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de/themen/ethische-grundsaetze
Mit Blick auf die Profilierung, die in der jetzt verabschiedeten Überarbeitung der Ethischen
Grundsätze von 2002 vorgenommen wurden, wären spontan zwei Beispiele zu nennen. Die
Profilierung sollte ja die beiden großen aktuellen Herausforderungen „nachhaltige Entwicklung“ und
„digitale Transformation/Künstliche Intelligenz“ stärker gewichten und einschlägige Signale setzen:
Angesichts des Klimawandels sind neue Formen der Ressourcennutzung vordringlich, für die sich
z.B. im Bereich der Antriebstechniken ein weites Spektrum eröffnet. So standen auf dem Deutschen
Ingenieurtag 2021 aus guten Gründen die Entwicklungspotenziale der Wasserstofftechnologie im
Fokus, und die Analysen, Sondierungen und Visionen, die die Verhandlungen und Diskussionen
prägten, führten die Perspektiven aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen - auch
und gerade in kritischer Bilanzierung vergleichbarer, wenn auch bereits weiter entwickelter alternativer
Technologien.
Die Grundsätze betonen die Rolle der Ingenieurinnen und Ingenieure nicht bloß bei der Entwicklung
technisch optimaler Lösungen (das ist selbstverständlich), sondern auch und gerade in der
Formulierung von Problemstellungen, der Erschließung von Suchräumen und der Mitgestaltung von
technischen Strategien sowie entsprechenden Infrastrukturen. So sind z.B. auf dem Weg zu einer
„Smart City“ mit integrierten Verkehrssystemen, intelligentem Lastmanagement, optimaler
Kommunikation etc. resiliente Strukturen zu schaffen, die intern den Ansprüchen der Nutzerinnen und
Nutzer (z.B. privacy), der Anbieter, der Administration und weiteren Beteiligten im Sinne einer
gerechten Lastenverteilung entsprechen und gegenüber externen Störungen robust sind. Dies
erfordert gesellschaftliche Dialoge, innerhalb derer Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Verantwortung
im Dienst technologischer Aufklärung wahrnehmen müssen (wer sonst?) und sich dabei auch in
einschlägigen Verbänden, in politischen Kontexten, im Bildungsbereich etc. engagieren.
Wenn sich Ingenieurinnen und Ingenieure individuell in ethischer Absicht engagieren, stehen sie in
vielen Fällen unmittelbar in Loyalitätskonflikten: Was plakativ in dem vor der Challenger-Katastrophe
(dokumentierten) Gespräch angesichts der Einwände des leitenden Sicherheitsingenieurs zur Rede
kam: “Nimm‘ Deinen Ingenieurshut ab und setze Deinen Management-Hut auf“ findet sich in vielen
vergleichbaren Kontexten. Prominentestes Beispiel ist aktuell der Betrug bei den
Emissionsmessungen von Dieselfahrzeugen, die bis zum Faktor 7 über den Grenzwerten lagen.
Angesichts der Schäden an Gesundheit und Menschenleben fielen dabei allein für VW bisher
Strafzahlungen und Schadensersatzforderungen nach Medienangaben über 30 Milliarden Euro an.
Wie verhält es sich denn mit Loyalitätskonflikten, in die Ingenieurinnen und Ingenieure als abhängig
Beschäftigte geraten, wenn sie in ihrer konkreten Arbeit mit ethisch problematischen Fällen
konfrontiert sind?
Die „Ethischen Grundsätze“ existieren ja schon länger, sind aber jetzt überarbeitet worden. Welche
Entwicklung hat die Überarbeitung der Grundsätze aus dem Jahr 2002 notwendig gemacht?
In allen Bereichen der Technikentwicklung, ihrer Vermarktung sowie der Techniknutzung spielt die
Digitalisierung inzwischen eine maßgebliche Rolle. Insbesondere die Verbindung von Big Data und
Künstlicher Intelligenz führt zu autonomen Systemen, die im operativen Bereich (z.B.
