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Kulturelle und mediale Formen

des Erzählens

Vorlesung
WS 2013/2014
Nicht-literarische Formen des Erzählens

 Christian Klein/ Matías Martínez (Hg.):


Wirklichkeitserzählungen. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2009.
 Erzählungen mit unmittelbarem Bezug auf die konkrete
außersprachliche Realität = Wirklichkeitserzählungen
 Erzählen im juristischen Diskurs
 Erzählen im medizinischen/ psychotherapeutischen Diskurs
 Erzählen im historiographischen Diskurs
 Erzählen im Journalismus/ in Publizistik
 Erzählen im moralisch-ethischen Diskurs
 Erzählen im christlich-religiösen Diskurs
 Erzählen in der Politik
 Wirklichkeitserzählung im Internet
Nicht-literarische Formen des Erzählens

 Wirklichkeitserzählungen / literarische Erzählungen: literarisch-


fitkionales vs. faktuales Erzählen (Christian Klein/ Matías
Martínez)
 ‘real’ vs. ‘fiktiv’ = Frage der Referenz
„[…], daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist, bloß das Geschehene
darzustellen. Er muß uns vielmehr sehen lassen, was gemäß der inneren
Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich wäre und hätte
geschehen können.
Der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht
dadurch, daß der eine in gebundener (poetischer) Form, der andere aber in
ungebundener Rede (Prosa) berichtet. […] Der Unterschied ist, daß der
Historiker berichtet, was geschehen ist, der Dichter aber Dinge, die
gegebenenfalls hätten geschehen können.” (Aristoteles: Poetik, Kapitel
IX, 1451b)
 ‘fiktional’ vs. ‘faktual’ (Genette): bestimmter Modus
erzählender Rede – spezifische Kommunikation(ssituation)
Nicht-literarische Formen des Erzählens

faktuales Erzählen fiktionales Erzählen

Autor Text Leser Ae [Ai] Ef Ff → → → →


→ → → ← Ff Lf [Li] Le

 faktuales Erzählen:
 Teil einer realen Kommunikation zwischen Autor und Leser
 Wahrheitsverpflichtung des Autors faktualer Texte (Genette)
 fiktionales Erzählen:
 Teil einer (indirekten) realen Kommunikation zwischen Autor und
Leser + imaginäre Kommunikationssituation zwischen fiktionalem
Erzähler und (fiktivem) Leser
 Janik: „kommunizierte Kommunikation”
Nicht-literarische Formen des Erzählens

 ‘faktual’ vs. ‘fiktional’: keine trennscharfe Opposition


 Fiktivität der erzählten Geschichte / Fiktionalität der Erzählrede
 Grenzfälle:
 faktuale Erzählung mit fiktionalisierenden Erzählverfahren (New
Journalism, Truman Capote);
 faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten (Unwahres mit faktualem
Geltungsanspruch, irrtümliche/lügnerische faktuale Texte);
 fiktionale Erzählungen mit faktualen Inhalten (historische Romane,
kontrafaktische Romane);
 fiktionale Erzählungen mit faktualem Redemodus (Herausgeberfiktionen,
Quellenangaben als literarische Konventionen)
 Wirklichkeiterzählungen: konkreter Bezug auf reale
Begebenheiten
 Anspruch auf unmittelbare Verankerbarkeit in der außersprachlichen
Wirklichkeit
 kein hoher Grad an Poetizität
Nicht-literarische Formen des Erzählens

 3 Typen von Wirklichkeitserzählungen


 deskriptive Wirklichkeitserzählungen: ‘wahr’ vs. ‘falsch’
 Geschichtsschreibung; Journalismus: Rekonstruktion von Ereignissen
 normative Wirklichkeitserzählungen: ‘richtig handeln’ vs.
‘falsch handeln’
 Verhaltens-Ratgeber; moralische Handlungsnormen, juristische Gesetze
 voraussagende Wirklichkeitserzählungen: ‘plausibel’ vs.
‘unplausibel”
 naturwissenschaftlich begründete Voraussagen (z.B. Klimawandel);
medizinische Prognosen; Modellierungen künftiger Aktienverlaufe im
wirtschaftlichen Diskurs
 Kombination der 3 Typen
 Hybridität von Wirklichkeitserzählungen
Nicht-literarische Formen des Erzählens

 Typologie faktualen Erzählens – nach Luhmann (und Bourdieu)


bei Klein/ Martínez:
 Luhmann: gesellschaftliche Differenzierung – historischer
Prozeß
 Evolution gesellschaftlicher Differenzierungsformen
 segmentäre Differenzierung (zahlreiche gleiche Einheiten: Familien,
Stämme usw.);
 stratifikatorische Differenzierung (ungleiche, hierarchisch organisierte
Schichten);
 funktionale Differenzierung (gesellschaftliche Funktion): spezifische
Grundunterscheidungen auf Grund von Leitdifferenzen
 Bourdieu: ‘Felder’ der Gesellschaft = relativ eigenständige und
nach eigenen Gesetzmäßigkeiten strukturierte Bereiche
Nicht-literarische Formen des Erzählens

