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1 Ich kam von der Reise un d wusste von nichts. Ich fuhr von der
Bahn dire kt nach Hause un d klingelte bei der Dame, bei de r
ich meine Schlüssel gelassen hatte. Sie begrüßte mich freund
lich und machte ein vielsagen de s Gesicht. Wissen Sie auch,
5 dass Sie ge storben sind? fragte sie. Obwohl ich nich� am Le
_
ben hänge, haben mich diese Worte unangenehm be�hrt. Ge
storbe n? fragte ich, wieso? Ja, sagte meine Nachban n - Frau
Teichmann heißt sie -, aber Sie dürfen es sich nicht zu Herzen
nehmen, we r totgesagt wird, le bt lan ge. Ich lächelte et� as
10 gezwungen un d nahm die Schlüssel, die sie in ihre r Schreib
tischschublade ve rwahrt hatte. Wer hat mich totgesagt? fragte
ich. Ein e Fremde, sagte Frau Teichmann, n iemand hat sie ge
kannt, sie ist ins Haus gekommen, hat an allen Türen geläutet
und übe rall gesagt, Sie seien tot. Sie hat eine dunkelbraune
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15 Haut gehabt und ein mageres Gesicht. Eine Ausländerin war Es war jetzt fünf Uhr, und eigentlich hätte ich mir gern einen
es, ganz gewiss. Tee gemacht. Ich ging aber zu der Dame unter mir, der Frau
�, Hösslin, und dann ging ich auch noch zu der Familie, die über
Eine Italienerin? fragte ich. mir wohnt. Ich erfuhr einiges, aber nicht sehr viel, und als ich
wieder in meinem Zimmer war, versuchte ich mir vorzustel
� Aber das wusste Frau Teichmann nicht. Sie meinte, die Frem len, wie es gewesen war an jenem Mittag Mitte Juni, das war
de habe eine Zeitschrift in der Hand gehabt, vielleicht habe jetzt zwei Monate her. Mittag und Mitte Juni und heiß, die
sie in anderen Häusern diese Zeitschrift zum Abonnieren ab 1� Frauen alle auf der Treppe, herausgerufen von der lauten,
geboten, aber an den Titel der Zeitschrift erinnere sie sich fremdländischen Stimme und Herr Frohwein, der Vertreter ist,
nicht. Es kommen so viele, sagte sie, auch junge Männer, ge- gerade im Begriff wegzufahren und irgendwo auf einem Trep
25 stern hat einer vor der Tür gestanden und nichts gesagt als: penabsatz die Betrügerin, die sehr sicher auftritt und sich bei
Christus ist da. Und dann berichtete sie noch, dass die Fremde nahe herausfordernd benimmt. Sie können es mir glauben, sag-
nach meinen Wohnungsschlüsseln gefragt und gefordert habe, m te sie, diese Frau Kaschnitz lebt nicht mehr, sie ist gestorben,
ihr diese auszuhändigen, und zwar sofort. so wahr ich hier stehe. Die Frauen schüttelten die Köpfe, und
Herr Frohwein nimmt unwillkürlich den Hut ab. Alle sind
30 Das ist eine Unverschämtheit, sagte ich empört. Ich bedankte betroffen, aber nicht ganz überzeugt. Da wir schon lange in
mich, ging in meine Wohnung hinüber, packte aus und sah diesem großen Mietshaus leben, kennen mich alle Einwohner
den Stoß Drucksachen durch, die mir nicht nachgeschickt M recht gut. Es sind sogar einige darunter, mit denen wir schon
worden waren. Ich versuchte, nicht mehr an den sonderbaren ganze Nächte im Keller gesessen und uns auf den Boden ge
Vorfall zu denken, aber das gelang mir nicht. Man hat beim worfen haben, wenn in der Nähe die Bomben fielen. Frau
35 Heimkommen ohnehin leicht ein Gefühl der Verlorenheit Hösslin hatte mir die Post nachgeschickt, und ich hatte mich
besonders, wenn man nicht gewohnt ist, allein zu sein. Di� dafür von Zeit zu Zeit mit Ansichten der römischen Brunnen
10 oder der Küste am Cap der Circe bedankt. Eine solche Post
1
Dinge begrüßen einen anders als die Menschen; was sie von
einem fordern, ist bestenfalls Abstauben, dafür aber über karte, eben vom Cap der Circe, war vor wenigen Tagen ein
schütten sie einen sofort mit Erinnerungen aller Art. Man getroffen. Ich hatte geschrieben, dass es mir gut gehe, und
40 geht umher und tut dieses und jenes, es war ja nicht immer meine Tochter hatte einen Gruß hinzugefügt. Mein Tod war
so still hier, und dann setzt man sich hin und macht die Au also unwahrscheinlich, aber unmöglich war er natürlich nicht.
gen zu, weil man überhaupt nirgends mehr hinsehen kann, 75 Es gibt den Sturm und den Sog und die Haifische, es gibt
ohne dass es schmerzt. Ich setzte mich also hin und machte Unfälle und Herzschläge, und wie viele Leute gehen freiwillig
die Augen zu, und gleich fiel mir die Fremde wieder ein aus der Welt. Grund genug also, bedenklich den Kopf zu
45 und dass es doch gut wäre, mehr von ihr zu wissen, jede
kleinste Einzelheit, ganz genau.
