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Friedrich Kittler – verkanntes

Genie und ein Apple-Feind der


ersten Stunde
Er ist der profilierteste intellektuelle Feind des Apple-
Universumsund er hat den Tod des Bewusstseins
vorhergesagt: Obwohl sich Friedrich A. Kittler in vielem
täuschte, bleibt sein Fragen nach der Sinnlichkeit moderner
Technik aktuell. Höchste Zeit, den angeblichen deutschen
Dunkeldenker wiederzuentdecken.

Hans Ulrich Gumbrecht 18.6.2019, 05:30 Uhr

Nur einmal hat man den Namen Friedrich A. Kittlers auch ausserhalb der sich so
nach Öffentlichkeit sehnenden Geistes- und Kulturwissenschaften gelesen, und das
war in den Tagen nach seinem Tod im Alter von achtundsechzig Jahren am
18. Oktober 2011. Die deutschen Medien widmeten dem deutschen Mediendenker
ausführliche, bewundernde Nachrufe. Aus ihnen sprach grosse Dankbarkeit für
einen Mann, der aufgrund seines Rufs, die sogenannten Medienwissenschaften
erfunden zu haben, hoch im Kurs stand.

Doch seither hat sich vieles verändert – die Medien expandieren zwar, aber die
Medienwissenschaften sind ausserhalb von Deutschland ein Orchideenfach
geblieben, und Kittlers Schriften befinden sich mittlerweile auf dem abschüssigen
Weg zum Status eines Geheimtipps aus der Vergangenheit. Kann es einen
gegenwartsbezogenen Grund für Nichtspezialisten geben, seine Gedanken heute zu
lesen und zu diskutieren?

Das verkannte Genie


Den gibt es ohne Zweifel. Doch er wird zunächst durch die farbige Gestalt des 1943
geborenen Friedrich Adolf Kittler überlagert, der sich als genialer Denker mit
arkanem Wissen zu inszenieren verstand. Schon in seinen frühen Studentenjahren
verfasste er Hunderte von – mittlerweile philologisch genau edierten – Essays,
deren atemberaubende Gelehrsamkeit helle Geistesblitze durchstrahlen.

Wie so vielen anderen Überfliegern gaben ihm die Universitäts-Autoritäten im


deutschen Freiburg durch die Verweigerung der Habilitation beim ersten Anlauf die
charismatische Opferrolle eines zunächst verkannten Genies. Heute gilt Kittler
nicht allein als Disziplinenbegründer, sondern auch als Avantgardist einer damals
neuen kulturellen Sensibilität für Gegenstände aus der Technikgeschichte, von
frühen Schreibmaschinen über Transistorradios bis zu Computern der ersten
Generation.

Seine Fans wollten ihn als visionären Programmierer entdecken, Zeitdiagnostiker als
raunenden Propheten und Tausende von Vorlesungshörern, für die akademische
Konkurrenten den bösartigen Namen der Kittler-Jugend erfanden, als ein
Bildungserlebnis pur und per se. Endlich von seiner Institution entdeckt und
rehabilitiert, war er zum in Nadelstreifen gekleideten Ordinarius an der Humboldt-
Universität zu Berlin aufgestiegen.
Nach zwei in den frühen achtziger Jahren unter den Titeln «Aufschreibesysteme
1800/1900» und «Grammophon, Film, Typewriter» veröffentlichten Büchern fügten
sich Kittlers Arbeiten für die damals schnell wachsende Lesergemeinde zum
Fortsetzungswerk einer neuen Form von Geschichte zusammen. Darin bedingen
sich Maschinen und Bewusstsein, technische Handgriffe und künstlerische
Inspiration als komplexe Systeme wechselseitig und treiben so historische
Veränderung voran. Berühmt wurde Kittlers These, wonach die – von ihm
grenzenlos bewunderte – Philosophie Friedrich Nietzsches ohne die kugelförmige
Tastatur seiner Schreibmaschine nicht hätte entstehen können, weil deren Form
und Buchstabenverteilung exzentrische Gedankenkombinationen ermöglicht
haben soll.

Das Ende des Bewusstseins


Bald entwickelte dieser Diskurs eigene Leitmotive, die seine Faszination weiter
erhöhten – und damit den Eindruck zu bestätigen schienen, dass sich hier eine
definitive Diagnose der technisch-technologischen Gegenwart anbahnte. Da war
zum einen die – für einen akademischen Intellektuellen ungewöhnlich
friedensferne – Behauptung, dass die Kriege des frühen zwanzigsten Jahrhunderts
alle wichtigen Fortschritte der Naturwissenschafter und der Ingenieure inspiriert
hätten (mit einer für die nationalsozialistische Wehrmacht reservierten
Sonderrolle).

