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Eva L. Wyss
Universität Koblenz-Landau
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Liebesbriefe
und
Liebeserklärungen
im
Zeitalter
der
Digitalisierung
intimer
Kommunikation
1
Annäherung
Obschon man geneigt ist, den Liebesbrief, wie andere Gattungen auch, als einen mehr oder
weniger homogenen Idealtypus vorzustellen, wäre man dennoch sehr erstaunt, bei konkreten
Liebesbriefen nicht eine Verschiedenheit festzustellen, ist doch die Einzigartigkeit und bisweilen
auch die Originalität gerade ein Faszinosum des Liebesbriefs. Die Bewegung des Blicks auf das
beschriebene Blatt, nachdem es dem Umschlag entnommen wurde, ist von dieser Erwartung
gekennzeichnet und trifft sich aufs Vorzüglichste mit der Idee der Einzigartigkeit des geliebten
Individuums, die diesem im Rahmen des romantischen Liebesideals zugeschrieben wird
(Luhmann 1982, Burkart 1997: 42, Lenz 2003: 263).
So liest man auf einem Blatt Papier inmitten einer Zeichnung eines Tanzcafés, in dem Paare
zu den Klängen einer Musikband tanzen und mit einer Flasche Sekt an einem Tisch sitzen,
folgende Zeilen:
1 Liebling! / Kannst du dir vorstellen / daß wir einmal zusammen tanzen / werden, ach
ganz herrlich müßte es sein. / Bei zärtlicher Musik selbst zärt-/lich sein, ach Baby, ich
habe nur aus / Spielerei das gemalt und warum / ich dir das schreibe weiß ich nicht. / Ach
ich würde dir jeden Tag / einen Brief an dich schreiben und / auch von dir immer gern
einen be-/kommen, du schreibst so nett und / beinahe rührend und ich wünsche mir / zu
Sylvester wenn das neue Jahr / beginnt, daß wir uns recht bald / wiedersehn, denn dann
muß es / doch in Erfüllung gehn und die / Glücksgöttin frau fortuna nimmt / es in ihrer
Weinlaune auch nicht / so genau. Also Hedi ein recht frohes / Neujahr. // dein Rud.
(22.12.1938, LBA 1 4394, die Transkription folgt jeweils dem Original, Schrägstriche
zeigen einen Zeilenumbruch an.)
Eine starke romantische Versunkenheit des Autors kennzeichnet diesen Brief, der diese von
Sehnsucht getragene Gefühlslage auf vielfache Weise zum Ausdruck bringt. Die Kosenamen, die
direkte Du-Anrede, die Zäsuren, die sich im seufzenden „Ach“ wiederfinden und die
Aufforderung, mit ihm gemeinsam zu imaginieren, wie es wäre, wenn sie zusammen tanzen
würden, eine Liebesfantasie des Autors „bei zärtlicher Musik selbst zärtlich sein“, die sowohl als
Sprache wie als Bild einen ‚virtuellen’ Erlebnisraum schafft. ‚Rud.’ war voller Sehnsucht und
etabliert hier einen Fantasieraum, in dem die beiden als agierende Figuren auftreten. Doch
ebenso stark prägt die Kriegssituation den Brief, die alles ungewiss werden lässt, so dass man es
der Frau Fortuna überlassen muss. Der Liebesbrief steht hier zudem in der Tradition der
Neujahrskarten (vgl. dazu Linke 1996), die bis heute auch gern als Gelegenheit zu schreiben
genutzt wird und vielleicht in Ermangelung von vorgedruckten Karten zum Zeichnen anregt.
Auch der nächste Brief packt die Gelegenheit beim Schopf, ist er doch auch um Weihnachten
entstanden und übermittelt gute Wünsche zum neuen Jahr. Doch er wird nicht nur 55 Jahre
später verfasst, sondern auch in einem gänzlich anderen Beziehungskontext. Hier schreibt nun
ein abgewiesener, aber immer noch verliebter Jugendlicher ein selbstgebasteltes
Schülerzettelchen, das seinen Gesichtsverlust etwas abmindern sollte. Aber er vermeidet es nicht,
seine Gefühle wiederholt zum Ausdruck zu bringen, um dann mit einem musikalischen
Angelhaken im PS den Brief zu schließen: Er zitiert einen aktuellen überschwänglich
romantischen Hit (Meat Loaf, Sept. 1993), in welchem ein verliebter Mann seiner Angebeteten
das Blaue vom Himmel verspricht.