 Leitdifferenzen der Bereiche faktualen Erzählens nach Klein/


Martínez:
 Rechtswissenschaft: legal/illegal;
 Medizin/Psychologie: gesund/krank; lebensförderlich/lebenshinderlich;
 Wissenschaft: wahr/unwahr;
 Wirtschaft: zahlen/nicht-zahlen;
 Moral: gut/böse bzw. richtig/falsch (Handlungen);
 Journalismus: aktuell/nicht-aktuell bzw. informativ/nicht-informativ;
 Religion: dem Heil förderlich/dem Heil nicht förderlich;
 Politik: Regierung/Opposition bzw. Amtsmacht/ohne Amtsmacht
 2 weitere Unterscheidungen – unabhängig von den Teilsystemen
 ich/du (Ego-Erzählungen) – wir/ihr (Kollektiverzählungen)
 Kombination Luhman – Bourdieu
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 „In der Sclacht bei Solferino befehligte er [= Joseph Trotta] als


Leutnant der Infanterie einen Zug. Seit einer halben Stunde war
das Gefecht im Gange.[…] Der Feind machte eine Pause.[…] Da
erschien zwischen dem Leutnant und den Rücken der Soldaten
der Kaiser mit zwei Offizieren des Generalstabs. Er wollte gerade
einen Feldstecher, […] an die Augen führen. […] Die Angst vor
der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe […] jagte
glühende Fröste durch seinen [Trottas] Körper. Seine Knie
zitterten. […] Er griff mit beiden Händen nach den Schultern des
Monarchen, um ihn niederzudrücken. Der Lautnant hatte wohl zu
stark angefaßt. Der Kaiser fiel sofort um. […] In diesem
Augenblick durchbohrte ein Schuß die linke Schulter des
Leutnants, jener Schuß eben, der dem Herzen des Kaisers
gegolten hatte. Während er sich erhob, sank der Leutnant nieder.”
(Joseph Roth: Radetzkymarsch)
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 „Der Monarch […] hatte sich im Eifer des Gefechts so weit


vorgewagt, daß er sich plötzlich von feindlichen Reitern
umdrängt sah. In diesem Augenblick der höchsten Not sprengte
ein blutjunger Leutnant auf schweißbedecktem Fuchs herbei, den
Säbel schwingend. Hei! Wie fielen da die Hiebe auf Kopf und
Nacken der feindlichen Reiter! […] Eine feindliche Lanze
durchbohrte die Brust des jungen Helden, aber die Mehrzahl der
Feinde war bereits erschlagen. Den blanken Degen in der Hand,
konnte sich der junge, unerschrockene Monarch leicht der immer
schwächer werdenden Angriffe erwähren. Damals geriet die
ganze feindliche Reiterei in Gefangenschaft. Der junge Leutnant
aber – Joseph Ritter von Trotta war sein Name – bekam die
höchste Auszeichnung, die unser Vaterland seinen Heldensöhnen
zu vergeben hat: den Maria-Theresien-Orden”
(Joseph Roth: Radetzkymarsch)
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 historiographische Erzählung – Konzeption von Stephan Jäger


 deskriptive Erzählung
 pragmatischer Wahrhaftigkeitsanspruch
 Überprüfbarkeitskriterium: unabhängig von der Art der Darstellung
(anschaulich geschriebene Texte oder trockene Wissenschaftsprosa) –
„ihre wissenschaftlichen Begründungen aber haben sie außer sich” (Jörn
Rüsen)
 Geschichtsschreibung aus narratologischer Perspektive:
 bis in die 1960er Jahre: Narrativität von Historiogpraphie ausgeblendet
 entstehende Narratologie: Entwicklung von Fiktionalitätskriterien –
Ausgrenzung der Geschichtsschreibung
 bahnbrechende Ansätze: Verhältnis von Geschichtsschreibung
und Fiktion + Darstellungsebene (Erzähldiskurs)
 Arthur C. Danto, Hayden White, Paul Ricœur
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Arthur C. Danto: Analytic Philosophie in History (1965)


 seit Mitte der 1960er Jahre – grundlegende Wende in der
Geschichtphilosophie und -theorie
 an der Frage von wahren und falschen Aussagen über das
Vergangene (d.h. Wahrheitsbedingungen der narrativen Sätze)
interessiert
 Konstruktcharakter der Historiographie
 Geschichtsschreibung
 Serie von narrativen Argumenten
 Geschichte mit deutlich markierten Anfangs-, Mittel-und Endteilen
 retrospektiv, kann einzelne Ereignisse als Teil eines zeitlichen Ganzen
einordnen
 gegenseitige Bedingtheit von Erzählen und Geschichte
 „linguistic turn” für die Geschichtswissenschaft
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Hayden White
 jede Annahme einer historischen Vergangenheit = konsturiert
 Geschichtsschreibung = Kunst und Quasi-Wissenschaft
 Ereignisse: kein Realitätsstatus an sich
 Geschichte: Möglichkeit unterschiedlicher Erzählungen über
vergangene Ereignisse → Historiker: Begründungszwang für seine
Entscheidung
 Geschichtserzählungen = abhängig von Ideologien und
moralischen Bedeutungen
 Analyse der Struktur historiographischer Texte als Ganzes
 Wende von der logischen Dimension der historiographischen
Erzählung zur poetischen Dimension – Interesse für Narratologie
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Hayden White: Metahistory (1973)


