkeit während des gesam-
Mitotische Zellteilungen: ten Lebenszyklus nicht verloren, allerdings
● lassen aus einer befruchteten Eizelle ei- ist die Teilungsfähigkeit von Zellen unter-
nen Organismus heranwachsen, schiedlich ausgeprägt. In der Regel sind
● sind Voraussetzungen für die physiologi- Mitosen in hochdifferenzierten Geweben
sche Zellerneuerung und seltener.
● führen zur Regeneration des Gewebes Es lassen sich vier Stadien der Mitose
nach Verletzungen. unterscheiden (▶ Abb. 1.10):
● Prophase (pro = vor),
● Metaphase (meta = mitten),
Zentralspindel
Äquatorialebene Spindelpole
Abb. 1.10 Stadien der Mitose. a Chromosomen im Kern werden durch Spiralisierung
sichtbar, der Spindelapparat bildet die Zentralspindel aus. b Streckung der Zentralspindel
und Wanderung der Chromosomen in Richtung Äquatorialebene. c Die Aufteilung der
Chromosomen in jeweils zwei Chromatiden ist deutlich sichtbar. d u. e Auseinanderrücken
der Tochterchromatiden in Richtung der Spindelpole. f Entspiralisierung der Chromosomen,
Ausbildung einer Kernmembran und Durchschnürung des Zellleibs.
36
1.5 Zellteilung
▶ Anaphase. Mit Beginn der Anaphase Kurz vor der 1. Reifeteilung verdoppeln die
wandern die Chromatiden (Chromoso- männlichen und weiblichen Geschlechts-
menhälften) der einzelnen Chromosomen zellen wie bei der Mitose ihre DNS, sodass
auseinander und es entstehen zwei stern- jedes Chromosom zwei identische Chro-
förmige Figuren, sog. „Diaster“ (Doppel- matiden aufweist.
sterne). Durch die Wanderung jeweils
einer Chromosomenhälfte (Tochterchro-
matide) zu jeweils einem der beiden ent-
1. Reifeteilung
gegengesetzten Pole wird das gesamte ge- Bei der Meiose dauert die Prophase der
netische Material identisch auf beide Toch- 1. Reifeteilung sehr viel länger als die Pro-
terzellen verteilt. phase der Mitose. Bei männlichen Keimzel-
len sind das in der Regel 24 Tage und bei
▶ Telophase. In der anschließenden Telo- weiblichen, aufgrund einer eingeschalteten
phase versammeln sich die Chromatiden, Ruhephase (Diktyotän), unter Umständen
die jetzt die Chromosomen der beiden mehrere Jahrzehnte, s. Oogenese (S. 541).
Tochterzellen bilden, in der Nähe des Zen- Die Prophase gliedert sich in 5 Phasen:
triols, entspiralisieren sich und werden ● ein Leptotän,
wieder unsichtbar. Mit Bildung einer neu- ● ein Zygotän,
37
Biologie der Zelle
1 Leptotän: väterliches
dünn aus- Chromosom
gestreckte
Chromosomen mütterliches
Chromosom
Zygotän:
Paarbildung der
Chromosomen
Prophase I
Pachytän:
dick gespannte
Chromosomen
1. Reife-
teilung
Diplotän/Diakinese:
verdoppelte
Chromosomen,
Kernmembran crossing over
löst sich auf
Metaphase I
ausgetauschte
Bruchstücke
Anaphase I
Interkinese
Metaphase II
2. Reife-
teilung
Anaphase II
Keimzellen
38
1.5 Zellteilung
◀ Abb. 1.11 Stadien der Meiose. Aus Gründen der besseren Übersicht ist der Ablauf der 1
beiden Reifeteilungen an einer Keimzelle mit drei Chromosomenpaaren beispielhaft
dargestellt. Im Pachytän der Prophase der 1. Reifeteilung werden die Chromatiden sichtbar,
väterliche und mütterliche Chromosomen lagern sich aneinander und bilden eine Tetrade
(zwei Chromosomen mit jeweils zwei Chromatiden). Dabei überlagern sich väterliche und
mütterliche Chromatiden teilweise und beim Auseinanderweichen kommt es zum
Austausch von Bruchstücken („crossing over“). In der Metaphase der 1. Reifeteilung erfolgt
die Trennung der homologen (väterlichen und mütterlichen) Chromosomen, die nach dem
Zufallsprinzip auf die beiden Tochterzellen verteilt werden. Es entstehen zwei haploide
Tochterzellen mit einem einfachen Chromosomensatz. In der 2. Reifeteilung erfolgt in Form
einer mitotischen Zellteilung die Trennung der beiden Tochterchromatiden und es
entstehen am Schluss der 1. und 2. Reifeteilung vier haploide Geschlechtszellen.
39
Biologie der Zelle
Lunge Haut
Stoff-
austausch
Zelle
Zelle
(Intrazellu-
larraum)
Blutgefäße Extrazellu-
Interstitium larraum
Urmeer Niere Verdauungstrakt
a Einzeller b Mensch
Abb. 1.12 Lebensraum der Zelle. a Einzeller: Wechselwirkung der ersten Zellen mit ihrer
Umgebung, dem Urmeer, das sich durch ein Milieu gleichbleibender Zusammensetzung
auszeichnete. b Mensch: Die Zellen innerhalb eines vielzelligen Organismus werden von
extrazellulärer Flüssigkeit umspült, deren Volumen jedoch deutlich kleiner ist als das
intrazelluläre Volumen. Dieses „innere Milieu“ würde sich in seiner Zusammensetzung sehr
schnell verändern, wenn der Zwischenzellraum (Interstitium) nicht über den Blutweg an
Organe, wie z. B. die Lunge, die Nieren oder den Verdauungstrakt, angeschlossen wäre, die
neue Nahrung aufnehmen und Stoffwechselprodukte ausscheiden.
40
1.6 Die Zelle und ihre Umgebung
Im Vergleich zum Urmeer hat diese Flüs- bei spezifische Transportprozesse von Be-
sigkeit jedoch ein viel geringeres Volumen deutung, die dem Stoff- und Flüssigkeits- 1
und die Gefahr, dass ihre Zusammenset- austausch (S. 43) zwischen den Zellen und
zung sich kurzfristig ändert, ist viel größer. ihrer Umgebung dienen (z. B. Diffusion, Os-
Wasser (H2O) hat von allen chemischen mose, aktiver Transport). Größere Weg-
Verbindungen des Organismus den größ- strecken innerhalb des Körpers hingegen
ten prozentualen Anteil an der Körperflüs- werden durch Stofftransport innerhalb des
sigkeit (bei einem Erwachsenen etwa 60 %). Blutgefäßsystems zurückgelegt (z. B. die
Sie verteilt sich auf zwei Räume: aus dem Darm aufgenommenen Nährstoffe
● zu ca. zwei Dritteln auf den Intrazellular- und der in der Lunge aufgenommene Sau-
raum (Gesamtheit des von allen Zellen erstoff). Auch der Lymphtransport, die
eingeschlossenen Volumens) und Darmpassage sowie die Gallenblasenent-
● zu ca. einem Drittel auf den Extrazellular- leerung sorgen für eine schnelle Verteilung
raum (Gesamtheit des außerhalb aller von Stoffen und Flüssigkeiten.
Zellen vorhandenen Volumens, bei einer
ca. 70 kg schweren Person sind dies etwa
14 l). 1.6.1 Extrazelluläre
Flüssigkeit
Von den 14 l extrazellulärer (interstitieller)
Die in der extrazellulären Flüssigkeit gelös-
Flüssigkeit befinden sich drei Viertel in den
ten Stoffe (z. B. Salze) sind in Form elek-
feinen Spalträumen, die die Zellen von-
trisch geladener Teilchen (Ionen) vorhan-
einander trennen (interstitielle Flüssig-
den und werden als Elektrolyte bezeich-
keit = Interstitium), und ein Viertel im Ge-
net. Sie tragen eine elektrische Ladung und
fäßsystem (Arterien, Venen, Kapillaren und
können im elektrischen Feld wandern. Aus
Lymphgefäße), wo es den wässrigen Anteil
diesem Grund bezeichnet man positiv ge-
des Blutplasmas sowie die Lymphflüssig-
ladene Ionen auch als Kationen (wandern
keit bildet.
zum Minuspol = Kathode) und negativ ge-
Der Wassergehalt des Körpers wird mit
ladene Ionen als Anionen (wandern zum
großer Genauigkeit konstant gehalten. Dies
Pluspol = Anode). Das mengenmäßig am
ist notwendig, um das Gleichgewicht der
stärksten vertretene Salz ist das Kochsalz
zahlreichen in der Körperflüssigkeit gelös-
(NaCl). Es ist in einer Konzentration von
ten Stoffe nicht zu gefährden. Physiologi-
etwa 9 g pro Liter gelöst und besteht aus:
sche Wasserverluste (z. B. Urinproduktion,
● 1 positiv geladenen Natriumion (Na+)
Schweißsekretion und Verluste durch Be-
und
feuchtung der Atemluft) müssen daher
● 1 negativ geladenen Chlorion (Cl–).
beispielsweise durch Flüssigkeitsaufnahme
ausgeglichen werden. Die Konstanthaltung
des sog. „inneren Milieus (= Homöostase) ist Daneben kommen, allerdings in deutlich
eine lebensnotwendige Voraussetzung für geringeren Konzentrationen, weitere Kat-
das optimale Funktionieren aller Körper- ionen und Anionen vor, z. B.:
● Kalium (K+),
zellen. Da durch Atmung, Nahrungsaufnah-
● Kalzium (Ca2 +),
me und Stoffwechselaktivität der Zellen
● Magnesium (Mg2 +),
unterschiedlichste Substanzen in den Ex-
● Bikarbonat (HCO3–) sowie
trazellularraum gelangen, gehört die Auf-
● negativ geladene Proteine.
rechterhaltung der Homöostase zu den
wichtigsten Aufgaben des Organismus.
Neben der Tätigkeit vor allem der Lun- Die drei Kompartimente des Extrazellular-
gen, des Darms und der Nieren sind hier- raums, das Interstitium, das Blutplasma
41
Biologie der Zelle
und die Lymphflüssigkeit, unterscheiden Das Innere einer Zelle weist dabei gegen-
sich vor allem in ihrem Gehalt an gelösten über dem extrazellulären Raum in Ruhe
Proteinen. So ist die Wand der Blut- und eine negative Ladung auf (Ruhepotenzial).