1 Die Briefe des Liebesbriefarchivs (vormals Zürcher Liebesbriefarchiv) bilden einen Teil der Bibliothek der
Universität Koblenz, wo sie auch langfristig lagern. Im Moment finden sich über 12'000 Briefe im Archiv,
aktuelle Angaben über die innere Struktur des Archivs findet man auf: www.liebesbriefarchiv.wordpress.com.
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 2
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
2 Weihnachten 1993 // Hallo N.// Obwohl Deine Aussagen / am letzten Dienstag /an
und für sich klar / genug waren, gehst / Du mir einfach nicht / aus dem Kopf. /Du
faszinierst mich, /obwohl ich Dich, wie / Du richtig bemerkt / hast, überhaupt nicht/
kenne. Sicherlich / hälst Du mich jetzt / für völlig verrückt, nach / dem Du mir
mitgeteilt /hast, ich sei nicht /Dein Typ. Aber wie / heisst es doch so / schön: Liebe
macht / blind, man verliert / den Sinn für die / Realität. Ich muss / akzeptieren, dass /
Du mich ablehnst, wie / hart und schmerz- / voll das auch immer /ist. Schade, dass Du
/ mir keine Chance ge-/geben hast, aber die Ge-/ setze von Sympathie / und Antipathie
sind wohl / unumstösslich. So, nun / habe ich genug gejammert./ Ich wünsche Dir von
Herzen/ frohe Weihnachten und ei-/nen möglichst reibungslosen/ Rutsch ins neue
Jahr. /Und vor allem eine/ möglichst / "N.-freie" Zeit. / Dein / N. N. // PS: Im
Hintergrund ertönt / gerade "I would do any-/thing for love". (1993, LBA 36)
Auch beim zweiten Beispiel handelt es sich um einen Liebesbrief, doch eher ein Exemplar der
peripheren Art. Thematisch ist er zwar zweifellos der Liebe gewidmet, doch die
Liebeserklärungen stehen funktional hier nun nicht als Ausdruck der Gefühle da, sondern
erscheinen verklausuliert, eher als Darstellung seiner dummen, weil zurückgewiesenen
Liebesgefühle, die als Referenzpunkt beschrieben werden müssen, um den Sinn der unerwiderten
Liebe auszuloten. So weisen manche Konstruktionen auf eine gewisse Verunsicherung hin
„obwohl (...) an und für sich klar genug“, und er wertet sozusagen ‚entgegenkommend’ seine
eigene Sicht ab, indem er die Perspektive des Gegenübers fokussiert. Er würde sie eben
„überhaupt nicht kennen“ und damit wohl „völlig verrückt“ sein. Er zitiert etwas unentschlossen
einen gewissen Fatalismus herbei, die „Gesetze (...) sind wohl unumstößlich“, stellt sein Werben
als „Jammern“ dar. Seine Signale erscheinen zwar ambivalent, doch das Liedtextzitat hebt die
zuvor erwähnten Ambivalenzen am Schluss wieder auf.
Die beiden Briefe illustrieren exemplarisch die Differenzen, die als Folge unterschiedlicher
kommunikativer, sprachlicher und außersprachlicher Parameter einen Liebesbrief in seiner
Ausgestaltung und auch in seinen Funktionen bestimmen (vgl. dazu Wyss 2000, 2003, 2008,
2010, 2011).
Wenn wir also geneigt sind, das erste Beispiel eindeutig der Textsorte Liebesbrief zuzuordnen,
liegt dies eher an dem Wunsch, einen Typus als idealen zu bestimmen, als an der faktischen
Empirie. Denn auch die Liebesbriefe weisen neben dem prototypischen Exemplar eine Reihe an
Subgattungen auf, die sich sowohl durch sprachliche wie außersprachliche Parameter typologisch
unterscheiden lassen. Es ist daher vielmehr davon auszugehen, dass Liebesbriefe in ihrer
sprachlichen und visuellen Gestaltung variieren. Diese Variation ist als Folge zu beschreiben,
einmal der situativen Einbindung in einen kommunikativen Kontext der als mehrphasig
vorzustellenden Liebesbeziehung (Lenz 1996) sowie den damit zusammenhängenden
kommunikativen Desideraten oder Aufgaben (Hausendorf 1999), die eine implizite oder explizite
Darstellung oder einen Ausdruck von ausgewählten Gefühlen in einem historischen und
soziokulturellen Kontext präferieren oder tabuisieren.
