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Der aleatorische Materialismus

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Die unterirdische Tradition des Materialismus

2. DIE UNTERIRDISCHE TRADITION DES


MATERIALISMUS

Die Leere und die Begegnung – von Epikur bis Heidegger

E pikur ist ein Denker, der in der griechischen Philosophie in vielerlei Hin-
sicht einzigartig war. Er, im Gegensatz zu allen anderen uns überlieferten
Philosophen der Antike, glaubte nicht an eine Unsterblichkeit der Seele. Seine
Ethik gründete nicht auf einem transzendenten Maßstab aller Dinge, einen Sinn,
der unseren Existenzen vorangeht um die ewigen Gesetze zu etablieren; sie
gründete auf hier und jetzt, auf dem Wohlbefinden des Menschen in seinem ein-
zigen, irdischen Leben. Damit ist die Liste seiner besonderen Leistungen noch
bei weitem nicht erschöpft.
Er glaubte auch nicht an ein creatio ex nihilo, und sah in der Geschichte keinen
Platz für einen Demiurgen.
Wir werden noch sehen, wie die Problematik der Schöpfung aus dem Nichts die
Philosophie und die Theologie der folgenden Jahrhunderte beschäftigte und ei-
ner der Knotenpunkte, aber auch einer der Leitfäden der Metaphysik und gleich-
zeitig einer der wichtigsten Kritikpunkte ihrer Gegner wurde.
Die Naturphilosophie Epikurs gründet auf zwei Lehrsätzen: nichts entsteht aus
dem Nichts und nichts vergeht zu Nichts.
Die Materie aus welcher die Welt besteht, kann auf keinen Fall das Produkt ei-
nes Willensaktes sein, sondern muss immer schon als solche gegeben worden
sein. Das epikureische Kausalitätsprinzip ist die Grundlage seines Materialis-
mus. Er begründet ihn durch die Behauptung. nach welcher, wenn etwas aus
dem Nichts entsteht, alles aus allem entstehen könnte, ohne dass es eines Sa-
mens bedürfte.i Daraus folgt auch, dass nichts zu nichts vergeht, sonst wäre die
Welt schon längst zu nichts vergangen sein.

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Das All ist der Ort, der schlechthin alles enthält. Die Welt, durch die Quantität
der Materie begriffen, ist konstant und das All so beschaffen wie es immer
schon beschaffen war und wie es immer beschaffen sein wird. Epikur wird die
Kernfrage seiner Zeit nie stellen: die Frage nach dem Urheber aller Dinge. Doch
die quantitative Unveränderlichkeit der Substanz mag die Antwort sein auf die
nie gestellte Frage: es gibt keinen Urheber, da alles schon immer da war.
Bei einem weiteren Problem der antiken Philosophie bleibt Epikur nicht alleine,
es findet sich zumindest ein zweiter ähnlich denkender Philosoph. Es ist seine
vehemente Ablehnung der Dialektik, die ihn zur Negation des Prinzips des aus-
geschlossenen Dritten führt. Laut Cicero gibt es in der ganzen Antike nur noch
einen Philosophen, der das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten bezweifelt:
Anaxagoras.
Um die Radikalität dieses Denkens zu verstehen, müssen wir uns an das vorige
Kapitel und an das „Meister-Argument“ erinnern. Dort haben wir die Debatte,
die zwischen verschiedenen Schulen der antiken griechischen Philosophie um
die Fragen der Freiheit und Notwendigkeit entflammte, kurz dargestellt. Wie wir
gesehen haben, schieden sich die Geister der Antike an den Konsequenzen der
angenommenen Wahrheit der Aussagen, die die Vergangenheit betreffen und an
der folgerichtigen Notwendigkeit der Aussagen, die die Zukunft betreffen. Doch
niemand untersuchte die Grundsätze der Logik, auf welchen diese Argumentati-
on beruht, so präzise wie Epikur.
Wie wir schon im Zusammenhang mit Aristoteles erwähnt haben, gründet die
griechische Philosophie auf einer begrenzten Anzahl an Axiomen. Eines dieser
Axiome ist das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (terirum non datur).
Dieses Prinzip, das tief in der Dialektik wurzelt, besagt, dass eine Aussage fol-
gender Art: „Hermarchus wird morgen entweder am leben sein oder nicht“, also
eine disjunktive Aussage, immer wahr sein muss. Die Logik, die dahinter steht,
ist das wahre Herzstück der Dialektik: nämlich, dass jeder Aussagesatz entweder
richtig oder falsch ist, ohne dass zum gegebenen Zeitpunkt eine andere Mög-
lichkeit zu sein gegeben wäre (z.B. gleichzeitig beides zu sein – richtig und
falsch, oder gleichzeitig keines – weder richtig, noch falsch). Da jede disjunktive
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Behauptung eine These und eine Antithese darstellt, muss sie immer zutreffen.
Die Wahrheit stellt in der griechischen Antike auch ein Korrelat zur Notwendig-
keit dar (eine These, der die abendländische Philosophie noch sehr weit folgen
wird), so ist jede wahre Aussage nicht nur wahr, sondern auch notwendig.
Aristoteles akzeptiert die Wahrheit, und wichtiger noch, die Notwendigkeit der
Aussage von Hermarchus, der morgen entweder lebt oder nicht, aber er unter-
wirft sie der Bedingung der Verteilung der Wahrheitsansprüche über eine der
Komponenten dieser Disjunktion, man muß sich also entscheiden, ob Hermar-
chus lebt oder tot ist.
Epikur hingegen weist die Wahrheit einer solchen Aussage kategorial ab. Er be-
streitet nicht die Wahrheit einer ihrer Komponenten, wie Aristoteles es tut, er
bestreitet die Disjunktion selbst. Seine Kritik gilt dem Prinzip des ausgeschlos-
senen Dritten als einem der Fundamente der dialektischen Logik.
Er sieht die Affirmation, wie auch die Falsifikation einer Aussage nur auf empi-
rischem Wege als möglich an. Nicht nur eine Falsifikation, sondern auch schon
eine mangelnde Verifikation, erweist eine Aussage als falsch. Diese Prozeduren
lassen aber immer eine kleine Spur der Unsicherheit bestehen, besonders bei ei-
ner temporär unmöglichen Verifikation, welche bei manchen Aussagen die Ten-
denz besitzt, stets offen zu bleiben. Dies gilt aber nur für die Aussagen, die ein
von Natur aus gegebenes betreffen. Für Aussagen, die die mentalen Projektio-
nen betreffen, gibt es weder Affirmation noch Affirmativität. Ihre Bewahrhei-
tung wird lediglich auf eine Nicht-Falsifizierung reduziert, die aber ebenfalls
empirisch vorgeht.
Es ist aus dieser Sicht leicht verständlich, warum es für Epikur obsolet ist, an-
hand der Aussagen über Vergangenheit oder Gegenwart, Aussagen über die Zu-
kunft aufzuwerfen. Auf Grund ihrer rein empirischen Beweisbarkeit, werden die
Postulate, die die Zukunft betreffen, immer kontingent sein und erst im Nach-
hinein (nach ihrer eventuellen Realisierung) um die Kategorie der Wahrhaf-
tigkeit bereichert.
Epikur will keine Argumentation einer zukünftigen Notwendigkeit akzeptieren,
erstens weil der Nezessitarismus nur durch eine nezessitäre Logik beweisbar ist,
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was dem gleichkommt, dass er unbeweisbar ist (weil auf einer Aporie gründend)
und zweitens, worauf auch die Betonung Epikurs liegt, schränkt er die mensch-
liche Freiheit unwiderruflich ein.
Die epikureische Ethik, der Abschnitt in der Philosophie Epikurs, der bis in un-
sere Zeit der berühmteste Teil seiner Theorie blieb, gründet auf einem uner-
schütterlichen Glauben an die Freiheit. Dieser Glaube und aber vor allem seine
Argumentation für die Verteidigung der Freiheit, die auch seine Physik in einem
großen Masse prägt, brachte ihm die Bewunderung zweier großer römischer
Philosophen ein: Marc Aurel und Lukrez. Der letztere widmete ihm sein Werk
De rerum natura, das heute noch als Referenzwerk zur inzwischen zum Großteil
verschollenen Philosophie Epikurs gilt.ii
Althusser nimmt die Physik Epikurs als erste Referenz eines Materialismus der
Begegnung, und als ein Beweis des epikureischen Antirationalismusiii. Epikurs
Physik basiert auf der Atomistik Demokrits, von der sie sich aber in einem we-
sentlichen Punkt unterscheidetiv: der Existenz des clinamen.
Die Materie, aus welcher die Welt geschaffen ist, besteht aus kleinen, unteilba-
ren Einheiten, die durch ihre Agglomeration die Substanz des Universums aber
auch die Substanz ihrer selbst als Materie bilden. Diese Einheiten nennt Epikur
nach Demokrit Atome.v
Die Atome fallen in einem „parallelen Regen“ (Althusser) durch die Leere. Die-
se Parallelität des Regens der Atome wird ohne Ursache durch eine Abwei-
chung gebrochen. An einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, die vor
der Tatsache des Ereignisses nicht bestimmbar waren, sondern nur in nachhinein
als solche feststellbar wurde, wird die Gesetzmäßigkeit des Parallelismus durch-
brochen und ein Clinamenvi entsteht, eine infinitesimale Abweichung, die für die
Ursache einer Unzahl an unvorhersehbaren Zusammenstößen der Atome ver-
antwortlich ist.
Die Atome, deren Gruppierungen die Materie der Welt bilden, differieren nach
Größe und Masse. Trotzdem zeigen alle die gleiche Geschwindigkeit im freien
Fall. Wir werden sehen, dass diese Tatsache nicht ohne Konsequenzen ist.

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Wie es zu seiner Zeit üblich war, folgte Epikur einer Wahrnehmungstheorie,


welche in der angenommen Fähigkeit der Dinge gründet, die Atome zu emittie-
ren, die wiederum unseren Wahrnehmungsapparat berühren und somit unsere
Wahrnehmungen entstehen lassen. Wer dieser Theorie gerecht werden will, wird
kaum versuchen, die unterschiedliche Geschwindigkeit einzelner Atome anzu-
nehmen. Die Konsequenz dessen wäre nämlich eine partielle Wahrnehmung des
wahrzunehmenden Objekts und seiner unterschiedlichen Teilen zu unterschied-
licher Zeit.
Vor allem um dieser logischen Konstruktion zu entsprechen, musste Epikur die
gleiche Geschwindigkeit aller Atome annehmen. Doch wie sind in diesem Fall
die Berührungen zwischen den einzelnen Atomen, die für die Entstehung der
Materie so wichtig sind, überhaupt denkbar?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage führt zum Begriff der epikureischen
Leere. In der Zeit der griechischen Antike war die Leere ein heiß umstrittener
Begriff. Epikur verteidigt die Existenz der Leere, durch die Tatsache der Bewe-
gung. Gäbe es keine Leere, so wäre auch die Bewegung unmöglich, da der
Raum durch jegliche Art der Omnipräsenz absolut dicht wäre.
Aristoteles hingegen glaubt nicht an die Leere und gründet seine Argumentation
dagegen auf die Tatsache, dass die Geschwindigkeit der Körper, die sich durch
ein Medium bewegen, je nach ihrer Größe und Gewicht, wie auch nach der
Dichte des Mediums differiert. Da die Leere gar keine Dichte besitzt, wäre die
Geschwindigkeit der Körper, die sich durch sie hindurchbewegen, in gar kein
Verhältnis zu den Geschwindigkeiten anderer Objekte zu bringen, was er für
unmöglich hält.
Für Epikur garantieren gerade die mangelnde Dichte des Mediums, die Leere,
eine Fortbewegung mit einer unfassbaren Geschwindigkeit unter der Bedingung,
dass das Unfassbare nicht mit dem Unendlichen verwechselt wird.
Von seiner Wahrnehmungslehre ausgehend, muss Epikur an der gleichen, un-
fassbaren Geschwindigkeit aller Atome festhalten, trotzdem aber ihre Begeg-
nung theoretisch ermöglichen. Um das zu gewährleisten, wird er eine Kategorie
einführen, die seine Theorie vor noch größere Probleme stellen wird, als ein
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eventueller Kompromiss mit der Akzeptanz verschiedener Geschwindigkeiten es


würde: die Kategorie der Ursachenlosigkeit.
Diese Kategorie ist auch für die althussersche Rezeption Epikurs ausschlagge-
bend.
„Ce qui implique qu’avant le monde il n’y eut rien, et en même temps que tous
les éléments du monde existassent de toute éternité avant qu’aucun monde ne
fut. Ce qui implique aussi qu’avant la formation du monde aucun Sens
n’existait, ni Cause, ni Fin, ni Raison ni déraison. La non–antériorité du Sens est
une thèse fondamentale d’Epicure, en qui il s’oppose aussi bien á Platon qu‘á
Aristote“.vii
Mit der Annahme der Ursachenlosigkeit verwickelt sich Epikur in ein scheinba-
res Paradox. Die Basis seines Materialismus beruht gerade auf der Unzulässig-
keit einer creatio ex nihilo und einer strengen Kausalitätstheorie, die auch die
Grundlagen seines Atheismus und seiner Naturphilosophie darstellen. Er scheint
sie auf diese Weise zu annullieren und mit ihnen ebenfalls die Glaubwürdigkeit
seines Argumentationsgebäudes.
Es gab sicherlich auch elegantere Methoden den Prozess der Agglomeration der
Atome zu erklären. Epikur wählt aber gerade diejenige, die ihm die meiste
Skepsis einbringen wird. Warum?
Um die Freiheit des Willens zu verteidigen. Um die Bahn jeder vorgängigen Be-
stimmung, und sei es auch der, die durch die Prinzipien der Immanenz besteht,
zu durchbrechen und Raum für die Möglichkeit einer Abberation, die sich je-
dem Gesetz der Natur durch die Natur selbst und nicht durch eine äußere Ursa-
che entzieht, zu schaffen: die Möglichkeit der Freiheit selbst.
Epikur bezweifelt die ausnahmslose Kausalität, die er vor allem dafür braucht,
die Ziellosigkeit des Weltgeschehens zu begründen. Er bricht mit der Kausalität,
jedoch nicht mit der Ziellosigkeit. Sie gewinnt lediglich einen neuen Aspekt –
den der Kontingenz.
Die Freiheit besteht durch die Ursachenlosigkeit, als eines sich jeder Determi-
nierung entziehenden Phänomens. Sie ist durch ihre Unbestimmtheit definiert –
wie eine negative Freiheit im kantschen Sinne.
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Epikur sieht eine gewisse Zweckmäßigkeit in der Naturphilosophie, deren