Lymphkapillaren nur für kleine Ionen und Diese Potenzialdifferenz kann mit emp-
organische Substanzen mit geringer Größe findlichen Messmethoden gemessen wer-
durchlässig, große Proteine hingegen wer- den und beträgt etwa 60 – 80 mV. Die Ur-
den im Gefäßlumen zurückgehalten. sache für die negative Ladung im Zellinne-
ren gegenüber der Umgebung liegt in einer
unterschiedlichen Verteilung der Ionen im
1.6.2 Intrazelluläre intra- und extrazellulären Raum. So ist die
Flüssigkeit Kaliumkonzentration intrazellulär ca. 35-
mal größer als extrazellulär, als Anionen
Im Gegensatz zur extrazellulären Flüssig- überwiegen innerhalb der Zelle Proteine.
keit, in der Natrium überwiegt, ist im Zell- Extrazellulär überwiegen Natriumionen
inneren Kalium das mengenmäßig domi- und als negative Gegenionen Chloranionen
nierende Kation (K+). Dagegen ist die Na- (▶ Tab. 1.1).
triumkonzentration (Na+) in der Zelle etwa Die Anreicherung von Kaliumionen im
10-mal geringer als außen. Den Hauptteil Inneren der Zellen ist eine spezifische Leis-
intrazellulärer Anionen bilden Proteine, in tung fast jeder Zelle und stellt einen der
geringerer Konzentration sind anorgani- wichtigsten aktiven Transportprozesse
sche Phosphate (HPO42–/H2PO4–) vorhan- (S. 47) dar. Die sog. „Ionenpumpe“ trans-
den. portiert Kaliumionen in die Zelle hinein
und im Gegenzug Natriumionen aus der
Zelle heraus. Man bezeichnet sie daher
1.7 Membran- oder auch als Na+-K+-Pumpe.
Ruhepotenzial Sie besteht im Wesentlichen aus einem
●
Enzym (Na+-K+-ATPase), das ATP spaltet.
Definition
L Hierbei wird die für den Ionentransport er-
forderliche Energie frei (▶ Abb. 1.13). Die
Zellmembran ist für Ionen undurchlässig,
Durch die unterschiedliche Verteilung daher gibt es für Na+, K+ und Cl– Membran-
von Ionen im intra- und extrazellulären poren (Kanäle), nicht jedoch für Protein-
Raum entsteht an den Zellmembranen anionen.
eine Potenzialdifferenz, die man als Während des Ruhepotenzials sind die
Membran- oder Ruhepotenzial bezeich- K+-Kanäle häufig offen, während die Na+-
net.
42
1.8 Stoff- und Flüssigkeitstransport
Extrazellularraum 1
Na+ Na+/K+-
Pumpe
K+
Cl
organische
Anionen
+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +
60 mV
Na+ K+
Intrazellularraum
Abb. 1.13 Membranpotenzial. Der Intrazellularraum weist in Ruhe eine negative Ladung
auf, der Extrazellularraum eine positive Ladung. Die Differenz wird als Membranpotenzial
bezeichnet. Durch die Ionenpumpe werden über spezielle Kanäle Kaliumionen in die Zelle
hineintransportiert und als Gegenzug Natriumionen aus der Zelle heraustransportiert.
43
Biologie der Zelle
elektrochemischer Gradient
Ladungs-
hohe Konzentration gradient niedrige Konzentration
+ + + + freie Diffusion
Kanalprotein
+ + + + +
passiver Transport
Pore
erleichterte
Diffusion
+ + + + + + + + +
Carrier
aktiver Transport
+ + + + +
Transport-ATPase
+ + +
Extrazellularraum Intrazellularraum
Abb. 1.14 Passiver und aktiver Transport. Transportmöglichkeiten durch die Lipiddoppel-
schicht der Zellmembran: Beim passiven Transport findet ein Stoffaustausch vom Ort
höherer Konzentration zum Ort niedrigerer Konzentration über freie und erleichterte
Diffusion statt. Beim Energie verbrauchenden aktiven Transport werden Stoffe gegen ein
Konzentrationsgefälle befördert.
44
1.8 Stoff- und Flüssigkeitstransport
●
kanälchen und den Sammelrohren.
●
durchlässige, sog. semipermeable, Mem-
L
bran, die zwar das Lösungsmittel, nicht
aber die gelösten Stoffe hindurchlässt,
Definition spricht man von Osmose. Der Druck, der
auf der jeweils anderen Seite der Mem-
Die Diffusion ist der einfachste Stoffaus-
bran nötig ist, um diese Osmose rück-
tauschprozess. In wässrigen Lösungen
gängig zu machen, ist der osmotische
und Gasen sind Atome oder Moleküle
Druck. Kolloidosmotischer Druck be-
aufgrund ihrer thermokinetischen Ener-
zeichnet den osmotischen Druck, der
gie frei beweglich, Konzentrationsunter-
durch die Eiweiße (= Kolloide) im Blut
schiede gleichen sich durch Diffusion
bzw. in den Kapillaren entsteht.
aus. Dabei diffundieren („wandern“) Mo-
leküle so lange auf die Seite niedrigerer
Konzentration, bis ein Konzentrations-
ausgleich stattgefunden hat. Auch die Zellmembranen sind mehr oder
weniger semipermeable Membranen, da
die Lipidschichten für geladene Moleküle
wie z. B. Ionen und Proteine weniger gut
Treibende Kraft der Diffusion ist ein Kon-
durchlässig sind als für Wasser. Es diffun-
zentrations- oder ein Ladungsgradient,
diert so lange Wasser durch die Membran
übergreifend als elektrochemischer Gra-
zum Ort der höheren Konzentration, bis
dient bezeichnet. So beruht beispielsweise
ein Konzentrationsausgleich erreicht ist.
ein großer Teil des Stofftransports (Salze,
Dabei steigt das Volumen auf der ur-
Atemgase, Nährstoffe) im interstitiellen
sprünglich konzentrierteren Seite an
(zwischenzelligen) Raum sowie aus der
(▶ Abb. 1.15). Den Druck, der auf dieser
Zelle heraus und in die Zelle hinein auf Dif-
Seite ausgeübt werden müsste, um die Os-
fusionsvorgängen.
mose rückgängig zu machen, nennt man
Kleine Moleküle, wie z. B. die Atemgase
osmotischen Druck. Er wird in Millimeter
O2 und CO2 oder auch Wasser, passieren
Quecksilbersäule (mmHg) oder mit der SI-
die Zellmembran ungehindert. Dies be-
Einheit Pascal (Pa) gemessen. Die Höhe des
zeichnet man als freie Diffusion. Für Nähr-
osmotischen Drucks hängt ausschließlich
stoffe (z. B. Glukose und Aminosäuren in
von der Anzahl der gelösten Teilchen in
den Zellen der Darmschleimhaut) und für
einem gegebenen Volumen ab, nicht von
Ionen erleichtern membrandurchspannen-
deren Größe und Ladung.
de Poren (Kanalproteine, Membranporen)
Der osmotische Druck der extrazellulä-
oder bewegliche Transportproteine (Car-
ren Flüssigkeit hängt von deren Protein-
rier) den Durchtritt. Dies bezeichnet man
und Salzgehalt ab und entspricht etwa
als erleichterte Diffusion (▶ Abb. 1.14).
einer Salzlösung von 0,9 % Kochsalz (NaCl).
Eine solche „physiologische Kochsalzlö-
sung“ ist isotonisch.
45
Biologie der Zelle
osmotischer
Druck gelöste Moleküle
semipermeable
Membran
Abb. 1.15 Osmotischer Druck. An semipermeablen Membranen baut sich ein osmotischer
Druck auf, wenn gelöste Moleküle die Membran nicht durchdringen können. Es strömt so
lange Flüssigkeit durch die Membran zum Ort höherer Konzentration, bis ein Konzen-
trationsausgleich erreicht ist. Dadurch wird das Volumen auf der ursprünglich konzen-
trierteren Seite größer.
Zusatzinfo
Osmotischer Druck in und um
●V tisches Druckgefälle von etwa 25 mmHg
(3,3 kPa) aus dem Interstitium in Richtung
Kapillarinnenraum. Dies würde zu einer
Flüssigkeitsaufnahme in das Gefäßinnere
die Zelle führen, wenn nicht der im Gefäß wirkende
In hypertonischen (höher konzentrierten) hydrostatische Blutdruck entgegenwirken
Lösungen geben Zellen Wasser ab und würde. Da der Blutdruck am Beginn der
schrumpfen. In hypotonischen (geringer Kapillare mit 37 mmHg sogar größer als
konzentrierten) Lösungen hingegen neh- der kolloidosmotische Druck ist, erfolgt
men sie Wasser auf und quellen. Der Or- dort eine Filtration von Flüssigkeit in den
ganismus ist daher bestrebt, durch be- interstitiellen Raum, s. Blutzirkulation in
sondere Regelmechanismen den osmoti- den Kapillaren (S. 396).
schen Druck in der extrazellulären Flüs-
sigkeit möglichst konstant zu halten.
Filtration
●
Dies führt infolge der guten Wasser-
L
durchlässigkeit der Zellmembranen zu
einem ebenfalls recht konstanten osmo-
tischen Druck im Inneren der Zelle. Definition
Von Filtration spricht man dann, wenn
aufgrund einer hydrostatischen Druckdif-
Von kolloidosmotischem Druck spricht ferenz Wasser und die in ihm gelösten
man, wenn z. B. im Blutplasma, anders als Teilchen durch Zellmembranen oder Po-
im umgebenden Interstitium, Eiweiße ge- rensysteme gepresst werden.
löst sind, für die die Kapillarwand un-
durchlässig ist. Durch sie besteht ein osmo-
46
1.8 Stoff- und Flüssigkeitstransport
Bei den Poren handelt es sich z. B. um Lü- Ein solcher Transportprozess ist in der La-
cken zwischen den Endothelzellen (Inter- ge, eine Substanz gegen ein Konzentrations- 1
zellularspalte) oder um Löcher (Fenestrie- gefälle durch die Membran zu befördern
rungen) in den Zellmembranen. Filtration (▶ Abb. 1.14). So besitzen Zellen die Fähig-
findet z. B. in den Gewebekapillaren statt. keit, im Inneren z. B. bestimmte Ionenkon-
Werden hingegen bei Filtrationsprozessen, zentrationen aufrechtzuerhalten, die sich
z. B. in den Blutkapillaren der Nierenkör- deutlich von den Konzentrationen in der
perchen, größere Blutbestandteile an den extrazellulären Flüssigkeit unterscheiden.
