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7.

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7.20

Covid-19
IMPFSTOFF-
ENTWICKLUNG

Ursprung
des Lebens
Entstanden die ersten
Zellen in tiefen Erdspalten?
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

RÖNTGENASTRONOMIE Kosmischen Exoten auf der Spur


BIRKENPECH Der Kunststoff der Neandertaler
FLEISCHERSATZ Burger aus Pflanzenproteinen
THEMEN AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie: Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen stellen Ihnen alle
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

WO DIE URSUPPE
BRODELTE
Daniel Lingenhöhl, Chefredakteur
lingenhoehl@spektrum.de

 Die Fragen, wann, wie und wo das erste Leben entstand, gehören sicher zu
den spannendsten der Evolutionsbiologie. Abschließende Antworten hat
die Wissenschaft bis heute nicht gefunden: Spuren in Gesteinen aus Australien
oder Kanada legen nahe, dass »unsere« Geschichte vor rund vier Milliarden
Jahren begann, als sich aus anorganischen und organischen Substanzen die DORIS TSAO
ersten Zellen bildeten. Ihnen folgten im Lauf der Erdzeitalter Explosionen der Die Neurowissenschaftlerin und
Artenvielfalt, aber auch immer wieder Rückschläge und Massenaussterben. Mathematikerin hat entschlüsselt,
Doch wo fand der »Urknall« der Biologie statt? In flachen Küstengewässern, wie das Gehirn Gesichter erkennt.
in denen starke UV-Strahlung chemische Reaktionen anheizte? Oder doch eher Demnach steckt dahinter ein
an den Schwarzen Rauchern der Tiefsee? Schließlich blüht hier bis in unsere Tage verblüffend simpler Code (S. 30)
das Leben – völlig ohne Sonnenlicht und angetrieben von giftigem Schwefel­
wasserstoff, der aus diesen vulkanischen Schornsteinen austritt und Bakterien als
Nahrung dient.
Der Geologe Ulrich C. Schreiber und der Physikochemiker Christian Mayer
von der Universität Duisburg-Essen richten ab S. 12 ihren Blick auf einen weiteren
außergewöhnlichen Lebensraum: Tiefe, wassergefüllte Erdspalten in der konti-
nentalen Kruste der jungen Erde könnten optimale Bedingungen zur Bildung der
ersten zellenähnlichen Gebilde geboten haben. Gleichzeitig ist dieser Artikel der
Auftakt zu unserer dreiteiligen Serie zur Evolution des tierischen Lebens.
Zu den größten Bedrohungen der heutigen Biodiversität gehört unser Hunger BELINDA J. WILKES
auf Fleisch: Weltweit fallen Wälder, um Platz zu schaffen für Weiden und Futter- Seit zwei Jahrzehnten arbeitet die
plantagen. Hier zu Lande erstickt extremer Stickstoffeintrag aus der Viehwirt- Astrophysikerin im Team des
schaft jegliche Vielfalt auf Äckern und Wiesen. Ein geringerer Fleischkonsum Röntgenteleskops Chandra und
könnte der Natur dabei helfen, aber auch ein möglichst gelungener Ersatz durch leitet inzwischen dessen Beob-
Pflanzenproteine. M. Azad Emin beschreibt ab S. 46, wie weit die Wissenschaft achtungen. Ab S. 57 stellt sie die
hier bereits ist und was wir demnächst auf dem Teller erwarten können. spektakulärsten Erkenntnisse vor.
Diese Ausgabe ist mittlerweile die dritte, die wir wegen der Covid-19-Pandemie
außerhalb unserer gewohnten Umgebung produzieren. Zwar haben wir uns mit
den Umständen inzwischen recht gut arrangiert, trotzdem möchte ich Sie noch
einmal um Verständnis bitten, sollte sich der eine oder andere Fehler mehr einge-
schlichen haben, als Sie das von uns gewohnt sind.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Spurensuche


und weiterhin viel Gesundheit!

Ihr PATRICK SCHMIDT


Hatte der Neandertaler gezielt
einen Kunststoff entwickelt? Der
naturwissenschaftliche Archäolo-
ge hat dazu eine sicher geglaubte
These ins Wanken gebracht. Wie,
das erklärt er ab S. 78.

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Unser Spektrum SPEZIAL Physik – Mathematik –
Technik 2.20 bietet einen Einblick in die bunte Welt der
Chemie – mit Versuchen zum Selbstmachen.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 EVOLUTION IN DER TIEFE GEBOREN
Neue Serie: Die Entfaltung des Lebens (Teil 1) Entstand das Leben in
6 SPEKTROGRAMM
hydrothermalen Spalten der jungen Erdkruste? Hier gab es wohl geeig-
20 FORSCHUNG AKTUELL nete Reaktionsbedingungen dafür – und ein langfristig stabiles Umfeld.
Von Ulrich C. Schreiber und Christian Mayer

Impfstoffsuche
im Schnellgang Covid-19-PANDEMIE
Genbasierte Vakzine Covid-19- 30 HIRNFORSCHUNG DER GESICHTSCODE
PANDEMIE
gegen Covid-19. Bestimmte Bereiche der Großhirnrinde sprechen auf Gesichter an. Die Neurone
reagieren dabei auf Merkmale, die sich mathematisch beschreiben lassen.
Von Doris Y. Tsao
Vorhersage von
Proteinstrukturen
Dank Informatik rückt das 38 BIODIVERSITÄT VERGESSENE KÖRNER
Ziel in Reichweite. Fast 90 Prozent der einst in Indien einheimischen Reissorten sind heute ver-
Viele Wege führen schwunden. Der Autor kämpft darum, sie zu erhalten und wieder anzusiedeln.
zur Explosion Von Debal Deb
Supernovae laufen oft
anders ab als gedacht.
46 LEBENSMITTEL PFLANZENPROTEINE FÜR FLEISCHFREUNDE
KI lernt die Sprache Wie muss man pflanzliche Proteine verarbeiten, um überzeugende
der Mathematik Fleischersatzprodukte herzustellen?
Selbstlernendes Programm Von M. Azad Emin
löst Differenzialgleichungen.

29 SPRINGERS EINWÜRFE Serie: Die Röntgen-Revolution (Teil 3)


Schwarzer Schwan
im Internet 52 RÖNTGENTELESKOPE DAS ALL IN NEUEM LICHT
Unser verändertes Verhalten Zur Untersuchung des Universums ist Röntgenstrahlung heute unverzichtbar.
täuscht Algorithmen. Ihr Siegeszug begann mit einer Zufallsentdeckung vor rund 60 Jahren.
Von Jan Hattenbach
64 SCHLICHTING!
Ringelnde
Kondens­streifen 57 ASTRONOMIE RÖNTGENBLICK FÜR DEN KOSMOS
Komplexe Strömungen Das Chandra-Weltraumteleskop liefert seit zwei Jahrzehnten faszinierende
zerreißen die Wolkenbänder. Aufnahmen von Galaxien, Sternen und Planeten im Röntgenlicht.
Von Belinda J. Wilkes
86 ZEITREISE

87 FREISTETTERS FORMELWELT
Die Regel, der
66 INFORMATIK WIE KOMPLEX DARF ES SEIN?
die Welt gehorcht Ein Computer kann die Lösung eines Problems immer in vertretbarer
Vier Symbole stellen Zeit überprüfen, sagt ein neuer Beweis – und widerlegt damit eine ganze
eines der wichtigsten Reihe etablierter Vermutungen aus der Mathematik und Physik.
Von Manon Bischoff
Naturgesetze dar.

88 REZENSIONEN 72 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN


93 IMPRESSUM
DIE KUNST DES GUTEN PASSWORTS
Viele Leute verzweifeln bei der Wahl eines sicheren Kennworts.
94 LESERBRIEFE Von Jean-Paul Delahaye

96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE


78 MENSCHWERDUNG DER KUNSTSTOFF DER NEANDERTALER
98 VORSCHAU Schon vor 200 000 Jahren stellten frühe Menschen Birkenpech her,
und zwar mit einer sehr aufwändigen Methode, wie viele Forscher glauben.
TITELBILD:
Doch es könnte auch erstaunlich einfach gegangen sein.
DIVEDOG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT;
VIRUS: KOTO_FEJA / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER
Von Patrick Schmidt
WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  7.20


DIVEDOG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
12
TITELTHEMA
DIE ENTSTEHUNG DES LEBENS
FRACTAL PICTURES / STOCK.ADOBE.COM

30 38
BIODIVERSITÄT
HIRN­FORSCHUNG VERGESSENE
FOTO: ZOË SAVITZ

DER GESICHTS­CODE KÖRNER


NASA/CXC & J.VAUGHAN

FOTO: FRANS DE VRIES, WWW.TOONBEELDBANK.NL

78 Alle Artikel auch digital


auf Spektrum.de
52 MENSCH-
WERDUNG
Auf Spektrum.de berichten
unsere Redakteure täglich
RÖNTGENTELESKOPE KUNSTSTOFF aus der Wissenschaft: fundiert,
DAS ALL IN NEUEM LICHT DER ALT- aktuell, exklusiv.
STEINZEIT
Spektrum der Wissenschaft  7.20 5
SPEKTROGRAMM
KOSMISCHES RIFF

 Seit April 1990 kreist das Hubble-Teleskop um


die Erde. Bislang hat es rund 1,3 Millionen
Bilder des fernen Weltalls gemacht. Zur Feier des
30. Geburtstag haben NASA und ESA nun eine
besonders spektakuläre Aufnahme veröffentlicht:
Sie zeigt zwei Riesennebel namens NGC 2014
und NGC 2020 in der Großen Magellanschen
Wolke, einer 163 000 Lichtjahre entfernten Satelli-
tengalaxie unserer Milchstraße.
Das Bild trägt den Spitznamen »kosmisches
Riff«, weil es nach der optischen Bearbeitung
durch ein Team der NASA an eine Unterwasser-
welt erinnert: Die Wissenschaftler haben, wie bei
Hubbles Aufnahmen üblich, unterschiedlichen
chemischen Elementen auffällige Farben zuge-
ordnet, so dass ein möglichst großer Kontrast
entsteht. Bei dem »roten« Nebel handelt es sich
beispielsweise um Wasserstoffgas, das eine
Gruppe junger, sehr massereicher Sterne unmit-
telbar nach ihrer Entstehung ins All geblasen hat.
Der »blaue« Nebel links unten stellt hingegen
leuchtende Sauerstoffatomen im Umfeld eines so
genannten Wolf-Rayet-Stern dar, der durch
rasante Sternwinde Teile seiner äußeren Schich-
ten verloren hat.

Pressemitteilung der NASA, April 2020

NASA, ESA, AND STSCI (WWW.SPACETELESCOPE.ORG/IMAGES/HEIC2007A/) /


CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

6 Spektrum der Wissenschaft  7.20


NASA, ESA, AND STSCI (WWW.SPACETELESCOPE.ORG/IMAGES/HEIC2007A/) /
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

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SPEKTROGRAMM

MASAKI HORI, MAX PLANCK INSTITUT FÜR QUANTENOPTIK (MPQ)


ATOMPHYSIK Laserstrahl

PIONISCHES HELIUM e–

 Physiker am Max-Planck-Institut für


Quantenoptik in Garching haben
erstmals »pionisches« Helium herge- Heliumatom
Atomkern absorbiert
Pion und zerbricht.
ttHe+
stellt und untersucht. Bei ihm ist eines Pion
der beiden Elektronen in der Schale
eines Heliumatoms durch ein negativ Physiker haben eines der Elektro- Forscher als Erfolgsnachweis auf. In
geladenes Pion ersetzt – ein kurzlebi- nen von Helium durch ein Pion (tt) Isolation zerfallen Pionen bereits nach
ges Teilchen aus zwei Quarks, das ersetzt. 26 Nanosekunden. An Helium ge­
deutlich schwerer als ein Elektron ist. bunden verlängerte sich die Lebens-
Für das Experiment kühlte das dauer um ein Tausendfaches, so dass
Team um Masaki Hori Helium auf zwei Anschließend feuerten die Wissen- die Physiker das Konstrukt mit ihrem
Grad über dem absoluten Nullpunkt schaftler Laserpulse auf das pionische Laserpuls treffen konnten.
ab, wodurch sich das Gas in eine Helium, was zuweilen auch das noch Insgesamt benötigten die Wissen-
Supraflüssigkeit ohne Reibung ver- verbliebene Elektron aus dem Atom schaftler acht Jahre, um exakt jene
wandelte. Anschließend beschossen schleuderte. Lichtfrequenz zu finden, bei der das
die Forscher diese Quantenbrühe mit Das Pion, das sich zuvor noch auf Experiment gelingt. Mit Hilfe des
Pionen, wozu sie die weltweit stärkste einer sehr weiten Bahn um den Kern exotischen Atoms wollen sie künftig
Pionenquelle am Schweizer Paul bewegte, geriet dadurch auf eine die Masse des Pions deutlich genauer
Scherrer Institut nutzten. Schale mit niedrigerer Energie – so bestimmen als bisher.
In seltenen Fällen verdrängte eines nah am Kern, dass dieser schließlich
der Teilchen dabei ein Elektron aus der instabil wurde und zerfiel. Die dabei Nature 10.1038/s41586-020-2240-x,
Schale und nahm dessen Platz ein. freigesetzten Bruchstücke fingen die 2020

MATERIALWISSENSCHAFT
EDELSTEIN MIT FARBWECHSEL

 Alexandrit ist ein außergewöhnli-


ches Material: 1830 in Russland
entdeckt und nach dem späteren Zar
Alexandrit nur den grünen und roten
Teil des Lichtspektrums reflektiert. Da
Kerzenlicht mehr Rotanteile enthält als
von der Queen Mary University in
London berichtet. Die Forscher haben
sich zwei Edelsteine aus dem Naturhis-
Alexander II. benannt, ändern die Sonnenstrahlen, lässt sich der Farb- torischen Museum in London ausgelie-
seltenen Edelsteine je nach Beleuch- wechsel in verschiedenen Umgebun- hen und verschiedene Tests auf Farbta-
tung ihre Farbe. Bei Tageslicht leuch- gen zumindest teilweise erklären. feln mit ihnen durchgeführt.
ten sie grün wie ein Smaragd, bei Daneben scheint aber auch eine Demnach sendet Alexandrit bei
Kerzenschein hingegen rubinrot. Besonderheit der menschlichen Wahr- Kerzenschein auch grüne Wellenlängen
Forscher vermuten schon lange, nehmung eine Rolle zu spielen, wie aus sowie etwas rotes Licht bei Tages-
dass das besondere Farbenspiel mit nun eine Gruppe um David Dunstan licht. Da aber sämtliche Zwischentöne
winzigen Verunreinigungen zusam- fehlen, springt unser Gehirn nicht auf
menhängt: Chromatome im diese Signale an: Normalerweise weist
Inneren des Kristalls es geläufigen Gegenständen feste
absorbieren blaues und Farben zu, welche die Objekte auch
gelbes Licht, so dass dann behalten, wenn sich die Beleuch-
ALAMY / NATURAL HISTORY MUSEUM LONDON / HARRY TAYLOR

tung stark verändert. Ein grüner Apfel


erscheint uns daher selbst bei Sonnen-
Je nach Beleuch- untergang noch grün. Bei Alexandrit
tung verändert scheint diese als Farbkonstanz bekann-
Alexandrit seine te Korrektur nicht zu funktionieren –
Farbe: Bei Tages- was den Forschern zufolge den Chamä-
licht erscheint leoncharakter der Edelsteine erklärt.
der Edelstein
grün, bei Kerzen- Science Advances 10.1038/s41598-020-
schein rötlich. 62707-3, 2020

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Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

PALÄONTOLOGIE

DAVIDE BONADONNA, PALEOARTIST


DAS LEBEN
DER SPINOSAURIER

 Dass der 18 Meter lange Spinosau-


rus aegyptiacus Zeit im Wasser
verbrachte, ist schon lange klar: Der
gedrungene Körperbau der Dinosau-
rierart war nicht zum Sprinten geeig-
net. Auch die nach oben orientierten
Nasenlöcher sprechen für regelmäßi-
ges Plantschen, genauso wie die
Zähne, die perfekt waren für das
Fangen schlüpfriger Fische.
Allerdings gingen Forscher bisher
davon aus, dass das riesige Reptil
durch flaches Wasser watend auf
Fischzug ging. Dem widersprechen
nun Wissenschaftler um Nizar Ibrahim
von der University of Detroit in Mercy:
Spinosaurus aegyptiacus sei ein echter
Schwimmer gewesen, der sich wie
heutige Krokodile fortbewegte, und so
möglicherweise tief in Gewässer
vordrang.
Die Forscher machen dies am
kräftigen Schwanz der ausgestorbe- Spinosaurier waren gefürchtete Jäger, die sich
nen Art fest, deren abstehende Dor- schnell durch Wasser bewegen konnten.
nen wie Paddel wirkten. Insgesamt
müsste die Schwanzform der Riesen-
echse vergleichbar viel Vortrieb er-
zeugt haben wie die eines Krokodils hatte, nachdem das besterhaltene 2015 bis 2019 gruben Ibrahim und
oder eines im Wasser lebenden fossile Exemplar im Zweiten Weltkrieg seine Kollegen hier den Schwanz des
Molchs, schreiben die Forscher nach zerstört worden war. 95 Millionen Jahre alten, noch nicht
Versuchen im Strömungskanal mit Fündig wurde das Ausgräberteam ganz ausgewachsenen Tiers aus, der
einem Robotermodell. letztlich in der marokkanischen Kem- jetzt die Vorstellung von der Lebens-
Hinter der Entdeckung steckt eine Kem-Formation, einem alten Flusssys- weise des Giganten revolutionieren
aufwändige Suche nach fossilen tem, in dem neben Spinosaurus auch könnte.
Resten des Spinosaurus, von dem man riesige Sägerochen und mehrere
bislang nur vereinzelte Bruchstücke Meter lange Lungenfische lebten. Von Nature 10.1038/s41586-020-2190-3, 2020

Das Skelett eines Spino-


sauriers, rekonstruiert aus
vielen Bruchstücken.
MARCO AUDITORE, PALEO-ILLUSTRATOR

Ausgrabungen 2007/2008
Ausgrabungen 2015–2019
1m
aus Schutt gesiebte Bruchstücke

Spektrum der Wissenschaft  7.20 9


SPEKTROGRAMM
SONNENSYSTEM
FONTÄNE AUF
JUPITERMOND

 Der Jupitermond Europa ist einer


der außergewöhnlichsten Orte im
Sonnensystem: Seine Oberfläche ist
überzogen von einem dichten Eispan-
zer, unter dem vermutlich ein ausge-
dehnter Ozean schlummert. Und
vielleicht hatte eine Raumsonde der
Menschheit bereits Kontakt mit dem
Wasser von dort: Vor 20 Jahren könnte
NASA/JPL-CALTECH/SETI INSTITUTE

die NASA-Mission Galileo eine Wolke


aus Wasserdampf durchquert haben, Unter dem Eispanzer des Jupitermonds Europa verbirgt
die Geysire auf Europas Oberfläche ins sich vermutlich ein Meer aus flüssigem Wasser.
All gepustet haben.
Die Vermutung gibt es schon län-
ger, doch nun präsentiert ein Team um
Hans Huybrighs von der ESA neue Erklärung für das Abschwellen des Bord der Sonde dann nicht mehr regis­
Belege dafür. Sie verbergen sich in Teilchenstroms gibt. Das passt jedoch trieren, was die geringere Protonenrate
Messdaten aus dem Januar 2000, nicht zu aufwändigen Simulationen, erkläre, so die Forscher.
denen zufolge Galileo während eines die das Team um Huybrighs durchge- Europa ist nicht der einzige Trabant mit
Vorbeiflugs deutlich weniger ener- führt hat. Wasserdampffontänen: Beim Saturn-
giereiche Protonen aufgefangen hat Sie lassen sich nur dann mit den mond Enceladus – ebenfalls eine Eiswelt
als erwartet. Große Mengen der Messdaten in Einklang bringen, wenn mit verborgenem Ozean – konnte die
geladenen Teilchen kreisen ständig im Galileo durch eine Wolke aus Wasser- Sonde Cassini solche Ausstöße sogar hin
Magnetfeld des Jupiters, das bis über dampf flog, in der die zirkulierenden und wieder fotografieren. Beide Orte
die Bahn von Europa hinausreicht. Protonen mit Molekülen kollidierten. gelten als mögliche Aufenthaltsorte für
Bisher gingen Wissenschaftler Dabei hätten die Ladungsträger den außerirdische Mikroben.
davon aus, dass sich Galileo zu diesem Molekülen Elektronen geklaut, wo-
Zeitpunkt im Windschatten des Tra- durch sie zu neutralen Atomen wur- Geophysical Research Letters
banten bewegte, es also eine einfache den. Diese konnte das Messgerät an 10.1029/2020GL087806, 2020

HIRNFORSCHUNG
DEM GEHIRN BEIM ERINNERN ZUGESCHAUT

 Ein Duft oder eine Melodie aus der


Kindheit reichen aus, um uns in
Sekundenbruchteilen zurück in die
aufzuzeichnen. Gelungen ist ihnen das
bei Epilepsiepatienten, denen zuvor
Elektroden ins Hirn implantiert worden
Frequenz feuerten. Während eines an-
schließenden Abruftests sahen die
Teilnehmer jeweils eines der Worte am
Vergangenheit zu versetzen. Doch was waren, um den Anfallsherd zu lokali- Bildschirm und sollten sich an das zweite
genau passiert im Gehirn, wenn wir sieren. Wenn keine andere Therapie Wort erinnern. Bei richtigen Antworten
uns erinnern? Durch Tierexperimente mehr hilft, kann man dann gegebenen- wurde Millisekunden vorher dasselbe
weiß man bereits: Wird eine Erfahrung falls die entsprechende Hirnregion Aktivierungsmuster wie zuvor beim
im episodischen (autobiografischen) operativ entfernen. Einprägen wieder abgespielt. Die For-
Gedächtnis gespeichert, so geht dies Im Zuge dieser Untersuchungen scher konnten daran vorhersagen, ob
mit einem spezifischen Entladungs- führte das Team um Alex Vaz einen sich ein Proband erfolgreich erinnern
muster einzelner Neurone einher – Gedächtnistest mit den Teilnehmern würde. Laut Vaz und seinen Kollegen
beim Erinnern wird dieses Muster durch. Sie sollten sich verschiedene können die Erkenntnisse nicht nur dabei
genauso wieder reaktiviert. Wortpaare einprägen, wie etwa helfen, die grundlegenden Prinzipien,
Wissenschaftler von den National »Fuchs« und »Kuchen«. Die Forscher sondern auch Störungen des menschli-
Institutes of Health in Bethesda haben fanden heraus, dass Neurone des chen Gedächtnisses besser zu verstehen.
es nun erstmals geschafft, diesen Sprachzentrums im Schläfenlappen
Prozess bei Menschen in Echtzeit bei jedem Paar in einer bestimmten Science 10.1126/science.aba0672, 2020

10 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

GESCHICHTE suka von der Harvard Medical School kaum noch vermischt. Erklären ließe
vorgestellt. Sie basiert auf Proben sich das, mutmaßen die Forscher, wenn
SÜDAMERIKA von 89 Individuen, die vor 500 bis damalige Imperien ihre Dominanz auf
VOR KOLUMBUS 9000 Jahren an verschiedenen Orten indirektem, kulturellem Weg ausübten,
im Andenraum lebten. also nicht mit Armeen dauerhaft andere

 Die Geschichte Südamerikas weist


deutlich größere Lücken auf als die
anderer Erdteile. Ein Grund dafür ist,
Die Studie zeichnet das Bild eines
Kontinents, der lange Zeit von weit­
gehend isolierten Gruppen bewohnt
Landstriche zu besetzen.
Eine Ausnahme dürfte neben den
Inka auch die Tiwanaku-Kultur gewesen
dass keine der Gemeinschaften aussa- war: Bereits vor 9000 Jahren unter- zu sein: Genproben aus den Metropolen
gekräftige Schriftdokumente hinterlas- schieden sich die Genpools von Hoch- der beiden präkolumbischen Völker
sen hat – die ersten Berichte stammen land- und Küstenregionen deutlich. weisen jeweils eine große Diversität
von den europäischen Eroberern aus Vor 5800 Jahren spalteten sich dann auf. Einige der Bewohner stammten
dem 16. Jahrhundert. So blieben lange auch die Bewohner der Anden in eine offenbar aus mehr als 1000 Kilometer
nur archäologische Ausgrabungen, um nördliche und eine südliche Kultur auf. entfernten Regionen, starben dann
die Lebensweise der längst unterge- Anschließend scheint es eine Zeit jedoch in den Städten der damaligen
gangenen Kulturen zu rekonstruieren. lang zu verstärktem Austausch zwi- Zeit. Für die Forscher ist das ein Indiz
Seit einigen Jahren eröffnen zusätz- schen den Völkern gekommen zu sein, für weit reichende Handelsverbindun-
lich dazu Genanalysen ein Fenster in der jedoch vor 2000 Jahren zum gen und eine kosmopolitische Lebens-
die Vergangenheit des Südkontinents. Erliegen kam: Für 1500 Jahre, bis zur weise.
Eine neue derartige Untersuchung Blüte des expansiven Inkareichs,
haben nun Forscher um Nathan Nakat- haben sich die Populationen offenbar Cell 10.1016/j.cell.2020.04.015, 2020

BIOLOGIE
WIRBELSTÜRME FORMEN ECHSENFÜSSE

 Hurrikane haben einen dauerhaften


Einfluss auf die Evolution von
Eidechsen in der Karibik. Zu diesem
nen Inseln nur die greifstärksten Ech-
sen überlebt hatten und ihre Nach-
kommenschaft mit besonders großen
lektionsdruck alltäglicher Umstände
überlagert? Die neue Analyse von
Donihues Team spricht nun dafür, dass
Ergebnis kommt eine Arbeitsgruppe Zehenpolstern ausgestattet war. Naturkatastrophen auch charakteris­
um Colin M. Donihue von der Wa- Doch spielen Wirbelstürme auch tische Gemeinsamkeiten einer Art
shington University in Saint Louis. langfristig eine Rolle bei der Evolution erzeugen können.
Echsen der Gattung Anolis auf Inseln, von Echsenfüßen, oder werden diese
die häufiger von Wirbelstürmen be­ seltenen Extremereignisse vom Se­ PNAS 10.5061/dryad.wm37pvmjh, 2020
troffen sind, haben demnach grö-
ßere Haftflächen an den Zehen als
COLIN DONIHUE, WASHINGTON UNIVERSITY IN ST. LOUIS (WUSTL)

andere.
Das Team nutzte Hurrikandaten aus Bei starkem Wind halten sich Eidechsen an
sieben Jahrzehnten, um 188 verschie- Ästen fest. Offenbar entwickelten sie
dene Anolis-Arten aus der Karibik dadurch stark haftende Zehenpolster.
sowie zwölf Populationen der Baha-
ma-Anolis (Anolis sagrei) von verschie-
denen Inseln zu vergleichen. Bei
beiden Untersuchungen fand die
Gruppe einen Zusammenhang zwi-
schen den Zehenpolstern und der
Hurrikanhäufigkeit.
Je besser sich eine Eidechse fest-
halten kann, desto größer sind ihre
Überlebenschancen bei Sturm. Dafür
haben Echsen der Gattung Anolis
haftende Zehenpolster, ganz ähnlich
wie Geckos. Und je größer die Partie,
desto fester der Griff. 2017 entdeckten
Fachleute nach den Wirbelstürmen
Maria und Irma, dass auf den betroffe-

Spektrum der Wissenschaft  7.20 11


EVOLUTION
IN DER TIEFE GEBOREN
Entstand das Leben in
hydrothermalen Spalten der
jungen Erd­kruste? Hier gab
es wohl geeignete Reaktions-
bedingungen dafür – und
ein langfristig stabiles Umfeld.
ARNO WIRTZ

VERENA WEISHAUPT

Ulrich C. Schreiber (links) ist Professor für Geologie


an der Universität Duisburg-Essen. Christian Mayer ist
ebenda Professor für Physikalische Chemie.

 spektrum.de/artikel/1736672

SERIE
Die Entfaltung des Lebens

Teil 1: Juli 2020


In der Tiefe geboren
DIVEDOG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Ulrich C. Schreiber und Christian Mayer


Teil 2: August 2020
Der Aufstieg der Tiere
Rachel A. Wood
Teil 3: September 2020
Morgenröte der Säuger
John Pickrell​

12 Spektrum der Wissenschaft  7.20



Die Frage, woher das Leben kommt, ist eine der größ- zirkulierten. In diesen Spalten herrschen hydrothermale
ten der Wissenschaft. Es existieren verschiedene Bedingungen, das heißt, das Wasser dort kann auf Grund
Vorstellungen hierzu; als mögliche Entstehungsorte der hohen Drücke noch bei weit über 100 Grad Celsius
sind etwa heiße Quellen am Meeresgrund, oberirdische flüssig sein und somit sehr viele gelöste Gase und Minerale
Tümpel oder gar ferne Himmelskörper im Gespräch. In den enthalten. Die Bedingungen für die Entstehung von Leben
zurückliegenden Jahren haben wir ein alternatives Modell waren dort wahrscheinlich günstig.
entwickelt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es heute Bruchzonen infolge von tektonischen Prozessen durch-
noch existierenden Rahmenbedingungen unterliegt und ziehen in vielen Fällen die komplette Erdkruste und reichen
gleichzeitig an Milliarden Jahre alten geologischen Struktu- bis hinab in den oberen Erdmantel. Eine der größten und
ren überprüft werden kann. Unserer Ansicht nach könnten bekanntesten ist die San-Andreas-Verwerfung im Westen
sich ein großes Spektrum organischer Moleküle und auch der USA. Solche Risse entstehen überwiegend durch
die ersten lebenden Zellen in tiefen Spalten der kontinenta- Seitenverschiebungen, an ihnen driften also Platten der
len Kruste gebildet haben. Schon vor Jahrmilliarden gab es äußersten, starren Schicht der Erde aneinander vorbei.
tektonische Bruchzonen, die den Erdmantel mit der Erd- Dabei kommt es zu mechanischen Spannungen, die sich
oberfläche verbanden und in denen Gase und Flüssigkeiten immer wieder in Erdbeben entladen. Das eröffnet Wege, in
denen wässrige Lösungen, Gase oder – in aktiven Vulkan-
gebieten – auch Magmen hochsteigen können.
In tief hinabreichenden Klüften der Zahlreiche Seitenverschiebungen finden sich etwa im
Erdkruste, in denen wässrige Lösungen Rheinischen Schiefergebirge in der Eifel, auf der Oberfläche
und andere Flüssigkeiten zirkulieren, erkennbar an herausgewitterten Quarzgängen. Obwohl sie
sind möglicherweise die ersten Lebe­ wesentlich kleiner sind als die San-Andreas-Verwerfung,
wesen entstanden. weisen sie Kanäle auf, die bis in den Erdmantel reichen und
vielerorts charakteristische Gase durchleiten. Entlang ihrer
Störungszonen treten gehäuft Mineralbrunnen auf mit
eisenreichem saurem Wasser sowie Mofetten, also Aus-
trittspunkten von Kohlenstoffdioxid (CO2). Selbst in kleins-
ten Pfützen bilden sich hier nach längerem Regen Eisenkol-
loide auf dem Grund und feine Filme oxidierenden Eisens
auf der Wasseroberfläche (»Schwimmeisen«), sofern sie
Kontakt zu den austretenden Gasen haben. In Wallenborn,
südlich von Gerolstein in der Eifel, ist ein Kaltwassergeysir
aktiv, der durch starken Zustrom von CO2 etwa zweimal pro
Stunde einen Wasserschwall in die Höhe schießt.
In den zurückliegenden Jahren hat einer von uns (Schrei-
ber) Geländearbeiten zur Tektonik in der Eifel durchgeführt.
Dabei analysierten wir wässrige Lösungen und Gase, die
mit den Störungszonen in Zusammenhang stehen. Anhand
der dabei gewonnenen Daten erkannten wir im Lauf der
Jahre, dass die Störungen mehr darstellen als Brüche im
Gestein und Aufstiegswege für Fluide. Vielmehr enthalten

AUF EINEN BLICK


UNTER HITZE UND DRUCK

1 In wassergefüllten Spalten der jungen Erdkruste waren


die Bedingungen für die Geburt des Lebens wahr-
scheinlich günstig: Hier gab es hohe Temperaturen und
Drücke sowie ein chemisch komplexes Umfeld.
DIVEDOG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

2 Experimente haben belegt, dass sich unter diesen


Bedingungen diverse organische Moleküle und zellähn-
liche Vesikel spontan bilden können.

3 Auf diese Weise könnten erste selbstreplizierende


Strukturen entstanden sein, aus denen lebende Zellen
hervorgingen.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 13


sie alle chemischen Stoffe, die mutmaßlich für die Entste- kalisches Bild der Anfangsphase abzeichnet. Nach einer
hung des Lebens notwendig waren. Neben Wasser, das in ersten Abkühlungsphase bildete die junge Erde eine relativ
den Spalten der Erdkruste diverse gelöste Metalle mit sich einheitliche Kruste. Laut jüngeren Modellen kollidierte sie
führt, gibt es hier CO2, Kohlenstoffmonoxid, Wasserstoff dann mit einem Kleinplaneten, was zu erneuter Aufschmel-
und Stickstoff. Sogar Ammoniak, Methan, Zyanwasserstoff zung und der Entstehung des Monds führte. Die Erde
und Schwefelgase können Teil des Cocktails sein, jedenfalls kühlte anschließend abermals ab und bildete wieder eine
in bestimmten Regionen, in denen magmatische Prozesse dünne Kruste, überwiegend aus Basalt. Daraufhin brachten
in der tieferen Kruste stattfinden. Zudem liegen Phosphate magmatische Prozesse im Mantel und das Wiederauf-
vor, die aus der Umwandlung des Minerals Apatit stammen, schmelzen von Krustenfragmenten allmählich ein Gestein
welches im Gestein häufig vorkommt. Diese Stoffe braucht hervor, das eine andere Zusammensetzung und Dichte
man zur Bildung von Aminosäuren, Zuckerverbindungen besaß als die basaltische Kruste: Die Bildung der kontinen-
und Nukleinbasen – also den Bausteinen des Lebens. In den talen Kruste setzte ein. Ihr Gehalt an radioaktiven Elemen-
tiefen Spalten der Erdkruste standen sie höchstwahrschein- ten lag anfangs höher als heute, sie war wärmer und
lich schon während der Frühphase der Erde dauerhaft in vermutlich dünner als die derzeit durchschnittlichen 30 Ki-
großen Mengen zur Verfügung. lometer. Im Vergleich zur damaligen, wenige Kilometer
mächtigen basaltischen Kruste, die sich grob mit der
Einfache Ausgangsstoffe, komplexe Produkte heutigen ozeanischen Kruste vergleichen lässt, war sie
In der technischen Chemie nutzt man das Verfahren der aber wesentlich kühler – und vor allem chemisch und
Fischer-Tropsch-Synthese, um unter hohen Drücken und mineralogisch sehr viel komplexer zusammengesetzt.
Temperaturen aus Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff Aus dem Erdmantel stiegen durch Störungszonen hin-
langkettige organische Moleküle herzustellen – etwa für die durch Fluide durch die Kruste auf, die sich auf dem Weg
Treibstoffproduktion. Ganz ähnliche Moleküle sind aber nach oben chemisch veränderten. In der Tiefe bestanden
auch Grundbausteine von Zellen, etwa jene Lipide, aus sie höchstwahrscheinlich, ebenso wie heute, aus einer
denen sich die Zellmembran zusammensetzt. Die Reakti- Mischung überkritischen Wassers und überkritischer Gase.
onsbedingungen und Ausgangsstoffe, die für eine Fischer- Im überkritischen Zustand lassen sich die flüssige und die
Tropsch-Synthese erforderlich sind, liegen noch heute im gasförmige Phase nicht mehr voneinander unterscheiden,
Innern der Erdkruste vor – ein geeignetes Umfeld für die weil sich ihre Dichten einander angleichen und die Ver-
Bildung der ersten Zellen? dampfungswärme gegen null geht. Überkritische Fluide
Dies diskutierten wir mit Kolleginnen und Kollegen aus zeichnen sich zudem durch eine sehr niedrige Oberflächen-
allen Bereichen der Naturwissenschaften und stellten dabei spannung aus.
diverse Aspekte tektonischer Störungszonen auf den Prüf-
stand. Zunächst fragten wir uns, ob diese Spaltensysteme
weitere Vorteile geboten haben mochten, um die Entste- Typischer Verlauf einer verspringenden tektoni-
hung des Lebens zu ermöglichen. Sofort rückte in den schen Störung. Steigen darin Fluide auf, können sie
Blick, dass sie vor Sonnenwind und UV-Strahlung geschützt sich unter Vorsprüngen und in Kammern (Pfeile)
waren. Auch von Meteoriteneinschlägen waren sie nur sammeln und dort gasdicht verschlossene Reak­
punktuell betroffen. Zugleich kann ihre Lebensdauer äu- tionsräume bilden.
ßerst lang sein: Mehrere zehn Millionen bis hunderte Millio-

FREDERIK KIRST, MIT FRDL. GEN. VON ULRICH SCHREIBER; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
nen Jahre sind dokumentiert.
Entlang dieser tiefen, verzweigten Spalten gibt es zahllo-
se, mit Fluiden gefüllte Kammern mit einer Größe zwischen
wenigen Mikrometern bis in den Meterbereich. In ihnen
sind chemische Reaktionen möglich, die an der Erdoberflä-
che nicht stattfinden können. Mit jedem Meter abwärts
ändern sich Druck, Temperatur und pH-Wert – je nach Was-
serzutritt oder Mischung gelöster Gase. Moleküle, die sich
unter hohen Drücken und Temperaturen gebildet haben,
können aus der Tiefe mit aufsteigenden Fluiden in höhere
Reaktionskammern gelangen und sich dort mit anderen
Molekülen zu komplexeren Verbindungen zusammentun.
Dass in wässrigen Lösungen, die Ammoniak, Wasserstoff
und Methan enthalten, unter Hitze und Druck zahlreiche
organische Substanzen entstehen können wie Lipide,
Aminosäuren und Nukleinbasen, ist bereits mehrfach
belegt worden – etwa in »Ursuppen«-Versuchen wie dem
Miller-Urey-Experiment und seinen Abwandlungen.
Unser Wissen über die frühe Entwicklung unseres
Planeten hat in den zurückliegenden Jahrzehnten so weit
zugenommen, dass sich inzwischen ein grobes geophysi-

14 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Es hängt von der Temperatur der Erdkruste ab, in CO2-gesteuerter
Kaltwassergeysir
welcher Tiefe das Wasser in den hydrothermalen Spalten
vom überkritischem in den flüssigen Zustand übergeht.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: ULRICH SCHREIBER


Der Wechsel erfolgt bei knapp 375 Grad Celsius und einem
Druck von 221 Bar, was bei den Verhältnissen auf der frü-
1 km 74 Bar 31 °C Übergang von
hen Erde in vielleicht 7 Kilometer Tiefe erreicht wurde. Dort überkritischem zu
trennten sich die mit dem Wasser vermischten überkriti- gasförmigem CO2
schen Gase von dem jetzt flüssigen Wasser und stiegen Bildung von Tröpf-
chen aus über­
als Tropfen auf Grund ihrer geringeren Dichte weiter nach 5 km kritischen Gasen
oben. Zu ihnen gehörte Kohlenstoffdioxid, das ab zirka Übergang von
31 Grad Celsius und 74 Bar überkritisch wird. 375 °C überkritischem zu
flüssigem Wasser
Überkritische Gase sind unpolare Lösungsmittel: Sie
verhalten sich wie Flüssigkeiten, die wasserunlösliche 10 km 1 kBar

organische Verbindungen aufnehmen und transportieren


können. Stiegen sie in den Bruchzonen nach oben, sammel-

Wassersäule
Druck in der
ten sie sich in Gesteinskammern und unter Spaltenvor-
Mischung aus über-
sprüngen an. Dabei bildeten sie gasdicht verschlossene kritischem Wasser
Reaktionskammern, in denen hohe Temperaturen herrsch- und über­kritischen
Gasen, Bildung orga-
ten. In ihnen und besonders an ihren Grenzflächen zur nischer Mole­küle
wässrigen Phase hin waren Reaktionen möglich, die im
20 km 2 kBar 800 °C
Wasser allein nicht stattfinden konnten.
In einer Tiefe zwischen 1000 und 750 Meter, je nach
Temperatur und Dichte der Wassersäule darüber und je
nach Temperatur der umgebenden Erdkruste, wurden die
überkritischen CO2-Tröpfchen unterkritisch. Es entstand Steigen Fluide in tektonischen Störungszonen auf,
CO2-Gas, das die aufgesammelten organischen Bestandtei- wechseln sie irgendwann vom überkritischen in den
le nicht mehr gelöst halten konnte. Die Substanzen fielen flüssigen oder gasförmigen Zustand.
aus und konzentrierten sich in der verbliebenen wässrigen
Lösung und an den Grenzflächen von Wasser zu Gas.
Oliver J. Schmitz von der Universität Duisburg-Essen und
Oberirdische Ausbrüche bewirken weiteren Kollegen 2017 in Flüssigkeitseinschlüssen archai-
unterirdische Druckschwankungen scher Quarze im westlichen Australien nachgewiesen. Aus
Eine besonders interessante Situation bieten niedrig tempe- den langen Kohlenwasserstoffketten der Aldehyde, die wir
rierte Geysire, deren Eruptionen durch starken Gaszustrom dabei fanden, lassen sich leicht Lipide bilden.
gesteuert werden – etwa im bereits erwähnten Kaltwasser- Den Prozess der Vesikelbildung wiederum haben wir im
geysir Wallenborn in der Eifel. Bei jedem Ausbruch treten in Labor nachvollzogen. Wir setzten hierfür eine Hochdruck-
der Tiefe Druckschwankungen auf, wodurch sich der Be- anlage ein, die Drücke bis 1000 Bar bei Temperaturen über
reich, in dem überkritisches CO2 in die Gasphase übergeht, 100 Grad Celsius erzeugen kann und somit erlaubt, die
ständig verlagert. Im überkritischen CO2 ist immer etwas Verhältnisse in einer Bruchzone in ein bis sieben Kilometer
Wasser gelöst. Nimmt der Druck infolge eines oberirdi- Tiefe zu simulieren. Selbst Druckschwankungen lassen sich
schen Geysirausbruchs plötzlich ab, kondensiert das Was- erzeugen, wie sie etwa infolge von Geysiraktivität auftreten.
ser im entstehenden CO2-Gas und bildet Nebeltröpfchen. Unter diesen Verhältnissen gelang es uns, Vesikel aus
Moleküle, die eben noch in der überkritischen Phase gelöst »amphiphilen« Substanzen (die sich sowohl in polaren als
waren, gehen jetzt ins Innere dieser Tröpfchen oder bilden auch unpolaren Lösungsmitteln lösen lassen) im 20-Minu­
eine Hülle um sie, etwa aus Lipiden. Auch die Grenzfläche tentakt herzustellen und wieder zerfallen zu lassen. Gaben
der eben noch existierenden Reaktionskammer zum umge- wir zwölf verschiedene Sorten von Aminosäuren zu, von
benden Wasser wird von Lipiden besetzt. Sinken die bela- denen belegt ist, dass sie sich unter den hydrothermalen
denen Wassertröpfchen auf diese Grenzfläche, werden sie Bedingungen einer Bruchzone spontan bilden können,
häufig mit einer zweiten Lipidhülle ummantelt. So entste- entstanden ohne weiteres Zutun Aminosäureketten mit bis
hen Vesikel als mögliche Vorläufer der ersten Zellen, wie wir zu 18 Einheiten – also Peptide.
schon 2015 experimentell zeigen konnten. Einer von uns (Mayer) simuliert in mittlerweile seit zwei
Dass es in der Frühphase der Erde bereits ein breites Jahren laufenden Experimenten die für Geysire typischen
Spektrum organischer Moleküle auf dem Planeten gab, Druckschwankungen und lässt sie auf eine Mischung aus
lässt sich noch heute belegen. Hydrothermal gebildete Wasser, CO2, Aminosäuren und amphiphilen Substanzen
Quarzgänge haben vor mehr als drei Milliarden Jahren eine einwirken. Hierbei treten interessante Wechselwirkungen
Vielzahl von Molekülen eingeschlossen, die sehr wahr- zwischen den sich bildenden Peptiden und den Membra-
scheinlich in abiotischen Prozessen entstanden waren – nen der Vesikel auf. Es kommt zu zwei sich wechselseitig
darunter beispielsweise Alkane, Halogenkohlenwasserstof- verstärkenden Selektionsprozessen: Zum einen sammeln
fe, Alkohole und Aldehyde. Wir haben sie gemeinsam mit sich in den Membranen solche Peptide an, die mit ihrer

Spektrum der Wissenschaft  7.20 15


Verteilung von hydrophilen und hydrophoben Aminosäuren

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: ULRICH SCHREIBER


das Profil der Lipidhülle widerspiegeln. Zum anderen be-
günstigen die harschen Versuchsbedingungen solche
Vesikel, die von eingelagerten Peptiden stabilisiert werden. gasförmiges Gasblasen
CO2 in Wasser
Nach rund 1500 Vesikel-»Generationen« führt das zu kom-
plexen Bläschen mit Peptiden, die neue, stabilisierende
Funktionen erfüllen. Darunter fällt die Bildung tunnelartiger 1 Kilometer überkritisches CO2:
Tiefe 31 °C, 74 Bar
Strukturen in der Membran, die wasserdurchlässig sind und
infolgedessen den osmotischen Druck auf die Vesikelhülle
reduzieren. Man kann das als Evolutionsprozess verstehen,
der zu mehr Differenzierung hinführt. Die Sequenzen der
daran beteiligten Peptide sind sehr vielfältig – was nicht
wundert, denn zwölf verschiedene Aminosäuren ergeben Rückstau aufsteigender

organischer
überkritischer Gase an

Transport

Moleküle
schon bei einer Zehnerkette mehr als 60 Milliarden mögli- Vorsprüngen im Gestein
che Sequenzen. In der präbiotischen Evolution mögen sich
daher zahlreiche Peptide spontan gebildet haben, doch für Wasser
die Entstehung lebender Strukturen brauchte es einen
Speicher, der ihren Bauplan festhielt, so dass die frühen
Organismen sie reproduzierbar herstellen konnten. überkritisches
CO2
Henne oder Ei?
Damit steht eine besonders schwierige Frage im Raum: Wie 7 Kilometer überkritisches Wasser:
kam es auf dem Weg zur ersten Zelle dazu, dass die Bau­ Tiefe 375 °C, 221 Bar
anleitung der Zellbestandteile in der Struktur einer Nuklein-
säure codiert und somit als genetische Information an die
überkritisches Wasser Mischung aus über­
Nachkommen weitergegeben werden konnte? Als Informa- kritischem Wasser und
+ überkritisches CO2
tionsträger diente dabei zunächst wahrscheinlich die RNA; überkritischen Gasen
erst später nahm, vermutlich aus Stabilitätsgründen, die
DNA ihren Platz ein. Douglas LaRowe und Pierre Regnier
von der Utrecht University haben 2008 in thermodynami-
schen Analysen gezeigt, dass die Bausteine von Nuklein- Schema der hydrothermalen Verhältnisse, wie sie in
säuren – Nukleinbasen sowie die Zucker Ribose und Des- einer tief hinabreichenden Spalte der Erdkruste vor
oxyribose – unter hydrothermalen Bedingungen aus den rund vier Milliarden Jahren existiert haben könnten.
Ausgangsstoffen Formaldehyd und Zyanwasserstoff entste-
hen können. Wir selbst haben experimentell in einem
solchen Umfeld bereits die Verknüpfung von Nukleinbasen zum »Verklumpen«, sobald Abschnitte mit komplementären
und Zuckern einerseits, von Zuckern und Phosphaten Basenabfolgen einander nahekommen. Dadurch bilden sich
andererseits beobachtet. Eine vollständige Nukleotidbil- Doppelstränge und Schleifenstrukturen, was unter anderem
dung konnten wir allerdings noch nicht nachweisen und den Kopiervorgang behindert. In diesem Fall ist eine Tempe-
müssen daher die Nukleotid- und RNA-Bildung in hydro- ratur von mehr als 60 Grad Celsius erforderlich, um die
thermalen Spalten in unserem Modell zunächst vorausset- »verklebten« Stränge voneinander zu trennen; erst dann
zen. Dass sich RNA-Moleküle unter bestimmten Verhältnis- lassen sie sich wieder kopieren.
sen selbst kopieren und als »Ribozyme« zudem katalytisch Hier kommt eine Besonderheit von Geysiren ins Spiel:
aktiv sein können, haben Forscher um den amerikanischen Jedes Mal, wenn sie oberirdisch ausbrechen, fällt der Druck
Molekularbiologen Sol Spiegelmann bereits 1967 belegt. der Wassersäule in darunter liegenden Gesteinsspalten ab,
RNA-Moleküle sind bei sauren pH-Werten zwischen 3 bis in den Grenzbereich zum überkritischen Gas hinein.
und 4, die in den Fluiden in tektonischen Störungszonen Infolgedessen wird dieses über einen Bereich von einigen
üblich sind, besonders stabil. Allerdings neigen ihre Stränge dutzend Metern hinweg schlagartig unterkritisch, dehnt sich
aus und kühlt im Zuge des Joule-Thomson-Effekts ab. Das
ist der Moment, in dem sich komplementäre Nukleotide an
den RNA-Strang anlagern, wobei Doppelstränge entstehen.
Sobald die Geysireruption vorüber ist, läuft Wasser von
Mehr Wissen auf der Oberfläche in die Spalten zurück, und der Druck in der
Spektrum.de Tiefe steigt wieder. Das Gas wird komprimiert, erneut
Unser Online-Dossier zum Thema überkritisch und heizt sich auf einen Wert auf, der über der
finden Sie unter Schmelztemperatur der RNA-Doppelstränge liegt. Die
spektrum.de/t/ Stränge trennen sich voneinander und stehen für einen
INSTITUTE FOR EXPLORATION,
URI-GSO AND INSTITUTE entstehung-des-lebens
FOR ARCHAEOLOGICAL OCEANO
GRAPHY, URI
neuen Zyklus bereit. Tektonische Bruchzonen mit Geysiren
sollten somit eine Umgebung schaffen, in der RNA-Stränge

