EINER MEDIZINISCHEN
ANTHROPOLOGIE
AUSGEWÄHLTE AUFSÄTZE
VON
S PR IN GER - VER LA G
BERLIN . GOTTINGEN· HEIDELBERG
1954
ISBN 978-3-642-87965-4 ISBN 978-3-642-87964-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-87964-7
von vielen Seiten her immer neu einsetzende Bemühung um den Sinn und
die Grundformen des menschlichen Daseins getätigt und vorbereitet werden
kann. Offen steht überhaupt die prinzipielle Frage, ob in einer Grundlehre
vom menschlichen Wesen nicht mit einbezogen werden muß der Umstand,
daß der Mensch als das "nicht festgestellte Tier" FRIEDRICH NIETZSCHEs
grundsätzlich und endgültig einem das Insgesamt seiner Wesenszüge fest-
legenden Totalentwurf entzogen bleibt, so daß die geforderte Grundlehre
von ihm den "Geheimnisstand" (NovALIS) zu berücksichtigen hat, in den
eingesetzt der Mensch immerzu über seine angebbaren Wesenszüge hinaus ist.
Wohl mögen die Ränder seines vielseitigen Daseins im Lauf der Wanderung
durch die Jahrtausende sich weiter und weiter hinausrücken lassen, ein
letztes, nicht aufzuhellendes Dunkel aber hält den jeweiligen Vorstoß unent-
rinnbar umfangen und dies unvermeidlicherweise, weil eben konstitutiv für
das Wesen des Menschseins das ist, was die Romantik hellsichtig das Stehen
im "Geheimnis" genannt hat.
Gemessen am Ganzen der menschlichen Existenzmöglichkeiten, die erst
in weiten Zeiträumen sich zu entfalten vermöchten, scheinen die anthropolo-
gischen Entwürfe der Gegenwart zu einer gewissen Einseitigkeit verurteilt
zu sein. Auszunehmen wäre die umfassende Strukturanalyse des Menschen
von MAx SCHELER. Auch diese aber wird infolge der Ungeklärtheit ihrer
ontologischen Grundlagen und durch die phänomenologische Unverbindlich-
keit ihrer letzten Aussagen, indem sie äußerste Anregung bedeutet, doch den
Erkenntniswillen nicht ins Ziel tragen.
Die anthropologischen Versuche der Gegenwart sind, alles in allem, als
jeweils verschiedene "Aspektlehren" vom Menschen zu verstehen. Das heißt,
irgendein allerdings konstitutiver Grundzug des Menschen wird in mög-
lichster Vollständigkeit herausgearbeitet.
Was dabei erreicht wird, ist, wenn man der Lehre vom Menschen diese
Einseitigkeit konzediert, durchaus sinnvoll. Sinnvoll, ja bewunderungs-
würdig ist z. B. das ausschließlich biologisch orientierte Werk von A. GEHLEN
(Der Mensch). Lehrreich ist es vor allem dadurch, daß vom biologischen
Gesichtspunkt her die Sonderstellung des Menschen entwickelt wird und daß
in der "Handlung" als Grundform des spezifisch menschlichen Verhaltens die
fundamentale "Vitalkategorie" (OSWALD SCHWARZ), die gegen den Unter-
schied Leib, Seele, Geist indifferente Achse, aufgezeichnet wird, auf welche
die Erscheinung des Menschen zu beziehen ist. Daß der Mensch in dieser
Sicht zum homo faber vereinseitigt wird, ist kein Einwand, sondern besagt
nur, was wir selbst behaupten, daß eine Wesenslehre vom Menschen heute
im allgemeinen dazu verurteilt ist, "Aspektlehre" zu sein.
Auch eine medizinische Anthropologie gelangt vorerst über Teilansichten
vom kranken Menschen nicht hinaus. Dieses Umstandes ist sich ihr heute
repräsentativster Vertreter, VIKTOR VON WEIZSÄCKER, voll bewußt. Um
ihrer Aufgabe aber mächtig zu werden, hat sie vorbereitenderweise und unter
Vorwort. V
V. E. v. Gebsattel.
Inhalt.
Erster Teil:
Zweiter Teil:
Über Ort und Zeit des ersten Erscheinens der einzelnen Studien und Beiträge orientiert
das Schriften verzeichnis am Ende des Bandes.
Erster Teil.
Studien zur speziellen Psychopathologie.
Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie.
Versuche einer konstruktiv-genetischen Betrachtung der Melancholie-
symptome.
BONHOEFFER schon im Jahre 1912, aber auch andere, wie ASCHAFFEN-
BURG, HEILBRONNER, KRÄPELIN, REISS, usw., hatten darauf hingewiesen, daß
Erscheinungen des Zwangsirreseins sehr häufig auf dem Boden der manisch-
depressiven Erkrankung sich entwickeln und selbst zirkulären Schwankungen
unterworfen sind. Wenn also bald wahnhafte Bildungen auftreten, bald
Zwangssymptome, beide auf der Grundlage des Manisch-Depressiven, so
drängt sich die Frage auf, wieso die endogene Störung einmal im Wahn, das
andere Mal in Zwangssymptomen sich objektiviert. Auch wenn, einer sehr
richtigen Beobachtung BONHoEFFERs zufolge, wahnhafte Gedankengänge
oft trotz bestehender kritischer Einstellung, also trotz eines unversehrten
Wirklichkeitsbewußtseins zwangsmäßig skh aufdrängen, wenn man also
Wahn und Zwang gelegentlich verknüpft findet, so überwiegen doch die Fälle
einer deutlichen Sonderung beider Symptome und die Frage bleibt bestehen,
wieso denn die gleiche biologische Störung der endogenen Gehemmtheit
einmal den Wahn, ein andermal die Erscheinungen des Zwanges aus sich
hervortreibt.
Es lag nahe, für diese Symptomwahl eine besondere Konstitution des
Erkrankten verantwortlich zu machen, und REISS hat in seiner heute noch
wichtigen Untersuchung mit Erfolg auf die Verankerung der Zwangssym-
ptome im Anlageganzen des konstitutionell Verstimmten hingewiesen. In die
gleiche Richtung weist die Arbeit von J. LANGE. Die psychoanalytische
Schule ihrerseits, vorzugsweise durch die Arbeiten FREuDs, hat bedeutsame
charakterologische Beiträge zur Natur des Zwangs kranken gebracht. Dennoch
befriedigen diese an sich wichtigen Untersuchungen noch nicht unser
Bedürfnis nach Einsicht in das genetische Hervorgehen der heterogenen
Melancholiesymptome aus ihrem biologischen Fundament, der endogenen
Hemmung.
Neuerdings hat E. STRAUS zu diesem Problem einen außerordentlich
bedeutsamen Beitrag geliefert mit seinem Versuch, die Symptome des Zwangs
und des Wahn durch Rekurs auf das Zeitmoment gleichsam in ihrer Wurzel
zu differenzieren. Für die Strukturanalyse der Zwangs- und Wahnsymptome
bedeutet dieser Versuch einen gewaltigen Fortschritt, und wir werden im
folgenden sehen, daß die Natur des Zwanges nach den immer noch grund-
legenden Arbeiten FRIEDMANNs über die Natur des Zwanges erst durch das
Zurückgreifen auf das Zeitmoment einem weiteren Zusammenhang des Ver-
ständnisses eingeordnet werden kann.
v. Gebsattel, Anthropologische Schriften. 1
2 Studien zur speziellen Psychopathologie.
aufhören können, so zu denken. Es ist ganz unvorstellbar, daß man jemals anders denken
kann, wenn man einmal damit angefangen hat. Das Beunruhigende ist, daß dieser Zustand
sich verschärft. Er verschärft sich, weil die Zeitabschnitte, die ich denken muß, immer kürzer
werden, wodurch die Hetze immer größer wird, so daß schließlich der Zustand ins Irrenhaus
führen muß. Der Zustand fing damit an, daß ich meinen Tag zu Hause nicht einteilen konnte.
Nun aber werden die Zeitabschnitte, bei denen ich denken muß: das hat eine Stunde
gedauert, das eine Minute, das eine Sekunde, immer kürzer. Auch beim Handarbeiten muß
ich bei jeder Masche, bei jedem Einstich der Nadel immer an die Zeit denken. Der Zustand
knüpft an Geräusche an, an Wahrnehmungen, und ist eng verknüpft mit Selbstmord-
gedanken, weil das Ganze unheimlich ist und unerträglich."
Ein anderes Mal sagte sie: "Wenn ich Sie spreche, dann fällt das Wort ,spreche' weg,
dann das Wort ,weg'. Erst sind es Worte, die so vergehen, dann Buchstaben. Das alles
vergeht, stückweise, schrittweise. Diese Störung mit der Zeit setzte blitzartig ein, im Som-
mer, als ein Radfahrer mir durch die Bewegung seiner Beine auffiel und ichd abei zum ersten-
mal denken mußte: ,Hinauf, herunter, eine Sekunde, noch eine Sekunde'. Oft ist gar kein
äußerer Anlaß zu diesen Gedanken, dann muß ich mir vorstellen, daß ich zu Hause oder hier
die Treppe hinaufgehe: eine Stufe, noch eine Stufe, eine Sekunde, noch eine Sekunde, usw."
"Nach meiner Meinung kann das nie aufhören. Bei jeder Bewegung muß ich denken:
Jetzt tue ich das, jetzt das, z. B. Kleider in den Schrank hängen, anziehen, ausziehen usw.
Dieses Denken ist etwas Grausiges, es ist eine Art Töten (?), darum hängt es auch mit dem
Selbstmord zusammen."
A Tod
Das "Grausige" erklärt sie durch eine Zeichnung: :1-------+------------1
Dieser Strich bedeutet die ihr zugemessene Lebenszeit. An einer Stelle A dieser Strecke
befindet sie sich, der Endpunkt der Strecke ist der Tod. - "Mit allem, was ich tue, wird
die Strecke, die mich vom Tode trennt, kürzer. Darum habe ich Angst, vor allem, was ich
tue, aber auch vor dem Denken. Wenn z. B. jemand sagt, er freue sich über den Frühling,
auf die Blumen im Garten usw., so kann ich das nicht verstehen, denn ich muß immer denken,
daß, wenn der Frühling gekommen ist, die Strecke wieder ein Stück kürzer geworden, der
Tod wieder ein Stück näher herangekommen ist. Wie kann man sich darüber freuen?
Dabei fürchte ich mich gar nicht vor dem Tod, ja, ich denke ihn mir sehr schön, aber der
Gedanke, daß alles vergeht und daß das Leben immer kürzer wird, macht mir Angst.
Auch wenn ich z. B. häkele, liegt der Nachdruck nicht darauf, daß die Decke wächst, die
ich häkele, sondern darauf, daß durch das Wachsen der Decke die Lebensstrecke immer kür-
zer wird. Das finde ich furchtbar. Darum will ich mir immer das Leben nehmen, um von
diesem Denken loszukommen, habe aber das Leben sehr gern."
Ein anderes Mal sagte sie: "Ich habe furchtbare Angst." - Vor was? - "Davor, daß eine
Minute nach der anderen vergeht und der Tod immer näher kommt. Ich habe Angst vor
der Reise in die Schweiz. Die andern freuen sich darauf und denken sich alles Mögliche
aus, z. B. daß sie am ersten Tag das machen, am dritten das usw. leh überspringe gleichsam
die 3 Wochen Reise und denke nur, daß ich nach drei Wochen wieder im Bett liege und daß
gar nichts sich geändert hat und daß ich nur 3 Wochen näher an den Tod herangekommen
bin. Das Ganze ist so sinnlos, auch die Reise. Diese Sinnlosigkeit ist so quälend: Alles ver-
geht und vergeht und freut einen nicht und vergeht nur, bis der Tod kommt. Verstehen
Sie nicht, daß ein Mensch, der einmal angefangen hat, so zu denken, nie wieder damit auf-
hören kann?" "Ich glaube, daß meine Krankheit ihren Grund in der Angst vor dem Älter-
werden hat. Ich saß schon immer im Haus herum, dabei verging die Zeit, und aus mir wurde
nichts, und das regte mich auf. Als die Schwester heiratete, habe ich mir ausgerechnet:
In einem Jahr, in zwei, in drei Jahren komme ich dran. Ich komme dran, wie eben auch die
andern Frauen drankommen. Das erscheint mir so sinnlos. Ebenso beim Sprechen in einer
1*
4 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Gruppe: Jetzt kommt der dran, jetzt dieser, jetzt ich. Ich .rede, eben weil ich drankom:me,
und das ist s'o sinnlos. - Ich freue mich schon, z. B. wenn man mir etwas schenkt und
man nett zu mir ist, aber etwas Furchtbares ist in allem dabei, daß doch alles eigentlich
egal ist. Das war zeitweilig so stark, daß ich gar nichts mehr tun konnte, gar nicht aus dem
Bett aufstehen, gar nicht mich anziehen konnte, weil doch alles egal ist. Auch Spielen,
z. B. Ping-Pong oder Tennis, ich kann es schon, aber alles mit Zwang, immer muß ich mich
zwingen, eigentlich kann ich es nicht, und es bleibt sinnlos, eigentlich muß ich immer
denken: Jetzt schlage ich den Ball, jetzt jener, jetzt bücke ich mich - wozu das Ganze ..
Ich muß mich furchtbar zwingen, überhaupt zu leben. Das Schreckliche ist, daß ich mich
so gut beherrschen kann, so daß die anderen gar nichts merken, ja, daß ich sogar lachen und
lustig sein kann. Wenn ich verrückt wäre und herumtobte und herumschrie, würde ich
weniger leiden. Zu allem muß ich mich zwingen, alles kostet überwindung, nur ein Viertel
von mir tut mit, ja nicht einmal ein Viertel."
Man könnte nun sagen, daß an diesen Selbstangaben nichts Auffälliges sei,
daß es sich um ein ganz alltägliches Zwangsdenken handele~ dessen Inhalt
zufällig die Zeit sei. Die klinische Typizität des Falles zugegeben, bleiben
aber noch immer zwei Fragen offen: Einmal die Frage, warum das Zwangs-
denken sich hier gerade auf die Zeit bezieht, eine Frage, die nur durch eine
historisch-genetische Untersuchung im Sinne der psychologisch-individuali-
sierenden Analyse zu beantworten ist; und die andere Frage, warum dieses
aus der Entwicklungsgeschichte der Persönlichkeit zu verstehende, gleichsam
materielle Interesse an der Zeit die formale Verarbeitung in der Gestalt des
Zwangsdenkens erfährt. Eine rein psychoanalytische Betrachtungsweise
könnte wohl verständlich machen, wieso die erkrankte Persönlichkeit dazu
kommt, gerade die Zeit in den Mittelpunkt ihrer Einstellung zu rücken,
niemals aber vermag diese Betrachtungsweise die Verarbeitung der zeit-
bezogenen Einstellung mit den Mitteln des Zwangs zu erklären. Dies vermag
nur eine konstruktiv-genetische Betrachtung der Symptome l • Nur die
Gesichtspunkte einer konstruktiv-genetischen Analyse ermöglichen die Ab-
leitung der Melancholiesymptome aus ihrem biologischen Fundament, der
endogenen Hemmung, - eine Aufgabe, die dieser Fall von zeitbezogenem
Registrierzwang ganz besonders gebieterisch zu stellen scheint.
Wir sehen eine Patientin, die sich zwangsmäßig, dauernd mit der Zeit
beschäftigt. Und zwar leidet sie unter dem Verstreichen der Zeit, unter dem
ständigen Eindruck ihres Vergehens. Es fällt ihr also etwas auf, das zum
mindesten in diesem Ausmaß normalerweise gar nicht zum Bewußtsein kommt.
Zwar kann sich unser Zeitdenken auf das Vergehen der Zeit einstellen, diese
Einstellung erfolgt aber nicht ursprünglich, sie steht vielmehr unter der
Herrschaft einer gewissen Lebensproblematik und hat zur Voraussetzung eine
Entfremdung des Menschen von der Lebensunmittelbarkeit des völlig naiven,
unreflektierten Daseinsgefühls. Soweit dann allerdings diese Einstellung
wirksam ist, kann der Eindruck entstehen, als verkleinerte sich die dem ein-
zelnen zugemessene Zeitstrecke durch jeden Akt, durch jedes Tun, durch sein
ganzes Verhalten affektiver, motorischer, volitiver Art, eine Tatsache, für
die BALZAC in der Peau de Chagrin· ein grandioses Symbol geschaffen hat.
Hier wird die Lebenszeit durch ein räumliches Gebilde veranschaulicht, durch
das flächenhaft ausgedehnte Stück Leder, dessen wunschverursachtes Schrump-
fen und Hinschwinden das unaufhaltsame Hinschwinden der Lebenszeit
sichtbar macht. Ein räumliches Symbol also veranschaulicht die Zeit, ent-
sprechend der Tatsache, daß wir das an sich ungegenständliche Wesen der
Zeit überhaupt nur mittels räumlicher Schemata vergegenständlichen können.
Erinnern wir uns daran, daß unsere Patientin das Vergehen der Zeit, das Hin-
schwinden der ihr zugemessenen Lebenszeit sich auch im Bilde einer suk-
zessiv abbröckelnden Linie vergegenwärtigt, so werden wir gleich zu Anfang
unserer Untersuchung aufmerksam, daß die Zeit, von der unsere Patientin
spricht, nicht die Zeit ist, in der wir normalerweise dauernd leben, sondern
daß es sich hier um eine eigenartig objektivierte Zeit handelt, also um eine
besondere Fassung des Zeitwesens, deren Zustandekommen selbst eine
Erklärung fordert.
Um hier deutlich zu sehen, muß man sich zweierlei vergegenwärtigen:
einmal, daß für gewöhnlich die Zeit nicht als vergehende, sondern als bevor-
stehende erlebt wird, ein Sachverhalt, den MAX SCHELER so ausdrückt, daß
er sagt: "unser ursprüngliches Zeiterlebnis geht auf das hin, was Zukunft
genannt wird. Diese Gerichtetheit einsinniger Art auf Zukunft ist der Existenz-
art des Lebens wesentlich." Zweitens wird für gewöhnlich die Zeit nicht als das
Medium erlebt, i? dem unser Wenigerwerden, unser Zugrundegehen, ein
Abnehmen und Hinschwinden der Persönlichkeit sich abspielt, sondern um-
gekehrt als das Medium für ein Mehrwerden, eine Entfaltung, "ein Wachstum
unserer Persönlichkeit" CE. STRAUS). Diese beiden Momente aber, daß wir
primär zukunftsbezogen sind, und das andere Moment, daß wir in diese Zu-
kunft hinein uns ausdehnen, in sie hineinwachsen und dabei einen Fülle-
zuwachs der Selbstverwirklichung, ein Mehrwerden in Selbstentfaltung und
Selbststeigerung erfahren, stehen untereinander in ebenso einsichtigem und
notwendigem Zusammenhang wie die beiden anderen Momente: das Erlebnis
des Abnehmens, des Wenigerwerdens oder Hinschwindens unserer Persön-
lichkeit und das Vergehen oder Verstreichen der Zeit.
Für gewöhnlich aber werden wir dieses objektiv feststellbare Vergehen
und Verstreichen der Zeit erlebnismäßig nicht inne, weil der Schwung und
Antrieb, mit dem das sich entfaltende Leben der Persönlichkeit diese mittels
ihrer Projekte und Pläne in die Zukunft hineinträgt, dem Blick das Element
des Vergehens völlig zu verdecken pflegt. Erst wenn dieser Werdegang und
Werdelauf der Persönlichkeit aus irgendwelchen Gründen zum Stillstand
kommt, sei es, weil eine Problematik des Daseinsgefühls den zukunftsbezoge-
nen Tätigkeitstrieb anhält und in Besinnung umwandelt, sei es, weil die vitale
6 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Hemmung der Melancholie ihn lähmt und fesselt, erst dann kann die so ver-
änderte Zeitbestimmung des Erlebens nun auch zum Bewußtsein kommen,
ja evtl. Dauerzustand werden.
Zu einem solchen Dauerzustand wird 'die veränderte Zcitbestimmtheit des
Erlebens im Fall unserer Patientin. Bei jedem Wassertropfen, beim Ticken
der Uhr, beim Piepsen eines Vogels, beim Hören eines Worts, beim Sehen
einer Bewegung, bei jedem Einstich ihrer Nadel in die Handarbeit, muß sie
denken, und zwar: "eine Sekunde, wieder eine Sekunde", und "Vorbei,
vorbei". Sie registriert das Vergehen der Inhalte, und zwar zwangsmäßig.
Daran ist auffallend, einmal dies, daß überhaupt solche Inhalte registriert
werden. Das Ticken der Uhr, die einzelnen Bewegungen eines Menschen,
die Worte, usw. kommen bei tagesüblicher Einstellung gar nicht zum Bewußt-
sein. Zum mindesten stehen sie nicht im Mittelpunkt der Beachtung, weil
für gewöhnlich ein zeitlich geordnetes "Beachtungsrelief" (PFÄNDER) die
Inhalte nach anderen Gesichtspunkten gruppiert, als der Registrierzwang das
tut. Es liegt schon eine Störung, die erklärt werden muß, einfach in dem Um-
stand, daß überhaupt mehr oder minder gleichgültige, ja relativ auf die Akzent-
verteilung des normalen Denkverhaltens zufällige und nebensächliche Situa-
tionselemente von der Aufmerksamkeit pointiert werden. .Wir kennen solche
Aufmerksamkeitsstörungen aus anderen Situationen. So neigt der Ermüdete
zu registrierender Beachtung gleichgültiger Inhalte, der Straßenschilder z. B.,
der Hausnummern usw., für deren Beachtung die passivere J etzt-hier-Beziehung
mehr bestimmend ist als die aktivere Jetzt-dann-Beziehung. So schildert
DOSTOJEWSKIJ auf Grund eigener Erfahrung einen Mann, der unter dem Ein-
druck seiner nahe bevorstehenden Hinrichtung mit höchster Schärfe ganz
gleichgültige Umgebungsbestandteile ins Auge faßt: den Knopf eines Unifor·
mierten, den Schlips eines Passanten, Pflastersteine usw. So erleben wir selbst
unter dem Druck irgendeiner nicht zu bewältigenden Sorge die Abwanderung
der Aufmerksamkeit auf das Allernebensächlichste. Eine gewisse Ablenkbar-
keit scheint sich aus der Reaktion des Tätigkeitstriebs auf seine Behinderung,
Hemmung, Bedrückung usw. ohne weiteres erklären zu lassen. Wo wir behin-
dert sind, die Welt aktiv zu ergreifen und zu gestalten, drängt sie sich uns auf,
und zwar in der atomistischen Ungestalt vereinzelter Inhalte.
Auch die Ablenkbarkeit der Melancholie folgt diesem Gesetz. Zwar
registriert unsere Patientin die einzelnen Inhalte und bekundet darin Aktivität.
Sie registriert aber nur, was sich ihr aufdrängt. An erster Stelle steht ein pas-
sives Sichaufdrängen sachlich gleichgültiger Inhalte, und zwar ist es nicht die
qualitative Beschaffenheit der Inhalte, auch nicht ihre praktische Situations-
bedeutung oder sonst irgendein sachliches Merkmal, durch das Geräusche,
Bewegungseindrücke usw. sich aufdrängen. Sondern irgendeine Verfassung
der Kranken muß dieses Wichtigwerden des Unwichtigen erklären. Anderer-
seits läßt sich doch vielleicht aus der Gestalt der registrierten Inhalte ablesen,
welches denn die Verfassung der Kranken sein mag. Die Gestalt der Inhalte
Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie. 7
ist nämlich eine Zeitgestalt. Sie sind gekennzeichnet als vergehende, als
sekundenlang dauernde und vergehende Inhalte. Das, wodurch sie sich auf-
drängen, ist ihre Zeitgestalt. Diese ist der Kranken wichtig. Und zwar darum,
weil sie in dieser Zeitgestalt ihre eigene, subjektive Zeitbestimmtheit inne-
wird. Nur weil die eigene Zeitbestimmtheit in ihnen zur Darstellung, zu einer
Art Objektivität gelangt, drängen sich die Inhalte auf und werden zum Erleb-
nis. Erlebt wird somit an ihnen und in ihnen die Zeitbestimmtheit der eigenen
Lebensverfassung, die in der vergehenden, vorüberstreichenden Natur der
Inhalte kund und offenbar wird. Es ist darum auch das Gefühl vorhanden
einer inneren Wahrheit, welche die Patientin so ausdrückt, daß sie sagt: "ich
erkenne etwas, was die anderen nicht erkennen. Ich habe eine unglückliche,
aber ganz logische Weltanschauung. Man kann eigentlich gar nicht anders
denken als ich." Wir haben keinen Grund, an der subjektiven Richtigkeit
dieser Feststellung zu zweifeln. Offenbar befindet sich die Patientin in einer
Verfassung, die durch den Registrierzwang adäquat ausgedrückt wird, und
diese Übereinstimmung von Symptom und innerem Zustand erweckt in der
Patientin die Überzeugung, daß sie völlig richtig denkt und keineswegs
falsch. Eine Feststellung, die uns von allergrößter Bedeutung erscheint, da
wir der Meinung sind, daß jedes Melancholiesymptom, auch der Wahn als
Ausdruckstatsache, aufzufassen ist und insofern eine symbolische Wahrheit
besitzt, relativ auf einen symbolschaffenden inneren Zustand des Kranken.
Wir wiederholen also: Es ist das Vergehen der Zeit, das sich in erster
Linie aufdrängt, und die einzelnen Inhalte selbst, an denen das Vergehen der
Zeit erlebt wird, haben keine andere Bedeutung als die, dem sich aufdrängen-
den Eindruck des Vergehens Haltepunkte zu geben. Die Inhalte sind aus-
wechselbar; das Entscheidende an ihnen ist, daß das Zeiterlebnis des Ver-
gehens an ihnen gegenständlichen und somit wahrnehmbaren, ja feststell-
baren Charakter annimmt. Es drängen sich also primär nicht eigentlich Inhalte
auf, sondern ein Vergehen drängt sich auf, und die Inhalte werden nach Ge-
sichtspunkten ihrer Eignung für die offenkundige Darstellung des Vergehens
ausgewählt. Sie sind nur Wellenberge, welche den unaufhaltsamen Fluß der
Zeit sichtbar und pointierbar machen. Das Vergehen wird durch die einzelnen
Wahrnehmungsakte nur gegliedert und zum Wahrnehmungsinhalt. Das
Grunderlebnis der Kranken ist also das Vergehen der Zeit, und diese Zeit-
bestimmtheit ihrer Lebensverfassung bewirkt, daß Inhalte zur Beachtung
gelangen, die es veranschaulichen.
Wir wissen, was diese Einstellung der Patientin auf das Vergehen der
Zeit bewirkt. Offenbar dies, daß mit der Zukunftsbezogenheit der Persönlich-
keit die Einstellung auf die werdende Zeit in Wegfall gekommen ist. Die
normale Zeitstruktur des Erlebens ist durch die Melancholie gestört. Diese
normale Zeitstruktur des Verhaltens, - die Zukunftsbezogenheit der Persön-
lichkeit - wird durch die endogene Gehemmtheit verändert. Das Fort-
schreiten, der Selbstverwirklichungsdrang der Persönlichkeit, ihr Werdelauf
8 Studien zur speziellen Psychopathologie.
das gesprochene Wort, das die Patientin ins Auge faßt und beachtet, ist tatsächlich
schon vorbei, wenn sie es beachtet. Wenn sie ein "Vorbei" konstatiert, hat sie
eigentlich recht. Ihr Blick schaut einem bereits entschwundenen Inhalt nach. Sie
konstatiert in gewissem Sinne nur, was sich wirklich ereignet hat. Und die
Frage für uns kann nur sein: warum sie das muß, was das Motiv dieses Tuns ist.
Wiederholt wurde von Forschern die Behauptung aufgestellt, es leide
der Zwangskranke an einer Unfähigkeit, seine Gedankengänge, seine Hand-
lungen zum Abschluß zu bringen. SO JANET, FRIEDMANN, REIss, wenn sie
darauf hinwiesen, daß im Zwange das Erlebnis des Abschließens fehle, wes-
wegen ein Gefühl der Befriedigung nicht aufkommen könne. So E. STRAUS,
wenn er behauptet, daß alles Abschließen, alles Erledigen eigentlich in einem
Fortschreiten in die Zukunft bestehe, in einem Fortschreiten zu neuen Handlun-
gen, neuen Verrichtungen usw. Weil der Kontrollzwangskranke nicht Neuem
sich zuwenden kann, hat er seinen Handlungen gegenüber das Gefühl der Unerle-
digtheit und muß immer wieder nachprufen, ob das Getane auch wirklich getan ist.
Nun, bei unserer Patientin verhält es sich ähnlich. Wie gesagt, bleiben
wir normalerweise bei den Einzelheiten eines Gesprächs, einer Arbeit usw.
ruicht stehen, sondern gehen, zukunftsgerichtet und zielbezogen, über diese
Einzelheiten mit unserem Denken und Tun hinaus und weiter. Eine "Frak-
tionierung" unseres Tuns findet nicht statt, vielmehr besitzt es Gliederung
und Gestalt. Ein Gespräch, eine Beschäftigung verändert aber bei unserer
Patientin seine Erscheinung im Sinn der Hemmung. Statt von Station zu
Station weiterzugehen, statt Gehörtes und Getanes, Worte und Akte, hinter
sich zu lassen, kehrt sie zu allem, was unter dem Einfluß des normalen Werde-
prozesses zurückbleiben müßte, wieder um und zurück. Was dem zugrunde
liegt, ist eine eigenartige Vollzugsstörung, die nicht die sachliche Bedeutung
des Tuns betrifft, aber seinen Werdesinn (vgl. 0.): Gespräche sind wie nicht
gesprochen, Handlungen wie nicht getan. Eben weil nur sprechen kann, wer
innerlich voraus- und weiterspricht; handeln nur kann, wer innerlich voraus-
und weiterhandelt, eben darum nimmt den endogen Gehemmten das Tun
und Sprechen der anderen oder sein eigenes nicht wirklich auf und nicht wirk-
lich mit. Ein Wort ist zwar gesprochen, ein Tun getan, aber im Sinn des
Werdens und damit der biologischen Freiheit ist es nicht vollzogen. Dieses
Nichtvollziehenkönnen wird zur Qual, Unfreiheit begleitet es. Es treibt die
Patientin, sofort nachzuholen, was sie, von der Hemmung bezwungen, nicht
vollziehen konnte, aber nur, um zu erfahren, daß die Zeit für den versäumten
Lebensvollzug schon verstrichen, daß das Wort "vorbei", die Bewegung
"vorbei", der Sinneseindruck "vorbei" ist. Der Trieb nachzuholen erfolgt
zwangsmäßig. Er begründet den Registrierzwang 1 •
1 Diesen Sachverhalt drückt E. STRAUS folgendermaßen aus: "Der ohnmächtige Ver-
such, die Ich-Zeit anzutreiben, kann sich als Zwang äußern, den unaufhaltsamen Ablauf der
äußeren Zeit dauernd beachten zu müssen und an allen nur möglichen Erscheinungen, die das
sinnlose Vorbeistreichen der Zeit deutlich machen, zu konstatieren,"
Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie. 13
Zum Schluß erinnern wir uns an das Diagramm, das die Patientin aufge-
zeichnet hat, und das vom Tod handelt. Sie gibt an, daß eine ständige Angst
alles Tun, alles Sprechen, ja alles Denken begleite. Diese Angst ist eigentlich
Todesangst. Wenn sie häkelt, liegt nicht der Akzent darauf, daß die Decke
wächst, sondern darauf, daß mit jeder Masche die ihr zugemessene Lebenszeit
sich verringert. Mit allem, was sie tut, verkürzt sich die Lebensstrecke,
kommt also der Tod ihr näher. Das sei grauenhaft, meint sie. Alles vergeht
und vergeht und freut einen nicht und vergeht, bis der Tod dasteht. Sie kann
nicht verstehen, wie Menschen Pläne machen oder von der Zukunft sprechen,
vom Frühling z. B., und sich freuen, denn alle müßten doch wissen, daß ja
mit alledem der Tod näher heranrückt. Ja, sie verfolgt dieses sinnlose Ver-
gehen über den Tod hinaus. Denn da kommen wieder Menschen, und die
werden auch 70 Jahre alt und sterben, und so geht es sinnlos immer weiter
fort, Tausende von Jahren. Der Blick in die Zukunft ist für sie eigentlich
nur der Hinblick auf den Tod. Zwischen der Stelle der Zeit, der ihre Gegen-
wart bezeichnet, und dem Tod als dem Endpunkt der ihr verfügbaren Zeit,
steht eigentlich nichts. Denn durch die Sinnlosigkeit des Daseins, durch die
völlige Gleichgültigkeit aller Lebensinhalte, die Reizlosigkeit aller Daseins-
möglichkeiten, erscheint die Zeit entleert und dadurch rückt für das Gefühl
der Tod, das Ende der Zeit, ganz nahe an die Gegenwart heran. Jeder einzelne
Lebensschritt hat nicht die Bedeutung irgendeines Sinnes, irgendeiner Er-
füllung wie für uns, sondern er bedeutet gar nichts, nur das Näherrücken des
Todes. Ja, ich glaube, wir müssen sagen, daß in diesem ständigen Erleben
des Vergehens von Zeit schon der Tod, als der Inbegriff des Vergehens, als
seine absolute und endgültige Gestalt, mitenthalten ist. Für uns ist das aber
ein Problem, daß der Tod als Inbegriff des Vergehens erlebt wird. Der so
gesehene Tod muß in der Tat Angst, Entsetzen und Grauen auslösen.
Um aber diese Todesangst zu verstehen, müssen wir eine Unterscheidung
machen. Wir müssen den lebensimmanenten von dem dem Leben trans-
zendenten Tod unterscheiden.
Auch als gesunde Menschen stehen wir in einer ständigen Relation zum
Tod, genau so, wie wir in einer ständigen Relation zur Zeit stehen. Diese
Relation aber ist keine Bewußtseinsrelation. Solange wir aktiv und produktiv
leben, denken wir eigentlich nicht an den Tod. Aber trotzdem leben wir ihn.
Der Tod ist unserem gesamten Leben im.manent. Unser gesamtes Leben steht
unter dem Motto des "Stirb und Werde". Das Werden ist immer auch wesens-
mäßig ein partielles Sterben. Immer geben wir irgendwelche Lebensstellen
auf, um weiterzugehen. Ein geschaffenes Werk ist auch ein zum Abschluß
gekommenes Stück Leben. In einer Uebe, die erfüllt ist, begraben wir ein
Stück Leben, das nie mehr wiederkehrt. Beim Übergang von der Kindheit
zum Jünglingsalter und dann zum Mannesalter, lassen wir Lebensstufen
hinter uns und überantworten sie gleichsam dem Tod (FEuERBAcH: Tod und
Unsterblichkeit).
14 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Das Eigentümliche dieses dem Leben immanenten Todes aber ist, daß
wir nicht auf ihn zugehen, sondern daß er hinter uns hergeht. Er wächst in
dem Maße, als unser Leben sich entfaltet. Das Leben ist eigentlich um den
Tod herumgebaut und entfaltet sich an dem seinen einzelnen Gestaltungen
immanenten Tod, der diese Gestaltungen, wenn sie zum Abschluß gekommen
sind, wieder in sich eintrinkt. Der Tod nimmt zu, bis zu dem Zeitpunkt,
wo von unserem zu Ende gelebten, vollrealisierten, ganz erfüllten Leben nichts
mehr übrigbleibt als dieser ihm immanente Tod. D. h.: der Endpunkt unseres
Werdens und der Tod koinzidieren. Im Werden werden wir immer mehr eins
mit dem diesem dem Werden immanenten Tod, bis mit der Realisierung aller
unserer Anlagepotenzen auch der Tod realisiert ist und wir wirklich sterben.
Von diesem dem Leben immanenten Tod verschieden ist der dem Leben
transzendente Tod, der wie eine Macht von außen an das Leben heranzutreten
scheint, um es von außen zum Abschluß zu bringen. Dieser Tod ist ein ge-
dachter Tod, ein ichgesetzter Tod, das Zerrbild des lebensimmanenten Todes.
Er ist ein Kunstprodukt, ebenso wie die gedachte, die objektive Zeit.
Es ist durchaus ein Problem, wie wir zur Konzeption dieses objektiven
Todes kommen. Nach alter Vorstellung kam dieser Tod mit dem Sündenfall
in die Welt, d. h. eine besondere Verfassung des Menschen hat zur Folge, daß
der Tod aus seiner Lebensimmanenz heraustritt und zu einer objektiven,
unserem Leben äußerlichen Macht wird, die dieses Leben zerbricht. Dieser
exogene Tod ist nicht mehr die Erfüllung unseres Lebens, sondern seine
Negation, seine Vernichtung und Zerstörung, weswegen er auch Angst,
Schrecken, ja Entsetzen auslöst. Unserer Auffassung, die hier nicht entwickelt
werden kann, gemäß, ist der objektive, dem Leben transzendente Tod das
Phantasiebild, in dem der Mensch ein Stück eigener Totheit und Erstorbenheit
innewird. Eine partielle Unlebendigkeit, dynamisch ausgedrückt eine Lebens-
hemmung, erzeugt dieses Angstbild des Todes. Irgendeine Unfähigkeit, sich
restlos auszuwirken, sich ganz und gar auszugeben, sich auszuleben und zu
erfüllen, kommt im Bilde dieses toten Todes zu angstvoller Bewußtheit. Wahr-
scheinlich ist es die mit der Setzung des Ich mitgesetzte Hemmung der vitalen
Sphäre, die das Angstbild des Todes erzeugt, weswegen kaum irgendein
Mensch von Todesangst ganz frei befunden wird.
Zu einer besonderen Störung, ja zu einem Krankheitszeichen wird diese
Angst vor dem Tode, wenn die Lebenshemmung biologischer Natur ist,
wie in der endogenen Melancholie. Was ist das Erlebnis des sinnlosen Ver-
streichens und Vergehens der Zeit in unserem Falle anderes, als das ständige
Innewerden dieses dem Leben exogenen Todes? Dieser exogene Tod gehört
ja dem Bezugssystem der transeunten Zeit an, bezeichnet eine Stelle in diesem
Bezugssystem, genau wie der immanente Tod auf die lebensimmanente Zeit
zu beziehen ist. Das Vergehen der Zeit ist implizite ein Näherrücken des
Todes: ganz folgerichtig wird die Patientin das Unaufhaltsame dieses Näher-
rückens inne. Jede Veränderung draußen, jede eigene Bewegung, hat ja,
Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie. 15
wie wir sahen, den Zeitsinn des Vergehens und repräsentiert darum nichts
als eine Etappe im Näherrücken des äußeren Todes. Das Diagramm, welches
die Patientin zeichnet, demgemäß die ihr zugemessene Lebenszeit stückweise
durch jede Veränderung, durch jedes Tun, wie unter dem Druck des näher-
rückenden Todes abbröckelt, ist die genaue Darstellung ihrer Lage. Schließ-
lich ist es die in der Lebenshemmung erfahrene Ohnmacht, das immanente
Sterben zu realisieren, was die Allmacht und Allgegenwart des äußeren Todes
für ihr Lebensgefühl erklärt. In der Tat kann man sagen, daß die Hemmung
im Gebiet des Werdens und des zeitlichen Weiterschreitens die des imma-
nenten Sterbens mitenthält, welche Hemmung aus sich heraus das Angstbild
des exogenen Todes hervortreibt.
Im Widerspruch mit dieser Todesangst unserer Patientin scheinen die
zwangsmäßig auftretenden Selbstmordimpulse zu stehen. Einmal erklären
sich diese Impulse aus dem Wunsch, dem Unerträglichen der eigenen Lage
ein Ende zu machen. Sie haben aber noch eine tiefere Bedeutung, die erhellt,
wenn man sich überlegt, was denn das heißen mag: "ihrer Lage ein Ende
machen". Eigentlich ist diese Rede vom Wunsch "ein Ende zu machen", nur
eine ziemlich gedankenlose Übertragung normaler Zustände auf den Melancho-
liekranken. Denn dieser Wunsch ist bei ihm nicht dasselbe wie beim Nicht-
melancholischen; auch er muß aus der inneren Gesamtsituation der gehemmten
Persönlichkeit verstanden werden!
Einige Angaben der Patientin können vielleicht weiterhelfen: Sie gibt an,
daß sie als Tote gar nicht tot sein würde: "Ich stelle mir zwar vor, daß ich
mich mit Schlafmitteln vergifte und tot daliege, aber tot bin ich eigentlich
dann doch noch nicht, sondern ich kann nun alles beobachten, was um mich
herum vorgeht." Befragt, gibt sie an, daß diese Phantasien (im Gegensatz zu
anderen Phantasien) nicht die quälende Note des Registrierzwanges hätten, ja,
daß von ihnen etwas direkt Beruhigendes ausgehe. Außerdem sagt die Patien-
tin: "Ich habe manchmal das Gefühl, der Selbstmord würde mich gesund
machep.. Das ist ganz verrückt, und ich verstehe diesen Gedanken nicht, aber
er ist da, und ich kann ihn nur nicht erklären. Der Gedanke kommt plötzlich
und dann muß ich mir ausdenken, wie ich es mache - und das ist sehr quälend
und regt mich furchtbar auf." Sobald sie anfängt, sich das auszudenken, ist
das Gefühl, der Tod würde ihr Heilung bringen, ausgeschaltet.
Genauer erklären konnte die Patientin den Widerspruch von Todesangst
und Selbstmordimpulsen nicht. Diese Aufklärung ist unsere Aufgabe: "Wir
erinnern daran, daß man sich vor dem lebensimmanenten Tod nicht fürchten
kann; ebensowenig aber kann man ihn herbeiwünschen oder gar herbeiführen.
Man kann nur eines: ihn leben. Gegenstand der Angst und Gegenstand des
Verlangens ist einzig der transzendente Tod. Zwar hören wir von KLEIST,
er sei "reif zum Tode" gewesen, und es mag sein, daß das mythische Schicksal
eines einzigartigen Menschen sich einmal auf diese geheimnisvolle Weise
erfüllt; daß also die Realisierung des lebensimmanenten Todes bei ihm die
16 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Gestalt des "Freitodes" annimmt. Für gewöhnlich aber bringt der Selbstmord
das Leben der Persönlichkeit von außen her zum Abschluß. Es ist eine
Realisierungsform des objektiven, des ich-gesetzten Todes; er verhindert das
Reifen des immanenten, des gelebten Todes der Persönlichkeit, ebenso wie
ihre eigene Verwirklichung. Er ist nicht eingefügt in die Ordnung der Werde-
zeit, sondern in das Bezugssystem der transeunten Zeit. Und die Frage für
uns ist, wie kommt es, daß die Patientin sich einmal vor dem Näherrücken
des exogenen Todes entsetzt, dann wieder den Impuls hat, ihn in der Weise
des Suicides zu setzen.
Man könnte ja sagen, daß die Angst vor dem Tod z. B. im Felde, schon
manchen veranlaßt hat, sich zu töten, um die Angst der Erwartung loszuwerden
nach dem Rezept: "lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne
Ende". Allein, wir dürfen nicht übersehen, daß in der Melancholie die Ver-
hältnisse besonders gelagert sind. In gewissem Sinn ist für unsere Patientin
das Ende schon eingetreten. Sie ist, wie Melancholische häufig sagen, ja
"schon am Ende". Der Weg in die Zukunft ist ihr versperrt. Obwohl leben-
dig, im Sinne der Physiologie, ist sie tot im Sinn des Werdedranges und der
Selbsterfüllung. Es erscheint uns gar nicht so absurd, wenn der Gedanke
in ihr auftaucht, es könne der Selbstmord ihr Heilung bringen. Was im Bilde
des Selbstmordes vor sie hintritt, ist die Beseitigung jener besonderen Un-
fähigkeit, sterbend zu werden, welche die endogene Hemmung ausmacht.
Offenbar steht hinter dem Selbstmordimpuls das Verlangen nach inniger Ver-
bindung mit dem gelebten Tod, der dem gesunden, sich entfaltenden Leben
der Persönlichkeit innewohnt. Die Todeswünsche der Patientin sind eigent-
lich Lebenswünsche, die sich selbst nicht verstehen, die auf Grund der endo-
genen Gehemmtheit die paradoxe Form des Suicidimpulses annehmen, die
sich aber verraten in dem seltsamen Gedanken, es würde der Selbstmord ihr
Heilung bringen.
Um es gleich auf eine Formel zu bringen: der Lebenswunsch der Patientin
erzeugt auf Grund der Lebenshemmung den Trieb nach exogener Realisierung
des lebensimmanenten Todes. Dieser Trieb kann nicht befriedigt werden,
denn er knüpft zwei unvereinbare Ziele aneinander. Niemals kann der gelebte
Tod die Gestalt des Selbstmordes annehmen. Und doch sucht die Patientin,
ohne sich selbst zu verstehen, den lebendigen Tod des Werdens in der Gestalt
des Selbstmordes.
In der Unvereinbarkeit dieser Ziele (der exogenen Realisation des imma-
nenten Todes), ist der Zwangscharakter der Selbstmordimpulse begründet.
Denn die Unvereinbarkeit der Ziele verhindert, daß das Streben nach ihnen
hin zum Abschluß kommt. Schon JANET hat in der Unfähigkeit des Kranken,
die "terminaison", den Abschluß zu leisten, die Ursache der Zwangssymptome
erkannt. Ja, im Sinne von E. STRAUS müssen wir sagen, daß die Störung des
Erledigenkönnens durch die endogene Hemmung geradezu die Wahl unver-
einbarer Ziele herbeiführt und damit den Zwangsimpuls erzeugt. Das innere
Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie. ]7
Nichtweiterkönnen unter dem Einfluß der endogenen Hemmung hat ja, wie
wir wiederholen, einen tieferen Lebenssinn: die Unrealisierbarkeit nämlich
des dem Werden immanenten Todes. Im ohnmächtigen Kampf gegen diese
Hemmung sucht die Kranke die Herbeiführung des Todes, der ihr Heilung
bringt. Unter ihren Händen gleichsam verwandelt sich dieser heilbringende
Tod aber in sein ich-gesetztes Gegenbild, in den objektiven Tod, in den
Selbstmord. Denn der dem Werden immanente Tod kann nur gelebt, er kann
nicht intendiert werden. In der Intendierung wird er zum Ich-Tod, also zu
dem, was die Kranke eigentlich nicht will. Sie kommt also innerlich nicht von
der Stelle. Das erstrebte Ziel verwandelt sich auf Grund der Hemmung in sein
Gegenteil. Und so wird sie gezwungen, immer von neuem eine Bewegung aus-
zuführen, die sich selbst aufhebt. Ganz deutlich erkennt man hier, daß der Zwang
in einem ohnmächtigen Kampf der Gehemmten gegen die Hemmung besteht.
Wir schließen damit unsere Untersuchung über den zeitbezogenen Regi-
strierzwang in der Melancholie ab. Doch würden diese Ausführungen der
Vollständigkeit entbehren, ohne Hinweis auf die allgemeine Geltung der hier
erarbeiteten Einsichten. In den Erscheinungen des Kontroll- und Grübel-
zwangs, des Fragezwangs, des Versteh- und Zählzwangs usw. findet die
Strukturanalyse die gleichen Gesetzmäßigkeiten vor wie im Registrierzwang.
Überall steht im Mittelpunkt die Hemmung des Werdens und das Angehen
der Persönlichkeit gegen diese Hemmung ihrer eigenen Entfaltung. Alle
erwähnten Spielarten des Zwangs gestatten, ja fordern eine Analyse des jeweils
für sie. konstitutiven Zeiterlebnisses, was die Ausführungen von E. STRAUS
erwiesen haben.
Unverkennbar z. B. wird unsere Auffassung bestätigt durch den Zähl-
zwang auf manisch-depressiver Grundlage. Deutlich ist zu erkennen, daß der
Zählzwang im Dienste steht eines gleichsam blinden Wunsches der gehemmten
Persönlichkeit, ihre Unfähigkeit, innerlich von der Stelle zu kommen durch
ein Tun äußerlicher Art: durch die Tätigkeit des Zählens - zu überwinden.
Zählend nämlich bewegt man sich von Zahlenstelle zu ZahlenstelIe in der
objektiven Ordnung der Zahlenreihe vorwärts. Und doch entspricht diesem
objektiven Von-der-Stelle-Kommen in der Melancholie keine innere Mit-
bewegung der Persönlichkeit. Unverändert durch das Weitergehen in der
Zahlenreihe bleibt die Persönlichkeit in ihrer Hemmung stecken, und die
Beunruhigung dieses Steckenbleibens zwingt zur Wiederholung des zählenden
Tuns, ohne daß jemals sein geheimes Ziel - die Überwindung des inneren
Stillstands im Werden der Persönlichkeit - erreicht wird. Niemals nämlich
vermag mit Mitteln des Geistes, hier also mittels der Akte des Zählens, eine
Bewegung in der vitalen Sphäre des Geschehens und Werdens bewirkt werden.
Diese Ohnmacht des Geistes, die vitale Hemmung zu überwinden, aber ist es,
was das Freiheitserlebnis der Persönlichkeit in das des Zwanges verkehrt.
In evidentem Zusammenhang stehen so: Hemmung des Werdens, Angehen
gegen diese Hemmung und Zählzwang.
v. Gebsattel, Anthropologische Schriften. 2
18 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Li tera turverzeichnis.
BONHoEFFER, K.: Diskussionsbemerkung i. d. Allg. Z. Psychiatr. 69,785 (1912). --
BONHOEFFER, K.: über die Beziehungen der Zwangsvorstellungen zum manisch-depres-
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der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung. Festsehr. für
BONHoEFFER. Mschr. Psychiatr. 68 (1928).
Gemeinsam ist den neueren Untersuchungen eine Tendenz, die bereits in der
grundlegenden Arbeit von SCHILDER (1914)1 angelegt ist, aber infolge seiner
an HOCHE genährten Skepsis gegen Krankheitseinheiten nicht zur Entwick-
lung gelangt, nämlich die, das Depersonalisationsproblem auf eine breitere
klinische Basis zu stellen und dieser erweiterten Basis theoretisch Rechnung
zu tragen. Seltener sind daneben definitorische Versuche, wie der von L. Du-
GAS 2 (Sur la depersonnalisation), den man 38 Jahre nach seiner Einführung
des Begriffes «depersonnalisation» in erneuter Bemühung um die Identifi-
zierung des Phänomens kämpfen sieht. Noch seltener findet man Unter-
suchungen, die sich mit der existentiellen Bedeutung der Depersonalisation
befassen und von dorther ihrem psychopathologischen Aufbau nachgehen.
So gewiß nun beim Absuchen weiter klinischer Bereiche das Ausdeh-
nungsgebiet der Depersonalisationserscheinungen an Ausdehnung gewinnt, so
sehr bedürfen andererseits die Flugzeugaufnahmen klinischer Systematik der
Korrektur durch grundsätzliche Erwägungen. HAUG hat sich vor Bedenken 3,
zu denen seine anregenden Darstellungen im kritischen Leser Anlaß geben,
zu schützen gesucht durch die Unterscheidung von "depersonalisationsartigen"
und ausgesprochen "klassischen" Depersonalisationserlebnissen. Wir folgen
ihm gern auf dem Weg dieser Unterscheidung und meinen, daß es tatsächlich
Stufen der Annäherung gibt auch pathologischer Phänomene an ihre sozusagen
"klassische", d. h. voll entwickelte Gegebenheitsweise 4 • Gerade diese Unter-
scheidung aber drängt dazu, an Hand eines klassischen Falles von Depersonali-
sation sich über gewisse, noch offene Fragen nach ihrem Sinne Rechenschaft
zu geben.
Zum Unterschied von HAUG glaube ich auf Grund meiner eigenen Er-
fahrungen, trotz der Häufigkeit von Depersonalisationszuständen im Gebiet
der Psychasthenie und in initialen Stadien der Schizophrenie, daß das Deper-
sonalisationssyndrom in klassischer Form gerade am manisch-depressiven
Konstitutionstyp erscheint, und zwar an einer besonderen Spielart dieses
Typus, dessen zusammenfassende Darstellung noch aussteht. Ohne auf das
Depersonalisationssyndrom besonderen Nachdruck zu legen, hat neuerdings
K. J. JOHNSON [Amer. J. Psychiatr. 31 , 1327 (1935)] den Versuch gemacht,
vom landläufigen Typus der gehemmten Depression an Hand des Leitsym-
ptoms: "the loss of feeling" eine besondere Melancholieform zu separieren.
In ihrem Ergebnis erinnert diese Abhandlung an einen Versuch von SCHÄFER,
der bereits im Jahre 1880 (Allg. Z. Psychiatr. S. 215) als "Melancholia an-
aesthetica" die von uns gemeinte Unterart der Melancholie herausgestellt hat.
ertragen! Solange ich die Leere anschauen kann, solange ich mir vorsage:
das ist sie, das ist die Leere, solange existiere ich noch, wenn man das existieren
nennen kann, immerhin, ich habe noch einen Faden in der Hand, der einen
mit der übrigen Welt zusammenhält - aber dann plötzlich geht auch das nicht
mehr. Dann dringt die Leere heran und verschlingt einen, dann gibt es kein
Dasein mehr - es ist wie ein Ohnmachtszustand. Wie einem die Ohnmacht
das Bewußtsein wegnimmt, so verliert man das Bewußtsein. Manchmal hat
man noch das Bewußtsein der Leere, dann aber verschwindet auch das. Die
Leere kann man weder überwinden noch ertragen, man wird ihrer nur in einem
Gefühl der Ohnmacht inne, in einer nicht zu überwindenden Schwäche. Es
ist, als wäre die Leere angefüllt mit lauter Bildern der Leere." (Die Pat. träumt
z. B. von einer Uhr, die nicht geht und die sie anschreit: "Geh doch endlich"-
oder von einem Sarg, in dem sie liegt - oder sie sieht sich in einer Eisscholle,
in der sie eingefroren ist - oder sie steht ganz allein in einem unendlich leeren
Raum oder in einer vereisten Landschaft. Sie gibt dann an, daß diese Bilder
eigentlich nicht Bilder seien, sondern der Zustand selbst. Darum seien diese
Bilder stets gegenwärtig: "Ich bin von diesen Bildern besessen und habe kein
anderes Leben als das dieser Bilder. ") .
18.9. 1933: "Die Leere drängt sich Ihnen ganz unerbittlich auf und über-
wältigt Sie. Zwangsläufig gerät man in sie hinein. Sie befindet sich da, wo
sonst das Leben und seine Möglichkeiten sind, sie vertritt das Leben in Ihnen,
sie ist das Gegenbild des Lebens. Statt das Leben zu fühlen, ist alles leer." ...
"Ach, man müßte nicht unter dem Zwang der Leere stehen, aber man tut
es doch, denn man hat ja die Leere nicht, sie hat einen. Sie drückt einem den
Stempel auf, man ist mit ihr versehen. 0 ja, ich kenne sie, die Leere, ich weiß,
was sie bedeutet, sie bedeutet die Ausschaltung des eigenen Wesens, die Auf-
hebung des Daseins."
2. 1. 1934: "Nicht ist es so, als empfände ich die Leere, nein ich bin die
Leere. Genau so kann ich nicht sagen: ,Ich leide Höllenqualen', nein, ich bin
die Hölle. Ich bin der Leichengeruch. Die Krankheit ist keine Krankheit,
sie ist nicht von mir zu trennen, sie ist zum Ich geworden, ich bin zu ihr gewor-
den. Ich bin die Leere, und darum bin ich nicht. Der Tod wäre leichter, aber
der Tod existiert nicht als Tod, sondern weil ich tot bin, brauche ich nicht den
Begriff des Todes, ich bin ja der Tod."
25. 1. 1934: "Das Sein ist einem vollständig entzogen. Das ist es, was
mich so wahnsinnig aufregt. Man ist doch Mensch, wie kann man so tief
sinken. Ich bin doch Seele, Geist, Freiheit, wie kann einem das alles genom-
men werden, und die Welt dazu und die Menschen, alles, alles. Die Welt,
in der ich lebe, ist die Leere. Ich bin da und bin doch nicht da, alles geht einem
verloren, nur nicht das Wissen um das, was man verloren hat. Das bleibt
und macht alles so qualvoll. Sie sagen, ich hätte ein monotones Dasein geführt.
Ich habe überhaupt kein Dasein geführt, ich war einfach nicht da. Kann man
so tief sinken?"
24 Studien zur speziellen Psychopathologie.
25.3. 1934: "Fülle wird nur durch Fülle erlebt, Leere nur durch Leere.
Wir bewegen uns in der Leere und sind die Leere, eigentlich aber kommt sie
aus uns in die Welt hinein und nimmt diese uns weg. Die Leere wird nicht
erlebt, sie ist da, sie ist das Unmittelbarste. In gesunden Zeiten erleben wir
die Leere in der Fülle; wenn man krank ist, ist nur mehr Leere da, Leere von
innen, Leere von außen, Leere von Raum und Zeit, man selbst ist die Leere,
man wird von ihr gehabt. So vehement erfährt man die Leere, daß es keine
Sehnsucht gibt nach etwas anderem. Dazu ist kein Raum, den sie frei ließe,
vorhanden. Wenn die Leere Sie packt, dann werden Sie ohnmächtig, das ist
der Abgrund. Der Sturz in den Abgrund ist eine Art Ohnmacht l • Das ist
eigentlich das Letzte, dann sieht und hört man nichts anderes mehr. Der
Abgrund - anders ausgedrückt - besagt: ich kann nicht mehr. - Nicht-
können in der höchsten Potenz - und dann kommt der Sturz. Sie fragen:
,Was kann man nicht?' - Es muß wohl die Leere sein, die man nicht ertragen
kann, aber in solchen Momenten erlebe ich nicht die Leere, denn wenn ich
die Leere als solche erlebe, dann habe ich schon etwas Greifbares, dann hat
man etwas, woran man sich halten kann. Die Leere macht so sehr die Un-
mittelbarkeit des Zustandes aus, daß man ihrer nur durch ein Nichtertragen-
können innewird. Wenn Sie schließlich unterliegen - immer im Anschluß
an das Erlebnis der Leere kommt der Sturz - , dann sind Sie zwar tot und im
Abgrund - aber das Leereerlebnis hat doch einen Abschluß gefunden. Von
Dasein dann noch keine Spur, von Inhalten nichts - aber die Vehemenz des
Erlebens - ich weiß nicht, wie ich sagen soll - die Qual läßt nach, es tritt
eine Art Abstumpfung ein. In der Berührung mit der Leere gibt es Grade der
Tiefe, der Verlorenheit, der Verlassenheit, der Isolierung, des Entsetzens.
Im Sturz ist man noch leer, ja noch schlimmer drinnen - man wird von der
Leere gehabt, man ist die Leere - zum Schluß bleibt einem gar nichts anderes
übrig, als die rasende Abwehr aufzugeben - und die Leere zu sein - das
ist dann die vollendete Ohnmacht, der vollendete Absturz. Instinktiv halten
Sie sich fest, weil Sie nicht die Leere werden wollen - weil man nicht hinunter
will- das ist die Abwehr, der Krampf - aber die Leere hat einen mit Krallen
gepackt - ich spüre das ganz deutlich im Kopf, als ob eine Kralle ihn zusam-
mendrückte - ein Krampf, eine Auflehnung, eine Empörung, eine Ver-
zweiflung sondergleichen - nur nicht in den Abgrund hinein: - nur nicht,
und gerade da sollen Sie hinein - Sie ahnen nicht, was Leere heißt."
2. Angaben über die allopsychische Seite des Leere- und Depersonalisa-
tionssyndroms (Derealisation).
"Schrecklich tot ist die Beziehung zu meinem Mann und meinen Kindern-
darum habe ich so furchtbare Angst vor dem Zusammensein mit ihnen, Angst,
sie könnten es merken. Dieses entsetzliche Gefühl des Nichtreagieren-kännens.
Man rennt mit dem Kopf gegen eine Wand, um die Beziehung herzu-
stellen, aber es geht nicht. Der Besuch der Meinen, das ist ein Nachtspuk,
schemenhaft, die Kinder so blaß - so wunschlos von meiner Seite. Die
Leere füllt den Zwischenraum zwischen mir und meinem Mann, so daß ich
nicht hinüberkomme; statt zu leiten, hält der Zwischenraum mich ab. Von
der ganzen Welt bin ich so abgehalten, sogar von meinem Bett: nicht einmal
zu meinem Bett kann ich hinkommen. Ich liege drinnen und doch nicht
drinnen, - oft ist mir, als schwebte ich in ihm. Es ist auch nicht da, die ganze
Welt ist nicht da, die Menschen, die liebsten, sind nicht da - nur Leere ist
da - unendlich. Man versinkt in der Leere, geht einfach unter in ihr."
"Die Beziehungslosigkeit ist so groß, das Nichtdasein, das Nichtdabeisein ;
die Meinen sind mir verloren, ich bin mir verloren - eine furchtbare Qual.
Man ist tot, alles ist tot, nichts regt sich, nichts rührt sich. Es schneit, und
man weiß nicht, daß es schneit, man sieht es nicht. Man weiß nicht, wo
man ist."
"Ich sehe nicht, was vor meinen Augen passiert. Die Gesichter der
Menschen sehe ich nicht plastisch - das ist eine Störung des geistigen Sehens
- sie sind mir fremd, sie sind so flach wie Pfannenkuchen, genau so flach wie
die Bretter an der Wand, auf denen die Gläser stehen, die müßten eigentlich
herunterfallen, sie halten sich so merkwürdig in der Luft. Die Bretter sind
nur Striche, ebenso das Bett, wenn ich darauf hinsehe - es hat keine Länge
und keine Tiefe - Fußende und Kopfende fallen zusammen - das ist die
Projektion meiner inneren Leere in die Dinge hinein. Der Lampenschirm ist
ein tolles Ding - zwei Fetzen übereinander - etwas Sinnloses. Die Menschen,
obwohl ich sie noch erfasse, noch meine Menschenkenntnis behalten habe,
sind doch wie Luft, die ein- und ausgeht, - gespenstisch - phantomhaft.
Ich habe zu niemandem Kontakt, ich führe ein Scheindasein. "
Dann - im Verlauf der Besserung - kamen "Entdeckungen" am 24. 8.
1934:
"Ich entdecke ein Buchenblatt, ich fühle es zwischen meinen Fingern, ich
fühle die glatte und die rauhe Fläche, wie etwas ganz Neues. Es war nur ein
Augenblick, - das schmale Blättchen, es hat mir tausendmal mehr gegeben
als Ostern die Gesichter meiner Kinder. Damals nahm ich den Kopf meiner
Kinder in die Hände, um sie zu fühlen, aber ich fühlte nichts - meine Hände,
- dazwischen nichts. Das Blättchen, plötzlich entdeckte ich es, und dann
war es wieder fort. Einen Regenwurm habe ich vorhin gesehen, einen blöden
Regenwurm auf dem Gartenweg, - ich blieb stehen und guckte ihn an wie
etwas Unerhörtes, - ein Regenwurm, der ringelte sich. Menschen allerdings
sind mir noch nichts, nur die Natur habe ich entdeckt, noch nicht als Ganzes,
liondern in den kleinsten Bestandteilen. Das ist ein großes Verwundern, ein
großes Stillesein nach all der Hetze."
23. 3. 1934: "Ich höre den Hund bellen in der Welt, zu der ich nicht
gehöre, in der ich nicht bin." - 24.2. 1935: "Es läuten die Glocken, der
26 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Klang ist noch unwirklich, er ist noch immer wie jenseits der Welt, wie jen-
seits allen Lebens. Der Klang ist noch fremd, darum erstaunlich, darum noch
irgendwie leer, darum unverbunden, noch nicht gekonnt, nicht selbstver-
ständlich, nicht fließend, nicht vollzogen -lauter Negationen; diese Negatio-
nen müßten doch endlich an der Wirklichkeit zerstieben. Ich sehe die Men-
schen noch nicht en face, sondern von unten, das heißt auftauchend, empor-
kommend. Auch der Hund bellt noch immer, und es klingt noch nicht, wie es
müßte. Früher hatte ich dieses Bellen mit meinem Zustand identifiziert: er
war einfach so, er war absolut so, so nicht da, während ich heute weiß: das
alles wird, auch das Bellen. Die Verbindung mit dem Klang ist noch gestört,
weil ich mit mir selbst nicht verbunden bin."
3. Angaben über die somatopsychische Seite des Leere- und Depersonali-
sationssyndroms.
Oft hört man Angaben wie: "Ich lebe nicht, ich fühle nicht, daß mein
Körper lebt, ich fühle seine Funktionen nicht." Oder: "Der Leib ist tot und
fremd und gehört mir nicht - ich bin so tot, wie ist es möglich, daß dieses
Gehäuse von Sehnen und Knochen noch reagiert?" Oder: "Mein Leib, ist
er überhaupt da? Hat es Sinn, zu essen und diese leere Haut zu füttern?"
Besonders lehrreich werden die Angaben in der Zeit der beginnenden Gene-
sung. So am 19. I. 1935: "Seit gestern würde ich sagen, daß ich wieder etwas
bin. Sie fragen, was noch fehlt? Ich könnte nicht mehr wie bisher sagen: Ich.
Gestern abend habe ich noch immer das Gefühl gehabt, ich muß die Hand
an den Arm drücken, damit sie festsitzt, genau wie ich Ihnen neulich sagte,
ich muß mich hineinsetzen in mich, in meinen Leib, um endlich da zu sein.
Genau so ist es mit der Hand, als wäre der Arm ein Stumpf gewesen und die
Hand jetzt wieder dran. Man guckt sie auch heute noch so an, ob sie einem
gehört, wirklich einem gehört, ob es eine richtige Hand ist, an einem richtigen
Arm, nicht irgendwie vertauscht. (Sie sieht dabei prüfend ihre Hand an,
lacht und sagt: ,So eine Gemeinheitl') Dann: Ich fühle sie, ich habe sie, man
kann nur von dem, was neu geworden ist, ausgehen, das Besitzen vom Nicht-
besessenhaben abheben. Nicht besessen hatte ich die Hand, sie gehörte mir
nicht, erst im Wiederkommen vollziehe ich das Fremdheitsgefühl dem Leib
gegenüber, das Nichthaben der Hand. Man hat geschrieben, aber sie war
nicht da, man hat gegessen - womit? Es ist mir öfter aufgefallen, daß ein
Druck der Hand erst viel später mir zum Bewußtsein kam, - wahrscheinlich
war ich nicht in der Hand drinnen. Ist es, weil man nicht in seinen Gliedern
drinnen war, daß Gehen kein Gehen war, sondern ein Rollen, eine Fort-
bewegung wie auf Rädern ?"
Am 20. I. 1935 überwiegt wieder das Fremdheitsgefühl Leib und Welt
und Menschen gegenüber, z. B. auch dem Arzt gegenüber. "Ich muß alle
Gegenstände anschauen und bin erstaunt, daß sie da sind - und alles muß erst
selbstverständlich werden, ist es aber noch nicht. Ebenso ist es mit meinen
eigenen Gliedern, besonders mit der Hand. Ist es wirklich wahr? Ist das
Zur Frage der Depersonalisation. 27
meine Hand?" ... "Auch vom Leib muß man erst Besitz ergreifen, gleichsam
wieder in ihn eingehen, in ihn einschießen - die Einheit von Körper und
Seele ist noch nicht selbstverständlich - sie muß erst wieder vergessen werden.
So ist eine Stelle in mir, die ist aufnahmefähig für die Dinge, die Farben, die
Töne, die Gesichter - aber selbstverständlich ist noch nichts. Alles hat noch
etwas Schreckhaftes, wie etwas auf Sie Eindringendes, dem man noch nicht
gewachsen ist."
3°.1.1935: "Der Müdigkeit heute kann ich mich hingeben - früher
empfand ich keine Müdigkeit - heute ist sie das Zu-mir-kommen des Körpers.
Müdigkeit ist ein positiver Zustand - sie war also früher nicht da" usw.
4. Angaben über die Eigenart des Selbstbewußtseins im Leere- und
Depersonalisationssyndrom.
14 Tage nach ihrer Aufnahme hier liegt die Pat. mit gequältem und gehetz-
tem Gesichtsausdruck im Bett, wobei die Füße sich rastlos unter der Decke
bewegen: "Ja, ich bin auch gehetzt. Mein Zustand ist Hetze, eine grenzenlose
Unruhe ist in mir: Versuchen Sie einen zur Ruhe zu bringen, der ständig
hinter sich herhetzt. Sie fragen, wieso ich hinter mir herhetze : aber mein Ich
ist doch nicht da, es ist doch weg, oder vielmehr, es läuft in rasender Ge-
schwindigkeit von mir weg, und ich rase hinterdrein, um es einzuholen, aber
ich hole es nicht ein, es läuft immer weiter, immer vor mir her, und zwar läuft
es genau um den Äquator und der Äquator dreht sich mir entgegen, auch in
rasender Geschwindigkeit. Da halten Sie die Füße ruhig."
"Sie sagen, das ist nur ein Bild, aber nein, das ist mehr als ein Bild, das
1st mein Zustand, genau so ist es um mich bestellt; oder wenn es ein Bild ist,
so bin ich von dem Bild besessen, ich habe mich immer in dem Bild, ich renne
tatsächlich hinter mir her, die beiden lehe laufen sich nach, aber ihr Abstand
verringert sich nicht, das Ganze in einem Tempo, das Sie sich nicht vorstellen
können, so anstrengend, so quälend, die atemberaubende Hetze - immer
mein Ich vorweg und ich hinterdrein. Und der Äquator dreht sich im gleichen
Tempo - eigentlich, Sie haben recht, kommt man deswegen nicht von der
Stelle, aber das hilft nichts, man muß, man muß hinter sich her."
Über den Sinn der Spaltung. 9. 3. 1933: "Es besteht ein Riß zwischen
meinem Leib und meinem leh. Mein Leib liegt im Bett und verwest, mein
früheres Ich läuft vor mir her, nahe, aber unerreichbar. Immer habe ich das
Gefühl: ich bin nicht ich, ich bin jemand anderer als ich - das ist das Gefühl
des Gespaltenseins." Am 10. 3. 1933: "Je schwerer es mir fällt zu sein, was
ich nicht bin, desto mehr habe ich das Gefühl des Nicht-könnens. Es ist ein
entsetzliches Auseinanderliegen von Besessenhaben und Nicht-mehr-besitzen-
können. Weiter als Südpol und Nordpol liegen die beiden Iche auseinander.
Immer fühle ich die Zweiteilung, ich fühle, was ich besessen und daß ich das
heute und nie wieder greifen kann. Das ist die Zweiteilung: das Wissen um
etwas, das ich besessen habe, nämlich Leben, Kraft, Dasein, Freiheit, Welt,
Liebe - und das zugleich gegeben ist als ein Nichtzugreifendes, als nicht zu
28 Studien zur speziellen Psychopathologie.
realisierender Besitz. Das ist der Gegensatz von leerem und erfülltem Dasein-
das ist die Spaltung."
23.5.1933 auf der Höhe einer Opiumkur: "Ich empfinde immer noch
die ungeheure Entfernung von meinem eigenen leh, aber nicht mehr die
wahnsinnige Hetze."
A B
Sie zeichnet es auf: o----~. A ist das leere leh, die bloße Haut,.
ein Hohlraum, ein Vakuum. Das eigentliche leh ist bei B, ist Gesundheit,.
Geist, Fülle der Mitteilung von Leben. Glück wäre das Zusammenfallen von
A und B. "Früher raste ich hinter B her, neuerdings durch Ihre Hilfe ist ein
Stillstand eingetreten, die lehe stehen sich gegenüber. Aber ich bin noch
nicht B, ich kann es wohl heranholen, z. B. wenn ich mich auf Menschen ein-
stelle, aber ich kann das nur äußerlich, nicht wesenhaft. Das Getrenntsein
ist so, daß ich nahe daran war, nicht mehr essen und trinken zu können, weil
es doch keinen Sinn hat, die leere Haut zu füttern." "Heute nacht habe ich
beide lehe personifiziert. Das eine ist die Leere (A), das andere die Fülle (B).
