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einheitsprogramm
1. Kultur kann man definieren als das gesamte Instrumentarium, durch das eine
Gesellschaft sich denkt und vor sich selbst zeigt; und sodann über alle
Verwendungsmöglichkeiten des verfügbaren Mehrwerts entscheidet, also die
Organisation all dessen, was die unmittelbaren Notwendigkeiten ihrer Reproduktion
übersteigt.
Letztlich scheinen heute alle Formen der kapitalistischen Gesellschaft auf einer stabilen,
für Massen geltenden, generalisierten Teilung zwischen Leitenden und Ausführenden zu
gründen. Übertragen auf die Ebene der Kultur, bedeutet diese Charakteristik die
Trennung zwischen »Verstehen« und »Tun«, das Unvermögen, die (auf der Basis
fortdauernder Ausbeutung) ständig sich beschleunigende Bewegung der Beherrschung
der Natur zu organisieren, einerlei zu welchem Ziel.
Die gesamte gesellschaftliche Tätigkeit wird also in drei Ebenen aufgespalten: Fabrikhalle,
Büro und Leitung. Die Kultur, begriffen als ein aktives und praktisches Verständnis der
Gesellschaft, wird gleichermaßen in diese drei Momente zerlegt. Nur durch eine
permanente Verletzung der Grenzen des jeweiligen Sektors, in dem das Kommando der
gesellschaftlichen Ordnung die Menschen stationiert, lässt sich die Einheit
wiederherstellen, das heißt im Verborgenen und zerteilt.
2. Der Mechanismus eines kulturellen Systems basiert also auf einer Verdinglichung
menschlicher Tätigkeiten, die eine Stillstellung des Lebendigen und seine Zirkulation nach
dem Modell der Warenzirkulation garantiert; und die die Herrschaft der Vergangenheit
über die Zukunft verstärkt.
3. Arbeit wird somit tendenziell auf bloße Ausführung reduziert, also absurd gemacht. In
dem Maß, wie die Technik ihrer Entwicklung folgt, löst sie sich auf, wird die Arbeit
vereinfacht und ihre Absurdität vertieft.
Diese Absurdität dehnt sich auf Büros und Laboratorien aus: von der eigentlichen
Bestimmung ihrer Tätigkeit sind sie getrennt; sie liegt im politischen Bereich, der die
Gesamtheit der Gesellschaft dirigiert.
Andererseits ist der Kapitalismus gezwungen, in dem Maß, wie nun die Büros und
Laboratorien der Gesamtheit seines Funktionsmechanismus eingearbeitet sind, auch in
ihre Tätigkeit, da er sie wieder zurückgewinnen muss, die kapitalistische Arbeitsteilung,
also die Zerstückelung und die Hierarchisierung der Arbeit, einzuführen. Das logische
Problem der wissenschaftlichen Synthese prallt also mit dem gesellschaftlichen Problem
der Zentralisierung zusammen. Das Ergebnis dieser Veränderungen ist, entgegen dem
Anschein, eine allgemeine Kulturlosigkeit auf allen Ebenen des Wissens. Die
wissenschaftliche Synthese wird nicht mehr vollzogen; die Wissenschaft versteht sich
selbst nicht mehr. Sie bringt den Menschen von heute keine richtige, praktische Klärung
ihrer Beziehung zur Welt mehr; sie hat die alten Repräsentationen zerstört, ohne sie
durch neue ersetzen zu können. Die Welt wird als Einheit unlesbar: nur Spezialisten sind
noch im Besitz einiger Fragmente von Rationalität, doch sie geben zu, dass sie unfähig
sind, diese zu vermitteln.
4. Dieser Zustand zieht eine ganze Reihe von Konflikten nach sich. Es gibt einen Konflikt
zwischen einerseits der Technik - die Eigenlogik der Entwicklung des Umgangs mit dem
Stoff (und im weiteren Sinne sogar die Eigenlogik der wissenschaftlichen Entwicklung) -
und andererseits der Technologie als Anwendung der Technik, streng an den
Erfordernissen der Ausbeutung der Arbeiter ausgerichtet, sowie darauf, ihren Widerstand
zu brechen. Es gibt einen Konflikt zwischen den Zwängen des Kapitalismus und den
elementaren Bedürfnissen der Menschen. So findet der Widerspruch zwischen der
aktuellen Atomtechnologie und einer doch ziemlich weit verbreiteten Lebenslust sein
Echo noch im moralischen Protest mancher Physiker. Die Veränderungen, die der Mensch
inzwischen an seiner eigenen Natur vornehmen kann (von Schönheitsoperationen bis zu
gezielten genetischen Veränderungen), verlangen auch eine von ihm selbst kontrollierte
Gesellschaft, die Abschaffung jeder spezialisierten Leitung.