16 Spektrum der Wissenschaft  7.20


beliebig oft kopiert werden, solange ausreichend Bausteine eine solche enzymatische Aktivität mussten diese Peptide
zur Verfügung stehen. wohl zumindest zwei unterschiedliche Aminosäuresorten
Wenn in den hydrothermalen Spalten der Erdkruste nicht enthalten – vermutlich jene, die damals eben am häufigsten
nur Peptide und Vesikel entstanden, sondern auch RNA- waren, also Glycin und Alanin. Um die Peptide anhand der
Moleküle, könnte eine bestimmte Sorte davon vielleicht Bauanleitung eines RNA-Strangs und mit Hilfe von tRNAs
einen entscheidenden Anteil an der Entstehung des Lebens immer wieder nachzuproduzieren, brauchte es zwei Sorten
gehabt haben – die Transfer-RNAs (tRNAs) beziehungswei- beladener tRNAs: solche, die Glycin trugen, und solche, die
se ihre damaligen Vorläufermoleküle. Diese kurzen RNA- mit Alanin bepackt waren. Entsprechend hätte es auch
Stücke können auf einer Seite eine spezifische Aminosäure zweier verschiedener Peptidvarianten bedurft: eine, die
ankoppeln und tragen auf der anderen Seite eine Art Bar- Glycin auf passende tRNAs lud, und eine weitere, die das
code, das »Anticodon«: eine Einheit aus drei aufeinander mit Alanin tat. In dem Moment, in dem die Aminosäurese-
folgenden Nukleinbasen. Sie heftet sich an eine jeweils quenz dieser beiden Peptide in einem RNA-Strang festge-
dazu passende (komplementäre) Nukleotidsequenz auf halten war, könnte ein sich selbst erhaltender Apparat
einem Boten-RNA-Molekül. Das stellt in heutigen Zellen entstanden sein. Der RNA-Strang lieferte die Bauanleitung
sicher, dass die in der Boten-RNA codierte Information auf für die beiden Peptide, die ihrerseits tRNAs mit Glycin
eindeutige Weise in eine Aminosäurekette übersetzt wird. beziehungsweise Alanin beluden und auf diese Weise zwei
Sorten von Bausteinen erzeugten, mit deren Hilfe wiederum
Überhang von Glycin und Alanin entlang des RNA-Strangs die Peptide hergestellt wurden
Bisherige Modelle zur Entstehung des Lebens haben einen und so weiter. Wurde darüber hinaus noch der RNA-Strang
Punkt weitgehend außer Acht gelassen: Zu Beginn der kopiert, vervielfältigte sich der Apparat und konnte damit
Entwicklung waren wahrscheinlich nicht alle Aminosäuren überdauern. Es ist ein hypothetisches Szenario – aber eines,
gleichermaßen verfügbar, die in heutigen Lebewesen als das mit sehr niedriger Komplexität auskommt (zwei Amino-
Bausteine von Proteinen dienen. Vermutlich wurde ihre säuren, zwei Peptide, tRNAs und RNA-Strang) und sich
Mengenverteilung davon bestimmt, wie einfach – und noch einfacher kaum vorstellen lässt.
somit wie häufig – sie sich spontan bilden konnten. Die Die Selbstvermehrung des Apparats führte dazu, dass
beiden am leichtesten unter hydrothermalen Bedingungen sich von jetzt an sowohl die Peptide als auch der RNA-
entstehenden Aminosäuren Glycin und Alanin waren wohl Strang als auch die beladenen tRNAs vervielfältigten.
die häufigsten, während die anderen seltener vorkamen. Andererseits entstanden weiterhin durch zufällige Reihung
Diese Randbedingung ist wichtig für eine Antwort auf von mit unterschiedlichen Aminosäuren beladenen tRNAs
die Frage, wie der RNA-Speicher der Erbinformation ent- ständig neue Peptide und korrespondierende RNA-Stränge.
standen sein könnte und welcher Prozess dafür sorgte, dass Irgendwann tauchte ein drittes Peptid samt zugehörigem
die Nukleotidsequenz mit der Aminosäuresequenz von RNA-Strang auf, das eine dritte Aminosäure spezifisch auf
Peptiden und Proteinen verknüpft wurde. Dazu schlagen
wir die folgende Hypothese vor.
In den bereits erwähnten Experimenten haben wir Mikroskopaufnahme von Vesikeln, die in Laborexpe-
demonstriert, dass unter den hydrothermalen Bedingungen rimenten der Autoren unter hohen Drücken und
tektonischer Bruchzonen ständig Peptide und Vesikel Temperaturen aus geeigneten Ausgangsstoffen
entstehen. Zudem liegen dort Verhältnisse vor, unter denen spontan entstehen.
RNA-Moleküle fortlaufend kopiert werden können. Weil
damals mutmaßlich ein Überangebot von Glycin und Alanin
vorlag, sind wohl hauptsächlich Peptide entstanden, die
sich nur aus jenen zwei Aminosäuren zusammensetzten.
Diese Peptide bildeten sich in einer Unzahl von Varianten
und rein zufallsbedingt. Die meisten von ihnen übten keine
Funktion aus, manche aber besaßen zufällig die Eigen-
schaft, tRNAs mit Aminosäuren zu verbinden – wobei das
zunächst völlig wahllos geschah. Die derart beladenen
tRNAs sammelten sich in den Gesteinskammern an, wobei
ihre hintereinander liegenden Anticodons eine Vorlage
bildeten, an der durch Anlagern von Nukleotiden ein dazu
MARIA J. DAVILA GARVIN, MIT FRDL. GEN. VON ULRICH SCHREIBER

komplementärer RNA-Strang entstehen konnte. Zugleich


verknüpften sich auf der anderen Seite der tRNAs die daran
gebundenen Aminosäuren zu einem Peptidstrang.
Auf diese Weise bildeten sich zahllose Peptide und damit
korrespondierende RNA-Stränge, die aber wieder ver-
20 μm
schwanden, weil es keinen Mechanismus gab, der für ihre
Vervielfältigung sorgte. Die Situation könnte sich geändert
haben, als Peptidvarianten auftauchten, die Aminosäuren
ganz spezifisch nur auf dazu passende tRNAs luden. Für

Spektrum der Wissenschaft  7.20 17


Vesikel-Experimente
Flüssigkeitseinschlüsse in archai- das zuvor im überkritischen CO2 kommen, umschließen sie diese
schen Quarzen lassen vermuten, gelöst war, bildet nun feine Nebel- mit einer zweiten Hülle. So können
dass in den hydrothermalen Spal- tröpfchen, in denen sich die orga- Vesikel mit Lipid-Doppelmembra-
ten der frühen Erde eine Mixtur nischen Moleküle ansammeln, weil nen entstehen, deren Aufbau einer
aus langkettigen Aminen und sie nicht im Gas verbleiben kön- Zelle ähnelt. Ihr Innenraum weist
Fettsäuren vorlag. Eine solche nen. Die Tröpfchen sinken auf die nur wenig gelöste Salze, aber
Mischung lässt sich experimentell Oberfläche des umgebenden einen hohen Gehalt an organi-
jenen Temperaturen und Drücken Wasserkörpers, während sich auf schen Molekülen auf. Im umge-
aussetzen, wie Forscher sie für die ihrer Außenseite hydrophobe benden Wasser hingegen sind
damalige obere Erdkruste anneh- Amine und Fettsäuren anlagern. viele Salze gelöst. Aus diesem
men. Lässt man den Druck in Auch auf dem Wasserkörper Konzentrationsgradienten könnten
diesem Umfeld plötzlich abfallen, bilden Amine und Fettsäuren eine erste Protozellen die Energie für
wechselt überkritisches CO2 in den Art Film, und sobald sie Kontakt einen einfachen Metabolismus
gasförmigen Zustand. Das Wasser, mit absinkenden Tröpfchen be- geschöpft haben.

tRNAs lud und fortan an dem sich selbst erhaltenden Mole- ist nicht komplex genug, um solche Varianten zu bilden,
külensemble mitwirkte. Aus den jetzt drei Aminosäuren, die und somit achiral. Links- wie rechtshändige Moleküle sind
als Bausteine verfügbar waren, konnte sich mit Hilfe frei zunächst wohl gleich oft entstanden, und alle Reaktionen
kombinierbarer tRNAs ein viertes Peptid herausbilden, das damit haben vermutlich immer mit beiden stattgefunden.
eine vierte Aminosäure spezifisch auf tRNAs lud und so Daher bildeten sich zunächst gleich viele Peptide mit links-
weiter. Diese Entwicklung lässt sich fortschreiben. Ein wie mit rechtshändigem Alanin, allerdings mit je unter-
wichtiger Aspekt des Szenarios ist, dass es mit einem sehr schiedlichen Sequenzen. Die Entscheidung für eine von den
einfachen Zustand startet und dann sukzessive komplexer beiden fiel, als der sich selbst erhaltende Apparat ent-
wird. Zudem entstehen in diesem Modell viele Peptide ohne stand – und zwar für jene Peptidversion, die als Erste eine
Funktion, deren Bauplan in RNAs festgehalten wird. Diese spezifische Beladung der tRNAs erreicht hatte. Da sie chiral
Junk-Moleküle könnten sich später infolge kleiner Mutatio- war, führten auch die von ihr katalysierten Reaktionen zu
nen in funktionstragende umgewandelt haben. Produkten einer bestimmten Händigkeit, die fortan immer
Heute liegen Aminosäuren und andere Biomoleküle stärker dominierte. Die pH-Werte tief in den tektonischen
meist nur in einer von zwei möglichen spiegelbildlichen Störungszonen liegen übrigens genau in dem Bereich, in
Formen vor – Biochemiker sprechen von links- und rechts- dem sich bevorzugt Peptide mit nur einer Händigkeit bilden,
händigen Varianten. Die Entscheidung für eine der beiden wie Grégoire Danger von der Université d’Aix Marseille und
ist wohl schon sehr früh in der Evolution gefallen. Unser seine Kollegen 2012 gezeigt haben.
Modell könnte einen Hinweis darauf liefern, wie das ge- Wie wir im Labor demonstriert haben, bilden sich unter
schah. Alanin ist chiral, das heißt, es gibt sowohl eine den hydrothermalen Bedingungen tektonischer Bruchzonen
links- als auch eine rechtshändige Version. Glycin dagegen spontan Vesikel, die ein breites Spektrum verschiedener

Welcher Mechanismus sorgte in der frühen Evolution Peptide


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: ULRICH SCHREIBER

dafür, dass die Aminosäuresequenz von Peptiden mit der


Nukleotidsequenz von Nukleinsäuren verknüpft wurde?
Möglicherweise spielten hier Transfer-RNAs (tRNAs)
beziehungsweise ihre damaligen Vorläufermoleküle eine
Rolle. Wenn sie mit Aminosäuren (blaue und pinke Punk-
te) beladen und hintereinander aufgereiht waren, könnten
sich auf der einen Seite die Aminosäuren zu einem Pep- beladene
tRNA
tidstrang verknüpft haben, während ihre Anticodons auf
der anderen Seite eine Vorlage bildeten, an der ein dazu
komplementärer RNA-Strang entstehen konnte. Hätte
dieser Prozess Peptide hervorgebracht, die zufällig die zufällige Reihung
Eigenschaft hatten, tRNAs mit genau jenen Aminosäuren beladener tRNAs

zu beladen, aus denen sie selbst bestanden (oben im


Bild), könnte das einen sich selbst erhaltenden Molekül- Vorlage für das Anlagern von Nukleotiden, die
apparat hervorgebracht haben. sich zu einem RNA-Molekül verknüpfen

18 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Moleküle enthalten können. Dieser Vorgang fand unzählige

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: CHRISTIAN MAYER


Male in unzähligen Gesteinskammern der jungen Erdkruste
statt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dabei alle Bestand- Ordnung, Komplexität und Leben
teile des oben beschriebenen Molekülapparats in jeweils
großer Zahl in einem Vesikel eingeschlossen wurden. Auch

Ordnungsgrad lebender Zellen


Peptide beziehungsweise Proteine, die zufällig einen Stoff- teerähnliche

Ordnungsgrad einer aufgelösten Zelle

Leben oder von


ihm geschaffene
Strukturen
austausch durch die Vesikelmembran hindurch ermöglich- Produkt-
mischung Intelligenz
ten, könnten darunter gewesen sein, ebenso wie Enzyme,
die das Kopieren bestimmter Moleküle katalysierten. Dabei
vielzellige
ist möglicherweise ein zellähnliches Gebilde entstanden,

Komplexität
Organismen
dessen innerer Molekülapparat sich permanent vermehrte,
das fortlaufend weitere Membranmoleküle aus der Umge-
bung aufnahm und somit beständig wuchs. Mit Erreichen Minimalgenom lebender Zellen: 93 kByte
einer bestimmten Größe hätte eine starke Strömung inner- Viren
halb der Bruchzone – etwa infolge einer Geysireruption –
ausgereicht, um das Gebilde mechanisch durch Scherung
Gase Flüssigkeiten Festkörper Kristalle
zu teilen. Vergleichen lässt sich das mit einer Seifenblase,
deren Hülle sich in der Mitte berührt, worauf sie sich in Ordnungsgrad
zwei Blasen trennt. Es wäre die erste Teilung einer zellähnli-
chen Struktur gewesen, deren Bestandteile sich vervielfäl- Leben erfordert ein gewisses Maß an Komplexität.
tigten, wenngleich sie noch auf einem sehr primitiven Allerdings gibt es Systeme, die zwar komplex, aber
Mechanismus beruhte. Wegen der mutmaßlich großen nicht lebendig sind – etwa teerähnliche Produktmi-
Überzahl funktionsfähiger Moleküle im Zellinnern dürfte es schungen, die in unkontrollierten Reaktionsketten
in jeder Teilzelle noch genug von ihnen gegeben haben, entstehen. Leben erfordert auch Ordnung, doch
damit sich das Gebilde weiter vervielfältigen konnte. selbst ein extrem geordneter Zustand, etwa Kris-
tallstrukturen, muss nicht zwangsläufig lebendig
Geschützt und langlebig sein. Kombiniert man jedoch die Eigenschaften
Das hier beschriebene hypothetische Modell bietet mögli- Komplexität und Ordnung, so wie innerhalb des
che Auswege aus Problemen, die sich mit anderen Model- schattierten Rechtecks im Diagramm, gelangt man
len kaum oder gar nicht lösen lassen. In unserem Szenario in die Domäne des Lebens. Alles uns bekannte
lief die präbiotische Evolution in einem Umfeld ab, das Leben fällt in diesen Bereich: Es weist immer einen
langfristig stabil und vor Sonnenwind, UV-Strahlung, Mete- hohen Ordnungsgrad bei zugleich hoher Komplexi-
oriteneinschlägen, Trockenheit und Erosion geschützt war. tät auf. Strukturen, auf die das zutrifft, sind ent­
Die Energie für die präbiotische Evolution stammte aus der weder lebendig oder ein Produkt des Lebens –
Wärme und Entgasung des Erdmantels. Die Ausdehnung etwa ein Schneckenhaus, ein Buch, ein Computer-
der Bruchzonen, ihre Langlebigkeit, die Menge gelöster programm oder eine musikalische Komposition.
Stoffe und die ständig ablaufenden Reaktionen in hydro- Christian Mayer
thermaler Umgebung sorgten dafür, dass alle molekularen
Ausgangssubstanzen dauerhaft und im Überfluss zur
Verfügung standen. Da die Fluide ständig in Bewegung
waren und zwischen verschiedenen Phasen wechselten,
kam es selten zum Verklumpen von Reaktionsprodukten.
QUELLEN
Reaktionen, die nur in organischen Lösungsmitteln erfolgen
können, liefen im überkritischen Gas ab. Durch zyklische Danger, G. et al.: Pathways for the formation and evolution of
peptides in prebiotic environments. Chemical Society Reviews
Druckänderungen entstanden immer wieder Peptide sowie
41, 2012
Vesikel, die organische Moleküle einschlossen. Zugleich
variierten die Temperaturen in einem Bereich, der das Mayer, C. et al.: Periodic vesicle formation in tectonic fault
zones – an ideal environment for molecular evolution. Origins of
wiederholte Kopieren von RNA-Strängen ermöglichte. Die life and evolution of the biosphere 45, 2015
pH-Werte lagen für wichtige Moleküle wie RNAs in einem
Mayer, C. et al.: Molecular evolution in a peptide-vesicle
Optimum. Zusätzlich standen Stoffe zur Verfügung, die
system. Life 8, 2018
RNA-Stränge nachweislich stabilisieren, etwa Bor und
Magnesium. Die Prozesse, die die Peptid- mit der RNA-Welt Schreiber, U. et al.: Organic compounds in fluid inclusions of
Archean quartz – analogues of prebiotic chemistry on early
verknüpften, wirkten über lange Zeit hinweg, so dass
Earth. PLOS ONE 12, 2017
zahlreiche Kombinationen von Peptiden und korrespondie-
renden RNA-Strängen durchgespielt werden konnten.
LITER ATURTIPP
Schließlich vollzog sich die erste Zellteilung in unserem
Szenario rein mechanisch und erforderte nicht die komple- Schreiber, U.: Das Geheimnis um die erste Zelle. Springer, 2019
xen Teilungsabläufe heutiger Zellen, die es unmöglich Der Autor stellt ein Modell dazu vor, wie die ersten Zellen in
schon damals gegeben haben kann.  hydrothermalen Spalten der Erdkruste entstanden sein könnten.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 19


FORSCHUNG AKTUELL
PHARMAZIE

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Covid

KOTO_FEJA / GETTY IMAGES / ISTOCK;


IMPFSTOFFSUCHE IM SCHNELLGANG
Bei der Entwicklung von Vakzinen gegen Covid-19 Covid-19-
setzen immer mehr Firmen auf genbasierte Verfahren. PANDEMIE


Als chinesische Wissenschaftler mehrere genbasierte Substanzen reproduzieren können, kapern sie die
am 10. Januar 2020 das Erbgut gegen andere Viren entwickelt worden Maschinerie einer Zelle, die daraufhin
eines mysteriösen, sich rapide sind, ist bislang kein einziger für Men- neue Erreger produzieren.
ausbreitenden Virus veröffentlichten, schen zugelassen. Praktisch alle Labore setzen bei der
bestätigte dies Dan Barouchs größte Ein konventioneller Impfstoff be- Impfstoffsuche gegen Sars-CoV-2 auf
Sorge: Das Genom ähnelte dem des steht aus dem abgeschwächten Krank- das so genannte Spike-Protein als
Coronavirus, das 2003 den Sars-Aus- heitserreger oder Teilen von ihm (siehe Antigen. Wie ein Stachel ragt es von
bruch (Severe Acute Respiratory Syn- »Entwicklung eines Impfstoffs gegen der Oberfläche des Coronavirus her-
drome) verursacht hatte, wies aber Viruserkrankungen«, rechts). Wird er aus und ermöglicht es dem Erreger, an
auch markante Unterschiede auf. »Mir in den Körper injiziert, erkennt das eine menschliche Zelle anzudocken
war sofort klar, dass niemand dagegen Immunsystem die viralen Moleküle und in sie einzudringen. Es gibt drei
immun sein würde«, erzählt der Direk- und bildet gegen diese »Antigene« Methoden, um ein Spike-Antigen zu
tor des Center for Virology and Vac­ Antikörper, die den Erreger überall im entwerfen. Der erste Ansatz funktio-
cine Research am Beth Israel Deacon­ Körper finden und neutralisieren niert über DNA-Plasmide. Diese klei-
ess Medical Center in Boston (USA). können. Nach dieser Sensibilisierung nen, ringförmigen Moleküle haben
Binnen weniger Tage begannen behalten so genannte Gedächtniszel- sich in der Mikrobiologie schon lange
sein Labor ebenso wie dutzende len des Immunsystems das Wissen, als probates Hilfsmittel für den Aus-
andere auf der ganzen Welt mit der wie sich die Eindringlinge vernichten tausch genetischer Informationen
Suche nach Impfstoffen, um damit lassen, um so zukünftige Infektionen bewährt. Veterinärmedizinisch werden
Milliarden von Menschen vor dem zu stoppen. DNA-Plasmid-Impfstoffe bei Hunden,
Virus Sars-CoV-2 zu schützen – der Schweinen oder Pferden eingesetzt,
größten Herausforderung für die Bei einem neuen Erreger dauert die doch beim Menschen verzögerte sich
globale Gesundheit und den Wohl- Impfstoffentwicklung viel zu lange bisher die Anwendung. Meist scheitert
stand seit Ende des Zweiten Welt- Dabei werden geschwächte Viren in der Ansatz daran, dass die Vakzine nur
kriegs. Bis April 2020 waren es schon der Regel in Hühnereiern – oder neuer- schwer die schützende Zellmembran
etwa 80 Unternehmen und Institute in dings auch in Säugetier- oder Insek- überwinden können, um so ihr Ziel im
19 Ländern, die daran forschten. Statt tenzellen – gezüchtet und die ge- Innern zu erreichen. Neuerdings ver-
auf traditionelle Vakzine, wie sie sich wünschten Stücke daraus extrahiert. suchen Forscher, mittels Elektropora­
etwa bei der Grippe seit mehr als Es dauert mitunter vier bis sechs tion, also mit kurzen Stromstößen,
70 Jahren bewähren, setzen die meis- Monate, um so die richtigen viralen Poren in der Zellmembran zu erzeu-
ten Labore jetzt auf Gentechnik. Wie Antigene zu erhalten, die sich etwa bei gen, durch die der Impfstoff eindrin-
die Wissenschaftler hoffen, könnte ein der Grippe jedes Jahr verändern. Bei gen kann.
erster Impfstoff bereits Anfang 2021 einem neu aufgetretenen Erreger Das US-amerikanische Pharmaun-
verfügbar sein – was unglaublich können so durch zahlreiche Versuche ternehmen Inovio begann vor einigen
schnell wäre angesichts der Tatsache, mehrere Jahre ins Land ziehen – viel Jahren mit klinischen Studien für einen
dass es normalerweise Jahre bis zu lange für einen Virusausbruch, der DNA-Plasmid-Impfstoff, der vor einem
Jahrzehnte dauert, bis ein Vakzin bereits pandemische Ausmaße ange- anderen Coronavirus – dem Erreger
gegen einen neu aufgetretenen Erre- nommen hat. von Mers (Middle East Respiratory
ger entwickelt und einsatzfähig ist. Bei genbasierten Impfstoffen nut- Syndrome) – schützen soll. Laut dem
Selbst der im Eiltempo geschaffene zen Forscher das Virusgenom, um Vorstandsvorsitzenden Joseph Kim
Ebola-Impfstoff brauchte fünf Jahre, einen Bauplan ausgewählter Antigene sind die Antikörperspiegel bei geimpf-
um alle Studien zu durchlaufen. Falls zu erstellen. Dazu injizieren sie virale ten Personen »genauso gut oder
es den Forschern gelingen sollte, in DNA- oder RNA-Moleküle in menschli- besser als bei denjenigen, die sich
einem Jahr ein sicheres und wirksa- che Zellen, welche die genetische (natürlich) von Mers erholt haben«. Die
mes Mittel anzubieten, wäre das nach Information verwenden, um Virusanti- Firma will nun basierend auf diesem
Barouchs Ansicht »die schnellste gene herzustellen, auf die wiederum Plasmid einen Impfstoff gegen Sars-
Impfstoffentwicklung der Geschichte«. das Immunsystem reagieren kann. Der CoV-2 herstellen.
Doch die Betonung liegt auf dem Vorgang gleicht einer natürlichen Bei DNA-Plasmid-Impfstoffen
Wörtchen »falls«. Obwohl bereits Infektion: Da Viren sich nicht selbst überträgt die Zelle den genetischen

20 Spektrum der Wissenschaft  7.20


isoliertes
Herstellung des Impfserums
Ein konventioneller Impfstoff Virus Entwicklung eines Impfstoffs
besteht aus einer abge- gegen Viruserkrankungen
schwächten Version oder aus
Bruchstücken des Virus. Die
Entwicklung und Herstellung Ein Impfstoff setzt den Körper einer modifizierten
dauert lange, hat sich aber Version eines Virus aus, so dass das Immunsys-
bewährt. Schneller sind
genetische Verfahren, die das tem angeregt wird, Antikörper gegen ihn zu
Erbgut als Impfstoff einsetzen. produzieren. Infiziert sich der Geimpfte später mit
Hier liegen bislang erst wenige
Erfahrungen vor.
dem eigent­lichen Erreger, erinnert sich die
Körperabwehr an dessen chemische
Aufbereitung Sequenzierung Struktur und kann dadurch den Eindring-
als Impfstoff des Virusgenoms ling besser bekämpfen.

abgeschwächtes inaktiviertes isolierte Isolierung und Veränderung viraler Gene


Virus Virus Virenpartikel

Einfügung Einfügung Einfügung


viraler Gene in viraler Gene in viraler Gene in
DNA-Plasmid RNA-Lipid ein Adenovirus

Herstellung
des Impfserums
und Testung

Präklinische und präklinische Prüfungen


klinische Prüfungen
Der Impfstoff wird zunächst an Tieren
Tests an Zellkulturen
(präklinisch) und danach an gesunden zu toxisch?
und Tieren
Freiwilligen (klinisch) getestet. Bei den
klinischen Prüfungen erhalten ihn zu-
nächst nur sehr wenige Perso-
nen, danach mehrere hundert
bis zehntausende. Falls dabei
schwere Nebenwirkungen nein ja
auftreten oder der Impfstoff Regt die Prüfsubstanz
immunologisch versagt, wird das Immunsystem an,
die Entwicklung beendet. spezifische Antikörper zu
ja produzieren? nein
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2020; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

klinische Prüfungen Stopp

Phase III:
Phase I: Phase II:
Verhindert der Produktion
Ist der Impfstoff nein Ist der Impfstoff nein nein
Impfstoff sicher Ein erfolgreicher
sicher? Sind die sicher? Gibt es
bei vielen Impfstoff muss von den
Nebenwirkungen eine ausreichende
Menschen eine Behörden zugelassen
vertretbar? Pro- Immunantwort?
Infektion? und in großen Mengen
duziert das Im- Stimmt die Do-
ja ja Getestete ja produziert werden.
munsystem Anti- sierung? Geteste-
Personen: 10 000
körper? Getestete te Personen:
und mehr
Personen: 10–100 mehrere hundert

Spektrum der Wissenschaft  7.20 21


FORSCHUNG AKTUELL
Bauplan auf zelluläre RNA, mit denen Vektor menschliche Zellen und baut Die neu entwickelten Vakzine
sie wiederum die Spike-Antigene dadurch die fremde DNA ein. Adeno­ können jedoch auch eine Schattensei-
herstellt. Dieser Schritt lässt sich viren können zwar leicht in Zellen te bergen: das Antibody Dependent
jedoch überspringen, wenn man den eindringen, allerdings werden einige Enhancement. Demnach besteht die
Bauplan direkt als RNA liefert – der von ihnen schnell vom menschlichen Gefahr, dass ein Impfstoff die Sympto-
zweite Ansatz für genetische Impf­ Immunsystem erkannt und attackiert. me von Covid-19, der von Sars-CoV-2
stoffe. Dabei packen die Wissen- Barouch verwendet daher einen Virus- verursachten Krankheit, unbeabsich-
schaftler die RNA in Lipide – Fettmole- typ, der sich nach bisherigen Erkennt- tigt verschlimmern könnte. So traten
küle, die leicht die Zellmembran pas- nissen besser am Abwehrsystem vor- bei Frettchen, denen 2004 ein experi-
sieren können – und injizieren das beischleichen kann. Da manche Exper- menteller Sars-Impfstoff verabreicht
Ganze in den Körper. Wie bisherige ten befürchten, dass sich das Adeno­ wurde, gefährliche Entzündungen auf.
Forschungsergebnisse zeigen, können virus im Körper vermehren und Krank- Allerdings ließ sich laut Joseph Kim
solche RNA-Impfstoffe das Immun­ heiten verursachen könnte, kreierte von Inovio bei Menschen, die mit dem
system möglicherweise intensiver als Barouchs Team ein künstliches Virus, Impfstoff behandelt wurden, keine
DNA-Plasmide zur Antikörperbildung das keine Kopien von sich selbst her- solche Krankheitsverstärkung beob-
mobilisieren. Da sie auch eine stärkere stellen kann, da es hierfür eine Subs- achten. Doch die Substanz wurde nie
Immunität, also ein besseres Immun- tanz benötigt, die im menschlichen an größeren Probandenzahlen getes-
gedächtnis zu erzeugen scheinen, Körper fehlt. tet, weil der Sars-Ausbruch – bei dem
benötigt man vergleichsweise gerin­ etwa 8000 Menschen in fast 30 Län-
gere Dosen. Bei anderen Viruserkran- Testen, testen, testen dern erkrankten – nach einem Jahr
kungen wie Tollwut, Aids oder Zika Hat sich die grundlegende Funktionali- verebbte.
fanden bereits erste klinische Studien tät eines Impfstoffs in Laborkulturen Die Firmen beschleunigen die
mit RNA-Impfstoffen statt. Die US- bestätigt, wird er an Tieren getestet, Entwicklungszeit für einen Sars-CoV-2-
amerikanische Biotechnologie­firma um festzustellen, ob er eine Immun- Impfstoff, indem sie ihre Substanzen
Moderna, das in Mainz ansässige antwort auslöst. Als Nächstes folgt der an mehreren Tierarten gleichzeitig
Unternehmen BioNTech sowie die Test an Menschen: zuerst in kleinen sowie parallel an einer kleinen Zahl
Tübinger Firma CureVac verwenden Gruppen, um Sicherheit und Neben- menschlicher Probanden testen.
diesen Ansatz für Sars-CoV-2 (siehe wirkungen zu überprüfen, dann in Gewöhnlich erfolgen solche Studien
hierzu das Interview in »Spektrum« immer größeren, um zu sehen, wie gut nacheinander, um sicherzustellen,
Juni 2020, S. 25). er wirkt. Inovio testet sein DNA-Plas- dass nur wenige Nebenwirkungen
mid bereits seit dem 6. April 2020, nur auftreten und dass das Immunsystem
drei Monate nach der Veröffentlichung wirksam anspringt. Doch der Zeitdruck
Sars-CoV-2 scheint des Sars-CoV-2-Genoms, in kleinem rechtfertigt ein höheres Risiko.
Maßstab an menschlichen Probanden. Um die Welt vor Covid-19 zu schüt-
nicht so schnell zu Moderna begann sogar schon am zen, bedarf es enormer Produktions­

mutieren wie das 16. März mit ersten Studien am Men-


schen für seinen RNA-Impfstoff. Und
kapazitäten. Die DNA-Plasmid- und
RNA-Impfstoffe wurden noch nie in
Grippevirus am 22. April genehmigte das in
Deutschland zuständige Paul-Ehrlich-
einer Stückzahl von Millionen Dosen
hergestellt, und kleinere Firmen besit-
Institut BioNTech, erste klinische zen solche Kapazitäten überhaupt
Allerdings erweist sich RNA als Studien mit etwa 200 gesunden nicht. Laut Barouch verläuft die Ent-
weniger stabil als DNA-Plasmide und Erwachsenen durchzuführen, die RNA wicklung genbasierter Impfstoffe zwar
wird im Körper durch normale Enzyme als Corona-Impfstoff erhalten. zunächst zeitaufwändig, die Produk­
schnell abgebaut. Da ihnen im Ge­ Auch wenn seit dem Ausbruch der tion lasse sich aber dann »schnell
gensatz zu DNA-Plasmid-Impfstoffen Corona-Epidemie viel weniger Zeit bis hochskalieren«.
Wärme stärker zusetzt, müssen RNA- zum Beginn der klinischen Tests Nach Ansicht der Virologin Brenda
Impfstoffe tiefgefroren oder zumindest verstrichen ist als bei herkömmlichen Hogue von der Arizona State Universi-
gekühlt aufbewahrt werden, was vor Impfstoffen, ist keineswegs garantiert, ty gilt derzeit noch kein Prototyp eines
allem in ärmeren Ländern logistische dass die weiteren Studien mit gentech- Impfstoffs als klarer Favorit. Aber die
Probleme machen dürfte. nisch hergestellten Vakzinen nicht Schnelligkeit der genetischen For-
Zusammen mit dem US-Pharma- ebenfalls Jahre in Anspruch nehmen schung und das Engagement der
konzern Johnson & Johnson verfolgt werden. Glücklicherweise scheint Firmen ermutigen sie: »Ich bin sehr
Dan Barouch und sein Team einen Sars-CoV-2 nicht so schnell zu mutie- optimistisch.«
dritten Ansatz: Sie nutzen ein gewöhn- ren wie das Grippevirus, so dass ein
Charles Schmidt ist Wissenschaftsjourna-
liches Erkältungsvirus als Transport­ wirksamer Impfstoff, wenn er erst list in Portland (USA) und schreibt haupt-
vehikel für den DNA-Bauplan. Nach einmal entwickelt ist, für lange Zeit sächlich über Themen zu Gesundheit und
Injektion infiziert dieser adenovirale Schutz bieten könnte. Umwelt.

22 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

MOLEKULARBIOLOGIE
DURCHBRUCH BEI DER VORHERSAGE
VON PROTEINSTRUKTUREN
Biochemiker träumen seit Jahrzehnten davon,
die genaue dreidimensionale Struktur eines
Proteins aus der Aminosäuresequenz ablesen
zu können. Mit Hilfe von selbstlernenden Algo-
rithmen sind sie diesem Ziel nun deutlich
näher gekommen.

LEONID ANDRONOV / GETTY IMAGES / ISTOCK



Für fast alle chemischen und
mechanischen Prozesse in Zellen
sind Proteine verantwortlich. Sie
bestehen aus Aminosäureresten, die
lange Ketten bilden, und falten sich
spontan zu dreidimensionalen Struktu-
ren. Die Abfolge der Aminosäuren legt
die genaue Form und den Bewegungs-
umfang eines Proteins fest, was
wiederum seine Funktion bestimmt. Welche dreidimensionale Struk-
Biologen haben über Jahrzehnte tur wird ein bestimmtes Protein
Tausende dieser Strukturen experi- annehmen? KI könnte dabei
mentell untersucht, was allerdings helfen, diese knifflige Frage zu schaft zu durchqueren und innerhalb
extrem aufwändig ist. Daher wandten beantworten. von Millisekunden bis Minuten eine
sich einige von ihnen anderen Metho- bevorzugte Struktur anzunehmen.
den zu, um herauszufinden, welche Indem Algorithmen solche Landschaf-
Form ein Protein annehmen dürfte. Physikalische Chemiker entwickelten ten nach einem Minimum absuchen,
Andrew Senior vom Technologieunter- Näherungsverfahren, um die Energien können sie diesen Prozess vorhersa-
nehmen DeepMind und seine Kollegen der Proteine abzuschätzen, und Infor- gen. Allerdings führen die zahlreichen
haben nun den Algorithmus AlphaFold matiker entwarfen Algorithmen, mit Unebenheiten dazu, dass die Program-
entwickelt, der das Problem durch KI denen sie verschiedene Konformatio- me häufig weit entfernt vom tiefsten
angeht – und bereits zu großen Fort- nen untersuchen. Der erste Ansatz Punkt in etwas flacheren Tälern ste-
schritten geführt hat. erwies sich zunächst als erfolgreich; cken bleiben, wodurch sie falsche
Wegen der zahlreichen möglichen die Wissenschaftler erzielten damit Ergebnisse liefern.
dreidimensionalen Strukturen, die ein viele Fortschritte auf dem Gebiet. Bei Vor fast zehn Jahren erschienen
Protein bilden kann, lassen sich keine der zweiten Methode stießen sie mehrere bahnbrechende Arbeiten, die
einfachen Faltungsregeln herleiten. hingegen auf einige Probleme. das Forschungsfeld umkrempelten.
Das macht es so schwer vorherzusa- Darin wurde untersucht, inwiefern
gen, wie eine Aminosäuresequenz als Abenteuerliche Proteinlandschaft evolutionäre Prozesse Hinweise auf die
Protein aussehen wird. Letztlich legt Die möglichen Formen eines Proteins Gestalt eines Proteins enthalten. Ihre
die Quantenmechanik die genaue lassen sich mit einer Landschaft Grundidee ist folgende: Befinden sich
Proteinstruktur fest. Ließe sich die vergleichen: Jeder Ort steht darin für in einem bereits gefalteten Protein
exakte Energie für jede mögliche Form eine bestimmte Struktur, wobei nahe zwei Aminosäurereste nahe beieinan-
berechnen, müsste man bloß noch gelegene Positionen ähnlichen Faltun- der und eine Mutation ersetzt einen
die energetisch günstigste Konforma­ gen entsprechen. Die Höhe eines davon durch einen anderen Rest (etwa
tion heraussuchen. Allerdings hat Standorts stellt die Energie einer groß durch klein), dann erhöht das die
jedes Protein enorm viele verschiede- Konformation dar, das heißt der tiefste Wahrscheinlichkeit, dass nach einer
ne Faltungsmöglichkeiten, was eine Punkt ist der energetisch günstigste. gewissen Zeit der andere Rest entge-
solche quantenmechanische Herange- Natürliche Proteine bilden trichterför- gengesetzt mutiert (in diesem Beispiel:
hensweise eigentlich ausschließt. mige Landschaften. Wärmeschwan- klein zu groß) und so die Änderung
Das hat Forscher aber nicht davon kungen in der Zelle bringen neu syn- kompensiert. Bestimmt man derartige
abgehalten, es trotzdem zu versuchen. thetisierte Proteine dazu, diese Land- »koevolutionäre« Veränderungen,

Spektrum der Wissenschaft  7.20 23


FORSCHUNG AKTUELL
erfährt man etwas über die Protein- einer Landschaft. Diese überschneidet verschiedene Methoden zur Struktur-
struktur, nämlich dass die betroffenen sich in ihrem tiefsten Punkt mit der vorhersage beurteilt. AlphaFold fand für
Aminosäuren nahe beieinanderliegen. echten, verläuft aber viel glatter als 25 von 43 Proteinen die energetisch
Deswegen fingen die Forscher an, in das Original. Tatsächlich ist die Version günstigste Konformation – das nächst-
miteinander verwandten Proteinen von AlphaFold so glatt, dass sich das beste Programm schaffte das bei ledig-
nach derart evolutionär zusammen- Minimum schnell finden lässt. Statt lich drei aus 43. Die Ergebnisse von
hängenden Sequenzen zu suchen. komplexer Suchalgorithmen benötigt AlphaFold hatten eine mittlere Genauig-
Diese Informationen lassen sich man bloß noch vergleichsweise einfa- keit von 6,6 ∙ 10-10 Meter bei den Testob-
durch eine Matrix darstellen, eine so che Verfahren, um die günstigste jekten. Das heißt, die Atome waren in
genannte binäre Kontaktkarte. Sie Konformation zu bestimmen. den berechneten Proteinstrukturen nur
beschreibt, welche Aminosäurereste in durchschnittlich 0,66 Nanometer von
einer Proteinstruktur benachbart sind, AlphaFold übertrifft alle bisherigen ihren tatsächlichen Positionen entfernt.
was die Menge der möglichen Konfor- Methoden Es bleiben viele Herausforderungen
mationen erheblich einschränkt. Damit Dass man bei der Strukturvorhersage bestehen. Für die meisten Anwendun-
lassen sich energetisch günstige nicht zwingend auf komplizierte Such- gen ist AlphaFold nicht genau genug,
Proteinfaltungen vorhersagen, insbe- strategien zurückgreifen muss, ist etwa um katalytische Mechanismen
sondere wenn man viele evolutionär letztlich wenig überraschend. Denn von Enzymen oder die Bindung von
zusammenhängende Sequenzen kennt man die Abstände zwischen den Medikamenten an Proteinen zu erklären
kennt. Der zu Grunde liegende Gedan- Aminosäureresten, legt das ihre relati- (beides benötigt typischerweise eine
ke dieser Methode ist nicht neu. Doch ve Position im Raum fest, wovon Genauigkeit von 0,2 bis 0,3 Nanometer).
Anfang 2010 nahmen die verfügbaren wiederum die dreidimensionale Form Und obwohl das Suchverfahren von
Daten zu koevolutionären Aminosäure- des Moleküls abhängt. In manchen AlphaFold viel einfacher ist als die der
resten rasch zu, und gleichzeitig Fällen ließen sich bereits beispielswei- meisten anderen Algorithmen, dauert es
erzielten Informatiker entscheidende se relativ einfache Modelle von Pro- dennoch dutzende bis hunderte Stun-
algorithmische Durchbrüche, weshalb teinlandschaften nutzen, so genannte den, bis es eine einzige Vorhersage
die Biochemiker das Forschungsgebiet Gō-Potenziale, um die möglichen liefert. Für Bereiche wie das Proteinde-
in dieser Zeit rasch voranbrachten. Faltungen vorherzusagen. Diese sign, bei dem man die Strukturen vieler
Dabei sind sie weiterhin auf Com- Modelle berücksichtigen experimentell verschiedener Sequenzen modellieren
puterprogramme angewiesen, um die gemessene Abstände zwischen Ami- muss, stellt das ein Hindernis dar.
Energielandschaften der Proteine zu nosäureresten. Ihre Modelle legen Trotzdem markiert diese Arbeit einen
durchleuchten. Denn binäre Kontakt- nahe, dass sich Proteine eher wie Wendepunkt für das Forschungsfeld.
karten schränken den Suchraum zwar einfaches Origami als wie komplizierte Angesichts der ständig wachsenden
ein, sagen aber noch keine konkreten Knoten falten – alle Teile können dabei Anzahl an verfügbaren Proteinsequen-
dreidimensionalen Strukturen voraus. gleichzeitig entsprechend zusammen- zen könnte man in den nächsten fünf
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, kommen, um die dreidimensionale Jahren die groben Strukturen (etwa mit
wenn man koevolutionäre Informatio- Struktur zu bilden. Zudem zeigte ich 0,4 Nanometer Auflösung) der meisten
nen in Kontaktkarten umwandelt. bereits 2019, dass einige Deep-Lear- Proteine bestimmen, die aus einer
Denn die Wissenschaftler sind dabei ning-Algorithmen ganz ohne aufwän- einzigen gefalteten Domäne bestehen.
durch die Art der verwendeten Einga- dige Suche die Form von Proteinen Das würde die Lebenswissenschaften
bedaten und der erzeugten Ausgaben vorhersagen können. Andere Forscher nachhaltig ähnlich verändern, wie es die
eingeschränkt. Deep Learning, eine haben ähnliche Programme mit mini- zunehmenden Sequenzinformationen in
bestimmte Art maschinellen Lernens, malen Suchverfahren entwickelt. den letzten Jahrzehnten getan haben.
verbessert diesen Prozess, indem es Die Besonderheit von AlphaFold Beachtet man zusätzlich die rasanten
vielfältige Inputdaten zulässt. Alpha- besteht darin, dass es die Entfernun- Fortschritte in der Kryoelektronenmikro-
Fold nutzt dies, geht aber noch einen gen zwischen Aminosäureresten skopie, könnte das ein goldenes Zeit­
Schritt weiter und liefert andere Aus- präziser vorhersagt, als selbst mo- alter der Strukturbiologie einleiten.
gabeinformationen. dernste Suchmethoden es zu leisten Mohammed AlQuraishi ist Biologe am
Der neue Algorithmus von Deep- vermögen. Senior und seine Kollegen Laboratory of Systems Pharmacology an der
Mind gibt nämlich nicht wie bisher nutzten dazu aktuelle Fortschritte Harvard Medical School in Boston.
üblich binäre Kontaktdaten aus, son- beim Deep Learning, um so viel Infor-
dern berechnet direkt die Wahrschein- mation wie möglich aus den Protein­ QUELLEN
lichkeit, dass Aminosäurereste durch sequenzen zu extrahieren. Ihr Algo­ AlQuraishi, M.: End-to-end differentiable
eine bestimmte Distanz voneinander rithmus übertraf alle Teilnehmer von learning of protein structure. Cell Systems
getrennt sind. Da diese Wahrschein- CASP13 (Critical Assessment of 8, 2019
lichkeiten mit den Energien der Pro- Techniques for Protein Structure Senior, A. W. et al.: Improved protein
teinstruktur zusammenhängen, führen Prediction), einem Wettbewerb der structure prediction using potentials from
die Ergebnisse von AlphaFold direkt zu University of California in Davis, der deep learning. Nature 577, 2020

24 Spektrum der Wissenschaft  7.20


ASTROPHYSIK
VIELE WEGE FÜHREN ZUR EXPLOSION
Ein wichtiger Typ von Supernova scheint in den meisten Fällen anders abzulaufen als lange gedacht.


