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NATURGESETZE 1Jn1verselle Regeln?


NEO„GEOZENTRISMUS 1 Was steht 1m Mittelpunkt?
~ KOGNITION 1 Vi/as ISt Bewusstsein?
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IN DIESER AUSGABE

Hartwig Hanser, Redaktionsleiter


hanser@spel<trum.de

Werde ich nach meinem Beruf gefragt und soll dann entsprechend erklären,
was ein Redal<teur den ganzen Tag so tut, vergleiche ich unseren Arbeits-
alltag meist mit dem wenig glamourösen Dasein eines Ghostwriters: Wir arbeiten
hinter den Kulissen emsig daran, aus den Originalmanuskripten maximal ver-
ständliche und informative Artil<el zu gestalten - gleich, ob im Verlagsbüro oder RACHEL A. WOOD
wie seit einigen Monaten in der heimischen Arbeitsecke. Aus beruflichen Die Paläontologin erforscht die
Gründen gehen wir eher selten auf Reisen, vielleicht einmal für ein Interview rätselhaften Vorgänge rund um
mit einem Experten oder für einen Kongressbesuch, um am Puls der neusten die >>kambrische Explosion<< der
Erkenntnisse in der Wissenschaft zu fühlen. Artenfülle, die mit dem Aufstieg
Doch ab und zu eröffnet sich für den einen oder anderen von uns eine Gele- der Tiere einherging (S. 32).
genheit, einmal direkt vor Ort brandaktuelle Forschung zu erleben und darüber 1
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ausführlich zu berichten. In dieser Ausgabe finden Sie sogar gleich zwei solcher 1

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Reportagen meiner Kollegen, die ich Ihnen sehr ans Herz legen möchte. Für 1
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unser Titelthema reiste Physikredakteur Robert Gast nach Ungarn, um mit dem
Physiker Attila Krasznahorkay und seinem Team zu sprechen. Sie glauben, ein
bislang unbekanntes, wichtiges Elementarteilchen nachgewiesen zu haben, und
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sammeln seit Jahren Indizien dafür, dass das Partikel namens X17 tatsächlich 1-U
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existiert. Heute sind sie davon überzeugter denn je. Es könnte Bote einer bislang <(
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unbekannten fünften Grundkraft des Universums sein und vielleicht sogar dabei
helfen, die rätselhafte Dunkle Materie zu erklären. Aber noch sind die Daten nicht DIRK BOSBACH
eindeutig und viele Kollegen sehr skeptisch. Kann die Technologie der Trans-
Meine Kollegin Verena Tang verschlug es hingegen in die Schweiz, zum Mont mutation helfen, unseren Atom-
Terri bei Saint-Ursanne, etwas südwestlich von Basel. Dort versuchen Experten müll ungefährlicher zu machen?
aus aller Welt in einem unterirdischen Labor herauszufinden, wie das ideale Der Nuklearsicherheitsexperte
Endlager für strahlenden Atommüll aussehen könnte. Denn die Frage, was mit vertritt dazu einen klaren Stand-
den gefährlichen Hinterlassenschaften der Kernkraftwerke langfristig am besten punkt (Interview ab S. 64).
geschehen soll, ist noch längst nicht entschieden. Schon gar nicht hier zu lande,
wo nach Jahrzehnten des Streits das Endlagerthema noch einmal ganz neu
aufgerollt wurde und nun im Herbst diesen Jahres eine wichtige Weichenstellung
für die Auswahl der geeignetsten Standorte erfolgen soll. Letztlich geht es dabei
um eine Frage, die eigentlich niemand wirklich beantworten kann: Wie lagert
man etwas sicher für eine Million Jahre? Aber wir schulden es unseren Nachfah-
ren, es zumindest so gut es geht zu versuchen.

Nachdenl<lich grüßt
Ihr NICOLE YUNGER HALPERN
Wie Konzepte aus der klassischen
Thermodynamik neue Denk-
weisen für die moderne Quanten-
mechanik und Informationstheo-
rie eröffnen, erklärt die Harvard-
Physikerin ab S. 76.

NEU AM KIOSI<!
Spektrum GESCHICHTE 3.20
Seit der Steinzeit besiedelten Menschen unwirtliche
Gegenden und schreckten selbst vor eisigen Gefilden
nicht zurück.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 3


••
3 EDITORIAL 12 PHYSI K DIE FUNFTE KRAFT
Ungarische Forscher wollen ein neues Elementarteilchen aufgespürt
6 SPEKTROGRAMM haben. Aber viele Kollegen sind skeptisch. Die Geschichte einer umstrit-
tenen Entdeckung.
22 FORSCHUNG AKTUELL Von Robert Gast
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Die älteste Bildgeschichte f~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~--
der Welt
Indonesische Felszeichnun- 32 EVOLUTION AUFSTIEG DER TIERE
gen liefern das früheste
Die >>kambrische Explosion<<
Serie: Die Entfaltung des Lebens (Teil 2)
Zeugnis erzählender Kunst.
der Artenfülle vor rund 541 Millionen Jahren kam wohl weniger plötz-
Verrückte Familien lich, als Forscher bisher annahmen.
Eine 50 Jahre alte Vermu- Von Rachel A. Wood
tung ist bewiesen.
••
Vulkanausbruch durch 40 VIROLOGIE PORTRAT EINES l<ILLERS
Starkregen
Weltweit erforschen Wissenschaftler, wie das
Die Eruption des Kllauea neue Coronavirus funl<tioniert, wo es herl<am und wie es sich weiterentwick-
••
2018 könnte einen nassen len könnte. Ein Uberblick über den aktuellen Wissensstand zu Sars-CoV-2.
Auslöser gehabt haben. Von David Cyranosl<i

••
30 SPRINGERS EINWURFE
50 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN EISERNE NERVEN
Künstliche Niederschläge
Unter bestimmten Bedingungen zeigt ein Eisenstab erstaunliche
Unmengen Plastik erreichen ••
Ahnlichkeiten mit einer Nervenfaser.
entlegene Landschaften.
Von M atth ias Ducci und Marco Oetken

74 SCHLICHTING! •• ••

Mücken im Regen 54 ATOM MULL SICHER FUR EINE MILLION JAHRE?


Warum fliegende Insekten Auf der Suche nach einem Endlager für radioaktiven Abfall sind viele
den Aufprall schwerer Trop- Fragen offen. Einige Antworten wollen Forscherteams in einem unterirdi-
fen überleben. schen Labor in der Nähe von Basel finden.
Von Verena Tang

88 ZEITREISE
64 INTERVIEW >>PLUTONIUM IST NICHT DAS HAUPTPROBLEM<<
89 FREISTETTERS FORMELWELT Der Nuklearsicherheitsexperte Dirk Bosbach erläutert, warum die Technologie
Kann ein Mond einen der >>Transmutation<< ein Atommüll-Endlager nicht ersetzen kann.
Mond haben?
Und wie sollen solche Tra- ••

banten heißen? 66 KOSMOLOGIE WURMLOCHER IM LABOR


Zwei Schwarze Löcher, die durch ein Wurmloch miteinander verbun-
90 REZENSIONEN den sind, l<önnten eines der größten Rätsel der l<osmologie lösen. Nun
wollen Forscher das in einem Experiment testen.
Von Ph ili p Ball
93 IMPRESSUM

95 LESERBRIEFE 76 PHYSIK DIE QUANTEN-DAMPFMASCHINE


Wenn man moderne Erkenntnisse über Quantenobjekte mit den Regeln der
96 FUTUR III - KURZGESCHICHTE klassischen Thermodynamik verbindet, entstehen bemerkenswerte Konzepte
für die technischen Herausforderungen des Mikrokosmos.
Von Nicole Yu nger Halpern
98 VORSCHAU

82 LANGLANDS-PROGRAMM
••
BRUCKENSCHLAG IN DER MATHEMATIK
Seit Jahrzehnten vermuten Mathematiker, dass zwei völlig verschiedene
Gebiete miteinander verwoben sind. Nun konnten sie in einer ungewöhnlich
TITELBILD: großen Zusammenarbeit die mysteriöse Verbindung erweitern.
SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES/ !STOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER
WISSENSCHAFT; VIRUS: KOTO_FEJA / GETTY IMAGES / !STOCK: BEARBEITUNG: Von Erica Klarreich
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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VERENATANG

RYAN SOMMA (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/I OEONEXUS/2237406519/) /


CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)

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VERONICA FALCONIERI HAYS & JEN CHRISTIANSEN. NACH: LORENZO CASALINO.
ZIED GAIEB. ROMMIE AMARO. UC SAN DIEGO / SCIENTIFIC AMERICAN JULI
2020; BEARBEITUNG: SPEKTRUM OER WISSENSCHAFT
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PALAONTOLOGIE
DAS LETZTE MAHL
EINES DINOSAURIERS
Für viele Millionen Jahren bevölker-
ten riesige Pflanzenfresser die Erde.
Was genau die verschiedenen Dino-
saurierarten aßen, lässt sich jedoch
meist nur auf Umwegen rekonstruie-
ren, etwa über die damals vorherr-
schenden Gewächse. Zwar haben Wis-
senschaftler immer wieder auch
Fossilien von vermutlichen Ausschei- In der Bauchgegend der erstarrten nem Nadelwald gefressen, der einige
dungen oder Mageninhalten gebor- Echse sind die Forscher nun auf meh- Zeit zuvor niedergebrannt war - und in „
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gen. Oft sind diese aber schlecht rere schlauchförmige Bereiche gesto- dem in erster Linie die anpassungs- ~
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erhalten und lassen daher keine ein- ßen. Nach Form, Fundort und Zusam- fähigen Farne schon wieder Fuß fas- "'
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deutigen Schlüsse zu. mensetzung zu urteilen, handelt es sen konnten.


Weniger Zweifel dürfte es bei dem sich klar um einstiges Dinosaurieres- Vermutlich nahm die gepanzerte
Mageninhalt eines Dinosauriers geben, sen, argumentiert die Gruppe um Knotenechse ihr letztes Mahl zu sich,
der vor 110 Millionen Jahren lebte und Brown. Demnach hatte Borealopelta bevor sie tot ins Wasser stürzte. Dort
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den nun ein Team um Caleb M. Brown markmitchelli eine ausgeprägte Vor- sank sie dann auf den Grund, wobei UJ
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vom Paläontologischen Museum in liebe für Echte Farne, wie man sie sie große Mengen Sediment aufwir- _,
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Alberta ausgewertet hat. Borealopelta heute vor allem auf ozeanischen Inseln belt haben muss. Dieses bedeckte den
markmitchelli hatte einen mächtigen und im tropischen Hochland findet; Dinosaurier und trug zusammen mit
Rückenpanzer und brachte es wohl auf 85 Prozent des Mageninhalts gehen seinem Panzer dazu bei, dass der
stolze 1300 Kilogramm. Ein besonders auf das Gewächs zurück. Daneben Kadaver so gut erhalten blieb.
gut erhaltenes Fossil der Art ist bereits stießen die Forscher auf beträchtliche
••
2011 in einer Olsandmine in Kanada Mengen verkohlter Materie: Wahr- Royal Society Open Science, 10.10981
aufgetaucht. scheinlich habe der Dinosaurier in ei- rsos.200305, 2020

PHYSIK
NEUTRONENSTERNE AUS OUARl<MATERIE
An wenigen Orten im Universum überzeugende Belege für Quarkmate- vereint wie unsere Sonne. Die finni-
wird Materie so starl< beansprucht rie im Neutronensterninneren gefun- schen Physiker haben überprüft, welche
wie im Inneren von Neutronensternen. den zu haben. Wenn man alle verfüg- von 570 000 denkbaren >>Zustandsglei-
Bei gerade mal 20 Kilometer Durch- baren Beobachtungsdaten und die chungen<< für Neutronensternmaterie
messer vereinen die Sternleichen denkbaren Modelle berücksichtige, diese Rahmenbedingungen erfüllen und
derart viel Masse, dass Elektronen in müssten zumindest sehr schwere was für eine Vorhersage für den Kern
die Atomkerne gepresst werden, Exemplare einen Kern aus frei schwim- sie jeweils treffen.
wodurch Unmengen von Neutronen menden Quarks haben, berichten die Demnach l<önnten sich viele der
entstehen. Unklar ist, ob diese unter Forscher. Objekte zwar ohne Quarkmaterie erklä-
dem enormen Druck intakt bleiben Die Gruppe stützt sich in ihrer Stu- ren lassen. Bei den schwersten Vertre-
oder sich in ihre Bestandteile auflösen. die auch auf zwei spezielle Beobach- tern müsse man dazu aber extreme
Insbesondere der innere Bereich von tungen der vergangenen zehn Jahre: Annahmen treffen; unter anderem
Neutronensternen würde in letzterem 2017 haben Wissenschaftler die Gravi- würde die Schallgeschwindigkeit in
Fall aus einem Quark-Gluon-Plasma tationswellen eines Zusammenstoßes ihnen einen ungewöhnlich großen Wert
bestehen, wie es Wissenschaftler auf zweier Neutronensterne aufgefangen. annehmen. Ein Kern aus frei schwim-
der Erde bisher nur für Sekunden- Dadurch ließen sich die Größe und menden Quarks und Gluonen sei in
bruchteile durch Atomkernkollisionen Dehnbarkeit der extremen Objekte diesen Fällen daher die deutlich plausib-
an Teilchenbeschleunigern herstellen besser abschätzen. Und bereits 2010 lere Variante, argumentiert das Team.
l<onnten. hatten Astrophysil<er ein besonders
Ein Team um Aleksi Vuorinen von schweres Exemplar aufgespürt, das Nature Physics, 10.1038/s41567-020-0914-
der Universität Helsinki meint nun, fast doppelt so viel Masse in sich 9, 2020

8 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Täglich al<tuelle Nachrichten auf Speldrum.de

ASTRONOMIE
NACHSCHUB AN GRAVITATIONSLINSEN
Für Astronomen sind sie ein Ge- Bisher sind bloß einige hundert Survey, die immer wieder Bilder
schenk: Gravitationslinsen bündeln starke Gravitationslinsen bekannt. eines großen Himmelsausschnitts
das Licht extrem weit entfernter Dank neuronaler Netze könnten es mit unzähligen Galaxien geschossen
Strahlungsquellen, was diese wie l<ünftig noch deutlich mehr werden, hat. Ob es sich dabei um Gravitati-
unter einer Lupe vergrößert. Meist berichtet nun ein Team um Xiaosheng onslinsen handelt, entschied ein
handelt es sich um Galaxienhaufen, Huang von der University of San Algorithmus, den die Forscher mit
deren Schwerkraft eine gigantische Francisco. Die Astrophysiker haben 423 bel<annten Gravitationslinsen
Beule in die Raumzeit drückt. Licht einem Algorithmus beigebracht, die und 9451 Nichtlinsen trainiert hatten.
eines genau dahinter liegenden Ob- charakteristischen Verzerrungen in Das eigentliche Rechnen übernahm
jekts kann sich dann auf dem Weg zur einem bestehenden Datensatz aus dann ein Supercomputer am Law-
Erde nicht in einer geraden Linie Galaxienbildern zu suchen. Auf diese rence Berkeley National Laboratory.
ausbreiten, sondern macht einen Weise haben die Forscher 335 neue Bei einigen viel versprechenden
Bogen. Am Nachthimmel erscheint Kandidaten für die kosmischen Brenn- Kandidaten führten die Wissen-
das Objekt dadurch verzerrt oder gläser aufgespürt. schaftler anschließend Nachbeob-
sogar in mehrfacher Ausführung an Basis hierfür bildeten Beobachtun- achtungen mit dem Hubble-Welt-
den Rändern der Gravitationslinse. gen der Dark Energy Camera Legacy raumteleskop durch, das die Gravita-
tionslinsen in größerem Detail
ablichten konnte.
Ein Computer identifizierte in einem großen Datensatz Galaxien, die von
einer davor liegenden Masse stark verzerrt werden (farbige Bilder). Das The Astrophysical Journal,
Hubble-Weltraumteleskop lieferte dann genaue Aufnahmen (schwarz-weiß). 10.3847/ 1538-4357/ab7ffb/ 2020

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Spektrum der Wissenschaft 8. 20 9


ANTHROPOLOGIE
NEANDERTALERGEN ERLEICHTERT SCHWANGERSCHAFT
Vor rund 40 000 Jahren gelangte ron zusammenbauen. Das Schwanger- kunft sind, besitzen es; 3 von 100
eine Genvariante des Neandertalers schaftshormon hilft unter anderem, Frauen haben sogar zwei Kopien
ins Erbgut der modernen Menschen, die Gebärmutter für das Einnisten des davon.
die bis auf den heutigen Tag erhalten befruchteten Eis vorzubereiten. Das Andere Neandertalergene tauchen
ist und immer noch Wirkung zeigt: hat offenbar zur Folge, dass Trägerin- deutlich seltener auf; viele überdies so
Offenbar hilft sie, eine Schwanger- nen dieser V660L-Variante des PGR- selten, dass der umgekehrte Prozess
schaft mit weniger l<omplil<ationen zu Gens seltener Fehlgeburten erleiden am Werk zu sein scheint: Sie wurden
durchlaufen. Dadurch sind Familien, in und auch weniger über Blutungen zu im Lauf der letzten Jahrtausende aus
denen das Neandertalergen häufig Beginn der Schwangerschaft klagen. dem Erbgut der heute lebenden Men-
auftritt, im Schnitt kinderreicher. Da die Genvariante im Schnitt zu schen allmählich ausgesondert, ver-
Wie Wissenschaftler um Hugo mehr Nachwuchs führt, erstaunt es mutlich weil sie ihren Trägern Nachtei-
Zeberg vom Max-Planck-Institut für wenig, dass sie vergleichsweise häufig le brachten.
evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Erbgut heute lebender Menschen
berichten, ändert die Genvariante, wie vorkommt: Knapp ein Drittel aller Molecular Biology and Evolution,
die Zellen den Rezeptor für Progeste- Frauen, die nicht afrikanischer Her- 10.1093/molbevlmsaa119, 2020

••
Die mutmaßliche >>Dschingis-Kahn- Wachtürme erwarten würde. Statt-
ARCHAOLOGIE Mauer<< könnte dagegen weniger einen dessen scheint es sich eher um Grenz-
DSCHINGIS-l<HAN- kriegerischen Zweck gehabt als der posten und Viehställe gehandelt zu
MAUER OHNE Kontrolle von Bevölkerungsströmen haben.
DSCHINGIS l<HAN gedient haben, argumentiert nun ein Demnach könnte die Mauer der
internationales Forscherteam um Bevölkerungskontrolle gedient haben:
Gideon Shelach-Lavi von der Hebrew Durch die Steppe im Norden zogen
Die Dynastien des alten China University in Jerusalem. Es hat die schon zu Zeiten der Khitan-Liao-Dy-
waren große Baumeister: Immer Mauerfundamente mit Drohnen unter- nastie hungrige Nomadenvölker, von
wieder errichteten sie gewaltige sucht und alle zehn Kilometer die denen man fürchtete, sie könnten nach
••
Wälle, die meist Ackerland gegenüber Uberreste von begleitenden Bauwer- harten Wintern in den Süden vordrin-
der Steppe abschirmen sollten. Ein ken gefunden. Diese befanden sich gen. Auch berichten Schriftstücke
737 Kilometer langes Segment im nicht vorrangig an erhöhten Punkten, von einem Ausfuhrverbot auf Eisenwa-
Norden Chinas passt jedoch nicht in wie man es für militärische Lager und ren, das die herrschende Klasse mit
dieses Schema: Seine Grundmauern der nördlichen Mauer möglicherweise
führen mitten durch das öde Grasland durchsetzen wollten.
im heutigen Dreiländereck zwischen Die Chinesische Mauer bestand aus
China, Russland und der Mongolei. verschiedenen Segmenten - die wohl : Antiquity, doi.org/10.15184/aqy.2020.51,
In der Vergangenheit gingen Ar- unterschiedliche Funktionen hatten. : 2020
chäologen davon aus, dass das Bau-
werk in erster Linie die Reiterhorden
Dschingis Khans abhalten sollte, die
im frühen 13. Jahrhundert in China
einfielen. Dem widerspricht aber die
Erbauungszeit, die viele Forscher
mittlerweile in der Khitan-Liao-Dynas-
tie verorten (907-1125). Ihre Herrscher
M ongolei
ahnten noch nichts von der großen
militärischen Bedrohung aus der
Steppe. Erst die darauffolgende
Jin-Dynastie (1115-1234) sah den
Reitersturm aufziehen und errichtete
hunderte Kilometer weiter südlich
mehrere Schutzwälle, die recht ein-
3914
deutig der Abwehr der Mongolen 500 km
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galten.

10 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Täglich al<tuelle Nachrichten auf Speldrum.de

MEDIZIN
MINILEBER AUS DEM LABOR
Aus menschlichen Hautzellen Labor gezüchteten Minilebern in fünf senschaftler. Bis dahin seien jedoch
haben Forscher der University of Ratten. erhebliche Herausforderungen zu
Pittsburgh eine funktionsfähige Minile- Trotz einiger Probleme bei der Blut- bewältigen,

darunter das langfristige
ber hergestellt. In dem Proof-of-Con- zirkulation funktionierten die implan- Uberleben sowie Sicherheitsfragen.
cept-Experiment waren die im Labor tierten Organe noch vier Tage nach
hergestellten Organe dann in Ratten in dem Eingriff. langfristiges Ziel sei es, Ce// Reports 10.1016/j.celrep.2020.107711,
der Lage, Gallensäure und Harnstoff Organspenden zu ersetzen, so die Wis- 2020
auszuscheiden, genau wie eine norma-
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Die Wissenschaftler erzeugten die w
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Miniaturleber, indem sie menschliche j -'

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Hautzellen zunächst zu so genannten !
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induzierten pluripotenten Stammzellen ~
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umprogrammierten - eine mittlerweile ~
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gut etablierte biotechnische Methode. >~
Diese Stammzellen ließen sich dann in 5
Leberzellen umwandeln, welche die
Forscher in eine Rattenleber verpflanz-
ten, worauf sie alle tierischen Zellen
nach und nach entfernten. Was in
natürlicher Umgebung bis zu zwei
Jahre dauert, benötigte im Bioreaktor
weniger als einen Monat. Als letzten
Schritt transplantierte das Team die im

Forscher haben aus einer Ratten-


leber rattenspezifische Zellen
entfernt und sie durch mensch-
liche Leberzellen ersetzt.

GEOLOGIE
ERSTARRTER SCHLAMM AUF DEM MARS
Einst floss Wasser auf dem Mars. man sie von Lavaströmen auf der Erde üblich sind, verdampfte das meiste
Davon zeugen unter anderem tiefe l<ennt. Entsprechend könnten manche Wasser.
••
Flusstäler, die sich wie Furchen durch geologische Formation, die Forscher Ubrig blieb eine zähflüssige, von
die Oberfläche des Roten Planeten bislang für erstarrte Lava gehalten einer dünnen Eiskruste bedecl<te
ziehen. An vielen Stellen ist noch haben, in Wahrheit von Matsch stam- Masse, die langsam die Rampe hinab-
immer unklar, wie die Marsoberfläche men, der aus Marsgeysiren ausgetre- glitt - so ähnlich, wie es Lavamas-
ihre Gestalt bekam. Manche Struktu- ten ist. sen auf der Erde am Hang eines Vul-
ren ähneln bespielsweise erkalteter Dafür sprechen jedenfalls irdische kans tun. Zwar konnten die Wissen-
Lava, was Rückschlüsse auf die erlo- Laborexperimente des Teams: Die schaftler den Effekt der geringeren
schen Vulkane auf dem Mars erlauben Forscher haben wiederholt gefilmt, Schwerkraft auf dem Mars nicht be-
würde. wie ein halber Liter Schlamm eine rücksichtigen. Diese führt dem Team
Ein internationales Forscherteam schräge Rampe hinunterrutscht. Bei zufolge aber lediglich dazu, dass die
um Petr Broz von der Tschechischen gewöhnlichem Atmosphärendruck Eisl<ruste über dem Schlamm etwas
Akademie der Wissenschaften warnt floss die Brühe rasch hinab. Senkte dicker ausfalle.
nun jedoch vor großer Verwechse- man Druck und Temperatur in der
lungsgefahr: Offenbar hinterlässt Versuchskammer allerdings auf jene Nature Geoscience, 10.5281/zeno-
Schlamm auf dem Mars Spuren, wie niedrigen Werte, die auf dem Mars do.3457148, 2020

Spektrum der Wissenschaft 8. 20 11


AUF EINEN BLICK
DIE JAGD NACH X17
Seit 35 Jahren suchen Physiker nach einer hypotheti-
schen, schwer aufspürbaren Teilchenart, die eine
bisher unbekannte Kraft übertragen würde. Sie könnte
dabei helfen, die Dunl<le Materie zu erklären.

Eine ungarische Forschergruppe ist auf die bislang


stärksten Indizien für solch ein leichtes, neutrales
Boson gestoßen - mit einer Strategie, die Physiker vor
25 Jahren in Deutschland entwickelt haben.

Doch viele Experten haben große Zweifel an dem


Ergebnis, auch wegen der sonderbaren Vorgeschichte
des Projekts.
Seit die ungarische Gruppe im Januar 2016 die Mess- Gäbe es nur Quarks und Elektronen, wäre das Universum
daten mit der Beule veröffentlicht hat, rätseln Experten in statisch. Eine Welt aus Myriaden winziger Legosteinchen, in
aller Welt: Ist Außenseitern hier ein historischer Durchbruch der sich nichts bewegt. Denn wie soll ein Elektron merken,
gelungen? Oder ist das Experiment der Ungarn fehlerhaft, dass ein anderes Teilchen in der Nähe ist?
X17 ein Hirngespinst? Hier tritt die andere Sippe aufs Parkett, die Botenteilchen
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, stößt auf eine oder >>Bosonen<<. Im Weltbild der Teilchenphysik übermitteln
Geschichte, die Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück- sie die Kräfte zwischen den Partikeln. Begegnen sich zwei
reicht. Sie handelt von Elektronen und ihren vertrackten Elektronen, tauschen sie blitzschnell ein Boson aus. Vier
Antiteilchen, den Positronen, von Darmstädter und Frank- Grundkräfte kennen Forscher bislang, die jeweils von einem
furter Physikern, von Attila Krasznahorkay und seinem oder mehreren Botenteilchen vermittelt werden: Photonen
niederländischen Kollegen Fokke de Boer. Vor allem aber übertragen den Elektromagnetismus, Gravitonen (wahr-
handelt sie vom Sog einer großen Entdeckung - und der scheinlich) die Schwerkraft. Gluonen wiederum sind Paten
Grenze zwischen Wunschdenken und wissenschaftlicher der >>starken<< Kernkraft zwischen Quarks, sie hält Atomker-
Realität sowie der Frage, wann man sie überschritten hat. ne zusammen. W- und Z-Bosonen schließlich verändern die
Die Geschichte beginnt dort, wo die menschliche Vor- Identität von Atomkernen - die >>schwache<< Kernkraft.
stellungskraft an ihre Grenzen stößt: im Reich der Atomker-
ne und bei den Kräften, die dort wirken. Es ist eine abstrak- Ein Botenteilchen für die Dunkle Materie
te Welt, auf den ersten Blick nur für Experten zugänglich, Mit diesem Baukasten aus Teilchen und Kräften können
doch im Grunde ausschlaggebend dafür, wie wir Menschen Physiker fast alle Phänomene auf der Erde erklären. Sie
aufs Universum blicken. können damit berechnen, weshalb die Sonne scheint und
In dieser Welt sehen Physiker zwei große Elementarteil- warum Atoml<erne zerfallen. Doch der Plan für den Mil<ro-
chen-Sippen am Werk. Zum einen sind da die Bausteine, kosmos ist vermutlich nicht vollständig: Wenn Astronomen
aus denen die Materie um uns herum besteht. Zu ihr zählen weit ins Weltall hinausblicken, in die Zwischenräume von
die Quarks, die im Innersten von Atomkernen durcheinan- Galaxien, sehen sie Spuren einer Welt, die aus anderen
derwabern, und - viel weiter draußen - die Elektronen. Teilchen zu bestehen scheint und in der womöglich andere
Kräfte wirken. Die Forscher sprechen von Dunkler Materie -
und wissen bisher nicht einmal ansatzweise, was sich
Der Versuchsaufbau zur X17-Suche passt bequem dahinter verbirgt (siehe Spektrum März 2019, S. 12).
in ein mannshohes Regal. Unter anderem messen die X17 könnte ein erster Vorgeschmack auf dieses unsicht-
Forscher Gammastrahlung aus Kernzerfällen, wozu bare Reich sein, glauben manche Wissenschaftler. Auf der
sie sich ein neues Messgerät haben bauen lassen (hier Erde würde das neue Botenteilchen nur im Verborgenen
rechts im Vordergrund). agieren: im unmittelbaren Umfeld von Atoml<ernen und auf
Seit 20 Jahren sucht Attila
Krasznahorkay mit einem
speziellen Detektor nach
einem neuen Teilchen. Das
Atomki-Forschungsinstitut
(unten) in Debrecen,
Ungarn, wurde bereits 1954
gegründet. Etwa 100
Forscher arbeiten hier an
Fragen aus Atomphysik
und Materialwissenschaft.

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eine Weise, die man noch nicht versteht. Aber in den
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spielen. Womöglich flitzt es dort ständig zwischen Teilchen
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der Dunklen Materie hin und her - wenn es denn wirklich

existiert.
Es gehört wohl zu den Besonderheiten der Physik, dass
sie die spektakulärsten Fragen an den unscheinbarsten
Orten erforscht. Wer am Pförtnerhäuschen des Atomki-
1nstituts in Debrecen vorbeigeht, wähnt sich zunächst auf
dem Gelände einer Firma für Heizungsrohre oder Lackier-
pistolen. Ein paar weiß gestrichene Quader liegen in der
Landschaft, verteilt um einen Parkplatz und flankiert von einer lange zurückliegenden Fachkonferenz: Physiker, die
ein paar kräftigen Fichten. sich über eine weiße Tischdecke zuprosten oder sich auf
Attila Krasznahorkay kommt zur Begrüßung nach drau- einer Pferderanch im Sattel halten.
ßen. Er ist ein großer Mann mit schwerem Gang, in Kord- Und dann ist da der Mann mit Halbglatze, weißblondem
jacket und blauem Wollpulli, rot im Gesicht vom Herbeieilen. Haar und weißer Hose, der freundlich in die Kamera blickt.
Zielstrebig führt er auf eines der Gebäude zu. Es geht durch Auf mehreren Fotos steht er in der Mitte der Gruppe. Krasz-
eine staubige Werkstatt, in der es nach verschmortem nahorkay bleibt neben einem dieser Bilder stehen und
Gummi riecht - in die Halle, in der sie nach X17 suchen. deutet auf einen daneben angepinnten Nachruf. >>Fokke de
Dort glänzen Röhren, Flansche und Vakuumpumpen im Boer ist 2010 gestorben. Wir machen in Erinnerung an ihn
Kunstlicht von Halogenlampen. 2015 hat das Atomki-lnstitut weiter.<<
hier einen neuen Teilchenbeschleuniger in Betrieb genom- Der Niederländer, der Krasznahorkay im Jahr 2000 zur
men, möglich machten es Gelder der EU, der ungarischen Suche nach dem Phantomteilchen überredete, ist so etwas
Akademie der Wissenschaften und des örtlichen Atom- wie die Schlüsselfigur des Projel<ts. Denn wegen de Boer
kraftwerks. Krasznahorkay läuft die rund 20 Meter lange schwebt über den Messungen in Debrecen nicht nur die
Vakuumröhre der Maschine ab, vorbei an Magneten, die die Frage, ob die Ungarn ihr Equipment im Griff haben. Es geht
beschleunigten Atomkerne auf der Bahn halten, in die ferne auch darum, ob sich Krasznahorkay und sein Team von der
Ecke der Halle. Dort steht das Messgerät der X17-Jäger: eigenwilligen Arbeitsweise ihres Amsterdamer Kollegen
sechs armlange Speichen aus schwarzem Plastil<, zigfach emanzipiert haben.
verkabelt und bedeckt von grauem Klebeband. >>Weil es so Fokke de Boer zählte zu den Ersten, die sich für ein
viel Kritil< an unserer Messung gab, haben wir kürzlich alle neues Teilchen in der Art von X17 interessierten. Wie l<ein
Teile durch neue ersetzt<<, erzählt Krasznahorkay. Zweiter warb er für die nötigen Laborversuche, trieb
Das Nachbargebäude konserviert dagegen die Vergan- Kollegen an und verteidigte Messdaten, über Jahrzehnte
genheit. Der Weg in Krasznahorkays Büro, 2. Stock, Zim- hinweg. Doch mit der Zeit steigerte er sich so sehr in die
mer 201, führt durch einen schaukeligen Aufzug und über Suche hinein, dass er überall neue Elementarteilchen sah -
orange-vergilbtes Linoleum. An einer der Flurwände hängt und ihm irgendwann niemand mehr glaubte, nicht einmal
eine Pinnwand mit alten Fotos. Mal ist ein Besuch des Attila Krasznahorkay.
einstige Präsidenten der Darmstädter Gesellschaft für Für de Boer begann der Traum von einem neuen Teilchen
Schwerionenforschung (GSI) zu sehen, mal Szenen von bereits Mitte der 1980er Jahre, mit Messdaten aus Darm-

Spektrum der Wissenschaft 8. 2 0 15


stadt. An einem 120 Meter langen Teilchenbeschleuniger Der Niederländer Fokke de Boer (Dritter von rechts)
feuerten Forscher damals Atomkerne aufeinander. brachte Attila Krasznahorkay und dessen Team
Bei den Minikarambolagen verwandelte sich Bewegungs- auf die Idee, mit einem in Deutschland gebauten
energie in Masse, getreu Einsteins berühmter Formel Spektrometer (im Hintergrund) nach einem
E = mc 2 . Konkret bedeutete das: Die Atomkerne zerplatzten X-Boson zu suchen. Bis zum Jahr 2006 war er
und ließen einen ganzen Schwall anderer Partikel entste- an den Messungen in Ungarn beteiligt.
hen. Unter anderem mit zwei Detektoren namens EPOS
und ORANGE sichteten die Darmstädter diese Trümmer.
Dabei stießen sie auf eine rätselhafte Anomalie: In den de Boer zusammengearbeitet, ihn auf allen Etappen seines
Atomkernkollisionen tauchten bei manchen Energien des Wegs begleitet, ihm bis zum Ende unterstützt.

Seinen
Beschleunigers überraschend viele Positronen auf. Freund habe ein besonderer Sinn für Asthetik angetrieben,
Im Mikrokosmos sind die positiv geladenen Antiteilchen sagt van l<linl<en. Wo andere bloß ein Schema denl<barer
der Elektronen eigentlich nichts Ungewöhnliches. Wenn die Zerfälle eines Atomkerns sahen, ein Wirrwarr aus Linien,
Natur überschüssige Energie loswerden will, ruft sie Zahlen und Pfeilen, erblickte de Boer die Schönheit der
manchmal ein Elel<tron-Positron-Paar ins Leben. Doch auch Schöpfung. >>In dieser Hinsicht war er wie ein Künstler.<<
ein bisher unbekanntes Elementarteilchen, das nach kurzer Angetan hatten es de Boer nicht nur die Darmstädter
Flugstrecke in ein Elektron und ein Positron zerfällt, könne Daten, sondern auch Ergebnisse aus Kairo, von denen
die Messdaten erklären, meinten manche Physiker. er um das Jahr 1986 erfuhr. Auch dort wichen Positronen
Ob solch ein neues Teilchen tatsächlich hinter der Darm- aus Atomkernkarambolagen von den Erwartungen ab.
städter Anomalie steckte, blieb fürs Erste unklar. Aber über Und de Boer hatte eine Idee, wie man diese Spur weiter
Jahre hinweg waren die >>EPOS peaks<< ein Thema, das verfolgen konnte. Sie hatte mit dem Innersten eines jeden
Experten weltweit beschäftigte. Mancher Forscher wähnte Atoms zu tun, dem Kern. Er kann verschiedene Energie-
sich ihretwegen auf dem Weg zum Nobelpreis. Nur wenige niveaus einnehmen, ähnlich der Hülle, in der Elel<tronen
ahnten, dass die Sache zu einer großen Enttäuschung unterschiedliche Bahnen offenstehen. Der Kern hingegen
werden würde. Zu einer Art Prolog bei der langwierigen geht anders mit überschüssiger Energie um: Er schwingt
Suche nach einem neuen Boson - ein Prolog, aus dem man wild hin und her, mit einer von mehreren klar voneinander
bereits viel lernen konnte. abgegrenzten Frequenzen.
Welche das sind, lässt sich nur mit technischer Finesse
Viele Anomalien, keine Erklärung klären. Eine Möglichkeit ist eine sanfte Variante der Karam-
Fokke de Boer, damals Mitte 40, war zu dieser Zeit auf der bolagen, die an großen Teilchenbeschleunigern stattfinden.
Suche nach einem Achtungserfolg. Einst in seiner Heimat Physiker beschießen dabei ruhende Materie mit einem
Amsterdam als großes Talent gehandelt, zog er Ende der Strahl aus Protonen, die sie mit Hilfe elektrischer Felder in
1980er Jahre schon seit mehr als zehn Jahren von Institut Schwung gebracht haben. Haben die Partikel genau das
zu Institut, von Zeitvertrag zu Zeitvertrag. In der Positronen- richtige Maß an Bewegungsenergie, zerplatzen gerammte
Anomalie sah er eine Chance, sich einen Namen zu ma- Kerne nicht etwa. Sie nehmen stattdessen eines der Proto-
chen. Fasziniert malte er sich aus, was für ein Teilchen sich nen auf, wachsen dadurch etwas und beginnen zu zappeln.
dahinter verbergen könnte. Selbstbewusst trug er seine Wenn sie sich anschließend wieder beruhigen, spucken
Gedanken auf Konferenzen vor. die betroffenen Kerne ein Strahlungspaket aus. Oder, in
>>Fol<ke hatte immer viele Ideen<<, erinnert sich sein selteneren Fällen, ein Elektron-Positron-Paar. Indem
Kollege Johan van Klinken, wenn man ihn heute in den Physiker diese Absonderungen auffangen und analysieren,
Niederlanden anruft. 35 Jahre lang hat van Klinken mit können sie die Energieniveaus von Atomkernen rekonstru-

16 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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beschossenen Atomkerne in Un- hat untersucht, in welche Richtung ßen, die unter einem Winkel von
garn intakt: Beim Aufeinander- diese Paare bevorzugt davonflie- 140 Grad auseinanderfliegen, also
treffen fangen sie die Protonen ein, gen. Die Forscher nutzten dazu ein fast in entgegengesetzte Richtung.
wodurch sie sich in die Kerne des Messgerät aus sechs armlangen Bei Teilchen aus innerer Paarbil-
Berylliums umwandeln. Wegen der Röhren. Sie sind wie die Speichen dung würde man das Gegenteil
überschüssigen Energie zappeln eines Rads angeordnet, in einer erwarten: Wegen der Impulserhal-
sie anschließend wild hin und her, senkrechten Ebene zum Strahl des tung bewegen sich Elektronen und
nehmen also einen >>angeregten<< Teilchenbeschleunigers. Positronen hier meistens grob in die
Zustand ein. Fallen die Kerne nach Im Mittelpunkt des Rads treffen Richtung, in der das Proton den
kurzer Zeit in den Grundzustand die Protonen auf ein Plättchen aus Atomkern gerammt hat.
zurück, geben sie meist ein Päck- Lithium und regen die Atomkerne Erklären ließe sich die Häufung
chen Gammastrahlung ab. darin an. Geben diese kurz darauf großer Winkel durch ein neues
Doch so läuft es nicht immer: Elektronen und Positronen ab, lässt Teilchen, das der Kern mit einer
In seltenen Fällen entweicht statt sich ihre Bahn mit den Speichen- Wahrscheinlichl<eit von 6 zu
des Gammaquants ein >>virtuelles<< detektoren verfolgen: Dort entste- 1000 000 statt eines Gammaquants
Photon, das sich im elektromag- hen schwache Lichtblitze, wenn ausspucl<t, meinen Krasznahorkay
netischen Feld des Kerns rasch in sich die geladenen Teilchen durch und seine Kollegen. Dieses X-Boson
ein Elektron und ein Positron um- das Detektormaterial bewegen. wäre instabil und würde nach
wandelt; Kernphysil<er sprechen Bei der Auswertung der Daten l<urzer Flugstrecke in ein Elektron
von innerer Paarbildung. sind die Ungarn auf überraschend und ein Positron zerfallen. Da es
jedoch deutlich langsamer unter-
wegs wäre als ein masseloses
Strahlungsquant, würden sich seine
gegensätzlich gepolten Zerfalls-
• produkte bevorzugt unter großen
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Winkeln voneinander entfernen.
Die Abweichung tritt in den
Daten deutlich hervor, eine statisti-
sche Schwankung ist also sehr
unwahrscheinlich. Die Auswertung
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anderer Atomkerne bewegen. Und
diese Paare lassen sich nicht immer
sauber von denen aus anderen
Quellen unterscheiden.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 17


ieren. Eigentlich war das nichts anderes als das Tagesge- Auch war der schwenkbare Aufbau, der de Boer vorschweb-
schäft der Kernphysik, tausendfach umgesetzt und bis in te, viel zu fehleranfällig. Also machten sich Stiebing und sein
die letzte Ecke erforscht. Doch de Boer und andere erkann- Doktorand Oliver Fröhlich daran, ein besseres Gerät zu
ten: In einer leichten Abwandlung müsste sich die Technik bauen. Es bestand aus acht fest installierten Teilchendetek-
auch für die Suche nach einem neuen Elementarteilchen toren, die wie die Speichen eines Rads in alle Richtungen
eignen. Denn das neue Boson wäre eine weitere Möglich- zeigten - ein Konzept, mit dem Attila Krasznahorkay in leicht
keit für Atomkerne, Energie abzugeben. Der Neuling wäre abgewandelter Form 25 Jahre später noch arbeiten wird
dabei nicht stabil, sondern würde nach kurzer Flugzeit in ein (siehe >>Das Experiment von Debrecen<<, S. 17).
Elektron und ein Positron zerfallen.
In einem Punkt sollten sich diese Duos aber von jenen Skeptische Frankfurter und ein euphorischer
unterscheiden, die auf Strahlungsteilchen zurückgehen Niederländer
oder direkt vom Kern ausgestoßen werden: Sie müssten 1995 gab es in Frankfurt erste Ergebnisse: Elektron-Positron-
unter einem deutlich größeren Winkel auseinanderfliegen. Paare schienen tatsächlich etwas häufiger als gedacht
Verfolgt man also akribisch, in welcher Richtung angeregte unter großen Winkeln auseinanderzufliegen, was man als
Atomkerne Elektronen und Positronen davonschleudern, Indiz für ein neues Boson deuten konnte. So sah es jeden-
l<önnte das Hinweise auf das Teilchen liefern. falls Fokke de Boer. Seine deutschen Kollegen blickten
Eine kreative Idee, und auf den ersten Blick nicht allzu skeptisch auf die schwer interpretierbaren Daten. >>Meiner
schwer in der Umsetzung. Ein Detektor für die Winkelmes- eher bescheidenen Auffassung über die erreichte experi-
sung ließ sich für wenig Geld in jeder Institutswerkstatt mentelle Genauigkeit hat Herr Dr. de Boer sich nicht an-
zusammenbauen. De Boer machte sich an die Arbeit. Was schließen wollen<<, heißt es in Oliver Fröhlichs Doktorarbeit,
ihm fehlte, war ein geeigneter Protonenbeschleuniger, der die zu einer Art Standardwerk für X17-Jäger werden sollte.
das neue Teilchen aus Atomkernen herauskitzeln konnte. Wenn man Kurt Stiebing heute anruft, wird er noch
Anfang der 1990er Jahre rief er deshalb in Frankfurt am deutlicher. >>Ich bin erstaunt, dass jemand noch immer mit
Main an, am dortigen Institut für Kernphysik. Der Beginn meinem Detektorentwurf arbeitet<<, sagt er mit Blick auf die
des ersten Akts der Teilchensuche. Messungen in Debrecen. Denn schon damals, in Frankfurt,
In Frankfurt erreichte de Boer Kurt Stiebing, einen ernst- sei klar gewesen, wie heikel Experimente mit Positronen
haften und gewissenhaften Experimentalphysiker. Einige waren. >>Man musste wahnsinnig viele Fehlerquellen beach-
Jahre zuvor war Stiebing an den Darmstädter Messungen ten.<< Selbst wenn man jahrelang weiter Daten genommen
beteiligt gewesen. Nun war es an der Zeit für ein eigenes hätte, wäre die Sache unklar geblieben.
Positronen-Projekt. Doch als de Boer mit dem von ihm Da war nicht nur die Schwierigkeit, das seltene Zerfalls-
entworfenen Apparat in Frankfurt ankam, schüttelte Stie- signal des neuen Teilchens von Elektron-Positron-Paaren
bing nur den Kopf. Unter anderem hatte der Niederländer aus anderen Quellen zu unterscheiden. Diese fliegen manch-
falsch berechnet, wie der Detektor auf Signale reagierte. mal ebenfalls unter einem großen Winkel auseinander. So

Was für ein Teilchen könnte X17 sein?


Ein leichtes, bisher unentdecktes als dunkles Photon in Frage grundlegenderen Phänomens
Boson aus Kernphysik-Experimen- kommt, muss dieses viel wähleri- begreifen lassen, was ein weiterer
ten lässt sich nur mit Mühe in das scher sein, als Forscher bislang Schritt zu einer >>großen Vereinheit-
bisherige Regelwerk für den Mikro- annahmen: Unter anderem dürfte lichung<< der Kräfte wäre. Gelungen
kosmos eingliedern. Am ehesten es lediglich mit Neutronen wech- ist diese Synthese bereits bei
könnte es sich bei X17 um einen selwirl<en, nicht aber mit Protonen. schwacher Kernkraft und Elel<tro-
exotischen Verwandten des Pho- Nur so lässt sich erklären, dass es magnetismus, die nach Ansicht
tons handeln, das in der uns be- bisher nicht in anderen Experimen- von Forschern bloß zwei Gesichter
kannten Welt den Elektromagnetis- ten aufgetaucht ist. derselben >>elektroschwachen<<
mus überträgt. Ein >>dunkles<< Eine Möglichkeit wäre auch ein Grundkraft darstellen.
Photon wäre im Gegensatz zu bisher unbekanntes Austausch- Nicht in Frage als Ursache der
seinem bekannten Vetter allerdings teilchen, das eine Kraft zwischen aktuellen Kernphysik-Anomalie
nicht masselos. Quarks und Elel<tronen vermittelt. kommen Axionen. Die hypotheti-
Es würde dennoch bloß sehr Es steht bei manchen Theoretikern schen Teilchen gelten ebenfalls als
schwach mit bekannten Elemen- hoch im Kurs, da sich mit ihm eine Kandidaten für die Dunkle Materie.
tarteilchen interagieren sowie neue Brücke zwischen schwacher Wären sie so schwer wie X17,
möglicherweise auch mit den und starker Kernkraft schlagen hätten Forscher sie jedoch schon
mutmaßlichen Bestandteilen der ließe. Noch ist unklar, ob sich diese vor Jahrzehnten an Teilchenbe-
Dunklen Materie. Doch damit X17 beiden Kräfte als Facetten eines schleunigern entdeckt.

