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ISBN 3-932482-83-2
ZfA_Band_46_US_JD 20.03.2003 14:45 Uhr Seite 1
ISBN 3-932482-83-2
Reihe
DOKUMENTE – TEXTE – MATERIALIEN
Veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung
der Technischen Universität Berlin
Band 46
Die Serie ist Themen der deutsch-jüdischen Geschichte, der Antisemitismus- und
Holocaustforschung gewidmet; sie dient der Veröffentlichung von Texten aller
wissenschaftlich-literarischen Gattungen: Quellen von der Autobiografie, dem Tage-
buch, dem subjektiven Bericht bis zur Edition amtlicher Akten. Hilfsmittel wie
Bibliographien sind ebenso eingeschlossen wie Essays zu aktuellem Anlass oder
wissenschaftliche Monographien, aber auch Materialsammlungen, die ersten Überblick
oder Annäherungen an komplexe Fragestellungen erleichtern sollen. Das Anliegen
der Reihe ist die Förderung des deutsch-jüdischen Diskurses in Wissenschaft und
Öffentlichkeit.
46
METROPOL
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme:
Meyer zu Uptrup, Wolfram:
Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“ : Propaganda und Antisemitismus der
Nationalsozialisten 1919 bis 1945 /
Wolfram Meyer zu Uptrup. – Berlin : Metropol, 2003
Reihe Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung
der Technischen Universität Berlin ; Bd. 46
ISBN 3-932482-83-2
1. Einleitung ........................................................................................................................................................................... 11
3.1 Die Botschaft der „Protokolle der Weisen von Zion“ .......................................... 91
3.1.1 Die „Protokolle der Weisen von Zion“
im „nationalsozialistischen Schrifttum“ .................................................................. 94
Inhalt
3.3 Antisemitismus in der Partei-Geschichte vor dem Jahre 1933 ................... 132
4.3 Ideologische Begründungen für die „Endlösung der Judenfrage“ ....... 394
4.3.1 Rassenpolitik und Judenpolitik in Kriegszeiten ............................................... 394
4.3.2 Die „Endlösung“ als ein Element
nationalsozialistischer Politik ............................................................................................... 398
1. Einleitung
Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht,
warum sie diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrun-
de. Wir aber wahrscheinlich mit ihnen.1
4 Zit.: Alphons Silberman, Zur Soziologie des Antisemitismus, in: Psyche 16 (1962), S. 252 f.
Allgemein zur Entwicklung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert: Reinhard Rürup, Konti-
nuität und Diskontinuität der „Judenfrage“ im 19. Jahrhundert, in: Sozialgeschichte heute,
Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen
1974, S. 388–415, wo auch auf die grundlegende Literatur hingewiesen wird. Juden im wilhel-
minischen Deutschland 1890–1914, hrsg. von Werner E. Mosse/Arnold Paucker, Tübingen
1976, darin Reinhard Rürup, Emanzipation und Krise – Zur Geschichte der „Judenfrage“ vor
1890.
5 Alexander Bein, Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage, in:
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 6 (1958), S. 360; Donald Niewyck, The Jews in Wei-
mar Germany, Louisiana 1980, S. 53; William Carr, Adolf Hitler. Persönlichkeit und politisches
Handeln, Stuttgart 1980, S. 96; Klaus Drobisch u. a., Juden unterm Hakenkreuz. Verfolgung
und Ausrottung der deutschen Juden 1933–1945, Berlin (Ost) 1973, S. 70; Hans Mommsen,
Die Realisierung des Utopischen, in: ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesell-
schaft. Ausgewählte Aufsätze, Reinbek 1991, S. 184–232; Yehuda Bauer, A History of the Holo-
caust, New York 1982, S. 89.
Einleitung 13
6 Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, München
1989, S. 318 f.
7 Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung. Die „Endlösung der
Judenfrage“ im „Dritten Reich“, in: ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesell-
schaft, Zit.: S. 420, 197.
8 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 4. Aufl., München 1984, S. 490. Andere ge-
schichtliche Erscheinungsformen werden von Nolte nicht sehr klar vorgestellt.
9 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932, Berlin 1963.
10 Hans Mommsen, Die Funktion des Antisemitismus im Dritten Reich, in: Günther Brakelmann/
Martin Rosowski, Antisemitismus, Göttingen 1989, S. 179–190.
11 Mosse, Die Völkische Revolution, S. 7 ff.
12 Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung, 3. Aufl., Stuttgart 1986; Gerald Fleming, Hitler und
die Endlösung, „Es ist des Führers Wunsch ...“, Berlin 1987.
14 Einleitung
Staatsführung darstellte.13 Oder spielte der Antisemitismus im Hinblick auf den Völ-
kermord an den europäischen Juden eine nachgeordnete Rolle gegenüber einer öko-
nomischen Rationalität, wie ein neuerer Interpretationsansatz suggerierte?14
In dieser Arbeit soll untersucht werden, welches Bild von den Juden und der „Ju-
denfrage“ sich in der nationalsozialistischen Propaganda fand am Beispiel von Reden
Adolf Hitlers, Joseph Goebbels’, Alfred Rosenbergs und weiterer Repräsentanten der
NSDAP, wie die Juden und die „Judenfrage“ in den Zeitungen Völkischer Beobach-
ter, Der Stürmer, Das Schwarze Korps und Das Reich sowie in Flugschriften und
einschlägigen Buchpublikationen von Nationalsozialisten dargestellt wurden. Dabei
ist von Interesse, welche Elemente ihrer Vorstellungen über die Juden und die „Juden-
frage“ die Propagandisten und Autoren selbst in den Vordergrund stellten. Gab es
inhaltliche Gemeinsamkeiten der antisemitischen Motive und Vorstellungen Hitlers
und weiterer Repräsentanten der Partei und der nationalsozialistischen Presse? Wo
spielten diese Elemente in der Entwicklung und Begründung der nationalsozialis-
tischen Judenpolitik eine Rolle? Insbesondere ist nach der Rolle der antisemitischen
Konspirationsvorstellung zu fragen, die in nationalsozialistischen Schriften und Re-
den begegnete. Ausdruck dessen waren u. a. die hohe Akzeptanz und Verbreitung der
„Protokolle der Weisen von Zion“ in der Propaganda.
Mit der Frage nach den Motiven und Vorstellungen über die „Juden“ in der
nationalsozialistischen Weltanschauung wird ein unmenschliches Denken nachge-
zeichnet, das in jeder Hinsicht moralisch disqualifiziert ist. Den Vorstellungen Hit-
lers und anderer Nationalsozialisten einen derart breiten Raum zu geben, ihre
menschenverachtende Sprache ausführlich zu zitieren und ihre Beweggründe darzu-
stellen ist hier berechtigt, weil die Frage mit einem der größten Verbrechen in der
Menschheitsgeschichte in Zusammenhang stand. Die Verbrechen selbst und das da-
durch verursachte Leid werden nicht Gegenstand der Untersuchung sein, auch die
Opfer kommen nicht ausführlich zur Sprache. Die Tatsache, dass es sich hier um
konkrete Menschen handelte, darf nicht vergessen werden, auch wenn diese Men-
schen nur in dem verzerrten Wahnbild der nationalsozialistischen Weltanschauung
und als Objekte einer nie gekannten Hetze und Verfolgung erscheinen.
Auch die Wurzeln und die Geschichte des Antisemitismus sollen an dieser Stelle
nicht dargestellt werden. Ebenso werden die weiteren über die Judenpolitik hinausge-
henden Aspekte nationalsozialistischer Innenpolitik, der Kriegs- und Besatzungspolitik
nur am Rande erwähnt werden können.
13 Martin Broszat, Soziale Motivation und Führerbindung des Nationalsozialismus, und ders.,
Zur Erklärung des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden, in: Hermann Graml/
Klaus- Dietmar Henke (Hrsg.), Nach Hitler, 2. Aufl., München 1988, S. 11–33 u. 245–255,
Zit.: S. 252; Mommsen, Die Realisierung des Utopischen.
14 Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Hamburg 1991; Götz Aly, Endlösung.
Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995.
Einleitung 15
15 David Bankier, The Germans and the Final Solution. Public Opinion under Nazism, Oxford
1992, S. 14–27. Die deutsche Übersetzung ist aufgrund vieler Übersetzungsfehler kaum brauch-
bar (ders., Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die Endlösung und die Deutschen. Eine
Berichtigung, Berlin 1996).
16 Einleitung
16 Völkischer Beobachter (VB) 39, 16./17. Februar 1930, Beil. (nicht in: Hitler. Reden, Schriften,
Anordnungen, Bd. III/3, hrsg. von Christian Hartmann, München u. a. 1995 enthalten). Zur
Geschichte des VB: Adolf Dresler, Geschichte des „Völkischen Beobachters“ und des Zentral-
verlages der NSDAP, München 1937; Emil Dovifat, Der „Münchener Beobachter“ 1887–1918,
Würzburg-Aumühle 1940; The Story of the Völkischer Beobachter, in: Wiener Library Bulletin
2 (1954), S. 36–39; Sonja Noller, Die Geschichte des „Völkischen Beobachters“ von 1920 bis
1923, Ph. D. München 1956; Oren J. Hale, Die Presse in der Zwangsjacke 1933–1945, Düssel-
dorf 1965; Roland V. Layton, The Völkische Beobachter, 1920–1933. The Nazi Party Newspaper
in the Weimar Era, in: Central European History 3 (1970), S. 353–382.
17 Randall T. Bytwerk, Julius Streicher and the impact of Der Stürmer, in: Wiener Library Bulletin
29 (1976), S. 41–46.
Einleitung 17
18 William L. Combs, The Voice of the SS, A history of the SS-Journal „Das Schwarze Korps“,
New York 1986.
19 Zu dieser Zeitung vgl. Carin Kessemeier, Der Leitartikler Goebbels in den NS-Organen „Der
Angriff“ und „Das Reich“, in: Studien zur Publizistik. Münstersche Reihe. Institut für Publizis-
tik, Bd. 5, Münster 1967; Erika Martens, Zum Beispiel „Das Reich“. Zur Phänomenologie der
Presse im totalitären Regime, Köln 1972.
18 Einleitung
20 Adolf Hitler, Mein Kampf. Bd. 1: Eine Abrechnung, München 1925; ders., Mein Kampf. Bd. 2:
Die nationalsozialistische Bewegung, München 1927; Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20.
Jahrhunderts, 34. Aufl., München 1934. Zu Mein Kampf: Hermann Hammer, Die deutschen
Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“, in: VfZ 4 (1956), S. 161–178; C. Caspar, „Mein Kampf“
– A Best Seller, in: Jewish Social Studies 20 (1958), S. 6 ff.; Karl Lange, Hitlers unbeachtete
Maximen. „Mein Kampf“ und die Öffentlichkeit, Stuttgart 1968; Klaus Hildebrand, Hitlers
„Mein Kampf“, Propaganda oder Programm? Zur Frühgeschichte der nationalsozalistischen
Bewegung, in: Neue Politische Literatur 14 (1969), S. 72–82.
21 In einer Kleinstadt bei Hannover schien antisemitische Propaganda eine weniger wichtige Rolle
gespielt zu haben; vgl. William S. Allen, The Nazi Seizure of Power. The Experience of a single
German Town 1922–1945, 2. Aufl., London 1989, anders Jeremy Noakes, The Nazi Party in
Lower Saxony 1921–1933, London 1971.
22 Ursula Sywottek, Mobilmachung für den totalen Krieg. Die propagandistische Vorbereitung der
deutschen Bevölkerung auf den Zweiten Weltkrieg, Opladen 1976, zog diese Berichte ansatz-
weise heran, überging aber das Thema Antisemitismus; vgl. auch Ian Kershaw, Antisemitismus
und Volksstimmung. Reaktion auf die Judenverfolgung, in: Bayern in der NS-Zeit. Bd. 2, Herr-
schaft und Gesellschaft im Konflikt, hrsg. von Martin Broszat/Elke Föhlich, München/Wien
1979, S. 281–384; Bernd Stöver, Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft
der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993; David Bankier, The
Germans and the Final Solution, Oxford 1992.
Einleitung 19
23 Ian Kershaw hat die Unmöglichkeit eines Zusammenwirkens eines auf Max Weber zurückgehen-
den Verständnisses von charismatischer Herrschaft mit einer Ideologie am Beispiel des National-
sozialismus dargestellt: Ian Kershaw, Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München
1992.
20 Einleitung
sicht von Welt gegründet ist, anders legitimiert. „Unlike the Marxist ideology, the Nazi
Weltanschauung was a meaningless abstraction until it was personified in Hitler.“24
Die Rolle des Führers liegt darin, aus der Welt der unbegrenzten reinen Metaphysik
einen scharf umrissenen Glauben hervorzubringen. Im Rahmen einer Weltanschau-
ung kann sich der Führer als Instrument eines abstrakten Ideals verstehen, er ist
nicht Agent einer Ideologie. Die abstrakte Ferne der Weltanschauung gibt ihm einen
breiten Raum. Er kann diesen bestehen lassen, indem er philosophische Abhandlun-
gen zu seinem Thema macht, er kann aber auch diesen Raum ausfüllen, indem er
sich selbst als Person zum Bindeglied zwischen Idee und politischer Wirklichkeit
macht. Der Führer ist nicht Interpret, sondern Entdecker und Überbringer einer Idee.25
Die nationalsozialistische Weltanschauung hatte offensichtlich Elemente eines
übersteigerten Nationalismus, die aber mit gewissen rassistischen Geschichts- und
Politiktheorien verbunden waren. Dadurch trat die biologische Entität Volk an die
Stelle des Begriffes einer Nation, der sich auf kulturelle und geografische Kriterien
bezog. Diese Akzentverschiebung innerhalb einer grundsätzlich nationalistischen
Weltanschauung führte dazu, dass jene, die diese Veränderung propagierten, sich ge-
gen andere nationalistische Gruppierungen und Denksysteme unter dem Signum völ-
kisch abgrenzten und damit ein hypertrophes Elitebewusstsein entwickelten. Unter
völkischer Weltanschauung soll folglich ein übersteigerter Nationalismus mit sozial-
darwinistisch und biologistisch bestimmtem Welt- und Geschichtsbild verstanden
werden, innerhalb dessen eine „Judenfrage“ als Rassenfrage verstanden wurde. Zur
völkischen Weltanschauung gehören auch ein mehr oder minder ausgeprägter Kult
um alles „Nordische“, ein rückwärts gerichteter, anti-moderner Germanen-Kult und
die Verklärung des Bauerntums als natürliche und „artgemäße“ Lebensweise und
Grundlage allen menschlichen Lebens.26
Der Begriff des „Juden“ wird im Sinne nationalsozialistischer Weltanschauung
und Propaganda verwandt, er muss deshalb nichts mit dem Selbstverständnis oder
der Identität von einzelnen Personen zu tun haben und auch nicht mit den Definitio-
24 Joseph Nyomarkay, Charisma and Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis/Minnesota 1967,
S. 22. Zur Definition des Ideologiebegriffs: Zbigniew K. Brzezinski, Ideology and Power in
Soviet Politics, London 1962.
25 Vgl. Nyomarkay, Charisma and Factionalism, und Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, Eine Ab-
rechnung, München 1925, S. 221–225; ders., Mein Kampf, Bd. 2, Die nationalsozialistische
Bewegung, München 1927, S. 15, 157 f. (Im Folgenden zit. als Mein Kampf). Dagegen: Jäckel,
Hitlers Weltanschauung, S. 23: „Weltanschauung soll [...] wertfrei ein Gedankengebäude hei-
ßen, das in sich ohne größere Widersprüche, folgerichtig und konsistent ist.“ Jäckels Begriffsbe-
stimmung ist nicht offen für die vielen Widersprüche innerhalb der Vorstellungswelt von völki-
schen oder antisemitischen „Denkern“.
26 Allgemein hierzu: George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M.
1990; ders., Die völkische Revolution; Immanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt a. M.
1988; Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in
Deutschland, München 1986.
Einleitung 21
nen einer religiösen und philosophischen Kultur. Er ist hier eine Zuschreibung von
außen. Es mag problematisch sein, dem Sprachgebrauch von Antisemiten zu folgen,
aber hier wird nach dem Bild gefragt, das die Nationalsozialisten von den Juden
hatten, und hierbei spielt die soziale und politische Wirklichkeit von Juden in Deutsch-
land und der Welt eine nachrangige Rolle. Aus diesem Grunde werden mit „Juden-
politik“ ein Politikfeld bzw. alle politischen Aussagen und Konzepte bezeichnet, die
mit der Behandlung der „Judenfrage“ oder von Juden zu tun haben. Zur „Juden-
politik“ gehörten ebenso antisemitische Propaganda und verwaltungsrechtliche Maß-
nahmen wie auch der Völkermord an den europäischen Juden.
Die Methodik dieser Arbeit ist von dem grundsätzlichen Anliegen der Wissens-
soziologie getragen mit der Frage, wie eine bestimmte „Wirklichkeit“ gesellschaftlich
„konstruiert“ wird. Dabei ist das „Wissen“ um diese „Wirklichkeit“ von unterschied-
lichsten Faktoren abhängig, was dazu führen kann, dass einerseits die gleiche „Wirk-
lichkeit“ von unterschiedlichen Personen sehr unterschiedlich „verstanden“ wird oder
andererseits eine Person etwas als „Wirklichkeit“ „versteht“, was für eine andere
nicht als „Wirklichkeit“ existent ist. Damit werden alltägliche Orientierungsweisen
als vortheoretisches „Wissen“ zum Untersuchungsgegenstand. Die Konstruktion und
Vermittlung der Orientierungsweisen sind auch im Hinblick auf den Antisemitismus
interessant, der sich als eine Orientierungsweise verstehen lässt. Gleichzeitig ist Anti-
semitismus ein Beispiel, wie das „Wissen“ von einer „Wirklichkeit“ sich von einem
weit verbreiteten Konsens des „Wissens“ über diese „Wirklichkeit“ entfernen kann,
sodass das antisemitische „Wissen“ in keinem allgemein anerkannten rationalen oder
kausalen Zusammenhang zu einer von der großen Mehrheit wahrgenommenen
„Wirklichkeit“ mehr stand. Das „Wissen“ eines Antisemiten ist ganz anders als das
„Wissen“ eines Nicht-Antisemiten, was bedeutet, dass spezifische Konglomerate von
„Wirklichkeit“ und „Wissen“ zu spezifischen gesellschaftlichen Gruppen gehören.
Die wissenssoziologische Ausrichtung der Frage nach dem (nationalsozialistischen)
Antisemitismus will nicht allein eine empirische Vielfalt von „Wissen“ über die „Ju-
denfrage“ feststellen, sondern untersuchen, aufgrund welcher Vorgänge eine bestimmte
Art von „Wissen“ gesellschaftlich etablierte „Wirklichkeit“ im „Dritten Reich“ wer-
den konnte.
Der Ansatz der Wissenssoziologie ist aber bei dieser Untersuchung modifiziert,
weil nicht nach allgemeinen Vorstellungen über Juden oder „die Judenfrage“ in der
Alltagswelt der deutschen Bevölkerung gefragt wird, sondern nach den Vorstellungen
der vergleichsweise kleinen Gruppe nationalsozialistischer Propagandisten. Der Fo-
kus auf die nationalsozialistischen Propagandisten und Politiker bedingt, dass in die-
ser Arbeit am Beispiel des nationalsozialistischen Antisemitismus eine bestimmte Form
von Politik-Formulierung und Politik-Vermittlung thematisiert wird. Die politischen
Akteure sind zu einer eigenständigen „Wissens“-Produktion, zur Entfaltung von
Deutungsmustern und zur kognitiven Repräsentation von eigenem Erleben fähig.