Vor zwei Jahrzehnten schien alles nun Bewegung in dieses Foschungs- aus der Quantenphysik herrührender
noch ganz einfach: Supernovae feld: Ein Team um Maria Bergemann »Entartungsdruck« macht das möglich.
vom Typ Ia gehen auf Weiße und Philipp Eitner vom Max-Planck- Jenseits von 1,4 Sonnenmassen wird
Zwerge zurück, die Materie von einem Institut für Astronomie in Heidelberg die Schwerkraft jedoch zu stark, als
großen Begleitstern aufsaugen; das hat rekonstruiert, welche Prozesse dass sich der Weiße Zwerg weiter
lernte man damals als Student in vergangenen Supernova-Explosio- dagegenstemmen könnte. Es folgt ein
Astrophysik-Seminaren. Bei Erreichen nen in unserer Galaxie zu Grunde plötzlicher Kollaps, der enorme Mengen
einer bestimmten Masse explodieren lagen. Demnach läuft nur ein kleiner Energie freisetzt – eine Supernova vom
sie dann mit stets gleicher Strahlkraft, Teil der Ia-Supernovae nach dem Typ Ia.
hieß es. Daher galten sie als »Stan- klassischen Schema ab, bei dem ein
dardkerzen«, mit denen sich Entfer- Weißer Zwerg einem Nachbarstern Jenseits der Chandrasekhar-Masse
nungen zu weit entfernten Galaxien nach und nach Materie klaut. Die Massengrenze für Weiße Zwerge
bestimmen lassen. Ein Weißer Zwerg ist eine ausge- geht auf den indischen Physiker Sub-
So ähnlich dürften viele es noch brannte Sonne. Er entsteht, wenn ein rahmanyan Chandrasekhar zurück. Er
immer im Kopf haben. Dabei ist für Stern allen Wasserstoff und sämtli- hatte die nach ihm benannte Chandra-
Experten mittlerweile klar, dass die ches Helium zu Kohlenstoff und sekhar-Masse bereits in den 1930er
Sache komplizierter ist: Astrophysiker Sauerstoff verschmolzen hat. Auf Jahren berechnet. Sie verleiht Superno-
unterscheiden mehrere Szenarien, die dem Weg dorthin bläht er sich erst vae, die auf einen Weißen Zwerg zu-
zu Supernovae vom Typ Ia führen zu einem Roten Riesen auf. Dann rückgehen, eine besondere Bedeutung:
können. Zwar ist bei allen ein Weißer fällt er zu einer kompakten Kugel von Da hier stets eine gleich große Masse
Zwerg beteiligt. Aber wie genau es der Größe der Erde zusammen. in sich zusammenfällt, sollte die Super-
zum Kollaps und anschließend zur In einem Weißen Zwerg wehren nova jeweils gleich viel Strahlung ins All
Supernova kommt, ist von Fall zu Fall sich die Elektronen dagegen, weiter feuern. Aus ihrer Helligkeit am Nacht-
verschieden. Eine neue Studie bringt zusammengedrückt zu werden. Ein himmel kann man also auf ihre Distanz
zu uns schließen – je dunkler eine
solche Supernovae erscheint, desto
weiter entfernt hat sie stattgefunden.
Andere Strahlungsquellen lassen solch
Szenarien für Ia-Supernovae einen Schluss nicht zu. Bei ihnen weiß
Es gibt verschiedene Möglichkei- ments Mangan können Astrophy- man schlicht nicht, ob sie sehr weit
ten, wie ein Weißer Zwerg eine siker rekonstruieren, welches weg oder ziemlich leuchtschwach sind.
Supernova vom Typ Ia herbeifüh- der Szenarien für vergangene Entsprechend haben Ia-Supernovae
ren kann: Das klassische Szenario Supernovae in unserer Milchstra- eine große Bedeutung für die Kosmo­
sieht vor, dass die Sternleiche ße verantwortlich war (Mitte). logie. Forscher können mit ihrer Hilfe
nach und nach Materie eines ermitteln, wie schnell sich das Univer-
größeren Begleitsterns absaugt
(rechts). Denkbar sind aber auch
zwei Weiße Zwerge, die sich
immer näher kommen und dann
schließlich verschmelzen (links
R. HURT/CALTECH-JPL, KOMPOSITION: MPIA-GRAFIKABTEILUNG;

oben). Möglichkeit Nummer drei:


Der Massentransfer von einem
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Begleiter findet nur sehr langsam


statt, so dass es zu einer vorzei­
tigen Explosion auf der Oberflä-
che des Zwergs kommt, die dann
ebenfalls eine Supernova lostritt
(links unten). Mit Hilfe des Ele-

Spektrum der Wissenschaft  7.20 25


FORSCHUNG AKTUELL
sum bisher ausgedehnt hat. Die Explo- rakteristischen Signaturen aus, die lange Geschichte unserer Galaxie das
sionen haben damit unter anderem zur einen Rückschluss auf die chemische häufigste Szenario waren. »Wir können
Entdeckung der Dunklen Energie Zusammensetzung und die Expansi- noch nicht festlegen, welches der vielen
geführt, die die kosmische Expansion onsgeschwindigkeit des Trümmerfelds möglichen Sub-Chandrasekhar-Szena­
nach Einschätzung der meisten Fach- erlauben. Mit diesen Informationen rien das realistischste ist«, sagt Berge-
leute immer weiter beschleunigt (siehe kann man dann die Masse des Ur- mann. »Aber wir sind sicher, dass sie
»Spektrum« Mai 2020, S. 12). sprungssystems eingrenzen. weit häufiger sind als Supernova-Explo-
Im Detail sind Supernovae vom Typ Derartige Untersuchungen liefern sionen an der Chandrasekhar-Masse.«
Ia jedoch deutlich komplizierter, als schon seit Längerem Indizien für Dem stimmt auch Wolfgang Hille-
man auf den ersten Blick vermuten unterschiedliche Abläufe von Typ-Ia- brandt vom Max-Planck-Institut für
würde. So ist keinesfalls gesagt, dass Explosionen. Leider finden sich in Astrophysik in Garching zu, der nicht an
sich ein Weißer Zwerg stets langsam unserer näheren galaktischen Umge- der Arbeit beteiligt war. Die Untersu-
auf die Chandrasekhar-Masse zube- bung bloß wenige geeignete Super­ chung bringe das Gebiet um einen
wegt. So wäre es nur bei einem Exem- nova-Überreste. Die Heidelberger wesentlichen Schritt voran, denn bis-
plar, das gemächlich Materie eines Astrophysiker um Bergemann und lang hätten viele Experten noch an der
größeren Nachbarsterns absaugt. Eitner gingen daher nun einen anderen Existenz von Sub-Chandra-Explosionen
Im All gibt es jedoch auch ganz Weg. Sie suchten nach schweren gezweifelt. Ihm zufolge könnte deren
andere Paarungen. Etwa zwei Weiße chemischen Elementen, die nur in Anteil sogar eher bei 90 als bei 75 Pro-
Zwerge, die plötzlich miteinander Sternexplosionen entstehen. zent liegen.
verschmelzen, dabei schlagartig eine Das Ergebnis könnte dabei helfen,
viel größere Masse zusammenbringen Mit Mangan in die Vergangenheit frühere Unstimmigkeiten bei der Aus-
und in einer deutlich heftigeren Super- der Milchstraße wertung von Supernova-Daten zu
nova explodieren. Andererseits können Eine besondere Bedeutung spielt da- erklären: Einer Forschergruppe um
Weiße Zwerge ebenso unterhalb der bei das Element Mangan. Modellrech- Mark Sullivan von der University of
Chandrasekhar-Massengrenze verge- nungen zufolge bildet es sich nur in Oxford war im Jahr 2010 aufgefallen,
hen, wie Theoretiker bereits in den zwei Arten von Sternexplosionen in dass Typ-Ia-Supernovae in Galaxien mit
1980er Jahren erkannt haben. Saugen größerer Menge: bei der Explosion von besonders alten Sternen systematisch
die Sternleichen beispielsweise nur Weißen Sternen mit der Chandrasek- etwas heller ausfallen als solche in sehr
sehr langsam Masse von einem Nach- har-Masse und bei Supernovae des jungen Galaxien.
barn auf, kann sich an der Oberfläche Typs II, bei denen ein einzelner Rie- Ein kleiner Teil der beobachteten
des Zwergs Helium sammeln und dort senstern kollabiert. In Ia-Supernovae Abschwächung der Leuchtkraft hat also
eine kleinere Explosion zünden. Diese unterhalb der Chandrasekhar-Masse in manchen Fällen nichts mit ihrer
stößt dann eine Art vorzeitige Super- entstehen hingegen nicht genügend Entfernung zu uns zu tun. Kosmologen
nova mit geringerer Leuchtkraft an. Neutronen, die leichtere Atomkerne tragen dem in ihren Analysen seit
Aber wie häufig sind solche Abläu- einfangen müssen, um sich in das Ele- Jahren Rechnung. Wie groß diese
fe, die vom klassischen Szenario ment Mangan zu verwandeln. Korrektur jeweils sein sollte, ist jedoch
abweichen? Leider ereignen sich die Die Astrophysiker untersuchten des- umstritten – auch da man die genauen
meisten der Explosionen in so großer halb, wie viel Mangan es in 42 Sternen physikalischen Hintergründe des Effekts
Entfernung, dass sie erst sichtbar in unserer Milchstraße gibt, in denen nicht kennt.
werden, wenn die Explosion längst in sich zwangsläufig das Mate­rial lang Allerdings ist es für Wissenschaftler,
vollem Gange und die ursprüngliche zurückliegender Supernovae ballt. Das die Supernovae zur Kartierung des
Konstellation nicht mehr sichtbar ist. Ergebnis: Die Sonnen enthalten über- Kosmos benutzen, ziemlich egal, was
Eine der nächstgelegenen Typ-Ia-Su- raschend wenig Mangan. Es sollte genau sich hinter Typ-Ia-Explosionen
pernovae leuchtete beispielsweise daher deutlich seltener Supernova-Ex- verbirgt. Sie wissen schon länger, dass
2011 in einer 21 Millionen Lichtjahre plosionen nach dem klassischen es sich bei den Ereignissen nicht um
entfernten Galaxie auf, was für kosmo- Szenario gegeben haben als gedacht. stets identische »Standardkerzen«
logische Maßstäbe der erweiterten Ganze 75 Prozent aller Typ-Ia-Explosio- handelt. Sondern eher um eine Band-
Nachbarschaft entspricht. Trotzdem nen könnten sich dagegen unterhalb breite unterschiedlich heller Strahlungs-
gelang es Forschern nicht, anhand der Chandrasekhar-Masse ereignet quellen, die man mit einem komplizier-
alter Teleskopbilder das ursprüngliche haben, schätzen die Forscher. Bisher ten Verfahren vergleichbar machen
Aussehen des Systems zu ermitteln. gingen Experten von 50 Prozent aus. kann.
Astrophysiker suchen daher schon Die ermittelte Häufigkeit scheint Wie viel Strahlung solche standardi-
länger mit indirekten Methoden nach unabhängig davon zu gelten, wie alt sierten Kerzen dann aussenden, wird
einer Antwort. Eine Möglichkeit sind die untersuchten Sterne waren. in Galaxien in unserer Nachbarschaft
die Überreste vergangener Typ-Ia-Su- Das Team schließt daraus, dass die über den Vergleich mit Cepheiden-Ster-
pernovae: Die expandierenden Mate- »Sub-Chandrasekhar«-Supernovae nen ermittelt, deren Leuchtkraft besser
riewolken senden Strahlung mit cha- über die gesamte 13 Milliarden Jahre bekannt ist. Und dieser Wert bildet dann

26 Spektrum der Wissenschaft  7.20


die Basis dafür, die Entfernung zu noch
weiter entfernten Supernovae vom Typ INFORMATIK
Ia abzuschätzen.
Frühere kosmologische Studien KI LERNT DIE SPRACHE
wären also nur dann fehlerhaft, wenn
Weiße Zwerge in der grauen Vorzeit
des Alls im großen Stil anders explo-
DER MATHEMATIK
diert wären als in der jüngeren Vergan-
Bisher konnten neuronale Netze bloß einfache Ausdrücke addieren
genheit beziehungsweise wenn früher
und multiplizieren. Nun haben Informatiker einen selbstlernenden
mehrheitlich ein abweichender Ablauf
Algorithmus vorgestellt, der Differenzialgleichungen löst und Stamm-
in den Sterntod führte. Ob das der Fall
funktionen berechnet – und dabei alle bisherigen Methoden übertrifft.
ist, erscheint fraglich – die aktuelle


Studie erlaubt jedenfalls keine Aussa- In einigen Fachgebieten begegnet schlagen. Im Alltag greifen Forscher
ge dazu. man komplizierten mathemati- meist auf algebraische Computerpro-
Jan Hattenbach ist Physiker und arbeitet als schen Ausdrücken: sei es eine gramme wie Mathematica, Maple oder
Wissenschaftsjournalist auf La Palma. Differenzialgleichung in der Biologie, Matlab zurück, die mit mathematischen
die die Ausbreitung einer Viruserkran- Ausdrücken umgehen können.
QUELLEN kung modelliert, oder ein Integral in Deren Algorithmen sind allerdings
Eitner, P. et al.: Observational cons- der Physik, das die Länge einer be- nicht perfekt. Nicht immer finden sie
traints on the origin of the elements. III. stimmten Kurve berechnet. Um solche das korrekte Ergebnis, zudem brauchen
Evidence for the dominant role of sub- Aufgaben zu meistern, muss man sie für einige Probleme extrem lange.
Chandrasekhar SN Ia in the chemical
evolution of Mn and Fe in the Galaxy.
häufig tief in die Trickkiste greifen, Die französischen Informatiker Guill­
Astronomy & Astrophysics 635, 2020 indem man zum Beispiel einige Terme aume Lample und Francois Charton,
mühsam umformuliert oder eine beide bei Facebook AI Research in
Sullivan, M. et al.: The dependence of
type Ia supernovae luminosities on their Gleichung partiell integriert. Oft Paris, haben nun einen Algorithmus
host galaxies. Monthly Notices of the kommt man allerdings nicht darum entwickelt, der diese Aufgabe besser
Royal Astronomical Society 406, 2010 herum, in Formelsammlungen nachzu- und schneller meistert als bisherige

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Spektrum.de/plus Spektrum der Wissenschaft  7.20 27
FORSCHUNG AKTUELL
folge in einer anderen Sprache zuwei- einer vorgegebenen Funktion entweder
sen. Google veröffentlichte bereits die dazugehörige Stammfunktion
LAMPLE, G., CHARTON, F.: DEEP LEARNING FOR SYMBOLIC
MATHEMATICS. ARXIV 1912.01412, 2019, KAP. 2.1

2018 eine Familie von Algorithmen finden oder eine Differenzialgleichung


namens Seq2Seq, die solche Überset- lösen. Lample und Charton wollten ihre
zungen beherrschen. Lample und Ergebnisse mit denen herkömmlicher
Charton griffen darauf zurück, um ihre Programme wie Mathematica, Matlab
KI zu trainieren. oder Maple vergleichen. Weil diese
allerdings deutlich langsamer sind,
Das Gehirn als Vorbild führten sie den Test mit lediglich 500
Seq2Seq-Algorithmen sind rekurrente zufällig ausgewählten Resultaten durch.
Mathematische Ausdrücke lassen neuronale Netze. Sie bestehen aus Wie sich herausstellte, übertraf das
sich durch Baumdiagramme darstel- künstlichen, in Schichten angeordne- neuronale Netz die bewährten Algorith-
len, wie die Formel 3x2 + cos(2x) – 1. ten Neuronen, die – anders als in men in allen Aufgaben. Es war dabei
gewöhnlichen neuronalen Netzen – nicht nur wesentlich schneller – statt
nicht bloß Informationen in eine Rich- etwa einer halben Minute bei komple-
Software. Damit gelang es den For- tung transportieren, sondern auch xen Ausdrücken brauchte es weniger
schern erstmals, einer KI die symboli- rückwärts. Die künstlichen Neurone als eine Sekunde –, sondern auch
sche Sprache der Mathematik beizu- feuern ihre Signale also wie im Gehirn akkurater. Während Mathematica, das
bringen. entweder in die nachfolgende, in die unter den gewöhnlichen Programmen
Denn genau darin liegt die Schwie- gleiche oder in die vorangegangene am besten abschnitt, bei der Integra­tion
rigkeit: Eine komplizierte Formel ist Schicht. Damit erhält das Netzwerk eine Genauigkeit von gerade einmal
nichts anderes als eine Kurzschreib- eine Art Gedächtnis; es kann Informa- 85 Prozent erreichte, schaffte die KI für
weise für aneinandergereihte Operati- tionen speichern. Diese Eigenschaft ist die gleiche Aufgabe beeindruckende
onen. Zum Beispiel steht x3 für x∙x∙x, bei Übersetzungen entscheidend. 99,7 Prozent. Für gewöhnliche Differen-
und das Malzeichen entspricht einer Denn man überführt nicht jedes Wort zialgleichungen lieferte das neuronale
wiederholten Addition. Ebenso reprä- einzeln in eine andere Sprache, son- Netz ebenfalls bessere Resultate.
sentieren Symbole wie Integralzei- dern schafft einen Bezug zu einem Interessanterweise fand die KI häufig
chen, Ableitungen oder Funktionen ganzen Satz oder gar Textabschnitt. mehrere Lösungen zu einem Problem.
unzählige nacheinander ausgeführte Gleiches trifft auf Gleichungen zu: Das Für jede Aufgabe liefern neuronale
Berechnungen. Diese Abstraktion, die Programm muss eine Verkettung von Netze nämlich zahlreiche mögliche Er-
vielen Menschen bereits in der Schule Symbolen als Einheit auffassen und gebnisse, die es nach der Wahrschein-
Umstände bereitet, sorgt auch bei nicht bloß einzelne Bestandteile dar- lichkeit sortiert, dass es richtig ist. Als
Computerprogrammen für Probleme. aus separat bearbeiten. Lample und Charton die verschiedenen
Damit eine KI lernt, Gleichungen zu Nun brauchten Lample und Charton Möglichkeiten durchsahen, fiel ihnen
lösen, haben Lample und Charton die noch Daten, um das Seq2Seq-Netz- auf, dass fast alle der gleichen korrek-
komplizierten Formeln in Baumdia- werk zu trainieren. Dazu nutzten sie ten Lösung entsprachen – nur anders
gramme umgeschrieben (siehe oben). einen weiteren Algorithmus, der formuliert. »Es ist faszinierend, dass
Die Blätter entsprechen dabei zufällige algebraische Ausdrücke unser Modell äquivalente Ausdrücke
Zahlen, Konstanten oder Variablen wie erzeugt. Diese enthielten Multiplikatio- erkennt, ohne dass wir es darauf trai-
x, während die inneren Knoten eine nen und Additionen von Variablen, niert haben«, kommentieren die beiden
Operation darstellen, etwa eine Additi- Konstanten und Zahlen sowie einfa- Forscher diesen Aspekt ihrer Arbeit.
on oder ein Integral. Zwei Baumdia- cher Funktionen wie Sinus oder der Damit haben sie gezeigt, dass sich
gramme gelten als gleich, wenn sie Exponentialfunktion. Anschließend neuronale Netze dazu eignen, kompli-
mathematisch übereinstimmen. Etwa integrierten und differenzierten sie die zierte mathematische Berechnungen
ist 3 x + 15 = 9 dasselbe wie x + 5 = 3 Ausdrücke mit Hilfe bestehender durchzuführen. In Zukunft ließen sich
und x = –2, wodurch ihre dazugehöri- Computerprogramme. Das lieferte dadurch wesentlich effizientere Compu-
gen Diagramme äquivalent sind. Die ihnen einen riesigen Datensatz mit je terprogramme entwickeln, welche die
französischen Forscher wollten ihrer KI 40 Millionen gewöhnlichen Differen­ Arbeit etlicher Naturwissenschaftler
daher beibringen, einem vorgegebe- zialgleichungen erster und zweiter erleichtern könnten.
nen Baumdiagramm ein anderes Ordnung sowie 20 Millionen Integra- Manon Bischoff ist theoretische Physikerin
zuzuordnen, dessen algebraische Form len, mit denen sie ihr rekurrentes und Redakteurin bei »Spektrum der Wissen-
der Lösung entspricht. neuronales Netz fütterten. schaft«.
Diese Art von Problem ist in der In- Um die erlernten Fähigkeiten ihres
formatik nicht neu. Maschinelle Über- Programms zu untersuchen, setzten QUELLE
setzungsprogramme müssen einer sie ihm 5000 weitere mathematische Lample, G., Charton, F.: Deep learning
längeren Eingabe von Wörtern oder Ausdrücke vor, die es nie zuvor gese- for symbolic mathematics. ArXiv:
Sätzen eine dazugehörige Buchstaben- hen hatte. Der Algorithmus sollte zu 11912.01412, 2019

28 Spektrum der Wissenschaft  7.20


SPRINGERS EINWÜRFE
SCHWARZER SCHWAN
IM INTERNET
Die Pandemie stellt Computeralgorithmen vor ungeahnte
Probleme: Plötzlich verhalten sich die Menschen völlig
anders, als die Programme gelernt haben.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1736682

D
en ersten internationalen Warnhinweis auf das Wenn in der Pandemie die Normalität zusammen-
neue Coronavirus lieferte ein Computer. Am bricht, kommt die künstliche Intelligenz gehörig durch-
30. Dezember 2019 meldete HealthMap – eine einander. Sie ist auf das Auftreten eines »Schwarzen
US-Website des Boston Children’s Hospital, die Schwans« nicht gefasst. So nennt man – seit dem
mittels künstlicher Intelligenz (KI) soziale Medien auto- gleichnamigen Bestseller von Nassim Nicholas Taleb –
matisch nach Krankheitsausbrüchen durchforstet –, ein höchst unwahrscheinliches, kaum vorhersehbares
es gebe Berichte über ein neuartiges Lungenleiden in Ereignis. Der Name erinnert an den berühmten Bei-
Wuhan. Nach kaum einer Stunde erreichte die Meldung spielsatz des Philosophen Karl Popper »Alle Schwäne
ProMED, eine Seuchen-Website mit knapp sind weiß«, der so lange gilt, bis ihn eine einzige Aus-
85 000 Abonnenten (Science 368, S. 810–811, 2020). nahme falsifiziert.
Soll man also künftig die Suche nach neuen Infektio- Der Schwarze Schwan der Pandemie führt vor, wie
nen vertrauensvoll in die Hände von Algorithmen legen, stark Algorithmen bereits unser Leben prägen – und
die Alarm schlagen, sobald sie aus den digitalen Sozial- wie dringend man sie modifizieren muss, sobald sich
kontakten drohende Epidemien herauslesen? Lieber unser Verhalten auf einmal radikal wandelt. Zum Bei-
nicht. Ein abschreckendes Beispiel lieferte die US-Firma spiel beginnen viele Menschen in ihrer sozialen Isola­
Google mit ihrem 2008 gestarteten Netzdienst Google tion die Heimarbeit zu entdecken und bestellen unge-
Flu Trends, der aus den Suchanfragen auf der eigenen wöhnlich oft schweres Werkzeug und Gartengeräte.
Plattform Grippeepidemien vorhersagen wollte, jedoch Das ruft unter Umständen KI-Programme auf den Plan,
zwischen 2011 und 2013 unentwegt falschen Alarm gab die gelernt haben, dahinter Kreditkartenbetrug oder
(siehe meinen Einwurf vom Mai 2014). Einbruchsvorbereitungen zu wittern. Also müssen
Der Grund: Menschen ändern manchmal ihr Verhal- menschliche Programmierer die neue Normalität in
ten in unvorhersehbarer Weise; sie suchen zum Beispiel Algorithmen übersetzen.
immer öfter nach Grippemeldungen, ohne sich selbst

I
krank zu fühlen. Auf die neue Besorgnis muss das nsgesamt hat sich das Internet ziemlich reibungslos
KI-System dann erst eigens trainiert werden. auf die veränderte Nutzung eingestellt. Sie nahm in
Noch viel krasser ändert sich das Verhalten beim der ersten Jahreshälfte um geschätzte 40 Prozent zu,
Ausbruch einer Pandemie. Ende Februar dauerte und ihr Maximum verlagerte sich vom Feierabend auf
es kaum eine Woche, bis unter den bei Amazon beson- den späten Vormittag, an dem sich jetzt offenbar
ders gefragten Artikeln Toilettenpapier, Gesichts­ virtuelle Meetings und Heimunterricht häufen. Zudem
masken und Desinfektionsmittel die Spitzenplätze scheinen mit dem Homeoffice die lokalen Spitzen der
eroberten; vordem waren es Smartphone-Hüllen, Netzaktivität aus den Stadtzentren an deren Ränder zu
Elektronik­teile und Legobaukästen gewesen. Die wandern (MIT Technology Review, 7. April 2020).
plötzlich ansteigende Nachfrage nach coronahalber Eigentlich erstaunlich, wie gut das weltweite Netz
begehrten Waren spiegelte getreu den Zeitverlauf die enorm gestiegene Belastung ausgehalten hat. Das
der ersten Ansteckungen wider: Zuerst schnellten sie gelang nur, weil heimlich, still und leise in Windeseile
früh in Italien hoch, dann hintereinander in Spanien, hunderte zusätzliche Server entstanden – und weil die
Frankreich, Deutschland, Großbritannien und schließ- Lieferkette für Halbleiter und Glasfasern aus China nie
lich in den USA (MIT Technology Review, 11. Mai 2020). unterbrochen wurde.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 29


HIRNFORSCHUNG
DER GESICHTSCODE
Wie das Gehirn menschliche Antlitze identifiziert, blieb
lange rätselhaft. Inzwischen kennen Forscher auf Ge­
sichter spezialisierte Hirnzellen, deren Reaktionen sich
mathematisch beschreiben lassen. Auf der gleichen
Grundlage könnte generell die visuelle Wahrnehmung
beruhen.

Doris Y. Tsao ist Biologin und


Mathematikerin, Professorin am
California Institute of Technology
in Pasadena (USA) und Direktorin
des zugehörigen Tianqiao and
Chrissy Chen Center for Systems
Neuroscience.

 spektrum.de/artikel/1736684


Als Studentin am California Institute of Technology
hörte ich von den bahnbrechenden Experimenten von
David Hubel und Torsten Wiesel. Die beiden hierfür
mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Neurophysiologen
hatten entdeckt, wie der primäre visuelle Kortex des Ge­
hirns Kanten aus den von den Augen gelieferten Bildern
extrahiert.
Demnach lässt sich mit Neurowissenschaft verstehen,
wie neuronale Aktivitäten eine bewusste Wahrnehmung
erzeugen. Ich kann kaum die Aufregung beschreiben, in die
mich diese Erkenntnis versetzte. Ich hatte meinen Lebens­
traum gefunden: zu untersuchen, wie die visuelle Wahrneh­
mung funktioniert und wie das Gehirn aus elektrischer
Aktivität wahrgenommene Gegenstände codiert - und zwar
nicht nur simple Linien, sondern auch schwer definierbare
Objekte wie Gesichter. Die Frage lautete also: Welche Wie erkennen wir das
Hirnregionen sind damit befasst und welche Muster neuro­ Gesicht eines anderen
naler Impulse versetzen uns in die Lage, unsere Mitmen­ Menschen? Offensichtlich
schen zu identifizieren? wertet das Gehirn cha­
FRACTAL PICTURES / STOCK.ADOBE.COM

Meine Entdeckungsreise begann im Aufbaustudium an rakteristische Merkmale


der Harvard University, wo ich das stereoskopische Sehen der Physiognomie mathe­
erforschte: jenen Mechanismus, der aus den Unterschieden matisch aus.

30 Spektrum der Wissenschaft  7.20


AUF EINEN BLICK
VON ANGESICHT ZU ANGESICHT

1 Wie das Gehirn visuelle Objekte wahrnimmt, ist noch


weitgehend unverstanden. Zu den großen Fragen zählt
vor allem das Rätsel der Gesichtserkennung.

2 In bestimmten Bereichen der Großhirnrinde, den so


genannten Face-Patches, sprechen Neurone auf Ge­
sichter an. Die Zellen reagieren dabei auf Merkmale, die
sich über Form und Erscheinungsbild eines Gesichts
mathematisch definieren lassen.

3 Dieser Gesichtscode könnte den Schlüssel für die


FRACTAL PICTURES / STOCK.ADOBE.COM

Wahrnehmung anderer Objekte liefern.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 31


zwischen den Bildern der beiden Augen den Eindruck von beitete Informationen über Gesichter. Ich kann mich noch
Raumtiefe erzeugt. Dabei stieß ich auf eine Veröffentli­ gut an unsere Aufregung erinnern, als wir zum ersten Mal
chung der Neurowissenschaftlerin Nancy Kanwisher, das Knacken einer Zelle hörten, die lebhaft auf Gesichter
damals am Massachusetts Institute of Technology, und reagierte, bei anderen Objekten jedoch schwieg. Sofort
ihrer Kollegen über bildgebende Untersuchungen von hatten wir das Gefühl, etwas Bedeutsamem auf der Spur zu
Gehirnen menschlicher Probanden. Mit Hilfe der funktionel­ sein: einem Bereich der Hirnrinde, der uns die Mechanis­
len Magnetresonanztomografie (fMRT) hatte die Arbeits­ men der Repräsentation visueller Objekte offenbaren könn­
gruppe eine Hirnregion aufgespürt, die auf Bilder von te. Livingstone bemerkte: »Da hast du wohl ein goldenes Ei
Gesichtern viel stärker reagierte als auf Darstellungen gefunden.«
anderer Objekte. Das klang für mich geradezu absurd, hatte An eine weitere Überraschung während dieses Experi­
ich doch gelernt, dass wir die Funktionen der verschiede­ ments kann ich mich ebenfalls entsinnen: Ich hatte erwar­
nen Hirnteile, mögen sie Basalganglien oder orbitofrontaler tet, dass der Gesichtsbereich Neurone enthalte, die selektiv
Kortex heißen, erst ansatzweise erahnen. Die Vorstellung, auf einzelne Individuen ansprechen – analog den orientie­
es gäbe ein Areal, das ganz speziell dem Erkennen von rungsempfindlichen Hirnzellen des primären visuellen Kor-
Gesichtern dient, erschien mir vollkommen abwegig. tex, die jeweils auf eine bestimmte Anordnung von Kanten
Als Doktorandin hatte ich per fMRT bei Affen Hirnareale reagieren. Tatsächlich hatte eine Reihe von viel diskutierten
identifiziert, die sich während der Wahrnehmung von Studien nahegelegt, dass einzelne Neurone bemerkenswert
dreidimensionalen Bildern regen. Nun zeigte ich einem selektiv auf Gesichter uns bekannter Personen antworten,
Affen Gesichter und andere Objekte. Tatsächlich fand ich also zum Beispiel exklusiv auf Bilder der Schauspielerin Jen­
im Schläfenlappen der Hirnrinde – genauer im inferioren nifer Aniston. Doch entgegen meiner Erwartung feuerten
temporalen (IT) Kortex – mehrere Bereiche, die selektiv auf alle sondierten Zellen bei fast jedem Gesicht.
Gesichter ansprachen. Charles Gross, ein Pionier auf dem Wie besessen manipulierte ich nun mit Photoshop alle
Gebiet der visuellen Objektwahrnehmung, hatte bereits möglichen Porträts. Damit fand ich heraus: Die Neurone
Anfang der 1970er Jahre im IT-Kortex von Makaken ge­ reagierten nicht nur auf realistische Konterfeis von Men­
sichtsspezifische Neurone entdeckt. Doch seiner Beschrei­ schen und Affen, sondern auch auf stark vereinfachte
bung nach verteilten sich diese Zellen ohne erkennbare Comiczeichnungen.
Ordnung im gesamten IT-Kortex. Unsere Ergebnisse aus Daraufhin kreierten wir Cartoongesichter mit 19 ver­
den fMRT-Untersuchungen wiesen dagegen zum ersten schiedenen Merkmalen, an denen wir vermutlich Individuen
Mal darauf hin, dass solche Gesichtsneurone in bestimmten erkennen, etwa Augenabstand, Verhältnis von Kopflänge zu
Regionen konzentriert sein könnten. Breite oder Position des Mundes. Dann veränderten wir
diese Charakteristika, zum Beispiel indem wir den Augen­
Das goldene Ei abstand auf fast zyklopische Enge stauchten oder bis zum
Nachdem ich meine fMRT-Studie publiziert hatte, bewarb Rand des Gesichtsfelds dehnten. Die einzelnen Neurone
ich mich beim California Institute of Technology in Pasade­ reagierten auf die meisten der manipulierten Porträts, doch
na und präsentierte hierfür meine Ergebnisse in einem interessanterweise nicht immer gleich. Vielmehr variierten
Vortrag. Die Stelle bekam ich allerdings nicht. Etliche For­ ihre Antworten systematisch: Trugen wir die Impulsraten in
scher bezweifelten die Aussagekraft der fMRT, die ja ledig­ Abhängigkeit von den Merkmalsausprägungen auf, ergab
lich den lokalen Blutfluss misst. Eine örtlich erhöhte Durch­ sich eine minimale Reaktion auf das eine Extrem (etwa ein
blutung beim Betrachten von Gesichtern erlaube keine sehr enger Augenabstand), eine maximale auf das Gegen­
Rückschlüsse darauf, welche Hirnzellen sich dabei tatsäch­ teil (weiter Augenabstand), und bei moderateren Ausprä­
lich regen. Möglicherweise enthielten diese Regionen nur gungen lag die Antwort in der Mitte. Die zugehörigen
zufällig etwas mehr Neurone, die auf Personen anspre­ Kurven ähnelten ansteigenden oder abfallenden Rampen.
chen – ähnlich einer zufällig auftretenden Gruppe von Bei meinem nächsten Bewerbungsvortrag am California
Eisbergen im Meer. Institute of Technology hatte ich mehr zu bieten als nur
Da ich meine bildgebenden Untersuchungen bei Affen fMRT-Bilder. Angesichts der neuen Daten zur Aktivität von
durchgeführt hatte, konnte ich diesen Einwand direkt über- Einzelzellen leuchtete nun allen Zuhörern ein, dass im
prüfen. Zusammen mit Winrich Freiwald, damals Postdoc in Gehirn tatsächlich »Face-Patches« existieren, die höchst­
Margaret Livingstones Labor an der Harvard University, wahrscheinlich eine wichtige Rolle beim Erkennen von
schob ich eine dünne Elektrode in eine Hirnregion vor, die Gesichtern spielen. Die zu Grunde liegenden neuronalen
wir im fMRT als Kandidat für Gesichtswahrnehmung identi­ Prozesse zu untersuchen, erschien somit als aussichtsrei­
fiziert hatten. Damit konnten wir der Frage nachgehen: Was cher Schritt, um die allgemeinere Frage zu klären, wie
stimuliert einzelne Neurone in dieser Region am stärksten? das Gehirn visuell wahrgenommene Objekte repräsentiert.
Wir zeigten dem Affen Bilder von Gesichtern oder anderen Dieses Mal bekam ich die Stelle.
Objekten und wandelten die dabei von der Elektrode aufge­ Am California Institute of Technology beschäftigte sich
zeichneten elektrischen Impulse einzelner Neurone in meine Arbeitsgruppe dann näher mit dem Problem, wie
akustische Signale um, die wir über einen Lautsprecher im diese Neurone Gesichter erkennen. Dabei ließen wir uns
Labor hören konnten. von Pawan Sinha inspirieren, der am Massachusetts Institu­
Das Ergebnis war erstaunlich: Praktisch jede einzelne te of Technology auf dem Gebiet der visuellen Informatik
Zelle des Gebiets, das ich im fMRT identifiziert hatte, verar­ forscht. Wie er vermutete, ließen sich Gesichter anhand von

32 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Wo findet die Gesichtserkennung statt?
Eine Gruppe von sechs Hirnarealen im inferioren
temporalen (IT) Kortex beider Hemisphären ist
darauf spezialisiert, Gesichter zu identifizieren.
Diese »Face-Patches« arbeiten in einer Prozess­
kette: Im mediolateralen und medialen Fundus-
Patch regt sich ein bestimmtes Neuron, sobald

GEHIRN: BODY SCIENTIFIC / SCIENTIFIC AMERICAN FEBRUAR 2019; UNTEN: FREIWALD, W.A., TSAO, D.Y.: FUNCTIONAL COMPARTMENTALIZATION AND VIEWPOINT GENERALIZATION WITHIN
das betrachtete Gesicht direkt nach vorne

THE MACAQUE FACE-PROCESSING SYSTEM. SCIENCE 330, 2010, FIG. 2, MODIFIZIERT VON SCIENTIFIC AMERICAN FEBRUAR 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
schaut, während sich ein anderes beim Blick medialer
Fundus-Patch
nach rechts einschaltet. Am Ende der Prozess­
kette, im anteromedialen Patch, vereinigen mediolateraler
Patch
sich die verschiedenen Perspektiven zu einem inferiorer anteromedialer
gemeinsamen Datensatz. Hier temporaler Patch
Kortex
reagieren Neurone auf die
individuelle Person unabhän­
gig von deren Blickrichtung. A Jede Spalte zeigt die neuronale Aktivität
B für das darüber abgedruckte Bild.
Hirnzellen in einem Face- AA BB
Patch eines Affen reagieren Gesichter andere Objekte linkes Profil Frontalansicht Rückansicht
auf Gesichter (rote Bereiche A B
in A ), nicht jedoch auf
Aktivität einzelner Neurone im

andere Objekte. Und sie


anteromedialen Patch

antworten auf das aus


Jede Zeile zeigt die

unterschiedlichen Winkeln
getroffene Gesicht dessel­
ben dunkelhaarigen Man­
nes (rote Bereiche in B ).

neuronales Aktivitätsniveau

niedrig hoch

A B

Kontrastverhältnissen identifizieren, also etwa dem Hellig­ In unseren fMRT-Experimenten hatten wir zunächst nur
keitsunterschied zwischen Stirn und Mundregion. Sinha zwei Zonen der Hirnrinde aufgespürt, die auf Gesichter
schlug zudem eine raffinierte Methode vor, um die wirklich ansprechen. Doch wie weitere fMRT-Bilder offenbarten, bei
relevanten Kontrastverhältnisse zu ermitteln: Diese müssten denen wir das Signal durch ein Kontrastmittel mehrfach
nämlich unabhängig von der Beleuchtung als Kriterium der verstärkten, existieren in beiden Hirnhälften jeweils sechs
Gesichtserkennung funktionieren. Zum Beispiel erscheint Face-Patches – damit haben wir quasi zwölf goldene Eier.
ein Auge stets dunkler als die Nase, da es keine Rolle spielt, Diese Areale sind über die gesamte Länge des IT-Kortex im
aus welcher Richtung ein Gesicht fotografiert wird – probie­ Schläfenlappen verteilt, allerdings nicht zufällig. Vielmehr
ren Sie es aus! liegen die sechs Bereiche bei allen Individuen in vergleich­
baren Regionen. Arbeiten unserer und weiteren Gruppen
Hintereinandergeschaltete Gesichtsareale ergaben zudem ähnliche Face-Patches-Muster beim Men­
Theoretisch legt das einen eleganten Mechanismus der schen und bei anderen Primaten wie etwa Krallenaffen.
Gesichtserkennung nahe, und wir fragten uns natürlich, ob Das einheitliche Verteilungsmuster könnte bedeuten,
die Gesichtszellen ihn tatsächlich nutzen. Als wir nun die dass es sich um eine kettenförmige Anordnung von neuro­
neuronalen Reaktionen auf verschiedene Konterfeis unter­ nalen Modulen handelt, die Daten zur Gesichtserkennung
suchten, beobachteten wir, dass einzelne Zellen oft eine sequenziell verarbeiten. Falls dies zuträfe, sollten die sechs
klare Vorliebe für ein bestimmtes Kontrastmerkmal besa­ Areale miteinander verbunden sein, wobei jedes eine
ßen. Erstaunlicherweise zeigten dabei alle Zellen bis auf bestimmte Funktion erfüllt.
eine einzige Ausnahme die gleiche Kontrastpräferenz. Und Um solche neuronalen Verbindungen zwischen den
die präferierten Merkmale waren genau diejenigen, welche Face-Patches nachzuweisen, stimulierten wir verschiedene
Sinha als stabil gegenüber Veränderungen der Beleuchtung Areale mit schwachen elektrischen Strömen, während der
ausgemacht hatte. Unser Experiment bestätigte damit, Affe in der fMRT-Röhre lag. Dadurch wollten wir herausfin­
dass Gesichtsneurone Kontrastverhältnisse nutzen. den, welche anderen Hirnregionen aktiv werden, sobald wir

Spektrum der Wissenschaft  7.20 33


Form + Erscheinung Form: definiert durch die Position (x-/y-Koordinaten)
charakteristischer Orientierungspunkte (gelb)
= Gesicht
x
Nach der Entdeckung der Face-­ x

CHANG, L., TSAO, D.Y.: THE CODE FOR FACIAL IDENTITY IN THE PRIMATE BRAIN. CELL 169, 2017, FIG. 1, MODIFIZIERT VON
Patches galt es zu erforschen, was

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN FEBRUAR 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
in den hier liegenden Neuronen
geschieht, um so das Codierungs­ y
schema des Gehirns für Gesichter y
zu entschlüsseln. Als quantitative
Messgrößen für Gesichter ent­
Beispiele für Variabilität Durchschnittsform
wickelte das Team von Doris Tsao
25 Parameter für die Form sowie
25 für das Erscheinungsbild, die
Erscheinung: Helligkeitsvariationen nach Anpassung
jedes Neuron in einem Face-Patch der Form an ein Durchschnittsgesicht
verwenden könnte. Somit entstand
Helligkeit
ein 50-dimensionaler Gesichtsraum.
Die Formmerkmale wie Kopfbreite
oder Augenabstand sind anato­
misch definiert; Erscheinungsmerk-
male charakterisieren hingegen
die Oberflächenbeschaffenheit
(Teint, Augen- oder Haar­farbe).
Beispiele für Variabilität

einen Face-Patch stimulieren. Tatsächlich regten sich je- oder Farbe, vom Blickwinkel oder von der Entfernung, ja
weils alle anderen Face-Patches, nicht aber die umgebende sogar dann, wenn es teilweise von davor stehenden Bäu­
Hirnrinde – die Gesichtsareale sind also gezielt miteinander men oder anderen Fahrzeugen verdeckt wird. Die Heraus­
vernetzt. forderung, Objekte trotz aller Erscheinungsformen wieder­
Zudem stellte sich heraus, dass jeder Bereich unter­ zuerkennen, wird als Invarianzproblem bezeichnet. Offen­
schiedliche Funktion erfüllt. Als wir den Tieren 25 mensch­ sichtlich liegt eine Hauptfunktion des Netzwerks der
liche Porträts in jeweils acht verschiedenen Perspektiven Face-Patches genau darin, dieses Problem zu lösen.
präsentierten, reagierten Hirnzellen in drei Gebieten: im
mediolateralen und medialen Fundus-Patch (ML/MF), im Verzerrte Wahrnehmung
anterolateralen (AL) sowie im anteromedialen (AM) Patch. Da die Neurone der Face-Patches auf Veränderungen der
Dabei zeigten sich auffallende Unterschiede der drei Berei­ Identität von Gesichtern höchst empfindlich reagieren,
che: Die Zellen im ML/MF-Patch sprachen selektiv auf sollte man erwarten, dass umgekehrt eine Manipulation der
bestimmte Perspektiven an. So reagierte ein Neuron bevor­ Aktivität dieser Zellen zu einer veränderten Identitätswahr­
zugt auf Antlitze, die exakt geradeaus schauten, während nehmung führt. Das Team um den Neurowissenschaftler
andere nach links blickende Gesichter präferierten. Neurone Josef Parvizi von der Stanford University hatte ein Face-
des AL-Patches erwiesen sich als weniger wählerisch. Eine Patch menschlicher Patienten mit Elektroden stimuliert, die
Klasse von Zellen antwortete auf Gesichter, die nach oben, ihnen implantiert worden waren, um die Quelle ihrer epilep­
nach unten oder geradeaus blickten. Eine andere regis­ tischen Anfälle zu lokalisieren. Tatsächlich ließ sich damit
trierte nur solche, die nach rechts oder links ausgerichtet die Wahrnehmung von Gesichtern verzerren.
waren. Im AM-Patch wiederum reagierten die Zellen auf Wir fragten uns, ob es bei unseren Affen wohl vergleich­
bestimmte Individuen, gleichgültig ob das jeweilige Konter­ bare Effekte gäbe. Und würden dann ausschließlich Gesich­
fei frontal oder im Profil getroffen war. Am Ende der Pro­ ter anders wahrgenommen oder auch andere Objekte?
zesskette, im AM-Patch, waren also die perspektivabhängi­ Schließlich verläuft die Wahrnehmungsgrenze zwischen
gen Repräsentationen eines individuellen Gesichts bereits einem Gesicht und etwas anderem fließend: Selbst in einer
zu einem orientierungsunabhängigen Datensatz verarbeitet Wolke oder einer Steckdose erkennen wir oft menschliche
(siehe »Wo findet die Gesichtserkennung statt?«, S. 33). Antlitze. Mittels Mikrostimulation versuchten wir daher
Offenbar kooperieren die Gesichtsareale erfolgreich bei genau abzugrenzen, was ein Face-Patch noch als Gesicht
der Bewältigung eines der größten Probleme der visuellen registriert. Unsere Affen trainierten wir nun darauf, zu ent-
Wahrnehmung: Wie erkennen wir Gegenstände wieder, scheiden, ob zwei nacheinander gezeigte Porträts identisch
obwohl sich ihr Erscheinungsbild ständig wandelt? Wir oder verschieden sind. Wie bei menschlichen Probanden
identifizieren ein Objekt als Auto – unabhängig von Marke verzerrte die Mikrostimulation von Face-Patches die Wahr­

34 Spektrum der Wissenschaft  7.20


nehmung derart, dass das Tier zwei eigentlich identische ordnet: für die Form sowie für das Erscheinungsbild. Anato­
Gesichter stets als verschieden interpretierte. mische Messgrößen wie Kopfbreite oder Augenabstand
Interessanterweise wirkte sich die Mikrostimulation legen die Form fest, während sich die Erscheinung über
nicht auf das Wahrnehmen ganz anderer Objekte aus, Oberflächeneigenschaften wie Teint, Augen- oder Haarfar­
beeinflusste aber die Reaktionen auf Gegenstände, deren be definiert.
Umrisse denen eines Gesichts ähnelten wie zum Beispiel Diese Deskriptoren erzeugten wir aus einer umfangrei­
Äpfel. Warum ist das so? chen Datenbank menschlicher Porträts, in denen wir cha­
Eine Möglichkeit wäre, dass Face-Patches nicht nur dazu rakteristische Stellen markierten. Die räumliche Lage der
dienen, Gesichter zu repräsentieren, sondern auch andere Markierungen beschreibt die Form des jeweiligen Gesichts.
rundliche Objekte. Einer weiteren Hypothese zufolge re­ Aus zahlreichen solcher Formbeschreibungen errechneten
agieren diese Areale normalerweise nicht auf solche Ge­ wir dann ein Durchschnittsgesicht. Im nächsten Schritt
genstände, sondern erst die Mikrostimulation bewirkt, dass verzerrten wir jedes einzelne Gesicht unserer Datenbank
ein Apfel als Gesicht erscheint. Es bleibt also unklar, ob dergestalt, dass all seine Formmarkierungen genau mit
Face-Patches auch zum Erkennen von Objekten dienen, die denen des Durchschnittsgesichts zusammenfielen. Die
keine Gesichter sind. dabei entstandenen Abbildungen repräsentierten die form­
Dass es uns gelungen war, die Organisation der Face- unabhängige Erscheinung des Gesichts.
Patches und die Reaktionsweise ihrer Zellen aufzuklären,
war ein großer Erfolg. Doch ich wollte ja ursprünglich mehr Eine simple Gleichung
erreichen: den neuronalen Code für Gesichter knacken. Die Datensätze untersuchten wir dann mit Hilfe der Haupt­
Damit sollte sich vorhersagen lassen, wie eine einzelne komponentenanalyse. Diese mathematische Methode
Zelle auf ein bestimmtes Gesicht reagiert, und umgekehrt ermittelt jene Merkmale, die in einem komplexen Datensatz
sollte das Muster neuronaler Aktivität die Identifikation am stärksten variieren. Mit den jeweils 25 dominierenden
eines beliebigen Gesichts ermöglichen. Komponenten für Form und Erscheinung schufen wir einen
Die Herausforderung bestand nun darin, Gesichter 50-dimensionalen »Gesichtsraum«, in dem jeder Punkt ein
quantitativ mit hoher Präzision zu beschreiben. Mein dama­ Gesicht repräsentiert. So wie im normalen dreidimensiona­
liger Postdoc Le Chang hatte den brillanten Einfall, eine len Raum jeder Punkt durch die Werte dreier Koordinaten
Technik aus der Bildverarbeitung zu übernehmen, die als (x, y, z) definiert ist, benötigen wir im 50-D-Gesichtsraum
Active Appearance Model bezeichnet wird. Dabei werden zur Definition einer individuellen Physiognomie 50 Koordi­
einem Gesicht zwei Sätze so genannter Deskriptoren zuge­ naten (siehe »Form + Erscheinung = Gesicht«, links).

Achsen im Gesichtsraum
Mit 50 Koordinaten für Form
senkrechte Achse Achsen- exempla-
und Erscheinungsbild lassen modell risches
sich die Reaktionen von Neuro­ präferierte Achse (neu) Modell
nen auf Gesichter beschreiben. (alt)

CHANG, L., TSAO, D.Y.: THE CODE FOR FACIAL IDENTITY IN THE PRIMATE BRAIN. CELL 169, 2017, FIG. 5A; MODIFIZIERT VON
Als Antwort auf ein individuel­ Aktions-

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN FEBRUAR 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
potenzial
les Gesicht (rot umrandet)
feuert ein Neuron mit einer
bestimmten Intensität, die auf
seiner präferierten Achse im
Gesichtsraum stetig zunimmt.
Auf der rechtwinklig dazu
stehenden Achse reagiert die
Zelle auf alle Gesichter stets
identisch, selbst wenn diese
sehr unterschiedlich aussehen
(rechts). Dieses Achsenmodell
der Gesichtscodierung unter­
scheidet sich grundlegend
von einem früheren exempla­
rischen Modell, dem zufolge
jedes Neuron auf individuelle
Gesichter mit variabler Inten-
sität antwortet.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 35


Wir zogen nun eine Stichprobe von 2000 Porträts und mich Rodrigo Quian Quiroga, heute an der englischen Uni-
präsentierten sie einem Affen, während wir die Zellaktivitä­ versity of Leicester, wie unsere Gesichtszellen zu seinem
ten aus zwei Face-Patches aufzeichneten. Dabei zeigte sich, Konzept passen, dem zufolge einzelne Neurone selektiv auf
dass praktisch alle untersuchten Neurone graduell – also bestimmte Gesichter ansprechen. 2005 hatte er im media­
rampenförmig zu- oder abnehmend – auf die Variation einer len Schläfenlappen jene viel diskutierte Jennifer-Aniston-
Teilmenge unserer 50 Dimensionen reagierten. Das bestä­ oder Großmutterzelle entdeckt, ein hypothetisches Neuron,
tigte meine früheren Beobachtungen mit den verzerrten das ausschließlich auf das Gesicht einer bekannten Person
Comics. Doch nun gewannen wir eine wesentlich genauere reagiert wie das eines Prominenten oder eines Verwandten.
Vorstellung davon, was das bedeutet. Ich antwortete Rodrigo, unserer Zellen seien vielleicht
Wenn nämlich eine Gesichtszelle graduell auf die Verän­ die Vorläufer seiner Neurone, ohne groß darüber nachzu­
derung verschiedener Merkmale anspricht, lässt sich ihre denken. Doch als ich nachts darauf auf Grund des Jetlags
Antwort auf ein Porträt anhand der gewichteten Summe wach lag, wurde mir plötzlich der fundamentale Unter­
der Reaktionen auf die Einzelmerkmale beschreiben. Dabei schied zwischen unseren und seinen Gesichtszellen klar. In
ist die Gewichtung jedes Merkmals durch die Steigung der meinem Vortrag hatte ich ja beschrieben, wie sich die
zugehörigen Funktion bestimmt. Mit anderen Worten: Reaktion unserer Neurone aus der gewichteten Summe
verschiedener Gesichtsmerkmale ergibt. Nun erkannte ich,
Reaktion einer Gesichtszelle = dass diese Berechnung der mathematischen Operation
Gewichtungsmatrix × 50 Gesichtsmerkmale eines Skalarprodukts entspricht. Dabei handelt es sich um
die geometrische Projektion eines Vektors auf eine Achse,
Kehren wir diese Gleichung um, können wir aus der so wie die Sonne den Schatten einer Fahnenstange auf den
Reaktion der Gesichtszellen vorhersagen, welches Gesicht Boden projiziert.
das Tier gerade sieht:
Eine Wette, die man nicht verlieren kann
50 Gesichtsmerkmale = Wie ich in linearer Algebra an der High School gelernt
Reaktion der Gesichtszellen / Gewichtungsmatrix hatte, sollte es damit möglich sein, einen großen »Null­
raum« für jede Gesichtszelle zu konstruieren – also eine
Diese Gleichung erschien uns zunächst als zu simpel. Serie von Gesichtern unterschiedlicher Identität, die auf
Zum Test ermittelten wir aus den Reaktionen auf 1999 der einer Achse senkrecht zur Projektionsachse liegen. Dadurch
2000 Gesichter die Gewichtungsmatrix und versuchten sollte die Zelle auf all diese Gesichter exakt gleich antwor­
daraus, die 50 Merkmale des einen nicht gezeigten Porträts ten (siehe »Achsen im Gesichtsraum«, S. 35). Das wiede­rum
abzuleiten. Zu unserem Erstaunen war das hiermit vorher­ bedeutete, dass sich die Zellen der Face-Patches von
gesagte Gesicht von dem tatsächlichen praktisch nicht zu Großmutterzellen grundlegend unterscheiden. Und damit
unterscheiden (siehe »Treffende Vorhersage«, unten). wäre ebenfalls die verbreitete Annahme widerlegt, Ge­
Unsere Erkenntnisse stellte ich bei einer Konferenz im sichtsneurone seien auf das Erkennen spezifischer einzelner
schweizerischen Ascona vor. Nach meinem Vortrag fragte Gesichter abgestimmt.

Treffende Vorhersage
Für ein gegebenes Gesicht kön-
Originalbilder

nen wir anhand der gewichteten


Summe der Werte aller 50 Ge­
sichtskoordinaten vorhersagen,
wie ein bestimmtes Neuron re-
agiert. Um nun umgekehrt aus
der neuronalen Aktivität abzu­
DORIS Y. TSAO

leiten, welches Gesicht ein


Affe gesehen hat, kehren wir
rekonstruierte Gesichter

den Prozess um: Aus den


Reaktionen von 205 Gesichts­
zellen können wir die zuge­
hörigen Werte für die 50 Koor­
dinaten des Gesichtsraums
ermitteln – und damit das
gesehene Gesicht sehr genau
rekonstruieren.

