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Bemerkungen und Berichte

zerborsten. Das eröffnet der Sache des gesellschaftlichen Fortschritts neue Perspektiven.
Küng stellt sich dieser Entwicklung entgegen. Er möchte den Christen auf eine prokapita-
listische Haltung festlegen. Den Kommunisten diffamiert er; zugleich sucht er ihn zu „be-
kehren" (zur Aufgabe seiner revolutionären Position, versteht sich).
Was Küng macht, kann Menschen verwirren - mitunter Verwirrung stiften, mehr wohl
vorhandene bekräftigen. Es bedarf deshalb der Analyse und Zurückweisung. Perspektive
hat es nicht.
Martin Robbe (Berlin)

Der zweifelhafte „Marxismus" des A. Sohn-Rethel


In den letzten Jahren werden in einschlägigen Verlagen der BRD Schriften eines Mannes
verlegt und hochgespielt, der nach eigenem Zeugnis in den 50er und 60er Jahren für seine
Elaborate keine Verleger fand - A. Sohn-Rethel. Offensichtlich werden sie heute für wert
und geeignet befunden, eine bestimmte Funktion im ideologischen Klassenkampf gegen
den Marxismus-Leninismus zu erfüllen, weshalb es geboten scheint, ihre theoretischen
Quellen und Inhalte vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus einer kritischen Beurtei-
lung und Wertung zu unterziehen1.
„Die vorliegende Untersuchung", schreibt Sohn-Rethel, »wird eine schwierige Aufnahme
finden, weil sie marxistisch ist und doch in ihrer Sprache und zum Teil auch in ihren Be-
griffen von der vertrauten Stilart und Terminologie des Marxismus erheblich abweicht."
(GKA 1, S. 7) Der kritische Leser seiner Arbeiten kommt allerdings zu dem Schlufj, da5 sie
zuvörderst nicht in Sprache, Stilart und Terminologie, sondern vor allem im Inhalt vom
Marxismus „erheblich abweichen". Zwar apostrophiert der Autor seine Theorien fortwäh-
rend als „marxistisch", doch ist dieser „Marxismus" durch das Prisma zweier geistiger Quel-
len gebrochen, die von den Grundpositionen des Marxismus-Leninismus nur verzerrte Surro-
gate übriglassen:
1. Sohn-Rethel, 1899 geboren, in den Strudel der Novemberrevolution auf der Seite der
revolutionären Kräfte hineingerissen und vom Ausbleiben des Sieges der proletarischen Re-
volution enttäuscht, hatte sich in den 20er und 30er Jahren dem Kreis der Frankfurter
Schule um Horkheimer und Adorno angeschlossen, dessen Auffassungen er sich noch heute
gedanklich verpflichtet weiß. (GKA 1, S. 7 ff., 68 Fußnote; vgl. auch: A. Sohn-Rethel: Waren-
form und Denkform. Frankfurt a. M./Wien 1971. S. 7, 27, 87 ff.)
2. Sohn-Rethel rehabilitiert die „Vergötterung" Mao Tse-tungs; weil seiner Auffassung
nach „die Wahrheit, wo sie nicht in theoretischer Ausführung vorliegt, zur Führungsgewalt
über Massen der persönlichen Verkörperung nicht entraten" könne (GKA 1, 178 Fußnote).
Er hält seine Auffassungen für „viele der neuen revolutionären Bewegungen, die auf mar-
xistischem Boden, aber nicht dem der orthodoxen Parteilinie stehen", als geeignet, „die bis-
her fehlende theoretische Fundierung zu bieten" (ÖD, S. 5) - ein gewifj recht unbescheidener
Anspruch - , und verspricht, die die maoistische Praxis auf den Begriff bringende Theorie
vorzulegen (GKA 1, S. 175 ff., 211 f.; ME, S. 61 ff.; ÖD, S. 65 ff.).
Der Autor kommt zu dem Schlufj, das Wesentliche am sozialistischen Aufbau müsse darin
bestehen, die jahrtausendealte Scheidung von Hand- und Kopfarbeit aufzuheben, so zwar,
dafj die direkte Produzentenschaft die „bürokratischen" und diese Scheidung erhaltenden

1 Diesem Bericht liegen folgende Arbeiten Alfred Sohn-Rethels zugrunde (in Klammern
die im Text benutzten Abkürzungen): Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der
gesellschaftlichen Synthesis. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main 1970. 212 Seiten (GKA 1);
Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Ergänzte
und revidierte Ausgabe. Frankfurt/Main 1972 (GKA 2); Materialistische Erkenntniskritik
und Vergesellschaftung der Arbeit. (Internationale marxistische Diskussion 19.) Merve-
Verlag. (West-)Berlin 1971 (ME); Die ökonomische Doppelnatur des Spätkapitalismus.
Luehterhand Verlag. Darmstadt/Neuwied 1972 (ÖD)

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Der zweifelhafte .Marxismus" des A. Sohn-Rethel

»Managementfunktionen" absorbieren und auf gesellschaftlicher Ebene die persönliche Ein-


heit von Hand- und Kopfarbeit wiederherstellen müsse. Diesen Maßstab angelegt, glaubt
er sich befugt, behaupten zu können, dafj „der sozialistische Aufbau . . . in der Sowjetunion
bis heute nicht stattgefunden" habe (ME, S. 77).
Worin liegen die methodologischen und theoretischen Grundlagen solcher „Ergebnisse"?
Für Sohn-Rethel ist der „historische Materialismus" „bloß ein methodologisches Postulat,
nämlich eine Voraussetzung, die eine bestimmte Art und Weise, die Dinge zu betrachten,
gebietet", nicht aber eine „Doktrin". Und dieses Postulat fordere, „als .rational' einzig raum-
zeitliche Erklärungen an (zu) erkennen, gleichgültig ob es sich bei den Erklärungsgegenstän-
den um physische Phänomene handele . . . oder um Bewufjtseinsphänomene" (GKA 1,
S. 32, 196f.). Das provoziert mindestens zwei Einwände: Zum ersten ist der historische
Materialismus primär Theorie, nämlich materialistische Theorie von allgemeinen und grund-
legenden Entwicklungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft. Gerade im Vorwort zur
„Kritik der politischen Ökonomie", auf das sich Sohn-Rethel fälschlich beruft, formuliert
Marx zunächst „das allgemeine Resultat" seiner Studien, d. h. ein System theoretischer Aus-
sagen, und sagt dann weiter, dafj, nachdem dieses Resultat gewonnen, es seinen weiteren
Studien auch als (methodischer) Leitfaden diente2. Für Marx kommt also im Verhältnis von
Theorie und Methode der ersteren insofern das Primat zu, als die theoretischen Aussagen
die Grundlage sind, auf der allein sich die methodischen Postulate finden und begründen
lassen. Zum anderen haben Marx, Engels und Lenin nie einen Zweifel daran gelassen, dafj
Materialismus immer etwas mit einer spezifischen Auffassung des Verhältnisses von Materie
und Bewufjtsein (nämlich des Primats der ersteren gegenüber dem letzteren) zu tun hat.
Wenn man also ein methodologisches Postulat des historischen Materialismus formulieren
wollte, könnte es doch wohl nur lauten, stets die Erzeugnisse des geistigen Lebensprozesses
der Menschen als Resultate ihres materiellen Lebensprozesses und als Abbilder materieller
Dinge und Prozesse anzusehen. Wir werden noch nachweisen, dag das Abweichen von dieser
klaren Forderung und das Zurückweichen auf das bezüglich der Grundlinien in der Philo-
sophie neutral formulierte Postulat, „physische und Bewußtseinsphänomene raumzeitlich zu
erklären", den Autor folgerichtig zum Abirren vom materialistischen Standpunkt führt.
Ehe wir jedoch die Grundzüge seiner theoretischen Positionen analysieren, sei eine Be-
merkung zu seiner Methode gestattet. Er faßt als „Synonym für Dialektik" den Ausdruck
„formgenetische Erklärung" (ME, S. 6). Die „formkritische" ist ihm die „eigentlich" marxi-
stische Analyse (GKA 1, S. 155), und er meint, dafj Marx die „Historizität der Epochen und
Produktionsweisen an ihre Formcharakteristika" hefte (ME, S. 8). Hier liegt offenbar ein
Mifjverständnis der Marxschen Methode vor. Es ist eine anerkannte Einsicht der materia-
listischen Dialektik, dafj fornzgenetische Analysen nicht der Analyse des Zusammenhangs
von Inhalt und Form entraten können, ohne in unhistorischen Formalismus zu verfallen,
weil gegenüber seiner Form der Inhalt letztlich primär ist. Und in der Tat geht Marx ein-
deutig davon aus, dafj ζ. B. die Wertform aus dem Wesen, der „Natur" des Wertes entspringt,
nicht umgekehrt3, woraus schon erhellt, dafj Marx keinesfalls Form und Wesen identifiziert,
wie Sohn-Rethel behauptet (GKA 1, S. 194), sondern die Form aus dem Wesen erklärt.
Ein Schlüsselbegriff Sohn-Rethelscher Theorie, „der im Mittelpunkt all" seiner „Ausführun-
gen" steht, ist der der „Synthesis". Schon dessen Verwendung erinnert via Habermas und
Horkheimer an Kant. Zwar polemisiert Sohn-Rethel gegen die „philosophische Interpre-
tation" des Kantschen Erkenntnisprinzips der Synthesis des Mannigfaltigen zur Einheit, er-
kennt es aber „seiner bloßen Form nach" als bestehend und gültig an. (ME, S. 56; GKA 1,
S. 196 ff.) Für Kant ist, wie erinnerlich, das empirische oder apriorische Mannigfaltige
zunächst ursprünglich gegeben, und es mufj durch Synthesis „zuerst auf gewisse Weise
durchgegangen, aufgenommen und verbunden" werden, sie ist also „dasjenige, was eigent-
lich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt" 4 .
Wie Kant geht auch Sohn-Rethel von den Elementen, Individuen aus, die erst durch „gesell-
schaftliche Synthesis" zu einem Ganzen vereinigt werden. Den Hauptunterschied zwischen