Überall drängt das Ausmaß der neuen Möglichkeiten zur Alternative: revolutionäre Lösung
oder Science-Fiction-Barbarei. Der Kompromiss, den die heutige Gesellschaft darstellt,
kann nur auf der Grundlage eines Status Quo leben, der ihm unaufhörlich überall
entgleitet.
5. Entfremdet kann die gesamte heutige Kultur also in dem Sinne genannt werden, als
jede Tätigkeit, jeder Moment des Lebens, jeder Gedanke, jedes Verhalten nur außerhalb
ihrer selbst einen Sinn haben, in einem Anderswo, das, weil es nicht mehr der Himmel ist,
nur äußerst vage zu lokalisieren ist: eine Utopie im wahrsten Sinne des Wortes beherrscht
in Wirklichkeit das Leben der modernen Welt.
6. Da der Kapitalismus, von den Fabrikhallen bis zu den Laboratorien, die produktive
Tätigkeit jeder eigenen Bedeutung entleert hat, ist er stets bemüht, den Sinn des Lebens
in die Freizeit zu verlegen und von dort aus der Produktionstätigkeit eine neue
Orientierung zu geben. Für die vorherrschende Moral wäre, da ihr die Produktion die Hölle
ist, das wirkliche Leben der Konsum, der Gebrauch der Güter.
Aber diese Güter sind meistens zu nichts zu gebrauchen, außer zur Befriedigung
bestimmter übersteigerter privater Bedürfnisse, um den Ansprüchen des Marktes zu
genügen. Der kapitalistische Konsum diktiert eine Bewegung, die die Wünsche auf das
Gleichmaß der Befriedigung künstlicher Bedürfnisse reduziert, und sie bleiben
Bedürfnisse, ohne jemals Wünsche gewesen zu sein. Echte Wünsche müssen im Zustand
der Unerfülltheit verharren (oder in der Form des Spektakels kompensiert werden).
Moralisch und psychologisch betrachtet, wird der Konsument in Wirklichkeit vom Markt
konsumiert. Vor allem aber haben diese Güter letztlich keinen gesellschaftlichen Nutzen,
weil der gesellschaftliche Horizont vollständig von der Fabrik verbaut ist. Außerhalb der
Fabrik ist alles als Wüste angelegt (Schlafstadt, Autobahn, Parkhaus ...). Der Ort des
Konsums ist die Wüste.
So herrscht die Gesellschaft, von der Fabrik eingesetzt, uneingeschränkt über diese
Wüste. Im Grunde dienen die Güter einfach nur als Schmuck des sozialen Rangs, alle
Zeichen des gekauften Prestiges und der sozialen Differenz werden überdies im selben
Moment auch allen zur Pflicht, als fatale Tendenz der Massenware. Die Fabrik wiederholt
sich in der Freizeit durch Zeichen, die immerhin einen gewissen Spielraum an
Umsetzungsmöglichkeiten bieten, sodass sich wenigstens einige Frustrationen
kompensieren lassen. Die Welt des Konsums ist in Wirklichkeit eine Bühne, auf der jeder
für jeden zum Spektakel wird; sie ist also eine Welt der Spaltung, der Fremdheit und der
verwehrten Beteiligung zwischen allen. In diesem Spektakel, das automatisch und ärmlich
aus Befehlsfunktionen hervorging, die der Gesellschaft äußerlich und von absurden
Werten gekennzeichnet sind, führt der leitende Bereich eine strenge Regie (und selbst die
Führungskräfte kann man, soweit sie lebendige Menschen sind, als Opfer dieses
Regieroboters betrachten).
7. Außerhalb der Arbeit diktiert das Spektakel die Art und Weise, in der die Menschen
miteinander in Beziehung treten. Nur das Spektakel vermittelt den Menschen eine -
verfälschte - Kenntnis gewisser allgemeinerer Aspekte des Lebens in der Gesellschaft, von
den wissenschaftlichen oder technischen Leistungen über die Begegnung mit den großen
Figuren bis zu den Standards der herrschenden Verhaltensweisen. Das Verhältnis
zwischen Autoren und Zuschauern ist nur eine Variation des grundlegenden Verhältnisses
zwischen Leitenden und Ausführenden. Es entspricht perfekt den Bedürfnissen einer
verdinglichten und entfremdeten Kultur: das Verhältnis, das durch dieses Spektakel
geschaffen wird, ist in seiner Struktur ein unnachgiebiger Träger der kapitalistischen
Ordnung. Die Zweideutigkeit jeder »revolutionären Kunst« liegt mithin darin, dass der
revolutionäre Charakter eines Spektakels stets von dem eingekreist ist, was jedes
Spektakel als Reaktionäres enthält.