In der Spaltung liegt wohl die Ursache der Unruhe, des Rasens. Das Ich B
läuft weg; daß es sich nicht einholen läßt, muß die Krankheit sein. Wenn ich
den Verwesungsgeruch in der Nase habe, so geht er vom leeren Ich aus, -
das sitzt hier auf dem Stuhl oder liegt im Bett oder geht spazieren. Das andere
Ich - wo ist es? Es ist weg, es ist vor mir, aber unerreichbar. Sie machen
sich keinen Begriff, wie es läuft, wie es wegstürzt. In ihm fühle ich die unmög-
liche Möglichkeit meiner Daseinserfüllung. Die Leere ist das in der Zeit sich
nicht erfüllende Ich. Das eigentliche Ich ist dann außer Kraft gesetzt, ent-
mächtigt, enteignet." "Eine gewisse Spaltung ist mein natürlicher Zustand,
aber die Krankheit vertieft sie unendlich: A und B - da läuft mein Ich, in
Ewigkeit nicht einzuholen - die Entfernung ist nicht auszudrücken in Kilo-
metern, so ohne Verbindung sind beide, so absolut ist die Trennung zwischen
totem und lebendigem leh. Nur durch das Tor des Todes hindurch könnte
das eine leh mit dem anderen (A und B) wieder vereinigt werden. A (O)B
In ewigem Rundlauf laufen die Iche sich nach, in ewigem Sich-nicht-einholen.
Ich habe kein anderes Leben als diese Bilder. Abgrund und Hetze um den
Äquator bestehen nebeneinander, die Hetze sozusagen trotz des Abgrundes:
Stürzen erfolgt steil herunter, Hetzen im Kreise herum. Die Abstürze kom-
men in Abständen, die Hetze ist ewig; ich leer und vor mir mein Sein, dem
ich nachsetze. Es könnte sein, daß sich die Hetze steigert, bis es zum Absturz
kommt, aber das weiß ich nicht."
5. Angaben über das Bild des Abgrundes (Symbol der Leere).
Von den ersten Tagen ihres Hierseins gibt die Pat. an, sie befände sich
in einem "Abgrund". Rückschläge in ihrem Befinden werden als erneuter
oder vertiefter "Sturz in den Abgrund", Besserungen, z. B. während einer
Fieberkur und später bei einsetzender Heilung, werden als "Herauskommen
aus dem Abgrund" geschildert. Ihren Zusammenbruch am 20.7. 1930 nach
Zur Frage der Depersonalisation. 29
die durch mich gesehen und erlebt wird, die meine Existenz bedeutet und die durch meine:
Existenz gedeutet wird - meine Daseinswelt, die gibt es ohne mich nicht, und es gibt sie
nur in dem Maß der Intensität, mit der ich bin und lebe.
Zur Frage der Depersonalisation. 31
die Welt, soweit sie "meine" Welt ist, die Welt, die Mittelpunkt, Sinn,
Eigentlichkeit, Fülle, Wirklichkeit erst dadurch erhält, daß ich im Hinblick
auf sie existiere. Das Nichtdasein dieser Welt ist nicht die Folge einer Störung
von kognitiven Akten oder einer Action secondaire (wie JANET behauptet),
sondern des sympathetischen Grundverhältnisses zu Mensch und Welt, das
aller Erkenntnis und allem Wollen vorangeht, das den Boden bildet, auf dem
sich alle kognitiven und willens mäßigen Akte erst entfalten, ja, das sogar den
einzelnen Wahrnehmungen und Empfindungen vorgängig ist. Auch uns
kann es passieren, daß wir in Gedanken verloren durch den Wald gehen;
es wäre nicht abwegig zu sagen, daß die Welt unter solchen Umständen für
uns auch nicht da sei. Im Sinn des Bewußtseins ist sie tatsächlich für den
Gedankenverlorenen nicht da - und doch ist dieses "Nichtdasein" etwas ganz
anderes, als was die Kranke meint, wenn sie von sich sagt, sie sei gelaufen,
gerast, ohne "Verbindung mit dem Ganzen". In diesem Sinn ist der von
Gedanken Absorbierte nicht ohne Verbindung mit dem Ganzen, sondern im
Gegenteil: Er steht in Verbindung, und wenn er aus seiner Gedankenverloren-
heit auftaucht, ist der Wald für ihn nicht "Luft", sondern Gegenwart -
durchaus so, wie vorher seine Gedanken es waren: in voller Wirklichkeit
steht nun der Wald vor ihm als Teil des "Ganzen", das nie aufgehört hat ihn
zu tragen und zu umhegen.
Diese Weltverbundenheit, die weiterbesteht ohne aktualisiert und ohne
realisiert zu sein, ist nicht leicht zu begreifen. Die elementarsten Struktur-
verhältnisse des Daseins entziehen sich dem Blick bekanntlich am hartnäckig-
sten - und nicht leicht kämen wir dazu, das Miteinander von Mensch und
Welt in seiner Wechselseitigkeit und seinem ununterbrochenen Fortbestehen
zu erkennen, wenn nicht die Kranken in ihren Derealisationszuständen immer
wieder uns darauf aufmerksam machten, daß es auch fehlen kann. Gerade die
Derealisation der Welt, wie wir sie in diesem Abschnitt gezeigt bekamen,
macht uns darauf aufmerksam, daß der einzelnen Weltbegegnung im Empfin-
den, Wahrnehmen, Erleben eine allgemeine "Totalitätsbeziehung" 1 zur Welt
vorgängig ist, die sich in der Begegnung mit dem jeweiligen Daseinsinhalt
erst verbesondert. Es ist ein ontologisches Problem von großem Gewicht,
wieso dieses unanschauliche Zugegensein des Ganzen im anschaulichen Einzel-
erlebnis zu verstehen und zu deuten sei. Neuere Autoren, wie HEIDEGGER
oder STRAUS, scheinen darauf hinaus zu wollen, daß dieses die einzelnen Akte
der Wahrnehmung oder der einzelnen Bewegungsvollzüge fundierende
Grundverhältnis von Mensch und Welt mit dem Phänomen der Möglichkeit
und des Könnens zu tun habe, die beide wieder nur von einer Lehre des Wer-
dens her zu verstehen sind. Existieren nämlich heißt existieren können,
da sein - "da-sein-können" (HEIDEGGER); "ich bin" kann nur sagen, wer in
der Möglichkeit der Selbstveränderung und in der Bewegung des Werdens
steht. "In-der-Welt" und "mit-der-Welt" existieren wir nur, soweit wir in
1 E. STRAUS, Vom Sinn der Sinne.
32 Studien zur speziellen Psychopathologie.
einer Verfassung des Könnens uns befinden in bezug auf sie - soweit wir
ein Inbegriff sind. von Möglichkeiten, der Welt uns zu versichern, auf Teile
von ihr zuzugehen, von anderen Teilen uns zu entfernen, von ebensolchen
Teilen ergriffen und veranlaßt zu werden, kurz, soweit - auch unvollzogen -
die Auseinandersetzung mit ihr in potentia fortbesteht. Erst durch diese
Verfassung des Könnens besitzen wir im Ansatz eine· weitverzweigte
Verbindung mit dem Ganzen unserer Daseinswelt, das als Auswirkungs- und
Erfüllungsgebiet möglicher Selbstveränderung und -wandlung in unsere
Gegenwart hineinreicht und sie mitbestimmt.
Wir haben mit diesen Bemerkungen das Verständnis vorbereitet für die
Tatsache der Derealisation. Bedeutet doch die Melancholie eine Lahmlegung
des Könnens, eine Ausschaltung der Möglichkeit, und zwar in erster Linie
die Ausschaltung des Werdenkönnens. Sie beraubt den Kranken also seiner
Potentialität und darum, wenn Existieren zugleich Existierenkönnen ist, tat-
sächlich seines Existenzgefühls. Diese existentielle Veränderung aber kann
nicht ohne Rückwirkung sein auf die Daseinswelt der Melancholiekranken,
und ist es tatsächlich nie,wie sich immer zeigt, wenn man den Depressiven mit
höherem Verständnis seiner Lage befragt. Erst in den Zuständen vollent-
wickelter Depersonalisation allerdings erreicht die Veränderung der Daseins-
welt jenen Grad von Anschaulichkeit, der auch dem weniger auf diese Seiten
der Depression eingestellten Beobachter auffällt. Mit der vollendeten Auf-
hebung seiner potentiellen Existenz und damit des Gefühls zu existieren,
verschwindet nun auch die Daseinswelt, sie verschwindet, weil sie der eigenen
Möglichkeit von Auseinandersetzung mit ihr, von Verbindung mit und Tren-
nung von ihr zugeordnet ist und nur durch diese Möglichkeit hindurch
ergriffen und gehabt wird. Je nach der Vollständigkeit, mit der das Können
des Kranken ausgeschaltet ist, ändert sich auch der Wirklichkeitsaspekt seiner
Daseinswelt: entweder ist sie einfach "nicht da", ganz und gar durch Leere
vertreten, oder sie "befremdet" den Kranken durch "Schemenhaftigkeit",
"Blässe", "Erstorbenheit", "Kulissenhaftigkeit" usw. - lauter Variationen
des Themas "Leere".
Die Angaben unserer Kranken sind höchst aufklärend für das Problem
der "Derealisation", weil hier intra vitam beobachtet werden kann, wie sie
aus völliger Leere und Abwesenheit der Welt langsam wieder zu "Einzel-
inhalten" kommt, allerdings ohne noch "das Ganze" zurückzugewinnen, so
daß immer noch ein "entrinnendes Etwas" in den Dingen zu spüren ist, ein
"Rest von Fremdheit". Das "Ganze", so meint sie, sei ihr "noch nicht auf-
gegangen", mit ihm ist sie "inmitten der V erbundenheit 1 noch unverbunden";
noch will der "Rhythmus" sie nicht aufnehmen und nicht der "Weltenkreis-
lauf"; an der "Wiedervereinigung mit dem Kosmos" fehlt es noch. In einer
Zeit, wo sie bereits wieder anfängt, die "Schönheit" und den "Reichtum der
1 "Die Verbundenheit mit der Welt ist irgendwo noch Unverbundenheit." (Angabe
der Kranken.)
Zur Frage der Depersonalisation. 33
Dinge" zu spüren und mit ihm sich zu füllen, ist ihr, als müßte sie "an allen
Dingen rütteln, damit sie werden möchten". Manchmal werden, trotz fort-
schreitender Heilung, ihre Ausdrücke stärker: sie heklagtsich, umgeben zu
sein "von lauter Unmöglichkeiten", von einer "fratzenhaften Welt", "von
einem Hexensabbat". Kurz, wir erfahren, daß die Einzelbegegnung mit den
Daseinsinhalten im Empfinden, Wahrnehmen, Schauen, Erleben usw. diese
so lange nicht zur Wirklichkeit gelangen läßt, wie das sympathetische. Totali-
tätsverhältnis zur eigenen Daseinswelt noch gestört" ist.
Es kann uns nach dieser Analyse der Derealisation nicht überraschen,
wenn die Protokolle voll sind von Angaben über das Eindringen der Leere
in die einzelnen Daseinsinhalte. Soweit diese nicht überhaupt verschwunden
sind, sind sie verändert, und zwar betrifft die Veränderung den Wirklichkeits-
gehalt des Empfindens, Wahrnehmens, Schauens, Erinnerns, Vorstellens, also
die Erlebnisseite dieser Funktionen, insbesondere auch das Erlebnis des
Raumes und der Zeit. Es sei mit Nachdruck betont, daß ein Verständnis der
oft befremdlichen Veränderungen der visuellen, der akustischen ja sogar der
taktilen Welt ("Nicht einmal zur Wand komme ich hinüber, die doch so
nahe ist"), oder der Veränderungen des Wärme-, des Schmerz-, des Raum-
erlebnisses unter dem Einfluß der Derealisation zu gewinnen ist, nur wenn
man sie deutet als die notwendige Folge einer Störung der ganz allgemeinen
Lebensverbindung zwischen Mensch und Welt 1 •
Weil z. B. der allgemeine, grundsätzliche Rapport zwischen Mensch und
Welt aufgehoben ist, kann auch die einzelne Begegnung im Vorgang des
Tastens, des Sehens oder Hörens keine bestimmte, gegenwärtige, konkrete
Wirklichkeitsgestalt annehmen. Es ist nicht so, daß die Kranke die einzelne
Sinneserfahrung erst machen muß, um zum Eindruck von Nicht-dasein und
Unwirklichkeit der Welt zu kommen, sondern die Sinne schlagen ihre Augen
gleichsam in dieser Abwesenheit von Welt auf. Die Leere der Welt geht, mit
einem Wort, der Betätigung irgendwelcher Sinnesfunktionen voraus, und nun
vermitteln diese statt Welt Abwesenheit von Welt. Statt Wirklichkeit aktuali-
sieren die Sinne Leere, und gleiches gilt für die Wahrnehmung, das Schauen,
<las Denken, das Lesen, das Vorstellen, das Erinnern usw. Stellen alle diese
Funktionen, je nach ihrer funktionellen Besonderheit, auch einen besonderen
Modus der Verbindung zwischen Mensch und Welt her, so ist, entsprechend
der grundsätzlichen Aufhebung des ihnen vorgängigen Totalitätsverhält-
nisses zwischen heiden auch der jeweils durch sie verhesonderte Wirklichkeits-
:aspekt der Daseinswelt aufgehoben oder verändert; denn normalerweise
konkretisieren die seelischen Funktionen nur die allgemeine Weltverhunden-
heit, die ihnen vorangeht. Eine Verbundenheit von Mensch und Welt nimmt
1. Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß viele Klagen der Manisch-Depressiven,
z. B. das Essen "schmecke wie Spreu und Sägemehl", oder ihre Augen würden von "Tag zu
Tag schlechter", denn sie sähen "die Welt mit jedem Tag undeutlicher", aufzufassen sind
als Derealisation der Geschmacksinhalte oder der visuellen Welt.
v. Gehsatte!, Anthropologische Schriften. 3
34 Studien zur speziellen Psychopathologie.
1 Trotz unseres anderen Ausgangspunktes sind wir mit HAUG darin einig, daß "Stärun-
gen der Lebensprozesse" in uns zur Entfremdung der Wahrnehmungswelt führen (vgl. seine
auf PALAGYI gestützten Ausführungen S. 186-204). Welcher Art diese "Lebensprozesse"
sind, veranschaulicht in kurzem aber schlagendem Hinweis eine Stelle bei STRAUS: Vom
Sinn der Sinne. S. 149.
Zur Frage der Depersonalisation. 35
Bemerkenswert ist, daß das eigentliche Ich, dessen Nichtdasein oder Wegsein
behauptet wird, immer vor ihr liegt, von ihr wegstürzt, während das entleerte
Ich dem anderen nachjagt.
Ad. z. Erfolgt der Sturz in den Abgrund steil nach unten, so erfolgt die
Bewegung der Iche im Kreise herum. Und zwar hat die Bewegung der sich
nacheilenden Iche ein "rasendes Tempo" und zugleich den Charakter der
"Hetze". Es handelt sich um das Bild einer wilden Jagd, einer rasenden
Bewegung, die doch zugleich in raffinierter Weise das Bild eines völligen
Stillstandes in sich schließt; denn die Bewegung der heiden Iche hinterein-
anderher bringt sie einander nicht näher, und die gleichsinnige des rotierenden
Äquators verhindert, daß die Bewegung der sich nacheilenden Iche zur
Vorwärtsbewegung wird. Man rast und bleibt doch auf der Stelle - ein
ausgezeichnetes Bild für die depressive Unruhe, die eine in ihrem Effekt sich
selbst aufhebende Bewegung ist!. Die Füße bewegen sich rastlos unter der
Decke, aber sie kommen nicht von der Stelle - ein besseres Symbol des
Ineinander von Stillstand des Werdens in der Depression und Agitation (als
Angehen gegen den Stillstand) kann nicht gefunden werden.
Ad. 3. In dem Bemühen das Doppel-Ich der Spaltung zu charakterisieren,
kommt die Kranke zu folgenden Bestimmungen: 1. das entstürzendeIch
vorne, das Ich B stellt sich hald dar als "das frühere Ich", "das abhandenge-
kommene frühere Ich" - dann wieder als das "Ich der Fülle" - weiterhin
als das Ich "des Besitzens", "des Teilhabens am Leben, am Dasein, am Geist".
Es erscheint als "begabt mit Kraft, Geist, Freiheit". Manchmal als "Person"
im Gegensatz zur Natur und zum bloßen Vegetativen - es "repräsentiert die
Möglichkeit meiner Daseinserfüllung". Überhaupt ist es das Ich der Möglich-
keiten und des Könnens. In besonderem Sinn wird es "mein Ich" genannt,
"das eigentliche, das volle, das wesentliche Ich", das, dessen Besitz erst
gestattet zu sagen: "Ich bin". - Entsprechend heißt es von dem Ich A: "Das
bin ich nicht, das ist ein anderer als ich". Dieses Ich, ist das "Ich der Leere",
"eine arme leere Haut", "ein Vacuum", "ein abgehetztes, abgehärmtes Ge-
spenst", durch und durch "ohnmächtig", "ohne Sinn und Verstand", das Ich
der "Erstorbenheit", der "völligen Isolierung gegen Welt und Menschen" -
1 Außerdem ein Bild für den Stillstand der inneren Zeit in der Melancholie.
38 Studien zur speziellen Psychopathologie.
ausdrücklich bewußt zu werden. Bewußt wird es erst, wenn es sich nicht mit
dem aktuellen Ich verbinden kann, wie in der depressiven Werdenshemmung.
Nun entsteht eine neue Situation: das Ich A verliert auf Grund seiner depres-
siven Kommunikationsstörung seine Aktualisierbarkeit und wird zum Gegen-
stand und zugleich verliert es die Verbindung mit dem Selbst B, die nur vor-
handen ist in der funktionellen Einheit des von Augenblick zu Augenblick
gelebten Wirklichkeitsvollzugs. Wir verstehen nun die Klagen unserer
Kranken, sie seien nicht in Verbindung mit sich selbst. Entweder sieht nun B
in dauerndem Selbstbeobachtungszwang auf das nicht wirklich sich wandelnde
A hin, oder dieses wendet sich im Gefühl seiner Ohnmacht, seiner Leere,
seines Enteignetseins nach dem Ich B der Fülle und der Möglichkeiten hin,
das sonst hinter ihm steht, und wird es in seiner Unerreichbarkeit inne.
Jetzt erst, von diesem Punkt der Einsicht in die depressive Spaltung sind
wir in der Lage, den "abnormen Spannungszustand", den STÖRRING bei jedem
Fall von Depersonalisation mit Selbstbeobachtungszwang erwähnt, ebenso
zu verstehen wie in unserem Fall die Hetze des Ich A hinter dem Ich B her,
die Agitation und Spannung in sich schließt. Beides sind Reaktionen auf den
unerträglichen Zustand der Spaltung und Ich-Entfremdung - sie stellen
einen triebhaften und zugleich krampfhaften, in sich zum Scheitern verurteilten
Versuch dar, die Einheit des Ich wiederherzustellen. Br. L. wird nicht müde,
in allen möglichen Wendungen zu schildern, daß sie in sich ein Wissen um
ihr früheres Dasein trage: "Die unmögliche Möglichkeit der Daseinserfüllung"
ist ihr ständig bewußt. Um diese ringt sie genau so, wie der unter der Herr-
schaft des Selbstbeobachtungszwanges Stehende um das Zusammenfallen von
A und B. Die ständige Abwehr der Krankheit also macht, weil aussichtslos,
die ständige Potenzierung des Leidenszustandes aus; denn was unternommen
wird, um ihn zu beseitigen - die Jagd hinter sich her oder der triebhafte
Selbstbeobachtungszwang - ist nur geeignet, die Spaltung zu fixieren und sie,
die im Biologischen bereits Ereignis geworden, gleichsam in einem Akt der
Reflexion geistig noch einmal zu setzen. In dem, was unternommen wird, die
Krankheit abzuwehren, wird sie neu eingeführt und etabliert. Oder: Die
Reaktion auf die Krankheit ist selber ein Teil der Krankheit.
stürzend. Im Sturze realisieren wir die Leere, die Abgrund heißt. Nun betont
die Kranke immer wieder, daß das Bild des Abgrundes mehr sei als nur Bild,
daß es ihr Zustand selber sei, der in diesem Bild sich ausspreche, ja daß er
dieserri identisch sei. Wir haben keinen Grund, diese Behauptung zu bezwei-
feln. Schließlich ist ja der Begriff der "Leere", der sich der Kranken aufdrängt
und mit dem sie ihren Zustand bezeichnet, auch bereits bildhafter Herkunft.
Wie anders soll sie dieses eigenartige Wegsein, dieses Nicht-da-sein, diese
besondere ontische Teilstruktur schildern als in dem Bild, das sich ihr nicht
nur unentrinnbar aufdrängt, das auch physiognomisch mit dem Innersten der
Depersonalisation, mit seinem existentiellen Sinn, in einem Wesenszusammen-
hang steht, so daß dieses Innerste im Bild der Leere zur Selbstdarstellung, zur
Vergegenwärtigung zu kommen scheint. Die Existenzweise des Depersonali-
sierten erscheint als Leere, weil sie Leere ist. Es handelt sich in diesen sog.
Bildern nicht um eine bloße Übertragung aus der Seinsphäre des Physika-
lischen oder Räumlichen auf Geistig-Seelisches, also nicht um eine Metapher
im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern die in der Seinsphäre des Körper-
lichen beheimatete Leere ist in ihrer allgemeinen Bedeutungsrichtung iden-
tisch mit der "Leere des Herzens" oder der "Leere des Geistes". "Leere"
kommt vor in der Körperwelt, aber sie kommt auch vor in der Seinsphäre des
Geistigen und Seelischen - so sehr, daß z. B. M. SCHELER sich für berechtigt
hält, in seiner Theorie des Raumes die Leerform des Raumes von der "Leere
des Herzens" abzuleiten. Es ist nur die Vorzugsstellung der res extensa im
Denken des Abendlandes, was die Neigung erklärt, als Leere im eigentlichen
Sinn das körperliche Vakuum zu bezeichnen. Erst durch die Bedeutungslehre
HussERLs, HEIDEGGERs, LÖWITHs, BINSWANGERS) wird das Verständnis vor-
bereitet für eine klinische Erscheinung wie das Leeresyndrom. Nun erst
verstehen wir, daß die Leere eine ontologische Grundtatsache bezeichnet, die
der Auseinanderlegung des Seins in einzelne Seinssphären vorausgeht. Wir
dürfen der Kranken unter anderem glauben, wenn sie angibt, daß die Leere
draußen eine " Projektion" ihres inneren Leereseins in die Dinge hinein sei; aber
auch die Angabe erscheint uns nun verständlich, daß es Zustände von Leere
gibt, die jeder Leereerfahrung, sowohl innen wie draußen, vorausgehen (vgl.
ihre Selbstschilderung, 25. 3. 1934)' Dabei sind wir uns klar darüber, daß die
"Leere" nicht Abwesenheit der Seins gebiete, von denen sie ausgesagt wird,
schlechthin behauptet, sondern nur ihre Abwesenheit für uns; sie bestreitet
nicht ihr Vorhandensein, sondern nur ihr Dasein. Der leere Raum bleibt
Raum, nur ein jeder inhaltlichen Bestimmung beraubter, von ihr gleichsam
entleerter Raum. Er kommt zustande durch die Abstraktion von allen auf
das Leben daseinsrelativen Qualifikationen. Analog spielt das beklagte Leer-
sein des Depersonalisierten sich immer noch innerhalb des Daseins ab. Seine
Erfahrung, er sei nicht da, sondern befinde sich im Leeren, ereignet sich inner-
halb des Daseins, allerdings innerhalb eines seltsam unvollziehbar gewordenen
Daseins. Man kann wirklich sagen, das Dasein der Depersonalisierten realisiere
Zur Frage der Depersonalisation. 41
die Leerform des Daseins, dieser werde er sich als einer sowohl zuständ-
lichen als gegenständlichen Leere bewußt, doch gibt es auch Zustände, in
denen er die Leere nur durch eine "Ohnmacht" hindurch realisiere (vgl.
z~. 3. 1934), in denen das Leereerlebnis sozusagen "seinen Abschluß findet",
in denen die Leere bildlos und unbewußt von ihm Besitz ergriffen habe. Die
Leere im allgemeinen entfaltet sich sonst aber auf dem Hintergrund eines stets
vorhandenen, aber unvollziehbar gewordenen Daseins. Ihr Daseinssinn liegt
in diesem Widerspruch begründet, daß das eigene Selbst ist und daß die Welt
ist, beide aber nur im Sinn der "Vorhandenheit" (HEIDEGGER), nicht im Sinn
des Existierens. Aufgehoben ist der Vollzug des Daseins, aber nicht das
allgemeine Schema des In-der-Welt-seins, sowohl in bezug auf sich selber wie
in bezug auf die Welt. Doch in der Unvollziehbarkeit des eigenen Selbst und
in der Unvollziehbarkeit der Welt erfolgt die Begegnung mit der Leere.
Diese Leere, die so sehr im Mittelpunkt der Psychose steht, wird gelebt
im Bilde des Abgrunds und erfahren in einer Reihenfolge von Abstürzen in
den Abgrund hinein. Auch das Bild vom Abgrund ist nicht Bild durch eine
Übertragung von räumlichen Vorstellungen auf seelisches Gebiet, sondern
wieder ist es der gewissen räumlichen und seelischen Phänomenen gemeinsame
Daseinssinn, welcher den Eindruck des Abgründigen in den verschiedensten
Seinsgebieten vermittelt. Sprechen Mystiker doch vom "Abgrund der Gott-
heit", Dichter vom "Abgrund der Verzweiflung": BAUDELAIRE sieht PAS CAL
so: PASCAL avait un gouffre devant lui se mouvant; PASCAL selbst erfährt die
Kleinheit der ins Unendliche teilbaren Welt wie einen "Abgrund". Um also
das Bild des Abgrundes in der Psychose zu verstehen, muß der Daseinssinn
des Abgrundes erfaßt werden, und dieser hinwiederum erschließt sich nur
einer Betrachtung, welche dem Sinnzusammenhang von Abgrund und Leere
nachgeht.
Das Entscheidende am Phänomen des Abgrunds ist, daß er eine Richtung
von oben nach unten in sich schließt, die in einem Sturz realisiert wird. Auch
oben und unten sind keineswegs nur als symbolische Raumqualitäten gegeben
(vgl. BINSWANGER, Traum und Existenz; v. GEBSATTEL, Zur Psychopathologie
der Phobien). Tiefe und Höhe sind ebensogut wie Qualifikationen des Räum-
lichen auch Qualifikationen der moralischen Welt; der Sündenfall ist ein
wirklicher Fall, in ihm wird eine "ontologische Teilstruktur", ein Wesenszug
des Menschen realisiert, nämlich das "Gerichtet-sein-können von oben nach
unten" (BINSWANGER). Auch das Leben ist als steigendes oder fallendes Leben
charakterisiert, und wenn das gesunde Leben mit gewissen Einschränkungen,
die durch die Wechselfälle des Glücks und des Unglücks, des Erfolgs und
des Mißerfolgs, des Stolzes und der Erniedrigung bezeichnet werden, im
allgemeinen ein steigendes ist, so kann man vom gehemmten Leben der
Depressiven sagen, daß es im allgemeinen die Richtung nach unten festhält,
also im ganzen als fallendes Leben sich darstellt. Durch die Angaben unserer
Patientin erfahren wir, daß insbesondere die Leere in einem Stürzen realisiert
42 Studien zur speziellen Psychopathologie.
wird. Nichts ist vorhanden, was dem in die Leere Eingetauchten Halt gibt,
der, wo es um Existenz geht, im Vollzug von Daseinsinhalten besteht.
Insofern wird die Begegnung mit der Leere automatisch zum Sturz. Im
Stürzen wird die Leere vollzogen, deren Vollzug ja nur die Folge der Unmög-
lichkeit ist, etwas zu vollziehen, was nicht Leere ist.
Der nicht zu fassende Daseinsinhalt schwebt dem Depersonalisierten in
einer Beziehung der Unerreichbarkeit vor, und zwar in der Richtung der
Befindlichkeit über ihm, also der Höhe, des Oben, das seine Befindlichkeit als
ein absolutes Unten charakterisiert, und zwar als eine Befindlichkeit im Ab-
grund. Die Bewegung des vergeblichen Hinlangens nach den Daseinsinhalten
wird erfahren als eine Bewegung von oben nach unten. Je leidenschaftlicher
der Drang ist, des Lebens habhaft zu werden, je intensiver die Ohnmacht
dieses Unterfangens wird, desto eindrucksvoller erscheint auf dem stets gegen-
wärtigen Hintergrund des gesunden, normalen Existenzvollzugs der Sturz
in den Abgrund der Nichtexistenz.
Man muß sich darüber klar sein, daß der Kranke sich nicht mit der Tat-
sache abfinden kann, seines Existenzvollzugs beraubt zu sein. Ständig wird
der Daseinsinhalt angestrebt, ständig seine Unvollziehbarkeit erfahren;
ständig über sich hinausgelangt und ständig nach unten gravitiert; besonders
heftig dann, wenn z. B. durch den Besuch der Angehörigen der Wunsch, sich
mit der Welt zu verbinden, an Stärke zunimmt. Das kranke Leben des Deper-
sonalisierten spielt sich in einem Turnus ab von steigendem Verlangen, des
Daseinsinhalts sich zu versichern, und entsprechend von steigenden Ohn-
machtserfahrungen, in denen die Leere - gleichfalls in steigendem Maße -
sich durchsetzt, bis man zur Leere wird, was dem vollendeten Sturz in den
Abgrund gleichkommt, worauf dann eine gewisse Beruhigung und Abstump-
fung einsetzt, bis das schmerzliche Spiel von neuem beginnt (vgl. Selbst-
darstell ung).
V. Ansätze .zueiner Theorie der i}lelancholie. Um es noch einmal zu sagen:
Leere als eigener Zustand und als Erscheinungsweise der Welt kann nur
auftreten, weil Leere überhaupt möglich ist. Weil Leere als Möglichkeit zum
Wesen des Daseins gehört, nur darum kann sie in einer Psychose hervor-
brechen und deren Symptomatik bestimmen. Die Existenz im Leeren
bedeutet für den Anthropologen eine Möglichkeit des Menschseins, die
gleichbedeutend ist mit der Aufhebung des Wirklichkeitsvollzugs von Welt
und eigener Person. Die Leere läßt sich nicht anders vergegenwärtigen, als
indem sie auf alle möglichen Themen des Daseins übertragen und da,
mehr oder minder deutlich, vollzogen wird. Das heißt: sie erscheint als
Derealisation der Welt in allen ihren Dimensionen und als Depersonali-
sation in jedem Sinn des Wortes.
Wir begegnen ihr unter anderm in der Melancholie. Das depressive
Depersonalisationssyndrom stellt die Melancholieform der Existenz im Leeren
Zur Frage der Depersonalisation. 43
1 Die manischen Symptome - zu verstehen als ein besonderer Typus der Reaktion auf
die Existenz im Leeren - erfordert eine gesonderte Darstellung.
Zur Frage der Depersonalisation. 45
weiteres ein, daß der Depressive durch seine Hemmung, die ja in erster Linie eine
Hemmung des Werdens (ein Stillstand der inneren Zeit; STRAUS, Y. GEB-
SATTEL) und damit des Könnens ist, je weiter die Herrunung um sich greift,
desto mehr aller Möglichkeiten des Existierens verlustig geht und daß er
somit eine Richtung einschlägt, die durch zunehmende Verarmung an Daseins-
inhalt bezeichnet wird. Die Hemmung überantwortet somit den Kranken
der Leere, aber nicht diese kommt ihm im allgemeinen zum Bewußtsein,
sondern die Lahmlegung seines Könnens beherrscht seine Vorstellung.
"Ich kann nicht denken, nichts behalten, nichts verstehen, nicht lesen, nicht
schreiben, ich kann nicht fühlen, nicht arbeiten, nicht handeln, mich nicht ent-
schließen, mich nicht unterhalten; aber auch: nicht essen,. nicht defäcieren,
nicht sehen, nicht verstehen, nicht riechen usw." - So lauten die landläufigen
Klagen der Depressiven. Sehen wir die Krankengeschichten unserer depressiv
Depersonalisierten durch, so enthalten sie, wie die von Br. L., gleichfalls
ausführliche Schilderungen von Zuständen des Nicht-Könnens, also der
Hemmung, und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von denen der
typisch Melancholiekranken sonst. Dieses Dauererlebnis des Nicht-könnens-
dem ein faktisches Nicht-können bei weitem nicht entspricht - verrät in
erster Linie das Ausgeschaltetsein der Möglichkeiten des Daseins für das
Gefühl des Depressiven. Aufgehoben ist die von Zeitpunkt zu Zeitpunkt
fortlaufende Auseinandersetzung von Ich und Welt, aufgehoben ist auch ihre
Möglichkeit, aufgehoben ist damit das innere und äußere Weiterkommen in
Wirklichkeitsvollzug und Daseinserfüllung. Statt dessen herrscht Stillstand
:allen Wandels und Leere im Innersten. Kurz, die Hemmung der Melancholie-
kranken hat einen existentiellen Sinn, und dieser läßt sich gar nicht anders
fassen als durch den Hinweis auf die Existenz im Leeren.
Die Leere, so sagt uns Br. L., sei "Grauen, Öde, Finsternis, Eiseskälte,
Erstorbenheit und absolute Unverbundenheit". Ihr zugeordnet ist somit in
physiognomischer Evidenz die Qual, Trauer, Niedergeschlagenheit der Ver-
stimmten. Auch die Verstimmung erscheint uns als eine Weise, in der ein in die
Leere hineingeratenes Dasein, halbbewußt und leidend, sich selber inne wird;
jedenfalls kann ihr eigentlicher Sinn, der immer ein existentieller ist, nur von
dorther verstanden werden. Zur Verstirpmung neigen jene Persönlichkeiten,
die in ihrer prämorbiden Verfassung vorzugsweise innerhalb der Polarität
von Freude und Trauer sich bewegen (Charakterologie von KLAGES), wie
zum dauernden Illusionieren von Mißerfolgen, erlittenen oder bevorstehenden,
jener Typus der Depressiven neigt, der in gesunden Tagen sein Sein in der
Welt vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt von Erfolg und Mißerfolg
(KLAGES) anvisiert. Mit einem Wort: Je wissender man an die Symptome der
Melancholie herangeht, desto deutlicher erweisen sich diese dem Betrachter
als Bilder, Gleichnisse, Umschreibungen der existentiellen Leere, die das
Fundament der manisch-depressiven Existenzform bildet. Dieser Gedanke
läßt sich im Rahmen unserer Untersuchung nur andeuten, nicht durchführen.
46 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Hinweise müssen genügen. Bedenken wir zum Beispiel, daß die Angst zum
Nichts in einer Wesensbeziehung steht (HEIDEGGER), daß andererseits die
Leere nur eine besondere Gestalt des Nicht-wirklich-daseins und somit des
Nichts darstellt, so kündigen sich Zusammenhänge an zwischen den Angst-
zuständen der Depressiven und der Leereform des Daseins, die, unbeschadet
aller physiologischen und psychologischen Theorien der Angst, geeignet sind,
den Sinn der depressiven Angst zu verdeutlichen.
In ähnlicher Weise müssen die Untergangsvorstellungen der Depressiven,
die Befürchtungen der Hypochondrischen, die Schuldgefühle, Kleinheits- und
Verarmungsideen bearbeitet werden. Veränderungen des Selbstgefühls,
Insuffizienzgefühle aller Art, wie sie in der Melancholie an der Tagesordnung
sind, dürfen ja nicht mit der echten Depersonalisation verwechselt werden.
Von ihr unterscheiden sie sich dadurch, daß das eigene Selbst in der Melan-
cholie zwar verändert ist, daß aber diese Veränderung nicht durch ein Ver-
änderungsbewußtsein, nicht durch Entfremdungsgefühle, nicht durch die Ane-
mesthesie DAGus', d. h. das Gefühl des Ich-Verlusts hindurch realisiert wird.
Immerhin fällt auf, daß alle depressiven Insuffizlenz-, Schuld-, Häßlichkeits-,
Kleinheitsgefühle, soweit sie nicht direkt in einen depressiven Wahn über-
gehen, stets ein noch spürbares Moment der Abwehr in sich tragen, in dem
sich die anonyme Wirksamkeit des ursprünglichen Selbstbewußtseins ankün-
digt. In der Verzweiflung über die eigene Schlechtigkeit, Bosheit, Untaug-
lichkeit, usw. sitzt sozusagen das enteignete, ausgeschaltete, zur Ohnmacht
verurteilte, gesunde Ich über das Ich der Melancholie zu Gericht und verurteilt
dieses. So müssen wir auch die häufigen Angaben der Melancholiekranken,
sie simulierten bloß ihr Nichtkönnen, als ein Durchschimmern der gesunden
Seinsverfassung durch die kranke verstehen. Die Verwandtschaft dieser
Zustände mit der echten Depersonalisation liegt darin, daß ja auch das Deper-
sonalisationsbewußtsein oft erwacht auf dem Hintergrund eines Wissens um
das abhanden gekommene frühere Ich (vgl. die Selbstschilderung hier und ein-
schlägige Angaben beiHAUG, STÖRRING, MAYER-GRoss). Zwar vermissen wir bei
Melancholiekranken im allgemeinen höhere Klarheitsgrade dieses Wissens,
finden es aber doch in der Struktur seiner Insuffizienzgefühle so weit ange-
deutet, daß der Versuch gerechtfertigt erscheint, von der Depersonalisation
her in den existentiellen Sinn dieser Symptome einzudringen. In den depres-
siven Insuffizienzgefühlen wird die Vernichtung des Ich erfahren und zugleich
- wenn auch ohnmächtig - abgewehrt, wodurch sie drohenden Charakter
annehmen. Es läßt sich zeigen, daß alle depressiven Insuffizienzgefühle im
Symptom des Nichtkönnens fundiert sind und somit, gleich diesem, zum
Strukturganzen der Existenz im Leeren gehören.
Mit diesen Andeutungen soll - höchst vorläufig - darauf hingewiesen
werden, von welcher Wichtigkeit das Studium der Depersonalisation gerade
für das Verständnis des manisch-depressiven Menschen ist.
Zur Psychopathologie der Phobien. 47
1 Ein zweiter Teil soll die "anankastische Phobie" behandeln. Diese ist durch die Vor-
herrschaft zwanghafter Züge bestimmt wie der im folgenden behandelte Typus durch die
Vorherrschaft adynamischer Züge. Erst die Vergleichung beider Typen phobischer Er-
krankung wird es ermöglichen, Klarheit darüber zu gewinnen, ob die adynamische Reak-
tionsweise, wie z. B. die französische Psychiatrie lehrt, wirklich konstitutiv ist für die
Phobie überhaupt, oder nicht. (Vgl. den Aufsatz: Die Welt des Zwangskranken.)
48 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Verwirklichung bald mehr, bald weniger ausgeprägt sich zeigen, so wird auch das
Wesen einer krankhaften Reaktion nicht in jedem Fall dieser Reaktion mit
gleicher Deutlichkeit offenbar. Jeder Forscher kennt in diesen Gebieten die
Bedeutung der Tyche, und daß er oft jahrelang als Beobachter und Denker
sich mit Teilstücken einer Einsicht begnügen muß, bis durch Begegnung mit
einem eindrucksvollen Fall das "geistige Band" ihm gereicht wird, mittels
dessen er die Teilstücke zum Ganzen einer Erkenntnis zusammenzuschließen
vermag. Noch in seinen krankhaften Bildungen bewährt sich die Formkraft
des Lebens als ein Mehr oder Weniger von Ausgeprägtheit, Folgerichtigkeit
und Deutlichkeit - Eigenschaften, die die repräsentative Bedeutung eines
Falles, seine klassisch anmutende Hinordnung auf den verstehenden Geist
begründen.
Ein solcher Fall, klassisch durch die vollentwickelte Konsequenz seines
Aufbaus, begegnet uns in der Schilderung HUFELANDs. Es erscheint mit
Rücksicht auf die ihm angelegten Erkenntnismäglichkeiten irrelevant, ob er
aus der eigenen Praxis oder aus der Geschichte der Medizin auf uns zukommt,
besonders dann, wenn sein Bild von der unvoreingenommenen Sachlichkeit
eines HUFELAND aufgefangen wurde. Mir jedenfalls ist weder in meiner Praxis
noch aus der Literatur sonst ein Stärungskomplex bekannt, der im Hinblick
auf physiognomische Deutlichkeit sich mit dem von Julie Weber vergleichen
ließe. Es sei darum gestattet, ihn zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen
zu machen, um so mehr, als die Literatur arm ist an brauchbaren Schilderungen
von Phobien des Psychasthenischen Typus.
H. Krankengeschichte.
Julie Weber wurde im Dezember 1784 als Kind gesunder Eltern geboren,
machte verschiedene Krankheiten durch, wie Keuchhusten, "rote Ruhr",
hatte unter der rigorosen Behandlung einer Skoliose schwer zu leiden und
zeigte seit I 802 im Anschluß an angestrengte Handarbeiten im Zwielicht die
ersten Spuren einer Empfindlichkeit und Schwäche der Augen. Die folgenden
Jahre waren beherrscht von allen mäglichen Leidenszuständen: schweren
Obstipationen, Lavements mit Ohnmachtsanfällen, Appetitlosigkeit, Gefühl
des Weheseins in der Magengegend, Globus hystericus, Schlaflosigkeit, Ver-
stimmungen, Mißtrauen und große Empfindlichkeit der Umgebung gegen-
über, Stimmungs schwankungen mit wochenlangem Klagen und \XTeinen,
Menstruationsbeschwerden. In dieser Zeit entwickelte sich "das Augenübel",
das die Angehörigen veranlaßte, sich brieflich mit HUFE LAND in Verbindung
zu setzen. Im Frühling des Jahres 1804 fuhr sie nach Königsberg zu HUFE-
LAND, der seine Beobachtungen folgendermaßen zusammenfaßt:
"Sie war damals 20 Jahre alt, klein, sehr bleich und mehr von schwäch-
licher als starker Konstitution, außer ihrem Augenübel und einem unbedeuten-
den Katarrhalhusten aber völlig gesund. Das Zimmer, worin sie sich beständig
Zur Psychopathologie der Phobien. 49
aufhielt, war so stark verfinstert, daß· man beim Eintritt in dasselbe durchaus
nicht zusehen vermochte, sondern wenigstens erst 1/2Stunde darin verweilt
haben mußte, bevor man große Gegenstände nur im allgemeinen ihren Um-
rissen nach voneinander unterscheiden konnte, und dennoch sah in dieser
dicken Finsternis die Kranke die kleinsten Objekte mit einer fast mikroskopi-
schen Deutlichkeit (jedoch ohne Vergrößerung), so daß sie z. B. nicht nur die
feinsten Muster und zartesten Farben auf den Kleidern der sie besuchenden
Freundinnen, sondern auch zugleich jeden einzelnen Faden des Zeuges auf
das genaueste erkannte; jedoch mußte sie nicht absichtlich, sondern bloß
zufällig, etwas sehen wollen und daher mit unstetem Blick nur darüber hin
streifen. Diese Deutlichkeit des Sehens im Dunkeln hatte mit dem Übel immer
gleichzeitig zugenommen und war höchst peinigend für die Kranke; denn
wollte sie etwas sehen, und ihr Blick ruhte nur einen Moment auf einem
Gegenstande, so wurde das Auge, von der Masse der gesehenen Objekte über-
wältigt, matt und schloß sich unwillkürlich, und die Kranke litt an den fürch-
terlichsten .Empfindungen, die aber nicht das Auge betrafen, denn hier fühlte
sie bloß Druck und Mattigkeit, sondern ihren Worten nach, in einem nicht
zu beschreibenden Seelenschmerz und einer Todesangst bestanden. Vergaß
sie sich einmal in der Zerstreuung des Gespräches und ließ ihr Auge einen
Augenblick auf einem Gegenstand ruhen, so fuhr sie dann plötzlich mit einem
heftigen Schrei auf, sank hierauf in sich selbst zusammen und war gewöhnlich
einer Ohnmacht sehr nahe. Ganz dieselben Empfindungen hatte sie auch,
wenn sich etwas vor ihren Augen bewegte, oder auch helle, wenngleich von
ihr nicht gesehene Gegenstände nur in ihre Nähe kamen, wo sie dann sogleich
den Widerschein bemerkte, welcher für ein gesundes Auge durchaus nicht
wahrnehmbar war. Die sie umgebende Finsternis mußte immer einen gewis-
sen, für den jedesmaligen Zustand der Augen passenden Grad haben. War
das Zimmer nur etwas heller, so erfolgten jene genannten Empfindungen,
und war es dunkler, so wurden die Augen durch Anstrengung matt und
schlossen sich unwillkürlich. Die größte Pein litt sie daher, wenn bei trüben
Tagen die Sonne sich abwechselnd hinter Wolken verbarg und dann plötzlich
wieder hervortrat. Der für die Augen notwendige Grad der Dunkelheit blieb
nicht immer derselbe; waren sie einige Zeit geschlossen gewesen, so erforderten
sie mehr Dunkelheit als im entgegengesetzten Falle, weshalb auch des Morgens
nach dem nächtlichen Schlafe, das Zimmer am meisten verfinstert und gegen
Abend hin wieder allmählich mehr erhellt werden mußte, so, daß wenn das
Fenster am Morgen mit einer Fensterlade und 3 grünen wollenen Decken
verwahrt war, des Abends bloß eine Decke hinreichte. Am späteren Abend
wurde durch gehörig angebrachte Lichtschirme ein ähnlicher, gleichmäßiger
Dämmerschein hervorgebracht. Der Schlaf machte die Augen bei weitem
nicht so reizbar, als wenn sie ohne Schlaf einige Zeit geschlossen wurden.
Bisweilen waren sie auch ohne eine merkbare Veranlassung mehrere Tage
hintereinander, manchmal auch nur während einiger Stunden des Tages
v. Gehsatte!, Anthropologische Schriften. 4
50 Studien zur speziellen Psychopathologie.
empfindlicher als sonst. Fühlte sich die Pat. am übrigen Körper völlig wohl,
so waren gewöhnlich die Augen desto empfindlicher und wurden es wieder
weniger, sobald heftige Kopfschmerzen, Übelkeiten u. dgl. eintraten. -
Einstmals z. B. war dieser Wechsel höchst auffallend, indem die Kranke bei
einem Spaziergang am späten Abend von Übelkeiten und heftigem Erbrechen
befallen, in der Angst die Augen öffnete und in diesem Zustand den Anblick
des blendenden Schnees ohne schmerzhafte Empfindungen ertrug, bei Nach-
lassen des Erbrechens aber sogleich die Augen wieder schließen mußte. -
Im Zimmer waren der Ofen, die Wände, Spiegel, Schränke und alle nur
einigermaßen hellen Gegenstände mit dunkelgrünen Decken verhangen, um
jede Reflexion des Lichtes zu verhindern. Die Kranke selbst war durchaus
dunkel gekleidet, überdies noch mit einem großen schwarzen Tuch verhüllt
und trug beständig einen tief in die Augen gesetzten dunkelgrünen Hut.
Alle Bekannten, die sie besuchten, mußten sich ebenfalls schwarz verhüllen
lassen, sich so wenig als nur möglich vor ihr bewegen und sich hinter ihren
Rücken setzen, wenn sie ihr nicht jene schmerzhaften Empfindungen verur-
sachen wollten. Niemand durfte es wagen, ihr nur ins Gesicht, viel weniger
noch ins Auge zu blicken. Waren die Augen nicht sehr empfindlich, so konnte
sie mit zur Erde gesenktem Blick im Zimmer umhergehen; bei größerer
Empfindlichkeit durfte sie sich aber, um den Wechsel der Gegenstände zu
vermeiden, nicht von der Stelle bewegen, sondern mußte dann niedrig sitzen
und stets nach dem dunkelsten Orte des Zimmers hinsehen; und bei noch
größerer Empfindlichkeit konnte sie nur dann die Augen offen halten,
wenn sie auf dem bloßen Fußboden saß, sich auf einen Ellenbogen stützte
und durch den tief herabgedrückten Hut ihren Gesichtskreis möglichst ver-
kleinerte. Ging sie außer dem Hause, so verband sie sich die Augen mit zwei
schwarzseidenen Tüchern, in welchen mehrfache Wachsleinewand befindlich
war, verstopfte die Öffnungen unter dem Tuche zu beiden Seiten der Nase
auf das sorgfältigste mit kleinen seidenen Polstern und bedeckte den Kopf
mit dem Hute und einem doppelten grünen Schleier. Ungeachtet aller dieser
Verwahrung konnte sie aber doch nie in den Sonnenschein gehen, sondern
mußte immer nur sehr schattige Orte oder die spätere Abendzeit wählen.
Führte der Weg zufällig über eine von der Sonne beschienene Stelle, so
traten augenblicklich in mehr oder minderem Grade jene genannten schmerz-
haften Empfindungen ein. Wurde ihr die Zeit in ihrer traurigen Einsamkeit
nicht durch Besuch von ihren Freundinnen verkürzt, so dienten ihr das auf
dem Rücken gehaltene Strickzeug, der Gesang und das Spiel am verdeckten
Klavier oder der Guitarre zur Unterhaltung. In ihrem Betragen war weder
Empfindelei, noch schwärmerische Phantasie, noch Eigensinn bemerkbar.
Sondern mit religiöser Ergebung und der Fassung eines gebildeten und durch
Vernunft beherrschten Gemüts ertrug sie ihr hartes Schicksal, und erwarb
sich durch ihre Standhaftigkeit und ihr gesetztes, verständiges Benehmen
die Achtung aller, die sie näher kennen lernten."
Zur Psychopathologie der Phobien. 51
von der Stelle bewegen, schließlich mußte sie, "auf einen Ellbogen gestützt">
auf dem bloßen Fußboden sitzen und durch tief in die Stirn herabgedruckten
Hut "ihren Gesichtkreis möglichst verkleinern" (S. 3Z). Wenn die Empfin-
dungen angesichts von Bewegungen oder der Weite des Gesichtskreises von
HUFELAND oder KLUGE auch keiner genauen Analyse unterzogen werden, so
geht doch aus der ganzen Schilderung, insbesondere aus der Erwähnung, da~
sie sich nicht von der Stelle bewegen konnte, deutlich hervor, daß die Uner-
träglichkeit der Empfindungen in einer Art von Angstschwindel bestanden
haben muß, wie wir ihn aus dem Studium der Phobiker kennen. Auch eine
schreckhafte Geräuschempfindlichkeit mit nachbleibender Angst und Beklom:-
menheit wird erwähnt (S. 33): KLUGE bemerkt S. 48/49, daß zeitweilig
auch anhaltendes Sprechen und scharfes Denken ihr die größte Bangigkeit und
Herzklopfen verursachen.
Immer wieder betont HUFELAND, daß ein krankhafter Befund von seiten
der Augen nicht erhoben werden konnte. Erst in den Stadien fortschreitender
Heilung werden von KLUGE Conjunctivitiden, sogar eitriger Natur, erwähnt
und von ihm als "Verkörperung der immateriellen Krankheit" gedeutet.
Es handelt sich also bei Julie Weber um eine sensible Persönlichkeit, die
beim Übergang von der Pubertät in die Adoleszenz erkrankt. Und zwar liegt
vor eine Entwicklungsneurose mit depressiven Zügen (Tagesschwankungen,
Klagsamkeit und Weinanfällen), mit organneurotischen Symptomen (Ver-
dauungsstörungen, Menstruationsbeschwerden, Globus hystericus, ... ) und
mit Störungen ihres Verhältnisses zur Umwelt (Mißtrauen, Empfindlichkeit
usw.). Im Mittelpunkt der Erkrankung steht eine psychopathische Reaktion
besonderer Art. Das Symptom der "Tageblindheit", eine bis zur praktischen
Blindheit führende Überempfindlichkeit gegen Lichtreize, die sich aus einer
Überanstrengung der Augen durch Handarbeiten ohne physiologische Ur-
sachen entwickelt, hat Beobachter und offenbar die Kranke selbst am meisten
beeindruckt. Auch erfahren wir, daß neben der Empfindlichkeit für Licht
eine solche für den Anblick von Bewegungen, von Helligkeitswechsel, für
die Weite des Gesichtskreises, aber auch für Geräusche bestand. Besondere
Beachtung verdient der Umstand, daß diese verschiedenen Äußerungen von
Empfindlichkeit mit Angst vergesellschaftet waren.
Die psychopathische Reaktion besteht also in einer Überempfindlichkeit
gegen gewisse Eindrücke besonders visueller Herkunft, außerdem aber in
Angstzuständen, die sich um diese primäre Überempfindlichkeit gruppieren.
Aus Überempfindlichkeit und Angst baut sich das Ganze der Erkrankung
auf. Sowohl der Sinn dieser Überempfindlichkeit und dieser Angst als auch
die Struktur des Reaktionsganzen, das sie bilden, bedarf einer genaueren
Untersuchung. Allein schon an der Schwelle dieser Untersuchung läßt sich
sagen, daß uns dieses Zusammentreten von Überempfindlichkeit und Angst
aus dem Studium der Phobiker bekannt ist. Es ist das Verdienst besonders
der Franzosen, die Aufmerksamkeit auf den dynamischen Faktor beim
Zur Psychopathologie der Phobien. 53
1 HUFELAND versteht unter Nyktalopie etwas anderes als die moderne Ophthalmologie.
Diese, vgl. Handbuch der Ophthalmologie 2, COMBERG, der Lichtsinn, versteht unter
Nyktalopie: starke Reizbarkeit bei hellem Licht und normales Dämmerungssehen; eine
Kombination, die bei angeborener Totalfarbenblindheit vorkommt. Die Nyktalopie ist
besonders charakterisiert durch eine stark beschleunigte Adaption im Dunkeln. HUFELAND
meint mit seinem Begriff nicht nur einc gesteigerte Adaptionslcistung, sondern außerdem
noch, wie unsere Untersuchung zeigt, die "psychasthenische Polyopic".
Zur Psychopathologie der Phobien. 55
auch nur einen Moment auf dem Gegenstand, so wurde das Auge, von "der
Masse der gesehenen Objekte überwältigt, matt und schloß sich unwillkürlich",
wobei die erwähnten Angstempfindungen auftraten. "Masse" ist hier offenbar
gleichbedeutend mit Unzahl, Menge, Unmenge der Eindrücke, wie HUFELAND
sagt: "der kleinsten Objekte". Sieht die Kranke doch in der dichten Finsternis
die feinsten Muster oder "jeden einzelnen Faden des Zeuges" an Kleidern
von Besuchern, allerdings nur, "wenn sie nicht absichtlich, sondern nur zu-
fällig etwas sehen wollte", also beim flüchtigen Hinstreifen der Augen über
die Dinge. Wir hören somit, daß die Erscheinung der sichtbaren Welt,
welcher die psychasthenische Kranke nicht standzuhalten vermag, ihre "Masse"
ist, die übergroße, offenbar nicht zu bewältigende Menge von Einzelheiten.
Mehr also, als um eine Steigerung der "Deutlichkeit", handelt es sich um eine
Vermehrung der Menge von Seheindrücken beim "nyktalopischen" Sehen.
Nur muß man sagen, daß die Kranke bei dieser Menge der visuellen Inhalte
nicht stehen bleibt oder nicht in sie eindringt. Sondern kaum taucht vor
ihrem sekundenlang auf den Erscheinungen haftenden Blick deren Unmenge
auf, so setzt bereits das Überwältigungserlebnis ein, Blickschwäche und Blick-
schwindel machen sich bemerkbar, einer Ohnmacht nahe sinkt die Kranke
in sich zusammen.
Offenbar handelt es sich beim Vorgang des ny ktalopischen Deutlich-
sehens um "mehr als um eine die Lichtscheu kompensierende gesteigerte
Adaptionsfähigkeit der Augen im Dunkeln". Die Unmenge der visuellen
Inhalte (jeder einzelne Faden!) läßt sich nicht mit Berufung auf eine vermehrte
Adaptionsleistung der Augen erklären. Der Akzent liegt vielmehr auf dem
Umstand, daß die Patientin nur dann all die Einzelheiten sieht, wenn sie nicht
sehen will. Sie begegnet dieser Masse "der kleinsten Objekte" nur "unfrei-
willig", und zwar dann, wenn ihr beim Hinstreifen der Augen über die Dinge
dies zustößt, daß der Blick plötzlich von ihnen festgehalten wird, also in dem
kurzen Augenblick, ehe er im Blickschwindel untergeht.
Ich glaube, die Prüfung des Sachverhalts ergibt, daß das Überwältigungs-
erlebnis beim Anblick von Gegenständen nicht so sehr durch deren deutlich
gesehene Einzelheiten ausgelöst wird als durch den Eindruck ihrer nicht zu
bewältigenden Massenhaftigkeit. Dieser Eindruck aber ist setbst schon· das
Produkt einer psychasthenischen Reaktion, und zwar eine Reaktion auf das
Phänomen der Fii;lle. Stehen doch die Phänomene dieser Ordnung, also Fülle,
Weite, Tiefe, Höhe zur Eigenart der phobischen Erkrankung in besonders
naher Beziehung. Insbesondere ist es die Qualität Fülle, durch die, wie in
unserem Fall, Blickschwäche und Blickschwindel ausgelöst werden können.
Um diese Möglichkeit zu verstehen, bedarf es einer kurzen Abschweifung.
Fülle, Weite, Tiefe, Höhe sind nämlich keine Inhalte des vergegenständ-
lichenden Denkens, sondern Widerfahrnisse. Der Fülle, der Weite usw. steht
man nicht gegenüber, wie der gesehenen Einzelheit, z. B. dem einzelnen Faden,
sondern man erfährt ihre Wirkung. Fülle, Weite, Tiefe ziehen an, und sie
56 Studien zur speziellen Psychopathologie.
inne werden, heißt, ihren Zug erfahren. So wenig aber diese Qualitäten
genauer Gegenstand werden können eines vergegenständlichenden Denkens,
so wenig bilden sie im allgemeinen den Inhalt von Erlebnissen. Es gibt wohl
Erlebnisse, in denen die Fülle, die Weite, die Tiefe der Welt zu Wort kommt,-
Erlebnisse des Schauens, von denen vor allem die Lyrik Zeugnis ablegt, allein
diese Spiegelung der Phänomene in einem besonderen Bewußtseinszustand
entspricht nicht der alltäglich unmittelbaren Form ihrer Wirksamkeit.
Beschränken wir uns zuerst einmal auf das Phänomen der Fülle. Immer
nämlich, in jeder durch Sinne vermittelten Berührung mit der Welt, ist auch
in irgendeiner Abwandlung ihre Fülle zugegen und wirksam, doch tritt sie
für gewöhnlich nicht abhebbar in Erscheinung und entfaltet ihre Wirksamkeit
nicht in betonter, in die Ichsphäre hineinreichender Weise. Diese Unmittelbar-
keit ihres Wirkens z. B. auf den Sehenden oder den Tastenden habe ich im
Auge, wenn ich sage: der Widerfahrnischarakter der Welt, den wir Fülle
nennen (und entsprechend "Weite", "Tiefe", "Höhe"), wird nicht erlebt,
sondern gelebt. Zum Unterschied von Erleben stellt das Leben der Fülle und
der Raummodi einen höheren Grad von Unmittelbarkeit des "Wirknexus"
(SCHELER) dar.
Man könnte in der STRAusschen Diktion l den "pathischen" Charakter
der Fülle betonen und sie insofern entgegenstellen dem Umkreis der gnosti-
schen Phänomene. Allein diese Gegenüberstellung ist geeignet, den Sach-
verhalt, den wir im Auge haben, zu verdunkeln. Allerdings ist, wenn man die
Erkenntnisfrage stellt, die Fülle kein gnostisches Phänomen, sondern ein
pathisches. Doch zielt unsere Untersuchung in andere Richtung. Sie interes-
siert sich nämlich für die Wirksamkeit jener Qualitäten, insbesondere für die
Beteiligung der Fülle am Aufbau des visuellen Verhaltens. Im Zusammenhang
mit dieser Fragestellung muß der Begriff des Pathischen wieder angebracht
werden, ungefähr in dem Sinn, in dem KLAGES ursprünglich ihn einführte:
als Widerfahrnis im Gegensatz zu einem Tun. Die Begegnung mit der Fülle
hat in diesem Sinn eine pathische Seite: Fülle begegnet uns, sie stößt uns zu,
sie widerfährt uns, wir erleiden sie, sie kommt aus der Welt auf uns zu, -
lauter Umschreibungen ihrer pathischen Natur. Allein nicht solcher Art ist
dieses Widerfahrnis, daß das uns Widerfahrende hierbei in irgendeiner Weise,
die mit Gegenständlichem oder Erlebtem zu tun hat, sich für uns heraushöbe,
sondern darin besteht die Wirksamkeit der Fülle, daß sie das Lebewesen in uns,
dem sie zustößt, zu unmittelbar einsetzender Selbsttätigkeit veranlaßt.
Die Fülle löst also ein Verhalten aus, und zwar unmittelbar: im Wider-
fahrnis ihrer ist der Anreiz zur Kraftentfaltung des eigenen Sichzurückrichtens
auf sie enthalten - eine Kraftentfaltung, die z. B. als gerichteter Ablauf
visuellen Verhaltens sich ereignet, vorausgesetzt, daß sie sich ereignen kann,
daß nicht eine adynamische Reaktionsweise der Persönlichkeit sie lahmlegt
wie im Fall Julie Weber, wo statt Kraftentfaltung "Blickschwäche" auftritt.
1 V gl. E. STRAUS, Geschehnis und Erlebnis u. a.
Zur Psychopathologie der Phobien. 57
Die Fülle kann somit überhaupt nur realisiert werden, dadurch, daß das
Lebewesen, auf das sie daseinsrelativ ist, in dynamischer Reaktion unmittelbar
zu ihr sich verhält. Das besagt, daß eine rein pathische Verfassung der Fülle
gegenüber bereits eine Störung in sich schließt, wie der unter dem Einfluß
der psychasthenischen Blickschwäche zustande gekommene "MasseneindruckH
- die adynamische Polyopie - veranschaulicht. Hier wird die Fülle nur
erlitten, die dynamische Antwort auf sie fällt aus, und eben damit die Möglich-
keit, sie zu bewältigen.
Denn dies muß mit Nachdruck betont werden: man lebt die Fülle nur,
indem man sie bewältigt. Und so paradox es klingt: man bewältigt sie nur,
indem man sie einschränkt. Es handelt sich in all diesen Verhältnissen aber
um eine völlig blinde Auseinandersetzung mit der Fülle: So wenig der ruhig
Gehende der Schwere inne wird, gegen die er angeht, so wenig weiß der aus
der Fülle der Erscheinungen Lebende um ihre Anwesenheit und Wirksamkeit.
Denn die visuelle Beschäftigung mit der Sichtbarkeit erfolgt unter der Herr-
schaft irgendwelcher Interessen, die uns veranlassen, in bestimmter Hinsicht
die Sichtbarkeit zu befragen, in sie einzudringen und mit den Augen uns ihrer
zu bemächtigen. Daß die Pulle der Sichtbarkeit dieses Verhalten erst ermög-
licht, kommt uns nicht zum Bewußtsein. Grundsätzlich bedeutet die Fülle
der 'Welt einen Inbegriff von Möglichkeiten des visuellen Eindringens in
das Reich der Sehdinge. Unendlich sind diese Möglichkeiten, zahllos die Rich-
tungen, die das visuelle Vordringen einschlagen könnte. Daß man in der
Unzahl dieser Möglichkeiten sich nicht verirrt, daß die Fülle der Welt über
dem Sehenden nicht zusammenschlägt, hat seinen Grund in der Energie,
mit der er diese Möglichkeiten ausschaltet, um in ganz bestimmter, durch sein
Interesse ihm gewiesenen Richtung weiterzugehen. Dadurch gliedert sich die
Welt in Wichtiges und Unwichtiges, es entsteht eine "Interessenperspektive"
für das visuelle Verhalten. Man zweifle aber nicht daran, daß dieses Aus-
schalten der visuellen Möglichkeiten nicht eine Kraftleistung sei. Sie ist es
genau so wie in der Sphäre des Willens das Neinsagenkönnen und das Nein-
sagen. Indem man sich im Widerfahrnis der Fülle auf sie zurückrichtet, mit
Blick und Wahrnehmung im einzelnen Fuß faßt, wehrt man zugleich implizite
die anderen Möglichkeiten des Fußfassens und Eindringens ab. Und diese
automatisch vollzogene, neinsagende Selbstbeschränkung macht die Energie
des visuellen Verhaltens aus.
Die Fülle stellt den Grund und Boden dar, auf dem sich die Aktion des
gerichteten Eindringens in die Sichtbarkeit abspielt. Als bewältigte Fülle
dient sie dem Sehenden: Wie die Taube von der Luft getragen wird, aber
nur, indem sie flügelschlagend auf ihr und in ihr sich weiterbewegt; so trägt
den Sehenden die Fülle und umgibt ihn, aber nur, wenn er in bestimmt
gerichteter Blickfolge sich aktiv gegen den Strom ihres Andringens fort-
bewegt, wobei dann immer neue Einzelheiten der Wahrnehmungswelt in Er-
scheinung treten, die anderen möglichen aber automatisch ausgeschaltet werden.
58 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Wir sind hiermit an dem Punkt angelangt, von dem aus sich das Über-
wältigungserlebnis der Blickschwäche verstehen läßt.
Was Julie Weber überwältigte, war ja die "Masse der gesehenen Objekte",
d.h. der Eindrücke. Wenn wir andererseits bedenken, daß sie unfähig war, die
Augen auf den Dingen ruhen zu lassen und sich visuell mit ihnen zu beschäfti-
gen, so liegt der Gedanke nahe, es möchte diese überwältigende "Masse" der
Objekte die Bewußtseinsspiegelung der geistig unbewältigten Fülle sein.
Zwischen Fülle und Masse besteht zweifelsohne ein Zusammenhang: Im
Eindruck der Masse gelangt zur Wirksamkeit die nicht verarbeitete, nicht
bewältigte, die nicht gestaltete Fülle. Wenn wir hören, daß die Fülle der sicht-
baren Welt nur zu bewältigen ist durch eine ordnende Gegenbewegung des
Hinblieks auf sie, so besteht die adynamische Reaktionsweise ja gerade darin,
daß diese mit dem Widerfahrnis der Fülle parallelgehende unmittelbare Selbst-
bewegung des selegierenden Blickes in das Reich der Sehdinge hinein versagt.
Statt in die Sichtbarkeit mit selegierender Blick- und Wahrnehmungs richtung
einzudringen, Wichtiges ins Auge zu fassen, von Unwichtigem abzusehen,
bleibt der Psychastheniker sozusagen passiv auf der Schwelle der Sichtbarkeit
stehen und nun präsentiert sich ihre Fülle in einem verwirrenden, unübersicht-
lichen Masseneindruck. Wenn Julie Weber sieht, so sieht sie gleichsam alles:
eine ungeordnete, ungegliederte Masse von Seheindrücken kommt auf sie zu,
jeder einzelne Faden eines Zeuges springt ihr in die Augen, denn sie sieht
sozusagen ohne zu blicken, ohne die Selbst- und ohne die Füllebeschränkung
vorzunehmen, die der auswählende Blick leistet. Kein Wunder, daß ein so
geartetes Bild der Welt verwirrt, ängstigt und betäubt. Wir nennen dieses
Verhalten die psychasthenische Polyopie 1.
Wir sind damit schon auf eine Unterscheidung gestoßen, die in diesem
Zusammenhang von Wichtigkeit ist, die Unterscheidung von Blicken und Sehen.
Der ganze, der ungeteilte Vorgang der optischen Wahrnehmung ist Sehen
und Blicken zugleich. So sehr bilden beide Funktionen ein Ganzes, daß man
normalerweise gar nicht dazu kommt, Sehen und Blicken auseinanderzuhalten.
Erst durch die psychasthenische Blickstörung, die "Blickschwäche", hebt sich
vom Vorgang des Sehens der Akt des Blickens ab. Sie macht uns darauf auf-
merksam, daß das Sehen vom Blickenkönnen abhängt. Erst durch Vermittlung
des Blickens wird der Wahrnehmungsakt, das eigentliche Sehen der sichtbaren
1 "Psychasthenische Polyopie" gelangt, wenn man erst einmal auf sie gestoßen ist,
öfter zur Beobachtung. Ich beobachtete sie besonders bei Depressionen mit zwanghaften
Zügen, wo die Polyopie den Charakter eines Registrierzwanges annimmt. Bevor sie diese
Wendung nimmt, tritt der psychasthenische Charakter des Zu-viel-Sehens deutlicher in
Erscheinung. Bekannter ist die Erscheinung des Zu-viel-Hörens bei Depressionen. Die
Polyopie ist aber genau zu unterscheiden vom Zu-viel-Sehen der Agnostiker, das J OSS-
MANN, Mschr. Psychiatr. 1929, 143, erwähnt, ein Symptom, das in einer Störung des Er-
kennungsaktes seinen Grund hat, während es sich in unserem Falle um eine Unfähigkeit,
sich vom Wichtigen determinieren zu lassen und so die Fülle der Erscheinungen ein-
zuschränken, handelt.
Zur Psychopathologie der Phobien. 59
Einzelheiten vollziehbar. Erst der auf die sichtbare Welt gerichtete Blick
verleiht der unbestimmten Möglichkeit des Sehenkönnens Bestimmtheit,
Aktualität und Richtung. Durch ihn erst erfolgt jenes Auseinandertreten von
Ich und Wahrnehmungswelt, das uns dem Wahrnehmungsinhalt, diesen aber
uns gegenüberstellt. Im Sehen allein ist diese Gegenüberstellung noch nicht
vollzogen: man kann sehen, ohne zu blicken, was das augenoffene Hinaus-
träumen in eine Landschaft veranschaulicht. Die Funktion des Blickens bildet
die dynamische, intentionale Stufe des Sehvorgangs. Wie in seinem Leib
wurzelt der Blick im Vermögen des Sehens. Aber erst durch ihn gewinnt das
Sehen Stand und Richtung.
In Blicken nämlich stellt man sich der sichtbaren Welt. Dieses Sich-der-
Welt-Stellen ist nicht der Blick, aber es verwirklicht sich in ihm, zudem schließt,
zum Unterschied vom Wahrnehmungsakt, das Blicken ein sthenisches Moment
in sich, wodurch es als "Leistung" charakterisiert ist, als aktuosesoder dyna-
misches Verhalten. Wir haben im vorhergehenden unsere Auffassung ent-
wickelt, daß der Sehende durch das Widerfahrnis der Fülle veranlaßt wird,
in der Sichtbarkeit Fuß zu fassen und sich ihrer zu bemächtigen. Hier nun
können wir unsere Ausführungen ergänzen. Im Ganzen des optischen Wahr-
nehmungsaktes stellt das Blicken jenes dynamische Verhalten dar, mittels
dessen der Sehende auf die Fülle der sichtbaren Welt zurückwirkt, indem er
sie gliedert und einschränkt. Ein Widerfahrnis (Sehen) und ein Tun (Blicken)
wird im Akt des Wahrnehmens zur Einheit eines lebendigen, kraftvollen und
darum lustvollen Verhaltens verschmolzen. Nun erst verstehen wir die Her-
stellung des visuellen Kontaktes mit der sichtbaren Wirklichkeit. Erst ergreift
uns die sichtbare Welt und dann richtet man sich auf sie, die uns ergreift und
anzieht, durch den Hinblick auf sie. Dann wird der Blick festgestellt und
fixiert - es entsteht der "Anblick" der Dinge. Und nun erst wird es möglich,
die Dinge wirklich "ins Auge zu fassen", sie anzusehen, mit dem Blick in sie
einzudringen und schließlich "den Blick auf ihnen ruhen zu lassen".
Diese normalen Verhältnisse erfahren eine Störung in der "Blickschwäche".
Wir sehen die Kranke HUFELANDs von einer Scheu beherrscht, die Dinge anzu-
blicken. Was vermieden werden soll, wenn die Kranke mit unsteten Augen die
Dinge entlangstreift, ist nicht nur das Haften des Blickes auf ihnen, es ist
eigentlich das Zustandekommen des Blickes. Ehe sich die Bewegung der Augen
zum Blick verfestigt, werden sie von der jeweiligen Stelle ihrer Berührung mit
der Welt wieder weggenommen. So wird die Realisierung des Blickes ver-
hindert und der Blick in statu nascendi aufgelöst. Dieses Verhalten der Kran-
ken nennen wir die "Blickscheu". Was sie befürchtet, das ist die Begegnung
mit der Welt. Statt dieser Begegnung ereignet sich die Überwältigung
durch den Masseneindruck, - der Blickschwindel.
