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Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs: Wozu brauchen wir das?

Interview mit Prof. Dr. phil. Christoph Hubig


Prof. Hubig, die „Ethischen Grundsätze“ sollen Ingenieurinnen und Ingenieuren eine Art Kompass und
Unterstützung bei der Orientierung darstellen. Können Sie Beispiele aus der Praxis nennen, wann
diese Orientierung notwendig werden kann?

Mit Blick auf die Profilierung, die in der jetzt verabschiedeten Überarbeitung der Ethischen
Grundsätze von 2002 vorgenommen wurden, wären spontan zwei Beispiele zu nennen. Die
Profilierung sollte ja die beiden großen aktuellen Herausforderungen „nachhaltige Entwicklung“ und
„digitale Transformation/Künstliche Intelligenz“ stärker gewichten und einschlägige Signale setzen:
Angesichts des Klimawandels sind neue Formen der Ressourcennutzung vordringlich, für die sich
z.B. im Bereich der Antriebstechniken ein weites Spektrum eröffnet. So standen auf dem Deutschen
Ingenieurtag 2021 aus guten Gründen die Entwicklungspotenziale der Wasserstofftechnologie im
Fokus, und die Analysen, Sondierungen und Visionen, die die Verhandlungen und Diskussionen
prägten, führten die Perspektiven aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen - auch
und gerade in kritischer Bilanzierung vergleichbarer, wenn auch bereits weiter entwickelter alternativer
Technologien.

Und angesichts eines zunehmenden Einsatzes künstlicher Intelligenz/autonomer Systeme in allen


Branchen stellt sich die Frage, wie unter den in den Grundsätzen aufgeführten anerkannten Werten
Transparenz, Rechenschaftspflicht, Erklärbarkeit, Zuverlässigkeit, Datenschutz, Funktionssicherheit,
Informationssicherheit, Chancengerechtigkeit - die durchaus interne Spannungsverhältnisse
aufweisen - Regelwerke für die Entwicklung und die Zertifizierung der Systeme sowie die Regulierung
ihres Einsatzes in ethisch sensiblen Kontexten erarbeitet werden können.

Und welche Bedeutung kommt den „Ethischen Grundsätzen“ im Ingenieurberuf zu?

Die Grundsätze betonen die Rolle der Ingenieurinnen und Ingenieure nicht bloß bei der Entwicklung
technisch optimaler Lösungen (das ist selbstverständlich), sondern auch und gerade in der
Formulierung von Problemstellungen, der Erschließung von Suchräumen und der Mitgestaltung von
technischen Strategien sowie entsprechenden Infrastrukturen. So sind z.B. auf dem Weg zu einer
„Smart City“ mit integrierten Verkehrssystemen, intelligentem Lastmanagement, optimaler
Kommunikation etc. resiliente Strukturen zu schaffen, die intern den Ansprüchen der Nutzerinnen und
Nutzer (z.B. privacy), der Anbieter, der Administration und weiteren Beteiligten im Sinne einer
gerechten Lastenverteilung entsprechen und gegenüber externen Störungen robust sind. Dies
erfordert gesellschaftliche Dialoge, innerhalb derer Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Verantwortung
im Dienst technologischer Aufklärung wahrnehmen müssen (wer sonst?) und sich dabei auch in
einschlägigen Verbänden, in politischen Kontexten, im Bildungsbereich etc. engagieren.

Wenn sich Ingenieurinnen und Ingenieure individuell in ethischer Absicht engagieren, stehen sie in
vielen Fällen unmittelbar in Loyalitätskonflikten: Was plakativ in dem vor der Challenger-Katastrophe
(dokumentierten) Gespräch angesichts der Einwände des leitenden Sicherheitsingenieurs zur Rede
kam: “Nimm‘ Deinen Ingenieurshut ab und setze Deinen Management-Hut auf“ findet sich in vielen
vergleichbaren Kontexten. Prominentestes Beispiel ist aktuell der Betrug bei den
Emissionsmessungen von Dieselfahrzeugen, die bis zum Faktor 7 über den Grenzwerten lagen.
Angesichts der Schäden an Gesundheit und Menschenleben fielen dabei allein für VW bisher
Strafzahlungen und Schadensersatzforderungen nach Medienangaben über 30 Milliarden Euro an.
Wie verhält es sich denn mit Loyalitätskonflikten, in die Ingenieurinnen und Ingenieure als abhängig
Beschäftigte geraten, wenn sie in ihrer konkreten Arbeit mit ethisch problematischen Fällen
konfrontiert sind?

