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Salomon Kroonenberg

Der lange Zyklus


Salomon Kroonenberg

Der lange Zyklus


Die Erde in 10 000 Jahren
Aus dem Niederländischen von Monica
Barendrecht und Thomas Charpey
Die niederländische Originalausgabe erschien 2006 bei Uitgeverij Atlas,
Amsterdam unter dem Titel De menselijke maat. De aarde over tienduizend jaar
© 2006 by Salomon Kroonenberg

Die Übersetzung erscheint mit freundlicher Unterstützung des Nederlands


Literair Produktie- en Vertalingenfonds.

Der Primus Verlag dankt Prof. Dr. Peter Rothe für die fachliche Durchsicht des
Umbruchs.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfäl-
tigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und
Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© der deutschen Ausgabe 2008 by Primus Verlag, Darmstadt


Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG
ermöglicht.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt
Einbandmotiv: © picture-alliance/OKAPIA KG, Germany
Redaktion: Kristine Althöhn, Mainz
Gestaltung und Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
Printed in Germany

www.primusverlag.de

ISBN 978-3-89678-362-2
Inhalt

1 Das menschliche Maß 7


2 Die kaspische Zeitmaschine 17
3 Urväter 35
4 Die Skala von Richter und der Sand von Bak 52
5 Das kollektive Gedächtnis 70
6 Der Superlativ 90
7 Hitzewellen, Kältewellen 107
8 Eis über Eis 117
9 Unter der Decke 133
10 Wächter, Schläfer, Träumer 144
11 Dreimal die Sintflut 156
12 Die Zeit stromaufwärts 172
13 Wie ewig singen die Wälder? 188
14 Das Geheimnis des Stephen Jay Gould 202
15 Das Jahr 10 000 217

Epilog 227
Nachwort 233

Anhang
Literaturverzeichnis 235
Anlage: Geologische Zeitskala 248
Register 250
Bildnachweis 255
1 Das menschliche Maß

„... me dijo: el mundo avanza. Sí, le dije, avanza, pero dando vueltas alrededor del sol.“
„... er sagte mir: Es geht vorwärts mit der Welt. Ja, sagte ich, es geht vorwärts mit ihr,
aber kreisend um die Sonne.“
Gabriel García Márquez, Memoria de mis putas tristes, 2004

Vor zehntausend Jahren nimmt der Frühling seinen Anfang. Die glitzernde Eis-
kappe, die Skandinavien bedeckt, schmilzt wie Schnee in der Sonne, und die Ost-
see beeilt sich, die entstandene Lücke zu füllen. Der Meeresspiegel steigt rasch,
und immer mehr Land, das in der Eiszeit trockengelegen hatte, steht nun unter
Wasser. Die Seehunde, die hunderttausend Jahre lang – solange die Nordsee tro-
cken war – vor der Küste Portugals überwintert hatten, schwimmen endlich wie-
der zurück zum Wattenmeer. Die Polwüste Nordwesteuropas färbt sich auf ein-
mal grün. Insekten bringen Pflanzensamen in den Norden, und einer nach dem
anderen kehren die Bäume aus ihrem warmen Asyl hinter den Alpen zurück:
zuerst die Birke, dann die Kiefer, später die Eiche und schließlich die Buche. Es
findet ein Wettlauf statt, wer am schnellsten ist: je leichter ihre Samen, desto eher
am Ziel.
Unsere Vorfahren ziehen ihre Fellmäntel aus, verspeisen die letzten Mammuts,
und im immer grüner werdenden Mittleren Osten findet man Wege, sich nicht
immer wieder auf die Suche nach neuen Jagdgebieten und Fischgründen machen
zu müssen. Man sät einige der schmackhaftesten Grassamen auf abgesteckten
Landflächen aus und entdeckt schon bald, dass man auf diese Weise viel besser
Nahrungsmittel produzieren kann als früher. Die Erfindung erobert Europa in
hohem Tempo. Pflanzen, Tiere, Menschen – alle werden vom rasch wärmer wer-
denden Klima beeinflusst.

Jetzt herrscht Hochsommer. Wir Menschen haben uns zu einer erfolgreichen,


allerdings sorgenvollen Art entwickelt. Das Klima ist so gut wie stabil, aber wir
fürchten uns trotzdem davor, dass es in hundert Jahren ein Grad wärmer sein
wird. Der Meeresspiegel steigt kaum noch, aber wir benehmen uns, als seien wir
in Lebensgefahr. Durch die Erfindung der Landwirtschaft vor zehntausend Jah-
ren könnten wir uns unbeschränkt vermehren, aber wir nehmen Pillen, um genau
das zu vermeiden. Wir sorgen uns um die Artenvielfalt der Pflanzen und Tiere
um uns herum, obwohl die noch nie so groß war wie heute. Auf unseren Feldern
8 DER LANGE ZYKLUS

stehen irakisches Getreide, mexikanischer Mais und Kartoffeln aus den Anden,
und unsere Gärten sind voller Tulpen aus der Türkei und Rhododendren aus
Madagaskar. Wir besitzen Aquarien mit tropischen Fischen und jede Menge exo-
tischer Haustiere. Die Katastrophen, die uns treffen, machen uns Sorgen, aber
viele dieser Katastrophen sind nur so katastrophal, weil wir auf Vulkanen gesie-
delt haben, auf aktiven Brüchen, an absinkenden Küsten und in Flussauen, die
überschwemmt werden können. Wir selbst haben die Wälder gerodet, sodass die
Flüsse mehr Wasser mitführen müssen, wir selbst haben den Torf abgegraben,
sodass das Land unter den Meeresspiegel zu liegen kam und das Meer ins Lan-
desinnere dringen konnte. Wir sind Grübler geworden, voller Schuldgefühle.
Aber diese Schuldgefühle sind ein Luxus – ein Luxus, der nur der Tatsache zu
verdanken ist, dass wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, im Sommer leben. Die
Natur ist uns wohlgesonnen im Hochsommer, sodass wir uns mit kleinen Kli-
maspitzen und fast unsichtbaren Kräuselungen in der Meeresspiegelkurve be-
schäftigen können. Denn wir messen die Natur nur mit unserem menschlichen
Maß. Aber in zehntausend Jahren beginnt der Herbst. Dann ist Schluss mit der
Euphorie. Dann kehren die Eiskappen wieder und der Meeresspiegel sinkt er-
neut. Dann müssen die Seehunde wieder nach Portugal zurück, die Rhodo-
dendren erfrieren im Garten und die Anti-Pelz-Aktivisten fliehen bis hinter die
Alpen. Vulkane brechen aus mit einer Gewalt, die in der kurzen Menschheitsge-
schichte noch nicht vorgekommen ist. Dann erst sehen wir, dass die Maßstäbe
der Natur viel größer sind als das menschliche Maß.
Wie kommt es nur, dass wir diese Tatsache ausblenden? Wie kommt es, dass
wir alle Probleme der Zukunft blind auf die nachfolgenden Generationen ab-
schieben? Jetzt höre ich Einspruch: Das stimmt doch gar nicht! Wir kümmern
uns im Gegenteil sehr intensiv um die Zukunft. Wir denken fortwährend an die
nächsten Generationen. Wir kämpfen für eine nachhaltige Welt. Nachhaltigkeit
heißt dem Brundtland-Bericht zufolge: ‚Meeting the needs of the present gene-
ration without compromising the ability of future generations to meet their
needs.‘ Nun gut, frage ich mich, über wie viele Generationen sprechen wir da?
Wie lange hält Nachhaltigkeit vor? Die Antwort lautet: Unsere Enkel sollen auch
noch den Wohlstand genießen können. Eine bessere Illustration für die Klein-
heit des menschlichen Maßes ist wohl kaum möglich. Enkel! Einem jeden, der
sich noch an uns als lebende Menschen erinnern kann, soll es gut gehen, sonst
gibt man uns die Schuld, dass wir alles verpulvert haben. Zwei Generationen,
fünfzig Jahre. Was danach geschieht – darum sollen sie sich selbst kümmern.
Oder liege ich da falsch? Schauen wir uns doch mal den Bericht des Club of
Rome von 1971 an. Dort gibt es eine nette kleine Grafik: die räumlichen und
zeitlichen Skalen des menschlichen Horizonts. Was steht darunter?
‚Weit in die Zukunft‘ heißt: so weit wie die Lebensdauer der Kinder − die waage-
rechte Achse. Das Jahr 2100 ist ihr Horizont, wie aus dem weiteren Bericht er-
sichtlich wird. Sogar die Irokesen haben weiter vorausgedacht: Ihre Häuptlinge
DAS MENSCHLICHE MASS 9

Welt
Raum

Rasse, Nation

Betrieb, Stadt,
nächste Umgebung

Familie

nächste die nächsten Lebenszeit Lebenszeit


Woche Jahre Kinder

Zeit

Abb.1: Menschlicher Horizont. Obwohl der räumliche und zeitliche Horizont von Mensch
zu Mensch unterschiedlich ist, kann die Anteilnahme jedes Menschen irgendwo in der
Raum-Zeit-Skala eingeordnet werden. Die meisten Menschen interessieren sich nur für die
Faktoren, die die Familie oder Freunde betreffen, und das nur über einen kurzen Zeitraum.
Einige überschauen einen längeren Zeitraum oder ein größeres Gebiet – eine Stadt oder ein
Volk. Doch nur bei sehr wenigen erstreckt sich der Horizont auf die ganze Welt und bis weit
in die Zukunft hinein.

mussten die Auswirkungen ihrer Handlungen immer bis in die siebte Genera-
tion durchdenken. Wenn eine Generation fünfundzwanzig Jahre dauert, würde
das vielleicht gerade bis zum Jahr 2200 reichen. Doch eine unserer größten Fa-
briken für Zukunftsvorhersagen, das Intergovernmental Panel on Climate
Change, kurz IPCC, traut sich noch nicht mal das. Schauen Sie sich mal deren
Grafiken an. Die nachstehenden Abbildungen sind so ziemlich die meistko-
pierten Darstellungen in der Klimadiskussion. Sie zeigen die Prognosen der
Temperatur- und Meeresspiegeländerungen. Wunderbar präzise Modelle: aber
immer noch bis zum Jahr 2100. Seit dem Club of Rome hat man noch keinen
Schritt weiter in die Zukunft zu blicken gewagt. Es ist im Grunde genommen ein
Schritt zurück, denn wir haben uns seitdem um dreißig Jahre diesem Datum
angenähert – offenbar ist es das äußerste Haltbarkeitsdatum ihrer Vorhersagen.
Ich kann durchaus nachvollziehen, warum man nicht weiter gegangen ist. Die
Kurven streben auseinander wie ein schwärmendes Bienenvolk, so weit, dass Vor-
10 DER LANGE ZYKLUS

Temperaturänderung (°C)
4

0
2000 2020 2040 2060 2080 2100
Jahr

1,0
Meeresspiegelanstieg (m)

0,8

0,6

0,4

0,2
Abb. 2: IPCC-Prognosen
der Temperatur- und
0 Meeresspiegeländerungen
2000 2020 2040 2060 2080 2100
bis zum Jahr 2100 nach
Jahr
unterschiedlichen Szenarien.

hersagen für eine weitere Zukunft viel zu unsicher würden. Das Wetter können
wir auch nicht weiter als zehn Tage vorhersagen. Danach wird die Unsicherheit
zu groß. So weit, so gut.
Aber wenn wir auch das Wetter in einem Monat nicht vorhersagen können, so
können wir doch prophezeien, dass nach dem Sommer der Herbst kommt. Dafür
brauchen wir nicht zu wissen, wie das Wetter in zwei Wochen oder einem Monat
sein wird. Uns genügt das Wissen um eine längerfristige Zyklizität: die Umlauf-
bahn der Erde um die Sonne. Das ist ein astronomischer Zyklus, den es so schon
seit mehr als viereinhalb Milliarden Jahren gibt. Ob es nun also in 14 Tagen
schlechtes oder gutes Wetter gibt und ob die Erde sich heute durch Zutun des
Menschen erwärmt oder nicht – Herbst und Winter wird es auf jeden Fall. Nur
wissen wir nicht, ob es ein strenger oder milder Winter wird.
Genauso folgt auf den klimatologischen Hochsommer, in dem wir heute
leben, die allmähliche Abkühlung zur nächsten Eiszeit. Dafür brauchen wir nicht
zu wissen, ob es im Jahr 2100 oder 2200 wärmer oder kälter ist als jetzt. Denn der
Wechsel zwischen Eiszeiten und warmen Perioden wird durch eine vergleichbare
Zyklizität gesteuert wie der zwischen Sommer und Winter – nur in einem größe-
ren Maßstab: die Milanković-Zyklizität. Das Klima durchläuft einen vollständi-
DAS MENSCHLICHE MASS 11

gen Zyklus in hunderttausend Jahren. Und auch diese Zyklizität gibt es bereits
seit rund viereinhalb Milliarden Jahren. Und so wenig, wie die Erwärmung der
letzten Jahre die Jahreszeiten aufhalten kann, kann sie das Kommen der nächs-
ten Eiszeit verhindern. Vielleicht wird die nächste Eiszeit durch menschliches
Zutun weniger kalt, als sie es sonst geworden wäre: eine milde Eiszeit. Aber sie
kommt unausweichlich. Und so, wie man weiß, wann der Winter beginnt, kann
man berechnen, wann die nächste Eiszeit sein wird: in 23 000 Jahren – tausend
Generationen – sind wir mittendrin.
Ein Politiker denkt an die nächsten Wahlen, ein Staatsmann an die nächste
Generation. Aber wer denkt schon an die nächsten tausend Generationen? Nie-
mand. Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, endlich mal etwas länger vorauszuden-
ken. Wir sind so gescheit, wenn es ums Zurückblicken geht, zurück in die Ge-
schichte der Menschheit, in die Geschichte des Planeten. Warum nicht auch
einmal ein wenig weiter in die Zukunft schauen? Denn gestern war heute noch
morgen. Und dabei brauchen wir gar nicht mal bis zum Sterben der Sonne und
zur Abkühlung der Erde in vielen Milliarden Jahren zu gehen. Auch das Jahr
802 701 von H. G. Wells’ The time machine können wir außer Betracht lassen.
Nein, wir wollen einfach versuchen, zehntausend Jahre vorauszuschauen, mit
unserem heutigen Wissen um die Prozesse auf der Erde.
Und warum sollten wir das tun? Erstens, weil einige Trends, die sich heute nur
in eine Richtung entwickeln, wie die Erwärmung des Klimas, dann ihre Richtung
geändert haben könnten: auf dem Weg zur nächsten Eiszeit. Wir werden dabei
einen größeren Abschnitt eines langen Zyklus sehen, der das jetzige menschliche
Maß übersteigt. Und mit dem Wissen über die größeren Zeiträume im Hinter-
kopf treffen wir eventuell auch andere Entscheidungen für kleinere Zeiträume.
Vielleicht freuen sich die Menschen in 400 Generationen über das ganze Kohlen-
dioxid, das wir heute in die Atmosphäre blasen, denn dann ist ihr Herbst nicht
so kalt.
Zweitens möchten wir weit vorausschauen, damit wir mehr Einsicht bekom-
men in die Entstehung von Naturkatastrophen. Denn je spektakulärer ein Ereig-
nis, desto seltener ist es. Je größer das Erdbeben oder die Eruption, die Über-
schwemmung oder der Meteoriteneinschlag, desto länger dauert es, bis ein Ereig-
nis der gleichen Größenordnung stattfindet. Ein Erdbeben der Stärke 8 auf der
Richterskala ist zehnmal so heftig, aber auch zehnmal so selten wie ein Erdbeben
der Stärke 7: eine logarithmische Relation. Von den größtmöglichen Katastro-
phen, die wir aus der geologischen Geschichte kennen, haben wir in der kurzen
Zeit der menschlichen Geschichte noch keine einzige erlebt. Auch diese überstei-
gen das menschliche Maß. Aber die künftigen Generationen werden sehr wohl
damit zu tun bekommen.
Und warum zehntausend Jahre? Die letzten psychologischen Meilensteine im
Nachdenken über die Zukunft, das Jahr 1984 von George Orwell und das Jahr
2000, sind inzwischen Vergangenheit. Die Periode, in der wir jetzt leben, das Ho-
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20
Super-
Interglazial
Letztes
Heutiges
Interglazial

Temperatur (°C)
Interglazial

15

Nächste
Eiszeit
Letzte
Eiszeit
Heute
10
150 125 100 75 50 25 0 25

Zeit (Jahrtausende)

Abb. 3: Klimakurve der letzten 150 000 Jahre, der Zeit des Homo sapiens, weitergeführt für
die nächsten 25 000 Jahre.

lozän, begann vor zehntausend Jahren. Das war der „Frühling“, mit dem wir
dieses Kapitel begonnen haben, und aus der geologischen Geschichte wissen wir,
dass warme Perioden wie die unsere meistens nicht viel länger als zehntausend
Jahre dauern. In den Niederlanden sind Seedeiche ausgelegt für Sturmfluten, die
einmal in zehntausend Jahren auftreten. Staudämme in Flüssen müssen zehn-
tausend Jahre halten. Vulkane, die vor weniger als zehntausend Jahren ausgebro-
chen sind, werden als aktiv angesehen. Radioaktive Abfälle müssen in den Verei-
nigten Staaten zehntausend Jahre lang ungestört im Boden gelagert bleiben.
Und unser nächster Verwandter, der kleine Mann von Flores, ist vor nicht viel
mehr als zehntausend Jahren ausgestorben. Deshalb wird es Zeit, an den Herbst
zu denken.
Denken in Generationen ist Denken innerhalb des menschlichen Maßes.
Doch wir müssen lernen, im logarithmischen Maß der Natur zu denken: nicht
hundert Jahre in die Zukunft, sondern zehntausend Jahre. Und nicht nur einen
Schritt auf der Zeitskala voraus, nicht tausend Jahre, sondern zwei Schritte,
zehntausend Jahre. Denn in diesen zehntausend Jahren besteht zumindest eine
gute Chance, dass Ereignisse mit einer Wiederholungszeit von einmal pro Jahr-
tausend auch tatsächlich eintreten werden.
Für die meisten Menschen ist Zehntausend eine abstrakte Zahl. „Zehntausend
Jahre! Typisch für euch Geologen. Ihr sprecht immer über Millionen von Jah-
ren“, so wirft man uns vor. Aber dieselben Menschen haben nichts dagegen ein-
zuwenden, im Lotto eine Million zu gewinnen. Dann auf einmal kennen sie den
Unterschied zwischen zehntausend Euro und einer Million Euro. Wobei ich zu-
geben muss, dass es speziell dafür ausgebildete Berater gibt, die den Leuten dabei
helfen, mit einem Gewinn von einer Million Euro umzugehen. Ich fühle mich
eigentlich genau wie ein solcher Berater, nur dass ich die Menschen aufklären
DAS MENSCHLICHE MASS 13

möchte über das Ausmaß des größten Geschenks der Geologie an die Mensch-
heit: die Tiefe der Zeit.

Wir schreiben das Jahr 1968. Draußen wütet die Studentenrevolte. Ich sitze im
Praktikumsraum und schaue mir durch das Mikroskop dünne Scheibchen Sand-
stein an. Sie bestehen aus lauter eckigen Sandkörnern, Sediment eines großen
Wüstenflusses, der einst dort strömte, wo heute die Pyrenäen liegen. Da erregt
ein Detail meine Aufmerksamkeit. Ich nehme eine stärkere Optik und fokussiere
sie auf ein helles, rundes Quarzkörnchen. In diesem Körnchen drin regt sich
etwas. „Das kann nicht sein“, ist mein erster Gedanke. Dieses Gestein ist 250
Millionen Jahre alt und mausetot. Aber nein, es ist keine Ameise, keine Blattlaus
auf meinem Dünnschliff, es befindet sich wirklich etwas in der Sandsteinplatte,
in dem Quarzkörnchen. Ich nehme eine noch stärkere Linse. In dem Quarz ist
eine winzige Höhle, gefüllt mit Flüssigkeit. Und in dieser Flüssigkeit befindet
sich ein unmöglich kleines rotes Kügelchen. Es tanzt auf und ab, ohne Ziel oder
Richtung, bewegt von unsichtbaren kleinen Strömungen, schon seit 250 Millio-
nen Jahren. Ich vergesse das Praktikum, meine Aufgabe, die anderen Studenten
um mich herum und versinke zum ersten Mal in den endlosen Tiefen der Zeit.

Es sind nicht nur die großen Zeiträume, die es Menschen erschweren, in die Zu-
kunft zu schauen. Es sind auch die unterschiedlichen Wirkungsweisen der ir-
dischen Prozesse durch die Zeiten hindurch. Drei Erscheinungsformen der Zeit
bilden die Basis für dieses Buch: die Zeit als Fluss, die Zeit als Welle und die Zeit
als Impuls.
Die erste Erscheinungsform, die Zeit als Fluss, scheint die einfachste zu sein:
Die Erdgeschichte ist fortschreitend, eine unumkehrbare Aufeinanderfolge von
Ereignissen, die, jedes für sich, wieder aus den vorherigen Ereignissen entstehen,
wie der radioaktive Zerfall oder das sich ausdehnende All seit dem Urknall –
immer in ein und dieselbe Richtung, denn aus dem einen folgt das nächste. So
glaubte man früher, dass die Evolution des Lebens hin zu immer komplexeren
Lebensformen unausweichlich zur Krone der Schöpfung führen musste: dem
Menschen. Stephen Jay Gould nennt das Time’s arrow, den Pfeil der Zeit, in sei-
nem Buch Time’s arrow, time’s cycle (1987). Dies ähnelt auch am meisten der Art,
wie der Mensch die Zeit erlebt. Man hat schon wieder Geburtstag, man wird ein
Jährchen älter. Life is hard and then you die. Die Zeit schreitet fort, die Zeit fließt,
man kann nicht zweimal im selben Fluss baden, hora ruit, tempus fluit.
Es gibt auch Physiker, unter ihnen der belgische Nobelpreisträger Ilja Prigo-
gine (1917−2003), die behaupten, die Zeit als Pfeil gebe es nicht, und Vergangen-
heit und Zukunft könne nur ein Betrachter voneinander unterscheiden. Viel-
leicht hätte ich dieses Buch ja gar nicht zu schreiben brauchen.
Die zweite Erscheinungsform, die Zeit als Welle, bezieht sich auf Kreisläufe:
der Blutkreislauf, das Ein- und Ausatmen, Tag und Nacht, Sommer und Winter,
14 DER LANGE ZYKLUS

Anteil der restlichen Atome


1/2

1/4

1/8
1/16
1/32
0 1 2 3 4 5

Zeit (Halbwertszeiten)

Abb. 4: Die Zeit als Fluss: Radioaktive Stoffe zerfallen mit einer konstanten Geschwindigkeit;
nach einer Halbwertszeit ist nur noch die halbe Anzahl der ursprünglichen Atome übrig,
nach zwei Halbwertszeiten ein Viertel etc. Die Halbwertszeit von Uran-238, dem wichtigsten
radioaktiven Element in der Erdkruste, beträgt viereinhalb Milliarden Jahre, so viel, wie die
Erde alt ist. Vom gesamten Uran, das beim Entstehen der Erde vorhanden war, ist heute also
noch die Hälfte übrig.

Eiszeit und Warmzeit – all dies hat etwas mit einem Zyklus zu tun. Die Erde
dreht sich um ihre Achse, die Erde kreist um die Sonne. Wasser aus den Ozeanen
verdunstet, bildet Wolken, daraus fällt Regen, der fließt zurück in den Ozean –
und der hydrologische Zyklus ist geschlossen. Die Platten, aus denen die Erd-
kruste besteht, bewegen sich aufeinander zu, kollidieren und streben wieder aus-
einander: der tektonische Zyklus. Lava strömt aus bei einem Vulkanausbruch,
Regen und Wind zersetzen das Gestein, bis es in Sand und Lehm auseinander-
fällt, Flüsse transportieren es ins Meer, wo es immer tiefer unter jüngeren Schich-
ten begraben wird, immer wärmer wird, schließlich zwischen zwei kollidierenden
Platten landet, schmilzt, zu Magma wird, durch die Erdkruste aufsteigt, um bei
einer vulkanischen Eruption erneut als Lava auszuströmen: der Gesteinszyklus.
Und ebenso gibt es den Kohlenstoffzyklus, den Stickstoffzyklus und so weiter
und so fort. Time’s cycle, wie Gould es nennt. Die Erde kommt immer wieder zu
ihrem Ausgangspunkt zurück, es gibt keinen Anfang und kein Ende. Das grie-
chische Wort kyklos bedeutet Kreis, doch in der Zeit gibt es natürlich keine Rück-
kehr zum Ausgangspunkt, denn die Zeit als Fluss geht immer weiter. So wird es
eine zweidimensionale Wellenbewegung oder eine dreidimensionale Spirale.
Eine Welle an der Wasseroberfläche illustriert schön, wie eine Kreisbewegung in
eine Welle übersetzt werden kann.
Die dritte Erscheinungsform ist die Zeit als Impuls. Die Erdgeschichte ist eine
ungeordnete Aufeinanderfolge von plötzlichen Energie-Impulsen: Erdbeben,
Meteoriteneinschläge, Eruptionen, Überschwemmungen und andere Katastro-
DAS MENSCHLICHE MASS 15

Eine Wellenlänge

Orbitaldurchmesser, Wellenbewegung
mit der Tiefe abnehmend

Abb. 5: Die Zeit als Welle: Der Wind versetzt die Wasserteilchen in eine kreisende Bewegung,
sodass an der Wasseroberfläche eine Welle entsteht.

phen ohne Richtung, Ziel oder Regelmäßigkeit. Wer an den Zufall glaubt und
von einer Katastrophe getroffen wird und sich dann verzweifelt fragt: Warum
ich?, warum meine Lieben?, warum gerade die Schwachen?, warum jetzt?, der ist
nicht geneigt, an eine notwendige Entwicklung oder einen sich stets wiederho-
lenden Kreislauf zu denken. Der sieht nur Willkür und Chaos, die Erdenzeit als
Katastrophentheater.
Ich werde in diesem Buch zeigen, wie Flüsse, Wellen und Impulse im Ausmaß
von minimalen bis hin zu immensen Zeiträumen zusammen eine meisterhafte
Musik ergeben. Der Mensch spielt davon nur einen einzigen Dreivierteltakt: das
menschliche Maß.
Im nächsten Kapitel werden wir an einem Beispiel sehen, wie die Menschen im
20. Jahrhundert sich dreimal davon haben überraschen lassen, dass sich Trends
in der Natur unerwarteterweise in ihr Gegenteil verkehrten – in diesem Fall von
den Meeresspiegeländerungen im Kaspischen Meer. Im darauffolgenden Kapitel
werden wir sehen, dass wir auch schon in früheren Jahrhunderten, von biblischen
Zeiten bis zu den Urvätern der Geologie im 19. Jahrhundert, die größten Schwie-

30
S
20 P
Amplitude = 23 mm
10

0 10 20
Zeit

Abb. 6: Die Zeit als Impuls: Seismogramm eines Erdbebens.


16 DER LANGE ZYKLUS

rigkeiten hatten mit den Tiefen der geologischen Zeiträume und der Art und
Dauer von geologischen Prozessen. In jedem der darauffolgenden Kapitel wer-
den wir natürlichen Prozessen folgen – Flüssen, Wellen und Impulsen – wie Erd-
beben, Vulkanismus, Klimaänderungen, Meeresspiegelschwankungen, Fluss-
laufverlagerungen, der Evolution und Meteoriteneinschlägen: immer von klein
und häufig hin zu groß und selten, von unbedeutend hin zu dermaßen bedroh-
lich und katastrophal, dass sie unser Verständnis zu übersteigen scheinen.
Das mache ich nicht, um vor der Apokalypse und dem Ende der Menschheit
zu warnen. Das tun schon genügend andere, und, wie die Geschichte uns lehrt,
meistens zu Unrecht. Im Gegenteil, ich möchte gerade darlegen, dass der Mensch
sich sehr gut anpassen kann an wärmere oder kältere Klimate, an höhere oder
niedrigere Meeresspiegel. Wenn der Steinzeitmensch mit Bärenfellen und
Steinäxten eine ganze Eiszeit zu überleben wusste, sollten wir mit all unserer
hoch entwickelten Technologie dann nicht mit einem Meter Meeresspiegelan-
stieg fertig werden können? Wo doch der Meeresspiegel in der Westerschelde
zweimal täglich um vier Meter steigt? Vielleicht sollten wir eher darüber nach-
denken, was wir tun werden, wenn der Meeresspiegel demnächst wieder sinkt.
Keine zehntausend Jahre mehr und es ist wieder so weit.
2 Die kaspische Zeitmaschine

„Nascuntur et alio modo terrae ac repente in aliquo mari emergunt, velut paria secum
faciente natura quaeque hauserit hiatus alio loco reddente.“
„Land entsteht und taucht plötzlich aus dem Meer auf, als wollte die Natur an einer
Stelle kompensieren, was sie an anderer verschlungen hat.“
Plinius, Naturalis Historiae, 2, 202

„Ihr seid doch Holländer? Ihr wisst doch alles über den Meeresspiegel? Bitte helft
uns!“, sagt Maria Nikolajewna Mirojedowa. Sie ist Direktorin von Astrachan-
giprowodschos, dem Landeswasserwirtschaftsamt des Distrikts Astrachan in
Russland, dort, wo die Wolga in das Kaspische Meer mündet. Und sie hat ein
Problem.
Das Kaspische Meer steigt. Und nicht nur ein bisschen, sondern sehr schnell.
Als wir sie 1993 besuchen, ist der Meeresspiegel in 16 Jahren fast zweieinhalb
Meter gestiegen. Das sind 15 Zentimeter pro Jahr. Vergleichen Sie das mal mit
dem Anstieg des Meeresspiegels der Ozeane: 15 Zentimeter im ganzen 20. Jahr-
hundert. Hundertmal so schnell wie die Ozeane steigt das Kaspische Meer – aber
das hat eben auch keine Verbindung zu den Weltmeeren. Herodot schrieb be-
reits: Das Kaspische Meer ist ein Meer für sich. Es ist das größte Binnenmeer der
Erde. Und die Wolga höchstpersönlich versorgt es mit Wasser.
Das Wolgadelta ist ein Feuchtgebiet, halb so groß wie die Niederlande, mit
Dutzenden von Flussarmen, die sich immer weiter in kleine Rinnsale auffächern,
je näher sie der Küste kommen. Die Wolga hat an die 800 Flussmündungen, und
das Delta ist eines der größten wetlands der Welt, voller Schilf, Weiden und Was-
serpflanzen. Für den Stör ist es der wichtigste Zugang zu den Laichplätzen weiter
stromaufwärts. Es gibt dort mehr als 250 Vogelarten, und eine halbe Million
Schwäne leben in dem Gebiet. Der Seeadler hat dort mehr als 32 Horste. Sie alle
stehen unter dem Schutz des Astrachan-Naturreservates, das 1919 gegründet
wurde und heute unter der Obhut der UNESCO steht.
Es gibt keine Deiche. Wenn der Meeresspiegel steigt, wird das Land über-
schwemmt. Und weil das Delta so flach ist und der Meeresspiegel so rasch an-
steigt, wird auch das Delta sehr schnell überschwemmt. Das Meer staut das
Flusswasser, der Grundwasserspiegel steigt und große trockene Flächen werden
geflutet. Den Wasservögeln schwimmen die Nester davon. „Polder“, sagt Maria
Nikolajewna, „wir brauchen Polder wie in den Niederlanden“, und zeigt mit einer
18 DER LANGE ZYKLUS

Geste, dass ihnen das Wasser bis Oberkante Unterlippe steht. Der Bodenkundler
unseres Teams, Herman Winkels vom staatlichen Wasserwirtschaftsamt, macht
ein bedenkliches Gesicht. In den Niederlanden möchte man zurzeit nicht weiter
einpoldern, sondern der Natur mehr Raum lassen. Er ist mehr auf der Linie der
Mitarbeiter vom Naturreservat, die keine Eingriffe wünschen.
Dessen Direktor Gennadij Andrejewitsch Kriwonosow besucht auf unsere
Einladung hin die Niederlande. Während eines Spaziergangs durch Amsterdam
zeigt er auf einmal auf die Wohnboote entlang der Prinsengracht und sagt: „Das
ist es, was wir brauchen: schwimmende Wohnungen, keine Polder!“

Zwei Jahre später. Der Meeresspiegelanstieg schreitet unerbittlich fort. Es gibt


immer noch keine Polder im Wolgadelta. Die Mitarbeiter des Astrachan-Natur-
reservates haben in den Niederlanden die Folgen des schnellen Meeresspiegelan-
stiegs für Pflanzen und Tiere kartiert und Szenarien für die Zukunft entwickelt.
Ein schwerer Südoststurm setzt am 13. März 1995 große Flächen des Küsten-
streifens von Kalmykien im Nordwesten des Kaspischen Meeres unter Wasser.
Das angeschwemmte Schilf liegt überall in den Straßen der Stadt Laganj. Die
Mülldeponie der Stadt ist überflutet und Unrat treibt umher. Hier hat man zwar
provisorische Deiche errichtet, aber sie brechen jedes Jahr wieder zusammen.
In der Hafenstadt Kaspiisk an der Westküste des Kaspischen Meeres bauen die
Ingenieure von Dagestanberegosaschtschita, der Instanz, die die Küste Dage-
stans schützen soll, unter der Leitung von Vagab Omarowitsch Musajew auf dem
Strand Sandfänger aus Beton, die sich mit dem Sand füllen sollen, den die Stürme
landeinwärts fegen. So hoffen sie, die Stadt schützen zu können. Ein interes-
santer Versuch, aber ob es funktioniert?
Wir fliegen mit dem Hubschrauber die Küste entlang. Überall sind Abschnitte
des Ufers weggebrochen und Kais, Häfen, Bahnlinien, Hochspannungsleitungen,
ja ganze Dörfer und Inseln stehen unter Wasser. Große Öllachen, verursacht von
untergegangenen Bohrplattformen, treiben auf dem Wasser. Der Schaden ist
enorm. Es finden Evakuierungen statt. Der Anstieg des Meeresspiegels ist das
größte Umweltproblem der russischen Föderation. Man hat einen dicken 16-
teiligen Bericht erstellt, an dem 26 Institute fünf Jahre lang gearbeitet haben.
Darin steht, was an den Küsten geschehen wird, wenn der Meeresspiegel noch
weiter ansteigt. Es würde eine unvorstellbare Katastrophe bedeuten.
Aber wird das Meer noch weiter ansteigen? Die Gelehrten sind sich nicht einig.
Denn bis heute hat noch niemand wirklich verstanden, warum der Meeresspiegel
steigt. Im Jahr 2004 liegt er etwa 27 Meter unter dem Niveau der Ozeane. Nicht
so niedrig wie das Tote Meer (–400 Meter), doch immerhin ein ganzes Stück
niedriger als der tiefste Punkt der Niederlande im Alexanderpolder (–7 Meter).
Das Kaspische Meer bekommt 80 Prozent seines Wassers von der Wolga, dem
größten Fluss Europas. Andere Flüsse wie Ural, Emba, Terek, Sulak, Kura, der
Zustrom von Grundwasser und der Niederschlag über dem See liefern die üb-
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 19

-25,0

-25,5 IV

(Meter unter Ozean-Niveau)


Kaspischer Meeresspiegel -26,0 III
II

-26,5
V

tatsächliche Meeresspiegelkurve
-27,0

-27,5

-28,0 I

-28,5
1995 2000 2005 2010 2015
Jahr

Abb. 7: Die Annahmen vor dem plötzlichen Absinken des Meeresspiegels von 1996. Die
Punkt- und Strichellinien: Vorhersagen vor 1995 über die Kurve des Meeresspiegels nach
1995 von unterschiedlichen Autoren. Die durchgezogene Linie: die tatsächliche Entwicklung
des Meeresspiegels.

rigen 20 Prozent. Einen Abfluss gibt es nicht. Das Klima über dem See und rings-
herum ist das einer Halbwüste, und die Verdunstung regelt den Wasserverlust.
Wenn mehr Wasser einströmt als verdunstet, steigt das Meer an; ist die Verduns-
tung größer als der Zustrom, sinkt es wieder. Das ist die Wasserbilanz, im Prinzip
bekannt seit der Zeit Peters des Großen.
Skeptiker berechnen, dass das Meer nicht mehr als einen Meter ansteigen
wird, Unheilspropheten behaupten, es könnten fünf Meter werden. Auch die
fünfhundert Jahre alte Stadt Astrachan mit ihrem schönen weißen Kreml wäre
dann gefährdet. Das Geld für mehr Forschung, für dringenden Küstenschutz
strömt nur so herein. Die Forscher sind glücklich, die Ingenieure auch − es gibt
viel zu tun.
Aber dann passiert etwas, das niemand vorhergesagt hatte. 1996 beginnt das
Meer zu sinken, 1997 sinkt es weiter, und zwar um etwa 40 Zentimeter. 1998
steigt es wieder etwas an, aber danach sinkt es kontinuierlich, bis es sich auf dem
Niveau von etwa einem Meter unter dem Stand von 1995 stabilisiert. Das Jahr
1995 war das Maximum, der highstand des Kaspischen Meeres. Die Alarmphase ist
vorbei, Gennadij Andrejewitsch Kriwonosow braucht keine Wohnboote zu be-
stellen, Maria Nikolajewna Mirojedowa kann sich beruhigt pensionieren lassen,
Dagestanberegosaschtschita wird geschlossen, die Sandfänger liegen sinnlos auf
dem Strand herum und Vagab Omarowitsch Musajew ist arbeitslos. Das Pro-
blem scheint nicht mehr zu existieren. Auch die Geldströme für die Forscher
20 DER LANGE ZYKLUS

-25

Kaspischer Meeresspiegel (m)


-26

-27

-28

-29
1850 1870 1890 1910 1930 1950 1970 1990
Jahr

Abb. 8: Meeresspiegelveränderungen im Kaspischen Meer seit Einführung der Pegel.

trocknen aus und es hat den Anschein, dass sich niemand mehr für die Frage
interessiert, warum der Anstieg aufgehört hat. Doch die Geschichte lehrt uns,
dass Sorglosigkeit gefährlich ist. Denn es ist nicht das erste Mal, dass das Kas-
pische Meer seine Küstenbewohner überrascht hat.

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird das Niveau des Kaspischen Meeres an den
Pegeln von Baku in Aserbaidschan und von Machatschkalá in Dagestan gemes-
sen. Seit 1834 steht eine gute Registrierung zur Verfügung. Leider ist die Genau-
igkeit der Messstationen nur relativ, denn nicht nur der Meeresspiegel schwankt,
sondern auch das Land bewegt sich auf und ab. Baku liegt auf einem der Ausläu-
fer des Kaukasus und der ist eines der am schnellsten steigenden Gebirge der
Welt: Er wird jedes Jahr um zwei Zentimeter höher. Deshalb spricht man lieber
von ‚relativen‘ Meeresspiegelbewegungen. Heutzutage kann man mithilfe des
Topex-Poseidon-Satelliten die Meereshöhe auch absolut messen. Dieser be-
stimmt die Meereshöhe mit einer Genauigkeit von vier Zentimetern, zudem un-
abhängig von den Landbewegungen.
Die Kurve des Meeresspiegels seit 1834 zeigt, dass während eines großen
Teils des 19. Jahrhunderts ein sehr langsames Absinken des Meeresspiegels
stattfand, mit nur kleinen Schwankungen. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts
scheint das Absinken etwas schneller zu gehen, und man ist einigermaßen be-
unruhigt. Der renommierte Petersburger Geograf und Zoologe Lew Semjono-
witsch Berg (1876–1950), ein Enzyklopädist reinsten Wassers, erstellt um 1925
eine kritische Analyse aller Fakten, die bis dahin über das Kaspische Meer aus
historischen Quellen bekannt sind: Herodot, Strabo, die Karte von Ptolemäus,
Berichte von arabischen Reisenden im 10. Jahrhundert, alte russische Karten
und Berichte von Entdeckungsreisenden, unter anderem auch die von den Nie-
derländern Witsen, Ottens und Struys. Die Schlussfolgerung von Berg: Es ist
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 21

nicht wahrscheinlich, dass das Wasser mehr als gut einen Meter unter das Ni-
veau von 1925 fallen wird. Dabei stützt er sich insbesondere auf die Geschichte
zweier Baudenkmäler.
Das erste liegt in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Die alte Stadt
Baku hat eine bewegte Geschichte von mindestens 2500 Jahren, deren Auf und
Ab dem des Kaspischen Meeres ähnelt. Perser, Araber, Mongolen, Türken und
Russen kämpften um die Herrschaft, und zu Anfang des 20. Jahrhunderts war es
die Ölhauptstadt der Welt. Alfred Nobel, die Brüder Siemens und die Roth-
schilds – sie alle verdanken ihren Reichtum diesem Umstand. In der Bucht von
Baku liegt eine versunkene Festung, die man dort allgemein die Karawanserei
nennt. Als Berg die Stadt 1925 besucht, liegt die Festung 1,4 Meter unter Wasser.
Sie wurde im 12. oder 13. Jahrhundert erbaut, was darauf hinweist, wie Berg fol-
gert, dass der Meeresspiegel damals mindestens 1,4 Meter niedriger gewesen sein
muss.
Ein zweiter Hinweis für einen früheren niedrigeren Wasserstand kommt aus
der Stadt Derbent in Dagestan, weiter nördlich an der westlichen kaspischen
Küste gelegen. Diese hat eine noch längere Geschichte, die mindestens fünftau-
send Jahre zurückreicht. Im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ist Derbent der
nördlichste Vorposten der Sassanidischen Dynastie im persischen Reich. Es ist
ein strategischer Ort, denn dort ist der Küstenstreifen, der den Kaukasus vom
Meer trennt, am schmalsten. Um das Reich gegen Einfälle von Nomaden aus
dem Norden zu schützen, baute Fürst Chorsan I. Anushirvan an beiden Seiten
der Stadt zwei Mauern, die von der hohen Festung Narinkala an der Westseite
der Stadt bis ans Meer verliefen. Auch heute sind noch Abschnitte dieser Mauern
in der Stadt zu sehen. Aber etwas ist merkwürdig an diesen Mauern: Sie setzen
sich bis unter den Meeresspiegel fort.
Befürchteten die Perser, die Nomaden würden sogar noch versuchen, unter
Wasser die Mauer zu umgehen? Kaum. Wahrscheinlicher ist, dass sie erbaut wur-
den, als der Meeresspiegel niedriger war, so Berg. Danach hat sich der Meeres-
spiegel natürlich wieder gehoben. Dreimal haben Reisende beschrieben, wie sie
das Meer die Mauer überspülen sahen: 915, 1638 und 1847. Auch Jan Struys
schreibt in seinem Buch: „La mer bat contre ses murailles et par un temps de mer
passe même souvent par-dessus“, wobei Berg vermutet, er habe dies aus dem
Buch von Olearius von 1638 abgeschrieben. Aufgrund dieser Daten meint Berg,
der Meeresspiegel könne höchstens noch einen Meter unter das Niveau von 1925
absinken.
Doch Berg hat sich geirrt, die Natur lässt sich nicht so einfach vorhersagen.
Schon um 1930 begann das Meer ganz entschieden zurückzugehen, und zwar
um fast zwei Meter innerhalb von zehn Jahren. Die ertrunkene Festung bei Baku,
die Karawanserei, erhebt sich um 1938 aus dem Wasser. Bei archäologischen
Ausgrabungen durch die aserbaidschanische Akademie der Wissenschaften
kommen Hunderte von Münzen und mehr als 200 Steinplatten mit vom Meer-
22 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 9: Persische Inschriften aus der ertrunkenen Festung Karawanserei aus dem
13. Jahrhundert vor der Küste von Baku. Shirvanshah-Palast, Baku, Aserbaidschan.

wasser zerfressenen persischen Inschriften zum Vorschein, die darauf schließen


lassen, dass die Festung etwa 1234 oder 1235 erbaut wurde. Ihre Grundmauern
liegen sogar in –32 Meter Tiefe, sechs Meter unter dem heutigen Wasserspiegel.
Der Meeresspiegel lag also zu Anfang des 13. Jahrhunderts fünf Meter unter dem
Niveau von 1925!
Berg kommt 1946 in seinem Buch Essays über die Geschichte der russischen geogra-
fischen Entdeckungen darauf zurück. Er erkennt nicht mit sehr vielen Worten an,
dass seine frühere Vorhersage unrichtig war, sagt aber doch:
„Es erscheint uns von außerordentlicher Wichtigkeit festzustellen, was das gegenwär-
tige (im 20. Jahrhundert) Absinken des Kaspischen Meeres bedeutet: Ist es der Beginn
eines ähnlichen Prozesses wie in der prähistorischen Zeit, der damals dazu führte, dass
der Meeresspiegel sich bis auf fünf Meter unter das heutige Niveau absenkte, oder gab
es in der historischen Zeit schon einmal vergleichbar niedrige Wasserstände wie im
20. Jahrhundert?“

Er starb 1950 und hat die Antwort auf seine Frage nicht mehr erleben können.

Dann, in den Sechzigerjahren, betritt der Historiker Lew Nikolajewitsch Gumil-


jow die Bühne, ein Sohn des berühmten Dichters Nikolaj Gumiljow. Er ist von
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 23

der Geschichte des verschwundenen Stammes der Chasaren fasziniert: eines tür-
kischen Volksstammes aus dem 6. Jahrhundert, der, wie manche meinen, zum
jüdischen Glauben konvertiert war. Sie müssen irgendwo am Kaspischen Meer
gewohnt haben, da dieses auf Aserbaidschanisch X s r Deniz, Chasarisches
e e
Meer, heißt. Ihre genauen Siedlungsorte sind jedoch unbekannt. Gumiljow ist
ein überzeugter Anhänger des ökologischen Determinismus: Die Entstehung
von Völkern und deren Untergang hängt aufs Engste zusammen mit Klimaände-
rungen, denn diese bestimmen die Eignung des Landes für Ackerbau oder Vieh-
zucht. Er beschließt, sich auf die Suche nach den Siedlungen der Chasaren zu
machen. Er ist ein Mann der großen Gesten: Aus einem winzigen Hinweis errich-
tet er eine grandiose Hypothese, und gibt man ihm einen Finger, so nimmt er
nicht nur die Hand, sondern den ganzen Arm. Sein Buch Otkrytie Chasarii (Die
Entdeckung Chasariens), zusammengestellt aus seinen Artikeln und Essays der
letzten vierzig Jahre, liest sich wie ein Krimi. Demjenigen, der festzustellen ver-
sucht, ob es sich um Geschichte oder Archäologie, Geografie oder Ökologie,
Wahrheit oder Fiktion handelt, antwortet er: „Je prends mon bien où je le trouve“,
ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass dies die Antwort Molières auf Pla-
giatsvorwürfe war.
Laut Gumiljow liegt das Land der Chasaren auf dem Grund des nördlichen
Kaspischen Meeres. Sie lebten dort im 6. Jahrhundert, als der Meeresspiegel nied-
rig war, in einem paradiesischen Tiefland, das Gumiljow die ‚Kaspischen Nieder-
lande‘ nennt. Als der Meeresspiegel im 13. Jahrhundert anzusteigen begann,
wurden die Chasaren vertrieben und vermischten sich mit anderen Völkern. Wie
tief der Meeresspiegel im 6. Jahrhundert wirklich lag, war nicht bekannt – doch
dieses Wissen braucht er, um seine Geschichte glaubwürdig zu machen. Er will
das herausfinden, indem er untersucht, wie weit sich die persische Mauer von
Derbent unter Wasser erstreckt. Im August 1961 begibt er sich in einem kleinen
Boot der Rettungswache mit drei Mitstreitern, einem Kompass und einem selbst
gebauten Echolot aufs Meer. Mit einem Atemgerät auf dem Rücken erkunden sie
das trübe Wasser. Die Mauer ist vier Meter dick, zieht sich 300 Meter weit ins
Meer und endet in einem Turm. Der Sockel des Turms liegt bei –33,5 Metern,
fast acht Meter unter dem heutigen Niveau des Kaspischen Meeres. Beim Tau-
chen finden sie sogar Tonfragmente eines Wasserleitungssystems, woraus end-
gültig hervorgeht, dass die ganze Struktur damals über Wasser lag. Acht Meter
tiefer als heute! Gumiljow ist aus dem Häuschen. Bei –34 Meter liegt das ganze
nördliche Kaspische Meer trocken, ein Gebiet so groß wie die Niederlande und
Belgien zusammen. Also reichlich Platz für die Chasaren. Leider gibt es ein
kleines störendes Detail: Bis zum heutigen Tag sind chasarische Siedlungen dort
noch immer nicht gefunden worden.

Für diejenigen, die sich zu dieser Zeit Sorgen machten über das Absinken des
Wasserstandes, ist die Entdeckung Gumiljows eine schlechte Nachricht. Der
24 DER LANGE ZYKLUS

Meeresspiegel könnte also noch um einige Meter weiter sinken. Und das tut er
tatsächlich, bis er 1977 –29,1 Meter erreicht, drei Meter unter dem Niveau von
1925. Die Küstenbewohner und die Regierung sind verzweifelt. Die Häfen fallen
trocken, die Schiffe rosten im Schlamm vor sich hin, die Gewächse vertrocknen
auf dem Land, der Fischfang verringert sich um die Hälfte; und das Wasser im
nördlichsten Teil des Meeres ist so untief geworden, dass der Stör, der Kaviarlie-
ferant, nicht mehr in der Lage ist, den Fluss stromaufwärts zu seinen Laichplät-
zen zu schwimmen. Der größte Schifffahrtskanal zwischen der Wolga und dem
Kaspischen Meer muss um 20 Kilometer verlängert werden. Die Salzgewinnung
in der Bucht von Kara-Bogaz in Turkmenistan an der Ostküste, angewiesen auf
den Zustrom frischen Meerwassers, kommt in Schwierigkeiten. Der ökono-
mische und ökologische Schaden ist gewaltig. Falls der Meeresspiegel noch einen
weiteren halben Meter absinkt, fallen die Kaspischen Niederlande erneut tro-
cken – ein Katastrophenszenario, wogegen die Entwicklung des Aralsees in den
Neunzigerjahren eine Bagatelle ist.
Was hatte Berg 1925 falsch gemacht? Eigentlich nicht viel. Er war ein vorsich-
tiger Mann, ein scharfer Analytiker, der sich nicht den Kopf verdrehen lassen
wollte von all den Unheilspropheten, denen er so zahlreich in der Literatur be-
gegnet war. Er zerpflückte die Argumente jener Leute, die einen zehn Meter hö-
heren oder vier Meter tieferen Wasserstand vertraten, oder verwarf sie aus Man-
gel an Beweisen. Doch damals wusste er noch nicht, dass die Mauern von Der-
bent in acht Meter Tiefe verliefen und dass die Basis der Karawanserei von Baku
ebenfalls sechs Meter unter dem Meeresspiegel lag. Im 6. und im 13. Jahrhundert
muss das nördliche Kaspische Meer also in der Tat trockengefallen sein. Aber das
Tauchgerät war 1925 noch nicht erfunden, es gab noch keine Meeresarchäolo-
gen, keine Radiokarbondatierungen und keine Computermodelle.
Auch hatte er nicht mit dem ungehemmten Industrialisierungstrieb von Stalin
rechnen können. Der begann ab 1932 neue Wolga-Staudämme zu bauen und star-
tete gewaltige Bewässerungsprojekte. Auch damals schon gab es warnende Stim-
men, diese Wasserbauten würden zu einem Absinken des kaspischen Meeresspie-
gels führen; das schreibt der Klimatologe Sergej Rodionow in seinem Buch Global
and regional climate interaction: The Caspian Sea experience (1994), bis heute die gründ-
lichste Analyse des kaspischen Problems. Eine zynische Bestätigung fanden diese
Behauptungen im Zeitraum von 1941 bis 1945, als das Absinken des Wasserstan-
des plötzlich zum Stillstand kam: Der Zweite Weltkrieg hatte die Konstruktion
neuer Wasserbauwerke gestoppt. Also war Stalin an allem schuld gewesen?
Nein, denn es gab auch natürliche Ursachen. Als der Wasserrückzug erst ein-
mal Tatsache war, überboten sich die Wissenschaftler mit Erklärungsversuchen.
Das nachträgliche Vorhersagen einer Meeresspiegelabsenkung wurde in den
Dreißigerjahren zum Volkssport. Die meisten glaubten an einen klimatischen
Effekt. Es regnete einfach weniger im Einzugsgebiet der Wolga, und dies resul-
tierte wiederum aus veränderten Zirkulationsmustern der Atmosphäre. Die Tief-
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 25

druckgebiete zogen nicht mehr so zahlreich über das unendliche russische Tief-
land. Dafür konnte Stalin nichts. Andere vermuteten starke Bodenabsenkungen
im Becken des Kaspischen Meeres, wieder andere gaben Grundwasserströmen
die Schuld. Aber alle Erklärungen führten zu der Einsicht, dass der Meeresspiegel
in den Dreißigerjahren einfach fallen musste. Ihre Prognosen jedoch waren weni-
ger übereinstimmend – sie widersprachen sich regelmäßig.
Die allgemeine Erwartung jedoch ging von einem weiteren Absinken des Mee-
resspiegels aus. Dieser Gedanke war logisch, denn der Verbrauch von Wolgawas-
ser durch Landwirtschaft und Industrie würde in den folgenden Jahren zwangs-
läufig zunehmen. Schließlich war zu dieser Zeit jeglicher Zweifel an der trium-
phalen Weiterentwicklung der Sowjetunion gleichbedeutend mit Landesverrat.
Wer’s nicht glauben will, möge nur das herrliche Buch Ingenieure der Seele von
Frank Westerman lesen. Kein Wunder, dass die Statistiker, welche die Trends
analysierten, zu dem Schluss kamen, der Wasserstand würde weiter absinken.
Solange sie die verschiedenen natürlichen Komponenten der Wasserbilanz kons-
tant hielten, war der Mensch der einzige niveauregulierende Faktor.
Und wenn der Mensch die Schuld trägt am Wasserrückgang, dann kann er
seine Fehler auch wiedergutmachen. Nicht etwa durch den Rückbau der Stau-
dämme oder eine effizientere Bewässerung – solch moderne Lösungsansätze ge-
hören nicht ins Sowjetzeitalter. Man brauchte nicht weniger Wasserbauten, son-
dern mehr. Pläne gab es genug: So könnte man Wasser aus dem Schwarzen ins
Kaspische Meer leiten, denn Ersteres hatte eine Verbindung zu den Weltmeeren
und lag 30 Meter höher. Oder man nähme Wasser aus dem 70 Meter höher lie-
genden Aralsee. Ein anderer Plan sah vor, gleich den gesamten flachen Nordteil
des Kaspischen Meeres einzudeichen, sodass der Wasserstand dort leichter zu
regulieren wäre. Tatsächlich wurde die Bucht von Kara-Bogaz, wo viel Meerwas-
ser verdunstete, das durch einen schmalen Zufluss hereinströmte, im Jahr 1980
durch einen Damm abgeschlossen.
Aber all das war noch nicht genug des Größenwahns. In den Sechzigerjahren
entstand der Plan, die Flüsse Petschora und Wytschegda im europäischen Teil
Russlands, die ins Nördliche Eismeer strömen, mit der Wolga zu verbinden und
auf diese Weise den Abfluss der Letzteren zu erhöhen. Darüber hinaus wollte
man die nach Norden entwässernden sibirischen Ströme Ob und Irtysch durch
einen Kanal von mehr als 2000 Kilometer Länge zum Kaspischen Meer umleiten.
Im Jahr 2000 ungefähr sollte alles fertig sein. Es war ein Jahrhundertprojekt.
Stalin wäre stolz darauf gewesen.

Wir fahren durchs Wolgadelta, hinein in das Astrachan-Naturreservat. Hohe


Weiden stehen links und rechts auf den Uferdämmen. Ganze Kolonien von Kor-
moranen steigen auf beim Geräusch unseres Außenborders. Ihre Ruhebäume
sind völlig entlaubt und weiß vom Guano. Im Wasser dicht am Ufer wogen end-
lose Felder von Schilf, Rohrkolben, Igelkopf und der Königin der Wolga, dem
26 DER LANGE ZYKLUS

Lotus; prächtige große rosafarbene Blumen mit einem leuchtend gelben Frucht-
knoten, in welchem kleine, grüne, essbare Nüsse sitzen: Darum heißt er Nelumbo
nucifera, der nusstragende Lotus. Die großen, weichen, kelchförmigen Blätter
sind von ganz feinen Härchen überzogen, wie Filz oder Samt. Auf dem Boden des
Blattes liegt ein kugelrunder glitzernder Wassertropfen, ein konvexer Spiegel,
der die Welt reflektiert, wie der Lotus sie sieht. Ein sazan, ein großer Karpfen,
springt plötzlich in einer wirbelnden Pirouette senkrecht aus dem Wasser. Es ist
sein letzter Sprung. Ein Seeadler schießt knapp vor unserem Boot herab, packt
den Karpfen mit seinen großen Klauen und trägt ihn mit schweren Flügelschlä-
gen zu seinem Horst hoch in den Weiden.
Wir biegen in einen toten Seitenarm ein. Die gesamte Oberfläche ist hier zuge-
wachsen mit Wasserpflanzen: weiße und gelbe Seerosen, Laichkraut, Salvinia,
Wassernuss. Auf beinahe jedem Blatt sitzt ein Frosch. „Hier war das Ufer in den
Zwanzigerjahren“, sagt Gennadij Wasiljewitsch Russakow, der Geomorphologe
des Naturreservates. „Heute liegt es 25 Kilometer stromabwärts. So viel ist das
Delta angewachsen in der Phase des Wasserrückgangs in den Dreißigerjahren.
Wenn es schnell ging, wuchs auch das Delta schnell, manchmal um einige Kilo-
meter jährlich – kostenloses neues Naturreservat.“ Seebad Utrecht vor siebzig
Jahren: beinahe unvorstellbar.

Dann, als die Not am größten ist, geschieht das Wunder. 1977 beginnt das Meer
plötzlich und unerwartet schnell anzusteigen, um 15 bis 20 Zentimeter pro Jahr,
genauso schnell, wie es in den Dreißigern gesunken ist. 1979 steigt es sogar um
34 Zentimeter an. Zuerst denkt man nur an einen Aufschub der Hinrichtung:
Bald, so wird prophezeit, wird es wieder zurückgehen. Aber der Anstieg geht wei-
ter. Gott sei Dank, die Gefahr ist abgewendet, der Alarm vorüber. Die Pläne für
die Umleitung der sibirischen Flüsse werden auf Eis gelegt, und alle atmen er-
leichtert auf. Doch gegen Ende der Achtzigerjahre beginnt man, sich wieder Sor-
gen zu machen. Denn nun steigt das Meer wirklich ziemlich rapide. Zahlreiche
Einrichtungen, die immer weiter seewärts verlagert worden waren, um dem Was-
serrückgang zu folgen, drohen nun überschwemmt zu werden. Der Damm der
Kara-Bogaz-Bucht wird hastig wieder geöffnet. 1993, zur Zeit unserer Audienz
bei Maria Nikolajewna Mirojedowa, herrscht höchste Alarmstufe.
Und wer hatte all das vorhergesagt? Keiner vorher. Jeder hinterher. Genau wie
bei dem plötzlichen Rückgang von 1930. Genau wie bei dem plötzlichen Anstieg
von 1977. Und auch wieder 1995. Dreimal in einem Jahrhundert haben wir uns
überraschen lassen. Trotz aller historischer Fakten, trotz Kohlenstoffdatie-
rungen, Weltklimamodellen, statistischer Trendanalysen. Dreimal haben wir
uns gedacht: Es sinkt, also wird’s wohl weiter sinken; es steigt, also wird’s wohl
weiter steigen. Wie an der Börse.
Und wir haben danach gehandelt. Als der Meeresspiegel sank in den Drei-
ßigern, war man so sehr von einem weiteren Absinken überzeugt, dass man zahl-
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 27

lose neue Ansiedlungen und Industriekomplexe auf dem neu gewonnenen Land
errichtete. Das passte wunderbar zu Stalins Expansionsdrang und dem seiner
Nachfolger. Aber niemand beherzigte die Worte des Scheichs, der bereits im
14. Jahrhundert sagte: „Was die See dir schenkt, sollst du nicht annehmen, denn
später wird sie es dir wieder wegnehmen.“ Niemand verstand die Botschaft der
untergegangenen Festung in der Bucht von Baku, der Mauern von Derbent, die
unter Wasser verliefen. Und niemand erinnerte sich daran, dass Ende des 18. Jahr-
hunderts der Wasserstand schon einmal um 15 Zentimeter pro Jahr angestiegen
war. Einmal Trend, immer Trend. Totalausfall des kollektiven Gedächtnisses.
Warum hatte Maria Nikolajewna nicht schon längst Deiche gebaut?

Und es bleibt ja nicht bei den letzten hundert oder tausend Jahren. Die folgende
Illustration zeigt die Konturen des Kaspischen Meeres in den vergangenen fünf
Millionen Jahren. Sie gleicht einem Stillleben aus keimenden Kartoffeln und
Ingwerwurzeln. Die kleinen Kartöffelchen stellen die Niedrigwasserstände dar,
die großen Ingwerwurzeln sind die Hochwasserstände.

vor 5 Millionen Jahren

A B C D E

F G H I J

K L M N O

heute

Überlauf zum Schwarzen Meer

Überlauf vom Aralsee

Abb. 10: Umfang des Kaspischen Meeres von vor fünf Millionen Jahren (A) bis heute (P).
28 DER LANGE ZYKLUS

Meeresspiegelschwankungen gehören zum Leben des Kaspischen Meeres, und


zwar in verschiedenen Zeitskalen. Die geringsten Schwankungen gibt es täglich:
Ebbe und Flut. Die bedeuten hier nicht viel – gerade mal drei Zentimeter Unter-
schied, da keine Verbindung zu den großen Wassermassen der Ozeane besteht.
Eine zweite Zeitskala ist die jahreszeitliche Schwankung. Im Frühling, wenn
der Schnee der immensen russischen Weiten schmilzt, schwillt die Wolga an und
erreicht in Mai und Juni ihre Spitzenpegel. In der Folge nehmen die Wassermen-
gen langsam ab, um im Winter, wenn alles gefroren ist, auf ein Minimum zu
sinken. Der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser liegt saisonal be-
dingt bei 40 Zentimetern.
Einen weiter gespannten Zyklus haben wir soeben besprochen: Von Spitze zu
Spitze dauert er etwa 65 Jahre, die Amplitude beträgt rund drei Meter. Dieser ist
deutlich schwieriger zu erklären. Wer nun meint, „aha, der Treibhauseffekt!“
rufen zu müssen, hat’s nicht leicht. Eine einfache Verbindung zu weltweiten Kli-
maveränderungen gibt es nicht. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre steigt seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts, aber der Wasserstand sinkt plötzlich in den Dreißi-
gerjahren des 20. Jahrhunderts und steigt danach wieder an.
Eine plausible Erklärung von Sergej Rodionow und seinen Vorgängern basiert
auf atmosphärischen Zirkulationstypen. Diese Typen kennen wir hier an der
Nordsee ebenfalls sehr gut. Ein atmosphärischer Zirkulationstyp mit vorherr-
schenden Südwestwinden bringt uns Tiefdruckgebiete mit kühlem Wetter und
viel Regen. Kommt der Wind aus dem Osten, dann haben wir im Sommer oft
warmes, trockenes Wetter und Frost im Winter. Man hat festgestellt, dass der
Anteil an südwestlichen Zirkulationstypen über dem russischen Festland seit
1977 stark angestiegen ist. Besonders in den Monaten August bis Oktober sind
seitdem viel mehr Atlantiktiefs über Russland hinweggezogen als in den Jahren
davor. Mehr Niederschlag bedeutet natürlich auch größere Abflussmengen der
Wolga und folglich höhere Wasserstände im Kaspischen Meer, sofern die Ver-
dunstung über dem Meer nicht extrem ist. Die Korrelation zwischen der Wasser-
standskurve des Kaspischen Meeres und derjenigen der Wolga ist ziemlich gut.
Dies bedeutet: Die Meeresspiegelschwankungen haben, über Jahrzehnte hinweg
betrachtet, sehr wohl etwas zu tun mit den weltweiten Klimaveränderungen. Nur
handelt es sich nicht um einen Temperatureffekt wie den Treibhauseffekt, son-
dern um einen Niederschlagseffekt, gekoppelt an die Veränderungen der großen
Strömungsmuster in der Atmosphäre. Übrigens zeigt auch die weltweite Durch-
schnittstemperatur einen Rückgang in den Vierzigerjahren, einen Tiefpunkt um
1976 herum und seitdem einen starken Anstieg. Allerdings kann von einem
Rückgang seit 1995 keine Rede sein. Im Gegenteil – die Temperaturen an der
Erdoberfläche steigen noch immer.
Die Depressionsaktivität über dem Atlantik ist gebunden an die Druckunter-
schiede zwischen dem Azorenhoch und dem Islandtief. Sind diese Unterschiede
groß, so gibt es viele, sind sie gering, so gibt es wenige Tiefdruckgebiete. Dieses
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 29

Phänomen nennt man Nordatlantische Oszillation, kurz NAO. Die NAO weist
eine gewisse Zyklizität auf, vergleichbar mit derjenigen von El Niño auf der Süd-
halbkugel. Die Zyklizität zeigt einige Übereinstimmungen mit der Kaspischen
Meeresspiegelkurve des letzten Jahrhunderts: Bei einem positiven NAO-Index,
also bei zahlreichen Depressionen, ist auch der Wasserstand hoch, bei einem ne-
gativen NAO-Index ist er niedrig. Aber die Klimatologen sind der Meinung, die
statistische Korrelation sei nicht stark. Und der Beobachtungszeitraum sowohl
der NAO als auch des Kaspischen Meeres ist zu kurz, um weiter in die Vergangen-
heit zu schauen, und also auch für gute Vorhersagen nicht zu gebrauchen. Im
Übrigen ist die Ursache dieser „internen“ Zyklizität unseres Klimasystems nicht
klar.
Daneben gibt es auch externe Prozesse, die gute Korrelationen mit dem Kas-
pischen Meeresspiegel aufweisen. Der Sonnenfleckenzyklus von elf Jahren ist der
populärste. A. N. Afanasjew prophezeite 1967 korrekt, der Meeresspiegel werde
am Ende der Siebzigerjahre wieder ansteigen – doch leider auf der Grundlage
einer falschen Vorhersage dieser Sonnenfleckenaktivität! Und die Korrelation
wird deutlich schwächer, wenn man auch die Daten von vor 1939 mit einbezieht.
M. S. Eygenson fand eine nahezu perfekte Korrelation mit der Anzahl der Son-
nenflecken: niedriger Wasserstand bei hoher Sonnenfleckenaktivität und umge-
kehrt. Er prophezeite für die Periode von 1970 bis 2000 einen hohen Meeresspie-
gel. Auch heute noch hat die Sonnenfleckenhypothese viele Anhänger, doch
leider ist schwer zu erklären, auf welchen Mechanismen sie basieren sollte. Die
Zusammenhänge sind bis dato rein statistischer Art.

Betrachten wir noch längere Zyklen, im Bereich von Tausenden bis Zehntausen-
den von Jahren, so scheint die Amplitude der Meeresspiegelschwankungen zuzu-
nehmen. Während der Zyklus des 20. Jahrhunderts eine Amplitude von drei Me-
tern hatte, von –26 Meter bis –29 Meter und zurück, so ist diese in größeren
Zeiträumen viel höher. Die höchsten Wasserstände sind vergleichsweise einfach
zu bestimmen. Lew Semjonowitsch Berg sagt bereits 1934, der Meeresspiegel sei
in den letzten zehntausend Jahren nicht höher gestiegen als fünf Meter über das
Niveau von 1925, also nicht höher als –21 Meter. Dies leitet er aus der Tatsache
ab, dass er überall an den kaspischen Küsten bis in fünf Metern Höhe über der
Wasseroberfläche fossile Herzmuscheln (Cardium) fand, aber nicht darüber. Die
Herzmuschel drang vor zehntausend Jahren erstmals ins Kaspische Meer vor,
also ist dies ein logischer Gedanke. Weiter sagt er: Wenn der Meeresspiegel in den
letzten zehntausend Jahren die –21 Meter nicht überschritten hat, dann wird er
das in der näheren Zukunft wohl auch nicht tun. Für 1995 hat er recht behalten,
wie wir gesehen haben.
Der Geomorphologe Georgij Iwanowitsch Rytschagow der Moskauer Staats-
universität hat mit viel detaillierteren Daten Bergs Schlussfolgerungen bestätigt.
Bei Turali in Dagestan untersuchte er, wie weit das Meer in die tief eingeschnit-
30 DER LANGE ZYKLUS

-18

-22

Absolute Höhe (m)

Regression
-26 ?
? ??

M.-
? ? D.-
Regression
?
-30 ?

?
-34

10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0
Zeit (Jahrtausende)

Abb. 11: Der Wasserstand des Kaspischen Meeres ging in den letzten zehntausend Jahren
stark auf und ab. Das heutige Niveau liegt bei –27 Metern.

tenen Flusstäler an der Küste eingedrungen war und wie weit es die Strandwälle
landwärts verschoben hatte. In den Ablagerungen fand er Muschelfragmente, die
er mit C-14 datierte – eine Methode, welche Berg noch nicht zur Verfügung
stand. Obwohl es an seinen Datierungen vieles zu kritisieren gibt, wird deutlich,
dass es im Holozän, den letzten zehntausend Jahren, verschiedene Zyklen von
einigen tausend Jahren Dauer gab, in keinem einzigen aber ein Pegel von
–20 Metern überschritten wurde. Er publizierte die Kurve der oben stehenden
Abbildung in seiner Dissertation 1977, und bis vor Kurzem war sie die zuverläs-
sigste Kurve, basierend ausschließlich auf Feldforschungen und Datierungen,
nicht auf Berechnungen der Wasserbilanz.
Georgij Iwanowitsch ist jetzt achtzig Jahre alt. Aber er ist noch immer derjenige,
der am meisten weiß über die Meeresspiegelschwankungen. Daher waren wir froh,
dass er 2002 unser Delfter Team und einige Moskauer und Dagestaner Kollegen
nach Turali begleiten wollte, um dort an seinen alten Fundstätten neue Proben zu
nehmen für eine Datierung mit modernen Techniken. Er ist tapfer mitmarschiert
mit seinen straff nach hinten gekämmten weißen Haaren. Es rührte ihn, das Feld-
forschungsgebiet seiner jungen Jahre nach so langer Zeit wiederzusehen – wie es
wohl jedem Geologen gegangen wäre. Und alles stimmt genau. Es macht Freude,
zu erleben, wie die eigene Arbeit von vor dreißig Jahren auch heute noch einer
Überprüfung standhält. Wir haben die Datierung der letzten beiden Höchststände
nun präzisieren können: Der letzte fällt zusammen mit der Kleinen Eiszeit zwi-
schen 1400 und 1800, und der vorletzte lag in der Bronzezeit vor etwa 2600 Jah-
ren – beides Perioden, die gekennzeichnet waren durch kühle feuchte Klimate.
Frappant ist, dass – folgt man dem aserbaidschanischen Historiker Davud
Axundow – genau zu dieser Zeit, im 6. Jahrhundert v. Chr., die Fundamente ge-
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 31

Abb. 12: Der Jungfrauenturm von


Baku, der vor 2600 Jahren am Wasser
stand.

legt wurden für den Jungfrauenturm in Baku, das älteste Gebäude im Gebiet des
Kaspischen Meeres. Er ist ein prächtiger, abweisender, massiver Steinturm mit
lediglich acht winzig kleinen Fenstern untereinander, für jede Etage eines.
Gleichzeitig ist er ein Schornstein: Unter dem Turm liegen, wie überall um Baku
herum, Erdgas- und Ölfelder in so geringer Tiefe, dass das Gas selbstständig aus
dem Boden tritt und spontan verbrennt. Dies ist das Land des ewigen Feuers.
Zarathustra, oder Zoroaster, wohnte zu jener Zeit in Baku und stiftete die Reli-
gion der Feueranbeter, der Zoroastrier. Sie führten das Erdgas durch Röhren
zum Dach des Turmes.
Der Grundriss des Turmes gleicht einem Komma. Der Turm selbst ist rund,
aber das Anhängsel ist ein massiver Steinanbau, der als Wellenbrecher gedient
haben soll. Aber dieser Wellenbrecher steht drei Meter über dem heutigen Mee-
resspiegel, also muss im 6. Jahrhundert v. Chr. das Wasser drei Meter höher ge-
standen haben. Das stimmt überein mit unseren Zahlen aus Turali.
Die feuchtkalten Klimate der Bronzezeit und der Kleinen Eiszeit hängen mit
einem 1400-jährlichen Zyklus von Variationen der Sonnenaktivität zusammen,
so der Amsterdamer Ökologe Bas van Geel. Es ist verführerisch, daran zu glau-
ben, besonders, wenn es mit den eigenen Daten übereinstimmt. In derartige Fal-
len tappten schon viele vor uns. Aber auch hier gilt: In welcher Weise die Sonnen-
fleckenaktivität das Klima beeinflusst, ist noch völlig unklar.
Aber wir haben die oben gestellte Frage noch nicht beantwortet: Wie groß
waren die Meeresspiegelschwankungen in diesen tausendjährlichen Zyklen?
32 DER LANGE ZYKLUS

Rytschagow war sich da nicht sehr sicher, denn die Spuren der tiefsten Pegel
liegen unter Wasser und sind daher schwierig zu untersuchen. Deshalb hat er die
Täler seiner Kurve gestrichelt. Wir haben schon an den Mauern von Derbent
gesehen, dass der Meeresspiegel im 6. Jahrhundert mindestens acht Meter tiefer
gelegen haben muss. Forscher aus meiner eigenen Delfter Gruppe, Bob Hoo-
gendoorn und Jelle Boels, haben gemeinsam mit britischen und aserbaidscha-
nischen Kollegen seismische Untersuchungen und Bohrungen vor der Küste
Aserbaidschans durchgeführt, aus denen hervorgeht, dass der Pegel im frühen
Mittelalter vielleicht sogar kurzzeitig auf –48 Meter stand. Das stimmt überein
mit dem, was die Klimatologen die Mittelalterliche Warmzeit nennen. Es bedeu-
tet eine Amplitude von 25 Metern innerhalb von dreitausend Jahren, mit einem
Maximum bei –23 Meter und einem Minimum bei –48 Meter! Fast zehnmal so
viel wie die Amplitude der Meeresspiegelschwankung im 20. Jahrhundert!
Gehen wir noch weiter zurück und betrachten Zeitskalen von Zehntausen-
den bis Hunderttausenden von Jahren. In der letzten Eiszeit, als bei uns der
Meeresspiegel mehr als 100 Meter tiefer und die Nordsee trockenlag, hatte das
Kaspische Meer gerade einen Höchststand mit +50 Meter, 75 Meter über dem
heutigen Niveau. Das ganze nordkaspische Flachland, ein Gebiet von mehr als
einer halben Million Quadratkilometern, stand tief unter Wasser. Das ist der
dicke Kopf der Ingwerwurzel auf der obigen Abbildung (s. S. 27). 400 Kilome-
ter des Unterlaufs der Wolga hatte das Meer vereinnahmt. Wolgograd lag da-
mals am Meer – Seebad Köln, sozusagen. Höher konnte das Wasser nicht stei-
gen, denn bei +50 Meter entsteht ein Überlauf zum Schwarzen Meer über die
Kuma-Manytsch-Schwelle am Nordrand des Kaukasus. Das Schwarze Meer
hatte damals gerade einen Tiefstand, da wird’s dann wohl einen hübschen
Wasserfall gegeben haben.
Was die Ursachen angeht, so herrscht große Uneinigkeit. Manche sagen, das
Schmelzwasser der Gletscher im arktischen Sibirien sei über den Aralsee in das
Kaspische Meer gelangt. Andere meinen, diese Theorie zu vertreten, sei die
beste Weise, seine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel zu setzen. Wie dem
auch sei – kurz nach dieser gewaltigen glazialen Überflutung, am Beginn des
Holozän vor etwa neuntausend Jahren, stand das Kaspische Meer wiederum
extrem tief, –80 Meter sagen die einen, –113 Meter sagen andere, insgesamt
also eine Amplitude von rund 150 Metern in einigen Tausenden bis Zehntau-
senden Jahren. Verglichen damit sind die drei Meter des 20. Jahrhunderts eine
Lappalie. Offensichtlich haben also die längeren Zyklen auch die größeren
Amplituden.
Dies bedeutet für das Kaspische Meer, dass jeder Wasserstand eine Kombina-
tion darstellt aus Schwankungen von unterschiedlicher Dauer und Amplitude.
Und jeder Zyklus wiederum hat seine eigene Ursache. Der Moskauer Paläonto-
loge Aleksandr Adamowitsch Switotsch, ein Mann, der Muscheln sortiert mit
der Geschwindigkeit einer Garnelenpulerin, hat dies in der folgenden kleinen
DIE KASPISCHE ZEITMASCHINE 33

1
2
3
4
5

0m

Abb. 13: Schema der Zeitskalen und Amplituden der Kaspischen Meeresspiegelschwan-
kungen.

Grafik dargestellt. Ich mag sie sehr. Sie steht mir immer vor Augen, wenn ich von
der Angst vor den weltweit steigenden Temperaturen der letzten Jahre höre.
Dann denke ich: Wir starren auf die kleinen Kräuselungen und vergessen dabei,
dass wir auf einer viel größeren Welle sitzen.

200 1 5
2 6
Kaspisches Meeresspiegel-Niveau

150 3 7
4
100

70
50

0 ?
?
heutiges ?
-28 ?
Meeresspiegel- ? ?? ? ? ??
-50 ? ? ? ? ?
Niveau ? ?

-100
600 500 400 300 200 100 0
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 14: Es gibt unterschiedliche Ansichten über das Niveau des Kaspischen Meeresspiegels
nicht nur in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit. Die Wasserstandskurven
verschiedener Autoren für die letzte halbe Million Jahre widersprechen einander. Die Spitzen
entsprechen den Ingwerwurzeln, die Täler den keimenden Kartoffeln auf S. 27.
34 DER LANGE ZYKLUS

Aber ob diese Kurve genau so stimmt, wissen wir noch nicht. Sie stellt ein Ideal
dar, von dem der Wissensstand noch weit entfernt ist.

Wir sind im Jahre 2003. Wiederum fahren wir ins Wolgadelta. Es ist Herbst; der
Lotus ist fast verblüht, nur noch einzelne rosafarbene Blütenblätter ragen aus
der unüberschaubaren braungrünen Blättermasse heraus. Die gelben Frucht-
knoten sind braun geworden, die Nüsse herausgefallen; jetzt sehen sie aus wie
hölzerne Duschköpfe. Sie werden gerne für herbstliche Blumengestecke verwen-
det, die die Vergänglichkeit des Lebens ausdrücken sollen. Der Meereshochstand
von 1995 ist vorbei, und genau wie in den Dreißigerjahren wächst das Delta nun
wieder schnell seewärts. Neue schmale Sandwälle begleiten die zahllosen sich
verzweigenden Rinnen, durch welche die Wolga ins Meer fließt. Aber das Wasser
ist nicht auf den Stand der Zwanzigerjahre gestiegen, den Gennadij Wasilje-
witsch uns 1995 gezeigt hatte. Das damals trockengefallene Land ist nun be-
deckt mit Schilf und Weiden. Drei Meter Absenkung haben ausgereicht, es ent-
stehen zu lassen; aber drei Meter Anstieg haben nicht ausgereicht, es untergehen
zu lassen.
Wie es aussieht, geht die Natur einfach ihre Wege. Der Meeresspiegel steigt, er
sinkt, er steigt, in kleinen kurzen Zyklen, in großen langen Zyklen. Na und? Wor-
über regen wir uns eigentlich auf? Warum machen wir ein großes Tamtam um
die kleinen Zyklen, lassen uns unangenehm überraschen durch unerwartete
Trendbrüche – schauen uns aber gleichgültig oder gar amüsiert die großen Zy-
klen an, ohne uns klarzumachen, was diese für die zukünftigen Generationen
bedeuten?
3 Urväter

„You can laugh at the sands as they run through the hour glass.“
G. S. Viereck, P. Eldridge, My first two thousand years, 1929

Es ist der 22. Oktober 2004, als ich dies hier schreibe. Ein Datum zum Innehal-
ten. Denn am 22. Oktober 4004, allerdings vor Christus, schuf Gott Himmel und
Erde. Das ist natürlich nicht genau sechstausend Jahre her, sondern 6008. Das
sechstausendjährige Bestehen der Erde am 22. Oktober 1996 war ein denkwür-
diger Tag. Denn genau an diesem Tag erkannte Papst Johannes Paul II. vor der
Päpstlichen Akademie der Wissenschaften an, dass Evolution „more than a hy-
pothesis“ ist.*
War das sein Geburtstagsgeschenk? Oder hat er eine Gelegenheit verpasst?
Vielleicht hat er den Geburtstag auch nicht genannt, weil derjenige, der das
Schöpfungsdatum ausgerechnet hatte, ein Protestant war – der irische anglika-
nische Bischof James Ussher (1581–1656). Usshers Vorgehensweise war ganz ein-
fach: Er hatte die Dauer der Generationen aller Urväter in der Bibel zusammen-
gezählt und diese an das einzige Ereignis in der Bibel gekoppelt, dem er anhand
griechischer und römischer Quellen eine Jahreszahl zuordnen konnte: Nebukad-
nezars Tod 562 vor Christus.
Die meisten dieser Urväter lebten außergewöhnlich lange: Mehr als neunhun-
dert Jahre ist kein Einzelfall, und viele bekamen noch Kinder, als sie schon längst
die Hundert überschritten hatten. Wenn wir den Ausnahmefall Henoch (365
Jahre) außer Betracht lassen, dann lebten die Urväter immer kürzer: Adam wurde
930 Jahre alt, Set 912, Enosch 905, Kenan 910, Mahalalel 895, Jared 847, Metu-
schelach 720 und Lamech schließlich 653. Dass sie immer früher starben, ist
vermutlich die Strafe für ihren liederlichen Lebenswandel, wie I. Hooykaas in
seinem Kommentar zur Leidener Bibelübersetzung von 1906 annimmt. Die letz-

* Der vollständige Text lautet: Today, (...) some new findings lead us toward the recognition
of evolution as more than a hypothesis. In einer Fußnote zum englischen Text wird sugge-
riert, dieser Satz sei eine falsche Übersetzung aus dem Französischen. Der ursprüng-
liche Text im Französischen lautet: Aujourd’hui, (...), de nouvelles connaissances conduisent
à reconnaître dans la théorie de l’évolution plus qu’une hypothèse. Der Papst hat vermutlich
sagen wollen, dass es mehrere Hypothesen gibt, doch dann hätte er sagen müssen plus
d’une hypothèse. Gesagt bleibt gesagt.
36 DER LANGE ZYKLUS

ten drei starben während der Sintflut, die am 17. Februar im Jahr 1307 nach der
Schöpfung begann, zusammen mit dem Großteil der Tiere, die offenbar eben-
falls sündig waren (nur die Fische nicht, die, wie Georges Cuvier in seinem Les
révolutions du globe höhnt, allem Anschein nach weniger heftige Leidenschaften
entwickelt hatten).
Mir kommt es tatsächlich sehr schwierig vor, neunhundert Jahre ohne Sünde
zu bleiben. In unserer Zeit sind wir wieder auf dem Weg zurück zu einem länge-
ren Leben, aber ob das einer größeren Tugendhaftigkeit zu verdanken ist, darf
bezweifelt werden. Wenn all diese Urväter ein normales Leben geführt hätten
und man für die Generationen eine normale Dauer von etwa fünfundzwanzig
Jahren ansetzen würde, käme man für das Erdalter nur auf fünftausend Jahre.
Doch für Ussher war das hohe Alter der Urväter genauso wenig ein Problem wie
die Jugend der Erde. So stand es eben in der Bibel.
Die Bibel ist jedoch nicht sonderlich präzise in der Zeitmessung, auch nicht in
der so genau datierten Sintflutgeschichte. Laut dem Kommentar von Hooykaas
vermischen sich zwei Sintflutgeschichten, die sich außerdem gegenseitig wider-
sprechen. In der älteren regnet es 40 Tage lang (1. Mose 7,4), in der jüngeren
steigt das Wasser, das sich sowohl aus dem Abgrund erhebt als auch vom Him-
mel niederfällt, 150 Tage lang (1. Mose 7,24 u. 8,3). In der älteren Geschichte
bleibt Noah nur etwas mehr als 60 Tage in der Arche (1. Mose 8,6–12), in der
jüngeren ein ganzes Jahr. Die Flut hat denn auch in dieser jüngeren Geschichte
ein viel größeres Ausmaß, und das Wasser steigt bis 15 Ellen über die höchsten
Berge (1. Mose 7,19–20).
Auch die Schöpfungsgeschichte an sich ist nach Hooykaas eine Umarbeitung
einer älteren babylonischen Geschichte, in der die Schöpfung nicht über sechs,
sondern über acht Tage verteilt war, denn es gibt acht Schöpfungsakte, die mit
den Worten ‚Gott sprach‘ eingeleitet werden und abgeschlossen mit der Erklä-
rung ‚Gott sah, dass es gut war‘. In dieser älteren Geschichte wird der Sabbat
nicht erwähnt. Hooykaas meint, die Israeliten hätten daran Anstoß genommen
und deshalb zwei dieser Schöpfungsakte in den dritten und sechsten Schöp-
fungstag verschoben. Der Schreiber beabsichtigte vor allem, die Ehre seines Got-
tes als Schöpfer der Welt herauszustellen, und wollte dies durch die Einrichtung
des Sabbats als Gottes Ruhe am siebten Tag bekräftigen.

