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Peter
Abraham

Illustrationen von Gertrud Zucker �


Der Kinderbuchverlag Berlin


Im Frühjahr des Jahres neunzehnhundertfünfundvier­
zig segelte ein Kajütboot stromaufwärts. Die Havel war
hier breit und ohne Kraft.
Auf der Landzunge am linken Ufer lagen die Reste ei­
ner deutschen Batterie. Die Männer hinter den aufge­
worfenen Erdwällen trauten ihren Augen kaum - zwi­
schen den Fronten segelte, sich ab und an sanft zur
Seite neigend, ein Sportboot.
Der Kommandeur gab den Befehl, dieses Boot unter
Beschuß zu nehmen. Sekunden später löste sich ein
Schuß aus der Mündung des Geschützes. Die Granate
verfehlte ihr Ziel, ging irgendwo weitab ins Wasser.
Jetzt ertönten menschliche Stimmen. Auf dem Boot
wurde gesungen. Der Wind bewirkte, daß der Gesang
einmal lauter und dann wieder leiser zu hören war.
Die Männer erkannten die Melodie. Und die Text­
zeilen fielen ihnen ein. Sie hatten sie in der Schule
einmal gelernt:
Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,
da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus!
Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt ...
„Feuer einstellen", brüllte der Kommandeur. Durch
sein Zeissglas betrachtete er das Boot. Er sah einen
Mann und einen Jungen. Aber der Gesang kam aus
mehreren Kehlen. ,,Das sind Unsere", sagte der Kom­
mandeur, ,,aber die müssen übergeschnappt sein. Am
anderen Ufer steht doch der Iwan."

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Das Boot wurde auch von dieser Seite aus gesehen.
Nur, dort drüben hörte niemand das Lied, weil der
Wind ungünstig stand.
Ein sowjetischer Offizier schob sich den Stahlhelm ins
Genick und kratzte sich.
Wieso segelte dort ein Boot - wie in Friedenszeiten?
Auch er blickte durch ein Fernglas, sah den Mann am
Ruder und den semmelblonden Jungen. Und er beob­
achtete das Aufspritzen des Wassers, als das Geschoß
niederging. Wenn die Deutschen das Boot beschossen,
konnten es keine Faschisten sein.
Der Mann am Steuerruder warf sich hin und riß den
Jungen mit.
Das Boot hielt sich wenige Sekunden auf dem bisheri­
gen Kurs, dann begannen die Segel zu flattern, und die
Spitze drehte sich langsam zum rechten Ufer hin, von
wo der Wind kam. Der Mann hatte begriffen, daß die
Granate weitab explodiert war.
Er sprang auf und brachte das Boot wieder auf den al­
ten Kurs. Es kam jetzt darauf an, genau in der Mitte
des Flusses zu bleiben, nicht zu erkennen zu geben, zu
welcher Seite man gehörte.
Er hatte einen Einfall: ,,Singen", rief er in die Kajüte
hinein. ,,Singen müssen wir. Das verwirrt sie."
Und er stimmte selbst an:
,,Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,
da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus!"
Erst zögernd und dann lauter quoll der Gesang aus der
Kajüte.

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Der sowjetische Offizier gab eine Anweisung.
Sechs Geschütze böllerten in kurzen Abständen.
Die Granaten flogen im Bogen über das Boot und
schlugen am anderen Ufer ein.
Der Mann am Steuer brüllte: ,,Weitersingen, weiter ... "
Acht Menschen waren an Bord. Besondere Umstände
hatten sie auf diesem Boot vereint und veranlaßt, in
diesen letzten Tagen des Krieges eine Segelpartie zu un­
ternehmen.
Wie es zu der waghalsigen Fahrt kam, wird zu erzählen
sem.
Der Junge, der das Vorsegel bediente, wurde Pianke ge­
nannt. Für seine neun Jahre war er zu hochaufgeschos­
sen. Meistens ließ er die Arme schlaksig herabhängen.
Das semmelblonde Haar leuchtete weit. Zu Unrecht
trug er den Spitznamen nicht - er erinnerte wirklich an
Pianke, an Schwindelweizen, lateinisch lolium temu­
lium, der mit dem Brotgetreide auf den Feldern wu­
cherte.
Pianke mochte seinen Spitznamen nicht. Andreas Groß
schien ihm ein besserer Name zu sein. So hatte er sich
genannt, bis ihm der Name über Nacht verlorengegan­
gen war.
Offiziell hieß er jetzt Diethelm Krüger.
Krügers gab es zu viele.
Und Diethelm hörte sich affig an. - Seiner Meinung.
Da ließ er sich lieber Pianke rufen.
Wie kann ein Name verlorengehen?

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Als Pianke noch Andreas Groß hieß und die zweite
Klasse besuchte, wohnte er mitten in der Stadt, in der
vierten Etage eines Hauses. Ganz in der Nähe
der Stadttauben, die durch die Fenster des
Dachbodens ein und aus flogen, dicht
unter den moosüberwucherten roten
Ziegeln. Aber auch in der Nähe
des stählernen Riesenpilzes, der
zwischen den Schorn­
steinhauben aufragte.
Der Stahlpilz
heulte in den
Näch-
ten. Min­
destens
einmal in der
Nacht ließ er
ein an- und abschwel­
lendes, langanhaltendes
Jaulen vernehmen.
Wenn die Sirene ertönte, hatte
nicht nur Pianke Angst. Das ganze Haus
erwachte. Überall in den Wohnungen
kleideten sich die Leute hastig an, griffen die
längst gepackten Koffer und flüchteten die Trep­
pen hinunter in die Keller.
Wenig später begann die Erde zu beben. Geschütze
dröhnten. Scheinwerfer tasteten den Himmel ab. Die
Luft war vom Motorenlärm der Flugzeuge erfüllt.
Schwere Sprengbomben detonierten. Sie schlugen in
die Häuserzeilen Lücken. Häuser brannten.
Wenn der Riesenpilz auf dem Dach einen langanhal-


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tenden Ton von sich gab, stolperten alle aus den Kel­
lern in die Wohnungen zurück, froh, daß es ihr Haus
nicht getroffen hatte. - In so einer Nacht, als Pianke
und sein Vater, der Mann am Steuerruder des Bootes,
wieder hinaufgehen wollten, sagte ein Luftschutzhelfer,
der während des Angriffs auf dem Dach gestanden
hatte: ,,In Ihrer Wohnung warten zwei Herren."
,, Wie sehen sie aus?"
,,Ich würde sagen, wie Polizei."
In. dieser Nacht gingen Pianke und sem Vater nicht
mehr hinauf in die Wohnung.

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,,Komm", sagte der Vater, ,,über die Hinterhöfe!"
,,Warum?"
,,Später erklär ich's dir."
Das Haus hatte vier Hinterhöfe. Pianke und sein Vater
fielen in der Dunkelheit nicht auf zwischen den Leuten,
die sich mit Koffern und Rucksäcken müde zu ihren
Betten in den Hinterhäusern oder in den Gartenhäu­
sern, wie sie auch genannt wurden, schleppten.
Auf dem letzten Hof befand sich ein Sägewerk mit dem
Ausgang in eine andere Straße.
Der Vater trat vorsichtig aus dem Torweg hinaus. Pianke
erfaßte diese Unsicherheit. Unwillkürlich begann sein
Herz schneller zu schlagen. Erst als sie einige Querstraßen
weitergegangen waren, stellte der Vater den Koffer ab.
Pianke durfte sich einen Augenblick darauf ausruhen.
,,Was will die Polizei von dir?" fragte er.
,, Ich fürchte, sie wollen mich einsperren."
,,Bist du ein Verbrecher?"
,,Für die Polizei bin ich ein Verbrecher."
,, Und was hast du getan?"
Der Vater flüsterte: ,,Keinen Einbruch, keinen Raub,
nichts, was du im Kino gesehen haben könntest. Trotz­
dem, wenn sie mich kriegen, bedeutet das etwas
Schlimmes für mich und für dich. Mehr darfst du dar­
über nicht wissen."
Sie gingen weiter. Ab und zu kamen sie an brennenden
Häusern vorüber. Man hielt sie für Ausgebombte. - So
nannten sich die, die ihre Wohnungen und ihren Besitz
durch eine Bombe verloren hatten.

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Eine Rote-Kreuz-Schwester wollte Pianke den Ruck­
sack abnehmen und in ein Notquartier geleiten.
„Lassen Sie nur", sagte der Vater, ,,wir kommen bei
Verwandten in der Nähe unter."
Pianke wußte, daß sie außer seinen Großeltern keine
Verwandten besaßen. Der Großvater hatte dem Vater
verboten, ihn zu besuchen. Aus politischen Gründen.
Was Politik war, wußte Pianke nicht. Aber den Worten
seines Großvaters nach zu urteilen, mußte Politik etwas
Gefährliches sein.
„ Wo gehen wir wirklich hin?" fragte Pianke. Er hätte
vor Müdigkeit sofort auf der Straße einschlafen kön­
nen.
„Keine Angst, mein Junge. Ich habe vorgesorgt. Wir
müssen nur durchhalten, bis die erste Stadtbahn wieder
fährt. Dann fahren wir raus aus der Stadt, ins Grüne."
Sie erreichten den Bahnhof. Pianke ließ sich auf eine
der Bänke sinken.
,,Ins Grüne? Wir können doch nicht draußen schla­
fen!"
Sein Kopf sackte vornüber, und schon schlief er.
Erst als ihn sein Vater Stunden später rüttelte, wachte
er wieder auf. Zuerst begriff er überhaupt nicht, wes­
halb er nicht in seinem warmen Bett lag. Dann fiel ihm
die vergangene Nacht wieder ein. Und er wurde neugie­
rig, was für ein Leben nun beginnen würde. Wahr­
scheinlich ein aufregendes Leben ohne Schule und
ohne häusliche Aufgaben, wie Abtrocknen und Ausfe­
gen.

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„Du heißt jetzt Diethelm Krüger", sagte der Vater im
Zug zu Pianke.
,, Und du? Wie heißt du?"
Der Vater zog eine Kennkarte hervor und hielt sie
Pianke vor die Nase. Da stand geschrieben: Heinrich
Krüger.
„Heinrich ist genauso affig wie Diethelm", sagte
Pianke.
„Die Kennkarte gehörte einem Heinrich Flüger. Es hat
mich eine Nacht gekostet, das Fl in ein Kr zu ändern.
Nun kannst du dir ausrechnen, wie lange es gedauert
hätte, aus Heinrich Hans zu machen. Und Hans gefällt
mir auch nicht viel besser."
,,Wenigstens Diethelm hättest du ändern sollen!"
,,Man gewöhnt sich an Namen wie an neue Hosen",
sagte der Vater. ,,Zuerst sind sie ein bißchen eng. Später
mußt du dann Hosenträger umhängen, damit sie nicht
rutschen."
So verlor Pianke in einer Nacht seinen Namen.

Seit dieser Nacht hatte Pianke ein Paar Hosen zer­


schlissen. Ein Paar war ihm zu klein geworden. Und
seine neuesten kurzen Lederhosen sahen schon ein we­
nig speckig aus. Aber der Name Diethelm gefiel ihm
immer noch nicht.
Pianke wohnte zusammen mit dem Vater in einem
Holzhäuschen. Der Garten war von einer dichten
Hecke umwuchert. Links und rechts standen ähnliche
Häuschen. Nur der verwitterte Anstrich unterschied sie

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voneinander. Vor dem Krieg wurde die Siedlung nur im
Sommer bewohnt. Jetzt hausten Frauen, Kinder und
alte Leute das ganze Jahr hier.
Der Vater blieb den größten Teil des Tages im Holz­
häuschen. Nur nachts verließ er es manchmal. Wohin
er ging, wußte Pianke nicht. Wenn Pianke fragte, be­
kam er zur Antwort: ,,Je weniger du weißt, desto bes­
ser!"
Manchmal kamen auch Leute in das Häuschen. Selten
sah Pianke einen der Besucher. Sie kamen, wenn er in
der Schule war oder abends, wenn er schlief. Aber
Pianke war nicht auf den Kopf gefallen. Er untersuchte
die Zigarettenstummel im Aschenbecher. Und siehe, da
waren manchmal Zigarettensorten dabei, die sein Vater
nicht rauchte. Zum Beispiel Zigaretten mit langen Pa­
pierhülsen oder mit Goldmundstücken.
Wenn Pianke von der Schule heimkam, hockte der Va­
ter, eine Lupe ins Auge geklemmt, über den Tisch ge­
beugt, und arbeitete an Pässen und Kennkarten. Er ließ
Namen und Geburtsdaten verschwinden und ersetzte
sie durch andere in der jeweiligen Handschrift. Manch­
mal prägte er auch gewichtige Dienststempel mit Ad­
lern und Hakenkreuzen.
Es gab Augenblicke, in denen der Vater Pianke zu sich
heranrief und ihm einen Paß unter die Nase hielt:
„Sieh dir das an, Pianke! Das reinste Kunstwerk. Kein
Mensch erkennt, daß dieses Dokument falsch ist."
,, Wie heißt dein neuer Beruf?"
,,Ich bin Schuster, mein Junge. Paßschuster!"

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Er lächelte.
„Für wen machst du die
Pässe?"
,,Sei nicht so neugierig,
Pianke!" -_: :·. -:._. '=-;�

.
Obwohl es Pianke im ersten
Augenblick ganz abenteuerlich
erschienen war, einen falschen
Namen zu tragen, sehnte er
sich schon bald nach der Zeit
zurück, als die Mutter noch
lebte, als der Vater noch in
einem Büro Landkarten
zeichnete, als er ein Junge war
wie tausend andere.
Damals achtete die Mutter darauf, daß Pianke „anstän­
dig" angezogen ging. Er mußte grüne kurze Hosen mit
großen weißen Perlmuttknöpfen tragen, dazu lange
braune Makostrümpfe, die von Strumpfbändern gehal­
ten wurden. Man konnte es anstellen, wie man es
wollte, zwischen dem Saum der Hosenbeine und dem
Beginn der Strümpfe schaute immer ein Stück weiße
Haut hervor.
Die Mutter achtete auch darauf, daß sich Pianke den
Scheitel geradekämmte. Wenn sie unterwegs beim Ein­
kaufen auf seinem Gesicht einen Schmutzfleck ent­
deckte, befeuchtete sie ein Taschentuch mit Spucke und
wischte damit in seinem Gesicht herum.
Vergessen war, daß er damals oft vor Wut geheult hatte.

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Er sehnte sich auch nach der Zeit in der Stadtwohnung
zurück, weil er jetzt eine andere Schule besuchen
mußte. In der Stadt war ihm das Gebäude vertraut ge­
wesen. Er war dort eingeschult worden. In der neuen
Schule mußte er sich erst wieder gegen die anderen
Schüler behaupten.
Mal sollte er seinen Mut unter Beweis stellen, indem er
von der Hofmauer sprang; mal stellte ihm ein Klassen­
kamerad ein Bein, damit er der Länge lang hinfiel.
Wenn ihm ein Gleichaltriger Prügel anbot, rannte er lie­
ber weg. Häufig heulte er heimlich vor Scham über
seine Feigheit, tröstete sich aber damit, daß er nicht
auffallen sollte.
Nicht auffallen - das war gar nicht so einfach! Schnell
hatte er den Beinamen Schlafmütze weg, weil er manch­
mal nicht hörte, wenn der Lehrer laut Krüger rief. Erst
wenn ihn jemand unsanft anstieß, sprang er auf und
sagte: ,,Hier!"
Manchmal lachte ihn auch die ganze Klasse aus, weil er
sein Geburtsdatum nicht wußte. Ja, hätte man ihn da­
mals gefragt, als er noch Andreas Groß hieß, dann
hätte er wie aus der Pistole geschossen drauflosge­
schmettert: ,,Dreizehnter Januar neunzehnhundert­
sechsunddreißig."
Aber jetzt, wo er am vierzehnten Dezember geboren
sein sollte und noch dazu im Jahre neunzehnhundert­
fünfunddreißig, kam er immer wieder ins Stocken.
Statt in Berlin sollte er in Freiburg im Breisgau geboren
sein. - Eine Stadt, die er nur von Bildern kannte.

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Zu seinem Leidwesen war Pianke auch katholisch ge­
worden, obwohl er nie eine Kirche von innen gesehen
hatte. Aber das mußte sein, weil die meisten Leute in
Freiburg eben katholisch waren. Der Vater, der weder
an einen Gott noch an den Teufel glaubte, paukte mit
ihm das Gebet: Vater unser, der du bist im Himmel ...
Wen ging es überhaupt etwas an, was einer für eine Re­
ligion hatte oder woher er kam!
Doch es gab Leute, die wollten alles wissen.
Einer der Neugierigen war der Invalide Herms. Den
ganzen Tag hatte der Zeit, in der Siedlung herumzulun­
gern. Hier ein Schwätzchen, dort ein Schwätzchen. Im­
mer mal zwischendurch eine harmlose Frage.
„Schöne Stadt, dieses Freiburg. Direkt am Vater Rhein
gelegen."
„Nein", sagte Pianke, ,,der Rhein fließt ein Stückchen
weiter weg. Durch Freiburg fließt die Dreisam, ein Ne­
benfluß der Elz."
„Ach was? Und dort sprechen sie wohl genau wie in
Berlin?"
„Keinesfalls", sagte Pianke. ,,Aber ich bin auch eine
Weile in Berlin bei meiner Oma gewesen, wissen Sie."
Das Thema gefiel Pianke nicht. Es hätte doch sein kön­
nen, der Herr Herms stellte noch schwierigere Fragen.
Pianke konnte nicht nur gut lügen. Er konnte auch ab­
lenken.
„Ich zerbrech mir den Kopr', sagte er, ,,ob Sie durch
Ihr Glasauge besser oder schlechter gucken können als
durch das richtige."

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Geschmeichelt fummelte Herms an seinem Auge herum
und hielt es plötzlich in der Hand. Die blutunterlaufene
leere Augenhöhle erschreckte Pianke. Da schaute er
schon lieber auf das Glasauge.
„Wenn ich schlafen geh", sagte Herms, ,,leg ich das

Auge auf den Nachttisch. Das Auge wacht. Selbst im


Schlaf entgeht mir nichts. Ist es wahr, daß dein Vater
das Kriegsverwundetenabzeichen verliehen bekommen
hat?"
„Das kann schon sein, aber er hat ja so viele Orden. Da
kommt man durcheinander", sagte Pianke und war
froh, daß Herms das Glasauge wieder an die richtige
Stelle rückte.
Das Glasauge war der Grund, warum Herr Herms nicht
wie die meisten Männer seines Alters als Soldat an der
Front kämpfte. Er versuchte, sich nützlich zu machen,
indem er herumspionierte.
Piankes Vater schien ihm verdächtig. Er besaß beide
Beine, trug keine Armprothese und verfügte über

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zwei gesunde Augen. Wieso war der Mann nicht im
Krieg?
,, Was arbeitet dein Vater eigentlich?" fragte er Pianke.
„Er arbeitet für Hoffmann, den Leibfotografen unseres
Führers", antwortete Pianke, so, wie es ihm sein Vater
befohlen hatte.
„ Das ist aber streng geheim", fügte er hinzu. ,, Ich habe
es Ihnen nur verraten, weil Sie mir Ihr Glasauge gezeigt
haben, Herr Herms."
Pianke konnte so gut lügen, daß es ihm der Herr Herms
beinahe glaubte. Dennoch beschloß Piankes Vater, ein
Letztes zu tun, um den Herrn Herms von seiner Führer­
treue zu überzeugen. Er schrieb einen Zettel:
Vorsicht, Vogel brütet! Post und Zeitungen sind beim
Kaufmann Petermann abzugeben!
Pianke heftete den Zettel an den Briefkasten am Gar­
tentor. Einige Wochen lang gab die Postbotin alles für
Krüger beim Kaufmann Petermann ab. Der steckte
Briefe und Postkarten für alle gut sichtbar in einen glä­
sernen Kasten, in dem die Zigarren und Zigaretten auf­
bewahrt wurden. Eines Tages traf eine Scheckpostkarte
des Leibfotografen Adolf Hitlers für Krüger ein. Alle
Leute, die an diesem Tage einkaufen gingen, konnten
den Scheck neben den Zigarettenschachteln liegen se­
hen.
Wer einen langen Hals machte, und das taten die mei­
sten Kunden aus Neugierde, konnte „fünfhundert
Mark" und „für treue Dienste" lesen.
Von diesem Tage an zwinkerte Herr Herms Piankes Va-

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ter mit dem gesunden Auge zu, wenn er ihm begegnete.
Das sollte heißen: Ich bin über Sie bestens informiert,
mein Lieber!
Das laute Heil Hitler des Herrn Herms fiel noch ein
wenig zackiger aus als sonst.
Und auch Pianke und sein Vater zwinkerten sich zu. Sie
wußten, von wem der Scheck für treue Dienste kam -
von einem gewissen Krüger nämlich, der nicht nur
Pässe fälschen konnte.

Pianke fürchtete sich häufig im Dunkeln. Aber es be­


eindruckte ihn kaum, daß Nacht für Nacht der Himmel
vom Lärm der englischen und amerikanischen Bomber
erdröhnte. Er wußte, sie warfen ihre Last erst über der
Stadt ab.
Wenn aber etwas in dem Häuschen raschelte, stand ihm
der Angstschweiß auf der Stirn. Es ist nur eine Maus!,
versuchte er sich zu beruhigen. Oder er redete sich ein:
Der Wind fegt durch die Ritzen.
Insgeheim glaubte er, daß auf dem Boden des Häus­
chens, der nur über eine Leiter bestiegen werden
konnte, ein Gespenst hauste. Dabei wußte er, daß Ge­
spenster nur Hirngespinste waren. Doch wenn er allein
im Bett lag und der Vater ausgegangen war, begann er
sich wieder zu fürchten. Erst das regelmäßige Atmen
des Vaters, mit dem er das Bett teilte, beruhigte ihn.
Eines Nachts hörte er deutlich, wie die Haustür aufge­
schlossen wurde. Gott sei Dank lag der Vater neben
ihm. Pianke wagte zuerst nicht, ihn zu wecken. Viel zu

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oft hatte er sich schon blamiert. Er hörte, wie in der Kü­
che ein Eimer umfiel. Nun hielt er es nicht mehr aus.
,,Vater", flüsterte er.
Der Vater legte ihm schweigend die Hand auf den

Mund. Sie lauschten beide angestrengt. Kein Zweifel,


irgendein Wesen spukte in der Küche herum. Schließ­
lich hörten sie, wie der Vorhang, der Küche und Zim­
mer voneinander trennte, zurückgeschoben wurde. Der
Lichtstrahl einer Taschenlampe zuckte auf. Pianke er­
kannte deutlich eine Männergestalt, die sich vorsichtig
bewegte.
Der Mann trug eine Leiter, die sonst in der Küche
stand. Er lehnte sie an die Luke urid wollte hinaufstei­
gen.
,,Halt, stehenbleiben!" rief der Vater und ließ zur glei­
chen Zeit das elektrische Licht aufflammen.
Der Mann stand wie versteinert mit geschlossenen Au-

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gen auf der untersten Sprosse der Leiter und versuchte,
sich an das elektrische Licht zu gewöhnen.
Der Vater saß aufrecht im Bett und hielt eine Pistole
auf den Mann gerichtet.
Die Taschenlampe des Fremden fiel zu Boden.
Vorsichtig stieg er die Sprosse der Leiter herunter und
hob, als er auf dem Dielenboden stand, die Arme hoch.
Er hatte sich zum Vater und zu Pianke umgewendet.
Pianke entdeckte auf dem Mantel in Brusthöhe einen
handgroßen Davidsstern aus gelbem Stoff mit der Auf­
schrift Jude.
,,Ich bin erledigt", sagte der Mann.
,,Was wollen Sie hier?"
„Früher war das meine Laube .. .", stammelte der
Mann. ,,Auf dem Dachboden sind Briefe meiner ver­
storbenen Frau. Auf dem Balken, über der Luke. Ich
wollt sie holen. Glauben Sie mir oder glauben Sie es
nicht. Es ist schon alles egal."
,,Pianke, sieh nach", sagte der Vater.
,,Ich? Aber wenn dort jemand ist ..."
,,Los, mach schon. Wer soll denn dort sein!"
Der Mann mit den erhobenen Händen trat zur Seite.
Einen Augenblick fühlte sich Pianke durchschaut.
Hatte der Mann gelächelt? Doch das war wohl eine
Täuschung!
Pianke nahm sich zusammen. Er glitt an dem Mann
vorüber auf die Leiter zu. Er hatte es jetzt eilig, die Sa­
che hinter sich zu bringen.
,,Auf dem Balken über der Luke", sagte der Mann.

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Oben angekommen, tastete Pianke eilig den Balken ab.
Er fühlte ein Päckchen in den Händen, ergriff es und
huschte wie ein Wiesel wieder hinunter. Die Luke ließ
er offenstehen.
Der Vater legte die Waffe auf den Tisch und nahm die
Briefe in die Hand. ,,Sie sind Herr Schmuckstein?"
,,Ja", sagte der eilig, ,,ich bin Elias Schmuckstein."
„Entschuldigen Sie", sagte der Vater, ,,so nehmen Sie
doch die Hände herunter, Herr Schmuckstein. Ich
dachte, Sie wären von der Gestapo."
Der Mann begann, mit den Händen herumzufuchteln.
„Aber wo", rief er und tat so, als hätte man ihm gerade
einen Witz erzählt. ,,Ich, der Jude Schmuckstein, und
die Gestapo?"
Er lachte und deutete auf seinen Stern. ,,Ich habe doch
mit denen nichts im Sinn! Aber wie soll unsereins wis­
sen, daß hier um diese Jahreszeit jemand wohnt. Das
sind doch Sommerhäuser!"
,,Setzen Sie sich."
Der Vater stellte in der Küche Teewasser auf und kam
zurück.
Pianke kroch ins Bett, ohne den fremden Mann aus den
Augen zu lassen. Ein wenig verwunderlich schien ihm,
daß der Vater mit einem Einbrecher Tee trinken wollte.
Noch dazu mit einem Mann, der einen Judenstern am
Mantel trug. Mit solchen Leuten durfte man nicht spre­
chen. Sie hatten in der Straßenbahn aufzustehen und
den Platz anzubieten, auch wenn ein Bengel in Piankes
Alter zustieg. Sie hatten sogar den Bürgersteig zu räu-

23
men, wenn deutsche Volksgenossen kamen. Auch zum
Kaufmann durften sie nur zu bestimmten Zeiten. Und
dort hatten sie zu warten, bis alle anderen bedient wa­
ren. Sie durften auch keine Haustiere halten, keinen
Kuchen essen. Kein Kino besuchen . . .
Der Mann schien Angst vor Pianke zu haben. Er war
auf der Straße schon oft von Jungen in Piankes Alter
bespuckt, getreten, verhöhnt oder mit Schmutz bewor­
fen worden.
Auch Pianke hatte Angst. Er hatte in der Schule gehört,
daß die Juden Kinder ermordeten und das Blut an die
Türen schmierten.
,,Sie sind ein unvorsichtiger Mensch", sagte der Vater.
„ Wegen der alten Briefe haben Sie Ihr Leben aufs Spiel
gesetzt. Wenn Sie von der Gestapo ergriffen worden
wären, hätte man Sie wahrscheinlich an Ort und Stelle
erschossen."
,,Sie werden mich doch nicht ausliefern wollen?"
,, Unsinn. Sie sind hier sicher."
„Ja, die Briefe", sagte Herr Schmuckstein. ,,Ich hänge
an den Briefen. Erinnerungen an die Zeit, als wir uns
kennenlernten, meine Frau und ich. Und ich dachte, sie
wären hier vor Bomben sicher. Als ich das Häuschen
räumen mußte, hab ich es nicht mehr geschafft, die
Briefe an mich zu nehmen."
„Sind das Ihre Möbel?" fragte der Vater mit einem
Blick in die Runde.
Herr Schmuckstein nickte.
„ Was sind Möbel!" sagte er. ,,Sie sehen, ich lebe auch

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ohne diese Möbel. Wer sollte sie erben? Meine Frau ist
vor langer Zeit verstorben. Wir waren ohne Kinder.
Und, wissen Sie, meine anderen Verwandten bekom­
men schon genug."
Er lachte plötzlich. ,,Sie schämen sich ihres jüdischen
Onkels, trotzdem soll ich ihnen alles schenken, weil es
mir doch irgendwann weggenommen wird."
Der Vater goß den Tee auf und bot Herrn Schmuck­
stein eine Tasse an. ,,Was sind Sie von Beruf?"
„Ich bin Schneider. Ich habe es zu was gebracht. Mir
gehörte ein Konfektionsgeschäft in Berlin am Hausvog­
teiplatz. Jetzt gehe ich mit einem Stock durch den Park
und sammle Papierfetzen und Zigarettenstummel auf."
Er lächelte wieder. ,.Sehen Sie, so werden die Parks we­
nigstens saubergehalten."
Die beiden Männer schlürften den Tee.
„Ich mache Ihnen gute Papiere, Schmuckstein", sagte
der Vater. ,,Papiere, mit denen man Sie überall für ei­
nen reinrassigen Arier halten wird. Ein Versteck wird
sich auch für Sie finden lassen."
Herr Schmuckstein lächelte. ,,Ich bin aber Jude. Ich
habe nichts Schlechtes getan, also werde ich mich nicht
verstecken."
,,Schmuckstein, Sie sind meschugge", sagte der Vater.
„Sie wissen doch, was mit Ihnen passiert. Oder haben
Sie nie etwas von den Lagern, von Vergasungen ge­
hört?"
Herr Schmuckstein zuckte die Achseln. ,,Wenn Sie
mich retten, was wird aus den tausend anderen?"

25
Der Vater zuckte die Achseln.
Herr Schmuckstein stand auf und nahm die Briefe an
sich. ,,Ich danke Ihnen!"
Er ging zur Tür, und Pianke hörte, wie der Vater drau­
ßen sagte: ,,Überlegen Sie sich mein Angebot!"
Pianke dachte nach: Herr Schmuckstein war der erste
Jude, den er kennengelernt hatte. Der Mann sah aus
wie alle anderen Menschen. Er sprach auch nicht an­
ders. Den Tee hatte er genauso genüßlich geschlürft
wie der Vater. Er hätte Piankes Onkel oder Großvater
sein können.
Warum wurden die Juden verfolgt? Pianke konnte sich
das nicht erklären. Er grübelte sich in den Schlaf hin­
ein, ohne eine Antwort zu finden.
Am nächsten Tag fragte Pianke den Vater: ,,Ist es wahr,
daß die Juden arische Kinder ermorden und das Blut
an die Türen schmieren?"
,, Was für ein Unsinn!"
,,Aber sie wollen die Welt erobern", sagte Pianke. Die­
sen Satz hatte er auch in der Schule gehört.
„Sieh mal an", sagte der Vater, ,,was meinst du, womit
sie das erreichen wollen? Vielleicht mit Schere, Nadel
und Faden?"
Pianke dachte an dieses kleine Kerlchen, das tapfere
Schneiderlein. Er mußte lachen, denn die Vorstellung,
daß lauter solche tapferen Schneider die Welt erobern
wollten, fand er komisch.
„Diese Häuschen haben nämlich einmal jüdischen
Schneidermeistern und Maßatelierbesitzern gehört. An

26
den Wochenenden kamen sie hier mit Kind und Kegel
heraus, um sich zu erholen von der Welteroberung.
Und die tapferen deutschen Soldaten haben Österreich,
Polen, die Tschechoslowakei, Frankreich, ein Teil Ruß­
lands und noch einige Länder besetzt, um den Leuten
dort Anzüge zu schneidern, nicht wahr?"
Genau wußte Pianke nicht, was die deutschen Soldaten
in all den Ländern taten, aber Anzüge schneiderten sie
dort bestimmt nicht, das schien ihm festzustehen. ,,Du
meinst, umgekehrt?"
,,Ganz und gar umgekehrt!"
,,Aber warum verfolgt man dann die Juden?"
„Es ist ein alter Trick der Diebe, zu rauben, zu stehlen
und wenn der Diebstahl entdeckt wird, auf einen ande­
ren zu zeigen: Haltet den Dieb!

