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Musikalische Sozialisation

1. Sozialisation (Begriff)
- Steinbach 2018: in Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse. In M.
Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz & C. Stöger.

- Sozialisation: lebenslanger Prozess des aktiv-passiven Hineinwachsens in Gesellschaft und


Kultur
- Sozialisation als Prozess einer wechselseitigen Person-Umwelt-Beziehung (Hurrelmann &
Bauer 2015)
- Wegweiser für diese Ansicht: In 80er „Modell des produktiv realitätsverarbeitenden
Subjekts“ von Hurrelmann 1983: betont aktive und produktive Verarbeitungsleistung des
Individuums bei Wahrnehmung und Gestaltung seiner sozialen und materialen Umwelt
- Vollzieht sich über informelle und formelle, unbewusste und bewusste Lernprozesse, die zu
bestimmten (wiederholten) Verhaltensweisen und motivationalen Dispositionen des
Individuums führen

2. Musikalische Sozialisation
- Gembris 1987: (Lern-)Prozeß, in dem ein Individuum in eine Musikkultur hineinwächst, seine
musikalischen Fähigkeiten und Verhaltensweisen in Interdependenz zur sozialen, kulturellen
und materiellen Umwelt entwickelt und anpaßt. Lernprozeß, eingebettet in übergeordnete
regionale, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte, ist gekennzeichnet durch Imitation sowie
durch positive und negative Verstärkung
- Steinbach 2018:
o Auf Musik bezogene Entwicklung des Individuums
o Menschen entwickeln im Laufe musikalischer Sozialisation persönliche Kompetenzen
und Handlungsweisen zum rezeptiven und produktiven Umgang mit Musik
o Art und Ausprägung der Sozialisationsprozesse abhängig von vorhandenen
materiellen Möglichkeiten und sozialer Umwelt sowie verfügbaren Musikangebot
o Ergebnisse musikalischer Sozialisation: Musikgeschmack, individuelle Hör- und
Nutzungsgewohnheiten und unter Umständen Art und Qualität der eigenen
Musikausübung
- Kraemer 2007:
o aus gesellschaftlicher Sicht: Bereitstellung eines Angebotes an Situationen die den
differenzierten und angemessenen Umgang mit Musik ermöglichen