Wir brauchen uns also nicht dafür zu schämen, dass wir die Geschichte der Erde,
wie sie in der Genesis beschrieben wird, etwas präzisieren möchten. Denn statt
6008 Jahre ist die Erde 4 550 000 000 Jahre alt. Erst vor weniger als einem Jahr-
hundert haben wir den ersten Blick in den schaurigen Abgrund der geologischen
Zeit geworfen, nämlich seit der Entdeckung der Radioaktivität. Wenn man das
Alter der Erde nicht kennt, kann man unmöglich den Ablauf der Erdprozesse
verstehen. Nicht zu wissen, dass die Erde viereinhalb Milliarden Jahre alt ist, ist
das Gleiche, wie nicht zu wissen, dass ein Mensch im Schnitt siebzig Jahre alt
URVÄTER 37

wird. Dieselbe Relation zugrunde gelegt, dauert ein Menschenleben in Usshers


Zeitskala nicht länger als eine Stunde.
Zu seiner Zeit war es einfach: Die Erde kann nicht älter sein als der Mensch,
denn wozu sollte sie sonst geschaffen worden sein? Warum sollte Gott lange
warten, bis er seiner Schöpfung die Krone aufsetzte? In dem Maße, wie im 18.
und 19. Jahrhundert die Kenntnisse der Naturwissenschaften zunahmen, nahm
auch das Alter der Erde zu.
Dem französischen Gelehrten Georges Buffon (1707–1788) zufolge war die
Erde 74 800 Jahre alt. Er leitete dies ab aus einem Experiment, in welchem er
unterschiedlich große, glühende Kugeln aus Gusseisen bis auf Zimmertempe-
ratur abkühlen ließ und dies extrapolierte auf eine Kugel in der Größe der
Erde. Bei ihm wird ein Mensch zehn Stunden alt. Charles Darwin ging anders
an die Sache heran. Er berechnete, wie viel Zeit nötig war, um die Downs in
England zu erodieren, und kam auf 300 Millionen Jahre – eine Zahl, die ihn
selbst erschreckte: Bei ihm würde ein Mensch mehr als vier Jahre alt werden!
Doch das passte ihm eigentlich ganz gut ins Konzept, denn er brauchte viel
Zeit, damit sich eine Art aus einer anderen entwickeln konnte. Er erntete so-
fort Kritik von seinen Zeitgenossen, nicht nur wegen der lachhaft großen
Zahl, sondern auch wegen seiner unseriösen Methode, die von den Physikern
nicht ernst genommen werden konnte. Der gefeierte britische Physiker Lord
Kelvin hatte eine bessere Idee. Schwerkraft war seiner Meinung nach die ein-
zige Quelle, aus der Sonne und Erde ihre Energie bezogen. Er ging von der
Annahme aus, dass die Erde ursprünglich flüssig gewesen war und die Tempe-
ratur mit 1 °F je 50 Fuß Tiefe zunimmt. Basierend auf den damals bekannten
physikalischen Gesetzen errechnete er ein Alter zwischen 20 und 400 Millio-
nen Jahren, wobei er 98 Millionen Jahre als plausibelste Zahl annahm – was
heißen würde, dass die Menschen in einem Alter von gut anderthalb Jahren
sterben. Je älter er wurde, desto jünger wurde seine Erde, und in seinem letzten
Artikel zu diesem Thema 1897 blieben nur noch 24 Millionen Jahre übrig, was
in unserem Rechenbeispiel korrespondiert mit einem durchschnittlichen
Menschenalter von vier Monaten.
Ein Jahr zuvor jedoch hatte Henri Becquerel die Radioaktivität entdeckt, was
bedeutete, dass es also noch eine andere Energiequelle in der Erde gab als die
Schwerkraft. Die Abkühlung könnte damit langsamer vonstatten gegangen sein,
denn Radioaktivität erzeugt neue Wärme in der Erde. Der alte Kelvin, wie viele
ältere Wissenschaftler ein typischer Vertreter des senile hyperactivity syndrome,
hatte nicht die Größe, die Theorie seiner Jugendjahre aufzugeben, und hielt hart-
näckig an der Zahl fest, mit der er Ruhm erworben hatte.
Obwohl man nun mit dem radioaktiven Zerfall von Uran zu Blei in Gestein
und Mineralien eine natürliche Uhr zur Verfügung hatte, wurde das Alter der
Erde noch immer systematisch unterschätzt. Der britische Geologe Arthur
Holmes sagte noch 1931 bei einem Meeting des National Research Council in
38 DER LANGE ZYKLUS

Washington, die Erde sei auf jeden Fall älter als 1600 Millionen Jahre, aber mit
Sicherheit viel jünger als 3000 Millionen Jahre.
Holmes’ Menschen wurden mindestens zwanzig, aber auf keinen Fall älter als
fünfzig Jahre. Das Alter der Erde, 4,6 Milliarden Jahre, kennen wir heute, indem
wir feststellen, wie viel mehr Blei durch radioaktiven Zerfall in irdischem Gestein
vorhanden ist als in Meteoriten, die nie Uran enthalten haben. Damit wird ein
Mensch siebzig Jahre alt. Was in dieser Diskussion auffällt, ist die Schwierigkeit,
ein Gefühl für die Dauer der geologischen Zeit zu bekommen. „Der Beginn des
Kambriums wurde in den Jahren zwischen 1885 und 1902 von verschiedenen
Autoren datiert auf 3, 18, 28, 600, 794 und 2400 Millionen Jahre!“, schreibt der
britische Geologe Anthony Hallam in seinem Buch Great geological controversies.
Heute kennen wir diesen Zeitpunkt sogar bis auf eine Dezimalstelle genau, mit
einer Unsicherheit von einer Million Jahren (542,0 ± 1 Million Jahre).
Die Einsicht in die drei Funktionsweisen der Erde – als Fluss, als Welle und als
Impuls – ist ebenfalls nicht von heute auf morgen entstanden. Dafür hat die
Geologie ihre eigenen Urväter gehabt, namentlich einige Gelehrte aus dem 17.
bis 19. Jahrhundert, wie Thomas Burnet, Abraham Gottlob Werner, James
Hutton, Charles Lyell, Georges Cuvier und Charles Darwin. Merkwürdigerweise
ist es nicht so einfach, hinter ihre tatsächlichen Vorstellungen zu kommen. Das
rührt daher, dass viele nach ihnen nicht lasen, was diese selbst, sondern was an-
dere über sie geschrieben hatten. Oftmals wurden ihre Ideen verzerrt wiederge-
geben, manchmal aus Unverständnis, manchmal aber auch absichtlich. Erst vor
Kurzem sind Wissenschaftshistoriker wie Stephen Jay Gould, Anthony Hallam
und Martin Rudwick zu den ursprünglichen Texten zurückgegangen. Es ist
ihnen zu verdanken, dass sich die Klischees über unsere Urväter, die jahrzehnte-
lang von schlampigen Lesern, faulen Schreibern und anderen Epigonen überlie-
fert wurden, langsam auflösen.
Die Wissenschaftshistoriker selbst haben übrigens auch ihre Scheuklappen.
So hat man in Westeuropa und den Vereinigten Staaten den russischen uomo
universale Michail Wassiljewitsch Lomonossow wenig beachtet – Physiker, Che-
miker, Philosoph, Literat, Philologe, Mineraloge, Gründer der Moskauer Staats-
universität und Ehrenmitglied der Akademien der Wissenschaften von Schwe-
den und Bologna, Letzteres wegen seiner Erfindung einer Herstellungsart von
farbigem Glas für Mosaiken. In seinem Buch O slojach zemnych (Über Erdschich-
ten, geschrieben 1750, publiziert 1763) beschreibt er unter anderem akkurat die
Lehm-, Torf- und Sandschichten unter Amsterdam und die Torfgewinnung nahe
Utrecht; außerdem nennt er die Nordsee einen Zufluchtsort für die Heringe, die
sich dort vor den Walen verstecken können. Lomonossow teilt die Bewegungen
der Erdkruste ein in Erschütterungen (Erdbeben), langsame Wellenbewegungen
– sie verursachen das Steigen und Sinken des Meeresspiegels – und schnelle
(katastrophale) Prozesse, die Bergketten entstehen lassen. Die Zeit als Impuls
und Welle. Damit war er der Diskussion zwischen den Aktualisten und den Ka-
URVÄTER 39

tastrophisten, die wir im nächsten Abschnitt betrachten werden, um ein halbes


Jahrhundert voraus.

Der englische Wissenschaftler Thomas Burnet (1635–1715) war lange Zeit als
Fantast verschrien, der am Schreibtisch erfunden hatte, wie sich die Erde von der
Sintflut bis zum Verglühen entwickeln würde. Erst Stephen Jay Gould hat in
Time’s arrow, time’s cycle gezeigt, dass Burnet in seinem Telluris theoria sacra (Die
heilige Theorie der Erde) versucht hat, die Geschichte der Erde mittels der physi-
kalischen Gesetze Newtons zu verstehen, ohne dabei der Bibel Gewalt anzutun.
Burnets Geschichte beginnt mit dem Chaos, in dem sich die verschiedensten
Teilchen ungeordnet durcheinanderbewegten. Während des Schöpfungspro-
zesses trudeln sie hinunter, die schweren früher als die leichten, und bilden eine
konzentrisch geschichtete Kugel: Die Erde des Paradieses, ein herrlicher Ort, wo
Urväter neunhundert Jahre alt werden konnten, der aber leider, durch die Sün-
den derselben, von der Sintflut verschlungen wurde. Was danach übrig bleibt, ist
ein chaotischer Trümmerhaufen, unsere heutige Erde.
Und Burnet, als newtonianischer Wissenschaftler, fragt sich: Woher kommt
das ganze Wasser der Sintflut? Denn er hatte berechnet, dass alles Wasser der
Erde nicht ausreichte, die gesamte Erdkugel mit einer Wasserschicht von
15 Ellen zu bedecken, auch nicht nach 40 Tagen Regen. Also musste es aus der
Tiefe kommen. Er stellte es sich folgendermaßen vor: Es war so viel Wasser aus
der Tiefe gekommen, dass die Kruste danach einfach einstürzen musste, und
deshalb sei die heutige Landschaft ein so unübersichtliches Durcheinander.
Er entnahm den Propheten, dass die Erde irgendwann einer versengenden
Glut zum Opfer fiele, bei der alles verbrennen würde, und stellte das in einer der
damaligen Wissenschaft angemessenen Form dar. Zuerst würde alles Wasser ver-
dampfen, dann würden Vesuv und Ätna das Feuer entzünden und alle Kohle-
schichten würden entflammen, angefacht von der aus allen Poren der Erde ent-
weichenden Luft. Alle Rußteilchen dieser Brände würden wieder auf die Erde
niederregnen, die schweren früher als die leichten, und dergestalt entstünde er-
neut eine perfekt konzentrische Kugel – das neue Paradies.

Wenn Burnets Ideen auch sehr weit von dem entfernt sind, was wir heute über
die Erde wissen, so müssen wir dennoch anerkennen, dass er versucht hat, eine
schlüssige naturwissenschaftliche Theorie zu entwickeln.
Ausgehend vom heutigen Wissensstand kann man sagen: Burnet hatte sich
nur in der Abfolge vertan. Man nimmt an, dass die Erde und die anderen Pla-
neten entstanden sind aus kollidierenden Staubteilchen in einer Gaswolke, kurz
nach dem Entstehen der Sonne. Durch die Schwerkraft ballten sich all diese Teil-
chen zusammen, und die Erde wurde heiß und flüssig. Die schwersten Elemente
wurden zum Erdkern hingezogen und die leichteren – Erdmantel, Erdkruste,
Hydrosphäre und Atmosphäre – wurden wie Schalen darum herum drapiert. So
40 DER LANGE ZYKLUS

entstand der konzentrische Aufbau unseres Planeten. In fünf Milliarden Jahren,


in der Endphase der Erde, wenn die irdische Radioaktivität und die Plattentek-
tonik zum Stillstand gekommen sind, werden die letzten Erosionsprozesse die
letzten Berge abflachen und die letzten Sedimentteilchen ins Meer transportie-
ren. Diese werden sich dort absetzen, die schweren zuerst, die leichten später,
sodass wieder eine glatte Kugel entsteht.

Ich habe früher immer laut lachen müssen über unsere Urväter, die meinten,
Vulkane würden aus brennenden Kohleschichten unter der Erde entstehen. Wie
wenig sie doch damals wussten! Wie unbedarft sie noch gewesen waren! Bis ich
selbst einmal in China auf einem glühenden, rot verbrannten Berg stand, in dem
Steinkohleschichten brannten, 200 Meter unter der Oberfläche. Schwefel-, Teer-
und Salmiakdämpfe stiegen aus dem Boden auf, und Tropfen von geschmolze-
nem Sandstein glitten an der Felswand entlang nach unten, als wäre es Lava. Seit
Millionen von Jahren gibt es dieses Phänomen. In China werden Unsummen
ausgegeben, um diese Steinkohlebrände zu löschen. Manche meinen, zwei bis
drei Prozent des heutigen Anstiegs des CO2-Gehalts in der Atmosphäre seien die
Folge dieser chinesischen Steinkohlebrände. In Burnets Zeit kamen sie auch in
Europa noch vielfach vor. Ich selbst war der Unbedarfte gewesen. Vielleicht hatte
Burnet sogar noch weiter geblickt, denn in 13 Milliarden Jahren ist die Sonne ein
roter Riese geworden und so viel größer, dass sie die Erde versengen wird. Und
wenn, wie manche meinen, das sich ausdehnende All irgendwann wieder
schrumpfen wird und es wieder einen neuen Urknall gibt, ist Burnets Modell von
größerer Vorhersagekraft, als er es sich selbst zu erträumen gewagt hätte. Denn
dann fängt alles wieder von vorne an.
Burnet und Newton waren in einem Punkt unterschiedlicher Meinung, näm-
lich über die Dauer der Schöpfungstage. Newton brachte vor, dass die Erde sich
zu der Zeit vielleicht langsamer um ihre Achse drehte und es dadurch sehr lange
Tage gab, aber Burnet fielen keine naturwissenschaftlichen Gründe dafür ein,
warum sich die Erde dann später auf einmal schneller um ihre Achse drehen
sollte. Burnet fand, man könnte nicht von einem ‚Tag‘ sprechen, bevor die Sonne
am vierten Tag geschaffen worden war, und dass man die Länge der Schöpfungs-
tage deshalb allegorisch sehen sollte. Es ist amüsant zu bedenken, dass sich nach
moderner Ansicht die Erde heute gerade langsamer um ihre Achse dreht als zu
Anfang ihrer Geschichte: Durch die Reibung wird die Rotation langsam abge-
bremst.

Abraham Gottlob Werner (1749–1817) mit seinen wahrlich urväterlichen Vorna-


men war Professor an der Freiberger Bergakademie in Sachsen und ein so begna-
deter Lehrer, dass Menschen aus ganz Europa zu ihm kamen, um ihn zu hören.
Er unterrichtete lieber, als dass er schrieb, deshalb kennen wir ihn besser aus
Mitschriften seiner Studenten als aus seinen eigenen Werken. Seine Ansichten
URVÄTER 41

basierten mehr auf Feldforschungen seiner Zeitgenossen als auf seinen eigenen
– seiner schlechten Gesundheit wegen, wie es hieß.
Im nahe gelegenen Harz, im Erzgebirge und im Thüringer Wald unterschied
er 1777 fünf große Einheiten, von alt nach jung das „Urgebirge“, das „Übergangs-
gebirge“, das „Flötzgebirge“, das „Aufgeschwemmte Gebirge“ und „Vulkanische
Gesteine“, wobei jede dieser Einheiten weiter untergliedert ist in kleinere Ge-
steinspakete. Die Altersklassifikation stimmt im Großen und Ganzen noch
immer.
Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Werner selbst wenig Feldforschung be-
trieben hat, verallgemeinerte er die Geschichte seines eigenen kleinen Reiches zur
Geschichte der ganzen Erde – eine Art Provinzialismus, aus dem heraus viele
hartnäckige Missverständnisse bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestehen
blieben. So war es in der Sowjetunion bis zur Perestroika 1985 unmöglich, über
die Plattentektonik zu sprechen, denn die großen Köpfe der Geologie, vorneweg
W. W. Beloussow, sahen in ihrer kleinen Moskauer Welt die Erde sich lediglich
auf- und abwärts bewegen.
Werner meinte, alle Gesteine, sogar Basalt, seien Ablagerungen aus dem Meer-
wasser, ähnlich wie das Salz in den Salzbecken der Camargue. Dadurch ist er in
die Geschichte eingegangen als Neptunist, nach Neptun, dem Meeresgott. Heut-
zutage glauben wir das nicht mehr, und deshalb haben viele Werner in das Rari-
tätenkabinett der geologischen Irrwege verbannt. Doch ließ er immerhin diesen
Ablagerungsprozess in einer logischen Abfolge stattfinden. Zuerst wurden die
Granite und Schiefer des „Urgebirges“ aus den tiefsten Wasserschichten abgela-
gert, darauf folgten, als das Wasser flacher wurde und trüber, die des „Übergangs-
gebirges“, bereits mit einigen Fossilien und auch kleinen Ablagerungen von Sand
und Lehm. Mit dem Fortschreiten der Zeit, und damit sind wir bereits beim
„Flötzgebirge“ angelangt, wurden Sand und Lehm immer wichtiger, und der Ge-
halt an Fossilien nahm zu. Im „Aufgeschwemmten Gebirge“, in den tiefsten Ab-
schnitten der Landschaft, nämlich den Flusstälern, wurden nur noch Sand und
Lehm abgelagert.
Wir wissen zwar heute dank James Hutton, dass die Granite des „Urgebirges“
und die Basalte („Vulkanische Gesteine“) nicht aus dem Meerwasser, sondern
aus Magma entstanden sind, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir es
hier mit dem Beginn einer modernen geologischen Geschichte eines Stückchens
Erde zu tun haben. Anthony Hallam drückt es folgendermaßen aus: „There is
one important respect in which Werner’s system was superior to Hutton’s: it had
a stratigraphy.“ Seine Zeit hatte eine Richtung, einen Pfeil. Seine Zeit war im
Fluss.

Der Schotte James Hutton (1726–1797) nämlich, bereits seit zwei Jahrhunderten
der ausgewiesene Urvater der modernen Geologie, kannte keine Stratigraphie,
sondern er war ein eingefleischter Zykliker. 1788 betrachtete er mit seinem spä-
42 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 15: Eine Diskordanz bei Garzón, Huila, in den kolumbianischen Anden. Ablagerungen
des Flusses Magdalena haben sich durch die Gebirgsbildung schräg gestellt und sind dann
erodiert, worauf sich eine neue horizontale Kiesschicht desselben Flusses darüber abgelagert
hat. Die schräg gestellten Schichten sind 14 Millionen Jahre alt, die horizontale Kiesschicht
darüber zwei Millionen Jahre. Die Diskordanzfläche repräsentiert also eine Zeitlücke von
zwölf Millionen Jahren.

teren Ghostwriter John Playfair bei Siccar Point in Schottland einen bemerkens-
werten Fels. Die vertikalen Schieferschichten sahen dort aus wie von einem Mes-
ser horizontal abgeschnitten. Oben auf der Schnittfläche lag ein horizontales
Paket Sandstein. Wir nennen eine solche Schnittfläche eine Diskordanz. Er war
der Erste, der ihre Bedeutung erkannte. Schiefer ist aus Ton entstanden, der sich
im Meer abgesetzt hat, und zwar horizontal. Jetzt steht dieser Schiefer vertikal
und ist stark zusammengepresst. Das heißt, es gibt Kräfte im Inneren der Erde,
die Ton zu Schiefer zusammenpressen und diesen hochkant stellen können. Da-
nach hob sich der Schiefer, die Brandung hat das vertikale Schieferpaket erodiert
bis zu der messerscharfen Schnittfläche und eine neue Schicht Sand darüberge-
legt. Danach hat sich dieser Sand ebenfalls zu Stein verfestigt und seinerseits aus
dem Meer erhoben.
Man sieht hier also einen ganzen Zyklus von Ereignissen: Ablagerung des
Tons, Zusammenpressung und Schrägstellung, Hebung, Erosion, erneute Abla-
gerung, diesmal des Sandsteins, und wieder Zusammenpressung, Hebung und
Erosion. „Wir fühlten uns in der Zeit zurückversetzt, als wäre der Schiefer der
Grund des damaligen Meeres, und der Ozean hätte den Sandstein erst gerade
eben in Form von Sand und Ton abgesetzt“, schrieb Playfair. „The mind seemed
URVÄTER 43

Abb. 16: Granitadern in schwarzem Schiefer, Milliau, Bretagne, Frankreich.

to grow giddy by looking so far in the abyss of time“, wie er es in seiner blumen-
reichen Sprache ausdrückte.
Woher kamen die Kräfte für diese Zyklen? Das hatte sich Hutton schon über-
legt, bevor er je eine Diskordanz gesehen hatte. Denn in Glen Tilt, in den Gram-
pian Highlands, hatte er 1785 gesehen, wie rosafarbige Granitadern quer durch
den schwarzen Schiefer brachen. Granit! Das „Urgebirge“, das Älteste vom Ältes-
ten! Wie konnte das jemals quer durch ein anderes Gestein hindurchbrechen!
Granit musste also jünger sein, und er musste flüssig gewesen sein! Magma! Es
muss ein richtiges Aha-Erlebnis für ihn gewesen sein. Die Führer in seiner Beglei-
tung glaubten, er habe eine Gold- oder Silberader gefunden, so wie er sich freute,
schreibt Playfair.*

Kapstadt 1997. Ich besuche hier einen geologischen Kongress. Die südafrika-
nischen Geologen Roger Smith und Brian Turner nehmen uns mit zu Queen’s
Beach, einem breiten Strand mit imposanten Felspartien, unterhalb eines ge-
schäftigen Boulevards mit Luxushotels gelegen. Wir rutschen über die grünen
Algen und das glatt abgeschliffene Gestein. Schwarze, wild gefaltete Gneise, die

* Hier tut Stephen Jay Gould (Time’s arrow, time’s cycle) Hutton unrecht. Laut Gould
waren diese Beobachtungen unwichtig für die Entwicklung von Huttons Theorie, aber
aus der zitierten Aufregung geht hervor, dass sie tatsächlich eine große Rolle gespielt
haben müssen.
44 DER LANGE ZYKLUS

von herrlichen gelbweißen Granitadern bizarr durchzogen sind. Jede Brandungs-


welle akzentuiert den Farbkontrast. Fantastisch. Wir steigen die Treppe zum
Boulevard hoch. Oben ist ein Metallschild ans Geländer geschraubt mit fol-
gendem Text:
„Die Felsen zwischen diesem Schild und der See zeigen eine beispielhafte Kontaktzone
aus dunklem Schiefer und hellem Granit. Erstmals erwähnt wurde dieses interessante
Beispiel eines Kontakts zwischen einem Sediment- und einem Ergussgestein 1818 von
Clarke Abel. Seit ihrer Entdeckung hatte sie immer wieder einen beseelenden Einfluss
auf die Entwicklungsgeschichte der Geologie. Nennenswert unter denjenigen, die sie
beschrieben haben, ist Charles Darwin, der sie 1836 besucht hat.“

Ich bekomme weiche Knie. Das rote Kügelchen! Die Tiefe der Zeit, und jetzt die
der Wissenschaftsgeschichte! Charles Darwin hat sie gesehen, genau diese Kon-
taktzone, und beschreibt sie sorgfältig in seinem Tagebuch. Wo genau hat er
wohl gestanden? Ich versuche, das Bild vor mir mit dem anderthalb Jahrhun-
derte älteren zusammenzubringen. Wie viel hat sich seitdem verändert? Wie viele
Felsblöcke sind seitdem von ihrem Platz verschwunden, von der Brandung mit-
geschleift? Viele können es nicht gewesen sein.
Ihn muss der gleiche Blitz des Erkennens durchzuckt haben wie mich jetzt an
dieser Stelle. Auch er wusste, wo er suchen musste, denn vor ihm hatte schon
John Playfair darüber geschrieben, anlässlich des Briefes eines Kapitäns Basil
Hall von 1815 (Clarke Abel war also nicht der Erste gewesen). Er schreibt:
„Thus the granite is shewn, I think with great probability, to be newer than one of the
rocks incumbent on it, and older than the other. I know not that we have ever before
had an example of a fact which so directly ascertains the place which granite really oc-
cupies, in respect of other parts of the mineral kingdom (...); it is highly favourable to
the opinion, that granite does not derive its origin from aqueous deposition.“

Die Diskordanz komplettiert das Bild von Huttons Zyklus. Sedimente lagern
sich im Meer ab, in immer dickeren Schichten, wodurch sie immer tiefer in die
Erdkruste gelangen, werden dabei wärmer und wärmer, bis sie irgendwann
schmelzen und zu Magma werden. Das Granitmagma drückt die Sedimente
hoch, presst sie zusammen und verformt sie, sodass ein neues Gebirge entsteht,
was mit Erdbeben und Vulkanismus einhergeht. Flüsse erodieren die Gebirge
und bringen wieder Sediment ins Meer – und damit schließt sich der Kreis. Eine
endlose Wellenbewegung.
In Huttons Augen war die Erde eine Maschine, die, von der Erdwärme ange-
trieben, endlos funktionieren könnte. So lange, dass die Frage, wie diese Ma-
schine entstanden war und wie sie sich in Zukunft entwickeln würde, eigentlich
nicht gestellt werden durfte. „No vestiges of a beginning, no prospect of an end“,
sind die berühmten letzten Worte seiner Theory of the Earth von 1795. Anfang und
Ende lagen außerhalb des Blickfeldes der Wissenschaft, befand er, und er fühlte
URVÄTER 45

sich in dieser Ansicht bestärkt durch Newtons Vision des Sonnensystems. Das
hatte ja auch keinen Anfang und kein Ende, soweit man damals wusste. Und wir
dürfen nicht vergessen, dass Hutton, ursprünglich zum Mediziner ausgebildet,
in Leiden promovierte mit einer Dissertation zum Blutkreislauf! Ein Vollblut-
zykliker. Er war felsenfest von der Endlosigkeit der geologischen Zeit überzeugt
und mochte nicht einsehen, dass die Erde auch eine unumkehrbare Geschichte
haben musste; eine Auffassung, die Playfair in seinen Illustrations of the Huttonian
Theory of the Earth (1802) mit dem Mantel der Liebe zudeckte und den Augen
vieler späterer Generationen entzogen hat. Erst Stephen Jay Gould hat die Kom-
promisslosigkeit der Zyklizität Huttons wieder an die Öffentlichkeit gebracht.

Charles Lyell (1797–1875) ging noch einen Schritt weiter als Hutton. Er adop-
tierte nicht nur dessen Zyklizität, sondern meinte auch, dass alle Prozesse des
Zyklus heute noch immer wirksam sind. Prozesse folgen Naturgesetzen, und Na-
turgesetze sind unveränderlich, auch wenn der Zyklus noch so alt ist. Seine zen-
trale These war: the present is the key to the past. Gehen Sie an den Strand, dann
sehen Sie, wie die Brandung eine Diskordanz macht, indem sie Sand auf den
Felsen ablagert. Fahren Sie zum Zentralmassiv in Frankreich, dann sehen Sie
Schichten, die vormals in einem See abgesetzt wurden und jetzt von Vulkanen
Hunderte von Metern über den Meeresspiegel gehoben worden sind. Besuchen
Sie nur den Ätna, wenn Sie nicht glauben, dass es Magma gibt – denn von Ihrem
Ohrensessel in der Freiberger Akademie aus können Sie das nicht sehen, mein
lieber Abraham Gottlob. Man kann die ganze Erde aus den gegenwärtigen Pro-
zessen heraus erklären, auch wenn sie äußerst langsam sind, solange man nur
genügend Zeit zur Verfügung hat für all diese Zyklen. Aber die geologische Zeit
ist endlos. Sein ganzes opus magnum, die Principles of Geology (1830–1833), das
erste moderne geologische Handbuch, ist ein einziges Plädoyer für diese Ansicht.
Das Prinzip wird im Englischen auch uniformitarianism genannt, eine abschre-
ckende Bezeichnung, die mehr an eine obskure Sekte erinnert als an einen
Grundsatz der Geologie. Im Deutschen verwendet man den Terminus Aktualis-
mus, obwohl das kein genaues Synonym ist, denn der englische Begriff verweist
auch auf die Unveränderlichkeit der Naturgesetze.

Sowohl Huttons steady-state earth als auch Lyells Aktualismus haben allerdings
eine Schwachstelle: die Geschichte des Lebens und die Entstehung des Men-
schen. Denn das sind die Punkte, an denen unbestreitbar zu erkennen ist, dass es
eine Progression in der Zeit gibt, dass die Zeit fließt und also der eine Zyklus sich
vom anderen unterscheidet. In den ältesten Schichten gibt es keine Fossilien, in
den darüberliegenden nur primitive Organismen; beim weiteren Aufstieg in der
geologischen Abfolge erscheinen nacheinander die Pflanzen, dann die Amphi-
bien und Reptilien, darauf die Säugetiere und schließlich die Primaten und der
Mensch. Ob man das Progression nennen möchte, ein wunderbares Malheur
46 DER LANGE ZYKLUS

oder eine zufällige Koinzidenz, sei dahingestellt: Fakt ist, dass mit dem Fort-
schreiten der Zeit die Komplexität der Lebensformen zunimmt. Sogar der unbe-
kannte Verfasser der Schöpfungsgeschichte in der Genesis ließ zuerst die Pflan-
zen, danach die Tiere und erst dann den Menschen entstehen. Wie er zu dieser
Reihenfolge Pflanze – Tier – Mensch gekommen ist, werden wir nie erfahren,
aber es ist wahrscheinlich, dass er dabei von der Nahrungskette inspiriert wurde.
Was hätten die biblischen Kühe, Ziegen und Schafe essen sollen, wenn der Schöp-
fer nicht vorher die Pflanzen geschaffen hätte? Die Progression der Lebensformen
in der Zeit wurde von John Phillips 1841 in einer Dreiteilung der geologischen
Zeit formalisiert: Paläozoikum, die Zeit des Erdaltertums, Mesozoikum, die des
Erdmittelalters, und Känozoikum, die der Erdneuzeit (im Grunde eine unbe-
wusste Reprise der Einteilung von Giovanni Arduino von 1760 in Primario, Se-
condario und Terziario, der damit übrigens nur die Schichtpakete und nicht die
geologische Zeit bezeichnete). Ein unwiderruflicher time’s arrow, der auch die
Frage nach dem Anfang und dem Ende unausweichlich machte.
Aber die Zykliker wollten diese Frage nicht stellen. Hutton sah Fossilien nur
als Indikatoren für den Sedimentationsraum: Muscheln sind Indikatoren für
den Einfluss des Meeres und Holzversteinerungen für die Anwesenheit von Land;
er sah sie jedoch nicht als eine Botschaft des Lebens, das seine eigene Geschichte
erzählt. Und Lyell meinte, alle Arten könnten durch die gesamte geologische Ge-
schichte hindurch überall vorkommen. Es sei nur eine Frage der Zeit, bevor man,
irgendwo in den noch nicht erforschten Teilen der Welt, auch Säugetiere in
Schichten aus dem Paläozoikum finden würde. Man hatte diese in Europa nur
noch nicht gefunden, weil so viele Seiten im geologischen Geschichtsbuch fehl-
ten. Er war sogar so sehr von der Zyklizität der Erdgeschichte überzeugt, dass er
meinte, Dinosaurier wie der Iguanodon, Ichthyosaurus und Pterodactylus erschienen
aufs Neue, wenn das Klima irgendwann wieder milder würde. Erst mehr als drei-
ßig Jahre später, als in großen Teilen der Welt vergeblich nach diesen paläozo-
ischen Säugetieren gesucht worden war, erkannte er in der zehnten Auflage sei-
nes Buches 1866 an, dass sehr wohl eine Entwicklung des Lebens stattgefunden
hatte. Charles Darwins Evolutionstheorie hatte ihn dazu gebracht.

Es gab noch ein Problem mit der Geschichte des Lebens. Georges Cuvier (1769–
1832) hatte als Erster gewissenhaft die unterschiedlichen Arten von Fossilien
studiert, und zwar in seiner direkten Umgebung, dem Pariser Becken. Das ist ein
ergiebiger Fundort. Das Pariser Becken ist eine aus übereinander liegenden
Schichten aufgebaute schüsselförmige Mulde, deren äußerste Schicht einen
Durchmesser von 500 Kilometern hat, zur Mitte hin wird ihr Durchmesser
immer kleiner. Es ist ein Paket aus Kalken, Mergeln und Sanden, das ursprüng-
lich horizontal in flachen Meeren und entlang der Küsten abgelagert und danach
leicht zu einer Schalenform zusammengedrückt wurde. Nach der Superpositi-
onsregel, die Steno bereits 1669 aufstellte, liegt die älteste Schicht unten und die
URVÄTER 47

W [Westen] O [Osten]
1000 Normandie Paris Vogesen
0
Tiefe (m)

-1000
-2000
-3000 Tertiär Jura
-4000 Kreide Trias

Abb. 17: Querschnitt des Pariser Beckens.

jüngste oben. Die größte Schüssel an der Außenseite des Pariser Beckens ist also
die älteste, die kleinste die jüngste. Geht man von Paris, dem Zentrum des Be-
ckens, nordwärts, westwärts oder ostwärts, so begegnet man also zwangsläufig
immer älteren Schichten – eine wunderbare Zeitreise durch mehr als 200 Millio-
nen Jahre geologischer Geschichte.
Cuvier hat das gemacht; und bei jeder Etappe seiner Route notierte er sorgfäl-
tig, welche Fossilien er fand. Das Ergebnis publizierte er 1812 im Discours sur les
révolutions de la surface du globe. Und was schrieb er dort?
„Beobachten wir doch einmal, was gegenwärtig auf der Erde geschieht. Analysieren wir
die Prozesse, die noch immer an der Erdoberfläche wirksam sind, und stellen wir fest,
wie weit sich ihre Effekte erstrecken. Dies ist ein umso wichtigerer Bestandteil der Erd-
geschichte, als man lange Zeit der Ansicht war, die früheren Umwälzungen mit heu-
tigen Prozessen erklären zu können – so, wie man auch in der politischen Geschichte
Ereignisse aus der Vergangenheit leicht erklären kann, wenn man die Emotionen und
Intrigen der Gegenwart kennt. Wir werden allerdings sehen, dass dies in der Geschichte
der Natur leider nicht der Fall ist: Der Faden der Prozesse wird unterbrochen; der Lauf
der Natur hat sich geändert, und keines der Werkzeuge, die sie heute einsetzt, wäre
hinreichend, ihre früheren Werkstücke erschaffen zu können.“

Also schon bevor Lyell 1833 seinen Slogan the present is the key to the past prägte,
war Cuvier sich über dieses Prinzip im Klaren; nur glaubte er nicht daran. Und
dafür hatte er gute Gründe. Hat Lyell darum, mit all den rhetorischen Talenten,
die ihm als ehemaligem Anwalt zur Verfügung standen, versucht, Cuviers Theo-
rie ins Lächerliche zu ziehen?
Cuvier hatte bei seiner Zeitreise durchs Pariser Becken gesehen, dass sich Süß-
wassersedimente und Salzwassersedimente abwechselten, was auf eine Zyklizität
hinwies, für die sich weder Hutton noch Lyell schämen müssten. Daraus hatte er
auch geschlossen, der Meeresspiegel müsse mal höher, mal tiefer gelegen haben.
So weit, so gut. Was aber nicht übereinstimmte mit der Zyklizität, mit der steady-
state earth, war die Tatsache, dass in bestimmten Schichten zahlreiche Organis-
men plötzlich verschwanden und dafür andere, vollkommen neue Arten erschie-
nen. Cuvier war der Erste, der andeutete, Arten könnten auch aussterben. Er
48 DER LANGE ZYKLUS

verwies dabei unter anderem auf die Mammuts aus dem sibirischen Permafrost.
Die waren noch so frisch gewesen, dass die Hunde der Expedition sich Fleisch-
stücke herausgerissen hatten. Sie mussten durch eine plötzliche Katastrophe
ums Leben gekommen sein, andernfalls wäre ihr Fleisch verdorben gewesen.
Doch welche Katastrophe?
Sein Kollege Alexandre Brongniart entdeckte 1821 dasselbe abrupte Ver-
schwinden und Auftauchen hoch oben in den Alpen und in anderen Gebirgen.
So ließ sich auch feststellen, wann diese Gebirge entstanden waren. Cuviers bril-
lanter Schüler Élie de Beaumont zog den Schluss, dass genau zum Zeitpunkt des
plötzlichen massenhaften Artensterbens, auf der Grenze zwischen den Perioden,
die wir heute Kreide und Tertiär nennen, auch die Pyrenäen entstanden waren.
Vielleicht waren ja die Gebirge die Verursacher! Keine Rede von ruhig dahindüm-
pelnden Zyklen, wie wir sie heute sehen, nein: Es gab Perioden relativer Ruhe und
Perioden verheerender geologischer Aktivität, genau wie Lomonossow das schon
1750 angenommen hatte. Das war die wahre Bedeutung der Hutton’schen Dis-
kordanzen. Kataklysmen! Die Erde ein einziges Tragödientheater! Die Zeit als
Impuls! Die Sintflut war demnach nicht die einzige Katastrophe, welche die Erde
getroffen hatte; hier tauchte eine neue Form von Zerstörungen auf. Élie de Beau-
mont hatte schon 1829 vier Hauptphasen der Gebirgsbildung identifiziert. Spä-
ter erweiterte er diese auf zwölf, dann auf 22 und schließlich sogar auf 100 –
womit er, wie Guido Chiesura in seinem wunderbaren Buch Charles Darwin
geologo (2002) darstellt, im Grunde genommen den katastrophalen Charakter
wieder abschwächte, denn so wurde Gebirgsbildung zu einer beinahe ständigen
Aktivität.
Lyell glaubte nicht an solche Katastrophen. Er machte sich darüber lustig,
steckte Cuvier zu Unrecht ins Raritätenkabinett der verstockten Sintflutapostel
und präsentierte die Ideen der Pariser Schule derartig verzerrt, dass die Katastro-
phisten für mehr als ein Jahrhundert nicht mehr ernst genommen werden soll-
ten – und er selbst in dieser Zeit bis weit über seinen Tod hinaus den Helden
spielen konnte. Wir sehen heute ja schließlich auch keine Katastrophen auftre-
ten, so argumentierte er. Man tut doch der Physik Gewalt an, wenn man in der
Vergangenheit wirksame Prozesse annimmt, die es heute nicht mehr gibt! Wenn
man nur genug Zeit hat – und die hat man –, können langsame Prozesse diesel-
ben Auswirkungen haben wie eure vermeintlichen Katastrophen. Was Diskor-
danzen und Gebirgsbildung angeht, so bleibt er vage. Als Murchinson in den
Alpen große Schichtpakete auf dem Kopf stehend vorfand und dies als einen
Hinweis auf eine Katastrophe bezeichnete, sagte Lyell:
„It is not the magnitude of the effects, however gigantic their proportions, which can
inform us in the slightest degree whether the operation was sudden or gradual, insen-
sible or paroxysmal. It must be shown that a slow process could never in any series of
ages give rise to the same results.“
URVÄTER 49

Lyell erklärte das plötzliche Verschwinden von Organismen, wie beispielsweise


im Pariser Becken, folgendermaßen: Das Aussterben einer Art sei stets ein lokales
Ereignis, und wenn man nur gründlich suchte, fände man immer irgendwo auf
der Erde einen Ort, an dem sie eben doch überlebt hatten – da war dann das
Wasser ausreichend tief beziehungsweise das Klima ausreichend warm geblie-
ben. Es war also wieder einmal der Unvollkommenheit der geologischen Kartie-
rung zuzuschreiben, wenn nicht alle Arten überall nachzuweisen waren.
Mochte Lyell auch erfolgreich gewesen sein mit seiner Demontage Cuviers –
Charles Darwin machte es ihm nicht so leicht. Darwin war anfangs einer der
glühendsten Anhänger Lyells. Als er zu seiner fünf Jahre dauernden Weltreise
mit der Beagle aufbrach, hatte er den ersten Teil der Principles of geology bei sich,
und die folgenden Teile ließ er sich wie einen Fortsetzungsroman in die verschie-
denen Häfen schicken, die er ansteuerte. Entlang der chilenischen Küste be-
merkte er angehobene alte Strandlinien bis in 85 Meter Höhe über Meeresniveau;
und als er dort 1835 obendrein ein Erdbeben miterlebte, bei dem die Küste auf
mehr als 100 Kilometer Länge schlagartig um einige Meter angehoben wurde,
schien Lyells Theorie rundherum bestätigt zu sein. Eine Vielzahl solcher kleiner
Schritte könnte ein ganzes Gebirge auftürmen. So machte Darwin aus einem
Impuls eine Welle. Lyell war sehr einverstanden, wenn auch ein Erdbeben etwas
heftiger war als das, was er eigentlich meinte.
Doch die Kernaussage von The origin of species, das Entstehen neuer Arten durch
natürliche Selektion, hat Lyell nie akzeptiert. Arten mochten aussterben – das
war noch nachvollziehbar, wenn man es auch nur schwer mit seiner langsamen
Zyklizität zur Deckung bringen konnte. Aber dass eine Art in eine andere über-
gehen sollte, ging ihm zu weit. Bis ans Ende seiner Tage hat er nie daran ge-
glaubt.
Es ist eine Ironie des Schicksals: Ausgerechnet die Auffassung, in welcher Dar-
win bis zum Schluss ein verstockter Aktualist blieb, dass nämliche eine Art all-
mählich in die andere übergeht, scheint bis heute nicht zu stimmen. Es ist noch
immer eine große Seltenheit, den missing link zu finden, die Übergangsform von
einer Art zur anderen. Die abrupten Übergänge, die Cuvier schon festgestellt
hatte, gibt es nach wie vor, und sie wurden inzwischen sogar derart verfeinert,
dass man sie benutzt, um geologische Zeitabläufe sehr detailliert einzuteilen.
Selbst die Abschnitte auf dem untersten hierarchischen Niveau der geologischen
Zeitskala dauerten nicht länger als ein bis zwei Millionen Jahre, und alle sind
gekennzeichnet durch das plötzliche Auftreten bestimmter Arten und das Ver-
schwinden von anderen. Ich komme später noch darauf zurück.

Wer hatte also recht? Der Direktionalist, der Evolutionist, der Historiker, für den
der Zeitvektor das Wichtigste ist, für den die Zeit in erster Linie strömt? Oder der
Aktualist, der die Zyklen der Natur stetig kommen und gehen sieht wie Wellen
des Meeres, ohne Anfang oder Ende, gesteuert von langsamen Prozessen, deren
50 DER LANGE ZYKLUS

Wirkung wir auch heute noch unterliegen? Oder der Katastrophist, nach dessen
Auffassung erfolgreiche Lebensformen durch einen unerklärlichen Impuls ein
jähes Ende finden und neue Lebensformen entstehen, ohne dass von einem
Übergang die Rede sein könnte? Oder hatten alle drei recht? Eine erste Antwort
hierauf steckt in den Kommentaren zu Lyells Werk von dreien seiner Zeitgenos-
sen. Alle drei hatten ein Motiv, den sanft dahindümpelnden Zyklen von Lyell zu
etwas mehr Dramatik zu verhelfen.
Louis Agassiz war als Erster 1837 zu der Überzeugung gelangt, die Erde müsse
einmal von großen Eiskappen bedeckt gewesen sein. Wir werden das in einem der
nächsten Kapitel beleuchten. Eine katastrophale Eiszeit passt natürlich nicht in
Lyells Weltbild. Agassiz schrieb in einer Randnotiz in seinem eigenen Exemplar
von Lyells Buch (und dort ausgegraben von Stephen Jay Gould) das Folgende
über the present is the key to the past:
„These causes are identical as the cause that produces good weather is identical with
the cause that produces the tempest. But it never comes to anyone’s mind to array them
in the same category. There have always been several categories of causes. (...) But these
changes, since they don’t always have the same intensity [Hervorhebung von mir, S. K.]
in our own day, could not have so worked in former times. They have therefore differed
at all times from considerable changes that never result from the addition of small
changes.“

Reverend W. D. Conybeare war bis zu dieser Zeit ein gottesfürchtiger Anhänger


der Sintflut-Theorie. In seinem eigenen einflussreichen Text von 1821 machte er
für die Hebung und Schrägstellung von Gesteinslagen noch Explosionen verant-
wortlich. Sein Glaube daran wurde durch Lyells Aktualismus ins Wanken ge-
bracht. Auch er sagt mehrfach, die geologischen Prozesse seien wohl immer die-
selben, könnten aber bezüglich ihrer Intensität variieren.
„No real philosopher, I conceive, ever doubted that the physical causes which have
produced the geological phenomena were the same in kind, however they have been
modified as to the degree and intensity [Hervorhebung von mir, S. K.] of their action by
the varying conditions under which they may have operated at different periods.“

Ein dritter Kommentar stammt von William Whewell, Dozent für Mineralogie
in Cambridge und derjenige, der die Begriffe Uniformitarianismus und Katas-
trophismus einführte. Er schrieb 1837:
„In reality when we speak of uniformity of nature, are we not obliged to use the term in
a very large sense, in order to make the doctrine at all tenable? It includes catastrophes
and convulsions of a very extensive and intensive kind; what is the limit to the violence
which we must allow to these changes? In order to enable ourselves to represent geo-
logical causes as operating with uniform energy through all time, we must measure our
time by long cycles, in which repose and violence alternate; how long must we extend
URVÄTER 51

this cycle of change, the repetition of which we express by the word Uniformity?
And why we must suppose that all our experience, geological as well as historical, in-
cludes more than one such cycle? Why must we insist upon it, that man has been long
enough an observer to obtain the average of forces which are changing through im-
measurable time.“ (W. Whewell, 1837, History of the inductive sciences, from the earliest to the
present time; zitiert nach Hallam.)

Kurz: Die zentrale These von Lyell – beobachte die heutigen Prozesse! – fand
zwar viel Widerhall, rief aber auch schnell Stimmen hervor, die fragten: Wie lange
dauert denn so ein Zyklus? Wie schnell laufen die Prozesse ab? Muss man nicht
mit unterschiedlichen Intensitäten rechnen? Wie lange dauert deine present,
Lyell? Wer die heutige Diskussion über die Klimaerwärmung verfolgt, stellt fest,
dass diese Fragen noch überaus aktuell sind. Es sind auch die zentralen Fragen
dieses Buches. Denn so schwierig das Erdalter zu begreifen ist, so mangelhaft ist
auch unsere Einsicht in Geschwindigkeit und Intensität der irdischen Prozesse –
ob es nun um die Zeit als Fluss, als Welle oder als Impuls geht. Aber es sollte nach
Lyell noch lange dauern, bevor jemand auf die Idee kam, die Intensität als Aus-
gangspunkt zu betrachten.
4 Die Skala von Richter und der Sand von Bak

„A bad earthquake at once destroys the oldest associations: the world, the very emblem
of all that is solid, has moved beneath our feet like a crust over a fluid; one second of
time has conveyed to the mind a strange idea of insecurity, which hours of reflection
would never have created.“
Charles Darwin, Journal of researches, Part Two

Es war einmal ein Märchen. Wie die Geschichte genau war, weiß ich nicht mehr,
aber es kamen drei Brüder darin vor, Jan, Piet und Hein, und sie besiegten Heere
und bekamen eine Prinzessin, weil sie über besondere Eigenschaften verfügten:
Jan konnte sehr gut sehen, und er sah schon von Weitem, wessen Heere es waren
und welches Hütchen die Prinzessin trug. Piet konnte sehr gut riechen, und er
roch schon über viele Kilometer hinweg das Lagerfett der Kanonen und die feine
Seife, mit der die Prinzessin sich gewaschen hatte. Hein konnte sehr gut hören,
und wenn er sein Ohr auf den Boden legte, wusste er genau, wie groß das Heer
war und ob die Prinzessin einbeinig oder zweibeinig war oder ob sie einfach nur
auf einem Bein hüpfte, denn sie war noch sehr jung.
Hein kenne ich am besten, denn er arbeitet am Königlich Niederländischen
Meteorologischen Institut (KNMI), dem Institut, das die Erdbeben auf der
ganzen Welt registriert. Man möchte ihn gerne einen Seismografen nennen, so,
wie es auch einen Geografen und einen Topografen gibt. Doch das Wort ist
schon vergeben, denn ein Seismograf ist das Gerät, das tut, was Hein eigentlich
selbst tun müsste: mit dem Ohr am Boden auf die Erde hören.
Wenn Hein wirklich aufmerksam lauscht, fängt er die feinsten Schwingungen
der Erde auf. Denn die Erde ist immer in Bewegung, immer ist eine Spannung
vorhanden, die sich irgendwo auf der Welt entlädt. Auf einem Seismogramm,
einem Blatt Papier, auf dem die Schwingungen abgebildet werden, die Heins Ohr
erreichen, sieht das wie eine horizontale Zitterlinie aus. Es ähnelt white noise –
willkürliche kleine Signale verschiedenster vermischter Frequenzen. Aber ganz
sicher wissen wir das nicht, vielleicht bedeutet ja jedes Zittern dieser Linie etwas.
Renommierte Geophysiker – denn so werden Hein Haak und seine Kollegen ge-
nannt, wenn sie schon nicht Seismografen sein dürfen – versuchen mit einem
Netzwerk von Empfängern, das sich über die ganzen Niederlande ausbreitet,
dieses Signal besser aufzufangen und zu analysieren: das sogenannte LOFAR-
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 53

Projekt. Aber das ist nicht ganz einfach. Denn das Signal wird andauernd von
menschlichen Aktivitäten gestört: von vorbeidonnernden Zügen, Landminen,
Tunnelbohrmaschinen, explorierenden Ölgesellschaften, marschierenden Sol-
daten und hüpfenden Prinzessinnen. Es gibt kein Land mehr ohne Äcker, keine
Nacht ohne Licht, keinen Wind mehr ohne Menschengeruch, kein Wasser ohne
Metallgeschmack – und jetzt sind sogar die Schwingungen der Erde nicht mehr
jungfräulich. Jan, Piet und Hein haben es schwer, die natürlichen Signale von
den durch Menschen verursachten zu trennen.
Manchmal wird die Zitterlinie auf dem Seismogramm von einer unerwarteten
Spitze unterbrochen. Das geschah zum Beispiel am Montag, dem 24. Mai 1999.
Vor allem in der Provinz Süd-Limburg waren es ohnehin schon unruhige Tage,
nicht durch richtige Erdbeben, sondern noch immer durch menschliche Aktivi-
tät: nicht etwa eine Tunnelbohrmaschine, sondern das Pinkpopfestival.
Das KNMI hat die von den verschiedenen Bands verursachten Ausschläge auf
dem Seismogramm sorgfältig gemessen und daraus die Magnitude jeder Schwin-
gung auf der Richterskala – benannt nach Charles F. Richter vom California In-
stitute of Technology (Caltech) – bestimmt. Ein Erdbeben, das in 100 Kilometer
Entfernung stattfindet und auf dem Seismografen eine Auslenkung von einem
Millimeter verursacht, bekommt nach seiner Definition die Magnitude 3. Die
Skala ist logarithmisch, was bedeutet, dass bei einer Zunahme um eine Magni-
tude-Einheit die Auslenkung auf dem Seismogramm zehnmal so groß ist. Ein
Erdbeben, das auf 100 Kilometer Entfernung eine Auslenkung von zehn Milli-
metern verursacht, hat also die Magnitude 4. Die Richterskala ist ein Maß für die
Energie, die bei einem Erdbeben freigesetzt wird. Ein Schritt höher in der Skala
bedeutet ungefähr 30-mal so viel Energie, zwei Schritte höher also fast 1000-mal
so viel. Die Niederlande sind, seismisch gesehen, ein ruhiges Land. Die Beben des
Pinkpop sind nur mit den sensiblen Instrumenten des KNMI zu registrieren,
Menschen spüren davon nichts. Magnitude 2 ist der niedrigste Wert, den man
spüren kann, das ist nicht mehr als die Erschütterung durch einen vorbeifahren-
den Laster. Der Norden der Niederlande war bis vor Kurzem der ruhigste Teil des
Landes. Aber 1986 gibt es auf einmal ein Erdbeben bei Assen mit einer Magni-
tude von fast 3. Das spüren die Bewohner, es entstehen Risse in den Häusern.
Das ist kein nettes kleines Rumpeln mehr. 1987 gibt es ein weiteres Beben. Ab
1991 werden es immer mehr, und in manchen Jahren sind es Dutzende, mit Ma-
gnituden bis 3,5 auf der Richterskala. Seitdem gab es etwa 300 Erdbeben. Das ist
merkwürdig. Erdbeben entstehen normalerweise dort, wo es schon Spannungen
in der Erdkruste gibt. Wie können sie da unvermittelt in einem Gebiet auftreten,
das zuvor ruhig war?
Sind womöglich neue Spannungen aufgetreten im Norden der Niederlande?
Umweltgruppen zeigen sofort vorwurfsvoll auf die Nederlandse Aardolie Maatschap-
pij, ein Joint Venture von Shell und Esso, welches das gigantische Groningen-Erd-
gasfeld ausbeutet. Dieser Gedanke liegt nahe. Das Gas steckt in den Poren von
54 DER LANGE ZYKLUS

Magnitude
1

-1
1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
Zeit

Abb. 18: Erdbeben im Norden der Niederlande seit 1986.

Sandsteinschichten. Es steht unter Druck und unterstützt so ein wenig die Sand-
körner im Gestein. Holt man das Gas heraus, so fällt der Druck ab und das Gestein
gibt etwas nach. In der Folge fällt die Erdoberfläche über dem Gasfeld zusammen
wie ein missratenes Soufflé. Natürlich kann hieraus ein Erdbeben entstehen. An-
fangs leugnet die Gasgesellschaft heftig aus Angst vor Schadenersatzforderun-
gen; aber genauere Untersuchungen durch die NAM selbst, das KNMI und das
NITG-TNO, das Niederländische Institut für Angewandte Geowissenschaften,
machen deutlich, dass es sich sehr wohl um eine Folge der Gasgewinnung handelt.
Es wäre auch ein allzu großer Zufall, dass die Erdbeben sich auf den Bereich des
Gasfeldes konzentrieren. Das jüngste Erdbeben fand statt am 24. Oktober 2004
(schade, knapp vorbei am Geburtstag – obwohl nach einigen Quellen James Ussher
die Schöpfung am 23. oder 26. Oktober beginnen ließ; ein bisschen Schummeln ist
also erlaubt). Dieses Beben hatte eine Magnitude von 3,0 mit einem Epizentrum
genau dort, wo die Bodenabsenkung am größten ist: beim Haus meiner Schwester
in Loppersum. Die Rache des Schöpfers an einer Ungläubigen?
Mit den 300 Gasbeben kann man schon ganz nette statistische Spielereien
veranstalten. Spannend wird es, wenn man in einer Grafik die Magnitude in Re-
lation setzt zur Frequenz, also der Anzahl an Beben ebendieser Magnitude pro
Jahr; umgekehrt kann man auch sprechen von der Wiederholungszeit, also dem
durchschnittlichen Zeitabstand zwischen zwei Beben derselben Stärke. Bringt
man Frequenz und Magnitude in eine logarithmische Skala, ergibt sich eine
frappante lineare Relation: je größer die Magnitude, desto seltener die Beben.
Beben der Magnitude 1 kommen mehr als zehnmal pro Jahr vor, während Beben
von 3 oder mehr nur einmal in zehn Jahren auftreten.
Was bedeutet das? Sind wir hier einer Gesetzmäßigkeit auf der Spur? Wir las-
sen uns noch etwas Zeit mit der Antwort, bis wir uns einige weitere Erdbeben
angesehen haben.
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 55

2 100

1 10

Frequenz

N
0 1

-1 0,1

Abb. 19: -2 0,01


Frequenz-Magnitude- 1 2 3 4
Diagramm von Gasbeben Magnitude
in den Niederlanden.

Es ist kurz vor vier Uhr nachts. Ich schlafe ruhig und fest oben im Mansarden-
zimmer in unserem alten Haus in Wageningen. Jedenfalls vermute ich das; erin-
nern kann ich mich nur an den Moment, als ich plötzlich hochschrecke. Das Bett
wackelt und die schweren Dachbalken knacken laut. Neben mir fährt C. aus dem
Schlaf hoch und fragt staccato: „Salle, was ist das?“ – „Ein Erdbeben“, antworte
ich, aus früheren Erfahrungen klug geworden. „Oh, ein Erdbeben“, sagt C. voll-
ständig beruhigt, dreht sich um und schläft weiter. Wenn man neben einem Geo-
logen liegt, kann einem nichts passieren, wird sie wohl gedacht haben. Aber ich
bin misstrauisch, gehe nach unten und sehe nach, ob die Kinder noch schlafen
und die Gas- und Wasserleitungen noch intakt sind. Alles ist in Ordnung, es
herrscht wieder Ruhe.
Das war das Erdbeben von Roermond am 13. April 1992, mit einer Magnitude
von 5,7 auf der Richterskala: mehr, als die Seismologen für die Niederlande für
möglich erachtet hatten. Deswegen konnten sie es nicht messen, denn die Seis-
mografen waren auf kleinste Erschütterungen abgestimmt, das Signal war gesät-
tigt; die Spitze des Bebens wurde gekappt und ließ sich in ihrer exakten Höhe
nicht feststellen. Das Beben war zu stark für holländische Maßstäbe. Mithilfe
ausländischer Stationen ließ sich die Magnitude dann doch noch ermitteln. Das
Erdbeben war in Tschechien, der Schweiz und Nord-Frankreich zu spüren.
Dieses Mal war es ein richtiges Erdbeben, nicht von Menschen verursacht, son-
dern von aufgebauten Spannungen entlang einem Bruch in der Erdkruste, der
schon sehr lange besteht und auch schon sehr lange bekannt ist, der Peelrand-
bruch. Hein Haak vom KNMI erklärte es uns am nächsten Abend im Fernsehen
genau. Er zeigte, wie die Erdkruste in Limburg auseinandergezerrt wird, wodurch
ein Teil davon stoßweise den Bruch entlang nach unten rutscht.
Doch die Bevölkerung reagierte anfänglich mit Skepsis. Ein Erdbeben – so
etwas kommt doch in den Niederlanden nicht vor. Unser kollektives Gedächtnis
hatte das etwa gleich schwere Beben von Uden 1932 schon wieder völlig verges-
56 DER LANGE ZYKLUS

Roermond
SW [Südwest] Rurtalgraben Peelrand NO [Nordost]
0

Tiefe (km)
10

Dehnung
20 Hypozentrum

Abb. 20: Der Peelrandbruch entlang dem Rurtalgraben, an dem das Erdbeben von 1992
stattfand. Der „Strandball“ stellt den Erdbebenherd dar. Die Pfeile bedeuten, dass es sich
um Dehnungsbrüche handelt.

sen. Der Moderator eines Radioprogramms sagte in jener Nacht, als das Studio
zu beben begann: „Ministerin Dales ist aus ihrem Bett gefallen.“ Dales war die
damalige, recht korpulente Innenministerin. Kein Politiker hielt es am nächsten
Tag für nötig, sich in Roermond blicken zu lassen. Es waren schließlich keine
Toten zu beklagen und die Gasgewinnung konnte nicht dafür verantwortlich
gemacht werden. Mit einem natürlichen Erdbeben kann man sich nicht profilie-
ren, das Ganze war doch wohl eher ein Trick der Wissenschaftler, mehr Geld für
ihre Forschung zu bekommen. Erst als sie erfuhren, dass die Schäden auf 300
Millionen Gulden geschätzt wurden, erwachte ihr Interesse: Das ist ein Betrag,
für den ein Politiker aus dem Bett kommt, mit oder ohne Beben.
Die Provinz Süd-Limburg und ihre Umgebung hat eine lange Geschichte von
Erdbeben, und ebenso wie die Gasbeben kann man auch diese in einem Fre-

10 Historische und
gemessene Erdbeben
Frequenz (Anzahl pro Jahr)

0,1
-2
10
-3
10
Bree-Bruchrand
-4
10
-5
10
-6
10
2 3 4 5 6 7
Magnitude Ms

Abb. 21: Frequenz-Magnitude-Diagramm historischer und gemessener Erdbeben in


Limburg: je schwerer, desto seltener. Das Kästchen bei Bree: rekonstruiertes Erdbeben aus
paläoseismischen Daten.
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 57

quenz-Magnitude-Diagramm darstellen. Das Ergebnis ist verblüffend ähnlich.


Nur erreichen die Magnituden höhere Werte und niedrigere Frequenzen, aber
das Prinzip bleibt gleich. Wir werden das später noch einmal vertiefen.

Es ist vier Uhr nachmittags. Die Wärme setzt mir zu. Es gibt keine Klimaanlage in
dieser alten deutschen Hazienda, in der heute das CATIE, das Centro Agronómico
Tropical de Investigación y Enseñanza, untergebracht ist. Und Turrialba liegt auf
nur rund 600 Meter in den Zentralen Kordilleren Costa Ricas, nicht hoch genug
für einen kühlenden Wind. Wir tagen in einem der kleineren Räume auf der Rück-
seite des Gebäudes. Es ist mühsam, die Gedanken auf die costa-ricanisch-nieder-
ländische Zusammenarbeit zu konzentrieren, eigentlich ist es Zeit für eine Siesta.
Dann plötzlich bebt und zittert alles, eine von uns bekommt einen Bücherschrank
auf ihre Schulter, ein anderer springt aus dem Fenster, und ich mache genau das,
was man nicht machen sollte bei einem Erdbeben: Ich renne aus der Tür, den
langen rot gefliesten Gang entlang, und bevor ich die rettende Außentür erreiche,
fällt mir der Stuck auf den Kopf. Zum Glück nur wenig, ich bin nicht verletzt.
Draußen auf dem Parkplatz schaukeln die Autos, als befänden sie sich auf dem
Meer, und eine große Staubwolke entzieht die anderen Gebäude dem Blick. Ein
Abschnitt des hohen Ufers, auf dem das Institut liegt, ist in den Fluss gestürzt. Ein
Schornstein hätte um ein Haar jemanden erschlagen. Das Gebäude zeigt einige
Risse, aber es ist nichts eingestürzt. Alle kommen heraus, niemand denkt mehr
ans Arbeiten, die costa-ricanisch-niederländische Zusammenarbeit ist kurzfristig
vergessen. Es folgen Nachbeben, den ganzen Nachmittag lang und noch abends,
als ich schon im Bett liege. Ich höre sie von Ferne anrollen. Die Wellblechdächer
der Häuser etwas weiter weg beginnen zu klappern, das Geräusch nähert sich
immer mehr, bis das meines Hotels selbst an der Reihe ist und ich in meinem Bett
hin- und hergeschüttelt werde. Dann ebbt das Geklapper wieder ab, bis es auf der
anderen Seite in der Ferne verschwindet. Nie zuvor habe ich so deutlich gespürt,
was eine Erdbebenwelle ist.
Erst am nächsten Morgen wird der Umfang des Bebens deutlich. In der Hafen-
stadt Limón, nahe dem Epizentrum, hat es 54 Tote gegeben, über 100 Verwun-
dete und mehr als 7000 Menschen wurden obdachlos. Bei einer Magnitude von
7,4 auf der Richterskala hätte es leicht noch schlimmer kommen können.
Der Bodenkundler André Nieuwenhuijse aus Wageningen, der den Einfluss
des costa-ricanischen Vulkanismus auf die Bodenfruchtbarkeit untersucht,
chartert am Morgen mit einigen Freunden ein kleines Flugzeug, um den Scha-
den zu begutachten. Was sie zu sehen bekommen, ist außergewöhnlich. Die
Südostseite des Landes ist bei diesem Beben mit einem Schlag anderthalb
Meter angehoben worden. Korallen sind trockengefallen, Fische liegen auf dem
Strand und die Mangroven fragen sich verwundert, wo das Wasser rund um
ihre Luftwurzeln so plötzlich abgeblieben ist. Der Ölhafen von Moín ist untief
geworden; in der Kanalisation von Limón kehrt sich die Strömung um: nicht
58 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 22: Anderthalb Meter


Meeresspiegelanstieg in einer
Sekunde, Boca Matina, Costa Rica.

mehr Richtung Meer, sondern zurück in die Häuser. Im Hinterland, der Cor-
dillera de Talamanca, haben Erdrutsche den tropischen Regenwald von den
Hängen gestreift; noch Monate später sind Strand und Flüsse voller gesplit-
terter Baumstämme.
Noch schlimmer ist die Situation im Küstenort Boca Matina 100 Kilometer
weiter nördlich, der durch das Beben um anderthalb Meter abgesunken ist. Das
Wasser steht in den baufälligen Fischerhütten und wird nie mehr weichen – der
schnellste Meerespiegelanstieg aller Zeiten, anderthalb Meter in einer Sekunde.
Das Erdbeben machte auch einen Strich durch die Rechnung der Ingenieure
vom Instituto Costarricense de Electricidad, die einen Staudamm planten im Río
Pacuare, nicht weit von Limón entfernt. Sie hatten ausgedehnte Voruntersu-
chungen erledigt, alte Brüche ausgegraben und sie auf rezente Verwerfungen hin
untersucht und waren zu dem Schluss gekommen, alles sei sicher. Aber das Erd-
beben hat ihnen die Suppe versalzen. Die Pläne wurden auf Eis gelegt, zur großen
Freude der Umweltbewegung und der Ökotouristen, denn der Río Pacuare gilt
als eines der fünf besten Rafting-Gewässer der Welt.
Das Erdbeben von Limón vom 22. April 1991 war von Honduras bis Panama
zu spüren, und es war weltweit das stärkste dieses Jahres. Aber es war an und für
sich durchaus nicht ungewöhnlich. Selbst die Anhebung der Küste war nichts
Besonderes: Darwin hatte am 20. Februar 1835 schließlich dasselbe mitgemacht
bei Concepción an der chilenischen Küste.

Abb. 23: Rezente Erdbeben weltweit.


DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 59

Die Erdbeben von Limón und Concepción zeigen dasselbe Muster im Hin-
blick auf die geografische Lage, die Tiefe des Herdes und den Platz im Frequenz-
Magnitude-Diagramm. Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, dass sie zu einem glo-
balen Erdbebengürtel rund um den Pazifischen Ozean gehören; und das hat mit
der Plattentektonik zu tun.
Die Plattentektonik bildet seit etwa vierzig Jahren das Gerüst für das Verständ-
nis der großräumigen Prozesse, die an der Erdoberfläche stattfinden. Die Litho-
sphäre, wie man die äußeren 100 Kilometer der Erdkugel nennt, ist aufgebaut
aus Platten, welche sich relativ zueinander bewegen. Dort, wo sie auseinander-
streben, entlang der Mittelozeanischen Rücken, steigt basaltisches Magma auf
und bildet neue Erdkruste, so in Island. Dort entstehen zwar Erdbeben, aber in
nicht sehr großer Tiefe und nicht besonders heftig. Das Erdbeben von Süd-Lim-
burg gehörte zu diesem Typus.
Bewegen sich die lithosphärischen Platten aufeinander zu, so wird eine unter
die andere gedrückt und es entstehen Erdbeben wie diejenigen in Limón und
Concepción und überall rund um den Pazifik sowie im Alpen-Himalaya-Gürtel.
Die unterschiebende Platte kann bis in eine Tiefe von 700 Kilometer Erdbeben
verursachen. In noch größerer Tiefe heizt sich die abtauchende Kruste so sehr auf,
dass sie plastisch wird und nicht mehr brechen kann. Da der Erdball nicht größer
werden kann, muss genauso viel Kruste entlang dieser Subduktionszonen ver-
schwinden, wie an den Mittelozeanischen Rücken neu gebildet wird. Ein dritter
Typus von Erdbeben entsteht an Stellen, wo Platten sich horizontal aneinander
entlang bewegen, wie zum Beispiel am San-Andreas-Bruch in Kalifornien.
Dieses Modell unterscheidet sich erheblich von den Ideen Huttons, Lyells und
Darwins, die wir im vorigen Kapitel kennengelernt haben. Einer der großen

Mittelatlantischer Rücken

a cher Ozean
rik Atlantis
a me Af
S üd ri ka
Tiefsee-
graben Lithosphäre Asthenosphäre
Mantel
an
e
Ozr
Stille

Kern

Abb. 24: Plattentektonik: Neue Kruste entsteht in der Spreizungszone mitten im Atlantik, und
alte Kruste taucht ab in den Subduktionszonen an der Westküste Südamerikas.
60 DER LANGE ZYKLUS

Eurasiatische Nord- Eurasiatische


1.8
Platte 5.4 amerikanische Platte
Platte 2.3
7.9 6.9
5.5
3.0
2.0
Pazifische 11.7
2.0 2.5
10.5 Platte
4.0 17.2 3.8 Afrikanische
7.0 10.1 Süd-
6.2 Indisch- Platte
Nazca- amerikanische
Australische
Platte 7.1
platte 11.1 Platte
18.3 4.1
?.4
3.7 10.3 1.7
7.3 7.7 3.3
7.2 5.7 1.3
Antarktische Platte

Abb. 25: Die wichtigsten Lithosphären-Platten und ihre Bewegungsgeschwindigkeiten in


Zentimeter pro Jahr.

Durchbrüche, die zu dem neuen Modell führten, ist dem vertikalen Muster zu
verdanken, das viele Erdbebenzonen zeigen. K. Wadati und H. Benioff entdeck-
ten, dass Erdbebenherde umso tiefer liegen, je weiter sie von der Küste entfernt
sind. Aufgrund dessen nahmen sie an, dass Erdbeben verursacht werden durch
die Reibung, die auftritt, wenn eine Platte sich unter eine andere schiebt. Die re-
lativ schwere unterschiebende Platte trägt auch durch ihr eigenes Gewicht zu
diesem Prozess bei.
In einem Querschnitt Mittelamerikas auf der Höhe von Costa Rica ist zu
sehen, was genau in solch einer Subduktionszone passiert. Die ozeanische Kruste
der Cocosplatte schiebt sich mit einer Geschwindigkeit von acht Zentimetern
jährlich ostwärts unter die karibische Platte, die sich ihrerseits mit einer Ge-
schwindigkeit von einem Zentimeter pro Jahr westwärts bewegt. Alles, was sich
dazwischen befindet, wird zusammengepresst. Die meisten Erdbeben finden an
der Unterschiebungsfläche statt. Darüber wird die Erdkruste von zahllosen Brü-
chen durchschnitten, zusammengepresst und angehoben. Die Brüche zeigen
eine typische Blumenstruktur, mit ostwärts geneigten Brüchen im Westen und
westwärts geneigten Brüchen im Osten.
Es ist, als versuchte Costa Rica, dem Schraubstock, der es zusammenpresst,
nach oben und nach unten zu entkommen. Die tiefsten Teile der unterschie-
benden Kruste und ein Teil der Sedimente werden so erhitzt, dass sie schmelzen,
und es entsteht Magma, das durch die Kruste aufsteigt und Vulkanismus verur-
sacht, hier die große Kette costa-ricanischer Vulkane: Turrialba, Irazú, Poás und
viele andere. Das Magma ist also nicht die Ursache für die Gebirgsbildung, wie
Hutton, Lyell und Darwin meinten, sondern im Gegenteil deren Folge. Wir wer-
den das im nächsten Kapitel noch einmal aufgreifen.
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 61

Pazifischer Ozean Golf von Nicoya Karibische See


± SW [Südwest] Nicoya- Limón- ± NO [Nordost]
Halbinsel Überschiebung

8 cm/Jahr 1 cm/Jahr

Erdbebenherd

Abb. 26: Querschnitt durch die Zentrale Kordillere von Costa Rica; die Sterne bezeichnen
Erdbebenherde entlang der Subduktionszone. Das Limón-Beben rechts in der Grafik ist ein
abgeleitetes Erdbeben.

Noch ein Datum: 26. Mai 2004. Ich stehe auf der Westspitze Javas. lch bin auf
den weißen eisernen Leuchtturm gestiegen und blicke über das Meer. In der
Ferne liegt Krakatau, dunkle, spitze Inseln am Horizont. An dieser Stelle lässt
Simon Winchester sein Buch Krakatau über die Eruption von 1883 beginnen. Am
Fuß des Leuchtturms befindet sich, halb im Wasser, ein mächtiger runder Back-
steinsockel. Große Backsteintrümmer rollen in der Brandung hin und her. Es
sind die Überbleibsel des vorigen Leuchtturms, der während der Eruption ver-
wüstet wurde. Nicht von der Eruption selbst, sondern von dem Tsunami, der ihr
folgte und 34 000 Menschen das Leben kostete.
Hinter Krakatau muss Sumatra liegen, aber ich kann es nicht sehen. Dort
wurde mein Vater 1918 geboren. Ganz im Norden der Insel, in Kota Radja, das
heute Banda Atjeh heißt. Ich bin nie dort gewesen.
Banda Atjeh gibt es nun nicht mehr. Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 hat
es dem Erdboden gleichgemacht und von der Landkarte gefegt. Noch nie muss-
ten diese Worte so buchstäblich verstanden werden. Wenn eine Armee eine Stadt
von der Landkarte fegt, bleiben Ruinen übrig. Aber das Erdbeben dieses zweiten
Weihnachtstags hat gründlichere Arbeit geleistet. Zuerst hat es alle Häuser ein-
stürzen lassen, danach hat die Flutwelle sämtliche Trümmer ordentlich ins Meer
gespült. Von der Stadt existiert nur noch ein schlammiger Grundriss. Die Video-
bilder, die Satellitenaufnahmen, die Fotos in der Zeitung – sie haben sich derart
in meine Netzhaut gebrannt, dass ich nicht darüber schreiben kann. Der tote
Körper eines dicken Touristen, zusammen mit Hunderten von anderen auf den
Strand, an die Flutlinie geworfen. Er liegt auf dem Bauch, zur Hälfte begraben im
sauberen, gelben Sand. Man sieht sein Gemächt zwischen den halb geöffneten
Beinen, die Brandung spült darüber hinweg. Menschliches Treibgut. Auch dieser
Ausdruck war noch nie so buchstäblich zutreffend. Ich mag nicht weiter darüber
schreiben, die Bilder sind noch zu frisch.
62 DER LANGE ZYKLUS

3
10

Frequenz (Anzahl pro Jahr)


2
10

10

0,1

-2
10
5 6 7 8
Magnitude (m)

Abb. 27: Frequenz-Magnitude-Diagramm aller Erdbeben der Welt mit M>5 in der Zeit
von 1977 bis 1989. Die gestrichelte Linie gibt die berechnete Verteilung mit der fraktalen
Dimension 2,22 an.

Wo genau ist mein Vater geboren? Und meine Tante, ein Jahr vor ihm? Was
machte mein Großvater als Armeearzt in Atjeh? Ich habe mich das nie zuvor ge-
fragt. Dort, in dieser nassen Fläche, wo die Stadt einmal gelegen hat, brauche ich
jedenfalls nicht mehr zu suchen.

Das Erdbeben von Sumatra am zweiten Weihnachtstag 2004 war mit einer Ma-
gnitude von 9,0 auf der Richterskala und mehr als 200 000 Todesopfern eine der
größten Katastrophen der Geschichte. Aber natürlich nicht für die Seismologen,
denn die leben von Erdbeben und sind dankbar für jeden weiteren Punkt, den sie
dem Frequenz-Magnitude-Diagramm hinzufügen dürfen. Denn auch für diese
großen Erdbeben stimmt die Relation: je größer die Magnitude, desto seltener das
Ereignis. Ein Erdbeben mit der Stärke desjenigen von Sumatra kommt etwa alle
230 Jahre vor. Auch wenn man alle Erdbeben weltweit zusammenschreibt, stimmt
sie noch. Diese Relation wurde 1954 erstmals festgestellt von Beno Gutenberg
und ebendem Charles F. Richter der gleichnamigen Skala. Man spricht daher
auch von der Gutenberg-Richter-Relation. Lediglich die Neigung der Linie kann
variieren, je nach der geologischen Struktur des Untersuchungsgebietes. Mit wel-
chen Zahlen wir es zu tun haben, ist aus der folgenden Tabelle ersichtlich.
Hier also liegt ein Teil der Antwort auf die Diskussion zwischen den Aktualis-
ten und den Katastrophisten, die wir im vorigen Kapitel betrachtet haben. Dieje-
nigen, welche auch die Beobachtung der Intensität aktueller Prozesse forderten,
hatten recht. Kleinräumige Impulse geringer Magnitude sind alltäglich und rüh-
ren also von aktualistischen Prozessen im Sinne von Lyell her. Ereignisse großer
Magnitude sind selten und erscheinen daher katastrophisch. Manchmal reicht
ein Menschenleben nicht aus, um auch nur ein einziges zu erleben. Eigentlich
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 63

Magnitude durchschnittl. Anzahl pro Jahr


8 und höher 1
7 – 7,9 18
6 – 6,9 120
5 – 5,9 800
4 – 4,9 6200 (geschätzt)
3 – 3,9 49 000 (geschätzt)
unter 3 M = 2–3: 1000 / Tag
M = 1–2: 8000 / Tag

gibt es also keinen wirklichen Gegensatz in den beiden Auffassungen; damals


wusste man nur noch nicht, dass Erdbeben und andere natürliche Prozesse in so
vielen verschiedenen Größenordnungen auftreten können. Darüber hinaus wird
der Blickwinkel des Menschen bezüglich dessen, was eine Katastrophe ist, durch
die persönliche Erfahrung verzerrt. Für die Bewohner Groningens ist ein Erdbe-
ben der Stärke 3 ein beunruhigendes Erlebnis; für die Menschen in Costa Rica ist
es eine fast alltägliche kleine Abwechslung, mit der man vertraut ist. Lieber jeden
Tag ein kleines als einmal im Jahr ein ganz großes, sagt man dort. Und wenn man
sich an die Tiefe der geologischen Zeiträume gewöhnt hat, dann werden auch die
großen Katastrophen zu einem normalen Bestandteil des Funktionierens der
Erde.

Die Gutenberg-Richter-Grafik und die Tabelle werfen sofort einige weitere Fra-
gen auf: Welches sind die stärksten Erdbeben, die wir kennen? Sind in Zukunft
noch stärkere zu erwarten? Wie setzt sich die Grafik nach unten fort? Und vor
allem: Was bedeutet die Frequenz-Magnitude-Relation? Können wir mit ihr Erd-
beben vorhersagen?
Die größten uns bekannten Erdbeben sind in der nächsten Tabelle (S. 64) auf-
gelistet. Jedes hat seine eigene Geschichte mit Tausenden und Hunderttausen-
den von Toten – nicht sosehr durch das Beben selbst, sondern vielmehr durch die
Begleiterscheinungen: Erdrutsche, Flutwellen, einstürzende Gebäude. Die Ma-
gnitude des stärksten Erdbebens, Chile 1960, beträgt 9,5 (in älteren Veröffentli-
chungen wird noch 8,3 angegeben, aber der Wert wurde später neu berechnet; die
neue Berechnungsweise trägt die Bezeichnung MW). Darüber hinaus tritt bei sehr
starken Erdbeben derselbe Effekt auf, den wir auch schon in Roermond gesehen
haben: Das Signal ist gesättigt und die exakte Magnitude bleibt unbekannt. Sol-
che Erdbeben übersteigen das menschliche Maß.
Das ist auch schon die Antwort auf die nächsten Fragen: Die Gutenberg-Rich-
ter-Kurve kann theoretisch endlos so weitergehen, hin zu noch stärkeren Erdbe-
64 DER LANGE ZYKLUS

Land Datum Magnitude Breite Länge


MW
Chile 22.05.1960 9,5 38.2 S 72.6 W
Alaska 18.03.1964 9,2 61.1 N 147.5 W
Alaska 09.03.1957 9,1 51.56 N 175.39 W
Kamtschatka 04.11.1952 9,0 52.7 N 159.5 O
W.-Sumatra 26.12.2004 9,0 3.3 N 95.78 O
Ecuador 31.01.1906 8,8 1.0 N 81.5 W
Alaska 09.03.1957 8,8 51.3 N 175.8 W
Kurilen 06.11.1958 8,7 44.4 N 148.6 O
Alaska 04.02.1965 8,7 51.3 N 178.6 O
Indien 15.08.1950 8,6 28.5 N 96.5 O
Argentinien 11.11.1922 8,5 28.5 S 70.0 W
Indonesien 01.02.1938 8,5 5.2 S 130.5 O

ben, die noch seltener auftreten. Es handelt sich also nicht um eine Skala von 1
bis 10 wie die Härteskala der Mineralien. Der Einschlag des Meteoriten, der vor
65 Millionen Jahren das Aussterben der Dinosaurier verursachte, könnte Berech-
nungen zufolge einen Wert von 11 oder 12 auf der Richterskala gehabt haben.
Die einzige Grenze für ein natürliches Erdbeben ist die maximale Energie, die in
einer Lithosphärenplatte eingeschlossen sein kann, sowie die maximale Span-
nung, die ein Gestein aushält, bevor es bricht; aber das sind Begrenzungen der
Erde und nicht solche der Kurve.
Um zu berechnen, wie groß die Chance auf solch ein seltenes Mega-Erdbeben
ist, braucht man Daten über frühere Beben derselben Stärke. Aber die gibt es
nicht. Die Messungen von Erdbeben-Magnituden begannen vor nicht einmal
hundert Jahren. Von älteren Beben gibt es zwar Augenzeugenberichte, aber keine
Magnitudenmessungen. Noch ältere Erdbeben lassen sich rekonstruieren, indem
man alte Bruchlinien ausgräbt, die Magnitude ableitet aus der Verschiebung ent-
lang dem Bruch und das Alter der Bewegung mit C-14 oder anderen Methoden
datiert. Dies hat sich zu einem ganz neuen Zweig der Wissenschaft entwickelt,
der Paläoseismologie. So hat man für Süd-Limburg und Umgebung berechnet,
dass ein Erdbeben der Stärke 6,5 im Durchschnitt einmal in 5000−15 000 Jahren
auftreten kann (siehe Punkt Bree in Abbildung 21, S. 56). Korallen vor der West-
küste von Sumatra zeigen, dass sie im Mittel alle 230 Jahre gestört werden durch
Erdbeben wie das von Banda Atjeh.
Aber einige Erdbeben, so auch das von Limón 1991, hinterlassen überhaupt
keine erkennbaren Bruchlinien an der Oberfläche. Auch treten manchmal Erd-
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 65

beben auf in Gebieten, die gar nicht als seismisch aktiv bekannt sind. In solchen
Fällen kann die Paläoseismologie natürlich nicht viel ausrichten.
Ob es Mega-Erdbeben der Richter-Magnitude 10 oder höher, mit einer Häu-
figkeit von einmal pro tausend oder gar zehntausend Jahren, tatsächlich gibt,
wissen wir nicht. Möglicherweise sind sie so selten, dass sie in der kurzen Ge-
schichte der Menschheit noch nicht vorgekommen sind. Zwar gab es Vulkanaus-
brüche, die das menschliche Maß bei Weitem übertreffen. Aber die hinterließen
Explosionskrater und vulkanische Ascheschichten, die man datieren kann, wie
wir im folgenden Kapitel sehen werden. Doch das Ausmaß von Erdbeben in der
geologischen Vergangenheit ist viel schwieriger festzustellen. Wir können also
auch mit unserer heutigen Kenntnis nicht sagen, ob wir vor dem Jahr 10 000
noch ein solches Mega-Erdbeben zu erwarten haben. Wenn es auftritt, dann
wahrscheinlich in einer der Subduktionszonen, denn dort treten die größten
Spannungen auf. Auch jetzt schon sind die mit Abstand meisten großen Erdbe-
ben an die Subduktionszonen gebunden.
Eine interessante Frage ist: Was bedeutet die Gutenberg-Richter-Verteilung
eigentlich? Warum die logarithmische Einteilung? Donald L. Turcotte von der
Cornell University drückt es einfach aus in seinem Buch Fractals and chaos in geo-
logy and geophysics. Es sind zwei Extreme möglich. Das eine Extrem: Jeder Bruch
hat seine eigene Erdbeben-Magnitude; kleine Brüche ergeben viele kleine Erdbe-
ben, große Brüche ergeben starke Erdbeben; die großen benötigen viel Zeit, um
die erforderliche Spannung aufzubauen, und sind folglich selten. Das andere
Extrem: Jeder Bruch kann ungeachtet seiner Größe Erdbeben jeglicher Stärke
verursachen. Turcotte liefert auch Argumente dafür, dass die erste Variante die
wahrscheinlichere ist. Rund um den großen San-Andreas-Bruch in Kalifornien
weisen Gebiete mit Brüchen verschiedenster Größe eine viel größere Streuung
der Magnituden auf als Gebiete mit ausschließlich großen Brüchen.
Noch weit interessanter ist, dass die Gutenberg-Richter-Relation nicht nur bei
Erdbeben funktioniert, sondern auch bei vielerlei anderen Naturphänomenen.
Diese Erkenntnis geht zurück auf den polnisch-amerikanischen Mathematiker
Benoit Mandelbrot, der den Begriff fractal einführte, abgeleitet aus fractional di-
mension. Ein Punkt hat null Dimensionen, eine Linie eine, eine Fläche zwei, ein
Kubus drei. Null, eins, zwei und drei sind die euklidischen Dimensionen, die
immer in ganzen Zahlen ausgedrückt werden. Fraktale Dimensionen haben eine
Dimensionszahl, die irgendwo dazwischen liegt. Das berühmteste Beispiel von
Mandelbrot ist dargestellt in seinem Artikel „How long is the coast of Britain?“
von 1967. Wenn man eine Weltkarte und ein Lineal zur Hand nimmt und damit
den Umfang von Großbritannien misst, erhält man einen bestimmten Wert.
Aber zieht man eine Karte zurate, auf der nur Großbritannien wiedergegeben ist,
so ist die Küstenlinie dort viel detaillierter dargestellt; und misst man nun diese
mit dem Lineal ab, wird man einen viel größeren Wert erhalten. Nimmt man
statt der Generalkarte viele Detailkarten größeren Maßstabs, so steigt der Wert
66 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 28: Die Länge der Küstenlinie ist abhängig vom Maß, mit dem man misst.

weiter an. Oder man verwendet eine Luftaufnahme und vermeidet damit die Ge-
neralisierungen, die die Kartografen notwendigerweise eingeführt haben. Wem
all das noch nicht genau genug ist, der kann selbst mit dem Lineal um die Insel
laufen und erhält dann garantiert einen noch höheren Wert. Und wenn man
schließlich eine Schnecke engagiert, dann wird sie jedes Kieselsteinchen, jedes
feuchte Sandkorn nachmessen müssen, und man wird einen Wert erhalten, den
man nicht für möglich hielt, als man mit der Weltkarte anfing. Kurz: Hinter
jedem Detail steckt wiederum ein feineres Detail.
Wir sagen: Die Küstenlinie hat fraktale Dimensionen. Setzen wir nun all un-
sere Küstenlängen in einer logarithmischen Grafik in Beziehung zu der Anzahl
der Kartenblätter, Luftaufnahmen oder Feldquadranten, die wir für jede Wahr-
nehmung herangezogen haben, dann sehen wir, dass alle Punkte auf einer Gera-
den liegen. Der Neigungswinkel dieser Linie bildet die fraktale Dimension ab,
meist keine ganze Zahl, sondern eine fraction, einen Bruch, zwischen 1 und 2.
Und weil auf jedem Maßstabsniveau das Muster dasselbe zu sein scheint, spricht
man von self-similarity: Es ist maßstabs-unabhängige Variabilität.
Man kann es sich auch vorstellen, wenn man mitten auf den Seiten eines gleich-
seitigen Dreiecks jeweils ein kleines Dreieck mit einem Drittel der Seitenlänge
platziert und diesen Prozess unendlich oft wiederholt. Das ist Kochs Dreieck, und
es führt zu einer Figur, die mit derjenigen von Switotschs Betrachtungsweise der
Kaspischen Meeresspiegelschwankungen vergleichbar ist (s. Abb. 13, S. 33).