Zum anderen und vor allem zeichnete sich aber auch die Prognose ab, dass im
Verlauf dieser Entwicklung menschliches Bewusstsein zunehmend marginal, ja
letztlich irrelevant werden soll und schliesslich allein wechselseitig verschaltete
Maschinen – schicksalhaft – über die Zukunft der Menschen und ihres Planeten
verfügen. Was dann genau unsere Rolle sein könnte, liess Kittler offen, entscheidend
war ihm die Idee einer funktionalen Optimierung der zukünftigen Systeme nach
Ausschluss des Bewusstseins.

Mit den Vorträgen «Die Nacht der Substanz» (zuerst 1989 in Bern gehalten) und
«There is No Software» (dem Beitrag zu einem Stanford-Kolloquium im Jahr 1991)
und ihrem noch weiter führenden Vorschlag, sogar Software als
Bewusstseinsresiduum aus der Technologiegeschichte als Kulturgeschichte
auszuschliessen, erreichte die neue Medien-Mythographie dann rasch ihren
dystopisch getönten Höhepunkt.

Den Lesern konnten solche Visionen gar nicht dunkel genug sein, während sich
Kittler selbst gelegentlich dazu verstieg, die Kompetenz des Programmierens und
eine säuberliche Ordnung der Festplatte als ethische Vorbedingungen für jede Art
der Computernutzung verbindlich zu machen. Nichts verachteten er und seine
Jünger so sehr wie das Apple-Design und den Apple-Screen, die Maus und jede
andere Variante von Benutzerfreundlichkeit – die sie für Symptome einer
existenziellen Verweichlichung hielten.

Um die Mitte der neunziger Jahre war deshalb die industrielle und intellektuelle
Entwicklung des Silicon Valley an Friedrich Kittler vorbeigezogen, und seine neue
Medien-Mythographie war als drastische Fehleinschätzung widerlegt.

Kittlers grosse Niederlage


Ausgebootet hatte ihn die so viel freundlichere und vor allem praxisfokussiertere
Elektronik-Vision von Steve Jobs. Durch immer handlichere Laptops vermittelt,
traten dort die – angeblich nicht existierende – Software und das – angeblich aus
der Geschichte ausgeschlossene Bewusstsein der Menschen – in eine Beziehung
wechselseitiger Leistungssteigerung, die im Alltag der Computerbenutzung auf die
Kompetenz des Programmierens keinesfalls mehr angewiesen war.
Phänomene wie der Navigator, Serviceleistungen wie Amazon und vor allem
Generationen von immer mehr Funktionen bündelnden iPhones haben seither die
Welt von Milliarden Zeitgenossen grundlegend verändert – und Heideggers
Gedanken von der «Zuhandenheit der Welt» (ebenso wie das religiöse Bild von «der
Welt in Gottes Hand») zu einer konkreten und allgemein zugänglichen Realität
gemacht. Für Kittlers Konzept von der «Nacht der Vernunft» blieb bestenfalls der
Status eines Kontrast-Hintergrunds, der den Blick auf Formen und Dimensionen
einer längst zur dominanten Alltagswirklichkeit gewordenen, eher entspannten
Medienkompetenz schärfen kann. Als ehemaliges Genie der Medienwissenschaft
muss er sich vom Triumph der Benutzerfreundlichkeit gekränkt, ja erniedrigt
gefühlt haben – ohne seine intellektuelle Niederlage je einzugestehen.

Stattdessen wandte er sich in gut deutscher Gelehrtenmanier – und im Stil von


Martin Heidegger – auf die griechische Antike zurück und entwarf ein vielbändiges
Werk, das unter dem Leitmotiv «Musik und Mathematik» die Geschichte von
Kultur und Technik neu durchdenken sollte. Die Kittler-Jugend reagierte auf diese
Wendung wie auf einen Verrat – oder wie auf den Beginn unumkehrbarer
intellektueller Dekadenz. Ich bin hingegen überzeugt, dass sich in den ersten beiden
Bänden jenes monumentalen Projekts, zu deren Abschluss Kittler noch die Zeit
blieb, eine philosophisch-existenzialistische Intuition abzeichnet, die uns im
benutzerfreundlichen Alltag wichtig werden kann – und die ohne Kittlers
Fehleinschätzung wohl nie entstanden wäre.

Kittlers Vermächtnis
So leidenschaftlich begeistert war der im fortgeschrittenen Alter neue Friedrich
Kittler von den Epen des Homer, dass er die Entstehung des linearen Vokalalphabets
aus dem Bestreben von Zeitgenossen ableiten wollte, die Verse der Ilias und der
Odyssee jenseits der lebendigen mündlichen Tradition im Medium der Schrift
festzuhalten. Literarische Qualität war also nun an die Funktionsstelle systemischer
Optimierung als Bewegungskraft historischer Veränderung getreten.