Im engeren Sinne lässt sich der Liebesbrief bestimmen als ein Schreiben an eine geliebte Person,
in welchem die Liebesgefühle explizit oder implizit zum Ausdruck gebracht oder dargestellt
werden (Wyss 2003). Als kulturelles Artefakt ist er damit auch ein Fragment des Liebesdiskurses
(„fragment du discours amoureux“, vgl. Barthes, 1977: 3) und bildet damit ein Element der
Enzyklopädie der affektiven Kultur (ebd., S. 20).
Im Kontext des Liebesbriefarchivs lässt sich aber nicht nur der eine Liebesbrief bestimmen,
sondern die Vielfalt an historisch-lebensweltlichen Bezügen, situationalen Konstellationen und
beziehungsbezogenen kommunikativen Anforderungen führt zu einer ganzen Typologie an
Liebesbriefen (vgl. Wyss 2003, 2010, ähnlich auch Nowak 2015), die mehr oder weniger
prototypisch sind, aber nach Alter, Geschlecht, Milieu des Verfassers oder der Verfasserin zu
variieren sind.2 Ein zentraler Repräsentant ist der (a) leidenschaftliche (zärtliche, verliebte) Liebesbrief
der Liebeserklärung. Hier werden Gefühle explizit zum Ausdruck gebracht und dargestellt,
wodurch aber der werbende Charakter etwas in den Hintergrund gerät. Eine wichtige Stellung
nimmt auch (b) das schriftlich diskrete Liebesgeständnis ein, das eine mehr oder weniger
überraschende Mitteilung der Gefühlslage mit sich bringt. Daneben steht ein weiterer
bedeutender Vertreter der Gattung, der in Korrespondenzen häufige (c) verbindende Liebesbrief,
bei dem die Konstruktion von Zusammengehörigkeit im Vordergrund steht. Dieser findet sich
häufig in einer Form eines schriftlichen Gesprächs, in welchem Erlebnisse bisweilen in tagebuchartigem
Stil dargelegt werden. In schwierigen lebensweltlichen Kontexten sind zudem psychologisch-
motivationale ermunternde Äusserungen möglich, aber auch die Reflexion der Beziehung in positiver wie
negativ kritischer Form, die bisweilen auch in die Zukunft extrapoliert werden und bei freudigen
Ereignissen als eigentliche Freudenbotschaft gelesen werden können. Eher organisatorischer Natur
sind (d) Liebesbriefe, in denen in erster Linie ein Treffen ausgehandelt, vereinbart oder aber
abgesagt wird oder (e) Glückwunschschreiben, die zu einem Geburtstag oder Jahrestag erfolgen,
ähnlich den (f) Begleitschreiben, die einem Geschenk beigefügt werden. Auf ein solches wird mit
einem (g) Dankesschreiben geantwortet. Schließlich sind die (h) Briefe zum Beziehungsende von
Enttäuschung getragen, die allerdings eher selten auch als Liebesbriefe wahrgenommen werden,
im Gegensatz zu deren Pendant, die (i) Rückholbriefe, die als listige Bittbriefe punkto
Leidenschaftlichkeit und strategischem Potenzial den prototypischen werbenden Liebesbriefen
nahe kommen. Nicht genannt wurde bisher das halböffentliche (k) Antragsschreiben, das im 19.
Jahrhundert noch als so genannter Verlobungsbrief oder Brautbrief, als Heiratsversprechen, die
juristische Legitimation der Paarbeziehung dokumentiert. Antragsschreiben werden jedoch
bisweilen auch heimlich zugestellt, um der potenziellen Gattin – hinter dem Rücken der Eltern –
eine ehrliche Zu- oder Absage abzuringen. Dass manches Schreiben sicher auch strategischer
Natur ist, erklärt sich von selbst.