Mandelbrot beschäftigte sich vor allem mit den geometrischen Aspekten von Frak-
talen, aber die Gutenberg-Richter-Relation lässt erkennen, dass das Prinzip ebenso
gut in Bezug auf die Zeit zutrifft. Eine Achse der Grafik stellt einen Zeitbegriff
dar, meist die Frequenz, also die Häufigkeit der Ereignisse pro Zeiteinheit –
pro Jahr oder pro Sekunde –, die andere zeigt die Magnitude des Ereignisses.
Der Neigungswinkel der Linie in der folgenden Grafik ist wiederum die fraktale
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 67

1 2 3 4

0,4

0,3
log (1 (s))

0,2

0,1

0
-2 -1 0

log (s)

Abb. 29: Kochs Dreieck und seine fraktale Dimension. Der Neigungswinkel ist 0,26.
http://pmassio.altervista.org/koch.gif

Dimension. Und das funktioniert nicht nur bei Erdbeben, sondern auch bei Erd-
rutschen, Sonnenflecken und Sedimentationsgeschwindigkeiten. Selbst die Bör-
senkurse, die Größenverteilung von Städten und die Wortfrequenz der eng-
lischen Sprache zeigen fraktales Verhalten.

Der dänisch-amerikanische Physiker Per Bak war der Erste, der herauszufinden
versuchte, warum das so ist. In seinem Buch mit dem pompösen Titel How nature
works (1996) erklärt er es anhand des Sandhaufenmodells. Lässt man auf einer
ebenen Fläche immer mehr Sandkörner an ein und derselben Stelle niederrieseln
wie auf den Boden eines Stundenglases, so erhält man nach einer Weile einen
kegelförmigen Haufen, der schließlich den maximalen Ruhewinkel locker gesta-
pelten Sandes von 34° erreicht. Zu einem bestimmten Moment sind die Körn-
chen des Sandhaufens so gestapelt, dass, fügt man nur noch ein einziges Körn-
chen hinzu, die Böschung instabil wird. Der Sandhaufen ist nun, nach Baks Ter-
minologie, kritisch geworden, ein Attribut, das zu Unrecht an einen kritisch
gewordenen Kernreaktor denken lässt. Das letzte Sandkörnchen, das zu viel ist,
bringt eines der ruhenden Körnchen des Haufens in Bewegung, dieses wiederum
ein anderes, und letztlich entsteht eine Lawine von Sandkörnchen, bis der Hau-
fen wieder zur Ruhe kommt. In Baks Computermodell des Sandhaufens haben
die Lawinen ebenfalls eine fraktale Verteilung, es gibt viele kleine und eine ein-
zige große. Bak nennt dies self-organized criticality (SOC), denn es ist der Sandhau-
68 DER LANGE ZYKLUS

0,01

-4
10

-6

Frequenz
10

-8
10
L = 50
-10
10
L = 100 L = 200
-12
10 3 4 5 6
1 10 100 10 10 10 10
Magnitude (Größe der Lawine)

Abb. 30: Das Frequenz-Magnitude-Diagramm gibt die Wahrscheinlichkeit von


Sandlawinen an für Sandhaufen unterschiedlicher Größe (L = 50, 100, 200); je größer
die Lawine (horizontale Achse), desto geringer die Wahrscheinlichkeit (vertikale Achse).
http://www.ffn.ub.es

fen selbst, der bestimmt, in welcher Weise er auf den kritischen Moment reagie-
ren wird. Keinerlei Einfluss von außen hat den Sandhaufen dazu gebracht, eine
fraktale Verteilung der Sandlawinen hervorzubringen. Es ist eine immanente Ei-
genschaft des Sandhaufens, und, nach Bak, von komplexen Systemen im Allge-
meinen. Er kehrt die Argumentation nun auch um: Jede fraktale Verteilung in-
nerhalb und außerhalb natürlicher Prozesse sieht er als einen Beweis an für die
self-organized criticality des Systems – auch bei Börsenkursen, Sonnenflecken und
Erdbeben. Er ist der Erste, der die Intensität von Prozessen als Ausgangspunkt
nimmt, um das Funktionieren der Natur zu erklären. Und er bügelt in seinem
Buch virtuos alle nieder, die ihm nicht glauben.
Es gibt in der Tat viele, die ihm nicht glauben. In erster Linie die Seismologen
selbst. Denn ein Kontinent ist nun mal kein Sandhaufen, und ein Erdbeben ist
keine Sandlawine. Die meisten Beben entstehen an Brüchen, die schon sehr lange
existieren und eine komplexe Geschichte hinter sich haben, sowohl die kleinen
als auch die großen. Der Ort, an dem das Erdbeben stattfindet, wird also nicht
erst im Moment des Erreichens einer criticality bestimmt – wenn man von einer
solchen überhaupt sprechen will –, sondern steht schon lange vorher fest.
Die Tatsache, dass die Gutenberg-Richter-Verteilung bei Erdbeben zutrifft,
bedeutet nach Baks Ansicht auch, dass die Erdkruste als Ganzes sich in einem
kritischen Zustand befindet. Die Gasbeben, die wir oben betrachtet haben, sind
ein Beweis dafür. Wenn eine nur geringe Störung wie die Entnahme von Gas
ausreicht, ein Erdbeben zu verursachen, dann muss die Erdkruste ja wohl insge-
samt in einem Zustand maximaler Spannung, also kritisch sein. Aber auch das
geht zahlreichen Geophysikern viel zu weit, wie einer bissigen Diskussion über
DIE SKALA VON RICHTER UND DER SAND VON BAK 69

die Vorhersagbarkeit von Erdbeben in Nature 1999 zu entnehmen ist. Immer


schön weiterlauschen mit dem Ohr am Boden, mein lieber Hein!
Die Seehöhenschwankungen des Kaspischen Meeres scheinen ebenfalls frak-
talen Charakter aufzuweisen, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, aber hier ist die
Ursache der Schwankungen für jedes Maßstabsniveau unterschiedlich. Das ist
kaum in Einklang zu bringen mit einem kritisch gewordenen Kaspischen Meer
oder einem kritisch gewordenen hydrologischen Kreislauf. Auch die Ursachen
des launischen Verlaufs der britischen Küste sind auf jedem Maßstabsniveau un-
terschiedlich.
Der Sandhaufen von Baks Computermodell ist eigentlich auch kein richtiger
Sandhaufen, sondern ein Stapel kleiner Würfel. Zwischen Würfeln gibt es keine
Luft, in einem Haufen unregelmäßig geformter Sandkörner sehr wohl. Das Ex-
perimentieren mit echten Sandhaufen hat Bak, zurückgezogen in seinem Elfen-
beinturm des theoretischen Physikers, anderen überlassen. Wer aber mit echten
Sandhaufen arbeitete, der fand keine schöne fraktale Verteilung der Lawinen.
Bak schiebt das auf die Trägheit der Sandkörner, aber ich meine, das stimmt
nicht. Wer schon einmal selbst in einem echten Sandhaufen gespielt hat, weiß:
Eine Sandlawine entsteht nicht dadurch, dass lose Sandkörner die Bewegung
aufeinander übertragen; vielmehr verschieben sich ganze Sandmassen in dem
Haufen entlang von Schwächezonen, die im kritischen Moment durch das letzte
Sandkörnchen plötzlich sichtbar gemacht werden. Das Sandhaufenmodell ist
also bei Weitem nicht ideal. Und letztendlich erklärt es auch nicht den Grund für
die fraktale Verteilung von Sandlawinen. Oder von Erdbeben.
5 Das kollektive Gedächtnis

„El volcán. Siempre ahí. Y no nos fijábamos en él.“


„Der Vulkan. Er war immer da. Und wir haben ihn nicht beachtet.“
Germán Santamaría, No morirás, Bogotá, 1992

Es ist der 22. Oktober 2002. Auf der Titelseite der heutigen Zeitung ist ein Satel-
litenbild des Mittelmeeres abgebildet, auf dem der Ätna eine graubraune Erupti-
onssäule wie einen warnenden Finger in den Himmel emporstreckt. Das reizt
mich. Wir machen Pläne für Silvester. Ich möchte eigentlich beim Jahreswechsel
endlich mal ein richtiges Feuerwerk sehen, keine Konserve. Also auf zum Ätna.
Gefährlich? Wir werden sehen.
Ab Taormina fahre ich an der Ostseite des Vulkans entlang nach Linguaglossa.
Von dort soll, nach meiner Karte von 2001, in südwestlicher Richtung eine Straße
voller Haarnadelkurven bis fast an den Gipfel des Vulkans führen. Überall gibt
es Spuren von rezenter Aktivität. Die Straße ist voller schwarzer vulkanischer
Asche: Sabbia vulcanica sulla strada steht auf den Schildern, vulkanischer Sand auf
der Straße. Nach zehn Haarnadelkurven stoße ich auf einen Stau; bis hinter der
nächsten Kurve stehen die Autos, weiter kann ich nicht sehen. Es bewegt sich
nichts. Ich parke den Wagen neben der Straße und marschiere los. Zwei Kurven
weiter sehe ich, was passiert ist. Ein drohender Wall aus dampfender, schwarzer
Lava, zehn Meter hoch, versperrt die Straße. Vor 14 Tagen ist sie ausgeströmt.
Steht natürlich noch nicht auf der Karte. Die Lava ist noch warm, aber man kann
schon darauf gehen. Man darf nur nicht zu lange an einer Stelle stehen bleiben,
sonst schmelzen die Schuhsohlen. Von oben auf dem Wall sieht man erst, wie
riesig der Strom ist. Einige 100 Meter breit, sieht er aus wie eine unebene, schwarze
Autobahn zum verschneiten Gipfel. Die Wälder links und rechts sind zersplittert
und verkohlt. Unzählige Stämme müssen noch unter dem Lavastrom liegen. Hie
und da entweichen heiße Schwefeldämpfe aus den Rissen zwischen den großen
Brocken aus porösem Gestein. Es ist eine touristische Attraktion, die Insassen all
dieser Autos spielen zwischen den Brocken. Alle sind vorsichtig, aber niemand
hat Angst. Es ist aufregend; ich habe das Gefühl, der Entstehung der Erde beizu-
wohnen. Zugleich bin ich enttäuscht, weil ich nicht zum Gipfel hoch kann.
Ich versuche es über die Südseite und fahre zur Rifugio Sapienza, der Hütte
„Zuflucht der Weisheit“. Dort soll laut Karte eine Kabelbahn sein, die bis fast
zum Gipfel führt, zum Torre del Filosofo, dem Turm des Philosophen. Von der
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 71

Weisheit zum Philosophen im Sessellift. Es heißt, der griechische Philosoph Em-


pedokles habe dort den Ätna studiert und sich schließlich in den Krater gewor-
fen, um zu beweisen, dass er ein unsterblicher Gott sei. Dann sei er in den Him-
mel aufgefahren. Diese Behauptung allerdings verlor viel von ihrer Glaubwür-
digkeit, als man auf dem Berg eine zurückgelassene Sandale von ihm fand. Nichts
Menschliches war ihm fremd.
In Trecastagni sind einige Häuser eingestürzt als Folge eines kleinen Erdbe-
bens der Stärke 4,4, das der Eruption vom 22. Oktober vorausging. Ab Nicolosi
beginnt der Weg anzusteigen. In einer Haarnadelkurve ragt das Dach eines
Hauses kaum über einen alten Lavastrom hinaus. Doch bevor ich bei der Weis-
heit bin, ist die Straße schon wieder versperrt. Man kann sie nur zu Fuß errei-
chen, und die Kabelbahn ist von einem anderen, neuen Lavastrom verschlungen
worden. Bereits zum fünften Mal in den letzten zehn Jahren. Der Vulkan möchte
offenbar nicht, dass ich den Philosophen treffe. Ich gehe zur Rifugio. Viel Zu-
flucht bietet sie nicht mehr. Der Lavastrom hat einen Souvenirkiosk zur Hälfte
unter sich begraben. Von der Aussichtsterrasse sind nur noch die halb geschmol-
zenen Plastikstühle übrig, die der Lavastrom wie ein Bulldozer zu einem unor-
dentlichen Abfallhaufen zusammengeschoben hat. Das ist alles, was von der
Rifugio geblieben ist. Man darf nicht weiter gehen, alle paar Minuten stößt der
Vulkan grollend eine warnende, braune Rauchsäule aus. Ich streiche mir die
Asche aus den Haaren.
Aber gefährlich? Etna causes damage, not death, sagen die Vulkanologen Alwyn
Scarth und Jean-Claude Tanguy. Er spuckt vor allem Lava, und vor Lavaströmen
kann man fliehen. Und wenn einem die Richtung des Stromes nicht gefällt, kann
man ihn umleiten oder eine Öffnung in seine Seite machen, sodass die Lava dar-
aus weiterfließt. Das klappt heutzutage immer besser.
Die Menge Lava, die aus dem Ätna fließt, ist gewaltig, so groß, dass einmal in
tausend Jahren der ganze Gipfel des Vulkans mit einer neuen Lavaschicht verse-
hen wird, wie von einem riesigen rotierenden Rasensprenger. Die Lavaströme
können Weingärten, Häuser und manchmal ganze Dörfer verschlingen, und
1669 bahnte sich ein Lavastrom einen Weg durch die große Stadt Catania am
Fuße des Vulkans. Das Unangenehme ist, dass man vorher nie genau weiß, woher
diese Lavaströme kommen werden. Sie kommen keineswegs immer aus dem
Gipfelkrater. Es gibt etwa 200 verschiedene Eruptionszentren, weil der Ätna
zahllose Risse hat. Der Vulkan liegt auf einer glitschigen Tonschicht und rutscht
langsam ins Mittelmeer, wie ein Walross vom antarktischen Eis. Dabei entstehen
immer neue Dehnungsrisse, aus denen das Magma emporsteigen kann.
Der Ätna liefert zwar regelmäßig einige kleine Asche-Eruptionen wie die von
2002 – insgesamt waren es an die 70 in den letzten 350 Jahren –, aber größere
Ausbrüche sind kurz und selten. In der ganzen bekannten Eruptionsgeschichte
der vergangenen dreitausend Jahre sind dabei noch keine 100 Menschen ums
Leben gekommen. Die letzten waren neun Touristen, die am 12. September 1979
72 DER LANGE ZYKLUS

auf dem Kraterrand standen, als der Vulkan plötzlich ausbrach. Wenn man also
ein bisschen aufpasst, ist eine Silvesternacht auf dem Ätna doch eine nette Ab-
wechslung.

Fünfundzwanzig Jahre früher. Ich wohne in Bogotá, Kolumbien, in einer steil


ansteigenden Straße, die in einen steinigen Bergpfad übergeht. Ich gehe hoch, bis
ich über die Stadt hinwegblicken kann. Ganz in der Ferne, 150 Kilometer weiter
westlich, glitzern drei Gipfel am Horizont: der Nevado del Tolima, der Nevado
del Ruiz und der Santa Isabel. Drei vergletscherte Vulkane, mehr als 5000 Meter
hoch. Sie rufen mich. Sie locken mich. Unwiderstehlich für einen Geologen. Ich
will unbedingt zu ihnen.
Es ist eine größere Unternehmung. Bogotá liegt auf 2600 Meter über dem
Meer, und man muss dazu ganz runter, das Magdalenatal überqueren, um auf
der anderen Seite wieder die Zentralen Kordilleren hochzusteigen. Doch an
einem Wochenende ist es zu schaffen. Der Abstieg durch die tiefe Schlucht des
Boquerón ist steil. Im Magdalenatal ist es tropisch; im geschäftigen Provinz-
städtchen Armero ist es mehr als 30 Grad warm, denn es liegt nur 300 Meter über
dem Meer. Von den Baumwollfeldern windet sich die Straße das steile Tal des
Lagunillas-Flusses empor und durchquert sämtliche Klimazonen der Welt. Es
geht durch die üppigen Kaffeeplantagen mit den rot blühenden Schattenbäu-
men, dann durch die düsteren nebeltriefenden Andenwälder mit ihren Baumfar-
nen, dem wild wuchernden Moos, den flammenden Bromelien in den Astgabeln
und den riesigen Rhabarberblättern.
Und dann plötzlich, oberhalb von 3000 Metern, öffnet sich die Landschaft
und gibt den Blick frei auf wogende Grasflächen von unvergleichlicher Schön-
heit: Páramos, wie sie hier genannt werden, Hochgebirgstundren. Über den nied-
rigen, rot blühenden, azaleenartigen kleinen Sträuchern erheben sich meterhohe
frailejones mit ihren merkwürdig geringelten Stämmchen und ihren großen,
graugrünen, filzigen Blättern wie das Haar von Miguelito im Comic Mafalda. Da
und dort gibt es kleine Kartoffelfelder der indianischen Bauern. Und darüber
türmt sich die glitzernde Eiskappe des Nevado del Ruiz auf, 5300 Meter hoch. Er
ist kein schöner Vulkankegel wie der Nevado del Tolima, eher ein flacher Pud-
ding. In der Eiszeit ist viel wegerodiert worden, als die Gletscher noch viel größer
waren.
Die Sehnsucht wird stärker. Ich möchte noch höher. Ganz langsam klettert
mein alter Peugeot 504 bis über 4000 Meter. Hier gibt es nicht einmal mehr
Páramo, hier liegt nur noch lockere vulkanische Asche zwischen den alten, vom
Frost gesprengten Lavaströmen. Der Nebel umhüllt uns, die Haarnadelkurven
scheinen kein Ende zu nehmen.
Dann auf einmal lichtet sich der Nebel. Ich stehe an der Schneegrenze auf
4800 Meter. Die Straße hört auf. Hier gibt es einen niedrigen Steinschuppen – El
Refugio, schon wieder –, wo man Sauerstoffflaschen bekommen kann, schließ-
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 73

Abb. 31: Páramo mit frailejón (Espeletia


sp.), Kolumbien.

lich bin ich hier höher als der Mont Blanc. Ich blicke sehnsüchtig zum ver-
schneiten Gipfel hoch, der hin und wieder aus dem Nebel zum Vorschein kommt.
Aber ich weiß, dass es nicht geht. Noch 500 Meter klettern im Schnee, in dieser
Höhe, nur in leichten Segeltuchstiefeln, ohne Ausrüstung? Lieber nicht. Was
würde man später wohl sagen, wenn man einen meiner Schuhe fände? „Nicht die
Größe des Empedokles.“
Ich gehe um die kleinen Gletscherzungen herum. Sie haben die alten Lava-
ströme tief eingekerbt. Die hufeisenförmigen Endmoränen aus der Kleinen Eis-
zeit liegen verloren weiter unten im Tal. Im Stich gelassen – bis zur nächsten
Eiszeit.
Der Vulkan ist ruhig. Schade. Ich würde gerne einmal eine richtige Eruption
sehen. Ich verspreche mir selbst, Kolumbien nicht zu verlassen, bevor ich eine
erlebt habe. Aber die kolumbianischen Vulkane sind nicht so berechenbar wie
der Ätna. Eine Eruption ist nicht abzusehen. 1982 verlasse ich das Land. Ich bin
zu ungeduldig. Keine sapienza.
Im Oktober 1985 war ich wieder in Kolumbien, beim Sechsten Lateinamerika-
nischen Geologischen Kongress in Bogotá. Es ging das Gerücht, eine Eruption
stünde bevor. Aber ich bin nicht geblieben. Weisheit? Angst?

Heute genießt der Nevado del Ruiz eine makabere Bekanntheit. Bei der Eruption
vom 13. November 1985 wurden 25 000 Menschen im glutheißen Armero unter
einer Schlammlawine begraben. Es war eine der katastrophalsten Eruptionen
des 20. Jahrhunderts. Von der Stadt ist nur noch eine kahle Schlammwüste
übrig, weiße Kreuze markieren die Stellen, unter denen die Opfer in ihren vom
Schlamm bedeckten Häusern liegen. An den Kreuzen erkennt man den früheren
Straßenverlauf – ein neues Herculaneum. Hier zwei ausführliche Augenzeugen-
berichte:
74 DER LANGE ZYKLUS

„Um etwa acht Uhr gab es im Vulkan vier Mal ein derartig gewaltiges, tiefes, heiseres
Krachen, dass es bis 40 Meilen in der Umgebung zu hören war, und mit dem Wind noch
viel weiter. Dann begann es Asche zu regnen und Bimsstein, fein wie Sand, und es
wurde immer mehr, wie Hagel, und es machte das gleiche Geräusch auf den Dächern.
Nach zwei Stunden hellte es etwas auf, doch darauf wurde es so dunkel, dass man nicht
einmal mehr einen Brief lesen konnte, obwohl es mitten am Tag war (...). Die ganze
Nacht hindurch regnete es Asche, sodass am nächsten Morgen die Erde mit Bimsstein
und Asche bedeckt war (...).
Das Krachen war die Folge von Explosionen unter der Schneedecke auf dem Berg, im
Oberlauf der Flüsse Gualí und Lagunillas. Die Flüsse wurden für kurze Zeit gestaut
durch die Erde, die bei der Explosion freigesetzt wurde, und als sie diesen Damm
durchbrachen, stürzten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit nach unten. Fels-
blöcke so groß wie ein Viertel eines Hauses wurden mitgeschleift. Das Wasser war dick
wie Brei und stank unerträglich nach Schwefel und Asche, sodass die Fische ratlos von
einer Seite zur anderen flohen, und viele sprangen schließlich verzweifelt auf das Ufer.
Unten im Tal des Magdalena schwoll der Strom auf mehr als eine halbe Meile Breite an
und verschlang alles Vieh, bis er den Fluss erreichte. (...)“

„Um sieben Uhr morgens hörte man ein großes unterirdisches Tosen am Ufer des
Magdalena, gefolgt von einem kurzen Erdbeben. Dann kam durch den Río Lagunillas
eine immense Schlammlawine vom Nevado del Ruiz herab, die bald das ganze Flusstal
füllte, Bäume und Häuser verschüttete oder mitriss und die unglücklichen Bewohner
und Tiere, die nicht fliehen konnten, unter sich begrub. Die gesamte Bevölkerung der
höher gelegenen und schmaleren Teile des Lagunillas-Tales kam ums Leben. Weiter
stromabwärts schafften es manche, in die höher gelegenen Gebiete zu fliehen; andere,
weniger Glückliche wurden auf Hügelspitzen isoliert, wo es unmöglich war, sie recht-
zeitig zu retten. Manche wurden verschüttet, einige wenige konnten sich an einem
Baum festhalten, der der Gewalt des Stromes widerstand. Wer sich retten konnte, er-
nährte sich von dem Zuckerrohr und den Bananen, die im Strom mittrieben, andere
kamen um vor Hunger und Durst, denn niemand konnte ihnen zu Hilfe kommen.
Ungefähr 1000 Bewohner des Oberlaufes des Lagunillas kamen ums Leben, und vier
bis sechs Quadratmeilen wurden von Steinen, Kies, Sand und Schlamm bedeckt, mit
großen Schneemassen dazwischen. Die Schlammschicht war mindestens fünf Fuß
dick. Als die Schlammlawine die Ebene erreichte, gabelte sie sich. Der eine Zweig folgte
dem Lauf des alten Lagunillas-Bettes zum Magdalena, der andere drang ins Tal des
Santo Domingo ein und riss die Wälder mit sich, als wären sie Stroh. Er stürzte sich in
den Río Sabandija, und Bäume, Schlamm und Steine bildeten einen natürlichen Stau-
see, der das ganze Tal zu überschwemmen drohte. Zum Glück regnete es nachts stark,
sodass die Seitenflüsse des Sabandija anstiegen und das Wasser den Damm durch-
brach, der den Fluss abgeriegelt hatte.
Die meisten glaubten, ein großer Teil des Nevado del Ruiz sei eingestürzt, wodurch die
Flüsse blockiert wurden. Als dann das Wasser durch das Schmelzen des Schnees an-
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 75

stieg, brach der Damm, alles auf seinem Weg Liegende mitschleifend. Andere meinten,
der Ruiz hätte eine Schlammeruption gehabt, denn sogar das Wasser des Magdalena
stank nach Schwefel und war nicht trinkbar.“

Die Eruption des Nevado del Ruiz vom 13. November 1985 ist eine der größten
vulkanischen Katastrophen, die die Menschheit je getroffen hat. Was da passiert
ist, stimmt mit dem oben Beschriebenen ziemlich genau überein. Die Eruption
an sich war eigentlich nicht einmal besonders groß. Doch ihre Auswirkungen
waren dramatisch. Etwa zehn Prozent der Eiskappe, die den Vulkan bedeckte,
schmolz durch die Hitze der Eruption. Zugleich ereigneten sich Erdrutsche am
Oberlauf des Lagunillas als Folge der Erdbeben, die die Eruption begleiteten.
Hohe Wälle aus Stein und Schutt blockierten plötzlich den Fluss. Aber die
Schmelzwassermenge der Eiskappe war so groß, dass dieser natürliche Stau-
damm brach. So entstand der tödliche Schlammstrom, der mit einer Geschwin-
digkeit von 30 Stundenkilometern durch die steilen Täler zu Tal raste. An der
Schneegrenze vorbei, durch den Páramo, vorbei an den Baumfarnen und den
Schattenbäumen, 5000 Meter hinab durch das tiefe Tal des Lagunillas bis dort-
hin, wo dieser im breiten Magdalenatal mündet. Und dort lag Armero – eine
leichte Beute.
Jedoch – diese beiden Augenzeugenberichte beziehen sich nicht auf die katas-
trophale Eruption von 1985! Der erste ist zusammengestellt aus den Berichten
von Fray Pedro Simón, Noticias historiales de las conquistas de tierra firme en las Indias
Occidentales von 1637 und beschreibt die Eruption vom 12. März 1595. Die zweite
Darstellung ist zusammengestellt aus den Berichten des kolumbianischen Ge-
lehrten Joaquín Acosta in den Comptes rendues hebdomadaires des Séances de l‘Académie
des Sciences von 1845 und 1846 und des Militärs José M. Restrepo im Diario Político
y Militar von 1835–1848. Sie beschreiben die Eruption des Nevado del Ruiz vom
19. Februar 1845. Beide Eruptionen verliefen völlig identisch zu derjenigen von
1985, nur dass sie 390 und 140 Jahre früher stattgefunden haben, und mit weni-
ger Opfern, denn das Gebiet war damals viel dünner besiedelt. Aber geschehen
war genau das Gleiche. Unten im Magdalenatal liegen, neben der Schlammwüste,
die einst Armero war, die gelbgrünen, fächerförmigen Grasflächen des Hercula-
neum von 1845. Darunter das der Eruption von 1595. Und wenn man genau hin-
schaut, sieht man noch ältere Schlammflächen, tief eingeschnitten vom Lagunil-
las, der sich immer wieder neue Wege zum Magdalena sucht. Manche dieser
Schlammströme sind mehr als zwei Millionen Jahre alt. Unmengen von Hercula-
nea. Schlammlawinen sind ein normales Ereignis bei diesem Vulkan. Ein Mal in
hundertfünfzig bis zweihundertfünfzig Jahren rumpelt es. Das sind die sieben
Generationen, welche die Häuptlinge der Irokesen vorauszudenken hatten.

Auf diesem Sechsten Lateinamerikanischen Geologischen Kongress im Oktober


1985 erzählt ein französischer Vulkanologe mit rötlichem Bart, Jean-Claude
76 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 32: Kalter Hund: Weiße Ascheschichten und schwarze humusreiche Böden wechseln sich
ab auf dem Nevado del Ruiz und bilden den Strichcode, an dem man die Eruptionsfrequenz
ablesen kann.

Thouret, von der früheren Eruptionsgeschichte des Nevado del Ruiz. Er hatte
das unglaubliche Glück gehabt – Geologen nennen so etwas Glück –, den Vulkan
ausführlich untersucht zu haben, kurz bevor er ausbrach.
Der Boden auf dem Vulkan ist schwarz und porös, wie in den meisten vulka-
nischen Gebieten. Betrachtet man aber einen Querschnitt des Bodens in einer
Böschung, so sieht es auf einmal ganz anders aus: Weiße Schichten vulkanischer
Asche wechseln sich mit schwarzen Humusschichten ab, wie mehrere Meter di-
cker Kalter Hund. Diese Lagen erzählen eine interessante Geschichte.
Eine frische Ascheschicht direkt nach einer Eruption ist grauweiß. Aber wenn
sich darauf nach und nach Pflanzen ansiedeln, entsteht eine schwarze Humus-
schicht, die mit der Zeit immer dicker wird. Bei einer nächsten Eruption wird diese
Humusschicht mit neuer Asche bedeckt, auf der wiederum eine Humusschicht
entsteht. Man kann mit C-14 den Humus aus den verschiedenen Lagen datieren
und auf diese Weise grob rekonstruieren, wie viel Zeit zwischen den aufeinander-
folgenden Eruptionen vergangen ist. So fanden Jean-Claude Thouret und sein ko-
lumbianischer Kollege Rubén Rojas von der Universität Caldas sieben Asche-
schichten aus den letzten 2200 Jahren, also im Schnitt alle vierhundert Jahre eine
Eruption. Das ist etwas weniger häufig, als die Eruptionen von 1595, 1845 und
1985 angeben. Nicht jede Eruption hinterlässt jedoch gleich viel Asche, und wenn
sie zu kurz aufeinander folgen, fehlt die Zeit, Humus zu bilden. Diese Fakten stel-
len also keinen Widerspruch dar. Was sie uns sagen, ist dies: Alle paar hundert
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 77

Eurasiatische Nord- Eurasiatische


Platte amerikanische Platte
Platte
Aleutengraben Cocos-
platte
,Ring of Fire‘ San-Andreas-Bruch

Hawaii-
,Hot spot‘
East
Java- Pacific Nazca- Süd-
Graben Indisch- platte amerikanische
Rise Afrikanische
Australische Platte
Platte Pazifische Platte
Platte

Antarktische Platte
Vulkan

Abb. 33: Verteilung der Vulkane auf der Erde: die größten Konzentrationen rings um den
Pazifik (Ring of Fire), weitere Spreizungszonen (mittelozeanische Rücken, Island, Afrika) und
Hot spots (Hawaii).

Jahre wird der Ruiz rebellisch, und es kommt eine Schlammlawine herunter, jedes-
mal an genau derselben Stelle, nämlich bei Armero – wohlweislich nicht Refugio
Sapienza genannt. Dies alles war bekannt, bevor die Eruption von 1985 stattfand.
Unabhängig davon hatte ein gewisser Helio Fabio González aufgrund ähn-
licher Überlegungen berechnet, dass nach dem Ausbruch von 1595, einem
kleineren im Jahre 1735 und dem von 1845 eine neue Eruption Mitte November
1985 zu erwarten sei. Er schickte seine Erkenntnisse einige Tage vor dem Aus-
bruch an die Zeitung El Tiempo. Doch niemand nahm ihn ernst.
Der Nevado del Ruiz ist ein sogenannter Stratovulkan, einer von vielen hun-
dert Vulkanen, die sich wie ein Ring um den Stillen Ozean gruppieren: der Ring
of Fire. Dieser verläuft von Neuseeland über Neuguinea, Indonesien, die Philippi-
nen, Japan, Kamtschatka, Alaska, die Rocky Mountains, Mittelamerika und die
Anden bis zur westlichen Antarktis. Alle entstehen auf dieselbe Weise: Eine li-
thosphärische Platte schiebt sich unter eine andere, tief im Erdmantel schmilzt
die unterschiebende Platte, das heiße Magma steigt nach oben und bricht an der
Oberfläche aus. Es sind dieselben Subduktionszonen, entlang derer auch die
meisten Erdbeben vorkommen.
Alle diese Vulkane ähneln sich, sie zeigen eine schöne Kegelform. So malten
wir in der Grundschule Vulkane, vielleicht von den Bildern unserer kolonialen
Vergangenheit in Indonesien beeinflusst. Sie sind im Schnitt zwei bis drei Kilo-
meter hoch, gerechnet ab der Basis, haben einen Durchmesser von 10−20 Kilo-
metern und meistens einen zentralen Krater, der alle paar hundert Jahre Asche
und Lava ausspuckt. Eine Eruption beginnt in der Regel mit einem heftigen
Ascheausbruch, und wenn der Vulkan sich erst einmal frei geräuspert hat, folgen
78 DER LANGE ZYKLUS

die Lavaströme. Oft dauert es Dutzende von Jahren, bis er wieder zur Ruhe
kommt. Der Terminus Stratovulkan bezieht sich auf die sich abwechselnden
Schichten (strata) von Asche und Lava. Die Stratovulkane sind unterschiedlich
aktiv, manche spucken alle paar Jahrzehnte, andere brauchen mehrere tausend
Jahre, doch im Schnitt kommt es alle paar hundert Jahre zu einem Ausbruch.
Viele dieser Vulkane werden genau beobachtet. Ihre Schichten werden analysiert,
Aschelagen, die sich in Seen abgesetzt haben, werden gezählt und datiert. Ihre
Eruptionsgeschichte der letzten zehntausend Jahre wird ausführlich dokumen-
tiert und verfolgt.
Wenn man das alles gewusst hat – warum konnte es dennoch so viele Opfer
geben? Warum haben Joaquín Acosta und José Restrepo ihre Kinder und Enkel
nicht davor gewarnt, die Häuser genau vor dem Kanonenrohr zu bauen? Warum
waren die Menschen nicht vorsichtig und hatten keine Angst? 1985 sind 20-mal
so viele Menschen umgekommen wie 1845. Hätte man das nicht wissen kön-
nen?

Um das zu begreifen, müssen wir uns etwas gründlicher mit dieser Geschichte
befassen. Dann werden wir sehen, wie das kollektive Gedächtnis funktioniert hat
und wer darauf gehört hat und wer nicht. Der kolumbianische Journalist Javier
Darío Restrepo zeichnete die Geschichte der fehlgeschlagenen Evakuierung von
Armero detailliert auf in seinem Buch Avalancha sobre Armero (Bogotá, 1986). Es
ist ein schauriges Beispiel dafür, wohin das gegenseitige Unverständnis zwischen
Wissenschaft und Politik führen kann. Zum Lachen, wenn es nicht so tragisch
ausgegangen wäre.
Die Bewohner von Armero wissen sehr wohl, dass es eine Eruption geben
kann. Nicht so sehr, weil ihre Vorväter es ihnen überliefert hätten, sondern weil
der Ruiz schon seit einem Jahr warnende Signale aussendet. Bergsteiger sehen,
wie kleine Rauchfahnen aufsteigen, es gibt kleine, charakteristische Erdbeben,
die auf eine sich anbahnende Eruption hinweisen, und erste Aschewölkchen
rieseln bereits am 22. Dezember 1984 in der direkten Umgebung des Kraters
nieder.
Das heißt aber nicht, dass man sich große Sorgen macht. Es finden sogar Miss-
wahlen auf dem Vulkan statt und die lokalen Schönheiten lassen sich gerne vor
dem Hintergrund des von Asche verschmutzten Schnees fotografieren. Der stell-
vertretende Leiter des Geologischen Dienstes Ingeominas, Rafael Durán Rodrí-
guez, meint: „Das ist normal für einen aktiven Vulkan, es besteht keine Gefahr
für die örtliche Bevölkerung.“
Dennoch sind nicht alle Autoritäten ganz beruhigt. Der Gouverneur des De-
partements Caldas, wo der Vulkan sich befindet, schreibt im März 1985 höchst-
persönlich an die Schweizer Botschaft und bittet um Hilfe. Zehn Tage später
werden zu seiner Überraschung drei Spezialisten bei ihm vorstellig: der amerika-
nische Seismologe John Tomblin der UN Disaster Relief Coordination, der
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 79

Schweizer Seismologe Dieter Mayer und der französische Geologe Jean Jacques
Wagner. Sie kommen zu dem Schluss, es bestehe ein hohes Risiko für einen Aus-
bruch und die Vorzeichen deuteten darauf hin, dass es ein großer sein werde. Sie
geben eine Untersuchung in Auftrag und empfehlen, tragbare Seismografen auf
dem Vulkan zu installieren, auf der Grundlage historischer Eruptionen eine Ri-
sikokarte zu erstellen und einen Evakuierungsplan auszuarbeiten. Über die Ab-
teilung Geowissenschaften der UNESCO verbreitet sich die Neuigkeit rasch in
der internationalen vulkanologischen Welt und Vulkanologen aus Japan, Island,
Costa Rica und den Vereinigten Staaten halten sich sofort bereit, die Apparatur
zu installieren. Nur muss vorher eine offizielle Einladung der kolumbianischen
Regierung an die UNESCO ergehen.
Doch die kommt nicht. Der Brief, den der kolumbianische Botschafter bei der
UNESCO, Aurelio Caicedo Ayerbe, dazu seinem eigenen Außenminister schreibt,
geht im bürokratischen Treibsand unter und wird nie wieder auftauchen. Profes-
sor Luis A. Briceño der Universidad Nacional hat bereits viel früher Seismografen
bestellt, er hat dafür sogar 50 000 Dollar erhalten von der Internationalen Ent-
wicklungsbank, aber die kolumbianische Bürokratie rückt das Geld nicht her-
aus. Als der italienische Geologe Bruno Martinelli den Vulkan etwas später be-
sucht und sieht, dass es noch immer keine Seismometer gibt, explodiert er fast
vor Wut und will sofort zurück nach Hause. „Jetzt ist es zu spät für Untersu-
chungen“, sagt er.
Die lokale Bevölkerung erfährt so gut wie nichts von diesen ganzen Aktivi-
täten, denn die Autoritäten fürchten sich mehr vor Panik als vor einer Eruption.
Ein Journalist schlägt vor, die Bevölkerung zu warnen, indem man im Fernsehen
die Bilder der Eruption des Mount Saint Helens von 1980 in den Vereinigten
Staaten zeigt. General Guillermo de la Cruz Amaya, der Chef der Defensa Civil,
dem Katastrophenschutz, erschrickt: „Nicht auszudenken, was das für eine
Panik verursachen würde im Land! Auf gar keinen Fall! “, sagt er. Traurig, denn
beim Saint Helens wurden 30 000 Menschen rechtzeitig evakuiert, nur 70 star-
ben. Ironie des Schicksals: Später, bei der Eruption des Pinatubo auf den Philip-
pinen, 1991, wurden Bilder der Eruption des Nevado del Ruiz gezeigt, um die
Menschen zur Evakuierung zu bewegen. Und wie das geholfen hat!
Immerhin installiert Ingeominas am 20. Juli aus eigener Kraft vier Seismo-
grafen auf dem Vulkan, und schon die ersten Messungen zeigen, dass die seis-
mische Aktivität gefährlich hoch ist. Bei einer ersten Vorläufereruption am
11. September entsteht eine warnende Rauchfahne von mehr als zwei Kilometer
Höhe. 1500 Kühe auf den Berghängen erkranken, weil sie scharfkantige, vulka-
nische Glasteilchen verschluckt haben, und es entstehen kleine Schlammströme,
die aber das Tal nicht erreichen. Die wichtigsten Zeitungen des Landes, El Espec-
tador und El Tiempo, schreiben am 15. September über die Gefahren von Schlamm-
lawinen. Auch ergeben Messungen, die übrigens erst nach der Eruption publik
werden, dass der Vulkan sich ausdehnt.
80 DER LANGE ZYKLUS

Das Parlamentsmitglied Jaime Ramírez Rojas, Repräsentant des Distriktes


Caldas, warnt die Regierung in der Sitzung vom 24. September vor der
„... gewaltigsten Schlammlawine der Menschheitsgeschichte in diesem Teil des Konti-
nentes. Sagt morgen nicht, dass ihr nicht gewarnt worden seid; sagt morgen nicht, dass
der Staat nicht informiert wurde über das, was jetzt bevorsteht, und über die Bedro-
hung, die über den Köpfen von drei Millionen Kolumbianern schwebt; Gott will nicht,
dass das Schlimmste passiert, doch Gott will, dass dies uns zur Lehre gereicht, damit
ähnliche und andere Tragödien größeren oder kleineren Ausmaßes uns nicht unvorbe-
reitet treffen.“

Der Bergbauminister hält den Auftritt von Jaime Ramírez Rojas für reichlich
dramatisch und apokalyptisch. „Die Regierung hat im Rahmen ihrer Möglich-
keiten alles in die Wege geleitet. Es wurden bereits vorbereitende Maßnahmen
für eventuelle Evakuierungen getroffen für den Fall, dass die Flüsse vom Vulkan
herab plötzlich über die Ufer treten. Dies betrifft ein Gebiet mit einem Radius
von 40 Kilometern“, so sagt er.
Inzwischen haben die Wissenschaftler nicht still gesessen, auch wenn es nur we-
nige mitbekommen haben. Am 7. Oktober hat Ingeominas die Risikokarte fertig-
gestellt. Im prächtigen Museumssaal des Instituts an der Avenida 30 wird die Karte
dem Bergbauminister und den Gouverneuren der betroffenen Distrikte präsen-
tiert. Von diesem Moment an, einen Monat vor der Eruption, wissen alle, dass die
Chance auf einen Lavastrom acht Prozent ist, auf glühende Ascheströme 21 Pro-
zent und die Chance auf destruktive Schlammlawinen, 12 bis 50 Meter über dem
normalen Pegel der Flüsse, 100 Prozent. Hundert Prozent! Und auf dieser Karte
liegt Armero mitten in der Bahn von einer dieser Schlammlawinen! Und die Vor-
hersage hat sich exakt so bestätigt. Was nur ist hier so entsetzlich schief gelaufen?

Nicht, dass man in Armero nichts wüsste. Ab Ende September sind alle darüber
informiert, dass etwas passieren kann. Wer dem Frieden nicht traut, verkauft
sein Haus und zieht weg; man holt sein Geld von der Bank, Bauern überlegen, ob
sie noch säen sollen, und die wirtschaftliche Aktivität kommt langsam zum Still-
stand. Der Bürgermeister erstellt einen Katastrophenplan und ernennt ein Not-
komitee, es gibt Versammlungen im Theater, in den Schulen, in der Kirche, und
überall bekommt man das Gleiche zu hören: Wenn etwas passiert, wird die Feu-
erwehr die Sirene heulen lassen, und dann sollen alle zum Cerro de la Cruz lau-
fen, dem höchsten Punkt der Stadt. Die Karte von Ingeominas wird überall ver-
breitet, und in Armero wird eine Mauer gebaut, die die Schlammlawinen um die
Stadt herumlenken soll.
Am Nachmittag des 13. November gehen schwere Ascheregen auf die Stadt
nieder. Die Bevölkerung Armeros bittet besorgt um Rat bei den beiden maßgeb-
lichen Mitgliedern des Notkomitees, dem Pastor Augusto Osorio und dem An-
thropologen Efrén Torres des örtlichen Charles-Darwin-Zentrums. Torres tele-
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 81

foniert nach Bogotá, um Rat einzuholen, und bekommt zu hören, er solle die
Menschen beruhigen. Über den Lokalsender teilt Torres mit, die Menschen
bräuchten sich keine Sorgen zu machen, es drohe keine unmittelbare Gefahr.
Niemand will auch sein Haus unbeaufsichtigt zurücklassen, denn Plünderer lie-
gen schon auf der Lauer und die Kaffee-Ernte ist in vollem Gang.
Um 21.08 Uhr, als in der Stadt wieder Ruhe eingekehrt ist, explodiert der Vul-
kan. Um 21.45 Uhr warnt ein Posten auf dem Berg, dass Armero evakuiert wer-
den muss, weil sich eine Schlammlawine hinunterwälzt. Doch nur wenige hören
den Alarm im Radio. Pastor Osorio ist nicht da, er besucht in Ibagué eine Sitzung
mit dem Erzbischof. Der Bürgermeister aber, ein leidenschaftlicher Funkama-
teur, hört den Aufruf. Er ist an diesem Abend auf Empfang und sendet ein SOS
in die Welt, bis er um 23.20 Uhr funkt: „Das Wasser kommt zu uns herein.“ Es
ist seine letzte Meldung. 450 Millionen Kubikmeter Schlamm, vermischt mit
Schwefel, Eis, entwurzelten Bäumen, großen Felsbrocken, Autos, Gasrohren und
menschlichen Körpern überschwemmen die Stadt in wenigen Sekunden. 25 000
Menschen finden den Tod.
Laut Katastrophenplan hätten zwei Stunden gereicht, um die Stadt zu evakuie-
ren. Die Schlammlawine legte 60 Kilometer zurück mit einer Geschwindigkeit von
30 Stundenkilometern. Es wäre also möglich gewesen. Aber es ist nicht passiert.
Der Kolumnist Alberto Aguirre schreibt daraufhin in der Zeitung El Mundo:
„Die Regierung, verantwortlich für das Leben, die Ehre und die Güter der Kolumbi-
aner, hat konkret nichts unternommen, um die Tragödie zu vermeiden. Nur Geschwätz
und Komitees. Der Bergbauminister erklärte kurz zuvor im Parlament, ‚Die Regierung
hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles in die Wege geleitet‘. Die Eruption begann
am 13. November um etwa drei Uhr nachmittags; wäre alles vorbereitet gewesen, hätte
die Regierung ausreichend Zeit gehabt, Armero zu evakuieren: acht Stunden, da die
Schlammlawine um elf Uhr abends kam. Wenn die Regierung umsichtig gewesen wäre,
hätte sie uns viele Tränen erspart, ihre eigenen inklusive.“

Die Lethargie der Politik und die erstickende Bürokratie sind die maßgeblichen
Bremser gewesen beim Einsatz von örtlichen und internationalen Spezialisten,
nicht nur im Vorfeld der Katastrophe, sondern auch danach. 14 französische
Rettungsspezialisten mit ausgebildeten Suchhunden und Spezialgerät erhal-
ten keinen Zugang zum Katastrophengebiet und fliegen zurück. Kolumbia-
nische Ärzte in den Nothospitalen müssen vier Tage warten, bis sie die erfor-
derlichen Stempel bekommen für die Herausgabe der Medikamente, die im
Magazin bereitliegen. Verletzte Überlebende werden per Flugzeug über das
ganze Land verteilt, während im nächstliegenden Krankenhaus von Ibagué 140
Betten leer bleiben. Ein israelischer Geschäftsmann, der eine halbe Million
Dollar seines Privatvermögens investieren will, um eine Ziegelei und eine Bä-
ckerei zu errichten und so Arbeit für 67 Überlebende zu schaffen, bekommt
nicht die benötigten Genehmigungen und kehrt unverrichteter Dinge nach
82 DER LANGE ZYKLUS

Hause zurück. Es ist offenbar schwierig, Beamten ein Gefühl für eine gewisse
Dringlichkeit zu vermitteln.

Warum hatten die Menschen die Gefahr unterschätzt? Nach der großen Eruption
von 1985 hat der Ruiz noch Dutzende von kleineren Ausbrüchen gehabt und die
Menschen sind dabei mehrere Male sehr wohl effizient evakuiert worden. Vor
einer Wiederholung dessen, was sich vor ein paar Jahren abgespielt hatte, fürchte-
ten sich die Menschen; nicht aber vor einer Wiederholung von etwas, das vor an-
derthalb Jahrhunderten, also vor sechs Generationen, geschehen war. Das ist zu
lange für das kollektive Gedächtnis des Menschen und für das von Politikern und
Bürokraten allemal. Ihr Denken reicht nicht weiter als bis zu den nächsten
Wahlen. Die Wissenschaftler haben es gewusst, doch keiner wollte auf sie hören.

Erst 1987, anderthalb Jahre nach der Eruption, kehre ich zurück zum Nevado del
Ruiz. Die Eiskappe, die ich 1980 noch von Weitem funkeln sah, ist pechschwarz
geworden von der Asche, die darauf niedergeregnet ist. El Refugio ist dem Erd-
boden gleichgemacht. Die Schmelzwasserbäche haben tiefe Rinnen in die locke-
ren Ascheschichten gegraben, und dort, wo der Páramo unmittelbar auf alten
Lavaströmen gewachsen war, wurde die Vegetation abgestreift, als wäre der Berg
bei lebendigem Leibe gehäutet worden. Die Frailejones sind flach gedrückt vom
Schmelzwasser und überall sind die Blätter mit Asche bedeckt und kleine Bims-
steinbrocken liegen zwischen den Grasbüscheln – der Anfang einer neuen Scho-
koladenschicht vom Kalten Hund.
Unten im Magdalenatal, 5000 Meter tiefer, wo Armero hätte liegen sollen,
streckt sich nun eine immense kahle graue Ebene aus. Als hätte man die herr-
liche, sanft gewellte, grüne Landschaft mit einer Schicht Beton bedeckt. Der La-
gunillas hat bereits wieder eine kleine Rinne ausgewaschen. Am Ufer graben ei-
nige Männer grimmig in der mittlerweile steinharten Schlammschicht. „Hier
stand das Bankgebäude“, sagt man mir. Die Ausgrabungen des neuen Hercula-
neum haben schon begonnen.

Auch in Frankreich lässt das kollektive Gedächtnis zu wünschen übrig. Der Puy
de Dôme in der Auvergne ist ein großer weißer Buckel von 1465 Metern Höhe, der
500 Meter emporragt über dem Granit des Plateau des Dômes. Von dort oben hat
man Richtung Osten einen wunderbaren Blick auf die Stadt Clermont-Ferrand
mit ihrer düsteren Basaltkathedrale, den 40 Kilometer breiten Limagnegraben
und das Tal des Flusses Allier, 1000 Meter unterhalb des Gipfels. Blickt man nach
Norden und Süden, sieht man, dass der Puy de Dôme inmitten einer langen Kette
von vielleicht 100 kleinen Vulkankegeln liegt, die sich an einer bedeutenden
Bruchzone entlangzieht. Einer ist meiner, er heißt Puy Salomon. Jedes Jahr, wenn
ich mit meinen Studenten auf dem Gipfel des Puy de Dôme stehe, blinzele ich
meinem Namensvetter kurz zu. Zum Glück blinzelt er nicht zurück.
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 83

Abb. 34: Männer beim


Graben nach der Bank in der
Schlammebene von Armero.

Der Puy de Dôme ist eine der größeren Touristenattraktionen Frankreichs. Um


1900 gab es sogar eine kleine Bahn zum Gipfel. Die existiert heute nicht mehr,
aber es gibt eine schmale Asphaltstraße, die sich wie ein Korkenzieher zweimal
um den Berg windet, bis man einen äußerst hässlichen Parkplatz erreicht, auf
dem Hunderte von Autos und Bussen stehen. Diese Straße war lange Zeit ein
beliebter Abschnitt der Tour de France: eine fünf Kilometer lange Steigung von
zwölf Prozent (nein, man darf sie nicht mit dem Rad befahren, wenn man nicht
an der Tour teilnimmt).
Oben, im Souvenirladen, kann man lehrreiche Ansichtskarten kaufen mit Ab-
bildungen von verschiedenen Vulkantypen, Wanderstöcke mit Messingschild-
chen mit einem Vulkan darauf, Schwefelbröckchen von ganz anderen Vulkanen,
Bildbände, Dia-Reihen, Vulkanbier, Vulkanwein, Vulkanwasser und so weiter
und so fort. Neuerdings möchte man sogar einen Aufzug in den Berg hinein-
bauen, der einen im Nu von der Basis zum Gipfel bringen soll. Das Projekt nennt
sich Vulcania. Frankreich macht seine Vulkane zu Geld.
84 DER LANGE ZYKLUS

Jedoch: Bis um das Jahr 1750 wusste die Bevölkerung der Auvergne nicht, dass
sie in einem vulkanischen Gebiet lebte. Vulkane wie Ätna und Vesuv waren be-
kannt, holländische Seeleute, die nach Indonesien fuhren, erzählten von den
Vulkanen dort, aber dass es in Frankreich auch welche gab, war unbekannt. Als
der Arzt, Botaniker und Mineraloge Jean-Étienne Guettard am 10. Mai 1752 der
Académie des Sciences verkündete, er habe in der Auvergne Vulkane entdeckt,
war das Erstaunen denn auch groß.
Es war eine großartige Leistung. Guettard hatte noch nie in seinem Leben
einen aktiven Vulkan gesehen. Aber er war Konservator des Naturhistorischen
Museums des Herzogs von Orléans und er hatte Gestein des Vesuvs und der Insel
Réunion in seiner Kollektion. Im Sommer 1751 sah er in der Stadt Moulins einen
Brunnen, der aus einem Gestein erbaut worden war, das der Lava vom Vesuv
ähnelte. Auf der Suche nach dessen Herkunft landete er in den Steinbrüchen von
Volvic und erkannte darin einen Lavastrom. Volvic liegt genau auf dem Bruch-
rand, der das große vulkanische Plateau des Zentralmassivs von dem breiten Li-
magnegraben trennt, und ist auch heute noch wegen seines Basalts und seines
Mineralwassers bekannt. Die Steinbrüche sind noch immer in Betrieb. Danach
erklomm er den Puy de Dôme, begleitet von dem Apotheker Jean-François Ozy.
Guettard war der Erste, der mit einem „vulkanischen Blick“ diese ganzen wun-
derbaren kleinen Kegel und Krater betrachtete, die heutzutage von Hunderttau-
senden von Touristen besucht werden. Die Auvergne war vulkanisch geworden.
Im Nachhinein fanden viele seine Entdeckung so offensichtlich, dass man ihm
die Ehre nicht gönnte. Als Erster derselbe Apotheker Jean-François Ozy, der 27
Jahre später (!) behauptete, er habe die Vulkane bereits ein Jahr vor Guettard zwei
britischen Gelehrten gezeigt – während aus den Aufzeichnungen Guettards her-
vorgeht, dass Ozy, als sie zusammen auf dem Puy de Dôme standen, gesagt hatte,
er habe bis dahin diese matières nie als vulkanisch erkannt. Auch der ehrgeizige
Barthélémy Faujas de Saint Fond beanspruchte den Ruhm der Entdeckung für
sich – obgleich er doch 1775 erst von Guettard auf die Vulkane in der Vivarais
hingewiesen wurde, die er 1778 beschreiben sollte. Noch später, 1794, höhnte
der große Geologe Nicolas Desmarest, diese Entdeckung von Guettard sei nicht
der Rede wert, er habe die Vulkane nicht einmal gründlich untersucht, wie er
selbst das getan habe – aber eben erst zehn Jahre später.
Es ist heute kaum noch zu begreifen, dass man es nicht wusste. Doch bevor
Guettard ihnen die Augen öffnete, war es niemandem aufgefallen. Warum nicht?
Dass der Ätna ein Vulkan ist, wurde schon vor mehr als dreitausend Jahren be-
schrieben. Dass der Nevado del Ruiz ein Vulkan ist, wusste auch Fray Pedro
Simón schon 1595 und alle Menschen, die dort lebten, nur hatten sie vergessen,
dass er ein gefährlicher Vulkan ist.
Doch die Franzosen wussten nicht einmal, dass sie in einem vulkanischen Ge-
biet lebten, und das kann man sich nur schwer vorstellen. Es muss wohl aus
ihrem kollektiven Gedächnis gelöscht worden sein. Vielleicht sollte man zur Ent-
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 85

schuldigung anführen, dass die letzte Eruption in der Auvergne schon etwas län-
ger her war als die des Nevado del Ruiz, nämlich mehr als 5600 Jahre. Aber es
muss auf jeden Fall eine große Explosion gewesen sein, mit der damals der Kra-
tersee Lac Pavin entstanden ist, denn er ist noch heute 95 Meter tief und die fei-
nen Ascheteilchen sind 50 Kilometer weiter nördlich und südlich gefunden wor-
den. War das Gebiet damals unbewohnt? Gab es die Franzosen noch nicht? Aber
sicher, denn in den archäologischen Fundstätten aus der mittleren Steinzeit lie-
gen die Ascheschichten des Lac Pavin direkt auf den Steinäxten. In der Steinzeit
haben die Menschen diese Vulkane also sehr wohl in Aktion gesehen. Und in den
Jahrtausenden zuvor war es eine einzige Orgie von vulkanischer Gewalt gewesen.
Fast alle kleinen Kegel, die man gegenwärtig sieht, sind entstanden, als dort be-
reits Menschen lebten. Sogar dieser große Puy de Dôme ist nicht älter als zehn-
tausend Jahre. Warum hat man es vergessen?
Dabei gibt es gute Gründe, sich daran zu erinnern, denn das vulkanische
Risiko ist noch nicht gewichen. Ein vulkanisches Gebiet, das vor weniger als
zehntausend Jahren Eruptionen hervorgebracht hat, wird als aktiv angesehen.
Und in diesem Gebiet gibt es schon seit 22 Millionen Jahren vulkanische Tätig-
keit – sollte diese etwa vor 5600 Jahren auf einmal aufgehört haben? Das ist
äußerst unwahrscheinlich. Deshalb wird auch mit zukünftigen Eruptionen ge-
rechnet. So hat man wegen des vulkanischen Risikos davon abgesehen, bei Li-
mons ein Kernkraftwerk zu bauen. Noch vor Kurzem hat man untersucht, ob
der Lac Pavin nicht ein vergleichbares Risiko tödlicher CO2-Emissionen in sich
birgt, wie sie bei der Katastrophe vom Nyossee in Kamerun am 21. August 1986
auftraten, wobei 1700 Tote zu beklagen waren. Doch bis zu Guettards Entde-
ckung war man sich keiner Gefahr bewusst. Müsste man sich da nicht auch die
Frage stellen, ob es sicher ist, im Schlot des Puy de Dôme einen Aufzug zu
bauen?

Wir Niederländer sind übrigens kein Haar besser als die Franzosen. Der Minera-
loge Rob Crommelin aus Wageningen fand 1963 bei einer Bohrung in der Nähe
der Ziegelei Malburgen im Betuwegebiet kleine Bimssteine im Flusssediment. Er
betrachtete sie durch das Mikroskop und konnte anhand der typischen Mine-
ralien zeigen, dass der Bimsstein von der großen Eruption des Laacher Sees vor
12 900 Jahren stammte. Es war der größte Ausbruch der jüngeren Vergangenheit
in Nordwesteuropa. Die Eruption hinterließ nicht nur einen großen Krater von
mehr als zwei Kilometern Durchmesser in der Eifel, sondern schickte auch eine
40 Kilometer hohe Eruptionssäule in den Himmel. Stratosphärische Winde ver-
wehten die Aschewolke bis nach Schweden und Norditalien. Auch der niederlän-
dische Himmel wurde von den vulkanischen Aschewolken verdunkelt. Große
Brocken Bimsstein fielen in den Rhein, trieben flussabwärts und wurden in der
Betuwe abgelagert, wo Crommelin sie fand. Und im Löss in der Provinz Limburg
befinden sich sehr dünne, schwarze Schichten vulkanischer Asche eines älteren
86 DER LANGE ZYKLUS

ee
rds
No
Rhein

Eifel

Ardennen

Paris

wald
n
ese

Schwarz
Vog
Loire

ra
Ju

Zentral-
Auvergne
massiv
Lyon
Rh ône

en
Alp

Vulkanisches Gebiet
Europäischer Graben
Grandgebirge
Bruchlinien

Marseille
100 km
Mittelmeer

Abb. 35: Der Europäische Graben mit den vulkanischen Gebieten.

Ausbruchs in der Eifel vor 28 000 Jahren, der Eltviller Tuff. Unsere Vorväter
haben das alles mitgemacht, aber sie haben uns nichts erzählt. Wir haben es von
den Geologen hören müssen. Es ist die letzten achttausend Jahre ruhig gewesen
in der Eifel, sonst hätten sie vielleicht besser aufgepasst. Denn auch hier gilt:
Vulkanismus gibt es schon seit 40 Millionen Jahren, es ist also nicht wahrschein-
lich, dass er jetzt erloschen ist. Die Kräfte, die zum Vulkanismus führen, sind
noch immer vorhanden.
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 87

Die Vulkane im Zentralmassiv und in der Eifel sind einer anderen Art zuzuordnen
als der Vulkan des Nevado del Ruiz. Sie sind Teil des Europäischen Grabens, eines
Systems tiefer Gräben, die quer durch Europa verlaufen, von Cap d’Agde an der
französischen Mittelmeerküste über den Rhônegraben, die Bresse, die Oberrhei-
nische Tiefebene und die Eifel bis zum Drachenfels bei Bonn. Im Gegensatz zu
dem Ring of Fire sind es Dehnungsbrüche, die sich immer weiter öffnen, sodass
Magma aus dem Erdmantel aufsteigen kann. Auch der Peelrandgraben, der 1992
das Beben verursachte, von dem wir im vorigen Kapitel berichteten, gehört dazu.
Diese Dehnungsbrüche sind die Folge des Zusammenstoßes von Europa und
Afrika. Die Apulische Platte, die einen Großteil des italienischen Stiefels umfasst,
ist eigentlich ein vorgeschobener Teil Afrikas und drückt sich wie ein bohrender
Finger in den weichen Unterbauch des alten Europa. Man kann das auf der Eu-
ropakarte gut sehen: Italien zerteilt Europa wie der Bug eines Eisbrechers ein
zugefrorenes Meer.
Die Vulkane entlang dieser Gräben sind keine großen, imponierenden Strato-
vulkane wie die des Ring of Fire. Nein, es sind nur kleine Vulkänchen, ein paar
Hundert Meter hoch, und jeder kleine Kegel, jeder Kratersee, jeder vulkanische
Hubbel ist das Produkt eines nur einmaligen Ausbruchs. So ein Ausbruch kann
ein paar Jahre andauern, aber danach bleibt es ruhig. Wenn der Druck im Unter-
grund zu groß wird, sucht sich das Magma wieder einen neuen Weg, und es ent-
steht irgendwo anders ein neuer kleiner Vulkan. Man weiß nur vorher nicht, wo.
Hier ist nicht nur das Wann, sondern auch das Wo unvorhersehbar.
Das bekannteste Beispiel für einen solchen Vulkan stammt aus Mexiko. Eines
Tages, genauer gesagt am 20. Februar 1943, flämmen der Bauer Dionisio Pulido
und seine Frau Paula die Stoppeln auf ihrem Maisfeld ab, in der Nähe des Dorfes
Parícutin. Auf einmal reißt der Acker mehr als zwei Meter auf. Eine bescheidene
Rauchsäule steigt aus dem Riss auf und innerhalb einiger Stunden entsteht ein
kleiner Vulkan. Nach 24 Stunden ist es bereits ein veritabler Aschekegel von
50 Metern Höhe, der im Laufe einer Woche auf 100 Meter anwächst. Jeden Tag
schießen neue Lavafontänen aus dem Krater, die an der Luft zu dicken Klumpen
erstarren und wie Kuhfladen auf die Flanken des Kegels herunterfallen. Ein La-
vastrom fließt aus der Basis des Kegels und in das Dorf San Juan Parangaricuti-
romicuaro hinein, bis nur noch die Kirche herausguckt. Nach neun Jahren ist der
Spuk vorbei. Der Kegel ist 424 Meter hoch geworden. Niemand kam dabei zu
Tode, nur starben drei Menschen durch Blitzeinschläge, die von der Eruption
ausgelöst worden waren. Es ist ein strombolianischer Vulkan, benannt nach der
italienischen Vulkaninsel Stromboli nördlich von Sizilien. Da brodelt es auch
schon seit zweitausend Jahren ohne größere Katastrophen. Nicht sehr gefähr-
lich, es gibt selten Tote.
So sind auch diese schönen kleinen Kegel entstanden, die man vom Puy de
Dôme aus sehen kann. Die Stadt Clermont-Ferrand ist das Armero der Auver-
gne: Sie liegt am Ausgang des steilen Tales der Tiretaine, die in der Vulkankette
88 DER LANGE ZYKLUS

des Puy de Dôme entspringt. Vor 28 000 Jahren kamen dort genau solche Lava-
ströme herunter wie die jetzigen vom Parícutin. Doch die Stadt braucht keine
Schlammlawinen zu fürchten; es ist ein ruhiger Vulkanismustyp, wie der vom
Ätna. Nur selten geht es etwas stürmischer zu, wie der Lac Pavin und der Laacher
See bezeugen. Nun ist es schon seit knapp sechstausend Jahren ruhig in West-
europa. Niemand hat den nächsten Generationen überliefert, dass es hier sehr
ungemütlich zugehen kann. Wenn Guettard nichts gesagt hätte – vielleicht
wären wir nie darauf gekommen.

Manche Völker haben ein besseres kollektives Gedächtnis als Franzosen, Deut-
sche oder Niederländer. Zum Beispiel die Indianer um Crater Lake im Süden von
Oregon in den Vereinigten Staaten. Crater Lake ist ein großer Kratersee, eine
sogenannte Caldera, mit einem Durchmesser von zwölf Kilometern, entstanden
bei einem der vier größten Ausbrüche der letzten zehntausend Jahre. Die Erup-
tion war so gewaltig, dass der Vulkankörper des Mount Mazama, in der Größe
vergleichbar mit dem des Nevado del Ruiz, in seiner Gesamtheit eingebrochen ist
in die unter ihm liegende, entleerte Magmakammer. Mehr als 50 Kubikkilometer
Material wurden ausgestoßen in Form von Glutwolken und Ascheniederschlä-
gen. Diese Asche ist ein wichtiger Leithorizont in den Tiefseeablagerungen des
Stillen Ozeans. An der Nord- und Ostseite des Crater Lake fand man direkt unter
den Mazama-Ascheschichten Werkzeuge aus Obsidian und Speere. Mittels Koh-
lenstoff-14-Datierungen ist festgestellt worden, dass diese Artefakte etwa sieben-
tausend Jahre alt sind. Älter als die in Frankreich unter den Ascheschichten des
Pavin. Es gab also menschliche Augenzeugen dieser Eruption. Unter der Asche
lagen siebentausend Jahre alte Mokassins ...
1865 trifft ein junger Soldat den alten Häuptling der Klamath-Indianer, Lalek,
in der Nähe des Crater Lake, welcher ihm die folgende Geschichte erzählt: In
alten Zeiten, als die Menschen noch in Höhlen wohnten, sah Llao, der Häuptling
der Unterwelt, vom Gipfel des Berges Mazama aus eine wunderschöne Frau,
Loha. Er bat sie, ihn in die Unterwelt zu begleiten, doch sie weigerte sich. Sogar
das Versprechen, sie würde dadurch unsterblich werden, konnte sie nicht um-
stimmen. Auch ihr Volk wollte sie nicht dazu überreden, Llaos Angebot anzu-
nehmen. Llao war sehr erzürnt und versuchte, sie mit Donner und Feuer zu ver-
nichten. Skell, der Häuptling der Oberwelt, stieg aus dem Himmel herunter auf
den Berg Shasta, um ihr zu Hilfe zu kommen. Im darauf folgenden Kampf lo-
derte der Himmel und die Häuptlinge bewarfen sich mit glühenden Steinen.
Dann wurde es finster, die Erde erzitterte und es kam Feuer aus dem Berg von
Llao und setzte den Wald in Flammen. Der Stamm von Loha musste zum Wasser
des Klamath-Sees fliehen. Zwei tapfere Medizinmänner versuchten, die Gefahr
zu bannen, indem sie sich in das glühende Maul von Mazama, dem Berg von
Llao, warfen. Darauf ließ Skell die Erde so heftig beben, dass der Berg auf Llao
stürzte. Als sich schließlich die dunklen Aschewolken gelegt hatten und das
DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS 89

Licht wiedergekehrt war, war der Berg verschwunden und an seiner Stelle ein
riesiges Loch entstanden. Der Fluch des Feuers war aufgehoben, das Loch füllte
sich mit Regenwasser und so entstand Crater Lake.
Siebentausend Jahre! Es geht also doch! Die Klamath-Indianer haben diese
Geschichte von Vater auf Sohn überliefert, ihr kollektives Gedächtnis arbeitet
offensichtlich besser als das der Franzosen und der Niederländer. Vielleicht gab
es dort ja nicht so viele Völkerwanderungen wie bei uns in Europa. Und der Knall
von Crater Lake war natürlich um einiges heftiger gewesen als der von Lac Pavin.
Aber es gibt auch böse Zungen, die behaupten, diese Geschichte sei weniger alt
als die Eruption: Sie ähnelt denn auch sehr derjenigen von Inanna im sume-
rischen Gilgamesch-Epos und der griechischen Legende von Persephone. Noch
ein menschliches Maß.
6 Der Superlativ

„Non veggo che la grandezza e la piccolezza faccia i cerchi, i triangoli, i cilindri, i coni o
qualunque altre figure solide, soggette ad altre passioni ed altre quelle.“
„Ich sehe nicht ein, warum die Eigenschaften von Kreisen, Dreiecken, Zylindern, Ke-
geln oder anderen festen Formen von ihrer Größe abhängen sollten.“
Galileo Galilei, Le due nuove scienze

Was ist die Ursache für die Eskalation vulkanischer Gewalt? Warum produzieren
manche Vulkane, wie der Ätna, ordentlich jedes Jahr einen Lavastrom, ohne dass
es Opfer gibt, während andere es alle paar Jahrhunderte gewaltig krachen lassen
mit katastrophalen Folgen, wie der Ruiz, und warum kommt es bei manchen
sogar nur alle paar tausend Jahre zu einer Eruption, aber dann in unvorstellba-
rem Ausmaß, wie beim Mount Mazama? Welche Mechanismen liegen dem zu-
grunde? Gibt es, wie bei den Erdbeben, eine Stärkeskala für Vulkanausbrüche?
Ist auch hier von einer fraktalen Verteilung die Rede?
Magma ist geschmolzenes Gesteinsmaterial, in dem gelöste Gase eingeschlos-
sen sind. Diese Gase sind für die Explosionen verantwortlich, und die Gewalt der
Eruption hängt deshalb aufs Engste mit dem Verhalten und dem Volumen der
Gase zusammen. Es ist wie mit einer Flasche Bier. Ist der Kronkorken noch drauf
und schaut man durch die Flasche hindurch, sieht man kein Gas. Das Gas ist
zwar da, aber es hat sich im Bier gelöst. In der Flasche herrscht ein gewisser Über-
druck von einigen Bar, der verhindert, dass das Gas vorzeitig aus der Flüssigkeit
entweicht. Macht man die Flasche vorsichtig auf, gibt es keinen Überdruck mehr
und man sieht Kohlensäurebläschen entstehen: eine winzige Eruption. Schüttelt
man dagegen die Flasche kräftig, bevor man sie öffnet, entsteht auf einen Schlag
mehr Gas und es gibt eine heftige Eruption. Etwas Ähnliches passiert im Magma,
das durch die Erdkruste aufsteigt – auch darin ist das Gas gelöst, und erst wenn
es sich der Oberfläche nähert, entmischt sich das Gas und verursacht eine Erup-
tion.
Es gibt allerdings unterschiedliche Arten von Magmen. Manche sind sehr
dünnflüssig wie die glühenden Flüsse, die man in Katastrophenfilmen wie Vol-
cano und Dante’s Peak sehen kann. Gas, das in solchen dünnen Magmen gelöst ist,
tritt leicht aus, und deshalb sind die Eruptionen darin nicht sehr stark. Auch ist
nicht viel Druck nötig, damit es zu einer Eruption kommt, und folglich sind die
Eruptionen häufig. Der Ätna und der Stromboli sind dafür gute Beispiele, und
auch die meisten Vulkane der Chaîne des Puys und der Eifel. Aber es gibt auch
DER SUPERLATIV 91

Abb. 36: Quarzstruktur.

dickflüssige Magmen mit hoher Viskosität. Das darin gelöste Gas muss oft einen
hohen Druck überwinden, bevor es entweichen kann. Dazu braucht es viel Zeit,
und so dauert es lange, bevor es zu einer Eruption kommt. Eben deshalb ist diese
dann oft sehr stark.
Wie kommt es, dass die Magmen sich so unterschiedlich verhalten? Geschmol-
zenes Gestein besteht zum größten Teil aus Silikaten, chemischen Verbindungen
von Kieselsäure. Silikate sind aufgebaut aus Tetraedern von Silizium und Sauer-
stoff. Ein Tetraeder ist eine dreiseitige Pyramide, zusammengesetzt aus vier
gleichschenkeligen Dreiecken. Früher gab es Milchkartons in dieser Form.
Man kann sich das Magma vorstellen als eine Masse von Tetraedern, die unzu-
sammenhängend durcheinanderwuseln. Die Silikat-Tetraeder bilden grob ge-
schätzt die Hälfte der Ionen im Magma. Daneben enthält es Kalium, Natrium,
Magnesium, Aluminium und Eisen sowie kleine Mengen anderer Elemente.
Wenn sich das Magma abkühlt, kristallisiert es aus. Die Silikat-Tetraeder kön-
nen dann auf zwei Arten reagieren: Sie können sich direkt mit einem der anderen
Elemente verbinden, zum Beispiel mit Magnesium, was die schönen olivgrünen
Kristalle des Minerals Olivin ergibt, ein Magnesiumsilikat. Kauft man es beim
Juwelier, heißt es Peridot. Doch sie können sich auch mit den Eckpunkten anein-
anderkoppeln zu Ringen, Strängen oder Platten oder sogar dreidimensionalen
Strukturen wie in dem Mineral Quarz.
Die Koppelung beginnt bereits im flüssigen Magma, bevor die Kristalle sich
bilden. Je mehr Siliziumdioxid das Magma enthält, desto stärker neigen die Te-
traeder dazu, sich aneinanderzukoppeln und lange Silikatstränge zu bilden. Das
ist der Hauptgrund für die unterschiedliche Viskosität. Basische Magmen mit
einem niedrigen Kieselsäuregehalt sind nicht sehr zäh, aus ihnen entweicht das
Gas leicht. Aber in sauren Magmen mit einem hohen Kieselsäuregehalt ziehen
92 DER LANGE ZYKLUS

10
10

Rhyolitisches Magma
(600-900 ºC)
8
10

Viskositätseinheiten
6
10
Andesitisches Magma
(800-1000 ºC)

4
10
Basaltisches Magma
(1000-1200 ºC)

100

1
40 50 60 70 80
SiO2 (Gewichtsprozent)

Abb. 37: Viskosität des Magmas (logarithmische Skala!) als Funktion des SiO2-Gehalts.

sich die Tetraeder gegenseitig so stark an, dass das Gas einen hohen Druck auf-
bauen muss, bevor es freikommen kann: Das führt folglich zu starken Erupti-
onen. Intermediäre Magmen liegen irgendwo dazwischen.
Des Weiteren spielen noch zwei andere Faktoren eine Rolle. Basische Magmen
sind viel heißer als saure Magmen. Das rührt daher, dass der Schmelzpunkt oder
besser gesagt der Kristallisationspunkt der Mineralien in basischen Magmen viel
höher liegt als derjenige in sauren Magmen. Basische Magmen gerinnen schon
bei 1000 °C, saure erst bei 700 °C. Je höher die Temperatur, desto leichtflüssiger
wird eine Substanz, denken Sie nur an Butter, Kerzenwachs, Teer oder Glas. Der
Zusammenhang zwischen dem SiO2-Gehalt, der Viskosität und der Temperatur
ist in der obigen Abbildung dargestellt. Man sieht, dass eine lineare Zunahme
im Siliziumdioxidgehalt des Magmas eine logarithmische Zunahme in der Vis-
kosität mit sich bringt. Das kommt uns doch irgendwie bekannt vor: Ein Pro-
zent mehr SiO2 und das Magma wird ums Zehnfache zäher! Und verursacht also
auch eine zehnmal stärkere Eruption! Das ergibt eine ähnliche Skala wie die von
Richter.
Saure Magmen enthalten oft viel mehr Gas als basische Magmen. So tragen
Viskosität, Temperatur und Gasgehalt gemeinsam dazu bei, die Stärke einer
Eruption zu bestimmen.
Die Art des Magmas in einem Vulkan steht in engem Zusammenhang mit der
Plattentektonik. Basische Magmen entstehen hauptsächlich in den Spreizungs-
zonen, den Stellen, wo die Platten auseinanderdriften und die Erdkruste gedehnt
wird, wie auf Island und den Azoren. Dazu gehören auch die Stellen auf dem
DER SUPERLATIV 93

Festland, wo die Erdkruste sich öffnet, wie in der Auvergne, der Eifel und dem
Ostafrikanischen Graben. Hier finden wir vor allem Basalte. Vulkane in Deh-
nungsgebieten haben also im Allgemeinen häufige, doch wenig starke Erupti-
onen, wie der Ätna. Manchmal findet in einem basischen Magmaherd tief in der
Erdkruste eine Differentiation statt. Dann sinken die basischen Bestandteile des
Magmas zu Boden und ein saureres und viskoseres Magma schwimmt oben.
Kommt es dann zu einer Eruption, ist diese viel stärker, als wenn keine Differen-
tiation aufgetreten wäre. Das war der Fall beim Lac Pavin und beim Laacher
See.
Basische Magmen entstehen auch bei den sogenannten Hot spots. Hier steigen
tief aus dem Erdmantel heraus Hunderte von Kilometern hohe heiße Magma-
säulen empor, die sich nicht um die oben liegende Plattentektonik scheren, son-
dern wie mit einem Brennglas dort ein Loch durch eine Platte brennen, wo es
ihnen gerade einfällt. Hawaii ist dafür das klassische Beispiel. Hawaii ist vom
Meeresboden aus gemessen 9000 Meter hoch, hat einen Durchmesser von
250 Kilometern, bedeckt eine Fläche so groß wie die Niederlande und ist damit
der größte Vulkan der Welt. Hawaii produziert zumeist schnell strömende Ba-
saltflüsse, und so gut wie alle vulkanischen Flüsse in Katastrophenfilmen sind
hier aufgenommen worden. Doch auch bei diesem Vulkan kann Differentiation
auftreten, welche dann vermehrt explosive Eruptionen zur Folge hat.
Intermediäre und saure Magmen entstehen vor allem in Subduktionszonen
wie im Ring of Fire um den Stillen Ozean. Dort wird eine lithosphärische Platte
tief in die Erde hinuntergeschoben, bis sie schließlich schmilzt. Das neu gebil-
dete Magma ist leichter als der es umschließende Erdmantel und die Krustenge-
steine, wodurch es zur Oberfläche emporsteigt wie ein Ballon in den Sommer-
himmel.
Wenn die untergeschobene Kruste unter einer ozeanischen Kruste landet, wie
dies der Fall ist bei den Niederländischen Antilleninseln Saba und Sint Eustatius,
den Aleuten, den Kurilen und ähnlichen Inselbögen, so ist das Magma meist in-
termediär und die dazugehörigen Gesteine sind Andesite, benannt nach den
Anden. Die Vulkane in diesen Gebieten haben denn auch stärkere Eruptionen als
die Basaltvulkane in den Dehnungszonen. Ein Eruptionszyklus beginnt häufig
mit einem großen Ascheausbruch. Vulkanische Asche entsteht in erster Linie,
weil der Gasdruck im Magma so hoch ist, dass es bei der Eruption in zahllose
kleine Teilchen zerspratzt. Ebenso kann Asche entstehen, wenn das Magma un-
terirdisch mit Grundwasser in Berührung kommt. Erst später, wenn der Aus-
wurfkanal sauber ausgeputzt ist, quillt Lava empor: der Stratovulkan. Die Erup-
tionen des Nevado del Ruiz sind von solcher Art.
Schiebt sich die Kruste unter einen Kontinent, so schmilzt auch kontinentale
Kruste mit. Dann entsteht das SiO2-reichste Magma, das wir kennen: rhyoli-
tisches Magma. Dieses Magma ist so zäh, dass es Tausende bis Zehntausende von
Jahren dauern kann, bevor ein ausreichend hoher Gasdruck zu einer Eruption
94 DER LANGE ZYKLUS

führt. Dann aber ist dieser Ausbruch so gigantisch, dass er jegliche Vorstellungs-
kraft übersteigt.
Das war auch der Fall bei der Eruption des Mount Mazama vor siebentausend
Jahren. Der Mazama war ursprünglich ein gewöhnlicher andesitischer Stratovul-
kan, aber irgendwann war das Magma derartig zäh geworden, dass der gesamte
Vulkankörper gesprengt wurde. Es konnten keine Lavaströme mehr entstehen,
denn das ganze Magmareservoir zerspratzte in kleine Teilchen, und gewaltige
Mengen an Asche wurden ausgespuckt in Form von Aschewolken und Asche-
strömen. Etwas Ähnliches geschah bei anderen großen Ausbrüchen wie zum Bei-
spiel dem des Krakatau 1883, des Katmai 1912 und bei der größten Eruption in
historischer Zeit, der des Tambora 1815.
Daher war auch die Aufregung groß, als der französische Vulkanologe Pierre
Schiano und andere Kollegen berichteten, das Magma des Ätna sei in den letzten
Jahren saurer geworden und dem der Subduktionszonen immer ähnlicher – was
bedeuten würde, dass es in Zukunft größere, verheerendere Eruptionen geben
könnte. Die Meinungen über Schianos Schlussfolgerungen gehen jedoch ausein-
ander.