22 Einleitung
Deutungsmuster sind mehr oder weniger bewusste und reflektierte geistige Sche-
mata, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit und die subjektive Verarbeitung dieser
Wahrnehmung leiten. Sie führen somit zu einer abgestuften wertenden Wahrnehmung
von Ereignissen. Unterschiedliche Deutungsmuster, z. B. ein antisemitisches und ein
nicht antisemitisches, können deshalb zu völlig gegensätzlichen Wahrnehmungen füh-
ren. Deutungsmuster haben eine wichtige Orientierungsfunktion darin, dass sie die
komplexe Wirklichkeit auf überschaubare Strukturen reduzieren und damit helfen,
auf einer alltagsweltlichen Ebene Erfahrungen zu generalisierenden Urteilen und
Situationsschilderungen in Beziehung zu setzen. Sie reformulieren wissenschaftliche
Erkenntnisse in neuen Kontexten und selektiven Übernahmen, sie entfalten Wissen
über kausale Folgen auch dort, wo es aus wissenschaftlicher Sicht nur Spekulation
geben kann.27 Sie formulieren zuerst innerhalb einer „Ideenwelt“ gewisse Überzeu-
gungen und Ansichten, verbreiten diese Ansichten, nehmen andere auf, bevor sie die-
se mit Unterstützung ihrer Anhängerschaft über Politikkonzepte in reale politische
Entscheidungen und Handlungen umsetzen können. Dieses Modell der Entwicklung,
Formulierung und Umsetzung von Politik sieht nur auf den ersten Blick deterministisch
aus, geht es doch von einer permanenten Veränderung durch neue Einflüsse aus, auch
von Veränderungen der historischen oder politischen Bedingungen oder der Koalitio-
nen innerhalb der Politik formulierenden und Politik gestaltenden Elite. Auf konkrete
Modelle der Interpretation des Nationalsozialismus bezogen heißt das, dass z. B. die
hier skizzierte Vorstellung von Politikentwicklung und Politikdurchsetzung sowohl
mit einer intentionalistischen als auch mit einer funktionalistischen Interpretation des
Nationalsozialismus konform gehen kann.28
Das in einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe wie einer politi-
schen Bewegung vorhandene „Wissen“ wird im politischen Prozess zu Intentionen
und schließlich Entscheidungen transformiert. Dieser Prozess wird als dreistufig ge-
dacht. Auf der ersten Stufe der Prädisposition findet eine Filterung jener Präferenzen,
Kriterien und Wissenssysteme statt, die die Auswahl oder Akzeptanz eines handlungs-
relevanten Wissens steuern. In dieser ersten Stufe wirkt tradiertes, nicht hinterfragtes
implizites „Wissen“ und steuert letztlich Entscheidungen über die Akzeptanz von
Gründen, Argumenten, Begriffen und Theorien. Auf der zweiten Stufe der Deutungs-
wahl erfolgen die Entscheidungen der als legitim erachteten Deutungen über Situatio-
nen, Handlungsalternativen, Präferenzen und Normen. Auf der dritten Stufe der
Handlungswahl erst geschieht eine Festlegung für eine Handlungsalternative. Ver-
mittelt werden diese Wahlen in kommunikativen Prozessen wie Diskussionen, Reden
oder über Medien. Diese Kommunikationsprozesse lassen sich im Rahmen einer
„sprachgeleiteten Policy-Analyse“ erhellen, von den ersten Versuchen mit neuen
„Deutungsmustern“ oder Schlüsselbegriffen bis hin zur Gewinnung von Akzeptanz
und der Entwicklung politischer Konzepte. Dabei gilt die Annahme, dass die Anhän-
gerschaft eines Politik-Konzepts (oder auch einer Partei) sich innerhalb mehrerer
Deutungs- und Handlungsalternativen entscheiden kann und sich für die Alternative
entscheidet, „für die sich die größte argumentativ-rhetorische Stützungsleistung“ in-
nerhalb des Wissens- oder Deutungssystems des jeweiligen politischen Akteurs mobi-
lisieren lässt. „Handlungsleitend werden jene Gründe und Deutungen, die für den
Handelnden in gedachter Anwesenheit eines Publikums die größte persuasive Kraft
auf ihn selbst entfalten können.“29
Sprache hat in diesem Prozess eine Leitfunktion, womit gemeint ist, dass sich in
der Sprache politischer Akteure bereits frühzeitig eine Latenz von Entscheidungen
abzeichnet, und zwar ebenso absichtlich wie unabsichtlich. „Insbesondere Versuche
der sprachlichen Beeinflussung oder Steuerung möglicher Interpretationen von be-
vorstehenden oder bereits gefallenen Entscheidungen, von zeitlichen Abläufen oder
auch von thematischen Zusammenhängen hinterlassen ihre ‚Abdrücke‘ in der Spra-
che. Diese lassen sich sammeln, analysieren und mosaikartig zu einer Sinn-Rekon-
struktion zusammenfügen.“30 Im Zusammenhang mit diesem Ansatz ist es möglich,
frühzeitig Einblicke in politische Entwicklungen zu bekommen, bevor sie von einer
breiten politischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Das bedeutet auf die Ent-
wicklung der NSDAP in der Weimarer Zeit bezogen, dass die Begrifflichkeit und
Argumentation nationalsozialistischer Propagandisten als die Konstruktion einer
Wirklichkeit durch spezifisches „Wissen“ oder besondere „Deutungsmuster“ verstan-
den werden müssen, in denen sich eine spätere Politik im Falle einer Machtbeteiligung
der NSDAP bereits abzeichnete.
„Die erkenntnistheoretische Dimension des zentralen Problems ist offensichtlich.
Auf empirischer Ebene stellte es die Aufgabe, die konkreten Zusammenhänge zwi-
zialistischer Zeit beteiligten Täter in den Blick, sondern das, was diese nach Maßgabe
normativer nationalsozialistischer Aussagen als Rechtfertigung für eine bestimmte
nationalsozialistische Politik gegenüber den europäischen Juden angeboten bekamen.
Dabei sollte stets gegenwärtig sein, dass die „Judenpolitik“ von Hitler mit Hilfe der
nationalsozialistischen Elite entwickelt und in Gang gesetzt wurde und sich die ein-
zelnen Täter auf den unterschiedlichen Stufen der Hierarchie nur innerhalb der poli-
tischen Vorgaben betätigen konnten.
27
1 Jürgen W. Falter und u. a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien
zum Wahlverhalten 1919–1933, in: Statistische Arbeitsbücher zur neueren Geschichte, Mün-
chen 1986, S. 44.
2 Henry A. Turner, Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 174 ff.
28 Interpretationen des NS-Antisemitismus
Die NSDAP war mit ihren politischen Zielen klar gegen die Demokratie von Weimar
ausgerichtet und strebte eine Abschaffung der demokratischen Institutionen an. Statt-
dessen wollte sie einen völkischen Staat nach einem diktatorischen Prinzip aufbauen.
Das war der Reichsregierung auch hinreichend bekannt. Hitlers Partei war eine „staats-
feindliche Verbindung“, die einen Hochverrat plante und nachweislich in viele weitere
strafbare Handlungen verstrickt war. Die Reichsregierung diskutierte auf der Grund-
lage einer Denkschrift der preußischen Polizei unter dem Vorsitz von Kanzler Heinrich
Brüning am 19. Dezember 1930 über diesen Sachverhalt und beschloss, nichts zu un-
ternehmen.6 In dieser Denkschrift spielte der Antisemitismus als Ablehnung der glei-
chen Würde aller Menschen keine besondere Rolle, wurde aber durchaus registriert. Ju-
denfeindliche Aspekte in nationalsozialistischen Vorstellungen wurden von manchen
Zeitgenossen vor dem Jahre 1933 wahrgenommen und analysiert. Wurde aber über-
haupt ihre zentralen Bedeutung gesehen? Welche Entwicklung meinten Zeitgenossen
im Hinblick auf eine künftige mögliche Judenpolitik der NSDAP erkennen zu können?
In der Weimarer Republik gab es zwischen den Jahren 1918 und 1933 zwei Pha-
sen, in denen die Propaganda antisemitischer Gruppierungen stark anstieg. Die erste
begann direkt nach dem Kriegsende und war besonders von der Hetze des „Deutsch-
völkischen Schutz- und Trutzbundes“ (DSchTB) und anderer völkischer Organisatio-
nen geprägt, zu denen auch die NSDAP zählte. Diese Phase endete nach dem Verbot
des DSchTB im Juli und August 1922 und dem Verbot der NSDAP im November
1923.7 In den folgenden Jahren nahm die antisemitische Hetze in Zeiten einer relati-
analysis, in: German Studies Review 14 (1991), S. 23–38; Konrad Kwiet, Historians of the Ger-
man Democratic Republik on Antisemitism and Persecution, in: Yearbook of the Leo Baeck Insti-
tute, London 1976, S. 173–198; ders., Zur historiographischen Behandlung der Judenverfolgung
im Dritten Reich, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1980), S. 149–182; Michael Marrus,
The History of the Holocaust, A Survey of Recent Literature, in: Journal of Modern History 59
(1987), S. 114–160; ders., The Holocaust in History, 2. Aufl., Hanover/New England 1987;
Wolfgang Michalka, Wege der Hitler-Forschung, Problemkreise, Methoden und Ergebnisse.
Eine Zwischenbilanz, in: Quaderni di storia 8 (1978), S. 157–190, 10 (1979), S. 123–143;
Reinhard Rürup, Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung, in: Emanzipation
und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M.
1987, S. 145–158; Gerhard Schreiber, Hitler-Interpretationen 1923–1983. Ergebnisse, Methoden
und Probleme der Forschung, 2. Aufl., Darmstadt 1988.
6 „Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als staats- und republikfeindliche, hochver-
räterische Verbindung“, in: Robert M. W. Kempner (Hrsg.), Der verpaßte Nazi-Stopp. Die
NSDAP als republikfeindliche und hochverräterische Verbindung. Preußische Denkschrift von
1930, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983.
7 Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-
bundes, Hamburg 1970; Martin Sabrow, Der Rathenau-Mord. Rekonstruktion einer Verschwö-
rung gegen die Republik von Weimar, München 1994.
30 Interpretationen des NS-Antisemitismus
ven wirtschaftlichen Erholung ab, um dann zum Ende jenes Jahrzehnts wieder zuzu-
nehmen und kontinuierlich bis zur „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten am
30. Januar 1933 anzusteigen. Diese Zunahme hatte einen zeitlichen und sachlichen
Zusammenhang mit dem reichsweiten Aufbau der NSDAP. Von ihren Ortsgruppen
wurde die antisemitische Propaganda vorgetragen, von ihren Mitgliedern ging ein
steigendes Maß von Übergriffen und Ausschreitungen aus.
Die Aktivitäten der NSDAP und Hitlers vor dem Jahre 1933 wurden besonders
von einigen Journalisten in München aufgezeichnet und analysiert. Zu ihnen gehören
Konrad Heiden, der für die Frankfurter Zeitung schrieb, Rudolf Olden als Korre-
spondent mehrerer Berliner Zeitungen, die Journalisten Martin Gruber, Erhard Auer,
Edmund Goldschagg und Julius Zerfass, die für die Münchener Post arbeiteten und
Fritz Gerlich, zunächst Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, ab 1930
Herausgeber von Der Gerade Weg. Besonders die Journalisten der Münchener Post
wurden nicht müde, die kriminellen Aspekte der Hitler-Bewegung genau zu notieren.
Sie widmeten den Morden der Nazis und den Erpressungen und Fälschungen inner-
halb der NSDAP große Aufmerksamkeit, für sie war Hitler ein „politischer Kriminel-
ler“. Fritz Gerlich brachte in Der Gerade Weg am 17. Juli 1932 eine brillante Satire
(„Hat Hitler Mongolenblut“), in der er Hitlers Physiognomie an den Kriterien der
nationalsozialistischen Rassentheoretiker Hans F. K. Günther und Alfred Rosenberg
maß. Er kam zu dem Ergebnis, dass Hitler ein slawisch-mongolisches Aussehen und
einen asiatisch-despotischen Rassencharakter hätte. In einem nüchternen Ton voll
ätzender Ironie, die sich der Argumentation der pseudowissenschaftlichen Rassen-
kundler bediente, zeichnete er ein Charakterbild von seherischer Erkenntnis.8
Von deutschen Juden wurde der zeitgenössische Antisemitismus in unterschied-
lichster Weise wahrgenommen. Zum einen tendierten besonders Ältere dazu, das
Ansteigen antisemitischer Propaganda nach der Niederlage im Jahre 1918 als tempo-
räre Erscheinung, als eine neue Welle in der langen Verfolgungsgeschichte des jüdi-
schen Volkes aufzufassen. Jüngere wiederum zweifelten eher an der Möglichkeit, in
einem antisemitischen Deutschland leben zu können. Die Wahrnehmung hing auch
vom individuellen Selbstverständnis ab. Zionisten tendierten beispielsweise dazu, den
Antisemitismus als ein Phänomen aufzufassen, dem man in der Diaspora nicht aus
dem Weg gehen könne. Sie waren eher bereit, die Existenz „nationaler“ Unterschiede
zwischen Deutschen und Juden anzuerkennen. Assimilierte Juden hingegen hegten
8 Diese Aussagen stützen sich auf die Auswertung nationalsozialistischer Publizistik. Eine gründ-
liche Untersuchung über den Antisemitismus in der Weimarer Republik ist nach wie vor ein
Desiderat. Zu den Münchner Journalisten: Rosenbaum, Explaining Hitler, S. 136–207 (Zit.:
S. 148). Eine genaue Darstellung dieser gegen Hitler gerichteten Publizistik fehlt immer noch, sie
wurde in der Forschung kaum berücksichtigt. Wenn z. B. Christian Striefler (Kampf um die
Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1993)
die Münchener Post ausgewertet hätte, wäre er wohl kaum zu dem Schluss gekommen, der
Terror in der Weimarer Zeit sei vor allem von den Kommunisten ausgegangen.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 31
nach der Emanzipation die Hoffnung auf ein Verschwinden des Antisemitismus im
Rahmen eines allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts. Nationalkonservative Ju-
den scheinen den Vorstellungen von „gutwilligen Antisemiten“ dahingehend zuge-
stimmt zu haben, dass sie die Bedrohungsgefühle der Nichtjuden wegen der Existenz
einer starken jüdischen Minderheit anerkannten. Viele der deutschen Juden hatten
auch eine reservierte Haltung gegenüber den „Ostjuden“, die seit den 1880er-Jahren
in mehreren Wellen nach Deutschland einwanderten und ein Vorbild für die Vorur-
teile und Stereotypen von Antisemiten bildeten.9
Allgemein scheinen Juden in dreierlei Weise auf die Konfrontation mit dem Anti-
semitismus in der Weimarer Zeit reagiert zu haben. Die ersten fühlten sich nicht be-
troffen, weil sie der Auffassung waren, der Antisemitismus richtete sich nur gegen
andere, wie die Ostjuden, oder nur in einem abstrakten Sinne gegen das Judentum
allgemein. Durch eine Differenzierung wurde somit der Antisemitismus relativiert oder
als Angriff auf die ganze Republik verstanden. Andere sahen die Schuld am Antisemi-
tismus partiell bei den Juden selbst, die sich noch nicht ausreichend integriert und
assimiliert hätten. Zuletzt wurde der Antisemitismus als ein Phänomen verstanden,
das nur bei randständigen Gruppen vorkam, man empfand nur Verachtung für die
fanatischen Außenseiter. Auf diese Weise scheinen viele Juden auch die Nationalso-
zialisten in den 20er-Jahren wahrgenommen zu haben. Somit wäre es denkbar, dass
ein großer Teil der Juden in Deutschland Veränderungen in der Qualität des national-
sozialistischen Antisemitismus lange nicht erkannte. Erst in der Endphase der Wei-
marer Republik verstärkten sich Aktivitäten zur Abwehr des Antisemitismus.10
Schon für Zeitgenossen der Nationalsozialisten war unübersehbar, dass die NSDAP
eine antisemitische Partei war. Dieser Sachverhalt konnte ob der nationalsozialisti-
schen Wort- und Bildpropaganda gar nicht geleugnet werden und fand in frühen
monografischen Darstellungen der NSDAP und Hitlers (andere Parteiprominente fan-
den erst nach dem Jahr 1933 ein Interesse) seinen Widerhall. Für den Dozenten an der
„Deutschen Hochschule für Politik“, Theodor Heuss, stand 1932 die NSDAP in einer
gewissen Tradition zu Friedrich Naumanns „Nationalsocialem Verein“, den dieser
1896 gegründet hatte. Heuss sah im Kriegsausgang, in der Revolution von 1918 und
den Auswirkungen des Versailler Friedensvertrags die Ursachen für die Entstehung
des Nationalsozialismus. „Hitlers Beitrag zu den gedanklichen Elementen seiner Be-
wegung ist [...] gering – was er ihr lieh, war das Temperament, die vollkommene
agitatorische Hingabe und der Propagandastil.“ Hitlers Antisemitismus sei Wiener
Herkunft und gefühlsbetont, er habe ihn durch Einflüsse aus dem Wagner-Kreis in
Bayreuth und durch Chamberlain „einem sozusagen geschichtsphilosophischen Sy-
stem zugeteilt“. Heuss erkannte im „Rassegedanken und Diktaturglauben“ den Kern
der nationalsozialistischen Ideologie. Ersterem wurde der Antisemitismus beigeord-
net, der aber unlogisch sei: Auf der einen Seite werde behauptet, die Arier seien stark
und schöpferisch, doch gleichzeitig würden sie zum Opfer einer Handvoll Leute, die
feige und unschöpferisch wären. Heuss sah eine Politik voraus, die eine Ausweisung
von Ostjuden und den Entzug der bürgerlichen Rechte für alle bringen würde. Er
kritisierte Hitlers außenpolitische Vorstellungen, sie waren ihm nur „Verzierungen,
mit denen vor allem Rosenberg dieses Programm schmückt: sie sind den ‚Weisen von
Zion‘ entnommen [...].“ Heuss meinte aber, dass der nationalsozialistische Versuch,
auf rassistischer Basis Politik zu treiben, letztlich zum Scheitern verurteilt sei und sich
gegen Deutschland wenden werde: „Die Siedlungsgeschichte des deutschen Volkes
über ganz Europa hat es mit sich gebracht, daß die ‚bluthafte‘ nationalsozialistische
Staatstheorie für die Deutschen, als Volkstum begriffen, gefährlicher und zerstören-
der sein müßte als für die Juden.“11
Aus einer besonderen nationalistischen, einer nationalbolschewistischen Sicht,
kritisierte Ernst Niekisch 1932 in einer kleinen Schrift Adolf Hitler, der für ihn ein
„deutsches Verhängnis“ war. Hitler unterschätzend schrieb er: „Die programmatische
Unbestimmtheit kommt jedem Auslegungsbedürfnis entgegen; man kann herauslesen
was man im Programm finden möchte.“ Das Revolutionäre an Hitler sei nur Attitüde,
die „den Besitzenden nichts nahm, den Besitzlosen nichts gab“. Hitler entspreche in
seinem Rigorismus einem „nationalen Messias“, meinte Niekisch, und warf ihm vor,
selbst dem Wesen des abgelehnten Judentums zu entsprechen. Hitler war für Niekisch
ein Fachmann der Propaganda, mittels derer er es erreicht habe, dass viele Deutsche an
ihn glaubten, ohne dass Hitler je politische Fähigkeiten praktisch bewiesen hätte. Da
Hitler letzten Endes die Werte, die Niekisch heilig waren, verraten würde, prophezeite
er: „Das Ergebnis des unerhörten Aufwandes ist zum Schluß die Katastrophe.“12
11 Theodor Heuss, Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus,
Stuttgart/Berlin/Leipzig 1932, S. 26 ff., 46, 102.
12 Ernst Niekisch, Hitler – ein deutsches Verhängnis, Berlin 1932, Zit.: passim. Die Schrift er-
schien im Februar 1932 und wurde bis zum Ende dieses Jahres in 40 000 Exemplaren verbreitet.
Zu Niekisch vgl. Louis Dupeux, Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1933. Kommu-
nistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, S. 234–254, 317–347, bes.
S. 335 f.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 33
Konrad Heiden, der sich mit der Hitler-Bewegung seit dem Jahre 1921 so aus-
führlich befasste wie kein anderer in der Weimarer Zeit, behauptete schon in seinem
ersten Buch über die Geschichte der NSDAP (1933 in Berlin erschienen), dass Hitlers
Reden von einer volkstümlichen Treffsicherheit und einer nicht zu verleugnenden
Logik gekennzeichnet seien. Hitlers Denken, wie es in seinem Buch Mein Kampf für
den Leser erkennbar würde, sei voll scharfer Überlegungen, aber oft ohne Ordnung
und darum langweilig. Natürlich sei er ein Antisemit, von dieser Voraussetzung müs-
se ein Verstehen von Hitlers Gedankenwelt ausgehen. Hitlers Wahrnehmungen seien
verzerrt, fahrig und weltfremd, seine aus diesen Wahrnehmungen hergeleiteten
Schlussfolgerungen aber durchaus scharfsinnig.13 Heiden erkannte, dass Hitler eine
politische Verschwörung beweisen wollte, da alle seine Themen zu einer Erkenntnis
führten: An der Misere, an der politischen Lage und an den sozialen, wirtschaftlichen
und sonstigen Schwierigkeiten sei „der Jude“ schuld.
Konrad Heiden publizierte auch später noch über Hitler, als er in Deutschland
selbst nicht mehr veröffentlichen konnte. In den früheren Auflagen des ersten Bandes
seiner Hitler-Biografie bezeichnete er im Jahre 1935 das Hitlersche Feindbild der Ju-
den noch als „zusammenphantasierter Feind“, in der Überarbeitung von 1936 fehlte
diese Aussage, die eine Verharmlosung angesichts der judenfeindlichen Politik in
Deutschland darstellte.14 Hitlers Antisemitismus (wie auch Rosenbergs und Streichers)
sei entscheidend vom Text der „Protokolle der Weisen von Zion“ geprägt worden.