Kapillarwänden zurückgehalten oder ge- Diese aktiven Transportprozesse werden
löste Moleküle aufgrund ihrer Größe oder von spezialisierten Proteinen der Zellmem-
Ladung getrennt, spricht man auch von Ul- branen übernommen, die gleichzeitig
trafiltration. mehrere Ionen befördern können.
Der gekoppelte Transport von Stoffen
kann in dieselbe Richtung (Symport) oder
1.8.2 Aktive aber in die entgegengesetzte Richtung (An-
Transportprozesse tiport) ablaufen (▶ Abb. 1.16). In der Niere
wird z. B. der Transport von Aminosäuren
Aktiver Transport
●
an den aktiven Na+-Transport gekoppelt.
L
Darüber hinaus sind aktive Ionentranspor-
te durch Zellmembranen Voraussetzung
Definition für die Entstehung des Membran- oder
Ruhepotenzials.
Unter aktivem Transport versteht man
den Transport von Stoffen durch die Zell-
membran mithilfe eines Energie verbrau-
chenden Transportsystems (Transport-
ATPase). ATP dient auch hier als univer-
seller Brennstoff.
Symport
Antiport
Abb. 1.16 Aktiver Transport. Spezialisierte Proteine der Zellmembran können gleichzeitig
mehrere Ionen transportieren. Wenn diese in dieselbe Richtung transportiert werden,
spricht man von Symport. Wenn sie in entgegengesetzte Richtungen laufen, von Antiport.
47
Biologie der Zelle
1 a Exozytose b Endozytose
Extrazellularraum Extrazellularraum
Intrazellularraum Intrazellularraum
Abb. 1.17 Vesikulärer Transport. Große Moleküle, z. B. Proteine, werden mittels Endozy-
tose in die Zelle hineintransportiert. Zelleigene Produkte gelangen mittels Exozytose aus der
Zelle heraus.
●
menhang, in Abhängigkeit von der Größe
Definition
L der aufgenommenen Partikel, auch von Pi-
nozytose und Phagozytose.
Bei der Exozytose gelangen zelleigene
Große Moleküle, z. B. Proteine, die in die Syntheseprodukte in membranumschlos-
Zelle gelangen (Endozytose) oder aus ihr senen Vesikeln an die Innenseite der Plas-
entfernt werden (Exozytose), überwin- mamembran und durch Verschmelzung
den die Zellmembranen durch den sog. mit ihr in den Extrazellularraum. Mittels
vesikulären Transport (▶ Abb. 1.17). Exozytose werden z. B. in den Synapsen die
Überträgersubstanzen an den Endigungen
von Nervenzellfortsätzen freigesetzt. In
Dabei werden zum Teil über membran- ähnlicher Weise verlassen bei den meisten
ständige Rezeptoren an der Außenseite der Drüsenzellen die Sekretprodukte das Zell-
Zellmembran Stoffe gebunden, von Teilen innere.
der Plasmamembran umschlungen und als Endo- und Exozytose sind ATP-abhän-
membranumschlossenes Vesikel ins Zellin- gig.
48
Zusammenfassung
● Die kleinste lebende Einheit eines Orga- Mitochondrien) übernehmen die Stoff-
nismus ist die Zelle. Anders als bei Einzel- wechselfunktionen der Zelle.
lern, die eigenständige Organismen dar- ○ Das endoplasmatische Retikulum befin-
stellen, bilden die Zellen höherer Orga- det sich in allen Zellen, außer in Ery-
nismen Funktionsverbände. throzyten. Es ermöglicht den intrazel-
● Entsprechend ihrer Funktion sind die lulären Stofftransport. Das raue ER
Zellen hinsichtlich Größe, Form und Aus- dient vor allem der Proteinsynthese,
prägung bestimmter Merkmale unter- das glatte ER der Lipid- und Hormon-
schiedlich differenziert. synthese.
● Für alle Körperzellen gibt es einen ○ Ribosomen sind nicht von einer Ein-
nach innen und außen weisen (3-schich- ne“ der Zelle. Sie bauen mithilfe von
tiger Aufbau). Die Lipidmoleküle sind Enzymen zellfremde Strukturen und
von Proteinen durchsetzt. zelleigene zugrunde gegangene Orga-
● Die Außenseite der Zellmembran ist von nellen ab.
einer Glykocalyx überzogen. Auch die ○ Zentriolen bauen bei der Zellteilung
● Das Zytoplasma (S. 21) (Zellleib) besteht der Zelle. Hier werden die Nahrungs-
aus der intrazellulären Flüssigkeit (Hyalo- stoffe (Proteine, Fette, Kohlendydrate)
plasma, Zytosol)), den Zellorganellen und im Wesentlichen zu CO2 und H2O ab-
verschiedenen Zelleinschlüssen (Para- gebaut, wobei die für den Stoffwech-
plasma). sel (z. B. Muskelkontraktion, Synthese
● Die Zellorganellen (S. 21) (endoplasma- körpereigener Stoffe) notwendige
tisches Retikulum, Ribosomen, Golgi- Energie entsteht, die in Form von ATP
gespeichert wird.
49
Biologie der Zelle
1 ● Einen Zellkern (S. 25), d. h. einen Nu- ● Die im Zellkern synthetisierte einsträngi-
cleus, besitzen alle Zellen außer den Ery- ge mRNA kopiert den genetischen Code
throzyten. Der Zellkern enthält den Nu- (Transkription) und bringt die Botschaft
cleolus (Produktion von rRNA → Protein- zu den Ribosomen, dem Ort der Protein-
biosynthese) und die Chromosomen, die biosynthese (S. 32). Jedes kopierte Basen-
Träger der Erbanlagen (Gene) sind. triplett steht für eine Aminosäure. Eben-
● Menschliche Zellkerne enthalten 23 falls im Zellkern synthetisierte tRNA-Mo-
Chromosomenpaare (S. 25), 23 väterliche leküle binden dem genetischen Code
und 23 mütterliche. Sie ergeben zusam- entsprechend (= entsprechend der Ab-
men den diploiden Chromosomensatz folge der Tripletts) Aminosäuren und
(46 Chromosomen). Das 23. Paar be- transportieren sie zu Ribosomen, wo sie
stimmt das Geschlecht. mithilfe von Enzymen zu Proteinen ver-
● Das Erscheinungsbild des Zellkerns und knüpft werden. Jede tRNA ist spezifisch
der Chromosomen variiert in den einzel- für eine Aminosäure.
nen Phasen der Zellteilung. Zwischen
zwei Zellteilungen (Mitosen), in der Inter- Zellteilung
phase (S. 35) (= Arbeitsphase der Zelle),
erfolgt die Verdopplung des genetischen Mitose (S. 35)
Materials und es entstehen Chromoso- ● Durch die Verdopplung des genetischen
men mit zwei Chromatiden, die durch Materials in der Interphase entstehen
eine Einschnürung (Zentromer) verbun- Chromosomen mit 2 Chromatiden. Dies
den sind. Jede Chromatide besteht aus ist bei der Zellteilung Voraussetzung für
einem Molekül DNA (Desoxyribonuklein- die Weitergabe der genetischen Infor-
säure). mation an die Tochterzelle. Durch mito-
● Die Bausteine der DNA, die Nukleotide tische Zellteilungen sind Wachstum und
(S. 28), setzen sich jeweils aus Zellerneuerung möglich.
○ einer Base (Adenin, Thymin, Cytosin ● Die Mitose verläuft in vier Stadien: Pro-
Jedes Triplett stellt die Information für sich die nebeneinanderliegenden väterli-
eine Aminosäure dar. Ein Gen besteht chen und mütterlichen (homologen)
aus etwa 300 – 3 000 Basentripletts und Chromosomen, wobei es durch Über-
liefert die Information für ein Protein. kreuzungen zum Austausch homologer
Dieser genetische Code ist in allen Lebe- Stücke („crossing over“) kommt. Es ent-
wesen gleich und beinhaltet die Infor- stehen zwei Tochterzellen mit haplo-
mation für die Biosynthese von Protei- idem Chromosomensatz.
nen, die in allen Organismen den wich- ● Die 2. Reifeteilung (S. 39) entspricht
tigsten Bau- und Betriebsstoff darstellen. einer normalen Mitose. Die Chromatiden
50
Zusammenfassung
drei Viertel auf den Zwischenzellraum und die freie Diffusion (z. B. von O2, CO2,
ein Viertel auf das Gefäßsystem. H2O), die erleichterte Diffusion (z. B.
Glukose und Aminosäuren in den Zel-
Membran- oder Ruhepotenzial len der Darmschleimhaut), Osmose
einer Zelle und Filtration (z. B. Glukose und Ami-
● In der extrazellulären Flüssigkeit (S. 41) nosäuren in den Gewebekapillaren).
überwiegt Natrium als Kation und Chlor ○ Aktive Transportprozesse (S. 47) sind
als Anion, in der intrazellulären Flüssig- der aktive Transport (z. B. von Ionen)
keit (S. 42) Kalium als Kation und Protei- sowie Endo- und Exozytose (z. B. Pro-
ne dominieren als Anionen. teine).