2 Vgl.: K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: K. Marx/F. Engels: Werke.
Bd. 13. Berlin 1969. S. 8
3 Vgl.: K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 23. Berlin 1969.
S. 75
4 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Leipzig (1956). S. 147 f.

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sich und Kant sieht Sohn-Rethel denn auch nur in der Auffassung des Mannigfaltigen, bei
Kant sei es das des Wissensstoffes, bei ihm selbst das der Arbeit (GKA 1, S. 161 Fufjnote 12).
So versteht der Autor unter „gesellschaftlicher Synthesis" »die Funktionen, die in verschie-
denen Geschichtsepochen den Daseinszusammenhang der Menschen zu einer lebensfähigen
Gesellschaft vermitteln" (GKA 1, S. 16), und diese Synthesis wird durch die Handlungen der
Individuen bewirkt (GKA 1, S. 54; GKA 2, S. 19 f.). Im Unterschied dazu geht Marx von der
Gesellschaft aus, die er als die Gesamtheit der Beziehungen und Verhältnisse fafjt, in denen
die Individuen untereinander stehen, und begreift von daher das gesellschaftliche Wesen des
Menschen als das Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse5. Natürlich sind es immer
die menschlichen Individuen, die ihre Verhältnisse produzieren und reproduzieren, die ihre
Geschichte machen, aber sie tun das „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen"6. So
ist jedes Individuum schon gesellschaftlich bestimmt, ehe es am gesellschaftlichen Zusam-
menhang überhaupt mitwirken kann.
Deutlicher noch wird der Unterschied Sohn-Rethels zu Marx sichtbar, wenn wir unter-
suchen, welcher Bereich der gesellschaftlichen Tätigkeiten der Menschen grundlegend ist
für die Konstituierung ihres gesellschaftlichen Zusammenhanges. Er zitiert Marx: „Der
Komplex dieser Privatarbeiten (d. h. Waren produzierender Arbeiten - K. G.) bildet die
gesellschaftliche Gesamtarbeit"7, findet diesen Satz aber nicht treffend genug und kehrt ihn
um: „Die Gesellschaft bildet den Gesamtkomplex dieser Privatarbeiten", und fährt dann
fort: „wobei dann die Gesellschaft, ihr formaler Nexus, für eine andere Lösung als die aus
der Arbeit offensteht" (GKA 1, S. 189). Und genau das ist der Springpunkt Sohn-Rethelscher
Theorie: Mit dem Obergang zur Klassengesellschaft, mit der Entstehung der Warenproduk-
tion geht die gesellschaftsbildende Funktion der „Synthesis" vom Arbeitsprozefj (klassenlose
Produktionsgesellschaft) über auf den Austauschprozefj (Aneignungsgesellschaft), also auf
eine von der Arbeit nach ihrer Art verschiedene und in der Zeit getrennte Tätigkeit. (GKA 1,
S. 94 f.; ME, S. 66; ÖD, S. 11 f.) Er behauptet, „dafj die Synthesis der warenproduzierenden
Gesellschaften im Warentausch, genauer gesprochen, eben in der Tauschabstraktion zu
suchen ist" (GKA 1, S. 42), „in warenproduzierenden Gesellschaften bildet das Geld den Trä-
ger der gesellschaftlichen Synthesis" (GKA 1, S. 17). Und das ist zugleich Sohn-Rethels fun-
damentaler Irrtum. Marx hat ja gerade nachgewiesen, dafj die Privatarbeit eine bestimmte,
spezifische Form der gesellschaftlichen Arbeit ist, und zwar eine solche, die Wert erzeugt
und notwendig zum Austausch führt. Der Austausch aber stellt diesen gesellschaftlichen
Charakter und damit den gesellschaftlichen Zusammenhang der Menschen nicht erst her,
sondern in ihm erscheint er, betätigt, bestätigt er sich, macht er sich geltend8. Mit dieser
Marxschen Erkenntnis kommt Sohn-Rethel überhaupt nicht zu Rande; er diskutiert sie zwar
wiederholt (GKA 1, S. 186 Fufjnote 1, 188ff.; ME, S. 36ff.), versteht sie aber nicht. Marx
macht deutlich, da§ hier in der Tat komplizierte gesellschaftliche Entwicklungsprozesse vor
sich gehen: „ . . . der wirkliche Produktionsprozefj, als Einheit des unmittelbaren Produktions-
prozesses und des Zirkulationsprozesses, erzeugt neue Gestaltungen, worin mehr und mehr
die Ader des innern Zusammenhangs verlorengeht, die Produktionsverhältnisse sich gegen-
einander verselbständigen und die Wertbestandteile sich gegeneinander in selbständigen For-
men verknöchern"9. Nur in der Gesellschaft kann sich unter spezifischen Bedingungen der
Mensch vereinzeln, der „vereinzelte Einzelne" ist selbst ein gesellschaftliches Produkt10.
Solche Verselbständigungen, einmal entstanden, bieten den Schein der inneren Zusammen-

5 Vgl.: K. Marx: Thesen über Feuerbach. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. Berlin
1958. S. 6; K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: K. Marx/F. Engels: Werke.
Bd. 3. S. 30; Marx an P. W. Annenkow. 28. Dezember 1846. In: K. Marx/F. Engels:
Werke. Bd. 27. Berlin 1963. S. 452; K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Öko-
nomie. Berlin 1953. S. 74,176
6 K. Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 8.
Berlin 1960. S. 115
7 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 87
8 Vgl.: Ebd. S. 57, 87; Marx an L. Kugelmann. 11. Juli 1868. In: K. Marx/F. Engels: Werke.
Bd. 32. Berlin 1973. S. 553
9 K. Marx: Das Kapital. 3. Bd. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 25. Berlin 1969. S. 836
10 Vgl.: K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. S. 6