Im Rahmen einer problematischen Führungskultur bleiben den betroffenen Ingenieurinnen und


Ingenieuren, alleingelassen, nur missliche Handlungsoptionen. Hier ist ein Ingenieurverband
gefordert, der in der konkreten Situation beratend (oder Beratung vermittelnd) unterstützt und darüber
hinaus als Verband darauf hinwirkt, dass in entsprechend gestalteten Unternehmenskulturen die
Wahrnehmung spezifischer Ingenieurverantwortung in ethischer Absicht überhaupt möglich wird bzw.
die Ingenieurinnen und Ingenieure nicht diese Rolle aufgeben müssen.

Die „Ethischen Grundsätze“ existieren ja schon länger, sind aber jetzt überarbeitet worden. Welche
Entwicklung hat die Überarbeitung der Grundsätze aus dem Jahr 2002 notwendig gemacht?

In allen Bereichen der Technikentwicklung, ihrer Vermarktung sowie der Techniknutzung spielt die
Digitalisierung inzwischen eine maßgebliche Rolle. Insbesondere die Verbindung von Big Data und
Künstlicher Intelligenz führt zu autonomen Systemen, die im operativen Bereich (z.B.
Fahrassistenzsysteme, Assistenzsysteme für das Lastmanagement in der Energiebereitstellung, der
Qualitätskontrolle in der Produktion, für die Schichtplanung/Teameinteilung…) oder im strategischen
Bereich (z.B. Planungsprozesse in der Produktion, Verkehrsplanung, Logistik, Krisenprävention…)
eigenständig entscheiden, sofern ihnen diese Entscheidungskompetenz überantwortet wird. Im Zuge
maschinellen Lernens werden dabei wesentliche Phasen der Systemprozesse nicht mehr im
Einzelnen kontrollierbar („black boxes“). Gleichwohl verbleibt die Gestaltung der Sensorik, der Einsatz
von Lernstrategien sowie die Systemarchitektur unter obersten Zielen in der Verantwortung der
Entwicklerinnen und Entwickler, die die jeweiligen Gestaltungsoptionen für die Betroffenen
transparent halten und die Zielsetzungen entsprechend abgleichen müssen. Eine hierbei
maßgebliche moralische Verantwortung kann nicht an die Systeme delegiert werden, mehr noch: Es
ist darauf zu achten, dass eine solche moralische Verantwortung menschlicher Subjekte angesichts
der Selbsttätigkeit der Systeme gewahrt bleibt. Dies sollte in der neuen Fassung der Grundsätze
herausgestellt werden.

Welche besondere Rolle spielen Ingenieure in der aktuellen Diskussion über Moral und Ethik?

Selbstverständlich müssen Ingenieurinnen und Ingenieure nicht erst an ihre allgemein-moralische


Verantwortung erinnert werden. In ihrer Expertenrolle sind sie aber an der Schärfung und Profilierung
moralischer Fragen angesichts der neuen Problemlagen dringend zu beteiligen bzw. müssen sich
entsprechend engagieren. Auch die ethischen Diskussionen, die sich mit Prinzipien einer
Rechtfertigung moralischer Einstellungen und Werthaltungen befassen und im Wesentlichen auf
philosophischer, theologischer oder juristischer Ebene geführt werden, benötigen eine „Bodenhaftung“
und die Erfahrungen aus der Praxis, wie sie aus der Ingenieurtätigkeit resultieren. Daher verpflichten
sich in den Grundsätzen Ingenieurinnen und Ingenieure zur Beteiligung an entsprechenden Dialogen
(ein einschlägiges Beispiel hierfür sind die in den VDI-Richtlinien 7000 und 7001 modellierten
Verfahren zur Kommunikation und Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturprojekten).