Hitler habe erkannt, „daß jeder einzelne Jude an seinem Platze im Interesse der jüdi-
schen Weltherrschaft tätig sei, und zwar bewußt tätig.“15 Heiden betonte schon 1933
und wieder 1937: „Wie man auch zur jüdischen Frage stehe – das Buch ‚Mein Kampf‘
gründet sich auf die Annahme einer robusten und realen jüdischen Weltverschwörung,
an die kein einsichtiger Antisemit glauben wird.“16 Hitler war ihm eine Gefahr für die
ganze Welt, da er die Weltherrschaft anstrebe und die Ausrottung oder Vertreibung
von Millionen Europäern aus ihren Wohngebieten beabsichtige. Heiden erkannte die
rassistische Geschichtskonzeption im Hitlerschen Denken, mit der dieser einen „Rasse-
staat“ anstrebte, und konnte schon im Jahre 1936 folgern, dass der Rassenkampf
„die ‚niederrassigen‘ Bestandteile zurückdrängen, in ungünstigere Lebensbedingun-
gen versetzen und damit schließlich zum Aussterben bringen muß – wenn nötig durch
13 Heiden führte als Beispiel eine Rede Hitlers an, die dieser am 28. Juli 1922 gehalten hatte:
Konrad Heiden, Geschichte des Nationalsozialismus. Die Karriere einer Idee, Berlin 1933,
S. 63–67, vgl. auch S. 70 zu Hitlers Glauben an die „Protokolle“. Heiden datierte die Rede auf
April 1922, richtiger dürfte wohl der 28. Juli 1922 sein, vgl. Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen,
1905–1924, hrsg. von Eberhard Jäckel/Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 656–671. Zur Rede s. u.,
Kap. 3.2.3.
14 Konrad Heiden, Hitler. Das Leben eines Diktators, 1. Aufl., Zürich 1935, S. 105.
15 Konrad Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, Bd. 1, revidierte Neu-
ausgabe Zürich 1936, S. 407. Zur Geschichte der Protokolle s. u., Kap. 3.1.
16 Konrad Heiden, Adolf Hitler. Ein Mann gegen Europa, Bd. 2, Zürich 1937, S. 263.
34 Interpretationen des NS-Antisemitismus
17 Heiden, Adolf Hitler, Bd. 1, S. 96. Zu der von Heiden wahrgenommenen Bereitschaft zu bruta-
len Verbrechen vgl. S. 422, wo ein Lied mit der Zeile zitiert wird „[...] steh’n wir zu jedem
Massenmord bereit!“
18 Heiden, Adolf Hitler, Bd. 2, S. 97, 215, 252 ff., 265.
19 Konrad Heiden, Der Fuehrer. Hitlers Rise to Power, Boston 1944, Neudruck London 1967.
Alan Bullock im Vorwort zur Neuausgabe: „In Der Fuehrer Konrad Heiden provided the first
comprehensive explanation of a phenomenon which has left an indelible mark on the history of
Europe in our times.“
20 Günter Scholdt, Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild
vom „Führer“, Bonn 1993, S. 389–402.
21 Valentin Gitermann, Psychologie des deutschen Antisemitismus, in: Deutsche Freiheit 17, Saar-
brücken 1934.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 35
Aus dem Pariser Exil heraus veröffentlichte Heinrich Mann im Jahre 1933 seine
Analyse des Nationalsozialismus. Mann lehnte das Nationalstaatskonzept ab. Ein
Nationalstaat würde sich nur aus „Haß und Verwilderung“ halten können. „Der
Haß nicht nur als Mittel, sondern als Daseinsgrund einer großen Volksbewegung, das
ist dem großen Hitler eingefallen.“ Aus diesem Grunde hätten die Nationalsozialisten
Marxismus und Judentum verschmolzen, weil hierdurch ein Maximum an Hass-
gefühlen mobilisierbar werde. Der Antisemitismus würde allerdings auf „einen Fehler
im inneren Gleichgewicht einer Nation“ hinweisen, auf mangelndes Selbstwertgefühl
und die Bereitschaft, sich von den wahren (ökonomischen) Konflikten ablenken zu
lassen. Die aus dem Antisemitismus motivierte Politik grenze die Juden aus, und „das
heißt in Wirklichkeit: sie sollen Hungers sterben. Ein ebenso einfaches wie wirksames
Verfahren, um einen Bevölkerungs-Überschuß loszuwerden!“ Aber alle Politik der
Nationalsozialisten bekomme ihren Sinn erst im Hinblick auf den von ihnen geplan-
ten Krieg: „Aus Gründen der inneren Politik kann man andere Gruppen der eigenen
Nation nicht so ungeheuerlich hassen. Dafür ist nötig, daß man sie als Helfershelfer
des Auslandes ansieht und als den verkörperten Widerstand gegen die Kriegsgelüste,
von denen man besessen ist.“22
Auch einigen „alten Kämpfern“ kamen nach den ersten Monaten der „nationa-
len Revolution“ in Deutschland Zweifel, ob Hitler wirklich ihre Ideale umsetzen würde.
So meldete sich Anfang 1934 ein „Naziführer-Emigrant“ in der Exilpresse zu Wort,
der angeblich selbst im Konzentrationslager mit Kommunisten eingesperrt gewesen
war. Erst dort sei ihm aufgegangen, was es mit dem Nationalsozialismus auf sich
habe. Der anonyme Renegat bezeichnete den Antisemitismus Hitlers als ein Mittel,
dessen Wirkung schon nicht mehr in Hitlers Macht liege. Er meinte, die „Wirkungen
des Hitlerschen Radauantisemitismus sind ganz verheerend“, weil er die Assimilation
rückgängig mache, durch die die Juden in der deutschen Gesellschaft aufgegangen
seien, und weil er das Land politisch und wirtschaftlich schädige. Mit seinem eigenen
Antisemitismus hingegen, von der Art, wie ihn der Renegat auch für den Straßer-
Flügel reklamierte, wolle er nur das „Judentum als überlebte Weltanschauung [tref-
fen], als ein überlebtes religiös-politisches Dogma“. Das Judentum wolle er nur aus
seiner vorgeblichen „politischen Macht“ entfernen, damit ihm das Erreichen seiner
„religiös-politischen Ziele“ unmöglich gemacht werde. Hitler jedoch habe in seiner
maßlosen Hetze alles für „jüdisch“ erklärt, verfemt und verfolgt, was irgendwie mit
Juden in Verbindung zu bringen gewesen sei, auch die kulturellen Leistungen und die
„deutschen Werte“, die von Juden geschaffen worden seien. Von zentraler Bedeutung
seien für Hitler die „Protokolle der Weisen von Zion“ geworden, deren Pläne und
Taktiken zur Erringung der Weltherrschaft er sich zu Eigen gemacht hätte. Hitler
benutzte diesen Plan, um das deutsche Volk in die „brutalste Knechtschaft“ zu zwin-
22 Heinrich Mann, Der Haß. Deutsche Zeitgeschichte, Amsterdam 1933, Zit.: S. 127, 172.
36 Interpretationen des NS-Antisemitismus
gen. An Hitler wurde kritisiert, dass er genau nach dem Konzept der Protokolle, die
er seit Beginn seiner politischen Laufbahn kennen würde, handelte und somit den
„berechtigten“ Antisemitismus und Deutschland verraten würde.23
Zwei weitere zeitgenössische Biografien über Hitler stammten von Rudolf Olden,
dem Korrespondenten mehrerer Berliner Zeitungen in München. In seinem ersten
Buch, das im Jahre 1933 noch in Berlin erscheinen konnte, hatte Olden die Ereignisse
und Intrigen nachgezeichnet, mit denen Hitler seine „Machtergreifung“ erreichte.
Ideologische Aspekte blieben hier im Hintergrund.24 In seiner zweiten Darstellung
brachte Olden im Jahre 1935 Hitlers Antisemitismus mit dessen Taktik zusammen,
gesellschaftliche Schichten zu gewinnen, deren sozialer Status bedroht war. Hitlers
Angaben in Mein Kampf aufgreifend, meinte Olden, den Antisemitismus habe er von
Schönerer gelernt. Der Wiener Bürgermeister Lueger sei ihm Vorbild im Hinblick auf
Propaganda und politische Taktik gewesen. Ein prinzipienloser Machtmensch war
Hitler für ihn nicht: „Hitler glaubt an die berühmten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘,
[...] in der die Verschwörung der Judenhäupter zur Erringung der Weltherrschaft in
eine geheime Sitzung des ersten Zionistischen Kongresses verlegt wird.“ Den Antisemi-
tismus würde Hitler aber auch als Instrument einsetzen, um die Massen für sich ein-
zunehmen, wie dies bei „politischen Religionsstiftern“ üblich sei. Nach dem Beginn
von Hitlers Reichskanzlerschaft habe er die antisemitischen Teile des Parteiprogramms
sofort verwirklicht. Er habe die Juden zwar auch als „Sündenböcke“ und „Prügel-
knaben“ benutzt, sein eigentlicher Antrieb sei aber ein echter Hass.25
Anderen Zeitgenossen war der nationalsozialistische Antisemitismus in erster Li-
nie eine besondere Form des Rassismus, wobei René Laurent schon im Jahre 1932
diesen Rassismus geistesgeschichtlich herleitete und ein M.-P. Nicolas Hitlers Denken
auf Nietzsche zurückführte.26 Manchem war der nationalsozialistische Antisemitis-
mus keiner Erwähnung wert27 oder wurde gar als ein Element nationalsozialistischer
Sozialpolitik gerechtfertigt.28 Einige Publizisten wiesen aber auf den Stellenwert der
Protokolle für Hitlers Geisteswelt hin, allerdings ebenfalls erst zu Zeiten, als Hitler
23 Deutsche Freiheit 10, 11, 13, 16, 19, 20, Saarbrücken 1933–1935.
24 Rudolf Olden, Hitler, der Eroberer. Die Entlarvung einer Legende, Berlin 1933.
25 Rudolf Olden, Hitler, Amsterdam 1935, Zit.: S. 146, 237.
26 René Laurent, Le National Socialisme vers le Troisième Reich, Pithiviers (Loiret) 1932; M.-P.
Nicolas, De Nietzsche à Hitler, Paris 1936.
27 Z. B. Alphonse de Châteaubriant, La Gerbe des Forces (Nouvelle Allemagne), Paris 1937.
Alphonse de Châteaubriant, Geballte Kraft. Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutsch-
land (Auswahl aus: La Gerbe des Forces [Nouvelle Allemagne]), Karlsruhe 1938; Gonzague de
Reynold, D’ou vient l’Allemagne?, Paris 1939; H. Renfro Knickerbocker, Deutschland – so oder
so?, Berlin 1932; ders., Kommt Europa wieder hoch?, Berlin 1932; Philippe Barrès, Sous la
Vague Hitlérienne, Paris 1933.
28 Marcel Laloire, Nouvelle Allemagne. Réformes sociales et économiques, Bruxelles 1935; Fran-
çois le Grix, Vingt Jours chez Hitler. Tableaux d’une Révolution, Paris 1933.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 37
an der Macht war. Die Wienerin Irene Harand schrieb im Jahr 1935 ein hellsichtiges
Buch, in dem sie auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ und die besondere Art des
nationalsozialistischen Antisemitismus aufmerksam machte:
„Auf diesen Protokollen baut das Hakenkreuz seinen ganzen Feldzug gegen die
Juden auf. Es gab vor der Machtergreifung des Hakenkreuzes keine Versammlung,
wo man nicht die Verworfenheit der Juden unter Hinweis auf die ‚Protokolle der
Weisen von Zion‘ zu beweisen suchte [...] Wenn ein einfacher Mensch dieselben liest
und sie als wahr annimmt, so kann man sich gar nicht wundern, wenn er ein fanati-
scher Anhänger des Hakenkreuzes wird. Ein solcher Mensch muß aber auch ein glü-
hender Judenhasser werden.“
Harand war der Überzeugung, dass die nationalsozialistische Propaganda mit
der Botschaft der „Protokolle“ der NSDAP „Millionen von Stimmen“ gebracht habe
und erkannte im Nationalsozialismus eine mörderische Konsequenz, die nicht harm-
los sei, sondern das „Todesurteil über Millionen von Menschen“ bedeutete.
„Wenn die Menschen nichts für den Nächsten empfinden, was soll sie davon
abhalten, sich gegenseitig totzuschlagen? [...] Dort, wo menschliches Empfinden vor-
handen ist, scheut man sich, die fürchterlichen Waffen, die schauerlichen Giftgase
gegen seine Nachbarn anzuwenden. Wo aber das Gefühl ausgeschaltet wird, dort gibt
es auch keine Hemmung für die restlose Vernichtung der Mitmenschen, für die Ver-
giftung ganzer Bevölkerungsteile, auch wehrloser Männer, Frauen und Kinder.“ [Her-
vorhebung im Original]29
In Exilkreisen wurde der Stellenwert der „Protokolle der Weisen von Zion“ und
die durch sie vermittelte Vorstellungswelt für Hitler und andere führende Nationalso-
zialisten von Alexander Stein 1936 hervorgehoben, ähnlich wie später Konrad Hei-
den im Jahre 1944. Steins zentrale These war, dass Hitler nicht nur die Weltsicht und
die Erkenntnis des „einen Feindes“ aus den Protokollen bezogen habe, sondern auch
Hinweise für seine eigene Taktik und zum eigenen Vorgehen aus ihnen entnahm.
Stein führte Berichte von ehemaligen Mitarbeitern Hitlers an, nach denen dieser die
Protokolle auswendig gelernt habe und sich ihrer Weisungen bediente. Stein leitete
eine Vielzahl von Motiven im Denken Hitlers aus den Protokollen ab. Zu diesen
Motiven zählte er z. B. die Vorstellung, Gewalt gehe vor Recht, Hitlers Taktik im
Umgang mit Macht, seine Art, das Volk durch Brot und Spiele zu beschäftigen und
abzulenken, den Führerkult überhaupt, die antidemokratische Ausrichtung der gan-
zen Hitlerschen Politik, seinen skrupellosen Machtwillen, seine Bereitschaft, über ei-
nen Staatsstreich eine Diktatur einzurichten und Hitlers Willen, mit demagogischen
Mitteln das Volk zu beeinflussen. Selbst die Vorstellung vom „völkischen Staat“ sah
Stein durch die Protokolle beeinflusst, auch Hitlers Bereitschaft, durch eine Schrek-
kensherrschaft den Rechtsstaat zu zerstören, das Denunziantentum als Herrschafts-
29 Irene Harand, Sein Kampf. Antwort an Hitler, Wien 1935, Zit.: S. 194 ff. und S. 337 f.
38 Interpretationen des NS-Antisemitismus
mittel einzusetzen und die Presse im Sinne eigener Ziele zu steuern. Zu guter Letzt
fand Stein noch eine Gemeinsamkeit im Ziel, nach der Weltherrschaft zu streben.30
Ähnlich argumentierte Ruben Blank in seiner in Frankreich im Jahre 1938 er-
schienenen Schrift, worin er die Geschichte der Protokolle und ihre Wirkung auf
Hitler darstellte, der sie immer wieder gelesen haben soll. Die Protokolle würden
nicht den jüdischen Geist widerspiegeln, aber dafür umso mehr den des nationalso-
zialistischen Deutschland.31 Aber auch in England wurde die These vertreten, dass
Hitler und die Nationalsozialisten politische Ziele und Techniken von den Protokol-
len übernommen hätten.32 Viele zeitgenössische Darstellungen des Nationalsozialis-
mus berichteten schwerpunktmäßig über die judenfeindliche Politik in Deutschland,
oft in Form einer Chronique scandaleuse.33
Für einen unter dem Pseudonym Frateco im Jahre 1935 veröffentlichenden Autor
schob Hitler von Beginn seiner politischen Karriere an „den Juden“ die Schuld für
alle negativen Entwicklungen zu. Juden und Marxisten seien Hitlers Feinde, ein Kampf
gegen den Marxismus sei auch ein Kampf gegen die Juden. Die Juden würden in
Hitlers Sicht gegen Deutschland um die Weltherrschaft kämpfen, „der Jude“ sei ihm
die große Gefahr für alle Welt.34 Andere Autoren wiesen auf konspirationstheoretische
Elemente des nationalsozialistischen Antisemitismus hin, nach denen alle Juden ge-
30 Alexander Stein (Pseud.: Alexander Rosenstein), Adolf Hitler, Schüler der „Weisen von Zion“,
Karlsbad 1936, Zit.: S. 32. Für die Berichte der ehemaligen Mitarbeiter führte Stein eine an-
onym in der Deutschen Freiheit, H. 10–20, in Saarbrücken 1933–1935 erschienene Serie an. In
den Artikeln wurde wohl die Abhängigkeit Hitlers von den Protokollen behauptet, einen Beleg,
dass er sie auswendig gelernt hatte, stellen sie aber nicht dar. Dennoch ist Steins Behauptung
nicht völlig unwahrscheinlich, Berichte von engen Mitarbeitern Hitlers behandeln häufig sein
gutes Gedächtnis, das ihm erlaubte, umfangreich auswendig zu zitieren.
31 Ruben Blank, Adolf Hitler, ses aspirations, sa politique, sa propagande et les „Protocoles des
Sages de Sion“. Avec une Preface sur le Racisme & l’Antisemitisme par Paul Milioukov, Paris
1938, S. 197 ff. Es ist durchaus möglich, dass sowohl Heiden als auch Blank auf die Arbeit von
Alexander Stein in ihren Darstellungen aufbauen. Evtl. auch Hermann Rauschning, Gespräche
mit Hitler, Zürich 1940, S. 224–227, der herausstellte, dass Hitler viel von den Protokollen
gelernt habe.
32 Hans Kosmala, The Protocols of Zion, A secret source of Nazi Ideology, hrsg. vom Church of
Scotland Publications Dept., Edinburgh 1942.
33 François de Tessan, Voici Adolf Hitler, Paris 1936; Konrad Heiden, The New Inquisition, New
York 1939; Dokumentensammlung über die Entrechtung, Ächtung und Vernichtung der Juden
in Deutschland seit der Regierung Adolf Hitler, o. O. 1936; Der wirtschaftliche Vernichtungs-
kampf gegen die Juden im Dritten Reich, dargestellt von der ökonomischen Abteilung des jüdi-
schen Weltkongresses, Paris 1937; Max Warburg, Six Years of Hitler. The Jews under the Nazi
Regime, London 1939; Was soll mit den Juden geschehen? Praktische Vorschläge von Julius
Streicher und Adolf Hitler, Paris 1939; Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage
der Juden in Deutschland 1933, hrsg. vom Comité des Delegations Juives, Paris 1934.
34 Frateco (Pseudonym von Otto Straßer?), M. Hitler, Dictateur. Traduit de l’allemand sur le
manuscrit inédit, Paris/Bruxelles 1935, S. 44 ff., 77 ff.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 39
gen Deutschland kämpften.35 Sebastian Haffner erkannte im Jahre 1939, dass die
Juden für die Nationalsozialisten eine Art „Untermenschen“ seien, denen zugleich
teuflische Eigenschaften anhafteten. Die Nationalsozialisten brachten eine Absage an
alles, was Haffner als Kultur des menschlichen Lebens schätzte. Sie wollten die Deut-
schen dazu „abrichten, daß sie die Juden über die ganze Welt hin verfolgen und mög-
lichst ausrotten“. Damit versuchten die Nationalsozialisten etwas weltgeschichtlich
Neues, die „Ursolidarität [...] innerhalb des Menschengeschlechts“ außer Kraft zu
setzen. „Ist erst einmal die grundsätzliche immerwährende Mordbereitschaft gegen
Mitmenschen geweckt und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine Kleinigkeit, die
Einzelobjekte zu wechseln. Schon heute zeigt sich ziemlich deutlich, daß man statt
‚Juden‘ auch ‚Tschechen‘, ‚Polen‘ oder irgendetwas anderes setzen kann. Worum es
sich hier handelt, ist die systematische Impfung eines ganzen Volkes – des deutschen –
mit einem Bazillus, der bewirkt, daß die von ihm Befallenen gegen Mitmenschen wöl-
fisch handeln; oder, anders ausgedrückt, die Entfesselung und Hochzüchtung jener
sadistischen Instinkte, deren Niederhaltung und Abtötung das Werk eines viel-
tausendjährigen Zivilisationsprozesses war.“36
Auch der Sozialist Kurt Caro, der unter dem Pseudonym Manuel Humbert im
Jahre 1936 ein Buch über Hitlers Mein Kampf veröffentlichte, stellte die zentrale
Rolle der Protokolle für Hitlers Denken heraus. Hitler sei von der Fiktion einer „jüdi-
schen Weltherrschaft“ besessen, die gebrochen werden müsse, um den „germanischen
Staat deutscher Nation“ zu errichten: „Diese Lehre des kochenden Nationalismus
verlangt unabänderlich nach Krieg, nach Welteroberung und damit nach Weltkrieg.“37
Eine Darstellung des Nationalsozialismus aus marxistisch-leninistischer Sicht
stammte von Hans Günther (zuerst im Jahre 1935 in Moskau erschienen), der den
Nationalsozialismus in einer „ökonomischen Analyse“ als Herrschaftsform der Bour-
geoisie darstellte, wobei sie sich der „Faschisten“ wie der Sozialdemokraten mit „glei-
chen klassenmäßigen Missionen“ unter dem „Schein ihrer prinzipiellen Gegnerschaft“
bediente. In grotesker Verkennung der politischen Verhältnisse vermochte Günther
in seiner konspirologischen marxistischen Dogmatik in Hitler nur ein „Werkzeug“
der „Großbourgeoisie“ zu sehen. Elemente der nationalsozialistischen „Ideologie“
waren ihm zuerst der „Antimarxismus“, danach der Nationalismus, ferner ein
„Bestialismus als faschistisches Prinzip“, eine hohe Gewaltbereitschaft und die Vor-
bereitung eines künftigen Krieges. Als probates Mittel gegen den Weltherrschaftsan-
35 Max Beer, L’Allemagne devant le Monde, Paris, ca. 1935, S. 27. Beer war Mitarbeiter von
Gustav Stresemann (so die Angabe im Vorwort). Oswald Dutch (Pseud. von ?), Les 12 Apôtres
d’Hitler, Paris 1940, S. 194.