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Der zweitelhatte .Marxismus" des A. Sohn-Rethel

hangslosigkeit, und die Auflösung eines solchen Scheins ist ein komplizierter theoretischer
Prozeß der Analyse jener Mittel- und Bindeglieder, die die innere Vermittlung jener an der
Oberfläche gegeneinander verselbständigten Formen besorgen. Und genau diese Analyse
leistet der Autor nicht. Die Einengung des Blicks auf die „formgenetischen" Momente (blofje
Formgenesis bleibt immer an der Oberfläche) verwehren ihm auch die Einsicht in die den
Zusammenhang von Wesen und Erscheinung vermittelnden Glieder. Bekanntlich vermochte
Marx gerade durch deren Analyse zu erklären, warum im Kapitalismus das Wesen seiner
Verhältnisse, besonders seiner Produktionsverhältnisse, in jener verkehrten Form in Er-
scheinung tritt, die bei den Trägern und Agenten dieser Produktionsweise das falsche Be-
wuijtsein des Warenfetischismus erzeugt. Sohn-Rethel aber spricht von „völliger Geschieden-
heit", „Trennung" usw. ζ. B. zwischen den Verhältnissen der Menschen im unmittelbaren
Produktionsprozefj einerseits und jenen im Austauschprozefj andererseits, zwischen Kopf-
und Handarbeit u. a., ohne die Vermittlung der wesensmäfjigen Zusammenhänge zwischen
ihnen und die jeweils bestimmende Seite in diesen Zusammenhängen zu analysieren. Eben
deshalb bleiben ihm die Konsequenzen der Einsicht in die einfache Tatsache verborgen, dafj
die Menschen schließlich erst etwas produzieren müssen, ehe sie es austauschen können: Es
sind eben auch dem vereinzelten Privatproduzenten alle Elemente seines Produktionspro-
zesses als gesellschaftliche Produkte vorgegeben (seine Fähig- und Fertigkeiten, sein Wissen,
die Arbeitsmittel und -gegenstände, seine Stellung in dem vielgliedrigen System der gesell-
schaftlichen Arbeitsteilung usw.). Die Auffassung, da§ in warenproduzierenden Gesellschaf-
ten nicht der Arbeitstätigkeit, sondern der Tauschtätigkeit die Funktion der „gesellschafts-
bildenden Synthesis" zukomme, bedeutet mithin nichts anderes, als da§ Sohn-Rethel genau
und im strengen Sinne theoretisch dem Warenfetischismus aufgesessen ist. In Parenthese sei
bemerkt, dafj gerade dieser entscheidende Punkt der Sohn-Rethelschen Theorie deren gei-
stige Quelle ins Blickfeld rückt, die „kritische Theorie" der Frankfurter Schule. Es sei etwa
auf die ganz analoge Trennung von Arbeit und „Interaktion" bei J. Habermas verwiesen11.
Betrachten wir einige theoretische Konsequenzen aus diesem Ansatz: 1. Die erste Konse-
quenz ist ein abstrakt-unhistorischer Gesellschaftsbegriff. Sohn-Rethel unterscheidet drei
„Hauptepochen des gesellschaftlichen Seins" (ME, S. 51; GKA 1, S. 94ff., 145ff., 160ff.;
ÖD, S. 40 f.): a) die urwüchsige Stammesgesellschaft, b) die Aneignungs- oder warenprodu-
zierende Gesellschaft und c) die kommunistische Produktionsgesellschaft - und zwischen
ihnen jeweils Übergangsepochen, von der ersten zur zweiten die frühe Klassengesellschaft
der Bronzezeit und zwischen der zweiten und dritten die „gegenwärtige Welt", in der „alle
Teile . . . als Übergangsgesellschaften anzusehen" sind, „die entwickelten kapitalistischen
nicht weniger als die sozialistischen und die anderen Länder" (ÖD, S. 7). Das ist eine völlige
Preisgabe der materialistischen und damit konkret-historischen Theorie der ökonomischen
Gesellschaftsformation, die „die verschiednen ökonomischen Epochen der Gesellschafts-
struktur" nach der besonderen Art und Weise, in der die Verbindung von Produzenten und
Produktionsmitteln bewerkstelligt wird, unterscheidet12, die also die Spezifik des jeweiligen
Gesellschaftszusammenhanges gerade aus der Spezifik der Verhältnisse erklärt, die die Men-
schen im unmittelbaren Produktionsprozefj eingehen, vor allem aus der Spezifik der Eigen-
tumsverhältnisse. Diese Konkretheit geht bei Sohn-Rethel verloren, weil er genau diese
Eigentumsverhältnisse zu untergeordneten, zweitrangigen erklärt. Das kommt in verschie-
denen Bestandteilen seiner Theorie zum Ausdruck.
2. Sohn-Rethel betrachtet ζ. B. als das Spezifikum der Klassengesellschaft nicht das Privat-
eigentum einer Minderheit an den Produktionsmitteln, sondern die „Synthesis durch Aneig-
nung", ohne der Frage nachzugehen, worauf eine solche Aneignung und die verschiedenen
Formen derselben beruhen. „Synthesis durch Aneignung" findet nach Sohn-Rethel ihren ent-
scheidenden/Ausdruck im Warenaustausch. Darum kreist sein ganzes Denken wie hypnoti-
siert um die Marxsche Warenanalyse, ohne sie in ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung ver-
standen zu haben. Man mufj dem Autor zustimmen, dafj es eine tiefe Diskrepanz zwischen
der Marxschen und seiner Auffassung von der Ware gibt (GKA 2, S. 228 ff.), man kann ihm
jedoch nicht zustimmen, wenn er meint, diese Diskrepanz ließe sich vermeiden in einer
einheitlichen Theorie aus beiden Auffassungen (GKA 2, S. 233). Am tiefsten unterschieden

11 Vgl.: J . Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968. S. 36-87


a Vgl.: K. Marx: Das Kapital. 2. Bd. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 24. Berlin 1971.
S. 42

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zu Marx sieht sich der Autor in seiner Auffassung von der Rolle der Wertform (GKA 2,
S. 233). Dem kann man gewiß beipflichten, nicht aber seiner anmaßenden Behauptung, die
Diskrepanz bestehe darin, daß es ihm erst gelungen sei, „die Wertform von der Wertgröße
methodologisch reinlich zu trennen". Das hat schon Marx sehr viel exakter getan. Die Dis-
krepanz besteht vielmehr in der Hypertrophierung der Wertform in der Theorie Sohn-
Rethels. Dadurch, daß er seinen durch die »formgenetische" Methode getrübten Blick ein-
seitig auf die Wertform richtet, übersieht er deren Abgeleitetheit und Bedingtheit. Das zeigt
sich ζ. B. in seiner Ansicht, durch den Tausch würde eine Formidentität der getauschten
Waren hergestellt. Seit Marx' Warenanalyse wissen wir af>er doch, daß die Wertformen der
getauschten Waren gerade nicht identisch, sondern polarisch verschieden sind, die eine be-
findet sich in der relativen Wertform, die andere in der Äquivalentform; identisch sind die
Waren hinsichtlich der Wertsübstanz als „Gallerten menschlicher Arbeit" 13 . Eine weitere Ab-
weichung von Marx besteht in der Auffassung, dafj der Warenaustausch „essentiell Produkte
von ausgebeuteter Arbeit zum Gegenstand" habe (GKA 1, S. 188). Hier wird Warenproduk-
tion mit kapitalistischer Warenproduktion gleichgesetzt, was nicht zulässig ist, denn in der
kleinen Warenproduktion beruht das Privateigentum an den Produktionsmitteln auf eigener
Arbeit und nicht auf Ausbeutung fremder Arbeit. Und die Definition der „Aneignung" als
wechselseitige „Appropriation von Arbeitsprodukten durch Nicht-Arbeitende" (GKA 1, S. 94)
ist, bezogen auf den Warenaustausch, in jeder Hinsicht falsch: Zwischen kleinen Waren-
produzenten geschieht die Aneignung im Warentausch nicht durch Nicht-Arbeitende, zwi-
schen Kapitalisten besteht kein Ausbeutungsverhältnis und zwischen Proletariern und Kapi-
talisten besteht kein wechselseitiges Warentauschverhältnis, und das Aneignungsverhältnis
zwischen ihnen ist durchaus einseitig, wenn der Kapitalist sich den von den Proletariern,
deren Arbeitskraft er gekauft hat, erzeugten Mehrwert als unbezahlte Arbeit aneignet.
Übrigens verwechselt Sohn-Rethel kleine und kapitalistische Warenproduktion auch in um-
gekehrter Richtung, wenn er die Warenproduktionsgesellschaft auffaßt als eine Gesellschaft,
in der die Produktion als Privatarbeit der vereinzelten Einzelnen betrieben, während die
gesellschaftliche „Synthesis" erst im Austausch vollzogen werde. Dieses Modell ist an der
kleinen Warenproduktion orientiert. Letztere bildet zwar die Keimform der kapitalistischen
Produktion, erklärt aber nicht im mindesten die Spezifik der kapitalistischen Warenproduk-
tion und ist mit ihr auch keineswegs identisch.
3. Die Verwechslung von kleiner und kapitalistischer Warenproduktion schlägt sich auch
in Sohn-Rethels Auffassung vom „Spätkapitalismus" nieder. Scheinbar geht er von Lenins
Charakterisierung des Imperialismus als eines „Übergangskapitalismus" aus (ÖD, S. 7).
Während es aber für Lenin völlig klar ist, daß der Kapitalismus auch als Imperialismus
Kapitalismus bleibt, wenn ihm auch „deutliche Züge einer Übergangserscheinung, einer
Mischform von freier Konkurrenz und Monopol anhaften" 14 , dafj der Imperialismus also
ein besonderes Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation darstellt und es demzu-
folge richtiger ist, ihn als sterbenden statt als Übergangskapitalismus zu kennzeichnen 15 , ist
der „Spätkapitalismus" in Sohn-Rethels Auffassung selbst schon eine Übergangsgesellschaft.
Sie sei dadurch charakterisiert, dafj sie „unter der Einwirkung zweier heterogener ökonomi-
scher Gesetzmäßigkeiten" steht, und zwar „gegensätzlicher und unvereinbarer" Gesetzmäßig-
keiten. Deshalb spricht er von einer „ökonomischen Doppelnatur", die er folgendermaßen
kennzeichnet: „Dem heutigen Spätkapitalismus liegen nicht eine, sondern zwei ökonomische
Gesetzmäßigkeiten zugrunde, denen gänzlich verschiedene Gesellschaftsformationen ent-
sprechen, die aber, solange die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse fortbestehen, durch
ihre simultane Wirksamkeit innerhalb des Spätkapitalismus diesem den Charakter einer
Übergangsgesellschaft verleihen." (ÖD, S. 8) Diese beiden heterogenen, unvereinbaren Öko-
nomien, die hier wirken, seien einerseits die Markt- und Warenökonomie und andererseits
die der hochgradig vergesellschafteten Arbeit. Es ist hier nicht möglich, zu zeigen, wie
Sohn-Rethel mittels dünner Abstrakta und ohne jede Faktenbasis fundierte Bestandteile der
ökonomischen Theorie des Marxismus-Leninismus - ζ. B. die Mehrwerttheorie, die Krisen-