Dabei sollten vor allem die in den Repertoires früherer Schriften nicht
repräsentierten Vokale für den Pol der Stimme, der Musik, der Sinnlichkeit und der
Weiblichkeit stehen, während die lineare Artikulation von Vokalen und
Konsonanten über die Strukturen von Syntax, Versform und Rhythmus zum
männlichen Gegenpol der Mathematik hinführte. Erstaunlicherweise hat dieser
Vorschlag Friedrich Kittler bei einigen Koryphäen der Altertumswissenschaft mehr
Respekt eingetragen, als er je von Ingenieuren und Programmierern gewann, die er
so sehr hofierte. Doch die These zur Entstehung unserer Schriftkultur ist bloss eine
Voraussetzung für die Gegenwartsrelevanz von Kittlers Denken.

Entscheidend wurde seine Erkenntnis, die vorsokratische Antike als eine Kultur
zwischen den Polen von Musik und Mathematik als Vorläuferin der heutigen
Computertechnik und ihrer Welt aufzufassen. In einem wenige Monate vor Kittlers
Tod publizierten Text zeichnet sich dieser Gedanke ab. Da steht: «Die
Computertechnik erscheint als Verbund von Hard- und Software, Physik und Logik,
der uns die fernen entflohenen Götter ersetzt. Zeus war zugleich der ungeheure
Himmelsglanz über Griechenland und der Blitz, der alles steuert. Nur Götter und
Computer sind imstande, den blauen Himmel oder aber die Gewitter, die als Wetter
morgen aufziehen werden, schon heute vorauszusagen.»

Abstrakter und entschlossener in der Sprache unserer Gegenwart formuliert: dem


Doppelstatus der griechischen Götter, sich in der Schönheit, aber auch in den
Bedrohungen der Natur zu artikulieren, soll die Zweidimensionalität der Computer
aus ihrer materiellen, potenziell sinnlichen Hardware (Schönheit) und ihrer
Software mit den inhärent logischen Strukturen (Funktion der
Gefahrenabwendung) entsprechen.
Die Parallelsetzung zwischen Antike und Gegenwart erhellt, wie wir uns im
Gebrauch der elektronischen Technik bisher eigentlich allein auf den Pol von
Mathematik und Logik konzentriert haben, das heisst auf die Optimierung unseres
vernunftzentrierten Verhältnisses zur materiellen Umwelt. So haben Computer
unsere Fähigkeit exponentiell verbessert, das Wetter vorherzusagen und uns gegen
Wetterkatastrophen zu schützen. Doch so wie Zeus neben dem Blitzeschleuderer
auch «der ungeheure Himmelsglanz» war, haben elektronische Apparaturen das
Potenzial, auch unser sinnliches Verhältnis zur materiellen Umwelt zu verändern,
jenes Verhältnis, das angesichts der mittlerweile selbstverständlichen Dauerfusion
von Software und Bewusstsein gleichsam ausgezehrt ist und zu verschwinden droht.

Denn wenn der antike Himmelsglanz die Welt nicht nur schön machte, sondern sie
zugleich für Bewegung im Raum erschloss, so verbessern die neuen, aus dem All
geschossenen Computerbilder von der materiellen Welt, die wir bewohnen, nicht
allein unsere Orientierung in ihr, sondern können zugleich ein neues Verhältnis
unserer Körper und unserer Imagination zu ihr eröffnen.

In diesem existenziell überlebenswichtigen Gedanken liegt die Relevanz von


Friedrich Kittlers intellektuellem Erbe. Dank einer produktiven historischen
Fehleinschätzung hatte ihn die literarische Vorstellungskraft in seinem Werk
eingeholt – zum potenziellen Nutzen der Computerwelt.

Die späten Schriften wecken unsere Aufmerksamkeit für die Chance und für die
Notwendigkeit, den durch Computer ermöglichten Komplexitätsgewinn in der
Verfügung über die Welt durch ein neues, sinnliches Verhältnis zur Technik und
zum von ihr produzierten Weltbild zu ergänzen. Das ist Kittlers Vermächtnis.

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und
Autor. Als letztes Werk ist von ihm erschienen: «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und
Reaktionen» (Reclam, 2019).

Alles, was ist, könnte auch anders sein: das


Geschlecht, die Stimmung, das Begehren. Wie
zwei grosse Denker von der Sprache zur Welt
zurückfinden
Richard Rorty war ein verkrampfter Ironiker, Hans-Georg Gadamer ein charmanter
Hermeneutiker. Je älter sie wurden, desto näher kamen sich ihre Denkstile. Sie galten zu
Lebzeiten als Klassiker – was hat uns ihre Philosophie heute zu sagen?
Hans Ulrich Gumbrecht / 5.2.2019, 05:30

Radikal, exzentrisch und bürgerlich: Michel


Foucaults Kampf für das Individuum
Michel Foucault hatte nichts übrig für den Feminismus, liebte den
Geschwindigkeitsrausch und kleidete sich bürgerlich. Seine Rebellion
gegen Staat, Normen und Machtstrukturen war zuletzt weniger vom Aktivismus der Linken
geprägt als von den Werten eines liberalen Individualismus.
Hans Ulrich Gumbrecht / 28.2.2019, 05:30

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