36 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Am nächsten Morgen um 5 Uhr kam ich als Erste in den Falls Sie schon einmal im British Museum waren, haben
Frühstückraum, um Rodrigo von meiner Vermutung zu Sie bestimmt den Stein von Rosetta bewundert. Auf dieser
berichten, die doch der Intuition stark zuwiderlief. Als er Felstafel ist ein Dekret aus Memphis in drei verschiedenen
dann endlich auftauchte, erzählte mir Rodrigo, er sei auf Sprachen eingraviert: in ägyptischen Hieroglyphen, in
exakt dieselbe Idee gekommen. Also schlossen wir eine Demotisch sowie in Altgriechisch. Da Philologen das Alt­
Wette, wobei Rodrigo die Bedingungen generös so gestal­ griechische beherrschen, konnten sie mit den Inschriften
tete, dass ich gar nicht verlieren konnte: Sollte sich heraus­ des Rosettasteins den Code der ägyptischen Hieroglyphen
stellen, dass jede Zelle wirklich gleichartig auf einen Satz und der demotischen Schrift knacken. In ähnlicher Weise
verschiedener Gesichter reagiert, würde ich Rodrigo eine bilden Gesichter, Face-Patches und der IT-Kortex als Ganzes
teure Flasche Wein schicken. Sollte sich das als falsch einen neuronalen Rosettastein, den es noch zu entschlüs­
erweisen, bekäme ich zum Trost von ihm eine Flasche. seln gilt. Indem wir unseren Affen Porträts zeigten, ent­
Zu Hause in unserem Labor kartierte Le Chang zunächst deckten wir die Face-Patches und fanden heraus, wie die
die bevorzugte Achse einer einzelnen Zelle anhand ihrer Neurone in diesen Zonen Gesichter erkennen und identifi­
Reaktionen auf die 2000 Porträts. Dann erzeugte er, wäh­ zieren. Das Verständnis der Codierungsregeln der Face-­
rend er weiterhin die Aktivität derselben Zelle aufzeichnete, Patches könnte uns einen Einblick in die Organisation des
eine Reihe von Gesichter, die alle auf einer Achse senkrecht gesamten IT-Kortex erlauben und enthüllen, wie Objekt­
zur bevorzugten Achse der Zelle lagen. Tatsächlich lösten all identitäten überhaupt codiert werden. Möglicherweise
diese Antlitze exakt dieselbe Reaktion aus. In der nächsten enthält der IT-Kortex weitere, auf die Verarbeitung anderer
Woche erhielt Rodrigo eine Flasche vom feinsten Cabernet Objekttypen spezialisierte Netzwerke – wie ein Computer
Sauvignon. mit zahlreichen Prozessoren.
Das Experiment belegte, dass Gesichtszellen im inferio­
ren temporalen Kortex nicht die Identität bestimmter Perso­ Von der Wahrnehmung der Realität zur
nen codieren. Stattdessen führen sie eine Achsenprojektion reinen Imagination
durch – arbeiten also viel abstrakter. Auf Basis unserer Erkenntnisse zur Funktion der Face-­
Analog nehmen wir zum Beispiel Farben wahr: Diese Patches können wir nun Affen trainieren, sich Gesichter
lassen sich konkret benennen wie Smaragdgrün, Dotter­ lediglich vorzustellen, um dann zu untersuchen, welche
gelb oder Azurblau. Alternativ kann man sie anhand von neuronalen Aktivitätsmuster der Akt der Imagination her­
drei Zahlen codieren, welche die Mengen an Rot, Grün und vorbringt. Dabei ergeben sich etliche neue Fragen: Reak­
Blau repräsentieren, aus denen sich der jeweilige Farbton tiviert die bildliche Vorstellung das neuronale Muster des
zusammensetzt. Dabei sollte eine Farbzelle, die eine Projek­ imaginierten Konterfeis in den Face-Patches? Reaktiviert sie
tion auf die Rotachse durchführt, elektrische Impulse eventuell auch die vorgeschalteten Repräsentationen von
proportional zum Rotanteil auslösen. Eine solche Zelle Konturen und Schattierungen, die Daten an das System der
feuerte mit derselben Intensität, wenn sie einen braunen Gesichtsareale liefern? Wir verfügen jetzt über das nötige
oder gelben Fleck mit demselben Rotanteil registriert. Werkzeug, um diesen Fragen nachzugehen und besser zu
Gesichtszellen arbeiten nach genau diesem Schema, nur verstehen, wie das Gehirn Objekte wahrnimmt, egal ob real
dass sie 50 statt drei Achsen verwenden. Und statt Unter­ oder imaginiert.
schieden in der Menge an Rot, Grün oder Blau codiert eine Fast alle essenziellen Funktionen des Gehirns – Bewusst­
derartige Achse die Abweichungen in Form und Erschei­ sein, visuelles Gedächtnis, Entscheidungsfindung oder
nungsbild von einem Durchschnittsgesicht. Sprache – erfordern Interaktionen mit Objekten. Ein tieferes
Anscheinend gibt es also keine Jennifer-Aniston-Zelle, Verständnis der Objektwahrnehmung wird uns daher
zumindest nicht im IT-Kortex. Einzelne Neurone, die selektiv helfen, Einblicke in die Funktionen des gesamten Gehirns zu
auf die Züge bestimmter vertrauter Individuen ansprechen, gewinnen, nicht nur in die des visuellen Kortex. Wir haben
könnten jedoch in anderen Hirnteilen aktiv sein, welche die gerade erst begonnen, die Rätsel der Gesichtswahrneh­
von Gesichtszellen ausgegebenen Daten weiterverarbeiten. mung zu lösen. 
Hirnregionen wie der Hippocampus, die Gedächtnisinhalte
speichern, könnten Zellen enthalten, die eine Person wie­
dererkennen helfen, der man früher einmal begegnet ist. QUELLEN
Sie ähnelten dann tatsächlich den populären Großmutter­ Chang, L., Tsao, D. Y.: The code for facial identity in the primate
zellen. brain. Cell 169, 2017
Die Gesichtserkennung im IT-Kortex basiert demnach auf
Freiwald, W. A., Tsao, D. Y.: Functional compartmentalization
einem Satz von etwa 50 Zahlen, die Form und Erscheinung and viewpoint generalization within the macaque face-proces­
eines Gesichts entlang einer entsprechenden Anzahl von sing system. Science 330, 2010
Achsen darstellen. Die Entdeckung dieses äußerst einfa­
Quian Quiroga, R.: How do we recognize a face? Cell 169, 2017
chen Codes für die Identität von Gesichtern wirkt sich
maßgeblich auf unser Verständnis für die visuelle Wahrneh­
LITER ATURTIPP
mung aus. Es ist durchaus möglich, dass der gesamte
IT-Kortex nach diesem Prinzip organisiert ist, in dem Grup­ Abbott, A.: Die Gesichtsspezialistin. Gehirn&Geist 6/2019,
S. 46–51
pen von Neuronen auf einem Achsensatz Werte codieren,
die zusammen das Objekt repräsentieren. »Nature«-Redakteurin Alison Abbott stellt Doris Tsao vor.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 37


BIODIVERSITÄT
VERGESSENE KÖRNER
Die einen sind besonders nährstoffreich, die anderen können Über­
schwemmungen, Dürren oder anderen Katastrophen trotzen: Viele alte
­Reissorten sind hochinteressant – und fast vergessen. Sie zu erhalten
und wieder anzusiedeln, stellt Forscher vor Herausforderungen.

schaften verfügen. Einige können Überflutungen,


Debal Deb leitet das Zentrum für ­Trockenheit, hohen Salzkonzentrationen im Boden oder
interdisziplinäre Studien in Barrackpur Schäd­lingsattacken trotzen, manche sind reich an wert­
nördlich von Kalkutta. Er hat die vollen Vitaminen oder Mineralstoffen, und wieder andere
­Basudha-Farm zur Erhaltung der
Reispflanzenvielfalt und das Vrihi-­
sind mit einer attraktiven Farbe, einem verführerischen
Saatgutverteilzentrum im indischen Geschmack oder einem verlockenden Duft ausgestattet,
Dorf Kerandiguda gegründet. so dass ihnen bei religiösen Zeremonien eine besondere
Rolle zukommt. Diese ausgesprochen seltenen, aber
 spektrum.de/artikel/1736686 ­wertvollen Sorten zu sammeln, wieder anzubauen und den
Bauern zugänglich zu machen, ist mir mittlerweile zur
Lebensaufgabe geworden.


An einem heißen Sommertag im Jahr 1991 untersuchte Der asiatische Kulturreis (Oryza sativa) ist das Ergebnis
ich in stundenlanger Arbeit die Biodiversität »heiliger jahrhundertelanger Selektion und Züchtung aus alten
Haine« im Süden des indischen Bundesstaats West- Wildsorten – ein Prozess, den Charles Darwin als künstliche
bengalen. Um mich auszuruhen, ging ich zur Hütte eines Selektion bezeichnete. Archäologische und genetische
jungen Mannes vom Santal-Stamm, Raghu Murmu. Im Nachweise deuten darauf hin, dass die asiatische Reis-
Schatten eines riesigen Mangobaums genoss ich kaltes Untersorte Indica (zu der nahezu alle auf dem indischen
Wasser und aus Reis hergestellte Süßigkeiten. Seine Subkontinent kultivierten Reissorten gehören) vor etwa
schwangere Frau sah ich eine rötliche Flüssigkeit trinken. 7000 bis 9000 Jahren in den Gebirgsausläufern des öst­
Dabei handle es sich um Stärke, die beim Kochen von Reis lichen Himalaja angebaut wurde. In den darauf folgenden
der Sorte Bhutmuri frei werde, erklärte Raghu. »Bei Frauen, Jahrtausenden der Domestizierung und Kultivierung
die während der Schwangerschaft und nach der Geburt ­schufen traditionelle Bauern eine Fülle von Landrassen,
unter Blutarmut leiden, unterstützt das die Blutbildung«, die perfekt an die unterschiedlichen Böden, Topografien
erläuterte er mir. Vermutlich auf Grund seiner rotbraun und Mikroklimata sowie die spezifischen kulturellen, er­
gefärbten Deckspelze (siehe »Eine Fülle an Reissorten«, nährungsphysiologischen oder medizinischen Bedürfnisse
S. 42) trägt diese Sorte den Namen Geisterkopf-Reis. angepasst waren.
Wie ich später herausfinden sollte, gehört Bhutmuri zu
einer von mehreren einheimischen Reissorten in Südasien, Dramatischer Schwund
die reich an Eisen sind und bestimmte B-Vitamine enthal- Laut dem Reiswissenschaftler R. H. Richharia, dem ehema-
ten. Paramai-sal-Reis wiederum beherbergt große Mengen ligen Direktor des Central Rice Research Institute in Cuttack
an Antioxidanzien, Mikronährstoffen und löslicher Stärke, in Indien und einem Pionier auf diesem Gebiet, wurden bis
die rasch in Energie umgewandelt werden kann. Damals in die 1970er Jahre hinein auf indischen Feldern mehr als
waren mir solche ungewöhnlichen Reissorten mit ihren 140 000 Landrassen angebaut. Zieht man synonyme Be-
eindrucksvollen Namen und volksmedizinischen Anwen- zeichnungen (also identische Sorten, die lokal verschiedene
dungen neu. Zurück in Kalkutta, führte ich eine Literatur­ Namen tragen) ab, bleiben immer noch etwa 110 000 unter-
recherche zur genetischen Vielfalt von indischem Reis schiedliche Sorten. Wie ich seit meiner Literaturrecherche
durch und stellte fest, dass meine Begegnung mit Raghu weiß, hat sich die genetische Vielfalt der indischen Reissor-
ein Glücksfall gewesen war. Bauern wie er, die alte Reis­ ten seit der Grünen Revolution in den 1970er Jahren aller-
sorten anbauen und deren Wert zu schätzen wissen, sind dings drastisch verringert.
sehr selten – und die Reissorten gefährdet. Ende der 1960er Jahre stellte das International Rice
In den Jahren darauf habe ich eine Fülle einheimischer Research Institute (IRRI) der indischen Regierung einige
Reissorten (auch als Landrassen bezeichnet) kennen ge- speziell gezüchtete Hochertragssorten (high-yielding varie-
lernt, die über erstaunlich nützliche und vielfältige Eigen­ ties, HYVs) zur Verfügung, die – bei guter Wasserversor-

38 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Traditionelle Reissorten
bieten eine Fülle an
wertvollen Eigenschaf­
ten. Doch es gibt nur
noch wenige von ihnen.
FOTO: ZOË SAVITZ

Spektrum
Spektrumder
derWissenschaft 
Wissenschaft  5.20
7.20 39
gung sowie unter Einsatz von Düngemitteln und Pestizi- Pflanzkartoffeln, was dramatische Auswirkungen hatte:
den – beträchtliche Erträge lieferten. In Absprache mit Während der Hungersnot starben rund eine Million Men-
internationalen Entwicklungsbehörden drängte das IRRI schen an Hunger oder Krankheiten, und in dem durch
darauf, die indigenen Sorten auf allen Bodentypen durch Hunger und Entbehrung gekennzeichneten anschließenden
die importierten zu ersetzen, unabhängig von ihrer Lage Jahrzehnt wanderten etwa zwei Millionen Menschen aus
und den lokalen klimatischen Bedingungen. Die neuen Irland nach Nordamerika und Australien aus.
Reissorten, stark beworben und den Bauern teils regelrecht Monokulturen sind für eine langfristige Ernährungssi-
aufgezwungen, verdrängten rasch die Landrassen. cherheit katastrophal, weil der Mangel an unterschiedlichen
Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre listeten Wis- Sorten eine Nutzpflanze anfällig für Schädlinge und Krank-
senschaftler des IRRI 5556 Landrassen in Westbengalen heiten macht, wie das dramatische Beispiel Irland deutlich
auf und sammelten 3500 davon für ihre Genbank. Als ich zeigt. Und im Zuge der Grünen Revolution vernichteten
im Jahr 1994 keinerlei Dokumentation zu den im Land noch Insekten wie Blattkäfer (etwa Dicladispa armigera) und die
erhaltenen Sorten fand, begann ich auf eigene Faust, eine Braune Reiszikade, die zuvor nie ein Problem dargestellt
Erhebung anzustellen. Nachdem ich dieses einsame Unter- ­hatten, in mehreren asiatischen Ländern ganze Reisernten.
fangen 2006 endlich fertig gestellt hatte, zeigte sich, dass Riesige Monokulturen bescheren bestimmten Schäd­
rund 90 Prozent der ursprünglich 110 000 von Richharia lingen einen reich gedeckten Tisch. Gehen die Landwirte
dokumentierten Sorten inzwischen von den Feldern der großzügig mit Pestiziden gegen sie vor, werden deren
Bauern verschwunden waren. Tatsächlich werden in ganz natürliche Feinde dadurch letztendlich ebenso getötet. Im
Indien wahrscheinlich nur noch etwa 6000 traditionelle End­effekt fördert dies Vielfalt und Fülle der Schädlinge,
Reissorten angebaut. Ähnlich ist die Lage im Nachbarland: so dass immer mehr Pestizide eingesetzt werden müssen.
So dokumentierte das Reis-Forschungsinstitut in Bangla- Und die genetische Vereinheitlichung der Getreidesorten –
desch (Bangladesh Rice Research Institute) zwischen 1979 insbesondere derer, die im Zuge der Grünen Revolution auf
und 1981 zwar noch 12 479 Sorten namentlich. Meine Grund ihres hohen Ertrags ausgewählt wurden – bedeutet
Analyse einer aktuellen Studie hingegen deutet darauf hin, gleichzeitig, dass die Pflanzen nicht mehr über die Aus­
dass im gesamten Land maximal noch 720 Landrassen stattung verfügen, die sie gegen die Launen des Wetters
angebaut werden. schützt, wie etwa nicht ausreichenden oder verzögerten
Der massive Verlust an biologischer Vielfalt auf dem Regen, saisonale Überschwemmungen oder Sturmfluten.
indischen Subkontinent schockierte mich. Warum gab es Die mangelnde Widerstandskraft der Pflanzen macht außer-
den landwirtschaftlichen Institutionen keinen Anlass zur dem Landwirte, die sich beispielsweise keine Pumpen zur
Sorge, dass das bedeutendste Getreide allmählich seinen Be- oder Entwässerung ihrer Felder leisten können, anfälli-
genetischen Reichtum verlor? Schließlich sollte spätestens ger gegenüber umweltbedingten Änderungen.
seit der Großen Hungersnot in Irland zwischen 1845 und
1849 bekannt sein, welche verheerenden Folgen solch eine Weil das Wissen verschwindet, sind Bauern
Entwicklung haben kann. ­abhängiger von Lieferanten
Die meisten in Irland angebauten Kartoffeln gehörten Mit dem Verlust der Landrassen schwindet auch das mit
damals zu einer einzigen Sorte namens Irish Lumper. Diese ihrem Anbau verbundene Wissen. So können traditionelle
war nicht resistent gegen den Mikroorganismus Phytoph- Bauern einzelne Sorten anhand verschiedenster Kriterien
thora infestans, der die Kartoffelfäule hervorruft. Als dann unterscheiden – etwa ihrer Blütezeit, der Farbe der basalen
1846 drei Viertel der Ernte durch Infektion mit diesem Blattscheide, des Winkels, in dem das oberste Blatt unter-
Erreger verloren gingen, fehlten in den nächsten Jahren halb des Blütenstands am Halm sitzt, der Rispenlänge oder
der Größe, Farbe und Form des Korns (siehe »Eine Fülle an
Reissorten«, S. 42). Anhand dieser und weiterer Charakte­
ristika sortieren sie alle atypischen oder abweichenden
AUF EINEN BLICK Pflanzen aus, um die genetische Reinheit der Landrasse zu
VERLORENE VIELFALT erhalten. Weil sich heute die meisten südasiatischen Bauern
allerdings auf die Versorgung mit fremdem Saatgut verlas-

1 In Indien gab es ursprünglich rund 110 000 einheimi- sen, erübrigt sich die Notwendigkeit, die Reinheit des
sche Reissorten mit unterschiedlichen wertvollen heimischen Saatguts zu erhalten. Steht eine lokale Sorte
Eigenschaften, etwa einem hohen Nährstoffgehalt oder nicht länger zur Verfügung, verschwindet daher das Wissen
bestimmten Resistenzen. hinsichtlich ihres landwirtschaftlichen und kulturellen
Nutzens aus dem gemeinschaftlichen Gedächtnis. Jahrtau-

2 Seit dem Siegeszug der Hochleistungssorten sind etwa


90 Prozent der ursprünglichen Sorten verschwunden.
sendealte Strategien, Schädlinge und Krankheiten durch
biologische Vielfalt in Schach zu halten, wurden so durch
die Ratschläge von Pestizidhändlern ersetzt – auf Kosten der
3 Mit einer Farm zur Erhaltung der Reispflanzenvielfalt
und einem Saatgutverteilzentrum will der Autor
die verlorene Biodiversität der Kulturpflanze zumindest
Boden- und Wasserqualität, der Biodiversität und der
menschlichen Gesundheit.
teilweise wiederherstellen. Die Grüne Revolution hatte schwer wiegende soziale und
ökonomische Auswirkungen. Um die steigenden Kosten für
Betriebsmittel wie Saatgut, Düngemittel, Pestizide und

40 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Um vergessene Landrassen wieder zu­
rückzugewinnen, müssen jedes Jahr mehr
als 1000 Reissorten ausgesät, gepflegt
und geerntet werden. Hier bestückt eine
einheimische Bäuerin auf der vom Autor
gegründeten Basudha-Reisplantage ein
geflutetes Feld mit Setzlingen.
FOTO: ZOË SAVITZ

Treibstoff für Bewässerungspumpen aufbringen zu können, So blieb mir einzig die Möglichkeit, mein Vorhaben allein
liehen sich Bauern Geld, oft von privaten Geldgebern. anzugehen. 1996 kündigte ich meinen Job und ließ mich in
Verschuldungen, verbunden mit sinkenden Preisen für die einem Ort in Westbengalen nieder, um eine Saatgutbank für
eingebrachten Ernten, haben zu Notverkäufen kleiner einheimische Reissorten mit angeschlossenem Tauschzen­
landwirtschaftlicher Betriebe geführt – und zu einer epide- trum für die Bauern aufzubauen. Im Jahr 1997 taufte ich sie
mischen Selbstmordrate unter indischen Bauern. Während auf den Namen Vrihi, was in Sanskrit so viel bedeutet wie
meiner jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit traditionellen »Reis-Verteilzentrum«. In den ersten Jahren setzte ich meine
Bauern, die auf ihren kleinen Ländereien immer noch lokale Ersparnisse ein und erhielt beträchtliche Unterstützung von
Reis- und Hirsesorten anbauen, habe ich dagegen noch von der Navdanya-Stiftung, einer in Neu-Delhi ansässigen Nicht-
keinem einzigen Selbstmord gehört. regierungsorganisation, um seltenes Saatgut aus verschiede-
1996 hatte ich 152 Landrassen in meiner Sammlung und nen Teilen des Landes zu sammeln und kostenlos an bedürf-
wandte mich damit an die Reisforschungsstation der west- tige Bauern abzugeben. Seit 2000 stammen unsere Finanz-
bengalischen Landesdirektion für Landwirtschaft, wo alle mittel größtenteils von Freunden und Förderern.
Keimplasmen ursprünglicher Reissorten aufbewahrt wer-
den sollten. Dort lehnte man es nicht nur ab, das von mir Seltene Sorten mit überraschenden Fähigkeiten
gesammelte Saatgut anzunehmen und zu erhalten, sondern 1999 erfasste ich im Norden Bengalens für die staatliche
beschimpfte mich regelrecht: Der Anbau alter Landrassen Forstbehörde Daten zur Biodiversität und nutzte diese
verdamme die Bauern zu geringer Produktivität und lebens- ­Gelegenheit dazu, die Felder der Region zu untersuchen.
langer Armut. Als ich argumentierte, dass keine der Hoch- Nach einer sechsstündigen Reise zu dem abgelegenen Ort
ertragssorten ohne künstliche Bewässerung auf trockenen Lataguri sammelte ich die stark gefährdete Reissorte Agni-
Böden, im Tiefland-Anbau oder auf küstennahen salzhalti- sal ein. (Als stark gefährdet definiere ich eine Sorte, die nur
gen Böden überleben könne, versicherte man mir, dass es noch auf einem einzigen landwirtschaftlichen Betrieb ange-
bald geeignete moderne transgene Sorten geben würde baut wird.) Das Korn war feuerrot – »Agni« bedeutet Feuer –
und ich die Angelegenheit den Experten der Agrarwissen- und der Halm kräftig genug, um Stürmen zu widerstehen.
schaft überlassen solle. Dieses Saatgut gab ich in der nächsten Saison einem Bau-
Als ausgebildeter Ökologe, spezialisiert auf Ökosystem- ern, der eine Sorte suchte, die auf seiner hoch gelegenen
strukturen und -funktionen, arbeitete ich mit dem Regional- und ständig starkem Wind ausgesetzten Anbaufläche gut
büro Ost des WWF Indien zusammen. Damals beschäftig- gedeihen konnte. Im darauf folgenden Jahr bedankte er sich
ten sich dieser und andere Naturschutzverbände typischer- mit breitem Lächeln, denn trotz eines Wirbelsturms, der alle
weise mit dem Artenschutz großer, faszinierender Tiere benachbarten Betriebe verwüstet hatte, konnte er eine
wie dem Tiger. Kulturpflanzen fallen nicht in diese Rubrik, reiche Ernte einfahren. Ein Jahr später überredete ihn jedoch
und so lag deren Schutz nicht in ihrem Fokus. Und auch ein Beamter der lokalen Landwirtschaftsbehörde, Agni-sal
Forschungsinstitute waren an dem Thema nicht interes- gegen eine Hochertragssorte zu ersetzen. Damit ging diese
siert, da der Erhalt traditioneller Getreidesorten keine Aus- Sorte aus unserem Bestand verloren. Ich eilte zwar sofort
sicht auf finanzielle Unterstützung hatte. nach Lataguri, um von dem ursprünglichen Saatgutgeber

Spektrum der Wissenschaft  7.20 41


Eine Fülle an Reissorten
Traditionelle Landwirte in Südasien können Tausende von Reissorten vonein-
ander unterscheiden, indem sie mehr als 50 Merkmale sorgfältig untersu- Mehlkörper
Granne

chen. Dazu zählen zeitliche Aspekte, wie beispielsweise die Blütezeit oder des Reiskorns
die Dauer der Reifung. Ebenso wichtig sind physische Eigenschaften wie
die Länge, Größe und Farbe der Rispen, der Winkel des Fahnenblatts, die
Länge, Dicke und Farbe des Halms, die Größe, Form und Farbe des Korns, Deckspelze

die Knotenfarbe und andere Kriterien. Dieses Fachwissen, das – wie die
alten Reissorten selbst – ernsthaft gefährdet ist, ermöglicht es den traditio-
Hüllspelze Aleuron-
nellen Landwirten, Sorten für den Einsatz in verschiedenen ökologischen schicht
Nischen wie im Gelände abfallenden Trockengebieten oder im häufiger
überfluteten Tiefland-Anbau auszuwählen oder aber für spezifische ernäh- Keimling
rungsphysiologische, kulturelle oder
medizinische Anwendungen einzu-
setzen.

Fahnenblatt

Rispe

Eine hochwasserresistente Sorte


kann entweder eine Phase von bis
zu zwei Wochen unter Wasser
tolerieren oder ihre Halme mit Reiskörner können in der
steigendem Wasserstand verlän- Länge der Granne, der
gern, so dass die Rispen trocken Halm Farbe der Deckspelze, der
bleiben. Diese Eigenschaften Größe, Farbe, Form und
bestimmen spezifische Gene wie dem Aroma des Mehlkör-
SUB1 (für »submerge«, englisch für pers sowie anderen Merk-
untertauchen) beziehungsweise malen variieren. Es gibt
SNORKEL 1 und SNORKEL 2 (für die seltene Sorten, bei denen
Halmverlängerung). ein einziges Korn zwei oder
Knoten sogar drei Mehlkörper
enthält. Traditionelle Bauern
bevorzugen oft Sorten mit
langen, scharfen Grannen,
Entwicklungsstadien die eine Beweidung der
Felder durch Rinder verhin-
Landwirte unterscheiden Sorten auch nach Merkmalen, dern sollen. Aus einigen
die nur in bestimmten Stadien des Lebenszyklus aromatischen Sorten stellt
auftreten. Während des späten vegetativen Stadiums man kulinarische Spezia­
beobachten sie die Farbe und Behaarung des Blatts, im litäten für Zeremonien her.
Verlauf des reproduktiven Stadiums den genauen
Zeitpunkt, zu dem sich die Rispen bilden und austreten,
sowie die Neigung des Fahnenblatts. Im reifen Stadium
unterscheiden sie den Winkel der Rispen, die Farbe der
Granne und die Details des Korns.
basale Blattscheide
REBECCA KONTE / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2019

Wurzeln

vegetativ reproduktiv reif

42 Spektrum der Wissenschaft  7.20


eine weitere Probe zu beschaffen, jedoch nur um zu er­
fahren, dass er im Jahr zuvor verstorben und sein Sohn
diese Sorte Reis aufgegeben hatte. Agni-sal ist demzufolge Umstrittenes Biopatent
meines Wissens nach unwiderruflich ausgestorben.
Ein weiterer Vorfall etwa zu der gleichen Zeit überzeugte Im Jahr 1997 meldete das US-amerikanische
mich davon, dass es nicht ausreicht, Saatgut nur zu sam- Unternehmen RiceTec ein Patent auf einen Bas-
meln und weiterzugeben. Traditionelle indische Tiefland- mati-Reis an, den es aus Kreuzungen hergestellt
Bauern bauen normalerweise zwei Typen von überflutungs- hatte. Das Patent beinhaltete nicht nur neue
tolerantem Reis an. Der eine kann sich dem steigenden Reislinien, sondern auch die exklusive Verwen-
Wasserspiegel durch eine Halmverlängerung unter Wasser dung des Namens »Basmati-Reis«. Das Vorgehen
anpassen. Diese Eigenschaft regulieren zwei Gene namens rief weltweit Proteste hervor, weil traditionelle
SNORKEL1 und SNORKEL2, die auf Chromosom 12 liegen. Bauern um ihre Lebensgrundlage fürchteten.
Zu dem Typ zählen traditionelle Sorten wie Lakshmi dighal, Nachdem die indische Regierung im Jahr 2000
Jabrah, Pantara und Rani kajal. Ein zweiter Typ kann eine drei der Ansprüche aus dem Patent anfocht,
auch länger andauernde vollständige Überflutung überste- verzichtete RiceTec auf diese sowie einen zusätz­
hen. Eines der hierfür verantwortlichen Gene ist SUB1, das lichen. 2001 wies das US-Patentamt 13 weitere
in mehreren bengalischen Landrassen vorkommt. Ansprüche zurück. Seither trägt die Firma noch
Im Juni 1999 wurde ein südlicher Distrikt von Westben- das Recht an drei neuen Reislinien, die sie unter
galen von einer sintflutartigen Sturzflut heimgesucht, der den Namen »Texmati« und »American-style bas-
die gesamte Reisernte zum Opfer fiel. Zu jener Zeit hatte ich mati rice« verkaufen darf.
keine überflutungstoleranten Sorten in meiner Saatgut-
bank, wusste aber, dass das IRRI und die Nationale Behör-
de für pflanzengenetische Ressourcen (National Bureau of
Plant Genetic Resources) in Neu-Delhi mehrere Dutzend aller Wahrscheinlichkeit nach natürliche Resistenzen gegen
davon besaßen. Beide Institutionen schrieb ich mit der Bitte spezifische Pathogene, die sich mittlerweile zu neueren
an, mir 10 bis 20 Gramm dieses Saatguts zu schicken, um Stämmen entwickelt haben. Bei den mit einem niedrigeren
die notleidenden Bauern zu retten, jedoch ohne Reaktion. Budget ausgestatteten »In-situ«-Saatgutbanken direkt im
Dagegen stellen die Genbanken ihre Bestände Saatgut- Anbaugebiet ist es im Gegensatz dazu zwingend erforder-
unternehmen für Hybridisierungsprogramme und Patent­ lich, dass die Bauern ihr Saatgut jedes Jahr aussäen, damit
anmeldungen zur Verfügung. Laut Schätzungen des Inter- die Samen ihre Keimfähigkeit nicht verlieren. Dank dieser
national Food Policy Research Institute wurden bis 1996 Notwendigkeit entwickelt sich das dort konservierte Saat-
etwa drei Viertel der US-amerikanischen Reisfelder mit gut kontinuierlich und parallel zu den verschiedenen Patho-
Saatgut aus Beständen der IRRI-Sammlung bestückt. Und genen und Schädlingen weiter.
1997 erteilte das US-amerikanische Patentamt dem in Texas
ansässigen Unternehmen RiceTec das bislang umfang- Eine Farm mit besonderen Herausforderungen
reichste Patent auf eine indigene Reissorte, und zwar für Nach einer Reihe solcher Erfahrungen und Beobachtungen
einen hybriden Basmati-Reis, dessen Vorfahren aus Südasi- beschloss ich, eine eigene Farm zur Erhaltung einer kleinen
en und der IRRI-Sammlung stammen (siehe »Umstrittenes Population jeder Landrasse aufzubauen, so dass diese
Biopatent«, rechts). Das Institut, das seinen Bestand angeb- Sorten selbst dann überleben, wenn die Bauern sie aufge-
lich treuhänderisch für die Landwirte weltweit verwaltet, geben haben. So gründete ich 2001 die Basudha-Farm.
meldete 2004 selbst ein internationales Patent auf ein Dort, in einem kleinen Dorf im Süden des ostindischen
ertragssteigerndes Reisgen namens SPIKE an, das in der Bundesstaats Odisha, bauen wir jedes Jahr diejenigen
indonesischen Landrasse Daringan entdeckt wurde. Der Reissorten an, die wir in Vrihi sammeln. Das sind derzeit
Aufsichtsrat des Internationalen Abkommens über pflan- 1420, von denen mittlerweile 182 von Indiens Feldern ver-
zengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirt- schwunden sind.
schaft (International Treaty on Plant Genetic Resources for Auf den uns zur Verfügung stehenden knapp 0,7 Hektar
Food and Agriculture, ITPGRFA) hat die Rechtmäßigkeit müssen wir von jeder einzelnen Sorte jeweils 64 einzelne
dieser umstrittenen Anwendung untersucht, aber bisher Pflanzen auf nur vier Quadratmetern Fläche anbauen. (Zur
noch keine Entscheidung bekannt gegeben. Aufrechterhaltung aller genetischen Anlagen einer be-
Die »Ex-situ«-Saatgutbanken, die sich außerhalb des stimmten Landrasse ist eine Mindestanzahl von etwa
eigentlichen Anbaugebiets befinden, sind nicht nur phy- 50 Pflanzen nötig.) Da wir so den international empfohlenen
sisch und sozial weit weg von den Bauern, ihr Saatgut ist Isolationsabstand zwischen den einzelnen Landrassen von
durch die lange Isolation auch nur eingeschränkt nutzbar. beidseitig jeweils mindestens 110 Metern natürlich bei
Die Reissamen werden getrocknet und bei minus 20 Grad Weitem nicht einhalten können, ist es eine Herausforde-
Celsius gelagert, wodurch sie bis zu 35 Jahre lang lebens­ rung, Fremdbestäubung zwischen benachbarten Sorten zu
fähig bleiben. In eingefrorenem Zustand entfernen sie sich vermeiden. Wir haben das Problem gelöst, indem wir die
aber zunehmend von den Lebensformen in der realen Welt, verschiedenen Sorten so pflanzen, dass sie jeweils von
da diese sich ständig weiterentwickeln. Werden die konser- solchen umgeben sind, die zu einer anderen Zeit im Jahr
vierten Sorten dann nach 35 Jahren ausgesät, fehlen ihnen blühen. Darüber hinaus überwachen wir gemäß den inter-

Spektrum der Wissenschaft  7.20 43


nationalen Biodiversitätsrichtlinien in jeder Population in und Jabra können mit steigendem Wasserspiegel ihre Halme
den verschiedenen Lebensphasen 56 unterschiedliche verlängern und auf diese Weise die Körner tragenden Rispen
Merkmale und sortieren abweichende Pflanzen aus. Wir bis zu einem Wasserstand von vier Metern trocken halten.
gehen davon aus, dass alle unter diesen Kriterien ge­ Matla, Getu, Talmugur und Kallurundai wachsen selbst auf
ernteten Samen – abgesehen von wenigen unentdeckten salzigen Böden und trotzen eindringendem Meerwasser. All
Mutationen – zu 100 Prozent genetisch rein sind. diese Landrassen sind mit einer ganzen Reihe von Genen
Auf der Basudha-Farm werden alle Landrassen in Über- ausgestattet, die ihnen ein breites Spektrum an Anpassungs-
einstimmung mit dem agrarökologischen Prinzip angebaut, fähigkeiten verleihen.
dass keine externe Zufuhr stattfindet: keine Agrochemikali-
en, keine Bewässerung durch Grundwasserentnahme, Wann traditionelle Sorten punkten
keine fossilen Kraftstoffe für Maschinen. Die Versorgung Bei optimalen Bodenverhältnissen kann auf Landwirt­
mit Nährstoffen erfolgt über Blatt- und Strohmulch, Hülsen- schaftsbetrieben, die ausschließlich durch Regen bewässert
früchte (deren Wurzeln reich an Stickstoff fixierenden werden, eine beträchtliche Anzahl indigener Reissorten
Mikroben sind), kompostierte Gründüngung sowie Tiermist, wie Bahurupi, Bourani, Kerala sundari und Nagra die Erträge
Biokohle und Bodenmikroben. Wir bekämpfen Schädlinge, moderner Hochleistungssorten ausstechen. Eine Reihe
indem wir »Unkräuter« und Sträucher anpflanzen, die ausgesprochen rarer Sorten mit relativ großen Erträgen
Lebensräume für deren Fressfeinde wie Spinnen, Ameisen verfügt über zwei beziehungsweise drei Mehlkörper pro
und Reptilien sowie Parasiten bieten. Eine weitere Strategie Korn, was auf eine seltene Mutation in den Strukturgenen
ist die Erhaltung von Wasserpfützen als Brutstätten für der Blütenstände zurückzuführen sein könnte. Die Basudha-
Wasserinsekten und Frösche, die ebenfalls Jagd auf Pflan- Farm scheint eine der letzten Aufbewahrungsstätten einer
zenschädlinge machen. Und gelegentlich verwenden wir solchen Landrasse mit drei Mehlkörpern zu sein.
pflanzliche Schädlingsbekämpfungsmittel wie Tabak, Darüber hinaus besitzen mehrere Landrassen Resistenzen
Knoblauch und Tulsi (Ocimum sanctum, Heiliges Basilikum). gegenüber Schädlingen und Pathogenen. Kalo nunia, Kalana-
Pflanzenkrankheiten sind auf Basudha kein Thema: Dass mak, Kartik-sal und Tulsi manjari sind gegen pilzbedingten
Sorten- und Artenvielfalt den besten Schutz bieten, wurde Blattbrand, Bishnubhog und Rani kajal gegen durch Bakteri-
und wird immer wieder dokumentiert. en verursachte Weißblättrigkeit resistent, und Kataribhog
Einen Teil der geernteten Körner lagern wir für die kann sich recht gut gegenüber Tungroviren behaupten, die
­Aussaat im Folgejahr in Tontöpfen, wo sie zum einen vor
Insekten und Nagern geschützt sind und zum anderen
»atmen« können. Den Rest verteilen wir an Bauern, im Der Autor Debal Deb (links) und sein langjähriger
Austausch gegen eine Hand voll Saatgut anderer einheimi- Mitarbeiter Debdulal Bhattacharya untersuchen,
scher Sorten, die wir anbauen und wiederum an andere dokumentieren und diskutieren die detailreichen
Landwirte weitergeben. Mit diesem System möchten wir Charakteristika der geernteten Reiskörner.
ganz bewusst die klassische Praxis des Saatgutaustauschs
FOTO: ZOË SAVITZ

wiederbeleben, die einst in allen landwirtschaftlichen


Gemeinschaften dazu beitragen hat, Getreidesorten über
die Kontinente zu verbreiten.
Meine Mitarbeiter und ich haben mittlerweile mehr als
20 weitere Saatgutbanken in verschiedenen Teilen Indiens
mit aufgebaut, so dass die Landwirte vor Ort Zugriff auf die
von ihnen benötigten Sorten haben, ohne nach Vrihi reisen
zu müssen. Außerdem fördern wir Saatgut-Tauschbörsen
zwischen den Bauern. Von diesen Saatgutbanken und
Netzwerken haben bislang mehr als 7800 Landwirte in fünf
indischen Bundesstaaten profitiert. Darüber hinaus doku-
mentieren wir die Merkmale und Eigenschaften jeder
einzelnen Sorte und erstellen im Namen der Bauern ein
Verzeichnis aller Landrassen, um Patent-Biopiraterie zu
verhindern. So versuchen wir, den Bauern die Souveränität
über ihr Saatgut wiederzugeben, was für ihre langfristige
Finanz- und Ernährungssicherheit unerlässlich ist.
Auf landwirtschaftlichen Betrieben in prekärer Lage, die
unter Dürre oder saisonalen Überflutungen leiden, sind die
traditionellen Landrassen das einzige zuverlässige Mittel,
um die Ernährung zu sichern. Ich baue seit inzwischen
22 Jahren indigene Reissorten an und bin davon überzeugt,
dass Landrassen wie Kelas, Rangi, Gadaba, Kaya und Velchi
unter Dürrebedingungen höhere Erträge liefern als jegliche
modernen Hochertragssorten. Lakshmi dighal, Rani kajal

44 Spektrum der Wissenschaft  7.20


weltweit bereits mehrmals für hohe Ertragseinbußen weise einige wilde Verwandte von Kulturreissorten wie ­
gesorgt haben. Gour-Nitai, Jashua und Shatia scheinen Buno dhan (Oryza rufipogon oder Roter Reis) und Uri dhan
resistent gegenüber dem Reisblattzünsler (Parapoynx (Hygroryza asiatica) mit lokalen Hindu-Riten in Verbindung
stagnalis) zu sein, und bei Khudi khasa, Loha gorah, Mala- gebracht und von vielen Landwirtschaftsbetrieben in
bati, Sada Dhepa und Sindur mukhi wurden nur selten ­Westbengalen und dem benachbarten Jharkhand bewahrt.
Angriffe von Reisstängelbohrern (Tryporyza spp.) beobach- Solche wilden Genpools werden als Quelle ungewöhnlicher
tet. Dieses von Vrihi ausgegebene Saatgut hat in den letz- Merkmale, die bei Bedarf in vorhandene Kultursorten ein­
ten rund 25 Jahren auf tausenden Feldern schädlings- und gebaut werden können, immer wichtiger. Weiterhin sind auf
krankheitsbedingte Ernteeinbußen verringert. den Reisfeldern bestimmte Bäume wie der Niembaum
Doch nicht nur die Widerstandskraft der Pflanzen ist von (Azadirachta indica), dessen Blätter als natürliche Pestizide
Bedeutung. Während sich die moderne Reiszüchtung im wirken, und Raubvögel wie die Eule gern gesehen.
Wesentlichen auf eine Ertragssteigerung konzentriert, gerät
völlig aus dem Blick, dass zahlreiche indigene Reissorten Katastrophen offenbaren die Vorteile
verschiedene wertvolle Mikronährstoffe enthalten, die den alter Reissorten
modernen Sorten fehlen. So identifizierten wir kürzlich In einer umfassenden Sammlung der alten, einheimischen
mindestens 80 einheimische Sorten, die mehr als 20 Milli- Reissorten mit ihren fein abgestimmten Anpassungen sehen
gramm Eisen pro Kilogramm Reis aufweisen. Die höchsten wir die beste Chance, bei widrigen Bedingungen die erfor-
Konzentrationen fanden wir in den Sorten Harin kajli, Dudhé derliche Abhilfe zu schaffen. Überzeugt von der höheren
bolta und Jhuli: Dort lagen sie zwischen 131 und 140 Milli- Ertragsstabilität der Landrassen, haben mehr als 2000 Land-
gramm pro Kilogramm. Die unter enormem Aufwand am wirte in unterschiedlichen Regionen Indiens verschiedene
IRRI entwickelte transgene, extra mit Eisen angereicherte dieser Reissorten aus Vrihi eingeführt und den Anbau der
Reissorte IR68144-2B-2-2-3 enthält etwa zehnmal weniger. Hochertragssorten eingestellt.
Bestimmte Landrassen sind darüber hinaus eventuell Als der Zyklon Aila im Mai 2009 auf die Küste der Sun­
von medizinischem Nutzen. Ayurveda, die traditionelle darbans vor Westbengalen und Bangladesch traf, forderte er
indische Heilkunst, empfiehlt Nyavara-Reis aus Kerala zur fast 350 Todesopfer und zerstörte die Wohnstätten von mehr
unterstützenden Behandlung einer Gruppe neurologischer als einer Million Menschen. Eine Sturmflut überschwemmte
Erkrankungen. Gemeinsam mit meinen Mitarbeitern unter- die Felder und ließ sie versalzen. Neben der unmittelbaren
suche ich derzeit seine chemische Zusammensetzung und verheerenden Verwüstung war damit die langfristige Ernäh-
hoffe, dabei etwas über seine diesbezügliche Wirksamkeit rungssicherheit der Region in Gefahr. Wir verteilten eine
herauszufinden. Eine weitere solche Reissorte, Garibsal aus kleine Menge Saatgut traditionell salzresistenter Landrassen
Westbengalen, wurde in der traditionellen Medizin bei wie Lal Getu, Nona bokra und Talmugur aus den Beständen
Magen-Darm-Infektionen verschrieben. In einer 2017 veröf- der Vrihi-Saatgutbank an einige Bauern in Inseldörfern der
fentlichten Arbeit dokumentierten meine Kollegen und ich Sundarbans. Dies waren die einzigen Reissorten, die in jener
in Garibsal-Reiskörnern eine Silber-Anreicherung in einer katastrophalen Saison auf den versalzenen Böden einen
Konzentration von bis zu 15 ppm (parts per million). Silber- messbaren Ertrag lieferten. Auch 1999 sicherten mehrere
Nanopartikel töten laut einer 2017 erschienenen Studie alte Sorten wie Jabra, Rani kajal und Lakshmi dighal die
pathogene Bakterien ab. Diese Sorte könnte also zur Be- Reisproduktion von Bauern im Süden Westbengalens nach
kämpfung von Krankheitserregern im menschlichen Darm einer sturzflutartigen Überschwemmung durch den Fluss
beitragen. Eine ganze Fülle solch potenziell medizinisch Hugli. Und im Jahr 2010 retteten die Sorten Bhutmuri, Kalo
relevanter Reissorten wartet noch darauf, im Labor und gorah, Kelas und Rangi viele traditionelle Bauern im westli-
klinisch erforscht zu werden. chen Distrikt Puruliya, als durch die Verspätung der Monsun­
Die Komplexität der ökologischen Wechselwirkungen regenfälle eine schwere Dürre ausbrach.
hat eine Reihe weiterer Reissorten hervorgebracht. So Solche Katastrophen beweisen immer wieder, dass die
bevorzugen Kleinbauern in den Bundesstaaten Westbenga- langfristige Nachhaltigkeit des Reisanbaus entscheidend von
len und Jharkhand Sorten mit langen und kräftigen Gran- der Rückbesinnung auf und der Wiederherstellung traditio-
nen (dornartigen Fortsätzen an der Spitze der Deckspelze), neller Anbaupraktiken abhängt, die sich auf Biodiversität und
die Rinder und Ziegen vom Weiden abhalten. Außerdem die Nutzung der gesamten Getreidesorten-Vielfalt stützen. 
schätzen Bauern Landrassen mit aufgerichteten Fahnen-
blättern, da sich keine Vögel darauf niederlassen können,
um Körner zu fressen. QUELLEN
Interessanterweise bauen einige Landwirte in Odisha
Deb, D. et al.: A profile of heavy metals in rice (Oryza sativa ssp.
eine Kombination aus Reissorten mit und ohne Grannen auf indica) landraces. Current Science 109, 2015
ihren Feldern an, unabhängig von jeglichem direktem
Deb, D.: Seeds of tradition, seeds of future: Folk rice varieties of
Vorteil. Andere seltene Sorten ohne offensichtlichen Nutzen Eastern India. Research Foundation for Science Technology &
verfügen über violette Halme und Blätter. Tatsächlich Ecology, New Delhi, 2005
scheint die südasiatische Tradition die Vielfalt auf geneti-
Gupta, S. S. et al.: Unusual accumulation of silver in the aleurone
scher sowie auf Artebene als so essenziell für die Land­ layer of an Indian rice (Oryza sativa) landrace and sustainable
wirtschaft zu erachten, dass sie in bestimmten religiösen extraction of the metal. ACS Sustainable Chemical Engineering 5,
Ritualen früher fest verankert war. So werden beispiels­ 2017

Spektrum der Wissenschaft  7.20 45


LEBENSMITTEL
PFLANZENPROTEINE
FÜR FLEISCHFREUNDE
In den Supermarktregalen häufen sich immer
mehr Fleischersatzprodukte. Aber können sie das
Original wirklich überzeugend nachahmen?
­Erstaunlicherweise weiß man bisher wenig über
die Verarbeitung von pflanzlichen Proteinen –
was Forscher nun ändern wollen.

M. Azad Emin ist Verfah­


renstechniker am Karlsruher
Institut für Technologie.

 spektrum.de/
artikel/1736688

ETIENNE VOSS / GETTY IMAGES / ISTOCK



Fleisch spielt in unserer Gesell­
schaft eine große Rolle, sei es
bei der Martinsgans, dem Weih­
nachtsessen oder einer Grillparty.
Viele Forscher gehen davon aus, dass
der Fleischkonsum uns überhaupt erst zu
den Menschen gemacht hat, die wir heute
sind. Unter anderem lieferten uns tierische
Proteine kalorienreiche Mahlzeiten, die mit weitaus
weniger Aufwand verbunden waren als etwa der Verzehr Optisch kommen Fleischersatzprodukte
von Wurzeln. Einigen Studien zufolge prägte der Fleisch­ an das Original heran. Die richtige
konsum auch das menschliche Sozialverhalten: Unsere ­Konsistenz stellt aber ein Problem dar.
sprachlichen, organisatorischen und gesellschaftlichen
Fähigkeiten entwickelten sich durch die Jagd weiter, da wir
dabei gezwungen waren, zu kooperieren. rier ein. Für die übrigen 74 Millionen, zu denen ich auch
Allerdings stellt der hohe Fleischkonsum heutzutage zähle, sind Grillpartys bloß mit Gemüse aber nur schwer
ein Problem dar. Die damit verbundene Landwirtschaft ist vorstellbar.
für die Umwelt extrem belastend (siehe »Weniger Fleisch Die Lebensmittelindustrie hat auf diesen Trend reagiert
für die Umwelt«, S. 51), zudem vermuten Forscher, dass und zahlreiche fleischlose Alternativen auf den Markt
übermäßiger Verzehr mit gesundheitlichen Risiken einher­ gebracht: von Veggie-Grillwürstchen über Steaks auf
geht. Darüber hinaus gibt es auch ethische Gründe, die Erbsenbasis hin zu Seitan-Burgerpatties. Mit dem Original
in den letzten Jahren immer mehr Menschen dazu veran­ können die meisten Produkte allerdings nicht mithalten –
lasst haben, auf Fleisch zu verzichten. 2019 stuften sich vor allem was die Textur angeht, sind viele der Imitate nicht
in Deutschland etwa sechs Millionen Personen als Vegeta­ wirklich überzeugend. Das liegt unter anderem daran, dass

46 Spektrum der Wissenschaft  7.20


man bisher nur sehr wenig über das Verhalten von Pflan­
zenproteinen weiß.
Seit dem Ende meiner Promotion im Jahr 2013 unter­ AUF EINEN BLICK
suche ich daher zusammen mit meiner Arbeitsgruppe am PFLANZLICHE STEAKS
Karlsruher Institut für Technologie, wie sich pflanzliches FÜR DAS TIERWOHL
Eiweiß zu fleischähnlichen Produkten verarbeiten lässt.

1
Wir verfolgen dabei das ehrgeizige Ziel, den gesamten Viele Menschen wollen ihren Fleischkonsum
Ablauf der Lebensmittelherstellung vom Rohmaterial bis aus e
­ thischen, ökologischen oder gesundheitlichen
zum Endprodukt im Detail zu untersuchen, um heraus­ Gründen reduzieren.
zufinden, welche Bedingungen für ein bestimmtes Resultat
entscheidend sind. Das ist äußerst schwierig, weil dabei
etliche verschiedene komplizierte Prozesse gleichzeitig 2 Die Lebensmittelindustrie bietet daher vermehrt Ersatz­
produkte auf pflanzlicher Basis an. Bisherige Alterna­
tiven können tierische Originale allerdings noch nicht
ablaufen. Wir fanden heraus, dass Proteine unterschied­
licher pflanzlicher Quellen wie Soja oder Weizen vollkom­ überzeugend imitieren.
men anders auf die Verarbeitung reagieren. Unsere Er­
gebnisse könnten dabei helfen, zielgerichtete Verfahren zu
entwickeln, um überzeugendere Fleischersatzprodukte
3 Deshalb untersuchen Forscher, wie man aus Pflanzen­
proteinen jene faserige und saftige Struktur erzeugen
kann, die echtes Fleisch ausmacht.
herzustellen.