36 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart/Mün-
chen 2000, S. 139 f.
37 Manuel Humbert (Pseudonym: Kurt Caro), Hitlers „Mein Kampf“. Dichtung und Wahrheit,
Paris 1936, S. 193–203, 381.
40 Interpretationen des NS-Antisemitismus
spruch des Kapitals, der sich im „Faschismus“ zeigte, empfahl Günther schlicht die
„Weltrevolution“. Innerhalb der nationalsozialistischen „Ideologie“ seien die „Fa-
schisten“ am Rassismus nur deshalb interessiert, weil sich dahinter die Klassenfrage
verbergen ließe. „‚Rasse‘ [...] – das ist zwar nur ein anderer, aber eben ein mythologi-
scher Ausdruck für die monopolistische, unmittelbar-diktatorische Herrschaft der
Großbourgeoisie im Terrain der Ideologie.“ Der Antisemitismus war für Günther nur
eine gesteigerte Weise der Demagogie des Rassismus: „Ist es tatsächlich die Hoff-
nung, durch Vernichtung des jüdischen Elements dem deutschen Kapitalismus auf die
Beine zu helfen?“ [Hervorhebung im Original] Nein, der „eigentliche Feind, der mit
der antisemitischen Hetze getroffen werden soll, ist nicht das Judentum, sondern der
Kommunismus!“ Deshalb würde der Marxismus als Werkzeug bezeichnet, mit dem
die Herrschaft des „internationalen Weltjudentums“ errichtet werden solle. Die in-
ternationale Hochfinanz würde mit der „Regierung der Sowjetunion“ in Verbindung
gebracht, als Beweis für diese Verbindung dienten die „Protokolle der Weisen von
Zion“, um den „Abwehrkampf gegen die revolutionären Arbeiter mit der Rassen-
theorie in Einklang“ zu bringen.38 Günthers Ansichten sollten manchen marxistischen
Theoretiker beeinflussen.
Die einzige empirische Untersuchung über die Anhänger des Nationalsozialismus
und deren politische Motive wurde im Jahre 1938 von Theodore Abel in den USA
veröffentlicht. Er wertete 600 Aufsätze von Deutschen aus, in denen diese beschrie-
ben, wie sie Nationalsozialisten wurden. Nach Abel führten vier Faktoren zum Erfolg
der Nationalsozialisten:
1. eine Unzufriedenheit mit der sozialen Ordnung,
2. die besondere Ideologie und das politische Programm für soziale Veränderungen,
3. die organisatorischen und propagandistischen Techniken der NSDAP,
4. der charismatische Führer Hitler.
Der Ideologie wurde dabei von Abel eine vorrangige Rolle zugewiesen. Der Er-
folg der Hitler-Bewegung liege aber in der Kombination aller vier Faktoren.
Abel fand in seiner Studie die Vermutung bestätigt, dass viele Anhänger Hitlers
von der nationalsozialistischen Rassendoktrin überzeugt waren. Allerdings zeigte er,
dass dies weniger auf die mysteriöse Vorstellung einer „Blutskraft“ zurückging als
auf deren antisemitische Ausrichtung. Damit habe der Antisemitismus in einem be-
merkenswerten Ausmaß zum Erfolg der NSDAP beigetragen. Die Parteigänger seien
dabei sowohl von persönlichen Erfahrungen mit Juden als auch von „Aufklärungs-
schriften“ über die „Judenfrage“ zu Antisemiten bekehrt worden, und viele hätten
sich an gewaltsamen Aktionen beteiligt. Abel stellte aber fest, dass rund 60 % seines
Samples keine Hinweise auf antisemitische Einstellungen lieferten. Das verwunderte
ihn, war doch die Gleichsetzung nationalsozialistischer Propaganda mit Juden-
38 Hans Günther, Der Herren eigner Geist, Berlin/Weimar 1981, Zit.: S. 220–236.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 41
39 Theodore Abel, Why Hitler came into Power? An Answer Based on the Original Life Stories of Six
Hundred of his Followers, Cambridge, Mass. 1986 (Erstausgabe Prentice Hall 1938), S. 164–188.
Das Sample entstand auf Basis eines Preisausschreibens im Juni 1934, das von der NSDAP
unterstützt worden war. Deshalb sind aus methodischer Sicht Vorbehalte hinsichtlich der Re-
präsentativität angebracht. Dennoch, und nicht nur weil es nichts Vergleichbares gibt, lassen
sich auf dieser Basis allgemein gültige Aussagen formulieren.
40 Robert C. K. Ensor, Herr Hitler’s self-disclosure in „Mein Kampf“, in: Oxford Pamphlets on
World Affairs, Bd. 3, Oxford 1939.
41 Edgar Ansel Mowrer, Germany puts the clock back, 3. Aufl., Harmondsworth/Middlesex 1937,
S. 186.
42 Interpretationen des NS-Antisemitismus
von ihnen für seinen politischen Kampf anregen ließ.42 Vordem hatte Rauschning
(1938) hingegen die Auffassung vertreten, dass jegliche Weltanschauung für den Na-
tionalsozialismus nur von geringer Bedeutung sei, dieser eine „doktrinlose oder nihi-
listische Revolution“ in Deutschland begonnen habe, für die der Antisemitismus und
der Rassismus allein als Elemente der Herrschaftstechnik an Wert besäßen. Der Anti-
semitismus sei nur ein „Umsturzsurrogat“: Durch die Freisetzung einer brutalen Zer-
störungswut würden die Massen von einem wahren Umsturz abgelenkt und dennoch
in revolutionärer Spannung gehalten. Wirtschaftliche Neidinstinkte würden befrie-
digt werden, weil die Konkurrenz ausgeschaltet worden sei. Faktisch seien aber nur
die Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit zerstört worden.43 Ganz ähnlich stellte
auch Franz Neumann im Jahre 1944 den nationalsozialistischen Antisemitismus als
eine Methode dar, „die antikapitalistischen Sehnsüchte des deutschen Volkes zu stil-
len“, die gezielt eingesetzt würde, um die „Volksmassen“ zu mobilisieren oder von
anderen politischen Vorgängen abzulenken. Antisemitismus und Rassismus waren
für Neumann „ein Ersatz für den Klassenkampf“ ebenso wie eine „Rechtfertigung
für die Expansion nach Osten“. Die Denunziation der politischen Gegner Bolsche-
wismus, Sozialismus, der Demokratie, des Liberalismus und des Kapitalismus als „jü-
disch“ habe, verbunden mit der planvollen Ausrottung der Juden, den Zweck, eine
Gesellschaft zur totalitären Gesellschaft zu machen. Sie biete die Möglichkeit, Terror
gegen alle Gruppen und Institutionen zu richten, die gegen den Nationalsozialismus
seien, und verstricke immer breitere Schichten des deutschen Volkes in die Verbre-
chen der Nationalsozialisten.44 Die z. B. von Rauschning und Neumann vertretenen
Thesen, dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten nicht wörtlich ernst zu neh-
men, sondern vor allem ein Instrument zur Herrschaftsstabilisierung sei, scheint auch
die Regierungen der West-Alliierten zu Zeiten des Krieges in ihrer Haltung gegenüber
den jüdischen Zivilisten im deutschen Machtbereich beeinflusst zu haben. Sie führten
zu einer Unterschätzung der tödlichen Gefahr, in der sich Juden seit Kriegsbeginn
befanden.45
Eine der frühesten psychoanalytischen Studien über Hitler stammte von Walter
Langer, der sie im Jahre 1943 für das amerikanische Office of Strategic Sevices (OSS)
anfertigte. Nach Langer hatte Hitler zwei Komplexe, die ihn belasteten: die Erfah-
42 Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S. 224–227. Zum Quellenwert: Theo-
dor Schieder, Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ als Geschichtsquelle, in: Rhein.-
Westfäl. Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 178, Opladen 1972; Karl-Heinz Janßen,
Kümmerliche Notizen. Rauschnings „Gespräche mit Hitler“, in: Die Zeit, 19. Juli 1985.
43 Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich,
5. Aufl., Zürich/New York 1938, S. 87, 144 ff.
44 Franz Neumann, Behemoth. Die Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frank-
furt a. M. 1977 [Übersetzung der 2. Aufl. 1944], S. 158 f., 583.
45 Yehuda Bauer, Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutsch-
land und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 402 u. ö.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 43
rung mit der Krankheit und dem Tod seiner Mutter und passive feminine Tendenzen
bzw. eine uneingestandene Homosexualität. Hitler habe vor dem Ersten Weltkrieg
eine miserable Zeit verlebt. Erst die Teilnahme am Krieg ermöglichte ihm, aus seiner
Existenz als underdog herauszukommen, indem er an einer Aktion teilhatte, die mit
Macht und Prestige verbunden war. Die deutsche Niederlage machte jedoch alle Hoff-
nungen Hitlers auf eine neue Existenz zunichte. Die Niederlage und die Revolution
seien zum Wendepunkt in seinem Leben geworden. „In diesen Nächten wuchs mir
der Haß, der Haß gegen die Urheber dieser Tat“ – so Hitler in Mein Kampf, womit er
die Juden, Marxisten und Novemberverbrecher gleichermaßen gemeint seien. Hitler
reagierte für Langer als Hysteriker, er hörte Stimmen, die ihn beauftragten, Deutsch-
land zu erlösen. Dazu wäre es zuerst notwendig, die Feinde zu bekämpfen. In einer
„Identification with the Aggressor“ imaginierte Hitler sich selbst als die Person, die
die notwendigen Eigenschaften besaß und den Feinden widerstehen könne. Hitler
projizierte alle seine unerwünschten Eigenschaften auf die Juden: „Just as Hitler had
to exterminate his former self in order to get the feeling of being great and strong, so
must Germany exterminate the Jews if it is to attain its new glory. Both are poisons
that slowly destroy the respective bodies and bring about death.“ Hitler zeigte in der
„Identifikation mit dem Aggressor“, dass er in Wirklichkeit selbst praktizierte, was er
in seiner Fantasie von dem siegreichen Feind befürchtete. Dieser Mechanismus würde
Hitler dazu treiben, sich immer wieder gegen die alte, abgelehnte Persönlichkeit abzu-
setzen und seine eigene Unsicherheit durch Aktion zu überwinden mit der Folge, dass
einer Gewaltaktion eine neue Gewaltaktion folgen müsse, eine Grausamkeit durch eine
neue abgelöst, ein Machtgewinn durch einen weiteren übertrumpft werden müsse.46
Es ist auffallend, dass bereits vor dem Jahre 1933 zeitgenössische Analytiker und
Kritiker Hitlers und des Nationalsozialismus eine Bereitschaft zu politischer Eskalati-
on und Verbrechen, bis hin zu Krieg und Völkermord, in öffentlichen Äußerungen
erkannt hatten (Heiden, Niekisch, Heuss, Laurent). Dabei ist sicherlich zu berück-
sichtigen, dass es von der Formulierung bestimmter Ansichten und Vorhaben noch
ein weiter Weg war, bis sie in die Tat umgesetzt werden konnten. Doch fraglos unter-
liegt politische Rede keiner Beliebigkeit, sondern formuliert vor allem auch Vorstel-
lungen und Absichten zu einer möglichen Ausübung von politischer Macht. Und nach
der „Machtergreifung“ wurde diese Bereitschaft zur Eskalation deutlich anhand der
nationalsozialistischen Judenpolitik, die Schlimmstes befürchten ließ (Harand, Heiden,
Mann, Ensor). Die rassistische Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschau-
ung und das hiermit verbundene antagonistische Denkschema eines Rassenkampfes
zwischen Ariern und Nichtariern bzw. in erster Linie Juden wurden von den meisten
Autoren hervorgehoben. Interessant erscheint, dass dieser Aspekt auch in Frankreich
46 Walter Langer, The Mind of Adolf Hitler. The secret wartime Report [1943], London 1972,
Zit.: S. 195, zit. nach: Mein Kampf, Bd. 1, S. 216.
44 Interpretationen des NS-Antisemitismus
schon vor dem Jahre 1933 erkannt wurde (Laurent). Die Funktion des Antisemitis-
mus wurde aber unterschiedlich beschrieben. Viele erkannten in ihm ein Mittel zur
Mobilisierung von Anhängern (Heiden, Harand, Olden, Mann, Rauschning). Mitun-
ter wurde er in ein existierendes, ideologisches oder philosophisches Schema einge-
ordnet, das den Blick auf den Nationalsozialismus verstellte (Günther, Niekisch, mit
Einschränkungen H. Mann). Die „Protokolle der Weisen von Zion“ wurden von
vielen Autoren als bedeutungsvoll für den nationalsozialistischen Antisemitismus er-
achtet, wobei sie einerseits als Rechtfertigung für die nationalsozialistische Gewalt-
und Kriegspolitik gewertet (Harand, Heiden vor 1933, Olden, Caro, Frateco), ande-
rerseits aber auch als „Lehrbuch“ für das Verhalten Hitlers und der NSDAP interpre-
tiert wurden (Blank, Heiden nach 1933, Kosmala, Stein). Die Abhandlung des anony-
men „Renegaten“ aus dem Jahre 1934 weist darauf hin, dass es im Hinblick auf den
Antisemitismus sogar innerhalb der NSDAP unterschiedliche Vorstellungen und Motive
gab. Dies führt zu der Frage, welche antisemitischen Inhalte und Motive von den
Nationalsozialisten besonders stark propagiert wurden und worin sie sich hierbei von
anderen antisemitischen Gruppierungen unterschieden.
In zeitgenössischen Darstellungen waren sogar schon die Interpretationslinien sicht-
bar, die die Forschung nach dem Jahr 1945 beeinflussen sollten: die eher auf funktio-
nale Prinzipien abstellenden Thesen (H. Mann, Olden, Neumann), die sich mitunter
im Gegensatz zu ideologisch-intentionalen Interpretationen befinden (Harand, Hei-
den, Ensor), und zudem noch die hilflosen Versuche einer marxistischen Interpretati-
on (Günther). Es wurde deutlich, dass viele Zeitgenossen ahnten, die Gewalttaten der
Nationalsozialisten würden sich nach einer „Machtergreifung“ noch weiter steigern.
Diese Befürchtungen orientierten sich an den historischen Erfahrungen der Juden-
diskriminierung und Judenverfolgung vergangener Jahrhunderte – immerhin wurde
das Schlimmste befürchtet, was Juden in der Geschichte jemals zu erleiden hatten.
Weiter reichte die Vorstellungskraft der Zeitgenossen nicht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialis-
mus waren die Fragen nach den Ursachen und nach der historischen Kontinuität in
Deutschland vor und nach 1933 zentral für eine Vielzahl von Untersuchungen über
den Nationalsozialismus in Deutschland von 1920 bis 1945. Im Laufe der Jahrzehnte
nach Hitlers Ende konnte die Quellenbasis für Forschungen zu diesem Thema stark
erweitert werden. Nicht zuletzt durch das Auftauchen von großen Archivbeständen,
die bis in die 1980er-Jahre unbekannt oder unzugänglich waren, konnten Forschun-
Interpretationen des NS-Antisemitismus 45
47 Barbro Eberan, Luther? Friedrich „der Große“? Wagner? Nietzsche? Wer war an Hitler schuld?
Die Debatte um die Schuldfrage 1945–1949, München 1983.
48 Z. B. Thomas Aich, Massenmensch und Massenwahn. Zur Psychologie des Kollektivismus,
München 1947, S. 182 ff.
49 Zu den ersten Interpretationen nach 1945: Jean Solchany, Vom Antimodernismus zum Anti-
totalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945–
1949, in: VfZ 44 (1996), S. 373–394. Solchany wies darauf hin, dass das Totalitarismuskonzept
schon zuvor in den USA entwickelt worden war.
46 Interpretationen des NS-Antisemitismus
zwischen privat und öffentlich mehr gegeben habe. Der organisatorische Aufbau der
Partei brachte aber in der Bürokratisierung eine Gefahr für die Wirkung des Mythos
durch die Depersonalisierung desselben. Hitler hatte jedoch die gegenseitige Bedingt-
heit von Propaganda und Organisation einer totalitären Partei im Gegensatz zu seinen
Zeitgenossen klar erkannt. Die Propaganda begründete den Mythos, dieser wurde in der
Organisation verstetigt und band den Einzelnen stärker an die Partei. Das Zentrum
der Propaganda und der Organisation war Hitlers Sicht von sich selbst als eine über-
menschliche Kraft, als ein Beauftragter der Geschichte, der dazu bestimmt war,
Deutschland zu nationaler Größe wiederauferstehen zu lassen. Die Anhänger wurden
Organe des Beauftragten, die Gegner zu Instrumenten des Bösen.53
Bei der Geschichte der NSDAP bis zur Machtergreifung im Jahre 1933 interes-
sierte sich Wolfgang Horn in erster Linie für den Zusammenhang ereignis-
geschichtlicher Aspekte mit der Durchsetzung von Hitlers Führeranspruch. Er unter-
suchte im Jahre 1972 die Methoden, mit denen es Hitler gelang, seine „Gefolgschaft“
an sich als „Führer“ zu binden und sich gegen andere völkische Gruppierungen und
Führungsfiguren abzugrenzen und durchzusetzen. Das Ziel der NSDAP von 1920
„entsprang einem engen, irrationalen Denkmodell, das Weltkrieg und Niederlage,
Revolution und ökonomische Krise monokausal auf den angeblichen Weltumsturz-
plan des zionistischen Judentums zurückführte.“ Jedoch schien für Horn die Pro-
grammatik der NSDAP keine besondere Rolle zu spielen, viel wichtiger war ihm, dass
sich der Glaube an die Idee auf den Glauben an Hitler reduzierte. Die politische Dok-
trin und der Führer seien nach 1919 schnell zu einer Einheit geworden.54 Horns Er-
gebnis war kaum überraschend, zog er doch kaum Quellen heran, die Einblicke in die
Motivation der nationalsozialistischen Anhängerschaft erlaubten.
Albrecht Tyrell untersuchte im Jahre 1975 Hitlers Selbstverständnis im Hinblick
auf seine Rolle als junger Parteiführer. Hitlers ideologische Motivation sei primär
außenpolitisch bestimmt gewesen, seine Weltanschauung am Aufstieg Deutschlands
ausgerichtet gewesen und daran, den „jüdischen Weltfeind“ unschädlich zu machen.
Den Antisemitismus habe Hitler aber auch häufig aus taktischen Gründen zurückge-
stellt. Stattdessen habe ihm der Begriff des „jüdischen Marxismus“ als Variable für
den Antisemitismus gedient.55
Für Gerhard Schulz stellte sich die Aufgabe, die in den ersten Jahrzehnten nach
1945 vorherrschenden Deutungsmuster des Nationalsozialismus zu überwinden. Er
53 Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party, 1919–1933, Bd. 1, Pittsburg 1969; ders., The
History of the Nazi Party, 1933–1945, Bd. 2, Pittsburg 1973; ders., The Conversion of Myths
into Political Power, The Case of the Nazi Party 1925/26, in: American Historical Review 72
(1967), S. 906–924.
54 Wolfgang Horn, Der Marsch zur Machtergreifung. Die NSDAP bis 1933, Königstein/Ts./Düs-
seldorf 1980 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1972), S. 31, 264, 422.
55 Albrecht Tyrell, Vom „Trommler“ zum „Führer“. Der Wandel von Hitlers Selbstverständnis
zwischen 1919 und 1924 und die Entwicklung der NSDAP, München 1975, S. 48.