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Verbrecher dastehen, während sie doch ganz vernünftig gehan- nach. Ich tat das nicht etwa im Stehen über meine halb ausge-
145 delt und den Schlüssel nicht hergegeben hatten. Dass sie nichts '" packten Koffer gebeugt. Ich setzte mich vielmehr an meinen
mit der Polizei zu tun haben wollten, geht ja auch schon dar Schreibtisch, nachdem ich die Vorhänge zugezogen hatte, und
aus hervor, dass sie sie nicht damals schon angerufen hatten; schaltete die Stehlampe ein, alles ganz feierlich, als sollte ich
so eine unheimliche Person war das gewesen, die kann ja weiß Gott was für eine Entdeckung machen. Da war aber am
auch wiederkommen und sich rächen, etwa ein Bündel Werg achtzehnten gar nichts aufgezeichnet, und am siebzehnten sehr
1so an die Kellertreppe legen und es anzünden, was ein Kinder 11u wenig, nämlich nur die Worte Trinken, Ertrinken, Orfeo 1 , und
spiel wäre, da leider unsere Haustür immer offen steht. die verstand ich nicht.
Ich ging also nicht aufs Revier, sondern nach Hause, und zu Ich habe mir oft überlegt, warum man gewisse Dinge nur ver
Hause kam mir dann ein Gedanke, und ich nahm mein Notiz- schlüsselt oder verschleiert niederzuschreiben wagt. Dinge,
1ss buch vor, das eigentlich ein Kalender, aber einer mit viel 11\5 die man später vielleicht schonungslos preisgibt, die aber in
Platz zum Schreiben neben jedem Datum, ist. Es war mir plötz diesem Augenblick noch nicht verwandelt, noch gefährlich sind.
lich außerordentlich wichtig zu wissen, was mir geschehen Daran dachte ich auch jetzt, gefährlich, Gefahr, Gefahrenfah
war an diesem Tag Mitte Juni, aber warum mir das so wichtig ne, kleines, rotes Stück Tuch, das flattert an einer Bambus
war, wusste ich nicht. stange über dem Strand. Sturm, Sog, Gefahr, geht nicht ins
I© 1 0 Wasser. Aber so war es doch gar nicht gewesen an jenem
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Freitag, der dreizehnte, Sonnabend, der vierzehnte, Sonntag, Mittag, Mitte Juni, plötzlich wusste ich es ganz genau. Tief
der fünfzehnte Juni. Das Datum des Tages, an dem die Fremde blauer Himmel, das Meer der bekannte Spiegel, in winzigen,
ins Haus gekommen war, stand nicht fest. Es war wirklich zu kaum hörbaren Uferweilchen auslaufend, sengende Sonne, der
viel verlangt von meinen Mitbewohnern, dass sie sich auch Sand glühend heiß. Panische Stunde und Furchtbarkeit des
165 daran noch erinnern sollten. Eines Mittags, Mitte Juni, das 1•15 Südens, und ich hinausschwimmend, zufällig ganz allein. Auf
hatten sie alle gesagt, und da fiel der Freitag weg, weil die dem weißen Sand unter dem Sonnenschirm meine schwarzen
Frau Hösslin da im Taunus 1 war, und der Samstag, weil am Kleider, schwarze Strümpfe, schwarze Schuhe. Costanza und
Samstag der Herr Frohwein nicht wegfuhr, und am Sonntag ihre Freundin und der Mago und der Ingenieur sind etwas
werden keine Zeitschriften verkauft. Am Montag hatte die Dame trinken gegangen, die Bar steht ein paar Stufen höher, mit dem
no über mir ihre Putzfrau, und die wäre gewiss aus lauter Neu Rücken zum Wasser, der Musikkasten neben der Tanzfläche
gierde mit auf der Treppe gewesen. Es kam also nur der sieb brüllt und schluchzt und schweigt. Die englischen Kinder
zehnte und achtzehnte Juni in Betracht. Und unter dem sieb werden zum Essen gerufen, wer sonst noch da ist, blinzelt in
zehnten und achtzehnten suchte ich nun in meinem Kalender die Sonne und rührt sich nicht. Das Wasser ist an dieser Küste
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sehr flach, bis ich endlich richtig schwimmen kann, bin ich Ein Unglücksfall, ein Herzschlag, niemand braucht sich Vor
