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6 Distanz zur Rolle

Schauspieltheorien 2: Anti-Illusionismus – Distanz zum Dargestellten


Brecht und Meyerhold
Ziel: Schauspieler und Rolle sollen im > Kontextanalyse: Die Schauspieler
Moment der Darstellung nicht ver- analysieren das Stück vor dem Hinter-
schmelzen. Die Schauspieler sind nicht grund des historischen Kontexts und
King Lear, Hamlet oder Medea, sie füh- stellen Bezüge zur aktuellen gesell-
ren diese Figuren und deren Verhal- schaftlichen Situation her. Sie finden
tensweise dem Publikum vor. Dafür heraus, wie sie ihre Rollen und die Ge-
erhalten sie sich auf der Bühne eine schichte dazu verwenden können, wich-
kritische Distanz zur Rolle und nehmen tige aktuelle Themen zu verhandeln.
dem Spiel gezielt die Illusion; in keinem > Beobachtung: Die Darstellenden ver-
Augenblick lassen sie es zur restlosen suchen nicht, die mutmaßlichen Empfin-
Verwandlung in die Figur kommen. Die- dungen ihrer Figur nachzuerleben, in-
se Distanz zwischen Darsteller und dem sie an ähnliche Empfindungen in
Dargestelltem soll dem Publikum das ihrer eigenen Biografie anknüpfen, son-
passive Mitfühlen mit den Figuren ver- dern beobachten ihre Mitmenschen und
weigern und es zum kritischen Denken deren Verhalten und suchen nach Paral-
anregen. lelen zum Verhalten ihrer Figur. Sie
fragen sich „Wie habe ich schon einen
Vertreter: Die beiden Hauptvertreter der Menschen etwas Ähnliches sagen hören
anti-illusionistischen Strömung sind oder tun sehen?“ und entwickeln daraus
Bertolt Brecht (1898–1956) und Wsewo- Teile ihrer Figur.
lod Meyerhold (1874–1940). Meyerhold, > Verfremdungen und Distanz schaffen:
ein Schüler Stanislawskis, der auch am Durch sogenannte Verfremdungseffekte
Moskauer Künstlertheater engagiert war, wird immer wieder Distanz zu den Figu-
wendete sich später als eigener Theater- ren geschaffen. Die Darstellenden treten
regisseur vom naturalistischen Stil Sta- z.B. aus ihrer Rolle heraus, sprechen
nislawskis ab und entwickelte in experi- das Publikum direkt an, reden von der
menteller Zusammenarbeit mit seinen Rolle in der dritten Person, sprechen
Schülern eine eigene Methode, die Bio- Kommentare oder Regieanweisungen
mechanik. Bertolt Brecht, der seinerseits mit oder verpacken Inhalte in Songs.
von den Überlegungen Meyerholds Dadurch wird die Modellhaftigkeit des
beeinflusst war, prägte das Epische Geschehens auf der Bühne transparent
Theater (> Seite 159f.). Seine Überle- und die Figuren erscheinen fremd – das
gungen zur Schauspielkunst und dem Publikum wird zum kritischen Denken
Theater an sich wirken noch heute fort. angeregt.
> Einfluss von körperbetonten Theater-
Methoden bei Brecht formen: Bei der Darstellung werden die
Stilisierung oder Mechanisierung von
> Die Widersprüchlichkeiten und Brüche Körper-Abläufen angewendet, um den
der Rolle aufdecken: Nachdem die Dar-
Körper der Darsteller als künstlerisches
stellenden ihre Rollen und die Verhal-
Instrument sichtbar zu machen. Nicht
tensweisen der Figuren grundlegend
selten werden dafür Techniken aus der
verstanden haben, versuchen sie, deren
Artistik oder aus ungewöhnlichen Thea-
Widersprüchlichkeiten zu entdecken. Die
terformen, wie z.B. dem japanischen
Schauspieler nehmen die Haltung der
Kabuki-Theater, genutzt.
sich Wundernden ein und halten ihre
Reaktionen auf das Verhalten ihrer Fi-
Methoden bei Meyerhold
gur, ihre Vorbehalte und ihre Kritik fest.
Dafür tauschen sie z.B. die Rollen unter- > Körpertraining: An die Stelle einer
einander, entwickeln Gegenfiguren oder intensiven Rollenarbeit treten das geziel-
verfolgen gezielt die Entwicklungen der te Training von Muskelkraft und physi-
anderen Figuren des Stücks. schen Reflexen. Die Darsteller begreifen

© Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2009. | www.klett.de


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eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten.. ISBN: 978-3-12-350460-0 1
6 Distanz zur Rolle

ihren Körper als Maschine, die sie steu- tel. Die Bewegungen auf der Bühne
ern können und studieren seine „Mecha- sollen dadurch organischer, kontrollierter
nik“ z.B. durch Fechten, Boxen, Akroba- und ausdrucksvoller als „realistische“
tik, Gymnastik und Tanz. Alltagsbewegungen werden. Aus diesen
> Stilisierte Bewegungsabläufe entwi- körperlichen Bewegungsabläufen heraus
ckeln: Mithilfe von Bewegungszyklen aus entwickeln die Schauspieler die Darstel-
Sprüngen, Drehungen und Gewichtsver- lung des Textes.
lagerungen, sogenannten „Etüden“, > Musikalisierung: Das Sprechen wird
trainieren die Darstellenden einen öko- musikalisch rhythmisiert und das Stück
nomischen, genauen und plastischen durch Musik in rhythmische Abschnitte
Einsatz der körperlichen Ausdrucksmit- eingeteilt.
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Weiterführende Literatur
> Brecht, Bertolt/Hauptmann, Elisabeth: Gesammelte Werke. 20 Bde. Suhrkamp, Frank-
furt/M. 1967.
> Brecht, Bertolt u.a.: Schriften zum Theater. 7 Bde. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1963.
> Brecht, Bertolt/Hecht, Werner: Über den Beruf des Schauspielers. Suhrkamp, Frank-
furt/M. 1980.
> Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. Suhrkamp, Frankfurt/M., 1960 (Versu-
che 27–23, Heft 12, ab Paragraf 35–62, S.122–132).

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