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tite lth e m a m e h rs prac h i g k e it

Wanderer zwischen
den Wortwelten
Mit mehr als einer Sprache groß zu werden, ist für Kinder ein Problem –
so eine verbreitete Ansicht. Das widerlegen aktuelle Studien: Wer von
klein auf nicht nur eine Muttersprache hat, ist im Schnitt sogar schlauer!

Von Bas Kast

Z
Au f ei n en B lic k weisprachigkeit macht blöd! So lautet lisch aufzuwachsen. Sie würden nicht nur bei der
Verbales etwas salopp die Arbeitshypothese, Intelligenzprüfung (vor allem in deren sprach­
von der die Psychologen Elizabeth lichen Teilen) schlechter abschneiden, sondern
­Hirntraining
Peal und Wallace Lambert ausgingen, auch in den schulischen Leistungen ihren Klas­

1 Bilingualität fördert
laut Forschern die
geistige Flexibilität von
als sie Anfang der 1960er Jahre unter­
suchten, wie sich zweisprachige Erziehung auf
senkameraden hinterherhinken, glaubten Peal
und Lambert.
Kindern. die Kindesentwicklung auswirkt. Die Forscher Die Überraschung folgte auf dem Fuß: Keine

2 Auch Erwachsene
pro­fitieren davon
nicht nur auf sprachli­
von der McGill University im kanadischen Mon­
treal vertraten damit nichts anderes als die eins­
der Hypothesen ließ sich bestätigen! Die zwei­
sprachigen Kinder hatten im Gegenteil sogar
chem Gebiet – Probleme tige Lehrmeinung unter Pädagogen. Seit dem­­ bessere Noten als die einsprachigen, und sie wa­
lösen sie oft besser als 19. Jahrhundert hatten Erziehungsexperten ein­ ren in fast jedem IQ-Test, ob verbal oder nicht-
einsprachige Vergleichs­ dringlich vor den vermeintlichen Gefahren des verbal, ihren Mitschülern teils weit überlegen.
personen.
Bilingualismus gewarnt. »Wenn es für ein Kind Bei keinem Aufgabentyp hatten einsprachige

3 Es gibt sogar Hin­


weise darauf, dass
Zwei- oder Mehrspra­
möglich wäre, in zwei Sprachen gleichzeitig zu
leben – umso schlimmer! Sein intellektuelles
Schüler die Nase vorn.

chigkeit das Risiko Wachstum wird dadurch nicht verdoppelt, son­


Mythos Sprachverwirrung
verringert, im Alter an dern halbiert«, urteilte etwa der Schotte Simon Die Zweisprachigkeit war damit ein für alle Mal
Demenz zu erkranken.
Somerville Laurie (1829 – 1909), erster Professor rehabilitiert – sollte man meinen. Tatsächlich
für Theorie, Geschichte und Kunst der Erziehung werden Fremdsprachenkenntnisse heute zwar
an der University of Edinburgh. allseits begrüßt, doch in Sachen zweisprachiger
Die Sache schien also schon ausgemacht, ehe Früherziehung lässt sich bei vielen Pädagogen
das kanadische Forscherduo knapp ein halbes und verunsicherten Eltern nach wie vor Skepsis
Dutzend Montrealer Schulen betrat, um die vernehmen. Mehrere Sprachen zu beherrschen,
­geis­tige Fitness der zehnjährigen Schüler per sei in unserer globalisierten Welt sicher hilfreich.
­IQ-Test auf die Probe zu stellen. Amtssprache in Doof nur, wenn man am Ende keine davon so
Mont­real ist Französisch; nicht wenige Kinder richtig beherrsche. Und ist es nicht auch verwir­
­jedoch hatten das »Pech«, zusätzlich mit Eng­ rend für ein Kind, allzu früh mit zwei Sprachen

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tite lth e ma me h rsprac h i g k e it

»Zweisprachige aufzuwachsen? Birgt das nicht auch Risiken und Im zweiten Teil änderten sich nun die Sprach­
Nebenwirkungen, wie etwa eine verzögerte ko­ laute, und das Figürchen erschien auf der linken
Erziehung hat
gnitive Entwicklung? Seite des Monitors. Jetzt galt es, eine gewisse
Nebenwir­kun- Heute wissen wir: Ja, eine zweisprachige Erzie­ ­Anpassungsfähigkeit an den Tag zu legen und
gen – allerdings hung hat Nebenwirkungen – allerdings sind die­ nicht mehr automatisch nach rechts zu gucken,
sind diese in den se in den meisten Fällen nicht bedenklich, son­ sondern den Blick nach links zu wenden, sobald

meis­ten Fällen dern überaus wünschenswert. Die möglichen ne­ die Laute erklangen. Hier traten deutliche Unter­
gativen Folgen sind schnell erzählt. Sie betreffen schiede zwischen den Säuglingen auf: Nur jene,
nicht bedenklich,
erstens das Vokabular. Zweisprachige Kinder die zweisprachig aufwuchsen, schafften den
sondern über- kennen in den einzelnen Sprachen (selbst in je­ Wechsel, die anderen aber scheiterten aus­
aus wünschens- ner, die sie am besten beherrschen) im Schnitt nahmslos – und blickten weiter stur nach rechts.
wert« etwas weniger Wörter als einsprachige. Zeigt Diese Form geistiger Flexibilität gehört zu
man ihnen einen bestimmten Gegenstand, brau­ ­einer Familie mentaler Fähigkeiten, die Psycho­
chen Zweisprachige außerdem einen Tick länger, logen als exekutive Funktionen bezeichnen. Wir
um die entsprechende Bezeichnung aus den Tie­ verdanken sie unter anderem unserem Präfron­
fen des Wortgedächtnisses hervorzuholen. Das talkortex, einem Hirnteil direkt hinter den Au­
war’s! gen, der etwa so groß wie ein Tennisball ist. Un­
Die Furcht vor einem verzögerten Spracher­ sere neuronale Exekutive hilft uns vor allem,
werb oder anderen kognitiven Defiziten hat sich ­automatisierte Reaktionen notfalls zu unter­
in empirischen Studien als unbegründet erwie­ drücken, die Aufmerksamkeit gezielt umzulen­
sen. Zweisprachig aufwachsende Kleinkinder ken und unser Verhalten immer wieder wech­
sprechen ihr erstes Wort im Alter von etwa einem selnden Anforderungen anzupassen. Intakte
Jahr, genau wie einsprachige. Auch im weiteren Exekutivfunktionen sind daher wichtig für das
Entwicklungsverlauf zeigten sich keine nennens­ Konzentrationsvermögen und planvolles Han­
werten Auffälligkeiten – zumindest keine nega­ deln – und beides erweist sich im gesamten Le­
tiven. ben als nützlich.
blau Vielmehr haben zahlreiche Untersuchungen
Alarmstufe ROT
grün der vergangenen Jahre immer neue Pluspunkte