Zweck nur darin liegen kann, die Zwecklosigkeit der Natur zu enthüllen. Gott ist
ein „Deus otiosus“, ein Gott der nicht ins Weltgeschehen eingreift. Das ist eine
Tatsache der Naturordnung. Der Zweck der Naturphilosophie ist ethischer Na-
tur, nämlich die Erhaltung der bestehenden Verhältnissen in der Natur zu garan-
tieren. Die Seele muss sterblich bleiben, damit die Lust und der Schmerz be-
grenzt sind, weil das, was es zur Sicherung der höchsten Lust und dementspre-
chend auch der größten Unlust zu finden gilt, immer in der Gegenwart zu suchen
ist.
Dadurch wird das Naturgeschehen immer nur aus sich selbst erklärbar, als ein
Phänomen der absoluten Immanenz. Seine Naturphilosophie entzieht der Trans-
zendenz wie auch dem aristotelischen Antropozentrismus jede mögliche Grund-
lage. Die Natur selbst bleibt sinn– und zwecklos.
Die Zwecklosigkeit einer Deviation ist die unerlässliche Vorstufe der Sinnbil-
dung. So ist Sinn, wie auch jede Existenz, ein Nachhinein der Kontingenz.
„Ce que pose Épicure c’est que la déviation aléatoire, et non la Raison ou la
Cause première, est á l’origine du monde. Mais il faut bien comprendre que la
rencontre ne crée rien de la réalité du monde, mais quelle donne leur réalité aux
atomes eux-mêmes qui, sans la déviation et la rencontre, ne seraient rien que des
éléments abstraits et sans consistance ni existence. C’est une fois le monde cons-
titué qui s’instaure le règne da la raison, da la nécessité et du sens.“viii
Für die Rezeption Epikurs durch Althusser ist gerade jener Moment der Konsti-
tution der Realität aus einer kontingenten Begegnung ausschlaggebend. Die
Welt, in welcher die Atome fallen, gibt es nicht, genauso wenig wie es die Ato-
me selbst gibt. Eine Realität der Welt und aller ihrer konstitutiven Teile als sol-
cher, wird es erst nach der, aus der Deviation entstandenen, Begegnung geben,
wie es eine Ratio und einen Sinn mit allen seinen Zweckkausalitäten erst dann
geben wird, wenn das Abstraktum der Welt eine reale Kategorie geworden ist.
Dieses Denken zeigt sicherlich gewisse Parallelen zum christlichen Dogma der
Schöpfung aus dem Nichts, unterscheidet sich aber gleichzeitig radikal davon.

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Wenn die Tatsache der Realität der Welt erst eine Folge der Begegnung der
Elemente ist, die vor dieser Begegnung selbst noch keine eigene Realität besa-
ßen, sondern nur Abstrakta waren (das ist der Kernpunkt der Argumentation
Althusser’s), dann ist die Realisierung der Welt und mit ihr aller ihrer konstitu-
tiven Elementen, aus einem Zustand reiner Abstraktion entsprungen, der alle Ei-
genschaften des Nichts aufweist.
Doch das abstrakte Nichts der vorrealen Welt Epikurs, kennt in der Rezeption
Althusser’s keine schöpferische Kraft eines Demiurgen, der in diesem vorrealen
Nichts versteckt handeln würde, um seinen Willen in die Geburtsstunde der Rea-
lität einzufädeln.
Das nihil der Theologen und Metaphysiker entpuppt sich immer als ein erstaun-
lich Volles. Voll durch die Präsenz des schöpferischen Geistes, der seit aller
Ewigkeit die Nichtigkeit bewohnt.
Doch bewohnen die abstrakten Atome Epikurs das Nichts, in das sie ohne Ur-
sprung und ohne Grund immer schon geworfen waren, genauso? Ja, sicherlich,
doch mit einem Unterschied. Der schöpferische Geist ist schon im Nichts ein
schöpferischer Geist, sich seiner schöpferischen Existenz bewusst. Kein Gott der
Theologen erlangt sein Bewusstsein erst durch die Tatsache der Schöpfung, die
noch dazu kontingent wäre. Dem Mythos einer creatio ex nihilo eignet eine im-
plizite Vorrangigkeit des Logos, des Bewusstseins und des Sinnes, in ver-
schiedensten Gestalten innewohnend: in der absoluten Idee, in der göttlichen
Divination, im absoluten Geist genauso wie in dem immanenten Sinn der Ge-
schichte.
Die Leere Epikurs ist von jeder Schöpfung frei, da sich der Begriff der Schöp-
fung, genauso wie die Realität der Schöpfung, erst nach der Tatsache ihrer Voll-
endung etabliert.
Die kategorische Ablehnung einer Fragestellung nach dem Ursprung der Reali-
tät, auf einem Denken basierend, das der Existenz nur die Kategorien von hier
und jetzt zugesteht, wird Althusser noch bei einem Philosophen finden, der sei-
nerseits mit der Atomistik Epikurs wenig zu tun hat: bei Heidegger.

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Zur Zeit der Entstehung seiner Hauptwerke, kannte Althusser die Philosophie
Heideggers, nach eigenen Worten, nur sehr dürftig. Erst in der 1980er Jahren
beginnt er sich damit und mit der Philosophie Nietzsches eingehender zu be-
schäftigen.ix
Er bemerkt vor allem zwei Eigenschaften Heideggers: sein enormes geschichtli-
ches Wissen und seine Wurzeln in der katholischen Theologie.
Die Frage der Schöpfung, der Heidegger wie kein anderer, aus dem Wege zu
gehen wusste, war für die Rezeption seiner Philosophie durch Althusser ent-
scheidend. Seine Begriffe einer zutiefst existentiell dominierten Philosophie sind
für Althusser gleichzeitig die Träger einer Theorie der Kontingenz des Seins als
eines Phänomens ohne Ursprung und ohne Telos.
„Le monde nous est ainsi un ‘don’, un ‘fait de fait’ que nous n’avons pas choisi,
et qui s‘’ouvre’ devant nous dans la facticité de sa contingence, au delà même de
cette facticité, dans ce qui n’est pas seulement un constat, mais un ’être–au–
monde’ qui commande tout sens possible“.x
Ein „Dasein“ ist ein Sein hier und jetzt. Eine Philosophie des Daseins ist eine
Philosophie der Gegebenheit, die die Kernfragen aller logozentrischen Philoso-
phen als obsolet verwirft; wie auch die Frage nach dem Ursprung, die immer in
einem engen Zusammenhang mit der Frage nach dem Ende steht.
Heidegger stellt nicht den einzigen Denker dar, der im Zusammenhang mit einer
Welt als Gegebenheit in CSMR auftritt. Neben ihm werden noch Wittgenstein
und Derrida die Aufmerksamkeit Althusser’s finden. Doch genauso wie die
Heideggers kennt Althusser die Philosophie Wittgensteins oder Derridas zu we-
nig, um sich beim Entwurf des Projekts des Materialismus der Begegnung, auf
sie in dem Maße stützen zu können, wie es bei Philosophen wie Epikur, Machi-
avelli, Spinoza, Rousseau, Hobbes und Marx der Fall ist.

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Von Gott und Logos – Spinoza gegen Hegel

Die althussersche Rezeption der Philosophie Spinozas ist durch einen bestim-
menden Begriff dominiert – den Begriff der Leere. Das mag im ersten Augen-
blick überraschend klingen, da an den seltenen Stellen in der Ethik, wo sich
Spinoza selbst über diesen Sachverhalt äußert, er das nur in negativen kategoria-
len Bestimmungen tut.
Spinoza ist für Althusser nicht der einzige Philosoph dessen Philosophie durch
die Kategorie der Leere dominiert wird. Neben ihm steht vor allem noch Machi-
avelli. In Althusser’s Jugendschriften finden wir aber noch einen Philosophen,
dessen Theorie durch die Kategorie der Leere bestimmbar ist. In der frühen
Schrift Du contenu dans la pensée de G.W.F. Hegel, von 1947 postuliert Althus-
ser schon auf den ersten Seiten seine Thesen über die Leere bei Hegel. Das erste
Kapitel dieser Arbeit, das posthum in der Edition STOCK/IMECxi erschienen ist
und mit „Naissance du concept“ betitelt wurde, sollte ursprünglich den Namen
„L’horreur de vide“ tragen.xii In diesem Text interpretiert Althusser das ontolo-
gische Nichts Hegels als eine Leere, die erstens ein falsches Volles indiziert und
die zweitens Angst vor sich selbst hat.
„Á chaque moment, avec plus ou moins de clarté, le vide révélé appelle un con-
tenu, mais aussi le vide est en quelque sorte la révélation que le contenu est déjà
(la), comme l`illimité est déjà la dans la conscience de la limite.“xiii
Die Frage der Leere bei Spinoza ist durch die Frage der Teilung der Quantitäten
bestimmt. Die Substanz, sofern sie Substanz ist, ist nicht teilbar.xiv