Auf das richtige Mundgefühl


kommt es an rung lassen sich pro Stunde bis zu mehrere Tonnen eines
Schon seit mehr als 2000 Jahren gibt es Lebensmittel wie Produkts verarbeiten.
Tofu aus Sojabohnen oder Seitan auf Weizenbasis, die sich Lebensmittelverfahrenstechniker fanden heraus, dass es
als Alternative zu Fleisch eignen. Auch wenn viele Men­ oft vorteilhaft ist, den Ausgangsteig bei Temperaturen über
schen sie als schmackhaft empfinden, fehlt ihnen aber das 100 Grad Celsius zu verarbeiten. Denn das beschleunigt
typische Mundgefühl, nämlich die muskelähnliche Textur, nicht nur den Kochvorgang auf weniger als eine Minute,
die echtes Fleisch ausmacht. Es ist daher nicht wirklich sondern führt auch dazu, dass das darin befindliche Wasser
über­raschend, dass ihr Erfolg als Fleischersatzprodukt verdampft. Das verleiht verzehrfertigen Lebensmitteln wie
bisher nur mäßig ausfiel. Frühstückszerealien oder Erdnussflips ihre einzigartige,
Wenn man heute durch die Supermarktregale schlen­ knusprige Textur.
dert, entdeckt man allerdings eine ganze Palette neuartiger Mit dieser Methode stellten sie auch Presskuchen aus
Lebensmittel, die Fleisch in Aussehen, Geruch, Geschmack, Soja her, der unter anderem als Futtermittel für Tiere dient.
Mundgefühl und Nährwert versuchen nachzuahmen – mit Den Ingenieuren fiel dabei auf, dass der Kuchen durch die
dem großen Vorteil, dass sie auf nachhaltigen Ressourcen Verarbeitung eine faserige, fleischähnliche Struktur erhält.
wie Pflanzen, Mikroalgen oder gar Insekten basieren (siehe Das brachte sie auf die Idee, Fleisch mit Hilfe von Extrudern
»Fleischalternativen«, S. 48/49). Im Gegensatz zu Seitan durch pflanzliche Produkte nachzuahmen. Damals waren es
oder Tofu besitzen sie eine faserige Textur, die der von keine ökologischen oder gesundheitlichen Gründe, die
Fleisch ähnelt. Auch wenn die meisten Produkte das tieri­ Menschen dazu brachten, auf Fleisch zu verzichten, son­
sche Original nicht genau imitieren, erfreuen sie sich immer
größerer Verkäufe. Der Absatz von Fleischalternativen hat
sich in Deutschland in den letzten fünf Jahren mehr als Die Struktur eines Produkts hängt von den
verdoppelt, und Experten erwarten, dass er weiter steigen ­Prozessbedingungen und der Protein­quelle ab.
wird. Überraschenderweise sind die meisten Verbraucher Das Beispiel unten rechts ähnelt Fleisch
dabei keine Vegetarier oder Veganer, sondern Fleischesser. mit seinen sehr feinen faserigen Strukturen.
Trotz des positiven Trends ergaben viele Umfragen,
dass die pflanzlichen Produkte die Erwartungen häufig Prozessbedingung 1 Prozessbedingung 2 Prozessbedingung 3
nicht erfüllen. Deshalb gab es in den letzten Jahren zahlrei­
ALEXANDER LUDWIG UND PATRICK WITTEK, KARLSRUHER INSTITUT FÜR TECHNOLOGIE (KIT)

che Investitionen und etliche neu gegründete Start-up-Un­


Protein-Mix 1

ternehmen in diesem Bereich. Obwohl das Geschäft schnell


wächst, ist es immer noch eine Herausforderung, überzeu­
gende Fleischalternativen herzustellen.
Zurzeit nutzt man für fast alle Fleischersatzprodukte die
so genannte Extrusionstechnologie, mit der man seit den
1930er Jahren Teigwaren wie Nudeln, Frühstückszerealien
Protein-Mix 2

und andere Snacks herstellt. Ein Extruder ähnelt dabei


einem riesigen Fleischwolf, der allerdings über zwei Schne­
cken statt nur einer verfügt. Die Geräte können mehrere
Arbeitsschritte gleichzeitig durchführen, etwa Mischen,
Kneten, Kochen, Formen und Texturieren. Je nach Anforde­

Spektrum der Wissenschaft  7.20 47


dern überwiegend ökonomische Faktoren: Wegen des Obwohl Lebensmittelverfahrenstechniker schon seit
hohen Preises konnten es sich viele nicht leisten, das tieri­ Jahrzehnten pflanzliche Proteine mit der Extrusions­
sche Gut häufig zu konsumieren. technologie verarbeiten, gibt es kaum wissenschaftliche
Bereits 1960 führte die US-amerikanische Firma Erkenntnisse in dem Bereich. Meist stützen sie sich auf
Worthington Foods of Ohio die erste derart texturierte wenige Erfahrungen. Die Produzenten müssen nach
Hähnchenalternative »FriChik« ein. Produkte, die man durch dem Trial-and-Error-Prinzip viele verschiedene Versuche
eine solche Trockenextrusion bei über 100 Grad Celsius und starten, bis sie die passenden technischen Einstellungen
mit niedrigem Wassergehalt gewinnt, werden als texturier­ (etwa Temperatur und Drehzahl der Schnecken) gefunden
tes Pflanzenprotein (englisch: textured vegetable protein, haben, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Zudem
TVP) bezeichnet. Vor dem Verzehr muss man sie meist mit lassen sich die gewonnenen Informationen nicht ohne
warmem Wasser rehydrieren, so wie Sojagranulat, das als Weiteres auf andere Systeme übertragen, wenn man zum
Hackfleischersatz dient. Beispiel Erbsen- statt Sojaproteine nutzen möchte. Wegen
der jahrelangen Erfahrung mit Produkten auf Soja- und
Mit Hilfe von Halloumi zum Weizenbasis dominieren diese daher den Markt, obwohl
pflanzlichen Steak viele Verbraucher andere Proteinquellen bevorzugen
Inzwischen gibt es neben solchen Produkten auch »nasse« ­würden.
Varianten. In diesem Fall mischt man den Pflanzenproteinen Um mehr über das Verhalten von Pflanzenproteinen zu
schon bei der Herstellung im Extruder mehr Wasser bei; erfahren, kann man die Käseherstellung genauer studieren.
ähnlich wie Fleisch enthalten sie dann 60 bis 70 Prozent. Im Diese folgt häufig traditionellen Rezepten, doch sie ähnelt
Gegensatz zur Trockenextrusion verwendet man für die Tex­ dabei dem industriellen Extrusionsprozess. So genannte
turierung des Teigs eine lange Düse, die gleichzeitig auch Filata-Käse, zu denen Mozzarella, Halloumi oder Çeçil
gekühlt wird, damit nichts verdampft. Die pflanzlichen gehören, besitzen nämlich eine Struktur, die man auch in
Filetstücke, die man heute in fast jedem Supermarkt findet, Fleisch­ersatzprodukten erzeugen möchte: Anders als Quark
werden durch diese Nassextrusion hergestellt. oder Hartkäse sind sie anisotrop, das heißt, ihre Textur ist

Fleischalternativen 4 Seitan ist ein Lebensmittel auf Weizenbasis, das


schon im 6. Jahrhundert in China hergestellt wurde und
Bei den vielen Fleischersatzprodukten in den Super­ heute in der japanischen Küche besonders verbreitet ist.
marktregalen verliert man schnell den Überblick. Hier Indem man Weizenmehl wiederholt mit Wasser aus­
sind einige der beliebtesten Alternativen vorgestellt. wäscht, entzieht man ihm die Stärke, bis eine glutenhaltige
Masse übrig bleibt. Nach dem Kochen entwickelt sie eine
1 Tofu ist eine Art Quark aus Sojabohnen. Dazu fleischartige Konsistenz, besitzt aber wenig eigenen
stellt man aus den Bohnen zuerst eine Milch her, die Geschmack.
man anschließend – wie bei der Käseproduktion –
zum Gerinnen bringt. Dadurch entsteht eine gleich­ 5 Auf Mykoprotein basierende Lebensmittel enthalten
mäßige Masse, die relativ geschmacksneutral ist. Es fermentierte Zellen eines Schlauchpilzes. Indem man sie
gibt Hinweise darauf, dass Tofu bereits vor 2000 mit weiteren Zutaten vermischt – oftmals mit Eiweiß aus
Jahren in Asien hergestellt wurde. Neben Reis zählt Hühnereiern –, lassen sie sich zu einem fleischähnlichen
er in einigen südostasiatischen Ländern zu den Produkt verarbeiten. Das Ergebnis kann unter anderem
Grundnahrungsmitteln. Hackfleisch, Würstchen oder Hähnchenbrust imitieren.

2 Um Sojagranulat zu produzieren, braucht man 6 Es gibt zahlreiche Fertigprodukte auf Erbsen-, Soja-
Sojaproteinkonzentrat, das man anschließend in oder Weizenbasis, die allerlei Fleischvarianten nach­
einem Extruder zu einer fleischähnlichen Form verar­ ahmen: von Würstchen, Hähnchen, Rindfleischpatties,
beitet. Dadurch entsteht ein geschmacksneutrales, Hackfleisch bis hin zu Gyros oder Pulled Pork. Ein Extruder
poröses Granulat, das man in Wasser einweichen erzeugt dabei eine fleischähnliche Textur und reichert die
muss. Das Ergebnis hat dann eine ähnliche Konsis­ Masse mit Wasser an. Einige Firmen setzen den Produkten
tenz wie Hackfleisch. Häm zu, um den Geschmack von Fleisch besser zu imi­
tieren.
3 Tempeh entstand vor etwa 1000 Jahren auf
Indonesien. Dabei handelt es sich um Sojabohnen, 7 Seit 2018 sind in der EU Insekten als Lebensmittel
die man durch die Beigabe bestimmter Schimmelpil­ zugelassen. Da sie viele Proteine enthalten, lassen sich aus
ze fermentiert. Die Konsistenz von Tempeh ist etwas ihnen Ersatzprodukte herstellen. Inzwischen kann man in
fester als die von Tofu, zudem hat es einen nussigen deutschen Supermärkten Burgerpatties kaufen, die unter
Eigengeschmack. anderem aus Proteinen von Würmern bestehen.

48 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Fleischersatz
Ein Extruder ähnelt einem

AZAD EMIN, KARLSRUHER INSTITUT FÜR TECHNOLOGIE (KIT)


Mehl (Protein, Stärke, …) lange Kühldüse
Fleischwolf mit zwei Schnecken.
Damit erzeugen Lebensmittel-
Wasser
techniker je nach Düsentyp
knusprige Snacks wie Erdnuss- kurze Zerealien
Expansionsdüse
flips oder Frühstücks­zerealien
oder Fleischersatzprodukte.
Schneckenbereich Düsenbereich

nicht gleichmäßig, sondern variiert je nach Richtung. Zum teigige Käsebruch. Je nach Temperatur und Größe der
Beispiel ist Çeçil, der traditionell in Armenien und der Türkei Bruchstücke erzeugt man einen weicheren oder härteren
hergestellt wird, extrem faserig und ähnelt dadurch gekoch­ Käse. Bei Filata-Sorten übergießt man das Proteinnetzwerk
ter Hähnchenbrust. mit heißem Wasser, in dem man es anschließend presst,
Um Käse herzustellen, müssen die Milchproteine erst knetet und zu langen Strängen zieht. Dadurch entsteht die
gerinnen, damit eine feste Struktur entsteht. Dazu benötigt charakteristische faserige Struktur dieser Käsesorten.
man entweder Enzyme wie Lab oder Säuren. Sie destabili­ Um Fleischimitate aus Pflanzenproteinen herzustellen,
sieren die wasserunlöslichen Mizellen aus Kasein, wodurch geht man gleich vor. Zuerst erzeugt man ein Proteinnetz­
die Milchproteine stärker miteinander wechselwirken werk, das geronnener Milch ähnelt, und widmet sich da­
können. Dadurch verwandelt sich die Milch in eine Art Gel, nach der Textur, wie bei der mechanischen Bearbeitung von
mit einem festen Netzwerk aus Proteinen und der flüssigen, frischem Käsebruch.
darin eingeschlossenen Süßmolke. Im Schneckenbereich des Extruders spielt sich der
Anschließend wird das Produkt in kleinere Teile ge­ erste Teil ab. Dort werden die pflanzlichen Protein-Wasser-­
schnitten, um die Molke abzutrennen. Es bildet sich der Mischungen bei einer bestimmten Temperatur vermengt
und geknetet. Das führt dazu, dass die Proteine sich in
einem Netzwerk anordnen. Wie genau sie das tun, lässt
sich durch äußere Bedingungen wie Temperatur und me­
8 Auch Mikroalgen haben einen hohen Protein­ chanische Kräfte steuern. Davon abhängig entsteht ein Teig
gehalt – bis zu 70 Prozent – und eignen sich daher für mit verschiedenen Eigenschaften, ähnlich wie beim Käse:
Fleischersatzprodukte. Viele halten sie für die Nah­ weich wie Mozzarella oder aber gummiartig wie Halloumi.
rungsmittel der Zukunft, denn sie benötigen keine Auch andere Merkmale wie Wasserlöslichkeit oder Adsorp­
großen Ackerflächen und entziehen zudem der Luft tionskapazität hängen davon ab, wie die Eiweißmoleküle
Treibhausgase. miteinander wechselwirken.

9 Lupinen enthalten bis zu 48 Prozent Eiweiß – und Die Verarbeitung von Pflanzenproteinen unter
damit noch mehr als Sojabohnen. Inzwischen ist es der Lupe
Forschern am Fraunhofer Institut für Verfahrenstech­ Allerdings weiß man bisher wenig darüber, wie sich
nik und Verpackung in Freising gelungen, Lupinen­ ­Pflanzenproteine unter typischen Extruder-Bedingungen
mehl die Bitterstoffe zu entziehen, wodurch es sich verhalten. Das liegt sowohl an der komplizierten Struktur
nun auch zu Fleischersatzprodukten verarbeiten lässt. der Proteine als auch am unübersichtlichen Extrusions­
prozess. Je nach pflanzlicher Basis können sich die mole­
10 In den letzten Jahren exportierten asiatische kularen Strukturen der Proteine stark voneinander
Länder immer größere Mengen Jackfrüchte, die in ­unterscheiden. Dadurch variiert auch das Endprodukt –
Europa und Nordamerika als Fleischersatz genutzt und das auf verschiedenen Ebenen. Um nachzuvollziehen,
werden. Durch ihre faserige Struktur ähneln sie wie ein Proteinnetzwerk entsteht, muss man die molekulare
geschmorten Fleischgerichten. Beschaffenheit der Eiweißmoleküle genauer verstehen.
Insgesamt unterteilt man die Proteinstruktur in vier Skalen.
11 Wissenschaftler erzeugen inzwischen sogar Die Abfolge der Aminosäuren eines Proteins bildet die
­ aborfleisch, indem sie Tieren über eine Biopsie
L so genannte Primärstruktur. Sie ähnelt einer Kette, bei der
Zellen entnehmen und daraus Fleisch züchten. Das ist die einzelnen Glieder jeweils einer Aminosäure entspre­
bisher allerdings noch sehr aufwändig: Der erste chen. Jedes Protein besitzt eine eigene charakteristische
gezüchtete Burger kostete 2013 in der Produktion Sequenz, die seine Form, Größe und Funktion festlegt.
mehr als 250 000 Euro. 2019 sanken die Kosten auf Durch Wasserstoffbrückenbindungen nimmt die Kette
etwa 90 Euro. Experten erwarten, dass Laborfleisch regelmäßige Formen an, die man als Sekundärstrukturen
in den nächsten Jahren immer erschwinglicher wird, bezeichnet. Diese wiederum falten sich räumlich zur Tertiär­
wodurch sich der kommerzielle Vertrieb bald lohnen struktur, der Gesamtform des Proteins. Das Eiweißmolekül
könnte. verbiegt und verdreht sich, bis es den niedrigsten Energie­
zustand erreicht. Die Tertiärstruktur hängt von verschiede­
nen Wechselwirkungen zwischen den Aminosäuren ab,

Spektrum der Wissenschaft  7.20 49


etwa von Van-der-Waals-Kräften, Wasserstoffbrückenbin­ diesen auch stark. Die Wechselwirkungen zwischen den
dungen oder Disulfidbrücken. Mehrere Proteine können Proteinen lassen sich in den komplexen Geräten kaum
sich darüber hinaus zu einer Quartärstruktur zusammen­ analysieren.
schließen, einem Proteinkomplex. Deshalb erzeugen wir in unserem Labor Bedingungen,
Weil die räumliche Struktur der Proteine durch ver­ die denen eines Extruders ähneln, aber wesentlich besser
gleichsweise schwache Kräfte entsteht, erweisen sie sich kontrollierbar sind. Damit können wir die Prozesse, die sich
als sehr empfindlich. Variierende Temperaturen und pH- bei der Herstellung von Fleischersatzprodukten abspielen,
Werte, Wasserentzug sowie Kontakte mit hydrophoben wissenschaftlich studieren.
Oberflächen oder Metallionen können dazu führen, dass die Unter anderem haben wir bestimmt, wie reaktiv die
Eiweißmoleküle ihre native Gestalt verlieren. Dann nennt Eiweißmoleküle unterschiedlicher pflanzlicher Quellen sind.
man sie denaturiert. Das passiert zum Beispiel, wenn man Dazu analysierten wir das Fließverhalten von Proteinmassen
einen Burger grillt oder ein Ei brät. bei verschiedenen Temperaturen. Typischerweise wird ein
Im Extruder denaturieren die pflanzlichen Proteine durch Teig weniger viskos, wenn man ihn erhitzt, weil sich die
die thermische und mechanische Behandlung. Möchte man Moleküle dann stärker bewegen. Wenn die Temperatur aller­
vorhersagen, wie viskos, elastisch und wasserlöslich eine dings so hoch ist, dass sich die chemische Struktur ändert,
pflanzliche Proteinmasse unter bestimmten Bedingungen zum Beispiel indem die Proteine auf Grund von Denaturie­
wie Temperatur, Wassergehalt und Schneckendrehzahl in rung zusammenklumpen, kann die Viskosität plötzlich
einem Extruder ausfallen wird, muss man die Prozesse auf wieder zunehmen.
molekularer Ebene nachvollziehen. Doch das ist so gut wie
unmöglich: Allein die tertiäre Struktur eines Proteins aus Soja- und Weizenproteine im direkten
einer gegebenen Aminosäuresequenz zu berechnen, stellt Vergleich
Wissenschaftler vor große Herausforderungen (siehe In unseren Experimenten haben wir Soja- und Weizen­
Artikel ab S. 23). proteine miteinander verglichen – und dabei deutliche
Um die Eigenschaften eines Produkts genauer zu kont­ Unter­schiede festgestellt. Bei niedrigen Temperaturen von
rollieren, versuche ich mit meinen Kollegen herauszufinden, weniger als 100 Grad Celsius ist die Sojamasse wesentlich
wie Pflanzenproteine auf verschiedene Verarbeitungsschrit­ ­dickflüssiger als die auf Weizenbasis. Um zu prüfen, ob die
te reagieren. Zudem wollen wir die Unterschiede im Verhal­ Sojaproteine bereits denaturiert sind, erwärmten wir die
ten von Eiweißen diverser Pflanzenarten untersuchen – Masse. Dabei nahm die Viskosität kontinuierlich ab, was
denn bisher weiß man kaum etwas darüber. zeigt, dass dies nicht der Fall war. Die Weizenproteine begin­
Das liegt daran, dass sich der Extrusionsprozess nicht nen dagegen bei etwa 80 Grad Celsius zu einem Netzwerk
systematisch untersuchen lässt. Ein Extruder ist ein ge­ zu aggregieren. Interessanterweise lassen sich beide Teige
schlossenes System, in dem die Proteine sowohl thermi­ erst bei hohen Temperaturen von etwa 130 bis 140 Grad
schen als auch mechanischen Beanspruchungen ausge­ Celsius texturieren. Unter diesen Bedingungen weisen
setzt sind. Die dabei erzeugten Kräfte hängen von der Weizen- und Sojaproteine ein ähnliches Fließverhalten auf.
genauen Form der Schnecken ab und variieren entlang Obwohl sich beide Ausgangsmassen stark unterschei­
den, verhalten sich die Proteine unter bestimmten Bedin­
gungen fast gleich, auch wenn verschiedene Mechanismen
Proteine auf Weizen- und Sojabasis reagieren sehr am Werk sind. Die Sojaproteine müssen durch höhere
unterschiedlich auf äußere Bedingungen. Während die Temperaturen weniger viskos werden, während Weizen­
Viskosität der Sojamasse mit steigender Temperatur proteine die Hitze brauchen, um zu denaturieren und aggre­
abnimmt, wird der Weizenteig ab 80 Grad Celsius gieren und dadurch ähnliche Materialeigenschaften wie
durch die Hitze viskoser. die Sojamasse zu entwickeln.
Neben den Analysen der Materialeigenschaften im Labor
1 000 000 untersuchten wir auch durch computergestützte Verfahren,
Sojaprotein
wie sich die Proteine im Extruder verhalten. Dazu entwarfen
Weizenprotein
wir Simulationen, mit denen wir die Strömungen und das
thermomechanische Beanspruchungsprofil im Extruder
 [Pa ∙ s]

100 000
bestimmt haben. Mit den gewonnenen Informationen
können wir angeben, welche Prozessbedingungen am
AZAD EMIN, KARLSRUHER INSTITUT FÜR TECHNOLOGIE (KIT)
komplexe Viskosität 

besten zum jeweiligen Pflanzenprotein passen.


100 000
Ein gutes Steak zeichnet sich aber nicht bloß durch seine
faserige Textur aus, sondern auch dadurch, dass es saftig
ist. Fleischersatzprodukten fehlt es oftmals an Fett, was sie
10 000 trocken macht. Fügt man jedoch den Proteinmassen im
Aggregations- Extruder mehr Fett hinzu, lässt sich die faserige Struktur
starttemperatur
nicht mehr erzeugen. Deshalb versuchen wir momentan zu
0 verstehen, wie das Fett das Verhalten der Proteine und
40 60 80 100 120 140 damit den Verarbeitungsprozess beeinflusst. Wir hoffen so
Temperatur T [°C] Strategien zur besseren Fettverteilung in den Proteinen zu

50 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Weniger Fleisch für die Umwelt

Fleisch macht immer noch einen mal weniger Frischwasser und gegen den Klimawandel zum Bei­
großen Teil unserer Ernährung aus. würde nur ein Zehntel der Treib­ spiel jegliches Rindfleisch vom
Weltweit produzieren wir heute hausgasemissionen erzeugen. Zu- Campus, während der Stadtrat von
mehr als viermal so viel Fleisch wie dem deuten einige Studien darauf Helsinki beschlossen hat, den
vor 50 Jahren, was große Probleme hin, dass eine fleischreiche Ernäh­ Fleisch- und Milchkonsum in den
schafft. Denn nicht nur der individu­ rung das Risiko für Fettleibigkeit, nächsten sechs Jahren um 50 Pro­
elle Konsum, sondern auch die Krebs und Herzkrankheiten erhöht. zent zu senken. Ein Café der Univer­
Weltbevölkerung wächst rapide an. In den letzten Jahren versuchten sität Helsinki hat Rindfleisch von
Laut Schätzungen der UNO wird es immer mehr Menschen aus westli­ der Speisekarte gestrichen – zu­
2050 fast zehn Milliarden Men­ chen Ländern ihren Fleischkonsum gleich bieten die Kommunen in
schen geben – das würde bedeu­ zu reduzieren. Eine Anfang 2020 ganz Finnland mehr lokale, vegeta­
ten, dass Landwirte bis dahin rund erschienene Studie ergab, dass rische und vegane Angebote für
50 Prozent mehr Nahrungsmittel heute weltweit deutlich mehr das Mittagessen an Schulen. In
erzeugen müssten. Gemüse verzehrt wird als früher. Schweden hat nun erstmals eine
Die landwirtschaftliche Tierhal­ Außerdem isst man in den USA, vegane Schule geöffnet, die Schü­
tung ist weltweit bereits für 14,5 Kanada und Australien, aber auch lern ausschließlich pflanzliche
Prozent der Treibhausgasemissio­ in Deutschland und Frankreich um Lebensmittel anbietet und sie über
nen, 40 Prozent der Land- und bis zu 20 Prozent weniger Fleisch Nachhaltigkeit, Gesundheit und
knapp 70 Prozent der Süßwasser­ als vor einigen Jahrzehnten. Ethik unterrichtet. Doch während in
nutzung verantwortlich. Würde Und auch Regierungen versu­ den westlichen Ländern der
man statt Rindfleisch die gleiche chen, die Essgewohnheiten ihrer Fleischkonsum sinkt, steigt er

GLOBAL-MEAT-PRODUCTION-BY-LIVESTOCK-TYPE_V6_850X600.SVG) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)


Menge an Proteinen aus Hülsen­ Bürger zu verändern. Erst kürzlich Studien zufolge im südostasiati­
früchten verzehren, bräuchte man verbannte der Leiter der Goldsmiths schen Raum mit dem wachsenden
OUR WORLD IN DATA NACH POORE, J., NEMECEK, T.: REDUCING FOOD’S ENVIRONMENTAL IMPACTS THROUGH PRODUCERS

etwa zehnmal weniger Land, fünf­ University of London im Kampf Wohlstand der Menschen an.
AND CONSUMERS. SCIENCE 360, 2018; ADDITIONAL CALCULATIONS BY OUR WORLD IN DATA (OURWORLDINDATA.ORG/

OUR WORLD IN DATA NACH: UN FOOD AND AGRICULTURAL ORGANIZATION (FAO) (OURWORLDINDATA.ORG/EXPORTS/
Greenhouse gas emissions per 100 grams of protein
Greenhouse gasTreibhausgasemissionen
emissions are measured in kilograms ofpro
carbon dioxide equivalents (kgCO₂eq) per 100 grams of
GRAPHER/GHG-PER-PROTEIN-POORE) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

100 Gramm Protein Weltweite Fleischproduktion nach Art


protein. This means non-CO₂ greenhouse gases are included and weighted by their relative warming impact. Meat production by livestock type, World
49,89 kg Rind Wild game Wild
Duck
19,85 kg Lamm und Schaf
300 million t
300 Mio. Tonnen Horse
Ente
18,19 kg Zuchtgarnelen Camel
Goose and
16,87 kg Milchkuh guinea fowl
Pferd
Sheep and Goat
10,82 kg Käse 250 million t
250 Beef and Buffalo

9,5 kg Milch Kamel


7,61 kg Schwein 200 million t
200 Gans und
5,98 kg Fisch (gezüchtet) Pigmeat Perlhuhn
5,7 kg Geflügel 150
150 million t Schaf
4,21 kg Eier und Ziege
2,7 kg Getreide 100
100 million t
1,98 kg Tofu Rind
1,23 kg Erdnüsse und Büffel
50 million t 50 Poultry
0,84 kg andere Hülsenfrüchte Schwein
0,44 kg Erbsen
0,26 kg Nüsse 0t 0 Geflügel
1961 1970 1980 1990 2000 2010 2018
0 kg 10 kg 20 kg 30 kg 40 kg 1961 1970 1980 1990 2000 2010 2018
Source: UN Food and Agricultural Organization (FAO) OurWorldInData.org/meat-production • CC BY
Note: Total meat production includes both commercial and farm slaughter. Data are given in terms of dressed carcass weight, excluding offal
Source: Poore, J., & Nemecek, T. (2018). Additional calculations by Our World in Data. and slaughter fats.
Note: Data represents the global average greenhouse gas emissions of food products based on a large meta-analysis of food production
covering 38,700 commercially viable farms in 119 countries.
OurWorldInData.org/environmental-impacts-of-food • CC BY

entwickeln, die zu überzeugenden fleischähnlichen Alterna­ könnten künftig auch ein besseres Lipidprofil als Fleisch
tiven führen. bieten, mit mehr Ballast- und Bioaktivstoffen, die nachweis­
Angesichts der zunehmenden Forschungsaktivitäten lich gesundheitsfördernd sind. 
sowie der wachsenden Zahl von Unternehmen in diesem
Bereich bin ich überzeugt, dass in den kommenden fünf QUELLEN
Jahren deutlich bessere Produkte entstehen werden – auch Emin, M. A. et al.: Analysis of the reaction behavior of highly
wenn es wahrscheinlich noch länger dauert, bis eine pflanz­ concentrated plant proteins in extrusion-like conditions. Innovative
liche Fleischalternative ein echtes Steak überzeugend Food Science & Emerging Technologies 44, 2017
imitiert. Emin, M. A.: Modeling extrusion processes. In: Bakalis, S. et al. (Hg.):
Durch unsere Forschung verstehen wir die moderne Modeling Food Processing Operations. Woodhead, 2015, S. 235–253
Verarbeitungstechnologie immer besser und können da­
Pietsch, V. L. et al.: High moisture extrusion of wheat gluten:
durch Produkte schaffen, die Fleisch in vielen Aspekten Relationship between process parameters, protein polymeri­zation,
überlegen sind. Solche Fleischersatzprodukte stellen dabei and final product characteristics. Journal of Food Engineering 259,
nicht bloß eine nachhaltige Proteinquelle dar, sondern 2019

Spektrum der Wissenschaft  7.20 51


SERIE
Die Röntgen-Revolution

Teil 1: Mai 2020


Als die Welt durchsichtig wurde
Dirk Eidemüller
Teil 2: Juni 2020
Blick in den Körper
Stefan Wesarg, Emmanuelle Vaniet
Teil 3: Juli 2020
Röntgenteleskope
Jan Hattenbach, Belinda J. Wilkes

RÖNTGENTELESKOPE
DAS ALL IN NEUEM LICHT
Zur Untersuchung des Universums und seiner exotischsten Orte
ist Röntgenstrahlung heute unverzichtbar. Ihr Siegeszug in der Astro-
nomie begann mit einer Zufallsentdeckung vor rund 60 Jahren.

Jan Hattenbach ist Wissenschafts­


journalist auf La Palma.

 spektrum.de/artikel/1736690
NASA/CXC & J.VAUGHAN

52 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Der US-Satellit Chandra ist seit 1999
im Erdorbit. Er hat ein besseres Auflö-
sungsvermögen als sein europäisches
Gegenstück XMM-Newton, dafür
fängt er nicht so viel Strahlung ein.
NASA/CXC & J.VAUGHAN

Spektrum der Wissenschaft  7.20 53



Die meisten Sterne am Himmel leuchten für das

ESA - D. DUCROS (WWW.ESA.INT/ESA_MULTIMEDIA/IMAGES/2000/09/ARTIST_S_IMPRESSION_OF_XMM-NEWTON)


menschliche Auge weiß. Nur bei einigen wenigen lässt
sich eine Färbung wahrnehmen, etwa bei den beiden
hellsten im Sternbild Orion: Der rote Beteigeuze ist mit etwa
3500 Grad Celsius an der Oberfläche verhältnismäßig kühl,
während der blaue Rigel über 11 000 Grad hat. Noch heißere
Sterne senden den Löwenanteil ihres Lichts als für uns
unsichtbare Ultraviolettstrahlung aus.
Es geht aber noch energiereicher. Astrophysiker beob­
achten seit fast 60 Jahren Röntgenstrahlung aus dem All.
Allerdings müssten solche »Röntgensterne« in ihren Photo­
sphären, das sind sozusagen ihre sichtbaren Oberflächen,
viele hunderttausend Grad aufweisen – die kosmische
Röntgenstrahlung entsteht also anders als das sichtbare
Sternenlicht. Heute sind die tatsächlichen Ursachen be­
kannt: Magnetfelder, Explosionen von Riesensternen oder
die Umgebung von Schwarzen Löchern, die Materie ver­
schlingen. Doch bis zu diesen Erkenntnissen war es ein Die Illustration zeigt das 1999 gestartete
weiter Weg. europäische Röntgenteleskop XMM-Newton.
Die kosmische Röntgenstrahlung erreicht die Erdoberflä­
che nicht, denn die Lufthülle absorbiert sie. Nach Wilhelm
Conrad Röntgens Entdeckung verging daher fast ein halbes sichtbaren Licht leuchtet unser Heimatstern im Röntgenbe­
Jahrhundert, bis Menschen das Röntgenlicht aus dem All reich millionenfach schwächer. Die Wissenschaftler fragten
bemerkten. sich deswegen, ob überhaupt eine Chance bestand, von
Den Anfang machten Wissenschaftler des US-amerika­ anderen Sternen Röntgenstrahlung zu empfangen. Damit
nischen Naval Research Laboratory (NRL). Seit den 1920er dies gelänge, so wusste man bereits damals, müssten die
Jahren erforschten sie mit Hilfe einfacher Raketen die Sensoren mindestens 1000-mal empfindlicher sein als die
Ionosphäre der Erde (ein Bereich der hohen Atmosphäre, seinerzeit vorhandenen.
der mehrere Schichten mit geladenen Teilchen enthält), vor Darum war die 1958 gegründete NASA in Sachen Rönt­
allem, um die Radiokommunikation für das Militär zu ver­ genastronomie zunächst zurückhaltend. Wie aber konnte
bessern. Dabei untersuchten sie auch UV- und Röntgenlicht man sicher sein, dass in diesem Wellenlängenbereich am
in der Hochatmosphäre: 1949 zeigte eine NRL-Gruppe um Himmel außer der Sonne wirklich nichts zu sehen ist? Das
den Physiker Herbert Friedman, dass die Sonne eine wollte zum Beispiel Riccardo Giacconi wissen. Der Astrophy­
schwache Röntgenquelle ist. Den Durchbruch erreichten siker arbeitete seit 1959 bei American Science & Engineering,
die Forscher mit Hilfe der im Weltkrieg erbeuteten deut­ einer privaten Firma, die unter anderem für das US-Militär
schen V2, der damals leistungsfähigsten Rakete der Welt. forschte. Giacconi verkaufte seinen Auftraggebern folgende
Mit dieser Technologie brachten sie Instrumente wie Gei­ Idee: Der von der Sonne ausgehende Wind aus geladenen
gerzähler über die Erdatmosphäre. Teilchen könnte auch den Mond durch Röntgenfluoreszenz
Die Röntgenstrahlung der Sonne entsteht in den starken leuchten lassen. Der Prozess würde nicht nur Informationen
Magnetfeldern der solaren Atmosphäre. Im Vergleich zum über den Einfluss der Strahlung in Erdnähe liefern, sondern
über die Mondoberfläche selbst – auf der bald womöglich
US-Amerikaner wandeln sollten. Giacconi hatte den richtigen
Ton gefunden. Die Air Force genehmigte einen Flug mit einer
AUF EINEN BLICK Aerobee, einer neu entwickelten, leichteren und erheblich
VERBORGENE SPEKTAKEL kostengünstigeren Rakete als der V2.
Die beiden ersten Versuche, so einen Röntgendetektor von

1 Die kosmische Röntgenstrahlung durchdringt die


Erdatmosphäre nicht. Ihre Erforschung begann erst mit
dem Raumfahrtzeitalter.
der Größe einer Pillendose ein paar Minuten lang über die
Atmosphäre zu heben, misslangen. Erst versagte der Rake­
tenmotor, dann öffnete sich das Fenster vor dem Gerät nicht.
Doch im dritten Anlauf am 12. Juni 1962 brachte eine Aero­
2 Anfangs waren die Entdeckungen völlig überraschend.
Überall im Universum tauchten mehr und mehr Quellen
auf. Mögliche Erklärungen waren lange umstritten.
bee Giacconis Detektor fünf Minuten und 50 Sekunden lang
in 80 Kilometer Höhe. Tatsächlich prasselten einige Röntgen­
photonen pro Sekunde auf die Elektronik. Überraschender­

3 Klarheit brachten Aufnahmen mit modernen Satelliten. weise kam sie aus allen möglichen Richtungen, egal wohin
Diese fokussieren die Strahlung mit ausgefeilten die Rakete sich wendete. Als sich das Detektorfenster in
Spiegelsystemen. Neue Missionen sollen noch bessere Richtung des Sternbilds Skorpion drehte, stieg die Zählrate
Einblicke ermöglichen. allerdings sprunghaft an. Giacconi und sein Team hatten die
erste Röntgenquelle außerhalb des Sonnensystems identifi­
ziert!

54 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Materie ist auf die Dichte eines Atomkerns komprimiert,

ESA - D. DUCROS (WWW.ESA.INT/ESA_MULTIMEDIA/IMAGES/2000/09/ARTIST_S_IMPRESSION_OF_XMM-NEWTON)


und sie drehen sich in Sekundenbruchteilen um ihre Achse.
Die entstehende Röntgenstrahlung variiert deswegen
periodisch. Solche so genannten Pulsare stellten sich
tatsächlich als Röntgenquellen heraus. Doch viele der von
Uhuru entdeckten Quellen schwankten nicht im passenden
Tempo oder zu unregelmäßig. Es musste noch eine andere
Erklärung geben.
Das Röntgenlicht von Centaurus X-3 zum Beispiel blitzt
alle 4,8 Sekunden auf – zu langsam für einen Pulsar. Der
polnische Astronom Wojciech Krzemiński kam 1974 auf die
richtige Spur. In unmittelbarer Nähe der Röntgenquelle
entdeckte er mit einem optischen Teleskop einen Rie­
senstern von 20 Sonnenmassen. Centaurus X-3 musste also
ein Binärsystem sein, in dem sich Riesen- und Neutronen­
stern gegenseitig umkreisten. Dabei entzieht der Neutro­
nenstern seinem Begleiter Materie. Das Gas sammelt sich
Sie nannten sie Scorpius X-1 (nach dem Sternbild Skor­ in einer so genannten Akkretionsscheibe und wird durch
pion und dem englischen Begriff x-ray). Die Entdeckung das Magnetfeld des Neutronensterns auf dessen Oberflä­
war der Startschuss für die Röntgenastronomie und sollte che geleitet. Hierbei entsteht die von Uhuru beobachtete,
Giacconi 2002 den Nobelpreis für Physik einbringen. gepulste Röntgenstrahlung.
Dabei lag Scorpius X-1 während des kurzen Flugs nur Dieser Akkretionsprozess findet ebenfalls bei Cygnus X-1
durch einen glücklichen Zufall im Visier des Detektors. im Sternbild Schwan statt. Anders als bei Centaurus X-3
Hätte die Rakete beim ersten Versuch wenige Monate zuvor schwankt die Strahlung jedoch regellos. Auch hier fanden
funktioniert, wäre ihr der Fang ohnehin durch die Lappen Astronomen einen hellen Stern. Er kreist in knapp einer Wo­
gegangen, denn die seinerzeit eingebauten Instrumente wa­ che um die Röntgenquelle, doch diese musste mindestens
ren noch nicht empfindlich genug dafür. Es hätte womög­ zehnmal mehr Masse besitzen als die Sonne. Das ist zu viel
lich Jahre gedauert, bis das Militär eine weitere Unterneh­ für einen Neutronenstern. Cygnus X-1 war damit der erste
mung finanziert hätte. Sehr wahrscheinlich wäre Friedmans handfeste Kandidat für ein Binärsystem aus einem Stern
Gruppe dann Giacconi zuvorgekommen: Im April 1963 und einem Schwarzen Loch.
gelang den NRL-Physikern die Bestätigung von Scorpius X-1 Solche Objekte waren in den 1960er und 1970er Jahren
und die Entdeckung einer weiteren Röntgenquelle. durchaus umstritten. Nicht wenige Zeitgenossen zweifelten
an der Existenz von Neutronensternen und hielten Schwar­
Satelliten brachten eine Flut an Messdaten – ze Löcher allenfalls für eine mathematische Kuriosität. Erst
und neue Rätsel Daten wie die von Uhuru machten Neutronensterne,
Es folgten ein paar Dutzend mehr, verteilt am ganzen Schwarze Löcher und Pulsare zum Standardinventar der
Himmel. Die physikalische Ursache war unklar. Sterne Astronomie.
konnten es nicht sein, dafür war die Strahlung zu stark. Mit Die Uhuru-Mission endete 1973. Weitere Satelliten
Raketen allein kam man hier nicht weiter – ein Satellit brachten die Zahl der bekannten Röntgenquellen bis An­
musste her. Ein solcher startete am 12. Dezember 1970. fang der 1980er Jahre auf fast 700, doch allen fehlte ein
Uhuru (swahili für »Freiheit«) war ein Durchbruch für das Teleskop für detaillierte Bilder. Ihre Instrumente registrierten
junge Forschungsfeld. Dauerte ein typischer Raketenflug im
Schnitt 300 Sekunden, beobachtete Uhuru rund 50 000 Se­
kunden lang – und zwar täglich. Nach nur einer Woche Röntgenstrahlung lässt sich reflektieren und auf einen
hatten die Wissenschaftler mehr Röntgendaten gesammelt Detektor fokussieren, sofern der Einfallswinkel sehr flach ist.
als mit allen Raketenflügen der 1960er Jahre zusammen­ In einem Wolterteleskop liegen zwei speziell gekrümmte,
genommen. In seinen zwei Dienstjahren erhöhte der Uhuru- extrem glatt polierte Flächen hintereinander. Um möglichst
Satellit die Zahl der bekannten kosmischen Röntgenquellen viele Photonen einzufangen, werden meist mehrere Paare
auf über 160 und konnte sie dabei nicht nur stichproben­ rohrförmiger Spiegel ineinander verschachtelt.
artig, sondern über Monate hinweg verfolgen. Viele Rönt­
genobjekte leuchten nämlich keineswegs konstant; ihr Spiegel
Strahlungsfluss schwankt vielmehr in mehr oder weniger
regelmäßigen Mustern innerhalb von Sekundenbruchteilen,
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

Minuten oder Tagen. Fokus


Doch welche physikalischen Mechanismen steckten einfallende
dahinter? Röntgenstrahlung kann entstehen, wenn gelade­ Röntgenstrahlung
ne Teilchen etwa in starken Magnetfeldern hohe Energien
erreichen. Solche Felder gibt es in Neutronensternen, den
exotischen Überresten einstmals massereicher Sterne. Ihre

Spektrum der Wissenschaft  7.20 55


auf. 1983 startete der ESA-Satellit EXOSAT mit zwei Wolter­
teleskopen von 56 und 17 Zentimeter Durchmesser. Am
1. Juni 1990 begann die Mission des deutsch-britisch-US-
amerikanischen Satelliten ROSAT. An ihrem Ende 1999 gab
es einen Katalog des gesamten Röntgenhimmels mit mehr
als 150 000 Einträgen.
Die Wolterteleskope lösten auch das Rätsel des aus allen
Richtungen einprasselnden Röntgenhintergrunds, den
schon Giacconi und sein Team beim ersten Raketenflug
1962 bemerkt hatten. Die diffuse Strahlung stammt von
unzähligen aktiven Galaxienkernen im fernen Weltraum, in
denen Materie in ein extrem massereiches Schwarzes Loch
stürzt. Es handelt sich prinzipiell um den gleichen Prozess

ROSCOSMOS/DLR/SRG/LAVOCHKIN
wie im Binärsystem Cygnus X-1 – nur auf einer viel größe­
ren Skala. Ein solches Schwarzes Loch im Zentrum einer
Galaxie kann viele Millionen oder sogar Milliarden Sonnen­
massen enthalten. ROSAT gelang zudem, was Giacconi und
seine Mitstreiter noch vergeblich aufzunehmen versucht
Der in Deutschland entwickelte Satellit eROSITA hatten: ein Foto des Erdmonds im Röntgenlicht. Das bestä­
ist seit 2019 im All. In sieben Modulen bündeln tigte Giacconis ursprüngliche Idee, die für ihn mehr ein
jeweils 54 verschachtelte Wolterteleskope Röntgen- Mittel war, die Militärs von seinen Plänen zu überzeugen.
strahlung auf die Detektoren. Nach dem Missionsende des Einstein Observatory 1981
brachte die USA erst 1999 einen eigenen Nachfolger ins All.
Technologische Herausforderungen, aber vor allem Finan­
lediglich die Strahlung und die zugehörige Ausrichtung des zierungsfragen verzögerten das Projekt erheblich. Das
Satelliten. Auf die Weise sind die Ursprungsorte am Him­ Chandra X-Ray Observatory (benannt nach dem indischen
mel nur grob bestimmbar. Physiker Subrahmanyan Chandrasekhar) startete schließlich
Röntgenstrahlung lässt sich nicht wie sichtbares Licht am 23. Juli 1999, nur fünf Monate vor seinem europäischen
mit Spiegeln oder Linsen reflektieren und brechen. Den­ Pendant und ROSAT-Nachfolger XMM-Newton. Aus wis­
noch kann man fokussierte Röntgenbilder erzeugen. Für senschaftlicher Sicht passte der Zeitplan, denn Chandra
kurzwellige Röntgenstrahlung funktioniert das mit codier­ und XMM-Newton ergänzen sich hervorragend. Der NASA-
ten Masken, das sind gewissermaßen Schablonen aus Satellit verfügt über besonders glatt gearbeitete Metall­
einem stark absorbierenden Material. Aus deren Schatten­ flächen und gestattet eine unerreichte Detailschärfe. Das
wurf auf den Detektor lässt sich die Richtung der einfallen­ europäische Teleskop hingegen punktet mit 58 ineinander
den Strahlung berechnen. Ab einer Wellenlänge von etwa geschachtelten Spiegelpaaren. Deren enorme Gesamt­
0,1 Nanometer setzte sich dagegen eine 1952 von dem fläche macht den Späher besonders empfindlich. Beide
Physiker Hans Wolter in Kiel entwickelte und nach ihm sind bis heute im Einsatz und liefern beständig faszinieren­
benannte Technik durch. Der Ansatz: Röntgenphotonen de Einblicke in den Röntgenhimmel (zu Chandra siehe den
können durchaus reflektiert werden, solange der Einfalls­ nachfolgenden Artikel).
winkel nur ausreichend flach ist. In den vergangenen zwei Jahrzehnten widmete sich eine
ganze Flotte weiterer Raumfahrzeuge ganz oder teilweise
Erfolgsrezept mit Zwiebelschichten dem Röntgenhimmel. Dazu gehören seit 2002 der europäi­
Ein Wolterteleskop besteht im Prinzip aus zwei aufeinander sche INTEGRAL, seit 2012 der US-amerikanische NuSTAR,
folgenden Rohren mit extrem glatten, leicht gekrümmten von 2005 bis 2015 der japanische Suzaku und seit 2019 das
Innenflächen (siehe Illustration S. 55). Sie führen das einfal­ in Deutschland entwickelte und gemeinsam mit Russland
lende Röntgenlicht nacheinander unter sehr flachen Win­ gestartete Teleskop eROSITA. Unterdessen sind Chandra
keln in einem Brennpunkt zusammen. Auf die Spezialspie­ und XMM-Newton zuverlässige Arbeitspferde der Röntgen­
gel trifft allerdings nur sehr wenig Strahlung. Deshalb astronomen geblieben.
werden meist gleich mehrere solcher Rohre ähnlich wie Bezüglich zukünftiger Projekte sind die Planungen für
Schichten einer Zwiebel ineinander verschachtelt. das europäische Advanced Telescope for High Energy
Das erste derartige Röntgenobservatorium hob am Astrophysics (ATHENA) am weitesten vorangeschritten. Es
13. November 1978 von Cape Canaveral in Florida ab. Der könnte 2031 starten. Ursprünglich sollte es in Zusammenar­
Einstein Observatory genannte Satellit verfügte über vier beit mit der NASA konstruiert werden, doch diese zog sich
Wolterspiegelpaare. Die ersten damit aufgenommenen wegen Budgetproblemen aus dem Projekt zurück. Eine
Bilder zeigten etwa die expandierenden Wolken von explo­ Konzeptstudie für das US-amerikanische Lynx X-Ray Obser­
dierten Sternen. Außerdem war das Einstein Observatory vatory wurde erst im Sommer 2019 veröffentlicht. Es hätte
100-mal empfindlicher als frühere Missionen. Die Zahl der eine bessere Detailschärfe als ATHENA. So könnten sich
bekannten Röntgenquellen erreichte so die Tausende. In Lynx und sein europäisches Gegenstück in der Zukunft
Europa nahm die Röntgenastronomie wenig später Fahrt ähnlich ergänzen wie heute Chandra und XMM-Newton. 

56 Spektrum der Wissenschaft  7.20


ASTRONOMIE
RÖNTGENBLICK
FÜR DEN KOSMOS
Das Chandra-Weltraumteleskop ist seit
zwei Jahrzehnten in der Erdumlaufbahn.
Von dort aus liefert es faszinierende
Aufnahmen von Galaxien, Sternen und
Planeten im Röntgenlicht.

Belinda J. Wilkes ist Astrophysike-


rin am Smithsonian Astrophysical
Observatory in Cambridge, Massa-
chusetts, und Direktorin des
dortigen Chandra X-ray Center, das
für den Betrieb des Satelliten
zuständig ist.

 spektrum.de/artikel/1736692
RÖNTGEN: NASA/CXC/SAO; OPTISCH: NASA/STSCI; INFRAROT: NASA/JPL/CALTECH; RADIO: NSF/NRAO/VLA; ULTRAVIOLETT: ESA/XMM-NEWTON

Stellarer Trümmerhaufen
Tief im Herzen des so genannten Krebsnebels
befindet sich ein Neutronenstern – der Überrest
einer gewaltigen Explosion, die sich im Jahr 1054
als Supernova zeigte. Die Aufnahme umfasst
verschiedene Wellenlängen im Röntgenlicht
(violett), Ultraviolett (blau), sichtbaren Licht (grün),
Infrarot (gelb) und Radiobereich (rot). Der schnell
rotierende Neutronenstern beschleunigt mit
seinem intensiven Magnetfeld geladene Teilchen
in seinem Umfeld stark, wodurch sie intensive
Röntgenstrahlung aussenden.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 57


Tanz der Sterne
Die auch Whirlpool genannte Galaxie M51 offen-
bart eine deutlich ausgeprägte Spiralstruktur.
Aufnahmen im Röntgenbereich enthüllen mehr als
400 Röntgenquellen, die meisten davon in Gebieten
ungewöhnlich starker Sternentstehung. Vermutlich
schleudert die Wechselwirkung von M51 mit ihrem
Begleiter (oben im Bild) dort Materie besonders
intensiv aufeinander. Strahlungspulse aus einem
der zahlreichen Doppelsternsysteme deuten auf
einen kompakten Neutronenstern hin, der seinem
Nachbarn viel Materie entzieht. Das große Bild
kombiniert Chandra-Aufnahmen im Röntgenlicht
(Mitte) mit Bildern des Hubble-Weltraumteleskops
in sichtbaren Wellenlängen (rechts).

RÖNTGEN: NASA/CXC/WESLEYAN UNIV./R.KILGARD ET AL; OPTISCH: NASA/STSCI

58 Spektrum der Wissenschaft  7.20


OPTISCH: NASA/STSCI
RÖNTGEN: NASA/CXC/WESLEYAN UNIV./R.KILGARD ET AL


Röntgenstrahlung ist der beste Weg, um den energie­
reichsten Prozessen im All nachzuspüren, von extrem
massereichen Schwarzen Löchern bis zu den Über­
resten von Supernovae. Seit 1999 betreibt die US-Raum-
fahrtbehörde NASA das Weltraumobservatorium Chandra ge. Schwarze Löcher, die intensiv strahlende Jets ausstoßen,
eigens zu diesem Zweck. Es kann mit seinem Detektor während sie sich Materie einverleiben; ein heller Schein in
Photonen aus einem breiten Spektrum des Röntgenlichts in Jupiters Atmosphäre; Blitze von kollidierenden Neutronen-
einer zuvor unerreichten Bildqualität aufzeichnen. Das hat sternen, welche wiederum zuvor mit Hilfe von Gravitations-
revolutionäre Einsichten in einige der größten Mysterien wellendetektoren aufgespürt wurden; dazu besondere
des Kosmos geliefert. Schwarze Löcher, die als ultraleuchtkräftige Röntgenquellen
Das Teleskop war konstruiert worden, um wichtige fungieren. Beobachtungen mit Chandra führen eine welt­
Fragen in der Röntgenastronomie zu klären, etwa die nach weite Gemeinschaft von mehr als 4000 Wissenschaftlern
den genauen Ursprungsorten von energiereicher Strahlung zusammen und haben bisher für über 8000 Veröffentlichun-
aus allen Richtungen des Himmels, dem so genannten gen gesorgt.
Röntgenhintergrund (siehe voriger Artikel). Darüber hinaus Ich kam drei Jahre vor dem Start ins Missionsteam, habe
sollte es sozusagen ein Generalobservatorium für ver­ die zugehörige Website mit aufgebaut, Informationen für die
schiedenste Zwecke werden, bei dem sich Arbeitsgruppen Nutzer zusammengestellt, die ersten Anträge mit begutachtet
rund um die Welt jährlich mit ihren Projekten um Beobach- und das Teleskop während der Vorbereitungen kalibriert. Die
tungszeit bewerben können. Selbst nach zwei Jahrzehnten Arbeitsfülle während all dieser Tätigkeiten war enorm und
Betrieb gehen heute immer noch jedes Jahr rund 500 bis trotzdem noch nichts im Vergleich zu dem, was in den Mona-
650 Anträge ein, die insgesamt 5,5-mal so viel Messzeit ten nach dem erfolgreichen Start folgte. Nun hat Chandra
beanspruchen würden, wie wir am Chandra X-ray Center sein 20-jähriges Dienstjubiläum hinter sich, und ich bin
anzubieten haben. inzwischen Direktorin des Chandra X-ray Center, das für den
Entsprechend reich war die wissenschaftliche Ausbeute. Betrieb des Teleskops zuständig ist. Wir erwarten, dass es –
Bald waren tausende supermassereiche Schwarze Löcher gerade auch im Zusammenspiel mit neuen Observatorien wie
in den Zentren anderer Galaxien als Quellen des Röntgen- dem Event Horizon Telescope und dem James Webb Space
hintergrunds identifiziert. Zugleich offenbarten sich bei Telescope – noch viele weitere Jahre neue Erkenntnisse über
zahlreichen Objekten am Himmel neue, rätselhafte Vorgän- die gewaltigsten Vorgänge im Universum liefern wird. 