13 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 58 ff., 63 ff.


14 W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. I n : W. I. Lenin:
Werke. Bd. 22. Berlin 1960. S. 223
13 Vgl.: Ebd. S. 269 ff., 307

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Der zweifelhalte „Marxismus" des A. Sohn-Rethel

theorie16 u. a. - abtut. Aber auf seine Vergesellschaftungsauffassung mufj kurz eingegangen


werden.
4. Vergesellschaftung ist nach Sohn-Rethel die entscheidende Voraussetzung und Grund-
lage, um die Form der Produktion des «vereinzelten Einzelnen" zu überwinden und damit
den Typ der „Synthesis durch Austausch" zu ersetzen durch den Typ der „Synthesis durch
Produktion". Diese Vergesellschaftung vollzieht sich nach Auffassung des Autors im Kapi-
talismus in zwei Stufen: a) durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel (der toten
Arbeit), b) durch die Vergesellschaftung der lebendigen Arbeit, d. h. durch die wissenschaft-
liche Durchorganisierung der Arbeitskräfte der Produzenten zu einem gesellschaftlichen
Gesamtarbeiter, beginnend mit dem Taylorismus. (GKA 1, S. 146ff.; ME, S. 49ff.; ÖD,
S. 43 ff.) Durch die zweite Stufe werde strukturell der Vergesellschaftungsprozeß vollendet.
„Das ist das Neue, was seit Marx eingetreten ist und wodurch ein neuartiges Formprinzip
der möglichen Synthesis der Vergesellschaftung ins Dasein gekommen ist." (GKA 1, S. 151)
Im Taylorismus sei „die formelle Vollvergesellschaftung der Arbeit zur Tatsache geworden"
(GKA 1, S. 158). Auch hier zeigen sich beim Autor mindestens zwei wesentliche Mißver-
ständnisse: Zum einen hat Marx sehr wohl gesehen und analysiert, daß es im Kapitalismus
überhaupt (nicht erst in seinem imperialistischen Stadium) einen grundlegenden Widerspruch
zwischen (um mit Sohn-Rethel zu sprechen) Marktökonomie und Arbeitsökonomie, besser
(um mit Marx zu sprechen) zwischen anarchischer gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die
durch den Warenaustausch vermittelt wird, und innerbetrieblicher Arbeitsteilung, die plan-
mäßig erfolgt, besteht.17 Die Herausbildung des „gesellschaftlichen Gesamtarbeiters" inner-
halb kapitalistischer Betriebe, innerhalb also der Grenzen jeweiliger Kapitale, beginnt be-
reits mit der kooperativen Manufaktur. Diese von Sohn-Rethel als seine große Entdeckung
ausgegebene Tatsache wurde von Marx längst detailliert analysiert. Was sich hier im Impe-
rialismus ändert, ist die Größe der Kapitale, innerhalb deren der Gesamtarbeiter organisiert
wird, ist die Tatsache, daß auf der Grundlage des immer mehr zunehmenden gesellschaft-
lichen Charakters der Produktivkräfte die innerbetriebliche Arbeitsteilung heute nicht mehr
mittels Erfahrungswissen vom Kapitalisten organisiert und geleitet werden kann, sondern
mehr und mehr auf arbeitsorganisatorischem theoretischem Wissen basieren muß. Zum ande-
ren wird hier die Marxsche Auffassung von der Vergesellschaftung der Produktion einseitig
verzerrt reflektiert. Sie besteht darin, daß die zersplitterten, nur von Einzelnen anwend-
baren Produktionsmittel sich zu solchen entwickeln, die nur durch Gesamtheiten von Men-
schen anwendbar sind, daß daher die Produktion „aus einer Reihe von Einzelhandlungen in
eine Reihe gesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaft-
liche Produkte" verwandelt werden. Dieser gesellschaftliche Charakter des Arbeitsprozesses
erheischt aber auch gesellschaftliche Formen des Eigentums an den Produktionsmitteln, die
deren gesellschaftlichem Charakter entsprechen. Erst der Übergang vom Kapitaiismus zum
Sozialismus vollendet die Vergesellschaftung des Produktionsprozesses insofern, als nun-
mehr die gesellschaftliche Form desselben, die Produktionsverhältnisse, vergesellschaftet
wird, indem gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln hergestellt wird18. Die
Vernachlässigung der Eigentumsverhältnisse hat für den Autor folgenschwere Konse-
quenzen. Für ihn besteht nämlich der kapitalistische Inhalt der „strukturellen Vollvergesell-
schaftung", wie sie im Taylorismus zum Ausdruck komme, darin, daß sie nicht unmittelbar
durch die Produzentenschaft vorgenommen wird, sondern durch eine von dieser getrennten
„Manager-" oder „Usurpatorenbürokratie". „Wenn die Abschaffung des kapitalistischen

lü Als erheiternder Umstand mag nur Erwähnung finden, daß Sohn-Rethel just zu dem
Zeitpunkt seine Auffassung, der heutige Kapitalismus sei „einer Krise im ökonomischen
Sinne nicht mehr fähig", in die Welt setzte (1972), als sich der Weltimperialismus an-
schickte, in die größte zyklische Überproduktionskrise seit der Weltwirtschaftskrise
1929/1933 hineinzuschlittern, die Sohn-Rethel als die „Endkrise des ökonomisch funktions-
fähigen Kapitalismus" charakterisiert hatte (ÖD, S. 56).
17 Vgl.: K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 371 ff.
18 Vgl.: Ebd. S. 11 ff., 789ff. ; F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissen-
schaft. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 20. Berlin 1962. S. 250ff.; W. I. Lenin: Zur
sogenannten Frage der Märkte. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 1. Berlin 1965. S. 92;
W. I. Lenin: Was sind die „Volksfreunde· und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemo-
kraten? In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 1. S. 169