Die Ohnmacht, die Julie Weber bedroht, ist eigentlich nur das Ohnmachts-
erlebnis ihrer adynamischen Reaktion auf die Sichtbarkeit. In diesem
Ohnmachtserlebnis des Nichtblickenkönnens wird der Mensch als ein von der
60 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Sichtbarkeit und ihrer Masse überwältigter in Angst sich selber inne. So baut
sich auf der psychasthenischen Reaktion der Blickschwäche eine phobische
auf und der Blickschwindel. Das psychasthenische Welterleben setzt sich in
die Sphäre des Selbsterlebens hinein fort und nimmt hier Angstcharakter an.
Die Phobie, der Blickschwindel, ist eigentlich die Spiegelung der psychasthe-
nischen Reaktion in der Sphäre des Selbsterlebens. Das Ganze aus psychasthe-
nischer Blickschwäche und angsthaftem Überwältigungserlebnis macht den
Blickschwindel aus.
Tanzbewegung ein anders gegliederter Raum 1 zugeordnet ist, der unser Orien-
tierungsbedürfnis so umstellt, daß die tanzenden Licht- und Schattenspiele des
Raumes ihre verwirrende Wirkung verlieren; es kommt noch dazu, daß der
ruhende Fußboden unter den tanzenden Füßen das visuelle Bezugssystem
durch ein taktiles ersetzt. Wer solcherart verwirrenden Bewegungseindrucken
ausgesetzt ist, beobachtet in sich ein Suchen nach Halt, ein Ausschauen nach
dem haltgebenden Orientierungspunkt, von dem aus die Bewegungsabläufe
sich ordnen und bewältigen lassen. Wird ein solcher Orientierungspunkt
gefunden, so kommt es darauf an, ihn festzuhalten, was u. U. mißlingt, so daß
man haltlos wieder der Orientierungsunsicherheit und auch den Richtungs-
gegensätzen der sich bewegenden Umwelt ausgeliefert wird bis zum Eindruck
schwindelerregender Selbstbewegtheit.
Diese Beobachtungen sollen uns helfen, die psychasthenische Reaktion auf
den Anblick von Bewegungen verständlich zu machen. Der krankhafte Be-
wegungsschwindel hat eine Herabsetzung der Bewältigungsenergie angesichts
von Bewegungen zur Voraussetzung. Was bei derartigen Störungen besonders
ins Auge fällt, ist die Steigerung des Bewegungseindrucks, und zwar nach der
intensiven wie nach der extensiven Seite. Phobiker mit Andeutungen von
Bewegungsschwindel schildern gelegentlich ihren Bewegungseindruck so,
als kämen die Dinge "im Eilzugtempo auf sie zugerast". Schwankungen eines
windbewegten Kornfeldes werden als "wahnsinniges, unerträgliches Gewoge"
geschildert. Offenbar wird die Intensifizierung des Bewegungseindrucks
gelegentlich als Tempobeschleunigung erlebt und zugleich als Verschärfung der
Richtungsgegensätze von Bewegungen, vielleicht weil der gesunde Wider-
stand gegen das restlose Mitmachen von Bewegungen, das normale Halthaben
in einem inneren Ausgerichtetsein beim Psychastheniker herabgemindert oder
überhaupt ausgeschaltet ist, wodurch sich das Gewicht der Bewegungen für
das Erleben verändert. So entsteht auch bei Julie Weber eine Überempfind-
lichkeit gegen die optischen Wahrnehmungen von Bewegungen. Diese" Über-
empfindlichkeit" betrifft in erster Linie die bloße Tatsache des Wechsels von
Gegenständen in ihrer Umgebung, weiterhin auch den Anblick von eigenen
und fremden Bewegungen. Es handelt sich hierbei um eine Steigerung des
Bewegungseindrucks nicht nur nach der intensiven, sondern vor allem nach
seiner extensiven Seite. Bewegungen nehmen rascher als bei Gesunden den
Charakter der verwirrenden, schwindelerregenden Unübersichtlichkeit an.
Das zeigt besonders deutlich ihre Unfähigkeit sich von der Stelle zu be-
wegen, weil der Wechsel der Gegenstände hierbei verwirrend wirkt. Ich er-
innere mich an einen Phobiker, der bei Spaziergängen im Wald stehen bleiben
mußte, weil das Vorbeistreifen der Stämme ihm Schwindel erregte. Achtet
man versuchsweise einmal selbst auf die Bewegungen, welche die in Pläne
einteil bare Gestaltenwelt unseres Gesichtskreises beim Vorbeistreifen dem
Dahinschreitenden gegenüber verschieben, so wird man staunen über die Unzahl
1 Vgl. E. STRAUS, Die Formen des Räumlichen. Nervenarzt 1930, 11.
62 Studien zur speziellen Psychopathologie.
von Verschiebungen, die sich rings um uns ereignen. Für gewöhnlich achtet
man in der Richtungsgebundenheit seines Dahinschreitens gar nicht auf diese
Bewegungen und Gegenbewegungen, in welchen sich die Gegenstände um uns
herum ständig gegeneinander verschieben. Eine Übersicht über diese Ver-
schiebungen, z. B. im Wald, wo nahe Stämme in rascherem, ferne in lang-
samerem Zurückweichen begriffen sind - und das alles durcheinander - ,
läßt sich beim Gehen gar nicht gewinnen. Angenommen nun, es versagt in
einem Menschen der tonisierende Effekt seines richtunggebundenen Mar-
schierens, so daß die normale Ausschaltung der Bewegungswahrnehmung
ringsum zugunsten des dominierenden Erlebnisses der Selbstbewegung weg-
fällt, so kommt es zu einer gesteigerten und verwirrenden Wahrnehmung der
jeden Schritt begleitenden Verschiebungsmannigfaltigkeit in der Gegenstands-
welt der Umgebung. Die eigene Bewegung führt dann eine unerträgliche
Situation herbei und muß abgebrochen werden.
Und zwar besteht die Unerträglichkeit darin, daß der Psychastheniker der
unübersichtlichen Fülle in sich widerspruchsvoller Bewegungen gegenüber die
Orientierung verliert. Und wiederum verliert er sie draußen, weil er in sich den
Halt verloren hat. Schwäche des inneren Halthabens und Haltfindens ist die
primäre Störung. Die Orientierung angesichts von Bewegungen setzt eine
unbewußte Leistung voraus, nämlich die Fähigkeit, eine Gruppierung von
Bewegtem und Ruhendem vorzunehmen, so daß dem Wechsel der Erschei-
nungen gegenüber das beharrende Orientierungsschema nicht nur über-
geordnet, nein, daß es auch festgehalten werden kann. Es ist dabei gleichgültig,
ob das Orientierungsschema, das Bezugssystem die richtunggebundene
Eigenbewegung ist oder ein beharrender Hintergrund draußen. In diesem
Festhaltenkönnen des objektiven Bezugssystems bewährt sich die Dynamis der
eigenen Selbstabgrenzung gegen Bewegungen. Erst der Verlust dieses inneren
Halts angesichts von Bewegungen verändert das Erlebnis der Bewegung.
Er hat zur Folge einmal, daß die Bewegung der Dinge sich widerstandslos
in uns hinein fortsetzt, was I. die Intensifizierung des Bewegungseindrucks,
z. B. die Tempobeschleunigung der Bewegung begründet, 2. dies, daß die
Zahl der Bewegungseindrücke ins Ungemessene steigt. Dieses ÜberRutet-
werden von Bewegungseindrücken ist es, was die Verwirrung des Psychasthe-
nikers herbeiführt. Man wird hier ohne weiteres an den verwirrenden
"Masseneindruck" erinnert, dem die Kranke beim Anblick der Gegenstände
auf Grund ihrer "Blickschwäche" ausgesetzt ist (vgl. Abschn. 1). Auch das
Symptom der Blickschwäche könnte man schildern als Folge einer Orientie-
rungsschwäche der visuellen Fülle gegenüber. Ganz analog besteht Unfähig-
keit, die Fülle der Bewegungseindrücke von sich abzuwehren und zu ordnen,
darum wird die Kranke von ihrer Masse überwältigt. Das Abhandenkommen
des orientierenden Bezugssystems, diese Folge der psychasthenischen Schwäche
im Festhalten des haltgebenden Hintergrundes für alle Bewegungsabläufe
- eben das liefert ihn haltlos dem Bewegungstaumel der Dinge aus.
Zur Psychopathologie der Phobien. 63
der Ausdruck dafür, daß eine Lebensbewegung im Gang ist, die sich von der
Auseinandersetzung mit dem Schicksal, also von dem gesunden Vorstoß in die
Weite der Welt und der Zukunft lossagt, und die Richtung einschlägt auf
Selbsteinsargung in einer dunklen, begegnungsarmen Nahwelt. Die jeweilige
Begegnung mit der Weite des Raumes erfolgt im Verlauf dieser negativ
gerichtetea Werdensbewegung, die nicht auf Selbstentfaltung abzielt, sondern
auf Selbsteinfaltung, und die darum in ihrem Lebenssinn gegensätzlich steht
zum Lebenssinn der Weite. Es erscheint bei so gelagerten Verhältnissen durch-
aus verständlich, daß das Zusammentreffen mit dem Phänomen der Weite
pathologische Konsequenzen haben muß. Unmöglich kann eine Persönlich-
keit, deren jeweiliges Lebensgesetz Abwehr der Zukunft ist, den Sinn der
räumlichen Weite vollziehen, soweit diese gerade Zukunft symbolisiert.
Wir haben somit den Punkt erreicht, von dem aus sich das Verständnis für
den Weiteschwindel erschließt. Seine Grundlage ist die psychasthenische
Reaktion auf das Phänomen der Weite; auf ihr erst baut sich die phobische
Reaktion auf. Die psychasthenische (oder adynamische) Reaktion also muß
erst geklärt werden und ist es implizite schon durch die bisherigen Ausfüh-
rungen. Gesunderweise nämlich erfährt man den Zug der Weite in einer
Kraftentfaltung, die unmittelbar ihrer symbolischen Bedeutung Rechnung
trägt. Man geht in die Weite hinein wie in seine eigene aufgetane Zukunft.
Es bildet darum eine grundsätzliche Erschlossenheit für die eigene Zukunft,
eine Bereitschaft sich ihr und den Erfordernissen eines auf Erfüllung abzielen-
den Lebens zu überlassen, die uns selber unbewußte Voraussetzung für eine
dynamische Reaktion auf den Anruf der Weite. Aus dieser über alle einzelnen
Wandlungen und Begegnungen des Tages übergreifenden Gerichtetheit unseres
Werdens fließt uns die Kraft zu, die durch die Begegnung mit Weite und ihrer
symbolischen Funktion dann mobilisiert wird, so daß räumliche Weite begeg-
nen und sie bestehen können eins ist. Erleben wir in dynamischer Reaktions-
weise Weite als Weiter-gehen und Weiter-gehen-können, so besteht umgekehrt
die adynamische Reaktion im Erlebnis des Nicht-von-der-Stelle-Könnens.
Der Phobiker erlebt Weite nur durch die elementare Richtung seiner regres-
siven Lebenstendenz hindurch, die auf Entwerden, Selbsteinfaltung, Selbst-
auslöschung abzielt. Weite wird hier zum Stichwort, auf das imPhobiker der
vitale Widerstand gegen ihren Symbolgehalt, gegen ihre Zukunftsbedeutung
antwortet. Diese Antwort erfolgt völlig automatisch und besteht in der
psychogenen Lähmung des Ganges und im Tonusverlust. Statt Kraft und
Können zu mobilisieren, mobilisiert die Weite hier also Schwäche und Ohn-
macht, und zwar in dem Maße mehr, als die räumliche Umwelt durch ihren
ausgeprägten Weitecharakter (freie Plätze, Baumlosigkeit usw.) den automa-
tischen Widerstand gegen den Sinn der Weite stärker herausfordert.
Dieser automatisch einsetzende Widerstand hat selbst einen Sinn; er bedeu-
tet gar nichts anderes als das Manifestwerden der regressiven Lebenstendenz.
Darum eignet ihm auch der zwingende Überwältigungscharakter: es steckt
5*
68 Studien zur speziellen Psychopathologie.
oder mit den räumlichen Qualitäten der Weite, der Höhe usw. insofern her-
stellt, als erst seine Wirksamkeit gerichtete Aktivität und damit die Bewälti-
gung jener Umweltkonstituentien und ihrer vitalen Bedeutung möglich macht.
Wir fanden außerdem ein dynamisches Moment am Werk im Hinblick auf die
Sehdinge und in der Orientierung beim Anblick von Bewegungen oder in der
vitalen Begegnung mit dem Phänomen des Lichtes. Auf die Wirksamkeit
solcher Dynamismen wurden wir allerdings erst aufmerksam durch die Tat-
sache ihres Ausfalls in einer Reihe von Störungen, die sich darum als "psych-
asthenische oder adynamische Reaktionsweisen" charakterisieren ließen. Alle
psychogenen Überempfindlichkeitsreaktionen schienen uns bewirkt durch den
Ausfall eines dynamischen Faktors, der normalerweise im visuellen und
motorischen Rapport mit der Umwelt das tonisierende und energetisierende
Moment darstellt, indem durch ihn das pathische Widerfahrnis der Welt-
begegnung in die Aktion der Weltbewältigung überführt wird. Diese funk-
tionsgenetische Analyse beleuchtet am Reaktionsganzen der Phobie nur eine
Seite, die nämlich, in der sie das Nicht-Können v~n etwas ist, z. B. ein Nicht-
ertragen-Können von Licht, Fülle, Weite, von Bewegungseindrücken usw.;
oder ein Nicht-Können in bezug auf die Durchführung von passiven Bewe-
gungen (Fahren), von Eigenbewegung oder von Tätigkeiten.
Diese Betrachtungsweise nun, so unerläßlich sie ist, konnte uns doch
nicht völlig befriedigen. Denn auch die logische Ableitung z. B. der psych-
asthenischen Reaktion aus dem Gefüge der Normalreaktion zeigt zwar wohl
das Symptom in seiner strukturellen Notwendigkeit, bleibt aber doch alles in
allem zu sehr im Deskriptiven stecken. Über das, was das Versagen der Kraft,
also die Ausschaltung des dynamischen Anteils im Reaktionsganzen der
Phobie eigentlich bedeutet, erhalten wir durch die funktions genetische Analyse
keinerlei Aufklärung. Die Berufung auf die psychasthenische Reaktions-
bereitschaft einer Persönlichkeit besagt nichts über den Sinn dieser Bereit-
schaft.
Erst durch Zuhilfenahme der "werdensgenetischen" Symtomanalyse
dürfen wir hoffen, im Verständnis der Phobien weiterzukommen. Erst sie
verspricht Aufklärung zu geben auch über den Sinn der funktionsgenetischen
Befunde, speziell der adynamischen Reaktion. Von dieser Aufgabe geleitet,
fanden wir, daß alle Inhalte, die als Erreger von Phobien fungieren, zu dieser
Rolle gelangen kraft ihres Lebenssinnes oder was dasselbe besagt, kraft eines
ihnen inhärenten Symbolcharakters. Als Träger derartiger Symbolcharaktere
erscheinen Phänomene wie die Weite, die Höhe, die Tiefe, die Fülle, das Licht,
die Bewegung. Und zwar besteht ihr Symbolcharakter, soweit sie daseins-
relativ sind auf das Lebewesen in der Persönlichkeit, darin, daß sie spezifische
Richtungen von Werdens- und Entfaltungsmöglichkeiten im Subjekt repräsen-
tieren. Mit der Feststellung dieser Repräsentanz sind die "raumsymbolischen"
(E. STRAUS) und andere Qualitäten in eine gesetzmäßige Beziehung zum
Werden der Persönlichkeit gebracht. Unterliegt die Persönlichkeit, nämlich
Zur Psychopathologie der Phobien. 73
einer wie immer gearteten Werdenshemmung, so kann sie auch den Lebens-
sinn jener Qualitäten, ihre Werdensbedeutung also, nicht leben und nicht
vollziehen. Es entsteht in Begegnung mit der Weite, der Fülle, dem Licht
usw. eine Störung, die rein deskriptiv als psychasthenische Reaktion imponiert,
in Wahrheit aber einen tieferen Sinn hat. Wenn nämlich der Phobiker, von
der Zukunftsbedeutung der Weite betroffen, nicht "weiter kann", so ist es
eben diese Zukunftsbedeutung, dieser Symbolcharakter, den er nicht zu
vollziehen vermag. Gleichgültig, ob diese "regressive Tendenz" seines Wer-
dens in einer Melancholie, in einer "Konfliktneurose", in einem "evolutiven
Anachronismus" (EUGEN KAHN), in einem konstitutionellen X oder in ande-
rem ihren Grund hat, jedenfalls erklärt sie selbst zuerst einmal die psych-
asthenische Reaktion. Sie entzieht der Reaktion auf die Weite den dynamischen
Anteil, so daß es zur psychasthenischen Reaktion, zu Tonusverlust und Nicht-
von-der-Stelle-können kommt.
Kurz, es läßt sich gelegentlich der Sinn der psychasthenischen Reaktion
aus der Werdenshemmung der Phobiker ableiten. Die Frage, ob sie immer
so zu erklären sei, weist über den Rahmen unserer Untersuchungen hinaus.
Obwohl sie nicht weiter verfolgt wird, läßt sich unsere Betrachtungsweise
ebensogut auf Fülle und Bewegungseindruck übertragen wie auf Weite oder
Licht. Doch würde ein solches Unternehmen weit in die Phänomenologie
der Bewegung und des Werdens hineinführen.
Nur, einer Konsequenz für die Theorie der Angstentstehung muß hier
noch gedacht werden. Bald erscheint nämlich (Abschnitt I und 2.) die Angst
als Spiegelung der psychasthenischen Schwäche- und Ohnmachtsreaktion in
der Sphäre des Selbsterlebens, bald (Abschnitt 3 und 4) als die Form, in der die
am Werdens sinn der symbolischen Qualitäten manifest gewordene regressive
Lebenstendenz erlebt wird. Dieser Unterschied der Darstellung ist aber nur
ein scheinbarer: rein deskriptiv gesehen baut sich die phobische Reaktion
unter allen Umständen erst auf der adynamischen Reaktion auf, gleichgültig,
ob diese die Manifestation einer regressiven Lebenstendenz ist oder nicht.
Allerdings hat die Theorie der Phobie noch eine andere Seite. Darüber
nämlich muß man sich klar sein, daß eine"Theorie der Angst" niemals die
Angst selbst, die ein "Urphänomen des'Lebens" ist!, aus irgendwelchen angst-
freien Mechanismen gleichsam alchimistisch herleiten kann. FREUDS Lehre
z. B., daß verdrängte sexuelle Wünsche Angst erzeugen, ist nur als "Theorie
der Angst" zu verwenden, wenn gezeigt wird, daß durch einen inneren Wider-
spruch zwischen Bejahung und Verneinung der Sexualität das Ich der Person
eine Entmächtigung bis zur Aufhebung seiner erfährt. So gefaßt entsteht die
"Angst aus verdrängter Sexualität", als Folge eines Gegeneinanderwirkens
der vitalen und der geistigen Sphäre, wodurch dem Ich der Boden entzogen
wird, auf dem es Halt und Stand finden könnte, um sich als Ich zu setzen
Begegnungen des Psychiaters, aber die Lucidität, mit welcher der Zwangs-
kranke seine eigene Verrückung durchleuchtet, ohne hinter sie zu kommen,
und die dadurch vermehrte Paradoxie seiner Existenz steigert womöglich
noch die Wachheit des psychiatrischen Affekts und hält diesen auf besonders
nachdrückliche Weise in Gang.
Ziel unserer Untersuchung ist der zwangs kranke Mensch in toto, in erster
Linie also seine besondere Weise des Existierens, durch die er eingegliedert
ist in eine spezifische, von der unseren verschiedenen Daseinswelt. Wir wollen
eben damit hinauskommen über die bloße Funktions-, Akt- und Erlebnis-
analyse; gleicherweise über die tiefenpsychologische Trieblehre der Psycho-
analyse; weiterhin auch über die bloße Charakter- und Konstitutionsanalyse
des zwangskranken Menschen; und schließlich über die neurophysiologischen
Konstruktionen, wie sie durch die Zwangserscheinungen bei Postencephali-
tikern angeregt wurden. Die Ergebnisse dieser Forschungsmethoden bilden
die Voraussetzung unserer Methode, die wir als eine konstruktiv-synthetische
bezeichnen möchten. Es handelt sich, wie in unseren sonstigen Versuchen
auch im folgenden um Vorübungen für eine phänomenologisch-anthropologi-
.sche Strukturlehre, die den Boden bereiten will, auf welchen verpflanzt die
Ergebnisse der analysierenden Forschungsrichtungen erst zu ihrem eigent-
lichen Sinn gelangen.
Es ist der psychiatrische Affekt der Verwunderung, das Erlebnis der
Begegnung mit dem unerklärlich Anderen, der in den Ansatz unserer F rage-
stellung miteingehen soll. Denn was in dieser Begegnung zur Wirksamkeit
gelangt, ist gerade dieser unerklärlich Andere in seiner menschlichen Totalität.
Dieses unsere Sympathie und unseren Erkenntniswillen gleichermaßen bewe-
gende Anderssein eines Mitmenschen erschöpft sich ja nicht in der Andersheit
seiner Funktionen, seiner Lebensgeschichte, seines Charakters usw., also
in dem, was man die Symptomatik des kranken Menschen zu nennen pflegt.
Letzteres appelliert an unsere Neugier, unser Interesse, unseren wissenschaft-
lichen Verstand. Aber die psychiatrische Verwunderung reicht tiefer hinab
als Neugierde, Interessiertheit und wissenschaftlicher Verstand. Die Ver-
wunderung hat eine existentielle Bedeutung; man wundert sich nicht nur als
Forscher oder als Psychologe oder als Psychiater, man wundert sich vielmehr
als Mitmensch, d. h. in jener Schicht des Daseins, die dem Forscher- oder
Arztsein vorausgeht und die Möglichkeit zu beiden erst fundiert. Und zwar
bekundet sich in dieser elementaren Verwunderung unser Angesprochensein
durch den Widerspruch zwischen einer vertrauten, mitmenschlichen Erschei-
nung und ihrer fremdartigen, uns völlig unzugänglichen Existenzweise.
Verhält es sich doch so, daß die höchste Anspannung unseres Erkenntnis-
willens uns niemals befähigt, den Ort zu betreten, den der Andere, der Zwangs-
kranke z. B. einnimmt. Alle psychiatrische Erkenntnis hat im Verhältnis zu
dem Gegenstand, um den es ihr geht, nur die Möglichkeit einer Annäherung
an ihn, niemals die des völligen Eindringens in ihn. Eine letzte Geschiedenheit,
76 Studien zur speziellen Psychopathologie.
exemplarische Bedeutung. Ähnliches läßt sich außer von ihm vielleicht noch
vom Melancholiekranken mit anankastischer Symptomatik behaupten, wie
BONHoEFFER ihn festgelegt hat. Da von uns selbst ein solcher Fall bereits
einmal einer eingehenden Bearbeitung unterzogen wurde, beschränken wir
uns auf den anankastischen Psychopathen. Es bestimmt uns dabei die Über-
zeugung, daß die Fälle, welche eine Krankheitserscheinung am reinsten dar-
stellen, auch der Erkenntnisabsicht die Gewähr bieten, durch sie am besten
geleitet zu werden.
1. Der Fall E. Sp. Eine 47jährige Patientin, unverheiratet, begabt aber
kindlich, zuweilen sogar etwas läppisch, empfindlich, doch leicht versöhnbar.
Auffallend an der Patientin sind ausgesprochene Stimmungsschwankungen,
die rasch aufeinander folgen. Sie ist 2-3 Tage hindurch deutlich depressiv,
dann wieder hypomanisch. Die hypomanischen Zeiten sind kürzer als die depres-
siven. Die Zwangskrankheit übergreift diese Schwankungen, büßt aber in
der hypomanischen Phase etwas von ihrer Massivität und ihrer quälenden
Intensität ein. Die Zwangskrankheit macht sich in Andeutungen bereits auf
der Schule bemerkbar, entwickelte sich zuerst aus einem "Gebetszwang" zu
einem ausgesprochenen Leiden im I 9. Lebensjahr. Ein bereits vorhandener
"Reinlichkeitsfimmel" wird nun zum "Waschzwang". Angst und Erregung
treten auf und machen ihre Unterbringung in fachärztlich geleiteten Anstalten
notwendig. Das Leiden dauert mit Schwankungen in der Intensität ohne
Unterbrechung bis in die Gegenwart.
Ihr Verhalten entwickelte sich in der letzten Zeit vor ihrer Einweisung
in F. zu einer untragbaren Störung für die Umwelt, da sie oft ganze Nächte
hindurch nicht nur sich, sondern auch Gegenstände wusch und von den
anderen immer rücksichtsloser eine Berücksichtigung ihrer Zwänge forderte.
In F. fiel auf, daß sie nicht in der Lage war, ihre Koffer auszupacken und ihre
Gegenstände einzuräumen. Um das zu können, hätte sie den Schrank im
Zimmer waschen müssen - es war ein Biedermeierschrank, der innen mit
buntgemustertem Papier beklebt war und sich nicht waschen ließ. Außerdem
hätte sie alle Schubladen mit Seidenpapier auslegen müssen. Dieses Seiden-
papier hatte sie auch aus einer Großhandlung kommen lassen - allein trotz
sorgfältigster Verpackung erschien ihr diese nicht einwandfrei, d. h. kein
hinlänglicher Schutz gegen Beschmutzung des Papiers, weswegen sie das
Seidenpapier nicht verwenden konnte und wochenlang von Zweifeln gequält
wurde, ob sie es verwenden oder wieder zurückschicken sollte. So kam es,
daß sie viele Wochen in einem weißen Waschkleid herumlief, das von Woche
zu Woche nun tatsächlich immer schmutziger wurde. Sie nannte es selbst ihr
"furchtbares Wahnsinnskleid". Da die Patientin zu keinem Ende kam, wurde
von außen eingegriffen: In ihrer Abwesenheit wurden die Koffer geöffnet
und Kleider und Wäsche eingeräumt. Die Chockwirkung dieses Eingriffs
war außerordentlich und dauerte lange, erwies sich aber in der Folge als
heilsam.
78 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Auch in F. kam sie zuerst nur in späten Nachtstunden zu Bett, teils wegen
des Waschzwangs, teils wegen ihres sog. "Rumfummelns". Es handelte sich
dabei um einen schweren Rekapitulationszwang, der sie dazu veranlaßte, alle
Begebenheiten, Gespräche, Verrichtungen des Tages ungezählte Male durch-
zudenken und zu wiederholen, wobei sie eigene Verrichtungen, z. B. Waschen
eines Gegenstandes u. dgl. immer wieder agieren mußte. Erst die völligste
Erschöpfung ermöglichte es ihr, von diesem Treiben zu lassen. Dieser
Rekapitulationszwang kombinierte sich einmal mit dem Waschzwang derart,
daß, wenn ihr beim Rekapitulieren unpassende Gedanken dazwischen fuhren,
sie gezwungen war, sich zu waschen und mit dem Rekapitulieren von vorne
anzufangen, - zweitens mit einem Kontrollzwang, der das Rekapitulieren
begleitete und bei Nachlassen der Aufmerksamkeitsspannung, d. h. wenn sie
"nicht richtig aufpaßte" , Wiederholung erzwang oder Korrekturen, sobald
sie beim Rekapitulieren entdeckte, daß in der Ordnung ihrer Verrichtungen
Fehler unterlaufen waren. Diese Entdeckung machte sie wohl sehr häufig,
denn ihre Auffassung war, daß sie "alles immer falsch gemacht habe", z. B.
die Wäsche falsch hingelegt habe oder in ihrem zwangskranken "Zeremoniell"
etwas unterlassen habe. Daß dieser Rekapitulationszwang eine Art von
"Wiederholungszwang" war, geht aus seiner Schilderung bereits hervor.
Ihr Waschzwang hatte sich aus einer krankhaften Angst vor Hunden in
früher Jugend entwickelt. Daß Hunde durch Lecken auf den Menschen
Würmer übertragen können, hatte ihr in der Kindheit einen unauslöschlichen
Eindruck gemacht. Hunde waren für sie der Inbegriff des Entsetzens und
Ekels. Und Hunde waren überall, konnten wenigstens überall gewesen sein,
kamen zum mindesten auf dem Weg des Gebells zu ihr oder beim Lesen oder
auf dem Weg ihrer Einbildungskraft. Die oben erwähnten "unpassenden
Gedanken", die ihren Rekapitulationszwang unterbrachen, bestanden im
plötzlich auftauchenden Wortbild "Hund" oder "Hundeschnauze" oder
"lecken". Sie raste, um diese Worte auszuschalten, Aktiennummern, Minister-
namen oder schwierige Worte herunter, wie Uruguay, Paraguay, Popokatepetl
usw. oder später mit mehr Erfolg Klosterfrau Melissengeist. Und geriet bei
diesem Verfahren in einen Zustand von Gehetztheit, Raserei und schließlich
tranceartiger Benommenheit hinein, der erst durch völlige Erschöpfung
abgebrochen werden konnte. Die Krankheitseinsicht der Patientin versagt
zuweilen. Sie findet dann, alles, was mit ihrer Überordnung, dem Bett oder
der Wäsche gegenüber zusammenhängt, sei "heilig" und "geweiht".
2. Der Fall 1. G. 1. G., 38 Jahre alt, sieht aus wie I8jährig; sie ist unver-
heiratet, ästhetisch begabt, studierte Musik. Der Beginn der Erkrankung·
fällt mit dem Religions- und Beichtunterricht zusammen. Es entsteht eine
Angst vor Gelübden. Alles was sie tut, ist ein "Gelübde" und sie will doch
kein Gelübde tun, weil der Pfarrer gesagt hat, man dürfe Gelübde nicht leicht-
fertig ablegen. Dann Angst vor ungültiger Beichte und unwürdiger Kom-
munion: eine Sünde vergessen oder verschwiegen zu haben. Es entwickelt
Die Welt des Zwangskranken. 79
sich ein schweres Skrupulantentum. Das Gebot der Keuschheit macht ihr
viel zu schaffen. Jede Berührung des eigenen Körpers oder eines Gegen-
standes, der mit ihrem Körper auch nur in indirekte Berührung kam, z. B.
einer Nadel, mit der sie einen Knopf an der Hose annähte, wird zur "Unkeusch-
heit". Dabei heißt "unkeusch" nur das, was mit der Notdurft in näherem oder
fernerem Zusammenhang steht, und hat mit Sexuellem im eigentlichen Sinn
nichts zu tun - wie die ganze Sphäre des Sexuellen bei ihr überhaupt durchaus
stumm bleibt. Es entsteht die Angst, auch andere anzustecken und sie un-
keusch und damit sündig zu machen, z. B. mittels einer Türklinke auf der Post,
die ihre Hand anfaßte, weil möglicherweise kurz vorher an diese Hand eine
Fliege anstreifte, die von Hundekot aufflog.
Als sie nach F. kam, stand im Mittelpunkt der Zwangskrankheit Angst
vor allem, was mit Tod und Toten zusammenhängt, und zugleich eine Beses-
senheit durch diese Inhalte. Das· weitausgedehnte, sehr komplexe Zwangs-
system, das sie beherrschte, ließ sich in nahezu allen seinen Bestandteilen auf
die Abwehr dieser Besessenheit vom Todeselement zurückführen. Alles, was
länglich, viereckig, stumpfwinkelig ist, bedeutet "Sarg" und muß vermieden
werden oder es muß gerade darauf getreten werden. Blumen, Lebensbäume,
aber auch andere schlanke Bäume bedeuten "Friedhof" - gleicherweise
bedeutet Tod alles, was schwarze, dunkle, graue Farbe hat usw. Begegnet
sie unterwegs einem länglichen Gegenstand, so muß sie ihn umgehen, und zwar
so, daß er durch den gewählten Weg von der Mutter abgeschnitten wird -
sonst tut sie Böses und hat "Gewissensangst". Ein schwerer Zahlenzwang
nimmt seinen Ausgang von der Drei, auf Grund eines Gebetes für Abgeschie-
dene, das der Priester dreimal wiederholt. Mit der Drei darf sie nichts zu tun
haben, aber von der Drei erweitert sich der Kreis der zu meidenden Zahlen
schnell und schließlich ins Unendliche. Dann wieder scheiden Zahlen aus
dem "Tabusystem" aus und nun muß sie alles, was sie tut, anhand dieser
zulässigen .Zahlen tun. Besonders erschwert und Anlaß zu Zwangsmaßnahmen
ist jegliches Anfangen und Aufhören. Fügt sie sich nicht dieser Ordnung
der Zwänge, so fühlt sie sich schuldig und es entsteht "Gewissensangst".
Alle Gegenstände, alle Verrichtungen sind in "gute" und "schlechte" aufge-
teilt. Zuweilen hängt sich die Bedeutung des "Schlechten" oder "Verbotenen"
geradezu an alles und es gibt keine Möglichkeit mehr, sich durch den Tag
hindurchzufinden. Die Analyse ergibt immer wieder, daß alles "Schlechte"
und "Verbotene" mit dem Tod in Zusammenhang steht und ihn bedeutet-
z. B. darf sie keinen Satz aussprechen, in dem etwas Verneinendes vorkommt,
denn alles "nein", "nicht" usw. bedeutet Tod, es aussprechen, bringt sie mit
Tod in Berührung und macht sie schlecht und schuldig. Auch in ihren Aus-
sprachen mit dem Arzt darf sie das Wort "Friedhof" oder "Sarg" nicht in den
Mund nehmen. So gibt es "nichts Natürliches" mehr, es entsteht ein "ent-
setzliches Gefühl von Gehetztheit", weil der "Apparat immer komplizierter wird"
der Maßnahmen, die sie tun muß, "um das, was sie tun will, tun zu dürfen".
80 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Einmal fällt ihr ein Tennisball in ein Beet roter Rugosa-Rosen. Solche
Rosen stehen vor der Kapelle im Friedhof - nun "darf" sie den Ball nicht
anfassen - sie "kann" es auch nicht, denn es ekelt sie, und es ekelt sie der
Schläger, der den Ball berührte, und das Kleid, an das der Schläger anstreifte,
muß gewaschen werden. Diese ursprüngliche Ekelempfindung lauert auf dem
Grunde aller Begegnungen mit den "schlechten" oder "verbotenen" Gegen-
ständen. Zuweilen haben die Zwangsantriebe "keinen Grund" - sie "kom-
men einfach aus der Luft".
Die Patientin hat eine ausgesprochene Krankheitseinsicht auf Grund eines
bis zum Depersonalisationsbewußtsein gehenden Wissens um ihre gesunden
Möglichkeiten. Sie unterscheidet das Kranke in sich vom Gesunden, fühlt
sich immer "doppelt" und meint, eines Tages müßte ihr ganzes Zwangs-
system "einstürzen wie ein Kartenhaus" oder "verschwinden wie Spuk".
Zuweilen fallen ihr "die Schuppen von den Augen" - sie sieht "dann alles
ganz wirklich und natürlich" und hat ein starkes "Glücksgefühl", allerdings
nur für Augenblicke. Es ist ihr dann, wie wenn man, aus dem Theater
kommend, "die Kulissen los ist". Sie meint, sie müsse eines Tages aus der
Krankheit herausschlüpfen können, oder aus ihr erwachen, wie aus einem Traum.
Charakteristisch für 1. G. ist, daß sie in großer Zahl "sekundäre Zwänge"
(STÖRRING) entwickelt. Sie nennt diese Zwänge "Gegenzwänge" oder
"Hilfskonstruktionen". Krampfhaft geht sie gegen das Tabu, z. B. von Zahlen
an und verwendet sie gerade, obwohl sie tabuiert sind - Zwang gegen
Zwang - , um überhaupt nur vorübergehend aus der völligen Behinderung
ihres Tuns durch Verbotenes herauszukommen.
3. Der Fall H. H. Patient ist 17 Jahre alt, macht einen scheuen, verlegenen,
niedergeschlagenen, introvertierten, ausdrucks gehemmten Eindruck. Intelli-
gent - ehrgeizig. War früher Primus, lernte spielend, mußte im August 1937
vom Gymnasium genommen werden wegen völligen Versagens, das sich
schon in den letzten Jahren vorbereitete. Er klagt über seine Zwänge, alles
bei ihm sei Zwang, er sei nicht eine Sekunde ohne Zwang. Wünscht intensiv
Befreiung von seinem Leiden, glaubt aber nicht an seine Heilung. Hält seinen
Fall für einzigartig. An Zwängen leide er schon seit 8 Jahren ohne zu wissen,
was ihn quälte, er hielt sich für nicht normal. In der Zeit des ersten Beichtens
kreiste sein ganzes Denken ausschließlich um die Beichte, die nie gültig zu
gestalten war, z. B. weil er trotz stundenlanger Bemühungen keine "voll-
kommene Reue" erwecken konnte. Eine Angst vor Gelübden quälte ihn,
z. B. mußte er beim Beten des englischen Grußes sich jeden Buchstaben aus-
malen, schaffte er das nicht, so war das eine "Todsünde". Er mußte dann sich
schwören, daß er es schaffen würde. Da er es trotzdem nicht schaffte, so hat
er einen Eid, ein Gelübde gebrochen und mußte beichten, er sei 150 mal
meineidig gewesen. Im Zusammenhang mit der Wiederholung von Buß-
gebeten trat ein Zahlenzwang auf. Mit dem 6. Gebot verhielt er sich folgen-
dermaßen: Man muß beichten, wenn man Unkeusches gedacht oder getan hat.
Die Welt des Zwangskranken. 81
Eigentlich war solches nicht geschehen, aber wenn ein Junge in der Schule
etwas Unkeusches sagte und er es hörte, hatte er es doch gedacht, weil man
nicht hören kann, ohne zu denken, und es getan, weil jedes Denken ein Tun
ist. Schwerstes Skrupulantentum! - Später hörte er auf zu beichten. Mit
ungefähr 12 Jahren erste Pollution, die er für "Bettnässen" hielt. Am nächsten
Morgen bemerkte er einen Geruch an sich und stellte fest, daß sein Glied
feucht sei. Seitdem beobachtete er, daß der Urin nachträufle. Stundenlang
saß er auf der Toilette, um das Ende des Nachträufelns abzuwarten, trocknete
das Glied sorgfältig ab und umwickelte es mit Klosettpapier, um zu verhin-
dern, daß Urin an das Hemd komme. Wird er dabei gestört, so steht er mit
eingezogenem Becken die Hände auf den Tisch gestützt 1 - 2 Stunden, um
zu verhindern, daß Feuchtigkeit an das Hemd komme, bevor das Glied trocken
geworden sei. Trotz dieser Maßnahmen wird das Hemd schmutzig und es
entwickelt sich ein Geruch, der an Kleidern und Mantel haftet und ihn den
ganzen Tag beherrscht. Dies auch heute noch. Er ist dauernd besessen von
dem Gedanken, schlecht zu riechen und dadurch aufzufallen, was ihn verhin-
dert, mit den Menschen zu sprechen und zu verkehren. Sogar telefonieren
kann er nicht, wegen dieses aufdringlichen Eigengeruches. Auch wenn mit
sich allein, stört ihn dauernd dieser Geruch bei allem, so daß er nichts tun
kann. An diesen Geruch sei er "geradezu festgenagelt". Er ist scheu und
verlegen wegen dieses Geruches, den er für etwas Objektives hält.
Im übrigen beherrschen ihn Zwänge bei jeder Verrichtung. Das fängt
schon beim Aufstehen an. Dies muß nach einem genau festgelegten Ritus
erfolgen. Er zerlegt jede Handlung, jede Verrichtung in Teile, in kleine und
kleinste Einzelbewegungen. Jede Bewegung muß ganz exakt gemacht werden,
auf jede muß er scharf aufpassen. Alles ist so geordnet und festgelegt, das
Aufstehen, das Waschen, das Abtrocknen, das Ankleiden; jetzt diese Bewe-
gung, dann diese, dann jene (Saccadierungszwang plus Kontrollzwang). Oft
muß er mit aufgehobenem Arm und festgehaltenem Schwamm stehen bleiben
und den Atem anhalten, ehe er weiterfährt. Dann muß er wieder stehen
bleiben und alles noch einmal durchdenken, besonders wenn er denkt, daß
er etwas nicht richtig oder "in Gedanken", d. h. ohne scharf aufzupassen,
getan hat. Dieser Rekapitulierungszwang tritt besonders nach irgendwelchen
Störungen oder Unterlassungen in der Abwicklung seines Zeremoniells auf.
Es quält ihn sehr oft der Eindruck, das, was er tun muß, nicht richtig, nicht
exakt genug oder nicht bewußt genug gemacht zu haben, und darum ist er
eigentlich nie sauber gewaschen und nie ordentlich angezogen. Er braucht
viele Stunden zu seiner Toilette, wird eigentlich nie fertig und kommt überall
zu spät. Eben deswegen fühlt er sich immer "schuldbewußt". Dieser Ord-
nungszwang beherrscht alles, auch das Essen, oder seine Art durch die Tür
zu gehen, wobei er nirgends anstoßen darf. Streift er an, so ist er schmutzig
geworden. Hängt sein Vater beim Besuch in der Klinik seinen Mantel über
seinen Bademantel, so ist der Mantel mit Urin beschmutzt, und er muß
v. Gebsattel, Anthropologische Schriften. 6
82 Studien zur speziellen Psychopathologie.
aufpassen, daß er zu Hause seinen Mantel in der Garderobe nicht in die Nähe
des väterlichen Mantels bringt, sonst kann er ihn nicht mehr anziehen. Durch
Kontakt kann sich der Schmutz über eine Unzahl von Gegenständen aus-
breiten.
Auch Waschzwang liegt vor. Lesen kann er nur, wenn er zufällig auf
Lesbares stößt. Will er lesen, so kommt er nicht dazu, weil er dann jedes Wort
in seine Buchstaben zerlegen muß. Zur Ruhe kommt er nie, immer muß etwas
zerlegt und beaufsichtigt, immer muß rekapituliert oder wiederholt oder
gewaschen werden, und bei allem stört ihn der widerliche Eigengeruch, der das
Quälendste ist von allem. Er ist deprimiert und hoffnungslos und meint,
Menschen wie er könnten, sich selbst überlassen, nur verhungern. Keine
Vita sexualis.
zugrunde liegende existentielle Struktur zuerst einmal von dieser Seite anzu-
gehen. Während die deutsche Psychiatrie sich in erster Linie an den zwang-
haften Elementen des Syndroms orientiert und sogar die Krankheit nach
diesen benennt, geht die französische Psychiatrie, wie die Namengebung
(obsession) besagt, von der Störungsseite aus, in der ein Verfolgtsein, ein
Überwältigt- und Besessensein des Kranken sich zeigt durch etwas, das häufig
eine "manie" oder geradezu eine "folie" genannt wird. Die Vielzahl der oben
beschriebenen Züge dieser Obsession, die wir als bereits vorliegendes For-
schungsergebnis wiederholten, bildet für uns nur die selbstverständliche Voraus-
setzung für die Existential-Auslegung der Welt des zwangs kranken Menschen.
Wie mir nun scheint, steht auf der Störungsseite des Zwangssyndroms -
wenigstens in der echten Zwangskrankheit - stets die "anankastische Phobie"
[anankastisch im Gegensatz zur "psychasthenischen Phobie", vgl. Nerven-
arzt 8. H. 7/8 (1935)]' Die phobische Grundlage des Störungserlebnisses im
Zwangssyndrom wird vielfach bestritten, so von BUMKE, PILTZ, KRISCH,
]ÜRGES, MAYER-GROSS, zuletzt auch von BINDER, im Gegensatz zu anderen
wie STÖRRING, WEXBERG, MALLET!, denen die Angst als konstitutiv für die
Zwangserscheinungen gilt. Es hängt die Auffassung der G!rstgenannten
Autoren vielleicht damit zusammen, daß tatsächlich Zwangs syndrome auf-
treten ohne nachweisbare Angstfundierung. Dies gilt vor allem von den sog.
"organischen" Zwangserscheinungen, z. B. der Encephalitiker, die gelegent-
lich angstfrei zu sein scheinen. Auch bei Schizophrenen kommen Zwangs-
erscheinungen vor ohne erkennbare phobische Grundlage. Drittens aber
kann die phobische Grundlage des Störungspsychismus bei echten Zwangs-
krankheiten sehr verborgen sein. BINDER erwähnt zur Bestätigung seiner
Auffassung den Melodienzwang, den Zähl- und Grübelzwang oder Zwangs-
impulse zur Ausführung von Gewohnheitsbewegungen. Dagegen ist zu
sagen, daß die genannten Zwangshandlungen, wenn man sie genauer analy-
siert, durchaus einen phobischen Hintergrund erkennen lassen, der selbst
durch die Zwangshandlungen verdeckt wird, diese aber speist und in Gang
hält. So deutet der Melodien- und Zählzwang auf eine Verfassung existen-
tieller Leere zurück und auf eine entsprechende Veränderung des inneren Zeit-
geschehens. Sie treibt den Kranken, sich mit taktiertem Inhalt oder mit der
Zahl zu füllen, an beidem sich festzuhalten oder sich mittels ihrer über die
Angst des Leerseins zu erheben. Ferner: ist der Grübelzwang wirklich Zwang,
so steht hinter ihm ein ängstlich-depressives Derealisationserlebnis. Und
ähnlich verhält es sich mit dem Zwangsimpuls zu Gewohnheitsbewegungen ~
haben diese keine organische Grundlage, so verdecken sie meist angstgeladene
Konfliktspannungen. Es muß mit einem Wort davor gewarnt werden, die
deskriptive Angstfreiheit des anankastischen Störungserlebnisses einer fehlen-
den Angstfundierung gleichzusetzen. - Was viertens die kriminellen Zwangs-
i~_P?lse betrifft, so muß man BINDER zugeben, daß hier im Anfangsstadium
1 MALLET: L'obsede est toujours un angoisse; zit. bei WEXBERG.
6*
84 Studien zur speziellen Psychopathologie.
der Erkrankung wenigstens die Angst eine "sekundäre" Rolle spielt. Diese
Impulse brechen oft völlig überraschend über den Kranken herein, in einem
Angstaffekt wird er seine unbegreifliche Bösartigkeit, das Unverständliche
seiner verbrecherischen Neigungen inne - ja, es entwickelt sich häufig sekundär
eine Erwartungsangst und geht über in eine anhaltende ängstliche Grund-
stimmung, die ihrerseits doch wieder stark an echte "phobische Besessenheit"
erinnert. Es liegt nahe, diese kriminellen Zwangsimpulse als Psychasthenie-
symptome aufzufassen: sie haben nach einer treffenden Bemerkung von
E. STRAUS Depersonalisationscharakter. Wie ein Typus der Melancholie-
kranken (die "Melancholia anaesthetica" SCHÄFERS), über völlige Empfin-
dungslosigkeit ihren Angehörigen gegenüber klagt, ein anderer Typus dadurch
charakterisiert ist, daß Liebesgefühle in Haß umschlagen, so gibt es einen
dritten Typus, in dem die Störung des elementaren Rapports die Gestalt der
kriminellen Zwangsbefürchtungen annimmt, von denen der Kranke er-
schrocken, aber ohnmächtig sich absetzt. Der Umstand, daß gelegentlich die
ängstliche Grundverfassung des Psychasthenikers in den impulsfreien Inter-
vallen stark zurücktritt, daß also der Kranke von eben den kriminellen Impul-
sen immer wieder überraschend angefallen wird, hat wohl BINDER in seiner
grundsätzlichen Auffassung bestärkt.
Die Angstfundierung des Zwangs syndroms beim anankastischen Psycho-
pathen scheint mir hingegen erweis bar zu sein, allerdings erscheint sie in
besonderer Gestalt, die wir die "anankastische Phobie" nennen. Ihr wendet
sich die Betrachtung im Folgenden zu l •
1 W'ie ich in einer Studie über die psyehasthenische Phobie [(Nervenarzt, 8, H. 7/8
(1935)] nachgewiesen zu haben glaube, ist die Angst auch in der echten Phobie keine
"primäre" Angst, sondern sie tritt reaktiv auf, auf die basale psychasthenische Störung, die
Hemmung elementarer Aktionsformen. Also schon von der echten Phobie kann man sagen,
sie sei "sekundäre Angst", wie sekundäre Angst für das Zwangssyndrom auch von jenen
zugegeben wird, welche seinen phobischen Hintergrund bestreiten. Der phobische Hinter-
grund des Zwangssyndroms wird in vielen Fällen ebcn durch die Zwangshandlungen ver-
deckt, wie jede Art von Aktion geeignet ist, Angst zu verdecken oder zu verdrängen.
2 V gl. hierzu: STÖRRlNC.
Die Welt des Zwangskranken. 85
mich heran. Auch setze ich mich nicht irgendwo hin, weil ich hinterher denke,
es sei etwas an mich herangekommen. - Sie fragen: was, - ja es wird wohl
Schmutz sein. Verstandes mäßig kann ich sagen: Unsinn, aber gefühlsmäßig
ist etwas da, was mich hindert, was unangenehm ist, was mich stört, so daß
ich mit nichts fertig werde, weil ich immer an das denken muß, was mich da
stört. Auch wenn Arzt oder Schwester sich zu mir setzen . . . es ist nichts
Positives, nicht Bakterienangst oder so was ähnliches, aber immer ist da etwas,
was an mich herankommt oder mich von allem abhält. Aber das Entsetzlichste
von allem ist doch ein Hund - als ich heute den Mucki sah, sprang ich die
Treppe hinauf und schüttelte mich vor Ekel und Entsetzen. Alle Menschen,
die mit Hunden sprechen oder spielen, grausen und ekeln mich."
Wie häufig Zwangskranke, konkretisiert sie eine sie beherrschende
allgemeine Verfassung, eine besondere Art des In-der-Welt-sein in einer
Gestalt, die ein Inbegriff des Ekels, Grauens und Entsetzens ist. Bei E. Sp.
hat diese Gegenwelt sozusagen das Gesicht des Hundes. Daß der Hund
"Würmer" überträgt, macht ihn geeignet dazu, die besondere Fernwirkung,
den Fernzauber auszuüben, der sie, ob sie will oder nicht, zu seinem Opfer
macht. Man kann sagen, daß sie vom Hunde verfolgt sei. Ihre Welt ist so
konstruiert, daß in ihr die Begegnungen mit dem Hund stattfinden müssen,
ob dieser nun sichtbar oder bellend oder erinnerungsmäßig oder als obsedie-
rende Vorstellung an sie herankommt. Erzählt sie doch, daß sie zu ihrem
größten Leidwesen ihre liebsten Verwandten nicht aufsuchen könne, weil
diese einen Hund halten. Oder: weil einmal ein Hund in das Haus kam, das
sie in Wannsee bewohnte, mußte sie wochenlang nachts die Strecke zwischen
Schlafzimmer und Bad waschen, wo der Hund niemals hinkam. Nicht ganz
angezogen diese Strecke zu passieren, an die irgend etwas vielleicht doch
hingekommen sein könnte, war ihr unerträglich, und so mußte sie gereinigt
werden. Aber auch, als sie in einer anderen Wohnung erfuhr, daß vor 1/3Jahr
dort ein Hund sich aufgehalten, konnte sie keine Ruhe mehr finden, obschon
das Zimmer neu tapeziert, Fußboden und Decke neu gestrichen waren. . ..
Immer mußte sie an den Hund denken, ja sie beginnt ihn zu riechen und mußte
schließlich ausziehen. Mehr noch: weil eine Pensionsleitung ihr auf ihre Frage
mitteilt, es befände sich kein Hund im Haus, wird ihr diese Mitteilung so
unangenehm, daß sie nicht in die Pension zieht, weil sie immer an den Brief
und durch den Brief an den Hund erinnert werden würde. Wie das Wortbild
oder der Gedanke "Hund" in ihren Gedanken auftaucht und welche Mittel
sie dagegen anwendet, sahen wir in der Krankengeschichte. Daß die Not-
wendigkeit, von der Befleckung durch diesen Gedanken sich zu reinigen, zum
Hauptmotor ihres Waschzwanges wird, leuchtet ein.
Es läßt sich dabei die Entwicklung dieser Hundephobie bis weit in ihre
Lebensgeschichte hinein verfolgen. Man findet z. B., daß der Vater, mit dem
sie nicht gut stand, Jäger war und mit Hunden zu tun hatte und daß in jener kind-
lichen Zeit bereits der Hund des Vaters und seine Jagdkleider ein Gegenstand
86 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Etwas anderes, das nicht mehr Hund ist, konkretisiert sich in der einzel-
nen Begegnung mit ihm. Der einzelne konkrete Hund oder der jeweilige
Gedanke an ihn legt in die Umgrenzung ihres Daseins nur die Bresche, durch
die etwas einströmt, was andererseits von diesem Dasein schon längst Besitz
ergriffen hat und es durchängstet - eben das, wofür der Hund, und alles, was
mit ihm zusammenhängt, nur ein Gleichnis ist -, das Unreine nämlich. Von
vornherein, gleichsam apriori schon befindet sich E. Sp. in den Klauen des
Dämons. Oder wie sonst erklärten wir ihre Neigung, ängstlich Ausschau zu
halten, auf der Straße oder wo sonst sie sich befindet, nach dem, wovor sie sich
am meisten fürchtet? Es braucht bloß das Wasser zu rauschen in der Wasser-
leitung oder sonst ein Geräusch sich vernehmbar zu machen, und sie er-
schrickt, glaubend, es müsse im Zimmer ein Hund sich versteckt halten.
Überzeugt man sie auch vom Gegenteil, so ist doch bereits das eingetreten,
was sie verstört und sie nicht mehr losläßt. Von ihr aus also will spontan
etwas zur Erscheinung des Hundes sich verdichten und vor sie hintreten -
die "anideische" (CLi~REMBAULT) Grundverfassung ihres Daseins, die in der
Schreckgestalt des Hundes zu sich selber kommt. Dieser anideische Boden
der Zwangs krankheit stellt das eigentliche Problem dar; ihn gilt es zu erkennen
und auszulegen; er ist es, was in der Störungsseite des Zwangssyndroms
Aktualität gewinnt; sein Hindurchreichen durch alle Zeit erklärt das Kleben,
das Nicht-mehr-Ioskommen, das Haften und das Beharren an den sog. Zwangs-
ideen und der Ekelstimmung; kurz das, das wir die "phobische Besessenheit"
der Zwangs kranken nennen. Besessen nämlich ist er von der Allgegenwart
des Unreinen.
Es ist nicht einfach, hinter dieses Geheimnis der Zwangskrankheit zu
kommen. Ein klein wenig weiter hilft uns vielleicht die Beobachtung, daß
andere Tiere E. Sp. nahezu gleichgültig sind. Nur der Hund ist ihr Feind -
ein böser Zauber haftet an ihm und macht ihn zum Gegenstand von Ekel,
Abwehr und Entsetzen. Also nicht die Tierheit überhaupt beunruhigt sie,
sondern die Tierheit in einer ganz besonderen Ausprägung, die "böse" näm-
lich, die unreine Tierheit, zu der keine sympathetische Verbindung mehr
möglich ist, sondern die ausschließlich nur durch das Antipathos der Ekel-
abstoßung hindurch erfahren werden kann. Daß diese Tierheit ihr im Bilde
des Hundes erscheint, ist lebensgeschichtlich festgelegt. Soweit haben die
Analytiker recht. Aber daß Tierheit überhaupt so erscheinen kann und was
damit gemeint und empfunden sei, das beantwortet keine Tiefenpsychologie.
Das ist ein anthropologisches Problem, denn ihre Angst gilt ja der eigenen
Teilhabe an dieser eklen, unreinen Tierheit, und die Modalität dieser Teilhabe
macht erst das Tierische zum Feind 1.
Wir wollen die Klärung der hier sich antragenden Probleme nicht er-
zwingen. Es genügt uns vorerst zu erkennen, daß E. Sp. im Bilde des Hundes
1 Man vgl. die "Katzenphobie" einer anderen Kranken, bei HOFFMANN: Z. Neur.80
(19 23).
88 Studien zur speziellen Psychopathologie.
sich vor etwas ängstigt und ekelt, das von ihrem Dasein Besitz ergriffen hat
und es einer Veränderung unterwirft, die bald als Vergiftung durch Würmer,
bald als Beschmutzung erfahren wird. Aus der Hundephobie entwickelt sich
bei E. Sp. nämlich eine generalisierte anankastische Schmutzphobie, aber
nachweisbar bleibt bis zuletzt der Hund Inbegriff des Ekelhaften und Un-
reinen. Aller Schmutz ist gleichsam von dieser Urquelle, diesem Urschmutz
abgeleitet. In ihr selbst fließt die Quelle, deren Emanation auf die Daseinswelt
überströmt und in deren Strömung man selber steht.
Der phobische Charakter ihres "Störungspsychismus" ist evident, und
wir wollen ihm Rechnung tragen, indem wir im Hinblick auf die konstante
Anwesenheit der Störungsbedingungen in der kranken Persönlichkeit von
ihrer "phobischen Besessenheit" sprechen. Mühsam kann E. Sp. - vielleicht
durch Besuche abgelenkt - ihr geheimes Beherrschtsein von der seltsamen
Gegenwelt und die Auseinandersetzung mit dieser unterdrücken, aber kaum
mit sich allein, bricht diese wieder aus ihr hervor und verschafft sich Geltung.
Ihr Dasein besteht in dieser ununterbrochenen Auseinandersetzung, - was
eben eine Veränderung der anideischen Grundlage ihres bewußten Erlebens
zur Voraussetzung hat. Nicht immer tritt die Angst als solche in Erscheinung,
aber sie ist enthalten in dem Gefühl des Unbehagens, der Peinlichkeit, der
Widerwärtigkeit, durch welches hindurch sie die harmlosesten Vorkommnisse
erlebt. Wird ihr die Wäsche z. B. bloß in einem Korb statt in einem Tuch einge-
schlagen gebracht, so kann sie sie nicht mehr in ihrem Zimmer ertragen. Es
entsteht der Gedanke an die Möglichkeit, daß die Wäsche in Berührung
gekommen sei mit Wänden, Treppengeländern, mit den Kleidern des Mäd-
chens usw., und schon ist sie besudelt und muß entfernt und neu gewaschen
werden. Man kann nicht sagen, daß E. Sp. hier einen Angsteffekt erlebt,
sondern, wie der Agoraphobiker seine Raumangst oft nur als Weiteschwindel
erfährt, so erfährt der Anankast seine Schmutzangst als phobischen Ekel.
Während aber die psychasthenische Reaktion des Phobikers, z. B. der Weite-
schwindel selbst wieder in Angst übergeht, z. B. in die Angst zu Boden zu
stürzen oder das Bewußtsein zu verlieren, so geht die Ekelstimmung der
phobischen Besessenheit in die Zwangshandlungen über, und erst deren Unter-
lassung oder Verhinderung fördert in der Weise eines natürlichen Experimen-
tes die geheime Angstfundierung seiner Besessenheit zutage.
Alles in allem scheinen aber hier die Konkretisierungsvorgänge, in welchen
die latente phobische Disposition zur Störung wird, viel unabhängiger zu sein
von äußeren Anlässen, als sie es beim Phobiker sind. Dieser muß der Weite
draußen begegnen, um seiner Unfähigkeit, sie zu bewältigen, inne zu werden.
Der Anankast begegnet dem Schmutz überall: der Gedanke an den Hund ent-
steht in ihm spontan; er riecht ihn in einem Zimmer, das unmöglich nach ihm
riechen kann, er hört ihn im Rauschen der Wasserleitung, er denkt ihn gegen
Wunsch und Willen. Sein eigenes Verhaftetsein an den phobischen Ekel-
gedanken konstituiert um ihn herum eine Welt des Schmutzes oder bewirkt,
Die Welt des Zwangs kranken. 89
daß sie in ihm emporsteigt und auf die Dinge übergeht, wie z. B. gewaschene
Wäschestücke bei E. Sp. wieder schmutzig werden, wenn sie dabei das Wort-
bild "Hund" vor Augen sieht. Dem phobischen Besessensein der Phantasie
entspricht die Ubiquität der Schmutzphysiognomie draußen.
Deswegen sehen wir den Anankasten bemüht, die Anlässe, welche die
Konkretisierung seiner latenten Besessenheit Vorschub leisten, durch ein
kompliziertes System von Maßnahmen - das zwangsneurotische "Zere-
moniell" - auszuschalten. Der Phöbiker braucht nur zu Hause zu bleiben
und er bleibt von der Manifestation seiner Angstbereitschaft geschützt. Dem
Anankasten nützt ein ähnliches Vermeiden des störenden Anlasses nicht,
denn die Störung bricht aus dem Grunde seiner Existenz, aus seinem Denken,
Phantasieren, Streben hervor und schafft den Anlaß, der dem anderen begegnen
muß. Ganz anders also als der Phobiker ist der Anankast ein Verfolgter und
Gehetzter. Ihm folgt der Feind auf der Ferse nach und nie weiß er, ob das,
was er unternimmt, um mit ihm nicht zusammenzutreffen, nicht gerade ihm,
d. h. der Störung durch ihn zum Siege verhilft. Gesiegt nämlich hat seine
phobische Besessenheit jedesmal dann, wenn die Maßnahmen, die ihre Ab-
wehr erzwingen sollen, selbst die Konkretisierung des latenten phobischen
Zustandes herbeiführen, wenn z. B. das Waschen, das der Reinigung vom
Schmutz dient, den Hundegedanken mobilisiert und damit als ein Gegen-
zauber die Zauberhandlung des Waschens zur Ohnmacht verdammt (vgl.
Krankengeschichte E. Sp.).
Viel dringender als der Phobiker ist also der Anankast in der Auseinander-
setzung mit sich selbst begriffen. Dem Phobiker mißlingt die Auseinander-
setzung mit der Welt an gewissen Stellen, die durch den Begriff der "symboli-
schen Raumqualitäten" (STRAUS), der Höhe, der Weite, der Tiefe usw.
bezeichnet sind; allein noch als angstvoll Überwältigter steht er in der Welt
und orientiert sich an ihr, trotzdem wir zeigen könnten, daß sein phobisches
Versagen den Raumqualitäten gegenüber ein inneres Versagen symbolisiertl.
Die Welt des Anankasten jedoch zeigt schärfer die Züge von Entweltlichung
(Derealisation), und deutlicher erkennt der Beobachter, daß die fiktive
Schmutzbarrikade zwischen ihm und der normalen Alltagswelt diese weit
aus seiner normalen Aktionssphäre hinausgeschoben hat. Der "Schmutz"
nämlich, um dessen Bewältigung es dem Anankasten geht, besitzt nicht die
Welthaltigkeit der Weite, der Höhe oder der Tiefe. Er ist eine Exteriorisierung
seines eigenen Inneren, ein Zwangsprodukt seiner Phantasie ohne welthafte
Dichte, wofür der richtige, natürliche, positive Schmutz höchstens ein Gleich-
nis ist. In der Tat, der Anankast kämpft mit einem Schatten, aber dieser
Schatten ist er selber, und die Szene spielt in einer magischen Gegenwelt.
Seit FREuDs Untersuchung über Totem und Tabu steht die Beziehung des
Zwangs kranken zur magischen Welt im Mittelpunkt der Diskussion. Beach-
tenswert jedoch ist, daß von der außerordentlich reichen Welt der Primitiven
1 V gl. Die psychasthenische Phobie.
90 Studien zur speziellen Psychopathologie.
nur ihre Tabuseite zur Wirksamkeit gelangt und auch diese nur in der Weise
eines beschränkten und beschränkenden Erlebens. Nur in seiner abstoßenden
Potenz gelangt das "Mana" der Dinge zur Entfaltung, so daß man besser von
einer deformierten Welt oder von einer "magischen Gegenwelt" spricht als
von einer echten magischen Wirklichkeit.
Diese Dominanz des Abstoßenden hinwiederum hängt damit zusammen,
daß das Weltverhältnis des Zwangskranken in vorherrschender Weise durch
sein reaktives Erleben bestimmt wird, und zwar durch die Reaktionsweise des
"phobischen Ekels". Die natürliche, selbstverständliche Anziehungsmacht
der Weltinhalte, die als erlebter Rapport unser Wahrnehmen, Denken, Fühlen,
Handeln erst möglich macht, ist in der Welt des Zwangskranken nahezu
ausgelöscht und durch die abstoßende Physiognomie lebenswidriger Phantasien
von Schmutz, Kot, üblem Geruch, Leichenatem usw. ersetzt. Allwirksam
wie die Schmutzphysiognomie der Daseinswelt ist auch die Erlebnisantwort
des Anankasten auf diese: der phobische Ekel. Man lasse sich nicht durch die
zeitweilige Undeutlichkeit der phobischen Ekelreaktion (die zum Unterschied
vom "natürlichen", "gesunden" Ekel immer eine reflektierte ist) irreführen.
Die Erlebnisse des Anankasten in dieser Hinsicht bilden eine Stufenleiter: nur
an deren unterstem Ende steht der unmittelbare Ekel, der Ekelkrampf, aber
auch Entsetzen, Grauen, Abscheu, während weiterhin die Abstoßungserleb-
nisse abblassen zu Gefühlen der Widerwärtigkeit, des Widerlichen und Zu-
wideren. Noch weiter vom elementaren Ekel entfernen sich das Gefühl der
Peinlichkeit oder des Unangenehmen, bis man am obersten Ende der Stufen-
leiter nur mehr das ohne Gefühlsbeteiligung vor sich gehende fast gualitäts-
lose Erlebnis der "Störung" antrifft. Bei anderen wieder, wie bei 1. G. über-
wiegt überhaupt der Charakter des "Verbotenen" oder "Schlechten", des
"Tabuhaften" - also eine pseudomoralische Nuance über die mehr sinnlich-
elementare Seite des magischen Repulsionserlebnisses. Überall aber, wie wir
noch sehen werden, läßt auch bei diesem Typus des "Störungspsychismu5"
sich eine ursprüngliche Ekelverankerung nachweisen. Bedenkt man, daß ja
von realem "natürlichem" (1. G.) Schmutz im Weltbild des Anankasten gar
nicht die Rede ist, sondern nur von einer im Bilde des Schmutzes erfaßbaren
Physiognomieveränderung an sich harmloser und indifferenter Inhalte, so
versteht man ohne weiteres, daß der elementare Ekel zu einem phobischen
Peinlichkeitsgefühl verblassen oder in "Gewissensangst" übergehen kann.
Trotzdem steckt noch in diesem - durch die Reflexion umgeformten -
Abstoßungserlebnis des Anankasten die Urform des repulsiven Erlebnisses:
der EkeP. Entsteht Ekel doch dann, wenn Inhalte in unsere Lebenssphäre
eindringen, mit denen Einung, Verschmelzung, Verbindung ihres besonderen
Lebenssinnes wegen völlig unmöglich ist. Die absolute Abstoßungsmacht
der mit dem Leben prinzipiell unvereinbaren Inhalte wie Kot, Urin, Leichen
1 Den auch E. STRAUS einer Betrachtllng des Zwangssyndroms zugrunde legt, wie mir
aus persönlicher ?\fitteilung bekannt ist.
Die Welt des Zwangskrankeo. 91
usw. wird im Ekel kund. Im Ekel wehrt sich das Leben gegen die Berührung
mit den Inhalten, mit denen eine sympathetische Verbindung grundsätzlich
ausgeschlossen ist. Das Besondere in der Lage des Zwangs kranken ist, daß
seine Welt überhaupt nunmehr aus diesen lebenswidrigen Mächten zu bestehen
scheint, ja, daß er ständig von ihrem Überfall, ihrem Andrängen, Annahen,
Auftauchen bedroht oder verfolgt ist und daß sein Leben buchstäblich in der
ohnmächtigen Abwehr aufgeht.
Angesichts der Frage, wieso und warum sich das so verhält, stoßen wir
wieder auf die Frage nach der spezifischen Weise des In-der-Welt-seins, welche
das Wesen der anankastischen Existenz ausmacht. Sie ist es ja, die eine mit
angst- und ekelgeladenen Inhalten bevölkerte Daseinswelt aus sich hervor-
treibt, sich in ihnen verbesondert und die Auseinandersetzung damit erzwingt.
Erst in langsamer Aufdeckung lassen diese Probleme sich fördern. Wir
wollen darum erst einen zweiten Fall ins Auge fassen, ohne sofort die Antwort
auf unsere Fragen zu erzwingen.
die Harnröhre berührt hatte. Dann war alles unkeusch und ich mußte mich
waschen und mußte es beichten. Schlimmer, als daß mir die unkeuschen, d. h.
mit der Notdurft zusammenhängenden Dinge unangenehm waren, war, daß
ich dieser unkeuschen Berührungen wegen nicht mit der Beichte zurechtkam,
daß es mir nicht gelingen wollte, sie gültig zu bekommen. Schrieb ich z. B.
die unkeuschen Sachen zum Beichten auf, so war der Zettel unkeusch geworden
und ich konnte ihn beim Beichten nicht verwenden, ohne wieder unkeusch
zu werden - wodurch die Beichte ungültig wurde. Immer hatte ich das.
Gefühl, es könnte noch irgendeine schwere Sünde vorliegen, die ich nicht
gebeichtet hatte - es war eine große Qual." - "Einmal ging ich zur Post
durch den Wald, da war Hundekot. Fliegen flogen davon auf und plötzlich
hatte ich das Gefühl, eine Fliege sei an die Hand gekommen. Nun war diese
unkeusch geworden. Ich hatte, nachdem ich einen Brief in der Post einge-
worfen hatte, keine Ruhe, sondern mußte unter einem Vorwand - Freun-
dinnen waren mit - umkehren und die Türklinke der Post abwischen, damit
nicht die Menschen, die diese Tür berührten, auch unkeusch gemacht würden."
Auch Nadeln, mit denen sie einen Knopf an die Hose genäht hatte, wurden
"unkeusch" und durften nicht mehr verwendet werden.
Es geschieht bei I. G., was häufig geschieht: Anhand der Beichtpraxis
kommt die anankastische Anlage zum Durchbruch. Die Notwendigkeit, sich
unter dem Gesichtspunkt "gut oder böse", "keusch oder unkeusch" anzu-
visieren, ruft in entsprechend Disponierten eine skrupulöse Unruhe hervor.
Wir bemerken, daß unter dem Druck des Moralgebotes, des: du darfst - du
darfst nicht, an sich harmlose Vorgänge, Situationen, Verrichtungen plötzlich
ihre Harmlosigkeit einbüßen und einen, wir wollen es gleich sagen, pseudo-
moralischen Akzent gewinnen. Denn das ist doch noch das Auffallende bei
I. G.'s Sündigkeits- und Unkeuschheitskomplex, daß sie mit dem Attribut
unkeusch oder sündig einen Aspekt der Dinge und Personen bezeichnet, der
im Sinn der Moraltheologie mit Unkeuschheit und Sünde gar nichts zu tun
hat. Um was aber dreht sich dann ihre so eindrucksvolle Sorge? Was heißt
insbesondere, daß durch "unkeusche Berührung" ein Gebetbuch oder eine
Nähnadel unkeusch wird? Zuerst einmal kann man unter einem "unkeusch"
gewordenen Gegenstand nichts Deutliches sich vorstellen. Ebensowenig ist
verständlich, wieso denn die Berührung eines Strumpfbandes die Hand derart
verändern solle, daß sie, selbst "unkeusch" geworden, nun auch befähigt
werde, "Unkeuschheit" zu übertragen. Wir erfahren von I. G., daß diese
"Unkeuschheit" sogar von unkeusch berührten Türklinken auf andere Per-
sonen übertragen werden kann und daß diese Personen auf diese Weise in eine
Verfassung von schwerer "Sündhaftigkeit" geraten sollen. Offenbar versteht
I. G. unter Unkeuschheit einen völlig anderen Tatbestand als das 6. Gebot
und seine Ausleger. Vor allem handelt es sich ebensowenig wie um einen
ethischen, um einen sexuellen Sachverhalt, sondern nur das, was mit der
Notdurft zusammenhängt, erscheint unter dem pseudo-moralischen Aspekt
Die Welt des Zwangskranken. 93
der "Unkeuschheit" oder der "Todsünde". Es ist deutlich, daß eine urino-
und koprogene Verunreinigung mit dem Begriff des "Unkeuschen" gemeint
ist. Aber auch diese "Verunreinigung" ist wiederum nicht ohne weiteres
identisch mit stofflicher Beschmutzung. Es handelt sich sicher nicht um realen
Schmutz, nicht um "matter on the wrang place" (zitiert nach FREUD), wenn
I. G. z. B. meint, das Gebetbuch oder eine Nähnadel usw. sei unrein oder
unkeusch geworden. Denn wie sollte sonst I. G. durch die Auseinander-
setzung mit der sie von außen und innen überwältigenden, verunreinigenden
"Unkeuschheit" in einen Zustand andauernder "Gewissensangst" geraten I
Das Gewissen als ein "Ruf der Sorge" (HEIDEGGER) spricht von einer
besonderen Gefahr, durch welche der Anankast sich bedroht fühlt. Unkeusch
gleich schlecht werden und schlecht machen ist diese Gefahr I Eine zwei-
deutige Macht wohnt der drohenden Verunreinigung also inne; an zweierlei
wendet sie sich: an den Ekel und an das Gewissen. Und aus zwei Elementen
baut sich dies "Unkeusche" auf: aus der abstoßenden Physiognomie des Un-
reinen und aus der verweisenden Gebärde des moralischen Verbotes. Zwi-
schen der natürlichen und der moralischen Welt hält es sich in der Schwebe.