18 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


will es die Quantenphysik, in der selbst unwahrscheinliche
Ereignisse gelegentlich stattfinden. Hinzu kam das allge-
genwärtige Störfeuer des Mikrol<osmos: Teilchen aus
anderen Zerfällen, Querschläger aus benachbarten Kollisio-
nen, Partikel der kosmischen Strahlung - ein Albtraum für
jeden Experimentalphysiker.
Letztlich einigte sich das niederländisch-deutsche Team
auf eine Interpretation zwischen dem Optimismus de Boers
und der Skepsis der Deutschen. Fröhlich nahm einen Job
in der Industrie an, Stiebing schlug eine andere Forschungs-
richtung ein. >>Ich wollte nicht etwas nachjagen, was man
mit verfügbaren Instrumenten nicht entdecken konnte<<,
sagt er rückblickend. >>Mich hat die Sache irgendwann
gelangweilt.<<
Auch in anderer Hinsicht brachten die 1990er Jahre
schlechte Nachrichten für Teilchenjäger: Die Darmstädter
Positronen-Anomalie verschwand. Forscher in den USA
ließen wie ihre deutschen Kollegen Atomkerne zerplatzen, :r:
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Was folgte, war eine Zeitenwende: Viele Experten wech- Mit Protonen aus einem Teilchenbeschleuniger beschießt
selten zu größeren Beschleunigern, die Kerne mit so viel das ungarische Team ein dünnes Plättchen. Getroffene
Wucht zertrümmern, dass selbst ihre kleinsten Bestandteile Atomkerne gelangen so in einen angeregten Zustand.
sichtbar werden. Aus Kernphysikern wurden Teilchen-
physiker. Messungen, bei denen es vorrangig um ganze
Atomkerne und Positronen ging, l<amen aus der Mode - Lebensgefährtin mit der gemeinsamen Tochter lebte.
und stießen bei vielen Forschern fortan auf Vorbehalte. Manchmal legten er und sein Freund Johan van Klinken die
Doch Fokke de Boer ließ sich nicht unterkriegen. Immer 1600 Kilometer im Auto zurück. Einen festen Job hatte
wieder veröffentlichte er Fachaufsätze mit kreativen de Boer zu dieser Zeit nicht: Eine Einstellungsklage an
Deutungen der Frankfurter Daten. >>Da ist was, da ist was<<, seinem Amsterdamer Heimatinstitut war zuvor gescheitert.
sagte er zu Kollegen. Als feststand, dass die Versuche am
Main nicht weitergingen, rief er im Frühjahr 2000 Attila Eine ganze Schar neuer Bosonen
Krasznahorkay an, der zu dieser Zeit in Japan forschte. In Dennoch sah sich der Niederländer auf einem guten Weg.
Debrecen, der Heimatstadt des Ungarn, gab es ebenfalls Nachdem er eine Weile über den Ergebnissen aus Frankfurt
einen geeigneten Teilchenbeschleuniger. und Debrecen gebrütet hatte, meinte er diese mit sage
Krasznahorkay hatte sich damals bereits einen Ruf als und schreibe acht neuen Bosonen erklären zu können. Es
fähiger Experimentator erarbeitet. Sein Fachgebiet: kam zum Streit: Wie schon Kurt Stiebing blickte Attila
>>Riesenresonanzen<< bei Atomkernkollisionen. Ein seit Krasznahorkay kritisch auf de Boers Auslegung der Daten.
langem beackertes Forschungsfeld, auf dem Anfang des Aus seiner Sicht taugten diese nicht mal als Indiz für ein
neuen Jahrtausends bloß noch Details offen zu sein einziges neues Teilchen - woraufhin das Verhältnis zwi-
schienen. De Boers Anruf stellte hingegen ein exotisches schen beiden deutlich abkühlte. „

Thema in Aussicht, ein kleines Forschungsabenteuer. Und Schließlich diagnostizierten Arzte bei Fokke de Boer
so sagte Krasznahorkay nach kurzer Bedenkzeit zu. Bald Lungenkrebs. >>Johan, sie glauben mir nicht<<, klagte er
darauf brachte Kurt Stiebing sein Winkelmessgerät nach seinem Freund van Klinken ein Jahr vor seinem Tod. Im Juli
Ungarn. Der Start des zweiten Al<ts der Jagd - in dem die 2010 starb de Boer. Auf die Trauerl<arte ließ seine damals
Fährte erst klarer hervortrat, nur um dann zu versanden. 17-jährige Tochter eine Zeichnung drucken: ein Diagramm
In Debrecen arbeiteten Krasznahorkay und de Boer zu- mit all den Bosonen, an die der Niederländer glaubte.
nächst mit Atomkernen des Sauerstoffs. Richtig angeregt, Attila Krasznahorkay reiste nicht zur Beerdigung nach
schienen diese ein Boson abzugeben. Den Messungen Amsterdam. Aber er hängte ein großes Poster im Flur des
zufolge sollte es eine Masse von 9 Megaelektronvolt (MeV) Atomki-lnstituts in Debrecen auf, in Erinnerung an >>unseren
haben, ungefähr 18-mal so viel wie ein Elel<tron. Auch bei unvergesslichen Freund und Kollegen<<. Auch in einer
12 MeV schien sich etwas zu regen, wie Tests mit Beryllium Veröffentlichung aus dem Jahr 2015 werden er und sein
zeigten. Damit war der Neuling schwerer als jene 1,6 MeV, Team de Boer überschwänglich danken: >>Wir stehen zu-
von denen de Boer Anfang der 1990er Jahre ausgegangen tiefst in seiner Schuld.<<
war, und etwas leichter als X17, das heutigen Daten zufolge Es fällt nicht leicht, dies mit den heutigen Schilderungen
knapp 17 MeV haben müsste. des Ungarn in Einklang zu bringen. Sie lassen insgesamt
Für de Boer war die Arbeit in Debrecen ein Kraftakt. wenig Gutes an de Boer. >>Er war ein Träumer und hat sich
Wochenweise reiste er aus den Niederlanden an, wo seine sehr eigenartig verhalten<<, sagt Krasznahorkay etwa. Doch

Spektrum der Wissenschaft 8. 2 0 19


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Der Tandetron-Beschleuniger am Atomki-lnstitut det hätte. Aber sie ging weiter, in einer Art drittem Akt: 2010
nimmt Atomkerne aus einer radioaktiven Quelle - nahmen Krasznahorkay und sein Team mit verbesserter
und feuert sie dann in eine Vakuumröhre. Apparatur die Messungen wieder auf, um die Sache ein für
alle Mal abzuschließen. Tatsächlich sahen die Forscher
nichts mehr von einem Teilchen bei 9 oder 12 MeV. Dafür
weshalb haben er und sein Team dann all die Jahre mit dem entdeckten sie eine neue Anomalie, bei 13,5 MeV.
Holländer zusammengearbeitet und ihn nach seinem Tod Als Krasznahorkay diese Daten 2012 bei einer Konferenz
immer wieder gewürdigt? Und warum hat Krasznahorkay in Italien vorstellte, überraschte ihn das Interesse der interna-
2006 und 2008 gemeinsam mit de Boer Konferenzberichte tionalen Forschergemeinschaft. Sie diskutierte zu dieser Zeit
veröffentlicht, in denen sie Messdaten aus Debrecen mit über >>dunkle Photonen<< als möglichen Bestandteil der Dunk-
einem neuen Boson erklären? len Materie. Das neue Boson, auf das die Messungen der
Krasznahorkay sinkt etwas in sich zusammen, wenn man Ungarn hindeuteten, schien zu diesem Stecl<brief zu passen.
ihn das in seinem Büro in Debrecen fragt. Dann antwortet In den folgenden Jahren trat das Signal in Debrecen dann
er, leise und leicht betreten: >>Fokke war ein armer Mann, deutlicher hervor. Waren überschüssige Elektron-Positron-
alle anderen waren gegen ihn.<< Daher habe er seinen Paare zu de Boers Zeiten noch bei allen möglichen Winkeln
Kollegen unterstützen wollen - schließlich fühle er sich aufgetaucht, häuften sie sich nun bei 140 Grad, als auffällige
selbst oft wie ein Außenseiter. Beule in dem Diagramm mit Messwerten. Damit änderte
Wer den gutmütigen Ungarn einmal erlebt hat, ist ge- sich jedoch erneut die Masse des mutmaßlichen Teilchens.
neigt, ihm diese Version der Geschichte abzunehmen. Statt 13,5 MeV schienen es eher 17 MeV zu sein - X17 war
Andererseits wirft seine Erzählung Fragen auf. De Boers geboren. >>Die Daten haben damals schon gestimmt, aber
Vertrauter Johan van Klinken erinnert sich etwa an eine unsere Interpretation war anfangs nicht ganz l<orrekt<<, sagt
Phase, in der Krasznahorkay ebenfalls hinter der Teilchen- Krasznahorkay.
Deutung gestanden habe, nicht nur aus Mitleid, sondern

2016 akzeptierten die >>Physical Review Letters<< den
aus Uberzeugung. Versucht sich Krasznahorkay also nach- Aufsatz zur Veröffentlichung, das prestigeträchtigste aller
träglich von seinem umstrittenen Kollegen zu distanzieren, Physiker-Journals. Und bald darauf lieferte ein Team um
um die Glaubwürdigkeit seiner Gruppe zu retten? Der Ungar Forscher der University of California in lrvine eine Interpreta-
bestreitet das: >>Es gab diese Distanz schon immer.<< tion, die bei Teilchenphysikern weltweit große Beachtung
Unklar bleibt derweil, wieso das Team nach de Boers Tod fand: X17 könnte ein höchst wählerisches Boson sein, das
nirgendwo öffentlich aufgearbeitet hat, was bei den Experi- nur auf die Neutronen in Atomkernen reagiert. Protonen
menten damals schiefgelaufen ist. In der Wissenschaft hingegen würden das neue Teilchen komplett kaltlassen.
gehört solch eine Korrektur vergangener Fehler zum guten Im Mikrol<osmos gibt es für solchen Snobismus bereits
Ton. Dass dieser Schritt bei den Messungen aus den Nuller- einen Präzedenzfall: Das Z-Boson der schwachen Wechsel-
jahren ausgeblieben ist, hat der Gruppe viel Kritik einge- wirkung verhält sich ganz ähnlich. >>Ein Teilchen wie X17 wird
bracht. Krasznahorkay rechtfertigt das rücl<blickend mit zwar von bisherigen Theorien nicht vorhergesagt<<, räumt
Zeitmangel: Die Bosonen-Suche sei nur ein Nebenprojekt Tim Tait aus der lrvine-Gruppe ein. >>Doch vielleicht ist die
gewesen, und für sein Vorankommen in der Wissenschaft Natur einfach ein bisschen sonderbarer, als wir es uns bisher
habe er dringend andere Publikationen schreiben müssen. vorgestellt haben.<<
All das würde wohl keine große Rolle spielen, wenn die Dass X17 so wählerisch sein müsste, hat dabei einen
Jagd nach dem neuen Boson mit dem Tod de Boers geen- einfachen Grund. Nur auf diese Weise lässt sich seine Exis-

20 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


tenz mit anderen Messungen in Einklang bringen. Forscher erwartet, berichteten sie im Herbst 2019. Diesmal haben die
haben im Lauf der Jahre immer wieder mit großen Teil- >>Physical Review Letters<< jedoch ausführliche Nachbes-
chenbeschleunigern nach neuen Partikeln gesucht. Eigent- serungen erbeten und den Fachaufsatz letztlich abgelehnt.
lich müsste X17 auch dort entstanden sein, durch die in den Dennoch haben die neuen Ergebnisse Bewegung in die
Kollisionen freigesetzte Energie - zumindest, wenn es X17-Suche gebracht. Mindestens eine Laborgruppe will die
wirklich einen Platz im Baukasten der Natur hat. Aber wenn Experimente aus Debrecen wiederholen, das >>New JEDl<<-
dem so ist, hat es keine Spuren hinterlassen, weder in dem Projekt im französischen Orsay. Und mit dem PADME-Ver-
für solch eine Suche geeigneten CERN-Detektor NA64 suchsaufbau in Frascati, Italien, sowie dem US-ameril<ani-
noch im BESlll-Spektrometer in China. schen >>Dark Light Experiment<< wollen Forscher in den
Was nicht heißen muss, dass es das Teilchen nicht gibt. nächsten Jahren gezielt nach dunklen Photonen Ausschau
Im Trümmerfeld zerplatzender Atomkerne ließe sich X17 halten. Dabei l<önnten ebenfalls Spuren des Teilchens
womöglich bloß dann entdecken, wenn man genauer auftauchen, hoffen die Teams.
hinschauen würde als bisher, sagen manche Physil<er. Attila Krasznahorkay hat die Bosonenjagd derweil zu
Vielleicht hat das neue Teilchen noch unbekannte Eigen- einer kleinen Berühmtheit gemacht. Unlängst durfte er im
schaften, die erklären, wieso es in Attila Krasznahorkays ungarischen Fernsehen auftreten, daneben hat ihn seine
Experiment auftaucht, aber nirgendwo sonst. Heimatstadt Debrecen Ende 2019 zur Person des Jahres
gekürt. Sein Highlight war indes ein Vortrag in Budapest vor
Die Forscher können nur simulieren, wie ihr Detektor hunderten Schülern. >>Es ist sehr schwer für uns, Nach-
auf Signale aus dem Mikrokosmos reagiert wuchs zu finden<<, seufzt er. >>Die jungen Leute wollen hier
Ein Detektor liefert auffällige Daten, andere nicht: Es ist zu lande lieber in der freien Wirtschaft arbeiten.<<
eine Situation, wie es sie immer wieder gibt in der Physil<. Zum Abschluss des Besuchs führt der ungarische
Bislang steckte in solchen Fällen fast immer ein Fehler Physil<er noch einmal durch die Versuchshalle des Atomki-
dahinter. Davon gehen die meisten Experten auch bei X17 lnstituts. Es ist mittlerweile früher Abend, das Surren der
aus - und sind entsprechend zurückhaltend, wenn es Vakuumpumpen ist verstummt, ein Techniker macht bereits
darum geht, das Ergebnis zu überprüfen. >>Sicherlich zehn die Lichter aus. Krasznahorkay bleibt vor dem Messgerät
Labore weltweit könnten das Atomki-Experiment nachvoll- seiner Gruppe stehen und legt sanft seine Hand darauf.
ziehen<<, sagt etwa Andreas Zilges von der Universität zu Haben er und sein Team wirklich schon alles probiert? Der
Köln. >>Wir selbst könnten es hier im Keller unseres Instituts groß gewachsene Physiker denkt kurz nach. >>Es gibt schon
wohl binnen eines halben Jahrs machen.<< Doch er und noch ein paar Sachen, die wir testen wollen<<, sagt er
viele seiner Kollegen glaubten schlicht nicht daran, dass die schließlich. >>Im Grunde sind wir erst am Anfang.<<
Ungarn einem echten Phänomen auf der Spur sind - Und so gibt es also selbst heute, nach jahrzehntelanger
entsprechend habe sich lange Zeit niemand die Mühe Suche, zwei mögliche Enden für die X17-Geschichte.
gemacht. Vielleicht versteckt sich ausgerechnet dort, wo bislang
Dabei ist es nicht so, dass Forscher wie Zilges der Grup- niemand ganz genau nachgesehen hat, ein neues Teilchen.
pe aus Osteuropa grundsätzlich misstrauen. Er halte l<rasz- In diesem Fall wird Fokke de Boer als tragischer Held in
nahorkay und sein Team für integer und kompetent. Eine die Geschichte eingehen, Attila Krasznahorkay vermutlich
Einschätzung, die auch andere Experten teilen, mit denen den Nobelpreis erhalten. Und viele Beobachter werden
>>Spektrum<< für diesen Artikel gesprochen hat. >>Das heißt sich fragen, ob sie mit zu großen Vorurteilen nach Ungarn
aber nicht, dass man automatisch vor Fehlern gefeit ist<<, geblickt haben.
sagt Zilges. Zumal das Experiment, das man sich da vorge- Wahrscheinlicher ist wohl ein anderer Ausgang: Wenn
nommen habe, einfach enorm knifflig sei. l<ein anderes Labor X17 aufspüren kann, wird es zu einer
Bis heute kämpfen Krasznahorkay und sein Team mit Randnotiz in der Geschichte der Teilchenphysik werden.
denselben Problemen, die schon Kurt Stiebing vor 25 Eine weitere falsche Fährte, bei der optimistische Forscher
Jahren in Frankfurt hatte: Es ist sehr schwer, die Spuren zu viel in Messergebnisse hineininterpretiert haben. Attila
des mutmaßlichen Teilchens sauber aus der Kakofonie Krasznahorkay wird in diesem Szenario sicherlich einsehen,
des Mikrokosmos herauszufiltern. Man kann immer nur dass er einen Fehler gemacht hat, und sich einer anderen
schätzen, wie viele Elektronen und Positronen dort umher- Frage aus der Kernphysik zuwenden. >>Ich will mich nicht
flitzen und wie ein Detektor auf sie reagiert. Forscher auf eine Sache versteifen und am Ende dafür leiden, so wie
verlassen sich hierzu auf eine CERN-Software namens Fokke<<, sagt er. •
GEANT, in der es auf jede einzelne Schraube ankommt.
Weichen die darin getroffenen Annahmen nur leicht von
der Realität ab, verfälscht das die Datenauswertung. QUELLEN

Krasznahorkay sagt, er und sein Team hätten in den De Boer, F. W. N. et al.: A deviation in internal pair conversion .
vergangenen Jahren viel Zeit investiert, um diese und Physics Letters B 388, 1996
andere mögliche Fehlerquellen auszuschließen. An den Feng, J. et al.: Particle physics models for the 17 MeV anomaly
Daten habe sich dadurch nichts geändert. Im Gegenteil, die in beryllium nuclear decays. Physical Review D 95, 2017
Fährte tritt nun deutlicher denn je hervor: Auch bei ange- Krasznahorkay, A.J. et al.: Observation of anomalous internal
regten Heliumatomkernen fliegen Elektronen und Positro- pair creation in 8Be: A possible indication of a light, neutral
nen etwas häufiger unter großen Winkeln auseinander als boson. Physical Review Letters 116, 2016

Spektrum der Wissenschaft 8.20 21


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Felsmalereien in Indonesien liefern möglicherweise das bislang


früheste Zeugnis für erzählende Kunst. Die rund 44000 Jahre alten
Bilder stellen angeblich Mischwesen auf der Jagd dar.

Wollnashörner, Mammuts, Bi- weise? Lange Zeit kamen alle Belege heste Zeugnis
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sons - die frühesten Kunstwerke für die früheste figürliche Kunst aus- eines narrativen 1::l
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der Menschheit zeigen das, was schließlich aus Europa - nichts davon Bilds, das überdies -.. :2
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Homo sapiens vor 30 000 oder 40 000 älter als 40 000 Jahre. Aus gutem von fiktiven Wesen
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Keines dieser Bilder erzählt jedoch Eiszeitkunst. Doch vor einigen Jahren Das Team entdeckte die Malerei
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eine konkrete Geschichte oder berich- haben Forscher am anderen Ende der 2017 in der Höhle Leang Bulu'
tet über ein bestimmtes Ereignis, wie Welt, in Südostasien, ebenfalls Höh- Sipong 4, die sich in der Karstregion
wir es aus späteren Epochen kennen - lenbilder aus den Händen eiszeitlicher Maros-Pangl<ep im Süden Sulawesis
etwa, wenn der ägyptische König Jäger und Sammler gefunden. Und befindet. Die bewaldete Landschaft ist
Narmer auf der gleichnamigen 5000 eine dieser Malereien ist nicht nur älter gespickt mit Felstürmen und steil
Jahre alten Schieferpalette Städte als ihre Pendants in Europa, sondern abfallenden Erhebungen, in die natür-
erobert und die Feinde niederschlägt erzählt wohl auch eine Geschichte. liche Gänge hineinführen. Auf einer
oder wenn auf griechischen Vasen des Die Archäologen Maxime Aubert, schroffen Wand der Höhle sind sechs
frühen 1. Jahrtausends v. Chr. von Adhi Agus Oktaviana und Adam winzige Jäger zu erkennen, die offen-
Schiffbruch und Totenprozessionen Brumm von der Griffith University in bar mit Speeren und Seilen einem
erzählt wird. Mit visuellen Mitteln Australien haben ihren Fund im Fach- deutlich größeren Büffel nachstellen.
Geschichten zu erzählen - diese krea- magazin >>Nature<< beschrieben: eine Daneben sind zwei weitere Jäger
tive Fähigkeit ist ein Alleinstellungs- Höhlenmalerei auf der indonesischen gezeigt sowie im Vergleich giganti-
merl<mal unserer Spezies. Nur der Insel Sulawesi. Dargestellt seien sche Büffel und Schweine. Nicht nur
Homo sapiens hat es gemeistert, mehrere Wesen, halb Mensch, halb der Größenunterschied fällt ins Auge,
fiktive Erzählungen zu ersinnen und sie Tier, die Jagd auf Wildtiere machen. sondern auch einige besondere
auch bildlich zu formulieren. Woher Wenn die Forscher mit dieser Deutung Details: So hat eine Figur einen Tier-
stammt diese menschliche Verhaltens- richtigliegen, dann wäre es das frü- schwanz, eine andere eine Schnauze,

22 Spektrum der Wissenschaft 8.20


Täglich al<tuelle Nachrichten auf Speldrum.de

Um die Bilder zu datieren, bedien- reien von der indonesischen Insel


ten sich die Forscher der Uran- Sulawesi vorgestellt: das ungefähr
Thorium-Methode. Sie bestimmten 35 000 Jahre alte Bild eines rot gefass-
das Mengenverhältnis von Uran und ten Hirschebers und mehrere Kontur-
dessen Zerfallsprodukten in Kalk- bilder von Händen, von denen das
schichten, die sich im Lauf der Zeit älteste vor 40 000 Jahren entstanden
über den Darstellungen abgelagert war. Dann, 2018, berichtete Aubert von
hatten. Aus der Datierung der Minerale Malereien auf der Nachbarinsel Bor-
leiteten sie dann das Mindestalter der neo. In einer Karsthöhle entdeckte sein
Malereien ab. Aubert und sein Team Team das bereits erwähnte Bild eines
nahmen an verschiedenen Stellen Wildrinds. Und nun die Jagdszene auf
Proben. Die Ergebnisse reichen von Sulawesi.
43900 bis 35100 Jahre vor heute.
Wenn die Malerei tatsächlich 43 900 Unzugänglich
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Jahre alt ist, wie die Forscher mutma- und hell beleuchtet
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würde den bisherigen Spitzenreiter um Höhle liegt mehr als sieben Meter über
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einige tausend Jahre hinter sich las- dem Erdboden. Ohne Leiter oder
20 Zentimeter sen: das rund 40000 Jahre alte Bild Kletterausrüstung ist der Ort kaum zu
# ·' eines rinderähnlichen Wildtiers auf der erklimmen. In Europa befinden sich
Nachbarinsel Borneo. Ebenso wäre es frühe Höhlenmalereien oft in tief
deutlich früher entstanden als die gelegenen, dunklen Gängen, die
Kleine Mischwesen lauern Wild- bislang älteste Figur eines Therianthro- ebenfalls schwer zu erreichen sind.
schweinen und Büffeln auf. So pen, des Löwenmenschen aus der Das deutet darauf hin, dass die
deuten Forscher das Felsbild in Höhle Hohlenstein-Stadel auf der Steinzeitkünstler solchen Stellen eine
einer indonesischen Höhle. Schwäbischen Alb. Archäologen besondere Bedeutung beimaßen.
datieren die Statuette aus Mammut- Doch auf Sulawesi stießen die Archäo-
elfenbein auf ein Alter von 39 000 bis logen meist an den Eingängen der
die nächste einen Schnabel. Solche 40 000 Jahre. Höhlen auf Darstellungen. Wie
Mensch-Tier-Hybriden bezeichnen Von großer Bedeutung ist der Auberts Kollege Adam Brumm betont,
Forscher als Therianthropen. Der Fundort der Höhlenmalerei. Obwohl waren die Maler also nicht in den
Begriff ist eine Kombination aus den sich Experten seit langem einig dunl<len Winkeln tätig, sondern in den
griechischen Wörtern für >>Tier<< sind, dass der anatomisch moderne beleuchteten, hellen Bereichen -
(811Qiov) und >>Mensch<< (av8Qwno~). Mensch aus Afrika stammt, >>sah man die allerdings wie im Fall der Jagd-
Derartige Mischwesen werden ge- Europa als den Ort an, an dem die szene von Leang Bulu' Sipong 4 eben
meinhin als bildlicher Reflex spiritueller Menschheit >ihren letzten Schliff< nur mit Mühe erreichbar waren.
oder mythischer Vorstellungen gedeu- erhalten habe<<, sagt die Archäologin >>Abgesehen von der l<unst gibt es an
tet. Bekannte Beispiele für dieses Phä- April Nowell von der kanadischen diesen Orten keine weiteren Zeug-
nomen sind der stierköpfige Minotau- University of Victoria. Denn die ältes- nisse, die von Menschen stammen -
rus der alten Griechen und der scha- ten bekannten l(unstwerke, etwa niemand lebte längere Zeit in diesen
kalköpfige ägyptische Gott Anubis. auch Musil<instrumente, kamen in Höhlen. Wir gehen deshalb davon
Europa ans Licht. Jetzt zeigt sich aber: aus, dass die Menschen dort einst nur
Prähistorische Treibjagd? Diese Meinung beruht offenbar nicht Bilder malten<<, sagt Brumm. >>Warum,
Dass die Figuren tatsächlich eine auf der tatsächlichen Fundsituation, das wissen wir nicht. Aber womöglich
einzige Bildszene ergeben, schließen sondern auf einem ungleichen For- war es von großer, symbolischer
die Forscher aus dem Stil, der einheitli- schungsstand. In Europa und vor Bedeutung, die Darstellungen an solch
chen Maifarbe und dem Erhaltungszu- allem in Frankreich haben Steinzeit- unzugänglichen grenzähnlichen
stand. Alle Figuren seien mit derselben archäologen deutlich mehr über Orten weit über dem Boden anzubrin-
rostbraunen Farbe gemalt worden, Höhlenkunst gearbeitet als anderswo. gen.<< Der Archäologe vermutet, die
glichen sich in der Machart und seien >>Aus Indonesien und Australien sind Künstler seien an Ranken oder Bam-
ähnlich stark verwittert. Aubert und inzwischen mehrere frühe Felsbilder busstangen hochgeklettert. Ebenfalls
seine Kollegen vermuten, dass eine ge- bel<annt. Das zeigt, wie wichtig es ist, denkbar sei, dass sie sich von einer
meinschaftliche Treibjagd wiedergege- dieses Feld außerhalb Europas zu anderen Seite her durch das Gewirr
ben ist, bei der die anvisierte Beute erforschen<<, meint Nowell. So hatten von Höhlengängen zwängten, welche
bereits aus der Deckung in Richtung Maxime Aubert und seine Arbeits- die Felsentürme von Sulawesi durch-
der Jäger getrieben wurde. gruppe erstmals 2014 Höhlenmale- ziehen.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 23


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genetische Studie kam zu dem


Schluss, dass sich eine spät überle-
bende Gruppe von Denisovanern vor
nur 15 000 Jahren in Indonesien oder
Neuguinea mit Homo sapiens gekreuzt
haben könnte. Konservative Schätzun-
gen gehen allerdings davon aus, dass
die Denisova-Menschen vor rund
40 000 oder 30 000 Jahren ausstarben.
Auf die Frage, ob eine der anderen
Spezies die Jagdszene gemalt haben
könnte, meint Brumm: >>Angesichts
In roten Farbtönen sind links sechs Kunst? Während sich Homo sapiens der fortgeschrittenen Malweise der
kleine Figuren dargestellt - halb anatomisch vor fast 300 000 Jahren Bilder lautet unsere Annahme, dass
Mensch, halb Tier. Wie die Entdecker herausgebildet hatte, lassen sich die moderne Menschen, die uns heutzu-
der Malerei vermuten, erlegen die Merkmale kultureller Modernität erst tage im Wesentlichen kognitiv gleich
mit Speeren und Seilen bewaffneten vergleichsweise spät anhand archäolo- waren, diese Höhlenkunst geschaffen
Wesen ein überdimensioniertes gischer Hinterlassenschaften fassen. haben. Vermutlich gelangten diese
Wildtier. Einige Forscher vertreten dazu folgen- Menschen auf Sulawesi, als die erste
de These: Erst ein relativ später kogni- Migrationswelle des Homo sapiens
tiver >>Urknall<< verhalf unseren Vorfah- nach Indonesien kam, die vor mindes-
••
Sicher ist: Es gibt Ahnlichkeiten ren dazu, sich in Bildern und Symbolen tens 70 000 bis 50 000 Jahren die
zwischen den Arbeiten der Steinzeit- auszudrücken und auszutauschen. Region erreicht haben dürfte.<<
künstler auf Sulawesi und denen in Andere Anthropologen nehmen an,
Europa. Etwa, dass sie ihre Malereien dass bestimmte kulturelle, soziale oder Sind die Malereien
an für sie bedeutungsvollen Orten klimatische Bedingungen - oder eine aus einer Hand?
geschaffen haben und ähnlichen Kombination von allen dreien - das Ob die Jagdszene tatsächlich ein
stilistischen Konventionen folgten. Feuer der Kreativität im Menschen Gesamtkunstwerk darstellt, ist aller-
>>Eine direkte kulturelle Verbindung entfachten. >>Die neue Höhlenmalerei dings umstritten. Zweifel hegt der
zwischen der Eiszeitkunst in Indonesi- liefert uns auf diese interessante Frage Experte für frühe Kunst Paul Pettitt
en und Europa ist aber unwahrschein- leider keine direkte Antwort<<, sagt von der Durham University in England.
lich<<, betont Brumm. Brumm. Angesichts der neuen Fakten- Der Archäologe bemängelt, dass nur
Zwar dürfe die Jagdszene als die lage geht er davon aus, dass sich die ein Tier in der Szene einigermaßen
bislang früheste bekannte narrative Menschen schon lange fil<tive Ge- sicher auf ein Alter von 43 900 Jahren
Darstellung und die früheste Wieder- schichten erzählten, bevor Jagdbilder datiert sei. Für die meisten anderen
gabe von Mischwesen gelten, doch wie auf Sulawesi entstanden - >>viel- Figuren liegt jedoch keine Datierung
das verrät nicht, warum Menschen leicht schon bevor unsere Spezies vor. >>Szenische Motive sind in der
überhaupt dieses Verhalten entwickelt Afrika verlassen hatte<<. eiszeitlichen Kunst sehr selten<<, sagt
haben. Seit Jahrzehnten stehen Wis- War es aber tatsächlich Homo Pettitt. >>Befände sich dieses Bild in
senschaftler vor einem Rätsel. Wes- sapiens, der die Figuren an die Höhlen- Europa, Afrika oder Nordamerika, es
halb war so viel Zeit verstrichen zwi- wand von Leang Bulu' Sipong 4 malte? wäre wohl nicht älter als 10000 Jahre.<<
schen der Entstehung des anatomisch Denn: Es fanden sich weder in der Laut Pettitt sei überdies der Größenun-
modernen Menschen und kulturell Höhle noch an irgendeinem anderen terschied zwischen den Mischwesen
modernen Verhaltensweisen wie der Ort auf Sulawesi menschliche Skelett- und den Tieren, die sie angeblich

24 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


jagen, eher ungewöhnlich. >>Könnte es ähnliche Figuren. >>Einige sind nur vage um Aubert haben in der Region bereits
nicht auch sein, dass beide gar nicht zu erkennen und damit strittig. Selbst weitere Stätten mit figürlichen Bildern
zusammengehören?<< Oder wäre es die deutlichsten Malereien könnten entdeckt; die Datierungen stehen noch
denkbar, dass die vermeintlichen Jäger auch Vierfüßler zeigen, keine Men- aus. Womöglich liefern diese Funde
zu einem anderen, viel späteren Zeit- schen<< - denn immerhin würden die neue Hinweise auf die Ursprünge der
punkt gemalt wurden? >>Von den Figuren nicht aufrecht stehen, sondern Kunst und des Geschichtenerzählens. ~
Höhlenmalereien in Europa wissen wir, sind horizontal oder liegend wiederge- Kate Wong ist leitende Redakteurin
••
dass die Bilder in mehreren Phasen geben. Und die Speere? >>Sind womög- für Evolution und Okologie bei »Scientific
entstanden waren, die Tausende von lich nur lange Linien, die zufällig so American«.
Jahren auseinanderliegen können<<, nah an den >Menschen< vorbeiführen.<<
erklärt Pettitt. Er schlägt vor, die Der englische Forscher hält es daher QUELLEN
Pigmente im Bild von Leang Bulu' für unwahrscheinlich, dass die Figuren Aubert, M. et al.: Earliest hunting
Sipong 4 geochemisch zu untersu- Waffen in Händen tragen sollen. >>Es scene in prehistoric art. Nature 576,
chen. Weisen alle Farbflächen dieselbe muss offenbleiben, ob hier Menschen 2019
Signatur auf, stammen sie sehr wahr- dargestellt sind, und falls es eine Aubert, M. et al.: Palaeolithic cave art
scheinlich aus derselben Zeit. einzige Bildszene ist, ob sie wirklich in Borneo. Nature 564, 2018
Pettitt ist zudem nicht überzeugt, eine Jagd wiedergibt.<< Aubert, M. et al.: Pleistocene cave art
dass die Jäger tatsächlich Therianthro- Es gibt also noch einiges zu erfor- from Sulawesi, lndonesia. Nature 514,
pen darstellen - oder gar menschen- schen. Die australischen Archäologen 2014

••

Warum lassen sich manche unendlich große Objekte so viel schwerer fassen
als andere? Mathematiker haben nun eine tief greifende Antwort auf dieses sehr alte
Problem gefunden - und damit das Verständnis für Unendlichkeiten erweitert.

Den Begriff >>verrückte Familien<< damals hatte er versucht zu verstehen, diesem >>Zermelo-Fraenkel-Axiomen-
verbinden die meisten Menschen was die rätselhaften Familien von system plus Auswahlaxiom<< (kurz:
wohl kaum mit Mathematik. anderen unendlichen Mengen unter- ZFC, wobei C für den englischen
Doch auf diesem Fachgebiet sind die scheidet. Zu manchen der in seiner Ausdruck >>axiom of choice<< steht)
so genannten >>mad families<< der Arbeit aufgeworfenen Fragen gab es fußt inzwischen die gesamte moderne
englische Fachausdruck für bestimmte lange Zeit wenige Fortschritte. Einige Mathematik.
abstrakte Sammlungen unendlicher Eigenschaften der abstrakten Gebilde Georg Cantor (1845-1918) begrün-
Zahlenfolgen, wobei >>mad<< ein Akro- entzogen sich über Jahrzehnte dem dete die Mengenlehre im 19. Jahrhun-
nym für deren ungewöhnliche Eigen- Verständnis der Wissenschaftler. dert, um mit Sammlungen unendlich
schaften darstellt. Man kann zwar vieler Objekte umgehen zu können.
beweisen, dass >>mad families<< exis- Komplizierte Mengen Solchen begegnet man in der Mathe-
tieren, aber sie sind so kompliziert, Dabei verwenden Mathematiker >>mad matik häufig, zum Beispiel wenn man
dass völlig unl<lar ist, wie sie konkret families<< schon lange in den verschie- ' irrationale Zahlen wie Pi untersucht,
aussehen - geschweige denn, wie sie densten Bereichen. Unter anderem die unendlich viele Nachkommastellen
sich genau konstruieren lassen. Wie spielen sie in der Topologie und der besitzen. Wie Cantor erstmals heraus-
ich nun mit meinem Kollegen Asger Mengenlehre eine große Rolle. In arbeitete, gibt es überabzählbar un-
Törnquist von der Universität Kopen- letzterer Disziplin geht es um beliebige endlich viele irrationale Zahlen - das
hagen feststellen konnte, hat das einen Ansammlungen von Objekten. Das heißt, sie lassen sich niemals aufzäh-
handfesten Grund, der damit zu tun Konzept ist so allgemein, dass sich fast len, nicht einmal in einer unendlich
hat, wie in unendlichen Mengen alles als Menge auffassen lässt: von langen Liste. Damit hatte er gleichzei-
spontan Ordnung entsteht. geometrischen Figuren über Zahlen tig bewiesen, dass es nicht nur eine
Kurz nach seiner Doktorarbeit bis hin zu Rechenoperationen. Die Art von Unendlichkeit gibt, sondern
veröffentlichte der britische Mathe- Mengenlehre stellt eine Art Standard- eine unendliche Folge verschiedener,
matiker Adrian Mathias 1969 seinen l<atalog an Regeln und Axiomen immer größer werdender Unendlich-
ersten Fachaufsatz mit dem Titel bereit, der sämtliche Zutaten enthält, keiten (siehe Spektrum März 2009,
>>Happy and mad families<<. Schon die man für einen Beweis braucht. Auf S. 54).

Spektrum der Wissenschaft 8.20 25


>>Mad families<< hängen damit zu-
sammen. Sie bestehen aus unendlich Anke Daniel
vielen, unendlich langen ansteigenden
Folgen positiver ganzer Zahlen, etwa
die ungeraden Zahlen: 1, 3, 5, 7 und so
weiter. Eine Sammlung solcher Folgen
bildet eine >>mad family<<, wenn sie
ganz bestimmte Bedingungen erfüllt:
Je zwei Folgen sind >>fast disjunkt<< -
das heißt, es gibt eine letzte Zahl, die Bernd Eva
beide gemeinsam haben, danach
enthalten die Folgen nur noch unter-
schiedliche Zahlen. Gleichzeitig muss
die Sammlung maximal sein, was
bedeutet, dass man keine weitere
Zahlenfolge hinzufügen kann, ohne die
Fast-Disjunktheit zu zerstören. Darin
liegt auch die eigentliche Ursache für Carola Frank
die Bezeichnung >>mad<<: Es ist ein
Akronym für >>maximal almost disjoint<<
(deutsch: maximal fast disjunkt). Unter sechs Personen gibt es Mengentheoretiker haben versucht,
Diese Bedingungen gleichzeitig zu immer drei Menschen, die sich Ideen der Ramseytheorie auf unendli-
erfüllen, ist alles andere als einfach. alle kennen (pink) oder einander che Mengen zu übertragen. Möchte
Dass >>mad families<< tatsächlich exis- unbekannt sind (blau). man das obige Beispiel der Party derart
tieren, l<onnten Mathematiker nur mit verallgemeinern, kann man sich die
Hilfe des so genannten Auswahlaxi- Gäste als unendliche ansteigende
oms beweisen, eine der Grundannah- spiel unendlich lang, aber es gibt eine Zahlenfolgen vorstellen, die man in
men der Mengenlehre. Es besagt, dass Formel, mit der man jede beliebige mehrere Mengen aufteilt: Die Folgen
man aus jeder nichtleeren Menge, die Nachkommastelle berechnen kann. innerhalb einer Menge seien beispiels-
zu einer Sammlung von Mengen zählt, Mathias konnte 1969 hingegen bewei- weise vom Typ 1 (man kennt sich), die
ein Element auswählen kann. Das ist sen, dass >>mad families<< nicht analy- anderen vom Typ 2 (man ist sich gänz-
durchaus plausibel: Stellen Sie sich tisch sind - es also keine konkrete lich unbekannt). Mathematiker fragten
zum Beispiel die Sammlung aller Formel gibt, um ihre Zahlenfolgen zu sich daraufhin, ob es Folgen gibt, die
Fahrradhersteller vor, die wiederum bestimmen. Mehr noch, ohne das Aus- immer nur einem Typ angehören,
alle dazugehörigen Radmodelle enthal- wahlaxiom sind >>mad families<<, wie · unabhängig davon, welche und wie vie-
ten. Dann ist es ein leichtes, für jeden er zeigte, nicht einmal konstruierbar. le seiner Folgenglieder man entfernt.
Hersteller ein bestimmtes Modell Wie sich herausstellt, können solche
auszuwählen. Bei unendlichen Men- Spontane Ordnung in riesigen Folgen existieren - aber nur, wenn die
gen gestaltet sich das allerdings Mengen vorgegebene Menge nicht allzu l<ompli-
schwieriger. Das Auswahlaxiom lässt Dafür verwendete Mathias Methoden ziert ist; sie muss auf einfache Weise
zudem meist keine Rücl<schlüsse über aus einem bestimmten Bereich der konstruierbar sein. Dass die Einteilung
die Eigenschaften oder den Aufbau Kombinatoril<, der so genannten in Typ 1 und Typ 2 nicht beliebig sein
der abstrakten mathematischen Ob- Ramseytheorie (siehe Spektrum darf, konnten Forscher mit Hilfe des
jekte zu, die mit seiner Hilfe entstehen. Februar 2018, S. 76). In diesem Gebiet Auswahlaxioms zeigen.
So verhält es sich auch mit den sucht man nach Regelmäßigkeiten in Einige Mengentheoretiker wollten
>>mad families<< . Man weiß zwar, dass sehr großen Sammlungen von Objek- daraufhin herausfinden, ab welchem
sie existieren, doch es lässt sich kaum ten. Zum Beispiel gibt es auf jeder Punkt das zuvor genannte Problem
etwas über ihre konkrete Beschaffen- Party mit mindestens sechs Gästen keine Lösung hat: Wie komplex müs-
heit sagen. Das hat einen handfesten eine Gruppe von drei Personen, die sen die Eigenschaften einer Familie von
Grund: Wie sich herausstellte, sind sich entweder alle gegenseitig kennen Zahlenfolgen mindestens sein, damit
>>mad families<< zwangsweise extrem oder die alle einander unbekannt die Ramseytheorie versagt? Mathias
kompliziert. Denn die speziellen Bezie- sind - prüfen Sie es gerne nach. Je konnte beweisen, dass man innerhalb
hungen, welche die Folgen untereinan- umfangreicher die Feier, desto kompli- des ZFC-Axiomensystems keine Ant-
der erfüllen müssen, schließen eine ziertere Beziehungen ergeben sich. wort darauf finden kann. Damit teilt die
einfache Beschreibung aus. Trotzdem kann man immer eine große Frage das Schicksal vieler anderer
Das trifft bei Weitem nicht auf alles Gruppe finden, in der alle im gleichen unbeweisbarer Aussagen, zu der die
zu, was unendlich ist. Pi ist zum Bei- Verhältnis zueinander stehen. berühmte Kontinuumshypothese zählt.

26 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Daher schlugen Logiker neue ßen: Wenn alle im weiten Sinn kon- Verbindung zwischen den ramsey-
Axiome vor, die den Standardkatalog struierbaren Mengen eine Art von theoretischen Eigenschaften und den
ZFC erweitern. Mit solchen zusätzli- spontaner Ordnung besitzen, also >>mad families<< gibt, konnte es aber
chen Werkzeugen lassen sich einige >>schöne<< ramseytheoretische Eigen- nicht beweisen.
der unentscheidbaren Aussagen schaften besitzen, müsse direkt dar- Genau das gelang Törnquist und
beweisen oder widerlegen. Manche aus folgen, dass >>mad families<< nicht mir nun 50 Jahre später: Wenn sich
dieser Axiome handeln von so genann- zu ihnen gehören. die Ramseytheorie für eine Klasse von
ten großen Kardinalzahlen. Sie postu- Mengen erweitern lässt, dann ist es
lieren >>hyperunendliche<< Mengen, Ein mathematisches ausgeschlossen, dass sich darunter
deren Größe alles Bekannte übertrifft. Paralleluniversum >>mad families<< befinden. Das Ergebnis
In den 1980er Jahren erkannten Er kam zu dieser Annahme, indem er erklärt, warum die Axiome über große
Mathematiker, dass sich die Ramsey- mit Hilfe der so genannten Forcing- Kardinalzahlen bedingen, dass >>mad
theorie auch auf kompliziertere unend- Methode so etwas wie ein mathemati- families<< nicht einmal im weitesten
liche Mengen anwenden lässt, wenn sches Paralleluniversum konstruierte, Sinne konstruierbar sind.
man ZFC durch geeignete Axiome in dem alle üblichen Axiome gelten bis Dafür musste Törnquist die Arbeit
über große Kardinalzahlen ergänzt. Die auf das Auswahlaxiom. In diesem von Mathias zunächst in ein neues
Ramseytheorie schafft dann Ordnung Universum fehlen etliche komplizierte Licht rücken: Mein Kollege fand einen
in einer Klasse von Mengen, die >>in Mengen, da man ihre Existenz ohne anderen Beweis dafür, dass es keine
einem sehr weiten Sinn konstruierbar<< das Auswahlaxiom nicht beweisen analytischen >>mad families<< gibt, was
sind. Wie sich allerdings herausstellte, l<ann. Alle Familien haben daher bedeutet, dass es keinen einfachen
schließen die neuen Axiome aus, dass schöne ramseytheoretische Eigen- Weg gibt, um sie zu konstruieren.
sich darunter >>mad families<< befinden. schaften. Anschließend setzten wir dieses
Demnach sind Letztere nicht einmal in Wie Mathias beweisen konnte, Ergebnis mit mehreren modernen
einem weiten Sinn konstruierbar. befinden sich darunter keine >>mad Ideen und Techniken in Beziehung, die
Mathias hatte schon 1969 vermutet, families<<. Fortan war der britische vor 50 Jahren noch nicht so weit
dass sich beide Phänomene ausschlie- Mathematiker überzeugt, dass es eine entwickelt waren. Unter anderem

'
verwendeten wir aktuelle Fortschritte Unser Ergebnis erklärt, warum eine David Schrittesser ist Mathematiker am
aus der Theorie der großen Kardinal- >>mad family<< so kompliziert aufgebaut Kurt Gödel Research Center der Universität
Wien.
zahlen und des Forcings. Darüber ist. Tatsächlich muss sie sich aus dem
hinaus nutzten wir aus, dass bestimm- Blickwinkel der Ramseytheorie anders
te Konstruktionen gleich bleiben, wenn verhalten, als man es von endlichen QUELLEN
man ihre Inhalte nur endlich verändert. (und manchen einfachen unendlichen)
Mathias, A. R. D.: Happy families.
Schließlich gelang es uns nach mehre- Objekten gewohnt ist. Oder umge- Annals of Mathematical Logic 12,
ren Jahren, Mathias' Frage zu lösen. kehrt: Die Struktur einer >>mad family<< 1977
Dabei griffen wir fast ausschließlich ist aus ramseytheoretischer Sicht , Schrittesser, D., Törnguist, A.:
auf gängige mathematische Methoden ungewöhnlich. Die Anforderungen an The Ramsey property implies no mad
zurück - trotzdem waren die Einblicke, die Familien sind so verzwickt, dass families. PNAS 116, 2019
die wir auf unserem langen Umweg er- sie keine einfache Ordnung zulassen, Törnquist, A.: Definability and
halten haben, entscheidend, um sie zu welche die Ramseytheorie herstellen almost disjoint families. Advances in
finden. würde. Mathematics 330, 2018

- -

?•
Anfang 2018 regnete es auf Hawaii ungewöhnlich stark, einige Monate später brach auf
der Insel der Vulkan Kilauea aus. Ein Modell lässt vermuten, dass die heftigen
Niederschläge den Grundwasserdruck ansteigen ließen und dies zur Eruption führte.

Der letzte Ausbruch des Vulkans verschieben sich. Andert sich der lösten, sind zwei Beobachtungen: Zum
Kllauea auf Hawaii begann 1983. Druck des Grundwassers, kann das einen rissen die Spalten langsam von
Von da an drang 35 Jahre lang beide Prozesse beschleunigen. Im oben nach unten auf, zum anderen lag
Magma aus seinem Innern durch Risse ersten Fall ist durch den steigenden zwischen der Wasseransammlung an
nach außen. Das zerklüftete Gebiet, in Wasserdruck weniger Kraft nötig, der Oberfläche und dem Nachgeben
dem das heiße Gestein an die Oberflä- damit sich neue Spalten öffnen. Im des Gesteins in der Tiefe eine gewisse
che gelangte, ist als Upper East Ritt zweiten Fall l<önnen sich Risse verla- Zeitspanne.
Zone (obere östliche Riftzone) bekannt. gern, wenn die Kräfte parallel zu ihnen
Am 3. Mai 2018 öffnete sich jedoch die (Scherkräfte) größer werden als jene, Laut Computermodell änderte sich
untere östliche Riftzone des Vulkans die senkrecht auf den Riss wirken · der Druck tief unter der Erde
und gab den Weg frei für einen rie- (Normalkräfte). Letztere bewirken für Farquharson und Amelung stellten die

sigen Lavastrom, der den Südosten gewöhnlich, dass die Offnungen sich Druckänderungen, die die Regenfälle
der Insel verwüstete (siehe Foto wieder schließen. Steigt der Flüssig- in den Monaten vor der Eruption am
rechts). Warum aber geschah das keitsdruck im Gestein, verringern sich 3. Mai 2018 an dem hawaiianischen
ausgerechnet im Mai 2018 und nicht die Normalkräfte, während die Scher- Vulkan hervorriefen, in einem Compu-
davor oder danach im Verlauf des kräfte unverändert bleiben - was das termodell nach. Laut ihrer Simulation
jahrzehntelangen Ausbruchs? James Aufbrechen begünstigt. stieg der Druck in mehreren Kilome-
lan Farquharson und Falk Amelung Starke Regenfälle lassen den Spie- tern Tiefe um einige zehn bis mehrere
von der University of Miami haben gel des Grundwassers und damit hundert Pascal an. Darüber hinaus
jetzt eine mögliche Antwort gefunden: dessen Druck ansteigen. Weil das gehen Ausbrüche am Kllauea oft mit
Rekordregenfälle Anfang 2018 haben vulkanische Gestein auf Hawaii sehr erheblichen Regenfällen einher, wie
demnach den Druck des Grundwas- durchlässig ist, kann das Wasser leicht vier Reihen von Beobachtungen nahe-
sers erhöht. Dadurch wurde das eindringen, und der Druck verändert legen. Auf Grund dieser beiden Indizi-
Gestein brüchiger, so dass Magma sich bis in mehrere Kilometer Tiefe - en postulieren die Autoren, dass der
leichter an neuen Stellen an die Ober- bis in die Nähe der Region, in der sich starke Regen das Gestein nachgeben
fläche steigen konnte. Magma befindet. Es dauert natürlich ließ, wodurch letztlich heißes Magma
Ein Weg für die brodelnde Masse seine Zeit, bis sich die Druckunter- in die untere östliche Riftzone fließen
bildet sich dann, wenn Gestein mecha- schiede von der Oberfläche bis weit konnte.
nisch nachgibt. Das kann auf zwei hinunter fortpflanzen. Die wichtigsten Ist ihre Hypothese plausibel? Die
Arten stattfinden: Entweder öffnen Indizien dafür, dass die Regenfälle den Druckänderungen, die ihre Modell-
sich neue Risse, oder bestehende Bruch des Gesteins am Kllauea aus- rechnungen ergeben haben, sind

28 Spektrum der Wissenschaft 8.20


gering - kleiner als die Belastungen, Druck abbauen und es der heißen Vulkanen. Stattdessen müssen wir
die die Gezeiten verursachen. Wenn Gesteinsschmelze dadurch erschwe- einen Blick auf Eruptionen in der Ver-
Gestein kurz davorsteht, zu zerbre- ren, aus dem Reservoir nach oben zu gangenheit werfen. Dazu haben die
chen, könnten solche minimalen schießen. Wissenschaftler alle überlieferten
Veränderungen jedoch den letzten Ausbrüche am Kllauea seit 1790 unter-
Anstoß zum Bruch geben. Die Erup- Oft spuckt der Vulkan gerade zur sucht und herausgefunden, dass der
tion von 2018 wurde von einem Erd- nassesten Jahreszeit Feuer Vulkan dazu neigt, gerade zur nasses-
beben der Stärke 6,9 begleitet, und es Letztlich ist unsicher, ob Gestein in der ten Jahreszeit Feuer zu spucken. Das
gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Nähe eines Magmareservoirs über- spricht für ihre Annahme.
Druckänderungen in derselben Grö- haupt durch Druckänderungen im Sollten wir also Warnstufen erhö-
ßenordnung Erdbeben hervorrufen. So Grundwasser auseinanderbrechen hen, wenn in der Nähe von Vull<anen
lässt sich etwa die weiträumige Zu- kann, wie Amelung und Farquharson starker Regen gefallen ist? Dasselbe
nahme der Erdbebenhäufigkeit im postulieren. Das Magma, das 2018 als könnte man sich bezüglich anderer
Zentrum und im Osten der USA in der erstes aus der unteren östlichen · Druckänderungen fragen, etwa solcher,
Vergangenheit darauf zurückführen, Riftzone ausbrach, war alt, vielleicht die sich nach Erdbeben ergeben. Die
dass Abwasser in wasserdurchlässiges noch ein Relikt einer früheren Eruption Antwort steht noch aus. Die Kräfte
Gestein gepresst wurde, was den aus dem Jahr 1955. Demnach wäre die verändern sich dadurch nur geringfü-
Flüssigkeitsdruck erhöhte und die Riftzone also noch heiß gewesen. In gig, und wenn sie überhaupt etwas
Belastungen des Gesteins veränderte. der Folge hätte das Grundwasser dort beeinflussen, dann den genauen Zeit-
Darüber hinaus können Druck- in geringer Tiefe möglicherweise punl<t der Eruption an der Oberfläche.
schwankungen auf der Erdoberfläche gasförmig vorgelegen, weiter unten Am Kllauea wirkten zusätzlich l(räfte
vulkanische Aktivität beeinflussen, könnte es in Form einer superkriti- aus anderen Quellen: Messungen
wie geologische Daten bestätigen. An schen Flüssigkeit bestanden haben zufolge verformte sich der Boden, was
Land verstärkt sie sich beispielsweise (das heißt, es war weder gasförmig auf Magmabewegungen hindeutete.
durch den Rücl<zug der Gletscher. Die noch flüssig, sondern besaß Eigen- Aus diesem Grund hatte man bereits
Veränderungen des Meeresspiegels schaften beider Zustände). Weil so- erwartet, dass sich das Ausbruchsver-
zwischen Eiszeiten und interglazialen wohl Gase als auch superkritische halten ändern würde. Am 17. April 2018
Perioden wiederum können Eruptions- Flüssigkeiten unter Druck gut kompri- warnte daher das hawaiianische
raten an mittelozeanischen Rücken mierbar sind, wären die Druckunter- Vulkanobservatorium vor einem neuen
steuern. Kräfte, die bei großen Erdbe- schiede im Modell der Autoren um Schlot, der sich öffnen könnte.
ben freigesetzt werden, machen Größenordnungen kleiner und ein Möglicherweise rufen also äußere
Vulkanausbrüche wahrscheinlicher dadurch bedingter Bruch des Gesteins Einflüsse Vulkanausbrüche hervor. Das
und können auch die Aktivität bereits weniger wahrscheinlich. erinnert uns wieder daran, dass die
aktiver Feuerberge verändern.„ Wie lässt sich nun die Hypothese Feuer speienden Berge Teil eines
Obwohl bekannt ist, dass Anderun- der Wissenschaftler überprüfen? dynamischen Systems sind. Vulkanaus-
gen des Wasserdrucks Erdbeben Leider sind Druckmessungen unter- brüche beeinflussen die Erdoberfläche
w
2
a:
fördern, führen diese wiederum nicht halb der Oberfläche, ebenso wie sowie Wetter und Klima. Verändern
a:
w
c...
<.!:)
~
notwendigerweise direl<t zum Austre- hydrogeologische Daten generell, nur sich solche Faktoren ihrerseits, etwa
0 ••
Cl
ten von Magma. Denn sie können lokal selten Teil der Uberwachung von bei starkem Regen, könnte sich das im
Gegenzug auf die Eruptionen auswir-
ken. Wir beginnen gerade erst zu
verstehen, wie diese Gewalten zusam-
menspielen. ~
Michael Manga forscht am Department of
Earth and Planetary Science der University of
California in Berkeley.