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Bemerkungen und Berichte

Privateigentums nur dazu führt, die Verfügung über die produktive Organisation auf die
Usurpatorenbürokratie zu übertragen, so ist damit für den Sozialismus wenig gewonnen."
(GKA 1, S. 170)
5. Sohn-Rethel ersetzt die Klassenanalyse durch die Arbeitsteilungsanalyse: Entscheiden-
des und abgeleitetes Merkmal der Leninschen Klassendefinition (Eigentumsverhältnis zu den
Produktionsmitteln und Stellung in einem System gesellschaftlicher Arbeitsteilung) 19 werden
vertauscht, die Eigentumsfragen zweitrangig. In seiner Auffassung des Eigentums als bloßen
normativen Rechtsverhältnisses (GKA 2, S. 64 f. Fußnote) geht Sohn-Rethel weit hinter Marx
zurück, der ja gerade das Rechtsverhältnis auf das ökonomische Verhältnis des Eigentums
zurückgeführt hatte. Daher kann nach Sohn-Rethel VoiZvergesellschaftung schon im Kapita-
lismus (Taylorsystem) erreicht werden, es muß „nur" noch die Arbeitsteilung zwischen körper-
licher und geistiger Arbeit beseitigt werden! »Die Scheidung von geistiger und physischer
Arbeit schließt in sich, daß die Träger der geistigen Tätigkeit die Befehlsgewalt über die
Arbeiterschaft ausüben müssen." (GKA 1, S. 170; ME, S. 60) Beläßt man es aber „bei der
Scheidung von Kopf- und Handarbeit", so bedeute das, „daß man es überhaupt bei der ge-
sellschaftlichen Klassenherrschaft beläßt, nähme diese auch die Formen von sozialistischer
Bürokratenherrschaft an" (GKA 1, S. 37). Nein! Nicht die „Scheidung von geistiger und
physischer Arbeit", sondern das Privateigentum an den Produktionsmitteln schließt die
„Befehlsgewalt" der ökonomisch und politisch herrschenden Bourgeoisie über die eigentums-
losen ausgebeuteten und unterdrückten Klassen ein, und es schließt gleichzeitig den Gegen-
satz von geistiger und körperlicher Arbeit in sich. Dem Proletariat ist die Wissenschaft im
Kapitalismus deshalb entfremdet, weil und insofern sie Eigentum, Monopol, Privileg und
Luxusartikel der Privateigentümerklasse ist und dem Proletariat in Gestalt von Maschinerie,
Technologie usw. als Kapital entgegentritt. Nicht die Arbeitsteilung „an sich", sondern die
kapitalistische Arbeitsteilung führt zum Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit.
Aus seinen Auffassungen ergibt sich für Sohn-Rethel natürlich die Frage: „Entmachtet man
das Management auf dem Wege über die Entrechtung der Kapitalisten - oder umgekehrt,
entrechtet man die Kapitalisten auf dem Wege der Entmachtung des Managements?" (GKA 1,
S. 181) Man beachte die feinen Nuancen! Die Kapitalisten kann man entrechten, das
Management aber muß man entmachten! Als ob die Macht nicht gerade von der Klasse der
Bourgeoisie ausgeübt würde! Natürlich antwortet Sohn-Rethel im Sinne der zweiten Alter-
native: „Für die zweite Alternative gilt eine ganz andere Entwicklungsdialektik als für die
erste. Der Klassenkampf mit dem Management hat sein Schlachtfeld im Betrieb, der Klassen-
kampf mit dem Kapital hingegen auf der Straße. Der Sieg übers Kapital verlangt die Er-
oberung der Staatsmacht an erster Stelle, der Sieg über das Management hingegen die
ständige Übernahme der Betriebe und die Entmachtung der Manager durch die in entspre-
chender Form organisierten Arbeiter. Dies steht an erster und die Eroberung der Staatsmacht
an zweiter Stelle, nämlich durch die erfolgreiche Behauptung der Betriebsübernahmen auf
breiter nationaler Basis gegen den Einsatz der politischen und militärischen Machtmittel der
Kapitalisten." (GKA 1, S. 181) Sollte Sohn-Rethel wirklich so naiv sein zu glauben, daß unter
den Bedingungen der politischen Machtausübung durch die Bourgeoisie eine „Betriebsüber-
nahme auf breiter nationaler Basis" möglich ist? Oder schlagen hier seine theoretischen
Konstruktionen in eine bewußte Irreführung des politischen proletarischen Klassenkampfes
gegen die Macht der Bourgeoisie, vor allem der imperialistischen Bourgeoisie um? Hat nicht
die marxistisch-leninistische Revolutionstheorie und haben nicht die großen revolutionären
Erfahrungen des Kampfes der Arbeiterklasse überzeugend und historisch endgültig nach-
gewiesen, daß, im Unterschied etwa zur bürgerlichen Revolution, sich beim Übergang von
der letzten Ausbeutergesellschaft, dem Kapitalismus, zum Sozialismus-Kommunismus nicht
schon ökonomische Formen der neuen Formation im Schöße der alten Ordnung heraus-
bilden können, daß die proletarische Revolution notwendig mit der Übernahme der Macht
durch die Arbeiterklasse und die mit ihr verbündeten Klassen und Schichten, mit der Er-
richtung der Diktatur des Proletariats, beginnen muß? Aus dieser Sicht aber sind Betriebs-
besetzungen eine von vielfältigen neuen Formen des proletarischen Klassenkampfes in im-
perialistischen Ländern 20 , deren Verabsolutierung zu ernsten politischen Fehlern führen
19
Vgl.: W. I. Lenin: Die große Initiative. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 29. Berlin 1965. S. 410
20
Vgl.: W. Sagladin/A. Galkin/T. Timofejew: Arbeiterklasse - führende Kraft im revolu-
tionären Weltprozeß. Berlin 1974. S. 90 f.

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Der zweifelhafte „Marxismus" des A. Sohn-Rethel

müfjte. Sohn-Rethel ersetzt den grundlegenden objektiven Klassenwiderspruch im Kapitalis-


mus, den zwischen Bourgeoisie und Proletariat, in seinem Denken durch den zwischen der
„Klasse der direkten Produzenten" (GKA 1, S. 210) und der „Klasse der Technokraten"
(GKA 1, S. 176). Das erscheint ihm geeignet, den real existierenden Sozialismus als eine
Gesellschaft zu denunzieren, in der die „essentielle Klassenscheidung", die „Scheidung von
Arbeit und Intelligenz", die „Bürokratenherrschaft" fortbestehe (ME, S. 60; GKA 1, S. 37),
mit Ausnahme Chinas, versteht sich! In dieser Diffamierung des realen Sozialismus, den er
weder kennt noch auch nur nach einer einzigen Faktenquelle ernsthaft analysiert, schlagen
theoretische Sentenzen in antikommunistische und speziell antisowjetische Inhalte um. Die
theoretische Fehlerhaftigkeit, empirische Dürftigkeit und politische Schädlichkeit seiner
Theorie zeigt sich des weiteren in der Auffassung von dem gesellschaftlichen Subjekt, das
die beschriebene Vergesellschaftung vorzunehmen berufen sei. Seine Antwort ist zunächst:
die direkte Produzentenschaft (GKA 1, S. 168 f.). Ganz abgesehen davon, dal} dies natürlich
kein Klassenbegriff im Sinne des Marxismus-Leninismus ist, ist für Sohn-Rethel diese „direkte
Produzentenschaft" dadurch gekennzeichnet, daß zu ihr „heute neben den Handarbeitern die
Produktionsingenieure und Techniker, die Technologen und Wissenschaftler und nicht zuletzt
auch deren Nachwuchs, also die Studenten, zu rechnen sind" (GKA 1, S. 157). Dankenswerter-
weise widerlegt Sohn-Rethel sich selbst; denn wenn das so ist, wäre die prinzipielle „Schei-
dung von körperlicher und geistiger Arbeit" bereits im Imperialismus aufgehoben! Außer-
dem erfolgt die Klassenbestimmung wieder nicht an ihrem entscheidenden Merkmal, dem
Besitzverhältnis zu den Produktionsmitteln. In der Klassenstruktur des Kapitalismus hat zwar
die Arbeiterklasse, nicht aber die Intelligenz ein für sie spezifisches Eigentumsverhältnis zu
den Produktionsmitteln. Die Intelligenz ist eine klassenmäßig inhomogene soziale Schicht,
die in sich, wenn auch in verzerrten Proportionen, die Klassenstruktur der Gesellschaft
widerspiegelt 21 . Aber gerade der „Nachwuchs" dieser Intelligenz, die Studenten, werden nach
Sohn-Rethel - in gedanklicher Übereinstimmung mit Marcuse und anderen Vertretern der
Frankfurter Schule und im Widerspruch zu seiner eigenen Auffassung vom Betrieb als dem
Hauptfeld des Klassenkampfes - zum eigentlichen Subjekt der Errichtung des Sozialismus-
(GKA 1, S. 209 ff.), da die manuellen Produzenten zahlenmäßig an Bedeutung verlören, ent-
politisiert seien (GKA 1, S. 179) und von einer „Gewerkschaftsbürokratie" in den Kapitalis-
mus einfunktioniert würden (GKA 1, S. 182). Spätestens hier wird deutlich, daß wir es bei
der theoretischen Konzeption Sohn-Rethels mit einer durch und durch kleinbürgerlichen,
antimarxistischen Position zu tun haben, die das nach Lenin Wichtigste im Marxismus preis-
gibt, die historische Mission des Proletariats.
6. Es überrascht nach dem bisherigen wenig, daß die Leugnung der historischen Mission
des Proletariats von einer Diffamierung seiner marxistisch-leninistischen Partei begleitet
wird. Durch das Prisma des isolierten kleinbürgerlichen Intellektuellen betrachtet, verküm-
mert ihm die immer stürmischer wachsende Gemeinschaft der kommunistischen und Arbei-
terparteien zu einem „verwelkenden Weltgeist" (GKA 1, S. 210 f.). In seiner Sicht ist die
marxistisch-leninistische Partei nicht die Vorhut des Proletariats, sondern diesem gegenüber
die „Anderen", die nicht die Arbeiter selbst, sondern ihnen fremd sind, die aber deren
Klassenbewusstsein für sich reklamieren (ÖD, S. 69 f.). Kurz, wir haben es hier mit dem
um kein Jota anderen Vokabular als dem jener Spontaneitätstheoretiker zu tun, mit denen
sich Lenin ζ. B. schon in „Was tun?" 1901/02 auseinandergesetzt hatte 22 , und das damals
wie heute darauf gerichtet ist, Partei und Klasse zu trennen und letztere zu ohnmächtiger
Spontaneität zu verurteilen.
7. Die in den Auffassungen Sohn-Rethels zutage tretende Revision grundlegender Positio-
nen der marxistisch-leninistischen Theorie legt auch den Verdacht nahe, daß hier trotz
wiederholter Beteuerungen, einen Geschichtsmaterialismus zu vertreten, eine idealistische
Geschichtstheorie obwaltet. Dieser Verdacht wird zur Gewißheit, wenn wir hören, daß der
Autor insofern eine Umkehrung des Verhältnisses von materieller und geistiger Tätigkeit in
seinen Auffassungen praktiziert, als er als den Ausgangspunkt der Vergesellschaftung
die geistige Tätigkeit ansieht. Bereits in der Zeit der Renaissance tritt für ihn die Vergesell-
schaftung der Geistesarbeit ein, während die Handarbeit noch individuell bleibe (GKA 1»
21 Vgl.: W. I. Lenin: Die Aufgaben der revolutionären Jugend. I n : W. I. Lenin: Werke.
Bd. 7. Berlin 1956. S. 32
22 Vgl.: W. I. Lenin: Was tun? In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 5. Berlin 1955. S. 391, 478

