Nur einmal hat man den Namen Friedrich A. Kittlers auch ausserhalb der sich so
nach Öffentlichkeit sehnenden Geistes- und Kulturwissenschaften gelesen, und das
war in den Tagen nach seinem Tod im Alter von achtundsechzig Jahren am
18. Oktober 2011. Die deutschen Medien widmeten dem deutschen Mediendenker
ausführliche, bewundernde Nachrufe. Aus ihnen sprach grosse Dankbarkeit für
einen Mann, der aufgrund seines Rufs, die sogenannten Medienwissenschaften
erfunden zu haben, hoch im Kurs stand.
Doch seither hat sich vieles verändert – die Medien expandieren zwar, aber die
Medienwissenschaften sind ausserhalb von Deutschland ein Orchideenfach
geblieben, und Kittlers Schriften befinden sich mittlerweile auf dem abschüssigen
Weg zum Status eines Geheimtipps aus der Vergangenheit. Kann es einen
gegenwartsbezogenen Grund für Nichtspezialisten geben, seine Gedanken heute zu
lesen und zu diskutieren?
Seine Fans wollten ihn als visionären Programmierer entdecken, Zeitdiagnostiker als
raunenden Propheten und Tausende von Vorlesungshörern, für die akademische
Konkurrenten den bösartigen Namen der Kittler-Jugend erfanden, als ein
Bildungserlebnis pur und per se. Endlich von seiner Institution entdeckt und
rehabilitiert, war er zum in Nadelstreifen gekleideten Ordinarius an der Humboldt-
Universität zu Berlin aufgestiegen.
Nach zwei in den frühen achtziger Jahren unter den Titeln «Aufschreibesysteme
1800/1900» und «Grammophon, Film, Typewriter» veröffentlichten Büchern fügten
sich Kittlers Arbeiten für die damals schnell wachsende Lesergemeinde zum
Fortsetzungswerk einer neuen Form von Geschichte zusammen. Darin bedingen
sich Maschinen und Bewusstsein, technische Handgriffe und künstlerische
Inspiration als komplexe Systeme wechselseitig und treiben so historische
Veränderung voran. Berühmt wurde Kittlers These, wonach die – von ihm
grenzenlos bewunderte – Philosophie Friedrich Nietzsches ohne die kugelförmige
Tastatur seiner Schreibmaschine nicht hätte entstehen können, weil deren Form
und Buchstabenverteilung exzentrische Gedankenkombinationen ermöglicht
haben soll.
Zum anderen und vor allem zeichnete sich aber auch die Prognose ab, dass im
Verlauf dieser Entwicklung menschliches Bewusstsein zunehmend marginal, ja
letztlich irrelevant werden soll und schliesslich allein wechselseitig verschaltete
Maschinen – schicksalhaft – über die Zukunft der Menschen und ihres Planeten
verfügen. Was dann genau unsere Rolle sein könnte, liess Kittler offen, entscheidend
war ihm die Idee einer funktionalen Optimierung der zukünftigen Systeme nach
Ausschluss des Bewusstseins.
Mit den Vorträgen «Die Nacht der Substanz» (zuerst 1989 in Bern gehalten) und
«There is No Software» (dem Beitrag zu einem Stanford-Kolloquium im Jahr 1991)
und ihrem noch weiter führenden Vorschlag, sogar Software als
Bewusstseinsresiduum aus der Technologiegeschichte als Kulturgeschichte
auszuschliessen, erreichte die neue Medien-Mythographie dann rasch ihren
dystopisch getönten Höhepunkt.
Den Lesern konnten solche Visionen gar nicht dunkel genug sein, während sich
Kittler selbst gelegentlich dazu verstieg, die Kompetenz des Programmierens und
eine säuberliche Ordnung der Festplatte als ethische Vorbedingungen für jede Art
der Computernutzung verbindlich zu machen. Nichts verachteten er und seine
Jünger so sehr wie das Apple-Design und den Apple-Screen, die Maus und jede
andere Variante von Benutzerfreundlichkeit – die sie für Symptome einer
existenziellen Verweichlichung hielten.
Um die Mitte der neunziger Jahre war deshalb die industrielle und intellektuelle
Entwicklung des Silicon Valley an Friedrich Kittler vorbeigezogen, und seine neue
Medien-Mythographie war als drastische Fehleinschätzung widerlegt.
Kittlers Vermächtnis
So leidenschaftlich begeistert war der im fortgeschrittenen Alter neue Friedrich
Kittler von den Epen des Homer, dass er die Entstehung des linearen Vokalalphabets
aus dem Bestreben von Zeitgenossen ableiten wollte, die Verse der Ilias und der
Odyssee jenseits der lebendigen mündlichen Tradition im Medium der Schrift
festzuhalten. Literarische Qualität war also nun an die Funktionsstelle systemischer
Optimierung als Bewegungskraft historischer Veränderung getreten.
Dabei sollten vor allem die in den Repertoires früherer Schriften nicht
repräsentierten Vokale für den Pol der Stimme, der Musik, der Sinnlichkeit und der
Weiblichkeit stehen, während die lineare Artikulation von Vokalen und
Konsonanten über die Strukturen von Syntax, Versform und Rhythmus zum
männlichen Gegenpol der Mathematik hinführte. Erstaunlicherweise hat dieser
Vorschlag Friedrich Kittler bei einigen Koryphäen der Altertumswissenschaft mehr
Respekt eingetragen, als er je von Ingenieuren und Programmierern gewann, die er
so sehr hofierte. Doch die These zur Entstehung unserer Schriftkultur ist bloss eine
Voraussetzung für die Gegenwartsrelevanz von Kittlers Denken.
Entscheidend wurde seine Erkenntnis, die vorsokratische Antike als eine Kultur
zwischen den Polen von Musik und Mathematik als Vorläuferin der heutigen
Computertechnik und ihrer Welt aufzufassen. In einem wenige Monate vor Kittlers
Tod publizierten Text zeichnet sich dieser Gedanke ab. Da steht: «Die
Computertechnik erscheint als Verbund von Hard- und Software, Physik und Logik,
der uns die fernen entflohenen Götter ersetzt. Zeus war zugleich der ungeheure
Himmelsglanz über Griechenland und der Blitz, der alles steuert. Nur Götter und
Computer sind imstande, den blauen Himmel oder aber die Gewitter, die als Wetter
morgen aufziehen werden, schon heute vorauszusagen.»
Denn wenn der antike Himmelsglanz die Welt nicht nur schön machte, sondern sie
zugleich für Bewegung im Raum erschloss, so verbessern die neuen, aus dem All
geschossenen Computerbilder von der materiellen Welt, die wir bewohnen, nicht
allein unsere Orientierung in ihr, sondern können zugleich ein neues Verhältnis
unserer Körper und unserer Imagination zu ihr eröffnen.
Die späten Schriften wecken unsere Aufmerksamkeit für die Chance und für die
Notwendigkeit, den durch Computer ermöglichten Komplexitätsgewinn in der
Verfügung über die Welt durch ein neues, sinnliches Verhältnis zur Technik und
zum von ihr produzierten Weltbild zu ergänzen. Das ist Kittlers Vermächtnis.
Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und
Autor. Als letztes Werk ist von ihm erschienen: «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und
Reaktionen» (Reclam, 2019).
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