Bei dieser letzteren Subgattung zeigt sich doch sehr deutlich, dass für die Liebesbriefe die
Rollenerwartungen, die an Männer und Frauen gestellt werden, von erheblicher Bedeutung sind
(Wyss 2000, 2002, 2014). So wird im 19., aber auch noch für lange Zeit im 20. Jahrhundert auch
im Schreiben der aktive Part dem Mann zugewiesen, wie Ettl (1984) dies an der
Briefstellerliteratur zeigt. Dabei übernimmt die Frau eine respondierende, wenn möglich
zurückhaltende Rolle ein. Wenig erstaunt, dass zudem das Alter als prägender Faktor zu
2 Bei dem bislang nicht empirisch zugänglichen Liebesbrief ist man wohl geneigt, eine Typologie zu projizieren.
Ohne empirische Analyse gelingt es durchaus, den Liebesbrief entlang pragmatisch-funktionaler Kategorien zu
unterscheiden: „Amatoria epistolae non omnes eodem in genere versantur. Aliae enim petunt, aliae expostulant,
aliae queruntur, aliae blandiuntur, aliae purgant.“, den bittenden, den fordernden, den klagenden,
schmeichlerischen oder den entschuldigenden Liebesbrief, wie dies schon Erasmus von Rotterdam getan hat.
Dies entnehme ich Erasmus von Rotterdam: De conscribendis epistolis. Anleitung zum Briefschreiben.
Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Kurt Smolak. Darmstadt 1980. (Ausgewählte
Schriften. Herausgegeben von Werner Welzig. Achter Band)
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 4
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
berücksichtigen ist. Es ist der junge Mann, der die leidenschaftlichen Briefe schreibt oder
schreiben sollte.3
Charakteristisches
In der interaktionalen Rahmung der mehr oder weniger romantischen Liebesbeziehung (einer
„Zweierbeziehung“, wie Lenz 2003 den Terminus prägt) finden sprachliche Merkmale ihre
eindeutige sozialsemiotische Verankerung, da sich das Schreiben in Bezug auf die aktuelle, aber
auch auf eine erwünschte oder vergangene Beziehung etabliert und damit eine Verbindung zum
Liebesdiskurs herstellt. Dabei fallen stets wiederkehrende sprachliche Konstruktionen auf, die
zwar nicht in jedem einzelnen Exemplar auftreten, aber dennoch als Hinweise, als Indikatoren
für die Textsorte, fungieren.
Es handelt sich dabei um sprachliche oder bisweilen auch über die Sprache hinausgehende
Zeichen des Begehrens wie Kosenamen, Liebeserklärungen und narrative Fantasien, die jene Gefühle
des Autors zum Ausdruck oder zur Darstellung bringen, die zu der Zeit des Schreibens und in
dem Milieu des Verfassers als der Liebesbeziehung zugehörig und für das Schreiben funktional
betrachtet werden. Über die Sprachlichkeit der Sprache hinaus spielen hier auch Kusslippen,
gemalte Herzchen, aber auch der ausgewählte Schwung der Handschrift, die Wahl des
Briefpapiers, die Besonderheit der Tinte sowie die Ausgestaltung des Briefes eine Rolle, indem sie
den Brief codieren.
a) Kosenamen
Liebling! – In der Regel treten Kosenamen in der Anrede auf. Oft liest man sie nach einem
Grußwort oder Anredepossessivum, wie in „Lieber Schatz“ oder „Mein Geliebter“ (vgl. Wyss
2000). Im Brieftext werden sie zu vokativischen Namen wie „(ach) Baby“. Der Kosename spricht
das Gegenüber an und benennt es, aber er definiert darüber hinaus auch die Beziehung. Denn er
hat in einer Paarbeziehung nicht nur den Zweck des Liebkosens, sondern markiert den Übergang
zur Intimität. Leisi (1983, 25) spricht von einem Übergangsritual, mit dem das Paar in den
Bereich der Paarwelt einzieht. Der Kosename zeigt damit auch nach außen die Intimität der
Beziehung an, im Kontext der Liebesbeziehung selbst hingegen bestätigt der Kosename dem
anderen die Nähe und intime Verbindung. Allerdings wählt man Kosenamen bekanntlich nicht
selbst, sie werden einem gegeben – mitunter wohl auch gegen den eigenen Willen. So trifft man
gelegentlich auch solche, die nicht nachvollziehbar sind, da kein bekanntes positives, erotisches
oder zärtliches Element zu erkennen ist, gelegentlich auch Schimpfnamen oder Spitznamen, die
im interaktionalen Kontext ganz selbstverständlich zu kosenden Namen werden (Günthner 2015,
Nübling 2012). Im Unterschied zu mündlichen Verwendungsweisen finden sich in der Schrift
auch elaboriertere Formen: Kosenamen („Spatz“) werden strukturell ausgebaut zu
Kosekonstruktionen („Mein liebes, gutes Muckelchen“) und komplexen Konstruktionen mit
weiteren Attributen (Hey Du, guten Morgen, Du tollste Braut aller Zeiten“, „süsser Spatz mit den
erotischen Ohren“).