gelb zu Gunsten der Zweisprachigkeit offenbart. Die Eine klassische Methode, die Exekutivfunktio­
Vorteile reichen dabei von den ersten Lebensmo­ nen des Gehirns auf die Probe zu stellen, ist der
rot
naten bis ins hohe Alter. In einer Studie unter­ so genannte Stroop-Test. Dahinter steckt Folgen­
grün suchten Agnes Kovacs und Jacques Mehler von des: Präsentiert man uns geometrische Figuren
der Universität in Triest (Italien) sieben Monate wie zum Beispiel ein Viereck in roter oder grüner
Der Stroop-Test alte Babys, von denen ein Teil zweisprachig auf­ Farbe und wir sollen die Farbe benennen, ist das
ist ein nach dem US- wuchs. Obwohl die Säuglinge noch kein Wort von für jedermann ein Klacks. Ebenso kinderleicht
amerikanischen Psycho­
sich gaben, zeigten sich verblüffende Unter­ fällt uns die Aufgabe, wenn wir statt einem Vier­
logen John Ridley Stroop
(1897 – 1973) benanntes schiede zu Kindern, die nur mit einer Sprache in eck das Wort »grün« zu sehen bekommen, ge­
Verfahren, das die exeku­ Kontakt gekommen waren. druckt in grüner Farbe.
tiven Funktionen von In einem Test wurden die Babys vor einem Erscheint nun allerdings ab und zu das Wort
Probanden auf die Probe
Computer platziert. Sobald ein Sprachlaut er­ »grün« in roter Farbe (oder »rot« in Grün), sind
stellt. In der klassischen
Variante besteht die klang, war auf der rechten Seite des Bildschirms wir verwirrt. Unser Gehirn neigt dazu, das zu le­
Aufgabe darin, die Druck­ ein lustiges Figürchen zu sehen. Das Schauspiel sende Wort herauszuposaunen; genau das müs­
farbe einer Reihe von wiederholte sich ein paar Mal, so dass die Babys sen wir aber ignorieren und unsere Aufmerk­
Farbwörtern laut zu
benennen. Stimmt das den Blick schon bald automatisch nach rechts samkeit ganz auf die jeweilige Druckfarbe rich­
Wort mit der Farbe wandten, wenn ein Laut ertönte. Die Forscher ten. Die Folge: Es kommt häufig zu Fehlern, und
überein, ist das ein konnten dies mit Hilfe eines Eye-Tracking-Geräts wir brauchen insgesamt länger für die richtige
Kinderspiel – sobald aber
exakt verfolgen –  und beide Gruppen von Kin­ Antwort. Untersuchungen zeigen, dass zweispra­
beides auseinanderklafft,
ist Konzentration gefragt dern lernten dieses Vorexperiment gleicherma­ chige Menschen in Tests wie diesem oft besser
(siehe oben). ßen erfolgreich. abschneiden.

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Westöstlicher Urahn
Bei einer wachsenden
Zahl von Menschen
sprechen beide Eltern-
teile verschiedene
­Muttersprachen.
Portrait: Mike Abmaier [M]; Text aus: Tausendundeine Nacht, übersetzt von Claudia Ott; mit frdl. Gen. vom C.H. Beck Verlag

Das ergibt auch durchaus Sinn, denn was lernt sprachiges Kind einen Hund, so denkt es
ein Kind, das ständig zwischen zwei Idiomen ­unweigerlich »Hund«; in seinem Gehirn muss L es en S i e au c h :

wechselt, abgesehen von einer zweiten Sprache? nichts unterdrückt und keine Aufmerksamkeit Ins Sprachbad
Erstens muss es in einem mehrsprachigen Um­ umgelenkt werden. Bei einem zweisprachigen eintauchen
feld stets darauf achten, welche Sprache gerade Kind taucht nicht nur »Hund« auf, sondern zu­ So klappt bilingualer
Unterricht (S. 40)
gesprochen wird. Schon das allein schärft wo­ gleich »dog« oder »perro« oder »katık« (das heißt
möglich den Sinn für die Umwelt. Darüber hi­ »Hund« auf Zazaki, der Sprache der Zaza in Ost­
Parlez-vous
»logique«?
naus muss der Zweisprachige im Grunde bei anatolien). Um eine Vermischung zu vermeiden,
In der Fremdsprache
­jedem Gegenstand, den er sieht, die Exeku­tive muss eins der Wörter unterdrückt und das ande­ entscheiden wir ratio­
seines Gehirns rekrutieren: Beobachtet ein ein­ re selektiv aktiviert werden. naler (S. 44)


www.gehirn-und-geist.de 37
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Schöngeist
Ob Italienisch oder
Russisch – manche
Komödie ist in jeder
Sprache göttlich.