Können wir nun, wie wir das bei den Erdbeben getan haben, eine Intensitätsskala
konstruieren? Leider ist das nicht so ganz einfach: So etwas wie einen vulka-
nischen Seismografen, der direkt die Energie eines Ausbruchs messen könnte,
gibt es nun mal nicht. Stattdessen benutzt man den Volcanic Explosivity Index
(VEI) mit einer Skala von 0 bis 8, der vor allem auf dem Volumen des ausgewor-
fenen Materials und der Höhe der Eruptionssäule basiert.
Das Volumen des ausgeworfenen Materials zeigt eine mehr oder weniger log-
arithmische Zunahme von weniger als 10 000 Kubikmeter (VEI=0) bis mehr als
eine Billion Kubikmeter (VEI=8). Diese Zahlen sind an sich schon beängstigend.
Die größeren Eruptionen können Dutzende bis Hunderte von Kubikkilometern
Material ausstoßen. Hundert Kubikkilometer! Versuchen Sie, sich das mal vor-
zustellen! Das entspricht der Menge Wasser, die der Rhein während eines Zeit-
raums von anderthalb Jahren bei Lobith in die Niederlande bringt.
Nimmt man die Menge des ausgestoßenen Materials als Indikator des VEI, so
sind einige Einschränkungen zu bedenken. Erstens können basaltische Vulkane
große Mengen Lava ausstoßen, ohne dass eine Explosionstätigkeit vorliegt. 1743
flossen 12,3 Kubikkilometer basaltische Lava aus der Laki-Spalte auf Island –
aufgrund der Kriterien müsste diese Eruption einen VEI von 5 haben. Das ist
nicht der Zweck der Klassifikation. Deshalb beschränkt man sie auf das Volu-
men der ausgeworfenen Tephra, ein Sammelbegriff für alle lockeren vulka-
nischen Produkte wie vulkanische Asche und vulkanische Bomben, die vor allem
bei Explosionen entstehen. Die Laki-Spalte bekommt somit einen VEI von 0. Das
Volumen der Tephra ist jedoch besonders lästig zu bestimmen, da sehr dünne
Schichten Asche über sehr große Flächen verbreitet sein können und die Stärke
DER SUPERLATIV 95

der Ascheschichten sich von Ort zu Ort gewaltig unterscheiden kann. Asche-
schichten können vom Wind sehr stark in nur eine Richtung verweht worden
sein, andererseits werden manche Aschewolken nicht in die Höhe geworfen, son-
dern füllen als Glutwolken die Täler rund um den Vulkan auf. Auch das ergibt
sehr unregelmäßige Stärken. Es ist also viel geduldige Kartierarbeit nötig, um
das ausgeworfene Volumen zu bestimmen. Außerdem ist viel Asche von großen
Eruptionen wie zum Beispiel Krakatau, Tambora und Santorin im Meer herun-
tergekommen und deshalb noch schwieriger zu erforschen. Bimssteinbrocken
vom Krakatau sind mit den Ozeanströmungen über die ganze Welt verbreitet
worden. Wie soll man da die Gesamtmenge feststellen?
Die Höhe einer Eruptionssäule ist noch schwieriger zu bestimmen. Erupti-
onen tun uns nicht immer den Gefallen, an einem schönen Frühlingsmorgen
stattzufinden, während auf allen umliegenden Berggipfeln Kameras installiert
sind, wie es der Fall war beim Mount Saint Helens in den Vereinigten Staaten am
18. Mai 1980. Es kommt vor, dass die Höhe einer Eruptionssäule unfreiwillig
gemessen wird, wie es Manuel Cervera passierte, dem Piloten eines Flugzeuges
der Aerolineas del Caribe. Während eines nächtlichen Frachtfluges von Miami
nach Bogotá 1985 über den kolumbianischen Anden begann das Flugzeug auf
26 000 Fuß Höhe plötzlich ungestüm zu steigen und in der Kabine stank es
fürchterlich nach Schwefel. Er war mitten durch die Eruptionssäule des Nevado
del Ruiz geflogen. Als er wieder herauskam, waren die Scheiben des Cockpits von
den scharfkantigen vulkanischen Glasteilchen dermaßen zerkratzt, dass sie völ-
lig undurchsichtig geworden waren und er nur landen konnte, indem er seinen
Kopf aus dem Fenster streckte – „etwas, das ich keinem Piloten empfehlen kann“,
wie er in einem Interview sagte.
Durch Satellitenbeobachtungen stehen uns allmählich mehr Daten zur Verfü-
gung. Bei den meisten Eruptionen jedoch kann man nur versuchen, die Erupti-
onssäule zu rekonstruieren aufgrund der Verbreitung der Ascheteilchen rund
um den Vulkan und unter Zuhilfenahme von Strömungsmodellen der Asche-
wolken in Vulkanschloten und in der Atmosphäre.
Die Höhe der Eruptionssäule ist eine wichtige Information. Solange sie klein
ist, bleibt der Effekt der Ascheteilchen beschränkt auf die Troposphäre, die
unteren zehn Kilometer der Atmosphäre. Das ist der Fall bei den meisten Erup-
tionen mit einem VEI von 0 bis 3. Reicht aber die Eruptionssäule bis in die
darüberliegende Schicht, die Stratosphäre, so wird die Aschewolke von den
starken Luftströmungen über die ganze Welt verbreitet und das Klima kann
beeinflusst werden. Das passiert bei vielen Eruptionen mit einem VEI von 4
oder mehr. Die Grenze zwischen Troposphäre und Stratosphäre in zehn bis
zwölf Kilometern Höhe ist jedem wohlbekannt – es ist die Höhe, in der die
meisten Düsenmaschinen fliegen. Bleibt die Aschewolke unter dem Flugzeug,
gibt es keinen Grund zur Beunruhigung; steigt sie aber darüber, sollte man
sich warm anziehen.
96 DER LANGE ZYKLUS

VEI Eruption Land Tephra-Vol. Höhe der tödlich Anzahl der


Eruptions- bekannten
säule historischen
(km) Eruptionen
0 Masaya 1570 Nicaragua nur Lava <0,1 755
1 Poás 1991 Costa Rica >0,0001 km³ 0,1–1 1% 963
2 Ruapehu 1971 Neuseeland >0,001 km³ 1–5 2% 3631
3 Nev. del Ruiz 1985 Kolumbien >0,01 km³ 3–15 12 % 924
4 Mt. Pelée 1902 Martinique >0,1 km³ 10–25 31 % 307
5 Mt St Helens 1980 USA >1 km³ >25 38 % 106
6 Krakatau 1883 Indonesien >10 km³ 60 % 46
7 Tambora 1815 Indonesien >100 km³ 4
>1000 km³ 0
www.volcano.si.edu

Die Beziehung zwischen der Eruptionssäule und dem VEI ist nicht direkt:
Manche großen Ausbrüche zeigen statt einer hohen Eruptionssäule vor allem
seitwärts gerichtete Explosionen und produzieren Glutwolken, die in rasendem
Tempo hangabwärts fließen. So war es zum Beispiel bei der großen Eruption
des Montagne Pelée auf der französischen Antilleninsel Martinique 1902,
wobei 30 000 Menschen ums Leben kamen – der tödlichste Ausbruch des
20. Jahrhunderts. Wahrscheinlich war ein Pfropfen im Krater die Ursache
dafür. Die Tabelle oben sowie Abbildung 38 illustrieren einige charakteristi-
sche Eruptionen der letzten zehntausend Jahre mit ihrem VEI, dem ausgesto-
ßenen Volumen und dem Prozentsatz aller Eruptionen dieses VEI mit Todes-
opfern.

Wir haben bereits gesehen: Je mehr SiO2 das Magma enthält und je zäher es ist,
desto höher muss der Gasdruck sein, damit es zu einer Eruption kommen kann.
Das Aufbauen des Gasdrucks kostet Zeit. Je saurer das Magma, desto stärker die
Eruption, aber auch desto seltener. Je höher der VEI, desto länger dauert es bis
zur nächsten Eruption. Auch das Zeitintervall zwischen zwei Eruptionen zeigt in
groben Zügen einen logarithmischen Zusammenhang mit dem VEI. Das ergibt
sich vor allem aus der Auswertung der aufgezeichneten Eruptionen im Datenbe-
stand der Smithsonian Institution. Von den 6736 Eruptionen in den letzten zehn-
tausend Jahren, die dort registriert wurden, haben 5349 einen VEI von 0 bis 2,
924 einen VEI 3, 307 einen VEI 4, 106 einen VEI 5, 46 einen VEI 6 und 4 einen
VEI 7. Diese Zahlen sind natürlich sehr unsicher, denn von vielen Eruptionen der
Vergangenheit ist wenig bekannt, und ihre Tephravolumina und ihre Eruptions-
DER SUPERLATIV 97

Volcanic Explosivity Index (VEI)

Prozentsatz der Eruptionen in der jeweiligen Explosivitätsgruppe


50%
6 (äußerst explosiv)
0
50%
5
0
50%
4
0
50%
3
0
50%
2
0
50%
1
0
50%
0 (nicht explosiv)
0
0 1 10 100 1000 10.000
Zeitintervall zwischen den Eruptionen (Jahre)

Abb. 38: Zeitintervalle zwischen den Eruptionen und Volcanic Explosivity Index.

Außgestoßenes Volumen (km3)


-2 2
2 10 1 10
10 1785-1985
1975-1985

10
Frequenz (Anzahl pro Jahr)

0,1

-2
10

D = 2,14

-3
10 2 3 4
10 10 10
r, m

Abb. 39: Frequenz-Magnitude-Diagramm (vertikale Achse: Eruptionsfrequenz; horizontale


Achse: Volumen der ausgestoßenen Tephra) für Eruptionen von 1785–1985 und für den
Zeitraum von 1975–1985. Auch hier: Je größer die Menge des ausgestoßenen Materials,
desto seltener sind die Eruptionen.
98 DER LANGE ZYKLUS

40

Bekannte Vulkane (und Weltbevölkerung,


70 600

Anzahl aktiver Vulkane pro Jahr


60 500
30

in Zehner-Millionen)

Reporting Index
50
400
40
300 20
30
200
20 10

10 100

0 0 0
1400 1500 1600 1700 1800 1900 1980
Jahr

Aktive Vulkane Weltbevölkerung


Bekannte Vulkane Reporting Index

Abb. 40: Reporting Index von vulkanischen Eruptionen.

säulenhöhen wurden rekonstruiert auf der Basis von mangelhaften Informati-


onen. Eruptionen, über welche man überhaupt keine Aussagen machen konnte,
haben sämtlich einen VEI 2 bekommen, das Bild kann also stark verzerrt sein.
Die Smithsonian Institution hat auch für jeden VEI berechnet, wie groß das
Zeitintervall ist zwischen aufeinanderfolgenden Eruptionen. Das Ergebnis war,
dass Eruptionen mit einem VEI bis 3 im Schnitt einmal alle 1 bis 10 Jahre vor-
kommen, solche mit einem VEI 4 einmal alle 10 bis 100 Jahre, solche mit einem
VEI 5 einmal alle 100 bis 1000 Jahre und die mit einem VEI 6 einmal alle 1000 bis
10 000 Jahre. Das sind genau solche Frequenz-Magnitude-Relationen, wie wir sie
im vorigen Kapitel kennengelernt haben, und man kann sie ähnlich wie bei Erd-
beben in einer Grafik darstellen.
Es sind etwa 1300 bis 1500 aktive Vulkane bekannt, d. h. Vulkane, die im Ho-
lozän, also in den letzten zehntausend Jahren, ausgebrochen sind. Gegenwärtig
sind zirka zwanzig Vulkane aktiv; sechzig Vulkane haben in den Neunzigerjah-
ren jedes Jahr einen Ausbruch gehabt; es gab insgesamt 154 Eruptionen zwischen
1990 und 1999; und 550 sind in historischer Zeit ausgebrochen. Diese Zahlen
beziehen sich nur auf Vulkane auf dem Festland. Auf dem Meeresboden, na-
mentlich in den Spreizungszonen der mittelozeanischen Rücken, soll es etwa
eine Million Vulkane geben, laut den Daten der Smithsonian Institution. Die
Mehrzahl ist aber basaltisch und zeigt wenig oder keine explosive Aktivität.

Welche vulkanischen Katastrophen erwarten uns in den nächsten zehntausend


Jahren? Wer apokalyptische Szenarien liebt, wird mit großem Wohlgefallen die
Kurven betrachten, die Simkin und Kollegen 1981 erstellten.
DER SUPERLATIV 99

Sie ähneln genau der dramatischen hockeystick-Kurve der Klimaerwärmung, die


wir später noch kennenlernen werden. Die Kurven von Simkin zeigen, dass die
Anzahl der bekannten aktiven Vulkane in den letzten sechshundert Jahren dra-
matisch zugenommen hat. Die Krux steckt natürlich in dem Wörtchen ‚bekannt‘.
Die Kurven bedeuten nicht, dass seitdem mehr vulkanische Eruptionen aufge-
treten sind, sie zeigt nur, dass immer mehr Vulkane in der Literatur beschrieben
wurden. Das hat zu tun mit dem Bevölkerungswachstum, der gestiegenen Reise-
lust und dem Entdeckertrieb unserer Vorfahren sowie der fortwährenden Ver-
besserung der Kommunikationsmittel, der besseren Bildung und auch dem im-
merzu wachsenden Interesse der Menschen an Naturphänomenen. Zu Anfang
unserer Zeitrechnung wurden die Namen von nur neun aktiven Vulkanen im
Mittelmeergebiet beschrieben, des Weiteren nur noch Mount Cameroon in
Westafrika. In den zehn darauffolgenden Jahrhunderten kamen lediglich 17
Namen dazu, davon 14 in Japan. Die ersten historischen Eruptionen in Indone-
sien fanden in den Jahren 1000 und 1006 statt. Kurz darauf wurde Island von
Menschen besiedelt, und es kamen noch neun dazu. Um 1380 waren 48 Vulkane
auf der Liste. Von diesem Zeitpunkt an beginnt die hockeystick-Kurve von Simkin
tüchtig anzusteigen. Auch die Anzahl der bekannten Eruptionen hat weiter stark
zugenommen, sowohl von rezenten als auch von neu entdeckten in der geolo-
gischen Geschichte. In der ersten Auflage von Simkins Buch 1981 sind 4815
Eruptionen aufgeführt, in der zweiten 5337 und in der Internetversion 2004 sind
es bereits 6736.
Wie vorsichtig man mit diesen Kurven sein sollte, ist ersichtlich aus der Tat-
sache, dass es in den Wachstumskurven zwei Täler gibt. Diese fallen genau zu-
sammen mit den beiden Weltkriegen – die Menschen hatten zu der Zeit andere
Sorgen als das Beschreiben von Eruptionen. Trotzdem werden in manchen Kli-
mastudien diese Einbrüche noch als Naturphänomene interpretiert. Auch ist zu
erkennen, dass es nach einem großen Ausbruch vermehrt Meldungen von Erup-
tionen gibt, weil die Menschen Vulkane dann besonders aufmerksam beobach-
ten. Fasst man die Daten der letzten vierzig Jahre zusammen, also seit das Global
Volcanism Programme der Smithsonian Institution seinen Anfang nahm, so
sieht man, dass im Schnitt jährlich 50 bis 70 Eruptionen stattfinden, ohne große
Fluktuationen.
Um das festzustellen, gibt es auch andere Methoden. Seit etwa zwanzig Jahren
können große stratosphärische Eruptionen auch in Bohrungen in den Eiskap-
pen von Grönland und der Antarktis nachgewiesen werden; allerdings nicht in
erster Linie durch die Ascheteilchen, die auf dem Eis niedergegangen sind. Eine
Eruptionssäule, die die Stratosphäre erreicht, enthält in der Regel große Mengen
Schwefeldioxid. Das verbindet sich mit dem atmosphärischen Wasser zu kleins-
ten Schwefelsäuretropfen, die mit dem Niederschlag auf den Eiskappen landen
und bestimmt werden können, weil das Eis dort eine viel höhere Leitfähigkeit
hat. Auch die Konzentration der Sulfat-Ionen kann gemessen werden. Eine Kon-
100 DER LANGE ZYKLUS

Erster Zweiter
Weltkrieg Weltkrieg
70

Anzahl aktiver Vulkane pro Jahr


60
Gesamt
Krakatau Pelée
50

40

30 Neu

20

10

0
1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980
Jahr

Abb. 41: Scheinbare Zunahme der Eruptionshäufigkeit seit 1860 und scheinbare Abnahme
während der zwei Weltkriege. Obere Kurve: dreijährig fortschreitendes Mittel; untere: ohne
die Vulkane, die im vorangegangenen Jahr schon aktiv waren.

zentration von mehr als 24 ppb (parts per billion / Teile pro Milliarde) Sulfat im
Eis ist in der Regel ein Hinweis auf einen vulkanischen Ausbruch.
So haben der amerikanische Vulkanologe Gary Zielinski und seine Kollegen in
den grönländischen Eiskernen für die letzten tausend Jahre Spuren von 43 Erup-
tionen mit einem rekonstruierten VEI von 3 bis 7 gefunden, davon sieben der
Kategorie 6 bis 7. Die Registrierung kann zwei Jahre Verzug haben, wenn der
Vulkan weit von Grönland entfernt lag, vor allem bei Eruptionen in äquatorialen
Gebieten. Und Eruptionen im Sommer erreichen die Eiskappe langsamer als sol-
che im Winter, denn im Sommer gibt es weniger Vermischung zwischen äquato-
rialen und polaren Luftmassen. Die Spuren der großen Eruptionen mit einem
VEI von 6 bis 7 des Tambora (1815), des Krakatau (1883) und des Katmai (1912)
sind alle drei gefunden worden. Auch sind große Eruptionen wie diejenige von
580 n. Chr. nachgewiesen worden, die wir noch keinem Vulkan zuordnen konn-
ten. In einer tieferen Eisbohrung auf Grönland, dem GRIP-Kern, welcher die letz-
ten 110 000 Jahre abdeckt, fanden Zielinski und sein Team gut 1000 Eruptionen
dokumentiert, mit einem Mittel von neun Eruptionen mit einem VEI von 6 oder
höher pro tausend Jahre. Der Durchschnitt von zehn pro Millennium, den Sim-
kin aus der historischen Registrierung ableitete, bleibt also einigermaßen kons-
tant, wenn es auch große Schwankungen um diesen Mittelwert gibt.
Die Daten aus den Eiskappen haben die Theorie widerlegt, die Eruption des
Santorin sei die Ursache gewesen für den Untergang der minoischen Kultur: Die
Eruption mit einem VEI von 6 hat mindestens hundertfünfzig Jahre früher statt-
gefunden, nämlich um 1650 v. Chr. Wahrscheinlicher ist, dass ein Erdbeben
dafür die Ursache war. Von allen Eruptionen, die in den letzten zweitausend Jah-
DER SUPERLATIV 101

ren in den Eiskappen registriert sind, können 83 Prozent an historisch bekannte


Ausbrüche gekoppelt werden. Das beweist, dass der Datenbestand der Smith-
sonian Institution sich allmählich vervollständigt. Er ist zum kollektiven vul-
kanischen Gedächtnis der Menschheit geworden.

Also business as usual bis zum Jahre 10 000? Einfach so weiter wie bisher? Einige
zehntausend Opfer pro Jahrhundert? Genauso viele, wie in Europa jährlich im
Straßenverkehr ums Leben kommen? So einfach ist es leider nicht. Drei Fak-
toren versalzen uns die Suppe – an erster Stelle das Bevölkerungswachstum. Wir
sahen bereits beim Nevado del Ruiz, dass die Zahl der Opfer nach der Eruption
von 1985 20-mal so hoch war wie bei einer ähnlichen Eruption 1845. Das rührt
daher, dass die Menschen in diesen Gebieten offenbar das vulkanische Risiko in
Kauf nehmen. An den Karten zur Bevölkerungsdichte von Südamerika, Afrika
und Südostasien ist dies deutlich abzulesen. Die größten Bevölkerungskonzen-
trationen sind immer dort zu finden, wo vulkanische Asche den Boden fruchtbar
macht: Die nördlichen Anden in Südamerika sind dicht bevölkert, nicht jedoch
das Amazonasgebiet, wo das Klima genauso feucht ist; Java und Sumatra in Süd-
ostasien, aber nicht Borneo; ebenso das Gebiet der großen Seen in Ostafrika, je-
doch nicht der kongolesische Regenwald. Es ist nicht nur ein Versagen des kol-
lektiven Gedächtnisses, sondern eine bewusste (und in vielen Fällen auch notge-
drungene) Wahl für einen kurzfristigen Vorteil, den die Vulkane zu bieten haben,
nämlich einen höheren Ernteertrag, wobei man das langfristige Risiko ebendie-
ser Vulkane in Kauf nimmt. Die Zahl der Opfer zukünftiger Ausbrüche wird sich
wahrscheinlich erhöhen, solange die Bevölkerung in den vulkanischen Gebieten
zunimmt.

So gesehen ist der Vesuv vielleicht der gefährlichste Vulkan der Welt, folgt man
dem italienischen Vulkanologen Franco Barberi. Davon ahnte ich nichts, als ich,
Student von 19 Jahren, an den Hängen dieses Berges begeistert Steine sammelte.
Ich habe sie noch immer: große rotbraune Gesteinsbrocken voller Hohlräume an
den Stellen, wo die expandierenden Gasbläschen sich befunden haben, und darin
schwarze Pyroxenkristalle. Doch selbst wenn ich es gewusst hätte – ich hätte es
nicht bleiben lassen. Glaube ich.
Vier Millionen Menschen leben rund um den Vesuv. Im Normalzustand hat
der Vulkan einen offenen Schlot und trägt eine kleine Rauchfahne; dann hat er
regelmäßig kleinere Eruptionen mit einem VEI von 3. Aber seit 1944 ist die
Rauchfahne verschwunden, der Schlot ist dicht und unter ihm baut sich ein
Druck auf mit viel höheren Werten als zuvor. Jetzt kann es zu einem Ausbruch
kommen mit einem VEI von 4 wie in den Jahren 472 und 1631; aber auch einer
mit einem VEI von 5 ist denkbar wie der von 79 n. Chr., der durch die Beschrei-
bung von Plinius berühmt geworden ist und die Vernichtung von Pompeji und
Herculaneum zur Folge hatte. Und die Campi Flegrei bei Neapel und der Lago di
102 DER LANGE ZYKLUS

Bolsena nördlich von Rom sind kilometergroße Krater von gigantischen Ausbrü-
chen früherer Zeiten, dem Mazama vergleichbar. So etwas kann auch beim Vesuv
eintreten.
Zum ersten Mal in der Geschichte wird daher versucht, die Bevölkerung prä-
ventiv aus der Umgebung des Vesuv zu evakuieren. Neue Häuser dürfen nicht
mehr gebaut werden und es gibt Subventionen für diejenigen, die ihre Häuser
verkaufen oder umwandeln in ein bed & breakfast für Touristen. Es existieren
Katastrophenpläne für die am meisten bedrohten Zonen: Jedes Dorf in der Um-
gebung des Vesuv hat eine Partnerstadt irgendwo in Italien, wohin sich die Be-
wohner im Falle eines Ausbruchs begeben sollen. Innerhalb von sieben Tagen
soll die gesamte Bevölkerung der roten Zone, des am stärksten bedrohten Ge-
bietes mit einer halben Million Menschen, evakuiert werden können.

Auch aus einem anderen Grund lässt sich die Anzahl der möglichen zukünftigen
Opfer schwer vorhersagen. Es gibt nämlich keinen linearen Zusammenhang zwi-
schen dem Volcanic Explosivity Index und der Anzahl der Toten. Die tödlichsten
Ausbrüche des 20. Jahrhunderts, die des Montagne Pelée 1902 (VEI 4, 30 000
Tote) und des Nevado del Ruiz (VEI 3, 25 000 Tote), waren verhältnismäßig klein.
Es waren die Begleitumstände, die dafür sorgten, dass sie der Menschheit im Ge-
dächtnis bleiben werden: im ersten Fall die Glutwolke, im zweiten der Schlamm-
strom. Beim Krakatau war es die Flutwelle, die 34 000 Menschen das Leben kos-
tete, und beim Tambora 1815 die Hungersnot aufgrund der klimatischen Auswir-
kungen in den gemäßigten Breiten. Wir versuchen, heraufziehende Katastrophen
vorherzusehen mittels neuer Beobachtungssysteme. Wärmedetektoren entlang
den Flusstälern sollen frühzeitig vor Schlammströmen warnen, Satelliten messen
mithilfe der Radarinterferometrie das Anschwellen von Vulkanen, bevor sie zum
Ausbruch kommen, und andere Sensoren analysieren die chemische Zusammen-
setzung der Rauchfahne, die eine baldige Eruption ankündigen kann. Doch dieses
Buch handelt nicht von der Katastrophenprävention.

Der dritte Faktor, der Vorhersagen in Bezug auf vulkanische Risiken in den kom-
menden zehntausend Jahren unsicher macht, ist weniger leicht zu fassen. Wer
sich die VEI-Tabelle genau angesehen hat, weiß, dass der VEI höchstens die
Stärke 8 hat. Im Datenbestand der Smithsonian Institution ist kein einziger Aus-
bruch dieser Magnitude vorhanden. Solche Eruptionen sind derart selten, dass
sie in historischer Zeit und selbst in den letzten zehntausend Jahren nicht vorka-
men. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt!
Mitten in Nordsumatra liegt der riesige Tobasee, 100 mal 30 Kilometer groß
und bis zu 400 Meter tief. In ihm liegt eine große, muschelförmige Insel namens
Samosir wie ein gigantisches umgeschlagenes Boot – so beschreibt es Rudy Kous-
broek in seinen indonesischen Jugenderinnerungen Terug naar Negri Pan Erkoms.
Er ist kein echter Kratersee, dafür ist er zu groß und zu unregelmäßig geformt.
DER SUPERLATIV 103

Aber dass er vulkanischen Ursprungs ist, weiß man schon sehr lange. Der nieder-
ländische Vulkanologe van Bemmelen nannte ihn 1939 eine vulkanotektonische
Depression. Von oben betrachtet sieht er ein wenig aus wie der offene Rücken
von Sumatra. Der Zeitpunkt der Eruption ist heutzutage bekannt: vor etwa
71 000 bis 75 000 Jahren. Einig ist man sich auch über die Menge der ausgewor-
fenen Tephra: etwa 2800 Kubikkilometer Material (festes Gestein, Gasblasen
nicht mitgerechnet). Riesige Glutwolken bedeckten eine Fläche von 20 000 bis
30 000 Quadratkilometern in Nordsumatra, so groß wie das gesamte nieder-
ländische Festland, mit einer durchschnittlich 50 Meter dicken Ascheschicht!
2800 Kubikkilometer! Und die größte Eruption in historischer Zeit war die des
Tambora mit etwa 100 Kubikkilometern! Die Form des Sees und die Art der
Asche legen die Vermutung nahe, dass sich eine gigantische Magmakammer in
einem Zeitraum von neun bis vierzehn Tagen schlagartig geleert und eine Erup-
tionssäule von mehr als 30 Kilometern Höhe verursacht hat. Die Insel Samosir
ist alles, was von dem eingestürzten Dach übrig geblieben ist. Es scheint, als
konzentrierten sich die Kräfte der Natur vorzugsweise auf Nordsumatra.
Auch für Wissenschaftler ist es schwierig, angesichts derart unvorstellbarer Ka-
taklysmen objektiv zu bleiben. Auf der einen Seite steht die Gruppe der amerika-
nischen Vulkanologen Mike Rampino und Steven Self sowie des Anthropologen
Stanley Ambrose, die das Ausmaß der Katastrophe weitestmöglich aufbauschen
möchten; auf der anderen Seite stehen etwas nüchternere Zeitgenossen wie ihr
Kollege Clive Oppenheimer, der sagt ‚ach was, alles halb so wild‘. Die Kontro-
verse hat einige Ähnlichkeit mit derjenigen über die globale Erwärmung.
Rampino und Self vertreten die Ansicht, der Ausbruch habe eine solche Menge
an Aerosolen, vor allem Schwefelsäuretröpfchen, in die Atmosphäre verbracht,
dass für sechs Jahre ein vulkanischer Winter eintrat, gefolgt von einer tausend
Jahre andauernden Kälteperiode. Die mittleren Jahrestemperaturen auf der
Nordhalbkugel seien um drei bis fünf Grad abgesunken, die Sommertempera-
turen im hohen Norden Kanadas sogar um zwölf Grad; und dies zu einer Zeit, da
das Klima ohnehin schon auf eine neue Eiszeit zustrebte, gesteuert von der un-
erbittlichen Milanković-Zyklizität. Der Ausbruch habe den Eintritt der Eiszeit
kräftig beschleunigt.
Stanley H. Ambrose von der Universität Illinois blies in dasselbe Horn. Er be-
hauptete 1993, der vulkanische Winter sei derart vernichtend gewesen, dass die
meisten Vorläufer des modernen Menschen daran zugrunde gegangen seien. Ne-
andertaler lebten in Eurasien und der Levantine, Homo heidelbergensis in China,
Homo erectus in Südostasien und Homo sapiens, der moderne Mensch, in Afrika.
Nur der Letztere habe im Regenwald die Möglichkeit gehabt, den vulkanischen
Winter zu überleben. Genetiker hatten schon darauf hingewiesen, dass um diese
Zeit der menschliche Genpool eine Art Flaschenhals passiert hatte. Die gene-
tische Diversität des modernen Menschen sei erst etwa 70 000 Jahre alt, davor
scheinen fast alle von denselben Vorvätern abzustammen.
104 DER LANGE ZYKLUS

Die BBC fand das alles sehr unterhaltsam und ließ Ambrose lang und breit zu
Wort kommen in ihrer Serie über menschliche Evolution. „Es dauerte lange, und
es war bitterkalt. Nicht nur das: Eine Temperaturabsenkung dieses Umfangs
brachte sicherlich auch eine furchtbare Trockenheit mit sich. Seen trockneten
aus, die Welt wurde zu Sand. Jedes Jahr war trockener als das vorhergehende. Das
führte auch zu Veränderungen in der sozialen Struktur der Überlebenden in
Afrika: Sie waren durch das raue Klima in höherem Maße aufeinander angewie-
sen und mussten mehr zusammenarbeiten“, sagte Ambrose vor einem Millio-
nenpublikum. Herrliche Spekulationen; niemand kann sie beweisen. „Und sehen
Sie nur“, sagte er, „ihre Steinwerkzeuge veränderten sich ebenfalls zu dieser Zeit,
weil sie effizienter werden mussten.“ Noch nicht direkt ein Beweis, würde ich
sagen.
Mittlerweile ist die These vom vulkanischen Winter alles andere als sicher,
meint Clive Oppenheimer. Seit der Zeit, als Rampino, Self und Ambrose ihre
Theorien lancierten, sind viel mehr Daten verfügbar geworden. Der Vulkanologe
Gary Zielinski hat auch die Spuren der Toba-Eruption im Grönlandeis wieder-
gefunden. Das Eis enthält dort fünfmal so viel Sulfat wie das der Tambora-
Eruption 1815, rund 2000 ppb, während die Anzahl der Ascheteilchen von Toba
35-mal so groß ist wie von Tambora. Dies hätte eine Temperaturabsenkung von
höchstens einem Grad bewirkt, meint Oppenheimer. Die Kälteperiode nach dem
Ausbruch sei auch nicht ausgeprägter gewesen als andere frühere oder spätere
Stadiale. Die Folgen einer solchen Eruption sind seiner Meinung nach regional
viel gravierender als die weltweiten Klimaeffekte.
Und den Flaschenhals sollte man in die richtige Beziehung setzen; auch die
Genpools von See-Elefanten, Fruchtfliegen, Sardinen, Fadenwürmern, Koalas
und einigen Menschenaffen haben einen Flaschenhals passiert, aber alle zu ver-
schiedenen Zeiten. Könnte man von einem volcanic winter reden, so müssten alle
gleichzeitig einen Schlag verpasst bekommen haben. Doch nur eine Schimpan-
senart ist mit von der Partie. Das unter Genetikern am häufigsten akzeptierte
Alter dieses Flaschenhalses ist außerdem um einiges höher: etwa 200 000 Jahre,
und dann immer noch mit einer großen Unsicherheitsmarge.
Wie das nun mal so ist, geben Rampino und Ambrose nicht auf; so schnell
lässt man sich eine spektakuläre Geschichte nicht nehmen. Die Diskussion wird
wohl noch eine Weile andauern.
Die Eruption vom Tobasee ist so unwahrscheinlich viel größer als alles, was
wir in historischer Zeit erlebt haben, dass wir uns davon eigentlich keine Vorstel-
lung machen können. Es bedeutet, dass alles, was wir bis dato gesehen haben,
unbedeutend ist im Vergleich zu dem, was uns in Zukunft erwarten könnte. Nur:
Auch diese Eruption hält sich an die Regeln der Frequenz-Magnitude-Relati-
onen, die wir früher schon beschrieben haben: je größer, desto seltener. Schaut
man noch weiter in die Vergangenheit zurück, so sieht man, dass auch der Toba-
see schon frühere Eruptionen erlebt hat: im Mittel alle 400 000 Jahre. Hält er sich
DER SUPERLATIV 105

800

SO42-(µg/kg)

400

800
Ca2+(µg/kg)

400

0
80

60
Leitfähigkeit

40

20

0
-34
Wärmer

-36

-38
δ18O

-40

-42
Kälter
-44
60 65 70 Toba 75 80

Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 42: Schwefelsäuretröpfchen (oben), elektrische Leitfähigkeit (Mitte) und Sauer-


stoffisotope (unten) in der grönländischen Eiskappe zeigen, dass die größte Kälte kurz nach
der Toba-Eruption auftrat (alt rechts, jung links!).

an seinen Zyklus, dann haben wir noch gut 300 000 Jahre Zeit, bevor er wieder
ausbricht. Also nur keine Sorgen machen? So einfach ist es auch wieder nicht,
denn der Tobasee ist nicht der einzige seiner Art. Auch Yellowstone Park in den
USA stößt alle halbe Million Jahre mehr als 1000 Kubikkilometer Asche aus. Und
es gibt noch mehr von dieser Sorte. Homo sapiens ist so um die zweihunderttau-
send Jahre auf der Erde, einschließlich seiner Vorgänger sind es vielleicht fünf
Millionen Jahre. In dieser Zeit muss es mindestens 20 Eruptionen mit einem VEI
von 8 gegeben haben. Eigentlich wurde der moderne Mensch noch nicht wirklich
106 DER LANGE ZYKLUS

auf die Probe gestellt. Wir leben in von der Natur geliehener Zeit. Wir messen die
Natur noch immer mit einem menschlichen Maß, nicht mit ihrem eigenen.
Charles Lyells Paradigma the present is the key to the past funktioniert hier nicht
mehr. Was man in einem Menschenleben, ja selbst in dem gesamten Zeitraum
dokumentierter Menschheitsgeschichte sieht oder erlebt, reicht nicht aus, um
die natürlichen Prozesse zu begreifen. Wir müssen Lyells Aussage umkehren:
the past is the key to the present.

1964 saß ich als 17-jähriger Schüler auf dem Capo Miseno, nicht weit von Neapel
entfernt. Zum ersten Mal sah ich das blaue Wasser des Tyrrhenischen Meeres. Ich
dachte an die soeben besuchten Solfataren auf den Campi Flegrei bei Pozzuoli.
Sie waren eine Station der Italien-Klassenfahrt meiner Schule, des Städtischen
Gymnasiums in Middelburg. Ein Führer hatte eine Zeitung bei den ploppenden
Gasblasen verbrannt. Das erhöhe den Druck, meinte er, und tatsächlich: Das
Ploppen wurde stärker. Es hatte mich tief beeindruckt. Ich sah auf die kreisför-
mige Bucht hinaus und zu den Inseln weit draußen im Meer, Nisida, Procida und
Ischia. Das raue poröse Gestein kratzte an meinen Beinen. Ich saß am Rande
eines gigantischen Kraters, der vor vierzigtausend Jahren ausgebrochen war. Es
war mein erster Vulkan. Aber ich wusste es nicht.
7 Hitzewellen, Kältewellen

„Levius accidunt familiaria; ex insolito formido maior est. Quare autem quicquam
nobis insolitum est? Quia naturam oculis non ratione comprendimus nec cogitamus
quid illa facere possit sed tantum quid fecerit.“
„Was häufig vorkommt, erschreckt uns nicht so sehr, wir erschrecken mehr über etwas
Ungewohntes. Doch warum finden wir etwas ungewohnt? Weil wir die Natur mit un-
seren Augen anschauen und nicht mit unserem Verstand, und weil wir nicht daran
denken, was sie machen könnte, sondern nur daran, was sie gemacht hat.“
Seneca, Naturalium Quaestionum VI, 3
(über das Erdbeben von Pompeji, 63 n. Chr.)

Ein Herbstmorgen in Bologna. Ich stehe auf. Es ist noch früh, aber die Männer
auf dem Dach gegenüber sind schon bei der Arbeit. Sie legen die konvexen und
konkaven Dachziegel, die Pater und die Nonnen, in perfekte Muster aufeinan-
der, als spielten sie Patience. Sie tragen dicke Jacken, und ich sehe ihre weißen
Atemwölkchen. Es verspricht frisch zu werden, wahrscheinlich zu kalt für nur
ein Oberhemd. Ich ziehe einen Pulli an und eine warme Cordhose. Frühstück.
Dann den Schal um und die kurze Lederjacke an – wie die Männer auf dem Dach.
In die Innentasche kommt der Knirps, denn heute Nachmittag soll es Regen
geben. So passe ich mich dem heutigen Wetter an. „The reasonable person fits
himself to the world, while the unreasonable person tries to bend the world to fit
himself“, sagte G. B. Shaw. Aber er fügte hinzu: „Thus, all human progress has
been achieved by unreasonable people.“ Im Hinblick auf das Wetter sind wir
keine unvernünftigen Menschen. Wir investieren lieber Energie in die Vorher-
sage des Wetters als in dessen Veränderung.
Früher meinten wir noch, wir könnten das Wetter beeinflussen. Regenma-
cher im trockenen Westen der Vereinigten Staaten erzeugten erfolgreich Re-
genschauer, indem sie Wolken mit Silberjodidkristallen besprengten oder mit
Trockeneis. Der Regen jedoch, der an einer Stelle hervorgerufen wurde, war
derselbe, der anderswo ausblieb und Trockenheit verursachte, sodass aufge-
brachte Farmer die kleinen Flugzeuge der Regenmacher abschossen. Oder
aber die Regenerzeugung führte zu unkontrollierbaren Wolkenbrüchen wie in
Rapid City in South Dakota 1972, wo 238 Menschen bei Überschwemmungen
ums Leben kamen. Die Folge waren Prozesse, die klären mussten, wem das
Wetter gehörte. So far for human progress.
108 DER LANGE ZYKLUS

Dann past man sich doch lieber an und nimmt den Regenschirm mit, das Wetter
kann jederzeit umschlagen.
Das Klima verändert sich auch. Doch daran möchte nicht jeder sich anpassen.
„Rettet das Klima“, sagen manche. Macht unser Klima nicht kaputt. Das hört
sich merkwürdig an, etwa so wie: Macht unser Wetter nicht kaputt. Doch das
ruft niemand, denn jeder hat einen Pulli und ein T-Shirt im Schrank und zur Not
auch noch einen Regenschirm. Und Regen möchte auch niemand mehr machen.
Warum darf das Wetter sich verändern, aber das Klima nicht?
Das Klima ist nichts anderes als der durchschnittliche Zustand des Wetters in
einem bestimmten Gebiet, berechnet über einen Zeitraum von dreißig Jahren. So
stand es in meinem Lehrbuch, dem Taschenbuch Meteorologie von F. H. Schmidt;
so beschrieb es mein Dozent Van Zuylen, als ich noch in Amsterdam studierte;
und so definiert das meteorologische Institut KNMI es noch immer. Der letzte
offizielle 30-jährige Standardzeitraum der World Meteorological Organization
war der von 1961 bis 1990, und der darauffolgende offizielle Zeitraum erstreckt
sich über die Jahre 1991 bis 2020. Welches ist da „unser“ Klima? Welches Klima
soll gerettet werden? Das gegenwärtige, das von 2004? Das ist nicht möglich,
denn ein Jahr hat kein Klima. Oder das der offiziellen Periode 1961 bis 1990?
Oder das der Fünfzigerjahre, als ich in unserem sommerlichen Garten im Ge-
wächshaus selig mit Muscheln spielte? Oder das der Kleinen Eiszeit, als man gut
Schlittschuh laufen konnte – oder ist das etwa ein wenig zu kalt? Das Klima darf
nicht wärmer werden, aber soll es denn immer gleich bleiben, damit es für uns,
die wohlhabenden Menschen in den gemäßigten Breiten, angenehm zu leben ist?
Und wie lange ist „immer“? Wie viele Generationen? Bis zur nächsten Eiszeit?
Darauf bekommen wir keine Antwort von den Save-our-climate-Leuten; weiter als
2100 reichen die Prognosen nicht, also ist weiter vorauszudenken auch nicht
nötig.
Der amerikanische Meteorologe Edward Lorenz, Begründer der Chaos-Theo-
rie, der 2004 die bedeutende Buys-Ballot-Auszeichnung des KNMI erhielt, stellte
1964 die Frage: „Does a climate exist?“ Gibt es so etwas wie ein Klima? Wenn das
Klima in einer vorhergehenden Periode von dreißig Jahren anders war als in der
heutigen, hat es sich dann auf einmal verändert? Was passiert, wenn man eine
Periode von sechzig Jahren nimmt? Dann ist die Veränderung von den vorigen
dreißig Jahren zu den nächsten plötzlich keine Veränderung mehr. Und nimmt
man fünfzehn Jahre statt dreißig, so sieht man vielleicht wieder mehr Sprünge
im Klima. Doch selbst dann bleiben Veränderungen wie der fünfjährige El-Niño-
Zyklus außen vor. Sollte man vielleicht einen Fünf-Jahres-Durchschnitt heran-
ziehen? Statistisch gesehen hat man dann aber zu wenig Daten für einen zuver-
lässigen Mittelwert. Oder eher zehntausend Jahre? Gibt es überhaupt einen
Durchschnittswert, den man „Klima“ nennen könnte? Die Frage ähnelt der von
Benoit Mandelbrot: Wie lang ist die Küstenlinie Englands? Verändert man die
Messlatte, so ändert sich auch die Antwort. Es gibt nicht nur eine Antwort auf
HITZEWELLEN, KÄLTEWELLEN 109

diese Frage. Die erwähnten dreißig Jahre sind eigentlich eine sehr willkürliche
Zahl; ein Überbleibsel aus der Zeit, als man dachte, das Klima sei konstant und
man müsse nur die Variationen des täglichen und jährlichen Verlaufs von Tem-
peratur und Niederschlag ermitteln. Dreißig Jahre, eine menschliche Generation,
das menschliche Maß.

Nicht zum ersten Mal macht man sich Sorgen über Klimaänderungen. Der ame-
rikanische Journalist Lowell Ponte schrieb 1976 ein aufsehenerregendes Buch:
The cooling: Has the next ice age begun? Can we survive it? Das war vor dreißig Jahren,
einer Generation. Aber es scheint eine Ewigkeit her zu sein, nicht nur zeitlich,
sondern auch im Hinblick darauf, was damals die Wissenschaftler beschäftigte.
Denn Lowell Pontes Alarmruf war keine bloße Floskel. Weltweit herrschte große
Beunruhigung wegen der Tatsache, dass es in den vorangegangenen dreißig Jah-
ren, seit den Vierzigern, stets kälter geworden war. Jawohl, kälter! Weltweit sank
die Temperatur in diesen dreißig Jahren um 0,5 °C und in Island selbst um 2 °C.
Die Kaffee-Ernten Brasiliens fielen immer mal wieder dem Nachtfrost zum
Opfer. In der von strengem Frost und Trockenheit geplagten Sowjetunion spra-
chen russische Wissenschaftler vom „schlechtesten Wetter des Jahrhunderts“.
1975 froren Frachtschiffe mit Material für den Pipelinebau in Alaska im
schlimmsten Packeis seit 77 Jahren fest. Gletscher in Alaska, Island, Kanada,
China und der Sowjetunion begannen ab 1950 wieder anzuwachsen. Wärmelie-
bende Pflanzen und Tiere, die zwischen 1880 und 1940 von Süden nach Nord-
amerika eingewandert waren, wie zum Beispiel das Gürteltier und das Opossum,
zogen sich wieder zurück; und in Europa starb eine wärmeliebende Schnecke
aus. Auch in den Niederlanden sank die Durchschnittstemperatur in jenen Jah-
ren. Der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts in Holland war der von 1963, den
Daten des KNMI zufolge genauso kalt wie der von 1830 am Ende der Kleinen
Eiszeit. Als die Elfstedentocht [„Elfstädtefahrt“, überaus populärer Langstre-
ckeneislauf-Wettkampf durch elf friesische Städte, A. d. Ü.] ausgetragen wurde,
war es –21 °C, und nur ein Prozent der Teilnehmer erreichte das Ziel. Der Strand
von Walcheren war mit hohen Wällen aus Eisschollen bedeckt, die durch den
starken Wind auf die Küste getrieben worden waren. Ich war sechzehn, radelte
mit meinen Schulkameraden dorthin und fand es klasse. Der zweitkälteste Win-
ter des Jahrhunderts war der von 1947. Der 12. März war ein Eistag, es fror rund
um die Uhr. Noch nie zuvor war das so spät im Jahr vorgekommen. Tags darauf
waren die Eisbrecher im Rhein-Schie-Kanal unterwegs, und ich kam zur Welt.
Aber dann folgte der wärmste Sommer des Jahrhunderts – ein unfreiwilliges
Wechselbad in der Sauna des holländischen Wetters, das vielleicht mehr Spuren
hinterlassen hat, als ich jetzt zugeben möchte.
1975 gab, immer noch Ponte zufolge, die amerikanische National Academy of
Sciences einen Bericht heraus mit der Aussage: Sollte der Temperaturrückgang
so weitergehen, gäbe es eine Chance auf den Beginn einer neuen Eiszeit im Lauf
110 DER LANGE ZYKLUS

0,8

Temperaturabweichungen (°C) bezogen


auf den Mittelwert von 1961-1990
0,6

0,4

0,2

-0,2

-0,4

-0,6

-0,8
1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000
Jahr

Abb. 43: Weltweiter Temperaturverlauf der letzten 140 Jahre (IPPC); man beachte den
Temperaturrückgang während der Jahre 1945–1975.

der nächsten hundert Jahre. Wie groß die Chance war – darüber konnte man sich
nicht einig werden, und darum formulierte man es so vorsichtig wie möglich:
eins zu zehntausend. Andere Wissenschaftler, von britischen Wissenschaftsjour-
nalisten Nigel Calder interviewt, meinten, die Chance sei eins zu zehn. Stephen
Schneider vom National Centre of Atmospheric Research der USA, heute einer
der lautesten global-warming-Alarmisten, verglich diese Chance mit russischem
Roulette. Es gab auch andere, die glaubten, es würde eine Trendwende geben hin
zu wärmeren Klimaten, global cooling jedoch war die vorherrschende Meinung.
Amerikanische und russische Forscher machten Pläne, die Beringstraße mit
einem Damm abzuschließen, damit kein arktisches Wasser mehr aus den Po-
larmeeren in den Stillen Ozean strömen könnte.
Wir haben bereits mehrmals über das kollektive Gedächtnis gesprochen. Wir
wissen zwar noch, dass es zwischen 1940 und 1975 kälter war, es steht in allen Sta-
tistiken, allen Handbüchern, und noch immer wird die genaue Ursache dieser Ab-
kühlung diskutiert. Was wir aber vergessen haben, sind die Emotionen, die es her-
vorrief, die heftigen Diskussionen zwischen den Wissenschaftlern, die Besorgnis
bei den Politikern, die Folgen, die es hatte für das Gleichgewicht der Staaten unter-
einander mitten im Kalten Krieg und für die fragilen Ökonomien der Entwick-
lungsländer. „The global cooling presents humankind with the most important
social, political and adaptive challenge we have had to deal with for ten thousand
years“ – so fasste Ponte sein Buch zusammen. Es stellte sich heraus, dass seine
Ängste unbegründet gewesen waren, denn 1977 begann die Temperatur anzustei-
gen. Er hatte nicht mit einer Trendwende gerechnet. Dreißig Jahre später sind wir
aber wieder genauso ängstlich und wir benutzen genau die gleichen Worte. Nur
geht es heute um die Erwärmung. Und was ist in noch mal dreißig Jahren?
HITZEWELLEN, KÄLTEWELLEN 111

Der italienische Dichter Giacomo Leopardi (1798–1837), ein frühreifer uomo uni-
versale, der schon mit fünfzehn Jahren ein Buch veröffentlicht über die Geschichte
der Astronomie, schreibt um 1823 in seinen Pensieri (Gedanken, 1845 posthum
erschienen):
„Alte Menschen sagen, die Jahre würden immer kälter und die Winter immer länger. Zu
ihrer Zeit konnten sie bereits um Ostern ihre Winterkleidung aufräumen und die Som-
merkleidung hervorholen, heute aber erst im Mai und manchmal sogar erst im Juni.“

Das kann aber nicht stimmen, meint der junge Leopardi. Er verweist auf eine Ge-
schichte des Dichters Lorenzo Magalotti, der zweihundert Jahre früher gelebt
hatte. Magalotti behauptete 1683 auch schon, sein Vater hätte noch in Sommer-
kleidung Ostern gefeiert, während er selbst an Ostern die Winterkleidung brauche.
„Wenn Italien schon seit so vielen Hundert Jahren immer kälter wird, dann müsste
es jetzt so kalt sein wie auf Grönland“, sagt Leopardi. „Die Alten haben nur Sehn-
sucht nach der Vergangenheit und ertragen die Kälte weniger gut als früher.“
Doch Leopardis und Magalottis Alte könnten sehr wohl recht gehabt haben,
denn sie lebten in der Kleinen Eiszeit, die um 1430 begann und um 1610 und
später noch einmal um 1830 Spitzenwerte erreichte. Es ist bedauerlich, dass
Leopardi selbst nicht so alt werden durfte, denn dann hätte er sein eigenes Argu-
ment entkräften können; gerade in den Jahren nach seinem vorzeitigen Tod
nämlich begann die Erwärmung des Klimas, die sich bis heute fortsetzt. Dann
hätte er, wie die heutigen Alten, sagen können, das Wetter sei jetzt viel milder als
früher. Er starb gerade etwas zu früh, um die Trendwende zu erleben. Das indivi-
duelle Klimagedächtnis unserer Alten funktioniert offensichtlich hervorragend,
die Jungen hören jedoch den Alten nicht richtig zu, und so ist das kollektive Ge-
dächtnis über die Generationen hinweg nicht zuverlässig.
Leopardi beschließt übrigens seine Überlegungen mit der Bemerkung, seine
Geschichte habe nichts zu tun mit der inneren Abkühlung der Erdkugel: Davon
würde man sogar in Dutzenden von Jahrhunderten nichts merken, geschweige
denn in nur einigen wenigen Jahren, so meint er. Ein Gespür für die geologische
Zeit kann man ihm wahrhaftig nicht absprechen. Nicht schlecht für einen Zeit-
genossen Lyells.

Die Kleine Eiszeit markiert eine Periode von erheblicher Klimaverschlechterung


im Vergleich zum vorhergehenden Zeitraum der Mittelalterlichen Warmzeit.
Der Weinbau in Südengland fand ein Ende, und die Wikinger mussten ihre Sied-
lungen auf Grönland verlassen. Es gab so viele Fehlernten in Schottland, dass
100 000 protestantische Schotten ins katholische Nordirland zogen, eine Völ-
kerwanderung, die ihre Spuren bis in die heutige Zeit hinterlassen hat. Die Ge-
treidepreise in Europa schossen in die Höhe.
Auf Island sahen die Fischer, wie das Treibeis an der Küste von Jahr zu Jahr
mehr wurde. Auch die Gletscher in den Alpen und anderswo in der Welt began-
112 DER LANGE ZYKLUS

22
England
20
Italien

Getreidepreis (Gulden/100 kg)


18 Frankreich
16 Deutschland
14
12
10
8
6
4
2
0
1200 1300 1400 1500 1600 1700 1800 1900

Jahr

Abb. 44: Getreidepreise in Europa seit dem Mittelalter.

nen stark zu wachsen. Der Gietroz-Gletscher in der Schweiz wuchs so schnell,


dass das Tal der Drance durch das Eis versperrt wurde. Als der Eisdamm 1818
brach, wurde das Dorf Bagnes überschwemmt und 70 Menschen fanden den
Tod. Zwischen 1600 und 1610 wurden bei Chamonix in den französischen Alpen

Abb. 45: Der Gletscher Schelda im Kaukasus 1991. Die scharfe Grenze oberhalb des Gletschers
kennzeichnet den Stand des Eises in der Kleinen Eiszeit. Durch die Klimaerwärmung gibt
das Gletschereis gegenwärtig die Leichname jener deutschen Soldaten frei, die im Zweiten
Weltkrieg versuchten, über den Kaukasus die reichen Ölfelder von Baku in Aserbaidschan
zu erreichen.
HITZEWELLEN, KÄLTEWELLEN 113

auf diese Weise drei Dörfer zerstört. Eines dieser Dörfer, Le Châtelard, war um
1200 gegründet worden, in der Mittelalterlichen Warmzeit, als die Gletscher sich
gerade erheblich zurückgezogen hatten. Ein Aquädukt aus Holz aus diesem Jahr
wurde vom heranrückenden Aletschgletscher zertrümmert. Die Lehre daraus ist
die gleiche wie beim Kaspischen Meer: Nimm das Land nicht in Gebrauch, das
der zurückweichende Gletscher dir gibt, denn er kommt wieder!
Ich sitze im Flugzeug von Bologna nach Amsterdam und schaue aus dem
Fenster. Der Himmel ist kristallklar. Unter mir schieben sich die Alpen vorbei. Es
ist spät im Herbst. Auf den Gipfeln liegen die ersten Schneehäubchen. Und
schau, da liegt der Comer See, wie ein geschmolzener Schneemann. Herrlich. Ich
kann meine Augen nicht davon abwenden.
Und dann plötzlich fällt es mir auf. Die Alpen sind leer! Die Alpen sehen aus
wie eine Eistorte, in die jemand mit einem riesigen runden Eislöffel tiefe Hohl-
formen gemacht hat. So viele dicke Sahneeiskugeln sind herausgelöffelt worden,
dass nur noch kleine dreieckige Spitzen zwischen diesen Spuren übrig geblieben
sind. Das sind die Berge. Ansonsten herrscht Leere. Tiefe, leere Täler, die einst
voll gewesen sein müssen. Ein Skelett ohne Fleisch, eine Eierschachtel ohne Eier.
Es ist unnatürlich. Die Alpen müssten voll sein. Ein einziger großer glitzernder
Berg aus Eis sollten sie sein, aus dem hie und da eine kleine Felsspitze hervorlugt.
Gleich dem, was man sieht, wenn man heute über Südgrönland fliegt. Warum
sind die Alpen leer?
Louis Agassiz begreift es als Erster. Zu einer Zeit, da die Kleine Eiszeit auf
ihrem Maximum ist, propagiert dieser Schweizer Paläontologe (1807–1873) die
Große Eiszeit. Er ist ein Schüler von Georges Cuvier und spezialisiert auf fossile
Fische, aber er hat scharfe Augen und Ohren für neue Dinge. 1834 besucht er in
Luzern einen Vortrag von Jean de Charpentier, Naturliebhaber und Direktor
einer Salzmine in Bex. De Charpentier behauptet, die Alpengletscher seien früher

Abb. 46: Die Alpen, wie sie sein sollten: voller Eis (weiß). Die schwarzen Flecken sind alles,
was heute noch von den eiszeitlichen Gletschern übrig ist.
114 DER LANGE ZYKLUS

viel größer gewesen als in der Gegenwart. Er hatte unten im Rhônetal Schram-
men auf einem Felsen gesehen, die nur von Gletschern stammen konnten. Auch
hatte er an ungewöhnlichen Stellen Granitblöcke gefunden, die nur das Eis dort-
hin gebracht haben konnte. Agassiz glaubt das zuerst nicht, lässt sich aber doch
1836 von de Charpentier zu den Gletschern Argentière und Mer de Glace bei
Chamonix führen, genau zu der Zeit, wie wir heute wissen, da sie ihre maximale
Ausdehnung hatten.
Agassiz kommt zu der Überzeugung, dass de Charpentier recht hat, und er-
kennt die Wichtigkeit dieser Entdeckung: Der Begriff ‚Eiszeit‘ war geboren. Er
vertritt die Eiszeittheorie mit so viel messianischem Eifer, dass de Charpentier
und seine Vorläufer, der Ingenieur Ignace Venetz und der Botaniker Karl Schim-
per – der eigentliche Urheber des Wortes ‚Eiszeit‘ –, in Vergessenheit geraten. Sie
sollten es Agassiz nie verzeihen.
Einige Wissenschaftshistoriker fällen ein hartes Urteil über Agassiz: Nie habe
er etwas selbst bedacht, sondern immer geschickt von dem Gebrauch gemacht,
was er auf seinem Weg fand. Eine Art Bill Gates des 19. Jahrhunderts.
1838 nimmt Agassiz den schottischen Geologen William Buckland aus Edin-
burgh mit in den Jura und zeigt ihm die Gletscherschrammen, die anzeigen, dass
die gesamten Alpen ehemals vergletschert waren. Buckland ist fasziniert. Schott-
land ist voller Findlinge, die über große Entfernungen transportiert worden sein
mussten. Bisher hatte niemand damit ein Problem gehabt: Sie waren nicht zu
widerlegende Beweise für die Sintflut. Man sprach vom ‚Diluvium‘, auch bei uns.
Aber nach der Reise mit Agassiz war Buckland überzeugt. Es war denn auch
schwer zu vertreten, dass Noahs Arche an so vielen Stellen zugleich den Felsbo-
den zerkratzt haben sollte.
Auch Lyell hört von der Eiszeittheorie. Buckland zeigt ihm eine Moräne, zwei
Kilometer von Lyells Elternhaus entfernt, und anfangs scheint Lyell überzeugt
zu sein. Später rudert er zurück; eine Eiszeit ist eine Katastrophe, die absolut
nicht in sein aktualistisches Weltbild passt. Jetzt verstehen wir auch besser,
warum Agassiz 1838 in seinem Exemplar der Principles of Geology an den Rand
kritzelte (vgl. Kapitel 3): „But these changes, since they don’t always have the
same intensity in our own day, could not have so worked in former times.“
Aber dass die Urväter der Geologie selbst in einer Eiszeit lebten, wenn auch nur
in der Kleinen Eiszeit – dessen waren sie sich nie bewusst.

Es ist beeindruckend, wie Agassiz aus wenigen Gletscherschrammen schlussfol-


gerte, die gesamten Alpen seien von Eis bedeckt gewesen. Auch wenn er die Eis-
zeit nicht selbst erdacht hatte, erkannte er, was für ein bahnbrechender Gedanke
es war. Wie so oft ging es nicht um das Finden, sondern darum, zu erkennen, was
man gefunden hat. Später, als er nach Amerika emigriert war, konnte er sein
Konzept noch auf den amerikanischen Kontinent ausdehnen. Wer seine Augen
offenhält, kann die Gletscherschrammen auf den Felspartien im Central Park
HITZEWELLEN, KÄLTEWELLEN 115

Wachstum Argentière-Gletscher
Mer de Glace-Gletscher
Grindelwald-Gletscher
Relativer Abstand

Rhône-Gletscher

Rückzug

1780 1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980
Jahr

Abb. 47: Maximale Ausdehnung der Gletscher Argentière und Mer de Glace bei Chamonix
und von Grindelwald- und Rhône-Gletscher.

entdecken. Fantasten und Spinner können daraus Hoffnung schöpfen: Manch-


mal lohnt es sich, großspurig und mitreißend zu denken. Aber wie es so geht:
Agassiz stieg der Erfolg zu Kopf, und er überreizte sein Blatt, als er außerdem
noch behauptete, das ganze Amazonasgebiet sei einstmals vergletschert gewe-
sen.
Schade, denn trotz seiner megalomanen Vision konnte er sich zu diesem Zeit-
punkt nicht vorstellen, wie dramatisch die Erde sich in das Icehouse verändert
hatte. Damit verglichen ist die Kleine Eiszeit, mit einem weltweiten Temperatur-
rückgang von nicht mehr als einem Grad, belanglos. Denn nicht nur bedeckten
die Gletscher ein Viertel der Erdoberfläche – heute sind es zehn Prozent –, son-
dern das Packeis bedeckte auch die nördlichen Ozeane, der Meeresspiegel lag um
mehr als 100 Meter tiefer, und überall fielen flache Meere trocken. Das Land
verlor ein Viertel seiner Biomasse. Es lagen zwar keine Gletscher im Amazonas-
gebiet, aber ein Teil des Regenwaldes war verschwunden und hatte, wie manche
meinen, einer Savanne Platz gemacht. Die Wälder flohen in geschützte Refugien
hinter den Bergen und in die feuchten Winkel der Erde: die Westküsten der Kon-
tinente in Äquatornähe wie Gabun, Panama und Bangladesch. Der Wunsch-
traum der Amerikaner, die Beringstraße abzusperren, war in der Eiszeit durch die
Meeresspiegelabsenkung schon Wirklichkeit geworden. Und der Wunschtraum
der Russen, Amerika zu erobern, hatte sich vor zehntausend Jahren bereits er-
füllt: Die sibirischen Völker überschritten die Landbrücke und besiedelten den
leeren Kontinent.

Die Neandertaler, die vor 250 000 Jahren, knapp vor der vorletzten Eiszeit, am
linken Ufer der Maas siedelten, mussten ihre Siedlungen verlassen, denn ihre
bescheidenen Behausungen wurden verweht von den fürchterlichen Staubstür-
116 DER LANGE ZYKLUS

men, die von der trockengefallenen Nordsee her das Land heimsuchten. Schade,
dass es sie nicht mehr gibt; sie hätten uns erzählen können, wie es ist, von einer
Eiszeit überfallen zu werden. So mussten wir es von dem Leidener Archäologen
Wil Roebroeks vernehmen, der ihr Lagerfeuer und ihre Steinwerkzeuge wieder-
fand unter vier Metern Limburger Löss in der Grube Belvédère.

War die Eiszeit ein Unglück, eine Katastrophe, ein unheilvoller Impuls? Anfäng-
lich, zu Agassiz’ und Lyells Zeit, schien es so. Anstelle der Sintflut gab es nun die
Eiszeit. Aber was war ihre Ursache? Die Bibel lässt über eine Eiszeit nichts verlau-
ten. War auch sie eine Strafe für die Sünden der Menschen? Feuer in der Hölle
und Eis auf dem Land? Nicht selten scheitern Theorien, weil ihre Väter den Me-
chanismus nicht erkennen können, der dem erdachten Phänomen zugrunde
liegt. Alfred Wegener fiel kein plausibler Mechanismus für die Plattentektonik
ein, und das war der Hauptgrund dafür, dass man ihm anfangs nicht glaubte.
Aber inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, an Symptome zu glauben, ohne
ihre Ursachen zu kennen. Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Krebs haben auch
oft keine erkennbaren Ursachen, doch niemand wird bezweifeln, dass es sie gibt.
Die gesamte pharmazeutische Industrie basiert auf der Herstellung von Arz-
neien, von denen wir nicht wissen, warum sie helfen. Und so wollen wir Agassiz
verzeihen, dass er uns eine Antwort schuldig bleibt.
Theorien gab es übrigens genug in den folgenden Jahren: Vulkanausbrüche,
Veränderungen in den Meeresströmungen, Gebirgsbildungen. Gleichzeitig
wurde mehr und mehr deutlich, dass es nicht nur eine Eiszeit gegeben hatte,
sondern mehrere. Penck und Brückner wiesen in ihrem Buch Die Alpen im Eiszeit-
alter (1909) vier Eiszeiten nach, jede mit ihren eigenen Moränen und Gletscher-
schrammen, und vielleicht sogar sechs. Sie benannten sie nach den Flüsschen in
Süddeutschland, an denen sie die Ausläufer der Alpenmoränen gefunden hatten:
von alt nach jung Günz, Mindel, Riss und Würm, alphabetisch geordnet, um sie
leichter behalten zu können. Die beiden zweifelhaften, noch älteren Eiszeiten
hießen Biber und Donau. Anstelle einer einzigen Katastrophe waren die Eiszeiten
zu regelmäßigen Zyklen geworden. Heute kennen wir mittlerweile mehr als 20
Eiszeiten. Hutton und Lyell hätten sich ins Fäustchen gelacht. Hutton wollte so
gerne mit seiner Theory of the Earth das irdische Pendant zu Newtons kosmischen
Zyklen nachweisen – no vestiges of a beginning, no prospect of an end. Nur suchte er in
der falschen Ecke: Die endlosen Zyklen stecken nicht in der Tektonik, sondern
im Klima. Aber die Zyklizität machte es auch weiterhin schwer, an vulkanische
oder tektonische Ursachen für die Eiszeiten zu glauben. Keine Impulse, sondern
Wellen.
8 Eis über Eis

„Sine sole silet“


„Ohne Sonne schweigt sie“
Aufschrift auf einer Sonnenuhr

Tag und Nacht wechseln sich ab, weil die Erde sich um ihre Achse dreht und so
der Sonne stets die andere Wange zuwendet. Die Erde ist nicht der Mittelpunkt
des Weltalls, sondern beschreibt eine Bahn um die Sonne. Weil ihre Achse schief
zu ihrer Umlaufbahn steht, bekommt die nördliche Halbkugel in der einen
Hälfte des Jahres mehr Sonnenenergie und die südliche in der anderen Hälfte.
Darum gibt es Jahreszeiten.
Mit diesen revolutionären Gedanken spielte Nikolaus Kopernikus mehr als
dreißig Jahre lang, bevor er sie 1543 zu veröffentlichen wagte, mit ähnlichen
Hemmungen wie sehr viel später Charles Darwin seine Origin of species. Der Keim
für das bahnbrechende Weltbild des Kopernikus wurde gelegt, als er am 19. Ok-
tober 1496 die Universität von Bologna betrat. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis
seine Ideen Allgemeingut geworden waren.
Wenn nun die kurzen Zyklen – der Tag-und-Nacht-Zyklus, die Jahreszeiten –
durch astronomische Prozesse gesteuert werden, warum dann nicht auch die
langen Eiszeitzyklen? Dieser Gedanke kam dem französischen Mathematiker
Joseph Adhémar (1797–1862). Newton hatte mittlerweile nachgewiesen, dass die
himmlischen Zyklen durch die Schwerkraft gesteuert werden; Kepler hatte her-
ausgefunden, dass die Bahn der Erde um die Sonne nicht kreisförmig, sondern
elliptisch ist. Bekannt war ebenfalls schon, dass die Erdachse eine Kreiselbewe-
gung vollführt mit einer Umlaufperiode von 23 000 Jahren: Gegenwärtig zeigt
sie in Richtung Polarstern, aber vor 11 500 Jahren zeigte sie zum Sternbild Wega.
Die Kombination von Ellipse und Kreiselbewegung bewirkt eine Verschiebung
der Tagundnachtgleichen (Äquinoktien, 21. März und 21. September) und der
Sonnenwenden, des kürzesten und des längsten Tages (Solstitien, 21. Dezember
und 21. Juni), auf der Erdbahn. Dies bezeichnet man als die Präzession der Äqui-
noktien.
Der Effekt all dessen ist schlussendlich, dass der Sommer auf der Nordhalbku-
gel zurzeit sieben Tage länger dauert als der Winter; vor 11 500 Jahren war das
genau andersherum. Das könnte möglicherweise die Ursache der Eiszeiten sein,
schrieb Adhémar in seinem Buch Révolutions de la mer, déluges périodiques (1842).
118 DER LANGE ZYKLUS

20. März

21. Juni
Heute
Sonne 21. Dezember

22. September

21. Dezember

20. März
Vor 5500 Jahren
Sonne 22. September

21. Juni

22. September

21. Dezember
Vor 11000 Jahren
Sonne 21. Juni

Sonne 20. März


Erde am 21. Dezember

Abb. 48: Präzession der Äquinoktien bei elliptischer Erdbahn: Heute ist der Winter sieben
Tage kürzer als der Sommer, vor 11 000 Jahren war der Sommer sieben Tage kürzer als der
Winter. Wäre die Erdbahn um die Sonne nicht elliptisch (Exzentrizität=0), dann gäbe es
keinen Unterschied in der Dauer von Sommer und Winter.

Eine zweite Periodizität entdeckte 1867 der schottische Autodidakt James Croll:
Die Ellipse der Erdbahn um die Sonne ist nicht immer dieselbe, sondern sie vari-
iert mit einer Periode von 100 000 Jahren. Die Exzentrizität der Erdbahn schwankt
zwischen einem und sechs Prozent. Bei geringer Exzentrizität ist der Effekt der
Präzession ebenfalls gering, doch wenn sie größer wird, verstärkt sich auch die
Präzession. Die dritte Variable ist der Stand der Erdachse, die Schiefe der Eklip-
tik; sie beträgt gegenwärtig 23,5° (deshalb stehen die Hausgloben auch alle
schief). Aber dieser Winkel variiert von 21,5° bis 24,5° in 41 000 Jahren, sodass
die Kontraste der Jahreszeiten abwechselnd schwächer und stärker werden. Dies
fand der französische Astronom Urbain Leverrier um 1840 heraus. Die Variati-
onen werden von der Anziehungskraft der anderen Planeten des Sonnensystems
verursacht.
Diese Ideen wurden von dem serbischen Astronomen Milutin Milanković wei-
ter ausgearbeitet. Milanković war ursprünglich Betonbauer, beschloss aber 1909,
sein Leben der Wissenschaft zu weihen. Durch alle Kriege und Besatzungen hin-
EIS ÜBER EIS 119

durch rechnete er stoisch vor sich hin, erst in Belgrad und später in einem Eck-
chen der Bibliothek der ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest.
Er berechnete genau, wie viel Sonnenenergie jeder Punkt der Erde zu jedem Mo-
ment im Jahresverlauf empfing und wie sich diese Werte während der letzten
Million Jahre durch Schiefe der Ekliptik, Präzession und Exzentrizität verändert
hatten. Alles nur mit Papier und Bleistift. Demzufolge sollte die Erde alle hun-
derttausend Jahre eine Eiszeit durchlaufen, zehn Eiszeiten in einer Million Jahre.
1920 veröffentlichte er seine Théorie mathématique des phénomènes thermiques produ-
its par la radiation solaire; 1941 folgte Canon of insolation of the earth and its application
to the problem of the ice ages, in Serbisch verfasst und später ins Englische über-
setzt.
Nun gab es zwar eine theoretisch schlüssige Erklärung für die Eiszeiten, aber
niemand konnte damals nachvollziehen, ob sie stimmte. Periodizitäten von
100 000, 41 000 und 23 000 Jahren waren zu jener Zeit für die meisten Geologen
völlig abstrakte Größen, und es gab noch keine Methode nachzuweisen, dass es
von Eiszeit zu Eiszeit tatsächlich 100 000 Jahre dauerte. Aber für Milanković war
das kein Problem; er sprach die geflügelten Worte: „History will prove I’m
right.“
Das hörte sich anfangs nach Angeberei an, denn nachdem Willard F. Libby
1949 die Kohlenstoff-14-Datierungsmethode entdeckt hatte, schienen die ersten
Ergebnisse der astronomisch berechneten Zyklizität zu widersprechen. Doch
zehn Eiszeiten findet man nicht, indem man Moränen kartiert und die Torf-
schichten in ihnen datiert. Auf dem Festland werden die meisten Zeugen einer
Eiszeit wieder weggefegt durch die nächste. Jede neue Eiskappe kratzt die Spuren
der vorigen vom Fels, jede Gletscherzunge schiebt alle Moränen von früheren
Ausbreitungsphasen vor sich zusammen. Will man wissen, wie sich das Klima
verändert hat, und sich dabei nicht auf das Gedächtnis von alten Italienern, die
mündlichen Überlieferungen von Indianerstämmen oder wegerodierte Moränen
verlassen, so muss man an Orten suchen, an denen das Klima kontinuierlich re-
gistriert wurde – sowohl die kalten Glaziale als auch die warmen Interglaziale. An
Orten, die Hunderttausende von Jahren ungestört geblieben sind: Meeresböden,
tiefe Seen und Eiskappen.

Letztendlich lag der Schlüssel in der Tiefsee. Nur dort setzen sich die feinsten
Sedimentteilchen ab, die mit den Meeresströmungen vom Festland kommen,
der Staub aus der Atmosphäre, die feinen Ascheteilchen von weit entfernten Vul-
kanausbrüchen und vor allem: Dort setzen sich die Skelette der Milliarden ein-
zelliger Organismen ab, die als Plankton in den Ozeanen schweben. Ob auf dem
Festland nun eine Eiszeit herrscht oder eine Warmzeit, spielt keine Rolle, die
Sedimentation geht weiter. Bringt man eine Bohrung im Meeresboden nieder, so
begegnet man all den Schichten wieder, und weil der Absetzungsprozess so lang-
sam voranschreitet – meist nur einige Millimeter pro Jahrtausend –, erhält man
120 DER LANGE ZYKLUS

-2,2
Interglazial

Relative Veränderung des


Sauerstoff-18-Niveaus
0

Eiszeit
2,2
800 600 400 200 0
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 49: Sauerstoffisotopenverhältnis in Foraminiferen im Tiefseekern.

schon mit einer nicht allzu tiefen Bohrung ein beachtliches Stück an zeitlicher
Tiefe. Viele der Organismen im Plankton besitzen ein Kalkskelett. Kalk ist Kalzi-
umkarbonat: CaCO3. Das Plankton nimmt sich die Bestandteile dafür aus dem
Meerwasser, und es enthält zwei wichtige Elemente, die auch in der Atmosphäre
vorkommen, nämlich Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O). Sauerstoff findet sich
natürlich auch im Wassermolekül: H2O. Wir lassen den Kohlenstoff für den Au-
genblick beiseite und konzentrieren uns auf den Sauerstoff.
Sauerstoff hat zwei Isotopen: 16O und 18O (Sauerstoff-16 und Sauerstoff-18).
Die letztere Form des Sauerstoffatoms besitzt zwei Extra-Neutronen im Kern und
ist daher ein ganz klein wenig schwerer. Wenn nun das Meerwasser verdunstet,
geht die leichte Form Sauerstoff-16 ein ganz klein wenig leichter in Dampf über als
der schwerere Sauerstoff-18. Es bleibt also relativ mehr Sauerstoff-18 im Meerwas-
ser zurück; anders gesagt, es wird angereichert mit Sauerstoff-18. Setzt sich der
Wasserdampf nun in Form von Schnee auf einer Eiskappe ab und bleibt dort lie-
gen, so wird der leichte Sauerstoff permanent dem Meerwasser entzogen; es wird
also permanent angereichert mit Sauerstoff-18. Erst wenn die Eiskappe abtaut,
fließt die leichtere Form wieder mit dem Schmelzwasser ins Meer zurück.
Die Plankton-Organismen mit Kalkskeletten, in der Hauptsache Foraminife-
ren, benutzen für ihre Skelette den Sauerstoff in exakt demselben Isotopenver-
hältnis, wie es im Wasser herrscht. In den Kaltzeiten, wenn es viele Eiskappen
gibt und das Meerwasser relativ reich an Sauerstoff-18 ist, sind also auch die
Kalkskelette relativ reich an Sauerstoff-18. In den dazwischenliegenden Warm-
zeiten mit geringer Eisbedeckung sind sie natürlich reicher an Sauerstoff-16.
Und somit haben wir eine Messmethode für das Eisvolumen auf der Erde in der
Hand.
Mit Tiefseebohrungen wurde das Sauerstoffisotopenverhältnis der Kalkske-
lette im Sediment bestimmt, und das ergab eine komplizierte Kurve von großen
und kleinen Spitzen und Tälern.
EIS ÜBER EIS 121

größer
10 0000 Jahre

43 000 Jahre

Amplituden der Klimazyklen


24 000 Jahre
19 000 Jahre

Abb. 50: Spektralanalyse der


Sauerstoffisotopenkurve einer
Tiefseebohrung. Das Frequenz-
Magnitude-Diagramm gibt die kleiner
Amplitude (relativer Anteil) 100 30 15 10 7,5 6
von jeder der drei Zyklizitäten Zyklenlängen (Jahrtausende)
in der Tiefseekurve an.

Auf den ersten Blick kann man mit ihr nicht viel anfangen. Doch mithilfe einer
mathematischen Technik, der Spektralanalyse, kann man diese komplizierte
Kurve auseinanderdividieren und erhält die Zusammenstellung dreier verschie-
dener regelmäßiger Zyklen: einen 100 000-Jahre-Zyklus, einen 43 000-Jahre-Zy-
klus und einen Doppelzyklus von 24 000 und 19 000 Jahren.
Bringt man die Frequenzen auf der Zeitachse in Beziehung zur Amplitude, so
erhält man wieder eine Art Frequenz-Magnitude-Diagramm: das Amplituden-
spektrum.*
Man könnte sagen: Was das Gutenberg-Richter-Diagramm für Erdbeben und
Vulkanausbrüche ist, für die Zeit als Impuls, ist das Amplitudenspektrum für die
zyklischen Prozesse, für die Zeit als Welle. Im Grunde gibt es dasselbe wieder, was
Aleksandr Adamowitsch Switotsch mit seinem Diagramm der Kaspischen Mee-
resspiegelschwankungen (s. Abb. 13, S. 33) hat ausdrücken wollen: Der Wasser-
stand des Kaspischen Meeres wird durch eine große Anzahl von Fluktuationen
unterschiedlicher Amplitude und Wellenlänge bestimmt.
Im Frequenz-Magnitude-Diagramm der Tiefseebohrung kann man erkennen,
dass der 100 000-Jahre-Zyklus die größte Amplitude besitzt. Es sind genau die
Zyklizitäten, die Adhémar, Leverrier, Croll und Milanković vorhergesagt hatten.
‚Variations in the earth’s orbit: pacemaker of the ice ages‘ überschrieben Hays,

* Im Englischen spricht man vom Power spectrum, weil auf der vertikalen Achse oftmals
das Quadrat der Amplitude wiedergegeben wird. Ich werde in diesem Buch den Ter-
minus Frequenz-Magnitude-Diagramm auch für das Amplitudenspektrum benutzen, um
die Analogie zu den Erdbeben zu betonen.
122 DER LANGE ZYKLUS

Exzentrizität
Vergangenheit Zukunft
4
3

(%)
2
1
0

Erde-Sonne
mehr
Präzession
(Abstand

im Juni) weniger
Schiefe der Ekliptik

24,5
24
(Grad)

23,5
23
22,5
22
250 200 150 100 50 0 -50 -100
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 51: Die einzelnen Kurven, aus denen sich die Tiefseekurve zusammensetzt.

Imbrie und Shackleton 1976 ihren Artikel in der Science. Er war ein Meilenstein,
wenn auch mit ihm noch nicht erklärt ist, wie es genau funktioniert. Milanković
hat es nicht mehr miterlebt, aber seine Selbstsicherheit war begründet: Die Ge-
schichte hat ihm tatsächlich recht gegeben.
Die Kurve der Sauerstoffisotopen im Tiefseekern findet ihr Spiegelbild in
den Eiskappen Grönlands und der Antarktis. Das ist logisch, denn der Nieder-
schlag auf den Eiskappen ist, verglichen mit dem Meerwasser, angereichert mit

Tiefseeaufzeichnung
Interglazial
(weniger Eis)

Eiszeit
(mehr Eis)

EPICA-Eiskern
wärmer

kälter
800 600 400 200 0
Heute
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 52: Vergleich der Tiefseeaufzeichnung mit der des EPICA-Eiskerns aus der Antarktis für
die letzten 800 000 Jahre.
EIS ÜBER EIS 123

∆ Ta Staub Na
100

Amplitude (103) 80

60

40

20

0
100 41 23 19 100 41 23 19 100 41 23 19
1000 Jahre 1000 Jahre 1000 Jahre

100 δ18Oatm CO2 CH4

80
Amplitude (103)

60

40

20

0
0 2 4 6 0 2 4 6 0 2 4 6
-5 -5 -5
Frequenz (10 ) Frequenz (10 ) Frequenz (10 )

Abb. 53: Frequenz-Magnitude-Diagramm für die Fluktuationen von Temperatur, Staubgehalt,


Natriumgehalt, Sauerstoffisotopenverhältnis, Kohlensäuregas und Methan im Wostok-Kern
aus der Antarktis, welcher vier Eiszeiten (400 000 Jahre) repräsentiert.

Sauerstoff-16. Darüber hinaus ist das Verhältnis von Sauerstoff-16 zu Sauer-


stoff-18 abhängig von der Temperatur des gefallenen Schnees. Der dänische
Paläoklimatologe Willi Dansgaard begann in den Siebzigerjahren mit Boh-
rungen im Grönlandeis, um die Variationen zu messen. Das ist kein Kinder-
spiel; in erster Linie natürlich aus Gründen der Logistik: Man muss jede Menge
Apparatur an einen der unwirtlichsten Orte der Erde schaffen. Dann sitzt man
monatelang in einer Kunststoff-Kuppel, zusammen mit Menschen, die man
sich nicht selbst ausgesucht hat. Man muss im Eis bohren, aber vermeiden,
dass es durch die Reibung schmilzt. Man hat eine äußerst geringe Menge an
Probenmaterial auf eine große Anzahl unterschiedlicher Stoffe hin zu untersu-
chen. Auch wissenschaftlich ist es eine Herausforderung, denn Gletscher und
Eiskappen sind in Bewegung. Sie werden durch Schnee von oben gebildet; das
hohe Eigengewicht des Eises lässt es strömen und an den Seiten der Eiskappen
verschwindet es durch Abschmelzen, wie in Grönland, oder durch das Kalben
von Eisbergen, wie in der Antarktis. Man arbeitet sozusagen auf einem zusam-
menfallenden flachen Pudding. Bohrt man an der falschen Stelle, so wird die
Aufzeichnung durch die Strömung gestört, oder es fehlen Schichten durch
Schmelzperioden.
124 DER LANGE ZYKLUS

Als Belohnung für diese Mühen erhält man eine kontinuierliche Aufzeich-
nung über die Zusammensetzung des Schnees und der Luftbläschen, die in ihm
während der letzten Hunderttausenden von Jahren eingeschlossen wurden. Wie
viele Jahre – das hängt von der jährlich abgesetzten Schneemenge ab. In Grön-
land fällt durchschnittlich ein halber Meter pro Jahr, und die zeitliche Tiefe der
gesamten etwa drei Kilometer dicken Eiskappe beträgt rund hunderttausend
Jahre. Die antarktische Eiskappe ist genauso dick wie die grönländische, aber
weil dort nur etwa fünf Zentimeter Schnee jährlich niedergehen, ist die regis-
trierte Zeit ungefähr zehnmal so lang, allerdings mit einer deutlich geringeren
Präzision. Bei der jüngsten EPICA-Bohrung eines europäisch-russischen Teams
2004 fand man die Spuren von sieben Eiszeiten in einem Zeitraum von 740 000
Jahren, genau die gleiche Anzahl wie bei der ersten Tiefseebohrung in Abbil-
dung 52 auf S. 122. Legen wir beide Kurven nebeneinander, so ist die Überein-
stimmung frappant. Kein Zweifel: Beide geben Variationen in der Einstrahlung
von Sonnenenergie wieder während der letzten sieben Eiszeiten und der dazwi-
schenliegenden Wärmeperioden, wie Milanković es berechnet hatte.
Wer’s noch immer nicht glaubt, kann aus den Eisdaten ein Frequenz-Magni-
tude-Diagramm erstellen wie bei Erdbeben. In Abbildung 53 auf S. 123 ist dies
für sechs verschiedene Analysen dargestellt: Temperatur (abgeleitet aus Wasser-
stoffisotopen), Staubteilchen (je mehr Staub, desto weniger Niederschlag), Na
(Natrium, ein Maß für die Menge an Meersalzkristallen im Schnee; je mehr Meer-
salz, desto stärkere Winde), die Sauerstoffisotopen, die wir schon kennen, und
der jeweilige Gehalt an Kohlendioxid und Methan in den Luftbläschen des Eises.
Und alle weisen sie dieselben Spitzen auf: Exzentrizität, Schiefe der Ekliptik und
Präzession. Genau, wie Milanković es vorhergesagt hatte. Es ist also kein Zweifel
mehr möglich, dass die subtilen Veränderungen in der Bahn der Erde um die
Sonne die Eiszeiten verursachen.
Dies illustriert sehr schön, wie die Wissenschaft funktioniert. Agassiz nimmt
die Existenz einer Eiszeit an; Milanković weist auf die Ursache hin, kann aber die
Richtigkeit seiner Hypothese nicht beweisen; Hays und andere entdecken die
Übereinstimmung der Tiefseekurven und derjenigen von Milanković; desglei-
chen das EPICA-Team und seine Vorgänger in Bezug auf das Eis. Die Hypothese
von Milanković stimmt. Allerdings wissen wir damit noch immer nicht genau,
warum die Veränderungen der Erdbahn solche dramatischen klimatologischen
Folgen haben. Vieles über das Zusammenspiel von astronomischen Ursachen
und irdischen Rückkopplungseffekten ist wunderbar beschrieben in dem monu-
mentalen Buch Earth’s climate, past and future von William Ruddiman (2001).