Sehen wir uns nach Sachverhalten um, die eine ähnliche Struktur auf-
weisen wie das "Unkeusche" bei I. G., so werden wir auf das Tabu der Primi-
tiven hingewiesen. "Tabu ist etwas, womit in Berührung zu kommen man
scheut, weil man von der Berührung unerwünschte Wirkungen befürchtet.
Jedes Ding, das Tabu ist, hat also in gewissem Sinne Mana, aber ein Mana
gefürchteter und bedenklicher Art" (GRÄBNER: Das Weltbild der Primitiven,
S. 60). Wir werden angesichts der Todesphobie die Bedeutung der Tabuierung
von Gegenständen in der Zwangs krankheit noch genauer studieren; hier
genügt es vorläufig darauf hinzuweisen, daß die eigenartige Scheu, welche
I. G. von der Berührung mit "unkeusch" gewordenen Umweltteilen abhält,
am meisten Ähnlichkeit hat mit der Scheu der Primitiven vor Inhalten, welche
mit dem Interdikt des Tabu belegt wurden - was bereits FREUD festgestellt
hat. Grundsätzlich unterschieden vom Tabu der Primitiven ist das der Anan-
kasten jedoch darin, daß die Nebenbedeutung von sacer = heilig den Inhalten
der anankastischen Welt fehlt!. Nur der Charakter des Unheimlichen, Ver-
botenen, Unreinen eignet ihnen, so daß man den Eindruck hat, auch im Hin-
blick auf die Tabuveränderung der Alltagswelt einer deformierten magischen
Welt gegenüberzustehen.
Der phobische Ekel, welcher der Schmutzangst zugeordnet ist, erscheint
bei I. G. in "Gewissensangst" transformiert, entsprechend der Umwandlung,
die überhaupt die Schmutzangst hier in eine Unkeuschheitsphobie durch-
macht. Genau wie bei der Schmutzangst z. B. bei E. Sp. beobachten wir bei
I. G. eine Ausbreitungstendenz, welche der urino- oder koprogenen Verun-
reinigung eignet. Von" unkeuschen" Leibteilen - After und Harnröhre -
geht die Verunreinigung über auf alle Gegenstände, die mit jenen in näherer
und fernerer, in unmittelbarer oder vermittelter Beziehung stehen. Sie werden,
wie I. G. sagt, "unkeusch"; mit Verunreinigung gleichsam geladen, werden
sie dadurch befähigt, Verunreinigung abzugeben und Verunreinigung zu
bewirken. Diese Ausbreitung der Verunreinigung fordert, so typisch sie ist,
doch dazu auf, sich nach analogen Erfahrungen in anderen Gebieten umzu-
sehen.
Wieder ist es die Geistesart der Primitiven, auf die man hierbei stößt.
Von diesen sagt LEvy-BRüHL, sie sähen "überall Mitteilung von Eigenschaften
durch Übertragung, Berührung, Fernwirkung, Ansteckung, Beschmutzung,
Besessenheit, mit einem Wort durch zahlreiche Operationen, die einen Gegen-
stand oder ein Wesen augenblicklich oder nach kürzerer oder längerer Zeit
an einer gegebenen, besonderen Eigenschaft partizipieren lassen." Diesen
magischen Übertragungserlebnissen gleichen die Erfahrungen der Anankasten
tatsächlich in weitem Ausmaß. Ist erst einmal durch das "Gesetz", d. h. durch
das Gebot der Keuschheit das Unkeusche als bewußte Möglichkeit gesetzt
worden, so bleibt es bei anankastischer Veranlagung nicht, wie für den Gesun-
den, an die Akte gebunden, durch die es im Sinn der Moraltheologie realisiert
wird, sondern es gewinnt ein expansives Eigenleben und ereignet sich an
immer neuen Raum- und Zeitstellen, ohne das willentliche Zutun des Anan-
kasten. Er ist zwar das Vehikel seiner Ausbreitung, aber mehr als deren Täter
ihr Opfer. Die unvermeidlichen Verrichtungen des täglichen Lebens, wie
Knöpfeannähen, Strumpfbänder in Ordnung und Briefe zur Post bringen,
das Bettlaken zurechtstreifen usw. werden zu Vorkommnissen, ~urch die das
"Unkeusche" auf andere Personen abfließt, durch die aber auch die Person
des Kranken dem infizierenden Zauber der Verunreinigung immer wieder
erliegt. Das, wovor er sich ängstigt und was er doch weder von sich noch von
anderen Personen abzuhalten vermag, ist eine unsichtbare Verderbnis der
Dinge und Menschen, die von einer letzten Teilhabe am unreinen Unwesen
aus sich über die ganze Daseinswelt ausbreitet. Wieder werden wir an die
Primitiven erinnert, die, wenn sie z. B. eine Adlerfeder sich anstecken, dadurch
die Kraft, den Scharfblick, die Weisheit des Tieres auf sich übertragen (vgl.
LEvy-BRüHL), ja unter Umständen geradezu zum Adler werden. Es ist die
in seinen Federn unsichtbar mitenthaltene Kraft ("Mana") des Adlers, die
auf sie übergeht. So geht die Macht der Unreinheit beim Anankasten von
einer Leibstelle unsichtbar auf Gegenstände über und wirkt verderbend, d. h.
verunreinigend auf den zurück, der sie berührt oder verwendet. Das Bemer~
kenswerte hierbei ist, daß in der Übertragung auf anderes erst die ganze Macht
des Übertragenen sich zu entfalten vermag. So ängstigt sich I. G. gar nicht so
sehr vor den anstößigen Teilen des Leibes selbst. Ihre Beunruhigung durch
sie ist erheblich geringer als die durch eine Nadel, die unkeusch geworden ist.
Auch ekelt sie sich gar nicht vor dem, was sie "den natürlichen Schmutz"
nennt. Mit diesem natürlichen Schmutz, sagt sie, könne man umgehen - mit
Die Welt des Zwangskranken. 95
dem wird sie fertig, aber "der Gedanke der Verunreinigung", das ist es,
"womit man nicht fertig wird". Auch für diesen Zug finden wir Analogien
in der magischen Welt der Primitiven. So sind die Abiponen (vgl. LEVY-
BRÜHL, S. 78) mutige Tigerbekämpfer, ängstigen sich aber vor der Maske des
Tigers und begründen das so, daß sie sagen: "Wir haben keine Angst vor den
Tigern der Ebene, die wir sehen und töten können, aber vor den künstlichen
Tigern ängstigen wir uns, weil wir sie weder sehen noch töten können."
Entsprechend entfaltet erst in einer gewissen abstrakteren und reflektierten
Umformung das Kotige seinen phobischen Charakter, weil erst diese Umfor-
mung aus ihm die unsichtbare Macht des Verderbens herausholt, die wie bei
I. G. als unkeusch machender Zauber ihre Daseinswelt verwandelt.
Wie also das Unkeusche des Anankasten mit Unkeuschheit im moral-
theologisehen W ortverstande nichts zu tun hat, so auch das Kotige nichts mit
Kot im substantiellen Sinn des Wortes. Darin erinnert die Welt des Zwangs-
kranken an die des Primitiven, daß die Bestandteile dieser Welt nicht Dinge,
Substanzen, Wesenheiten sind, sondern "dynamische Wirksamkeiten" (WER-
NER). Es gibt Fische, welche die Frauen auf Kiriwina während der Schwanger-
schaft nicht essen dürfen. Weil es schwer ist, diese Fische aus dem Meer
herauszuholen, eignet ihnen diese Eigentümlichkeit des Schwerheraushol-
baren in der Weise einer Kraft, eines Mana, das Schwerherausholbarkeit auch
bei anderen bewirkt, auch z. B. bei Gebärenden im Hinblick auf die Leibes-
frucht, weswegen diese Fische tabuiert sind (zitiert bei JAIDE, das Wesen des
Zaubers in den primitiven Kulturen, S. 18). Ganz analog eignet dem Kot in
der Welt des Anankasten die Fähigkeit unkeusch zu machen, z. B. Gebetbücher
zu entweihen, den Priester zu entwürdigen, Personen sündig zu machen, das
Sakrament zu schänden: und zwar entfaltet er diese verderbliche Wirksamkeit
kraft einer "Strömung" (JAIDE), einer "Emanation" (KuRATz), einer "Irra-
diation" (WERNER), einer Macht, die von ihm ausgeht und sein Umfeld in
allen jenen Bestandteilen durchsetzt, welche in seine Strömung geraten. Eine
unsichtbare Macht der Verunreinigung geht also vom Excrementum aus und
formt die Daseinswelt nach ihrem Unwesen um, indem es diese mit Verun-
reinigung, Entweihung, Sündhaftigkeit und Unkeuschheit durchsetzt -lauter
Wendungen, durch die das unsichtbare Übergreifen seiner destruktiven
Potenz ("Mana") auf andere und andere Stellen bezeichnet werden soll.
Es ist kein Wunder, daß der Anankast gerade in der Begegnung mit der
Beichte diese negative Dynamis des Kotigen erfährt. Die Beichte nämlich
soll den Menschen reinigen, d. h. ihn von seiner Teilhabe am widergöttlichen
Unwesen befreien. Entsprechend seiner Ausgeliefertheit an die kopromorphe
Seite dieses Unwesens und entsprechend seiner Beherrschtheit. von urtümlichen
Formen des Welterlebens, mißdeutet der Anankast die Beichte unbewußt im
Sinn einer magischen Zeremonie. Allein der in ihm selbst wirksame Gegen:-
zauber ist mächtiger als der Zauber der Beichte. Zauber und Gegenzauber
liegen im Kampf miteinander. Möglich wird dies, weil der Anankast im
96 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Kampfe liegt mit sich selber; aus dieser inneren Gespaltenheit heraus ruft er
die Möglichkeit der Reinigung auf gegen die Tatsache der eigenen Besessen-
heit vom Unreinen - doch bringt es die existentielle Struktur des Zwangs-
kranken mit sich, daß nicht die reinigende Macht der Beichte siegt, sondern die
verunreinigende der eigenen Verfassung, was in einem zur "Gewissensangst"
transformierten phobischen Ekel erfahren wird.
4. Das Toten-Tabu.
Heute ist es nicht mehr das Gespenst der Unkeuschheit, das I. G. beherrscht,
sondern das des Todes.
Sie klagt, daß gewisse Tage besonders schlecht und schrecklich seien:
"Alles, was ich sehe, bekommt dann eine Bedeutung. Das alles drängt sich
mir auf, ich will es nicht in dieser Bedeutung sehen, stoße es gewaltsam weg
- dadurch entsteht der Zwang, alles noch einmal zu tun, weil es unter diesen
sich aufdrängenden Vorstellungen geschah. Meist bekommen Dinge, die ich
sehe, solche Bedeutungen. Wenn es mir schlecht geht, dann gehe ich mit
meiner Freundin 20 Minuten mit geschlossenen Augen, um nicht die Dinge zu
sehen, die die Bedeutung bekommen; alles steht dann mit - Sie wissen schon,
was ich meine - steht mit . . . . . in Zusammenhang" (sie meint, "mit dem
Tode", darf aber das Wort nicht in den Mund nehmen. Verf.) - "und ist
darum schlecht, etwas, das ich nicht darf. So durfte ich früher nichts Vernei-
nendes sagen, nicht mit Nein antworten und vieles andere noch. Geht es
schlecht, gibt es nichts Natürliches mehr, ich kann mich dann nur durch-
kämpfen; ich probiere unheimlich viel, um durchzukommen, z. B. beim
Briefschreiben, da hat alles eine Bedeutung; die Anfangszeit, die Zahl der
Buchstaben, die Worte in der Zeile, die Wortstellung - ich weise dann alles
ab, was mich zwingen könnte, den Brief zu unterbrechen, aber dann kommt
doch etwas, ein Zweifel, ein Bedenken, und ich muß den Brief abbrechen
Fange ich einmal mit diesen Bedeutungen an, dann geht es nicht weiter."
So lebt die Kranke in einer Welt, die ihre Unschuld und Harmlosigkeit
völlig eingebüßt hat. Manchmal fällt es ihr wie Schuppen von den Augen;
dann kann sie sich für Sekunden an den Blumen freuen und an den Bäumen.
"Dann ist alles ganz wirklich", so daß man erkennt, wie sehr das Bedeutung-
annehmen der Dinge zugleich eine Derealisation (eine Entweltlichung) der
Welt in sich schließt. Meist aber lebt sie in dieser derealisierten Welt, in der
alles geordnet ist nach gut und schlecht. Schlecht sind die Inhalte, die sie
nicht ansehen oder anrühren oder hören oder sonst irgendwie vollziehen darf,
weil sie die Bedeutung des Toten angenommen haben - gut ist, was geeignet
ist, ihr Angerührtsein durch die schlechte Bedeutung aufzuheben, z. B. darf
sie in einem Zimmer das eine Buch nicht ins Auge fassen, weil es schwarz
ist (schwarz = Tod), das andere nicht, weil es grau ist (Grau ist fast noch
Schwarz), ein drittes nicht, weil es länglich, d. h. schmal und hoch ist (länglich
weist auf Sarg hin), sondern krampfhaft muß sie auf ein rotes Buch hinsehen
Die Welt des Zwangskranken. 97
oder sie muß überhaupt die Augen schließen. Ähnlich geht es ihr mit Lebens-
bäumen (die auf dem Friedhof stehen) oder mit schlanken Bäumen - auch
längliche Dinge auf dem Weg (Zweige, Strohhalme, Steine, Wurzeln usw.)
müssen umgangen oder es muß mit Nachdruck darauf getreten werden, um die
Vorstellung, die sie erwecken, gleichsam niederzutreten. Blumen, z. B. rote
Rugosa-Rosen bedeuten Tod wegen ihres ursprünglichen Standortes im Fried-
hof und müssen gemieden werden. Sie darf nicht im stumpfen Winkel auf
Menschen und Gegenstände zugehen, weil diese Winkelform am Sarge vor-
kommt. Ertönt Pferdegetrappel, wenn sie aufstehen will, so darf sie nicht
aufstehen weil dieses an "Leichenwagen" erinnert. Kreisförmiges stört, weil es
an Totenkränze gemahnt. Ebenso verhält es sich mit nahezu allen Zahlen.
Oft trägt sie die "Bedeutungen" nachweisbar in die Gegenstände, V errich-
tungen oder Vorgänge hinein, z. B. wenn sie zwanzigmal und mehr einen
Stich auftrennen muß, weil sie beim Ausführen desselben einen Gedanken
hatte, der nur von ferne und ganz vage an Tod und Friedhof anklingt, wodurch
das Nähen zur verbotenen und schlechten Handlung wird, die rückgängig
gemacht werden muß.
Diese Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren. Worauf es uns in
diesem Zusammenhang ankommt, ist folgendes: Alle Zwangshandlungen
stellen sich dar als Reaktionen auf etwas, das selbst nicht Zwang ist. Daß sich
I. G. ohne Unterlaß Bedeutungen aufdrängen, ist eigentlich kein Zwang - es
ist ein Widerfahrnis besonderer Art, ein "Störungspsychismus" im Sinne
BINDERs. Es hat die Merkmale der Unentrinnbarkeit, der Unabwendbarkeit,
stellt also ein Leiden dar, das sofort ein Tun, ein Verhalten, eine Flucht, eine
Gegenwirkung erzwingt, zuerst aber einmal sich einfach ereignet. Alle "Be-
deutungen", auch wenn ihre ursprüngliche Abstammung der Kranken im
Augenblick des Angesprochenseins durch ihr bloßes Schlecht- oder Gutsein
verdunkelt ist, lassen sich auf eine geheime Todesbeziehung zurückführen.
Der Abwehr des Todesgedankens geht ihre Besessenheit von ihm voraus.
Diese ist das Grundphänomen des Zwangssyndroms, genau wie es bei E. Sp.
die Besessenheit vom verunreinigenden Zauber des Hundes ist. Es wird sich
darum handeln, die besondere Struktur des In-der-Welt-seins zu verstehen,
welche dieses fortwährende Angefallensein von Bildern, die Grab, Sarg,
Leichenwagen, Totenkranz, Tod, Leiche bedeuten, in sich schließt. Offenbar
befindet sich die Kranke in einer Verfassung, welche das Totenreich zu ihrer
Daseinswelt macht, so daß ihr nur Leichenhaftes in irgendeiner Gestalt begeg-
net, Leichenhaftes aber auch aus ihr hervorbricht und sich zu den ihr gemäßen
Symbolen konkretisiert. Daß es sich dabei nicht um den "guten", den leben-
digen, dem Werden immanenten Tod handelt, sondern um den "schlechten",
Ekel, Angst und Abscheu erregenden, gleichsam toten Tod, also um einen
gedachten, nicht um den gelebten, wirklichen Tod handelt, geht aus ihren
Ausführungen mit Sicherheit hervor. An anderer Stelle wurde ausführlich und
nachdrücklich auf den Unterschied zwischen beiden Gestalten des Todes
v. Gebsattel, Anthropologische Schriften. 7
98 Studien zur speziellen Psychopathologie.
hingewiesen l • Das Bild des einen, des positiven Todes ist die vollendete Gestalt
des sich in Werden und Wandlung erfüllenden Lebens; es erscheint im
Orpheus RILKEs - dieser Tod heißt: "stirb und werde", er ist der dem Leben
immanente Tod, er geht hinter uns her und ist die andere Seite unseres ständigen
Zunehmens, Mehrwerdens und Sichverwandelns. Das Bild des negativen
Todes ist die Leiche, die Verwesung, la charogne Beaudelaires, das Aas wie es
erscheint im Äserweg WERFELS, der Tod, von dem SCHOPENHAUER sagt, er sei
"die Exkretion in der zweiten Potenz", - er ist eigentlich das gleiche, nur
eben "die zweite Potenz" desselben, was 1. G. im Bilde des Unkeusch- oder
Unreinwerdens beherrscht. Er ist der aus der Sphäre des Werdens heraus-
gebrochene, der dem Leben transzendente Tod, das Produkt des bloßen leeren
Vergehens, das eigentlich ein Untergehen, ein ständiges Entwesen ist.
In der Seinsverfassung der Kranken muß etwas sein, was sie für diese Art
des Todes, für seine verneinende und vernichtende Potenz, für seine Ungestalt,
ja mehr: für das Gestaltfeindliche an ihm, für seine Verwandtschaft mit dem
Nichts, dem Nein, dem Antieidos empfänglich macht, so daß sie in tausend
Gleichnissen nur ihm und überall ihm begegnet und ganz und gar von seinem
Unwesen besessen ist. Dabei ist das Bemerkenswerte, daß sie ihm nicht nur
begegnet, sondern daß diese Begegnungen den Charakter des Schlechten, Ver-
unreinigenden' des Verbotenen an sich tragen und das Verhalten entsprechend
bestimmen. An die roten Rugosa-Rosen, die, weil sie auf dem Friedhof
blühen, Todesblumen sind, darf sie nicht anstreifen. Der Ball, der in sie ge-
fallen ist, ist unrein geworden, ekelhaft und darf nicht berührt werden. Seine
Ladung mit leichenhaftem "Mana" überträgt sich auf den Schläger, auf das
Kleid, auf die Hände. Wieder also befinden wir uns in der magischen Sphäre
des Tabus. Auch der Tabu-Charakter hat ja die Eigentümlichkeit, durch
Kontakt von Ding zu Ding zu wandern. Daß er gerade an Leichen haftet und
auf den mit Leichen sich Befassenden übergeht, ist eine bekannte, von Ethno-
logen oft erwähnte Tatsache.
Wenn also Gegenstände, Zahlen, Zeiten, Geräusche, Worte wie "nein"
oder "Lebensbaum", Verrichtungen (z. B. darf I. G. sich nur frisieren, indem
sie in der Richtung des Friedhofes sich einstellt und sich vom Friedhof weg
frisiert!), Handlungen, Bewegungen usw. den Charakter von "Bedeutungen"
annehmen, so heißt es, daß der Tabucharakter des Toten auf sie übergeht und
gewisse Verhaltungsweisen, in erster Linie Abwehr und Vermeidung, erzwingt.
Der einzelne Gegenstand, z. B. ein Kranz, der von einem Passanten auf einen
Stuhl der Vorhalle in F. abgestellt wird, ist für sie nicht einfach Kranz, dieser
wohlvertraute Bestandteil einer überwiegend in Harmlosigkeit und Unschuld
verfaßten Daseinswelt, dem der Gesunde mit der gelassenen, fast gleichgültig
zu nennenden Frage begegnet: "Wie kommst Du hierher?" oder: "Wer ist da
im Ort gestorben?", sondern er wird zum Schreckgespenst, in dem die ab-
stoßende Macht der Totenwelt - Ekel, Grauen, Verderbnis aushauchend -
1 Zcitbezogenes Zwangsdenken oben S. 13.
Die Welt des Zwangskranken. 99
sich konkretisiert und sie tagelang mit ihrer Emanation ängstigt. Wie für den
Gesunden die Welt ihre Harmlosigkeit und Unschuld einbüßt, wenn plötzlich
im Grase, das eben noch mit freundlicher Lockung anmutsvoll harmlos zur
Ruhe lud, eine Giftschlange aufzischt und jählings die Welt ihr Gesicht von
Grund auf verändert, indem sie, verwandelt, mit der Miene der Drohung uns
anblickt, so geht es dem Anankasten von Augenblick zu Augenblick. Seine
Welt besteht sozusagen nur aus den Giftschlangen des Harmes, der Sorge, des
Schreckens, Ekels und Unfriedens. Der Welt des Zwangskranken fehlt der
friedvolle Untergrund, der es uns möglich macht, auch ihren drohenden und
furchtbaren Erscheinungen mit einem Rest von Gemütsruhe und innerer
Stille zu begegnen. In beängstigenden, drohenden Bedeutungen formt sie sich
ihm entgegen, eine heillose Welt, ohne Ruhestellen und bar aller Selbstver-
ständlichkeit. Immer ist der Kranke auf der Flucht vor dem Feind, der
immerzu "ihm auf den Fersen ist" (H. H.). Für SCHOPENHAUER, so hören wir,
bedeutet "Lust" nur den qualitätslosen Nullpunkt der Unlust. .Ähnlich hier:
Die in der Zwangswelt zugelassenen Gegeninhalte wie Rot oder schwellende,
todesferne Baumkronen oder spitze Winkel oder gute Zahlen, Inhalte, die der
Zwangskranke als Gegenzauber gegen die Todesbedeutungen alles übrigen
aufsucht und "krampfhaft festhält" (I. G.), lösen eigentlich die positiven
Gefühle der Freude, der Befreiung, der glückhaften Wirklichkeitsberührung
usw., die sie vorstellen, gar nicht aus: sie bedeuten vielmehr nur den Nullpunkt
der allgemeinen, allgegenwärtigen Tabudrohung, sie sind kleine Inseln ver-
statteter Belanglosigkeit im Ozean des "Verbotenen und Schlechten", auf
denen vorübergehend, und auch dann nur mit Angst, Fuß gefaßt werden kann.
Denn es genügt ein Blick in andere Richtung und schon hat der Dämon sie
wieder und liefert sie der Unrast, der Hetze, der Angst und der Friedlosigkeit
aus. Wir erkennen, daß der Anankast, ständig angefallen von den tabuierten
Todeshinweisen der vielen Bilder und Dinge, in einer Welt lebt, die von unserer
verschieden ist durch die restlose Ausschaltung des Harmlosen und des Selbst-
verständlichen.
Ein Zusammenhang besteht in dieser Hinsicht zwischen der Welt des
Anankasten und der des Paranoikers. Auch der Paranoiker lebt in einer ihrer
Harmlosigkeit beraubten Welt. Nachweislich bedeutungslose Ereignisse
treten ihm mit der Miene von Bedeutungen in den Weg. In der Welt des
Paranoikers gibt es den vertrauenswürdig-belanglosen Zufall nicht, sondern
nur Absichten. Die Ereignisse haben eine Richtung auf ihn und meinen ihn.
Am Paranoiker erst lernen wir verstehen, wie not uns eine Welt tut, die sich
um uns nicht kümmert und zu der wir gehören. Die Belanglosigkeit der
Begebenheiten um uns herum sichert unseren Frieden - daß die Welt ihren
Weg geht, ohne uns damit zu behelligen, bedeutet trostvolle Geborgenheit in
ihr. Nicht, daß die Huld des Schicksals uns besonders auszeichnet, macht das
Dasein vertrauenswürdig, sondern dies: daß von der Unmenge der Ereignisse,
deren Wellenschlag bis zu uns dringt, die meisten nicht an unser Schicksal
7*
100 Studien zur speziellen Psychopathologie.
rühren. Stets sind wir umgeben von einem in seiner Weite ruhevollen Horizont,
einem weiten Umkreis gleichgültiger Vorgänge, Begebenheiten und Verhält-
nisse, die uns nicht betreffen. Zur Weite, zur Freundlichkeit, Güte, Vertrauens-
würdigkeit des Daseins gehört, daß wir in ihm hausen können, ohne jeweils
besonders von ihm gemeint zu sein.
Ganz anders sieht die Welt des Paranoikers aus. Der indifferente Horizont
vertrauenswürdiger Belanglosigkeiten schrumpft bei ihm ein und ist eingeengt
auf den nahen Umkreis lauter hic und nunc auftauchender, gegen ihn gerich-
teter Bedeutsamkeiten. Was geschieht, geschieht im Hinblick auf ihn; der
Charakter des Gleichgültigen, Selbstverständlichen, Harmlosen schwindet aus
seiner Welt und macht einer seine Ruhe und Gelassenheit bedrohenden
Gerichtetheit gegen ihn Platz. In dieser Hinsicht gleichen sich die Welt des
Anankasten und die des Paranoikers. Nur daß der Paranoiker niemals zu-
geben würde wie der Anankast, z. B. I. G., daß Erscheinungen eine Bedeutung
"annehmen". Für ihn ist die von uns als wahnhaft bezeichnete Bedeutsamkeit
der Erscheinungen eins mit ihrer Realität. Weder anfechtbar, noch angefoch-
ten prägt diese Bedeutsamkeit den Sinn des Geschehens ringsum. Dasein und
Verfolgt-sich-Wissen sind im Wahne nahtlos eins. Wohingegen der Anankast
entsprechend seiner Besessenheit von einer folie lucide, mehr oder weniger
deutlich, um das "Unsinnige" der ihn anfallenden Bedeutungen weiß. Es
kommt vor, daß er mit sich selbst verhandelt in der Absicht, ihre zwingende
Gewalt abzuschwächen. So sagt sich 1. G. angesichts des Kranzes, daß er doch
nur aus ganz gewöhnlichen, alltäglichen Blumen bestehe, daß gewiß keine
dieser Blumen mit einer Leiche in Berührung gekommen sei und je kommen
werde. Sie sagt sich das laut und deutlich vor, allerdings ohne gegen den
magischen Tabu-Aspekt des Kranzes aufzukommen - es gelingt ihr nicht,
dem Kranz den gewöhnlichen, unschuldigen, harmlosen Aspekt mitzuteilen,
den er für uns von vornherein besitzt. Sie weiß um das Harmlose, Natürliche,
Selbstverständliche der Daseinswelt, vermag aber darin nicht Fuß zu fassen.
Das Auftauchen der anankastischen "Bedeutungen" ist darum keineswegs eins
mit ihrer Unangefochtenheit, wie beim Wahnkranken; sehr oft vielmehr be-
haupten diese sich trotz ihrer Angefochtenheit 1 • Sie bleiben weithin ablös bar
von den Gegenständen, an die sie sich heften, an denen sie erscheinen. Die ur-
sprüngliche Wirklichkeit mit ihren Charakteren der Unschuld und Harmlosig-
keit schimmert, wenn auch unerreichbar, durch den Hexensabbath der
magischen Bedeutungen durch und läßt die Welt des Anankasten auch für
sein Bewußtsein als eine harmvolle Trugwelt erscheinen, der er gegen sein
besseres Wissen ausgeliefert ist. Vor allem wird er durch die Trugwelt in
seinem Verhalten bestimmt und zwar unweigerlich, aber doch so, daß er das,
was sein Verhalten bestimmt, selbst noch als unsinnig weiß, wodurch eben
sein Verhalten als unfrei und zwanghaft erfahren wird.
1 Gerade dieser Widerspruch ist konstitutiv für den Zwangscharakter der Zwangs-
erscheinungen.
Die Welt des Zwangskranken. 101
der Türen ist an ein solches Zeremoniell gebunden wegen der Gefahr, durch
Anstreifen sich zu beschmutzen. Das Zubettgehen bedarf komplizierter Maß-
regeln, damit das Bett nicht durch Anstreifen der Kniee oder Füße an die
Laken beschmutzt werde usw.
Wir legen- in diesem Zusammenhang, um in der Auslegung der Zwangs-
erscheinungen weiterzukommen, besonderen Nachdruck auf die mit ihrer
Entwicklung einhergehende Rückbildung des Handelnkönnens im Aufbau der
anankastischen Persönlichkeit. Zugleich mit dem Umsichgreifen der phobi-
sehen Geruchsillusion macht sich ein Nachlassen des Kranken in der Schule,
eine Ausschaltung der höheren Aufgaben und des Pflichtlebens bemerkbar.
Es liegt nahe, in beiden Tatsachen die Erscheinung einer beiden gemeinsamen
Störung zu sehen. Offenbar hat sich in der vitalen Grundlage des Willen-
lebens etwas verändert, so daß einerseits die Verwirklichung der situations-
gegebenen Aufgaben gedrosselt wird, andererseits die anankastische Phobie
in ihren Wirkungen und Gegenwirkungen zu absoluter Dominanz gelangt.
Wir sehen die phobische Geruchsillusion sich aufbauen auf einer Störung des
Abschließenkönnens, hier speziell des Fertigwerdens mit einem körperlichen
Akt der Reinigung. Das Persistieren des urinalen Eigengeruchs ist die Kehr-
seite der Unfähigkeit, sich den Aufgaben des Tages, der Schule z. B. zuzu-
wenden und somit in den Tag hinein weiter und auf neue Ziele zuzugehen.
In dem Maß, als die Fähigkeit hierzu abnimmt, wächst die Besessenheit durch
die Geruchsillusion. Jede neue, vom Tag herangetragene Aufgabe wird liegen
gelassen, an welcher Hemmung das reflektierte Haben der Geruchsillusion
sich sozusagen immer neu entzündet, so daß die Besessenheit von dieser
Illusion ein homogenes, die transeunte Zeit ausfüllendes Kontinuum bildet.
An diesen Geruch, sagt H. H., sei er "festgenagelt" - er bringt damit sehr
schön zum Ausdruck, daß das Persistieren des Eigengeruchs gleichbedeutend
ist mit einem Prävalieren der Vergangenheit über die Zukunft, die durch die
jeweils sich anbietenden Aufgaben dargestellt ist. H. H' s Nichtloskommen
von der vergangenen Verunreinigung ist genau gesehen erst die Verunreini-
gung selbst in ihrem eigentlichen Verstande. Diese erscheint als eine mit
widerwärtigem Geruch geladene Eigenemanation, aber sie erscheint nur in
diesem Phänomen. Hinter dieser Erscheinung, sie ermöglichend, steht die
Unfähigkeit, die eigenen Kräfte in die Verwirklichungsschritte der aufgaben-
bestimmten Selbstentfaltung hinein abströmen zu lassen und sich so vom
Stagnieren dieser Kräfte zu reinigen. Es ist die Stockung des inneren Gesche-
hens, das Angehaltensein des Werdens, das durch Festlegen der Vergangenheit
verunreinigt, wofür der widerwärtig ängstliche Eigengeruch Ausdruck ist.
Der Anankast kann nicht anders: er nimmt die Gleichnisse wörtlich. Trotz
seinervielgerühmten Hellsichtigkeit gelingt es ihm nicht, sich soweit zu
durchschauen, daß seine Beschmutzungsangst ihm durchsichtig werde. Die
Möglichkeit, sein stockendes Werden anzutreiben, ist ihm ebenso versagt,
wie die, es zu erkennen. Er bekämpft vielmehr die primäre Störung in der
104 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Ebene, in der sie auftritt, in der Sprache, in der sie sich ausdrückt. Sich von
Kopf bis zu den Füßen umzuziehen, immer wieder zu baden oder das Taschen-
tuch zum Knäuel zu ballen, um Schicht auf Schicht des Tuches auf den Nasen-
schleim zu legen, mit vielen Waschungen die Schmutzberührung zu beseitigen,
sind völlig ungeeignete Mittel, um das zu erreichen, was erreicht werden soll,
nämlich die Verunreinigung zu beseitigen. Denn es handelt sich gar nicht um
einen wirklichen Geruch noch um eine tatsächliche Beschmutzung, sondern
Geruch und vermeintliche Beschmutzung sind ja nur Symbole eines seiner
Reinigungsmöglichkeiten, d. h. seiner Zukunftsrichtung beraubten Lebens.
Wir erkennen somit, daß der Zwangskranke tut, was er nicht meint; das aber,
was er meint, kann er nicht tun. Die Unfreiheit, die im Zwangshandeln sich
kundtut, gehört zum Wesen seiner Situation.
Auch in anderer Hinsicht ist der Fall H. H. lehrreich. Wie bei allen echten
Anankasten zeigt sich die Störung des Handelns vorzugsweise als Behinderung
jedes Neubeginns und als Behinderung des Abschließens. Der Zwangs kranke
kommt nicht aus dem Bett und nicht ins Bett. Jede Handlung erfordert
umständliche Vorbereitungen und Einleitungen und kommt nicht zu Ende.
Wie H. H. sagt: "Ich habe nie das Gefühl, daß etwas vorbei ist, was ich getan
habe." Er zieht sich z. B. mit einem großen Aufwand von Umständlichkeit
an, hat aber zuletzt, wenn er, sagen wir den Rock angezogen hat und ihm das
auch durchaus bewußt ist, das zwingende Gefühl, den Rock noch nicht an-
gezogen zu haben. Diese Unsicherheit ist peinigend und mit einem Lähmungs-
gefühl verknüpft; er muß nachdenken und sich noch einmal alles überlegen,
kommt aber nicht zu der Überzeugung, den Rock wirklich anzuhaben. Er
sagt: "Ich weiß, daß ich den Rock angezogen habe, aber ich glaube es nicht.
Oder ich glaube es, aber ich bin nicht überzeugt." Auch wenn er in ein Zimmer
tritt und er hat die Türe hinter sich geschlossen, so ist er innerlich nicht ü ber-
zeugt, daß die Türe geschlossen ist. Er muß dann fest auf den Boden auftreten
oder schlucken, d. h. dann: "Es ist vorbei". Oder wenn er Zeitschriften ordnet,
wie es ihm aufgetragen ist, dann macht er das sehr genau - wir werden noch
hören mit welcher Manie de precision (JANET) - aber obwohl er weiß, daß er
gewiß keinen Fehler gemacht hat, ist er doch nicht überzeugt davon und hat
keine Ruhe, bis er das Ordnen nicht noch einmal oder mehrere Male wiederholt
hat. Und dann hat er noch immer nicht das sichere Gefühl, daß die Aufgabe
erledigt sei und abgetan. \XTill er schreiben, so kommt er nicht zum Anfangen.
Er hilft sich, indem er mit dem Fuß an den Tisch stößt oder mit den Fingern
oder der Zunge schnalzt - d. h. dann: "Jetzt fange ich an" - und dann erst
kann er den Bleistift in die Hand nehmen. Das muß er wiederholen, wenn er
den Bleistift ansetzt und wenn er den Bleistift hinlegen will, um eine Feder zu
Die Welt des Zwangskranken. 105
nehmen, oder wenn er mit dem Schreiben aufhört. Das heißt dann: "Jetzt ist
es vorbei." - "Ich brauche starke Mittel, um anfangen oder abschließen zu
können." Besonders schlimm ist das, wenn er den schlechten Geruch spürt;
dann ist er an diesen Geruch "festgenagelt" und kann noch schlechter beginnen
und abschließen.
Was hier auffällt, ist eine Störung des zeitlichen Erlebensi. Nicht abschlie-
ßen kann H. H., weil seinem Handeln die lebensgeschichtliehe Gliederung und
damit das Erlebnis des Abschlusses fehlt. Wir sehen also: eine Handlung kann
im Sinn der durch sie geleisteten Zweckverwirklichung durchaus zu Ende
gekommen sein, ohne daß sie im Sinn ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutung
vollendet ist, ja überhaupt sich ereignet hat. Obwohl getan, ist sie nun wie
nicht geschehen. Als sich in der Zeit weiterbewegendes Lebewesen geht die
Person in den sachlichen Vollzug ihrer Handlung nicht ein, und darum entsteht
nach Ableistung der Handlung der Zweifel an der Wirklichkeit ihres Effektes.
Das reine verstandes mäßige Wissen um unser Tun ersetzt nicht die Überzeu-
gungskraft der Lebensbewegung, durch die der sachliche Effekt der Handlung
den Sinn eines Selbstverwirklichungsschrittes annimmt. Geradezu grotesk
mutet diese Spaltung von Tun und Geschehen an, wenn H. H. mit angelegtem
Mantel im Zimmer steht und sagt, er könne nicht spazieren gehen, denn er
wisse nicht, ob er den Mantel anhabe oder nicht. Das Eigentümliche ist, daß
sich der Erlebnischarakter des Perfektums nicht einstellen will, weil im Voll-
ziehen des Tuns die Person sich selber nicht vollzogen hat. Der Kranke hat
also recht, wenn er an der offenkundigen Abgeschlossenheit seiner Handlung
gefühlsmäßig zweifelt. Im Sinn nämlich des die Handlung tragenden Ent-
faltungs- und Werdeschrittes ist tatsächlich nichts geschehen und nichts
erreicht, und dieses Zurückbleiben des Lebewesens hinter dem Tun der Willens-
person annulliert für das Erleben dessen Ergebnis. Es bedarf zum mindesten
noch eines ausdrücklichen Aktes, z. B. Aufstampfen oder Schlucken oder
Zungeschnalzen - etwas wie ein Kommandowort oder ein Hat (im Sinne von
JAMES), um sich einzureden, es sei das getane Tun au~ geschehen.
Daß auch das Anfangen, das Beginnen behindert ist, ergibt sich aus den
gleichen Störungen. Mit besonderen Maßnahmen, dem "fiat" z. B. kann wohl
der Wille angetrieben werden zu handeln - was aber nicht gelingt, ist, zu
erreichen, daß die initiativische Eigenbewegung des Lebensgeschehens in
Gang komme. Es gibt darum auch nichts Neues in der Welt des Zwangs-
kranken. Das Neue hat nur den negativen Effekt einer Störung, aber es kann
nicht, wie für den Gesunden, ein Anlaß werden, es zu ergreifen, eine Richtung
einzuschlagen, in ihr weiterzugehen und sich von den gestaltsamen Mächten
des Lebens führen zu lassen.
Das Unvorhergesehene und somit Neue ist der Feind des Anankasten;
er empfängt es mit tiefem Mißtrauen, entsprechend seiner zukunftslosen, ja
1 V gl. E. STRAUS: Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression usw. Mschr. Psychiatr.
I9 z8.
106 Studien zur speziellen Psychopathologie.
einer Störung des Sich-wandeln- und Werden-könnens versagt sind. Nur seine
Störungsseite wendet das Unvorhergesehene ihm zu, seine anregende Macht
aber wird nicht aufgenommen und setzt sich in kein mitschwingendes Entgegen-
kommen hinein fort und um. Der Eindruck, daß die Störung durch das Unvor-
hergesehene etwas mit Verunreinigung zu tun hat, wird uns noch beschäftigen.
Diese Beobachtungen sind nicht neu. Von jeher spricht man vom "zwangs-
neurotischen Zeremoniell, Ritus und Programm". Offenbar soll damit zum
Ausdruck gebracht werden, daß das Handeln des Zwangs kranken durch eine
bestimmte, starre Ordnung festgelegt ist. Die Genauigkeit, mit der diese
Ordnung durchgeführt wird, zeigt oft eine bizarre Zuspitzung, so daß die
Franzosen sich gedrängt fühlten von einer «manie de precision» zu sprechen.
Nehmen wir wieder die Analyse von H. H.' s Fall zum Ausgangspunkt.
Sein "Zeremoniell" besteht darin, daß er erstens jede Handlung in einzelne
Teile, und zwar in kleinere und immer kleinere Bewegungsteile zerlegt, die
genau ihrem Inhalt nach bestimmt, genau voneinander abgesetzt und genau in
ihrer Reihenfolge festgelegt sind. Man hat von einem saccadierten Verhalten
gesprochen. So besteht die Morgentoilette aus hundert genau voneinander
abgesetzten Einzelbewegungen: Jetzt die Hände ins Wasser, erst die linke,
dann die rechte, dann heraus die eine, hebe sie hoch bis zum Wasserhahn,
dann zur Seite, dann herunter auf die Seife. Oder: jetzt den Schwamm, jetzt
mit ihm bis zur Höhe des Gesichts, jetzt zurück ans Gesicht, jetzt reiben auf-
ab, auf-ab, von links nach rechts usw. Alle Bewegungen müssen ganz exakt,
wie abgehackt, wie beim Exerzieren gemacht werden. Die Zahl der Einzel-
bewegungen, z. B. beim Waschen oder Abtrocknen ist festgelegt; festgelegt
ist auch aufs Genaueste ihre Aufeinanderfolge. Damit das Programm ein-
gehalten werden könne, ist es zweitens notwendig, mit hellgespannter Auf-
merksamkeit alle Bewegungen zu kontrollieren, also mit höchster Wachheit
auf die Richtigkeit des Tuns aufzupassen. Geschieht es einmal, daß er eine
Operation "in Gedanken" macht, also ohne aufzupassen, so muß angehalten
und von vorne angefangen werden. Jede unterlaufende Ungenauigkeit wird
als schuldhaft empfunden und führt entweder zu Waschungen oder zu einer
Wiederholung oder, wenn diese praktisch undurchführbar ist, zu einem
"Durchdenken", d. h. zu einer Rekapitulation mit gedanklicher Korrektur des
unterlaufenen Fehlers. Nur wenn H. H. das Zeremoniell in der geschilderten
Weise durchgeführt hat, hat er - im günstigsten Fall- das Gefühl, "sauber"
gewaschen, "sauber und ordentlich" angezogen zu sein. Meist allerdings hat er
trotz aller Vorsichtsmaßregeln das Gefühl, nicht fertig geworden und somit
unsauber und unordentlich zu sein. Diese Manie de precision wird auf alle
Verrichtungen und Beschäftigungen übertragen. Sie erweist sich als schwere
Störung z. B. des Lesens, weil jedes Wort diesen Zwang, es zu zerlegen, auslöst.
Oder des Betens, weil jeder Buchstabe des Angelus nicht nur ins Auge gefaßt,
sondern genau ausgemalt werden muß. Der geringste Genauigkeitsfehler wird
als Versündigung erlebt.
108 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Wie sollen wir dieses durchaus typische Verhalten auslegen? Wir gehen
von der Erwägung aus, daß das anankastische Treiben rein deskriptiv als eine
schwere Störung des Handelnkönnens aufzufassen ist, schon deswegen, weil
es sich parallel mit einer Ausschaltung der höheren Lebensaufgaben und der
produktiven Arbeit entwickelt. Die Natur dieser Störung erhellt aus der von
uns bereits auf Seite 105 geschilderten Spaltung des Willens- und des Geschehen-
anteils der Handlung. Aus einem Grunde, der uns in seiner genauen Herkunft
unbekannt ist, kommt die Werdensbewegung der lebendigen Persönlichkeit
zum Stillstand und erlischt ihre Bewegung in die Zukunft hinein. Zum Unter-
schied von der bloßen Gehemmtheit des Melancholikers, der sich für die
tiefere Analyse auch als Stillstand der inneren Zeit (STRAUS, v. GEBSATTEL),
ein Angehaltensein der Selbstverwirklichungsschritte der Person erweist,
scheint in der Zwangs krankheit die deformierende Bedeutung der Werdens-
hemmung pathoplastische Bedeutung zu gewinnen. Den Zwangskranken
liefert die Werdenshemmung an das Gegenbild dessen aus, was durch das
Werden normalerweise erreicht werden soll. Alles Werden zielt ab auf Ver-
wirklichung der Lebensgestalt, diese besondere Synthese des Individuellen und
des Allgemeinen im Eidos. Auch beim Melancholiker ist die Verwirklichung
des Eidos (d. h. der Lebensgestalt) verhindert, wohingegen sich beim Anan-
kasten nicht nur die Bremsung des Werdens, sondern sogar die Umkehrung
der Werdens richtung bemerkbar macht, welche ihn der Herrschaft des Anti-
eidos in allen seinen möglichen Formen der Ungestalt, z. B. der Verunreinigung,
des Entwesens und Entwerdens, ja des Verwesens ausliefert. Die Verunrei-
nigungsangst des Anankasten, seine Besessenheit von dieser Möglichkeit des
Entwesens enthüllt ihren existentiellen Sinn, wenn wir begreifen, daß der
Anankast nicht nur abgeschnitten ist von der Möglichkeit des Existierens über
sich hinaus, sondern daß er hinübergerückt ist auf die Seite des Existierens
unter sich hinab, wofür das drohende Annahen der Ungestalt, z. B. der Be-
schmutzung, der Verunreinigung, der Versündigung, der Verderbnis und des
Verwesens das wirksame Gleichnis ist.
Diesen Hintergrund müssen wir im Auge behalten, wenn wir sein Ver-
halten, insbesondere seinen Ordnungs- und Genauigkeitszwang verstehen
wollen. Beginnen wir mit der Zerlegung des Handelns in lauter fraktionierte
Einzelhandlungen, mit der saccadierten Form des Tuns. Sucht man nach
Analogien für das Vorgehen des Anankasten, so wird man aufmerksam auf die
Praxis des Lernens neuer Bewegungen und Bewegungsabläufe, wie sie z.B.
gehandhabt wird auf dem Kasernenhof beim Einüben des Parademarsches
oder beim Erlernen der Gewehrgriffe. Um die Bewegung des willensgespann-
ten Parademarsches zu lernen, wird das Gehen in besonders betonte, gegen-
einander abgesetzte und durch Kommandos ausgelöste Tempi zerlegt. Fehler
werden als "Nicht-aufpassen" gebrandmarkt. Allerdings ist der Zweck der
Zerlegung nicht die Zerlegung der Bewegung als solche, sondern diese ist ein
Mittel, um zu erreichen, daß die in die einzelnen Tempi investierte Willens-
Die Welt des Zwangskranken. 109
erscheinen, das selbst vielleicht Teil ist eines noch weiter gespannten Ganzen.
Die einzelnen Abschnitte des Tuns, z. B. die Morgentoilette, treten infolge-
dessen gar nicht besonders hervor; sie erscheinen dem untergeordnet, was
nachher und später kommen soll; ein Später, das im Erleben unserer generellen
Zukunftsbezogenheit bereits vorweggenommen ist. Sie haben also Durch-
gangs- und Übergangscharakter, ohne Gegenstand einer besonderen Aufmerk-
samkeitsspannung ·zu sein, die sie registriert, oder sie zum Gegenstand einer
besonderen Zwecksetzung macht, die sie gegen andere Abschnitte des Tuns
absetzt. In einer fließenden Bewegung vielmehr, die in sich lebensvoll geglie-
dert ist nach Gesichtspunkten des Vorläufigen, des Erledigten, des Nun-dies-
Nun-das, des Wichtigen und des weniger Wichtigen, rollt das Handlungs-
insgesamt ab und wird durch ausdrückliche Willkürimpulse nur in seiner
gegenständlichen Richtung jeweils verändert, während die übergreifende
Grundrichtung der evoluierenden Persönlichkeit auf die Zukunft erhalten
bleibt und alle Phasen auch wechselnder Verrichtungen übergreift. Gemessen
an diesem Verhalten des Gesunden, zeigt das saccadierte Handeln des Anan-
kasten eine völlig andere Zeitstruktur ; rein deskriptiv schließt es in sich eine
Zertrümmerung der lebensvollen Gliederung sich ereignender Handlungs-
abläufe.
Gehen wir indessen in der Analyse der Zeitstruktur des anankastischen
Verhaltens weiter. Was uns auffällt, ist, daß die lebensvolle Gliederung des
Handlungsinsgesamt ersetzt wird durch eine willkürbedingte Ordnung des
Tuns. Es fehlt dem zerlegenden Tun vor allem die Gliederung in ein Eben-
noch, ein Augenblicklich und ein Nachher; statt dessen finden wir es aufgelöst
in lauter Jetztpunkte: Jetzt tust du das, jetzt dies, jetzt das. Dadurch, daß
das Hineinhandeln in die Zukunft aufgehoben ist, ist mitaufgehoben der
normale, fließende Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft, diese
Selbstveränderung der Persönlichkeit durch die gleitende Veränderung ihres
Verhaltens, dieser Fluß ihres Werdens, der sich dem Tun mitteilt. Das Fließen
wird ersetzt durch das Fiat, das registrierende Kommando; das Sichereignen
des Tuns durch den Willkürakt einer formalen Setzung motorischer Bewe-
gungsphasen ohne Sinn. Das Vorwärts stoßen der Handlung von Jetztpunkt
zu Jetztpunkt setzt voraus eine Homogeneisierung der Zeit, was für die Hand-
lungen einen Verlust ihrer Zeitgestalt bedeutet. Ruckartig und stockend
erzwingt der Anankast den Anschein des Fortschrittes, der im Sinn des leben-
digen Geschehens keiner ist.
Festgelegt wie die Abschnitte des Tuns ist aber auch ihre Reihenfolge:
eine künstliche Ordnung und Zusammensetzung also des jeweiligen Ver-
richtungsganzen an Stelle seiner fließenden Zeitgestalt. Ein Fehler in dieser
Ordnung annulliert den Effekt des Tuns und wird zugleich als schuldhafte
Nachlässigkeit erlebt, die Wiederholung erzwingt. Was eigentlich diese
Ungenauigkeit bewirkt, sagt uns der Kranke. Ist ihm ein Fehler in seinem
anankastischen Zeremoniell unterlaufen, so ist er unsauber geworden - so,
Die Welt des Zwangskranken. 111
wenn er beim Durchschreiten der Tür an das Holz anstreift. Er ist nicht sauber
gewaschen, nicht ordentlich angezogen, wenn sich die Störung während seiner
Toilette einstellt. Stört ihn jemand beim Auspacken, muß er alle Gegenstände
wieder einpacken und sie nach seinem festgelegten Ritus von neuem wieder
auspacken - aber doch sind alle Gegenstände nun verunreinigt und bleiben
es. Hat er die Verkehrsordnung, deren Mittelpunkt sein Bademantel ist, ein-
mal nicht eingehalten, so muß der Bademantel in Zukunft vermieden werden
(Tabu) und bleibt trotz späterer Reinigung mit widerlichem Geruch behaftet.
Eine Ungenauigkeit im Verhalten, eine Störung der festgelegten Ordnung
im Verkehr mit sich und den Gegenständen führt also Verunreinigung herbei.
Trotz aller Bemühungen, diese Konsequenz durchzudenken, bleibt sie doch
immer wieder gleich verwunderlich. Verstehen kann man sie nur, wenn ganz
klar geworden ist, was mit dieser anankastischen Verunreinigung gemeint ist.
Auch hier müssen wir die Analyse der veränderten Zeitstruktur zu Hilfe rufen.
Immer lauert doch die Möglichkeit der Verunreinigung auf den Kranken,
ja in Gestalt des widerwärtigen Dauergeruchs befindet er sich eigentlich in
einem dauernden Zustand der Verunreinigung und ist von ihm fast wie ein
Depersonalisierter besessen. Es bedarf nur einer kleinen Störung von außen
oder einer Unregelmäßigkeit des eigenen Verhaltens und die Verunreinigung
bricht aus ihrer Latenz hervor und wird aktueller Tatbestand. Was aber
geschieht, wenn derart die generelle Möglichkeit der Verunreinigung sich
konkretisiert? Und inwiefern ist das präzise Verhalten des Anankasten geeig-
net, die Verunreinigung abzuwehren, nachdem ein Fehler der Präzision sie
wieder zum Erscheinen bringt?
Wir haben schon angedeutet, daß eine besondere Beziehung zwischen
Verunreinigung und der Werdens störung bestehen muß. Erkennt dieser
Zusammenhang schon die populäre Wendung an, daß, "wer rastet rostet",
also einer destruktiven, entstellenden Veränderung unterliegt. "Non elevarsi
est labi" varüert den Tatbestand FRANZ VON BAADER. Wer nicht über sich
hinausgreift, gravitiert nach unten. "Stehendes Wasser fault"; "wer nicht
fortschreitet, geht zurück". Nun, die Verunreinigung scheint mir nur ein
Spezialfall dieses Eintretens einer Diminutio, die das stockende Leben befällt.
Normalerweise reinigt sich das Leben durch seine Hingabe an die Zukunfts-
mächte und die aus der Zukunft heraus uns anfordernden Aufgaben. Ist durch
das Angehaltensein seiner Selbstverwirklichungsbewegungen der Mensch
davon abgehalten, die Schuld des Daseins abzutragen, so erwacht in ihm ein
vages Schuldgefühl, wie wir es häufig bei Melancholiekranken sehen. Der-
artige vage Schuldgefühle werden dann durch irgendwelche Selbstvorwürfe
oder Wahngedanken konkretisiert und nehmen eine bestimmte Gestalt an,
die unbekämpfbar ist, weil sie durch die generelle Schuldstimmung des
gelähmten Lebens gespeist wird.
Nun, das Verunreinigungsgefühl ist nur eine besondere Abart des gene-
rellen Schuldgefühls, z. B. des Melancholikers. Ein Nichtloskommen von
112 Studien zur speziellen Psychopathologie.
hier entstand die Nötigung, sich das Gelesene unabhängig von seiner Wichtig-
keit im Erzählungsganzen ganz genau bis in alle Einzelheiten hinein vorzu-
stellen. Zu einem Genuß der Lektüre kam er hierbei nicht; der Zwang zur
Genauigkeit des Vorstellens nivelliert den Reliefunterschied von bedeutsam
und weniger bedeutsam. Ein "Vollständigkeitsfimmel" machte sich außerdem
bemerkbar; ohne vom Lesen eigentlich etwas zu haben, mußte er alle Werke
des Autors gelesen haben, um sie im Verzeichnis als gelesen ankreuzen zu
können. Die Vollständigkeit, dieser Fimmel des Sammlers, steht hier an Stelle
der lebendig mitschwingenden, perspektivisch gegliederten Anteilnahme an
der Erzählung und lebt von deren Aufhebung. Das Getanhaben - ein Pseudo-
perfektum - hat als Reflexionsprodukt des Gehemmten die lebendige Hingabe
an das Mitedeben spannender Begebenheiten zu vertreten und muß darum
zur " Vollständigkeit" erhoben werden, um das Unvollständige der elemen-
taren Beziehungen zum Gegenstand zu kompensieren.
(allerdings ohne daß jemals die Kritik ganz verstummt), desto mehr geht er
auch in seinem Müssen auf, desto unangefochtener, d. h. zwangloser, setzt dies
sich durch. Je mehr aber der Zwangskranke sich von seiner phobischen
Besessenheit distanziert, je fremdartiger und unsinniger sie ihn anmutet, desto
stärker wird das Muß der Abwehr als angefochtenes erlebt, desto mehr tritt
sein Zwangs charakter hervor. Schließlich aber ist es immer der Spiegel der
hintergründigen, allerdings in der Potentialität ihres Ausgeschaltetseins ver-
harrenden, im Ansatz aber gesunden Persönlichkeit, in welcher das Erleben
und Handeln des Zwangs kranken sich reflektiert. Dieser ihr Reflexions-
charakter bestimmt die Erlebnisseite der Zwangserscheinungen - ein Sach-
verhalt, der wohl bisher nicht hinlänglich beachtet wurde.
Sehen wir uns nach psychopathologischen Erscheinungen um, welche im
Hinblick auf den "sejunktiven" Persönlichkeits aufbau (vgl. S. 1 ff. und
S. 19 ff.) und den Reflexionscharakter der Symptomatik mit den Zwangs-
erscheinungen verwandt sind, so stoßen wir auf den Beobachtungszwang der
Depersonalisierten. Es wurde von uns mit einer gewissen Ausführlichkeit
eine Depersonalisierte mit Desintegration des Selbstbewußtseins geschildert
(vgl. S. ZI ff.). Von allen Beobachtern wird der Selbstbeobachtungszwang
als ein Kardinalsymptom der Depersonalisation geschildert, seine Voraus-
setzungen von uns in folgender Weise: "Im Spiegel seines eigentlichen, aber
in dieser Eigentlichkeit unvollziehbaren Ichs sieht sich das wahrnehmende,
tuende, redende Ich und wird sich inne als ein leeres, totes, schatten- und
schemenhaftes, kurz als ein unbegreiflich verändertes Ich, von dem es sagen
muß: "Das bin gar nicht ich" oder: "ich bin kein Mensch mehr" oder: "ich
bin überhaupt nicht da".
Die Verwandtschaft, die wir im Auge haben, betrifft die Natur der "Persön-
lichkeitsspaltung". Wir unterscheiden in vorläufiger Weise und nur um den
Ort festzulegen, den unser Gegenstand einnimmt, drei Typen von Spaltung
des Persönlichkeitsganzen. Einmal die "dissoziative Spaltung" der Schizo-
phrenen, z. B. in die "Neopsyche" und die "Thymopsyche" STRANSKY8, in
das Seelenleben einerseits und gewisse sensomotorische Vollzüge andererseits
(WERNICKE) usw. Dann die "funktionelle Spaltung" der typischen Konflikt-
neurosen. Und schließlich eine Spaltungsform, die noch wenig untersucht
wurde, für die wir in Anlehnung an WERNICKE, aber in anderer Wendung den
Begriff der "sejunktiven Spaltung" vorschlagen, und deren Erscheinung dar-
gestellt wird durch I. eine Gruppe von Melancholiekranken, von uns in zwei
typischen Fällen (vgl. oben) studiert - (man könnte sie die sejunktive Melan-
cholieform nennen), z. durch Psychasthenie-Kranke mit vorherrschender
Depersonalisation, 3. durch die schweren Fälle der Zwangs krankheit, wie wir
sie hier untersuchen.
Die dissoziative Spaltung der Schizophrenen ist charakterisiert durch die
weitgehende Vernichtung dessen, was CLAUDE die autoconduction nennt, also
durch eine die Richtkraft und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit
8*
116 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Vollzugsstörung ihr Ziel sei? Gewiß nicht, denn niemals kann ein Willkürakt
das Lebensgeschehen in uns hervorrufen, wenn dieses stockt. Und doch dient
die Wiederholung der Auseinandersetzung des bewußten Ich mit dieser
elementaren Störung. Nicht nur so, daß das Ich von der geschehnishaften
Unvollzogenheit des Tuns zurückgeholt wird an dessen sachlichen Ausgangs-
punkt, und zwar "immer wieder", d. h. in der Weise der Wiederholung, son-
dern so, daß andererseits das Ich im Tun der Wiederholung doch häufig, früher
oder später, und gestützt auf Nebenzwänge zur Ruhe kommt. Die Wieder-
holung leistet also tatsächlich zuweilen das, was sie ihrer reinen Willens-Natur
gemäß gar nicht leisten kann - sie bringt die Handlung zu einer Art von
Abschluß.
Wie soll man diese Leistung der Wiederholung verstehen? Wo finden
wir Analogien für so ungewöhnliche Abläufe? Wir kennen derartige Wieder-
holungen im Gebiet des Liturgischen, wo Gebetsformeln durch ihre Wieder-
holung eine beschwörende Bedeutung annehmen. Eine Art von beschwören-
der Wirksamkeit eignet auch der anankastischen Wiederholung, obschon sie
kein spontanes und primär sinnvolles Tun ist. Sie beschwört nämlich einen
Abschluß herbei, den sie rein praktisch gar nicht zu leisten vermag. Sie
leistet ihn aber, wie magische Handlungen Wirksamkeit entfalten, kraft eines
umstimmenden Zaubers, dessen Angriffspunkt das Ich selber ist. Nicht den
wirklichen Abschluß der Handlung führt die Wiederholung herbei, aber den
stimmungsmäßigen Glauben an diesen Abschluß, so wie auch der Zauber der
Primitiven seinen Hauptangriffspunkt im Glauben der Zaubernden oder Ver-
zauberten hat (vgl. LEVy-BRÜHL, JAIDE). Der Begriff der Motivation paßt
also so wenig auf die anankastische Wiederholung, wie er auf Ausdrucks-
handlungen, z. B. Tanz oder Zauberriten u. dgl. paßt. Damit ist implizite
bereits Kritik geübt an Auffassungen, welche den Wiederholungszwang den
Iterationen, Stereotypen, Perseverationen usw. gleichsetzen wollen (MAYER-
GROSS, WEXBERG).
Es fällt vielleicht auf, daß in der Analyse des Wiederholungszwanges und
seines Sinnes sehr wenig von "Zwang" die Rede ist. Wieder sei daran erinnert,
daß der Zwangs kranke, sich selbst überlassen, auch nicht von "Zwängen"
redet, sondern eben nur von einem "Müssen", einem "Nicht-dürfen", einer
"Nötigung". Die Nötigung geht aus vom Drang des Zwangs kranken, eine
basale Störung, die elementare Behinderung seines Tuns zu beseitigen. Von
dieser Störung kann er nicht absehen, sie ist ständig wirksam, sie drängt sich
ständig, wenn auch meist in maskierter Form, ihm auf und treibt zur blinden
Auseinandersetzung mit ihr. So agiert der Zwangs kranke dauernd gegen sich
selbst, ohne zu wissen, gegen was er agiert - ohne es wissen zu können, denn
die basale Störung ist als solche nicht bewußtseinsfähig. Nicht bewußtseins-
fähig ist sie, aber trotzdem wirksam, und das Denken und Wollen des Kranken
bestimmend. Er kämpft also gegen ein Gespenst, das aber seinen Blicken ent-
zogen bleibt. Dieser Kampf gegen einen unbekannten Feind, der in ihm selber
Die Welt des Zwangskranken. 121
Richtung auf Zerstörung und Untergang eingeschlagen hat. Ist man sich
klar über die physiognomische Bedeutung der Störungsseite im Zwangs-
syndrom, so wird auch die Deutung keiner einzigen Zwangshandlung mehr
Schwierigkeiten bereiten.
sich sogar der Schilderung dieses ihres Treibens und gleicht darin den meisten
Zwangskranken, die die Heimlichkeit ihres Treibens bis in die Selbstangaben
hinein fortsetzen.
Über die Zeitstruktur dieses Verhaltens haben wir uns bereits ausgelassen,
ohne deren Analyse zu erschöpfen. Was hier noch vorläufig erwähnt sei, ist
die eigenartige Mischung von Trödeln und Hetzen, welche den zeitlichen
Aufbau des anankastischen Verhaltens kennzeichnet. Immer geht in der Durch-
führung des Zeremoniells "Zeit verloren" und immer muß eben darum Zeit
wieder "eingeholt" werden. Es ist das Hereinwirken des Ordnungsplanes
der transeunten Zeit in die Jetztzeit des Kranken, an dem die Verlangsamung
des anankastischen Zeitgeschehens als Verlangsamung mit dem Index des
"Zeitversäumnisses" sich selber offenbar wird, woran die Forderung des
Zeiteinholen-müssens mit dem Index der qualvollen Hetze sich anschließt.
Wer nicht Herr ist der Zeit, wird ihr Sklave. In den Haltungen des Sich-
Zeitlassens und des Sich-beeilens gelangen Herrschaftsformen des Menschen
der Zeit gegenüber zur Auswirkung. Beide Möglichkeiten versagen sich dem
Anankasten, was aber hier versagt, ist der Strom des inneren Geschehens,
der mit der transeunten Zeit Schritt zu halten vermag, hier beim Anankasten
durch unbekannte Ursachen aber einer Erstarrung anheim gegeben ist, die
bald als solche sich auswirkt und darum den Kranken ruhelos in gewisse
Zeremonien bannt, bald aber wieder sein Nachjagen hinter der verlorenen
Zeit veranlaßt und darum eben ruheloser Gehetztheit ihn ausliefert.
Nirgends finden wir im zwangs kranken Modus des zeitlichen Existierens
die Geruhsamkeit des gesunden Daseins. Doch genügt der Hinweis auf eine
bloße hemmungsbedingte Veränderung des Zeiterlebens beim Anankasten
nicht, um das Spezifische dieser Veränderung und entsprechend die anankasti-
sche Symptomatik zu erklären. Durch die bloße Verlangsamung oder Behin-
derung der inneren Zeit unterscheidet sich der Zwangs kranke nicht von einer
Reihe anderer Kranken, bei denen die basale Störung auch im Gebiet des
Werdens zu suchen ist, wie bei dem Melancholiekranken, dem Depersonali-
sierten mit Leeresyndrom, dem sejunktiven Melancholiker (vgl. oben). Das,
was den Zwangs kranken unterscheidet, ist seine Art, die fundamentale Störung
des inneren Zeitgeschehens zu verarbeiten. Weder verharrt er tatenlos in
depressiver Gehemmtheit, noch entwickelt er ein Leeresyndrom, noch einen
Wahn, sondern, ganz naiv gesehen, verhält es sich so, daß der Zwangs kranke
handelt. Zwar ist, wie wir zeigen konnten, die anankastische Handlung
selbst Ausdruck einer Störung des Handeln-könnens; nichtsdestoweniger
ist der Zwangs kranke dauernd in Aktion. Von früh bis spät sehen wir ihn in
ruheloser Anspannung pausenlos am Werk, sich auseinanderzusetzen mit
einem Feind, der, wie H. H. sagt, "ihm ständig auf den Fersen ist", oder wie
1. G. es ausdrückt: "von allen Seiten auf sie eindringt", gleichgültig, ob
diese Auseinandersetzung mehr in gedanklicher oder in praktischer Abwehr
besteht.
Die Welt des Zwangs kranken. 127
Greifen wir uns selber vor, indem wir diesen "Feind" gleich benennen:
nichts anderes nämlich ist er, als die pseudomagische Gegenwelt des Anan-
kasten, der Inbegriff der Ungestalt symbolisierenden Wirksamkeiten, die wir
als seine Welt erkannt haben. Von überall her verfolgt ihn diese Welt, von
außen und innen bricht sie über ihn herein. Drohung und Abstoßung (Tabu)
sind ihre Agentien, - in dieser doppelten Wirksamkeit aber spricht sich die
Richtung des Daseins auf sein Nicht-Dasein aus, die nur erscheinen kann in
den Bildern des Kotes oder Schmutzes, des Giftes oder des Feuers, des Häß-
lichen, Unkeuschen oder Leichenhaften, kurz in solchen Inhalten, die geeignet
sind, auf die gestaltauflösenden Mächte des Daseins hinzuweisen. Den Dämon
dieser Unwelt oder Gegenwelt nannten wir das "Antieidos", um den Inbegriff
aller gestaltauflösenden Potenzen des Daseins in einer Wendung festzulegen.
Denn daß in der Allgegenwart des verunreinigenden Schmutzes (H. H., E. Sp.)
oder in der Allgegenwart der Todessymbole (I. G.) oder des Uringeruches
(H. H.), in allen repulsiven Einzelzügen des anankastischen Weltbildes die
gestaltauflösenden Potenzen des Daseins sich Gehör verschaffen, indem sie
zu aktueller Wirksamkeit gelangen - dies erst macht uns die verzweifelte
Dauerabwehr des Zwangskranken verständlich. Seine Auseinandersetzung
mit der Welt hat keinen anderen Inhalt mehr als den Kampf mit den gestalt-
auflösenden Mächten des Daseins, ein Kampf, der aber deswegen den Charak-
ter eines ohnmächtigen und unfruchtbaren Beginnens hat, weil eben jene
Mächte bereits von seinem eigenen Dasein in der unwiderruflichen Weise der
Besessenheit Besitz ergriffen haben. Besitz aber konnten sie von ihm nur
ergreifen, weil die basale Störung, die Behinderung des Werdens für den
Anankasten die Bedeutung des Gestaltverlustes hat. Diese zwingende Rich-
tung seines basalen Lebensgeschehens, - nicht auf Entfaltung, Wachstum,
Mehrwerden, Selbstverwirklichung, sondern auf Minderung, Niedergang,
Auflösung der eigenen Lebensgestalt - macht den Zwangskranken ansprech-
bar für alles, worin gestaltauflösende Wirksamkeit sich ausspricht, also für
den Reflex des Kotes, des Todes, der infizierenden Tierheit, des Giftes, des
Feuers usw. in den Dingen.
Daß als die Voraussetzung einer so einseitigen und monotonen Richtung
des anankastischen Erlebens die dem Anankasten unbekannte Behinderung
seines eigenen innerzeitlichen Geschehens angesprochen werden muß,
erscheint in mehr als einer Hinsicht wahrscheinlich. Das Entscheidende aber
ist hier, wie schon gesagt, nicht die Behinderung als solche, sondern jene
besondere, für den Aufbau des zwangskranken Menschen konstitutive Dis-
position, den Sinn der kinetischen Behinderung in ihrer gestaltauflösenden
Wirkung zu erfahren und darzulegen. Von den verschiedenen Sinnrichtungen,
welche sich auf der elementaren Werdensbehinderung aufbauen können,
wählt der Zwangskranke aus heute noch undurchschaubaren Gründen die
Sinnrichtung aus, die wir den Gestaltverlust der Person nannten. Von den
verschiedenen Typen der in ihrem Werden behinderten Kranken stellt der
128 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Strukturen eine so große Rolle spielt. Eine Sucht nach Zerstreuung treibt den
Menschen aus einer offenbar leeren Gegenwart in die Zukunft! Aber nein,
viel schlimmer als"leer" ist die Gegenwart des Menschen. Hören wir PASCAL:
"Kaum verzichtet der Mensch auf die Zerstreuung, auf die Jagd nach Erfolg,
nach Ansehen, nach Macht, nach Geld, so steigt aus seiner Seele die Lange-
weile auf, eine schwarze Traurigkeit, der Kummer, die Verzweiflung."
Dieser gleichen Schwermut begegnen wir wieder bei einem anderen
religiös-existenziellen Denker, bei SÖREN KIERKEGAARD, der sehr viel über
die reflektierte Zeit und das Werden nachgedacht hat; nur erfährt diese beson-
dere Art von Schwermut hier noch eine extreme Steigerung.
Was ist nun der Sinn dieser Schwermut? Ich will darauf, ganz vorläufig
und summarisch, gleich die Antwort geben: PASCAL sowohl wie KIERKE-
GAARD sind religiöse Naturen. Ihre Schwermut ist der Ausdruck eines Kon-
fliktes; und zwar streiten in ihnen zwei entgegengesetzte Konzeptionen
möglicher Selbstgestaltung: Einmal das Leben in der "Welt" (KIERKEGAARD
sagt: im "Ästhetischen") als Weg möglicher Selbstverwirklichung und dann
das Leben im Gottesreich (oder im Gottesverhältnis) als Weg möglicher
Selbstverwirklichung. Beide Tendenzen sind in jedem der beiden aus jeweils
besonderen Gründen unvereinbar, d. h., solange beide zugleich wirksam sind,
gegeneinander gestellt bleiben und sich gegenseitig aufheben, ist dadurch
auch das Leben und Werden der Persönlichkeit, die zwischen entgegenge-
setzten Richtungen der Selbstgestaltung schwankt, angehalten. Der Ausdruck
für diese Lebenshemmung ist die Gegenwartsleere, tiefer gesehen: die existen-
zielle Schwermut. Erst die Entscheidung befreit von dieser existenziellen oder
geistbestimmten Schwermut.