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Lehrsatz I/15 Scholium: „Sane rerum, quae realiter ab invicem distinctae sunt,
una sine alia esse et in suo statu manere potest. Cum igitur vacuum in natura non
detur (de quo alias), sed omne partes ita concurrere debent, ne detur vacuum, se-
quitur hinc etiam easdem non posse realiter dinstingui, hoc est substantiam cor-
poream, quatenus substantia est, non posse dividi“xv.
Die Existenz eines leeren Raumes in der Natur ist demnach bei Spinoza nicht
nachweisbar.
Worüber spricht dann Althusser, wenn er sagt, dass die Leere der tatsächliche
Gegenstand der Philosophie Spinozas ist?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns die Tatsache vor Au-
gen halten, dass Althusser ein Philosoph der „symptomatischen Lektüre“ ist
(wie er selbst von sich gesagt hat) und kein Theoretiker des Offensichtlichen. Er
begründet seine Behauptung wie erwartet durch Spinoza, und zwar mittels einer
symptomatischen Lektüre der ersten Kapitel der Ethik („Von Gott“).
Die scholastische Philosophie und auch Descartes, deduzieren ausgehend von
Gott die Kausalität der Welt und ihrer Gegebenheiten und suchen in der absolu-
ten Kategorie seines Daseins die Zuflucht einer Letztbegründung aller Dinge.
Spinoza macht genau das Gegenteil, indem von vornherein das Absolute des
Gottesbegriffes setzt und aus diesem Punkt heraus deduziert. Im ersten Teil der
Ethik definiert Spinoza Gott folgendermaßen: „Per Deum intelligo ens absolute
infinitum, hoc est substantiam constanteminfinitis attributis, quorum unumquo-
dqueaeternam et infinitam essentiam exprimit.“xvi
Gott ist also ein unendliches Seiendes, das durch unendlich viele Attribute be-
stimmt ist.
Bevor wir uns weiter mit Spinoza’s Begriff von Gott beschäftigen, muss etwas
über die Begriffe Substanz und Attribut gesagt werden, die den Schlüssel für das
Verständnis weiterer Begriffe bei Spinoza darstellen.
„Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tanquam
ejusdem essentiam constituens.“xvii
Der Verstand kann also nur das erkennen, was tatsächlich der Fall ist. Daraus
folgt, dass das vom Attribut Gezeigte auch das wahre Wesen der Substanz ist.
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Das Attribut ist Ausdruck der Substanz. Es gibt keine Substanz ohne Attribut
und es gibt kein Wesen, das durch das Attribut für den Verstand nicht intelligi-
bel wäre.
Darin besteht das radikal Neue im Denken Spinozas. Das Wesen jeder Substanz
ist für den Verstand zugänglich. Es gibt keine Substanzen deren Wesen für den
menschlichen Verstand verschlossen wären. Alles, was existiert, kann durch den
Verstand erschlossen werden.
Für Descartes ist das noch nicht möglich. Er kennt nur eine Hierarchie der Attri-
bute einer Substanz. Die Tatsache, dass der Mensch unter anderem auch ein Ge-
schöpf ist, das gehen kann, bedeutet bei weitem noch nicht, dass dies die wich-
tigste Eigenschaft des Menschseins ist. Descartes glaubt die Reihenfolge der
Wichtigkeit der Eigenschaften ausmachen zu können und er nennt es ein primä-
res Attribut, was in seiner Hierarchie der Attribute den höchsten Platz, den es zu
besetzen gilt, einnimmt. Für Spinoza hingegen ist das, was der Verstand wahr-
nimmt, das wahre Wesen der Substanz und alle Attribute einer Substanz drücken
das Wesen dieser Substanz gleichermaßen aus.
Es gibt keine Übergeordnetheit der Substanz über das Attribut und keine Hierar-
chie der Attribute untereinander.
Da die Substanz bei Spinoza als „quod in se est et per se concipitur; hoc est id,
cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat“xviii be-
stimmt wird, ist ihr Attribut etwas, was nur im Bezug auf die Substanz verstan-
den werden kann und etwas, das nur in der und durch die Substanz existiert. Es
kann keineswegs in die Substanz von Außen her implementiert werden, da
dadurch die Substanz nach ihrer Definition nicht mehr als solche gegeben wor-
den wäre. Die Substanz schließt ihre Wesensbestimmung ein und das Attribut
steht für diese Selbstbezüglichkeit der Substanz.
Damit kommen wir zu einer Bestimmung, die für Althusser äußerst wichtig ist.
Spinoza ist ein Denker der Immanenz. Er bricht, um mit Gilles Deleuze zu spre-
chen aus dem kartesianischen Käfig aus und etabliert ein Denken, in dem es kein
Platz für eine äußere und determinierende Ursache gibt, in dem jede Substanz
nur Kraft ihres eigenen Daseins ihr Wesen beansprucht, welches seinerseits dem
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Verstand restlos zugänglich ist. Das Attribut berührt die Sache in ihrer innersten
Verfassung genauso wie es auch den Verstand berührt – durch den Parallelismus
gleichwertiger Attribute.
Da Gott ein unendliches Seiendes ist, mit unendlichen Attributen ausgestattet,
entzieht sich sein Begriff jeder Bestimmtheit und auch jeder Intelligibilität, nicht
weil es gewisse Eigenschaften Gottes gibt, die für den menschlichen Verstand
unzugänglich wären, wie das bei Descartes der Fall ist, sondern einfach anhand
der Tatsache, dass es unendlich viele Eigenschaften gibt. Sie sind für den
menschlichen Verstand, der nur aus einem Attribut besteht, nämlich dem des
Denkens, unmöglich zu begreifen. Die Unendlichkeit ist undenkbar, Gott eben-
falls. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, Gott als Schluss einer Deduk-
tion zu denken, da sich ein Schluss, in einer Unendlichkeit der Schlüsse, in sei-
ner eigenen Unmöglichkeit verliert. Gott ist unendlich, er ist alles und zu gleich
nichts und damit ist eine Schlussfolgerung, die in und mit Gott endet, ebenfalls
nichtig.
Im Anhang zum ersten Teil der Ethik nennt Spinoza diese Art von Deduktion
beim Namen: „Et sic porro causarum causas rogare non cessabunt, donec ad Dei
voluntatem, hoc est ignorantie asylum, confugeris.“xixDie Zuflucht in der Un-
endlichkeit ist die Zuflucht in der Unwissenheit.
An dieser Stelle setzt die spinozistische Umkehrung der cartesianischen Philo-
sophie an. Statt mit Gott zu schließen, beginnt Spinoza seinen Deduktionspro-
zess mit und in Gott, „um ihn als Sein (Subjekt) in der Universalität seiner einen
Allmacht (Deus = Natura) zu negieren“.xx
In seinem Text über Spinoza, stellt Althusser zwei Parallelen her, die er in der
Suche nach einer Verbindung zwischen Hegel und Marx bemerkte, nämlich ei-
ne, die zwischen Spinoza und Marx besteht und eine zweite zwischen Spinoza
und Hegel. Die Verbindung zwischen Hegel und Marx, die Ursache dieses theo-
retischen Umweges war, ist eine Beziehung, die in der Methode besteht: in der
Dialektik. Warum aber dieser Umweg über Spinoza?
„[U]m etwas besser zu verstehen, weshalb und unter welchen Bedingungen eine
Dialektik, die den ‚spekulativsten’ Kapiteln der Großen Logik des Absoluten
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Idealismus entnommen ist, materialistisch und kritisch sein kann (unter den
wiederum erst zu begreifenden Vorbehalten der „Umkehrung“ und der „Entmys-
tifizierung).“xxi
Althusser versucht zu dieser Zeit noch ein Konzept, das er später mit dem alea-
torischen Materialismus endgültig verlassen wird, zu retten: den Status der Dia-
lektik innerhalb des Materialismus.
Die hegelsche Dialektik des absoluten Idealismus wird zwar von Marx in den
dialektischen Materialismus „umgekehrt“, sie bleibt aber „mystifiziert“ und
durch und durch idealistisch.
Die Verbindung, die in den Elementen der Selbstkritik zwischen Spinoza und
Marx postuliert wird, wird in Althusser’s spätem Werk immer wieder aufgegrif-
fen. In seinen posthum erschienenen Memoiren, die den Titel „L’avenir dure
longtemps“ tragen und die kurz vor seinem Tod vollendet wurden, kehrt Althus-
ser auf diese außergewöhnliche Verbindung zweier Philosophen zurück.
„I had long since recognised the philosophical virtues of Spinoza, and it was not
fortuitous that, in trying to understand the philosophy of Marx, I made a detour
via Spinoza. But it was while working on Machiavelli that I became aware, quite
unexpectedly, of the unusual and illuminating link which existed between them.
I shall explain it one day. “xxii
Meines Wissens wurde diese Erklärung nie geschrieben.
Die zweite Parallele, jene zwischen Spinoza und Hegel wird ausführlicher be-
handelt.
Spinoza beginnt mit Gott und Hegel mit der Logik. Mit einer Logik, die keine
Methodentheorie ist, sondern eine Wissenschaft vom Logos. Logos in der Be-
deutung von ratio bzw. Vernunft. Althusser zitiert Hegels Worte vom Anfang
der „Wissenschaft der Logik“: „Das Sein ist das Nichts“, auf seine Negation des
Ursprungs hinweisend.
Der Hauptunterschied zwischen den ontologischen Vorstellungen der beiden
Philosophen besteht aber nicht in der Frage des Ursprungs, sondern in der Frage
des Ziels. Die Frage nach dem Ursprung ist für Althusser immer aus der Per-
spektive dieser anderen, in ihr versteckten, Frage zu verstehen. Der Sinn der
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Frage nach dem Ursprung entspringt der Frage nach dem Ende und einer exis-
tentiellen Angst, die sich rückwirkend auf die Feststellung eines Ursprungs, der
einem Beginn wie auch einem Ende vorrangig ist niederschlägt, und dessen
Existenz eine Dimension außerhalb von unseren Kategorien der Vergänglichkeit
bestätigt.
Spinoza beginnt mit Gott und Hegel dem mit Nichts. Die Frage nach einem Ur-
sprung verwerfen alle beide, doch die Frage nach dem Ziel wird den einen zum
Materialismus und den anderen zum Idealismus führen.
Wenn Spinoza mit Gott beginnt, beginnt er nicht mit dem Nichts oder mit einem
leeren Sein (nicht nur), weil der Begriff Gottes in seinen ontisch-ontologischen
Bestimmungen immer auch eine Absolute Präsenz aller Bestimmungen beinhal-
tet, wenn man also diese Omnipräsenz an Stelle eines Beginns setzt, hat man
sich dadurch automatisch beider restlichen Fragen entledigt: der des Endes, und
der des Ziels.
Hegel hingegen postuliert das Sein in eine Leere, die „vermittels der Negation
der Negation die Dialektik eines Telos meditiert, welche sich in der Geschichte
als subjektiver, objektiver und absoluter Geist erfüllt, als absolute Präsenz in der
Transparenz.“xxiii
Althusser fordert ebenfalls eine Parallele mit der spinozschen Negation der
Transzendenz, die in einem Prozess ohne Subjekt und einem Sein ohne Vorher-
bestimmung gründet, besteht aber nach wie vor auf dem grundlegenden Unter-
schied zwischen den Negationsbegriffen der beiden Philosophen – die hegeli-
sche Negation mündet in eine Dialektik des Telos und die spinozistische bleibt
durch und durch radikal antiteleologisch.
Für Spinoza bedeutet die Allmacht Gottes die Allmacht der Natur, die den inne-
ren Prozessen ihrer eigenen Konstitution unterworfen ist. Für Hegel ist die Frage
des Seins durch eine negative Dialektik der geschichtlichen Objektivierung als
absoluter Geist bestimmt.
Jede Substanz existiert für Spinoza in und durch die unendliche Substanz Gottes,
die auch ihre immanente und notwendige Ursache ist, wobei ihre Handlung nur
den Gesetzen ihrer Natur unterworfen ist. Es gibt keine Gesetzmäßigkeit außer-
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halb der Gesetzmäßigkeit der Natur Gottes. Diese Immanenz des Nomos ist für
das Verständnis der Interpretation Spinozas durch Althusser sehr wichtig.
Durch die Immanenz von Ursache und Wirkung ergibt sich eine Identität zwi-
schen Gott und Natur als einer absoluten Substanz. Die unendlichen Attribute
Gottes kennzeichnen gleichzeitig die absolute Offenheit des Begriffes, über den
es demzufolge auch nichts zu sagen gibt.
Die Theorie der immanenten Kausalität entpuppt eine rationale Zweckkausalität
als reine menschliche Einbildung und jede Zielausgerichtetheit des Prozesses
der Geschichte als reine Mystifikation.
Die Tatsache, dass alles in Gott ist, bestimmt für Althusser die wahre Erkennt-
nistheorie Spinozas.
„Par là on peut dire qu’il investit d’avance la place forte commune, garantie
dernière et ultime recours de tous ses adversaires, en commencent par cet au-
delà de quoi il n’est rien, et qui, d’exister ainsi dans absolu, sans aucune rela-
tion, n’est lui-meme rien. Dire „je commence par Dieu“, ou par la substance
unique, et laisser entendre „je ne commence par rien“ c’est au fond la même
chose. “xxiv
Wenn man die Philosophie als eine Suche nach der ersten Ursache versteht,
dann hat uns die Philosophie nichts mehr zu sagen. Das ist auch die Botschaft,
die Althusser aus Ethik Spinozas herausliest – eine radikale Kritik der Metaphy-
sik.
Um diese Kritik der Metaphysik durch die Immanenz eines Prozesses ohne Sub-
jekt besser verstehen zu können, ist es notwendig sich mit den Begriffen von Ur-
sache und Wirkung, wie sie in der Ethik erörtert werden, noch einmal auseinan-
der zu setzen.
Im dritten und vierten Axiom des ersten Teils der Ethik wird Kausalität wie
folgt definiert:
„Ex data causa determinata necessario sequitur effectus, et contra, si nulla detur
detrminata causa, immpossibile est, ut effectus sequatur. “xxv
„Effectus cognitio a cognitione causae dependet et eandem involvit. “xxvi
Althusser sagt dazu:
54
Die unterirdische Tradition des Materialismus

„Que Dieu ne soit rien que nature, et que cette nature soit la somme infinie d’un
nombre infini d’attributs parallèles, fait non seulement qu’il ne reste rien á dire
de Dieu, mais qu’il ne reste non plus rien á dire du grand problème qui a envahi
toute la philosophie occidentale depuis Aristote et surtout depuis Descartes: le
problème de la connaissance, et de son double corrélat, le sujet connaissant et
l’objet connu. “xxvii
Tatsächlich gründet sich das berühmteste cartesianische Postulat: „Cogito ergo
sum“ gerade auf der Annahme eines denkenden Subjekts aus der bloßen Tatsa-
che des Denkens.
Für Spinoza hingegen bedeutet dieses Postulat keineswegs, dass die Tatsache
des Denkens unbedingt die Existenz eines Denkers voraussetzten muss, sondern
viel mehr, dass in dem Prozess des Denkens es sich als Dasein darstellt, das mit
dem Prozess des Denkens untrennbar verbunden ist.
Die Philosophie Spinozas, von allem Metaphysischen frei, bleibt durch und
durch materialistisch und praktisch. Sein Materialismus zeigt sich an verschie-
denen Stellen der Ethik, so z.B.:
„Nec corpus mentem ad cogitandum, nec mens corpus ad motum negue ad quie-
tem, nec ad aliquid (si quid est) aliud determinare potest. “xxviii
Wie schon erörtert, besitzt Gott nach Spinoza eine unendliche Anzahl an Attri-
buten, der Mensch hingegen nur zwei: Denken und Ausdehnung. Das, was den
Geist zum Denken veranlasst, ist ein Modus des Denkens und nicht der Ausdeh-
nung, umgekehrt ist das, was einen Körper zur Bewegung veranlasst, ist kein
Modus des Denkens, sondern einer der Ausdehnung. Das, was sich in einem
Körper ereignet, kann nicht durch das Denken affiziert werden. Folglich kann es
auch keine Dominanz des Geistes über den Körper geben.
„...quod scilicet mens et corpus una eademque res sit, quae jam sub Cogitationis,
jam sub Extentionis attributo concipitur".xxix
Mit diesem Satz wird der Materialismus Spinozas, der durch die Absage an die
Dominanz des Geistes und durch die Gleichstellung aller Attribute einer Sub-
stanz zum Vorschein kommt, ganz deutlich postuliert.

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55
Der aleatorische Materialismus

Hegel hingegen wird aufgrund seiner Dialektik für den späten Althusser zu einer
negativen Referenz in Hinsicht auf das Konzept des Materialismus der Begeg-
nung werden.

Die Frage der Gesellschaft – Rousseau und Hobbes

Allein die Tatsache in Gesellschaft zu leben, ist eine Todesdrohung. Diese


Grundhaltung prägte die politische Theorie von Thomas Hobbes. Ähnlich wie
Machiavelli lebte auch er in einer Zeit, die durch Unruhen gekennzeichnet war.
Er war ein Zeitgenosse Cromwells wie auch des hingerichteten Königs Charles
I. Angesichts der Drohung eines gewaltsamen Todes, die in einer menschlichen
Gesellschaft eine immer präsente, aber latente Realität darstellt, besteht die ein-
zige Möglichkeit zur Sicherheit im Verzicht auf die bürgerliche Freiheit, wie
auch auf die in ihr einbegriffene Macht zu Selbstbestimmung durch ein Akt der
kollektiven Machtentäußerung zugunsten des Leviathans – der absoluten Macht.
Diese Machtentäußerung auf der Ebene der Gemeinschaft nennt Hobbes den
Gesellschaftsvertrag. Durch ihn wird ein Zustand des „bellum omnium contra
omnes“, der die Situation vor dem Vertrag kennzeichnet - von Hobbes als Na-
turzustand bezeichnet -, zugunsten einer hierarchisch perfekt geordneter Gesell-
schaft unter der Herrschaft des Friedens aufgegeben.
Die dunkle Bedrohung des Rückfalls in den Naturzustand wird zu einem dau-
ernden Begleiter der Gesellschaft. Hobbes konnte sich sein Leben lang immer
wieder davon überzeugen: „on n’est pas impunément le contemporain de
Cromwell ...“. Angesichts der Todesdrohung, die einen solchen Zustand beglei-
tet, ist jedes Opfer für die Erhaltung des Friedens gerechtfertigt.