Mike Abmaier [M]

»Der geistige
So gleicht das Aufwachsen mit zwei Sprachen Ein gutes Beispiel dafür ist die Fähigkeit, die
Gewinn der
einem dauernden Intensivtraining für die Hirn­ Perspektive einer anderen Person einzunehmen.
Mehrsprachig- exekutive. Sie lässt sich vergleichen mit einer Ausgeklügelte Tests haben gezeigt, dass dies
keit bleibt bis ins zentralen Muskelgruppe, die bei vielen verschie­ Zweisprachigen früher gelingt als üblich – im Al­
hohe Alter erhal- denen Tätigkeiten zum Einsatz kommt. Trainiert ter von drei statt erst mit vier Jahren. Doch auch

ten. Sie bietet man diese Muskelgruppe, schneidet man gleich später als Erwachsene scheint es ihnen leichter
in einer ganzen Palette von Geistes­übungen zu fallen. Und wieder geben offenbar die wohl­
sogar einen ge-
­besser ab, die auf den ersten Blick so wenig mit­ trainierten Exekutivfunktionen den Ausschlag.
wissen Schutz einander zu tun haben wie Laufen, Radfahren Man muss von der eigenen Perspektive absehen
gegen Demenz« oder Schwimmen. und die Aufmerksamkeit vom eigenen Ich weg­

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lenken, um vorübergehend die Sichtweise eines sprachigkeit scheint einige der günstigen Effekte
anderen Menschen einzunehmen. eher noch zu verstärken. Ziemlich sicher ist au­
Ein anderes Feld, auf dem der Exekutivmuskel ßerdem, dass der geistige Gewinn der Mehr­
ins Spiel kommt, ist das kreative Denken. Be­ sprachigkeit bis ins hohe Alter erhalten bleibt.
trachten Sie einmal dieses Dreieck aus Kugeln in So bietet sie vermutlich sogar einen gewissen
der Randspalte rechts. Nun können Sie Ihre krea­ Schutz gegen Demenz.
tive Problemlösefähigkeit auf die Probe stellen! In einer Studie an mehr als 200 Alzheimer­
Die Aufgabe lautet: Verschieben Sie drei Kugeln patienten zeigte sich, dass die Zweisprachigen im Um die Ecke
so, dass die Spitze des Dreiecks am Ende nach un­ Schnitt über vier Jahre später in die Klinik ka­
gedacht
ten zeigt. men, und die ersten Symptome geistiger Verwir­
Lust auf einen Kreativ­
Viele Menschen richten ihre Aufmerksam­ rung bei ihnen gut fünf Jahre später auftraten als test? Verschieben Sie drei
keit zunächst auf die beiden mittleren Bällchen bei den Einsprachigen. Und das, obwohl die ein­ der oben dargestellten
der untersten Reihe – eins davon soll die neue sprachige Gruppe tendenziell längere Ausbil­ Kugeln im Geist so, dass
die Spitze des Dreiecks
Spitze bilden. Sie experimentieren eine Weile dungszeiten genossen hatte. Keines der bislang
anschließend nach unten
mit der Idee, aber es klappt nicht. Erst wenn bekannten Medikamente bietet einen ähnlich zeigt! (Die Lösung steht
man die Aufmerksamkeit von diesen Kugeln guten Alzheimerschutz. auf S. 46 in diesem Heft.)
weglenkt, gelangt man zur Lösung (die finden In einer anderen Untersuchung aus dem Jahr
Sie auf S. 46 in diesem Heft). Wie sich zeigt, fällt 2012 verglichen Forscher die Hirnscans von Alz­
zweisprachigen Menschen auch das Knacken heimerpatienten. Die geistige Verfassung war bei
solcher Kopfnüsse im Schnitt leichter als ein­ allen in etwa gleich – hinsichtlich ihrer kogni­
sprachigen. tiven Funktionen und der Gedächtnisleistung
befanden sich die Studienteilnehmer also in
Bloß keine Nullachtfünfzehn- einem ähnlich weit fortgeschrittenen Stadium
Gedanken der Krankheit. Als die Wissenschaftler nun einen
Kreativität besteht vielleicht ganz allgemein da­ Blick auf die Hirnbilder warfen, stellten sie über­
rin, nicht dem erstbesten Einfall zu folgen, son­ rascht fest: Bei den Zweisprachigen waren jene
dern den »Nullachtfünfzehn-Gedanken« zu un­ Hirnregionen, die bei Alzheimer typischerweise
terdrücken und seine Aufmerksamkeit auf nicht in Mitleidenschaft gezogen werden, stärker be­
ganz so offensichtliche Lösungsoptionen zu len­ troffen.
ken. Die Überlegenheit der Exekutivfunktionen, Was zunächst nicht sonderlich aufbauend
die sich Zweisprachige antrainiert haben, könnte klingt, deuten die Forscher als Beleg dafür, dass
womöglich innovatives Problemlösen und re­ eine Extrasprache unseren grauen Zellen erstaun­
Quellen
volutionäres Denken fördern, so spekulieren die lich guttut. Trotz des Abbaus in bestimmten Re­ Bialystok, E. et al.: Bilingua-
Forscher. gionen ihres Gehirns waren die zwei­sprachigen lism: Consequences for
Übrigens deutet einiges darauf hin, dass man Patienten geistig ähnlich fit wie hirnpatholo­ Mind and Brain. In: Trends
in Cognitive Sciences 16,
auch dann noch mit mentalen Vorteilen rechnen gisch weniger stark betroffene, einsprachige Pa­
S. 240 – 250, 2012
darf, wenn man erst später im Leben eine zweite tienten. Cushen, P. J., Wiley, J.: Aha!
Sprache erlernt. Als Faustregel gilt jedoch: Je frü­ Überspitzt könnte man also sagen: Zwei­ Voila! Eureka! Bilingualism
her und umfassender man die zweite Sprache sprachigkeit holt alles aus dem Oberstübchen and Insightful Problem
Solving. In: Learning and
beherrscht und je häufiger man sie im Alltag be­ heraus, was noch herauszuholen ist. So macht
Individual Differences 21,
nutzt, desto besser. selbst ein lokal begrenzter Neuronenschwund S. 458 – 462, 2011
Wie verschieden die Sprachen sind, scheint dem Gehirn insgesamt weniger aus. Ÿ Schweizer, T. A. et al.:
Bilingualism as a Contribu-
nicht wichtig zu sein (es zeigen sich zum Beispiel
tor to Cognitive Reserve:
keine Unterschiede zwischen den Sprachkom­ Bas Kast ist promovierter Bio­psycho- Evidence from Brain Atrophy
binationen Englisch-Chinesisch und Englisch-­ loge und lebt als freier Wissen­ in Alzheimer’s Disease. In:
Spanisch). Was die Wirkung weiterer Sprachen schaftsjournalist in Bonn. Als Sohn Cortex 48, S. 991 – 996, 2012
einer Holländerin und eines
betrifft, ist die Befundlage leider noch spärlich.
Deutschen ist er selbst zweisprachig Weitere Quellen im Internet:
Dass eine dritte oder vierte Sprache schaden aufgewachsen. www.gehirn-und-geist.de/
würde, ist allerdings unwahrscheinlich – Viel­ artikel/1191224