b) Liebeserklärungen
Nach der Anrede folgt eine bisweilen aktualisierte Formen der Benevolentiae captatio
(Erheischen des Wohlwollens), man liest freundliche Dankesworte („Tausend Dank für Deinen
süssen, liebsten Brief“ [1931, LBA 3581]) oder es wird die „verrückte“ Situation geschildert, in
3 Die Situation ändert sich mit den 1960er Jahren: hier schreiben bereits Kinder Liebeszettelchen. So sind der
Schriftlichkeit durch den Entwicklungs- und Sprachstand gewisse Grenzen gesetzt, die zu einem peer group-
spezifischen Umgang mit Liebescodierungen führen (Wyss 2012b).
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 5
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
der man gerade schreibt („Die Klasse 8 schreibt eine Geschichtsarbeit – und ich sitze vorn und
schreibe an Dich.“ [1956, LBA 6897]) oder – gerade bei überraschenden Briefen – es werden die
näheren Gründe des Schreibens angedeutet („Sie werden denken, ich sei verrückt, Ihnen einen
Brief zu schreiben, wo ich Sie fast jeden Tag sehe.“ [1965, LBA 596].) Nach dieser Rahmung
folgt in manchen Briefen die mehr oder weniger explizite Liebeserklärung, in der die Gefühle
zum Ausdruck gebracht oder beschrieben werden. Dabei ist zu erwähnen, dass die
Liebeserklärung nicht eine „Erklärung“ der Liebe ist, weder im epistemischen noch im
juridischen Sinn. Vielmehr handelt es sich dabei um eine sprachlich mehr oder weniger
standardisierte Form der Liebesbekundung, die tatsächlich auch in der Form „ich liebe dich“
möglich ist, womit man sich, wie Auer (1988) gezeigt hat, in der mündlichen Kommunikation das
Problem der Reziprozität einhandelt, was auch in der Schriftlichkeit zu einem Dilemma werden
kann. Die Liebeserklärung fungiert auch als Oberbegriff und kann nicht auf diese Formel reduziert
werden, es sind damit ja gerade jene Äusserungen gemeint, die Liebesgefühle generell zum
Ausdruck bringen, die nicht einzig mit dem sprachlichen Ausdruck „Liebeserklärung“, sondern
bisweilen präziser auch als „Liebesbeteuerung“, „Liebesgeständnis“, „Liebesbekenntnis“ oder
sogar als „Liebesschwur“ bezeichnet werden.
In Briefen wird die Beschreibung und der Ausdruck der Liebesgefühle so in den Text
eingefügt, wie sie durch die aktuelle Beziehungskonstellation und die Kommunikationsziele
erforderlich sind, als eine Lösung der Aufgabe (Hausendorf 1999) im weitesten Sinn: neben dem
standardisierten „ich liebe dich“ (1968, LBA 6015) liest man ein gewichtiges „Ich liebe dich so
sehr!“ (1997, LBA 5561) oder ein begründendes „Warum ich dich liebe, ...“, oder einen
Liebesschwur „Ich werde dich für immer lieben“. Auf die Ausschliesslichkeit pocht „Ich liebe
nur dich“, den Bezug zur bisherigen lebensweltlichen Erfahrung herstellend „Du bist die Liebe
meines Lebens.“ oder aktuell „Du bist mein liebstes“ (1970er, LBA 391). Der Superlativ setzt
sich in vielen Beispielen als Absolutheitsanspruch fort, einmal als dargebotener Besitz „Nur dir
gehört mein Herz“, „ich bin ja nur Dir, ganz Dir allein gehöre ich, ich bin ja nur Dir mit ganzem
Herzen zugetan. (1917, LBA 478) dann auf ewige Zeit „Liebe und Treue bis ins Grab, wird zu
Dir halten. Dein Dich immer innig geliebter“ (1917, LBA 482) „ich warte auf Dich, mein Leben
lang“ oder im selben Schreiben aus der anderen Perspektive in hier skeptisch-besitzergreifendem
Gestus: „Ach, bin ich glücklich, das diese Frau hoffentlich mir allein gehört.“ (1968, LBA 6006)
Häufig sind dabei übertreibende Versprechungen in der Form hypothetischer Liebesbeweise
„ich würde alles für dich tun“, „Ich tu alles für dich (ich schwimme über den Atlantik für dich)“,
die ein Pathos mitbringen und den Liebesbrief bisweilen auch sprachlich-stilistisch in eine Sphäre
des Aussergewöhnlichen erheben.