Spektrum der Wissenschaft  7.20 59


Dunkle-Materie-Spuren
Eines der bekanntesten Bilder auf Basis von Chandra-
Daten ist die Aufnahme des »Bullet-Cluster«, zweier
sich durchdringender Galaxienhaufen. Das Bild kombi-
niert verschiedene Wellenlängenbereiche, wobei
heißes Gas im Röntgenlicht strahlt (pink). Die Art, wie
die Gravitation im Bullet-Cluster die scheinbare Form
der Galaxien im Hintergrund beeinflusst, während sich
deren Licht auf zu uns bewegt, bringt Astronomen
auf die Spur der unsichtbaren Dunklen Materie (blau).
Die Trennung von heißer und Dunkler Materie lässt
sich so deuten, dass diese mysteriöse Substanz mit
nichts stark wechselwirkt und deshalb alles mühelos
durchdringt, während sich das sichtbare Gas bei der
Kollision ausbremst.

RÖNTGEN: NASA/CXC/CFA/M.MARKEVITCH ET AL.; OPTISCH: NASA/STSCI UND MAGELLAN/U.ARIZONA/D.CLOWE ET AL.;


LENSING MAP: NASA/STSCI; ESO WFI; MAGELLAN/U.ARIZONA/D.CLOWE ET AL.

60 Spektrum der Wissenschaft  7.20


NASA/CXC/SAO

Überraschender Jet
Eines der ersten Beobachtungsziele für
Chandra war der Quasar PKS 0637-752, den
die Autorin bereits ein Jahrzehnt zuvor
anhand von Daten des Einstein-Observato­
riums der NASA untersucht hatte. Im
­Zen­trum der Galaxie befindet sich ein
­supermassereiches Schwarzes Loch, das
seiner Umgebung Unmengen an Materie
entzieht. Während diese hineinstürzt, heizt
sie sich enorm auf und wird heller als alle
100 Milliarden Sterne der Galaxie zusammen.
Rechts im Bild schießt ein Strahl heraus.
Das war eine völlig überraschende
­Beobachtung – das Chandra-Team vermu­
tete zunächst einen Fehler in den optischen
Elementen des Teleskops. Tatsächlich handelt es
sich um Röntgenlicht eines so genannten Jets aus Plasma, der
von der einfallenden Materie ausgestoßen wird. Der Jet war
aus dem viel energieärmeren Radiowellenbereich bekannt, aber
­niemand hatte damit gerechnet, dass sich sein Leuchten bis
ins Röntgenspektrum erstrecken würde. Die Beobachtung hat
die Modelle zur Entstehung solcher Jets deutlich verbessert.
RÖNTGEN: NASA/CXC/UCL/W.DUNN ET AL; NORDPOL OPTISCH: NASA/JPL-CALTECH/SWRI/MSSS

RÖNTGEN: NASA/CXC/UCL/W.DUNN ET AL; SÜDPOL OPTISCH: NASA/JPL-CALTECH/SWRI/MSSS/GERALD EICHSTÄDT/SEÁN DORAN

Leuchtender Riesenplanet
Auch in unser Sonnensystem bietet Chandra neue
­Einblicke. Sowohl der Nordpol (oben) als auch der Südpol
(rechts) des Jupiters senden Röntgenstrahlung aus.
Dabei lenken Magnetfelder geladene Teilchen aus den
Äquatorregionen zu den Polen. Zusammen mit der
­Raumsonde Juno, die Jupiter umkreist, sollen eingehen­
dere Untersuchungen mit Chandra den Entstehungs­
mechanismus aufklären. Dazu hat die Autorin einen Teil
des Kontingents an Beobachtungszeit verwendet, das ihr
als Direktorin zur freien Verteilung zur Verfügung steht.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 61


RÖNTGEN: NASA/CXC/PENN STATE/E.FEIGELSON & K.GETMAN ET AL.; OPTISCH: NASA/ESA/STSCI/M.ROBBERTO ET AL.

Stellare Kinderstube
Verborgen in einem kosmischen Nebel im Schwert des Orion
­ efinden sich mehr als 1400 junge Sterne (blau und orange). Mit
b
­Teleskopen, die nur sichtbares Licht einfangen, sind sie nicht zu
­erkennen. Aber die Röntgenstrahlung durchdringt den dichten Schleier
aus Gas und Staub und enthüllt die Objekte für Chandra. Gerade
­entstehende Sterne leuchten in diesem Wellenlängenbereich besonders
intensiv, da sie viel Materie aus ihrer Umgebung anziehen, in ihren
starken Magnetfeldern beschleunigen und wieder herausschleudern.

62 Spektrum der Wissenschaft  7.20


NASA/CXC/SAO
Erstes Licht
Das erste Bild, das mit Chandra im Augenblick der offiziellen
Inbetriebnahme der Kamera (»first light«) aufgenommen wurde,
zeigte den Supernova-Überrest Cassiopeia A. Dank der hohen
Auflösung des Weltraumteleskops ließ sich ein von Astronomen
schon lange dort vermuteter Neutronenstern in der Mitte
­erkennen. Er blieb zurück, nachdem ein viel größerer Stern
explodiert war. Auf der hier gezeigten Aufnahme sind
­Messungen aus dem Verlauf mehrerer Jahre kombiniert. Sie
­verbinden Aufzeichnungen verschiedener Wellenlängen, die
Chandra detektieren kann und die Rückschlüsse auf chemische
Elemente zulassen: Rot steht für Silizium, Gelb für Schwefel,
Grün für Kalzium und Violett für Eisen. Der blaue Ring um das
Gebilde zeigt energiereiche Teilchen, die von der ersten
­Schockwelle beschleunigt wurden – ebenfalls eine Entdeckung,
die Chandra ermöglicht hat.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 63


NASA/CXC/SAO
SCHLICHTING!
RINGELNDE KONDENSSTREIFEN
In großer Höhe erzeugen die Abgase eines Flugzeugs häufig
lang gestreckte Bänder aus Eiskristallen. Es scheint, als lägen
die Kondensstreifen ruhig in der Luft – tatsächlich sind sie
voller Bewegungen. Sie rotieren in der Regel gegensinnig zu­
einander und zerfallen manchmal in ringartige Elemente.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster.
Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikalische Alltags­phänomene.

 spektrum.de/artikel/ 1736694

H. JOACHIM SCHLICHTING

Am Himmel zeigten sich weiße Schrammen


Guy Helminger (*1963)


Zum Frühjahr 2020 sind Kondensstreifen plötzlich
eine seltene Himmelserscheinung geworden. Sonst
war der Himmel von ihnen oft regelrecht vollgekrit-
zelt, denn die Flugzeugspuren können je nach den meteo-
rologischen Bedingungen sehr lange bestehen bleiben
(siehe Foto rechts). Ihr auffälliges Fehlen infolge der welt-
weiten Einschränkungen des Reiseverkehrs macht be-
wusst, wie vertraut sie uns inzwischen geworden sind –
fast wie natürliche Wolken.
Wer sie nun doch einmal beobachten kann, ist jetzt
vielleicht umso mehr geneigt, genauer hinzuschauen.
Dabei zeigt sich, dass die Streifen oft eine interessante
Dynamik aufweisen bis hin zu drastischen Struktur­
änderungen und Verwirbelungen, hinter denen sich Bei hoher Luftfeuchtigkeit können sich Kondensstrei­
komplexe physikalische Vorgänge verbergen. Zumindest fen zu einer großflächigen Bewölkung auswachsen.
anfänglich sind die Linien noch schnurgerade. Das ist
ein typisches Zeichen für ihren technischen Ursprung.
Ihre Verursacher fliegen auf festem Kurs mit Geschwin- Celsius. Dennoch bilden sich dort oft noch keine Eiskris-
digkeiten von um die 900 Kilometer pro Stunde und talle, selbst wenn die maximale Feuchte die absolute
ziehen dabei die nebelartigen Bänder hinter sich her. unterschreitet. Wegen der großen Reinheit der Luft
Bei der Entstehung spielt kondensierendes und gefrie- fehlen nämlich Keime, an denen Wasserdampf konden-
rendes Wasser die zentrale Rolle. Wasserdampf ist zum sieren und gefrieren könnte. Solche Partikel gibt es in der
einen ein wesentlicher Bestandteil der Abgase der Flug- Abgasfahne der Flugzeuge dagegen reichlich.
zeuge selbst, zum anderen ist er bereits in der Atmosphä- Die Kondensstreifen erkennt man erst ein Stück weit
re vorhanden. Damit er allerdings kondensiert, muss die hinter dem Flugzeug. Denn zum einen müssen sich die
absolute Feuchte (das ist die tatsächliche Wassermenge Rauchgase genügend abkühlen, bevor Wasserdampf in
in der Luft) größer sein als die maximale. Sonst lösen sich die flüssige oder gefrorene Phase übergehen kann. Zum
die Streifen schnell wieder auf oder entstehen gar nicht anderen sind die entstehenden Tröpfchen beziehungs­
erst. Die maximale Feuchte sinkt in der Atmosphäre mit weise Eiskristalle anfangs so klein, dass sie das Licht
abnehmender Temperatur. In einer Flughöhe von zehn nicht stark genug streuen, um sichtbar zu sein. Bei sehr
Kilometern herrschen meist minus 50 bis minus 60 Grad großer Feuchte beobachtet man zuweilen Kondensstrei-

64 Spektrum der Wissenschaft  7.20


fen auch bei höherer Umgebungstemperatur in geringe-
rer Höhe. Sie bestehen dann meist nicht aus Eiskristallen,
sondern nur aus kondensiertem Wasserdampf.

H. JOACHIM SCHLICHTING
Natürliche Wolken haben komplizierte Strukturen. Die
Kondensstreifen hingegen erscheinen zunächst als ein­
fache Linien. Darum kann man an ihnen sehr leicht Ver-
änderungen feststellen und Rückschlüsse auf meteorolo- Oft treten die
gische Vorgänge und Strömungen ziehen. beiden gegen­
sinnig rotierenden
Die Wolkenpaare wechseln von Kondensstreifen
gerader Linie zum wilden Tanz miteinander in
Ein besonders verworrenes Phänomen sind verwirbelte Wechselwirkung
Paare von Kondensstreifen (siehe Fotos rechts). Führen und zerfallen
vielleicht starke Winde dazu? Wenn man dann aber sieht, allmählich.
dass andere Flugzeuge, die in ähnlichen Regionen unter-
wegs sind, gerade und langlebige parallele Streifen hinter
sich lassen, muss es einen anderen Grund für die Struk-
turbildung geben.
Bei der Lösung des Problems hilft eine weitere Beob-
achtung: An den Flügelspitzen der Flugzeuge entstehen
manchmal völlig unabhängig von den Abgasen Nebel­ Die Randwirbel greifen nach kurzer Zeit auf die Abgas-
fäden. Es handelt sich dabei um so genannte Randwirbel strömung über und rollen auch sie zu entgegengesetzt
infolge starker Strömungen an den Tragflächen. Diese rotierenden Wirbeln auf. In dieser Phase können sich
drücken, um das Flugzeug oben zu halten, die Luft nach zunächst kleine turbulente Störungen entlang der Wirbel­
unten. Daraufhin kommt es weiter außen zu einer Aus- achsen bilden. Dazu genügt es, wenn sich die Luft­tem­
gleichsströmung von unten nach oben. Zusammen mit peratur oder die Dichte plötzlich ändert.
der Vorwärtsbewegung des Flugzeugs wickelt sich die Die Störungen schaukeln sich mitunter zu raumgrei-
Luft um beide Flügelspitzen zu entgegengesetzt zueinan- fenden Schwingungen auf. Dabei pendelt der Abstand
der rotierenden Zöpfen auf (siehe Illustration unten). der Wirbel zueinander entlang der Flugrichtung mit einer
Bei großer Feuchtigkeit werden die Randwirbel so- Wellenlänge von zirka dem Sechsfachen der Flügel­
gar sichtbar. Denn in der von ihnen beschleunigten Luft spannweite. Diese nach ihrem Entdecker Crow-Instabi­
nimmt der Luftdruck stark ab, woraufhin die Temperatur lität genannte Tendenz, zu schwingen, wird schließlich so
unter den Taupunkt sinken kann. In der Folge taucht stark, dass sich die Wirbel an den schmalsten Stellen
eine Schnur aus Wassertröpfchen auf (siehe »Spektrum« berühren und miteinander wechselwirken. Durch den
April 2010, S. 32). Effekt zerfallen die Kondensstreifen in annähernd ring­
förmige Stücke.
Die Reste verdünnen sich weiter, und bald ist vom ehe-
Um die Druckunterschiede zwischen Ober- und maligen Streifen nichts mehr zu erkennen. In manchen
Unterseite einer Tragfläche auszugleichen, entstehen Fällen verschwinden die Nebel aus Eiskristallen spurlos.
an den Flügelspitzen Randwirbel aus rotierender Luft. Oft wachsen sie sich aber zu einer Zirrus­bewölkung aus,
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

Sie regen die Kondensstreifen, die sich ein Stück die in vielen Fällen sonst nicht entstanden wäre. Sie
hinter den Triebwerken bilden, zu Schwingungen an. reflektiert einerseits Sonnenlicht zurück ins All, bevor es
den Erdboden erreicht, und hält andererseits Strahlung
der Erde zurück. Netto überwiegt Unter­suchungen zu­

1
Die Tragflächen folge der wärmende Effekt auf das Klima, wobei viele

2
drücken Luft Zum Ausgleich
nach unten. strömt seitlich Luft Details noch unbekannt sind. Die weit­gehende Reduktion
nach oben. des kommerziellen Luftverkehrs durch die Coronakrise
könnte Kontrollwerte liefern, um zu ermitteln, wie sich die
nun deutlich seltener gewor­denen Kondensstreifen auf
die Umwelt auswirken.

3 5
Randwirbel Die Kondensstreifen
entstehen. schwingen und
zerreißen schließlich. QUELLE

Gerz, T., Ehret, T.: Wingtip vortices and exhaust jets during
the jet regime of aircraft wakes. Aerospace Science and
Technology 7, 1997

4
Die Randwirbel greifen auf
die Kondensstreifen über.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 65


INFORMATIK
WIE KOMPLEX
DARF ES SEIN?
Kann ein Computer die Lösung eines Problems
immer in vertretbarer Zeit überprüfen, egal wie
schwierig es ist? Ja, sagt ein neuer Beweis –
und widerlegt damit eine ganze Reihe etablierter
Vermutungen aus der Mathematik und Physik.

Manon Bischoff ist theoretische Physikerin


und Redakteurin bei »Spektrum der Wissenschaft«.

 spektrum.de/artikel/1736696

JAMESTEOHART / GETTY IMAGES / ISTOCK

66 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Fortschritte in der Physik beein-
flussen auch die theore­tische
Informatik: Quanten­computer AUF EINEN BLICK
ermöglichen neue Szenarien, DETEKTIVARBEIT MIT COMPUTERN
wenn es um die Lösung komple-
xer Probleme geht.
1 Um die Schwierigkeit eines Problems zu bemessen,
untersuchen Informatiker unter anderem, wie
kompliziert es ist, dessen Lösung nachzurechnen.

2 Forscher konnten nun zeigen, dass gewöhnliche


Computer fast jede Art von Aufgabe überprüfen
können, wenn verschränkte Quantencomputer die
Lösung geliefert haben.

3 Dieses Ergebnis schlägt auch in der Physik und Mathe-


matik hohe Wellen, denn es widerlegt mehrere
jahrzehntealte Vermutungen aus diesen Disziplinen.
JAMESTEOHART / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  7.20 67



Wissenschaftler lieben es, Dinge zu kategorisieren – Seit den 1970er Jahren versuchen Computerwissen-
zumindest auf abstrakter Ebene. Chemiker teilen schaftler, Komplexitätsklassen immer feiner zu unterteilen.
beispielsweise alle Elemente in das Periodensystem Dazu haben sie Probleme identifiziert, die noch schwieriger
ein, Biologen ordnen Lebewesen nach Familien und Arten, sind als NP. Raum für mehr Komplexität bot dabei vor allem
und Mathematiker haben im vergangenen Jahrzehnt, nach die Überprüfung eines Ergebnisses. In manchen Fällen
langer Suche, alle endlichen einfachen Gruppen gefunden wächst die dafür nötige Zeit nicht mehr polynomial mit der
und aufgelistet. Länge der Aufgabe an, sondern etwa exponentiell. Hier ist
Informatiker suchen ebenfalls nach Ordnung, wenn auch die Sache also sehr viel schwieriger als bei einem Sudoku
ein wenig anders: Sie sortieren Probleme nach ihrer Kom- dessen Lösung man vorgesetzt bekommt.
plexität. Bereits in der Vergangenheit haben sie herausge- Um solche Probleme klassifizieren zu können, führten
funden, dass gewisse Aufgaben für Computer sehr einfach Informatiker in den 1980er Jahren so genannte interaktive
zu lösen sind. Bei ihnen wächst mit der Länge des Prob- Beweissysteme ein. Sie stellten sich dabei einen allmächti-
lems die zur Lösung nötige Rechenzeit bloß langsam (poly- gen Computer vor, den »Beweisführer«. Dieser ist stets in
nomial) an. Aus Sicht von Informatikern gehören sie damit der Lage, die Lösung zu einer Aufgabe zu liefern, unabhän-
zur so genannten Komplexitätsklasse P. gig davon, wie komplex sie ist. Er kann folglich Probleme
Probleme, die schwer zu lösen sind, sich aber einfach berechnen, die weit komplizierter sind als Sudoku. Dabei
überprüfen lassen, zählen zur Klasse NP. Ein Beispiel ist ein verfügt er über unendliche Speicherkapazitäten und kann
anspruchsvolles Sudoku: Bei diesem ist es schwierig, die im Prinzip unendlich lange rechnen.
passenden Zahlen zu finden. Hat man sie jedoch einmal Allerdings ist der Beweisführer nicht vertrauenswürdig,
ausgetüftelt oder bekommt ein ausgefülltes Blatt präsen- weshalb man zusätzlich einen Prüfer braucht, der das
tiert, lässt sich leicht überprüfen, ob es korrekt ist. Ob P und gelieferte Ergebnis nachrechnet. Beim Sudoku wäre er es,
NP wirklich verschiedene Klassen sind oder ob man einfach der sicherstellt, dass eine Lösung korrekt ist. Der Prüfer
noch keinen Algorithmus kennt, der die entsprechenden ist – anders als der Beweisführer – ein realistischer Compu-
Probleme effizient löst, zählt zu den wichtigsten offenen ter, der über begrenzte Ressourcen verfügt. Das heißt, seine
Fragen der theoretischen Informatik. Sie ist eines der sieben Berechnungsdauer darf bloß polynomial vom Umfang der
Millennium-Probleme, deren Lösung das Clay Mathematics Aufgabe abhängen.
Institute mit je einer Million US-Dollar belohnt. Weil die vom Beweisführer gelieferte Lösung unter
Mit P und NP fängt der Spaß aber erst an. Computerwis- Umständen extrem lang und kompliziert ist, lässt sich das
senschaftler haben mittlerweile eine Hierarchie von Kom- Ergebnis häufig nicht im Detail nachrechnen. Deshalb greift
plexitätsklassen herausgearbeitet, von sehr einfachen hin der Prüfer auf andere Tricks zurück, um sich vom Wahr-
zu extrem anspruchsvollen Aufgaben. Diese Einteilung ist heitsgehalt zu überzeugen. Tatsächlich ähnelt der Prozess
nicht rein abstrakt, denn tatsächlich spielen dabei physikali- einem Verhör: Der Prüfer stellt dem Beweisführer mehrere
sche Komponenten eine Rolle. Die Komplexität eines Prob- Fragen und testet so, ob die vorgesetzte Lösung stimmt.
lems hängt von dem zur Lösung benötigten Speicherplatz Zur Veranschaulichung kann man sich einen Tisch in
und der beanspruchten Rechenkapazität ab. Kein Wunder einem stockfinsteren Zimmer vorstellen, auf dem mehrere
also, dass Quantencomputer auch die theoretische Informa- identisch geformte Holzklötze liegen. Die Aufgabe besteht
tik umgewälzt haben: Sie ermöglichen neue Strategien, darin, sie nach ihrer Farbe zu sortieren. Der Beweisführer –
wenn es darum geht, Probleme zu lösen oder Ergebnisse allmächtig wie er ist – hat kein Problem damit. Trotz Dunkel-
auf ihre Korrektheit zu überprüfen. heit teilt er die Klötze in zwei Stapel auf. Der Prüfer muss
nun durch Fragen herausbekommen, ob zwei beliebig
Eine der größten Überraschungen herausgegriffene Klötze von unterschiedlichen Stapeln
des Jahrhunderts wirklich verschiedene Farben haben.
Eine Frage, die Computerwissenschaftler lange beschäftig- Der Beweisführer könnte etwa sagen, dass der eine Klotz
te, lautete: Wie kompliziert darf eine Aufgabe höchstens rot und der andere blau ist. Aber stimmt das? Um dies zu
sein, damit ein gewöhnlicher Computer die Lösung in ange- klären, versteckt der Prüfer die Holzklötze hinter seinem
messener – also polynomialer – Zeit verifizieren kann? Ein Rücken, vertauscht sie mehrmals und fragt dann den Be-
Team um Zhengfeng Ji von der University of Technology in weisführer, welcher nun der angeblich rote sei. Wiederholt
Sydney hat im Januar 2020 eine überraschende Antwort man das Experiment oft genug, wird der Beweisführer
gefunden, die für großes Aufsehen unter Fachleuten ge- entweder in rund der Hälfte aller Fälle falschliegen (wenn er
sorgt hat. Demnach lassen sich mit der richtigen Strategie gelogen hat) oder immer richtig antworten (wenn er die
rein theoretisch selbst die schwierigsten Probleme der Wahrheit gesagt hat).
Informatik in vertretbarer Zeit angehen. Computerwissenschaftler haben herausgefunden, dass
»Ich kann mich nicht an eine einzige Person erinnern, die man für manche Aufgaben nur mit einer solchen Frage-Ant-
das erwartet hätte«, schreibt der Informatiker Scott Aaron- wort-Strategie prüfen kann, ob ein geliefertes Ergebnis
son von der University of Texas in Austin dazu in seinem korrekt ist. Derartige Probleme erweitern die Komplexitäts-
Blog. Sollte die Arbeit der Prüfung durch unabhängige Ex- klasse NP zu IP (englisch: interactive polynomial time).
perten standhalten, handle es sich um eine der größten Es gibt sogar eine Möglichkeit, noch schwierigere Aufga-
Überraschungen aus der theoretischen Informatik in die- ben anzugehen: Man lässt nicht bloß einen Beweisführer,
sem Jahrhundert. sondern gleich mehrere zu. Diese dürfen sich austauschen,

68 Spektrum der Wissenschaft  7.20


während sie eine Lösung ausarbeiten. Doch sobald sie das zen, doch inzwischen weiß man, dass sich so keine Infor-
Ergebnis geliefert haben und der Prüfer es untersucht, sind mation übermitteln lässt – und die Gesetze der speziellen
sie voneinander getrennt. Relativitätstheorie damit gewahrt bleiben.
Auf diese Weise kann die Lösung der Aufgabe, die der Komplexitätsforscher schenkten der Möglichkeit von
Prüfer anschließend mit der Frage-Antwort-Strategie be- verschränkten Quanten-Beweisführern zunächst nicht viel
ackert, noch komplizierter ausfallen – und trotzdem in Aufmerksamkeit, da man davon ausging, dass die dazu­
polynomialer Zeit überprüft werden. Denn der Prüfer hat es gehörige Komplexitätsklasse MIP* kleiner wäre als MIP
leichter, wenn er zwei oder mehr Instanzen befragen kann: oder gar IP. Schließlich liegt der Vorteil von MIP darin, dass
So wie ein Polizeikommissar bei separaten Verhören größe- man die allwissenden Computer separat befragt. Wenn
re Chancen hat, Zeugen einer Lüge zu überführen, lassen sie aber während des Verhörs verschränkt sind, wirkt sich
sich auf diese Weise anspruchsvollere Probleme lösen. Die die Antwort des einen auf den Zustand des anderen aus –
dazugehörige Komplexitätsklasse MIP ist noch größer als sie sind nicht mehr unabhängig voneinander.
IP, wie Informatiker 1988 entdeckten. »Die natürliche Reaktion von allen inklusive mir war,
dass man den Beweisführern nun mehr Macht einräumt«,
Computer, die miteinander verschränkt sind so der Computerwissenschaftler Thomas Vidick vom
Nach diesem Ergebnis ruhte das Gebiet der interaktiven California Institute of Technology, Mitautor der neuen
Beweissysteme erst einmal. Bis sich einige Forscher frag- Veröffentlichung. Schließlich könnten die Beweisführer die
ten, was passieren würde, wenn die beiden Beweisführer Verschränkung nutzen, um ihre Antworten während des
keine klassischen Computer wären, sondern Quantencom- Verhörs durch den Prüfer abzustimmen.
puter, die mittels so genannter Verschränkung gekoppelt Doch 2012 kam die erste große Überraschung: Vidick
sind – ein Phänomen, über das sich schon Albert Einstein bewies mit seinem Kollegen Tsuyoshi Ito von der University
den Kopf zerbrochen hat. Er nannte es »spukhafte Fernwir- of Waterloo, dass man mit verschränkten Quantencompu-
kung«, denn wenn man den Zustand eines von zwei ver- tern alle Probleme aus MIP in polynomialer Zeit überprüfen
schränkten Objekten misst, legt man damit gleichzeitig kann. Demnach sind beide Komplexitätsklassen mindes-
auch den Zustand des anderen fest; unabhängig davon, wie tens gleich groß.
weit die beiden räumlich voneinander entfernt sind. An- Sieben Jahre später folgte die nächste Wendung. Die
fangs bereitete dieser Umstand Physikern Bauchschmer- Physiker Anand Natarajan vom California Institute of Tech-
nology und John Wright vom Massachusetts Institute of
Technology entdeckten, dass die Quantencomputer-Klasse
Informatiker ordnen Probleme in Komplexitätsklas- MIP* sogar größer ist als MIP. Demnach muss die Ver-
sen ein. Einfache Aufgaben gehören zu P, danach schränkung kein Nachteil sein, sondern der Prüfer kann sie
werden sie immer schwieriger. Wie sich nun gezeigt sogar zu seinem Vorteil nutzen – und auf diese Weise noch
hat, enthält MIP* die kompliziertesten Probleme. komplexere Aufgaben angehen als gedacht.

P: polynomiale Zeit MIP: multiple interaktive


Beweissysteme
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

NP: nichtdeterministisch
polynomiale Zeit MIP*: multiple interaktive
Quanten-Beweissysteme
IP: interaktive
Beweissysteme

Spektrum der Wissenschaft  7.20 69


Der Trick besteht darin, mit Hilfe der Verschränkung die Geschwindigkeit eines Teilchens gemessen und ermit-
geeignete Fragen zu formulieren. Das heißt, die Beweisfüh- telt danach seine Position, verschwimmt das erste Resultat.
rer befragen sich zunächst selbst. Das mag auf den ersten Es lässt sich nicht mehr exakt angeben, wie schnell das
Blick paradox erscheinen; weil die zwei Beweisführer aber Objekt nun ist.
miteinander verschränkt sind, können sie mehrere Antwor- Die Beweisführer dürfen deshalb während des Verhörs
ten gleichzeitig durchspielen und so in kürzerer Zeit mehr bloß komplementäre Berechnungen durchführen, so dass
denkbare Überprüfungsschritte abhandeln. Diese Fragen sie ihre Antworten nicht aufeinander abstimmen können.
übermitteln sie dem Prüfer. Befragt man den ersten Quantencomputer nach einem
Der muss beim eigentlichen Test dann nur noch garan- Rechenwert, löscht das die dazugehörige Information des
tieren, dass die Fragen genügend Fakten einholen, um den zweiten Quantencomputers.
Wahrheitsgehalt wirklich beurteilen zu können. Zudem Damit wussten Informatiker, dass MIP* die Komplexität
müssen sie sinnvoll gestellt sein und die dazugehörigen von MIP übersteigt. Doch wie groß die Klasse wirklich ist,
Antworten dürfen zu keinen Widersprüchen führen. All war zunächst unklar. Um wie viel besser lassen sich Lösun-
diese Kriterien lassen sich in angemessener Zeit prüfen, gen überprüfen, wenn man verschränkte Quantencomputer
wodurch ein gewöhnlicher Computer ein geliefertes Ergeb- befragt? Tatsächlich scheint dies die Menge der Aufgaben
nis verifizieren kann. Die dafür benötigte Rechendauer auf maximale Art und Weise zu vergrößern. Wie Zhengfeng
wächst bloß polynomial mit der Länge des Problems an. Ji zusammen mit Natarajan, Vidick, Wright und Henry Yuen
von der University of Toronto nun in ihrem Aufsehen erre-
Die heisenbergsche Unschärfe genden Fachaufsatz gezeigt haben, enthält MIP* sämtliche
als Lösung berechenbaren Probleme der Informatik!
Bei diesem Verfahren muss man allerdings sicherstellen, Dem Beweis zufolge ist MIP* identisch mit der riesigen
dass – selbst wenn die Fragen der Beweisführer quanten­ Komplexitätsklasse RE. Sie umfasst alle Entscheidungspro-
mechanisch zusammenhängen – die dazugehörigen Ant- bleme (solche, deren Antwort Ja oder Nein lautet), die ein
worten nicht auch verschränkt sind. Denn das käme zwei Computer in endlicher Zeit bejahen kann. Darunter fällt
Verdächtigen gleich, die sich während eines Verhörs ab- unter anderem die hartnäckigste aller Aufgaben, das be-
sprechen. rühmte Halteproblem. Dabei geht es darum, zu bestimmen,
Natarajan und Wright lösten das Problem, indem sie ein ob ein Computer bei einer Berechnung jemals anhalten
weiteres bizarres Konzept aus der Quantenmechanik nutz- kann – oder für immer weiterrechnet.
ten: die dem Mikrokosmos innewohnende Unschärfe, der Der britische Informatiker Alan Turing bewies zwar 1936,
zufolge sich zwei »komplementäre« Eigenschaften eines dass es keinen Algorithmus gibt, der das Halteproblem
Objekts, etwa Ort und Geschwindigkeit, nicht gleichzeitig allgemein lösen kann. Das widerspricht allerdings nicht der
beliebig genau bestimmen lassen. Hat man beispielsweise neuesten Veröffentlichung. Denn die Arbeit von Ji und

Quanten-Spiele
Als Physiker Anfang des 20. Jahr- eine unvollständige Theorie. Phä- und die Spieler können verschränkt
hunderts die Quantenmechanik nomene wie Verschränkung tauch- sein, dann gewinnen sie wesent-
entwickelten, zweifelten viele ten ihnen zufolge nur auf, weil lich häufiger.
Experten die neue Theorie an. man zu wenig über die tatsächliche Solche Gedankenspiele wurden
Einige der daraus abgeleiteten Physik wisse. inzwischen etliche Male experi-
Effekte schienen zu verrückt, um Um diese These zu testen, mentell umgesetzt. Meist überneh-
wahr zu sein. Ein prominentes veröffentlichte John Bell 1964 eine men dabei verschränkte Photonen
Beispiel dafür ist die Verschrän- Arbeit, in der er eine Art Quanten- die Rolle der Spieler. Wie die
kung. Gemäß der Quantenphysik Spiel vorstellte. Dabei versuchen Versuche zeigten, lagen Einstein,
können mehrere Teilchen auf zwei Spieler gemeinsam eine Podolsky und Rosen falsch.
seltsame Weise gekoppelt sein und Aufgabe zu lösen. Wie das Spiel Ein ähnliches Quanten-Spiel
sich dadurch augenblicklich ge- bei häufigen Wiederholungen entwickelte auch der theoretische
genseitig beeinflussen – unabhän- ausgeht, hängt dabei davon ab, ob Informatiker Zhengfeng Ji mit
gig davon, wie weit sie voneinan- die Quantentheorie vollständig ist seinen Kollegen, um eine mathe-
der entfernt sind. oder nicht. Hätten Einstein, Rosen matische Vermutung zu widerle-
Unter anderem fochten Albert und Podolsky Recht, dann könnte gen. Doch anders als die Gedan-
Einstein, Boris Podolsky und die Anzahl der Gewinne einen kenexperimente von Bell, umfasst
Nathan Rosen diese Vorstellung bestimmten Wert nicht überschrei- das Spiel unendliche Größen,
an. Ihrer Meinung nach handelte es ten. Folgt der Mikrokosmos jedoch wodurch es sich nicht ohne Weite-
sich bei der Quantenphysik um den Gesetzen der Quantenphysik res im Labor überprüfen lässt.

70 Spektrum der Wissenschaft  7.20


System verschränkter Teilchen als Produkt der möglichen
Zuständen der einzelnen Partikel. Der andere Ansatz be-
trachtet ein System als Ganzes und prüft, ob es sich viel-
leicht in kleinere Teile zerlegen lässt. Wenn das möglich ist,
unterscheiden sich beide Vorgehensweisen nicht. Doch
insgesamt ist die zweite allgemeiner, denn sie handelt Syste-
me ab, die sich nicht so einfach zerstückeln lassen.
Vom mathematischen Standpunkt aus kann man ver-
schränkte Zustände im ersten Fall durch Matrizen beschrei-
ben, eine Art Liste von Zahlen. Im zweiten Fall kommt man
mit Matrizen – die endlich viele Zeilen und Spalten haben –
allerdings nicht aus. Man braucht so genannte Operatoren,

INKOLY / GETTY IMAGES / ISTOCK


die unter Umständen unendlich-dimensional sind. Das
macht es viel schwerer, mit ihnen umzugehen.
Connes vermutete 1976, dass sich bestimmte unendlich-
dimensionale Operatoren durch extrem große Matrizen
annähern lassen. Sprich: Statt mit den abstrakten Objekten
Die Informatiker haben gezeigt, dass man – gerade in zu rechnen, kann man Matrizen nutzen, um eine Aufgabe zu
der Quantenmechanik – Unendlichkeiten nicht immer lösen. Tsirelson übertrug diese Hypothese auf die Quanten-
durch große endliche Systeme annähern kann. mechanik, indem er annahm, dass die zwei unterschiedli-
chen Beschreibungen von Verschränkung im Wesentlichen
gleich sind. Wie sich später herausstellte, sind Tsirelsons
seinen Kollegen besagt, dass ein gewöhnlicher Prüfer in Vermutung und Connes Einbettungsproblem zwei Seiten der
polynomialer Zeit die Aussage von zwei miteinander ver- gleichen Medaille: Wenn es gelingt zu zeigen, dass eine der
schränkten allwissenden Quantencomputern überprüfen beiden Aussagen zutrifft, hat man die andere gleichzeitig
kann, der zufolge ein Computer für eine bestimmte Aufgabe mitbewiesen.
zum Halten kommt. Behauptungen, dass ein Programm Doch nun hat die neueste Arbeit der theoretischen Infor-
beispielsweise in einer Endlosschleife stecken bleiben wird, matiker Tsirelsons Vermutung und damit auch Connes
lassen sich so aber nicht verifizieren. Einbettungsproblem widerlegt. Das hat drastische Folgen:
Anders als häufig angenommen, kann man ein unendliches
Computerwissenschaftliches Ergebnis widerlegt System nicht immer beliebig genau durch ein endliches
mathematische Vermutung annähern.
Das Ergebnis hat theoretische Informatiker verblüfft. Uner- Ji und seine Kollegen beschreiben in ihrer Veröffentli-
warteterweise wirkt es sich aber auch auf andere Fachbe- chung ein Beispiel für eine Situation, in der dieser Fall ein-
reiche aus. Denn dadurch entpuppt sich das in den 1970er tritt. Dazu konstruierten sie ein Spiel, an dem zwei Personen
Jahren vom Fields-Medaillen-Preisträger Alain Connes teilnehmen, die miteinander verschränkt sind (siehe »Quan-
formulierte »Einbettungsproblem« aus der Funktionalanaly- ten-Spiele«, links) und das Spiel entweder gemeinsam
sis als falsch – was viele Wissenschaftler erstaunt. Von gewinnen oder verlieren können. Beschreibt man den Zu-
diesem hängen wiederum weitere Hypothesen ab, wie die stand beider Personen durch unendlich-dimensionale Opera-
quantenmechanische Vermutung des russisch-israelischen toren, dann gewinnen die Spieler bei optimaler Strategie mit
Mathematikers Boris Tsirelson (1950–2020), die folglich einer Chance von 1, also immer; verwendet man dagegen
ebenso wenig stimmen. »Wenn ich eine Veröffentlichung endliche Matrizen, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür
mit der Überschrift MIP* = RE sehe, dann gehe ich erst höchstens 1/2. Folglich kann man mit endlichen Matrizen
einmal davon aus, dass sie nichts mit meiner Arbeit zu tun niemals beliebig nah an das Ergebnis der Operatoren heran-
hat«, sagte der Quantenphysiker Miguel Navascués von der kommen, unabhängig davon, wie groß man sie wählt.
Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Damit hat die Arbeit der theoretischen Informatiker nicht
»Das war eine echte Überraschung.« bloß Auswirkungen auf die Komplexitätstheorie. Das zeigt,
Das Einbettungsproblem handelt unter anderem von so dass das Gebiet – anders als häufig behauptet – kein völlig
genannten Operatoralgebren, die zum mathematischen lebensferner Bereich ist, das allein für sich steht, sondern
Bereich der Funktionalanalysis gehören, aber auch in der auch andere Disziplinen beeinflusst, wie die theoretische
Quantenmechanik auftauchen. Dort hängen sie beispiels- Quantenphysik und Mathematik. 
weise mit dem physikalischen Phänomen der Verschrän-
kung zusammen. Denn es ist immer noch nicht vollkom- QUELLEN
men klar, wie man verschränkte Teilchen mathematisch
korrekt beschreibt. Ito, T., Vidick, T.: A multi-prover interactive proof for NEXP
sound against entangled provers. ArXiv 1207.0550, 2012
Bislang gibt es unterschiedliche Ansätze, die zwei ver-
schiedenen Ansichten widerspiegeln: Beim ersten geht Ji, Z. et al.: MIP* = RE. ArXiv 2001.04383, 2020
man davon aus, dass sich die Physik aus einzelnen Be- Natarajan, A., Wright, J.: NEEXP in MIP*. ArXiv 1904.05870,
standteilen heraus aufbaut. Das heißt man beschreibt ein 2019

Spektrum der Wissenschaft  7.20 71


MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN
DIE KUNST DES
GUTEN PASSWORTS
Viele Menschen verzweifeln an der Wahl sicherer Kennwörter, denn
diese sollten aus möglichst vielen, willkürlich gewählten Zeichen
bestehen und sich für jedes Benutzerkonto unterscheiden. Weil das
nur in den wenigsten Fällen gelingt, treffen Anbieter im Internet
subtile Vorsichtsmaßnahmen, um die Daten ihrer Nutzer zu schützen.

Jean-Paul Delahaye ist emeritierter Profes-


sor der Université de Lille und Forscher am
Centre de recherche en informatique,
signal et automatique de Lille (Cristal).

 spektrum.de/artikel/1736698
Quer durchprobiert
Damit ein Passwort der Länge N sicher ist, sollte


Sicher kennen Sie die Situation: Sie registrieren sich man es zufällig aus einer Sammlung von A Sym-
auf einer Webseite und wählen ein Kennwort, das bolen wählen. Je nachdem, wie groß N und A
kurzerhand abgelehnt wird, weil es zu einfach ist. sind, variiert die Größe des Raums aller mögli-
Nach mehreren Fehlschlägen denken Sie sich schließlich chen Zeichenkombinationen T = AN beträchtlich.
eine lange und komplizierte Zeichenfolge aus. Wenn Sie In der folgenden Liste sind fünf Beispiele für
das nächste Mal ein Benutzerkonto auf einer unterschiedli- verschiedene Werte von A und N angegeben. Die
chen Seite erstellen, sind Sie versucht, die gleiche Kombi- Größe D gibt dabei die Anzahl der Stunden an, die
nation zu nutzen, das sich immerhin schon einmal bewährt ein leistungsfähiger Computer braucht, um sämt-
hat. Dann erinnern Sie sich aber an den Rat von Experten, liche Möglichkeiten durchzugehen (wenn man
für jeden Zweck ein anderes Passwort zu verwenden. Wie davon ausgeht, dass er eine Milliarde Kombinatio-
wäre es also mit einer Liste in der Nähe des Computers, nen pro Sekunde untersucht). X entspricht den
auf der man die einzelnen Zugänge notiert? Auch davor Jahren, die es gemäß dem mooreschen Gesetz
wird gewarnt. Außerdem sollte man – um langfristig ge- (alle zwei Jahre verdoppelt sich die Rechenleis-
schützt zu sein – die Kennwörter regelmäßig ändern.  tung) dauern würde, um die Kombinationsmög-
Die meisten Personen nehmen diese Faustregeln hin, lichkeiten in weniger als einer Stunde zu erfassen.
ohne sie zu hinterfragen. Kein Wunder, denn es braucht
mehr als nur ein wenig gesunden Menschenverstand, um T = AN, D = T/(109 ∙ 3600), A = 100, N = 10
sie wirklich zu durchdringen. Zum Beispiel haben fast alle X = 2 log2[T/(109 ∙ 3600)] T = 1020
D = 27777777 Rechenzeit
Anbieter einen guten Grund, Passwörter mit mehr als A = 26, N = 6 X = 49 Wartezeit in Jahren
sechs Zeichen zu fordern, die nicht nur aus Kleinbuchsta- T = 308915776
D = 0,0000858 Rechenzeit A = 100, N = 15
ben bestehen – auch wenn es für uns lästig ist.  X = 0 Wartezeit in Jahren T = 1030
Ein Kennwort entspricht einer bestimmten Wahl aus D = 2,7 ∙ 1017 Rechenzeit
dem dazugehörigen Raum aller möglichen Zeichenfolgen. A = 26, N = 12 X = 115 Wartezeit in Jahren
T = 9,5 1016
Sechsstellige Kombinationen aus Kleinbuchstaben, wie D = 26508 Rechenzeit A = 200, N = 20
»afzjxd«, »dackel«, »geheim« oder »wwwwww«, spannen X = 29 Wartezeit in Jahren T = 1,05 ∙ 1046
D = 2,7 ∙ 1033 Rechenzeit
zum Beispiel einen Raum der Größe 266 = 308 915 776 auf, X = 222 Wartezeit in Jahren
denn für jeden der sechs Buchstaben gibt es 26 unabhän-
gige Auswahlmöglichkeiten.

72 Spektrum der Wissenschaft  7.20


HYWARDS / GETTY IMAGES / ISTOCK

Viele Menschen halten ihre


Passwörter für sicher. Doch
das ist häufig nicht der Fall.

Wenn man die Länge der Zeichenfolge verdoppelt und


zusätzlich Großbuchstaben sowie je zehn Ziffern und
Symbole (zum Beispiel & ß ! ? ä ü ö / + =) zulässt, dann Hashfunktionen
gibt es für jedes Zeichen plötzlich 72 verschiedene Mög- gegen Hackerangriffe
lichkeiten. Der dazugehörige Raum enthält also 7212 Kom-
binationen, was 19 408 409 961 765 342 806 016 ≈ 19 × 1021 Eine Hashfunktion wandelt eine Computerdatei D
ergibt. in eine Zeichenfolge fester Länge um, den so
Der zweite Raum ist mehr als 62 000 Milliarden Mal so genannten Fingerabdruck oder Hash h(D). Zum
groß wie der erste. Bräuchte ein Computer eine Sekunde, Beispiel überführt die Funktion »SHA256« den
um alle Passwörter aus sechs Kleinbuchstaben zu erzeu- Satz »Guten Tag« zu: 6b973d266dfceb93f1b-
gen, würde es im zweiten Fall zwei Millionen Jahre dau- b5a687231cd027c27e5099a799b4a3e666a4a-
ern. Ein solches Kennwort könnte man dank der zusätzli- e6773b04. Die Hashfolge besteht aus 64 Hexade-
chen Möglichkeiten nicht mehr durch einfaches Probieren zimalzeichen und hat daher eine Entropie von
knacken (siehe »Quer durchprobiert«, links).  256 Bit.
Um abzuschätzen, wie sicher ein Passwort ist, nutzen Ändert man ein einzelnes Symbol der Aus-
IT-Spezialisten häufig eine binäre Darstellung. Anstatt die gangsfolge, sieht der dazugehörige Fingerabdruck
Anzahl aller Kombinationsmöglichkeiten in den uns geläu- völlig anders aus. Für »guten Tag« liefert SHA256
figen Dezimalzahlen anzugeben, wählen sie die Zahl zwei beispielsweise: 08cb7a81c5c75c7c65c13e-
als Basis und zählen die Binärziffern. Zum Beispiel ist 42 in 6ac58950d4f76ea235aab79fc9080ed4b-
binärer Schreibweise 101010 (= 1 ∙ 25 + 0 ∙ 24 + 1 ∙ 23 c877a2627.
+ 0 ∙ 22 + 1 ∙ 21 + 0 ∙ 20) und besteht aus sechs Ziffern. Die Inzwischen gibt es mehrere Generationen von
»binäre Länge« einer Dezimalzahl N lässt sich mit der Hashfunktionen. Die aus den 1990er Jahren
Formel 1 + ganzzahliger Anteil von log2(N) berechnen. Die stammenden Klassen SHA0 und SHA1 sind veral-
binäre Darstellung aller sechsstelligen Kennwörter aus tet und sollten nicht mehr genutzt werden. SHA2,
Kleinbuchstaben hat demnach eine Länge von 29, für zu der SHA256 gehört, gilt dagegen als sicher. 
zwölfstellige Folgen aus 72 Symbolen ergibt sich 75. Anstatt sich die Passwörter ihrer Kunden zu
Informatiker sprechen von Passwörtern mit einer 29-Bit- merken, speichern Webanbieter die dazugehöri-
beziehungsweise 75-Bit-Entropie. gen Hashs. Denn diese ähneln den Ergebnissen,
die man erhalten würde, wenn man solche Zei-
Nicht nur die Länge ist entscheidend chenfolgen nach dem Zufallsprinzip wählen
Einige Behörden, wie das deutsche BSI (Bundesamt für würde. Deshalb ist es nicht möglich, die zu Grun-
Sicherheit in der Informationstechnik) oder das französi- de liegende Datei D eines 256-Bit-Hashs in ange-
sche Anssi (Agence nationale de la sécurité des systèmes messener Zeit zu berechnen. Selbst wenn ein
d’information), beraten in digitalen Sicherheitsfragen. Das Hacker also die Daten eines Servers stiehlt, kann
BSI empfiehlt beispielsweise, mindestens achtstellige er nichts damit anfangen.
Passwörter zu verwenden und dabei sowohl Groß- und
Kleinbuchstaben, Zahlen und Sonderzeichen zu verwen-

Spektrum der Wissenschaft  7.20 73


den, was einer 49-Bit-Entropie entspricht. Bei besonders kann, ist es dennoch sinnvoll, es bezüglich der IT-Sicher-
sensiblen Informationen sollte man dem BSI zufolge heit zu berücksichtigen. Ein wirklich starkes Passwort mit
wenigstens eine 100-Bit-Folge wählen. Das Anssi ordnet einer Entropie von 138 Bit bestünde etwa aus 18 Zeichen,
Passwörter dagegen in drei Klassen: sehr schwache mit die man aus einem Satz von 200 Symbolen wählt. Eine
weniger als 64 Bit, schwache zwischen 64 und 80 Bit solche Folge kann man sich jedoch kaum merken. Deshalb
sowie mittelmäßig sichere zwischen 80 und 100 Bit. begnügen sich die meisten Systeme mit schwachen oder
Möchte man ein Kennwort über mehrere Jahre nutzen, rät mittelmäßig sicheren Kennwörtern.
das Anssi zu einer Entropie von mindestens 125 Bit.  Wenn man die Entropie eines Passworts berechnet,
Der Unterschied zwischen aktueller und langfristiger setzt man allerdings voraus, dass der Benutzer es zufällig
Sicherheit ergibt sich aus einer Beobachtung, die der aus dem Raum der möglichen Zeichenfolgen gewählt hat.
US-amerikanische Physiker Gordon Moore in den 1960er In den allermeisten Fällen ist das aber nicht so. Menschen
Jahren machte: Etwa alle zwei Jahre verdoppelt sich die ziehen im Allgemeinen ein gängiges Wort wie »lokomoti-
Rechenleistung von Computern einer bestimmten Preis- ve« einer willkürlichen Buchstabenfolge vor.
klasse. Selbst wenn die Technik in letzter Zeit mit dem so Das führt zu großen Sicherheitslücken. Denn Angreifer
genannten mooreschen Gesetz nicht mehr Schritt halten können Wörterbücher nutzen, um ein Konto schneller zu

Regenbogentabellen
Versetzen Sie sich in die Rolle eines Hackers, der Der Ansatz ist daher ebenso schwer realisierbar wie
gestohlene Daten vom Typ [Benutzername, der erste; beide Fälle führen in eine Sackgasse. Deshalb
h(Passwort)] nutzen möchte, wobei der Hash suchen Informatiker nach einem Mittelweg, mit etwas
h(Passwort) durch eine SHA256-Funktion verschlüs- mehr benötigtem Speicherplatz als in Methode 1, aber
selt ist. Wenn das Kennwort zwölfstellig ist und aus dafür weniger Rechenaufwand.
Kleinbuchstaben besteht, was einer Entropie von 56 1980 formulierte der US-amerikanische Informatiker
Bit entspricht, existieren insgesamt 2612 = 9,54 × 1016 Martin Hellman einen solchen Ansatz, den Philippe
verschiedene Kombinationsmöglichkeiten. Es gibt Oechslin von der Ecole Polytechnique Fédérale de
zwei naheliegende Wege, um diese Daten zu ent- Lausanne 23 Jahre später erstmals verwirklichte. Die
schlüsseln: Idee besteht darin, alle möglichen Zeichenkombinatio-
Methode 1: Sie generieren alle möglichen Passwör- nen zu gruppieren und nur einen Vertreter aus jeder
ter P und berechnen daraus den Fingerabdruck h(P), Gruppe zu speichern, was erheblich weniger Speicher-
den Sie mit der gestohlenen Liste vergleichen. Dafür platz erfordert als Methode 2. Wenn man anschließend
benötigen Sie nicht viel Speicherplatz, denn nach das Kennwort zu einem Hash herausfinden möchte,
jedem Versuch löschen Sie die vorherigen Ergebnisse. muss man statt aller Möglichkeiten bloß in der entspre-
Das wird aber extrem lange dauern, bis Sie alle chenden Gruppe suchen, was deutlich schneller geht als
Passwortkombinationen durchprobiert haben. Methode 1.
Wenn Ihr Computer eine Milliarde Versuche pro Se- Im Detail funktioniert das Ganze so: Man konstruiert
kunde durchführt, rechnet er immer noch 2612/ eine Konvertierungsfunktion C, die aus dem Fingerab-
(109 × 3 600 × 24) = 1 104 Tage, was etwa drei Jahren druck h(P) eines Kennworts P eine neue Zeichenfolge
entspricht. Das ist nicht unmöglich – ein Netzwerk aus C(h(P)) erzeugt. Weil sich die Länge und die zulässigen
1000 Computern kann die Aufgabe in zirka einem Tag Symbole des Fingerabdrucks von denen eines Pass-
erledigen. Allerdings müssen Sie das gesamte Proze- worts unterscheiden, überführt C einen Fingerabdruck
dere jedes Mal wiederholen, sobald Sie auf neue in die Form eines möglichen Kennworts. 
Datensätze dieser Art stoßen.
Methode 2: Sie berechnen im Voraus die Fingerab- Ein Mittelweg als Lösung
drücke aller möglichen Zeichenkombinationen und Dann beginnt die Vorarbeit, ähnlich wie bei Methode 2.
speichern sie in einer riesigen Tabelle. Das ist zwar Man startet mit einer beliebigen Zeichenfolge P0, die
aufwändig, doch Sie müssen das nur einmal machen. einem Kennwort entsprechen könnte. Daraus berechnet
Für jeden neuen Datensatz, den Sie erhalten, brau- man den dazugehörigen Fingerabdruck h(P0) und er-
chen Sie nur noch in dieser Liste nachzuschlagen. zeugt ein neues Kennwort P1= C(h(P0)). Da P1 und P0
Dafür benötigt man allerdings einen Speicher von über die Funktion C miteinander verbunden sind, gehö-
(9,54 × 1016) × (12 + 32) Bytes (zwölf für das Passwort ren sie der gleichen Gruppe an. Den Prozess wiederholt
und 32 für den dazugehörigen Fingerabdruck). Das man n-mal, wobei n eine große Zahl ist. In einer so
ergibt 4.2 × 1018 Bytes, was mehr als vier Millionen genannten Regenbogentabelle speichert man dann bloß
Festplatten mit einer Kapazität von einem Terabyte die beiden Werte P0 (den Startwert) und h(Pn) (den Hash
entspricht. des Endwerts) als Vertreter der Gruppe. 