56
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Das Wissen um die Gefahr des Rückfalls bedeutet für Althusser ein Bewusstsein
von der aleatorischen Natur des gesellschaftlichen Daseins, das bei Hobbes in-
tensiv präsent ist.
Der Begriff des Naturzustandes ist bei Rousseau viel differenzierter als bei
Hobbes. Er kennt zwei Arten des Naturzustands: einen vor der Sozialisation und
einen nach ihr. In seinem Zweiten Diskurs (Abhandlung über den Ursprung und
die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) werden diese zwei Ebe-
nen des menschlichen Daseins erörtert.
Als erstes bezweifelt Rousseau die geschichtliche Wirklichkeit des von den Phi-
losophen angenommenen Naturzustandes als einen in der Realität jemals existie-
renden und zum anderen kritisiert er die geläufigen Naturzustandstheorien als
banale Projektionen der moderner Gesellschaft in eine abstrakte Vergangenheit.
„Die Philosophen, die über die Gründe, auf welche sich die Gesellschaft stützt,
nachgedacht haben, haben es alle für nötig befunden, bis auf den Stand der Na-
tur zurückzugehen. Es ist aber keiner unter ihnen dahin gelangt.“xxx Und weiter:
„Endlich reden alle von Bedürfnissen, von Habsucht, von Unterdrückung, von
Begierden und vom Stolz, und versetzen Begriffe in den Stand der Natur, die sie
in der Gesellschaft erlangt haben. Sie wollen von wilden Menschen reden und
malen den gesitteten ab. Ja, den wenigsten von diesen Leuten ist es jemals in
Gedanken gekommen zu zweifeln, ob es auch einen Zustand der Natur gegeben
hat ...“xxxi
Für Rousseau lebten die Menschen im ursprünglichen Naturzustand in einer ge-
sellschaftslosen Situation. Es gab keine Bindungen, die aus Menschen gewöhn-
lich die Mitglieder einer Gesellschaft machen, keine Familie, keine Gemein-
schaft. Die Menschen waren herumschweifende Einzelgänger, deren Zustand
Althusser mit dem Zustand der Atome in der epikureischen Leere vor dem Ein-
tritt des Clinamen vergleicht.xxxii
Im Gegensatz zu Hobbes sieht Rousseau im vorgesellschaftlichen Menschen ein
angstvolles und unsicheres Wesen. „Hobbes behauptet, der Mensch sei von Na-
tur aus unerschrocken und suche nichts als Angreifen und streiten. Ein erleuch-

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57
Der aleatorische Materialismus

teter Philosoph glaubt das Gegenteil ..., dass nichts so furchtsam ist, wie der
Mensch im Stande der Natur.“xxxiii
Der reine Naturzustand ist also ein Zustand ohne jegliche soziale Beziehung.
Aber gerade in diesem Nichts der Gesellschaft sieht Althusser die wagemutigste
Idee Rousseaus, die lange Zeit ignoriert wurde.xxxiv
Wie ereignet sich dann der Übergang zur Gesellschaft? Werden die Menschen
von Natur aus immer geselliger, bis sie eines Tages spontan zusammen kom-
men? Rousseau glaubt nicht daran. Der Übergang zu einem Zustand des Mit-
und Nebeneinanderseins verläuft nie spontan, er ist ein von außen her auferleg-
ter Zwang. Sei es infolge einer Naturkatastrophe oder wegen der Knappheit der
Ressourcen auf einem relativ geschlossenen Gebiet, Gesellschaftlichkeit ent-
steht im Zusammenspiel der äußeren Gegebenheiten. Sie entsteht situationsbe-
dingt - auf Grund der jeweiligen Konjunktur.
Dieses Denken der Konjunktur, der dauernd sich wandelnden Gegebenheiten,
wo ständig „die Würfel neu geworfen werden können“, findet Althusser vor al-
lem in der politischen Philosophie Machiavellis. Dasselbe Denken faszinierte
ihn ebenfalls bei Rousseau, dort bestimmt es allerdings nur ein einziges Werk,
eben den Zweiten Diskurs.
Der Übergang vom gesellschaftslosen in den gesellschaftlichen Naturzustand
wird durch die Konjunktur geleistet. Die auslösende Ursache jeder Agglomera-
tion der Atome (der Individuen)xxxv ist die Begegnung. Um einen dauerhaften
Gruppierung zu erreichen, muss auch sie dauerhaft sein. Aus diesem Grund wä-
re der gesellschaftliche Naturzustand der Menschen undenkbar, ohne einen na-
türlichen Umstand, der die Dauer ihrer gegenseitigen Begegnungen garantiert.
Die Beziehungen, die dadurch entstehen sind erzwungen und dieser Zwang ist
der wahre Kern des sozialen Zustands.
Der Naturzustand bei Hobbes hingegen ist ein Status der Entropie, in welchem
jede Begegnung gleichermaßen möglich ist. Die Individuen wandern durch den
leeren Raum der Erde, durch nichts anderes gelenkt als durch ihren eigenen
Conatus.xxxvi

58
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Die Leere entpuppt sich auch hier, wie so oft in der Geschichte, als ein gefährli-
ches Trugbild. Die Leere der Welt ist dicht mit Individuen besetzt, die der Ge-
radlinigkeit ihres Conatus folgen. Begegnungen sind unvermeidlich und gesche-
hen immerzu, doch diese Begegnungen sind Zusammenstöße und der Andere ist
immer ein Hindernis. So ist das Leben in Gesellschaft ein Leben im Kriegszu-
stand.
„Le malheur est que ce monde est plein, plein d’hommes qui poursuivent le
même but, qui s’affrontent donc pour faire place libre á leur propre conatus, et
ne trouvent d’autre moyen pour réaliser leur fin que de ‘donner la mort’ á qui
encombre leur chemin. “xxxvii
Der Krieg ist daher präventiv, er wird als Mittel begriffen dem Gegner immer
einen Schritt voraus zu sein, einem Gegner, der nichts anderes als ein Hindernis
in menschlicher Gestalt darstellt.
Wir leben in einer Zeit, in der sich die traurige Aktualität der Idee vom präven-
tiven Krieg immer neu bezeugt. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war ge-
radezu eine Epoche von Kriegen, die keine andere Berechtigung hatten, als im-
mer neuen Gegnern voraus zu sein. Nach Hobbes bedeutet der präventive Krieg
bzw. der ökonomisch kalkulierte Mord, die einzige Möglichkeit eines unsiche-
ren Gleichgewichts innerhalb des Kriegszustands.
Dieser Gleichklang bleibt jedoch permanent von seinem Umkippen bedroht.
Sicherheit bietet nur die absolute Macht. Um absolut zu werden, muss sie die
Macht jedes einzelnen absorbieren. Macht muss den Individuen entäußert und
unwiderruflich an nur einen delegiert werden.
Das führt uns zu einem der entscheidenden Gedanken von Hobbes: der Unvor-
stellbarkeit einer gewaltsamen Übernahme der absoluten Macht.
An der Basis jeder Macht steht ein Konsens, ohne welchen keine Macht je abso-
lut wird. Dieser Konsens, der auch die Bedingung der Legitimität der absoluten
Macht darstellt, ist eine zutiefst ideologische Kategorie.
Dank dieses Gedankens gilt Hobbes für Althusser als einer der ersten Philoso-
phen, der sich der Rolle der Ideologie in der Etablierung einer hierarchisch ge-
ordneten Machtstruktur bewusst wurde.
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Der aleatorische Materialismus

Der Beginn der Gesellschaft jedoch, der für Hobbes unzertrennlich mit dem Be-
griff der Staatlichkeit verbunden ist, steht noch keineswegs für das Ende des
Krieges. Die Strategien des Naturzustands, vor allem die des präventiven Krie-
ges, verlagern sich im Vertragszustand lediglich nur auf eine neue Ebene – die
der zwischenstaatlichen Koexistenz.
Wenn wir dem Gedanken von Hobbes weiter folgen, dessen makabre Aktualität
in unserer Zeit nicht verschwindet, ist die Herrschaft eines sicheren Friedens nur
unter der Bedingung denkbar, dass die ganze Welt konsensuell (ideologisch) un-
ter der Herrschaft eines einzigen Machtkörpers (des Leviathans) steht.
Althusser war einer der wenigen Theoretiker, die die wahre Absicht von Hob-
bes, die sich in seinen Abhandlungen über die absolute Macht versteckt, ver-
standen haben. Hobbes war kein Apologet eines totalitären Etatismus, sondern
ein Theoretiker im Dienste des ökonomischen Marktdenkens und der freien
Konkurrenz. Die Macht wirkt präventiv in der Absicherung des Friedens, in
welchem alle Differenzen, die für eine freie Konkurrenz nötig sind, erst als sol-
che entfaltet werden können. Sein Staat ist totalitär, aber gleichzeitig marktwirt-
schaftlich, wobei diese zwei Eigenschaften einer staatlichen Struktur, aller spä-
teren westlichen politischen Theorie zum Trotz, keine unversöhnlichen Gegens-
ätze darstellen, sondern sich gegenseitig bedingende Phänomene sind. Die ent-
scheidende Kategorie der Stabilität in diesem staatlichen Gebilde bleibt vor al-
lem seine überwältigende kriegerische Macht. Sie steht ähnlich wie bei Machia-
velli an der Basis der staatlichen Macht, die seine Hegemonie garantiert.
„... il se trouve que son fameux État totalitaire est presque déjà semblable á
l’État de Marx qui doit s’etaindre. Tout guerre, donc toute terreur étant préven-
tives, il suffisait en effet que cet État terrible fût pour être comme absorbé par
son existence jusqu’á n’avoir pas besoin d’exister.“xxxviii
Im Gegensatz zu Hobbes differenziert Rousseau zwischen verschiedenen Stadi-
en der Sozialisation und unterscheidet sehr genau zwischen den von Hobbes
noch als gleichbedeutend verwendeten Begriffen von Staat und Gesellschaft.
Vor allem der Krieg ist für ihn nicht ursprünglich, sondern eine Folge der Kon-
kurrenz, die durch die Vergesellschaftung der Menschen entstanden ist. Der
60
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Mensch im Naturzustand ist weder gut noch böse, vielmehr befindet er sich, mit
Nietzsche gesprochen, jenseits von beiden kategorialen Bestimmungen. Die
Ethik und ihre Begriffe sind ontogenetisch. Sie entstehen erst in der Gesell-
schaft, als eine ihrer Folgen. Rousseau lehnt eine Auffassung der Geschichte, in
der sich die ethischen Bestimmungen der jeweiligen Gegenwart spiegeln, kate-
gorisch ab.xxxix Dabei wendet er sich nicht selten gegen Hobbes.
„Hobbes hat nicht bedacht, dass dieselbe Ursache, die die Wilden hindert, ihre
Vernunft zu gebrauchen, wie unsere Rechtsgelehrten vorgeben, sie gleichzeitig
davon abhält ihre Fähigkeiten zu missbrauchen, wie er selbst meint.“xl
Alle Eigenschaften der Menschen, über die Hobbes spricht, entstehen erst in und
durch den Übergang vom ersten Stadium der Menschheit in das zweite; aus dem
ungeordneten in den geordneten gesellschaftlichen Naturzustand.
Krieg, Mord und Konkurrenz, die von Anfang an in den Sockel des Sozialen
eingeschrieben sind, kommen mit der Entstehung der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse an die Oberfläche. Die Rousseau’sche Geschichte der Entstehung die-
ser Verhältnisse wurde zu einer der bekanntesten philosophischen Passagen
überhaupt:
„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ
zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der
war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel
Krieg, wie viel Mord, Elend und Gräuel hätte einer nicht verhütten können, der
die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet, und seinen Mitmenschen zuge-
rufen hätte: ‚glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergißt,
daß die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört’.“xli
Der erste Eigentümer ist demnach der Stifter der Gesellschaft. Diese radikale
Aussage beinhaltet eine Reihe weiterer Konsequenzen, die sich aus ihr notwen-
digerweise ergeben.
Wenn die Eigentumsverhältnisse die Grundlage einer Gesellschaft ausmachen,
dann kann es auch keine Gesellschaft ohne sie geben. Dann sind auch Konkur-
renz, Krieg und Mord immanente Kategorien unseres Miteinanderseins. Keine
Macht dieser Welt, sei sie auch absolut, kein Leviathan, kann je eine dauerhafte
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Der aleatorische Materialismus

Herrschaft des Friedens garantieren. So wird auch der Preis der Entäußerung der
individuellen Macht, der für Hobbes wie hoch auch immer, nie zu hoch sein
kann (weil für die Absicherung der eigenen Existenz bezahlt), immer umsonst
bezahlt werden.
Für Hobbes ist Krieg in den Conatus jedes Einzelnen eingeschrieben, bei seiner
Geburt festgelegt und als ultimative Bedrohung der ganzen Menschheit begrif-
fen. Daraus ergibt sich aber auch die Unterlegenheit des Menschen gegenüber
einem Prozess der Sozialisation, der eine hierarchische Ordnung der Macht ent-
stehen lässt.
Der Eintritt in den Zustand des Gesellschaftsvertrages, den die Individuen unter
sich abschließen, um ihr Miteinandersein zu legitimieren und durch die hierar-
chische Verteilung der Macht von allen Veränderungen abzusichern, ist für ihn
ein pragmatischer und durchkalkulierter Akt all seiner Protagonisten. Er ist ein
Tausch zwischen der individuellen Freiheit und der sozialen Sicherheit.
Doch die Möglichkeit eines solchen Vertrages, in dem alle individuellen Rechte
entäußert werden, ist nichts als eine Illusion, die eine terminologische Ignoranz
voraussetzt.
Um die Funktionsweise dieses Vertrages zu erklären, sich aber gleichzeitig nicht
in die Paradoxien zu verwickeln, bedarf es gewisser Verschiebungen auf der
theoretischen Ebene. In seinem Buch Machiavelli – Montesquieu – Rousseau.
Zur politischen Philosophie der Neuzeit nimmt Althusser diese Verschiebungen,
die hinter dem theoretischen Begriff eines Gesellschaftsvertrages stehen, unter
die Lupe.
In seinem Gesellschaftsvertrag übernimmt Rousseau die für das Naturrecht kon-
stitutive „erste Übereinkunft“, durch die der Begriff des Volkes entsteht. Diese
Übereinkunft hat den juristischen Charakter eines Vertrages. Jedes einzelne In-
dividuum geht ein Vertrag mit der Gemeinschaft ein, der die Rechte und Pflich-
ten der beiden Parteien regelt. Diese Entscheidung ist eine Mehrheitsentschei-
dung. Im Gegensatz zu Locke glaubt Rousseau aber nicht an den natürlichen
Charakter der Mehrheitsentscheidung. Um so etwas wie eine Mehrheitsent-
scheidung, wie auch jede andere Art des Entscheidungsprinzips, für alle weite-
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Die unterirdische Tradition des Materialismus

ren Fälle zu legitimieren, benötigt es einer einmalige vollständige Einstimmig-


keit, die die Referenzebene jeder weiterer Abstimmung schafft.
Wenn wir aber die Natur des juristischen Vertragsbegriffes analysieren, werden
wir bald die Grundlage der ersten theoretischen Verschiebung erkennen. Ein
Vertrag bedarf mindestens zweier Parteien, die schon vor dem Geltungsrahmen
des Vertrages als solche gegeben sein müssen. Im Falle eines Vertrages der In-
dividuen mit der Gemeinschaft ist dieser Grundsatz nicht gegeben, da eine der
Parteien des Vertrages, nämlich das Volk, erst als Resultat des Vertrages konsti-
tuiert wird.
„Die Schwierigkeit ist kurz gesagt folgende: Bei jedem Vertrag existieren die
beiden Vertragspartner vorgängig und außerhalb des Aktes des Vertrages. In
Rousseaus Gesellschaftsvertrag genügt nur Vertragspartner 1xlii dieser Bedin-
gung. Der Vertragspartner 2xliii entzieht sich dieser Bedingung. Er existiert nicht
vor dem Vertrag, und dies aus einem guten Grund: er ist selbst das Produkt die-
ses Vertrages.“xliv
Althusser macht uns aufmerksam auf dieses erste Paradox, das Rousseau in sei-
nem Gesellschaftsvertrag zu verdrängen sucht und das nur durch diese theoreti-
sche Verschiebung verdeckt werden kann, was aber noch weitere Verschiebun-
gen notwendig macht.
Die erste Verschiebung wird durch folgenden Begriff sichtbar:
„... der Unterschied zwischen dem Individuum in Form der Vereinzelung und
dem Individuum in Form der Gemeinschaft, die Vertragspartei 2 definiert – wird
hier in der Kategorie der Individualität gedacht. Die Verschiebung wird zuge-
standen und sogleich mit einem ‚sozusagen’ annulliert: ‚jedes Individuum, das
sozusagen mit sich selbst einen Vertrag schließt.’“xlv
Die zweite Verschiebung betrifft die totale Entäußerung, die nach Rousseau
selbst unmöglich ist, da sie an den Kern der Subjektivität jedes Individuums
rührt, indem sie es mit seiner Freiheit gleichzeitig jedes Rechtes und jeder
Pflicht beraubt, wodurch sein Bestehen als Subjekt im juristischen Sinne para-
dox wird.