Hinzu kommen andere Verfahren, die eine Alleinstellung zum Ausdruck bringen. Neben
kulturell bereits etablierten Metaphernfeldern (der Wärme, Hitze, der Krankheit, des Wahnsinns,
vgl. Kövecses 1990) sind teilweise ausgebaute Metaphern, die in vergleichsähnlichen
Konstruktionen verwendet werden, üblich, z.B. „Du bist das X in meiner Schatzkarte“ oder „Du
bist wie eine Melodie in meinem Kopf.“ Selten finden sich in Liebesbriefen stärker poetisierende
Strategien wie zum Beispiel ausgebaute Metaphoriken als ad hoc gebildete Liebesallegorien wie
z.B. „Wahrlich wunderbar, dass Du nicht bei mir und ich nicht bei Dir bin / ist nicht die Tortur,
die ich gefürchtet habe. Du verstehst mich nicht / falsch: natürlich vermisse ich Dich unsäglich.
Zum Glück aber sind /wir hier in Zürich zu zweit wie Ihr in Madrid auch zu zweit seid. / Wir
trennen uns nie, ständig bist Du meine Begleiterin, sitzest in meinem / Kopf, posierst und
änderst Dich und klopfst ab und zu mit dem / Besenstil an die Schädeldecke. Und Du tanzest in
meinem Herz um / ein mächtiges Feuer zum systolischen Breakbeat, schwingst Dich von einem
/ Herzkranzgefäss zum nächsten und verabreichst nur Liebes-/drogen intravenös. (1996, LBA
88)
Auch viele ausführliche Gefühlsbeschreibungen werden durch eine vergleichende
Beschreibung von Körperregungen als synästhethisch referenziert: Ich könnte in die Luft springen,
wenn ich dich sehe; Liebe ist, wenn mein Herz zu klopfen beginnt, wenn ich dich sehe; Bei deinem
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 6
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
Anblick muss ich unwillkürlich lächeln. Gerade bei den überraschenden Liebesbekenntnissen oder
unerwarteten Liebesgeständnissen werden diese als legitimierende Gründe angeführt: „Gleich bei
unserer ersten Begegnung in der Kirche von M. fühlte ich etwas in mir, was man landläufig Liebe
auf den ersten Blick nennt.“ (1954, LBA 662). Oder eher kindlich „Seit ich Dir im März beim
Rollschuhfahren begegnete, stimmte etwas nicht mehr mit mir.“ (1980, LBA 4306)
4 Vgl. Weigel 1999.
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 8
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
beigelegt werden konnte, ist es heute möglich, eine Audio- oder AV-Datei oder einen Link zu
einer Sharing Seite, z.B. zu einem YouTube-Video zu versenden.
Im letzten Jahrzehnt entwickelte sich das Internet von einem Massen-Informationsmedium
hin zu einem sozialen Medium, das (neben handfesten ökonomischen Interessen) mehr und mehr
die zwischenmenschliche Kommunikation in den Vordergrund rückt. In diesem neuen Zeitalter
der Beziehungen gewinnen die Sozialen Netzwerke an Bedeutsamkeit. Obschon der größte und
für die Beziehung wichtigste Teil der Liebeskommunikation offenkundig unter vier Augen
stattfindet, kommt damit der kommunikative Austausch zwischen Liebespartnern auch in der
Öffentlichkeit bzw. auf der „Vorderbühne“ vor.