Und welche Rolle spielt der VDI im Kontext der ethischen Grundsätze?

In den Grundsätzen formuliert der VDI sein Selbstverständnis als Stimme der Wissenschaft und der
Technik angesichts der neuen Herausforderungen. Angesichts der zahlreichen Guidelines, Manifeste
und Chartas pointiert er seine Auffassung zur Rolle, die Ingenieurinnen und Ingenieure in diesem
Konzert spielen können und sollen. Darüber hinaus fördert er als Organisation Maßnahmen zur
Aufklärung und Beratung auf entsprechenden Foren sowie im Zuge von Dialogverfahren zwischen
Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zur Gestaltung und Nutzung von Technik. Er setzt
Standards für die Umsetzung der in diesem Grundsatzpapier aufgeführten Orientierungen (u. A. im
Rahmen der Richtlinien), unterstützt die mit Wertkonflikten befassten durch die Vermittlung
einschlägiger Beratung, wirkte und wirkt in Denkschriften und programmatischen Forderungen darauf
hin, dass Kenntnisse über die Verfasstheit von Wertkonflikten sowie Strategien eines Umgangs mit
den Problemlagen in die Lehre und entsprechende Curricula aufgenommen werden, z.B. in Form von
Modulen „Technik und Gesellschaft“, „Ingenieurverantwortung“, „Technikethik“, wie sie sich
inzwischen zunehmend an der Technischen Universitäten(-hochschulen) finden. Ferner bietet er als
Institution Ingenieurinnen und Ingenieuren, die sich mit Wertkonflikten auseinandersetzen müssen,
Unterstützung an.

Künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Klimawandel – wie können die Ethischen Grundsätze die
aktuellen Veränderungen und Diskussionen positiv beeinflussen und mitgestalten?

Aus den Grundsätzen wird ersichtlich, dass die Entwicklungen und Herausforderungen uns nicht bloß
mit Grenzen konfrontieren, denen eine Ethik als „Verbotsethik“ zu begegnen hätte. Vielmehr wird
betont, dass hier eine Gestaltungsaufgabe vorliegt, die als Chance zu begreifen ist. Hierbei sind
Ingenieurinnen und Ingenieure gefordert, sowohl in ihrem engeren Berufsfeld als auch in den weiteren
sozialen Kontexten, die oftmals von Wortführern geprägt sind, deren technische Kompetenz zu
wünschen übriglässt. Wenn sich Ingenieurinnen und Ingenieure zu Recht über politische Naivität oder
Ignoranz (oder etwa laienhaftes Agieren im Rahmen diverser Initiativen) mokieren, wird dieses
Argument zum Bumerang, sofern nicht dem Bedarf an faktenbasierten Dialogen durch ein
entsprechendes Engagement von Ingenieur*innen entsprochen wird. Genau dies schreibt sich der
VDI in sein Zielbild. In den Grundsätzen finden sich (insbes. im Kap. 3 „Umsetzung“) Anregungen und
Festlegungen, diesem Defizit zu begegnen.

Vita Professor Hubig


Christoph Hubig, geb. 1952, war nach Professuren für Praktische Philosophie, Technikphilosophie
und Wissenschaftstheorie in Berlin, Karlsruhe, Leipzig und Stuttgart zuletzt an der TU Darmstadt tätig
und ist inzwischen emeritiert. Neben kontinuierlicher interdisziplinärer Tätigkeit in zahlreichen
Verbundprojekten mit Technikwissenschaften (u. a. Funkkolleg „Technik“, EXC 310 „Simulation
Technology“) war und ist er im VDI in zahlreichen Gremien und Ausschüssen engagiert, u. a. VDI
3780 „Technikbewertung“, „Technik im Dialog“ oder VDI 7000/7001 „Kommunikation und
Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten“. Er wurde u.a. mit der
Ehrenplakette des VDI ausgezeichnet und 2021 auf dem Deutschen Ingenieurtag zum Ehrenmitglied
des VDI ernannt.

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