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Der aleatorische Materialismus

Dieses Unstimmigkeit wird diesmal durch die Begriffe wie Interesse, Bilanz,
Verlust oder Gewinn kaschiert.
Die weiteren folgenden Verschiebungen betreffen notwendigerweise die Relati-
on zwischen dem allgemeinen und den besonderen Interesse, dessen Beendigung
Althusser in eine notwendige Zuflucht zur Ideologie einmünden sieht.
Im Gegensatz zu Kant oder Hegel betrachtet Althusser diese Verschiebungen
nicht als bloße terminologische Nachlässigkeiten, sondern als blinde Flecken ei-
ner Staatsraison, die auf einem Gesellschaftsvertrag basiert.
Verfolgt man das Denken von Althusser noch weiter, wird man sehr bald be-
merken, wie sehr diese Art von theoretischen Verschiebungen die westliche Ju-
risprudenz bis heute dominiert und wie stark ihr Einfluss auf die Demokra-
tietheorie des Abendlandes immer noch ist.
Die Illegitimität des Gesellschaftsvertrages beruht für Rousseau nicht nur in dem
Paradox der absoluten Entäußerung, sondern auf einem Grund, der nur im Zwei-
ten Diskurs erörtert wird: Der Gesellschaftsvertrag ist illegitim, weil er auf der
Schwäche der Schwachen gründet. Diese Komponente des rousseauschen Den-
kens ist für Althusser sehr wichtig,
Der Gesellschaftsvertrag, wie auch der in ihm inbegriffene Gehorsam der
Schwachen, existiert nur aufgrund der permanenten Bedrohung durch einen an-
deren Zustand, des Kriegzustandes, dessen aleatorischer Eingriff im Hintergrund
jeder Vertragspräsenz steht.
Dieses scheinbare Paradox, das zwischen zwei Gesellschaftstheorien bei
Rousseaus besteht, nämlich den einen aus dem Gesellschaftsvertrag und der an-
deren aus dem Zweiten Diskurs, wird mit dem Verständnis dieses Umstands
endgültig behoben. Dazu Althusser: „Si cette remarque, qu’il faudrait dévelop-
per, n’est pas fausse, elle résoudrait l’aporie classique qui oppose interminable-
ment le Contrat au second Discours, difficulté académique qui n’a d’autre équi-
valent dans la histoire da la culture occidentale que la question saugrenue de sa-
voir si Machiavel était monarchiste ou républicain ...“xlvi
Von gleicher Art sind auch die Gedanken Rousseaus bezüglich des Gesetzes. Es
gibt kein Gesetz sondern nur Gesetze, die während der jeweiligen Entwicklung
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Die unterirdische Tradition des Materialismus

der verschiedenen Völker immanent entstehen. Obwohl nicht explizit benannt,


verbergen diese Überlegungen gerade den Punkt, der für die althusser’sche Re-
zeption Machiavellis, Hobbes und Rousseaus gleichermaßen eine ausschlagge-
bende Bedeutung hat: den Begriff der Konjunktur.
Das freie Spiele der kontingenten Umstände ist in der Omnipräsenz der Bedro-
hung bei Hobbes in jeder seiner politischen Überlegungen beinhaltet.
Dieselbe wandelbare Konjunktur bildet auch die Basis jeder Gesetzmäßigkeit,
deren immanenten modus operandi sie darstellt. Sie ist nichts anderes als das
Wissen, das wir dem zweiten Discours schulden: vor der „Zufälligkeit der Not-
wendigkeit“ die „Notwendigkeit der „Zufälligkeit“xlvii zu denken.

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Der aleatorische Materialismus

Die Einsamkeit Machiavellis

Fast kein Denker der europäischen Tradition wurde so lange und so hartnäckig
missverstanden und verkannt wie Niccolo Machiavelli. Sein Name wurde durch
die Jahrhunderte, die seinem Tod folgten, zu einem Synonym für Totalitarismus
und Tyrannei.
Machiavelli lebte in einer bewegten Zeit und konnte einige der wichtigsten poli-
tischen Umwälzungen der italienischen Geschichte miterleben: den Aufstieg und
Fall von Cesare Borgia, Savonarola, der Florentinischen Republik unter Soderi-
ni, sowie das dauernde Auf und Ab der Familie Medici.
Zu seinen Hauptwerken zählen vor allem De Principatibusxlviii, ein Werk in dem
die Prinzipien des Regierens in einer Monarchie vorgestellt werden, das nach
seinem Tod unter den Namen Il Principexlix immer wieder neu veröffentlicht
wurdel, sowie die Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio, ein Buch, das von
nicht-monarchistischen Herrschaftssystemen handelt.
Sein Werk wurde noch Zeit seines Lebens auf das heftigste kritisiert. Nach sei-
nem Tod begann die katholische Kirche, unter dem Vorwurf des Atheismus und
unter Führung der Jesuiten eine regelrechte Verfolgungskampagne gegen seine
Werke. Diese Linie der Inakzeptanz wird von den französischen Hugenotten
weiter verfolgt, jetzt aber unter dem Vorwand, dass seine Lehre wurde von Jesu-
iten übernommen und gegen die Protestanten angewendet worden sei.
Die Rezeption Machiavellis als einen jeder christlicher Moral fremden Apologe-
ten des Paradigmas nach welchem das Ziel die Mittel rechtfertigt, verbreitet sich
in den folgenden Jahrhunderten in Europa durch alle Gesellschaftsschichten
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Die unterirdische Tradition des Materialismus

hindurch. Kaum ein anderer Theoretiker des Politischen wurde so allgemein be-
kannt und so allgemein gehasst wie Machiavelli.
Sogar Shakespeare wird seinem Heinrich IV. die Worte in den Mund legen, die
Machiavelli als einen Mörder diffamieren: „ ...and set the murderous Machia-
velli to scholl“.li
Der erste, der sich gegen eine solche oberflächliche Rezeption Machiavellis
stellt, ist Francis Bacon, der in seinem Werk De augmentis scientarum seine in-
duktive, empiristische Methode in der Humanwissenschaft lobt, vor allem aber
seinen Bezug auf die Praxis, die mit einer normativen Schreibweise bricht, um
die Tatsachen des Lebens zu erforschen. Die politische Staatsphilosophie, be-
ginnend mit Platon bis zu Thomas von Aquin operiert mit idealen Vorstellun-
gen, mit einem Sollen. Sie gibt vor, wie ein Idealstaat geregelt sein sollte. Ma-
chiavelli hingegen schreibt über die Menschen und über ihre Staaten so, wie sie
tatsächlich sind und baut seine Gedanken auf der Basis der politischen Realität.
Die Frechheit in seinem Werk besteht darin, das zu schreiben, was man nicht
schreibt, sondern tut.
Es folgen weitere Theoretiker, die den Wert Machiavellis wieder entdecken:
Spinoza, Rousseau, Diderot gefolgt von Croce und Gramsci.
Dieser Denktradition wird sich auch Althusser anschließen. Zur Zeit, wo er sei-
ne ersten Aufsätze über Machiavelli schreibt, ist die Rezeption Machiavellis in
Frankreich eher negativ getönt. Theoretiker wie Raymond Aron versuchen eine
Äquivozität zwischen dem Machiavellismus und dem damals heftig diskutierten
Totalitarismus aufzustellen.
In Nachlass Althusser’s fand man eine Reihe von Texten, die Machiavelli be-
handeln. Ab 1962 wird er bis zu seinem Lebensende immer wieder Machiavelli
lesen und interpretieren. Nach dem Werk Solitude de Machiavel von 1977 und
Machiavel et nous folgen eine Reihe von Aufsätzen, die in der Zeitspanne von
1972 – 1986 entstehen und immer neu redigiert werden. Der Text von 1962
wurde in der posthum erschienenen Aufsatzsammlung aus seinem Nachlass
Écrits philosophiques et politiques nicht veröffentlicht. Aus der Sekundärlitera-
tur zu diesem Themalii erfahren wir, dass seine Lesart Machiavellis zu dieser
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Der aleatorische Materialismus

Zeit noch relativ undifferenziert ist und sich noch stark auf die Rezeption
Gramscis bezieht.
Antonio Gramsci selbst sieht den Prinzen als ein politisches, utopisch–
revolutionäres Manifest und Machiavelli als Begründer der Politik in der Form
einer autonomen Wissenschaft. Ein politisches Manifest deswegen, weil er die
Theorie mit der Praxis zu verbinden weiß, auf eine ähnliche Art und Weise, wie
es auch Marx in seinem Kommunistischen Manifest tut. Es ist ein „lebendiges“
Buch, das die Wissenschaft des Politischen mit einer politischen Ideologie auf
die praktische Art in Form einer mythischen Erzählung verbindet.
„Il carattere fondamentale del Principe é quello, di non essere una trattazione
sistematica, ma un libro ‘vivente’, in cui l’ideologia politica e la scienza politica
si fondono nella forma drammatica del ‘mito’.“liii
Gramsci schreibt über den Nuovo Principe, er sei eine Kraft, die im Stande ist,
den zerstreuten Volkswillen zu einer kohärenten Kraft zu verbinden. Diese Kraft
ist für Gramsci kein einzelner Mensch, sondern eine Partei, die er als die Forma-
tion des populären Willens versteht und die auf einer Verbindung der ideologi-
schen und praktischen Elementen gründend eine neue Struktur der Arbeit konsti-
tuieren sollte.
„Questi due punti fondamentali: formazione di una volontà collettiva nazionale
– popolare, di cui il moderno Principe é nello stesso tempo l’organizzatore e
l’espressione attiva e operante, e riforma intellettuale e morale, dovrebbero co-
struire la struttura del lavoro.“liv
In diesem Moment der Konstruktion des Volkswillens zu einer organisierten und
selbstbewussten Struktur, die für Gramsci bei Machiavelli schon evident ist,
liegt das Revolutionäre seines Manifestes. Doch neben Bezeichnungen wie poli-
tisch oder revolutionär, findet man bei Gramsci noch ein Adjektiv das im Zu-
sammenhang mit dem von ihm selbst als Manifest bezeichnetem Werk steht:
utopisch.
Die Charakterisierung des Prinzen als utopisch wird Althusser von Gramsci
übernehmen und bis in seine letzten Schriften weiter verfolgen.lv Diese Utopie
liegt vor allem in der angenommenen Konstituierung eines Selbstbewusstseins
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Die unterirdische Tradition des Materialismus

des Volkes. Das Werk Machiavellis manifestiert dieses Selbstbewusstsein. Um


es aber praktisch zu kanalisieren, was auch die erste Bedingung seiner Manifes-
tation ist, braucht es eine organisierte Kraft. Ohne diese Kraft, die im Hinter-
grund einer solchen Konstitution steht, bleibt Il Principe eine utopische Schrift.
Wenn wir die Struktur eines politischen Manifests näher betrachten, wie z.B. je-
nes von Marx und Engels, werden wir die zentrale Kategorie eines solchen Tex-
tes nicht übersehen können – die direkte Anrede. Nach der Darstellung einer
Geschichte des Proletariats, die gleichzeitig eine Geschichte der Ausbeutung ist,
schließt das Manifest der kommunistischen Partei mit dem berühmten Satz:
„Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“lvi
Marx konstatiert eine real existierende Klasse und redet sie in seinem Manifest
an. Die Schrift Machiavellis hat hingegen eine Widmung, die zwar an einen
Herrscher geht, aber keine etablierten Rezipienten anzeigt. Machiavelli hat noch
kein feststellbares Kollektiv, das eine potenzielle Kraft darstellen könnte. Er
spricht eine abstrakte und verschwommene Kategorie an: die des Volkes.
Seine Rezipienten existieren als solche noch nicht. Sie werden erst erschaffen
und erzogen werden müssen. Machiavelli weiß, dass der Prozess ihrer Konstitu-
tion als einer Kategorie per se, die Marx drei Jahrhunderte danach aus dem ge-
schichtlichen Prozess destillierte und als Klasse bestimmte, nicht in der Theorie
und durch die Theorie stattfindet, sondern in und durch das Reale der Praxis.
Machiavelli ist ein Denker der Situation und deren realen Bedingungen. Wie ein
neuer Prinz für ein neues Königreich benötigt wird, so werden auch neue Begrif-
fe für eine neue Konjunktur herausarbeitet werden müssen. Das Denken dieser
Konjunktur in der Abwesenheit ihrer Bedingungen und ihrer Begriffe, ist der
Kern der politischen Philosophie Machiavellis.
Das Denken einer Utopie ist hingegen immer ein Denken mit und in vorhande-
nen Begriffen, die auf eine zukünftige Situation nie restlos anwendbar sein kön-
nen, sich aber der Schwächen des eigenen Systems nicht bewusst ist.
All diejenigen, die in Machiavelli nur eine politische Kategorie, wie den Repub-
likanismus oder den Monarchismus, gesucht haben, begriffen diese zentrale Ka-
tegorie seines Denkens nicht.
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Der aleatorische Materialismus