QUELLE

Farquharson, J. I., Amelung, F.:


Extreme rainfall triggered the 2018 rift
eruption at Kllauea Volcano . Nature 580,
2020

nature
© Springer Nature Limited
www.nature.com
Nature 580, S. 457-458, 2020

Spektrum der Wissenschaft 8.20 29


1 1

••

••

Einklang mit der Natur - ein schönes Ziel. Doch was,


wenn es unberührte Landschaften gar nicht mehr gibt?

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
••
>>Lauter Uberraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

~~ spektrum.de/artikel/1744786

c::::::;._ räumen Sie nicht auch manchmal davon, der tische Polymere fanden. Die mikroskopisch kleinen
Hektik der Stadt zu entfliehen - weit, weit hinaus Fädchen und Klümpchen genießen somit eine Freiheit,
in die Wildnis? Statt Abgasen und Feinstaub wird die nicht bloß über den Wolken grenzenlos sein muss.
dort jeder tiefe Atemzug würzige Berg- oder Wer weiß, fragt Brahneys Gruppe, ob sie überhaupt alle
Seeluft in die Lungenbläschen pumpen, und lächelnd vom amerikanischen Kontinent stammen?
werden Sie das Gesicht in den von Schadstoffen unbe- Jedenfalls rieseln Jahr für Jahr schätzungsweise
lasteten Regen halten. 1000 Tonnen Kunststoff auf die Naturschutzgebiete der
Wenn Sie unbedingt an diesem schönen Gedanken USA herab - ein künstlicher Regen, der in der Summe
festhalten möchten, rate ich Ihnen von der Lektüre der bis zu 300 Millionen Plastikflaschen gleichkommt.
Arbeit ab, die ein Team um die Umweltforscherin Dabei ist selbst diese gewaltige Menge bloß der lokale
Janice Brahney von der Utah State University im Juni Aspekt eines globalen Kreislaufs, bei dem keineswegs
2020 veröffentlicht hat. Die Gruppe sammelte in den nur die Atmosphäre im Spiel ist. Zunächst fielen die
geschützten Nationalparl<s im Westen der USA Nieder- riesigen Kunststoffmengen auf, die auf den Ozeanen
schlagsproben und analysierte sie auf Mikroplastik treiben, später kamen die Tiefsee und Eisberge als
(Science 368, S. 1257-1260, 2020). Transportwege und Lager ins Bild - und nun macht
Gemeint sind Kunststoffteilchen, die kleiner sind als sich Plastik obendrein in Stäuben und Niederschlägen
fünf Millimeter. Mikroplastik entsteht, wenn der übliche bemerkbar. 2017 produzierte die Welt 348 Millionen
Kunststoffmüll, wie wir ihn in gelben Säcken sammeln, Tonnen Plastik, und die ungeheure Masse steigt jährlich
bewegt wird und sich mit der Zeit von selbst zerklei- um fünf Prozent. Während Experten streiten, ob eine
nert - aber auch, wenn von vornherein winzige Plas- Kreislaufwirtschaft an Stelle der gängigen Wachstums-
••
tikteilchen beim Färben mit der Spritzpistole versprüht, Ökonomie mehr sein kann als eine Oko-Utopie, ist die
mit Fabril<abgasen in die Luft geblasen oder beim ungebremste Synthetil<schwemme in ihren öl<ologi-
Abwaschen kosmetischer Produkte in den Wasser- schen Auswirkungen gewiss auf Dauer unannehmbar.
kreislauf gespült werden. Der Gutteil all dieser Partil<el
ist nur Millimeterbruchteile groß, also so winzig wie ie globale Anreicherung von Wasser, Luft und
vom Erdboden emporgewirbelter Staub - aber leichter. Erde mit künstlichen Stoffen hat Anlass gegeben,
Mikroplastik lässt sich deshalb besonders bereitwillig unsere Epoche als Anthropozän zu bezeichnen -
vom Winde verwehen. als ein eigenes, diesmal wesentlich vom Men-
Das wiederum erklärt, warum Brahneys Mitarbeiter schen geprägtes Erdzeitalter. Die Kunst wird darin
in den weit entfernt von allen US-Ballungszentren bestehen, alle großtechnisch hergestellten Stoffe
gesammelten Staubproben bis zu fünf Prozent synthe- möglichst nachhaltig in natürlich-künstliche Kreisläufe
zu integrieren - so wie ja umgekehrt eine einst >>freie<<
Ressource wie das Wasser schon längst zum mittels
Pumpen, Bewässerungs- und Kläranlagen bewirtschaf-
Mikroplastik lässt sich teten Kunstprodukt wurde. So oder so, als Triumph
besonders bereitwillig vom oder Warnung, erfüllt sich der Spruch des greisen
Faust: >>Es kann die Spur von meinen Erdetagen/ Nicht
Winde verwehen in Aeonen untergehn.<<

30 Spektrum der Wissenschaft 8.20


LECKER MUTIG BUNT
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1 1 1

••
- •
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Steile weiße Felsen säumen die gewaltigen Flüsse Seit mehr als 150 Jahren befassen sich Forscher ein-
Sibiriens. Wer auf ihnen steht, dessen Füße berühren gehend mit Fossilien aus dem Kambrium. Deshalb ist das
buchstäblich einen Wendepunkt in der Geschichte des globale Muster ihres Auftretens recht gut aufgeklärt: Auf
Lebens. Es ist die 541 Millionen Jahre alte Trennlinie, die vielen Kontinenten traten ähnliche Organismen ungefähr
das Zeitalter des Kambriums (541 bis 485 Millionen Jahre zeitgleich in Erscheinung und machten anschließend eine
vor heute) von der vorhergehenden Phase des Präkambri- vergleichbare evolutionäre Entwicklung durch. Doch erst
ums scheidet. Unterhalb dieser Grenze enthält das Gestein jetzt, mit der Entdeckung älterer Ediacara-Fossilien, begin-
••

nur spärliche fossile Uberreste: geisterhafte Abdrücke von nen wir zu verstehen, wie es zu diesem Prozess l<am. Dabei
Lebewesen, deren Körper offensichtlich weich waren, und wird immer klarer, warum sich die kambrische Explosion
ein paar vereinzelte Relikte von Organismen mit Gehäusen. gerade zu jener Zeit abspielte und nicht zu einer anderen.
Oberhalb der Linie hingegen wimmelt es von Schalen und Neue geochemische Methoden verraten uns, wie sich die
Gehäusen. Noch ein wenig höher tauchen Fossilien von chemischen Verhältnisse in den Ozeanen des Ediacariums
Tieren wie den Trilobiten

auf. Allem Anschein nach haben und des Kambriums veränderten. Erl<enntnisse aus Fossi-
sich die damaligen Okosysteme binnen kurzer Zeit sehr lienuntersuchungen und geochemische Analysen lassen
stark verändert - ein Ereignis, das wir heute als >>kambri- erahnen, wie die damalige Bio-, Geo-, Hydro- und Atmo-
sche Explosion<< bezeichnen. Es ist eine der bedeutendsten sphäre zusammenwirkten. Es zeichnet sich ein verblüffen-
und zugleich rätselhaftesten Episoden der Evolution. des Bild davon ab, wie die Meeresböden bereits dutzende
Jahrzehntelang nahmen Wissenschaftler an, komplexe Millionen Jahre vor der kambrischen Explosion von immer
Tiere - das heißt vielzellige mit unterschiedlichen Gewebe- komplexeren Lebewesen besiedelt wurden, was die Bühne
typen - seien im Wesentlichen während der kambrischen für den Aufstieg der Fauna schuf.
Explosion entstanden. Und tatsächlich kamen zu jener Zeit
zahlreiche neue Formen auf, darunter die Vorfahren vieler Spuren von Schwämmen - oder
Hauptgruppen des heutigen Tierreichs. Neue Entdeckungen doch eher von Amöben?
in Sibirien, Namibia und anderswo belegen jedoch, dass die Die ältesten Hinweise auf urzeitliche Tiere kommen nicht
••
Entwicklung komplexer Tiere schon Jahrmillionen vor dem etwa von Fossilien, sondern von Biomarkern, also Uber-
Kambrium einsetzte, nämlich während des so genannten bleibseln organischer Substanzen, die im Sediment enthal-
Ediacariums, des letzten Abschnitts des Präkambriums . ten sind und Rückschlüsse auf ihre Herl<unft erlauben. Zu
••
Unter den Fossilien von damals finden sich Uberreste der diesen Biomarkern gehören organische Kohlenwasserstoff-
ältesten bekannten Wesen, die über ein Innen- oder Außen- moleküle namens Sterane. Solche Verbindungen haben
skelett aus mineralisiertem Körpergewebe verfügten - eine Forscher in gut erhaltenem Sedimentgestein der >>Huqf
ganz entscheidende evolutionäre Neuerung, die sich in der Supergroup<< im Oman gefunden, einer Schichtenfolge, die
Natur bis heute bewährt. mindestens 650 Millionen Jahre alt ist. Manche Fachleute
Demnach gibt es gepanzerte Tiere schon seit mindes- meinen, die speziellen Sterane kämen ausschließlich bei
tens 550 Millionen Jahren. Die Selektionsdrücke, die vor bestimmten Schwämmen vor, und deshalb belege ihre
541 Millionen Jahren die kambrische Explosion vorantrie- Anwesenheit im Sedimentgestein, dass es vielzellige Tiere
ben, waren somit wohl schon lange vorher wirksam gewe- schon in dieser Phase gab. Allerdings stimmen dem nicht
sen. Wenn wir herausfinden, wie sie im Ediacarium die alle Experten zu: Im April 2019 erschien eine Studie, der
frühe Evolution der Tiere prägten, sollte es uns leichter zufolge die Sterane eher auf einzellige Amöben hindeuten.
fallen, den erstaunlichen Entwicklungsschub zu verstehen, Ebenso umstritten sind die mutmaßlich ältesten Tierfos-
der im Kambrium folgte. silien aus der Lantian-Formation, einem 150 Meter mächti-
gen geologischen Schichtenverbund im Südosten Chinas.
Sie haben ein Alter von möglicherweise bis zu 635 Millionen
••

Jahre. Einige Forscher sehen in ihnen die Uberreste winzi-


AUF•• EINEN BLICK ger Lebensformen mit weichen Körpern, die mit Korallen
FRUHES STELLDICHEIN oder Quallen verwandt waren, denn manches an ihnen
erinnert an Tentakel. Die Fossilien sind aber nicht gut erhal-
Forscher nahmen lange Zeit an, komplexe Tiere seien ten, weshalb sie keine eindeutige Zuordnung erlauben. Viele
relativ plötzlich während der >>kambrischen Explosion<< Wissenschaftler bezweifeln sogar, dass sie überhaupt von
entstanden . Tieren stammen.
••
Bei den ältesten Uberbleibseln, deren tierische Herkunft
Immer mehr Fossilienfunde deuten aber darauf weitgehend unumstritten ist, handelt es sich um Fossilien
hin, dass sie schon Jahrmillionen früher während des aus Neufundland, die auf rund 571 Millionen Jahre datieren.
Ediacariums erschienen.
Sie stammen somit aus der Zeit nach der letzten weltweiten
Vereisung (>>Schneeball-Erde<<). Es handelt sich um die
Neue Methoden, um die c hemischen Verhältnisse
ersten bekannten Vertreter der Ediacara-Lebensgemein-
in den damaligen Ozeanen zu rekonstruieren, liefern
schaften, in denen Organismen mit weichen Körpern domi-
Erkenntnisse darüber, was diese Entwicklung
vorantrieb. nierten, die bis zu einen Meter hoch beziehungsweise breit
waren. Manche von ihnen sahen wie große, federähnliche
Wedel aus, die mit senkrechten Stielen im Meeresboden

34 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Vor 550 Millionen Jahren erschienen - offenbar ziemlich
plötzlich - die ersten Tiere mit Außen- beziehungsweise
Innenskelett, erkennbar an entsprechenden Fossilien in
Kalkstein, der vorwiegend aus Kalziumkarbonat besteht .
••
Diese Uberreste weisen in Größe und Form bereits eine
durchaus beachtliche Vielfalt auf, und man findet sie in weit
voneinander entfernten Regionen wie Sibirien, Brasilien
und Namibia. Dass damals derart viele Tiergruppen parallel
2 Skelette entwickelten, und zwar weltweit, ist ein Beleg
:s:
~ dafür, dass rund um den Globus ähnliche evolutionäre
w
:r
~ Triebkräfte gewirkt haben müssen. Um was es sich dabei
handelte, wissen wir nicht genau, aber wir haben eine
Vermutung. Ein Skelett auszuprägen, verschlingt wertvolle
Ressourcen; Tiere, die das tun, müssen einen großen
Nutzen davon haben, der die Kosten überwiegt. Der mit
Abstand wichtigste Vorteil eines Skeletts ist der Schutz vor
natürlichen Feinden. Zwar gibt es aus dem fraglichen
Zeitraum keine Fossilienfunde, die auf Räuber hindeuten,
doch das rasche Erscheinen von Skeletten war sehr wahr-
scheinlich eine Reaktion darauf, dass sich erstmals Tiere
verbreiteten, die andere fraßen.
Neuere Untersuchungen fossiler Skelette aus diesem
erdgeschichtlichen Abschnitt liefern faszinierende Hinweise
darauf, wie die Tiere aussahen - und wie sie lebten. Als
••
besonders wichtig für den Versuch, die Okosysteme des
o
C>
Ediacariums zu rekonstruieren, hat sich C/oudina erwiesen.
0

! Von diesem Wesen kennen wir das filigrane Röhrenskelett,


- '
LU

~ das bis zu sieben Zentimeter lang wurde und einem Stapel


a:
••
aus Speiseeis-Waffeltüten ähnelte. Uberreste von Cloudina
Zu den wichtigsten Stätten, an denen Fossilien von wurden erstmals 1972 in Namibia entdeckt, und man
komplexen Ediacara-Tieren aufgetaucht sind, zählen nahm lange Zeit an, das Tier habe während seines Wachs-
Sedimente an den Ufern des Flusses Judoma im tums am Meeresboden festgesessen. In den zurückliegen-
Nordosten Sibiriens (oben) sowie Gebiete am Rand den Jahren haben Forscher jedoch viele neue C/oudina-
der Nama-Wüste in Namibia (unten). Exemplare von Fundstellen auf der ganzen Welt analysiert
und dabei unser Wissen über diese Organismen stark
erweitert. Mein Team beispielsweise hat an Funden aus
wurzelten. Andere bedeckten den Grund, wobei ihre Namibia belegt, dass Cloudina auf ganz verschiedene
flachen Körper eine fraktale Architektur aufwiesen - mit Weise gedeihen konnte. Mitunter heftete es sich an Mikro-
verzweigten Strukturen, die auf verschiedenen Größen- benmatten fest, die auf weichem Sediment des Meeres-
skalen das immer gleiche Muster zeigten. Das gemeinsame bodens wucherten, manchmal verankerte es sich auch an
Merkmal solcher Körperbaupläne war, für eine möglichst aufgeschichteten Kolonien von Zyanobakterien. Noch
große Oberfläche zu sorgen. Es gibt somit gute Gründe zu wichtiger aber ist: C/oudina-lndividuen konnten sich unter-
vermuten, dass die Tiere sich ernährten, indem sie Subs- einander verkitten, um Riffe zu bilden. Damit war diese
••
tanzen über ihre Außenhülle absorbierten - direkt aus dem Uberlebensstrategie nachweislich bereits 20 Millionen
umgebenden Wasser. Jahre früher verbreitet, als Forscher bisher annahmen.
Diese Tierwelt, deren Formenreichtum noch recht be-
scheiden anmutet, bestand mehr als zehn Millionen Jahre In Nachbarschaft zu anderen Tieren
lang. Dann nahm die Evolution Fahrt auf. Laut Fossilienfun- Ob C/oudina mit den Vorfahren der Korallen und anderer
den begannen sich die Ediacara-Gemeinschaften vor etwa heutiger Riffbildner verwandt war, wissen wir nicht. Be-
560 Millionen Jahren stärker zu differenzieren und entwi- kannt ist jedoch, dass die Lebewesen - so wie heutige
ckelten nun auch bewegliche Formen, die flaches Wasser Korallen - in enger Nachbarschaft zu zahlreichen anderen
besiedelten. An manchen Fossilien haben sich Kratzspuren Tieren lebten. Das belegen Skelettfossilien, die man in
erhalten, was darauf schließen lässt, dass die Tiere Algen Gesteinen des gleichen Alters fand. Einer von Cloudinas
••

abschürften, um sie zu fressen. Andere wiederum dürften Zeitgenossen war Namacalathus, dessen Uberbleibsel an
über Algenmatten gekrochen sein und dabei Nährstoffe mit zahlreichen Fundstellen rund um den Globus aufgetaucht
der Unterseite ihrer Körper aufgenommen haben. Ungefähr sind. Sein bis zu fünf Zentimeter langes Skelett bestand aus
zur gleichen Zeit tauchten die ersten gegrabenen Kuhlen einem zarten, dünnwandigen Stiel sowie einer Art Becher
••
oder Löcher auf, ein Hinweis darauf, dass die Tiere sich mit einer zentralen Offnung auf der Oberseite sowie mehre-
••
bewegten und dabei das Sediment aufwirbelten. ren seitlichen Offnungen. Das weiche Gewebe befand sich

Spektrum der Wissenschaft 8.20 35


Vor der kambrischen Explosion
Viele wichtige Neuerungen in tierischen Bauplänen, von denen Forscher angenommen hatten,
sie seien erst während des Kambriums aufgetreten, lassen sich in Wirklichkeit weiter zurück-
verfolgen - nämlich bis ins Ediacarium. So traten die ersten Tiere mit Skeletten bereits wäh-
rend dieser früheren Phase auf. Ihre Fähigkeit, mineralisierte Körpergewebe auszubilden,
entstand ursprünglich wahrscheinlich als Schutzmechanismus gegenüber Raubtieren. Fossili-
en und geochemische Daten aus der Zeit von vor 670 bis vor 480 Millionen Jahren liefern Lantianella laevis
Hinweise darauf, welche Umweltfal<toren damals die Evolution antrieben.

Geochemische Befunde Millionen Jahre vor heute 660 640 620 l..!; 600
_ _ _,_ _ _ =i
Tiere brauchen Sauerstoff zum
Leben. Die Entstehung neuer Arten
im Ediacarium spielte sich unter
••
PRAKAMBRIUM
1 1
'-
stark schwankenden Sauerstoffge-
halten in den damaligen Ozeanen
PROTEROZOIKUM
ab. Kohlenstoffisotope in den Cryogenium Ediacarium
Se.d imenten dieser Zeit zeigen: Der
Kohlenstoffzyklus war instabil und ..c . ..
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unterlag ständigen Anderungen . 0 12- : . [ -
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Die Analyse von Eisenverbindun- : i .:,t'l;ti„ .• . -. :. ..
gen wiederum lässt erkennen, dass 8- l „~„; . . _.
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Nach heutiger Kenntnis stieg der ""O • • .. ..
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_12 _o-------.- Vereisung - - - - .....
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gleichmäßig, sondern in Schüben .. ..
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c
6~0 ·f 620 600
. .
von Kohlenstoffisotop-Gehalten (]) c ..c
zusammenzufallen scheinen und 0)
c
(]) (.) /
während des gesamten Ediacari-
""O 1.... ""O CO
sauerstoffreiches Wasser (blau) schwefelwasserstoffreiches
c2(])cc q:::
ums, aber auch noch danach :J (]) ..c .- (])
•••••••••• ........................ ~ ................ .
- ··········
(]) ""O (.) (]) •••••••••• ••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
auftraten . ..c c . ~ Cl) ~ lokale Unterschiede (Punkte) •••••••••• • •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
. ~ :<( E -~ (]) ••••••••••
•••••••••• ••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
• •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
E(])(])S() eisenhaltiges, •••••••••• ••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
.....
...... ..c ..c ~
(.) (.) .
:eo ·- ..c sauerstoffarmes Ausbreitung - +-0
sa uer:stoffreiches
1.... - 1....
.~ (]) Wasser (grau)
(])N > ·-
wahrscheinlich vor allem im Becher, hat FOSSILIEN OBEN: FRANZ ANTHONYI SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2019; GRAFIK UNTEN: SCIENTIFIC AMERICAN NACH WOOO, R. ET Al.: INTEGRATED
RECORDS OF ENVIRONMENTAL CHANGEANOEVOLUTION CHALLENGE THECAMBRIAN EXPLOSION. NATUREECOLOGY & EVOLUTION 3, 2019. FIG. 1
sich aber leider bei keinem Exemplar erhalten.
Fossilien von Namacalathus deuten darauf hin, dass sich beieinander wachsen und sich sogar untereinander ver-
das Tier ebenfalls auf Mikrobenmatten festsetzte, und zwar kitten, wird ihre Gemeinschaft mechanisch robuster, kann
anscheinend häufig in der Nähe von C/oudina. sich über den Meeresboden und über den Lebensraum
Auch Namapoikia, ein Tier, das man nur von Fossilien- von Konkurrenten erheben, kann Nährstoffe effektiver
fundstätten in Namibia kennt, tat sich gern mit Cloudina aufnehmen und sich besser vor natürlichen Feinden schüt-
zusammen. Bemerkenswert ist dieses Wesen vor allem zen. So wie das Aufkommen von Skeletten zeigt deshalb
wegen seiner Größe - es hatte einen Durchmesser von bis auch das Erscheinen von Riffen im Ediacarium an, dass sich
zu einem Meter - und seines robusten Skeletts. Angesichts die Umwelt in jener Zeit massiv wandelte und dies mit stark
seiner Körperform erscheint es möglich, dass Namapoikia veränderten Selektionsdrücl<en einherging. Jahrmillionen
ein Schwamm war; als solcher hätte er ein Innenskelett vor der kambrischen Explosion hatte der Rüstungswettlauf
besessen, während Cloudina und Namacalathus vermutlich zwischen Räuber und Beute bereits begonnen.
ein Außenskelett hatten. Interessanterweise wuchs Nama-
••
poikia an geschützten Stellen der Riffe, überzog beispiels- Unscharfer Ubergang

weise die steilen Wände von Spalten und Rissen. Heutige Der Ubergang vom Ediacarium zum Kambrium war offen-
Riffe weisen diesbezüglich unterschiedliche Lebensgemein- bar keine plötzliche, dramatische Wende. Nicht nur setzten
schaften auf: Auf offenen Flächen siedeln andere Tiere und die Evolution von Skeletten und der Riffbau deutlich früher
Pflanzen als in versteckten Regionen wie Höhlen, Klüften ein als lange angenommen - wie aus Modellen der damali-
•• ••

oder unter Uberhängen. Die Ediacara-Fossilien lassen gen Okosysteme hervorgeht, besaßen die Lebensgemein-
erahnen, dass derartige Unterschiede schon damals be- schaften beider Zeitabschnitte zudem viele ähnliche ökolo-
standen. gische Merl<male. Neuere Entdeckungen in Sibirien und
Von Bedeutung ist das alles, weil der Riffbau eine wichti- China lassen die Grenze noch weiter verschwimmen. So
ge ökologische Neuerung darstellte. Wenn Individuen dicht haben Forscher aus China und Deutschland festgestellt,

36 Spektrum der Wissenschaft 8.20


Fossilienfunde
Manche Tiere der Ediacara-Zeit waren
erstaunlich hoch entwickelt, darunter
Lantianella laevis, ein mutmaßlicher Vorfahre
der heutigen Quallen. Zu den Wesen aus
dieser Zeit gehören auch Charnia masoni, das
offensichtlich am Meeresboden festsaß und
Nährstoffe aus dem umgebenden Wasser
aufnahm; C/oudina, eines der ersten Tiere mit
einem Sl<elett; und Treptichnus pedum - der
Charnia
noch unbekannte Verursacher charakteristi-
masoni Cloudina
scher Spuren, die fossil überliefert sind .
Treptichnus pedum (fossile Spuren)

580 560 540 520 500 480


1 1 1 1 1 1

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PALAOZOIKUM
KAMBRIUM
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FORTUNIUl\ll
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(unsicher) (unsicher) (unsicher)


FOSSILIEN OBEN: FRANZ ANTHONY I SCIENTIFICAMERICAN JUNI 2019; GRAFIK UNTEN: SCIENTIFIC AMERICAN NACH WOOD, R. ET AL.: INTEGRATED
RECORDS OF ENVIRONMENTAL CHANGE AND EVOLUTION CHALLENGE THE CAMBRIAN EXPLOSION. NATURE ECOLOGY & EVOLUTION 3. 2019, FI G. 1

dass C/oudina bis ins Kambrium hinein existierte. Meine Zum Glück haben Forscher in den zurückliegenden
eigene Arbeitsgruppe ist zusammen mit Kollegen aus Jahren viele geochemische Methoden entwickelt, mit
Russland und China in Ediacara-Sedimenten auf Fossilien denen sich der Sauerstoffgehalt in den Meeren des Ediaca-
gestoßen, die zuvor ausschließlich aus dem Kambrium riums abschätzen lässt. Ein besonders leistungsfähiges
bekannt gewesen waren. Solche Befunde bestärken uns in Verfahren nutzt die Tatsache, dass sich verschiedene
••
unserer Uberzeugung: Wenn wir das Rätsel der kambri- Eisenverbindungen unterschiedlich verhalten, je nachdem,
schen Explosion lösen wollen, müssen wir das Geschehen ob 0 2 vorhanden ist oder nicht. Mit seiner Hilfe können wir
im Ediacarium besser rekonstruieren, da in ihm die Tiere eine Vorstellung davon bekommen, wo und wann genü-
ihren Ursprung hatten. gend Sauerstoff zur Verfügung stand, um die Existenz
Von besonders großem Interesse in diesem Zusammen- komplexer tierischer Lebensformen zu ermöglichen. Studi-
hang ist der Sauerstoffgehalt in den Meeren jener Zeit. en, die dieses Verfahren angewendet haben, kamen weit-
Tiere benötigen Sauerstoff (0 2) zum Leben, und deshalb gehend übereinstimmend zu dem Schluss: Die Menge des
dreht sich eine zentrale Debatte unter Wissenschaftlern
darum, ob seine Konzentration irgendwann während des
Ediacariums oder Kambriums über einen bestimmten
Schwellenwert stieg, der die Entfaltung der Fauna ermög-
lichte. Das ist eine schwierige Frage, denn nicht alle Tiere
Mehr Wissen auf
haben den gleichen Sauerstoffbedarf. Schwämme und Spektrum.de
andere einfache, unbewegliche Organismen brauchen Unser Online-Dossier zum Thema
häufig weniger davon als mobile Arten. Und mit Sicherheit finden Sie unter
spektrum.de/t/evolution
benötigen sie viel weniger Sauerstoff als aktive, schnell FOTOUA / HLPHOTO

schwimmende Räuber.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 37


in den Ozeanen gelösten 0 2 kletterte während des Ediacari- Flachwasserregionen, die sich als Lebensräume erster Tiere
ums wahrscheinlich auf Werte, die es den Tieren erlaubten, eigneten, waren daher vermutlich eher selten und klein -
aktiver und beweglicher zu werden. sie stellten regelrechte Oasen sauerstoffreichen Wassers in
Mittlerweile liegen so viele geochemische Daten vor, einer anoxischen >>Wüste<<dar. Wenn sich die Evolution
dass wir den Gehalt und die Verteilung des Sauerstoffs während des Ediacariums und Kambriums bei relativ niedri-
nicht nur für einzelne Ediacara-Fundstätten rekonstruieren gen Sauerstoffkonzentrationen, aber unter ökologisch stark
können, sondern auch im globalen Maßstab und im erdge- schwankenden Bedingungen abspielte, wie hat sich das auf
schichtlichen Verlauf. Für die Abschnitte des Ediacariums die Bildung neuer Arten ausgewirl<t?
und des Kambriums erkennen wir dabei Muster, die sich Phasen eines ausgeprägten Sauerstoffmangels in den
beträchtlich von den heutigen unterscheiden. In vielen Meeren fallen mit einigen Massenaussterben zusammen,
Regionen lag offenbar eine recht dünne Schichtsauerstoff- etwa mit dem an der Perm-Trias-Grenze vor 252 Millionen
haltigen Wassers auf einem mächtigen Wasserkörper, der Jahren, dem mehr als 90 Prozent aller marinen Arten zum
praktisch überhaupt l<ein gelöstes 0 2 enthielt - ein Zustand, Opfer fielen. Doch auch große Entstehungsschübe neuer
den Fachleute als Anoxie bezeichnen. Arten - etwa am Beginn des Kambriums, 100 Millionen
Die Messdaten zeigen außerdem, dass die Grenze zwi- Jahre später im Ordovizium oder vor rund 247 Millionen
schen sauerstoffarmem und sauerstoffhaltigem Wasser Jahren während der Trias - begannen während ausgedehn-
während dieses Zeitraums sehr dynamisch war: Sie stieg ter anoxischer Perioden. Daher vermuten mein Kollege
und fiel mit den wechselnden Ständen des Meeresspiegels. Doug Erwin von der Smithsonian Institution und ich, die

Versteinerte Organismen
Cloudina gehört zu den ältesten Lebewesen mit einem Außenskelett. Man kennt es von Fossilien, bei denen
sich das zarte, röhrenförmige Gehäuse erhalten hat (oben links). Die Individuen von Cloudina konnten sich
untereinander verkitten und Riffe bilden. Eine andere frühe Lebensform mit Skelett ist Namacalathus, dessen
becherförmige Hartteile in großer Zahl erhalten geblieben sind (oben rechts). Häufig findet man C/oudina
und Namacalathus dicht beieinander (unten links). Namapoikia, ein früher Schwamm, scheint ebenfalls ein
häufiger Nachbar von Cloudina gewesen zu sein; er siedelte in geschützten Spalten der Riffe (unten rechts).

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38
schwankende Verfügbarkeit von Sauerstoff während des
Ediacariums könnte entscheidend daran mitgewirl<t haben,
dass die damaligen Tiere mit ihren weichen l<örpern evoluti- Keine Tiere, sondern
onäre Neuerungen entwickelten. Flechten oder Einzeller?
Wenn der Sauerstoffgehalt im Meerwasser oberhalb von
zehn Mikromol pro Liter liegt, fällt es Tieren viel leichter, ein Die meisten Forscher sehen in den Ediacara-Fossi-
••
Skelett aus Kalziumkarbonat zu bilden - jenem Material, aus lien die Uberreste früher vielzelliger Tiere. Einige
dem auch die Gehäuse vieler heutiger Meeresorganismen Wissenschaftler schlagen allerdings andere Deu-
bestehen. Vielleicht konnte dieses Körpermerkmal deshalb tungen vor. Zu ihnen gehört der Geologe und
erst massenhaft auftreten, als die Sauerstoffwerte weltweit Paläontologe Gregory J. Retallack von der Univer-
über die jene Schwelle gestiegen waren, weshalb entspre- sity of Oregon. Er vertritt die Ansicht, bei den
chende Formen im Rückblick vermeintlich plötzlich und Ediacara-Wesen könnte es sich um Flechten oder
unvermittelt auftraten. Es ist aber noch weitgehend unklar, Pilze gehandelt haben, die im Uferbereich oder
wie Lebewesen in evolutionären Zeiträumen auf schwan- sogar auf trockenen Böden an Land wuchsen -
kende Sauerstoffmengen reagieren. Vermutlich war das im und nicht auf dem Meeresgrund. Der Paläontolo-
Detail sehr kompliziert, denn die Tiere mussten mit zusätzli- ge, der die urzeitlichen Lebensgemeinschaften mit
chen Faktoren wie einem wachsenden Verfolgungsdruck Flechten der heutigen Tundra verglichen hat,
durch Räuber zurechtkommen. Auch die (überwiegend präsentiert damit jedoch eine Außenseiter-These.
••
unbekannten) Rückkopplungen zwischen Individuen, Oko- Der deutsche Paläontologe Adolf Seilacher
systemen und dem Erdsystem als Ganzem fließen hier (1925-2014) wiederum interpretierte die Ediacara-
••

mit ein. Fossilien als Uberbleibsel gigantischer Einzeller -


ähnlich den heutigen Xenophyophoren, die in der
Lückenhafter Befund Tiefsee leben und einen Durchmesser bis zu
Während des Ediacariums und Kambriums hat es in den 25 Zentimeter erreichen, was für einzellige Lebe-
Prozessen, die die Erdkruste formten, vielerorts einschnei- wesen kolossal ist. Die Entwicklungslinie der
dende Umwälzungen gegeben. Infolgedessen weisen die Ediacara-Organismen, postulierte Seilacher, sei
geologischen und die Fossilienbefunde aus dieser Zeit eine völlig andere gewesen als diejenige der viel-
große Lücken auf. Wir können den Aufstieg der komplexen zelligen Tiere und mit Beginn des Kambriums
Tiere deshalb nur rekonstruieren, indem wir Daten zusam- erloschen. Der Paläontologe prägte den Begriff
menpuzzeln, die von zahlreichen Fundorten rund um den >>Vendobionten<< für die hypothetischen Riesen-
Globus stammen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Einzeller des Ediacariums; einige Wissenschaftler
wichtige Ediacara-Fundstätten bis heute schlecht datiert vertreten seine Auffassung bis heute.
sind. In der Regel bestimmen wir das Alter entsprechender Frank Schubert ist Redakteur bei »Spektrum«.
Gesteine, indem wir das Mengenverhältnis von Blei- und
Retallack, G.J.: Ediacaran life on land. Nature 493,
Uranisotopen in benachbarten Ascheschichten früherer
2013
Vulkanausbrüche bestimmen. Dies ist eine der wenigen
Methoden, die absolute radiometrische Alterswerte für Seilacher, A. et al.: Ediacaran biota: The dawn of
animal life in the shadow of giant protists. Palaentolo-
Gesteine liefern. Leider fehlen an vielen bedeutenden
gical Research 7, 2003
Fundstätten aber entsprechende Ascheschichten. Deshalb
können wir evolutionäre Veränderungen, die sich damals
in verschiedenen Teilen der Welt abgespielt haben, nicht
exakt zueinander in Beziehung setzen - womit uns ein andere Methoden, mit denen sich die Sauerstoffgehalte in
verlässlicher Zeitrahmen der Ereignisse fehlt. Ein Musterbei- vorzeitlichen Meeren hoffentlich besser rekonstruieren
spiel hierfür ist die bereits erwähnte und heftig umstrittene lassen. Schließlich stoßen Wissenschaftler immer wieder
Lantian-Formation in China: Sie enthält die möglicherweise auf neue Fossilien an abgelegenen Orten, die bisher weit-
ältesten Tierfossilien der Welt, doch ihr Alter lässt sich nicht gehend unerforscht waren, etwa im Süden Sibiriens. All
genauer ermitteln als irgendwo zwischen 635 und 590 dies wird zu einem nach und nach immer genaueren Bild
Millionen Jahren. davon führen, was sich an der Schwelle zum Kambrium
Dennoch gibt es Grund für Optimismus. Neue Asche- zugetragen hat. ~
schichten werden entdeckt und die Datierungsmethoden
weiter verfeinert. So haben Forscher bestimmte Sedimente, QUELLEN
die zur Altersbestimmung von Ediacara-Fossilien in Nami- Tostevin, R. et al.: Low-oxygen waters limited habitable space
bia dienen, kürzlich neu untersucht. Wie sich dabei heraus- for early animals. Nature Communications 7, 2016
stellte, sind die jüngsten unter ihnen - die der Grenze Wood, R.A. et al.: lntegrated records of environmental
zwischen Präkambrium und Kambrium am nächsten lie- change and evolution challenge the Cambrian explosion. Nature
gen - mehr als zwei Millionen Jahre jünger als zuvor ange- Ecology and Evolution 3, 2019
nommen. Das wirft Fragen dazu auf, wie sich diese Fos- Zhu, M. et al.: A deep root for the Cambrian explosion:
silien zu denen von anderen Fundorten verhalten. Zudem lmplications of new bio- and chemostratigraphy from the
entwickeln Geochemiker neue lsotopentechniken und Siberian Platform . Geology 45, 2017

Spektrum der Wissenschaft 8.20 39


••

Weltweit erforschen Wissenschaftler, wie das neue


Coronavirus Sars-CoV-2 funktioniert, wo es
herkam und wie es sich weiterentwickeln könnte.

David Cyranoski ist Wissenschaftsjournalist und berichtet


als Korrespondent der Zeitschrift »Nature« aus Schanghai über
Entwicklungen im asiatisc h-pazifi schen Raum.

» spektrum.de/artikel/1744790

Im Jahr 1912 rätselten deutsche Tierärzte über den Menschen jedoch, so glaubten die Forscher,
Fall einer fiebrigen Katze mit stark geschwollenem würden die Viren nur milde Symptome verursa-
Bauch. Vermutlich handelt es sich dabei um den ersten chen. Aber 2003 offenbarte der Ausbruch des
überlieferten Bericht einer durch Coronaviren ausgelösten schweren akuten Atemwegssyndroms Sars
Krankheit. Was die Tierärzte damals noch nicht wussten: (severe acute respiratory syndrome), dass dies ein
Coronaviren verursachen auch bei Hühnern Bronchitis und Irrtum war.
bei Schweinen eine Erkrankung des Verdauungstrakts, an Angesichts der rasant zunehmenden Todesfälle der
der fast alle betroffenen Ferkel sterben, die weniger als al<tuellen Covid-19-Pandemie (coronavirus disease 2019)
zwei Wochen alt sind. bemühen sich die Forscher nun, so viel wie möglich über
Die Gemeinsamkeit zwischen den jeweiligen Erregern die Biologie des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 herauszu-
kam erst in den 1960er Jahren ans Licht, als Forscher in finden. Nach und nach zeichnet sich ein klareres Bild des
Großbritannien und den Vereinigten Staaten zwei Viren mit Erregers ab: Genetische Hinweise deuten darauf hin, dass
kronenähnlichen Strukturen isolierten, die beim Menschen es sich bereits seit Jahrzehnten in der Natur versteckt hielt.
Erkältungen auslösten. Wie die Wissenschaftler bald fest- Offenbar entwickelte das Virus dabei eine Reihe von An-
stellten, weisen die Viren der infizierten Tiere die gleiche passungen, die es bedrohlicher machen als die Mehrheit
borstige Struktur auf, sie sind gespickt mit stacheligen der Coronaviren, mit der die Menschheit bisher konfrontiert
Eiweißzacken (siehe Grafik rechts). Unter dem Elektronen- war. So attackiert Sars-CoV-2 im Gegensatz zu seinen
mikroskop ähnelten sie der Sonnenkorona, weshalb die nahen Verwandten rasch menschliche Zellen an mehreren
Forscher 1968 die Bezeichnung Coronaviren für die gesam- Stellen, wobei Lunge und Rachen die beiden Hauptziele
te Gruppe einführten. Die Familienmitglieder erwiesen sich sind. Einmal im Körper, greift das Virus auf ein vielfältiges
als vielseitige Killer: Hunde-Coronaviren können Katzen Arsenal gefährlicher Moleküle zurück.
befallen, das Katzen-Coronavirus schädigt Schweine. Beim Viele Fragen bleiben allerdings offen, darunter: Wie
genau tötet das Virus? Wird es sich zu etwas Bedrohliche-
rem entwickeln - oder harmloser werden? Was kann es
über die nächste Attacke aus der Familie der Coronaviren
>>Wir müssen erhöht wachsam verraten? >>Es wird noch mehr passieren, entweder tut es
das schon da draußen, oder es entsteht gerade<<, meint
sein und permanent beobach- Andrew Rambaut, der an der britischen University of Edin-
burgh die Evolution des Virus erforscht.
ten, ob neue Virenstämme
••
Unter den Viren, die den Menschen befallen, gehören

durch zoonotische Ubertragung Coronaviren zu den größeren Exemplaren. Mit einem


Durchmesser von 125 Nanometern erscheinen sie auch
auftauchen<< vergleichsweise groß innerhalb jener Gruppe von Viren, die
RNA zur Vermehrung nutzen und die für die meisten neu
Rasmus Nielsen, University of California, Berkeley aufgetretenen Krankheiten verantwortlich sind. Corona-

40 Spektrum der Wissenschaft 8.20


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(purpur)

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~~ Ein Sars-CoV-2-Viruspartikel hat einen Durchmesser von etwa 100 Nanometern und ist nur in einem Elektronen-
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~~ mikroskop sichtbar. Es besteht aus einer annähernd kugelförmigen Zusammenballung von Proteinen und RNA
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~~ innerhalb einer Lipidmembran, aus der so genannte Spike-Proteine als lange Fortsätze herausragen. Mit Hilfe
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~~ dieser Moleküle heftet sich das Virus an menschliche Zellen, die oft hunderte Male größer sind als es selbst, und
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ffi ~ tritt ins Zellinnere ein. Durch die Fortsätze sieht das Virus ähnlich aus wie eine Krone (>>Corona<<), was ihm seinen
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~~ Namen gegeben hat. Bei einem Infektionsvorgang bewegen sich die Strukturproteine N, M und E ins Innere der
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befallenen Zelle, wo sie dabei helfen, neue Viruspartikel zu bilden.
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Spektrum der Wissenschaft 8.20 41


viren zeichnen sich dabei vor allem durch ihr Erbgut aus:
Mit 30000 Nukleotiden besitzen sie das größte Genom aller
>>Ist Sars-CoV-2 erst einmal in
RNA-Viren (siehe >>Bemerkenswertes Virusgenom<<, S. 47).
Es übersteigt den Erbgutumfang der Erreger von Aids und
der Lunge, wirkt es wahr-
Hepatitis Cum das Dreifache und den von Influenza um scheinlich genauso tödlich wie
mehr als das Doppelte.
Darüber hinaus gehören Coronaviren zu den wenigen der Sars-Erreger<<
RNA-Viren, die einen genetischen Korrekturlesemecha-
Stanley Perlman, University of lowa
nismus besitzen. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür,
dass bei Covid-19 gängige antivirale Mittel wie Ribavirin
versagen, die etwa das Hepatitis-C-Virus stoppen, indem
sie Mutationen auslösen. Bei den Coronaviren merzt
dieses Korrekturlesen solche Veränderungen wohl wie- die Viren veranlassen, schnell von einer Zelle zu anderen
der aus. überzugehen. Das verhindert das Absterben der jeweiligen
Mutationen können für Viren jedoch auch nützlich sein. infizierten Zellen.
lnfluenzaviren beispielsweise mutieren dreimal häufiger als Wann tauchte das erste Coronavirus auf? Vor 300 Millio-
Coronaviren und schaffen es damit, Impfstoffe zu umge- nen oder erst vor 10000 Jahren? Die Schätzungen darüber
hen. Coronaviren hingegen nutzen einen ganz besonderen schwanl<en stark. Heutzutage kennen Wissenschaftler
Trick: Sie ordnen ihr genetisches Material öfter neu an und Dutzende Stämme, von denen sieben ebenfalls den Men-
tauschen dabei Stücl<e ihrer RNA mit anderen Coronaviren schen infizieren. Von den insgesamt vier Stämmen, die
aus. Meist handelt es sich dabei um einen wenig produl<ti- gewöhnliche Erkältungen auslösen, kommen zwei (0C43
ven Handel mit ähnlichen Teilen zwischen ähnlichen Viren. und HKU1) in Nagetieren und die beiden anderen (229E und
Doch wenn zwei entfernt verwandte Coronaviren in dersel- NL63) in Fledermäusen vor. Die drei, die teils schwere bis
ben Zelle landen, bringt eine derartige Rekombination nach tödliche Krankheiten verursachen - das Sars-Virus Sars-
Ansicht von Rambaut mitunter beeindruckende Versionen CoV, der Erreger Mers-CoV (Middle East respiratory syndro-
hervor, die sowohl neue Zelltypen infizieren als auch auf me) sowie das neue Sars-CoV-2 -, stammen alle von Fleder-
andere Spezies überspringen können. mäusen. Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass die
••

Ubertragung auf den Menschen in der Regel über einen


Dunkle Herkunft Vermittler, ein von Fledermäusen infiziertes Tier, verläuft.
Bei Fledermäusen tauchen solche Rekombinationen recht So gelten auf chinesischen Tiermärkten angebotene Zibet-
häufig auf. Von insgesamt 61 Fledermausviren, die bel<ann- katzen bei Sars als Zwischenwirt.
termaßen auch Menschen befallen, beherbergen manche Die Herkunft von Sars-CoV-2 ist immer noch unbekannt.
Fledermausarten bis zu einem Dutzend gleichzeitig. Dabei Das Virus teilt 96 Prozent seines Erbguts mit einem Virus,
schaden die Viren den Tieren meist gar nicht. Es gibt meh- das bei einer Fledermaus in einer Höhle in der chinesischen
rere Theorien darüber, warum das so ist. So geht eine im Provinz Yunnan gefunden wurde (siehe >>Spektrum<< Mai
Februar 2020 veröffentlichte Studie davon aus, dass infizier- 2020, S. 32). Gleichwohl gibt es einen entscheidenden
te Fledermauszellen Immunantworten einleiten, welche Unterschied: Die Spike-Proteine von Coronaviren besitzen
eine so genannte Rezeptorbindungsdomäne, mit der das
Virus in menschliche Zellen eindringen kann . Die sehr
effizient wirkende Sars-CoV-2-Bindungsdomäne unterschei-
AUF EINEN BLICK det sich in wichtigen Punkten von der des Yunnan-Fleder-
DAS NEUE CORONAVIRUS mausvirus, das offenbar Menschen nicht befallen kann.
UNTER DER LUPE Weiter verkompliziert wird die Sache durch ein als
Pangolin bezeichnetes Schuppentier, bei dem man ein
Sars-CoV-2 gehört zu den Coronaviren, zu denen Coronavirus mit einer zur menschlichen Version fast identi-
1 harmlose Erkältungsviren, aber auch die Auslöser der schen Rezeptorbindungsdomäne fand. Da jedoch der Rest
des Virusgenoms nur zu 90 Prozent übereinstimmt, schlie-
oft tödlichen Erkrankungen Sars und Mers zählen. Die
Viren gelangten über Tiere auf den Menschen. ßen manche Forscher das Schuppentier als Zwischen-
wirt aus.
Im Gegensatz zum Sars-Erreger infiziert Sars-CoV-2 Die Tatsache, dass sowohl Mutationen als auch Rekom-
meist den Rachen. Von da aus oder direkt erreicht es binationen das Virus verändern, macht es besonders
mitunter die Lunge - was sic h fatal auswirkt. Andere schwierig, einen Stammbaum zu erstellen. In den vergange-
Organe können ebenfalls betroffen sein. nen Monaten erschienen dazu verschiedene Studien, die
allerdings noch nicht von Fachkollegen beim so genannten
Einige Wissenschaftler hoffen, dass das Virus sich m it
Peer-Review überprüft wurden. Sie deuten darauf hin, dass
der Zeit an den Menschen anpasst und somit ungefähr-
licher wird . Beweise für diese These gibt es allerdings sich Sars-CoV-2 - oder ein sehr ähnlicher Vorläufer - seit
noch nicht. Jahrzehnten in verschiedenen Tieren versteckt hält. So
spaltete sich laut einem im März 2020 vorab veröffentlich-
ten Artikel die Coronavirus-Linie, die schließlich zu Sars-