3. Soziale Dimensionen des Musiklernens


- Steinbach 2018

4. Bedingungsvariablen musikalischer Sozialisation (+Studien)


- Alter, Geschlecht, Persönlichkeit, Elternhaus, Peers, Ausbildung und sozialer Status,
historische Zeit, Umwelt, Massenmedien (Rösing in Helms, Schneider, Weber 1995)
-
Steinbach 2018:
- Variablen wie Bildung und sozioökonomischer Status, Herkunft, Lebensalter und Geschlecht
beeinflussen musikalische Sozialisation, wichtigste Sozialisationsinstanzen: Familie, Schule,
Peers und Medien
- Familie als primäre Sozialisationsinstanz nimmt zentralen Einfluss auf Grad der
Bildungsorientierung sowie den sozioökonomischen Status auch im weiteren Lebenslauf
o Bastian (1989) verwies bereits in seiner Studie aus 90ern darauf, dass die beim
Wettbewerb „Jugend musiziert“ erfolgreichen TN aus bildungshohen und fördernden
Familien stammten  Eltern als Auslöser des Instrumentalspiels, suchen
baldmöglichsten Kontakt zu qualifizierten Lehrern und investieren viel Zeit für Hobby
ihres Nachwuchses
o Bildungsbericht 2012 des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische
Forschung zeigt, dass Kinder mit MGH seltener institutionalisierte musikalische
Angebote, etwa Musikschule, besuchen
- (Olbertz) während ersten Lebensjahre nimmt Familie unter musikalischen
Sozialisationsakteuren hohen Rang ein
- Bereits im Kleinkind- und VS-Alter, besonders aber mit Schuleintritt werden familiäre
Bindungen durch Freundschafen mit Gleichaltrigen ergänzt
- 9-11-jährige Kinder orientieren sich eher an Musikpräferenzen der Eltern beim Radiohören,
setzen sich aber von Präferenzen der Großeltern bereits stärker ab
- Mit 11-12 Jahren vermehrt eigene Entscheidungen bei Wahl des Radiosenders getroffen
- Mit Eintritt in Pubertät verstärkt sich dies hin zur Ablehnung des Musikgeschmacks der Eltern
und zur Orientierung an Musikpräferenzen anderer Jugendlicher
- Musikgeschmack kann im Zsh. mit Identitätsentwicklung und -konsolidierung im Jugendalter
Ausdruck sozialer Identität und Mittel zur Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen sein
- Geschlechtsspezifische Unterschiede: mehr Mädchen als Jungen besuchen U-Angebot der
musikalischen Früherziehung
- GS-Kinder finden Klavier, Flöte und Geige passend für Mädchen und Trompete, Gitarre und
Schlagzeug eher für Jungen geeignet (Olbertz)
- Schule nimmt Sozialisationsfunktion als Bildungssystem auf vier Ebenen ein:
o 1.: in direkter Person-zu-Person-Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden
o 2.: in der Beziehung zwischen LK und dem Kollektiv der Schülerschaft,
o 3.: Schülerschaft untereinander
o 4.: Als Organisationsstruktur mit eigenen Verhaltensnormen
- Diskrepanz zwischen hoher Relevanz von Musik im Alltag Jugendlicher und dem durch SuS
durchschnittlich weniger och eingeschätzten Stellenwert des Schulfachs Musik erkennbar
- Marginalisierung des Schulfaches Musik für musikalische Sozialisation aufgrund vielfältiger
informeller Zugangswege zu Musik konstatiert
- Medien haben sich als wesentliche Instanz musikalischer Sozialisation entwickelt
- Soziale Dimensionen des Musiklernens:
o Bereits in ersten Lebensjahren gehen mit Bindungserfahrungen auch musikalische
Aneignungs- und Interaktionsprozesse einher
o Auch im weiteren Lebensverlauf ist Eltern-Kind-Beziehung für Musiklernen hoch
relevant, Interesse der Eltern für musikalische Aktivität der Kinder, ihre
Unterstützung und Förderung wesentliche Kriterien für Lernerfolg und Interesse an
Musik
o Ist im Elternhaus Musikinstrument vorhanden  Kinder zeigten höheres Interesse
am Erlernen eines Instruments, beschäftigten sich zuhause mehr mit Musik und
wiesen bessere Ergebnisse bei musikalischen Präzisionstests auf
o Impuls zum Erlernen eines Instruments kommt über Vorbildfunktion von selbst
musizierenden Eltern oder Verwandten zustande, auch Geschwister als wichtige
Vorbilder
o Trotz Schülerorientierung bleiben LK als Vorbild und Lernen am Modell wichtige
Elemente in der L-S-Beziehung musikalischen Lernen
o Bestimmte musikalische Kompetenzen werden nicht nur bei physisch anwesender
Lehrperson abgeschaut, sondern auch über Rezeption von Musikvideos, das
Heraushören z.B. bestimmter Akkorde aus Audios und nicht zuletzt in Video-Tutorials
erworben  besondere Rolle der Peer-to-Peer Interaktion in
Musikvermittlungsprozessen

- Kraemer 2007: musikalische Sozialisationsinstanzen


o Lebensbedingungen der Kinder können sehr verscheiden sein: wer auf Land
aufwächst empfängt andere musikalische Eindrücke als der Stadtmensch, nicht alle
Eltern können oder wollen Kind Instrumentalspiel ermöglichen
o Sozialisationsforschung richtet Augenmerk auf prägende Einflüsse des für
Zusammenleben wichtigen Umfelds, zudem die so genannten Sozialisationsinstanzen
zählen
 Kleingruppen und soziale Netzwerke (Familie, Verwandtschaft, Gleichaltrige,
Freundeskreis)
 Organisierte Sozialisationsinstanzen (Kindergarten, Musikschule, Schule,
Hochschule)
 Öffentliche Einrichtungen (Medien, Kirchen, Verbände, Vereine)
 Ökonomische, technologische, politische, soziale, kulturelle, geografisch und
historisch bestimmte Rahmenbedingungen (Nationalität, Regionalität,
öffentliches Musikleben)
o Hier empfangen sie Anregungen, lernen spezifische V-Muster (z.B. bestimmte
Umgangsweisen mit Musik) und Wertvorstellungen kennen (z.B. Musikpräferenzen)
o Ältere Sozialisationstheoretische Auffassung: Menschen unterliegen Einflüssen und
passen sich Umwelt an
o Neuere Ansätze gehen davon aus, dass sich Ki + Jug aktiv eigene musikalische
Umwelt schaffen
o Inwieweit sich Person durch persönliches Umfeld beeinflussen lässt abhängig von
Stärke der Außenwirkung, andererseits von der jeweiligen Persönlichkeit, ihren
Eigenheiten, ihrer körperlichen Konstitution, der sozialen Herkunft, dem
Ausbildungsstand, dem Geschlecht und Alter