51
© ccvision
●V
del (1822–1884) bei Kreuzungsversuchen mit
Gartenerbsen erkannte. Ungefähr im selben
Zeitraum beschrieb Charles Darwin (1809– Zusatzinfo
1882) in seinem Buch „On the origin of spe-
cies“ („Die Entstehung der Arten“, 1859), wie „Ramschanteil“ im Erbgut
und warum sich die auf der Erde lebenden Or- Das menschliche Erbgut besteht zu 97 %
ganismen aus früheren einfacheren Formen aus „junk“ (= „Ramsch“), nur 3 % des Erb-
zu immer differenzierten Arten entwickelt ha- guts enthalten Bauanleitungen für Pro-
ben. Dies war die Geburtsstunde der heute teine.
allgemein anerkannten Evolutionstheorie (Ab-
stammungslehre), die eng mit der Genetik
(Vererbungslehre) verknüpft ist. Ein Gen erstreckt sich über durchschnitt-
lich 1000–10 000 Basenpaare (300–3 000
Basentripletts), ein vergleichbar kurzer Ab-
2.1 Genetik schnitt auf einem Chromosom (der ein-
fache Chromosomensatz, also 23 Chromo-
(Vererbungslehre)
●
somen, enthält doppelsträngige DNA mit
Definition
L einer Gesamtlänge von rund 3 Milliarden
Basenpaaren).
Die Zellen aller lebenden Organismen ent- ▶ Genom. Hierunter versteht man die Ge-
halten ein Programm, das ihre Funktionen samtheit aller Gene (Erbanlagen), beim
steuert und das genetisch determiniert ist, Menschen 21 500 Gene (bezogen auf den
d. h., es wird bei jeder Zellteilung auf die einfachen Chromosomensatz).
beiden neu gebildeten Zellen übertragen.
Dies muss präzise erfolgen, da sonst Stö- ▶ Allele. Allele bezeichnen die Gene, die
rungen in den Funktionen auftreten, auf den mütterlichen und väterlichen
s. Mutationen (S. 65). Das genetische Pro- Chromosomen an gleicher Stelle lokalisiert
54
2.1 Genetik (Vererbungslehre)
sind. Mit Ausnahme der Geschlechtszellen Bei der Beschreibung benützt man als
enthalten die Zellen beim Menschen 23 Abkürzung für die dominante Erbanlage
mütterliche und 23 väterliche Gene. Da- einen Großbuchstaben, für die rezessive
durch ist jedes Gen in identischer oder einen Kleinbuchstaben: RR = homozygot 2
leicht abgewandelter Form jeweils auch dominant, rr = homozygot rezessiv, Rr = he-
auf dem homologen entsprechenden Part- terozygot bei dominant-rezessivem Erb-
ner-Chromosom vorhanden. Sind die bei- gang.
den Allele in Bezug auf ihre genetische In-
formation völlig identisch, ist der Träger in
diesem Merkmal homozygot (reinerbig); 2.1.2 Mendel-Gesetze
unterscheiden sie sich, ist der Träger für Verfolgt man die Weitergabe bestimmter
das betreffende Merkmal heterozygot einzelner Erbanlagen (Gene) von Genera-
(mischerbig). Hemizygot ist ein Merkmals- tion zu Generation, so ergeben sich aus
träger, wenn er jeweils nur ein Allel aller dem Verteilungsmechanismus der Chro-
Gene des X-Chromosoms besitzt. Dies ist mosomen während der Reifeteilungen be-
beim Mann der Fall. Eine Frau kann für ein stimmte Gesetzmäßigkeiten, s. Meiose
X-chromosomales Allel homozygot oder (S. 37). Sie beziehen sich auf die zufällige
heterozygot sein. Verteilung der homologen Chromosomen
während der Meiose und die nachfolgen-
▶ Genotyp, Phänotyp und Genlocus. Je- den Kombinationsmöglichkeiten beim Zu-
dem Merkmal, egal ob Haarfarbe oder sammentreffen von Eizelle und Samenzel-
Blutgruppe, liegt eine ganz bestimmte ge- le. Diese Gesetzmäßigkeiten wurden von
netische Information zugrunde, der sog. dem Augustinerpater Johann Gregor Men-
Genotyp. Sein jeweiliges Erscheinungsbild del (1822 – 1884) im Jahr 1866 bei Kreu-
(z. B. braune oder schwarze Haare) wird als zungsversuchen mit Gartenerbsen erkannt,
Phänotyp bezeichnet. Beide Begriffe bezie- ohne dass er etwas über die Prozesse bei
hen sich auf die genetische Information der meiotischen Reifeteilung wusste. Seine
eines Merkmals an jeweils einem Genort Erkenntnisse formulierte er in den sog.
(Genlocus). Mendel-Gesetzen. Folgende Voraussetzun-
gen müssen erfüllt sein, um die Vertei-
▶ Dominanz, Rezessivität und Kodomi- lungsregeln der Erbanlagen erkennen zu
nanz. Merkmale können dominant, rezes- können:
siv oder kodominant vererbt werden. ● Die für die Kreuzungsexperimente ver-
● Überdeckt bei Heterozygoten ein Allel
wendeten Organismen müssen reinerbig
stets das andere Allel, indem es für die (homozygot) sein, damit alle Keimzellen
Ausprägung eines Merkmals allein aus- die gleichen Erbanlagen enthalten.
schlaggebend ist, wird es als dominant ● Bei den beobachteten Erbanlagen muss
bezeichnet. es sich um äußerlich sichtbare Merkmale
● Das Allel, das sich im Phänotyp nicht
handeln (über Gene wusste man damals
ausdrückt, also nicht in Erscheinung nichts).
tritt, nennt man rezessiv (unterdrückt). ● Die Merkmale bzw. die Gene, die diese
● Wenn sich bei Heterozygoten beide Alle-
Merkmale bestimmen, müssen auf un-
le phänotypisch manifestieren, spricht terschiedlichen Chromosomen liegen.
man von Kodominanz der Allele.
Bei den Kreuzungsversuchen bezeichnet
man die Elterngeneration als Parentalge-
neration (P-Generation), die erste Nachfol-
55
Genetik und Evolution
gegeneration als erste Filialgeneration (F1- der Samen über die grüne, die runde Ge-
Generation) und die Nachkommen dieser stalt der Samen über die runzlige, der hohe
als zweite Filialgeneration (F2-Generation). Wuchs der Pflanzen über den niedrigen. Es
2 Die Mendel-Gesetze im Einzelnen sind: gibt jedoch auch eine sog. intermediäre
● 1. Mendel-Gesetz: Uniformitätsregel Vererbung, bei der sich die Gene mischen.
(phänotypische Uniformität der F1-Ge- Dies ist z. B. der Fall bei der Japanischen
neration). Wunderblume. Kreuzt man eine reinerbig
● 2. Mendel-Gesetz: Spaltungsregel (phä- rot blühende Japanische Wunderblume
notypische und genotypische Aufspal- mit einer reinerbig weiß blühenden, so ist
tung der F2-Generation beim dominant- die heterozygote F1-Generation einheitlich
rezessiven bzw. intermediären Erbgang). rosa blühend (▶ Abb. 2.2), weiße und rote
● 3. Mendel-Gesetz: Unabhängigkeitsregel Blütenfarbe haben sich also miteinander
(unabhängige Weitergabe der nicht ge- vermischt. Die beiden homozygoten El-
koppelten Gene = Gene, die nicht auf ternteile und die heterozygote F1-Genera-
demselben Chromosom liegen). tion unterscheiden sich bei dieser Form
der Vererbung phänotypisch.
Von Kodominanz der Gene spricht man
Uniformitätsregel
●
hingegen, wenn beide Allele gleichwertig
Definition
L sind und beide Merkmale im heterozygo-
ten Zustand nebeneinander in Erscheinung
treten.
Kreuzt man zwei homozygote Linien mit-
einander, die sich in einem oder mehre-
ren Allelen unterscheiden, so erhält man
eine heterozygote F1-Generation mit
Zusatzinfo
Kodominanz
●V
einem einheitlichen Phänotyp. Diesen
Sachverhalt bezeichnet man als Unifor- Ein Beispiel sind die Blutgruppen A und
mitätsregel. B: Erbt ein Kind vom Vater das Blutgrup-
penallel A und von der Mutter das B-Allel,
so hat das Kind die Blutgruppe AB.
Kreuzt man z. B. homozygot rot blühende
(RR) und homozygot weiß blühende (rr)
Erbsenpflanzen der P-Generation, so ist
die heterozygote F1-Generation uniform Spaltungsregel
●
rot (Rr) wie der eine Elternteil (▶ Abb. 2.1).
Das Merkmal des weiß blühenden Eltern-
teils ist unterdrückt, sodass es nicht in Er- Definition
L
scheinung treten kann. Man bezeichnet
deshalb das in der F1-Generation phäno- Die Spaltungsregel besagt Folgendes:
typisch auftretende Merkmal (hier rot) als Kreuzt man die heterozygote F1-Genera-
das dominante (dominierende), das andere tion untereinander, weist die nachfolgen-
als das rezessive (unterdrückte) Merkmal. de F2-Generation eine ganz bestimmte
Die dominant-rezessive Vererbung ist Verteilung („Aufspaltung“) des jeweils
die weitaus häufigste Form der Vererbung. vererbten Merkmals auf, z. B. 3:1.
So dominiert bei Mendels Erbsenver-
suchen nicht nur die rote Blütenfarbe über
die weiße, sondern auch die gelbe Farbe
56
2.1 Genetik (Vererbungslehre)
2
× P-Generation
RR rr
R R r r Keimzellen
× F1-Generation
Rr Rr Rr Rr
R r R r Keimzellen
F2-Generation
RR Rr Rr rr
3 : 1
Abb. 2.1 Dominant-rezessiver Erbgang. Kreuzung einer homozygot rot blühenden (RR)
mit einer homozygot weiß blühenden (rr) Gartenerbse. Die heterozygote F1-Generation ist
einheitlich rot, da die Blütenfarbe rot dominant über weiß ist. Die F2-Generation spaltet sich
im Verhältnis 3:1 auf, d. h., 3 Nachkommen sind rot blühend (RR, Rr und Rr) und 1
Nachkomme ist weiß blühend (rr).