Es vergingen einige Wochen. Pianke hatte den nächtli­


chen Besuch beinahe vergessen. Da klopfte es eines
Abends an das Fenster des Häuschens. Der Vater öff­
nete. Herr Schmuckstein huschte zur Tür herein.
„Haben Sie sich die Sache doch überlegt?" fragte der
Vater.
Schmuckstein schüttelte lächelnd den Kopf. ,,Ich bin
gekommen, um mit Ihnen ein Geschäft zu machen."
Befremdet betrachtete Vater den Mann.
,,Geben Sie mir drei Mark."
,,Soll das ein Witz sein?"
Schmuckstein lächelte noch immer. ,,Geben Sie mir
drei Mark, und Sie werden sehen!"

27
Der Vater kramte drei Mark aus seinem Portemonnaie
und überreichte sie ihm. Schmuckstein nahm das Geld
und legte statt dessen ein Schriftstück auf den Tisch:
Ich, Israel Elias Schmuckstein, wohnhaft in Berlin,
Kleine Jacobstraße 4, verkaufe Herrn Krüger für
dreitausend Reichsmark mein Segelboot „Pirat".
Der Betrag wurde mir bereits ausgezahlt.
Israel Elias Schmuckstein.
Notariell beglaubigt durch Herrn Rechtsanwalt
Dr. Jogisch.
„Sie brauchen nur Ihren Namen einzusetzen", sagte
Schmuckstein. ,,Das Schriftstück ist zwei Jahre zurück­
datiert."
„Woher soll ich dreitausend Mark auftreiben?" sagte
der Vater. ,,Und was soll ich mit einem Segelboot? Ich
bin mein Leben lang nicht gesegelt."
,,Sie haben bezahlt. Symbolisch, verstehen Sie? Ich ver­
kaufe meinen Besitz. Sie können auch gern einen Bril­
lantring bekommen. Der kostet aber fünf Reichsmark."
,,Hören Sie auf, Schmuckstein!"
„Ich verkaufe alles", sagte Schmuckstein, ,,bevor man
es mir wegnimmt. Falls ich überleben sollte, kaufe ich
Ihnen das Boot wieder ab."
Der Vater dachte nach. Dann reichte er Herrn Schmuck­
stein die Hand. ,,Sie können sich auf mich verlassen."
Schmuckstein stand auf, um zu gehen. Plötzlich besann
er sich jedoch. ,,Sie wollten mir helfen?"
Der Vater nickte.
,,Ich weiß zuverlässig, daß morgen früh alle Juden un-

28
serer Straße abtransportiert werden. Ins Lager! Jeder
darf fünfzig Kilo Gepäck mitschleppen und einhundert
Reichsmark. Ich selbst habe keine Kinder. Aber in mei­
nem Haus lebt ein kleines Mädchen. Acht Jahre alt. Die
Eltern wären einverstanden, wenn Sie das Kind ir­
gendwo unterbringen."
,,Damit kommen Sie erst jetzt", schrie Piankes Vater.
Schmuckstein zuckte hilflos die Achseln. Auf seinem Ge­
sicht spiegelte sich ein verzeihungheischendes Lächeln.
An dieser Stelle ließ Pianke das erste Mal wieder etwas
von sich hören. ,,Ein Mädchen!" sagte er verächtlich.
,,Halt den Mund", entgegnete der Vater. Zu Schmuck­
stein gewendet, sagte er: ,,Ich habe was anderes zu tun,
als Kinder großzuziehen! Ich stecke bis zu den Ohren

fi'c.,_.
�\.

in der Arbeit, Mann. Sie haben keine Ahnung, wie viele


Leute auf gute Ausweispapiere warten."
Er ging in der engen Stube auf und ab. Schmuckstein
stand dabei und beobachtete ihn. - ,,Bringen Sie das
Kind, in Teufels Namen. Aber beeilen Sie sich, sonst ist
der Transport schon unterwegs!"

29
,,Ich habe das Kind bei mir", sagte Schmuckstein.
Er ging zur Tür.
Der Vater und Pianke folgten ihm.
Auf den Stufen zum Eingang hockte ein zusammenge­
krümmtes Etwas.
,,Sie heißt Rachel", sagte Schmuckstein.
Der Vater richtete das Mädchen auf und schaute in ihr
Gesicht. Das Kind blickte ihn aus tiefschwarzen, ver­
heulten Augen an.
,,Ich hab Angst", sagte es.
,,Wirklich, Schmuckstein, man merkt, Sie hatten nie­
mals Kinder", sagte der Vater. ,,Wie kann man so ein
Mädchen in der Dunkelheit draußen lassen."
Schmuckstein hörte das nicht mehr. - Er war gegan­
gen.

Pianke hatte über Nacht eine Cousine bekommen -


denn als Cousine sollte er Rachel ausgeben.
Für Pianke waren Mädchen fremdartige Wesen. Sie tru­
gen Kleider und Röcke, niemals Hosen. Ihre Spiele wa­
ren anders. Während die Jungen Messerstich, Krieg
und Verbrecherjagd spielten, gingen die Mädchen mit
ihren Puppen spazieren. Wehe, ein Junge näherte sich
ihnen auf der Straße! Dann begannen sie zu tuscheln
und zu kichern. Man konnte kein Wort mit ihnen wech­
seln. Das wäre unter der Würde eines Stadtjungen.
Auch in der Schule kam man nicht mit den Mädchen
zusammen. Es gab Knaben- und Mädchenschulen.
Als Pianke noch in der Stadt wohnte, lag seine Schule

30
gleich neben der Mädchenschule. In den Pausen gingen
die Jungen in Sechserreihen im Kreis auf dem Schulhof
herum, und auf dem anderen Schulhof liefen die Mäd­
chen ebenfalls im Kreis. Die Mädchen taten so, als
würden die Jungen nicht existieren, und umgekehrt war
es genauso.
Und nun war ihm ein derartiges fremdes Wesen als
Cousine beschert worden.
Pianke schlief nach wie vor mit dem Vater zusammen
in einem Bett. Für Rachel wurde eine Luftmatratze auf­
geblasen und auf den Fußboden gelegt. Wie sollte er
sich in Gegenwart eines Mädchens an- und ausziehen?
Am Morgen brachte es Pianke fertig, mit dem Fuß die
Kleidungsstücke vom Stuhl zu angeln und sich unter dem
Deckbett anzuziehen. Es wäre ihm peinlich gewesen,
wenn sie ihn nackt oder im Schlafanzug gesehen hätte.
,,Warum sprecht ihr nicht miteinander?" fragte der Va­
ter beim Frühstück.
„Meine Eltern haben mir verboten, mit einem Goj zu
sprechen", sagte das Mädchen.
Pianke wußte nicht, daß Goj der Begriff für Nichtjuden
war, aber er hatte erfaßt, daß es sich um ein Schimpf­
wort handelte.
,,Und ich rede nicht mit einem Judenbalg", sagte er.
Die Hand des Vaters traf ihn, kaum daß er es ausge­
sprochen hatte. Pianke fiel vom Stuhl. Als er sich wie­
der aufgerappelt hatte, versuchte er, die krampfhaft
hervorbrechenden Tränen zurückzudrängen. Trotzdem
rollten sie über seine Wangen.

31
Und das vor einem Mädchen!
Er heulte nicht vor Schmerz. Er heulte vor Kränkung.
Was hatte er angestellt?
,,Legt die Hände auf den Tisch", sagte der Vater.
Rachel gehorchte.
Pianke verschränkte zunächst die Arme über der Brust.
Erst der drohende Blick seines Vaters veranlaßte ihn zu
folgen.
„Seht euch die Hände an!" sagte der Vater. ,, Und dann
sagt mir, ob ihr irgendwelche Unterschiede entdeckt!"
Rachel betrachtete Piankes Hände.
,,Er hat schmutzige Fingernägel", sagte sie.
,,Ja, das stimmt. Sonst sind sie aber gleich. Und mit eu­
ren Beinen ist es genauso. Und keiner von euch beiden
hat grünes oder violettes Blut in den Adern. Der einzige
wirkliche Unterschied zwischen euch besteht darin, daß
der eine ein Mädchen und der andere ein Junge ist."
,,Das reicht schon", sagte Pianke.
Der Vater schlug wütend mit der Faust auf den Tisch.
Die Tassen hüpften.
„Sollte ich sie mit ins Lager gehen lassen? Nur weil du
so einen verdammten Dickkopf hast!"
Pianke schwieg.
Nein, das wollte er nicht.
„Ins Lager?" sagte Rachel. ,,Meine Eltern sind doch
nur zur Erholung gefahren."
Pianke wollte den Mund öffnen, um zu widersprechen.
Unvermittelt hielt er den Atem an. Er begriff: Sie
glaubte, ihre Eltern seien zur Erholung gefahren und

32
würden bald zurückkehren. Pianke wußte von seinem
Vater, daß die Juden in den Lagern umgebracht wur­
den. Auch Kinder verschonte man nicht.
„Ja", sagte der Vater zu Rachel, ,,deine Eltern sind im
Erholungsheim."
Rachel legte den Kopf auf die Unterarme und begann
zu schluchzen. Sie hatte erkannt, daß sie von allen belo­
gen worden war.
Der Vater streichelte sie und redete leise auf sie ein.
Vergeblich.
Schließlich legte er den Arm um das Mädchen und
führte sie zu dem Bett, in dem er und Pianke sonst
schliefen. ,,Heul dich aus", sagte er, ,,vielleicht hilft
das!"
Drei Tage blieb Rachel im Bett liegen. Als sie wieder
aufstand, war sie schmaler geworden.
Pianke und der Vater schliefen in den drei Nächten
mehr schlecht als recht auf der Luftmatratze. Sie rutsch­
ten häufig auf den Fußboden und wachten durch die
Kälte auf. Pianke beklagte sich nicht.
Ich hab ja noch meinen Vater, dachte er.

Rachel erhielt den Namen Irma. Sie mußte, genau wie


Pianke, ihr Geburtsdatum auswendig lernen. Und dazu
noch ihre neue Lebensgeschichte. Angeblich sollten
ihre Eltern bei einem Bombenangriff ums Leben ge­
kommen sein. Darum hielt sie sich bei Onkel Krüger,
dem Bruder ihres Vaters, auf.
Piankes Vater beabsichtigte, sie zur Schule zu schicken.

33
Alles sollte ganz normal aussehen. ,,Welche Klasse hast
du zuletzt besucht?" fragte er.
„Ich ging in die zweite Klasse", sagte sie. ,,Dann wurde
unsere Schule geschlossen. Und ich ging überhaupt
nicht mehr. Aber meine Babe, meine Oma, hat mir was
beigebracht!"
„Ich kann dich unmöglich in die Schule schicken, wenn
du jiddisch redest", sagte der Vater.
„Ich möchte unbedingt zur Schule. Ich kann sehr gut
hochdeutsch sprechen. Meine Eltern sind Dajtsche. Sie
gehen gekleidet wie alle und sprechen richtig deutsch."
,,Du hast schon wieder ein jiddisches Wort gesagt."
„Das hab ich nur von meiner Großmutter gehört. Sie
kommt aus Jehupetz."
Der Vater schüttelte den Kopf. ,,Nein, ich schicke dich
nicht in die Schule. Pianke kann dir ein bißchen Rech­
nen und Schreiben beibringen. Und sonst unterhältst
du dich lieber mit keinem Menschen außer uns!"
,,Ja, Herr Krüger."
,,Wie oft soll ich dir sagen, daß ich dein Onkel bin!"
Sie nickte schuldbewußt. ,,Ja, Onkel! Aber mein richti­
ger Onkel lebt noch in Jehupetz."

So kam es, daß Pianke Lehrer wurde. Jeden Tag nach


dem Mittagessen versuchte er, Irma beizubringen, was
er gerade selbst gelernt hatte. Sie begriff erstaunlich
schnell. Im Kopfrechnen überflügelte sie Pianke sogar.
Er ärgerte sich darüber, denn wo gab es so was, daß der
Schüler besser war als der Lehrer.

34
Große Schwierigkeiten bereitete Irma die Rechtschrei­
bung. Sie hatte in der ersten Klasse gerade das Alpha­
bet gelernt. Pianke, der ebenfalls keine große Leuchte
auf diesem Gebiet war, triumphierte, denn besser als
Irma war er allemal. ,,Ich habe nie im Leben ein Haus
mit ß gesehen. So ein Hauß gibt es vielleicht bei deiner
Oma in Jehupetz. Aber hier werden die Häuser anders
geschrieben."
,,Mit z", sagte Irma.
„Mit z!" rief Pianke und krümmte sich vor Lachen. ,,In
dein Hauz schlägt bestimmt der Blitz ein!"
,,Na gut, dann eben mit s!"
Obwohl Pianke seinen Klassenlehrer nicht sonderlich
leiden mochte, verfiel er nun darauf, ihn nachzuäffen.
,,Warum denn nicht gleich so, wenn ich fragen darf?"
Irma zuckte die Achseln. ,,Nebbich", sagte sie.
,,Nebbich", sagte er, ,,du mit deinem Jiddisch!"
Einmal geschah es dann aber, daß Pianke aus Versehen
auch nebbich sagte.
Da hatte Irma wieder Oberwasser. ,,Adonaij jewarechu,
Gott segne dich, Jude aus Jehupetz", sagte sie und
lachte ihm ins Gesicht.

Das Segelboot des Herrn Schmuckstein lag am Steg des


Yachtclubs am Ende der Laubenkolonie. Das unan­
sehnliche Dickschiff war dort nur geduldet worden.
Die eleganten Kielkreuzer lagen während des Krieges
zum größten Teil auf Land. Man hatte ihnen die Blei­
kiele genommen, um daraus Kriegsmaterial herzustellen.

35
Zum Glück besaß das Segelboot „Pirat" einen Kiel aus
Eisen, der für kriegerische Zwecke weniger in Frage
kam. Von oben sah das Schiff wie eine Flunder aus.
Die alten Männer, die mit den Kapitänsmützen an den
Steganlagen herumlungerten, sagten: ,,Ein langsames
Schiff."
Andere meinten: ,,Dafür verträgt es den schärfsten
Sturm."
Bisher hatte sich Piankes Vater nicht um das Boot ge­
kümmert. Er war kein Segler. Und er fühlte sich auch
nicht so recht als Besitzer des Bootes. Die Umstände,
wie er dazu gekommen war, ließen in ihm kein Verlan­
gen nach dem Wassersport aufkommen.
Einige Zeit nach dem Verschwinden Herrn Schmuck­
steins konnte man an der schwarzen Tafel beim Kauf­
mann Petermann lesen: Versteigerung ehemaligen jüdi­
schen Eigentums an Volksgenossen.
Nun raffte sich der Vater doch auf und ging mit Pianke
zum Yachthafen, um einen Blick auf das Boot zu wer­
fen.
Herrn Schmucksteins Boot war nicht das einzige aus jü­
dischem Besitz. Aber gerade vor diesem Boot sollte die
Versteigerung beginnen. Es hatten sich mehrere Leute
eingefunden. Die meisten der zum Verkauf anstehen­
den Boote waren Motorboote. Aus Treibstoffmangel
durften diese Boote jedoch während des Krieges nicht
gefahren werden. Darum waren Segelboote so beliebt.
Der einäugige Herms hatte die Versteigerung übernom­
men.

36
„Herrschaften, noch haben Sie Zeit, sich die Objekte
eingehend zu betrachten. Wir wollen aber nicht allzu
lange fackeln, dann muß geboten werden. Das höchste
Angebot entscheidet."
,,Heil Hitler", murmelte Piankes Vater. ,,Sagen Sie mal,
Herms, was haben Sie eigentlich mit meinem Eigentum
vor?"
,,Heil Hitler, Herr Krüger. Wie meinen?"
Der Vater reichte ihm den Kaufvertrag.
„Sie sind seit zwei Jahren Besitzer des Bootes? Davon
habe ich aber noch gar nichts bemerkt", sagte Herms.
,,Können Sie auch nicht. Bisher hatte ich keine Zeit,
mich um das Boot zu kümmern. Aber ich habe doch
den ehemaligen Besitzer, den Juden Schmuckstein, be­
auftragt, das Boot instand zu halten ..."
„Sie sehen ja", sagte Herms, ,,der Kahn ist vollkommen
verdreckt ..."
Er wandte sich an die Kaufwilligen. ,,Volksgenossen,
dann hat sich die Angelegenheit wohl erledigt. Gehen
wir zum nächsten Objekt ..."
Die Männer schimpften. Einer sagte: ,,Das ist doch
Schiebung!"
Herms nahm ihn beiseite und sagte so laut, daß es alle
Umstehenden hören konnten: ,,Mann, seien Sie doch
etwas vorsichtiger! Der neue Besitzer ist ein Mitarbeiter
von Hoffmann, dem Leibfotografen des Führers."
,,Herms", rief der Vater, ,,halten Sie die Schnauze,
Feind hört mit!" Er hatte die Tonart getroffen, die auf
Herms wirkte.

37
,,Tschuldigung ... ", sagte der und nahm straffe militä­
rische Haltung an.
Aber auch auf die anderen hatten diese Worte eine Wir­
kung ausgeübt. Sie witterten in Piankes Vater einen be­
sonders einflußreichen Nazi, mit dem nicht zu spaßen
war.

Die erste Ausfahrt fand an einem Sonntag statt. Pianke


ging mit einem Topf Nudelsuppe voran in Richtung
Yachthafen. Hinter ihm lief Irma, die mehrere Flaschen
Malzbier trug. Der Vater beschloß die Prozession mit
einem Buch: Wie lerne ich segeln.
Am Ufer angekommen, sagte der Vater, nach einem
kurzen Blick in das Buch: ,,Zunächst ermitteln wir die
Windrichtung." Er befeuchtete den Zeigefinger seiner
rechten Hand und hob ihn hoch. Pianke tat es ihm

38
nach. ,,Auf der Windseite wird der Finger kalt", sagte
der Vater.
,,Der Wind kommt vom See", sagte Pianke.
Der Vater nickte bestätigend. Irma deutete auf das
Fähnchen an der Mastspitze. ,,Wenn ihr mich gefragt
hättet", sagte sie, ,,dann würde ich sagen, der Wind
kommt vom Land."
Pianke wollte gerade in ein unbändiges Gelächter ver­
fallen, da fiel sein Blick ebenfalls auf das Windfähn­
chen.
Der Vater zuckte die Achseln. ,,Die Sache scheint kom­
plizierter zu sein, als ich dachte."
Pianke hatte Angst, der Vater würde die Segelpartie ab­
blasen.
,,Los, decken wir endlich das Boot ab!"
Unter der Plane kamen die altmodischen Decksaufbau­
ten zum Vorschein. Die Mahagonikajüte mit den Mes­
singbeschlägen an den Bullaugen, die Nagelbank, an
denen Leinen befestigt wurden, und der Kreuzpoller
am Achterschiff.
Begeistert kletterten die Kinder in die Kajüte. Sie
staunten. Dort gab es zwei geräumige Kojen, einen
Kleiderschrank und das Spind mit dem Petroleum­
kocher.
,,Wer weiß, wozu das noch gut sein kann", sagte der Va­
ter. ,,Nun aber alle Mann an Deck, sonst wird es
Abend, bevor wir abkommen!"
Das Großsegel war ordentlich im Zickzack auf den
Großbaum, der unteren Querstange, geschichtet und

39
verschnürt. Ganz obenauf lag die Gaffel mit ihrer
Klaue zum Mast. Diese Stange wurde am Mast empor­
gezogen. Sie mußte schräg nach oben weisen und

den Mast ein Stück verlängern. Pianke roch an dem


fleckigen Segel.
Beim Einatmen des muffigen Geruchs überkam ihn
eine Ahnung vom Meer und von den alten Klippern
mit ihren unendlich vielen Segeln, von den Männern,
die hoch oben auf Drahttauen, an die Rahen geklam­
mert, arbeiteten.
,,Träum nicht, Pianke. Wir wollen das Segel aufziehen!"
Aber so einfach war das nicht. Sie zogen zu dritt mit al­
ler Kraft an den Leinen. Nur ganz langsam kletterte das
Segel hinauf. Wieder nahm der Vater das Buch hervor
und las darin.

40
„Wir machen das falsch", sagte er. ,,Wir müssen diese
komische Gaffel schräg nach oben ziehen."
Als sie der Anweisung nachgekommen waren, ging es
zu ihrem eigenen Erstaunen viel leichter. Trotzdem war
es noch schwer genug. Sie waren alle drei außer Puste
geraten. Jetzt erst bemerkten sie den Platzwart, einen al­
ten Mann mit einer Kapitänsmütze auf dem Kopf. Er
stand kopfschüttelnd auf dem Steg. ,,Volksgenosse Krü­
ger, Sie wollen doch nicht neue Bräuche in unserem
Yachtclub einführen, wie?"
Alle drei wußten nicht, was der Mann von ihnen wollte.
„Die Segel werden nicht im Stand verheißt. Runter mit
dem Zeug! Draußen an der Takelboje können Sie auf­
ziehen!"
,,Ach, du lieber Himmel", sagte Pianke.
Sie waren so froh gewesen, das Segel endlich flattern zu
sehen.
„Und dann, Volksgenosse Krüger, ziehen Sie sich mal
so an, wie es sich gehört. Sie können doch hier nicht
mit freiem Oberkörper herumlaufen. Seglerkleidung be­
steht immer noch aus den Farben blau-weiß. Das lassen
Sie sich gesagt sein, auch wenn Sie sonstwas darstellen.
Ordnung muß sein!"
Pianke griente und wandte sich ab. Der Platzwart kam
sich wohl sehr mutig vor. Der Vater schluckte eine Be­
merkung herunter.
Wie alle anderen hatte der Platzwart den Anschlag
beim Kaufmann Petermann gelesen und diensteifrig ge­
holfen, als die Boote aus jüdischem Eigentum verstei-

41
gert wurden. Daran hatte er keinen Anstoß genommen.
Das schien in Ordnung zu sein. Aber wehe, einer se­
gelte ohne die vorgeschriebene blau-weiße Clubbeklei­
dung. Da bekam er Mut!
Um kein Aufsehen zu erregen, zog der Vater eine Trai­
ningshose und ein weißes Hemd an. Sie paddelten auf
den See hinaus und setzten draußen zum zweiten Mal
die Segel. Kaum daß sie die Segel verheißt hatten,
nahm das Boot Fahrt auf.
,,Wir fahren!" jauchzte Pianke.
Er hatte eigentlich nie so recht geglaubt, daß die Segel­
boote, die er bisher aus der Feme beobachtet hatte,
wirklich nur durch die Kraft des Windes vorankamen.
Er hatte die Segler im Verdacht, daß sie heimlich auf
der abgewandten Seite die Paddel schwangen oder ei­
nen geheimen Motor betrieben. Denn an Land ver­
spürte man oft kaum einen Windhauch.
Zuerst schlug das Segel der „Pirat" mit ohrenbetäuben­
dem Krach um sich. Vergeblich versuchte der Vater es
zu bändigen, bis er herausbekam, daß er nur den Kurs
ein wenig ändern mußte. Ganz sanft legte sich das Boot
schräg. Die Fahrt nahm zu. Das Wasser um sie herum
begann zu rauschen. Nun klammerten sich Irma und
Pianke ängstlich an die Bordwand, dann begriffen sie,
daß es sich für ein Segelboot gehörte, schräg zu liegen.
Sie hatten es auch bei den anderen Booten gesehen.
„Herrlich", sagte der Vater, ,,man könnte annehmen, es
gäbe keinen Krieg und keinen Adolf Hitler."
Am Anfang segelten sie sehr vorsichtig. Wenn sich das

42
Boot zu sehr auf die Seite legte, ließ der Vater die Leine
nach, dann richtete sich das Boot schnell wieder auf.
Bald aber bekamen sie mit, daß die „Pirat" ein steifes
Boot war. Wenn eine Böe das Boot so weit auf die Seite
drückte, daß das Wasser über die Reling plätscherte,
brüllte Pianke dem Vater zu: ,,Los, gib ihm Saures!"
„Wir möchten vielleicht doch ein bißchen vorsichtig
sein", sagte Irma, ,,weil ich nämlich nicht schwimmen
kann!"
Das Segeln glich damals einem Hindernisfahren. Über
die weite Wasserfläche waren Metallgestelle verteilt,
die auf Flößen montiert waren. Sie sollten die Radarge­
räte der englischen und amerikanischen Flugzeuge täu­
schen. Es machte Spaß, ganz dicht an diesen Gestellen
entlangzufahren.
Pianke und Irma spürten nach einiger Zeit ihre Hände.
Bei jeder Richtungsänderung mußten sie das Vorsegel,
die Fock, bedienen. Obwohl das ein kleines Segel im
Vergleich zum Gaffelsegel war, mußten sie alle Kraft
aufbieten, um es zu bändigen. Sie stemmten sich mit
den Füßen gegen einen Balken, um das Segel in den
Griff zu bekommen. Ihre Muskeln begannen zu
schmerzen. Doch sie waren begeistert.
Um die Mittagszeit warfen sie Anker und nahmen die
Segel herunter. Sie aßen die Nudelsuppe und tranken
das Malzbier. In der Ferne zogen die Vergnügungs­
dampfer ihre Bahn. Manchmal trug der Wind ihnen ei­
nen Fetzen der Blasmusik zu. Sie lagen faul auf dem ge­
räumigen Deck.

43
,,So müßte es alle Tage sein", sagte Pianke.
Aber plötzlich konnte er nicht mehr still liegen. Er
drehte sich bald auf diese Seite, bald auf die andere. Er
versuchte, auch auf dem Bauch zu liegen. Und jedes
Mal, wenn er sich bewegte, wurde die Ruhe an Bord ge­
stört, denn der Holzrumpf des Bootes ist wie eine
Geige. Er ist ein Resonanzkörper. Das leiseste Klopfen
klingt schon wie ein Donnerschlag.
,,Kannst du nicht still liegen, Piankele", sagte Irma.
Was konnte Pianke dafür, daß er als zappliger Mensch
geboren war?
Er hatte da ein Problem. Es war schön, so auf dem
Leinwanddeck zu liegen, aber noch schöner wäre es,
wenn er baden könnte.
Warum badete er nicht? Er hatte vergessen, seine Bade­
hose mitzunehmen. Vor einem Mädchen konnte er sich
doch nicht nackt ausziehen!
Irma stand auf und betrachtete lange nachdenklich den
Rettungsring, der auf dem Deck der Kajüte lag. ,,Ob so
ein Ring einen Menschen trägt?" sagte sie mehr zu sich
selbst als zu irgend jemand.
„Dazu ist er doch da", sagte der Vater. ,,Du hast wohl
Lust zum Baden."
,,Vielleicht."
„Hör zu, ich spring ins Wasser. Und dann bring ich dir
das Schwimmen bei", sagte Pianke. ,,Aber wenn ich
springe, darfst du nicht hinschauen, weil ich keine Ba­
dehose hab."
,, Und wenn ich springe? Ich hab auch nichts an."

44
,,Einer könnte vorn ins Wasser gehen und einer hin­
ten", schlug Pianke vor.
,,Ja, aber du darfst dich nicht umschauen!"
,,Du auch nicht. Kein bißchen, verstehst du."
Pianke ging zum Bug des Bootes, und Irma blieb am
Heck. Zuerst warf sie den Rettungsring ins Wasser.
Nun mußte sie schnell hinterher, sonst würde sie den
Ring nicht mehr zu fassen kriegen. Es kostete sie Über-

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windung, dann ließ sie sich ins Wasser fallen und klam­
merte sich an den Rettungsring.
Pianke, als erfahrener Schwimmer, machte sich sorgfäl­
tig mit Wasser naß, bevor er sprang. Die Spritzer reich­
ten bis zu seinem Vater, der zusammenzuckte.
Pianke schwamm weite Kreise um das Boot. Irma
plantschte am Ring. Wenn Pianke jedoch näher kom­
men wollte, kreischte sie: ,,Nein, bleib weg. Ich hab kei­
nen Badeanzug am Leib!"
Allmählich wurde es Irma doch zu kalt im Wasser. ,,Ich
möchte raus", sagte sie, ,,dreh dich weg, Pianke !"
Aber Pianke war in seiner ausgelassensten Stimmung.
Er plantschte um Irma herum und dachte nicht daran,
wegzusehen.
,,Piankele, schau weg", bettelte sie.
Wenn Pianke ausgelassen war, konnte er kein Ende fin­
den. Er sah nicht, daß Irmas Lippen blau wurden vor
Kälte.
,,Dreh dich um", sagte sie nun drohend.
Wer nicht hörte, war Pianke.
Da paddelte Irma an die andere Seite des Bootes. Aber
Pianke ließ nicht locker. Er schwamm einfach hinter­
her. Er bemerkte nicht einmal, daß Irma beinahe vor
Wut heulte. Verzweifelt paddelte sie an das Boot heran.
Ihr war alles egal. Behende kletterte sie die Bordwand
hinauf, drehte sich um und fischte den Ring heraus. Da
sah Pianke sie einen Moment ganz nackt, ohne daß er
es gewollt hatte. Ein bißchen schämte er sich, daß er sie
dazu gezwungen hatte. Er wartete, bis sie sich angezo-

46
gen hatte, und schwamm dann selbst zum Boot zurück.
Pianke versuchte, sich hinaufzuziehen. Er hatte jedoch
keine Kraft in den Armen. Er war eben Schwindelwei­
zen. ,,Vater, hilf mir", sagte er.
Aber merkwürdig, sein Vater drehte sich nicht einmal
um. ,,Laß dir von Irma helfen", sagte er.
Pianke versuchte es noch einmal vergeblich aus eigener
Kraft. Nichts zu machen, er schaffte es nicht.
,,Hilf ihm", sagte der Vater zu Irma.
Zögernd drehte sie sich um und streckte Pianke ihre
Arme entgegen. Pianke griff danach wie nach einem
Strohhalm. Mühsam kletterte er an Bord. Als er oben
stand, schweratmend und vor Kälte zitternd, versuchte
er nicht einmal mehr, seine Blöße zu bedecken.
,,Richtig albern seid ihr", sagte der Vater.
Merkwürdig, von diesem Tage an machte Pianke keine
Kunststücke mehr unter dem Deckbett, wenn er sich
anziehen wollte. Nach und nach verlor auch Irma ihre
Scheu vor Pianke. Sie hatten sich aneinander gewöhnt.

Der Wind hatte zugenommen, als sie die Heimfahrt an­


traten. Im Zickzackkurs kreuzten sie mühsam in Richtung
Heimathafen. Neben ihnen war eine Yacht aufgetaucht,
die beinahe den gleichen Kurs fuhr - die „Siegfried".
Es war ein Prachtschiff. Lang und spitz wie der Kopf
eines Hais zerschnitt der Bug die Wellen. Der Mast, wie
eine Weidengerte nach hinten gebogen, führte das eng­
anliegende Segel bedenklich schräg über das Wasser.
Am Steuer hockte ein Mann mit weißer Kapitänsmütze.