Orientierungen und Prägungen:

- musikalische Erfahrungen in ersten Lebensjahren für weitere Entwicklung bestimmend


- in Kindheit sind Eltern Modellpersonen, an denen sich Kinder orientieren
- es dominieren Imitationslernen und Lernen durch Verstärkung, für musikalische Entwicklung
bedeutsam erweisen sich:
o Musikerfahrungen des Kindes (in Familie häufig gesungen, musiziert oder bestimmte
Musik gehört)
o Nonverbale Kommunikation zwischen Bezugspersonen und Säugling (Vermittlung
emotional-kommunikativer Inhalte über musikalische Parameter wie Tonhöhe,
Melodik, Rhythmus, Tempo, Dynamik – Erwachsene sprechen z.B. mit Kindern in
bestimmter Weise)
o Musikalisches Interesse, Einstellungen der Eltern, Geschwister und Verwandten
o Förderung und Unterstützung musikalischer Aktivitäten durch Eltern (gemeinsames
Singen mit Kindern, Anregung zum Instrumentalspiel, Engagement beim Üben,
bewusste Auswahl des Musikangebots)
o Verfügbarkeit von Musik über Medien (Audio- und Videogeräte, Computer im
Eigenbesitz der Kinder und im Bestand der Eltern und Geschwister)
o Vorhandensein von musikalischem Spielzeug und Instrumenten
o Toleranz der Eltern gegenüber den musikalischen Aktivitäten der Kinder
- Musikalische Erfahrungen im KiGa und in ersten Schuljahren bleiben in Erinnerung
Erwachsener besonders wach
- als hinderlich für Vermittlung von Musik in Schulen erweist sich Tatsache, dass heute in
Familien nicht mehr so häufig wie früher gesungen oder gar musiziert wird
- Mit Beginn der Pubertät richten sich Jugendliche stärker an der Gruppe der Gleichaltrigen
aus
- Technische Medien ermöglichen Allgegenwart von Musik und ihre

Bedeutsamkeit der sozialisationstheoretischen Erkenntnisse für Unterricht in Hinblick auf


musikalische Entwicklung

- Musikalische Erfahrungen im KiGa und in ersten Schuljahren bleiben in Erinnerung


Erwachsener besonders wach
- als hinderlich für Vermittlung von Musik in Schulen erweist sich Tatsache, dass heute in
Familien nicht mehr so häufig wie früher gesungen oder gar musiziert wird

Musikpräferenz als Ergebnis musikalischer Sozialisation (Olbertz)

- nach Kleinen (2008) kann die musikalische Sozialisation einer Person in erster Linie an
ihren musikalischen Präferenzen „abgelesen“ werden
- auch musikalische Fähigkeiten, Aktivitäten, Rituale, Hörweisen, Wirkungen und
Funktionalisierungen von Musik immer Ergebnisse musikalischer Sozialisation
- auch im Erwachsenenalter werden musikalische Fähigkeiten, Einstellungen und V-Weisen mit
sozialer Umwelt abgeglichen und modifiziert
- Akteuren im Rahmen musikalischer Sozialisationsprozesse kommt von Fall zu Fall
unterschiedlich große Bedeutung für individuelle Entwicklung zu
o Individuum:
 Schon Babys und Kleinkinder reagieren individuell auf Klänge, Stimmen,
Instrumente, musikalische Angebote usw.
 Babys können von Anfang an Einfluss auf musikalisches Umfeld nehmen
 Im Jugendalter geht Entscheidung für bestimmte Musikrichtung oft einher
mit persönlicher Zustimmung zu bestimmten Lebens- und Kleidungsstil, zu
moralischen und politischen Einstellungen und ist deshalb zunehmend
identitätsbildend
Literatur:

- Kraemer, R.-D. (2007). Musikpädagogik – eine Einführung in das Studium. Augsburg: Wißner
Verlag.
- Olbertz, F. (2018). Sozialisationsakteur_innen. In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz &
C. Stöger (Hrsg). Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse (S. 124-
131). Münster, New York: Waxmann Verlag.
- Steinbach, A. (2018). Musikalische Sozialisation und soziale Dimensionen des Musiklernens.
In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz & C. Stöger (Hrsg). Handbuch Musikpädagogik.
Grundlagen – Forschung – Diskurse (S. 228-235). Münster, New York: Waxmann Verlag.
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