Weisen die Klimazyklen auch eine fraktale Verteilung auf? Haben langwellige
Fluktuationen wie die Exzentrizität auch eine größere Amplitude? Nach einem
flüchtigen Blick auf die Frequenzspektren aus der Tiefsee und den Eiskappen
würde man dem zustimmen. Doch das scheint nur so. Die Exzentrizität spielt
EIS ÜBER EIS 125

nur in den letzten 900 000 Jahren die Hauptrolle. Davor war der schiefe Erd-
achsen-Zyklus von 41 000 Jahren der wichtigste. Und auch bei den sehr kurzen
Zeitskalen stimmt es natürlich nicht. An den Polen sind die jährlichen Fluktu-
ationen größer als die täglichen, denn es gibt kaum Unterschiede zwischen Tag
und Nacht während der langen dunklen halbjährigen Winter und der endlosen
hellen Sommer. Am Äquator jedoch verhält es sich genau andersherum – kein
Unterschied zwischen Sommer und Winter, die täglichen Temperaturschwan-
kungen sind größer als die jährlichen. Frequenz und Amplitude variieren un-
abhängig voneinander. Das Konzept der Fraktale funktioniert bei den Klima-
zyklen nicht. Warum nicht? Weil die Klimafluktuationen, im Gegensatz etwa
zu Erdbeben, in unterschiedlichen Zeitskalen unterschiedliche Ursachen
haben.

Schauen wir uns noch einmal genau das Frequenz-Magnitude-Diagramm der


Tiefseekurve auf S. 121 an. An seiner rechten Seite sind noch einige kleinere Spit-
zen zu erkennen in der Größenordnung von Jahrtausenden, eine Maßstabsein-
heit kleiner als die Präzessionszyklen. In den Schichten des Grönlandeises der
letzten Eiszeit sind sie ebenfalls prominent vertreten. Man nennt sie nach ihren
Entdeckern Dansgaard-Oeschger-Zyklen. Das Frequenz-Magnitude-Diagramm
(s. S. 126) verrät uns, dass die kleinen Klimaspitzen eine Periodizität von 1480
Jahren aufweisen.
Was bedeuten diese Millenniumfluktuationen? Milanković hatte sie bei sei-
nen astronomischen Berechnungen nicht gefunden, und es ist keinerlei Zyklizi-
tät der Erdbahn bekannt, die eine Periode von einigen Tausend Jahren aufwiese.
Aber die Fluktuationen tauchen immer wieder auf in den unterschiedlichsten
irdischen Archiven: den Eiskappen, den Ozeanen, den Korallen und den Sedi-
menten, die aus den Eisbergen herausgeschmolzen und auf dem Grund des
Nordatlantiks gelandet sind. Das kann kein Zufall sein. Vulkanausbrüche kom-
men als Verursacher kaum in Betracht, dafür sind die Variationen zu regelmäßig.
Welche Ursache aber gibt es dann?

Vor zehntausend Jahren begann der Frühling. Die glitzernde Eisdecke, die Skan-
dinavien bedeckte, schmolz wie Schnee in der Sonne, und die Ostsee beeilte sich,
ihren alten Platz wieder einzunehmen. Auch die Alpen verloren ihre majestäti-
sche Eiskappe und die Täler leerten sich und blieben ausgehöhlt zurück. Nur auf
den allerhöchsten Alpengipfeln blieb noch ein wenig Eis übrig, damit Louis
Agassiz auf die Idee kommen konnte, dass die Gletscher früher größer gewesen
waren. Die winzig kleinen Gletscherzünglein schoben noch ein wenig hin und
her, rück- und aufwärts in der Mittelalterlichen Warmzeit, vor- und abwärts in
der Kleinen Eiszeit – aber dies ist völlig unbedeutend im Vergleich zu dem
enormen Eisverlust nach der letzten Eiszeit. Nicht mehr als ein Schluckauf
im Menschenleben.
126 DER LANGE ZYKLUS

Relative Zyklenamplitude
-1

1480
-2

-3

-4

-5
100 000 10 000 1000
Zyklenlänge (Jahre)

0
Relative Zyklenamplitude

-1
11,1 6,4
21,1 8,8
-2 4,7

-3

-4

-5
1000 100 10
Zyklenlänge (Jahre)

Abb. 54: Frequenz-Magnitude-Diagramm von Fluktuationen im Sauerstoffisotopenverhältnis


des GISP2-Eiskerns aus Grönland. Nimmt man aus dem gesamten Kern von 80 000 Jahren alle
zweihundert Jahre eine Probe (oben), erkennt man eine deutliche Spitze bei einer Frequenz von
1480 Jahren. Nimmt man jährliche Proben aus dem obersten Stück des Bohrkerns, das die
Jahre 818 bis 1987 n. Chr. umfasst, so sieht man fünf Spitzen zwischen 21,1 und 4,7 Jahren
(unten). Nur die Spitzen oberhalb der Strichellinien sind statistisch signifikante Zyklen.

Sogar die grönländische Eiskappe kann von Glück reden, dass es sie noch gibt.
Tatsächlich existiert sie nur noch, weil die höchste Erhebung des Eises oberhalb
der Schneegrenze liegt, also dort, wo der Schnee auch im Sommer nicht schmilzt.
Sollte das Eis bis auf weniger als 1500 Meter Meereshöhe abschmelzen, so würde
die Eiskappe im Sommer mehr Substanz einbüßen, als sie im Winter wieder an-
setzen könnte, und dann wäre sie bald verschwunden. Doch zum Glück gibt es
sie noch, denn sie ist unser wertvollstes Archiv für die Klimaveränderungen der
letzten hunderttausend Jahre.
Auch in den letzten zehntausend Jahren lassen sich Periodizitäten der ver-
schiedensten Größenordnungen entdecken, allerdings weniger stark ausgeprägt
als in den Eiszeiten. Ebenso wie in der antarktischen sind auch in der grönlän-
dischen Eiskappe Variationen des Staub- und des Meersalzgehaltes registriert.
EIS ÜBER EIS 127

Dies sind interessante Veränderungen, denn Staub und Salz lassen Rückschlüsse
auf die vorherrschende Windstärke zu. Je stärker der Wind, desto höher die Wel-
len auf dem Meer; je mehr Salzwassertröpfchen vom Wind transportiert werden,
desto mehr Salzkristalle schlagen sich auf dem Eis nieder.
In den obersten Lagen des Grönlandeises lassen sich einige auffällige Staub-
und Salzmaxima entdecken. Alle 2600 Jahre ist es so weit. Wiederum Millenni-
umfluktuationen, genau wie die Dansgaard-Oeschger-Zyklen! Die letzte Periode
mit erhöhtem Salz- und Staubgehalt, also mit starken Winden, fällt in die letzten
vier Jahrhunderte. Die Kleine Eiszeit! Es gibt sie also wirklich! Auch die Sauer-
stoffisotopen liefern schwache Hinweise auf die Kleine Eiszeit und die Mittelalter-
liche Warmzeit. Und offenbar gab es noch weitere kleine Eiszeiten! Die vorletzte
Spitze vor gut 2600 Jahren, in der Bronzezeit, ist womöglich noch interessanter.
Der Amsterdamer Paläoklimatologe Bas van Geel ist spezialisiert auf die Re-
konstruktion des Klimas aus fossilen Blütenstaubkörnchen. Ihm war aufgefal-
len, dass das Hochmoor in den Niederlanden nach einer Periode relativer Tro-
ckenheit vor 2600 Jahren plötzlich großflächig anzuwachsen begann (am Über-
gang vom Alten Torfmoosmoor zum Jungen Torfmoosmoor). Offensichtlich
wurde das Klima mitten in der Bronzezeit auf einmal deutlich feuchter. Die
Nässe vertrieb die Ackerbauern aus dem westfriesischen Moor. Dasselbe Phäno-
men trat in Irland, in Polen und an vielen anderen Orten auf, und es blieb nicht
auf Nordwesteuropa beschränkt. In Südfrankreich wiesen die Seen einen Hoch-
wasserstand auf. In Chile bildeten sich kleine neue Gletscher. Im Stromgebiet der
Wolga in Nordrussland wurden alte Siedlungsplätze aus der Trockenperiode vor
rund 2600 Jahren plötzlich mit einer Schicht Flusslehm bedeckt; allem Anschein
nach trat die Wolga damals so oft über die Ufer, dass die Bewohner umziehen
mussten. Unsere eigene Untersuchung ergab, dass zu jener Zeit auch das Kas-
pische Meer hoch stand (siehe Kapitel 2). In Sibirien führte das feuchtere Klima
zu einer stärkeren Ausbreitung der Steppenvegetation. Die Skythen, ein damals
dort umherziehendes Nomadenvolk, errichteten enorme Grabhügel für ihre Kö-
nige, bestückt mit Goldzierrat von hohem künstlerischen Wert. Es war die vor-
letzte kleine Eiszeit. Kleine Eiszeiten sind also auch Millenniumzyklen wie die
Dansgaard-Oeschger-Zyklen, wenn auch mit anderer Periodizität. Einer Antwort
auf die Frage, wodurch diese Millenniumzyklen verursacht werden, sind wir
damit aber noch keinen Schritt näher gekommen.
Bas van Geel schlägt eine mögliche Erklärung vor. Ihm war aufgefallen, dass
gerade Moorproben aus dieser kleinen Eiszeit vor 2600 Jahren Probleme bereite-
ten in Bezug auf die Kohlenstoff-14-Datierung. Kohlenstoff-14 wird in der At-
mosphäre gebildet aus Stickstoff-14-Atomen unter dem Einfluss kosmischer
Strahlung. Diesen radioaktiven Kohlenstoff-14 nehmen Pflanzen als Kohlensäu-
regas auf, und solange die Pflanze lebt, bleibt dessen Menge konstant. Stirbt die
Pflanze jedoch, so zerfällt der Kohlenstoff-14 und die Radioaktivität nimmt ab.
Dann beginnt die Uhr zu ticken, mit welcher man den Zeitpunkt des pflanz-
128 DER LANGE ZYKLUS

mehr

Meersalz und Staubteilchen

Intervall 2600 Jahre

weniger
10 000 8000 6000 4000 2000 0
Zeit (Jahre i. d. Vergangenheit)

Abb. 55: Meersalz- und Staubmaxima im Bohrkern GISP2 im Grönlandeis während der
letzten zehntausend Jahre.

lichen Ablebens bestimmen kann. Die Halbwertszeit (siehe Kapitel 1) beträgt


5563 Jahre.
Man kann nachprüfen, ob C-14-Datierungen stimmen oder nicht. Bei einem
alten Baum lassen sich die Jahresringe auszählen und mit einer C-14-Messung
vergleichen. Hierbei nun treten systematische Abweichungen auf. Die Menge des
in der Atmosphäre produzierten Kohlenstoff-14 ist offenbar nicht konstant. Die
kosmische Strahlung nämlich, welche die Bildung des Kohlenstoff-14 bewirkt,
wird teilweise abgeschirmt durch den sogenannten Sonnenwind, geladene Teil-
chen, die von der Sonnenoberfläche stammen. Je stärker der Sonnenwind, desto
geringer die kosmische Strahlung und also auch die Konzentration von Kohlen-
stoff-14, und umgekehrt.
Nun scheint gerade in den Millenniumzyklen der Sonnenwind schwach und
die Kohlenstoff-14-Bildung stark zu sein. In der letzten Kleinen Eiszeit, der Zeit
von Hutton, Lyell, Darwin und Agassiz und der maximalen Alpengletscheraus-
dehnung am Beginn des 19. Jahrhunderts, gab es so gut wie keine Sonnenflecken
(s. u.) und also auch wenig Sonnenwind, denn weniger Sonnenflecken bedeuten
auch weniger zur Erde gesandte Sonnenenergie. Da liegt eine mögliche Erklä-
rung für die tieferen Temperaturen der Kleinen Eiszeit, über die allerdings noch
lebhaft diskutiert wird.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass es auch Menschen gibt, die gar nicht
an die Kleine Eiszeit glauben, oder zumindest nicht daran, dass die Millennium-
zyklen weltweit im Gleichschritt marschiert sind.
Der amerikanische Klimatologe Michael Mann und andere haben auf der Basis
verschiedenster Daten eine Rekonstruktion der weltweiten Durchschnittstempe-
ratur im Zeitraum von 1000 bis 2000 erstellt. Aus dieser Kurve soll hervorgehen,
dass die hohen Temperaturen des 20. Jahrhunderts völlig außergewöhnlich und
EIS ÜBER EIS 129

Veränderungen der weltweiten


Durchschnittstemperatur (°C)
0,6
0,4
0,2
0
-0,2
-0,4
jährlich -0,6
mehrjähriges Mittel -0,8
200 1900 2000
Anzahl Sonnenflecken

100

Maunder-
Sonnenflecken-
Minimum

0
1600 1700 1800 1900 2000
Jahre

Abb. 56: Anzahl der Sonnenflecken (Mittelwerte des bekannten elfjährigen Zyklus) und
weltweite Durchschnittstemperatur von der Kleinen Eiszeit bis heute. Das Maunder-Minimum
überschneidet sich mit einer der kältesten Perioden der Kleinen Eiszeit. Auch die Abkühlung
zwischen 1945 und 1975 lässt sich ablesen.

in der ganzen rezenten geologischen Geschichte ohne Beispiel sind. Die Kurve ist
als hockeystick bekannt geworden. Sie zeigt deutlich, dass evidente, historisch sehr
gut dokumentierte Klimaschwankungen wie die Kleine Eiszeit und die Mittelal-
terliche Warmzeit durch die Wahl der Untersuchungsmethode völlig aus dem
Blickfeld verschwunden sind. Waren das lediglich regionale Schwankungen, die
durch die Wärme anderenorts kompensiert wurden und daher in der Kurve nicht
zum Ausdruck kamen? Ich persönlich glaube das nicht. Ich habe die Moränen der
Kleinen Eiszeit gesehen in den österreichischen Alpen, in den Anden Kolumbiens,
Perus und Boliviens, im Altai in Sibirien, im Kaukasus in Kabardino-Balkarien;
zumindest in Gebirgsregionen scheint das Ereignis universell zu sein. Vielleicht
liegt es an dem multi-proxy-Ansatz Manns, also am Integrieren von Pseudo-Tem-
peraturdaten, proxies, gewonnen aus Jahresringen, Korallen, Eiskappen und histo-
rischen Informationen. Vielleicht hatten die Daten aus den Tropen, wo Kli-
maschwankungen immer einen geringeren Effekt haben als in den gemäßigten
Breiten, einen übermäßigen Einfluss auf die endgültige Kurve.
Inzwischen haben die kanadischen Outsider Stephen McIntyre und Ross
McKitrick die Daten Manns kritisch durchgerechnet. Sie kommen zu einer ganz
130 DER LANGE ZYKLUS

Temperaturabweichungen (°C) bezogen


auf den Mittelwert von 1961-1990
0,5

-0,5

-1,0

1000 1200 1400 1600 1800 2000


Jahr

mehrjähriges Mittel
Daten von Bohrungen, Korallen, Eiskernen und historischen Quellen
Daten von Thermometern
Unsicherheitsmarge

Abb. 57: Die Hockeyschläger-Kurve: Weltdurchschnittstemperatur im letzten Millennium.

anderen Kurve, in der die Mittelalterliche Warmzeit sogar wärmer ist als das
20. Jahrhundert. Sie weisen nach, dass Mann bewusst Werte, die dem hockeystick-
Modell widersprachen, aus seinem Datenbestand herausgelassen und unerlaubte
statistische Prozeduren angewandt hat, um das gewünschte Ergebnis zu erhal-
ten. Die Reaktion von Mann verspricht nichts Gutes: Anstatt auf ihre Argumente
einzugehen, beschuldigt er die Autoren, ihre Untersuchung im Auftrag der Ölge-
sellschaften durchgeführt zu haben. Es könnte sein, dass Mann noch tief fallen
wird und mit ihm auch der IPCC-Bericht, der Manns Kurve als Ausgangspunkt
genommen hat.
Die Diskussion ist von großer Bedeutung, denn die Frage lautet: Ist die Erwär-
mung im 20. Jahrhundert eine Manifestation der Zeit als Fluss (der Anstieg geht
immer weiter), der Zeit als Welle (der Anstieg ist Teil eines Zyklus, die Kurve wird
von selbst wieder abwärtsgehen) oder der Zeit als Impuls (der Anstieg ist ledig-
lich eine kurzzeitige, einmalige Spitze)? Die Reaktion der Menschen auf die Er-
wärmung hängt unter anderem von der Antwort auf diese Frage ab.
Die Politik scheint nur an die erste Variante zu denken. Offensichtlich geht
niemand davon aus, dass die Kurve auch wieder abwärts verlaufen könnte. Mann
läutet anscheinend den Anfang vom Ende ein. Das kommt davon, wenn man
nicht weiter als bis zum Jahr 2100 vorausschauen will. Sollte sich aber erweisen,
dass die Mittelalterliche Warmzeit und die Kleine Eiszeit sehr wohl weltweit auf-
traten, wie McIntyre und McKitrick unterstellen, der Stiel des Hockeyschlägers
also viel zu gerade ausgefallen ist, dann ist die zweite Variante plausibler. Dann
ist der Anstieg Teil einer natürlichen Variation wie die Mittelalterliche Warmzeit,
EIS ÜBER EIS 131

0,5 Korrigierte Version; das 20. Jahrhundert ist nicht mehr das wärmste
0,4 Mann et al., 1998; enthält fehlerhafte Daten
0,3
Temperaturindex (°C)

0,2
0,1
0
-0,1
-0,2
-0,3
-0,4
-0,5
1400 1500 1600 1700 1800 1900 2000
Jahr

Abb. 58: Der Zeitraum von 1400 bis 1950.

mit höchstens einem kleinen Sahnehäubchen an Menschenwerk darauf, und es


ist nur eine Frage der Zeit, wann sich der Trend wieder umkehrt. Trifft die dritte
Variante zu, so besteht erst recht kein Grund, sich Sorgen zu machen. Im Grunde
genommen leiden wir an demselben Übel wie schon Agassiz: Zwar haben wir
Einsicht in die Vergangenheit, aber nicht in die eigene Realität; in seinem Fall
war’s die Kleine Eiszeit, in unserem ist’s die Moderne Warmzeit.
Das Schöne an so einem Eiskern ist: Je feiner man beobachtet, desto mehr
Details kommen zutage. Nimmt man im obersten Bereich der Eiskappe, der das
letzte Millennium abdeckt, von jedem Jahr eine Eisprobe, so entdeckt man noch
kleinere Zyklizitäten (s. Abb. 54, S. 126). Das ist eigentlich nur beim Grönlandeis
möglich, weil dort im selben Zeitraum zehnmal so viel Schnee fällt wie in der
Antarktis. Das Frequenz-Magnitude-Diagramm weist im Intervall von 818 bis
1987 Spitzen bei einundzwanzig und elf Jahren auf. Die Zahlen kennen wir! Der
Sonnenfleckenzyklus!
Sonnenflecken wurden schon vor zweitausend Jahren erstmals in China be-
schrieben, aber die ersten wissenschaftlichen Studien stammen von Galileo Ga-
lilei, Thomas Harriot, Johan Fabricius und Christoph Scheiner, alle etwa zwi-
schen 1610 und 1612. Der Apotheker Heinrich Schwabe entdeckte 1843, dass
Sonnenflecken einen Elf-Jahres-Zyklus aufweisen, der deshalb Schwabe-Zyklus
genannt wird. Daneben gibt es einen 22-jährigen Hale-Zyklus und einen 80- bis
90-jährigen Gleisberg-Zyklus. Letzterer hat einen Bezug zu den systematischen
Variationen in der Länge der Sonnenfleckenperioden, die lediglich im Mittel elf
Jahre betragen. Sonnenflecken sind Eruptionen an der Oberfläche der Sonne, die
besonders starken Sonnenwind verursachen. Abschnitte mit wenigen Sonnenfle-
cken sind folglich solche mit geringer Sonnenaktivität, und die Periode zwischen
1600 und 1700 (s. Abb. 56, S. 129), in der es so gut wie keine Sonnenflecken gab –
nach ihrem Entdecker das Maunder-Minimum genannt –, war eine der kältesten
132 DER LANGE ZYKLUS

100

Anzahl der Sonnenflecken


50

10 000 8000 6000 4000 2000 0


Zeit (Jahre i. d. Vergangenheit)

Abb. 59: Ungewöhnlich starke Sonnenfleckenaktivität in den letzten siebzig Jahren, ebenso
stark wie vor 8400 Jahren.

Phasen der Kleinen Eiszeit. Die Klimamodelle des amerikanischen Klimatologen


Shindell legen in der Tat einen Zusammenhang zwischen der Kleinen Eiszeit
und dem Maunder-Minimum nahe.
Die dänischen Meteorologen Eigil Friis-Christensen und Knud Lassen wiesen
1991 nach, dass die Jahresdurchschnittstemperatur auf der nördlichen Hemi-
sphäre seit 1740 gut mit dem Gleisberg-Zyklus von 80 bis 90 Jahren überein-
stimmt. Dieser Zyklus sagt auch präzise die Abkühlung zwischen 1945 und 1975
voraus, derentwegen Amerikaner und Russen die Beringstraße abschließen woll-
ten. Seither sind 11-, 22- und 80-jährige Zyklen auch in Korallen auf den Galapa-
gosinseln und in den Jahresablagerungen von Gletscherseen, den Bändertonen
(Warven), gefunden worden. Während der letzten siebzig Jahre ist die Sonnenfle-
ckenaktivität offensichtlich die stärkste seit achttausend Jahren; ist das die Er-
klärung für die hockeystick-Kurve?
Noch kleiner sind die Zyklen von 8,8 und 6,4 und 4,7 Jahren in den Jahreslagen
derselben grönländischen Bohrung und anderen Aufzeichnungen. Die Periodi-
zitäten korrelieren gut mit den mehrjährlichen Variationen des Atmosphäre-
Ozean-Systems selbst: dem bekannten El Niño, auch Südliche Oszillation ge-
nannt, und der Nordatlantischen Oszillation, die möglicherweise auch für hohe
und niedrige Wasserstände im Kaspischen Meer verantwortlich ist, wie wir gese-
hen haben. Die Ursachen dieser Zyklen sind noch nicht bekannt; allerdings stel-
len einige Forscher auch hier einen Bezug zu den Sonnenzyklen her.
Fantastisch, all diese Zyklen, all diese Regelmäßigkeit in der Natur! Große
Eiszeiten folgen den Milanković-Zyklen, kleine Eiszeiten und noch schwächere
Klimafluktuationen hängen mit der Sonne zusammen. Wo ist das Problem?
Gibt es hier noch irgendein Klima zu retten? Ist nicht alles unabänderlich?
9 Unter der Decke

„Ein Mensch leidet oft am meisten


durch das Leiden, das er befürchtet,
doch das niemals eintreten wird.
So hat man mehr zu tragen
als Gott zu tragen auferlegt.“
(Autor unbekannt)

Ist Ihnen im Laufe dieser Geschichte etwas aufgefallen? Haben Sie bemerkt, dass
wir inzwischen die ganze Klimageschichte der Erde während der letzten Million
Jahre fast von Tag zu Tag Revue haben passieren lassen, ohne dass auch nur ein-
mal das Wort „Treibhauseffekt“ gefallen ist? Ist das nicht merkwürdig? All diese
Zyklizitäten, die wir gesehen haben, die Exzentrizität, die Schiefe der Erdachse, die
Präzession, aber auch die Sonnenflecken, die Jahreszeiten und die Tag-Nacht-
Rhythmen haben ihre Ursache außerhalb der Erde. Es sind externe steuernde
Kräfte im Sonnensystem. Hätte die Erde kein Wasser und keine Atmosphäre ge-
habt, wäre sie nur eine kahle Steinkugel gewesen wie der Mond, dann hätten
genau dieselben externen Faktoren genau dieselben kleinen Unterschiede in der
Sonnenenergie an genau denselben Stellen bewirkt. Auch dann hätte Milanković
recht gehabt. Es ist eigentlich erstaunlich, dass trotz des Vorhandenseins von At-
mosphäre und Hydrosphäre die astronomischen Signale so klar erkennbar sind.
Hat die Atmosphäre also überhaupt keinen Einfluss? Doch, selbstverständ-
lich. Die Erde als kahle Kugel reflektiert die einfallende Sonnenstrahlung von der
Erdoberfläche zum Teil direkt zurück in den Kosmos, zum Teil absorbiert sie sie.
Die Erde sendet diese absorbierte Energie als langwellige, größtenteils infrarote
Strahlung in den Kosmos zurück. Am Äquator fällt mehr Energie ein, als zurück-
gestrahlt wird, an den Polen ist es umgekehrt. Weil es aber auf einer kahlen Kugel
keinen Mechanismus gäbe, der die überschüssige Wärme vom Äquator zu den
Polen transportierte, wären die Temperaturkontraste gewaltig, wie auf dem
Mond.
Durch die Atmosphäre und die Ozeane ändert sich alles. Die in der Atmo-
sphäre vorhandenen Treibhausgase Wasserdampf, Kohlensäuregas und Methan
halten 90 Prozent der von der Erde ausgesandten langwelligen Strahlung fest.
Die Erdoberfläche ist dadurch im Schnitt 31 °C wärmer, als wenn es keine Treib-
hausgase geben würde. Das ist der Treibhauseffekt.
134 DER LANGE ZYKLUS

Eiskern-Tiefe (m)
3300 3200 3000 2750 2500 2000 1500 1000 500 0

300
280
260

CO2 (ppm)
240
220
200
180
Temperatur (°C) 4
2
0
-2
-4
-6
-8
-10
800
700
CH4 (ppb)

600
500
400
300

-0,5
δ18Oatm(‰)

0
0,5
1,0
1,5
Isolation [oder
Sonnenein-
strahlung]

100
J 65 °N

50
0
-50
400 350 300 250 200 150 100 50 0
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 60: Kohlensäuregas und Methan schwingen mit den Temperaturkurven der letzten
vier Eiszeiten mit. Die sinus-ähnlichen Präzessionssignale (unterste Kurve) werden durch
Rückkoppelungsmechanismen verzerrt zu einem Sägezahnsignal (obere Kurven). Wostok-
Eiskern, Antarktis.

Des Weiteren findet ein Wärmetransport statt vom Äquator zu den Polen mittels
Verdunstung und Niederschlag, durch Luftströmungen und Ozeanströme. Da-
durch werden auch die Temperaturkontraste zwischen den verschiedenen Orten
der Erde abgemildert. Es ist eine sanfte, weiche Decke von Luft und Wasser, die
die Durchschnittstemperatur der Erde auf etwa +15 °C hält. Die Signale der Au-
ßenwelt dringen verzerrt durch die Decke hindurch, so ähnlich wie ich die Män-
ner auf dem Dach gegenüber miteinander reden höre, wenn ich noch unter der
Decke liege.
Nicht alle Elemente dieses Atmosphären-Hydrosphären-Systems reagieren
gleich schnell. Die Responszeit der Atmosphäre auf externe Einflüsse, wie täg-
UNTER DER DECKE 135

liche und saisonale Temperaturschwankungen, beträgt einige Stunden bis hin


zu einigen Wochen; die der Landoberfläche Stunden bis Monate. Die Ozean-
oberfläche ist bereits etwas träger; sie braucht Tage bis Monate. Gletscher in den
Bergen sind weniger empfindlich und noch um ein Vielfaches langsamer, sie re-
agieren in Größenordnungen von Dutzenden bis Hunderten von Jahren. Kleine
Fluktuationen wie jährliche Variationen in Niederschlag und Abschmelzung
werden gleichsam nivelliert. Aus diesem Grund eignen sich Gletscherbewe-
gungen dazu, mehrjährige Durchschnittswerte von Klimaveränderungen zu be-
stimmen. Bei Eiskappen ist das noch stärker der Fall, diese haben eine Respons-
zeit von Hunderten bis zu Zehntausenden von Jahren. Störungen von außen
können auch nicht-lineare, chaotische Reaktionen ergeben, wie Luft- und Was-
serturbulenzen. Doch die zyklischen Signale von Eiskappen, Tiefsee, Jahresrin-
gen und Bändertonen sind so klar und deutlich, dass die chaotischen Reaktionen
nur ein leichtes Rauschen auf sehr kurzen Zeitskalen ergeben haben können – sie
beeinflussen mehr das Wetter als das Klima.
Manchmal werden die zyklischen Signale gedämpft, manchmal aber auch ver-
stärkt. Die geringen Differenzen in der Sonnenenergie, Folge der Milanković-
Variationen und der Sonnenflecken, sind an sich viel zu klein, um damit die
Eiszeiten und die kleineren Klimafluktuationen erklären zu können. Die Atmo-
sphäre und die Hydrosphäre sind quasi die Lautsprecher, durch welche man die
Variationen besser hören kann. Das ist die Folge von verschiedenen positiven wie
negativen Rückkoppelungsmechanismen.
Schauen wir uns doch mal an, wie es bei den großen Eiszeiten funktioniert. Es
beginnt, wenn die durchschnittliche Sommertemperatur auf der nördlichen
Halbkugel durch die Präzession so weit gesunken ist, dass der Schnee auf dem
Festland in Nordnorwegen und Nordkanada auch im Sommer liegen bleibt. Der
Schnee reflektiert die Sonnenstrahlung stärker als das Grün, wodurch die Tem-
peratur weiter sinkt; es entsteht eine Eiskappe, welche in die höheren, kälteren
Luftschichten hineinwächst, wodurch es wiederum kälter wird. Die Eiskappe
breitet sich auch südwärts aus, für viele Bäume wird es zu kalt, und die Tundra
reflektiert stärker als der Wald. So entsteht eine Kette von positiven Rückkoppe-
lungseffekten, und kleine Differenzen haben große Auswirkungen zur Folge.
Wenn dann die durchschnittliche Sommertemperatur durch die fortschrei-
tende Präzession wieder in dem Maße ansteigt, dass die ganze Eiskappe unter der
Schneegrenze zu liegen kommt, schmilzt diese rasant wieder ab. Der Aufbau der
Eiskappe kostet viel mehr Zeit als deren Abschmelzen, deshalb wird die schöne
Sinusform der Milanković-Zyklizität zu einem schiefen Sägezahn verzerrt (siehe
Abb. 60, S. 134). Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass astronomische
Faktoren den Rhythmus dieser Zyklen vorgeben und Atmosphäre und Hydro-
sphäre diesen nur gehorsam folgen.
Was für eine Rolle spielen die Treibhausgase in diesem Zyklus? Die Analysen
der in der antarktischen Eiskappe eingeschlossenen Luftbläschen zeigen, dass
136 DER LANGE ZYKLUS

8000 Palaeosols
Stomata

CO2 i. d. Atmosphäre (ppm)


Borium
6000
GEOCARB III

4000

2000

0
400 300 200 100 0
Zeit (Millionen Jahre i. d. Vergangenheit)

Abb. 61: CO2-Gehalt in der Atmosphäre während der letzten 400 Millionen Jahre, mittels
unterschiedlicher Methoden bestimmt.

die Kurven von CO2- und Methan-Gehalt mit derjenigen der Temperatur perfekt
parallel laufen. Im Frequenz-Magnitude-Diagramm auf S. 123 war das bereits
zu sehen, aber in der obigen Abbildung ist es noch eindeutiger. In den Eiszeiten
ist der CO2-Gehalt in der Atmosphäre nur noch 180 ppm; in den warmen Zeiten,
nicht nur in der heutigen, sondern auch in den vorigen Interglazialen, beträgt sie
um 280 ppm. Präzisionsanalysen zeigen überdies, dass das CO2-Signal sechshun-
dert Jahre hinter dem Eiszeitsignal herläuft und also der Temperatur folgt, nicht
etwa diese steuert. Es ist also nicht eine Abnahme des Treibhauseffektes, wo-
durch die Eiszeiten entstehen, nein, die Eiszeiten bedingen ein Absinken des Ge-
halts an CO2 und Methan in der Atmosphäre. Wenn die Eiszeit vorbei ist, steigen
die Werte genauso rasch an, wie sie gegenwärtig ansteigen. Doch auch jetzt gilt:
Es wird nicht wärmer durch das Ansteigen des Gehalts an Treibhausgasen, son-
dern es ist andersherum – es wird wärmer und dadurch gelangen mehr Treib-
hausgase in die Atmosphäre. Auch für die Treibhausgase gilt: Milanković ist der
führende Tanzpartner, und der energische Betonbauer lässt das CO2 leichtfüßig
mit jeder Pirouette mitwirbeln.
Es ist übrigens nicht so leicht zu erklären, wo das CO2 während der Eiszeit
abbleibt. Vermutlich funktioniert es folgendermaßen: Es gibt weniger Wald, also
weniger Biomasse auf dem Land. Die oberste Schicht des Ozeans ist immer im
Gleichgewicht mit der Atmosphäre und enthält also ebenfalls weniger CO2. Der
einzige Ort, wo das CO2 sein kann, ist im tiefen Ozean, und das hat man denn
auch tatsächlich anhand von Kohlenstoffisotopen feststellen können. Durch die
kräftigeren Winde steigen an den Westküsten der Kontinente mehr Nährstoffe
aus dem tiefen Ozean hoch, das Plankton vermehrt sich gewaltig und sinkt,
nachdem es abgestorben ist, auf den Boden der Ozeane hinab: Das ist die biolo-
gische Kohlenstoffpumpe.
UNTER DER DECKE 137

Das CO2 spielt sehr wohl eine führende Rolle, jedoch in ganz anderen Zeiträu-
men. Das sehen wir, wenn wir uns in der obigen Abbildung die Klimageschichte
der letzten 400 Millionen Jahre anschauen. Auch da sehen wir eine Zyklizität,
allerdings eine von 200 Millionen Jahren! Gegenwärtig ist der Gehalt niedrig,
aber in der Kreidezeit, vor etwa 100 Millionen Jahren, hatte er schätzungsweise
den 20-fachen Wert. Das war erst ein richtiges Treibhaus! In der greenhouse earth
der Kreidezeit war das Klima vom Äquator bis zu den Polen tropisch bis subtro-
pisch. Nirgendwo gab es Eiskappen. Auf Grönland wuchsen Affenbrotbäume, in
Alaska spazierten Entenschnabeldinosaurier umher und in Sibirien wurden die
Krokodile zur Landplage. In den flachen Meeren wimmelte es vor Leben; Ein-
zeller vermehrten sich in solch schwindelerregendem Tempo, dass ihre winzigen
Skelette Kalkschichten von Hunderten Meter Dicke über die gesamte Erde bil-
deten. Auf dem Land erfanden die Pflanzen eine neue Weise, sich besser über die
Erde zu verbreiten: die Blüte.
Aber noch weitere 100 Millionen Jahre zurück in der Zeit, im Perm und in der
Trias, ähnelte der CO2-Gehalt in der Atmosphäre wieder dem heutigen, und es
gab eine Eiskappe. Und nochmals 100 Millionen Jahre zuvor, im frühen Paläozo-
ikum, gab es wiederum eine Treibhauserde und keine Eiskappe. Was bedeutet
das? Warum bekommt die Erde auch Wechselbäder in der Sauna?
Die Lösung liegt in der Plattentektonik. Eine Eiskappe wie die von Antarktis
und Grönland kann sich nur bilden, wenn es Land gibt auf den Polen, und das
hängt davon ab, wo die Kontinente sich gerade zufällig befinden. Der Zyklus von
200 Millionen Jahren ist also keine rigide Gesetzmäßigkeit, sondern wird von
zufälligen Plattenbewegungen gesteuert. Es gibt allerdings auch Leute, die dafür
eine astronomische Ursache gesucht haben. So meint der russische Geologe N.
A. Jasamanow, dieser Zyklus hinge mit der Tatsache zusammen, dass sich unser
Sonnensystem in etwa 215 Millionen Jahren um den Kern unseres Milchstraßen-
systems dreht: das galaktische Jahr. Doch Beweise hierfür gibt es nicht.
In der Kreidezeit drifteten außerdem die Platten des berühmten Superkonti-
nents Pangäa fünfmal so schnell auseinander wie heute. Der basaltische Vulka-
nismus auf den mittelozeanischen Rücken produzierte dabei derart gewaltige
Mengen CO2, dass der Treibhauseffekt 20-mal so stark war wie heute.
Aber auch in der Treibhauserde wirkte die Milanković-Zyklizität weiter. Macht
man eine Spektralanalyse der Lagenstärken und des Kalk- und Tongehaltes in
den Tiefseeablagerungen jener Zeit, so ergibt das genau solche Spektren mit
Spitzen für Exzentrizität, Schiefe der Ekliptik und Präzession, wie wir sie oben
gesehen haben in Tiefseeablagerungen und Eiskappen. Man könnte also sagen,
dass der Mittelwert des CO2-Gehaltes während Millionen von Jahren gewisser-
maßen den Hintergrund bildet für die Klimaänderungen auf den kleineren
Zeitskalen der Milanković- und Sonnenfleckenzyklen.
Die Treibhauserde der Kreidezeit wurde jedoch beendet, denn die lithosphä-
rischen Platten begannen, langsamer auseinanderzudriften, der unterseeische
138 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 62: Rhythmische Kalk-Lehm-Tiefseeablagerungen aus der Kreidezeit (Hauterivien),


Bouvières, französische Alpen. Durch die Gebirgsbildung tauchten die Schichten aus dem
Wasser auf und wurden schräg gestellt. Liest man den Strichcode der hellen und dunklen
´
Lagen, so bekommt man ein Milankovic-Frequenz-Magnitude-Spektrum.
UNTER DER DECKE 139

Vulkanismus produzierte weniger CO2 und die Antarktis wurde am Südpol fest
verankert. Es dauerte nicht lange und die Platten begannen, sich wieder aufein-
ander zu zu bewegen, neue Subduktionszonen entstanden und neue Gebirge wie
die Alpen und der Himalaja ragten so hoch empor, dass sie den Wärmeaustausch
zwischen dem Äquator und den Polen ernsthaft störten. Südamerika und Süd-
afrika drifteten von der Antarktis weg, sodass kalte Meeresströme um den Kon-
tinent herum freie Hand bekamen. Auf diese Weise wurde langsam aber sicher
der Weg frei gemacht für die antarktische Eiskappe und damit für die großen
Eiszeiten der letzten paar Millionen Jahre. So ist es schließlich die Plattentekto-
nik, die das CO2 in der Atmosphäre reguliert und die Bedingungen für das Ent-
stehen der Eiszeiten schafft.
Die Treibhauserde der Kreidezeit ist übrigens nur noch ein schwaches Echo
der extrem CO2-reichen Atmosphäre, die der Erde bei ihrer Geburt mitgegeben
wurde. Der allergrößte Teil dieses Kohlenstoffs ist heute fest eingelagert als Kalk-
stein, organische Substanz, Steinkohle, Öl und Gas. Doch beim Entstehen der
Erde gab es all das noch nicht. Es ist eine Folge des Lebens auf der Erde: der Fo-
tosynthese der Pflanzen, der Produktion von Kalkskeletten durch Tiere. Zusam-
men macht das ungefähr 200 000 Mal so viel Kohlenstoff, wie jetzt in der Atmo-
sphäre, der Hydrosphäre und der Biosphäre insgesamt vorhanden ist. Das muss
sich früher alles in der Atmosphäre befunden haben. Diese Atmosphäre wird
mehr jener der heutigen Venus geähnelt haben als derjenigen der jetzigen Erde –
eine noch viel wärmere Decke.
Wird denn nie Sand ins Getriebe gestreut? Greift nichts in die Speichen des
sich ewig drehenden Rades der kosmischen Zyklen und der Plattentektonik?
Sind wir die Ersten mit unserem selbst gemachten Ausreißer beim CO2? Nein, so
einzigartig sind wir nicht. Aber der Effekt der Zeitimpulse, der events, welche die
Wellenbewegung stören, ist meistens nur kurzfristig. Große vulkanische Erupti-
onen stören die Interaktion zwischen Sonnenenergie und Atmosphäre im Schnitt
einmal im Jahrhundert. Deren abkühlende Effekte währen höchstens ein paar
Jahre, und ob es vor 75 000 Jahren wirklich einen vulkanischen Winter gegeben
hat, wie wir es vorher diskutiert haben, ist noch sehr die Frage.
Eine zweite Form der Störung ist am Ende der letzten Eiszeit zu sehen. Beim
Abschmelzen der großen Laurentischen Eiskappe von Nordamerika entstanden
große Schmelzwasserseen hinter den Eiswällen. Der größte wird Lake Agassiz
genannt, zu Ehren von Louis Agassiz, dem Begründer der Eiszeittheorie und in
seinem späteren Leben in Amerika der Gründer des Harvard Palaeontological
Museum – ein einflussreicher Mann in den amerikanischen Geowissenschaften.
Als der Eiswall, der Lake Agassiz abgeschlossen hatte, vor zwölftausend Jahren
durchbrach, ergoss sich eine gewaltige Welle kalten Schmelzwassers in den Nord-
atlantik, wodurch das Klima weltweit für zwölfhundert Jahre aus dem Gleichge-
wicht geriet. Diese jüngere Dryaszeit war die letzte Zuckung der Eiszeit, bevor
endgültig der Frühling begann. Aber nicht von Milanković geplant.
140 DER LANGE ZYKLUS

Paläogen Neogen

Pleist.
Plioz.
Pal. Eozän Oligozän Miozän

5000

CO2 i. d. Atmosphäre (ppm)


3000

2000

1000

0
60 50 40 30 20 10 0
Zeit (Millionen Jahre i. d. Vergangenheit)

Abb. 63: Rückgang des CO2-Gehaltes in der Atmosphäre seit der Treibhauserde.

Einer der interessantesten Impulse war das Paleocene-Eocene Thermal Maximum


vor 55 Millionen Jahren – es ist die höchste CO2-Spitze in der obigen Abbil-
dung. In dieser Zeit stieg die Temperatur plötzlich um fünf bis acht Grad in
den hohen Breiten, ein bis vier Grad in den Subtropen und ein bis zwei Grad in
den Tropen. Manche glauben, dies war die Folge einer plötzlichen Freisetzung
großer Methanmengen vom Meeresboden, andere meinen, es sei einem CO2-
Impuls zuzuschreiben, verursacht von weiträumigem Vulkanismus auf dem
Boden des Nordatlantischen Ozeans. Dieses Wärmemaximum ist in allen
Ozeanen gefunden worden, war aber in weniger als hunderttausend Jahren wie-
der gänzlich verschwunden! Vermutlich haben Einzeller in den Ozeanen dank-
bar von dem zusätzlichen CO2-Ausstoß Gebrauch gemacht und die Spitze
rasch absorbiert.
Sogar der große Meteoriteneinschlag am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen
Jahren hat keine längerfristige Störung des Klimas zur Folge gehabt. In der Grube
Geulhemmerberg in der limburgischen Kreide kann man das sehen. Dort befin-
det sich eine dünne Tonschicht von 60 Zentimeter Dicke, die eine der größten
Katastrophen repräsentiert, welche die Erde jemals getroffen hat, und die zu
einem massenhaften Aussterben von zahllosen Organismen führte, darunter die
Dinosaurier. Doch darüber setzt sich die Ablagerung des Kreidekalks (zu Un-
recht oft „Mergel“ genannt) einfach fort, als sei nichts gewesen.
Offenbar ist die von außen auferlegte Zyklizität des Klimas „robust“, ein Wort,
das Wissenschaftler lieben. Plötzliche Impulse können zwar eine vorübergehende
Störung bewirken, aber innerhalb kurzer Zeit ist der Effekt dieses Impulses wie-
der absorbiert und die eiserne Zyklizität setzt sich unbeeindruckt fort. Eine der
UNTER DER DECKE 141

380
1958-1974 Scripps Inst. Oceanography
1974-2004 NOOA CMDL
370
CO2-Konzentration (ppm)
360

350

340

330

320

310
1955 1965 1975 1985 1995 2005
Jahr

Abb. 64: CO2-Zunahme in der Atmosphäre mit jahreszeitlichen Schwankungen, gemessen im


Mauna Loa Observatory, Hawaii.

besten Illustrationen dieser Robustheit von astronomischen Zyklizitäten ist


auch, dass der gegenwärtige Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre keine
gerade Linie darstellt, sondern eine Sägezahnform zeigt: die saisonale Fluktua-
tion. Im Sommer nimmt die Vegetation auf der nördlichen Halbkugel so viel
CO2 aus der Luft auf, dass dadurch die Konzentration weltweit abnimmt, wäh-
rend sie im Winter wieder ansteigt. Global warming hin oder her – die Jahreszeiten
kommen und gehen.
Ist die aufsteigende Linie der vom Menschen verursachten Erhöhung der CO2-
Menge in der Atmosphäre ebenfalls so ein vorübergehender Impuls? Das ist
schwer zu sagen, wenn man, wie das IPCC, nicht weiter in die Zukunft blicken
möchte als bis zum Jahr 2100 (siehe Kapitel 1).
Es gibt zum Glück beherztere Leute, wie Klaus Hasselmann vom Max-Planck-
Institut für Meteorologie in Hamburg. Er hat sich getraut, Szenarien bis zum
Jahr 3000 durchzurechnen. Dabei fällt zuerst auf, dass die Menge der fossilen
Brennstoffe endlich ist. Alle großen Energiefachleute prophezeien, dass die Öl-
und Gasvorräte in fünfzig Jahren zu Ende sein werden. Wenn man davon aus-
geht, dass wir bis dahin weit genug fortgeschritten sind mit der Entwicklung von
alternativen Energiequellen, um ohne fossile Brennstoffe auskommen zu kön-
nen, wird die CO2-Emission natürlich aufhören. Um das Jahr 2200 herum wird
die CO2-Konzentration dann ihren Spitzenwert von etwa 1000 ppm (heute
370 ppm) erreicht haben, wonach sie sich langsam rückwärts entwickeln wird.
Die Temperatur steigt um maximal vier Grad und geht dann wieder zurück.
Wenn wir nicht rechtzeitig die alternativen Energiequellen einsetzen können,
sondern auch den Teersand und die Steinkohle aufbrauchen müssen, wird die
Emissionsspitze um das Jahr 2400 sein, und die Temperatur bleibt mindestens
bis zum Jahr 3000 wenigstens neun Grad höher.
142 DER LANGE ZYKLUS

Business as usual CO2-Emmissionen Cost/Benefit-Politik


40 9
8

109 Tonnen
109 Tonnen
30 7
6
20 5
4
3
10 2
1
0 0

Konzentrationen
5000 500

Parts per million


Parts per million

4000 400
3000 300
2000 200
1000 100
0 0

Temperaturveränderung
9 1,8
8 1,6
7 1,4
6 1,2
5 1,0
°C

°C
4 0,8
3 0,6
2 0,4
1 0,2
0 0

Meeresspiegelveränderung
14 1,2
12 1,0
10 0,8
8
0,6
m

6
4 0,4
2 0,2
0 0
1800 2000 2200 2400 2600 2800 3000 1800 2000 2200 2400 2600 2800 3000
Jahr Jahr

Abb. 65: Szenarien bis zum Jahr 3000 für CO2-Emissionen (oben), Konzentrationen,
Temperatureffekte und Meeresspiegel (unten) bei business as usual und Cost / Benefit-
Politik. Die hohen Kurven mit grauen Spitzen gehen davon aus, dass auch unkonventionelle
fossile Brennstoffe wie Teersande und Ölschiefer aufgebraucht werden; diejenigen Kurven
unter den weißen Spitzen nicht.

Dies alles unter der Voraussetzung, wir unternehmen nichts dagegen (linke Dia-
gramme in obiger Abbildung). Wenn wir zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des
Millenniums eingreifen, kann der Effekt stark verringert werden – angenommen,
der CO2-Anstieg führt auch tatsächlich zu einer Temperaturerhöhung, was noch
umstritten ist. Wenn man es so betrachtet, ist es tatsächlich nicht mehr als ein
Impuls – ein langer Impuls zwar für das menschliche Maß, aber auf jeden Fall
nur eine einmalige Störung, und es ist sehr die Frage, ob man von ihr nach zehn-
tausend Jahren noch etwas bemerkt.
Schade, denn die nächste Eiszeit ist ein größeres Problem als die Erwärmung
von heute. Kanada, Finnland, Schweden, Norwegen und Island werden zu exis-
UNTER DER DECKE 143

tieren aufhören. Alles, was sich in diesen Ländern befindet an Wäldern, Häusern,
Brücken, Fabriken, Museen, Atomkraftwerken, Zoos, Kirchen, Viadukten und
Schornsteinen, wird die Eiskappe wie ein Bulldozer Richtung Süden schieben,
und die unkenntlichen, deformierten Reste werden zu einer stinkenden Staumo-
räne aus schmutzigem Schutt zusammengekehrt werden, die sich von Amster-
dam bis Moskau erstreckt. Wir werden nicht mehr stolz sein können auf den
Findling von Amersfoort als eine Erinnerung an zwei vorige Eiszeiten, nein, wir
werden uns begnügen müssen mit dem zusammengepressten Überbleibsel der
Seejungfrau von Kopenhagen zwischen zersplitterten Bäumen in einem ver-
schütteten Bahndamm. Nur was in diesen Ländern fest verankert ist, bleibt hun-
derttausend Jahre unter der Eiskappe bewahrt, um den Generationen des nächs-
ten Interglazials zu zeigen, wie alles untergegangen ist: Asphaltstraßen mit Glet-
scherschrammen. Agassiz, wo sind Sie?
Doch vielleicht braucht es nicht so weit zu kommen. Wir können die nächste
Eiszeit nicht verhindern, denn die Zyklizität ist robust, das haben wir gerade
gesehen. So sicher, wie nach dem Sommer der Winter kommt, folgt auf das In-
terglazial die nächste Eiszeit. Die einzige Möglichkeit, diesen Effekt abzumil-
dern, ist, dafür zu sorgen, dass so viel CO2 wie möglich in die Atmosphäre ge-
langt. Also heizen, Greenpeace! Rettet das Klima der Finnen!
10 Wächter, Schläfer, Träumer

Vor genau fünfhundert Jahren geht ein alter Mann am Strand von Piombino
entlang. Eine Welle läuft auf. Eine Welle. Noch nie hat ein Mann einer Welle so
intensiv zugeschaut. Er ist ein geübter Beobachter und einer, der alles, was er
sieht, sofort zeichnen kann. Mit rotem Bleistift und Tinte zeichnet er, wie die
Welle immer höher wird, je näher sie dem Strand kommt, asymmetrisch wird,
bricht und schließlich ausläuft, um wieder zurückzufließen. Es ist eine faszinie-
rende Zeichnung, in modernen Lehrbüchern findet man keine bessere.
Wie gerne wäre ich mit Leonardo da Vinci diesen Strand entlanggegangen! Ich
hätte ihm ein Loch in den Bauch gefragt. Zu Problemen, die mich beschäftigen
und auf die mir bis heute niemand eine befriedigende Antwort hat geben kön-
nen. „Leonardo, warum gibt es Wellen auf dem Meer?“ Ich bin sicher, ich hätte
von ihm nicht die Standardantwort bekommen: „Das macht der Wind.“ Zwar ist
das natürlich richtig, und wie es genau funktioniert, kann man auf der entspre-
chenden Abbildung in Kapitel 1 (s. Abb. 5, S. 15) sehen. Doch das meinte ich
nicht, ich müsste meine Frage anders formulieren. „Leonardo, warum bleibt das
Wasser nicht einfach flach, wenn der Wind darüberstreicht? Es bräuchten doch
keine Wellen zu entstehen?“ Und dann würde er hoffentlich auch darauf nicht
mit der Standardantwort erwidern: „Wenn es erst einmal eine unendlich kleine
Störung in der Wasseroberfläche gibt, wird diese so lange vergrößert, bis eine
stabile Situation entstanden ist mit Wellen in der Größe, die zu dieser Wind-
stärke gehören.“ Auch das habe ich bereits gehört. „Leonardo, mal angenommen,
es gibt keine unendlich kleine Störung – bleibt die Wasseroberfläche dann glatt?“
Keine Antwort. Ich bin fünfhundert Jahre zu spät.
Die Frage lässt mich nicht los. Als Student fuhr ich mit einigen Kommilitonen
und Dozenten zur Hoofdplaat, einem Sandriff mitten in der Westerschelde. Wir
wollten Rippelmarken untersuchen, Wellen nicht in der See, sondern im Sand.
Es war faszinierend. Es gab zwei Sorten Sandrippeln: metergroße asymmetrische
Mega-Rippeln, die steile Seite nach Antwerpen hin ausgerichtet, und kleine Rip-
pelchen, die steile Seite zur offenen See gewandt, als Parasiten auf dem breiten
Rücken der Mega-Rippeln. Die Dozenten gruben mit ihren Maurerkellen eine
Schneise in die großen Rippeln. Man sah lauter dünne schräg gestellte Lagen,
parallel zur steilen Antwerpener Kante verlaufend. Die großen Rippeln, so wurde
uns erklärt, entstehen bei Flut, die kleinen bei Ebbe. Hier ist der Flutstrom stär-
ker als der Ebbstrom, auf der anderen Seite des Sandriffs ist es genau umgekehrt.
WÄCHTER, SCHLÄFER, TRÄUMER 145

Abb. 66: Große Flutrippel, von


links kommend, bedeckt kleine
Ebberippeln. Sandriff „Razende
Bol“ zwischen Den Helder und
Texel.

Die schrägen Lagen entstehen, wenn das Wasser die Sandkörnchen über den
Scheitel der Rippel transportiert. Dort, an der Leeseite, ist es ruhiger, und dort
lagern sie sich auf der Böschung der Rippel ab, und zwar unter einem Winkel von
34°, dem maximalen Ruhewinkel locker gestapelten Sandes. Per Bak kennt sich
damit aus.
„Sie erzählen uns zwar, wie die Rippeln sich stromabwärts bewegen, indem
Sand von der Luv- auf die Leeseite transportiert wird – aber warum entstehen
überhaupt Rippelmarken?“, fragte ich die Dozenten. „Warum strömt das Wasser
nicht einfach glatt über den Sand?“ Die Antwort lautete: „Ab ins Boot, Jungs, die
Flut kommt auf!“
Stellt man dieselbe Frage einem Physiker, dann murmelt er: Helmholtz-Effekt.
Aber damit fange ich nichts an. Die Physiker lassen uns sitzen mit unseren Pro-
blemen. Warum bilden sich Wellen auf dem Wasser, warum entstehen geriffelte
Schäfchenwolken am Himmel, warum gibt es Rippelmarken in strömendem
Wasser, woher kommen die Furchen im Asphalt vor der Ampel, wo die Autos
beschleunigen, warum bilden sich auf den Muschelsandstraßen in Surinam
nicht nur Waschbrettmuster aus, sondern auch Sandwälle, groß genug, das
ganze Auto darin verschwinden zu lassen? Warum bilden sich Fronten aus an der
Grenzfläche von kalten und warmen Luftmassen? Es geschieht überall dort, wo
Medien unterschiedlicher Dichte sich aneinander entlangbewegen, und wir ver-
stehen ja, wie sich die Bewegung von der einen Welle zur nächsten fortsetzt, aber
warum entstehen Wellen an der Grenzschicht? Sind sie die kleinen Oasen von
Struktur im Chaos der turbulenten Strömung? Wenn wir schon die kleinsten
Fluktuationen der Wasseroberfläche nicht erklären können, wie um alles in der
Welt sollen wir dann Meeresspiegelschwankungen von Hunderten von Metern
begreifen? Wo bist du, Leonardo? Fährst du auf den Wellen des Arno, die du so
schön gezeichnet hast? Fliegst du hinauf zu den geriffelten Schäfchenwolken?
Das wolltest du doch 1496 – aufsteigen in den Himmel mit deiner ersten selbst
entworfenen Flugmaschine, vielleicht um den 5500. Geburtstag der Schöpfung
zu feiern? Keine Antwort. Ein weiteres unvollendetes Projekt.
146 DER LANGE ZYKLUS

Dann mal eine Größenordnung höher. Die Gezeiten. Da ist er wieder. Er liebte
das Wasser.
„Se l’omo ha in sé il laco del sangue, dove cresce e decresce il polmone nello alitare, il
corpo della terra ha il suo Oceano mare, il quale ancora lui cresce e discresce ogni sei
ore per lo alitare del mondo.“
„Wie der Mensch das Meer von Blut in sich hat, in welchem die Lungen wachsen und
schrumpfen beim Atmen, so hat der Körper der Erde seinen Ozean, der alle sechs Stun-
den wächst und schrumpft durch das Atmen der Welt.“

Leonardo da Vinci, Kodex A (1492)

Ich bin in Zeeland aufgewachsen. Ich radelte an der Schenge entlang, einst eine
breite Rinne, welche die Insel Wolphaartsdijk trennte von der Insel Zuid-Beve-
land, nun ein schilfumrandeter Teich, auf dem ich im Winter vergeblich die
Kunst des Schlittschuhlaufens zu erlernen suchte. Ich spielte in den pockennar-
bigen Weiden im Poel, wo einst die Bauern den Torf aus dem Lehm klaubten, um
aus ihm Salz zu gewinnen. Beim Deichrutsch am Kattendijker Deich an der Oos-
terschelde fand meine erste Knutscherei statt. Überall war das Wasser gewesen.
Die Karte von Zeeland, die ich in der Grundschule zeichnen musste, hatte keiner-
lei Ähnlichkeit mit den alten Karten, die der einzige Antiquar von Goes in seinem
Laden hängen hatte. Das Meer war daran schuld. Jetzt war Zeeland eine Menge
großer Flicken, durch dünne Fäden verbunden. Damals, vor dreihundert Jahren,
ähnelte es eher einer Suppe mit Brocken gehackten Fleisches darin, und es war
gar nicht einfach festzustellen, auf welchem Bröckchen ich nun eigentlich
wohnte.
Mein Vater war Augenarzt, zuständig für Zuid- und Noord-Beveland sowie
Schouwen-Duiveland. Die Patienten von Noord-Beveland kamen mit der Fähre
von Kats nach Goes. Aber für die von Schouwen war Goes zu weit. Also fuhr mein
Vater jeden Donnerstag mit der Fähre über die Oosterschelde nach Zierikzee.
Manchmal durfte ich mit. Bei Flut fuhr mein Vater mit seinem 2CV den Anleger
hinauf aufs Boot. Bei Ebbe fuhr er den Anleger hinab. Der Anleger stieg und fiel
mit der Tide, vier Meter zweimal täglich. Es war die normalste Sache der Welt. Als
1963 die letzten Caissons im Veerse Gat abgesenkt und so Noord- und Zuid-Be-
veland miteinander verbunden wurden, nahm mein Vater mich mit. Die Tide
war auf einmal verschwunden. Schade. Heute, 2004, hat man den Zandkreek-
Damm wieder geöffnet, denn das Wasser im Veerse Meer zirkuliert nicht rich-
tig.
Ebbe und Flut – damit bin ich aufgewachsen. Der Mond und die Sonne zerren
an den Wassermassen der Erde. Ein astronomischer Zyklus, zweimal täglich, und
so genau bekannt, dass man in jedem Hafen Gezeitentabellen bekommen kann
mit den Angaben von Hoch- und Niedrigwasser und dem exakten Wasserstand,
auf Jahre, bei Bedarf auf Jahrzehnte hinaus im Voraus. Praktisch, wenn man eine
WÄCHTER, SCHLÄFER, TRÄUMER 147

Sandbank besuchen will. Sehen Sie mal nach auf www.getij.nl. Heute, am
12. Dezember 2004 um 2:29 Uhr, war Neumond, und um 2:56 Uhr war das
Hochwasser bei Bath in der Westerschelde 326 Zentimeter über dem Normalen
Amsterdamer Pegel (NAP). Gestern Abend um 21:12 Uhr war das Niedrigwasser
auf -241 Zentimeter unter NAP. Eine Gezeitenamplitude von 567 Zentimetern.
Gut fünfeinhalb Meter! In genau zwei Jahren, am 12. Dezember 2006, werden
das Niedrigwasser um 1:55 Uhr bei -157 Zentimeter unter NAP und das Hoch-
wasser um 8:06 Uhr bei 221 Zentimeter über NAP liegen, eine Amplitude von nur
378 Zentimetern. Aber dann gibt’s ja auch keinen Neumond.
Die Westerschelde ist nicht einmal etwas Besonderes. Bei Mont Saint-Michel
an der französischen Kanalküste beträgt die Gezeitenamplitude mehr als 13 Me-
ter, und der Rekord liegt bei 16 Metern in der kanadischen Bay of Fundy, eine
trichterförmige Bucht, wo die Flutwelle schnurgerade einströmt. Zweimal täg-
lich 16 Meter Meeresspiegelanstieg, Jahre im Voraus auf die Minute genau ange-
kündigt! Das ist mal eine Vorhersage! Und es ist ein astronomischer Zyklus wie
der von Tag und Nacht, wie die Jahreszeiten und die Eiszeiten.
Deshalb fürchtet sich davor niemand. Damit rechnen wir. Unterhalb der
Hochwasserlinie wird nicht gebaut. Dort geht man allenfalls spazieren, am
Strand; oder auf den grünen salzigen Groden des Ertrunkenen Landes von Saef-
tinge in Nordflandern, das nur bei Springflut überschwemmt wird. Ein Gewirr
von sich schlängelnden, schlickigen Rinnen, die sich ihren Weg zum Meer su-
chen. Und bitte immer schön die Tide einplanen! Sonst ertrinkt man im Meeres-
spiegelanstieg.

Aber eines Tages – ich bin noch klein – kommt die Ebbe nicht. Es ist Flut und es
bleibt Flut. Es ist der 31. Januar 1953, halb elf nachts. Ich liege schon im Bett und
höre nur, wie der Zaun umgeweht wird. Nach der Gezeitentabelle muss es Ebbe
sein. Aber die vorhergehende Flut, die schon viel höher als normal ausfiel, geht
nicht zurück. Auch die Nordsee ist ein Trichter, und wenn der Sturm aus der
falschen Richtung kommt, wird alles Wasser in diesen Trichter gedrückt, Ebbe
oder nicht. Und dies hier ist kein Sturm, sondern ein Orkan bis zu Windstärke 12.
„Es ist Ebbe, aber das Wasser steht höher als bei Hochflut“, sagt der Schiffer
A. Waling, der auch Gemeinderat von Ooltgensplaat ist, zu seinem Bürgermeis-
ter. So steht es in dem monumentalen Werk De ramp (Die Katastrophe) des Jour-
nalisten Kees Slager aus Zeeland, in welchem 250 Augenzeugen zu Wort kom-
men. Ein Äquivalent zu dem Buch von Jorge Dario Restrepo über die Katastro-
phe von Armero, es enthält genau die gleichen Elemente. „Das gibt’s doch nicht,
es muss Ebbe sein“, sagt der 18-jährige Kees Hoogerhuis, als er von einer Feier in
Sirjansland nach Hause läuft. Nicht jeder ist so besorgt wie der Schiffer und der
Junge. Eine alte Volksweisheit besagt: „Keine Ebbe? Keine Flut!“ Das soll heißen:
Wenn die Ebbe wegen eines Sturms ausbleibt, dann wird zur Zeit der folgenden
Flut dieser Sturm sich ausgetobt oder seine Richtung geändert haben, sodass die
148 DER LANGE ZYKLUS

Flut nicht ungewöhnlich ausfallen wird. Wachtmeister Jan van de Velde von Sint
Philipsland weiß von seinem Vater: „Wenn das Wasser nicht geht, dann kommt
es auch nicht.“ Aber das Wasser kommt.
Die Zeeland-Inseln kann man sich vorstellen als aneinandergeschweißte Bade-
wannen, die auf dem Wasser treiben. Das Land liegt tiefer als die See. Von Krui-
ningen aus sieht man die Seeschiffe auf der Westerschelde quasi über Kopfhöhe
fahren. Die großen Deiche schützen das hinter ihnen liegende Land. Das sind die
Wächter. Kleinere Deiche schützen die weiter landeinwärts liegenden Polder; das
sind die Schläfer und die Träumer. Wenn der Wächter bricht, muss der Schläfer
einspringen, und wenn der in die Knie geht, ist der Träumer an der Reihe. Wenn
man sich an genaue Absprachen hält, funktioniert das System.
So wie bei den Reisfeldern in Surinam, nur andersherum. Reisfelder sind eben-
falls von kleinen Deichen umgeben, aber dort wollen die Bauern das Wasser sehr
wohl auf dem Land haben, denn wenn man den Reis unter Wasser pflanzt, kann
sich kein Unkraut ausbreiten. Der Reisbauer direkt am Fluss bekommt als Erster
das Wasser auf sein Land und führt es dann, nach genauer Vereinbarung, seinem
Nachbarn zu, der weiter vom Fluss entfernt wohnt. Die vereinbarten Regeln
nennt man Wasserkalender.
Aber in Zeeland funktionierte der umgekehrte Wasserkalender nicht. Jeder
Deichgraf kümmerte sich nur um seine eigenen Deiche; es gab keine Koordina-
tion. Darüber hinaus waren die Deiche nicht ganz wasserdicht. Es gab Durchsti-
che für Straßen und Eisenbahnlinien, die bei drohender Gefahr mit Flutbrettern
abgedichtet werden sollten, um die dahinterliegenden Polder vor Überschwem-
mung zu schützen. Zudem waren einige Deiche nachlässig gewartet oder schlicht-
weg zu niedrig.
In der Zeit vom 31. Januar nachts um halb elf bis zum 1. Februar morgens um
drei scheint auch die Bevölkerung aus Wächtern, Schläfern und Träumern zu
bestehen. Je höher der Rang, desto tiefer der Schlaf. Die Meteorologen des KNMI,
die das Unheil kommen sehen, schicken ohnmächtig ihre Nachrichten in die
Welt hinaus. Aber die Radiosendungen enden um Mitternacht; nur Abonnenten
erhalten die Sturmflutwarnung. Die wenigen Amtsträger, die davon hören,
fürchten Panik zu verbreiten oder wegen ihrer Ängste ausgelacht zu werden. Ka-
tastrophenpläne gibt es noch nicht; es ist 1953. Lediglich zwei Bürgermeister –
Hordijk von Ooltgensplaat und van der Hooft von Willemstad – erkennen die
Gefahr. Beide waren Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Sie alarmieren
ihre Bürger und bewegen sie zur Evakuierung, zum Teil unter Zwang. Viele an-
dere warten ab, bis es zu spät ist, oder sie sind nicht wach zu bekommen, selbst
mit einem Stein durch die Fensterscheibe nicht. Es sind vor allem beunruhigte
Bürger, die die Glocken läuten, die Sirenen heulen lassen, die schlafenden Bau-
ern in den Binnenpoldern warnen und die Flutbretter in die Durchstiche einset-
zen – sofern die nicht vermodert sind oder verheizt im Krieg. Aber das Unheil ist
nicht mehr aufzuhalten. Die Deiche brechen, 1836 Menschen und Zehntausende
WÄCHTER, SCHLÄFER, TRÄUMER 149

Tiere finden den Tod, und 100 000 Menschen müssen evakuiert werden. Goes
liegt sicher auf einem Sandrücken, sozusagen dem Rand der Badewanne. Wir
bekamen fünf Leute ins Haus: die Familie van der Male, Vater, Mutter und die
Söhne Wim, Kees und Izak; große Jungs, zu denen ich aufschaute. Sie hatten ihr
Haus in Kruiningen verlassen müssen. Was hatten sie mitgemacht? Das muss ich
sie noch fragen.
Die Schuldfrage wird totgeschwiegen. Niemand fragt, wer verantwortlich ist
für die schwachen Deiche, für die mangelhafte Koordination, für die fehlende
Einsicht in die Dringlichkeit – nicht im Parlament, weder in der obersten noch
in den unteren Wasserbaubehörden, nicht in der Presse. Es gibt nur die Ge-
schichten über den Mut der heldenhaften Burschen, der ganzen Kerle bei den
Hilfsaktionen. Folglich lernt man auch nichts für den nächsten Katastrophen-
fall. Auf einer Vortragsreihe des Königlichen Instituts für Ingenieure über das
Unglück stellt der Delfter Hochschullehrer Prof. Ing. R. J. W. Thierry am 20. Mai
1953 fest:
„Heute wird genau das erzählt, was auch schon 1918 gesagt wurde nach der Sturmka-
tastrophe von 1916. Offensichtlich wurden aus den Lektionen der früheren Katastro-
phen keine ausreichenden Lehren gezogen. Man erinnert sich wohl der Dinge, die zehn
oder höchstens zwanzig Jahre zurückliegen, aber was davor geschehen ist, wird rasch
vergessen.“

Denn die Sturmflut von 1953 war wohl tatsächlich die schwerste des letzten
Jahrhunderts, aber keineswegs die einzige in unserer Geschichte. Im vergangenen
Millennium fanden zahllose katastrophale Sturmfluten statt: im Jahr 1014, im
Jahr 1134, die Sankt-Elisabeths-Flut 1421 mit 2000 Todesopfern, die Sankt-
Felix-Flut 1530, die Allerheiligenflut 1570 mit mehr als 20 000 Toten, die Weih-
nachtsflut 1717 mit mehr als 14 000 Toten, die Zuiderzee-Flut 1825 mit Hunder-
ten Toten. Hunderte Dörfer wurden verschlungen, Zehntausende Menschen
ertranken, manches Stück Land hat die See nicht wieder herausgerückt: so bei-
spielsweise das Ertrunkene Land von Reimerswaal und das Ertrunkene Land von
Saeftinge.
Und man kann nicht einmal dem Meer die alleinige Schuld geben. Denn seit
wir im 10., 11. Jahrhundert begonnen haben, Deiche zu bauen, haben wir das
Land trockengelegt für den Ackerbau, Torf gestochen als Brennstoff, Moor abge-
graben zur Salzgewinnung. Während der ursprüngliche Sumpf in den westli-
chen Niederlanden drei Meter über das Seeniveau hinausgewachsen war, sank
die Landoberfläche durch all diese Eingriffe darunter ab und wurde so zu einer
leichten Beute für das Meer. Im Laufe dieser Zeit schwankte auch der Meeresspie-
gel in geringem Umfang – 30 Zentimeter höher in der Mittelalterlichen Warm-
zeit, 30 Zentimeter tiefer in der Kleinen Eiszeit –, aber das fiel niemandem auf.
Das haben wir erst heute rekonstruieren können durch die sorgfältige Analyse
alter Daten, unter anderem aus dem Wattenmeer.
150 DER LANGE ZYKLUS

1,5

1,3 Hochwasserlinie

1,0

0,5

0,5
°C

-0,5
1000 1200 1400 1600 1800 2000
Jahr

Abb. 67: Höherer Meeresspiegel in der Mittelalterlichen Warmzeit, tieferer in der Kleinen
Eiszeit.

Natürlich gibt es Maßnahmen, die Niederlande gegen zukünftige Sturmfluten


zu schützen: den Deltaplan. Aber wie hoch und wie stark müssen die Deiche
sein? Der Volkswirtschaftler van Dantzig berechnet 1956, welchen Wert die Nie-
derlande hinter den Deichen darstellen und was die Verstärkung der Deiche kos-
ten darf. Das Ergebnis: In den wertvollsten und verwundbarsten Landesteilen
muss der Deich Sturmfluten abwehren können, wie sie einmal in zehntausend
Jahren auftreten. Die Karte stellt die Sicherheitsanforderungen für die verschie-
denen Gebiete der Niederlande dar. Sie gelten noch immer, obwohl Holland
heute natürlich im Vergleich zu 1956 viel mehr wert ist.
Welches Deichniveau braucht man dazu? Um das herauszufinden, wendet
man die Gumbel-Statistik für Extreme an: im Grunde die Frequenz-Magnitude-
Relation, die wir schon in vielerlei Form kennengelernt haben – als Gutenberg-
Richter-Relation bei den Erdbeben, in den Sandhaufen von Bak, bei Eruptions-
frequenzen und, in einer etwas anderen Form, bei Frequenzen und Magnituden
der Milanković-Zyklen.
Aus der Extrapolation der Sturmfluthöhen des letzten Jahrhunderts in den
Niederlanden und Europa hat man festgestellt, dass bei Hoek van Holland ein-
mal in zehntausend Jahren eine Sturmflut von vier Meter über Normal zu er-
warten ist. Es ist eine einfache Chancenberechnung. Aber was bedeutet diese
Zahl? „Selbstverständlich wirft die Extrapolation von 112 Jahren auf zehntau-
send Jahre einige Fragen auf“, sagt Pier Vellinga in seiner Erasmus-Vorlesung von
2003, als diskutiert wird, warum die Wissenschaftler ein Computermodell für
längere Zeiträume angewandt haben. Und er warnt, die Wellenbedingungen auf
der Nordsee seien extremer als im Deltaplan vorhergesehen, und dass Verände-
rungen im Sturmgeschehen über der Nordsee aufgrund von Klimaverände-
WÄCHTER, SCHLÄFER, TRÄUMER 151

Sicherheitsnorm [in einzelnen Küstengebieten]


Einmal pro 10 000 Jahren
Einmal pro 4000 Jahren r
ee
Einmal pro 2000 Jahren nm
a tte
Einmal pro 1250 Jahren W

hoch gelegene Gebiete


unbedeichte Gebiete

Nordsee

20 km

Abb. 68: Sicherheitsnormen für die Küstengebiete in den Niederlanden. Die höchsten
Normen gelten für die Küsten der Provinzen Noord- und Zuid-Holland, die niedrigsten für
die am weitesten landeinwärts gelegenen Deiche. Das weiße, unschraffierte Gebiet im Osten
ist nicht eingedeicht.

rungen große Risiken in sich bergen. Ein Direktor des Instituts für Umwelt-
fragen der Vrije Universiteit muss natürlich warnen, sonst hat sein Institut
nichts mehr zu tun. Aber zur Zeit des Lowell Ponte befürchtete man nun
gerade, der weltweite Temperaturabfall würde zu heftigeren Stürmen führen;
und selbst Dutzende von Wissenschaftlern, die den IPCC-Bericht verfasst
haben, konnten keinen Zusammenhang von Klimaveränderung und Sturm-
flutfrequenz aufzeigen.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, die Frage nach der Bedeutung die-
ser Kurve zu stellen. Sie wurde extrapoliert aus Sturmfluten in einem Zeitraum,
in dem sich der Meeresspiegel so gut wie gar nicht änderte. Wie würde diese
Kurve aussehen in einer Periode mit stark ansteigendem Meeresspiegel wie am
Ende der Eiszeit? Oder bei sinkendem Meeresspiegel wie zu Beginn einer jeden
152 DER LANGE ZYKLUS

6 Delfzijl (1884–1999)
Hoek van Holland (1888–1999)

Höchste Sturmfluthöhe (m)


5

3
1953

2 1953

0
1 2 5 10 25 50 100 100 1000 10 000
Wiederholungszeit (Jahre)

Abb. 69: Der Frequenz-Magnitude-Plot (Gumbel-Plot) gibt die größte Sturmfluthöhe


(„opzet“) eines jeden Jahres wieder, bezogen auf die Wiederholungszeit (einmal in wie viel
Jahren wird diese Höhe erreicht) anhand von Daten von Hoek van Holland (untere Linie)
und Delfzijl (obere Linie). Extrapolation ergibt eine maximale Sturmfluthöhe bei Hoek van
Holland von vier Meter über NAP einmal in zehntausend Jahren. Die Sturmflut von 1953 hat
eine Wiederholungszeit von hundert Jahren.

Eiszeit, wie in den nächsten zehntausend Jahren? „Einmal in zehntausend Jah-


ren! Es kann doch aber auch morgen passieren!“, ist ein oft gehörter Einwand.
Das ist richtig. Aber es kann nicht erst in zehntausend Jahren passieren, denn
dann wird der Meeresspiegel wieder im Absinken begriffen sein. Treten Trend-
brüche häufiger auf als die berechnete Wiederholung von großen Sturmfluten,
so hat die Kurve wenig Realitätsgehalt. Eine rein statistische Betrachtungsweise
ist hier nicht ausreichend.

Einige durch die See verschlungene Dörfer wird man selbst auf den ältesten
Karten vergebens suchen. Haben Sie jemals von der Braunen Bank gehört?
Wohl kaum. Von der Doggerbank? Ja, das ist doch eine Sandbank mitten in
der Nordsee? Stimmt! Unsere Fischer räumen zurzeit auf der Suche nach See-
zunge und Scholle derart rigoros den Nordseeboden ab, dass da auch noch
einiges andere mit nach oben kommt. Archäologische Reste. Spuren mensch-
licher Besiedelung. Beile aus Auerochsenknochen. Mitten in der Nordsee?
Mitten in der Nordsee. Die Braune Bank liegt 40 Meter unter der heutigen
Wasseroberfläche, die Doggerbank 30 Meter. Wie sollten dort Menschen ge-
wohnt haben? Nun können wir wieder das schöne Gesetz von Nikolaus Steno
anwenden, die Superpositionsregel: Das Jüngere liegt auf dem Älteren. Das
Wasser war noch nicht da, als hier die Dörfer lagen. Die ganze Nordsee war
trocken, als vor zehntausend Jahren hier Menschen wohnten. Damals lag der
Meeresspiegel mehr als 100 Meter tiefer. Das war der Winter, bevor der Früh-
ling kam; die letzte Eiszeit. Der Meeresspiegel war so niedrig, weil das gesamte
WÄCHTER, SCHLÄFER, TRÄUMER 153

200 km

Landeis und Gletscher Polwüste Euxinisch-pontischer


Mischwald (Refugium)
Packeis Tundra
Meer und anderes Gewässer alpines Grasland Lusitanische Provinz
(Heide und Wälder)
Küstenlinie (damals) Steppe
Küstenlinie (heute) Nadelwald, im Süden außer Betracht
mit Laubwald (Refugien) gelassen

Abb: 70: Eiskappen, Küstenlinien und Vegetation. Konturen von Europa in der letzten
Eiszeit.

Wasser in den großen kontinentalen Eiskappen Nordamerikas und Skandina-


viens gespeichert war. Aber es wohnen schon seit mehr als 250 000 Jahren
Menschen in Holland. Warum hätten sie sich auch nicht niederlassen sollen
in den immensen Tundren und Polwüsten auf dem trockenen Boden der
Nordsee? Mammutfleisch im Überfluss.
Man konnte zu Fuß von Amsterdam nach London gehen. Und nicht nur die
Nordsee lag trocken, auch die Adria, und Venedig lag tief im Landesinneren. Der
Persische Golf lag trocken, Ceylon und Indien hingen aneinander, Neuguinea
und Australien ebenso; man konnte von Jakarta nach Hanoi spazieren, denn der
ganze untiefe Sundaschelf lag über Wasser. Die Falklandinseln klebten an Ar-
gentinien; und über die Landbrücke der Beringstraße zogen die sibirischen Völ-
154 DER LANGE ZYKLUS

10

Wasserstand (m unter NAP)


15

20

25

30

35
Flandern
Zeeland
40 westliche Niederlande
Deutsche Bucht
45
9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 71: Der Meeresspiegelanstieg der letzten zehntausend Jahre in verschiedenen Küsten-
gebieten.

ker in den unberührten amerikanischen Kontinent ein, von Alaska bis Feuerland.
Vor zehntausend Jahren.
Gegen Ende der Eiszeit stieg der Meeresspiegel rasch an. Das haben wir unter
anderem durch die folgende Überlegung herausgefunden: Der Meeresspiegelan-
stieg führt zu einer Erhöhung des Grundwasserspiegels an Land. Dies bewirkt
das Wachstum von Mooren. Je höher die See steigt, desto weiter landeinwärts
bildet sich Moor. Der hieraus entstehende Basistorf ist im Untergrund der ge-
samten westlichen Niederlande zu finden. In Küstennähe liegt es mehr als
20 Meter tief und ist gut siebentausend Jahre alt, weiter landeinwärts kommt es
näher an die Oberfläche und wird immer jünger, bis zu einem Alter von etwa
fünftausend Jahren. Daraus lässt sich also ableiten, dass der Meeresspiegel vor
siebentausend Jahren 20 Meter tiefer lag als heute. Die erste mit C-14 datierte
Kurve des Meeresspiegelanstiegs in den Niederlanden von Saskia Jelgersma 1961
erlangte weltweite Bekanntheit.
Die Menschen der Braunen Bank sahen vor 9000 Jahren das Wasser immer
höher kommen. Sie konnten weiter auf die Küste hinaufziehen. Die Menschen
der Doggerbank hatten nicht so viel Glück. Sie entdeckten zu ihrem Schrecken,
dass sie auf einmal eine Insel bewohnten, die von Jahr zu Jahr kleiner wurde. Was
WÄCHTER, SCHLÄFER, TRÄUMER 155

Doggerbank

Leman und Ower Banks

Braune Bank

Europoort

Meeresspiegelstand
Colijnsplaat und Alter (C-14)
0 (heute)
-22 m (7900 BP)
-28 m (8200 BP)
-34 m (8500 BP)
Aufgefischte mittelstein-
zeitliche Werkzeuge -40 m (8800 BP)
Alte Böden -46 m (9100 BP)
50 km Junge Ablagerungen -52 m (9400 BP)

Abb. 72: Das Volllaufen der Nordsee und das Versinken von Doggerbank und Brauner
Bank.

ist aus ihnen geworden? Hatten sie Boote? Flöße? In einer Tundra gibt es nicht
viel Holz, um so etwas herzustellen ... Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie
die letzten Bewohner das Wasser in ihre Hütten steigen sahen. Wie die größten
von ihnen bis zum Hals im Wasser standen. Wie das Letzte, was von der Dogger-
bank übrig blieb, eine winkende Hand über den Wellen war, so wie die winkende
Hand von Papillons Kamerad über dem Treibsand an der Küste Surinams, als
letzter Gruß.
Sie waren nicht die Einzigen, die umziehen mussten oder ertranken. Die Stein-
zeitmenschen der Cosquer-Höhle bei Marseille, die vor 22 000 Jahren noch
prachtvolle Pferde, Steinböcke, Bisons, Auerochsen und Gemsen auf die Wände
ihrer Höhle malten, mussten vor neuntausend Jahren wegen des Meeresspie-
gelanstiegs ihre Wohnung verlassen. Der Eingang liegt heute 37 Meter unter
Wasser.
Es müssen Menschen gelebt haben auf dem Grund der Adria, des Persischen
Golfs, des Chinesischen Meers, des Sundaschelfs. Was ist aus ihnen geworden?
Es muss eine der größten Umweltkatastrophen gewesen sein, die die Menschheit
jemals getroffen hat – ein globales Ertrinken.
11 Dreimal die Sintflut

„It rained for forty days and forty nights? Well, naturally it didn’t – that would have
been no more than a routine English summer. No, it rained for about a year and a half,
by my reckoning. And the waters were upon the earth for a hundred and fifty days?
Bump that up to about four years. And so on. Your species has always been hopeless
about dates.“
Julian Barnes, A history of the world in 10½ chapters

Hat denn niemand diese Katastrophe überliefert? Wo war unser kollektives Ge-
dächtnis? Oder ist es gerade ein Beispiel für eine Katastrophe, über die sehr wohl
von Generation zu Generation berichtet wurde? Ist dies die wahre Bedeutung der
Sintflutgeschichte? Sie ist schon im ältesten der uns bekannten Texte enthalten,
dem Gilgamesch-Epos, auf Tontafeln aus der Bibliothek von Ninive. In der Bibel
wird sie tradiert, aber auch im Koran, weiter in der Geschichte von Deukalion
und Pyrrha bei den Griechen, bei Ovid, in der skandinavischen Edda, in den kel-
tischen Legenden der Druiden in Wales, bei den Litauern, deren Sprache dem
Sanskrit am nächsten geblieben ist, in der persischen Bundahisch-Legende, in
der indischen Bhagavadgita, in China, Australien, Polynesien und von mehr als
hundert Indianderstämmen von Alaska bis Feuerland. Der britische Autodidakt
Hugh Miller, ein ehemaliger Steinmetz, berichtet in seinem The testimony of the
rocks (1857) von Sintflutgeschichten bei den mexikanischen Azteken, den Inkas
von Peru und bei den brasilianischen und kubanischen Indianern. Alexander von
Humboldt findet auf seinen Reisen während der Jahre 1799 bis 1804 Sintflut-
geschichten bei den Tamanac und den Maipures-Indianern in Venezuela.
Der Schwede Svante Arrhenius, der Entdecker des Treibhauseffektes, führt in
Die Vorstellung vom Weltgebäude im Wandel der Zeiten 68 Sintflutgeschichten bei ver-
schiedenen Völkern Europas, Afrikas, Asiens, Australiens, Polynesiens und Nord-
und Südamerikas auf. Er bemerkt aber: „Die Neger, Kaffern und Araber kennen
ähnliche Sagen nicht.“ John Franklin, ein britischer Polarforscher, der 1819
einen Versuch machte, die legendäre Nordwest-Passage zu finden, zeichnete bei
den Dog-Rib-Indianern in Nordkanada auf:
„They say that Tschäpiwih, their great ancestor, lived on a track between two seas [Hervor-
hebung von mir, SK]. He built a weir, and caught fish in such abundance that they
choked the watercourse, and the water overflowed the earth. Tschäpiwih with his fa-
DREIMAL DIE SINTFLUT 157

mily entered his canoe, and took with him all kinds of beasts and birds. The land was
covered for many days; at last Tschäpiwih could bear it no longer, so he sent out the
beaver to look for the earth. But the beaver was drowned. Then he sent out the muskrat,
which had some difficulty in returning, but it had mud on its paws. Tschäpiwih was
glad to see the earth, and molded it between his fingers till it became an island on the
surface of the waters, on which he could land.“

War das die Beringstraße gewesen, die trockenlag und überschwemmt wurde,
dieser track between two seas?
Leonardo, was meinst du? Auch du hast über die Sintflutgeschichte nachge-
dacht. Du hast nicht gesagt, sie sei nicht wahr. Du hast an die kommende Sint-
flut in der Apokalypse geglaubt, du hast ungestüme Massen tosender Fluten
gezeichnet. Aber du sagtest ebenfalls, dass du an Noahs Sintflut zweifeltest, weil
das Wasser nicht fließen kann, wenn die ganze Erdkugel mit Wasser bedeckt ist
und die Höhe des Wassers überall gleich. Weiter meintest du, die Beweise, die
früher dafür angeführt worden waren, seien nicht haltbar. Fossile Muscheln in
den Bergen zum Beispiel wurden von Ristoro d’Arezzo 1282 in seiner La compo-
sizione del mondo noch als unumstößlicher Beweis für die Richtigkeit der bibli-
schen Sintflutgeschichte angesehen. Mit deiner unglaublichen Beobachtungs-
gabe hast du dies widerlegt.
„Wenn man sagt, die Muscheln, die man in Italien weit entfernt vom Meer auffindet,
seien dort von der Sintflut in jene Höhe gebracht worden, wo wir sie nun sehen, dann
antworte ich, dass, solange man daran glaubt, der höchste Berg habe sieben Ellen unter
Wasser gestanden, die Muscheln, die bekanntlich immer in Küstennähe bleiben, über-
all auf der gleichen Höhe vorkommen müssten.
Wenn man sagt, dass die Muscheln in Küstennähe bleiben und sie bei dem anstei-
genden Meeresspiegel der Meerhöhe bis zum Maximum folgten, dann kann man ant-
worten, dass das Schalentier sich nicht schneller fortbewegt als eine Landschnecke,
sondern sogar langsamer, es aber eine Spur hinterlässt (...) und sich drei bis vier Meter
pro Tag bewegt. Es kann also die Strecke von 250 Meilen zwischen dem Adriatischen
Meer und Monferrato in der Lombardei nicht in 40 Tagen zurücklegen, wie von denje-
nigen erzählt wird, die [die Dauer der Sintflut] gemessen haben. Wenn man sagt, die
Wellen hätten sie dorthin gebracht [, dann antworte ich,] dass sie wegen ihres Gewichts
nicht treiben können und auf dem Boden bleiben.
Wenn man sagt, der Meeresspiegel sei durch das Regenwasser angestiegen und habe die
Muscheln bis zu dieser Höhe gebracht, dann antworte ich wiederum, dass Gegenstände
schwerer als Wasser nicht treiben können, sondern auf dem Boden liegen bleiben, von
wo sie allein durch das Wirken der Wellen entfernt werden können.
Wenn die Sintflut die Muscheln drei- bis vierhundert Meilen vom Meer weggetragen
hätte, dann hätte sie ein Gemisch aus verschiedenen Arten abgesetzt; aber [stattdessen]
sehen wir [getrennt] alle Austern zusammen, ebenso die Meeresschnecken und die Tin-
158 DER LANGE ZYKLUS

tenfische und alle Muscheln in unterschiedlichen Gruppen, alle zur gleichen Zeit ge-
storben, und die solitären Muscheln werden einzeln gefunden, wie wir sie jeden Tag an
der Meeresküste sehen.
In aufeinanderfolgenden Schichten findet man zwischen einer Schicht und der nächs-
ten noch die Spuren der Erdwürmer, die zwischen ihnen herumspazierten, als die
Schichten noch nicht getrocknet waren. Meerschlick enthält immer noch Muscheln,
und die Muschel wird zusammen mit dem Schlick versteinert. Diejenigen, die möch-
ten, dass die Tiere von der Sintflut an Orte so weit vom Meer entfernt gebracht worden
sind, sind dumm und naiv. Eine andere Sekte von Unwissenden beharrt darauf, dass
die Natur oder der Himmel sie durch himmlisches Wirken an solchen Orten erschaffen
hat. (...) Nachdem ich ihre Lebensdauer mithilfe dieser Merkmale nachgewiesen habe,
muss man doch annehmen, dass diese Tiere nicht leben, ohne sich auf der Suche nach
Nahrung zu bewegen, und dass sie nicht über Werkzeuge verfügen, die das Gestein,
dass sie einschließt, durchbohren können. (...)
Warum werden so viele Fragmente und vollständige Muscheln zwischen den Stein-
schichten gefunden, wenn die Muscheln nicht unter dem Meerschlick begraben wur-
den, der später versteinerte?
Man müsste die Anzahl der Jahre feststellen, während welcher das Meer die Sand- und
Schlickschichten, von den Nachbarflüssen herbeigeschafft, vermehrte und diese auf
den Küsten ablagerte; und wenn man anführte, dass viele Sintfluten diese Schichten
und die Muscheln darin hatten entstehen lassen, dann müsste man annehmen, dass
eine derartige Sintflut jedes Jahr stattfand.“
(Leonardo da Vinci, Codex Leicester, 8v, 9v, 10r,10v; ursprünglicher Text in Vai, 2003.)

