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Knud Breyer

»POULENC-JANUS« – ZUM 50. TODESJAHR VON FRANCIS POULENC

In seinen postum veröffentlichten Lebens-


erinnerungen Journal de mes mélodies
nennt der am 30. Januar 1963 in Paris
verstorbene Komponist und Pianist Fran-
cis Poulenc sich selbst »Poulenc-Janus«
und fügt hinzu, am Besten würde seine
Persönlichkeit in der Gegenüberstellung
zweier Bildnisse und zweier Kompositi-
onen zur Geltung kommen, den Portraits
von Jean Cocteau und Christian Bérard
und den Werken Le Bal masqué und Mo-
tets pour un temp de pénitence. Cocteau
zeichnet Poulenc in seiner Karikatur in der
Pose des extrovertierten Music-Hall-Pi-
anisten, der lasziv-provozierend über die
Schulter blickt (Abb. 2), Bérard malt ihn in
gedeckten Erdtönen als in sich gekehrten,
mit dem Rücken zum Klavier sitzenden
Komponisten, ernst und mit einem An-
flug von Versonnenheit ins Weite blickend
(Abb. 1). Hierzu korrespondierend ge-
horcht die profane Kantate Le Bal masqué
für Bariton und Kammerorchester (1932)
einer Ästhetik des Banalen und spielt ef-
fektvoll mit Elementen der Unterhaltungs-
musik, während es sich bei den Motets
pour un temp de pénitence (1938/39) um
ein Sakralwerk im alten Stil handelt, das
zur inneren Einkehr aufruft. Poulenc war
Mitglied der »Groupe des Six«, jenem Zu-
sammenschluss von Komponisten, die mit
der romantischen Tradition und dem her-
kömmlichen Kunstbegriff brechen wollten,
und gleichzeitig Kenner und Bewunderer
der Klassiker. Er verkehrte in der höheren
Pariser Gesellschaft und liebte ebenso
das rustikale Leben auf dem Land, er gab
viel Geld für Luxus aus und blieb doch Abb. 1: Francis Poulenc porträtiert von Christian Bérard.
bodenständig. Sein Werk spiegelt viel-
fach Witz, Schlagfertigkeit, Leichtigkeit Komponisten seiner Generation gehört, de durch den unverstellten Rückgriff auf
und Lebenslust wider und dennoch war verehrte zwar Schönberg und Webern, zahlreiche unterschiedlichste Vorbilder
Poulenc immer wieder klinisch depres- schrieb selbst aber Zeit seines Lebens tra- beeinflusst ist. Diese Dialektik zieht sich in
siv. Er war bekennender Homosexueller, ditionell tonal. Er entwickelte einen aus- Zyklen durch sein gesamtes Werk, das Kla-
aber auch überzeugter Katholik. Poulenc, geprägten, sich auf alle Ausdrucksbereiche viermusik, Lied- und Chorkompositionen,
der zu den meistgespielten französischen erstreckenden Personalstil, der aber gera- Kammermusik – vor allem für Bläser –,