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Bemerkungen und Berichte

S. 85, 125). Erst die seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts erfolgende »Voll-
vergesellschaftung" bedeute, „daß im Resultat der ganzen warenökonomischen Entwicklung
der Gesellschaft, über 2500 bis 3000 Jahre hinweg, die manuelle Arbeit in der Produktion
am Ende eine Form annimmt, welche derjenigen der intellektuellen Arbeit homolog wird.
Diese tendenzielle Formangleichung der manuellen an die intellektuelle Arbeit ist offen-
kundig ein Umstand von ungeheurer Tragweite, nicht nur für die Stellung der Intelligenz,
sondern für die Ökonomie und die ganze Struktur der Gesellschaft. Ich betrachte sie als
den verborgenen Knoten- und Wurzelpunkt des Transformationsprozesses, in welchem die
gegenwärtige Gesellschaft sich befindet." (ME, S. 50; GKA 1, S. 132 f.) So betrachtet denn
auch Sohn-Rethel die „Liquidierung der Fatalitäten, die sich an die gesonderte Stellung des
Bewußtseins selbst, an seine Scheidung von der physischen Tätigkeit knüpfen", als einen
„der wesentlichen, ja auf lange Sicht wohl" den „wesentlichste(n) Inhalt, ihr(en) progres-
sivein) Erfolg" als „das strikteste Kriterium der Diktatur des Proletariats" (GKA 1, S. 171).
Aber diese Liquidierung gehöre „zu den sozialistischen Änderungen des geistigen Überbaus"
(GKA 1, S. 171; Hervorhebung von mir - K. G.). Primär und grundlegend sind für Sohn-
Rethel folglich nicht die „materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Um-
wälzungen) in den ökonomischen Produktionsbedingungen"23 für die gesellschaftlichen
Veränderungen, sondern die Bewußtseinsänderungen. So entdeckt sich dem Autor der „Be-,
griff der Aneignungsgesellschaft" aus „der formgenetischen Erklärung der Entstehung des
separaten Intellekts in der Antike" (ME, S. 51). Ja, er sagt es unumwunden, für ihn sind es
die „Bewußtseinsphänomene, welche das unterscheidende Konstituens der menschlichen Ge-
schichte ausmachen" (GKA 1, S. 197). Das ist, aller Verschleierungen entkleidet, der klar
ausgesprochene Idealismus in der Gesellschaftstheorie, der sich ζ. B. auch darin ausdrückt,
den „historischen Materialismus" Sohn-Rethelschen Verständnisses nur als methodologisches
Postulat zu fassen und gewissermaßen als Erkenntniskritik zu realisieren.
8. Daraus folgen die nicht unerheblichen erkenntnistheoretischen Implikationen, auf die
abschließend einzugehen ist. Der Autor geht dabei von einer Kritik an der Marxschen
Warenanalyse aus, der vorgeworfen wird, sie leide unter ökonomischer Einseitigkeit und
verfehle, weil nicht formgenetisch, die erkenntnistheoretische Analyse. So müsse sich die
Kritik der Erkenntnistheorie der der Ökonomie beigesellen (GKA 1, S. 12 ff., 114), weil
ohne „Kritik der in den bürgerlichen Erkenntnisformen, vor allem auch der naturwissen-
schaftlichen, wurzelnden Entfremdung . . . ein unüberwindbares Hindernis für einen sozia-
listischen Aufbau mit dem Ziel der Klassenlosigkeit" (ME, S. 65) bestehen bliebe und folglich
der Sozialismus nicht aufgebaut werden könne (ME, S. 45). Insbesondere bemängelt Sohn-
Rethel, bei Marx werde „die Naturwissenschaft . . . weder dem ideologischen Überbau noch
der gesellschaftlichen Basis zugerechnet und bleibt derart geschichtlich außer Ansatz"
{GKA 1, S. 13). Hier werden auch die erkenntnistheoretischen Einseitigkeiten des Autors
sichtbar. Offensichtlich ist für ihn alles, was nicht Element von Basis oder Überbau ist,
geschichtstheoretisch „außer Ansatz". Das ist gewiß ein metaphysisch-dogmatisches Miß-
verständnis, dem die Vorstellung einer vereinfachten Kausalkette zugrunde liegt, die davon
ausgeht, daß „die Veränderung von materiellen Faktoren . . . Veränderungen der Produk-
tionsverhältnisse . . . bewirken" und diese zu „veränderten Gedanken" führen (GKA 1,
S. 116). Und er kommt folgerichtig zu der Meinung, „daß es die Produktionsverhältnisse sind,
nicht etwa die Produktivkräfte und die materielle Beschaffenheit der Dinge, welche die be-
stimmenden Wirkungen auf die Bewußtseinsweise ausüben" (GKA 1, S. 118 f.). Sohn-Rethel
ist der Ansicht, alle gesellschaftlich notwendigen Bewußtseinsformen und Gedankeninhalte
seien von den Produktions Verhältnissen, den „gesellschaftlich-synthetischen Funktionen"
determiniert (GKA 1, S. 95; GKA 2, S. 28, 54), unter Einschluß der Naturwissenschaften.
„Wüßten wir nicht aus der vorangegangenen Formanalyse, daß die mathematisch-physikali-
sche Auffassungsweise der Dinge ein Denken gemäß den Formen der gesellschaftlichen Syn-
thesis des Aneignungszusammenhanges ist, so wäre von einem Effekt der Produktionsver-
hältnisse hier nicht die mindeste Spur zu entdecken und allein die Beschaffenheit der mate-
riellen Dinge und Faktoren das Entscheidende. Die Wahrheit ist von diesem Anschein . . .
sehr verschieden." (GKA 1, S. 127) Daraus folgt für den Autor endlich der Schluß: „Als
marxistische Rahmendefinition der modernen Naturwissenschaften, in der das geschichts-
jnaterialistische Verständnis der mathematischen Naturerkenntnis bis in die Einzelheiten
23 K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. A. a. Ö. S. 9