Althusser wird in seinen Schriften der siebziger Jahre immer wieder auf die Ra-
dikalität des Neuen im Denken Machiavellis hinweisen, die sich im Denken ei-
ner Staatlichkeit in Abwesenheit all ihrer konstitutionellen Bestimmungen nie-
derschlägt.
Die Aktualität dieses Denkens wird Althusser in seiner letzten philosophischen
Phase des Materialismus der Begegnung besonders faszinieren. Wie wird eine
politische Umwälzung denkbar, in einem Moment, in welchem alles, was sie
möglich macht, fehlt? Oder, wie ist eine Revolution zu denken in der Zeit der
einer Hochkonjunktur des Kapitalismus, in der keine Möglichkeit mehr für die
Wirksamkeit der Massenbewegungen gegeben ist?
Machiavelli stellt sich folgende Frage: Wie ist ein italienischer Nationalstaat in
der Zersplittertheit der Stadtstaaten zu denken bzw. unter welchen Bedingungen
ist seine Gründung möglich, und er stellt gleich selbst fest, dass diese Aufgabe
von keinem bestehenden Staat oder Fürsten gelöst werden kann. Alle in Frage
kommenden Staaten sind alte Staaten, die im Feudalismus befangen sind. Diese
Aufgabe kann nur durch einen „neuen Fürsten in einem neuen Fürstentum“ be-
wältigt werden.
Für Althusser ist das die radikalste politische Behauptung Machiavellis.
Dieses Denken des Anfangs, das Machiavelli durch einen Fürsten ohne vorge-
gebene Eigenschaften verkörpert sieht und das einer Gegenwart entspricht, die
nur durch die eigenen Begriffe denkbar wird, ist von außerordentlicher Aktuali-
tät.
Wie ist eine Situation außerhalb des Kapitalismus zu denken, nachdem alle Op-
tionen, die je gedacht wurden, an einer strukturellen Schwäche zu Grunde gin-
gen? Oder genauer, wie ist ein Kommunismus nach dem Zerfall des Realsozia-
lismus zu denken?
Wir sehen, dass wir mit alten Worten ein neues Verhältnis weder denken noch
beschreiben können, weil die alten Worte einem alten Königreich angehören.
Sie sind durch und durch symbolisch beladen. Mit dieser symbolischen Last ist
keine neue symbolische Ordnung denkbar. So wie es für Marx oder Freud nicht
möglich war, die von ihnen neu begründeten Wissenschaften mit den ererbten
70
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Begriffen der politischen Ökonomie bzw. der Psychiatrie zu denken, so wird es


auch derjenigen Theorie, die an die Stelle der Kritik der politischen Ökonomie
treten wird, unmöglich sein, sich durch die von ihr ererbten Begriffe zu denken.
Der Aleatorische Materialismus von Althusser ist nichts anderes als ein Versuch
ein neues Denken zu entwerfen, für eine neue politische Konjunktur, deren Be-
dingungen nicht gegeben sind und der nie mehr Kommunismus heißen kann.
Ein Fürst muss also ohne Fesseln sein, daher auch ohne Ursprung und ohne Na-
men. Nur so wird es für ihn möglich sein, eine aleatorische Begegnung mit dem
Ort und der Zeit zu haben, die für die Konstitution einer neuen Konjunktur un-
abdingbar sind. Doch dieser aleatorischen Begegnung wird eine andere voran-
gehen müssen – die der Fortuna und der Virtú in dem Fürsten selbst. Der Fürst
muss lernen, sein Schicksal zu lenken, indem er lernt zu täuschen.
Er muss lernen, böse zu sein, aber gut zu erscheinen „wie der Zentaur in der An-
tike, Mensch und Bestie“.
„Rencontrant la fortune, il faut que le Prince ait la virtú de la traiter comme une
femme, de l’accueillir pour la séduire ou lui faire violence, bref de l’utiliser a la
réalisation de son destin. C’est á cette considération que nous devons á Machia-
vel toute une théorie philosophique de la rencontre entre la fortune et la virtú. La
rencontre peut ne pas avoir lieu ou avoir lieu.“lvii
Doch diese Begegnung zwischen Fortuna und Virtú ist, wie Negri trefflich be-
merkte, ein Ort der Transformation des Realen und der Politik. Daher kommt
diese Begegnung immer aus der Praxis.lviii
In seinen Schriften nach 1972 wird Althusser in Machiavelli noch etwas Neues
entdecken. Er schätzt ihn nach wie vor als den Begründer der modernen Poli-
tikwissenschaft, in einer Tradition, zu welcher auch Rousseau und Gramsci ge-
hören. Das Neue im Zugang Althussers ist das Denken der Praxis und der Singu-
larität bei Machiavelli als die Kerndispositionen seines politischen Denkens. Er
sieht sie als Schlüssel seiner ganzen politischen Theorie. „ ... nouvelles parce
que inconnues, sans précédent.“lix
Machiavelli, weil ohne Vorgänger in der politischen Philosophie, ist kein Den-
ker des Neuen, sondern ein Denker des Anfangs.
71
71
Der aleatorische Materialismus

„Qu’est-ce qui commence avec lui? ‘Une connaissance véritable de l’histoire ...
la connaissance des Princes’, de l’art de gouverner, et de faire la guerre, bref,
tout ce qu’il est classique de désigner comme la fondation d’une science posi-
tive, la science de la politique.“lx
Doch dieses Denken des Politischen ist ein Denken besonderer Art. Das Denken
der effektiven Wahrheit, des Realen und der Praxis.
„De toute façon, ils enregistrent une commencement d’une ‘chose’ (cette
science) qui dure jusqu’á nous, et corrélativement un contraste et une rupture.
Machiavel nous donne lui – même la formule qui consacre ce commencement et
cette rupture. Elle est célèbre: ‘mi é parso píu conveniente andare dritto alla ve-
rità effettuale della cosa che all’immaginatione di essa’“.lxi
Dieses Wissen der effektiven Realität enthüllt gleichzeitig ein anderes Wissen,
das in ihm enthalten ist: das des imaginären Charakters der Repräsentation des
Politischen der Antike und des Christentums. Der Kluft, der zwischen seiner
Theorie und der Theorie seiner Vorgänger besteht, ist das Berühmte „vide d’une
distance prise“, ein faszinierender und unüberbrückbarer Abgrund.
Durch der Bezug seiner Theorie auf die Praxis der gegebenen Situation, wird
sein Denken zu einem Denken der Konjunktur, der Gegebenheit und der aleato-
rischen Singularität.
„Que signifie penser dans la conjoncture? Penser un problème politique sous la
catégorie de conjoncture? Cela signifie d’abord tenir compte de toutes les dé-
terminations, de toute les circonstances concrètes existantes, ...“lxii
Doch Kenntnis der Gegebenheit alleine ist noch bei weitem keine Theorie des
Politischen, nicht einmal in der Singularität. Die Situationen, obwohl jede ein-
zigartig, ruhen auf ihren immanenten Gesetzmäßigkeiten, die sich in dem Pro-
zess ihres Werdens immer neu etablieren müssen. Die so entstandenen Gesetze
sind aber keine Ewigkeitsprinzipien, sondern wandelbare Kategorien. Die pro-
funde Kenntnis dieser Kategorien ist für das Wissen jeder politischen Konjunk-
tur unerlässlich. Machiavelli entwirft zu seiner Theorie des Politischen auch eine
Methode der Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten.

72
Die unterirdische Tradition des Materialismus

„Comment Machiavel produit – il cette nouvelle théorie de l’histoire? Par une


méthode nouvelle: expérimentale.“lxiii
Diese Entdeckung Machiavellis stellt für Althusser eine neue Art von Entde-
ckungen dar – die einer neuen Erkenntnis. Es ist eine Erkenntnis desselben Ord-
nungsgrades, wie die Galileis auf dem Feld der Physik. Doch die Lehre Machia-
vellis wird ein anderes Schicksal ertragen müssen, als die des Galilei. Sie wird
ohne Nachfolger bleiben. Daher auch die Einzigartigkeit und Einsamkeit seiner
Position.
Ausgehend von Machiavelli beginnt der späte Althusser sich die Politik immer
mehr als eine Philosophie des Realen vorzustellen. Seine Begriffe des Philoso-
phischen und des Politischen werden einander immer näher kommen. Er wird
sich immer mehr mit einer als Ontologie verstandenen Philosophie konfrontie-
ren. Die Politik, in der die Philosophie sichtbar wird, ist als eine Transformation
des Realen zu denken.
Das Reale ist nicht nur der Raum der Politik und Philosophie schlechthin, es ist
auch dasjenige, was eine dialektische Synthese aufgrund des Mangels aller vor-
gegebenen positiven Bestimmungen unmöglich macht.
Doch wie ist eine Kohärenz der positiven Bestimmungen einer Konjunktur, die
für ihr Entstehen und ihr Bestehen unerlässlich zu sein scheinen, jenseits jeder
geschichtlichen Dialektik zu denken? Und ist das Begriffspaar Fortuna und
Virtú nicht ebenfalls ein dialektischer Gegensatz?
Wie schon vorher erwähnt, besteht nach Ansicht Althussers die Methode Ma-
chiavellis im Experiment – in einer vergleichenden experimentellen Untersu-
chung der Geschichte.
Wenn man anhand der Geschichte des alten Rom (des Beispiel Machiavellis) die
Dauerhaftigkeit des Staates nur an die Virtú bindet und dadurch die Virtú als die
positive Bestimmung überhaupt versteht, dann tappt man in die Falle der Dialek-
tik. Doch wenn man die Dauerhaftigkeit des Staates auf eine andauernde Begeg-
nung zurückführt, die sich immer wieder in einer singulären Situation eröffnet,
oder es so eben nicht tut, dann kann man möglicherweise der angenommenen

73
73
Der aleatorische Materialismus

Dialektik entkommen. Doch versteckt sich in dieser andauernden aleatorischen


Begegnung nicht doch der Schatten einer Dialektik?
Möglicherweise. Für die Rezeption Machiavellis durch Althusser ist das jedoch
nicht von entscheidender Bedeutung. Machiavelli brachte das Denken des Poli-
tischen zum ersten Mal in der Geschichte des politischen Denkens auf eine Ebe-
ne der effektiven Realität. Dadurch veränderte er nicht nur die Politik sondern
auch die Philosophie. Er trennte sie gleicher Maßen von der Ontologie wie von
der Metaphysik. Die entscheidende Rolle in der Vollendung dieses Prozesses
der Entleerung der Philosophie wird der späte Althusser erst Heidegger zuer-
kennen, doch das Verhältnis dieser zwei Philosophen ist zu komplex, um an die-
ser Stelle weiter behandelt zu werden.

74
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Einige Überlegungen zu Marx

Alle Untersuchungen der Referenzen des aleatorischen Materialismus, die Alt-


husser in Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre vornimmt sind,
nach seinen eigenen Worten nichts anderes als preliminär zu dem, was über
Marx gesagt werden muss.
Althusser widmete ein Großteil seines Lebenswerks der Untersuchung des Mar-
xismus. Seine bekanntesten Werke entstanden ebenfalls im Rahmen dieses Un-
ternehmens. Doch in der letzten Phase seines Schaffens ändert sich sein Ver-
hältnis zu Marx und wird zunehmend komplexer und ambivalenter. Die Gründe
für diese „Terrainwechsel“ sind ebenso komplex wie vielfältig.
Althusser erkennt schon sehr früh, dass das schwächste Glied der marxistischen
Theorie in ihrer Philosophie verborgen liegt. Einen überwiegenden Teil seiner
theoretischen Arbeit wird er dementsprechend dem folgenden Ziel widmen: ihr
eine neue theoretische Basis zu geben, die es ihr ermöglicht, dem großen Werk
der marxistischen Wissenschaft zu entsprechen.
„ … on ne peut pas extrapoler de ses découverts scientifiques à sa philosophie.
Nous avons pensé, quant a nous, qu’en réalité il ne professait pas la philosophie
présente dans sa recherche. C’est que nous avons essayé de faire quand nous
avons tenté de donner a Marx une philosophie qui permette sa compréhension :
celle du Capital, celle de sa pensée économique, politique et historique.“lxiv
Der Marxismus kennt zwei theoretische Methoden: den historischen Materialis-
mus, als die einzige angemessene Methode der Sozialforschung, die auf der Un-
tersuchung der gesellschaftlichen Produktionsformen basierend, die Struktur der
75
75
Der aleatorische Materialismus