42 Spektrum der Wissenschaft 8.20


CoV-2 führte, vor mehr als 140 Jahren von den eng ver- später einsetzenden Lungenentzündung heimgesucht
wandten Formen ab, die man heute bei Schuppentieren werden.
findet. Irgendwann in den vergangenen 40 bis 70 Jahren Wie erwähnt kann das Virus aber offenbar auch die
trennten sich demnach dann die Vorläufer von Sars-CoV-2 Rachenzellen umgehen und direkt in die Lunge gelangen.
von der Fledermausversion, die daraufhin die effektive Solche Patienten könnten eine Lungenentzündung bekom-
Rezeptorbindungsdomäne verlor - in Sars-CoV-2 allerdings men ohne die üblichen milden Anfangssymptome wie
verblieb (siehe >>Stammbaum der Coronaviren <<, S. 48). Die Husten oder leichtes Fieber, so Wendtner. Durch diese zwei
••
Arbeitsgruppe des Evolutionsbiologen Rasmus Nielsen von Infektionswege verbinde Sars-CoV-2 die Ubertragbarkeit
der University of California in Berkeley zog mit einer ande- der gewöhnlichen Erkältungsviren mit der Letalität von
ren Datierungsmethode ähnliche Schlüsse. Mers und Sars - eine >>unglückliche und gefährliche Kombi-
Damit zeichnet sich eine lange Familiengeschichte ab, nation<<.
wobei etliche Zweige der Coronaviren in Fledermäusen und Die Fähigkeit des Virus, die oberen Atemwege zu in-
Schuppentieren dieselbe gefährliche Rezeptorbindungs- fizieren, überraschte die Forscher, weil sein genetischer
domäne wie Sars-CoV-2 tragen. Darunter befänden sich Verwandter Sars-CoV das nicht vermag . Wendtners Team
auch einige mit Pandemiepotenzial, meint Nielsen und konnte das Virus aus dem Rachen von neun Covid-19-
betont: >>Wir müssen erhöht wachsam sein und permanent Patienten kultivieren, was zeigt, dass der Erreger sich hier
beobachten, ob neue Virusstämme durch zoonotische vermehrt und infektiös ist. Das erklärt einen entschei-
••
Ubertragung auftauchen.<< denden Unterschied zwischen den nahen Verwandten:
Noch bevor Symptome auftreten, kann Sars-CoV-2 Virus-
Ein leichter Husten kann sich zur schweren partikel aus dem Rachen in den Speichel absondern, die
Lungenentzündung entwickeln dann wiederum leicht von Mensch zu Mensch wandern.
Obwohl die bekannten menschlichen Coronaviren viele Sars-CoV hingegen agierte weit weniger effizient, da es nur
Zelltypen infizieren können, verursachen sie alle in erster dann übertragen wurde, wenn bereits ausgeprägte Symp-
Linie Atemwegsinfektionen. Der Unterschied besteht darin, tome auftraten. Aus diesem Grund ließ es viel leichter
dass die vier, die gewöhnliche Erkältungen auslösen, leicht eindämmen.
die oberen Atemwege befallen, während Mers-CoV und
Sars-CoV dort schlechter angreifen können . Stattdessen
infizieren letztere erfolgreicher die Zellen der Lunge.
Sars-CoV-2 vermag leider beides sehr effizient. Damit Mehr Wissen auf
verfüge es über zwei Möglichkeiten, sich im Körper einzu- Spektrum.de
nisten, erklärt der Pathologe Shu-Yuan Xiao von der Univer-
Unser Online-Dossier zum Thema
sity of Chicago: Erreichen uns zehn Viruspartikel vom finden Sie unter
Husten eines weiter entfernten Gegenübers, lösen diese spektrum.de/t/coronaviren
vielleicht eine Infektion im Hals aus. Die dort befindlichen ROBERT WEI f GffiY IMAGES I !STOCK

Flimmerhärchen werden aber wahrscheinlich die Eindring-


linge zügig beseitigen. Kommt unser Gegenüber uns hinge-
gen näher und hustet 100 oder mehr Viruspartil<el in unsere Aus den unterschiedlichen Infektionswegen von Sars-
Richtung aus, könnten es manche bis in die Lunge schaffen. CoV-2 resultierte vielleicht eine gewisse Verwirrung über
Diese zwei verschiedenen Infektionswege könnten dessen Letalität. Experten und Medienberichte beschreiben
erklären, warum Covid-19-Patienten so unterschiedliche das Virus üblicherweise als weniger gefährlich, weil es
Erfahrungen machen. Die Infektion beginnt eventuell im maximal ein Prozent der Infizierten tötet, während es bei
Rachen oder in der Nase, löst Husten aus, beeinträchtigt Sars-CoV etwa zehnmal so viele waren. Perl man sieht das
Geschmack und Geruch - und endet dort auch schon. Oder jedoch anders: Viele Infektionen von Sars-CoV-2 gelangen
aber sie breitet sich bis in die Lunge aus und schädigt diese. zwar nicht in die unteren Atemwege - >>ist es aber erst
Auf welchem Weg das Virus dort hinuntergelangt - etwa einmal in der Lunge, wirkt es wahrscheinlich genauso
indem es sich von Zelle zu Zelle hangelt oder irgendwie tödlich<<.
nach unten gespült wird - , sei unbekannt, sagt der lmmu- Trotz einiger Unklarheiten scheint sich der Covid-19-
nologe und Coronaviren-Experte Stanley Perlman von der Erreger in der Lunge ähnlich zu verhalten wie andere Atem-
University of lowa. wegsviren: Wie Sars-CoV und Influenza infiziert und zer-
Nach Ansicht von Clemens Wendtner, Chefarzt an der stört es die Alveolen, die den Sauerstoff in den Blutkreislauf
Münchner Klinik Schwabing, könnte es auch am Immun- abgeben. Sobald die zelluläre Barriere, die diese Lungen-
system liegen, warum das Virus manchmal die Lungen bläschen von den Blutgefäßen trennt, zusammenbricht, tritt
erreicht. Die meisten Infizierten bilden neutralisierende Flüssigkeit aus den Gefäßen aus und verhindert die Sauer-
Antikörper, die an das Virus binden und es so daran hin- stoffübertragung ins Blut.
dern, in eine Zelle einzudringen. Doch einige Menschen Andere Zellen, darunter weiße Blutkörperchen, verstop-
seien wohl nicht in der Lage, diese Antikörper zu produzie- fen zusätzlich die Atemwege. Eine angemessene Immun-
••

ren, erklärt Wendtner. Das könnte der Grund dafür sein, antwort sollte all dies beseitigen, eine Uberreaktion des
warum sich manche Patienten nach einer Woche mit Immunsystems kann den Schaden jedoch weiter verschlim-
leichten Symptomen erholen, während andere von einer mern. Bei sehr schwer wiegenden Entzündungen und

Spektrum der Wissenschaft 8.20 43


Vermehrung
Virusinvasion und lmmunannNort Sobald sich die Virus-RNA im Zellinnern befindet,
versorgt sie die zellulären Ribosomen mit etwa zwei
Dutzend Genen, die diese in Proteine übersetzen.
Sars-CoV-2-Partikel dringen durch Nase oder Mund ein, gelangen Einige davon veranlassen das endoplasmatische Retiku-
in die Atemwege und erreichen schließlich Lungenzellen, auf denen lum, ein verzweigtes Kanalsystem in der Zelle, dazu,
Rezeptormoleküle namens ACE2 sitzen. Die Erreger binden sich Vesikel auszubilden. Innerhalb dieser Bläschen erzeugt
eine viruseigene Kopiermaschine (eine Polymerase)
daran, schlüpfen ins Zellinnere und nutzen die Zellmaschinerie, um zahlreiche Abschriften der Virus-RNA. Manche davon
sich selbst zu vervielfältigen. Die neu gebildeten Viruspartikel dienen zur Herstellung weiterer Virusbestandteile, etwa
der Spike-Proteine. Andere werden in neuen Virusparti-
brechen aus ihren Wirtszellen aus und befallen weitere Ziele. Infi- keln verpackt, die aus der Lungenzelle ausbrechen.
zierte Zellen senden Alarmsignale ans körpereigene Immunsystem,
um Abwehrreaktionen einzuleiten, doch die Erreger können diese
Signale unterdrücl<en und so Zeit gewinnen, um sich zu vermehren. endoplasmatisches Ribosom Virus-RNA
Retikulum

Bindung an eine Lungenzelle


Wenn sich ein virales Spike-Protein an ein ACE2-Rezeptormolekül auf der ..·..·
Zielzelle heftet, schneidet ein zelluläres Protease-Enzym (vermutlich Furin) ..• ...··..
_
•'

den Kopf des Spikes ab. Dies setzt eine Maschinerie in Gang, die im Schaft • „••.·
des Spike-Proteins wie eine zusammengedrückte Feder verharrt und nach
• „••..····
ihrer Aktivierung dafür sorgt, dass das Virus mit seiner Zielzelle fusioniert. •• ...··•····. • r
ACE2 ist normalerweise an der Regulierung des Blutdrucks beteiligt. ..... „~
Virus- Proteine

•'
• „.··•'
• .„„.·· • ~1-----:..;~ Virus-
.. •
...··...· Polymerase ••
Sars-CoV-2-Viruspartikel ..··' •
~· •
• • •• Vesikel
l

•• „
• • •
:~- Protease •
schneidet den Kopf •
Spil<e-Protein _ _____,....., •
des Spike- '
Proteins ab.

ACE2 - --.~_)
Rezeptor-
molekül Lungenzelle •
• .
y
Eindringen
Golgi-Apparat
Die Membranen des Viruspartikels und der Lungenzelle ver-
schmelzen, was es der viralen RNA - dem Erbmolekül des
Erregers - erlaubt, ins Innere der Zelle zu gelangen.
In weite.ren Vesjkeln,
die vom endoplasma-
Die »Enthauptung« des Spil<e-Proteins Der Apparat verankert sich
aktiviert den Fusionsmechanismus. in der Zellmembran ... tischen Retikulum
sowie vom Golgi-Ap-
.p arat stammen, la.gern
sich Spike-, M- und
0 Membranen E-Proteine zusammen.

/
F-Ysions-
apparat Ausbruch
' ~\~'. ~'· ' Vesikel, die neu gebildete Viren e.n thalten,.
verschmelzen mit der Zellmembran. Hierdurch
..
<:>
N
öffnet sich ein Kanal, der es den Erregern erlaubt
<:>
N
:::;
zu entkommen. Eine einzige Wirtszelle kann auf
:::> ... und drückt die Lipidmembra-
-,
z
diese Weise hunderte Viruskopien freisetzen. In
c:'i nen des Viruspartil<els und der der Regel führt dies zu ihrem Tod, e·n tweder weil
a:
.....
::;; Zelle zusammen.
<( ihre Ressourcen erschöpft sind oder weil sie vom
u
~
lmmu·n system attackiert wird. Einige von den
!z
.....
frisch hergestellten Erregern befallen
-.....
u
V>

z weitere Z.e llen, andere werden mit


V>
z
<( der Atemluft ausgestoßen.
i=
-
V> Viruspartikel
RNA ~
a:
:I:
'-'
2
.....
..,
-,
Membran der Lungenzelle
V>

~
a:
.....
z
C>
'-'
--'
Ein Kanal entsteht, durch den die
N-Proteine und die RNA des
Virus in die Zielzelle eintreten.
l
i:2:
·<(
'-'
z
C>
a:
.....
> VERGANGENE ZEIT· RUND 10 MINUTEN
neue Viruspartikel

VERGANGENE ZEIT RUND 10 STUNDEN


44 Spektrum der Wissenschaft 8.20
Immunabwehr
Während d ie Infektion fortschreitet, versucht das angebo- Adaptive Immunabwehr:
rene Immunsyst em, die Lungenzellen vor Virenbefall zu Interferone alarmieren weiterhin so genannte
Viruspartikel schützen. Das adaptive Immunsystem entwickelt zielge- B-Lymphozyten. Diese Immunzellen produzieren
richtete Abwehrmaßnahmen gegen Sars-CoV-2. neutralisierende Antikörper, die sich spezifisch an
das vira le Spike-Protein binden G) und so
verhindern, dass es an eine Lungenzelle andockt.
Schließlich rufen die Interferone zudem T- Lym-
Angeborene Immunabwehr: phozyten auf den Plan - Immunzellen, d ie sowoh l
Infizierte Zellen setzen Interferone frei - Proteine, die
Viren zerstören als auch infizierte Zellen abtöten,
benachbarte Zellen alarmieren. Die Nachbarzellen bevor aus diesen d ie n eu gebildeten Viruspartikel
erzeugen daraufhin Moleküle, die Viruspartikel am ausbrechen G). Einige B- und T- Lymphozyten
Eindringen ins Zellinnere oder an der Vermehrung entwickeln sich zu Gedächtniszellen, die es der
hindern. Interferone veranlassen zudem Makrophagen Körperabwehr ermöglichen, künftige Invasionen
im Blut, Viruspartikel zu beseitigen.
des V irus rasch zu erkennen und zu bekämpfen.
Lungenzelle
• „
• •
• • • • .

•••
•• •
••


••



• • •

••

• •

••

,

•• • •
" • •
• •
G-

••
Interferon Virus-
partikel
• • •

• „ •
Antikörper

••
•• ' • •




l
4
•• ~
< ...
• •• •
• •
-"
• ••

•• •
1
• •
• •
••
,_ <
Ribosomen
stellen Virus-
• ••

• •

• • • • •
• •

Interferon
8-Lymphozyt V „ <
Polymerasen -============== ~ 1
Makrophage Viruspartikel infizierte Zelle
her, welche die < "'
vira le RNA T-Lymphozyt 1- ~
• •
kopieren. • • 'f
• • •• • 1 0
0 Q
N-Proteine
ballen sich mit
0
• 0

Vi rus-RNA.
• •
• •
zusammen und •

stabilisieren sie.

infizierte Zelle

VERGANGENE ZEIT: 0-3 TAGE VERGANGENE ZEIT: 6-11 TAGE

Virale Gegenmaßnahmen
Sars-CoV-2 nutzt verschiedene
Mechanismen, um der Körper- Bestimmte Sensorproteine der Zelle Sars-CoV-2-
erkennen eindringende Viren normaler- Viruspartikel
abwehr zu entgehen.
weise als fremd und weisen den Zelll<ern Boten- RNA
daraufhin an, Boten-RNA-Moleküle zu
wird abgebaut.
Das Spike-Protein des Virus kann produzieren, die den zel leigenen Riboso-
sich mit Zuckermolekülen tarnen. men als Bauanleitung für Interferon-Pro-
Dies hindert Antikörper der teine dienen. Die frisch hergestellten
Immunabwehr mitunter daran, Interferone verlassen die Zelle ansch lie- t:;:
:;§
sich an den Erreger zu koppeln, ßend, um benachbarte Zellen sowie das .... •' ···~
....._
u
"'
z
• LU

um ihn zu neutralisieren. Immunsystem zu alarmi eren ... "'


"'
s:
a:
LU
0
y
Virus :2
:::>

Antikörper ß-
1 Sars-CoV-2-
a:
!;;:
LU
c...
(/)

Interferon 'f Proteine <!>


z
:::>
Glykan 1-
LU
CD
a:
(Zuckermolekül) ~
CD

~ Lungenzelle ö
~
blockiertes Sensorprotein ::::;
...,
:::>
Boten-RNA 2
5
a:
LU

e~ sensor­ :a
<(
u
......
protein
Ribosom t ... Forscher nehmen allerdings
1-
2
LU
u
-
(/)

z
LU
(/)

an, dass mehrere Sars-CoV-2-Pro- 2


<(

teine d ie zelleigenen Sensorpro- Bi


Zellkern a:
X
u
.~
teine blockieren oder d ie Boten- z
...,
LU

....... RNA der Interferone ausschalten .


... ""?;(
(/)

X
a:
Interferon-Gen LU
z
Virus 0
u
~

~
5
z
0
a:
LU
>

Spektrum der Wissenschaft 8.20 45


Wie die Antikörper-Reaktion einsetzt
Behandlung mit Arzneistoffen und Impfung
Jene Bestandt eile des Virus, an d ie sich d ie
körpereigenen Antikörper zielgeri chtet binden,
Komme rziell e Unternehmen und unive rsitäre Arbeitsgruppen rund um d en nennt m an A ntigene. Gelangen sie in den Körper,
Globus untersuc hen w eit über 100 Arzneist offe, um d amit Covid-19 zu werden sie von ant igenpräsent ierenden Zellen
behandeln - die Krankheit, die das Sars-CoV-2-Virus verursacht. Impfstoffe aufgenommen, d ie sie da nn anderen Im m unzel-
len namens T-Helfer-Zellen und B-Lymphozyten
hingeg en h elfen w eni ger, ein e a l<tu ell vorli egende Erkranl<ung zu th erapie- vorzeigen. Die B-Lymphozyten produzieren
ren, sonde rn bereiten das Immunsyst em darauf vo r, künfti g eintret ende daraufhin A nt ikörper, d ie sich gegen das Virus
richten ; die T-Helfer-Zellen unterstützen sie dabei
lnfe l<tionen schn ell und wirl<sam zu be l<ämpfen. und weisen außerdem zytotoxische T-Zellen dazu
an, inf izierte Lungenzellen zu zerstören .
. . ... . . ... . .... . · ~· · · .... .. ... . ···· · . .. ...... . ·-· ·· · .„ .. ... .. ... .. ... .. .. •. . .. .. „ . · ··· · . .. ... .. ... . . • . • .. .. ... . · ··· ·
~ · ~· · · . ... .. ... . · •· · · . .. ...... ... .. .. ... ... .. . · ··· · . ..... •. . .
~ · ··~ · · ··· · . .. .... ..... ..... ... . . .

a ntigen p räsentie re nde Zelle


Zielstrukturen von Arzneistoffen Sa rs-CoV-2- 1m p f stoff

Viren davon abhalten, in 1


Zellen einzudringen Prot ease
Die m edikam entösen W irkstoff e
oder t herapeut ischen Antikörper Spike-
binden sich an das Spike-Protein p rote in - ---=- -==-----
und vereiteln so, dass es an den
ACE2-Rezeptor etwa auf einer Zie l- - -
Lungenzelle koppe lt . Andere struktu r
Substa nzen lagern sich an das A ntigen
zell uläre Enzym Protease an und ACE2-
hindern es daran, das Spike-Prot e-
Rezepto r- T-Helfer-Zellen werden akti-
in zu zerschneiden, so dass das
Virus n icht m it der Zelle f usion ie- m o lekül v iert, um B-Lym phozyten zu
unterstützen und zytotoxische
ren kann .
T-Zellen anzuweisen . .........
·····......········ .......
Die Virusvermehrung abschalten
Medikam entöse Substanzen können V irusprot e in T-H e lfe r-Zelle
Einige B- und T-Helfer-
auch Prote ine in Körperzellen (etwa
zellen entwickeln sich
in Lungenzellen) blocki eren, d ie 8 -Ly mphozyt
zu Gedächt niszellen, -----1--o
das V irus zu seiner Repli kation
d ie es der Körperab-
benötigt - beispielsweise solche,
wehr ermöglichen, Gedächt nis-
d ie an d er Herstellu ng von V iruspro-
künftige Invasionen des zelle n
t einen mitwirken oder d ie daran
Virus rasch zu erkennen
bet eiligt sind, d ie Vesikel hervor-
zubri ngen, in denen das V irus sein 0 Protein d er Wirtszelle,
und bekämpfen .
Erbg ut verv ielfä lt igt. das die V iren be nötigen
Impfstrategien
Das Entstehen schadhafter Viruspartikel fördern Experten entwickeln mindestens sechs verschie-
Manc he A rzneistoffe beeinflussen d ie dene A nsätze, um Virus-Vakzinen herzustellen .
Virus-Polym erase. Diese arbeitet R NA-Po ly m e rase verände rte Versione n des V irus verabreich e n
mit einem weiteren Enzym des V irus
nam ens ExoN (nicht gezeigt)
zusam men, um Fehler zu beheben, d ie V iru sgenom
beim Kopieren des v iralen Erbguts
entst ehen; solche Feh ler m achen d ie neu Kopie d es
gebildeten V iruspa rt ike l manchmal V ir usgeno m s
funktionsunfä hig. Indem einige med ika-
m entöse W irkstoffe j ene Fehlerko rrek- /
tur unterb inden, bewirken sie, dass bei Z ie lstruktur
der Verm ehru ng des Virus m ehr a bgesch wächte inakti v ierte V irus-
fu nktionslose Exemplare entstehen. V iren V ire n b est a ndteile
••
..
<:> Uberbordende Immunreaktionen dämpfen
N
Virus-Gene entschlüsseln (etwa die m it den Bauplänen
--
<:>
N
:::;
0 - 0
:::>
-,
z
Die Körperabwehr sch ießt m itunter ~
0
0
der Spike-Proteine) und Kopien d ieser Gene in den
Q 0 0
c:'i
a: übers Ziel hinaus, indem sie so viele 0 Organism us einführen - entweder in Fo rm von DNA, RNA
......
::;;
<( Lungenzellen zerstört, dass Immunzelle oder mit Hilfe ha.rmloser viraler Genf ähren.
()
u 0
~
deren schleimige Abbaup roduk- 0
!z ~
......
te die Fun ktio n der Lu nge blocki e- /---------j)lo~ .. „ •...... „'4

-
u
V>

z
...... ren. Die Patienten drohen zu ersticken (it
0
V> Q ----~
und m üssen beatm et werden .
-
z
<(
i=
V>
a :: Eine massive Produktion von
0
0
'•
0 0
:I:
'-'
körpereigenen Sig nalstoffen w ie 0 Q Ribosom e n der
2 0 0
......
..,
-,
Zytol<inen kan n das _l_ mmunsystem 0
0
OQ ~
Zie lzelle stelle n
V> 0
~ zu entsprechenden U berreaktionen 0
o? O Best a ndte ile
0 0
des V irus he r . ..
~
a::
......
z
provozieren . Einige A rzneistoffkandida- 0
0
C> 0
'-' ten w irken dem entgegen, indem sie 0 Oo 00
--'
i:2: Zytokine DNA RNA ha rml ose V iru s-Gen fä hre
·<(
'-'
solche Sig nalstoffe hem men. 0
z
C>
a::
......
>
/ 0 Q

Zie lstru kt ur

46 Spektrum der Wissenschaft 8 .20


Sars-CoV-2

Möglichkeiten .• Bemerkenswertes Virusgenom


..•
der Impfung •


Das Genom von Sars-CoV-2 ist ein RNA-Strang mit etwa
Eine Impfung setzt das Immunsys- ..•• 29900 Nukleotiden, was verglichen mit anderen RNA-Viren

•.•
tem entweder veränderten Viren ..• gewaltig anmutet. Bei Influenza-Erregern sind es etwa
oder Virusbestandteilen aus, so .• 13 500 Nukleotide und bei Rhinoviren, die gewöhnliche
..
dass es >>Üben<< kann, den Erreger .•• Erkältungen verursachen, rund 8000. Wegen der enormen
..••
zu bekämpfen. Die dabei entwicl<el- Größe des Sars-CoV-2-Erbguts können bei dessen Verviel-
..•
ten zielgerichteten Abwehrmaß- ..• fältigung diverse Kopierfehler auftreten, die die Virusfunl<ti-
1-
.\ " .•
..•
gegen das
nahmen merkt sich der Organis- •
on beeinträchtigen. Der Replikationsapparat des Erregers
..

"' 4 Virus mus mit Hilfe von Gedächtniszellen, erkennt solche Fehler aber und korrigiert sie - zumindest
.
•"" gerichtete so dass er Invasionen des echten .•• bis zu einem gewissen Grad. Diese Qualitätskontrolle ist bei

•: Antikörper ..•
Virus in der Zukunft viel rascher ...• menschlichen Zellen oder auch bei DNA-Viren gang und
••
bekämpfen kann. Impfstoffherstel- .. gäbe, bei RNA-Viren hingegen höchst ungewöhnlich. Das
.•
ler verfolgen verschiedene Stra- •.

umfangreiche Sars-CoV-2-Genom enthält mehrere Erbanla-

tegien, um Vakzinen zu entwickeln ...• gen, deren Funktion noch nicht vollständig verstanden ist;
..~ ..
..... und massenhaft zu produzieren. . einige davon helfen dem Erreger möglicherweise, dem
.·..·........···....... ..
.. Immunsystem des Wirts zu entgehen .
B-Lymphozyt .•
· · ····· ··· ··· · · ·· ~· · · · · · · · ·· · · · ·· ··· ~·· ·· · · · · ·· · · · . ... •.•... .. . . •• ... ....
...
..
... Korrekturlesen
zytotoxische ...•
... Weil das Sars-CoV-2-Genom so groß ist, k·ann es eine riesige Menge an Informationen codieren, so
T-Zelle ...
... dass das Virus mehr Proteine und somit vielleicht auch komplexere Replikationsstrategien nutzen kann

...............
\ ---- ..•
..
..•
...
als andere RNA-Viren. Zu den Virusproteinen zählt ein Enzym namens Exonuklease (ExoN), das es dem
Erreger erlaubt, Kopien seines Erbguts zu kontrollieren und Fehler darin zu beheben. Nur Viren, deren
Genom mehr als etwa 20 000 Nukleotide umfasst, verfügen über dieses Enzym .
................... .""'-- ..
···~ ..•
[ 0 ..••
... Genom länge 5000 Nukleotide 10000 15 000 20000 25000 30000
...
...
...
.. Rhinovirus t=========O>
-
• ..•
..•
..
..
HIV 1--------•
... Zikavirus l=============0-1
-
infizierte
• .•
Lungenzelle ~ lnfluenzavirus l==============~-:J-. -
..•
..•
• . Ebolavirus t== = = = = = = = = = = = = = = = = = = = -
.••
.••
...• Sars-CoV-2 1------------------------------------------------------------------
1

..• ~

....,
::>
.• z
...• 5
..• 0::
LU

..•• Sars-Cov-2- Polymerase- Sobald Sars-CoV-2 eine ~


. Genom und ExoN- Lungenzelle infiziert hat,
'-'
~
...• korrektu rgelesenes Genom z
.. Moleküle beginnt ein virales Enzym, ~
.. tlllllllllllllllllllllllßljilftjjijilftjjijllftjjifllpjjifllpjjqiipjjqllpjjifllftj
...• eine Polymerase, damit, ~
... 0

..... Kopien der Virus-RNA ;


.• herzustellen, während ein ;
.. LU

weiteres Enzym, ExoN, '.;:'.


..
...•
...
Kopie der
Virus- RNA
1-,
nicht l<orrekturgelesenes Genom
1ißijlijilljAjif jAji1iljAftßljilftßljilftjjij. jjijiipjJf lpfiilftP1iijApj
zufällig aufgetretene Mutatio-
::;:
~
a ntigen präsentierende .. entfernte, nen in den neu gebildeten ~
Zelle leitet die
...•
..
t t t Strängen erkennt und g
..
fehlerhafte 1 N

korrigiert. ~
Immunreaktion ein. ... RNA-Stücke Kopierfehler '-'

....•
'
"'
~
... "'
u..
.. 0

.• Rätselhafte Erbanlagen g§
,_
... '-'
LU

..• Ungewöhnlich kurze Teilstücke des Virusgenoms, die als akzessorische Gene bezeichnet werden, ~
... liegen in räumlicher Nähe zu Erbanlagen, die für virale Strukturproteine codieren. Welche ~
... :r
... Funktion sie haben, ist nicht vollständig geklärt. Manche Forscher vermuten , die von akzessorischen :
..
...• Genen codierten Proteine könnten dem Virus helfen, dem Immunsystem des Wirts zu entgehen. ~
.. 0

..
..•
..••
) ... ~ Sars-CoV-2-Genom (29 900 Nukleotide lang}
..
..• Baupläne für Strukturproteine und akzessorische Gene
...
..
..• I Baupläne für Nichtstrukturproteine
... die die Zelle dann .•• 1 (darunter Polymerase und Exonuklease} S Protein N
.•
den Immunzellen ...•
vorzeigt, was eine .
..•
Immunreaktion ...•
...
einleitet. ....
. akzessorische Gene 5z
0
a:
LU
>

Spektrum der Wissenschaft 8.20 47


Gewebeschädigungen erholten sich die Lungen nie wieder, legt - kleine Aminosäureketten, die dabei helfen, die Zell-
und die Person sterbe oder bleibe mit vernarbten Lungen membran aufzubrechen, so dass die Virusmembran mit ihr
zurück, erläutert Xiao - >>aus pathologischer Sicht nichts Be- verschmilzt. Sobald das genetische Material des Eindring-
sonderes<<. Und wie bei Sars-CoV, Mers-CoV oder tierischen lings in die Zelle gelangt, beginnt es die molekulare Maschi-
Coronaviren bleibt der Schaden nicht auf die Lungen be- nerie des Wirts zu steuern, um neue Viruspartil<el zu pro-
grenzt. Eine übermäßige Immunreaktion, die als Zytokin- duzieren. Diese Nachl<ommen verlassen dann die Zelle und
sturm bezeichnet wird, kann sogar zu multiplem Organver- infizieren andere.
sagen und zum Tod führen. ACE2 wirkt sowohl bei Sars-CoV als auch Sars-CoV-2
Darüber hinaus vermag Sars-CoV-2 offenbar Darm, Herz, als Türöffner: Bei Letzterem ist die rezeptorbindende Domä-
Blut, Sperma, Augen und vielleicht das Gehirn zu befallen. ne jedoch besonders gut geeignet, sich Zugang zu den
Schäden an Niere, Leber und Milz bei Covid-19-Patienten Zellen zu verschaffen, weil sie sich hier mit einer 10- bis
deuten nach Ansicht des chinesischen Pneumologen Guan 20-mal höheren Wahrscheinlichkeit anheftet als beim
Wei-jie von der Medizinischen Universität Guangzhou Sars-Erreger. Da Sars-CoV-2 derart leicht die oberen Atem-
darauf hin, dass das Virus über das Blut die verschiedens- wege infiziere, könne es womöglich sogar einen zweiten Re-
ten Organe erreicht. Das Virus könnte demnach in der Lage zeptor geben, mit dem das Virus seinen Angriff starte,
sein, unterschiedliche Gewebe überall dort zu infizieren, wo spekuliert Wendtner.
die Blutversorgung es hinbringt. Doch auch wenn geneti- Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass bei Sars-
sches Material des Virus in diesen Geweben nachgewiesen CoV-2 offenbar die entscheidende Spaltung des viralen
wurde, sei nicht klar, ob die Schäden dort tatsächlich durch Spil<e-Proteins durch das wirtseigene Enzym Furin erfolgt.
das Virus oder durch einen Zytol<insturm verursacht wur- Fatalerweise kommt dieses im ganzen Körper vor und ist in
den, ergänzt Wendtner. den Atemwegen reichlich vorhanden. Auch andere gefährli-
che Viren wie HIV, Grippe, Dengue oder Ebola nutzen Furin,
Einbruch in die Zelle um in Zellen einzudringen. Im Gegensatz dazu sind die von
Ob im Rachen oder in der Lunge, Sars-CoV-2 durchbricht Sars-CoV verwendeten Spaltungsmoleküle weit weniger
mit seinem Spike-Protein die schützende Membran der wirksam.
Wirtszellen (siehe >>Virusinvasion und Immunantwort<<, Die Beteiligung von Furin dürfte nach Ansicht von Wis-
S. 44). Zunächst heftet sich die rezeptorbindende Domäne senschaftlern erklären, warum Sars-CoV-2 so leicht von
des Proteins an einen auf der Zelloberfläche liegenden Zelle zu Zelle, von Mensch zu Mensch und möglicherweise
Rezeptor namens ACE2 (Angiotensin-konvertierendes von Tier zu Mensch springen kann. Der Virologe Robert Gar-
Enzym 2). Dieses Protein kommt in Arterien und Venen vor, ry von der Tulane University in New Orleans schätzt, dass
die sämtliche Organe des Körpers durchziehen. Besonders Sars-CoV-2 dadurch eine 100- bis 1000-mal größere Chance
dicht sitzt es auf den Zellen, die Lungenbläschen und als Sars-CoV hat, tief in die Lunge zu gelangen. >>Als ich sah,
Dünndarm auskleiden. dass Sars-CoV-2 diese Spaltungsstelle besitzt, habe ich in
Obgleich die genauen Mechanismen noch ungeklärt Nacht darauf sehr schlecht geschlafen<<, erzählt er.
sind, gibt es Hinweise darauf, dass die Wirtszelle nach der Mysteriös bleibt, woher die genetischen Anweisungen
Anheftung des Virus das Spike-Protein an einer speziellen für die spezielle Angriffsstelle für Furin stammen. Auch
Spaltstelle aufschneidet und dabei Fusionspeptide frei wenn das Virus sie wohl durch Rekombination erhalten hat,

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Stammbaum der Coronaviren "'(/)


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Jahr 1200 1400 1600 1800 2000 Wissenschaftler U... LU
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Cl) LU
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Fledermausvirus Stammbaum.
1-
u...
o
a:
a.
.
Er RaTG13
Cl)
2
•• :
C>

Schuppentiervirus

0 In der Familie der Coronaviren


spalteten sich eventuell vor mehreren
Das in Fledermäusen vorkommende
Coronavirus RaTG13 gilt als nächster
e Irgendwann verlor die zu RaTG13
führende Linie die Rezeptor-
Jahrhunderten die Vorläufer von Verwandter zu Sars-CoV-2; ihre bindungsdomäne, mit denen
Sars-CoV-2 von dem Sars-Erreger Wege trennten sich vor vielleicht 70 Sars-CoV-2 in menschliche Zellen
Sars-CoV ab. bis 40 Jahren. eindringen kann.

48 Spektrum der Wissenschaft 8.20


Jahr hielt. Das verhinderte zwar spätere Infektionen nicht,
>>Das Virus wird in relativ kurzer linderte allerdings deren Symptome und verkürzte den
Zeit den größten Teil der Welt- Zeitraum, in dem der Patient ansteckend war.
Ein Modell für die jetzige Pandemie bietet das OC43-
bevölkerung infizieren und dann Coronavirus. Dieser Erreger verursacht harmlose Erkältun-
gen - das war aber wohl nicht immer so. Laut Genanalysen
in der menschlichen Bevölke- der belgischen Universität Löwen agierte OC43 in der
rung zirkulieren wahrschein- Vergangenheit als Killer. Es sprang vielleicht um 1890 von
Kühen, die sich wiederum durch Mäuse infiziert hatten, auf
lich für immer<< den Menschen über. Wie die Wissenschaftler vermuten,
löste OC43 eine Pandemie aus, an der 1889 bis 1890 welt-
Klaus Stöhr, WHO weit mehr als eine Million Menschen starben - ein Aus-
bruch, der zuvor der Influenza angelastet worden war.
Heute zirkuliert OC43 nach wie vor weit verbreitet, und
wurde sie bisher bei keinem anderen Coronavirus nachge- vermutlich hat diese ständige Exposition die große Mehr-
wiesen . Hier liegt eventuell das letzte Puzzleteil für die heit der Menschen gegen das Virus immunisiert.
••

Auflösung des Rätsels, über welches Tier der Erreger zum Noch ist nicht klar, ob bei Sars-CoV-2 etwas Ahnliches
Menschen gelangte. passieren wird. Zumindest Katzen, Kühe, Hunde und Hüh-
Manche Forscher hoffen, Mutationen könnten das Virus ner werden offenbar nicht dauerhaft gegen die manchmal
abschwächen, so dass es besser an seinen menschlichen tödlichen Coronaviren immun, weshalb Tierärzte in den
Wirt angepasst ist. Dann sollte es weniger Menschen töten vergangenen Jahren für die Suche nach geeigneten Impf-
und hätte somit höhere Chancen, sich auszubreiten. Bislang stoffen warben. Eine 2020 vorab veröffentlichte Studie an
gibt es jedoch keinerlei Anzeichen für eine solche Schwä- infizierten Affen zeigte, dass diese über einen Beobach-
chung - vermutlich auf Grund des effizienten genetischen tungszeitraum von 28 Tagen Antikörper gegen Sars-CoV-2
Reparaturmechanismus. >>Das Genom des Covid-19-Virus ist aufwiesen. Doch wie lange hält die Immunität an? Bei
sehr stabil, und ich sehe keine Veränderung seiner Pathoge- Sars-Patienten sank die Antikörperkonzentration nach zwei
nität, die durch eine Mutation ausgelöst wurde<<, erklärt bis drei Jahren deutlich. Ob diese reduzierten Werte ausrei-
Guo Deyin, der an der Sun-Yat-sen-Universität in Guang- chen, um eine Infektion zu verhindern oder den Schwere-
zhou an Coronaviren forscht. Auch Rambaut bezweifelt, grad zu verringern, bleibt fraglich. Dennoch werben einige
dass der Erreger mit der Zeit milder wird und seinen Wirt Länder für die Idee, >>lmmunitätspässe<< für Personen aus-
verschont. Solange er erfolgreich neue Zellen infizieren und zustellen, die bereits eine Covid-19-lnfektion überstanden
sich vermehren l<ann, spielt es Rambauts Ansicht nach haben. Sie könnten sich dann wieder unter Menschen wa-
keine Rolle, ob das Virus den Wirt schädigt oder nicht. gen, ohne sich oder andere in Gefahr zu bringen.
Letztlich vermag die Mehrheit der Wissenschaftler
Zukünftige Abschwächung? momentan nicht zu beurteilen, ob die zahmeren Coronavi-
Andere Wissenschaftler äußern sich optimistischer. So ren einst so gefährlich waren wie Sars-CoV-2. Manche
hofft Klaus Stöhr, der bei der Weltgesundheitsorganisation Leute denken, >>die anderen Coronaviren waren einst
WHO die Sars-Forschung koordiniert hat, dass vom Men- schrecklich und wurden immer harmloser<<, sagt Perlman.
schen gebildete Antikörper zumindest zum Teil vor dem >>Das klingt sehr optimistisch - aber uns fehlen die Be-
Virus schützen. Die Immunität werde natürlich nicht perfekt weise .<< ~
sein, und neu Infizierte entwickelten weiterhin leichte
Symptome wie bei einer Erkältung. Aber schwere Verläufe QUELLEN
sollten seltener auftreten . Gleichzeitig verhindere der Kor- Boni, M. F. et al.: Evolutionary origins of the Sars-CoV-2 sarbe-
rel<turlesemechanismus eine schnelle Mutation des Virus, covirus lineage responsible for the Covid-19 pandemic. bioRxiv
so dass Infizierte längerfristig geschützt wären. >>Das bei 10.1101/2020.03.30.015008, 2020
Weitem wahrscheinlichste Szenario ist<<, erläutert Stöhr, Brook, C. E. et al.: Accelerated viral dynamics in bat cell lines,
>>dass sich das Virus in relativ kurzer Zeit weiter ausbreitet with implications for zoonotic emergence. eLife 9 e48401, 2020
und den größten Teil der Weltbevölkerung infiziert.<< Das
Wölfel, R. et al.: Virological assessment of hospitalized patients
könne ein bis zwei Jahre dauern. >>Danach wird das Virus in with Covid-2019. Nature 581, 2020
der menschlichen Bevöll<erung zirl<ulieren - wahrscheinlich
Wrapp, D. et al.: Cryo- EM structure of the 2019- nCoV spike in
für immer.<< Wie die vier ständig präsenten, im Allgemeinen
the prefusion conformation. Science 367, 2020
harmlosen menschlichen Coronaviren sollte Sars-CoV-2
dann meist nur leichte Infektionen der oberen Atemwege Zhou, P. et al.: A pneumonia outbreak associated with a new
coronavirus of probable bat origin. Nature 579, 2020
verursachen. Aus diesem Grund, so Stöhr weiter, seien
Impfstoffe gar nicht unbedingt notwendig.
Frühere Studien untermauern dieses Argument. So nature
zeigten Probanden, die mit dem gewöhnlichen Erl<ältungs- © Springer Nature Limited
Coronavirus 229E geimpft wurden, zwei Wochen später www.nature.com
einen erhöhten Antikörperspiegel, der sich bis zu einem Nature 581, S. 22- 26, 2020

Spektrum der Wissenschaft 8.20 49


Kann es Gemeinsamkeiten zwischen einer Nervenfaser und
einem Eisenstab geben? Und ob! Unter bestimmten
••
Bedingungen zeigen die beiden erstaunliche Ahnlichkeiten.

hin ins Innere, wodurch das Membranpotenzial betrags-


mäßig absinkt (etwa von -70 auf -50 mV). Einen solchen
••
Vorgang bezeichnet man als Depolarisation. Uberschreitet
der Betrag einen Schwellenwert, strömen plötzlich noch
viel mehr Kationen hinein, und die Ladung an der Membran
kehrt sich kurzzeitig um - ein so genanntes Aktionspotenzial
•'
ist ausgelöst worden. Zwischen dem erregten und dem
Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre benachbarten, nicht erregten Bereich der Membran fließen
Didaktik am Institut für Chemie an der Pädagogischen daraufhin sowohl im Außenmedium als auch im Zellinnern
Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist Abteilungsleiter
Ionenströme, um die Ladungen auszugleichen. Folglich
und Lehrstuhlinhaber in der Abteilung Chemie der
Pädagogischen Hochschule Freiburg. verändert sich dort das Membranpotenzial ebenfalls. Wird
dadurch der Schwellenwert erreicht, entsteht wieder ein
•• spektrum.de/artikel/1744792 Aktionspotenzial. Auf diese Weise wandert die Erregung
weiter. Im Bild unten links ist der Mechanismus stark verein-
facht dargestellt .
••

Eine Nervenzelle empfängt und verarbeitet Reize aus Uberraschend ähnlich reagiert ein Eisenstab, der in ein
der Umwelt oder aus dem Körper. Sie leitet ihrerseits Gemisch aus Schwefelsäure-Lösung und Wasserstoffper-
elektrische Signale über einen langen Fortsatz, das oxid eintaucht. Eisen ist eigentlich ein unedles Metall, doch
Axon, weiter an andere Zellen, etwa Muskelfasern oder in dem Elektrolyten liegt es in einer bestimmten Form vor
Drüsenzellen. Die Erregungsleitung basiert darauf, dass an und verhält sich dadurch wie ein Edelmetall. So ist trotz des
••

der Innenseite der Zellmembran ein Uberschuss an nega- sauren Charakters der Lösung keine Wasserstoffentwick-
tiv geladenen Ionen vorliegt und an ihrer Außenseite ein lung durch Korrosion zu beobachten. Das ist damit zu erklä-
••
Uberschuss an positiv geladenen. Die Potenzialdifferenz ren, dass Eisen zu den so genannten passivierbaren Metal-
liegt zwischen -30 und -150 Millivolt (mV). Bei einem Reiz len zählt. Eigentlich sollte es unter den gegebenen Bedin-
ändert sich die Durchlässigkeit der Zellmembran für die gungen rasch korrodieren. Die Reaktion:
Ionen. Positiv geladene Ionen (Kationen) strömen darauf-
Me -4 Men+ +n e-
Metall-Atom -4 n -fach geladenes Metall-Ion + n Elektronen (n = 1, 2 oder 3)
Wird ein Nerv erregt, pflanzt sich ein Aktionspotenzial
entlang der Nervenfaser fort (vereinfachte Darstellung). sollte also leicht ablaufen. Tatsächlich löst sich das Metall
aber sehr langsam auf, was durch eine Schutzschicht aus
+++++++++++++++ Oxiden oder anderen salzartigen Korrosionsprodukten
nicht erregte --------------- bedingt wird. Im Fall des Eisenstabs in der genannten
Nervenfaser
Lösung bildet sich durch die oxidierende Wirkung des
Wasserstoffperoxids (H 2 0 2 ) eine Schicht aus Eisen(lll)-oxid
Ar-....
- - - - +++++++++++ auf der Metalloberfläche. Mit chemischen Symbolen ge-
im Bereich A
erregte
++++ - - - - - - - - - - - schrieben, lautet der Vorgang (die Abkürzungen >>S<< und >>I<<
....)
Nervenfaser stehen für >>fest<< sowie >>flüssig<<):

A s r-....
++++----+++++++ 2 Fe (s) + 3 H2 0 2 (1) -4 Fe 2 0 3 (s) + 3 H2 0 (1)
dieselbe
2 Eisen-Atome + 3 Wasserstoffperoxid-Moleküle
Nervenfaser
-4 Eisenoxid + 3 Wasser-Moleküle
einige Millise-
kunden später

:c:
Mit einem anschaulichen Versuch lässt sich die oben
Richtung der Erregung ~ beschriebene Erregungsleitung an einem passivierten Eisen-

50 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Sie kommt jedoch schnell zum Erliegen, woraufhin der
Stab passiviert vorliegt. Dieser Zustand entspricht dem
einer nicht erregten Nervenfaser. Um einen Reiz zu simulie-
ren, berührt man den Eisenstab an einem Ende eine halbe
bis eine Sekunde lang mit einer stabförmigen Zinkelektrode
oder einem kleinen Zinkblech. Der Kontakt löst eine Gas-
entwicklung am Eisenstab aus, die sich wie eine Welle über
die gesamte Oberfläche bis zum Ende des Stabs fortpflanzt
und dort zum Erliegen kommt (Fotos links) - analog einem
Aktionspotenzial an einer Nervenfaser. Auch die chemi-
schen Prozesse, die zu dem Phänomen führen, weisen
••
überraschende Ubereinstimmungen mit den neurophysiolo-
gischen Vorgängen auf.
Zink ist ein recht unedles Metall, das eingetaucht in die
Lösung mit -0,62 Volt ein entsprechend niedriges Potenzial
aufweist. Kommt es in Kontakt mit dem passivierten Eisen-
stab, der mit +0,6 Volt ein höheres Potenzial besitzt, gelan-
Ein Eisenstab liegt in schwefelsaurer Wasserstoff- gen Elektronen vom Zink auf den Stab. Dadurch wird die Ei-
peroxid-Lösung passiviert vor. Durch Kontakt mit einer senoxidschicht im Bereich der Kontaktstelle abgebaut. Mit
stabförmigen Zinkelektrode (oberes Foto links) lässt chemischen Symbolen formuliert laufen folgende Prozesse
sich eine Gasentwicklung auslösen, die wie eine Welle ab (>>aq<< steht für >>in Wasser gelöst<<):
über die Oberfläche wandert.
Zn (s)-+ Zn 2 + (aq) + 2 e-
Zinl<-Atom-+ Zinl<-lon + 2 Elel<tronen
stab modellhaft nachvollziehen. Zunächst mischt man da-
für 97,5 Milliliter Wasser mit 27,5 Milliliter Schwefelsäure-
Lösung (Konzentration 1 mol/I) und 40 Milliliter Wasser- Eisenoxid + 6 Wasserstoff-Ionen + 2 Elektronen
stoffperoxid-Lösung (30 Gewichtsprozent H 2 0 2 in Wasser). -+ 2 Eisen-Ionen + 3 Wasser-Moleküle
Hierbei ist zu beachten, dass die Ausgangslösungen exakt
angesetzt sind. Als Modellnervenfaser dient ein etwa Somit ist der Eisenstab im Bereich der Kontaktstelle von
30 Zentimeter langer, entfetteter und intensiv geschmirgel- dem passiven in den aktiven Zustand übergegangen, so
ter Eisenstab (Durchmesser 3,2 Millimeter, Bezugsquelle: dass das zuvor von der Oxidschicht geschützte elementare
www.goodfellow.com, Artil<elnummer FE007920). Man Eisen nun in direktem Kontal<t mit der Lösung steht. Auf
legt ihn in ein geeignetes Gefäß und gibt so viel von der der restlichen Oberfläche befindet sich nach wie vor noch
Lösung hinzu, bis er rund zwei bis drei Zentimeter tief die Oxidschicht (Grafik unten, linl<s). Die Gasentwicl<lung,
eintaucht. Beim Zufügen der Lösung ist für einige Sekun- die man nun sieht, ist auf den Zerfall des Wasserstoffper-
den noch eine Gasentwicklung am Eisenstab zu erkennen. oxids zurückzuführen, den das aktive Eisen katalysiert: Bei
dem sprudelnden Gas handelt es sich um Sauerstoff.