www.gehirn-und-geist.de 39
tite lth e m a B i l i n g ua l e r U nte r r ic ht

Ins Sprachbad
eintauchen
Auch ohne zweisprachiges Elternhaus können Kinder sehr gut Englisch,
­Französisch oder eine andere Sprache lernen – bilinguale Kindergärten
und Grundschulen machen es möglich. Forscher untersuchen, worauf es
beim Erwerb der Fremdsprache wirklich ankommt.

Frau Professor Kersten, stimmt es, dass man Warum sind dann hier zu Lande zweisprachige
nur in der Kindheit eine Sprache gut lernen Kindergärten und Schulen immer noch die
kann, weil sich sonst gewisse Lernfenster Ausnahme?
schließen? Die EU-Bildungspolitik propagiert zwar, dass Ju-
Das wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Stu- gendliche am Ende der Schulzeit zwei Fremd-
dien weisen aber tatsächlich auf sensible Phasen sprachen auf hohem Niveau beherrschen sollen.
hin, in denen die Aneignung bestimmter sprach- Das ist aber in vielen Ländern – und Deutschland
licher Phänomene zumindest leichter fällt. Die gehört dazu – noch eine Utopie. In zwei- oder
Wahrnehmung von Sprachlauten etwa verändert mehrsprachigen Ländern ist die politische Not-
sich schon nach den ersten 11 bis 18 Lebensmona- wendigkeit einer intensiven zweisprachigen För-
ten – danach fällt es uns schwerer, feinere Unter- derung wesentlich größer als in einsprachigen.
schiede wahrzunehmen. Die sensiblen Phasen Beispielsweise implementierte man in Kanada
für den Erwerb der Grammatik und des Wort- bereits in den 60er und 70er Jahren bilinguale
schatzes dauern länger. Insgesamt sind aber Programme, die in den folgenden Dekaden wis-
noch viele Fragen offen. senschaftlich intensiv begleitet wurden. Die For-
Auf jeden Fall gilt: Je jünger, desto schneller schung in Deutschland ist jünger, konnte jedoch
lernen wir eine Fremdsprache … schon eine Reihe der kanadischen Ergebnisse be-
Nein, ganz so einfach ist es nicht. Das Alter spielt stätigen.
zwar tatsächlich eine große Rolle. Kinder, die Wie funktionieren bilinguale Kindergärten
früh mit einer Fremdsprache beginnen, errei- und Schulen in der Praxis?
Lesen Si e au c h : chen später im Durchschnitt eine höhere Sprach- Sie sollen sozusagen das Eintauchen in ein
Wanderer zwischen kompetenz. Allerdings machen ältere Lerner im Sprach­bad ermöglichen, was als Immersion be-
den Wortwelten Allgemeinen zunächst schnellere Fortschritte – zeichnet wird. Dazu findet im Kindergarten in
Warum Mehrsprachigkeit
mög­licherweise, weil sie die Regeln der Sprache der Regel etwa die Hälfte des Tagesablaufs in der
schlau macht (S. 34)
bewusster erfassen. Sicher ist, dass Kinder eine Fremdsprache statt. Praktisch lässt sich das am
Parlez-vous Fremdsprache sehr erfolgreich lernen können, besten umsetzen, wenn eine von zwei Erzieherin­
»logique«?
wenn sie intensiv zur Kommunikation im Kin- nen ausschließlich in der Fremdsprache mit den
In der Fremdsprache
entscheiden wir rationaler dergarten oder als Unterrichtssprache in der Kindern kommuniziert. In Schulen wird nach
(S. 44) Schule eingesetzt wird. dem Immersionsprinzip mindestens 50 Prozent

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Kristin Kersten
Jahrgang 1972, studierte Englisch und Biologie an
der Universität Kiel und promovierte in Anglistik
an der Universität zu Köln. Ihr Forschungsschwer-
punkt ist das bilinguale Lehren und Lernen in
Kitas und Schulen. Von 2008 bis 2010 koordi-
nierte sie das multilaterale EU-Projekt ELIAS zu
bilingualen Kindergärten, das neben dem Sprach­
erwerb im Englischen und Deutschen auch
interkulturelles Lernen und bilinguale Umweltbil-
dung untersuchte. Seit 2010 ist Kristin Kersten
Juniorprofessorin für Fremdsprachenunterricht
und Zweitspracherwerb an der Universität
Hildesheim.
Isa Lange, Universität Hildesheim