Ist es deutlich, daß wir uns schon im Geist der sog. Konflikt- oder Kern-
neurose befinden? Man verstehe wohl: Es liegt mir fern, zu behaupten, daß
Geister vom Rang eines PASCAL oder KIERKEGAARD Neurotiker gewesen
seien. Aber den Begriff der "Krankheit" haben beide wiederholt auf gewisse
Zustände und auf gewisse Phasen ihrer Entwicklung angewandt, genau so wie
AUGUSTINUS es tut. Schildert dieser doch aufs exakteste die Zustände der
inneren Spaltung, die seiner Bekehrung vorausgingen. "Zum Teil wollen
und zum Teil nicht wollen" - heißt es dort unter anderem-"ist eine Krank-
heit des Geistes." Ja, wie ich hier anmerken möchte, ist buchstäblich diese
innere Zerrissenheit des Menschen und die sie begleitende Schwermut die
eigentliche Geisteskrankheit, eine Krankheit, die wirklich im Geiste des Men-
schen ihre Wurzeln hat, während die Geisteskrankheiten unserer Lehrbücher
somatisch, biologisch oder biopsychisch usw. fundiert sind, also im Sinn der
ätiologischen Betrachtungsweise gar keine Geisteskrankheiten darstellen.
Ich stelle nun, um zu Ende zu kommen, die These auf: Jede Konßiktneuros~
hat eine Auseinandersetzung der Persönlichkeit mit ihrem Werden zur Voraussetzung
und ist Ausdruck einer Werdensstörung durch angehaltene Entscheidung zwischen zwei
Konfikttendenzen, d. h. zwischen einander widersprechenden oder einander
9*
132 Studien zur speziellen Psychopathologie.
kaum realisierten Erschrecken sich in das schwarze Tor des Todes eingehen
fühlte.
Das Besondere im Hinblick auf die Zeitstruktur dieser Störung ist ganz
kurz folgendes: Wenn S. in die Nacht hinaustritt, realisiert er nicht wie der
Gesunde diese besondere unmittelbar gegebene Situation, das: Ich - jetzt
- hier in der Nacht um mich. Sondern an die Stelle der harmlosen, unmittel-
bar erlebten Jetzt-Hier-Situation schiebt sich etwas anderes ein, was in ihm
Angst erzeugt. Er erlebt etwas, was aus der Situation, wie sie vorliegt, gar
nicht verständlich ist. Die Dunkelheit draußen wird zum Stichwort, welches
etwas anderes in ihm aufruft, eine andere Art von Dunkelheit, die er in einem
anderen, früheren Zeitpunkt seiner Lebensgeschichte erlebte, welche den
Charakter einer schwarzen Todesdrohung hatte, und nicht wirklich vollzogen,
darum aber auch nicht bewältigt und nicht erledigt werden konnte. Ich nenne
diese Wiederkehr unerledigter Erlebnisse in der traumatischen Neurose das
"Präsentischwerden einer Vergangenheitsstelle" . Sie hat zur Kehrseite eine Störung
des Gegenwartserlebens. Und zwar werden Sie keine traumatische Neurose
antreffen, in der sich nicht diese Veränderung des zeitlichen Geschehens nach-
weisen ließe.
Wir wenden uns jetzt dem zweiten Hauptteil unserer Betrachtungen zu, der
Zeitstörung nämlich im Gebiet der P.rychosen. In Frage kommen die endogenen
Melancholien, ferner ein besonderer Typus endogener Verstimmungen, den
ich die "sejunktive Melancholie" zu nennen pflege. Weiterhin die Zwangs-
krankheit, sowohl die der endogenen Depressiven, wie die der echten Anan-
kasten. Auch gewisse Fälle von Schizophrenie gehören hierher und Deper-
sonalisationspsychosen psychogener Herkunft.
Da letztere einen Übergang darstellen zwischen neurotischen und psychoti-
schen Bildern, sei eines Falles aus diesem Formenkreis gedacht. Es handelt
sich um eine Haftpsychose, um einen wegen "Rassenschande" 1 Jahr lang
internierten Juden. Dieser bot nach seiner Entlassung das Bild einer endogenen
Depression: Niedergeschlagenheit, loss of feeling, völlige Gehemmtheit von
Initiative, Entschlußkraft und Denken, Selbst- und Weltentfremdung. Beson-
ders auffallend war eine Störung seines Zeiterlebens ; z. B. sträubte er sich
wiederholt, zu Mittag zu speisen, weil doch "seit dem Frühstück erst eine
Minute vergangen sei". Also eine Schrumpfung des Zeiterlebens - offenbar
weil sich in der Zeit zwischen 9 Uhr und 1 Uhr in ihm gar nichts ereignet hatte.
Außerdem gab der Patient an, er "lebe völlig zeitlos", "nach der Uhr wisse er,
was eine Stunde sei, aber er fühle die Zeit nicht". Oder: "ich weiß die Zeit
sogar nicht, wenn ich auf die Uhr sehe." Er blickt lange auf seine Armbanduhr,
überlegt, sieht wieder nach, sagt: "Es ist 1/ 2 10 Uhr, aber das sagt mir nichts,
ich bin tot innerlich; ich habe ein ganzes Jahr im Gefängnis verschlafen, alle
Zeiten waren mir wie eine Minute." Es ist anzumerken, daß dieser Mann im
Leben eine extrem tätige und unternehmungslustige Persönlichkeit war, sehr
ehrgeizig; man erzählte von ihm, es sei geradezu ein Vogel von ihm gewesen,
136 Studien zur speziellen Psychopathologie.
daß er keine Minute ungenützt verstreichen lassen konnte Und daß der Tag
bei ihm von früh bis spät aufs genaueste eingeteilt war.
Ich glaube nun nicht, daß es sich hier um eine echte Störung des Zeit-
geschehens handelt, wie sie MINKOWSKI, STRAUS u. a. für die endogene
Depression nachgewiesen haben, sondern um ein auf die Zeit bezogems Dereali-
sationserlebnis. Die Zeit kann für den Depersonalisierten dieser Art nicht wirk-
lich werden; sie nimmt teil an der allgemeinen Weltentfremdung, sie ist
derealisiert.
In den eigentlichen Psychosen, die ich soeben aufzählte, findet man nun
als basale Störung, als die Grundstörung, welche die gesamte Symptomatik,
z. B. der endogenen Depression trägt, eine Veränderung des zeitlichen Ge-
schehens - und zwar nicht der reflektierten Zeit, sondern des unmittelbar
gelebten oder des elementaren Zeitgeschehens. Ich sage ausdrücklich: des
Zeitgeschehens und nicht des "Zeiterlebens".
Dieser Unterschied ist für das in Frage stehende Problem von großer
Wichtigkeit. Die Rede vom "Zeiterlebnis", das von STRAUS vor zehn Jahren
in die Psychopathologie der endogenen Depression eingeführt wurde, erwies
sich nämlich als irreführend. Haftet doch dem Terminus "Erlebnis" eine
Zweideutigkeit an, die sich in der Diskussion des Zeitproblems verhängnisvoll
auswirken mußte. Einmal nämlich versteht man unter "Erlebnis" das Wider-
fahrnis, das uns in der Begegnung mit einem Inhalt zuteil wird, dann wieder
die bewußte Hinwendung zum begegnenden Inhalt selbst, also z. B. die
Beachtung der Zeit im Erleben ihrer. Im Erlebnis bilden Leben und Bewußt-
sein ein Ganzes, es umschließt einen pathischen und einen gnostischen Anteil
und das Mißverständnis tritt sofort in Erscheinung, wenn ein Forscher in der
Besprechung der depressiven Zeitstörung konsequent den gnostischen, der
andere aber den pathischen Anteil des Zeiterlebens im Auge hat.
Glauben Sie nicht, daß es sich hier um psychopathologische Spitzfindig-
keiten handelt. Die Besprechung dieser Inhalte hat eine aktuelle Bedeutung
bekommen durch einen Aufsatz von GERHARD KLOOS im "Nervenarzt"
(II. Juli 1938, Heft 5) über die "Störungen des Zeiterlebens in der endogenen
Depression". Zum ersten Male ist nach den Arbeiten von MINKOWSKI,
STRAUS, GEBSATTEL das Problem des Zeiterlebens im Rahmen psychiatrischer
Erkrankungen wieder ins Rollen gebracht worden. KLOOS hat Hunderte von
endogenen Melancholiefällen auf das Vorkommen von Störungen des Zeit-
erlebens untersucht und nur 3 Fälle von deutlicher Veränderung des "Zeit-
erlebens" gefunden. Er schließt daraus, daß STRAUS nur auf Grund einer
"theoretischen Konstruktion" dazu gekommen sei, der Zeitstörung den hohen
Rang in der Symptomatik der endogenen Depression zuzuerkennen. Tat-
sächlich sei es so, daß "nur ein verschwindend kleiner Teil" der Depressiven
der Erscheinungsweise der Zeit überhaupt "Beachtung" schenke.
Aber gerade diese Wendung von der "Beachtung", welche der Erscheinung
der Zeit zuteil wird, lehrt uns das fundamentale Mißverständnis Von KLOOS
Störungen des Werdens und des Zeiterlebens psychiatrischer Erkrankungen. 137
Formen der Hemmung, des depressiven Zwanges oder Wahnes, obwohl ohne
nachweisbare Beziehung zur gedachten, zur objektiven Zeit, trotzdem als
Ausdruck einer Störung des lebensimmanenten zeitlichen Geschehens zu gelten
haben und daß somit der Physiognomiker des Seelenlebens, auch des psycho-
pathologisch veränderten Seelenlebens, aus einer Begegnung mit Tatsachen
heraus sich zum Wort meldet.
Es verhält sich nun nicht so, daß die Störung des zeitlichen Geschehens
in der endogenen Depression der "vitalen Hemmung" entspringt, wie KLOOS
die Zeitlehre von STRAUS mißversteht, sondern umgekehrt: Die "vitale
Hemmung" ist selbst ihrer innersten Natur nach eine Störung des Werdens
und des dem Werden immanenten Zeitgeschehens. Es würde aber die syste-
matische Auseinanderfaltung der in dieser Formel zusammengebündelten
Themen uns zu lange aufhalten. Wir müssen also uns begnügen, gewisse
Grundvorstellungen zu entwickeln, welche sich aus der Betrachtung des
normalen· Lebensgeschehens ergeben. Dieses ist vergleichbar einem von
Augenblick zu Augenblick neu sich erzeugenden Strome, welcher seine Kraft
allen Funktionen des wachen Seelenlebens zur Verfügung stellt und sie mit
seiner Dynamik speist. Dauernd sind wir getragen von diesem Strom des
Lebensgeschehens, sein Weiterfließen bewirkt, daß wir in unseren Funktionen
nicht nur funktionieren, sondern leben und werden. Dieser Geschehensstrom
fließt tiefer als alles, was wir "Drang" nennen oder auf höherer Stufe "Instinkt-
geschehen", oder auf noch höherer "Trieb" und schließlich "Antrieb, Streben,
Denktätigkeit und Wille". Es sind die Anlagepotenzen des Individuums,
welche auf dem Wege dieses Lebensgeschehens durch die Funktionen des
wachen Seelenlebens hindurch sukzessive zur Entfaltung gelangen, wodurch
das basale Geschehen den Sinn des Werdens erhält.
Nun, an dieser basalen Lebensbewegung greift nach meiner Auffassung
die Störung der endogenen Depression an, aber auch die gewissen Fälle von
Schizophrenie und die der Zwangskrankheit. Die Erkrankung verhindert
das Entstehen der Lebensbewegung von Augenblick zu Augenblick oder
wenn sie sie auch nicht ganz verhindert, so verlangsamt sie doch ihren Ablauf.
Daß diese Störung unmittelbar auch eine Störung des zeitlichen Werdens des
Lebewesens in sich schließt, erkennt man, wenn man sich an SCHELERS schon
mitgeteilte Auffassung erinnert. Nach ihm ist das Urerlebnis der Zeitlichkeit
gegeben in einem Erlebnis des Könnens, in der Macht des Menschen, spontan
seine Zustände zu verändern. Völlig unabhängig also von jedem ausdrück-
lichen Gedanken an die Zukunft steckt in der Verfassung des Könnens,
welche das elementare In-Bewegung-sein des Gesunden begleitet, eine gelebte
Bewegung in die Zukunft hinein. Die Zukunft wird herangelebt, bevor sie erlebt,
gedacht oder beachtet lJ)ird. Der Lebensbewegung ist die Richtung auf die Zukunft
immanent.
Ist nun die basale Lebensbewegung im Sinn der vitalen Hemmung ange-
halten, so kommt diese unwillkürliche Gerichtetheit auf die Zukunft das
Störungen des Werdens und des Zeiterlebens psychiatrischer Erkrankungen. 139
Offenstehen auf sie hin, das elementare Hineingehen in sie, ihre Antezipation
in der biologischen Verfassung des Könnens in Wegfall. Und nun sind wir
erst in der Lage, die uferlos wiederholten Klagen des Depressiven zu verstehen,
die sich auf die Tatsache seines Nichtkönnens beziehen. Es gibt doch buch-
stäblich nichts, wovon der Depressive gegebenenfalls nicht behauptet, daß
er es nicht könne. Er kann nicht leben und nicht arbeiten, aber auch nicht
defäzieren oder urinieren, nicht essen, nicht atmen, nicht sehen, nicht riechen,
nicht sich anziehen und ausziehen, nicht aufstehen und nicht ins Bett gehen,
nicht verstehen, nicht denken, nicht sich entschließen usw. Von der banalen
Alltäglichkeit dieses Symptoms dürfen wir uns nicht seine tiefe Fragwürdigkeit
verdecken lassen. Ich will Sie nicht mit detaillierten Untersuchungen lang-
weilen, sondern Ihnen lieber gleich sagen, um was es geht. Vom Erlebnis des
Nichtkönnens läßt sich nämlich seine zeitliche Struktur nicht abstreichen, es
bezeichnet seiner Natur nach eine Veränderung der normalen Zukunfts-
beziehung, es ist Ausdruck eines Stockens des inneren Zeitgeschehens, des
allgemeinen Wirken- und Lebenkoimens, das dem Gesunden den Horizont der
Möglichkeiten und damit die Zukunft erschließt. Kurz, das depressiv gene-
ralisierte Erlebnis des Nichtkönnens ist nur die Form, in welcher der Mensch
sein tatsächliches Nichtwerdenkönnen und eben damit sein Nichtweiterkönnen
in der sonst wachsenden inneren Zeit inne wird. Daß der Kranke weder von
diesem Nichtwerdenkönnen, noch von diesem Stocken der inneren Zeit etwas
weiß, dispensiert den Psychopathologen nicht davon, um beides zu wissen.
Es wäre erstaunlich, wenn der durch die vitale Gehemmtheit einer einzelnen
Funktion völlig in Anspruch genommene Kranke in der Lage wäre, über die
Grundstörung, die in diesem jeweiligen Versagen sich ausspricht, Rechenschaft zu
geben. Weiß doch auch der Gesunde ohne besondere Schulung des Schauens nichts
von den unterbewußten Hintergründen seiner schwingenden Lebendigkeit.
Es ist eine zentrale Aufgabe der Psychopathologie, das Maß der jeweiligen
Stillegung der basalen Lebensbewegung und damit des innerzeitlichen Ge-
schehens zu bestimmen. Im melancholischen Stupor scheint ein Maximum des
inneren Stillstandes erreicht zu sein, der bis zur Aufhebung jedes Ansatzes zu
einem zeitlichen Geschehen geht, während sein Vorhandensein in anderen
Fällen der Melancholie sich wenigstens noch aus der Agitiertheit der Kranken,
oder aus ihrem erregten Angehen gegen die Auswirkung der basalen Hem-
mung erkennen läßt. Noch weiter scheint die Störung des zeitlichen Werdens
in gewissen Fällen von Schizophrenie zu reichen. Hier dürfte nicht nur der
Ansatz jeder inneren Lebensbewegung vernichtet sein, sondern sogar die
Spiegelung jeder Bewegung draußen im Ansatz der eigenen vitalen Dynamik.
MINKOWSKI schildert unter anderem einen solchen Fall. Da gibt der Patient
an, alles in ihm sei so tot, so leblos, so erstarrt, so unheimlich still; gleicher-
weise sei auch draußen alles wie erstorben, tot, reglos und wie gebannt. Diese
schizophrenen Steinwesen leben in einer erstarrten Mondlandschaft, in einer
-völlig statischen Welt. Hier steht die Welt draußen ebenso still wie innen,
140 Studien zur speziellen Psychopathologie.
nichts geschieht, nichts ereignet sich. Das, was MINKOWSKI die "Synchronizi-
tät des Werdens" nennt, nämlich das im Gesunden natürliche Zusammengehen
des eigenen Werdens und des Weltwerdens scheint hier in eine Synchronizität
universeller Bewegungslosigkeit umgewandelt zu sein. Hierher gehört auch
der wahnsinnige Eremit WACKENRODERs, der in der Wildnis seines Waldes
in rasender Hetze damit beschäftigt ist, ein unsichtbares Rad in echt schizo-
phrener Motorik ohne Unterlaß zu drehen, um so Welt und Zeit in Gang zu halten.
Gewiß, nun repräsentieren depressiver Stupor und schizophrener Be-
wegungsverlust nur extreme Möglichkeiten einer Störung des zeitlichen
Werdens, welche verschiedene Grade der Verlangsamung, des Angehalten-
seins, des Stockens oder Stillstandes erkennen läßt, sobald man einmal ange-
fangen hat, diesen Möglichkeiten nachzugehen.
Die Zeit gestattet mir nicht, hier ausführlicher zu werden. Es gibt indessen
ein zweites Hauptproble1l1 in diesen Gebieten, und das ist die Verarbeitung der
jeweiligen Grundstörung im jeweils von ihr betroffenen Fall. Sie haben gesehen,
daß ich tatsächlich die Veränderung des zeitlichen Werdens für das "Axen-
symptom" oder die "Grundstörung" der endogenen Depression, aber wie
ich gleich sagen möchte, auch der Zwangs krankheit halte. Was jedoch die
endogene Depression und die Zwangs krankheit unterscheidet, das ist der
Alodus der Verarbeitung, welcher der basalen Störung zuteil wird. Ja, schon die
Verarbeitung der Grundstörung im Gebiet der endogenen Depression ist
eine von Fall zu Fall verschiedene, je nachdem es sich um klinische Bilder
handelt, in welchen depressive Wahnbildungen, oder depressive Zwänge,
oder Depersonalisationsphänomene, oder the loss of feeling, oder Persönlich-
keitsspaltungen im Sinn der sejunktiven Melancholie (der "Pseudomelancholie"
von JULIUSBURGER), oder Agitiertheit oder einfach verstimmte Hemmungen
vorherrschen. Eine systematische Theorie der Melancholie wird erst dann
möglich sein, wenn diese Modalitäten der Verarbeitung durchschaut und
auf die basale Störung des zeitlichen Werdens bezogen sind. Was aber von
dieser grundsätzlichen Veränderung des zeitlichen Werdens gilt, ist, daß sie
niemals als solche dem Menschen zum Bewußtsein kommt, sondern daß sie,
indem sie die Symptomatik des jeweiligen Krankheitbildes bestimmt, doch
stets selbst anonym und verborgen bleibt. Nicht der Kliniker, sondern erst
der Psychopathologe hat die Aufgabe, die verschiedenen klinischen Bilder
als Verarbeitungsformen der basalen Störung, der Veränderung des zeitlichen
Werdens zu durchschauen, wobei für ihn von gleichem Gewicht auch die
erste Frage ist, inwiefern wohl schon Gradunterschiede der basalen Störung
neben dem Modus ihrer Verarbeitung die jeweilige Symptomatik bestimmen.
Es ist unmöglich, den hier aufgeworfenen Fragen in systematischer Weise
nachzugehen. Nur einige Streiflichter sollen die Richtung der hier notwendi-
gen Forschung und der ihr sich darbietenden Aufgaben erhellen. Es kann
z. B. nicht bezweifelt werden, daß im Depressiven durch die Veränderung
seiner Zukunftsbezogenheit sich auch das Bild seiner Entfaltungsmöglich-
Störungen des Werdens und des Zeiterlebens psychiatrischer Erkrankungen. 141
keiten grundlegend verändert. Erinnern Sie sich an die Klagen der Depressi-
ven, daß sie im Begriff seien, zugrunde zu gehen, zu verkommen; daß sie
abnähmen an Kraft, an Leistungsfähigkeit, an Wohlbefinden, an Wert, an
Fähigkeit in jeder Hinsicht. Die Kategorie des Weniger-und- Wetiiger-n·erdens
beherrscht wie oft das Bild, das sich der Depressive von seiner eigenen Zukunft
macht. Dieses aber besagt, daß für den Depressiven die Zeit nicht das Medium
seiner Entfaltung, seines Wachstums, seines Mehrwerdens und seiner Zunahme
ist wie für den Gesunden, sondern umgekehrt: das Medium seines Weniger-
werdens und Abnehmens. Das Werden wird als Entwerden erfahren. Die
Zukunft steht ihm darum drohend und unheimlich gegenüber, geladen mit
Katastrophen und Untergängen, die keine Möglichkeit eigenen Wirkens und
Handelns abzuwehren imstande ist.
Ebenso gewiß aber ist auch, daß die depressive Veränderung der Zukunfts-
bezogenheit die Wirksamkeit der Vergangenheit grundlegend verändert.
Je mehr der Weg in die Zukunft versperrt ist, desto mehr gerät der Depressive
unter die Herrschaft der Vergangenheit. Nicht in der Zukunft, in der Mög-
lichkeit, diese durch sein Handeln zu verändern, sucht er das Heil, sondern
in vergeblicher Bemühung, die Vergangenheit zu verändern, die gerade diesen
Bemühungen gegenüber ihre unerbittliche Autonomie erweist. Daher die
Neigung gewisser Melancholiekranker in endloser Wiederholung an dem,
was geschehen ist, zu rütteln mit Wendungen wie: "Hätte ich das oder jenes
nicht getan, so wäre ich nicht krank geworden." - "Wäre damals das gesche-
hen, so wäre heute alles anders" usw. Der Kranke fühlt sich durch dIe Ver-
gangenheit festgelegt und determiniert, und läuft gegen diese Vergangenheits-
gebundenheit in ohnmächtiger Weise Sturm.
Oder: die Katastrophen, die er in die Zukunft hineinverlegt und befürchtet,
sind kraft dessen, was geschehen ist, sozusagen bereits eingetreten. Hier
befinden wir uns schon nahe am Gebiet des depressiven Wahns. Ein Kollege
hat, wie er glaubt, die hygienischen Einrichtungen seines Tuberkulosesana-
toriums vernachlässigt. Dadurch wurde ein benachbarter Fluß vergiftet und
die anwohnende Bevölkerung in weitem Umkreis verseucht. Er ist ein
"tausendfacher Mörder", und schon sind die Massen unterwegs, um ihn zu
"lynchen". Schritte vor seiner Tür kündigen ihr Kommen an und sein Tod
erfolgt in der "nächsten Sekunde". Geht es ihm besser, so sieht er die Kata..,
strophe noch in weiterer Ferne, je schlechter es ihm geht, d. h. je radikaler
die Grundstörung sich durchsetzt, desto mehr schrumpft die Gegenwart zu
einem fast zeitlosen Übergang zwischen der Schuld von einst und der vor seiner
Tür lauernden Strafe. Zunehmende Endgültigkeit des Bestimmtseins durch
die Vergangenheit in Abhängigkeit von einer Schrumpfung des Zukunfts-
feldes zeigt sich hier aufs deutlichste.
Überhaupt läßt sich die Rolle, welche Schuldgefühle in der endogenen
Depression spielen, nur aus der zeitlichen Umstruktuierung ihres Grund-
geschehens erklären. Normalerweise steht jedes Leben mehr oder minder
142 Studien zur speziellen Psychopathologie.
unter einem gewissen Druck von Schuld. Daß dieser Druck vom Gesunden
kaum gespürt, vom Depressiven aber, je nach seinem Typus, oft in so zwingen-
der, ja übersteigerter Weise erfahren wird, ist das Problem. Normalerweise
reinigt sich eben der Mensch von seinen Fehlhandlungen oder Unterlassungen
nicht so sehr, indem er an den Ort seiner jeweiligen Unterlassung oder seiner
Fehlhandlung zurückkehrt, sondern indem er die besondere Einzelschuld
hinter sich läßt, um in die Zukunft hinein weiterschreitend, in gesteigerter
Tat-, Werk- und Liebesgestaltung die allgemeine Schuld des Daseins abzu-
tragen. Ist dieses Hinschreiten in die Zukunft durch die depressive Störung
des Werdens unmöglich gemacht, so verändert sich die determinierende
Bedeutung der vergangenen Schuld. Sie nimmt den Charakter des Unwiderruf-
lichen, des Unkorrigierbaren und Endgültigen an und wird zum beherrschen-
den Faktor des depressiven Selbstgefühls.
In gleicher Weise wäre der depressive Kleinheitswahn, wären Verarmungs-
und hypochondrische Ideen usw. als Verarbeitungsweisen der depressiven
Störung des zeitlichen Werdens zu verstehen. Doch soll, da die Zeit drängt,
zum Schluß nur noch ein Blick auf die Zwangskrankheit geworfen werden.
Gerade der Zwangskranke ist geeignet, das Verständnis zu bahnen für die
große Verschiedenheit der klinischen Bilder, welche bei mehr oder minder
großer Verwandtschaft der Grundstörung dadurch entstehen, daß der Modus
der Verarbeitung ein spezifischer ist. Es ist natürlich unmöglich, hier die
Theorie der Zwangs krankheit zu entwickeln; ich muß Sie in dieser Hinsicht
auf meine Arbeit in der BONHöFFERschen Festschrift "Die Welt des Zwangs-
kranken" verweisen und im übrigen nur einige für unser Thema wichtige
Gesichtspunkte aufweisen.
Auch im Zwangskranken besteht die Grundstörung in einer Beeinträch-
tigung des zeitlichen Werdens, aber erst die besondere Verarbeitung dieser
Grundstörung bestimmt das klinische Bild. Von der Fülle der Themen
sollen nun zwei herausgegriffen werden. Einmal soll an einem kurzen Beispiel
gezeigt werden, daß tatsächlich eine Störung des zeitlichen Werdens die
Grundkrankheit der Anankasten ist, zweitens soll in kursorischer Weise der
Modus ihrer Verarbeitung demonstriert werden.
Man hat oft und mit Recht behauptet, daß der Zwangs kranke nicht "ab-
schließen" könne. Von einer «action de terminaison», die der Zwangskranke
nicht zustande bringt, spricht JANET, von einem "Nichterledigenkönnen"
E. STRAUS, wobei er bereits betont, daß man Vergangenes nur erledigen kann
durch Weiterschreiten in die Zukunft. Nun, es handelt sich um einen Kranken,
den der Arzt überrascht, da er völlig angezogen, bereit auszugehen, mitten
im Zimmer steht und erklärt, er könne nicht ausgehen, weil er nicht wisse,
ob er seinen Mantel angezogen habe. Die genauere Exploration ergibt, erstens,
daß er "für den Verstand" sehr wohl und nur "für sein Gefühl" den Mantel
noch nicht angezogen habe. Zweitens, daß er, statt zur Türe hinauszugehen,
damit beschäftigt ist, noch viele Male zu rekapitulieren, ob gewisse Zeremonien,
Störungen des Werdens und des Zeiterlebens psychiatrischer Erkrankungen. 143
nimmt das Vergangene die Perfektform nicht an, als Unerledigtes drängt es
heran und überflutet den Kranken in den Symbolen des Unreinen, Schmut-
zigen oder Toten. Es ist eine dem Leben, das immer werdende Gestalt ist,
entgegengesetzte, feindliche Ungestalt, welche den Kranken bedroht, und
zwar bedroht sie mit Beschmutzung, Verunreinigung, Verwesung, lauter
Symbolen einer der Persönlichkeit, ihren Werten, ihrer Schönheit, ihrer Voll-
kommenheit abträglichen Tendenz. Der Anankast ist nicht nur abgeschnitten
von der Möglichkeit des Existierens über sich hinaus, sondern er ist hinüber-
gerückt auf die Seite des Existierens unter sich hinab, wofür die Besessenheit
durch die Ungestalt in den Bildern der Beschmutzung, .der Verunreinigung,
der Versündigung usw. das wirksame Gleichnis ist. Das anankastische Ver-
halten ist zu verstehen als Abwehr der gestaltlosen Mächte, eine ohnmächtige
Abwehr, denn die Richtung auf das Entwerden und Entwesen ist durch die
ihrer Natur letztlich unbekannte Ausschaltung der Zukunft festgelegt und
setzt sich allen Abwehrmaßnahmen zum Trotz immer wieder durch.
Soviel über die Verarbeitung der innerzeitlichen Werdenshemmung in
der Zwangskrankheit. Sie sehen, daß wir zu einem Verständnis der Zwangs-
krankheit und der endogenen Depression nur gelangen können, wenn wir
von der Grundstörung des zeitlichen Geschehens und des Werdens ausgehen.
über Fetischismus.
I. Zur Phänomenologie des Fetischismus.
Man vermißt gemeinhin in Mitteilungen über die Erscheinung des Feti-
schismus, auch in solchen theoretischer Natur, Angaben über die Struktur
des zum Fetisch erhobenen Objektes. Daß zum Gegenstand libidinöser
Anteilnahme Zöpfe, Nachtmützen, Schuhe, Wäschestücke, Pelze, Taschen-
tücher, Klysopompen usw. gemacht werden, bereichert zwar unser Wissen
um die Mannigfaltigkeit der fetischistischen Objekte, läßt aber nicht erkennen,
welche Formung einen bestimmten Gegenstand zum Rang des Fetisch erhebt.
Auch der Hinweis auf den konstitutiven Anteil der libidinösen Ergriffenheit
für die Fetischbildung, sagen wir in der Gestalt von Schuhen, ist nur geeignet,
den Sachverhalt zu verdunkeln, weil er der Annahme Vorschub leistet, es
sei der Schuh für den Fetischisten genau dasselbe wie für den Nichtfetischi-
sten, und das Besondere liege nur in einer eigentümlichen Seelenverfassung
des Fetischisten, welche es ihm ermöglicht, durch einen gewöhnlichen Stiefel
in sexuelle Erregung versetzt zu werden. So berechtigt weiterhin Distinktio-
nen sind, wie die HIRSCHFELDS, der Inhärenz-, Kohärenz-, Dehärenz-
und Adhärenzfetischisten unterscheidet, so wird doch durch diesen Modus
der Einteilung jene Stelle des Problems nicht miterfaßt, die uns als
Ausgangspunkt auch für psychobiologische Erwägungen als die wichtigste
erscheint und die mit dem Begriff der "fetischistischen Wirklichkeit" vorerst
nur bezeichnet werden soll. Es erscheint uns schließlich als ein Irrtum, zu
über Fetischismus. 145
glauben, man könne durch eine Theorie des Geschlechtstriebs das Zustande-
kommen des Fetischismus ohne Analyse des fetischistischen Gegenstandes
erklären. Unvermerkt führen solche Versuche dazu, den Fetischismus höheren
Grades durch einen solchen niederen Grades zu erklären, oder den grand
Fetichisme der Franzosen durch den petit Fetichisme, ein Deutungsverfahren,
welches z. B. die Theorie FREUDs charakterisiert, wenn er glaubt, annehmen
zu müssen, es sei jeder Fetisch ein Penisersatz, insbesondere noch Ersatz für
den vermuteten mütterlichen Penis. Ist doch jene Affektperspektive, welche
das Genitale als herausgehobenen Gegenstand libidinösen Interesses und als
Liebesziel bestimmt, bereits fetischistischer Herkunft. Ja, nach unserer An-
schauung muß sich aus der Analyse des Fetisch die Theorie des Fetischismus
von selber ergeben, da Objektgestalt und Triebgestalt iO. einem Verhältnis der
Entsprechung zueinander stehen, wir aber für die dunkle, undurchsichtige Be-
schaffenheit der Triebe keine andere Deutungsmöglichkeit haben, als die,
welche der Trieb in seiner fetischistischen Ausprägung dem Physiognomiker
des Seelenlebens anbietet. Die Wirklichkeit, auf die der Trieb bezogen er-
scheint, ja die er vielleicht aus sich hervortreibt, ist der Trieb selber in bildhaft
anschaulicher Gestalt, und es empfiehlt sich wohl um seines Verständnisses
willen bei dem Stück Welt stehen zu bleiben, in dem er zugleich Erfüllung
und Darstellung findet.
Erheblich mehr kommt dem Sachverhalt nahe die Angabe HIRSCHFELDS,
es bestehe der Fetischismus in einer "sexuellen Teilanziehung", ja diese Fest-
stellung kennzeichnet eine Seite des Problems, seine negative nämlich, die,
welche einsichtig macht, daß alle fetischistische Neigung in einer Abirrung
von der ganzheitlichen Du-Gestalt der normgemäßen Liebeswirklichkeit
besteht. Den Forscher interessiert gewiß auch diese negative Seite des Sach-
verhalts, mehr aber doch die Frage nach der Beschaffenheit des Teils, der
solcherart zum Rang des Liebeszieles erhoben wird. Denn daß der Schuh,
das Taschentuch, der Pelz usw. als Beziehungspunkt fetischistischer Neigung
nicht der Schuh, das Taschentuch usw. der "natürlichen Weltanschauung"
(SCHELER) ist, haben wir bereits erwähnt. Und so muß untersucht werden,
in welcher Formung irgendwelche beliebige Gegenstände gegeben sind, wenn
sie den Zauber der fetischistischen Anziehung entfalten sollen.
Es empfiehlt sich, um hier weiter zu kommen, die Erfahrung zu Hilfe zu
rufen. Erwäl}n.ung geschehe eines Schuhfetischisten, der mit dem Strafgesetz
in Kollision gekommen war, weil er in einem Hotel, das er eigens zu diesem
Zweck aufsuchte, zur Reinigung herausgestellte Damenschuhe in sein Zimmer
zu nehmen pflegte, was eines Tages beobachtet wurde. Er hatte die Gewohn-
heit, derartige Schuhe erst selbst zu reinigen, um sie dann zum Gegenstand
sexueller Praktiken zu machen. Dabei pflegte er die Schuhe an sich zu pressen,
sie zu streicheln, zu küssen, auch mit ihnen zu sprechen. Er nannte sie "Du",
"Du Liebes", "Du Süßes". Er behauptete, Schuhe hätten durch Form und
Geruch eine ganz besondere Physiognomie; jedes Schuhpaar sei von jedem
v. Gebsattel, Anthropologische Schriften. 10
146 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Art, denen die Puppe als materielles Gebilde keinen Widerstand entgegensetzt,
ja denen sie durch ihre Gestalt entgegenkommt. Diese Auslösung liebevoller
und fürsorglicher Verhaltungsweisen durch die Puppe verändert ihre Ge-
gebenheitsweise, sie läßt ein in der Seele des Kindes schlafendes Liebesbild
in die Puppe über- und eingehen, wodurch diese zur Liebeswirklichkeit wird,
für die kennzeichnend ist, daß in ihr der Gegensatz von strenger Objektivität
und bloßer Phantasiehaftigkeit noch nicht auseinandergetreten ist.
Nun, ganz analog ist der Fetisch eine zwischen phantasiehafter und objektiv
personaler Wirklichkeit schwebende Liebeswirklichkeit, deren fiktiver Charak-
ter für den Fetischisten nichts Fiktives ist. Für den unbeteiligten Beobachter
allerdings besteht dieser fiktive Charakter, d. h., er vermag im Fetisch die
seinem Verehrer unmittelbar gegebene Liebeswirklichkeit nicht zu erfahren,
weswegen ihm das Gebaren des Fetischisten eigentlich unverständlich bleibt.
Sucht der Beobachter dann das fetischistische Verhalten zu deuten, so unter-
liegt er der großen Versuchung, welcher alle Theoretiker des Assoziations-
gedankens unterliegen, der nämlich, Von der besonderen Gegenstandsgestal-
tung; welche den Fetisch zum Fetisch macht, abzusehen und ihm die eigene
Objektform unterzuschieben. Der Fetisch ist dann einfach ein Schuh im alltäg-
lichen Sinn des Wortes, und es erscheint ganz unverständlich, wieso ein Schuh
zum Sexualziel werden kann. Man hilft sich nun mit der Annahme, daß der
Schuh, ohne aufzuhören Schuh zu sein, durch einen assoziativen Mechanismus
die sexuelle Erregung an sich gebunden hat und darum sie auch wieder auszu-
lösen vermag. "Weil die Neugierde des Knaben von unten nach dem weib-
lichen Genitale gespäht hat", und das mit sexuellen Empfindungen verknüpft
war, darum besitzen Schuh und Fuß nach FREUD die Bevorzugung als Fetisch.
Weil zum ersten Male geschlechtliche Regungen bei Verabreichung eines
Klistiers auftraten, darum wird nach KRAEPELIN die Klysopompe zum Fetisch
seines Patienten. Man übersieht dabei, daß der Schuh im Sinn der Liebes-
erregung umgeformt ist, daß er zum korrespondierenden Gegenbild dieser
Erregung wurde, kurz, daß er den Charakter einer Liebeswirklichkeit ange-
nommen hat, genau wie die Puppe das Gegenbild der kindlichen Fürsorge-
instinkte ist und nicht ein Ding aus Porzellan, Celluloid usw., mit mensch-
lichen Zügen. Daß dem Fetisch, sachlich gedacht, keine menschlichen Züge
eignen, darf uns nicht beirren. Macht doch das Kind auch aus einem Stück
Holz, einem Stein, einem Bündel Wäsche eine Puppe. Ja, es gibt Kinder,
die geradezu die amorphe Puppe der geformten vorziehen, vielleicht weil die
Projektion des eigenen inneren Liebesbildes angesichts des nichts präjudizie-
renden, sachlich formlosen Gegenstandes ungehemmter sich auswirken kann.
Nehmen wir an, was später noch ausgeführt werden soll, daß die anwesende
fremde Persönlichkeit für den Fetischisten eine Störung bedeutet, daß sein
Geschlechtstrieb sich auf der Entwicklungsstufe auslebt, die durch die "Spiel-
wirklichkeit" des Kindes bezeichnet ist, so wird uns die Bevorzugung des
scheinbar physiognomielosen Fetisch verständlicher. Je ablösbarer ein
10*
148 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Gegenstand von der fremden Persönlichkeit ist, desto mehr eignet er sich zum
Gegenstand der libidinösen Ergriffenheit besagter Entwicklungsstufe. Er
leistet der Projektion der eigenen libidinösen Entzückung und ihrer Äußerung
keinen Widerstand, läßt vielmehr dieser ihrer Auswirkung ungehemmten
Lauf, wodurch die Umgestaltung des Gegenstandes Ereignis wird und die
Bildung der fetischistischen Liebeswirklichkeit erfolgt.
Mit dieser Schilderung soll die Berechtigung des Assoziationsgedankens
innerhalb seines Geltungsbereiches nicht geschmälert werden l • Zwar erklärt
der Assoziationsgedanke nicht die Fetischbildung als solche, nicht also das
Formale der fetischistischen Gegebenheit, hingegen macht er das Materielle
an ihr verständlich, dies also, daß gerade Schuh, Nachtmütze, Wäsche, Klyso-
pompe usw. zum Rang einer Liebesverwirklichung erhoben werden. Dieser
Umstand, diese Wahl, diese Bevorzugung eines bestimmten Gegenstandes läßt
sich tatsächlich meist aus der Situation heraus erklären, in der zuerst sexuelle
Erregungen aufgetreten sind. Unerklärt aber bleibt damit das Wesentliche,
das, worauf es uns ankommt: das Zustandekommen einer fetischistisch
strukturierten Gegenständlichkeit.
lOft erscheint es schwer, ohne Zuhilfenahme des Assoziationsgedankens zu erklären,
wieso der Fetischist zu den ausgefallenen Liebhabereien seines abwegigen Empfindens
kommt. Daß z. B., worauf MAYER-GRoss hinweist, in einem bt>stimmten Fall nur Wäsche
aus Baumwolle eine Reizwirkung ausübt, nicht aber Wäsche aus Seide oder Batist; oder die
Wickelgamasche, nie aber Gamaschen anderer Art; oder Schuhe mit abgetretenem Absat"Z,
andere hinwiederum nicht. Wie kommt es zu dieser bizMr anmutenden Verbesonderung des
fetischistischen Gegenstandes, zu dieser wahlspezifischen Ausprägung seiner Reizgestalt ?
Manchmal finden wir biographische Daten, Reminiscenzen, determinierende Erlebnisse,
also affektive und assoziative Gründe, welche die besonderen Liebhabereien des Fetischisten
erklären. Sehr oft aber versagt die genaueste Bestandsaufnahme. Eher bestimmen hier dann
Wertgesichtspunkte die Richtung der Fetischbildung, z. B. die Werte fein-grob, erlesen-
gemein, schön-häßlich usw. Aber auch diese sind, verglichen mit der inhaltlichen Detaillie-
rung des fetischistischen Gegenstandes, doch viel zu allgemeiner Natur, so daß die Annahme
sich aufdrängt, die inhaltliche Bestimmtheit der fetischistischen Wahl lasse sich in vielen
Fällen nur durch das Moment der Willkür erklären, welches jeder Wahl innewohnt. Es
gehört die inhaltliche Detaillierung sozusagen zur Funktion des Wählens. Innerhalb einer
gewissen, allgemeinen Einstellungsrichtung erfolgt die Setzung der Wahl, die Bestimmung
ihres Gegenstandes, und zwar erfolgt sie mit mehr oder minder viel Willkür. Das gilt ganz
besonders von libidinösen und erotischen Wahlvorgängen: warum soll ich gerade diese
Frau heiraten, fragen sich viele, die meisten aber fragen nicht so, sondern sie wählen eben
einfach und bekunden die Energie ihrer Wahl in der einsinnigen Zuwendung zu einer be-
stimmten Frau, die in diesem Akt die Erwählte, die unbedingt Gewollte, die allein Mögliche
und eben damit auch die Schönste, Beste, Einzige wird, was dem Unbeteiligten oft unver-
ständlich, ja fast lächerlich erscheinen kann. So wird, wenn eine generell fetischistische Eine
stellung sich sexuell verwirklicht, der Gegenstand in der Zuwendung und durch dieselbe
eine wahlspezifische Reizgestalt annehmen. Hat er diese aber einmal angenommen, so wird
eben diese Reizgestalt fixiert und eine verschobene, verschrobene Treue sucht immer wieder
den gleichen Inhalt, das gleiche Detail, und in beiden die gleiche Situation. Nun ist die
inhaltliche Bestimmtheit, das besondere Detail, keineswegs mehr gleichgültig, sondern die
Hauptsache: an die stereotype Reizbildung, an detailbetonte Spezifität ist nunmehr die
Triebauslösung geknüpft.
Über Fetischismus. 149
Über die Struktur des Fetisch selbst wurde einige Klarheit schon gewonnen.
Wir sahen, daß in ihm ein Stück primitiver Weltgestaltung sich am Leben
erhält. Woher und warum dieses Perseverieren urtümlicher Gestaltungs-
tendenzen, ist eine Frage für sich und kann nur entwicklungsgeschichtlich
begriffen werden. Ausgangspunkt aber bleibt die eigenartige Gegebenheits-
weise der fetischistischen Liebeswirklichkeit. Sie ist es ja auch, die unSere
Verwunderung erregt und zum Nachdenken anregt. Wenn wir sehen, daß
ein Glied der Sachwelt, Schuh, Pelz, usw. mit einer Physiognomie ausgestattet
wird, derart, daß es die Anziehungskraft auszuüben vermag, die gemeinhin
nur Lebendigem eignet, so werden wir an das Verhalten der Kinder erinnert,
die nicht nur die Puppe, die ein Kieselstein, eine Muschel, ein Stück Holz,
eine Feder mit der unerschöpflichen Bedeutsamkeit des Lebendigen anspricht.
Das, was wir die "Liebeswirklichkeit" nennen, geht offenbar der Scheidung
der Gegenstände in lebendige und tote und damit überhaupt der von Liebens-
wertem und Brauchbarem, von Beseeltem und Unbeseeltem, von Bildhaftem
und Dinghaftem voraus. Älter als diese Scheidung ist die Liebeswirklichkeit
in der Welt des Kindes. In ihr liegen ungesondert noch und nicht auseinander-
gelegt die Dimensionen der wachen Verstandeswirklichkeit beisammen. Ja,
wir sehen diese Liebeswirklichkeit bei naiven, kindlichen oder bei leicht
schwachsinnigen Menschen oft neben der Verstandeswirklichkeit sich erhalten.
Frauen weiterhin, mehr als Männer, kennzeichnet oft eine unbeirrbare Fähig- .
keit, im Geringfügigen und rational Sinnlosen der täglichen Begegnungen
die ursprüngliche Liebeswirklichkeit und ihre physiognomische Struktur zu
erschauen. Und der Dichter, besonders der lyrische, ist Dichter unter anderem
auch durch sein Haften an einer Wirklichkeitsstruktur, die hinter den Sonde-
rungen des Verstandes auftaucht und ihn als die eigentliche Wahrheit der
Dinge anspricht.
Zu diesen aufgehaltenen Scheidungen der urtümlichen Liebeswirklichkeit
gehört auch die von Du und Ich. Mit Recht wurde auf den autoerotischen
oder narzistischen Charakter des fetischistischen Verhaltens hingewiesen.
Gewiß ist der Schuh kein reines, kein personales Du. Ebensowenig aber hat
er rein ichhaften Charakter. Sondern der Gegensatz von Ich und Du ist an
dieser Stelle des Erlebens noch nicht zur Wirklichkeit geworden. Es ent-
spricht dieses Verhältnis dem geschilderten beim Kinde, das in die Puppe ein
in ihm schlafendes Liebesbild projiziert. In der Puppe wird dieses Liebesbild
exteriorisiert und darum anschaulich, ja Mittelpunkt aller möglichen liebevol-
len Verhaltungsweisen. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die
schwärmerische Phase in der Entwicklung von reifenden Knaben und Mäd-
chen (CHARLOTTE BÜHLER). Auch hier sehen wir, daß der Gegenstand der
Schwärmerei nicht als das genommen wird, was er ist, ja daß sein Nimbus,
die besondere Verklärung, die ihm zuteil wird, zustande kommt durch eine
Exteriorisierung des im Schwärmerischen schlafenden und unter dem Ein-
fluß der Pubertät erwachenden Liebesbildes. Eben darum sehen wir die
150 Studien zur speziellen Psychopathologie.
er, der Fremde, zur irgendwie vertrauten Liebeswirkijchkeit. Und zwar so,
daß das Bild des Schnurrbarts im Patienten eine remiszenzhafte Liebeseinstel-
lung mobilisiert, die durch ihr Erwachen es ihm ermöglicht, nun auch der
Sexualität sich zu überlassen. Der Schnurrbart führt eine alte Situation herauf,
in welcher sich der Patient sofort wie als Kind geborgen fühlt, in der er sich
vertrauensvoll gehen lassen kann, wie ehedem, und in der er sich darum auch,
nun im Sinne der Sexualität gehen und treiben lassen wird. Die alte Situation,
die erstgegebene Liebeswelt, erscheint ihm im altvertrauten Liebesbild des
Schnurrbarts, ja sie wird durch ihn unmittelbare Gegenwart. Erst durch den
Schnurrbart also und seine Situationsbedeutung kommen Liebe und Sexualität
im Patienten zusammen. Erst durch ihn vereinigen sie sich zu einem Wirkungs-
ganzen. Und zwar besteht die Funktion des Teiles, hier des Schnurrbarts,
darin, eine alte, gleichsam historische Liebeseinstellung mit dem hic et nunc
des momentanen sexuellen Impulses zu verknüpfen. Ja, erst durch diese
Liebeseinstellung hindurch, die der Teil, der Schnurrbart, ermöglicht, wird
der Fremde, der Neue, ein Ganzes, eine sexuell gefärbte Liebeswirklichkeit,
die aber nicht primär erlebt ist, sondern erst durch den Fetisch gesetzt ist und
gleichsam an ihm hängt.
Wir sehen also hier als erstes eine erotische und sexuelle Scheu vor der
fremden Persönlichkeit, und es erscheint nur konsequent, wenn diese Scheu,
noch tiefer greifend, zu immer du-ferneren, fetischistischen Haltepunkten der
Sexualität führt, z. B. im Falle des oben erwähnten Schuh-Fetischisten.
Obwohl ein Teil, ja ein ganz peripherer, nur zum "Ich-Hof" gehöriger Teil
des unbekannten anderen, wird der Schuh zu einer sexuell betonten Liebes-
wirklichkeit, d. h. er löst sowohl die Liebesgefühle (Verehrung, Anbetung,
Entzücken usw.) wie die Sexualität im Fetischisten aus. Im Fetisch wird
also die Synthese gesucht der beiden Seiten des erotischen Verhaltens, die
angesichts des lebendigen Mensc:1.en nicht zusammenkommen wollen, ja die
im Gegenteil hier in ihrer Sonderung, Gespaltenheit und Unrealisierbarkeit
verbleiben, derart, daß an ihm weder Liebe noch Sexualität ausgelebt werden
könnte.
Der Fetisch wird also zum Fetisch einmal durch eine erotische Teilsetzung,
dann aber durch eine Ganzheitssetzung. Im Hinblick auf die normgemäße
Liebeswirklichkeit ist er nur Teil, im Hinblick auf seine Erlebnisbedeutung
ist er ein Ganzes, eine sexuell betonte Liebeswirklichkeit. Im Nur-Teilsein
des Fetischs bekundet sich die Scheu vor der fremden Persönlichkeit, die
Flucht in ihren "Ich-Hof". Zum Ganzen aber wird der Fetisch durch seine
Eignung, wenigstens im Imaginativen - angesichts einer bildhaften Liebes-
wirklichkeit nämlich - , beide Verwirklichungsrichtungen des erotischen
Lebens, Liebe und Sexualität, zu einem Wirkungs ganzen zusammenfassen.
Wir verstehen das, wenn wir bedenken, daß nur unter der Führung der
Liebeskräfte der Mensch mit dem fremdgeschlechtlichen Du des anderen in
eine Gemeinschaftsbeziehung, also in ein echtes Ergänzungsverhältnis zu
· über Fetischismus. 155
gelangen vermag. Wir-bildendes Element ist die Liebe und nicht die Sexualität.
Ist die isolierte Sexualität der Gemeinschaftsbildung abträglich, auch wo sie
in ihrem rein funktionellen Ablauf normal zu verlaufen scheint,so wird sie
bei noch weitergehender Absetzung gegen die gemeinschaftbildenden Fak-
toren in einer Persönlichkeit immer mehr von der Annäherung an das Du des
fremdgeschlechtlichen Partners abgedrängt werden, um schließlich die
fetischistischen Haltepunkte zu finden, die wir kennen. Der Fetischismus
besagt, daß Liebe angesichts der fremden Persönlichkeit sich nicht, oder
wenigstens nicht primär, zu entwickeln vermag, die Sexualität aber dieser
Hemmung der Liebe folgt. Es kommt im Fetischismus zu einer erotisch-
sexuellen Wir-Bildung: nur angesichts eines mehr ode! minder ablösbaren
Teiles der fremden Persönlichkeit erwachen Liebe und Sexualität. Beide
bleiben eben damit in einer autoerotischen Form ihrer Äußerung stecken,
und der Fetisch als Liebesobjekt verdankt seine eigenartige Gestalt einer
Kontamination der Ich- und der Du-Sphäre. Zwar erlebt der Fetischist im
andern ein Nicht-Ich, keineswegs aber ein echtes Du, sondern ein Schein-Du,
das nur einen Pol im Ich-Kreis des fetischistischen Erlebens bildet. Ich und
Du sind sozusagen nicht auseinandergetreten, sie befinden sich noch im Sta-
dium der Indifferenz, wodurch eben das Erleben des Fetischisten in den auto-
erotischen Formkreis des Geschlechtslebens hineingehörtl.
Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang FREUDs und seiner Theorie,
es stünden hinter der Fetischbildung, sie begründend, zwei Motive: einmal
1 Es ist nicht ohne weiteres zu entscheiden, ob für die Fetischbildung die Hemmung
der Liebe oder die der Sexualität das Primäre ist. Mit Recht hat HIR~CHFELD der fetischi-
stischen Teilanziehung die fetischistische Teilabstoßung zugeordnet - jene Erscheinung
von negativem Fetischismus, die darin besteht, daß durch eine unverhältnismäßige Ab-
neigung geringfügige Züge des anderen, ein Geruch, eine Bildung der Zähne, des Finger-
nagels, ein kaum sichtbarer Nävus usw., aus seinem Leibganzen hervorgehoben und zum
Anlaß der sexuellen Abwendung gemacht werden. HIRSCHFELDS Feststellung wird ergänzt
durch eine Beobachtung FREUDS, daß der Fetischist eine geheime Ablehnung der fremden
Genitalsphäre in sich beherberge. Diese Beobachtung besagt eigentlich, daß jeder sexuellen
Teilanziehung eine sexuelle Teilabstoßung zugrunde liege. Sexuelle Teilanziehung und
sexuelle Teilabstoßung wirken zusammen. Ergebnis dieses Zusammenwirkens scheint uns
die Fetischbildung zu sein, die sich aus partieller Anziehung und partieller Abstoßung
durch das Leibganze des anderen erklären läßt, welcher Antagonismus erst im Fetisch zu
einem Ausgleich gelangt. Unsere Auffassung nun geht dahin, daß die Spaltung des sexuellen
Verhaltens in eine Ja-Komponente und in eine Nein-Komponente, in Anziehung und Ab-
stoßung, stets ihren Grund hat in einer Hemmung der tieferen Liebeskräfte. So wie die
Realisierung des in sich gespaltenen, widerspruchsvollen Willens gehemmt sein kann,
sekundär durch eine psychogen zu erklärende Innervationsstörung, so ist es auch die zentrale
Liebesgehemmtheit einer Persönlichkeit, die sich unter Umständen in einer Spaltung des
sexuellen Verhaltens ausdrückt, im Gegeneinanderwirken also von sexueller Anziehung und
sexueller Abstoßung. Die Fetischbildung hat eine solche Spaltung zur Voraussetzung,
diese ist aber nur die sexuelle Konsequenz eines primären Angehaltenseins der zentralen
Liebeskräfte .
156 Studien zur speziellen Psychopathologie.
ein Ideal der fremden Leiblichkeit - so muß man wohl den Traum von der
penistragenden Mutter bezeichnen, den FREuD in die Phantasiewelt jedes
Fetischisten eingesenkt findet - , zweitens das Trauma des "Kastrations-
schrecks" , der die Entdeckung penisloser Leiblichkeit begleiten soll. Der
Wunsch, entgegen dieser Entdeckung, trotz ihrer, das ursprüngliche Ideal,
den Penis der Mutter, aufrechtzuerhalten, führt nach ,FREuD zur Kompromiß-
und Ersatzbildung des Fetisch (vgl. FREuD, über Fetischismus, Bd. I I der
ges. Werke).
Wie fügen diese Vorstellungen sich in unsere Auffassung ein? Beginnen
wir mit der Theorie des "Kastrationsschrecks". Keinem Mann bleibe dieser
"Kastrationsschreck" beim Anblick des weiblichen Genitale erspart, eine
Angabe, der man in dieser positivistischen Ausdeutung gewisser Phantasien
entgegenhalten muß, daß sich Fetischbildung und Kastrationsmotiv bei
Männern vorfinden, die ohne irgendwelche Beunruhigung zwischen älteren
und jüngeren Schwestern und in Gesellschaft von Brüdern aufwuchsen, derart,
daß die Verschiedenheit der primären Geschlechtsmerkmale zu den selbst-
verständlichen und unproblematischen Erfahrungen aus der Kinderstube
zählten. Trotzdem findet sich bei solchen Fetischisten wie bei anderen
Neurotikern das Zerstückelungs- und Kastrationsmotiv. FREUDs unbestech-
licher Forschersinn hat, was er vorfand, in unbeirrbarer Kühnheit auch zu
nennen gewagt. Es fragt sich nur: Deutet das Vorkommen solcher Motive
und ähnlicher in der Phantasiewelt des Fetischisten auf wirkliche Traumen,
auch nur auf Phantasietraumen hin? Darf man die Sexualphantasie wörtlich
nehmen und positivistische Schlüsse ziehen aus ihrem der Hermeneutik des
Verstandes unzugänglichen Sinn?
Wie immer sich das verhält, die Tatsache des Kastrationsmotivs steht
fest und fordert zur Auseinandersetzung heraus. Man bedenke, daß die pro-
duktive, schöpferische Funktion der Liebe in einer Persönlichkeit nicht ohne
ganz besondere Konsequenzen angehalten werden kann. Hemmung in diesem
Gebiet ist nicht einfach Hemmung, Verdrängung nicht einfach Verdrängung,
sondern angehaltene Produktivität wird zur destruktiven Macht. Wer den
Gott in sich abwehrt, der tötet seine Geburten; wer sich nicht seiner Anlage
gemäß aufbaut, zerstört sich; wer Liebe verdrängt, der zersetzt ihren Gegen-
stand; wo die Ganzheitsetzung der Liebe unterbunden wird, da erfolgt die
Teilsetzung der Sexualität, also eine Zerreißung des Liebesobjektes findet
statt, eine Zerstückelung und Verstümmelung, mit einem Wort: Teilsetzungen
ereignen sich, die nur der Ausdruck sind für die innere Zerteiltheit des Liebes-
unfähigen. Dieses Gesetz beherrscht auch den Fetischismus. Ja, es beherrscht
schon die der führenden Macht der Liebe entzogene Sexualität. Kein Wunder,
daß das Phantasieleben des Fetischisten von Zerstückelungs- und Kastrations-
motiven erfüllt ist. In diesen Motiven spiegelt sich nur die wirkliche Ver-
fassung der fetischistischen Persönlichkeit. Während normalerweise im
Liebesgeschehen Leib, Seele, Geist zu einer lebendigen Einheit, zu einem
Über Fetischismus. 157
Leibes (der Beine I) liegt ein fetischistisches Moment enthalten. Die Sinn-
beraubung des Leibes wird hier zum Sinnerlebnis der Sexualität. (Das
"Pfeifen auf die Seele" zugunsten der Beine I) In der Verleugnung des Sinnes
von Erotik betätigt der nackte Geschlechtstrieb sein Wesen. Es ist der Leib
auf Kosten, ja im Gegensatz zu seinem Sinn, sein Es-Charakter auf Kosten
und im Gegensatz zur Du-Gestalt der Persönlichkeit, was die nackte und
damit ich-haft gewordene Sexualität will und begehrt. Ganz von selbst nimmt
diese sexuell fundierte Leibbevorzugung eine sexualfetischistische Wendung
an, insofern unter ihrem Einfluß das libidinöse Interesse am Leib die Genital-
sphäre pointiert, der fremde Leib also im Genitale zu gipfeln scheint, welcher
Umwertung des Leibes die Begierde und die sexuelle Betätigung auf dem
Fuße folgt. Also: erst durch das libidinöse Interesse eine Reliefänderung des
Leibes zugunsten der Genitalsphäre, dann durch den begierdehaften Trieb
eine Teilsetzung; - das Genitale als Triebziel - in unseren Augen eine
durchaus fetischistische Wendung.
Kein Wunder noch einmal, daß das Phantasieleben des Fetischisten von
Zerstückelungs- und Kastrationsmotiven erfüllt ist. Beide Phantasien bilden
nur ab, was wirklich eingetreten ist: die Zerreißung nämlich der ganzen
lebendigen Persönlichkeit durch einen Antagonismus von Ich- und Vital-
Sphäre. Im Zerstückelungsmotiv kommt diese Zerreißung zur Darstellung.
Das Wirkungs ganze des Leibes erscheint zerstört, fragmentiert, vom Willen
und Tun des Ich in Einzelglieder aufgelöst, in auseinandergerissene Funk-
tionen zerlegt. Umgekehrt erscheint die einheitliche Wirksamkeit des Ich
selbst durch das Auseinandergetretensein der vitalen Elemente, der Triebe,
Instinkte, Gefühle in seiner fraglosen Ganzheit, in seiner dynamischen Einheit
aufgehoben und auseinandergerissen. Das Bild der leiblichen Zerstückelung
bildet nicht nur den Zerfall der vitalen Sphäre ab, sondern auch die des Ich
und außerdem die Störung ihrer beiderseitigen Synergie. Das Ich, in einen
solchen Gegensatz zur Vitalsphäre geraten, wird von ihr nicht getragen und
bedient, wie es der Norm entspricht, es wird vielmehr von ihr bedroht. In
seiner Trennung von ihm nimmt der Leib, besonders der Geschlechtstrieb,
ich-feindliche Gestalt an, entsprechend der Tatsache, daß das Ich selbst leib-
oder lebensfeindlich sich eingestellt hat, und nun entsteht ganz folgerichtig im Ich
eine doppelte Angst: die, von der Leib-, Trieb-, Gefühlssphäre überwältigt zu
werden und seiner Herrschaftsstellung verlustig zu gehen, und dann die Angst,
durch seine aktive, ja feindliche Absetzung gegen die vitale Sphäre, der in
ihr investierten Kräfte, Lebensmöglichkeiten, Potenzen verlustig zu gehen.
Diese letzte Angst wird im Bilde des Kastrationsmotivs sichtbar. Dieses
bildet ab, was wirklich eingetreten ist: die durch seine Gegenstellung gegen
die vitale Schicht gesetzte Einbuße des Ich an Kraft, Leidenschaft, Instinkt-
sicherheit und Potenz.
Der Fetischismus ist nur eine Objektivierung dieser innerpersönlichen
Situation des Individuums. Er ist, als libidinöse Teilsetzung, im Hinblick
über Fetischismus. 159
auf den latenten Gegensatz von Ich und Leben dessen Manifestation, seine
Darstellung und somit eine physiognomische Tatsache l .
Und nun zum zweiten Teil der FREUDsehen Theorie: Der Fetischersatz
für den Penis der Mutter und von daher sein eigenartiger sexueller Reizwert.
In der Tat kann ich bestätigen, daß Träume eines Fetischisten zu seiner und
meiner eigenen Verwunderung in ungewöhnlicher Gleichförmigkeit das
Motiv des hermaphroditischen Weibes und speziell das einer hermaphroditi-
schen Mutter brachten. Daß unser Patient jemals an einen Penis der Mutter
geglaubt hatte, war nicht nachzuweisen, blieb auch unwahrscheinlich, da
erinnerte Kindheitseindrücke in entgegengesetzte Richtung deuteten. Ist es
aber, unter Ausschaltung allzu positivistischer Deutungsversuche, nicht
berechtigt zu sagen, es enthalte das hermaphroditische Symbol für den Feti-
schisten eine sehr treffende Verbildlichung seiner innerseelischen Verfassung?
Diese Verfassung ist unter anderem gekennzeichnet durch die Unrealisierbar-
keit seiner gehemmten Männlichkeit. Sollte diese Verfassung gehemmter
Männlichkeit nicht im hermaphroditischen Traum zur sinnvollen Selbst-
darstellung gelangen? Also kein hermaphroditisches Leibideal beherrscht
aus verborgenen Tiefen seines Wunschlebens heraus die Phantasie des Feti-
schisten, sondern weil eine Entwicklungsstörung seiner Gesamtpersönlichkeit
ihn in der Dimension unrealisierter Männlichkeit festhält, darum die Bilder
von Wesen, die zugleich Mann und Weib und doch keines von beiden sind,
wie der Träumende selber 2 •
Auffallend war in dem geschilderten Fall, daß der Patient, der im Leben
Frauen gegenüber impotent war, im Traum den hermaphroditischen Wesen
gegenüber in einen Zustand sexueller Erregung geriet, den sonst nur der
Fetisch in ihm auslöste. Dieser Parallelismus der sexuellen Erregung, ange-
sichts des Fetisch einerseits und der hermaphroditischen Wesen andererseits,
könnte, wenn schon überhaupt der Fetisch als Sexualsymbol ("Penisersatz"
FREuDs) aufgefaßt werden darf, eher der Vorstellung Vorschub leisten, er sei
ein hermaphroditisches Symbol. In dieser Auffassung bestärkt uns die Erwä-
gung, daß der Fetischismus ja eine Form der autoerotischen Triebbefriedigung
darstellt. Auch das Phantasieleben des Masturbanten ist oft von hermaphro-
ditischen Bildern erfüllt.
1 Das Kastrationsmotiv ist sozusagen das Gegenbild der Fetischbildung. Das Kastra-
tionsmotiv zeigt die Beraubung des Leibganzen, es bildet ab eine Desintegration, eine Ver-
stümmelung desselben. Diese verstümmelnde Teilsetzung führt aber wiederum zu einer
Umwertung des Teils in der Fetischbildung : in der Fetischbildung wird der erst gesetzte
Teil zum Rang des Ganzen erhoben, zum Rang einer Liebeswirklichkeit. Kastrationsmotiv
und Fetischbildung ergänzen sich also gegenseitig. Sie verbildlichen zwei Seiten des einen
grundsätzlichen Verhaltens der Persönlichkeit, wenn diese im Vorgang der Selbstentzweiung
sich selber zugleich verneint und bejaht, sich zerteilt und vereinheitlicht.
2 Die Herrschaft der Mutterimago in den hermaphroditischen Träumen des Patienten be-
zeichnet mit besonderer Eindringlichkeit dieStufe seiner angehaltenen Entwicklung. Sie besagt,
daß er, ohne ihm entwachsen zu sein, eingesenkt geblieben ist im mütterlichen Liebeskrei~.
160 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Der Fetisch nun stellt ein Liebesobjekt dar, das genau genommen keines
ist. Nur zum Schein ermöglicht es dem Fetischisten in der sexuellen Erregung
ein Herausgehen aus sich selber. In Wahrheit bleibt er auch im Verkehr mit
dem Fetisch autoerotisch an sich selber gebunden. Wenn FREuD im Fetisch,
an dem doch in erster Linie seine Zugehörigkeit zum Weibe auffällt (oder zum
Mann in den selteneren Fällen des aktiven weiblichen Fetischismus!), gerade
den Phallusersatz sieht, so drückt er ja implizite das aus, was wir meinen.
Man kann vom Fetisch ebenso gut sagen, daß er männlich und weiblich ist,
wie daß er keines von beiden ist; er repräsentiert ein Indifferenzstadium des
Männlichen und Weiblichen, genau jenes Indifferenzstadium, in welchem der
Fetischist sich selber befindet; er ist sozusagen die Objektwerdung dieses
Indifferenzstadiums. Nach seinem Ebenbild erschafft sich der Mensch seine
Götter und Götzen: so erschafft sich der Fetischist den Fetisch als das geliebte
Abbild seiner eigenen erotischen Gestalt. Man könnte den Fetischismus eine
transponierte Selbstliebe oder Selbstliebe am Phantom nennen, im Gegensatz
zur Selbstliebe des Masturbanten.
Wir fassen unsere Betrachtung über Fetischismus noch einmal kurz
zusammen: der Fetisch ist eine Liebeswirklichkeit urtümlicher Bildung. Für
diese urtümlichen Bildungen des Seelenlebens ist charakteristisch ein Nicht-
auseinandergetretensein der Dimensionen, in die das reife Leben sich ausein-
anderlegt. Der Fetisch insbesondere stellt dar die Indifferenz des Männlichen
und Weiblichen, des Wirklichen und Phantasiemäßigen, des Ich und des Du.
Durch dieses Ineinanderliegen der Dimensionen im Fetisch wird er für das
Erleben ein Ganzes, eine Liebeswirklichkeit, während doch die Analyse eine
Teilsetzung in ihm vorfindet, die Verstümmelung eines Ganzen, der nor-
malen, personalen, zugleich individuellen und überindividuellen Liebeswirk-
lichkeit des erotischen Partners. Daß es zu solchen Verstümmelungen der
Liebeswirklichkeit kommt, hat seinen Grund in einem Antagonismus von
Liebe und Sexualität einerseits, von Ich-Sphäre und Vitalität andererseits im
entwicklungsgehemmten Individuum. Die Fetischbildung ist als physiogno-
mische Tatsache aufzufassen: sie drückt die erotische Verfassung des Indivi-
duums aus, eine besondere Abart der autoerotischen Verfassung. Sie ist
1 Bei Licht besehen ist der weibliche Fetischismus sogar verbreiteter als der des Mannes.
Es ist ein Gedanke von E. STRAUS, daß der Fetisch des Weibes sie selber ist. In der Tat muß
man unterscheiden zwischen dem Fremdfetischismus des Mannes und dem Autofetischismus
des Weibes. Die Zeigelust der eigenen körperlichen Erscheinung gegenüber, mit ihrem
Rhythmus von Verhüllung und Enthüllung, die modebedingte Herausarbeitung gewisser
Teile des Leibes und Verdunkelung anderer, die Künstlichkeit des Schmuckes, der Schminke,
der Haartracht im Bereich des sonst naturhaften Leibes, all das endlich, was uns am Weibe
als Kult, ja, als Idolatrie der eigenen Erscheinung auffällt, ist, sobald dieser Kult die eng-
gezogenen Grenzen der Kultur (und somit der ästhetischen Vernunft!) überschreitet,
passiv fetischistischer Natur und auf das aktiv fetischistische Verhalten des Mannes hin-
orientiert. Ja, oft fehlt diese Hinorientierung, wodurch die fetischistische Natur des weib-
lichen Selbstverhaltens noch deutlicher in Erscheinung tritt.
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 161
sorgsam verheimlichtes Liebeserlebnis immer mehr auf die Bahn ebenso kurz-
fristiger wie wahlloser sexueller Abenteuer gedrängt worden. Seiner Frau
gegenüber litt er.an Gefühlen zunehmender Entfremdung, an "matrimonialer
Impotenz" (KRoNFELD) und in Latenz gehaltener Gewissensnot. Am Ab-
schluß des ersten Liebeserlebnisses, das er seinem Gewissen und seiner Frau
opferte, steht ein Versuch, sich seiner Frau zu eröffnen. Er war sich klar
geworden darüber, daß einen trennenden Faktor erster Ordnung seine Unauf-
richtigkeit und Verschlossenheit gegen sie bildete und daß die Rückkehr zu
ihr an die Preisgabe seines Geheimnisses gebunden sei. Der Versuch, sich zu
eröffnen, stieß aber auf Erregung, Schmerz und Verzweiflung, so daß er sein
Geständnis widerrief, welcher Widerruf ihm seltsamerweise geglaubt wurde.
Da aber die Entfremdung und seine sexuelle Erstorbenheit der eigenen Frau
gegenüber bestehen blieb, ja zunahm, glitt er bald wieder in neue Beziehungen
hinüber. Diese Beziehungen nahmen jedoch immer mehr den Charakter einer
"Sucht" an. Er selbst verglich sein Verhalten den Frauen gegenüber mit dem
toxikomanischen Kranken. Seine Beziehungen wurden immer oberflächlicher,
unpersönlicher und kurzfristiger. Ein bestimmter Rhythmus fiel ihm an diesen
Erlebnissen auf, nämlich ein plötzliches Aufflackern seiner sexuellen Ansprech-
barkeit, die sich oft an Phantasien, welche eine erlösungs bedürftige Liebes-
bereitschaft von Frauen zum Inhalt hatten, zu entzünden pflegte. Oft schlug eine
Meinungsverschiedenheit mit der Ehefrau unmittelbar in eine sofortige, rein
geschlechtliche, aber nicht auf die Ehefrau bezogene Erregung um. Dann
setzte ein Widerstreben ein, diesem wie von außen auf ihn eindringenden
Anreiz der fremden Liebeswünsche sich zu überlassen. Plötzlich pflegten seine
Widerstandskräfte zu zerbrechen, abgelöst von einem Laufenlassen des eigenen
sexuellen Impulses mit dem mehr oder minder stark vorhandenen Bewußtsein,
etwas zu tun, das er eigentlich nicht tun wollte und fähig dabei, dieses Bewußtsein
mittels intensivster Rauschzustände zu betäuben. Schließlich ein rasch ein-
setzender Katzenjammer mit Schuldgefühlen angesichts seiner Haltlosigkeit.