47
Zwei Jungen, die einige Jahre älter als Pianke waren,
beugten sich weit über die hoch aus dem Wasser ra­
gende Seite des Bootes. In derbes weißes Zeug geklei­
det, sahen sie aus wie richtige Matrosen. Man merkte
Piankes Vater an, daß er sich von der Schnelligkeit des
anderen Bootes herausgefordert fühlte. Krampfbaft
versuchte er, die Segelstellung zu verändern. Die „Pi­
rat" wurde jedoch nicht schneller.
„Süßwassermatrosen", sagte Pianke verächtlich. ,,Die
passen zu diesem Spielzeugboot."
Die andere Yacht segelte jetzt auf gleicher Höhe mit ih­
nen. Der Mann am Steuer grüßte lässig mit der Hand.
Piankes Vater nickte.
Auf der ihnen abgekehrten Seite der Yacht war der
Schilfgürtel des Ufers näher gerückt.
Der Mann am Steuer der „Siegfried" rief: ,,Geben Sie
Raum!"
Pianke konnte sich diese Worte nicht deuten. Der Vater
verstand sie auch nicht. Er behielt den Kurs bei.
Unvermittelt wendete die „Siegfried". Der Haifischbug
schoß auf sie zu, als wollte er die „Pirat" in den Grund
bohren.
In Panik geraten, riß der Vater das Steuer herum, um
auszuweichen. Pianke holte das Vorsegel viel zu früh
auf die andere Seite. Das Boot verlor dadurch an Fahrt
und beschrieb einen riesigen Bogen. Der Zusammen­
stoß schien unvermeidbar.
Irma hielt sich in Erwartung des Aufpralls die Ohren
zu. Pianke sprang auf und versuchte das andere Boot,

48
das bis auf wenige Zentimeter herangekommen war,
wegzuhalten. Auch die beiden Jungen auf der „Sieg­
fried" packten zu. Sie drückten die „Pirat" mit steifen
Armen ab. Die Boote verloren vollkommen ihre Fahrt
und trieben mit flatternden Segeln quer zum Kurs.
,,Was fällt Ihnen ein", schrie Piankes Vater dem ande­
ren Segler zu, ,,Sie haben uns beinahe gerammt."
,,Was erlauben Sie sich, Herr. Ich hatte Wegerecht. Be­
kanntlich lautet die Regel: Lee vor Luv!"
Man sah dem Vater an, daß er von dieser Regel noch
nichts gehört hatte. Er wußte auch nicht, was Lee und
was Luv bedeutete.
Pianke hockte den Jungen der „Siegfried" von Ange­
sicht zu Angesicht gegenüber. Es war unangenehm, sich
so in die Augen zu schauen. Er versuchte, nicht zu blin­
zeln und so zu tun, als gäbe es die anderen nicht.
Der jüngere Bruder sagte zu dem älteren: ,,Möchte wet­
ten, der Kahn stammt noch aus der Eiszeit!"
,,Das ist doch kein Kahn, Dieter", sagte der Ältere,
,,das ist lediglich ein Verkehrshindernis."
Pianke konnte sich nicht beherrschen: ,,Einen großen
Mund habt ihr, aber keine Ahnung vom Segeln!"
Die Gesichter seiner Gesprächspartner wurden unbe­
weglich.
„Wir werden die Angelegenheit mit der Wasserpolizei
klären", sagte der Mann auf dem anderen Boot.
Piankes Vater hatte gute Gründe, der Polizei aus dem
Wege zu gehen. ,,Es ist ja kein Schaden entstanden",
sagte er.

49
,,Hätte aber entstehen können!"
,,Hör mal, Kleiner", sagte der ältere zu Pianke, ,,irgend­
wann treffen wir uns schon mal ohne Geleitschutz!"
,,Und da wird dir das Grinsen vergehen", fügte der jün­
gere Bruder hinzu.
Der Vater sagte: ,,Ich entschuldige mich hiermit in aller
Form, Herr ..."
,,Schramm", sagte der andere.
,,Krüger", der Vater versuchte, eine Verbeugung zu ma­
chen. Es gelang ihm nicht, weil er zu sehr mit dem Boot
beschäftigt war.
„Angenehm", sagte Herr Schramm und wechselte den
Tonfall, ,,Sie sind wohl blutiger Anfänger, Kamerad
Krüger?"
Der Vater nickte. ,,Ich habe das Boot erst vor einigen
Wochen gekauft."
„Jeder fängt einmal an", sagte Herr Schramm, ,,wenn
Sie gestatten, weise ich Sie ein wenig ein ... "
Als der Vater gezwungenermaßen zustimmte, kam der
Mann herüber auf die „Pirat". ,,Heinz, übernimm du
das Ruder", kommandierte er seinem älteren Sohn.
„ Wenn ich ein Zeichen gebe, dann holt ihr mich wieder
ab."
,,Jawohl, Vater!"
Herr Schramm musterte Pianke. ,,Von Heinz und von
Dieter könntest du etwas lernen. Geh auf meine Yacht.
Vielleicht werdet ihr Freunde!"
Pianke riß die Augen ängstlich auf.
„Das ist ein guter Gedanke", sagte der Vater, der offen-

50
bar nichts von Piankes Abneigung begriffen hatte.
,,Nun, geh schon!"
Pianke zögerte. Heinz streckte ihm seine Hand entge­
gen. Als Pianke noch immer nicht wollte, zog er ihn ein­
fach auf das andere Boot.
„ Und ich?" rief lrma. Sie hatte alles mitbekommen und
wollte Pianke irgendwie beistehen.
„Mach, daß du unter Deck kommst", sagte der Vater
grob zu ihr.
Die beiden Boote entfernten sich bereits voneinander.
Irma fühlte sich gekränkt. Sie begriff nicht, daß Piankes
Vater sie lediglich daran hindern wollte, ihre jüdische
Herkunft zu verraten.
,,Sie hat zuviel Angst auf dem Boot", sagte der Vater er­
klärend.
„Wie meine Frau", sagte Herr Schramm und nahm die
Ruderpinne in die Hand, um das Boot auf den richtigen
Kurs zu bringen. ,,Auf unserer Yacht heißt es: Alles,
was nicht über die Reling pinkeln kann, gehört unter
Deck!"
Piankes Vater lachte pflichtschuldig.
„Am besten, Herr Krüger, wir üben zunächst ein paar
Wenden und besprechen dabei die Vorfahrtsfrage. Es
ist alles halb so schlimm!" Piankes Vater nickte.
Mit Pianke wurde nicht so höflich geredet. ,,Hoffent­
lich, Freundchen", sagte Heinz, ,,ist dir klar, wer hier
wem zu gehorchen hat?"
Pianke nickte obenhin. Er war jetzt den beiden Jungen
auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

51
,,An Bord werden alle Befehle mit lauter Stimme wie­
derholt!" sagte Heinz. ,,Also, ich warte!"
Pianke schwieg. Er wußte nicht genau, wie er sich ver­
halten sollte.
Dieter schlug mit der Fockleine auf die hölzerne Sitz­
bank. ,,Es ist Brauch auf See - wer nicht gehorcht,
kriegt eins mit dem Tauende."
Angesichts der drohenden Haltung der Brüder ent­
schloß sich Pianke. ,,Also gut, die Befehle werden mit
lauter Stimme wiederholt."
Er sah mit Schrecken, daß die „Pirat" in entgegenge­
setzter Richtung davonsegelte.
Heinz fing seinen Blick auf. ,,Muttersöhnchen, was?"
,,Ich hab überhaupt keine Mutter mehr", sagte Pianke.
Als Antwort nahm Heinz die Leinen dichter. Das Boot
legte sich so weit auf die Seite, daß nur wenige Zenti­
meter fehlten, und das Wasser wäre in die Plicht hinein­
gelaufen.
,,Raus!" schrie Heinz.
Zuerst dachte Pianke, das Boot würde kentern und er
sollte hinausspringen, dann begriff er durch Dieters
Verhalten, daß er sich nach außenbords beugen sollte,
um dem Boot durch sein Körpergewicht Stabilität zu
geben.
,, Weiter raus!" brüllte Heinz.
Pianke beugte sich rückwärts, so weit er konnte, aus
dem Boot. Das Havelwasser zischte und brodelte. Er
sah nicht, wie Heinz seinem Bruder ein Zeichen gab.
Plötzlich richtete sich die Yacht wieder auf. Pianke
52
hatte das nicht erwartet. Er tauchte mit Rücken und
Hinterteil ins Wasser und wäre beinahe ganz hineinge­
fallen, wenn ihn Dieter nicht gehalten hätte.
Die Brüder lachten aus vollem Halse.
,,Jetzt bist du getauft", sagte Heinz.
,,Was meinst du, Heinz, Vorsegelmanöver?"
Heinz nickte.
,,Klar zum Vorsegelmanöver!"
,,Klar zum Vorsegelmanöver!" wiederholte Pianke.
,,Du gehst und holst das Vorsegel eio."
Pianke balancierte auf der Reling des wieder schräg lie­
genden Bootes nach vorn. Eine Welle schwappte ihm
über die Bootsschuhe.
„Zurück!" brüllte Dieter. ,,Du mußt auf der anderen
Seite nach vorn gehen. Immer im Luv!"
Pianke sah am Grienen der Jungen, daß sie ihn wieder
hineingelegt hatten. Jetzt packte ihn die Wut. Er wollte
denen zeigen, daß er seinen Mann stehen konnte.
Als er auf dem Vorschiff angekommen war, drehte die
Yacht in den Wind. Die Segel begannen mit ohrenbe­
täubendem Knattern um sich zu schlagen.
Die Leinen am Vorsegel, die jetzt hin und her schlugen,
trafen Piankes Waden wie Peitschenhiebe. Obwohl er
die Jungen hinter dem flatternden Segel nicht sehen
konnte, wußte er, daß sie wieder feixten. Pianke unter­
drückte den Schmerz und suchte zwischen dem Gewirr
von Leinen an der Nagelbank die richtige.
,,Vorsegel bleibt! Zurück nach achtern", hörte er Heinz'
Stimme.

53
Sie hatten das nur veranstaltet, um ihn zu schikanieren.
Pianke ging wieder nach hinten. Die Yacht fuhr jetzt ei­
nen ruhigen Kurs.
„Vorerst hast du die Prüfungen bestanden", sagte
Heinz.
„Wenn einer zu uns gehören will, dann muß er erst mal
etwas zeigen", sagte Dieter jetzt freundlich. ,,Also, jetzt
gehörst du zu uns. Du begreifst, das ist eine Ehre!"
Aber Pianke wollte keine Freunde, die ihn zuerst prüf­
ten, bevor sie ihn akzeptierten. Er wandte sich ab und
suchte den See nach der „Pirat" ab, die ihm so vertraut
wie ein Zuhause erschien.
Eine gute Stunde später durfte

w��
Pianke wieder zu seinem Vater
ins Boot zurück. Herr Schramm l�I��\
ging auf die „Siegfried".
Als die „Pirat" am Yachthafen
anlegte, stand Herms mit einem .
\
Fernglas auf dem Steg. ,,Heil",
sagte er und hob die Hand zum
Gruß.
,,Haben Sie uns draußen gesehen?"
fragte Pianke voller Stolz.
,,Klar, hab ich euch gesehen.
Aber selbst wenn ich nur ein
hab
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lT
LI

von Herrn Standartenfüh-
rer Schramm." .._,

54;
Pianke erschrak. Ein Standartenführer! Das war ein ho­
her SS-Offizier.
,,Herr Krüger, sind Sie mit dem Standartenführer be­
freundet?" fragte Herms.
„Das wäre übertrieben, Herms", sagte der Vater. ,,Ich
würde sagen, wir sind alte Bekannte."
,,Sieh an", sagte Herms voller Achtung.
Der Vater zwinkerte Pianke zu.

Pianke ging am nächsten Schultag mit gemischten Ge­


fühlen von zu Hause los. Immerhin war es doch möglich,
daß Heinz und Dieter Schramm in die gleiche Schule
gingen wie er, ohne daß er sie vorher bemerkt hatte.
Je näher Pianke der Schule kam, um so langsamer ging
er. So langsam er auch ging, irgendwann würde er doch
ankommen.
Die Klassen waren schon auf dem Schulhof angetreten,
um ins Gebäude zu gehen. Pianke schaffte es gerade
noch, sich unauffällig einzureihen. Die Schramms hatte
er nicht gesehen.
Auch in der Pause, als die Schüler wie üblich in Sech­
serreihen auf dem Schulhof herumgingen, erblickte er
sie nicht. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
Manchmal sah er die beiden vom Segelboot aus. Sie
winkten ihm freundlich zu und forderten ihn auf, zu­
rückzugrüßen. Der Vater hütete sich jedoch, allzu nah
an die Yacht „Siegfried" heranzufahren. Nicht, daß er
Angst vor einem neuen Zusammenstoß gehabt hätte. Er
kannte inzwischen die Ausweichregeln gut.

55
Im Laufe der Zeit sprach lrma immer seltener jiddische
Worte. Dennoch geschah es ab und zu, daß ihr ein Wort
über die Lippen kam, ohne daß sie es selbst bemerkte.
Einmal sah sie Herrn Herms vor dem Kaufmannsladen
herumlungern. Sie faßte Pianke am Ärmel: ,,Gehen wir
einen anderen Weg, dort ist der Batlen."
Als sie in einen Heckenweg eingebogen waren und von
Herms nicht mehr gesehen werden konnten, sagte
Pianke: ,,Du sollst deutsch reden, verstehst du. Richti­
ges Deutsch!"
„Aber es gibt für Batlen überhaupt kein deutsches
Wort. Ein Batlen ist nun mal ein Batlen, verstehst du?"
,, Und was ist ein Batlen?"
,,So einer wie Herms!"
Damit konnte Pianke nicht viel anfangen. Er machte
eine verzweifelte Grimasse. ,,Am besten, du hältst auf
der Straße den Mund."
,,Aber wenn ich dir irgend etwas sagen will?"
,, Unterdrück es!"
,,Manchmal kann man das nicht."
,,Dann mußt du dich der Zeichensprache bedienen."
Pianke ging breitbeinig auf Irma zu. Dabei hielt er sich
mit einer Hand das rechte Auge zu.
Irma mußte lachen. Sie hatte erkannt, daß Pianke
Herms nachahmte. Pianke freute sich über seinen Er­
folg. Er begann, mit eingeknickten Knien herumzuhüp­
fen, kratzte sich mit der rechten Hand unter der rechten
Achselhöhle und stülpte die Unterlippe über die Ober­
lippe.

56
„Ich verstehe, Pianke. Du bist ein Affe. Aber das wußte
ich schon lange!"
Pianke brach das Spiel beleidigt ab.
„Trotzdem gibt es Dinge, die man nicht ohne Worte
ausdrücken kann", sagte Irma.
Pianke schüttelte entschieden den Kopf. ,,Man kann al­
les durch Zeichen sagen."
,,Wie willst du jemandem sagen, daß du ihn zum Bei­
spiel lieb hast?"
Pianke errötete. ,,Das würde ich überhaupt nicht sagen."
,,Eine faule Ausrede!"
„Also gut", sagte Pianke. Er legte eine Hand auf das
Herz und verdrehte seine Pupillen.
,,Man wird denken, du bekommst einen Herzanfall,
Pianke."
,,Wenn du es besser weißt, dann zeig es doch."
Irma ging auf Pianke zu, und bevor der sich wehren
konnte, küßte ihn Irma auf den Mund. ,,So einfach ist
das", sagte sie.
Pianke wischte sich verlegen den Mund ab. ,,Na ja, dar­
auf wäre ich auch gekommen", sagte er.
,,Bist du aber nicht."
,,Ich kann dafür gutes Deutsch sprechen", sagte Pianke.
Auf diese Weise hatte er wieder die Oberhand gewon­
nen. Er überlegte, ob ihn Irma geküßt hatte, um zu zei­
gen, wie gut sie die Zeichensprache beherrschte.
Die Zeichensprache machte Pianke großen Spaß. Man
mußte sich viel einfallen lassen, damit man verstanden
wurde.

57
Sie waren in ihr neues Spiel vertieft, hatten im Eifer die
Umwelt vergessen, als sie eine grobe Stimme in die
Wirklichkeit zurückrief.
„Ihr benehmt euch ja wie die Verrückten." Es war die
Stimme von Herms. ,,Schämt euch! Ihr solltet stolz auf
unsere deutsche Sprache sein!"
„Ja, Herr Herms", sagte Pianke und wollte mit Irma
schnell weiter. Aber so schnell ließ sich Herms, der of­
fensichtlich an Langeweile litt, nicht abschütteln.
„Sprecht mir nach: Wir Wiener Waschweiber würden
weiße Wäsche waschen, wenn wir wüßten, wo weiches,
warmes Wasser wär!"
Irma brachte es auf Anhieb.
Pianke verquasselte sich immer wieder. Endlich sprach
er den Zungenbrecher fehlerlos.
„So", sagte Herms, ,,das ist unsere schöne deutsche
Sprache, um die uns die Polacken, die Tommys und das
andere Gelichter beneiden. Ihr solltet die deutsche
Sprache in Ehren halten, sonst verdient ihr nichts ande­
res, als taubstumm zu sein. Kommt mal mit."
„ Wir haben noch etwas Wichtiges zu erledigen", sagte
Pianke.
„So wichtig wird das schon nicht sein." Herms legte
seine Hände auf Piankes und auf Irmas Schultern und
schob sie vor sich her. ,,Euch wird die Lust am Faxen­
machen vergehen."
Eine Frau arbeitete im Garten; eine junge Frau, mit üp­
pigem, hochgestecktem rotem Haar, im Mundwinkel
eine Zigarette. Das Kleid reichte ihr, wenn sie sich

58
bückte, knapp bis an die Oberschenkel. Diese Aufma­
chung stand in komischem Gegensatz zu ihrer Arbeit.
,,Sie ist wunderschön", sagte Irma.
,,Wunderschön wie ein Straßenmädchen", sagte Herms.
„Eine anständige Frau würde sich schämen. Bemalte
Augenlider, rote Fingernägel und dann die Zigarette im
Mund. Pfui Teufel!" Herms hockte sich nieder. ,,Da,
unters Kleid kann man ihr auch sehen."
,,Nicht so laut", sagte Pianke.
„Ach, die hört kein Wort. Paßt mal auf!" Herms erhob
sich wieder und brüllte zu der Frau hinüber: ,,Sie, wa­
schen Sie sich mal das Gesicht!"
Die Frau reagierte nicht.
Herms nahm ein Steinchen auf und warf es nach der
Frau. Erst jetzt drehte sie sich um, erkannte Herms und
kam näher an den Gartenzaun heran.
,,Schönes Wetter heute", sagte Herms.
Die Frau blickte angestrengt auf seinen Mund. Dann
nickte sie heftig, blickte zur Sonne hinauf und tat so, als
würde sie sich den Schweiß von der Stirn wischen.
,,Nun paßt auf", sagte Herms, zu Irma und Pianke ge­
wandt. Er zeigte auf die Tomatenstauden, die große
grüne Früchte trugen. ,,Sie haben sehr schöne Kohl­
rabi", sagte er zu der Taubstummen.
Sie nickte stolz und ging zu den Tomaten hinüber, um
mit den Fingern die Größe der Tomaten anzudeuten.
Herms lachte laut.
Die Taubstumme spuckte den Rest der Zigarette aus.
Pianke und Irma blieben ernst. Ihnen schien das Ganze

59
nicht komisch. Beide dachten daran, daß es schrecklich
sein mußte, taub und stumm zu sein.
Die Frau hörte niemals die Vögel zwitschern.
Sie konnte keine Lieder singen.
Woher wußte sie überhaupt, wann Fliegeralarm war,
wenn sie die Sirenen nicht hören konnte.
Betroffen trotteten sie auf dem Rückweg neben Herms.
„So, das soll euch eine Lehre sein. Ich bin sicher, daß
die Frau in ihrer Kindheit genau solche Faxen gemacht
hat wie ihr. Und eines Tages, als sie gerade dabei war,
hat irgendwo eine Uhr geschlagen, oder es hat einen
Donnerschlag gegeben, und nun ist sie zeitlebens
stumm!"

An einem Sonnabend kam der Vater auf eine Idee.


„Was haltet ihr davon", sagte er, ,,wir fahren mit dem
Boot hinaus und übernachten draußen."
Pianke hatte sich das schon lange einmal gewünscht.
Vater und Irma konnten in den Kojen schlafen. Er
mußte ins Vorschiff kriechen. Dort war es zwar nicht
sehr geräumig, und es roch auch ein wenig nach Farbe
und nach feuchtem Holz - aber was machte das aus!
Sie fühlten sich an diesem Sonnabend viel freier als
sonst, denn es galt, zu keiner bestimmten Zeit wieder
am heimatlichen Steg zu sein.
Wie oft hatten sie gebangt, daß sie es vor Einbruch der
Dunkelheit nicht schaffen würden. Der Wind hatte ih­
nen häufig den Streich gespielt, still und heimlich
schlafen zu gehen. Erst nach mehreren Reinfällen hat-

60
ten sie begriffen, daß der Wind regelmäßig abflaute,
wenn die Dämmerung hereinbrach.
Das Boot war mit Schlafdecken und Trainingsanzügen
beladen. Am Nagel in der Kajüte schaukelte eine
Wurst. Der Vater hatte einen Topf voll Erbsensuppe ge­
kocht, der für zehn Personen gereicht hätte. Aber auch
das Wichtigste, das man zum Segeln benötigt, hatten sie
an Bord - die gute Laune.
Der Wind trieb das alte Schiff dahin, als gelte es ein
Rennen zu gewinnen. Der Vater stimmte ein Lied an:
,,Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,
da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus!
Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt ..."
Pianke sang kräftig mit. Irma schwieg jedoch.
,,He", sagte der Vater, ,,warum singst du nicht mit,
Irma ?"
,,Weil ich das Lied nicht kenne, Onkel Heinrich."
„Dann wirst du es wohl lernen müsseri. Los, wir fangen
wieder von vorne an ..."
Stolz segelten sie an einem hakenkreuzbeflaggten Zwei­
master vorbei - ein sogenanntes KdF-Schiff.
Das Schiff war auf eine Untiefe gefahren.Die Besatzung
stand bis zur Brust im Wasser und versuchte das Schiff
von der Untiefe abzubringen. KdF bedeutete Kraft durch
Freude. Das war eine Organisation, die Vergnügungs­
fahrten, sportliche Ereignisse und Allotria organisierte.
„Na, dann wünsch ich Kraft durch Freude", sagte der
Vater und begann die nächste Strophe des Liedes.

61
Dann sagte der Vater: ,,So, nun bringt uns Irma ein
Lied bei."
Irma wurde verlegen. Sie druckste ein wenig herum.
Dann aber begann sie mit klarer Stimme zu smgen:
,,Schalom, schalom, alechem, schalom ..."
,,Hör aur•, sagte der Vater.
Irma wurde plötzlich wütend. ,,Ich darf nicht reden,
wie ich will, ich darf nicht singen. Kann mir einer mal
sagen, was ich überhaupt darf!"
,,Später", sagte der Vater, ,,später, wenn alles vorbei ist,
dann wirst du reden können, wie es dir gefällt. Dann
kannst du auch singen. Aber nicht jetzt .. . verstehst
du!"
,, Und wann ist später? Du hast mir schon versprochen,
als ich zu euch kam, daß eine bessere Zeit kommt."
„Ein halbes Jahr bist du bei uns. Und das nennst du
lange."
,,Ach, singen wir lieber", sagte Pianke.
Aber weder der Vater noch Irma wollten weitersingen.

Erst beim Abendbrot in einer Bucht fanden sie zurück


zu ihrer guten Laune. Die Luft hatte sie hungrig ge­
macht. Pianke hätte am liebsten so lange gegessen, bis
die Wurst alle war. Aber der Vater hängte die halbe
Wurst wieder an. Schließlich wollten sie am nächsten
Tag noch etwas essen.
,,Einsam ist es hier", sagte Irma.
,, Was machen wir, wenn nachts em Hurrikan los­
bricht?"

62
Pianke hatte in einem seiner Bücher gelesen, daß Hurri­
kane sehr gefährliche Stürme waren.
„Hier gibt es keine Hurrikane", sagte der Vater. ,,Und
diese Bucht ist windgeschützt. Wir haben eine ideale
Stelle zum Übernachten gefunden."
„Und das da?" fragte Pianke und deutete auf ein Schild
am Ufer. Anlegen verboten!
„Ach was", sagte der Vater. ,,Solche Schilder stehen
überall. Wir ignorieren sie."
,,Aber was sollen diese Fässer rund um die Bucht?"
Der Vater zuckte die Achseln. ,,Weiß der Teufel!" Er
hatte die Fässer vorher nicht bemerkt. Sie standen auf
Pfählen im Wasser, mit einem dünnen Steg zum Fest­
land hin.
Später wollten sie sich diese seltsamen Fässer von na­
hem ansehen. Aber an den Stegen warnten Schilder.
Betreten verboten. Vorsicht beim Umgang mit offenem
Feuer!
,,Vielleicht dient das der Fischerei", sagte der Vater.
,, Ihr seht ja, hier stehen überall Reusen."
„Klar", sagte Pianke, ,,in den Fässern räuchern sie den
Hering, den sie tagsüber fangen."
Irma zeigte ihm einen Vogel. ,,Als ob man Hering in der
Havel fängt."
,,Dann eben die Plötzen", sagte Pianke.
An diesem Abend durften Pianke und Irma später
schlafen gehen- als sonst. Die Sterne leuchteten schon
am Himmel, und die Nacht hatte sich über das Land
ausgebreitet. Sie saßen noch immer draußen in der

63
Plicht des Bootes, lauschten auf den leichten Wellen­
schlag, auf das Gequake der Frösche und auf das Ra­
scheln der Blätter im Wind. Die Mücken hatten längst
aufgehört zu summen.
,,Wie in Friedenszeiten", sagte Pianke.
,,Im Frieden", sagte Irma, ,,würden die Häuser am an­
deren Ufer nicht so unheimlich dunkel sein. Lichter
würden brennen. Vielleicht hätte man Ketten aus bun­
ten Glühbirnen gespannt. Eine Kapelle würde auch
spielen und die Leute tanzen."
„Tanzen, das ist aber was", sagte Pianke. ,,Im Frieden
würde es in den Läden alles zu kaufen geben ohne Le­
bensmittelkarten. Du könntest Würstchen essen, soviel
du wolltest."
„Ja, und im Frieden wären meine Eltern wieder da und
meine Oma aus Jehupetz. Oder nicht?"
„Wir werden schlafen gehen, Kinder. Los, hinein in die
Kojen!"
Vorher hatten sie gelost. Pianke mußte im Vorschiff
schlafen.

Furchtbarer Lärm weckte sie in der Nacht. Sie hörten


Flugzeuge über der Bucht dröhnen. Ganz in der Nähe
fielen Bomben. Das Boot schlingerte wie bei einem
Sturm hin und her.
Die Angst hatte alle gepackt. Der Vater suchte verzwei­
felt in der Dunkelheit einen Ausgang unter der Plane,
die über das ganze Boot reichte. Endlich fand er die
Öffnung, und sie konnten durch den Spalt hinaus ins

64
Freie schlüpfen. Sie tappten über die Spitze des Bootes
an Land.
Aus den geheimnisvollen Tonnen am Ufer loderten
Flammen.
Pianke sprang als erster vom Boot und rannte den Weg
durch den schmalen Schilfgürtel am Ufer auf den na­
hen Wald zu. Irma und der Vater konnten nicht mithal­
ten. Sie blieben ein ganzes Stück zurück. Im Wald war­
fen sich alle drei in eine Bodenvertiefung.
Schweratmend lagen sie und schauten in den schwar­
zen Himmel. Manchmal sahen sie einen Schatten oder
das Aufblitzen eines Metallteiles. Immer noch warfen
die Maschinen über der Bucht Bomben ab.
Die Detonationen auf dem Wasser waren so heftig, daß
ein Wellenschlag entstand.
Als das Gedröhn der Flugzeugmotoren verebbt war,
sagte Pianke: ,,Ich dachte, sie bombardieren nur die
Städte."
,,Ich auch", sagte der Vater.
,,Ich hasse die Flugzeuge", sagte Irma.
,, Es ist Krieg, Irma."
,,Aber wir haben doch niemandem etwas getan."
„ Wir drei nicht", sagte der Vater. ,,Aber die meisten
Leute haben dem Hitler zugejubelt."
Pianke sagte wütend: ,,Dann sollen sie doch denen die
Bomben auf den Kopf schmeißen, die da gejubelt ha­
ben. Aber nicht uns!"
Der Angriff der Flugzeuge schien vorüber zu sein. Sie
standen fröstelnd vom Erdboden auf. Sicherheitshalber

65
wollten sie noch etwas warten, bevor sie zum Boot zu­
rückkehrten.
Das Ächzen der Bäume, der Schrei eines Nachtvogels
und das Rollen der Eisenbahn in der Feme machte ih­
nen die Stille der Nacht erst richtig bewußt.
Später sahen sie, wie sich ein unsteter Lichtschein
durch den Wald arbeitete. Sie hörten das Aufbeulen ei­
ner Quetsch, so wurden Dynamotaschenlampen ge­
nannt, die man mit der Hand betätigte.
Der Mann war herangekommen und blieb stehen.
„Herrgott, habe ich mich erschrocken", sagte er. ,,Ich
dachte schon, ich wäre abgeschossenen Fliegern in die
Hände gefallen."
,, Wir liegen hier mit dem Segelboot", sagte der Vater.
,,Das heißt, wenn das Boot nicht im Bombenhagel un­
tergegangen ist."
,,Haben Sie die Schilder nicht gesehen: Anlegen verbo­
ten!"
,,Nein", log der Vater.
,,Das ist doch hier eine Bombenfalle", sagte der Mann.
,, Wenn der erste feindliche Bomberverband rübergeflo­
gen ist, zünde ich die Feuer an. Dann denken die Nach­
kommenden, hier ist ihr Ziel - Berlin. Von oben sehen
die Fässer wie brennende Häuser aus."
,,Sind die Flieger blöd", sagte Pianke.
,,Ach was", sagte der Mann. ,,Das sind alles ganz ober­
flächlich ausgebildete Piloten. Die Maschinen haben
kaum Orientierungsgeräte. Sie fliegen einfach die Fluß­
läufe entlang. - Aber nun wollen wir doch mal zum

66
Ufer und die Bretter von eurem Kahn aus dem Wasser
fischen."
Zu ihrer Erleichterung lag die „Pirat" friedlich am
Ufer.
,,Noch mal Glück gehabt", sagte der Mann. Unvermit­
telt schimpfte er los: ,, Wann hat das alles ein Ende! Es
ist schrecklich, dieser Krieg."
Pianke wollte dem Mann freudig zustimmen, aber der
Vater trat ihm auf den Fuß. Das bedeutete: Halt den
Mund!
,,Diese Bucht war früher bekannt für ihren Fisch­
reichtum. Die Fischer kamen extra von Spandau her.
Jetzt gibt es hier nur noch krepierte Fische."
„Ja, die armen Fische", sagte der Vater ironisch und
kletterte zurück auf den Kahn.
„Wieso die Fische", schrie der Mann. ,,Denken Sie
doch mal an die Menschen!"
Pianke konnte sich das Gesicht seines Vaters in der
Dunkelheit vorstellen. Es hatte einen listigen Ausdruck.
,,Hören Sie", sagte der Mann. ,,Sie müssen hier weg.
Vielleicht kommen noch mal Flieger."
Der Vater hatte schon die Plane abgedeckt. Pianke ver­
heißte geschickt das Vorsegel. Wenige Minuten später
segelten sie bei leichtem Wind durch die Nacht.
Am Anfang erleuchteten die brennenden Fässer ihnen
den Weg. Je weiter sie sich jedoch aus der Bucht ent­
fernten, um so dunkler wurde es. Kein Stern war zu se­
hen.
Die Nacht verändert alles. Die Ufer des Flusses schei-

67
nen zusammenzurücken. Ein kleiner schwimmender
Gegenstand nimmt riesige Dimensionen an. Man
glaubt viel schneller dahinzugleiten als am Tage.
Sie wußten nicht genau, an welcher Stelle des Flusses
sie sich befanden. Pianke gähnte laut. Irma hatte sich in
eine Decke gewickelt und döste vor sich hin. Der Vater
steckte sich eine Zigarette nach der anderen an.
Schließlich warf er die halbaufgerauchte Zigarette ins
Wasser. ,, Wir werfen den Anker. Egal, wo wir sind!"
Pianke rannte nach vorn und wuchtete den schweren
Anker aus der Vorlug. Der Vater war mit dem Boot in
den Wind gegangen, so daß es seine Fahrt verlor.
Pianke nahm den Anker und schwang ihn hin und her,
um möglichst weit zu werfen. Der Anker platschte je­
doch schwerfällig neben dem Boot ins Wasser. Er zog
die Ankerleine hinter sich in die Tiefe. Pianke hörte sie
über die Planken schurren.
Irma saß noch immer in die Decke gehüllt im offenen
Teil des Bootes. Sie schlief fest.
,,Los, in die Koje", sagte der Vater.
Sie erwachte und ging taumelig zu ihrem Lager. Pianke
kletterte durch das Vorlug in seine Koje. Er hörte un­
deutlich, wie der Vater an Deck herumlief. Wahrschein­
lich verpackte er die Segel. Pianke hätte ihm dabei hel­
fen müssen, aber ihm war alles egal.
Als sie anderentags aufwachten, stand die Sonne schon
hoch am Himmel. Das wütende Heulen einer Dampfsi­
rene hatte sie aus dem Schlaf gerissen.
Sie sahen, wie ein Schleppzug einen großen Bogen um

69
sie beschrieb. Das Boot lag inmitten des Stromes. Der
Schiffer brüllte ihnen Schimpfworte zu.
,,Immer mit der Ruhe", sagte der Vater.