48 Interpretationen des NS-Antisemitismus
wollte weder diese Epoche als einen „Betriebsunfall“ in der deutschen Geschichte iso-
lieren noch eine lange Linie einer historisch sich konsequent auf den Nationalsozialis-
mus entwickelnden Nationalgeschichte zeichnen. Er untersuchte die Entstehungs-
bedingungen des Nationalsozialismus im Hinblick auf internationale und nationale
Faktoren, die es Hitler ermöglichten, zum Reichskanzler zu werden. Dem Antisemitis-
mus Hitlers habe die barbarische Utopie einer Identität von Volk, Raum und Ideologie
zugrunde gelegen, er diente den Nationalsozialisten zur Verknüpfung unterschiedli-
cher politischer Zielsetzungen und der Mobilisierung unzufriedener Schichten. Der
Antisemitismus des 19. Jahrhunderts habe zwar einen Schuldigen für alle Erscheinun-
gen der Modernisierung genannt, aber gleichzeitig auch eine Begegnung der kon-
ser-vativen Bürgerlichen mit der Arbeiterbewegung verhindert. Hitler habe aus den
antisemitischen Einflüssen, die er bereits in Wien aufnahm, ein verzerrtes und simpli-
fiziertes Weltbild entwickelt, das weder Erklärungen lieferte noch analytische Betrach-
tungen gekannt habe. Dabei sei ihm die Vorstellung vom Kampf leitend gewesen, der
für ihn immer gleichzeitig ein Kampf der Weltanschauungen und ein realer Kampf in
der Politik gewesen sei. Für diesen, seinen Kampf, diente Hitler die „völkische Weltan-
schauung“ als ein „Glaubensbekenntnis“, dessen Inhalt das Dogma vom marxisti-
schen Feind war, der mit dem Internationalismus und dem Judentum gleichgesetzt
worden sei. Die Arbeit von Schulz war einer der ersten Versuche, den Nationalsozia-
lismus in einer Weise darzustellen, die eine Vielzahl von Faktoren integrierte.56
Während die deutsche Forschung in den 1970er-Jahren sich stark an Fragen der
Herrschaftsorganisation und der Herrschaftsform des Nationalsozialismus orientier-
te, wandte sich der Amerikaner Peter H. Merkl im Jahre 1975 mit sozialwissenschaft-
lichen Methoden den Mitgliedern der NSDAP zu. Die von Theodore Abel schon im
Jahre 1934 gesammelten Aufsätze von Mitgliedern der NSDAP wurden von ihm einer
zweiten Auswertung unterzogen. Antisemitismus war nach Merkl Hitlers „Big Lie“,
die Hunderttausende von seiner Sache überzeugte. Gut ein Viertel der Aufsatzschreiber
berichtete, unter dem Eindruck persönlicher Krisen oder dem Kultur-Schock von 1918
plötzlich zu bösartigen Antisemiten geworden zu sein. Das gibt aber keine Auskunft
über eine Zustimmung oder stillschweigende Billigung des Antisemitismus von weite-
ren Mitgliedern der Partei oder eine mögliche Zurückhaltung anderer Aufsatzschreiber
bei diesem Thema. Merkl stellte fest, dass besonders die Parteigenossen, die nicht im
Ersten Weltkrieg gedient hatten, zu Hitler-Kult und Antisemitismus neigten.
Der Antisemitismus der Aufsatzschreiber war in erster Linie aus persönlichen
Erlebnissen und deren ideologischer Interpretation mit Hilfe von Schriften der NSDAP
und anderer antisemitischer Gruppierungen entstanden. Die Antisemiten zeigten ge-
nerell eine soziale Immobilität oder befanden sich in einer Situation des sozialen Ab-
stiegs. Das Jahr 1918 brachte mit der Niederlage und der Revolution für viele Deut-
56 Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus. Krise und Revolution in Deutschland, Frank-
furt a. M. 1975, S. 755.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 49
sche einen Kulturschock, der einen „Judenkoller“ zur Folge hatte, in dem „den Juden“
die Schuld für politische, soziale und persönliche Entwicklungen zugeschrieben wur-
de. Dabei stellte Merkl fest, dass der Judenkoller einem Bekehrungserlebnis glich, das
zu einem antisemitischen Glauben führte. Dieser Glauben vermochte, geschichtliche,
politische und persönliche Ereignisse letztgültig zu erklären, und drängte danach, mit
missionarischem Eifer verbreitet zu werden. 70 % der Parteigenossen mit Parteiamt
waren nach Merkl paranoide Typen, ebenso alle, die sich in SA und SS durch beson-
dere Gewalttätigkeiten hervortaten, gleichfalls die meisten Funktionäre in diesen Or-
ganisationen. Im Parteiapparat der NSDAP dominierten politische Antisemiten. Die
Parteigenossen, die nach dem Jahre 1933 eine Karriere machten, zeigten sich zuerst
motiviert von nordisch-germanischem Romantizismus, dann vom Antisemitismus und
zuletzt vom Hitler-Kult. Nach Merkl könnten über 70 % der Partei-Karrieristen als
Antisemiten angesehen werden.57
Eine Untersuchung von Michael Kater über die Mitglieder und Führer der NSDAP
auf Basis repräsentativ ausgewählter Fälle aus der NSDAP-Mitglieder-Kartei zeigte
im Jahre 1983 auf, welche Bedeutung der nationalsozialistische Antisemitismus für
verschiedene soziale Gruppen von NSDAP-Mitgliedern besaß. Arbeiter hätten kaum
Verständnis für den nationalsozialistischen Antisemitismus gehabt, sie hingen eher
konventionellen, antijüdischen Vorurteilen nach. Die nationalsozialistische Propa-
ganda stellte jedoch die Juden als den Erzfeind dar – mit geringer Resonanz bei der
Arbeiterschaft. Hingegen sei die untere Mittelklasse durch die antisemitischen Paro-
len der Nationalsozialisten stark angesprochen worden. Bei einer akademisch gebil-
deten Elite sei der Antisemitismus auf eine lange Tradition von Judenhass getroffen.
Diversen Berufsgruppen dieser Elite bot die antisemitische Politik nach 1933 Vorteile,
weil sie jüdische Konkurrenten aus ihrem Beruf vertrieb. Da sich das Führungskorps
der NSDAP aus der unteren Mittelklasse rekrutierte, bestimmte ein recht starker An-
tisemitismus die nationalsozialistischen Funktionäre auf allen Ebenen.58
Historiographische Darstellungen der NSDAP vor dem Jahre 1933 zeigten im
Hinblick auf den Antisemitismus recht disparate Ergebnisse. So wurde die Partei ein-
fach als antisemitisch qualifiziert, ohne dies zu differenzieren (Maser). Weitere Unter-
suchungen sahen den Antisemitismus als entscheidenden Einfluss auf die nationalso-
zialistische Weltanschauung (Needler), mittels dessen die Anhängerschaft der Partei
integriert wurde (Needler, Schulz). Nach einem dritten Grundmodell diente der Anti-
semitismus der NSDAP primär dazu, im Freund-Feind-Schema das Bild des Feindes
zu zeichnen (Schulz, Orlow). Andere betonten, der Antisemitismus sei vor allem ein
taktisch angewandtes Propagandainstrument (Tyrell). Hingegen wurde bei der Un-
57 Peter H. Merkl, Political Violence under the Swastica, 581 Early Nazis, Princeton 1975, S. 505,
682 ff.
58 Michael H. Kater, The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders, 1919–1945,
2. Aufl., Oxford 1985.
50 Interpretationen des NS-Antisemitismus
Antisemitismus Hand in Hand mit dem festen Glauben an seine Wahrheit.“61 Damit
hätte die nationalsozialistische Weltanschauung die gleiche Doppelfunktion, die Hit-
ler auch für sich selbst als Theoretiker und Praktiker behauptete: die Verbindung
weltanschaulicher Ziele mit politischer Praxis.62 Für Johannes Zischka war im Jahre
1986 die nationalsozialistische Rassenideologie durchaus eine „handlungsorientierte
Zielvorstellung“ und „ein die praktische Politik der Nationalsozialisten bestimmen-
des Dogma“.63
Den von Antisemitien frei erfundenen „Protokollen der Weisen von Zion“ wurde
eine wichtige Bedeutung für den Antisemitismus Hitlers beigemessen.64 Hitler ver-
band mit dem Antisemitismus auch die Vorstellung eines Kampfes, den Deutschland
stellvertretend für die anderen „arischen Rassenkerne“ in der Welt gegen „das Welt-
judentum“ auszufechten habe. Dabei gehe es um „Sieg oder Untergang“ für jede der
beiden Seiten.65 Die antisemitischen Motive in der nationalsozialistischen Politik
wurden aber häufig im weiteren Gang historischer Untersuchungen nicht mehr expli-
ziert, wie beispielsweise in der Darstellung von Uwe Dietrich Adam zur Judenpolitik
des Dritten Reiches. Adam verstand Hitlers vielfachen Hinweis auf den angeblichen
Feind „internationales Weltjudentum“ nur als „übliche Ausfälle gegen das interna-
tionale Judentum“. Er kam im Jahre 1972 mit seinem Ansatz, der die ideologische
Motivation gegenüber strukturellen Bedingungen gering schätzte, zu dem Ergebnis,
dass von einer geplanten und gelenkten Judenpolitik nicht die Rede sein könne und
dass die Massentötung mit „größter Wahrscheinlichkeit“ von Hitler nicht von An-
fang an als politisches Ziel angestrebt worden sei. In einem gewissen Spannungsver-
hältnis dazu stand die logische Konsequenz, mit welcher der Entrechtungsprozess der
Juden ablief, der einen Eindruck von Vorausberechnung und Planung hinterlasse.66
In der Forschung wurde auch auf eine lange Tradition und Entwicklung des An-
tisemitismus verwiesen, an deren Ende eine „Endlösung“ gleichsam folgerichtig und
unvermeidbar stand, so beispielsweise bei Gerald Reitlinger,67 Léon Poliakov68 oder
Lucy Dawidowicz.69 Die Entwicklung der Forschung soll in den nächsten Abschnit-
ten dargestellt werden, wobei die unterschiedlichen Thesen über den nationalsozialis-
tischen Antisemitismus einigen Grundtypen zugeordnet werden.
Auch für viele Darstellungen des Nationalsozialismus nach 1945 galt, dass der natio-
nalsozialistischen Weltanschauung eine rein instrumentelle Funktion zugebilligt wur-
de, die der Erringung, Ausweitung und Stabilisierung der Macht diente. Der Kern des
Nationalsozialismus sei: „Nicht mehr als Machtgier und Herrschsucht.“70 Hitler habe
deshalb danach getrachtet, in jedem Gedanken die Machtfrage zu stellen. Hinweise
zu dieser Annahme gaben die vielen Abhandlungen über die Anwendung der Propa-
ganda als Technik der Machterlangung, die von den Nationalsozialisten und ihrem
politischen Umfeld produziert worden seien.
Schon frühe Analysen des nationalsozialistischen Staatsapparates, wie im Jahre
1944 Ernst Fraenkels Der Doppelstaat, untersuchten Hitlers Regierungspraxis.71
Fraenkels Darstellung basierte auf der Unterscheidung von Maßnahmenstaat und
Normenstaat. Der Maßnahmenstaat sei entstanden durch die Ernennung Hitlers zum
Reichskanzler am 30. Januar 1933, die Verhängung des zivilen Ausnahmezustandes
durch die Notverordnung vom 28. Februar 1933 (Verfassungsurkunde des Dritten
Reiches) und die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933.
Seine Besonderheit sei eine Auflösung des Rechtsstaates in Staatspolizeibehörden und
andere Sonderbehörden gewesen. Der Maßnahmenstaat richtete seine Aktionen ge-
gen alle Gegner des Dritten Reiches. Zur Scheinlegitimation bediente sich der
Maßnahmenstaat der Ideologie des Normenstaates, um seine politischen Ziele rechts-
66 Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 2. Aufl., Düsseldorf 1972, S. 153. Auch
Werner Maser, Adolf Hitler. Legende, Mythos, Wirklichkeit, 11. Aufl., München 1989, nannte
zwar einige antisemitische Einflüsse, konnte sie aber nicht in seine Darstellung von Hitlers Geistes-
welt integrieren.
67 Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939–
1945, Berlin 1956.
68 Léon Poliakov, Harvest of Hate, Philadelphia 1954.
69 Lucy S. Dawidowicz, Der Krieg gegen die Juden 1933–1945, München 1979.
70 Helga Grebing, Der Nationalsozialismus. Ursprung und Wesen, München 1959, S. 43.
71 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt a. M. 1974.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 53
staatlich zu tarnen. Juden fielen als Staatsfeinde unter die Zuständigkeit des
Maßnahmenstaates. Bei Fraenkel spielte die qualitative Feststellung, wer oder was als
Feind des nationalsozialistischen Staates zu gelten habe, keine Rolle. So kamen die
Juden bei ihm einzig als soziale Gruppe vor, die vom Maßnahmenstaat und dessen
Aktionen besonders betroffen waren. Für Fraenkel basierten diese Maßnahmen auf
einem radikalen Antisemitismus, den er nicht weiter differenzierte.
Hannah Arendt wies im Jahre 1955 auf die Funktion des Antisemitismus in so
genannten Pan-Bewegungen der Alldeutschen und der Panslawisten hin. Antisemitis-
mus sei nicht mehr allein politische Waffe, sondern zum „Zentrum einer Gesamt-
weltanschauung“ geworden. Eine Funktion der „Protokolle der Weisen von Zion“
liege darin, die „Grundregeln aller macchiavellischen Politik“ aufzuzeigen, nach de-
nen eine polizeistaatliche Herrschaft aufgebaut werden konnte. Die völkischen „Mob-
führer“ hätten den antiken Mythos der Auserwähltheit eines Volkes (wie auch des
jüdischen Volkes) zur politischen Weltanschauung verformt, die eine rassische Über-
legenheit des eigenen Volkes behauptete. Das Leitbild hätten die „Protokolle der Weisen
von Zion“ beigesteuert, als „eines Hausbuches [recte: Handbuches] für die Organisa-
tion deutscher oder arischer Massen für die Errichtung eines Weltreiches.“ Die Na-
tionalsozialisten seien die Ersten gewesen, die die Protokolle nicht allein zur Hetze
benutzt, sondern auch erkannt hätten, dass die Massen von den Protokollen faszi-
niert waren, weniger weil sie die jüdische Weltherrschaft fürchteten, als dass sie von
diesen angeblichen Weltherrschern das Handwerk zu lernen versuchten. „Die Fiktion
einer gegenwärtigen jüdischen Weltherrschaft bildete die Grundlage für die Illusion
einer zukünftigen deutschen Weltherrschaft.“ Aus allein diesem Grunde sei der Anti-
semitismus in das Zentrum der „Nazifiktion“ gerückt. Die Rolle Hitlers als totalitä-
rer Führer sah Arendt in der Verbindung von Fiktion und Herrschaftspraxis:
„Die Kunst des totalitären Führers besteht darin, in der erfahrbaren Realität ge-
eignete Elemente für seine Fiktion herauszufinden und sie so zu verwenden, dass sie
fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. [...] Die Nazipropaganda
verwandelte die Fabel einer jüdischen Weltverschwörung aus einer objektiv debattier-
baren Lüge in das zentrale Element einer totalitären Wirklichkeit: Die Nazis handel-
ten wirklich so, als ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung
bedürfe, um gerettet zu werden.“72
72 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Aufl., München 1986, (Erstaufl.
1955), S. 368, 378 f., 568 ff. Arendt ging fälschlicherweise von der allgemein verbreiteten Vor-
stellung aus, die Protokolle hätten bereits in Russland um die Jahrhundertwende der Volks-
verhetzung gedient (s. jetzt: Michael Hagemeister, Die „Protokolle der Weisen von Zion“. Einige
Bemerkungen zur Herkunft und zur aktuellen Rezeption, in: Rußland und Europa. Historische
und kulturelle Aspekte eines Jahrhundertproblems, hrsg. von Michael Wegner/Claus Remer/
Erhard Hexelschneider, Jena 1995, S. 195–206).
54 Interpretationen des NS-Antisemitismus
73 Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung,
12. Aufl., München 1989 (Erstaufl. 1969).
74 Orlow, The History of the Nazi-Party, Bd. 2, S. 162 ff., 195.
75 Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozia-
lismus, 6. Aufl., Berlin 1979, S. 36 f., 50.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 55
76 Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart
1980.
77 Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos, Stuttgart 1999, Zit.: S. 300 ff.
56 Interpretationen des NS-Antisemitismus
Ideal der Volksgemeinschaft gelegen. Eine charismatische Herrschaft könnte aber nur
über längere Zeit bestehen, wenn sie in ständiger Spannung für die Anhängerschaft
gehalten würde. Diese Spannung sei erst durch die aktionistische Propaganda, dann
durch die Politik ab dem Jahre 1933 erzeugt worden.78 In seiner Biografie Hitlers
versuchte Kershaw in den Jahren 1998/2000 seine verschiedenen Thesen zum Grund-
gerüst einer umfassenden Darstellung zu machen.79
Nach David Welch war der Antisemitismus im Jahre 1993 ein propagandistisches
Instrument, das als Gegenbild einen „focus“ für die nationale Einheit bildete. „A
frustrated people needs to hate, because hatred when shared with others is the most
potent of all unifiying emotions.“ Vor Hitlers „Machtergreifung“ sei ein latenter
Antisemitismus schon weit verbreitet gewesen. Als Hitler zur Macht kam, habe er
„die Juden“ als permanenten Sündenbock gebraucht, an dem seine Anhänger ihre
Ressentiments abarbeiten konnten. „Anti-Semitism war not only the core of Nazi
ideology, but the Jewish stereotype that developed from it provided the focal point
for the feeling of aggression inherent in the ideology.“ In drei größeren Kampagnen
sei der Antisemitismus in den Jahren 1933, 1935 und 1938 eingesetzt worden. Goebbels
habe in seinen Presseweisungen gefordert, dass keine Woche ohne die Darstellung
rassenpolitischer Fragen vergehen dürfe. In den späten 30er-Jahren sei es als Erfolg
dieser Propaganda anzusehen, dass die Bevölkerung von der Existenz einer „Juden-
frage“ überzeugt gewesen sei.
„From the Nazi point of view, the Jew provided an important escape valve from
serious political and economic problems. The ‚image‘ of the Jew in the mass media as
‚self-seeking‘ and ‚parasitic‘ was outside the range of serious intellectual analysis, and
that was its strength. In this way, racial propaganda was able to rationalise any doubts
that may have existed, minimise possible dissent, and at the same time provide the
emotional basis for a totalitarian solution to the ‚Jewish Question‘.“80
Für Allan Bullock (1959) war Hitler reiner Machtmensch und der Nationalsozialis-
mus nur an der Macht interessiert: „Das einzige Thema der Nazi-Revolution war das
als Rassenlehre verkleidete von der Herrschaft, und als diese fehlschlug, eine rach-
süchtige Zerstörungswut, die Rauschning die ‚Revolution des Nihilismus‘ nannte.“
Hitlers Antisemitismus habe keineswegs etwas Neues dargestellt und sei vollkommen
von der Realität losgelöst gewesen, „reine Phantasie“. Wer die antisemitischen Passa-
gen von Mein Kampf lese, trete in die Welt eines Wahnsinnigen ein, eine Welt, die von
hässlichen Spukgestalten bevölkert sei. Hinter allem habe Hitler, seinem Wahn fol-
gend, eine jüdische Verschwörung entdeckt, deren Ziel die Vernichtung der arischen
Völker sei.81 Bullock folgte auch später noch dieser Charakterisierung von Hitlers
Antisemitismus, nach der Hitler über den Antisemitismus seine eigenen Hassgefühle
rationalisierte, fügte dem aber noch neben einer „Entfernung der Juden“ als zweites
Ziel das der „Gewinnung von Lebensraum im Osten“ hinzu. Da „die jüdischen An-
führer der internationalen kommunistischen Verschwörung sich ein Welthauptquartier
in Moskau zugelegt“ hätten, sei für Hitler ein weiterer Aspekt der Gewinnung von
„Lebensraum im Osten“ die „Zerstörung der wichtigsten Bastion des internationalen
Judentums“ gewesen.82
Begriffe wie „hatred of the Jews“ oder „Hitler’s folly“ konnten Léon Poliakov
(1960) den nationalsozialistischen Antisemitismus und die „Endlösung“ nicht erklä-
ren. Er wies damit psychologische Ansätze zurück. Die Judenvernichtung sei Mittel
der Herrschaftsorganisation gewesen und habe den Zweck gehabt, das deutsche Volk
in die Komplizenschaft eines gigantischen Verbrechens zu verstricken, aus der es nicht
mehr entrinnen könnte und womit es fest an das Regime gebunden würde. Damit war
das deutsche Volk mit der Führung untrennbar verbunden und musste mit dieser bis
zum Letzten kämpfen.83 Poliakov folgte damit einer These, die Franz Neumann schon
im Jahre 1944 formuliert hatte. Die Vorstellung einer nationalen Komplizenschaft
hatte zumindest eine Tendenz zur Behauptung einer deutschen Kollektivschuld. Nicht
nur deshalb wurde Poliakov kritisiert, auch sprachen andere Tatsachen gegen sie.
Weshalb sollte z. B. die „Endlösung“ geheim gehalten werden?84 Viele Quellen wie-
sen eher darauf hin, dass Hitler nicht allein zweckrational, sondern wertrational han-
delte.
Joachim C. Fest stellte im Jahre 1973 in seiner Biografie besonders die geistesge-
schichtlichen Einflüsse auf Hitler in den Vordergrund.85 Er versuchte, die von Zeitge-
nossen angelegten Interpretationslinien zu verlassen, und betonte auch die sozialen
Impulse, die den Nationalsozialismus getragen hätten. Für Fest lag das Movens in
Hitlers politischen Anfängen in einer „großen Angst“, die in seiner Kriegsgeneration
weit verbreitet gewesen sei und zu einer existenziellen Verunsicherung geführt habe.