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Knud Breyer

Ballette, Konzerte, Opern, Film-, Theater-


und sogar Varietémusik umfasst.
Frühe musikalische Prägung
Francis Poulenc wurde am 7. Januar 1899
in die gutbürgerliche und behütete Welt
eines Stadtpalais nahe des Élysée-Palastes
im noblen VIII. Pariser Arrondissement ge-
boren. Der Vater, gemeinsam mit seinen
Brüdern Geschäftsführer eines pharma-
zeutischen Unternehmens, aus dem spä-
ter der Chemiekonzern Rhône-Poulenc
hervorgehen sollte, stammte aus Avey-
ron in den Midi-Pyrénées, die Mutter kam
aus einer Pariser Raumaustatter-Fami-
lie. Ihr Bruder, zu dem Francis ein inniges
Verhältnis pflegte, hatte gemeinsam mit
Henri Tolouse-Lautrec Kunst studiert. In
dieser Familienkonstellation vereinen sich Abb. 2: Jean Cocteau zeigt eine andere Seite von Poulenc.
also ländlich-katholischer Traditionalis-
mus, großstädtische Lebensart und kul- wichtige Kontakt zu Jane Bathori, einer deren Atmosphäre Cocteau so treffend
turelle Unkonventionalität. Sowohl der Sopranistin, die einen musikalischen Salon in seiner Karikatur eingefangen hat. Die-
Onkel als auch Poulencs Eltern wa- führte, in dem sich bereits etablierte mit se Phase ist bestimmt durch die Zusam-
ren musikbegeistert. Während der On- jungen Komponisten trafen. Hier dürfte menarbeit mit Cocteau und den Anschluss
kel ein Opern- und Operettenliebhaber Poulencs Wunsch, Komponist zu werden, an die 1920 gegründete »Groupe des Six«
war, schwärmten der Vater für Beetho- gereift sein und hier lernte er unter ande- (neben Poulenc Germaine Tailleferre, Da-
ven und Franck und die Mutter für Mo- rem Arthur Honegger und Germaine Tail- rius Milhaud, Arthur Honegger, Georges
zart und Chopin. Ersten Klavierunterricht leferre kennen, mit denen er sich später in Auric, Louis Durey und Jean Cocteau). Für
erhielt Poulenc bei der Mutter und dann der »Groupe des Six« wieder zusammen- Cocteaus Theater- bzw. Balletthappenings
bei der Assistentin der Nichte von César finden sollte. mit den sprechenden Titeln Jongleurs, Le
Franck, wo er mit der Musik Claude Debus- Gendarme incompris und Les Mariés de
Selbstfindungsphasen
sys und Maurice Ravels vertraut gemacht la Tour Eiffel schreibt er die Bühnenmusik
wurde. Früh prägend wirkten zudem ein in 1917 war Poulenc Vollwaise gewor- und vertont mit Toréador und Cocardes
der Nachbarschaft befindliches Grammo- den, lebte, mit einem Erbe ausgestattet, auch Cocteau-Gedichte. Zwar entstehen
phongeschäft, wo man gegen Münzein- das ihm Unabhängigkeit ermöglichte, im in dieser Frühphase um 1920 auch die er-
wurf Schallplatten hören konnte, sowie Haushalt seiner Schwester und widmete sten wichtigen Kammermusikwerke, nicht
ein Buchladen in der rue de l’Odéon, wo sich ersten ernsthaften Kompositionsver- wenige Kompositionen dieser Zeit hat
sich die Avantgarde zu Dichterlesungen suchen. Neben einem eng an Strawinsky Poulenc aber wieder vernichtet oder spä-
traf. Waren Poulencs kindliche musika- orientierten Klavierwerk entstand die Rap- ter gründlich überarbeitet (Sonate für Kla-
lische Erfahrungen vor allem romantisch sodie nègre für Bariton, Streichquartett, vier zu vier Händen, Sonate für zwei Kla-
ausgerichtet – noch vor Einsetzen des Flöte, Klarinette und Klavier, für die Pou- rinetten, Sonate für Klarinette und Fagott).
Stimmbruchs begleitete er sich selbst bei lenc einen afrikanisch anmutenden dada- Zwar hatte Poulenc mit seinen Bühnen-
Schuberts Winterreise – bedeutete das Er- istischen Nonsense-Text erfand. Mit die- kompositionen, insbesondere mit dem
lebnis einer Aufführung von Strawinskys sem unkonventionellen Werk bewarb sich Ballett Les Biches (1923), das Sergej Dja-
Le sacre du printemps 1914 einen Wen- Poulenc am altehrwürdigen Pariser Kon- gilev in das Programm seiner »ballets
depunkt in seiner frühen musikalischen servatorium. Während der Kompositions- russes« aufnahm und international be-
Entwicklung. Poulenc hatte ein neues Idol professor Paul Vidal sich nicht zu Unrecht kannt machte, großen Erfolg, dennoch war
entdeckt. Im darauffolgenden Jahr erhielt – auch wegen der Widmung an Erik Satie er mit seiner bisherigen Entwicklung un-
Poulenc mit Ricardo Viñes einen renom- – provoziert fühlte und Werk und Aspirant zufrieden. Für das Ziel, jener seriöse Kom-
mierten Klavierlehrer, der sich insbeson- abwies, ermöglichte Bathori im Dezember ponist zu werden, als den ihn Bérard in
dere für die zeitgenössische Klaviermusik 1917 eine Aufführung, die ein voller Erfolg seinem Gemälde darstellt, waren noch an-
engagierte und mit Ravel, Debussy, de Fal- wurde. Auf Vermittlung von Viñes sorgte dere Werke nötig und auch eine fundierte
la und Albéniz freundschaftlich verbunden Strawinsky für die Veröffentlichung der Ausbildung. Bisher hatte Poulenc seine
war. Über Viñes, der ihn auch mit Erik Satie Rapsodie nègre, wie auch weiterer früher Kompositionsstudien weitgehend auto-
und Georges Auric bekannt machte, ergab Kompositionen, bei Chester in London. Es didaktisch über Lektüre betrieben (neben
sich der für Poulencs weitere Entwicklung folgt nun jene Phase im Schaffen Poulencs, dem praktischen Werkstudium theore-