Um beim Beispiel der Erbsen zu bleiben: lel) dominant bzw. rezessiv ist. Bei Domi-
Aus Rr × Rr (R = rot blühend; r = weiß blü- nanz des Gens für rot blühende Erbsen-
hend) ensteht eine F2-Generation mit ¾ pflanzen über das für weiß blühende ist
rot blühenden und ¼ weiß blühenden das Verhältnis der Phänotypen rot (R) zu
Pflanzen. Das Zahlenverhältnis von 3:1 weiß (r) wie 3:1, da die Kombinationen RR
(▶ Abb. 2.1) tritt umso genauer auf, je und Rr den Phänotyp R ergeben.
mehr Nachkommen untersucht werden. Unterscheiden sich die Heterozygoten
Dabei hängt das phänotypische Aufspal- der F1-Generation (rw) im Phänotyp so-
tungsverhältnis davon ab, ob ein Gen (Al- wohl von den rr- als auch von den ww-
57
Genetik und Evolution
2
× P-Generation
rr ww
r r w w Keimzellen
× F1-Generation
rw rw rw rw
r w r w Keimzellen
F2-Generation
rr rw wr ww
1 : 2 : 1
Abb. 2.2 Intermediärer Erbgang. Kreuzung einer homozygot rot blühenden (rr) mit einer
homozygot weiß blühenden Japanischen Wunderblume (ww). Die F1-Generation ist
einheitlich rosa blühend (rw), da sich beide Blütenfarben phänotypisch durchsetzen. Die F2-
Generation spaltet sich im Verhältnis 1:2:1 auf, d. h., jeweils 1 Pflanze ist rot (rr) bzw. weiß
blühend (ww), 2 weitere sind rosa blühend (rw, wr).
Eltern (intermediärer Erbgang der Japa- nung der homologen Chromosomen in der
nischen Wunderblume), ergibt sich in der 1. meiotischen Reifeteilung zurückzufüh-
F2-Generation phänotypisch wie auch ge- ren, denn die Keimzellen können, da sie
notypisch ein Aufspaltungsverhältnis von haploid sind, nur eines der beiden Allele
1:2:1 (▶ Abb. 2.2). Dies bedeutet, dass je- enthalten, entweder das für die rote (r)
weils eine Pflanze reinerbig rot (rr) bzw. oder das für die weiße Blütenfarbe (w). In
weiß (ww) ist, zwei weitere Pflanzen sind der Zygote wird nun eine Kombination der
rosa und mischerbig für die Blütenfarbe Gene rot/rot (rr), rot/weiß (rw), weiß/rot
(rw). Diese Aufspaltung ist auf die Tren- (wr) und weiß/weiß (ww) ermöglicht. Sind
58
2.1 Genetik (Vererbungslehre)
beide Gene für rot und weiß dominant 2.1.3 Autosomale Erbgänge
(oder beide rezessiv), sind alle Heterozygo-
ten rosa und die Homozygoten entweder (dominant-rezessive)
weiß oder rot. Das Aufspaltungsverhältnis 2
ist daher zwangsläufig 1:2:1.
Autosomal-dominanter
Erbgang
●
Ist der Erbgang nicht intermediär, son-
dern dominant-rezessiv, so hat man eben-
falls eine 1:2:1-Aufspaltung, jedoch nur
genotypisch. Phänotypisch erhält man ein Definition
L
Verhältnis von 3:1, da die Heterozygoten Eine Form der dominant-rezessiven Ver-
den Phänotyp des dominanten Allels zei- erbung ist der autosomal-dominante
gen. Erbgang. Ein autosomal-dominanter
Erbgang für ein Merkmal liegt vor, wenn
Unabhängigkeitsregel der Genlocus auf einem Autosom (S. 25)
●
liegt und der Phänotyp vom dominanten
Definition
L Allel bestimmt wird.
Die Unabhängigkeitsregel besagt Fol- Beim Menschen findet sich dieser Erbgang
gendes: Kreuzt man zwei homozygote bei vielen normalen Merkmalen (z. B. Do-
Organismen miteinander, die sich in zwei minanz der Blutgruppen A und B gegen-
Allelen (AAbb × aaBB) voneinander unter- über der Blutgruppe 0), aber auch bei zahl-
scheiden (▶ Abb. 2.3), werden die einzel- reichen Erbkrankheiten, z. B. Polydaktylie
nen Gene unabhängig voneinander auf (Vielfingrigkeit), familiäre Hypercholeste-
die folgenden Generationen vererbt. Dies rinämie (erhöhter Cholesteringehalt im
gilt jedoch nur für Gene, die sich auf ver- Blut), Chorea Huntington („Veitstanz“, eine
schiedenen Chromosomen befinden. extrapyramidalmotorische Bewegungsstö-
rung) (S. 172), Marfan-Syndrom (Kollagen-
synthesestörung).
Keine Gültigkeit besitzt diese Regel bei Ge- Bei autosomal-dominanten Erbkrank-
nen, die auf demselben Chromosom lokali- heiten des Menschen besitzt meist nur ein
siert sind, da sie in der Regel nur gekoppelt Elternteil das krank machende, dominante
weitervererbt werden können. Die Koppe- Allel (Gen) auf einem Chromosom (A),
lung aller Gene eines Chromosoms muss während das entsprechende Gen auf dem
jedoch nicht absolut sein, da während der zweiten Chromosom gesund ist (a). Der an-
Meiose z. B. Crossing-over zwischen homo- dere Elternteil hingegen weist zwei gesun-
logen Chromosomen stattfinden kann, de, intakte Allele (aa) auf (▶ Abb. 2.4 a). So-
s. Reduktions- oder Reifeteilung (S. 37). mit ergibt sich für den Vererbungsmodus
Dies ermöglicht eine erhöhte Kombinier- meist die Konstellation, dass sich ein hete-
barkeit von Genen, was unter dem Ge- rozygot Erkrankter mit einem homozygot
sichtspunkt der möglichen genetischen Va- Gesunden paart. Für jedes Kind, unabhän-
riabilität von großer Bedeutung sein kann. gig vom Geschlecht, ergibt sich damit bei
einem autosomal-dominanten Erbleiden
eine Erkrankungswahrscheinlichkeit von
50 %.
59
Genetik und Evolution
P-Generation ×
2 AAbb Ab aB aaBB
F1-Generation ×
AaBb AaBb
Genotyp
der Keim- AB Ab aB ab
zellen
AB
AABB AABb AaBB AaBb
F2-Generation Ab
AABb AAbb AaBb Aabb
aB
AaBB AaBb aaBB aaBb
ab
AaBb Aabb aaBb aabb
Abb. 2.3 Unabhängige Vererbung von 2 Merkmalen. Kreuzungen von 2 Rinderrassen, die
sich in Fellfarbe und Verteilung der Fellfarbe unterscheiden (schwarz-gescheckt und
rotbraun-ungescheckt). Es dominiert schwarz (AA) über rotbraun (aa) und ungescheckt (BB)
über gescheckt (bb). Die Tiere der F1-Generation sind alle schwarz und ungescheckt (AaBb).
Sind die beiden Allele für die Fellfarbe und die Verteilung der Farbe auf unterschiedlichen
Chromosomen lokalisiert und können die beiden Allelpaare bei der Bildung der
Geschlechtszellen unabhängig voneinander kombinieren, entstehen theoretisch 4 geno-
typisch unterschiedliche Ei- bzw. Spermienzellen: AB, Ab, aB und ab. Für die Vereinigung der
Geschlechtszellen ergeben sich somit mit gleicher Wahrscheinlichkeit 16 Möglichkeiten.
Kreuzt man die Individuen der F1-Generation untereinander, ergeben sich 4 phänotypisch
unterschiedliche Erscheinungsformen: schwarz-ungescheckt, schwarz-gescheckt, rotbraun-
ungescheckt, rotbraun-gescheckt im Zahlenverhältnis 9:3:3:1.
60
2.1 Genetik (Vererbungslehre)
P-Generation Aa × aa Aa × Aa AA × aa
Genotyp der 2
A a A a A A
Keimzellen
a Aa aa A AA Aa a Aa Aa
F1-Generation
a Aa aa a Aa aa a Aa Aa
Genotypen: 50 % : 50 % 25 % : 50 % : 25 % 100 %
Phänotypen: 50 % : 50 % 75 % : 25 % 100 %
a b c
●
trägt. Sind hingegen beide Elternteile hete-
rozygot erkrankt (▶ Abb. 2.4 b), sind 75 %
der Kinder erkrankt (25 % homozygot und
Definition
L
50 % heterozygot Erkrankte) und 25 % ho-
mozygot gesund. Ein autosomal-rezessiver Erbgang für
Bei dem seltenen Fall, dass ein Elternteil ein Merkmal liegt vor, wenn sich der
an einer autosomal-dominanten Erbkrank- Genlocus auf einem Autosom befindet
heit homozygot erkrankt ist, der andere El- und das Merkmal sich phänotypisch nur
ternteil aber völlig gesund ist (▶ Abb. 2.4 bei homozygoten Trägern ausprägt
c), werden alle Kinder heterozygote Merk- (▶ Abb. 2.5). Heterozygote Allelträger
malsträger sein. unterscheiden sich nicht von homozygo-
ten.