Hitler habe zudem durch eigene Erlebnisse einen „ziellos vagabundierenden Haß“
81 Alan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1959, S. 804.
82 Bullock, Hitler und Stalin, S. 202 f.
83 Poliakov, Harvest of Hate, S. 107 f.
84 Vgl. Himmler, Rede vor den Reichs- und Gauleitern in Posen am 6. 10. 1943, in: Heinrich
Himmler. Geheimreden 1933 bs 1945 und andere Ansprachen, hrsg. von Bradley F. Smith/
Agnes F. Peterson, Berlin 1974, S. 162–183.
85 Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, 2. Aufl., Frankfurt a. M./Berlin 1991.
58 Interpretationen des NS-Antisemitismus
entwickelt, der im Antisemitismus seinen Inhalt fand. Fest scheint dabei den Inhalt
der zahlreichen Aussagen Hitlers zu diesem Thema nicht ganz ernst genommen zu
haben. Er äußerte die Vermutung, dass Hitler nicht so sehr an Ideen interessiert gewe-
sen sei, sondern an deren machttaktischem Wert als Propagandainstrument. Der po-
litische Stil Hitlers sei deshalb nicht der Durchführung eines Programms geschuldet,
sondern zeigte sich „als eine Kette subjektiver Einfälle, mit überraschenden Coups
und Schwankungen, atemberaubenden Treulosigkeiten, ideologischen Selbstverleug-
nungen, aber immer mit einer zäh verfolgten Vision im Hintergrund.“86
Martin Broszat stellte im Jahre 1977 die These auf, dass die „Endlösung“ „nicht
nur aus dem Vernichtungswillen [entstand], sondern auch als ‚Ausweg‘ aus einer Sack-
gasse, in die man sich selbst manövriert hatte.“87 Er stellte bei Hitler durchaus einen
dogmatischen Antisemitismus fest, den Broszat als „pathologisch“ charakterisierte.
Die „Endlösung“ sei jedoch erst im Laufe des Krieges entwickelt und institutionali-
siert worden, begonnen im Herbst 1941 mit den Deportationen „nach dem Osten“.
Wegen kriegsbedingter Schwierigkeiten in der planmäßigen Durchführung der De-
portationen habe die SS begonnen, die Juden durch gezielte Tötungsaktionen umzu-
bringen. „Einmal begonnen und institutionalisiert, erhielt die Liquidierungspraxis
jedoch dominierendes Gewicht und führte faktisch zu einem umfassenden ‚Pro-
gramm‘.“88
Broszat mutmaßte, dass dieses „Programm“, zu dessen Ingangsetzung nicht ein-
mal ein besonderer Vernichtungsbefehl Hitlers notwendig gewesen sei, „improvisiert“
und nicht von langer Hand vorbereitet durchgeführt wurde. Im Hinblick auf die pro-
grammatischen Vorstellungen Hitlers und der führenden Nationalsozialisten war
Broszat der Auffassung: „Die stereotypen Negationen waren seit jeher das einzig
Konkrete gewesen, auf das sich der nationalsozialistische ‚Extremismus der Mitte‘
einigen konnte, das ihm die Vortäuschung einer Aktionsgemeinschaft erlaubte“. Nur
die Selektion der negativen Weltanschauungselemente sei nach dem Jahre 1933 Ge-
genstand praktischer Politik geworden. Da das Reich nach Broszats Auffassung keine
„positiven“ politischen Ziele in einer revolutionären Reorganisation von Staat und
Gesellschaft verfolgte, bedeutete jede weitere Entwicklung der Politik zwangsläufig
eine Verschärfung der Diskriminierung. „In der Diskriminierung konnte es jedoch
keinen unendlichen Progressus geben. Infolgedessen musste hier die ‚Bewegung‘ schließ-
lich in der ‚Endlösung‘ enden.“ Aber sowohl in der Judenpolitik als auch in der
Lebensraumpolitik sei die nationalsozialistische Führung nicht in der Lage gewesen,
die Konsequenzen ihrer eigenen Postulate zu reflektieren. Dennoch erkannte Broszat,
dass die „Phraseologie“ Hitlers eine wichtige Funktion in der Radikalisierung gehabt
86 Ebenda, S. 296, 23. Als Quellengrundlage diente z. B. die Rede Hitlers in Königsberg 1932 in:
Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 1, S. 140.
87 Martin Broszat, Hitler und die Genesis der „Endlösung“, in: VfZ 25 (1977), S. 739–775.
88 Ebenda, S. 753.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 59
haben müsse, da sie sich „beim Wort nehmen“ lassen musste. „Es musste wörtlich
ausgeführt werden, was objektiv nur als Weltanschauungs-Instrument zur Mobilisie-
rung von Kampfbereitschaft und Zukunftsgläubigkeit einen Sinn gehabt hatte. [...]
Die geheime Judenvernichtung, mit der logischerweise auch der Antisemitismus als
propagandistisches Instrumentarium zu Grabe getragen wurde, verdeutlicht die wahn-
hafte Vertauschung von Kampfsymbol und Endziel.“ Die nationalsozialistische Be-
wegung habe die von ihr in Gang gesetzte plebiszitäre, soziale Dynamik nicht entbeh-
ren und damit sich selbst überflüssig machen können. Allein in der stetigen Aktion
seien eine Integration der unterschiedlichen sozialen Gruppen und eine Lenkung der
antagonistischen Kräfte auf gemeinsame Ziele möglich gewesen.89 Doch gegen Broszat,
wie auch andere Vertreter dieser Interpretationsrichtung, galt es einzuwenden, dass
nicht verständlich wurde, warum ein pathologischer Judenhasser wie Hitler davor
zurückschrecken sollte, einen Befehl zur Verfolgung und Vernichtung von Juden zu
geben. Wie konnte Hitler seine Helfer und Untergebenen im Unklaren über das las-
sen, was nach Broszat seine Obsession war? Schließlich hatte er es Zeit seiner politi-
schen Karriere immer und immer wieder ausgesprochen. Und wen sollte diese
Mobilisierungs-Ideologie denn mobilisieren? Das deutsche Volk, die Parteigenossen?
Und mit welchem Ziel sollte mobilisiert werden?
Gegen Broszats Thesen sprach auch die einfache Tatsache, dass ein Befehl zur
„Endlösung“ nur deshalb nicht gegeben worden sein muss, weil er nach Kriegsende
nicht mehr auffindbar war, sondern auch, dass mit Beginn des Überfalls auf die So-
wjet-union planmäßige Erschießungsaktionen hinter der Front begannen. Die „Endlö-
sung“ war in Hitlers Überlegungen lange vorher „angelegt“, sie geht auf das „rassen-
ideologische Dogma“ in der nationalsozialistischen Weltanschauung zurück, wie Klaus
Hildebrand betonte. „Als primär und verursachend, als Motiv und Ziel, als Vorsatz
und Fluchtpunkt der Judenpolitik des Dritten Reiches sind nach wie vor Hitlers pro-
grammatische Ideen über Judenvernichtung und Rassenherrschaft einzuschätzen.“
Historische Situationen wirkten möglicherweise verstärkend auf das ursprünglich Ge-
wollte und planmäßig in Gang Gesetzte.90
Ähnlich Martin Broszat ging auch William Carr im Jahre 1980 von einem impro-
visierten Charakter der nationalsozialistischen Judenpolitik aus: „Vieles spricht da-
für, daß Hitler keine besonders klare Vorstellung davon hatte, was man mit den Ju-
den anfangen sollte, außer daß man sie zu Parias stempelte. Aus diesem Grund war er
durchaus bereit, auf jede ‚Lösung des Judenproblems‘ einzugehen, die in den Vorhö-
fen der Macht gerade en vogue war.“91 Christopher Browning wies im Jahre 1982
demgegenüber nach, dass die „Endlösung“ kein improvisiert zustande gekommenes
Unternehmen war, sich vielmehr die Akteure, nachdem die Entscheidung einmal ge-
fallen war, zielstrebig an der Verwirklichung eines Planes beteiligt wussten.92 Nach
Browning war Hitlers Antisemitismus als Stimulanz anzusehen, eine zunehmend ra-
dikalere Lösung für die „jüdische Frage“ zu suchen, weniger als Quelle eines logisch
entwickelten und langfristigen Fahrplans zur „Endlösung“. Die in Hitlers Ideologie
vorhandenen Mordimpulse hätten erst in den Jahren 1940 und 1941 zu einer realen
Radikalisierung der Judenpolitik geführt. Die Aussicht, im Zuge der „Gewinnung
von Lebensraum im Osten“ weitere Millionen von Juden in seinen Herrschaftsbe-
reich aufzunehmen, habe Hitler dann, durch die vorangegangenen Fehlschläge zum
Äußersten entschlossen, die Entscheidung zur Vernichtung treffen lassen.93
Der Antisemitismus der Nationalsozialisten war nach Simon Taylor (1985) in
erster Linie nicht rassistisch, sondern politisch. Der Antisemitismus wies den Juden in
der Propaganda eine bestimmte Rolle in Geschichte und Politik zu. Juden seien als
politische Verursacher von sozialer Desintegration identifiziert worden. „Der Jude“
war „jüdisch“ wegen seiner Taten und seiner „destruktiven Natur“. „Nazi anti-
Semitism was explanation; and because it was explanation it simultaneously offered
solution. If the Jew was the source of destruction and disintegration, only his negation
could usher in the age of harmony and prosperity promised by the Nazis.“94 So habe
die Nazi-Ideologie eine Analyse und Erklärung entwickelt, mit einer daraus abgeleite-
ten Lösung in genozidaler Logik, nach der „der Jude“ als dunkle, satanische Kraft
Deutschland in den Abgrund zerrte, folglich eine Erlösung nicht durch eine physische
Separierung der Rassen erreicht werden konnte, sondern nur durch Vernichtung. In
dieser Logik hatte der nationalsozialistische Antisemitismus einen inhärenten Impuls
zum Genozid bereits vor der Machterlangung besessen.
92 Christopher R. Browning, Zur Genesis der „Endlösung“. Eine Antwort an Martin Broszat, in:
VfZ 30 (1982), S. 97–109.
93 Christopher R. Browning, Fateful Months. Essays on the Emergence of the Final Solution, New
York/London 1985, S. 16.
94 Simon Taylor, Prelude to Genocide, Nazi Ideology and the Struggle for Power, London 1985,
S. 216.
95 Karl Dietrich Bracher, Adolf Hitler, Bern/München/Wien 1964, S. 12.
96 Gerhard Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, in: Die nationalsozialistische
Interpretationen des NS-Antisemitismus 61
kollen der Weisen von Zion“ bezogen. Aber der Antisemitismus spielte für Trevor-
Roper keine Schlüsselrolle, das realpolitische Ziel der Gewinnung von „Lebensraum
im Osten“ sei wichtiger gewesen.101
Für Ernst Nolte (1961) war das entscheidende Charakteristikum des Hitlerschen
und damit auch nationalsozialistischen Antisemitismus die Verbindung mit dem An-
tibolschewismus. Nolte bezog sich auf eine im Jahre 1924 posthum herausgegebene
Schrift von Dietrich Eckart, deren Quellenwert und Aussagekraft auch angezweifelt
wurden.102 Unter dem Oberbegriff „Bolschewismus“ habe Hitler alle Feindgruppen
zusammengefasst und selbst das Christentum so eingeordnet. Bereits in der Schrift
von Eckart konnte Nolte einen Vernichtungswillen Hitlers erkennen. Er habe in sei-
nen rassenantisemitischen Vorstellungen, im Unterschied zu Eckart, nicht in irgendei-
ner politischen oder geistesgeschichtlichen Tradition gestanden, die ihn in gewisser
Weise zivilisierte oder mäßigte. Hitler habe einem détaché entsprochen, einem Wur-
zellosen, der gleichgültig gegen jede Tradition gewesen sei. Deshalb habe Hitler einen
besonders umfassenden und intensiven Hass entwickelt, eine „Allfeindschaft“ totali-
tären Charakters. Sein „Vernichtungswille“ sei immer schon vorhanden gewesen und
habe zu unterschiedlichen Mordaktionen geführt.103 Für Nolte (1988) war nach sei-
ner „phänomenologischen Methode“ der nationalsozialistische Antisemitismus nur
ideologischer Reflex eines bürgerlichen Antibolschewismus. Die Entschlossenheit der
Bolschewisten, auch vor Akten sozialer Massenvernichtung nicht zurückzuschrecken,
habe auf die Nationalsozialisten als „Schreckbild“ wie als „Vorbild“ gewirkt – als
„Vorbild“ allerdings nur für einen Willen zur „Gegenvernichtung“ der Bolschewisten
selbst, und vor allem derjenigen, die Hitler zufolge Urheber und Drahtzieher des Bol-
schewismus gewesen seien: der Juden.104
Raul Hilberg (1961) ging in seiner Darstellung der Vernichtung des europäischen
Judentums davon aus, dass sich die Judenfeindschaft seit den Anfängen des Christen-
tums bis zum Endpunkt des nationalsozialistischen Antisemitismus entwickelt habe.
Er fand für viele der judenfeindlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten Vorbilder
in judenfeindlichen Akten der (in erster Linie katholischen) Kirche des Mittelalters.
Hitler habe kein einziges judenfeindliches Gesetz neu erfinden müssen, er habe nur an
die Macht kommen müssen.105
101 Hugh R. Trevor-Roper, The mind of Adolf Hitler, Vorwort zu Hitler’s Secret Conversations,
hrsg. von Norman Cameron/R. H. Stevens, New York 1953; ders., Hitlers Kriegsziele, in: VfZ
8 (1960), S. 121–133.
102 Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler
und mir, München 1924. Kritisch: Shaul Esh, Eine neue literarische Quelle?, in: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht 15 (1964), S. 487–493. Zur Interpretation von Ernst Nolte, Eine
frühe Quelle zu Hitlers Antisemitismus, in: Historische Zeitschrift 192 (1961), S. 584–606.
103 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1990, S. 406, 442.
104 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewis-
mus, Frankfurt a. M./Berlin 1988.
105 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, S. 36.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 63
Andere Forscher erkannten in Hitler sehr wohl einen Politiker, der eigenen pro-
grammatischen Vorstellungen folgte. Sie sahen aber einen Vorrang in Hitlers außen-
politischer Konzeption, von der sich die anderen Politikbereiche ableiteten. Andreas
Hillgruber (1965)106 und Klaus Hildebrand (1971)107 betonten, dass die Außenpoli-
tik besonders die Vernichtung der europäischen Juden beeinflusst habe. Hillgruber
meinte, die Vorstellungswelt der „Protokolle der Weisen von Zion“ habe Hitlers an-
tisemitischem Denken die entscheidende Wendung gegeben. Bei Hitler lasse sich die
antisemitische Komponente seiner Weltanschauung nicht vom Programm der Erobe-
rung des europäischen Teils Russlands trennen. Der Kern von Hitlers rassen-
ideologischem Programm sei der Ostkrieg zur Eroberung neuen „Lebensraums“ und
die „Endlösung“ im Sinne einer Ausrottung zunächst der Juden in dem besetzten Teil
der Sowjetunion. Beides sei gleichzeitig geplant worden und begann am gleichen Tage,
am 22. Juni 1941. Hillgruber sah folglich vier Motive in der Konzeption des Ost-
krieges:
1. die Vernichtung der „jüdisch-bolschewistischen“ Führungsschicht und der Be-
völkerung, aus der sie angeblich hervorkam, der Millionen Juden in Osteuropa;
2. Eroberung von Lebensraum in den wertvollsten Gebieten Russlands;
3. die Reduzierung der „slawischen Massen“ und ihre Unterwerfung unter deutsche
Herrschaft;
4. die wirtschaftliche Autarkie eines blockadefesten deutschen Lebensraums in Kon-
tinentaleuropa.
Die Totalisierung des Krieges wurde von ihm aus einem „Einbruch des Ideologi-
schen in die Machtpolitik“ abgeleitet.108
Für Lucy Dawidowicz (1979) war der „Nationalsozialismus die Erfüllung, nach
der antisemitische Bewegungen aller Art hundertfünfzig Jahre gestrebt hatten.“ Der
Massenmord an den Juden sei die Verwirklichung der grundsätzlichen Anschauun-
gen und ideologischen Überzeugungen, der apokalyptischen Ideen des „tobenden Ir-
ren“ Hitler, die dieser in Mein Kampf formuliert hatte. Die apokalyptische Vision
eines Konfliktes zwischen Ariern und Juden, in dem die Juden sich diverser
Verschwörermethoden bedienten, sei aber nur von seinen Anhängern ernst genom-
men worden. Seine Gegner hätten ihm keine ernsthafte Beachtung geschenkt. Hitler
sei durch Alfred Rosenbergs Einfluss besonders von der Verbindung der „Juden“ mit
dem „Bolschewismus“ überzeugt gewesen und habe deshalb auch den Kampf gegen
106 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie, Politik und Kriegführung, Frankfurt a. M. 1965, bes.
S. 593f.; ders., Die „Endlösung“ und das deutsche Ostimperium, S. 135–153.
107 Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1933–1945, Stuttgart 1971.
108 Hillgruber, Die Endlösung und das deutsche Ostimperium, S. 138 ff.; ähnlich ders., Imperialis-
mus und Rassendoktrin als Kernstück der NS-Ideologie, in: Strukturelemente des Nationalso-
zialismus. Rassenideologie, Unterdrückungsmaschinerie, hrsg. von Leo Haupts/Georg Möhlich,
Köln 1981, S. 11–36.
64 Interpretationen des NS-Antisemitismus
109 Lucy S. Dawidowicz, Der Krieg gegen die Juden 1933–1945, München 1979, S. 56, 16 f., 154.
110 Jäckel, Hitlers Weltanschauung.
111 Eberhard Jäckel, Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, 2. Aufl., Stuttgart 1988,
S. 90.
112 Trevor-Roper, Hitlers Kriegsziele.
113 Cohn, Die Protokolle, S. 227.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 65
den in Kapitel 3.2.1 genannten Schriften Rosenbergs auch Houston Stewart Chamberlain, Ras-
se und Nation. Flugblatt aus „Deutschlands Erneuerung“, München 1918.
122 Walter Langer, The Mind of Adolf Hitler, London 1972, S. 183 ff., 194 ff. Zur Kritik an psy-
choanalytischen Interpretationen: Gudrun Brockhaus, Psychoanalytische Hitler-Deutungen, in:
Luzifer-Amor 5 (1992), S. 8–24.
123 Reichmann, Flucht in den Haß.
68 Interpretationen des NS-Antisemitismus
124 Saul Friedländer, L’Antisemitisme Nazi. Histoire d’une psychose collective, Paris 1971, S. 5.
125 Robert G. L. Waite, The psychopathic God Adolf Hitler, New York 1977.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 69
Für ihn stellten die Behandlung der Mutter Hitlers mit Jodoform, die der jüdische
Arzt Eduard Bloch im Jahre 1907 durchführte, und der Gasangriff, durch den Hitler
im Jahre 1918 vorübergehend erblindete, ein „psychologisches Kontinuum“ mit der
„Endlösung“ dar. Trotz des anscheinend guten Verhältnisses Hitlers zu Bloch habe
er in seinem Unterbewusstsein Ressentiments gegen den jüdischen Arzt entwickelt.
Diese verdrängten Ressentiments gegen Juden seien in Wien dann verstärkt worden,
und hätten sich im Jahre 1918 in Hass gewandelt, als Hitlers Gasblindheit bei ihm
Erinnerungen an Blochs Jodoform-Behandlungen weckte. Als Hitler dann von der
deutschen Kapitulation erfuhr, sei er in eine Hysterie verfallen, während derer er
einen visionären göttlichen Auftrag zur Rettung Deutschlands (und seiner Mutter)
erhielt.126
Mit dem Ansatz der Aktivationspsychologie versuchte Alice Miller (1980), die
Kindheit Adolf Hitlers zu beschreiben. Sie wollte beweisen, dass das Böse bei Adolf
Hitler auf die brutale körperliche Züchtigung durch seinen Vater zurückzuführen sei.
Sich auf das zweifelhafte Quellenmaterial von Hitlers Selbststilisierung in Mein Kampf
und einem angeblichen jüdischen Großvater Hitlers127 stützend, meinte sie, dass Hit-
lers Antisemitismus einer selbstzerstörerischen Wut über das vermeintliche „jüdische
Blut“ zuzuschreiben sei.128
Völlig unterschiedliche psychologische und psychoanalytische Ansätze lieferten
Hypothesen über die Genese des Hitlerschen oder nationalsozialistischen Antisemi-
tismus. Sie krankten dabei einerseits an einer unsicheren Quellenbasis und anderer-
seits an ihrer teleologischen Struktur, die vorgab, dass die Entwicklung Hitlers einer
gewissen Zwangsläufigkeit und Gesetzmäßigkeit unterlag. Das mag ein Grund sein,
weshalb diese Ansätze seit den 1980er-Jahren nicht mehr weiter verfolgt wurden. Ein
weiterer Grund könnte darin liegen, dass die unterschiedlichen psychologischen
Deutungssysteme und Schulen für fachfremde Historiker und Laien im Detail nur
schwer nachvollziehbar waren.
