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Professor Dr.

Wolfgang Stegemann
November 2010
Erkenntnisse der third quest - what’s new?

1. Überschreitungen der Unterscheidung von „geschichtlich


oder übergeschichtlich“

2. Eschatologisch oder uneschatologisch

3. Veränderung in der Beurteilung der Quellenlage:


Zwischen radikaler Skepsis und kritiklosem Vertrauen

4. Neue Methoden: Soziologie, Sozialgeschichte,


Kulturanthropologie und Archäologie

5. Feministische Fragestellungen und Genderforschung

6. Verhältnis Jesu zum Judentum

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„Das erste hatte Strauß gestellt:
entweder rein geschichtlich oder rein übernatürlich;

das zweite hatten die Tübinger


und Holtzmann durchgekämpft:
entweder synoptisch oder johanneisch;

nun das dritte:


entweder eschatologisch oder uneschatologisch.“

Albert Schweitzer

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1. Überschreitung der Unterscheidung
„geschichtlich oder übergeschichtlich“

 ASC: altered states of consciousness

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J.J. Pilch
„Westliche und indoeuropäische Kulturen leisten starken kulturellen
Widerstand gegen die ASC-Erfahrungen.
Diese Kulturen neigen dazu, ASC als pathologisch oder infantil
anzusehen, während sie ihre eigene Art von Bewusstsein als normal und
gewöhnlich betrachten … Historisch kritische Bibelwissenschaftler, die
sich intensiv um die tatsächlichen historischen Ereignisse im Leben Jesu
bemühen, schenken der Konsensuswirklichkeit seiner mediterranen
Kultur wenig Beachtung. Sie unterscheidet sich von der
Konsensuswirklichkeit westlicher Kultur ziemlich stark … Vertreter der
kulturvergleichenden Psychologie betonen, dass es wichtig ist, den
Plural ‚states‘ (= Zustände) von ASC (altered states of consciousness)
beizubehalten. Denn es gibt in jeder Kultur und
sogar in jeder Subkultur verschiedene Arten und Grade des veränderten
Bewusstseinszustandes.

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2. eschatologisch oder uneschatologisch

J.D. Crossan
Das Reich Gottes in der Jesusverkündigung ist auf einem
weisheitlichen, nicht auf einem apokalyptischen Hintergrund zu
interpretieren. Jesus hat das Reich Gottes schon zu seinen
Lebzeiten verwirklicht gesehen – und zwar in der
Mahlgemeinschaft der Jesusgruppe mit den Marginalisierten in
Galiläa bzw. in der
magischen Praxis Jesu.

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3. Veränderung der Quellenlage

G. Lindeskog
„Die Erforschung des Lebens Jesu ist zu einem großen Teil
eine Quellenfrage.“

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Kurz:

Der Wert des Datenmaterials entscheidet sich an der


subjektiven Bewertung der infrage kommenden historischen
Texte.
Darüber besteht unter den Jesusforschern kein Konsens.
Nahezu jeder Jesusforscher stellt seine eigene Sammlung
authentischer Jesusworte und Jesustaten zusammen.
Der Umfang reicht von 21 Logien bzw. Texteinheiten, über
18 Prozent der Evangelientraditionen (das amerikanische
Jesus Seminar) bis hin zu:
nahezu alle Stoffe der synoptischen Evangelien (E.P.
Sanders),
oder sogar: alle vier kanonischen Evangelien (J. Ratzinger).

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Kriterien
– Differenzkriterium
authentische Jesusüberlieferung liegt dann vor,
wenn ein Traditionsstück weder aus dem Judentum noch aus dem
Urchristentum abgeleitet werden kann
– Kohärenzkriterium
zur authentischen Jesusüberlieferung gehören alle Traditionsstücke,
die inhaltlich übereinstimmen mit den durch das Differenzkriterium
gewonnenen Zeugnissen
– Kriterium der Mehrfachbezeugung
je häufiger ein Traditionsstück von unabhängigen
Überlieferungskomplexen bezeugt wird, umso eher ist es authentisch
– Plausibilitätskriterium,
wonach als historisch authentisch gelten kann, „was sich als
Auswirkung Jesu begreifen lässt und gleichzeitig nur in einem
jüdischen Kontext entstanden sein kann“.

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Kritik am doppelten Differenzkriterium
1. Beispiel: Jeremias – Jesu Botschaft ist analogielos
„Die Botschaft Jesu ist ohne Analogie. Es gibt keine Parallele zu dieser
Botschaft Jesu, daß Gott es mit den Sündern zu tun haben will, nicht mit den
Gerechten, und daß er ihnen schon jetzt Anteil an seiner Herrschaft gibt. Es
gibt keine Parallele zur Tischgemeinschaft Jesu mit Zöllnern und Sündern.
Es gibt keine Parallele für die Vollmacht, die es wagen darf, Gott mit Abba
anzureden. Wer allein die Tatsache anerkennt – und ich wüßte nicht, wie
man sie bestreiten wollte –, daß das Wort ‚Abba‘ ipsissima vox Jesu ist, der
steht, wenn er dieses Wort richtig versteht und nicht verharmlost, vor dem
Hoheitsanspruch Jesu. Wer das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, das zum
Urgestein der Überlieferung gehört, liest und dabei beachtet, daß Jesus mit
diesem Gleichnis, in dem er die Güte Gottes schildert, seine eigene
Tischgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern rechtfertigt, der steht
wieder vor dem Anspruch Jesu, als der Stellvertreter und Bevollmächtigte
Gottes zu handeln … Wenn wir mit aller Zucht und Gewissenhaftigkeit die
kritischen Mittel nützen, die uns an die Hand gegeben sind, stoßen wir beim
Bemühen um den historischen Jesus immer wieder auf ein Letztes: Wir
werden vor Gott selbst gestellt …“
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Abba