Das Web 2.0 ermöglicht dabei eine Substitution nonverbaler Kommunikationskanäle (Marx
2012, 95), die für das Flirten zentral sind. Hier wird ein Flirt mit einer unbekannten Person
evoziert, z.B. durch Anstupsen, indem man bei einem Besuch auf der persönlichen Seite eines
anderen Facebook-Nutzers einen Button anwählt, d.h. wissen lässt, dass man da war. Diese durch
Facebook vorgestaltete „Aktion“ ahmt die Realität insofern nach, als dass eine Situation
nachempfunden wird, in denen eine Person eine andere mit Absicht berührt und anstößt, um ein
Gespräch zu bewirken, damit mit dem nächsten Schritt in die nächste Ebene, das verbale Flirten
übergeleitet werden kann. Gewiss kann auch hier das Ansprechen bzw. Anschreiben gelingen
oder nicht. Offensichtlich spielen dabei sowohl die Profilangaben als auch die erste Nachricht
eine Schlüsselrolle, die bei den anderen Aufmerksamkeit erregen und Interesse wecken (vgl. Marx
2012, S. 95, Mattern 2013).
Zudem diskutieren auch (nicht prominente) Paare in einem nächsten Stadium der
Zweierbeziehung auf Facebook ihre Beziehungsprobleme öffentlich (Tuor 2009). Es ist aber zu
erwarten, dass ein anderes Verhalten „aufgeführt“ wird als jenes, das in den unbeobachteten
Momenten des gemeinsamen Lebens an den Tag gelegt wird (vgl. Goffmann 1983). Kleinere
Studien haben gezeigt, dass Paare suggerieren, dass sie zusammen gehören und ein „Team“
bilden. Selbst wenn es in der Beziehung zuweilen kriselt, ist in Facebook davon nicht die Rede.
Neben alltäglichen Inszenierungen der Partner als Paar, beispielsweise durch die Aktualisierung
des Beziehungsstatus, werden gelegentlich auch stärker gefühlsgeladene, prägnante ‚Fragmente
des Liebesdiskurses’, wie etwa Liebeserklärungen oder Heiratsanträge, in der Öffentlichkeit oft
auch mit Bildelementen visuell und sprachlich vorgeführt. Dabei ist es nicht unwesentlich, wie
oft diese Bilder kommentiert oder geteilt werden (vgl. Schuto 2014, Diederichs 2014, Molitor
2014).
Neben Facebook ist auch der Microblogging-Dienst Twitter ein neues Feld für die
Liebeskommunikation. Es bildet sich ein neuer Typus von schriftlich vermittelter
Liebeskommunikation, der in Analogie zur Liebes-E-Mail oder Liebes-SMS als „Liebes-Tweet“
bezeichnet werden kann. Allerdings wird hier die Hybridität der Liebeskommunikation zentral,
denn der Bezug zum Personality Marketing ist zu offensichtlich. Wenn man bedenkt, dass
Politiker oder andere Prominente mit einem einzigen „sympathischen“ Kommunikat Tausende
von Followern ansprechen und emotional erreichen können, so erstaunt es kaum, dass unter den
Sendern solcher Liebes-„Tweets“ vor allem prominente User wie zum Beispiel Barack Obama für
Schlagzeilen sorgen (vgl. dazu Schuto 2014).
Allerdings teilen auch Normalsterbliche so wie Prominente, die die Kommunikationsplattform
für ihre politischen Zwecke nutzen, ihre Liebeserklärungen mit der ganzen Welt. Hier ist dann
jeder Tweet, egal von wem an wen er gerichtet wurde, von allen Internet-Usern, die die
entsprechende Seite besuchen, lesbar – nicht einmal ein eigener Account bei Twitter ist hierzu
notwendig. Trotz – oder gerade aufgrund – dieser Sichtbarkeit für jeden werden
Liebesbotschaften an den Partner auf Twitter gepostet.
Solch „höchstpersönliche Kommunikation“ (Luhmann 1982, S.24) bleibt damit nicht länger
mehr höchstpersönlich. Die Interaktion erscheint vielmehr als Balanceakt zwischen Nähe und
Distanz (Thaler 2012, S.143). Sie wird zudem auch zu einem Balanceakt zwischen Liebenden und
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 9
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
Zusehenden. Denn durch die Ausdehnung auf den öffentlichen Raum, den diese Paare für sich
beanspruchen, gelangen zärtliche Sendungen nicht nur in die unüberschaubare Ferne des
Internets, sondern die Liebe wird vor einer potentiell unendlichen Anzahl an Zeugen bekräftigt.