Die Berührung mit der Zinkelektrode aktiviert 2 H2 0 2 (1)-+ 2 H2 0 (1) + 0 2 (g)


das Eisen im Bereich der Kontaktstelle. 2 Wasserstoffperoxid-Moleküle
-+ 2 Wasser-Moleküle + Sauerstoff-Molekül

Zinkelektrode

Die Aktivitätszone >>wandert<< entlang des Eisenstabs.


passivierter Eisenstab in schwefelsaurer
Wasserstoffperoxid-Lösung

0 0
Ladungsausgleich
oo 0 /
0
o oo~-~

e- •

passiv Fe _
e •

aktiv •
passiv
Sauerstoffbläschen aus dem Zerfall von
/ Wasserstoffperoxid
0
oo 0 0 0
00 oo o

Fe

. .
. passiv aktiv passiv
aktiv passiv

Spektrum der Wissenschaft 8. 20 51


Mit der Aktivierung ändert sich das Potenzial des Ei-
sens: Es sinkt ab. Das entspricht bei einer Nervenfaser
dem Auslösen eines Aktionspotenzials. Nun grenzt der
aktive Bereich mit niedrigem Potenzial direkt an einen
passiven, der ein hohes Potenzial aufweist. Dadurch bilden
sich Lokalströme von Elektronen, die den benachbarten
Bereich ebenfalls aktivieren. Gleichzeitig kommt es zum
Ladungsausgleich durch Ionenströme im Elektrolyten. Mit
chemischen Symbolen lauten die Prozesse:

Fe (s)--+ Fe 2 + (aq) + 2 e-
Eisen-Atom--+ Eisen-Ion + 2 Elektronen

Eisenoxid + 6 Wasserstoff-Ionen + 2 Elektronen


~ 2 Eisen-Ionen + 3 Wasser-Moleküle

Das setzt sich bis zum Ende des Eisenstabs fort, wobei Ein in schwefelsaurer Wasserstoffperoxid-Lösung passi-
genau genommen weder die Aktivitätszone am Metall- vierter Eisenstab ist mit Hilfe von zirka ein Zentimeter
stab noch das Aktionspotenzial an der Nervenfaser wan- langen Schlauchstücken stückweise isoliert. Analog zur
dern: Vielmehr werden sie in beiden Fällen durch lokale saltatorischen Erregungsleitung in Nervenzellen wandert
Stromkreise entlang des Stabs sowie der Nervenfaser die Aktivitätszone sehr schnell über den Eisenstab.
fortlaufend neu gebildet (wie in der Grafik auf S. 50 sowie
auf S. 51 unten rechts dargestellt).
Darüber hinaus ist die Zustandsänderung des Eisen- ten ein höheres Potenzial als Zink. 1nfolgedessen fließt ein
stabs, genau wie im Fall der Nervenfaser, umkehrbar: Kurz geringerer Kontaktstrom, der nicht ausreicht, um die Eisen-
nachdem ein Bereich al<tiviert wurde, wird er durch die oxidschicht in diesem Bereich abzubauen und eine Aktivi-
oxidierende Wirkung des Wasserstoffperoxids wieder tätswelle auszulösen. Das aus der Neurophysiologie be-
passiviert. Weitere Untersuchungen mit Hilfe definierter kannte >>Alles-oder-nichts-Gesetz<< gilt hier also genauso.
l<athodischer Stromstöße haben gezeigt, dass beim Eisen- Ferner lässt sich wie bei der extrazellulären Ableitung an
stab ebenso ein bestimmter Schwellenwert überschritten realen Nervenfasern die Wanderung der Aktivitätszone mit
werden muss, um eine Aktivierung auszulösen. Das kann Hilfe von Ableitelektroden erfassen und deren Geschwindig-
man qualitativ ganz einfach zeigen: So passiert beispiels- keit bestimmen. Sie beträgt rund 5 bis 8 Zentimeter pro
weise bei Kontakt mit einer Kupfer- an Stelle einer Zink- Sekunde. An den Nervenfasern wirbelloser Tiere wie der
elektrode nichts. Kupfer besitzt im betrachteten Elektroly- Qualle erfolgt die Erregungsleitung mit etwa 0,5 Metern pro
Sekunde (m/s). Bei Schaben, die ebenfalls ein recht einfa-
ches Nervensystem besitzen, wurden Geschwindigkeiten
Die Nervenfasern von Wirbeltieren sind von isolieren- von 1,5 m/s gemessen. Das würde bei Weitem nicht ausrei-
den Myelinscheiden umhüllt, die regelmäßig unter- chen, um den komplexen Organismus von Wirbeltieren zu
brochen sind. Ein Aktionspotenzial wandert nun nicht steuern. In Nervenfasern der menschlichen Skelettmuskula-
mehr durch die gesamte Nervenfaser, sondern tur werden Geschwindigkeiten von 120 m/s und in Haut-
>>springt<< von einem frei liegenden Bereich zum ande- nervenfasern 70 m/s erreicht. Doch wie ist das möglich?
ren. Durch diese saltatorische Erregungsleitung pflan- Hier hat sich die Natur einen Trick einfallen lassen: Im
zen sich Signale deutlich rascher fort. Wirbeltierreich sind Nervenfasern oft von schwannschen
Zellen umgeben. Sie bilden eine isolierende Hülle, die
+ + :\ .+ Myelin- oder Markscheide, indem sie sich um die Nerven-
nicht erregte - - sc hwannsc he\:. faser wickeln. Zwischen zwei schwannschen Zellen liegt
Nervenfaser Zelle
~
1 jeweils ein kleines Stückchen der Axonmembran frei. Das
---~~~--- ~ ~~~~--

ist etwa alle ein bis drei Millimeter der Fall, die Einschnü-
A ~~------'+ Schnürring rungen selbst sind nur etwa zwei Mikrometer lang. Hier
+
im Bereich A - wird die Erregung schneller weitergeleitet, denn das zeit-
erregte
Nervenfaser
... - .... -·--··- . .......
intensive Entladen der Axonmembran für ein Aktionspoten-
zial muss nun lediglich an den kleinen Einschnürungen
~ passieren. Das Al<tionspotenzial >>springt<< quasi von
dieselbe +
-
8:::> Schnürring zu Schnürring (Grafik links). Nach dem lateini-
Nervenfaser 0

einige Millise- ~,')


„._, . ..• ·- ................. (/')
<( schen Wort >>saltare<< für >>springen<< bezeichnet man den
kunden später --------- s
::i::

~ Vorgang als saltatorische Erregungsleitung.


Um den Aufbau der markhaltigen Nervenfasern zu
Richtung der Erregung simulieren, wird der Eisenstab abschnittsweise isoliert -

52 Spektrum der Wissenschaft 8.20


etwa mit Hilfe von Gewebeband (ein Zentimeter breit) oder
kurzen Schlauchstücken (ein Zentimeter lang), die über
den Eisenstab gestülpt werden. Zwischen den Isolierun-
gen lässt man je rund drei bis vier Millimeter frei. Jetzt
stellen sich zwei spannende Fragen: Läuft die Aktivitäts-
zone trotz der Isolierungen bis zum Ende des Stabs durch?
Und falls ja, geschieht das analog zur saltatorischen Er-
regungsleitung schneller als am nicht isolierten Eisenstab?
Um das herauszufinden, muss man die Zusammenset-
zung der Lösung ein wenig verändern: An Stelle von
40 Millilitern gibt man nur 38,5 Milliliter der Wasserstoff-
peroxid-Lösung zu den oben angegebenen Mengen an
Wasser und Schwefelsäure-Lösung. Und tatsächlich: Der
Kontakt mit der Zinkelektrode löst eine Gasentwicklung
aus, die entlang der frei liegenden Bereiche des Eisenstabs
wandert, während in den isolierten Abschnitten keine
Reaktion beobachtbar ist (Fotos links oben). Außerdem
erreicht die Welle das Stabende deutlich schneller als
beim nicht isolierten Eisenstab. Sie bewegt sich sogar Wenige Tropfen Kochsalz-Lösung erzeugen Aktivitäts-
zirka fünfmal schneller fort als im vorherigen Versuch, wie wellen auf dem passivierten Eisenstab.
entsprechende Messungen zeigen.
Der Grund dafür liegt im Mechanismus der Weiterlei-
tung. Durch den Kontakt mit der Zinkelektrode baut sich fasern. Die beiden Membranen trennt hier ein dünner
wie beschrieben die Eisenoxidschicht an derjenigen Stelle Spalt, weshalb das anl<ommende elektrische Signal nicht
ab, wodurch Lokalströme entstehen. Erreicht die Aktivi- direkt weitergeleitet werden kann. Stattdessen wird es in
tätswelle den ersten isolierten Abschnitt, wird die Weiter- ein chemisches Signal umgewandelt. Sobald ein Aktions-
leitung des elektrischen Signals zum nächsten frei liegen- potenzial das Ende des Axons erreicht hat, setzt die
den Sektor nicht durch die zeitaufwändige Reduktion einer präsynaptische Membran Neurotransmittermoleküle frei,
Eisenoxidschicht gebremst. Im ummantelten Bereich wird beispielsweise Azetylcholin. Sie diffundieren durch den
nämlich gar keine Oxidschicht gebildet, da kein Kontakt Spalt und sorgen dafür, dass an der postsynaptischen
zum Elektrolyten besteht. Somit wird der elektrische Membran ein Aktionspotenzial ausgelöst wird.
Impuls viel rascher direkt durch den Stab zur nächsten Auch der passivierte Eisenstab lässt sich durch einen
Einschnürung weitergeleitet. Hier setzen der Abbau der chemischen Botenstoff aktivieren. So ist es möglich,
Deckschicht und die sich daraus ergebenden Lokalströme durch Kochsalz-Lösung (1 mol/I) Aktivitätswellen auf dem
wieder ein, bis zum nächsten isolierten Sel<tor. Die Aktivie- Eisenstab zu erzeugen (Fotos oben). Hierzu fügt man an
rung springt demnach wie die saltatorische Erregungslei- einem Ende des Gefäßes einige Tropfen davon zur enthal-
tung von einer Einschnürung zur nächsten (Grafik unten). tenen Lösung hinzu. Nach zirka einer Minute sind die
Erreicht ein Signal das Ende einer Nervenfaser, gelangt ersten ein bis zwei Zentimeter des Eisenstabs aktiviert,
es über eine Synapse zu anderen Zellen wie etwa Muskel- denn die Chlorid-Ionen wirken korrosiv und bauen die
Eisenoxidschicht chemisch ab. Allerdings verbleibt dieser
Bereich wegen der Chlorid-Ionen permanent im aktiven
Mechanismus der diskontinuierlichen Aktivierungs- Zustand, wodurch eine Welle nach der anderen über den
ausbreitung auf einem stückweise isolierten Eisenstab. Eisenstab wandert. In Synapsen hingegen ist das nicht der
Fall, weil spezielle Enzyme die Botenstoffmoleküle spalten,
o 00 o 00 stückweise isolierter Eisenstab in damit keine permanente Erregung stattfindet. Eine solche
0 0
0 0
°
00
0 schwefelsaurer Wasserstoffperoxid-Lösung >>Dauererregung<< hätte fatale Auswirl<ungen auf den
000°
0 0 Besitzer des eisernen Nervs: Genau solch ein permanentes
e~ ........... ..,.
1 e- ............ Feuern der Neurone bewirken nämlich Nervengifte wie
1

Sarin, indem sie die den Botenstoff spaltenden Enzyme


blockieren, was zur Atemlähmung und zum Tod füh-
Fe Isolierungen
aktiv ren kann. ~

QUELLEN

Ducci, M.: Periodische und chaotische Oszillationserscheinun-


gen an Metallelektroden und elektrochemische Modellexperi-
e- • • •• •• ••• • • •
mente zur Erregungsleitung am Nerven. Dissertation, Universität
(_)
(_)
Oldenburg, 2000
:::>
0
(/)

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Fe 2 0 3 Fe Fe 20 3 Ducci, M., Oetken, M.: Nerven wie Drahtseile. Praxis Schriften-
s
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~ passiv aktiv passiv reihe Chemie 59, Aulis, 2007

Spektrum der Wissenschaft 8. 20 53



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AUF EINEN BLICK•• i

FORSCHUNG FUR DIE EWIGKEIT


Drei Gesteinsarten kommen in Frage, um eines Tages
Deutschlands radioaktiven Abfall zu beherbergen:
Steinsalz, Kristallingestein und Tonstein.

In einem unterirdischen Labor in der Schweiz unter-


suchen internationale Expertenteams eine dicke
Schicht aus Opalinuston, um Erkenntnisse für die
Endlagerung zu gewinnen .

Die Experimente sollen gleichzeitig als Referenz für die


Erkundung möglicher Standorte dienen.


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In der Schweiz, rund 40 Kilometer südwestlich von
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Basel, befindet sich das malerische Ortchen Saint-


Ursanne. Wer aus Richtung Basel mit dem Zug hier
ankommt, sieht das mittelalterliche Dorf von einem langen
Viadukt aus im Tal liegen. Unmittelbar danach hält der Zug
am Bahnhof, und die meisten Besucher begeben sich nach
links auf den langen Marsch hinunter in den Ortskern. Wer
jedoch ein paar Schritte nach rechts geht, findet sich direkt
vor dem Mont Terrible wieder, dem Hausberg von Saint-
Ursanne. In einem unterirdischen Labor forschen Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt dort an
der Frage, wie ein Endlager für Atommüll aussehen könnte.
Der Mont Terri, wie die Schweizer den Berg kurz nennen,
liegt mitten im Faltenjura. Der entstand, als sich die Alpen
erhoben und dadurch die Gesteinsschichten zusammen-
drückten. Im Norden schließt sich der Oberrheingraben an, _
:l:

eine tektonisch unruhige Zone. Durch diese Gegebenheiten ä


<(

ist praktisch garantiert, dass sich irgendwann innerhalb von ~


!
' <(

tausenden Jahren die Lage der Gesteinsschichten verän-


s
w

dern wird - der Berg kommt daher für ein Atommülllager 0


0
nicht in Frage. Aber mitten durch die Erhebung zieht sich <(
0:

"'
z
eine gut 150 Meter dicke Schicht aus Opalinuston. =>
0:
w

~
Das Gestein ist für Wasser nur sehr wenig durchlässig, -
w
Cl
0:
<=:>
.....
hält strahlende Teilchen effektiv zurück und schließt Risse t;:
<(

quasi von selbst (siehe >>Kandidaten für die Endlagersuche<<, ~


w
"'
unten). Dadurch gilt es als aussichtsreicher Kandidat, wenn ~
<.!J

es um die Frage geht, welches Wirtsgestein künftig unsere ~


0

radioaktiven Abfälle beherbergen soll. Steinsalz ist für die-


sen Zweck zwar bereits viel besser erforscht; unter ande-
rem hat Deutschland jahrzehntelange Erfahrung durch die Eine speziell konstruierte Schneckenverfüllmaschine
ausgiebige Erkundung des Bergwerks Gorleben (siehe brachte in Millimeterarbeit 255 Tonnen Granulat in einen
>>Atommülllager in Deutschland<<, S. 58/59). Doch seit 2013 Stollen ein, der drei Heizelemente und hunderte Sen-
schreibt das so genannte Standortauswahlgesetz vor, dass soren beherbergt. Das Experiment soll klären, wie stark
geeignete Lagerstätten unabhängig von den bisherigen hoch radioaktiver Müll das Gestein erhitzt.

Kandidaten für die Endlagersuche

Welche Wirtsgesteine kommen logischen Gegebenheiten. Orte, Wärme entwickelnder Abfälle


in Deutschland in Frage? an denen sich der Boden kontinuier- macht, ist es wasserlöslich. Opali-
In Deutschland kommen drei Alter- lich hebt, wie etwa die Alpenregion, nuston hingegen hält Wasser
nativen als Wirtsgesteine für ein sind beispielsweise ungeeignet, extrem gut zurück, ist aber nicht so
Endlager in Betracht: Tongestein weil der Abfall dann früher oder stabil wie Steinsalz und führt Wär-
wie der Opalinuston, Steinsalz in später an die Oberfläche kommt. me nur schlecht ab. Aus diesem
Salzstöcken oder in flacher Lage- Das Gleiche gilt für erdbebenge- Grund arbeiten Fachleute in ihren
rung sowie kristalline Formationen fährdete Regionen wie den Rhein- Szenarien mit einer zusätzlichen
wie Granit. Welche der Gesteine graben oder Gebiete, die in der >>geotechnischen Barriere<< aus
sich eignen, hängt zum einen von jüngeren Vergangenheit vulkanisch Bentonit (Bild rechts).
der Lage ab, zum anderen von der aktiv waren, wie die Eifel. Steinsalz ist als Wirtsgestein
Dicke (Stärl<e) der betreffenden Jedes Gestein hat unterschiedli- am besten erforscht. Zum einen
Gesteinsschicht und den umgeben- che Stärken und Schwächen im durch den jahrzehntelangen Abbau
den Gesteinen. Hinblick auf die Endlagerung radio- von Kali- und Steinsalz, zum ande-
aktiver Abfälle. Während Steinsalz ren, weil die BGR dazu ausgedehnte
Welches Gestein ist das beste? beispielsweise Wärme gut abtrans- Untersuchungen angestellt hat,
Das lässt sich pauschal nicht sagen. portieren kann, was es interessant unter anderem am ehemaligen
Wichtig sind in erster Linie die geo- für die Lagerung hoch radioaktiver, Salzstock Gorleben.

56 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Untersuchungen auf einer >>weißen Landkarte<< gesucht dern - aus Deutschland sind außer ihnen noch fünf Zent-
werden müssen. Gelichzeitig regelt das Gesetz, dass als ren der Helmholtz-Gemeinschaft, das Bundesamt für die
Alternativen Steinsalz, Tonstein sowie Kristallgestein wie Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) sowie die
etwa Granit als Wirtsgesteine in Frage kommen. Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS)
Jedes der Materialien hat seine Vor- und Nachteile: Ton- beteiligt - studieren Enste und seine Kollegen das Material,
stein ist viel komplexer zusammengesetzt und besitzt je prüfen dessen Stabilität, bauen Heizelemente in den Berg
nach Raumrichtung unterschiedliche mechanische und und simulieren, wie man große Abfallbehälter zigtausende
hydraulische Eigenschaften, ganz anders als etwa Salz, be- Jahre sicher dort lagern kann. Die Wissenschaftler haben
tont Gerhard Enste. Er leitet an der Bundesanstalt für Geo- die schwierige Aufgabe, herauszufinden, unter welchen
wissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover die Ab- Umständen der Ton radioaktive Abfälle für eine Million
teilung Unterirdischer Speicher- und Wirtschaftsraum und Jahre sicher einschließt. Aber wie erbringt man einen
verantwortet damit dort unter anderem die Forschung zur Sicherheitsnachweis für eine Zeitspanne, die für einen
Endlagerung von radioaktivem Abfall. Bereits seit 1996 Menschen unabsehbar erscheint?
untersucht die BGR die Gesteinsformation am Mont Terri.
Gemeinsam mit 21 Forschungsgruppen aus neun Län- Uralte Risse geben Aufschluss, wie sich das
Gestein in Zukunft verhalten könnte
Der Geologe Ben Laurich untersucht dazu kleine Risse, die
Das Modell verdeutlicht, wie ausgediente Brennstäbe sich vor langer Zeit im Berg gebildet haben. Der Tonstein
unterirdisch eingelagert werden könnten: In einem run- im Mont Terri ist durchzogen von zahllosen Brüchen, die
den Stollen befindet sich auf einem Sockel aus Bentonit vor rund zwölf Millionen Jahren entstanden sind. Damals,
ein Stahlzylinder mit den Brennelementen (metallene im mittleren Miozän, begann sich der Schweizerische Jura
Röhren). Rings um den Abfallbehälter wird der Stollen zu heben. Dabei hat sich die Region rund um den Berg so
mit Granulat aus Bentonit aufgefüllt, das im Lauf der aufgefaltet, dass die ehemals horizontal übereinander
Jahre Wasser aufnimmt. Bricht der Behälter nach liegenden Gesteinsschichten schräg nach oben gedrückt
mehreren zehntausend Jahren, hält das aufgequollene wurden und sich nun hübsch nebeneinander aufreihen.
Granulat die austretenden Radionuklide zurück. Die >>Störungszone<< mit ihren vielen Brüchen, die dabei
entstanden ist, gibt Laurich Hinweise darauf, wie sich das ben. Heute durchziehen anderthalb Kilometer Strecken
Gestein bei l<ünftigen tel<tonischen Kräfteeinwirl<ungen und Nischen den Stein westlich der Autobahnröhre und
verhalten l<önnte. beherbergen zahlreiche Großexperimente, Sensoren, Bohr-
Für die Forscher ist die Hebung und Auffaltung der löcher, Messinstrumente und Maschinen. Der neueste
Gebirgsschichten ein Glücksfall, denn die verschiedenen Abschnitt kam Ende 2019 dazu.
Lagen, die sonst nur über einen tiefen Schacht erreichbar Am Eingang des Labors steht Laurich nun neben einem
wären, werden ihnen dadurch quasi auf dem Silbertablett frei gelegten Stück Wand. Eigentlich ist der Tunnel überall
serviert. Um die aufschlussreichen Tonschichten untersu- mit Spritzbeton verkleidet, da er sonst nicht stabil genug
chen zu können, genügt es nun, einen horizontalen Tunnel wäre. Doch an dieser Stelle sollen die Besucher sehen, wie
durch den Berg anzulegen. Und so begannen 1996, als an der Berg tatsächlich aussieht. Laurich zeigt auf eine der
dieser Stelle der gut vier Kilometer lange Mont-Terri-Auto- vielen Bruchflächen in der schiefergrauen Wand. >>Die
bahntunnel gebaut wurde, Wissenschaftler der Schweizer Zonen, in der Verschiebungen stattgefunden haben, sind
Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver nur zehn Mikrometer dicl<<<, erklärt der BGR-Wissenschaft-
Abfälle (Nagra) ausgehend von einem angeschlossenen ler. Sie erstrecken sich aber mehrere Meter weit ins Ge-
Sicherheitstunnel Gänge für ein Labor in den Berg zu gra- stein. >>Die Oberfläche spiegelt ganz leicht - das heißt, die

Atommülllager in Deutschland

Ehemaliges Salzbergwerk Asse II der Asse eingelagerten radioaktiven Endlager Morsleben


>>Die Asse<< ist ein eindrucksvolles Abfälle zurückzuholen und an geeig- Die DDR nutzte das ehemalige Salz-
Beispiel dafür, wie Endlagerung neter Stelle unterirdisch einzulagern. bergwerk Morsleben zwischen Braun-
nicht funktioniert. In dem ehemali- Weil dazu ein neuer Schacht an- schweig und Magdeburg, um schwach
gen Kali- und Salzbergwerk im gelegt werden muss, untersucht die und mittel radioaktive Abfälle zu
Niedersächsischen Landkreis Wol- Bundesanstalt für Geowissenschaf- beseitigen. Nach der Wiedervereini-
fenbüttel wurden von 1967 bis 1978 ten und Rohstoffe (BGR) noch bis gung betrieb das Bundesamt für
insgesamt 125 787 Behälter - etwa 2020, wo dieser am besten entste- Strahlenschutz das Lager weiter. Ins-
47 000 Kubikmeter - mit schwach hen und wie er gebaut werden soll. gesamt 36754 Kubikmeter Atommüll
und mittel radioaktivem Abfall Erst nach dessen Fertigstellung l<ann wurden dort zwischen 1971 und 1998
eingelagert. Was genau dort einge- die Rückholung beginnen. Bis ein eingelagert. Daneben beherbergt der
bracht wurde, ist nach Angaben der endgültiger Lagerort für die Fässer Salzstock zwischengelagerte hoch
Bundesgesellschaft für Endlagerung aus der Asse gefunden ist, müssen radioaktive Abfälle. Sie machen zwar
(BGE) teilweise unklar, da die dama- sie über Tage verstaut werden. nur 0,01 Prozent des Abfallvolumens
lige Dokumentation lückenhaft

und aus, sind jedoch für 60 Prozent der
nicht zuverlässig sei. Ahnlich wirr ist Endlager Konrad Radioaktivität verantwortlich.
die Lagerung selbst: Anfangs wur- Der Schacht Konrad ist ein ehemali- Die BGE will das Endlager stilllegen:
den die Fässer aufrecht gestapelt, ges Erzbergwerk im Stadtgebiet Das heißt sichern, verfüllen und ver-
später liegend. Weil die Strahlenbe- Salzgitter und seit 2002 das erste schließen. Die Rückholung und ander-
lastung für die Mitarbeiter beim nach Atomrecht genehmigte Endla- weitige Beseitigung der Abfälle bietet
ordentlichen Aufstellen der Fässer ger Deutschlands. Es soll künftig nach Einschätzung der BGE keinen
zu groß war, kippte man diese ab 303 000 Kubikmeter schwach und Gewinn an Sicherheit. Bis klar ist, ob
1971 mit einem Radlader in die mittel radioaktiven Atommüll beher- das Endlager so genehmigt wird, muss
Stollen, ohne Rücksicht darauf, ob bergen. Dabei handelt es sich zu die BGE es offen und >>stilllegungsfä-
die Behälter „Schaden nahmen. zwei Dritteln um Abfall aus Kern- hig<< halten.
Zu allem Uberfluss ist das Lager kraftwerken oder Betrieben der
ziemlich marode: Rund 12 000 Liter kerntechnischen Industrie und zu Gorleben - Symbol des Protests
salzhaltige Lösungen dringen täg- etwa einem Drittel um Atommüll aus 1977 beschloss die Regierung der
lich in das Bergwerk und die Stollen öffentlichen Einrichtungen, wie Bundesrepublik Deutschland, in einem
mit den Müllfässern ein. Die ganze beispielsweise Forschungsinstitutio- Salzstock unter der niedersächsischen
Schachtanlage ist einsturzgefähr- nen oder aus dem Rückbau von Stadt Gorleben ein Endlager für Atom-
det, weshalb bereits Salz und Beton DDR-Kernkraftwerken. Momentan müll zu errichten. Nach starken Protes-
hineingefüllt wurden, um es zu sta- wird das Bergwerk zum Endlager ten wurde das Unterfangen zwei Jahre
bilisieren. Aus diesen Gründen be- umgebaut und soll ab 2027 in Be- später umgewidmet: Der Salzstock
schloss der Bundestag 2013, alle in trieb genommen werden. sollte von da an als >>Erkundungsberg-

58 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Unebenheiten sind kleiner als die Wellenlängen des sicht- aussichtsreichen Kandidaten für ein Endlager. Wasser
baren Lichts<<, die zwischen 400 und 750 Nanometer liegen. dringt mit einer Geschwindigl<eit von nur 10-13 Metern pro
Will man die Unregelmäßigkeiten zu Gesicht bekommen, Sekunde hindurch, legt also in dieser Zeit etwa ein Zehntel
benötigt man ein Transmissionselektronenmikroskop, das eines billionstel Meters zurück. Für einen Meter bräuchte
die winzigen Details auflösen kann. Doch die Risse bleiben es demnach mehr als 317 000 Jahre. Wo kein Wasser
im Opalinuston nicht offen: Diejenigen im Mont Terri sind strömt, kann es keine Radionuklide transportieren. Allein
häufig mit Kalzit gefüllt. >>Wir haben herausgefunden, dass mittels Diffusion durch das im Ton enthaltene Porenwas-
die Verfüllungen mit der Störungsentstehung einhergehen<<, ser - im Mont Terri sind das zwischen fünf und neun
erklärt Laurich. Sie haben also zeitgleich stattgefunden - Gewichtsprozent - können sich die strahlenden Teilchen
eine gute Nachricht für die Dichtigkeit des Gesteins. durch das Gestein bewegen. Unterschiedliche Nuklide dif-
fundieren verschieden schnell, im Allgemeinen verläuft der
Wasser dringt nur im Schneckentempo durch den Ton Prozess aber sehr langsam. Für die Auswahl eines Atom-
Dass sich Risse im Opalinuston schnell wieder schließen, mülllagers in der Schweiz müssen die Kollegen der Nagra
ist einer der großen Vorteile des Materials. Darüber hinaus explizit nachweisen, dass radioaktive Strahlung von weni-
macht seine geringe Durchlässigkeit das Gestein zu einem ger als 0,1 Millisievert den Boden über dem Ton erreicht.

Wie weit sind


radioaktive
schwach und mittel k\bfälle andere Staaten?
radioaktiv (low active hoch radioaktiv
waste, LAW /medium Finnland baut seit 2004 an einem
(high active waste,
active waste, MAW) HAW) Endlager für hoch radioaktive Abfälle
und ist damit die erste Nation, die
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~ ausgediente ein solches zu Wege bringt. Auf der
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nächsten Jahren fertig gestellt werden.
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"' - 100000 m ~Volumen richtet schiedene Wirtsgesteine untersucht
~bis 2080 sich nach der und sich für Opalinuston entschieden.
zusätzlich Verpackung .
2022 will die Nagra (Nationale Ge-
- 180000 m 3 ? nossenschaft für die Lagerung radio-
aktiver Abfälle), die in der Schweiz
für das Thema Endlager zuständig ist,
303000 m 3 die Standorte bekannt geben.
Endlager
l<onrad

werk<< dienen, in dem die Bedin- (Castor-Transporte) in Gorleben und gestoppt wurden. 2013 trat schließ-
gungen für ein Endlager erforscht dessen oberirdische Zwischenlage- lich das Standortauswahlgesetz in
werden. rung vor Ort. Ein weiterer Kritik- Kraft: Es schreibt fest, dass die
Gegen die Erkundung des punkt ist der Bau einer Konditionie- Suche nach einem möglichen End-
Salzstocks gab es großen Wider- rungsanlage (eines Umverpa- lager von null an starten soll, quasi
stand - nicht zuletzt, weil wohl ckungslagers) für Atommüll. mit einer weißen Landkarte. Alle
nicht wissenschaftliche Argumen- Im Jahr 2000 wurde die Erkun- Ergebnisse, die bis dahin zum Salz-
te, sondern politische Faktoren bei dung des Gorlebener Salzstocl<s auf stock vorliegen, sind mittlerweile
der Standortauswahl die größte Beschluss der Bundesregierung für veröffentlicht. Ein abschließendes
Rolle gespielt haben. Die Proteste zehn Jahre verboten. Anschließend Gutachten gibt es jedoch nicht. Seit
richteten sich aber auch gegen die nahm die BGR ihre Untersuchun- dem Beschluss wird das Bergwerk
Anlieferung von wiederaufberei- gen wieder auf, jedoch nur bis zurückgebaut, aber weiterhin offen
tetem Abfall aus Kernkraftwerken 2012, als diese wieder per Gesetz gehalten.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 59


Das geht nur, wenn die träge Diffusion immer noch der 90 Prozent gesättigt. Erst durch die Sättigung und das
>>schnellste<< stattfindende Transportprozess ist und alle damit verbundene Aufquellen entfalte der Bentonit seine
anderen langsamer ablaufen. In Deutschland hingegen volle Barrierewirkung, erläutert Furche. Während des elf
genügt es, wenn die Wasserdurchlässigkeit einen Wert von Jahre dauernden Experiments maß die Gruppe unter
10
10- Metern pro Sekunde nicht überschreitet. Die Dichtig- anderem die Wassersättigung und den Druck, der sich
keit des Tons lässt sich im Felslabor eindrucksvoll nachvoll- durch das aufquellende Granulat aufbaute, sowie verschie-
ziehen: Durchquert man bei der Einfahrt in den Berg noch dene Parameter im Gestein wie Auflockerungsprozesse,
zahlreiche große Pfützen, so ist es, sobald man die Forma- den Wassergehalt, den Porendruck, seismische Geschwin-
tion aus Opalinuston erreicht hat, plötzlich vollkommen digkeiten und weiteres.
trocken. Darüber hinaus wirl<t sich die Mikrostruktur des >>Wir haben einerseits herausgefunden, dass der gesät-
Tonsteins günstig aus: Auf Grund seiner vielen winzigen tigte Bentonit praktisch genauso dicht ist wie der Opali-
12
Poren hat ein Gramm des Materials eine innere Oberfläche nuston selbst: Er leitet Wasser mit 10- Metern pro Sekun-
von rund 100 Quadratmetern. An die Grenzflächen der de, das ist ein sehr kleiner Wert<<, erklärt Furche. Außer-
einzelnen Tonminerale können sich Radionuklide anlagern dem baue sich durch das Quellen des Bentonits ein solch
und werden auf diese Weise zusätzlich zurückgehalten. starker Druck auf, dass der Bereich um den Tunnel, in dem
Bevor jedoch radioal<tives Material überhaupt mit dem sich während des Aushebens das Gestein aufgelockert
Tonstein in Berührung kommt, soll so viel Zeit wie möglich hat, wieder geschlossen wird. Unter natürlichen Bedingun-
vergehen. Denn der Opalinuston, das so genannte Wirtsge- gen quillt der Bentonit allerdings viel langsamer als im
stein, bildet nur die letzte Barriere zwischen Radionukliden Versuch: Er wird nicht künstlich gesättigt, sondern saugt
und Umwelt. Porenwasser aus dem umgebenden Gestein auf, was
Die erste stellen die Behälter aus Metall dar, in denen die Jahrzehnte dauert. Das zeigen andere Experimente, bei-
Abfälle verstaut werden. Während die Schweizer noch spielsweise im Schweizer Felslabor Grimsel. Laut Furche
offen lassen, aus welchem Material diese bestehen sollen, besteht dadurch aber kein Grund zur Sorge, da die strah-
haben sich die Deutschen bereits für Stahl entschieden. Die lenden Substanzen zu Beginn der Einlagerung ja noch
Experten gehen derzeit davon aus, dass solche Behältnisse sicher in ihren Behältern verstaut sind: >>In einem Endlager
etwa 10000 bis 50000 Jahre lang dicht halten, bevor sie haben Sie die Zeit. Diese Prozesse dürfen lange dauern, da
sich durch Korrosion zersetzen und ihren Inhalt frei geben. sind hundert Jahre kein Problem<<, sagt der Forscher.

Eine Barriere nach der anderen


Geht es nach den Wissenschaftlern, treffen die Stoffe Ein Arbeiter holt einen Bohrkern aus rund zehn Meter
anschließend auf eine geotechnische Barriere. Anders als Tiefe. Messungen daran helfen zu ermitteln, wie
man es etwa von Bildern aus dem ehemaligen Salzberg- Schächte die Stabilität des Endlagers beeinflussen
werk Asse II in Wolfenbüttel kennt, wo Atommüllfässer und wie sie am besten zu verfüllen sind.
kreuz und quer herumliegen, will man für die Lagerung der
Fässer runde Stollen ausheben, jeden Behälter darin ordent- ~
<t

lieh auf einen Sockel aus Bentonit montieren und den ~


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Hohlraum zwischen Fass und Stollenwand mit einer dicken
Schicht Bentonitgranulat auffüllen (siehe Bild auf S. 57).
Bentonit, in anderer Form als Material für Katzenstreu
bekannt, nimmt im Lauf der Jahrhunderte Wasser aus den
Poren des Tonsteins auf. Dabei quillt es auf und bildet eine
zähe, klebrige Masse. Diese schließt zum einen durch den
sich aufbauenden Gebirgsdrucl< die Lücke zwischen Fass
und Gebirge, zum anderen soll sie nach dem Bruch des
Behälters einen Großteil der strahlenden Nuklide zurückhal-
ten, so dass schließlich nur noch vereinzelte radioaktive
Teilchen im Berg ankommen (siehe Grafik rechts ).
Wie gut das funktioniert, hat ein Team um den BGR-Geo-
physiker Markus Furche in einem Langzeitversuch von 2001
bis 2013 getestet. Einen viereinhalb Meter langen Stahlzy-
linder mit rund einem Meter Durchmesser haben die Kolle-
gen auf einen Bentonitsockel montiert und in einen sechs
Meter langen und knapp drei Meter breiten Stollen im Fels-
labor eingebracht (Foto auf S. 54/55). Der Hohlraum um den
Metallzylinder wurde mit 40 Tonnen trockenem Bentonit-
granulat aufgefüllt und das Ganze mit einer zwei Meter
dicl<en Betonwand verschlossen. 15 l<ubikmeter Wasser
gaben die Wissenschaftler in den folgenden anderthalb
Jahren zum Bentonit hinzu, dann war das Granulat zu

60 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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Rund 90 Prozent der Radionuklide blieben in der Bento- 1
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Kanisteroberfläche ca . 130-1 50 °C
diese Kationen dort überhaupt zur Diffusion zu bringen<<,
erklärt der Geochemiker. >>Rein rechnerisch können einzelne Abdic·h tung
Bentonitsättigung
Radionuklide die Biosphäre erreichen, aber nur in unkriti-
schen Konzentrationen. << Bei diesen Nukliden handelt es Kanisterkorrosion mit Wasserstoffbildung
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sich um radioaktive Isotope der Elemente Chlor und Iod, die 1 1


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als Anionen vorliegen, also negativ geladen sind und des- 1


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ren können (siehe Interview >>Plutonium ist nicht das Haupt-


problem<<, S. 64). 1 10 100 1000 10000 100 000 1 000 000
Doch Atommüll ist nicht gleich Atommüll. Der überwie- Jahre
gende Teil der in Deutschland anfallenden radioaktiven
Abfälle - nach Schätzungen der Bundesgesellschaft für Nach der Einlagerung des radioaktiven Abfalls laufen
Endlagerung (BGE) werden das bis zum Jahr 2080 insge- in einem Tiefenlager verschiedene Prozesse ab,
samt etwa 620 000 Kubil<meter sein - ist als >>Vernachlässig- die teils hunderte oder tausende Jahre andauern.
bar wärmeentwickelnd<< klassifiziert: Das sind beispielswei-
se Rückstände aus Forschungs- oder Medizinlabors, die mit
radioaktiven Substanzen arbeiten, oder Bauteile von stillge- Einlagerung Wärme entwickelnder Abfallbehälter unter
legten Atomkraftwerken. Sie geben zwar noch radioaktive realen Bedingungen.
Strahlung ab, setzen dabei aber quasi keine Wärme frei. Die Schweizer werden ihre ausgedienten Brennstäbe
Rund die Hälfte dieses Mülls soll ab Ende der 2020er Jahre nach der derzeitigen Planung in viereinhalb Meter lange
im Schacht Konrad eingelagert werden (siehe >>Atommüll- Fässer von etwa einem Meter Durchmesser packen, mit
lager in Deutschland<<, S. 58/59). Ausgediente Brennstäbe einem 12 bis 14 Zentimeter dicken Stahlmantel. Entspre-
aus Kernkraftwerken geben auf Grund der atomaren Zer- chend haben Leupin und sein Team drei zylinderförmige
fallsreal<tionen hingegen noch jahrzehntelang Hitze ab, Heizungen mit diesen Maßen und jeweils 1350 Watt Leis-
weshalb man sie als stark wärmeentwickelnd bezeichnet. tung in Abständen von drei Metern in den Stollen einge-
Nach ihrer aktiven Dienstzeit in einem Atomkraftwerk baut, mit einer 80 Zentimeter dicken Schicht aus Bentonit-
kühlen sie einige Jahre lang in Abl<lingbecken ab. Anschlie- granulat umhüllt und das Ganze verschlossen.
ßend müssen sie noch weitere 30 bis 40 Jahre oberirdisch Seit Anfang 2015 beheizen die Zylinder das Gestein, und
lagern, weil sie noch zu viel Wärme abstrahlen, um unter die Schweizer beobachten laufend zahlreiche Parameter,
Tage verfrachtet werden zu können. Und selbst dann sind die ihre Sensoren an mehr als 1500 Messpunkten aufneh-
die Stäbe noch heiß: Packt man sie nach dem derzeitigen men. >>Es war nicht ganz einfach, den Stollen wieder
Stand der Technik in Fässern zusammen, hat ein Fass eine zu verschließen. Von ihm führen 700 Kabel hinaus - und
Leistung von bis zu 1500 Watt, das ist in etwa so viel wie trotzdem muss er dicht sein<<, erzählt Leupin von den
ein handelsüblicher Wasserkocher. Diese Abfälle werden Schwierigkeiten beim Design des Versuchs.
laut BGE rund 27000 Kubikmeter des gesamten Abfallvolu-
mens ausmachen. Der tatsächliche Umfang kann sich aber Heizungen im Berg simulieren Behälter mit hoch
ändern, etwa falls auf Grund der örtlichen Gegebenheiten radioaktivem Abfall
ganz andere Behälter nötig werden als die, mit denen man Nach dem Ausheben der Stollen wurden diese etwa zwei
bislang rechnet. Für diesen Abfall, ebenso wie für die Jahre lang belüftet, um nachzuvollziehen, wie sich das auf
andere Hälfte des kaum Wärme entwickelnden Atommülls, das Gestein auswirkt. Denn in einem unterirdischen Lager
muss noch ein geeignetes Lager gefunden werden. in 800 bis 900 Meter Tiefe wäre solch eine Maßnahme
Olivier Leupin beschäftigt sich mit der Frage, wie die notwendig, allein schon um wegen des aufgewirbelten
heißen Fässer die Eigenschaften des Gesteins verändern Staubs und der entstehenden Hitze annehmbare Arbeits-
und wie sie anzuordnen sind, damit dessen Stabilität und bedingungen zu schaffen. Anschließend wurden die >>Hei-
Dichtigkeit nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Der zungen<< auf Bentonitsockeln im Tunnel montiert. Eine im-
Wissenschaftler steht vor einem verschlossenen Felsstol- posante fünfarmige Schneckenverfüllmaschine (Foto auf
len, aus dem sich riesige Bündel bunter Kabel nach draußen S. 56), die eigens für diesen Zweck gebaut wurde und wie
schlängeln und schließlich in verschiedensten Anzeigegerä- eine riesige Krake den Tunnel bewacht, brachte in Millime-
ten auf einer Empore aus Stahlgitter verschwinden. Seit terarbeit 255 Tonnen granularen Bentonit in den Hohlraum
2014 untersucht der Geochemiker im Full-scale emplace- ein. Die Messwerte, die die Experten seither erhalten,
••
ment experiment (etwa: 1: 1-Einlagerungsexperiment) die waren bereits für Uberraschungen gut: Zum einen sank

Spektrum der Wissenschaft 8. 2 0 61


der Sauerstoffgehalt im Gestein innerhalb von Wochen fast steins, wie etwa den Gehalt des Porenwassers. Wenn sich
auf null - die Wissenschaftler hatten mit 10 bis 50 Jahren der Tonstein erwärmt, verändern sich seine physikalischen
gerechnet. Das sei von Vorteil, denn Sauerstoff beschleuni- Eigenschaften, er wird beispielsweise durchlässiger. Kri-
ge die Korrosion der Metallbehälter, sagt der Nagra-Exper- tisch sei ein Wert von 85 Grad, erläutert Leupin. Das ist die
te. Wohin das Gas entwichen ist und ob der Bentonit es >>Paläotemperatur<< des Tonsteins - also die Temperatur,
möglicherweise aufgenommen hat, ist noch nicht geklärt. der er bereits in der Vergangenheit ausgesetzt war. Erhitzt
Zur Temperaturentwicklung gibt es ebenfalls eine gute er sich darüber hinaus, wird er möglicherweise brüchig.
Nachricht. >>Wir hatten angenommen, dass sich das Gestein Leupins Heizungen starten mit einer Außentemperatur von
rund um das mittlere Element stärker erwärmen würde als 140 Grad Celsius, dem Maximalwert, den die Fässer theo-
das um die äußeren<<, auf Grund der zusätzlichen Wärme- retisch erreichen können. Wie warm es dort wird, wo der
abgabe der äußeren beiden Heizzylinder. Das war aber Bentonit aufhört und der Opalinuston beginnt, ist nun die
nicht so. Neben der Temperatur erfassen die Forscherinnen spannende Frage. Den Berechnungen nach sollten an
••

und Forscher zahlreiche physil<alische Parameter des Ge- diesem Ubergang maximal etwa 80 Grad herrschen. Ob

Daten für die Nachwelt ••


••
Die Messungen im Felslabor Mont darüber abgespeichert werden,
Terri dienen nicht nur Forschungs- wer sie erfasst hat und zu welchem
zwecken. Sie sollen als Referenz- Zeitpunkt. Diese Person bestätigt
werte für spätere Untersuchungen damit gleichzeitig die Plausibilität
an den möglichen Endlagerstand- und Vollständigkeit der Daten.
arten herangezogen werden. Um Darüber hinaus erstellt das System
die Daten für dieses hochsensible für jeden Datensatz einen so ge-
Thema sicher aufzubewahren und nannten Hashwert, der sie unver-
vor Manipulationen zu schützen, wechselbar macht. Werden Einträ-
arbeitet die BGR mit dem Bundes- ge nachträglich geändert, ist das
archiv zusammen. durch den Hashwert direkt nach-
Alle Daten, die im Felslabor vollziehbar.
erhoben werden, archiviert das Das >>Gesamtpaket<< der Daten-
Bundesarchiv für einen unbegrenz- sätze mit allen zugehörigen Infor-
ten Zeitraum. Die Behörde stellt mationen wird in einen digitalen
sicher, dass die Daten rechtskon- Container verpackt, den man sich
form aufbewahrt werden und ähnlich wie einen Zipordner vor-
gewährleistet, dass sie seit ihrer stellen kann, und über eine Web-
Speicherung nicht verändert wur- app direkt auf den Servern des
den. Stellt jemand die Daten oder Bundesarchivs gespeichert. Sollten
deren Verwendbarkeit im Lauf der zu einem späteren Zeitpunkt neue
Jahre in Frage - was bei einer so Auswertungen nötig sein, können
~
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politisch brisanten Frage wie der die Experten jederzeit auf das ;:!
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Suche nach einem Endlager prak- Datenarchiv zugreifen - auch er:
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tisch vorprogrammiert ist-, muss zukünftige Generationen.


das Bundesarchiv einen Beweis für >>Natürlich haben sich unsere Während die digitale Datener-
die Integrität der Daten liefern, der Arbeitsprozesse dadurch massiv fassung bereits im ganzen Labor
dann als Grundlage für Gutachten verändert<<, sagt Hendril< Albers, stattfindet, läuft die Eingabe per
vor Gericht dient. der das Projekt für die BGR leitet. App schrittweise an. Etwa 30 Mit-
Daher werden alle Messdaten Indem die Forscher auf Wünsche arbeiterinnen und Mitarbeiter
digital in einem System erfasst. der Nutzer eingehen, wollen sie verwenden sie derzeit. Wenn in
Zusätzlich speichern die Wissen- sicherstellen, dass die neue Metho- einigen Jahren mögliche Standorte
schaftler Metadaten wie die Para- de akzeptiert wird. So fand etwa erkundet werden, könnte man die
meter der Messgeräte oder die ein digitaler Stift Eingang in das dort angestellten Messungen
Bedingungen vor Ort dazu ab. Prozedere: Damit lassen sich ebenso dokumentieren. >>Diese
Dafür müssen sich die Forscher mit beispielsweise handschriftliche sensiblen Daten sollen von der
einer digitalen Signaturkarte am Notizen als Metadaten direkt in die ersten Stunde an mit der entspre-
System anmelden, so dass zu App eintragen oder Versuchsskiz- chenden Sorgfalt behandelt wer-
jedem Datensatz die Informationen zen anfertigen. den<<, sagt Albers.