War Irma vielleicht nicht ganz richtig im Kopf? Ah­


nungslos hatte Pianke das Zimmer betreten, sie hockte
vor der Couch und sagte zu irgend jemandem: ,,Nu,
Schoimele, sei ein bißchen lieb, sei ein bißchen nett."
Pianke streifte die Sandalen ab, um denjenigen kennen­
zulernen, der zu Irma ein bißchen lieb, ein bißchen nett
sein sollte. Er wollte demjenigen schon auf den Weg
helfen, wenn es darauf ankam und wenn derjenige
nicht allzu stark war.
Pianke schlich sich von hinten an Irma heran. Und wen
erblickte er? - Niemand!
Vielleicht war derjenige unsichtbar. - Denn derjenige
schien auch Antworten zu geben, die Pianke nicht hö­
ren konnte.
„So etwas Böses darf man nicht sagen, Schoimele. Das
wirst du zurücknehmen, oder ich muß dich bestrafen."
Wieder erfolgte eine Pause. Dann sagte Irma: ,,Gut,
wenn du es einsiehst, werde ich dir verzeihen. Aber du
mußt mir versprechen, es nie wieder zu tun."
Überraschenderweise umarmte Irma das Plüschkissen
und küßte es. Nun erst entdeckte Irma Pianke. Sie
sprang auf, warf ihm das Kissen an den Kopf und rief:
,,Du bist gemein!" Sie rannte hinaus.
Pianke sah lrma verdutzt nach. Schließlich begriff er:
Irma mußte etwas haben, das sie streicheln konnte.

70
„Komm mal mit", sagte er zu ihr, als er sie endlich
draußen hinter einem Busch gefunden hatte. Pianke
führte sie an einen Gartenzaun. ,,�enn du einen langen
Hals machst, dann kannst du was sehen!"
Irma reckte, so gut sie konnte, den Hals in die Länge
und stellte sich auf Zehenspitzen, dennoch, es gelang
ihr nicht, über den Gartenzaun zu sehen.
„Du mußt mich als Leiter benutzen", sagte Pianke. Er
faltete die Hände fest zusammen. Und sie trat mit ei­
nem Fuß hinein. Einen kleinen Augenblick gelang es
ihr, in das Grundstück zu sehen.
Auf den Stufen des Holzhauses stand ein Körbchen.
Und in dem Körbchen schlief eine schwarzweiß ge­
fleckte Katze.
„Wie niedlich", rief Irma. Dann mußte sie wieder auf
die Erde zurück. Ihre Leiter schwankte gefährlich. Sie
wollte noch einmal über den Zaun sehen.
Beim dritten Mal fielen beide um.
Pianke hatte nicht ahnen können, was er sich eingebrockt
hatte. Irma wollte nun am Tag mehrfach über den Zaun
schauen. Sie drängelte und quengelte so lange, bis Pi­
anke schließlich nachgab. Oft war die Katze nicht da.
Ein andermal ertappten sie das Kätzchen, als es gerade
den Weg überqueren wollte. Irma stürzte sich auf das
Tier, nahm es auf den Arm, um es zu streicheln. Sie
hatte sich im Charakter des Kätzchens geirrt. Das Tier
fauchte und zerkratzte ihre Hände so, daß sie gezwun­
gen war, es wieder fallen zu lassen. Die Katze rannte
weg. Irma ging ihr nach.

71
,,Laß sie doch, wenn sie dich nun einmal nicht will",
rief Pianke.
,,Ich möchte sie nur einmal streicheln", sagte Irma.
Die Katze huschte unter dem Zaun auf ein Grundstück.
lrma ging mit Pianke bis an den Zaun. Es war das
Grundstück der taubstummen Frau.
Genau wie damals, als Herms sie hierher gebracht
hatte, arbeitete die junge Frau im Garten. Sie hockte
vor einem Beet mit dem Rücken zu ihnen.
Die Taubstumme bewegte die Finger lockend. Zuerst
blieb die Katze stehen, dann kam sie langsam näher
und beschnupperte die Finger der Frau. Schließlich
ließ sie sich streicheln.
Pianke und Irma glaubten ihren Ohren nicht zu trauen.
,,Ma pauvre chatte", sagte die Frau.
Pianke und Irma wären am liebsten davongelaufen. Sie
waren unversehens in ein Geheimnis hineingeraten,
ohne es zu wollen. Sie schämten sich, als hätten sie et­
was Verbotenes getan.
„Ma pauvre chatte. Ma petite chatte." Unvermittelt
drehte sich die Frau um und erschrak beim Anblick der
beiden. ,,Mon Dieu."
,,Sie können sprechen", sagte Pianke erfreut.
Die Frau ließ die Katze von ihrem Arm auf den Boden
springen. Dann sagte sie: ,, Verdammte Kinder." Sie
rannte in das Holzhaus.
Niedergedrückt schlichen die zwei davon.
,,Seltsam, seltsam", sagte Irma. ,,Ein Mensch ist taub­
stumm, und plötzlich fängt er an zu reden."

72
,,Ich hab kein Wort verstanden."
,,Dummkopf, die Frau spricht eine andere Sprache."
,,Meinst du Jiddisch?"
,,Keine Spur. Sie spricht einfach ausländisch."
Pianke hatte schon öfter „ausländisch" gehört.
Allerdings· nur im Radio. Wenn der Vater einen frem­
den Sender anstellte, warf er zuerst eine Decke über das
Rundfunkgerät und kroch dann selbst darunter. Zwi­
schen dem verschiedenartigen Rauschen, Zwitschern
und Pfeifen, das jede Sendung begleitete, erhaschte
Pianke auch außerhalb der Decke ab und an ein Wort,
das er nicht verstand.
Pianke wußte, daß er nicht darüber sprechen durfte.
Der Mann, der das Rundfunkgeld kassierte, hatte ein
rotes Zettelchen an das Radio geklebt, auf dem zu lesen
stand: Wer feindliche Sender hört, wird bestraft!
„Die Frau hat jedes Wort verstanden, das Herms zu ihr
gesagt hat. Ich schäme mich, Pianke!"
,,Wieso du?"
Irma zuckte die Achseln. ,,Warum hat sie sich das gefal­
len lassen?"
,,Sie hat Angst vor Herms", sagte Pianke. ,,Sie ist Aus­
länderin."
Pianke dachte an die Streichholzschachteln,' auf denen
der Schatten eines Mannes abgebildet war: Pst! Feind
hört mit!
,,Ich hab's", schrie er, ,,sie ist eine Spionin!"
,,Diesmal hast du vielleicht recht", sagte Irma.
,,Und ob. Sie ist der Feind! Sie hört mit!"
,,Mein Feind oder dein Feind, Pianke? Du spinnst wie­
der mal! Wenn sie sich vor dem Einäugigen fürchtet,
kann sie nicht unser Feind sein!"
Das leuchtete Pianke ein. Er ärgerte sich nur, daß er
nicht selbst daraufgekommen war.
Natürlich erzählten sie alles Piankes Vater. Der hatte es
schwer, die verworrene Geschichte zu verstehen, denn
wenn zwei auf einmal sprechen, versteht man nur die
Hälfte.
Aber schließlich schafften sie es doch.
„Sie redet ausländisch?" fragte er. ,, In welcher Sprache
- Englisch, Französisch, Russisch, Holländisch?"
Die beiden waren ratlos und gleichzeitig erstaunt, wie
viele Sprachen man sprechen konnte.
„Wer weiß, was das für eine Geschichte ist", sagte der
Vater.
,,Wir werden uns nicht darum kümmern."
,,Warum nicht?" sagte Pianke.

74
Und Irma setzte hinzu: ,,Vielleicht braucht die Frau
Hilfe!"
Der Vater zuckte die Achseln. ,,Ich darf uns nicht in
Gefahr bringen. Ich bin Paßschuster, und auf meine
Pässe warten viele. Wer weiß, ob die Frau nicht mit der
Geheimen Staatspolizei zusammenarbeitet!"
,,Sie ist so wunderschön", sagte Irma.
„Nach dem Gesicht darf man nicht gehen", sagte der
Vater. - ,, Und ihr geht nicht mehr zu diesem Grund­
stück!"
Da nutzte kein Wenn und kein Aber. Sie mußten gehor­
chen.

Es gab Tage, an denen der Vater untätig im Holzhäus­


chen saß und nervös eine Zigarette nach der anderen
rauchte. Wenn die Zigaretten alle waren, begann er den
Mülleimer nach Kippen zu durchsuchen. Er pulte die
Zigarettenreste sorgfältig aus und drehte sich aus dem
gewonnenen Tabak neue Zigaretten. Je länger die Ar­
beitspause dauerte, desto schlechter wurde seine
Laune. Pianke und Irma gingen ihm an solchen Tagen
lieber aus dem Wege.
lrma gab sich die größte Mühe beim Mittagkochen.
Umsonst, der Vater aß kaum etwas. Pianke trat auf
Zehenspitzen ins Zimmer. Er bekam sofort einen An­
ranzer.
Pianke probierte, den Vater abzulenken. ,,Gehen wir se­
geln?"
,,Laß mich in Ruhe mit deinem Segeln."

75
Die Nudelsuppe versuchte er mit Nähmaschinenöl
aufzubessern. Danach konnte man sie nicht mehr essen.
Pianke hatte sich schon häufiger den Kopf darüber zer­
brochen, woher der Vater überhaupt das Geld zum Le­
ben auftrieb. Er ahnte, daß ihr Wohlergehen von den
Männern abhing, die nachts kamen und auf seinem
Bett saßen, rauchten und sich halblaut unterhielten.
Pianke war ab und zu wach geworden, hatte nur ihre
Rücken gesehen, war dann wieder eingeschlafen, weil
er selten verstand, worüber sie redeten.
Am Tag nach solchen Besuchen hatte immer ein kleines
Bündel mit Geldscheinen und Lebensmittelkarten im
Küchenregal gelegen.
Als er bei einem der Besuche erwachte, hörte er eine
Stimme sagen: ,, Wir sind zur Zeit total pleite. Aber
morgen kommt ein Holländer ... " Dann verstand
Pianke kein Wort weiter, weil die Erwachsenen gemerkt
hatten, daß er nicht schlief.
Am nächsten Nachmittag bekam der Vater plötzlich
Lust zum Segeln. Pianke und Irma waren froh. Hatte
sich vielleicht die Laune des Vaters verbessert?
Der Vater verheißte die Segel mit mürrischer Miene.
Als Pianke ein Lied anstimmte, rief er: ,,Hör auf!"
Irma sah Pianke bedeutungsvoll an.
Sie segelten bei schwachem Wind. Zu Piankes Erstau­
nen steuerte der Vater auf die Kanaleinfahrt zu. Der
Fluß verengte sich hier. Nach einigen hundert Metern
ragte eine eiserne Straßenbrücke empor, die sie mit auf­
gerichtetem Mast nicht passieren konnten.

78
In diesem engen Gewässer kreuzte der Vater. Dauernd
mußte Pianke das Vorsegel auf die andere Seite neh­
men, weil sie den Kurs änderten, denn der Fluß war an
dieser Stelle zum Segeln eigentlich zu schmal.
„Ich möchte bloß wissen, was wir hier wollen!" murrte
Pianke.
Der Vater antwortete nicht. Unverdrossen kreuzte er in
der Enge auf und ab. Pianke wurde unwillig gegen den
Vater. Vielleicht wollte er sie nur ärgern mit seinem
Eigensinn!
Ganz schlimm wurde es für sie, als sich Schleppzüge
näherten. Dann verengte sich das Fahrwasser noch mehr,
und Pianke befürchtete, daß sie von einem der Schlep­
per oder den Anhängern gerammt würden. Die kleinen
bulligen Schlepper zogen unendlich langsam sechs oder
sieben tief im Wasser liegende Zillen hinter sich her.
Als die Sonne schon niedrig am Himmel stand und nur
noch rote kraftlose Strahlen schickte, näherte sich ein
Motorfrachter. Der Wind war noch schwächer gewor­
den. Das Boot trieb mehr, als daß es segelte.
Der Vater machte keine Anstalten, aus der Fahrrinne
herauszukommen. Der Frachter kam näher.
Pianke nahm schließlich eines der Paddel zur Hand
und versuchte, das Boot zum Ufer zu drehen.
,,Laß das!" sagte der Vater.
Indessen war das Motorschiff nur noch wenige Meter
entfernt.
„Der ist verrückt", rief Pianke dem Vater zu. ,,Der
kommt auf uns zu!"

79
Das Schiff stoppte die Maschinen und ließ sie dann
rückwärts laufen. Trotzdem trieb es unaufhaltsam auf
sie zu. Durch einige kurze Ruderschläge mit dem
Steuer bewirkte der Vater, daß das Boot querab vom
Schiff geriet. Pianke sprang auf, bereit, das Boot von
der hohen schwarzen Schiffswand abzustützen.
,,Finger weg!" schrie der Vater.
Das Schiff trieb ganz dicht an ihnen vorbei.
Auf der Reling tauchte ein Mann mit einem Sack auf.
„Vorsicht", rief er. Dabei ließ er den Sack in die Plicht
des Bootes fallen. Pianke und Irma waren auf die an­
dere Seite des Bootes gerannt. Sie sahen, wie aus dem
aufgeplatzten Sack gelbgrüne Bohnen hervorquollen.
Der Schiffer legte die Hand grüßend an den Mützen­
rand.
Die Maschine lief wieder vorwärts. Das Schiff entfernte
sich. Am Heck leuchteten die Worte: Jan Brooker Rot­
terdam.
Das war also der Holländer.
,,Los, schaufelt die herausgefallenen Bohnen in Eimer!"
Irma ließ die Bohnen durch ihre Hände rinnen. ,,Was
ist das?"
,, Kaffee", sagte der Vater, ,, U ngerösteter Kaffee."
„Daß es den überhaupt noch gibt", sagte Pianke. Er
roch daran und schüttelte enttäuscht den Kopf. ,,Oma
hatte mal richtigen Bohnenkaffee", sagte er. ,,Der hat
gerochen!"
„Wenn der geröstet ist, riecht er auch", gab der Vater
zur Antwort.

80
Wie so oft, ging der Wind um diese Zeit völlig schlafen.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu den Rudern
zu greifen. Irma übernahm das Steuer. Während des Ru­
derns stöhnte Pianke. ,,Ich halte es vor Hunger nicht aus!"
,, Wenn wir erst den Kaffee an den Mann gebracht ha­
ben, bekommen wir genügend Geld. Dann können wir
die Lebensmittelkarten einlösen."
,,Das gibt Fettlebe, Pianke", sagte Irma.
Im Hafen vergewisserten sie sich, daß sie nicht beob­
achtet wurden. Der Vater wollte den Sack schultern,
nachdem er ihn notdürftig zusammengebunden hatte.
„Ich hab •eine Idee", sagte Pianke, ,,du schüttest den
Kaffee in den Segelsack und trägst ihn nach Hause.
Dann denken alle, du nimmst nur das Segel mit."
Das erste Mal an diesem Tag lächelte der Vater zufrie­
den. ,,Gut, ausgezeichnet."
Sie schütteten den Kaffee um. Pianke und Irma bedeck­
ten die bereits gefüllten Eimer mit alten Aufwischlap­
pen, Leinen und anderem Gerümpel. Dann gingen sie
vom Yachthafen nach Hause.
Die Bewohner der Holzhäuschen waren um diese Zeit
meist in ihren Gärten und gossen das Gemüse. Freund­
lich grüßend gingen der Vater, Irma und Pianke an ih­
nen vorbei.
Zu Hause kochten sie aus alten, angeschimmelten Brot­
kanten, die der Vater aufgehoben hatte, eine Suppe. Als
Pianke aufgegessen hatte, schaute er auf Irmas Teller.
Auch ihr Teller war leergegessen. Nur auf dem Rand la­
gen kleine weiße Maden.

81
„Das sieht ja ekelhaft aus", sagte Pianke.
,,Meinst du, Piankele, ich esse die mit?"
,,Was denn, waren die in der Suppe?"
,,Dachtest du, ich hab sie etwa gefangen?" Irma ki­
cherte.
Pianke war gar nicht zum Lachen aufgelegt. Er würgte
ein bißchen.
Nach dem Essen stellte der Vater die beiden Bratpfan­
nen auf die Kochplatten. Piankes Augen begannen zu
leuchten.
Jetzt also sollte die Fettlebe beginnen.
Aber der Vater schüttete die Kaffeebohnen auf die
Pfanne. ,,Immer schön rühren", sagte er, ,,sie müssen
schwarzbraun werden. Aber nicht anbrennen lassen."
Es schien Pianke, als dauerte es eine Ewigkeit, bis die
Kaffeebohnen die gewünschte Farbe hatten und der
Vater sie in Tüten einwog. Der Vorrat an Bohnen wollte
kein Ende nehmen.
Pianke wechselte sich mit Irma ab. Sie waren zum Um­
fallen müde.
,,Durchhalten, Pianke", sagte der Vater, ,,um so schnel­
ler bekommen wir was in den Magen!"
Nach Mitternacht, als sie den letzten Rest rösteten,
wurde an die Haustür geklopft. Sie hörten die Stimme
von Herms: ,,Parteigenosse Krüger!"
Der Vater flüsterte Irma und Pianke zu: ,,Kein Wort!
Ihr schlaft schon längst."
Dann ging er zur Tür. Ohne sie zu öffnen, sagte er:
,,Parteigenosse Herms, was wollen Sie?"

82
,,Ich brauche Ihre Hilfe von PG zu PG."
Pianke kicherte.
,,Von PG zu PG?"
Der Vater öffnete die Tür und trat schnell ins Freie, um
Herms daran zu hindern, hereinzukommen.
Pianke schlich an die Tür, um zu lauschen.
„Schnuppern Sie mal", sagte Herms. ,,Riechen Sie
nichts?"
Der Vater sagte nach einem Weilchen: ,,Es riecht nach
Gras, nach See, nach was weiß ich . .. "
,,Keineswegs. Es riecht nach geröstetem Kaffee."
,,Ach?" sagte der Vater. ,,Ja, jetzt rieche ich das auch."
„Die ganze Kolonie riecht danach. Das Zentrum liegt
aber hier in der Nähe.Man sollte die zuständigen Stellen
informieren. Wahrscheinlich irgendeine Schieberbande,
die sich auf Kosten des deutschen Volkes bereichert."
Pianke biß sich auf die Oberlippe.
„Nun passen Sie mal auf, Parteigenosse Herms", hörte
er den Vater sagen. ,,Machen Sie nicht die Pferde
scheu. Ich habe geröstet."
,,Ach, du lieber Himmel", sagte Pianke für sich.
„Soso", hörte er Herms sagen, ,,hat mich meine Nase
doch nicht getäuscht."
„Meinetwegen können Sie mich anzeigen, Herms. Aber
im Vertrauen gesagt, Sie werden sich dabei keine Spo­
ren verdienen. Es handelt sich nämlich um eine Zutei­
lung aus der Führerreserve. Überlagerte Ware."
,,Ich hatte ja nicht die Absicht .. .", stotterte Herms.
„Wenn Sie am halben Pfund interessiert sind, könnte

83
ich mal sehen, was sich machen läßt. Muß aber nicht je­
der wissen, verstehn Sie?"
„Verstehe vollkommen, Parteigenosse Krüger. Und der
Kostenpunkt?"
,,Für Sie, Herms, umsonst. Warten Sie mal."
Der Vater kam ins Haus. Pianke hatte sich von seinem
Schrecken wieder erholt und reichte dem Vater zwei
Tütchen zu.
Er hörte noch, wie sich Herms draußen bedankte.
„Heil Hitler, Herms, und wenn ich mal wieder an die
Führerreserve rankomme, denke ich an Sie."
Der Vater kam ins Haus zurück. ,,Mit meinen Pässen ist
noch nie einer hochgegangen", sagte er. ,,Nun hätte es
uns beinahe wegen des dämlichen Kaffees erwischt."
Am nächsten Vormittag, als Irma und Pianke endlich
aufstanden, war der Kaffee weg. Sie schauten verstoh­
len in die Schränke und auch in das Vorratsloch unter
den Dielen.
Der Vater beobachtete sie vergnügt.
,,Wo ist der Kaffee?" fragte Pianke.
,,Welcher Kaffee?" fragte der Vater.
,, Und woher ist die Butter und das Brot?" fragte Irma.
,,Kam heute nacht durch den Schornstein geflogen",
sagte der Vater. ,,Jedenfalls könnt ihr essen, wenn's
auch keine Fettlebe wird!"
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen.
„Hör zu, Pianke", sagte er beim Teetrinken. ,,Du
nimmst dir einen Rucksack und fährst zu dem bewuß­
ten Fotoladen."

84
,,Wo du die Frau kennst?"
,,Richtig. Sie heißt Fräulein Heumeier. Der gibst du ei­
nen Brief von mir. Vielleicht bekommst du Material.
Falls sie dich ausfragen sollten, sagst du, wir würden in
unserer alten Wohnung leben. Kein Wort von unserem
neuen Namen!"
Pianke wollte am liebsten Irma mitnehmen, als er in die
Stadt fuhr. Aber das erlaubte der Vater nicht. Ein Trost
war für ihn, daß er für wenige Stunden wieder seinen
alten Namen Andreas Groß tragen durfte. Nach wie
vor erschien ihm Andreas Groß viel besser als Diethelm
Krüger. Nur, wer fragt schon in der Bahn nach dem
Namen!
Die Fahrt dauerte über eine Stunde. Zuerst mußte er
mit der Stadtbahn fahren und dann noch mit der Stra­
ßenbahn.

uJ l±I lli
Er hatte Glück. Bei der Straßenbahn erwischte er einen
sogenannten Hamburger. Das waren Wagen, die vorn
und hinten einen Fahrersitz besaßen. Auf dem hinteren
nahm Pianke Platz und bildete sich ein, er sei der Wa­
genführer. Von seinem erhöhten Sitz hatte er den be­
sten Ausblick auf die Straße.
Die Stadt hatte sich verändert. Viele Häuser waren
durch Luftminen zerstört worden. Andere ragten leer­
gebrannt in den Sommerhimmel. Ein Haus war nur
halb zerstört. Die Vorderfront war eingestürzt, und man
konnte in die Wohnungen hineinsehen wie in eine Pup­
penstube.
Ab und zu blickte Pianke auf die Skizze, die ihm der
Vater angefertigt hatte. Der Weg von ihrem Häuschen
durch den Wald zur Stadtbahn, jeder Stadtbahnhof und
jede Straßenbahnhaltestelle waren eingezeichnet.
,,Genau an den Plan halten", hatte der Vater gesagt.
,,Ich bin kein Baby mehr", hatte Pianke beleidigt geant­
wortet. Da mußte sich einer schon dumm anstellen,
wenn er das Ziel nach dieser Zeichnung verfehlte.
Der Fotoladen war früher elegant gewesen. Heute
sah er heruntergekommen aus. Die Leuchtbuchstaben
„Fotoartikel - Atelier" waren teilweise zerstört. In den
zwei großen Schaufenstern existierten nur winzige
Gucklöcher, eingerahmt von rohen Brettern.
Pianke betrat. das Geschäft. ,,Ich möchte zu Fräulein
Heumeier", sagte er zur Verkäuferin.
,,Das bin ich."
Pianke hatte sich Fräulein Heumeier ganz anders vor-

86
gestellt. Er hatte geglaubt, sie müßte genauso aussehen
wie die Klassenlehrerin in der alten Schule, weil die
auch ein Fräulein war. Eine ältere Dame, die stets im
Kostüm mit weißer Spitzenbluse vor die Klasse trat.
Fräulein Heumeier schien jünger als der Vater zu sein.
Unter dem weißen Kittel trug sie ein Herrensporthemd
mit Reißverschluß. Ihre dunkelblonden Haare waren
zu einer kurzen Bubikopffrisur gestutzt.
Sie nahm Pianke den Brief aus der Hand und las ihn.
,,Du bist also der Andreas Groß!"
Pianke nickte.
,,Wo wohnt ihr jetzt, Andreas?"
Pianke hörte in sich eine Alarmglocke läuten. Wenn
das Fräulein auch noch so freundlich war, die Wahrheit
sollte sie nicht erfahren! Er nannte ihr die Adresse der
alten Wohnung.
Fräulein Heumeier sagte: ,,Ich meinte eure jetzige
Adresse."
,,Wir wohnen immer noch dort", behauptete Pianke.
,,Halten wir uns nicht damit aur', sagte sie, ,,ich weiß,
daß dieses Haus ausgebombt ist. Ich gehe nämlich je­
den Tag daran vorbei."
Pianke spürte, wie der kalte Schweiß in ihn fuhr. Das
vertraute Wohnhaus, dessen Treppenhaus er heimlich
bekritzelt hatte, war zerstört. Und die Wohnung! Waren
die Dielen, auf denen er herumgetobt hatte, in Flam­
men aufgegangen? Oder waren die Möbel mitsamt sei­
nem Spielzeug durch die Explosion einer Sprengbombe
in die Tiefe gestürzt?

87
Aber das war jetzt nicht wichtig, das Haus und die
Spielsachen! Er selbst saß doch in der Falle. Dieses
Fräulein Heumeier würde die Polizei rufen.
Unwillkürlich trat Pianke einen Schritt vom Ladentisch
zurück. Da packte sie ihn an den Handgelenken. ,,Hab
keine Angst. Ich weiß Bescheid. Brauchst mir eure
Adresse nicht zu verraten. Nur eins sag mir. Lebt dein
Vater mit einer Frau zusammen?" Sie ließ ihn los.
„Nein", sagte Pianke, ,,für solche Kinkerlitzchen hat
der keine Zeit!"
Fräulein Heumeier schien erleichtert. Sie streckte Pianke
die Hand ü berden Ladentisch.,, Du kannst mirvertrauen!"
Pianke blickte ihr ins Gesicht. Ihr Blick blieb for­
schend. In den Mundwinkeln fand er keine Güte, viel­
mehr Strenge. Sie schaute ihn wie einen Erwachsenen
an. Er schlug in die angebotene Hand ein und spürte
den Druck ihrer Hand. Beinahe hätte er au! gesagt.
„Komm am Nachmittag wieder! Ich werde etwas für
deinen Vater besorgen. Falls jemand im Laden sein
sollte, werde ich sagen, die Paßfotos sind erst in ein
paar Minuten fertig. Du wartest dann. Deinen Ruck­
sack kannst du hierlassen!"
Kurze Zeit später stand er auf der Straße. Was sollte er
nun anfangen?
Er bummelte die Straße entlang. Es sah so aus, als hätte
er kein bestimmtes Ziel. Dabei wußte er genau, wohin
er wollte. Die Großeltern hatte er seit der Zeit, da Vater
und er in das Holzhäuschen gezogen waren, nicht mehr
gesehen.

88
Lebten sie überhaupt noch? Das Haus, in dem sie
wohnten, konnte ebenso ein Opfer der Bomben gewor­
den sein!
Es war Pianke verboten, seine Großeltern zu besuchen.
Vater mochte den Großvater nicht. Und Großvater
haßte Vater. Seiner Ansicht nach hatte der am Tode
von Piankes Mutter schuld. Ein Mann, der dauernd et­
was Verbotenes tat, der sich in die Politik einmischte,
den die Polizei verfolgte, konnte sich unter keinen Um­
ständen genügend um die Familie kümmern; der hatte
auch kein Geld für einen Arzt und für ein Privatkran­
kenhaus. Ja, hätte Piankes Mutter auf ihn gehört, dann
hätte sie einen Kaufmann geheiratet - ist der Handel
noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein.
Pianke wollte sich nicht über das Verbot seines Vaters
hinwegsetzen. Nachsehen durfte er doch wohl, ob das
Haus der Großeltern noch stand!
Nach einer Viertelstunde Fußweg stand Pianke vor der
Stuckfassade des Hauses, in dem seine Großeltern
wohnten. Pianke hätte sich wieder beruhigt aus dem
Staube machen können. Aber es war doch möglich, daß
die Großeltern erkrankt oder, wenn es ganz schlimm
kam, gestorben waren.
Pianke schaute voller Sehnsucht hinauf zum Balkon im
ersten Stock, auf dem der wilde Wein üppig rankte.
Warum saßen sie nicht dort und aßen Mittag?
Man könnte die Treppe hinaufschleichen und durch
den Briefschlitz spähen. Das hatte Pianke schon oft ge­
tan, wenn er durch die Gerüche herausbekommen

89
wollte, was es bei der Oma zum Mittagessen gab. Bei
Gemüseeintopf ließ man sich besser erst nach dem Mit­
tag sehen. Wenn es aber etwas Besseres gab, wie zum
Beispiel Kartoffelpuffer oder Eierkuchen, hatte er ge­
klingelt.
Heute ging Pianke am Haus seiner Großeltern vorüber.
Verboten war verboten! Die Straße war mit Gehweg­
platten ausgelegt. Pianke bemühte sich, nicht auf die
Fugen zu treten. Er machte mal lange, mal kurze
Schritte. Zweimal war er schon auf eine Fuge getreten.
Wenn ihm das noch einmal geschah, mußte er die
Treppe hochgehen, sonst passierte den Großeltern ir­
gend etwas Furchtbares.
Vergeblich sagte sich Pianke, daß die Bomben unab­
hängig davon fielen, ob er auf die Fugen trat oder
nicht. Da trat er zum dritten Mal auf eine.
Behutsam schlich er sich die Treppe hinauf. Er hob die
Metallklappe des Briefschlitzes und schaute in die Kü­
che. Die Großmutter stand am Herd und richtete das
Essen an. Der Großvater saß am Küchentisch und las
die Zeitung. Es schien ihnen gut zu gehen. Pianke fiel
ein Stein vorn Herzen. Nur sein Magen zog sich
schmerzhaft zusammen. Durch den Briefschlitz stieg
der Geruch gebratener Buletten in seine Nase.
,,Emma", sagte der Großvater, ,,jemand ist an der Tür."
Bevor Pianke sich versah, wurde die Tür aufgerissen.
Die beiden alten Leute schauten fassungslos auf den
hockenden Pianke.
„Oma", rief Pianke und ließ sich umarmen. Beinahe

90
heulte er vor Rührung, aber der Großvater riß ihn aus
der Stimmung.
„Na, na, nun wird es Zeit, daß du mir auch einen Kuß
gibst."
„Du hast doch Hunger", sagte die Großmutter. ,,Ich
sehe es dir an."
„Bekommst du denn überhaupt regelmäßig bei deinem
Vater zu essen?" fragte der Großvater.
,,Ja, Opa."
„Wo haltet ihr euch überhaupt auf? Die Polizei rennt
mir die Bude ein. Und ich kann keine Auskunft geben."
,,Ist auch besser so", sagte die Großmutter.
„Zweimal haben sie mich auf die Behörde bestellt. Ein
junger Kerl hat mir ins Gesicht geschlagen, weil mir
kein Mensch glaubt, daß ich eure Adresse nicht
kenne!"
,,Ich darfs nicht sagen."
,, Was! Du hast vor mir, deinem Großvater, Geheim­
nisse?"
Die Großmutter sagte: ,,Laß ihn doch in Ruhe, Fritz. Er
ist jetzt hier und bleibt bei uns. Was kümmert uns sein
Vater!"
„Nein, Oma", sagte Pianke. ,,Ich wollte wissen, wie es
euch geht. Ich muß wieder zum Vater."
„Kommt nicht in Frage", sagte der Großvater, drehte
den Schlüssel in der Wohnungstür um und steckte ihn
em.
Pianke saß in einer Falle.
Noch bedrückte es ihn allerdings nicht. Er ließ sich von

91
der Großmutter verwöhnen, denn um Irmas Kochkunst
war es nicht gut bestellt. Und wenn der Vater kochte,
gab es immer nur dicke Erbsen oder Nudelsuppe.