61
Genetik und Evolution
P-Generation Bb × BB Bb × Bb bb × BB
2 Genotyp der
B b B b b b
Keimzellen
B BB Bb B BB Bb B Bb Bb
F1-Generation
B BB Bb b Bb bb B Bb Bb
Genotypen: 50 % : 50 % 25 % : 50 % : 25 % 100 %
a b c
Eine phänotypische Merkmalsausprägung disch auf. Ist ein Elternteil homozygot er-
findet man daher nur bei homozygoten krankt und der andere Elternteil homozy-
Merkmalsträgern. Bei allen autosomal-re- got gesund, werden alle Kinder heterozy-
zessiven Erbleiden stammt der Erkrankte got gesund sein (▶ Abb. 2.5 c).
in der Regel von heterozygot gesunden El- Fast alle Stoffwechseldefekte, denen ein
tern, bei denen das krank machende Allel Ausfall eines Enzyms zugrunde liegt, wer-
sich phänotypisch nicht manifestiert. Ist den autosomal-rezessiv vererbt, z. B. Phe-
ein Elternteil heterozygot und der andere nylketonurie (Brenztraubensäureschwach-
homozygot gesund, werden alle Kinder ge- sinn), Albinismus (durch den Mangel an
sund sein (50 % homozygot und 50 % hete- Tyrosinhydroxylase ist der Stoffwechsel-
rozygot) (▶ Abb. 2.5 a). Sind beide Eltern- weg von der Aminosäure Tyrosin zum
teile heterozygot gesund, besteht für die Hautpigment Melanin gestört), zystische
Kinder ein Risiko von 25 % zu erkranken Fibrose (Mukoviszidose = durch das zähe
(▶ Abb. 2.5 b). 50 % der Kinder sind wieder- Sekret der sekretorischen Drüsen kommt
um heterozygot Gesunde, die als Anlage- es zu schweren Komplikationen im Bereich
träger das rezessive Allel tragen und wei- der Atemwege und des Magen-Darm-
tervererben. 25 % schließlich sind homozy- Trakts). Hierbei weisen heterozygot Er-
got Gesunde. Bei Familien mit geringer krankte in der Regel eine um 50 % vermin-
Kinderzahl treten die autosomal-rezessiv derte Enzymaktivität auf, die jedoch unter
vererbten Erkrankungen daher nur spora- normalen Stoffwechselbedingungen für
62
2.1 Genetik (Vererbungslehre)
●
homozygot Erkrankten kommt es zu Krank-
heitszeichen. Beim dominant-rezessiven
Erbgang liegt häufig ein Übergang zum
Definition
L 2
intermediären Erbgang vor, da im hetero-
zygoten Zustand die rezessive Erbanlage Beim x-chromosomal-dominanten Erb-
nicht völlig unterdrückt ist. gang äußert sich das jeweilige Merkmal
Bei der Phenylketonurie (Häufigkeit phänotypisch bereits, wenn der Merk-
1:10 000) ist durch das Fehlen des Enzyms malsträger nur ein X-Chromosom hat,
Phenylalaninhydroxylase der Abbau von also bei Söhnen wie bei Töchtern. Ist der
Phenylalanin zu Tyrosin gestört. Dadurch Vater der Merkmalsträger, gibt er dieses
entsteht im Stoffwechsel Phenylbrenztrau- Merkmal über sein X-Chromosom grund-
bensäure, die als Ketonkörper mit dem sätzlich an seine Töchter weiter, nicht je-
Urin ausgeschieden wird. Unbehandelt doch an seine Söhne. Söhne, die dieses
kommt es bei Säuglingen zu geistiger Be- Merkmal aufweisen, haben es zwangs-
hinderung, verzögerter körperlicher Ent- läufig über das X-Chromosom der Mutter
wicklung und neurologischen Symptomen bekommen.
(Krampfanfälle). Bei rechtzeitiger Erken-
nung der Erkrankung ist durch strenge
phenylalaninarme Diät eine weitgehend Im Hinblick auf x-chromosomal-domi-
normale Entwicklung möglich. Die Diät nant vererbte Krankheiten bedeutet dies,
muss jedoch bis zum 10. Lebensjahr durch- dass alle Töchter eines erkrankten Vaters
gehalten werden, bis das Gehirn voll ent- Merkmalsträgerinnen und erkrankt sind,
wickelt ist. (▶ Abb. 2.6 a), alle Söhne eines erkrankten
Vaters jedoch gesund, da sie von ihm das
Y-Chromosom erhalten (▶ Abb. 2.6 a). Die
2.1.4 Gonosomale Kinder heterozygot erkrankter Mütter ha-
(geschlechtsgebundene) ben ein 50 %iges Risiko zu erkranken
Erbgänge (▶ Abb. 2.6 b). Insgesamt sind x-chromoso-
mal-dominant vererbte Krankheiten aller-
Geschlechtsgebundene Erbgänge liegen bei dings selten.
●V
Merkmalen vor, deren genetische Informa-
tion auf dem X-Chromosom lokalisiert ist.
Auf den X-Chromosomen gelegene Gene Zusatzinfo
haben keine homologen Allele auf den Y-
Chromosomen. Man unterscheidet x-chro- X-chromosomal-dominant ver-
mosomal-rezessive und x-chromosomal- erbte Krankheit
dominante Erbgänge. Wichtig bei diesen Ein Beispiel hierfür ist die Vitamin-D-re-
Erbgängen ist die Tatsache, dass männliche sistente Rachitis, bei der es durch einen
Nachkommen ihr X-Chromosom aus- niedrigen Blutspiegel von Phosphat zu
schließlich von der Mutter erben und es einer Unterentwicklung des Zahnschmel-
nie an ihre Söhne weitergeben. zes und einer Anomalie der Haarfollikel
kommt.
63
Genetik und Evolution
2
XX XY XX XY
XX XX XY XY XX XX XY XY
●
krankheitsverursachende Gen auf ihre
Definition
L Nachkommen, sind also sog. Konduktorin-
nen (▶ Abb. 2.7 b). Hierbei sind 50 % ihrer
Söhne erkrankt (Merkmalsträger) und 50 %
der Töchter wiederum Konduktorinnen.
●V
Beim x-chromosomal-rezessiven Erb-
gang äußert sich das jeweilige Merkmal
phänotypisch nur, wenn die betreffende
Person bezüglich dieses Gens entweder Zusatzinfo
homozygot (reinerbig) ist oder nur ein
X-Chromosom hat. Das heißt, das Merk- X-chromosomal-rezessiv ver-
mal tritt entweder bei homozygoten Frau- erbte Krankheiten
en auf oder – und dies ist deutlich häufi- Beispiele für x-chromosomal-rezessive
ger – bei Männern. Erbgänge sind die Rot-Grün-Blindheit
(Häufigkeit 1:15), die Hämophilie A und
B (Bluterkrankheit, Häufigkeit 1:10 000)
sowie die Muskeldystrophie vom Typ
Duchenne (Häufigkeit 1:3 000).
64
2.1 Genetik (Vererbungslehre)
2
XX XY XX XY
XX XX XY XY XX XX XY XY
= Eltern
XX XY = Töchter
= Söhne
XX XX XY XY
= Konduktorinnen
50 % der Töchter krank
nicht erkrankte Töchter = homzygot erkrankte Töchter
Konduktorinnen
c 50 % der Söhne krank = heterozygot erkrankte Väter
bzw. Söhne
und
● in Keimzellen (germinale Mutationen).
65
Genetik und Evolution
●
stückes,
2 Definition
L ● Duplikation: Wiederholung eines Ab-
schnitts auf dem gleichen Chromosom,
● Inversion: umgekehrter Einbau eines
Bei Genmutationen liegen Änderungen Chromosomensegmentes,
in der Basensequenz vor. ● Translokation: Austausch von Segmen-
ten zwischen zwei nicht homologen
Chromosomen.
Genmutationen sind die wichtigsten und
häufigsten Gründe für Veränderungen im
Genommutationen
●
Genbestand. Die Häufigkeit, mit der sich
ein Gen verändert, liegt durchschnittlich
zwischen 1:10 000 und 1:100 000. Genmu-
tationen entstehen durch Fehler bei der Definition
L
identischen Replikation der Gene, d. h. Bei Genommutationen wird die Zahl der
durch Fehler, die bei der Replikation der Chromosomen verändert (numerische
DNA-Stränge auftreten und Änderungen in Chromosomenaberrationen).
der Basensequenz bewirken. Dadurch än-
dert sich die Abfolge der Aminosäuren in
dem Protein, das von dem betreffenden
Ursache hierfür sind Fehlverteilungen der
DNA-Molekül gebildet wird. Die Folge ist
Chromosomen bei Meiose und Mitose. Sie
eine Veränderung der Proteinfunktion, die
sind evtl. auf den Verlust der Zentromer-
sich im Phänotypus des von der Mutation
Region eines Chromosoms oder die fehler-
betroffenen Individuums niederschlagen
hafte Ausbildung der Teilungsspindel
kann.
zurückzuführen. Die Folge sind Chromoso-
menzahlen, die vom normalen Karyo-
Chromosomenmutationen gramm (S. 25) abweichen (Aneuploidie).
●
Kommt es beispielsweise in der 1. Reifetei-
Definition
L lung der Meiose zu einer fehlenden Tren-
nung homologer Chromosomen, spricht
man von „Non-disjunction“ (Nicht-Aus-
Bei Chromosomenmutationen liegen einanderweichen). Dies kann sowohl die
lichtmikroskopisch identifizierbare Verän- Autosomen als auch die Gonosomen be-
derungen der Chromosomenstruktur vor treffen.
(strukturelle Chromosomenaberrationen).
▶ Fehlverteilungen von Autosomen. Die-
se werden v. a. bei kleinen Chromosomen
Sie kommen z. B. durch „Crossing-over“, beobachtet. Lebendgeborene weisen fast
d. h. durch den Austausch von Chromo- ausschließlich Trisomien auf, wobei das
somenstücken zustande oder dadurch, Chromosom 21 am häufigsten betroffen ist
dass Chromosomen auseinanderbrechen (Trisomie 21 oder Down-Syndrom). Be-
und sich in anderer Form wiedervereini- merkenswert ist, dass autosomale Triso-
gen. Strukturelle Chromosomenaberratio- mien eine ausgeprägte Altersabhängigkeit
nen sind seltener als numerische (Verhält- aufweisen.
nis strukturelle/numerische Aberration:
1:2000). Man unterscheidet:
66
2.2 Evolution (Abstammungslehre)
Zusatzinfo
Down-Syndrom (Trisomie 21)
●V ▶ Fehlverteilungen von Geschlechtschro-
mosomen. Sie führen im Allgemeinen
nicht zu einem Absterben des Embryos.
Sowohl ein überzähliges (gonosomale Tri-
Während bei jungen Frauen das Risiko,
2
somie) als auch ein fehlendes Geschlechts-
ein Kind mit Trisomie 21 (Down-Syn- chromosom (gonosomale Monosomie) ha-
drom) zur Welt zu bringen, bei 1:2 500 ben meist keine schwere Behinderung zur
liegt, erhöht es sich bei Müttern ab 40 Folge, die geistige Entwicklung ist meis-
Jahren auf 1:50. Die erkrankten Kinder tens völlig normal. Lediglich die Fortpflan-
weisen unterschiedlich starke geistige zungsfähigkeit ist in der Regel aufgehoben.