205 schon weit fort vom Ufer, unterscheide die Gesichter, die würfe zu machen. Trinken, ertrinken, und das Wasser schäumt
Gestalten nicht mehr. Ich lege mich auf den Rücken, das dicke rn schon und braust schon, grauweiß, grünweiße Wirbel und drückt
Salzwasser trägt mich, ich brauche kein Glied zu rühren, ver auf die Brust. Noch ein wenig tiefer, es drückt mir die Brust ab,
schränke die Arme unter dem Kopf. Die Häuser sind ganz es schnürt mir die Kehle zu, aber wo kommt der Ton her, der
klein, darüber steigt der Wald auf, noch darüber die Felsen, Flötenton, Costanza nimmt ihre Flöte nicht mit zum Baden, der
210 das Haupt der Circe', im Schmerz zurückgebogen und ver Sand würde sie verderben, und man würde sie auch gar nicht
steint. Armselige Zauberin, denke ich, Nichtskönnerin, du hast n, spielen hören, so weit vom Strand. Aber ich höre sie doch, eine
den Odysseus2 nicht halten können mit all deinen Künsten, Flötenstimme, die so gar nichts hat von Rokoko und Schäfer
wer fort will, geht fort, auch wenn man ihm ewige Liebe poesie', die einen ganz neuen Ton hat, einen starken und wilden
verspricht, wer wandern muss, wandert, und wer sterben muss, Ton. Und keineswegs, so viel man auch denken kann in Sekun
215 stirbt. Dann denke ich nichts mehr, schwimme weiter, halte den, keineswegs denke ich jetzt, Costanza ist da, das Leben ist
die Augen unter Wasser offen, sehe tief, tief unter mir das J.41l nichts sinnlos, ich bin nicht allein auf der Welt. Denn das weiß
Wellenmuster im feinen Sand. Den Kopf herauszustrecken ist ich wohl, Kinder sind Kinder und gehen in ihre Zukunft, man
furchtbar, eine Einsamkeit sondergleichen, man sollte zurück kann sich an ihnen freuen und an ihnen ärgern und um sie zittern,
schwimmen, sich anziehen, zum Essen gehen. Aber warum aber helfen können sie einem nicht. Aber es ist doch diese
220 eigentlich, es ist doch alles verloren, du hast dich nicht halten geheimnisvolle Flötenstimme, dieser Ruf des Lebens, der mich
lassen, Odysseus, fort, dein Schicksal erfüllen, fort nach ltha 245 übers Wasser reißt und über dem Wasser hält, keuchend, hu
ka, und lthaka ist der Tod. Ich bin keine Zauberin, riicht un stend, spuckend, auf dem Rücken liegend und ausruhend und
sterblich, ich brauche nicht zu versteinen und gegen den Him nun schon die ersten Armbewegungen dem Ufer zu. Am Ufer
mel zu stehen, ein schauriges Monument. Ich kann trinken, steht dann tatsächlich Costanza mit dem Badetuch in der Hand
225 ertrinken, hinuntersinken in die Tiefe, hinaufsteigen in die Höhe, und sagt zornig, was schwimmst du so weit hinaus, weißt du
oben und unten sind dasselbe, oben und unten sind die seligen 250 nicht, dass es Haifische gibt? Wir packen zusammen, und ich
Geister, oben und unten bist du. sage, vergiss deine Flöte nicht, und sie sieht mich verständnis
los an. Das war um zwölf Uhr zwanzig, da hatte daheim die
fremde Frau unser Haus schon verlassen, warum eigentlich,
doch nicht aus Furcht vor der Polizei?
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Das musste ich noch wissen und stand vom Schreibtisch auf,
mit blinden Augen und steifen Beinen, und ging hinaus und
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klingelte bei der Nachbarin, die schon zu Bett gegangen war
und mir nur das Fensterchen aufmachte, das in der Wohnungs-
2ro tür ist.
Habe ich das nicht erzählt, sagte Frau Hösslin freundlich. Je
mand hat von ihrer Tochter gesprochen. Da hat sie es aufgege
ben und ist fort.
265 Frau Hösslin fror und gähnte, es war jetzt beinahe elf Uhr.
Haben Sie es auf der Polizei gemeldet? fragte sie.
Aber das hatte ich nicht getan, und ich würde es auch nicht
mehr tun.