Geschichte wie auch die der Gegenwart analysiert, sowie den dialektischen Ma-
terialismus, der eine materialistische Erkenntnistheorie darstellt, deren Objekt,
vereinfacht gesagt, mit dem historischen Materialismus zusammenfällt.
Im Gegensatz zu Gramsci versteht Althusser die erste Methode als Wissenschaft
und die zweite als Philosophie.lxv
Die marxistische Wissenschaft betrachtet er als eine Entdeckung von Marx, die
in der Radikalität ihrer theoretischen Potenz in unserer Gegenwart nur noch in
der Psychoanalyse Freuds ein Pendant findet. Sie ist auch mit den Entdeckungen
von Thales und Galilei vergleichbar. Marxistische Philosophie hingegen, im dia-
lektischen Materialismus sublimiert, wird Althusser von Anfang seiner theoreti-
schen Arbeit an, als mangelhaft empfinden, doch gleichzeitig auch zu korrigie-
ren und zu verteidigen wissen. Die größten Referenzwerke zu diesem Thema
stellen vor allem Das Kapital lesen und Für Marx dar. In der letzten Phase sei-
nes Schaffens wird Althusser den dialektischen Materialismus zu Gunsten einer
neu herausgearbeiteten materialistischen Philosophie, die des aleatorischen Ma-
terialismus, völlig verwerfen.
Die Kerngedanken diesen beiden Phasen werden im Folgenden kurz skizziert.
Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass dieses Thema die Hauptproblematik des
Schaffens von Althusser überhaupt betrifft: seine Auseinandersetzung mit der
marxistischen Theorie. Daher bietet es mehr als genug Stoff für eine separate
und großangelegte Untersuchung, die aber den Rahmen und den Gegenstand der
vorliegenden Arbeit bei weitem sprengen würde.
In Das Kapital lesen und Für Marx versucht Althusser die Dialektik Marxens
von der Dialektik Hegels, die er schon zu dieser Zeit als teleologisch und logo-
zentrisch kritisiert, abzugrenzen und auf ihre Unterschiede hinzuweisen.
Die Eigenart der marxschen Dialektik sieht Althusser nach Engels und Lenin in
der „Umslxvitülpung der hegelschen Dialektik“. Althusser selbst entdeckt diese
Umstülpung durch eine „symptomatische Lektüre“ des Kapitals indem er fest-
stellt, dass die größte philosophische Leistung von Marx nicht in einer Umwäl-
zung der Theorie besteht, sondern vielmehr in einer Umwälzung der Fragen, die
im Verborgenen jeder theoretischen Aussage präsent sind. Dadurch verließ
76
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Marx das Terrain der Ideologie und wechselte in das Terrain der Wissenschaft.
Marx wusste die unsichtbare Problematik einer Frage ohne entsprechender Ant-
wort zu lösen.
Nach Althusser kann die Frage der Umstülpung der Dialektik durch Marx nur
durch eine doppelte Lektüre seiner wie auch der anderen Werke des Marxismus,
wie Anti –Dühring von Engels oder Materialismus und Empirokritizismus von
Lenin, sichtbar werden: eine symptomatische Lektüre, die die Abwesenheiten
aufdeckt, die in Bezug auf die praktisch–politischen Analysen bestehen.
Eine philosophische Lektüre des Kapitals ist also nur unter Anwendung der Kri-
terien möglich, die uns die marxsche Philosophie selbst liefern kann.lxvii Diese
Position wird Althusser in seinem Spätwerk zu Gunsten einer neuen radikalen
Haltung, die auf einem Nichtvorhandensein der marxschen Philosophie im Gan-
zen, sowie auf einer Abwesenheit des Objekts bei jeder Philosophie gründet,
verlassen.
Einen anderen Unterschied zwischen Marx und Hegel sieht der mittlere Althus-
ser in der Erkenntnistheorie. Marx unterscheidet präzise zwischen einem Er-
kenntnisobjekt und einem Realobjekt. Der Idealismus Hegels verwechselt nach
Marx nicht nur das Erkenntnisobjekt und das Realobjekt, sondern auch den Re-
alprozess und den Erkenntnisprozesslxviii. Marx verteidigt gegen den Idealismus
Hegels die Differenz der beiden Kategorien.lxix
Aus dieser Trennung ergibt sich folglich auch eine Differenz der Ordnungen.
„Marx behauptet, dass die Ordnung, die im Erkenntnisprozess die gedachten
Kategorien bestimmt, nicht mit der Ordnung zusammenfällt, die im Prozess der
realen historischen Entwicklung die realen Kategorien bestimmt. Diese Unter-
scheidung ist auch eine der fundamentalen Bekenntnisse jeder Philosophie, die
den Anspruch erhebt materialistisch zu sein: eine radikale Absage an die Identi-
tät zwischen einer logischen Ordnung und einer realen „historischen“ Ordnung.
lxx

Das Kapital stellt nach Althusser eine Reihe von Thesen dazu auf, die alle auf
einem sehr wichtigen Grundgedanken beruhen: die Ordnungen in denen die ge-
danklichen Kategorien produziert werden, sind logische Ordnungen sui generis
77
77
Der aleatorische Materialismus

und die Form dieser Ordnungen bestimmt das herrschende Wissenschaftsprin-


zip.
Die Methode für die Untersuchung dieser Ordnungen wurde von Marx selbst
entwickelt, und konnte von Hegel, bei welchem die gedanklichen Ordnungen
mit den realen zusammenfallen, nicht übernommen werden. Diese Methode ist
für Althusser zu dieser Zeit ein Synonym für die Dialektik, die von Marx ent-
wickelt wurde.
Althusser verteidigt noch die Dialektik von Marx. Er will aus dem Marxismus
die Philosophie Hegels herauszufiltern. Viel später wird er zur Ansicht gelan-
gen, dass die Dialektik Hegels trotz allem den innersten Kern des dialektischen
Materialismus ausmacht, ohne den die Dialektik von Marx auch nicht existenz-
fähig wäre, sowie, dass die Mängel der einen auch die Mängel der anderen sind,
die in der Struktur jeder Dialektik eingeschrieben sind.
Eine Passage in Das Kapital lesen kündigt schon die Entwicklung dieses späten
Denkens an, doch zu dieser Zeit ist Althusser noch nicht bereit alle Konsequen-
zen der Schlussfolgerungen, die er in dieser Zeit aufstellt, auf sich zu nehmen.
Diese Passage ist, meiner Meinung nach, von entscheidender Wichtigkeit für das
Verständnis der Beziehung von Althusser zu Marx, sowie der Kontinuität eines
Denkens, das diese ambivalente Beziehung bestimmt. lxxi
Althusser war sich der unauffüllbaren Lücken des dialektischen Materialismus
nach wie vor bewusst, doch zu der Zeit von Das Kapital lesen sah er noch keine
Alternative, die seinen Platz als Theorie des Marxismus einnehmen könnte. Erst
nach 1980 wird das Konzept dieser Philosophie konkret werden.
In seinem auf französisch erst posthum erschienen Aufsatz von 1976, La Trans-
formation de Philosophie erklärt Althusser das, was er unter „dem paradoxen
Charakter der marxistischen Philosophie“ versteht, folgendermaßen: „la Philo-
sophie marxiste existe, et pourtant elle n’a pas été produite comme philoso-
phie.“lxxii
Dieser Gedanke bezeichnet einen Übergang vom mittleren Althusser von Das
Kapital lesen zum späten Althusser.

78
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Die ganze bisherige Philosophie von Platon bis Wittgenstein wurde als Philoso-
phie geschaffen, als solche deklariert und hat als solche eine definierbare Stelle
in der Geistesgeschichte gefunden. Seit dem Altertum erhebt sie den Anspruch,
die Königin der theoretischen Disziplinen zu sein. Sie repräsentierte ein Denken
über das Denken. Ganz anders die marxistische Philosophie: sie ist durch einen
Einbruch der Praxis gekennzeichnet, der aus ihr nicht nur eine Philosophie der
Praxis im Sinne Gramscis entstehen lässt, sondern ihr Wesen als klassischer
Disziplin völlig verändert.
Man findet diese Philosophie in der ersten These über Feuerbach bei Marx, der
selbst nie ein philosophisches Werk im Sinne der klassischen Philosophen
schrieb: sein Werk ist vielmehr durch eine immanente Kritik der logozentrischen
Ontologie, die das philosophische Diskurs seit jeher dominiert gekennzeichnet,
was eine Philosophie auch dort entstehen lässt, wo sie als solche nie intendiert
wurde.
„L’irruption de la pratique, c‘est la dénonciation da la philosophie produite
comme philosophie. (…) La pratique n’est pas un substitut de la Vérité pour une
philosophie inébranlable: elle est au contraire ce qui ébranle la philosophie, elle
est cette autre chose, dont, dans toute son histoire, que ce soit sous le forme de la
cause errante de la matière ou de la lutte des classes, la philosophie n’a jamais
pu venir a bout.”lxxiii
In einem Interview mit Fernanda Navarro von 1984 hingegen leugnet Althusser
die Existenz einer marxistischen Philosophie völlig.
„J’en suis en effet venu a penser qu’il est très difficile de parler d’une philoso-
phie marxiste, de même qu’il serait difficile de parler d’une philosophie de ma-
thématique ou physique, si nous considérons que l’essentiel de la découverte de
Marx est de caractère scientifique: avoir mis en évidence le mode de fonction-
nement du régime capitaliste.”lxxiv
Aus diesem Grund war es für Marx nötig, sich auf die Philosophie Hegels zu
stützen, die aber nach Althusser seinem wissenschaftlichen Objekt nicht ent-
sprach.

79
79
Der aleatorische Materialismus

Er sieht seine und die Werke seiner Kollegen aus den sechziger Jahren aus die-
ser Perspektive als einen Versuch eine Philosophie für Marx zu entwickeln, die
seinem ökonomischen, politischen und historischen Denken entgegenkommen
würde. Doch sie wird nie eine marxistische Philosophie werden, da ihr sehr viel
im marxschen Werk widerspricht.
Marx konnte sich von der Philosophie Hegels nie befreien, doch seine Leistung
auf dem Feld der Wissenschaft bleibt für Althusser nach wie vor unbestritten.
Die Parabel seines Denkens über die Theorie von Marx beginnt und schließt
somit mit der Wissenschaft.
Unabhängig von diesem Gedankenweg untersucht Althusser bis in seiner letzten
Werke auch anderen Probleme die den Marxismus betreffen. Er arbeitet sehr
viel an den Begriffen, die der marxschen Theorie entsprungen sind. Eine der
wichtigsten von solchen Untersuchungen gilt zweifellos der bekannten marxisti-
schen Metapher von der Basis und dem Überbaut, der Althusser einen ganz neu-
en Charakter gibt.
Das Problem einer marxistischen Philosophie bleibt aber das Kernproblem der
Rezeption von Marx durch Althusser, wie auch das Terrain auf welchem die
Entwicklung seines Denkens am besten verfolgbar ist.

80
Die unterirdische Tradition des Materialismus

Anmerkungen

i
Nach Lukretius - De rerum natura, Liber Tertius, www.thelatinlibrary.com/luc3.html
ii
“Whoever uses the Democritean argumentation, saying that there is no free motion of the
atoms, because of their respective impacts, and that it seems from that everything moves ac-
cording to necessity, we shall say to him: Don’t you know, whoever you are, that the atoms
too have a free motion, not discovered by Democritus but brought to light by Epicurus; it is
the existence of a swerve, as he shows from phenomena“.
Lukrez paraphrasiert nach Jules Vuillermin: Necessity or Contingency – the Master Argu-
ment, , Stanford, California 1969.
iii
Antirationalismus wird hier im Anschluss an Althusser als eine Absage an die Dominanz
des Sinnes vor der Realität verstanden.
iv
Vor allem aus den schon erwähnten Gründen einer starken Ethik, die auf Freiheit gründet.
v
Άτοµος gr. – unteilbar, nicht zu zerschneiden, unendlich klein. Entsprechend lat. Individu-
um.
vi
Clinamen, -inis, Lat. Abweichung
vii
„Das impliziert, dass vor der Welt nichts war und gleichzeitig, dass alle Elemente der Welt
schon immer da waren, bevor noch irgendeine Welt war. Das impliziert auch, dass vor der
Entstehung der Welt kein Sinn existierte, weder Grund noch Zweck, weder Vernunft noch
Unvernunft. Die Nicht-Vorgängigkeit des Sinnes ist eine fundamentale These Epikurs, mit
der er sich Plato genauso wie Aristoteles entgegenstellt.“
Althusser, Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre, S.555.
viii
Louis Althusser, Sur la Philosophie, Paris, Gallimard, 1994, S. 41.
ix
Louis Althusser, Lettres a Fernanda Navarro, in: Sur la Philosophie, Paris, Gallimard
1994., S. 112 : „Je lis attentivement du Heidegger après avoir lu du Nietzsche. Je m’aperçois
que tout cela manquait á ma ‘culture’“... Und weiter ebd., S. 116 : „Heidegger évidemment
me pose des problèmes (Nietzsche non), fascinant comme il est, mais je le trouve 1) un ex-
traordinaire historien et interprète de la philosophie et 2) une sorte de curé onctueusement raf-
finé (il avait commencé par la théologie catholique, lu Maître Eckhart et autres mystiques).“
x
„ Die Welt ist uns also eine ‚Gabe’, eine ‚wahrhaftige Tatsache’, die wir uns nicht ausge-
sucht haben und die sich vor uns in der Faktizität ihrer Kontingenz ‚entfaltet’, und sogar über
diese Faktizität hinaus in dem, was nicht bloß eine Feststellung ist, sondern ein ‚In-der-Welt-
sein’, das jeden möglichen Sinn beherrscht.“ Louis Althusser, Le courant souterrain du mate-
rialisme de la rencontre, Paris, 1982, S. 557.
xi
L’Institut Mémoires de l’édition contemporaine.
xii
Vgl. Francois Matheron, La récurrence du vide chez Louis Althusser,
www.multitudes.samizdat.net, S.3.
xiii
„In jedem Moment, mit mehr oder weniger Klarheit, ruft die enthüllte Leere einen Inhalt
an, doch die Leere selbst ist in gewisser Weise eine Enthüllung dessen, dass ein Inhalt (schon)
da ist, wie die Unendlichkeit schon da ist, in dem Bewusstsein über eine Endlichkeit.“
Als Fußnote zu dieser Passage befindet sich im Originaltext folgender Eintrag: Encyclopédie,
paragraphe 21, trad. Française Bernard Bourgeois: Encyclopédie des sciences philosophiques,
t. I, La Science de la logique, Paris, Vrin, 1970, p. 321. Diese Passage selbst steht im Origi-
naltext nicht unter Anführungszeichen.
Louis Althusser, Du contenu dans la pensée de G.W.F.Hegel, in : Ècrits philosophiques et
politiques, Tome I, Editions STOCK/IMEC, 1994.
xiv
Lehrsatz 12 und 13 der Ethik in : Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dar-
gestellt, Hamburg, 1999.
xv
„In der Tat, wenn die Dinge real voneinander unterschieden sind, dann kann das eine ohne
das andere sein und in seinem Zustand verbleiben. Weil es also einen leeren Raum in der Na-
tur nicht gibt (was an anderer Stelle erörtert wurde), sondern alle Teile so zusammentreffen