Behinderungen sowie typische körper-
liche Auffälligkeiten auf, wie z. B. schräge
Lidachsen, eine Vierfingerfurche, einen 2.2 Evolution
kurzen runden Schädel, eine flache Na-
(Abstammungslehre)
●
senwurzel und einen gedrungenen Kör-
L
perbau. Von den Fehlbildung bei inneren
Organen ist am häufigsten das Herz be-
troffen. Definition
●V
Die Evolution (Abstammungslehre) be-
sagt, dass sich die heutigen Lebewesen
über Jahrmillionen durch bestimmte Evo-
Zusatzinfo lutionsfaktoren aus früheren, einfacheren
Turner- und Klinefelter-Syn- Lebensformen (eventuell sogar nur aus
drom einer einzigen) entwickelt haben.
Die einzige lebensfähige gonosomale
Monosomie betrifft das X-Chromosom
(Turner-Syndrom: Karyogramm 45, X0 Das Leben auf der Erde tritt in einer unge-
mit einer Häufigkeit von 1:2 500 – 45, X0 heuren Mannigfaltigkeit auf. Über 1,5 Mil-
bedeutet: 44 Autosomen + 1 Gonosom lionen Tierarten und fast 500 000 Pflan-
[X] = 45; 1 Gonosom fehlt [0]). Frauen zenarten sind bis heute beschrieben und
mit einem Turner-Syndrom haben einen nahezu täglich werden neue Arten ent-
weiblichen Phänotyp, sind aber nicht deckt (andererseits werden durch den
fortpflanzungsfähig. Auffällige Körper- Menschen nahezu täglich Arten ausgerot-
merkmale sind Minderwuchs, eine über- tet!). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
schüssige Hautfalte am Hals (Pterygium galt in der Biologie die aus der biblischen
colli) sowie Fehlentwicklungen von inne- Schöpfungsgeschichte abgeleitete und vor-
ren Organen (z. B. Herzfehler). Beim herrschende Lehrmeinung von der „Unver-
Klinefelter-Syndrom handelt es sich um änderlichkeit der Arten“. So vertrat der
eine gonosomale Trisomie (Karyogramm: schwedische Naturforscher Carl von Linné
47, XXY mit einer Häufigkeit von 1:900 – (1707 – 1778) die Ansicht, dass die auf der
47, XXY bedeutet: 44 Autosomen + 3 Go- Erde vorkommenden Arten seit Beginn des
nosomen [XXY], 1 Gonosom ist überzäh- Lebens auf der Erde existieren. Sein Ver-
lig [X]). Betroffene haben einen männ- dienst war es, die zu seiner Zeit bekannten
lichen Phänotypus mit eunuchoidem Tier- und Pflanzenarten aufgrund von Bau-
Hochwuchs und unterentwickelten Ho- ähnlichkeiten in einem einheitlichen Sys-
den (Hypogonadismus). tem zu ordnen und zu beschreiben. Erst zu
Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die ge-
67
Genetik und Evolution
68
2.2 Evolution (Abstammungslehre)
●
bewerb oder dem „Kampf ums Dasein“
Definition
L („struggle for life“) nur die am besten an
ihre Umwelt angepassten Individuen über- 2
leben (Überleben des Tauglichsten –„survi-
Selektion beschreibt nach Charles Dar- val of the fittest“). Der Wettbewerb hierbei
win die „natürliche Auslese“, die unter ist nicht auf eine Art beschränkt, auch Or-
Lebewesen stattfindet, die dieselbe öko- ganismen unterschiedlicher Arten können
logische Nische besetzen und sich daher untereinander konkurrieren, wenn sie z. B.
in einem Wettbewerb untereinander be- ähnliche ökologische Nischen besetzen.
finden. Es überlebt das Lebewesen, das Der Wettbewerb führt dazu, dass sich in-
am besten an die jeweiligen Umweltfak- nerhalb einer ökologischen Nische auf Dau-
toren angepasst ist („survival of the fit- er oft nur eine Art behaupten kann. Weni-
test“). ger gut angepasste Arten sterben aus oder
werden in andere Nischen abgedrängt. Die
natürliche Auslese, die Selektion („natural
Eine wichtige Frage innerhalb der Evolu- selection“), führt auf diese Weise durch
tionsforschung war und ist, die Ursachen eine sich ständig verbessernde Anpassung
des Evolutionsgeschehens, d. h. die eine an die Umweltverhältnisse zu einer all-
Evolution bewirkenden und ermöglichen- mählichen Umbildung der Arten. Die Taug-
den Faktoren zu erfassen (kausale Evolu- lichkeit („Fitness“) eines Lebewesens ist
tionsforschung). Auch hier war es Darwin, daher am einfachsten an der Zahl über-
der die verblüffend einfache Lösung des lebender Nachkommen festzustellen.
Kausalproblems mit seiner Selektionstheo- Charles Darwins Selektionstheorie kam
rie („survival of the fittest“ – Überleben jedoch erst zur vollen Geltung, als es im
der Tauglichsten) erklärte. Er ging hierbei letzten Jahrhundert gelang, die Ergebnisse
von folgenden Tatsachen aus: der Vererbungslehre (S. 54) in seine Theo-
● Die Lebewesen erzeugen viel mehr Nach- rie einzufügen.
kommen, als zur Erhaltung der Art not-
wendig wäre. Obwohl zur Erhaltung der
Mutation
●
Art zwei zur Fortpflanzung gelangende
Nachkommen genügen würden, werden
oft Tausende, ja Millionen von Nachkom-
men erzeugt. Trotzdem bleibt in einem Definition
L
Lebensraum bei gleichen Umweltbedin- Als Mutation bezeichnet man eine zufäl-
gungen die Anzahl der Individuen über lig auftretende Änderung der Erbsubs-
längere Zeit konstant. tanz.
● Die Nachkommen eines Elternpaars sind
69
Genetik und Evolution
●
die Summe der Änderungen in einem be-
2
stimmten Zeitraum als Mutationsdruck
bezeichnet wird. Ihm steht der von der na- Definition
L
türlichen Auslese (Selektion) gesetzte Se-
lektionsdruck gegenüber, der ungünstige Als Gendrift bezeichnet man zufalls-
Mutationen ausmerzt. bedingte Änderungen des Genpools.
Diese Veränderungen können z. B. auch
ohne Mutationen und Selektionen auf-
Rekombination
●
treten.
Definition
L So kann eine Gruppe von Trägern be-
Durch die Rekombination der Erbanla- stimmter Merkmale innerhalb einer Popu-
gen bei der Bildung der Keimzellen ent- lation durch Krankheiten, Unwetter, Wald-
stehen immer wieder neue Allelkombina- brände oder andere Umstände plötzlich
tionen, d. h. neue Genotypen. Dies führt aussterben. An ihre Stelle kann sich der
zu einer hohen Variabilität und damit zu überlebende Teil der Population mit ande-
neuen Phänotypen. rer genetischer Zusammensetzung aus-
breiten. Auf diese Weise beeinflusst zufäl-
liger Tod oder zufälliges Überleben von
bestimmten Merkmalsträgern (und ihrer
Hierdurch werden die Voraussetzungen
Gene) die Zusammensetzung einer Popula-
geschaffen, dass geeignete Phänotypen mit
tion entscheidend.
ihren günstigen Genkombinationen die
Chancen für zufällig gutes Angepasstsein
erhöhen, worin die grundlegende Bedeu- Isolation
●
tung der Bisexualität zu sehen ist.
Eine genetische Rekombination ist nur
bei geschlechtlicher Fortpflanzung mög- Definition
L
lich, denn sie erfolgt durch Zufallsvertei-
lung der väterlichen und mütterlichen Gruppen von Individuen einer Art, also
Chromosomen sowie durch „crossing over“ Populationen, können sich durch Isola-
bei der Meiose. Da die Organismen im All- tion unterschiedlich weiterentwickeln,
gemeinen sehr viele Gene besitzen, ent- d. h., wenn sie voneinander getrennt
steht eine Fülle von Rekombinationsmög- werden und keinen gemeinsamen Gen-
lichkeiten für die Nachkommen, was dazu pool mehr bilden.
führt, dass praktisch nie ein Nachkomme
desselben Elternpaares dem andern gene-
tisch völlig gleich ist (Ausnahme: eineiige Unter den verschiedenen Isolationsmecha-
Zwillinge). nismen hat die sog. geografische Separa-
tion die verbreitetste und nachhaltigste
Wirkung. Eine geografische Separation
kann z. B. eintreten, wenn sich das Klima
ändert und Teile von Populationen etwa
durch Versteppung, Versumpfung oder
Vereisung ihres Areals in verschiedene
Richtungen abgedrängt werden. Das ur-
70
2.2 Evolution (Abstammungslehre)
2.2.3 Evolutionsbeweise
Homologe Organe
●
Als Beweise für die Evolution werden fol-
gende Belege herangezogen:
● embryologische Fakten: Onto- und Phy-
Definition
L
logenese,
● homologe Organe, Homologe Organe sind Organe, die im
● rudimentäre Organe, Bauplan der Lebewesen dieselbe Lage
● Atavismen. einnehmen und sich stammesgeschicht-
lich auf die gleichen morphologischen
Strukturen zurückführen lassen.
Onto- und Phylogenese
Definition ●
L
Als Ontogenese bezeichnet man die indi-
In diesem Sinne sind der Flügel der Fleder-
maus, das Grabbein des Maulwurfs,
die Flosse eines Wals und der Arm des
viduelle Keimesentwicklung, als Phyloge- Menschen homologe Organe. Trotz ver-
nese die über Millionen von Jahren ablau- schiedener Gestalt ist dieselbe Einteilung
fende stammesgeschichtliche Entwicklung in Oberarm, Unterarm, Handwurzel- und
der Lebewesen von wenigen einfachen Mittelhandknochen sowie Fingerglieder
(einzelligen) Formen bis zu den heute vorhanden und jedes einzelne Teil hat bei
existierenden verschiedenen Tier- und allen noch so unterschiedlich aussehenden
Pflanzenarten mit unterschiedlich hoher Gliedmaßen dieselbe Lage im Verband.
Organisationsstufe.
71
Genetik und Evolution
Kiemen-
bögen
●
men ihre Lebensweise vielfach geändert.