,,Junge", sagte die Großmutter, ,,du hast einen Appetit,


als würdest du sonst nicht genug zu essen bekommen."
,,Ich esse immer soviel, Oma."
Er sah der Großmutter an, daß sie ihm nicht glaubte.
Zu seinem Ärger begann sie ihn gründlich zu begutach­
ten. ,,Die Absätze der Sandalen sind schiefgelaufen."
Pianke verstand, daß nicht ihn dieser Vorwurf treffen
sollte, sondern seinen Vater.
„Zieh das Hemd aus, Andreas. Der Kragen starrt vor
Dreck. Ich wasche es schnell mal durch!"
,,Nein, ich muß bald wieder gehen."
Pianke spreizte seine Arme weit auseinander, um die
Großmutter daran zu hindern, ihm das Hemd über den

92
Kopf zu ziehen. Aber schon hatte sie etwas Neues ent­
deckt. ,,In deinen Ohren könnte man Petersilie anpflan­
zen. Wann hast du die das letzte Mal gewaschen?"
,,Heute früh, Oma. Aber dann kam so ein Sandsturm."
„Ich würde sagen, heute weht kein Windehen. Darum
ist es auch so schwül."
Kaum hatte die Oma ausgeredet, nörgelte der Großva­
ter wieder mit Pianke. ,,Sie werden mich und die Groß­
mutter noch ins KZ stecken, weil wir keine Angaben
über deinen Vater machen können!"
Pianke zuckte mit den Achseln. Er war verzweifelt. Wie
sollte er seinen Großeltern helfen?
„Wenn sie den Jungen bei uns antreffen, werden sie ihn
schlagen wie dich", sagte die Großmutter. ,,Und wenn
er seinen Vater nicht verrät, stecken sie ihn vielleicht
ins KZ. Und du weißt ja, sie machen dort Seife aus
Menschenknochen."
„Red nicht solchen Unsinn! Du bringst uns ja um Kopf
und Kragen!"
,,Du hast es selbst erzählt", beharrte sie.
,,Ich hab es dir nicht erzählt, damit du es weiterplärrst.
Und außerdem machen sie das nur mit den Juden."
Pianke mußte sich plötzlich übergeben. Er erbrach sich
auf den Fußboden der Küche.
„Das hast du nun davon", schrie der Großvater und
rannte einen Eimer holen.
Pianke schämte sich.
Jetzt mußte er doch sein Hemd hergeben. Es war über
und über beschmutzt. Nachdem er sich mit klarem

93
Wasser gewaschen hatte, legte ihm die Großmutter ein
neues Hemd hin. ,,Das wollte ich dir schon zum Ge­
burtstag schenken", sagte sie.
Pianke vergaß das Dankesagen.
Das neue Hemd würde dem Vater verraten, wo er sich
aufgehalten hatte - das heißt, wenn ihn die Großeltern
überhaupt wieder gehen ließen.
,,Ich habe mir das noch einmal überlegt", sagte schließ­
lich der Großvater. ,, Wahrscheinlich ist es für uns alle
besser, wenn du wieder zu deinem Vater gehst. Sage
ihm aber, ich werde ihm nie vergessen, was er uns ange­
tan hat!"
Am späten Nachmittag schlich Pianke die Treppe leise
hinunter. Der Großvater hatte ihm gesagt, er dürfte von
niemandem aus dem Haus gesehen werden. Die Leute
kannten ihn doch! ,,Es ist besser, du kommst nicht
mehr!"
Pianke verstand: Sie hatten Angst.
Wahrscheinlich hatten sie recht. Da man den Vater und
ihn suchte, würden die von der Geheimen Staatspolizei
vielleicht noch einmal überraschend bei den Großeltern
auftauchen.

Als Pianke am Nachmittag den Fotoladen betrat, er­


schrak er. An den Ladentisch gelehnt, stand ein SS-Of­
fizier in schwarzer Uniform und rauchte.
Pianke blieb wie angewurzelt stehen. Eine Sekunde
später wäre er davongelaufen, wenn nicht Fräulein
Heumeier hinter dem Vorhang des Ateliers gerufen

94
hätte: ,,Die Paßfotos sind erst in ein paar Minuten fer­
tig. Setz dich einen Augenblick."
Der SS-Mann streifte ihn mit einem uninteressierten
Blick.
„Heil Hitler", sagte Pianke vorsichtshalber und setzte
sich auf einen Stuhl.
Die Aufmerksamkeit des SS-Mannes wurde von einer
Dame in Anspruch genommen, die gerade aus dem
Atelier trat. Sie war zum Fotografieren zurechtgemacht.
Ihr Kleid reichte bis zum Fußboden. Auf dem Kopf
trug sie einen dunklen großkrempigen Hut.
Wie eine Filmschauspielerin, dachte Pianke. Im Alltag
hatte er noch niemals eine Frau so herumlaufen sehen.
Der SS-Offizier bot der Dame den Arm.
„Heute in einer Woche sind die Bilder fertig", sagte
Fräulein Heumeier.
,,Bitte zwei Exemplare auf chamois!" sagte die Dame,
bevor sie mit dem SS-Offizier den Laden verließ.
Als sich die Tür hinter dem Paar geschlossen hatte,
sagte Fräulein Heumeier: ,,Pfui Teufel, das stinkt hier
nach dem Parfüm dieses Flittchens." Sie ging zur Tür
und öffnete sie wieder. ,,So", sagte sie dann tief at­
mend. ,,Jetzt zu dir. Ich habe alles besorgt, was dein Va­
ter benötigt. Pack ein! Das Ganze kostet siebzig Mark."
Pianke faßte sich an die Stelle seines Hemdes, wo er
das Geld vermutete. Aber er hatte das Hemd ja bei der
Großmutter gewechselt.
,,Ich hab das Geld verloren", sagte er.
,,Sag die Wahrheit, Junge. Ihr habt kein Geld."

95
Pianke schwieg. Er blickte zu Boden, weil er sich
schämte, das Geld vertan zu haben. Durch seine Schuld
würden viele Leute keine gültigen Papiere bekommen
können. Vielleicht mußte seinetwegen jemand sterben!
,,Mach den Rucksack auf. Ich gebe dir das Zeug um­
sonst!"
Pianke sah sie ungläubig an.
,,Mach schon", sagte sie. ,,Es darf niemand sehen!"
Sie schnürte seinen Rucksack selbst auf und packte ihn
mit Büchsen, Kartons und Pappdosen bis obenhin voll.
Einige kleinere Schachteln steckte sie in die Aufsatzta­
schen des Rucksackes. Dabei fand sie den Zettel mit
der Skizze des Vaters. Sie warf einen kurzen Blick dar­
auf. ,,Darf ich das wegwerfen?"
Pianke nickte. Er fand den Weg auch so.
,,Auf Wiedersehen, Andreas!"
,,Danke", sagte Pianke.
Überraschend sagte Fräulein Heumeier: ,,Bestelle dei­
nem Vater, ich bin immer für ihn da!"
Sie sah Pianke dabei seltsam an.
Pianke ging nicht auf direktem Wege zur Bahn. Er lief
erst ein Stückchen, bog ein paarmal um Ecken und
schaute sich scheinbar unauffällig um, ob ihm jemand
folgte. Ein bißchen kam er sich wie in einem Verbre­
cherfilm vor. Erst als er vollkommen sicher war, daß
niemand nachkam, stieg er in die Straßenbahn. Später
in der Stadtbahn schlief er nach all den überstandenen
Strapazen ein. Er erwachte gerade rechtzeitig, als der
Zug auf seiner Station hielt.

96
Kaum hatte er den Bahnsteig betreten, wurde er auch
schon herumgewirbelt, geknufft und aus zwei schwar­
zen Augen angestrahlt.
Irma erwartete ihn schon den ganzen Nachmittag. ,,Wo
bist du nur so lange gewesen? Hättest dich beeilen kön­
nen, Piankele."
,,Beeilen, Pustekuchen", sagte Pianke. ,,Wenn du wüß­
test, was mir alles passiert ist."
Sie hatten noch einen beträchtlichen Fußweg zurückzu­
legen. Zeit genug für Pianke, alles zu berichten.
,,Oh", sagte Irma, ,,da waren meine Großeltern aus Je­
hupetz ganz anders. Die hatten niemals Angst."
„Was nutzt mir das", sagte Pianke, ,, Vater wird mir den
Hintern vollhauen."
,,Sagst ihm einfach nichts von dem Besuch!"
,,Und das Hemd?"
„Dein Vater schaut nicht auf Hemden. Ihm wird nichts
auffallen, glaub mir!"
Irma sollte recht behalten. Der Vater nahm ihm schwei­
gend den Rucksack ab und begann auszupacken. ,,Gut,
sehr gut, ausgezeichnet", murmelte er.
Ein bißchen begann sich Pianke zu ärgern, daß der Va­
ter den Sachen mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm.
„Hat das Geld gereicht?" fragte der Vater, ohne sich
umzudrehen.
,,Ja", sagte Pianke. ,,Gerade so."
Endlich wendete sich der Vater ihm zu. ,,Pianke, das
hast du gut gemacht", sagte er. ,,Los, Irma! Zwei,
drei . .." Und der Vater begann mit Irma zu singen.

97
„Hoch soll er leben, hoch soll er leben, an der Decke
soll er kleben ... dreimal hoch."
Mit einiger Mühe warf er Pianke dreimal hoch.
Sie lachten ausgelassen.
„Ich soll dir bestellen", sagte Pianke, ,,das Fräulein
Heumeier ist für dich immer da."
,,Du hast ihr doch hoffentlich nicht gesagt, wo wir woh­
nen?"
,,Nein."
,,Ja, das Fräulein Heumeier", sagte der Vater nachdenk­
lich. ,,Sie wollte mal deine Mama werden."
„ Wie das?" fragte Pianke.
,,Sie hat mich geliebt."
,,Und du?"
„Nicht mein Typ! Als ich Mutter kennenlernte, ist sie
vor Wut zu den Nazis übergelaufen."
,,Und ausgerechnet zu der hast du mich geschickt!"
Pianke war empört.
„In der Not fängt der Teufel Fliegen. Außerdem hat sie
das längst bereut. Als ich sie das letzte Mal traf, wollte
sie ein Attentat auf Hitler verüben."
„Na und?"
,,Na, Hitler lebt noch!"

Die Schulferien waren vorüber, aber Pianke hatte be­


schlossen, nicht mehr in die Schule zu gehen. Der Leh­
rer Oppermann hing ihm, kurz gesagt, zum Halse her­
aus. Dabei war dieser Oppermann nicht der schlimmste
Lehrer der Schule. Er war wenigstens gerecht. Doch

98
wer im Unterricht schwatzte, dem wurde das Ohr ver­
dreht. Und das Unangenehmste war der Altmännerge­
ruch, der von dem Lehrer ausging.
Für jeden Tintenklecks im. Schönschreibheft gab es mit
dem Rohrstock eins über die Außenseite der Hand.
Grobe Streiche wurden mit Schlägen aufs Hinterteil be­
straft. Jeder wußte also, was ihm bevorstand, wenn er
etwas anstellte.
Pianke jedoch fürchtete seinen eigenen Mund, der sich
dauernd öffnen wollte, um etwas zu sagen, was man zu
Hause durchaus sagen konnte, was aber in der Schule
üble Folgen gehabt hätte. Pianke war's, als müßte er er­
sticken an den vielen Worten, die er hinunterschluckte.
„ Wie lange währt das tausendjährige Reich?" fragte
Oppermann mit List.
Tausend Jahre durfte man nicht antworten, obwohl das
logisch schien - tausend Jahre waren Hitler und seinen
Leuten immer noch zuwenig. Die Antwort, die Opper­
mann für richtig hielt, hieß: Das tausendjährige Reich
währt ewig!
Pianke fühlte sich bei dieser häufig wiederkehrenden
Frage versucht zu sagen, daß es mit dem tausendjähri­
gen Reich wohl bald vorbei sein würde.
In ihrem Häuschen hatte der Vater eine Landkarte an die
Wand gepinnt. Fähnchen zeigten an, wie weit die Rus­
sen, die Amerikaner und die Engländer vorangekom­
men waren. Die roten Fähnchen schienen es besonders
eilig zu haben. Sie standen schon am Balaton. Die Eng­
länder und Amerikaner marschierten in Richtung Paris.

99
In Anbetracht dieser Fähnchen hatte Pianke keine Lust
zu sagen: ,,Das Dritte Reich währt ewig."
Der Vater zeigte Verständnis, aber er bestand darauf,
daß Pianke die Schule besuchte.
So machte sich Pianke jeden Tag gemeinsam mit Irma
auf den Schulweg. Irma bog hinter der Siedlung links
ab, um über einen schmalen Pfad die Rückfront des
Grundstückes zu erreichen, wo sie von Piankes Vater
wieder eingelassen wurde. - Die Hauptsache war, daß
Herms sie gesehen hatte.
Pianke bog nach rechts ab und verschwand, wenn Irma
außer Sichtweite war, im Dickicht des Waldes. Sein
Fehlen würde in der Schule nicht auffallen.
Es ging sowieso alles durcheinander. Auch die letzten
jüngeren Lehrer waren an die Front geschickt worden.
Die Stunden fielen immer häufiger aus. Piankes Schule
hatte noch eine Mädchenschule aufnehmen müssen,
deren Gebäude ein Lazarett geworden war. Die Räume
reichten nicht mehr aus, obwohl vor- und nachmittags
unterrichtet wurde.
Manche Schüler zogen wegen der Bomben aufs Land.
Andere waren über Nacht ausgebombt und siedelten in
Behelfsheime über. Diese allgemeine Wirrnis machte
sich Pianke zunutze. Sollte Oppermann doch glauben,
die Bomben hätten auch ihn erwischt.
Er streifte in der Gegend herum. Mal angelte er am See.
Mal spazierte er durch Pichelsdorf. Irgendwie fand er
immer etwas, das interessanter war als die Schule.
Irma gegenüber geriet er bald in Verlegenheit. Nach

100
wie vor hatte er die Aufgabe, ihr beizubringen, was er
gelernt hatte. Die ersten Tage wiederholte er noch ein
bißchen Unterrichtsstoff vom Vorjahre. Wenige Tage
später fiel ihm nichts mehr ein. Schließlich gestand er
Irma alles.
,,Könnte ich nur an deiner Stelle zur Schule gehen",
sagte sie.
Ja, sie träumte von richtigen Lehrern, von der Sport­
stunde und vom Schwatzen mit den anderen.
,,Ach, wenn du wüßtest!" sagte Pianke. Und er legte sei­
nen ganzen Überdruß in diesen Seufzer.

Bei seinen Streifzügen stieß Pianke eines Tages mitten


im Wald auf ein Indianerwigwam aus Reisig und einem
durchlöcherten Teppich. Er schlich um das seltsame
Bauwerk herum. Ob hier ein Mensch hauste? Er konnte
es sich nicht vorstellen.
Ihm fielen sämtliche Gespenster, Hexen und Wald­
schrate ein, von denen er irgendwann gelesen oder ge­
hört hatte. Als sich nichts rührte, wagte Pianke, einen
Tannenzapfen auf das Dach des Wigwams zu werfen.
Es blieb aber alles still.
,,Hallo", rief er halblaut.
Er wagte sich nun noch näher heran und schaute hin­
ein. Ein paar Decken lagen auf dem Boden. Plötzlich
bohrte sich etwas Spitzes in Piankes Rücken. Er war
wie gelähmt vor Schreck.
,,Hände hoch!" sagte eine Stimme.
Pianke hob die Hände. Wenn er nur mit dem Leben da-

101
vonkam! Nie wieder würde er die Schule schwänzen!
Nie wieder würde er am Essen herummäkeln! Nie wie­
der würde er mit Absicht das Zähneputzen vergessen!
Ach, er hätte alle Versprechen der Welt abgegeben!
Langsam drehte er sich, noch immer die Hände erho­
ben, um.
Dieter Schramm stand lachend in der Uniform der Hit­
lerjugend vor ihm. In der Hand hielt er den Dolch mit
der Aufschrift „Blut und Ehre". Neben ihm stand der
Bruder Heinz.
Ausgerechnet denen mußte er in die Hände fallen!
,,Mensch, Diethelm", rief Heinz Schramm, ,,du be­
nimmst dich, als ob wir die Tommys wären. Nimm die
Hände runter, Kamerad. Zitterst ja!"
Langsam ließ Pianke die Hände sinken. Er wußte nicht,
worauf das hinauslaufen würde.
,,Setz dich, fühl dich wie zu Hause", sagte Heinz.
Die beiden fläzten sich auf den Waldboden, während
Pianke stehenblieb und überlegte, ob er den Versuch
machen sollte, wegzurennen. Vielleicht aber konnte er
die beiden irgendwie einschüchtern?
,,Los, schlagt zu, wenn ihr euch traut", sagte er.
Dieter steckte den Dolch bewußt langsam wieder in die
Scheide.
„Merk dir", sagte Heinz, ,,nur Feiglinge schlagen einen
Jüngeren, Schwächeren! Außerdem bist du ganz in
Ordnung. Hast dich gut gehalten, damals auf dem
Boot!"
,,Auf Ehre, wir tun dir nichts", sagte Dieter.

102
Sie streckten ihm die Hände hin. Pianke schlug zögernd
ein. Vielleicht kam er nochmal davon.
Heinz sagte: ,,Du kannst doch den Mund halten?"
Pianke nickte.
,,Schwöre es!"
Pianke hob die Hand. Er hätte alles geschworen, wenn
er nur davonkam! ,,Wenn ich euch damit einen Gefal­
len tun kann ..."
,,Wir sitzen ganz schön in der Scheiße", sagte Dieter.
„Gestern haben wir den Kahn von unserem Alten in
den Grund gebohrt!"
,,Was!" Pianke hätte am liebsten losgelacht.Dieses An­
geberschiff! ,,Ich glaub euch kein Wort. Ihr macht
Witze mit mir!"
„Witze? Meinst du, wir würden die Nacht bei Nebel
und Kälte im Wald verbringen?"
Heinz sagte: ,,Es ging ganz schnell. Wir sind auf ein
Balkenkreuz von der Flugabwehr gefahren. Zwei Plan­
ken sind gebrochen.Der Kahn lief voll. Der Ballastkiel
hat ihn runtergezogen.Ein Stück Mast hat gerade noch
rausgeguckt."
,,Der Alte schlägt uns tot! Der Kahn war sein Einund­
alles!"
Pianke verstand die Situation seiner Feinde gut. Wenn
er sich nur seine Schadenfreude nicht anmerken ließ!
,,Mal müßt ihr doch wieder nach Hause!"
Dieter sprudelte hervor: ,,Wir melden uns bei der
Kriegsmarine in Kiel. Da kann uns der Alte mal!"
„Es geht nicht nur um uns", sagte Heinz ernst. ,, Wir

103
flüchten nicht einfach vor unserem Vater. In dieser
schweren Stunde wollen wir nicht das Gymnasium
drücken und bei vergreisten Studienräten Latein pau­
ken. Wir wollen etwas tun. Wir wollen dem Führer bei­
seite stehen."
Pianke witterte eine Falle und widersprach vorsichts­
halber.
,, Was meinst du für eine schwere Stunde?"
„Tu doch nicht so! Du weißt doch, daß unsere Feinde
Teilerfolge zu verzeichnen haben."
,,Das ist ja schrecklich", sagte Pianke heuchlerisch.
,,Keine Angst", sagte Heinz, ohne Piankes Ironie zu be­
merken. ,,Am Ende werden wir siegen."
Er lächelte ihm aufmunternd zu. ,, Wir sind unbesieg­
bar! Das wirst du lernen, wenn du erst bei den Pimpfen
bist."
Wenn Pianke zehn Jahre alt wurde, mußte er zu den
Pimpfen. Er wußte nicht, ob er sich darüber freuen
oder sich fürchten sollte. Der Vater behauptete, die
Pimpfenorganisation sei die Garküche für das künftige
Kanonenfutter. Pianke wußte aber, daß sie bei den
Pimpfen Geländespiele übten und in Sommerlager fuh­
ren. Er wäre gern dabeigewesen.
Heinz stand auf. ,,Schau einmal her", er deutete auf
eine Lücke im Gebüsch.
Pianke erhob sich und schaute in die angegebene Rich­
tung.
„Siehst du die Säule mit dem Schwert und dem
Schild?"

104
,,Ja", sagte Pianke. ,,Die Halbinsel heißt Schildhorn."
,,Richtig! An dieser Stelle ist Albrecht der Bär auf sei­
nem Pferd über die Havel geschwommen. Siehst du,
wie weit es vom anderen Ufer bis hierher ist?"
Pianke nickte. ,,Ja, das ist großartig."
Er kannte die Sage von Albrecht dem Bären.
Heinz legte kameradschaftlich den Arm um Piankes
Schulter. ,,Weißt du, warum er das geschafft hat?"
„Ein Wunder", sagte Pianke und versuchte, sich sachte
aus dem Arm des anderen zu befreien, obwohl ihm des­
sen Art nicht mehr unangenehm war. Heinz hielt ihn
mit sanfter Gewalt zurück.
„Ein Wunder? Unsinn", sagte er. ,,Albrecht der Bär
hatte den eisernen Willen, es zu schaffen, verstehst du!"
Pianke glaubte den Askanierfürsten zu Pferd aus dem
Fluß steigen zu sehen. Das Wasser floß aus seiner stäh­
lernen Rüstung. Albrecht der Bär hängte Schild und
Schwert an einen Baum, sprang vom Pferd und kniete
nieder.
,, Und wir schaffen es auch", sagte Dieter.
Die beiden Schramms blickten in die Feme.
„Glaub mir, Diethelm", sagte Heinz, ,,auch der Führer
hat diesen eisernen Willen."
Pianke beschlich eine seltsame Unsicherheit. Hatte sich
der Vater eventuell geirrt? Würden sie vielleicht ihr Le­
ben lang unter falschem Namen mit der ständigen
Angst im Genick leben müssen?
Er warf einen Blick auf die Jungen in ihren kurzen
schwarzen Kordhosen und den Braunhemden. Er hatte

105
noch nie einen richtigen Freund besessen. Irma rech­
nete nicht. Sie war ein Mädchen, etwas ganz anderes.
Pianke versuchte, den Wunsch zu unterdrücken, zu die­
sen Schramms zu gehören; den Wunsch, in dieser Uni­
form die Straße entlangzumarschieren, durch dick und
dünn zu gehen, zu beweisen, daß man auch einen eiser­
nen Willen besaß.
Heinz ließ ihn los. Seine Stimme klang bewegt. ,, Viel­
leicht kannst du uns helfen, Kleiner. Willst du?"
Pianke nickte. Wieso ließ er sich Kleiner nennen, ob­
wohl er lediglich wenige Jahre jünger war als die bei­
den?
,, Wir brauchen ein bißchen Geld und was zu essen."
Nein, dachte Pianke, mit dem eisernen Willen geht
nichts. Er hatte versucht, Diktate mit eisernem Willen
zu schreiben. Am Ende fand Oppermann zehn Fehler.
Was nutzte der eiserne Wille, wenn man nicht wußte,
daß Wiese mit ie geschrieben wurde!
Trotzdem tat ihm das Vertrauen der beiden Schramms
wohl. ,,Ich will versuchen, etwas aufzutreiben."

106
,,Und du verrätst uns nicht?"
,,Ich hab's geschworen."
,,Wir erwarten dich am Nachmittag, Diethelm!"
,,Nennt mich Pianke!"
Er war froh, daß er ohne Prügel davongekommen war.
Seinen Schwur wollte er halten. Niemand sollte etwas
über die beiden von ihm erfahren. Aber auf Essen und
Geld konnten sie lange warten!
Doch zu Hause, als er mit dem Vater und mit Irma zu
Mittag aß, dachte er an die Jungen, die im Walde hock­
ten und Hunger hatten. Er fühlte sich schlecht. Die Jun­
gen hätten ihn verprügeln können. Sie hatten es nicht
getan und ihn sogar wie einen Freund behandelt. Und
was sie da über den Führer und den eisernen Willen er­
zählt hatten - sie wußten es eben nicht anders.
Nach dem Mittagessen, als der Vater seine Arbeit wie­
der aufgenommen hatte, ging Pianke in die Küche.
Irma wusch die Teller vom Mittagessen ab.
„Geh du nur raus in den Garten", sagte Pianke, ,,ich
mache hier weiter."
,,Du bist erst morgen dran", sagte Irma und wusch wei­
ter ab.
Pianke griff trotzdem zum Handtuch, um abzutrocknen.
„Du mußt aber nicht denken, daß ich morgen für dich
abtrockne", sagte Irma.
Nach dem Abtrocknen setzte sich Irma auf den Kü­
chenhocker und wickelte sich einen Bindfaden kunst­
voll um die Finger.
,, Komm, Pianke, wir spielen Abnehmen."

107
Pianke verdrehte qualvoll die Pupillen. ,,Das ist ein
richtiges Weiberspiel", sagte er.
,,So", sagte Irma beleidigt, ,,dann spiele ich allein."
Pianke schaute ihr ein Weilchen zu, weil er hoffte, sie
würde es überbekommen, allein zu spielen. Aber da
hatte er sich geirrt.
,,Sieh an", sagte Irma, ,,die Königskrone."
Pianke hatte sich, während Irma Abnehmen spielte, mit
dem Rücken an das Regal gelehnt, in dem der Vater das
Geld aufbewahrte. Die Hand hinter dem Rücken, ver­
suchte Pianke einen Schein aus der Tasse herauszufi­
schen, stets den Blick auf Irma gerichtet.
Überraschend warf sie den Faden fort, sprang auf und
packte Piankes rechte Hand, zerrte sie nach vorne.
Seine Faust krampfte sich um einen Fünfzigmarkschein.
,,Bist du meschugge?"
„Pscht!" machte Pianke. Er hatte Angst, der Vater
könnte sich an seinem Arbeitstisch umdrehen.
,, Wozu brauchst du das Geld?" flüsterte sie.
,,Ich sag's dir draußen!"
Pianke schnitt ein großes Stück vom Brot ab und ver­
barg es unter dem Hemd. Dann gingen sie zusammen
hinaus.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als Irma das Geheimnis
zu verraten.
,,Du darfst nicht hingehen", sagte sie.
,,Ich muß", sagte er. ,,Ich hab's versprochen."
„Den Hitlerjungen kannst du alles versprechen. Du
brauchst nichts davon zu halten!"

108
,, Und wieso?"
,, Weil die auch alles versprechen und nichts halten!"
„Das kannst du nicht beweisen. Der Heinz hält, was er
verspricht!"
„Der Heinz, der Heinz ...ist genauso ein Nazi wie sein
Vater."
,,Ja", gab Pianke zu, ,,und trotzdem, er ist ein prima Ka­
merad!"
„Ein prima Kamerad", sagte Irma verächtlich, aber sie
wußte nicht, was sie noch vorbringen sollte, um Pianke
von seinem Vorhaben abzuhalten.
,,Du darfst es meinem Vater nicht verraten", sagte Pianke.
„Na schön, wenn du nachher mit mir Abnehmen
spielst!" sagte sie zögernd.
Pianke mußte es ihr in die Hand versprechen.

Heinz und Dieter Schramm empfingen Pianke mit


Freudengeheul.Sie stopften das trockene Brot hastig in
sich hinein. Immerhin hatten sie seit dem Vortage
nichts gegessen. Nachdem sie gesättigt waren, schenk­
ten sie erst dem Geld die notwendige Beachtung.
,,Damit kommen wir durch", sagte Heinz. ,,Dank dir,
Pianke!"
Pianke nahm den freundschaftlichen Schlag auf die
Schulter dankbar entgegen. ,, Und wann haut ihr ab?"
„Sofort", sagte Heinz. ,, Wir müssen in die Stadt, zum
Lehrter Bahnhof."
Dieter sagte: ,, Und du kommst mit!"
,,Ich muß wieder nach Hause", sagte Pianke.

109
„Es ist nur zu unserer Sicherheit", sagte Dieter. ,, Wenn
dein Alter das Geld vermißt, wird er dich in die Mangel
nehmen. Womöglich fangen sie uns noch auf dem
Lehrter Bahnhof weg."
,,Ich komme nicht mit", sagte Pianke.
„Du kommst mit", sagte Dieter. ,,Darauf kannst du
dich verlassen!"
Heinz befahl seinem Bruder: ,,Halt den Mund! Er hat
uns geholfen, da werden wir ihn doch nicht zwingen!"
Die Jungen rollten ihre Decken zusammen. Dann bra­
chen sie auf.
„Bis zur Stadtbahn begleite ich euch", sagte Pianke.
Er hielt sich dicht neben Heinz. Dieter schien ihm un­
berechenbar. Auf dem Weg durch den Wald unterhiel­
ten sie sich über dieses und über jenes. Es stellte sich
heraus, daß Heinz viele Bücher gelesen hatte. Seine
Lieblingslektüre war der Lederstrumpf. Er wußte über
die Sitten der Indianer genau Bescheid. Pianke konnte
sich nur wundern.
,,Indianer sind nicht einfach Indianer", sagte Heinz.
„Nein", sagte Pianke, ,,es gibt sehr unterschiedliche
Stämme. Zum Beispiel die Dakota oder die Apatschen,
die Komantschen, die Sioux."
Heinz lächelte. ,,Ich sehe, Kleiner, einiges weißt du
schon. Aber man muß die Indianer in grundsätzliche
Gruppen unterteilen. Zum Beispiel unterscheiden sich
die Plateauindianer wesentlich von den Prärieindianern
oder den Indianern der Ostküste. Und weißt du, worin
sie sich voneinander unterscheiden?"

110
Pianke schüttelte den Kopf.
,,Schon allein dadurch, wie sie sich ernähren. - Die In­
dianer im Osten Amerikas sind hauptsächlich Maisbau­
ern. Die Plateauindianer fischen mit Vorliebe Lachs.
Und die im Norden jagen Biber und anderes Kleinge­
tier oder auch Rentiere."
Pianke hätte gern noch mehr über die Indianer gehört,
aber sie waren am Stadtbahnhof angekommen.
„Schade", sagte Heinz, ,,daß wir uns nicht schon früher
darüber unterhalten haben. Ich hätte dir meine Bilder­
alben zeigen können." Plötzlich wurde er feierlich.
,,Vor uns liegt nun ein ganz neuer Lebensabschnitt",
sagte er. ,,Wir werden nicht mehr spielen. Wir werden

unser Leben einsetzen. Vielleicht werden wir fallen.