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Der zweifelhatte ,Marxismus* des A. Sohn-Rethel

"hinein Platz zu finden hätte, würden wir sagen: diese Erkenntnis ist mit der Bestimmung
der materiellen Produktivkräfte gesellschaftlicher Potenz in Begriffen der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse beschäftigt." (GKA 1, S. 129) Hier wird deutlich, daß in Sohn-Rethels
Erkenntnistheorie-Konzeption von der doppelten materiellen Determiniertheit des Erkennt-
nisprozesses und seiner Resultate (der gegenständlichen und der sozial-ökonomischen), wo-
von die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie ausgeht24, die gegenständliche still-
schweigend gestrichen wird: die materielle Beschaffenheit der Dinge übt keine bestimmende
Wirkung auf die Bewußtseinsweise aus! Damit ist eine zum ABC jedes Materialismus gehö-
rende Grundaussage in dem geschichts,,materialistischen" Ansatz Sohn-Rethels entfallen.
Auch das hat seinen Grund in der Einseitigkeit seines Ansatzpunktes. Er geht, wie Marx,
von der Warenanalyse aus. Aber Marx hatte zum Ziel, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalisti-
schen Produktionsweise zu untersuchen, deren Keimform und Grundlage die Warenpro-
duktion ist und deren Reichtum sich als Warenansammlung darstellt. Sohn-Rethel aber will
den menschlichen Erkenntnisprozefj analysieren. Sein Ausgangspunkt bei einem wirklich
historisch-materialistischen Herangehen hätte folglich ein anderer, nämlich die Marxsche
Analyse des Arbeitsprozesses, sein müssen. Dann hätte ihm aber unschwer in den Blick
kommen können, daß nach Marxscher Auffassung die Menschen im Arbeitsprozeß ein dop-
peltes Verhältnis eingehen, nämlich zu den Gegenständen ihrer Arbeit einerseits und zu-
einander andererseits, daß der Arbeitsprozeß folglich eine stofflich-inhaltliche Bestimmtheit
und eine gesellschaftliche Formbestimmtheit aufweist. Sohn-Rethels Ausgehen vom Waren-
verhältnis, einem Produktionsverhältnis also, noch dazu einem spezifisch bestimmten, trübt
ihm den Blick auf die Beziehung der Menschen zu den Gegenständen ihrer Tätigkeit, hier
zum Erkenntnisgegenstand, der außerhalb und unabhängig davon existiert, ob Erkenntnisse
über ihn gewonnen werden oder nicht, und der vermittelt über die praktische Tätigkeit der
Menschen dem Erkennen erschlossen wird. Und das hat Konsequenzen, die Sohn-Rethels Ab-
weichen vom materialistischen Standpunkt auch in der Erkenntnistheorie deutlich werden
lassen. Es werden nämlich die Erkenntnisse auf jeweilige gesellschaftliche Zustände (auf
Produktionsverhältnisse) relativiert, was einem erkenntnistheoretischen Subjektivismus
gleichkommt, und es wird folgerichtig die Widerspiegelungskonzeption in der Erkenntnis-
theorie attackiert. (Ihr Widerspiegelungscharakter kommt den Erkenntnissen ja gerade hin-
sichtlich ihrer gegenständlichen Determination zu!) Er bezeichnet „Ausdrücke wie .Abbil-
dung', ,Reflexion', Widerspiegelung'" als „bloße Wortbegriffe, . . . sozusagen Etikette für
einen Behälter, dessen Inhalt es noch zu finden gilt" (ME, S. 33). Die einzig zulässige Be-
deutungsverwendung des Ausdrucks „Spiegelung" sieht der Autor in einer „genauen Be-
zeichnung des Tatbestandes einer vorher erweislichen Formadäquatheit des gesellschaftlichen
Seins zum Bewufjtsein" (GKA 1, S. 76). Gleichzeitig pöiemisiert Sohn-Rethel gegen einen
„erkenntnistheoretisch undiskutierbaren Naturmaterialismus des Denkens" (GKA 1, S. 126
Fußnote 7) sowie gegen Engels und Lenin, denen er Mangel an historischem Materialis-
mus (!) vorwirft, weil sie „unter dem Namen des ,Seins' oder .Gegenstandes', der .Realität'
usf. nur an das .dem' Menschen gegenüberstehende Sein der .Außenwelt' als außermensch-
liche Natur" denken (GKA 1, S. 80 Fußnote 31). Eine solche Auffassung von „Natur als eine
von der menschlichen Sphäre genau geschiedene, außer aller Gemeinschaft mit dem Men-
schen stehende Macht, die Macht der Natur als bloßer Objektwelt" (GKA 2, S. 87), betrachtet
Sohn-Rethel als aus dem Warentausch sich erklärendes verkehrtes Bewußtsein. Wir haben
es hier mit dem üblichen revisionistischen Trick zu tun, Marx, aus dessen Auffassung sich
angeblich ein ganz anderer Naturbegriff ergäbe25, gegen Engels und Lenin auszupielen. Die
Auffassung von Marx, daß es das gesellschaftliche Sein der Menschen ist, welches ihr Be-
wußtsein bestimmt20, deutet Sohn-Rethel fälschlich so, daß damit der „Spiegelungs"begriff
die ausschließliche „formadäquate Bestimmtheit" allen Denkens durch die Produktionsver-
hältnisse und folglich den Überbaucharakter aller Denkergebnisse zum Ausdruck bringen
soll27. Auch dieses Ergebnis resultiert aus der methodischen Enge des bloß formgenetischen

24 Vgl. dazu: K. Gößler: Erkennen als sozialer Prozeß. In: DZfPh. Heft 5/1972. S. 519ff.;
K. Gößler/M. Thom: Die materielle Determiniertheit der Erkenntnis. Berlin 1976. Kap. 3
25 Vgl. ζ. Β.: A. Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Frankfurt/M. 1962
20 K. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. A. a. O. S. 9
27 Andererseits verficht Sohn-Rethel diese These aus Mangel an begrifflicher Exaktheit nicht
konsequent, sondern verstrickt sich bei der konkreten Zuordnung in Widersprüche: a)

