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20. Sonntag nach Trinitatis Pfr. M.

Schmid-Lorch

Von der Kostbarkeit des Lebens – Predigt über Prediger 12,1-7

Viele Worte – eine klare Ansage


Diesen Text aus dem Predigerbuch muss man sich einfach auf der Zunge zergehen lassen. Er
ist wie ein Gedicht: Einmal hören reicht gar nicht, um die Fülle seiner Bilder zu erfassen. Vom
Verdunkeln der Himmelskörper, vom Erschlaffen der Körperkraft, von verschlossenen Türen,
von der Gebrechlichkeit des Alters, vom reißenden Lebensfaden und vom Krug, der zum
Brunnen geht, bis er irgendwann bricht – von all diesen Bildern und Vergleichen ist die Rede.
Wenn man jedoch den Versuch unternimmt, das bunte Gewimmel der Bilder auf den Punkt zu
bringen, dann wird deutlich: Sie sagen alle dasselbe. Auf vielfältige Weise machen sie dem
Menschen eine klare Ansage: „Du wirst sterben!“
Memento mori! – Denke daran, dass du sterben wirst!
Mit der unausweichlichen Gewissheit unseres eigenen Todes werden wir nicht gerne
konfrontiert. Wir denken gerne an die Zukunft, aber beim Gedanken an das Ende, da kann es
uns schon angst und bange werden – zurecht, meine ich! Denn unsere eigene Vergänglichkeit,
der sichere Tod, auf den wir mit jeder Sekunde unseres Lebens zugehen, der lässt alles fraglich
werden. Wofür wir zu leben meinen, was uns wichtig erscheint, woran wir hängen – das alles
stellt der Tod radikal in Frage. Über allem, was wir tun und treiben unter der Sonne, hängt wie
ein Damoklesschwert diese Mahnung: Memento mori! Gedenke Mensch, dass du sterben wirst!
Du lebst nur einmal!
Die unausweichliche Gewissheit unseres Todes, die lässt uns aber auch die Kostbarkeit unseres
Lebens bewusst werden: YOLO, sagen die Jugendlichen, also „You Only Live Once“. Zu
Deutsch: Du lebst nur einmal! Der sichere Tod lässt uns klar werden, dass das Leben – dein
Leben – eine einzigartige, nicht wiederholbare Kostbarkeit ist. Du lebst nur einmal! Dich gibt
es nur einmal! Die Geschichte, die du schreibst, ist einmalig und niemand sonst sieht die Welt,
wie du es tust!
Das Leben ist kein Videospiel
Manche stellen sich das ja auch so vor, dass man – wie in einem Videospiel – unendlich viele
Leben hat. So nach dem Motto: „Wenn du ein Leben verzockt hast, macht ja nix, dann wirst du
eben wiedergeboren und hast noch tausende weitere.“ Nein, so stelle ich mir das nicht vor. Ich
halte es da eher mit dem Predigttext: Ein Menschenleben ist einmalig, unwiederholbar und
unwiederbringlich. Das ist natürlich weniger spielerisch, aber es gibt jedem Leben den Wert
und den Ernst der Einmaligkeit!
Memento creatori! – Denke an deinen Schöpfer!
Angesichts der Kostbarkeit und Einmaligkeit des Lebens rät unser Predigttext dir: „Denke an
deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugend!“ Ja, das Leben ist kostbar, die uns gegebene Zeit
ist begrenzt. Darum sollen wir nicht die wichtigen Fragen nach dem Grund und Sinn und Ziel
des Lebens hinausschieben, bis es (fast) zu spät ist. Sind diese Fragen, das Philosophieren und
Sinnieren über das große Ganze, ist das nicht ein wesentlicher Teil davon, was uns als
Menschen ausmacht?
Große Fragen – und keine Antworten?
Das Predigerbuch stellt viele von diesen großen Fragen: nach Zeit und Ewigkeit, nach Sinn und
Wahnsinn, Gerechtigkeit und Unrecht. Die Antworten findet es nicht. Am Ende bleibt ihm nur
zu sagen: Denke an deinen Schöpfer, suche Gott! Wie steht es um unsere Suche: Stellen wir
uns die großen Fragen des Lebens? Eines haben wir dem Verfasser des Predigerbuches voraus:
Wir wissen um Jesus Christus! In Jesus kommt unsere Suche an das Ziel, weil wir mit ihm den
Grund und das Ziel unseres Lebens begreifen. So sind wir immer neu eingeladen, mit unserer
Endlichkeit Zuflucht zu suchen in seinen ewigen Armen.
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20. Sonntag nach Trinitatis Pfr. M. Schmid-Lorch