Deshalb ist die Perfektionierung der kapitalistischen Gesellschaft zu einem Gutteil an der
Perfektionierung des Mechanismus ihrer Inszenierung als Spektakel ablesbar. Das ist
offenbar ein komplexer Mechanismus, denn auch wenn die Verbreitung der
kapitalistischen Ordnung keinem anderem Dirigenten gehorcht, darf das Spektakel
dennoch gegenüber der Öffentlichkeit nicht als der entfesselte Rausch des Kapitalismus
erscheinen. Es muss die Öffentlichkeit für sich interessieren, indem es Elemente der
Repräsentation integriert, die - fragmentarisch - der gesellschaftlichen Vernunft
entsprechen. Es muss die Wünsche ablenken, deren Befriedigung die herrschende
Ordnung verbietet. Zum Beispiel zeigt der moderne Massentourismus Städte oder
Landschaften, und zwar nicht, um den authentischen Wunsch zu befriedigen, in einer
solchen (menschlichen und geografischen) Umgebung zu leben, sondern indem er sie
lediglich als schnelles Spektakel der Oberfläche darbietet (bis es schließlich als Souvenir
zu haben ist und damit gesellschaftlich verwertbar wird). Der Striptease ist die schärfste
Form der zum bloßen Spektakel verkommenen Erotik.
8. Die Entwicklung und Bewahrung der Kunst wurde von folgenden Kraftlinien beherrscht.
Auf der einen Seite wurde sie schlicht und einfach vom Kapitalismus als Mittel zur
Konditionierung der Bevölkerung zurückgewonnen. Andererseits hat sie davon profitiert,
dass der Kapitalismus ihr eine dauerhafte privilegierte Position einräumte: die der reinen
schöpferischen Tätigkeit, Alibi der Entfremdung aller anderen Tätigkeiten (was sie zum
teuersten Schmuck der Gesellschaft werden ließ). Aber gleichzeitig ist das Reservat der
»freien schöpferischen Tätigkeit« der einzige Bereich, in dem praktisch und in ihrer
ganzen Breite die Frage der grundlegenden Gestaltung des Lebens, die Frage der
Kommunikation gestellt wird. Hier in der Kunst liegen die Antagonismen zwischen den
Anhängern und Gegnern der offiziell diktierten Lebensinhalte begründet. Dem Nicht-Sinn
und der herrschenden Trennung entspricht die allgemeine Krise der traditionellen
künstlerischen Mittel, eine Krise, die der Erfahrung oder der Forderung verbunden ist, mit
einem anderen Gebrauch des Lebens zu experimentieren. Revolutionäre Künstler sind
diejenigen, die zur Intervention aufrufen, und die ihrerseits schon im Spektakel operieren,
um es zu stören und zu zerstören.
1. Die revolutionäre Bewegung kann nichts Geringeres sein als der Kampf des Proletariats
um die tatsächliche Herrschaft über und für die gezielte Umgestaltung aller Aspekte des
gesellschaftlichen Lebens, und vor allem für die Verwaltung der Produktion und die
Leitung der Arbeit durch die Arbeiter, die direkt über alles entscheiden. Eine solche
Veränderung impliziert unmittelbar die radikale Umgestaltung des Charakters der Arbeit
und die Schaffung einer neuen Technologie, die die Herrschaft der Arbeiter über die
Maschinen garantiert.
Es geht um einen wirklichen Umsturz der Bedeutung von Arbeit, was zahlreiche
Konsequenzen mit sich bringt; deren wichtigste ist sicherlich die Verschiebung der
zentralen Interessen des Lebens von den passiven Freizeitbeschäftigungen zu einer
produktiven Tätigkeit neuen Typs. Das bedeutet nicht, dass von heute auf morgen alle
produktiven Tätigkeiten von sich aus leidenschaftlich werden. Doch daran zu arbeiten,
dass sie von Leidenschaft erfüllt sind, durch eine allgemeine und permanente
Veränderung der Ziele wie der Mittel industrieller Arbeit, wird auf jeden Fall die minimale
Leidenschaft einer freien Gesellschaft sein.