Definition
L Dies hat einen Funktionswechsel ihrer
Organe bedingt. Zu den eindrucksvollsten
Beweisen der Abstammungslehre zählen
Rudimentäre Organe sind weitgehend daher rudimentäre Organe. Solche Rück-
funktionslos gewordene, rückgebildete bildungen (Organrudimente) sind beim
Stadien eines Organs bzw. einer Struktur, Menschen z. B. das dichte Haarkleid des
wie z. B. das Steißbein als Rudiment einer Embryos, das Steißbein als Anlage einer
Schwanzwirbelsäule. embryonal angelegten Schwanzwirbel-
72
2.2 Evolution (Abstammungslehre)
säule, der Blinddarm mit dem Wurmfort- So können beispielsweise manche Men-
satz als Rudiment eines früheren größeren schen ihre Ohren sehr gut bewegen. Neu-
Darmanhangs, in dem Nahrung auf- geborene tragen manchmal ein Stummel-
geschlossen wurde oder die funktionslos schwänzchen. Das Auftreten überzähliger 2
gewordenen Muskeln der Ohrmuscheln. Brustwarzen, die entlang einer bauchwärts
Auch der sog. Darwin-Höcker, ein bei eini- gerichteten Milchleiste angeordnet sind,
gen Menschen am Ohr befindlicher kleiner erinnern an bauchständige Zitzenpaare,
Höcker, soll einer entwicklungsgeschicht- wie sie bei Säugetieren mit einer größeren
lich umgeformten Spitze des Säugetieroh- Zahl von Jungen pro Wurf üblich sind. Das
res entsprechen. Auftreten solcher Atavismen spricht dafür,
dass in diesen Fällen die entsprechenden
Gene noch im Genom enthalten, aber ent-
Atavismus
●
weder blockiert sind oder zu einem fal-
Definition
L schen Zeitpunkt in der Ontogenese aktiv
werden.
73
Genetik und Evolution
● Die Mendel-Gesetze (S. 55) beinhalten ● Man unterscheidet autosomale und go-
die Verteilungsregeln bei der Weiterga- nosomale Erbgänge und dabei jeweils
be einzelner Erbanlagen von Generation dominante und rezessive.
2 zu Generation und wurden formuliert, ○ Beim autosomal-dominanten Erbgang
bevor die Gene entdeckt wurden. Vo- (S. 59) ist der Phänotyp von einem
raussetzung sind erstens reinerbige Ver- dominantem Gen bestimmt, das auf
suchsorganismen (bezogen auf die be- einem Autosom liegt.
obachteten äußeren Merkmale) und ○ Beim autosomal-rezessiven Erbgang
zweitens die Lage der beobachteten (S. 61) liegt das rezessive Gen für das
Merkmale bzw. der sie bestimmenden Merkmal auf einem Autosom, das
Gene auf unterschiedlichen Chromoso- Merkmal prägt sich phänotypisch je-
men: doch nur bei homozygoten Trägern
○ 1. Mendel-Gesetz (Uniformitätsregel) aus.
(S. 56): Kreuzung zweier reinerbiger ○ Bei geschlechtsgebundenen (gonoso-
Organismen, die sich in einem oder malen) Erbgängen (S. 63) liegt die ge-
mehreren Merkmalen (Allelen) unter- netische Information für ein bestimm-
scheiden, ergibt phänotypische Uni- tes Merkmal auf dem X-Chromosom.
formität in der heterozygoten F1-Ge- Da kein homologes Allel auf dem Y-
neration beim dominant-rezessiven Chromosom vorhanden ist, besitzt ein
(dominantes Allel bestimmt Phäno- Mann jeweils nur ein Allel aller Gene
typ) sowie beim intermediären Erb- des X-Chromosoms, er ist somit hemi-
gang. zygot. Bei an das Geschlechtschromo-
○ 2. Mendel-Gesetz (Spaltungsregel) som gebundenen Erbkrankheiten sind
(S. 56): Aufspaltung der Phänotypen in bei X-chromosomal-rezessivem Erb-
der F2-Generation im Verhältnis gang Söhne häufiger erkrankt, wäh-
3:1 = dominantes : rezessives Merk- rend Töchter häufiger Überträger
mal; genotypische Aufspaltung (Konduktorinnen) sind. Bei den selte-
1:2:1 = reinerbig im dominanten nen X-chromosomal-dominanten Erb-
Merkmal : mischerbig mit dominan- gängen sind Töchter häufiger erkrankt
tem Merkmal : reinerbig im rezessiven als Söhne, weil bei erkranktem Vater
Merkmal. Beim intermediären Erb- die Söhne nie, die Töchter aber auf je-
gang ist die Aufspaltung phänotypisch den Fall das X-Chromosom des Vaters
wie genotypisch 1:2:1. erben.
○ 3. Mendel-Gesetz (Unabhängigkeits- ● Mutationen sind spontane oder durch
regel) (S. 59): Bei Kreuzung zweier mutagene Stoffe ausgelöste Verände-
reinerbiger Organismen, die sich in rungen im Genbestand der Körperzellen
zwei Merkmalen (Allelen) unterschei- (somatische Mutationen) oder der Keim-
den, werden die einzelnen Gene unab- zellen (germinale Mutationen):
hängig voneinander vererbt. Voraus- ○ Genmutationen (S. 66): Die Häufigkeit
setzung: Die Gene müssen sich auf beträgt 1:10 000 – 1:100 000. Verän-
verschiedenen Chromosomen befin- derungen der Basensequenz entste-
den. In der F2-Generation ergeben hen durch Fehler bei der identischen
sich 16 verschiedene Genotypen und Verdopplung (Replikation).
4 Phänotypen (Aufspaltung 9:3:3:1).
74
Zusammenfassung
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Genetik und Evolution
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© photoDisc
3.4 Muskelgewebe 95
3 Gewebe
Gewebe setzen sich aus Zellen und der von
ihnen produzierten, zwischen ihnen liegen-
3.2 Epithelgewebe
den Substanz (Interzellularsubstanz, von lat. Epithelgewebe ist Deckgewebe, es bedeckt
3 ‚inter‘ = zwischen) zusammen. Dabei bilden äußere und innere Körperoberflächen
immer die Zellen, die gleichartig gebaut (Haut und Schleimhaut). Mechanischen
(= differenziert) sind und ähnliche Aufgaben Halt bekommt es durch die dünne Basal-
erfüllen, einen Zellverband, z. B. Muskelzellen membran (Glashaut), auf der es sitzt. Da
das Muskelgewebe. Je nach Funktion des Ge- Epithelgewebe selbst keine Blutgefäße ent-
webes stehen Zelle oder Interzellularsubstanz hält, wird es vom darunterliegenden Bin-
im Vordergrund. So gibt es in Epithel-, Ner- degewebe ernährt. Im Unterschied zu die-
ven- und Muskelgewebe wenig Zwischenzell- sem besteht es hauptsächlich aus sehr eng
substanz, die Zellen stehen dicht nebeneinan- miteinander verbundenen Zellen und ist
der. Im Falle des Epithelgewebes hat dies u. a. so in der Lage, zwei Räume voneinander
den Sinn, dass eine Barriere nach außen oder abzugrenzen (Schutzfunktion). Innerhalb
innen entsteht, wie sie z. B. die Haut der Kör- der Epithelgewebe unterscheidet man im
peroberfläche darstellt. Im Bindegewebe da- Hinblick auf die im Vordergrund stehenden
gegen dominiert die Interzellularsubstanz, Leistungen:
weil das Bindegewebe neben vielen anderen ● oberflächenbildende Epithelien: bede-
Aufgaben die Funktion hat, Organe und Blut- cken äußere und innere Körperober-
gefäße miteinander zu verbinden. Dies erfor- flächen (als Haut und Schleimhaut),
dert viel Interzellularsubstanz zwischen nur schützen den Körper (Protektion) und
locker nebeneinanderliegenden Zellen. verbinden ihn durch Stoffausscheidung
(Sekretion) und Stoffaufnahme (Resorp-
tion) mit der Umwelt;
3.1 Gewebearten im ● Drüsenepithelien: produzieren Stoffe
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3.2 Epithelgewebe
Hornschicht
verhornende
Schicht
Stachelzellschicht
Basalzellschicht 3
Basalmembran
Blutgefäß
a Epidermis der Haut Lederhaut
resorbierendes
Epithel
Blutgefäß
Zottenbinde-
gewebe
b Dünndarmzotten
Epithel
Drüsenmündung
Ausführungsgang
der Drüse
Drüsenendstück
Sinneszellen
(Stäbchen und Zapfen)
Kerne der
Sinneszellen
Ganglienzellschicht
Blutgefäß
d Netzhaut im Auge Nervenfasern
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Gewebe
●
(▶ Abb. 3.2). Dieser sog. Bürstensaum be-
Definition
L schleunigt im Dünndarm die Aufnahme
von Nahrungsbestandteilen und dient z. B.
in der Gallenblase durch Resorption von
3 Oberflächenbildende Epithelien werden Flüssigkeit der Eindickung der Galle. Eine
nach ihrer Gestalt unterteilt in: besondere Form der Zellausstülpungen
● Plattenepithel, stellen die Stereozilien dar, die schmaler als
● isoprismatisches (kubisches) und Mikrovilli sind und häufig in dichten Bü-
● hochprismatisches (Zylinder-)Epithel. scheln auf der Zelloberfläche angeordnet
sind. Im Nebenhodengang dienen sie eben-
falls Resorptions- und Sekretionsvorgän-
Aufgrund der Anordnung der Schichten
gen.
(Schichtenbildung) werden sie in ein-
schichtiges, mehrschichtiges und mehr-
▶ Kinozilien. Sind die Zellfortsätze eigen-
reihiges Epithel unterteilt.
beweglich, spricht man von Kinozilien. Sie
kommen z. B. am respiratorischen Epithel
des Atemtraktes vor (▶ Abb. 3.2), wo eine
Mehrschichtige Epithelien werden nach der
Zelle zwischen 200 und 300 Kinozilien
Gestalt der obersten Zellschicht benannt,
trägt (Flimmerhaare). Durch koordinierte
z. B. mehrschichtiges Plattenepithel
wellenartige Bewegungen (etwa 20 Schlä-
(▶ Abb. 3.2). Mehrreihige Epithelien sind
g