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass nach Leonardos messerscharfen Über-
legungen noch irgendjemand die Sintflutgeschichte glaubte.
Doch diese Texte fanden nie ihren Weg zur wissenschaftlichen Welt. Sie blie-
ben in Leonardos Aufzeichnungen verborgen und wurden niemals in Buchform
veröffentlicht. Erst Charles Lyell brachte sie 1830 in seinen Principles of geology ans
Tageslicht. Louis Agassiz hatte 1837 noch die größten Schwierigkeiten, seine
Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass die in großen Mengen unordentlich
herumliegenden Findlinge in Nordeuropa vom Landeis transportiert worden
waren und nicht von der Sintflut.
Und trotz allem behält die Sintflutgeschichte ihre Faszination. Nicht, weil sie
in der Bibel steht, sondern weil sie an so vielen anderen Orten der Welt auch er-
zählt wird. Und weil es einen Mechanismus gibt, der gerade diese Universalität
erklären könnte. Aber erst 1842 wiesen die Überlegungen des schottischen Auto-
didakten Charles MacLaren auf diesen Mechanismus hin – übrigens ohne einen
Zusammenhang mit der Sintflut herzustellen. Nach einem Vortrag von Agassiz
in Edinburgh postulierte er als Erster in einem Zeitungsartikel, dass eine große
Eiskappe auf der nördlichen Halbkugel zu einem erheblichen Absinken des Mee-
resspiegels führen könnte. Nicht die Muscheln in den Bergen, nicht die Find-
DREIMAL DIE SINTFLUT 159

linge in den Highlands, sondern die schmelzenden Eiskappen sind eine plausible
Erklärung für die Universalität der Sintflutgeschichte.

Die amerikanischen Ozeanografen William Ryan und Walter Pitman präsentie-


ren in ihrem Buch Noah’s flood (1998) ihre eigene Variante der Sintflutgeschichte.
Sie behaupten, das Schwarze Meer hätte beim Ansteigen des Meeresspiegels nach
der letzten Eiszeit anfänglich noch keine Verbindung zum Mittelmeer gehabt.
Erst vor 7600 Jahren sei das Schwarze Meer auf einmal geflutet worden, als das
Mittelmeer eine Schwelle im Bosporus überwand. Ein gigantischer Wasserfall
war die Folge: ein Anstieg des Meeresspiegels von 150 Metern binnen eines Jah-
res. Die Völker, welche die Ufer des Schwarzen Meeres bewohnten und denen die
Flucht gelang, haben ihre Geschichte so oft überliefert, dass sie in den Legenden
aller benachbarten Völker als die Sintflutgeschichte weiterlebt. Es ist ein wunder-
bares Buch, mit Verzweigungen zur gesamten Kulturgeschichte des mittleren
Ostens und Europas. Eine großartige Geschichte, die ebenso wie Steven Ambro-
ses volcanic winter in einem BBC-Dokumentarfilm in die Welt geschickt wurde,
sogar noch bevor die Beweise in den wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert
worden waren. Die Beweise basierten vor allem darauf, dass die Süßwassermu-
scheln im abgeschlossenen Becken des Schwarzen Meeres auf einen Schlag von
Salzwasserarten ersetzt worden waren. Doch eingehendere Forschung, nament-
lich im Bosporus, hat ihre Geschichte zum größten Teil nicht bestätigt, und sie
erkennen heute auch selbst an, dass es nicht so dramatisch abgelaufen sein kann,
wie sie es in ihrem Buch dargestellt haben. Und es erklärt auch nicht, warum die
Indianer in Südamerika die Sintflutgeschichte ebenfalls erzählen. Schade. Se non
è vero è ben trovato.

So gibt es noch weitere Sackgassen. Es ist zum Beispiel merkwürdig, dass es auch
in der Edda, einer norwegischen und isländischen Sage aus dem 10. Jahrhundert,
eine Sintflutgeschichte gibt. Während der Eiszeit befanden sich diese Länder
unter dem Meeresspiegel und es wohnte dort niemand. Und als das Eis schmolz,
ist der Meeresspiegel dort keineswegs angestiegen, sondern im Gegenteil abge-
sunken. Das Gewicht der vier Kilometer dicken skandinavischen Eiskappe war
nämlich so groß, dass sie die Erdkruste mehr als einen Kilometer hinunterge-
drückt hatte. Als das Klima besser wurde und die Eiskappe schmolz, federte das
Land wieder in die Höhe, eine Bewegung, die noch immer fortdauert, wie Linné
bereits bemerkte. In den letzten zehntausend Jahren ist Skandinavien mehr als
300 Meter gestiegen, und Finnland wird immer noch jedes Jahr zehn Quadrat-
kilometer größer. So lange dauert es, bis die Kruste sich erholt von dieser gewal-
tigen, niederdrückenden Kraft der Eiskappe. Der Anstieg des Landes ist viel stär-
ker gewesen als der Anstieg des Meeresspiegels. In kleinerem Rahmen gilt das
Gleiche für Island. Die Sintflutgeschichte in der Edda kann also kaum aus dem
kollektiven Gedächtnis der Isländer und Norweger stammen.
160 DER LANGE ZYKLUS

Ernten die Wissenschaftler denn nur die Spreu vom biblischen Saatgut der Mis-
sionare? Wir werden es wohl nie erfahren. Allen Überlieferungen gemeinsam ist
immerhin, dass man nicht beweisen kann, auf welche Naturkatastrophen sie
sich beziehen. Wenn sie sich überhaupt auf irgendetwas beziehen.

Die schmelzenden Eiskappen hatten noch weitere Auswirkungen, die das Fest-
stellen des tatsächlichen Meeresspiegelanstiegs erschweren. Als die Eiskappen
die Erdkruste herunterdrückten, strömte das unterliegende plastische Mantel-
material unter der Eiskappe hervor. Dadurch wurde das Land um die Eiskappe
herum emporgehoben. Es handelt sich um den gleichen Effekt, der entsteht,
wenn man auf einer Luftmatratze liegt. Die Matratze wird unter dem Körper
zusammengepresst und die Luft dadurch zu den Rändern der Matratze ver-
drängt, wie der amerikanische Klimatologe William Ruddiman es ausdrückt.
Die Niederlande lagen nun gerade auf solch einem Rand. Während der Eiszeit
bewegten sie sich also in die Höhe, aber als das Eis schmolz, strömte das von
der Eiskappe verdrängte Mantelmaterial wieder zurück unter Skandinavien
(man ist von der Luftmatratze aufgestanden). Die Niederlande senkten sich
deshalb noch schneller, als sie es sowieso schon taten. Aus diesen Beispielen
geht hervor, dass es sehr schwierig ist, den ‚absoluten‘ Meeresspiegelanstieg
festzustellen. Die Pegel entlang der Küste messen nur die ‚relativen‘ Meeres-
spiegelbewegungen, denn sie bewegen sich mit dem Heben und Senken des
Landes mit.
Ein weiterer Effekt ist, dass der Meeresspiegelanstieg den Ozeanen einen mehr
als 100 Meter höheren Wasserstand bescherte. Das Gewicht des Wassers drückt
so schwer auf den Ozeanboden, dass dieser wiederum etwas tiefer absinkt. Damit
wird dem Anstieg des Meeresspiegels also wieder einigermaßen entgegengewirkt.
Zudem dehnt sich das Ozeanwasser aus, wenn es wärmer wird. Beim heutigen
Anstieg des Meeresspiegels ist das sogar ein bedeutenderer Faktor als das Schmel-
zen der Eiskappen.

Wenn das Gewicht dieser Eiskappen auf dem Land einen so großen Einfluss auf
den Meeresspiegel hat, ist es ratsam, sich Gebiete anzuschauen, die weit von
ihnen entfernt sind. Zum Beispiel die Tropen. Dort gibt es außerdem Korallen-
riffe, sensible Indikatoren für den Meeresspiegel. Korallen brauchen Licht für die
Fotosynthese und ganzjährig warmes, klares, sauerstoffreiches Wasser ohne
Schlamm. Unterhalb einer Tiefe von 20 Metern gibt es zu wenig Licht, dort wach-
sen keine Korallen mehr, wie schon Charles Darwin festgestellt hatte. Auf den
Keeling Islands im Indischen Ozean ließ er zusammen mit Kapitän FitzRoy eine
mit Talg bestrichene Lotleine an der Außenseite des Korallenriffs hinab. Bis in
zehn Faden (18 Meter) Tiefe fanden sie immer Abdrücke von lebenden Korallen,
darunter wurden die Abdrücke seltener, bis schließlich nur noch Sand daran kle-
ben blieb. Korallen leben offensichtlich nur in untiefem Wasser, wie Darwin
DREIMAL DIE SINTFLUT 161

-20

0 Hoher Meeresspiegel im
mittleren Holozän?
Meeresspiegelhöhe (m)

Endphase Abschmelzung (1 m/Jh.)


20

40
Zweiter Schmelzwasserimpuls (> 4 m/Jh.)

60
Jüngere Dryas (1,3 m/Jh.)

80

Erster Schmelzwasserimpuls (> 4 m/Jh.)


100
Beginn Abschmelzung (0,4 m/Jh.)

120
20 15 10 5 0
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 73: Meeresspiegelanstieg der letzten 20 000 Jahre basierend auf Datierungen der
ertrunkenen Korallen. Geschwindigkeit zwischen 15 000 und 5000 Jahren ein bis vier Meter
pro Jahrhundert.

schlussfolgert in seinem schönsten geologischen Buch, The structure and distribu-


tion of coral reefs (1842).
Man hat aber abgestorbene Korallen gefunden in mehr als 100 Metern Tiefe!
Diese können dort nur gelebt haben, als der Meeresspiegel niedriger war. Robert
Fairbanks datierte 1989 bei der Insel Barbados eine ganze Reihe von abgestor-
benen Korallenkolonien auf verschiedenen Tiefen unter Wasser mithilfe der
Kohlenstoff-14-Methode. Damit konnte er um einiges weiter zurück in die Zeit
schauen, als es mit den Datierungen des niederländischen Basistorfs möglich
war: bis zu zwanzigtausend Jahre zurück, der Zeit, da die letzte Eiszeit am grim-
migsten war und der Meeresspiegel sich 120 Meter tiefer befand als heute. Die
Datierungen sind später mit anderen Methoden korrigiert worden, aber das
Prinzip bleibt das gleiche. Je untiefer eine Koralle liegt, desto jünger ist sie. Aus
Fairbanks Kurve geht hervor, dass der Meeresspiegel anfänglich gut zweieinhalb
Meter pro Jahrhundert anstieg, fast 20-mal so schnell wie heute.
Der Anstieg des Meeresspiegels der letzten Eiszeit ist natürlich nicht einmalig:
In jedem Milankovic-Zyklus
´ schwankt der Meeresspiegel mit, wie uns die Sauer-
stoffisotopen der Tiefsee mitteilen: niedrig in den Glazialen, hoch in den Inter-
glazialen. Sogar im letzten Interglazial war der Wasserstand bereits sechs bis acht
Meter höher als heute. Danach ist er langsam gesunken, bis vor zwanzigtausend
Jahren, um danach rasch anzusteigen bis zu dem heutigen Niveau. Er zeigt genau
162 DER LANGE ZYKLUS

-20

Meeresspiegelniveau (m)
20

40

60

80

100

120

140
160 140 120 100 80 60 40 20 0
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 74: Sägezahnbewegung des Meeresspiegels seit der vorletzten Eiszeit bis heute.

die asymmetrische Sägezahnbewegung, die wir bereits bei den Sauerstoffisoto-


pen in der Tiefsee und den Eiskappen sahen.
Es ist unschwer zu erkennen, dass es in jeder Eiszeit so gegangen ist. Auch
dabei helfen die Korallen, wie man zum Beispiel auf Curaçao sehen kann. Wenn
man sich der Insel mit dem Passatwind im Rücken nähert, ähnelt sie der stufen-
förmigen Pyramide von Zikkurat, nur viel flacher. Eine hügelförmige Spitze, von
breiten weißen Korallenterrassen umrahmt, drei, vier übereinander, wie die wei-
ßen gestärkten Kragen der früheren Kolonisatoren. Korallenterrassen? Jawohl,
Korallen. Korallen wachsen aber doch in Meeresspiegelhöhe? Hat sich der Mee-
resspiegel bei Curaçao denn abgesenkt? Die Terrassen befinden sich nämlich
Dutzende von Metern oberhalb des heutigen Meeresspiegels. Das ist doch nicht
möglich, wenn sich anderswo der Meeresspiegel nicht gesenkt hat? Nein, das
muss nicht notwendig so sein, denn es ist nur eine relative Meeresspiegelsen-
kung. Das Land hebt sich wie in Skandinavien, aber nicht, weil sich hier eine
Eiskappe befunden hat, sondern infolge der Plattentektonik. Auch hier liegt das
Land nicht unbeweglich da. Während die Niederlande ins Meer versinken, stei-
gen die überseeischen Gebiete höher und höher. Das Interessante daran ist, dass
es diesen Anstieg schon seit Millionen von Jahren gibt, mit einer mehr oder we-
niger gleichbleibenden Geschwindigkeit.
Während der warmen Perioden wie jetzt ist der Meeresspiegel hoch, und die
Koralle wächst auf ihren Höchststand. Wenn der Meeresspiegel danach in einer
Eiszeit wieder sinkt, liegt die Koralle im Trockenen und stirbt ab: Sie wird zu
einer flachen und trockenen Korallenterrasse. Wenn dann aber der Meeresspie-
gel in der darauffolgenden warmen Zeit wieder ansteigt, hat sich das Land inzwi-
schen so stark gehoben, dass das vorherige Niveau nicht mehr erreicht werden
kann, und ein neues Korallenriff bildet sich in tieferer Lage an dem Hang. So
geschieht es laufend in jedem Eiszeitzyklus, und so entstehen übereinander eine
DREIMAL DIE SINTFLUT 163

Süd 70 Nord

Meeresspiegelhöhe (m)
60
Hochterrasse
50
40
30 Mittelterrasse (oben)

20 Mittelterrasse (unten)
ul

V
10 ka
n isch Niederterrasse
0 e r Unte
rgrund
-10

Abb. 75: Nord-Süd-Schnitt durch Curaçao mit Korallenterrassen. Die Niederterrasse ist von
der vorletzten Warmzeit vor 125 000 Jahren, die obere Mittelterrasse ist 400 000 Jahre alt.

ganze Reihe von Terrassen aus abgestorbenen Korallen in Form einer flachen,
gestuften Pyramide. Und man kann alle alten übereinanderliegenden Terrassen
datieren mit der Uran-Thorium-Methode: Jede höher gelegene Terrasse ist um
hunderttausend Jahre älter, exakt nach der Exzentrizität im Milanković-Zyklus.
Man braucht gar nicht in der Tiefsee oder in einer Eiskappe zu bohren, man kann
während eines Sonnenurlaubs Milanković einfach vom Strand aus liegen sehen.
Letztlich sind die Meeresspiegelschwankungen auf der Skala der Milanković-
Zyklizitäten auch wieder nur kleine Kräuselungen verglichen mit jenen auf noch
größeren Zeitskalen.
Darwin hat mit seinen Korallenstudien, ohne sich dessen bewusst zu sein, der
Forschung einen Denkanstoß gegeben. Er fragte sich, wie es möglich ist, dass es
mitten in den unendlich tiefen Ozeanen Inseln gibt, die nur aus Korallen beste-
hen, obwohl Korallen doch einen festen Boden brauchen. Bei einem Atoll, einer
mehr oder weniger ringförmigen Koralleninsel mit einer zentralen Lagune, fehlt
jedoch dieser feste Boden.
Als man 1952 eine Bohrung auf der Koralleninsel Eniwetok vornahm, ging
diese durch 1411 Meter Koralle, bevor der vulkanische Untergrund erreicht
wurde. Wie ist das möglich, wenn Korallen in Tiefen von mehr als 20 Meter nicht
leben können? Hat sich der Meeresspiegel der Ozeane vielleicht um anderthalb
Kilometer gesenkt? Das ist kaum anzunehmen.
Wie Darwin meinte, ist der Grund dafür eine Absenkung des Ozeanbodens.
Alle Riffe beginnen als Fransenriffe, welche direkt an Vulkanküsten und andere
Inseln aus festem Gestein anwachsen. Dann senkt sich der Meeresboden, die
Insel geht unter, aber die Riffe wachsen weiter vertikal in die Höhe: Sie entwi-
ckeln sich zu einem Barriereriff. Es entsteht eine Lagune zwischen dem Riff und
der Insel, die sich immer mehr verbreitert, je tiefer die Insel ins Meer sinkt. Ist die
Insel einmal ganz verschwunden, so ist das Riff zu einem Atoll geworden, einem
Ring aus Korallen, der so lange bestehen bleibt, wie das Korallenwachstum mit
dem Absinken des Untergrundes Schritt hält.
164 DER LANGE ZYKLUS

Fransenriff
A

Ozeanische Küste

Barriereriff
B

Vulkaninsel

Atoll

Lagune

Abb. 76: Fransenriffe, Barriereriffe und Atolle entstehen rund um eine vulkanische
Insel im Ozean, wenn der Meeresboden sich senkt oder der Meeresspiegel ansteigt. Die
Korallen in Atollen wie den Malediven haben auch mit dem raschen Meeresspiegelanstieg
nach der letzten Eiszeit Schritt gehalten, sie werden also von der viel geringeren
Meeresspiegelerhöhung, wie sie für das 21. Jahrhundert vorhergesagt wird, nicht sehr
tangiert werden.

Heute wissen wir, dass diese Senkung des Ozeanbodens eng zusammenhängt
mit der Plattentektonik. Alle drei großen Ozeane sind umso tiefer, je älter die
unterliegende Ozeankruste ist. Bei den jungen Spreizungszonen in der Mitte der
Ozeane beträgt die Tiefe nur zwei Kilometer, weiter entfernt jedoch, zur Küste
hin, nimmt sie auf bis zu fünf Kilometer zu. Wenn junge Ozeankruste abkühlt,
DREIMAL DIE SINTFLUT 165

2 Spreizungsgeschwindigkeit
Pazifischer Ozean <3-5 cm/Jahr
Indischer Ozean 1-3 cm/Jahr
3
Atlantischer Ozean 1-2 cm/Jahr
Tiefe (km)

6
80 70 60 50 40 30 20 10 0
Zeit (Millionen Jahre i. d. Vergangenheit)

Abb. 77: Die Tiefe der Ozeane nimmt mit dem Alter der Ozeankruste zu.

schrumpft sie und kommt dadurch tiefer zu liegen. Es ist dieser Prozess, den
Darwin damals registrierte.
Der mit der Alterung einhergehende Schrumpfungsprozess des Ozeanbo-
dens hat auch einen Einfluss auf den weltweiten Meeresspiegel, denn wenn der
Boden sich senkt, passt mehr Wasser in den Ozean. Wie wir gesehen haben,
ging in der Kreidezeit die Spreizung des Ozeanbodens fünfmal schneller von-
statten als heutzutage, so schnell, dass es relativ viel junge Ozeankruste gab
und relativ wenig alte. Die mittlere Tiefe der Ozeane war deshalb geringer als
gegenwärtig.
Es gab außerdem keine Eiskappen, deshalb mussten die Ozeane sämtliches
Wasser aufnehmen. Daher liefen sie über, bis der Meeresspiegel 200 Meter höher
war als heute. Seit der Kreidezeit ist das Tempo der Spreizung stark zurückge-
gangen, was bedeutet, dass wenig junge Kruste dazugekommen ist. Die bereits
existierende Kruste ist stark geschrumpft, deshalb sind die Ozeane tiefer gewor-
den und folglich hat sich der Meeresspiegel gesenkt. Zusätzlich hat sich seitdem
die antarktische Eiskappe entwickelt, was den Meeresspiegel um noch einmal
etwa 60 Meter abgesenkt hat. Selbst wenn diese wieder komplett schmelzen
würde, wäre der Meeresspiegel aus der Kreidezeit noch bei Weitem nicht er-
reicht.
Die Situation vor der Kreidezeit, namentlich im Karbon in der Anlaufphase
der Entstehung des Superkontinentes Pangäa, ähnelte sehr der heutigen: Auch
damals gab es wenig junge Ozeankruste, es gab eine Eiskappe auf den südlichen
Kontinenten, also war der Meeresspiegel niedrig.
Noch früher, im Jungpaläozoikum, war der Meeresspiegel dagegen hoch –
wir erkennen darin den großen, von der Plattentektonik gesteuerten Meeres-
spiegelzyklus von grob 200 Millionen Jahren, den wir schon früher gesehen
haben.
166 DER LANGE ZYKLUS

0 0

Käno-
zoikum
Zeit (Millionen Jahre i. d. Vergangenheit)

Zeit (Millionen Jahre i. d. Vergangenheit)


10

Mesozoikum
100
Zyklen 1. Ordnung
20
200

30
Zyklen
300
3. Ordnung
Paläozoikum
40

400
Zyklen 50
2. Ordnung
500
60

steigend sinkend
Meeresspiegel

Abb. 78: Global Sea Level Curve der letzten 500 Millionen Jahre mit Zyklen erster, zweiter
und dritter Ordnung.

Veränderungen des Meeresspiegels spielen auch eine wichtige Rolle bei der Suche
nach Öl und Gas auf dem Meeresboden. Geologen der amerikanischen Ölgesell-
schaft ExxonMobil haben unter der Führung von Peter Vail in den Siebzigerjah-
ren für eine Revolution in der Explorationswelt gesorgt. Sie entwickelten das
Konzept der Sequenz-Stratigrafie, das es ermöglicht, den Aufbau von offshore-
Sedimentpaketen anhand von großmaßstäblichen Meeresspiegelveränderungen
zu erklären. Sie behaupteten, sie könnten durch genaues Vergleichen sedimen-
tärer Sequenzen überall auf der Welt die Spuren von Meeresspiegelverände-
rungen in drei Größenordnungen erkennen.
Die erste Größenordnung ist die Zyklizität von 200 Millionen Jahren, die wir
soeben gesehen haben. Überlagert wird sie von Meeresspiegelveränderungen der
zweiten Ordnung mit Zyklen von mehreren Dutzend Millionen Jahren und sol-
chen dritter Ordnung von einigen Millionen Jahren. Die sich daraus ergebende
Gesamtkurve ist bekannt geworden als die Global Sea Level Curve von Haq, Har-
denbol und Vail. Die Milanković-Zyklizitäten überlagern diese und werden Zy-
klen vierter und fünfter Ordnung genannt. Aber die Meeresspiegelfluktuationen
der zweiten und dritten Ordnung sind sehr umstritten. Viele Forscher glauben
nicht, dass sie wirklich weltweite Zyklen waren, sondern nur regionale, verursacht
von lokalen Senkungen und Anhebungen des Landes und des Meeresbodens.
Doch für ExxonMobil ist es ein Glaubenssatz geworden, und die Diskussionen
darüber flammen bei jedem Ölkongress wieder auf. Sie werden schon irgendwann
zur Räson kommen, wenn sie immer öfter ergebnislos nach Öl bohren.
DREIMAL DIE SINTFLUT 167

Abb. 79: Selenit, das Gestein aus


großen Gipskristallen im Fundament
der Torri Gemelle, Bologna, zeugt von
der größten Meeresspiegelsenkung
der geologischen Geschichte,
der Messinianischen Krise. So
sind sie entfernte Verwandte des
Jungfrauenturms von Baku.

Ich schreibe dieses Buch in Bologna, einer Stadt mit einer tausendjährigen Uni-
versität, der ältesten der Welt; der Stadt von Ulisses Aldrovandi, der 1603 als
Erster das Wort Geologie benutzte; der Stadt, in der Kopernikus, Leonardo da
Vinci, Galilei, Lomonossow, Cuvier und viele andere Größen der Wissenschaft
wandelten. Und für mich auch das Symbol für die größte Meeresspiegelsenkung
der Erdgeschichte.
Die Zwillingstürme im Stadtzentrum, Backsteinbauten mit quadratischem
Grundriß – der Torre degli Asinelli fast 100 Meter hoch, der Torre degli Gari-
senda noch keine 50 Meter –, stehen beide nicht im Lot, der kleine noch weniger
als der große. Aber sie stehen noch, und das schon seit tausend Jahren.
Ihre Fundamente jedoch sind nicht aus Backstein. Als ich zum ersten Mal um
die Türme herumging, fiel mir das Glitzern von dezimetergroßen, länglichen
Kristallen in den großen Steinquadern an der Basis auf. Wohin ich meinen Blick
auch wandte, die Sonne reflektierte immer irgendeine glitzernde Kristallfläche.
Was das wohl für Kristalle waren? Ich nahm meinen Schlüsselbund aus der Ta-
sche und kratzte verstohlen mit meinem Haustürschlüssel über eine Kristallflä-
che. Er hinterließ einen tiefen Kratzer. Danach kratzte ich mit meinem Fingerna-
gel – sogar dieser hinterließ Kratzer auf den Kristallen. Also konnte es nur Gips
sein. Natürlich, Gips mit seinen schönen Schwalbenschwanz-Zwillingen. Das
ganze Gestein besteht aus grobkristallinem Gips! Hier nennt man es Selenit. Wer
nimmt denn bloß Gips für das Fundament eines hohen Turms, der tausend
168 DER LANGE ZYKLUS

Jahre alt werden soll? So ungefähr das weichste Material, das die Erdkruste bie-
tet, von Talk mal abgesehen? Es kann wirklich nichts anderes zur Verfügung
gestanden haben.
Und das war tatsächlich der Fall gewesen. Es ist das einzige brauchbare Gestein
in den mergeligen Ausläufern der Apenninen südlich der Stadt. Ein scharfkantiger
Rücken windet sich kilometerlang wie eine chinesische Mauer durch die sanften
Hügel, eine ein paar Dutzend Meter dicke, von der Plattentektonik schief gestellte
Schicht mit großen Rosetten aus glitzernden Gipskristallen. Solch ein Gestein
kann nur durch starke Verdunstung von großen Meerwassermengen entstehen.
Diese Gipsbank ist das überzeugendste Zeugnis der Messinianischen Krise vor
sechs Millionen Jahren. Die Plattentektonik schloss die Straße von Gibraltar ab
und das ganze Mittelmeer fiel trocken, bis auf eine Tiefe von 1500 Metern. Sämt-
liches Meerwasser verdunstete, und Kalk, Gips und Steinsalz lagerten sich ab, an
manchen Stellen bis zu einem Kilometer mächtig. Der Nil, die Rhône und der
Po schufen an ihren Mündungen Hunderte von Metern tiefe Canyons, um das
Meer zu erreichen. Kenneth Hsü nannte sein wunderbares Buch zu diesem Thema
The Mediterranean was a desert, ein Meeresspiegelthriller, den Ryan und Pitman mit
Noah’s flood vergeblich zu erreichen suchten.
Eine halbe Million Jahre später jedoch war Schluss. Die Straße von Gibraltar
öffnete sich wieder, das Wasser des Atlantik schwappte herein – mit einem gigan-
tischen Wasserfall, wie manche meinen, und der Meeresspiegel stieg in kurzer
Zeit wieder an bis auf Ozeanniveau. Anderthalb Kilometer Meeresspiegelanstieg
innerhalb von einigen tausend Jahren! Es geht also doch, Darwin! Die größte
Sintflut aller Zeiten! Für das kollektive Gedächtnis war es aber noch etwas zu
früh.

Und heute? Sind wir wieder auf dem Weg zu einer neuen Sintflut? Erwartet uns
das Gleiche wie die Bewohner der Doggerbank und der Cosquer-Höhle? Werden
wir nun für unsere Umweltsünden bestraft? Oder ernten wir wieder die Spreu –
vom grünen Saatgut einer neuen Generation von Missionaren? Das Sündenbe-
wusstsein lässt sich nicht ausräuchern.
Wir können jedenfalls seit 1993 den Meeresspiegelanstieg direkt messen mit-
hilfe des Topex-Poseidon-Radarsatelliten und seinem Nachfolger, dem Jason.
Alle zehn Tage, mit einer Genauigkeit von vier Zentimetern. Wunderbar. Denn
viele der Ängste resultieren daraus, dass wir nicht wissen, wie es im Moment
aussieht. Jetzt können wir messen, dass der Meeresspiegel seit zwölf Jahren jähr-
lich um drei Millimeter steigt. Drei Millimeter. Ist das viel? Ist das schlimm?
Wie so oft: Es hängt von der Perspektive ab. Es ist etwas mehr als der Durch-
schnittswert des 20. Jahrhunderts, der um die anderthalb Millimeter pro Jahr
(15 Zentimeter pro Jahrhundert) betrug. Das IPCC prophezeit bis zum Ende des
21. Jahrhunderts einen Anstieg zwischen 0,9 und 8,8 Millimeter pro Jahr. Sie
sind in diesem Fall sogar über ihren eigenen Kurzzeitschatten gesprungen und
DREIMAL DIE SINTFLUT 169

20
Geschwindigkeit des Meeresspiegelanstiegs:

Meeresspiegelschwankung (mm)
2,83 ± 0,06 mm/Jahr
10

-10

-20

-30
1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005
Jahr

Abb. 80: Weltweiter Meeresspiegelanstieg, gemessen mit den Topex-Poseidon- und Jason-
Satelliten.

haben ihre Modelle dreitausend Jahre vorausgerechnet. In ihrem verwegensten


Szenario kommen sie dann auf einen Meeresspiegelanstieg von vier Metern: gut
ein Millimeter pro Jahr. Klaus Hasselmann (siehe Kapitel 9) ist noch verwegener
und kommt auf maximal acht Meter im Jahr 3000, das sind fast drei Millimeter
jährlich. Das ist aber immer noch weniger als am Ende der letzten Eiszeit, als die
Menschen von der Doggerbank ertranken: Damals waren es 10−25 Millimeter
pro Jahr. Und für die kaspischen Küstenbewohner, die zwischen 1977 und 1995
den Meeresspiegel jedes Jahr um 15−30 Zentimeter steigen sahen, ist selbst das
natürlich Kleinkram. Von der Messinianischen Krise ganz zu schweigen.

5
Meeresspiegelanstieg (m)

0
0 250 500 750 1000 1250 1500 1750 2000 2250 2500 2750 3000
Zeit (Jahr)

Abb. 81: Meeresspiegelanstieg im 3. Millennium bei einem jährlichen Anstieg der CO2-
Emissionen von einem Prozent bis zu einer viermal so hohen Konzentration wie der heutigen,
nach unterschiedlichen IPCC-Szenarien.
170 DER LANGE ZYKLUS

Höhe (Meter über Meeresspiegel)


weniger als 60
mehr als 60

200 km

Abb. 82: Große Teile Europas würden überschwemmt werden, wenn der Meeresspiegel durch
das Abschmelzen der antarktischen Eiskappe um 60 Meter steigen würde.

Die größte Unsicherheit steckt in der grönländischen Eiskappe. Schmilzt diese


ab, dann steigt der Meeresspiegel um sechs oder sieben Meter. Dann werden die
Ozeane genauso hoch ansteigen wie im letzten Interglazial vor gut hunderttau-
send Jahren. Gegenwärtig hält sich die grönländische Eiskappe noch selbst in-
stand, weil sie über die Schneegrenze hinausragt. Oberhalb der Schneegrenze
nimmt die Eismenge durch Schneefall mehr zu, als sie durch Abschmelzen und
Sublimation abnimmt. Wird aber das Klima so warm, dass die ganze Eiskappe
unterhalb der Schneegrenze zu liegen kommt, so schmilzt sie völlig ab und bildet
sich von alleine nicht mehr neu. Und würde die antarktische Eiskappe schmel-
zen, so würde der Meeresspiegel sogar um 60 Meter ansteigen. Ob das passiert,
ist übrigens noch sehr die Frage: Wenn es wärmer wird, kann die Luft mehr Was-
serdampf aufnehmen und der Niederschlag auf die Eiskappe könnte zunehmen.
In der Antarktis führt dies gegenwärtig zu einem Wachstum der Eiskappe. Auch
bei Grönland scheint es so zu funktionieren. Vorläufig gibt es also keinen Grund,
Alarm zu schlagen.
Aber dreitausend Jahre reichen uns noch nicht, wir möchten zehntausend
Jahre in die Zukunft schauen. Und dann sollte man nicht nur auf die CO2-Emis-
sionen schauen, sondern auch auf die langzeitigen Zyklizitäten. Um den Meeres-
DREIMAL DIE SINTFLUT 171

spiegel der nächsten zehntausend Jahre vorherzusagen, brauchen wir nur die
Milanković-Kurve in die Zukunft zu extrapolieren. Die meisten Klimaforscher
sind sich darüber einig, dass dieser Meeresspiegel sich tatsächlich wieder absen-
ken wird. In zehntausend Jahren wird das sichtbar sein. Aber das IPCC und Klaus
Hasselmann haben das nicht berücksichtigt. Es ist auch schwierig, zu bestim-
men, wann dieser Rückgang beginnen wird. Denn wie die letzte Eiszeit beginnt
die nächste Eiszeit langsam und endet schnell: die Sägezahnbewegung, die wir
schon gesehen haben (s. Abb. 74, S. 162). Vielleicht hat die Absenkung des Mee-
resspiegels schon angefangen und wir halten sie nur temporär durch die hohe
CO2-Emission auf. Vielleicht ist unsere warme Zeit ein moribunder Patient, der
nur durch CO2-Beatmung am Leben gehalten werden kann.
12 Die Zeit stromaufwärts

„Wait a minute. Why I am walking backwards into the house? Is it dusk coming, or is it
dawn? What is the – what is the sequence of the journey I’m on? What are its rules? Why
are the birds singing so strangely? Where I am heading?“
Martin Amis, Time’s arrow, 1991

Ich wohne am Rhein, dem Niederrhein, um genau zu sein. Das ist nicht mehr der
majestätische Strom, der seinen Weg von den Alpen durch ganz Deutschland
bahnt, sondern nur einer der drei Zweige, in die der Fluss sich teilt, sobald er in
die Niederlande hereinfließt. Auf diese Weise verteilt er seine Gunst und seine
Launen über eine größtmögliche Fläche, in Übereinstimmung mit der egalitären
Tradition dieses Landes.
Ich sitze auf dem Sommerdeich und schaue dem fließenden Wasser zu. Es ist
leicht trübe, es transportiert etwas Schlick zum Meer. Es sind noch 100 Kilome-
ter bis zur Mündung, noch elf Meter Gefälle muss er hinter sich bringen. Der
Fluss wird in ein Korsett von niedrigen Buhnen gezwängt, bestehend aus großen
lockeren Steinblöcken, die von weit her kommen: Quarzit aus den Ardennen und
Basalt aus Deutschland – fremde Elemente in diesem niederen Land. In den
Buchten zwischen den Buhnen befinden sich kleine Sandstrände, aber ich sehe
keinen Sand, der vom Wasser aufgewirbelt wird. Die Strömung ist dazu nicht
stark genug. Vielleicht ist das am Boden anders, aber den kann ich im trüben
Wasser nicht erkennen. Eigentlich passiert nicht viel im Fluss. Die Strömung
muss aber doch manchmal stark genug sein, um auch den Sand, der zwischen
den Buhnen liegt, stromabwärts zu transportieren.
Die schmalen Landstreifen zwischen dem Sommerdeich und dem Winter-
deich sind die Außenpolder. Es sind struppige Wiesen mit zahllosen kleinen
Seen und verlassenen Gräben, stellenweise von Kopfweiden gesäumt. Etwa ein-
mal im Jahr, wenn der Schnee in den Alpen schmilzt, führt der Fluss so viel Was-
ser, dass sein Bett nicht ausreicht. Dann fließt das Wasser in die Außenpolder
und eine unabsehbare Wasserfläche entsteht. Da passiert wenigstens etwas im
Fluss. Das Wasser fließt über die Buhnen und den Sommerdeich hinweg, und im
Lee der Buhnen wird neuer Sand abgelagert. Wenn es danach friert, entsteht eine
endlos lange Eisbahn. Vom Winterdeich herab sehe ich meine Schlittschuh lau-
fende Familie hinter dem Horizont verschwinden. Wenn das Wasser wieder ge-
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 173

sunken ist, liegen Schlick und tote Fische auf dem Land. Beide haben den Weg
zurück nicht mehr gefunden. Der Schlick ist zwischen dem Winter- und dem
Sommerdeich gefangen, und bei jeder neuen Überschwemmung wächst die
Schlickschicht ein wenig an. So füllt sich die Schlickschüssel langsam und es gibt
immer weniger Raum, um das Wasser aufzunehmen.
Auf dem Sommerdeich auf der anderen Seite des Flusses sehe ich den Schorn-
stein einer Ziegelei, weiter stromaufwärts und stromabwärts noch viele weitere.
Das ist kein Zufall. Die Ziegeleien machen Backstein aus dem Schlick, der jahr-
ein, jahraus in den Außenpoldern abgelagert wurde. Damit haben sie eine zwei-
fache Funktion: Sie sorgen für Baumaterial für die Häuser in den Dörfern und
sind außerdem dafür verantwortlich, dass die Aufnahme des Wassers in den Au-
ßenpoldern sichergestellt ist. Wenn man richtig hinschaut, sieht man im Gras
die Muster der alten Grabungen, wo der Schlick abgetragen wurde. Heutzutage
sind viele Ziegeleien wegen mangelnder Rentabilität stillgelegt.
Das eigentliche Land beginnt erst hinter dem Winterdeich. Wenn die Außen-
polder überschwemmt sind, befindet sich dieses Land unterhalb des Flussni-
veaus. Dort steht auch unser Haus, es ist auf Flusslehm gebaut worden. Wie
kommt dieser Flusslehm dorthin, unter mein Haus? Das Haus wird doch vom
Winterdeich geschützt? Dann kann es dort doch keinen Lehm geben? Die Hälfte
der Niederlande aber besteht aus Flusslehm. Die ganze Betuwe, die Obere Be-
tuwe, das Land von Maas und Waal, die Bommelerwaard – alle werden von Win-
terdeichen geschützt und bestehen trotzdem gänzlich aus Flusslehm. Wie ist das
möglich? Offensichtlich überschreitet der Fluss manchmal auch diese Winter-
deiche. Dann geschieht auf einmal sehr viel. Dutzende von Dörfern werden über-
schwemmt, denn die Gebiete innerhalb der Winterdeiche sind auch kilometer-
große Schlickbecken, die Wasser und Sediment aufnehmen, das darin verbleibt,
solange das Wasser höher als das Land steht. Es sind genau solche Badewannen
wie die Polder in Zeeland. Man kann unschwer erkennen, wo der Deich früher
einmal gebrochen ist. Dort liegt jetzt oft ein kleiner runder Teich, eine Wehle. An
dieser Stelle lag das tiefe Loch, durch das das Wasser eindrang. Der neue Deich
wurde um diese Vertiefung herumgebaut, manchmal auf der Landseite, manch-
mal auf der Flussseite; das war einfacher, als das tiefe Loch aufzufüllen. Deshalb
gibt es Wehlen innerhalb und außerhalb eines Deiches.
Ein derartiger Deichdurchbruch kommt jedoch selten vor. Unser Deich brach
das letzte Mal 1855. Damals gab es unser Haus noch nicht, es ist von 1879. Aber
1993 und 1995 hat nicht mehr viel gefehlt und es wäre überschwemmt worden.
Das Wasser stand einen Meter unterhalb vom Scheitel des Winterdeiches. Eine
kleine Schwachstelle und der Deich wäre zusammengebrochen und das Wasser
hätte unser Wohnzimmer zur Hälfte geflutet. Wir hatten die Keller bereits leer
geräumt, und in meinem Universitätsinstitut, das ebenfalls in der bedrohten
Zone liegt, brachte man vorsichtshalber alle Apparatur in die oberste Etage. Ei-
nige Badewannen in der Betuwe, die zwischen besonders schwachen Winterdei-
174 DER LANGE ZYKLUS

1827
Ochten
1726
? 1784 Dodewaard

Tiel

1784 1784
1784 1784
1781 1861 1784 1784 Druten
1784 1726
1726 1711 Beneden-
1726
1781 Leeuwen
1857
1881

1855

Abb. 83: Deichdurchbrüche an der Waal in den letzten Jahrhunderten.

chen lagen, wurden evakuiert, mehr als 100 000 Menschen anderweitig einquar-
tiert. Mit Infrarotkameras wurden die Schwachstellen in den Deichen aufgespürt
und dann mit Sandsäcken verstärkt. Die Dutch flood war weltweit in den Nach-
richten.
Letztendlich hielten die Deiche. Doch lieber 100 000 Menschen umsonst eva-
kuiert als 1836 Ertrunkene wie in der katastrophalen Sturmnacht 1953 in Zee-
land oder 25 000 unter Schlamm begraben wie in Armero. Solange man nicht
jede Woche evakuieren möchte ... Doch laut Statistik kommt ein derartiges
Hochwasser nur alle zweihundert Jahre vor.
Das ganze Jahr über passiert nichts, einmal jährlich stehen die Außenpolder
unter Wasser und einmal in zweihundert Jahren will der Fluss über die Winter-
deiche. Auch Flüsse haben ihre Frequenz-Magnitude-Relation: das Verhältnis
zwischen dem Abfluss – also der Wassermenge, die den Rhein hinabströmt – und
der Frequenz oder besser der Wiederholungszeit, d. h. in welchen Abständen eine
bestimmte Abflussmenge einmal überschritten wird.
Kurz ein paar Zahlen. Der mittlere Abfluss des Rheins beträgt 2200 m³/s (Ku-
bikmeter pro Sekunde). Aber das besagt nicht viel. Der geringste jemals gemes-
sene Abfluss bei Lobith, wo der Rhein, noch unverzweigt, ins Land kommt, be-
trug 620 m³/s, am 12. November 1947 (mein Geburtsjahr war ein Jahr der Ex-
treme, wie wir schon gesehen haben), der höchste ebendort gemessene betrug
12 600 m³/s am 3. Januar 1926. Also das Zwanzigfache! Beim Hochwasser von
1993 betrug der Abfluss 11 000 m³/s, und 1995 waren es 12 000 m³/s, die zweit-
höchste jemals gemessene Wassermenge. Der Rhein bei Lobith stand damals
6,5 Meter über seinem Durchschnittspegel. Andere Perioden von Rheinhochwas-
ser waren 1824/25, 1844/45, 1918 bis 1920, 1925/26 und 1982/83. Setzt man alle
Punkte in eine Grafik um, so ergibt sich Folgendes: Im Durchschnitt einmal
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 175

18 000

16 000
Gumbel Exponentiell
14 000
Abfluss (m3/s)

12 000

10 000

8000

6000

4000

2000
1,01 5 10 50 500 1250
Wiederholungszeit (Jahre)

Abb. 84: Frequenz-Magnitude-Grafik der Überflutungsfrequenzen des Rheins nach


verschiedenen statistischen Extrapolationsmethoden, basierend auf 95 Jahren der Beob-
achtung (1901–1995). Die Gumbel-Kurve ist nahezu fraktal, die exponentielle Kurve ergibt
längere Wiederholungszeiten für die extremen Abflüsse.

jährlich wird ein Abfluss von 5800 m³/s überschritten, einmal in zehn Jahren ein
solcher von 9670 m³/s und einmal pro Jahrhundert 12 320 m³/s. Man kann die
Kurve auch noch weiter extrapolieren und sieht dann, dass einmal in 1250 Jahren
ein Abfluss von 16 000 m³/s überschritten wird. Das ist die Norm, die man zur
Festlegung der minimalen Deichhöhe heranzieht, wie wir schon im letzten Kapi-
tel gesehen haben.
Was heißt das nun – 1250 Jahre? Die Kurve basiert, ebenso wie diejenige der
Seedeiche, auf einem Beobachtungszeitraum von einem Jahrhundert. Aber es
spielt natürlich schon eine Rolle, welches Jahrhundert man dafür nimmt. 1389, in
der Mittelalterlichen Warmzeit, stand der Rhein bei Köln zum dritten Mal inner-
halb von zehn Jahren so tief, dass die Pferde mitten im Fluss liefen – glaubt man
der niederländischen Klimabibel von Jan Buisman, Duizend jaar weer, wind en
water in de Lage Landen [Tausend Jahre Wetter, Wind und Wasser in den Nieder-
landen, d. Ü.]. Im Jahr 1540 war der Rhein so gut wie trocken nach sieben Mona-
ten sonnigem und heißem Wetter. Dann folgte die kühle, nasse Kleine Eiszeit
mit höheren Wasserständen. Dies wird auch von deutschen Daten über die
Rheinwasserstände bei Köln bestätigt. Eine Frequenz-Magnitude-Kurve, basie-
rend auf einem Beobachtungsjahrhundert während der Mittelalterlichen Warm-
zeit, sieht natürlich ganz anders aus als eine, die auf einem Kleine-Eiszeit-Jahr-
hundert beruht. Solche alten Daten taugen nicht für eine Frequenz-Magnitude-
Grafik, aber es wird auch hier wieder deutlich: Eine rein statistische Annäherung
ist nicht hinreichend.
In den letzten Jahren haben viele andere europäische Flüsse Überschwem-
mungen bewirkt: Der Arno in Florenz 1966 wurde vor Kurzem wieder in Erinne-
176 DER LANGE ZYKLUS

35

Anzahl der Überschwemmungen


30

25

20

15

10

0
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Jahrhundert

Abb. 85: Historische Überschwemmungen des Rheins bei Köln seit dem 9. Jahrhundert:
weniger in der Mittelalterlichen Warmzeit, mehr in der Kleinen Eiszeit.

rung gebracht durch den Film La meglio gioventù. Die Ouvèze trat am 22. Septem-
ber 1992 bei Vaison la Romaine über die Ufer; danach hatte es den Anschein, dass
das vorherrschende Sediment aus treibenden Wohnwagen bestand. Eine eben-
solche Überschwemmung gab es auch schon am 21. August 1616. Die Oder
setzte 1997 Frankfurt unter Wasser; aber 1931 war der Wasserstand noch höher
gewesen als 1997, und es gab schon früher solche Ereignisse, zum Beispiel 1845,
1890 und 1903. Die Moldau setzte 2001 und 2002 Prag unter Wasser, die Elbe
weiter stromabwärts Dresden. Es war der stärkste Abfluss seit 1827, als die Mes-
sungen begannen, aber Hochwasser gab es auch schon 1845, 1862, 1872, 1890
und 1940. Die geschätzte Wiederholungszeit all dieser europäischen Über-
schwemmungen liegt bei einhundert bis fünfhundert Jahren.
Aus allen bis heute verfügbaren Daten geht also hervor, dass es seit dem Be-
ginn der Messungen noch nicht ein einziges Mal eine Überschwemmung mit
einer Wiederholungszeit von tausend Jahren oder mehr gegeben hat – wenn
auch diejenige der Oder 1997 zur „Millenniumflut“ aufgebauscht wurde.
Und das, während unsere Deiche gerade mal tausend Jahre existieren. Nichts-
destoweniger hat man für zahlreiche Flüsse Prognosen erstellt über die zu erwar-
tenden Abflüsse, die einmal in zehntausend Jahren auftreten, beispielsweise hier
unten für die Moldau. Dies ist manchmal auch notwendig wegen der Anforde-
rungen beim Bau von Staudämmen.
Was kann in zehntausend Jahren nicht alles passieren in einem Fluss! Die Ge-
schichte unserer eigenen Flusslandschaften ist dafür ein schönes Beispiel. Denn
bevor die Deiche angelegt wurden, benahmen die Flüsse sich ganz anders.
Unsere Flüsse sind in der Hauptsache mäandernde Flüsse – wenn wir sie denn
lassen. Sie erodieren den Prallhang und sedimentieren am Gleithang. Bei Spit-
zenabflüssen verlassen sie ihr Bett und setzen feinen Sand auf dem Ufer ab: Es
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 177

300 Unsicherheitsmargen aufgrund


von Simulationen für
250 100 Jahre
10 000 Jahre 10 000 Jahre
200
Abfluss (m3/s)

regionale Vorhersage
150
1000 Jahre
100
Wiederholungszeit 10 Jahre 100 Jahre
50

0
-2 0 2 4 6 8 10
Frequenz

Abb. 86: Frequenz-Magnitude-Grafik der Moldau bei Prag; Abfluss extrapoliert auf zehn-
tausend Jahre.

bilden sich Uferwälle. Im überschwemmten Land hinter den Uferwällen, der


Mulde, setzt sich das feinste Material ab, die Muldenlehme. Manchmal, insbe-
sondere bei Hochwasser, schneiden sie eine Schlinge ab und hinterlassen einen
hufeisenförmigen See, der sich langsam mit Schlamm und Moor füllt. Es ist ein
uraltes Modell von großer didaktischer Schlichtheit, und so findet man es in
sämtlichen Lehrbüchern wieder. Leonardo da Vinci hat schon vor fünfhundert
Jahren eine wunderbare Zeichnung hierzu angefertigt – herrliche Wellen, nun
allerdings in der Horizontalen.
Und doch ist es ein Rätsel, warum Flüsse mäandrieren. Es gibt mindestens 30
Erklärungen dafür, hat mir einmal der russische Hydrologe Nikolai Alexejewski
gesagt. In zahlreichen Lehrbüchern steht Folgendes: Wenn der Fluss auf ein Hin-
dernis trifft, weicht er ihm aus; dies provoziert eine Gegenbewegung, und so ent-
steht der Mäander – die berühmte minimale Störung. Aber diese Geschichte
stimmt nicht, denn das auf einer Eisfläche strömende Schmelzwasser mäandert
ebenfalls; und zwingt man einen Fluss in einen Kanal, so setzt er abwechselnd
links und rechts seine Sandhäufchen ab, um seinem geheimen Wunsch nach
Schlingenbildung Ausdruck zu verleihen. Auch der Golfstrom mäandert im At-
lantik, und selbst der Jetstream mäandert in der Atmosphäre. Und da findet man
nicht viele Hindernisse.
Noch rätselhafter wird die Angelegenheit durch die Tatsache, dass es bis 1998
niemandem je gelungen ist, einen Mäander im Laborversuch zu erzeugen. In kei-
nem der Hunderte von Strömungslaboratorien weltweit, in denen Flüsse maß-
stabsgerecht in Sand, Lehm und anderen Materialien imitiert wurden, hatte sich
jemals ein überzeugender Mäander gebildet. Und doch war dies dringend erfor-
derlich, um das Verhalten eines Flusses vorhersagen zu können beim Bau von
Brücken, Kais, Schifffahrtskanälen oder den Buhnen im Rhein. Der amerika-
178 DER LANGE ZYKLUS

Abb. 87: Der spätglaziale verwilderte Rhein und die holozänen Mäander der Oude IJssel bei
Doesburg. Der Frost akzentuiert die verwilderten Rinnen. Im Vordergrund die heutige IJssel.

nische Software-Spezialist und Amateurgeologe Charles E. Smith hatte ein


Hobby daraus gemacht. Im Sandkasten in seiner Garage geschah erstmals das
Wunder – echte kleine Mäanderchen, nur vier Zentimeter breit, aber immerhin.
Seiner Meinung nach lag das Geheimnis in der Zusammensetzung des Materials,
das er verwendete: ein Gemisch aus Diatomeenerde und Kaolin, das genau die
richtige Kohäsion aufwies, um die erodierenden Prallhänge steil zu halten. Aber
warum bildeten die Rinnsale denn nun Mäander aus?
Dies sind Fragen, die die meisten Physiker links liegen lassen, und ich habe
volles Verständnis dafür. Als Hans Einstein seinem Vater Albert eröffnete, er
werde sich mit Hydrodynamik befassen, sagte der: „Junge, lass die Finger davon –
viel zu schwierig!“
Wir wissen es bis heute nicht.
Also gut, unsere Flüsse mäandern und wir mussten uns damit abfinden – zu-
mindest solange wir sie nicht in die Zwangsjacke aus Buhnen und Kanälen steck-
ten. Davor waren sie frei. Henk Berendsen, Geowissenschaftler der Universität
Utrecht, hat sein Leben der Frage gewidmet, was sie mit dieser Freiheit angefan-
gen haben. Wenn ein Student bei ihm zu studieren begann, hatte er im ersten
Jahr ein Bohrpraktikum zu absolvieren, in der Betuwe oder der Alblasserwaard
[Landstrich i. d. Prov. Zuid-Holland östl. v. Rotterdam, d. Ü.]. Alte Flussläufe
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 179

heutiger Flusslauf
historische Flussläufe

Utrecht

Arnhem

Nijmegen

Den Bosch

10 km

Abb. 88: Flusslaufverlegungen im Rhein-Maas-Delta während der letzten achttausend Jahre.


Das Verzweigen und Auffächern (Anastomosieren) von vielen Stromrinnen gleichzeitig
links in der Abbildung wird zum Teil verursacht durch die aufstauende Wirkung des
Meeresspiegelanstiegs.

kartieren. Handbohrungen, bis zu sechs Metern Tiefe, so weit man eben kam.
Lehm, Sand, Torf. Torf, Sand, Lehm. Lehm, Lehm, Lehm. Eine eintönige Be-
schäftigung. Am Ende des Praktikums hatte man einen Schnitt von einer alten
Flussrinne. 30 Studentengenerationen wurden hier durchgeschleust. 1400 Erst-
semester, die alle ihre Karriere mit dieser langweiligen, schweren Arbeit begon-
nen haben. Man fragt sich: Hat er denn noch immer nicht genug Daten? Wo
bleibt die Technologie, wo die Innovation? Bestimmt wird niemand jemals wie-
der ein derartiges Projekt auf sich nehmen.
Aber jetzt hat Henk alles in einer Datenbank gespeichert, mehr als 200 000
studentische Bohrungen. Mit C-14 sind alle wichtigen Torflagen datiert, und es
entsteht ein fantastisches Bild der Stromverlegungen unserer Flüsse während
der letzten achttausend Jahre. Ein mäandernder Fluss schneidet nämlich nicht
nur seine eigenen Schlingen ab, er bricht auch manchmal bei Hochwasser durch
seinen Uferwall und sucht sich einen neuen Weg zum Meer: Das nennt man Mä-
anderdurchbruch. Berendsens Doktorandin Esther Stouthamer hat untersucht,
wie oft so etwas vorkommt: Etwa zweimal pro Jahrhundert tritt ein Mäander-
durchbruch auf in einem der zahlreichen Seitenarme von Rhein und Maas. Ein
Fluss-Segment hat durchschnittlich etwa 1280 Jahre Bestand, dann sucht sich
das Wasser einen neuen Weg.
Diese Zahl! 1280! Die Flussdeiche sind für eine Überschwemmungsfrequenz
von 1250 Jahren berechnet; ein Fluss-Segment besteht 1280 Jahre. Und noch nie
ist bei einem europäischen Fluss eine Überschwemmung aufgetreten mit einer
180 DER LANGE ZYKLUS

0,05000

verwildert
Verwildert („Zopfmuster“)
Mäandernd
0,01000 Gerade anastosomierend

0,00500

mäandernd
Gefälle (m/m)
0,00100

0,00050

0,00010 gerade

0,00005

0,00001
10 50 100 500 1000 10 000
Abfluss (m3/s)

1000

100
verwildert
Strömungskraft (W/m2)
verwildert mäandernd gerade

10
mäandernd

1
gerade

0,1
0,1 1 10 100
Korngröße (mm)

Abb. 89: „Zopfmusterflüsse“ haben bei gleichem Abfluss einen größeren Gradienten (oben)
und gröberes Sediment (unten) als mäandernde Flüsse.

Wiederholungszeit von tausend Jahren. Wie um alles in der Welt können wir eine
Wahrscheinlichkeitsberechnung vornehmen für Zeiträume, die die wichtigsten
Ereignisse in Fluss-Systemen außer Betracht lassen? Sogar wenn sie seit tausend
Jahren bedeicht sind: Auch Flüsse übertreffen das menschliche Maß.

Wir wandern ein Stück stromaufwärts – nicht den Rhein, sondern die Maas hin-
auf, eigentlich ein Nebenfluss, mit dem er in seinem Mündungsgebiet unent-
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 181

wirrbar verflochten ist. Oberhalb von Nijmegen verändert sich das Flussbett.
Keine Außenpolder mehr, keine Deiche, denn nun liegt der Fluss auf einmal
tiefer als das Land. Kleine Steilstufen von ein, zwei Meter Höhe. Mit zuneh-
mender Entfernung vom Fluss geht es treppenartig aufwärts: ein flaches Stück
Ackerland, eine Steilstufe von einem Meter, oberhalb wieder eine Fläche und wie-
derum eine Stufe. Dies sind die Niederterrassen der Maas.
Hier und da in den Niederterrassen finden sich Rinnen, angefüllt mit Torf und
Lehm. Seltsam, dass die Maas früher viele Rinnen nebeneinander besaß, heute
aber nur noch eine einzige, die sich in den Untergrund schneidet. Darüber hin-
aus besteht das heutige Maas-Sediment in der Hauptsache aus Lehm und feinem
Sand, während das Sediment der Terrassen viel gröber ist. Offensichtlich hat die
Maas sich verwandelt: früher verflochten, heute mäandernd. Flussverwilderung
gibt es auch heute noch; sie tritt vor allem dort auf, wo Flüsse plötzliche Spitzen-
abflüsse zu bewältigen haben und viel groben Schutt transportieren müssen –
beispielsweise in Wüsten, am Fuß von Gebirgen und an Gletscherzungen. Ver-
flochtene Flüsse sind auch typisch für die Eiszeiten. Dann ist der Untergrund
gefroren und es gibt kaum Vegetation, die das Sediment an den Böschungen im
Quellgebiet festhält. Im Sommer kommt es zu Maxima in der Sedimentzufuhr,
die der Fluss schlecht verarbeiten kann, denn der Gesamtabfluss wiederum ist in
der Eiszeit geringer.
Leo Tebbens von der Universität Wageningen hat seine Dissertation der Maas-
Metamorphose in Nordlimburg gewidmet. Und was fand er heraus? Die Maas ist
genau den Klimaveränderungen im Millenniumsmaßstab am Ende der letzten
Eiszeit gefolgt! Vor etwa zwanzigtausend Jahren bekam sie viel Sediment, aber
wenig Wasser, hatte daher einen verflochtenen Lauf und setzte Sand in zahl-
reichen Rinnen ab. Beim ersten Wärme-Impuls, in der Bølling-Allerød-Zeit,
bekam sie plötzlich mehr Wasser, aber weniger Sediment zu verarbeiten, und
folglich tiefte sie sich ein und begann zu mäandern. Während der letzten kalten
Zuckung des Glazials, in der jüngeren Dryaszeit vor elftausend Jahren – die, wie
wir gesehen haben, ein Schmelzwasserimpuls im nördlichen Atlantik eingeleitet
hat –, begann sie wieder zu verwildern, um sich anschließend während der end-
gültigen Aufwärmung wieder einzuschneiden und zu mäandern.
Das ist eine große Überraschung! Bis jetzt haben wir lediglich Impulse bei den
Flüssen festgestellt, große Abflussmaxima, verursacht durch extreme Nieder-
schläge oder Schneeschmelze im Oberlauf, allenfalls mit Variationen in der Mit-
telalterlichen Warm- und der Kleinen Eiszeit. Doch offensichtlich gibt es auch
bei Flüssen ein zyklisches Verhalten! Die Wellen der Klimazyklen übertragen
sich in eine Abwechslung zweier jeweils stabiler Fließmuster, mäandernd bezie-
hungsweise verwildernd. Wenn das Verhältnis zwischen Wasserabfluss und Sedi-
mentlast einen bestimmten kritischen Schwellenwert überschreitet, neigt sich die
Waage abrupt der anderen Seite zu. Dies geschieht allerdings nicht sofort: Aus
Leos Datierungen geht hervor, dass der Fluss eine Responszeit von ungefähr
182 DER LANGE ZYKLUS

W O

Spät-Pleniglazial
Bølling
Allerød

Jüngere Dryas
Holozän

Sedimentation
Einschneidung
Wasser

Abb. 90: Schematischer Schnitt durch die Niederterrassen der Maas. Spät-Pleniglazial und
Jüngere Dryas sind kalte Perioden, in denen die Sedimentation vorherrschte, Bølling-Allerød
und Holozän sind warme Perioden, in denen der Fluss sich einschnitt (Rinnen). Auch heute
noch liegt der Fluss tiefer als das Land.

fünfhundert Jahren hat; andere, wie die Gruppe von Jef Vandenberghe der Ams-
terdamer Universität, nehmen hierfür sogar noch höhere Werte an.
Das letzte Mal, dass die Maas einen solchen Wechsel vollzog, liegt zehntau-
send Jahre zurück. Staudämme müssen für Abflussmaxima ausgelegt sein, wie
sie einmal in zehntausend Jahren vorkommen können. Die Extrapolationskur-
ven auf zehntausend Jahre wie diejenige der Moldau (vgl. S. 177) gehen davon
aus, dass alle anderen Bedingungen gleichbleiben. Aber wie wird es der Maas in
zehntausend Jahren gehen? Wenn wir schon wieder auf dem Weg in die nächste
Eiszeit sind? Wird die Maas dann schon wieder verflochten sein?
Wir gehen noch ein wenig weiter die Maas stromaufwärts. Bei Sittard verän-
dert sich die Landschaft auffallend. Es wird hügeliger und die Maas scheint
sich viel tiefer eingeschnitten zu haben; die Landschaft reicht vom Tal, das auf
etwa 40 Meter über Meereshöhe liegt, bis hinauf auf mehr als 200 Meter. Aber
wer genau hinschaut, stellt fest, dass uns auch in dieser Höhe die Maas noch
nicht verlässt. Denn die gestufte Landschaft, die wir in kleinem Maßstab in
Nordlimburg sahen, scheint sich hier in größerem Maßstab zu wiederholen.
Fast die ganze Provinz Zuid-Limburg ist eine riesige Freitreppe, bestehend aus
großen flachen Terrassen, die von dem Geologen Meindert van den Berg vom
NITG-TNO (Niederländisches Institut für Angewandte Geowissenschaften) in
seiner Dissertation sehr sorgfältig kartiert wurden. Die Steilstufen zwischen
den einzelnen Terrassenniveaus sind nun nicht mehr einen, sondern eher zehn
Meter hoch. Nur sind sie manchmal schwer zu erkennen, weil sie großenteils
von einer Löss-Schicht bedeckt sind, welche die scharfen Kanten rundet und
der Landschaft ihren welligen Charakter verleiht. Meindert hat sehr detailliert
alle Terrassen gezählt und insgesamt 32 übereinanderliegende gefunden, bis
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 183

Floodplain width

14 13 12 11 10 9 8
Zeit (Jahrtausende i. d. Vergangenheit)

Abb. 91: Abwechselnd verwildernder und mäandernder Charakter der Maas beim Übergang
von der letzten Eiszeit zum Holozän.

zu einer Höhe von 250 Meter über Maasniveau. In manchen Steinbrüchen sind
die Steilstufen aufgeschlossen und man kann sehen, dass die Terrassen aus
grobem Kies bestehen, der von einem Fluss abgesetzt worden sein muss. Nach
der Art des Gesteins zu urteilen, war das die Maas selbst. Aber dieses Sediment
sieht demjenigen der heutigen Maas – hauptsächlich feiner Sand und Lehm
und manchmal Matratzen und treibende Wohnwagen – überhaupt nicht ähn-
lich. Der Kies ist sehr grob und enthält hin und wieder Blöcke von mehr als
einem Meter Durchmesser. Wie kann die Maas diese transportieren? Wie kann
die Maas 250 Meter oberhalb ihres heutigen Bettes geflossen sein, und wie kam
es zu dem zyklischen Wechsel von Kiesablagerung und Einschneidung in
großem Maßstab?
Um diese Fragen zu beantworten, hat Meindert versucht, die Terrassensedi-
mente zu datieren. Mit der C-14-Methode gelingt das nicht, dafür sind sie zu alt.
Am erfolgreichsten war er mit den Mitteln des Paläomagnetismus. Das Magnet-
feld der Erde hat sich im Laufe der Geschichte mehrmals umgekehrt. Heute zeigt
eine Kompassnadel nach Norden, aber das ist erst seit 700 000 Jahren der Fall.
Davor hätte sie nach Süden gezeigt. Magnetische Teilchen des Sediments richten
sich bei ihrer Ablagerung nach dem momentan herrschenden Magnetfeld aus,
und so lässt sich feststellen, ob es zu Zeiten normaler oder umgekehrter Polarität
abgesetzt wurde. Untersucht man dies sorgfältig von Terrassenniveau zu Terras-
senniveau, so stellt man verschiedene Umpolungen fest. Und da man weiß, wann
diese Umpolungen stattfanden, lassen sich also auch die Terrassen datieren. So
wird deutlich, dass die gesamte Sequenz mehr als zwei Millionen Jahre abdeckt.
Aus der paläomagnetischen Datierung der Terrassenniveaus geht hervor, dass
jeder Zyklus, bestehend aus Sedimentation und Tiefenerosion, etwa hunderttau-
send Jahre dauert. Alle hunderttausend Jahre wird wieder eine neue Terrasse ge-
184 DER LANGE ZYKLUS

300

250

Gauss 200

Paläomagnetische Zeitskala

Höhe (m)
150
Olduvai

Jaramillo 100

50
Brunhes

Abb. 92: Schematischer Ost-West-Schnitt des Maastales in Zuid-Limburg, mit 32 Terrassen-


niveaus; links eine paläomagnetische Zeitskala: schwarz bedeutet normal magnetisiert, weiß
umgepolt.

bildet, zehn Meter tiefer als die vorige. Mit jeder Treppenstufe von zehn Metern,
die man in der südlimburgischen Terrassenlandschaft hochsteigt, geht man also
hunderttausend Jahre in der Zeit zurück. Hunderttausend Jahre! Diese Zyklizi-
tät kennen wir doch schon. Das ist die Milanković-Zyklizität, die wir schon vor-
her kennengelernt haben. So wie wir in Nordlimburg die Millenniumszyklen
fanden, so sind hier die Eiszeitzyklen greifbar. Der Fluss reagiert also auch auf
diese großen Zeitskalen.
Die Kiesakkumulation findet während der Eiszeiten statt, die Tiefenerosion in
den warmen Interglazialen, genauso, wie wir es in kleinerem Umfang auf den
Niederterrassen sahen. Dass es nicht andersherum ist, lässt sich zum Beispiel am
Vorkommen von Pollen arktischer Pflanzen im Kies und auch von Mammut-
stoßzähnen ablesen. Die meterhohen Felsblöcke werden, in Eisschollen einge-
schlossen, vom Fluss weggetragen.
Doch halt. Auch wenn sie in hunderttausendjährigen Zyklen entstanden sind,
warum liegen die Terrassen dann übereinander? Warum liegen die Spuren der
ältesten Eiszeiten von vor zwei Millionen Jahren 200 Meter über dem heutigen
Maasbett? Um das zu verstehen, müssen wir bedenken, dass bei unserer Reise
stromaufwärts bei Sittard etwas geschehen ist. Wir sind dabei von einer relativ
ebenen Landschaft zu einer hügeligen Landschaft gewechselt. Dieser Wechsel ist
der springende Punkt, hier befindet sich nämlich das Scharnier der Niederlande.
Nördlich dieser Linie senkt sich das Land, südlich davon steigt es an. In einem
Senkungsgebiet wird jede nächste Schicht auf die vorherige abgelagert: das Su-
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 185

Grenze
Küstenlinie Holozän-Pleistozän Scharnierlinie Gebirgsrand

Südlimburg,
quartäre Terrassen
der 100 000-jährigen
Zyklen

Holozäne Nordlimburg,
100–1000-jährige spätglaziale Terrassen
Mäanderdurchbruchs- der 1000–10 000-jährigen
zyklen Zyklen

Bodensenkung Anhebung

Abb. 93: Die drei Regime der Maas von der Mündung bis zur Quelle. Grenze Holozän-
Pleistozän entspricht der Grenze eingedeicht / nicht eingedeicht in der Abb. auf S. 68.

perpositionsgesetz von Steno, das wir schon kennen. In einem Hebungsgebiet


gibt es aber eine Komplikation.
Wenn das Gebirge sich hebt, und das geschieht noch immer mit einer Ge-
schwindigkeit von vier bis 14 Millimetern pro Jahrhundert, möchte der Fluss
diese Anhebung ausgleichen und versucht, sein Tal tiefer einzuschneiden.
Unter den heutigen Bedingungen gelingt das auch. In den Eiszeiten aber klappt
das nicht. Dann gibt es keinen Wald auf den steinigen Hängen der Ardennen,
die die Maas durchquert, denn dafür ist es dann zu kalt. Deshalb kann das
Geröll der Hänge viel leichter den Fluss erreichen. Außerdem ist der Unter-
grund gefroren, und auch aus diesem Grund rutscht das Geröll leichter in die
Maas. Der Fluss bekommt in der Eiszeit so viel Geröll zu verarbeiten, dass er
quasi all seine Energie braucht, um dieses zu transportieren, und ihm die Kraft
fehlt, sich einzuschneiden. Darüber hinaus ist das Klima dann viel trockener
und er führt weniger Wasser. Es sind die typischen Bedingungen, unter denen
Flüsse sich verzweigen und grobes Material absetzen. Erst wenn es wieder wär-
mer wird, kommt der Wald zurück, die Hänge stabilisieren sich, der Permafrost
verschwindet und es fällt mehr Niederschlag. Dann überwindet die Maas den
kritischen Punkt und beginnt wieder mit der Tiefenerosion. Das geht anfäng-
lich schnell, denn sie muss den Rückstand aufholen, den es gegeben hat, weil
sie sich während der Eiszeit nicht einschneiden konnte. Wenn dann die nächste
Eiszeit auftritt, hat das Land sich bereits wieder so weit gehoben und die Maas
sich schon wieder so tief eingeschnitten, dass das alte Terrassenniveau außer-
186 DER LANGE ZYKLUS

62°

Fennoskandinavischer
Schild
südliches
Nordsee-
58°
becken

Eridanos-
Delta
54°

200 km
52°
Varistisches Massiv Abb. 94: Das Eridanos-
Stromgebiet und das
0° 8° 16° 24°
Eridanos-Delta in der
Nordsee.

halb ihrer Reichweite ist und oberhalb des neuen verzweigten Bettes bestehen
bleibt. Hier gilt also: je höher die Terrasse, desto älter. Wie bei den Korallenter-
rassen von Curaçao, nur dass es dort gerade die warmen Perioden sind, die die
Terrassenflächen entstehen lassen.
Die Terrassen sind also eine wunderbare Illustration der Respons von Flüssen
auf Klimazyklen, und das gilt nicht nur für die Maas. So gut wie alle Flüsse welt-
weit weisen eine solche Terrassensequenz auf. Paris liegt auf den Flussterrassen
der Seine, London auf denen der Themse, Köln auf denen des Rheins, Moskau
auf denen der Moskwa, Prag auf denen der Moldau – und Maastricht auf denen
der Maas. Und in all diesen Städten gilt grob gesagt dasselbe: Eine Treppenstufe
von zehn Metern in die Höhe entspricht einer Zeitreise von hunderttausend Jah-
ren weiter in die Vergangenheit. Vom Eiffelturm hinauf zu Montparnasse? Hun-
derttausend Jahre. Vom Kreml die Twerskaja rauf zum Puschkinplatz? Hundert-
tausend Jahre.
Es ist kein Zufall, dass die Städte dort liegen, denn die Flussterrassen haben
allerhand angenehme Eigenschaften für den Menschen. Sie bestehen in der Regel
aus eiszeitlichem Kies, der sehr porös ist und daher gut geeignet zur Grundwas-
sergewinnung. Kies ist darüber hinaus ein beliebter Baustoff; der meiste Kies, der
in den Niederlanden abgebaut wird, ist denn auch Eiszeitkies aus den Terrassen
und den verschütteten Betten von Maas und Rhein. Und außerdem ist es von
Vorteil, wenn man ein wenig oberhalb des Flussbettes wohnt, denn dann be-
kommt man nicht so schnell nasse Füße. Die seltenen Male, dass die Städte doch
unter Wasser stehen, wie wir oben sahen, kehrt der Fluss also eigentlich in ein
altes Bett zurück. Genau wie bei meinem Haus am Rhein, nur etwas länger her.
DIE ZEIT STROMAUFWÄRTS 187

Und noch eine Zeitskala höher? Millionen von Jahren zurück? Wir würden die
Flüsse nicht wiedererkennen, denn so lange existieren sie nicht. Der Rhein ent-
springt nicht in den Alpen, sondern in viel größerer Nähe. Er bildet keine Schlucht
durch die Eifel, sondern strömt breit mäandernd durch das dortige Tiefland.
Lorelei muss erst noch geboren werden. Flüsse folgen dem Relief, das die Platten-
tektonik aufwirft, und das kann sich in Millionen von Jahren gründlich verän-
dern. Und an seiner Mündung stellt sich heraus, dass der Rhein nur ein unbedeu-
tendes Nebenflüsschen des Eridanos ist, eines gewaltigen Stromes von nahezu
der Größe des Amazonas. Der Eridanos entspringt in Lappland, strömt südlich
durch das Gebiet der heutigen Ostsee und bildet an seiner Mündung ein unvor-
stellbares Delta aus, das die gesamte Nordsee auffüllt bis an die englische Küste.
Vierzehn Millionen Jahre hat dieser Fluss bestanden, bis die skandinavischen
Eiskappen das Stromgebiet so gründlich ausschliffen, dass von ihm nichts blieb.
Nur die gegabelte Form der Ostsee erinnert noch an ihn.
Und der Amazonas selbst? Der fließt noch nicht ostwärts zum Atlantik wie
heute, sondern genau in die andere Richtung, nach Westen, zum Stillen Ozean.
Der brasilianische Geologe Luis Fernando Galvão de Almeida nennt ihn folge-
richtig Sanozama, das ist Amazonas andersherum buchstabiert. Die Zeit strom-
aufwärts.
13 Wie ewig singen die Wälder?

„Der Wald stirbt und wird im selben Moment wieder geboren.“


Albert Helman, Die stille Plantage, 1951

Ich liege in meiner Hängematte. Es ist früh am Morgen, noch kaum hell. Der
Dschungel erwacht. Es ist ein unglaubliches Konzert von zahllosen Vögeln. De
Roever ist schon auf, denke ich. Er sitzt wahrscheinlich im Campingstuhl, mit
dem Buch Birds of Surinam von François Haverschmidt auf dem Schoß und den
Feldstecher im Anschlag. Professor Willem Paul de Roever ist mein Doktorvater.
Er begleitet meine Promotionsforschung nach der frühesten Geschichte des
Guyana-Schildes, dem zwei Milliarden Jahre alten kristallinen Grundgebirge,
das einen Großteil des nördlichen Südamerika einnimmt. Er ist Petrologe, ein
Kenner der kristallinen Gesteine aus den Tiefen der Erde. Er hat als Erster die
Hypothese aufgestellt, dass Serpentingesteine aus dem Erdmantel stammen.
Aber er ist außerdem ein begeisterter Ornithologe. Sein Buch ist voller Anstrei-
chungen und Daten. In Surinam gibt es an die 600 Vogelarten. Sechshundert!
Wenn man die alle gesehen haben möchte, muss man früh aufstehen. Es ist mir
nie gelungen, früher als er aufzustehen.
Ich kann de Roever nicht sitzen sehen. Das Moskitonetz um meine Hänge-
matte ist aus grobem, blickdichtem Grasleinen. Von außen sieht es aus wie ein
dicker, grauweißer Kokon, der in meinem kleinen Unterstand aus frisch geschla-
genen langen dünnen Baumstämmchen, mit einem Dach aus den eleganten
Blättern der Tasipalme, an einem Querbalken hängt. Ich bedaure es nicht, die
Vögel nicht zu sehen. Ich höre sie. Und ich wundere mich. Dass sie alle zur glei-
chen Zeit anfangen. Und dass es so viele Arten gibt. Und dass jede Art ihren eige-
nen Gesang erkennt in dieser Kakophonie. „Wákagó, wákagó, wákagó“, schallt es
auf einmal lautstark aus zahllosen Vogelkehlen vom Ufer des Corantijn her. Die
kenne ich bereits: Ortalis motmot heißen sie im Buch von de Roever. Jeden Morgen
rufen sie ‚wákagó‘, auf Surinamisch bedeutet das: lauf (waka), geh (go), das Si-
gnal zum Aufstehen.
Aber ich bleibe noch ein wenig liegen, denn ich weiß, dass es einen weiteren
Wecker geben wird. Und da geht es auch schon los, ein unbeschreibliches Ge-
räusch, als öffne sich eine Tür, die seit Jahrhunderten geschlossen gewesen war.
Das Quietschen der schreienden Angeln kreischt durch den Wald, tausendfach
verstärkt von gewaltigen Lautsprechern. Das Quietschen geht über in ein Heu-
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 189

len, mit langen, gellenden Schluchzern, wie eine leidenschaftliche Kreissäge. Es


ähnelt in keiner Weise einem Tierlaut. Dann beginnt eine zweite Tür, eine dritte,
und schon bald füllt den Wald ein ohrenbetäubender Fabriklärm, der jeglichen
Vogelgesang übertönt – um dann genauso plötzlich zu verstummen, wie er be-
gonnen hatte. Auch die kenne ich schon, diese hängenden Lautsprecher. Sie
haben einen wundervollen, rotbraunen Pelz und hangeln sich von Baum zu
Baum. Es sind Babun, Rote Brüllaffen, oder alawata, wie die Indianer aus meinem
Team sie nennen. Sie verstärken ihre Stimme in einem knöchernen Kehlsack mit
einen Durchmesser von mindestens 25 Zentimetern. Ihr Konzert folgt immer
demselben Muster: Der Anführer beginnt, dann fallen die anderen ein, und sie
hören alle auf einmal auf. Kilometerweit kann man sie hören, manchmal auch zu
anderen Tageszeiten. Aber hier am oberen Corantijn fangen sie um halb sechs
morgens an. Als hätten sie sich abgesprochen. Ich stehe auf.
Wir gehen durch den Wald, über den lontu (Rundweg) um die Frederik-Wil-
lem-IV-Fälle herum, denn das Wasser fällt zu ungestüm über meine Dissertati-
onssteine, als dass man dort mit dem Boot fahren könnte. Jeder Baum ist anders.
Grobe Rinde, feine Rinde, manchmal rötlich, manchmal milchig, faserig, man-
che mit solch großen Brettwurzeln, dass sie Kathedralen ähneln. Für die Buschne-
ger und Indianer aus meinem Feldteam hat jede Baumart ihren speziellen Nut-
zen: kopi, walaba und loksi für die Boote, pariudu für Stechpaddel, Zedernholz für
Holzschnitzarbeiten, Wacapou und Amaranth für Bogen, das bittere Holz der
kwasibita gegen Malaria, der bolletrie für balata, den Naturkautschuk – der auch
für Golfbälle genutzt wird –, und die Rinde des sabanaudu für die Tragriemen der
Körbe aus kamina-Lianen, in welchen wir unsere Lasten tragen. Auf dem Boden
liegen die Früchte und Samen von weiteren Bäumen: dem manbarklak, dem kwat-
tapatu, dem ingipipa (Indianerpfeife). Welche Früchte zu welchen Bäumen gehö-
ren, kann man nicht erkennen, denn die niedrigsten Zweige hängen in mindes-
tens 20 Meter Höhe, dort, wo die Krone beginnt: Darunter würden die Blätter ja
kein Licht abbekommen. Es gibt rund 80 000 Pflanzenarten im Regenwald des
Amazonas; manchmal mehr als 300 Baumarten auf einem einzigen Hektar.
Warum?
Zwischen den hohen weißen Stämmen steht niedriger Palmenbewuchs: die
bugrumaka mit ihren Stacheln und die maripa mit ihren unordentlichen Blättern
an trockenen Orten, die schlanke pina und die ingipina mit Fransenblättern und
auf kleinen Stelzwurzeln am Wasser – sie alle konstruiert, um die Blätter, welche
die hohen Bäume abwerfen, aufzufangen, bevor sie den Boden erreichen können.
Erfindungsreich, wie alles im Regenwald erfindungsreich und staunenswert ist:
Warum sollte man auch Nahrung auf dem Boden verrotten und wegspülen las-
sen, wenn man sie einfach aus der Luft fangen kann? Bäume sind schlaue Strate-
gen.
Lodewijk Agran findet eine Schildkröte. Es gibt solche mit gelben Schuppen
auf den Beinen und solche mit roten. Diese hier hat rote. Schnell schneidet er
190 DER LANGE ZYKLUS

zwei Zweige von einem Sämling und steckt sie in den Schild, einen längeren in
die Aussparung für Kopf und Vorderbeine, einen kürzeren in die Rückseite. Mit
einem Stück Liane bindet er die Zweige rechts und links vom Schild fest zusam-
men, und das Tier ist hilflos eingesperrt. Es kann Kopf und Beine nicht mehr aus
dem Schild strecken. Agran ergreift den längeren Zweig und trägt die Schild-
kröte wie eine Rassel zum Lager zurück. 14 Tage lang wird sie bewegungslos
ausharren müssen, bis der nächste Postflug sie mit Leidensgenossinnen in einem
Jutesack nach Paramaribo bringen wird. Eine der vier Frauen Agrans wird sie
dann seitlich aufschneiden und eine Suppe aus ihr machen.
Vorne auf dem Panzer der Schildkröte sitzen ein paar flache Knöpfe, einen
halben Zentimeter im Durchmesser. „Was ist das?“, frage ich Agran. „Kupari“,
antwortet er, Zecken, Schildkrötenzecken. Wenn die Schildkröte ihren Kopf
herausstreckt, springt die Zecke drauf und sucht sich eine Hautfalte, in der sie
sich vollsaugen kann. Das werden magere Wochen für die Zecken. Ich wusste
nicht, dass Schildkröten Zecken haben. Es gibt in Surinam mehr als 400 Arten
Reptilien und Amphibien. Haben die alle ihre eigene Zeckenart? Und
warum?
In einer Waldpapaya hängt ein Dreizehenfaultier; es hat einen ulkigen flachen
Kopf mit zwei weißen Tupfen über den Augen, und so scheint es, als hätte es vier
Augen: fo-ai loiri nennen es die Buschneger. Faultiere verbringen den größten Teil
ihres Lebens in den Baumkronen. Ihr Fell hat eine spezielle Struktur mit Längs-
furchen. In diesen Furchen wachsen drei Arten von Grünalgen, wodurch der Pelz
grün schimmert. Außerdem leben dort sechs Arten von Milben, drei Arten von
Käfern (ingesamt auf einem einzigen Faultier 978 Exemplare) und drei Arten von
Motten, von denen eine ihr ganzes Leben im Faultierfell zubringt. Die Larven
dieser Motte ernähren sich von den Grünalgen. Regelmäßig klettert das Faultier
hinab zum Fuß des Baumes, um dort an einem festen Platz seinen Kot abzuset-
zen. In diesem Moment fliegen die erwachsenen Weibchen einer anderen Mot-
tenart aus dem Fell zur Losung und legen dort ihre Eier ab. Die Larven leben in
dem Mist, und wenn sie die Metamorphose durchlaufen haben, fliegen sie auf
den Pelz des nächsten Faultiers, das in die Nähe kommt.
Die Anzahl der Nischen ist unwahrscheinlich groß. Und das Faultier ist nur
eines der mehr als 200 Säugetiere im Wald. Haben diese alle ihre spezifischen
Milben? Gibt es so viele Spezialisierungen im Wald? Das Faultier war nur ein
einziges Beispiel für den Artenreichtum und die unglaublich feine Verwobenheit
der Lebewesen im Wald, das der Biologe Rinus Hoogmoed in seinem Buch Tro-
pisch regenwoud, schatkamer van biodiversiteit [Tropischer Regenwald, Schatzkam-
mer der Biodiversität, d. Ü.] anführt. Er begleitete mich oft auf meinen geolo-
gischen Expeditionen auf der Suche nach Fröschen für die Froschkarte Suri-
nams. Woher stammt diese Diversität? Wie viel Zeit hat es die Natur gekostet, so
etwas Ausgeklügeltes hervorzubringen?
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 191

De Roever und ich haben eine ganze Menge Steine gesammelt, Gneise und Am-
phibolite, vor allem in den Stromschnellen im Fluss, denn dort ist das Gestein
gut sichtbar. Inzwischen haben Agran und seine Männer mit Pfeil und Bogen
rotäugige paku-Fische aus dem Wasser geschossen und durch Stochern mit lan-
gen Stöcken in einer Sandbank ein Leguannest gefunden, mit 150 Eiern darin.
Für das Essen heute Abend ist somit gesorgt. Wir fahren zurück zur Landungs-
stelle. Es ist halb sechs, Zeit für den Tukan. Und tatsächlich, da sitzt er, ganz
oben im Wipfel eines Baumes auf dem gegenüberliegenden Ufer. Twi tu-tu, twi
tu-tu. Auch er folgt seinem Tagesrhythmus. Hoch über uns fliegen drei rote
Raben (Aras) von ihrem Futterplatz zum Nest zurück. Die kennen wir auch
schon, sie kommen jeden Tag. Sie haben ihr Tagwerk ebenfalls hinter sich.
Die Vögel, die Brüllaffen, die Bäume, die Schildkröten und ihre Zecken, das
Faultier mit seinen Milben und Motten, die Leguane, der Paku, die Tukane, die
Raben, de Roever, Agran und ich: Wir alle gehorchen der astronomischen Uhr von
Tag und Nacht. Es ist, als würde der Wald wie ein Ganzes atmen, der Tag-Nacht-
Rhythmus des Waldes ist bis in die Kapillaren des Ökosystems zu verfolgen, vom
Brüllaffen bis zur Bakterie, so, wie der Atemzug die feinsten Verästelungen des
Lungensystems erreicht, das atmende laco de sangue von Leonardo da Vinci.