62 Spektrum der Wissenschaft 8.20


das stimmt, wird sich noch zeigen. Derzeit haben die Heiz- das umgebende Gebirge wirkt. Am Ende wollen die Fach-
elemente an ihrer Oberfläche eine Temperatur von 135 Grad leute so beurteilen können, welches Material sich eignet,
••

Celsius, beim Ubergang von Bentonit zum Opalinuston sind um ein Atommülllager >>stillzulegen<<, also alle offenen
es 55. Mindestens zehn Jahre lang soll der Versuch laufen. Schächte und Stollen aufzufüllen und abzudichten.
Leupin rechnet damit, dass die Stollen in einem Endlager >>Die Ergebnisse sind von vielen Faktoren abhängig: zum
etwa 40 Meter Abstand voneinander haben müssen, damit Beispiel davon, wie viel Gestein sich über der Bohrung
die Behälter den Tonstein nicht über den kritischen Wert befindet, von der Schichtung und von der Struktur<<, erläu-
••
von 85 Grad aufheizen. Riesige Mengen Gestein müssen tert Hesser. Uber eines darf man sich l<eine Illusionen
also für Schächte, Tunnel und Stollen ausgehoben werden. machen: >>Die Ergebnisse der Untersuchungen in Mont
Das ist zum einen teuer, weil die Gänge im empfindlichen Terri sind nicht direkt auf andere Standorte übertragbar<<,
Opalinuston zusätzlich stabilisiert werden müssen. Zum sagt der Experte klar. Vielmehr erforschen die Wissen-
anderen beansprucht die mechanische Arbeit das Material. schaftler Grundlagen, entwickeln Methoden und schaffen
Jürgen Hesser hat erst vor Kurzem in Echtzeit unter- so eine Basis, auf der ein möglicher Standort fachgerecht
sucht, welchen Effekt der Bau eines neuen Tunnels auf das untersucht werden kann. Wenn solche in Deutschland
umliegende Gestein hat. Von 2018 bis 2019 wurde das Fels- auserkoren sind, müssen dort erst einmal umfangreiche
labor erweitert, und der Bergbauingenieur hat mit seinem Analysen gemacht werden. Die Arbeit der Hannoveraner in
Team die nähere Umgebung der Ausbauzone genauestens der Schweiz soll ermöglichen, dass dies optimal abläuft.
••

überwacht. Uber dem entstehenden Tunnel, darunter und Bis es so weit ist, könnte es noch ziemlich lange dauern.
quer hindurch haben die BGR-Experten Bohrungen ange- Im Herbst 2020 will die BGE auf der >>Fachkonferenz Teilge-
setzt, mehr als 400 Sensoren platziert und Spannungsände- biete<< öffentlich bekannt geben, welche Gebiete auf Grund
rungen im Gestein sowie weitere Parameter wie Verfor- geologischer Gegebenheiten aus dem Auswahlprozess aus-
mungen und Porendrücke aufgenommen. Die Spannungs- scheiden. Erst anschließend entscheiden Bundestag und
messungen zeigten deutlich, >>wann die Mannschaft Bundesrat, welche der dann möglichen Standorte tatsäch-
morgens die Maschinen angeworfen hat und wann sie lich erkundet werden. Nach diesen Untersuchungen, die
Feierabend gemacht hat<<, erzählt Hesser. sich über viele Jahre ziehen werden, steht schließlich die
Entscheidung über den endgültigen Standort an. Laut dem
Hohle Bohrkerne aus der Tiefe enthüllen, welche Standortauswahlgesetz soll das 2031 geschehen.
Spannungen auf das Gestein wirken Dann könnte etwa ab dem Jahr 2050 radioaktiver Abfall
Er muss dabei fast schreien, denn in der Nähe holen gerade in ein Endlager verfrachtet werden. Für die Zeit der Einlage-
zwei Arbeiter unter großem Lärm einen Bohrl<ern aus zehn rung - so sieht es wiederum das Standortauswahlgesetz
Meter Tiefe herauf. Im Experiment mit dem passenden Na- vor - muss es möglich sein, die Abfälle zurückzuholen. Das
men Sandwich wird ein Schacht ausgehoben und anschlie- l<önnte etwa dann nötig werden, wenn sich der Kenntnis-
ßend mit abwechselnden Schichten aus Kalziumbentonit stand ändert oder unvorhergesehene Probleme auftreten .
••
und so genannten Aquipotenzialschichten gefüllt, die das So will man unter anderem ein Desaster wie bei der
Wasser in der Sehachtsäule später gleichmäßig verteilen Schachtanlage Asse II vermeiden (siehe >>Atommülllager in
sollen. Wie genau Letztere zusammengesetzt sein müssen, Deutschland<<, S. 58/59). Erst danach wird das Endlager
erforscht derzeit eine Gruppe am Karlsruher Institut für stillgelegt: Stollen, Zugänge und Schächte werden gefüllt
Technologie. Hesser misst die Spannungen im Gestein vor und verschlossen. Für die darauf folgenden 500 Jahre, so
dem Ausheben. Dazu holen seine Kollegen in wochenlanger ist es ebenfalls im Gesetz festgeschrieben, müssen Vorkeh-
Arbeit Bohrkerne Stück für Stück aus dem Berg: jeweils zu- rungen für die mögliche Bergung der Abfälle getroffen
erst mit einem dünnen und dann mit einem dickeren Boh- werden. Danach ist alles, was unten lagert, sich selbst und
rer, so dass beim zweiten Mal der Bohrkern innen hohl ist. den Naturgesetzen überlassen. Ob der Berg dann tatsäch-
Dadurch können die Wissenschaftler während der Bohrung lich eine Million Jahre lang dicht hält, werden wir nicht
mit einer Sonde die Verformungen im Innern messen. mehr erfahren. ~
Anschließend packen sie die Bohrkerne einzeln in Holz-
kisten und schicken sie zur Analyse in ihr Labor nach Han-
QUELLEN
nover. Dort werden Kennwerte zu den Verformungseigen-
schaften der Gesteinskerne bestimmt. In Kombination mit Clauer, N. et al.: Geochemical signature of paleofluids in micro-
den gemessenen Verformungen in den Bohrungen können structures from Main Fault in the Opalinus Clay of the Mont
Terri rock laboratory, Switzerland. Swiss Journal of Geosciences
die Wissenschaftler dann im Nachhinein berechnen, wel-
110, 2017
che Spannungen auf das Gestein gewirkt haben.
Nach dem Verfüllen des Schachts schließlich wird das Hoth, Peer et al.: Endlagerung radioaktiver Abfälle in tiefen
geologischen Formationen Deutschlands. Untersuchung und
darin eingefüllte Material allmählich mit Wasser gesättigt. Bewertung von Tongesteinsformationen . BGR, 2007
Die Sättigung und die dadurch aktivierten mechanischen
und hydraulischen Prozesse werden die Forscher mit Sen- Nagra: Technical Report 15-02. Nagra, 2019
soren im Gebirge und in den eingebrachten Schichten
WEB LINK
genau beobachten. Ziel des Experiments ist es herauszufin-
www.endlagersuche-infoplattform.de
den, ob und wie die gewählte sandwichartige Abdichtung
von Schächten im Tongestein funktioniert und wie sie auf Die Informationsplattform der BGE zur Endlagersuche

Spektrum der Wissenschaft 8.20 63


II

Kann Transmutation helfen, ein Endlager für künftige Generatio-
nen sicherer zu machen? Ein Gespräch mit Dirk Bosbach, Spre-
cher des Helmholtz-Forschungsprogramms NUSAFE zur Sicher-
heit der nuklearen Entsorgung und Reaktorsicherheit.

~~ spektrum.de/artikel/1744796

Herr Bosbach, mit Hilfe der so genannten Trans- dass es keinen wesentlichen Sicherheitsvorteil bringt, wenn
mutation ließen sich radioaktive Elemente, die das Endlager kleiner ist. Es lohnt sich nicht, diesen Parame-
hunderttausende Jahre lang strahlen, in Stoffe mit ter zu optimieren.
viel kürzerer Halbwertszeit >>verwandeln<<. Das Dazu kommt, dass die einfach zu transmutierenden
klingt traumhaft. Was kann die Technologie tat- Radionuklide wie Uran und die Transurane gar nicht das
sächlich leisten? Problem sind. Falls Grundwasser in einer fernen Zukunft Zu-
Ja, das hört sich viel versprechend an. In dem Zusammen- gang zu den Abfällen bekommen sollte, ist die Frage wich-
hang heißt es oft, dass man mit der Technologie ein Endla- tig, wie gut sich die Radionuklide darin lösen. Und unter
ger für radioaktive Abfälle vermeiden könnte. So einfach ist Endlagerbedingungen nimmt ein Liter Wasser weniger als
8
es aber nicht. 10- mol von Elementen wie Uran und Plutonium auf - sie
Bei der Kernspaltung entstehen aus Uran neue Elemente, sind also extrem unlöslich. Ausgerechnet einige der langle-
die Spaltprodukte. Daneben bilden sich Elemente, die bigen Spaltprodukte, die ich eingangs erwähnt habe, haben
schwerer sind als Uran: Neptunium, Plutonium, Americium hingegen eine vergleichsweise hohe Löslichl<eit und wer-
und Curium, die so genannten Transurane. Diese kann man den von den Komponenten in einem Endlager, etwa dem
in der Tat sehr gut transmutieren, das heißt, nach ihrer Wirtsgestein, nur schlecht zurückgehalten. In allen Sicher-
Abtrennung vom restlichen Abfall durch die Bestrahlung heitsanalysen, die ich kenne, sind einige der langlebigen
mit Neutronen in kurzlebige oder sogar stabile Elemente Spaltprodukte die Problemnuklide. Plutonium ist dagegen
umwandeln. Es gibt aber trotzdem noch fünf bis sechs sehr nicht das Hauptproblem.
langlebige Spaltprodukte, bei denen das nicht möglich ist.
Dazu gehören Cäsium-135, lod-129 und Selen-79. Man Wir brauchen also keine Transmutation?
könnte das Endlager also gar nicht vollständig vermeiden. Doch, ich unterstütze das! Forschungsprogramme zu der
Außerdem haben wir in Deutschland in der Vergangen- Thematik sind immer interessant und liefern einen wichti-
heit einen Teil der bestrahlten Brennelemente im Ausland gen Beitrag, beispielsweise für den Kompetenzerhalt in
wiederaufarbeiten lassen. Nach Abtrennung von Uran und Deutschland. Wir arbeiten am Forschungszentrum Jülich
Plutonium wurden die hoch radioaktiven Abfälle in Gläser zum Thema der Partitionierung. Ebenso ist es wichtig, in
konditioniert, also quasi eingeschmolzen, und mit den internationalen Projekten mitzuarbeiten, um neue Entwick-
berühmten Castor-Transporten zu uns zurückgebracht. Die lungen frühzeitig mitzubekommen.
Gläser kann man eigentlich nicht noch einmal anfassen,
es sei denn, unter enormem Aufwand. Ihr Anteil am gesam- In Belgien entsteht unter dem Namen MYRRHA
ten Atommüll liegt bei rund zehn Prozent, und man müsste derzeit eine erste Anlage, 2036 soll sie fertig sein.
sie auf jeden Fall ebenfalls endlagern. Was ist das Ziel des Projekts?
MYRRHA ist eine unterkritische beschleunigergetriebene
Könnte man ein Endlager zumindest kleiner bauen? Anlage, hier wird also eine bestimmte Technologie getestet.
Ja. Angenommen, man würde Uran und Plutonium aus den Die Anlage wird erstens Neutronen für die Forschung
bestrahlten Brennelementen abtrennen, dann wäre das bereitstellen, zweitens Molybdän für medizinische Anwen-
Volumen an hoch radioaktivem Abfall geringer. Doch die dungen produzieren und drittens wird dort Transmutations-
Sicherheitsanalysen zu Endlagerkonzepten weltweit zeigen, forschung stattfinden. Um die Frage zu beantworten, wie

64 Spektrum der Wissenschaft 8.20


Wie soll das Ihrer Meinung nach geschehen?
Ich würde im kleinen Rahmen Forschung zum Thema
Transmutation fördern, um bei internationalen Projel<ten
mitzuwirken. Wir sollten weiterhin über Kompetenzen
verfügen können, die die anderen nicht haben, so dass wir
als Projektpartner willkommen sind. Momentan ist das sehr
gut organisiert. Die Frage ist nur, wie kann man das künftig
halten? Wie kann man in Deutschland die Voraussetzungen
schaffen, dass wir langfristig hervorragende Forschung auf
dem Gebiet machen können, um in internationalen Projek-
ten oder internationalen Gremien, in denen Sicherheitsstan-
dards gesetzt werden, mitwirken zu können?
::c:
(..)

~
V>
0
CO
Haben Sie die Sorge, die Expertise könnte abwan-
""
a:
Cl dern, weil hier nicht genügend Freiraum besteht?
z
0
>
z
LU
Ich glaube, dass die Strukturen dazu schon in Ordnung
[!)

sind. Es gibt Fördermittel, im kleinen Rahmen. Aber die


-
::c:
Stimmungslage ist schwierig. Gewisse politische Lager
(..)
<(
CO
~ betrachten das Thema sehr kritisch und nehmen die Wis-
senschaftler, die in dem Bereich arbeiten, häufig persönlich
in den Fokus. Wenn wir aber langfristig kompetent zu
solchen Fragen sein wollen, dann müssen wir junge Leute
Prof. Dr. Dirk Bosbach dafür gewinnen. Und die haben keine Lust, jeden Tag am
leitet am Forschungszentrum Jülich den Bereich Pranger zu stehen.
Nuclear Waste Management and Reactor Safety
des Instituts für Energie- und Klimaforschung. Der Die Endlagerforschung ist aber auch nicht gerade
Mineraloge hält darüber hinaus einen Lehrstuhl zur das beliebteste Thema in der Bevölkerung ...
Entsorgung nuklearer Abfälle an der RWTH Aachen Für Deutschland stimmt das. In anderen Ländern, beispiels-
und ist Sprecher des Helmholtz-Forschungspro- weise in Schweden, ist das ganz anders. Ich habe aber den
gramms NUSAFE zur Sicherheit der nuklearen Ent- Eindruck, dass dieser lange Konflikt jetzt - nachdem die
sorgung und Reaktorsicherheit. Endlagerkommission getagt hat - weitgehend beigelegt ist.
Ich halte einen gesellschaftlichen Konsens hierzu für extrem
wichtig. Und ich bin bereit, viel dafür zu tun, um ihn beizu-
behalten und in Richtung Endlager weiter voranzukommen.
Transmutation in der Praxis funktioniert, wäre MYRRHA ein Sie sehen, ich bin ein großer Befürworter der tiefengeologi-
interessanter Schritt. schen Endlagerung. Ich bin wirklich zutiefst davon über-
zeugt, dass das die beste Option ist, die wir heute haben.
Inwieweit beteiligen sich deutsche Forschungs- Und genau heute müssen wir das Problem angehen! Die
gruppen an dem Projekt? Generation, die die Kernenergie eingeführt und ganz über-
Deutsche Einrichtungen leisten dort Beiträge zum Thema wiegend von ihr profitiert hat, sollte stark an der Lösung
Reaktorsicherheit. Schon seit vielen Jahren gibt es hier zu mitarbeiten.
lande keine Forschung mehr zur Reaktorentwicklung,
außer vielleicht in einzelnen Beiträgen in internationalen Was kann denn die Wissenschaft leisten, um
Projel<ten. Die Untersuchungen zur Kernenergie fokussieren diesen Konsens zu befördern?
sich bei uns auf Sicherheitsaspekte. Darin sind wir meines Ich glaube, am meisten können wir durch Transparenz
Erachtens sehr gut. beitragen und durch gute wissenschaftliche Praxis: dass
man sich darauf verlassen kann, dass das, was Forscher
Verlieren wir den Anschluss, wenn wir nicht zum publizieren, belastbar ist. Als Wissenschaftler kann ich nur
Prozess der Transmutation an sich forschen? sagen, was geht und was nicht. Auf dieser Basis können
Wir steigen ja 2022 aus der Kernenergie aus, schalten also Gesellschaft und Politik dann hoffentlich bewerten, in
dann den letzten Kernreal<tor zur Stromerzeugung ab. Die welche Richtung wir gehen sollen.
Frage ist für mich daher vielmehr: Sollten wir langfristig,
also über diesen Zeitraum hinaus, zum Thema Reaktorsi- Das Gespräch führte >>Spektrum«-Redakteurin Verena Tang.
cherheit kompetent bleiben? Ich halte das für sehr wichtig.
Unsere Nachbarländer werden, wie es aussieht, weiterhin
LITERATURTIPP
auf Kernenergie setzen. Wir sollten in der Lage sein, zu
bewerten, was sich dort tut. Und in diesem Kontext ist es Knebel, J. et al.: Was tun mit dem nuklearen Abfall? Spektrum
der Wissenschaft 2/2013, S. 34-41
sinnvoll, das Thema Transmutation nicht ganz aus den
Augen zu verlieren. Wie die Technologie der Transmutation funktioniert

Spektrum der Wissenschaft 8.20 65


AUF EINEN BLICK
VERSCHWUNDENE INFORMATION
Fällt ein Teilchen in ein Schwarzes Loch, scheint die
gesamte Information über seine Eigenschaften
wie M asse, Ladung oder Geschwindigkeit für immer
zu verschwinden.

W enn das Schwarze Loch aber über ein Wurmloch


mit einem anderen verbunden wä re, könnte die Infor-
mati on durch die Verbindun g gleiten und aus dem
zweiten kollabierten Stern entkommen.

Eine solche Situation wollen Physiker nun im Labor mit


Hilfe ultrakalter Atome nachst ellen.
müsste man nicht mit echten Schwarzen Löchern hantie- geprägt hat, löst sie nicht das ursprüngliche Problem. Das
ren. Die Forscher behaupten, dass man bloß einige Ionen Schwarze Loch strahlt zwar Photonen aus, aber diese
und Laser benötigt. Sollte sich ihre Vorhersage bestätigen, enthalten in der Darstellung keinerlei Informationen über
könnten sie damit eine der grundlegendsten Fragen der die hineingefallenen Teilchen. Sobald es vollständig ver-
Kosmologie beantworten, nämlich ob Schwarze Löcher dampft ist, wären damit die darin befindlichen Informatio-
Informationen wirklich unwiederbringlich zerstören. nen ebenfalls für immer verloren.
Aus der Quantenmechanik folgt, dass die gesamte 1997 fand der argentinische Physiker Juan Maldacena
Menge an Information im Universum immer gleich bleibt. eine mögliche Lösung. Er postulierte die so genannte AdS/
Schwarze Löcher werden allerdings durch die allgemeine CFT-Korrespondenz, aus der zum Beispiel folgt, dass die
Relativitätstheorie beschrieben und folgen daher anderen Hawking-Strahlung Informationen über das Innere des
Gesetzmäßigkeiten. Sie entstehen aus massereichen Ster- Schwarzen Lochs enthält.
nen, die unter dem Einfluss ihrer Schwerkraft kollabieren, Die AdS/CFT-Korrespondenz gilt als eine der vielverspre-
so dass sie dann nur noch einen winzigen Bereich im Raum chendsten Richtungen der Stringtheorie - ein Ansatz, der
ausfüllen. Passiert ein Teilchen oder Licht den so genannten die Quantenmechanik mit der Gravitation vereinen soll.
Ereignishorizont (siehe Glossar, S. 70) eines Schwarzen Stringtheoretiker gehen davon aus, dass kleinste Fäden
Lochs, kann es nie wieder entl<ommen - die Information, (englisch: Strings) durch ihre Schwingungen alle bekannten
die es getragen hat, scheint damit auch für immer ver- Elementarteilchen und Grundkräfte erzeugen. Die Theorie
schwunden. ist äußerst kompliziert und steckt seit Jahren in der Klem-
me: Unter anderem sagt sie etliche Teilchen vorher, die
Auf der Suche nach der verschwundenen bislang nicht beobachtet wurden. Als Maldacena die AdS/
Information CFT-Korrespondenz entwickelte, wirkte sie wie ein Hoff-
Dieser scheinbare Widerspruch entsteht, weil es bislang nungsschimmer. Sie besagt, dass bestimmte Modelle der
keine Theorie gibt, die den Mikro- mit dem Makrokosmos Raumzeit mit Quantensystemen zusammenhängen.
vereint. Die Gesetze der Schwerkraft auf großen Sl<alen Sollte eine solche Verbindung tatsächlich existieren,
basieren auf der allgemeinen Relativitätstheorie, während wäre das für Physiker extrem nützlich. Möchte man zum
die Quantenmechanik das Verhalten von kleinsten Teilchen Beispiel gewisse Eigenschaften eines komplizierten quan-
erl<lärt. Seit über 100 Jahren versuchen Forscher, beide tenmechanischen Prozesses vorhersagen, könnte man
Theorien zu verbinden, doch bislang sind sie gescheitert. stattdessen eine - unter Umständen einfachere - kosmolo-
In den 1970er Jahren widmete sich der britische Physiker gische Berechnung durchführen und die Ergebnisse an-
Stephen Hawking dem Problem der verschwindenden schließend gemäß der AdS/CFT-Korrespondenz zurück in
Information in Schwarzen Löchern. Indem er die Gesetze die Quantenwelt übertragen.
der Thermodynamik und der Quantenmechanik auf eine Die AdS/CFT-Korrespondenz ist wie ein Wörterbuch, das
gekrümmte Raumzeit anwendete, wie sie die allgemeine kosmologische Prozesse in Quantenphänomene übersetzt
Relativitätstheorie für Schwarze Löcher vorgibt, erzielte er und umgekehrt. Nimmt man die Verbindung ernst, folgt ~·
,_
erstaunliche Ergebnisse: Seinen Berechnungen zufolge daraus, dass die völlig verschiedenen physikalischen Syste- w
<..J
z
-
w
<..J
müssten die galaktischen Monster Strahlung abgeben - me zwei Seiten einer Medaille sind. Auf der einen ist eine (1)
~
<(
::2:
und damit langsam verdampfen. Raumzeit mit einer bestimmten Art von Krümmung, die als :s:
-
~
Anti-de-Sitter-Raum bekannt ist. Das ist der AdS-Teil
<(
Hawking nahm dabei an, dass ein Schwarzes Loch von z

einem Vakuum umgeben ist. Das heißt allerdings nicht, der Korrespondenz. Auf der anderen Seite hat man
dass der Raum gänzlich leer ist (siehe >>Spektrum<< Dezem- eine so genannte konforme Quantenfeldtheorie
ber 2019, S. 12). In Wirklichkeit entstehen ständig Teilchen- (englisch: conformal field theory, CFT), die in
Antiteilchen-Paare, die sich innerhalb kürzester Zeit wieder einer Dimension weniger auftritt als die Raum-
vernichten. Wegen der großen Gravitationsenergie eines zeit. Das heißt: Die mathematische Beschrei-
Schwarzen Lochs gibt es dort besonders viele solcher bung eines Anti-de-Sitter-Raums in d Dimensi-
kurzlebigen Paare. Das führt zu einem seltsamen Effekt: onen ist gleich der einer konformen Feldtheo-
Wenn sich Teilchen und Antiteilchen in der Nähe des Ereig- rie in d-1 Dimensionen.
nishorizonts bilden, kann es sein, dass ein Partikel den Die seltsame Verbindung funktioniert wie
Horizont passiert - und damit für immer verschwindet-, ein Hologramm - alle Informationen eines Kosmos sind in
während der dazugehörige Partner entkommt. Irgendwann Quantensystemen in einer niedrigeren Dimension enthalten.
stößt dieser mit einem verlassen Antiteilchen zusammen, Dieses so genannte holografische Prinzip schlug der Physik-
wodurch die beiden sich vernichten und ein Photon erzeu- Nobelpreisträger Gerardus 't Hooft 1993 erstmals vor.
gen, was zur so genannten Hawking-Strahlung führt. Maldacenas Arbeit lieferte vier Jahre später das erste
Das hat bedeutende Folgen für das Schwarze Loch: konkrete Beispiel dafür.
Weil es Energie in Form von Photonen abstrahlt und Dabei entspricht der kontinuierliche Raum im
Energie nicht aus dem Nichts entstehen kann, muss der AdS-Universum zahlreichen verschränkten
kollabierte Stern an Masse verlieren. Mit der heutigen Qubits (siehe Glossar) auf der CFT-Seite, die
Technologie lässt sich das nicht nachweisen, doch das unentwegt miteinander wechselwirl<en. Einige
Phänomen ist unter Physikern akzeptiert. Auch wenn Physiker sehen das holografische Prinzip als
Hawkings Arbeit die moderne Kosmologie erheblich mathematisches Werkzeug, das Berechnungen

68 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Anti-de-S itter-U n iversu m
Albert Einstein erschütterte 1915 krümmt wie eine Kugeloberfläche kein, wodurch ein Schwarzes Loch
unser Verständnis des Universums, (de-Sitter-Raum) oder negativ entstünde.
als er seine allgemeine Relativi- gekrümmt wie ein Sattel (Anti-de- Der Physiker Helmut Friedrich
tätstheorie veröffentlichte. Wie er Sitter-Raum, kurz: AdS) - mit dem vom Max-Planck-Institut für Gravita-
herausarbeitete, sind Zeit und Unterschied, dass das Universum tionsphysik in Potsdam bewies 1986,
Raum nicht statisch, sondern ver- dabei keine zweidimensionale dass der positiv gekrümmte de-Sit-
ändern ihre Form: Energie krümmt Oberfläche ist, sondern das vierdi- ter-Raum stabil ist. Geringe Mengen
die Raumzeit. mensionale Gegenstück zu den Materie beeinflussen diese Art der
-_,
::2
Anfangs versuchten Physiker, genannten Beispielen bildet. Raumzeit zwar, verändern sie aber
1-
:r:
X
w
0
Einsteins Gleichungen in verein- Während Physiker sich fragten, nicht maßgeblich. Sieben Jahre
z
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0
0
0
fachter Form zu lösen, indem sie welche der drei Lösungen unseren später folgte eine Veröffentlichung
cn
cn
::t
0
w
leere Universen ohne Materie Kosmos am besten beschreibt, von den Mathematikern Demetrios
-6
::2
(..!)
untersuchten, die überall gleich versuchten Mathematiker herauszu- Christodoulou und Sergiu Klainer-
<i.
cn
<(
z gekrümmt sind. Für einen solchen finden, ob die Lösungen überhaupt man, in der sie zeigten, dass auch
u
u..
cn
(..!)
0.:
<(
Fall erlaubt die allgemeine Relativi- stabil sind. Das heißt: Wenn man der flache Minkowski-Raum seine
::2
-::2
~ tätstheorie drei mögliche Formen eine winzige Masse in ein Univer- grobe Form beibehält, wenn man
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w
1-
w
u
der Raumzeit: Sie ist entweder flach sum einfügt, behält die Raumzeit kleine Massen hinzufügt. Wie es
zw
-cn
u (Minkowsl<i-Raum), positiv ge- ihre Form weitestgehend bei oder sich mit dem Anti-de-Sitter-Raum
.,_
<(
::2
entsteht ein Schwarzes Loch, das verhält, blieb jedoch lange Zeit ein
-
~
<(
cn
<(
sie vollkommen verzerrt? Rätsel.
z

Sobald in einem leeren Univer- Erst kürzlich konnte der Mathe-


sum ein massehaltiges Objekt - matiker Georgios Moschidis bewei-
etwa ein Teilchen - entsteht, bilden sen, was zahlreiche Physiker bereits
sich Gravitationswellen, die sich ahnten: Ein Anti-de-Sitter-Universum
durch die Raumzeit ausbreiten . ist nicht stabil. Sobald auch nur das
••

Ahnlich wie Wellen in einem Ge- kleinste bisschen Masse auftaucht,


wässer können sie mit der Zeit bilden sich Schwarze Löcher.
schwächer werden und versanden; Für die AdS/CFT-Korrespondenz,
das geschieht bei einer stabilen einen viel versprechenden Bereich
Lösung wie in unserem Universum. der Stringtheorie, der Anti-de-Sitter-
Oder sie könnten sich im instabilen Universen mit Quantensystemen
Fall zu einer Art Tsunami aufschau- (konforme Feldtheorien, CFT) verbin-
det, stellt das kein Problem dar. Tat-
sächlich braucht man in der Korres-
Ein leerer Kosmos ist pondenz Schwarze Löcher auf der
entweder positiv AdS-Seite, um überhaupt ein quan-
(oben) oder negativ tenphysikalisches Analogon zu fin-
(Mitte) gekrümmt den. Die Arbeit von Moschidis legt
oder aber flach nahe, dass Schwarze Löcher im
(unten). AdS-Universum schneller entstehen
als bisher gedacht.
Zudem war Physikern ohnehin
schon klar, dass AdS-Universen
nicht unserer eigenen Raumzeit
entsprechen. Dennoch könnte die
Korrespondenz helfen, kosmologi-
sche Rätsel in einem neuen Licht zu
betrachten und vielleicht sogar zu
beantworten. Häufig ist es hilfreich,
Probleme in einer simpleren Umge-
bung zu untersuchen und dann zu
überlegen, wie man sie in einem
realistischeren Kontext lösen könnte.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 69


vereinfacht. Manche gehen allerdings weiter und folgern, Bis 2007 gingen Physiker davon aus, dass die ver-
dass verschränkte quantenmechanische Systeme tatsäch- schluckte Information nach der Halbwertszeit mit gleich-
lich eine Raumzeit mit Gravitation erzeugen. Das würde bleibender Geschwindigkeit heraussicl<ert. Patrick Hayden
bedeuten, dass Schwerkraft aus Quanteneffekten besteht. von der Stanford University und John Preskill vom Califor-
Bisher sind aber sowohl das holografische Prinzip als nia Institute of Technology widerlegten diese Vorstellung
auch die AdS/CFT-Korrespondenz nur Vermutungen. Malda- jedoch. Sie konnten zeigen, dass die Information nicht
cena hat in seiner Arbeit gezeigt, dass einige Eigenschaften gleichmäßig, sondern extrem schnell entweichen würde.
von Quantensystemen ein kosmologisches Analogon >>Sobald ein Schwarzes Loch zur Hälfte verdampft ist, prallt
besitzen. Von einem vollständigen Wörterbuch, das jedem jede weitere Information wie bei einem Spiegel sofort
Phänomen auf der einen Seite eine entsprechende Variante wieder zurück<<, so Yao.
auf der anderen zuweist, ist man noch weit entfernt. Zudem Hayden und Preskill kamen zu ihrem Ergebnis, als sie
unterscheidet sich unsere Raumzeit stark von einem AdS- auf eine Gemeinsamkeit von Schwarzen Löchern und
Universum (siehe >>Anti-de-Sitter-Universum<<, S. 69). bestimmten Quantensystemen stießen. Denn die galakti-
schen Monster verhalten sich wie ein äußerst effizientes
Information tritt blitzartig aus Schwarzen Verschlüsselungssystem (siehe Glossar): Sobald ein Teil-
Löchern wieder aus chen den Ereignishorizont passiert, werden seine Eigen-
Dennoch fasziniert der mysteriöse Zusammenhang viele schaften wie Masse, Ladung, Impuls und so weiter schlag-
Physiker. Denn unter anderem könnte es das Informations- artig mit denen aller anderen darin gefangenen Materie ver-
paradoxon Schwarzer Löcher lösen. Dazu muss man das mischt. Dieser Effekt ähnelt der Art und Weise, wie sich
Szenario eines Teilchens, das in ein Schwarzes Loch fällt, Wärme in einem System über die Zeit gleichmäßig verteilt,
auf die CFT-Seite übersetzen. Im quantenphysikalischen wenn es zum Gleichgewicht kommt - nur dass er viel
Bild geht die Information nicht verloren. Das war zunächst schneller vonstattengeht. Dadurch erscheint es von außen
••
keine große Uberraschung, schließlich besagt die Quanten- betrachtet unmöglich, jemals wieder an die Informationen
mechanik ja, dass Information erhalten bleibt. Indem Physi- heranzukommen. >>Es ist wie bei einem Kartenspiel<<, sagt
ker das entsprechende Quantensystem aber genauer der Physiker Adam Brown von der Stanford University.
studierten und anschließend wieder auf die AdS-Seite >>Man geht davon aus, dass es gemischt ist, sobald sich
übertrugen, konnten sie nachverfolgen, was mit der Infor-
mation passiert: Sie wird in die Hawking-Strahlung kodiert.
Sollte die Korrespondenz richtig sein, wäre Information
damit nicht unwiderruflich verloren, sondern würde lang- Glossar
sam aus dem Schwarzen Loch entweichen.
Allerdings ließe sie sich in der Praxis kaum wiederherstel- Mikroskopische Teilchen können miteinander
len. Wie Hawking herausfand, müsste man jedes einzelne verschränkt sein. Das bedeutet, dass der Zu-
Photon einfangen, das ein Schwarzes Loch während seiner stand des einen unmittelbar von dem des ande-
gesamten Lebensdauer ausstrahlt. >>Falls es irgendwie ren abhängt. Dadurch beeinflussen sich ver-
gelingen würde, alle Hawking-Strahlen zu sammeln, dann schränkte Systeme fast augenblicklich.
existiert im Prinzip eine Berechnung, mit der man die ver-
schluckten Informationen extrahieren könnte<<, sagt Norman Der Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs
Yao von der University of California in Berkeley. Doch wie entspricht einer Distanz, ab der ein Objekt dem
eine solche Berechnung konkret aussieht, ist unklar. kollabierten Stern nicht mehr entkommen kann.
Eine weitere Schwierigkeit ist, dass Schwarze Löcher Selbst masselose Photonen werden an diesem
gemäß der Theorie nicht von Anfang an Informationen Punkt unwiederbringlich in das Schwarze Loch
aussenden, sondern erst, wenn sie zur Hälfte verdampft hineingesaugt.
sind. Grund dafür sind die Teilchen-Antiteilchen-Paare, aus
denen die Hawking-Strahlung entsteht. Die Paare sind Wenn Information - beispielsweise in Form
nämlich miteinander verschränkt, so dass zwischen dem eines Qubits - in ein Schwarzes Loch fällt, wird
Schwarzen Loch, in das eines der Teilchen hineinfällt, und sie verschlüsselt: Eigenschaften wie Masse,
den ausgesandten Photonen eine quantenmechanische Energie oder Ladung vermischen sich so stark
Verbindung besteht. mit denen der übrigen Materie, dass es un-
Kurz nach seiner Entstehung ist nur ein kleiner Bereich möglich erscheint, jemals wieder an die Infor-
des Schwarzen Lochs mit der Hawl<ing-Strahlung ver- mation heranzukommen.
schränkt. Der Bereich wächst im Lauf der Zeit immer weiter
an, bis der kollabierte Stern zur Hälfte verdampft ist. Von da Dekohärenz tritt auf, wenn ein Quantensystem
an ist das gesamte Schwarze Loch mit der ausgesandten mit seiner Umgebung wechselwirkt. Der ur-
Strahlung verbunden. Die Photonen enthalten daher Infor- sprüngliche Zustand des Systems verändert sich
mationen über das Innere des galaktischen Ungetüms. dadurch, und die darin anfangs enthaltene
Allerdings verdampfen Schwarze Löcher nur sehr lang- Information geht unwiederbringlich verloren.
sam - ein Exemplar von der Masse der Sonne überlebt
67
etwa 10 Jahre.

70 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


kein offensichtliches Muster mehr in der Reihenfolge der
Karten erkennen lässt. Das heißt allerdings nicht, dass die
Karten wirklich vollkommen zufällig angeordnet sind .<< Mehr Wissen auf
Nahezu jedes Vielteilchen-Quantensystem wird irgend- Spektrum.de
wann durcheinandergeraten, Physiker bezeichnen dieses Unser Online-Dossier zum Thema
Phänomen als Quantenverschlüsselung. Eine der wichtigs- finden Sie unter
ten Eigenschaften des Prozesses ist, dass er umkehrbar ist: spektrum.de/t/quantenphysik
PETER JURIK f STOCK.AOOBE.COM
Es ist prinzipiell möglich, die Information in einem durch-
mischten Quantensystem wiederherzustellen.
Wie lange es dauert, bis ein System verschlüsselt ist,
hängt davon ab, wie die darin enthaltenen Teilchen mit- nis ist identisch zu jenem, bei dem das erste Partikel an
einander wechselwirken. Um die Verschlüsselungsrate zu einem Ort zerstört wird und augenblicklich an einer unter-
bestimmen, nutzen Wissenschaftler einen so genannten schiedlichen Stelle auftaucht - einer Teleportation.
Hamilton-Operator, aus dem sich die wichtigsten physika- Fällt ein Teilchen in ein Schwarzes Loch, das mit einem
lischen Eigenschaften eines Systems berechnen lassen. anderen verschränkt ist, wird es schnellstmöglich in den
Schwarze Löcher stechen dabei heraus: Aus ihrem Ha- zweiten l<ollabierten Stern teleportiert. Das liegt daran, dass
milton-Operator folgt, dass sie Quanteninformationen die Information im ersten Schwarzen Loch mit maximaler
schnellstmöglich verschlüsseln (siehe >>Spektrum<< Juni Geschwindigkeit von allen darin befindlichen Teilchen
2019, S. 24). geteilt wird. Weil das Schwarze Loch aber an das zweite
Das führte Hayden und Preskill zu ihrer Schlussfolge- gekoppelt ist, erhält Letzteres fast augenblicklich die ge-
rung. Fällt ein Teilchen in ein Schwarzes Loch, wird die samten Informationen über das verschluckte Teilchen.
dazugehörige Information nahezu instantan mit der darin So interpretieren Quanteninformationstheoretiker den
befindlichen vermischt. Die daraufhin austretende Prozess. Nimmt man allerdings die AdS/CFT-Korrespon-
Hawking-Strahlung ist daher fast augenblicklich mit dem denz ernst, dann entspricht der Kanal zwischen den ver-
neuen Zustand des Schwarzen Lochs verschränkt, wodurch schränkten kollabierten Sternen einem Wurmloch. In
sie die neue Information ebenfalls enthält. dieser Sicht reisen die Qubits durch eine Abkürzung in der
Sollte die AdS/CFT-Korrespondenz also zutreffen, liefern Raumzeit.
die Ergebnisse der Physiker eine Lösung des Informations- Obwohl Wurmlöcher mit der allgemeinen Relativitätsthe-
paradoxons. Um an die Information eines Teilchens zu orie konsistent sind, ging man bisher davon aus, dass sie
gelangen, das einen Ereignishorizont passiert hat, müsste nicht durchquerbar wären: Falls sie wirklich existieren, ließe
man aber warten, bis es halb verdampft ist - eine Zeitspan- sich nichts durch sie hindurchschicken. In ihrer Arbeit
ne, die das bisherige Alter unseres Universums weit über- l<onnten Gao, Jafferis und Wall aber zeigen, dass die AdS/
steigt. CFT-Korrespondenz passierbare Wurmlöcher erlaubt.
Sollte die Korrespondenz richtig sein, braucht man nicht
Verschränkte Schwarze Löcher direkt mit verschränkten Schwarzen Löchern im AdS-Bild zu
Deswegen gaben sich einige Wissenschaftler nicht mit der hantieren. Stattdessen können Forscher Quantensysteme
Lösung zufrieden. Sie suchten nach einer anderen Möglich- auf der CFT-Seite nutzen, die völlig gleichwertig sind. Neza-
keit, um an die verschluckte Information heranzul<ommen - mi und Brown haben nun unter anderem mit dem renom-
und wurden fündig. Ping Gao und Daniel Jafferis von der mierten Stringtheoretiker Leonard Susskind von der Stan-
Harvard University fragten sich 2016 zusammen mit Aron ford University eine Möglichkeit ausgearbeitet, um ein
Wall vom Institute for Advanced Study, was passieren solches Experiment umzusetzen.
würde, falls ein Schwarzes Loch mit etwas anderem als der Dafür haben sie ein Quantensystem gesucht, dessen
Hawking-Strahlung verschränkt wäre, beispielsweise mit ei- Hamilton-Operator dem eines Schwarzen Lochs entspricht,
nem zweiten Schwarzen Loch. Ihren Berechnungen zufolge in das ein Qubit an Information fällt. Weil kollabierte Sterne
ließe sich dadurch die Information, die in den ersten kolla- Informationen schnellstmöglich durchmischen, müsste man
bierten Stern fällt, aus dem zweiten herauslesen. Denn ein vergleichbares Quantenverschlüsselungssystem im
wenn die gesamte Materie der galaktischen Monster mitei- Labor schaffen.
nander verschränkt ist, würde den Forschern zufolge ein Tatsächlich haben Physiker Anfang 2019 eine solche
vom ersten Schwarzen Loch verschlucktes Qubit pral<tisch Durchmischung von Qubits im Labor nachgewiesen. Auf
sofort im zweiten registriert werden. einen Vorschlag von Yao und seinem Kollegen Beni Yoshida
Als Gao und seine Kollegen den hypothetischen Prozess hin schufen Christopher Monroe in Maryland und sein Team
genauer untersuchten, fiel ihnen auf, dass er unter be- einen quantenmechanischen Schaltl<reis aus verschränl<ten,
stimmten Umständen einer Teleportation gleicht. Bereits ultrakalten Ionen. Die Forscher hielten die Teilchen mittels
1997 gelang es Physikern erstmals, ein Teilchen erfolgreich elel<tromagnetischer Fallen gefangen, so dass die Ionen in
im Labor zu teleportieren. Dafür nutzten sie die Eigenschaf- einer Reihe angeordnet waren.
ten der Verschränkung aus: Sie erzeugten zwei verschränk- Eine der größten Herausforderungen des Versuchs war
te Teilchen und übertrugen den Quantenzustand des ersten es, die Quantenverschlüsselung von anderen Prozessen zu
auf das zweite. Dieses ist danach nicht mehr vom ursprüng- unterscheiden. Weil es unmöglich ist, ein System vollkom-
lichen ersten Teilchen zu unterscheiden. Ein solches Ereig- men von der äußeren Umgebung abzuschotten, tritt in

Spektrum der Wissenschaft 8. 2 0 71


Experimenten mit mikroskopischen Teilchen beispielsweise gen, dass man die Information im zweiten System nicht
immer Dekohärenz ein. Dieser Effel<t entsteht - wie die entschlüsseln muss, obwohl das erste Schwarze Loch sie
Verschlüsselung auch-, wenn Teilchen miteinander wech- vollständig durchmischt hatte.
selwirken. Im Fall der Dekohärenz interagieren die Teilchen Als der theoretische Physiker Brian Swingle von der
mit Partikeln aus der Umgebung, wodurch die Information University of Maryland im Oktober 2019 mit seinem Kolle-
des Quantensystems langsam entweicht und dadurch gen Monroe über ein solches Experiment sprach, erkannte
unwiederbringlich verloren geht. Letzterer, dass der dafür benötigte Aufbau mehr oder weni-
Das ist der große Unterschied zwischen Dekohärenz und ger jenem entsprach, den er mit seinem Team für den
Verschlüsselung: Letztere kann rückgängig gemacht wer- Nachweis der Quantenverschlüsselung verwendet hatte.
den. In der Praxis lässt sich Dekohärenz niemals vollständig Damit ließe sich der von Swingle geschilderte Versuch
vermeiden, was sie zum Schreckensgespenst von Quanten- durchaus realisieren.
computern macht. Um sicherzustellen, dass die gelieferten So beeindruckend ein solches Experiment wäre, könnten
Ergebnisse korrel<t sind, muss daher jede Berechnung es derzeit jedoch nicht die Raumzeit unseres Universums
abgeschlossen sein, bevor das Phänomen einsetzt. nachahmen. Stattdessen würden die Quantensysteme
einem vereinfachten Modell des Kosmos entsprechen,
Ultrakalte Quantensysteme als nämlich einem Anti-de-Sitter-Raum. >>Um ein realistisches
Wurmlöcher Universum zu simulieren, das von Einsteins Gleichungen
Normalerweise beginnt ein Quantensystem mit seiner regiert wird, braucht man Systeme, die sehr schwer im
Umgebung zu wechselwirken, bevor die Verschlüsselung Labor herzustellen sind<<, sagt Maldacena.
eintreten kann. Das macht es so schwer, Letztere innerhalb Sollten die Ergebnisse des vorgeschlagenen Experiments
eines Systems nachzuweisen. Doch Monroes Team fand die Vorhersagen der Forscher bestätigen, folgt daraus nicht
heraus, dass sich beide Effekte durch die Quantenteleporta- unbedingt, dass die AdS/CFT-Korrespondenz korrel<t ist.
tion voneinander unterscheiden lassen. Denn ein solcher Versuch lässt sich genauso gut aus rein
Dafür nutzten die Forscher einen Schaltkreis aus sieben quantenphysikalischer Sicht betrachten - man muss nicht
verschränkten Ytterbium-Ionen, die in einer Reihe angeord- zwingend das holografische Prinzip nutzen, um den Aus-
net waren. Sie spalteten das System in zwei Teile mit je drei gang des Experiments vorherzusagen. Dennoch lassen sich
Ionen auf; das übrig gebliebene Teilchen nutzten sie später einige der vorhergesagten Phänomene einfacher durch die
für die Teleportation. Indem sie beide Teilsysteme gezielt Korrespondenz beschreiben, zum Beispiel die Teleportation
auf verschiedene Art störten, durchmischten sie die darin eines Teilchens, als eine Passage durch ein Wurmloch.
enthaltene Information. Nun mussten sie nur noch nachwei- >>Während man das alles mit der Schrödingergleichung
sen, dass die Quantenzustände der Teilsysteme auch wirk- herleiten könnte, gibt es eine viel simplere Erklärung, die
lich verschlüsselt sind - und sie nicht etwa Dekohärenz sich auf Schwarze Löcher beruft<<, so Brown.
hervorgerufen hatten. Dass die kollabierten Sterne tatsächlich mit einer Hand
Dazu teleportierten sie das übrig gebliebene Teilchen von voll gekühlter Ionen zusammenhängen, ist kaum zu glau-
einem Ende der Ionenreihe an das andere und wieder ben. Sollte sich die AdS/CFT-Korrespondenz jedoch als
zurück. Zu Beginn des Versuchs waren alle Teilchenzustän- richtig erweisen, dann wären die Quantensysteme mehr als
de miteinander verschränkt, zu jener Zeit war eine Telepor- das Analogon eines Schwarzen Lochs - sie wären völlig
tation also möglich. Die Störung hat allerdings die Zustände gleichwertig. ~
vermischt - hätte Dekohärenz eingesetzt, wäre daher ein
Teil der Information verschwunden. In diesem Fall könnte QUELLEN
man das Teilchen also nicht teleportieren. Ist die Informati-
Brown, A. R. et al.: Quantum gravity in the lab: Teleportation by
on dagegen noch im System vorhanden, nur eben stark ver- size and traversable wormholes. ArXiv 1911.06314, 2019
mischt, kann der Vorgang allerdings gelingen, da alle
Gao, P. et al.: Traversable wormholes via a double trace defor-
Zustände miteinander verschränkt sind. Tatsächlich gelang mation. Journal of High Energy Physics 151, 2017
es den Forschern, das Ytterbium-Ion in 80 Prozent der Fälle
Landsman, K. A. et al.: Verified quantum information scramb-
erfolgreich zu teleportieren. Dadurch konnten sie erstmals
ling. Nature 567, 2019
eine Quantenverschlüsselung experimentell nachweisen.
Brown und sein Team schlagen nun vor, dass man Yoshida, B., Yao, N. V.: Disentangling scrambling and decohe-
rence via quantum teleportation . Physical Review X 9, 2019
ähnliche quantenmechanische Schaltkreise nutzen könnte,
um ein passierbares Wurmloch nachzustellen, das ein Qubit
von einem Schwarzen Loch in ein anderes teleportiert.
Dabei würden die Schwarzen Löcher aus verschränkten
Ionen bestehen. Anschließend müsste man ein Qubit in Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und redigierte Fas-
sung des Artikels >>Wormholes Reveal a Way to Manipulate Black
eines der Systeme einführen, das dieses verschlüsselt.
Hole Information in the Lab<< aus >>Quanta Magazine«, einem inhalt-
Nach einer gewissen Zeitspanne würde die Information im lich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
zweiten Quantensystem wieder unverschlüsselt auftau- Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den
chen. Dass das Qubit über die Systeme hinweg übertragen Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
wird, ist dabei nicht wirklich überraschend - schließlich • • •
sind die Ionen miteinander gekoppelt. Erstaunlich ist dage- ·:~~ Quanta Illaaazine
• • •

72 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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Im freien Flug überleben kleine Insekten selbst


den Aufprall vergleichsweise schwerer Wasser-
tropfen. Paradoxerweise rettet die Tiere ausge-
rechnet ihr geringes Gewicht.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didal<tik der Physik an der
Universität Münster. Seit 2009 schreibt er für >>Spektrum« über physikalische
Alltagsphänomene.