74 Spektrum der Wissenschaft  7.20


knacken. Inzwischen gibt es etliche Listen, in denen wurden, und die 25 verbreitetsten Kennwörter aus dem
beliebte Passwörter ihrer Häufigkeit nach geordnet sind. Jahr 2019 veröffentlicht: 1. 123456 ; 2. 123456789 ; 3. qwer-
Ein Hacker wird versuchen, an eine solche Liste heranzu- ty ; 4. password ; 5. 1234567 ; 6. 12345678 ; 7. 12345 ; 8.
kommen und die Wörter der Reihe nach durchzugehen. iloveyou ; 9. 111111; 10. 123123 ; 11. abc123 ; 12. qwerty123 ;
Erschreckenderweise funktioniert das extrem gut. Ohne 13. 1q2w3e4r ; 14. admin ; 15. qwertyuiop; 16. 654321; 17.
äußeren Zwang ist man versucht, einfache Wörter, Nach- 555555 ; 18. lovely ; 19. 7777777 ; 20. welcome ; 21. 888888 ;
namen, Vornamen oder kurze Sätze in seine Passwörter 22. princess ; 23. dragon ; 24. password1 ; 25. 123qwe.
einzubauen. Im Gegensatz zu einer völlig zufälligen Wahl Bei vierstelligen Ziffernfolgen (etwa dem PIN-Code einer
ist die Anzahl dieser Kombinationsmöglichkeiten relativ SIM-Karte) sind die Ergebnisse noch erschreckender. 2013
gering. Die Entropie eines Kennworts verkleinert sich wertete die IT-Beratungsfirma DataGenetics eine Sammlung
dadurch erheblich, so dass ein Hacker durchschnittlich von 3,4 Millionen gestohlenen Zahlencodes aus. Die am
deutlich weniger Versuche braucht. meisten verwendete Folge machte mit elf Prozent der
Der Softwarehersteller für Kennwortverwaltung Auswahl 1234 aus, dicht gefolgt von 1111 und 0000 mit
»Splash­Data« hat eine Datenbank mit über 5 Millionen Ein- einer Häufigkeit von sechs beziehungsweise zwei Prozent.
trägen ausgewertet, die in den letzten Jahren gehackt Erstaunlicherweise tauchte die Zahl 8068 bloß 25 mal
unter den 3,4 Millionen Einträgen auf – viel seltener als die
erwarteten 340 Verwendungen, wenn jede Kombination
gleich oft erscheinen würde. Doch bevor Sie Ihre PIN ent-
sprechend ändern, sollte Sie bedenken, dass sich die Vertei-
lung nach der Veröffentlichung höchstwahrscheinlich
Danach wiederholt man den Vorgang mit anderen geändert hat.
Zeichenfolgen, bis man alle zwölfstelligen Kombinati- Selbst wenn ein Angreifer keinen Zugang zu einer Pass-
onen gruppiert hat. Dadurch erhält man eine Liste, wortliste hat, kann er auf andere Tricks zurückgreifen, um
die sich aus dem jeweiligen Startwert und dem Fin- Benutzerkonten zu knacken. Zum Beispiel kann er berück-
gerabdruck des Endwerts der jeweiligen Gruppe sichtigen, wie häufig gewisse Buchstaben in einer Sprache
zusammensetzt. Das dauert zwar recht lange, ist aber auftreten und seine Versuche demnach ordnen. Einige
mit einem Netzwerk aus Computern bewältigbar. Hacker beachten sogar, dass viele Zeichenkombinationen
Man benötigt etwa eine Million mal weniger Spei- einer bestimmten Struktur folgen, wie A1=B2=C3, AwX2A-
cherplatz als bei Methode 2, so dass vier Ein-Terabyte- wX2 oder O0o.Ili – alles Beispiele für Passwörter, die ich
Festplatten dafür ausreichen.  selbst lange Zeit benutzt habe. Zudem verbinden die meis-
Mit einer solchen Regenbogentabelle lässt sich ten Menschen mehrere verbreitete Folgen miteinander, wie
jedes Kennwort innerhalb von bloß wenigen Sekun- password123 oder johnABC0000. Durch solche Muster
den knacken. Stellen Sie sich vor, Sie haben den Hash können Angreifer eine Reihenfolge festlegen, wodurch sich
h(Q) = f0 und möchten das dazugehörige Passwort Q ihre Suche beschleunigt. 
ermitteln. Dann müssen Sie zuerst herausfinden, zu
welcher Gruppe Q gehört. Dazu wandeln Sie den Wie kann man die Sicherheit
Fingerabdruck in eine Zeichenfolge C(f0) um und der eigenen Kennwörter testen?
berechnen daraus einen neuen Hash h(C(f0)) = f1. Von Das alles sind gute Gründe, um ein Passwort zufällig zu
diesem neuen Abdruck ausgehend erzeugen Sie f2 wählen. Dafür gibt es Software, so genannte Kennwortver-
und so weiter, bis einer der Abdrücke fm mit einem walter. Allerdings könnten solche Programme (mit oder
Wert h(Pn) in der Regenbogentabelle übereinstimmt. ohne Absicht) einen schlechten Zufallsgenerator verwen-
So wissen Sie, dass Q zur Gruppe [P0, h(Pn)] ge- den. In diesem Fall sind auch deren Vorschläge nicht per-
hört. Indem Sie also die Hashs hi = h(Pi) zu allen in fekt – in der Regel aber immer noch besser als selbst ge-
dieser Gruppe befindlichen Passwörter Pi berechnen, wählte (siehe »Spektrum« März 2018, S. 72).
müssen Sie zwangsläufig auf f0 stoßen. Sie bestim- Ordnungsgemäß gestaltete Webseiten prüfen Kennwör-
men demnach h0=h(P0), danach h1=h(P1) = h(C(h(P0))) ter auf all diese Kriterien hin, wenn man ein Konto bei ihnen
und vergleichen die Ergebnisse jeweils mit f0. Hat erstellt, und lehnen dann diejenigen ab, die nicht sicher
man schließlich das gesuchte hk=f0 gefunden, lautet genug sind. Das mag vielleicht lästig sein – doch es ist zu
das dazugehörige Kennwort Q=C(hk - 1). Anstatt die Ihrem eigenen Wohl.
Hashfunktionen aller Kombinationen zu bilden, durch- Es gibt sogar eine Möglichkeit, mit der Sie testen kön-
sucht man nur eine bestimmte Gruppe der Größe n. nen, ob Ihre Zugangsdaten schon einmal gehackt wurden.
Die anfallende Rechenzeit entspricht dann bloß der Die Webseite haveibeenpwned.com/Passwords durchsucht
Zeit, fm in der Tabelle zu finden und h1, h2, ..., hk zu eine Liste mit mehr als 500 Millionen gestohlenen Kennwör-
berechnen. Das geht etwa eine Million mal schneller tern. Als ich mein Standardpasswort e=mc2e=mc2 eingab,
vonstatten, als man zum Erstellen der Regenbogenta- das mir gut gefiel und ich für sicher hielt, erhielt ich prompt
belle braucht. Dadurch lässt sich in angemessener die verunsichernde Antwort: »This password has been seen
Zeit jedes Passwort knacken. 110 times before«. Weitere Versuche zeigten, dass es
schwierig ist, ein eingängiges Wort vorzuschlagen, das die
Basis noch nicht kennt. Zum Beispiel tauchen aaaaaaaaa

Spektrum der Wissenschaft  7.20 75


12.722 mal; a1b2c3d4 117.106  mal; abcdcba 389 mal; Dank solcher Hashfunktionen können Anbieter die
abczyx 198 mal; acegi 118 mal; merkel 1188 mal; trump Zugangsdaten ihrer Kunden sicher auf einem Server
880 mal; thunberg 42 mal und macron 309 mal auf. speichern, indem sie eine Liste mit dem Benutzernamen
Manchmal hat man auch Erfolg. Hier sind zwei Bei­ und dem Fingerabdruck h(Passwort) anlegen. Wenn sich
spiele für Passwörter, welche die Webseite noch nicht in ein Benutzer anmeldet, liest der Server das Kennwort aus,
ihrer Liste hatte: spektrumderwissenschaft und lewwer- berechnet daraus den Hash und prüft, ob Name und
worscht. Doch jetzt, da man sie ausprobiert hat, könnte Fingerabdruck als Paar in der Liste auftauchen. 
die Datenbank sie bei der nächsten Aktualisierung ihrer Selbst wenn es einem Hacker gelingt, auf den Server
Liste hinzufügen. Jedenfalls sollte man davon absehen, zuzugreifen, kann er vom gespeicherten Hash nicht auf
diese Buchstabenfolgen künftig in seinen Zugangsdaten das Passwort schließen. Genauso wenig lässt sich ein
zu verwenden. anderes Kennwort erzeugen, das denselben Fingerabdruck
Glücklicherweise treffen Anbieter Vorkehrungen, um hat und die Webseite täuschen würde. Diese Vorsichts-
ihre Nutzer zu schützen. Die einfachste Methode findet maßnahmen sind extrem wichtig, denn sogar große
sich bei Bankkarten: Nach drei Fehlversuchen werden sie Webseiten, die sich aufwändig gegen Angriffe schützen,
gesperrt. Daran angelehnt verdoppeln einige Webseiten wurden schon gehackt. Im Jahr 2016 wurden zum Beispiel
nach jeder falschen Eingabe die Wartezeit zwischen den die Benutzerdaten der Yahoo!-Gruppe entwendet.
Login-Versuchen. Damit wollen sie verhindern, dass ein Um es einem Angreifer noch schwerer zu machen, eine
Angreifer nach und nach alle Passwortmöglichkeiten gestohlene Liste zu verwenden, versehen einige Anbieter
durchgeht. die Passwörter zusätzlich mit so genanntem Salt (aus dem
Das US-amerikanische NIST (National Institute of Englischen für Salz). Dabei fügen sie jedem Kennwort eine
Standards and Technology) hat 2018 eine Mitteilung individuelle zufällige Zeichenfolge hinzu und erzeugen erst
veröffentlicht, in der es Webanbietern empfiehlt, Passwort- danach einen Hash. In diesem Fall unterscheiden sich die
Datenbanken zu durchsuchen, bevor sie das Kennwort Fingerabdrücke selbst dann noch, falls zwei Benutzer
eines neuen Nutzers bei der Registrierung zulassen. Viel dasselbe Passwort verwenden. 
wichtiger als die Wahl der Zugangsdaten ist jedoch, wie Die Liste auf dem Server eines Anbieters enthält dann
ein Webserver die geheimen Zeichenfolgen aufbewahrt.  drei Elemente: den Benutzernamen, den Hash
Eine Liste mit Benutzernamen und den dazugehörigen h(Passwort + Salt) und das Salt. Wenn der Server ein
Passwörtern sollte beispielsweise niemals im Klartext auf eingegebenes Kennwort überprüft, fügt er das zum Nut-
dem Computer gespeichert sein, über den die Webseite zernamen gehörende Salt hinzu, berechnet daraus den
läuft. Ein Hacker könnte sie sich sonst beschaffen, entwe- Fingerabdruck und gleicht ihn mit der Datenbank ab.
der weil die Seite schlecht geschützt ist oder indem er Diese Methode erschwert die Arbeit eines Hackers
einen bisher unbekannten Fehler im System ausnutzt. selbst für schwache Kennwörter erheblich. Ohne Salt
könnte er eine Passwort-Datenbank (ein »Wörterbuch«)
Eine Art Fingerabdruck hilft, Passwörter nehmen, alle Fingerabdrücke davon berechnen und seine
zu schützen Ergebnisse mit der gestohlenen Liste vergleichen. Da­durch
Um das zu verhindern, kann man die Passwörter in der würde er jene Zugangsdaten aufdecken, die Zeichen-
Liste verschlüsseln. Ein Algorithmus wandelt sie dann in folgen aus dem Wörterbuch nutzen. Durch das Salt muss
einen Geheimcode aus scheinbar zufälligen Zeichen um. der Angreifer aber für jeden einzelnen Nutzernamen alle
Das funktioniert zwar, hat aber Nachteile. Bei jeder Anmel- Inhalte der Datenbank durchgehen, indem er ihnen das
dung muss der Anbieter das Kennwort in der Liste entzif- dazugehörige Salt hinzufügt. Bei 1000 Konten erhöht
fern, um es mit dem Nutzernamen zu vergleichen, was sich die Anzahl der Berechnungen damit um den Faktor
recht aufwändig ist. Zudem befindet sich der Entschlüsse- tausend.
lungsalgorithmus dann ebenfalls auf dem Server der Um auf dem neuesten Sicherheitsstand zu bleiben,
Webseite, auf den ein Hacker zugreifen könnte. suchen Informatiker ständig nach innovativen Methoden
Eine Lösung bietet eine bestimmte Variante der Ver- (siehe »Regenbogentabellen«, S. 74), die Angreifer nutzen
schlüsselung, so genannte Hashfunktionen, die eine Art könnten, um Passwörter zu knacken. Im Zeitalter des Inter-
Fingerabdruck eines Passworts erzeugen (siehe »Hash- nets und der Supercomputer hat sich die Wissenschaft
funktionen gegen Hackerangriffe«, S. 73). Sie weisen einer sicherer Passwörter dadurch zu einem gnadenlosen Kampf
Datei D einen Ausdruck h(D) mit einer festen Länge zu, der gegen die Zeit entwickelt. 
D eindeutig charakterisiert. Das Wichtigste dabei: Die
Hashfunktion ist wie eine Einbahnstraße. Man kann zwar QUELLEN
einfach von D auf h(D) schließen; andersherum lässt sich Avoine, G. et al.: How to handle rainbow tables with external
D aber kaum aus h(D) ermitteln.  memory. In: Pieprzyk, J., Suriadi, S. (Hg.): Information security
Wegen der begrenzten Länge des Hashs h(D) ist es and privacy – ACISP 2017. Springer, 2017
durchaus möglich, dass zwei unterschiedliche Dateien D Grassi, et al.: Characterization and improvement of time-memo-
und D‘ denselben Fingerabdruck erhalten, was Informati- ry trade-off based on perfect tables. ACM Transactions on
ker als Kollision bezeichnen. Doch in der Praxis lässt sich Information and System Security 11, 2008
nicht herausfinden, ob für ein gegebenes D ein D‘ mit Hellman, M. E.: A cryptanalytic time-memory trade-off. IEEE
gleichem Fingerabdruck existiert. Transactions on Information Theory IT-26, 1980

76 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Bei welchem Händler finde ich
meine Lieblingszeitschrift?

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FOURLEAFLOVER / GETTY IMAGES / ISTOCK

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FOTO: FRANS DE VRIES, WWW.TOONBEELDBANK.NL; OBJEKT IST TEIL DER SAMMLUNG DES NATIONAL MUSEUM OF ANTIQUITIES (RMO) LEIDEN
AUF EINEN BLICK
GENIALE ERFINDER?

1 Neandertaler haben vor rund 200 000 Jahren ein


Rezept zur Herstellung eines Kunststoffs entwickelt:
das aus Rinde erzeugte Birkenpech.

2
LANDESAMT FÜR DENKMALPFLEGE UND ARCHÄOLOGIE SACHSEN-ANHALT, JURAJ LIPTÁK

Unter Archäologen gilt dies als Hinweis auf die fortge­


schrittenen kognitiven und planerischen Fähigkeiten
des Neandertalers. Denn bislang ging man davon aus,
dass der Stoff nur durch komplexe Verfahren gewon­
nen werden kann.

3 Doch neue experimentelle Forschungen haben gezeigt,


dass Birkenpech auch ein einfaches Zufallsprodukt
gewesen sein könnte.

78 Spektrum der Wissenschaft  7.20


MENSCHWERDUNG
DER KUNSTSTOFF
DER NEANDERTALER
Lange waren Anthropologen davon
überzeugt: Der Neandertaler war dem
Homo sapiens kulturell und kognitiv
unterlegen. Inzwischen hat sich das
Bild gewandelt. Funde von Brocken
aus Birkenpech legen sogar nahe,
dass er über sehr fortschrittliche tech-
nische Kenntnisse verfügte. Forscher
haben die These geprüft – und die
Fähigkeiten des Neandertalers in ein
neues Licht gerückt.

Der Archäologe Patrick Schmidt ist


Privatdozent für naturwissenschaftliche
Archäologie und Mineralogie an der
Eberhard Karls Universität Tübingen.

 spektrum.de/artikel/1736702
FOTO: FRANS DE VRIES, WWW.TOONBEELDBANK.NL; OBJEKT IST TEIL DER SAMMLUNG DES NATIONAL MUSEUM OF ANTIQUITIES (RMO) LEIDEN

Das rund drei Zentimeter große Stück


Birkenpech, das ganz links in drei Ansich-
ten wiedergegeben ist, stammt aus
Königsaue (Sachsen-Anhalt). Es lag in
den 40 000 bis 84 000 Jahre alten Schich-
ten eines Lagerplatzes der Neandertaler.
Rechts davon, ebenfalls von drei Seiten
aufgenommen, ein 2016 an der niederlän-
dischen Küste entdecktes Steingerät, das
in einem Griff aus Birkenpech (Pfeil)
steckt. Das Alter: zirka 50 000 Jahre.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 79



Bald nachdem die ersten Fossilien 1856 bei Mettmann sich mit Tierzähnen, Muscheln und vielleicht Federn
ans Licht gekommen waren, stand für viele Gelehrte schmückten. Manchen Forschern zufolge stellten sie auch
fest: Der Neandertaler war das lange gesuchte Binde­ Kleidung her und kochten Nahrung. Ebenso gibt es Hin­
glied zwischen Affen und Menschen. Ohne Zweifel musste weise darauf, dass sie ihre Toten beerdigten.
das robuste Skelett zu einer primitiven Vorstufe des moder­ Kaum ein Experte vertritt heute noch die These, der
nen Menschen gehören. Das schien aus damaliger Sicht anatomisch moderne Mensch wäre am Aussterben des
nicht abwegig zu sein. Schließlich habe der anatomisch Neandertalers beteiligt gewesen. Vielmehr dürften klimati­
moderne Mensch, Homo sapiens, den Neandertaler letzt­ sche Veränderungen der Grund dafür gewesen sein. In der
lich verdrängt, ihn vielleicht sogar ausgerottet. Denn dank Archäologie gilt der Neandertaler quasi als rehabilitiert. Für
seiner höheren Intelligenz sowie seiner größeren Leistungs- primitiv oder simpel halten ihn nur noch die allerwenigsten.
und Anpassungsfähigkeit muss Homo sapiens ihm überle­
gen gewesen sein. Jedenfalls entsprach diese Erklärung Das Pech der Neandertaler
dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Doch wie weit reichend waren seine kognitiven Fähigkei­
Seitdem ist in der Steinzeitarchäologie viel passiert. In ten? Einige Archäologen versuchen diese Frage durch den
den darauf folgenden Jahrzehnten haben Forscher heraus­ Vergleich mit dem frühen anatomisch modernen Menschen
gefunden, dass die Neandertaler schon früh ganz Europa in Afrika zu beantworten. Letzterer nutzte Pigmente, schuf
und Teile Vorderasiens besiedelt hatten. Fast 250 000 Jahre damit irgendwann Kunst, jagte Tiere zu Land wie zu Wasser
lang trotzten sie erfolgreich den harschen Lebensbedingun­ und entwickelte zum Beispiel spezialisierte Jagdwaffen,
gen der Eiszeiten. Gesichert ist auch, dass die Frühmen­ Knochenwerkzeuge oder Klebstoffe, mit denen er Werkzeu­
schen spezialisierte Geräte aus Feuerstein herstellten – ge zusammensetzte. Vor allem die Kleber sind für Steinzeit­
nach einer Methode, die große Planungstiefe vermuten archäologen von Interesse, weil ihre Erfindung und Weiter­
lässt: dem so genannten Levallois-Konzept. Dabei wurde entwicklung noch immer Rätsel aufgeben. In Afrika sind
ein Stein zunächst durch mehrere Schläge in Form ge­ einige Fundstellen bekannt, an denen Rückstände von Pech
bracht, um daraus dann mit einem gezielten Hieb große zu Tage kamen. Nichts davon ist älter als 100 000 Jahre. Die
Abschläge herauszutrennen. Die Neandertaler, so wie Neandertaler hingegen produzierten in Europa schon vor
schon ihre Vorfahren der Spezies Homo heidelbergensis, 200 000 Jahren Pech aus Birkenrinde. Unter Einfluss von
nutzten überdies Jagdwaffen aus Holz – das belegen die Hitze wandelten sie die weiße Borke in einen schwarzen
300 000 Jahre alten Holzspeere aus Schöningen und die teer- oder pechartigen Stoff um (siehe »Was ist Pech, was
115 000 Jahre alte »Lanze« von Lehringen in Niedersachsen. ist Teer?«, links unten). Eine technische Revolution, die der
Und wahrscheinlich waren die Eiszeitmenschen in der Frühmensch offenbar entwickelt hatte, um das Birkenpech
Lage, Werkzeuge aus Einzelteilen zusammenzusetzen, als Kleber zu verwenden – so lautet die gängige Erklärung.
indem sie Steinspitzen an Holzschäfte befestigten. Für viele Forscherkollegen ist damit klar: Die Neandertaler
Mittlerweile befassen sich Anthropologen und Archäolo­ verfügten nicht nur vergleichsweise früh über das Wissen
gen auch mit den kognitiven Fähigkeiten der Neandertaler. um die Herstellung von Pech, sondern auch über die nöti­
Die große Frage lautet: Waren die Neandertaler in der Lage, gen kognitiven Fähigkeiten, ein Verfahren dafür zu entwi­
symbolisch zu denken und zu handeln, ihre Gedankenwelt ckeln. Für viele Archäologen ist das steinzeitliche Birken­
etwa durch Zeichen zum Ausdruck bringen? Von vielen pech damit von größter Bedeutung für das Verständnis der
Fundplätzen der Altsteinzeit ist bekannt, dass die Neander­ Neandertaler, ihrer Fähigkeiten und ihrer Lebensweise.
taler Pigmente wie Ocker oder Manganoxid kannten sowie Leider sind jedoch bislang nur sehr wenige Reste von
Birkenpech bekannt, die sicher aus der Hand eines Nean­
dertalers kommen:
Das älteste Stück, ein etwa vier Zentimeter großer Klum­
Was ist Pech, was ist Teer? pen, stammt von der italienischen Fundstelle Campitello in
der Toskana. Es ist zirka 200 000 Jahre alt. Im Pech steckt
Wenn Nadelholz oder Birkenrinde mittels der so ein Steinwerkzeug mit scharfen Kanten. Offensichtlich
genannten Doppeltopfmethode destilliert wird, diente die schwarze Masse als Griff. In Campitello kam
entsteht zunächst ein als Kleber eher unbrauch­ noch ein zweites Steinwerkzeug ans Licht, an dem aber nur
bares Material: das flüssige Pech. Erst wenn man noch Reste von Birkenpech haften.
das einkocht, wird daraus eine zähe Masse – Zwei weitere Fragmente haben Archäologen in Königsaue
Teer. Für das Birkenpech der Altsteinzeit ist diese bei Magdeburg geborgen. Sie entdeckten die Birkenpech­
Unterscheidung allerdings nicht nützlich. Denn stücke in rund 40 000 bis 84 000 Jahre alten Ablagerungen.
die Definition beruht auf dem genannten Herstel­ Die beiden Klumpen sind ungefähr zwei beziehungsweise
lungsverfahren – und nicht auf der Zusammen­ drei Zentimeter groß. In den Stücken klebten keine Steinge­
setzung der schwarzen Substanz. Solange also räte mehr; dafür zeugen Abdrücke im Pech davon, dass
unbekannt ist, wie das altsteinzeitliche Birken­ auch jene Teermassen einst um Schneidwerkzeuge model­
pech gefertigt wurde, lässt sich nicht klären, ob liert wurden. Sehr wahrscheinlich bildete das Pech hier
es sich um Teer oder Pech handelt. ebenfalls einen Griff.
Erst 2016 wurde ein weiteres Stück Birkenpech in Zand­
motor entdeckt, einer ungefähr 50 000 Jahre alten Fundstel­

80 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Lange galt, dass sich Birkenpech nur in einem Ver­
fahren unter Luftausschluss herstellen lässt. Experi-
mente an der Universität Tübingen haben nun ge-
zeigt: Das Pech entsteht auch unter Sauerstoffzufuhr.
Die Forscher verbrannten Birkenrinde neben einem
überhängenden Stein 1 . Das Pech kondensierte an
der Steinoberfläche 2 und ließ sich anschließend
mit einem Steingerät abkratzen 3 und sammeln 4 .

1
le an der niederländischen Küste. Auch dieses drei Zentime­
ter große Stück haftet an einem Feuersteingerät und diente
wohl zur besseren Handhabung.
Dass es sich bei all diesen Funden tatsächlich um Birken­
pech handelt, wiesen Forscher mit Hilfe der Gaschromato­
grafie nach, einer Methode der analytischen Chemie. Dabei
wird eine winzige Probe in seine chemischen Bestandteile
zerlegt, um diese zu identifizieren. Das Ergebnis: Die Fund­
stücke aus Campitello, Königsaue und Zandmotor enthalten
alle den Naturstoff Betulin, der in der Rinde von Birken
steckt. Er ist charakteristisch für diese Bäume und gilt als
zweifelsfreier Nachweis für Birkenpech.
Neben den Klumpen von den genannten drei Fundorten
gibt es noch eine Hand voll weiterer Pechfunde, zum Bei­
spiel aus der etwa 120 000 Jahre alten Fundstätte Inden-Alt­
2 dorf bei Aachen. Da diese Stücke nicht gaschromatogra­
fisch untersucht wurden, ist nicht sicher, ob sie wirklich aus
Birkenpech bestehen. Denn in der Steinzeit hatte man
Klebstoffe auch aus dem Harz von Nadelbäumen gewon­
nen und natürlich vorkommendes Bitumen verwendet. Laut
der gängigen Lehrmeinung sind solche Kleber allerdings
archäologisch weniger von Bedeutung als Birkenpech, weil
sie viel einfacher hergestellt werden können.

So machten es die alten Römer


Die Erkenntnisse über das Neandertaler-Birkenpech stützen
sich also auf sehr wenige Funde. Doch sicher ist: Die Früh­
menschen hatten den Stoff über einen Zeitraum von
150 000 Jahren hergestellt und wohl weniger als Kleber,
sondern als Griffmasse verwendet, um Steinwerkzeuge
besser halten zu können. Was die vereinzelten Pechfunde
des Neandertalers jedoch besonders faszinierend macht, ist
die Frage nach ihrer Entstehung. Birkenpech ist kein Natur­
produkt. Anders als Bitumen lässt es sich nicht aus natür­
3 lichen Vorkommen schöpfen, sondern muss – so der bishe­
rige Wissensstand – in einem aufwändigen Prozess aus
Birkenrinde destilliert werden. Es existieren aber weder
Funde noch Hinweise, um zweifelsfrei zu rekonstruieren,
wie die Menschen der Altsteinzeit das Pech gewonnen
haben. Die ältesten bekannten Nachrichten über eine Her-
stellungsmethode stammen aus einer sehr viel späteren
Epoche – der römischen Antike.
CLAUDIO TENNIE, UNIVERSITÄT TÜBINGEN; MIT FRDL. GEN. VON PATRICK SCHMIDT

Aus den Schriften des antiken Universalhistorikers


Plinius des Älteren lässt sich ableiten, dass die Römer Pech
vor allem aus Nadelhölzern mittels der so genannten Dop­
peltopfmethode produziert haben. Auf dieselbe Weise
stellten sie vermutlich auch Birkenpech her, das ergaben
jüngst Untersuchungen von Martine Regert und Maxime
Rageot an der Université Côte d’Azur in Nizza. Wie funktio­

Spektrum der Wissenschaft  7.20 81

4
niert dieses Verfahren? Holz oder Rinde wird in einem worden, eignet sich also nicht unmittelbar dazu, die Entde­
Behälter aus Ton erhitzt, um das Harz in Form eines sich ckung oder früheste Herstellung von Birkenpech zu erklären.
bildenden Flüssigkeitsgemischs zu entziehen. Das Gemisch Geht man dennoch davon aus, dass die Frühmenschen das
lässt man in einen zweiten Behälter abtropfen. Sobald die Birkenpech unter Tonkuppeln oder in Erdlöchern destillierten,
Flüssigkeit abkühlt, wandelt sie sich in einen dünnflüssigen hat das zwei Konsequenzen – erstens: Die Erzeugung von
Teer um. Dann muss der Teer zu dickflüssigem Pech einge­ Birkenpech war einer der aufwändigsten Prozesse der gesam­
kocht werden. Auch später, im Mittelalter, erzeugten Hand­ ten Altsteinzeit und sicher der komplexeste zur Zeit seine
werker auf ganz ähnliche Weise Pech aus Nadelhölzern und Erfindung vor 200 000 Jahren. Zweitens: Die Neandertaler
Birkenrinde. Dieser thermische Umwandlungsprozess – waren damals schon kognitiv zu einem fortgeschrittenen
eine so genannte Pyrolyse – ist kein banaler Vorgang: Verhalten fähig, das jenes des zeitgleich lebenden anatomisch
Während die Rinde erhitzt wird, muss die Sauerstoffzufuhr modernen Menschen in Afrika weit übertraf.
reduziert werden, damit die austretenden Pflanzensäfte vor Die Faktenlage gibt das allerdings nicht her. Die erstmalige
ihrer Umwandlung nicht verbrennen. Außerdem muss die Herstellung von Birkenpech durch Neandertaler ist für Ar­
Temperatur in den Behältern kontrolliert werden. Pech oder chäologen eine Blackbox. Wir kennen den Ablauf nicht,
Teer herzustellen, ist also ein aufwändiger Prozess, der haben aber das Endprodukt vor uns – aus dem wiederum
einiges an Wissen und Planung erfordert. Rückschlüsse auf den Neandertaler gezogen werden. Als
Es spricht kaum etwas dafür, dass die Neandertaler mit Wissenschaftler befinden wir uns damit in einer ziemlich
einer ähnlichen Methode wie die Römer vorgegangen unangenehmen Situation. Im Jahr 2018 machte sich deshalb
wären. Behälter aus Keramik oder Stein existierten in der eine internationale Forschergruppe, der ich angehöre, unter
Altsteinzeit nicht, geschweige denn Gerätschaften, um die Leitung der Eberhard Karls Universität Tübingen daran, sich
Sauerstoffzufuhr zu regulieren. Die genaue Temperaturkont­ im Rahmen mehrerer Experimente mit diesem Problem zu
rolle dürfte zudem sehr kompliziert gewesen sein. Daher befassen.
haben Archäologen seit den 1980er Jahren verschiedene Das Ziel unserer Versuche war es, Birkenpech mit dem
Experimente angestellt, um auszuprobieren, wie sich Pech geringstmöglichen Aufwand herzustellen. Der Prozess sollte
mit einfachen Mitteln produzieren ließe. nicht in der Erde, sondern oberirdisch und ständig beobacht­
Bei allen diesen Versuchen wurde die Birkenrinde unter bar ablaufen. Wir wollten so herausfinden, ob es eine Technik
Luftausschluss verschwelt. So haben die Forscher die Bir- gibt, die Neandertaler durch Zufall entdeckt haben könnten.
kenrinde in eine Erdgrube gelegt und indirekt erhitzt – durch Wir gingen also entgegen der Annahme vor, dass Pech nur
ein darüber brennendes Feuer (siehe »Wie Archäologen die unter Luftabschluss entstehen kann.
Herstellung von Birkenpech bisher rekonstruierten«, rechts). Dass sich der Kunststoff womöglich auch unter Sauer­
In einem ähnlichen Versuch hoben Archäologen ein kleines stoffzufuhr bildet, darauf lieferten 2016 Studien einen Hin­
Erdloch aus, in das sie brennende Rindenrollen legten. Oder weis, die in einem anderen Zusammenhang angestellt wur­
sie begruben die Rindenrollen unter einem Haufen aus Glut den: Zusammen mit einer Forschergruppe unserer Universität
und Asche. Auch deutlich komplexere Methoden wurden hatte ich untersucht, ob im südlichen Afrika vor ungefähr
getestet: Die Rinde liegt über einem Gefäß im Boden, darü­ 100 000 Jahren Steine auf glühenden Kohlen erhitzt wurden,
ber wird ein Tonkegel geformt und mit brennenden Holz­ um sie für die Werkzeugherstellung vorzubereiten. Dabei
scheiten erhitzt. Im Grunde ähnelt dieses Verfahren bereits hatte ich beobachtet, dass sich an der Oberfläche der Steine
der römischen Doppeltopfmethode. eine Art Holzteer abgelagert hatte.
Das brachte uns auf die Spur. Für unser Experiment sam­
Waren Neandertaler technisch fortgeschrittener melten wir Birkenrinde von Totholz. Wir platzierten die Rin­
als anatomisch moderne Menschen? denröllchen neben einem Stein mit leicht überhängenden
Die meisten dieser Experimente waren erfolgreich. Am Seiten. Dann zündeten wir die Birkenrinde an. Die weiße
Ende kam Birkenpech heraus. Einzig dessen Konsistenz Borke brennt sehr gut – selbst im feuchten Zustand. Deshalb
unterschied sich je nach Herstellungsmethode. Wurde die nutzten Menschen sie in der Steinzeit eventuell auch als
Rinde in einer gefäßähnlichen Struktur erhitzt, entstand natürlichen Anzünder. Als die Rinde nun brannte, kondensier­
eher dünnflüssiger Teer. Vergrub man die Birkenrinde, te ein dünner Film Birkenpech direkt auf dem Stein. Mit einem
sammelte sich eher dickflüssiges Pech an. Zudem variierte Steinwerkzeug kratzten wir die schwarze Masse ab. Bei
die Menge des produzierten Pechs – grob nach folgender diesem Verfahren handelt es sich ebenfalls um eine Pyrolyse,
Regel: je komplexer der Versuchsaufbau, desto größer die doch muss hierbei die Temperatur nicht kontrolliert werden.
gewonnene Menge an Birkenpech. Das gewonnene Pech war klebrig und dickflüssig. Es weist
Die beschriebenen Techniken sind allesamt aufwändig, dieselben mechanischen Eigenschaften auf wie eingekochtes
zeitintensiv und müssen gut geplant werden. Damit sind sie Birkenpech, das unter Luftabschluss hergestellt wurde. Die
wesentlich komplexer als fast alle andere Praktiken der Kondensationsmethode funktioniert jedoch unter steter
Altsteinzeit. Wir kennen keinen ähnlichen Vorgang, bei dem Luftzufuhr, und der Prozess lässt sich beobachten. Das ist der
vor 200 000 Jahren die Temperatur in einer nicht einsehba­ entscheidende Punkt. Daraus folgt, dass die Neandertaler
ren Umgebung kontrolliert werden musste. Das heißt auch, diese Methode durchaus zufällig entdeckt haben könnten –
die Neandertaler könnten diese Methode nicht durch Zufall etwa während sie an der Feuerstelle hockten und ein Stück
entdeckt, sondern müssten sie gezielt erfunden haben. Die brennende Birkenrinde an einen Stein legten, eventuell nach­
Hypothese, solche aufwändigen Verfahren seien genutzt dem sie ein Feuer anzündeten. Das Verfahren lässt sich zu-

82 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Wie Archäologen die Herstellung
von Birkenpech bisher rekonstruierten
Seit den 1980er Jahren haben Forscher erprobt, wie die Neandertaler an ihr
Birkenpech kamen. Alle experimentellen Methoden basieren auf einer Umgebung,
in der das Birkenpech unter reduziertem Sauerstoffgehalt verschwelt. Archäo­
logen um Geeske Langejans und Paul Kozowyk von der Universität Leiden haben
2017 beispielsweise diese drei Verfahren getestet.

1 Pech aus der Asche 2 Rinde in der Grube 3 Kuppel über Rolle
Bei dieser Methode rollten die Die Archäologen gruben ein klei­ Diese Methode ist besonders
Forscher ein Stück Birkenrinde auf nes Erdloch, falteten aus Birken­ aufwändig. Die Archäologen
und fixierten den handgroßen rinde ein Schälchen und legten es gruben wieder ein Loch und plat­
Zylinder mit frischen Holzfasern. in das Loch. Darauf platzierten zierten darin ein tassengroßes
Dann häuften sie Glut und Asche sie eine Rolle aus Birkenrinde und Gefäß aus Birkenrinde. Auf diese
darauf, damit keine Luft an die scharrten glühende Kohlen darü­ breiteten sie einen Rost aus Wei­
Rinde gelangt. Wie die Experimen­ ber. Bei diesem Aufbau mussten denhölzchen aus, dann legten
teure erklären, mussten sie dabei die Forscher weniger Aufmerk­ sie darauf Kiesel und eine Rinden­
besonders das Verhältnis von samkeit auf Temperatur und Luft­ rolle. Anschließend formten sie aus
Asche und Glut im Blick behalten. ausschluss richten. Auch hier feuchter Erde eine Kuppel über
Denn zu viel Hitze verbrennt die tropfte schließlich das Pech aus der Rolle. Darüber legten sie Holz­
Borke; zu viel Asche dagegen der Rindenrolle in das Gefäß ab. scheite und entzündeten ein Feuer.
senkt die Temperatur, und es ent- 100 Gramm Birkenrinde ergaben Schließlich bargen die Archäo­
steht kein Pech. Mit dem Verfah­ 2,4 Gramm weiche Masse. logen 9,6 Gramm Pech, die aus
ren konnten die niederländischen 100 Gramm Birkenrinde entstanden
Wissenschaftler aus 100 Gramm waren.
Birkenrinde ein Gramm relativ
2
hartes Pech gewinnen, das sich Ton oder feuchte
zwischen den Schichten der Erde, um eine Kuppel
zu formen
Birkenrolle ansammelte.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH KOZOWYK, P. ET AL.: EXPERIMENTAL METHODS FOR THE PALAEOLITHIC DRY DISTILLATION OF BIRCH BARK:
brennende
Holzscheite

IMPLICATIONS FOR THE ORIGIN AND DEVELOPMENT OF NEANDERTAL ADHESIVE TECHNOLOGY. SCIENTIFIC REPORTS 7, 2017, FIG. 4
aufgerollte glühende
Birkenrinde Holzkohle und
Asche

Gefäß aus
Birkenrinde

3
1

Weidenstöckchen
und Kiesel für
einen Rost

Die Temperaturen schwankten je nach Verfahren zwischen 250 und mehr als 500 Grad Celsius. Nur in die­
sem Temperaturbereich kam am Ende Birkenpech heraus, wie die Autoren der Studie schreiben.
Mittels der Kondensationsmethode, also des Verbrennens von Birkenrinde neben einem Stein, von dem
das Pech anschließend abgeschabt wird, produzierte das Tübinger Team deutlich weniger Pech: Aus
100 Gramm Rinde kratzte es 0,18 Gramm zusammen. Wie sehr die geringe Effektivität für die Neandertaler
eine Rolle spielte, ist jedoch kaum zu ermessen.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 83


Kaugummi aus der Jungsteinzeit

Birkenpech ist klebrig. Daher gewesen sein oder aber


verwendeten die Menschen der gegen Zahnschmerzen

THEIS JENSEN, UNIVERSITY OF COPENHAGEN


Jungsteinzeit es als Leim – etwa geholfen haben. Für
um Steinspitzen an Holzschäften Letzteres sprechen eini-
zu fixieren oder Pfeile mit Federn ge antiseptisch wirken­
zu besetzen. Doch unsere Vorfah­ de Inhaltsstoffe.
ren nutzten den Stoff längst nicht Den Genetikern um
nur als Kleber, wie ein Stück Bir­ Jensen gelang es
kenpech von der dänischen Insel erstmals, das Erbgut
Lolland verdeutlicht. Auf dem einer Birkenpechkauerin 1 cm
unförmigen Klumpen hatte offen­ nahezu vollständig aus
bar vor 5700 Jahren eine Jung­ der Probe zu extrahie­
steinzeitfrau gekaut. Dafür spre­ ren. Anhand der Sequenzdaten Die Paläogenetiker stießen im
chen jedenfalls Zahnabdrücke in vermuten die Forscher, dass die Birkenpech-Kaugummi auch auf
dem ein Zentimeter großen Birken­ Frau schwarze Haare, dunkle Haut Fragmente des Erregers Porphyro-
pechklumpen, den das Team um und blaue Augen hatte. Typische monas gingivalis, der charakteris­
Theis Jensen von der Universität DNA-Abschnitte erinnern stark an tisch für eine schwere Form der
Kopenhagen analysiert hat. solche von Sammler-und-Jäger- Parodontitis ist, sowie auf Teile des
Schon länger vermuten Fach­ Kulturen aus Kontinentaleuropa – Epstein-Barr-Virus. In der Probe
leute, dass Menschen im Neolithi­ demzufolge hätten sich vor Ort enthaltene DNA-Spuren erlauben
kum Birkenpech als Kaugummi Nachkommen von Wildbeuter-Kul­ außerdem Rückschlüsse auf die
nutzten. Das könnte zum einen turen parallel zu den Ackerbau- Ernährung der Frau: Sie scheint
eine Möglichkeit gewesen sein, Gesellschaften jener Zeit halten unter anderem Haselnüsse und
den Kleber weich und formbar zu können. Hellere Haut habe sich in Stockente gegessen zu haben,
halten. Andererseits könnte das diesen Breitengraden offenbar erst bevor sie auf dem Birkenpech
Kauen auch nur ein Zeitvertreib später durchgesetzt. herumkaute.

dem leicht nachahmen, was es ermöglicht, Pech gezielt in planerischen Könnens gewesen sein muss. Davon zeugt
größeren Mengen zu produzieren. Wird mit mehreren insbesondere der Umstand, dass sie überhaupt in der Lage
Steinen und brennenden Rindenrollen zugleich gearbeitet, waren, Birkenpech zu fertigen und zu benutzen. Unser
kann innerhalb weniger Stunden genügend Pech zusam­ Ergebnis hat für die Archäologie der Altsteinzeit zudem
mengekratzt werden, um einen zentimetergroßen Klumpen ganz allgemeine Konsequenzen. Der Vergleich von ähnli­
wie aus Königsaue zu formen. chen Objektklassen, die verschiedene Menschenformen
Die Annahme, Birkenpech könne nur unter Luftabschluss einst genutzt haben, sagt demnach noch nichts darüber
hergestellt werden, ist damit widerlegt. Und mit diesem aus, wie sie die Objekte erzeugt haben. Viele Wege führen
Ergebnis lassen sich die Funde neu deuten. Zwar wissen bekanntlich nach Rom – ähnlichen Objekten liegen wo­
wir immer noch nicht, wie die Neandertaler an ihr Pech möglich sehr unterschiedliche Herstellungsmethoden zu
gekommen sind, aber sie müssen es nicht zwingend durch Grunde. Auf die Fähigkeiten der Urheber lässt sich also nur
ein komplexes Verfahren gewonnen haben. Denkbar wären rückschließen, wenn die Verfahren sicher bekannt sind.
weiterhin verschiedene Szenarien. Vielleicht hatten die Das ist beim Birkenpech der Neandertaler nicht der Fall –
Neandertaler zunächst die Kondensationsmethode entdeckt zumindest noch nicht. 
und sie dann zu einer unterirdischen Herstellungstechnik
fortentwickelt. Ebenso wäre es möglich, dass die Frühmen­ QUELLEN
schen die Entstehung von Birkenpech mehrfach beobachtet
Kozowyk, P. et al.: Experimental methods for the Palaeolithic
hatten und jeder Entdecker danach eine eigene Art und
dry distillation of birch bark: implications for the origin and deve­
Weise ausprobierte. Oder: Es hatte in der Altsteinzeit nie lopment of Neandertal adhesive technology. Scientific Reports
eine unterirdische Methode zur Pechherstellung gegeben. 7, 2017
Eine Antwort darauf gibt es derzeit nicht. Rageot, M. et al.: Birch bark tar production: Experimental and
Deshalb steht fest: Über den Kognitionsaufwand, den biomolecular approaches to the study of a common and widely
Neandertaler für die Birkenpechherstellung tatsächlich used prehistoric adhesive. Journal of Archaeological Method
aufbringen mussten, lässt sich auch auf Grund der neuen and Theory 26, 2019
Erkenntnisse keine Aussage treffen. Wir wissen aber, Schmidt, P. et al.: Birch tar production does not prove Nean­
dass die materielle Kultur der Neandertaler das Ergebnis derthal behavioral complexity. PNAS 116, 2019

84 Spektrum der Wissenschaft  7.20


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ZEITREISE
Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren – aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

»UNERHÖRT« GUT ERHAL-


TENES DINOSAURIERFOSSIL
1920 VERLIERT DIE MILCHSTRASSE
AN ENERGIE UND MASSE?
1970
»Ein höchst merkwürdiges Riesentier aus »Die von Joe Weber in Maryland gemessenen Ausschläge
der Vorzeit ist in Frankfurt a. M. im der Schwerewellenapparaturen zeigen eine Häufigkeitsver-
Senckenbergischen Museum aufgestellt teilung, die darauf schließen läßt, daß das Zentrum der
worden. Auf der einen Seite blickt man Milchstraße als Quelle einer starken Gravitationsstrahlung
in die offene Brust- und Bauchhöhle. fungieren muß. Weber errechnete, daß die Gravitations-
Auf dem Rücken schmiegt sich strahlung des Milchstraßenzentrums pro Hertz Frequenz-
die eingetrocknete Haut überall bandbreite einen Energieverlust darstellt, der dem Verlust
dicht um das Knochengerüst. von etwa 0,2 Sonnenmassen pro Hertz und Jahr ent-
Gut erhaltene Skelette der Dino- spricht. Wenn nun die Milchstraße derart an Masse ver-
saurier sind in zahlreichen Muse- liert, so muß sich dies auf die elliptischen Bahnen der
en aufgestellt, aber die Haut ei- Sterne auswirken. Das bedeutet, daß gewisse Sterne
nes Dinosauriers – das ist etwas immer mehr nach außen wandern und schließlich in den
so Unerhörtes. Aus der Leibes- intergalaktischen Raum abwandern.« Die Umschau 14, S. 454
höhle holte der Präparator [auch]
die Reste der letzten Nahrung,
zerkautes Pflanzen- TEXTILFASER AUS LAVAGESTEIN DES ÄTNA
material, kohlig ver- »In einem Industriewerk in Santa Teresa Riva bei Messina
färbt.« Die Umschau 27, Dinosaurierfossil mit werden Textilfasern aus der Lava des Aetna hergestellt.
S. 433–434 versteinerter Haut. Diese wird zerkleinert, dann bei 1900 Grad verflüssigt und
von einer Zentrifuge zu haarartigen Fäden geformt. Diese
elastischen Fasern werden als «Lave-Wolle» bezeichnet
BERG BEI LORCH und zeichnen sich durch absolute elektrische, akustische
BRICHT ZUSAMMEN und thermische Isolationsfähigkeit aus. Sie werden [im]
»An der Mündung der Wisper in den Rhein Haus- und Schiffsbau als Isoliermaterial und Feuerschutz
liegt Lorch am Fuße des Rolling, des wan- verwendet, das sie bis zu 1100 Grad unverändert bleiben.«
dernden Berges. Geologen beginnen, sich Naturwissenschaftliche Rundschau 7, S. 130
mit dem einst so ruhigen, heute sich so toll
gebärdenden Berg zu beschäftigen. [Er] schiebt
sich täglich um ein merkbares Stück vorwärts. Immer TELEFONIEREN PER LASERSTRAHL
neue Steinmassen treten aus dem Berginnern und stürzen »In der Sprache des Nachrichtentechnikers ist der Laser ein
mit donnerartigem Getöse zu Tal. Niemand weiß bis jetzt, optischer Hochfrequenzsender. Er sendet eine Trägerwelle
ob Grundwasser oder starke Niederschläge die Ursache in Form eines scharf gebündelten Lichtstrahles hoher
dieses plötzlichen Vorganges sind.« Kosmos 7, S. 183 Intensität aus, die mit einer Information (Sprache, Musik,
Bild) moduliert werden kann. Die extrem hohe Trägerfre-
quenz bei der
EIN RÄUBER, DER SEINE optischen Übertra-
OPFER AUSSAUGT gung ergibt eine
»Der Ameisenlöwe ist die Larve der libellenähnlichen Bandbreite, die
Ameisenjungfer (Myrmeleon formicarius L.). An Waldrän- ausreichen würde,
dern und anderen trockenen Plätzen baut der Ameisenlö- eine Milliarde
we seine Fangtrichter. In der Mitte liegt der Räuber mit Telephongespräche
dem Hinterleib im Sande verankert auf der Lauer, nur gleichzeitig zu
seine messerscharfen Zangen ragen aufgesperrt aus dem übertragen. Beim
Sand hervor. Wehe der Ameise, die die steile Trichter- Fernmeldetechni-
wand hinabrutscht. Sofort wird sie von dem Räuber mit schen Zentralamt in
den Zangen gepackt und ausgesaugt. Die leeren Chitin- Darmstadt [werden]
Sendestation einer
hüllen seiner Opfer schleudert der Ameisenlöwe aus dem Übertragungsversu-
Laserversuchs­
Trichter, um dessen Rand sich ein Kranz von ausgesaug- che ausgeführt.« strecke, Darmstadt.
ten Ameisenleichen bildet.« Kosmos 7, S. 181-182 Die Umschau 14, S. 454