Dieser Katzenjammer war oft mit Abneigungsgefühlen gegen seinen erotischen
Partner verknüpft und führte entweder zu einer Wiederholung des gleichen
Ablaufs mit anderen oder zu analog gebauten Wiederholungen mit der gleichen
Persönlichkeit, falls diese ihn etwas stärker zu fesseln vermochte. Der Patient
war sich darüber klar, daß er "an der Liebe vorbeilebte" ; daß ein oft ange-
fochtenes, aber immer wieder sich durchsetzendes Schuldgefühl ihn ver-
hinderte, irgendeiner seiner außerehelichen Beziehungen mit der ruhigen
Selbstverständlichkeit eindeutiger Liebe sich zu überlassen. Die Unfreiheit
seines Verhaltens, das Zwangsmäßige dieser Abläufe mit ihrem Wechsel von
Kampf gegen die eigene sexuelle Ansprechbarkeit und rückhaltlosestemAusge-
liefertsein an diese, erinnerte ihn selbst an den vergeblichen Kampf vieler
Morphinisten gegen die Spritze oder von Alkoholikern gegen die Flasche, wobei
er betonte, daß er ein Gefühl des Vergewaltigtwerdens durch die Frauen trotz
besserer Einsicht nicht los werde. Eine Herabminderung seiner Produktivität
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 163
und Arbeitsfähigkeit in dieser Zeit fiel ihm auf und beunruhigte ihn am
meisten. Es verhielt sich so, daß seine ganzen Kräfte in steigendem Maße
durch den Turnus dieser dürftigen und unfruchtbaren Erlebnisse absorbiert
wurden, von denen keines ihn befriedigte und deren er keines vertreten
konnte.
Zum Verständnis seines Falles ist wichtig einmal, daß er bereits in einer
lang sich hinziehenden Pubertätsperiode nach einer Phase von sadistischem
Phantasieren und süchtiger Onanie ungefähr bis zu seinem 25. Jabre eine
Periode erotischer Bindungsunfähigkeit und don-juanistischer Freizügigkeit
durchgemacht hatte, und daß er dann nach mehrjähriger Verbindung mit einer
älteren Frau seine Frau bereits mit geteilten Gefühlen geehelicht hatte.
Ohne Zweifel gehört der so skizzierte Fall in das Gebiet der psycho-
sexuellen Süchte. Schon die Entwicklung des Liebeslebens bei unserem Pat.,
das zunehmende Zurücktreten der währenden Bindung zugunsten des kurz-
phasigen Wechsels; die Zerstörung der übergreifenden Liebeshaltung zugun-
sten von immer augenblicklicheren, peripheren und schließlich rein somati-
schen Lustempfindungen; das Alternieren von Rausch und Katzenjammer;
vom überwältigenden Eindruck augenblicklichen Nichtanderskönnens und
posthumer Selbstanklage; das Überwiegen des flüchtigen sexuellen Reizes
über den Zug der fremden Persönlichkeit und Weiblichkeit, ebenso der Wahl-
losigkeit über das instinktiv Wählerische echter Zuneigung; das zugegebene
Bedürfnis aus Gefühlen der Verwirrtheit und der erotischen Desorientierung
in die Betäubung des rein präsentischen Genusses hinabzustürzen, um im
leiblichen Sichfühlen einer scheinbaren Erfüllung teilhaftig zu werden, die in
Wahrheit nur die Liebe vermittelt; auch der selbsterlebte Abbau der höheren
Gestaltungskräfte zugunsten eines Lebens in reflektierten Akten genußhafter
Selbstzerstörung - das alles läßt erkennen, daß der Kranke wenigstens
vorübergehend eine Periode der Rückbildung ("Regression", FREuD, JUNG)
seines Liebeserlebens durchmacht, wobei sein geschlechtliches Fühlen, Be-
gehren und Reagieren den Charakter einer psychosexuellen Sucht annimmt.
Wie sind diese Veränderungen im Liebesleben des Patienten aufzufassen?
Wir wollen unsere Anschauung gleich aussprechen. Das süchtige Verhalten -
bei unserem Kranken hat es die Gestalt don-juanistischer Freizügigkeit -,
ist nur ein Symptom, in sich selbst nicht zu begreifen, sondern nur zu verstehen
durch seine Funktion im System der Gesamtpersönlichkeit, hier aber in seiner
Richtung gegen die zentraleren Möglichkeiten der erotischen Persönlichkeit,
d. h. gegen deren zugleich elementareren und eben damit geistigeren Tendenzen.
Das, was unseren Patienten als Dynamis bewegt, ist nicht ein primäres
Streben nach Lust oder Abenteuer oder Sieg über Frauen, sondern ein reak-
tives Moment: die geheime Wendung der Persönlichkeit gegen die Möglichkeit
eines echt-elementaren Angezogenseins durch die weibliche Persönlichkeit
und gegen die darauf sich gründende Ordnung der Liebe, der Treue und der
Bindung. Der ihm selbst nur vage faßbare Sinn seiner Erlebnisse ist die
11*
164 Studien zur speziellen Psychopathologie.
die Kehrseite dieses Scheiterns stellt sich die "Regression" ein, ein Zurück,.
sinken auf die don-juanistische Stufe seines Liebeslebens, die wie erwähnt,
bereits die Nachpubertätsjahre beherrschte.
Jeder, der Fälle gleich dem vorliegenden bearbeitet hat, weiß, daß in der
Phantasie solcher Patienten eine Möglichkeit widerscheint, die wie der Himmel
für den Verdammten, die eigene Verdammnis erst als solche brandmarkt;
und sie erscheint, diese Möglichkeit, im Bilde einer Frau, an der sie vorüber-
gegangen, obschon sie die Liebe in Person war. Vielleicht war sie verheiratet,
oder sie starb früh, oder sie verhielt sich ablehnend, oder die eigene Scheu,
Hingabeunfähigkeit, Schicksalsangst machte sie unerreichbar, oder sie existiert
überhaupt nur als das Bild einer ersehnten Möglichkeit; kurz, irgendwelche
Umstände bewirken die Trennung von dem lockenden Symbol erträumten
Glückes und restloser Beseligung. Nicht ohne daß dieses romantisierte
Gegenbild der eigenen Wirklichkeit diese noch mehr entwertet und sie mit
dem Zauber ihres paradiesischen Lächelns in einen traurigen Alltag verwan-
delt. In diesem Auseinandertreten einer bildhaften Ferne von erfüllungs-
bergenden Möglichkeiten und der lieblosen Nähe sinnentleerter Gegenwart
wird die eigene Zerrissenheit des Leidenden anschaulich. Der praktischen
Konsequenz dieser Spannung zwischen Liebe und Wirklichkeit begegnen
wir auf Schritt und Tritt. Es zeigt sich, daß solche Menschen als Geschlechts-
wesen nur handeln, wo sie nicht lieben, daß sie hingegen der Liebe selbst aus
dem Wege gehen. Etwas in ihnen widersetzt sich der Einführung ihres
Liebesbildes in die konkrete und spezifische Wirklichkeit einer greifbaren,
gestaltbaren Ich-Du-Beziehung. Selber glauben sie, diesem Liebesbild nie
unter Umständen begegnet zu sein, welche Eroberung, Hingabe, Einswerden
mit ihm und Verwirklichung einer Gemeinschaft möglich gemacht hätte.
Aber gegen solche Deutungen müssen wir Vorsicht walten lassen. Es scheint
doch so sich zu verhalten, daß eine Überführung dieses Liebesbildes und seine
Einschmelzung in die Wirklichkeit der bestimmten und besonderen Beziehung
von so gearteten Persönlichkeiten gar nicht gewollt wird. Oder wenn wir
dem Protest gegen solche Annahmen glauben dürfen: daß diese zwar gewollt,
aber nicht gekonnt wird. Daß hier eine subtile Form von Unvermögen am
Werk ist, steht fest. Dies äußert sich eben darin, daß, wo ein elementares
Angezogensein, ein primäres und ganz unmittelbares Gefallen anklingt, daß
eben da geradezu reflektorisch die Flucht ergriffen wird oder, wenn nicht
Flucht, daß zum mindesten diese primäre Anziehung nur unvollkommen im
Leben sich auswirken darf und jedenfalls mit der erotischen Aktuosität der
Persönlichkeit, ihrem Wählen, Zugreifen, Handeln, also gerade mit den
höheren Funktionen der Liebesfähigkeit, einen sinnvollen Bund nicht einzu-
gehen vermag.
Wir sehen also, bis an diesen Punkt ihres Schicksals vorgedrungen, eine
Dissoziation am Werk in solchen Persönlichkeiten zwischen dem pathischen
Moment der erotischen Ansprechbarkeit und der erotischen Aktuosität ihrer
166 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Persönlichkeit. Eine Spaltung, die zur Folge hat: I. daß da, wo Erlebnisse
des Angezogenseins mit der vollen Eindeutigkeit pathischer Unmittelbarkeit
aufklingen, diese nicht die erotische Lebensgestaltung herbeiführen, und
1.. daß die Aktivität solcher Persönlichkeiten sich nur in Beziehungen ent-
faltet, denen kein Urerlebnis unmittelbaren Angesprochenseins zugrunde liegt,
wodurch ihre Aktivität etwas Willkürliches, Gemachtes, Künstliches und
Gestaltungsunfähiges bekommt. Diese Dissoziation von pathischem Ange-
zogensein und erotischer Aktuosität ist für die Pathogenese der sexuellen
Sucht von Wichtigkeit. Sie bereitet ihrer Entwicklung den Boden. Sie tritt
bei unserem Patienten besonders deutlich in Erscheinung, der in der Ver-
lobungszeit mit seiner Frau, besessen von dem Eindruck, es bedeute die
zukünftige Ehe den endgültigen Verzicht auf Liebe, Stürme zu bestehen hatte
einer verzweifelten Sehnsucht nach einem aus der Ferne geliebten Mädchen
vergangener Jahre. Man beachte die typische Dialektik von "vergangen"
und "zukünftig" in diesem Falle angehaltener Selbstverwirklichung. Im
übrigen besagen Aufzeichnungen aus dieser Verlobungszeit, daß der Patient
die Ehe als eine Aufgabe ansah: "Einer Idee dienen, heißt über sich hinweg-
gehen", oder "Liebe und Ehe haben nichts miteinander zu tun", oder "Die
Ehe ist eine rein ethische Angelegenheit; man hat ihr sein persönliches Glück
zu opfern" - lauter Dogmen, mit denen er das seiner Zerrissenheit ent-
stammende Ehe-Projekt sich mundgerecht zu machen suchte. Überall sehen
wir in diesen Äußerungen die von uns angeführte "Dissoziation" am Werk;
sie stellt sich dar als Widerspruch zwischen Liebe und Ehe, Glück und Auf-
gabe, zwischen unmittelbarem Lebensgehalt und ideellem Gehalt der Ehe.
Daß er auf der Höhe dieser asketischen Anschauung sich nicht halten konnte,
haben wir gesehen. Immerhin muß man sagen, daß unser Patient mit dem Ent-
gleisen in die don-juanistische Sucht hinein zwar tiefer zu erkranken scheint,
daß aber dieser Sturz aus der erzwungenen Höhe eines resignierten Asketen-
tums doch einem in der Wurzel gesunden, in der Auswirkung allerdings noch
impotenten Verlangen nach der Unmittelbarkeit des Lebens zuzuschreiben ist.
Die Entwicklung des Falles zeigte später, daß unter dem Einfluß sach-
gemäßer Führung seine Ehe durchaus zu retten war, ja, daß gerade dieses
zentrale Verhältnis selbst von der Unmittelbarkeit des Erlebens durchblutet
werden konnte. Diese Entwicklung jedoch gehört nicht mehr in den Bereich
unserer Betrachtungen. Beim Überblick über den Entwicklungsgang der
Persönlichkeit bis zu ihrer Analyse begegnen wir mehrfachen Äußerungen
libidinöser Sucht. Als Sucht imponieren gewisse grausam wollüstige Phan-
tasien des Knabenalters, dann das onanistische Verhalten der folgenden Jahre,
schließlich das der don-juanistischen Perioden. Einmal sehen wir süchtiges
Verhalten auftreten im Gebiet des Phantasielebens ; dann bezogen auf die
isolierte, somatische Sexualsphäre (Onanie), dann im Verhältnis zur Frauen-
welt. Es repräsentieren diese Äußerungen libidinöser Sucht Stadien gehemm-
ter Annäherung an die Ich-Du-Gestalt der Liebeswirklichkeit. Erreicht wird
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 167
diese Wirklichkeit ohne ärztliche Hilfe nicht. Vielmehr entgleist das Ge-
schlechtsleben des Patienten immer wieder in die Sucht. Wir haben den Sinn
dieser Entgleisungen zu untersuchen.
reszenz ihrer Selbstaufhebung. Etwas vom düsteren Licht des Inferno pflegt
auf solchen Phantasien zu liegen; ein Patient nannte sie folgerichtig seinen
"Venusberg" oder "die andere Seite" (nach KUBIN); ein anderer Patient
verlegte die Ereignisse seines makabren Phantasiespiels samt und sonders
in ein "Todesreich". Während das gesunde Phantasieleben mit der schöpferi-
schen Seite des Menschen zusammenhängt und stets als Einbruch von Wirk-
lichkeitspotenzen und Lebensmächten in sein Seelenleben zu verstehen ist,
entsteht das süchtige Phantasieren aus einer Isolierung der Persönlichkeit
gegen Welt und Mitwelt. Daher das Sterile, Monotone, im Genuß noch
Quälende, Dumpfe und Schwüle dieser Phantasien. Es fehlt ihnen der freie
Luftzug und dem Phantasierenden das belebende Angeschlossensein an die
welthaften, lebensgestaltigen oder lebenshaltigen Möglichkeiten des Daseins.
Die Bewegung des süchtigen Phantasierens ist ein Kreisen um denselben
Punkt - das eigene Ich - ohne Fortgang, Aufstieg und Lösung. Nicht das
Werden eines Menschen, das in allem echten Phantasieleben darinnensteckt,
beherrscht das süchtige Phantasieren, sondern umgekehrt das Angehaltensein
der Werdensbewegung ist es, was hier Bild wird und zugleich auf Grund
eines besonderen Zusammenspiels antagonistischer Tendenzen: Inhalt des
Selbstgenusses.
In dieser Untersuchung der Sucht ist die Struktur der Erlebnisabläufe,
also die innere Bewegung des Phantasierenden von besonderem Interesse.
Es handelt sich, wie deutlich, um Grausamkeitsphantasien. Die Phantasie
kreist um zwei Pole, dargestellt durch das Ich und den anderen, z. B. den
Bruder. Das Ich ist der Täter, der andere der Leidende, sie verhalten sich
zueinander wie Peiniger und Gepeinigter, Henker und Opfer. Lehrreich ist
eine Bemerkung des Patienten, daß die Phantasie sich besonders eindrucksvoll
gestaltete, wenn es gelang, die Tätigkeit des Folterns auch in andere zu ver-
legen, in die sog. "Folterknechte", so daß der Phantasierende zwar die Befehls-
gewalt behielt, im übrigen aber als Zuschauer innerhalb der phantasierten
Folterszene stehen konnte, ohne tätlich eingreifen zu müssen. Eine weitere
Steigerung war dadurch gesetzt, daß die Folterknechte zwar die Folterung
ausführten, dies aber nur gezwungenermaßen, sozusagen gegen ihre Neigung
und mit innerer Qual, in ohnmächtigem Gehorsam gegen den Phantasieren-
den, kurz daß sie, obwohl praktisch Folterer, selbst zu psychisch Gefolterten
wurden. Diese Vertiefung der Grausamkeitsphantasie zeigt, daß es .dem
Phantasierenden wichtig ist, einen Abstand von der Tätigkeit des Schmerz-
zufügens zu gewinnen. Durch diesen Abstand, der ein Zurücktreten ermög-
licht, wird der Genuß am fremden Leiden immer gegenständlicher, gleichsam
cerebraler und reflektierter, wie umgekehrt die eigene Macht wächst, das
eigene Tun also auch sich dem rein Intentionalen nähert und damit geistiger
wird. Diese Entwicklung einer Phantasie aber ist nur möglich, wenn das
Moment der Reflexion schon in ihrem Ansatz darinnensteckt, wenn die Re-
flexion überhaupt konstitutiv ist für das süchtige Phantasieren, das eben
170 Studien zur speziellen Psychopathologie.
damit seinen ichbezogenen Charakter erweist. Ja, wir können gleich weiter-
gehen und erkennen dann, daß auch die echt sadistische Handlung zweifels-
ohne reflektierter Natur ist, daß sie, obwohl sie an einem wirklich der objekti-
ven Mitwelt angehörigen Partner sich auswirkt, doch ihrem Wesen nach gar
nichts mit der Wirklichkeit dieses. anderen zu tun hat. Sie bezeichnet eben
einen Einbruch süchtigen Phantasierens in die Wirklichkeit der Mitwelt,
verhält sich zu dieser aber nur zum Schein, ohne ihren reinen Phantasie-
charakter einzubüßen. In der echt sadistischen Handlung, genau wie in der
Grausamkeitsphantasie ist der "andere" nur ein Anlaß, sich auf besondere
Art und Weise selbst zu erleben. Die Art dieses reflektierten Erlebens steht
nunmehr zur Diskussion.
Bleiben wir bei der primitiveren Form der Phantasie, so sehen wir, daß
der Phantasierende sich in zwei bildhafte Pole auseinanderlegt, von denen
der eine ichgestaltig, der andere nichtichgestaltig erscheint. Der ichgestaltige
Pol der Phantasie ist der Peiniger, der nicht-ichgestaltige der Gepeinigte.
Beide Pole sind aber durch ein inneres Verhalten des Phantasierenden zu
einer besonderen Erlebniseinheit verbunden, die sich als dynamisches Inein-
ander von Tun und Leiden, von Quälen und Gequältwerden schildern läßt.
Indem der Phantasierende sich in diese beiden Pole auseinanderlegt, sich zu
ihnen entfaltet und zwischen ihnen hin- und hergeht mit einer Akzentver-
legung der inneren Anteilnahme bald vom Tun auf das Leiden, bald vom
Leiden auf das Tun, kehrt er in der wollüstigen Erregung des Selbstgenusses
zu gleicher Zeit wieder in sich zurück.
Die Phantasie als Ganzes zeigt also einen Abschnitt der imaginativen
Selbstauseinanderfaltung und einen der Rückkehr in sich selbst oder der
Reflexion, und zwar bilden beide Teile der Phantasie ein Erlebnisganzes, d. h.
die Reflexion begleitet in der Weise des erregten Selbstgenusses das Leben
in den polar aufeinanderbezogenen Möglichkeiten von Quälen und Gequält-
werden. Das "Ich quäle den anderen" ist als Phantasieerlebnis ein Hin und
Her der imaginativen Reflexion zwischen quälendem Ich und gequältem
Nicht-Ich - eine reflektierte Pendelbewegung des Selbsterlebens ähnlich
den erotischen Gegenseitigkeits- und Ergänzungserlebnissen, nur mit dem
Unterschiede, daß Quäler und Gequälter beide dem Ichbereich angehören
und nicht der Wirklichkeit. Es handelt sich in der Phantasie um ein wechsel-
seitiges Sichbestimmen zweier Möglichkeiten, die untereinander im Ver-
hältnis des Gegensatzes stehen. Das Ich wird am Opfer zum Quäler, das
Nicht-Ich am Quäler zum Gequälten. Das gegenseitige Sichbestimmen
zweier Möglichkeiten hat als Vorgang den Charakter des Werdens zu etwas
oder der Verwandlung. Es wandelt sich das wirkende Ich am leidenden
Nicht-Ich zum Quäler, indem es aber dazu wird, verwandelt sich gleich-
laufend mit dieser Wandlung das Nicht-Ich zum Opfer. Es entsteht so ein
Zirkel von Wirken und Leiden, eine gegenseitige Abhängigkeit der entgegen-
gesetzten Möglichkeiten voneinander, die in der Weise der "reflektierten
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 171
Mit allem Gesagten sind wir aber noch weit davon entfernt, das Seltsame
der Schmerzsucht zu verstehen. Auch die Berufung auf Atavismen des Trieb-
lebens oder darauf, daß der Geschlechtstrieb sich aus "Partialtrieben" aufbaue,
die primär auf Schmerzzufügung und Schmerzerleiden gerichtet seien, vermag
unser Erkenntnisbedürfnis nicht zu befriedigen. Wohl machen diese Hinweise
einsichtig, daß auch biologische Dispositionen den Entgleisungen der eroti-
schen Persönlichkeit entgegenkommen, falsch aber erscheint uns die Annahme,
daß diese biologischen Dispositionen im Sinne der Determinierung entschei-
dende Bedeutung für das schmerzsüchtige Verhalten gewinnen sollen 1. Dieses
ist vielmehr erst durch die Gegenstellung der Persönlichkeit gegen die norm-
gemäße Liebeswirklichkeit verständlich.
3. Wo immer, wie in unserem Falle, libidinöse und suchtartige Phantasien
auftauchen, läßt sich zeigen, daß ein geheimes Leiden der Persönlichkeit
dahinter steht, das sich in ihnen auslebt. Für alle Entgleisungen des Ge-
schlechtslebens ist dieser Gesichtspunkt von Wichtigkeit. Alle Paraphilien
stellen dem Forscher die Aufgabe, die Struktur des Selbstbewußtseins aufzu-
zeigen, das sich in ihnen exteriorisiert. Süchte und Perversionen sind also
nicht einfach als "Triebäußerungen" aufzufassen, sondern als Äußerungen
eines besonderen Gestelltseins des Menschen zu sich und zum Mitmenschen.
Sie haben mit einem Wort anthropologische Bedeutung.
Betrachten wir zur Klärung dieser These unseren Fall. Opfer seiner
Grausamkeitsphantasien war der Bruder. Dieser Bruder, viel harmonischer
als er, fügte sich leichter in die Mitwelt der Familie ein und erschien darum,
besonders in Konfliktzeiten, als der Bevorzugte. Lange vor Ausbruch der
Phantasien und, ohne sich selbst zu verstehen, hatte er unter der Nähe des
glücklicheren Bruders gelitten, ja ganz unbewußt fühlte er, von der Not seiner
eigenen Vereinsamung und Ohnmacht getrieben, sich veranlaßt, den Glück-
licheren, vielleicht Besseren zu quälen und sich an ihm zu rächen. Diese Not
seiner Kinderzeit setzte sich fort in die seines Knabenalters. Wieder sah er
sich - jetzt im Pensionat - vereinsamt und auf sich zurückgeworfen, ohne die
seinem Liebesbedürfnis gemäßen Freunde, anders als die anderen, von diesen
vielfach angefeindet, unglücklich durch ein Gefühl des Zweifels an seinem
Wert, meist von irgendwelchen Sorgen und Kümmernissen erfüllt, die sich
auf die Mitwelt bezogen, eingetaucht in ein Gefühl erregender Ohnmacht
dieser Mitwelt gegenüber. Damals begann er zu phantasieren. Nur mittels
dieser Phantasien, so meinte er, war das Leben damals zu ertragen. In diesen
Phantasien kehrte er - für unseren Eindruck wenigstens, ihm selber aber
unbewußt - die Lage, in der er sich befand, um: hier verwandelte sich sein
Leiden in Genuß, seine Niederlage in Sieg, seine Erniedrigung in Triumph,
seine Ohnmacht in Macht, seine existentielle Not in die Schmerznot eines
anderen.
herzuleiten. Ganz allgemein gilt, daß es für die Beurteilung der anthropo-
logischen Funktion einer Perversion von größter Bedeutung ist zu erkennen,
inwieweit ihre Provenienz aus einem Angehen gegen Not und Norm dem
Bewußtsein der süchtigen Persönlichkeit zugänglich bleibt oder nicht, inwie-
weit der Kranke also mit beidem eine wenigstens geheime Kommunikation
unterhält oder nicht. Das geheime In-Not-Sein und ein verborgenes Verlangen
nach der lebendigen, gesunden und fruchtbaren Ich-Du-Gestalt des Mitwelt-
verhältnisses bei gewohnheitsmäßigem Darleben sexueller Perversionen
unterscheidet den Neurotiker vom unkorrigierbar Perversen. Letzterer ist
dadurch gekennzeichnet, daß das existentielle In-Not-Sein seiner zentralen
Persönlichkeit sich einem adäquaten Aufdeckungsversuch entzieht. Ferner
dadurch, daß auch seine Entzweiung mit der Norm ihm nicht einsichtig
gemacht werden kann, sei es, daß er in seinem Treiben, das er für richtig,
natürlich und ichgemäß hält, restlos aufgeht, sei es, daß er des Verstoßes gegen
die Norm zwar sich bewußt ist, dieses "Verstoßen gegen", aber selbst in
verderbtem Triumph zum Gegenstand erhöhten Daseinsgefühls macht
(MARQUIS DE SADE). Hier, angesichts des unkorrigierbaren Perversen, muß
man sagen, daß er in dem, was wir als die der Not korrespondierende Seins-
verfassung schilderten, unwiderruflich fixiert ist, derart, daß diese Verfassung
in der Weise der Entartung zu einer definitiven Mißbildung der Persönlichkeit
sich gleichsam verhärtet hat. Hier, wo man von konstitutionell bedingten
Paraphilien sprechen muß, fehlen die Entwicklungsansätze, die über die der
Perversion zugeordnete personale Grundstruktur hinausdeuten. Der Neuro-
tiker hingegen steht, auf Grund eines verdrängten oder verschütteten oder
unentwickelten Verhältnisses zu Not und Norm in einem latenten Entzwei-
ungsverhältnis gegen sein paraphiles Verhalten, so daß diese Entzweiung in
sachgemäßem therapeutischem Vorgehen zu einer Lossage von ihm entwickelt
werden kaQ-n.
Trotz dieser Abgedichtetheit der perversen Persönlichkeit gegen die
Ansprüche der normativen Ich-Du-Verhältnisse ist ihr Verhalten aber doch
nur aus einer destruktiven Gegenbewegung gegen deren Sinn zu verstehen.
Wie von jeder Paraphilie, gilt das auch von der Schmerzsucht. Von ihr gilt,
daß sie das Verhältnis zum andern in den Schmerz herabzieht. Was das eigent-
lich besage, ist zu erforschen; grundsätzlich irrelevant ist es für den anthropo-
logischen Sinn der Schmerzsucht, ob der Gepeinigte ich ist oder der andere;
ob die phantastisch-libidinöse SitUation also ins Masochistische gewendet
wird oder ins Sadistische; ferner, ob sie Phantasie bleibt oder Sexualhandlung
wird; endlich auch, ob es sich um somatische, psychische oder um spirituelle
Schmerzsetzung handelt; und schließlich, ob die dargelebte Schmerzsucht
Ausdruck ist einer neurotischen oder einer entarteten Persönlichkeit. Alle
Variationen der Schmerzsucht lassen sich von einem Mittelpunkt herleiten:
von der besonderen Gegenstellung der perversen Persönlichkeit gegen Not
und Norm.
12*
180 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Was kann es heißen, daß durch die Schmerzsucht das Verhältnis zum
j.
anderen "in den Schmerz herabgezogen wird"? Wir erinnern daran, daß der
Schmerz ein Zunichtewerden des Ich bedeutet. Unsere Untersuchungen
haben das klar gemacht. Die Frage, die sich aber sofort aufdrängt, ist: Was
bedeutet das Zunichtewerden des eigenen oder fremden Ich mir oder dem
anderen? Was für ein emotionales Interesse treibt den Paraphilen, die eroti-
sche Situation auf das Schmerzerlebnis abzustellen? Normalerweise suchen
wir doch, wo wir lieben, die Befriedigung nicht im Zunichtemachen des
anderen, nicht, um es gleich zu sagen, in dieser Herabminderung des fremden
oder eigenen Daseins, sondern umgekehrt gerade in einer Daseinssteigerung ;
in einem Mehrwerden des Lebens besteht der Erlebnissinn des erotischen
Mitweltverhältnisses.
Diese "Daseinssteigerung" ist keine intendierte, sie ist die selbstverständ-
liche Begleiterscheinung gegenseitiger Hingabe und gegenseitigen Sichergrei-
fens. In der Hingabe, die ein übersexuelles Phänomen ist, auch wo sie das
Geschlechtsleben gestaltet, werden die Gesonderten zur Zweieinheit des
Ich und Du verschmolzen und eben damit über die Sonderung ihres beschränk-
ten Fürsichseins hinausgehoben. Die Gegenseitigkeit des Hinausgehobenseins
über das eigene beschränkte Dasein bedeutet ein gemeinsames Werden zu
etwas Neuem. Je nach dem Seinsgebiet, welches durch dieses gemeinsame
Werden erschlossen wird, führt die wechselseitige Hingabe entweder zur Ver-
schmelzung im gattungsmäßigen Wesen der mann-weiblichen Einheit, dem
"Zweigeschlechterwesen" von EBERZ 1 oder zum Eingehen in ein überindi-
viduelles, mehr repräsentatives, ja symbolisches Menschentum oder zur
wenigstens vorübergehenden Erhebung in einen Geheimniszustand geistig-
seelischer Vollendung nach dem Motto der Zauberflöte: "Mann und Weib
und Weib und Mann reichen an die Gottheit an." Eben damit bewirkt die
Hingabe, diese besondere Ausprägung der dem Leben immanenten Tendenz
zum Opfer, eine Erweiterung der Welt, den Durchbruch neuer Möglichkeiten,
neuer Gestaltungstendenzen, neuer Aufgaben, Erlebnisse und Verantwor-
rungen; auch eine tiefere Berührung mit dem Schicksal findet statt, mit dem
T.od, mit dem elementaren Wesen des Menschen - lauter Wendungen des
Ich-Du-Verhältnisses, die sich unter dem Begriff der "Daseinssteigerung"
zusammenfassen lassen, für welches Mehrwerden des einzelnen in der Hingabe,
die Erlebnisskala der Erschütterung, der Ergriffenheit, der Verwandlung, der
Freude, der. Wollust, des Glücks aber auch des Ernstes, der Leidenschaft,
des echten Leidens usw. bereitgestellt ist.
Bedenkt man diesen Reichtum des wirklich gelebten Ich-Du-Verhältnisses,
so wird die ganze Armut, Dürftigkeit und Monotonie seiner paraphilen Zerr-
bilder deutlich. Statt auf Daseinssteigerung geht die Entstaltungstendenz des
paraphilen Verhaltens auf Herabminderung des Daseins. Und zwar bildet
die Herabminderung des Daseins, diese Bewegung von oben nach unten,
von der Erhöhung in die Erniedrigung, von der Fülle in die Armut, vom
Ganzen in die Zerreißung, von der Verlebendigung in das Abtöten, von der
Bejahung in die Verneinung, vom Werden in das Zunichtewerden, von der
Gestalt in die Ungestalt, vom Wesen ins Unwesen, das geheime Ziel und den
geheimen Sinn der perversen Handlung. Gerade die Umkehrung der normalen
Liebesrichtung, die handgreifliche Zerstörung des erotischen Lebenssinnes
macht den erregenden Inhalt der perversen Akte aus. Diese sind also einer
destruktiven Intention unterstellt; es beherrscht sie das Gesetz der "Defor-
mierung", das E. STRAUS in geradezu klassischer Weise der reinen Trieb-
auffassung der Perversionen entgegengestellt hat. Sie entstammen, die
Paraphilien, wenn wir von ihrer generellen Intention absehen und ihren
Aufbau betrachten, samt und sonders aus einer Störung des Hingebungs-
vermögens und leben - inmitten der erotischen Annäherung von Personen -
aus dem Erhaltenbleiben hingebungsfeindlicher Sonderung. Darum aber
führen die perversen Einstellungen keine Gemeinschaftsbildung herbei; kein
gegenseitiges Wachstum undMehrwerden, keine Wertsteigerung und Wertent-
faltung der Personen begleitet sie. Darum aber halten sie sich auch außerhalb
des Schicksals, stehen in keiner positiven Kommunikation mit dem Tod, haben
keinen Werde sinn und verhindern das Entstehen echter Ich-Du-Verhältnisse.
Diesem allgemeinen Schema der perversen Handlungen folgt nun die
Schmerzsucht im besonderen. Wie aller "Masochismus" besteht die perverse
Schmerzsucht im leidenschaftlichen Verlangen nach Erniedrigung der eigenen
Person; insbesondere nach jener Erniedrigung, wie sie in Mißhandlungen
aller Art erfahren wird. Der perverse Genuß solchen Zunichtewerdens am
anderen nimmt mittels der Schmerzerregung orgastische Form an. Zur
Erklärung eines solchen Verlangens muß gesagt werden, daß es wie aller
Masochismus ausschließlich zu verstehen ist aus verhinderter Hingabe. Eine
paradoxe These, denn eher scheint der Masochismus, für den ersten Eindruck
wenigstens, einem Übermaß von Hingabe zu entspringen; man denke nur an
die abenteuerlichen· Auswüchse des masochistischen Unterwerfungstriebes,
an die Exzesse z. B. des Submissionismus. Und doch stammt diese Sucht zur
Demütigung, zur Erniedrigung, Schmälerung, Besudelung, Mißhandlung
usw. genau gesehen aus verhinderter Hingabe. Verlangen nach Hingabe bei
Unfähigkeit Zu ihr führt zu den phantastischen Übertreibungen des passiven
Unterwerfungs dranges. Weil er sie nicht leisten kann - sei es infolge einer
Hemmung, sei es infolge einer Mißbildung seiner Persönlichkeit -, will der
Masochist zur Hingabe gezwungen werden. Aber gerade Hingabe läßt sich
nicht erzwingen, sie ist der Atemzug der menschlichen Freiheit und gleichsam
ihre Seele. So geschieht es, daß ein Zerrbild von ihr in Erscheinung tritt:
erzwungene Unterwerfung nämlich unter den anderen - das Wunschbild
des hingabeunfähigen Masochisten. Von den ungezählten Möglichkeiten
erzwungener Scheinhingabe ist die passive Schmerzsucht nur eine.
182 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Daß das Verlangen nach Hingabe bei Unfähigkeit zu ihr eine phantastisch-
maßlose Gestalt annimmt, darüber berichtet die masochistische Kasuistik in
drastischer Weise. Wieder zeigt sich hier der Unterschied zwischen einer
gesunden erotischen Phantasie, die "heilig nüchtern" (HÖLDERLIN) bis in den
Rausch hinein im Auffinden und Ausbauen von Ausdrucks- und Darstellungs-
möglichkeiten das Leben der Hingabe reich und schöpferisch gestaltet, und
einer libidinösen Phantastik, die im Dienst eines ohnmächtigen Verlangens
nach Hingabe am inneren Widerstand gegen diese sich zu giftigen, schwülen,
grotesken Träumen erhitzt und schließlich in den Handlungen der über-
spannten Unterwerfungssucht sich auslebt. Während die echte Hingabe die
für die Sonderung von Ich und Du konstitutive Ichgestalt mitreißt und ein-
reißt, ihr also einen Untergang bereitet, der gleichbedeutend ist mit dem Auf-
gehen der Gesamtpersönlichkeit in höhere Zusammenhänge, gleichbedeutend
also ist mit einer Daseinssteigerung, konserviert die Scheinhingabe des Maso-
chisten inmitten der Exzesse seiner Erniedrigung gerade das Ich der Sonderung
und verhindert damit das Eingehen der Persönlichkeit in die Ich-Du-Gestalt
der lebendigen Liebeswirklichkeit.
Die Schmerzsucht - unser ursprüngliches Thema - wird jetzt erst
verständlich. Unterwerfung unter den anderen bis zum Zu-nichte-werden
an dem von ihm zugefügten Schmerz ist der stärkste Ausdruck für das Ver-
langen nach Hingabe bei Unfähigkeit zu ihr. Die sexuelle Wollust, die der
Schmerz zu steigern scheint, bleibt, ihrer Herkunft aus verhinderter Hingabe
gemäß und von der Beziehung zur Daseinssteigerung ausgeschlossen, ein
rein peripheres Erlebnis. Sie ist nicht Wollust höherer Einung, sondern nur
perverser Genuß einer Daseinsminderung der Persönlichkeit. Das im Schmerz
zunichtewerdende Ich genießt in der Reflexion auf die Art seines Zu-nichte-
werdens (durch erzwungene Unterwerfung nämlich unter den anderen) den
Schein der Hingabe. Er listet sich selbst durch Zuhilfenahme des grausamen
und tyrannischen Anderen bei Unfähigkeit zur Hingabe den Genuß ihres
Anscheins ab.
Beziehen wir dieses Verhalten der passiven Schmerzsucht unserer Theorie
gemäß auf Not und Norm, so liegt die Not hier teils in der Armut faktischer
Hingabeunfähigkeit, teils in der durch sie unaufhebbar gewordenen Sonderung
vom anderen. Die Norm aber wäre die Realisierung der Hingabe, die Auf-
hebung des Fürsichseins, die Gestaltung der Liebeswirklichkeit. Das
Gestelltsein der Persönlichkeit gegen beides wird in der passiven Schmerz-
sucht ausgelebt.
Was schließlich das sadistische Verhalten (und seine Abart, die "aktive
Schmerzsucht") betrifft, so zielt es auf Herabminderung des fremden Daseins,
auf Erniedrigung, Schmähung, Entwürdigung, Besudelung, Mißhandlung
usw. der fremden Person. Nicht die Hingabe des anderen wird begehrt,
sondern seine Unterwerfung; nicht seine Freiheit ist gemeint, sondern gerade
die Unfreiheit und die Unfreiwilligkeit seines Erlebens. In einem Zunichte-
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 183
Juckreiz und Kratzen. Zur Onanie im eigentlichen Sinn kommt es erst, wenn
das Bewußtsein auslösender Faktor derselben wird, wenn sie von der Ichstelle
des Selbst aus in Gang gebracht wird und nicht so sehr als ein physiologischer
Vorgang denn als Lebensäußerung der Persönlichkeit zu gelten hat. Zwischen
diesen zwei extremen Möglichkeiten, die Grenzfälle darstellen: einer rein
reflektorischen Onanie einerseits und einer rein ichdeterminierten andererseits,
lassen sich die Formen der Onanie einreihen. Die ichdeterminierte Onanie
wiederum unterscheidet sich wieder je nachdem, ob sie durch die Phantasie-
einstellung des Masturbanten heterosexuell orientiert ist oder ob sie sowohl
ichdeterminiert als auch ichbezogen erscheint. Die reflektorische Onanie
entspricht der Entwicklungsonanie, die heterosexuell orientierte der Not-
onanie - beide scheiden für unsere Betrachtung aus. Nur im Gebiet der
zugleich ichdeterminierten und ichbezogenen Onanie kann sie sich zur Sucht
entwickeln. Daß auch in diesem Gebiet reflektorische Momente im Sinne
z. B. eines somatisch fundierten Dranges eine Rolle spielen, folgt aus unserer
Feststellung, wonach die rein ichdeterminierte Onanie eine Grenzmöglichkeit
darstellt.
Damit die Sexualfunktion von der Ichstelle des Selbst aus in Gang gebracht
werde, müssen Ich und Leib im Ganzen der heranreifenden Persönlichkeit
auseinandergetreten sein. Zwischen beiden muß eine Sonderung bestehen,
vielleicht sogar eine Spannung, gegründet in einer Entfremdung, ja in einem
Gegensatzverhältnis von Leib und Ich. Unterscheidung von Leib und Ich:
Sonderung, Spannung, Entfremdung, Feindschaft zwischen beiden bezeichnen
Modalitäten ihrer Differenzierung, die für die Gegebenheitsweise von Ich
und Leib bestimmend sind. Die Geburt der Sexualfunktion erfolgt also inner-
halb einer in sich schon längst mehr oder minder zwiespältigen Persönlichkeit,
und das Schicksal ihrer Weiterentwicklung ist weitgehend von dieser ihr
vorgegebenen Allgemeinverfassung des Individuums bestimmt. Das bedeutet
für die sich entwickelnde Onanie, daß sie selbst in Abhängigkeit gerät von
Spannungen, die zwischen der Ichstelle und der Leibsphäre der Gesamt-
persönlichkeit bestehen. Einerseits wird sie von dieser Spannung genährt,
andererseits scheint sie etwas wie einen Spannungsausgleich zwischen Ich
und Leib herbeizuführen. Ja, man könnte bei oberflächlicher Betrachtung
glauben, daß mittels der Onanie Leib und Ich aus ihrer Sonderung zueinander
zurückfinden. Es gleicht das Wollusterlebnis der selbstausgelösten Sexual-
funktion dem Verschmelzungserlebnis von Ich und Leib, wie es für die
adäquat realisierte Einung mit dem andersgeschlechtlichen Partner charakteri-
stisch ist, nur daß dieses Zusammenkommen von Ich und Leib im Wollust-
erlebnis der Onanie nicht sich ereignet, sondern herbeigeführt wird, wodurch
sein Erlebnissinn sich von Grund aus verändert. Die Analyse dieses Unter-
schiedes wird uns über das Wesen der Onanie aufklären.
Betrachten wir, um der Verdeutlichung willen unseren Patienten. Erst
war er reiner Entwicklungsonanist. Aber schon die Wiederholung, schon
186 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Es kann nicht bezweifelt werden, daß der onanistische Akt, der den
geschilderten Ablauf hat, sich von den materiell gleichen Akten der voran-
gegangenen Reflexionsstufen hinsichtlich seines Erlebnissinns sehr wesentlich
unterscheidet. Die Entzweiung von Ich und Leib, die wir für das Zustande-
kommen der echten oder süchtigen Onanie voraussetzten, tritt aus ihrer
Latenz immer deutlicher hervor und bestimmt den Ablaufsmodus der sexu-
ellen Erregung. Ein leiblich fundierter Drang setzt sich gegen eine auf seine
Unterdrückung abgestellte Stellungnahme der Persönlichkeit durch, wobei
diese Stellungnahme allmählich aufgegeben und schrittweise zugunsten der
Leib-Forderung ausgeschaltet wird. In einem Standpunktwechsel der Per-
sönlichkeit vollzieht sich der Ablauf des onanistischen Tuns, in einem Stand-
punktwechsel, den der körperliche Drang vorübergehend erzwingt. Mehr
oder minder bleibt der Leib, indem er seine Forderung durchsetzt, der feind-
liche Gegenspieler des Ich, das durch seinen Standpunktwechsel als ein dem
Leib unterliegendes Ich bestimmt wird. Dieses Moment des Unterliegens
macht das Wollusterlebnis der Onanie hier zu einer zweideutigen Angelegen-
heit. Die Entzweiung von Ich und Leib bleibt, obschon verdeckt, im Onanie-
Akt konserviert und bestimmt dessen Erlebnissinn mit, indem sie seinen
Befriedigungsakt verhindert. So kommt es im Onanie-Akt zu einer Dissozia-
tion des Wollusterlebnisses, zu einem Auseinandertreten von Selbstgenuß
und Selbstbefriedigung. Dem Selbstgenuß entspricht eine Selbstbefriedigung
nicht, was sich in einer Stimmung von Unzufriedenheit mit sich selbst ankün-
digt, die als bitterer Nachgeschmack das Lustgefühl der somatischen Ent-
spannung im Patienten begleitet. Diese Unzufriedenheit mit sich selbst ist der
Ausdruck dafür, daß das Selbst des Onanisten, im Gegensatz zum Rausch des
Liebesaktes, sich im Wollusterlebnis nicht zu verleiblichen vermag. Sie bildet
einen wichtigen Ausgangspunkt für die Entwicklung der onanistischen Sucht
(vgl. Abschnitt 4).1
2. Ein solches Nichteingehen des Selbst in den Leib der Wollust ist für
die Onanie charakteristisch. Der Geschlechtsleib bleibt hier Gegenstand;
Gegenstand gewisser Maßnahmen, Gegenstand des Selbstgenusses, Bezie-
hungspunkt also einer reflektierten Grundhaltung, die toto coelo vom Leib-
verhältnis des Liebenden verschieden ist. Dieser hat den Leib, das Ausdrucks-
organ seiner Hingabe, nicht sich gegenüber; er läßt ihn vielmehr hinter sich.
Er wird, der Liebende, in der Erregung seiner Hingabe vom eigenen Leib
dem anderen entgegengetragen bis zur Verschmelzung mit ihm, die eine Art
Aufhebung der eigenen Leibgrenze bedeutet. Hier im Onanie-Akt hingegen
kommt es nicht zu dieser Selbstvergessenheit des Leibes. Hier bleibt der Leib
vielmehr Gegenstand; er rückt ins Licht eines wachen Selbstgenusses und
zeigt, wie die Persönlichkeit des Onanisten überhaupt, dem Untersucher eine
Verfassung besonderer Zerteiltheit. Dieses Zerteiltsein des leiblichen Daseins
in der Onanie ist für diese eminent charakteristischl . Und zwar sehen wir den
Leib zerteilt in einen bewußtseinsnahen und in einen bewußtseinsfernen Teil,
in einen die sexuelle Auslösung herbeiführenden, manipulierenden Teil und
in einen Leibteil, der den Gegenstand bildet dieser Manipulationen.
Um diese Aufhebung der Leibeinheit in der Onanie zu verstehen, müssen
wir bedenken, daß sie eine Aufhebung seiner Gestalteinheit ist. Zwei einander
widersprechende Bewegungstendenzen werden im onanistischen Akt zur
Einheit eines zielstrebigen Tuns zusammengefaßt, doch bedeutet gerade diese
Zusammenfassung von vital gegensätzlichen Bewegungstendenzen in einem
zweckhaften Tun die Zerstörung der Lebensgestalt des Liebesleibes, also
jener besonderen und spezifischen Ausdruckseinheit, welche die Bewegungs-
abfolge des erotisch affizierten und in die geschlechtliche Ekstase einmünden-
den Leibes zur Einheit einer Gesamtform zusammenordnet. Wir nennen die
Gesamtform einer qualitativ besonderen Reihe von aufeinanderfolgenden
Leibbewegungen die jeweilige "Leibgestalt" und betonen, daß das Leben des
Leibes im ständig fließenden Wandel solcher Leibgestaltungen besteht. Wenn
die Amöbe je nach der Situation Mund wird oder After, Fuß oder Tropfen,
so stellt sie in der undifferenzierten Sprache des einzelligen Wesens nur auf
besonders drastische Weise vor Augen, was jeder leiblichen Existenz in den
Phasen ihrer lebendig fließenden Selbstverwandlung widerfährt. Das Leben
des Leibes besteht zwar in wechselvollen "Verhaltungsweisen": Nahrungs-
aufnahme, Sexualität, Kampf, Spiel, Schlaf, Arbeit, Ruhe, Tanz, Marsch,
Erwartung usw. - lauter Akte, in denen eine bald mehr biologisch, bald
mehr geistig aufzufassende "Intention" sich realisiert. Von diesem inten-
tionalen Moment des Verhaltens aber und von der Situationsgestaltung, in
der die Intention des Verhaltens sich auswirkt, haben wir die qualitativ in sich
einheitliche Bewegungsabfolge zu unterscheiden, die den Leib als den Träger
des jeweiligen Verhaltens zu einer spezifischen Ausdruckseinheit, zu einer
besonderen Leibgestalt umformt. Das Verhalten z. B., zu dem ein kämpfendes
Lebewesen veranlaßt wird, wechselt je nach der Situation, welche kämpferi-
sches Verhalten auslöst; alle diese verschiedenen Bewegungsabläufe aber,
welche durch die Richtung des Lebewesens auf Besiegung eines Gegners, also
durch diese Richtung bestimmt sind, werden von der Einheit einer Leib-
gestaltung getragen und spielen sich auf ihr wie auf einem Hintergrund ab,
welche Leibgestaltung man unter dem Begriff des "Kampfleibes" zusammen-
fassen kann. Entsprechend halten wir uns für berechtigt, auch von einer
1 Das "Zerteiltsein des leiblichen Daseins" in der Onanie, von dem der folgende Ab-
schnitt handelt, und die "Sonderung von Ich und Leib", die wir oben behandelten,
stehen nicht einfach nebeneinander. Vielmehr drückt sich das Auseinandergetretensein von
Ich und Leib und ihr konsekutives Gegeneinanderwirken in der für die Onanie physio-
gnomischen Leibgegebenheit aus, d. h., die aktuose Spaltung in einen iehnahen Bewußt-
seinslcib und in einen iehfernen Geschlechtsleib, die erst den Onanieakt möglich macht,
ist der unmittelbare leibliche Ausdruck für die Sonderung von Ich und Leib und hat diesl
zur Voraussetzung.
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 189
1 Daß es sich hier um Tatsachen handelt, dafür legt die Sprache der Plastik Zeugnis ab,
die, soweit sie ihrer Idee treu bleibt, ein existentiell Allgemeines der leiblichen Erscheinung
zum Gegenstand hat.
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 191
1 Um diese schwer darstellbaren, darum aber nicht weniger realen Verhältnisse zu ver-
anschaulichen, sei an das Leiberleben schwangerer Frauen erinnert, die angeben, daß sie im
leiblichen Sinn nicht mehr sich gehören, daß etwas "Unbekanntes von ihrem Leib Besitz
ergriffen" hat und sie in seinen Dienst stellt, kurz, daß ihr Leib gleichsam einem Schicksal
(keinem physischen!) unterliegt, dessen Unentrinnbarkcit sie ängstigt, während es ihn zu-
gleich über die Grenze seines bloßen Fürsichscins in das Leben, Wachsen, Werden der Gat-
tung hinaushebt.
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 193
andersgeschlechtlichen Partner - oft bis zur Impotenz!, oft bis zur onani-
stischen Natur dieses Verkehrs, immer jedoch in der Onanie als solcher. In
dieser operiert der Bewußtseinsleib am Geschlechtsleib, und wenn auch im
einsamen Orgasmus der Geschlechtspol des Leibes allein zu sprechen scheint,
so bleibt dessen noch so intensiver Rausch doch in seiner Herkunft unwider-
ruflich von den Manipulationen des Bewußtseinsleibes determiniert und als
bloßer Ichgenuß charakterisiert. Die Onanie ist also dadurch gekennzeichnet,
daß der Geschlechtsleib inmitten des sexuellen Tuns nicht zur Herrschaft
und damit nicht zur Wirklichkeit seiner Ausgestaltung gelangt. Vielmehr
überformt hier der Bewußtseinsleib den Geschlechtsleib, wobei dieser in
jenen eingeht, während im normalen Liebesgeschehen gerade umgekehrt der
Bewußtseinsleib im Geschlechtsleib ertrinkt. Dieses Erhaltenbleiben des
Bewußtseinsleibes im Onanie-Akt erkennt man rein physiognomisch daran,
daß der Geschlechtsleib mittels gewisser Vornahmen an ihm zum Objekt
gemacht wird, daß also das Ich durch den Bewußtseinsleib hindurch auf den
Geschlechtsleib einwirkt, indem es in einer Haltung reflektierter Überwachung
den Ablauf der sexuellen Funktion leitet und herbeiführt, wodurch seine rest-
lose Auflösung in ihm ebenso verhindert wird wie die wirkliche Ausgestaltung
des Liebesleibes. Dessen Verwirklichung ist, wie schon gesagt, an die Be-
dingung geknüpft, daß der Geschlechtsleib aufhört, Gegenstand zu sein,
indem er verwirklicht wird.
Diese Analyse der Leibgegebenheit in der Onanie läßt ihren Begriff erst
mit größerer Deutlichkeit hervortreten. Für die Onanie ist wesentlich, daß
sie gerade in einer Zerstörung der Liebesgestalt des Leibes sich auswirkt,
eine destruktive Tendenz, die allen Reden von der völligen Harmlosigkeit
der Onanie und STECKELS apologetischer Leidenschaft entgegengehalten
werden muß2. Erst die Analyse der Leibgegebenheit und ihrer Modalitäten
lehrt uns ferner, die Bedeutung der geschlechtliches Tun beherrschenden
Phantasien und Intentionen richtig einschätzen. So sieht man Onanie-Akte
gelegentlich von intensivster Versenkung in die vorgestellte Nähe eines
geliebten anderen begleitet, während umgekehrt, seinem rationalen Aspekt
nach völlig normaler Geschlechtsverkehr hinsichtlich seines Erlebnissinnes
durch und durch ichbezogen und selbstgenießerisch sein kann. Ist man auf
1 Die Impotenz oder Frigidität ist nur die im Störungsbereich der sexuellen Funktion
kulminierende und hier erscheinende Unfähigkeit des einzelnen, von der Wirklichkeit einer
erotischen Situation sich ergreifen und von ihr auch hinsichtlich seines leiblichen Daseins
sich umwandeln zu lassen. Wenn die Liebesgestalt des Leibes dadurch zustande kommt, daß
der Geschlechtspol des Leibes diesen in seiner Totalität, also auch in seinem Bewußtseinspol
durchdringt und überformt, so kommt die Impotenz zustande durch eine, die Liebessituation
und Liebesgestaltung ausschließende Prävalenz des Bewußtseinsleibes.
2 Diese destruktive Tendenz der Onanie genügt völlig, um die Schuldgefühle zu erklä-
ren, die sie begleiten. Keineswegs bedarf es zu deren Erklärung eines Rekurses auf latente
Inzestphantasien u. dgl., die hinter den Akten der Selbstbefriedigung gefunden werden
können.
v. Gehsattel, Anthropologische Schriften. 13
194 Studien zur speziellen Psychopathologie.
durch den Spiegelzauber des eigenen Bildes ist ein süchtiger Dauerzustand
auf dem infernalischen Hintergrund verweigerter Liebe.
4. Abschließend haben wir uns noch einmal mit der Onanie als Sucht
zu befassen. Man weiß von Patienten, die sechs-, acht-, ja zwölfmal im Tag
onanieren (der "Onanismus" STECKELs 1). Hinsichtlich ihrer Tiefenpsychologie
zeigen solche Fälle, soviel ich sehe, nichts, was sie von weniger Süchtigen
unterschiede. Dies veranlaßt uns, eine Unterscheidung auszusprechen, die
unausgesprochen unsere bisherigen Untersuchungen beherrscht. Wir müssen
stets die Paraphilie von der Sucht unterscheiden, obschon beide in engstem
Zusammenhang stehen. Die Paraphilie trägt in sich strukturgemäß den Keim
zu süchtigem Verhalten, aber sie ist nicht die Sucht. Wenn die Paraphilie eine
Reaktionsbildung des Geschlechtslebens auf die Wendung der Persönlichkeit
gegen Not und Norm ist (vgl. Kap. II, 3), so ist umgekehrt die Sucht eine
triebmäßige Reaktion der Persönlichkeit auf ihr paraphiles Verhalten. Weil
das paraphile Verhalten keine Befriedigung im eigentlichen Sinn ermöglicht,
darum treibt es die Persönlichkeit in die Sucht hinein. Die Sucht stellt eine
Reaktion dar auf den Zustand von Unbefriedigtheit, der das paraphile Ver-
halten begleitet. Sie bezeichnet, die Sucht, nicht eine neue Perversion des
Geschlechtslebens, sondern den Ablaufmodus der Perversion. Dieser wieder
wird verständlich aus der besonderen Art und Weise wie die jeweilige Perver-
sion sich zur Lebensgeschichte des Individuums verhält, ein Verhältnis, das
sich am besten an der Onanie studieren läßt. Man kann einem sexuellen Akt,
wenn man ihn in der atomisierenden Betrachtungsweise der Biologie oder
Psychologie ins Auge faßt, nicht ansehen, ob er sich in die Lebensgeschichte 2
des Individuums als ein unvertretbarer Teil dieser einfügt oder nicht. Und
doch ist diese lebensgeschichtliche Bedeutung ein entscheidendes Merkmal
sexueller Akte, sofern man darauf ausgeht, sie als sinnvoll oder als sinnwidrig
zu differenzieren. Die Lebensgeschichte des Individuums ist das Bezugs-
system, das über die Lebensbedeutung sexueller Akte erst entscheidet. Ein
solcher Akt kann im Sinn der Biologie aussehen wie der andere und doch dem
Kontinuum des individuellen Werdens eingegliedert sein oder aus ihm heraus-
fallen. Erst die historiologische Valenz eines sexuellen Aktes läßt erkennen,
ob er mit der Lebensentfaltung und Selbstgestaltung der Persönlichkeit zu
tun hat, ob diese also in ihn eingegangen ist oder nicht. Alle Sexualmoral hat
eine Lehre von der lebensgeschichtlichen Valenz des Erotischen zur Voraus-
setzung.
Daß die sexuelle Moral die Onanie verurteilt, ist in deren negativem Ver-
hältnis zur Lebensgeschichte der Persönlichkeit und ihrem Werden begründet.
Im Gegensatz zu den normgemäßen Äußerungen des Geschlechtslebens, die
Ausdruck sind eines in geistiger und seelischer Hinsicht mehr oder minder
1 Vgl. STECKEL,Onanie und Homosexualität.
2 Vgl. hierzu L. BINSWANGER: Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte, 1928,
und E. STRAUS, Geschehnis und Erlebnis.
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 197
jenem auf, daß er sich mit seinem Verführertum in einer fast bösartig zu
nennenden Eindeutigkeit des Wollens identifiziert, während unseren Patien-
ten ein geheimes Leiden auf seinen erotischen Abenteuern begleitet und ihn
mit seinem eigenen Verhalten entzweit. Kurz, es ist für die Beurteilung der
don-juanistischen Phase im einzelnen Fall von Bedeutung, zu sehen, wie der
in ihr Befindliche zu sich selber steht: ob seine Entzweiung mit der Richtung
des eigenen Begehrens ihm ganz unbewußt bleibt, wie dem Don Juan der
Oper, bei dem sie nur im Erscheinen des Gespenstes verhüllte Gestalt annimmt,
oder ob sie sein Selbstbewußtsein entscheidend mitbestimmt, wie bei unserem
Patienten.
Dieser, so sahen wir, war sich bewußt, mit seinen mannigfachen Erleb-
nissen "an der Liebe vorbeizuleben". Er protestierte gegen seine Ehe zwar
im Namen der Liebe, was er aber gegen sie eintauschte, war nicht Liebe,
sondern don-juanistische Sucht. Was ihm selber auffiel, war eine fast univer-
selle Ansprechbarkeit seines sexuellen Empfindens, das einsetzte, sobald er
überhaupt die Bahn des außerehelichen Geschlechtslebens einschlug. Er
berichtet, die intime Zuwendung zu einem weiblichen Wesen habe in jener
Zeit, statt ihn auf sie festzulegen, sofort sein Begehren auch jeder anderen
gegenüber erweckt. Wie unter einem dämonischen Zwange stehend mußte
er jeder Begegnung mit weiblichen Wesen die vertrauliche Wendung geben,
was weder durch ein echtes Angezogensein noch durch echtes Wählen gerecht-
fertigt war. Sowohl die pathische wie die aktuose Seite seines erotischen Ver-
haltens zeigen also der Norm gegenüber eine Rückbildung, ein Absinken von
dem Niveau echten Beteiligtseins. Ebenso fern von wirklichem Gefallenfinden
am anderen wie von wirklicher Entschlossenheit zu ihm sehen wir ihn bis
in sein werbendes und zugreifendes Verhalten hinein von einem Moment der
Passivität bestimmt, das ihn zum Sklaven seiner Macht über Frauen machte.
Obwohl Verführer, war in Wahrheit doch er der Verführte; scheinbar Erobe-
rer, war er der Eroberte, und das Unbefriedigende in dem alle Begegnungen
überdauernden Ressentiment gegen so gewonnene Partner trieb ihn in raschem
Wechsel von einer zur anderen, also ganz ins Fahrwasser der don-juanistischen
Sucht (vgl. Kap. I).
Deutlicher als die des Entwicklungsalters zeigt uns die regressive Abart
des Don-J uanismus die grundsätzliche Wendung der Persönlichkeit gegen
die erotische Norm. Es ist hier wohl das entwicklungsgeschichtlich Unzeit-
gemäße, in gewissem Sinne durch die Reifung der Persönlichkeit Überholte,
was dem Zurückgreifen auf die polygame Stufe des Geschlechtslebens für das
Empfinden der Süchtigen selbst die fatale Note verleiht. Es scheint auf Grund
mehrfacher Beobachtungen sich häufig so zu verhalten, daß der Don J uan
des Entwicklungsalters von Sieger- und Eroberungsgefühlen getragen wird,
während sich der Regressive, wie in unserem Fall, oft als Eroberter und
Unterliegender vor Augen steht. Für beide Typen aber gilt, daß sie trotz
großer Vielfältigkeit der Berührung mit dem anderen Geschlecht nicht zu
202 Studien zur speziellen Psychopathologie.
der erotischen Ergriffenheit dar und führt eine sinnvolle Verklärung des
geliebten Gegenstandes herbei, sinnvoll darin, daß sie ihn bei Anerkennung
aller einzelnen Charakterzüge in eine höhere und vollkommenere Daseins-
gestalt hineinsieht, welche Ausdruck ist seines Teilhabens an der idealtypi-
schen Wirklichkeit des ewig Weiblichen oder ewig Männlichen. Die Fähig-
keit, den einzelnen Menschen im Lichte dieses allgemeinen Wesens zu sehen,
macht das aus, was STENDHAL in seinem lehrreichen Buch die Kristallisation
nennt und was für ihn der Zentralbegriff seiner Liebeslehre ist. Kraft dieser
Fähigkeit vermag man an der einzelnen Frau immer neue Seiten, neue Vorzüge,
Reize, Schönheiten, Vollkommenheiten gewahr zu werden, die der Unbetei-
ligte, ja STENDHAL in gelegentlichem Selbstmißverständnis selbst, als "Illu-
sionen" bezeichnet, die aber in Wahrheit Funde sind eines schöpferischen
Liebesblicks und die ihre Begründetheit darin bewähren, daß sie eine existen-
tielle Rückwirkung haben, einmal auf den Gegenstand der Liebe, der sich
durch die Einstellung des anderen besser, schöner, stärker, reicher werden
fühlt - dann aber auch auf den Liebenden selbst, der sich, im Bann seines
Gefühls über sein alltägliches Niveau emporgehoben, verwandelt und vervoll-
kommnet weiß, so, als sei er selbst auch erst unter dem Einfluß einer so ent-
scheidungsvollen Begegnung in sein eigenes Wesen und in seine eigene Männ-
lichkeit eingetreten. Schon aus diesen Hinweisen geht hervor, daß, im Gegen-
satz zu den tausendunddrei Frauen Don Juans, das eigentliche Liebes-Erlebnis
eine epochale Bedeutung innerhalb der einzelnen Lebensgeschichte besitzt,
fast wie ein Bekehrungserlebnis, und daß der Begriff der Vita nuova sehr
deutlich den mit der erotischen Erschütterung zugleich erfolgenden Durch-
bruch eigener (oder fremder) Verwesentlichung bezeichnetl.
Wie nun verhält es sich in dieser Hinsicht mit Don Juan? Von ihm
behauptet KIERKEGAARD, in ihm sei wirksam eine "idealisierende Kraft der
Sinnlichkeit", also auch eine für sein spezifisches Liebesziel konstitutive
Phantasietätigkeit besonderer Art. Unmittelbar einleuchtend aber ist, daß
dem Erotiker der don-juanistischen Stufe das Liebesobjekt unserer Schil-
derung völlig unzugänglich bleibt. Wieder ist es STENDHAL, der an einer
anderen Stelle seines Werkes darauf hinweist, daß die gleiche Frau als Gegen-
stand der Amour passion etwas toto coelo Verschiedenes ist von dem, was sie
für die Einstellung Don Juans bedeutet. Gerade um diesen Unterschied aber
ist es uns zu tun. Wir geben die "idealisierende" Wendung in Don Juans
Gestelltsein zum weiblichen Geschlecht zu und werden noch versuchen
müssen, diese zu fassen; zuerst einmal leuchtet aber ein, daß Don JI/an sich
1 Gedenken wir hier STENDHALS, eines der besten Kenner dieser Seite des Erotischen,
so fällt auf, daß ein gewisses An-sieh-halten, sehr verschieden von allem Draufgängertum,
Qffenbar der Kristallbildung zuträglich ist. Denn nicht anders kann man wohl das jahrelange
Sichverweigern Mathilde Dembowskas (wie das seiner meisten Romanheldinnen) erklären,
als dadurch, daß STENDHAL um höherer Möglichkeiten des Erotischen willen unbewußt
selbst es herbeiführte.
204 Studien zur speziellen Psychopathologie.
nicht zur Frau verhält, sondern nur zum Weib. Der Ausspruch FLAuBERTs,
Gott habe das Weibchen, der Mann aber die Frau geschaffen, deutet auf den
Unterschied hin, den wir meinen.
Das Weibliche ist im Weib ganz anders gegeben als in der Frau. Das
einzelne Weib ist als Weib repräsentativ für das ganze weibliche Geschlecht,
wobei das Ganze hier ein extensives Ganzes meint, das einzelne Weib also
für alle Weiber steht und von allen eines bedeutet, Teil ist somit und zugleich
Verbildlichung einer extensiven, inhaltlich leeren Mannigfaltigkeit. Das
Weibliche des Weibes gibt sich hier als das, was die konkrete, hic et nunc
vorhandene Einmalige zum Fall macht, zu einem Fall von Weiblichkeit und
damit zum Haltepunkt eines erotischen Dranges, der zwar die Richtung auf
alle beibehält, diese aber vorübergehend aufzuheben scheint, weil er im einzel-
nen Weib auf das Weibliche stößt als auf die bildhaft sinnliche Vergegen-
wärtigung der weiblichen Allheit. Diese im einzelnen Weib auftretende
Spiegelung des Weiblichen als der gattungsmäßigen Allgemeinheit ist durch-
aus verschieden von der Erscheinung des ewig Weiblichen in der Frau. Hier
bedeutet das Weibliche nicht eine extensive und inhaltlich leere Mannig-
faltigkeit, sondern eine intensive Unendlichkeit, ein Pleroma, das als Idee und
Wesen des Weibseins der einzelnen Bestand, Bedeutung, Fülle, Wesen ver-
leiht, während umgekehrt die einzelne an sich die Wirklichkeits stelle des
Weiblichen überhaupt, seine Faßbarkeit und seine Veranschaulichung darstellt.
Don Juan nun umgeht die Frau, d. h. die eigentliche Wirklichkeits gestalt
des Weiblichen, aber das Weib als Bild der Gattung bildet den Gegenstand
seiner Hingerissenheit. Ob Zofe oder Gräfin, ob hochentwickelt oder niedrig,
ihn bezaubert die allgemeine, gegen soziale, ethische und personelle Unter-
schiede indifferente Tatsache ihres Weibseins. An ihr entzündet sich sein
Gefallen und seine Begierde. Man kann sagen, daß ihm gefällt, was er begehrt,
und daß das konkrete, hic et nunc ihm begegnende Weib für ihn nur eine neue
faßbar gewordene Stelle im Kontinuum des Geschlechts bedeutet. In diesem,
seinem Gefallen und Begehren faßbar gewordenen Fall von allgemeiner
Weiblichkeit geht die Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit der konkreten
weiblichen Persönlichkeit unter. Das, was das Weib zur Frau macht, dieses
Ineinander von einmaliger Person und ideeller Weiblichkeit entzieht sich
seinem Blick und seiner Leidenschaft, weswegen der andere für ihn kein Du
wird, sondern eine Sie bleibt oder ein Es. Daß sich das so verhält, wird offen-
bar, sobald Don Juan bei seinem Einbruch in den fremden Lebenskreis auf
die "Frau" stößt: im gleichen Augenblick erlischt sein Liebesglück, und er
entweicht: denn die Frau stellt durch ihre bloße Existenz Ansprüche an die
Aktuosität seiner Persönlichkeit und an die Intensität seines Erlebens, die er
in plötzlich einsetzender Repulsion inne wird. So kann man sagen, daß das
Weib Don Juan anzieht, die Frau aber ihn abstößt.
Versuchen wir noch einmal die Phantasie gestaltung der don-juanistischen
Stufe zu fassen. Im Gegensatz zur produktiven Haltung der Amour passion.
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 205
Verlockung, mit dem die don-juanistische Begierde das einzelne Weib aus-
stattet, in der Tat nur als die Wirkung einer illusionierenden Phantasietätig-
keit anzusprechen.
Diesen erotischen Illusionismus der don-juanistischen Haltung verdeut-
licht erst recht die Reflexion auf die ihr zugeordnete Form des Selbstbewußt-
seins. Wir sagten bereits, daß in der Berührung mit dem Traumbild seines
Verlangens Don Juan eigentlich sich nur mit sich selber berührt. Ich und Du
sind auf dieser Stufe des Lebens noch nicht auseinandergetreten. Indem sein
Expansionsdrang die Richtung nimmt auf alle Weiber, bestimmt er sich in
dieser Wendung selber als den alleinigen Mann. Der alleinige Mann aber ist
nur zu verwirklichen in der Eroberung der weiblichen Allheit. Eines fordert
das andere, allein realisierbar sind beide Ziele nur im Imaginären, weswegen
der Versuch, die Wirklichkeit im Sinne seines Liebestraumes zu gestalten,
Don Juan tantalushaft dem Illusionären verhaftet.
Die Analyse des don-juanistischen Selbstbewußtseins bedarf aber der
Vertiefung. Auf seinem Streifzug durch die extensive Unendlichkeit seiner
Gegenwart kommt Don J uan nämlich, genau betrachtet, nicht von der Stelle.
Zwar findet statt ein Stellenwechsel seines Gefallens, seiner Begierde und
seines Genusses, im Hinblick auf das Werden aber ist diese Bewegung eine
Scheinbewegung und eigentlich ein Treten auf der Stelle. Was als Veränderung
imponiert, als Abwechslung und Wandlung, das Sich-neu-fühlen angesichts
jedes neuen Weibes - in lebensgeschichtlicher Betrachtung ist es nur Wieder-
holung. Trotz der Tausendunddrei ereignet sich für die Reflexion auf das
Werden - nichts. Dieses geheime Nichts wohnt dem Erobern der unge-
zählten Weiber ein und unterlegt den Selbstgenuß des Eroberers mit ver-
borgener Angst und Verzweiflung. Doch gehört es zu dieser Stufe des Selbst-
bewußtseins, daß ihm die Kommunikation fehlt mit jener Schichte des Selbst-
seins, welche von der Angst des Nicht-werden-könnens besetzt ist. Gegen
diese Tiefe seines Seins, oder genauer Nichtseins, dichtet sich Don J uan ab
und verhindert damit die eigene Umkehr. Nur in der rastlosen Getriebenheit
seines Verlangens wetterleuchtet diese Angst, oder sie exteriorisiert sich in
Erscheinungen, im drohenden Gespenst der Oper, im Bild des rächenden
Comturs. Sein bewußtes Leben spielt sich im Glanz der rauschenden Feste
und im Taumel der ungestümen Erfüllungen ab, aber er ist umlagert vom
fernvernehmlichen Einspruch drohender Gegenrnächte. Innerhalb dieses
so gezogenen Ringes spielt sich sein Leben ab, ohne zu einem Sinn und seiner
eigentlichen Bedeutung zu erwachen.
An dieser Stelle der Untersuchung kann man sagen, daß die Bewegung
Don Juans - scheinbar ein sieghafter Eroberungszug durch die Welt des
Weibes - ihrem wahren Sinn gemäß Flucht ist, Flucht vor dem Offenbar-
werden der eigenen Tiefe, der Schwermut des eigenen geheimen Nicht-seins, --
welche Flucht dargelebt wird im Besitzergreifen der weiblichen Welt. Das
Angezogensein durch das Weib und das Abgestoßensein von der eigenen
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 207
Tiefe sind zwei Seiten eines unteilbaren Vorgangs. Wenn wir entwickelten,
daß es die "Frau" im Weibe ist, welche Don Juan abstößt und sein Ent-
weichen veranlaßt, so begreifen wir jetzt, warum sich das ereignet. Die Frau
im Weibe spricht nämlich Don Juans Tiefe an, gegen die er sich verschließt
und vor der er flüchtet. Sein Abgestoßensein von der Frau und sein Abge-
stoßensein von der eigenen Tiefe des Nichtseins sind zwei Seiten des gleichen
Vorgangs. Eine geheime Not also treibt ihn zum Weib, doch ist dieses, so
wie Don Juan mit ihm verfährt, nur das Mittel zur Betäubung seiner Not und
nicht deren Überwindung. Als Mittel zur Betäubung aber bleibt das einzelne
Weib vertauschbar, ja nur in seiner Auswechselbarkeit und Vertretbarkeit
durch jedes andere geht es in Don Juans Leben ein.