~~ spektrum .de/artikel/1744800

Wer lauter große Dinge sehen will, Georgia Institute of Technology in Atlanta experimentell
muß sich zu einer Mücke wünschen untersucht und die Ergebnisse 2012 publiziert.
Die Forscher sperrten Mücken in einen Behälter aus
Wilhelm Heinse (1746- 1803) durchsichtigem Plexiglas und setzten sie künstlichem
Regen aus Tropfen mit unterschiedlichen Durchmessern
Eine Mücke hat es nicht einfach. So verrät sie sich und Fallgeschwindigkeiten aus. Dabei verwendeten sie
ihrem Opfer mit einem uns Menschen nur allzu gut Mücl<en der Gattung Anopheles, die mit einer Größe von
bekannten, nervigen Summen. Das kann sie nicht sechs Millimetern relativ klein sind. Sie sind oft in feuch-
verhindern - es ist eine physikalische Konsequenz ihrer ten Klimazonen beheimatet und somit Regenschauer
mit einigen hundert Hertz schlagenden Flügel. Dieses gewohnt. Aber wie genau kommen sie damit klar?
Defizit gleicht sie mit einem guten Reaktionsvermögen Eine Hochgeschwindigkeitskamera zeichnete die
wieder aus, und sie entweicht leicht einer nach ihr schla- Bewegungen der Tropfen und der Mücken sowie deren
genden Hand. Doch zugleich wirken Mücken enorm Wechselwirkungen auf. Kügelchen aus Styropor er-
filigran und verletzlich. So sollten nicht erst Treffer mit gänzten die Experimente. An ihnen konnten die Wissen-
einer Fliegenklatsche tödlich enden, sondern bereits viel schaftler die Zusammenstöße mit den Tropfen und die
kleinere Einwirkungen - etwa aufprallende Wassertrop- dabei ausgetauschten Kräfte systematisch und genau
fen bei Regen. vermessen.
Von solchen Tropfen gehen für die Mücke vor allem
zwei prinzipielle Gefahren aus. Einerseits könnte das Auf winzigen Skalen verleiht
Wasser sie benetzen und ihr Flugverhalten einschränken die Physik Superkräfte
oder sie sogar völlig umschließen. Aber viele Insekten Die dergestalt beobachteten Mücken haben typischer-
haben vorgesorgt und schützen sich durch abweisen- weise eine Masse von etwa zwei Milligramm. Regentrop-
de Härchen und eine spezielle, wachsartige Beschich- fen mit ein bis vier Millimeter Radius wiegen aber etwa
tung. So sind sie sehr gut an feuchte Bedingungen das 2- bis 50-Fache. Zur Veranschaulichung der Kräfte-
angepasst. Die Vorsorge gegen Nebel und Regen wirkt verhältnisse zogen die Autoren die missliche Situation
übrigens teilweise sogar gegen Insektizide: Die Giftstoffe einer Person heran, die unter dem Rad eines Busses liegt:
müssen zu weniger als 20 Mikrometer kleinen Tropfen >>Die Folgen so eines Szenarios deuten darauf hin, dass
zerstäubt werden, damit sie haften bleiben und nicht Mücken den Aufprall eines Regentropfens nicht überle-
auf Grund ihrer Schwere und der geringen Kontaktfläche ben sollten.<<
abgleiten. So eindrucksvoll der Vergleich scheint - er hinkt.
Andererseits könnte man erwarten, dass bereits der Entscheidend für die Einwirkung eines Gewichts auf
Zusammenprall an sich bedrohlich ist. Immerhin ist die einen Körper (ob Mücke oder Mensch) ist der mechani-
Masse von Regentropfen meist sehr viel größer als die sche Druck, also die Kraft pro Kontaktfläche. Die Ge-
einer Mücl<e. Dieses Problem haben Wissenschaftler des wichtskraft ist proportional zur Masse und damit zum

74 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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Eine Mücke, die sich bei Niederschlag an eine unge- nach unten mitgerissen, bevor sie sich befreiten und
schützte Stelle setzt, begibt sich in größere Gefahr als äußerlich unbeeindruckt weiterflogen.
eine, die einfach weiterfliegt. Auf Grund ihrer geringen Masse besitzt eine Mücke
beim Aufprall ein entsprechend niedriges Beharrungsver-
mögen - der vergleichsweise schwere Tropfen bringt sie
Volumen des jeweiligen Objekts. Sie verändert sich grob sehr schnell auf einer kurzen Beschleunigungsstrecke auf
gesehen mit der dritten Potenz des Radius r, also wie r3. seine Fallgeschwindigkeit. Dabei verformt sich der Insek-
Die Kontaktfläche variiert allerdings nur mit dem Quadrat tenkörper nur minimal. Dementsprechend ist auch die
r2. Das heißt, im Quotienten bleibt r übrig, der Druck Reaktionskraft auf den Tropfen sehr l<lein, und dieser
nimmt also näherungsweise mit der l(örpergröße zu. Die setzt fast ungebremst seinen Weg fort.
Mücke ist etwa 300-mal kleiner als der Mensch, darum Insofern hat der Zusammenprall mit einem Regentrop-
ist auch der Druck zirl<a 300-mal geringer. Rein mecha- fen einen ähnlichen Effekt wie lokale Turbulenzen der
nisch dürfte die Mücke durch einen auf ihr liegenden Luft. Sie beeinträchtigen zwar den stabilen Flug; wie man
Wassertropfen kaum in Schwierigkeiten geraten. jedoch aus Untersuchungen an anderen Insekten weiß,
Anders sieht es aus, wenn ein schnell fallender Tropfen bewältigen die Tiere selbst starke Störungen innerhalb
die Mücke trifft, während sie auf einem festen Unter- kürzester Zeit durch korrigierende Flügelschläge. Jeden-
grund wie einem Ast sitzt. Bei einem Tropfen, der so groß falls fliegt die Mücke bald nach der unfreiwilligen Mitnah-
ist wie sie, ist sie den Berechnungen der Wissenschaftler me wieder ihres Weges, als wäre nichts gewesen. Ver-
zufolge rund dem 10 000-Fachen der eigenen Gewichts- mutlich hilft ihr zudem die bereits erwähnte Wasser
kraft ausgesetzt. Dem hat sie kaum etwas entgegenzu- abweisende Behaarung dabei, sich gewissermaßen
setzen. seitlich über den Tropfen abzurollen, ohne an ihm l<leben
Regen kann also durchaus bedrohlich sein, allerdings zu bleiben.
nicht im Flug. Bei den Mücken in der Versuchsbox zeigte Mücken überleben Treffer von vergleichsweise schwe-
sich nämlich: Wenn sich das Insekt genügend weit von ren Wassertropfen also nicht deswegen unbeschadet,
einer festen Unterlage entfernt befindet, entkommt es der weil sie besonders robust wären, sondern einzig dank
Situation. ihrer geringen Masse. Menschlichen Beobachtern impo-
Die Forscher konnten die Tropfen mit einer Pumpe bis niert die scheinbare Widerstandsfähigkeit, weil unsere
auf neun Meter pro Sel<unde beschleunigen. Das ent- Anschauung von Vorgängen in einem ganz anderen
spricht etwa der Endgeschwindigkeit bei natürlichem Größenordnungsbereich geprägt wird.
Niederschlag. Selbst dann gingen die Mücken in allen Fäl-
len unversehrt aus den Zusammenstößen hervor. Bei
Streifschüssen taumelten sie kurzfristig, fingen sich aber QUELLE
schnell wieder. Nach einem Volltreffer blieben sie am Dickerson, A. K. et al: Mosquitoes survive raindrop collisions
Tropfen hängen und wurden bis zu 20 Körperlängen weit by virtue of their low mass. PNAS 1205446109, 2012

Spektrum der Wissenschaft 8.20 75


Theorien gerecht werden. Schließlich hat sich das Rampen- Technik oft kaum noch etwas zu tun. Viele Apparate ent-
licht inzwischen von Lokomotiven und Hochöfen auf Mo- halten heute komplizierte Bauteile, die mit Hilfe der Quanten-
toren im Nanobereich verlagert, auf winzige Schaltkreise theorie beschrieben werden, also der Physik der Atome,
und Systeme aus einzelnen, präzise gesteuerten Teilchen. Elektronen und weiterer Grundbestandteile der Materie.
Wir untersuchen, wie sich traditionelle thermodynamische Diese winzigen Partikel verhalten sich auf eine Art, die
Konzepte auf diese Quantenwelt anwenden lassen. größeren Objekten völlig fremd ist. Beispielsweise gibt es im
Als sich im 19. Jahrhundert Dampfmaschinen verbreite- Quantenreich die Verschränkung. Sie verbindet selbst über

ten, drehten sich die Uberlegungen noch um praktische große Entfernungen die Zustände zweier Teilchen miteinan-
Erwägungen, beispielsweise wie effizient Pumpen Wasser der. Mit Hilfe solcher Phänomene lassen sich Informationen
aus Minen herausbefördern könnten. Die Thermodynamik auf eine Weise verarbeiten, die klassisch nicht möglich ist.
berührt inzwischen allerdings zusätzlich fundamentale Quantensysteme können bessere Berechnungen durch-
physikalische Fragen. So ziehen Theoretiker bei der Suche führen und mit Daten effizienter umgehen. Der Bereich
nach einer Erklärung dafür, dass die Zeit nur in eine Rich- der Physil<, der sich damit beschäftigt, heißt Quanteninfor-
tung fließt, häufig das wichtige Konzept der Entropie heran. mationstheorie. Sie liefert einen nützlichen mathematischen
Die Thermodynamik beschreibt Systeme aus enorm Werkzeugkasten für den Versuch, die Thermodynamik mit
vielen Teilchen, etwa Wasserdampf, im Hinblick auf entspre- der Quantenmechanik zu verschmelzen. Denn in beiden
chend großskalige Eigenschaften wie Temperatur, Druck, Bereichen spielt die Information eine große Rolle - und
Volumen und Energie. Letztere lässt sich wiederum in zwei deren Abwesenheit, die Unsicherheit. Sowohl Informations-
Größen aufteilen: Arbeit und Wärme. Arbeit ist sozusagen theoretiker als auch Thermodynamiker messen Unwissen-
geordnet und kann Parameter wie das Volumen verändern heit mit Entropie.
oder etwas bewegen. Wärme hingegen entspricht der
zufälligen, nicht gerichteten Bewegung von Teilchen. Viktorianisches Wissen trifft
Der Begriff der Entropie gibt uns eine Handhabe für auf Quanteninformation
dieses Durcheinander. Im Prinzip hat zu einem gewissen Ein Beispiel, bei dem schon heute beide Bereiche zum
Zeitpunkt jedes Teilchen in einem Dampfkessel eine Posi- Tragen kommen, sind Quantencomputer. Viele Unternehmen
tion und einen Impuls (die Masse des Teilchens mal seine arbeiten intensiv an solchen Maschinen, die in Zukunft
Geschwindigkeit). Die Menge aller Orte und Impulse der gewisse Verschlüsselungen knacl<en würden und mit denen
Teilchen heißt Mikrozustand. Wir können den Mikrozustand sich bestimmte Materialien viel besser modellieren ließen als
aber gar nicht genau kennen, da der Behälter eine unfass- mit klassischen Rechnern. Die meisten Quantencomputer
bare Menge von Teilchen enthält. Stattdessen berechnen müssen auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunl<t
Physiker die diversen Wahrscheinlichkeiten für diese oder gekühlt werden. Es wird also Wärme abgeführt - eine ther-
jene Mil<rozustände. Die Entropie quantifiziert quasi die modynamische Größe.
Unsicherheit dabei: Je mehr gleichwertige Mikrozustände Bestrebungen, thermodynamische Konzepte auf Quanten-
es gibt, die alle zu den beobachteten Eigenschaften des systeme anzuwenden, gehen auf die Mitte des 20. Jahrhun-
Gesamtsystems führen würden, desto größer ist die Entro- derts zurück. Seinerzeit entwickelten etwa die Physiker
pie. Gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Joseph Geusic, Erich Otto Schulz-Du Bois und Derrick Scovil
nimmt die Entropie eines abgeschlossenen Systems nie ab. das Konzept des Masers, eine Quantenmaschine für den
Dampfmaschinen, die für die klassische Thermodynamik Bereich der Mikrowellenstrahlung und Vorläufer des heute
von zentraler Bedeutung sind, haben mit der modernen allgemein bekannten Lasers. 1988 gelang Seth Lloyd an der
New Yorker Rockefeller University mit seiner Doktorarbeit
>>Black Holes, Demons, and the Loss of Coherence<< (Schwar-
ze Löcher, Dämonen und der Kohärenzverlust) eine bahn-
AUF EINEN BLICK brechende Untersuchung darüber, wie sich Information in
komplexen Systemen verhält. In ihr finden sich bereits viele
ZWISCHEN GASGESETZ •• wichtige Ideen für das Gebiet der Quanten-Thermodynamik .
UND OUANTENVERSCHRANKUNG Das Konzept der Entropie ist keinesfalls einheitlich. In
Wirklichkeit existieren viele Arten von Entropie in auf ver-
Die Thermodynamik beschäftigt sich mit statistischen
schiedene Situationen maßgeschneiderter mathematischer
Regeln für unüberblickbar viele Teilchen . Die Quanten-
Form. Die bekanntesten Varianten wurden im 19. Jahrhun-
mechanik hingegen hantiert mit einzelnen Objekten.
dert von Ludwig Boltzmann und Josiah Willard Gibbs für die
Trotz solcher Unterschiede suchen Theoretiker nach Thermodynamik eingeführt, 1948 von Claude Shannon von
Gemeinsamkeiten und erzielen erste Erfolge dabei, die den Bell Telephone Labs für die Informationstheorie und
Disziplinen miteinander zu verschmelzen . 1932 vom theoretischen Physiker John von Neumann für die
Quanteninformationstheorie. Diese Entropien liefern nicht
Beispielsweise haben Forscher ein Konzept für einen bloß ein Maß für Unsicherheit. Sie quantifizieren die Effizienz
Motor ausgearbeitet, der auf der Skala von Atomen und von Aufgaben aller Art, von der Datenkompression bis zum
auf Basis von Quantenphänomenen arbeitet. Antrieb von Maschinen.
Eine unserer Schlüsselaufgaben im Quanten-Steampunk
ist es, neue Entropiefunktionen für kleinskalige Quantensys-

78 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Entwurf eines Quantenmotors
Das Gebiet der Thermodynamik ist eng mit dem Siegeszug von Wärmel<raftmaschinen verl<nüpft. Inzwischen
übertragen Physiker die theoretischen Konzepte auf die Quantenskala und entwickeln Maschinen, die sich
Phänomene des Mikrokosmos zu Nutze machen. Ein Beispiel dafür ist das MBL-Mobil. Es funktioniert auf Basis
der so genannten Vielteilchen-Lokalisierung (kurz MBL für many-body localization}, einem speziellen quanten-
mechanischen Effekt. Es durchläuft Zyklen, die denen eines klassischen Verbrennungsmotors ähneln, und
koppelt dabei die Temperatur der Umgebung an eine Bewegung seiner Bestandteile.

Verbrennungsmotor MBL-Mobil
Der Motor eines Autos erzeugt in einem vierstufigen Auch der Zyklus des Quantenmotors ist vierstufig. In der ersten Phase, der
Prozess mechanische Energie: Im ersten Takt saugt Vielteilchen-Lokalisierung, befinden sich die Atome in einer kühlen Umgebung in
er kalte Luft an, zudem wird Kraftstoff eingespritzt. Gebieten mit stark unterschiedlichen.. Energien. Das hält sie weitgehend auf ihren
Anschließend verdichtet die Bewegung des Kolbens Plätzen. Dann steuern Laser einen Ubergang in eine Phase, in der die Energie-
das Gemisch. Im Arbeitstakt wird es gezündet, unterschiede geringer sind und die Atome sich bewegen können. Sie ändern daher
woraufhin es sich ausdehnt und den Kolben während dieser Thermalisierung ihre Positionen, und der Motor nimmt Wärme
beschleunigt. Zuletzt werden die heiße Luft und die aus der Umgebung auf. Anschließend
.. bringen die Laser das System zurück in die
Verbrennungsprodukte ausgestoßen. MBL-Phase. Während der Ubergänge leistet der Motor Arbeit.

Ansaugen MBL-Phase
Umgebung mit
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teme zu formulieren. Angenommen, wir versuchen, mittels Es gibt noch einen dritten Schwerpunkt unserer Bemü-
Verschränl<ung Informationen auszutauschen. Wir l<önnten hungen. Er betrifft die Herleitung von Gleichungen, die als
dann fragen: Gibt es eine theoretische Grenze dafür, wie gut Fluktuationsbeziehungen bezeichnet werden. Diese erwei-
das funktionieren kann? Die Antwort wird vermutlich eine tern den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, also die
spezielle Art von Entropie erfordern. Aussage, dass die Entropie in einem isolierten System nicht
Als weiteres Ziel haben wir den Aufbau dessen, was abnehmen kann. Fluktuationsbeziehungen betreffen kleine
Wissenschaftler Ressourcentheorien nennen. Diese drehen Systeme, die starl<en Kräften ausgesetzt sind, und sagen
sich um die Fähigkeiten und Einschränkungen, mit denen etwas über die von ihnen geleistete Arbeit aus.
wir arbeiten. Zum Beispiel setzt uns der erste Hauptsatz der 1996 leitete Christopher Jarzynski, der jetzt an der Uni-
Thermodynamik bezüglich der Energie strenge Grenzen: versity of Maryland arbeitet, eine der wichtigsten Fluktua-
Wir können sie weder erzeugen noch zerstören, sondern tionsbeziehungen her. Experimentalphysiker bestimmen
nur umwandeln. Mit einer Ressourcentheorie lässt sich eine mit der Jarzynski-Gleichung eine thermodynamische Eigen-
Situation mit einer gewissen Beschränkung mathematisch schaft ganz bestimmter Systeme. Ein Beispiel dafür ist ein
modellieren, etwa eine Umgebung mit einer festen Tempe- im Wasser schwimmender DNA-Strang, der die gleiche
ratur, und die effizienteste Art berechnen, auf die eine Temperatur wie seine Umgebung hat. Der Strang verfügt
Aufgabe erledigt werden kann. Typischerweise ist die über so genannte freie Energie - im Grunde die Energie, mit
Effizienz eine Funktion der Entropie. der er Arbeit verrichten kann. Mit Hilfe von Lasern können

Spektrum der Wissenschaft 8.20 79


Wissenschaftler ein Ende des Strangs festhalten und am ten und dient als Ressource für thermodynamische Aufga-
anderen ziehen. Nachdem sie das Erbgutstück eine Zeit ben. Ein herkömmliches Analogon sind Verbrennungsmoto-
lang spannen, schnellt es zurück und nimmt allmählich ren in Autos. Sie sind auf das Nebeneinander von heißen
wieder die Temperatur der Lösung an. Infolge der Störung und kalten Bereichen angewiesen. Die benachbarten Fluide
durch das Auseinanderziehen wird der Strang nun im befinden sich nicht im thermischen Gleichgewicht, da die
Allgemeinen eine andere Menge an freier Energie haben als heißen Teilchen in einem Bereich und die kalten in einem
vorher. Der Unterschied ist in der Chemie, Pharmakologie anderen sind - keines wandert frei durch den gesamten
••

und Biologie bedeutsam. Experimentatoren können die Raum. Ahnlich, wie sich ein Automotor die Athermalität
Differenz näherungsweise ermitteln, indem sie den Strang seiner Betriebsstoffe zu Nutze macht, setzen meine Kollegen
immer wieder strecl<en, die dafür erforderliche Arbeit und ich bei der M BL auf den gleichen Effekt. Wir nennen
messen und die Daten in die Jarzynsl<i-Gleichung einfügen. unsere Konstrul<tion das MBL-Mobil (siehe >>Entwurf eines
Wie viele Versuche sind für ein gutes Ergebnis nötig? Quantenmotors<<, S. 79).
Gemeinsam mit Christopher Jarzynski habe ich die Min- Ein Verbrennungsmotor durchläuft vier Schritte in einem
destanzahl von Experimenten berechnet, die man durchfüh- Zyklus, bei dem Wärme von der heißen zur kalten Seite
ren muss, um die Differenz der freien Energie mit einer geschaufelt wird und dadurch die Energie für den Antrieb
gewissen Genauigkeit abzuschätzen. Dazu nutzten wir eine liefert. Am Ende des Kreislaufs kehrt der Motor in seinen
auf die kleine Skala des Systems zugeschnittene Informa- Ausgangszustand zurück. Auch das MBL-Mobil durchläuft
tionstheorie. In weiteren Arbeiten zeigten meine Kollegen einen Vier-Stufen-Zyklus. Dabei überführen wir die Atome
und ich: Fluktuationsbeziehungen und neuartige Entropie- von einer thermischen Phase, in der sich die Teilchen im
funktionen eignen sich in diesen Dimensionen grundsätz- Raum gut ausbreiten können, in den Zustand der Vielteil-
lich als l<onsistente thermodynamische Ansätze - und jeder chen-Lol<alisierung und zurück. Für diesen Schritt verändern
lässt sich aus dem jeweils anderen herleiten. wir die energetische Umgebung der Teilchen von einer
relativ flachen und gut passierbaren zu einer zerklüfteten
Atom für Atom zum quantenmechanischen und schwer überwindlichen Landschaft. Das geschieht
Viertaktmotor durch Einstellungen an den kontrollierenden Lasern. Vor
So wie die traditionelle Thermodynamik zur Entwicklung jedem Umschalten tauscht der Motor Wärme mit einer
von Dampfmaschinen beigetragen hat, können unsere äußeren Umgebung aus. Diese ist heiß, wenn er sich in
Bemühungen dabei helfen, Quantenmaschinen zu konstru- seiner thermischen Phase befindet, und kalt während sei-
ieren. Im Werkzeugkasten der Quantenphysik befinden sich ner MBL-Phase. Zusammengefasst sind die vier Schritte:
heute bereits verschiedenste Bauteile auf Basis etwa von 1. Wärmeaustausch mit einem heißen Medium in der ther-
••
Photonen (Lichtteilchen), Elektronen und supraleitenden mischen Phase, 2. Ubergang in die MBL-Phase, 3. Wärme-
••

Schaltkreisen, in denen Strom widerstandsfrei fließt. Lässt austausch mit einem kalten Medium und 4. Ubergang
sich damit so etwas wie ein Quantenmotor entwerfen? zurücl< in die thermische Phase.
Dazu habe ich mich mit Christopher D. White von der
University of Maryland, Sarang Gopalakrishnan von der City Zwischen Kolibakterium
University of New York und Gil Refael vom California Insti- und Kleinwagen
tute of Technology zusammengetan. Wir sind allesamt Wie gut funktioniert das MBL-Mobil? Um die Frage zu be-
Theoretiker, und als solche haben wir den Motor zunächst antworten, haben wir die Effizienz des Motors berechnet
als Gedankenexperiment konzipiert. Aber wir umreißen und mit anderen verglichen. Einige Bakterien nutzen zur
darüber hinaus, wie Wissenschaftler mit den Quantenwerk- Fortbewegung zum Beispiel Flagellen oder Geißeln genann-
zeugen in ihren Laboren echte Ausführungen des Motors te, lange, fadenförmige Gebilde, die wie von einem Motor
bauen könnten. Dazu würden sie beispielsweise gekühlte gedreht werden. Das MBL-Mobil kann unseren Berechnun-
Atome mit Lasern einfangen und manipulieren. gen zufolge etwa die zehnfache Leistung des Geißelantriebs
Herzstück unserer Konstruktion ist eine besondere erbringen. Am anderen Ende der Skala liegt der Vergleich
quantenmechanische Phase der Materie, die so genannte mit dem Motor eines Autos: Die Leistungsdichte, das heißt
Vielteilchen-Lokalisierung (MBL, many-body localization). die Leistung pro Volumeneinheit, ist bei einem Automotor
Hier befinden sich einander gegenseitig abstoßende Teil- schätzungsweise zehnmal so hoch.
chen in einer Umgebung, die aus energetischer Sicht keine Die Vielteilchen-Lokalisierung bringt dem Motor mehrere
ebenmäßige Landschaft ist, sondern rau und von Potenzial- prinzipielle Vorteile. Er kann jede Größe haben, von zehn
gebirgen geprägt. Ein wesentliches Element eines MBL- Teilchen bis zu beliebig vielen. Dazu braucht man nur diverse
Systems ist seine Athermalität: Es befindet sich nicht im Kopien eines Exemplars mit wenigen Teilchen und betreibt
thermischen Gleichgewicht. In diesem erkunden die Teil- sie dann nebeneinander. Bei einem thermischen Verhalten
chen den ihnen zugänglichen Raum schnell und auf zufälli- würden sich die Motoren gegenseitig stören, weil Teilchen
ge Weise. So stellen sich etwa bei Dampf nach einiger Zeit aus einem davon in einen anderen gelangen würden. Vielteil-
recht stabile großskalige Eigenschaften wie Temperatur chen-Lol<alisierung stellt sicher, dass alles, was in einem
und Volumen ein. Minimotor passiert, dort bleibt. So kann man in der Gesamt-
Im Gegensatz zu den Dampfbestandteilen verharren konstruktion viele von ihnen dicht nebeneinanderpacl<en.
MBL-Teilchen jedoch eher in einem Bereich und bewegen Das verschafft dem MBL-Mobil eine hohe Leistungsdichte.
sich wenig. Das thermische Ungleichgewicht bleibt erhal- Ein weiterer Vorteil kommt zum Tragen, wenn man den

80 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


Motor sehr oft laufen lässt. Bei einigen Versuchen leistet er in einem Magnetfeld. Dennoch sind die meisten Quanten-
Arbeit. Allerdings nicht immer gleich viel, sondern auf Steampunk-Arbeiten vorerst theoretisch. Aber so, wie die
statistisch verteilte Weise - und bei manchen Versuchen Entwicklung der Thermodynamik die industrielle Revolution
wird der Motor sogar Arbeit aufnehmen und das Gegenteil mit vorangetrieben hat, wird es auch hier praktische Erfin-
••
von dem tun, was er sollte. Das passiert durch die Ubergän- dungen geben. Freilich im kleineren Maßstab: molekulare
ge zwischen der MBL- und der thermischen Phase seltener, Schalter, Wärme ableitende Transistoren und ähnliche
als wenn man den Motor nur innerhalb der MBL-Phase Technologien, die eng mit der Thermodynamik verbunden
laufen ließe. Man kann die Zuverlässigkeit des Motors sind, werden die Richtung weisen.
außerdem erhöhen, wenn man die Vielteilchen-Lokalisie- Die große Herausforderung ist es zunächst, die noch
rung geschickt nutzt. Dann variiert zwischen einzelnen sehr unterschiedlichen Konzepte rund um neuartige
erfolgreichen Versuchen die geleistete Arbeit weniger stark. Entropien, Ressourcentheorien, Fluktuationsbeziehungen,
Unser erfolgreiches Gedankenexperiment zum M BL- Quantenmaschinen und mehr zu vereinheitlichen. Daran
Mobil lässt verschiedene Anwendungen möglich erschei- arbeiten derzeit Forscher auf der ganzen Welt. Erst aufein-
nen. Man könnte beispielsweise den Zyklus umkehren und ander abgestimmte Definitionen und Ergebnisse werden
den Motor als Kältemaschine betreiben, die Wärme aus die Theorie der Quanten-Thermodynamik festigen. Unter-
einer bereits kalten Umgebung abführt und an eine wärme- dessen behält das Zusammentreffen von Alt und Neu
re abgibt. Vielteilchen-Quantensysteme müssen auf niedri- den Hauch von Schmieröl und Abenteuer, der am Anfang
ger Temperatur gehalten werden, damit man von charakte- tief greifender Veränderungen steht - und statt eines
ristischen Eigenschaften wie der Verschränkung profitieren Wissenschaftsmagazins genauso gut einen Roman von
kann. Darüber hinaus haben Wissenschaftler bereits Kon- H. G. Wells oder Jules Verne ausschmücken könnte. ~
zepte dazu ausgearbeitet, wie Vielteilchen-Lokalisierung zur
Energiespeicherung dienen könnte. In der Materialwissen-
schaft dürfte es für den mathematisch-physikalischen QUELLEN
Werkzeugkasten an der Schnittstelle von Quantentheorie, Yunger Halpern, N. et al.: Quantum engine based on many-
Informationstheorie und Thermodynamik noch zahlreiche body localization. Physical Review B 99, 2019
weitere Einsatzmöglichkeiten geben. Yunger Halpern, N., Jarzynski, C.: Number of trials required
Im Labor untersuchen wir Ansätze für reale Versionen to estimate a free -energy difference, using fluctuation relations.
des MBL-Mobils auf Basis von supraleitenden Quantenbits Physical Review E 93, 2016

Alle
Sonderhefte
auch im
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AUF EINEN BLICK ••
ERSTAUNLICHE ZUSAMMENHANGE
Ende der 1960er Jahre vermutete Robert Langlands
eine Verbindung zwischen zwei Gebieten der
Mathematik, die auf den ersten Blick grundverschieden
wirken - und verblüffte damit die Fachwelt.

Indem Andrew Wiles 20 Jahre später einen Teil dieser


Vermutung belegte, löste er gleichzeitig ein
jahrhundertealtes Rätsel: Fermats großen Satz.

Nun haben Forscher bedeutende Fortschritte beim so


genannten Langlands-Programm gemacht, die
zum Beweis einer allgemeineren Version von Fermats
großem Satz führen könnten.
Nun haben mehr als ein Dutzend Mathematiker in einer Auf der anderen Seite der Langlands-Korrespondenz
für das Fachgebiet ungewöhnlich großen Zusammenarbeit leben so genannte automorphe Formen. Man kann sich
einen Ausweg gefunden. Ihre Ergebnisse l<önnten dabei diese Objekte als verallgemeinerte periodische Funl<tionen
helfen, Fermats großen Satz zu erweitern, indem man ihn vorstellen. Während gewöhnliche Funktionen wie eine
für Zahlensysteme jenseits der natürlichen Zahlen beweist. Sinusfunktion Zahlen anderen Zahlen zuordnen, weisen
>>Es wurden grundlegende mathematische Phänomene automorphe Formen auch komplizierteren mathemati-
aufgedeckt, die wir gerade erst anfangen zu verstehen<<, schen Strukturen Zahlenwerte zu. Um sie grafisch abzubil-
sagt Matthew Emerton von der University of Chicago. den, kann man sie durch symmetrische Färbungen be-
Das Langlands-Programm zielt darauf ab, zwei Bereiche stimmter geometrischer Kachelungen darstellen. Wiles
zu verbinden, die kaum unterschiedlicher sein könnten. untersuchte beispielsweise automorphe Formen, deren
Auf der einen Seite geht es um die so ziemlich einfachsten Kachelungen den berühmten Mosaiken des niederländi-
mathematischen Ausdrücke, die man sich vorstellen kann. schen Künstlers M. C. Escher ähneln: mit Fischen oder
Diese so genannten diophantischen Gleichungen kombinie- Engeln und Teufeln gefüllte Scheiben, deren Symbole zum
ren Variablen, Exponenten und Koeffizienten zu simplen Rand hin immer kleiner werden. Geht man über die Arbeit
Polynomen wie y =x + 6x + 8 oder x + y = z . Wählt
2 3 3 3
von Wiles hinaus, könnten die l<achelungen im weiteren
man die Variablen aus einem Pool reeller Zahlen, kann man Langlands-Universum auch höherdimensionale Räume
die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten schnell angeben. füllen, etwa dreidimensionale Kugeln.
Lässt man dagegen nur natürliche oder ganze Zahlen zu,
wird es kompliziert. Ein junges Genie voller
Im antiken Griechenland fanden Gelehrte ganzzahlige Selbstzweifel
Lösungen für diophantische Gleichungen, die bloß aus zwei Auf den ersten Blick ist es schwer vorstellbar, dass die
Variablen bestehen und deren Exponenten kleiner als drei simplen diophantischen Gleichungen mit automorphen
sind. Andere Fälle wie elliptische Kurven, die y 2 und Terme Formen zusammenhängen. Doch Mitte des 20. Jahrhun-
dritter Potenz aufweisen, etwa y 2 = x 3 + 4x, sind schwieri- derts begannen Mathematiker, tief greifende Beziehungen
ger zu behandeln. Seit Jahrtausenden suchen Mathemati- zwischen ihnen aufzudecken. Zu Weihnachten 1966 ver-
ker nach geeigneten Kombinationen natürlicher Zahlen, die fasste der damals erst 30-jährige US-amerikanisch-kanadi-
diophantische Gleichungen erfüllen. In erster Linie treibt sie sche Mathematiker Robert Langlands einen 17-seitigen
dabei die wissenschaftliche Neugier an, aber einige kürzlich Brief an seinen renommierten französischen Kollegen
erschienene Arbeiten aus dem Bereich haben unvorherge- Andre Weil (1906-1998}, in dem er einige seiner neuesten
sehene Anwendungen in der Kryptografie. Ideen darlegte. Voller Selbstzweifel schrieb er darin:
>>Wenn Sie bereit sind, meine Erkenntnisse als reine Spe-
kulation zu betrachten, wäre ich Ihnen danl<bar. Wenn
nicht, bin ich sicher, dass Sie einen Papierkorb zur Hand
Kurz erklärt: haben.<< Seine damalige Vermutung, dass diophantische
Uhrzeit-Arithmetik Gleichungen und automorphe Formen zusammenhängen,
entwickelte sich zu einem der bedeutendsten modernen
Bereits in der Grundschule lernen wir, Zahlen zu mathematischen Forschungsprojekte: Weil ließ Langlands'
addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren und zu Brief abtippen und verteilte ihn unter anderen Mathemati-
dividieren. In der höheren Mathematik erweist es kern, wodurch das so genannte Langlands-Programm
sich oftmals als nützlich, über diese gewöhnliche entstand, bei dem es darum geht, die Ideen Langlands' zu
Arithmetik hinauszugehen. Zum Beispiel kann man beweisen.
sich so genannten modularen Systemen zuwen- Einige Forscher erkannten, dass man sowohl aus dio-
den, die ähnliche Rechenregeln befolgen wie eine phantischen Gleichungen als auch aus automorphen
Uhr: Statt über unendlich viele Zahlen zu verfügen, Formen unendliche Zahlenfolgen erzeugen kann. Lässt
gibt es eine festgelegte größte Zahl n. Möchte man man für die Variablen diophantischer Gleichungen zum
zwei Zahlen in diesem System addieren und würde Beispiel nicht bloß natürliche Zahlen zu, sondern nutzt
dadurch gemäß den gewöhnlichen Rechenregeln andere Zahlensysteme, dann verändert sich die Anzahl der
eine Zahl N erhalten, die größer ist als n, dann teilt möglichen Lösungen. Indem man diese Anzahl für ver-
man N durch n und nimmt den ganzzahligen Rest schiedene Zahlensysteme berechnet, entsteht eine unend-
als Ergebnis. Im Fall einer gewöhnlichen Uhr ist liche Zahlenfolge auf der diophantischen Seite. Automor-
n = 12. Möchte man wissen, wie spät es ist, wenn phe Formen lassen sich dagegen durch die Werkzeuge der
nach elf Uhr drei Stunden vergehen, dann rechnet so genannten harmonischen Analysis in eine Summe
man: 11 + 3 = 14; 14 : 12 = 1 mit Rest 2; demnach zerlegen. Auf diese Weise erhält man für eine automorphe
ist es dann zwei Uhr. Derartige arithmetische Form eine unendlich lange Reihe, deren Vorfaktoren
Systeme lassen sich für beliebigen entwickeln. ebenfalls eine Zahlenfolge bilden.
Besonders interessant sind aber meist die Fälle, Als sich Langlands diophantischen Gleichungen widme-
bei denen n eine Primzahl ist. te, betrachtete er deren Lösungen für Zahlen mit einer so
genannten Uhrzeit-Arithmetik (siehe >>Kurz erklärt<<, links}.
Solche Zahlensysteme sind gewissermaßen periodisch,

84 Spektrum der Wissenschaft 8.20


Die Lösungen diophantischer Gleichungen (links) und Fermats großer Satz war bei Weitem nicht die einzige
automorphe Formen (rechts) hängen überraschender- Entdecl<ung, auf die man beim Langlands-Programm stieß.

weise zusammen. Einigen Fachleuten gelang es beispielsweise, die so genann-
te Sato-Tate-Vermutung zu beweisen. Dabei handelt es sich
um eine Hypothese des japanischen Mathematil<ers Mikio
wie eine Uhr: Im üblichen Zwölf-Stunden-Takt ergeben sich Satö und seines US-amerikanischen Kollegen John Tate aus
Berechnungen wie 10 + 4 = 2. Statt der Zwölf als Basis dem Jahr 1960, wonach die statistische Verteilung der
fokussierte sich Langlands auf Systeme, deren Periodizität Anzahl von Lösungen einer elliptischen Kurve mit den
durch eine Primzahl festgelegt ist (zum Beispiel drei, wo- Vorfaktoren gewisser automorpher Formen zusammen-
durch man Berechnungen der Form 2 + 2 = 1 erhält). Er hängt.
erkannte, dass die Folge, die sich aus der jeweiligen Anzahl Nachdem Wiles und Taylor ihre Ergebnisse veröffentlicht
der Lösungen ergibt, mit den Vorfaktoren automorpher hatten, erkannten Zahlentheoretiker, dass die beiden Wis-
Formen zusammenhängt, wenn man diese in eine unendli- senschaftler ihre Methode noch nicht voll ausgeschöpft
che Reihe zerlegt. Damit gäbe es zu jeder diophantischen hatten. Bald stellte sich heraus, wie man den Ansatz auf
Gleichung eine entsprechende automorphe Form und andere elliptische Kurven ausdehnen kann. Nach einigen
umgekehrt. Dass die beiden Bereiche derart zusammenpas- Jahren gelang es sogar, die Ergebnisse für Koeffizienten mit
sen, verwundert noch heute viele Fachleute. >>Für mich einfachen irrationalen Zahlen wie 3 + .J2 zu erweitern.
wirl<t es immer wieder unglaublich, auch wenn ich mich
seit über 20 Jahren damit beschäftige<<, sagt Emerton. Ein neuer Ansatz muss her
Bereits Ende der 1960er Jahre konnten Mathematiker Allerdings ließ sich die Taylor-Wiles-Methode nicht auf
einige dieser Verbindungen beweisen: Sie fanden heraus, elliptische Kurven verallgemeinern, deren Koeffizienten
wie man von bestimmten automorphen Formen ausgehend komplexe Zahlen wie i (die Quadratwurzel aus -1) enthalten.
die passenden elliptischen Kurven mit rationalen Koeffizien- Ebenso wenig war es damit möglich, mit diophantischen
ten findet. Doch wie und ob das auch in umgekehrter Gleichungen umzugehen, deren Exponenten größer als 4
Richtung funktionierte, war lange Zeit unklar. In den 1990er sind. In diesen Fällen bricht der Ansatz zusammen. Allmäh-
Jahren entwickelte Wiles mit den Beiträgen seines Kollegen lich erkannten Mathematiker, dass man die Langlands-
Taylor einen Weg, um einer bestimmten Familie elliptischer Korrespondenz nicht mehr durch bloßes Anpassen der
Kurven die entsprechenden automorphen Formen zuzuord- Taylor-Wiles-Methode erweitern konnte. Sie schienen auf
nen. Durch dieses Ergebnis bewies er außerdem Fermats grundlegende Hindernisse gestoßen zu sein, die neue Ideen
großen Satz. Denn Mathematiker hatten zuvor gezeigt, dass erforderten.
mindestens eine dieser elliptischen Kurven keine passende Taylor und Wiles fanden die passende automorphe Form
automorphe Form besäße, wenn Fermats Behauptung für eine diophantische Gleichung, indem sie diese nach und
falsch wäre. nach durch andere automorphe Formen annäherten. Wenn
die Koeffizienten der diophantischen Gleichung aber kom-
plexe Zahlen enthalten oder der Exponent größer als 4 ist,
gibt es kaum noch geeignete automorphe Formen. Tatsäch-
>>Für mich wirl<t es immer lich tauchen sie in diesen Fällen so selten auf, dass eine
Näherung nicht mehr möglich ist. Schon bei den diophanti-
noch unglaublich, auch schen Gleichungen, mit denen Wiles arbeitete, war es
wenn ich mich seit 20 Jahren schwer, genügend automorphe Formen zu finden. Wenn
aber komplexe Koeffizienten oder höhere Exponenten im
damit beschäftige<< Matthew Emerton Spiel sind, scheint die Suche vollkommen vergebens.

Spektrum der Wissenschaft 8.20 85


deckte. Aber dafür musste man ihren Verdacht erst be-
weisen. Dieser basierte wiederum auf drei weiteren Ver-
Glossar mutungen, die noch nicht belegt waren. Calegari erinnert
sich: >>Es war, als ob meine Arbeit mit Geraghty erkläre,
Diophantische Gleichungen gehören zu den wie man zum Mond gelangt - vorausgesetzt, jemand
augenscheinlich einfachsten Objekten der Mathe- würde zuvor ein Raumschiff, Raketentreibstoff und Raum-
matik. Dabei handelt es sich um Polynome, die anzüge liefern.<<
man zu Gleichungen zusammensetzt, etwa: Unter anderem erforderte die Methode von Calegari
3x 3 + 2xy 2 + 4 = z 6 . Die Schwierigkeit besteht und Geraghty, dass es bereits eine Verbindung in die
darin, alle Lösungen (hier: x, y und z) zu finden, die umgekehrte Richtung gibt, also von den automorphen
einem bestimmten Zahlensystem entspringen, Formen zu den diophantischen Gleichungen. Darüber
etwa den natürlichen Zahlen oder den rationalen hinaus sollte diese Brücke nicht nur automorphen Formen
Zahlen. eine entsprechende Gleichung zuordnen, sondern auch
Torsionsklassen. >>Ich glaube, viele Leute hielten das
Anschaulich sind automorphe Formen verallge- anfangs für ein hoffnungsloses Problem<<, sagt Taylor, der
meinerte periodische Funktionen, die komplizierte jetzt an der Stanford University arbeitet.
mathematische

Strukturen auf Zahlen abbilden. Doch weniger als ein Jahr nachdem Calegari und
Ahnlich wie man in der Musik einen Ton in eine Geraghty ihre Arbeit veröffentlichten, verblüffte der deut-
Summe aus Obertönen zerlegen l<ann, lassen sich sche Fields-Medaillen-Preisträger Peter Scholze von der
auch automorphe Formen in eine unendliche Reihe Universität Bonn die Welt der Zahlentheoretiker. Er fand
entwickeln: heraus, wie man von Torsionsklassen ausgehend zu ellipti-
·
a 1 x + ... + an-1 x n-1
+an x n + .. . D'1e Vor f a k toren ai schen Kurven gelangt, deren Koeffizienten einfache kom-
bilden dabei eine unendliche Reihe, die mit der plexe Zahlen wie 3 + 2i oder 4 - J5 i enthalten.
Anzahl der möglichen Lösungen diophantischer Scholze hatte damit die erste der drei Vermutungen von
Gleichungen zusammenhängt. Calegari und Geraghty bewiesen. Zwei weitere Abhandlun-
gen des deutschen Mathematikers, die er zusammen mit
seiner Kollegin Ana Caraiani vom Imperial College London
verfasste, kamen dem Beweis der zweiten Vermutung
Die zwei Mathematiker Frank Calegari von der University extrem nahe. Dabei geht es darum, zu zeigen, dass die von
of Chicago und David Geraghty, der jetzt für Facebook Scholze aufgebaute Verbindung bestimmte Eigenschaften
forscht, präsentierten 2012 einen neuen Weg, um das erfüllt.
Problem anzugehen. Sie vermuteten, dass der Ansatz von
Taylor und Wiles eigentlich ein Spezialfall einer viel allge- Ein Workshop voller
meineren Methode sei, mit der sich beide Seiten der Lang- brillanter Ideen
lands-Korrespondenz verbinden lassen. Beflügelt von den unerwarteten Fortschritten, organisier-
Wiles betrachtete in seiner Arbeit automorphe Formen, ten Caraiani und Taylor im Herbst des Jahres 2016 einen
deren Kachelungen zweidimensional sind. Die Probleme einwöchigen Workshop mit mehreren Experten des Ge-
ergeben sich jedoch erst, wenn man sich höherdimensiona- biets am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie
len Kachelungen zuwendet, denn dort gibt es weniger hofften, so die letzten Hürden zu einem vollständigen
automorphe Formen. Dafür besitzen Kachelungen in diesen Beweis von Calegaris und Geraghtys Verbindung zu über-
Fällen aber eine wesentlich reichere Struktur als ihre zwei- winden. Nach einigen Tagen ausführlicher Diskussionen
dimensionalen Varianten. Calegari und Geraghty erkannten, begannen die Teilnehmer zu erkennen, wie sie die zweite
dass man diese Eigenschaft ausnutzen könnte, um den Vermutung abschwächen und der dritten Hypothese
Mangel an automorphen Formen auszugleichen. ausweichen konnten. >>Letztendlich lösten wir alle Proble-
Automorphe Formen weisen einer bestimmten Kache- me innerhalb eines Tags, nachdem wir sie ausführlich
lung eine Färbung zu. Betrachtet man einen beliebigen dargelegt hatten<<, erinnert sich der Zahlentheoretiker Toby
Ausschnitt einer Kachelung, kann man mit Hilfe der auto- Gee, ebenfalls vom Imperial College London, der am
morphen Form die durchschnittliche Farbe dieses Stücks Workshop teilnahm.
berechnen. Wenn man höherdimensionale Objekte betrach- Die Mathematiker verbrachten den Rest der Woche
tet, kann man ihnen neben einer Färbung auch andere damit, verschiedene Aspekte des Beweises auszuarbeiten.
Merkmale zuordnen. Diese Aufgabe übernehmen so ge- Während der nächsten zwei Jahre schrieben sie ihre
nannte Torsionsl<lassen, die einem bestimmten Ausschnitt Ergebnisse in einer Arbeit mit zehn Autoren nieder - eine
einer Kachelung eine Zahl aus der Uhrzeit-Arithmetik zuwei- ungewöhnliche hohe Anzahl von Personen für eine Veröf-
sen. Im Gegensatz zu automorphen Formen gibt es solche fentlichung in diesem mathematischen Gebiet. In ihrem
Torsionsklassen in Hülle und Fülle. Calegari und Geraghty Aufsatz gelang es ihnen, eine Langlands-Brücke für ellipti-
schlugen daher vor, sich der gesuchten automorphen Form sche Kurven zu errichten, deren Koeffizienten aus rationa-
durch Torsionsklassen anzunähern. len Zahlen plus einfachen irrationalen und komplexen
Die Arbeit der beiden Forscher stellte eine allgemeinere Zahlen besteht. >>Eigentlich wollten wir bloß herausfinden,
Verbindung in Aussicht als die von Wiles und Taylor ent- wie nahe wir einem Beweis kommen könnten<<, sagt Gee.

86 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


>>Ich glaube nicht, dass jemand erwartet hatte, das Problem
tatsächlich zu lösen.<<
Zur gleichen Zeit bemühten sich einige Zahlentheoreti- Mehr Wissen auf
ker, die Langlands-Korrespondenz über elliptische Kurven Spektrum.de
hinaus zu beweisen, das heißt, auch höhere Exponenten in Unser Online-Dossier zum Thema
den diophantischen Gleichungen zuzulassen. Calegari und finden Sie unter
Gee arbeiteten damals mit dem Mathematiker George spektrum.de/t/zahlentheorie
FRANKRAMSPOTI 1 GETIY IMAGES/ !STOCK
Boxer von der Ecole normale superieure de Lyon zusam-
men, um Gleichungen anzugehen, deren höchster Expo-
nent fünf oder sechs ist - statt den bisher bekannten Fällen
von drei oder vier. Die Forscher landeten jedoch schnell in University of California in Los Angeles und Jack Thorne von
einer Sackgasse, aus der sie keinen Ausweg fanden. der University of Cambridge etwa bereits nachgewiesen,
Am Wochenende nach dem Workshop in Princeton dass ein beträchtlicher Teil der automorphen Formen, die
erschien eine Arbeit des französischen Mathematikers während des Princeton-Workshops untersucht wurden,
Vincent Pilloni, ebenfalls von der Ecole normale superieure genau an der erwarteten Stelle liegen.
in Lyon, die unter anderem einen möglichen Weg präsen- Derart exakte Brücken l<önnten es Mathematikern künf-
tierte, um das Problem von Boxer, Calegari und Gee zu tig ermöglichen, zahlreiche neue Theoreme zu beweisen.
umgehen. Die drei Forscher beschlossen daraufhin, Pilloni Eines davon ist die jahrhundertealte Verallgemeinerung des
aufzusuchen, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Innerhalb großen Satzes von Fermat. Bisher können Mathematiker
weniger Wochen gelang es den vier Mathematikern, eine nur vermuten, dass die Gleichung xn + yn = zn auch dann
l<eine Lösung besitzt, wenn x, y und z nicht nur natürliche
Zahlen, sondern zusätzlich Kombinationen mit der imagi-
nären Zahl i enthalten.
>>Ich glaube nicht, Obwohl die zwei neuesten Arbeiten große Bereiche der
dass jemand erwartet beiden Langlands-Kontinente verbinden, lassen sie noch
immer riesige Gebiete unerforscht. Auf der Seite der dio-
hatte, das Problem phantischen Gleichungen ist unklar, wie man mit Exponen-
ten größer als sechs oder mit mehr als zwei Variablen
tatsächlich zu lösen<< Toby Gee umgeht. Auf der anderen Seite gibt es automorphe Formen,
die auf extrem komplizierten Gebilden leben. Um diese
Herausforderungen zu bestreiten, braucht man wahrschein-
Lösung zu finden - auch wenn es zwei Jahre und fast 300 lich neue Ideen. Langlands selbst zog beispielsweise nie-
Seiten brauchte, bis sie ihren Beweis vollständig ausgear- mals Torsionsklassen in Betracht, als er über automorphe
beitet hatten. Ende Dezember 2018 erschienen dann Formen nachdachte. >>Wir haben den von Langlands vorge-
schließlich sowohl ihr Ergebnis als auch die Resultate des zeichneten Weg verlassen<<, sagt Taylor. >>Wir wissen nicht
Princeton-Workshops. genau, wohin uns der neue Pfad führen wird.<< ~
Diese zwei Arbeiten erweitern die mysteriöse Verbin-
dung zwischen den diophantischen Gleichungen und den QUELLEN
automorphen Formen entscheidend. Allerdings ist die so
Allen, P. B. et al.: Potential automorphy over CM fields. ArXiv
erbaute Brücke zwischen den beiden Gebieten nicht per- 1812.09999, 2018
fekt: Man weiß zwar, dass es zu den betrachteten diophan-
Boxer, G. et al.: Abelian surfaces over totally real fields are
tischen Gleichungen jeweils eine passende automorphe potentially modular. ArXiv 1812.09269, 2018
Form gibt, doch es ist nicht immer klar, ob diese an der
Calegari, F., Geraghty, D.: Modularity lifting beyond the Taylor-
erwarteten Stelle zu finden ist. Die beiden Aufsätze stellen
Wiles method. ArXiv 1207.4224, 2012
nämlich keinen exakten Zusammenhang, sondern bloß eine
so genannte potenzielle Automorphie zwischen den zwei Caraiani, A., Scholze, P.: On the generic part of the
cohomology of non-compact unitary Shimura varieties. ArXiv
Bereichen fest.
1909.01898, 2019
Glücklicherweise reicht das bereits für viele Anwendun-
gen aus - zum Beispiel bei der Sato-Tate-Vermutung, bei Wiles, A.: Modular elliptic curves and Fermat's Last Theorem.
Annals of mathematics 141, 1995
der es um die statistische Verteilung der Lösungen von
diophantischen Gleichungen mit Uhrzeit-Arithmetik geht.
Nach ihrem Workshop konnten die zehn Forscher diese
Hypothese in einem viel breiteren Zusammenhang als Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und redigierte Fas-
sung des Artikels »>Amazing< Math Bridge Extended Beyond
bisher beweisen.
Fermat' s Last Theorem<< aus dem »Ouanta Magazine<<, einem
Momentan versuchen Mathematiker herauszufinden, inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich
wie sich die potenzielle Automorphie zu einer exakten die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und
Verbindung erweitern lässt. Im Ol<tober 2019 haben die drei den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Zahlentheoretiker Patrick Allen von der University of lllinois • • •
in Urbana-Champaign, Chandrashekhar Khare von der · :~·Quanta rnaaazine
• • •

Spektrum der Wissenschaft 8.20 87


Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren - aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

•• ••
SCHADLINGSBEl<AMPFUNG
••
PER INSEKTENNIEREN
••
SCHEIDEN
BALLON UND RAUCHERHAUBE RUSSAHNLICHE TEILCHEN AUS
>>In Kalifornien ist ein Verfahren zur Vertilgung von Baum- >>Bei elel<tronenmikroskopischen Untersuchungen über die
schädlingen in Gebrauch, das in einer Ausräucherung Luftverschmutzung fanden Forscher eigenartige, polyedri-
einzelner Bäume besteht, über die ein Zelt gestülpt wird, sche Partikeln, mit einem Durchmesser von weniger als
das die entwickelten Gase zu kräftiger Einwirkung bringt. 0,5 µm. Ihre gleichmäßige Größe und Struktur wiesen zwar
••
Das Uberstülpen des Zeltes war eine recht schwierige auf biologischen Ursprung hin, doch waren sich die For-
Arbeit, die mit Hilfe eines Auslegerkrans vorgenommen scher im unklaren, ob sie Lebewesen gefunden hatten oder
wurde. Zudem kamen Beschädigungen der Bäume leicht nur Rußpartikeln. [Sie] erbaten die Hilfe der Biologen der
vor. Neuerdings aber verwendet man einen Fesselballon, ganzen Welt. 1970 wurde die Lösung eingesandt: Es han-
an welchem das am unteren Rande durch einen Ring delt sich um sogenannte Brochosomen, bizarre Aus-
••
ausgespreizte Zelt angehängt wird. Das Uberstülpen des scheidungsprodukte der Malpighischen Gefäße von Heu-
Zeltes über die Bäume [geht] sehr rasch und ohne Beschä- schrecken.<< Naturwissenschaftliche Rundschau 8, S. 333
digungen vonstatten. << Prometheus 7609, s. 384

DATEN IN KRISTALLE LASERN


DIE ZUNGE ALS >>Die Carson-Laboratories in Bristol, Conn., haben ein
FANGORGAN Patent angemeldet, mit welchem durch Laser-Holographie
>>Wer kennt nicht unsern 1000 normale Buchseiten in einem Kristall von etwa fünf
kleinen Wetterpropheten, Quadratzentimeter und acht Millimeter Dicke gespeichert
Hyla arborea, den grünen werden können. Das Licht eines Laserstrahls wird aufge-
Laubfrosch. Vielleicht splittert, und einer dieser Teilstrahlen, welcher die Informa-
konnte mancher seine tion trägt, kreuzt sich mit einem andern in [einem] Kristall,
Mahlzeiten beobachten. wo die durch den Strahl bewirkte Veränderung eines Farb-
Mit welcher Geschicklich- zentrums die Speicherung der Information ermöglicht.<<
keit führt der Hungrige Ein Frosch und seine Zunge. Neuheiten und Erfindungen 407, S. 737
das Attentat auf das
Insekt aus, seine Zunge als Fliegenklappe gebrauchend; er
[hat] eine breite Mundspalte, aus dieser wirft er die Zunge
WELTSENSATION BILDPLATTE
hervor, welche gewissermaßen verkehrt im Munde ange- >>Als dem Super-Erfinder Thomas Edison 1877 erstmalig die
wa chsen ist, während die gespaltene Zungenspitze rü ck- Schallaufzeichnung in Tiefenschrift gelang, da ahnte er
wärts gelagert ist. Mit enormer Geschwindigkeit wirft der nicht, daß dieses Verfahren fast ein Jahrhundert später zu
Frosch die Spitze heraus, umfängt die Fliege und klappt Speicherung von beweglichen Bildern nebst Begleitton
die Zunge ebenso schnell zurück, um den Bissen zu dienen würde - so geschehen bei der Bildplatte der Firmen
verschlucken.<< Prometheus 7607, S. 362 AEG-Telefunken und Teldec. Während eine normale Schall-
platte etwa 13 Rillen pro mm hat, arbeitet man jetzt mit
•• 130 Rillen/mm. Pro Um-
SPRENGSTOFF ZU DUNGER RECYCELN? drehung wird ein Fern- Eine dünne, biegsame
>>Es ist bekannt, daß die Salpeterarten sowohl als Dünge- sehbild mit seinen 625 PVC-Folie dient als Bildplatte.
mittel wie auch als Sprengstoffe dienen können, und es ist Zeilen gespeichert. Die
schon mehrmals der Vorschlag gemacht worden, die kleine Platte [läuft]
Restbestände salpeterhaltiger Sprengstoffe als Düngemit- 5 min, die große 12 min,
tel zu verwerten. Die Gefahr einer Explosion ist aber nicht bei einer Bandbreite
der einzige Nachteil: der Landwirt kann damit auch seine über 3 MHz, die eine
Felder vergiften. Nach Untersuchungen der landwirt- normale Bildqualität
schaftlichen Versuchsanstalt in Bonn wirkt das Kaliumper- sichert. Damit ist ein
chlorat sehr schädlich. Es wurde festgestellt, daß schon audiovisuelles Speicher-
1°/o Kaliumperchlorat Halmfrüchten außerordentlich scha- verfahren gefunden,
det, und daß der Roggen kaum 3/4°/o verträgt. Die Ver- dem man einen weltwei-
such sanstalt warnt deshalb dringend vor der Verwendung ten Erfolg voraussagen
von Sprengstoffen als Düngemittel.<< Die Umschau 34, s. 576 kann.<< Elektronik 8, S. 285

88 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den
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....... <..> - - - spektrum.de/artikel/1744808

- rstaunlich oft stellen mir Leute die im Titel genann- Reihenentwicklung nötig, von der nicht alle Terme im
te Frage - und ich freue mich jedes Mal darüber. endgültigen Resultat auftauchen. Zum anderen ist die
- Denn darin steckt jede Menge spannende Astro- Formel aus physikalischer Sicht nicht vollständig, denn
- nomie und Mathematik. Die kurze Antwort: Prinzi- das Sonnensystem enthält nicht nur drei Himmelskör-
piell spricht nichts dagegen. Bei der etwas längeren per, sondern sehr viel mehr, die sich alle gegenseitig
Erklärung geht es darum, wann ein Objekt ein anderes anziehen. Dennoch funktioniert Hills Formel sehr gut.
umkreisen kann, während beide um ein drittes rotieren. Der Hill-Radius unseres Monds beträgt 60 000 Kilo-
So etwas beobachten wir ständig, zum Beispiel im Fall meter. Würde sich ein Objekt innerhalb dieses Ab-
der Sonne, der Erde und des Monds. stands befinden, könnte es den Mond umkreisen,
Es gibt kein Naturgesetz, das es einem Objekt während beide sich um die Erde bewegen - zumindest
verbieten würde, unseren Mond zu umkreisen. Im für ein paar hunderttausend Jahre. Denn die Gezeiten-
Gegenteil - wir kennen sogar eine Formel, die be- kräfte lassen eine Konfiguration bei so geringem Ab-
schreibt, unter welchen Umständen das passiert: stand nicht lange überleben. Mehr Chancen hätte ein
Objekt, das etwa einen Mond des Neptuns umkreist.
Der sonnenfernste Planet hat eine große Hill-Sphäre
m und kann weit entfernte Monde halten. Diese besitzen
wiederum selbst einen großen Hill-Radius mit genug
Platz für weitere Trabanten.
Bisher haben Astronomen noch keinen Mond eines
Die Formel stammt vom amerikanischen Astrono- Monds entdeckt; in unserem Sonnensystem scheint es
men und Mathematiker George William Hill (1838- das nicht zu geben. Bei den Planeten anderer Sterne
1914), der sie im 19. Jahrhundert aufstellte. Angenom- haben wir vielleicht mehr Glück. Zuerst muss man
men, ein kleiner Himmelskörper der Masse m umrun- allerdings überhaupt einen extrasolaren Mond zweifels-
det einen großen mit der Masse M im Abstand a auf frei identifizieren. Solche Himmelsl<örper gibt es
einer kreisförmigen Bahn. Dann kann man daraus den höchstwahrscheinlich, und es ist durchaus möglich,
so genannten Hill-Radius r berechnen, der dem gravita- dass irgendein Exomond selbst auch einen Mond hat.
tiven Einflussbereich des kleineren Objekts entspricht.
Setzt man für M und m die Massen der Sonne und una Kollmeier von der Carnegie Institution for
der Erde ein und für a ihren Abstand, dann erhält man Science in Washington, D. C. und Sean Reymond
einen Hill-Radius von knapp 1,5 Millionen Kilometern. von der Universite Bordeaux haben 2018 viel
Innerhalb dieses Bereichs dominiert die Gravitations- versprechende extrasolare Kandidaten identifi-
kraft der Erde; außerhalb die der Sonne. Alles, was sich ziert. Gleichzeitig lieferten sie eine Anregung, wie man
in der so genannten Hill-Sphäre der Erde befindet, solche Monde von Monden nennen könnte: Untermon-
umkreist unseren Planeten. Auf den knapp 400 000 de (submoons). Andere Vorschläge lauteten Mond-
Kilometer entfernten Mond trifft das definitiv zu. mond (moonmoon) oder Mooond (mooon). Glücklicher-
In der Formel für den Hill-Radius findet sich kein weise dürfte es noch etwas dauern, bis ein solches
Gleichheitszeichen, sie ist eine Näherung. Das hat Objekt tatsächlich entdeckt wird - bis dahin fällt uns
einerseits technische Gründe: Zur Berechnung ist eine dann vielleicht ein vernünftiger Name ein.