Wird das alles nur von außen gesteuert? Warten die Vögel passiv, bis sie die
Wärme der ersten Sonnenstrahlen spüren? Hätte ich weitergeschlafen, wenn die
Vögel und die Brüllaffen mich nicht geweckt hätten? Nein, denn auch wenn man
die Vögel im Dunkeln hält, tickt diese Uhr weiter. Nathaniel Kleitman und Bruce
Richardson verbrachten 1938 mehr als einen Monat in Mammoth Cave, Kentu-
cky, 400 Meter unter der Erde ohne den Wechsel von Hell und Dunkel, und
trotzdem konnte man an ihrer Körpertemperatur ablesen, dass es für sie weiter-
hin einen Tag- und Nachtrhythmus gab, auch wenn dieser etwas länger war als
24 Stunden. Zahllose Experimente zeigen, dass jedes Lebewesen eine innere Uhr
hat, die sich nur sehr schwer ausschalten lässt. Das soll auch so sein, denn sonst
würde die Organisation des Körpers durcheinandergeraten. Die innere biolo-
gische Uhr sorgt dafür, dass wir nicht ins Bett machen, wenn wir schlafen, das
wir am Tag essen möchten und nachts schlafen, dass die meisten Geburten und
Herzanfälle morgens früh stattfinden und dass zehn Uhr abends die beste Zeit
dafür ist, sich zu lieben. Und Zugvögel wissen genau, an welchem Tag sie losflie-
gen sollen, um für ihre Jungen am Zielort Nahrung zu finden. Das ist schlau.
Russell Foster und Leon Kreitzman schrieben darüber ein fesselndes Buch:
Rhythms of life. Darin zeigen sie, dass diese biologische Uhr genetisch eingebaut
ist: Es lassen sich bestimmte Gene bestimmen, die für die Zeitregulierung im
Körper zuständig sind – übrigens sind das nicht für jeden Organismus die glei-
chen Gene.
Dazu hat man viele ungewöhnliche Experimente durchgeführt. Dass man eine
Gruppe von Studenten während einiger Tage jede Stunde rektal ihre Körpertem-
192 DER LANGE ZYKLUS

peratur messen ließ, war noch eine der weniger problematischen. Kakerlaken in
völliger Dunkelheit in einer Tretmühle laufen zu lassen, um ihren Zyklus zu
studieren, ist auch noch nicht so ausgefallen. Dagegen ist die Hirnzellentrans-
plantation von Hamsterföten mit einem 22-Stunden- statt eines 24-Stunden-
Zyklus schon etwas ungewöhnlicher; das Ergebnis zeigte allerdings eindeutig,
dass die Uhr sich im Gehirn befindet. Und dass diese Uhr genetisch bedingt ist,
kann man anhand der zyklischen Variation des Gehaltes an einer spezifischen
Boten-RNS in den Hirnzellen von Fruchtfliegen nachweisen. Dazu muss man die
Fruchtfliegen jedoch zuerst in flüssigem Stickstoff einfrieren und danach durch-
sieben: Die Köpfchen passieren das Sieb, die kleinen Rümpfe bleiben übrig.
Beim Menschen ist das nicht erlaubt; auch möchten wir uns nicht 24 Stunden
hintereinander in einer Tretmühle abstrampeln oder uns die Augen ausstechen
lassen, um zu sehen, ob wir dann trotzdem noch Lichtsignale auffangen, wie
man es beim Spatz gemacht hat. Ob es also bei uns genauso funktioniert, wissen
wir nicht mit Sicherheit. Aber ich weiß wohl, dass diese Boten-RNS bei Frühauf-
stehern wie de Roever besser funktioniert als bei mir.

Woher stammt nun diese innere Uhr? Auch wenn man weiß, wie sie funktioniert,
weiß man damit noch nicht, wie wir zu ihr gekommen sind. Allein schon die
Tatsache, dass die innere Uhr von den primitivsten Bakterien bis hin zu den
komplexesten Lebensformen vorkommt, lässt vermuten, dass sie mit zu dem Äl-
testen gehört, das wir von der Evolution mitbekommen haben. Die allerersten
Bakterien, mit welchen das Leben vor 3,5 Milliarden Jahren begann, die Prokary-
onten, hatten noch keinen Zellkern, aber bereits eine innere Uhr. Das wissen wir,
weil solche Cyanobakterien noch immer leben, als Film auf dem Wasser in Seen
und als Stromatolithen, große knollige kalkige Matten im untiefen Küstenwas-
ser. Es ist eine befremdliche Vorstellung, dass Bakterien eine innere Uhr mit
einem 24-Stunden-Rhythmus haben, denn sie teilen sich innerhalb eines Tages
schon zwei- oder dreimal. Eine Mutterzelle jedoch stirbt nicht, wenn sie Tochter-
zellen produziert, sie ist die Tochterzellen, behaupten Foster und Kreitzman. Die
Gene selbst bestehen fort. So fanden taiwanesische Forscher in den Reisfeldern
Cyanobakterien, die tagsüber Fotosynthese betreiben und nachts Stickstoff bin-
den.
Das Vorhandensein einer inneren Uhr befähigt uns, besser Nahrung aufzu-
nehmen und Nachkommen zu produzieren und unsere eigene Zeitnische zu fin-
den, in der wir unseren ökologischen Konkurrenten überlegen sind. Im Regen-
wald sind 96 Prozent der Vögel tagsüber aktiv, 70 Prozent der Säugetiere nachts.
Schmetterlinge sind tagaktiv, Motten nachtaktiv. Tagsüber sieht man den
blauen, gelb geäderten Pfeilgiftfrosch Dendrobates tinctorius scheinbar achtlos
durch den Wald hüpfen, nachts dröhnt der schwere Bass des Riesenbaumfroschs
Hyla boans aus den Sandkuhlen im Bachbett, wo er seinen Laich ablegt. Der Man-
barklak blüht nachts mit großen, weißen, stark riechenden Blüten, um die Fle-
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 193

dermäuse anzulocken, auf dass sie ihren Blütenstaub zum nächsten Artgenossen
zehn Kilometer weiter transportieren. So sind die ökologischen Nischen nicht
nur im Raum, sondern auch in der Zeit verteilt. Paarungszeit! klingt es 24 Stun-
den täglich durch den Regenwald: permanentes Blöken, Quaken, Räuspern,
Seufzen und Trällern von immer wieder anderen Arten.
Auch in den verschiedenen Jahreszeiten sieht und hört man jeweils andere
Arten. Mag es auch im Regenwald keine Unterschiede zwischen Sommer und
Winter geben, was die Tageslänge und die Temperatur betrifft – dennoch haben
die meisten Organismen sehr wohl einen jahreszeitlichen Rhythmus. Die Legu-
ane legen ihre Eier ausschließlich in der Trockenzeit, wenn der Wasserstand in
den Flüssen niedrig ist und die Sandbänke auftauchen. Auch der Riesenbaum-
frosch möchte wenig Wasser in den Bachläufen, denn sonst kann er keine Kuh-
len in den Sand machen. Der Ipé wirft in der Trockenzeit sein Laub ab, sodass
Kolibris und Bienen leicht an seine strotzenden gelben, trompetenförmigen
Blüten herankommen können. Aus dem Flugzeug sieht man ihre leuchtend
gelben Kronen aus dem Grün des Waldes hervorstechen. Woher wissen Legu-
ane, Frösche und Ipés, dass es Zeit ist? Warten sie passiv ab, bis es trocken wird,
und produzieren dann Eier, Laich und Blüten? Das ist natürlich nicht möglich,
denn die Tragzeiten liegen fest, und sie alle müssen genau rechtzeitig befruchtet
werden. Also wird auch der Jahreszeitenrhythmus durch eine innere Uhr regu-
liert.
In den gemäßigten Breiten ist die Tageslänge der entscheidende Faktor. Schafe
warten mit dem Lammen, bis die Tage länger zu werden beginnen. Ihr jährlicher
Fruchtbarkeitszyklus ist darauf abgestimmt, und ihre innere biologische Uhr
gibt die Signale dazu. Ein britisches Entwicklungsprojekt hat einmal versucht,
Schafe im Páramo, der Hochgebirgstundra der kolumbianischen Anden, anzu-
siedeln. Aber das Experiment ging schief, denn die Schafe bekamen keine Läm-
mer, weil die Tage so dicht am Äquator immer gleich lang sind. Zugvögel sind da
flexibler: Die können ihre Uhren schnell oder langsam laufen lassen, je nachdem,
ob sie sich in den Tropen ohne Jahreszeiten aufhalten oder in den arktischen
Gebieten ohne Tag und Nacht. Vor allem tropische Organismen scheinen auf
ihre innere Uhr angewiesen zu sein. Das ist nichts Ungewöhnliches. Einige
Bäume blühen nur einmal in vier oder fünf Jahren, und manche Zikaden bringen
nur einmal in 13 oder gar 17 Jahren Nachkommen hervor.
Wie lange besteht dieses unglaublich komplexe Ökosystem schon? Wie ewig
singen die Wälder? Wir wollen, bevor wir uns dem Wald als Ganzem zuwenden,
erst einmal den Individuen unsere Aufmerksamkeit widmen. Denn nicht alle
Arten leben gleich lang. Ein Mensch lebt länger als eine Mücke. Max Kleiber fand
schon in den 1930er Jahren einen Zusammenhang zwischen der Länge einer Art
und ihrer Lebensdauer – heute würden wir sagen, zwischen der Biomasse und der
Lebensdauer. Das liegt daran, dass ein größeres Lebewesen pro Kilogramm Kör-
pergewicht weniger Energie verbraucht als ein kleineres.
194 DER LANGE ZYKLUS

100

Wal
10
Elefant

1
Biber
Fuchs
0,1 Maus
Chamäleon
Länge (m)

0,01
Fliege

-3
10 Stentor

-5
10
Euglena
-6
10

Bakterie Abb. 95:


-7
10 Generationendauer in
Stunde Tag Woche Monat Jahr 10 Jahre 100 Jahre Bezug zur Länge. Stentor
Generationendauer und Euglena sind einzellige
Organismen.

Es gibt einen noch frappierenderen Zusammenhang, insbesondere bei den Säu-


getieren: je größer die Art, desto niedriger der Puls. Eine Maus hat 600 Herz-
schläge pro Minute und lebt nur zwei Jahre. Eine Katzenherz schlägt 125-mal
pro Minute, und sie lebt durchschnittlich zehn Jahre. Eine Kuh hat einen Puls
von 70 bei einer Lebenserwartung von normalerweise zwanzig Jahren, ein Elefant
hat 30 Herzschläge pro Minute und lebt fünfzig Jahre, und das Herz eines Wales
schlägt nur 15 Mal pro Minute. Zusammengerechnet steht jedem Säugetier
in seinem Leben durchschnittlich dieselbe Anzahl, nämlich etwa anderthalb
Milliarden, an Herzschlägen zu – egal ob klein oder groß.
Offensichtlich sind wir alle Variationen desselben Themas Säugetier, dessen
Gesamtenergieverbrauch schon sehr früh von der Evolution festgelegt wurde.
Das Säugetier-Maß. Genauso ein fundamentales Element wie die Tatsache, dass
unser Mund vorne sitzt, weil wir uns gerne auf unser Futter zubewegen, und
unser Anus hinten, weil wir uns von unseren Exkrementen gerne entfernen, wie
Stephen Jay Gould schön plastisch feststellt. Kein Wunder, dass unser gene-
tisches Material sich nur so wenig von dem anderer Säugetiere unterscheidet.

Wie ist das bei den Pflanzen des Waldes? Wie alt sind diese Respekt einflößenden
Baumriesen? Bis vor Kurzem war nur sehr wenig bekannt über das Alter der
Bäume des Amazonas-Regenwaldes, wozu auch Surinam gehört. Das Problem
liegt darin, dass durch das Fehlen von Jahreszeiten oft keine oder kaum wahr-
nehmbare Jahresringe im Holz zu finden sind. Und wenn Ringe im Holz sind,
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 195

1400

1200

1000

Zeit (Jahre)
800

600

400

200

0
80 120 160 200 240
Baumdurchmesser (cm)

1400

1200

1000
Zeit (Jahre)

800

600

Abb. 96: 400

Oben: Absolutes Alter von 200


Bäumen unterschiedlicher
Dicke und Art. 0
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7
Unten: Die Wuchsgeschwin-
digkeit nimmt mit zuneh- Wuchsgeschwindigkeit (cm/Jahr) im langjährigen Mittel

mendem Alter ab.

dann handelt es sich nicht notwendigerweise um Jahresringe, denn manche


Bäume haben längere oder kürzere Zyklen oder stehen das ganze Jahr über
gleichzeitig voller Knospen, Blüten und Früchte.
Erst in jüngster Vergangenheit hat der Tropenökologe Jeffrey Chambers von
der Universität von Kalifornien in Santa Barbara mit einer direkten C-14-Datie-
rung großer Bäume im brasilianischen Amazonaswald begonnen. Die Ergebnisse
sind überraschend. Viele hohe Bäume sind Hunderte von Jahren alt, der älteste
sogar vierzehnhundert Jahre, viel älter, als man aufgrund der gemessenen Wuchs-
geschwindigkeiten geschätzt hatte – wenn auch diese Zahl nicht unumstritten
ist. Die datierten Ipés mit den schönen gelben Blüten sind dreihundert bis sie-
benhundert Jahre alt. Auf 40 Hektar Waldfläche findet sich im Schnitt ein Baum,
der älter als tausend Jahre ist, wie Chambers berechnete. Das Maß der Bäume ist
mindestens eine Größenordnung größer als dasjenige der Säugetiere, als das
menschliche Maß. Bis der Baum groß ist, ist der Pflanzer tot. Jeder Ipé hat Dut-
zende Generationen von Brüllaffen an seinen Ästen hängen sehen, Hunderte von
Mäusegenerationen an seinen Wurzeln nagen fühlen. Es gibt übrigens keinen
strikt linearen Zusammenhang zwischen dem Alter und dem Durchmesser eines
196 DER LANGE ZYKLUS

Baumes bei den einzelnen Arten; einige Exemplare haben sehr lange als Sämling
auf dem Boden warten müssen, bevor sie etwas Licht abbekamen und dann
schnell in die Kronenetage hinaufwachsen konnten. Solche lichten Stellen ent-
stehen vor allem durch den Sturz von Bäumen aufgrund von Alter oder Sturm.
Der Wald spielt eine wichtige Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf. Aus der
durchschnittlichen oberirdischen Biomasse von 330 Tonnen pro Hektar und
dem jährlichen Zuwachs von vier Tonnen pro Hektar lässt sich berechnen, dass
die mittlere Umlaufzeit von Kohlenstoff im Holz des Waldes etwa achtzig Jahre
beträgt. Möglicherweise nimmt sie sogar zu. Das würde bedeuten, dass der Wald
Kohlendioxid speichert. Darüber sind viele Länder erfreut, denn das spült Kyoto-
Geld in die Kassen. Aber die achtzig Jahre sind lediglich ein kalter chemischer
Wert. Bezieht man auch die Funktion der ältesten, vierzehnhundert Jahre alten
Bäume in das komplexe Netzwerk Wald mit ein, so muss man wohl den Schluss
ziehen, dass es mindestens vierzehnhundert Jahre dauert, bis alle Biomasse des
Waldes recycelt ist. Also dauert es auch vierzehnhundert Jahre, bis sich ein aus-
gewachsener tropischer Regenwald bildet.
Es gibt auch andere Methoden, dies zu bestimmen. Der kolumbianische Öko-
loge Juan Saldarriaga, später Direktor des kolumbianischen Tropenwaldpro-
gramms, untersuchte am Río Negro in Venezuela die Folgen des Wanderfeld-
baus. Er wollte herausfinden, wie lange es dauert, bis die chagras, die von Klein-
bauern bewirtschafteten Flächen, wieder zu einer dem Primärwald vergleichbaren
Biomasse regenerierten. Die älteste der Anbauflächen war vor achtzig Jahren ge-
rodet worden und noch immer nicht völlig wiederhergestellt. Saldarriaga zufolge
wären dafür mindestens zweihundert Jahre nötig. Zieht man aber das Alter der
Bäume Brasiliens in Betracht, so muss man da wohl noch ein paar Jahrhunderte
drauflegen.

Das Alter der Individuen und die Umsatzgeschwindigkeit der Biomasse sagen
noch nichts über das Alter des Ökosystems als Ganzes aus. Der älteste Baum ist
vierzehnhundert Jahre alt. Vierzehnhundert Jahre? Was kann in dieser Zeit nicht
alles passieren! Kleine Eiszeiten, Mittelalterliche Warmzeiten? Folgt man der
amerikanischen Archäologin Betty Meggers von der Smithsonian Institution –
sie war die Erste, die in den 1950er Jahren, zusammen mit ihrem Mann Clifford
Evans, die Archäologie Amazoniens kartierte –, so gab es im Amazonasgebiet vor
450, 700, 1000 und 1500 Jahren lang anhaltende Trockenperioden und enorme
Waldbrände, die mit den, wie sie es nennt, „mega-El-Niño events“ zusammen-
hingen. Aber bis heute ist die Beweislage hierfür sehr dürftig. El-Niño-Signale
sind zwar im Amazonaswald in Jahresringen gefunden worden, allerdings noch
keines älter als zweihundert Jahre. Vorläufig hat es den Anschein, als sei der Ama-
zonas-Regenwald über die Jahrhunderte und selbst Jahrtausende hinweg ziem-
lich stabil gewesen.
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 197

Und noch einen Schritt weiter auf der Zeitskala? Die Eiszeiten? Die übermütige
Schlussfolgerung von Louis Agassiz, das Amazonasgebiet sei vergletschert gewe-
sen, ist schon lange vom Tisch. Aber die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss
der Eiszeiten ist noch immer höchst aktuell.
Die Diskussion begann 1969, als der deutsche Geologe Jürgen Haffer in der
Science den Artikel „Speciation in Amazonian forest birds“ publizierte. Darin
legte er dar, dass es im Regenwald des Amazonas einige Gebiete mit sehr viel
mehr Vogelarten gibt als in anderen. Das erklärte er folgendermaßen: In der Eis-
zeit war das Klima sehr viel trockener, und der Regenwald war großenteils ver-
schwunden und von Savannen ersetzt worden. Nur an den Orten mit den höchs-
ten Niederschlägen hatte sich der Wald behaupten können: den sogenannten
Refugien. Die Pflanzen und Tiere in diesen Refugien waren so lange isoliert, dass
sich dort neue, an die spezifischen Bedingungen angepasste Arten zu entwickeln
begannen. So nahm die Anzahl der Arten zu. Nach der Eiszeit wurde es wieder
feuchter und die Refugien wuchsen zusammen, bis der Amazonaswald wieder-
hergestellt war. Doch die ehemaligen Refugien blieben erkennbar, denn sie waren
artenreicher als die späteren Zuwachszonen um sie herum. Bäume mit schweren
Samen wie die Paranuss (Bertholletia excelsa) konnten ihr Territorium nur lang-
sam erweitern und haben noch immer ein unregelmäßiges Verteilungsmuster im
Wald. Im Kielwasser von Haffer kamen Botaniker, Schmetterlingsspezialisten
und Herpetologen (Fachleute für Reptilien und Amphibien) zu ähnlichen
Schlussfolgerungen.
Eine faszinierende Theorie, aber nicht leicht zu erhärten. Mit Pflanzen geht es
noch einigermaßen; vor Kurzem hat die engagierte finnische Gruppe von Hanna
Tuomisto und Jukka Salo der Universität von Turku das Bild der ungleichmä-
ßigen Verteilung bestätigt; und das resultiert nicht nur aus Unterschieden in den
Bodenmerkmalen, sondern auch aus absoluten Unterschieden in puncto Viel-
falt. Aber bei Tieren gibt es ein gewaltiges Problem mit der Bestandsaufnahme.
Versuchen Sie mal, den Artenreichtum auf acht Millionen Quadratkilometern
Wald festzustellen!
Mit Rinus Hoogmoed von Naturalis habe ich mal Frösche gezählt in Surinam.
Am Corantijn, am Coeroeni, am Kabalebo, eben dort, wo mich die Geologie zu-
fällig hinführte. Aber wie zählt man Frösche? Man kann sich nicht irgendwo
niederlassen und warten, bis die Frösche vorbeikommen. Und es hat auch keinen
Sinn, im Wald ein Untersuchungsquadrat abzustecken. Dafür gibt es zu wenig
Frösche. Man muss laufen. Machete in der Hand, Kompass um den Hals und
Plastiktüte unter dem Gürtel für die Frösche. Die haben wenigstens den Vorteil,
dass sie quaken: Ein unbekanntes Quaken sorgt sogleich für Aufregung und ein
Abweichen von der geplanten Route. Zwei oder drei der 80 bekannten Arten fin-
det man an einem Tag, meistens gewöhnliche, eine einzige seltene, keine einzige
wirklich neue Art, höchstens unsichere Arten von ungenau beschriebenen Gat-
tungen. So legt man vielleicht zehn, zwölf Kilometer täglich zurück. Nachts hört
198 DER LANGE ZYKLUS

Refugium

0º 0º

Brasilien Brasilien

An

An
d

de
en

n
Haffer (1969, 1974) Vanzolini (1970)

0º 0º

Brasilien Brasilien
An

An
d

d
en

en
Prance (1973) Brown et al. (1974)

Abb. 97: Refugien von Vögeln, Eidechsen, Baumarten und Schmetterlingen.

man wieder ganz andere Geräusche. Da muss man natürlich hin, mit der Stirn-
lampe auf dem Kopf. Und gerade, wenn man den Frosch unter einem dichten
Strauch lokalisiert hat und einen vorsichtigen Schritt in seine Richtung macht,
hält er erschrocken das Maul. Dann sitzt man eine kleine Ewigkeit in der Hocke
und wartet. Krock! Noch ein Schritt. Sofort wieder Ruhe. Endgültig. Er hat den
Braten gerochen und sich still aus dem Staub gemacht. Nie werde ich erfahren,
welche Art das war. Dreifarbige Baumsteiger sitzen in einer kleinen Höhle dicht
unter der Erde. Selbst wenn man direkt neben ihnen steht, sieht man sie nicht.
Plötzlich höre ich einen Frosch wie ein Schiffshorn dröhnen. Das muss ein großer
sein. Der sitzt jedoch 30 Meter hoch in der Baumkrone, in dem Bereich des
Waldes mit der größten Vielfalt: Dort gibt es die meisten Blätter, Blüten, Lianen,
Bromelien, Orchideen und andere Epiphyten. Aber die Frösche, die dort sitzen,
erwischt man nicht. Frustriert starre ich hinauf in das dunkle Blätterdach. Der
Lichtstrahl meiner Stirnlampe trifft lediglich einen kleinen schlafenden Vogel.
Wie um alles in der Welt soll man da ein repräsentatives Bild bekommen? Legen
Sie eine solche Datensammlung einem Statistiker vor, und er lacht sich scheckig.
Wie will man aufzeigen, dass hier mehr Froscharten leben als dort? Oder Vögel?
Bei acht Millionen Quadratkilometern? Zu Fuß?! Er kriegt sich nicht mehr ein.
Aber es gibt noch andere Methoden, um die Refugientheorie zu testen. Blüten-
staubkörnchen von Pflanzen, die Pollen, sind sehr resistent; sie können Millio-
nen von Jahren erhalten bleiben in Ton, Torf oder Seeablagerungen, solange sie
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 199

nur nicht der Luft ausgesetzt werden. Torf hat den Vorteil, dass er sich zusätzlich
noch mit C-14 datieren lässt. Aus dem Bohrkern vom Boden eines Sees, in den
über Zehntausende von Jahren hinweg Pollen eingetragen wurden, kann man
ablesen, ob die Vegetation sich in all diesen Jahren verändert hat, ähnlich wie bei
den Foraminiferen der Tiefsee. Wenn das Klima in der Eiszeit trockener war,
müsste man mehr Savannenpollen in den Lagen jener Zeit finden. Thomas van
der Hammen, einer der ersten holländischen Amazonaspioniere, hat schon in
den 1950er Jahren im kolumbianischen Amazonasgebiet damit begonnen. Lei-
der sind solche Seen äußerst selten. Die meisten lieferten lediglich für einige Tau-
send Jahre Daten, nicht genug, um bis in die Eiszeit zu kommen, die bekanntlich
vor zehntausend Jahren endete. Aber van der Hammen und seine brasilianische
Kollegin Maria Lucia Absy haben nach jahrelanger Suche einen gefunden, und
zwar in der Serra dos Carajás in Brasilien: ein außergewöhnlicher Ort mit zahl-
reichen Felsgruppen, die zu einer der größten Eisenminen der Welt gehören. Die-
ser See weist tatsächlich mehr Savannen- als Regenwaldpollen für die letzte Eis-
zeit auf. Ein See, ein Datenpunkt auf acht Millionen Quadratkilometern – für sie
ist es ein Hinweis auf eine ice age aridity des Amazonasbeckens.
Doch es gibt einen Konkurrenten: Paul Colinvaux aus den USA. Der hat auch
einen See gefunden, genauso weit von van der Hammens See entfernt wie Paris
von Moskau. Einen Karstsee auf Karbonatit, einem ungewöhnlichen, sehr raren
Kalkstein, der aus Magma entstanden ist. Die brasilianische Regierung will dort
Niob gewinnen, ein seltenes Metall. Auch nicht gerade ein repräsentativer Ort. In
den eiszeitlichen Schichten des Sees von Colinvaux kommen keine Savannenpol-
len vor. Der Regenwald bleibt also bestehen, es wird allenfalls ein wenig kühler.
Er ist ein garstiger Gegner für jeden, der die Begriffe ice age aridity oder refuge
theory in den Mund zu nehmen wagt. Das traut sich auch niemand mehr, der
seine Artikel liest – er ist kein Musterbeispiel für sapienza. Doch van der Hammen
& Co. sagen: Kein Wunder, dass er nichts findet, er sitzt schließlich mitten in
einem Refugium.
Es gibt jedoch Hinweise, die Colinvaux recht geben. Vor der Mündung des
Amazonas liegt nämlich der sogenannte Amazon cone. Der Amazonas hat kein
Delta. Er strömt sehr schnell an seiner Mündung und ist schon ein ganzes Stück
auf hoher See, bevor er merkt, dass er das Festland verlassen hat. Erst dann lässt
er seine Sedimentfracht fallen, die weit vor der Küste kegelförmig abgesetzt wird.
Bohrkerne aus diesem Kegel belegen, dass der Amazonas in der Eiszeit kaum
mehr Savannenpollen transportiert hat als in der Gegenwart.
Auch von anderer Seite steht die Refugientheorie unter Druck, zumindest als
Mechanismus für die Artenbildung. Genetiker gehen davon aus, dass die Ge-
schwindigkeit, mit welcher Mutationen in Genen vonstatten gehen, in etwa
konstant ist. Arten, die sich erst vor kurzer Zeit verzweigt haben, besitzen noch
viele gemeinsame Gene. Je länger die Teilung zurückliegt, desto größer sind die
genetischen Unterschiede. Diesen Umstand kann man als eine Art molekulare
200 DER LANGE ZYKLUS

Uhr einsetzen. Obwohl diese Methode vielfach kritisiert wird, liefert sie oft sta-
bile Resultate. Die molekulare Uhr des Wakago und seiner Artgenossen erweist,
dass die Artenbildung dort vor 1,6 bis 9,5 Millionen Jahren aufgetreten ist. Die
Eidechsenarten auf obiger Karte haben sich schon vor 15 Millionen Jahren von-
einander verabschiedet. Und unser Faultier? Das ist sogar 50 Millionen Jahre alt.
Hätte Haffer recht gehabt, so hätte die Artenbildung vor einer oder höchstens
einigen wenigen Eiszeiten, also vor nicht mehr als ein paar Hunderttausend Jah-
ren, stattgefunden.

Der tropische Regenwald, dieser enorme Artenreichtum, diese feinmaschig ver-


zweigten Nahrungsketten sind also offenbar schon sehr alt; mindestens einige
Millionen Jahre. Seit Millionen von Jahren ist jeden Morgen „wákagó, wákagó“
am Ufer des Corantijn zu hören. Von rezenter Artenbildung scheint überhaupt
keine Rede zu sein. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Thomas van der Ham-
men und sein Kollege Henry Hooghiemstra die ganze Vegetationsentwicklung
der kolumbianischen Anden und des Amazonasgebiets für die letzten zwei Mil-
lionen Jahre aus fossilen Pollen haben rekonstruieren können, ohne auch nur ein
einziges Mal des Wort „Evolution“ erwähnen zu müssen. Alle alten Blütenstaub-
arten lassen sich aus heute noch lebenden Pflanzengattungen ableiten.
Und dies gilt nicht nur für den tropischen Regenwald. Die angehobenen Ko-
rallenterrassen von Curaçao, 125 000 Jahre alt, weisen genau dieselbe Artenzu-
sammensetzung auf wie die heutigen Riffe. Auch die Mollusken und die Fische
der tropischen Meere haben in der letzten Million Jahre keine neuen Arten aus-
gebildet. Selbst die Insekten nicht, die doch pro Zeiteinheit zehn- oder hundert-
mal so viele Generationen hervorbringen wie beispielsweise die Vögel. Kommt
das daher, dass offenbar die Temperaturabsenkung während der Eiszeit in den
Tropen weniger stark ausgeprägt war als in den gemäßigten Breiten?
Aber auch das stimmt nicht. Früher, vor dem Auftreten der großen Verglet-
scherungen, waren die heutigen gemäßigten Breiten selbst viel artenreicher. Zur
Zeit der Treibhauserde gab es noch Krokodile in Sibirien und Affenbrotbäume
auf Grönland. Aber die Eiskappen haben in jeder Eiszeit Pflanzen und Tiere
immer wieder bis zum Überdruß über die Alpen gejagt. Einige Arten, wie die
Bäume Liquidambar und Zelkova, hat das so sehr ermüdet, dass sie nicht mehr
zurückkamen, als es wärmer wurde; fossile Pollen belegen das. Sie kommen heute
nur noch in China und Amerika vor. So gesehen ist eine Eiszeit eine größere
Gefahr für die Biodiversität als eine Klimaerwärmung.
Wenn es je eine Periode in Europa gab, in der man Evolution durch natürliche
Selektion erwarten würde, dann sind das wohl die letzten zwei Millionen Jahre.
Dramatische Klimaveränderungen, Eiskappen, Meeresspiegelschwankungen,
Habitatstress, geografische Isolation: Anlass genug für Artenbildung. Wenn das
wirklich so funktioniert, müssten die gemäßigten Breiten eine größere Biodiver-
sität aufweisen als die Tropen. Aber nein, die Pflanzen und Tiere flüchten ledig-
WIE EWIG SINGEN DIE WÄLDER? 201

lich in alle Himmelsrichtungen, wenn es kalt wird, und kommen schnell wieder
zurück, sobald es ihnen möglich ist. Damit begann dieses Buch. Aber keine neuen
Arten. Im Gegenteil, bei uns hat in den letzten zwei Millionen Jahren, von einer
einzigen Ausnahme abgesehen, die Biodiversität abgenommen. Die europäische
Fauna und Flora ist noch ärmer als die nordamerikanische: Dort liegen die Berge
wenigstens in Nord-Süd-Richtung und stellen keine Schwelle dar, wenn die Ve-
getation kalte Füße bekommt. Aber auch bei ihnen ist nichts dazugekommen in
diesem Zeitraum. Unsere Biodiversität ist nur noch ein Bruchteil von derjenigen
des tropischen Regenwaldes. Wir haben zu viel mitgemacht.
14 Das Geheimnis des Stephen Jay Gould

„The history of any one part of the earth, like the life of a soldier, consists of long peri-
ods of boredom and short periods of terror.“
Derek Ager, The nature of the stratigraphic record

Wo ist Darwin? Warum sehen wir in den letzten zwei Millionen Jahren keinerlei
neue Arten entstehen in den üppigsten Ökosystemen, die der Globus kennt, dem
tropischen Regenwald und den Korallenriffen? Sogar seine eigenen Galapagos-
finken sind, folgt man den kanadischen Genetikern Freeland und Boag, vor einer
halben bis einer Million Jahren auseinandergegangen, während die Inseln selbst
nicht älter als vier Millionen Jahre sind. Oder findet Evolution nur in den feins-
ten Kapillaren des Ökosystems statt, in den Längsfurchen des Faultierfells? Dort,
wo die Genetiker noch nicht gesucht haben, wo Organismen wohnen, welche
keine datierbaren Spuren hinterlassen in Seeablagerungen, im Torf, in der Tief-
see oder im Eis?
Wir haben gesehen, dass Darwin und Lyell sich in der Wolle hatten, weil Letz-
terer nicht glauben wollte, dass neue Arten durch natürliche Selektion entstehen
können. Wir haben auch gesehen, dass Darwin nichtsdestoweniger ein echter
Lyellianer blieb, weil er der Meinung war, man brauche für die Evolution ledig-
lich viel Zeit, und nicht etwa Katastrophen, wie Cuvier behauptete. Aktualismus,
nicht Katastrophismus. Es ist angebracht, in dieser Diskussion nun die Bilanz zu
ziehen. Denn noch immer liegen beide Lager im Streit miteinander, wenn auch
in neuen Uniformen. Jetzt sind es die Genetiker und die Paläontologen, so Niles
Eldredge in seiner hübschen Insider-Story Reinventing Darwin. Es geht noch
immer um die Zeit als Fluss, die Zeit als Welle und die Zeit als Impuls. Nur haben
wir jetzt ein viel besseres Bild von den Zeitskalen, um die es geht. Und wir verste-
hen besser, dass eine Welle außerhalb ihres Kontextes wie ein Impuls aussehen
kann; oder ein ganz kleines Stück einer großen Welle wie ein Fluss. Was bedeuten
schließlich schon zwei Millionen Jahre, bezogen auf die dreieinhalb Milliarden,
seit denen das Leben besteht? Darwin hat Zeit.

Vor dreieinhalb Milliarden Jahren nimmt der Frühling seinen Anfang, und zwar
im Meer. Die Prokaryonten, einzellige Organismen ohne Zellkern, treten als
Erste in Erscheinung. Bakterien, Archaea. Sie müssen schon eine DNS gehabt
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 203

Abb. 98: Opabinia und Marrella, zwei flüchtige Lebensformen aus dem kambrischen Burgess
Shale.

haben, die Basis des Lebens. Und sie müssen auch schon eine innere Uhr gehabt
haben wie ihre Artgenossen der Gegenwart. Sie probieren alle möglichen Arten
von Nahrungsquellen aus: Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel, Sauerstoff – was
immer sie finden. Nur ein kleiner Teil von ihnen darf weiter in die nächste Klasse.
Die erfinden zwei Milliarden Jahre später den Zellkern und werden somit Euka-
ryonten. Und von diesen Eukaryonten entdeckt ein Einzelgänger wiederum eine
halbe Milliarde Jahre später, dass man mit mehreren Zellen pro Individuum
jeder Zelle unterschiedliche Aufgaben zuteilen kann; das ist der Anfang der Me-
tazoen, der mehrzelligen Organismen, der Pflanzen und Tiere. Mund und Augen
vorne, Anus hinten. Etwas für die Sauerstoffversorgung und die Verdauung da-
zwischen und eine kleine Pumpe, um die ganze Chose am Laufen zu halten. Und,
wenn’s geht, noch etwas, womit man sich fortbewegen kann – Flossen, Pfoten,
Flügel, irgendwas. Nur immer drauflos experimentiert. Man bekommt andert-
halb Milliarden Herzschläge zugeteilt, um etwas daraus zu machen. Und wie-
derum ein kleiner Teil dieser mehrzelligen Organismen entwickelt eine halbe
Milliarde Jahre später eine Lösung für den permanenten lästigen Kalknieder-
schlag auf der Haut in den übersättigten Ozeanen: Er baut sich eine Muschel
daraus, ein Skelett. Nun ist man auch noch besser geschützt. Jetzt sind wir am
Beginn des Kambriums vor 542 Millionen Jahren.
Das Kambrium ist auch wieder eine Art Frühling. Das Leben ist begeistert von
seinen neuen Entdeckungen. Die absonderlichsten Formen entstehen mit dem
neuen Baumaterial. Alles wird ausprobiert, oft mit nur kurzzeitigem Erfolg. Fünf
Augen? Kein Problem. Die Cambrian explosion. Lesen Sie Stephen Jay Goulds glän-
zendes Buch Wonderful life über die Funde im Burgess Shale in Kanada.
Kurz darauf folgt eine weitere Erfindung: das Leben auf dem Land. Pflanzen
und Tiere kriechen aus dem Wasser und bauen einen neuen Lebensstil auf. Letzt-
endlich den unseren.
Fünf Entwicklungen laufen parallel in dieser Geschichte. Fünf Pfeile der Zeit.
Erstens: Die Lebensformen werden immer komplexer. Zweitens: Die Anzahl der
Arten wächst mit jedem Schritt. Drittens: Die Gesamtmenge der Biomasse
wächst mit jedem Schritt. Viertens: Immer mehr ökologische Nischen werden
204 DER LANGE ZYKLUS

Vertebraten

Metazoen
Prokaryonten Eukaryonten

4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0


Abb. 99: Beschleunigung
Zeit (Milliarden Jahre i. d. Vergangenheit) im Auftreten verschiedener
Lebensformen auf Erden.

besetzt, die zuvor unzugänglich waren, weil die dafür notwendige Physiologie
noch nicht erfunden war. Fünftens: Das Zeitintervall zum nächsten Schritt wird
jedes Mal kürzer. Nie zuvor war die Anzahl der Arten so groß wie heute, trotz der
Tatsache, dass 95 Prozent aller jemals entstandenen Lebensformen inzwischen
wieder ausgestorben sind. Nie zuvor gab es so viel Biomasse auf der Erde wie
heute. Nie zuvor waren alle Ecken und Ritzen so voller Leben wie heute, von den
kleinsten Felsspalten einen Kilometer unter der Erdoberfläche bis hin zu den
Seen unter drei Kilometer dickem antarktischem Eis.

Ist das Progression? Stephen Jay Gould (Full house) verneint das. Er nennt es:
Zunahme der Variabilität. Er weist darauf hin, dass bei jedem Schritt vorwärts
eine ganze Menge Sitzenbleiber in der alten Klasse zurückbleiben und nicht
mehr mitmachen dürfen. Nur ein Bruchteil aller Individuen durfte einen evolu-
tionären Schritt tun. Die erfolgreichen sind allesamt Zufallstreffer, die gerade
Rückenwind hatten. Genauso gut hätten es andere sein können. Sie hätten ge-
nauso gut etwas anderes werden können. Das ist richtig, widerlegt aber nicht die
fünf Pfeile, die ich oben erwähnte.
Goulds Stellungnahme erwächst aus seiner Überzeugung, dass der Mensch
nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern auch ein Zufallstreffer, ein wunder-
barer Unfall, wie es Wim Kayzer in seiner unvergesslichen TV-Dokumentation
ausdrückte. Da stimme ich völlig zu, aber das ist noch kein Grund, die zuneh-
mende Komplexität der Biosphäre in Abrede zu stellen. Vielleicht sollten wir bei
den fünf Pfeilen das Wort „Progression“ vermeiden: Es könnte als Werturteil
interpretiert werden und das ist nicht beabsichtigt. Die amerikanischen Biolo-
gen Andrew Knoll und Richard Bambach folgen dem alten Whewell und verwen-
den lieber den Begriff „directionalism“. Ein fürchterliches Wort, aber sie treffen
den Nagel auf den Kopf, wenn sie sagen:
„The principal issue that confronts paleontologists who wish to evaluate such sweeping
evolutionary worldviews is that history of life is unique. How do we estimate the likeli-
hood of events that have occurred only once?“

Übrigens weisen die fünf Pfeile auch fünf wichtige Einschnitte auf; der gravie-
rendste an der Grenze von Perm zu Trias, der bekannteste an der Grenze von
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 205

800

700
Anzahl der Familien
600

500

400

300 Moderne
Paläozoische Faunen
200 Faunen nach dem
Kambrium
100

0
€ O S D C P Tr J K T
400 200 0
Zeit (Millionen Jahre)

Abb. 100: Diversität von marinen Faunen seit dem Kambrium.

Kreide zu Tertiär. Letzterer war, wie inzwischen allgemein angenommen wird,


die Folge eines großen Meteoriteneinschlags bei Chicxulub auf Yucatán in Me-
xiko, der das Aussterben der Dinosaurier und einer großen Anzahl anderer Orga-
nismen zur Folge hatte. Dadurch wurden viele Nischen frei, und Gruppen, die
bis dahin keine Chance auf Erfolg hatten, konnten sich nun rasch entwickeln,
darunter auch die Säugetiere. Wenn die Katastrophisten mit irgendetwas ge-
punktet haben, dann damit.
Die Ursachen der viel ernsteren permischen Krise sind noch unklar, aber auch
die werden eines Tages geklärt werden. Die große Frage jedoch ist – und darum
geht es in der Diskussion zwischen den Genetikern und den Paläontologen: Ist
Evolution ein zwangsläufiger Prozess, verursacht durch fortwährende Mutati-
onen, die innerhalb des Genmaterials stattfinden, wie die Genetiker meinen (die
Zeit als Fluss, als Pfeil), oder geschieht sie sprunghaft (die Zeit als Impuls) und
muss man die Ursachen außerhalb der Organismen suchen, wie es die Paläonto-
logen behaupten?
Kehren wir noch einmal kurz zurück zu Georges Cuvier, zu Lyell und zu Dar-
win. Alle drei dürfen etwas sagen; danach bin ich wieder dran. Cuvier beschreibt
sehr präzise alle Muscheln, Säugetierknochen und andere Faunenelemente, die
er bei seinem Schnitt durch das Pariser Becken fand, und kommt als Erster zu
dem Schluss, viele Arten seien ausgestorben und viele neue Arten seien hinzuge-
kommen, als habe es mehrere Schöpfungen gegeben. Nur findet er keine Binde-
glieder zwischen der einen und der anderen Art. Er ist von der Unveränderlich-
keit der Arten überzeugt und wird in dieser Ansicht bestärkt, als sein Kollege
Saint-Hilaire aus Ägypten mit fünftausend Jahre alten Tiermumien zurück-
kommt, die sich in nichts von ihren modernen Nachkommen unterscheiden.
Cuvier sagt nun:
206 DER LANGE ZYKLUS

„Hätten die Arten sich allmählich gewandelt, so müsste man Spuren dieser langsamen
Änderungen finden. Man müsste Zwischenformen finden zwischen dem Paläotherium
und den heutigen Arten, und das ist bis jetzt nicht geschehen. Warum hat das Innere
der Erde kein Andenken bewahrt an diesen seltsamen Stammbaum? Ist es nicht wahr-
scheinlich, dass die Katastrophe, die sie vernichtet hat, ihnen keine Zeit zur Verände-
rung ließ?“

Lyell antwortet darauf, dass es große Lücken im geologischen Geschichtsbuch


der Erde gibt, und wenn man auch keine Übergangsformen findet, so besagt das
noch nicht, dass sie nicht existieren. Er benutzt einen eleganten Vergleich mit
Herculaneum: als hätte er Armero vorausgeahnt.
„Suppose we had discovered two buried cities at the foot of Vesuvius, immediately su-
perimposed upon each other, with a great mass of tuff and lava intervening, just as
Portici and Resina, if now covered with ashes, would overlie Herculaneum. An anti-
quary might possibly be entitled to infer, from the inscriptions on public edifices, that
the inhabitants of the inferior and older town were Greeks, and those of the modern,
Italians. But he would reason very hastily, if he also concluded from these data, that
there had been a sudden change from the Greek to the Italian languages. Suppose he
afterwards found three buried cities, one above the other, the intermediate one being
Roman, while, as in his former example, the lowest was Greek and the uppermost Ita-
lian, he would then perceive the fallacy of his former opinion, and would begin to
suspect that the catastrophes, whereby the cities were inhumed, might have no relation
whatever to the fluctuations of the language of the inhabitants; and that, as the Roman
tongue had evidently intervened between the Greek and the Italian, so many other di-
alects may have been spoken in succession, and the passage from the Greek to the Ita-
lian may have been very gradual, some terms growing obsolete, while others were intro-
duced from time to time.“

Darwin, der verstockte Lyellianer, liefert im zehnten Kapitel von The origin of spe-
cies noch reihenweise andere einfallsreiche Begründungen dafür, warum selbst
die Abwesenheit von Bindegliedern innerhalb einer einzigen Gesteinsformation
kein Argument gegen eine langsame, kontinuierliche Evolution ist. Am besten
gefällt mir diese:
„We shall, perhaps, best perceive the improbability of our being enabled to connect
species by numerous, fine, intermediate fossil links by asking ourselves whether, for
instance, geologists at some future period will be able to prove that our different breeds
of cattle, sheep, horses and dogs are descended from a single stock or from several ab-
original stocks. (...) This could be effected by the future geologist only by his discover-
ing in a fossil state numerous intermediate gradations; and such success is improbable
in the highest degree.“
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 207

Mittlerweile sind wir hundertfünfzig Jahre weiter. Tausende von geologischen


Schnitten kilometerdicker Sedimentpakete sind Zentimeter für Zentimeter
durch Hunderte von Paläontologen nach Fossilien durchsucht worden. Es ist
nach wie vor ein Geschichtsbuch mit großen Lücken, aber wir wissen inzwischen
immerhin, wo wir suchen müssen, um eine mehr oder weniger kontinuierliche
Registrierung zu erhalten. In Ablagerungen der Tiefsee beispielsweise, wie wir
schon gesehen haben. Auch auf dem Festland findet man Schichtpakete, die ir-
gendwann einmal in der Tiefsee abgelagert wurden und später durch die Platten-
tektonik heraufgekommen sind. Wir kennen auch das absolute Alter der Schich-
ten über Millionen von Jahren hinweg viel präziser: durch Datierungen einge-
wehter vulkanischer Aschelagen oder radioaktiver Minerale wie Glaukonit, die
im Sediment entstehen; mithilfe der Umpolungen des erdmagnetischen Feldes;
durch Korrelation mit der Milanković-Zyklizität; und anderen Methoden. Wenn
es denn Lücken im Geschichtsbuch geben sollte, werden wir schon dahinter-
kommen.
Das Berufsgeheimnis der Paläontologen, wie Stephen Jay Gould es nennt, ist,
dass sich trotz der enormen Menge neuer Daten das Bild, welches Cuvier skiz-
zierte, noch immer nicht verändert hat. Noch immer erscheinen die meisten
Arten plötzlich, bleiben eine Zeitlang bestehen, um dann genauso plötzlich wie-
der zu verschwinden. Übergangsformen sind äußerst selten. Warum das ein Ge-
heimnis war? Weil jeder Paläontologe, der sagt, die Evolution ginge nicht allmäh-
lich vonstatten, wie Darwin es behauptete, das Risiko eingeht, beschimpft zu
werden: als Saltationist, als Katastrophist oder, am allerschlimmsten, als Kreati-
onist. Es wäre das Ende seiner Karriere. Niles Eldredge und Stephen Jay Gould
ließen 1972 die Hunde von der Kette.
„[We] wondered why evolutionary paleontologists have continued to seek, for over a
century and almost always in vain, the ‚insensibly graded series‘ that Darwin told us to
find. Biostratigraphers have known for years that morphological stability, particularly
in characters that allow us to recognize species-taxa level, is the rule, not the exception.
It is time for evolutionary theory to catch up with empirical paleontology, to confront
the phenomenon of evolutionary non-change, and to incorporate it into our theory,
rather than simply explain it away.“ (Eldredge und Gould, 1972)

Sie unterstellten, Evolution gehe nicht allmählich vonstatten, sondern als punc-
tuated equilibrium: als Gleichgewicht mit Impulsen. Kurze Perioden mit schneller
Evolution wechseln sich ab mit langen Perioden der Ruhe, stasis, in denen die neu
entwickelten Arten höchstens um einen Mittelwert fluktuieren, sich aber nicht
wirklich in eine bestimmte Richtung verändern. Genau wie Cuvier es annahm,
genau wie der Regenwald Surinams es vermuten lässt. Aufgrund von absoluten
Datierungen schätzen sie die mittlere Lebensdauer einer marinen Art auf fünf bis
zehn Millionen Jahre, die Dauer eines Evolutionsimpulses auf fünf- bis fünfzig-
tausend Jahre.
208 DER LANGE ZYKLUS

Eine wirklich neue Erkenntnis war das nun auch wieder nicht. Die gesamte
Einteilung der geologischen Zeitalter ist darauf aufgebaut, schon seit den Zeiten,
da John Phillips 1841 die Termini Paläozoikum, Mesozoikum, Känozoikum ein-
führte. Diese geologischen Hauptepochen (eras) endeten stets mit einem massen-
haften Aussterben, wie wir gesehen haben – am Ende von Perm beziehungsweise
Kreide. Über diese Katastrophen und ihren jeweils tief greifenden Einfluss auf die
Evolution des Lebens bestehen kaum Meinungsverschiedenheiten.
Die Zeitalter werden weiter unterteilt in Perioden: Das Paläozoikum umfasst
Kambrium, Ordovizium, Silur, Devon, Karbon und Perm; das Mesozoikum um-
fasst Trias, Jura und Kreide; das Känozoikum umfasst Paläogen, Neogen und
Quartär (siehe Anlage). Jede dieser Perioden dauert zwischen 20 und 80 Millio-
nen Jahre. In der Internationalen Kommission für Stratigrafie verabreden die
Geologen, wo genau die Grenzen zwischen den Perioden liegen. Dazu suchen sie
einen Abschnitt, vorzugsweise von ungestörten Meeresablagerungen, in dem das
plötzliche Erscheinen oder Verschwinden einer bestimmenden Art gut zu erken-
nen ist. Diese Art muss ein sogenanntes Leitfossil sein: eine Art, die überall auf
der Welt vorkommt, eine schnelle Evolution durchmacht und gut versteinert.
Die erste Forderung ist notwendig, damit man auch anderenorts auf dem Glo-
bus dieselbe Grenze erkennen kann; die zweite, weil sich langsam entwickelnde
Arten nicht die erforderliche zeitliche Präzision liefern können; die dritte, weil
wir ansonsten zu viel Mühe haben, die Fossilien wiederzufinden. Der berühmte
Quastenflosser, der Tiefseefisch, den man das „lebende Fossil“ nennt, ist ein
schlechtes Leitfossil: Er ist zu selten und entwickelt sich zu langsam fort. Der
Mensch taugt dazu auch nicht besonders: Wir versteinern zu schlecht.
Gute Leitfossilien für das Paläozoikum sind die Trilobiten und die Brachiopo-
den, für das Mesozoikum die Ammoniten. Wer nicht weiß, wie die aussehen,
braucht nur zum alternativen Heilsteinlädchen um die Ecke zu gehen. Da liegen
neben dem Tigerauge gegen Rheuma, dem Rauchquarz gegen Krebs und dem
Bergkristall gegen Herzinfarkt bestimmt auch ein paar der Länge nach durchge-
sägte Ammoniten aus Madagaskar und Trilobiten aus Bolivien – kleine als An-
hänger und große für den Kaminsims. Darüber hinaus haben beide Familien
noch lebende Verwandte: den Limulus (Pfeilschwanz) und den Nautilus. Die sehen
aus wie ein Trilobit beziehungsweise ein Ammonit vom Designer.
Den Übergang zwischen zwei Perioden in dem ausgewählten Abschnitt nennt
die Stratigrafiekommission golden spike.
Aber was bedeuten die plötzlichen Übergänge zwischen den Perioden? Sind
das auch Meteoriteneinschläge – aber dann kleinere? Das Problem wird nicht
geringer, wenn wir sehen, dass die Perioden ihrerseits unterteilt werden in Zeit-
abschnitte (epochs) und diese wiederum in Zeiten (ages). Die Zeiten dauern oft
nicht länger als eine bis fünf Millionen Jahre. Und für alle diese Zeiten werden
golden spikes festgelegt, gekennzeichnet durch plötzliche Veränderungen der ma-
rinen Fossilien. Und selbst damit ist es nicht genug. Ammoniten im Mesozoi-
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 209

1010 Asteroiden-
einschläge auf
109 Mond
Mars
108 Erde
Zeit zwischen zwei Einschlägen (Jahre)

107

106

105

104

103

100

10

1
10 100 1000 10 000
Meteoriten-Durchmesser (m)

Abb. 101: Frequenz-Magnitude-Diagramm von Meteoriteneinschlägen auf Mond, Mars und


Erde: je größer der Durchmesser, desto seltener.

kum durchlaufen eine so schnelle Fortentwicklung, dass man mit ihnen die geo-
logische Zeit noch feiner einteilen kann: Jede Ammonitenzone dauert lediglich
eine halbe bis eine Million Jahre. Alle fünfhunderttausend Jahre erfinden sie wie-
der einen neuen hydrodynamischen Trick für ihre Schale, wodurch sie noch ein
wenig schneller durchs Wasser gleiten als zuvor.
Was bedeutet das? Warum entwickeln sich die Ammoniten so schnell fort?
Und das geht nicht allmählich, sondern ruckartig – Gleichgewicht, lange Stasis,
und kurze evolutionäre Impulse. Sind das alles winzige Katastrophen, die neue
kleine Nischen eröffnen? Was für Katastrophen? Ebenfalls Meteoritenein-
schläge?
Mit Meteoriteneinschlägen ist es wie mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und
Überschwemmungen: je größer, desto seltener, eine fraktale Verteilung, von
welcher Per Bak begeistert wäre. Aber es sind nur die sehr großen Einschläge,
die globale Konsequenzen haben. Die kleineren – wie der von Meteor Crater in
Arizona vor 25 000 Jahren oder der von Tunguska 1908 – und die ganz kleinen,
die jährlich auftreten, haben nur lokale Auswirkungen; sie schlagen ein Loch in
den Boden oder in den Wald oder auch nur in ein Hausdach. Die Amerikaner
210 DER LANGE ZYKLUS

behalten mit ihren Satelliten die Meteoriten im Auge, die sich der Erde nähern,
und es hat sich erwiesen, dass die allermeisten in der Atmosphäre verglühen,
bevor sie die Erdoberfläche erreichen. Abgesehen davon ist es auch schwierig,
die Regelmäßigkeit der Artenbildung der Ammoniten auf diese Weise zu erklä-
ren.

Eine andere Option ist die Umkehrung des erdmagnetischen Feldes. Der Erd-
kern besteht aus Eisen und Nickel; seine äußere Schale ist flüssig und wirkt wie
ein Dynamo, der den magnetischen Charakter der Erde bestimmt. Heute zeigt
eine Kompassnadel nach Norden, aber in bestimmten Abschnitten der Erdge-
schichte kam es zu Umpolungen, wie wir schon gesehen haben. Vor 700 000 Jah-
ren fand die letzte statt, davor hätte eine Kompassnadel also nach Süden gezeigt.
Der Erdmagnetismus schützt die Erde vor dem Sonnenwind, einem Strom gela-
dener Teilchen, die kontinuierlich von der Sonne abgestrahlt werden. Während
einer Umpolung fällt der Schutz kurzfristig aus, was möglicherweise das irdische
Leben beeinflusst.
Meeresschildkröten, Aale, Zugvögel, Brieftauben und auch die Menschen ori-
entieren sich zum Teil mithilfe des erdmagnetischen Feldes. Wir haben winzig
kleine Teilchen eines magnetischen Eisenoxids namens Magnetit in unserem Ge-
hirn, die es dafür empfindlich machen. Falls das Magnetfeld sich umkehrt, kom-
men alle Zugvögel vom Kurs ab, die Meeresschildkröten finden ihre Legestrände
nicht mehr wieder und wir fangen eventuell an, wie die Briten auf der linken
Straßenseite zu fahren. Ammoniten waren Cephalopoden, Kopffüßler, und sie
trieben mit ihren großen, spiraligen, mit Luftkammern versehenen Kalkschalen
über alle Ozeane der Welt. Vielleicht wurden sie schwindelig von den Umpo-
lungen.
Die Umkehrungen des erdmagnetischen Feldes der letzten 200 Millionen
Jahre sind mittlerweile gut bekannt. Unter anderen ist die Gruppe um den Ut-
rechter Paläomagnetiker Frits Hilgen sehr versiert im Ablesen des irdischen
Strichcodes. Aber auch dieser Mechanismus hilft uns nicht weiter. In großen
Teilen der Kreide tritt keine Umpolung auf, sehr wohl aber eine rasche Evolution
der Ammoniten.
Wie wäre es dann mit Klimaveränderungen? Meeresspiegelschwankungen?
Das Mesozoikum ist allerdings gerade eine Periode großer klimatischer Stabili-
tät. Die Milanković-Zyklen hatten zwar Auswirkungen, aber diese waren deut-
lich subtiler als heute. Es gab keine Eiskappen auf den Polen, die anwachsen oder
abschmelzen konnten. Die Meeresspiegelschwankungen dritter Ordnung – wel-
che die ExxonMobil-Geologen Haq, Hardenbol und Vail in der Größenordnung
von einigen Millionen Jahren annehmen – sind nach wie vor äußerst umstritten
und auf jeden Fall von viel geringerer Amplitude als diejenigen der quartären
Eiszeiten, bei denen kaum Artenbildung auftrat. Es hat den Anschein, als trete
eine schnelle Artenbildung dann auf, wenn die Umwelt sich wenig verändert wie
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 211

Ammonitenzonen
Millionen Polarität Nordwest-
Jahre Periode Chron Tethys Europa

P. Parahoplites

Ga rga s ia n
melchioris nutfieldiensis

M"-1r"
U (ISEA) E. Epicheloniceras
subnodoso- martinoides
120 costatum

Aptian
Tropaeum
Dufrenoya furcata

Be doulia n
bowerbanki
Deshayesites Deshayesites
deshayesi deshayesi
L Deshayesites
weissi Desh. forbesi
Deshayesites Prodeshayesites
M0r oglanlensis fissicostatus
125 P. waagenoides P. bidentatum
Sim. stolleyi
C. sarasini Ancy. innexum/
M1 I. giraudi pingue
U Hemi. feraudianus Paracrioceras
denckmanni
Barremian Hemi. sartousi
A. vandenheckii Para. elegans
Coron. darsi H. fissicostatum
M3 K. compressissima
L Nick. pulchella Hoplocrioceras
Kotetish. nicklesi rarocinctum
130 Tavera. hugii auct.
S. variabilis
M5 Pseudothurman.
ohmi S. marginatus
U M6
M7
B. balearis S. gottschei
M8 Pleisiospitidiscus
ligatus S. speetonensis
Hauterivian M9
Subsaynella sayni S. inversum
M10 Lyticoceras
nodosoplicatum E. regale
L
135 M10N Crioceratites loryi
E. noricum
Acanthodiscus
radiatus E. amblygonium
M11
Criosarasinella paucinodum
furcillata
M11A Neocomites tuberculata
U peregrinus
Valanginian M12 Saynoceras Dicho. ivanovi
verrucosum through
M12A Busnardoites Para. robustum
L M13 campylotoxus (13 zones)
140 M14 Th. pertransiens
Th. otopeta Peregr. albidum
bois s ieri

M15
B e rr. occit anica Subt h.

Tirn.alpillensis Sur. stenomphalus


U Berr. picteti Surites icenii
M16 Malbo. para- Hectoro. kochi
mimounum
Dal. dalmasi Runctonia
Berriasian B. privasensis
runctoni
M17 S. subalpina
L Berriasella Subcraspedites
jac obi

grandis lamplughi
M18
145 Berr. jacobi Subcraspedites
preplicomphalus
M19 Durangites Sub. primitivus
Para. oppressus
Micracanthoceras T. anguiformis
Tithonian microcanthum Ga. kerberus
M20 M. ponti / Burck. Ga. okusensis
S. admirandum Gl. glaucolithus

Abb. 102: Einteilung der Unteren Kreide mit absoluten Lebenszeiten in Ma (Mega-annum,
Jahrmillion), Umkehrungen des erdmagnetischen Feldes (Strichcode) und Ammonitenzonen
(rechts). Die Evolution der Ammoniten schreitet voran, auch wenn keine Umpolung
stattfindet.

im Mesozoikum, aber nur in geringem Maße während turbulenter Perioden wie


dem Quartär.
Im Übrigen steckt ja auch ein merkwürdiges Paradox in den Anforderungen
an ein Leitfossil. Wenn Evolution vor allem nach einer Teilung der Population
212 DER LANGE ZYKLUS

durch geografische Isolation auftritt – wie ist es dann möglich, dass gerade sich
schnell fortentwickelnde Organismen wie die Ammoniten (und sie sind bei Wei-
tem nicht die Einzigen) so weltweit verbreitet sind? Oder weisen Mutationen eine
ebensolche fraktale Verteilung auf wie Erdbeben? Viele kleine, die wenig bewir-
ken, und ab und zu, einmal in einigen Millionen Jahren, eine große, welche essen-
zielle Veränderungen zuwege bringt?
Kurzum, Eldredge und Gould sind in derselben Situation wie damals Agassiz
mit seiner Eiszeit und Wegener mit seinen driftenden Kontinenten: Sie haben
eine plausible Theorie entwickelt, können aber keinen Mechanismus bedenken,
der erklären würde, wie es funktioniert. Punctuated equilibrium scheint ein stich-
haltiges Konzept zu sein, aber warum die plötzlichen Evolutionsimpulse auftre-
ten, bleibt im Dunkeln. In ihren Publikationen gehen sie darauf auch nicht ein.
Und doch ist die scheinbare generatio spontanea der Arten auch die Erklärung für
die stetige Zunahme von Biodiversität und Biomasse auf Erden.

Einer der Gründe, warum die Paläontologen ihr großes Geheimnis so gut be-
wahrten, bis Eldredge und Gould es ausplauderten, war, dass Darwins Modell
der langsamen, allmählichen Evolution mittlerweile neue Mitstreiter gefunden
hatte, nämlich die Genetiker. Die entdeckten in den 1960er Jahren Folgendes:
Je länger die Trennung der Arten zurücklag, desto stärker unterschieden sich
ihre Aminosäuren in den Eiweißen. Sie erklärten dies mit der Annahme, dass
in den Genen, die für die Eiweiße codieren, Mutationen mit einer konstanten
Geschwindigkeit stattfinden. Viele dieser Mutationen haben keinen feststell-
baren Einfluss auf die Eigenschaften der Organismen und würden ohne eine
genetische Untersuchung nicht bemerkt werden. Ist eine Mutation nachteilig
für eine Art, so werden die Träger derselben durch den Prozess der natürlichen
Selektion automatisch eliminiert. Ist dagegen die Mutation vorteilhaft, so wer-
den ihre Träger durch die natürliche Selektion begünstigt, und nach einer geo-
grafischen Isolation kann eine neue Art entstehen. Folgt man den Genetikern,
so sind also überhaupt keine Katastrophen oder sonstige punctuated events von
außen notwendig. Kennt man die Geschwindigkeit der Mutationen, so kann
man errechnen, wie lange der Zeitpunkt der Teilung zweier Arten mit densel-
ben Eiweißen zurückliegt. Das ähnelt ein wenig der radiometrischen Kohlen-
stoff-14-Uhr, mit der sich das Alter organischen Materials bestimmen lässt.
Nur hat die molekulare Methode den Vorteil, dass in jedem Organismus Zehn-
tausende von Eiweißen enthalten sind, die alle als Uhren dienen können – wenn
sie auch nicht immer im gleichen Takt zu ticken scheinen. Auf diese Art lässt
sich ein Stammbaum der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den ein-
zelnen Arten erstellen.
Der Liebling der Genetiker ist Drosophila melanogaster, die Fruchtfliege. Die
bringt alle zehn bis zwölf Tage eine neue Generation hervor, das geht schön
schnell im Labor. „Time flies like an arrow, fruit flies like a banana“, sagte schon
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 213

Dorsilopha s.g.
Hirtodrosophila s.g.
Drosophila s.g.
Zaprionus s.g.
Sophophora s.g.
Chymomyza
Scaptodrosophila
Ceratitis

100 80 60 40 20 0
Zeit (Millionen Jahre i. d. Vergangenheit)

Abb. 103: Stammbaum der Drosophila.

Graucho Marx. Der Stammbaum der Fruchtfliege offenbart, dass die Familie sich
schon vor 55 Millionen Jahren von ihren nächsten Verwandten abgespalten hat.
Auf dieselbe Weise kann man darlegen, dass sich die verschiedenen Ordnungen
der Säugetiere vor 70 Millionen Jahren voneinander getrennt haben, die mono-
cotylen von den dicotylen Pflanzen vor 125 Millionen Jahren, die Bedecktsamer
(blühende Pflanzen) von den Nacktsamern (Nadelbäumen) vor 220 Millionen
Jahren, die Säugetiere von den Amphibien vor 350 Millionen Jahren, die Vierbei-
ner von den Fischen vor 400 Millionen Jahren und die Wirbeltiere von den Wir-
bellosen vor 600 Millionen Jahren, in der Cambrian explosion. Explosion? Oder
eine Mutation, die ein Zufallstreffer war?
Wunderbare Zahlen für die Paläontologen; es gibt nur ein kleines Problem: All

600
Paläontologische Zeit (Millionen Jahre)

400

500

300

200

Abb. 104: Korrelation 100


des molekularen Alters
bedeutender Verzweigungen
mit dem konventionellen 0
geologischen Alter auf der 0 100 200 300 400 500 600
Basis von Fossilien und Molekulare Zeit (Millionen Jahre)
absoluten Datierungen.
214 DER LANGE ZYKLUS

Millionen
Quartär Jahre
Schimpanse 5,5 ± 0,2 (5)
Gorilla 6,7 ± 1,3 (6)
10
Orang-Utan 8,2 ± 0,8 (6)
Gibbon 14,6 ± 2,8 (4)
20 Bovinae/Caprinae 19,6 ± 1,8 (16)

Känozoikum
Carvoidea/Bovoidea 22,8 ± 4,7 (3)
30 Cercopithecidae 23,3 ± 1,2 (56)
Tertiär
40 Maus/Ratte 40,7 ± 0,9 (343)
Feliformia/Caniformia 46,2 ± 5,7 (10)
50 Platyrrhini 47,6 ± 8,9 (9)
Suidae/Cetacea 48,2 ± 22,3 (3)
60 Suidae/Ruminiantia 64,7 ± 2,6 (47)
Muridae/Cricetidae 65,8 ± 2,2 (52)
70 Gerbilidae/Muridae 65,8 ± 2,2 (52)
Carnivora/Perissodactyla 74,0 ± 5,7 (11)
80 Cetartiodactyla/Carn. + Perris. 83,0 ± 4,0 (46)
Scandentia 85,9 ± 11,5 (3)
90 Lagomorpha 90,8 ± 2,0 (119)
Ferungulata 92,0 ± 1,3 (333)
100
Kreide Paenungulata 105 ± 6,6 (4)
110 Hystricognathi 109 ± 3,2 (52)
Mesozoikum

Sciurogniathi 112 ± 3,5 (120)


Galiformes/Anseriformes 112 ± 11,7 (5)
120

130 Edentata 129 ± 18,5 (3)

140

150 Maßstab verändert


Jura Maruspialia 173 ± 12,3 (10)
200 Neobatrachia/Archeobatrachia 197 ± 43,2 (6)

Trias Aves/Crocodylia 222 ± 52,5 (4)


250
Perm
Lepidosauria 276 ± 54,4 (5)
300 Aves 310 (Calibration)
Karbon
350 Lissamphibia 360 ± 14,7 (107)
Paläozoikum

Devon
400
Silur

450 Actinopterygii 450 ± 35,5 (44)


Ordovizium

500
Kambrium Condrichthyes 528 ± 56,4 (15)
550 Agnatha 564 ± 74,6 (13)
Proterozoikum

Abb. 105: Die Zeitskala der Genetiker. Verzweigungen bedeutender Tierarten in geologischer
Zeit in Millionen Jahren seit der Verzweigung Affe / Mensch. In Klammern die Anzahl der
Gene, auf denen das Alter basiert. Man beachte, dass hier ausschließlich heute noch lebende
Organismen verzeichnet sind, in der nächsten Abbildung hingegen ausschließlich Fossilien.

diese Zahlen basieren auf genetischen Forschungen an heute lebenden Organis-


men. Sie haben keinerlei Möglichkeit, anhand ihrer Fossilien die Richtigkeit die-
ser Zahlen zu belegen. DNS und Eiweiße zersetzen sich sehr schnell, sobald ein
Organismus stirbt, und es ist noch nicht gelungen, unzersetzte DNS von mehr
als einigen Tausend Jahren zu finden. Viele Paläontologen halten die Zahlen der
Genetiker für viel zu hoch. Und sie haben bis jetzt auch keine Methode gefun-
DAS GEHEIMNIS DES STEPHEN JAY GOULD 215

Millionen
Quartär Jahre

1,6 Neptunea
Neogen (Schnecke)
Känozoikum

23
Arctica
Aporrhais
Paläogen (Muschel)
(Schnecke)
(Haifischzahn)
65
Tyrannosaurus Euhoplites
(Ammonit)
Micraster
Kreide (Seeigel)

Pinna (Muschel)
142
Ichthyosaurier
Mesozoikum

Dactylioceras
(Meeresreptil)
(Ammonit)
Jura Cylindroteuthis Gryphaea
(Belemnit)
(Muschel)

205
Ceratodus
Cladicites
Trias (Fischzahn)
(Ammonit)

248
Schizodus
Perm
(Muschel)
290
Gastrioceras
Alethopteris
(Goniatit)
(Baumfarn)
Karbon
Spirifer
(Brachiopode)

354
Paläozoikum

Devon Osteolepis (Fisch)


Phillipsastrea (Koralle) Cheirurus
(Trilobit)
417
Encrinurus
Silur
(Trilobit)
443
Ogygia
Didymograptus
Ordovizium (Trilobit) Trinucleus (Graptolith)
(Trilobit)
495
Agnostus Lingula
Kambrium (Trilobit) (Brachiopode)

545

Proterozoikum

Abb. 106: Die geologische Zeitskala der Paläontologen.

den, an den Fossilien zu erkennen, ob das Entstehen dieser neuen Arten zufäl-
ligen Mutationen in den Genen der Organismen selbst zu verdanken ist oder ob
es eine Respons auf externe Impulse ist. Fluss oder Impuls? Die Antwort steht
noch aus.
Darüber hinaus gibt es Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung des
216 DER LANGE ZYKLUS

Begriffs Art. Der renommierte amerikanische Biologe Edward O. Wilson defi-


niert Art wie folgt: „a species is a population whose members are able to inter-
breed freely under natural conditions“. Aber ein Paläontologe, der Fossilien un-
tersucht, kann nicht testen, ob seine Variante sich fortpflanzen konnte oder
nicht. Er hat nur die äußere Form und manchmal chemische Merkmale, um
seine Arten zu charakterisieren. Und für den Genetiker ist nicht die Art die
Grundeinheit des Lebens, sondern das Gen. Richard Dawkins’ selfish gene ist der
kleine Tyrann. Darüber hinaus kann der Genetiker Aussagen treffen zur Evolu-
tion von Organismen, die so gut wie nie versteinern, wie Quallen und Bakterien.
Das ist sein Vorteil gegenüber dem Paläontologen, allerdings hat er ein anderes
Problem: 95 Prozent der Organismen, die in der geologischen Zeit je gelebt
haben, sind bereits ausgestorben. Von diesen wird er niemals genetisches Mate-
rial bekommen; dafür braucht er wiederum den Paläontologen. Biologen, Palä-
ontologen und Genetiker werden wohl gemeinsam eine Lösung finden müssen.
Geht Evolution wirklich so langsam voran? Brauchte Darwin deshalb so viel
geologische Zeit? Mindestens Millionen oder Dutzende von Millionen Jahren,
wie wir es beobachten bei den Ammoniten der Kreide, den Vögeln des Amazonas-
waldes, dem Surinamer Faultier, den Korallen von Curaçao, den Fruchtfliegen
der Genetiker? Nicht immer. Viren werden sehr schnell resistent gegen die Impf-
stoffe, die zu ihrer Bekämpfung hergestellt werden. Auch das ist Evolution. Und
in einigen Einzelfällen geht es ebenfalls schnell, wie bei den berühmten 500 cich-
liden-Arten, den kleinen Fischen im Victoriasee, die Tijs Goldschmidt so herrlich
beschrieben hat in Darwins hofvijver [Darwins Schlossweiher]. Aber auch hier ist
man sich noch nicht darüber einig, wie schnell: Die erste Geologengeneration
sagte 750 000 Jahre, die zweite Geologengeneration sagte 14 000 Jahre und die
Molekularbiologen sprechen jetzt wieder von 100 000 Jahren.
Doch das erstaunlichste Beispiel von schneller Evolution sind wir selbst.
Fruchtfliegen, die 30 Generationen in einem Jahr hervorbringen können, sind als
Familie mehr als 50 Millionen Jahre alt; aber unsere eigene Art, Homo sapiens, die
eine einzige Generation hervorbringt in der Zeit von 6000 Fruchtfliegengenera-
tionen – die gibt es erst seit 150 000 Jahren.
15 Das Jahr 10 000

„Man is but an insignificant incident in an indifferent nature.“


Simon Bydeley

Der Nobelpreisträger Paul Crutzen behauptet, wir lebten im Anthropozän*, der


Periode seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in welcher der menschliche Einfluss
auf das irdische Geschehen sichtbar wird. Aber wir leben auch im Holozän, dem
geologischen Zeitabschnitt, der vor zehntausend Jahren, am Ende der letzten
Eiszeit, begann: zu Beginn des Frühlings vom Anfang dieses Buches. Und wir
leben im Quartär, das vor zwei Millionen Jahren begann und sich von den voran-
gegangenen Zeitabschnitten unterscheidet durch kältere Klimate und das Auf-
treten von Eiszeiten. Und wir leben im Känozoikum, dem Zeitabschnitt, in wel-
chem die Säugetiere sich prächtig entwickelten, nachdem vor 65 Millionen Jah-
ren die Dinosaurier ausstarben. Und wir leben im Phanerozoikum – den letzten
540 Millionen Jahren, den letzten 20 Prozent der Erdgeschichte –, das begann, als
Organismen in den Weltmeeren das Kalkskelett erfanden. Wir leben auf der
Erde, die vor viereinhalb Milliarden Jahren entstand, zehn Milliarden Jahre nach
dem Urknall. Das alles ist unsere Zeit. In dreizehn Milliarden Jahren ist es wieder
vorbei.
„We can handle a span of about 250 years, from the birth of our grandparents to the
future death of our grandchildren. Ten million years is 40 000 times as long, way be-
yond our comprehension. As for billions of years, it is a conceptual impossibility.“

Foster und Kreitzman, Rhythms of life, 2004.

Wie kommt es nur, dass zwei Spezialisten in puncto innere biologische Uhr –
und beileibe nicht nur sie allein – so hilflos sind, wenn es um die Zeit auf längere
Sicht geht?
Die eine Ursache ist der fehlende Blick auf die eigene Situation. Das gab’s zu
allen Zeiten. Cuvier, Hutton, Lyell, Agassiz, Leopardi, Darwin – sie alle waren sich
nicht der Tatsache bewusst, dass sie sich gerade im tiefsten Tal der Kleinen Eis-
zeit befanden. Für sie war es normal, dass die Gletscher der Berge sich talwärts

* Russische Geologen verwenden seit 1919 den Terminus Anthropogen für das gesamte
Quartär.
218 DER LANGE ZYKLUS

ausbreiteten, dass die Winter immer kälter wurden. Sie schenkten dem keine be-
sondere Beachtung. Zarathustra wäre möglicherweise nicht so erfolgreich gewe-
sen mit seiner Sekte der Feueranbeter in Baku, hätte er nicht gerade in der vor-
letzten kleinen Eiszeit gelebt, im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Auch
sein Zeitgenosse Herodot erkannte dies nicht.
Haben wir denn heute Einsicht in unsere eigene Situation? Es deutet nicht viel
darauf hin. In der Kreide enthielt die Atmosphäre 20-mal so viel CO2 wie heute.
Durch die Klimaerwärmung am Ende der letzten Eiszeit vor zehntausend Jahren
stieg der Meeresspiegel 20-mal so schnell an, und die Vegetationsgrenzen ver-
schoben sich dreimal so schnell in Richtung Norden wie in der Gegenwart. Wir
leben in einem Zeitalter relativer klimatologischer Stabilität; und doch herrscht
allüberall Panik, als bedeutete die aktuelle Klimaerwärmung das Ende der
Zeiten.