 Historiographie des 19. Jahrhunderts (Michelet, Ranke,
Tocqueville, Burckhardt): Modell der Darstellung von
Geschichte
 4 Argumentationstypen: formativistisch, mechanistisch,
organizistisch, kontextualistisch
 4 Erzählstrukturen: Romanze, Komödie, Tragödie, Satire
 4 Typen der ideologischen Implikation: anarchistisch, radikal,
konservativ, liberal
 4 Tropen: Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie
 starres System – aufgelockert
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Paul Ricœur (1913-2005): Zeit und Erzählung


 menschliche Zeiterfahrung: erst durch Erzählung ermöglicht
 dreifacher Begriff der Mimesis
 Mimesis I: Präfiguration in der vorgängigen, immer schon symbolisch
vermittelten Außenwelt
 Mimesis II: Konfiguration in den Welten der historischen und fiktionalen
Erzählung – Wechselspiel zwischen Neuschöpfung und Sedimentierung,
Einbildungskraft und Tradition
 Mimesis III: Refiguration in der Welt des Lesers
 historiographische Erzählung: rekonstruierend + schöpferisch
 Unterschied zw. fiktionalem und historiographischem Erzählen:
 die Bezugsrahmen auf reale historische Ereignisse verlieren ihre
Repräsentanzfunktion für die historische Vergangenheit und gleichen sich so dem
irrealen Status der anderen Ereignisse an
 Andeutung einer pragmatischen Unterscheidung von historiographischem und
fiktionalem Erzählen
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Erzählung in der Geschichtsschreibung: historische Fakten,


Ereignisse und Situationen = in einer Zeitsequenz aufeinander
bezogen
 historische Erzählung = kognitive Verbindung zwischen Form
(Schreiben über Geschichte in einem historiographischen Text)
und Inhalt (historischer Welt) (Alun Munslow: Narrative)
 Referentialitätskriterium
 Dorrit Cohn: fiktionale story-discourse-model →
Geschichtsschreibung: reference-story-discourse-model
 Lubomir Doležel: Theorie möglicher Welten → Präzisierung der
Unterscheidung zwischen fiktionalen und historischen Welten
 historische Leerstellen: epistemologisch (neue Fakten zur Ausfüllung) vs.
fiktionale Leerstellen: ontologisch (kein Referent außerhalb der
fiktionalen Welt – Lady Macbeth!)
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Diskursebene historiographischen Erzählens: Stimme und


Erzähler
 Genette: 3 Erzählinstanzen: Autor, Erzähler, Figur
 historische Erzählung:
A = E ≠ F + (A ≠ F)
 A = E: grundlegendes Merkmal der historischen Erzählung
 A ≠ F: Unterschied zur Autobiographie
 Ausnahme: experimentelle historiographische Texte: Stimme des Autor-
Erzählers weitgehend reduziert, Stimmen aus den Quellen „sprechen”
 Verwendung der Personalpronomina ‘ich’ und ‘wir’ (Philippe
Carrard):
 Positivismus: Rhetorik der Allwissenheit (‘covert narrator’)
 Annales-Schule: Transparenz, Einsatz des ‘overt narrator’ –
Selbstreflexion des Historikers
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Diskursebene historiographischen Erzählens: Zeit und


Fokalisierung
 Zeit:
 Genette: Ordnung, Dauer, Frequenz – keine fundamentalen Unterschiede
 Fokalisierung:
 Carrard: Null-Fokalisation als Grundmodus der professionellen
Geschichtsschreibung
 Axel Rüth: interne und externe Fokalisierung – möglich, jedoch sekundär
und als konstruiert markiert
 historische Distanz: theoretisch gleichbleibend
 Variationsmöglichkeiten zwischen Mikrogeschichte und „longue durée”
 z.B. Zweiter Weltkrieg aus der Vogelperspektive: politische und
militärische Abläufe vs. Effekt des Krieges auf Bevölkerungsgruppen/ auf
den einzelnen Soldaten: Einbeziehen von Augenzeugenberichten
Nicht-literarische Formen des Erzählens: Historiographie

 Regelfall: integrierende und synthetisierende Perspektive


 dadurch: Reduzierung der Vielstimmigkeit der Geschichte
 multiperspektivisches Erzählen in der Geschichtsschreibung:
Sonderfall
 dadurch: textuelle Leerstellen – unterschiedliche Geschichten über
dasselbe historische Ereignis
 Spannung zueinander – kein in sich geschlossenes Bild
 Multiperspektive: eigene textuelle Welt, weder ausschließlich ontologisch
(fiktional) noch rein epistemologisch (historisch) begründet
 Beispiel: Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im
Bombenkrieg 1940-1945
 referentielle Lesart, Aussagen als wahr überprüfbar, A = E
 5 Jahre – in konzentrischen Kreisen, variiert die Erzählzeit einzelner
Ereignisse
 Vielzahl der Perspektiven

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