des Lehrplans fremdsprachlich vermittelt, das deutlich. Zum anderen beobachten wir immer
heißt, Fächer wie zum Beispiel Geschichte, Geo- wieder, wie positiv manche Kinder auf nicht
grafie, Sachunterricht oder Mathematik werden deutsch sprechende Kinder reagieren. Sie passen
vollständig in der Fremdsprache unterrichtet. beispielsweise ihre Sprache an, um sich mit ih-
Wie gut können Kinder eine Fremdsprache im nen zu verständigen, oder kommunizieren ge-
Kindergarten bereits lernen? schickt durch nonverbale Techniken.
In manchen bilingualen Kita-Programmen bleibt Fördern zweisprachige Kindergärten auch die
es vor allem bei der Perzeption: Die Kinder ver- Intelligenz?
stehen die Fremdsprache und reagieren darauf, Das ist schwer zu sagen. Die Kinder, die an bilin-
Das ELIAS-
antworten aber hauptsächlich noch auf Deutsch. gualen Programmen teilnehmen, stammen häu- Projekt
In intensiveren Programmen beginnen sie, die fig aus bildungsnahen Elternhäusern und wer- An dem EU-Forschungs-
Sprache kreativ zu verwenden. Einzelne Kinder den auch teilweise von den Schulen vorausge- projekt ELIAS (Early
Language and Intercultu-
können auch schon vieles in der Fremdsprache wählt. Deshalb ist es nicht immer einfach, die ral Acquisition Studies)
ausdrücken und konstruieren zum Beispiel eige- positiven Resultate von Intelligenztests, die es nahmen zehn bilinguale
ne Fragesätze. Am Ende der bilingualen Grund- durchaus gibt, auf das bilinguale Programm zu- Kindertagesstätten in
Belgien, Deutschland,
schule erreichen viele etwa in Englisch schon rückzuführen. Anders bei Kindern, die von Ge-
England und Schweden
sehr hohe Spracherwerbsstufen. Diese Ergeb- burt an zweisprachig erzogen wurden: Sie haben teil. Zwei Jahre lang
nisse belegen die Effektivität der Immersions- nachweislich zum Beispiel ein größeres Sprach- begleiteten Wissen-
programme auch in Deutschland. bewusstsein, können ihre Aufmerksamkeit bes- schaftler rund 400
Kinder und 20 Erziehe-
Profitieren die Kindergartenkinder noch auf ser auf wichtige Informationen fokussieren und
rinnen. Intensität, Dauer
anderen Gebieten? lösen Aufgaben oft kreativer – möglicherweise und Qualität der Fremd-
Das ist durchaus möglich. Die allermeisten Kin- weil sie eher daran gewöhnt sind, die Welt auf sprachenvermittlung
der zeigen großen Spaß an der Fremdsprache. Sie zwei verschiedene Weisen zu beschreiben (siehe beeinflussten den Lern-
fortschritt entscheidend,
sind stolz auf jedes Wort, jede Redewendung, die Artikel ab S. 34). Es ist aber ungewiss, ob in bilin- ohne dass die Entwick-
sie gelernt haben. Außerdem beobachten wir, gualen Kindergärten oder Grundschulen schon lung der Muttersprache
wie sie interkulturelle Kompetenzen entwickeln, jene Intensitätsschwelle erreicht wird, ab der die darunter litt.
auch wenn sich das nur schwierig in Zahlen aus- Kinder in dieser Weise kognitiv profitieren.
Mehr Informationen im
drücken lässt. Das wird zum einen im Umgang Macht der Besuch eines bilingualen Kinder­ Internet:
mit den muttersprachlichen Erzieherinnen gartens überhaupt Sinn, wenn nur ein paar www.elias.bilikita.org


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tite lth e ma Zwe isp rac h i g e r U nte r r i c ht

Tipps für Pädagogen Stunden pro Woche der Fremdsprache gewid­ dem Kind vorlesen und vieles andere mehr. Die
met werden? Kinder mit Migrationshintergrund in unse­rer
»Do you
Die Frage ist eher, was man sich von dem Besuch Studie haben im Deutschen nicht schlechter ab-
understand?«
erwartet. Will man sein Kind nur neugierig auf geschnitten als die anderen. Im Verständnis der
Die Qualität der Fremd-
die Sprache machen, reicht vielleicht schon eine englischen Grammatik waren sie sogar tenden­
sprachenvermittlung
können Erzieher und Leh- spielerische Begegnung einmal pro Woche. Viele ziell etwas besser. Aber für allgemein gültige
rer steigern, indem sie … Studien belegen jedoch: je länger und intensiver Aussagen war ihre Anzahl zu ge­ring – andere Stu-
• das Gesagte durch das Programm, desto besser die Ergebnisse in dien kommen zu widersprüchlichen Ergebnis-
Gestik, Mimik und den Sprachtests. Tatsächlich sollten die Eltern sen. Um solche Fragen beantworten zu können,
Körpersprache unter- sich das bilinguale Angebot genau anschauen. brauchen wir noch viel mehr Forschung.
stützen
Oft wird die Bezeichnung Immersion gewählt, Beim Thema Zweisprachigkeit fürchten viele
• Bilder oder Objekte zur
Verdeutlichung zeigen viele Programme sind dann aber wenig intensiv. ­Eltern, ihre Kinder würden später keine der
• die Sprache handlungs- Worauf kommt es noch an, wenn der Fremd­ beiden Sprachen richtig beherrschen.
begleitend einsetzen sprachenerwerb in der Kita klappen soll? Die Muttersprache entwickelt sich im Alter zwi-
• Lieder, Reime und Spiele
verwenden Zum Beispiel auf die Art und Weise, in der die schen drei und sechs Jahren natürlich stark wei-
• Routinen wie Aufräu- Fremdsprache vermittelt wird – das hat unsere ter. Zumindest für die intensiven Programme be-
men, Morgenkreis oder ELIAS-Studie sehr deutlich gezeigt. Das Kind legen Studien aber, dass ihr Erwerb durch die
das gemeinsame
lernt die Sprache nicht dadurch, dass es sie nur Zweitsprache nicht leidet, das gilt auch für die
Frühstück einbinden
• formelhafte Wendun­ hört, sondern dadurch, dass es versteht, was mit Schulzeit. Es gibt eigentlich nur einen kritischen
gen, aber auch reichhal- ihm gesprochen wird. Wichtig sind etwa die Ges­ Fall, das ist die so genannte doppelte Halbspra-
tige Sprache benutzen tik und Mimik der Pädagogin, wie sie spricht und chigkeit. Sie kann entstehen, wenn die Mutter-
• langsam und betont
betont, wie sie Bilder oder Gegenstände einsetzt, sprache plötzlich unterdrückt wird und zum Bei-
sprechen, Pausen
machen um das Gesagte zu erklären, und viele andere spiel Eltern mit ihrem Kind nach der Einschu-
• nicht ins Übersetzen nonverbale Techniken. Bei jenen Erzieherinnen, lung auf einmal nur noch Deutsch sprechen,
verfallen, um etwas die viele dieser Prinzipien anwandten, erzielten obwohl sie es womöglich selbst nur schlecht be-
verständlich zu machen
• auf Äußerungen der die Kinder die besten Fortschritte (siehe »Tipps herrschen. Die Eltern möchten das Kind eigent-
Kinder eingehen für Pädagogen«, links). lich unterstützen, jedoch hängt mit der Entwick-
• bei Fehlern nicht kri­ Was sollte das Team in einem bilingualen Kin­ lung der Muttersprache ja die gesamte bisherige
tisieren, sondern die
dergarten besonders beachten? kognitive Entwicklung zusammen, die nicht ab-
korrekte Form wieder-
holen und gelegentlich Kommen die Erzieherinnen aus verschiedenen brechen sollte. Wenn dann in der Schule keine
zur Selbstverbesserung Ländern, gibt es häufiger einmal unterschied- der beiden Sprachen spezifisch gefördert wird,
ermutigen liche Ansichten über pädagogische Fragen – eine kann es einem Kind tatsächlich schwerfallen,
(Kersten, K. et al.: Guidelines for
Language Use in Bilingual
gute Gelegenheit für das Team, die eigene inter- diese altersgemäß zu lernen. Die goldene Regel
Preschools. In: Kersten, K. et al. kulturelle Kompetenz zu schulen! Wenn die Kin- für Eltern lautet immer, die Muttersprache des
(Hg.): Bilingual Preschools 2:
Best Practices. WVT, Trier 2010, der merken, dass die englischsprachige Erzie­ Kindes zu unterstützen.
S. 103 – 116)
herin weniger Verantwortung hat als ihre Kolle- Würden Sie bei einem Kind mit verzögerter
ginnen, unterminiert das auch die Autorität der Sprachentwicklung oder einer Legasthenie
Sprache und damit die Notwendigkeit, sich diese zum Besuch einer bilingualen Schule raten?
zu erschließen. Die fremdsprachige Erzieherin Ich würde jedenfalls nicht pauschal abraten. Es
sollte gleichwertig mit der deutschsprachigen gibt kanadische Forschung zu so genannten Ri­
den gesamten Kindergartenalltag bestreiten. sikokindern in bilingualen Einrichtungen. Man
Ist ein bilingualer Kindergarten auch für Kin­ beobachtete, dass diese Kinder in den mehrspra-
der mit Migrationshintergrund geeignet, oder chigen Programmen mit den gleichen Schwierig-
sind drei Sprachen zu viel des Guten? keiten kämpfen wie in der einsprachigen Schule.
Das kann man nicht pauschal beantworten. Es Nehmen wir die Lese-Rechtschreib-Schwäche –
kommt nicht nur auf das einzelne Kind und sei- die verschwindet nicht einfach in einem zwei-
nen Sprachstand an, sondern auch darauf, welche sprachigen Programm, das heißt, die Kinder wer-
Sprache die Eltern zu Hause sprechen, falls das den immer mehr Zeit investieren müssen als an-
Deutsch ist, wie gut sie dieses beherrschen, ob sie dere, um das zu kompensieren. Sie schneiden