Man weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen.
Laß uns ewige Freundschaft schwören!"
Er streckte beide Hände aus. Dieter legte seine Hände

111
auf die des Bruders. Und obwohl Pianke mit Dieter
nicht so sehr viel im Sinn hatte, legte er doch seme
Hände obenauf.
,,So, das ist es also", sagte Heinz. ,,Leb wohl!"
,,Merkwürdig", sagte Dieter.
,,Was findest du merkwürdig?" fragte der ältere Bruder.
„Ich finde jemanden merkwürdig, der seine besten
Freunde nicht mal bis zum Fernbahnhof begleitet,
wenn sie in den Kampf gehen!"
,,Aber Dieter", sagte Heinz, ,,du verlangst zuviel. Er ver­
steht doch noch gar nicht richtig, was es bedeutet, ewige
Freundschaft. Er ist doch klein. Noch nicht mal Pimpf!"
Heinz sagte das freundlich lächelnd, und er redete, als
sei Pianke überhaupt nicht dabei. Jedes seiner Worte
traf ihn wie Nadelstiche.
„Er findet vielleicht nicht allein zurück", fügte Dieter
hinzu.
„Ich komme mit zum Lehrter Bahnhof", entschied
Pianke.
Im gleichen Augenblick fiel ihm der Vater ein. Was
würde der wohl sagen, wenn er erst bei Dunkelheit
heimkehrte!
„Ich habe das von dir erwartet", sagte Heinz. Er kaufte
die Stadtbahnfahrkarten am Schalter.
Einen Moment schöpfte Pianke Verdacht. Vielleicht
glaubte Heinz genauso wie Dieter, er würde sie vorzei­
tig verraten. Aber in der Stadtbahn bereute Pianke
nicht mehr, daß er mitgefahren war. Heinz nahm wie­
der das Gespräch über die Indianer auf.

112
,,Wußtest du eigentlich, daß nicht alle Indianer in Zel­
ten leben? Ein großer Teil lebt in richtigen Häusern."
Pianke bemerkte nicht, wie die Zeit verging.
Bald sahen sie durch das notdürftig verglaste Fenster
des Stadtbahnwaggons den Lehrter Bahnhof in der
Dämmerung auftauchen. Die auf steinernen Säulen ru­
hende stählerne Dachkonstruktion wirkte ohne Glas
wie das Skelett eines Riesensauriers. Ungehemmt stieg
der weiße Dampf der Lokomotiven auf.
Sie stiegen aus und gingen zum Fernbahnhof. An der
Sperre erkundigten sie sich nach der Abfahrt des Zuges
nach Kiel. Der Knipser betrachtete sie von oben bis un­
ten. ,,Also, nach Kiel wollt ihr?"
,,Jawohl", sagte Heinz in forschem Ton. ,,Wir sind Frei­
willige für die Marine!"
Die Worte machten auf den Knipser keinen Eindruck.
,, Freiwillige? Ihr geht doch noch zur Schule."
,,Bis gestern", sagte Heinz stolz.
,,Dann zeigt mal eure Freifahrtsbescheinigung."
Heinz stutzte, faßte sich jedoch gleich wieder. ,,Hat
man vergessen, uns zu geben."
Ohne daß sie es bemerkt hatten, war ein Polizist mit
Tschako von hinten an sie herangetreten.
Der Knipser sagte: ,,Wachtmeister, das sind die Ausrei­
ßer!"
Der Wachtmeister griff Heinz und Dieter an den Ar­
men. ,,Los, mitkommen!" Er schob die beiden, die sich
zu wehren versuchten, vor sich her.
Ein zweiter Polizist packte Pianke.

113
Die Leute auf dem Bahnhof schauten zu ihnen hin.
,,Lassen Sie los", sagte Heinz. ,,Haben Sie nicht gehört,
wir melden uns freiwillig zur Marine."
,,Ihr kommt noch früh genug dran", sagte der Wacht­
meister und schleifte sie weiter mit.
Pianke wurde erst jetzt bewußt, in welcher Gefahr er
sich befand. Wenn die nun Steckbilder von einem An­
dreas Groß besaßen! ,,Ich gehöre nicht dazu", sagte er
zu dem Wachtmeister.
Der Wachtmeister sagte ungeachtet dessen: ,,Du halbe
Portion wolltest also auch zur Marine! Meinst du, sol­
che wie dich brauchen sie dort, um den Krieg zu gewin­
nen?"
Sie wurden in die Bahnhofswache geschoben.
Es war ein kahler, grüngetünchter Raum mit einer Bar­
riere. Tatsächlich hingen an der Wand Steckbriefe. Ei­
ner der Polizisten hinter der Barriere öffnete hilfsbereit
die Tür des angrenzenden Raumes und schubste sie
hinein.
Schramm in SS-Uniform erhob sich bleich vom Stuhl.
Er warf seine Zigarette auf den Fußboden. ,,Hab ich's
doch geahnt!" Er trat vor und verabreichte erst Heinz,
dann Dieter eine kräftige Ohrfeige.
Die beiden Jungen blieben steif stehen, ohne die Hände
zur Abwehr zu heben. Pianke versuchte, in Erwartung
des Schlages, sein Gesicht abzudecken. Aber Schramm
beachtete ihn überhaupt nicht.
,,Alles andere klären wir zu Hause", sagte Schramm.
,,Los, ab!"

114
Der Polizist, der mit in den Raum gekommen war,
sagte: ,,Wir müssen ein Protokoll anfertigen."
Das Wort Protokoll klang für Pianke äußerst gefähr­
lich - ähnlich wie „Schutzhaft", ,,Beschlagnahme"
oder „Urteil" wurden diese Worte von den Amtsstellen
benutzt, die aus Piankes Sicht nur die eine Aufgabe hat­
ten, ihn und den Vater ausfindig zu machen.
„Machen Sie das nach Gutdünken und schicken es mir
in die Dienststelle", sagte Schramm.
„Jawohl, Standartenführer", sagte der Polizist. ,,Was
soll mit diesem Bürschlein werden?"
Der Polizist meinte Pianke.
,,Keine Ahnung", sagte er.
Vorsichtig sagte Heinz, gewärtig, die nächste Ohrfeige
zu empfangen: ,,Es ist Diethelm Krüger. Du weißt
schon, von dem alten Kreuzer, der uns beinahe ge­
rammt hätte."
Schramm holte wie zum Schlage gegen Heinz aus, un­
terließ es dann jedoch wieder und sagte: ,,Wag es nicht
noch einmal, mich an Boote zu erinnern!" Sachlich
wandte er sich an Pianke: ,,Jetzt erkenne ich dich."
Der Blick des Standartenführers lastete schwer auf ihn.
Pianke erwartete im nächsten Augenblick als Andreas
Groß entlarvt zu werden.
Statt dessen sagte Schramm: ,,Mir gefallen Jungen, die
Mut haben!" - Mit einem Seitenblick auf die eigenen
Söhne: ,,Jungen, die nicht solche Waschlappen sind
und aus Angst vor der Strafe an die Front desertieren!"
Pianke öffnete den Mund, um zu erklären, daß er sich

115
nicht hatte freiwillig zur Marine melden wollen. Der
Standartenführer mißverstand ihn jedoch.
„Schon gut", sagte er, ,,leider verdienen es Heinz und
Dieter nicht, daß du dich für sie einsetzt." Er wandte
sich an den Polizisten: ,, Notieren Sie seine Personalien.
Ich überstelle ihn dann dem Vater!"
Pianke fühlte sich erleichtert. Nun kam es nur noch
darauf an, daß er sich bei dem Polizisten nicht verquas­
selte.
,, Name?" fragte der.
„Krüger, K wie Karl, R wie Richard, Ü wie Übersee, G
wie Gustav, E wie Erich, R wie Richard."-
Der Polizist war etwas verdutzt, schrieb dann aber.

Draußen vor dem Bahnhof parkte ein schwarzes Auto.


Der Chauffeur in SS-Uniform riß den Schlag auf,
Schramm ließ die Jungen hinten Platz nehmen und
setzte sich selbst neben den Fahrer.
Sie fuhren die Allee durch den Tiergarten. Pianke er­
kannte die Silhouette des Brandenburger Tores. Die
Straßenbeleuchtung und die Scheinwerfer des Autos
waren abgeblendet, wegen der feindlichen Flugzeuge.
Sie fuhren sehr schnell.
Zu dieser Zeit verkehrten aus Benzinmangel kaum Autos.
Die Schramms schwiegen und schauten geradeaus.
Pianke wagte ebenfalls nicht zu sprechen.
An der Heerstraße hielt der Wagen. ,,Hier kannst du
aussteigen, Krüger", sagte Schramm. ,,Du läufst doch
nicht wieder weg?"

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,,Nein", sagte Pianke.
,,Wiedersehen", sagte er zu den Jungen hin.
„Gruß an den Herrn Vater", rief Schramm. Das Auto
wendete und fuhr davon.
Pianke rannte befreit durch das Wäldchen zur Sied­
lung. Er war froh, daß Schramm nicht darauf bestan­
den hatte, ihn seinem Vater persönlich zu übergeben.
Immerhin mußte er sich jetzt etwas einfallen lassen, um
seine lange Abwesenheit zu begründen. Er überlegte
hin und her. Konnte man sich nicht einmal verirren,
wenn man im Wald spazierenging? - Da kreuzten sich
Wege oder machten unvorhergesehene Kurven. Weg­
weiser konnten auch in die falsche Richtung zeigen.
Pianke hatte allerdings wenig Hoffnung, daß der Vater
seinen Irrwegen Glauben schenken würde.
„Da bist du ja endlich", sagte der Vater, der mit dem
Abendbrot gewartet hatte. ,, Wie kann man euch nur bis
in die Abendstunden festhalten!"
Der Vater wußte also alles. Woher nur?
Irma blinkerte und machte heimlich andere Zeichen.
„Der Schrott, den ihr gesammelt habt, verlängert den
Krieg", sagte der Vater. ,,Ich hoffe, du hast nicht allzu­
viel zusammengekratzt?"
Pianke verstand überhaupt nichts mehr. ,,Schrott?"
sagte er. Und dann dämmerte es bei ihm: Irma hatte
dem Vater etwas vorgelogen. ,,Na ja", sagte er, ,,ein
paar Granatsplitter habe ich abgegeben, um meinen gu­
ten Willen zu beweisen."
Der Vater nickte zufrieden.

117
Einige Tage später, als Pianke sich mit der Schulmappe
auf den Weg machte, traf er den einäugigen Herms.
„Heil Hitler, Krüger", begrüßte der ihn. ,,Ich gehe auch
in Richtung Schule."
Pianke erwiderte den Gruß lahm, denn er wollte wie
die Tage zuvor die Schule schwänzen. Es blieb ihm nun
weiter nichts übrig, als mitzutrotten.
„Du bist doch so ein Schlauer. Nenne mir mal den
kleinsten See unserer Reichshauptstadt!"
Pianke ahnte, daß ihm noch viele Fragen bevorstanden.
- Wie hoch ist der höchste Berg der Erde? Wie lang ist
die längste Brücke der Welt? Herms hatte offensicht­
lich in der Schule nur gelernt, welche die kleinsten und
welche die größten Dinge der Welt sind. Pianke kannte
alle Antworten.
,,Der kleinste See? Das ist der Orankesee."
Herms schüttelte den Kopf und spuckte auf den Weg.
Er deutete auf die Spucke. ,,Das ist der kleinste Set: von
Berlin!" Er lachte über Piankes verdutztes Gesicht!
Später trafen sie Ninnemann, der in Piankes Klasse
ging. Zwar hatte Pianke die Genugtuung, daß Ninne­
mann die Fragen nach dem Größten und Kleinsten alle
falsch beantwortete, aber er mußte wohl oder übel mit
zur Schule.
Oppermann rief: ,,Das ist aber eine Überraschung",
kaum daß er setzen befohlen hatte, ,,da ist ja auch Krü­
ger, unser Seekadett!"
Die Klasse kicherte. Pianke lächelte aus Verlegenheit
ebenfalls.

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,,Lach nicht, Mensch", rief da Oppermann. ,,Steh auf!"
Pianke erhob sich.
„Die Schule war dir also zu langweilig. Zur See wolltest
du."
Pianke kam nicht dazu, darüber nachzudenken, woher
Oppermann diese Nachricht hatte. Später fiel ihm ein:
Das Protokoll!
,,Die Wortarten, Krüger!"
Glücklicherweise hatte die Pianke mit Irma ausgiebig
gepaukt. ,,Hauptwort, Tuwort, Eigenschaftswort, Ver­
hältniswort, Geschlechtswort ..."
,,Gut, Krüger! Komm nach vorne."
Pianke mußte vor der Klasse Aufstellung nehmen.
„Seht ihn euch an", sagte Oppermann. ,,So sieht ein
Schulschwänzer aus!"
Pianke schlug den Blick nieder.
„Du schreibst eintausendmal in dein Heft: Ich darf
nicht die Schule schwänzen! Verstanden?"
,,Jawohl."
Pianke wollte auf seinen Platz zurückgehen. Der Lehrer
hielt ihn jedoch zurück. ,,Ich möchte dir noch sagen,
daß du mit deiner Tat dem Willen unserer ganzen
Klasse entsprochen hast, den Führer und unser deut­
sches Vaterland bis zum letzten Atemzug zu verteidi­
gen!" Er drehte sich zur Klasse: ,,Auf!"
Alle standen auf.
Der Lehrer ließ Stille eintreten. Dann reichte er Pianke
feierlich die Hand. ,,Du kannst dich setzen, Krüger!"
Erst als Piarike wieder in seiner Bank Platz genommen

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hatte, ließ der Lehrer die Klasse setzen. Pianke war von
dem überraschenden Geschehen wie benommen. Er
hatte nicht die Kraft gefunden, zu widersprechen. Es
war so angenehm, lobend aus der Masse hervorgeho­
ben zu werden!

'
1
Später, in der Pause, schilderte er den anderen auf dem
Schulhof den genauer:en Hergang seiner Flucht nach
Kiel. Er vermochte es sogar, den Kriegshafen zu be­
schreiben, in dem er sich gemeldet haben wollte.

Lehrer Oppermann ließ einen Aufsatz mit der Über­


schrift: Was finde ich am Herbst so schön? anfertigen.
Wenn Pianke es so recht bedachte, gefiel ihm am
Herbst nur die Apfel- und Birnenernte, denn im Herbst
schlichen die ersten Kälteschauer heran. Zwar sah es
am Morgen schön aus, wenn der Boden, die Zäune und
das Strauchwerk mit Reif bedeckt waren, aber man
merkte die Kälte auch am Waschwasser.

120
Nebel fielen auf die Siedlung am Stößensee. Manchmal
regnete es auch tagelang und verwandelte die herbst­
bunten Blätter, die Pianke in seinem Aufsatz erwähnt
hatte, in eine graubraune Masse.
Regen und Nebel bedeuteten für Pianke, daß er mit
Irma im engen Küchenverschlag hocken und spielen
mußte. Sie durften aber nicht laut sein, damit der Vater
bei seiner Arbeit, dem Pässeschustern, nicht gestört
wurde.
Der Herbst hatte die drei Bewohner des Häuschens ver­
ändert. Früher hatten sie gern gesungen und Spaß ge­
macht. Wenn Pianke jetzt ein Lied anstimmte, sang der
Vater nicht mit. Er behauptete, Pianke könnte sowieso
keinen Ton halten. Lachte Irma einmal laut, meinte
Pianke bissig, sie sollte sich eine bessere Lache kaufen.
Und wenn der Vater eine seiner vielen Zigaretten an­
zündete, husteten Irma und Pianke im Chor. Der enge
Raum, auf dem sie zusammengedrängt leben mußten,
machte ihnen zu schaffen.
Manchmal wollte Pianke hinaus, um allein zu sein. Er
beachtete Regen und Nebel einfach nicht und ging zum
Boot, das noch immer am Steg lag, weil der Vater keine
Zeit gefunden hatte, es aus dem Wasser zu holen.
Er hockte manchen Nachmittag unter der Plane und
schaute auf die Nebelschwaden. In seiner Phantasie
verwandelten sich die Nebel in Gestalten. Manchmal
sah er seine Mutter vorüberschweben, manchmal die
Oma und auch den Heinz Schramm.
Einmal, an einem langweiligen Herbstsonntag, begeg-

121
nete ihm auf dem Rückweg vom Boot eine Frau im der­
ben Regenmantel mit Kapuze.
,,Guten Tag, Andreas", sagte die Frau.
Andreas? Gab es den überhaupt noch! Pianke ver­
schlug es die Sprache.
,,Erkennst du mich nicht, Junge?"
Nein, das war keine seiner Nebelgestalten.
Die Frau schlug die Kapuze zurück. Da erkannte er sie.
- Das Fräulein Heumeier aus dem Fotoladen, bei der
er das Material für den Vater geholt hatte.
,,Guten Tag", stotterte Pianke. ,,Ich bin hier bei jeman­
dem zu Besuch!"
Die Frau lächelte. ,,Mir brauchst du nichts vorzuma­
chen, Junge. Dein Vater schickt mich, damit ich dich
nach Hause hole. Du sollst dich nicht erkälten."
Die Fürsorge seines Vaters war Pianke neu. Der küm­
merte sich doch sonst nicht um solche Kleinigkeiten.
,,Woher haben Sie unsere Adresse?"
,,Dein Vater hat mir geschrieben."
„Ach so"', sagte Pianke. An der nächsten Weggabelung
bog Fräulein Heumeier falsch ab.
„Hier geht es lang", sagte Pianke.
,,Ich habe keinen guten Ortssinn."
Beinahe wäre Fräulein Heumeier auch an dem Häus­
chen vorbeigegangen. Dabei stand der Name Krüger
groß draußen dran.
Als sie zusammen das Häuschen betraten, beachtete
der Vater sie nicht. Er hockte, wie so oft, nach vorn ge­
beugt an seinem Arbeitstisch.

122
Irma erstarrte beim „Abnehmen" mit ausgestreckten
Händen und stierte auf Fräulein Heumeier.
,,Hallo, Hans", sagte Fräulein Heumeier.
Der Vater drehte sich um und sprang auf. Er blickte
von Pianke zu der Frau und von der Frau zu Pianke
und begriff überhaupt nichts mehr. ,, Wie hast du uns
gefunden?"
Pianke erkannte, daß Fräulein Heumeier ihn reingelegt
hatte. Sie hatte sich von ihm direkt in das illegale Quar­
tier bringen lassen. Was war er für ein Dummkopf!
,,Darf ich ablegen", fragte Fräulein Heumeier.
Der Vater half ihr unwillig aus dem Mantel.
,,Es ist ein Sauwetter draußen!"
Der Vater zündete sich eine zweite Zigarette an, obwohl
die erste gerade angeraucht war.
Pianke stand noch immer mit gesenktem Blick mitten
im Zimmer. ,,Es tut mir leid", sagte er.
Der Vater würdigte ihn keines Blickes. Pianke kannte
seinen Vater. Er wußte, daß er vor Wut kochte.
,,Lassen wir mal das Wetter", sagte er zu der Besuche­
rin. ,, Was willst du von uns?"
Fräulein Heumeier reichte dem Vater die Hand. ,,Gu­
ten Tag, Hans." Sie ging zu Irma, betrachtete das Bind­
fadengeflecht scheinbar interessiert und sagte: ,,Die
Königskrone! Guten Tag. Ich heiße Luise."
Irma ließ ihr Geflecht auseinanderfallen. ,,Guten Tag!"
Dann ging Luise wieder zum Vater zurück und setzte
sich ihm gegenüber. ,,Hans, du glaubst doch nicht, daß
ich euch denunzieren will."

123
Der Vater schwieg.
„Ich akzeptiere, daß du mir gegenüber mißtrauisch bist
- ich hatte mich eine Zeit den Nazis angeschlossen.
Das ist lange vorbei, Hans. Ich stehe auf eurer Seite.
Das Material hat dir hoffentlich geholfen?"
Der Vater nickte.
Sie wandte sich Pianke zu. ,,Mach dir keine Vorwürfe.
Du bist ganz schön schlau. Du kannst nichts dafür, daß
ich listiger bin - du hättest den Zettel vernichten müs­
sen, auf dem skizziert war, wie du zu mir fahren mußt.
Sieh mal, ich brauchte nur deine Reiseroute umgekehrt
zu verfolgen."
Pianke drehte ihr den Rücken zu.
Sie lachte. ,,Komm, sei nicht mehr böse. Laß uns
Freunde sein. Ich glaube, ich mag euch alle drei."
Aber Pianke gab seine Haltung nicht auf. Es war nicht
nur die Kränkung, versagt zu haben. Er war der Frau
gegenüber mißtrauisch, weil sie ihn mit Absicht ge­
täuscht hatte.
,,An jedem freien Tag bin ich hier draußen herumge­
strolcht, in der Hoffnung, einen von euch beiden zu
treffen. Heute hätte ich es beinahe aufgegeben. Aber
dann kam Andreas."
„Warum hast du dir diese Mühe gemacht, Luise?" Der
Vater schien langsam die Fassung wiederzugewinnen.
Er lächelte sogar ein wenig. ,,Brauchst du Papiere?"
„Nein", sie schüttelte den Kopf. ,,Ich geb nur nicht so
schnell auf, wenn mir ein Mann gefällt!"
Der Vater errötete über und über.

124
„Ja, ich weiß", sagte Luise. ,,Ich war dir schon immer
zu direkt. Ich mache aus meinen Gefühlen eben keinen
Hehl."
Das Gespräch zwischen dem Vater und Luise war
Pianke peinlich. ,,Komm, Irma", sagte er. ,,Wir gehen
spazieren."
lrma stand sofort auf, um mitzugehen.
Luise versuchte, sie zurückzuhalten. ,,Nein, das Wetter
draußen ist zu schlecht. Bleibt hier! Außerdem habe ich
keine Geheimnisse vor euch. Ihr gehört doch dazu."
Pianke fiel auf, daß sein Vater, der sonst jeder Situation
gewachsen war, unbeholfen wirkte. ,,Wenn ihr gehen
wollt, dann geht", sagte er.
Draußen im Nebel gingen Irma und Pianke zuerst
stumm nebeneinanderher. Pianke spürte, wie Irma ver­
stohlen ihren Arm unter seinen schob. An normalen Ta­
gen hätte er sich von ihr frei gemacht, aus Angst, er
könnte Nachbarkinder treffen. Er selbst hatte ja früher
hinter Paaren, die eingehakt gingen, gerufen: ,,Braut
und Bräutigam, Braut und Bräutigam!"
Jetzt war ihm egal, was andere denken mochten.
Pianke fürchtete, daß sich alles verändern würde. Sie
waren zu dritt, bis auf kleine Verstimmungen, eine gute
Mannschaft gewesen, und nicht nur auf dem Boot! Er
sah ein schlechtes Vorzeichen darin, daß der Vater Luise
nicht hinausgeworfen hatte. Diese Frau würde sich
zwischen sie drängen! Ihre selbstbewußte Art verriet
ihm, daß sie sich nicht wie Irma einordnen lassen
würde.

125
„ Was meinst du, was wird jetzt passieren?" fragte
Pianke.
,,Nichts wird passieren", sagte Irma. ,,Außer vielleicht,
daß dein Papa heiratet."
,,Nein", sagte Pianke. ,,Er wird sie erschießen."
„Meinst du wirklich, Piankele?" Irma lächelte still vor
sich hin, so, als wüßte sie es viel besser.
Pianke riß sich von ihr los. ,,Ja", schrie er. ,,Er wird sie
erschießen!"
lrma hängte sich wieder bei ihm ein. ,,Es wäre schon
das Beste."
Als sie nach einem langen Spaziergang das Häuschen
betraten, hatte der Vater Luise Heumeier weder gehei­
ratet noch erschossen. Er saß, wie fast immer, am Ar­
beitstisch über seine falschen Pässe gebeugt.
Luise Heumeier war fortgegangen.
„Wo ist sie?" fragte Pianke.
Der Vater knurrte, ohne aufzuschauen: ,,Stör mich
nicht!"
Beim Abendbrot würde der Vater endlich seine Arbeit
unterbrechen. Dann würden sie erfahren, wie alles wei­
terginge.
Um sieben Uhr deckten sie den Tisch. Der Vater hörte
das Klappern des Geschirrs. ,,Eßt allein", sagte er, ,,ich
habe noch zu tun."
Sie kauten appetitlos an ihren Broten. Nicht einmal als
die Schlafenszeit herangekommen war, kümmerte sich
der Vater um sie. Das war nichts Ungewöhnliches. Aber
heute empfanden sie es doch so.

126
Geräuschvoll ließen sie das Klappbett von der Wand,
das der Vater aus einem alten Federboden für Irma ge­
baut hatte. Der Knall, mit dem das Bett auf dem Fuß­
boden aufkam, ließ den Vater zusammenfahren. Er ar­
beitete trotzdem weiter.
Sie gingen unzufrieden ins Bett.
Pianke wollte wach bleiben, bis der Vater endlich von
seinem Arbeitstisch aufstand. Schon bald aber atmete
er ruhig und träumte von irgend etwas. Was konnte er
dafür, daß seine Augen zuklappten wie bei einer Baby­
puppe, kaum daß er sich hingelegt hatte!
Der Wecker klingelte pünktlich am nächsten Morgen.
Pianke kletterte über den schlafenden Vater hinweg. Er
gab sich dabei keine besondere Mühe, ihn ungestört
weiterschlafen zu lassen.
Irma machte ihm Zeichen. ,,Laß ihn", flüsterte sie.
Beim Frühstück im Küchenverschlag sagte sie: ,,Ich
weiß jetzt alles. Ich erzähl's dir draußen!"
Sie gingen den üblichen Weg zusammen.
,,Heute nacht waren die Männer wieder da", sagte Irma.
Pianke wußte schon, welche Männer Irma meinte. Es
waren die, die er stets nur von hinten sah. Die Männer,
die das Geld und die Aufträge für die Pässe brachten.
,,Sie haben einen riesigen Krach gemacht", sagte Irma.
„Sie haben deinen Papa beschimpft, weil er dich zu
Luise Heumeier geschickt hat. Und sie haben gesagt, er
müßte jetzt mit dieser Frau zusammen leben, weil sie
uns sonst vielleicht verrät. Oh, und dein Papa hat so
laut geschrien - er will nicht!"

127
,,Sehr gut", sagte Pianke.
,,Aber am Ende hat er gesagt, es bliebe ihm ja nichts ande­
res übrig. Danach sind die Männer wieder gegangen!"
Luise besuchte sie schon am nächsten Sonntag wieder.
Und in der darauffolgenden Woche packte sie vor aller
Augen ein Nachthemd aus und kündigte an, daß sie
dabliebe. Pianke zog ein langes Gesicht, als der Vater
ihm befahl, die Luftmatratze aufzublasen.
„Nein", sagte Pianke zu Luise, in der Hoffnung, sie von
ihrem Vorhaben abzubringen, ,,eine Frau hält das nie­
mals aus, darauf zu schlafen, wissen Sie."
,,Aber du hältst das aus, nicht wahr?" sagte Luise.
„Ich halte noch viel mehr aus", sagte Pianke stolz. Der
Stolz sollte ihm jedoch vergehen. Als er, wie gewöhn­
lich, in das Bett des Vaters kroch, sagte Luise: ,,Du hast
doch selbst gesagt, ich würde es nicht auf der Luftma­
tratze aushalten."
Pianke schaute zweifelnd den Vater an, aber der ver­
tiefte sich augenblicklich wieder in seine Arbeit.
,,Na, nun hopp!" rief Luise und zwinkerte ihm freund­
lich zu, ,,mach, daß du auf die Luftmatratze kommst."
Verwirrt trollte sich Pianke.
„ Und übrigens könnt ihr mich duzen. Ich gehöre zur
Familie!"
Pianke und Irma würdigten sie keines Wortes.
Nachdem Pianke eine Weile schweigend auf der Luft­
matratze verbracht hatte, begann es in ihm zu rumoren.
Es war, als hätte er eine Maus verschluckt, die heraus­
wollte.

128
Der Tod der Mutter war ihm bisher nie so richtig zu Be­
wußtsein gekommen. Oder vielmehr hatte er nie ganz
daran geglaubt. Irgendwo in seinem Hinterkopf hatte
er die Hoffnung genährt, daß er sie eines Tages wieder­
sehen würde.
Jetzt aber, da er aus dem Rascheln der Kleider des

Fräuleins Heumeier erriet, daß sie sich auszog und es


sich in Vaters Bett bequem machte, wurde ihm das
Endgültige der Trennung bewußt.
Zuerst begann sein Rücken zu zucken. Er versuchte, es
zu unterdrücken. Aber die Maus in der Kehle nahm
ihm den Atem, wenn er nicht alles hinausschrie. Als er

129
dann laut heulte und trotz der Scham nicht mehr aufhö­
ren konnte, fühlte er sich seltsam erleichtert.
Irma sagte dauernd: ,,Nu, Piankele, ist doch nicht so
schlimm."
Der Vater stand ratlos vor seinem Lager und zuckte die
Achseln. Nur Luise Heumeier behielt die Nerven.
,, Kalte Umschläge ins Genick", sagte sie endlich.
Der Vater brachte ein nasses Handtuch. Luise legte es
ihm ins Genick. Pianke zuckte zusammen. Sein Heulen
verstummte.
Als er nur noch schluchzte, beugte sich Luise im wei­
ßen Leinennachthemd zu ihm. ,,Es hat überhaupt kei­
nen Zweck herumzuheulen. Ich bin da, daran mußt du
dich gewöhnen. Dein Vater und ich, wir haben uns lieb,
das steht nun einmal fest."
„Ha", sagte Pianke mit zittriger Stimme, ,,daß ich nicht
lache!"
Er wußte ja von dem nächtlichen Gespräch mit den
Männern. Am liebsten hätte er ihr davon erzählt, ihr ins
Gesicht gesagt, daß sie hier nur geduldet war, weil man
Angst vor ihr hatte. Aber dann würde sie vielleicht erst
recht alles verraten.
„Ich versteh, du bist eifersüchtig", sagte Luise. ,,Hast
vielleicht Angst, ich nehme dir deinen Vater weg. Du
mußt es einmal ganz anders sehen - ich nehme dir
nichts weg, im Gegenteil. Du bekommst etwas dazu.
Eine Art Mama nämlich!"
,,Sie sind nicht meine Mama", rief Pianke.
„Warum bist du so böse", sagte Luise Heumeier. Dabei

130
sah sie so aus, als würde sie nun zu heulen beginnen.
„Und du, was sagst du?" wandte sie sich plötzlich an
Irma.
Irma schwieg und drehte sich zur Wand.
Pianke spürte, wie ein süßer Geschmack auf seine
Zunge kam. Süß, weil er spürte, daß sie die Heumeier
verletzt hatten.

Am nächsten Morgen, als Pianke erwachte, stand Luise


bereits im Küchenverschlag und bereitete das Mittag
vor. Es gab keinen Zweifel, sie hatte sich häuslich bei
ihnen niedergelassen!
Pianke wollte sich mit dem Vater über die neue Situa­
tion aussprechen. Aber er mußte zur Schule.
Mittags beeilte er sich, möglichst schnell nach Hause zu
kommen. Er hatte sich einen Plan ausgedacht.
Pianke fand den Vater am Boot. Es hatte in der Nacht
gefroren. Der kleine Stößensee war am Ufer mit einer
dünnen Eisschicht überzogen. An den offenen Stellen
hatten sich Lietzen versammelt.
Der Vater stand auf der Reling des Bootes und ver­
suchte, mit einem Staken die Eisschicht ringsherum zu
zertrümmern. ,,Das Boot geht sonst zum Teufel", sagte
er statt einer Begrüßung. ,, Wir werden das jetzt jeden
Tag machen müssen."
,,Ich weiß, wie wir sie loswerden", rief Pianke zusam­
menhanglos.
,,Loswerden, wen?"