Diese Vertauschbarkeit jedes einzelnen Weibes für Don Juan ist der
Ausdruck seiner leidenschaftlichen Abblendung der Frau, einer tenden-
ziösen Verleugnung ihres personellen Daseins, ihrer einmaligen Wirklich-
keit, ihres seelischen und geistigen Wesens, ihrer besonderen Menschlichkeit.
Nur in der eigenen Hingabe erschließt sich dem Mann das Wesen der Frau,
Don Juan aber will nicht die eigene, nur die fremde Hingabe: nur im Erlebnis
dieser fremden, eigentlich unbegriffenen Hingabe, nur im Besitzergreifen des
anderen lebt er selbst als rascher Eroberer, der nicht fassen oder halten kann,
was ihm zufällt, sondern der im Feuer heftigen Zugreifens und flüchtigsten
Rausches aufflammt,· ohne wirklich zu erwärmen, und vor allem, ohne sich
zu wandeln. Daher die stupende Monotonie seiner immer gleichen Erlebnisse;
daher das Getriebene, Schweifende und Rastlose seiner letztlich unlebendigen
Begierde; daher auch die ungeheuerliche Blindheit für das Schicksal seiner
Opfer. Der Vertauschbarkeit des einzelnen Weibes entspricht die ewige
Wiederholung der Eroberungsakte. Genuß, Betäubung, Rausch bei geheimer
Angst; nie ergriffene Erfüllung und stets entweichende Befriedigung - das
ist Don Juans Lebensgesetz; wir erkennen darin das in den ersten Kapiteln
schon formulierte, hier in der neuen Wendung des Don-Juanismus auf-
getauchte und völlig offenkundige Gesetz der sexuellen Sucht.
3. Wir können unsere Untersuchung über die Physiognomik der don-
juanistischen Sucht nicht abschließen, ohne einen Blick zu tun auf die Ergeb-
nisse der "Tiefenpsychologie". Ihr gemäß entwickelt sich diese Sucht in
Abhängigkeit von der Mutterbindung derart, daß Don Juan in keinem Weibe
zur Ruhe kommt, weil sein Verlangen, ihm selber unbewußt, der Mutter gilt.
Und er verfährt in seinem treulosen Verlassen jeder einzelnen so, wie halb-
bewußtem Eindruck gemäß seine Mutter mit ihm selber verfahren ist, als sie
Bruder oder Vater sich zuwandte.
Unmöglich, an dieser Stelle die grundsätzlichen Fragen der Entwicklungs-
psychologie zu diskutieren. Wir wollen einfach abschließend unsere Anschau-
ung skizzieren. Denn die Erfahrung, auch die singuläre unseres Falles,
scheint FREuDs Lehre zu bestätigen, und es ist mehr die Ausdeutung dieser
Erfahrung, in der wir von ihm abweichen. Wenn an Don Juans Verhalten
208 Studien zur speziellen Psychopathologie.
uns eine Spaltung von Liebe und Sexualität auffällt, am Gegenstand seines
Begehrens aber die in Frau und Weib, und wenn im Hintergrund seines Ver-
haltens eine Mutterbindung steht, ja Andeutungen des sog. Ödipuskomplexes
sich finden, so hat eine konstruktiv-genetische Psychologie zwischen beiden
Tatsachenreihen eine Verbindung herzustellen.
Auffallend ist bei Don-Juanisten, die bei vielen Neurotikern sonst auch
nachweisbare, besonders unterstrichene Sonderstellung der Mutter aller Weib-
lichkeit gegenüber. Allerdings gehört eine Sonderstellung der Mutter aller
Weiblichkeit gegenüber überhaupt zu ihrer normalen Gegebenheitsweise.
Sie gehört, die Mutter, einer anderen Ordnung menschlicher Beziehungen
an - sie ist "eben die Mutter". Diese Sonderstellung ist keineswegs sexueller
Natur. Im Gegenteil, alles was über die infantile Sexualität des Menschen und
über seine Inzestwünsche gesagt wurde, vermag nicht die Tatsache aus der
Welt zu schaffen, daß der Mensch das andersgeschlechtliche Wesen primär
nicht durch seine Sexualität hindurch erlebt. So beherrscht die Mutter als
weibliche Hauptfigur der ersten Lebenszeit die präsexuelle Periode des Men-
schen. Weit davon entfernt, für die Beziehung von Mutter und Sohn selbst-
verständlich zu sein, bedeuten auf die Mutter bezogene Inzestwünsche schon
eine Deformierung des ursprünglichen Verhältnisses zwischen beiden. Erst
der Widerstand gegen das Hinauswachsen über den mütterlichen Lebenskreis
- diese Forderung der erwachenden Sexualität - führt zu einer Sexuali-
sierung des Mutter-Sohn-Verhältnisses. So erscheinen alle Inzestphantasien,
-wünsche und -handlungen als der Ausdruck einer gebremsten Entwicklungs-
bewegung ; sie entfalten sich in einer destruktiven Doppelwendung teils gegen
den Sinn der Mutter-Sohn-Beziehung, teils gegen den Sinn der Mann-Weib-
Beziehung. Daß die positive sexuelle Zuwendung zur Mutter eine sinnwidrige
und damit destruktive Bedeutung hat, veranschaulicht der Vateranteil des
"Ödipuskomplexes". Im Bild des Vaters tötet der Sohn den Ruf des Lebens,
den Sinn seines Einzeldaseins, nämlich die Forderung, Glied zu werden in der
Kette der Generationen.
Die Sonderstellung der Mutter im Leben des einzelnen ist also keineswegs
sexueller Natur. Ja, sehr häufig sieht man die erwachende Sexualität gerade
diese Sonderstellung von (Vater oder) Mutter unterstreichen: auf der einen
Seite die Mutter, auf der anderen Seite alle Frauen sonst. Es ist eine neue Welt,
die der erwachende Trieb vermittelt und kund macht - eben die des Weibes,
das gerade im Nicht-die-Mutter-sein seine faszinierende Neuheit und Anders-
artigkeit erschließt. Je nach den Lebensumständen, der Vorgeschichte, der
erotischen Konstitution des einzelnen ist der Gegensatz zwischen der mütter-
lichen und der weiblichen Welt sonst, mehr betont oder mehr verwischt.
Es gibt erotische Varietäten, zu deren individuellen Liebesbedingungen auch
sexueller Art eine moralische, ja eventuell sogar eine physische Ähnlichkeit
der Geliebten mit der Mutter gehört: wieder andere begehren nur, wo der
absolute Gegensatz der Geliebten zur Mutter in die Augen springt; sehr oft
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 209
das Muttererlebnis gebunden ist, ist dasselbe. Das Besondere der don-
juanistischen Situation ist nur entwicklungsgeschichtlich zu verstehen, indem
man sich vergegenwärtigt, daß sie einen Bruch mit der präsexuellen Periode
des Menschen bedeutet. Aus dem Bedürfnis, die Sexualität des Menschen bis
in seine Kinderzeit hinein zu verfolgen, hat sich die Psychoanalyse den Blick
verdunkelt für die epochale Abgesetztheit der sexuellen gegen die präsexuelle
Periode des Individuums. Ein Mißverständnis des Muttererlebnisses ist davon
die Konsequenz. Wenn Don Juans höhere erotische Intensität dem Weib
gegenüber versagt, so liegt das daran, daß sie im Muttererlebnis gebunden ist.
Das heißt aber nicht, daß er die Mutter begehrte, vielleicht nicht einmal, daß
er in ausdrücklicher Weise sie zu lieben wußte oder daß diese Intensität
bereits hier zur Entfaltung kam. Viel zu wenig bedenkt man, daß das Mutter-
erlebnis der Ichwerdung vorausgeht und daß es den Lebensraum bereitstellt,
in dem diese sich abspielt. Wenn auch in physischer Hinsicht aus ihr hervor-
gegangen, ist das Kind in psychischer Hinsicht noch in der Mutter enthalten
und von ihr umschlossen. Die Gesetze dieser psychischen Abhängigkeit,
eines emotionalen Getragenseins bei vielfach eigener Aktivität sonst, sind noch
nicht erforscht. Jedenfalls aber kann man sagen, daß alle Verhaltungsweisen,
wodurch Kinder Selbständigkeit und Selbstbestimmung bezeigen, doch nur
sich entfalten auf dem Boden einer letzten vitalen und sicher erotisch zu
nennenden Eingesenktheit in dem mütterlichen Lebenskreis. Diese kommt
als solche im allgemeinen kaum zum Bewußtsein, aber sie bestimmt das
geheime Glück der Kindheit sehr wesentlich, wenn das Mutter-Kind-Ver-
hältnis glücklich ist, sehr wesentlich auch die Not der Kindheit, wenn dies
Verhältnis irgendwie belastet ist. Ein weiteres Problem, auch hierher gehörig,
ist das, nach der Gegebenheitsweise der Eltern, insbesondere der Mutter,
für das Kind. Jedenfalls ist die Beziehung in ihrer Anlage und Grundstruktur
eine ganz anders unbewußte und nahe, als die erwachte Sexualität sie dem
Weibe gegenüber zuerst ermöglicht. Mit ihren Wurzeln reicht sie ja in den
ichlosen Anfang des individuellen Lebens hinein, in eine Zeit, wo von
einander Gegenüberstehen zweier Menschen nicht die Rede sein kann, wo
die Mutter also weder als Individuum noch als Persönlichkeit, noch als Du,
noch auch als "Mutter" gegeben sein kann; wo die Sonderung des Menschen
vom Mitmenschen überhaupt noch nicht eingetreten ist, sondern der einzelne
in seiner Mitwelt erlebnismäßig in ungeschiedener Einheit ruht. Jedenfalls
bilden Mutter und Sohn ein Ganzes, eine Zweieinheit von besonderer Gestalt
- asymmetrisch könnte man sie nennen, insofern, als sie sich zueinander
verhalten wie das Tragende zum Getragenen, das Umschließende zum Um-
schlossenen, das Enthaltende zum Enthaltenen. Erst auf diesem Hintergrund
entwickelt sich das Mutter-Kind-Verhältnis und gestaltet sich persönlicher;
aber nie ohne diesen historischen Hintergrund von paradiesischer Zweieinheit
zu verlieren, der darum nicht weniger eine Realität ist, weil er nicht zum
Bewußtsein kommt. Es ist eine Frage der beiderseitigen Anlage oder des
Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. 211
soweit es sich aber um das eigenartige Moment ihres Ablaufs handelt, folgt
sie dessen allgemeinen Regeln. Nur der eine Punkt wurde uns zum Anlaß
besonderer Überlegungen - die angebliche Abhängigkeit der don-juanisti-
sehen Sucht von der Mutterbindung. Wir erkannten das Irrige der Annahme,
es sei Don Juans Verlangen durch eine unbewußte Richtung auf die Mutter
als Geschlechtswesen seiner Befriedigung beim Weibe beraubt und entgleise
in Abhängigkeit von solchen "Inzestwünschen" in die Sucht. Uns erscheint
das Muttererlebnis vielmehr repräsentativ für die Möglichkeit einer V erbunden-
heit, auf die auch die Mann-Weib-Beziehung in ihrer Ich-Du-Gestalt angelegt
ist. VON WEIZSÄCKER hat für diese Art von Beziehungen den Begriff der "biper-
sonalen" Einheit geprägt, der unserer Vorstellung von der gelebten und
lebendigen "Zweieinheit" entsprechen dürfte. Der Don- Juanismus nun ist
nur zu verstehen durch einen Abfall von dieser Gestaltungshöhe mitmensch-
licher Beziehungen. Die sexuelle Begierde isoliert Don Juan sowohl gegen
die Mutter wie gegen die Frau: aus der ursprünglichen Einheit mit der Mutter
ist er herausgetreten - in die neue Verbindung - , in die Ich-Du-Gestalt des
Erotischen ist er noch nicht eingegangen. So treibt ihn die erwachte Begierde
in dem Zwischenland der sexuellen Abenteuer von Eroberung zu Eroberung.
Er genießt, aber nur in süchtiger Weise, d. h. aller echten Befriedigung beraubt,
in einer Betäubung seines höheren Verlangens, mit einer Wendung gegen
Norm und Sinn des Erotischen und ohne über die bloße Wiederholung hinaus-
zugelangen.
oder der Zeit- und Werdensstörungen in der Melancholie oder der Zwänge
des Anankasten oder der Depersonalisation, der Phobien usw. an neuen
Gesichtspunkten ergeben hat, - dieser theoretische Neugewinn beteiligt auch
das Problem der sexuellen Perversionen. So geschlossen, so bewunderungs-
würdig einheitlich und konsequent die psychoanalytische Perversionstheorie
FREUDs dasteht, das, was sie heute großenteils unwirksam macht, ist das Sinn-
verlangen und der Wirklichkeitshunger der modernen Psychopathologie.
Wir glauben heute nicht mehr an den Geschlechtstrieb als an ein isolierbares
Phänomen. Rational erdachte Triebkonstruktionen, die in kausalgenetischer
Ableitung sexuelle Verhaltungsweisen aus hypothetischen Partialtrieben, aus
einer angenommenen polymorphperversen Grundanlage des Menschen her-
leiten, scheinen uns dem Menschen, wie er ist, scheinen uns der vollen Liebes-
wirklichkeit der normgemäßen menschlichen Existenz von vorneherein und
apriori Gewalt anzutun. Unser Sinnbedürfnis kommt nicht auf seine Kosten,
wenn der Mensch in naturwissenschaftlich-apersonaler Funktionsanalytik als
ein Bündel isolierbarer und vergegenständlichter Triebe und Triebrelationen
geschaut ist, und wenn die Anomalien des sexuellen Verhaltens ohne Orien-
tierung an möglichen Normen und Ordnungen des höheren personalen,
metabiologischen und metapsychologischen Liebeslebens aus apersonalen
biologischen und psychologischen Mechanismen allein hergeleitet werden,
die gewonnen wurden unter Abstraktion vom Totum humanum.
Ob es sich nun um die sog. anthropologische oder um die daseinsanalytische
Forschungsrichtung in der Psychiatrie handelt, beide Methoden überschreiten
die Grundkonzeption der psychoanalytischen Perversionstheorie insofern,
als nicht das abwegige Verhalten als solches, sondern der perverse Mensch
im ganzen und die besondere Art seines Seins in der Welt zum Ausgangspunkt
der Interpretation gemacht wird. Die im engeren, im Boss-BINSWANGERSchen
Sinne daseins analytische Methode legt Wert darauf, zu bindenden Einsichten
zu gelangen, indem sie den in seinem Liebesleben abirrenden Perversen doch
nur als einen Sonderfall des im Seinsmodus der Liebe wesenden Menschen
überhaupt darstellt.
Hier nun setzen unsere Bedenken ein. Daseinsanalytik und Daseinsanalytik
ist offenbar zweierlei, je nach dem Bild vom Menschen, das ihren jeweiligen
Entwurf bestimmt. Da sich aber Boss nachdrücklich darauf beruft, der
daseinsanalytischen Methode sich zu bedienen und diese von der anthropolo-
gischen Forschungsrichtung abzuheben, erfordert dieser Anspruch eine kurze
Auseinandersetzung mit der neuen Lehre. Die Kategorien der Bossschen
Anthropologie, die seine Perversionstheorie ermöglichen, sind dem Werk
von L. BINSWANGER entnommen: Grundformen der Erkenntnis menschlichen
Daseins. "In diesem Werk wird der Mensch begriffen als beherrscht von
der Dialektik von Liebe und Welt." Dieser Entwurf erfolgt im Zug einer sehr
erstaunlichen Entdeckung. BINSWANGER hat nämlich - incredibiIe dictu -
die Liebe entdeckt. Es hat, um festzustellen, daß es die Liebe gibt und was
216 Studien zur speziellen Psychopathologie.
sie sei, eines Werkes von beinahe 1000 Seiten bedurft. Glauben Sie nicht,
daß das Spott sei. Nicht über die Bemühung BINSWANGERs ist zu lächeln,
sondern über die sonderbare geistes geschichtliche Situation des Psychologen
und Psychopathologen, die einen solchen Aufwand notwendig macht, nach-
dem seit Jahrzehnten das Liebesleben des Menschen einer wissenschaftlichen
Diskussion ausgesetzt ist und Werke ohne Zahl, in deren Titel auch der
Begriff Liebe vorkommt, entstanden sind, und die doch, nach der Meinung
kritischer Geister, das Phänomen Liebe eigentlich übergehen. BINSWANGER
hat es sich keineswegs leicht gemacht, frei sich zu machen von dem, was
Muckerturn, Traktätchengeist einerseits, wissenschaftlicher Positivismus und
Naturalismus andererseits über die Liebe ausgesagt zu haben glauben. Man folgt
ihm nicht leicht, denn auf beinahe tausend Seiten wird in oft mühsamer Diktion
dem Alltäglichen eine neue Sicht und Wesensschau abgerungen. Wollen wir
sein Anliegen verstehen, so ist zu bedenken, daß er von HEIDEGGERs Ontologie
herkommt, in welcher der Begriff "der Liebe" nicht anzutreffen ist. Der
ungeheure Aufwand des BINSWANGERSchen Werkes entspringt dem Bedürfnis,
diese Auslassung auszugleichen. Die HEIDEGGERSche "Sorgenstruktur des
Daseins" wird in die "Liebesstruktut des Daseins" ergänzend eingegliedert,
und die Anthropologie, die sich aus dieser Beziehung ergibt, gipfelt in der
Folgerung, daß der Mensch in seiner Existenz zu verstehen sei aus der Gegen-
satzspannung zwischen den beiden Strukturen oder aus der "Dialektik von
Liebe und Welt". Diesem anthropologischen Entwurf nun folgt Boss, und
unsere Frage ist, was ergeben sich aus dieser anthropologischen Grundvoraus-
setzung für Konsequenzen für eine Theorie der Perversionen.
Der Gedankengang ist in der Abbreviatur der folgende: Ist schon der
gesunde Mensch in seinem Alltagsleben beherrscht von der Gegensatz-
spannung von Liebe und Sorge, so ist es der Perverse in besonderem Ausmaß.
Obwohl jeder Mensch in seiner humanen Grundkonstitution (die nicht
unmittelbar etwas zu tun hat mit den rein individuellen Anlagen) hingeordnet
ist auf den "dualen Seinsmodus der Liebe" und der Begegnung mit einem
Du - so ist doch in der Praxis des konkreten Liebeslebens die volle Verwirk-
lichung dieser Grundbestimmung seines Wesens beeinträchtigt. Wie immer
diese Störung im einzelnen beschaffen sein mag, sie liegt vor, und muß bedacht
werden. Die sexuellen Perversionen werden samt und sonders verstanden
nicht als dieses besondere, isolierte Einzelsymptom eines in die Irre gehenden
Geschlechtstriebes, sondern als charakteristisches Ausdrucksphänomen der
jeweils anders und anders sie gestaltenden Dialektik zwischen der Seinsweise
der Liebe und der Sorge (oder: Welt). Der perverse Liebesmodus soll begriffen
werden als ein Modus der Verdeckung, welcher den eigentlichen Seinsmodus
der Liebe, seine grenzenlose Daseinsfülle, die zeitenthobene Möglichkeit der
sinngebenden Begegnung mit einem Du, durch allerhand isolierende, be-
schränkte und beschränkende, widerständig feindliche Gestaltungen in über-
mäßig starrer und undurchdringlicher Weise verdeckt. So bleiben im Gebiet
Daseinsanalytische und anthropologische Auslegung der sexuellen Per=rsionen. 217
der Liebe dem sexuell Verirrten nur Ausschnitte der Liebe, Randmöglich-
keiten des eigentlichen Menschseins als ihre enge Entwicklungspforte offen
Es kommt mit einem Wort zu einem defizienten Modus der Liebe, zu ihren
Kümmer- und Verstümmelungsformen. Beispiele für die bloße Defizienz
sind z. B. der Fetischismus oder die Koprophilie. Auch im exhibitionistischen
und voyeuristischen Akt wird nur ein Rudiment realisiert der vollen Liebes-
bindung zweier gleichberechtigter und einander frei sich schenkender Indivi-
dualitäten. Hingegen vermag in den sado-masochistischen Praktiken oder
in den libidinös-orgastischen Stehlakten der Kleptomanie die Liebe sich nur
nach gewaltsamen Einbruchs- und Durchbruchsversuchen, evtl. durch alle
möglichen leiblich-seelischen Bereiche der menschlichen Existenz durchzu-
setzen. So - aus diesem Gegeneinanderwirken von Hinordnung auf die volle,
ganzheitliche duale Liebeswirklichkeit und der weltverhafteten Einengung
und Beeinträchtigung dieser Möglichkeit sollen sich die Kümmer- und Ver-
stümmelungsformen der sexuellen Begegnungen und Praktiken in ihrem Sinn
verstehen lassen.
Diese Auslegung der sexuellen Perversionen richtet ihre polemische Spitze,
wie gegen FREUD, so in erster Linie gegen unsere anthropologische Theorie
der Perversionen. Und zwar gegen jene Ausdeutung des perversen Erlebens
und Verhaltens, die in ihm das Ergebnis von abbauenden, formzerstörenden
Impulsen sieht. Bestritten wird die Grundposition der anthropologischen
Perversionstheorie, wonach es sich in jedem perversen Verhalten um eine
Dismembrierung der normgemäßen Liebeswirklichkeit handelt, um ein
destruktives, deformierendes, zerstückelndes Angehen gegen die dunkel und
fern gefühlte Norm der bipersonalen Liebesgemeinschaft und ihre sie inkar-
nierende Verwirklichung, die die Gestalt der sexuellen Einung hat. Insbeson-
dere wird als unbegreiflich bestritten die Möglichkeit, daß unter Umständen
gerade dieser destruktive, sinnverkehrende, normwidrige Impuls selbst zum
Quellgrund süchtigen Verhaltens und orgastischer Lustgewinnung werden
könne, was ich auf Grund von, wie ich glaube, exakten Beobachtungen
behaupten zu müssen glaubte. Was Boss zu dieser Polemik veranlaßt, ist die
ausdrückliche Feststellung, daß auch in den Kümmer- und Verstümmelungs-
formen - da in ihnen immer noch teils Geschlechtsverkehr, teils sexueller
Orgasmus walte - , eben dieses sexuelle Element der Perversionen eine ein-
deutige Manifestationsform der Liebe sei. Diese naiv anmutende Einschätzung
von Geschlechtsverkehr und Orgasmus repräsentiert fraglos den schwachen
Punkt der neuen, daseinsanalytischen Perversionstheorie. Zweierlei ist
indessen hier zuzugeben. Fraglos kommt es vor, daß im perversen Verhalten
und Erleben die Persönlichkeit nicht ganz abgeschnitten bleibt von einer
unterirdischen, aber doch lebendigen Kommunikation mit der Liebe im Sinn
von BINSWANGER, ob es sich um die verzauberte Adoration eines Fetischs
handelt oder um die orgastische Ekstase, ausgelöst durch die genitale Begeg-
nung mit einem Kotballen im analen Koitus des Koprophilen, oder um das
218 Studien zur speziellen Psychopathologie.
sich entwirft - das ist das Problem. Und dieses Woraufhin ist ein anderes,
wenn es sich um das vollperverse gegen die Liebe abgedichtete Verhalten des
triebanormalen Psychopathen handelt oder um das auf Liebe in irgendeiner
Form hin transparente perverse Verhalten des psychosexuellen Neurotikers.
Was nun für Boss den eigentlichen Stein des Anstoßes bildet, die eigent-
liche Paradoxie der anthropologischen Perversionstheorie, das ist - als
Exemplum cruds genommen - die rätselhafte Orgasmusfähigkeit des Sado-
Masochisten, also die Verkoppelung von grausamen, zerstörenden, ernie-
drigenden, ja mörderischen Akten und sexueller Wollust. Natürlich, da Boss
im sexuellen Orgasmus eine eindeutige Manifestationsform der Liebe sieht,
bleibt der Bund, den Grausamkeit, Mordlust und sexuelle Wollust einzugehen
vermögen, völlig unbegreiflich. Es widerspricht diese Möglichkeit der
anthropologischen Grundkonzeption einer daseinsanalytischen Theorie der
Perversionen, die aufgebaut ist auf der Dialektik von Liebe und Welt und
die darum darauf aus sein muß, auch in der krassesten Aberration des Ge-
schlechtslebens noch ihren Liebesgehalt aufzuspüren.
Gegen diese Auslegung der sexuellen Perversionen ist indessen einzuwen-
den, daß sie den Zug und Hang des Menschen zum Bösen verkennt-oder wenn wir
in einer anthropologischen Betrachtung diese moraltheologisch klingende
Wendung vermeiden wollen-den nihilistischen Grundzug der menschlichen Natur.
Zweitens wird verkannt, daß es etwas gibt wie einen Drang und einen Zug,
mit Weltinhalten und menschlichen Gestaltungen in libidinöser Erregung
sich zu einen, die transparent sind - keineswegs für das Sein und den Wert
und den dualen Seinsmodus der Liebe und der personalen Existenz - , sondern
die umgekehrt transparent sindfür das Nichtige. Und zwar geht es nicht um eine
bloße Einung mit irgendwelchen Realsymbolen des Nichtigen, wie es z. B.
der Kot ist für den Koprophilen oder die Leiche für den Nekrophilen, sondern
daß es als perverses Äquivalent der Beseligung an den schöpferischen Mög-
lichkeiten des Daseins, umgekehrt eine libidinöse Lust am Zerstören, an der
Destruktion als solcher gibt. Genau das lehren uns die Perversionen; z. B.
lehrt es uns der in libidinösen Teilsetzungen sich auslebende Fetischismus,
zu dem ich auch die Sodomie rechne, die Koprophilie und die Nekrophilie,
oder es lehren uns das gleiche der Sado-Masochismus und seine pointierte
Abwandlung, der Lustmord. Wir erfahren hier, daß das Setzen des Nichts
oder irgendwelcher Gestalten des Nichtigen, also das destruktive Element
in seinem Vollzug sehr wohl sich mit sexuellem Orgasmus kombinieren
kann. Diese Möglichkeit zu bestreiten, weil man die sexuelle Wollust für
ein Reservat der Liebe hält, halte ich für eine Fehlkonstruktion der daseins-
analytischen Perversionstheorie. Übrigens scheint BINSWANGER selbst mit
Berufungaufeine Abhandlung von MAURICE BLANCHOT (' Ala rencontrede Sade)
von der These seines Schülers abzurücken und sich der unseren zu nähern.
Allerdings an dieser Stelle erst zeigt sich die eigentliche Aufgabe. Diese
ist die folgende. Es handelt sich darum, die Lehre vom Menschen, d. h. eine
220 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Es geht uns Psychiatern indessen so, wie dem, der sich in ein Sondergebiet
vertieft, überhaupt: wie leicht geschieht es, daß dieses Sonderproblem der
Physik, der Biologie oder der Psychologie (die nur beispielsweise angeführt
werden), den Ausblick auf das Ganze der Natur verdeckt. Gerade das, was
den unbestrittenen Vorzug des wissenschaftlichen Denkens ausmacht, nämlich
mit gleichsam bewaffnetem Auge einen zwar nicht willkürlich, aber doch
absichtsvoll scharf herausgehobenen Ausschnitt der Wirklichkeit präzise und
unter Abblendung der die geistige Akkomodation störenden Neben- und Um-
felder, auf seinen Gehalt zu prüfen, um sich dann weiter von dessen Logik
führen zu lassen, das alles aber von einem selbstgesetzten Ausgang her, -
gerade diese Grundhaltung der Wirklichkeit gegenüber bereitet, weil sie Aus-
schließung und Ausschaltung bedeutet, ganz unvorhergesehene Einbrüche
der so sinnvoll vergewaltigten Wirklichkeit vor. Was der Mensch tut und
unternimmt, ist selbst nur ein kleiner Teil dessen, was ihm widerfährt. ~Vieles,
was dem Forscher sich als gegebenes Problem darstellt, umschließt Vor-
gegebenes, das als solches sich erst erschließt, wenn die inhaltlich festgelegte
Forschungsrichtung ihr Ziel erreicht zu haben scheint. Das Abenteuer läßt
sich eben nicht vermeiden; daß es sogar dem gesicherten Gang des Wissen-
schaftsbetriebes auflauert, macht das spannende Moment der menschlichen
Geistesgeschichte aus.
Daß es so etwas gibt, wie ein süchtiges Verhalten, kann einfach hinge-
nommen und in seinen Bedingungen und Erscheinungen wirklichkeitsgetreu
untersucht werden. Dann aber drängt sich schließlich doch die Frage auf
einmal nach dem Sinn dieses Verhaltens, und dann die weitere Frage, die dem
Anthropologen naheliegt, wie denn der Mensch gedacht werden muß, wenn
so etwas wie süchtiges Verhalten möglich sein soll. Neben das Interesse an
eigenartigen, als krankhaft bewerteten menschlichen Phänomenen, tritt als
besonderer Antrieb der Forschung die Verwunderurig. Diese erfaßt die Phä-
nomene sozusagen anlagegemäß in einer anderen Tiefe als das Interesse. Und
doch verhindert sie das kurzschlüssige Abrücken von ihnen, das z. B. einer
moralisierenden Einstellung entspräche. Gewiß tut das not, was man mit einer
Variation SCHELERscher Begriffsbildung die "Rehabilitierung" des Laster-
begriffes nennen könnte, trotzdem darf nicht verkannt werden, daß dieWieder-
einführung dieses Terminus, dem axiologische Dignität eignet, an wertfreie
Voruntersuchungen gebunden ist. Stellt sich dem Ethiker die Sucht als
Laster dar, und dem Theologen dieses als Manifestation der "Erbsünde",
so wird der Anthropologe dieser abwertenden Betrachtungsweise erst einmal
die Verwunderung vorschalten, daß überhaupt so etwas wie "Laster" möglich
ist, er wird die Möglichkeit eines solchen Verhaltens und ihren existentiellen
Sinn daseinsanalytisch zu begründen versuchen.
Den Ausgang unserer Betrachtung bildet die Erwägung, daß das Gebiet
menschlicher Süchtigkeit sehr viel weiter reicht als der Begriff der Toxiko-
manie es abgesteckt hat. Für das Phänomen der Sucht hat die eigentliche
222 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Streit- und Zanksucht wird gesprochen oder von Schwatzsucht, und was
dergleichen mehr ist. Ein besonderes Kapitel wäre die Eifersucht!.
Wohnt in psychopathologisch-phänomenologischer Hinsicht diesen höchst
disparaten Erscheinungen süchtigen Verhaltens etwas Gemeinsames ein?
Für die oberflächliche Betrachtung der Phänomene gewiß nicht. Man bedenke,
daß als Suchten im engeren Sinn die Giftsuchten gelten. Schon die Fest-
stellung, daß die Erscheinungen des abnormen Geschlechtslebens in ihrem
Ablaufmodus suchtartige Züge aufweisen, erfordert eine gewisse Befreiung
vom Zwang klinisch eingeengter Betrachtungsweisen. Noch mehr gilt das
von Phänomenen wie der Spielleidenschaft oder der Arbeitsmanie oder der
Machtgier, um nur einiges herauszugreifen.
Auf was ist bei einer solchen, etwas ungewöhnlichen Ausweitung des
Suchtbegriffes abzuheben? Gehen wir von den Suchten im engeren Sinn, also
von den Giftsuchten aus: was wird von dem, der einer solchen Sucht anheim-
fallt, gesucht? Sagen wir: die "Giftwirkung" , so ist diese Feststellung zuerst
einmal ziemlich nichtssagend, denn diese wechselt von Stadium zu Stadium
der jeweiligen Giftsucht durchaus. Berauschung, Euphorie, Betäu~ung,
Glücksgefühle, Umstimmungen der verschiedensten Art können genannt
werden, Zustände, als deren Gemeinsames somatopsychische Sensationen
hervorzuheben sind, wobei deren erfreulicher Chara~ter keineswegs immer
bestimmend ist. Alles in allem ist zu sagen, daß die Giftwirkung in einer
Zustandsänderung liegt, dessen positive oder negative Qualität neben dem
Erlebnis der Zustandsänderung als solcher von geringer Bedeutung ist. Von
diesen Zustandsänderungen sind die Modalitäten des Rausches besonders
studiert worden, aber ohne daß in gleicher Weise das allen rauschartigen
Zuständen Gemeinsame bis jetzt aufgezeigt werden konnte (vgl. ]ASPERs
Allgemeine Psychopathologie S. 390). Vor allem ist hier der Feststellung
P AUL BJERRES zu gedenken, daß der sexuelle Orgasmus einen Modus des
physiologischen Rausches darstellt, was den Ausblick auf den Zusammenhang
von Sucht und Geschlechtsleben eröffnet. Aber auch intensive Schmerz-
zustände, Züchtigungen z. B. können einen rauschartigen Charakter anneh-
men, worauf schon N OVALIS in seinen Anmerkungen zur Laokoongruppe
(Fragm. 2.464) hinweist; andererseits schildert PIETRO ARETINO den laokoon-
tischen Schmerzausdruck, der gelegentlich den Orgasmus begleitet. Diese
hiermit angedeutete Indifferenz des Rausches gegen Schmerz und Wollust
spricht dafür, daß im Moment des gesteigerten Sichselbstfühlens, in der
Sensation, die in diesem betonten sich selbst Innewerden liegt, wenn nicht das
entscheidende, so doch ein wichtiges Moment gegeben ist, das den Rausch
erlebnismäßig von weniger akzentuierten Alltagszuständen abhebt und ihn
geeignet macht, das Dasein dem Turnus von alternierender Leere und Er-
fülltheit dieses Sichinneseins auszuliefern. Man sage nicht, daß der Rausch,
1 Etymologisch leitet sich Sucht bekanntlich von siech = krank ab. Der Terminus Sucht
betont somit das pathische Element der erwähnten Abläufe und Verhaltensweisen.
224 Studien zur speziellen Psychopathologie.
lichkeit, die sie bedeutet und die in sie eingebauten Weisen des Sichselber-
fühlens, und das auf Kosten der vernunftgemäßen Sinnerfüllung des eigenen
Daseins. Der Rausch, die Euphorie usw. sind nur besonders ausgezeichnete
Weisen des Erlebens von leiblich-seelischen Zustandsänderungen, und eignen
sich darum in bevorzugter Weise dafür, als Möglichkeit des Existierens in
Sensationen von einer süchtigen Einstellung ergriffen und ausgebaut zu
werden.
Man hat gelegentlich in Fachkreisen erwogen, ob zwischen Sucht und
Zwang eine Beziehung sich aufweisen lasse. Scheint doch die Sucht in ihrer
Unentrinnbarkeit den einzelnen zu vergewaltigen, geht sie doch über ihn,
d. h. über etwas in ihm, das sich ihr widersetzen möchte, hinweg. "Zwingend"
nennt der Kranke oft selbst das imperiöse Bedürfnis, besonders in der Kater-
stimmung des getätigten Rückfalls, wenn der Zauber der verführenden Lok-
kung umgeschlagen ist in die ernüchternde Öde ihres Effektes. Aber das
Zwingende eines Impulses konstituiert nicht das Phänomen des Zwanges.
Vielmehr neigt der Süchtige dazu, mit der Berufung auf ein: "ich konnte nicht
anders" eine posthum erwachte Gewissensregung zu beschwichtigen. Nach-
träglich bestreitet er seine Freiheit, und beweist damit indirekt, daß sie in
potentia dem süchtigen Treiben einwohnte, ganz anders als dies, wo Zwang
am Werk, der Fall ist. Auch wo die eigene Sucht Anlaß ist eines inneren
Konfliktes, hat dieser Konflikt nicht den Spaltungscharakter der Zwangs-
krankheit. Darüber darf uns nicht die klinische Tatsache hinwegtäuschen,
daß gelegentlich die Sucht Symptom sein kann einer echten Zwangskrankheit
oder einer beginnenden Schizophrenie; sehen wir doch auch im Initialstadium
manisch-depressiver Erkrankungen sonst nüchterne Persönlichkeiten dem
Alkoholismus verfallen, und zwar regelmäßig im Beginn jeder Phase, so daß
wir bei Kenntnis des Falles das Kommende voraussagen können. In die
Trunkenheit flüchtend, wehrt der Kranke eine in ihm aufkeimende Verstim-
mung ab, ohne sich selber zu durchschauen.
Abwehr ist hier die Sucht. Ist sie's vielleicht nicht immer? "Meine Seele,
mein besseres Teil, ersäuft im Branntewein", gröhlt klagsam geständig der
Trunkenbold in BücHNERs Woyzeck. Wieweit ist diese Abwehrfunktion der
Sucht dem Kranken bewußt? Und wenn sie es auch nicht ist, wie meistens,
was wird denn jeweils abgewehrt? Oft läßt sich ohne weiteres nachweisen,
daß der Süchtige im inadäquaten Kampf liegt mit einem physiologischen
Unbehagen, oder mit Schmerzen, oder sonst einem Ungenügen, mit echtem
Leid, mit einer latenten Schwermut, mit einer Not, die er nicht durchstehen
will, obschon sie zu seiner Vertiefung oder zu einem existentiellen Aufschwung
Anlaß wäre. Ich erinnere mich einer Kollegin, die, durch quälende Magen-
ulcera gedrängt, einer Kodein- und Dolantinsucht verfiel. Die genauere
Exploration jedoch ergab noch andere Hintergründe ihrer Sucht. Erst im
Zug einer unglücklichen Liebe hatten die Ulcera eine im Hinblick auf die Sucht
pathogenetische Bedeutung gewonnen: Was das heißt, wäre zu bedenken.
v. Gebsattel, Anthropologische Schriften. 15
226 Studien zur speziellen Psychopathologie.
Eine Wut der Selbstzerstörung hatte von ihr Besitz ergriffen. Wer nicht leiden
will, wo das Leben ihm mit seiner höheren Folgerichtigkeit Leiden abfordert,
zerstört sich. Allein die Gründe ihrer Entgleisung lagen noch tiefer. In streng
katholischem und konservativem Milieu aufgewachsen, hatte sie mit dem
intellektuell bestimmten Radikalismus ihres leidenschaftlichen Unabhängig-
keitsdranges sich von allen Bindungen losgesagt. Zu ihrer und meiner Ver-
wunderung nun waren ihr Träume geladen mit christlichen Inhalten von
seltener Eindeutigkeit. Immer wieder tauchte in diesen Träumen u. a. als
hilfreiche Gestalt ein gleicher Umwelt entstammender Benediktinermönch
auf, ein hochbegabter Mann, dessen Genie sie so fesselte, daß sie mit ironischer
Toleranz sogar seine Christlichkeit als Marotte eines Ausnahmemenschen in
Kauf nahm. Die Träume zeigten - ein Bild ihrer Lage, - sie in Seenot, oder
ausgesetzt auf einer verlorenen Insel des Weltmeers. Über das Meer wandelnd,
immer ein Kreuz auf den Schultern tragend, zeigte sich ihr der Mönch; als
eine tröstliche Gestalt forderte er sie auf, ihm zu folgen, - und siehe, plötzlich
konnte sie selbst über die Wasser gehen und sich in Sicherheit bringen. Ist es
abwegig zu behaupten, daß sie in einer Dauerabwehr auch religiöser Motive
sich als Persönlichkeit konstituiert hatte, und daß diese Flucht weg von dem
eigenen Mittelpunkt der personalen Existenz sie den Tendenzen zur Selbst-
zerstörung ausgeliefert hatte, von denen ihre Mittelsucht nur der Exponent
war? Einen sofortigen Durchbruch ihrer tieferen Schichten bewirkte die
Behandlung nicht, aber nach Jahren erfolgte dieser von selbst, und eben damit
brach auch ihre Sucht, ihres eigentlichen Motors beraubt, entmächtigt in sich
zusammen.
Wenn ich, da und dort angeführt, einer früheren Äußerung von mir
begegne, daß nämlich die Sucht zu verstehen sei als das Ausweichen vor einer
inneren Verfassung unerträglicher Leere, wobei das jeweilige Suchtgebiet
einen Inhalt bietet, der Selbsterfüllung oder Selbstausfüllung vortäuscht, so
wäre doch gerade nach dem Sinn dieser Leere und der besonderen Reaktion
auf sie zu fragen. Zwischen dieser Leere und dem Nichts scheint irgendein
Zusammenhang zu bestehen. So pflegte ein junger Dichter auf die Frage nach
dem Motiv seiner dichterischen Tätigkeit zu antworten, es dränge ihn, "das
Nichts zu bevölkern". Diese Äußerung erinnert an FR. NIETZSCHEs Theorie,
künstlerische Erzeugnisse seien zu befragen, ob sie aus einem Mangel oder aus
einem Überschuß an Leben herstammten. Nur letztere wollte er gelten lassen.
Es verhält sich aber so, daß durchaus gültigen und höchst sinnvollen geistig-
künstlerischen Leistungen in ihrem Schöpfer Zustände von nahezu unerträg-
licher Leere vorausgehen, - ich erinnere nur an SÖREN KIERKEGAARD. Hier
wird dann das Schaffen zum Durchbruchsgebiet der tieferen Schichten einer
Persönlichkeit, deren sonstige Verschlossenheit als Leere erfahren wird.
Verführt aber den Menschen der jeweilige Zustand der Leere, sein Abgedichtet-
sein gegen die eigene Tiefe und Höhe dazu, peripheren Tendenzen die Führung
zu überlassen, mit dem Ziel, rasch und auf billige Weise zu einem Inhalt zu
Zur Psychopathologie der Sucht. 227
gelangen, so ist damit schon der Weg beschritten, der in die Sucht führt. Denn
die Erfüllung, die er eigentlich meint und sucht, ist in den Gebieten, die er
aufsucht, nicht zu finden. Die Befriedigung, die sie vortäuschen, ist eine
Illusion, es bleibt somit, mitten im Genuß oder in der Ablenkung und Zer-
streuung, ein Rest von Unbefriedigtheit wirksam, der zur Wiederholung der
Fluchtbewegung zwingt, ohne daß jemals auf dieser Ebene wirkliche Sättigung,
Erfüllung oder Befriedigung erreicht wird. Die Leere wird gleichsam per-
petuiert, sie reicht in das, was sie vertreiben soll, hinein und wartet gleichsam
am Ausgangstor der Betäubung, des Rausches, des Genusses, schon auf ihr
Opfer ("und im Genuß verschmacht ich nach Begierde"). Was unternommen
wird, um die Leere zu verscheuchen, läßt sie unabgebaut wieder hervortreten.
Und das Manöver muß wiederholt werden. Der Sucht verfallen, tritt der
Mensch auf der Stelle, und das buchstäblich: er scheidet aus der lebensimma-
nenten Zeit aus, aus der Zeit, die das Zeitungselement der Persönlichkeit und
ihrer Gestaltwerdung ist. Sie ist, die Sucht, dem Selbstverwirklichungsdrang
der Persönlichkeit konträr und hebt ihn auf. Dieser "Ablaufmodus" des
süchtigen Verhaltens in der Zeit ist es, was den Beobachter veranlaßt, an den
Zwangskranken zu denken, bei dem auch in den ausgedehnten Durststrecken
seines Zeremoniells das Leben nicht von der Stelle rückt und der Kranke um
den phobischen Kern seiner Verfassung in einem Schwindel ergebnislosen
Repetierens zu rotieren scheint, statt weiterzugehen. Aber gerade diese Ähn-
lichkeit des Verlaufstypus macht auf die höchst verschiedenartigen Hinter-
gründe aufmerksam, um die es jeweils sich handelt. Denn süchtig ist ja nicht
der Verlaufstypus, sondern der Mensch.
Die Leere, die ihr. Opfer in die Sucht drängt, unterscheidet sich von Leere-
zuständen, denen der Psychiater sonst begegnet (auch wenn sie wie die Ver-
stimmungsleere unseres Melancholiekranken zuerst einmal als Sucht sich
äußert) dadurch, daß sie Ergebnis einer Abwehrtendenz und zugleich Anlaß
einer solchen ist, daß sie also in einer der für neurotisches Geschehen charak-
teristischen sterilen Kreisbewegungen eingebaut ist. Das veranschaulichen
besonders deutlich die süchtigen Entgleisungen des Geschlechtslebens. Die
Perversionen sind, so habe ich in einem Aufsatz über die Sucht im Gebiet des
Geschlechtslebens (Monatsschrift für Psychiatrie 1936) nachgewiesen, ten-
denziöse Bildungen. Sie sind insgeheim orientiert an den Normbildern des
Liebeslebens und beziehen ihre süchtige Energie von der unterirdischen, dem
Paraphilen meist nur halb oder gar nicht bewußten Abwehr der normgemäßen
Liebeswirklichkeit.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung des Gemeinten ist die don -juanistische
Abwandlung des Liebeslebensl Don Juan selbst ist nur dämonisch zu ver-
stehen. Hier ist die Rede nur von der Sucht Don Juans. Sucht läßt ihn bei
keiner Frau zur Ruhe kommen, er muß von einer zur anderen, jede bedeutet
Versuchung und Verführung. Warum? - In sein verkehrtes Treiben süchtig
und hemmungslos verstrickt, erweist der Schürzenjäger doch eine geheime
15*
228 Studien zur speziellen Psychopathologie.
der Möglichkeit überhaupt, erfahren werden zu können. Aber auch das nicht Er-
lebte und nicht Erfahrbare ist in der Seele wirksam. Wäre der Anspruch der
normgemäßen Liebeswirklichkeit nicht auch in dem für ihn völlig Blinden
dennoch wirksam, als ein Stachel in der Tiefe, aber auch als ein Anreiz, ihn
ständig zu entmächtigen, so bliebe unerklärlich der Suchtcharakter des para-
philen Treibens, der der Beobachtung sich zwingend aufdrängt. Ein Mensch
kann so veranlagt sein, daß er sich zerstören muß, aber auch diese konstitu-
tionell festgelegte Selbstzerstörungsmanie folgt im Zug ihrer Durchsetzung
zwingenden Gesetzen, von denen die Herrschaft süchtiger Ablaufsweisen ein
wichtiges Kriterium ist.
Mit der Erwähnung der "Selbstzerstörungsmanie" des Süchtigen haben
wir unsere Betrachtung in die Schlüsselstellung des Suchtmotivs vorgetrieben.
Lauerten dem Menschen nicht grundsätzlich im Zug seines Werdens, das auf
Selbstaufbau, Selbstfindung, Selbstgestaltung, Selbstverwirklichung abgestellt
ist, diesem allem konträre Impulse der Selbstzerstörung auf, so wäre die
wesentlichste Voraussetzung für das Auftreten süchtiger Verhaltungsweisen
nicht gegeben. Immer wieder wird der Beobachter in Erstaunen gesetzt, teils
durch die Virulenz derartig destruktiver Antriebe, teils durch ihre Undurch-
schaubarkeit für den von ihnen Beteiligten. Zwischen Sein und Nichtsein als
Werdender in der Schwebe, bedroht den einzelnen die Möglichkeit des
relativen Nichtseins und gewinnt häufig die Macht, seinen Lebensakt ent-
scheidend in ihre Richtung zu ziehen. Dieses geheime Fratt!rnisieren mit dem
Abgrund gehört zur Natur des "gefallenen" Menschen, von dem der medi-
zinisch relevante Fall nur eine Variation unter anderen darstellt.
Allen Abwandlungen der Sucht gemeinsam ist eine Tendenz der Selbst-
zerstörung. Wie wenig die destruktiven Tendenzen als solche durchschaut
werden, wurde in den letzten Dezennien erfahren, indem sie, unter der Flagge
hochtönender Parolen segelnd, das deletäre Schicksal unseres Volkes bestimmt
haben. Ganz besonders gilt das von den Suchtep. Nicht immer treten sie -
wenigstens für den Beobachter - so drastisch in Erscheinung, wie in dem
Fall eines Transvestiten, den ich berichten will, der aber andererseits auch
lehrreich ist für die Anonymität, die solchen Tendenzen im Bewußtsein ihres
Opfers eignet. Das Verhalten dieses Transvestiten nahm insofern eine groteske
Wendung, als ihm nach einiger Zeit die üblichen Verkleidungs spiele nicht
mehr genügten, und er den Plan faßte, die dem Mann a limine versagte Mög-
lichkeit, wirklich Weib zu werden, zu erzwingen. Von dem weiblichen Leit-
bild als Prinzip der Selbstgestaltung besessen, versuchte er eines Tages mit
einem scharfen Messer seine Harnröhre in der Höhe des Dammes anzubohren,
um urinieren zu können wie ein Weib. So grotesk uns dieses Gebaren an-
mutet, um so mehr, als urinieren zu können wie ein Weib doch nur eine höchst
drittrangige Möglichkeit darstellt, den weiblichen Einschlag auch der männ-
lichen Seele herauszustellen - für ihn war diese Möglichkeit gleichbedeutend
mit der Verwirklichung seines dunklen Dranges, die eigene abgelehnte
230 Studien zur speziellen Psychopathologie.
eine Verfälschung und Vergiftung des Gewissens, und stellt die andere Seite
dar der Entwertung aller normgemäßen, der Selbstverwirklichung dienenden
Impulse. Weder das Absurde noch das Deletäre der Suchterscheinungen
kommt dem, der in ihnen lebt, ins Bewußtsein, weil beides dem gleichfalls
anonym bleibenden Selbstzerstörungsdrang der Tiefe entspricht, und von da-
her mitgewollt ist. Dieser Perversion des zentralen Lebenswillens folgt an der
Oberfläche der Geschmack und die Neigung.
Kehren wir indessen noch einmal zur dolantinsüchtigen Kollegin zurück!
Nachzutragen ist, daß der Giftsucht, der sie später verfiel, ein süchtiges
Verhalten in ihrem Liebesleben vorausging. Zwar wahrte sie nach außen
die Form, aber es reizte sie, aus ihrer Freiheit eine ununterbrochene Attacke zu
machen gegen Anstand und Sitte, sie führte ein "tolles Leben". Ein weiblicher
Don Juan, pflegte sie jeden einigermaßen reizvollen Mann sich gefügig zu
machen, um ihn nach kurzem Intermezzo rasch wieder zu verabschieden. Es
war, so sagte sie, "wie ein Zwang", aber auch eine Art Spielleidenschaft: es
reizte sie der Abgrund, sie setzte ihre Seele aufs Spiel. Als dann die Liebe in
ihr durchbrach, zeigte sich, daß sie verspielt hatte. Sie selbst brachte durch
ihr widerspruchsvolles Verhalten die Beziehung zu Fall, diesmal schon in
deutlich selbstzerstörerischer Absicht. Etwas in ihr widersetzte sich der tieferen
Bindung. Mit der Scheinbegründung, die aber nicht ganz gegenstandslos war,
kein vollwertiger Partner mehr zu sein, verscheuchte sie den Freund durch ein
unverständliches Verhalten und verhinderte so die Verwirklichung ihrer Liebe.
Besessen vom Bild des anderen, Tag und Nacht von ihm träumend, in Ge-
danken immer hinter ihm her, lebte sie nun die Misere ihrer Liebesabwehr
und ihrer ohnmächtigen Sehnsucht, bis die Unerträglichkeit des Aufgerieben-
seins zwischen sich aufhebenden Impulsen sie in die Giftsucht trieb. Bewußt
aber war ihr primär nicht dieser Zusammenhang, sondern alte, schon lange
bestehende Magenulcera übernahmen die Funktion, ihren seelischen Notzu-
stand zu repräsentieren. In der Gestalt von körperlichen Schmerzen war dieser
leichter zu ertragen, aber auch leichter zu bekämpfen, als am Ort seines
Bestehens.
Es kam noch hinzu, daß das Bedürfnis, ihrem Partner aus dem Weg zu
gehen, sie von Heimat und Beruf (im erfüllten Sinn des Wortes) wegführte.
Damit wurde eine dreifache, belebende, Kräfte aufrufende, den Lebensvorstoß
tragende und speisende Bindung aufgegeben, und so auch in der Außenwelt
ein Vakuum aufgetan, das durch die Abwehr der Liebe und des Religiösen
noch weiter sinnentleert, ihr Dasein in jenes Plus an Leere hineinrückte, von
dem wir hörten, daß es bei entsprechend Disponierten in Form eines akuten
Suchtausbruchs verarbeitet werden mag. Man kann von einer Schrumpfung
des gesamten Lebensspielraumes sprechen: was daran ist Schicksal, was bereits
Wirkung destruktiver Tendenzen? Wer immer einer sinnvollen, inneren
Not sich nicht stellt, stellt den Sinn seines Daseins mit in Frage; das mag zuerst
ganz harmlos sich ansehen, die subtileren Weisen des Sichselberaufgebens
232 Studien zur speziellen Psychopathologie.
1. Der Zuschauer.
Tiere. Ein Erwachsener kommt vorbei, er äußert sich nicht, er sieht zu. Das
Kind aber erschrickt, es fühlt sich gesehen, im Zuschauer erfaßt es sein Tun
und den Wert dieses Tuns. Der Zuschauer ist der natürliche Pädagoge, er
erzieht durch sein bloßes Dasein. Soldaten berichten von ihrer Angst in der
Schlacht. Stärker aber als die Angst vor dem Feind, sei die Angst gewesen,
feige zu erscheinen. Das Bild der eigenen Mutlosigkeit im Zuschauer nicht
entstehen zu lassen wurde für sie zum Ansporn, Mut vorzutäuschen. Und
aus der Durchführung der mutigen Rolle entstand dann allmählich und wuchs
der echte, vom Zuschauer unabhängige Mut.
Für unsere Zwecke ist es vorerst ohne Belang, wer als Zuschauer fungiert,
ob eine bestimmte, vielleicht geliebte Person, ob eine moralische oder ästheti-
sche Instanz, ob die soziale, dem einzelnen anwohnende Gruppe, oder die
Öffentlichkeit überhaupt. Auch daß den Graden der Unabhängigkeit vom
Zuschauer Grade der Freiheit entsprechen, kümmere uns vorerst nicht. Es
handelt sich einzig und allein um die Phänomene, nicht um deren Bewertung.
Was treibt z. B. König Kandaules, daß Rhodopens Besitz ihn freudlos findet,
es sei denn, er genieße, aufgenommen in sein Glück, die neidischen Augen
des Zuschauers mit? LA RocHEFoucAuLD, der als Franzose erfahren ist in
der Dialektik von Liebe und Sozietät, stellt es in gewissem Sinne fest, wenn
er sagt, die meisten Liebhaber würden aufhören, Liebende zu sein, wüßten
sie sich nicht ihrer Rolle beneidet. Das heißt, erst der Hinblick auf den Neid
des Zuschauers macht den Mann von Welt zum Liebhaber. Nicht der indi-
viduelle Wert der Geliebten verführt ihn, sondern der Affekt, der im Zu-
schauer entsteht, wenn er, Herr X, diese bestimmte soziale "Figur", mit ihr,
der in den "Augen der Welt" Bevorzugten sich verbindet.
Überhaupt gibt es für den Charakterologen keinen prinzipielleren Unter-
schied zwischen Menschen als den, ob sie an irgend welchen Realitäten in
deren Selbstgegebenheit ihr Dasein orientieren, oder ob sie erst durch den
Zuschauer hindurch sich zu ihnen verhalten. Wie LA RocHEFoucAuLDs
Liebhaber zur Frau, so verhält sich der spezifisch soziale Mensch zum Vater-
land, zur Kirche, zu irgendwelchen Wertgebieten, zu Gott. Sicherlich gelangen
viele, die, wie man sagt, dem Vaterland oder dem Staate dienen, nicht anders
zur Einsicht in seine Existenz, als vermöge der formalen Folgerichtigkeit von
Beifall und Kritik, zu welcher ihre Handlungen die anwohnende Gruppe der
Berufsgenossen bewegen. Es geschieht dann das Besondere, daß nicht "das
Vaterland" und sein Anspruch auf Selbsthingabe konstitutiv wird für die
moralische Persönlichkeit des Dienenden, sondern der Zuschauer und die
Regeln seines Beifalls oder seiner Kritik.
Vom Mitglied der Sozietät entsteht im Zuschauer ein Bild und die An-
gleichung an dieses Bild ist vielfach das Gesetz einer moralischen Existenz.
Wie viele Menschen entwickeln aus keinem anderen Grunde Geist, als weil
sie im Ruf stehen, Geist zu besitzen. RrvARoL hat mindestens zehn Jahre seines
Lebens nur den RrvARoL kopiert, von dem alle Leute aussagten, er sei der
Der Einzelne und der Zuschauer. 239
spirituellste Mann Frankreichs. Überall fast ins Leben der großen Verführer
kommt der Zeitpunkt, von wo aus sie nicht mehr aus spontaner Leidenschaft
um Frauen sich mühen, sondern in Hingabe an das allgemein verbreitete Bild
ihres Don-Juanismus. Bildet die ansteigende Lebenskraft vielleicht die An-
sicht der Zuschauer über unsere Person nach Maßgabe der eigenen Lebens-
bedürfnisse um, so übernimmt umgekehrt, bei nachlassender Plastizität oft
die Erwartung des Zuschauers die Leitung und determiniert die Affekte,
Haltungen, Handlungen einer Person zu Derivaten der sozialen Ansicht über
sie. Es ist bekannt, daß Maler künstlerisch zugrunde gehen, weil sie vom
Publikum auf eine Art von Bildern festgelegt, der Tyrannei dieser einschränken-
den Identifikation erliegen. Und wiederum grundet in solchen Zusammen-
hängen die Sterilität gewisser Politiker zweiten und dritten Ranges, die mit
der Berufung auf ihre "Konsequenz" nur ausdrucken, daß sie, statt von den
Forderungen der aktuellen Situation, von der generellen Erwartung ihrer
Parteigenossen sich leiten lassen.
Immerhin begründet die feste Wahl einer bestimmten Zuschauergruppe
noch eine wertvolle Kontinuität und Einheitlichkeit auch der vom Zuschauer
wesentlich determinierten Persönlichkeit, die schwindet in dem Augenblick,
wo durch ein Übergewicht der plastischen Tendenzen über die organisato-
rischen der Mensch zur Kreatur jedes beliebigen Anwesenden herabsinkt.
"PLATON - sagt PLUTARCH in seiner Untersuchung über den Schmeichler,
diesem antiken Pendant des Hysterikers - PLATON zeigte sich in Syrakus
nicht anders als in der Akademie und gegen Dionysos ebenso wie gegen den
Dion. ""ALKIBIADES dagegen zeichnete sich in Athen durch seine Witze,
seinen Marstall, sein angenehmes und heiteres Leben aus; zu Lakedämon
aber schor er sich kahl, legte einen abgetragenen Mantel an und badete im
Kalten; in Thrakien führte er Kriege und soff; als er aber zu Tissaphernes
gekommen war, ergab er sich der Üppigkeit, Weichlichkeit und dem Großtun."
Hier schwindet also bereits die Wirksamkeit eines individuellen Prinzips der
Lebensführung, welches sonst in der Selektion eines, spezifischen Selbstver-
wirklichungstendenzen homogenen Zuschauers, aus dem Bereich aller mög-
lichen Zuschauertypen sich dokumentiert.
Es fehlt dieses individuelle Prinzip der Lebensführung aber vollständig
in gewissen extremen Fällen der Hysterie. Diese Fälle sind charakterisiert
durch die absolute Souveränität des Zuschauers. Der Zuschauer gewinnt
solchen Kranken gegenüber die Bedeutung, welche eine falsche Milieutheorie
der Umgebung des Menschen überhaupt zuschreibt: er erzeugt ihn. Der
Kranke ist "das Produkt" des jeweiligen Zuschauers. Von jedem zufällig
Anwesenden gehen suggestive Umbildungsanstöße aus, die der Kranke mit
erstaunlichem Geschick verwendet, um sein Selbst aufzubauen und ein Spon-
taneitätszentrum vorzutäuschen, das ihm fehlt. Man sieht solche Leute fromm
sich gebärden unter den Frommen, traurig unter den Traurigen, kunstbe-
geistert unter Künstlern; oder in subtileren Anpassungsvorgängen ein rasch
240 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
Richtungen des Begehrens (des "elementaren Wollens"), die dem Blick des
wissenschaftlichen Psychologen auf Grund seiner besonderen scientifischen
Tradition durchschnittlich entzogen sind.
Fragt man, wieso entzogen, so ist zweierlei zu bedenken. Ordnet man
nämlich die Mannigfaltigkeit der voluntaristischen Phänomene nach Gesichts-
punkten, einerseits des von Vorstellungen, gewußten Werten und Zwecken
geleiteten, also in diesem Sinn rationalisierten Wollens,-des Willens (voluntas)
im eigentlichen Sinn, - andererseits des triebhaften, elementaren W ollens
(volitiones), der Summe jener Antriebe, welche entweder die Triebmaterie
des "Vernunftwillens" abgeben oder auf Kosten dieses Vernunftwillens sich
befriedigen, so zeigt sich, daß die Schulpsychologie in ganz einseitiger Weise
zu ihrem bevorzugten Untersuchungsobjekt den "Vernunftwillen" gemacht
hat, und diesen selbst wieder in möglichster Reinigung von jedem triebhaften
und emotionalen Einschlag. Ein intellektueller Determinismus ist Bedingung
und Konsequenz dieser Einstellung. Von spezifischen Richtungen des elemen-
taren W ollens (Begehrens), welche verbale, expressive und handlungs mäßige
Äußerungen einheitlichen Wertes determinieren, zu sprechen, hat in diesem
Zusammenhang freilich keinen Sinn. Eine zweite Denkgewohnheit steht der
Annahme spezifischer Begehrungsrichtungen im Wege. Ich denke hierbei
an die bekannten Versuche der Motivreduktion, welche, mit höheren Einheiten
rechnend, dennoch ebenso falsch ökonomischen und konstruktiv-verein-
fachenden Tendenzen gehorchen wie der Versuch z. B. das Willensphänomen
aus Empfindungen herzuleiten und aufzubauen. Solche Tendenzen liegen
Behauptungen zugrunde, wie den folgenden: alles natürliche Wollen sei Wille
zur Lust (BENTHAM), oder Wille zur Selbsterhaltung und -entfaltung (SPEN-
CER), oder Wille zum Leben (SCHOPENHAUER), oder Wille zur Macht (NIETZ-
SCHE), oder Wille zum Opfer (GUYAU). Eine solche positivistisch-rationalistische
Theorie des natürlichen Wollens ist z. B. auch die Neurosenlehre FREUDS, die
auf ihren eigentlichen Ausdruck gebracht, lautet: Alles elementare Wollen
ist libido. Richtig an allen Behauptungen solcher Art ist der nicht theoretische,
der positivistische Teil. Richtig ist es in der Lust, der Macht, der Selbst-
erhaltung, der libido usw. spezifische Richtkräfte des Wollens zu sehen, falsch
dagegen jeder Versuch, eine dieser Richtkräfte zu verabsolutieren; z. B. die
Macht in den Vordergrund zu stellen und nun rationalistisch auf sie alle
möglichen Motive des Strebens zurückzuführen, im Eifer zu beweisen, daß
auch im echten Opfer, in der echten Askese und Demut, im liebegeleiteten
Geschlechtsgeschehen nur ein verkappter Machtwille" sich durchsetze; oder
von anderer Seite her mit einer Theorie der Libidosublimierung den ganzen
Stufenbau der qualitativ gesonderten, ursprünglichen Begehrensrichtungen
decken zu wollen.
Entschließt man sich aber im Gegensatz zu jedem Versuch einer Motiv-
reduktion die anima concupiscibilis der mittelalterlichen Seelenlehre mit einem
neuen Blick in ihre Mannigfaltigkeit voneinander gesonderter, qualitativer
v. Gebsatte!, Anthropologische Schriften. 16
242 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
1 Vgl. dazu das ,,0 laß mich scheinen, bis ich werde".
16*
244 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
Persönlichkeit verständlich wird, erschließt sich ihr innerer Gehalt. Die Frage
angesichts der Darstellung irgend eines Wertes lautet für den Psychologen
stets: was bedeutet die Darstellung als Selbstoffenbarung; was ist der Inhalt der
hier erfolgenden Selbstoffenbarung ? - Sie lautet in unserem Fall: koinzidiert
Mutdarstellung und Selbstoffenbarung ? Wird in der Mutdarstellung ein
Mutiger offenbar, oder treten Inhalt der Darstellung und Inhalt der Selbst-
offenbarung auseinander? Offenbart sich hier vielleicht nur ein Eitler, einer,
der für mutig gelten will? Dient die Mutdarstellung vielleicht selbstdar-
stellerischen Tendenzen?
Es ist ja klar: im Wesen aller menschlichen Äußerungen liegt es, sichtbar
zu werden. Das Leben handelt gleichsam in die Sichtbarkeit hinein; ob diese
Sichtbarkeit intendiert war oder nicht, sie widerfährt allen Äußerungen des
Lebens. Ganz von selbst wird aber eben damit die verbale, expressive oder
handlungsmäßige Darstellung innerer Zustände und Verfassungen einer Per-
son zur Selbstoffenbarung. Der Charakter der Selbstoffenbarung heftet sich an
die Äußerungen an, seien sie nun Ausdrucksbewegungen oder Werke. Und
ganz entsprechend richtet sich die Beachtung der menschlichen Umwelt auf
die Äußerungen des Darstellers und durch sie hindurch auch auf die Person.
Moralische Pessimisten haben auf Grund dieses Zusammenhanges geschlossen,
es sei in der Tat jede Äußerung auf Beachtung angelegt, eine Nebenintention
verfälsche die Darstellung irgend welcher Werte zur Selbstdarstellung, der
Äußerungsdrang sei also mit einem Beachtungswunsch durchsetzt. So, wenn
BLAISE PASCAL einmal die Existenz sittlich reiner Taten in Frage stellt. Er tut
es in unverbindlicha Weise, allein dennoch ist man verwundert. Ja, lautet
seine Dialektik: entweder die sittlich edlen Taten sind bekannt geworden,
dann weiß niemand, ob dieses Bekanntwerden nicht das Motiv der Taten war,
oder sie sind nicht bekannt geworden, dann ist die Vermutung, sie existierten,
nur eine Hypothese. - Aber, wendet man ein, es gibt doch sittliche Taten,
die offenbar auf Verborgenbleiben angelegt waren! - Wie, fragt dann der
Dialektiker, sind sie bekannt geworden, oder nicht? - Man muß zugeben,
sie seien bekannt geworden! - Und mehr noch ist bekannt geworden: auch
dies, daß sie auf Verborgenbleiben angelegt waren. 0 Gipfel der Eitelkeit
und Heuchelei!
Es ist wohl evident, daß man auf Grund dieser Argumentation mehr über
BLAISE PASCAL erführe, als über die Natur der sittlichen Taten. PASCAL hat,
wie man weiß, einen starken Hang zur Selbstwertdarstellung in sich zu korri-
gieren, seine Askese beweist es, die Askese nicht der Sinne, sondern des Selbst
ist. Dieser intensive, eigene Beachtungswunsch macht ihn mißtrauisch gerade
angesichts von Handlungen, welche man edel nennt, aber auch ruhmvoll und
glänzend. In der Tat besteht nun aber fraglos eine Beziehung nicht nur
zwischen Vollzug und Sichtbarwerden, sondern auch zwischen Anspannung
und Glanz der jeweiligen Äußerung. Je mehr eine Äußerung zunimmt an
Spannung, d. h. je stärker die Gegentendenz ist, gegen welche angehend eine
Der Einzelne und der Zuschauer. 245
Äußerung sich durchsetzt, desto drastischer wird die Äußerung. Ja, ganz
ohne Absicht wird sie pittoresk, eindringlich und auffallend. Im Evangelium
steht: wenn dein Feind dich auf die rechte Wange schlägt, so reiche ihm die
linke dar 1 - Die Empfindung des Menschen von heute hierzu ist: warum
dieser Aufwand, es genügt doch zu verzeihen, wozu die demonstrative
Gebärde? Ist sie nicht übertrieben und ans Publikum gerichtet, fühlt dieser
demütig Verzeihende sich nicht auf der Bühne, zeigt er sich nicht? - Selbst-
verständlich zeigt er sich nicht, nach der Intention des Evangeliums. Man
vergesse eben nicht: Die pathetische Geste der Vergebung ist dem natürlichen
Gesetz abgerungen, einem anderen, herrschenden Gesetz, welches lautet:
"Auge um Auge, Zahn um Zahn". Dieses nahe Gesetz und der von Tradition
und Sitte eingeübte Vergeltungs drang lassen sich gar nicht anders niederhalten
denn mittels des expressiven Aufwandes: auch noch die linke Wange dem
Schlag zu reichen. Ganz von selbst wird so die Darstellung der Feindesliebe
pittoresk. Oder ein anderes Beispiel. PLUTARCH erzählt von einem Spartaner
folgendes: Er habe auf seinem Schild als Abzeichen eine Fliege angebracht,
und zwar in natürlicher Größe, also sehr klein. Da verlachten ihn seine Freun-
de und meinten, er sei feige und wolle sich verbergen. Nein, sagte der Soldat,
im Gegenteil, so nahe will ich an den Feind herantreten, daß er die Fliege
sieht, klein wie sie ist. - Auch hier sieht man: Der Spartaner ist nicht ein
geborener Held, seine natürliche Regung ist in der Tat, sich zu verbergen.
Angst ist also wirklich in ihm, allein da ist sofort die überkompensierende
Gegenregung, der Widerstand gegen die Angst, und der Mut, in den er sich
hineinsteigert, wie der Christ in die Verzeihung. Und diese Spannung zwi-
schen einer heftigen Angst und dem sofort einsetzenden, stärkeren Mut findet
in der "Symbolhandlung" des Fliegenabzeichens ihren Ausdruck. Sicher
einen "auffallenden" Ausdruck, auffallend genug, um das Interesse sogar der
Nachwelt festzuhalten. Trotzdem wäre es ganz falsch zu glauben, der Lakonier
habe dieses Interesse gesucht, oder überhaupt mit der mutigen Autosuggestion
des Fliegenabzeichens sich an den Zuschauer gewandt.
Mit einem Wort: der Schluß vom objektiven Beachtungsanspruch einer
Äußerung auf einen sie determinierenden Beachtungswunsch ist nicht zulässig.
Ob wirklich ein selbstdarstellerischer Wille am Werk ist, entscheidet immer erst
der jeweilige Gehalt der Selbstoffenbarung. Oft ist gerade die Geste der Be-
scheidung demonstrativ, oft determiniert den deutlichen Verzicht auf Beach-
tung ein heimlicher Beachtungswunsch. Man denke z. B. an den Kyniker
Diogenes. Von Diogenes soll Aristippos gesagt haben: Aus den Löchern
seiner Kutte schaue die Eitelkeit hervor. Das klingt paradox, so als griffe die
Eitelkeit ausgerechnet nach Lumpen und nicht nach purpurnen Gewändern.
Nun erzählt aber der Scholiast, Diogenes sei einmal im Bad gewesen und
zugleich mit ihm Aristippos der Kyrenaiker. Dieser nun vertauschte beim
Fortgehen sein Purpurgewand mit der zerrissenen Kutte des Diogenes.
Diogenes aber geriet, als er dies bemerkte, ganz außer sich, um nichts in der
246 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
Welt wollte er das Purpurgewand anlegen. Dieser Bericht ist der Schlüssel
zum Ausspruch des Aristippos. Auch dieser gewahrt die Kutte des Diogenes;
wie die anderen weiß er: mit einer Kutte lenkt man nicht die Beachtung
der Zuschauer auf sich. Aristippos aber ist sehr genau: er gewahrt auch die
Löcher in der Kutte, und mit diesen Löchern, das erkennt er sofort, durch
sie hindurch, angelt Diogenes nach dem Zuschauer. Ja, so konstitutiv ist das
Kuttenbild im Zuschauer für das Selbstgefühl des Diogenes, daß für sein
Gefühl Diogenes im Purpurgewand aufhört Diogenes zu sein.
Diese nahe Verbindung von Selbstgefühl und Beachtungswunsch wird
uns noch beschäftigen. Zuerst aber eine Frage: Was läßt sich über den Aus-
drucksgehalt der Kutte ausmachen, was bedeutet sie als Selbstoffenbarung des
Diogenes? Das Publikum sieht die Kutte, die Kutte dient der Darstellung
von Bedürfnislosigkeit, es schließt ohne weiteres auf einen Bedürfnislosen.
Es ist klar, Aristippos gewahrt nichts anderes als das Publikum, allein daran
zweifelt er, ob das mittels der Kutte Dargestellte auch wirklich vorhanden sei.