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»Poulenc-Janus«

ein und zwei Klaviere sowie eines für Or- Kontakten. Poulenc war mit den Dichtern
gel, Streicher und Pauken. In die Spätphase Apollinaire, Eluard und Max Jacob be-
seines Schaffens schließlich fällt die Kom- freundet, die er hauptsächlich in seinem
position einer großen Oper, Dialogues des Liedœuvre vertont, das wohl auch deshalb
Carmélites (1957). so umfangreich ausfällt, weil Poulenc es
Mitte der 30er Jahre entdeckt Poulenc für sich selbst als Begleiter des Baritons Pier-
sich den in seiner Familie tief verwurzel- re Bernac auf den Leib schrieb. Bekannt-
ten katholischen Glauben wieder. Die re- schaften, wie die mit Wanda Landowska
ligiöse Innigkeit, die sich in einem guten (Abb. 3) oder dem Pianistenduo Arthur
Dutzend geistlicher Chorwerke nieder- Gold und Robert Fizdale, haben das Cem-
schlägt, ist aber nur eine der vielen Ge- balokonzert (Concert champêtre) und die
fühlslagen, die sich bei Poulenc künstle- Sonate für zwei Klaviere (1953) angeregt.
risch Bahn brechen. Vollzog sich vorher Der Beginn der sakralen Phase 1936 ver-
die von ihm selbst beschriebene Janus- dankt sich gleichfalls einem konkreten An-
köpfigkeit chronologisch, fällt die emoti- lass. Poulenc erfuhr vom Unfalltod seines
onale und ästhetische Dialektik nun zeit- Komponistenkollegen Pierre-Octave Fer-
lich zusammen. Poulenc changiert in den roud während eines Aufenthalts in Roca-
außerordentlich produktiven annähernd madour, wo sich eine schwarze Madonna
drei Jahrzehnten bis zu seinem Tod in ra- befindet, und komponierte daraufhin Lita-
scher Abfolge zwischen dem Geistlichen nies à la Vierge noire. Und ohne die Anfra-
und dem Weltlichen, stellt die hypertro- gen von Ginette Neveau und Pierre Four-
phe Dichtung Paul Eluards und Guillau- nier wäre Poulenc wohl nie auf die Idee
Abb. 3: Wanda Landowska mit me Apollinaires dem Volkslied gegenüber gekommen, je eine Violin- und Cellosonate
Francis Poulenc. (Chansons françaises, Huit chansons polo- zu schreiben.
naises), setzt sich in L’histoire de Babar, le Als Autodidakt, der nie Student an einem
tische Literatur wie Henry Rebers Harmo- petit élephant und Petites voix mit seiner Konservatorium war, hatte Poulenc ein
nielehre, Gabriel Parès Holzbläserkunde, eigenen bipolaren Gefühlslage aus kind- undogmatisches Verhältnis zur Musik-
Rimsky-Korsakovs Instrumentationslehre), licher Perspektive auseinander und kehrt geschichte und zu Vorbildern. Über seine
in Charles Koechlin fand er nun einen re- 1952 mit dem Capriccio d’après Le bal gesamte Schaffenszeit bereitete er sich
nommierten Lehrer, der ihn grundständig masqué für zwei Klaviere, einer Bearbei- durch intensives Studium fremder Werke
in Kontrapunkt unterrichtete. Später wer- tung der gleichnamigen Kantate von 1932, auf das eigene Komponieren vor. So erar-
den auch noch Studien bei Albert Roussel zu seinen teils frivolen musikalischen An- beitete er sich beispielsweise für seine Di-