131
,,Na, die·Heumeier!"
„Hier, mach weiter!" sagte der Vater und reichte Pianke
den Staken. Er selbst setzte sich auf das Kajütendach
und kramte aus dem Trainingsanzug eine Zigarette her­
vor.
,,Paß auf, du rufst sie sofort in ihrem Fotoladen an",
sagte Pianke. ,,Du verstellst deine Stimme und sagst,
daß Krüger und die Kinder verhaftet wurden. Und
wenn sie fragt, wer da spricht, sagst du, ein Freund, der
es gut mit Ihnen meint."
Der Vater brach in schallendes Gelächter aus und wie­
derholte: ,,Ein Freund, der es gut mit Ihnen meint!"
Pianke stieß den Staken wütend ins Eis.
,,Mit so billigen Tricks werden wir sie nicht los. Außer­
dem ist sie sehr nützlich. Ich werde immer Material ha­
ben. Und dann, mein Lieber, ist endlich jemand da, der
sich um eure Erziehung kümmert."
Der Staken brach in der Mitte durch. Pianke sah betrof­
fen zu, wie das abgebrochene Stück im Eisloch ver­
schwand und nicht mehr auftauchte.
„Trottel", rief der Vater, warf die brennende Zigarette
fort und riß ihm die Stange aus der Hand.
Er hieb eine Weile schweigend mit dem Stumpf auf das
Eis.
„Ich halte die Heumeier jedenfalls nicht aus", sagte
Pianke.
Der Vater warf nun den Rest des Stakens mit Wucht
auf das Eis. Er glitt weit über die glatte Fläche. ,,Mor­
gen wird das Eis tragen. Dann wirst du mit einer Axt

132
arbeiten. Und was Luise angeht, du wirst dich an sie ge­
wöhnen müssen. Ich verlange von dir und von Irma Ge­
horsam!"
Pianke wollte widersprechen. Der Vater ließ ihn nicht
zu Worte kommen. ,,Wer hat sie denn in unser Häus­
chen geschleppt?" Pianke senkte schuldbewußt den
Blick.

An das Du gewöhnte er sich schnell. Zuerst versuchte


er es noch ein- oder zweimal mit dem Sie, weil er
hoffte, Luise würde sich darüber ärgern.
,,Hör zu", sagte sie, ,,ich finde das Siezen spießbür­
gerlich. Eines Tages werden alle Menschen du zueinan­
der sagen. Willst du der letzte Spießer sein?"
An andere Dinge gewöhnte Pianke sich schwerer. Bis­
her waren die Hausarbeiten von den Kindern mehr
oder weniger zufällig erledigt worden. Aufgewischt
wurde in dem Häuschen erst, wenn dicke Staubflocken
über den Fußboden huschten. Staubwischen empfan­
den sie als überflüssig. Nur den Abwasch erledigten sie
relativ regelmäßig, weil sie nicht viel mehr Geschirr be­
saßen, als man für eine Mahlzeit brauchte.
Luise gab sich damit nicht zufrieden. Auf der Reise­
schreibmaschine tippte sie einen Arbeitsplan. Man
konnte ihm entnehmen, wann wer welche Arbeiten zu
verrichten hatte.
Den Kindern kam der Plan zuerst lächerlich vor. Sie
beachteten ihn nicht. Wenn aber Luise von ihrer Tätig­
keit im Fotoladen heimkehrte, begann sie schweigend,

133
häufig noch im Mantel, die verschiedenen Punkte des
Planes selbst abzuarbeiten.
Pianke sah ihr zunächst wenig interessiert zu. Aber als
Irma dann doch mit zugriff, wurde ihm die Angelegen­
heit peinlich, und er begann, sich zu regen. ,,Nur aus
Disziplin", murmelte er und griff zum Besen.
In wenigen Tagen verlief das Leben in dem engen
Häuschen so, wie Luise es wollte.
Der Speiseplan hatte sich auch geändert. Die Mahlzei­
ten enthielten wissenschaftlich erforschte Mengen Koh­
lenhydrate, Eiweiße, Fette und Vitamine. Es kamen nur
noch leicht gedünstete Gemüse auf den Tisch, weil die
Vitamine nicht vernichtet werden durften. Die Petersi­
lie mußte mit der Schere zerkleinert werden, denn beim
herkömmlichen Hacken mit dem Wiegemesser würden
die wertvollen Säfte in das Holzbrett gedrückt. Der
Pudding aus Grieß wurde stets mit einem Schuß Leber­
tran bereitet.
Nur wenn Luise ein paar Tage in ihrem Zimmer in der
Stadt übernachtete, weil sie der weite Weg zur Arbeit
anstrengte, verfielen sie wieder in den alten Schlen­
drian. Dann erschienen ihnen die Nudelsuppen und
dicken Erbsen, die der Vater kochte, oder die Eierku­
chen, die Irma briet, eine Delikatesse gegen die wissen­
schaftlichen Speisen, die Luise fabrizierte.
Luise machte auch vor Piankes Gewohnheiten nicht
halt. Sie begann, ihn vor Irma wegen seines schmutzi­
gen Halses und seiner verkrusteten Ohren aufzuziehen.
Pianke empfand es als Verrat, daß Irma ihr in dieser

134
Hinsicht beistand und ihn sogar während Luises Abwe­
senheit kontrollierte.
Wo sind wir hingekommen durch dieses Fräulein Heu­
meier, stöhnte Pianke.

Die Landschaft erstarrte in der Winterkälte.


Obwohl der eiserne Ofen an einigen Stellen glühte und
die elektrischen Heizsonnen Tag und Nacht liefen,
schlich sich die Kälte durch die Ritzen der dünnen
Bretter in das Häuschen. Wenn Pianke auf die ver­
schneite Landschaft, auf die kahlen Äste der Sträucher
und auf die Schornsteine der anderen Häuschen
schaute, aus denen der Qualm des gerade gesammelten
Knackholzes aufstieg, dachte er an das Boot. Die
Spannten und Planken des stabilen Schiffes schienen
ihm angesichts der täglich dicker werdenden Eisdecke
zu dünn.
Das Boot war für ihn ein lebendiges Wesen, das Freude
und Schmerz empfinden konnte. Wenn sich im Sommer
die alte „Pirat" in den Wind gelegt hatte und am Bug
das Wasser zu schäumen begann, war Pianke häufig
mit der Hand über das Eichenholz gefahren, als wollte
er es streicheln. Jetzt, da die Eisdecke das Boot tödlich
bedrohte, glaube er manchmal, in Kälte und Dunkel­
heit die Stimme des Bootes zu hören, das in seiner Not
nach ihm rief.
Am Tage ging er der Eisdecke mit einem Beil zu Leibe.
Es war eine harte Arbeit, die Schweiß trieb. Manchmal
kam auch der Vater mit zum Steg, um sich Bewegung

135
zu ma_chen. Augenblicke, die Pianke herbeisehnte. End­
lich einmal mit dem Vater allein!
Vor Irma gab es keine Geheimnisse. Doch da waren Er­
lebnisse aus der Vergangenheit, als Piankes Mutter
noch lebte, die er nur mit dem Vater teilte. Die Erinne­
rungen zogen Fragen nach sich.
Wie war seine Mutter eigentlich gewesen? Hätte sie
sich in das illegale Leben eingefügt? Sie, die gern auf­
fällige Kleider trug und die sich zum Ärger des Vaters
merkwürdige, turbanartige Hüte auf den Kopf gesetzt
hatte.
,,Sie verstand nichts von Politik", sagte der Vater.
,,Doch sie besaß einen starken Sinn für Gerechtigkeit.
Sie haßte Brutalität und Unterdrückung."
Pia.nke war von der Antwort ein bißchen enttäuscht.
„Die meisten Menschen denken nicht über Politik
nach", fuhr der Vater fort. ,,Sie haben Hitler an die
Macht gelassen, weil sie nach der Arbeitslosigkeit und
all dem Elend vor neunzehnhundertdreiunddreißig ein
bißchen Sicherheit, ein bißchen Wohlstand und Ord­
nung wollten. Sie hielten Hitler für eine Art Zauberer,
für einen starken Mann. Jetzt, wo der Krieg beinahe
verloren ist, glauben viele immer noch, er würde ein
Wunder stattfinden lassen. Sie haben Angst vor der
Strafe."
,,Großvater auch?"
,,Der auch. Er hat als Eisenbahner gesorgt, daß die Ju­
dentransporte auch im richtigen Lager ankamen."
Pianke senkte den Blick: Der Großvater!

136
Strafe bedeutete für Pianke: In der Ecke stehen müs­
sen; Nachsitzen; Ohrfeigen oder Schläge mit dem
Rohrstock bekommen. Vor ihm tat sich ein merkwürdi­
ges Bild auf. - Der Großvater stand in der Ecke.
Herms lag bäuchlings über der Schulbank und bekam
den Rohrstock zu schmecken. Standartenführer
Schramm saß in der Schulbank und schrieb tausend­
mal: Ich will nie wieder Nazi sein. Nein, so würde die
Strafe wohl doch nicht ausfallen. Aber wie dann?
Der Vater wußte es nicht genau. ,,Einige wird man viel­
leicht erschießen. Andere einsperren. Aber es gibt kein
Lager, kein Gefängnis, in das ein Millionenvolk passen
würde."
,, Und wir? Wird man uns auch bestrafen?"
„ Wir werden wohl nach dem Zusammenbruch genauso
hungern wie alle. Und wir werden den Haß und die
Verachtung der anderen Völker mit tragen müssen."
Das fand Pianke ungerecht. ,,Vielleicht machen sie mit
uns eine Ausnahme", sagte er.
„Zerschlag du mal lieber das Eis, du Ausnahme", sagte
der Vater.
Er hatte den einäugigen Herms entdeckt, der sich ihnen
näherte. Merkwürdig, der Batlen, wie lrma ihn nannte,
hatte ein bißchen von seinem forschen Auftreten verlo­
ren. Statt des üblichen Heil-Hitler-Grußes hob er jetzt
nur stumm die Hand.
Piankes Vater, der sich sonst möglichst um den Hitler­
gruß herummogelte, rief dem Einäugigen ein zackiges
Heil Hitler entgegen.

137
Selbst Pianke schaute verwundert von der Arbeit auf.
,,Na, Herms", sagte der Vater, ,,ist Ihnen nicht wohl?
Sie sind doch sonst nicht so lahmarschig."
Herms winkte ab. ,,Bin beauftragt, hier den Volkssturm
auf die Beine zu stellen."
,,Ehrenvolle Aufgabe, Herms", sagte der Vater. ,,End­
lich dürfen die Männer, die aufgrund irgendwelcher
Kriegsverletzungen zurückgestellt wurden, auch mal
zeigen, daß sie bereit sind, für unseren Führer und fürs
Vaterland zu sterben."
Herms wußte nicht, wie er Piankes Vater verstehen
sollte. Meinte der das ernst, oder machte er sich über
ihn lustig? Seine Unsicherheit gebot ihm, das Gespräch
auf ein anderes Thema zu lenken. ,,Haben Sie neue
Nachrichten von der Front, Parteigenosse Krüger?"
,,Der Führer zieht in Erwägung, Warschau aus takti­
schen Gründen aufzugeben. Aber das ganz im Ver­
trauen!"
Herms stieß einen Pfiff aus.
„Nicht den Kopf hängenlassen, Herms! Der Führer
weiß schon, was er tut. Im Frühjahr trinken wir beide,
Sie und ich, zusammen eine Flasche echten russischen
Wodka. Und wissen Sie, wo? In Moskau!"
Herms sah Piankes Vater nochmals von der Seite an.
Jeder wußte in diesem Winter, daß der Traum von der
Eroberung Rußlands ausgeträumt war.
Piankes Vater behielt aber eine durch und durch ernste
Miene.
„Meinen Sie?" sagte Herms mit leichtem Zweifel in der

138
Stimme. ,,Vertrauen gegen Vertrauen. Hier in der Sied­
lung scheint sich eine Menge volksfeindliches Gelichter
herumzutreiben. Wir haben heute nacht Großalarm. Je­
der Winkel wird durchkämmt."
Pianke erschrak.
Der Vater zeigte nicht, daß ihn die Nachricht ebenfalls
traf. ,,Nur zu", sagte er, ,,fangt am besten bei meinem
Häuschen an, dann haben wir es hinter uns!"
Pianke verstand nicht, wieso der Vater so ruhig auf dem
Eis stand und sich unterhielt. Sie mußten sofort ab­
hauen!
,,Ihr Haus wird nicht berührt, Parteigenosse Krüger.
Das ist Ehrensache."
,,Werde mich erkenntlich zeigen, Herms", sagte der Va­
ter und schulterte die Axt.
Er ging ruhig an Land. Pianke holte ihn ein. Unwillkür­
lich beschleunigte er dabei seine Schritte.
„Langsam, langsam, wir haben doch Zeit", ermahnte
ihn der Vater.
Auf dem Weg zum Häuschen wollte Pianke mehrfach
fragen, was der Vater zu tun gedachte. Wenn er den
Mund aufmachte, bedeutete ihm der Vater zu schwei­
gen.
Erst kurz vor der Haustür sagte der Vater: ,,Wir reden
am besten vor Irma nicht darüber. Sie bekommt sonst
Angst."
,,Was werden wir tun?"
,, Nichts. Das ist am unverdächtigsten."
Sie gingen hinein.

139
Pianke hockte den ganzen Nachmittag im Hause und
litt unter der Last der Nachricht. Was taten sie, wenn
man ihr Haus doch durchsuchte? Würden die Ausweise
seines Vaters einer Kontrolle standhalten?
Der Vater packte ruhig seine Arbeitsmaterialien und
alle anderen belastenden Gegenstände in eine Kiste.
Das kleine holländische Radio, mit dem er die auslän­
dischen Sender hörte. Auch den „eisernen Gustav", ein
Gerät, mit dessen Hilfe man den Stromzähler rückwärts
laufen lassen konnte, legte er dazu. Sie mußten den
Zähler häufig zurückdrehen, denn die kleinen elektri­
schen Öfen verbrauchten viel Strom. Wer seine Strom­
zuteilung überzog, konnte zu Gefängnishaft verurteilt
werden.
Unklar war, wohin sie die Kiste bringen sollten, Vergra­
ben war unmöglich. Der Boden war gefroren.
,,Wir bringen die Kiste aufs Boot", sagte Pianke.
,,Wenn man sie dort findet, sind wir dran."
Pianke schwieg ratlos. Irma hatte sie schon eine Weile
mißtrauisch beobachtet. Jetzt sagte sie: ,,Meine Oma
aus Jehupetz hat mir Geschichten von Taschendieben
aus Munkasch erzählt."
,,Laß uns bloß zufrieden mit deiner Oma aus Jehu­
petz", sagte Pianke.
Aber Irma ließ sich nicht beirren. ,,Also, sie erzählte,
wenn einer der Taschendiebe etwas gestohlen hatte auf
dem Markt, dann versteckte er es bei einem Bauern im
Karren. Später, wenn die Gendarmen ihn durchsucht
hatten, holte er sich's. Manchmal fanden es auch die

140
Gendarmen, aber natürlich beschuldigten sie den Bau­
ern, versteht ihr."
,,Deine Geschichte kannst du andermal erzählen",
sagte Pianke.
Zu seinem Erstaunen widersprach der Vater: ,,Eine
gute Geschichte! Wir können die Kiste im Yachtclub
auf einer Kraft-durch-Freude-Yacht verstecken."
Da erst ging Pianke endlich ein Licht auf.
Bei Einbruch der Dunkelheit gingen sie los. Pianke
hockte mit der Kiste auf dem Schlitten. Es sah aus, als
wollten Vater und Sohn rodeln gehen.
Die Yachten standen aufgebockt im offenen Schuppen.
Der Vater kletterte auf eines der riesigen Boote und
hievte die Kiste mit einem Tau hinauf. Er befahl
Pianke: ,,Du stehst Schmiere! Wenn jemand kommt,
dann klopfst du dreimal an die Bordwand!"
Als der Vater im Innern der Yacht verschwunden war,
überfiel Pianke wieder die Beklommenheit, die er stets
in der Dunkelheit empfand. Zur Wetterseite hin hatten
sich an den Yachten Schneewehen gebildet, aus denen
Bootszubehör hervorragte. Von den Masten, die dicht
unter die Dächer gebunden waren, hing Tauwerk herab
und schaukelte im Winde. Gepolter drang aus dem In­
nern der Yacht.
Pianke mußte sich beherrschen, sonst hätte er womög­
lich wieder Gespenster gesehen. Er war froh, als der
Vater auf der breiten Reling der Yacht erschien und
heruntersprang. Sie wollten sich auf den Heimweg ma­
chen.

141
,,Wie heißt die Yacht?"
Der Vater ließ die Dynamotaschenlampe aufbeulen.
Der Lichtstrahl erhellte die Buchstaben „Götterdämme­
rung".
Das kurze Auflachen des Vaters blieb Pianke unver­
ständlich. ,,Götterdämmerung" hieß eine der Opern Ri­
chard Wagners, die Adolf Hitler so liebte.
Mit den Händen begannen sie, die Spuren hinter sich
im Schnee zu verwischen.
Im Häuschen erwartete sie Luise ungeduldig. Sie hatte
aus dem Wenigen, was lrma erzählen konnte, entneh­
men können, daß irgend etwas im Gange war.
Mit einem Seitenblick auf Irma sagte der Vater: ,,Ich
erzähl' s dir später."
„Ich möchte es jetzt erfahren. Und was Irma betrifft, sie
kann das mithören. Es betrifft offensichtlich uns alle."
Während der Vater erzählte, zeigte Irma Unruhe. Sie
rutschte auf dem Stuhl hin und her, versuchte dem Va­
ter mehrmals ins Wort zu fallen und stand schließlich
auf.
„Da hast du es", sagte der Vater zu Luise. ,,Ich wollte
sie nicht beunruhigen. Wenn es gut geht, hätte sie über­
haupt nichts geahnt."
„Ich habe keine Angst", sagte Irma mit tränenerstickter
Stimme. ,,Ich denke nur immer an die Taubstumme, die
ausländisch spricht."
So erfuhr Luise von den seltsamen Begebenheiten, die
Irma und Pianke mit der Taubstummen erlebt hatten.
,,Wer weiß, was mit dieser Frau los ist. Jedenfalls befin-

142
det sie sich jetzt in Gefahr. Wir werden sie hierher ho­
len", sagte Luise.
„Wegen dieser einen können wir nicht alle in Gefahr
bringen", erwiderte der Vater.
„Wir können sie nicht sitzenlassen", sagte Luise. Sie
nahm Bücher aus dem Bord. Dahinter lag die Pistole.
Irma ging einen Schritt rückwärts.
,,Keine Angst, die geht nicht von allein los", sagte Lui­
se. ,,Pianke soll mich zu dieser Taubstummen führen."
,,Das geht nicht", sagte der Vater.
,,Komm, Pianke !"
Pianke schüttelte den Kopf. Er würde sich nicht gegen
den Willen des Vaters stellen, obwohl es ihm richtig er­
schien, was Luise vorschlug.
Luise legte zögernd die Waffe zurück. Der Vater setzte
sich an den Schreibtisch und blickte ins Leere. Irma
und Pianke gingen in die Küche, um abzutrocknen.
Auch Luise folgte ihnen. Sie begann, das Abendbrot
vorzubereiten.
Pianke spürte, daß er mit Irma und Luise eine Gruppe
bildete, die sich gegen den Vater auflehnte. Sie spra­
chen nicht darüber, aber wenn ihre Blicke sich begegne­
ten, spürte er es. Vergeblich versuchte Pianke, sich ge­
gen das Gefühl des gegenseitigen Einverständnisses
aufzulehnen. Es war ihm unangenehm, auf Luises Seite
zu stehen.
Der Vater saß noch immer vor dem leeren Schreibtisch.
Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
,,Also gut", sagte er unvermittelt.

143
Sie wußten alle sofort, was er meinte. Schnell zogen sie
sich die Mäntel über.
,,Irma bleibt hier", befahl der Vater. Sie wollte sich da­
gegen auflehnen, aber der Vater schnitt ihr das Wort
ab: ,,Du bleibst bei mir!"
Die Siedlung lag in der Dunkelheit wie tot da.
Herms hatte nicht gesagt, wann sie mit dem Durchkäm­
men der Lauben beginnen würden. Aber gewöhnlich tat
man so etwas nachts oder im Morgengrauen. Wenn sie
allerdings Pech hatten, rannten sie den Nazis direkt in
die Arme.
Luise hatte den Revolver in die Tasche ihres grünen Lo­
denmantels gesteckt.
,,Kannst du überhaupt schießen?" fragte Pianke.
,,Hab's noch nicht probiert."
Die Häuschen hoben sich schwarz von den verschnei­
ten Gärten ab. Alle Häuschen sahen gleich aus. Sie
standen wie Soldaten in einer Linie ausgerichtet.
Pianke hatte Mühe, das Grundstück zu finden. ,,Ich
glaube, es ist hier", flüsterte er.
,,Was heißt, du glaubst?"
,,Am Tage sieht alles anders aus."
Luise schnaubte vor Wut. ,,Hätte ich mal Irma mitge­
nommen."
Pianke kletterte behende über das Gartentor. Er be­
mühte sich, von innen das Gatter zu öffnen. Es war je­
doch verschlossen.
,,Spar dir die Mühe."
Luise kletterte genauso geschickt wie er hinüber.

144
Ein schwacher Lichtschimmer drang durch die Verdun­
kelung des Fensters nach außen, aber man konnte nicht
hineinsehen. Pianke und Luise lauschten, ob sie durch die
Wände Stimmen vernehmen konnten. Tatsächlich hörte
Pianke ein paar Worte in jener unverständlichen Sprache.
,,Französisch", sagte Luise. ,,Das sind keine Spitzel."
Sie klopfte energisch an die Tür. Minuten vergingen.
Die Stimmen schwiegen. Sie klopften noch einmal.
Plötzlich stand ein Mann in der geöffneten Tür.
Pianke hatte ihn schon einige Male beim Kaufmann Pe­
termann gesehen. Er war ihm auch auf dem Schulweg
begegnet.
Der Mann stützte herausfordernd die Arme in die Hüf­
ten. Die Taubstumme hielt sich am anderen Ende des
Raumes auf, dort, wo der Durchgang zum Küchenver­
schlag sein mußte. Sie schaute ängstlich auf Luises Lo­
denmantel. So kleideten sich die Damen von der Nazi­
Frauenschaft.
,,Ich möchte einige Worte mit Ihrer Frau sprechen",
sagte Luise.
Der Mann zuckte die Achseln. ,,Sie ist taubstumm!"
„Vous n'avez pas besoin d'avoir peur. Je sais que vous
pouvrez parler, vous n'etes pas sourde-muette!" sagte
Luise. (Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich weiß,
Sie können sprechen. Sie sind nicht taubstumm!)
Die Frau schwieg nach wie vor.
Pianke fiel auf, daß sie dick geworden war. Unter ihrem
Wollkleid wölbte sich ein gewaltiger Bauch. ,,Licht
aus", sagte Pianke, ,,sonst kommt der Luftschutzwart."

145
Jetzt erst fiel der Blick der Frau auf ihn. Sie öffnete
überrascht den Mund. Offensichtlich hatte sie ihn er­
kannt. Sie ahnte, daß ihr Geheimnis verraten war.
Zur gleichen Zeit schaltete der Mann das Licht aus.
Pianke zog die Tür hinter sich zu. Luise tastete sich vor­
wärts. Sie stieß auf den Mann.
Eine Tür knallte zu. Als �as Licht wieder aufflammte,
war die Frau verschwunden. Offenbar gab es noch ei­
nen zweiten Ausgang.
Luise drehte sich um und wollte der Frau in den Garten
nachlaufen. Der Mann legte seine Arme um sie. Er hielt
sie fest.
„Hiergeblieben, meine Puppe", sagte er. Dabei drehte
er sich zusammen mit Luise um und lehnte sich mit
dem Rücken gegen die Tür. Ohne lange zu überlegen,
rannte Pianke zum Küchenverschlag. Tatsächlich exi­
stierte dort eine Tür nach außen. Sie war jedoch ge­
schlossen. Die Türklinke fehlte.
Luise hatte den Revolver gepackt und sagte: ,,Loslas­
sen!"
Der Mann wich zurück. ,,Schweine", sagte er.
„Begreifen Sie doch, wir wollen Ihnen helfen!" Sie
steckte den Revolver in die Manteltasche.
Der Mann betrachtete Luise eingehend. ,,Wer sind
Sie?"
„Das ist jetzt unwichtig. Heute nacht findet hier eine
Razzia statt. Holen Sie Ihre Frau, sonst läuft sie noch
denen in die Arme. Wir verstecken sie!"
Der Mann überlegte einen Augenblick. Offensichtlich

146
wußte er nicht, ob er ihnen trauen sollte. Plötzlich riß er
die Vordertür auf und rannte in die Dunkelheit hinaus.
Pianke und Luise blieben verdattert zurück.
Luise setzte sich schließlich in einen Sessel. ,,Hoffent­
lich ist der nicht auch getürmt", sagte sie.
Pianke musterte den Raum. Hier war es genauso eng
wie in ihrem Häuschen. Auch die Möbel glichen einan­
der. Ein großes Aquarium fesselte seine Aufmerksam­
keit. Da schwammen seelenruhig, von den Ereignissen
unberührt, die großen Segelfloßler hin und her.
Nach einiger Zeit sagte Pianke: ,,Vielleicht holt der die
Polizei?"
,,Sei kein Hasenfuß", sagte Luise, ,,der wird sich hü­
ten!"
Der Mann kam nach einer halben Stunde atemlos zu­
rück. Er war allein. ,,Ich finde sie nicht."
Luise schüttelte den Kopf. ,,Haben Sie für solche Fälle
nichts verabredet?"
,,Doch, sie soll sich im Wäldchen aufhalten."
Luise stand auf. ,, Wir werden zusammen auf die Suche
gehen."
Der Mann nickte und schaltete das elektrische Licht
aus. Dann verließen sie das Häuschen.
Das Wäldchen war etwa einen Quadratkilometer groß.
Ein unübersichtliches Gelände. Im Laufe der Jahr­
zehnte hatten die Menschen immer neue Wege durch
das niedere Gebüsch gebahnt. So war ein ganzes Netz
entstanden - Wege, die sich teilten und wenige Meter
weiter wieder zusammenführten.

147
Um die Autos daran zu hindern, die Siedlung zu durch­
fahren, hatte man auf dem Hauptweg drei Eisenträger
eingerammt. Sie waren an den oberen Enden durch ei­
nen vierten Eisenträger verbunden. Aus irgendeinem
Grund nannten die Bewohner der Siedlung dieses Ge­
stell den Galgen.
Luise blieb stehen. ,, Wir trennen uns am besten. Suchen
wir die Gegend in Richtung der Straßenbahn ab. Wer
sie findet, schlägt mit einem Stein an den Galgen. Das
ist weithin hörbar."
,,Gut", sagte der Mann.
Pianke hielt sich dicht an Luise.
„Du mußt dich weiter links halten, sonst finden wir sie
nie."
Gezwungenermaßen entfernte er sich von Luise. Schon
stürmte die ganze Gespensterplage wieder auf ihn ein.
Hinter jedem Gebüsch schien sich etwas zu bewegen.
In der Dunkelheit tauchten Gesichter auf, die hinter
den Bäumen hervorlugten. Unwillkürlich näherte sich
Pianke wieder Luise.
,,Weiter weg von mir!"
Plötzlich stand Pianke vor einem, wie ihm schien, riesen­
haften Kerl. Er wollte davonlaufen, da ertönte die Stimme
des Mannes der Taubstummen: ,,Immer noch nichts?"
,,Nein", sagte Pianke, ,,aber regen Sie sich nicht auf.
Wir finden sie."
Wieder stapfte er allein die verschneiten Wege entlang.
Gerade hatte er dem Mann gegenüber so getan, als
wäre er erwachsen. Und schon hatte er wieder Angst.

148
Vor ihm raschelte etwas. Jemand sprang hinter dem Ge­
büsch auf und rannte davon.
Pianke war einen Augenblick im Zweifel, ob es wirklich
die Taubstumme war. Dann nahm er sich zusammen
und lief hinterher. Luise war plötzlich neben ihm. Sie
rief der Laufenden nach: ,,Attendez, nous sommes vos
amis, attendez!" (Bleiben Sie stehen, wir sind Ihre
Freunde, bleiben Sie stehen!)
Die Frau aber rannte, als gelte es ihr Leben. Erst nach
einigen hundert Metern blieb sie stehen und krümmte
sich zusammen.
Pianke und Luise holten sie endlich ein. Irgend etwas
blinkte in der Hand der Frau.
Pianke beugte sich vor, um besser zu sehen. Er richtete
sich jedoch sofort wieder auf. ,,Sie hat eine Pistole."
Da warf die Frau den Gegenstand fort. Pianke hob ihn
auf und begriff, daß es nichts anderes war als die Tür­
klinke, die er am Hinterausgang des Häuschens vergeb­
lich gesucht hatte.
,,Was wollen Sie von mir", sagte die Frau mit französi­
schem Akzent, schweratmend. ,,Was geht es Sie an, daß
ich ein Kind bekomme."
„Kommen Sie, Ihr Mann wartet", sagte Luise und
hakte sich bei der Französin ein.
Widerstrebend ließ sie sich zurück in Richtung Galgen
führen.
,,Sie sind Fremdarbeiterin?"
,,Zwangsarbeiterin", erwiderte die Französin trotzig.
Sie blieb wieder stehen und krümmte sich.

149
,,Haben Sie Schmerzen?"
Sie antwortete nicht, ging aber unvermittelt weiter.
„Die Arbeit bei Siemens ist eine Scheißarbeit", rief sie
zusammenhanglos.
,,Sie sind weggelaufen?"
Die Französin schrie Luise an: ,,Was sollte ich machen,
wo ich das Kind von einem Deutschen habe! Sie hätten
das Kind getötet!"
,,Leise! Sprechen Sie leise!"
„Es kann jeder hören, welche Schweine die Deutschen
sind. Ist jetzt sowieso egal!"
,,Sie sind bei Freunden", sagte Luise.
,,Bei Freunden?"
Plötzlich flüsterte die Französin: ,,Nicht verhaftet?"
,,Nein."
,,Aber Sie tragen so einen Mantel wie alle Nazi­
frauen ..." Wieder blieb sie stehen und krümmte sich.
Sie warteten ein Weilchen, bis sich die Französin wie­
der erholt hatte, und schleppten sie weiter zum Galgen.
Pianke schlug mit einem Stein heftig gegen die Eisen­
träger. Bei jedem Schlag entstand ein kurzes, helles Ge­
räusch.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Der Mann trat aus
dem Gebüsch. Die Französin rannte ihm entgegen und
umarmte ihn.
Luise drängte zur Eile.
Vor dem Gartentor blieb der Mann mit der Französin
stehen. ,,Sie haben uns reingelegt", sagte der Mann hef­
tig. ,,Hier wohnt einer von den Fotografen des Führers."

150
,,Pst!" machte Luise und schob die beiden in den Gar­
ten.
Irma, die ungeduldig auf der Lauer gelegen hatte, öff­
nete die Tür von innen.Sie tappten in die Finsternis des
Zimmers. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen
hatte, flammte das Licht auf. Die Neuankömmlinge
blinzelten.
Luise deutete spöttisch auf Piankes Vater und sagte:
,,Da, der Leibfotograf des Führers."
Die Französin krümmte sich wieder.
,, Was ist los?" wollte der Vater wissen.
,,Sie bekommt ein Kind", sagte Luise.
,,Du lieber Himmel! Haben Sie gültige Papiere?"
„Ja, ich habe welche", sagte der Mann. .,Mein Name ist
Hermann R ..."
Der Vater unterbrach ihn: ,,Namen tun hier nichts zur
Sache. Warum sind Sie nicht Soldat?"
,,Ich arbeite bei Siemens. Kriegswichtiger Betrieb!"
,,Hat Ihre Freundin Papiere?"
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Ins Krankenhaus können Sie Ihre Freundin mit der
Taubstummenmasche und ohne Papiere nicht bringen",
sagte der Vater.
„Oh, oh, oh ...", stöhnte die Französin. ,,Die Zeit ist
noch nicht ran, erst im nächsten Monat kommt das
Kind."
,,Vielleicht kommen die Schmerzen nur von der Aufre­
gung, vom Rennen, Elsa ... "
Luise half der Frau, sich auf dem Bett auszustrecken.