42 GuG 6_2013


aber in einschlägigen Studien nicht schlechter in »An Grund­schu­
ihrer Muttersprache ab als vergleichbare Kinder
len mit ­bilin­-
im einsprachigen Unterricht.
Und wie kommen solche Kinder mit der
gualem Angebot
Fremdsprache zurecht? werden die bes­
Sie profitieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ten Ergebnisse er­
indem sie eine deutlich höhere Kompetenz in zielt, wenn mehr

Isa Lange, Universität Hildesheim


der Fremdsprache aufbauen als in einsprachigen
als 50 Prozent
Schulen. Meiner Ansicht nach sollte man den Kin-
dern diese Chance nicht vorenthalten. Es ist zwar des Unterrichts
nicht möglich, die Schwierigkeiten in jedem Ein- in der Fremd-
zelfall genau vorherzusagen, doch lässt die Mehr- sprache unter-
zahl der Studien darauf schließen, dass bei ent- betreiben müssen, um die Fachinhalte auch auf
richtet werden«
sprechender Förderung die Vorteile überwiegen. anderem Weg als sprachlich verständlich zu ma-
Bilinguale Schulen sind demnach prinzipiell chen. Will eine Grundschule ein bilinguales Pro-
für alle Kinder geeignet? gramm einführen, sollten mindestens 50 Prozent
Immer unter der Voraussetzung, dass jedes ein- des Unterrichts in der Fremdsprache ablaufen –
zelne Kind die individuelle Förderung bekommt, denn hierfür sind die positivsten Ergebnisse be-
die es braucht. Das wird in den nordamerikani­ legt. Manchmal genehmigen Schulbehörden bi-
schen Einrichtungen zum Teil sehr gut umge- lingualen Unterricht als Schulversuch, begrenzen
setzt, und entsprechend wird viel Geld dafür in­ ihn aber etwa auf 30 Prozent – das widerspricht
vestiert. In Deutschland sind wir leider noch nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ganztags-
überall so weit. Aber mit der Einführung des in- schulen können eine solche Begrenzung teil­
klusiven Lernens – also des gemeinsamen Ler- weise kompensieren, da es dort weitere Möglich-
nens zusammen mit Kindern, die sonderpädago- keiten gibt, die Fremdsprache außerhalb des Un-
gischer Unterstützung bedürfen – kommt diese terrichts in den Tagesablauf zu integrieren.
Aufgabe zukünftig noch viel stärker auf uns zu. Können Eltern mit ihrem Kind eine Fremd­
Leiden die Leistungen in den fremdsprachlich sprache üben, wenn sie diese nur leidlich be­
unterrichteten Fächern? herrschen?
Nach den bisherigen Erkenntnissen aus der ka- Die Entscheidung bleibt natürlich jedem selbst
nadischen Forschung ist das insbesondere in den überlassen, doch sollte man seine eigene Sprach- Literaturtipp
Kersten, K.: Fremdsprachen-
intensiven bilingualen Programmen nicht zu be- kompetenz richtig einschätzen. Das Kind wird
erwerb im Kindesalter:
fürchten. Auch deutsche Untersuchungen zum natürlich auch eine fehlerhafte Grammatik oder Forschungsergebnisse aus
Beispiel für das Fach Mathematik an Hamburger Aussprache übernehmen, was ihm schlimms­ bilingualen Kitas. In: Lenz, F.
Immersionsschulen kommen zu ähnlichen Er- tenfalls im Nachhinein den weiteren Sprach­ (Hg.): Bilinguales Lernen –
Unterrichtskonzepte zur
gebnissen. Dasselbe deutet sich auch in laufen­ erwerb sogar erschweren kann.
Förderung sachbezogener
den Studien hier bei uns an der Universität Was muss sich in den Kindergärten und Schu­ und interkultureller Kompe-
Hildesheim an. Allerdings wurde an allen Schu- len in Deutschland ändern? tenz. Peter Lang, Frankfurt
len der Unterricht zu mindestens 50 Prozent, oft Wichtig wäre ein breites bilinguales Angebot, am Main 2012, S. 25 – 56