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Bemerkungen und Berichte

Herangehens. Es wird die Form der Abstraktheit der Erkenntnis aus der Form des Waren-
tauschs abgeleitet, ohne daß ihr gegenständlicher Inhalt (eben Abbild eines Erkenntnisgegen-
standes zu sein) auch nur gesehen wird.
Aus dieser Konzeption leitet Sohn-Rethel bezüglich der mathematischen und der Natur-
wissenschaften ab: Deren »abstrakte Verstandesform . . . wird an die ganz bestimmten, auf
Warenproduktion gegründeten Gesellschaftsformationen als gebunden erwiesen" (ME, S. 35).
Das bedarf natürlich, wenn dem theoretischen Blick die gegenständliche Bestimmtheit der
Erkenntnis entschwunden ist, der Erklärung, und so ist eine der Fragen, die den Autor
am meisten bewegen, „wie eine für Produktionsvorgänge genügende und dennoch von der
Handarbeit unabhängige Naturerkenntnis möglich sein könne" (GKA 1, S. 20). Diese Frage
beantwortet er durch seine „Theorie von der gesellschaftlichen Realabstraktion, die als Teil
der materiellen Basis sich in Bewußtseinsform .umsetzen und übersetzen' kann" (GKA 1,
S. 77 Fußnote). Diese „Real'abstraktion vollziehen die Warenproduzenten beim Austausch
ihrer Produkte, daher vom Autor auch Tauschabstraktion genannt. Sohn-Rethel beruft sich
auch hierbei auf Marx. Aber wenn dieser beispielsweise von „Wertabstraktion" spricht28,
dann als von dem Ergebnis einer analytischen Denktätigkeit. Das Abstrahieren ist ein
Bewußtseinsvorgang bei der Erkenntnistätigkeit. Aber Sohn-Rethel spricht von einer Real-
abstraktion, d. h., er geheimnist einen Bewußtseinsvorgang scheinbar in „raumzeitliche"
Vorgänge hinein, und nur dadurch kann ihm abstrakte Warenform „formadäquat" mit ab-
strakter Denkform werden. Aber untersuchen wir weiter, was der Autor unter Real- oder
Tauschabstraktion versteht, worin er die Abstraktheit des Tauschvorganges sieht: „Der
Austausch der Waren ist abstrakt, weil er von ihrem Gebrauch nicht nur verschieden, son-
dern zeitlich getrennt ist. Tauschhandlung und Gebrauchshandlung schließen einander in
der Zeit aus." (GKA 1, S. 39) „Das antithetische raumzeitliche Ausschließungsverhältnis zwi-
schen Gebrauch und Tausch als Handlungen hat also für unsre Analyse spezifische Bedeu-
tung." (ME, S. 19 f.) Aber diese Argumentation ist mehr als löchrig. Sie gilt nämlich in
Vollem Maße auch, wenn ich statt des Verhältnisses von Tausch und Gebrauch einer Ware
ζ. B. das von Produktion und Gebrauch eines Gegenstandes betrachte. Auch die Produktions-
handlung kann nur in „Abstraktion", d. h. raumzeitlich getrennt vom Gebrauch des pro-
duzierten Gegenstandes vollzogen werden, denn es wird ja für den künftigen Gebrauch
produziert. Das aber bedeutet, dafj dieser mir als Vorstellung, also abstrakt, bei der Pro-
duktion vorschweben und diese leiten muß. Das aber würde heißen, daß sich der abstrakte
Charakter des begrifflichen Denkens aus dem Arbeitsprozeß überhaupt ableiten und erklären
lassen müßte, was m. E. genau den Marxschen Intentionen entspräche. Damit hebt die Sohn-
Rethelsche Argumentation, wird sie nur einigermaßen folgerichtig zu Ende gedacht, die
theoretischen Ausgangs- und Grundpositionen des Autors selbst auf! Hierdurch werden aber
auch seine absurden Konsequenzen hinfällig, von einer künftigen sozialistischen Gesell-
schaft, wenn die Einheit von Kopf- und Handarbeit wiederhergestellt sei und damit sie
wiederhergestellt werden könne, eine „völlig andere" Logik, Mathematik und Naturwissen-
schaft zu erwarten (GKA 1, S. 164 f.), die dann der neuen „Basis" adäquat, „form"adäquat
seien und sich nicht in Denkabstraktionen niederschlügen, was immer das für eine Logik
usw. sein soll.
Doch zurück zur „Real'abstraktion, der wir bisher den ihr vom Autor umgehängten
Mantel des Scheins einer materiellen Gegebenheit beließen. Unvorsichtigerweise läßt er den
Leser jedoch einmal einen Zipfel dieses Mantels lüften, unter dem wieder der Idealist Sohn-
Rethel erscheint: „Während die Begriffe der Naturerkenntnis Denkabstraktionen sind, ist
der ökonomische Wertbegriff eine Realabstraktion. Er existiert zwar nirgends anders als
im menschlichen Denken/ er entspringt aber nicht aus dem Denken." (GKA 1, S. 35) Real-
abstraktion entschleiert sich hier als Begriff, der im Denken existiert. Real heißt sie nur,
weil der Begriff nicht aus demiDenken entspringt. Aber gilt das denn für die Begriffe der
Naturerkenntnis nicht in der gleichen Weise? Sind sie also in diesem Sinne nicht auch

Alles Geistige ist durch die Produktionsverhältnisse determiniert, trägt also Überbau-
charakter (GKA 1, S. 76 ff.); b) Die Formen des Bewußtseins sind unmittelbar Erzeugnis
der materiellen Basis, das Bewußtsein dieser Formen gehört dem Oberbau an (ME, S. 34;
GKA 1, S. 75); c) Die mathematische Naturwissenschaft ist Teil der Basis, die Ideologie
Teil des Überbaus (GKA 1, S. 118 f., 130).
28
Vgl.: K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 65

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Weltmodelle

Reaiabstraktionen? Daß sie materielle Gegenstände abbilden, die von den Menschen unab-
hängig existieren (Naturgegenstände), während der Wertbegriff ein materielles Verhältnis
zwischen Menschen abbildet (Gesellschaftsgegenstand), ist in diesem Zusammenhang völlig
zweitrangig.
Zusammenfassend kommen wir zu dem Schlug, daß die Theorie Sohn-Rethels weder dem
vom Autor erhobenen Anspruch, materialistisch, noch gar dem, marxistisch zu sein, gerecht
wird. Sie geht von vereinseitigten Voraussetzungen aus, entbehrt, wo sie konkreter wird,
gesicherter Fakten, ist methodisch einseitig entwickelt und in sich widersprüchlich. Ihre
Anmaßung, einen »erweiterten Ansatz der marxistischen Theorie" zu bieten (GKA 1, S. 12),
erfüllt sie demnach nicht. Des Autors Forderung nach Wandlung der „theoretischen und
methodologischen Struktur des Marxismus", sein Vorwurf, der Marxismus sei einem „autori-
tätsgestützten Dogmatismus" ausgesetzt und werde wie eine Sammlung von Bibeltexten
interpretiert, und seine Beschwörung, sich nicht an die Texte der Marxschen Formulierun-
gen zu ketten, sondern sich die Prinzipien seines Denkens zueigen zu machen (GKA 2, S. 29,
72, 240), ist das typische Vokabular des neueren Revisionismus (übrigens, wie wir aus den»
Auseinandersetzungen Lenins vom Beginn unseres Jahrhunderts wissen, auch wortgetreu
das seiner Vorväter), der nicht auf eine theoretische Weiterentwicklung des Marxismus-
Leninismus, sondern auf die Unterminierung seiner theoretisch wie praktisch gesicherten
Grundpositionen aus ist. Der wirklichen theoretischen Entwicklung des Marxismus-Leninis-
mus gegenüber, wie sie sich in zahlreichen Werken marxistisch-leninistischer Autoren zu
den von Sohn-Rethel untersuchten Gegenständen niederschlägt, übt unser Autor jedoch vor-
nehme Ignoranz. Auch hier beruhen seine Urteile auf Unkenntnis.
Klaus Göfrier (Leipzig)

Weltmodelle — neue Konvergenzvarianten zu Umweltproblemen

1. Die USA als Experimentierteid und Zukunftsbild der Menschheit?

Im Vorwort zu dem in vieler Hinsicht bemerkenswerten Buch des amerikanischen Öko-


logen Commoner „Wachstumswahn und Umweltkrise" schreibt Eduard Pestel: „Wir wissen
seit langem, daß Amerika das große Experimentierfeld der modernen Zivilisation ist, daß
fast alles, was dort geschieht, rasch nach Europa (auch nach dem östlichen) übergreift und
dann auf die ganze Welt. Wer also die europäischen Probleme von morgen studieren will,
muß Amerika heute studieren."1 Diese unverfänglich klingenden Worte erwecken den Ein-
druck, daß alle Industrieländer, ganz gleich, ob sie sich auf der Basis kapitalistischer oder
sozialistischer Produktionsverhältnisse entwickeln, grundsätzlich die amerikanische Ent-
wicklung nachvollziehen und sich dem USA-Modell angleichen. In dieser Darstellung fun-
gieren die USA letzten Endes als Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschritts, und den
Amerikanern wird der Gedanke suggeriert, sie repräsentierten bereits heute die Zukunft der
Menschheit. Derartige Betrachtungen bewirken vor allem, daß von den allgemeinen Krisen-
erscheinungen im Kapitalismus, die sich in den USA am schärfsten entwickeln, abgelenkt
wird und diese ideologisch verbrämt werden.
Diesen apologetischen und wirtschaftspolitischen Funktionen dienen die verschiedensten
Theorien, die Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre konstruiert worden sind -
nicht zuletzt, um sie als Alternativen zum real existierenden Sozialismus, zur siegreichen
Lehre des Marxismus-Leninismus, zu benutzen. Darunter nimmt die Konvergenztheorie, die
in ihren inhaltlichen Aussagen nicht frei von Widersprüchen ist und selbst von der bürger-
lichen Position aus einer ernsthaften wissenschaftlichen Kritik kaum standhält, einen her-
vorragenden Platz ein. Neuere bürgerliche Theorien sind, ebenso wie ihre ideologischen
Vorgänger, durch einen Zwiespalt von beanspruchter Wissenschaftlichkeit und bürgerlicher
Klassenvoreingenommenheit gekennzeichnet. Das tritt ganz offensichtlich auch in den bür-

1 B. Commoner: Wachstumswahn und Umweltkrise. München 1973. S. 12

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