126 Rudolf Binion, „... daß ihr mich gefunden habt“. Hitler und die Deutschen. Eine Psychohistorie,
Stuttgart 1978; vgl. die Kritik bei Carr, Hitler, S. 165 f.
127 Nach Hans Frank, Im Angesicht des Galgens. Deutung Hitlers und seiner Zeit aufgrund eigener
Erlebnisse und Erkenntnisse, München-Gräfelfing 1953.
128 Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt a. M. 1980.
70 Interpretationen des NS-Antisemitismus
129 Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Inter-
nationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: ders., Gegen
Faschismus und Krieg. Ausgewählte Reden und Schriften, Leipzig 1982, S. 50. Dimitroff zitierte
die Definition des XIII. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale
(28. November bis 12. Dezember 1933); vgl. Elfriede Lewerenz, Zur Bestimmung des imperia-
listischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale, in: Faschismus-
Forschung. Positionen, Probleme, Polemik, hrsg. von Dietrich Eichholtz/ Kurt Gossweiler, 2. Aufl.,
Berlin (Ost) 1980, S. 21–47.
130 Joachim Petzold, Die Entstehung der Naziideologie, in: Faschismus-Forschung, S. 261–278;
ders., Class und Hitler. Über die Förderung der frühen Nazibewegung durch den alldeutschen
Verband und dessen Einfluß auf die nazistische Ideologie, in: Akademie der Wissenschaften der
DDR (Hrsg.), Jahrbuch der Geschichte, Bd. 21, Berlin (Ost) 1981.
131 Jüdisches Historisches Institut Warschau (Hrsg.), Faschismus – Getto – Massenmord. Doku-
mentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkrie-
ges, 2. Aufl., Berlin 1961, S. 10.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 71
Konspirationsmodell vertraten Kraus und Kulka die Auffassung, dass die SS ihre
Tötungstechnik nur entwickeln habe können, weil ihr das die wirklichen Herrscher
hinter den Kulissen erlaubten und auch dafür die erforderlichen Bedingungen ge-
schaffen hätten.132
Es war Wolfgang Ruge, der im Jahre 1967 eine Geschichte des Aufstiegs der
NSDAP schrieb, die sich an der Unterstützung Hitlers durch das „Monopolkapital“
orientierte und damit die „Agententheorie“ in ihrer reinsten Form darbot – wobei der
nationalsozialistische Antisemitismus en passant abgehandelt wurde. Antisemitismus
war das „Wunderargument“, das alles erklärte, was einem „nationalistisch vorpro-
grammierten“ Kleinbürger als unverständlich oder feindselig erschien. Er diente dazu,
den Menschen die „Wahnvorstellungen des Rassismus“ einzutrichtern, mit dessen
Hilfe sich die Unterwerfung und Ausrottung anderer Völker rechtfertigen ließ.133
Walter Mohrmann (1972) gelangte zu der Auffassung: „Antisemitismus ist eine
der brutalsten Waffen, die Ausbeuterklassen zur Stabilisierung und Ausdehnung ihrer
Machtpositionen anwenden.“ Die Juden wiederum seien selbst in ihr Schicksal ver-
strickt, indem sie aus ihrem bürgerlichen Klassenbewusstsein die Funktion des Anti-
semitismus nicht erkannt hätten und sich nicht in die Reihen der kämpfenden Arbei-
terbewegung einreihten.134
Klaus Drobisch (1973) sah die Funktion des Antisemitismus „in der modernen
Klassengesellschaft des Imperialismus als Massenmobilisierungs- und Brutalisierungs-
ideologie“. Das entscheidend Neue am Antisemitismus der Weimarer Zeit sei die
Verbindung der Juden mit dem „Fortschrittsgedanken“, dem Marxismus und dem
Bolschewismus gewesen. Zudem habe die „jüdische-bolschewistische Weltverschwö-
rung“ als „praktikabler Popanz der Weltbourgeoisie“ ihre Wirkung entfaltet. Auf die
„Protokolle der Weisen von Zion“ bauten die Nationalsozialisten ihr Programm von
der „Rassenhygiene“ auf, die sie als Lösung der politischen Probleme propagierten.
Die „Faschisten“ hätten in Juden nur „Parasiten“ gesehen, gegen die mit den Mitteln
der „Rassenhygiene“ vorgegangen werden müsste. Deshalb konnte die vom Partei-
programm geforderte Dissimilation nur ein Durchgangsstadium sein, „in jedem Fall
nur eine Etappe auf dem Weg zur ‚Endlösung‘“. Da die „Faschisten“ sich aber nur
einer Neuauflage der antisemitischen Argumentation aus den 1880er-Jahren bedien-
132 Ota Kraus/Erich Kulka, Massenmord und Profit. Die faschistische Ausrottungspolitik und ihre
ökonomischen Hintergründe, Berlin (Ost) 1963, S. 7 f.
133 Wolfgang Ruge, Das Ende von Weimar. Monopolkapital und Hitler, 2. Aufl., Berlin (Ost) 1989,
S. 27; vgl. auch ders., Deutschland 1917–1933 (Von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolu-
tion bis zum Ende der Weimarer Republik), in: Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge),
Bd. 10, Berlin (Ost) 1967.
134 Walter Mohrmann, Antisemitismus. Ideologie und Geschichte im Kaiserreich und in der Wei-
marer Republik, Berlin (Ost) 1972, S. 11 f.
72 Interpretationen des NS-Antisemitismus
ten, hätten „ihre großbourgeoisen Auftraggeber hierin zunächst nur ein Element der
Massendemagogie“ gesehen.135
Die marxistische Begrifflichkeit war insbesondere auch dazu geeignet, Kon-
tinuitäten in der Geschichte zu konstruieren, deren erste der „Klassenkampf“ war.
Eine für die DDR-Geschichtsschreibung in den 1970er-Jahren aber sehr viel wichtige-
re politische Funktion lag in der Behauptung einer Kontinuität von antisemitischer
Praxis und imperialistischer Politik vom Kaiserreich über den „Faschismus“ bis in die
Zeit der Bundesrepublik Deutschland.136 Damit sollte die historische Forschung ei-
ner Delegitimierung des „imperialistischen West-Deutschland“ dienen.
Die „Erkenntnis“ der Kommunistischen Internationale über den Faschismus sollte
keine dogmatische Festlegung sein, sondern der „Schlüssel“ für die Faschismus-
forschung schlechthin, wie Gerhard Lozek in den 1970er-Jahren betonte.137 Kurt
Pätzold (1975) steuerte noch die Erkenntnis bei, dass der „imperialistische Antisemi-
tismus“ der Nationalsozialisten „nach innen antikommunistisch, nach außen antiso-
wjetisch und ‚antiplutokratisch‘“ gewesen sei, ohne jedoch die sich nun ergebenden
Widersprüche auflösen zu können oder zu wollen. Auch für Pätzold diente der Anti-
semitismus einer Verfälschung des Klassenkampfes sowie der Vorbereitung und Recht-
fertigung der Expansionsgelüste des deutschen Imperialismus. Und „die deutsche
Monopolbourgeoisie ließ am 30. Januar 1933 die Staatsmacht an eine Partei übertra-
gen, die bekanntermaßen die jüdische Minderheit jahrelang aufs schwerste diffamiert
hatte, ihr die schlimmsten Verfolgungen bis zur Vernichtung ankündigte“.138
In der marxistischen Historiografie galt: „Mit der Großen Sozialistischen Okto-
berrevolution hatte eine neue Epoche der Geschichte der Menschheit begonnen, eine
Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, des Kampfes zwischen
den beiden entgegengesetzten gesellschaftlichen Systemen und des Zusammenbruchs
des Imperialismus.“ Doch der Kapitalismus kämpfte weiter und suchte nach neuen
135 Klaus Drobisch u. a., Juden unterm Hakenkreuz, S. 60, 70 f. Zur materialistischen Interpretati-
on des Nationalsozialismus: Martin Broszat, Zur Erforschung des Nationalsozialismus in der
Bundesrepublik Deutschland und der DDR, in: Graml/Henke (Hrsg.), Nach Hitler, S. 36–41;
Konrad Kwiet, Historians of the German Democratic Republik on Antisemitism and Persecution,
in: Yearbook of the Leo Baeck Institute, London 1976, S. 173–198. Günther Heydemann, Ge-
schichtswissenschaft und Geschichtsverständnis in der DDR seit 1945, in: Aus Politik und Zeit-
geschichte 13 (1987), S. 15–26; Hans-Ulrich Thamer, Nationalsozialismus und Faschismus in
der DDR-Historiographie, in: ebenda, S. 27–37.
136 Beispielhaft Manfred Weißbecker, Entteufelung der braunen Barbarei. Zu einigen neueren Ten-
denzen in der Geschichtsschreibung der BRD über Faschismus und faschistische Führer, in: Zur
Kritik der bürgerlichen Ideologie, Bd. 51, hrsg. von Manfred Buhr, Frankfurt a. M. 1975; Arkadi
S. Jerussalimski, Der deutsche Imperialismus. Geschichte und Gegenwart, Berlin (Ost) 1968.
137 Gerhard Lozek, Faschismus, in: Unbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichts-
schreibung in der BRD, hrsg. von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der
SED, 3. Aufl., Berlin (Ost) 1977, S. 334.
138 Kurt Pätzold, Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie
und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus, Berlin (Ost) 1975, Zit.: S. 32, 23.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 73
139 Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP 1920–1945, Köln 1981, Zit.: S. 16,
36, 43, 304, 120 (Ost-Berliner Ausgabe), dies., Hakenkreuz und Totenkopf. Die Partei des
Verbrechens, Berlin (Ost) 1982.
74 Interpretationen des NS-Antisemitismus
140 Vgl. Pätzold/Weißbecker, Geschichte der NSDAP, S. 294, 220–234, 304, 335–344. Das von
Fehlern und Ungenauigkeiten strotzende Werk widmete der Endlösung nur rund zwei Seiten
(0,46 % des Umfangs).
141 Joachim Petzold, Die Demagogie des Hitlerfaschismus. Die politische Funktion der Naziideologie
auf dem Wege zur faschistischen Diktatur, Berlin (Ost) 1982.
142 Kurt Pätzold, Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedin-
gungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus, in: Eichholz/
Gossweiler (Hrsg.), Faschismus-Forschung. S. 180–208. Pätzold folgte in weiten Teilen einer
frühen Analyse von Siegbert Kahn, Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre
Entwicklung in Deutschland, Berlin 1948. Eine Analyse, die, den marxistischen Vorgaben fol-
gend, diese mit sozialpsychologischen Thesen zu untermauern sucht, stammt von Margherita v.
Brentano, Die Endlösung – Ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus, in: Antisemitis-
mus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. von Hermann Huss/Andreas Schröder,
Frankfurt a. M. 1965, S. 35–76.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 75
Großbourgeoisie erkannt hatte, wonach Hitler eine freie Hand für die Durchführung
seines antisemitischen Kampfprogramms gefordert habe.143 Erst im Jahre 1995 räum-
te Pätzold ein: „[...] historians in the GDR significantly failed to produce an analysis of
the way in which million of people became prejudiced against jews [...].“144
Die von dem geschlossenen Denksystem des Marxismus-Leninismus ausgehen-
den Interpretationen des Nationalsozialismus als „Faschismus“ führten zu einer gro-
tesken Verzerrung des Bildes Hitlers, der NSDAP und des Dritten Reiches. Nicht nur
dieses: Es war offensichtlich auch nicht möglich, den Antisemitismus und die Juden-
verfolgung in einen orthodox marxistischen Horizont einzufügen, die ökonomische
Rationalität fehlte doch so offensichtlich bei diesem Aspekt nationalsozialistischer
Politik. So wurde Antisemitismus in erster Linie als Sozialismus-Substitut abgehan-
delt, das sich trefflich in der Propaganda von Hitler und der NSDAP einsetzen ließ
und von den „wahren“ gesellschaftlichen, und das hieß für diese Darstellungen: ökono-
mischen Verhältnissen ablenken sollte. Die Tatsache, dass die marxistisch-leninistische
Schule den Antisemitismus der Nationalsozialisten nur bruchstückhaft interpretie-
ren konnte, zeigte, dass sie hiermit gerade das Spezifikum des deutschen „Faschis-
mus“ nicht erfassen konnte.145 Ausdruck dessen war auch die Tatsache, dass es zu
Zeiten der ideologischen Konfrontation des Kalten Krieges bis zum Jahre 1989 un-
denkbar schien, eine Hitler-Biografie vom marxistischen Standpunkt aus zu schrei-
ben, wie William Carr noch im Jahre 1980 feststellte.146 Diese Arbeit erschien im
Jahre 1995 von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker147 und zeichnete Hitler als
Instrument einer kapitalistischen Oberschicht, die ihn aber auch unterschätzt hätte.
Hitlers Aufgabe sei gewesen, sich der Massenbasis zu versichern, während Göring
die Mächtigen der Wirtschaft angesprochen habe. Gemeinsam seien ihnen imperialis-
tische Ziele gewesen. Hitler habe die Juden dazu benutzt, die wahren Ursachen des
Zweiten Weltkrieges zu verschleiern, und der Mord an den Juden diente zur Diszipli-
nierung und Einschüchterung der Nichtjuden. Die Täterschaft und die Mittäterschaft
am Judenmord hätten zudem eine Vielzahl von Menschen mit ihm und dem Natio-
nalsozialismus verbunden, viel stärker, als dies eine Ideologie oder eine Organisation
vermochte. Hitler sei in der Judenpolitik von einer rassenideologisch geprägten Visi-
143 Rudi Goguel, Einleitung zu Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der
Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden, hrsg. von Helmut Eschwege/Rudi
Goguel, Berlin (Ost) 1966, S. 18 ff. Zur Kritik an den marxistischen Entwürfen z. B. Timothy
W. Mason, Der Primat der Politik. Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus, in: Das Ar-
gument 41 (1968), S. 473–494.
144 Kurt Pätzold, Persecution and the Holocaust. A Provisional Review of GDR Historiography, in:
Yearbook of the Leo Baeck Institute, Bd. 40, London 1995, S. 305.
145 Ausführlicher: Konrad Kwiet, Historians of the German Democratic Republik on Antisemitism
and Persecution, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute, Bd. 21, London 1976, S. 173–198.
146 William Carr, Adolf Hitler. Persönlichkeit und politisches Handeln, Stuttgart 1980, S. 8.
147 Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker, Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1995.
76 Interpretationen des NS-Antisemitismus
148 Walter Künneth, Der große Abfall. Eine geschichts-theologische Untersuchung der Begegnung
zwischen Nationalsozialismus und Christentum, Hamburg 1948; Die Schuld der Anderen. Ein
Briefwechsel zwischen Helmut Thielicke und Hermann Diem, Göttingen 1948; kritisch Karl
Barth, Die Deutschen und wir, Zollikon/Zürich 1945, ders., Die evangelische Kirche nach dem
Zusammenbruch des Dritten Reiches, Zollikon/Zürich 1945, später auch noch Friedrich Glum,
Der Nationalsozialismus. Werden und Vergehen, München 1962, S. 442.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 77
plausibel machen, die sich als getreue Diener des alten, konventionellen Moralkodex
betrachteten.“ Nach den „chiliastischen Visionen“ der Nationalsozialisten müssten
die Juden ermordet werden, damit das tausendjährige Reich kommen könne und es
Frieden, Glück und Wohlstand gebe. Die „Endlösung“ sei jedoch mehr als ein „Erlö-
sungswerk“, sie sei auch als „apokalyptischer Zusammenprall“ eine historische Not-
wendigkeit, der man nicht ausweichen konnte.149
Nach Michael Ley (1993) war der deutsche Antisemitismus mit apokalyptischen
Heilserwartungen verbunden, die über zwei Jahrtausende in der Kirchengeschichte
entwickelt worden waren. Die Bevölkerung sei somit kulturgeschichtlich bereits für
eine Aufnahme der nationalsozialistischen Ideologie vorbereitet gewesen. Ley fand
das Neue im nationalsozialistischen Antisemitismus darin, dass er eine rassistische
Begründung für die „Minderwertigkeit“ der Juden lieferte, wohingegen in früheren
Zeiten eine Begründung aus der christlichen Tradition entwickelt worden sei. Die
nationalsozialistische Weltanschauung hatte für Ley einen politisch-religiösen Charak-
ter, in dem „der Jude“ die Rolle des Antichristen einnahm. Für Ley reichten soziologi-
sche und massenpsychologische Aspekte zu einer Erklärung des nationalsozialistischen
Völkermords nicht aus, er sah auch theologische Momente als entscheidend wichtig
an. „Der Holocaust ist der Schlußpunkt der millenaristischen Bewegungen, er ist die
radikalste Exekution der christlichen Apokalyptik.“ In diesem Prozess habe Hitler
sich als „Werkzeug Gottes“ verstanden, als er mit dem Holocaust die Heilung Deutsch-
lands und der ganzen Welt bringen wollte.150
Ähnlich argumentierte 1995 Gunnar Heinsohn, der den Nationalsozialismus als
einen Angriff auf die „Heiligkeit des Lebens“ verstand, wie sie in der jüdisch-christli-
chen Tradition grundlegend war. Die nationalsozialistische Politik habe eine Umwer-
tung aller Werte versucht, indem sie die christlich-jüdisch Prägung des kulturellen
Gewissens abschaffen und durch einen neuen Wertehorizont ersetzen wollte. Die
Nationalsozialisten hätten sich eine Beseitigung der jüdischen Ethik mit ihrem Tötungs-
verbot durch die Ausrottung der Juden als Träger dieser Ethik vorgenommen, um ein
Recht auf das Töten wiederherzustellen.151
149 Erich Goldhagen, Weltanschauung und Endlösung, in: VfZ 24 (1976), S. 379–409; vgl. Mein
Kampf, Bd. 1, S. 66; Hitlers politisches Testament. Die Bormann-Diktate vom Februar und April
1945, hrsg. von Hugh R. Trevor-Roper, Hamburg 1981, Eintrag v. 3. Februar 1945 und Hitlers
politisches Testament, in: Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. 4, S. 2236–2239.
150 Michael Ley, Genozid und Heilserwartung. Zum nationalsozialistischen Mord am europäischen
Judentum, Wien 1993, S. 237. Ley verzerrt mitunter die Kirchengeschichte, um seine These zu
belegen. Ähnlich argumentierte schon Norman Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich.
Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären
Bewegungen, Bern 1961; Claus E. Bärsch, Erlösung und Vernichtung. Dr. phil. Joseph Goebbels.
Zur Psyche und Ideologie eines jungen Nationalsozialisten 1923–1927, München 1987; ders.,
Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998.
151 Gunnar Heinsohn, Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt, Reinbek
1995.
78 Interpretationen des NS-Antisemitismus
Eine andere Hypothese aus dem Jahr 1996, die mit Methoden der Wissens-
soziologie hervorgebracht worden sein soll, schrieb den Deutschen eine besondere
Art des Antisemitismus zu, die sich über Jahrhunderte gebildet habe. Danach würden
die Deutschen allgemein einem „eliminatorischen Antisemitismus“ verfallen sein, an
einen „unwandelbaren dämonisierenden Charakter der Juden“ glauben, einen Glau-
ben, den sie zu Hitlers Zeiten mit „rasendem Haß“ auszuleben imstande gewesen
seien.
„All jene Besonderheiten des Holocaust ergaben sich organisch aus dem dämonisie-
renden Rassenantisemitismus der Deutschen. Er brachte den Willen zu einer umfas-
senden Vernichtung der Juden aller Länder hervor, obwohl es gar keinen objektiven
Konflikt mit den Juden gab, und verlangte wegen seiner wahnhaften Konstruktion
‚des Juden‘ anders als bei anderen Genoziden die totale Ausrottung, so daß keine
‚Keimzelle‘ übrig blieb, aus der sich der ewige Erzfeind neu würde entwickeln kön-
nen.“ [Hervorhebung im Original]
Diese Form des Antisemitismus sei „den Deutschen“ als essentia zu Eigen gewe-
sen und würde in Zeiten des akzidens für die „Endlösung“ „vom deutschen Staat [...]
nutzbar gemacht“. Der Autor ging dabei von einer angeblich repräsentativen Gruppe
von Deutschen aus, den Angehörigen einiger Polizeibataillone, die an Massenerschie-
ßungen von Juden beteiligt gewesen waren, deren Handeln er „auf das ganze deut-
sche Volk insgesamt übertragen“ [Hervorhebung im Original] zu können glaubte.
„Der mörderische Antisemitismus hatte die deutsche Gesellschaft so tief durchdrun-
gen, daß die Deutschen, als sie von Hitlers Wünschen erfuhren, diese tatsächlich ver-
standen.“ Statt einer Analyse des von ihm dargestellten Mythos lieferte der Autor
aber nur einen neuen Mythos als Erklärung, den er unter Missachtung historischer
Methodik generierte.152
In einer besonderen Untersuchung der Möglichkeiten und Versuche, Juden aus
dem deutschen Machtbereich zu retten, beschrieb der bereits erwähnte Yehuda Bauer
(1996) den nationalsozialistischen Antisemitismus in apokalyptischen Dimensionen.