sogar mehr, in der Fremdsprache abgehalten. möglichst schon im Kindergarten, spätestens in


Weitere Literatur im Internet:
Das kann für die guten Leistungen entscheidend der Grundschule. Dann muss man in der Sekun- www.gehirn-und-geist.
sein, weil die Intensität eines der ausschlagge- darstufe nicht mehr so viel Zeit für die erste artikel/1191470
benden Kriterien dafür ist, wie gut die Fremd- Fremdsprache aufwenden und hat mehr Raum
Weblink
sprache gelernt wird. für die zweite Fremdsprache, die am besten auch Der Verein für frühe Mehr­
Heißt das im Umkehrschluss, zu wenig bilin­ bilingual vermittelt werden sollte. Dazu sollte sprachigkeit an Kinder­tages­
gualer Unterricht könnte auch schaden? das bilinguale Unterrichten auch noch stärker in einrichtungen und Schulen
bietet interessierten Eltern
Um das zu beantworten, ist noch mehr Forschung die Lehramtsausbildung integriert werden. Ÿ
und Schulen umfassende
in weniger intensiven Programmen nötig. Klar ist Informationen:
jedoch, dass die Lehrkräfte dann mehr Aufwand Die Fragen stellte GuG-Redakteurin Katja Gaschler. www.fmks.eu


www.gehirn-und-geist.de 43
tite lth e m a s p rac h e u n d d e n k e n

Parlez-vous »logique«?
Weil wir Sätze in einer Fremdsprache weniger emotional wahrnehmen,
wägen wir in ihr rationaler ab. Können wir uns diesen Effekt im Alltag zu
Nutze machen?

Von Cath e r i n e Ca ldwe l l- H a r r i s

W
Au f ei n en B lic k enn sich Psychologen und leitwiderstands – ein besonders guter Indikator

Denkfalle ade Kognitionsforscher der Spra­ für Anspannung und Stress. Umgekehrt legt das
che annehmen, beschäftigen den Schluss nahe, dass Menschen weniger emo­
1 Äußerungen in ei-
nem fremden Idiom
sprechen uns weniger
sie sich traditionell
­Fragen wie diesen: Wie ver­
mit tional zu Werk gehen, wenn sie Entscheidungen
in einer Fremdsprache fällen sollen.
emotional an als in innerlichen Kleinkinder die Grammatik ihrer Forscher der University of Chicago unter­
unserer Muttersprache.
Muttersprache? Was hilft uns, Vokabeln effek­ suchten genau dies in einer Studie von 2012.

2 Laut Forschern
könnte das erklären,
warum Probanden bei
tiver zu lernen? Und wie hängen Sprache und
Denken zusammen? In jüngerer Zeit nun er­
­Dabei ging es um eine Variante des so genannten
Framing-Effekts, den der Psychologe und Nobel­
fremdsprachigen Aufga- forschte man daneben ein Phänomen, von dem preisträger Daniel Kahneman von der Princeton
ben seltener in typische schon der russisch-amerikanische Schriftsteller University in zahlreichen Untersuchungen er­
Denkfallen tappen.
Vladimir Nabokov (1899 – 1977), Autor des kundete. Wird ein Entscheidungsproblem so for­

3 Die größere Fakten-


treue in der Fremd-
sprache könnte ratio-
­Skandalromans »Lolita«, berichtete: Zu unserer
Muttersprache haben wir meist einen stärkeren
muliert, dass dabei der Gewinn im Fokus steht,
ziehen Versuchspersonen meist jene Op­tion vor,
nalere Entscheidungen emotionalen Bezug als zu einer Fremdsprache. die in absoluten Zahlen ausgedrückt ist. Steht in
im Alltag fördern. Für viele Menschen ist es deshalb deutlich der gleichen Situation dagegen der mögliche
schlimmer (oder gerade umgekehrt erleichtern­ Verlust im Vordergrund, wählen wir eher die
der), im heimatlichen Idiom zu fluchen als in der ­Variante, bei der die relative Gewinnchance an­
Fremdsprache. Dieses Phänomen kennzeichnet gegeben ist.
die gesamte Palette unserer Gefühlsäußerungen,
von Liebesschwüren bis zu Beschimpfungen.
Der diskrete Charme
Liegt das nur daran, dass wir eine Fremd­
der absoluten Zahlen
sprache in der Regel nicht ganz so gut beherr­ Das folgende Beispiel macht deutlich, wie das ge­
schen und feine Nuancen in ihr folglich schwä­ meint ist: Stellen Sie sich vor, Sie sollten eines
Lesen Si e au c h :
cher wahrnehmen? Dann müsste der Effekt im von zwei Medikamenten auswählen, mit dem
Wanderer zwischen Schnitt umso stärker zu Buche schlagen, je spä­ anschließend 600 Patienten behandelt werden.
den Wortwelten
ter man die Fremdsprache erlernte. Das eine Mittel, so heißt es, heile 200 der lebens­
Warum Mehrsprachigkeit
schlau macht (S. 34) Tatsächlich empfinden Menschen, die von bedrohlich Erkrankten sicher; für das andere
Kindesbeinen an zweisprachig aufwuchsen, den hingegen wird die Quote der Rekonvaleszenten
Ins Sprachbad ein-
tauchen emotionalen Gehalt von Äußerungen in beiden mit 1 : 3 beziffert. Statisch gesehen wird also ­jeder
So klappt bilingualer Idiomen ähnlich. Das offenbarten nicht nur Be­ dritte wieder gesund, zwei Drittel der Patienten
Unterricht (S. 40) fragungen, sondern auch die Messung des Haut­ jedoch sterben.