und Nadia Boulanger folgen. Außerdem fängen zurück. alogues des Carmélites Verdi-Opern sowie
fuhren Poulenc und Milhaud 1922 nach Mussorgskys Boris Godunow und betrieb
Das Eigene und das Fremde
Wien und Salzburg und machten dort für seine Sakralwerke Monteverdi-Studi-
bei Festivals für Neue Musik die Bekannt- Francis Poulenc war ein universell gebil- en. Ästhetisch hat sich Poulenc zunächst
schaft Schönbergs und Weberns. Zwar hat deter und sehr belesener Komponist, der in an Satie und vor allem an Strawinsky ori-
Poulenc die kleine Form sowie die mensch- seinem Landhaus bei Noisay eine umfang- entiert. Besonders deutlich tritt der Vor-
liche Stimme, auch transformiert im Blä- reiche Bibliothek unterhielt. Von Kindheit bildcharakter Strawinskys in der frühen
serklang, als musikalischen Ausdrucks- an verbrachte er viel Zeit mit der Lektüre. Sonate für zwei Klarinetten hervor. Zwar
träger stets bevorzugt, die neue Sicher- Als Autodidakt war er darauf angewiesen, bleiben das von Satie übernommene mo-
heit durch die Unterweisung bei Koechlin selbst Erfahrungen zu sammeln und da- dulationsarme Komponieren mit kleinen
schlägt sich aber auch in verstärkter Arbeit raus Konsequenzen für das eigene Kom- Motivzellen ebenso wie der von Strawinsky
an klassischen Gattungen und großen For- ponieren zu ziehen. Begünstigend wirkte inspirierte Neoklassizismus erhalten, diese
men nieder. Poulenc hat klavierbegleitete hier das Zusammenspiel aus früher und Grundschicht hat Poulenc aber – und das
Solosonaten für Flöte, Klarinette, Oboe, Vi- langjähriger Einbindung in die führenden macht seinen unverwechselbaren Stil aus
oline und Cello sowie eine Élegie für Horn Pariser Salons, wo sich unter der Schirm- – nach und nach mit immer neuen histo-
und Klavier, Bläsersonaten für zwei Kla- herrschaft von Jane Bathori und Wina- rischen Erfahrungen angereichert, die von
rinetten ferner für Klarinette und Fagott retta Singer, Prinzessin Edmond de Poli- Couperin und Scarlatti über Bach und Mo-
sowie für Trompete, Horn und Posaune, gnac, das Who is who der Künstlerszene zart, Schubert, Schumann und Chopin bis
außerdem je ein Bläsertrio und –sextett traf, und einem Selbststudium in der Ab- hin zu Debussy, Ravel und Prokofjew rei-
geschrieben. In den 30er und 40er Jah- geschiedenheit des familiären Landsitzes. chen, dem Poulencs letztes Werk, die So-
ren, als Poulenc einige seiner Frühwerke Hier vertiefte sich Poulenc in Musik, Li- nate für Oboe und Klavier (1962), gewid-
revidierte, richtete er auch mehrere seiner teratur und bildende Kunst. Vielfach ver- met ist. •
Ballette als Suiten ein. Ferner gibt es von danken sich seine Werke ganz konkret li-
Poulenc ein Cembalokonzert, Konzerte für terarischen Erlebnissen und persönlichen

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Breyer, Knud, ""Poulenc-Janus": Zum 50. Todesjahr von Francis Poulenc", 'rohrblatt: Die Zeitschrift
für Oboe, Klarinette, Fagott und Saxophon 28/3 (Falkensee, Germany: September 2013), 107-109.

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