15 l
,,Oh, Mama, Mama", jammerte die Französin.
„Die kann Ihnen nicht helfen", sagte Luise. ,,Wie sind
Sie überhaupt nach Deutschland gekommen? Man
sagt, die Franzosen melden sich freiwillig."
Die Französin lachte bitter. ,,Freiwillig ... Ich bin mit
einer Freundin ins Kino gegangen. Einen französischen
Liebesfilm, aber wir konnten das Ende nicht sehen,
weil die Deutschen eine Razzia machten. Alle ledigen
Frauen zwischen einundzwanzig und fünfundzwanzig
Jahren wurden auf Lastwagen verladen und zum Bahn­
hof gefahren. Ohne Mantel, ohne Koffer hat man uns
nach Deutschland gebracht zur Arbeit. Die Alice,
meine Freundin, ist entkommen. Jetzt ist sie bestimmt
bei der Resistance."
„Wir haben uns in der Fabrik kennengelernt", sagte der
Mann. ,,Ich bin Vorarbeiter."
,,Wenn sie herausbekommen hätten, daß wir uns lieben,
hätten sie mich in eine andere Stadt gebracht", sagte
ste.
„Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie sie sich
zwölf Stunden an der Maschine abquälen muß und
dann in eine dieser verlausten Massenunterkünfte
schleppt."
,,Wir hatten es besser als die Russen oder die Polen ... "
,,Schlimm genug", sagte der Mann.
,,In einigen Tagen werden Sie Ausweispapiere haben",
sagte der Vater.
Die Französin krümmte sich wieder.
Piankes Vater stand auf, musterte die Bücher in der Re-

152
galwand und griff eines heraus. Der Titel lautete:
Schwangerschaft, Geburt und die ersten Wochen.
,,Merkwürdig", sagte er, ,,Schmuckstein, dem das Häus­
chen mitsamt der Einrichtung gehört, hatte überhaupt
keine Kinder."
,,Vielleicht wünschte er sich welche", sagte Irma.
Die Französin lächelte ihr zu: ,,Du bist ein kluges, hüb­
sches Mädchen."
Irma wurde über und über rot.
,,Ich bin sehr, sehr dumm", fuhr die Französin fort,
,,sonst hätte ich von dir und deinem Bruder nicht ge­
glaubt, ihr könntet mich verraten."
„Man muß die Zeitabstände der Wehen messen", sagte
der Vater, vom Buch aufschauend.
Luise hatte die Luftmatratze in den Küchenverschlag
gebracht und pumpte sie auf. Dort sollten Irma und
Pianke die Nacht verbringen.
„Ich kann doch nicht mit einem Mädchen zusammen in
einem Bett ..."
,,Hab dich nicht so", schnitt ihm Luise das Wort ab.
Zuerst rempelten sie sich gegenseitig von der Matratze.
Dann fanden sie irgendwie eine Möglichkeit zu liegen.
Die Stimmen hinter dem Vorhang im Wohnraum schlä­
ferten sie allmählich ein.Ab und an stöhnte die Franzö­
sin noch, aber es schien ihr besser zu gehen.
Pianke wurde durch einen Schmerz in der Seite wach.
Erst nach und nach begriff er, daß sich Irma an ihm
festgekrallt hatte.
,,Das tut weh, das tut weh ...", jammerte sie.

153
„Du tust mir weh!" schimpfte Pianke und drehte sich
schlaftrunken um.
,,Hörst du nicht, die Französin?"
Pianke vernahm das Brummen der Motoren in der Luft
und die böllernden Schüsse der Flugabwehrgeschütze.
Das war nichts Besonderes. Dann drang ein Schrei zu
ihm, der gleich wieder unterdrückt wurde.
Von nebenan aus dem Raum hörte er aufgeregtes Flü­
stern. Dann wieder ein Schrei. Luise kam in den Kü­
chenverschlag, machte einen langen Schritt über die auf
der Luftmatratze Liegenden und wollte Wasser auf der
elektrischen Kochplatte erwärmen.
,,Stirbt die Französin?" fragte Irma.
,,Ach, Unsinn", sagte Luise. ,,Kinderkriegen tut ein biß­
chen weh. Nur gut, daß wir Fliegeralarm haben, sonst
könnte sie noch jemand hören."
Luise verschwand wieder hinter dem Vorhang.
Ein neuer Schrei.
Als er verebbt war, flüsterte Irma: ,,Ich will nie ein Kind!"
Der Vater kam in den Küchenverschlag und zündete
sich, ohne die beiden zu beachten, eine Zigarette an.
Pianke sah, wie er die Verdunklung am Fenster ein we­
nig zur Seite schob und hinaussah. Über der Stadt
kreuzten sich die Strahlen der Scheinwerfer.
Als Eisa wieder schrie, preßte der Vater die Stirn an die
Fensterscheibe. Kurze Zeit später stürzte Luise in den
Verschlag, um das Wasser zu holen.
,,Mach die Zigarette aus!" fauchte sie den Vater an.
,,Was seid ihr Männer doch für Schlappschwänze!"

154
Sie eilte mit dem Wassertopf ins Zimmer. Der Vater
folgte ihr hilflos.
Dann kam wieder ein Schrei. Aber diesmal wurde der
Schrei von einem dünnen Stimmchen getragen.
Irma drückte Pianke vor Freude an sich. ,,Hörst du, es
ist das Kind!"
Pianke wollte es zunächst nicht glauben. Aber es war
unverkennbar die Stimme eines Babys.
Aus der Ferne hörten sie die Entwarnungssirene.
Pianke dachte, wie nach jedem Fliegerangriff: Hoffent­
lich haben sie die Schule erwischt!

Irma stand leise von der Luftmatratze auf.


,, Wohin willst du?"
,,Ich will das Kind sehen!"
Pianke blieb zunächst liegen, weil ihn das Kind nicht so
recht interessierte. Er wollte vor allen Dingen schlafen.
Aber dann siegte doch die Neugierde. Sie schlichen

155
barfuß durch den Küchenverschlag und drückten den
Vorhang zur Seite.
Luise badete das Kind in der Waschschüssel. Dann hob
sie es empor, um es abzutrocknen. Sie sahen es einen
Augenblick ganz genau. Pianke schloß die Augen. Das
sollte ein Kind sein! Er hatte ein hochrotes gekrümmtes
Etwas mit einem zerfurchten Gesicht gesehen.
Es ekelte ihn. Als er die Augen wieder öffnete, war das
Kind in das Handtuch gewickelt. Jetzt aber nahm er die
anderen Umstände des Zimmers wahr. Auf dem Fuß­
boden lagen blutige Tücher. Der Mann hielt die Hand
der Französin und streichelte sie. Ihr Gesicht war ver­
ändert, als sei sie in den wenigen Stunden gealtert. Die
Haare klebten in dem verschwitzten Gesicht, und der
Atem ging stoßweise.
Sie erkannte die Kinder und nickte ihnen zu. Ihr Mund
öffnete sich wie zum Sprechen, aber sie brachte keinen
Ton hervor. Vor Kraftlosigkeit konnte sie nicht spre­
chen.
Der Vater wies die Kinder mit einer unwirschen Ge­
bärde in den Küchenverschlag. Noch lange klang die
Aufregung in Pianke nach und ließ ihn nicht einschlafen.
Als Luise ihn am Morgen weckte, glaubte er, erst vor
wenigen Minuten eingeschlafen zu sein. Alle, bis auf
das neugeborene Mädchen, waren wach. Die Nacht
hatte Spuren auf ihren Gesichtern hinterlassen. Nur die
Französin war aufgeblüht und hatte ihre Sprache wie­
dergefunden.
Hermann, ihr Freund, kam von einem Rundgang. Er

156
berichtete, daß man sein Häuschen aufgebrochen und
durchsucht , hatte. ,,Sie glaubten wahrscheinlich, wir
sind zur Nachtschicht gewesen."

Pianke kam es seltsam vor, daß er am Vormittag wieder


in der Schule saß und unter Oppermanns Aufsicht end­
lose Zahlenkolonnen addierte. Wahrscheinlich hatte
keiner der Jungen aus seiner Klasse je so etwas erlebt.
- Nur schade, Pianke durfte mit niemandem darüber
sprechen.
In der Dunkelheit der nächsten Nacht brachte Luise
Eisa und das Kind zurück in Hermanns Holzhäuschen.
Pianke und der Vater holten die Kiste von der „Götter­
dämmerung". Und wenige Tage später besaß die Fran­
zösin mit ihrem Kind gültige Papiere.
Beim Eishacken traf Pianke den einäugigen Herms.
,,Der Klapperstorch hat der Taubstummen ein Baby ge­
bracht", erzählte der Herumlungerer. ,, Und man soll's
nicht für möglich halten, das Kind schreit wie ein rich­
tiger Mensch."

Wenn Pianke auf dem Eis des Sees stand, kam manch­
mal aus der Feme ein Grollen, das lauter wurde und ge­
nauso schnell wieder abebbte. Die Eisfläche hatte dann
einen Sprung mehr. Doch Tauwetter kündigten diese
Risse nicht an. Vielmehr waren sie die Folge des star­
ken Frostes.
Das Boot widerstand den ganzen langen Winter dem
Druck des Eises.

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Eines Morgens stand die gesamte Eisfläche einige Zen­
timeter unter Wasser. Es fing an zu tauen.
Nun erst glaubte Pianke, daß das Boot den Frühling er­
leben würde.
Eine neue Plage kam heran. Das Hochwasser. Von
Stunde zu Stunde stieg der Wasserspiegel des Sees.
Schon bald stand der Steg, an dem das Boot festgebun­
den war, unter Wasser. Pianke mußte die Festmacher­
leinen verlängern, damit sie nicht zerrissen. Der See be­
gann das Gelände des Yachtclubs zu überschwemmen,
nahm auch Besitz von den Gärten und überflutete so­
gar den Hauptweg der Siedlung.
Vorsorglich hatte man die Holzhäuschen auf Stelzen ge­
baut. Wenn auch das Wasser nicht bis zu den Türschwel­
len anstieg, so wurde doch in den Häusern alles klamm.
Piankes Hemd fühlte sich morgens an wie ein Handtuch,
das viele benutzt hatten.
Nach der Winterstille kam wieder Bewegung in die
Siedlung. Man begann aus Gerümpel Stege zu bauen,
um trockenen Fußes aus dem Haus zu kommen. Man­
che Leute fuhren auch mit dem Paddelboot zum Kauf­
mann. Pianke dichtete sich einen großen Einmachtopf
notdürftig ab und benutzte ihn als Boot. Was störte ihn,
daß sich sein Schiff bei jedem Schlag mit dem Paddel
mehrmals um sich selbst drehte!
Manchmal hingen Irma und Pianke mit den Oberkör­
pern aus dem geöffneten Fenster, durch das die Früh­
lingsluft hereinströmte, und starrten auf das Wasser, in
der Hoffnung, einen Hecht zu erblicken.

159
Dann ging das Hochwasser zurück, genauso schnell,
wie es gekommen war. Die Gärten der Siedlung hatten
sich inzwischen mit einem zarten Grün überzogen.
Eines Nachts weckte der Vater Pianke. Luise stand am
geöffneten Fenster und lauschte angestrengt in die
Nacht hinaus. Der Vater führte Pianke zum Fenster.
,,Hörst du es?"
,,Die Flak?"
,,Nein, es ist die russische Artillerie! Endlich", sagte er.
Am nächsten Morgen brauchte Pianke nicht mehr in
die Schule zu gehen.
Zu Beginn des Monats Mai berichtete der Großdeut­
sche Rundfunk, der Führer sei den Heldentod gefallen.
Der Vater nahm die Nachricht zunächst gelassen hin.
,,Nun bin ich wohl als Leibfotograf des Führers arbeits­
los", sagte er.
Aus dem Radio ertönte Wagnermusik.
Plötzlich sprang der Vater auf, packte Pianke und be­
gann, viel schneller, als der Rhythmus der Musik es ver­
langte, zu tanzen. Es war ein komischer Tanz. Pianke
wurde von der Fröhlichkeit des Vaters angesteckt und
riß auch Irma mit sich. Irma packte wiederum Luise.
Sie tobten durch das Holzhäuschen. Tisch und Stühle
fielen um.
Schließlich blieben sie atemlos stehen.
,,Noch ist der Krieg nicht aus", sagte Luise. ,,Die klei­
nen Hitler können noch viel Unheil anrichten."
,,Herms mit seinem Volkssturm", sagte Pianke.
Öfter schon hatte er den Einäugigen mit einer seltsa-

160
men Schar alter und invalider Männer durch das Wäld­
chen schleichen sehen. Sie buddelten Gräben, warfen
hölzerne Übungsgranaten oder zielten mit Panzerfaust­
attrappen.
,,Man müßte wissen, was sie vorhaben", sagte der Va­
ter.
Der Vater wollte im Wäldchen spazierengehen. Viel­
leicht konnte er in Erfahrung bringen, was die Nazis
planten.
,,Zu gefährlich", sagte Luise. ,,Sie halten jetzt jeden Zi­
vilisten für einen Deserteur. Da nutzen keine Bescheisi­
gungen und Ausweise. Sie hängen die Leute am näch­
sten Baum auf. Aber wenn wir beide, Pianke und ich,
gehen ..."
Pianke war sofort einverstanden. Es war ja heller Tag!
Luise steckte die Pistole vorsichtshalber in ihren Lo­
denmantel.
Sie gingen los, als wollten sie zur Stadt. Durch die Kie­
fernstämme des Wäldchens schien die Sonne. Die Vögel
zwitscherten. Dabei hörte man Gefechtslärm, Heulen
der Granaten, Einschläge, Motorengeheul der Panzer.
Ab und zu tackte ein Maschinengewehr.
In der Nähe der Straßenbahnhaltestelle ragten hinter
Erdwällen Geschütze empor.
Ein Mann in SS-Uniform trat ihnen mit einer Maschi­
nenpistole entgegen. ,,Hier ist gesperrt. Verteidigungs­
linie!"
,,Wir wollen zur Straßenbahn", sagte Luise.
„Der Betrieb ist vorübergehend eingestellt. Die Straße
steht unter Beschuß. Suchen Sie lieber einen Splitter­
graben auf!"
Sie gingen eilig durch den Wald zurück.
,,Wenn die hier die Helden spielen, bleibt von der Sied­
lung nicht viel übrig", sagte Luise.
Auf dem Rückweg hörten sie etwas Wimmern. Sie blie­
ben stehen und lauschten.
,,Schrecklich!"
,, Los, in diese Richtung", sagte Luise.
Hinter einem Gebüsch fanden sie einen Schäferhund.
Er versuchte, sich mit eingeknickten Beinen wegzu­
schleppen.
Pianke riß entsetzt die Augen auf. Aus dem Leib des
Hundes quollen Därme. Der Hund blickte sie an und
winselte.
,,Weiter!" sagte Luise.
,,Aber wir müssen dem Hund doch irgendwie helfen!"
,,Wie? Den hat ein Granatsplitter getroffen."
,,Erschieß ihn!"

162
Luise sah sich um und vergewisserte sich, daß sie unbe­
obachtet waren. Langsam nahm sie die Pistole aus der
Manteltasche, entsicherte sie und drückte mit ausge­
streckten Armen und geschlossenen Augen auf den
Hund ab.
Vergeblich wartete Pianke auf den Knall.
Luise drückte nochmals ab. Nichts geschah.
,,Schieß doch endlich!"
Der Hund wimmerte.
„Schietpistole", sagte Luise und steckte sie wieder in
die Manteltasche. ,,Such mir einen Knüppel!"
Sie begannen fieberhaft nach einem Knüppel Ausschau
zu halten. Der Wald war jedoch nach diesem harten
Winter wie ausgefegt. Die Siedler hatten das Knackholz
in ihren Kanonenöfen verheizt.
Endlich fand Pianke einen verrosteten eisernen
Zaunpfahl. Luise holte mit dem Eisen weit aus. Pianke
sah weg. Er hörte, wie der Hund aufschrie, weiterwin­
selte, wieder aufschrie.
,,Verdammt", hörte er Luise keuchen.
Dann kam wieder das dumpfe Aufschlagen des Ei­
senpfahls. Endlich war es still.
,,Komm", sagte Luise.
Benommen ließ er sich mitziehen. Erst im Häuschen
kam er zu sich. Es ist schrecklich, zu töten, dachte er.

Luise warf die Pistole auf den Tisch. ,,Sie funktioniert


nicht."
Der Vater nickte. ,,Ich weiß."

163
,, Und du schickst mich mit diesem Ding los!"
,,Sie hat dir doch ein sicheres Gefühl gegeben, oder?"
Luise erzählte, was sie im Wäldchen erlebt hatten.
Der Vater wiegte nachdenklich den Kopf. ,,Die SS wird
bis zum letzten Mann kämpfen. Die haben Angst, daß
man sie für die Verbrechen zur Rechenschaft zieht. Wir
müssen hier raus!"
Die Siedlung grenzte an Sumpfwiesen. Nach der Früh­
jahrsüberschwemmung war es unmöglich, in dieser
Richtung zu entkommen. Zur Straße hin hatte sich die
SS eingegraben. Blieb nur noch der See als Fluchtweg.
Aber der See barg unbekannte Gefahren.
,,Wahrscheinlich ist es am sichersten, hierzubleiben!"
sagte der Vater.
An diesem Tag und in der Nacht geschah nichts Außer­
gewöhnliches. Nach und nach hatten Pianke und Irma
sich an die drohende Gefahr gewöhnt und waren ihren
üblichen Beschäftigungen nachgegangen.
Am nächsten Morgen stand Herms vor der Tür. Er
schien sehr aufgeregt.
Der Vater ließ ihn eintreten.
,, Wir haben Spione in der Siedlung", sprudelte er her­
vor. ,,Die Taubstumme hat zu ihrem Kind geredet, und
zwar französisch!"
Der Vater schüttelte ungläubig den Kopf. ,,Lieber
Mann, wie kann eine Taubstumme französisch spre­
chen?"
„Ich hab es gehört, verlassen Sie sich drauf. Sie ist eine
Spionin, die unschädlich gemacht werden muß!"

164
Der Vater bot Herms eine Zigarette an. Der steckte sie
in Brand, und Pianke entdeckte dabei, daß seine Finger
zitterten.
lrma ging zur Tür. Der Vater begriff, was sie tun wollte.
Es hatte keinen Sinn, Elsa zu warnen. Sie konnte ja
nicht fliehen. ,,Bleib hier", sagte er kurz.
Unentschlossen blieb sie an der Tür stehen.
Der Vater sagte langsam, Wort für Wort betonend, zu
Herms: ,, Überlegen Sie ganz genau. Wollen Sie sich in
letzter Minute noch die Finger blutig machen?"
„Sie kennt jeden von uns", sagte Herms. ,,Sie weiß, was
ich für ein Amt hier hatte. Sie weiß auch, daß Sie für
den Führer direkt gearbeitet haben. Sie wird uns an den
Galgen bringen!"
„ Über meinen Hals brauchen Sie sich keine Gedanken
zu machen!"
,,Ich mach mir die Finger an so was nicht schmutzig",
sagte Herms. ,,Wir übergeben sie der SS. Die wird
schon wissen, was mit einer Spionin zu tun ist."
,,Ohne mich, mein Lieber", sagte der Vater.
Herms drückte die Zigarette aus und straffte sich. ,,Da
Sie zu keiner Wehrmachtseinheit gehören, unterstehen
Sie ab sofort dem Volkssturm. Sie werden nach meinem
Befehl handeln!"
,,Das glaub ich kaum", sagte der Vater. Er hatte die Pi­
stole in der Hand.
,,Sie werden sich dafür verantworten müssen, Krüger."
,,Setzen!"
Herms ließ sich wieder auf den Stuhl zurückfallen. ,,Sie

165
können mich nicht festhalten. Wenn meine Leute im
Yachthafen fertig sind, dann kommen sie hierher."
„Was zum Teufel will der Volkssturm im Yachthafen
verteidigen?"
Herms konnte seine Schadenfreude nicht verbergen.
„Meine Leute zertrümmern die Yachten, damit sie dem
Feind nicht in die Hände fallen. Auch Ihre, Krüger!"
Der Vater sprang jetzt auf. ,,Los, kommen Sie mit, wir
gehen zum Yachthafen. Mein Boot lassen Sie in Frie­
den!"
Herms erhob sich schwerfällig. Er zuckte mit den Ach­
seln. ,,Wenn's noch nicht zu spät ist."
An der Tür sagte der Vater zu Luise: ,,Hol Hermann
und die Französin."
Als Herms und der Vater gegangen waren, sagte Luise:
„Jetzt sitzen wir in der Tinte! Pianke, lauf dem Vater
unauffällig nach und laß uns wissen, was geschieht."
Pianke holte sie schnell ein.
Herms gehorchte dem Vater - aber mit einer Pistole,
die nicht schoß, würde er nicht den Volkssturm außer
Gefecht setzen können.
Am Eingang des Yachthafens hörten sie schwere Axt­
hiebe. Jedoch war niemand zu sehen. Pianke entdeckte
ein großes Leck im Boden der aufgehackten Yacht
,,Götterdämmerung".
Die Axthiebe kamen von der „Pirat". Die Plane war zu­
rückgeschoben. Die Bodenbretter lagen auf den Bän­
ken der Plicht.
,,Aufhören!" schrie der Vater.

166
Heinz Schramm tauchte auf. Sie sahen die Axt in seiner
Hand.
Herms blickte sich unsicher um. Offensichtlich hoffte
er auf Hilfe. ,,Wo sind die anderen?"
,,Abgehauen, die Schweine! Einfach abgehauen",
brüllte Heinz.
Auf dem Gesicht des Einäugigen spiegelte sich Rat­
losigkeit. Heinz benutzte die Pause, um sich den
Schweiß vom Gesicht zu wischen.
,,Endlich Verstärkung", sagte er. ,,Die Axt ist stumpf,
und die Planken scheinen aus Steineiche zu sein. Wol­
len Sie mal selbst? Ist doch Ihr Kahn!"
Er kam dem Vater mit der Axt die Reling entgegen. Der
nahm sie ihm aus der Hand.
„Jetzt machen wir erst mal Pause", sagte er ruhig. ,,Sieh
mal in der Plicht nach, Junge. Da muß noch eine Pulle
mit einem Rest Schnaps sein. Den gießen wir uns erst
mal hinter die Binde, wär doch schade drum."
An Herms gewendet, fuhr er fort: ,,Wollen Sie eine Ex­
traeinladung?"
Ungeschickt bestieg Herms das Boot, während Heinz
nach hinten turnte, ohne zu bemerken, daß Herms un­
ter Zwang handelte.
,,Mensch, Pianke", rief Heinz und winkte zum Steg her­
über.
Pianke blieb stur. Er winkte nicht zurück. Den ganzen
Winter hatte er gegen das Eis gekämpft, damit es das
Boot nicht erdrückte. Und jetzt wollte dieser Schramm
es durch ein paar Axtschläge vernichten!

167
,,Hol die anderen. Beeile dich!" sagte der Vater zu ihm.
Pianke hatte begriffen, daß das Ganze, was ihm bisher
beinahe wie ein abenteuerliches Spiel vorgekommen
war, bitterer Ernst war. Es ging um das Leben der Fran­
zösin, um das Leben des Vaters, vielleicht um sein eige­
nes. Er rannte.
Auf halbem Wege kamen sie ihm schon entgegen: Lui­
se, Irma, Elsa mit dem Kind auf dem Arm. Hermann
fehlte.
„Er ist von der Arbeit noch nicht zurückgekehrt", sagte
die Französin.
,,Alles in Ordnung?" fragte Luise.
Pianke nickte.
Es sah von ferne so aus, als wollten die drei auf der „Pi­
rat" wie in Friedenszeiten ein Schwätzchen tun.
Herms trank, vor Aufregung schwitzend, den letzten
Schluck aus der Flasche.
,,So, Herms, und nun unter Deck! Und du auch,
Junge", sagte der Vater.
,, Was ist eigentlich los?" fragte Heinz.
Er war plötzlich mißtrauisch geworden.
Der Vater ließ die Pistole sehen.
„Verrat?" Heinz wandte sich zweifelnd mal zu Piankes
Vater, mal zu Herms.
,,Du bist doch ein leidenschaftlicher Segler, wir se­
geln", sagte der Vater. ,,Also mach, daß du unter Deck
kommst."
,, Nicht mit mir", sagte Heinz.
Er wollte sich, ungeachtet der Waffe, auf Piankes Vater

168
stürzen. Herms hielt ihn jedoch von hinten fest und
zerrte ihn in die Kajüte.
,,Begreifst du nicht, der hat eine Pistole."
Heinz versuchte, sich gegen Herms zu wehren. Der
hatte ihn aber fest im Griff.
Im Grunde schien Herms nicht unglücklich zu sein. Es
war ihm lieber, Befehle zu empfangen, als selbst welche
zu geben.
,,Sie haben begriffen", sagte der Vater zu Herms.
Luise und Irma halfen Eisa auf das Boot. Sie balan­
cierte mit dem Kind im Arm die Reling entlang.
Der Vater machte eine einladende Geste zur Kajüte
hin. Die Französin erstarrte, als sie Herms entdeckte.
„Mistvieh", schleuderte sie ihm entgegen. ,,Sie haben
geglaubt, ich höre nicht. Aber ich habe alle Schweine­
reien verstanden, die Sie mir am Gartenzaun zugerufen
haben. Alles habe ich verstanden!"
Sie setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite der
Koje. Heinz versuchte noch immer, sich aus dem Arm
von Herms zu befreien. Es war unklar, ob die Röte im
Gesicht des Einäugigen von seiner Verlegenheit oder
von der Kraftanstrengung kam. Luise ließ sich vom Va­
ter die Pistole geben und setzte sich neben Eisa.
Der Vater schickte auch Irma in die Kajüte. ,,Wir wol­
len möglichst wenig auffallen", sagte er.
Es klang ein wenig seltsam - ein Segelboot mitten im
Krieg. Wie sollte das nicht auffallen!
Pianke verheißte das Großsegel. Es stieg wie eine weiße
Fahne am Mast empor.

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Lautlos stieß das Boot vom Steg ab und glitt auf den
kleinen Stößensee. Bange blickte der Vater der riesigen
Straßenbrücke entgegen, die sie passieren mußten.
Die Brücke war so hoch, daß die „Pirat" mit aufgestell­
tem Mast hindurchkam.
Die Straße war leer.
Als sie unter der riesigen Eisenkonstruktion entlangglit­
ten, entdeckte Pianke die Sprengkammern.
„Hoffentlich sprengen die nicht gerade jetzt die
Brücke!"
Der Vater deutete in die Kajüte und legte den Finger
auf den Mund.
Hinter der Brücke atmete Pianke befreit auf.
Plötzlich tauchten Männer in blauen Monteuranzügen
auf. Sie bewegten sich vorsichtig durch das Gebüsch
am Ufer. Die Männer waren unbewaffnet.
Erst ein paar hundert Meter weiter begriff Pianke alles.
Dort lag halb gekentert eine Spreezille am Ufer. Män­
ner in Uniform gingen auf das Schiff. Andere verließen
es in den blauen Monteuranzügen. Wahrscheinlich be­
stand die Ladung aus Monteuranzügen.
Irgend etwas platschte ins Wasser.
„Sie werfen die Waffen weg", sagte der Vater. Er
steuerte das Boot dichter zum Ufer. Die Männer be­
trachteten das Segelboot mißtrauisch.
In Rufweite legte der Vater die Hände wie einen Trich­
ter an den Mund: ,,Vorsicht - SS!"
Die Männer blieben stehen, dankten durch Winken
und gingen dann in entgegengesetzter Richtung davon.

170
Aus der Kajüte kam die wütende Stimme von Heinz:
,,Man müßte sie alle aufbängen! Und euch mit!"
Herms holte aus und schlug Heinz ins Gesicht. ,,Das
haben wir alles nur diesen Goldfasanen wie deinem Va­
ter zu verdanken", sagte Herms. ,,Die Großen haben
uns reingeritten. Und wir müssen es ausbaden."
Plötzlich wandte er sich an Piankes Vater: ,,Ich habe
immer gewußt, was Sie für einer sind. Ich habe Sie
nicht verraten. Vergessen Sie das nicht."
,,Sie mieser kleiner Feigling", sagte Eisa. ,,Plötzlich ha­
ben Sie Angst, daß es Ihnen an den Kragen geht."
,,Glauben Sie mir, ich hatte nie etwas gegen die Franzo­
sen. Die Franzosen sind ein Kulturvolk, ganz anders als
die Russen ..."
,,Halt dein Maul", sagte die Französin. ,,Ich habe gese­
hen, wie ihr die russischen Kriegsgefangenen behandelt
habt."
„Aber ich doch nicht", beteuerte Herms. ,,Ich war nur
ein kleiner Mitläufer."
,,Ein Nazi!"
„Nur weil ich gegen die Juden war. Die haben uns doch
ausgebeutet. Ich habe bei einem jüdischen Konzern ge­
arbeitet. Einen Hungerlohn haben die gezahlt ..."
,,Ich kenne den Hungerlohn von Siemens", sagte Eisa.
,,Oder ist das auch ein jüdischer Konzern?"
Herms senkte den Blick.
Plötzlich erfüllte ein Pfeifen die Luft. Eine Granate
gmg in der Nähe nieder. Unwillkürlich duckten sich
alle.

171
„Das sind Unsere", sagte Heinz. ,,Die werden euch in
Stücke reißen!"
Einen Moment schlingerte das Boot. Dann nahm es sei­
nen alten Kurs wieder auf.
Piankes Vater brüllte in die Kajüte: ,,Singen müssen
wir, das verwirrt sie."
Luise und Irma sangen sofort mit.
Die Französin kannte das Lied nicht. Trotzdem ver­
suchte sie, irgendwie mitzuhalten. Auch Herms sang.
Nur Heinz preßte verbissen hervor: ,,Meinetwegen sollt
ihr alle verrecken!"

,,Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,


da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus! ... "

Es war, als würde das Lied den Frieden wiederbringen.

172
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Herbert Nachbars Erzählungen spielen in der Zeit des


Faschismus. Die Kinder, die im Mittelpunkt seiner Ge­
schichten stehen, spüren, daß sich vieles verändert hat
in ihrer unmittelbaren Umgebung. Niemand spricht es
aus, aber langsam wird ihnen das Ausmaß klar, das die
nazistische Entwicklung in Deutschland genommen
hat. Familien brechen auseinander, Feinde sollen sein,
wo früher Freunde waren; die Erwachsenen sind
schweigsam geworden. Wo Freundlichkeit und Lachen
ist, taucht auch Grausamkeit auf.
Und doch sind diese Geschichten voller Optimismus
und Lebenskraft, erzählen von Menschen, die sich ihr
Herz und ihre Güte bewahrt haben trotz aller Unter­
drückung.

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Heinrich Habermann heißt der Held dieses Buches, er


ist 13 Jahre alt und hat im Krieg seine Eltern verloren.
Er mußte seine Heimat verlassen, schließt sich dem al­
ten Fischer Komarek an und erlebt in wenigen Mona­
ten mehr als normalerweise ein Junge seines Alters. Er
gewinnt Einsichten und Freunde, und der Heinrich Ha­
bermann, den der Leser nach wenigen Monaten ver­
läßt, ist ein anderer als der Junge, den er mit Beginn
des Bandes kennenlernte.

Der Kinderbuchverlag Berlin



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ht. Gemacht.

Ein Scan von Rho .-.


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...Der Junge, der das Vorsegel bediente, wurde


Pianke genannt. Für seine neun Jahre war er viel zu
hoch aufgeschossen. Meist ließ er die Arme schlak­
sig herabhängen. Das semmelblonde Haar leuchtete
weit.
Er erinnerte wirklich an Pianke, an Schwindelweizen,
der mit dem Brotgetreide auf den Feldern wucherte.
Pianke mochte seinen Spitznamen nicht. Andreas
Groß schien ihm ein besserer Name zu sein. So hatte
er sich genannt, bis ihm der Name über Nacht ver­
lorengegangen war.
Offiziell hieß er jetzt Diethelm Krüger.- Krügers gab
es viele. Und Diethelm hörte sich affig an. - Seiner
Meinung nach. Da ließ er sich lieber Pianke rufen.
Wie aber kann ein Name verlorengehen?

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