„Die angeblich unableitbare und originale Anrede Gottes als


Abba durch Jesus beruht auf einem Missverständnis.
Weder handelt es sich um eine besonders vertraute, ja
zärtliche (Papa) Anrede Gottes, wie Jeremias behauptet hat.
Abba isn’t Daddy - so J. Barr. Noch ist diese Anrede Gottes
völlig neu, unableitbar, originär. Sie ist vielmehr vom
damaligen Sprachgebrauch erklärbar. Das aramäische abba
heißt einfach Vater (das Wort kann auch sehr respektvoll
gebraucht werden) und gibt das hebräische
Entsprechungswort (ab) wieder. Schon in Jesaja 63,16 wird
übrigens der Gott Israels als Vater angeredet! „Denn du bist
unser Vater … Du, HERR, bist unser Vater, unser Erlöser von
alters her …“

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Zweites Beispiel:

Markus 2,27:
Der Schabbat ist um des Menschen willen geworden, nicht der Mensch
um des Schabbats willen.

Dieser Satz im Munde Jesu wird von vielen aufgrund des Kriteriums der
Unähnlichkeit, hier der Differenz gegenüber „dem“ Judentum zur Zeit
Jesu, in dem so nicht hätte über ein Toragebot geredet werden können,
für jesuanisch erklärt. Diese Entscheidung verkennt allerdings, dass es
eine sinngemäß gleichlautende Formulierung aus dem Milieu der
Pharisäer gibt („Euch ist der Schabbat übergeben, und nicht seid ihr dem
Schabbat übergeben“: Midrasch Mechilta de Rabbi Jischmael 1; vgl.
babylonischer Talmud, Traktat Joma 85b: „Er ist in eure Hand
übergeben, und nicht seid ihr in seine Hand übergeben.“
Zudem ist zu beachten, dass dieser Satz Jesus nur eine Konsequenz aus
der biblischen Schöpfungsgeschichte zieht, in der die Erschaffung des
Menschen der Einsetzung des Sabbat vorausgeht und dieser eben dem
Menschen zugute kommen soll:
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Exodus 20,8–11 (rev. Elberfelder)

8 Denke an den Sabbattag, um ihn heilig zu halten. 9 Sechs


Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun, 10 aber der
siebte Tag ist Sabbat für den HERRN, deinen Gott. Du sollst
an ihm keinerlei Arbeit tun, du und dein Sohn und deine
Tochter, dein Knecht und deine Magd und dein Vieh und der
Fremde bei dir, der innerhalb deiner Tore wohnt. 11 Denn in
sechs Tagen hat der HERR den Himmel und die Erde gemacht,
das Meer und alles, was in ihnen ist, und er ruhte am siebten
Tag; darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.

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Kurz:

Letztlich wird man auch in diesem


Zusammenhang nicht um die Erkenntnis
herumkommen, dass es (bisher) keine Kriterien
gibt, die uns mit einer auf dem Felde der
Wissenschaft wünschbaren Sicherheit aus der
späteren Überlieferung über Jesus von Nazareth
die ipssisima verba et facta Jesu rekonstruieren
können. Wir haben diesen Schatz nur in irdenen
Gefäßen.

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4. Neue Methoden

Sozialgeschichtlichen wie auch die kulturanthropologischen


Analysen konnten zeigen,
wie sehr sich die Lebensbedingungen und die kulturellen
Wertesysteme der neuzeitlichen westlichen Gesellschaften
von denen der antiken mediterranen Welt unterscheiden:

 Zeit Jesu ist eine agrarische Gesellschaft

 Kein moderner Individualismus, sondern kollektive


Identitätskonstruktionen

 Wertekodex: Ehre und Schande

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5. Feminismus und Genderforschung

Elisabeth Schüssler Fiorenza


Während in den Sprüchen Frauen nahezu keine Rolle spielen,
verändert sich dieses Bild sehr schnell, wenn wir die Erzählungen
betrachten. In ihnen treten Frauen auf und spielen eine wichtige
Rolle.

Luise Schottroff und Elisabeth Schüssler Fiorenza


Sie deuten die Jesusbewegung als innerjüdische
Erneuerungsbewegung und heben sich kritisch von anderen
feministischen Positionen ab, die Jesus für Frauenbewegung
gewinnen wollten, indem sie ihn zugleich gegen das Judentum als
Inbegriff des Patriarchalismus stellten.

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6. Verhältnis zum Judentum

Insgesamt kann man sagen:


Jesus ist in der third quest als Jude neu entdeckt worden.

Einflussreich waren hier vor allem die Arbeiten


von E.P. Sanders,
aber auch von G. Vermes.

Ed Parish Sanders
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Julius Wellhausen (1844-1918)

„Jesus war kein Christ,


sondern Jude.“

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