44 GuG 6_2013


tite lth e ma me h rsp rac h i g k e it

Beide Szenarios sind rein logisch völlig iden­ derholtem Spiel unterm Strich eher einen Ge­
tisch. Dennoch entscheiden sich im ersten Fall winn machen würde,  zum Beispiel bei einer je
mehr Probanden dafür, 200 Patienten »sicher zu 50-prozentigen Chance, 12 Dollar zu gewinnen
heilen«. Mit dem drohenden Tod der übrigen oder 10 zu verlieren.
konfrontiert, klingt eine »Heilungschance« von Wieder zeigte sich: Zweisprachige Versuchs­
1 : 3 dagegen attraktiver. Alles eine Frage der For­ personen kalkulierten die Sache genauer durch,
mulierung! wenn sie »in der Fremdsprache« spielten. In ih­
Der Framing-Effekt ist ein klassisches Beispiel rer Muttersprache hingegen wollten sie Verluste
Lösung der Aufgabe dafür, wie leicht wir bei der Entscheidungsfin­ unbedingt vermeiden, und zwar unabhängig
von Seite 39 dung vom Pfad der Logik abkommen. Tatsächlich ­davon, ob sie nur hypothetisch spielten oder
lassen sich Menschen mit einem besonderen mit echtem Geld. Handeln wir in einer Fremd­
Hang zum rationalen Abwägen – darunter etwa sprache also rationaler?
hochfunktionale Autisten mit Asperger-Syndrom Früher nahmen Forscher an, dass Sprache als
(siehe GuG 3/2013, S. 36) – durch solche verbalen bloßes Mittel zur Informationsweitergabe Men­
Rahmenbedingungen weit weniger beeinflussen. schen kaum in ihrer Entscheidungsfindung be­
einflusse – solange die betreffende Sprache nur
Gefühle außen vor gut genug beherrscht werde. Doch das stimmt
Die Wissenschaftler um Boaz Keysar von der Uni­ augenscheinlich nicht. Auch Fragebögen zur Per­
versity of Chicago gaben nun ihren (gesunden) sönlichkeit werden je nach Sprache unterschied­
zweisprachigen Probanden Texte zu lesen, die als lich beantwortet: So betrachten sich in den USA
Grundlage für eine knifflige Entscheidung die­ lebende chinesische Studenten eher als Teil einer
nen sollten. Die Szenen waren dabei entweder in größeren Gemeinschaft, wenn der auszufüllende
der Muttersprache oder in einer in der Schule Befragungsbogen auf Chinesisch geschrieben
­gelernten Fremdsprache formuliert. Da eine be­ ist; dagegen tendieren sie eher zu einer individu­
stimmte Sprache per se »emotionsgeladener« alistischen Sichtweise, wenn es sich um ein eng­
sein kann als eine andere, wurden die Tests nicht lisches Formular handelt.
nur in den USA, sondern auch in Frank­reich und Sind solche Laborbefunde aufs wahre Leben
Südkorea durchgeführt. übertragbar? Wenn das Benutzen einer Fremd­
In allen Ländern kamen die Forscher zu dem sprache das logische Handeln fördert, könnten
gleichen Resultat: In der Muttersprache griff der zweisprachige Menschen daraus theoretisch bei
Framing-Effekt, in der Fremdsprache hingegen so manchen Alltagsentscheidungen Vorteile zie­
nicht. Das lässt vermuten, dass die Teilnehmer hen: Sollten wir beim Hauskauf oder in der
die emotionalen Aspekte der Beschreibungen in ­An­lageberatung englisch oder französisch statt
der Fremdsprache weniger stark beachteten. deutsch mit unserem Makler reden? Und wie
Das überrascht insofern, als das genaue Ge­ sieht es mit anderen Situationen aus, etwa beim
genteil ebenso plausibel wäre: Der zusätzliche Arzt oder bei Zeugenaussagen vor Gericht? Es
Stress beim Umgang mit einer Sprache, in der ­be­darf allerdings noch vieler weiterer Unter­­
man weniger sattelfest ist, beansprucht kogni­ suchun­gen, um sagen zu können, ob das Über­
tive Ressourcen, die dann für das logische winden von Framing-Effekten oder Ver­lust­
Schlussfolgern fehlen. Doch die Versuchsperso­ aversio­nen nur ein interessantes Laborphäno­
Quelle nen entschieden in der Fremdsprache ganz of­ men ist – oder ob es Menschen auch zu besseren
Keysar, B. et al.: The Foreign- fenbar nicht instinktiv »aus dem Bauch« heraus. Lebensentscheidungen verhelfen kann. Ÿ
Language Effect. Thinking in
Die Autoren führten noch weitere Versuche
a Foreign Tongue Reduces
Decision Biases. In: Psycholo- durch, unter anderem nach dem Paradigma der Catherine Caldwell-Harris ist Pro­
gical Science 23, S. 661 – 668, Verlust­aversion. Auch dabei verändern emotio­ fessorin für Psychologie an der Boston
2012 nale Bewertungen normalerweise die Entschei­ University (USA). Ihre Arbeitsgruppe
erforscht unter anderem kognitive
dungsfindung. So gehen Menschen nur ungern
Weitere Literaturhinweise Besonderheiten bei zwei- und mehr­
im Internet: www.gehirn- Wetten ein, bei denen sie Gefahr laufen, Geld zu sprachigen Menschen.
und-geist.de/artikel/1191223 verlieren. Das gilt sogar dann, wenn man bei wie­

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