Informationen zum 20. Sonntag nach Trinitatis


Thema: Die Ordnungen Gottes
Liturgische Farbe: grün
Wochenspruch: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nichts als
Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8)
Wochenpsalm: Psalm 119 (EG 748)
Predigttext (Altes Testament): Prediger 12,1-7 (Reihe III)
Schriftlesung (Evangelium): Markus 2,23-28 (Reihe II)
Zum Zusammenhang von Thema und Predigttext:
Am 20. Sonntag nach Trinitatis geht es um „die Ordnungen Gottes“. Was genau darunter zu verstehen
ist, das lässt sich an den vorgesehenen Texten ablesen. Im Evangelium aus Markus 2 etwa geht es um
den Sabbat als göttliche Ordnung, die darum gegeben ist, dass menschliches Leben sich gut entfalte. Die
Ordnungen Gottes dienen dem Leben – nicht das Leben den Ordnungen: „Der Sabbat ist um des
Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbat willen.“ (Markus 2,27)
Im Predigttext aus Prediger 12,1-7 ist ein anderes Motiv bestimmend. Der ganze Textabschnitt hat das
Anliegen: Memento mori! – „Gedenke daran, dass du sterben wirst!“ In den Versen 1b-6 wird die
Gewissheit der eigenen Vergänglichkeit bildreich ausgemalt und mit einem lustvoll-ironischen Unterton
beschrieben, in Vers 7 dann noch einmal in klare Worte gefasst: „Denn der Staub muss wieder zur Erde
kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.“ (Prediger 12,7) Wie
nun passt dieses Memento mori zu den Ordnungen Gottes, die an diesem Sonntag Thema sind? Der
Anfang unseres Textabschnittes beantwortet diese Frage: „Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend“
– Angesichts der Unausweichlichkeit seines eigenen Todes ist es dem Menschen ratsam, nach Gott zu
fragen, nach Einsicht in seine Ordnungen und seinen Willen zu suchen. Der unmittelbare Kontext
unseres Predigttextes gibt darüber weiteren Aufschluss (Prediger 11,9-10).1 Das Buch Prediger ist auch
nach seinem hebräischen Namen als Kohelet bekannt. Es ist in vielerlei Hinsicht das eigentümlichste
Buch des Alten Testaments – philosophisch, skeptisch und ironisch. Das Buch ist eine Art
„Lebensphilosophie“, die an den Widersprüchen des Lebens nicht irre zu werden sucht, sondern sich an
den einfachen Dingen des Lebens erfreuen will. Das Gelernte wird in Frage gestellt: Anstatt der
Heilsgeschichte finden sich ausführliche Überlegungen über das Wesen der Zeit (Prediger 3,1-15). Eine
Auferstehungshoffnung gibt es nicht und auch die aus der griechischen Philosophie bekannte
Unsterblichkeit der Seele wird bezweifelt: „Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre und
der Geist des Viehs hinab unter die Erde fahre?“ (Prediger 3,21) Zwischen dem sterblichen Menschen
und dem unsterblichen Gott, zwischen Zeit und Ewigkeit besteht eine grundlegende Differenz. Gerade
darum bleibt jedoch gewiss: Gott ist der letzte Richter, der allein das Ganze sieht und die Dinge richtig
zu beurteilen weiß: „Und ich sah alles Tun Gottes, dass ein Mensch das Tun nicht ergründen kann, das
unter der Sonne geschieht. Und je mehr der Mensch sich müht, zu suchen, desto weniger findet er.“
(Prediger 8,17a) Darum ist dem Menschen das ein guter Rat: Memento creatori! – „Denk an deinen
Schöpfer!“
Wenn wir als christliche Gemeinde auf diesen Bibeltext aus dem Buch des Predigers hören, können wir
dabei nicht unseren Glauben an die Menschwerdung Jesu Christi außer Acht lassen. In Christus gilt:
Gott ist Mensch geworden, der Schöpfer ist als Geschöpf in seine Schöpfung getreten. Durch seine
Auferstehung hat er den Tod überwunden und uns die Fülle des Lebens geschenkt.