81
81
Der aleatorische Materialismus

müssen, dass es ihn nicht gibt, folgt daraus auch, dass sie nicht real unterschieden sein kön-
nen, d.h. dass körperliche Substanz, sofern sie Substanz ist, nicht geteilt werden kann.“, Ba-
ruch de Spinoza: Ethik, Propositio XV- Lehrsatz 15, S. 39..
xvi
„Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d.h. eine Substanz, die aus
unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz aus-
drückt.“ Ibid. S.7.
xvii
„Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz
ausmacht.“ Ibid. S. 5.
xviii
„Was in sich selbst ist, und durch sich selbst begriffen wird, d.h. das, dessen Begriff nicht
des Begriffs eines Anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müsste.“ Ibid. S.
5.
xix
„Und so werden sie nicht ablassen, weiter nach den Ursachen von Ursachen zu fragen, bis
du Zuflucht zu dem Willen Gottes genommen hast, d.h. zu dem Zufluchtsort der Unwissen-
heit.“ Ibid. S. 89.
xx
Louis Althusser, Über Spinoza, in: Elemente der Selbstkritik, Berlin 1975, S. 74.
xxi
ebd., S. 75.
xxii
Louis Althusser, The Future Lasts a Long Time and The Facts, Chatto und Windus, Lon-
don, 1993, S.361.
xxiii
Alhusser, Elemente der Selbstkritik, S 79.
xxiv
23 Althusser, Le courant souterrain du materialisme de la rencontre, Paris, 1982, S. 563.
xxv
„Aus einer gegebenen bestimmten Ursache erfolgt notwendigerweise eine Wirkung; und
umgekehrt, wenn keine bestimmte Ursache gegeben ist, ist es unmöglich, dass eine Wirkung
erfolgt.“ Spinoza, Ethik, Hamburg, 1999. Axiom 3. S. 8.
xxvi
„Die Erkenntnis einer Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt die-
se ein.“ Ibid, Axiom 4. S. 8.
xxvii
„Dass Gott nichts als Natur ist, und das diese Natur die unbegrenzte Summe einer unbe-
grenzten Anzahl von parallelen Attributen ist, hat nicht nur den Effekt, dass nichts über Gott
zu sagen übrig bleibt, sondern dass es auch nichts mehr zu sagen gibt über das große Problem,
das die gesamte abendländische Philosophie seit Aristoteles aber vor allem seit Descartes be-
herrscht: Das Problem der Erkenntnis und seines doppelten Korrelats, dem erkennenden Sub-
jekt und dem bekannten Objekt“. Althusser, CSMR, S. 564.
xxviii
„Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Kör-
per zu Bewegung und Ruhe oder zu irgendetwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt)“.
Spinoza, Ethik - De Origine et Natura Affectuum, Propositio II, Von dem Ursprung und der
Natur der Affekte, Lehrsatz 2. S.227.
xxix
„...dass nämlich der Geist und der Körper ein und dasselbe Ding sind, das bald unter dem
Attribut Denken, bald unter dem Attribut Ausdehnung begriffen wird.“ Ibid. S.227.
xxx
Jean-Jacques Rousseau, Die Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den
Menschen, München 1978, S. 291.
xxxi
Ibid. S.192.
xxxii
Vgl. Althusser, Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre, Paris 1994, S.
572.
xxxiii
Ibid. S. 197.
xxxiv
„Das, das Nichts an Gesellschaft die Essenz jeder Gesellschaft sei, ist eine wagemutige
These, deren Radikalität nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern auch vielen seiner späteren
Kommentatoren entgangen ist.“
Althusser, Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre, Paris, 1994, S. 573.
xxxv
Die Etymologie der beiden Begriffe enthüllt ihre semantische Gleichwertigkeit: A-tomos.
(griech.: un-teilbar), In-dividuum (lat: un-teilbar).
xxxvi
Conatus se preservare, oder der Selbsterhaltungstrieb.
xxxvii
„Das Unglück ist, dass diese Welt voll ist, voll mit Menschen, die das gleiche Ziel ver-
folgen, die sich entgegentreten, um Platz für den eigenen Conatus zu schaffen, und die keine

82
Die unterirdische Tradition des Materialismus

andere Mittel finden, um ihr Ziel zu realisieren, als jenen, die ihnen im Wege stehen ‚den Tod
zu geben’.“ Althusser, Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre, Paris, 1994, S.
568.
xxxviii
„ ...es trifft sich, dass sein totalitärer Staat fast schon dem marxschen Staat gleicht, der
absterben sollte. Wenn jeder Krieg, also jeder Terror präventiv sind, dann würde es tatsäch-
lich genügen, dass dieser furchtbare Staat ist, um von seiner eigenen Existenz absorbiert zu
werden, bis er nicht mehr zu existieren braucht.“ Althusser, Le courant souterrain de matéria-
lisme de la rencontre, Paris, 1994, S. 570.
xxxix
Die philosophische Anthropologie der Aufklärung zeigte sich sehr oft bereit dem, damals
als „wild“ bezeichneten Menschen, jede Eigenschaft abzusprechen, die erst aufgrund der zivi-
lisatorischen Errungenschaften nachvollziehbar war. Doch vor allem aus politischen und vor
allem rechtlichen Gründen, da unter den „wilden“ nicht nur die angenommenen Menschen des
Naturzustands fielen, sondern auch die indigene Bevölkerung der Kolonien, tendierte man
dazu sie im juristischen Sinne für mündig zu halten.
xl
Rousseau, Der zweite Diskurs, S. 218.
xli
Ibid. S. 230.
xlii
Das Individuum
xliii
Die Gemeinschaft
xliv
Althusser, MMR, S. 146.
xlv
Ibid. S. 147.
xlvi
„Wenn diese Bemerkung, die es noch auszuführen gilt, richtig ist, würde sie die klassische
Aporie der vermeintlichen Widersprüchlichkeit von Contrat und dem zweiten Discours lösen,
ein akademisches Problem welches in der Geschichte der abendländischen Kultur Seinesglei-
chen nur in der albernen Frage hat ob Machiavelli nun Monarchist oder Republikaner war ...“
Althusser, Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre, Paris, 1994, S. 573.
xlvii
Ibid.S.573-575.
xlviii
Eine mögliche Übersetzung wäre Vom Regieren.
xlix
Der Prinz manchmal auch als Der Herrscher übersetzt.
l
Eine Tatsache, die zum allgemeinen Missverständnis Machiavellis beitrug.
li
Zit. nach: Mladen Grubisa, Nicolló Machiavelli – Izabrano djelo, Prvi svezak, Globus, Zag-
reb, 1985, S.59.
lii
Eine ausführliche Darstellung der Beziehung Althussers zum Werk Machiavellis finden wir
in: A. Negri, Machiavel selon Althusser, www.multitudes.samizdat.net
liii
Charakteristisch für den Prinzen ist, dass er keine systematische Abhandlung, sondern ein
„lebendiges“ Buch ist, in welchem die politische Ideologie wie auch die politische Wissen-
schaft sich auf einer dramatischen Form des Mythus gründen. Vgl. Antonio Gramsci. Note sul
Machiavelli, sulla politica e sullo stato moderno in: Quaderni del carcere, Roma, 1971.
liv
„Diese zwei fundamentalen Punkte sind: Formierung eines kollektiven national-populären
Willens, dessen Organisator und gleichzeitig auch aktiver operierender Ausdruck der Prinz
ist, und eine moralische und intellektuelle Reformation sollten die Struktur der Arbeit kon-
struieren“ Ibid, S,23
lv
Das Gegenargument zur These vom utopischen Charakter des Prinzen findet man in: Antoni
Negri, Machiavel selon Althusser, www.multitudes.samizdat.net
lvi
Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: Marx Engels Werke, Band 4, Dietz,
Berlin 1964, S. 459-493, hier S. 493.
lvii
Althusser, Le courant souterrain de matérialisme de la rencontre, Paris, 1994, S. 559.
lviii
A. Negri, Machiavel selon Althusser, www.multitudes.samizdat.net
lix
„ ...neu, weil unbekannt, ohne Vorgänger.“ Althusser, Machiavel et nous, Paris 1995, S.47.
lx
Was beginnt mit ihm? „Ein wahrhaftes Wissen von der Geschichte ... ein Wissen vom Prin-
zen“, von der Art des Führens und des Kriegführens, kurz, all das, was klassisch unter der
Gründung einer positiven Wissenschaft, einer Wissenschaft von der Politik, beschrieben
wird.“ Ibid. S.47

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Der aleatorische Materialismus

lxi
„Wie auch immer, sie verzeichnen einen Beginn, der eine Gründung ist, das Beginnen einer
„Sache“ (dieser Wissenschaft), die bis zu uns andauert und diesbezüglich auch ein Kontrast
und ein Bruch.
Machiavelli selbst gibt uns eine Formel, die sich diesem Beginn und diesem Bruch widmet.
Sie ist berühmt: „mi é parso píu conveniente andare dritto alla veritá effetuale della cosa che
all’immaginatione di essa“. Ibid. S.47.
Das Zitat bei Althusser steht unter einer Fußnote: Le Prince, xv, p.335.
lxii
Ibid. S.61.
lxiii
Ibid. S.80.
lxiv
„Man kann seine (Marx) wissenschaftlichen Entdeckungen auf seine Philosophie nicht
übertragen. Was uns betrifft, so dachten wir er würde nicht die Philosophie lehren, die in sei-
nen Untersuchungen präsent ist. Das ist das, was wir zu machen versuchten als wir beabsich-
tigten Marx eine Philosophie zu geben, die sein Verständnis erlauben würde: das, des Kapi-
tals, das, seines ökonomischen Denkens, seiner Politik und Geschichte.“ Althusser, Sur la
philosophie, Paris 1994, S. 36.
lxv
„Marx selbst durchdenkt dieses Thema bereits auf zwei Ebenen: einmal im Bereich des his-
torischen Materialismus (in seiner Theorie von der Rolle der Ideologien und der Rolle der
wissenschaftlichen Theorie bei der Umformung der bestehender Ideologien), zum anderen im
Bereich des dialektischen Materialismus (im Zusammenhang mit der Theorie der Theorie-
Praxis-Beziehung, also auf einem Gebiet, das man gewöhnlich als ‚materialistische Erkennt-
nistheorie’ kennt).“
In weiterer Folge erklärt Althusser den Standpunkt Gramscis wie auch seinen eigenen:
„2) Obwohl der Begriff ‚Materialismus’ nicht nur den Historischen, sondern auch den Dialek-
tischen Materialismus umfasst, spricht GRAMSCI fast nur vom Historischen Materialismus,
ja er suggeriert sogar, dass der Ausdruck ‚Materialismus’ unvermeidlich ‚metaphysische’
Assoziationen, und möglicherweise nicht nur Assoziationen, ins Spiel bringe.
3) Damit ist es klar, dass der Ausdruck ‚Historischer Materialismus’, der ja ausschließlich der
Begriff für die wissenschaftliche Theorie der Geschichte ist, bei Gramsci einen zweifachen
Sinn hat: Er bezeichnet für ihn sowohl den Historischen Materialismus als auch die marxisti-
sche Philosophie.“
Louis Althusser, Das Kapital lesen, Hamburg 1972, S. 172f..
lxvi
lxvii
„Eine philosophische Lektüre des ‚Kapital’ ist nur unter Anwendung der Kriterien mög-
lich, nach denen wir noch suchen und die uns nur die Philosophie von Marx liefern kann.“
Althusser, Das Kapital lesen, Hamburg, 1972, S. 42.
lxviii
„Hegel verfiel der Illusion, das Reale als Resultat des Gedankens zu begreifen …“ Marx,
zit. n.: Althusser, Ibid. S. 51.
lxix
„Wenn Marx sagt, dass der Entstehungsprozess der Erkenntnis und folglich auch der Ent-
stehungsprozess ihres Objektes als eines vom Realobjekt, dem die Erkenntnis sich eben auf
dem Wege des Erkennens nähern will, unterschiedenen Objekt, ganz und gar in der Erkennt-
nis selbst, im ‚Kopf’ oder in Gedanken vollzogen wird, so fällt er damit keinesfalls in einen
Idealismus des Bewusstseins, des Geistes oder des Denkens zurück. … Dieses Denken ist
vielmehr das historisch konstituierte System eines Denkapparates, gegründet und zum Aus-
druck gebracht in der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit.“ Althusser, Ibid. S. 53.
lxx
Althusser, Ibid. S 59/60
lxxi
„Wir müssen daher jede Teleologie der Vernunft ablehnen und die historischen Beziehun-
gen zwischen einem erreichten Zustand und seinen Bedingungen als Produktions- und nicht
als Ausdrucksbeziehungen begreifen; als ein Phänomen, das wir – mit einem Wort, welches
im Rahmen des klassischen Kategoriensystems widersprüchlich ist und daher die Ablösung
dieser Kategorien durch ein neues System fordert – als die Notwendigkeit seiner Zufälligkeit
bezeichnen können. Um diese Notwendigkeit zu durchschauen, müssen wir die besondere und

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Die unterirdische Tradition des Materialismus

paradoxe Logik durchschauen, die zu einer solchen Produktion führt, d.h. die Logik der Pro-
duktionsbedingungen von Erkenntnissen …“ Althusser, Ibid. S.57
lxxii
„Die marxistische Philosophie existiert, obwohl sie nicht als Philosophie produziert wur-
de“. Althusser, SP, S.143/144
lxxiii
Althusser, Ibid. 153/153
lxxiv
„Ich bin schließlich darauf gekommen, dass es schwierig ist über eine marxistische Philo-
sophie zu sprechen, genauso wie es schwierig ist über eine mathematische - oder physische
Philosophie zu sprechen, wenn wir überlegen, dass das Essenzielle an der Entdeckung von
Marx einen wissenschaftlichen Charakter trägt: die Entdeckung der Art der Funktionierens
des kapitalistischen Systems.“ Althusser, Sur la philosophie, Paris 1994.S. 35.
Diese Aussage ist im Rückblick auf eine frühere aus Für Marx besonders interessant und er-
öffnet eine ganze Reihe theoretischer Konsequenzen (z.B.: wo bleibt die Philosophie, die
durch die Erschließung eines neuen wissenschaftlichen Kontinents bis jetzt offensichtlich
durch die ganze Geschichte immer „hervorgerufen“ wurde?). Ich zitiere sie hier im Ganzen:
„Um genauer zu sein würde ich sagen, dass Marx der wissenschaftlichen Erkenntnis einen
neuen ‚Kontinent’ ‚eröffnet’ hat, den der Geschichte, - so wie Thales der wissenschaftlichen
Erkenntnis den ‚Kontinent’ der Mathematik und Galilei ihr den ‚Kontinent’ der Physik eröff-
net hat. Ich möchte hinzufügen, dass die Begründung der Geschichtswissenschaft durch Marx
das Entstehen einer neuen, theoretisch und praktisch revolutionären Philosophie ‚hervorgeru-
fen’ hat: die marxistische Philosophie oder den dialektischen Materialismus, ebenso, wie die
Begründung der Mathematik durch Thales das Entstehen der platonischen Philosophie ‚her-
vorgerufen’ hat, wie die Begründung der Physik durch Galilei das Entstehen der cartesiani-
schen Philosophie ‚hervorgerufen’ hat etc.“ Althusser, Für Marx, Frankfurt am Main, 1968,
S. 37.

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