Alle Tätigkeiten werden schließlich in einem einzigen, aber unendlich vielfältigen Lauf
verschmelzen, dem Leben, das bisher in Freizeit und Arbeit getrennt ist. Produktion und
Konsum werden sich im schöpferischen Gebrauch der gesellschaftlichen Güter aufheben.
2. Ein solches Programm schlägt den Menschen keinen anderen Lebensinhalt vor, als ihr
eigenes Leben selbst zu gestalten. Voraussetzung dafür ist nicht nur, dass die Menschen
objektiv von Grundbedürfnissen (Nahrung usw.) befreit sind, sondern vor allem, dass sie
anfangen, einander ihre Wünsche - anstatt deren gegenwärtige Kompensationen -
vorzuführen; dass sie alle von anderen diktierten Verhaltensweisen zurückweisen, um
deren einzigartige Erfüllung immer wieder neu zu erfinden; dass sie nicht mehr der
Ansicht sind, das Leben sei die Aufrechterhaltung eines bestimmten Gleichgewichts,
sondern dass sie die grenzenlose Bereicherung ihres Handelns verlangen.
3. Die Grundlage solcher Ansprüche ist heute nicht irgendeine Utopie. Es ist vor allem der
Kampf des Proletariats auf allen Ebenen, in allen Formen expliziter Verweigerung oder
tiefer Gleichgültigkeit, permanent und mit allen Mitteln im Angriff auf die instabile
herrschende Gesellschaft. Es ist auch die Lektion des gründlichen Scheiterns aller
Veränderungsversuche, die nicht radikal genug sind. Es ist schließlich die Forderung, die
sich in manchen extremen Verhaltensweisen der Jugend (deren Dressur sich als wenig
wirksam erweist) und jetzt auch mancher Künstlerkreise äußert.
Doch diese Basis enthält auch die Utopie, als Erfindung und Ausprobieren von Lösungen
für aktuelle Probleme, ohne dass man sich darum kümmert, ob die Bedingungen ihrer
Verwirklichung unmittelbar gegeben sind (man muss anmerken, dass die moderne
Wissenschaft solche utopischen Experimente jetzt schon stark nutzt). Diese momentane
und historische Utopie ist legitim; sie ist notwendig, denn in ihr beginnen sich Wünsche
widerzuspiegeln, ohne die das freie Leben inhaltslos wäre. Sie ist nicht von der
Notwendigkeit zu trennen, die gegenwärtige Ideologie des Alltagslebens, also die
Bindungen der täglichen Unterdrückung aufzulösen, damit die revolutionäre Klasse mit
nüchternem Blick vorhandene Nutzungsmöglichkeiten und mögliche Freiheiten entdecken
kann.
Die Praxis der Utopie kann jedoch keinen Sinn haben, wenn sie nicht eng mit der Praxis
des revolutionären Kampfs verbunden ist. Dieser kann seinerseits nicht auf eine solche
Utopie verzichten, ohne steril zu werden. Die Forscher einer experimentellen Kultur
können sich ihre Verwirklichung nicht erhoffen ohne den Sieg der revolutionären
Bewegung, die ihrerseits nur dann authentische revolutionäre Verhältnisse erreichen wird,
wenn sie sich die Bestrebungen der kulturellen Avantgarde in der Kritik und in der freien
Rekonstruktion des Alltagslebens zu Eigen macht.
4. Die revolutionäre Kritik hat also die Totalität der gesellschaftlichen Probleme zum
Inhalt. Ihre Form ist eine experimentelle Praxis des freien Lebens durch den organisierten
Kampf gegen die kapitalistische Ordnung. Die revolutionäre Bewegung muss also selbst
zu einer experimentellen Bewegung werden. Schon heute muss sie, wo sie existiert, so
gründlich wie möglich die Probleme einer revolutionären Mikrogesellschaft entwickeln und
lösen. Diese umfassende Politik findet ihren Höhepunkt im Moment der revolutionären
Aktion, wenn die Massen plötzlich eingreifen, um Geschichte zu machen, und ihr Handeln
ebenfalls als direktes Experiment und als Fest entdecken. Sie nehmen dann eine
bewusste und kollektive Gestaltung des Alltagslebens in Angriff, die eines Tages von
nichts mehr aufgehalten werden wird.
20. Juli 1960