1
Wie genau der auf unseren Predigttext folgende Abschnitt Prediger 12,9-14 zu bewerten ist, ist in der Forschung
umstritten. Die Verse 12,9-11 werden gemeinhin als Nachwort beurteilt, doch Unklarheit herrscht im Blick auf
die Verse 12,12-14: Handelt es sich dabei um ein zweites Nachwort, z. B. eines Herausgebers?

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20. Sonntag nach Trinitatis Pfr. M. Schmid-Lorch

Arbeitsübersetzung von Prediger 12,1-7


Bildebene Sachebene
1 Und denk an deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugend,
bevor die üblen Tage kommen und die Jahre hereinbrechen,2
von denen du sagen wirst: „Ich habe keine Freude daran.“ –

2 Bevor die Sonne, das Tageslicht, der Mond und die Sterne = der Lebensabend, wenn die Welt
finster werden und die Wolken zurückkommen nach dem fern rückt und das Dunkel
Regen, hereinbricht

3 in der Zeit, wenn die Hüter des Hauses erzittern = die schwächer werdenden Arme
und die starken Männer gebeugt gehen, = die gebeugt gehenden Beine
wenn jene, die das Getreide mahlen, ihre Arbeit niederlegen, = die weniger werdenden Zähne
weil sie wenige geworden sind,
und wenn jene, die an den Fenstern gucken, trübe geworden = die trüben Augen
sind,

4 und wenn die beiden Türflügel3 zur Straße geschlossen = die Ohren und das abnehmende
bleiben, während das Geräusch des Getreidemahlens nur Gehör
schwach zu hören ist und dünn wird wie eine Vogelstimme
und aller Gesang verstummt,

5 auch vor jeder Erhöhung fürchtet man sich und sieht = das Gehen wird schwerer, man
schreckliche Gefahren auf dem Weg. droht zu fallen
Wenn auch der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke = der Kreislauf der Natur wiederholt
macht sich mit Fressen voll und die Kaper springt auf, doch sich, doch der Weg des Menschen
wahrlich, der Mensch fährt dahin in sein Grab4 und die führt mit Gewissheit ins Grab
Klageleute5 ziehen durch die Straßen.

6 – noch bevor der silberne Faden6 reißt und die goldene = das alles sind Bilder für die
Schale bricht und bevor der Krug an der Quelle zu Scherben unausweichliche Begrenztheit der
zerbricht und das Schöpfrad kaputt in den Brunnen fällt menschlichen Lebensdauer

7 und der Staub zurückkehrt zur Erde als das, was er vorher
gewesen ist, und der Lebensgeist zu Gott zurückkehrt, der
ihn gegeben hat.7

2
Verb ‫נגע‬/naga, wörtlich: „berühren, erreichen, schlagen“.
3
Nomen ‫דלת‬/delet steht im Dual, darum ist zu übersetzen: „die beiden Türflügel“.
4
‫אל־בית עולמו‬/el-bet olamo, wörtlich: „in sein ewiges Haus“; im Alten Orient ist das „ewige Haus“ ein
stehender Begriff (terminus technicus) für das Grab, etwa so wie wenn wir heute von der „letzten
Ruhestätte“ reden.
5
Teil der Bestattungskultur damals ist ein Trauerzug aus lautstark Klagenden. Es war durchaus üblich,
dass Menschen auch dafür gezahlt wurden, sich klagend und schreiend an diesem Zug zu beteiligen.
6
Gemeint ist der Lebensfaden als Maßschnur für die Länge der Lebensdauer.
7
Es ist an dieser Stelle keine Hoffnung auf eine Rückkehr zu Gott gemeint: Dass Gott den
Lebensatem/Geist zurückfordert, ist ein geprägtes Bild für das Sterben (vgl. Prediger 3,19-21 und Ps
104,29).
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