Dabei hat man zumeist keine Wahl – den Zuschauenden wird dabei die Rolle der Zeugen
zugewiesen. Wenn nun die Bekräftigungen bei wechselnden Liebespartnern das eigentlich
Unwiederholbare wiederholen, zeigt sich daran nichts anderes als die Absurdität des
romantischen Liebeskonzepts, durch das die Evidenz der Liebe nicht mehr gegeben scheint.
Literatur
Auer, Peter (1988): Liebeserklärungen. Oder: Über die Möglichkeiten, einen unmöglichen sprachlichen
Handlungstyp zu realisieren. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 19. 1(61). 11-31.
Barthes, Roland (1984): Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Clauss, Elke (1993): Liebeskunst: Untersuchungen zum Liebesbrief im 18. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler.
Döring, Nicola (2000): Romantische Beziehungen im Netz. In: Thimm, Caja (Hrsg.) (2000): Soziales im Netz.
Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag,
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Diedert, Verena (2014): Liebeserklärungen und -botschaften in neuen Medien. Eine Untersuchung anhand von
Beiträgen dreier Paare im sozialen Netzwerk Facebook. Hausarbeit an der Universität Koblenz-Landau, Campus
Koblenz.
Ettl, Susanne (1984): Anleitungen zu schriftlicher Kommunikation. Briefsteller von 1880 bis 1980. Tübingen:
Niemeyer.
Goffman, Erving (1983): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München. (1959: The presentation
of self in everyday life. Doubleday & Company, New York)
Günthner, Susanne / Knoblauch, Hubert (1994): 'Forms are the Food of Faith' - Gattungen als Muster
kommunikativen Handelns. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, H. 4: 693-723.
Günthner, Susanne / Zhu, Qiang (2015): Formen „verbaler Fellpflege“: Kosende Anredepraktiken in chinesischen
und deutschen SMS-Dialogen. In: Deutsche Sprache 43/1: 42-73.
Hausendorf, Heiko (2008): Zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft: Textualität revisited. Mit Illustrationen
aus der Welt der Urlaubsansichtkarte. Zeitschrift für germanistische Linguistik (ZGL) 36, 3. 319-342.
Kövecses, Zoltán (1990): Emotion Concepts. Berlin and New York: Springer-Verlag.
Lakoff, George / Johnson, Mark (1980): Metaphors we live by. University of Chicago Press.
Leisi, Ernst (1978): Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Lenz, Karl (2003): Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Stuttgart: Metzler.
Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mattern, Nicole (2013) Flirten online. Hausarbeit an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.
Marx, Konstanze (2012): „Ich finde dein Profil interessant“ – Warum virtuelle Erstkontakte auch für die Linguistik
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Linguistische Perspektiven auf YouTube, SchülerVZ &Co. Berlin. 95-109.
Messerli, Alfred (2000): Lesen und Schreiben in Europa 1500-1900. Vergleichende Perspektiven. Basel: Schwabe
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Molitor, Anne (2014): Sprachliche und bildliche Paardarstellung auf Facebook. Eine Fallstudie. Hausarbeit an der
Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.
Schuto, Rebecca (2014): Liebeskommunikation auf Twitter zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Hausarbeit am
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Simonis, Annette (2008): Liebesbrief-Kommunikation in der Gegenwart zwischen alt und neu: Schrifttradition, SMS,
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Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin: de Gruyter, 425-448.
Eva L. Wyss, Liebesbriefe und Liebeserklärungen / 10
Für das Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2015
Eva L. Wyss ist Professorin für Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der Universität Koblenz-Landau, Campus
Koblenz. Nach einem Studium der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Philosophie und Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte folgte sie einem Ruf an die Universität Koblenz-Landau. Sie betreibt Sprachwissenschaft
mit einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung (Soziolinguistik, Medientextanalyse, historische Textlinguistik).
1997 hat sie im Rahmen eines SNF-Forschungsprojekts an der Universität Zürich ein Liebesbriefarchiv
gegründet, das 2013 mit ihr nach Koblenz gewechselt ist und aktuell systematisch ausgebaut wird. (Weitere
Informationen: www.liebesbriefprojekt.wordpress.com)