Spektrum der Wissenschaft 8. 20 89


Mehr Rezensionen auf spel<trum.de/rezensionen

erfahren, wie Böden aufgebaut sind,


GEOWISSENSCHAFTEN worin sie sich unterscheiden, in wel-
FASZINIERENDES chen Klimata bestimmte Bodentypen
ERDREICH bevorzugt vorkommen und wie der
Mensch die Böden seit Jahrtausenden
Forstwissenschaftler Peter Lauf- für sich nutzbar macht. Der Autor legt
mann beschreibt, welche wimmeln- unter anderem dar, dass die gezielte
de Welt uns im Erdboden buch-
Bodenbewirtschaftung nicht erst im
stäblich zu Füßen liegt, wenn wir
Mittelalter mit einer Dreifelderwirt-
nur genau hinschauen. ••
schaft begann. Bereits im alten Agyp-
80 Regenwürmer. 100 Käfer. 300 ten und in Persien hielten die Men-
Tausendfüßer. 10 000 Borstenwür- schen Tauben, um Dünger für die
mer. 50 000 Springschwänze. 1000000 Landwirtschaft herzustellen.
Fadenwürmer. 10000000000 Strahlen- Laufmann erörtert aber nicht nur die
pilze. 1000000 000 000 Bakterien: Es landwirtschaftlichen und natürlichen
treibt sich einiges herum unter unse- Aspekte des Bodens, sondern bringt
ren Füßen. Obige Aufzählung umfasst auch interessante Nebenthemen ein.
nur eine kleine Auswahl der Lebewe- Etwa im l<apitel >>Stummer Zeuge<<, in
sen, die in sich unter einer Fläche von dem er darstellt, welche Geheimnisse
einem Quadratmeter finden, wenn Forensiker oder Archäologen dem
man 30 Zentimeter tief gräbt - eine Boden entlocken oder welch erhebliche
verborgene Welt, die der studierte Folgen die Stellungskriege des Ersten
Forstwissenschaftler Peter Laufmann Weltkriegs auf die Böden der betroffe-
buchstäblich ans Licht zieht und in nen Landstriche hatten - und mitunter
seinem Buch >>Der Boden<< anschaulich immer noch haben, etwa hinsichtlich
und unterhaltsam beschreibt. der Schwermetallbelastung der Krume.
In zehn Kapiteln bringt Laufmann Am Ende beleuchtet der Autor die
den Lesern, wie der Titel verspricht, in Gefahren, die dem Erdreich heute
der Tat ein ganzes Universum näher. drohen, und plädiert dafür, wir sollten
Er beginnt seine Schilderung mit den uns nicht selbst den Boden unter den
naturwissenschaftlichen Grundlagen Füßen wegziehen - durch falsche
des Bodens und der Bodenbildung, Bewirtschaftung, Flächenversiegelung,
••

zeigt, wie der Mensch den Boden Uberdüngung und vieles mehr. Auch
beackert und stellt abschließend dar, wenn Leser, die an Umweltthemen
welchen Gefahren der Boden heutzu- interessiert sind und entsprechende
••

tage ausgesetzt ist. Die Inhalte des Vorkenntnisse haben, nur wenig Uber-
Buchs sind dabei weitestgehend raschendes in dem Werk finden, lohnt
Lehrbuchwissen. Dies schmälert die sich die Lektüre auf Grund des gut
Lel<türe aber nicht, denn dem Autor umgesetzten roten Fadens und der
gelingt es sehr gut, eine runde und gelungenen Erzählung auf jeden Fall.
spannende Geschichte zu erzählen
und das bekannte Wissen gelungen zu Der Rezensent Ti m Haarmann ist Geograf und
bündeln. arbeitet in Bo nn .
Dabei fängt er buchstäblich ganz
am Anfang an und beschreibt zu-
nächst die Entstehung des Planeten Peter Laufmann
Erde vor ungefähr 4,5 Milliarden DER BODEN
Jahren. Bis die glühende Kugel sich Das Universum
abgekühlt hatte, Ozeane und Meere unter unseren
Füßen
entstanden waren und schließlich
C. Bertelsmann,
Erosion und Landpflanzen eine Boden- München 2020
bildung ermöglichten, waren einige 191 S., €18,-
Milliarden Jahre vergangen, und so
holt dieses erste Kapitel vielleicht
weiter aus als nötig. Die folgenden
Kapitel sind dann enger auf das eigent-
liche Buchthema fokussiert. Die Leser

Spektrum der Wissenschaft 8. 20 91


TECHNll< Eberl weiß, wovon er spricht. Der
promovierte Biophysiker leitete 20 Jah-
Gartengestaltung diskutieren, und eine
••

medizinische KI soll den Arzten helfen


DAS l<LEINE EINMALEINS re lang die Forschungskommunikation und nicht etwa ihre Berufswahl in
DER MASCHINEN bei Siemens, bevor er sich 2015 als Frage stellen.<< Dem Autor gelingt es,
Wissenschaftsautor selbstständig komplizierte Phänomene anhand von
33 Fragen und Antworten zur
machte. In seinem Vorgängerwerk anschaulichen Beispielen einfach und
Automatisierung intelligenten
>>Smarte Maschinen: Wie Künstliche plausibel zu erklären.
Verhaltens und zu maschinellem
Intelligenz unser Leben verändert<< Dass es bei den meist zwei bis drei
Lernen.
(siehe >>Spektrum<< Dezember 2016, Seiten kurzen Antworten zu Unschär-
Künstliche Intelligenz (KI) ist das S. 88} hat er sich eingehend mit dem fen kommen kann, liegt in der Natur
Megathema unserer Zeit. Obwohl Thema befasst. 1n der Zwischenzeit ist des Formats. So behauptet Eberl, KI
dieser Begriff ständig in den Medien die Technik jedoch rasant vorange- werde in einem ersten Schritt Routi-
auftaucht, ist vielen immer noch nicht schritten; man denke an die Google- neaufgaben übernehmen, die überwie-
ganz klar, was sich dahinter verbirgt. Software AlphaGo Zero, die sich die gend von der Mittelschicht der Arbeit-
Der Wissenschaftsjournalist und Regeln des Brettspiels Go selbst bei- nehmer ausgeführt würden - was
Zukunftsforscher Ulrich Eberl versucht brachte und 2017 einen menschlichen daher weder Gering- noch Hochqualifi-
Licht in diese Blackbox zu bringen. In Großmeister bezwang. Ein Ereignis, zierte treffe. Das mag auf >>Roboteran-
33 Fragen und Antworten klärt er die das Beobachter einen Meilenstein wälte<<zutreffen, also auf Kl-Systeme,
wichtigsten Aspekte des Themas - nannten. Diese Entwicklung nimmt die sich durch juristische Fachliteratur
von der Wirtschaft über technische Eberl zum Anlass, basierend auf eige- wühlen und weitgehend das Metier
Details bis hin zu Ethik und Rechtsphi- nen Recherchen nochmal ein aktuali- von Rechtsanwaltsfachangestellten

losophie. Funktioniert künstliche siertes Uberblickswerk zu publizieren. übernehmen. Bei angelernten Call-
Intelligenz wie unser Gehirn? Wird sie Das Ergebnis ist keines der üblichen Center-Mitarbeitern, die auf standardi-
einen Großteil der menschlichen Jobs Frage-Antwort-Spiele, die meist etwas sierte Anfragen mit einem Skript
überflüssig machen? Werden die lustlos und glossarähnlich lexikalische antworten und deren Arbeit schon
Kriege der Zukunft von Robotern Fragmente ausbreiten, sondern ein heute von Telefon-l<ls ersetzt wird,
entschieden? Das sind nur einige sehr reflektiertes Büchlein, das die wirkt diese These allerdings erratisch.
Fragen, denen sich Eberl in seinem Prämissen menschlicher Intelligenz auf Dennoch bietet das Buch großen
Buch widmet. den Prüfstand stellt. >>Ist es ein Zei- didaktischen Mehrwert. Die Leichtig-
>>Verfahren der Künstlichen Intelli- chen von Intelligenz, Kriege zu führen, keit, mit der Eberl auf eineinhalb Sei-
genz sind bereits heute ein wichtiger Rohstoffe zu verbrennen, die Atmo- ten den sperrigen Begriff >>Deep Lear-
Teil unseres Alltags<<, erklärt der Autor. sphäre aufzuheizen, den Regenwald ning<< erklärt, sucht ihresgleichen.
>>Wenn wir das Smartphone über abzuholzen, Tierarten auszurotten und Der Autor hat ein fal<tengesättigtes
Fingerabdruck oder Gesichtserken- die Ozeane in Müllkippen zu verwan- Buch geschrieben, das sowohl Laien
nung entsperren, wenn wir Bilder deln?<<, fragt Eberl. Dass der Mensch als

auch Experten einen fundierten
hochladen und ähnliche im Internet su- maschinelle Hilfe gut gebrauchen Uberblick über den Themenkomplex
chen, wenn wir smarte Lautsprecher könne, sei offenkundig. KI gibt.
bitten, unsere Lieblingsmelodien zu Mit viel technischem, rechtlichem Der Rezensent Adrian Lobe arbeitet als Jour-
spielen, wenn Messenger-Dienste und philosophischem Hintergrundwis- nalist in Heidelberg und ist Autor der Kolum ne
Wörter korrigieren oder Texteingaben sen vermisst der Autor die Entwick- »Lobes Digita lfabri k« auf »Spektrum .de«.
vervollständigen, wenn wir uns über lungsfelder künstlicher Intelligenz,
angeblich maßgeschneiderte Wer- schätzt ihre Potenziale ein und zeigt
bung ärgern - dann ist das alles >KI in
action<.<<
ihre Grenzen auf. Das Sciencefiction-
Szenario, in dem sich eine KI zur
EVOLUTION
Superintelligenz aufschwingt, zerlegt JAHRMILLIARDEN
Ulrich Eberl
Eberl ebenso sachlich und humorvoll IM ZEITRAFFER
„ wie die These, Maschinen könnten
KUNSTLICHE Die Geschichte des Lebens ist lang
INTELLIGENZ irgendwann ein Bewusstsein entwi-
und seine Vorgeschichte noch
33 Fragen und ckeln. >>Alle kommerziellen Kl-Syste-
Antworten länger. Dieses Buch versucht sich
me, die heute entwickelt werden,
Piper, München an einer Gesamtschau.
beherrschen nur ihre Einsatzgebiete.
2020
Sie sind - grob gesagt - >Fachidioten< Der Buchtitel klingt, als handle das
128 S., € 10,-
mit speziellen Fähigkeiten, ohne Werk vor allem davon, wie die
Allgemeinintelligenz. << Und das, so ersten Lebewesen entstanden. Dem
Eberl, sei auch so gewollt: >>Ein Rasen- ist aber nicht so, wie sich beim Lesen
mäh-Roboter soll das Gras schneiden herausstellt. Stattdessen geht der
und nicht mit seinem Besitzer über die Autor eine viel größere Herausforde-

92 Spektrum der Wissenschaft 8.20


Mehr Rezensionen auf spel<trum.de/rezensionen

Ganze. Bilder gibt es kaum, und wenn, 26 Zentimeter lange Rhyncholepis aus

Johannes Sander dann minimalistisch gestaltete; der dem späten Silur, dessen Uberreste
URSPRUNG UND
ENTWICKLUNG begrenzte Umfang des Werks lässt in Norwegen gefunden wurden. Hany-
DES LEBENS auch nicht viel Platz dafür. angaspis wiederum gehörte zu den
Eine Eint ührung in Der Autor beginnt mit der Bildung Galeaspida, die durch helmartige,
die Paläobiologie
erster Atomkerne sowie der Sterne manchmal mit langen hornartigen
Springer, Berlin und
Heidelberg 2020 und Planeten. Darauf folgt ein rund Auswüchsen versehene Kopfschilde
269 S., € 19,99 zehnseitiger Exkurs in die Entstehung gekennzeichnet waren.<<So geht das
des Lebens - das ist wenig, gemessen Seite für Seite. Das alles zusammenzu-
an den Erwartungen, die der Buchtitel tragen, war bestimmt nicht leicht, wie
weckt. Des l<nappen Raums wegen sich auch an dem 25-seitigen, eng
kann Sander hier nur wenige Schlag- gedruckten Literaturverzeichnis erse-
lichter auf das Thema werfen . In den hen lässt. Hervorzuheben ist, dass der
übrigen Kapiteln arbeitet er sich durch Autor ziemlich ausführlich die Evolution
rung an: Er umreißt die Geschichte die Erdzeitalter und skizziert den der Pflanzen behandelt.
und Vorgeschichte des Lebens vom groben Verlauf der biologischen Allerdings hat das Buch einen durch-
Urknall bis zur Erfindung der Land- Evolution, wobei er auf Mikroorganis- gehend enzyklopädischen Charakter,
wirtschaft. Für ein schmales Taschen- men, Pflanzen, Tiere und Pilze eingeht. was bei längerem Lesen ermüdet. Der
buch ist das ambitioniert. Johannes Am Ende befasst er sich mit der Text ähnelt einer großen Sammlung
Sander, promovierter Biologe und Entwicklung der Hominini und dem von Lexil<oneinträgen: Jeder Absatz für
Wissenschaftsautor, hat sich viel vor- Erscheinen des modernen Menschen. sich ist gewiss richtig und aufschluss-
genommen. Das Werl< wartet mit enormer reich, doch es fehlt ein übergeordneter
In sieben Hauptkapiteln mit insge- Faktenfülle auf. Dicht gedrängt reihen Bogen, der das Ganze nachvollziehbar
samt 230 Seiten schreitet Sander sich Taxonbezeichnungen und Merk- strukturiert, die wesentlichen Dinge
durch einen Zeitraum von mehr als malsbeschreibungen aneinander: herausstellt und den Lesern mit Zusam-
13 Milliarden Jahren. Ein 40-seitiger >>Erstmals seit dem Silur belegt sind menfassungen hilft. Von großem
Anhang mit Glossar, Literatur- und beispielsweise die Anaspida. Ein Nutzen wäre es gewesen, die beschrie-
Stichwortverzeichnis beschließt das Vertreter dieser Gruppe war der etwa benen zeitlichen Entwicl<lungen und

Spektrum der Wissenschaft


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Spektrum der Wissenschaft 8. 20 93


Verwandtschaftsverhältnisse konse- ge des Pleistozäns vor ungefähr einer
quenter in Grafiken darzustellen und Million Jahren ans Herz gelegt: Sie . rex ätte
überhaupt mehr Bilder zu bringen. bieten Schneesicherheit und unbe- •
Die zahlreichen Fachbegriffe ma- rührte Winterlandschaften, allerdings ein rinter
chen das Werk durchweg anspruchs- keine Skilifte. Passig und Scholz ••
voll . Da erscheint das Glossar im bringen ihren Lesern diese Welt näher we au en onnen
Anhang dringend nötig. Dankenswer- und geben wertvolle Tipps zur nötigen
terweise sind Begriffe im Text, die sich Reiseausrüstung. Wer es besonders
im Glossar nachschlagen lassen, abenteuerlich mag, der l<önnte über ren zum Beispiel ein Konzert in Wien -
gefettet. eine Reise ins Erdmittelalter nachden- nicht irgendeines, sondern die Urauf-
Von dem Buch profitieren können ken und sich - unter großen Vorsichts- führung der 9. Sinfonie Ludwig van
Leser(innen), die umfangreiche Vor- maßnahmen - in die Welt der Dino- Beethovens am 7. Mai 1824. Nur so
kenntnisse besitzen und sich einen saurier begeben. Der Reiseführer käme heraus, wie sich der Maestro sein
l<ompakten Eindruck vom evolutionä- informiert hierbei nicht nur über die Werk tatsächlich vorgestellt hat. Denn
ren Geschehen in bestimmten Erdzeit- Welt, die den Reisenden dort erwarten die Tempobezeichnung >>Allegro ma
altern verschaffen möchten. Als he- würde, sondern gibt ganz praktische non troppo<< im ersten Satz lässt viel
ranführende Lektüre oder gar als Hinweise zu Verhalten und Reiseaus- Raum für Interpretationen. Ein heimli-
unterhaltsamer Lesestoff eignet es rüstung. So haben neuere Studien cher Mitschnitt würde Sie bei Musik-
sich hingegen eher nicht. ergeben, dass der Furcht einflößende wissenschaftlern und Orchesteran-
Der Rezensent Frank Schubert ist Redakteur
T. rex nur rund 20 Kilometer pro Stun- gehörigen sicher ungemein beliebt
bei »S pektru m der W issenschaft«. de schnell laufen konnte, was freilich machen.
bloß fitten Sprinterinnen und Sprintern Interessante Schilderungen dieser
das Leben retten würde. Abgesehen Art gibt es viele in dem lesenswerten
davon, dass andere Dinos, die für uns und unterhaltsamen Buch, das Reise-
GESCHICHTE wohl noch wesentlich gefährlicher neulingen vor allem dazu rät, die Welt-
DURCH DIE ZEITEN gewesen wären, etwa Deinonychus, ausstellungen etwa in Paris oder Lon-
Ein Reiseführer für vermutlich deutlich schneller rannten. don Ende des 19. Jahrhunderts zu
Expeditionen ins Gestern. Die Ausrüstung hingegen kann jeder besuchen. Jene bieten schließlich
an die jeweilige Reisezeit anpassen. Je einen hervorragenden Spiegel ihrer
Was wäre, wenn Sie sich - trotz nach Jahrmillion, in die man reist, ist Zeit; zudem lässt es sich in der interna-
Coronabeschränkungen - im nächs- die Sauerstoffkonzentration mal höher tionalen Menschenmasse unauffällig
ten Urlaub nicht nur für einen Konti- und mal niedriger als heute. Bei der untertauchen.
nent, eine Region oder eine Stadt ent- Auswahl des Campingkochers kann Das Werk umfasst zahlreiche The-
••
scheiden könnten, sondern als Reise- das zum Kaufkriterium werden. Ubri- men und Zeiten, die die Autoren ge-
ziel ebenso ein beliebiges Jahrhundert gens bietet sich der Zeitraum vor schickt aufbereiten. Dabei erlauben sie
zur Auswahl stünde? Wenn Ihnen 65 Millionen Jahren besonders für sich einige interessante Gedankenspie-
nicht nur die ganze Welt, sondern die ethisch und ökologisch unbedenkliche le: Was wäre, wenn man im Urlaub die
ganze Weltgeschichte offenstünde? Großwildjagd an - kurz danach macht Welt verändern würde? Mit dem Wis-
Eine verlockende Vorstellung. Was Sie ein Meteorit den Dinos ohnehin den sen von heute könnte man etwa Erfin-
in dem Fall aber unbedingt benötigen Garaus. dungen vorantreiben oder Gräueltaten
würden, wäre ein guter Reiseführer, leichter hat es der Zeitreisende hin- verhindern. Mit etwas Hilfe aus unserer
denn es gäbe nicht nur enorm viel zu gegen, wenn ihm eher der Sinn nach Zeit würden so vielleicht nicht vier
entdecken, sondern auch diverses zu Kultur steht: Dann empfehlen die Auto- Jahrtausende zwischen der Erfindung
bedenken. des Rads und derjenigen der Schubkar-
Ein solches fiktionales Nachschla- re vergehen. Allerdings wissen wir
gewerk haben die Journalistin Kathrin Kathrin Passig, spätestens seit dem Film >>Zurück in die
Aleks Scholz
Passig und der Physiker Aleks Scholz HANDBUCH FÜR Zukunft<<, dass Veränderungen in der
J'ii1· Zei11 ·ei ·e1r clc
geschrieben. Den Autoren ist ein sehr ZEITREISENDE Vergangenheit durchschlagende Effek-
unterhaltsames Buch gelungen, das Von den Dino- te auf die Gegenwart haben können.
sowohl zu den historischen Stätten sauriern bis zum Und so belässt man es wohl besser bei
Fall der Mauer
hinführt und diese hautnah erleben Rowohlt, Berlin der rein beobachtenden - leider nur
lässt als auch die physikalischen 2020 gedanklichen - Zeitreise zu zahlreichen
Hintergründe von Zeitreisen erörtert. 336 S., € 20,- Zielorten und -zeiten, die die Autoren
Das >>Handbuch für Zeitreisende<< lesenswert charakterisiert haben.
\ ou d1·11 l1itu•:<rrlu·it·ru Li~
listet zahlreiche Reiseziele auf. Wer die ::urJt lnll tlt·r \Iaur.1·

sportliche Herausforderung sucht, •••1••


Die Rezensent in Bernadett Fisch er ist Histo-
dem seien die Mittel- und Hochgebir- rikerin und arbeit et in Bonn.

94 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


•1

DIE WISSENSCHAFT DES Leserbriefe sind willkommen!


l<ONJUNKTIVS Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welc hen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-M ail an
leserb riefe@spek t r um .de. Oder kom mentieren Sie im Intern et
Warum haben wir von etwaigen Außerirdischen noch auf Spektrum.d e direkt unter dem zugehöri gen A rtikel. Die
nichts mitbekommen? Laut Astronom Caleb Scharf ind ividuelle W ebadresse f inden Sie im Heft jeweils auf der erst en
befinden wir uns momentan vielleicht in einer beson- A rt ikelseite abgedruckt. Kü rzungen innerh alb der Leserbriefe
ders schwer zugänglichen kosmischen Region. werden nicht kennt lich gemacht . Leserbriefe werd en in unserer
ged ruckten und digitalen Heftausgabe veröffent licht und können
(>>Der galal<tische Archipel<<, >>Spektrum<< Juni 2020, S. 74)
so mög licherweise auch anderweitig im Intern et auffindbar
werd en.
Manfred Bühner, Freiburg i. Br.: Der Artikel enthält die
beiden häufigsten Fehler, die für die Astrobiologie typisch
sind. Erstens gibt es keine Basis von Beobachtungen, alles
wird von Computermodellen hergeleitet, die aber niemals in
brauchbarer Weise erklärt werden. Zweitens beruhen alle Roland Maier, Riemerling: Pflanzen haben der Atmosphä-
Aussagen auf statischen Statistiken, Entwicklung und re über Millionen von Jahren gigantische Mengen an C0 2
Zeitablauf werden selten erwähnt. entzogen. Die gebundene Form befindet sich noch in
Im Kasten auf S. 77 wird die Möglichkeit genannt, dass Erdöl- und Steinkohlelagerstätten sowie in Torfen und
wir allein im Weltall sein könnten, dies aber nicht besonders Mooren. Wie in dem Beitrag erwähnt, fungieren Wälder nur
plausibel sei. Der Text geht darauf nicht weiter ein. Ich halte dann als Nettokohlenstoffsenke, wenn mehr gebunden als
das allerdings für durchaus plausibel (nicht fürs Weltall, freigegeben wird. In Regenwäldern kann das nicht beliebig
aber für unsere Milchstraße). Laut Artikel dürfte die Milch- lange der Fall sein. Von guten Wachstumsbedingungen
straße zirka zehn Milliarden Jahre alt sein. Dazu sieht meine profitiert dort neben der Flora außerdem die Fauna. Vor
Rechnung für den Zeitablauf so aus: Für etwa 400 Millionen allem die Mikroorganismen geben den Kohlenstoff wieder
Jahre gab es bloß Sterne der ersten Generation, die ledig- an die Atmosphäre ab, sobald Pflanzen verenden.
lich Spuren der Elemente schwerer als Helium aufwiesen. Die überaus aktiven Mikroben und Pilze sind auch der
Darauf folgten etwa zwei Milliarden Jahre lang zusätzlich Grund für die sehr dünne Humusschicht in tropischen
Sterne der zweiten Generation, die aber auch nur sehr Regenwäldern. In Wäldern, die auf Dauer Treibhausgase
geringe Mengen davon enthielten. Erst vor etwa 7,6 Milliar- der Atmosphäre entziehen, müssten abgestorbene Subs-
den Jahren, also lediglich drei Milliarden Jahre vor der tanzen vor aerober Verrottung geschützt gespeic hert
Entstehung des Sonnensystems, begann in den Sternen der werden (etwa in Schlamm). In den Regenwäldern gibt es
dritten Generation ernsthaft das Brüten der schwereren jedoch keine entsprechenden Lagerstätten. Solange die
Elemente. Wie unsere eigene Existenz zeigt, reichten diese Biomasse gleich bleibt, werden in Summe weder Treibhaus-
drei Milliarden Jahre zur Erzeugung von terrestrischen gase fixiert, noch wird reiner Sauerstoff erzeugt. So gese-
Planeten, aber wann war diese Möglichkeit zuerst gege- hen sind Regenwälder zumindest langfristig keine >>Lun-
ben? Genügen schon zwei Milliarden Jahre, oder geht es gen<<, wie oft behauptet wird.
etwa noch schneller? Zu Recht relativiert Anja Ramming die Klimamodelle,
Die Entwicklung des Lebens bis zu unserer Zivilisation welche davon ausgehen, dass die vermehrte C0 2-Einla-
dauerte vier Milliarden Jahre, dabei ist die Sonne optimal gerung der letzten Jahre anhalten wird. Der Zuwachs sollte
in der galaktischen habitablen Zone positioniert. Da wir eher Anlass zur Sorge geben. Es ist schon unsicher, ob
keine anderen Beispiele kennen, kann man die Variabilität die in Bäumen gebundene Kohlenstoffmenge nur gehalten
dieses Zeitraums nicht abschätzen. Und damit ist noch werden kann. Offensichtlich gibt es negative Einwirkungen
nichts über die Lebensdauer von Zivilisationen gesagt. Wir auf die Pflanzen, wodurch wieder C0 2 freigesetzt wird.
jagen unsere eigene ja gerade mit Volldampf in eine Klima- Hinzu kommen Waldbrände, deren Vernichtungskraft in
katastrophe. Auf jeden Fall ist die Ansicht, dass die Milch- letzter Zeit deutlich zunahm (siehe >>Spel<trum<< Juni 2020,
straße voller Zivilisationen sein dürfte, an den Haaren S. 60).
herbeigezogen. Astrobiologie ist eben die Wissenschaft des
Konjunktivs.
ERRATUM
••
REGENWALDER
••
SIND KEINE >>Der Kunststoff der Neandertaler<<, >>Spel<trum<< Juli 2020,
S. 78
GRUNELUNGE . Im Kasten auf S. 80 sind Pech und Teer verwechselt. Es
Die Biologin Anja Rammig erläuterte Messungen so- muss richtig heißen: >>Wenn Nadelholz oder Birkenrinde
wie Modelle, laut denen Regenwälder in Südamerika mittels der so genannten Doppeltopfmethode destilliert
und Afrika ihre Funktion als Kohlenstoffsenke ein- wird, entsteht zunächst ein als Kleber eher unbrauchbares
büßen. (>>Tropenwälder verlieren ihre Senkenfunktion<<, Material: der flü ssige Teer. Erst wenn man ihn einkocht,
>>Spektrum<< Juni 2020, S. 20) wird daraus eine zähe Masse - Pech .<<

Spektrum der Wissenschaft 8.20 95


Ein besonderes Experiment. Eine Sciencefiction-Kurzgeschichte von Eva Strasser

ott sei Dank<<, sagt lnes, als ich aus dem Koma erwa- en<<, sagt die Chefin, >>wenn Sie sich um Rupert kümmern.
che. >>Gott sei Dank bist du wieder da.<< Ich habe nicht Wir haben ihm einen Körper gegeben. Sorgen Sie dafür,
das Gefühl, jemals weg gewesen zu sein. lnes lächelt dass er auch sonst von einem Menschen nicht zu unter-
mich an und gibt mir Orangensaft. >>Motorisch ist er topfit<<, scheiden ist. Machen Sie ihn zu einem von uns.<<
sagt der Arzt. >>Sein Hauptproblem ist das emotionale Wir sehen uns Filme an. Wir unterhalten uns. Wir gehen
Zentrum. Das limbische System.<< Die Erinnerungen. Alle spazieren. Rupert interessiert sich für Vögel. Besonders
weg. lnes zeigt mir Fotos. Ich bei meiner Einschulung. Wir fasziniert ihn der Specht. Ich schreibe alles auf. Rupert sitzt
beide auf Teneriffa. Schöne Bilder. am Boden und malt. Er lächelt mich an. Ich habe ein
>>Wir sind gewandert<<, sagt lnes. >>Du hast mir auf der schlechtes Gewissen. Für ihn sind wir Freunde.
Terrasse des Hotels einen Heiratsantrag gemacht.<< Die Ich gehe mit Rupert einkaufen. Die Verl<äuferin schenkt
Hochzeit, die Geschenke, die Gäste. >>Es war sehr emotio- ihm einen Lolli. Sie nennt mich seinen Papa. Sie merkt nicht,
nal.<< Emotional, sagt der Arzt, >>hat er noch einen weiten dass Rupert kein Mensch ist. Ich gehe mit Rupert Schlitt-
Weg vor sich<<. Einmal in der Woche sehen wir uns. Ich schuh laufen. Ich l<ann es immer noch. Ich wusste nicht,
sitze ihm gegenüber, und er fragt. Nach meinem Tag. dass ich es kann. Rupert ist gut. Er kann innerhalb kürzester
Meinem Leben. >>Wir kriegen das wieder hin<<, sagt er. Zeit jede Sportart lernen. Er lacht viel.
lnes streicht über mein Gesicht und sagt: >>Es tut mir lnes fragt mich, wie es läuft mit dem neuen Job. >>Gut<<,
leid.<< Mir tut es auch leid. Das sage ich aber nicht. Ich sage sage ich. Was genau ich mache, darf ich nicht erzählen. Ich
nicht, dass ich mich nicht an sie erinnere, nicht an Teneriffa habe einen Vertrag unterschrieben. lnes sitzt den ganzen
und nicht an den Heiratsantrag. Zum Glück besteht das Tag zu Hause und will ein Kind. Ich beschäftige mich die
menschliche Gehirn aus verschiedenen Teilen. Der, in dem ganze Zeit mit einem Kind. Das ist nicht gerecht. Mein Arzt
mein Arbeitsleben gespeichert ist, funktioniert reibungslos. freut sich. Was genau ich empfinde, will er wissen. >>Das ist
Ich habe Psychologie studiert. Und Informatik. nicht gerecht<<, sage ich.
Also suche ich einen neuen Job. Ohne Erfolg. Das Koma Ich bringe lnes Blumen mit. Wir probieren es weiter.
ist kein guter Punkt in meinem Lebenslauf. >>Nur nicht Abends sitzen wir auf dem Sofa. Sie legt ihren Kopf auf
aufgeben<<, sagt der Arzt. >>Sie machen das super.<< Da meine Schulter. Zurück im Labor streiche ich Ruperts Zim-
l<ommt lnes mit einer Stellenanzeige. CyCorps International mer. Ich male Fenster auf, dahinter wabert der Wald. Er
hat einen Firmensitz auf dem Land und sucht einen Spezia- umarmt mich. Ich spüre seinen Herzschlag. Ich weiß, dass
listen. Sie laden mich ein. Zehn Leute sitzen mir gegenüber. er kein Herz hat. Es ist mir egal. Ich mag Rupert.
Was genau sie machen, sagen sie nicht. Nur, dass sie hier
an einem Experiment arbeiten. CyCorps wird mein neuer eh habe dich gesehen<<, sagt lnes eines Tages. >>Du warst
Arbeitgeber. in der Stadt. Mit einem Kind. Was ist das für ein Kind?<<
Auf dem Land. Es gibt nur einen Laden. In unserer Sie beginnt zu weinen. Ich gehe zur Chefin. >>Ich kann nicht
Straße spielen viele Kinder. Nachts ist es totenstill. Wir mehr mit Rupert arbeiten<<, sage ich. Sie sieht mich an.
versuchen, ein Kind zu bekommen. lnes sagt, es geht ihr >>Wir könnten das Experiment erweitern. Sehen, wie Rupert
gut, aber ich sehe, dass das nicht stimmt. >>lnes tut mir auf eine weibliche Bezugsperson reagiert.<< Ich verstehe
leid<<, sage ich dem Arzt. >>Mitleid<<, notiert er und freut sich. nicht. >>Nehmen Sie ihn mit nach Hause<<, sagt die Chefin.
Mein Büro liegt im Erdgeschoss. Vor meiner Tür ein >>Unter einer Bedingung: lnes darf nicht erfahren, was
kleiner See. Bäume, Frösche, Kaulquappen. >>Ein toller Rupert ist.<<
Arbeitsplatz<<, sagt mein Arzt. Nach zwei Wochen kommt Ich sage lnes: Rupert ist der Sohn eines Kollegen. Er und
meine Chefin zu mir. >>Kommen Sie mit.<< Wir fahren fünf seine Frau sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Wir
Stockwerke in die Tiefe. >>Die Tür ganz hinten<<, sagt die müssen noch ein paar Formalitäten klären. Das bürokrati-
Chefin. Vor mir sitzt ein l<leiner Junge. >>Das ist Rupert.<< sche System. Aber wenn du möchtest, haben wir jetzt einen
Rupert ist das große Geheimnis. Das Experiment. >>Das Sohn. lnes weint und lacht und fällt mir um den Hals.
geht doch nicht<<, sage ich, >>das ist doch kein Aufenthalts- Rupert bekommt das Kinderzimmer. Er spielt mit den
ort für Kinder. Hier unten, ohne Fenster.<< Die Chefin lacht. Nachbarskindern. Er geht in die 2. Klasse und besiegt mich
Rupert ist nicht echt. im Schach. Er mag keine Hausaufgaben, und er mag es
Rupert sieht aus wie ein achtjähriger Junge, er spricht nicht, wenn man ihm sagt, was er tun soll. Wenn ich ihn
wie ein achtjähriger Junge. Aber wenn man etwas am bitte, Salat zu waschen, sagt er >>Nein<< und geht schaukeln.
Algorithmus ändert, spricht er japanisch. Oder dreht durch. Wenn ich will, dass er seine Jacke ordentlich an den Haken
Rupert ist ein humanoider Roboter. >>Wir würden uns freu- hängt, rennt er zum Fernseher.

96 Spektrum der Wissenschaft 8. 20


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>>Rupert!<<, rufe ich und mache den Fernseher aus. Er den Fernseher um. Er brüllt: >>Ihr Schweine!<< Dann hebt er
scharrt mit den Füßen, hält den Kopf schief und bleibt eine große Scherbe auf und nähert sich lnes. Sie springt
stehen. lnes gibt ihm Kakao und sieht mich an. >>Er ist noch auf. Ich stelle mich schützend vor sie. Das mit der Scherbe
ein Kind. Sei nicht so streng.<< Ich ändere den Algorithmus. ist nicht von mir. Rupert lernt schnell.
Minimal. Aber lnes bemerkt den Unterschied sofort. >>Was Mein Smartphone liegt auf der Kommode. Mit aus-
ist los? Geben die ihm in der Schule Medikamente?<< Ich druckslosem Gesicht kommt Rupert auf uns zu. Ich werfe
mache es rückgängig. meinen Stuhl nach ihm, renne zur Kommode und tippe auf
Am nächsten Tag liegt die Jacke wieder im Flur und der das Display. Rupert bleibt mitten in der Bewegung stehen.
Fernseher läuft. Ich frage Rupert, ob wir ins Kino gehen. Er Mit erhobenem Arm, Risottoflecken auf dem Pulli. lnes
will, dass lnes auch mitkommt. Mutter und Sohn. Ich bin versteht nicht. >>Was hat er?<< Sie fängt an zu weinen. >>Was
der, der das Kind umprogrammieren kann. ist hier los?<<
Wenn ich abends nach Hause komme, spielen die bei-
den im Garten. Ich stelle mir einen Teller in die Mikrowelle eh sage es ihr. Dass Rupert nicht echt ist. Ein Experi-
und setze mich vor den Fernseher. lnes sehe ich kaum ment. Dass man bei einem Roboter nie sicher sein kann,
noch. >>Lass uns was zusammen machen<<, sage ich. >>Wir was in ihm vorgeht. lnes starrt mich an, geht dann zu
könnten in den Zoo<<, strahlt sie mich an, >>Rupert liebt Rupert und streicht über seine Wangen, seine Stirn.
Tiere.<< >>Nur du und ich<<, sage ich. >>Als Paar.<< Ach so, sagt >>Mach ihn wieder an<<, sagt sie dann. >>Ich will kein Kind
lnes. Ich sage nichts mehr. Der Arzt freut sich. >>Eheproble- mit einem Ausknopf.<< Sie bringt Rupert ins Bett, macht
me. Super.<< ihm noch eine Milch. lnes dreht sich um: >>Ich will, dass du
Ich fange an zu joggen. Frische Luft. Der Specht häm- gehst<<, sagt sie dann. >>Wenn ich morgen aufstehe, bist
mert gegen seinen Baum. Zu Hause lachen lnes und Ru- du weg.<<
pert. Im Bett liegen Kinderbücher. Rupert spielt mit den Ich sitze allein im dunklen Wohnzimmer. Ich will nicht
anderen Kindern. Ständig hat eines Geburtstag. >>Wann hat ohne lnes sein. Ich will nicht, dass ein Experiment mein
Rupert Geburtstag?<<, fragt mich lnes. >>Morgen<<, ruft Ru- Leben zerstört. Ich nehme ein Sofakissen und gehe in
pert. Er war schneller als ich. >>Oh mein Gott<<, sagt sie. >>Du Ruperts Zimmer. Ganz friedlich liegt er in seinem Bett, ein
musst dir frei nehmen.<< kleiner Junge, mit zu Fäusten geballten Händen. Ich drü-
cke das Kissen auf sein Gesicht. Seine Beine zappeln, dann
ist alles still.
Ich wache im Wohnzimmer auf. Stille. Rupert liegt noch
nes: immer in seinem Bett. lnes ist nicht da. Ihr Auto ist nicht
da. Ich fahre zur Arbeit. Werde sagen, dass das Experi-

0 ment gescheitert ist. Dass es mir leid tut. Werde kündigen.


In der Tiefgarage von CyCorps steht lnes' Wagen. Ich

fahre mit dem Fahrstuhl nach oben.
eines r un leere Gänge. Da höre ich eine bekannte Stimme. Es ist
• • mein Arzt. Was hat mein Arzt hier zu suchen? Jetzt spricht
seine rau s1n 0 lnes. Sie stehen im Labor, mein Arzt, lnes und die Chefin.
>>Er hat bestanden<<, sagt mein Arzt. >>Das Experiment ist
geglückt. Er hat einen seiner Art getötet. Er ist von einem
Unser Haus ist verwüstet. Die Fenster mit Fingerfarben Menschen nicht zu unterscheiden.<< Sie sprechen nicht
bemalt. Ich finde Pommes in unserem Bett. >>Das geht so über Rupert. Sie reden über mich. Das Experiment bin ich.
nicht<<, sage ich zu lnes. >>Das sind Kinder<<, sagt sie. >>Lass Ich will zu ihnen in den Raum, aber kann mich nicht
sie doch.<< Die anderen vielleicht, denke ich. Ich muss es ihr mehr bewegen. lnes sieht mich an. Mein Herz rast. >>Es tut
sagen. >>Unter keinen Umständen<<, sagt meine Chefin. >>Sie mir leid<<, sagt sie. Die Finger meines Arztes fliegen über
haben einen Vertrag unterschrieben.<< >>Sie wollen Ihre Frau die Tastatur.
zurück<<, sagt mein Arzt. >>Sie lieben Sie.<< lnes und ich Ich denke an den Wald, den Moosboden unter meinen
streiten nur noch. Ich brülle. Rupert reißt die Augen auf und Füßen, ich höre das Klopfen des Spechts. Ich muss mir
hält sich die Hände vor die Ohren. Dann rennt er zu lnes merken, dass lnes nicht meine Frau ist. Dass der Arzt nicht
und umarmt sie. mein Freund ist. Ich muss mir unbedingt merken, dass
Am nächsten Abend essen wir zusammen. Ich habe --------~
mir Risotto gewünscht. Nach dem Essen trage ich die Teller
in die Küche. Wie nebenbei wische ich über mein Smart-
phone. Rupert sieht lnes an, wackelt mit dem Kopf und DIE AUTORIN
sagt: >>Du Hure.<< lnes lässt ihr Glas fallen. >>Du hässliches
Eva Strasser schreibt Drehbücher, Kurzgeschichten und
Stücl< Scheiße<<, sagt Rupert zu lnes. lnes starrt mich an. Hörspiele und lebt in Berlin. Für ihre Kurzgeschichte
>>Rupert<<, sage ich, >>hör sofort auf.<< Rupert wirft seinen >>Knox« hat sie 2015 den Deutschen Science Fiction Preis
Stuhl um. Er schmeißt mein Weinglas an die Wand. Wirft gewonnen.

Spektrum der Wissenschaft 8. 20 97


Das Septemberheft ist ab 15. 8. 2020 im Handel.

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Zwerggalaxien spielen beim Wachstum
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der Strukturen des Alls eine wichtige
Rolle. Doch die kleinen Sternsysteme in
unserer Umgebung verhalten sich ganz
anders, als es laut Modellrechnungen
zu erwarten wäre.

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Rätselhaft• z..,..erggalaxien
t2 umsu;nene Patel'lts auf Leben
Dem Mikroplastl"k auf der Spur

DEUTSCHLAND IM l<LIMAWANDEL
Viele Auswirkungen der weltweiten Klimaveränderungen spüren wir
auch hier zu lande. So treten in Mitteleuropa immer wieder Extrem- DEM Mll<ROPLASTll<
situationen auf: Dramatische Ernteverluste und Waldschäden begleiteten
etwa die Trockensommer 2018 und 2019. Womit müssen wir in Deutsch-
AUF DER SPUR
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land in den kommenden Jahrzehnten rechnen? Und was können wir Uberall in unserer Umwelt finden sich
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tun, um unsere Okosysteme und lnfrastrul<turen robuster zu machen? kleinste Kunststoffteilchen, selbst an
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Die neue >>Spektrum<<-Serie gibt einen Uberblick. den abgelegensten Orten. Während
längst eine große Debatte darüber läuft,
wie wir die Flut an Mil<roplastik eindäm-
men können, ist noch gar nicht klar,
PATENTE AUF LEBEN wie die Partikel auf Organismen wirken.
Patente sind Schutzrechte auf
Erfindungen. Lassen sie sich
auf Lebewesen anwenden, wie
etwa in der Pflanzenzucht
üblich? Darf man isolierte Gen- NEWSLETTER
sequenzen für medizinische
Möchten Sie über Themen und Autoren
Anwendungen patentieren? des neuen Hefts informiert sein?
Die Debatte um das seit Jahr- Wir halten Sie gern auf dem laufenden:
zehnten umstrittene Thema per E-Mail - und natürlich kostenlos.
gewinnt angesichts innovativer Registrierung unter:
Verfahren wie CRISPR-Cas spektrum.de/newsletter
neue Brisanz.

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