86 Spektrum der Wissenschaft  7.20


FREISTETTERS FORMELWELT
DIE REGEL, DER
DIE WELT GEHORCHT
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Man braucht nur vier Symbole, um eines der


grundlegendsten Prinzipien der Natur darzustellen.
FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

Neben dem Verhalten von Licht beschreibt es


auch den effizientesten Weg für Rettungsschwimmer.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den


»Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1736706

D
ie Vorlesung »Theoretische Physik 1« hat mich in Angenommen, jemand möchte eine ertrinkende
meinem Studium am meisten sowohl fasziniert Person retten. Wie kommt man am schnellsten vom
als auch gefordert. Selbst wenn die dazugehörige Strand zu ihr ins Meer? Der kürzeste Weg wäre eine
Mathematik – zumindest für mich – schwer zu gerade Linie. An Land ist man jedoch meist schneller
verstehen war, beeindruckten mich die damit beschrie- als im Wasser. Es kann sich daher lohnen, ein wenig
benen Erkenntnisse. Ganz besonders ist mir eine For- länger am Strand zu laufen, um die Zeit im Meer zu
mel im Gedächtnis geblieben, die auf dem Umschlag verkürzen. Rennt man zu lange an Land, verliert man
meines Lehrbuchs abgebildet war: den gewonnen Vorsprung wieder. Es gibt einen optima-
len Punkt, an dem man ins Wasser eintauchen sollte,
um die Zeit zu minimieren.
Genauso bewegt sich Licht von einem Medium ins
andere. Die genannten Beispiele sind aber nur Spezial-
fälle des allgemeineren hamiltonschen Prinzips. Man
Nur vier simple Symbole – und trotzdem steckt darin kann jeder Bewegung eine Wirkung zuordnen. Um
ein erstaunlich großer Teil der theoretischen Physik. diese zu berechnen, benötigt man die so genannte
S entspricht dabei der so genannten Wirkung, und der Lagrange-Funktion, welche die Differenz aus kineti-
griechische Buchstabe δ symbolisiert die mathemati- scher und potenzieller Energie darstellt. Von allen
sche Operation der Variation. In Worten übersetzt möglichen Bewegungen wird in der Natur diejenige
besagt die obige Formel: »Die erste Variation der Wir- realisiert, bei der die Wirkung einen Extremwert an-
kung verschwindet«, was Physiker als hamiltonsches nimmt. Oft (aber nicht immer) ist das der kleinstmögli-
Prinzip bezeichnen. che Wert, weswegen das hamiltonsche Prinzip auch als
Die Gleichung beschreibt das Verhalten dynami- »Prinzip der kleinsten Wirkung« bekannt ist.
scher Systeme, etwa die Bewegung eines Teilchens im

G
Lauf der Zeit. Solche Probleme kann man ganz klas- enau das beschreibt die elegante Formel: In der
sisch mit den Gesetzen der newtonschen Mechanik Natur treten nur dynamische Zustände auf, bei
lösen. Das 1834 vom irischen Physiker und Mathemati- denen die Variation der Wirkung verschwindet –
ker William Hamilton formulierte Prinzip ist dazu eben- was aus mathematischer Sicht bedeutet, dass sie
so in der Lage, geht aber noch weit darüber hinaus. einen Extremwert annimmt. Aus diesem Prinzip kann
Schon lange vor Hamilton hatte der französische man die gesamte klassische Mechanik ableiten; es lässt
Gelehrte Pierre de Fermat im 17. Jahrhundert ein ähnli- sich jedoch genauso auf die Quantenmechanik und die
ches Gesetz hergeleitet. Damals wollte er verstehen, Relativitätstheorie anwenden.
wie Licht sich bewegt, wenn es von einem Medium in Ich war damals, am Anfang meines Studiums,
ein anderes wechselt. Tritt ein Lichtstrahl zum Beispiel extrem beeindruckt, dass vier Symbole ausreichen, um
von der Luft aus in Wasser ein, wird er gebrochen, das ein so fundamentales Verhalten der Natur zu beschrei-
heißt, er ändert seine Richtung. Aber welchen Weg legt ben. Natürlich braucht man am Ende doch sehr viel
er dabei zurück? Fermats Lösung: Licht nimmt immer mehr Mathematik, wenn man daraus alle Details ablei-
die Strecke mit der kürzesten Laufzeit. Das muss nicht ten und verstehen will. Aber die Eleganz des hamilton-
zwingend der minimalen Strecke entsprechen. schen Prinzips fasziniert mich noch heute.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 87


88
Spektrum der Wissenschaft  7.20
REZENSIONEN

KONINKLIJKE BIBLIOTHEEK DEN HAAG (ADRIAEN COENEN: VISBOECK, MS. 78 E 54, F. 205 V); AUS LEWIS-JONES, H.: DAS BUCH DES MEERES; MIT FRDL. GEN. DES DUMONT BUCHVERLAGS
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KULTUR William Turner (1775–1851) oder des


weniger bekannten Marinemalers
PHYSIK
DURCH DIE AUGEN William Wyllie (1851–1931). Zudem KOMPAKTES
DER SEELEUTE stellt er Werke weitestgehend unbe­ FÜR FACHLEUTE
kannter Personen vor, etwa des Fi­
Dieser Bildband versammelt schers Gerrit Westerneng (1858–1959), Eine kurze Abhandlung über die
Schiffstagebücher und Kunstwerke der sich an einer niederländischen Schleifenquantengravitation.
von Seefahrern aus dem 14. Jahr-
hundert bis heute – eine beeindru-
ckende Perspektive auf die Welt
Arktis-Expedition beteiligte, welche
zum Ziel hatte, die Spuren des nieder­
ländischen Seefahrers Willem Barents
 Seit fast 100 Jahren bemühen sich
theoretische Physiker, eine einheit­
liche Theorie für die gesamte Physik zu
der Meere.
(1550–1597) nachzuzeichnen. In dieser finden. Die elektromagnetische,

 An einem Samstagabend im Jahr


2005 trieb die Britin Roz Savage
etwa 800 Kilometer vor der Westküste
Hinsicht ist der Untertitel des Buchs
etwas irreführend, denn nicht nur
Westerneng, auch viele andere im
schwache und starke Wechselwirkung
können sie als Quantentheorien im so
genannten Standardmodell der Teil­
Afrikas in einem Ruderboot. Ihr Ziel als Buch porträtierte Personen dürften chenphysik vereinigen. Lediglich für
Teilnehmerin des Ruderwettbewerbs den meisten Lesern nicht be­ die Gravitation ist das bisher nicht
»Atlantic Rowing Race«: die Karibik­ kannt sein. gelungen. Der bekannteste Ansatz für
insel Antigua. 507 Jahre zuvor und Gleichwohl lohnt die Lektüre. Denn die große Zusammenführung sämt­
einen Tag früher in der Woche, an die fremden Biografien und die Auf­ licher fundamentaler Wechselwir­
einem Freitag, hatte der portugiesi­ zeichnungen von »kleinen Leuten« kungen ist die Stringtheorie. Daneben
sche Seefahrer Vasco da Gama von gibt es noch den Ansatz der Schleifen­
seinem Schiff aus fern am Horizont Huw Lewis-Jones quantengravitation, der sich (im
Land entdeckt – und damit sein Ziel, DAS BUCH DES ­Unterschied zur Stringtheorie) dadurch
die Reise nach Indien, vollendet. MEERES auszeichnet, dass Raum und Zeit
Diese beiden Begebenheiten liegen Tage- und Skizzen- selbst quantisierte Größen sind. Der
bücher großer
zeitlich und räumlich weit auseinander. Seefahrer Unterschied zu einer kontinuierlichen
Genauso weit und noch ein bisschen Aus dem Engli- Raumzeit macht sich in diesem Modell
weiter spannt der Autor dieses Buchs, schen von Annika allerdings nur bei Entfernungen
Klapper und Nina
Huw Lewis-Jones, seine Darstellung Goldt ­vergleichbar der Planck-Länge be­
diverser Tage- und Skizzenbücher von DuMont, Köln merkbar, also bei etwa 10 –35 Meter –
seefahrenden Männern und Frauen. 2020 das ist ein Wert, der an der 35. Stelle
Herausgekommen ist ein lesens- und 304 S., € 40,– nach dem Komma steht. Und von
sehenswerter Bildband, der die Auf­ keinem der beiden Ansätze weiß man,
zeichnungen von 61 Personen bündelt. lassen wie ein Kontrastmittel die ob sie den richtigen Weg zur großen
Zeitlich eingerahmt vom chinesischen Verdienste bedeutender Seefahrer und Vereinigung weisen.
General Zhen He (1371–1435) und Roz Maler noch deutlicher hervortreten.
Savage, gehören dazu berühmte
Persönlichkeiten wie Francis Beaufort
So haben Westernengs Zeichnungen
von Robben, Schiffen und Eisbergen Gerade einmal
(1774–1857), der Begründer der noch
heute gültigen Windstärkenskala;
etwas Kindliches, während Wyllies
lebendige Gemälde den Betrachter
92 kleinformatige
William Bligh (1754–1817), Kapitän der regelrecht aufs Meer hinaus verset­ Seiten benötigen
»Bounty«; oder Admiral Nelson (1758–
1805).
zen. Dieser Gegensatz zieht sich durch
den gesamten Band und macht des­ die Autoren
Der Bildband präsentiert jedoch sen Reiz sicherlich zum Großteil aus.
nicht nur Dokumente von professionel­ Da im Fokus der Darstellung die Die Physiker Rodolfo Gambini von
len Seeleuten, sondern auch von zu Skizzenbücher liegen, beschränken der Universidad de la República in
See fahrenden »Laien«, etwa die sich die Personenbeschreibungen auf Uruguay und Jorge Pullin von der Loui­
wunderbaren Bilder des Künstlers je eine Seite. Das ist mitunter zu siana State University in den USA
wenig, um den Menschen tatsächlich versuchen sich in diesem Buch an
näherzukommen – insbesondere, einer kurzen Einführung in die Schlei­
Der niederländische Fischer Adriaen wenn darüber hinaus nicht viel Weite­ fenquantengravitation, jenes Gebiet,
Coenen schuf im 16. Jahrhundert res über die jeweiligen Akteure zu auf dem sie beide arbeiten. Gerade
ein Visboek (»Fischbuch«) mit erfahren ist. Alles in allem lässt sich einmal 92 kleinformatige, aber groß
Bildern diverser Meerestiere – einen das Buch aber empfehlen. bedruckte Seiten benötigen sie dafür
800 Seiten dicken Wälzer, den er und spannen dennoch einen weiten
regelmäßig im Rathaus von Den Der Rezensent Tim Haarmann ist Geograf Bogen: Nach kurzen Kapiteln über
Haag ausstellte. und arbeitet in Bonn. Schwerkraft und Quantentheorie

Spektrum der Wissenschaft  7.20 89


REZENSIONEN
erläutern sie die Konzepte der
Schleifenquanten­gravitation und
es oft schwierig, sich an A, B und C zu
erinnern und daran, was bei deren Frauen sind gesund-
diskutieren dann deren Vorhersagen
hinsichtlich Schwarzer Löcher und
Arbeiten der Punkt war. Das hätte sich
gewiss auch anders lösen lassen. heitsbewusster,
anderer kosmologischer Phänomene.
Weitere Kapitel handeln von den
Ein echter Fehler hat sich ebenfalls
eingeschlichen: Die allgemeine Relati­
Männer treiben oft
möglicherweise beobachtbaren Kon­
sequenzen, wenn diese Theorie richtig
vitätstheorie liefert für die Lichtablen­
kung am Sonnenrand nicht den Wert
mehr Sport
wäre, und von einer Weiterentwick­ 1 Grad, wie im Buch behauptet, son­
lung der Theorie, die häufig als »Spin- dern nur etwa 1,8 Bogensekunden, gründet. Gemeinsam mit der Wissen­
Schaum« bezeichnet wird. was rund ein 2000-stel davon ist. Das schaftsjournalistin Stefanie Schmid-
Das Büchlein ist bislang nur in ist aber der einzige echte Patzer, der Altringer gibt sie in dem Werk einen
englischer Sprache erschienen. Ver­ im Werk aufgefallen ist. Und ange­ Einblick in die verschiedenen Facetten
mutlich ist dem Verlag klar, dass es sichts der vielen Größenordnungen, der geschlechtssensiblen Medizin.
sich an eine kleine, speziell vorgebilde­ um die die Effekte der Schleifen­ Dabei geht es nicht nur um biologi­
te Leserschaft wendet. Um dem Text quantengravitation zu klein sind, um sche Unterschiede der Geschlechter,
folgen zu können, sollte man zumin­ ex­perimentell nachweisbar zu sein, sondern ebenso um soziokulturelle
dest Grundvorlesungen zur Quanten­ ist der Faktor 2000 wirklich nicht groß. Faktoren. Denn die gesellschaftlichen
feldtheorie im Physikstudium gehört Der Rezensent Stefan Gillessen ist wissen- Vorstellungen und Prägungen von
haben. Eine breitere Leserschaft wird schaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-­ Frauen wie Männern wirken sich auf
eindeutig nicht angesprochen. Institut für extraterrestrische Physik. die Gesundheit aus. So gelten Frauen
Angehenden Doktoranden in der gemeinhin als gesundheitsbewusster,
theoretischen Physik bietet das Buch gehen häufiger zum Arzt und ernähren
eine kompakte und effiziente Einfüh­
rung à la »Was steckt hinter dem
MEDIZIN sich ausgewogener, während Männer
oft mehr Sport treiben.
Schlagwort Schleifenquantengravitati­ DIE UNTERSCHIEDE Zunächst befassen sich die Auto­
on, und wäre das eventuell ein Thema, IM BLICK rinnen mit den Gemeinsamkeiten und
mit dem ich mich tiefer beschäftigen Unterschieden, die die Gesundheit
Die Gendermedizin untersucht,
möchte?«. In diesem Sinne kann es gut von Männern und Frauen beeinflus­
wie Geschlechterunterschiede die
als Entscheidungshilfe dienen. sen. Dabei stützen sie sich zum Teil auf
Gesundheit beeinflussen.
Leider ist die Lektüre an manchen wissenschaftliche Studien, die im
Stellen etwas mühsam, denn Gambini
und Pullin zitieren Facharbeiten und
deren Ergebnisse stets ausgesprochen
 Frauen und Männer erkranken auf
unterschiedliche Weise: Ihre Risiko­
faktoren unterscheiden sich ebenso
angehängten Quellenverzeichnis
aufgeführt sind. Wiederholt treffen sie
aber auch Aussagen, die nicht evidenz­
fair, in dem sie die Namen aller betei­ wie typische Symptome und das basiert und zum Teil sogar falsch sind.
ligten Wissenschaftler(innen) nennen. Ansprechen auf bestimmte Therapien. In einer esoterisch angehauchten
Das macht den Text etwas holprig, In der medizinischen Forschung gelten Gleichsetzung des weiblichen Zyklus
denn es bringt Sätze hervor wie: jedoch meist Männer als Standard. mit dem Leben einer Frau ordnen sie
»Autoren A, B und C haben das wichti­ Denn wenn Wissenschaftler neue hier den Eisprung der »Lebensmitte bis
ge Ergebnis erhalten, dass … D, E und Medikamente entwickeln, testen sie um den 40. Geburtstag« zu. Angeblich
F konnten hingegen kurz darauf zei­ die entsprechenden Arzneistoffe oft erreichten hier »Lust und Fruchtbar­
gen, dass …« Insbesondere, wenn die nur an männlichen Probanden, und keit […] ihren Höhepunkt«. Zahlreichen
Autoren auf bereits genannte Fakten selbst in den präklinischen Tierstudien Studien zufolge nimmt die Fruchtbar­
später noch einmal zurückkommen, ist meiden sie weibliche Versuchstiere, da keit in diesem Alter jedoch bereits
deren Zyklus das Ergebnis beeinflus­ stark ab.
sen könnte. »Um Frauen und Männer Stellenweise gleicht die erste
Rudolfo Gambini, gleich gut zu behandeln, muss man Buchhälfte einem pseudowissen­
Jorge Pullin
ihre Ungleichheit anerkennen und schaftlichen Diätratgeber. Zwar kriti­
LOOP QUANTUM
GRAVITY FOR ganz konkret erforschen«, davon sind sieren die Autorinnen einerseits den
EVERYONE die Autorinnen des vorliegenden »Selbstoptimierungswahn«, dem aus
World Scientific, Werks überzeugt. ihrer Sicht viele Frauen anhängen,
Singapur 2020
Vera Regitz-Zagrosek ist Gründungs­ geben unmittelbar darauf aber eben­
92 S., € 27,71
direktorin des Berliner Instituts für falls Tipps zur Selbstoptimierung,
Geschlechterforschung in der Medizin unterstützt von Slogans wie »Push up
an der Charité und hat sowohl die your life!«. Überdies empfehlen sie
deutsche als auch die internatio­nale ihren Leserinnen, Homöopathie,
Gesellschaft für Gendermedizin ge­ Traditionelle Chinesische Medizin oder

90 Spektrum der Wissenschaft  7.20


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Die zweite Hälfte des Buchs wid­ Auch spezielle »Frauenthemen«


Vera Regitz-Zagro- met sich detailliert und medizinisch beleuchten die Autorinnen. Sie infor­
sek, Stefanie
Schmid-Altringer fundiert verschiedenen Erkrankungen, mieren beispielsweise verständlich
GENDERMEDIZIN die sich bei Männern und Frauen über Entstehung, Vermeidung und
Warum Frauen eine jeweils unterschiedlich äußern. Das Abbruch von Schwangerschaften
andere Medizin
brauchen bekannteste Beispiel ist der Herzin­ sowie über Vor- und Nachteile einer
Scorpio, München farkt. Als typisch geltende Symptome Hormontherapie in der Postmeno­
2020 wie stechende Brustschmerzen treten pause. Bei den meisten erläuterten
278 S., € 22,– vorwiegend bei Männern auf, während Krankheitsbildern gehen sie überdies
Frauen oft unspezifische Symptome darauf ein, wie sich eine Schwanger­
wie Luftnot und Übelkeit wahrneh­ schaft jeweils auf Verlauf und Therapie
men. Deshalb werden Herzinfarkte bei auswirkt.
Männern in der Regel schneller er­ Der zweite Teil des Werks vermittelt
kannt, was die Überlebenschancen somit hilfreiche Informationen zur
»andere wunderbare Gesundheits­ verbessert. Geordnet nach Organ­ ­Gendermedizin, die Frauen dabei
wege« auszuprobieren, sich dabei systemen gehen die Autorinnen auf unterstützen können, eigene Sympto­
vom eigenen »Bauchgefühl« leiten zu eine Vielzahl an Krankheiten ein, me besser zu verstehen und einzuord­
lassen und medizinische Autoritäten stellen jeweils die Besonderheiten bei nen. Auch für Gespräche mit Ärztin­
und Leitlinien kritisch zu hinterfragen. Frauen heraus, erläutern Ursachen, nen und Ärzten kann gendermedizini­
Zu Recht kritisieren sie, die evidenz­ Diagnostik und therapeutische Mög­ sches Wissen nützlich sein, etwa um
basierte Medizin (im Buch unglück­ lichkeiten und geben Tipps, was gezielt nach bestimmten Therapien zu
licherweise als »Schulmedizin« be­ Frauen für ihre Gesundheit tun kön­ fragen. Dank der Gliederung nach
zeichnet) habe viele ihrer Erkenntnisse nen. Die meisten Tipps sind zwar nicht Organsystemen eignet sich das Buch
vor allem an Männern gewonnen. neu – nicht rauchen, ausreichend weiterhin als Nachschlagewerk.
Frauen deshalb jedoch zu Methoden bewegen, Symptome ärztlich abklären
zu raten, denen jegliche Evidenz fehlt, lassen – haben aber tatsächlich das Die Rezensentin Elena Bernard ist Wissen-
überzeugt nicht. Potenzial, die Gesundheit zu fördern. schaftsjournalistin in Dortmund.

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REZENSIONEN
PHILOSOPHIE Erläuterung, weshalb die globale
Verteilung von Ressourcen, um Treib­
Niederberger halten dagegen, dass die
Demokratie bessere Voraussetzungen
VERURSACHER hausgasemissionen zu reduzieren biete als andere Staatsformen, um sich
UND LEIDTRAGENDE beziehungsweise sich an den Klima­ multinational und verbindlich auf ge­
wandel anzupassen, nicht unabhängig rechte Lösungswege zu verständigen.
Die Lasten des Klimawandels sind voneinander erfolgen sollte. Und für Angesichts des komplexen Inhalts
sehr ungleich verteilt. Wie damit den Großteil der Leser völlig neu und der unterschiedlichen Argumenta­
umgehen? Eine philosophische
dürfte die Frage sein, ob kausale tionsmuster in dem Band ist es überaus
Betrachtung.
Verantwortung automatisch mit hilfreich, dass Ruben Langer eine kurze

 »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr


uns die Zukunft klaut«, so klang es
im Jahr 2019 immer wieder freitags
moralischer Verantwortung einher­
geht. Lässt sich eine weitgehend
sinnfreie, ressourcenvernichtende
Zusammenfassung liefert sowie die
Folgebeiträge einordnet. Dies sowie das
Glossar am Ende des Buchs ermögli­
auf den Straßen. Mit Slogans wie Handlung wie eine Spritztour mit dem chen auch solchen Lesern eine Gewinn
diesem bringt die Bewegung »Fridays Verbrenner-Pkw moralisch verurteilen, bringende Lektüre, die kein geisteswis­
for Future« ihre Kritik an politischen wenn sie lediglich dann zum Problem senschaftliches Studium absolviert
Entscheidern auf den Punkt, die sich wird, sobald viele Menschen dies tun? haben. Anstrengend bleibt es dennoch.
nach wie vor schwer damit tun, effek­ Dafür sorgen außer dem Inhalt die
tive Lösungsstrategien zu beschließen, Jan Gehrmann, langen Sätze und das hohe sprachliche
um mit der Herausforderung Klima­ Ruben Langer, Niveau. Zudem tauchen zahlreiche
Andreas Niederber-
wandel umzugehen. ger (Hg.) Fußnoten und Referenzen auf.
Natürlich ist den meisten Demons­ KLIMAWANDEL Zuvorderst richtet sich das Werk an
trierenden bewusst, dass eine derart UND ETHIK ein Fachpublikum. Das ist schade, denn
verkürzte Kritik den komplexen Sach­ mentis, Paderborn während über die geophysikalischen
2020
zwängen nicht gerecht wird, denen und politischen Facetten des Klimawan­
255 S., € 27,94
sich Staatsmänner und -frauen ausge­ dels relativ viel Populärwissenschaftli­
setzt sehen. Doch welche Verantwor­ ches erscheint, existiert zu den philoso­
tung haben führende Politiker ange­ phischen Aspekten vergleichsweise
sichts des menschengemachten wenig allgemein verständliche Literatur.
Klimawandels und seiner zahlreichen Die Rezensentin Maren Tiemann ist promo-
Folgeprobleme? Warum ist es so Zu derartigen Themen haben Klima­ vierte Biologin und Wissenschaftsjournalistin
schwer, tragfähige Lösungen dafür zu ethiker und Philosophen wie der Brite in Bonn.
finden? Und ist die Demokratie als John Broome oder die US-Amerikaner
Staatsform überhaupt in der Lage, Dale Jamieson und Henry Shue bereits
einer so vielschichtigen Herausforde­
rung zu begegnen? Eine ausführliche
in den 1990er Jahren wegweisende
Artikel verfasst. Übersetzt sind diese
ÖKOLOGIE
Auseinandersetzung mit solchen Artikel ebenso in den Sammelband PARADIESISCHE
Fragen bietet der Sammelband »Klima­ eingeflossen wie neuere Beiträge der WILDGÄRTEN
wandel und Ethik«, zu dem insgesamt deutschen Herausgeber, des Philoso­
Die Biologen Bruno P. Kremer und
neun Autorinnen und Autoren beige­ phieprofessors Andreas Niederberger
Klaus Richarz geben allen Interes-
tragen haben – und zwar ausnahmslos und seiner Mitarbeiter Jan Gehrmann
sierten das Rüstzeug an die Hand,
Personen, die darüber forschen und und Ruben Langer. Weil die einzelnen
naturnahe Biotope zu schaffen.
lehren. Kapitel unter unterschiedlichen zeit­
In neun Kapiteln analysieren die
Verfasser zahlreiche Konfliktlinien, die
mit dem Klimawandel zusammenhän­
lichen und geopolitischen Rahmen­
bedingungen entstanden sind, spie­
geln sie zahlreiche Eindrücke und
 Mit Bruno P. Kremer möchte man
wandern gehen und sich die Natur
erklären lassen. Der Biologe ist eine Art
gen. Einige davon sind offensichtlich. Sichtweisen wider. Dies erklärt, wa­ Natur-Universalgelehrter, der mit beein­
Etwa, dass die älteren Generationen rum die Autoren teils zu widersprüch­ druckend vielen Publikationen und
einen Großteil der Treibhausgas­ lichen Schlüssen gelangen. Dale umfassendem naturkundlichem Fach­
emissionen zu verantworten haben, Jamieson etwa vertritt die Ansicht, wissen aufwarten kann. Kremer hat
die jüngeren aber mit deren Konse­ unser ökonomisches Wertesystem enorm viele Bücher geschrieben, etwa
quenzen werden leben müssen. Ähn­ eigne sich nicht dafür, angemessen über Kulturlandschaften, über Gewäs­
lich gut bekannt sind Konflikte zwi­ auf die Herausforderungen des Klima­ ser, über die Eifel, über Mikroskopie
schen Staaten, die mehr oder weniger wandels zu reagieren. Dies betreffe und Laborarbeit, über Bäume und
stark zum Klimawandel beitragen den Kern der Demokratie, weshalb Sträucher, den Lebensraum Küste,
beziehungsweise von dessen Folgen man konsequenterweise über alterna­ Schmetterlinge und Bienen – um nur
betroffen sind – oft in umgekehrtem tive Regierungsformen nachdenken einige seiner Werke zu nennen. Man
Verhältnis. Komplexer wird es bei der müsse. Jan Gehrmann und Andreas kommt kaum umhin, Kremer ein wenig

92 Spektrum der Wissenschaft  7.20


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zu beneiden: Wer sich ein so breit Garten sieht um einiges »unordentli­


gestreutes Wissen erarbeitet hat, Bruno P. Kremer, cher« aus als einer mit penibel auf drei
Klaus Richarz
muss mit einem ganz anderen Blick TIERE IN MEINEM Zentimeter gestutztem Zierrasen, ist
durch die Natur gehen. Liest man GARTEN aber ökologisch sehr viel wertvoller
seinen neuen Band »Tiere in meinem Wertvolle Lebens- und dürfte jenen Tieren einen Lebens­
räume für Vögel,
Garten«, den er zusammen mit dem Insekten und raum bieten, die Kremer im zweiten
Biologen Klaus Richarz geschrieben andere Wildtiere Buchteil mit ihren spezifischen Stand­
hat, kann man ein Stück weit daran gestalten ortansprüchen beschreibt. Vom
teilhaben und gleichzeitig den eigenen Haupt, Bern 2020 inzwischen weithin bekannten Insek­
288 S., € 29,90
Garten naturnäher, ökologischer und tenhotel über Brutkästen für Fleder­
interessanter gestalten. mäuse bis zum Laubhaufen für Igel
Das Buch untergliedert sich in zwei zeigt der Autor dabei, wie man tieri­
etwa gleich lange Oberkapitel, die sich wert sind, welche Standortbedingun­ schen Gästen den Besuch attraktiv
damit befassen, auf welche Weise gen sie benötigen oder auch, welche machen kann.
man einen naturnahen Garten schaf­ Arten oder Bearbeitungsformen bes­ Alle Teile des Werks sind übersicht­
fen und gestalten kann und wie man ser vermieden werden sollten. So sind lich und ansprechend gestaltet und
darin gezielt Fürsorge für Wildtiere gefüllte Blüten, wie die vieler Rosen, mit schönen Naturaufnahmen und
leistet. Das Werk ist weit mehr als ein zwar sehr schön anzusehen, doch für Tierfotos aufgelockert. Das macht das
profaner Gartenratgeber, indem es Bienen nur ein Bluff: in Sachen Nektar Buch insgesamt sehr lesenswert. Wer
sehr sachkundig die ökologischen Fehlanzeige. bisher noch keinen Garten hatte,
Hintergründe darlegt, die einen so Vertrocknete Sonnenblumen kann möchte sich spätestens nach der
gestalteten Garten wertvoll machen – man am Ende des Sommers klein Lektüre einen anschaffen – bis dahin
mit Blick etwa auf Lebensräume in schneiden, um dem Garten ein ordent­ kann man einige Tipps auf dem heimi­
Gehölzen, Blumengärten, Trockenmau­ liches Aussehen zu verpassen – womit schen Balkon ausprobieren.
ern oder Kleingewässern. Zudem gibt man Insekten aber Nahrung und
das Werk konkrete Tipps, welche Winterquartier nimmt. Ein nach den Der Rezensent Tim Haarmann ist Geograf und
Arten jeweils besonders empfehlens­ Prinzipien des Buchs gestalteter arbeitet in Bonn.

Von der
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Spektrum der Wissenschaft  7.20 93
LESERBRIEFE
MODELL MIT GRENZEN EINE FRAGE DER DARSTELLUNG
Wann erreicht eine Epidemie wie der gegenwärtige Streng mathematisch ist zwar klar, warum Flugzeuge
Covid-19-Ausbruch ihren Höhepunkt? Welchen Effekt in der Luft bleiben. Aber es fehlt an einem gleicher­
haben Einschränkungen des öffentlichen Lebens? maßen anschaulichen wie korrekten Modell. (»Das
Mathematische Modellbildung liefert zumindest Teil­ Geheimnis des Fliegens«, »Spektrum« Mai 2020, S. 52)
antworten. (»Wie eine Epidemie verläuft«, »Spektrum«
Mai 2020, S. 74) Klaus Stampfer, Bonstetten: Ich bin Modellflieger und
fliege auch Modell-Hubschrauber. Das symmetrische Profil
Silvio Martin, Oberhausen: In dem Artikel schreibt Herr der Rotorblätter ist mit dem Profil von Tragflächen von
Pöppe, dass es keinen wesentlichen Unterschied macht, Kunstflugmaschinen vergleichbar. Durch den sich drehen-
wie lange eine infizierte Person andere anstecken kann. Die den Rotor ist deutlich eine senkrechte Luftströmung wahr-
Information ist aus meinem Aufsatz entnommen, der im nehmbar, wenn der Anstellwinkel erhöht wird und der
Artikel zitiert wird. Hubschrauber abhebt. Mit dem Satz von Bernoulli konnte
Inzwischen würde ich das so nicht mehr schreiben. Das ich mir die Luftströmung durch den Rotor hindurch nach
hatte ich aus einer Rechnung mit der um den 12. März unten nicht erklären.
hohen prozentualen täglichen Zunahme an Infizierten von Meinem Sohn habe ich deshalb erklärt, dass es zwei
zirka 35 Prozent geschlossen. Je steiler die Kurve ist, desto Kräfte gibt, die den Hubschrauber fliegen lassen: Der Luft-
weniger Personen waren N Tage vor dem betrachteten strom, der auf die untere Seite der Rotorblätter trifft, wird
Zeitpunkt schon infiziert, das heißt, desto weniger infizierte durch den Anstellwinkel nach unten abgelenkt, was eine
Personen fallen schon als Infektionsquelle aus. Gegenkraft nach oben bewirkt. Die Luft, die über das Rotor-
Heute, am 19. April, ist das tägliche prozentuale Wachs- blatt hinwegströmt, hinterlässt durch die Massenträgheit
tum ungefähr um den Faktor 15 kleiner, irgendwo zwischen auf der Rückseite ein kleines Vakuum, was dazu führt, dass
2 und 2,5 Prozent. Da spielt die Dauer eine sehr große Rolle. in diese Zone die Luft von oben hineingezogen wird. Gleich-
Eine erste Rechnung legt sogar den Schluss nahe, dass die zeitig wird das Rotorblatt in die dünnere Luft darüber hoch-
Epidemie austrocknen kann, bevor die gesamte Bevölke- gezogen. Solange der Anstellwinkel und damit die Zone des
rung betroffen ist. Die Kurve wird so flach, dass die Diffe- Unterdrucks nicht zu groß ist, kann die Luft von oben noch
renz der zum betrachteten Zeitpunkt infizierten und der N schnell genug beschleunigt werden und liegt am Rotorblatt
Tage vorher infizierten Personen gegen null geht. Hier an. Sonst kommt es zu Verwirbelungen in der Unterdruck-
stoßen wir auch an die Grenzen des Modells. zone und zum Strömungsabriss.
Ein kontinuierliches Modell taugt nur so lange etwas, wie Da sich das Rotorblatt weiter dreht, stoßen die von oben
jeden Tag eine ausreichend große Anzahl an Personen kommenden beschleunigten Luftmassen nicht darauf,
infiziert wird. Spätestens, wenn es rechnerisch auf eins sondern fließen dahinter weiter nach unten durch und
oder sogar darunter geht, hat das Modell keine Bedeu- führen zu dem senkrechten Luftstrom. Mein Sohn fragte
tung mehr. mich auch, wieso dieser auf den Luftkanalbildern nicht zu
sehen ist. Ich erklärte ihm, dass es auf den Standort des
Hans Günther Kruse, Heidelberg: In Ihrem wie immer Betrachters ankommt – ob man das Profil stehend betrach-
unterhaltsamen Beitrag hat sich ein Fehler eingeschlichen. tet und die Luft vorbeiströmt oder ob man in der Luft steht
Vermutlich, da die Differenzialgleichung zeilenweise ge- und das Profil vorbeifliegt.
schrieben wurde oder weil der Mathematiker nicht gewohnt
ist, Dimensionsbetrachtungen durchzuführen. Die rechte Ruben Stahlbaum, per E-Mail: Die Potenzialtheorie bietet
Seite der Gleichung auf S. 75, vorletzte Zeile, muss durch G einen recht intuitiven Zugang zur Entstehung des Auftriebs
dividiert werden, dann stimmt auch die exakte Lösung. Ich und der Geschwindigkeits- und Druckverteilung entlang
komme deshalb darauf, weil ich ebenfalls mit dieser Glei- eines Profils, ja des gesamten Tragflügels. Man kann sicher-
chung experimentiert habe, um Voraussagen zu treffen.
Allerdings habe ich für G nicht die Gesamtpopulation
genommen, sondern einen deutlich kleineren Wert. Das
erschien mir mit Blick auf China sinnvoll, etwa 100 000
Leserbriefe sind willkommen!
offiziell Infizierte mal 10 (Dunkelziffer). Ansonsten stimme Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an
ich mit Ihren Ausführungen überein.
leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet
auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
Antwort des Autors Christoph Pöppe: individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten
So richtig falsch ist meine Gleichung nicht – sie übersetzt Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
genau das, was im Satz davor steht, in Formeln. Der Ärger gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
ist bloß, dass das k in der Gleichung ja vorher schon anders so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
definiert war. Und damit die Verwendung von k konsistent werden.
ist, muss man in der Tat durch G dividieren.

94 Spektrum der Wissenschaft  7.20


NASA LANGLEY RESEARCH CENTER (ARCHIVE.ORG/DETAILS/NIX-EL-1996-00130) / PUBLIC DOMAIN

Farbiger Rauch macht die Luftwirbel sich gleichermaßen ein, egal ob sich ein Objekt durch ein
hinter einem Flugzeug sichtbar. ruhendes Medium bewegt oder wie im Windkanal ein
ruhendes Objekt umströmt wird. Schade, der Artikel hätte
großes Potenzial gehabt, den Auftrieb am Tragflügel an-
lich die dahinterstehende Mathematik weglassen und die schaulich und verständlich darzustellen.
wesentlichen Ideen und Ergebnisse skizzieren: Die Umlen-
kung des Luftstroms wird dabei durch einen Wirbel (genau-
er: eine Wirbelverteilung) modelliert, dem die gleichmäßige
Anströmung überlagert wird. Er lenkt den ankommenden
GESTECKT, NICHT GESCHNÜRT
Luftstrom nach unten ab. Dadurch kommt es zu einer Wissenschaftler haben topologische Knoten­
Impulsänderung analog zur Argumentation mit Newton und diagramme mit mechanischen Informationen verbun-
somit zum aerodynamischen Auftrieb. Die Verdrängung der den. Das Ergebnis: ein einfaches Verfahren, das
Luft bei Umströmung einer Kontur lässt sich ebenfalls mit die Stabilität vieler Knoten beurteilt. (»Welcher Knoten
der Theorie behandeln, indem man zusätzlich Quellen und hält am besten?«, »Spektrum« Juni 2020, S. 84)
Senken einführt.
Geschlossene Konturen entstehen dabei durch die Michael Speichert, Uetersen: Der auf S. 89 gezeigte
Forderung, dass das aus der Quelle kommende Fluid wie- untere Knoten ist kein Altweiberknoten, sondern ein Die-
der vollständig in der Senke verschwinden muss. Die bes- oder Rauschknoten. Letzterer kann auch nicht aus
Beschleunigung entlang von Stromlinien ergibt sich dann Versehen beim Binden der Schnürsenkel entstehen, son-
ganz automatisch aus der Überlagerung der genannten dern muss gesteckt werden. In »Schlichting!« in Heft 7.17,
Anteile. Bernoulli liefert im Nachgang den Druck in der S. 70 und dem Leserbrief von Herrn Gims dazu in Heft 8.17
gesamten Umgebung (McLeans diffuse Wolke). Die Visuali- wurden die drei Varianten des Kreuzknotens mit ihren
sierung mittels Stromlinien gibt einen sehr anschaulichen Eigenschaften korrekt beschrieben. Schade, dass im Artikel
Eindruck der Gegebenheiten, wie es im Artikel auch ver- über die mathematischen Hintergründe die Schnürsenkel-
sucht wurde. Die Theorie macht eine wichtige und über- problematik als Beispiel dient. Dieser Bezug hat mehr
prüfbare Vorhersage: Wirbel formen geschlossene Linien, verwirrt als zur Klarheit beigetragen, denn warum die zwei
wobei die Wirbelstärke in Näherung proportional zur Masse »falschen« Kreuzknoten so viel leichter aufgehen, ist mit der
des Flugobjekts ist. An den Tragflügelenden entstehen gleichen Drehrichtung verständlich erklärt.
Wirbel, die nach hinten abgehen und zum Beispiel in Kon-
densstreifen zum Teil minutenlang beobachtbar sind. Auf
Flugplätzen werden bei Starts und Landungen nach großen ERRATUM
Flugzeugen entsprechende Pausen nötig, da die rotieren-
den Luftmassen eine Gefahr darstellen können. »Nützliche Bakterienkiller«, »Spektrum« Juni 2020, S. 40
Was ist Ursache, und was ist Wirkung? Magie hat hier Die Skala im Bild auf S. 42 macht Phagen um den Faktor
jedenfalls keinen Platz. Es geht vielmehr darum, wie herum eine Million zu groß. Bei der Beschriftung sollte es 50 nm
die Frage gestellt wird. Die Strömungsverhältnisse stellen lauten statt 50 mm.

Spektrum der Wissenschaft  7.20 95


FUTUR III
Alien, geh nach Hause!
Daheim ist es doch am schönsten. Eine Kurzgeschichte von Filip Wiltgren

H
enry James starrte das Schriftzeichen an, das »abge- schen Protokoll zufolge musste zwar bei allen offiziellen
lehnt« bedeutete. Er war sich zumindest ziemlich Begegnungen zwischen intelligenten Aliens ein Überset-
sicher, dass das der Sinn der Glyphe war. Die Schrift zungscomputer zur Verfügung stehen. Der Blasch interpre-
des Blaschs sah aus wie Spagettiportionen, die nebenein- tierte diese Bestimmung allerdings in ganz wörtlichem
ander auf einen Langhaarteppich gekippt worden waren. Sinn. Kein Passus im galaktischen Gesetz schrieb vor, dass
Aber der nach links weisende Haken bedeutete in der Regel der Übersetzer eingeschaltet sein müsse.
»nein«, und die zwei gegensätzlich drehenden Wirbel Henry konnte den Übersetzer aktivieren, aber das war
standen für »offiziell«, »Macht« und gelegentlich für »Betäti- ihm nur für insgesamt 11,2 Minuten pro Blasch-Arbeitszyk-
gen der Wasserspülung«. lus von 22 Tagen erlaubt. Wenn er mehr verlangte, musste
»Aber warum?« fragte er. Er hoffte, dass er sich halb- er dafür mit einem Arm und einem Bein bezahlen – und
wegs verständlich ausdrückte. Blisch-blosch war eine zwar buchstäblich, denn bei den Blaschs wuchsen abge-
Körper- und Zeichensprache, die normalerweise darin trennte Arme nach, und sie aßen alles, was ihnen unter-
bestand, dass der Blasch mit seinen zahlreichen tintenfisch- kam, sich selbst eingeschlossen.
ähnlichen Armen wedelte und klatschte. Henry behalf sich,

»K
indem er mit der Zunge schnalzte, mit den Lippen flatterte, eine Gefahr«, gestikulierte der Blasch. »Kein Asyl
in die Hände klatschte und energisch Nasenschleim hoch- nötig. Krieg zu Ende. Mensch, geh nach Hause!«
zog. Dabei war eine Erkältung ungemein hilfreich, aber die »Aber wohin?«, versetzte Henry.
Blaschs duldeten auf ihren Raumstationen keine infizierten »Nnaachch hhaauussee«, wiederholte der Blasch, wobei
Aliens. Glücklicherweise erzeugte das Schnüffeln von er seine wedelnden Arme so langsam bewegte, als wollte
Chilipfeffer und gemahlenen Senfkörnern eine fast ebenso er sich einem Neugeborenen verständlich machen.
reichlich rinnende Nase. »Aber die Erde ist zerstört!«, schrie Henry. Dann beruhig-
»Abgelehnt«, sagte der Blasch, ein purpurner, 86-armiger te er sich so weit, dass er dasselbe in Blisch-blosch formu-
Vertreter des mittleren Managements mit zwei Dellen in lieren konnte.
seinem Kopfsack, die ebenso viele Beförderungen anzeig- Der Blasch machte große Augen, indem er die zehn
ten. Er sprach bemüht langsam, machte extra große Wel- lichtempfindlichen Kugeln ein Stück weit aus seinem Kopf-
lenbewegungen mit den Armen und knallte sie besonders sack hervortreten ließ; das bedeutete Zustimmung.
laut und kräftig zusammen. »Jawohl«, meinte er. »Kein Krieg.«
»Kein Zuhause!«, antwortete Henry.
»Zuhause«, erwiderte der Blasch und zeigte auf ein

Die Schrift der Blasch Hologramm-Video des Sonnensystems. Die Sonne bildete
darin eine verwirbelte rote Wolke; über ihre Ränder trieben

sah aus wie Spagetti­


Flecken kühlerer Materie, jeweils größer als Jupiter, die sich
langsam erhitzten. Soweit Henry in den Nachrichten gese-
hen hatte, war das eine Folge des Beschusses mit Gravitati-

portionen auf einem onsgranaten.


Merkur streifte den Außenrand der Sonnenkorona – ein

Langhaarteppich Klumpen geschmolzenen, glühenden Gesteins. Venus sah


weitgehend unverändert aus, ebenso Saturn mit seinen
Ringen. Die Erde hatte sich allerdings in eine Masse von
Gesteinsbrocken und Staub verwandelt, die sich langsam in
»Aabbeerr wwaarruumm?«, artikulierte Henry, wobei er die Umlaufbahnen mehrerer Planeten ausbreitete.
sich fast den Arm ausrenkte. Er blickte kurz zu dem Über- Henry unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Er war auf
setzer, der am Rand des Arbeitsteichs saß, in dem der der Erde zur Schule gegangen, bevor er seine Tests in der
Blasch schwamm. Das Gerät war ein umgebautes Stan- Schwerelosigkeit bestanden und sich auf den Weg in die
dardmodell: an einem Ende Mikrofon und Lautsprecher, am Galaxis gemacht hatte. Er versuchte, nicht an seine Familie
anderen eine Gruppe wellenförmiger Arme. Leider war der zu denken. Das misslang ihm.
Übersetzer außer Betrieb. »Kein Essen im Amt«, signalisierte der Blasch. »Salz
Der Blasch glaubte anscheinend, die Integration von verboten.«
Aliens ließe sich am besten fördern, indem man sie zwang, Er zeigte auf die Träne auf Henrys Wange. Schnell wisch-
möglichst schnell Blisch-blosch zu lernen. Dem galakti- te Henry den Tropfen mit einem neutralisierenden Tuch ab,

96 Spektrum der Wissenschaft  7.20


Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten auf spektrum.de/kurzgeschichte

das die Menschen auf Befehl der Blaschs jederzeit bei sich Und in der Arkologie brannte tatsächlich Licht: Einige
haben mussten. Auf der Wange blieb ein schmutziger, Zimmer hatten Strom!
juckender Streifen zurück. »Erde Gestein«, sagte der Blasch. »Kein Krieg. Keine
»Kein Zuhause«, sagte Henry und deutete auf die Wolke Gefahr.«
von Asteroiden, die dort dahintrieben, wo einmal die Erde Er deutete auf die Glyphe auf dem Formularschirm vor
gewesen war. Henrys Nase. Flüchtlingsstatus verweigert.
»Gestein«, sagte der Blasch. »Menschen leben Gestein.« »Alien, geh nach Hause!«, erklärte der Blasch abschlie-
»Doch nicht so!«, schrie Henry. »Nicht auf einem Eisen- ßend. Dann winkte er mit seinen zahlreichen Armen den
klumpen ohne Luft und Leben.« Sicherheitsbeamten, damit sie Henry abtransportierten. 
Er durfte nicht erwarten, dass sein wildes Gestikulieren
irgendeinen Sinn auf Blisch-blosch ergab. Dennoch musste
der Blasch seine Aufregung einigermaßen verstanden
haben. Er vergrößerte das Bild der Materiewolke, aus der
© Springer Nature Limited
vormals die Erde bestanden hatte. www.nature.com
»Gestein«, sagte der Blasch und zeigte auf ein Bruch- nature.com/futures, 11. März 2020
stück der Erdoberfläche. Dort stand das Fragment einer
Arkologie, einer autarken Superstadt, die sich einst kilome-
terhoch in den Himmel erhoben hatte. Es musste sich dabei DER AUTOR
um ein gewaltiges Stück handeln; dafür sprach jedenfalls Filip Wiltgren ist bei Tag zuständig für Öffentlichkeitsarbeit an
der Größenvergleich mit einer gleich daneben abgestürzten der Universität Linköping. Nachts ist er Schriftsteller und
Korvette der United Space Force. Game-Designer. Er lebt mit Frau und Kindern in Schweden.

Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.) Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk
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Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 41 vom 1. 1.
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Spektrum der Wissenschaft  7.20 97


Das Augustheft ist ab 18. 7. 2020 im Handel.

VORSCHAU

BRIGHTSTARS / GETTY IMAGES / ISTOCK


SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
WURMLÖCHER IM LABOR
Zwei Schwarze Löcher, die durch ein
Wurmloch verbunden sind, könnten
eines der größten kosmologischen
Rätsel lösen. Nun haben Physiker eine
Möglichkeit vorgeschlagen, ein sol-
ches Experiment im Labor durchzufüh-
ren – mit ultrakalten Atomen.

BRITISH MUSEUM; MIT FRDL. GEN. VON LORENZ RAHMSTORF


DIE JAGD NACH X17
Seit Jahren sorgen Messergebnisse eines ungarischen Forscher-
DAS ERSTE
teams für Aufsehen: Es will ein bisher unbekanntes Elementarteil- »GELD« EUROPAS
chen aus Atomkernen herausgekitzelt haben. Dieses X17 wäre Bote Goldringe, ganz oder gestückelt, Waa-
einer neuen Kraft im Mikrokosmos und könnte bei der Entschlüsse- gen und Gewichte – Archäologen
lung der Dunklen Materie helfen. Aber gibt es das exotische neue haben akribisch bis zu 3300 Jahre alte
Teilchen wirklich? Oder steckt ein Messfehler hinter der Anomalie? Funde aus Westeuropa analysiert und
»Spektrum der Wissenschaft« war vor Ort und berichtet, was von festgestellt: Anders als bisher ange-
den spektakulären Ergebnissen zu halten ist. nommen nutzten die Menschen der
Bronzezeit bereits ein Maßsystem, um
Warenwert und Profit zu berechnen. Es
AUFSTIEG DER TIERE gab also offenbar eine Art Währung.
VERISIMILUS AT ENGLISH WIKIPEDIA (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:DICKINSONIA
COSTATA.JPG) / CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

Lange glaubte man, komplexe


Tiere seien erstmals im Kam-
brium entstanden. Immer
mehr Fossilfunde deuten aber NEWSLETTER
darauf hin, dass sie schon Möchten Sie über Themen und Autoren
Jahrmillionen früher während des neuen Hefts informiert sein?
der Ediacara-Zeit erschienen. Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
Neue Untersuchungsmetho- per E-Mail – und natürlich kostenlos.
den liefern nun Erkenntnisse Registrierung unter:
darüber, welche Selektionsdrü- spektrum.de/newsletter
cke diese evolutionäre Ent-
wicklung vorantrieben.

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