Fahrassistenzsysteme, Assistenzsysteme für das Lastmanagement in der Energiebereitstellung, der
Qualitätskontrolle in der Produktion, für die Schichtplanung/Teameinteilung…) oder im strategischen
Bereich (z.B. Planungsprozesse in der Produktion, Verkehrsplanung, Logistik, Krisenprävention…)
eigenständig entscheiden, sofern ihnen diese Entscheidungskompetenz überantwortet wird. Im Zuge
maschinellen Lernens werden dabei wesentliche Phasen der Systemprozesse nicht mehr im
Einzelnen kontrollierbar („black boxes“). Gleichwohl verbleibt die Gestaltung der Sensorik, der Einsatz
von Lernstrategien sowie die Systemarchitektur unter obersten Zielen in der Verantwortung der
Entwicklerinnen und Entwickler, die die jeweiligen Gestaltungsoptionen für die Betroffenen
transparent halten und die Zielsetzungen entsprechend abgleichen müssen. Eine hierbei
maßgebliche moralische Verantwortung kann nicht an die Systeme delegiert werden, mehr noch: Es
ist darauf zu achten, dass eine solche moralische Verantwortung menschlicher Subjekte angesichts
der Selbsttätigkeit der Systeme gewahrt bleibt. Dies sollte in der neuen Fassung der Grundsätze
herausgestellt werden.
Welche besondere Rolle spielen Ingenieure in der aktuellen Diskussion über Moral und Ethik?
Und welche Rolle spielt der VDI im Kontext der ethischen Grundsätze?
In den Grundsätzen formuliert der VDI sein Selbstverständnis als Stimme der Wissenschaft und der
Technik angesichts der neuen Herausforderungen. Angesichts der zahlreichen Guidelines, Manifeste
und Chartas pointiert er seine Auffassung zur Rolle, die Ingenieurinnen und Ingenieure in diesem
Konzert spielen können und sollen. Darüber hinaus fördert er als Organisation Maßnahmen zur
Aufklärung und Beratung auf entsprechenden Foren sowie im Zuge von Dialogverfahren zwischen
Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zur Gestaltung und Nutzung von Technik. Er setzt
Standards für die Umsetzung der in diesem Grundsatzpapier aufgeführten Orientierungen (u. A. im
Rahmen der Richtlinien), unterstützt die mit Wertkonflikten befassten durch die Vermittlung
einschlägiger Beratung, wirkte und wirkt in Denkschriften und programmatischen Forderungen darauf
hin, dass Kenntnisse über die Verfasstheit von Wertkonflikten sowie Strategien eines Umgangs mit
den Problemlagen in die Lehre und entsprechende Curricula aufgenommen werden, z.B. in Form von
Modulen „Technik und Gesellschaft“, „Ingenieurverantwortung“, „Technikethik“, wie sie sich
inzwischen zunehmend an der Technischen Universitäten(-hochschulen) finden. Ferner bietet er als
Institution Ingenieurinnen und Ingenieuren, die sich mit Wertkonflikten auseinandersetzen müssen,
Unterstützung an.
Künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Klimawandel – wie können die Ethischen Grundsätze die
aktuellen Veränderungen und Diskussionen positiv beeinflussen und mitgestalten?
Aus den Grundsätzen wird ersichtlich, dass die Entwicklungen und Herausforderungen uns nicht bloß
mit Grenzen konfrontieren, denen eine Ethik als „Verbotsethik“ zu begegnen hätte. Vielmehr wird
betont, dass hier eine Gestaltungsaufgabe vorliegt, die als Chance zu begreifen ist. Hierbei sind
Ingenieurinnen und Ingenieure gefordert, sowohl in ihrem engeren Berufsfeld als auch in den weiteren
sozialen Kontexten, die oftmals von Wortführern geprägt sind, deren technische Kompetenz zu
wünschen übriglässt. Wenn sich Ingenieurinnen und Ingenieure zu Recht über politische Naivität oder
Ignoranz (oder etwa laienhaftes Agieren im Rahmen diverser Initiativen) mokieren, wird dieses
Argument zum Bumerang, sofern nicht dem Bedarf an faktenbasierten Dialogen durch ein
entsprechendes Engagement von Ingenieur*innen entsprochen wird. Genau dies schreibt sich der
VDI in sein Zielbild. In den Grundsätzen finden sich (insbes. im Kap. 3 „Umsetzung“) Anregungen und
Festlegungen, diesem Defizit zu begegnen.