Und so stellt er ein Experiment an, er variiert die Beachtungsbedingungen -
und wirklich, nun erweist sich, daß Diogenes nicht nur Bedürfnislosigkeit,
sondern in ihr sich selber darstellt. Wer nach diesem Experiment der Kutte
des Diogenes begegnet, begegnet nicht mehr einem Bedürfnislosen, sondern
einem, der den Anschein der Bedürfnislosigkeit erwecken will. - Und nun
denke man die Kutte des heiligen Franziskus! Vielleicht ist sie auch zerrissen
vom Wandern, Liegen, Beten im heiligen Berg. Sie gleiche der Kutte des
Diogenes genau. Dennoch verstummt hier die kyrenäische Skepsis. Das
Ausdrucksmittel ist nur eines bei Diogenes und St. Franziskus, die eine zer-
rissene Kutte, und dennoch weiß ein jeder: des einen Bedürfnislosigkeit ist
zur Schau getragen und macht ihn kund in seiner Eitelkeit; die des anderen
aber kennt keinen Zuschauer, sondern ist echt bis auf den Grund, durch und
durch nur lautere Begeisterung.
Und nun muß man fragen, was macht phänomenologisch den Unterschied
zwischen den geschilderten Haltungen der Bedürfnislosigkeit aus? Beide,
der Kyniker sowohl als der Heilige verwandeln die Nutzhandlung des Kutte-
tragens in einen Ausdrucksvorgang. Zwei Ausdruckseinheiten also mit
gleichem Ausdrucksmittel stehen zur Diskussion. Und niemand wird wohl
behaupten, es sei das Tragen der Kutte für den Heiligen weniger "charakteri-
stisch" als für den Kyniker; d. h. es sei das Ausdrucksmittel der Kutte nur
Zeichen für die tatsächliche Armut des Heiligen und nicht zugleich Ausdruck
für eine persönliche Wahlbeziehung zur Armut, und eben damit Selbstoffen-
barung dieser Person, einer Person, welche, weil sie die Armut in leiden-
schaftlicher Wahl gewählt hat, nun auch den Ausdruck der Kutte Endet. Die
Selbstoffenbarung ist hier also nur das unwillentliche Sichtbarwerden eines
durch die Wahl der Armut geleisteten Aktes der Selbstverwirklichung,
genauer der Selbsthingabe an Gott. Ganz anders aber Diogenes. Diogenes
steht in einem emotionalen Verhältnis zur Darstellung seiner Bedürfnislosigkeit
Der Einzelne und der Zuschauer. 247
einerseits; andererseits ist die Kutte hier nicht Ausdruck einer faktischen
Wahlbeziehung zur Armut, sondern zur Verblüffung des Zuschauers. Es liegt
also das Persönlichkeitszentrum des Diogenes nicht in der Bedürfnislosigkeit
selbst, sondern im Anschein der Bedürfnislosigkeit. In der Wahl dieses An-
scheins wird er selber offenbar. Eben damit aber verändert sich der Ausdrucks-
gehalt der Kutte von Grund auf: sie bedeutet nicht mehr Darstellung von
Bedürfnislosigkeit, sondern Selbstdarstellung mittels der Darstellung von
Bedürfnislosigkeit. Indem nämlich die Darstellung einer Eigenschaft im Hinblick auf
den Zuschauer intendiert wird, wird ihre Darstellung zur Selbstdarstellung.
Etwas ganz Neues liegt vor, wenn die Haltung des Diogenes in einem
Milieu sich ereignet, das auf die zur Schau getragene Armut nicht mit Ver-
wunderung, sondern mit Bewunderung reagiert. Man denke etwa einen unechten
Jünger des heiligen Franziskus. Seine Kutte deutet auf freiwillige Armut,
Armut aber, so entscheidet die Stimmung der Umgebung, ist Tugend. Tugend
findet Beifall, und der unechte Jünger, gierig, so nehmen wir an, nach diesem
Beifall, suche ihn mittels der Kutte. Was bedeutet dann die Kutte? Nicht
mehr ist sie Ausdruck echter Armut, wie beim Meister, auch nicht ist sie
Gebärde kynischer Bedürfnislosigkeit. Der unechte Jünger vielmehr geht
umher und scheint mittels der Kutte im Wertschein der freiwilligen Armut.
Nicht nur stellt er sich zur Schau, er stellt sich im Wertschein der freiwilligen
Armut zur Schau. In diesem Wertschein zeigt er sich, die Selbstdarstellung
wird also zur SelbslTPertdarstellung gesteigert, er sucht, der unechte Jünger,
die Anerkennung, den Beifall, die Bewunderung, mit einem Wort die Wert-
reaktion der Umgebung. Die Kutte dient der Selbstwertdarstellung.
Ein Sichzeigen als Träger von Wertqualitäten charakterisiert also die
Selbstwertdarstellung. Dazu noch ein anderes Beispiel. Dem Gesetz der
triebhaften Aufmerksamkeit entsprechend lenkt das Neue die Aufmerksamkeit
auf sich, das Gewohnte nicht. Das Neue ist eine Wertqualität bestimmter Art.
Eine Begebenheit, die das Niveau des zu Erwartenden und darum Gewohnten
überschreitet, wird zum Träger dieser Qualität und eben damit Erreger der
triebhaften Aufmerksamkeit. Es mag nun sich finden, daß jemand eine
besondere Empfänglichkeit für die Qualität des Neuen besitzt. Von der
Neuheit, welche eine Begebenheit umschwebt, angelockt, wird er sich fest-
gehalten fühlen, und umgekehrt nichts lieber zum Gegenstand seiner Mittei-
lung machen, als eben das Neue. Dann unterscheiden wir doch aufs genaueste,
ob wirklich der Wert der Begebenheit die Mitteilung veranlaßt, ein triebhaftes
Hingerissensein des Mitteilenden durch die Qualität des Neuen und Auf-
fallenden, oder ob der Wunsch selbst als der Mitteiler der erstaunlichen Be-
gebenheit im Wertschein ihrer Neuheit zu erglänzen. Vielleicht ist es nur der
Tonfall, die Unterstreichung eines "ich", z. B. in der Wendung: "ich kam
dazu" - und wir begreifen sofort: aha, der Erzähler meint sich, - und ver-
spüren als höfliche Leute die Tendenz, zu sagen: "nein, lieber Herr X, wie
wissen Sie doch immer das Neueste!" So kann, wie der Typus des
248 Beiträge zur Psychotherapie und Neurdsenlehre.
Neuigkeitskrämers lehrt, auch in einem dem Ich durchaus äußerlichen Wert ein
Manifestationswert der eigenen Persönlichkeit gesehen werden. Wird dieser
Wert der fremden Bewunderung in der Weise des Zeigens entgegengehalten,
so nennen wir diese Haltung "Selbstwertdarstellung".
Es gibt aber nun eine Reihe selbstdarstellerischer Phänomene, welche
sich von der eben geschilderten "reflektierten Selbstdarstellung" deutlich
unterscheiden. Beispielsweise sei erinnert an die echte repräsentative Selbst-
darstellung; eine Haltung gewählt, nicht um dem eigenen individuellen Selbst
Glanz und Ansehen zu sichern, wohl aber einer Sache, eben der, welche man
vertritt, und der man mit würdebetonender Haltung würdevollen Eingang
in die Sichtbarkeit zu bereiten gewillt ist. So stellt der König an seiner Person
die königliche Würde zur Schau, so der Gesandte die ihm fremde, aber doch
hic et nunc in seiner Gestalt erscheinende Majestät des Königs, so vertritt der
Standesangehörige erscheinungsmäßig seinen Stand usw. - Da ist ferner die
intendierte Selbstoffenbarung, das Verhalten dessen, der in der Selbstmitteilung
einen Wert erfaßt, wie wenn ein Verbrecher den Drang nach Selbstenthüllung
(Raskolnikoff bei DosToJEwsKI!) bis zur vorsätzlichen Veröffentlichung
seines Verbrechens steigert (vgl. Erinnerungen des Staretz Sossima VI. c.,
bei DOSTOJEWSKI: Die Brüder Karamasoff). Auch hier verhält sich der einzelne
zum Sichtbarwerden seiner Person. Was aber sein Verhalten von der Selbst-
darstellung des Eitlen unterscheidet, das ist das Fehlen der egoistischen Trieb-
feder: die Selbstdarstellung ist in beiden Fällen der Darstellung eines über-
persönlichen Wertes untergeordnet und nur Vehikel seines Erscheinens. Der
Eitle dagegen hat ein subjektives Interesse am Sichtbarwerden seiner Person.
Welcher Art dieses Interesse ist, bedürfte einer genaueren Untersuchung,
jeder aber sieht sofort zwei Modifikationen dieses Interesses: einmal die "reflek-
tierte Eitelkeit" des Diogenes und der "reflektierte" Ehrgeiz des unechten
Jüngers; daneben aber die naive, unbefangene, begierdelose Eitelkeit des in sich
selber hemmungslos Verliebten, dem unablässig der Mund übergeht vom
Gegenstand seiner Verliebtheit, dessen Verhalten eine fortwährende Ichbe-
tOnttng, ein unablässiges, um die Reaktion des Zuschauers aber gänzlich unbe-
kümmertes Sich-zur-Schau-Stellen ist. Was die reflektierte Eitelkeit von der
naiven Eitelkeit und damit die reflektierte Selbstdarstellung von der bloßen
Ichbetonung unterscheidet, ist ein Doppeltes: einmal die Wahl bestimmter
Inhalte, auf welche sich die Eitelkeit beruft - Diogenes ist eitel auf seine
Bedürfnislosigkeit, ein anderer alif seine soziale Existenz, auf seine Belesenheit,
seine Konnexionen usw., seine Selbstdarstellung gründet in einer seligierenden
Identifikation der eigenen Person mit gewissen Werten, in denen er sich selber
zur Schau stellt. Der naiv Eitle dagegen überzieht jede einzelne Äußerung und
alle Gegenstände, welche den Vorzug haben, in seine Ichsphäre zu treten,
wahllos mit dem "autoerotischen" Affekt. Während Zweitens der reflektiert
Eitle zum Zuschauer, seine Beachtung, Verwunderung, Anerkennung hei-
schend, eine Beziehung des Begehrens unterhält, verhält der naiv Eitle sich
Der Einzelne und der Zuschauer. 249
unbeirrbar emotional zu ihm, wie zu sich selber. Das Publikum ist ihm nur
der Spiegel seiner eigenen Herrlichkeit. Wohl muß man sagen, daß auch
Diogenes in seiner Bedürfnislosigkeit sich wohlgefällt, oder gar der falsche
Jünger in seiner Kutte; dieses Wohlgefallen gründet aber im Zuschauer und
bedarf zu seiner Dauer der Beachtung oder Wertreaktion einer Umgebung.
Diese sucht der reflektiert Eitle mittels der Selbstdarstellung.
Nehmen wir diese Richtung auf die fremde Beachtung als differentielles
Merkmal der reflektierten Selbstdarstellung heraus, so fragt sich, welcher Art
denn die vom Eitlen gesuchte Beachtung ist. Wie man weiß, gibt es zwei
prinzipiell verschiedene Arten der Beachtung, die eine wertgeleitet und unwill-
kürlich, die andere zweckgeleitet und willkürlich. Nur Wertqualitäten wendet
sich die Beachtung unwillkürlich zu, erscheint jemand im Wertschein irgend-
einer Qualität, z. B. des Schönen oder Häßlichen, des Intensiven oder Lebens-
armen, des Neuen oder Altmodischen usw., so wird er Gegenstand der trieb-
haften Beachtung. Willkürlich ist z. B. die Beachtung, die jeder Staatsbürger
eines gewissen Rayons beim Steuerbeamten erregt. Diese Beachtung gründet
durchaus nicht in irgendeiner besonderen Wertqualität des Beachteten; sie
ist geleitet vom Gesichtspunkt eines Zweckes, nämlich der Steuerforderung
und entbehrt in bezug auf den einzelnen jeder individualisierenden, emotio-
nalen oder affektiven Bedeutung.
Fragt man also, welche Art der Beachtung, so ist gewiß: an der Beachtung
des Steuerbeamten wird dem Selbstdarsteller wenig gelegen sein, um so mehr
aber an der triebhaften, unwillkürlichen, wertgeleiteten, den emotionalen
Charakter des Interesses tragenden Beachtung eines engagierten, "beteiligten"
Zuschauers. Und das ist das Entscheidendel Der Selbstdarsteller sucht die
so qualifizierte Beachtung seiner Umgebung. Er sucht sie in der doppelten Quali-
fikation-entweder als emotionale oder als wertende Beachtung. Er pflegt mit einem
Wort Selbstdarstellung oder Selbstwertdarstellung. So sucht Diogenes die
Verwunderung, der unechte Jünger die Bewunderung. Dabei mag der emotio-
nale Zuschauer genauer als erotischer, neiderfüllter, gebluffter usw. charak-
terisiert sein, der Träger der Wertbeachtung im einzelnen Fall als sozialer,
ästhetischer, moralischer Zuschauer. Immer wird, wo die fremde Beachtung
als Wertbeachtung qualifiziert ist, die genauere phänomenologische Analyse
der jeweiligen Reaktionen spezifische Haltungen konstatieren müssen, quali-
fizierte Beachtungsreaktionen, welche mit keinem Mittel der Assoziations-Psycho-
logie sich auflösen und die als eigentümliche, unzurückführbare Verhaltungs-
formen von einer Psychologie der Funktionen zu bearbeiten sind. Solche
Formen der Wertbeachtung sind z. B. Lob und Tadel, Beifall und Mißfallen,
Anerkennung und Anerkennungsverweigerung, Achtung und Mißachtung,
Bewunderung und Verwerfung, Vorziehen und Zurücksetzen. Alle Selbst-
wertdarstellung geschieht um solcher Reaktionen des Zuschauers willen und
ist, der intendierten Reaktion entsprechend, positive oder negative Selbstwert-
darstellung.
250 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
Gestalt als Begierde nicht auch Begierde wäre nach etwas, nach Nahrung z. B.,
nach Rache, Ruhm usw.
Von dieser Fühlbarkeit des Triebziels aber muß die Fühlbarkeit des
Triebes selbst unterschieden werden. Ein solches Fühlbarwerden des Triebes
ist z. B. gegeben im "Lüsten nach Speise und Trank", im "lüstern sein nach
einem Weibe", im "Gieren nach Ruhm und Anerkennung" usw. Daß ein
Trieb zur Fühlbarkeit gelangt, besagt wiederum nicht, der Trieb kommt zu
vorstellungsmäßiger Bewußtheit. Es ist immer noch etwas Neues, wenn einer,
der nach Anerkennung giert, zum Bewußtsein dieses seines Begehrens, des
Ehrgeizes vielleicht, gelangt, ja sehr oft ist das zum Bewußtsein einer Begierde
Gelangen ein Absterben der Begierde. Andererseits erzählen Reisende oder
Soldaten, die in sehr große Not gerieten, von Zuständen des Hungers oder
Durstes, da im Leidenden geradezu das Wissen schwindet um den Hunger
oder Durst, welcher peinigt, in so rasender, alles Bewußtsein ertötender
Gewalt nimmt das Verlangen von der Seele Besitz. Wie man hieraus außerdem
noch gewahr wird, ist also das Fühlbarwerden eines Triebes oft ein sehr unlust-
voller Zustand, allein dennoch wäre es wiederum falsch zu glauben, das Fühl-
barwerden des Triebes sei dieser unlustvolle Zustand - genießen doch be-
kanntlich viele Menschen ihre Bedürfnisse. Oder es sei, wie Pessimisten
meinen, die Unlust der Beweggrund der Begierde, welche nun nach Beseitigung
des unlustvollen Zustandes Verlangen trägt, so als fräße z. B. das Tier, um
seinen Hunger los zu werden, der es peinigt! Ja der Hunger entspricht in
Wirklichkeit nur einer besonderen Zuspitzung des Triebes und ist gar nicht
identisch mit jenem "Lüsten nach Speise", welches im Gegenteil oft eintretend
gesehen wird, wo statt des Hungers nur eine generelle Naschhaftigkeit oder
Gefräßigkeit am Werk ist. Man denke nur an Rom und den Gebrauch, nach
Gastmählern durch künstlich hervorgerufenes Erbrechen die Aufnahmefähig-
keit des Magens wiederherzustellen.
Dennoch ist das Fühlbarwerden eines Triebes auch nicht identisch mit
seiner Wirksamkeit. Ehrgeizig nennen wir Themistokles, den der Lorbeer
des Miltiades nicht schlafen läßt, beachtungssüchtig Diogenes in seiner zer-
rissenen Kutte. Dennoch ist der Trieb nach ruhmvoller Beachtung in Themi-
stokles zugleich wirksam und fühlbar, wirksam aber und nicht fühlbar in
Diogenes, welcher die Kutte wählt und mit ihr die Verwunderung der Zu-
schauer. Fühlbar wird der Trieb für Diogenes erst dann, als durch den Kutten-
raub die Befriedigungschance des Triebes schwindet; nun erst gerät er in
Unruhe und Angst, für den Kundigen ein Anzeichen des zur Fühlbarkeit
gelangten Triebes nach Beachtung.
"Zur Wirksamkeii: gelangt" heißt der Trieb, sobald zur Wirksamkeit gelangt
die Realisierungstendenz der im Trieb angelegten Zielstrebigkeit. Diese
Realisierungstendenz tritt als aktive oder passive Tätigkeit des einzelnen in
Erscheinung. Dabei ist allerdings noch durchaus nicht gesagt, daß diese
Der Einzelne und der Zuschauer. 253
wird der Ehrgeiz dem Ehrgeizigen ein quälender Zustand, jetzt dürstet der
Verschmachtende, begehrt der Asket, lüstet der Hungrige.
Was verändert sich nun aber durch das Fühlbarwerden des Triebes?
Einmal, so scheint es, die Gegebenheitsform des Triebziels. Äußert sich die
Wirksamkeit des Triebes ursprünglich im phantasiemäßigen oder hallu-
zinatorischen Auftreten von Gedanken, welche zu der im Trieb angelegten
Zielstrebigkeit im Verhältnis des Zieles standen, so treten jetzt mit einem Mal
Triebimpuls und Triebziel auseinander. Eben noch, - man denke an den
ehrgeizig träumenden Themistokles, - kamen dem Phantasierenden ganz
automatisch die das Triebziel symbolisierenden Gedanken, in denen er wie
in Erfüllungen seines Ehrgeizes lebte, - jetzt, im zweiten Stadium der Trieb-
wirksamkeit, treten das Ich und seine Gedanken auseinander. Die Gedanken
gelten dem Ich nun nicht mehr als das Triebziel selbst, sie symbolisieren
es nur; damit aber wird der Phantasiecharakter der Gedanken fühlbar, und
dieser negative Tatbestand, das Nur-Phantasiecharakter-Haben der Gedanken
findet seine positive Kehrseite darin, daß eben jene Gedanken nun als Gegen-
stände des Wunsches, als Wunschinhalte vor Augen stehen. Neben dieser
Veränderung in der Gegebenheitsweise des Triebzieles steht die Veränderung
im Ich. Lebte das Ich ursprünglich in seinen Gedanken, so lebt es jetzt im
Verlangen nach Realisierung jener Gedanken. Man kann das genauer so aus-
drücken, daß man sagt: solange das Ich Triebrealisierungen phantasiert, haben
die das Triebziel symbolisierenden Gedanken die IchsteIle inne; sobald aber
Triebimpuls und Triebziel auseinandertreten, gewinnt ein Wunsch nach
Realisierung der Phantasieinhalte die Ichstelle.
Wie bereits angedeutet, reicht die Wirksamkeit des Triebes weiter als seine
Fühlbarkeit. Die Quellenhalluzinationen des Verdurstenden sind Anzeichen
für die Wirksamkeit des Triebes; fühlbar dagegen wird er erst auf einer höheren
Stufe seiner Wirksamkeit, da, wo die Quelle als Inhalt des Verlangens auftritt.
Einen interessanten Beweis für diesen Zusammenhang liefern gewisse Über-
gangsphänomene des gesunden in das kranke, des normalen in das perverse
Begehren. Neurotiker erzählen z. B. von gewissen geschlechtlichen Per-
versionen, sie hätten sie realisiert, dabei aber den allergrößten Ekel empfunden.
Gefragt, wie sie bei so ausgesprochenen Ekelempfindungen dazu kamen,
die perverse Handlung auszuführen, erklären sie, sie hätten von der Existenz
solcher Handlungen gehört und das habe ihre Phantasie beschäftigt. Zu
gleicher Zeit angezogen und abgestoßen hätten sie den Eindruck einer Nöti-
gung verspürt, die perverse Handlung auszuführen. Der Ekel wuchs dabei an,
allein trotzdem geschah die Handlung. Dann allmählich, bei wiederholter
Ausführung schwand der Ekel. - Beobachtungen analoger Art haben Theore-
tiker des Begehrens veranlaßt zu schließen, es pervertiere erst das Begehren
und diesem pervertierten Begehren folgte dann die Perversion des Fühlens.
Dennoch ist dieser Schluß falsch, und die Analyse dieses Fehlschlusses ist
überhaupt geeignet, hier einiges Licht zu verbreiten. Man übersieht nämlich,
Der Einzelne und der Zuschauer. 255
daß, wenn der Neurotiker auch im Vollzug der perversen Handlung gegen
einen Affekt des Ekels anzugehen hat, dennoch ein eigentümlicher Anreiz
von der ihm vorschwebenden, perversen Möglichkeit ausgeht. Er gibt selber
an: die perverse Möglichkeit habe seine Phantasie beschäftigt. Er konstatiert
selbst ein Oszillieren seines Interesses an der Handlung zwischen Anziehung
und Abstoßung, immer aber betont er das Interesse, die Fähigkeit der Hand-
lung, seine Phantasie in Anspruch zu nehmen. Damit aber ist das Entscheiden-
de bereits gesagt. Es muß eben der Lust- oder Ekelcharakter des Triebziels von
seinem Anspruch auf das emotionale Interesse unterschieden werden. Wenn man
einem Melancholiker, dem seine depressive Lebensgrundstimmung immer
wieder trübe Gegenstände vor Augen führt, einem Pessimisten, der aus der
Fülle möglicher Inhalte ausschließlich die Leiden symbolisierenden Inhalte
auswählt und gewahr wird, versichern wollte: er suche diese Gegenstände
düsteren Charakters auf, etwas in ihm wolle und wähle das Leiden, bejahe es
und hänge ihm nach - so wird er mit Leidenschaft protestieren und sagen,
man verstände ihn nicht, er leide doch am Leiden, er hasse es und wolle
es durchaus nicht. Und doch ist wahr, daß er wie blind ist für alles, was nicht
Leiden, daß sein Interesse stumpf ist für lustvolle Gegenstände und nur die
schmerzlichen betont. Hier findet man denselben Gegensatz: Ekel, Unlust,
Widerwillen angesichts des Leidens und doch ein unzerstörbares Interesse
an allem, was Leid ist, eine besondere emotionale Ansprechbarkeit durch es.
Die gleiche emotionale Ansprechbarkeit aber findet man beim Neurotiker.
Sie ist das Ursprüngliche und es ließe sich zeigen, daß überhaupt im ganzen
Gebiet des Begehrens und Wünschens der Perversion des Strebens eine
Perversion des Fühlens vorausgeht.
Man entsinnt sich vielleicht, wir gingen aus von der Frage: was für ein
Interesse hat Diogenes an der Beachtung des Zuschauers. Wir kamen auf die
einfachere, näherliegende Frage: was für ein Interesse hat der Essende an der
Nahrung. Es zeigte sich, daß man die biologische Betrachtung von der
psychologischen abscheiden muß. Der Biologe findet, Selbsterhaltung sei
Gegenstand des Interesses für den Essenden. Für den Psychologen ist das
Interesse ein emotionales. Dieses emotionale Interesse ist noch nicht die
Nahrungsbegierde. Es gibt einen lustvollen, in der Voraussicht der möglichen
Stillung angenehmen Hunger; einen unlustvollen, angesichts der Stillungs-
ohnmacht qualvollen Hunger. Es gibt ein "Lüstern sein" nach Speise beson-
derer Qualität, die Naschhaftigkeit, und es gibt die Gier dessen, der in leiden-
schaftlicher Orgie und in Exzessen sich an die bloße Lust des Essens selbst
verliert. Diese Möglichkeiten sind in der biologischen Perspektive samt und
sonders als Modi des Wirksamseins von ein und demselben Trieb zu bewerten,
des Eßtriebes; für die psychologische Betrachtung aber handelt es sich um
besondere Arten des Fühlbarwerdens, immer des Eßtriebes, um differenzierte
Ausarbeitungen des einen und gleichen emotionalen Interesses. Dieses
emotionale Interesse ist in seinem Bestand davon unabhängig, ob sein Gegenstand
256 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
Der Sinn des Boykotts ist doch offenbar folgender: Mr. X hat sich eine
Handlung zuschulden kommen lassen, welche einem jungen Gentleman nicht
ansteht. Statt den Impuls zu jener Handlung zu verdrängen, hat er sich ihm
überlassen, und nun behandelt ihn seine Umgebung, wie er selbst jenen Impuls
hätte behandeln müssen. Da ein solcher Impuls in der Gestalt einer wahr-
nehmbaren Handlung nicht existieren soll, existiert derjenige, welcher ihn
aufkommen läßt, selber nicht für die Gesellschaft der Wohlgesinnten. Indem
seine Lebensäußerungen, ja sein körperliches Dasein selber also aufhören,
in die Beachtungssphäre der anderen hinein sich fortzusetzen, fällt für den
Boykottierten die gewöhnlichste Bestätigung der eigenen Realität fort, und
der Trieb nach Beachtung kommt in Form von Angst zur Fühlbarkeit. Es
gibt indessen andererseits rein subjektiv bedingte Gefährdungen des Beach-
tungserfolges und damit weitere Anlässe für den Trieb nach Beachtung zur
Fühlbarkeit zu gelangen. Man denke hier an die geradezu als Charakter-
disposition zu bewertende Eigentümlichkeit gewisser Menschen, jene Be-
schaffenheit nämlich ihres Manifestationsdranges, welche bewirkt, daß sie
systematisch übersehen werden. So Geartete kommen zur Türe herein und
man bemerkt sie nicht; sie sprechen und es ist als hätten sie nichts gesagt; sie
stehen an der Garderobe und reichen ihr Billet, allein andere, später Hinzu-
gekommene erhalten statt ihrer die Mäntel. Sie tun alles, was sie tun, mit einem
Mangel an Eindringlichkeit, und vermögen allerlei, nur das eine nicht, das
Interesse des Zuschauers zu bewegen. Vielleicht empfindet der einzelne diesen
Mangel an Eindringlichkeit nicht, vielleicht effaciert er sich selbst. Vielleicht
aber sind auch die darstellerischen Vorgänge in ihrer Gesamtheit gestört,
es kann der einzelne, wie man sagt, "nicht aus sich heraus", dann durchzieht
ein Moment der Reflexion die einzelnen Äußerungen, und das Bedürfnis, den
Zuschauer zu gewinnen, kommt als Unruhe, Verlegenheit, Gehemmtheit,
Scheu, also wiederum in angstartigen Zuständen zur Fühlbarkeit. Wiederum
findet man dann z. B. bei alten Leuten eine besondere Unruhe und Empfind-
lichkeit des Geltungsbedürfnisses, welche gründend im Gefühl herabgemin-
derter Kraft und Wirklichkeit, also in einer besonderen Modifikation des
Selbstwertgefühls sich der Analyse erweist als Angst vor dem Nachlassen
der Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit von seiten des Zuschauers. Es ist
darum ein bekannter Grundsatz der Ritterlichkeit, alten Leuten durch beson-
ders betonte Zuwendung der Beachtung das zu ersetzen, was ihnen an natür-
lichem Beachtungsanspruch mit der eindringlichen Kraft ihrer Jugend ver-
lorenging.
Sieht man also den Trieb nach Beachtung in einer noch nicht verständlichen
Angst zur Fühlbarkeit gelangen, so fragt es sich, was denn eigentlich der
Inhalt dieser Angst ist. Wie ja bereits der Hinweis auf die "Ichbedeutung"
des Triebes besagt, wird dem einzelnen in der Beachtung des Zuschauers mehr
zuteil, als die Befriedigung eines rein emotionalen Interesses, was ihm aber
überhaupt zuteil werden kann, hängt ab von der Entscheidung über den
Der Einzelne und der Zuschauer. 259
Besitz, seinen Titeln, seiner Ehre, seiner Sittlichkeit, und doch gehört zum
Sein der lebendigen Gesamtpersönlichkeit ihr Anteil an diesen verschiedenen
Seinsgebieten. Trotz aller möglichen Täuschungen über den objektiven An-
spruch dieser Seins gebiete auf die Gesamtpersönlichkeit verhält sich dies wie
gesagt, und es ist darum nur konsequent und bedarf keiner Klagen über die
Ungerechtigkeit des Weltlaufs, wenn dem einzelnen innerhalb des Seinsge-
bietes, das er vielleicht um eines Höheren willen aufgegeben hat, die positive
Beachtung entzogen wird von allen für jenes Höhere Blinden, wenn also z. B.
der Bettler unbeschadet seiner Heiligkeit vom reichen Prasser ein Bettler
gescholten wird.
Gemeinhin nun fundiert die den Ausschnitten personalen Seins zuge-
wendete Beachtungskonstante den einzelnen, ausdrücklichen, vom jeweiligen
Objektivationsvorgang der Persönlichkeit angezogenen Beachtungsvorgang
des Zuschauers, und dies einfach darum, weil die einzelnen Objektivations-
vorgänge der Persönlichkeit sich innerhalb der Seins gebiete vollziehen, an
welchen sie teil hat. So geht jemand als Sieger aus einem sportlichen Wett-
kampf hervor und lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers in ausdrücklicher
Weise auf die in das Bild seiner Persönlichkeit bereits aufgenommene körper-
liche Gewandtheit. So gewinnt ein anderer zu seinen Millionen sichtbarlich
die weitere Million hinzu und wächst zugleich an wirtschaftlichem Sein und
Beachtungsanspruch für die durch wirtschaftliche Güter determinierte kon-
stante Beachtungsrichtung des Zuschauers.
Mit diesen allgemeinsten Richtungen der fremden Beachtung nimmt, unter
der Herrschaft des Triebes stehend, der einzelne Fühlung, und zwar in der
doppelten Form des aktiven und passiven Strebens nach Beachtung. Sucht
er, von aktivem Beachtungsstreben geleitet, selbstdarstellerisch auf die eigenen
Objektivationsvorgänge die Beachtung des Zuschauers zu lenken, so ist es
die eigene Existenz selbst, für welche er, von passivem Beachtungsstreben be-
wegt, das Interesse des Zuschauers beansprucht. Meistens treten beide Rich-
tungen des Triebes verbunden in Aktion, und zwar so, daß z. B. von passivem
Streben geleitet, der einzelne vom Zuschauer und seiner Beachtungsbereit-
schaft die Richtung der Selbstdarstellung sich diktieren läßt, innerhalb welcher
Richtung er dann sich aktiv selbstdarstellerisch entfaltet.
Was also der Zuschauer durch Beachtungsverweigerung ("Boykott" z. B.)
überhaupt dem einzelnen entziehen kann, ist ganz allgemein gesprochen da.!
emotionale Zugeständnis seiner Existenz und ihrer Äußerungen, eventuell des
Wertes seiner Existenz und ihrer Äußerungen. Wie weit der einzelne durch
solche emotionale Anfechtung seiner Existenz oder ihrer jeweiligen Mani-
festation zu treffen ist, hängt wesentlich vom Grad seiner Freiheit ab; ange-
nommen aber, es lebe jemand restlos durch seinen Trieb nach Beachtung, es
habe also der Trieb im Gebiet der Gesamtpersönlichkeit die Lebensstelle
inne, es fühle also einer sich seiend einzig und allein durch die Resonanz seiner
Existenz im Zuschauer, so wird die Beachtungsverweigerung notwendig als
Der Einzelne und der Zuschauer. 261
Ausdruck der eigenen Nichtexistenz erlebt werden. Es ist dann nichts anderes
als der adäquate Ausdruck für den dieses Gefühl der Nichtexistenz begleitenden
Angstaffekt, wenn jemand, über den ein "bürgerlicher Tod" verhängt ist,
wie man oftmals hört, ratlos und an seinem Dasein verzweifelnd es auch nach
seiner körperlichen Seite zu vernichten sucht.
Wie Beachtungsverweigerung, so bringt auch die konzentrierte Zuwendung
der Beachtung den Trieb zur Fühlbarkeit. Richten sich die Augen und Ohren
der Anwesenden mit einem Mal auf die eigene Person, so wird man mit angst-
gefärbtem Unbehagen leicht auf sich selber aufmerksam und wie immer führt
diese Verschiebung der Aufmerksamkeit, indem sie die Realisationsvorgänge
der Person, die unbefangene Hingabe an die Gegenstände ihrer Rede oder
ihres Tuns beeinträchtigt, zur Beunruhigung des Triebes nach Beachtung. Es
sei hier ferner erinnert an das Unbehagen dessen, der sich beobachtet fühlt.
Je nach seiner Veranlagung wird der einzelne unter dem Druck der fremden
Beobachtung entweder in Angst geraten, verstummen, erstarren, sich "in sich
selber verkriechen", oder die Beachtungsangst verdrängend in übertriebener
Lebhaftigkeit die Äußerung in Rede, Lachen, Aktion forcieren. Dabei ist
es im Effekt gleichgültig, ob diese Beobachtung in Wirklichkeit besteht, oder
nur in der Einbildung des Beobachtungsscheuen. Prüft man nun diese Ängste,
so zeigt sich, daß sie in bezug auf den Inhalt von der Angst der Beachtungs-
verweigerung nicht wesentlich verschieden sind. Wer sich beobachtet fühlt,
fühlt sich in peinlicher Weise auf seine jeweilige Äußerung reduziert. Der
Beobachter vertauscht das Verhältnis der emotionalen Gegenseitigkeit,
welches die Basis allen Verkehrs ist, mit der zweckgeleiteten Beobachtungs-
einstellung auf die peripherste Äußerung; er verengert also das Erscheinungs-
relief der fremden Gesamtpersönlichkeit, indem er sie detailliert und parzelliert.
Wie dem Beobachter wird dem Beobachteten die eigene Existenz fragwürdig.
Des einzig adäquaten Zugeständnisses seiner Realität, des emotionalen näm-
lich, von seiten des Zuschauers beraubt, erlebt er diese plötzliche existentielle
Problematik in einem Angstaffekt1 •
Ein besonderer Modus des Fühlbarwerdens für den Trieb nach Beachtung
ist weiterhin gegeben in den neurotischen, zeigelustigbedingten Angst-
affekten. Wie bereits angedeutet (vgl. S. 256), gibt es eine elementarste Reali-
sationsstufe für den Trieb nach Beachtung, die exhibitionistische Zeigelust.
Wenn wir von der Zeigelust als einer besonderen und normalen Realisations-
stufe des Triebes nach Beachtung sprechen, geschieht das in der Erwägung,
daß ihre, der Zeigelust Befriedigung, mit dem Anspruch auftretend, definitives
"Sexualziel" des Erwachsenen zu sein, zwar als Perversion zu bewerten ist,
als natürliche Durchgangsstation der Entwicklung indessen beim Kind
(vgl. FREUD: Abhandlungen zur Sexualtheorie). Es ist uns bekannt, daß die
1 Daß aber die eigene Existenz für den einzelnen fragwürdig werden kann, bedarf
allerdings noch einer genaueren Erklärung, die hier in diesem deskriptiven Teil der Unter-
suchung nicht gegeben werden kann.
262 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
die aktuelle Wunschstelle des Ich, den Wunsch nicht gesehen zu werden,
anficht. Der Widerstreit dieser kontradiktorisch entgegengesetzten Tendenzen
und ihr Kampf um die Ichstelle innerhalb der nun in sich geteilten Gesamt-
persönlichkeit gelangt in einem Angstaffekt zur Fühlbarkeit.
Wie dieser Fall sie in relativer Isolierung, so zeigt ein anderer die Reak-
tivierung der Zeigelustphase in Verbindung mit Beunruhigungen des Selbst-
wertgefühls. Es handelt sich um einen jungen Mann mit leicht zwangs-
neurotisehern Einschlag. Er kommt zu einem Augenarzt, sein Leiden ist eine
harmlose Kurzsichtigkeit des linken Auges, er bittet um ein Monokel für
eben dieses Auge. Dagegen ist nichts einzuwenden, das Glas wird ausgewählt,
probiert und schließlich getragen. Es entspricht ganz und gar den Bedürf-
nissen des jungen Mannes; ja es bereitet ihm sogar eine besondere Genug-
tuung es aufzusetzen, sich im Spiegel zu bewundern und das Glas in der
Stadt herumzutragen. Nach einigen Tagen jedoch erscheint der junge Mann
bei seinen Bekannten ohne das Glas. Es fällt auf. Von einem Freunde ange-
gangen, vertraut er sich ihm an. Es sei ihm zur dringenden Notwendigkeit
geworden, das Glas abzulegen, als die Ursache eines ganz unerträglichen und
angstvollen Zustandes. Und zwar wirkte das Glas folgendermaßen: ging
unser Freund innerhalb der Stadt spazieren, so fühlte er sich neuerdings
beobachtet, ja er hatte den peinlichen Eindruck, durch sein Monokel aufs
unangenehmste aufzufallen. Offenbar erregte er Anstoß; die Leute, so dünkte
ihn, blieben auf der Straße stehen und blickten ihm nach; Gassenjungen
pfiffen hinter ihm drein. Begegnete er Freunden, so lachten sie höhnisch ihn
an; die Frauen waren kurz und behandelten ihn geringschätzig, Worte wie
"Laffe" und "Geck" hörte er zu verschiedenen Malen in seiner Nähe fallen.
Kurz, er hatte den Eindruck, Gegenstand einer allgemeinen, feindseligen
Beachtung zu sein, und genauer: diese feindselige Beachtung durch sein
Monokel sich zugezogen zu haben. - Genauer befragt gibt der junge Mann
zu, das geheime, ihm bis zu diesem Augenblick entzogene Motiv des Monokel-
kaufs sei nicht die Kurzsichtigkeit gewesen, sondern der Wunsch, mit der
"Feschheit" von monokeltragenden Offizieren und Studenten zu rivalisieren l •
1 Für Kundige sei ein Traum hier eingefügt, welcher mit Angst verbunden dem Träumer
in den Tagen seines Monokelabenteuers widerfuhr. Er träumt: "Ieh befinde mich in einem
Kreis von Frauen; eine darunter schien mir verkleidet und besonders auffallend durch eine
Brosche, wie ich sie nur an meiner Mutter beobachtet hatte. Vor diesen Frauen produzierte
ich mich in allerlei akrobatischen Künsten. Diese bestanden darin, daß ich einen tubus-
artigen Gegenstand in der Länge von 17 cm in komplizierten Bewegungen an die Augen
hielt; die Bewegungen waren sehr mühsam und machten mir Angst. Dabei hatte ich den
Eindruck, als würden meine Augen um den angelegten Tubus länger. Die Frauen bewun-
derten mich sehr". Dieser Traum, dessen Analyse zu weit führen würde, ist deutlich
exhibitionistischer Natur; er zeigt einerseits den Gegenstand der zeigelustigen Impulse,
andererseits bereits die zeigelustgeleitete Verwendung der Augen. Diese wurde nach der
Erzählung des jungen Mannes angebahnt durch ein vom Vater gepflegtes Spiel. Der Vater
legte Wert auf gute Augen; ein Mann, so pflegte er zu sagen, muß scharf sehen, scharf und
weit; auf gemeinsamen Spaziergängen nun wetteiferten beide, Vater und Sohn, wer von
Der Einzelne und der Zuschauer. 265
Von größter Wichtigkeit ist dieses Zugeständnis. Zwei Seiten der Begeben-
heit springen auf Grund einer solchen Feststellung erst recht in die Augen.
Einmal der eingebildete negative Geltungserfolg trotz heimlich intendierten
positiven Geltungserfolgs. Und dann trotz herbeigewünschter Steigerung
des Selbstwertgefühls (Feschheitsbewußtsein) seine tatsächliche Minderung
(Gefühl lächerlich, verächtlich usw. zu sein). Auffallend ist ferner, daß ein
so harmloser W1,lnsch, wie der "fesch" zu sein gleich den anderen, von so
grausamen Folgen begleitet sein kann. Diese Folgen sind zwar nur "einge-
bildet", Phantasieinhalte also, allein dennoch bestehen sie für das Gefühl.
Die tiefer dringende Analyse stößt dann allerdings auf frühere Wunschstellen
des Ich, auf exhibitionistische Impulse. Allein auch die Einsicht in diese
Impulse macht noch nicht deutlich, warum die in ihnen gründende Täuschung
über die Tatsache der fremden Beachtung begleitet ist von einer Täuschung
über den negativen Charakter eben dieser Beachtung. Erst wenn aufgezeigt
worden ist, daß hier eine emotionale Dauersituation der Kindheit determinie-
rende Bedeutung für die aktuelle Situation gewinnt, genauer: daß die in
der infantilen Situation begründete Notwendigkeit, in zeigelustiger Rivalität
mit einem überlegenen Vaterprinzip zu unterliegen, die Erfahrungen ange-
sichts des Monokelpublikums nach sich formt -- erst dann wäre das Verständ-
nis jenes eingebildeten und negativen Beachtungserfolges angebahnt. Uns
indessen, die wir in deskriptiver Analyse dem Fühlbarwerden des Triebes
nach Beachtung nachgehen, interessiert eine andere Seite der Begebenheit
vor allen. Offenbar nämlich wird der negative Geltungserfolg von der Phan-
tasie des jungen Mannes geradezu aufgesucht. Gleichgültig aus welchen
Gründen, eines ist sicher, er wird aufgesucht. Befolgt man aber das für alle
emotionale Psychologie grundlegende Prinzip, vom emotionalen Wert
irgendwelcher Gedanken auf die Natur der Triebimpulse zu schließen, zu
welchen die Gedanken im Verhältnis der Erfüllung stehen, so zwingt in
unserem Fall der Effekt des Monokeltragens, der eingebildete, negative
Geltungserfolg also, zur Annahme eines negativen Geltungsstrebens überhaupt.
Neben der Tendenz, sich als "fesch" zu erweisen, steht offenbar eine andere
Tendenz und setzt sich durch: die Gegentendenz, sich "zu blamieren".
Befremdlich, wie eine solche Tendenz für den ersten Anblick erscheint,
ist sie doch nicht ohne Korrelate auf den primitiveren Realisationsstufen des
Triebes nach Beachtung. Da ist zuerst die Zeigelustphase des Triebes und
man weiß: gleichwertig neben dem Impuls zur Entblößung steht ein Gegen-
impuls, der Impuls zur Verhüllung. Dem emotionalen Interesse an der
ihnen ferngelegene Gegenstände als erster zu Gesicht bekommen möchte. Es handelte sich
dabei um Wild an Waldabhängen, um ferne Kirchturmkreuze, um den Stand der Uhr auf
fernen Zifferblättern. Dabei erfüllte es den jungen Mann mit der größten Genugtuung,
daß nach geraumer Zeit er eine größere Sehschärfe an den Tag legte als der Vater, daß er
also in dem Wettstreit mit ihm als Sieger hervorging. Er pflegte solche Ereignisse mit
besonderem Stolz der Mutter zu erzählen, die ihn dann zärtlich auf die Augen küßte.
266 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
interessiert ihn, daß er auffällt, daß Augen eines Volkes auf ihm ruhen, Grie-
chenland von ihm spricht. Sein Selbstwertgefühl hat keinen Anteil an der
Handlung!.
Allein auch da, wo tatsächlich ein emotionales Interesse am negativen
Geltungserfolg das Verhalten determiniert, sieht man es niemals unbestritten
die Ichstelle einnehmen. Niemand kann in der Tat mit ungeteiltem Herzen
eine negative Selbstdarstellung und die Verwerfung von seiten des Zuschauers
wünschen. Es sei hier beispielsweise erinnert an Nastassja Filippowna in
"Der Idiot" von DosToJEwSKI. Nastassja ist in ihrer Jugend Opfer geworden
eines niedrigen Verführers, und dieses Erlebnis wurde für das fernere Schick-
sal der Nastassja bestimmend, ganz wie traumatische Ereignisse im Sinn der
Neurosenpsychologie bestimmend werden. Es ist nicht so, daß nicht ihre
Seele dürstet nach Reinigung von jenem Makel und nach Befreiung von dem
Gefühl einer immer wieder wollüstig· aufgesuchten Erniedrigung, allein
dennoch, in dem Augenblick, da jemand allen Ernstes mit der Kraft ganz
echten Mitleids sie angeht, bemüht mit seiner Achtung sie zur Selbstachtung,
mit seiner Liebe sie zum Gefühl eigener Würde aufzurichten, bricht der
Gegenimpuls sich Bahn, das negative Geltungsstreben, und es erfaßt sie eine Art
Raserei, dem anderen zu zeigen, wie gemein, wie unrettbar niedrig und
erniedrigt sie ist. Überhaupt ist ja gemeinhin einer der wesentlichsten Anlässe
für das in Aktion-Treten des negativen Geltungsstrebens jene Verfassung des
Selbstgefühls, die wir bereits als SelbstwertprobletJIatik festlegten. Neben der
existentiellen Problematik des vital Gehemmten und der Problematik des
Könnens (Selbstzweifel) steht die Problematik des eigenen Wertes (Selbstwert-
zweifel). Es ist nun nichts als eine Folge jenes primären Impulses, als den
einen sich zu fühlen und als der gleiche auch zu erscheinen, daß, wer sich
niedrig, gemein, schwach, kurz unwert fühlt, auch als niedrig, gemein usw.
zu erscheinen in sich zum mindesten den Antrieb birgt. Mancher, dem
falsches Lob entgegengebracht wird, verspürt in sich den Impuls, in trotziger
Selbstverkleinerung aufzubrechen. Analog aber sieht man den einzelnen, dem
gefühlsmäßig der eigene Wert fragwürdig ist, mit Mißtrauen und Angst die
einzelne Äußerung begleiten. Weiß er doch nie, ob sie ihn im Wertschein eines
positiven oder negativen Wertes zeigen wird. Man kann diese Verfassung
der Selbstwertproblematik genauer bezeichnen als Exzentrizität des Selbst-
gefühls. Sie ist der unmittelbare Anlaß für die Reagibilität, Empfindlichkeit und
Zweideutigkeit des Geltungsstrebens. Wer seiner selbst gewiß ist, in dem Sinn,
daß er mit der ganzen Fülle seiner Person, seiner Werte, seiner Vitalität,
1 Eher läßt sich dagegen auf eine Problematik des Lebensgefühls und Existenzgefühls
bei Herostrates schließen. Wie der Zeigelustphase des Triebes nach Beachtung jene Modi-
fikation des Selbstgefühls zugeordnet ist, welche man als Autoerotismus bezeichnet, so der
Phase des Beachtungsstrebens das Existenzgefühl, der Phase des Geltungsstrebens aber das
Selbsll1lerlgefühl. Erst in einem zweiten Teil kann auf diese Zusammenhänge näher einge-
gangen werden.
268 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
seines geistigen und leiblichen Besitzes tragender Boden aller einzelnen Äuße-
rungen ist, wer in diesem Sinn zentriert ist, hat nicht zu befürchten, durch
irgendeine Äußerung, durch Zeigen eines Mangels oder Versagens, seines
Selbstwerts gefühlsmäßig verlustig zu gehen. Wo dagegen die einzelne Äuße-
rung für das Selbstgefühl der Person die Funktion hat über Wert oder Unwert,
Sein oder Nichtsein eben dieser Person zu entscheiden, wo also der einzelne
nicht in dem alle Einzeläußerungen überdauernden Gefühl seines Wertes ruht,
da geschieht das Merkwürdige, daß jeder periphere Wert oder Unwert, der an
ihm sichtbar wird, für das Gefühl des Sichäußernden zur Dignität eines abso-
luten Selbstwertes aufrückt. Ein gut gewendetes Wort in der Rede, und der
so Disponierte fühlt sich als Gott, als Genie, allen überlegen usw., während
ein schlecht gewendetes Wort ihn aus allen Himmeln des Selbstgefühls stürzt.
Diesem Oszillieren des Selbstwertgefühls nun entspricht das Oszillieren des
Geltungsstrebens. Ein Beispiel statt vieler. Es handelt sich um eine Gesell-
schaft, und die wechselnde Rede kommt auf einen bestimmten Gegenstand.
dieser Gegenstand aber liege nicht im Wissensbereich eines der Anwesenden.
Dann wird seiner Selbstwertgewißheit das Zugeständnis seines Nichtwissens
nicht schwer fallen. Fühlt er doch um sich die Fülle seiner Existenz und den
Gesamtwert seiner Persönlichkeit, die durch eine stellenweise Ohnmacht,
die Ohnmacht des Nichtwissens nicht anzufechten ist. Anders dagegen der
Problematiker des Selbstwertgefühls. Zugestehen, daß er nicht weiß, ist
zugestehen, daß er vom Wert des Wissens für den Augenblick wenigstens
ausgeschlossen ist. Dieses Zugeständnis fällt ihm vielleicht in seiner Kammer-
nicht schwer, allein hier, in der drängenden Realität, vor Zeugen, eines über-
greifenden Selbstwertbewußtseins beraubt, unfähig gegen das im Zuschauer
auftauchende Bild seiner Wissensohnmacht irgend Gültiges auszuspielen,
vollzieht sich an ihm die für die Exzentrizität des Selbstgefühls typische Wert-
verschiebung: es rückt der Unwert seines Nichtwissens zum Selbstwert auf.
Aus diesem Zusammenbruch des Selbstwertgefühls führt dann der doppelte
Ausweg des positiven oder negativen Geltungsstrebens : entweder wird der
einzelne nun "Wissen" vortäuschend durch einen raschen Betrug, indem er
den Eindruck des Zuschauers fälscht, den Selbstwert des Wissens erschleichen,
oder er wird dem negativen Geltungsstreben sich überlassend, zugleich aber
Macht über die Ohnmacht seines Nichtwissens vorgebend, das Nichtwissen
betonen, ausarbeiten, vergrößern; er wird behaupten, überhaupt durch und
durch unwissend zu sein, ja der Unwissendste von der Welt, ganz und gar ein
Tor und ein aller Kenntnis Beraubter.
Es sei hier noch schließlich an den Anteil des Beachtungstriebes und
genauer: der Perversion des Geltungsstrebens an Dauerselbsttäuschungen
des Hysterikers (eventuell des Unfallneurotikers) erinnert. Sicherlich lassen
sich auf Grund systematisch unternommener Durchforschung der dem
Bewußtsein entzogenen emotionalen Schichten der Seele jene Determinanten
aufzeigen, welche für den materialen Gehalt des Symptoms z. B. die
über den personalen Faktor des HeiJungsprozesses. 269
Kunst herausfordernde Notlage eines Menschen ist so geartet, daß sie nicht
durch ihren Widerhall in der emotionalen Sphäre des Kranken auch die
Einwirkung der Persönlichkeit des Arztes auf ihn herausfordert. Auch das
rein physische Leiden, auch die bloße Verletzung, sagen wir eines Gliedes,
reicht an das Lebensgefühl des Kranken heran, spiegelt sich in seiner Reflexion,
wird irgendwie auch zum psychischen Leiden oder besitzt wenigstens die
Tendenz zu einem solchen zu werden, und appelliert eben damit an den toni-
sierenden und energetisierenden Einfluß krankheitsüberlegener Einsicht und
sachgegründeter Zuversicht im Arzt. Allein, erst wo das Leiden des Kranken
jene besondere Ichnähe besitzt, die ein körperlich-seelischer Symptomen-
komplex aufweist, wo das Leiden, im Charakterologischen verankert, das
Selbstgefühl, die Persönlichkeitsgestaltung, die Lebenszuversicht, die Kraft,
die Produktivität des Leidenden berührt, wie im weitverzweigten Erschei-
nungsgebiet der Neurosen, da bildet die Einwirkung der ärztlichen Person
auf die des Kranken das therapeutische Urphänomen, das alle therapeutischen
Einzelmaßnahmen trägt und begründet.
Diese Einwirkung ist primär keine Tat, kein irgendwie faßbares Tun des
Arztes. Wohl besteht die Absicht des Arztes zu helfen, Leiden zu beseitigen,
Versagen unmöglich zu machen, Symptome und Symptomreihen zu Fall zu
bringen, die Persönlichkeit von den ihre Durchsetzung und Verwirklichung
störenden Mechanismen zu befreien und somit eine Veränderung im Struktur-
und Funktionsganzen der leidenden Persönlichkeit zu erzielen, allein, den
Kranken durch die gestaltzeugende Macht der eigenen Person unmittelbar
zu verwandeln, eine Einwirkung solchen Ranges kann niemals Gegenstand
ärztlicher Zielsetzung sein, obschon man sie gelegentlich sich ereignen sieht.
Es ist die Heilung der Neurose eben ein Prozeß. Dieser ist gebunden an
die Zeit; Rückbildungen und Neubildungen im Gebiet der seelischen Funk-
tionsbezirke bezeichnen seinen Verlauf; Umschichtungen und Akzentver-
legungen ereignen sich unter seiner Herrschaft in der Wahl- und Interessen-
sphäre der Persönlichkeit: leidenschaftlich Begehrtes verliert seinen Reizwert,
als unwichtig Verworfenes rückt in die IchsteIle auf und wird leitender Stern
der Persönlichkeit; was bisher die Ichstelle besetzt hielt, scheidet aus, kurz,
ein Prozeß führt zur Heilung hin, durch den Lebenswahres und Lebenswich-
tiges Motivationskraft gewinnt, und lebensfremde, ja lebensfeindliche Ein-
stellungen abgebaut werden. Diesen Prozeß leitet der Arzt ein und gibt ihm
die Richtung. Er kann ihn nur einleiten und beherrschen, indem er mit der
Person des Kranken in mehr oder minder persönlichen Konnex tritt. Es ist die
intime Persönlichkeit des Leidenden, zu der er Beziehung sucht. Er nimmt
Fühlung mit jener Schicht des personalen Lebens, in der sich das Werden,
Wachsen und die Gestaltung dieses Lebens entscheidet, wo also die im Werden
begriffene und zugleich kranke Persönlichkeit mit sich selbst wesens mäßig
allein ist, zu welchem Alleinsein mit den eigenen letzten Entscheidungen der
Arzt den Leidenden zu ermutigen hat. Schon darum, weil der Prozeß der
über den personalen Faktor des Heilungsprozesses. 271
daß die Wirkung des Arztes, indem sie von einem Bild im Leidenden ihren
Ausgang nimmt, sich in einem illusionären Faktor gründet. Das Bild, durch
welches die fremde Persönlichkeit in uns zu personaler Wirklichkeit gelangt,
ist selbst eine Realität. Im Bild ist uns die fremde Persönlichkeit gegeben, es
enthält eine Gesamtanschauung der in einzelne Züge, Eigenschaften, Äuße-
rungen, Handlungen usw. zerlegbaren Persönlichkeit, die aber doch in der
Summe dieser Züge usw. nicht aufgeht, die vielmehr eine eigenwertige Form
und Gestalt ist, welche Gestalt eben von der für ihr Sein empfänglichen Person
abgebildet wird. Wie weit diese Anschauung der fremden personalen Gestalt
aber eine Persönlichkeit bestimmt, verändert, bildet, umgestaltet, wie weit
also das Bild des Anderen im Menschen Wirksamkeit entfaltet, das hängt ab
einerseits von der Plastizität des so Berührten, andererseits von der plastischen
Energie der aufgefaßten Person. Diese plastische Energie kann bis zur
schöpferischen Potenz sich steigern, in den Ordensstiftern z. B., welche ihre
personale Gestalt durch Jahrhunderte vererben, indem sie zum gestaltgeben-
den Prinzip posthum gezeugter Söhne werden, personaler Faktor also in
einem Heiligungsprozeß.
Der Arzt hingegen gelangt zu personaler Wirkung in erster Linie durch
das Bild, in welchem seine Person zum Erlebnis des Kranken wird. Dieses
Bild entsteht durch eine entstellende Verbindung von wirklich erschauten
Wesenszügen des Arztes und von subjektiven Zutaten. Es bleibt also das
Bild des Arztes im Lauf der Behandlung nicht mit sich identisch. Es durch-
läuft vielmehr selbst einen Prozeß seiner Gegebenheit und dieser Wandel des
Bildes, dieser Wechsel in der Gesamtanschauung der für den Kranken so
lebenswichtigen Person des Arztes wird zu einem wichtigen Teilvorgang des
Heilungsprozesses. Es wächst nämlich der Kranke unter der Leitung des
Arztes in seine seelische Gesundheit hinein. Wie oft aber muß er, um zur
Gesundheit zu gelangen, durch tiefere Leidensstadien hindurch. Wie sehr
verschiebt sich entsprechend das Bild des Arztes in seinem Gefühl. Wie oft
ergreift die Orientierungsunsicherheit der Instinkte, die den Nervösen charak-
terisiert, gerade den festen Orientierungspunkt seiner richtungsunsicheren
Persönlichkeit - das Bild des Arztes. Irgend ein Rest von Wirklichkeits-
bewußtsein allerdings wird in den meisten Fällen alle diese Schwankungen
überdauern. Ein gleichbleibendes Etwas im Bilde des Arztes wird verhindern,
daß die Kontinuität seiner personalen Einwirkung abreißt. Aber überspielt
wird dieses Gleichbleibende von den affektiven Bereitschaften wechselnder
Art, welche die therapeutische Aktion weckt: Stellungnahmen emotionaler
Art, die versunkenen Schichten personalen Lebens angehören, kommen hoch
und gestalten das Bild des Arztes nach Maßgabe ihres Empfindungssinnes
und Gefühlswertes.
Was nie sich hervorwagte im Kranken, Ansprüche, Liebeswünsche,
Geltungsbedürfnisse, Machtträume, Impulse, die teils die Umwelt, teils die
Moral, teils das Sicherungsbedürfnis des Kranken unterdrückte, steigen auf,
über den personalen Faktor des Heilungsprozesses. 273
beziehen sich auf den Arzt und determinieren seine Gestalt für das Erlebnis
des Kranken. Zu ihm verhält man sich, als wäre er der allmächtige, all-
wissende, alliebende Vater. Dann wieder ist er der Feind des freien Sichaus-
lebens, und wieder wird er zum Repräsentanten der Gesellschaft, ihrer For-
derungen und Gebote, gegen die bald die Eigensucht des Kranken, bald ein
tieferes Bildungsstreben sich empören und auflehnen. Und nun ist er der
immer gegenwärtige Rivale, der das Leben verstellt, und seine "Tötung"
erscheint als der einzige Weg in das Glück und die Freiheit. So umkämpfen
die Person des Therapeuten .Liebe und Haß, Vertrauen und Mißtrauen, Hin-
gebung und Auflehnung, Hoffnung und Furcht, Erkenntnis und Täuschung,
er wird zum Symbol, zum personalen Beziehungspunkt aller möglichen
GefühlseinsteIlungen und doch gilt dieser emotionale Aufruhr gar nicht seiner
Person, sondern dem illusionären Anteil in der Auffassung des Leidenden
vom Arzt. So viele subjektive Zutaten aber schließlich das Bild der ärztlichen
Person schmücken oder entstellen, erhöhen oder erniedrigen, näherbringen
oder abrücken, fälschen oder veranschaulichen, nie darf übersehen werden,
daß das Bildwerden im Leidenden doch letztlich gleichbedeutend ist mit der
personalen Wirksamkeit des Arztes.
Diese personale Einwirkung des Arztes auf den Kranken geht aller thera-
peutischen Einzelwirkung vorher, macht sie meist erst möglich, gibt ihr erst
Sinn und Bedeutung. Wenn darum vielfach von psychoanalytischer Seite
behauptet wurde, alle Analyse sei Analyse der "Übertragung", sei Diskussion
des affektiven Verhältnisses des Kranken zum Arzt, so besteht kein Zweifel,
daß diese Auffassung letztlich die therapeutische Aktion ausschließlich in die
Bearbeitung des personalen Faktors des Heilungsprozesses hineinverlegt
haben will, eine Auffassung, vor der gar hicht genug gewarnt werden kann.
Warum den Boden untergraben, auf dem das ärztliche Handeln steht; warum
dem seelisch Leidenden jenes Verhältnis zum Dauerkonflikt machen, auf das
er sich zurückzieht, um seine sonstigen Konflikte zu lösen; warum eine
chronische Beunruhigung in die Beziehung. hineintragen, in welcher der
Kranke während der an Erschütterungen sowieso reichen Zeit Ruhe und Halt
findet? Gewiß, auch Patient ist der Neurotiker nicht ohne Aktion und Reak-
tion seines neurotisch ambivalenten Charakters. Auch das Bild des Arztes
wird, wie das der Umwelt überhaupt, von verzerrenden Spiegeln aufgefangen.
Und wo die therapeutische Aktion sich am Konflikt mit der Person des Arztes
staut, die ganze Neurose sich in das Bett der Übertragung zu ergießen scheint
und im Verhältnis zum Arzt manifest wird, da freilich muß der personale
Faktor des Heilungsprozesses selbst zur Diskussion gestellt und die Beziehung
zwischen Arzt und Krankem berichtigt werden. Meist ergibt sich jedoch
diese Berichtigung von selbst aus der Wirksamkeit der psychotherapeutischen
Maßnahmen. Wie oft sieht man Patienten, die geladen mit repulsiver Energie
in die Sprechstunde kommen, nach einer gelungenen Entspannungsübung,
erfolgreicher Versenkung in verdrängte Erlebnisansätze meditativen Charakters,
v. Gebsattel. Anthropologische Schriften. 18
274 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
manchmal verkehrt sich die Stellungnahme zum Arzt auf der ganzen Linie
ins absolut Negative. Der Arzt, der das Wohl des Anderen im Auge hat,
wird weder die Überschätzungen der fremden Vertrauenshaltung noch ihr
Umschlagen in Mißtrauen, Zweifel und Nörgelei persönlich nehmen, sondern
in allem nur die Not eines Leidenden sehen und seine Aufgabe darin erkennen,
die zentralen Erwartungen des Kranken zu rechtfertigen.
Erst die grundsätzliche Stellungnahme zur Person des Arztes, die sich
als Vertrauen und Glaube äußert, disponiert den Kranken, heilenden Maß-
nahmen sich zu unterwerfen, deren Wirksamkeit ihm nicht ohne weiteres
einleuchtet. Fast keine der therapeutischen Einzelmaßnahmen führt sofort
zum Ziel, jede stößt auf Widerstände, lange Zeitabschnitte hindurch hat der
Glaube des Kranken an die Person des Arztes ausbleibende Erfolge zu er-
setzen und die Energie bereitzustellen, die notwendig ist, um ins Unsichere
und Unbekannte auf niebetretenen Wegen weiterzugehen. Durch die Ver-
trauenshaltung aber setzt der Kranke den Blicken und dem Verständnis einer
fremden Person Gebiete seines Fühlens und Strebens aus, die bis dahin vor
den Augen der Mitmenschen sorgfältig gehütet wurden. Wo Isolierung,
Alleinsein, und die Not dieser Isolierung herrschte, dahin bahnt dem Mit-
gefühl und der Einsicht des Arztes das Vertrauen den Weg. Die Scham-
schranke, die Not und Leiden umgibt, kommt zu Fall; eine Durchleuchtung
verborgener, dem Kranken selbst fremder Impulse findet statt; ein Auf-
brechen der eigenen Verschlossenheit ereignet sich. Zum Gegenstand gemein-
schaftlichen Erlebens, gemeinschaftlicher Betrachtung und Erwägung wird,
was bis dahin geradezu als gemeinschaftaufhebender Faktor in der Seele
des Kranken wirksam war. Eine ungeheure Entlastung, Erleichterung und
Befreiung liegt für den Kranken in dieser Aufhebung seiner Isolierung. Dabei
weiß sich der Kranke durch sein Wissen um die ärztliche Schweigepflicht
inmitten seiner Verbundenheit mit einem Anderen doch wieder vor den
Augen unbefugter Dritter geschützt und behütet.
Indem der Kranke sich mit den Augen des Arztes sehen lernt, lernt er
überhaupt erst sich sehen. Indem er das Verständnis des Arztes angeht und
diesem durch Selbstmitteilung zum Verständnis hilft, gelangt er erst zum Ver-
ständnis von sich selber. Es löst sich damit der Reflexionskrampf, in dem
fast jeder Neurotiker gefangen liegt und der sich daraus erklärt, daß alle
Anspannung des Triebes zur Selbsterkenntnis diese, weil mit nicht ent-
sprechenden Mitteln unternommen, nicht herbeiführt. Erst indem der Lei-
dende seinen Leidenszustand dem Bewußtsein des Arztes aussetzt, einem
methodisch geschulten, durch Erfahrung geübten, überschauenden Bewußt-
sein, gelingt in einer gemeinsamen Aktion des beiderseitigen Verständnis-
willens dem Kranken die Zusammenschau auseinanderstrebender Tendenzen
seines Inneren, die, indem sie sich gegenseitig aufhoben, auch die Bewegung,
den Lebensprozeß der neurotischen Seele zum Stillstand brachten. Nun
gewinnt der Kranke, gestützt auf das Verständnis des Arztes, dieses schrittweise
18*
276 Beiträge zur Psychotherapie und Neurosenlehre.
sich aneignend, zu sich selber erst jenen Abstand, der alle Selbsterkennt-
nis charakterisiert, eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Überlegen-
heit über seinen Leidenszustand und damit für die Beherrschung desselben
und für die Regelung der ihm entstammenden meist blinden Impulse.
In einem Akt des Glaubens aber ist auch das Verständnis des Therapeuten
begründet. Gegenstand dieses Glaubens ist die Heilbarkeit des Kranken.
Im Glauben erfaßt der Therapeut die in der Persönlichkeit des Kranken ange-
legte, ihr zugehörige Norm als eine grundsätzlich realisierbare. Das Ver-
ständnis bezieht sich sowohl auf die Tatsache des Zurückbleibens hinter der
eigenen Norm, sieht aber den Kranken zugleich in die mögliche Verwirk-
lichung dieser Norm hinein, und erkennt wie die von ihr trennenden, so
auch die zu ihr hinüberleitenden Momente in der Seele des Kranken. Nicht
also in bloßen Akten einer psychologischen Reflexion, nicht in einem Ab-
bilden und verstehenden Durchdringen erfüllt sich der Verständniswille des
Arztes, sondern in der Bestimmtheit des therapeutischen Handelns. Das Ziel
des Verständnisses ist darum nicht die Erfassung des gegenwärtigen Leidens-
zustandes in seiner kausalen Begründetheit oder seinem teleologischen Sinn,
sondern die Einsicht in die Bedingungen seiner Beseitigung. Das Verständnis
ist wesentlich nicht psychologischer, sondern therapeutischer Natur. Die
Persönlichkeit des Kranken wird im Verständnis als eine potentiell heilbare
begriffen, welche Richtung dem Verständnis aber nur durch einen Akt des
Glaubens erteilt werden kann. So entsteht der therapeutische Optimismus,
ohne den der Arzt nicht gedacht werden kann, der seine Geduld, sein Ein-
gehen, seine Zuversicht, sein Abwarten, sein Durchhalten, und die einzelnen
Akte seines Einwirkens auf den Kranken erst möglich macht, ein Optimismus,
durchaus berechtigt, weil niemand apriori die Restitutions- und Erneuerungs-
möglichkeiten einer neurotischen Persönlichkeit zu errechnen vermag.
Überhaupt muß gesagt werden, daß der Arzt gar nicht positiv genug zum
Kranken stehen und seine Persönlichkeit in ihrem letzten Wesen nicht radikal
genug bejahen kann. Diese Bejahung, dieser Glaube, dieses Zutrauen zum
Guten, zum Lebensstarken im Kranken wird vernommen, auch ohne jemals
ans Ohr des Patienten gedrungen zu sein. In diesem Glauben des Arztes muß
er ruhen können in einer Zeit, wo die Behandlung eine Umorientierung der
Persönlichkeit erfordert und dem Kranken alle bisherigen Stützen und Krük-
ken verlorengehen. Dieser Glaube hilft dem Patienten über manche Krise
hinweg und beschleunigt sie. Er löst ein Gefühl von Sicherheit aus, als
wäre man bereits im Besitz des Erstrebten oder in unmittelbarer Nähe davon,
und diese Atmosphäre von Zutrauen, von der er sich begleitet fühlt, entlockt
ihm Entschlüsse, zu denen ihm sonst der Mut fehlte, Opfer, denen er sich
nicht gewachsen wußte, Handlungen, die ihn erst über sein wirkliches Können,
seine Leistungs- und Hingabefähigkeit aufklären.
Erst auf diesem Hintergrund von Bejahung ist die Kritik des Arztes zu-
lässig und fruchtbar. Wie angedeutet, unterscheiden wir das psychologische
Über den personalen Faktor des Heilungsprozesses. 277
Optimum von Individuen ausfallen, können sehr wohl einer höheren Idee vom
Menschen und ihrer Darstellung im einzelnen Abbruch tun. Wie oft hat der
Arzt begabteren Persönlichkeiten Mut zu ihrer eigenen Bahn zu machen,
wenn sie in schwachen Augenblicken sinnverdunkelnder Schwermut die
psychoanalytische Methode zu Hilfe rufen, um durch sie vom exponierten
Aufenthalt in den Grenzgebieten religiöser oder künstlerischer Entschei-
dungen befreit zu werden. Wie oft auch hat man gerade begabteren Individuen
gegenüber den beunruhigenden Eindruck, daß sie mit der sog. Gesundung
ein eigenartigeres, stärkeres, einsameres, größeres Leben preisgegeben haben,
weil dieses mit Zuständen von Schwermut, Not, Zerrissenheit, Fragwürdig-
keit, kurz mit Zuständen von Kranksein unlöslich verknüpft war. Und
doch werden so geartete Persönlichkeiten zugeben, daß sie eigene Möglich-
keiten, vielleicht sogar die "höheren" begraben mußten, um zu der ihrem
Anlagekomplex gemäßen Verwirklichungsform zu gelangen. Die Gesundung
besteht dann darin, daß sie unter gegensätzlichen, innerhalb ihrer Wahlsphäre
miteinander konkurrierenden Gestalten des Menschseins . unter Opferung
irriger Vorzugsneigungen sich für die ihrer Individualität gemäße Ordnung
entschieden haben, und daß diese sukzessiv erarbeitete Entscheidung gleich-
bedeutend war mit einer Mittelpunktfindung und darum mit einer Gesundung.
Diese Mittelpunktfindung, dieses Werden einer personalen Einheit aus indi-
viduellem Anlagenkomplex und einer allgemeinen Gestalt, einer Idee oder
Norm des Menschseins, meist das Ergebnis therapeutisch unbeeinflußter Ent-
wicklung wird zum Ziel eines therapeutischen Eingriffes, wenn der einzelne
nicht allein mit sich fertig wird, wenn die Mittelpunktlosigkeit als Krankheit
erlitten und als Neurose gewertet wird.
Erst von diesem Ziel der Neurosentherapie aus erscheint uns die Frage
nach der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse sinnvoll gestellt. Viel-
leicht läßt sich von diesem Standpunkt aus die von F. MOHR gestellte Frage
dahin präzisieren, über welche Mittel die Psychoanalyse verfügt, um die im
psychophysischen Ganzen der neurotischen Persönlichkeit angelegte und
durch ihr Ziel, die Mittelpunktfindung, charakterisierte Tendenz zur Gesun-
dung freizulegen. Wobei immer vorausgesetzt ist, daß diese Tendenz durch
die Psychoanalyse nicht erzeugt, sondern nur entwickelt werden kann. Fehlt
nämlich die Möglichkeit der Mittelpunktfindung, wie in gewissen Fällen
degenerativer Hysterie, so ist die Therapie ohnmächtig. Es wird die Psycho-
analyse zum Selbstzweck, d. h. der Neurotiker macht sie selbst und ihre Lehre,
wie alles, was ihn anspricht, zum zeitweiligen Mittelpunkt, zum trügerischen
Gesetz des eigenen Daseins, zur hinfälligen Norm eines in der Wurzel unge-
richteten Willens. Ihr Erfolg ist nun bloße Scheinheilung, Gesundung im
Sinn der Neurosentherapie wird zur Unmöglichkeit, die Störung hat die Natur
des "Defektes", weil in den biologischen Potenzen selbst angelegt.
Von den Heilfaktoren der Analyse nun erwähnt F. MOHR an erster Stelle
ihre Suggestivwirkung. In der Tat muß immer wieder auf die Bedeutung des
Was wirkt bei der Psychoanalyse therapeutisch? 281