Dafür ist die zweite Ursache unseres mangelnden Vermögens, in längeren


Zeiträumen zu denken, verantwortlich: die fehlende Einsicht in unser kollektives
Gedächtnis. Früher war das noch verzeihlich; schließlich konnte niemand wis-
sen, inwiefern er den Chroniken des Fray Pedro Simón, den Erzählungen des
alten Häuptlings der Klamath-Indianer oder denen des Opas von Giacomo Leo-
pardi Glauben schenken konnte. Aber inzwischen taugt diese Entschuldigung
nicht mehr, denn mittlerweile haben wir uns ein eigenes kollektives Gedächtnis
aus Klima, Eruptionen, Erdbeben, Sturmfluten und Flusshochwassern zugelegt –
weltweit zugänglich via Internet, wenn auch noch nicht über eine einzige Web-
site (aber www.usgs.gov ist nicht weit davon weg). Die Daten sind noch ziemlich
lückenhaft und haben ein gravierendes Handicap: Die meisten echten Mes-
sungen mit Wetterstationen, Pegeln und Abflussmessern haben gerade erst be-
gonnen – jawohl, genau auf dem Tiefpunkt der Kleinen Eiszeit, seit etwa 1830.
Kein Wunder, dass alle Trends nach oben zu weisen scheinen; wir haben schlicht
und einfach noch keine absoluten Messungen von einem auch nur winzig klei-
nen Klimazyklus. Alle Daten vor diesem Zeitpunkt sind proxy-Daten – indirekte
Messungen aus Eiskappen, Tiefseebohrungen, Jahresringen, Ascheschichten,
verschobenen Bruchlinien, Getreidepreisen, historischen Informationen, alten
Karten der Entdeckungsreisenden – mit allen dazugehörigen Interpretations-
problemen. Aber es ist das kollektive Gedächtnis von uns allen und jedermann
kann sich jederzeit informieren. Auch Foster und Kreitzman.
Darüber hinaus hat die Anzahl der Messungen enorm zugenommen, seit wir
die Erde als Ganzes vom Weltraum aus untersuchen können. Erst jetzt können
wir mit der Laseraltimetrie die Verschiebung der Kontinente messen: ein bis zehn
Zentimeter pro Jahr, so schnell wie Fingernägel wachsen. Erst jetzt können wir
mithilfe von Topex-Poseidon- und Jason-Satelliten alle zehn Tage die Meeres-
spiegelveränderungen überall in den Ozeanen auf den Zentimeter genau verfol-
gen. Erst jetzt können wir mit der Radarinterferometrie Vulkane anschwellen
DAS JAHR 10 000 219

sehen, bevor sie ausbrechen, und mit spektrometrischen Techniken die Verände-
rungen in den ausgestoßenen Gasen bestimmen, die eine bevorstehende Erup-
tion ankündigen. Erst jetzt können wir mithilfe einer sinnreichen Bojenanord-
nung im Stillen Ozean einen neuen El Niño heraufziehen sehen, bevor er da ist.
Erst jetzt können wir unsere großmaßstäblichen Modelle der globalen atmo-
sphärischen Zirkulation mit den täglichen Bildern der Wolkenformationen jus-
tieren, die wir aus dem Weltraum erhalten. Erst jetzt können wir magnetische
Anomalien aufspüren, die offenbar einem Erdbeben vorausgehen.
All diese neuen Techniken stecken noch in den Kinderschuhen, die Zeitreihen
decken bisher nur wenige Jahre ab, und wir brennen darauf, aus ihnen nun defi-
nitive Trends abzulesen und Vorhersagen zu machen, wo in Peking der nächste
Schmetterling fliegt, der wann in Nebraska den nächsten Wirbelsturm verursa-
chen wird. Auch hier gilt: Aus einem kollektiven Gedächtnis, das über Daten von
nur zehn Jahren verfügt, lassen sich langjährige Trends nicht destillieren. Aber es
wächst und jeder hat Zugriff darauf. Dank dieses elektronischen Gedächtnisses
können wir nun auch besser vorausschauen.
Was wir in zehntausend Jahren sehen werden, hängt ab von der Art des Phäno-
mens, das wir untersuchen: Fluss, Impuls oder Welle. Prozesse, die mit konstan-
ter Geschwindigkeit ablaufen – die Zeit als Fluss –, sind am einfachsten vorher-
zusagen. Die radioaktiven Elemente in der Erde zerfallen mit gleichbleibendem
Tempo zu nichtradioaktiven, und die Erde verliert so ganz allmählich ihre in-
terne Wärmequelle. Plattentektonik, Vulkanismus, Gasausstoß in die Atmo-
sphäre: All dies wird mit der Zeit langsamer vonstatten gehen und schließlich
zum Stillstand kommen. Aber erst in fünf Milliarden Jahren wird die Hälfte des
heute noch vorhandenen Uran-238 in der Erdkruste zerfallen sein, also werden
wir davon in einer Zeitskala von zehntausend Jahren nichts bemerken. Ändern
können wir daran ohnehin nichts.
Ein zweiter Zeitstrom ist die langsame Verzögerung der Erdrotation. Die Ge-
zeiten, sowohl diejenigen des Wassers als auch diejenigen des Festlandes, sorgen
für Reibung und machen dadurch die Tage immer länger. Im Devon dauerte ein
Tag noch 22 Stunden, und ein Jahr hatte 400 Tage. Aber innerhalb unseres Zeit-
rahmens von zehntausend Jahren bekommen wir auch hiervon nichts mit und
können genauso wenig etwas daran ändern.
Die molekulare Uhr – die Anzahl der Mutationen pro Zeiteinheit in den Genen
der Organismen – scheint ebenfalls gleichmäßig zu ticken. Das ist interessant,
denn angesichts der Tatsache, dass die Anzahl der Arten im Laufe der geolo-
gischen Zeit trotz aller Aussterbe-Katastrophen stets zugenommen hat, müsste
die Anzahl der Mutationen in allen Arten zusammen ebenfalls zunehmen. Auf
der Zeitskala der geologischen Geschichte scheint das auch so zu sein. Dies
würde bedeuten, dass statistisch gesehen die Chance auf Bildung einer neuen Art
kontinuierlich wächst. Die Stadtmäuse von Chicago verändern sich bereits so
schnell, dass sie ihren Vorgängern von vor hundert Jahren genetisch nicht mehr
220 DER LANGE ZYKLUS

sehr ähnlich sind. Doch solange wir nicht einmal annähernd wissen, in welcher
Größenordnung die Artenanzahl auf der Erde anzusiedeln ist – manche meinen
zehn Millionen, andere hundert Millionen –, werden neue Evolutionsmodelle
zwischen all den neu entdeckten, aber schon lange bestehenden Arten kaum auf-
fallen. Und solange wir die Gesamtzahl der Arten nicht kennen, können wir auch
nicht sagen, ob die Zahl der sich neu bildenden Arten diejenige der aussterbenden
Arten nach wie vor übertrifft – wie das während des größten Abschnitts der geo-
logischen Geschichte der Fall war – oder ob diese Bilanz inzwischen negativ aus-
fällt. The origin of species in zehntausend Jahren? Wir wissen es nicht.

Plötzliche Impulse scheinen samt und sonders einer fraktalen Verteilung in der
Frequenz-Magnitude-Grafik zu gehorchen; je heftiger, desto seltener. Das gilt
für Erdbeben, Vulkanausbrüche, Sturmfluten, Überschwemmungen, Erdrutsche,
Meteoriteneinschläge, Sandhaufenlawinen und viele andere Naturereignisse. All
diese Prozesse verlaufen nicht-linear. Eine Spannung baut sich auf, überschreitet
einen bestimmten Schwellenwert und kommt dann schlagartig zur Entladung.
Wo und wann diese Entladung stattfindet, ist in hohem Maße abhängig von
minimalen Unterschieden in den Ausgangsbedingungen. Das ist kennzeichnend
für chaotische Systeme. Obwohl die zugrunde liegenden Prozesse sehr wohl li-
near ablaufen können – wie die Plattentektonik und die Tages- und Jahres-
schwankungen des auf die Erdoberfläche einfallenden Sonnenlichts –, ist der
schlussendliche Effekt unvorhersehbar. Diese Art von Katastrophen lassen uns
die Unzulänglichkeiten unseres kollektiven Gedächtnisses, selbst des elektro-
nischen, besonders schmerzhaft spüren. Das größtmögliche Unheil hat den
Menschen im Verlauf der fünftausend Jahre, in denen er seine Geschichte auf-
schreibt, noch nicht ereilt.
Können wir die fraktale Frequenz-Magnitude-Relation auch für die Zukunft
anwenden? Für einige Prozesse schon. Wir wissen, dass innerhalb von zehntau-
send Jahren ein Vulkanausbruch stattfinden kann, gewaltiger als irgendeiner
in historischer Zeit. Nur kennen wir weder Zeit noch Ort. Wir wissen, dass die
Erdkruste in den fünftausend Jahren der Menschheitsgeschichte längst nicht
alles gezeigt hat, was sie an Erdbeben-Magnituden zu bieten hat. Wir wissen,
dass alle uns bekannten Meteoriteneinschläge unbedeutend sind im Vergleich
zu dem, was in der Vergangenheit geschehen ist. Die fraktale Frequenz-Magni-
tude-Relation, die für all diese Impulse gilt, lässt keinen anderen Schluss zu.
Die Vergangenheit hat uns gelehrt, in die Zukunft zu sehen. The past is the key to
the future.
Die Plattentektonik verlief allerdings nicht immer mit derselben Geschwin-
digkeit: In der Kreide ging die Spreizung des Ozeanbodens fünfmal schneller
vonstatten als heute. Folglich war der Vulkanismus viel intensiver, und dasselbe
darf man auch für die Erdbebentätigkeit annehmen. Der Neigungswinkel der
Geraden in den Frequenz-Magnitude-Grafiken wird daher in der Kreide ein an-
DAS JAHR 10 000 221

derer gewesen sein. Im Zeitrahmen von zehntausend Jahren jedoch sind solche
Unterschiede nicht feststellbar.
Anders sieht es bei den Sturmfluten und den Flussüberschwemmungen aus.
Diese Impulse sind abhängig von der Wellenbewegung des Klimas, und ihre Fre-
quenz-Magnitude-Linie darf man nicht ohne Weiteres in die Zukunft verlängern.
In der Eiszeit gibt es keine Sturmfluten in Holland, denn dann ist die Nordsee
trocken. Verwildernde Eiszeitflüsse haben ein ganz anderes Überschwemmungs-
regime als die mäandernden Flüsse der Gegenwart. Extrapolationen über zehn-
tausend Jahre hinweg, wie sie sich nun in den Dimensionen von Deichen mani-
festieren, haben daher außerhalb des Kontextes der großmaßstäblichen Klima-
veränderungen wenig Sinn.

Wie sollten wir mit den plötzlichen Impulsen der Natur umgehen? Mit Wach-
samkeit und Symptombekämpfung. Satellitenbeobachtungen und Computer-
modelle berichten uns, wo in der Erdkruste Spannungen zunehmen und wie
kräftig die Tiefdruckgebiete über der Nordsee ausfallen werden. Thermosen-
soren in vulkanischen Tälern warnen uns vor dem Auftreten warmer Schlamm-
lawinen. Tsunami-Frühwarnsysteme können Menschenleben retten.
Mindestens genauso wichtig sind Wissen und Wachsamkeit in der Bevölke-
rung; Kenntnis der eigenen Situation und des kollektiven Gedächtnisses. Die
costa-ricanische Zeitung La Nación schrieb nach dem Erdbeben vom 22. April
1991 in Limón:
„Es herrscht eine Epidemie von Angst und Unsicherheit im Land. Die Menschen sind
erregt, werden böse um Nichtigkeiten und brechen unvermittelt in Tränen aus. Das
Erdbeben hat sie ihrer Sicherheiten beraubt. Gegen diese Epidemie gibt es einen Impf-
stoff: das Verstehen der Ursachen des Erdbebens und die Gewöhnung an Begriffe wie
Epizentrum, Bruch oder tektonische Platte.“

Der Italiener Manlio Galimi berichtete in der Zeitung La Repubblica, er und 700
andere hätten den Tsunami vom 26. Dezember 2004 überlebt, weil der österrei-
chische Manager seines thailändischen Hotels früher einmal Meteorologie stu-
diert, daher die Anzeichen der herannahenden Flutwelle erkannt und seine Gäste
rechtzeitig evakuiert habe. Die zehnjährige Tilly Smith rettete etwa 100 Menschen
vor demselben Tsunami, weil der Lehrer ihrer Schule in Surrey einmal einen Film
über die Verheerungen des Tsunami von Hawaii 1960 vorgeführt hatte. Sie er-
kannte die Signale und brachte die Leute dazu, den Strand zu verlassen. Die Film-
vorführung des Ausbruchs vom Nevado del Ruiz 1985 erleichterte die Evakuie-
rung der Bevölkerung vor der Pinatubo-Eruption im Jahr 1991. Die Bürgermeister
von Willemstad und Ooltgensplaat hatten im Widerstand des Zweiten Weltkriegs
schon früher Katastrophensituationen kennengelernt und wussten daher, wie sie
bei der Sturmflut des 1. Februar 1953 zu handeln hatten. Das Wissen um die Ge-
schichte und die Funktionsweise der Erde macht Schläfer und Träumer zu Wäch-
222 DER LANGE ZYKLUS

tern. Ein wenig Bildung kann Wunder wirken. Dennoch bleiben wir auf die Be-
kämpfung der Symptome angewiesen. Die Ursachen der Katastrophen können wir
nicht beeinflussen. „Stop continental drift“ ist ein Witz.

Die astronomisch gesteuerten zyklischen Prozesse auf Erden – die Zeit als Welle –
sind stabil, wie wir gesehen haben. Ebbe und Flut, Tag und Nacht, die Jahres-
zeiten: Sie sind bei allen Lebewesen in den tiefsten Tiefen ihrer Gene verankert.
Aber auch die Signale der Variationen größeren Maßstabs sind stabil: die Son-
nenfleckenzyklen, die Kleine Eiszeit, die Mittelalterliche Warmzeit, die von den
Milanković-Zyklen gesteuerten großen Eiszeiten und Interglaziale – überall fin-
den wir ihre Spuren in den Archiven der Erde: in der Tiefsee, in den Eiskappen,
in Seeablagerungen, Jahresringen, Korallen. Trotz der nicht-linearen Effekte, die
sie hervorrufen können, trotz der individuellen Impulse, die aus ihnen entste-
hen, wie Sturmfluten und Flussüberschwemmungen. Punctuated cyclicity, Wellen
mit Impulsen, könnte man das nennen, mit einem Augenzwinkern in Richtung
Eldredge und Gould. Die Stabilität beruhigt. Sie bedeutet, dass wir zahlreiche
Zeitwellen in die Zukunft extrapolieren können.
Jedoch auf ganz andere Weise als bei den Impulsen der Zeit. Nicht: ein großes
Erdbeben, ein großer Ausbruch einmal in zehntausend Jahren, sondern: eine
Trendwende einmal in zehntausend Jahren. Nicht ein und dasselbe Phänomen
schlägt immer wieder zu, sondern es verkehrt sich gerade in sein Gegenteil: Er-
wärmung schlägt um in Abkühlung, der steigende Meeresspiegel beginnt auf
einmal zu sinken, der abschmelzende Gletscher breitet sich plötzlich wieder aus,
der mäandernde Fluss beginnt unvermittelt zu verwildern, das Magnetfeld der
Erde polt sich schlagartig um. Es gibt keinen fraktalen Zusammenhang, denn jede
Zeitwelle hat ihre eigene Ursache und ihre eigene Zyklizität. Eine kombinierte
Kurve, welche aus der Integration all dieser einzelnen Zyklen zustande kommt,
kann erst dann richtig extrapoliert werden, wenn man all diese einzelnen Kom-
ponenten kennt. Solange das noch nicht der Fall ist, lässt sich nicht präzise fest-
stellen, wann die nächste Trendwende eintreten wird. Damit umzugehen ist viel
schwieriger. Eine Trendwende verlangt einen Denkrichtungswechsel, der einige
Ähnlichkeit zur Umkehr des Erdmagnetfeldes aufweist. Wie mühsam das ist,
sehen wir an der Diskussion über die gegenwärtige Klimaerwärmung.

Impuls oder Welle? Sitzen wir auf der Spitze des Hockeyschlägers von Mann,
startklar, um blitzschnell auf einen apokalyptischen Siedepunkt hinaufgeschos-
sen zu werden, oder stecken wir lediglich in einem Nachfolger der Mittelalter-
lichen Warmzeit in den Zyklen von McIntyre und McKitrick, und bald geht es
wieder abwärts? Das beschäftigt nicht nur die Klimatologen, sondern auch weite
Kreise der Öffentlichkeit. Hierzu zwei Anmerkungen.
Zum einen ist es erstaunlich, dass niemand die Frage stellt: Wie lange kann der
Impuls, die Welle maximal dauern? Ab wann geht’s wieder abwärts? Wann tritt
DAS JAHR 10 000 223

die Trendwende ein? Es hat den Anschein, als wolle so gut wie niemand einen
Blick um die Ecke werfen, als schwelge jeder in dem selbst zugefügten Leid mit
der Bezeichnung „global warming“ – ein Leid, das für viele überhaupt keins ist.
Die Studie von Klaus Hasselmann ist die erste, die die Frage nach dem Zustand
des Klimas in dreitausend Jahren stellt, wenn alle fossilen Brennstoffe aufge-
braucht sein werden – ohne allerdings die natürlichen Zyklen zu berücksichti-
gen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass wiederum jedermann von der
nächsten Trendwende überrascht werden wird, wie im Fall des Kaspischen Mee-
res. Ich muss immer wieder an das Liedchen denken, das mein Vater oft sang:
„The bear went over the mountain
The bear went over the mountain
The bear went over the mountain
To see what he could see.
And all that he could see
And all that he could see
Was the other side of the mountain
Was the other side of the mountain
The other side of the mountain
Was all that he could see.“

Zum zweiten: Macht es eigentlich irgendeinen Unterschied für unsere Reaktion


auf die Klimaerwärmung, ob es sich hierbei um einen Impuls oder eine Welle
handelt? Ja, so sagen viele; wenn es sich um einen Impuls handelt, sind wir daran
schuld, aber wenn es sich um eine Welle handelt, gibt es vielleicht eine natürliche
Ursache. Wenn es jedoch unsere Schuld ist, dann müssen wir es auch wieder in
Ordnung bringen.
Letzteres scheint mir nicht selbstverständlich zu sein. Einverstanden: Wer auf
den Tisch kleckert, muss den Fleck wegputzen, und nach dem Essen werden die
Teller gespült. Der Verschmutzer zahlt. Bis zu Rachel Carsons Silent spring haben
wir Luft, Wasser und Boden verschmutzt, ohne allzu viel darüber nachzudenken.
Heute räumen wir auf, wenn es auch – man lese hierzu The skeptical environmental-
ist von Bjørn Lomborg – preiswertere Methoden gibt, Menschenleben zu retten.
Wir haben auch ohne große Bedenken Torf, Steinkohle, Öl und Gas aus der Erde
geholt und verheizt. Es ist, unter anderem durch Isotopenanalyse, bewiesen, dass
dies die Ursache der erhöhten CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist. Auch
ich bin der Meinung, dass man mit endlichen Ressourcen sparsam umgehen und
so wenig Abfall wie möglich produzieren sollte. Aber ein Eingriff in den Kohlen-
stoffhaushalt der Erde ist etwas anderes, als ein bisschen öligen Sand unter einer
Tankstelle zu entfernen. Der Zauberlehrling hat den Korken aus der Kohlensäu-
reflasche gezogen, aber man sollte es ihm nun nicht auch noch überlassen, das
Gas wieder in die Flasche hineinzubefördern. Sein Zaubermittel wäre wahr-
scheinlich schlimmer als das Übel. Und auf jeden Fall teurer. Überlassen wir das
224 DER LANGE ZYKLUS

lieber der Natur. Die hat das schon einmal gemacht. Wir können uns auf die
Kompensation nachteiliger Folgen beschränken, dort, wo es nötig ist: Symptom-
bekämpfung, genau wie bei den Impulsen.

Hierzu habe ich eine Testfrage, die ich anderen gerne vorlege. Angenommen, nur
so als Gedankenexperiment, das Intergovernmental Panel on Climate Change
(IPCC) wäre zu dem Schluss gekommen, der gegenwärtige CO2-Anstieg in der
Atmosphäre habe eine natürliche Ursache. Die Vulkane wären in den letzten
fünfzig Jahren so viel aktiver gewesen, dass dadurch der Treibhauseffekt stark
zugenommen habe. Was würden Sie dann tun? Würden Sie eingreifen? Ich sehe
hier zwei mögliche Antworten: diejenige des Naturfreundes und diejenige des
Gärtners.
Der Naturfreund sagt: Nein, ich würde nicht eingreifen, es ist ein natürliches
Phänomen und die Natur muss ihren Gang gehen. Wir möchten, dass unsere
Flüsse wieder Raum bekommen, wir möchten überall Wildwuchs, natürliche Ha-
bitate, eine ökologische Hauptstruktur [A. d. Ü.: 1989 beschloss die niederlän-
dische Regierung einen Naturschutzplan, der die Schaffung einer sogenannten
„ecologische hoofdstructuur“ vorsah, ein System aus miteinander verbundenen
Feucht- und Trockengebieten, in dem Flora und Fauna überleben können] mit
Autobahnen für die Eichhörnchen, damit sie von der Veluwe zur Achterhoek
kommen und wieder zurück. Wir durchstechen die Deiche, wo es möglich ist, um
die Salzwasserökosysteme wiederzubekommen. Und warum sollte das Klima
nicht auch ungehindert variieren dürfen? Der Naturfreund sieht den Menschen
als der Natur untergeordnet an und ist bereit, sich an sie anzupassen, was immer
sie auch tun mag.
Der Gärtner sagt: Ja, ich würde eingreifen. Der Klimawandel ist eine Bedro-
hung für den Menschen, sei seine Ursache nun natürlicher Art oder unser Ver-
schulden. Wir sind die Herren und Meister der Natur, sie hat uns zu dienen. Wir
möchten, dass das Klima so bleibt, wie es ist. Das Meer muss bleiben, wo es ist,
Flora und Fauna und Ackerland müssen bleiben, wo sie sind. Dies ist mein Gar-
ten und ich will selbst bestimmen, wo meine Steingärten hinkommen, wo meine
Teiche mit meinen Fröschen und meinen Wasserpflanzen liegen und wo ich
meine Schubkarre parke. Mein Garten ist die Erde und ich gärtnere in planeta-
rischem Maßstab. Klimawandel? Kommt nicht in Frage. Kostet nur Geld.
Aber das IPCC hat gesagt, der Mensch sei schuld, nicht die Natur, und plötz-
lich ist alles anders. Ihre tatsächliche Motivation spielt keine Rolle mehr: Der
Gärtner kann sich nun hinter der Tatsache verstecken, dass er seinen selbst fab-
rizierten Saustall aufräumen muss. Er ist schuldig, also muss er büßen. Das passt
zu seiner calvinistischen Einstellung, und insgeheim ist er froh, dass er sein Gärt-
chen so beibehalten darf, wie er es will. Schlau, wer dagegen einen Einwand fin-
det. Der Naturfreund bekommt einen Rüffel, dass er ein Verschmutzer ist, der
nicht bezahlen will; und er versteht nicht, warum das Klima sich sehr wohl än-
DAS JAHR 10 000 225

dern darf, wenn die Ursache eine natürliche, nicht aber, wenn der Mensch dafür
verantwortlich ist.
Die Leser dieses Buches wissen, dass der Gärtner keine Chance hat. Er denkt
nur im Rahmen des menschlichen Maßes. Sie wissen, dass das kleine Klimama-
ximümchen von heute, über das sich jeder aufregt, nur eine Kräuselung in den
großen Zyklen von Milanković und den Sonnenflecken ist. Punctuated cyclicity,
oder vielleicht sogar nicht einmal punctuated. Der Gärtner wird sich anpassen
müssen. Denn wenn der Meeresspiegel sinkt und die Rhododendren in seinem
Garten erfrieren, hat er keine andere Wahl mehr.
Eine menschliche Aktivität gibt es allerdings, bei der man sehr wohl die nächs-
ten Eiszeiten berücksichtigt: die unterirdische Lagerung von radioaktivem Ab-
fall. Das ist auch notwendig, denn es kann bis zu fünfzigtausend Jahre dauern,
bevor dieser auf die Umgebungstemperatur abgekühlt ist. So untersuchten die
Wageninger Geologen Jan Jaap van Dijke und Tom Veldkamp, ob eine zukünf-
tige Eiskappe oder eiszeitliche Flüsse einem Atommülllager in einem Salzstock
Schaden zufügen könnten (Antwort: Es kommt drauf an). Auch für die Lagerung
radioaktiven Abfalls im Yucca Mountain im amerikanischen Bundesstaat Ne-
vada wurden die Auswirkungen einer Eiszeit untersucht. Yucca Mountain ist ein
zwölf Millionen Jahre alter rhyolithischer Vulkan von den Dimensionen des
Tobasees oder der Yellowstone-Caldera, umgeben von kleinen, jüngeren basal-
tischen Vulkanen. Der Atommüll muss dort zehntausend Jahre lang ungestört
und isoliert gelagert bleiben können. Die Chance, dass in diesen zehntausend
Jahren ein Vulkanausbruch stattfindet, liegt bei eins zu siebentausend. Die
Chance auf eine Eiszeit beträgt natürlich 100 Prozent, aber ihr Einfluss auf die
Grundwasserströme in diesem Wüstengebiet wurde als nicht erheblich einge-
schätzt. Joshua Abbey von der Non-Profit-Organisation Desert Space Founda-
tion organisierte 2002 ein Preisausschreiben im Eureka County Court House für
das beste universelle Warnzeichen auf Yucca Mountain, das auch in zehntausend
Jahren noch verstanden werden würde. Eine Option: Don’t dig here.
Na also: Wir können sehr wohl weit vorausdenken, wenn nur der politische
Wille vorhanden ist, länger zu planen als bis zur nächsten Wahl oder bis zur
nächsten Generation. Wenn Nachhaltigkeit so betrachtet wird, unter Einbezie-
hung der Zeitskalen, in denen natürliche Prozesse ablaufen, spiele ich mit. Dann
ist Nachhaltigkeit mehr als die nachhaltig zerrüttete Ehe zwischen Mensch und
Natur.

Von einer noch größeren Distanz aus betrachtet, messe ich die Zeit als Fluss,
Welle oder Impuls in diesem Buch auch nur mit dem menschlichen Maß. Für die
Fruchtfliege, die alle zwölf Tage eine neue Generation hervorbringt, ist der Früh-
ling ein Fluss. Zeit ihres Lebens sieht sie die Temperatur ausschließlich steigen,
und erst ihre fernen Nachkommen werden entdecken, dass es auch einen Herbst
gibt. Dies ist dieselbe Perspektive wie die unsere gegenüber den Eiszeiten. Und in
226 DER LANGE ZYKLUS

den vier Milliarden Jahren der Erdgeschichte stellt die gesamte Menschheit ledig-
lich einen unbedeutenden Impuls dar.
Aber der Mensch fügt der Erde doch irreparable Schäden zu! Oder etwa nicht?
Angenommen, der Mensch stirbt, wie durch eine Neutronenbombe, vom einen
Tag auf den anderen aus. Niemand spült mehr das Geschirr, niemand gräbt
mehr den Garten um, niemand zupft mehr das Gras aus den Gehwegfugen, nie-
mand pflügt mehr den Acker, niemand durchforstet mehr den Wald, niemand
kratzt mehr die Flundern vom Meeresboden. Wie lange würde es dauern, bis alle
Spuren menschlicher Existenz ausgelöscht wären? Vierzig Jahre haben ausge-
reicht, um aus dem Niemandsland entlang des Eisernen Vorhangs ein reiches
Naturgebiet zu machen; achtzig Jahre dauert der Kohlenstoffkreislauf im Regen-
wald: Mir scheinen ein paar Jahrhunderte auszureichen. Und aus jedem katastro-
phischen Aussterben ist die Erde üppiger und artenreicher hervorgegangen, als
sie je zuvor war. Wir leben noch nicht lange genug, um ihre wahre Elastizität zu
überschauen. Chassez la nature, elle revient au galop.

Wir sind wie die Fliege im Flugzeug. Wir fliegen unsere eckigen Runden um die
Lampen, schnüffeln an den aufgewärmten Mahlzeiten der Passagiere und ruhen
uns aus auf einer Glatze, einem behaarten Arm oder einer Babynase. Das ist un-
sere ganze Welt. Aber wir sehen nicht, wie sich das Flugzeug selbst, unsere Welt,
mit atemberaubender Geschwindigkeit auf Ziele zu bewegt, die das Vorstellungs-
vermögen sogar der schlauesten Fliegen unter uns übersteigen. Das Flugzeug
landet, die Tür öffnet sich. Die Gangway dockt an. Die Fliege fliegt hinaus ...

Du bist irgendwo am Fuße eines Berges im Wüstenhochland im Südwesten der


USA; vielleicht am Yucca Mountain. Du schaust nach oben. Eine flache Treppe
ist in den Fels gehauen. Jede Stufe repräsentiert einen geologischen Zeitraum
von zehntausend Jahren. Wenn du hundert Stufen, eine Million Jahre in die Zu-
kunft, erstiegen hast, bekommst du Ehrfurcht vor der Großartigkeit der geolo-
gischen Zeit.
Du erreichst die Gipfelfläche und siehst vor dir eine Höhle. Durch den Ein-
gang siehst du, dass sich in ihr etwas Großes träge bewegt. Du gehst näher heran
und erkennst schließlich, tief im Inneren der Höhle, wie ein riesiges Pendel hin-
und herschwingt.
Es ist die Clock of the Long Now, die Uhr des Langen Jetzt, das Traumbild von
Stewart Brand, Brian Eno, Daniel Hillis und anderen Visionären. Die Uhr des
Langen Jetzt tickt einmal pro Jahr, schlägt einmal im Jahrhundert, und der Ku-
ckuck erscheint einmal pro Millennium, bis zum Jahr 10 000. Es ist die rechte
Zeit.

Bologna, den 11. Februar 2005


Epilog

Wer ein Buch über die kommenden zehntausend Jahre schreibt, erwartet nicht,
schon nach zwei Jahren einen Epilog hinzufügen zu müssen. Ich habe mit die-
sem Buch die Augen des Lesers für die Tiefe der geologischen Zeit und die Nich-
tigkeit des Menschen öffnen wollen und darum bewusst einigen Abstand gehal-
ten zu den scharfen gesellschaftlichen Klimadiskussionen. Dafür hatte und habe
ich gute Gründe. Die Politik fordert von der Wissenschaft Aussagen zum Klima
der Zukunft, will aber nicht hören, dass eindeutige Antworten nicht möglich
sind. Politiker sind gewohnt, mit politischen und wirtschaftlichen Unsicher-
heiten umzugehen, aber mit wissenschaftlichen Unsicherheiten kommen sie
nicht zurecht. Die Wissenschaftler ihrerseits dürfen sich von der Politik nicht
zwingen lassen, Fragen zu beantworten, die sie selbst noch nicht gelöst haben.
Die Neigung dazu ist nichtsdestoweniger groß. „Das Problem ist gelöst. Hast
du nicht den Artikel letzte Woche in Nature gelesen?“, fragen sie erstaunt. Jeder
verweist immerzu auf Artikel, die „letzte Woche“ erschienen sind. Aber das be-
sagt nicht, dass das Problem gelöst, sondern im Gegenteil, dass die Klimafor-
schung noch in vollem Gange ist. Es besagt, dass jetzt, in diesem Augenblick, je-
mand anders einen Artikel schreibt, der nächste Woche in Nature erscheinen und
denjenigen der letzten Woche zerpflücken wird. „CO2 verstärkt den Effekt der
Milanković-Zyklen.“ – „Nein, das stimmt nicht, denn das CO2 folgt dem Tempe-
ratursignal, nicht andersherum.“ Oder: „Lebende Pflanzen produzieren Me-
thangas!“ – „Ach nein, stimmt nicht. Messfehler.“ Oder: „Pflanzt Bäume, um
CO2 zu binden!“ – „Ach nein, besser nicht. Dunkle Wälder in den gemäßigten
Breiten absorbieren die Sonnenstrahlung besser als eine kahle Oberfläche und
fördern geradezu die Erwärmung.“ Es wird noch Jahre dauern, ehe der Staub sich
legt und wir die Spreu – ja, auch die Spreu in Nature und Science – vom Weizen
trennen können. Versuchen Sie sich vorzustellen, was ein Klimaforscher in drei-
ßig Jahren über die heutigen Modelle sagen wird. Dasselbe, was wir heute über
diejenigen des Club of Rome von vor dreißig Jahren sagen: „Na ja, die Modelle
waren noch so grob, damit kann man wenig anfangen.“
Warum dann ein Epilog? Mein Bestreben, die Aktualität auf Abstand zu hal-
ten, ist de facto missglückt, denn das Buch ist selbst Aktualität geworden. Daran
schuld sind der Orkan Katrina, der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore und das
IPCC. Der Orkan Katrina setzte am 29. August 2005 New Orleans unter Wasser.
Es brachen Deiche, die gebaut worden waren für Sturmfluten mit einer Wieder-
228 DER LANGE ZYKLUS

holungschance von einem Mal in fünfzig Jahren. Es war gewarnt worden, dies sei
nicht ausreichend, doch die Prioritäten lagen woanders. Die Parallele zum Aus-
bruch des Nevado del Ruiz ist frappierend. Niederländische Ingenieure reisten
mitleidig lächelnd nach New Orleans, um den Leuten dort zu erzählen, wie man
es richtig macht, denn unsere Deiche schützen uns immerhin vor Sturmfluten
mit einer Wiederholungszeit von zehntausend Jahren. Aber schuld war in erster
Linie das extrem warme Meerwasser; sollte sich das Klima durch menschliches
Zutun noch weiter erwärmen, würden ähnliche Katastrophen immer öfter auf-
treten. Viele, die bis dahin besorgt gewesen waren, wurden nun radikaler. Als ich
in jener Zeit an einem Forum der Katholischen Universität Löwen teilnahm, kam
ein junger Mann aus dem Publikum auf mich zu, packte mich am Kragen und
schrie mich an: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie bald für Tausende von Toten
verantwortlich sind?!“ So emotional ist die Diskussion inzwischen geworden;
schwierig, dann Distanz zu bewahren. Katrina wurde eines der Hauptthemen in
dem Film An inconvenient truth von Al Gore.
Al Gore spornt in seinem Film die Menschheit dazu an, sparsam mit Energie
umzugehen, denn der zunehmende Ausstoß von CO2 werde noch viel mehr un-
vorstellbare Klimakatastrophen wie Katrina über uns bringen. Es ist eine schöne
Dokumentation. Er ist ein hervorragender Dozent, seine Witze, seine Intonati-
onen sind gut getimt und seine Überzeugungskraft ist so groß, dass man ein
triumphales Gutmensch-Gefühl in sich aufsteigen fühlt bei der Anschaffung der
ersten Energiesparlampe. Ist man aber nicht seiner Meinung, dann wird man
lächerlich gemacht, dann ist man unmoralisch, ein Paria, und dazu möchte man
nicht gehören. Ein erstaunliches Stückchen Demagogie. Die alarmierende Bot-
schaft überspülte die Welt wie eine Flutwelle – sie ging runter wie Butter.
Aber An inconvenient truth steckt voller convenient lies. Das geht schon los mit der
Geschichte des bedauernswerten Erdkundelehrers der 8. Klasse von Al Gores da-
maliger Schule. Der Lehrer ist das Beispiel für den dummen Klimaskeptiker, der
selbst die offensichtlichsten Tatsachen nicht glauben will. Ein aufgeweckter
Schüler (nicht Al Gore) fragt ihn: „Afrika und Amerika – waren die früher mal
zusammen? Das würde genau passen!“ – „Aber woher denn, Junge, wie kommst
du denn darauf!“, antwortet der Lehrer. Homerisches Gelächter im Kino – das
weiß doch jeder! Und noch mehr Gelächter, als Al Gore erzählt, dieser Lehrer sei
nun Präsident Bushs Berater. Groll wegen der verpassten Präsidentschaft ist ihm
nicht fremd. Der Punkt ist: Als Gore zur Schule ging, war die Plattentektonik
gerade erst entdeckt worden und daher nur wenigen bekannt. Nach der vorherr-
schenden Meinung jener Zeit lagen die Kontinente fest, und der Lehrer tat also
nichts anderes, als den damaligen Wissensstand zu vermitteln.
Al Gore präsentierte seinen Film 2006, im Jahr nach Katrina, aber in diesem
beinahe genauso warmen Jahr gab es weniger Wirbelstürme; einigen Stimmen
zufolge gehören sie eher zur Kälte als zur Hitze, und 2007 erschien ein Artikel,
der besagte, nicht das warme Meerwasser, sondern das besondere Windprofil
EPILOG 229

über dem Golf von Mexiko sei die Ursache der zahlreichen Wirbelstürme 2005.
Das IPCC konnte in seinem neuen Bericht von 2007 keinen Zusammenhang zwi-
schen der globalen Durchschnittstemperatur und der Sturmfrequenz aufzeigen,
allenfalls einen mit der Sturmintensität.
Al Gore verweist auf den austrocknenden Aralsee, erwähnt aber nicht, dass
man auf dem trockenen Seeboden ein mittelalterliches Mausoleum gefunden
hat. Der Aralsee ist in den letzten zehntausend Jahren schon dreimal ausgetrock-
net – durch natürliche Ursachen. Er lässt uns schmelzende Gletscher überall auf
der Welt sehen, erwähnt aber nicht, dass unter den zurückweichenden Alpenglet-
schern Reste von Wäldern aus der Römerzeit zum Vorschein kommen. Offen-
sichtlich hatten sich die Gletscher schon früher so weit zurückgezogen – durch
natürliche Ursachen. Er behauptet, das Klima sei in den letzten elftausend Jah-
ren nahezu konstant gewesen, erwähnt aber nicht, dass sein Wohnort Washing-
ton D.C. vor elftausend Jahren noch am Rande der Eiskappe lag und dass in
diesen elftausend Jahren der Meeresspiegel rund 50 Meter angestiegen ist. Durch
natürliche Ursachen.
Warum tut er das? Weil er das CO2 als Ursache aller Klimaveränderungen dar-
stellen will. Das Kohlendioxid ist in den letzten elftausend Jahren einigermaßen
konstant geblieben, denn der größte Anstieg nach der Eiszeit hatte schon früher
stattgefunden. Aber das Klima, der Meeresspiegel und die Ökosysteme verän-
dern sich nicht eins zu eins mit dem CO2-Gehalt, und dies verschweigt er wohl-
weislich.
Er rühmt seinen Lehrer Roger Revelle und zeigt uns voller Stolz, wie einer von
dessen besten Studenten (nicht Al Gore) in den Fünfzigerjahren systematisch
den Anstieg des CO2-Gehalts der Atmosphäre gemessen hat. Aber er erwähnt
nicht, dass, während der CO2-Gehalt in diesen Jahren anstieg, die globale Durch-
schnittstemperatur gleichzeitig sank. Er suggeriert auch, die Eiszeiten würden
durch Veränderungen des CO2-Gehalts gesteuert, während es natürlich anders-
herum ist: Die Eiszeiten werden verursacht durch die Milanković-Zyklen, das
Kohlendioxid folgt. Er ängstigt uns mit einem zukünftigen Meeresspiegelanstieg
von sechs Metern, erwähnt aber nicht, dass im Interglazial zwischen den letzten
beiden Eiszeiten der Meeresspiegel ebenfalls sechs Meter höher stand, ohne
menschliches Zutun und bei einem CO2-Gehalt, der nicht höher war als im vor-
industriellen Zeitalter.
Bei dieser Darstellung werden alle anderen natürlichen Prozesse, alle verzöger-
ten Reaktionen, alle Rückkoppelungsmechanismen, alle nicht-linearen Elemente
vernachlässigt, und es bleibt nichts anderes übrig als der Glaube, das Kohlendi-
oxid sei der einzige Übeltäter. Kein Wunder, dass die Menschen beunruhigt sind,
kein Wunder, dass sie denken, sie allein seien schuld am Klimawandel.

Ein Teil dieser alarmierenden Vorstellung geht auf die Rechnung des IPCC, ins-
besondere auf den hohen Stellenwert, den die hockeystick-Kurve (s. S. 130) im
230 DER LANGE ZYKLUS

Third Assessment Report von 2001 bekommen hat. Die Kurve suggeriert, die glo-
bale Durchschnittstemperatur sei in den letzten tausend Jahren nahezu kons-
tant geblieben und erst mit dem Beginn des Industriezeitalters angestiegen.
Keine Mittelalterliche Warmzeit, keine Kleine Eiszeit lässt sich aus dieser Kurve
ablesen, nur kleine Schwankungen um einen konstanten Mittelwert herum. Es
liegt auf der Hand, dass man dann denkt: Wenn wir kein Kohlendioxid mehr
ausstoßen, kehrt das Klima von allein wieder zu seinem früheren Zustand zu-
rück. Sechs Jahre lang war die hockeystick-Kurve der am meisten umstrittene Be-
standtteil des Berichts, und sechs Jahre lang hat sich das IPCC daran festgeklam-
mert, dass der Hockeyschläger korrekt sei. Tausende von Klimawissenschaftlern
des IPCC konnten sich nicht irren.
Es ist daher interessant, das Schicksal der hockeystick-Kurve im vierten Bericht
des IPCC, herausgegeben im Jahr 2007, zu verfolgen. Sie ist aus der Summary for
Policymakers verschwunden. Man findet nur noch einen verschämten Hinweis
darauf, dass einige neuere Untersuchungen auf eine größere Variabilität in der
Temperatur der Nordhalbkugel hinweisen, als im dritten Bericht behauptet
wurde, insbesondere vom 12. bis 14. Jahrhundert, im 17. und im 19. Jahrhun-
dert. Das IPCC hat die Kleine Eiszeit entdeckt! Was Tausende von Nicht-IPCC-
Wissenschaftlern schon wussten, ist nun auch zu den Klimatologen durchge-
drungen. Und die neue Kurve im ausführlichen Bericht des IPCC von 2007 ist
von einem Hockeyschläger zu einem knorrigen, krummen Ast mutiert. Michael
Mann ist von der Liste der Autoren verschwunden. Die hockeystick-Kurve zeigte
nicht ein man-made global warming, sondern ein Mann-made global warming.

Das Klima ist in den letzten drei Dezennien offenbar wärmer geworden. Das
IPCC geht in seinem vierten Bericht von 2007 davon aus, dass dies sehr wahr-
scheinlich dem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen zuzuschreiben ist. Es
scheint mir nicht unmöglich zu sein, dass sie recht haben, zumindest, was die
letzten dreißig Jahre betrifft. Aber wir müssen auch Raum lassen für Unsicher-
heiten, denn es gilt noch immer: Die Schlussfolgerung basiert auf Artikeln, die
„letzte Woche“ in Nature erschienen sind. Insbesondere weiß man wenig über die
Rolle von Wasserdampf, von Wolken und vor allem über die Rolle der Variabili-
tät der Sonnenaktivität. Variationen der Sonnenaktivität lassen auffällige Paral-
lelen zum irdischen Klima erkennen, und wenn diese Variationen im Augenblick
auch als zu klein erscheinen, um große Temperaturschwankungen hervorrufen
zu können, so müssen wir doch mit noch unbekannten Verstärkungsmechanis-
men rechnen. Der dänische Meteorologe Henrik Svensmark hat vor Kurzem auf
einen direkten Zusammenhang zwischen tiefer Bewölkung, kosmischer Strah-
lung und Sonnenaktivität hingewiesen, und dies könnte vielleicht einmal wich-
tiger sein als gegenwärtig angenommen.
Doch selbst, wenn die Klimaerwärmung der letzten Jahre großenteils Men-
schenwerk ist, gilt immer noch: In der Vergangenheit erzielte Resultate sind
EPILOG 231

keine Garantie für die Zukunft. Wer davon ausgeht, dass ab jetzt nur noch ein
einziger Faktor, nämlich der Mensch, das Klima der Zukunft bestimmt, wird
sich getäuscht sehen, und zwar aus dem oben genannten Grund: Klima und CO2-
Gehalt variieren nicht eins zu eins. Trendwenden sind die Regel, nicht die Aus-
nahme: durch heftige Vulkanausbrüche, durch Variationen in der Sonnenaktivi-
tät, durch bislang unbekannte Rückkoppelungsmechanismen. Das alles steht
dann in dem Artikel in der Nature – nächste Woche.

Welche Maßnahmen müssen also nun getroffen werden? In erster Linie muss
man sich anpassen, Dinge tun, von denen man sicher weiß, dass sie helfen. Wenn
das Wasser steigt, muss man die Deiche erhöhen oder schwimmende Woh-
nungen bauen. Niemand hat behauptet, die Menschheit habe ein Recht auf einen
konstanten Meeresspiegel. Eine Küstenstadt ist denselben Risiken ausgesetzt wie
eine Stadt am Fuße eines Vulkans. Und Deichbau muss zuerst in den verwund-
barsten Gegenden stattfinden. Nicht in den Niederlanden, denn die sind das so
ziemlich am besten geschützte Land der Welt. In Bangladesch errichten die Bau-
ern ihre Deiche noch mit der Hand, während holländische Ingenieure palmen-
förmige Spielzeuginseln vor der Küste von Katar anlegen. Wenn die Bauern an
den Hängen des Kilimandscharo nicht mehr genügend Wasser haben, weil die
Gletscher geschmolzen sind, kann man Meerwasser entsalzen und auf den Berg
pumpen. Wir legen Pipelines für Öl und Gas quer durch alle Kontinente, also
warum nicht auch für Wasser?
Aber ist es denn nicht besser, den Katastrophen vorzubeugen? Die internatio-
nale Gemeinschaft hat sich in die Reduzierung des CO2-Ausstoßes verbissen in
der Hoffnung, dass dadurch der Temperaturanstieg weniger schlimm ausfällt.
Energiesparen an sich ist eine Notwendigkeit; wir sollten sparsam mit Energie
umgehen und gleichzeitig intensiv nach anderen Möglichkeiten für ihre Erzeu-
gung suchen. Aber bitteschön aus dem richtigen Grund: nicht wegen des Klimas,
sondern weil die Vorräte an fossilen Brennstoffen endlich sind. Wer sich wegen
eines Langstreckenfluges schuldig fühlt, muss an einer anderen Stelle seiner En-
ergierechnung einsparen; aber nicht Bäume pflanzen, denn das hilft gegen die
Erwärmung ebenso viel wie ein Lagerfeuer gegen die Eiszeit. Wenn durch Ener-
gieeinsparung weniger Treibhausgase ausgestoßen werden und dies eine güns-
tige Auswirkung auf das Klima haben sollte, dann wäre das ein willkommener
Nebeneffekt. Sollte es nicht geholfen haben, so ist es dennoch nützlich gewesen,
denn es wurden Ressourcen geschont.
Anders sieht es aus, wenn man anfängt, aktiv CO2 in den Untergrund zu pum-
pen. Das spart keine Energie ein, im Gegenteil, es kostet welche, und jede Menge
Geld obendrein. Außerdem ist sehr die Frage, ob es hilft: Nur keine Bange, wir in
Holland pumpen Kohlendioxid in den Boden, dann wird der Meeresspiegel
schon von selbst wieder sinken – trauen Sie sich, das einem Ertrinkenden in
Bangladesch zu sagen? Wir binden Treibhausgase im Untergrund, und bald wird
232 DER LANGE ZYKLUS

es bei euch von ganz alleine wieder schneien – erzählen Sie das einem Bauern vom
Kilimandscharo? Und wen können die Bauern zur Rechenschaft ziehen, falls es
nicht hilft? Was, wenn der Meeresspiegel dennoch um sechs Meter ansteigt, wie
es auch in der letzten Warmzeit geschah? Es ist eine Illusion, zu glauben, wir
könnten den Thermostat der Erde nach Belieben ein Grad wärmer oder kälter
einstellen. Besser, wir passen uns an das sich verändernde Klima an und gewäh-
ren humanitäre Hilfe dort, wo sie nötig ist.

Energiepolitik und Klimapolitik sind zwei völlig verschiedene Dinge. Man stelle
sich vor, das irdische Klima würde wieder dreißig Jahre lang abkühlen, wie in den
Jahren von 1940 bis 1970: Was sollte man dann tun? Es gibt zwei Alternativen.
Sagt man, so wie heute: Das Klima darf sich nicht verändern!, dann muss man
möglichst viel heizen – zumindest, solange man glaubt, das CO2 sei der alles be-
herrschende Faktor. Doch dann verbraucht man die Energievorräte noch viel
schneller, und die schlimmste Kälte kommt vielleicht erst noch. Oder man hält
an der Energieeinsparung fest, genau wie heute, doch dann muss man die Klima-
veränderung akzeptieren. Solange es wärmer wird, scheinen Energiepolitik und
Klimapolitik denselben Effekt zu haben. Wird es aber kälter, so verkehren sie sich
in ihr jeweiliges Gegenteil. Wenn die nächste Eiszeit naht, wird man sagen: Was
haben sich die Menschen des 21. Jahrhunderts nur dabei gedacht, Kohlendioxid
in die Erde zu pumpen? Das brauchen wir jetzt! Wie bekommen wir es wieder
heraus?

Wer durch die publizistische Flutwelle Angst bekommen hat, die Erde leide an
Krebs im letzten Stadium, der verlangt eventuell nach einer second opinion, und
das ist für viele die Funktion dieses Buches. „Jetzt bin ich wieder ein bisschen
beruhigt“, war eine oft gehörte Reaktion. Aber eine wirkliche Beruhigung kann
es nicht sein, denn alle Katastrophen, vor denen wir uns jetzt ängstigen, haben in
der Vergangenheit schon einmal stattgefunden, und sehr wohl auch größere –
durch natürliche Ursachen. Die Erde hat das alles schon mal mitgemacht; nur
wir Menschen linsen durch ein so schmales Schlüsselloch auf die Zeit, dass wir
denken, das alles geschehe zum ersten Mal, und es werde nicht mehr geschehen,
wenn wir nur brav sind. Wer wie Al Gore sagt: „we might loose the earth“, der be-
trachtet die Erde lediglich als einen Selbstbedienungsladen. Er sieht nicht, dass
alles, was gegenwärtig geschieht, auch die jüngste Klimaerwärmung, vom Stand-
punkt der Erde aus betrachtet business as usual ist. Wer sagt, die Erde gehe dabei
drauf, der meint nicht die Erde, sondern sich selbst, die Menschheit. Das ist ein
engstirniges anthropozentrisches Weltbild, und es wird der Tatsache nicht ge-
recht, dass der Mensch für die Erde – wie Mark Twain es ausdrückt – nicht mehr
bedeutet als ein Farbklecks auf der Spitze des Eiffelturms.

Paramaribo, den 5. Juli 2007


Nachwort

Ich habe schon immer etwas mit der Zeit gehabt. Als zehnjähriger Junge war ich
stets in der Buchhandlung Van Klaveren in Goes zu finden, wo ich in den Bü-
chern herumschnüffelte, bei der Leihbücherei half und Prospekte stempelte. Ein-
mal entdeckte ich ein Buch mit dem Titel Gisteren was vandaag morgen [Gestern
war heute morgen] auf dem Rücken. Im Nachhinein verstehe ich nicht, warum
ich das Buch nicht aus dem Regal genommen habe. Wie auch immer, ich erin-
nere mich nicht, es gelesen zu haben, noch, wer der Autor war. Später habe ich
leidenschaftlich danach gesucht, es aber nie mehr gefunden, auch nicht im Inter-
net. Ich habe den Titel dann selbst verwendet bei einer öffentlichen Vorlesung
der Landbouwhogeschool (Landwirtschaftlichen Hochschule) Wageningen im
Jahr 1983, als hätte ich seinerzeit in Borges’scher Manier mein eigenes Buch im
Regal stehen sehen.
In den zwanzig Jahren danach ist das Thema gewachsen – in meinem Kopf, in
den Aufsätzen, Kolumnen und Essays, die ich da und dort schrieb, gespeist durch
viele Erfahrungen und Gespräche mit anderen. Dieses Buch ist der Niederschlag
all dessen. Wichtige Impulse in der Wachstumskurve waren die Zusammenarbeit
mit Louise Fresco, die 1992 zu einem gemeinschaftlichen Artikel über Zeitskalen
und Nachhaltigkeit führte, und die Organisation des Kongresses Prediction in Geo-
logy mit Wolfgang Schlager 1996. Die Kolumnen, die ich vier Jahre lang wö-
chentlich in Intermediair schrieb, haben mir geholfen, meine Gedanken und mei-
nen Stil zu schärfen, und ich danke meinen dortigen Redakteuren, Mans Kuipers
und Astrid Smit, für ihre Unterstützung und Anregung, dieses Buch zu machen.
Viele Menschen haben mich, bewusst oder unbewusst, mit Ideen und Material
gefüttert; speziell erwähnen möchte ich hier Elmira Aliyeva, Guido Chiesura,
Carlos Costa, Aleksandr Gennadiev, Nikolay Kasimov, Jan de Leeuw, Charles van
der Leeuw und Leo Waaijers. Wenn nicht anders angegeben, stammen die Fotos
im Buch von mir und die Grafiken von denjenigen, die in der Literaturliste auf-
geführt sind. Bob Hoogendoorn leistete grafische Hilfestellung.
Ein halbjähriges Sabbatical am Istituto di Geologia Marina (ISMAR) vom Con-
siglio Nazionale di Ricerca in Bologna erlaubte es mir, hierfür Zeit frei zu ma-
chen. Ich danke Fabio Trincardi, Antonio Cattaneo, Anna Correggiari, Stefano
Miserocchi, Marco Taviani, Barbara Gualandi und dem Direktor, Enrico Bonatti,
für ihre Gastfreundschaft und für die Möglichkeit, die elektronische Bibliothek
und die Interneteinrichtungen des Institutes zu benutzen. Gleichzeitig sorgten
234 DER LANGE ZYKLUS

Carina Hoorn, Gert-Jan Weltje und Stefan Luthi dafür, dass die Arbeit an der TU
Delft weiterlief; auch dafür meinen Dank. Louis de Quelerij, Dekan der Fakultät
Civiele Techniek en Geowetenschappen, ermöglichte mir das Sabbathalbjahr.
Frank Westerman war der Erste, der das Buch am Stück gelesen hat. Ich be-
wundere seine Art und Weise, in der er zielsicher die Schwachstellen des Buches
offenlegte und mich vor Fallstricken in puncto Argumentation und Stil be-
wahrte. Dank, Frank! Auch die Anregungen von Carina Hoorn, Geologin und
professionelle science writer, waren äußerst wertvoll. Des Weiteren lasen auch Bob
Hoogendoorn, Gert-Jan Weltje und Sal Kroonenberg das Buch mit geschärftem
Blick. Ich bin Jessica Nash und Emile Brugman vom Verlag Atlas dankbar für
ihre bedingungslose Unterstützung. Corrie, danke für deine nicht nachlassende
Unterstützung und deine kritischen Anmerkungen zum Text. Ich widme dieses
Buch dir und unseren Kindern – ich habe euch allerhand zugemutet.
Mein Dank geht auch an die Hunderte von Menschen, die auf das Erscheinen
meines Buches reagiert haben und denen ich nicht persönlich habe antworten
können. Die Anmerkungen von A. A. Biesheuvel, Bert Boekschoten, John van
Boxel, Gerard M. van Dijk, Thijs Elferink, Reitze de Graaf, Jan van den Hooven,
Hans Lyklema, Roger van der Mortel, Herman Noback, W. Ch. Peters, Wim Röst,
H. F. R. Schöyer, Olaf Schuiling, Max van der Star, Titus Verhagen und Leendert
van der Waal haben sich bei der Durchsicht des Buches als nützlich erwiesen –
danke auch hierfür. Zuletzt danke ich Monica Barendrecht und Thomas Char-
pey sehr für ihre sorgfältige Übersetzung.
Literaturverzeichnis

In der Literaturliste sind nicht nur die im Text genannten Werke aufgenommen, sondern auch
zurate gezogene Literatur, auf die der Lesbarkeit halber im Text nicht verwiesen wird. Russische
Eigennamen und Titel sind im Haupttext ins Deutsche transkribiert; in der Literaturliste jedoch
wird die internationale Transkription verwendet, um die bibliografische Suche zu ermöglichen.

Kapitel 1 Kapitel 2
FRESCO, L. O., S. B. KROONENBERG, 1992, ‘Time AKHUNDOV, D. A., 1986, Arkhitektura drevnego i
and spatial scales in ecological sustainabil- ranne-srednevekovogo Azerbaidzjana. (Archi-
ity’. Land Use Policy, 9, 155–168. tektur des alten und frühmittelalterlichen
GOULD, S. J., 1987, Time’s arrow, time’s cycle. Azerbeidzjan). Azerbaijanskoe Gosudarst-
Myth and metaphor in the discovery of geological vennoe Izdatel’stvo, Bakoe.
time (dt.: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeit- ALADIN, N.V., I. S. PLOTNIKOV, A. O. SMUROV,
pfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer 2004, ‘Influence of the Caspian Sea level
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248 DER LANGE ZYKLUS

Anlage
Geologische Zeitskala

INTERNATIONAL STRATIGRAPHIC CHART


Eonothem International Commission on Stratigraphy

Eonothem
Sub-Era
Erathem

Erathem
System

System
Period

Period
Series
Epoch

Series
Epoch
GSSP

GSSP
St a ge

Stage
Eon

Ag e

Age

E on

Age

Age
E ra

Era
Ma

Ma
145.5 ±4.0
Holocene Tithonian
Quaternary *

0.0118 150.8 ±4.0


Upper Upper Kimmeridgian
0.126 155.7 ±4.0
Pleistocene Middle Oxfordian
0.781 161.2 ±4.0
Lower Callovian
1.806 164.7 ±4.0

Jurassic
Gelasian Bathonian
2.588 Middle 167.7 ±3.5
Neogene

Pliocene Piacenzian Bajocian


3.600 171.6 ±3.0
Zanclean Aalenian

Meso zoic
5.332 175.6 ±2.0
Messinian Toarcian
7.246 183.0 ±1.5
Tortonian Pliensbachian
Cenozoic

11.608 Lower 189.6 ±1.5


Serravallian Sinemurian
Miocene 13.65 196.5 ±1.0
Langhian Hettangian
15.97 199.6 ±0.6
Burdigalian Rhaetian
20.43 203.6 ±1.5
Aquitanian Upper Norian
Tertiary*

23.03
Phanerozoic

Phanerozoic
216.5 ±2.0

Triassic
Chattian Carnian
Oligocene 28.4 ±0.1 228.0 ±2.0
Rupelian Ladinian
33.9 ±0.1 Middle 237.0 ±2.0
Priabonian Anisian
Paleogene

37.2 ±0.1 245.0 ±1.5


Bartonian Olenekian
Eocene 40.4 ±0.2 Lower 249.7 ±0.7
Lutetian Induan
48.6 ±0.2 251.0 ±0.4
Ypresian Changhsingian
55.8 ±0.2 Lopingian 253.8 ±0.7
Thanetian Wuchiapingian
58.7 ±0.2 260.4 ±0.7
Paleocene Selandian Capitanian
61.7 ±0.2 265.8 ±0.7
Permian

Danian Guadalupian Wordian


65.5 ±0.3 268.0 ±0.7
Maastrichtian Roadian
70.6 ±0.6 270.6 ±0.7
Campanian Kungurian
Paleo zoic

83.5 ±0.7 275.6 ±0.7


Santonian Artinskian
Upper 85.8 ±0.7 Cisuralian 284.4 ±0.7
Coniacian Sakmarian
Mesozoic

89.3 ±1.0 294.6 ±0.8


Cretaceous

Turonian Asselian
93.5 ±0.8 299.0 ±0.8
Cenomanian Gzhelian
99.6 ±0.9 Upper 303.9 ±0.9
sylvanian
Carboniferous
Penn-

Albian Kasimovian
112.0 ±1.0 306.5 ±1.0
Aptian Middle Moscovian
125.0 ±1.0 311.7 ±1.1
Barremian Lower Bashkirian
Lower 130.0 ±1.5 318.1 ±1.3
Hauterivian Upper Serpukhovian
sippian
Missis-

136.4 ±2.0 326.4 ±1.6


Valanginian Middle Visean
140.2 ±3.0 345.3 ±2.1
Berriasian 145.5 ±4.0 Lower Tournaisian 359.2 ±2.5
7069

Quaternary*: Formal chronostratigraphic unit sensu joint ICS-INQUA taskforce (2005) and ICS.
Tertiary*: Informal chronostratigraphic unit sensu Aubry et al. (2005, Episodes 28/2).

Abb. 107: International Stratigraphic Chart. Die kleinen Nägel verweisen auf die golden spikes,
jene Abgrenzungen, für die eine internationale Einigung erreicht wurde.
ANLAGE 249

Eonothem

Eonothem
Erathem

Erathem
System

System
Period

Period
Series
Epoch

GSSP

GSSP
GSSA
Stage
Eon

A ge

A ge

Eon

Age
Era

Era
Ma

Ma
359.2 ±2.5 542
Famennian Ediacaran
Upper 374.5 ±2.6 Neo- ~630
Frasnian Cryogenian
385.3 ±2.6 proterozoic 850
Devonian

Givetian Tonian
Middle 391.8 ±2.7 1000

Proterozoic
Eifelian Stenian
397.5 ±2.7 Meso- 1200
Emsian Ectasian
407.0 ±2.8 proterozoic 1400
Lower Pragian Calymmian

Precambrian
411.2 ±2.8 1600
Lochkovian Statherian
416.0 ±2.8 1800
Pridoli Paleo- Orosirian
418.7 ±2.7 2050
Ludfordian proterozoic Rhyacian
Ludlow 421.3 ±2.6 2300
Gorstian Siderian
Silurian

422.9 ±2.5 2500


Homerian
Wenlock 426.2 ±2.4 Neoarchean
Sheinwoodian
428.2 ±2.3 2800
Telychian
Archean
Phanerozoic

436.0 ±1.9 Mesoarchean


Llandovery Aeronian
Paleo zoic

439.0 ±1.8 3200


Rhuddanian
443.7 ±1.5 Paleoarchean
Hirnantian
445.6 ±1.5 3600
Upper Katian
Ordovician

455.8 ±1.6 Eoarchean Lower limit is


Sandbian not defined
460.9 ±1.6
Darriwilian
Middle 468.1 ±1.6
Stage 3 Subdivisions of the global geologic record are
formally defined by their lower boundary. Each unit
471.8 ±1.6
Floian of the Phanerozoic (~542 Ma to Present) and the
Lower 478.6 ±1.7 base of Ediacaran are defined by a basal Global
Tremadocian Standard Section and Point (GSSP ), whereas
488.3 ±1.7
Stage 10 Precambrian units are formally subdivided by
~ 492.0 * absolute age (Global Standard Stratigraphic Age,
Furongian Stage 9 GSSA). Details of each GSSP are posted on the
~ 496.0 * ICS website (www.stratigraphy.org).
Paibian International chronostratigraphic units, rank,
501.0 ±2.0
Stage 7 names and formal status are approved by the
Cambrian

~ 503.0 * International Commission on Stratigraphy (ICS)


Series 3 Stage 6 and ratified by the International Union of Geological
~ 506.5 * Sciences (IUGS).
Stage 5 Numerical ages of the unit boundaries in the
~ 510.0 *
Stage 4 Phanerozoic are subject to revision. Some stages
Series 2 ~ 517.0 * within the Ordovician and Cambrian will be formally
Stage 3 named upon international agreement on their GSSP
~ 521.0 *
limits. Most sub-Series boundaries (e.g., Middle
Stage 2
Series 1 ~ 534.6 * and Upper Aptian) are not formally defined.
Stage 1 Colors are according to the Commission for the
542.0 ±1.0
Geological Map of the World (www.cgmw.org).
This chart was drafted by Gabi Ogg. Intra Cambrian unit ages The listed numerical ages are from 'A Geologic
with * are informal, and awaiting ratified defnitions. Time Scale 2004', by F.M. Gradstein, J.G. Ogg,
Copyright © 2006 International Commission on Stratigraphy A.G. Smith, et al. (2004; Cambridge University Press).
Register
Kursive Seitenzahlen verweisen auf Abbildungen.

Abfluss 19, 25, 28, 174f., 175, 176, 177, Basistorf 154, 161
180, 181f., 218 Berg, Lew Semjonowitsch 20–22, 24, 29f.
Adhémar, Joseph 117, 121 Beringstraße 110, 115, 132, 153, 157
Agassiz, Louis 116, 124f., 128, 131, 139, Biodiversität 190, 200f., 212
143, 158, 197, 212, 217 biologische Uhr 191–193, 203, 217
Aktualismus 45, 50, 202 Biomasse 115, 136, 193, 196, 203f., 212
Alpen 7f., 48, 59, 111–114, 113, 116, 125, Blütenstaub 127, 193, 198, 200
128f., 138, 139, 172, 187, 200, 229 Bosporus 159
Amazon cone 199 Brachiopoden 208, 215
Amazonas 101, 115, 187, 189, 194–197, Braune Bank 152, 154, 155
199f., 216 Bronzezeit 30f., 127
Ammonit 208–210, 211, 212, 215, 216 Brundtland-Bericht 8
Amplitude 15, 28f., 32, 33, 121, 121, 123, Buffon, Georges 37
124f., 126, 147, 210 Burnet, Thomas 38–40
Andesit, andesitisch 92, 93f.
Antarktis 60, 71, 77, 77, 99, 122, 122, 123, Caldera 88, 225
123, 124, 126, 131, 134, 135, 137, 139, Cambrian explosion 203, 213
165, 170, 170, 204 Campi Flegrei 101, 106
Anthropozän 217 Charpentier, Louis de 113f.
Äquinoktien 117, 118 Chasaren 23
Aralsee 24f., 27, 32, 229 Club of Rome 8f., 227
Archaea 202 Cosquer-Höhle 155, 168
Armero 72f., 75, 77f., 80–82, 83, 87, 147, Crater Lake 88f.
174, 206 Croll, James 118, 121
Art (Spezies) 7, 37, 46f., 49, 157, 188, 190, Curaçao 162, 163, 186, 200, 216
193f., 195, 196–208, 212, 215f., 219f. Cuvier, Georges 36, 38, 46–49, 113, 167,
Artenbildung 199f., 210 202, 205, 207, 217
astronomisch 10, 117, 119, 124f., 133, Cyanobakterien 192
135, 137, 141, 146f., 191, 222
Atlantik, Atlantischer Ozean 28, 59, 125, Dansgaard-Oeschger-Zyklus 125, 127
139f., 165, 168, 177, 181, 187 Darwin, Charles 37f., 44, 46, 48f., 52, 58–
Atmosphäre, atmosphärisch 11, 24, 28, 60, 80, 117, 128, 160, 163, 165, 168,
39f., 95, 99, 103, 119f., 127f., 132–136, 202, 205–207, 212, 216f.
136, 137, 139, 140, 141, 141, 143, 177, Deichdurchbruch 173, 174
218f., 223f., 229 Devon 208, 214, 215, 219, 249
Ätna 39, 45, 70–73, 84, 88, 90, 93f. Diluvium 114
Atoll 163f., 164 Dinosaurier 46, 64, 137, 140, 205, 217
Atommüll 225 Direktionalist, directionalism 49, 204
Außenpolder 172–174, 181 Diskordanz 42–45, 42, 48
Auvergne 82, 84f., 86, 87, 93 DNS 202, 214
Doggerbank 152, 154f., 155, 168f.
Bak, Per 63, 67–69, 145, 150, 209
Bändertone 132, 135 Eifel 85–87, 86, 90, 93, 187
Barriereriff 163, 164 Eiskappe 7f., 50, 72, 75, 82, 99–101, 105,
Basalt, basaltisch 41, 59, 82, 84, 92, 93f., 119f., 122–126, 129, 131, 135, 137, 139,
98, 137, 172, 225 143, 153, 153, 158–160, 162f., 165,
REGISTER 251

170, 170, 187, 200, 210, 218, 222, 225, Gezeitenamplitude 147
229 Gleisberg-Zyklus 131f.
Eiskern 100, 122, 126, 130, 131, 134 Gletscher 32, 72f., 109, 111–115, 112, 113,
Eiszeit 7, 10f., 12, 14, 16, 32, 50, 72, 103, 115, 119, 123, 125, 127f., 132, 135, 153,
108f., 113–117, 113, 119, 120, 122, 123, 197, 200, 217, 222, 229, 231
124–126, 134, 135f., 139, 142f., 147, Gletscherschrammen 114, 116, 143, 181
151f., 153, 154, 159–162, 162, 164, global cooling 110
169, 171, 181f., 183, 184–186, 197, Global Sea Level Curve 166, 166
199f., 210, 212, 217, 221f., 225, 229, global warming 110, 141, 223, 230
231f. Glutwolke 88, 95f., 102f.
El Niño 29, 108, 132, 196, 219 golden spike 208, 248
EPICA 122, 124 Gould, Stephen Jay 13f., 38f., 43, 45, 50,
Epizentrum 54, 57, 221 194, 202–216, 222
epoch 208, 248, 249 Granit, granitisch 41, 43f., 43, 82, 114
Erdbeben 11, 14, 15, 16, 38, 44, 49, 52–65, greenhouse earth 137
54, 56, 58, 61, 62, 67–69, 71, 74f., 77f., Grönland 99f., 104, 105, 111, 113, 122–
90, 94, 98, 100, 107, 121, 125, 150, 209, 127, 126, 128, 131f., 137, 170, 200
212, 218–222 Guettard, Jean-Étienne 84f., 88
Erdgas 31, 53 Gumbel-Statistik 150, 152, 175
Erdmagnetismus 207, 210, 211, 222 Gumiljow, Lew Nikolajewitsch 22f.
Erdmantel 39, 77, 87, 93, 188 Gutenberg-Richter-Relation 62f., 65f., 68,
Erdrutsch 58, 63, 67, 75, 220 121, 150
Erdwärme 44
Eridanos 186, 187 Habitatstress 200
Eruption 11, 14, 61, 70f., 73, 75–82, 76, Halbwertszeit 14, 128
85, 87–96, 97, 98–105, 98, 100, 105, Hale-Zyklus 131
131, 139, 150, 218f., 221 Hallam, Anthony 38, 41, 51
euklidische Dimension 65 Hebung 42, 50, 58, 166, 185, 185
Evolution 13, 16, 35, 46, 49, 104, 192, 194, Helmholtz-Effekt 145
200, 202, 204–212, 211, 216, 220 Herculaneum 73, 75, 82, 101, 206
Exzentrizität 118f., 118, 122, 124, 133, 137, Herodot 17, 20, 218
163 highstand 19
Hochwasser 27, 127, 147, 150, 174, 176f.,
Flaschenhals 103f. 179, 218
Foraminiferen 120, 120, 199 hockeystick 99, 129f., 130, 132, 222, 229f.
fossile Brennstoffe 141, 142, 223, 231 Holozän 30, 32, 98, 168, 178, 182, 183,
Fotosynthese 139, 160, 192 185, 217
frailejón, frailejones 72, 73, 82 Homo erectus 103
Fraktal 66–69, 90, 124f., 175, 209, 212, Homo heidelbergensis 103
220, 222 Homo sapiens 12, 103, 105, 216
fraktale Dimension 62, 65–67, 67 Hot spot 77, 93
Fransenriff 163, 164 Hutton, James 38, 41, 43–60, 116, 128,
Frequenz 52, 54, 55, 56, 57, 59, 62f., 62, 217
66f., 68, 69, 97, 98, 104, 121, 121, 123, hydrologischer Zyklus 14, 69, 177
124f., 126, 131, 136, 138, 150f., 152, Hydrosphäre 39, 133–135, 139
174f., 175, 177, 179, 209, 220f., 229
Fruchtfliege 104, 192, 212f., 216, 225 ice age aridity 199
icehouse 115
Galapagos 132, 202 Impuls 13–16, 15, 38, 48–51, 62, 116, 121,
Galilei, Galileo 90, 131, 167 130, 139–142, 161, 181, 202, 205, 207,
Gasbeben 54, 55, 56, 68 209, 212, 215, 219–226, 233
generatio spontanea 212 infrarote Strahlung 133
geografische Isolation 200, 212 IPCC, Intergovernmental Panel on Climate
geologische Zeitskala 49, 215, 248 Change 9, 10, 130, 141, 151, 168, 169,
Gesteinszyklus 14 171, 224, 227, 229f.
Gezeiten 146f., 219 Irokesen 8, 75
252 DER LANGE ZYKLUS

Island 28, 59, 77, 79, 92, 94, 99, 109, 111, Laacher See 85, 88, 93
142, 157, 159 Lac Pavin 85, 88f., 93
Isotop 120, 120, 121, 122, 123, 124, 126, Lake Agassiz 139
127, 136, 161f., 223 Lava 14, 40, 70–73, 77f., 80, 82, 84, 87f.,
90, 93f., 96, 206
Jahresringe 128f., 135, 194–196, 218, 222 Leitfossil 208, 211
Johannes Paul II. 35 Leonardo da Vinci 144–146, 157f., 167,
Jüngere Dryaszeit 139, 161, 181, 181 177, 191
Leopardi, Giacomo 111, 217f.
Kambrium 38, 203, 205, 208, 214, 215 Leverrier, Urbani 118, 121
Känozoikum 46, 208, 214, 215, 217 Libby, Willard F. 119
Kara-Bogaz 24–26 Lithosphäre 59, 59
Karawanserei 21, 22, 24 Lithosphären-Platte 59, 60, 64, 77, 93, 137
Karbon 165, 208, 214, 215 Löss 85, 116, 182
Kaspisches Meer 15, 15–34, 19, 20, 27, 30, LOFAR-Projekt 52f.
33, 66, 69, 113, 121, 127, 132, 169, 223 Lomonossow, Michail Wassiljewitsch 38,
Katastrophe 8, 11, 15f., 18, 24, 38, 48, 50, 48, 167
62f., 73, 75, 79–81, 85, 87, 90, 93, 98, Lorenz, Edward 108
102f., 114, 116, 140, 147–149, 155f., Lyell, Charles 38, 45–51, 59f., 62, 106, 111,
160, 174, 202, 206, 208f., 212, 219–222, 114, 116, 128, 158, 202, 205f., 217
228, 231f.
Katastrophismus 39, 48, 50, 62, 202, 205, Mäander, mäandrieren 176–179, 180, 181,
207, 226 183, 185, 187, 221f.
Katmai 94, 100 Maas 115, 173, 179–186, 179, 182, 183,
Kaukasus 20f., 32, 112, 129 184, 185
Kleine Eiszeit 30f., 73, 108f., 111, 112, 113– MacLaren, Charles 158
115, 125, 127–132, 129, 149, 150, 175, Magma 14, 41, 43–45, 59f., 71, 77, 87f.,
176, 181, 196, 217f., 222, 230 90–94, 92, 96, 103, 199
Klima 7–11, 16, 19, 24, 26, 29–31, 32, 46, Magnetfeld 183, 210, 222
49, 95, 99, 101–104, 108–111, 116, 119, Magnetit 210
123f., 127, 132, 135, 137, 139f., 143, Magnitude 48, 53–55, 54, 55, 56, 57, 59,
159, 170f., 175, 185, 197, 199, 217f., 62–66, 62, 68, 97, 98, 102, 104, 121,
221, 223f., 227–232 121, 123, 124f., 126, 131, 136, 138, 150,
Klimaänderung, -veränderung, -wandel 16, 152, 174f., 175, 177, 209, 220f.
23, 28, 51, 99, 108f., 111, 112, 126, 129, Mammut 7, 48, 153, 184
135, 137, 150f., 181, 200, 210, 218, Mandelbrot, Benoit 65f., 108
221–224, 229f., 232 Maunder-Minimum 129, 131f.
Klimakurve 12, 121, 124f., 129, 136 181, Meeresspiegel 7f., 16–18, 19, 20–26, 20, 29,
186, 218 31f., 33, 34, 45, 47, 115, 142, 149, 150,
KNMI 52–55, 108f., 148 151f., 154, 157, 159–163, 161, 164, 165,
Kohlenstoff-14, C-14 26, 30, 64, 76, 88, 166, 168–171, 169, 170, 218, 222, 225,
119f., 127f., 154, 161, 179, 183, 195f., 229, 231f.
199, 212 Meeresspiegelabsenkung 24, 115, 162, 167,
Kohlenstoffzyklus 14, 196, 226 167
Kopernikus, Nikolaus 117, 167 Meeresspiegelkurve 8, 19, 29
Koralle 57, 64, 125, 129, 130, 132, 160– Mega-Rippeln 144
163, 161, 163, 164, 215, 216, 222 Mesozoikum 46, 166, 208, 210f., 214, 215
Korallenriff 160, 162, 202 Messinianische Krise 167, 168f., 248
Korallenterrasse 162f., 186, 200 Metazoen 203, 204
Kosmische Strahlung 127f., 230 Meteorit 38, 64, 209, 210
Krakatau 61, 94–96, 100, 100, 102 Meteoriteneinschlag 11, 14, 16, 140, 205,
Kreide 47, 48, 137, 138, 139f., 165, 205, 208f., 209, 220
208, 210, 211, 214, 215, 216, 218, 220 Methan 123, 124, 133, 134, 136, 140, 227
Kreislauf 13, 15, 69, 196, 226 Milanković, Milutin 10, 103, 118f., 121f.,
kritisch 20, 67–69, 129, 181, 185 124f., 132f., 135–137, 138, 139, 150,
REGISTER 253

161, 163, 166, 171, 184, 207, 210, 222, Plattentektonik 40f., 59, 59, 92f., 116, 137,
225, 227, 229 139, 162, 164f., 168, 187, 207, 219f.,
Mittelalterliche Warmzeit 32, 111, 113, 228
125, 127, 129f., 149, 150, 163, 175, 176, Playfair, John 42–45
196, 222, 230, 232 Pollen 184, 198–200
Mittelmeer 70f., 86, 87, 99, 156, 168 Pompeji 101, 107
Mittelozeanischer Rücken 59, 77, 98, 137 Ponte, Lowell 109f., 151
missing link 49 Power spectrum 121
molekulare Uhr 199f., 212, 219 Präzession 117–119, 118, 122, 124f., 133,
Montagne Pelée 16, 100, 102 134, 135, 137
Moor 127, 149, 154, 177 Prigogine, Ilja 13
Moräne 73, 114, 116, 119, 129, 143 Prokaryonten 192, 202, 204
Mount Mazama 88, 90, 94, 102 proxy 129, 218
Mount Saint Helens 79, 95f. Ptolemäus 20
multi-proxy 129 punctuated cyclicity 222, 225
Mutation 199, 205, 212f., 215, 219 punctuated equilibrium 207, 212
Puy de Dôme 82–85, 87f.
Nachbeben 57
Nachhaltigkeit 8, 225, 233 Quartär 185, 208, 210f., 214, 215, 217
NAO, Nordatlantische Oszillation 29, 132
NAP, Normaler Amsterdamer Pegel 147, Radioaktivität 12f., 14, 36–38, 40, 127,
152, 154 207, 219, 225
Natürliche Selektion 49, 200, 202, 212 Radiokarbondatierung 24
Neandertaler 103, 115 Refugien 115, 153, 197–199, 198
Nederlandse Aardolie Maatschappij, NAM 53f. Regenwald 58, 101, 103, 115, 189f., 192–
Neogen 140, 208, 215, 248 194, 196f., 199–202, 207, 226
Neptunismus 41 Reporting index 98
Nevado del Ruiz 72–77, 76, 79, 82, 84f., Rhein 85, 86, 94, 109, 172, 174f., 175, 176,
87f., 93, 95, 101f., 221, 228 177, 178, 179f., 179, 186f.
nicht-lineare Prozesse 135, 220, 222, 229 rhyolithisch 92, 93, 225
Niederterrasse 163, 181, 182, 184 Richter, Charles F. 52–69
NITG-TNO 54, 182 Richterskala 11, 53, 55, 57, 62, 64, 92
Nordsee 7, 28, 32, 38, 86, 116, 147, 150, Riff s. a. Barriere-, Fransen-, Korallen- 144,
151, 152f., 155, 186, 187, 221 145, 163, 200
Nyossee 85 Ring of Fire 77, 77, 87, 93
Rippeln, Rippelmarken 144f., 145
Ökosystem 191, 193, 196, 202, 224, 229 Ruddiman, William 124, 160
Olivin 91 Rudwick, Martin 38
Ordovizium 208, 214, 215 Rückkoppelung 124, 134, 135, 229, 231
Ostsee 7, 125, 187 Ruhewinkel, maximaler 67, 145
ozeanisch 60, 93, 164
Sauerstoffisotopen 105, 120, 120, 121,
Paläogen 140, 208 122–124, 123, 126, 127, 161f.
Paläomagnetismus 183, 184, 210 Scharnier 184, 185
Paläoseismologie 64f. Schiefe der Ekliptik 118f., 122, 124, 137
Paläozoikum 46, 137, 165, 166, 208, 214, Schlammlawine 73–75, 77, 79–81, 88, 221
215 Schlammstrom 75, 79, 102
Paleocene-Eocene Thermal Maximum 140 Schöpfung 13, 35–37, 39f., 46, 54, 145,
Pangäa 137, 165 204f.
Páramo 72, 73, 75, 82, 193 Schwabe-Zyklus 131
Parícutin 87f. Schwarzes Meer 27, 32, 159
Pazifik, Pazifischer Ozean 59, 60, 61, 77, Schwerkraft 37, 39, 117
165 Seismograf 52f., 55, 79, 94
Perm 137, 204f., 208, 214, 215, 248 Seismogramm 15, 52f.
Permafrost 48, 185 selfish gene 216
Phanerozoikum 217, 249 self-organized criticality 67f.
254 DER LANGE ZYKLUS

self-similiarity 66 Trendwende 110f., 222f., 213


Sequenz-Stratigrafie 166 Troposphäre 95
Sicherheitsnorm 151 Tsunami 61, 221
Silikate 91
Silur 208, 214, 215, 249 Überschwemmung 8, 11, 14, 17, 26, 74,
Sintflut 36, 39, 48, 50, 114, 116, 156–159, 107, 112, 147f., 157, 170, 173, 175–177,
168 176, 179, 209, 220– 222
Skythen 127 Überschwemmungsfrequenz 176, 179
Smithsonian Institution 96, 98f., 101f., 196 Umkehrung 210, 211
Solstitien 117 Umlaufzeit 196
Sonnenaktivität 31, 131, 230f. UNESCO 17, 79
Sonnenenergie 117, 119, 124, 128, 133, Uniformitarianismus 45, 50f.
135, 139 Urknall 13, 40, 217
Sonnenflecken 29, 31, 67f., 128, 129, 131, Ussher, James 35–37, 54
132, 133, 135, 137, 222, 225
Sonnenstrahlung 133, 135, 191, 227 Variabilität 66, 204, 230
Sonnenwind 128, 131, 210 Verdunstung 19, 28, 134, 168
Spektralanalyse 121, 121, 137 Verwildernder Fluss 178, 180, 181, 183, 221
Spitzenabflüsse 176, 181 Vesuv 39, 84, 101f., 206
steady-state earth 45 Victoriasee 216
Steinkohlebrände 40 Viskosität 91–93, 92
Steno, Nikolaus 46, 152, 185 Volcanic Explosivity Index (VEI) 94–96, 97, 98,
Stickstoff-14 127 100–102, 105
Stickstoffzyklus 14 vulkanische Asche 65, 70, 72, 76, 85, 93f.,
Stiller Ozean 78, 88, 93, 110, 187 100f., 207
Strabo 20 vulkanischer Winter 103f., 139
strata 78 vulkanotektonische Depression 103
Stratosphäre 85, 95, 99
Stratovulkan 77f., 87, 93f. Wasserbilanz 19, 25, 30
Sturmflut 12, 148–152, 152, 218, 220–222, Wasserdampf 120, 133, 170, 230
227f. Wasserkalender 148
Sturmflutfrequenz 151, 228 Wehle 173
Subduktionszone 59f., 59, 61, 65, 77, 93f., Welle 13–16, 15, 33, 38, 44, 48f., 51, 57,
139 61, 63, 102, 116, 121, 127, 130, 139,
Südliche Oszillation 132 144f., 147, 150, 155, 157, 177, 181, 202,
Superkontinent 137, 165 219, 221–223, 225, 228, 232
Superposition 46, 152 Werner, Abraham Gottlob 38, 40f.
Switotsch, Aleksandr Adamowitsch 32, 66, Westerschelde 16, 144, 147f.
121 wetlands 17
Wiederholungszeit 12, 54, 152, 174, 175,
Tambora 94–96, 100, 102–104 176, 177, 180, 228
Tektonischer Zyklus 14 Wolga 17f., 24f., 28, 32, 34, 127
Tephra 94, 96, 97, 103 World Meteorological Organization 108
Terrasse s. a. Korallen-, Nieder- 162f., 163,
181–186, 184, 185 Yellowstone Park 105, 225
Tetraeder 91f. Yucca Mountain 225f.
Tobasee 102, 104f., 225
Topex-Poseidon 20, 168, 169, 218 Zarathustra 31, 218
Torf s. a. Basis- 8, 38, 119, 127, 146, 149, Zirkulationstyp 24, 28, 219
179, 181, 198f., 202, 223 Zyklizität 10f., 29, 45–47, 49, 103, 116,
Treibhauseffekt 28, 133, 136f., 156, 224 119, 121, 121, 125, 131, 133, 135, 137,
Treibhauserde 137, 139, 140, 200 140f., 143, 163, 166, 170, 184, 207, 222
Bildnachweis

Abb. 1: Meadows et al., 1972 Abb. 39: Turcotte, 1997, nach McClelland
Abb. 2: Watson et al., 2001 et al., 1989
Abb. 3: Skinner und Porter, 1985, aus Abb. 40: Simkin et al., 1981
Imbrie und Imbrie, 1979 Abb. 41: Simkin et al.,1981
Abb. 4: Press und Siever, 1994 Abb. 42: Zielinski et al., 1996
Abb. 5: http://epswww.unm.edu Abb. 43: www.ipcc.ch
Abb. 6: www.knmi.nl Abb. 44: Lamb, 1995
Abb. 7: Mesjtsjerskaja, 2001 Abb. 45: S. Kroonenberg
Abb. 8: Kroonenberg et al., 2000 Abb. 46: Pannekoek und van Straaten,
Abb. 9: S. Kroonenberg 1982, nach Kettner, 1960
Abb. 10: Aladin et al., 2004 Abb. 47: Skinner und Porter, 1987
Abb. 11: Rytsjagov, 1997 Abb. 48: Imbrie und Imbrie, 1979
Abb. 12: S. Kroonenberg Abb. 49: Skinner und Porter, 1987, nach
Abb. 13: Svitotsj, 1991 Hays et al., 1976
Abb. 14: Varoesjtsjenko et al., 1987 Abb. 50: Imbrie und Imbrie, 1979
Abb. 15: S. Kroonenberg Abb. 51: Imbrie und Imbrie, 1979, nach
Abb. 16: S. Kroonenberg Hays et al., 1976
Abb. 17: Pannekoek und van Straaten, Abb. 52: McManus, 2004
1982, nach de Lapparent Abb. 53: Petit et al., 1999
Abb. 18: www.knmi.nl Abb. 54: Weedon, 2003, nach Stuiver et
Abb. 19: www.knmi.nl al., 1997
Abb. 20: Ahorner, 1994 Abb. 55: Ruddiman, 2001, nach O’Brien
Abb. 21: Camelbeeck und Meghraoui, et al., 1995
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256 DER LANGE ZYKLUS

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Abb. 89: Berendsen und Stouthamer, 2001

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