Danach hätten Nationalsozialisten die Juden als Satan begriffen, der aus dem deut-
schen Staatskörper ausgetrieben werden müsse. Diese satanischen Juden hätten die
Macht in der Welt der nationalsozialistischen Feinde. Für die Gegner der Nationalso-
zialisten sei nicht verständlich gewesen, „daß diese völlig phantasmagorische Verteu-
felung einer macht- und hilflosen Minderheit, ihre Aufblähung zur weltweit wirksa-
152 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der
Holocaust, Berlin 1996, Zit.: S. 434, 484, 475, 469–473; zur Rezeption: Dieter Pohl, Die
Holocaust-Forschung und Goldhagens Thesen, in: VfZ 45 (1997), S. 1–48; Ein Volk von Mör-
dern? Die Dokumentation um die Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im
Holocaust, hrsg. von Julius H. Schoeps, Hamburg 1996; Reinhard Rürup, Viel Lärm um nichts?
D. J. Goldhagens „radikale Revision“ der Holocaust-Forschung, in: Neue Politische Literatur 3
(1996), S. 357–363.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 79
men Verschwörung und Gefahr, von den Nationalsozialisten selbst tatsächlich ernst
genommen wurde.“153
Saul Friedländer interpretierte (1998) den Antisemitismus der Nationalsoziali-
sten als „Erlösungsantisemitismus“. Durch den Antisemitismus hätten sie nicht nur
einen Sündenbock gefunden, den man für alles Unheil der Welt verantwortlich ma-
chen konnte. Im Kampf gegen die Juden könnten sich auch alle hässlichen und bösen
Gefühle wie Rachsucht, Habgier oder Missgunst entfalten. Hitlers „Erlösungs-
antisemitismus“ hatte darüber hinaus eine utopische Dimension, die in dem Verspre-
chen bestand, durch die Vertreibung der Juden eine glänzende Zukunft für das deut-
sche Volk zu gewinnen.154
In der Forschung gab es Ansätze, Hitlers Antisemitismus als besondere Form des
Rassismus und des Fremdenhasses zu erklären. Rassismus als Kategorie spielte schon
in den 1960er-Jahren eine Rolle, aber erst drei Jahrzehnte später wurde er zu einem
hermeneutischen Leitbegriff. Er trat damit an die Stelle von dem Begriff „Imperialis-
mus“ des materialistisch beeinflussten Interpretationskonzepts, das nach der Implosi-
on der dieses Konzept tragenden Gesellschaften stark an Bedeutung verlor. Mit der
Anwendung von „Rassismus“ als Schlüsselbegriff traten Schwierigkeiten auf, die mit
einer Gleichsetzung von sehr unterschiedlichen Phänomenen einhergehen. Differen-
zen, die als reale kulturelle oder biologische Unterschiede immer eine gewisse Rolle
spielten, wurden mit eher fiktiven Differenzen, wie sie beim modernen Rassen-
antisemitismus dominant sind, auf der gleichen Ebene behandelt.155
Eine psychologisch beeinflusste Perspektive in der Interpretation des Nationalso-
zialismus als Rassismus nahm Rupert Breitling (1971) ein. Durch einen naturhaften
Volksbegriff würde ein „nationaler Mehrwert“ als rassische Überlegenheit begrün-
det. Der in Abwehr der napoleonischen Invasion entstandene deutsche Nationalis-
mus habe besonders stark die Abgrenzung gegenüber nicht zugehörigen Gruppen
betont. Diese Abgrenzung als „Kehrseite des Nationalismus“ sei von den Nationalso-
zialisten ausgewechselt worden gegen einen Judenhass. Der Nationalsozialismus habe
einen quasi-religiösen Glaubenskern besessen, ohne den seine verbrecherische und
153 Yehuda Bauer, Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen
Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 403.
154 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung, München 1998.
155 Karl Saller, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Darm-
stadt 1961; Peter Emil Becker, Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer
Gedanke, in: Wege ins Dritte Reich, Bd. 2, Stuttgart 1990; Geiss, Geschichte des Rassismus;
Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa.
80 Interpretationen des NS-Antisemitismus
kriegerische Qualität nicht zu erklären gewesen sei. Die hauptsächlich von Hitler
bestimmte nationalsozialistische Rassenlehre würde den Nationalsozialismus auch
von anderen Arten des „Faschismus“ unterscheiden. Die „Protokolle der Weisen von
Zion“ wertete Breitling als „Kristallisationskern für eine besonders bösartige Verbin-
dung von russischem und österreichisch-deutschem Antisemitismus im Zentrum der
nationalsozialistischen Rassenlehre“. Breitling erkannte aber auch, dass Hitler ge-
mäß seiner Theorie des einen Feindes jeden potenziellen Gegner nach dem Muster der
Protokolle in einem Freund-Feind-Denken der Fiktion der jüdischen Weltverschwörung
zuordnete.156
Léon Poliakov (1979) sah den Antisemitismus an als eine „Haltung, die die intel-
lektuellen oder moralischen Merkmale einer gegebenen Menschengruppe als direkte
Folge ihrer physischen oder biologischen Merkmale ansieht“. Da allerdings eine ex-
akte Definition einzelner menschlicher Rassen nicht möglich sei, sei es nicht die Empi-
rie, sondern der Rassist, der die Rassen schaffen würde. Im Gegensatz zum Antisemi-
tismus seien die Rassentheorien der Anthropologen aber dem Wunsch entsprungen,
die Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Hautfarben zu erklären, wohin-
gegen der Antisemitismus einer Angst vor der Verwischung der Unterschiede zwi-
schen Juden und Nichtjuden entsprungen sei. Die Grundelemente des Rassismus sei-
en erstens der Glaube an die Vererbbarkeit rassischer Merkmale und zweitens der
Glaube an einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Physis und Moral.157
Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann (1991) lieferten eine Interpretati-
on des Dritten Reiches als eines Staates, der konsequent nach rassistischen Prinzipien
aufgebaut sein sollte. Menschengruppen, die nicht in diesen Aufbau passten wie Ju-
den, Sinti und Roma und andere ethnische Minderheiten sowie unheilbar Kranke,
Homosexuelle und Asoziale, sollten im Zuge einer „Reinigung“ des Volkskörpers
nach den Prinzipien einer „hierarchical racial new order“ entfernt werden. „All of
these people were persecuted for the same reasons, although the degree of persecution
was bound up with how threatening the regime perceived them to be.“ Die rassisti-
schen Prinzipien hätten auch die Außenpolitik und den Zweiten Weltkrieg bestimmt.
Der rassische Antisemitismus sei aber das Schlüsselelement in einem Programm gewe-
sen, das eine „Wiederherstellung“ der „arischen deutschen Rasse“ leisten sollte. Die
im 19. Jahrhundert von diversen Theoretikern beeinflussten sozialdarwinistischen und
rassistischen Vorstellungen seien nach dem Jahre 1933 in Verordnungen, Gesetzen
und Institutionen materialisiert worden, die Menschen nach rassistischen Kategorien
Lebenschancen einräumten oder verwehrten. Wippermann hatte seit dem Jahre 1989
betont, nicht der Antisemitismus habe die nationalsozialistische Politik angetrieben,
156 Rupert Breitling, Die nationalsozialistische Rassenlehre. Entstehung, Ausbreitung, Nutzen und
Schaden einer politischen Ideologie, Meisenheim a. G. 1971.
157 Léon Poliakov/Christian Delacampagne/Patrick Girard, Über den Rassismus. Sechzehn Kapitel
zur Anatomie, Geschichte und Deutung des Rassenwahns, Stuttgart 1979, Zit.: S. 27.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 81
sondern ein Rassismus, der zuerst zur Euthanasie und dann zur Judenvernichtung
führte. Er stellte dem Antisemitismus einen Anti-Bolschewismus und einen Anti-
Ziganismus zur Seite.158 In einer neueren Darstellung interpretierte Burleigh den Na-
tionalsozialismus als politische Religion.159
Die Gemeinschaftsvorstellung der Volksgemeinschaft sei die Grundlage für den
„Rassismus des Nationalsozialismus“, wie Werner Röhr (1993) ausführte. Der Ras-
sismus mit seinem Dualismus von „Ariern“ und „Juden“ sei der „integrative Kern der
NS-Ideologie“, auch wenn der „Nationalchauvinismus“ und der „Führerkult“ diesen
an Massenwirksamkeit übertroffen hätten. Der nationalsozialistische Begriff von
„Rasse“ habe nicht allein eine biologische Herkunft beschrieben, sondern sei vor
allem mit einer Verpflichtung verbunden worden, für eine „Rassenreinheit“ zu kämp-
fen, ihre „Arteigenheit“ praktisch zu bestätigen und sich im „Rassenkampf“ auch
durchzusetzen. Als erstes Stereotyp eines „Fremden“, der nicht zur arischen germani-
schen Rasse gehörte, diente „der Jude“, der von allen gesellschaftlichen und histori-
schen Bindungen „entwurzelt“ sei. Die Juden galten als eine „zerstörerische Rasse“,
die die nichtjüdischen Völker bekämpfe, um die „Weltherrschaft der Juden“ zu er-
richten. Die Zuordnung der antijüdischen Stereotypen als Rassenmerkmal habe eine
„neue ideologische Qualität“ geschaffen, diese konnten nun nur noch durch die Ver-
nichtung überwunden werden. Die Funktion des Antisemitismus sei die Integration
unterschiedlicher nationalsozialistischen Ideologeme gewesen und habe ferner darin
gelegen, ein Modell für das Zusammenwirken von Terrorisierung und Korrumpie-
rung zu liefern. Damit sei er Übungsfeld für die Einübung der Behandlung fremder
Völker gewesen.160 Letztlich diente das Rassismus-Konzept bei Röhr aber dazu, eine
klandestine materialistische Motivation für die „imperialistische“ Politik der Natio-
nalsozialisten darzustellen, die sich von dem, was die Nationalsozialisten selbst über
ihre völkische Lebensraumpolitik aussagten, weit entfernte.
Eine Kontinuität des Rassismus in den Ideen der Rassenhygiene sozialdar-
winistischer Theoretiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur Praxis der „Ver-
158 Michael Burleigh/Wolfgang Wippermann, The racial State. Germany 1933–1945, Cambridge/
New York u. a. 1991, S. 305. Die Thesen sind bereits angelegt in Wolfgang Wippermann, Der
konsequente Wahn. Ideologie und Politik Adolf Hitlers, München 1989.
159 Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt a. M.
2000.
160 Werner Röhr, Faschismus und Rassismus. Zur Stellung des Rassenantisemitismus in der natio-
nalsozialistischen Ideologie und Politik, in: ders. (Hrsg.), Faschismus und Rassismus, Berlin
1992, S. 23–65. Aus diesem Ansatz, der unter dem Begriff „Rassismus“ Kontinuitäten behan-
delt, die vordem unter dem Stichwort „Imperialismus“ dargestellt waren, entstanden weitere
Arbeiten: Dietrich Eichholtz, Der „Generalplan Ost“ und seine Opfer, in: Röhr (Hrsg.), Faschis-
mus und Rassismus; ders., Der „Generalplan Ost“. Über eine Ausgeburt imperialistischer Denk-
art und Politik (mit Dokumenten), in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 26, Berlin (Ost) 1982,
S. 217–274. Der „Generalplan Ost“, Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und
Vernichtungspolitik, hrsg. von Mechthild Rössler/Sabine Schleiermacher, Berlin 1993.
82 Interpretationen des NS-Antisemitismus
In der deutschen Forschung entwickelte sich seit Mitte der 1960er-Jahre eine Schule,
die insbesondere die Herrschaftsstrukturen in nationalsozialistischer Zeit untersuch-
te. Sie nahm das komplexe Geflecht staatlicher und halbstaatlicher Institutionen und
deren organisatorisches Zusammenwirken in den Blick. Hans Mommsen, der im Jah-
re 1966 mit einer Untersuchung des Beamtentums im Dritten Reich die Basis für seine
künftigen Thesen legte,162 lieferte im Jahre 1971 mit einem systemischen Modell ei-
ner bürokratisch bedingten Eskalation einen Deutungsrahmen, der eine Vielzahl von
Untersuchungen zum Nationalsozialismus beeinflusste. Hitlers Stellung in einem an-
archischen System von bürokratischen Akteuren wertete Mommsen überraschender-
weise als recht unwichtig, wenn er ihn einen „schwachen Diktator“ nannte.163 Nach
der Ansicht von Mommsen hatte die Weltanschauung für die Politik der Nationalso-
161 Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997.
162 Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeit-
geschichte, Bd. 13, Stuttgart 1966.
163 Hans Mommsen, Nationalsozialismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine
vergleichende Enzyklopädie, Bd. 4, Freiburg i. Br. 1971, S. 695–713, Zit.: S. 702.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 83
zialisten eine nachrangige Bedeutung. Für die Entwicklung insbesondere der Juden-
politik sei es bedeutend gewesen, dass sich der „Staatsapparat in eine Fülle konkurrie-
render Instanzen auflöste“, einer „Ämteranarchie des Dritten Reiches“, die sich in
einem „kumulativen Radikalisierungsprozeß“ zu den unterschiedlichen Verbrechen
hochschaukelten.164 Mommsen war der Auffassung, dass der obsessive Judenhasser
Hitler die Wirklichkeit verdrängte und sich scheute, sie wahrzunehmen, wenn er mit
den realen Konsequenzen seiner Judenpolitik konfrontiert wurde. Dieses entsprach
aber nicht den Tatsachen, da Hitler sich beispielsweise regelmäßig über den Fortgang
der Aktionen gegen die Juden informieren ließ und auch selbst immer wieder in die
Entscheidungsprozesse zur Judenpolitik eingriff.165 Zudem blieb bei Mommsen uner-
klärlich, warum ein Judenhasser wie Hitler sich nicht wünschen sollte, seine Obsessionen
Taten werden zu lassen, derer er sich in seinem politischen Testament dann ja auch
rühmte.166 Mommsen revidierte später seine Geringschätzung von Ideologie als Moti-
vation für politisches Handeln, indem er einräumte, die „eigentliche Schubwirkung
zum Holocaust ging jedoch von den fanatischen Antisemiten aus, die auch innerhalb
der Partei eine Minderheit von allenfalls zwanzig Prozent ausmachten.“ Antisemitis-
mus war nun eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für die Ver-
brechen der „Endlösung der europäischen Judenfrage“.167
Das Modell, das von Mommsen (1971) „kumulative Radikalisierung“ genannt
wurde, lag auch der Untersuchung von Uwe Dietrich Adam168 (1972) zugrunde. In-
haltlich war es ebenfalls die Basis für die frühere Arbeit von Karl A. Schleunes (1970).
Für Schleunes war der Antisemitismus die einigende Basis aller Teile der NSDAP. In
einem Prozess von Versuch und Irrtum (das Modell stammte aus der Lernpsychologie)
hätten die nationalsozialistischen Führer lernen müssen, dass sie nur unter bestimm-
ten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen mit ihren radikalen judenpolitischen
Vorstellungen vorankommen konnten. Kennzeichen der nationalsozialistischen Juden-
politik bis zum Jahre 1938 sei das Fehlen von Koordination und Abstimmung gewe-
sen. Deshalb habe die Judenpolitik in drei Sackgassen geführt:
1. Der Boykott vom April 1933 habe wirtschaftliche Zerstörungen und internatio-
nale Konsequenzen gebracht, aber keine Zustimmung in der Bevölkerung.
164 Hans Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Der Natio-
nalsozialismus und die deutsche Geschichte, Reinbek 1991, S. 67–101 (zuerst 1981).
165 Fleming, Hitler und die Endlösung, „Es ist des Führers Wunsch ...“, passim, und Friedländer,
Das Dritte Reich und die Juden, passim.
166 Trevor-Roper (Hrsg.), Hitlers politisches Testament. Dieser Text ist aber aufgrund seiner Über-
lieferungsgeschichte sehr kritisch zu betrachten.
167 Hans Mommsen, Die dünne Patina der Zivilisation. Der Antisemitismus war eine notwendige,
aber keineswegs hinreichende Bedingung für den Holocaust, in: Die Zeit, 30. August 1996;
ders., Schuld der Gleichgültigen. Die Deutschen und der Holocaust – Eine Antwort auf Gold-
hagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, in: Süddeutsche Zeitung, 20./21. Juli 1996.
168 Adam, Judenpolitik, s. o., Kap. 2.3.
84 Interpretationen des NS-Antisemitismus
169 Karl A. Schleunes, The twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy towards Jews 1933–1939, Chi-
cago 1970, S. 212, 258. Ähnlich Pätzold, Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung, S. 11.
170 Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die „End-
lösung“, Reinbek 1989; vgl. auch die Kritik in Christopher R. Browning, The Path to Genocide.
Essays on Launching the Final Solution, Cambridge 1992. Mayers Darstellung ist deshalb wis-
senschaftlich unzureichend, weil der Autor zum einen die Behauptungen und Quellen nicht be-
legt (keine Fußnoten) und zum anderen als Quellen im Literaturverzeichnis rechtsextremistische
Revisionisten angibt.
Interpretationen des NS-Antisemitismus 85
Eine Erklärung der Judenpolitik und der „Endlösung“, die ökonomische Aspekte
und Motive berücksichtigte, versuchten Götz Aly und Susanne Heim (1991).171 Der
Mord an den Juden wurde von ihnen in ein umfassendes Programm der Menschen-
vernichtung eingeordnet, die mit der „Aktion T 4“ begann und mit dem Mord an den
Juden nicht geendet habe. Es sei geplant gewesen, im Rahmen der mit dem „General-
plan Ost“ zusammenhängenden Vorhaben allein im europäischen Teil der Sowjetunion
dreißig Millionen Menschen verhungern zu lassen. Die „Endlösung“ der Judenfrage
geriet für Aly und Heim zu einer auf einem bevölkerungspolitischen und materialis-
tisch-ökonomischen Kalkül beruhenden Aktion innerhalb einer „negativen Bevölke-
rungspolitik“, die von dem Apparat des „Reichskommissars für die Festigung deutschen
Volkstums“ und der Vierjahresplanbehörde betrieben wurde. Das Leitmotiv sei da-
bei das Streben nach ökonomischem Gewinn gewesen. Dieser ließ sich durch die
„Arisierung“ und eine wirtschaftspolitische Neuordnung der Verhältnisse im Osten
erreichen, woran aber eine imaginäre Überbevölkerung hinderte. Diese sei mit zwin-
gender Notwendigkeit zu beseitigen, um den „Lebensraum im Osten“ für die Natio-
nalsozialisten optimal nutzbar zu gestalten. Nach Aly und Heim wurden die Juden
im Rahmen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik nach Osten verbracht
und dort umgebracht, als sich das Siedlungsprojekt als undurchführbar erwies und
die Versorgung der Juden zu einer ökonomischen Belastung für die Kriegswirtschaft
im Osten wurde.
Götz Aly (1995) stellte die Maßnahmen der „Endlösung“ in einen engen Zusam-
menhang mit der in Ost- und Südosteuropa betriebenen „Umvolkungspolitik“.172
Diese begann mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt nebst Zusatzverträgen,
in denen eine „Rücksiedlung“ der Deutschen aus den Gebieten Galiziens, Wolhyniens,
später auch Bessarabiens und der Bukowina vereinbart war. Die Umsiedlungen soll-
ten in Gebiete erfolgen, aus denen Polen und Juden vordem „ausgesiedelt“ worden
waren. Die „ausgesiedelten“ Juden wollte man dann im Rahmen einer „territorialen
Endlösung“ in einem Reservat (zuerst Madagaskar, dann bei Lublin, später irgendwo
„nach Osten“) unterbringen. Dabei war von den Planern der SS einkalkuliert, dass
viele der Deportierten bereits im Zuge der Deportation zu Tode kommen würden und
weitere dann am Zielort der Deportationen. Erst als das ganze Um- und Aussiedlungs-
konzept scheiterte, so Alys These, seien die Versuche mit dem „Judenreservat“ aufge-
geben und die Vernichtungslager gebaut worden. Aly möchte den nationalsozialisti-
schen Völkermord an den Juden Europas aus dem Kontext einer primär aus dem
Antisemitismus ideologisch motivierten Politik lösen und in einen weiteren Rahmen
171 Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die Pläne für eine neue
europäische Ordnung, Hamburg 1991.
172 Götz Aly, „Endlösung“. Die Entscheidung zum Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M.
1995. S. auch die Rezension von Wolfram Meyer zu Uptrup, in: Zeitschrift für Geschichtswis-
senschaft 44 (1996), S. 472–475.
86 Interpretationen des NS-Antisemitismus
feststand, dass Hitler eben diesen Krieg anstrebte, unter dessen Bedingung er den
Juden später die Vernichtung ankündigte. Zudem war es fraglich, ob Hitler sich wirk-
lich derart von Hass und Zorn motivieren ließ, wie dies von Burrin angenommen
wurde. Hitlers eigene Aussagen wie auch sein taktisch geschicktes V